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Erosion und Schönheit

Das Werk von Peter Zumthor gilt als zeitlos. Um das Verhältnis von Aufwand und Qualität einordnen zu können, haben wir einige seiner prägenden Bauten, die zwischen 1985 und 2007 entstanden, wiederbesucht.

Das Werk von Peter Zumthor gilt als zeitlos. Um das Verhältnis von Aufwand und Qualität einordnen zu können, haben wir einige seiner prägenden Bauten, die zwischen 1985 und 2007 entstanden, wiederbesucht.

Ein Architekt entwirft einen Bau mit bestimmten Proportionen, Formen und Materialien. Wie und wo er sie einsetzt und kombiniert, das und vieles mehr ist Teil seines Entwurfs. Dem Eröffnungszeitpunkt wird von Architekten und Bauherren in der Regel grosse Bedeutung beigemessen. Wenn ein Bauteil nicht funktioniert oder es von der ästhetischen Norm abweicht – sich zum Beispiel stärker verfärbt als erwartet –, dann wird der Mangel durch Garantiearbeiten behoben. Differenzen, die nicht zu korrigieren sind, werden meistens als Fehler betrachtet. Anlässlich der Fertigstellung soll der Bau eine möglichst perfekte Momentaufnahme der Ausgangsidee verkörpern und sich seinem Abbild so stark wie möglich annähern.

Wie der Architekt über diese erste, inszenierte Erscheinung des Baus hinaus mit zukünftigen Veränderungen umgeht, ist unterschiedlich. Dabei kann er eine Taktik des Verlangsamens oder Vermeidens einschlagen oder die Spuren ohne Gegenmassnahmen zulassen. Diesem direkten alltäglichen und anhaltenden Alterungsprozess misst man häufig weniger Bedeutung bei. Wie eine Fassade nach 20 oder 30 Jahren aussieht, wird selten und wenn, dann eher als mutmassliches Randphänomen in den Ausgangsentwurf einbezogen. Bei den laufend neu entwickelten Zusammensetzungen von Putzen, Farben oder Baumaterialien ist es auch kaum möglich, diese Frage eingehend zu beantworten: Langzeitstudien gibt es kaum. Doch welche Taktik gewählt wird – der Prozess setzt sofort ein: Licht, Regen, Wind und Nutzer verändern die Oberflächen. Das Bild des Baus wandelt sich langsam – und das betrifft den weitaus längsten Teil seines Bestehens.

Manche Altersspuren werden eher akzeptiert, so z. B. traditionelle, sich in der Witterung verfärbende Holzfassaden. Andere sind wenig beliebt – man denke an Algenablagerungen, an Wetterspuren auf Kompaktfassaden. Es würde sich lohnen, in Zukunft regelmässig nach 10, 20 oder 50 Jahren nochmals einen Blick auf Bauten zu werfen, die zu Beginn ihrer Entstehung gelobt wurden. Denn was ist nachhaltiger als ein Bau, der gut und schön altert? Wie sehen Mauerwerk, Verputz, Fenster oder Böden aus? Wurde renoviert und wenn ja, wie? Wie artikulieren sich diese Spuren? Stören sie oder machen sie den Bau besser?

Natürlich ist auch beim Altern die Empfindung des Betrachters subjektiv: Was schön ist und was nicht, bleibt ihm überlassen. Doch es muss darüber hinaus etwas geben, was gemeinhin als ästhetisch und an­genehm gelten kann – ähnlich wie bei menschlichen Gesichtern. Die Bauten von Peter Zumthor sind dafür bekannt, dass sie ansehnlich und würdevoll altern – darin sind sich die meisten Betrachter einig. Doch was liegt diesem Eindruck zugrunde?

Kapelle Sogn Benedetg, Sumvitg 1985–1988

Die Kapelle an einem Berghang in Sumvitg ist ein Ersatz­bau für einen älteren, von einer Lawine zerstörten Steinbau, der weiter talwärts lag. Seit Fertigstellung vor 31 Jahren haben unzählige ­Architekten und Architektinnen den kleinen, einfachen Holzbau mit Schindelfassade besucht. Seine Grundform weckt viele Asso­zia­tio­nen – Peter Zumthor beschrieb sie als einen Fisch, eine Arche, ein Auge, ein Blatt. Die Lärchenschindeln der Fassade altern seither in Sonne, Wind, Regen und Schnee. Die Südseite ist dunkel, lebendig in den Farben, aber keinesfalls monochrom; durch das unterschiedlich austretende Tannin wirkt sie auffällig gesprenkelt. Im Norden, gegen den Berg hin, ist die Farbe dagegen fast einheitlich silbern. Am schräg abfallenden Sockel sind die Holzstücke am Übergang zur Wiese fast weiss.

Eine seitlich angebrachte Treppe führt an der Bergseite über drei Stufen ins Innere. Der Boden in dem kleinen Kapellenraum schwebt im Schnitt einige Meter über dem steilen Berghang. Die Bohlen sind auf eine Unterkonstruktion verlegt, und beim Durchschreiten beginnen sie leicht zu schwingen. Ihr etwas eigensinniges Knarren wirkt, als habe es sich im Lauf der Zeit auf diesen Klang «eingestimmt». Rund um die Bänke, entlang der Wand zeigen sich die Tritte der Besucher am abgenutzten Lack, und auch zwischen den Bänken weisen die Abnutzungsspuren am Boden auf die Kirchgänger hin. Die Anwohner haben sich den Bau auf eine natürliche Art zu eigen gemacht, ihm Schränke und Bodenbeläge eingefügt, ohne damit seine luftige Wirkung zu schmälern. Die silbern gestrichene Wand schimmert im Licht, das durch den rings um die Decke angebrachten Fensterkranz ins Innere dringt. Das Silber hat über die Jahre an einigen Stellen seinen matten Glanz etwas eingebüsst und wirkt blinder als zu Beginn. Der dezent sakrale Innenraum lädt heute wie damals zur Kontemplation ein.

Kunsthaus Bregenz (A) 1989–1997

Mit grösstmöglicher Klarheit bietet das Museum Flächen, die zwischen drei vertikalen Wandscheiben aufgespannt sind. Das Tageslicht, das über die matten Glasscheiben der doppelten Aussenhaut einströmt, ist – umrahmt von den Schatten der Wände – das prägende Gestaltungselement. Es taucht die Räume in ein diffuses Licht, das tatsächlich an die Stimmung draussen über dem Bodensee erinnert. Die Technik verschwindet zwischen den vertikalen Häuten und oberhalb der abgehängten Glasdecken. Ein Schacht, der das Technik­untergeschoss mit den vier Ausstellungsetagen verbindet, sowie die Erschliessung sind ausserhalb der drei Wandscheiben angelagert, Verwaltung und Café sogar in ein eigenes Haus gerückt. Was bleibt, sind vollkommen leer geräumte Ausstellungsräume, die sich ganz in den Dienst der künstlerischen Interventionen stellen.

Die industriell anmutenden, kraftvollen Materialien bilden eine eigene Präsenz, auf die die Künstler reagieren können. Dieses Angebot verführt die Ausstellenden hin und wieder zum schonungslosen Kräftemessen. Exponate aus Gewichten, Lehm, Wachs, Feuer und Eis haben das Haus schon an den Rand seiner Belastbarkeit gebracht und ihre Spuren hinterlassen. Der tragende Baukörper ist so massiv, dass er einiges aushält. Terrazzoboden und Wände aus unbehandeltem Rohbeton wirken auf den ersten Blick monochrom. Bei genauerem Hinsehen entfaltet sich eine Landschaft aus Kleb­spuren, Flecken, Füllungen und Rissen. Die Oberflächen sind wie Speicher, die die Gegenwart der vergangenen Ausstellungen präsent halten. Die künstlerischen Werke klingen nach, bis die Eingriffe überlagert oder verblasst sind und wieder Raum für Neues geben. Wenn nötig, werden die Wände aufgebohrt und beklebt, die Glasfassaden verschattet oder die abgehängten Glasdecken entfernt, womit der Raum gut zwei Meter Höhe gewinnt.

Der Aufbau der Glasdecke und der aussen liegenden Hülle folgt dem Prinzip, dass alle Teile einzeln zugänglich sind und jederzeit demontiert und ausgetauscht werden können. So entstand in den letzten 20 Jahren ein nuanciertes Farbenspiel im Puzzle der Glastafeln, das im Lauf der Zeit immer feiner werden wird. Den radikalen Umgang der Künstler mit dem Ort nimmt ein eingespieltes Team für Technik und Restauration, das für den Unterhalt des Gebäudes zuständig ist, als Herausforderung. Es kuratiert das Haus im Wortsinn. Mit einem Blick auf die langfristige Bestands­erhaltung unterstützt es das Ausreizen des Möglichen und lässt den Spuren anschliessend Zeit zum Verschwinden. Das Geheimnis liegt hier in der Behandlung des Alterns als Wechselspiel von Markierung und Erneuerung. Die Beanspruchung verleiht dem Baukörper eine Ausdruckskraft, die mit den Jahren wächst.

Therme Vals 1990–1996

Von aussen sieht die Valser Therme beinahe aus wie vor 29 Jahren zur Zeit ihrer Eröffnung. Die innere und die äussere Schicht aus lokalem Gneis verbinden sich mit dem Betonkern zu einer selbsttragenden Konstruktion und verleihen dem Bau etwas Stoisches, Beherrschtes: Durch die massive, monolithische Gestalt scheint ihr Alter eher in dem des Steins zu liegen als in seiner ­Konstruktion und Erstellung. Im Innern reflektiert das Wasser das Licht jederzeit anders, und in einigen Räumen prägt Dunkelheit die Atmosphäre. Überall finden sich unterschiedliche Verweise auf das Verhalten der Badegäste, die Wege des Wassers und seiner Mineralien. Sie wirken im gedämpften Licht geheimnisvoll. Einige muss man suchen und entdecken wollen, andere wiederum springen ins Auge.

Viele Spuren sind durch Ablagerungen entstanden. An den Wasserausläufen im Gang vor den Garderoben und zum Dampfbad sind die Betonwände vom Ausguss bis zum Boden mit einer Mineralienkruste in schimmernden Braun- und Gelbtönen überzogen. An den Wänden der Badekammern funkeln entlang der Wasseroberfläche kristallene Streifen. Sie sind in jedem Raum unterschiedlich – wahrscheinlich hängt ihre Konsistenz mit Verputz, Temperatur und Zusammensetzung des Wassers zusammen, die in jedem Becken anders sind. In einem Raum wächst der Kalk fein, flammenförmig aus dem Wasser und umrahmt so als filigraner Kranz das Becken.

Auch die Farbe des Verputzes hat einen Einfluss – im 43 Grad heissen, roten Raum erzeugen die gewellten Rinnsale dicht unter der Wasseroberfläche den infernalischen Eindruck von geronnenem Blut. Im Blütenbad haben sich die Minerale unter Wasser über die Jahre in perlmuttartigen Schichten über die Beckenwände gelegt. Je nach Blickwinkel bricht das Wasser das Weiss, das sich zart vom rauen Stein abhebt, un­terschiedlich. Über den Sitzstufen im Wasser, wo sich die Besucher an die Wand lehnen, sind die mineralischen Schichten in flachen Ovalen wieder abgetragen. So zeigen sich manche Spuren auch im Fehlen von ­Material.

Die Wände an den Durchgängen sind von den Gesten der Besucher dort, wo sie berührt werden, leicht speckig. Auf dem Gneisboden um das ­zentrale Becken zeugen flache Mulden von unzähligen Füssen. Die ­Abnützungen verlieren sich in der Maserung des Steins und sind eher zu fühlen als zu sehen. Einige der Armaturen und Geländer sind durch den Gebrauch und das Wasser gezeichnet, und unter dem Messing wird das rötliche Kupfer sichtbar.

Die hohe Steinwand im Aussenbad ist von Rissen durchzogen – eigentlich sind sie Ausdruck der Massi­vität der Mauer und kein Zeichen von Schwäche. Dies zeigt sich auch an der Treppenwand im Aussenbad: Die weissen, flockigen Ausblühungen scheinen buchstäblich aus dem Innern der Steinwände hervorzuquellen – die Stärke des Baus entspringt nicht einer oberflächlichen Schicht, sondern kommt aus der Tiefe des Materials.

Feldkapelle Bruder Klaus, Wachendorf (D) 2001–2007

Die Geschichte der Feldkapelle Bruder Klaus begann bereits vor ihrer physischen Existenz. Peter Zumthor bildet die Entwicklung des Baukörpers auf subtile Art in der Materialisierung ab. Denn das Ringen um den geeigneten Entwurf, der Vorgang des Bauens selbst macht bereits einen starken Teil der Identität des Gebäudes aus. Dies ist sichtbar und spürbar.

Auf freiem Feld stellte der Bauherr mit Freunden zunächst eine Art Köhlerhütte aus 112 Baumstämmen auf. Zwischen glatten Schaltafeln und dem Holzzelt stampften sie Betonschichten ein. Anschliessend brannten sie das Gerüst langsam ab. Zurück blieb im Innenraum die verkohlte Oberfläche des Betons, die bis ­heute einen Geruch nach Holzfeuer ausströmt. Die gerippte Struktur der Innenwände war im neuen Zustand bereits von Spuren geprägt, die wesentlich für die sinnliche Wahrnehmung des Raums sind. Die vertikalen Stege des grobkörnigen Betons sind rau und ungleichmässig. Tritt der Besucher aus der Helligkeit in den dunklen Raum, stösst er möglicherweise an der geneigten Wand an. Lockere Kieselsteine fallen heraus, oder spitze Kanten schneiden in den Arm. Das von oben einfallende Licht spiegelt sich in einer Pfütze, deren Form der Öffnung im Dach gleicht, denn eine Mulde im Boden wiederholt ihren Umriss. Regenwasser, das über die zentrale Öffnung an den Innenwänden entlang rinnt, erzeugt verschiedene Farben auf dem Beton. Moos wächst in den Furchen, die Sonnenlicht bekommen.

Peter Zumthor hat den Innenraum mit gleicher Intensität entwickelt wie die bauliche Skulptur. Einem umgestülpten Handschuh vergleichbar besteht er zwar aus dem gleichen Material wie die äussere Hülle, überrascht aber mit einer ganz eigenen Form. Die äussere Gestalt lässt keine Rückschlüsse auf den Innenraum zu. Das hoch aufragende Volumen verbindet sich auf eine selbstverständliche Art mit der Landschaft, als wäre es ein Stapel Strohballen. Im Stampfbeton sind rote und gelbe Sande enthalten sowie Flusskiesel der Gegend, sodass er farblich ganz in der Umgebung aufgeht, sich verwurzelt. Die horizontalen Schichten der fünf Aussenflächen zeigen, in welchem Takt der Bau entstanden ist. An den Setzfugen bilden sich je nach Wetterseite Ausblühungen, Risse und Verfärbungen, die sich mit dem Baumaterial verbinden und es auf natürliche Weise beleben.

Durch den Spazierweg über die Felder tragen die Besucher den Lehm an den Sohlen in den Innenraum und bedecken nach und nach die graue Zinnbleischicht am Boden. Hervorzuheben ist, dass die ganze Kapelle nicht aus purem Lehm hergestellt wurde. Die massive Gestalt würde sich mit jedem Regenguss verformen und zum Teil der Landschaft werden und sich damit einer Kontrolle entziehen. Auf ein solches Experiment hätte man sich mit heutigen Erfahrungen im Lehmbau vielleicht eher eingelassen als zur Bauzeit der Kapelle.

Die Abwesenheit des Gerüsts, das als Brand­geruch weiterhin präsent ist, die Wettereinflüsse, die den Innenraum gestalten, ohne dass sie seine schützende Wirkung beeinträchtigen, setzen den Bau in einen zeitlichen Kontext, der vor und zurück reicht. Spuren der vergehenden Zeit sind kaum sichtbar, sondern finden in der gespeicherten Entstehungsgeschichte und der langfristigen Erosion ihren Ausdruck.

Einfachheit, Geschichte und Pflege

Während unserer Recherche sind wir auf wiederkehrende Anhaltspunkte für das qualitätvolle Altern von Zumthors Bauten gestossen. Es beginnt mit dem grossen architektonischen Massstab: Die Baukörper sind durch Kompositionslinien, Material oder Ausrichtung in einem aufmerksamen Verhältnis zur Umgebung und ihren Elementen platziert. Die Kapelle im Sumvitg hat zum Beispiel klar eine dem Wetter zugewandte und eine vor ihm geschützte Seite.

Des Weiteren wird das Material zurückhaltend in seiner rohen Form eingesetzt. Holz, Stein, Leder, Keramik, aber auch Beton sind uns in vielfältigen Zuständen und Formen vertraut. Sie haben ihre Wurzeln in unserer Baukultur. Wir kennen sie von neueren und älteren Bauten – in den Bergen, an der Sonne, an einer Verkehrs­achse, in einem Schlosshof. Sie flossen mit der Zeit in das kollektive Materialvokabular ein. Die Poesie der Stoffe tritt unverfälscht in Erscheinung. Diese Echtheit erweckt ein instinktives Vertrauen, manchmal sogar das Verlangen, das Material zu schützen. Ein künstlicher, heterogener Baustoff kann diese Verbindung in den meisten Fällen nicht herstellen, da er in unserer Zeitmessung keine Geschichte hat und laufend durch neue Materialien ersetzt wird – es ist also nicht abschätzbar, wie er nach einigen Jahren aussehen wird.

Ähnlich reduziert wie das Material sind die konstruktiven Details bei Zumthors Bauten. Die Fassade am Kunsthaus Bregenz oder die Scharniere der Bodenklappe in der Kapelle im Sumvitg unterliegen einer mechanischen Logik, die nachvollziehbar und vertraut ist. Die materielle und konstruktive Einfachheit führt zusammen mit der architektonischen Komposition zur Wahrnehmung des Baukörpers als Ganzes über eine längere Zeitachse.

Die mit dem Planungs- und Bauprozess verbundene zusätzliche Aufmerksamkeit ist oft kostenintensiv. Das hat schon so manche Bauherrschaft verschreckt. Rückblickend bestätigt sich aber die Richtigkeit dieser Haltung. Die besuchten Bauten haben nichts an Funktion oder Erscheinung eingebüsst. Das Bauen ist keine Episode, die mit der Bauübergabe abgeschlossen ist, sondern ein andauernder Prozess: Wenn Material- und Nutzungsanpassungen möglich sind, ohne ins Innerste des Gebäudes einzugreifen, bleibt es ein gültiger Teil des gegenwärtigen Geschehens, ja wächst mit der Veränderung.

Die expressive Präsenz der Häuser, ihre Beziehung zur Baukultur und ihre eigenen ablesbaren ­Geschichten schaffen die Grundlage für eine starke Identifikation. Ihr nachhaltiger und umfassender Fortbestand hängt massgeblich vom Umgang der Beteiligten beim Herstellen, Pflegen und Benutzen ab. Dies scheint uns die wichtigste Voraussetzung für ihre kontinuierliche Wertschätzung zu sein. Es entstehen Zeitzeugen, deren Ende nicht vorgezeichnet ist.

TEC21, Fr., 2019.05.17



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TEC21 2019|20 Peter Zumthor: Kontrolle und Magie

«Die Dinge in der Zeit verankern»

Eine Qualität, die Peter Zumthors Bauten prägt, ist ihr ästhetisches Alterungsverhalten. Wir haben mit ihm über Architektur gesprochen, die Jahrhunderte überdauert, über die Spuren der Zeit, über natürliche und künstliche Materialien und die Rolle, die der Geschichte beim Bauen ­zukommt.

Eine Qualität, die Peter Zumthors Bauten prägt, ist ihr ästhetisches Alterungsverhalten. Wir haben mit ihm über Architektur gesprochen, die Jahrhunderte überdauert, über die Spuren der Zeit, über natürliche und künstliche Materialien und die Rolle, die der Geschichte beim Bauen ­zukommt.

TEC21: Herr Zumthor, in der vergangenen Woche haben wir auf einer Tour durch Graubünden, in die Eifel und nach Bregenz einige Ihrer Gebäude besucht. Manche davon sind ja schon zu Ikonen geworden. Die meisten Architekten kennen sie von früheren Besuchen oder zumindest von Fotos. Wir waren neugierig zu sehen, wie sich die Bauten in der langen Zeit seit unseren ersten Besuchen verändert haben. Zu unserer Überraschung sind sie wenig gealtert. Wie beziehen Sie den Alterungsprozess eines Baus in den Entwurf mit ein?
Peter Zumthor: Ich kenne mich einigermassen aus damit, wie man natürliche Baumaterialien behandelt oder eben nicht behandelt. Wie sie altern, das hat mich schon immer interessiert. Stahl, Holz, Beton und Stein – und das sind sie schon, die ich hauptsächlich verwende. Da ist noch Keramik, Ton, Ziegel und gebrannte Ware. Ich arbeite gern mit diesen Dingen. Allein die Hölzer bieten eine grosse Palette. Es ist das Material selber und wie man damit umgeht – ich bin zufrieden, wie sich das jeweils entwickelt. Zum Beispiel das Atelier nebenan ist aus Lärchenholz. Das ist heute so, wie ich es mir beim Entwerfen in den Achtzigerjahren vorgestellt habe: silbrig auf der Nordseite und verbrannt auf der Südseite.

TEC21: Trägt der Alterungsprozess zur Schönheit der Gebäude bei?
Peter Zumthor: Sicher, das ist wie bei den Menschen, die sollen auch schön altern.

TEC21: Was heisst das genau, schön altern? Bei Menschen sagt man doch eher «würdevolles Altern».
Peter Zumthor: Ich glaube, es ist kein Zerfall. Holz, das 300 Jahre in der Sonne ist und schwarz wird, bei dem die weichen Jahresringe ausgewaschen sind und die harten hervorstehen, erhält eine eigenartige Schönheit. Es ist der Abbau von Material, aber er ist tatsächlich würdevoll. Farbe blättert ab, aber Holz tut dies nicht.

TEC21: Kann nicht auch abblätternde Farbe schön aussehen?
Peter Zumthor: Ja, das kann der Fall sein, aber in der Regel vermeide ich Farbe. Ich will nicht, dass man die Gebäude unterhalten muss, ich will, dass sie aus sich heraus schön altern. Bei der Fassade an meinem neuen Atelierhaus gegenüber habe ich zum ersten Mal etwas gemacht, das ganz gut gelungen ist: Um die ersten zehn unansehnlichen Jahre von Natur­eichenholz zu überbrücken, haben wir das Holz gebeizt und es vorbewittert, wie man es auch vom Zinkblech kennt. Die Beize ist auf Wasserbasis. Sie wäscht sich im Lauf der Jahre heraus, und dieser Prozess überschneidet sich mit dem Alterungsprozess, in dem der typische Grauton der Eiche erscheint.

TEC21: Man kann versuchen, den Alterungsprozess zu verlangsamen oder wie bei der Eiche vorwegzunehmen oder sogar zu verhindern. Wie stehen Sie dazu?
Peter Zumthor: Verhindern will ich die Alterung sicher nicht. Im Übrigen hängt das auch vom Material ab. Die Idee, in den Verwitterungsprozess der Eiche einzugreifen, hängt damit zusammen, dass sie zehn Jahre lang unschön aussieht. Wenn man geduldig ist, gewinnt sie aber ihre Schönheit zurück. Aber Keramik oder Backstein muss man nicht verändern. Das sind von Anfang an perfekte Mate­rialien, die sinnvoll eingesetzt werden können. Da können Sie meine Mutter fragen – in ihrem Haushalt hat sie Materialien immer passend eingesetzt: hier Holz, dort Keramik. Das ist auch in der Architektur das Tolle, dass man die Materialwahl mit dem ­Gebrauch begründen kann – dann wird es selbstverständlich und schön.

TEC21: Was gefällt Ihnen am Alterungsprozess in Ihrem Privathaus? Werden bestimmte Orte besser als andere, die man erneuern müsste? Gibt es Materialien, über die Sie sich freuen?
Peter Zumthor: Ich bin extrem zufrieden. Gerade hier mit der Stube. Das ist der Schweizer Ahorn, der ist gelb (Tisch), und das an den Wänden und am Boden ist kanadischer Ahorn. Der wird rötlich und dunkler, das ist bewusst so gewählt. Die Oberfläche ist geölt und geseift.

TEC21: Sie arbeiten meist mit natürlichen Materialien – ­jeder von uns kann sich altes Holz vorstellen oder Stein. Im Gegensatz dazu gibt es keine Langzeit­erfahrungen mit modernen hybriden Materialien, von denen man nicht genau weiss, wie sie sich mit den Jahrzehnten verändern.
Peter Zumthor: Ja, das ist so. Andererseits weiss man aber genug über Plastik. Das schwimmt in grossen Mengen im Meer. Dazu will ich nicht auch noch beitragen. Ich habe Mühe damit, dass wir in zehn Generationen unsere biologischen Reserven aufbrauchen, die in Billionen Jahren entstanden sind. In der biologischen Masse ist so viel Energie enthalten. Manchmal komme ich aber nicht drumherum. Die Markise da vorn ist auch ein Gewebe aus Nylon, damit sie Wetter und Licht eine Weile standhält. Klar, man muss in gewissen Fällen Kompromisse eingehen. Das Hexenmemorial in Norwegen, ein zeltartiges Objekt, wollte ich aus richtigem Segeltuch machen. Aber man hat mir gesagt, dass das alle sieben Jahre ersetzt werden müsste. Daraufhin haben wir uns für ein Gewebe aus Nylon mit einer Teflon-Beschichtung entschieden. In diesem Fall mussten wir das so machen, aber ich versuche, den Einsatz solcher Materialien zu minimieren.

TEC21: Ablagerungen und Abtragungen sind zwei ver­schiedene Altersspuren. In der Therme Vals kann man beide auf eine sinnliche Art spüren, und in der Bruder-Klaus-Kapelle gibt es Spuren von Dingen, die gar nicht mehr da sind. Geruch und Russ vom Verbrennen der inneren Schalung.
Peter Zumthor: Das habe ich mir noch nie so genau überlegt, aber Sie haben recht. Dazu gibt es neben Ablagerungen und Abtragungen noch Verfärbungen. Beim Beton ist es offensichtlich ein chemischer Prozess, durch den das Material sich selbst reinigt und heller wird. Die Wände in meinem Haus waren so dunkel, dass ich deprimiert war, als sie aus der Schalung kamen. Jetzt sind sie hell und werden zusehends noch heller. An anderen Orten bin ich umgekehrt traurig über das Aufhellen. In der Feldkapelle ist ein Minera­lisierungsprozess im Gang: Irgendetwas kommt an die Oberfläche, das das Schwarz verdrängt. Der Beton lebt. Er frisst den Russ. Eines Tages wird er nicht mehr da sein. Leider! Das Innere dort war pechschwarz, und so hatte ich es mir gewünscht.

TEC21: Ja, so etwas hat uns auch der technische Leiter vom Kunsthaus Bregenz bestätigt. In einem lang­samen Prozess lassen sich die Klebspuren an den Ausstellungswänden abwaschen. Der Rohbeton stösst den Klebstoff immer wieder von innen an die Oberfläche, wo er wiederholt abgespült werden kann, bis er irgendwann ganz verschwindet. Aber dem Ter­razzo­boden ist offenbar ein Stoff zugeschlagen, der ihn elastisch macht, damit der monolithische Belag nicht reisst. Warum möchten Sie diese Risse, die typisch für Terrazzo sind, nicht zulassen?
Peter Zumthor: Das ist mir neu. Ich wollte das sicher nicht verhindern. Wenn das so ist, dann liegen die Gründe dafür bei der Herstellerfirma. Es gibt ausserdem feine Haarrisse.

TEC21: So rein sind die Baustoffe also manchmal nicht, wie man sich das wünscht?
Peter Zumthor: Nein, das sind aber praktische Aspekte, um zum Beispiel das Arbeiten zu erleichtern. Auch die Gläser der Fassade in Bregenz sind mit Folie zwischen den Scheiben gesichert, die verhindert, dass grosse Stücke herunterfallen könnten – das sind Situationen, wo das Plastik viel kann. Aber das geschieht nicht oft.

TEC21: Im Fall der Fassade am Kunsthaus ist das mit den geklemmten Scheiben geschickt detailliert. So sind keine Bohrlöcher nötig, die eine weitere Angriffs­fläche für die Verwitterung der Plastikfolie darstellen würden.
Peter Zumthor: Ja, das wollten wir unbedingt so, dass sie ganz altmodisch aufliegen und nicht gebohrt sind.

TEC21: Ist Ihr Verständnis zum Alter von Material mit Ihren Erfahrungen ein anderes als in früheren Jahren?
Peter Zumthor: Das Altern hat mir immer gefallen. Mit dieser Vorstellung arbeite ich. Hingegen habe ich mich früher gern über fachliche Zusammenhänge hinweggesetzt – wenn ich zum Beispiel ein spezielles Detail haben oder eine bestimmte ästhetische Wirkung erzielen wollte. Im Nachhinein muss ich sagen: Gewisse Dinge sind sinnlos. Zum Beispiel die furnierte Tür hier im Atelier, die ich schon zweimal austauschen musste, und das wäre jetzt schon wieder nötig, denn das Furnierholz blättert ab. Ich musste auch andere Dinge ändern, die ich ein bisschen forciert habe: Da stand auch draussen beim Atelierhaus ein Eichen­pfosten mit dem Stirnholz auf einer Metall­platte. Ich habe zur Kenntnis nehmen müssen, dass er fault. Mein Vater, ein Schreinermeister, hatte immer gesagt, mit Eiche könne man alles machen – was offenbar nicht stimmt. Das nehme ich inzwischen ernster, ich bin sorgfältiger geworden mit den Mate­rialien.

TEC21: Und wie gehen Sie mit wirklichen Schäden an einem Bau um?
Peter Zumthor: Da gibt es kein Patentrezept. Im Kolumba in Köln besteht die Wand aus einem massiven einschaligen Mauerwerk. Nach rund acht Jahren ist auf der Westseite Wasser eingedrungen und innen ein feuchter Fleck entstanden. Der Mörtel war wohl zu fest, sodass es Haarrisse in den Fugen gegeben hat. Der Schlagregen hat dann unter dem Winddruck die Feuchtigkeit hineingedrückt, und im Sommer konnte diese nicht austrocknen. Es hat lang gedauert, eine Lösung zu finden. Jetzt hat der Dombaumeister von der Kathedrale nebenan jede Fuge der ganzen Fassade von Hand oben geschlossen und verspachtelt. Aber das sind die verdeckten Mängel, die Garantiearbeiten, die mit dem eigentlichen ­Alterungsprozess nicht viel zu tun haben.

TEC21: Gibt es ein Gebäude, das Sie sehr lieben wegen der Art, in der es altert?
Peter Zumthor: Generell finde ich alte Landschaften, alte Kunst, alte Bauten fantastisch – so die Kathedrale in Chur oder das Kloster in Müstair. Ich will auch Teil davon sein und etwas machen, das alt wird – das vor allem schön alt wird. Ich weiss nicht, ob meine Bauten je so alt werden, dass man vergisst, wer sie entworfen und gebaut hat, und nur noch die Arbeit von Menschen darin sieht. Je älter ich werde, desto mehr fasziniert mich diese Einbettung in einen historischen Kontext.

TEC21: Die Geschichte, die ein Gebäude sich einverleibt, ist vielleicht nicht sichtbar – aber ist sie auch eine Spur des Alters?
Peter Zumthor: Ja, es ist schön, einen Tisch zu haben, an dem der Grossvater schon sass. Es ist auch schön, einen Gegenstand oder ein Gebäude zu machen, das immer wieder gebraucht, geändert oder umgebaut wird – und das trotzdem oder gerade deshalb bleibt. Das verbindet mit dem Ort, aus dem man kommt. Das ist nicht so in einer billigen Neubausiedlung, wo alles nach sieben Jahren auseinanderfällt, wo das Plastik von den Decken und Fassaden herunterkommt. Ich will so bauen, dass etwas bleibt – nicht meinetwegen, sondern damit etwas in der Welt bleibt und verschiedene Menschen daran Teil haben können. Das ist wichtig – die Dinge in der Zeit zu verankern.

TEC21: Wie ist das hier in Haldenstein, am Süsswinkel, wo Sie wohnen?
Peter Zumthor: Das ist ein Langzeitprojekt. Meine Familie, meine Freunde und ich besitzen einen grossen Teil der Häuser in der Strasse. Ohne uns wären sie schon lang ersetzt durch pseudohistorische Bauten. Wir betreiben so eine Art Denkmalpflege durch Besitz. Jetzt will das Bauamt überall die Strassen erneuern. Sie haben oben im Dorf angefangen und Randsteine angebracht – klar abgegrenzte Trottoirs gegen die Strasse, hier gehen, dort fahren. Da sind einige von uns vom Süsswinkel zur Gemeindepräsidentin gegangen und haben gesagt, dass wir uns etwas anderes wünschen: Traditionell läuft bei uns der öffentliche Raum über die Strasse bis an die Türschwelle. Der Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Grund ist nicht sichtbar. Sie hat das zur Kenntnis genommen, und jetzt gibt es eine Wohn­strasse, so sind wir mit einem modernen Wort wieder beim alten Konzept.

[Das Interview führten Danielle Fischer und Hella Schindel im April 2019 in Peter Zumthors Wohnhaus in Haldenstein.]

TEC21, Fr., 2019.05.17



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03. Mai 2019Danielle Fischer
TEC21

Zugabe gefällig!

Während der Zürcher Musentempel am See renoviert wird, konzertiert das Tonhalle-Orchester in einem Provisorium im Maag-Areal. Diese vorübergehende Spielstätte von Spillmann Echsle ­Architekten kündet von mutiger Voraussicht und einem Gespür für das ­Angemessene und Machbare. Keine Frage: Als Interimslösung ist der Saal zu schade.

Während der Zürcher Musentempel am See renoviert wird, konzertiert das Tonhalle-Orchester in einem Provisorium im Maag-Areal. Diese vorübergehende Spielstätte von Spillmann Echsle ­Architekten kündet von mutiger Voraussicht und einem Gespür für das ­Angemessene und Machbare. Keine Frage: Als Interimslösung ist der Saal zu schade.

Die ein überdimensioniertes sperrhölzernes Flugobjekt aus der Pionierzeit liegt der Konzertsaal in der Fabrik­halle. Entlang der Innenfassade der Maag-­Halle mit ihren feinen Industriefenstern kann der Besucher fast ganz um den Saal herumspazieren. Die leicht wirkenden Wand­elemente aus Holz sind an Stahlstützen eingespannt, die in den rohen Betonboden gerammt sind.

Dieser erste Eindruck mag auch mit der Ausgangslage der Spielstätte als Provisorium und Teil einer Umnutzung zusammenhängen. Temporäre Bauten sind aufgrund ihrer beschränkten Lebensdauer und der meist knappen Finanzen baulich nach dem Prinzip «so viel wie nötig und so wenig wie möglich» konzipiert. Wird dabei ein Altbau umgenutzt, lassen sich zugleich Geld und Material sparen. Umso überraschender, wenn sich ein solcher Bau – wie im Fall des temporären Ton­halle­saals – im Lauf seines Gebrauchs als dauerhafter, zweckmässiger, stabiler und vielleicht sogar schöner erweist als erwartet.

Auf dem Maag-Areal hat die Strategie der Umnutzung im Kontext seiner industriellen Nutzung seit 1907 Tradition: Nach dem Konkurs der Autofabrik Safir im Jahr 1913 übernahm Max Maag die Räumlichkeiten an der Zürcher Hardstrasse und begann hier Zahnräder und später Pumpen herzustellen. Die bis ins Jahr 2002 in Zürich produzierten, hochpräzisen Maschinenteile fanden weltweit Absatz. In der Folgezeit wurde das ehemals kleine Fabrikareal immer wieder erweitert und umgebaut. Max Maag, der 1935 aus der Firma austrat und sich als Orgelbauer selbstständig machte, hätte es wahrscheinlich gefreut, aber kaum erstaunt, wenn er von dieser weiteren Umnutzung und Funktionsänderung der Fabrik zum Konzerthaus erfahren hätte.

Veränderungen mit Wirkung

Doch die Vorgeschichte, wie es zu dem neuen Saal kam, ist alles andere als gradlinig. In den Jahren 2001 bis 2003 wurde die ehemalige fünfschiffige Industriehalle in ein Musicaltheater und eine zweischiffige Event­halle umgenutzt. Aufgrund der umliegenden neuen Wohnbauten ertüchtigten Spillmann Echsle Architekten im Auftrag der Grundeigentümerin im Jahr 2015 die Gebäudehülle der Maag-Halle lärmtechnisch. Gleichzeitig wurden energetische Auflagen erfüllt und für den Gesamtkomplex eine Lüftungsanlage eingebaut. Obschon die Renovation der Tonhalle am See feststand, gab es erst vage Andeutungen, dass das Orchester im Maag-Areal eine Interimsspielstätte finden könnte. Die Abstimmung über den Baukredit und die Entschuldung der Tonhalle-Gesellschaft lag noch in weiter Ferne. Klar war allerdings: Sollte das Tonhalle-Orchester als Ensemble weiterbestehen, konnte es nicht während des Umbaus jahrelang pausieren.

Trotz der unklaren Situation machten Spillmann Echsle Architekten für die Tonhalle-Gesellschaft eine Machbarkeitsstudie in der sich bereits im Umbau befindenden ehemaligen Eventhalle und bestätigten, dass er Platz für 1200 Zuschauer bot. Allerdings war die Raumhöhe für eine gute Akustik zu niedrig. Um das Volumen zu vergrössern, hoben sie darum das Dach um einen Meter an. Ausserdem entfernten sie eine Stützenreihe in der Mitte der Halle und unterteilten aus akustischen Gründen die zur Nachbarhalle durchlaufenden Dachträger. Zwischen die zukünftigen Räumlichkeiten der Ton­halle und jene der Maag Music & Arts mit dem Musicaltheater schalteten sie schliesslich eine zusätzliche Brandschutzwand. Zusammen mit der alten Hallentrennwand spart diese nun auch eine Zone als zusätzlichen akustischen Schallpuffer aus. All das geschah innerhalb von knapp drei Monaten.

Erst Mitte 2016, nach der Annahme des Kredits durch das Zürcher Stimmvolk an der Urne, war sicher, dass das Orchester für drei Jahre im Maag-Areal unterkommen würde. Im Januar 2017 begannen die Architekten mit dem Einbau des Holzsaals und dem Innenausbau der alten Halle sowie der Nebenräume darum herum. Sechs Monate später fanden die ersten Probekonzerte statt.

Alte Hülle, neuer Kern

Nichts ist pompös, das Provisorium wirkt weitaus schlichter als die Tonhalle am See. Der heutige Haupt­eingang mit Entree, Kasse und Besuchergarderoben befindet sich in einem umgestalteten, langen Lagerraum. Von dort gelangt man in die ehemalige Härterei, die als Besucherfoyer dient. Hier und auch in den anderen umgebauten Räumen erfolgten neue Eingriffe an der Archi­tektur zurückhaltend. Grundsätzlich baute man das zurück, was im Lauf der Zeit baulich hinzugefügt worden war. Die Böden sind fast so, wie sie waren, als man mit dem Umbau begann. Zahlreiche Spuren von baulichen Anpassungen, die im Lauf der industriellen Nutzung des Areals gemacht wurden, blieben sichtbar: Die Fundamente längst entfernter Wände, Reste gelber Verkehrs- oder Parklinien für Transportvehikel oder zubetonierte Schächte erzählen von der industriellen Vergangenheit und wirken wie abstrakte Kunstfragmente. Auch alte technische Installationen an Wänden und Decken blieben am Ort, und die von Maschinen und Fahrzeugen abgeschlagenen Wandecken sind ungeflickt. Gleichwohl prägt eine neue Farbigkeit die Räume – wo früher ein funktionaler Industrieanstrich die Wände überzog, gibt es heute in der Besuchergarderobe und im Foyer einen feinen, mattgoldenen Horizont, um die festliche Funktion der Räume zu unterstreichen.

So zurückhaltend Foyer, Erschliessung und Garderoben angepasst sind, so viel gestalterische Konzentration steckt im Saal. Der an Stahlträgern präzise in der Industriehalle befestigte Klangkörper ist eine leicht und einfach wirkende Holzkonstruktion. Was auf den ersten Blick selbstverständlich wirkt, ist jedoch durch Voraussicht, durch akustischen Konsens zwischen neuer Struktur und alter Substanz sowie durch die geringen finanziellen Mittel entstanden.

Karlheinz Müller, wichtigster Konkurrent zum Elbphilharmonie-Akustiker Yasuhisa Toyota, begleitet das Tonhalle-Orchester schon seit Jahren. Dass der kristallene Klang der Akkordeons und jener der vollmundigen Hörner in der räumlichen Tiefe miteinander kommunizieren und ein Gesamtes bilden, ist unter anderem sein Verdienst: Er stellte fest, dass der Nachhall in der Maag-Halle bei leisen Konzerten ungenügend ist, und empfahl Elemente zu seiner Verlängerung. Der Nachhall hängt unter anderem von der Saalhöhe ab, die etwas zu gering ist. Im Jahr 2015 konnte die Höhe – trotz der vorausschauenden Vorgehensweise der Architekten – wegen der Gebäudekante des Nachbarbaus nur um 1 m angehoben werden. Grundsätzlich ist die Akustik im Saal aber gut, und auch die Musiker arbeiten gern darin. Sie konnten sich musikalisch sogar weiterent­wickeln. Die alte Tonhalle an der Gotthardstrasse hat akustisch einen weitaus grösseren Spielraum, jene im Maag-Areal ist dagegen sensibler, jeder falsche Ton springt ins Ohr.

Karlheinz Müller half den Architekten, die ­Winkel der Wandelemente und das Raumvolumen im Innern der Halle zu gliedern. Er ist überzeugt, dass der architektonische Entwurf eines Konzertsaals die akustischen Eigenschaften eines Raums in sich tragen muss – sie stehen also bereits mit dem Rohbau fest. Konkret weisen beim Maag-Provisorium die Holzelemente eine bestimmte Eigenschwingung auf. Die Pa­neele der Saalwände sind mit der Biegung eines Kugelradius von 110 m gegen innen doppelt gebogen und die Brüstungen leicht nach innen geneigt. Der Innenausbau machte dann noch Verbesserungen oder Korrekturen möglich, zum Beispiel beim Stoff der Sitze.

Durch den Einsatz verschiedener Mittel unter fachlicher Kompetenz ist trotz der etwas zu geringen Raumhöhe ein funktionierender Saal entstanden.

Holz im Gleichgewicht

Es gibt insgesamt 1224 Sitzplätze, und von der Estrade aus können die Zuschauer auf 440 Plätzen der Dirigentin oder dem Dirigenten direkt in die Augen schauen. Damit hat der Bau etwa 300 Plätze weniger als die Tonhalle am See. Die Stühle und sogar die Bühne lassen sich herausräumen und können bei Bedarf ins Untergeschoss abgesenkt werden.

Alle 3.22 m hohen und 8 cm dicken Holzelemente der Saalwände gelangten durch das alte Haupttor ins Halleninnere und wurden dort an eine Stahlstruktur montiert. Die nordische Fichte ist in Lettland langsamer gewachsen, als dies in der Schweiz der Fall gewesen wäre. Das Holz ist daher ausgesprochen feinporig und dicht und hat in der Qualitätsstufe A fast keine Astlöcher. «Dreischichtplatten in so grossen Dimensionen, aus so gutem Holz und so präzise verleimt – das kann die Schweizer Holzindustrie nicht leisten», sagt Architekt Harald Echsle. Die Holzelemente sind transparent gestrichen, und der von einer Langenthaler Firma «fast geschenkte» Stoff, mit dem die Holzstühle bezogen sind, verleiht dem Raum dezenten Glanz. Wichtig ist das ganzjährig konstante Raumklima im Saal­innern: Es wird im Winter mit stündlich 425 l Wasserdampf aufrecht erhalten. Wenn das Publikum zahlreich ist, muss der Luft hingegen Wasser entzogen werden. In jedem Fall gelangt währenddessen Zuluft durch über 2 Mio. Löcher im Eichenboden unhörbar in den Saal.

Zurückhaltend und voraussichtig

Die Tonhalle-Gesellschaft hat damit gerechnet, im Provisorium Stammpublikum zu verlieren. Da aber in diesem Fall weniger Prestige nicht mit weniger Ambiente verbunden ist und schon gar nicht mit geringerer musikalischer Qualität, besucht ein neues und jüngeres Publikum die Vorstellungen. Die Gäste haben zudem entdeckt, dass sie von fast überall her schneller im Maag-Areal sind als bei der Tonhalle am See.

Die Frage wird brisant: Was geschieht mit dem Raum, wenn das Orchester nächstes Jahr an den See zurückkehrt? Bestimmt ist er zu schade für ein bloss dreijähriges Bestehen. Was auf den Provisoriumscharakter hinweist, sind vor allem die relativ bescheidenen 6.5 Mio. Fr. Baukosten (siehe «Eigentum, Finanzen», S. 25). In anderen Aspekten unterscheidet sich der Bau nicht massgeblich von sogenannt «permanenten» Bauten, auch baurechtlich gibt es keinen Unterschied. Ein Verkauf des Saals durch die Tonhalle-Gesellschaft kommt aufgrund des beschränkten Budgets nicht infrage: Die Bauteile lassen sich nicht auseinandernehmen, ohne sie zu beschädigen – ein Wermutstropfen im architektonischen Konzept. Trotzdem zeigt das Beispiel, dass sich Umnutzungen nicht nur finanziell, sondern auch punkto Ressourcen lohnen. Angesichts der sich laufend weiterentwickelnden Bautechniken und -materialien ist Gebautes schneller veraltet, was wiederum den Kreislauf um Neubau und Abbruch beschleunigt. Der überwiegende Teil des Abfalls in der Schweiz stammt aus der Bauwirtschaft, und rezykliert wird das Wenigste davon. Zwar stehen Recyc­lingprojekte bei Hochschulen und Forschungsanstalten hoch im Kurs, doch Recycling allein ist nicht zielführend, um Bauen ökologischer zu machen. Dazu tragen neben Neubauten, die energetisch auf neuestem Stand sind, naheliegenderweise auch länger genutzte oder umgenutzte Altbauten bei.

Der verglichen mit anderen Ländern hochwertige Altbaubestand als reichste Bauressource unseres Landes verdient differenziertere Beachtung. Die Maag-­Halle ist ein gutes Beispiel, wie man konstruktiv und kreativ am Bestand weiterbauen und individuell angepasste Lösungen entwickeln kann – innerhalb derer auch punktuell die homogene architektonische Perfektion von Neubauten hinterfragt werden darf. Kontraste aus Alt und Neu, aus makellos und verblasst bilden einen menschlichen Massstab im Zeithorizont einer Stadt, verbinden sie mit ihrer Vergangenheit und tragen zum Ambiente und zur Lebendigkeit bei. Das erfordert aber, dass auch die alltägliche und unspektakuläre Altbausubstanz über denkmalpflegerische oder ökonomische Überlegungen hinaus in die Stadtplanung miteinbezogen wird.

Konkurrenz oder Ergänzung?

Der Bau ist das eine. Etwas anderes ist die Frage, wer den Betrieb der Kulturinstitution auf dem Maag-Areal zukünftig bezahlt – und ob Investoren oder Eigentümer bereit sind, auf hohe Renditen zu verzichten. Was mit dem Saal der Tonhalle geschieht, stellt sich diesen Sommer heraus, wenn die Stadt entschieden hat, ob sie den Kulturbau mit rund 600 000 Fr. jährlich subventio­niert. Doch dazu muss sich eine überzeugende Trägerschaft finden, der Subventionen zustehen. Tomic Aladen von SPS, dem Besitzer des Areals, sagt: «Wir sind in verschiedenen Gesprächen bezüglich der künftigen Nutzung der Flächen – mehr können wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht dazu sagen.» Es gibt nicht beliebig viele Träger, die infrage kommen, darunter die Tonhalle-­Gesellschaft, das Kammerorchester oder die ZHdK.

Der Konzertsaal funktioniert. Aber eigentlich tut dies das ganze Maag-Areal seit mehr als 100 Jahren als ein flexibel anpassbares Gefäss. Der 2019 inven­tarisierte Bau K soll erhalten bleiben – und eventuell bleibt auch die Halle mit dem Tonhalle-Provisorium bestehen. Dass aber – wie in den Sonderbauvorschriften «Maag-­Areal Plus» optional aufgeführt – auch andere Bauten des Areals erhalten bleiben, ist bedauerlicherweise zweifelhaft, denn SPS will an ihrer Stelle Neubauten errichten.

TEC21, Fr., 2019.05.03



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TEC21 2019|18 Holzbühnen auf Zeit

08. Februar 2019Danielle Fischer
TEC21

Straff transitorisch

Zum Inkrafttreten des neuen Asylgesetzes entstehen dem Verfahren ­angepasste Bundes­asylzentren. Durch die schwierige Standortsuche ­geraten die Bedürfnisse der Asylsuchenden in den Hintergrund.

Zum Inkrafttreten des neuen Asylgesetzes entstehen dem Verfahren ­angepasste Bundes­asylzentren. Durch die schwierige Standortsuche ­geraten die Bedürfnisse der Asylsuchenden in den Hintergrund.

Seit das Stimmvolk im Juni 2016 das revidierte Asylgesetz angenommen hat, entstehen bis im Jahr 2023 18 auf das Verfahren abgestimmte Bundesasylzentren (BAZ; vgl. Kasten unten). Bis zur Eröffnung dieser Neubauten, weiter genutzten oder sanierten Altbauten und Umnutzungen in Übergangslösungen mussten die Asylsuchenden oft für Befragungen von ihren Unterkünften in andere Städte reisen, wo Spezialisten wie Dolmetscher, Juristen, Dokumentenprüfende und Befragende arbeiten.

Da es für manche dieser Personen schwierig ist, sich bei Reisen innerhalb der Schweiz zurechtzufinden, kam es zu verpassten Terminen und Verzögerungen. In den neuen Zentren wird es neben Unterkünften auch Büros für die Verfahrensbeteiligten geben, was den Prozess deutlich beschleunigen soll. Dort, wo ab März 2019 die Neubauten mit Verwaltungstrakten noch nicht stehen, werden die Arbeitsplätze in Übergangslösungen sichergestellt.

Standpunkte und langwierige Prozesse

Nicht nur, weil die Bauaufgabe neu ist, sondern auch, weil die Vorstellungen je nach politischem Standpunkt unterschiedlich sind, gehen die Meinungen darüber, wie ein solches Zentrum auszusehen hat, auseinander. Was für die einen zu luxuriös ist, finden andere entwürdigend. Auch die Standorte, die eigentlich bereits Ende 2014 hätten feststehen sollen, sind umstritten. Obwohl sich Bund, Kantone und Gemeinden auf sechs Asylregionen geeinigt haben, verlief die Suche des Bundes nach Grundstücken harzig.

Daniel Bach vom Staatssekretariat für Migration (SEM) sieht es jedoch als normal an, dass es bei so vielen Bauprojekten zu Einsprachen kommt. Für das SEM war es deshalb immer klar, dass am 1. März 2019 teilweise noch mit befristeten und Übergangs­lösungen gearbeitet werden muss – es werden aber von insgesamt 5000 mindestens 4000 Plätze in Bundesasylzentren zur Verfügung stehen. In konservativen Gemeinden, wo der Bund in dieser Sache wenig politischen Rückhalt erhält, reiht sich ein Rekurs an den anderen.

Gemäss Daniel Bach soll sich das ändern, da der Bundesrat Ende 2017 die Standorte im Sachplan Asyl festgelegt hat. Mit dem neuen Asylgesetz erhält der Bund die Kompetenz, jene Bauten und Anlagen mit einem Plangenehmigungsverfahren zu bewilligen, die ihm zur Unterbringung Asylsuchender oder zur Durchführung von Asylverfahren dienen. Es gibt weiterhin die Möglichkeit, Ent­scheide vor dem Bundesverwaltungs- bzw. Bundesgericht anzufechten. Auch im Tessin führte der Bund 25 Machbarkeitsstudien durch, bis man den Standort Balerna/Novazzano fand (vgl. «An der Grenze»).

Daniel Bach betont, das SEM versuche wo immer möglich, bestehende Gebäude des Bundes zu nutzen. Doch auch das sei mitunter schwierig. Erfolgreich wurde in Kappelen BE und in Embrach ZH je ein Altbau umgebaut und ergänzt. Bei der Standortsuche und bei der Planung von Neubauten geht viel Geld durch Reibungsverluste aufgrund von Einsprachen und Rekursen verloren.

Es ist darum verständlich, dass seitens des SEM als Betreiber die Bauten zurückhaltend gestaltet sein sollen, um unter anderem ihren temporären Charakter zu manifestieren. Bund und Kantone umschreiben die neuen Zentren auf der Website des SEM pragmatisch: «Sie werden an ganzjährig und gut erreichbaren Standorten, in funktionalen Anlagen, mit angemessenem Bewegungsraum und unter Berücksichtigung der Wirtschaftlichkeit und Effizienz des Betriebs sowie einer angemessenen Verteilung innerhalb der jeweiligen Region geplant.»

Testbetrieb und BAZ im Trendquartier

Im Vergleich zu anderen Kantonen und Städten stellt der siebenjährige Planungs- und Bauprozess des BAZ in der Stadt Zürich auf dem Duttweilerareal eine Art «Optimalfall» dar – der Bau auf dem Grund der Stadt Zürich soll Ende 2019 fertig sein.[1] Die Baukosten bezahlt der Bund durch die Miete zurück. Das Zentrum soll dann während mindestens 15 und maximal 25 Jahren betrieben werden – hernach kann es zurückgebaut werden. Da sich das Quartier rasch entwickelt, ist das Areal eine wichtige Landreserve für künftige Generationen.

Die Lage vis-à-vis der Zürcher Hochschule der Künste, einer sich im Bau befindenden Primarschule und Hotels und Geschäftshäusern stellt unter den Standorten der BAZ eine Ausnahme dar – die anderen, ausser in Basel, befinden sich nicht in den Innenstädten. Das SEM betreibt einen Testbetrieb in Zürich und einen Pilot­betrieb in Boudry, um die beschleunigten Verfahren nach neuem Recht zu testen. Auch hier nimmt die Stadt Zürich im schwei­­zerischen Asylwesen seit Jahren eine aktive, gestaltende Rolle ein.

Im städtischen Asylzentrum Juch in Zürich Altstetten, einem der Testbetriebe, sind seit 2014 Migranten untergebracht. Die Gesprächs­räume für die Befragungen und die Büros der Spezialisten befinden sich nicht weit entfernt hinter der Zürcher Hochschule der Künste. Die Erkenntnisse der untersuchten Verfah­rens­abläufe mit Asylsuchenden und Spezialisten flossen in die Planung der Neubauten der BAZ mit ein.

Prozesshafte Annäherung statt starrer Vorgaben

Das Baubüro in situ beschäftigt sich seit rund zehn Jahren mit dem Thema Flüchtlingsunterkünfte (vgl. TEC21 7–8/2016). Bei der Planung des Zürcher BAZ am Duttweilerareal berücksichtigten die Architekten die Erfahrungen aus den Testbetrieben, die sich zum Beispiel in der Zimmeraufteilung, der geschickten Trennung von Gruppen oder den Esszimmer- und Schlafraumgrössen und den ihnen zugeordneten Nutzenden abbilden. Zu Beginn schlugen sie für das BAZ auf dem Duttweilerareal kein temporäres Gebäude, sondern einen Bau zur temporären Nutzung mit kleinen Studios vor. Falls es zukünftig weniger Flüchtlinge geben sollte, wäre das ­Zentrum für studentisches Wohnen umnutzbar. Doch der Vorschlag wurde nicht bewilligt.

Das SEM war Ansprechpartner für konkrete bauliche Fragen. Dessen Auftrag für das neue BAZ an das Baubüro in situ war in seinen Grundzügen funk­tional ausgelegt – emotionale Elemente blieben eher sekundär. In zahlreichen Gesprächen entwickelten die Architekten mit dem SEM dann die detaillierte Aus­arbeitung. Wo möglich, haben sie die pragmatischen Vorgaben in den nötigen «menschlichen Massstab übersetzt» und dazu gestalterische Nischen genutzt, um Räume zu schaffen, die den Bedürfnissen Asylsuchender entgegenkommen.

Das Ausgangsprogramm umfasste Massenunterkünfte mit Sportduschen. «Oft sind es kleine Dinge wie eine zusätzliche Toilette oder die Farbe der Fassade, die einen Unterschied machen», sagt Pascal Angehrn vom Baubüro in situ. Die von den Architekten vorgeschlagenen bunten Oberflächen befand die Bauherrschaft als zu auffällig, und man einigte sich schliesslich auf gedämpfte Farben. Ein anderer Punkt war die Bauweise. Anstelle eines teuren Massivbaus schlugen die Architekten einen günstigeren und dazu wohnlicheren Holzmodulbau mit Stahlstruktur vor. Es dauerte eine Weile, um alle Beteiligten davon zu überzeugen. Inzwischen kommt die Wahl aufgrund der kurzen Bauzeit, die der Modulbau ermöglicht, allen entgegen.

Bereits im Vorfeld hatte das Baubüro bloss eineinhalb Monate Zeit für die Ausarbeitung des Bauprojekts. Dies machte es nötig, die Submissionen vor dem Urnengang auszuschreiben und die Arbeit schlimmstenfalls «à fonds perdu» abzuschreiben. Mit dem Entwurf liegen erste Erfahrungen zur architektonischen Aufgabe der BAZ vor. Zu minimalen Nutzflächen pro Person oder der Anzahl Toiletten gibt aber nach wie vor keine gesetzlichen Vorgaben. Im Wesentlichen steht es der Bauherrschaft frei, das Thema in jedem Kanton der Situation entsprechend zu interpretieren.

Die neue, dreiteilige Anlage in der Stadt Zürich besteht aus der zweigeschossigen Verwaltung mit ­Warte- und Besprechungsräumen und der Eingangszone an der Pfingstweidstrasse, dem dreigeschossigen Schlaf- und Wohntrakt sowie einem zweigeschossigen Ess- und Aufenthaltsbereich. Die vom Baubüro in situ vorgeschlagene hohe Erschliessungsfläche dient dazu, nach Bedarf Gruppen zu trennen und deren Aufeinandertreffen zu steuern.

In zahlreichen Gesprächen mit der Stadt gelang es den Architekten, die Zimmerbelegung zu verkleinern. Umgesetzt werden nun neben Familien- auch Sechserzimmer mit einer eigenen Toilette. Anstelle eines einzigen Esssaals wird es vier oder fünf kleinere geben, die auch als Jokerräume nutzbar sind. Ausserdem schaffen die Architekten mit einem öffentlichen Gemeinschaftsraum mit Internetzugang einen Ort, der die Begegnung von Asylsuchenden mit Quartierbewohnern ermöglicht. Das Studio Vulkan gestaltet die Umgebung mit Spielmöglichkeiten und Dachterrasse.

Der Vorteil dieser kurzen Planungzeit war die grosse Entscheidungsfreiheit, erzählt Pascal Angehrn. «Alles musste schnell gehen – das war auf Seiten der Bauherrschaft ungewöhnlich. Doch für uns ist das Alltag. Wir nehmen in Kauf, dass wir vielleicht die perfekte Sockelleiste nicht finden, wenn wir dafür ein Gemeinschaftszimmer durchsetzen können.»

Menschen und Verfahren

Dies wirft die Frage auf, was die Unterkünfte den Menschen in den ersten 140 Tagen, die sie in der Schweiz verbringen, bieten sollen – abgesehen von ganz grundsätzlichen Räumen für das Essen und Schlafen. Ein Ort, an den sie sich zurückziehen können, Zweier- oder Zwölferschlafräume? Eignen sich dafür neue Bauten oder den Bedürfnissen angepasste alte? Stadtanschluss oder im Gegenteil ­Abgeschiedenheit in der Natur? Ein Zentrum am Rand eines Flughafens? Auf all diese Fragen gibt es, je nach Herkunft der Migranten, unterschiedliche Antworten. Vermutlich sind sie für die Betroffenen selbst gar nicht so wichtig, denn was auf diese ersten Tagen folgt, ist in jedem Fall von grösserer Tragweite.

Wenn die meisten Asylsuchenden von dem zeitlich komprimierten Verfahren profitieren, so könnte weniger manchmal auch mehr sein: Dass es in der Vergangenheit unterkunftsmässig auch einfacher und günstiger ging, zeigen zum Beispiel die Baracken des erwähnten Zentrums Juch in Zürich ­Altstetten. Der Ort inmitten des städtischen Gefüges zwischen Autobahn und Schrebergärten, wo im Testbetrieb alleinstehende Asylsuchende in Zweierzimmern wohnen, funktioniert betrieblich bestens, sagt Daniel Bach. Nur müssen die Baracken in naher Zukunft dem neuen Eishockeysta­dion weichen. Eine weitere Nutzung wäre ohnehin nicht ­infrage gekommen, weil die Bauten nicht mehr den heutigen Brandschutz-, Akustik- und Energie­standards entsprechen.

Auf der anderen Seite stehen die Kosten für die baulichen Anpassungen der BAZ mit einem Kostendach von insgesamt 583 Mio. Franken sowie hohen Beträgen für Rekurse, Gerichtsverfahren, Anwaltskosten und Machbarkeitsstudien, dazu im Vorfeld die intensive Suche nach den Orten. Da die Zentren eigentlich längst beschlossene Sache sind, fragt man sich umso mehr, was diese retardierenden Mechanismen antreibt und ob hinter den wirtschaftlichen und baurechtlichen ­Argumenten nicht in Wirklichkeit eine Debatte über die Asylthematik ausgetragen wird.

Wenn auch das neue Verfahren vielen Migranten zugutekommt, so ist es ihnen vermutlich nicht so wichtig, ob sie in neuen richtlinien- und regelkonformen Zentren oder in alten Baracken wohnen – solange sie nicht in unterirdischen Militärbunkern hausen müssen. Die Umstände, die das Asylwesen so teuer machen, hängen unter anderem auch mit unseren eigenen Ansprüchen, der engen Entscheidungskompetenz des Bundes, den Baugesetzen und den unterschiedlichen politischen Sichtweisen der Schweizer zusammen – und nicht mit den Ansprüchen der ­Asylsuchenden. Dass der Bund hier nur bedingt Hand zu Lösungen bieten kann, ist naheliegend, handelt es sich doch weitgehend um ein gesellschaftliches Problem und nicht um eine komplizierte Bauaufgabe.

Die Bauten des Zentrums Juch verweisen aber auch auf ­die humanitäre Seite: Sie entstanden, um in den 1950er-Jahren Saisoniers aus Italien zu beherbergen. Damals bemerkte Max Frisch: «Wir riefen Arbeitskräfte, und es sind Menschen gekommen.» Auch wenn Asylsuchende nur bedingt arbeiten dürfen, so werden die meisten unter den rund 6500, die zurzeit jährlich aufgenommen werden, und insbesondere ihre Kinder es eines Tages tun. Sie wurden auch nicht direkt gerufen – aber zu den globalen Zusammenhängen, die zu Krieg und Armut führen, trägt auch die Schweiz ihren Teil bei. Mit der Unterzeichnung der Genfer Flüchtlingskonvention und den Zusatzprotokollen sind wir verpflichtet, Menschen auf der Flucht unter gewissen Bedingungen Asyl zu gewähren. Es handelt sich hierbei also keineswegs um eine entgegenkommende Geste unseres Landes.


Anmerkung:
[01] Das Bauvorhaben wurde von allen Stadtkreisen angenommen. Am höchsten war die Zustimmung im Wahlkreis des BAZ.

TEC21, Fr., 2019.02.08



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TEC21 2019|05-06 Neue Bundesasylzentren: Ungewisse Passagen

26. Oktober 2018Danielle Fischer
Hella Schindel
TEC21

Perspektivenwechsel

Touristische Unterkünfte in der Schweiz weiten sich immer öfter auf Räume aus, die ­ursprünglich anderen Nutzungen dienten. In einem ehemaligen Zollhaus in Bern und im jahrhundertealten Türalihuus in Valendas wird die Architektur ­unterschiedlich als Teil des Ferienerlebnisses inszeniert.

Touristische Unterkünfte in der Schweiz weiten sich immer öfter auf Räume aus, die ­ursprünglich anderen Nutzungen dienten. In einem ehemaligen Zollhaus in Bern und im jahrhundertealten Türalihuus in Valendas wird die Architektur ­unterschiedlich als Teil des Ferienerlebnisses inszeniert.

Die Schweiz hat keine grossen modernen Archi­tekturikonen wie das Guggenheim Museum in Bilbao oder die Hamburger Elbphilharmonie, durch die täglich zehntausende Besucher strömen. Auch historische Anlagen von der Ausstrahlung der Alhambra oder der Loire-Schlösser fehlen. So erstaunt es nicht, dass Architektur auf der Wunschliste inter­nationaler Touristen in unserem Land bestenfalls ein sekundäres Kriterium ist. An erster Stelle steht die Landschaft mit den Bergen und Seen. Dennoch prägen Dörfer, historische Stadtteile, Brücken und Viadukte diese Landschaft massgebend mit. Sie bilden ein in der Schweiz gut erhaltenes Kulturerbe und tragen zum positiven Image bei, das Reisende von unserem Land haben.

Zu diesem Bild kommt neuerdings ein touris­tischer Trend hinzu: Es müssen nicht mehr die meist­besuchten Attraktionen eines Orts abgehakt werden – im Vordergrund steht ein herausragendes, einzigartiges Erlebnis abseits des globalen Massentourismus. Und weil die Weltkarte praktisch keine weissen Flecken mehr aufweist, richtet sich der Entdeckergeist mehr und mehr nach innen. ­Hideaways, Zeitinseln und Yogakurse boomen in Städten wie auf dem Land. Für diese neuen Bedürfnisse gibt es zahlreiche Angebote – die verbindenden Elemente sind Einzigartigkeit und Authentizität.

Hier haken die Anbieter ein: Gefragt sind Unter­künfte, die ein besonderes Erlebnis versprechen. Und das ist nicht nur an das Eintauchen in eine fremde Kultur oder an ein touristisches Highlight gekoppelt. Sogar die bekannte, nahe Umgebung kann aus einem speziellen Blickwinkel neu erscheinen. Mit der Gewöhnung an provisorische Unterkünfte erfährt zudem der Anspruch an bisherige Standards eine Abfuhr: Private Gastgeber, etwa über Airbnb gebucht, bieten statt Fernseher oder Minibar Geheimtipps für ein individuelles Erleben aus der Perspektive des Einheimischen. Solange Sauberkeit und Zuverlässigkeit gewährleistet sind, lassen sich die Reisenden vermehrt zu ungewöhnlichen Übernachtungsgelegenheiten verführen. Im Zuge der Sharing Economy sind bei der Unterkunftswahl auch ökologische und moralische Überlegungen bedeutend.

Bewohnbare Geschichten

Als Verband aller Tourismusunternehmen springt Schweiz Tourismus auf diesen Zug auf und initiierte für den Sommer 2018 eine unkonventionelle Kampagne: In verschiedenen Schweizer Städten entstanden Pop-up-Hotels. Der Begriff «Hotel» erhält dabei eine erweiterte Bedeutung: Es handelt sich um Unterkünfte auf Zeit – drei bis fünf Monate – in Bauten, die eigentlich andere Funktionen erfüllten. Um den Gästeservice zu gewährleisten, sind sie jedoch einem konventionellen Betrieb angegliedert. Als gemeinsame Voraussetzung für die Wahl der Orte galt, dass sie Platz für ein Doppel­bett boten und über sanitäre Anlagen verfügten.

In Bellinzona konnte man hoch über der Stadt in einer der drei Burgen übernachten. Abends erhielt man feuerpolizeiliche Instruktionen und wurde anschliessend bis zum nächsten Morgen eingeschlossen. In Basel durfte man sich gegen alle Traditionen in einem privaten Fischergalgen am Rheinufer einquartieren, was allein baurechtlich nicht ganz unkompliziert war. Das Angebot, an einem Fischereikurs teilzunehmen und damit an die kulturelle Bestimmung anzuschliessen, machte es möglich. Sanitäre Anlagen und Frühstück bot die nahe gelegene Jugendherberge. Am besten vom Wasser aus zu erreichen war ein im Schilf verstecktes Bootshaus in Kastanienbaum, gerade gross genug, um ein Bett zu beherbergen. Von dort aus liess sich der Vierwaldstättersee aus privater Perspektive betrachten.

Der Luxus dieser Standorte liegt nicht im Komfort oder Service. Ihr Reiz bestand in der zeitlich begrenzten Existenz und der exklusiven Lage, die maximal «instagrammable» war. Die wenigen nötigen Einbauten wurden möglichst frei in die alten Räume gestellt, sodass sie anschliessend spurlos wieder entfernt werden konnten. Auf diese Weise blieb auch ihre Andersartigkeit ablesbar. Die Geschichten, die den Häusern eingeschrieben sind, werden so Teil des touristischen Erlebnisses.

Wohin es führen kann, wenn Bilder von vermeintlich unberührten Orten viral gehen, konnte man vor einiger Zeit am Beispiel des Berggasthauses Äscher in Wildkirchli AI verfolgen: Es landete auf dem Cover von «National Geographic» als einer der schönsten Orte der Welt und wurde anschliessend überrannt. Die Wirte haben zum Ende dieser Saison gekündigt. In deutlich geringerem Ausmass, aber ebenfalls über die Attraktivität der Bilder in den sozialen Netzwerken haben die Pop-up-Hotels eine grosse Nachfrage ausgelöst.

Übernachten im Zollhaus auf der Brücke

So wurde ein Hotelzimmer auf Zeit in ein ehemaliges Zollhaus zwischen der Berner Altstadt und dem Bärengraben implantiert. Es steht als einer von vier qua­dratischen Wächtern, aus dem ortstypischen grünen Sandstein gefügt, auf der Nydeggbrücke (1844) und wurde nur wenige Jahre zum Zolleintreiben benutzt: Die Idee, eine Gebühr für das Begehen der zwar privat gebauten, sich aber eindeutig im städtischen Raum ­befindlichen Brücke zu entrichten, wollte den Bernern offenbar nicht einleuchten.

Nach der späteren Nutzung als Wohnhaus des Bärenwächters und langen Zeiten des Leerstands bis zuletzt als Standort des Swiss Brand Museums, das allerdings wegen einer schwie­rigen Positionierung zwischen Kunst und Kommerz schnell wieder verschwand, hat es die Stadt Bern erneut zur Miete ausgeschrieben. Die Betreiber zweier benachbarter Restaurants ergriffen in Kooperation mit Schweiz Tourismus die Gelegenheit und beauftragten die Berner Architekten Campanile + Michetti mit dem reversiblen Ausbau der Liegenschaft.

Die Oberflächen tragen zum Teil Beschriftungen oder deren Spuren aus den Zeiten als Museum. Vor einem Fenster sind der Bärenpark, die Altstadt und tief unten der Fluss sichtbar. Der Orts reizt in diesem Fall nicht mit seiner «splendid isolation», sondern inszeniert das Wohnen inmitten des städtischen Treibens an einer Lage, wo es sonst nicht möglich ist. Die umgebenden Attraktionen, aber auch die Gesichter der hautnah vorbeiströmenden Touristen und später die nächtliche Stille über dem Wasser schaffen zusammen eine aus­sergewöhnliche Atmosphäre. Im Kanon der elf Unterkünfte, die in diesem Rahmen zur Auswahl stehen, ist die Übernachtung hier vergleichsweise günstig. Manche Angebote, deren Zimmerpreise sich zwischen 150 und 750 Franken pro Nacht bewegen, sind allerdings schlicht zu kostspielig, um eine Alternative zu Airbnb zu sein.

Fraglich ist auch, ob die Häuser über die kurzzeitige Popularität hinaus vom Projekt profitieren. Die Pop-up-Hotels werden als Magnet eingesetzt, um ein neues Licht auf vermeintlich bekannte Orte zu werfen. Folgenlos für die Umgebung fallen die Liegenschaften anschliessend in ihren Dornröschenschlaf zurück. Nachhaltigkeit scheint in diesem Zusammenhang kein Thema zu sein. Eher geht es um den Gewinn neuer Touristengruppen, und der scheint zu gelingen. Das Angebot trifft auf einen gesellschaftlichen Trend. Die Nähe, die gute Erreichbarkeit und das Fieber, das der enge Zeitrahmen auslöst, machen die Idee innerhalb des Landes attraktiv. Obschon an ein internationales Publikum gerichtet, buchen vor allem Schweizer diese Angebote. Sobald sich die Fotos ins Ausland verbreitet und das touristische Bild der Städte erweitert haben, ist aus Sicht des Marketings der Zweck der Häuser erfüllt.

Eine Reise durch Jahrhunderte

Ebenfalls vor allem von Schweizer Touristen gebucht sind die Häuser der Stiftung Ferien im Baudenkmal. Hier steht der langfristige und qualitativ hochwertige Erhalt des Kulturerbes im Fokus. Im Angebot befinden sich 26 von der Stiftung renovierte Baudenkmäler. Anders als bei den Pop-up-Hotels soll mit den einzigartigen Bauten für die Gäste eine möglichst grosse Bandbreite an Stilen und Epochen der Schweizer Baukultur in allen Landesregionen erlebbar gemacht werden. Gleichzeitig bleiben so historisch wertvolle Bauten erhalten.

Das Türalihuus im bündnerischen Valendas ist Teil eines Dorfgefüges, das seit 2004 durch die Stiftung Valendas Impuls entwickelt wird, um einer Entleerung der Gemeinde entgegenzuwirken. Das preisgekrönte Engagement richtet sich auch auf eine Reintegration leer stehender Häuser. Neben altem Schulhaus und Restaurant begab man sich auch auf die Suche nach einer Nutzung für das Türali­huus, das prominent am ­Dorfplatz steht.

Nach einer Machbarkeitsstudie durch den Heimatschutz im Jahr 2007 entstand die Idee, das ehemalige Wohnhaus für Ferienwohnungen zu nutzen und damit seine vielschichtige Gestalt mit allen Schwächen und Stärken erlebbar zu machen. Ein gewünschter Nebeneffekt der zwei wochenweise vermieteten Wohnungen ist es, die Gäste in das Dorfgeschehen einzubinden und für die Situation der Einwohner zu sensibilisieren.

Der aus dem späten Mittelalter stammende Hauptteil des Baus wurde in der ferneren Vergangenheit mehrfach um- und ausgebaut sowie aufgestockt. Die Architekten Capaul & Blumen­thal erarbeiteten mit der Denkmalpflege zunächst die verschiedenen epochalen Spuren. Malereien an der Fassade wurden in Teilen renoviert, aber nicht rekonstruiert. Auch die Innenräume wirken nicht «oberflächensaniert». Die Architekten verwendeten wenige Materialien, vor allem Holz, Stein, Luftkalk und Schmiedeisen, wie sie ursprünglich eine Rolle spielten. In den ungeheizten Erschliessungsräumen und Küchen, die hauptsächlich in Stein gefasst sind, wurden nach Bedarf neue Stufen oder Beläge zugefügt.

Die Ausstattung der mit Schweizer Klassikern eingerichteten historischen Räume ist, auch in Küchen und Bädern, komfortabel und zeitgenössisch. Dennoch muss sich der Gast den Häusern anpassen: Niedrige Türen, steile Treppen und dunkle Küchen zählen gewöhnlich nicht als Pluspunkte. In diesem Fall fordern sie aber mehr oder weniger sanft zur Auseinandersetzung mit dem Haus und seiner Geschichte, seinen Geschichten heraus, und darin liegt der eigentliche Reiz.

Lebendige Spuren und Schichten

Der Russ aus der Zeit, als man noch am offenen Feuer kochte, wurde auf den Wänden beider Küchen belassen. Nicht nur die Oberflächen verströmen Sinnlichkeit, sie liegt auch in der spärlichen Belichtung und den ­Gerüchen. Die hellen Wohnräume erzählen dagegen ­andere Geschichten: Eine Malerei von einem Paar beim Tête-à-­Tête auf dem Holztäfer befindet sich im selben Zimmer wie ein geisterhaftes Gesicht, das früher den Hintergrund eines Büfetts schmückte. In der «maserierten Stube» imitiert eine Struktur auf dem einfachen Fichten­täfer ein edleres Holz. Diese befand sich in gutem Zustand, sie musste lediglich gereinigt und mit Leinöl behandelt werden.

Je nach Nutzung sind die Holzauskleidungen von simplen Bretterwänden bis zu reich verziertem Täfer abgestuft. Wände und Decken der Schlafzimmer sind schmucklos mit alten Holzkassetten verkleidet. Aus Löchern in diesem Täfer ragen Haken und seltsame ­Ketten, die wahrscheinlich von ehemals landwirtschaftlichen Funktionen der Zimmer zeugen. Ansonsten ­strahlen die Schlafräume klösterliche Einfachheit aus.

Im Haus das Reiseziel

Die individuellen Räume zu entdecken ist ein Erlebnis voller Überraschungen. Mancherorts führen ein paar Stufen hinauf und hinab zu einer weiteren Tür, hinter der sich noch ein unerwartetes Zimmer verbirgt. Insgesamt erinnert das Haus an die alten amerikanischen Patchworkarbeiten, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben, immer wieder ausgebessert, geflickt und den veränderten Bedürfnissen angepasst wurden. In diesem Sinn werden die zukünftigen Feriengäste das Erscheinungsbild weiter verändern und ihren Teil zur Haushistorie beitragen. In seiner handwerklichen Sorgfalt – und scheinbar ohne die Substanz zu werten – wirkt der Bau kostbar und in der Zeit verankert.

Mit der Öffnung von Baudenkmälern gelangen diese aus dem bewahrenden musealen Kontext zurück in die Gesellschaft. Die Schweizer Kombination von gepflegtem Kulturgut, Landschaft, hochstehendem ­Gastronomie- und Hotelangebot kommt dem touristischen Trend zu Authentizität und Erlebnis entgegen und kann vielfältig interpretiert werden.

TEC21, Fr., 2018.10.26



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TEC21 2018|43 Zeitreisen – Tourismus in der Schweiz

13. Juli 2018Danielle Fischer
Hella Schindel
TEC21

Von Quo vadis zum Status quo

Das Motto «Freespace» der Architekturbiennale hat viele Länder veranlasst, in ihren Beiträgen eine kontemplative Haltung gegenüber der Baukultur einzunehmen: Wiederkehrende Themen sind das Weiterbauen am Bestand oder sogar das Nicht-Bauen, ausserdem das Bauen im Kontext von Natur und von Religionen.

Das Motto «Freespace» der Architekturbiennale hat viele Länder veranlasst, in ihren Beiträgen eine kontemplative Haltung gegenüber der Baukultur einzunehmen: Wiederkehrende Themen sind das Weiterbauen am Bestand oder sogar das Nicht-Bauen, ausserdem das Bauen im Kontext von Natur und von Religionen.

Grosszügigkeit ist der zentrale Begriff, auf den sich die Kuratorinnen Yvonne Farrell und Shelley McNamara immer wieder beziehen. Mit vielschichtigen Ansätzen ermutigen sie zur Wahrnehmung von Bauten als Teil einer Umgebung, die sich in Bewegung befindet – und zwar sowohl räumlich als auch zeitlich. Sie bezeichnen Grosszügigkeit auch als Grundlage einer Willkommenskultur, die durch die Politik in die Gesellschaft getragen und durch entsprechende Architektur gefördert werden muss.

Im Sinn dieser ganzheitlichen Betrachtungsweise legen die Kuratorinnen den Planenden aber auch ans Herz, Gegebenheiten wie Licht, Schatten, Wind und Erde in die Entwurfsprozesse einzubeziehen. Mit solchen Empfehlungen gerät das Manifest an den Rand des Beliebigen, sogar des Kitschs, was sich leider in manchen Beiträgen widerspiegelt (vgl. «Zu viel des Schönen»). Im Gegensatz zu der vorangegangenen Schau wirken die Statements zur neuen Bescheidenheit etwas selbstgefällig. Sie entspringen eher dem Luxus einer freiwilligen Beschränkung als der Notwendigkeit einer sozialen und radikal einfachen Architektur, die direkt bei von Armut Betroffenen zum Einsatz kommt.

Im Austausch über die vielen Länderbeiträge, die wir als anregend empfunden haben, kamen wir immer wieder auf Themen, in denen es ums Erhalten, Wiederbeleben oder gar um das Nicht-Bauen geht. Die Ausstellungen kreisen um bestehende oder zu schaffende Leerstellen, wie zum Beispiel im deutschen Pavillon, oder darum, natürliche Gegebenheiten zu akzeptieren und mit ihnen als Teil einer Landschaft umzugehen, wie im französischen Pavillon. Der Erhalt von Freiraum muss bewusst erarbeitet werden.

Weder Besitzer noch Nutzer sind dafür zur Verantwortung zu ziehen – die Pflege dieser Möglichkeitsräume unterliegt einer gesellschaftlichen Verantwortung. Im soziolo­gischen Zusammenhang führt das zu Überlegungen, den Kulturbegriff so weit zu öffnen, dass andere Lebensformen und Reli­gionen ihren Platz darin finden können. Die Qualität der Länderpavillons als Freiraum per se erhält eine besondere Bedeutung und wird als wichtige Inspiration für die Form der Ausstellungen genutzt. Die Baukörper dienen dabei nicht als Gefässe, sondern sind in ein politisch aufgeladenes Verhältnis zum Inhalt gesetzt.

Die Präsenz der Abwesenheit

So zeigt der belgische Pavillon ein Europa-blaues Amphitheater, das unbeeindruckt von der orthogonalen Struktur des Pavillons den Innenraum besetzt. Radikal durchschneidet die Grossform das Gebäude und bringt als Inbegriff gebauter Demokratie Überlegungen zu den Parlamentsgebäuden in Brüssel in Gang. Die Kura­toren dieser «Eurotopie» stellen damit ein Podium für Debatten zur Verfügung, wie sie im Europäischen Viertel in Brüssel fehlen und die zum Fortbestehen der Europäischen Gemeinschaft so wichtig sind.

Gleich­zeitig spielt die Installation auch mit dem menschlichen Massstab: In einem Raum fühlt man sich ganz klein, in einem anderen fällt einem die Decke fast auf den Kopf – ein Thema, das auch der Schweizer Pavillon %%gallerylink:42045:%% behandelt.

Auffallend viele Länder haben sich entschieden, den Pavillon vollkommen leer zu lassen, um die Besucher anzuregen, den Freiraum zu okkupieren. Besonders elegant haben das Caruso St John Architects für Grossbritannien gelöst: Der eigentliche Pavillon steht für öffentliche Veranstaltungen – auch anderer Länder – zur Verfügung. Unter dem Motto «Island» haben sie mit einfachen Baugerüsten eine Terrasse über dem Dach installiert. Die Besucher können hinaufsteigen und bis zum Meer blicken.

Die hölzerne Plattform wirkt wie ein Floss und pro­voziert Fragen nach Zuflucht und Verbannung, die seit dem Brexit über der politischen Situation des Vereinigten Königreichs, in einem anderen Zusammen­hang über dem gesamten Mittelmeerraum schweben. Das Bodenmuster, das auf die Marmormosaiken der italienischen Palazzi in nächster Nähe verweist, macht deutlich, dass diese Problematik keineswegs auf ferne Regionen begrenzt, sondern auch in der näheren Umgebung präsent ist.

Ganz ähnlich operiert der ungarische Pavillon: Im Innenhof steht ein begehbares Baugerüst, auf dem sich eine Aussichtsplattform befindet – hier allerdings als Zitat einer echten Okkupation: Als die Freiheitsbrücke in Buda­pest ertüchtigt wurde, nahm die Bevölkerung sie in Besitz.

Kein Freiraum ohne Grenze

Als seine Schattenseite untrennbar mit dem Freiraum verbunden geht der Begriff der Be­grenzung einher. Im deutschen Pavillon haben Graft Architekten gemeinsam mit Marianne Birthler, einer engagierten Politikerin und Bürgerrechtlerin aus Ostdeutschland, den heutigen Umgang mit der ehemaligen innerdeutschen Grenze untersucht. Schwarze Tafeln, die den Mauerstücken nachempfunden sind, stellen sich dem Besucher ent­gegen. Erst beim Betreten des Innenraums verwandelt sich die Geschlossenheit aus einer neuen Perspek­tive in Durchlässigkeit und zeigt auf den Rückseiten der Stelen Informationen zu den ausgewählten Grenzabschnitten.

Durch die Konfrontation mit der faschistischen Architektur des Pavillons erhält die Insze­nierung zusätzliche Eindringlichkeit. Der Todesstreifen, das Niemandsland, verliert erst langsam seinen Schrecken. Die Berliner Mauer ist inzwischen in relativ handliche Stücke zerlegt worden und grösstenteils in die Museen der Welt gewandert. Die frei gewordenen Gelände befinden sich in inner­städtischer Lage und wecken Begehrlichkeiten.

Als weitere Steigerung in der Wertschätzung von Freiraum ist das Abwenden vom Bauen insgesamt zu betrachten, so wie es das Kuratorenteam «Encore Heureux» im französischen Pavillon vorführt. Hier wird das Interesse auf bestehende Bauten gelenkt, deren Nutzung neu zu erfinden ist. Unter «Infinite Places» firmiert eine Auswahl von zehn Projekten in allen Ecken Frankreichs, die zu kreativen Brutstätten geworden sind.

In einer Zeit, in der der Architekt viel zu oft selbstbezogen und an den Interessen von Nutzern vorbei agiert, formiert sich seine Aufgabe im Team von Soziologen, Urbanisten und Umweltingenieuren neu. Abseits einer auf das Gestalten und Herstellen zielenden Tätigkeit ist er als Anwalt der baulichen Umgebung und seiner potenziellen Nutzer, als moralische Instanz gefragt. Es geht darum, Orte aufzuspüren, Bedürfnisse zu erkennen, geeignete Prozesse in Gang zu bringen und den selbstverantwortlichen Protagonisten mit fachlicher Expertise langfristig als Berater zur Seite zu stehen.

Geschichte, Natur und Nostalgie

Auffällig viele Präsentationen wenden sich von dichten Siedlungen ab und beschäftigen sich mit ländlichen und naturbelassenen Gebieten. Italien zeigt mit «Archi­pela­go Italia» unter anderem den Apennin und die Alpen samt Wäldern, Bergen und Dörfern; diese, so der Kurator Mario Cucinella, seien ein grosses Kapital Italiens.

Australiens Wohninstallation «Repair» will die Sichtweise, das Bild, unter dem Architektur normalerweise verstanden wird, verfremden: Der Raum ist ein Vegetationsfeld, das den Besuchern einen Dialog zwi­schen Architektur und gefährdeter Pflanzenwelt ermöglicht: Tausende von Pflanzen aus 65 Arten der Western Plains Grasslands sollen daran erinnern, was auf dem Spiel steht, wenn Land besetzt wird. Erstaunlich, wie die Luft im Pavillon durch die Pflanzen duftet und die Atmosphäre frischer ist als anders­wo. Daneben werden in einer experimentellen Videoserie 15 australische Architekturprojekte gezeigt, die ver­­schiedene Arten von Reparatur an der Natur aufzeigen; allerdings ist nicht immer nachvollziehbar, in welcher Form die Reparatur genau erfolgt und was sie bewirkt.

Um ein ähnliches Themenfeld kreist die Präsentation Mexikos: Urwälder, Vulkane, Seen, Erdbeben, Wüsten, Hurrikane, Häfen und Ozeane – sie seien keine Hindernisse, sondern bildeten die Besonderheiten des Territo­riums; sie seien als Möglichkeiten zu betrachten, Umgebung anders zu denken, sagt die Kuratorin Gabrie­la Etchegaray. Nach Alexander von Humboldt ver­knüpfe und verbinde Architektur als Intervention die Natur mit dem Menschen. Dass der europäische Wissensfürst für die Präzisierung des Inhalts zitiert wird, ist schade, gerade weil mexikanische Werte im Vordergund stehen sollen.

Der kanadische Pavillon geht noch einen Schritt weiter und vermittelt in einer Art New-Age-Show ein Bild der Ureinwohner des Landes als «gute Wilde», deren Lebensweise eins ist mit der Natur.

Klagemauer, Freitagsgebet und Kapellen

Architektur im religiösen Kontext ist ein Thema, dem man in verschiedenen Zusammenhängen begegnet. Drei Ausstellungsbeiträge sind Sakralbauten gewidmet. «Friday Sermon», der Beitrag von Bahrain, ist eine akustisch unterlegte Rauminstallation in Form eines schemenhaft abgesteckten Gebetsraums. Sie erforscht das Zusammenspiel von Oratorium, Ton und Raum beim Freitagsgebet. Dieses geht auf vorislamische Rituale zurück, aus deren Tradition unter anderem auch einige der schönsten Beiträge zur arabischen Literatur hervorgegangen sind. Vor und nach dem Gebet treffen sich die Gläubigen, um politische und soziale Fragen zu diskutieren – eine Moschee ist überall auf der Welt, entgegen dem Bild, das Nichtmuslime davon haben, auch ein Versammlungsraum.

Auf der Aussenseite des Gebetsraums an der Biennale wird auf weiterführende Themen eingegangen, etwa auf das akustische Problem in islamischen Städten – es gibt immer mehr Moscheen, die sich in ihren Gebetsrufen mittels Lautsprechern übertrumpfen und einen Störfaktor innerhalb der Quartiere darstellen. Es braucht Feingefühl, um zu intervenieren und Änderungen herbeizuführen.

Israels Beitrag «In Statu Quo: Structures of Negotiation» zeichnet den komplexen und widersprüchlichen Weg der Bauten auf, die der Koexistenz verschiedener Religionen dienen. Grabeskirche, Klagemauer, Mughrabi-Brücke in Jerusalem, Rachels Grab in Bethlehem und die Höhle der Patriarchen in Hebron, die als Grabesstätte der Stammesväter Abraham, Isaak und Jakob gilt, sind Baukomplexe, die mehrere Religionen zugleich für sich beanspruchen. Der Status quo dieser Monumente im Heiligen Land ist eine Verständigung zwischen den Religionsgemeinschaften in Bezug auf neun gemeinsame religiöse Stätten in Jerusalem und Bethlehem.

Dieser Weg der Koexistenz wurde, so die Ausstellungsmacher, im 19. Jahrhundert begründet. Der Blick richtet sich auf die Zusammenhänge, wie an den fünf Standorten architektonische Entscheidungen getroffen wurden und werden und wie diese deren Bauten formten und prägten. Leider ist unter den Kuratoren kein einziger arabischer Name zu finden; eine ablesbare Zusammenarbeit hätte dem interreligiösen Ansatz sicher gut zu Gesicht gestanden.

Mit einem aufwendigen Projekt ist zum ersten Mal der Vatikan mit einem Länderbeitrag vertreten. In einem Park auf der Insel San Giorgio Maggiore haben auf Einladung zehn namhafte Architekten, darunter Sir Norman Foster und Eduardo Souto de Moura, offene Kapellen gebaut. Als Referenzprojekt steht ihnen die Skogskapellet voran, die Gunnar Asplund 1920 für einen Friedhof in Stockholm geschaffen hat. Abseits vom Rummel in den Giardini ist der kontemplative Rundgang von einem Objekt zum nächsten durchaus inspirierend. Dennoch: So schön die Bauten sind, so deutlich spricht aus diesem Aufbäumen des Katholizismus die Angst vor dem Verlust an gesellschaftlicher Bedeutung.
Auf zu neuen Ufern!

Die 16. Biennale steht in vielerlei Hinsicht für die Rückbesinnung auf bestehende Werte – sei dies die Natur, die Religion oder auch historisch gewachsene Prozesse. Dabei fällt der Blick oft von aussen, vom Kontext auf die Architektur – und nicht wie bisher in umgekehrter Richtung. Architektur steht nicht mehr im Zentrum: Sie ist Gegenstand der Betrachtung, nicht Subjekt, und man fragt bescheidener nach dem, was sie umgibt und geformt hat. Der behutsame Umgang mit der Umwelt ist von bewährten Theorien untermauert und dadurch nicht guten Gewissens infrage zu stellen.

Ist die damit aufscheinende Mutlosigkeit vielleicht auf eine gewisse Verunsicherung zurückzuführen bezüglich dem, was in den letzten Jahrzehnten entstanden ist? Angesichts der vielen Fragen um Städte und Umwelt, die unsere Gegenwart und Zukunft betreffen, ist eine konservative Strategie durchaus verständlich. Dennoch wünschte man sich ein paar mutigere Statements, eine radikale Geste, mit der sich eine neue und relevante Haltung aus der Reserve wagt.

TEC21, Fr., 2018.07.13



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04. Mai 2018Danielle Fischer
TEC21

Britisch-muslimisch, ökologisch-modern

Cambridge bekommt eine Moschee – die Londoner Architekten Marks Barfield und Blumer Lehmann aus Gossau erstellten die Freiform des Dachs aus 30 stilisierten Bäumen.

Cambridge bekommt eine Moschee – die Londoner Architekten Marks Barfield und Blumer Lehmann aus Gossau erstellten die Freiform des Dachs aus 30 stilisierten Bäumen.

Architektonisch ist Cambridge für seine gotischen Universitätsbauten aus Backstein bekannt, darunter das King’s College mit der imposanten Kapelle. Doch nun entsteht in einem zentrumsnahen Wohnquartier eine der Hochschule an­gegliederte moderne Holzmoschee. Was im ersten ­Moment überraschen mag, ist auf den zweiten nachvollziehbar: Rund 7000 Muslime aus 60 Nationen wohnen, studieren oder arbeiten hier.

Obschon die Baustelle kaum über den Rohbau hinaus ist, spürt man wenig von der an solchen Orten sonst üblichen Hektik. In den Pfützen auf dem Betonboden spiegeln sich durch die provisorisch mit Plastik abgedeckten Oberlichter die Wolken am Himmel. Vielleicht herrschte eine solch kontemplative Atmosphäre mit einem Gewirr aus hölzernen Hilfsgerüsten auch um die sich im Bau befindlichen Steinstützen gotischer Kathedralen oder iranischer Freitagsmoscheen, bevor die fertigen Gewölbe in den Himmel ragten. In Cambridge gliedern 30 «Bäume» aus Schweizer und EU-Holz hain­artig die Innenräume des Neubaus. Natürlich handelt es sich nicht um wirkliche Bäume, sondern um die ­bauliche Interpretation des Themas als hölzerne Freiform.

Die Bauweise in dieser Form ist – ein wenig wie damals die gotischen Gewölbe – charakteristisch für unsere Zeit. Statt in Kathedralen macht sie jedoch Furore für repräsentative Cooperate Architecture wie beim Golfklubhaus in Yeoju in Südkorea, auf öffentlichen Plätzen wie dem Metropol Parasol in Sevilla oder bei dem sich im Bau befindenden Firmenhauptsitz von Swatch in Biel. In Cambridge kommt sie für einmal beim Dach eines Sakralbaus zum Einsatz.

Nicht nur der formale Ausdruck war schon ein gotisches Thema, sondern auch der Symbolgehalt von Stämmen, die eine Decke tragen, und Kronen, die ein Dach bilden und so Himmel und Erde verbinden. Er ist darüber hinaus aber viel älter – ein historischer Beschrieb des Hauses des Propheten Mohammed besagt, dass sein Dach auf Palmstämmen ruhte. Da er von seinem Hof aus predigte, gilt es als erste Moschee.

Würdevoll das Erbe weitertragen

Ursprünglich sahen die Architekten Marks Barfield im Wettbewerbsentwurf einen Massivbau vor. Doch schon bald stellte sich heraus, dass ein so ausgeführtes Baumthema zu teuer war. Statt darauf zu verzichten, sahen sie sich nach einer alternativen Bauweise um und wandten sich an die auf Freiformen spezialisierte Firma Blumer Lehmann aus Gossau, die sie von früher realisierten Projekten kannten.

Trotz dem nachträglichen Entscheid für eine hölzerne Tragstruktur ist vom massiven Ausgangsentwurf manches geblieben: Die Aussen- und Zwischenwände sind mit einer 20 mm starken Fassade aus Klinker­steinen verblendet, um den Eindruck zu verhindern, es handle sich um ein Provisorium. Obschon vom Hauptcampus durch die Bahnlinie getrennt, ist die Moschee Teil des Gebäudebestands der Cambridge University, die sich durch die erwähnten herrschaftli­chen Backsteinbauten auszeichnet.

«Ein Stück weit mit ­diesem würdevollen Erbe mithalten sollte das Bauwerk schon», meint Gemma Collins, leitende Architektin bei Marks Barfield. Aber bis zum Hauptcampus muss man nicht gehen, die Kombination Backstein und Holz findet ihre Referenz unmittelbar vor der Tür des Geländes: Viele Reihenhäuser bestehen hier aus einer mit Backstein verkleideten Holzstruktur.

Eine klassische Aufgabe

Eine traditionelle Moschee gliedert sich in eine Waschzone vor der Gebetshalle, die längs der gegen Mekka gewandten Gebetsrichtung, der sogenannten Qibla, angeordnet ist. In der Mitte der Qibla liegt das Mihrab, eine Nische, vor der der Iman steht, während er das Gebet vorsagt; ausserdem gehört zur Moschee meist ein Minarett. Gemma Collins meint: «Überall auf der Welt prägten neben religiösen auch kulturelle und regio­nale bauliche ­Einflüsse die Architektur von Moscheen.» Die Hallen-, Kuppel- und Iwanmoschee sind drei Grundtypen. Die Architekten haben sich für eine Mischung aus den ersten beiden entschieden.

Aber wie kommt es, dass englische Architekten mit christlichem oder jüdischem Hintergrund eine Moschee bauen – noch dazu eine, die der im späten Mittelalter gegründeten Cambridge University angegliedert ist? Vielleicht vermag die Tatsache, dass ein islamisches Gotteshaus nicht wie eine Kirche eine geweihte Stätte ist, sondern pragmatisch ein religiöser, politischer und kultureller Versammlungsort, dies ein wenig klären. Nach Einhalten seiner Gesetze – wie der Ausrichtung nach Mekka und der Kennzeichnung der Qibla – kann ein Gebetsraum in jeden bestehenden Ort eingefügt werden.

Tatsächlich gibt es in Cambridge bereits eine Moschee, die wie viele andere in England in einem entsprechend umfunktionierten Bau untergebracht ist. Timothy Winter, Professor am Cambridge Muslim College und Vorsitzender des Muslim Academic Trust, bestätigt, dass die Bauherrschaft sich als offene Gesellschaft betrachte, die Experten aus jeder Tradition und jedem Land willkommen heisse. Die Cambridge Mosque ist die erste neu geplante und gebaute Moschee im Land.

Trotzdem beängstigen die 1000 während des Ramadans zu erwartenden Muslime viele Anwohner. In der Tat wirkt die Position des Baus mitten in einem Wohn­quartier auch für Aussenstehende zunächst erklärungsbedürftig, ist aber nach der Erläuterung durchaus verständlich: Wie Timothy Winter sagt, beten viele Mo­scheebesucher bis zu fünfmal täglich, daher sei es wichtig, dass der Bau von der Uni aus schnell erreichbar ist. Das Quartier um die Mill Road, das bereits viele mus­­li­mische Bewohner hat, sei daher ein guter Standort. 30 Jahre, so sagt er, habe die Gemeinschaft nach einem geeigneten Grundstück und nach Geldgebern gesucht. Er betont auch, die Community werde nicht von einer einzelnen muslimischen Ausrichtung dominiert, sondern sei sehr heterogen. Dies sieht er als günstige Voraussetzung, um eine «britische Moschee» zu bauen.

Ökologisch und angepasst

Wie eine britische Moschee im Kontext der aktuellen Zeitfragen um den Islam aussehen soll, war ein zentraler Punkt, mit dem sich Architekten und Muslim Acade­mic Trust auseinandersetzten. Angesichts der gros­sen Anzahl Muslime in England sei es Zeit, über diese Bauaufgabe nachzudenken, sagt auch die Architektin.

Britisch an dem Bau, oder vielmehr europäisch modern – denn eine zeitgenössische britische Archi­tektur gebe es nicht mehr, ergänzt Timothy Winter –, sei der Anspruch, eine Ökomoschee zu bauen. Die Räume können im Sommer quergelüftet werden, und über 63 Oberlichter fällt Tageslicht ins Innere. Das Dach ist begrünt; für die Toiletten wird Regenwasser verwendet. Wärmepumpen sorgen in Kombination mit einem Heiz- und Kühlsystem für angenehme Temperaturen, und ein Energiemanagement gehört ebenfalls zum ökologischen Gotteshaus.

Neben der architektonisch modern interpretierten Bauaufgabe wurden mit dem Muslim Academic Trust auch inhaltliche Anpassungen in Richtung eines zeitgenössisch britischen Islam vorgenommen: Hier sollen Imame ausgebildet werden, um Inhalt und Form der Ausbildung in England zu steuern. Für die Studenten sind die Wohn­räume im oberen Stockwerk vorgesehen. ­Neben der Moschee, die ohnehin jeder betreten darf, ist auch das Café in der Eingangszone öffentlich. ­Weiter sind im Gegensatz zu traditionellen Moscheen die Gebetsbereiche der Männer und Frauen nur durch eine hüfthohe Wand separiert. Zusätzlich gibt es im ­oberen Stock ein durch eine Glasbrüstung vom Haupt­raum abgetrenntes Zimmer, in das sich die ­Frauen für das Gebet zurückziehen können.

Logistisch austariert

2011 kamen die Architekten mit dem Entwurf auf Blumer Lehmann zu. Sie erteilten ihnen ein Mandat für die Vorstudie von Statik und Design. Das war eine ideale Ausgangslage, sagt Jephtha Schaffner, Projektleiter bei Blumer Lehmann – so konnte die Firma das Projekt von Anfang an begleiten und erhielt dank offerierter Qualität und Preis den Zuschlag für die Ausführung.

Wegen des Transports per Lkw durfte der Raster nur ein maximales Mass von 8.10 m haben. Die angelieferten, mit dem Ingenieurbüro SJB Statik entwickelten Elemente messen einen Drittel der Gesamtlänge und sind mit 2.70 m per Lkw gerade noch transpor­tierbar. Nach der Herstellung in Gossau brachte man sie nach Schaffhausen und von dort nach Rotterdam. Der Lastwagenanhänger wurde mitsamt den Elementen auf die Fähre verladen.

Schaffner erzählt, dass es eine grosse Herausforderung war, alles einen Monat im Vor­aus zu planen. Jeder der 80 Lkw war eine Woche unterwegs, zwei ­Wochen vorher musste er die Bewilligungen bei den Zollbehörden in Deutschland, den Niederlanden und Grossbritannien einholen. Am Ende der Produktionskette wollten die Arbeiter in Cambridge nicht tagelang auf die Elemente warten, die aus Platzgründen in der engen Wohnstrasse just in time angeliefert wurden. Die Montage des hölzernen Rohbaus ist seit Januar 2018 fertig – bis die Moschee eröffnet wird, dauert es aber voraussichtlich noch bis Ende 2018.

TEC21, Fr., 2018.05.04



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26. Januar 2018Danielle Fischer
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Tag the Town!

Ein Stadtspaziergang verdeutlicht, wie stark Marseille von Graffiti gezeichnet ist. Die Autoren der facettenreichen Bilder und Tags – Künstler, Touristen, Gesellschaftskritiker, waghalsige Akrobaten – erzählen eine informelle Geschichte der Stadt, an der täglich neu geschrieben wird.

Ein Stadtspaziergang verdeutlicht, wie stark Marseille von Graffiti gezeichnet ist. Die Autoren der facettenreichen Bilder und Tags – Künstler, Touristen, Gesellschaftskritiker, waghalsige Akrobaten – erzählen eine informelle Geschichte der Stadt, an der täglich neu geschrieben wird.

Auf kaum zwanzig Metern begegne ich an den Hausmauern am Cours Julien einem Yeti, dem überdimensionalen Zeichen NAT und einem silber-roten Drachen. Sie alle sind umgeben von einem unüberschaubaren Geflecht an kryptischem Gekritzel auf den Fassaden der Bauten aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende. Was zu ihrem Verständnis beitragen könnte, wäre ein kleiner Babelfisch – jenes Wesen aus dem Roman «Per Anhalter durch die Galaxis», das im Ohr seines Trägers sitzt und dort jede beliebige aus­serirdische Sprache übersetzt.

Die Dichte an Graffiti und Streetart-Bildern charakterisiert seit den frühen 1980er-Jahren das Marseiller «Quartier des Créateurs» um den Cours Julien. Bis dahin war der Platz Umschlagsort für Grossisten von Importwaren aus Afrika und Händler lokaler Landwirtschaftsprodukte. Heute machen Restaurants, Läden mit biologischen Produkten und eine Sitzlandschaft mit Stufen und Wasserflächen den Platz zum vielbesuchten Aufenthaltsort von Quartierbewohnern und Touristen. Immer mehr Kreative und junge Familien aus dem Mittelstand ziehen ins vormals ärmliche Quartier, und in der Folge steigen die Wohnungspreise.

Der Widerspenstigen Zähmung …

Eigentlich ist Graffiti überall in Marseille illegal – auch am Cours Julien, meint Tito, Inhaber der Backside ­Gallery und selber ehemaliger Graffeur. Aber die Stadtverwaltung und die meisten Bewohner tolerieren die Bilder auf dem Platz und in den umliegenden Strassen – es wäre zu aufwendig, die vielen Sprayer, die dieses Quartier besuchen, zu kon­trollieren. Die Anti-Graffeur-Brigaden der Stadt konzentrieren sich vor allem auf die repräsentativen Zentrumsquartiere und Schulhäuser und überlassen den Cours den Kreativen.

Diese Strategie wird von der Tatsache begünstigt, dass das Graffitimodell am Cours geschäftsfördernd ist. Mit der Zeit hat sich daraus eine erstaunliche Symbiose aus Kommerz und Kunst ergeben: Kleine ­Boutiquen vergeben Auftragsarbeiten an Street­art-Künstler, und der Verein Juxtapoz lanciert seit 2012 das Projekt Le M.U.R.-Marseille, bei dem halbjährlich an der Seitenstrasse Rue Crudère ein eingeladener Künstler ein Mauerstück von 3 × 5 m bemalt. Ein anderes Event ist ein regelmässig stattfindendes Streetart-­Festival, bei dem Quartierbewohner und auswärtige Besucher zuschauen, wie Künstler die Wände der Openair-Galerie, die der Platz darstellt, mit neuen Werken übermalen. Unter dem Platz hat die Metrogesellschaft die Gestaltung der Station Cours Julien bei ­verschiedenen Künstlern in Auftrag gegeben, und das Tourismusbüro der Stadt bietet geführte Touren durch das Quartier an. Viele der übrigen Wände werden durch ein babylonisches Gekritzel von tausendfach überschriebenen Tags dominiert.

… oder die wahre Kunst?

Das alles hat gemäss Tito nicht viel mit ursprünglicher Streetart zu tun, sondern dient vor allem kommerziellen Zwecken. Symptomatisch zeigt sich das darin, dass die Kommunikation und die Gesetze unter den Street­art-Künstlern, die anderorts meist funktionieren, hier nicht respektiert werden. Die Situation ist ausser Kontrolle geraten, und jeder macht, was er will. Oft sind es keine Marseiller Inside-Tagger, sondern Sprayertouristen aus ganz Europa, die ihre Kürzel auf die Wände schreiben und bestehende Arbeiten respektlos übermalen.

Was Tito meint, wenn er von der wirklichen Graffitikunst spricht, findet man in einigen der kleinen Seitenstrassen. Zwar sind auch in der Gasse Armand-­Bédarrides die Erdgeschossfassaden flächendeckend bemalt, doch im Unterschied zu den Einzelbildern am Cours stellen sie als Ensemble eine eindrückliche Hommage an den früh verstorbenen Cofre dar, einen jungen Marseiller Graffeur. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion brachten seine Freunde, jeder in seinem Stil, den Schriftzug «Cofre» an den Mauern an. Der junge Mann starb 2017 im Alter von 19 Jahren, als er in einem Athener Metrodepot mit den Elektroleitungen eines Waggons in Berührung kam. Cofres Ziel war es, Metro- und Zugwaggons von möglichst vielen Bahnlinien in Europa mit seiner Signatur zu versehen.

Schade, findet Tito, wenn Leute aus anderen Ländern kommen und diese Hommage ahnungslos übermalen. Tito erläutert an der Strasse auch, was Respekt in der Sprayerszene bedeutet: Manche der Cofre-Bilder sind in die älteren, darunterliegenden farblich integriert und so eingepasst, dass sie mit dem Vorgängerbild eine ­Einheit bilden.

Auf der anderen Strassenseite des Cours Lieu­taud, hoch oben unter dem Dach an einer Brandmauer, befindet sich ein einzelnes, gut sichtbares Tag mit den Buchstaben NDC. Der Künstler ist in der Nacht vor der Demontage auf ein Gerüst gestiegen, das für die Fassadenrenovation und das Entfernen alter Graffiti angebracht worden war. Erstaunlich auch, was Tito aus den Zahlen und Buchstaben herauslesen kann, die für Uneingeweihte wie Hieroglyphen wirken – vielleicht ist er ein Babelfisch?

Wandelbare Kapitel

Graffiti erzählen eine inoffizielle Geschichte der Stadt. In manchen Fällen transportieren Streetart-Bilder ­politische und soziale oder über Auftragsarbeiten kommerzielle Aussagen. Viel öfters aber handelt es sich um Botschaften, die nur Insider entschlüsseln können.

Neben der individuellen Aussage eines Werks gibt es eine Lesbarkeit im Kontext des Stadtraums: Insgesamt legen sich die Tags, Bilder und Zeichen wie ein unregelmässiges Netz über Hausmauern, Eingangs­türen, Gara­gentore, Metroeingänge, Bänke und Briefkästen. Das Gesamtbild verändert sich täglich, wird übermalt, überklebt, ergänzt – oder es verblasst.

Die Darstellungen treten in unzähligen, kreativen Facetten in Erscheinung und verleihen im Nebeneinander Strassenzügen und sogar Stadtquartieren eine charakteristische Oberfläche – und diese Räume prägen ihrerseits wieder die Bilder und Tags: Je nachdem, ob sie darin toleriert werden oder unerwünscht sind, fallen die Darstellungen ausführlicher, grösser, sorgfältiger oder kleiner, flüchtiger und flächiger aus. Die wenig bildhaften Zeichen in vielen Strassenzügen zeugen von der Geschwindigkeit, mit der sie angebracht wurden, denn Taggen ist nach wie vor eine illegale Tätigkeit, auf die hohe Bussen verhängt werden.

Je nach Material des Untergrunds und je nach Architekturstil wirken die Bilder und Tags anders. Die Werke in einer Strasse oder einem Quartier unterscheiden sich so von denen an anderen Orten und lassen sich fast wie Kapitel eines Buchs lesen. Die Bilder in der Altstadt von Marseille, dem Panier, stammen meist von Sprayern aus dem Quartier, die sich gegenseitig und die übrigen Bewohner kennen. Diese relative Akzeptanz lässt die Arbeiten, die illegal sind und denen kein Auftrag vorausging, dennoch sorgfältig erscheinen.

Dass Sprayen im Panier vorwiegend positiv wahr­genommen wird, zeigte sich am Protest der Bewohner, als vor zwei ­Jahren die Anti-Graffiti-Brigade der Stadtverwaltung 30 Bilder um einen Platz übermalte. Einzelne Bilder – den traurigen Fischer mit den grünen ­Sardinen etwa von einem Sprayer mit dem Pseudonym Nhobi – verbindet man mit dem Panier. Die Tags und Bilder auf den Mauerflächen in und um den Kultur­komplex La Friche Belle de Mai (vgl. TRACÉS 7/2013) beim ­Bahnhof sind oft mit kulturellen Projekten verbunden, die Museen und Vereine indirekt auch staatlich subventionieren. Die flüchtigen Bilder der ärmeren Quartiers Nord drücken dagegen oftmals elementare Lebens­fragen aus.

Natürlich nimmt auch die Bevölkerung von Marseille – wie diejenige anderer Städte – Graffiti entweder als Bereicherung oder im Gegenteil als Vandalismus wahr. Einige der Ladenbesitzer am Cours Julien ärgern sich, wenn ihre Auftragsbilder innert kurzer Zeit wieder übersprüht werden. Im Gegensatz zur Schweiz jedoch kennen viele die «Stars» der Szene; man spricht über ihre Geschichten, und den Protagonisten haftet etwas Heldenhaftes an, auf das man auch ein wenig stolz ist. Diese unterschwellige Toleranz bewirkt, dass sich die Werke unbefangener ausbreiten und so Teil der Gestaltungskultur der Stadt werden.

TEC21, Fr., 2018.01.26



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TEC21 2018|04-05 Urban Colouring: zwischen Kunst und Vandalismus

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Presseschau 12

Erosion und Schönheit

Das Werk von Peter Zumthor gilt als zeitlos. Um das Verhältnis von Aufwand und Qualität einordnen zu können, haben wir einige seiner prägenden Bauten, die zwischen 1985 und 2007 entstanden, wiederbesucht.

Das Werk von Peter Zumthor gilt als zeitlos. Um das Verhältnis von Aufwand und Qualität einordnen zu können, haben wir einige seiner prägenden Bauten, die zwischen 1985 und 2007 entstanden, wiederbesucht.

Ein Architekt entwirft einen Bau mit bestimmten Proportionen, Formen und Materialien. Wie und wo er sie einsetzt und kombiniert, das und vieles mehr ist Teil seines Entwurfs. Dem Eröffnungszeitpunkt wird von Architekten und Bauherren in der Regel grosse Bedeutung beigemessen. Wenn ein Bauteil nicht funktioniert oder es von der ästhetischen Norm abweicht – sich zum Beispiel stärker verfärbt als erwartet –, dann wird der Mangel durch Garantiearbeiten behoben. Differenzen, die nicht zu korrigieren sind, werden meistens als Fehler betrachtet. Anlässlich der Fertigstellung soll der Bau eine möglichst perfekte Momentaufnahme der Ausgangsidee verkörpern und sich seinem Abbild so stark wie möglich annähern.

Wie der Architekt über diese erste, inszenierte Erscheinung des Baus hinaus mit zukünftigen Veränderungen umgeht, ist unterschiedlich. Dabei kann er eine Taktik des Verlangsamens oder Vermeidens einschlagen oder die Spuren ohne Gegenmassnahmen zulassen. Diesem direkten alltäglichen und anhaltenden Alterungsprozess misst man häufig weniger Bedeutung bei. Wie eine Fassade nach 20 oder 30 Jahren aussieht, wird selten und wenn, dann eher als mutmassliches Randphänomen in den Ausgangsentwurf einbezogen. Bei den laufend neu entwickelten Zusammensetzungen von Putzen, Farben oder Baumaterialien ist es auch kaum möglich, diese Frage eingehend zu beantworten: Langzeitstudien gibt es kaum. Doch welche Taktik gewählt wird – der Prozess setzt sofort ein: Licht, Regen, Wind und Nutzer verändern die Oberflächen. Das Bild des Baus wandelt sich langsam – und das betrifft den weitaus längsten Teil seines Bestehens.

Manche Altersspuren werden eher akzeptiert, so z. B. traditionelle, sich in der Witterung verfärbende Holzfassaden. Andere sind wenig beliebt – man denke an Algenablagerungen, an Wetterspuren auf Kompaktfassaden. Es würde sich lohnen, in Zukunft regelmässig nach 10, 20 oder 50 Jahren nochmals einen Blick auf Bauten zu werfen, die zu Beginn ihrer Entstehung gelobt wurden. Denn was ist nachhaltiger als ein Bau, der gut und schön altert? Wie sehen Mauerwerk, Verputz, Fenster oder Böden aus? Wurde renoviert und wenn ja, wie? Wie artikulieren sich diese Spuren? Stören sie oder machen sie den Bau besser?

Natürlich ist auch beim Altern die Empfindung des Betrachters subjektiv: Was schön ist und was nicht, bleibt ihm überlassen. Doch es muss darüber hinaus etwas geben, was gemeinhin als ästhetisch und an­genehm gelten kann – ähnlich wie bei menschlichen Gesichtern. Die Bauten von Peter Zumthor sind dafür bekannt, dass sie ansehnlich und würdevoll altern – darin sind sich die meisten Betrachter einig. Doch was liegt diesem Eindruck zugrunde?

Kapelle Sogn Benedetg, Sumvitg 1985–1988

Die Kapelle an einem Berghang in Sumvitg ist ein Ersatz­bau für einen älteren, von einer Lawine zerstörten Steinbau, der weiter talwärts lag. Seit Fertigstellung vor 31 Jahren haben unzählige ­Architekten und Architektinnen den kleinen, einfachen Holzbau mit Schindelfassade besucht. Seine Grundform weckt viele Asso­zia­tio­nen – Peter Zumthor beschrieb sie als einen Fisch, eine Arche, ein Auge, ein Blatt. Die Lärchenschindeln der Fassade altern seither in Sonne, Wind, Regen und Schnee. Die Südseite ist dunkel, lebendig in den Farben, aber keinesfalls monochrom; durch das unterschiedlich austretende Tannin wirkt sie auffällig gesprenkelt. Im Norden, gegen den Berg hin, ist die Farbe dagegen fast einheitlich silbern. Am schräg abfallenden Sockel sind die Holzstücke am Übergang zur Wiese fast weiss.

Eine seitlich angebrachte Treppe führt an der Bergseite über drei Stufen ins Innere. Der Boden in dem kleinen Kapellenraum schwebt im Schnitt einige Meter über dem steilen Berghang. Die Bohlen sind auf eine Unterkonstruktion verlegt, und beim Durchschreiten beginnen sie leicht zu schwingen. Ihr etwas eigensinniges Knarren wirkt, als habe es sich im Lauf der Zeit auf diesen Klang «eingestimmt». Rund um die Bänke, entlang der Wand zeigen sich die Tritte der Besucher am abgenutzten Lack, und auch zwischen den Bänken weisen die Abnutzungsspuren am Boden auf die Kirchgänger hin. Die Anwohner haben sich den Bau auf eine natürliche Art zu eigen gemacht, ihm Schränke und Bodenbeläge eingefügt, ohne damit seine luftige Wirkung zu schmälern. Die silbern gestrichene Wand schimmert im Licht, das durch den rings um die Decke angebrachten Fensterkranz ins Innere dringt. Das Silber hat über die Jahre an einigen Stellen seinen matten Glanz etwas eingebüsst und wirkt blinder als zu Beginn. Der dezent sakrale Innenraum lädt heute wie damals zur Kontemplation ein.

Kunsthaus Bregenz (A) 1989–1997

Mit grösstmöglicher Klarheit bietet das Museum Flächen, die zwischen drei vertikalen Wandscheiben aufgespannt sind. Das Tageslicht, das über die matten Glasscheiben der doppelten Aussenhaut einströmt, ist – umrahmt von den Schatten der Wände – das prägende Gestaltungselement. Es taucht die Räume in ein diffuses Licht, das tatsächlich an die Stimmung draussen über dem Bodensee erinnert. Die Technik verschwindet zwischen den vertikalen Häuten und oberhalb der abgehängten Glasdecken. Ein Schacht, der das Technik­untergeschoss mit den vier Ausstellungsetagen verbindet, sowie die Erschliessung sind ausserhalb der drei Wandscheiben angelagert, Verwaltung und Café sogar in ein eigenes Haus gerückt. Was bleibt, sind vollkommen leer geräumte Ausstellungsräume, die sich ganz in den Dienst der künstlerischen Interventionen stellen.

Die industriell anmutenden, kraftvollen Materialien bilden eine eigene Präsenz, auf die die Künstler reagieren können. Dieses Angebot verführt die Ausstellenden hin und wieder zum schonungslosen Kräftemessen. Exponate aus Gewichten, Lehm, Wachs, Feuer und Eis haben das Haus schon an den Rand seiner Belastbarkeit gebracht und ihre Spuren hinterlassen. Der tragende Baukörper ist so massiv, dass er einiges aushält. Terrazzoboden und Wände aus unbehandeltem Rohbeton wirken auf den ersten Blick monochrom. Bei genauerem Hinsehen entfaltet sich eine Landschaft aus Kleb­spuren, Flecken, Füllungen und Rissen. Die Oberflächen sind wie Speicher, die die Gegenwart der vergangenen Ausstellungen präsent halten. Die künstlerischen Werke klingen nach, bis die Eingriffe überlagert oder verblasst sind und wieder Raum für Neues geben. Wenn nötig, werden die Wände aufgebohrt und beklebt, die Glasfassaden verschattet oder die abgehängten Glasdecken entfernt, womit der Raum gut zwei Meter Höhe gewinnt.

Der Aufbau der Glasdecke und der aussen liegenden Hülle folgt dem Prinzip, dass alle Teile einzeln zugänglich sind und jederzeit demontiert und ausgetauscht werden können. So entstand in den letzten 20 Jahren ein nuanciertes Farbenspiel im Puzzle der Glastafeln, das im Lauf der Zeit immer feiner werden wird. Den radikalen Umgang der Künstler mit dem Ort nimmt ein eingespieltes Team für Technik und Restauration, das für den Unterhalt des Gebäudes zuständig ist, als Herausforderung. Es kuratiert das Haus im Wortsinn. Mit einem Blick auf die langfristige Bestands­erhaltung unterstützt es das Ausreizen des Möglichen und lässt den Spuren anschliessend Zeit zum Verschwinden. Das Geheimnis liegt hier in der Behandlung des Alterns als Wechselspiel von Markierung und Erneuerung. Die Beanspruchung verleiht dem Baukörper eine Ausdruckskraft, die mit den Jahren wächst.

Therme Vals 1990–1996

Von aussen sieht die Valser Therme beinahe aus wie vor 29 Jahren zur Zeit ihrer Eröffnung. Die innere und die äussere Schicht aus lokalem Gneis verbinden sich mit dem Betonkern zu einer selbsttragenden Konstruktion und verleihen dem Bau etwas Stoisches, Beherrschtes: Durch die massive, monolithische Gestalt scheint ihr Alter eher in dem des Steins zu liegen als in seiner ­Konstruktion und Erstellung. Im Innern reflektiert das Wasser das Licht jederzeit anders, und in einigen Räumen prägt Dunkelheit die Atmosphäre. Überall finden sich unterschiedliche Verweise auf das Verhalten der Badegäste, die Wege des Wassers und seiner Mineralien. Sie wirken im gedämpften Licht geheimnisvoll. Einige muss man suchen und entdecken wollen, andere wiederum springen ins Auge.

Viele Spuren sind durch Ablagerungen entstanden. An den Wasserausläufen im Gang vor den Garderoben und zum Dampfbad sind die Betonwände vom Ausguss bis zum Boden mit einer Mineralienkruste in schimmernden Braun- und Gelbtönen überzogen. An den Wänden der Badekammern funkeln entlang der Wasseroberfläche kristallene Streifen. Sie sind in jedem Raum unterschiedlich – wahrscheinlich hängt ihre Konsistenz mit Verputz, Temperatur und Zusammensetzung des Wassers zusammen, die in jedem Becken anders sind. In einem Raum wächst der Kalk fein, flammenförmig aus dem Wasser und umrahmt so als filigraner Kranz das Becken.

Auch die Farbe des Verputzes hat einen Einfluss – im 43 Grad heissen, roten Raum erzeugen die gewellten Rinnsale dicht unter der Wasseroberfläche den infernalischen Eindruck von geronnenem Blut. Im Blütenbad haben sich die Minerale unter Wasser über die Jahre in perlmuttartigen Schichten über die Beckenwände gelegt. Je nach Blickwinkel bricht das Wasser das Weiss, das sich zart vom rauen Stein abhebt, un­terschiedlich. Über den Sitzstufen im Wasser, wo sich die Besucher an die Wand lehnen, sind die mineralischen Schichten in flachen Ovalen wieder abgetragen. So zeigen sich manche Spuren auch im Fehlen von ­Material.

Die Wände an den Durchgängen sind von den Gesten der Besucher dort, wo sie berührt werden, leicht speckig. Auf dem Gneisboden um das ­zentrale Becken zeugen flache Mulden von unzähligen Füssen. Die ­Abnützungen verlieren sich in der Maserung des Steins und sind eher zu fühlen als zu sehen. Einige der Armaturen und Geländer sind durch den Gebrauch und das Wasser gezeichnet, und unter dem Messing wird das rötliche Kupfer sichtbar.

Die hohe Steinwand im Aussenbad ist von Rissen durchzogen – eigentlich sind sie Ausdruck der Massi­vität der Mauer und kein Zeichen von Schwäche. Dies zeigt sich auch an der Treppenwand im Aussenbad: Die weissen, flockigen Ausblühungen scheinen buchstäblich aus dem Innern der Steinwände hervorzuquellen – die Stärke des Baus entspringt nicht einer oberflächlichen Schicht, sondern kommt aus der Tiefe des Materials.

Feldkapelle Bruder Klaus, Wachendorf (D) 2001–2007

Die Geschichte der Feldkapelle Bruder Klaus begann bereits vor ihrer physischen Existenz. Peter Zumthor bildet die Entwicklung des Baukörpers auf subtile Art in der Materialisierung ab. Denn das Ringen um den geeigneten Entwurf, der Vorgang des Bauens selbst macht bereits einen starken Teil der Identität des Gebäudes aus. Dies ist sichtbar und spürbar.

Auf freiem Feld stellte der Bauherr mit Freunden zunächst eine Art Köhlerhütte aus 112 Baumstämmen auf. Zwischen glatten Schaltafeln und dem Holzzelt stampften sie Betonschichten ein. Anschliessend brannten sie das Gerüst langsam ab. Zurück blieb im Innenraum die verkohlte Oberfläche des Betons, die bis ­heute einen Geruch nach Holzfeuer ausströmt. Die gerippte Struktur der Innenwände war im neuen Zustand bereits von Spuren geprägt, die wesentlich für die sinnliche Wahrnehmung des Raums sind. Die vertikalen Stege des grobkörnigen Betons sind rau und ungleichmässig. Tritt der Besucher aus der Helligkeit in den dunklen Raum, stösst er möglicherweise an der geneigten Wand an. Lockere Kieselsteine fallen heraus, oder spitze Kanten schneiden in den Arm. Das von oben einfallende Licht spiegelt sich in einer Pfütze, deren Form der Öffnung im Dach gleicht, denn eine Mulde im Boden wiederholt ihren Umriss. Regenwasser, das über die zentrale Öffnung an den Innenwänden entlang rinnt, erzeugt verschiedene Farben auf dem Beton. Moos wächst in den Furchen, die Sonnenlicht bekommen.

Peter Zumthor hat den Innenraum mit gleicher Intensität entwickelt wie die bauliche Skulptur. Einem umgestülpten Handschuh vergleichbar besteht er zwar aus dem gleichen Material wie die äussere Hülle, überrascht aber mit einer ganz eigenen Form. Die äussere Gestalt lässt keine Rückschlüsse auf den Innenraum zu. Das hoch aufragende Volumen verbindet sich auf eine selbstverständliche Art mit der Landschaft, als wäre es ein Stapel Strohballen. Im Stampfbeton sind rote und gelbe Sande enthalten sowie Flusskiesel der Gegend, sodass er farblich ganz in der Umgebung aufgeht, sich verwurzelt. Die horizontalen Schichten der fünf Aussenflächen zeigen, in welchem Takt der Bau entstanden ist. An den Setzfugen bilden sich je nach Wetterseite Ausblühungen, Risse und Verfärbungen, die sich mit dem Baumaterial verbinden und es auf natürliche Weise beleben.

Durch den Spazierweg über die Felder tragen die Besucher den Lehm an den Sohlen in den Innenraum und bedecken nach und nach die graue Zinnbleischicht am Boden. Hervorzuheben ist, dass die ganze Kapelle nicht aus purem Lehm hergestellt wurde. Die massive Gestalt würde sich mit jedem Regenguss verformen und zum Teil der Landschaft werden und sich damit einer Kontrolle entziehen. Auf ein solches Experiment hätte man sich mit heutigen Erfahrungen im Lehmbau vielleicht eher eingelassen als zur Bauzeit der Kapelle.

Die Abwesenheit des Gerüsts, das als Brand­geruch weiterhin präsent ist, die Wettereinflüsse, die den Innenraum gestalten, ohne dass sie seine schützende Wirkung beeinträchtigen, setzen den Bau in einen zeitlichen Kontext, der vor und zurück reicht. Spuren der vergehenden Zeit sind kaum sichtbar, sondern finden in der gespeicherten Entstehungsgeschichte und der langfristigen Erosion ihren Ausdruck.

Einfachheit, Geschichte und Pflege

Während unserer Recherche sind wir auf wiederkehrende Anhaltspunkte für das qualitätvolle Altern von Zumthors Bauten gestossen. Es beginnt mit dem grossen architektonischen Massstab: Die Baukörper sind durch Kompositionslinien, Material oder Ausrichtung in einem aufmerksamen Verhältnis zur Umgebung und ihren Elementen platziert. Die Kapelle im Sumvitg hat zum Beispiel klar eine dem Wetter zugewandte und eine vor ihm geschützte Seite.

Des Weiteren wird das Material zurückhaltend in seiner rohen Form eingesetzt. Holz, Stein, Leder, Keramik, aber auch Beton sind uns in vielfältigen Zuständen und Formen vertraut. Sie haben ihre Wurzeln in unserer Baukultur. Wir kennen sie von neueren und älteren Bauten – in den Bergen, an der Sonne, an einer Verkehrs­achse, in einem Schlosshof. Sie flossen mit der Zeit in das kollektive Materialvokabular ein. Die Poesie der Stoffe tritt unverfälscht in Erscheinung. Diese Echtheit erweckt ein instinktives Vertrauen, manchmal sogar das Verlangen, das Material zu schützen. Ein künstlicher, heterogener Baustoff kann diese Verbindung in den meisten Fällen nicht herstellen, da er in unserer Zeitmessung keine Geschichte hat und laufend durch neue Materialien ersetzt wird – es ist also nicht abschätzbar, wie er nach einigen Jahren aussehen wird.

Ähnlich reduziert wie das Material sind die konstruktiven Details bei Zumthors Bauten. Die Fassade am Kunsthaus Bregenz oder die Scharniere der Bodenklappe in der Kapelle im Sumvitg unterliegen einer mechanischen Logik, die nachvollziehbar und vertraut ist. Die materielle und konstruktive Einfachheit führt zusammen mit der architektonischen Komposition zur Wahrnehmung des Baukörpers als Ganzes über eine längere Zeitachse.

Die mit dem Planungs- und Bauprozess verbundene zusätzliche Aufmerksamkeit ist oft kostenintensiv. Das hat schon so manche Bauherrschaft verschreckt. Rückblickend bestätigt sich aber die Richtigkeit dieser Haltung. Die besuchten Bauten haben nichts an Funktion oder Erscheinung eingebüsst. Das Bauen ist keine Episode, die mit der Bauübergabe abgeschlossen ist, sondern ein andauernder Prozess: Wenn Material- und Nutzungsanpassungen möglich sind, ohne ins Innerste des Gebäudes einzugreifen, bleibt es ein gültiger Teil des gegenwärtigen Geschehens, ja wächst mit der Veränderung.

Die expressive Präsenz der Häuser, ihre Beziehung zur Baukultur und ihre eigenen ablesbaren ­Geschichten schaffen die Grundlage für eine starke Identifikation. Ihr nachhaltiger und umfassender Fortbestand hängt massgeblich vom Umgang der Beteiligten beim Herstellen, Pflegen und Benutzen ab. Dies scheint uns die wichtigste Voraussetzung für ihre kontinuierliche Wertschätzung zu sein. Es entstehen Zeitzeugen, deren Ende nicht vorgezeichnet ist.

TEC21, Fr., 2019.05.17



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TEC21 2019|20 Peter Zumthor: Kontrolle und Magie

«Die Dinge in der Zeit verankern»

Eine Qualität, die Peter Zumthors Bauten prägt, ist ihr ästhetisches Alterungsverhalten. Wir haben mit ihm über Architektur gesprochen, die Jahrhunderte überdauert, über die Spuren der Zeit, über natürliche und künstliche Materialien und die Rolle, die der Geschichte beim Bauen ­zukommt.

Eine Qualität, die Peter Zumthors Bauten prägt, ist ihr ästhetisches Alterungsverhalten. Wir haben mit ihm über Architektur gesprochen, die Jahrhunderte überdauert, über die Spuren der Zeit, über natürliche und künstliche Materialien und die Rolle, die der Geschichte beim Bauen ­zukommt.

TEC21: Herr Zumthor, in der vergangenen Woche haben wir auf einer Tour durch Graubünden, in die Eifel und nach Bregenz einige Ihrer Gebäude besucht. Manche davon sind ja schon zu Ikonen geworden. Die meisten Architekten kennen sie von früheren Besuchen oder zumindest von Fotos. Wir waren neugierig zu sehen, wie sich die Bauten in der langen Zeit seit unseren ersten Besuchen verändert haben. Zu unserer Überraschung sind sie wenig gealtert. Wie beziehen Sie den Alterungsprozess eines Baus in den Entwurf mit ein?
Peter Zumthor: Ich kenne mich einigermassen aus damit, wie man natürliche Baumaterialien behandelt oder eben nicht behandelt. Wie sie altern, das hat mich schon immer interessiert. Stahl, Holz, Beton und Stein – und das sind sie schon, die ich hauptsächlich verwende. Da ist noch Keramik, Ton, Ziegel und gebrannte Ware. Ich arbeite gern mit diesen Dingen. Allein die Hölzer bieten eine grosse Palette. Es ist das Material selber und wie man damit umgeht – ich bin zufrieden, wie sich das jeweils entwickelt. Zum Beispiel das Atelier nebenan ist aus Lärchenholz. Das ist heute so, wie ich es mir beim Entwerfen in den Achtzigerjahren vorgestellt habe: silbrig auf der Nordseite und verbrannt auf der Südseite.

TEC21: Trägt der Alterungsprozess zur Schönheit der Gebäude bei?
Peter Zumthor: Sicher, das ist wie bei den Menschen, die sollen auch schön altern.

TEC21: Was heisst das genau, schön altern? Bei Menschen sagt man doch eher «würdevolles Altern».
Peter Zumthor: Ich glaube, es ist kein Zerfall. Holz, das 300 Jahre in der Sonne ist und schwarz wird, bei dem die weichen Jahresringe ausgewaschen sind und die harten hervorstehen, erhält eine eigenartige Schönheit. Es ist der Abbau von Material, aber er ist tatsächlich würdevoll. Farbe blättert ab, aber Holz tut dies nicht.

TEC21: Kann nicht auch abblätternde Farbe schön aussehen?
Peter Zumthor: Ja, das kann der Fall sein, aber in der Regel vermeide ich Farbe. Ich will nicht, dass man die Gebäude unterhalten muss, ich will, dass sie aus sich heraus schön altern. Bei der Fassade an meinem neuen Atelierhaus gegenüber habe ich zum ersten Mal etwas gemacht, das ganz gut gelungen ist: Um die ersten zehn unansehnlichen Jahre von Natur­eichenholz zu überbrücken, haben wir das Holz gebeizt und es vorbewittert, wie man es auch vom Zinkblech kennt. Die Beize ist auf Wasserbasis. Sie wäscht sich im Lauf der Jahre heraus, und dieser Prozess überschneidet sich mit dem Alterungsprozess, in dem der typische Grauton der Eiche erscheint.

TEC21: Man kann versuchen, den Alterungsprozess zu verlangsamen oder wie bei der Eiche vorwegzunehmen oder sogar zu verhindern. Wie stehen Sie dazu?
Peter Zumthor: Verhindern will ich die Alterung sicher nicht. Im Übrigen hängt das auch vom Material ab. Die Idee, in den Verwitterungsprozess der Eiche einzugreifen, hängt damit zusammen, dass sie zehn Jahre lang unschön aussieht. Wenn man geduldig ist, gewinnt sie aber ihre Schönheit zurück. Aber Keramik oder Backstein muss man nicht verändern. Das sind von Anfang an perfekte Mate­rialien, die sinnvoll eingesetzt werden können. Da können Sie meine Mutter fragen – in ihrem Haushalt hat sie Materialien immer passend eingesetzt: hier Holz, dort Keramik. Das ist auch in der Architektur das Tolle, dass man die Materialwahl mit dem ­Gebrauch begründen kann – dann wird es selbstverständlich und schön.

TEC21: Was gefällt Ihnen am Alterungsprozess in Ihrem Privathaus? Werden bestimmte Orte besser als andere, die man erneuern müsste? Gibt es Materialien, über die Sie sich freuen?
Peter Zumthor: Ich bin extrem zufrieden. Gerade hier mit der Stube. Das ist der Schweizer Ahorn, der ist gelb (Tisch), und das an den Wänden und am Boden ist kanadischer Ahorn. Der wird rötlich und dunkler, das ist bewusst so gewählt. Die Oberfläche ist geölt und geseift.

TEC21: Sie arbeiten meist mit natürlichen Materialien – ­jeder von uns kann sich altes Holz vorstellen oder Stein. Im Gegensatz dazu gibt es keine Langzeit­erfahrungen mit modernen hybriden Materialien, von denen man nicht genau weiss, wie sie sich mit den Jahrzehnten verändern.
Peter Zumthor: Ja, das ist so. Andererseits weiss man aber genug über Plastik. Das schwimmt in grossen Mengen im Meer. Dazu will ich nicht auch noch beitragen. Ich habe Mühe damit, dass wir in zehn Generationen unsere biologischen Reserven aufbrauchen, die in Billionen Jahren entstanden sind. In der biologischen Masse ist so viel Energie enthalten. Manchmal komme ich aber nicht drumherum. Die Markise da vorn ist auch ein Gewebe aus Nylon, damit sie Wetter und Licht eine Weile standhält. Klar, man muss in gewissen Fällen Kompromisse eingehen. Das Hexenmemorial in Norwegen, ein zeltartiges Objekt, wollte ich aus richtigem Segeltuch machen. Aber man hat mir gesagt, dass das alle sieben Jahre ersetzt werden müsste. Daraufhin haben wir uns für ein Gewebe aus Nylon mit einer Teflon-Beschichtung entschieden. In diesem Fall mussten wir das so machen, aber ich versuche, den Einsatz solcher Materialien zu minimieren.

TEC21: Ablagerungen und Abtragungen sind zwei ver­schiedene Altersspuren. In der Therme Vals kann man beide auf eine sinnliche Art spüren, und in der Bruder-Klaus-Kapelle gibt es Spuren von Dingen, die gar nicht mehr da sind. Geruch und Russ vom Verbrennen der inneren Schalung.
Peter Zumthor: Das habe ich mir noch nie so genau überlegt, aber Sie haben recht. Dazu gibt es neben Ablagerungen und Abtragungen noch Verfärbungen. Beim Beton ist es offensichtlich ein chemischer Prozess, durch den das Material sich selbst reinigt und heller wird. Die Wände in meinem Haus waren so dunkel, dass ich deprimiert war, als sie aus der Schalung kamen. Jetzt sind sie hell und werden zusehends noch heller. An anderen Orten bin ich umgekehrt traurig über das Aufhellen. In der Feldkapelle ist ein Minera­lisierungsprozess im Gang: Irgendetwas kommt an die Oberfläche, das das Schwarz verdrängt. Der Beton lebt. Er frisst den Russ. Eines Tages wird er nicht mehr da sein. Leider! Das Innere dort war pechschwarz, und so hatte ich es mir gewünscht.

TEC21: Ja, so etwas hat uns auch der technische Leiter vom Kunsthaus Bregenz bestätigt. In einem lang­samen Prozess lassen sich die Klebspuren an den Ausstellungswänden abwaschen. Der Rohbeton stösst den Klebstoff immer wieder von innen an die Oberfläche, wo er wiederholt abgespült werden kann, bis er irgendwann ganz verschwindet. Aber dem Ter­razzo­boden ist offenbar ein Stoff zugeschlagen, der ihn elastisch macht, damit der monolithische Belag nicht reisst. Warum möchten Sie diese Risse, die typisch für Terrazzo sind, nicht zulassen?
Peter Zumthor: Das ist mir neu. Ich wollte das sicher nicht verhindern. Wenn das so ist, dann liegen die Gründe dafür bei der Herstellerfirma. Es gibt ausserdem feine Haarrisse.

TEC21: So rein sind die Baustoffe also manchmal nicht, wie man sich das wünscht?
Peter Zumthor: Nein, das sind aber praktische Aspekte, um zum Beispiel das Arbeiten zu erleichtern. Auch die Gläser der Fassade in Bregenz sind mit Folie zwischen den Scheiben gesichert, die verhindert, dass grosse Stücke herunterfallen könnten – das sind Situationen, wo das Plastik viel kann. Aber das geschieht nicht oft.

TEC21: Im Fall der Fassade am Kunsthaus ist das mit den geklemmten Scheiben geschickt detailliert. So sind keine Bohrlöcher nötig, die eine weitere Angriffs­fläche für die Verwitterung der Plastikfolie darstellen würden.
Peter Zumthor: Ja, das wollten wir unbedingt so, dass sie ganz altmodisch aufliegen und nicht gebohrt sind.

TEC21: Ist Ihr Verständnis zum Alter von Material mit Ihren Erfahrungen ein anderes als in früheren Jahren?
Peter Zumthor: Das Altern hat mir immer gefallen. Mit dieser Vorstellung arbeite ich. Hingegen habe ich mich früher gern über fachliche Zusammenhänge hinweggesetzt – wenn ich zum Beispiel ein spezielles Detail haben oder eine bestimmte ästhetische Wirkung erzielen wollte. Im Nachhinein muss ich sagen: Gewisse Dinge sind sinnlos. Zum Beispiel die furnierte Tür hier im Atelier, die ich schon zweimal austauschen musste, und das wäre jetzt schon wieder nötig, denn das Furnierholz blättert ab. Ich musste auch andere Dinge ändern, die ich ein bisschen forciert habe: Da stand auch draussen beim Atelierhaus ein Eichen­pfosten mit dem Stirnholz auf einer Metall­platte. Ich habe zur Kenntnis nehmen müssen, dass er fault. Mein Vater, ein Schreinermeister, hatte immer gesagt, mit Eiche könne man alles machen – was offenbar nicht stimmt. Das nehme ich inzwischen ernster, ich bin sorgfältiger geworden mit den Mate­rialien.

TEC21: Und wie gehen Sie mit wirklichen Schäden an einem Bau um?
Peter Zumthor: Da gibt es kein Patentrezept. Im Kolumba in Köln besteht die Wand aus einem massiven einschaligen Mauerwerk. Nach rund acht Jahren ist auf der Westseite Wasser eingedrungen und innen ein feuchter Fleck entstanden. Der Mörtel war wohl zu fest, sodass es Haarrisse in den Fugen gegeben hat. Der Schlagregen hat dann unter dem Winddruck die Feuchtigkeit hineingedrückt, und im Sommer konnte diese nicht austrocknen. Es hat lang gedauert, eine Lösung zu finden. Jetzt hat der Dombaumeister von der Kathedrale nebenan jede Fuge der ganzen Fassade von Hand oben geschlossen und verspachtelt. Aber das sind die verdeckten Mängel, die Garantiearbeiten, die mit dem eigentlichen ­Alterungsprozess nicht viel zu tun haben.

TEC21: Gibt es ein Gebäude, das Sie sehr lieben wegen der Art, in der es altert?
Peter Zumthor: Generell finde ich alte Landschaften, alte Kunst, alte Bauten fantastisch – so die Kathedrale in Chur oder das Kloster in Müstair. Ich will auch Teil davon sein und etwas machen, das alt wird – das vor allem schön alt wird. Ich weiss nicht, ob meine Bauten je so alt werden, dass man vergisst, wer sie entworfen und gebaut hat, und nur noch die Arbeit von Menschen darin sieht. Je älter ich werde, desto mehr fasziniert mich diese Einbettung in einen historischen Kontext.

TEC21: Die Geschichte, die ein Gebäude sich einverleibt, ist vielleicht nicht sichtbar – aber ist sie auch eine Spur des Alters?
Peter Zumthor: Ja, es ist schön, einen Tisch zu haben, an dem der Grossvater schon sass. Es ist auch schön, einen Gegenstand oder ein Gebäude zu machen, das immer wieder gebraucht, geändert oder umgebaut wird – und das trotzdem oder gerade deshalb bleibt. Das verbindet mit dem Ort, aus dem man kommt. Das ist nicht so in einer billigen Neubausiedlung, wo alles nach sieben Jahren auseinanderfällt, wo das Plastik von den Decken und Fassaden herunterkommt. Ich will so bauen, dass etwas bleibt – nicht meinetwegen, sondern damit etwas in der Welt bleibt und verschiedene Menschen daran Teil haben können. Das ist wichtig – die Dinge in der Zeit zu verankern.

TEC21: Wie ist das hier in Haldenstein, am Süsswinkel, wo Sie wohnen?
Peter Zumthor: Das ist ein Langzeitprojekt. Meine Familie, meine Freunde und ich besitzen einen grossen Teil der Häuser in der Strasse. Ohne uns wären sie schon lang ersetzt durch pseudohistorische Bauten. Wir betreiben so eine Art Denkmalpflege durch Besitz. Jetzt will das Bauamt überall die Strassen erneuern. Sie haben oben im Dorf angefangen und Randsteine angebracht – klar abgegrenzte Trottoirs gegen die Strasse, hier gehen, dort fahren. Da sind einige von uns vom Süsswinkel zur Gemeindepräsidentin gegangen und haben gesagt, dass wir uns etwas anderes wünschen: Traditionell läuft bei uns der öffentliche Raum über die Strasse bis an die Türschwelle. Der Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Grund ist nicht sichtbar. Sie hat das zur Kenntnis genommen, und jetzt gibt es eine Wohn­strasse, so sind wir mit einem modernen Wort wieder beim alten Konzept.

[Das Interview führten Danielle Fischer und Hella Schindel im April 2019 in Peter Zumthors Wohnhaus in Haldenstein.]

TEC21, Fr., 2019.05.17



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03. Mai 2019Danielle Fischer
TEC21

Zugabe gefällig!

Während der Zürcher Musentempel am See renoviert wird, konzertiert das Tonhalle-Orchester in einem Provisorium im Maag-Areal. Diese vorübergehende Spielstätte von Spillmann Echsle ­Architekten kündet von mutiger Voraussicht und einem Gespür für das ­Angemessene und Machbare. Keine Frage: Als Interimslösung ist der Saal zu schade.

Während der Zürcher Musentempel am See renoviert wird, konzertiert das Tonhalle-Orchester in einem Provisorium im Maag-Areal. Diese vorübergehende Spielstätte von Spillmann Echsle ­Architekten kündet von mutiger Voraussicht und einem Gespür für das ­Angemessene und Machbare. Keine Frage: Als Interimslösung ist der Saal zu schade.

Die ein überdimensioniertes sperrhölzernes Flugobjekt aus der Pionierzeit liegt der Konzertsaal in der Fabrik­halle. Entlang der Innenfassade der Maag-­Halle mit ihren feinen Industriefenstern kann der Besucher fast ganz um den Saal herumspazieren. Die leicht wirkenden Wand­elemente aus Holz sind an Stahlstützen eingespannt, die in den rohen Betonboden gerammt sind.

Dieser erste Eindruck mag auch mit der Ausgangslage der Spielstätte als Provisorium und Teil einer Umnutzung zusammenhängen. Temporäre Bauten sind aufgrund ihrer beschränkten Lebensdauer und der meist knappen Finanzen baulich nach dem Prinzip «so viel wie nötig und so wenig wie möglich» konzipiert. Wird dabei ein Altbau umgenutzt, lassen sich zugleich Geld und Material sparen. Umso überraschender, wenn sich ein solcher Bau – wie im Fall des temporären Ton­halle­saals – im Lauf seines Gebrauchs als dauerhafter, zweckmässiger, stabiler und vielleicht sogar schöner erweist als erwartet.

Auf dem Maag-Areal hat die Strategie der Umnutzung im Kontext seiner industriellen Nutzung seit 1907 Tradition: Nach dem Konkurs der Autofabrik Safir im Jahr 1913 übernahm Max Maag die Räumlichkeiten an der Zürcher Hardstrasse und begann hier Zahnräder und später Pumpen herzustellen. Die bis ins Jahr 2002 in Zürich produzierten, hochpräzisen Maschinenteile fanden weltweit Absatz. In der Folgezeit wurde das ehemals kleine Fabrikareal immer wieder erweitert und umgebaut. Max Maag, der 1935 aus der Firma austrat und sich als Orgelbauer selbstständig machte, hätte es wahrscheinlich gefreut, aber kaum erstaunt, wenn er von dieser weiteren Umnutzung und Funktionsänderung der Fabrik zum Konzerthaus erfahren hätte.

Veränderungen mit Wirkung

Doch die Vorgeschichte, wie es zu dem neuen Saal kam, ist alles andere als gradlinig. In den Jahren 2001 bis 2003 wurde die ehemalige fünfschiffige Industriehalle in ein Musicaltheater und eine zweischiffige Event­halle umgenutzt. Aufgrund der umliegenden neuen Wohnbauten ertüchtigten Spillmann Echsle Architekten im Auftrag der Grundeigentümerin im Jahr 2015 die Gebäudehülle der Maag-Halle lärmtechnisch. Gleichzeitig wurden energetische Auflagen erfüllt und für den Gesamtkomplex eine Lüftungsanlage eingebaut. Obschon die Renovation der Tonhalle am See feststand, gab es erst vage Andeutungen, dass das Orchester im Maag-Areal eine Interimsspielstätte finden könnte. Die Abstimmung über den Baukredit und die Entschuldung der Tonhalle-Gesellschaft lag noch in weiter Ferne. Klar war allerdings: Sollte das Tonhalle-Orchester als Ensemble weiterbestehen, konnte es nicht während des Umbaus jahrelang pausieren.

Trotz der unklaren Situation machten Spillmann Echsle Architekten für die Tonhalle-Gesellschaft eine Machbarkeitsstudie in der sich bereits im Umbau befindenden ehemaligen Eventhalle und bestätigten, dass er Platz für 1200 Zuschauer bot. Allerdings war die Raumhöhe für eine gute Akustik zu niedrig. Um das Volumen zu vergrössern, hoben sie darum das Dach um einen Meter an. Ausserdem entfernten sie eine Stützenreihe in der Mitte der Halle und unterteilten aus akustischen Gründen die zur Nachbarhalle durchlaufenden Dachträger. Zwischen die zukünftigen Räumlichkeiten der Ton­halle und jene der Maag Music & Arts mit dem Musicaltheater schalteten sie schliesslich eine zusätzliche Brandschutzwand. Zusammen mit der alten Hallentrennwand spart diese nun auch eine Zone als zusätzlichen akustischen Schallpuffer aus. All das geschah innerhalb von knapp drei Monaten.

Erst Mitte 2016, nach der Annahme des Kredits durch das Zürcher Stimmvolk an der Urne, war sicher, dass das Orchester für drei Jahre im Maag-Areal unterkommen würde. Im Januar 2017 begannen die Architekten mit dem Einbau des Holzsaals und dem Innenausbau der alten Halle sowie der Nebenräume darum herum. Sechs Monate später fanden die ersten Probekonzerte statt.

Alte Hülle, neuer Kern

Nichts ist pompös, das Provisorium wirkt weitaus schlichter als die Tonhalle am See. Der heutige Haupt­eingang mit Entree, Kasse und Besuchergarderoben befindet sich in einem umgestalteten, langen Lagerraum. Von dort gelangt man in die ehemalige Härterei, die als Besucherfoyer dient. Hier und auch in den anderen umgebauten Räumen erfolgten neue Eingriffe an der Archi­tektur zurückhaltend. Grundsätzlich baute man das zurück, was im Lauf der Zeit baulich hinzugefügt worden war. Die Böden sind fast so, wie sie waren, als man mit dem Umbau begann. Zahlreiche Spuren von baulichen Anpassungen, die im Lauf der industriellen Nutzung des Areals gemacht wurden, blieben sichtbar: Die Fundamente längst entfernter Wände, Reste gelber Verkehrs- oder Parklinien für Transportvehikel oder zubetonierte Schächte erzählen von der industriellen Vergangenheit und wirken wie abstrakte Kunstfragmente. Auch alte technische Installationen an Wänden und Decken blieben am Ort, und die von Maschinen und Fahrzeugen abgeschlagenen Wandecken sind ungeflickt. Gleichwohl prägt eine neue Farbigkeit die Räume – wo früher ein funktionaler Industrieanstrich die Wände überzog, gibt es heute in der Besuchergarderobe und im Foyer einen feinen, mattgoldenen Horizont, um die festliche Funktion der Räume zu unterstreichen.

So zurückhaltend Foyer, Erschliessung und Garderoben angepasst sind, so viel gestalterische Konzentration steckt im Saal. Der an Stahlträgern präzise in der Industriehalle befestigte Klangkörper ist eine leicht und einfach wirkende Holzkonstruktion. Was auf den ersten Blick selbstverständlich wirkt, ist jedoch durch Voraussicht, durch akustischen Konsens zwischen neuer Struktur und alter Substanz sowie durch die geringen finanziellen Mittel entstanden.

Karlheinz Müller, wichtigster Konkurrent zum Elbphilharmonie-Akustiker Yasuhisa Toyota, begleitet das Tonhalle-Orchester schon seit Jahren. Dass der kristallene Klang der Akkordeons und jener der vollmundigen Hörner in der räumlichen Tiefe miteinander kommunizieren und ein Gesamtes bilden, ist unter anderem sein Verdienst: Er stellte fest, dass der Nachhall in der Maag-Halle bei leisen Konzerten ungenügend ist, und empfahl Elemente zu seiner Verlängerung. Der Nachhall hängt unter anderem von der Saalhöhe ab, die etwas zu gering ist. Im Jahr 2015 konnte die Höhe – trotz der vorausschauenden Vorgehensweise der Architekten – wegen der Gebäudekante des Nachbarbaus nur um 1 m angehoben werden. Grundsätzlich ist die Akustik im Saal aber gut, und auch die Musiker arbeiten gern darin. Sie konnten sich musikalisch sogar weiterent­wickeln. Die alte Tonhalle an der Gotthardstrasse hat akustisch einen weitaus grösseren Spielraum, jene im Maag-Areal ist dagegen sensibler, jeder falsche Ton springt ins Ohr.

Karlheinz Müller half den Architekten, die ­Winkel der Wandelemente und das Raumvolumen im Innern der Halle zu gliedern. Er ist überzeugt, dass der architektonische Entwurf eines Konzertsaals die akustischen Eigenschaften eines Raums in sich tragen muss – sie stehen also bereits mit dem Rohbau fest. Konkret weisen beim Maag-Provisorium die Holzelemente eine bestimmte Eigenschwingung auf. Die Pa­neele der Saalwände sind mit der Biegung eines Kugelradius von 110 m gegen innen doppelt gebogen und die Brüstungen leicht nach innen geneigt. Der Innenausbau machte dann noch Verbesserungen oder Korrekturen möglich, zum Beispiel beim Stoff der Sitze.

Durch den Einsatz verschiedener Mittel unter fachlicher Kompetenz ist trotz der etwas zu geringen Raumhöhe ein funktionierender Saal entstanden.

Holz im Gleichgewicht

Es gibt insgesamt 1224 Sitzplätze, und von der Estrade aus können die Zuschauer auf 440 Plätzen der Dirigentin oder dem Dirigenten direkt in die Augen schauen. Damit hat der Bau etwa 300 Plätze weniger als die Tonhalle am See. Die Stühle und sogar die Bühne lassen sich herausräumen und können bei Bedarf ins Untergeschoss abgesenkt werden.

Alle 3.22 m hohen und 8 cm dicken Holzelemente der Saalwände gelangten durch das alte Haupttor ins Halleninnere und wurden dort an eine Stahlstruktur montiert. Die nordische Fichte ist in Lettland langsamer gewachsen, als dies in der Schweiz der Fall gewesen wäre. Das Holz ist daher ausgesprochen feinporig und dicht und hat in der Qualitätsstufe A fast keine Astlöcher. «Dreischichtplatten in so grossen Dimensionen, aus so gutem Holz und so präzise verleimt – das kann die Schweizer Holzindustrie nicht leisten», sagt Architekt Harald Echsle. Die Holzelemente sind transparent gestrichen, und der von einer Langenthaler Firma «fast geschenkte» Stoff, mit dem die Holzstühle bezogen sind, verleiht dem Raum dezenten Glanz. Wichtig ist das ganzjährig konstante Raumklima im Saal­innern: Es wird im Winter mit stündlich 425 l Wasserdampf aufrecht erhalten. Wenn das Publikum zahlreich ist, muss der Luft hingegen Wasser entzogen werden. In jedem Fall gelangt währenddessen Zuluft durch über 2 Mio. Löcher im Eichenboden unhörbar in den Saal.

Zurückhaltend und voraussichtig

Die Tonhalle-Gesellschaft hat damit gerechnet, im Provisorium Stammpublikum zu verlieren. Da aber in diesem Fall weniger Prestige nicht mit weniger Ambiente verbunden ist und schon gar nicht mit geringerer musikalischer Qualität, besucht ein neues und jüngeres Publikum die Vorstellungen. Die Gäste haben zudem entdeckt, dass sie von fast überall her schneller im Maag-Areal sind als bei der Tonhalle am See.

Die Frage wird brisant: Was geschieht mit dem Raum, wenn das Orchester nächstes Jahr an den See zurückkehrt? Bestimmt ist er zu schade für ein bloss dreijähriges Bestehen. Was auf den Provisoriumscharakter hinweist, sind vor allem die relativ bescheidenen 6.5 Mio. Fr. Baukosten (siehe «Eigentum, Finanzen», S. 25). In anderen Aspekten unterscheidet sich der Bau nicht massgeblich von sogenannt «permanenten» Bauten, auch baurechtlich gibt es keinen Unterschied. Ein Verkauf des Saals durch die Tonhalle-Gesellschaft kommt aufgrund des beschränkten Budgets nicht infrage: Die Bauteile lassen sich nicht auseinandernehmen, ohne sie zu beschädigen – ein Wermutstropfen im architektonischen Konzept. Trotzdem zeigt das Beispiel, dass sich Umnutzungen nicht nur finanziell, sondern auch punkto Ressourcen lohnen. Angesichts der sich laufend weiterentwickelnden Bautechniken und -materialien ist Gebautes schneller veraltet, was wiederum den Kreislauf um Neubau und Abbruch beschleunigt. Der überwiegende Teil des Abfalls in der Schweiz stammt aus der Bauwirtschaft, und rezykliert wird das Wenigste davon. Zwar stehen Recyc­lingprojekte bei Hochschulen und Forschungsanstalten hoch im Kurs, doch Recycling allein ist nicht zielführend, um Bauen ökologischer zu machen. Dazu tragen neben Neubauten, die energetisch auf neuestem Stand sind, naheliegenderweise auch länger genutzte oder umgenutzte Altbauten bei.

Der verglichen mit anderen Ländern hochwertige Altbaubestand als reichste Bauressource unseres Landes verdient differenziertere Beachtung. Die Maag-­Halle ist ein gutes Beispiel, wie man konstruktiv und kreativ am Bestand weiterbauen und individuell angepasste Lösungen entwickeln kann – innerhalb derer auch punktuell die homogene architektonische Perfektion von Neubauten hinterfragt werden darf. Kontraste aus Alt und Neu, aus makellos und verblasst bilden einen menschlichen Massstab im Zeithorizont einer Stadt, verbinden sie mit ihrer Vergangenheit und tragen zum Ambiente und zur Lebendigkeit bei. Das erfordert aber, dass auch die alltägliche und unspektakuläre Altbausubstanz über denkmalpflegerische oder ökonomische Überlegungen hinaus in die Stadtplanung miteinbezogen wird.

Konkurrenz oder Ergänzung?

Der Bau ist das eine. Etwas anderes ist die Frage, wer den Betrieb der Kulturinstitution auf dem Maag-Areal zukünftig bezahlt – und ob Investoren oder Eigentümer bereit sind, auf hohe Renditen zu verzichten. Was mit dem Saal der Tonhalle geschieht, stellt sich diesen Sommer heraus, wenn die Stadt entschieden hat, ob sie den Kulturbau mit rund 600 000 Fr. jährlich subventio­niert. Doch dazu muss sich eine überzeugende Trägerschaft finden, der Subventionen zustehen. Tomic Aladen von SPS, dem Besitzer des Areals, sagt: «Wir sind in verschiedenen Gesprächen bezüglich der künftigen Nutzung der Flächen – mehr können wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht dazu sagen.» Es gibt nicht beliebig viele Träger, die infrage kommen, darunter die Tonhalle-­Gesellschaft, das Kammerorchester oder die ZHdK.

Der Konzertsaal funktioniert. Aber eigentlich tut dies das ganze Maag-Areal seit mehr als 100 Jahren als ein flexibel anpassbares Gefäss. Der 2019 inven­tarisierte Bau K soll erhalten bleiben – und eventuell bleibt auch die Halle mit dem Tonhalle-Provisorium bestehen. Dass aber – wie in den Sonderbauvorschriften «Maag-­Areal Plus» optional aufgeführt – auch andere Bauten des Areals erhalten bleiben, ist bedauerlicherweise zweifelhaft, denn SPS will an ihrer Stelle Neubauten errichten.

TEC21, Fr., 2019.05.03



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TEC21 2019|18 Holzbühnen auf Zeit

08. Februar 2019Danielle Fischer
TEC21

Straff transitorisch

Zum Inkrafttreten des neuen Asylgesetzes entstehen dem Verfahren ­angepasste Bundes­asylzentren. Durch die schwierige Standortsuche ­geraten die Bedürfnisse der Asylsuchenden in den Hintergrund.

Zum Inkrafttreten des neuen Asylgesetzes entstehen dem Verfahren ­angepasste Bundes­asylzentren. Durch die schwierige Standortsuche ­geraten die Bedürfnisse der Asylsuchenden in den Hintergrund.

Seit das Stimmvolk im Juni 2016 das revidierte Asylgesetz angenommen hat, entstehen bis im Jahr 2023 18 auf das Verfahren abgestimmte Bundesasylzentren (BAZ; vgl. Kasten unten). Bis zur Eröffnung dieser Neubauten, weiter genutzten oder sanierten Altbauten und Umnutzungen in Übergangslösungen mussten die Asylsuchenden oft für Befragungen von ihren Unterkünften in andere Städte reisen, wo Spezialisten wie Dolmetscher, Juristen, Dokumentenprüfende und Befragende arbeiten.

Da es für manche dieser Personen schwierig ist, sich bei Reisen innerhalb der Schweiz zurechtzufinden, kam es zu verpassten Terminen und Verzögerungen. In den neuen Zentren wird es neben Unterkünften auch Büros für die Verfahrensbeteiligten geben, was den Prozess deutlich beschleunigen soll. Dort, wo ab März 2019 die Neubauten mit Verwaltungstrakten noch nicht stehen, werden die Arbeitsplätze in Übergangslösungen sichergestellt.

Standpunkte und langwierige Prozesse

Nicht nur, weil die Bauaufgabe neu ist, sondern auch, weil die Vorstellungen je nach politischem Standpunkt unterschiedlich sind, gehen die Meinungen darüber, wie ein solches Zentrum auszusehen hat, auseinander. Was für die einen zu luxuriös ist, finden andere entwürdigend. Auch die Standorte, die eigentlich bereits Ende 2014 hätten feststehen sollen, sind umstritten. Obwohl sich Bund, Kantone und Gemeinden auf sechs Asylregionen geeinigt haben, verlief die Suche des Bundes nach Grundstücken harzig.

Daniel Bach vom Staatssekretariat für Migration (SEM) sieht es jedoch als normal an, dass es bei so vielen Bauprojekten zu Einsprachen kommt. Für das SEM war es deshalb immer klar, dass am 1. März 2019 teilweise noch mit befristeten und Übergangs­lösungen gearbeitet werden muss – es werden aber von insgesamt 5000 mindestens 4000 Plätze in Bundesasylzentren zur Verfügung stehen. In konservativen Gemeinden, wo der Bund in dieser Sache wenig politischen Rückhalt erhält, reiht sich ein Rekurs an den anderen.

Gemäss Daniel Bach soll sich das ändern, da der Bundesrat Ende 2017 die Standorte im Sachplan Asyl festgelegt hat. Mit dem neuen Asylgesetz erhält der Bund die Kompetenz, jene Bauten und Anlagen mit einem Plangenehmigungsverfahren zu bewilligen, die ihm zur Unterbringung Asylsuchender oder zur Durchführung von Asylverfahren dienen. Es gibt weiterhin die Möglichkeit, Ent­scheide vor dem Bundesverwaltungs- bzw. Bundesgericht anzufechten. Auch im Tessin führte der Bund 25 Machbarkeitsstudien durch, bis man den Standort Balerna/Novazzano fand (vgl. «An der Grenze»).

Daniel Bach betont, das SEM versuche wo immer möglich, bestehende Gebäude des Bundes zu nutzen. Doch auch das sei mitunter schwierig. Erfolgreich wurde in Kappelen BE und in Embrach ZH je ein Altbau umgebaut und ergänzt. Bei der Standortsuche und bei der Planung von Neubauten geht viel Geld durch Reibungsverluste aufgrund von Einsprachen und Rekursen verloren.

Es ist darum verständlich, dass seitens des SEM als Betreiber die Bauten zurückhaltend gestaltet sein sollen, um unter anderem ihren temporären Charakter zu manifestieren. Bund und Kantone umschreiben die neuen Zentren auf der Website des SEM pragmatisch: «Sie werden an ganzjährig und gut erreichbaren Standorten, in funktionalen Anlagen, mit angemessenem Bewegungsraum und unter Berücksichtigung der Wirtschaftlichkeit und Effizienz des Betriebs sowie einer angemessenen Verteilung innerhalb der jeweiligen Region geplant.»

Testbetrieb und BAZ im Trendquartier

Im Vergleich zu anderen Kantonen und Städten stellt der siebenjährige Planungs- und Bauprozess des BAZ in der Stadt Zürich auf dem Duttweilerareal eine Art «Optimalfall» dar – der Bau auf dem Grund der Stadt Zürich soll Ende 2019 fertig sein.[1] Die Baukosten bezahlt der Bund durch die Miete zurück. Das Zentrum soll dann während mindestens 15 und maximal 25 Jahren betrieben werden – hernach kann es zurückgebaut werden. Da sich das Quartier rasch entwickelt, ist das Areal eine wichtige Landreserve für künftige Generationen.

Die Lage vis-à-vis der Zürcher Hochschule der Künste, einer sich im Bau befindenden Primarschule und Hotels und Geschäftshäusern stellt unter den Standorten der BAZ eine Ausnahme dar – die anderen, ausser in Basel, befinden sich nicht in den Innenstädten. Das SEM betreibt einen Testbetrieb in Zürich und einen Pilot­betrieb in Boudry, um die beschleunigten Verfahren nach neuem Recht zu testen. Auch hier nimmt die Stadt Zürich im schwei­­zerischen Asylwesen seit Jahren eine aktive, gestaltende Rolle ein.

Im städtischen Asylzentrum Juch in Zürich Altstetten, einem der Testbetriebe, sind seit 2014 Migranten untergebracht. Die Gesprächs­räume für die Befragungen und die Büros der Spezialisten befinden sich nicht weit entfernt hinter der Zürcher Hochschule der Künste. Die Erkenntnisse der untersuchten Verfah­rens­abläufe mit Asylsuchenden und Spezialisten flossen in die Planung der Neubauten der BAZ mit ein.

Prozesshafte Annäherung statt starrer Vorgaben

Das Baubüro in situ beschäftigt sich seit rund zehn Jahren mit dem Thema Flüchtlingsunterkünfte (vgl. TEC21 7–8/2016). Bei der Planung des Zürcher BAZ am Duttweilerareal berücksichtigten die Architekten die Erfahrungen aus den Testbetrieben, die sich zum Beispiel in der Zimmeraufteilung, der geschickten Trennung von Gruppen oder den Esszimmer- und Schlafraumgrössen und den ihnen zugeordneten Nutzenden abbilden. Zu Beginn schlugen sie für das BAZ auf dem Duttweilerareal kein temporäres Gebäude, sondern einen Bau zur temporären Nutzung mit kleinen Studios vor. Falls es zukünftig weniger Flüchtlinge geben sollte, wäre das ­Zentrum für studentisches Wohnen umnutzbar. Doch der Vorschlag wurde nicht bewilligt.

Das SEM war Ansprechpartner für konkrete bauliche Fragen. Dessen Auftrag für das neue BAZ an das Baubüro in situ war in seinen Grundzügen funk­tional ausgelegt – emotionale Elemente blieben eher sekundär. In zahlreichen Gesprächen entwickelten die Architekten mit dem SEM dann die detaillierte Aus­arbeitung. Wo möglich, haben sie die pragmatischen Vorgaben in den nötigen «menschlichen Massstab übersetzt» und dazu gestalterische Nischen genutzt, um Räume zu schaffen, die den Bedürfnissen Asylsuchender entgegenkommen.

Das Ausgangsprogramm umfasste Massenunterkünfte mit Sportduschen. «Oft sind es kleine Dinge wie eine zusätzliche Toilette oder die Farbe der Fassade, die einen Unterschied machen», sagt Pascal Angehrn vom Baubüro in situ. Die von den Architekten vorgeschlagenen bunten Oberflächen befand die Bauherrschaft als zu auffällig, und man einigte sich schliesslich auf gedämpfte Farben. Ein anderer Punkt war die Bauweise. Anstelle eines teuren Massivbaus schlugen die Architekten einen günstigeren und dazu wohnlicheren Holzmodulbau mit Stahlstruktur vor. Es dauerte eine Weile, um alle Beteiligten davon zu überzeugen. Inzwischen kommt die Wahl aufgrund der kurzen Bauzeit, die der Modulbau ermöglicht, allen entgegen.

Bereits im Vorfeld hatte das Baubüro bloss eineinhalb Monate Zeit für die Ausarbeitung des Bauprojekts. Dies machte es nötig, die Submissionen vor dem Urnengang auszuschreiben und die Arbeit schlimmstenfalls «à fonds perdu» abzuschreiben. Mit dem Entwurf liegen erste Erfahrungen zur architektonischen Aufgabe der BAZ vor. Zu minimalen Nutzflächen pro Person oder der Anzahl Toiletten gibt aber nach wie vor keine gesetzlichen Vorgaben. Im Wesentlichen steht es der Bauherrschaft frei, das Thema in jedem Kanton der Situation entsprechend zu interpretieren.

Die neue, dreiteilige Anlage in der Stadt Zürich besteht aus der zweigeschossigen Verwaltung mit ­Warte- und Besprechungsräumen und der Eingangszone an der Pfingstweidstrasse, dem dreigeschossigen Schlaf- und Wohntrakt sowie einem zweigeschossigen Ess- und Aufenthaltsbereich. Die vom Baubüro in situ vorgeschlagene hohe Erschliessungsfläche dient dazu, nach Bedarf Gruppen zu trennen und deren Aufeinandertreffen zu steuern.

In zahlreichen Gesprächen mit der Stadt gelang es den Architekten, die Zimmerbelegung zu verkleinern. Umgesetzt werden nun neben Familien- auch Sechserzimmer mit einer eigenen Toilette. Anstelle eines einzigen Esssaals wird es vier oder fünf kleinere geben, die auch als Jokerräume nutzbar sind. Ausserdem schaffen die Architekten mit einem öffentlichen Gemeinschaftsraum mit Internetzugang einen Ort, der die Begegnung von Asylsuchenden mit Quartierbewohnern ermöglicht. Das Studio Vulkan gestaltet die Umgebung mit Spielmöglichkeiten und Dachterrasse.

Der Vorteil dieser kurzen Planungzeit war die grosse Entscheidungsfreiheit, erzählt Pascal Angehrn. «Alles musste schnell gehen – das war auf Seiten der Bauherrschaft ungewöhnlich. Doch für uns ist das Alltag. Wir nehmen in Kauf, dass wir vielleicht die perfekte Sockelleiste nicht finden, wenn wir dafür ein Gemeinschaftszimmer durchsetzen können.»

Menschen und Verfahren

Dies wirft die Frage auf, was die Unterkünfte den Menschen in den ersten 140 Tagen, die sie in der Schweiz verbringen, bieten sollen – abgesehen von ganz grundsätzlichen Räumen für das Essen und Schlafen. Ein Ort, an den sie sich zurückziehen können, Zweier- oder Zwölferschlafräume? Eignen sich dafür neue Bauten oder den Bedürfnissen angepasste alte? Stadtanschluss oder im Gegenteil ­Abgeschiedenheit in der Natur? Ein Zentrum am Rand eines Flughafens? Auf all diese Fragen gibt es, je nach Herkunft der Migranten, unterschiedliche Antworten. Vermutlich sind sie für die Betroffenen selbst gar nicht so wichtig, denn was auf diese ersten Tagen folgt, ist in jedem Fall von grösserer Tragweite.

Wenn die meisten Asylsuchenden von dem zeitlich komprimierten Verfahren profitieren, so könnte weniger manchmal auch mehr sein: Dass es in der Vergangenheit unterkunftsmässig auch einfacher und günstiger ging, zeigen zum Beispiel die Baracken des erwähnten Zentrums Juch in Zürich ­Altstetten. Der Ort inmitten des städtischen Gefüges zwischen Autobahn und Schrebergärten, wo im Testbetrieb alleinstehende Asylsuchende in Zweierzimmern wohnen, funktioniert betrieblich bestens, sagt Daniel Bach. Nur müssen die Baracken in naher Zukunft dem neuen Eishockeysta­dion weichen. Eine weitere Nutzung wäre ohnehin nicht ­infrage gekommen, weil die Bauten nicht mehr den heutigen Brandschutz-, Akustik- und Energie­standards entsprechen.

Auf der anderen Seite stehen die Kosten für die baulichen Anpassungen der BAZ mit einem Kostendach von insgesamt 583 Mio. Franken sowie hohen Beträgen für Rekurse, Gerichtsverfahren, Anwaltskosten und Machbarkeitsstudien, dazu im Vorfeld die intensive Suche nach den Orten. Da die Zentren eigentlich längst beschlossene Sache sind, fragt man sich umso mehr, was diese retardierenden Mechanismen antreibt und ob hinter den wirtschaftlichen und baurechtlichen ­Argumenten nicht in Wirklichkeit eine Debatte über die Asylthematik ausgetragen wird.

Wenn auch das neue Verfahren vielen Migranten zugutekommt, so ist es ihnen vermutlich nicht so wichtig, ob sie in neuen richtlinien- und regelkonformen Zentren oder in alten Baracken wohnen – solange sie nicht in unterirdischen Militärbunkern hausen müssen. Die Umstände, die das Asylwesen so teuer machen, hängen unter anderem auch mit unseren eigenen Ansprüchen, der engen Entscheidungskompetenz des Bundes, den Baugesetzen und den unterschiedlichen politischen Sichtweisen der Schweizer zusammen – und nicht mit den Ansprüchen der ­Asylsuchenden. Dass der Bund hier nur bedingt Hand zu Lösungen bieten kann, ist naheliegend, handelt es sich doch weitgehend um ein gesellschaftliches Problem und nicht um eine komplizierte Bauaufgabe.

Die Bauten des Zentrums Juch verweisen aber auch auf ­die humanitäre Seite: Sie entstanden, um in den 1950er-Jahren Saisoniers aus Italien zu beherbergen. Damals bemerkte Max Frisch: «Wir riefen Arbeitskräfte, und es sind Menschen gekommen.» Auch wenn Asylsuchende nur bedingt arbeiten dürfen, so werden die meisten unter den rund 6500, die zurzeit jährlich aufgenommen werden, und insbesondere ihre Kinder es eines Tages tun. Sie wurden auch nicht direkt gerufen – aber zu den globalen Zusammenhängen, die zu Krieg und Armut führen, trägt auch die Schweiz ihren Teil bei. Mit der Unterzeichnung der Genfer Flüchtlingskonvention und den Zusatzprotokollen sind wir verpflichtet, Menschen auf der Flucht unter gewissen Bedingungen Asyl zu gewähren. Es handelt sich hierbei also keineswegs um eine entgegenkommende Geste unseres Landes.


Anmerkung:
[01] Das Bauvorhaben wurde von allen Stadtkreisen angenommen. Am höchsten war die Zustimmung im Wahlkreis des BAZ.

TEC21, Fr., 2019.02.08



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26. Oktober 2018Danielle Fischer
Hella Schindel
TEC21

Perspektivenwechsel

Touristische Unterkünfte in der Schweiz weiten sich immer öfter auf Räume aus, die ­ursprünglich anderen Nutzungen dienten. In einem ehemaligen Zollhaus in Bern und im jahrhundertealten Türalihuus in Valendas wird die Architektur ­unterschiedlich als Teil des Ferienerlebnisses inszeniert.

Touristische Unterkünfte in der Schweiz weiten sich immer öfter auf Räume aus, die ­ursprünglich anderen Nutzungen dienten. In einem ehemaligen Zollhaus in Bern und im jahrhundertealten Türalihuus in Valendas wird die Architektur ­unterschiedlich als Teil des Ferienerlebnisses inszeniert.

Die Schweiz hat keine grossen modernen Archi­tekturikonen wie das Guggenheim Museum in Bilbao oder die Hamburger Elbphilharmonie, durch die täglich zehntausende Besucher strömen. Auch historische Anlagen von der Ausstrahlung der Alhambra oder der Loire-Schlösser fehlen. So erstaunt es nicht, dass Architektur auf der Wunschliste inter­nationaler Touristen in unserem Land bestenfalls ein sekundäres Kriterium ist. An erster Stelle steht die Landschaft mit den Bergen und Seen. Dennoch prägen Dörfer, historische Stadtteile, Brücken und Viadukte diese Landschaft massgebend mit. Sie bilden ein in der Schweiz gut erhaltenes Kulturerbe und tragen zum positiven Image bei, das Reisende von unserem Land haben.

Zu diesem Bild kommt neuerdings ein touris­tischer Trend hinzu: Es müssen nicht mehr die meist­besuchten Attraktionen eines Orts abgehakt werden – im Vordergrund steht ein herausragendes, einzigartiges Erlebnis abseits des globalen Massentourismus. Und weil die Weltkarte praktisch keine weissen Flecken mehr aufweist, richtet sich der Entdeckergeist mehr und mehr nach innen. ­Hideaways, Zeitinseln und Yogakurse boomen in Städten wie auf dem Land. Für diese neuen Bedürfnisse gibt es zahlreiche Angebote – die verbindenden Elemente sind Einzigartigkeit und Authentizität.

Hier haken die Anbieter ein: Gefragt sind Unter­künfte, die ein besonderes Erlebnis versprechen. Und das ist nicht nur an das Eintauchen in eine fremde Kultur oder an ein touristisches Highlight gekoppelt. Sogar die bekannte, nahe Umgebung kann aus einem speziellen Blickwinkel neu erscheinen. Mit der Gewöhnung an provisorische Unterkünfte erfährt zudem der Anspruch an bisherige Standards eine Abfuhr: Private Gastgeber, etwa über Airbnb gebucht, bieten statt Fernseher oder Minibar Geheimtipps für ein individuelles Erleben aus der Perspektive des Einheimischen. Solange Sauberkeit und Zuverlässigkeit gewährleistet sind, lassen sich die Reisenden vermehrt zu ungewöhnlichen Übernachtungsgelegenheiten verführen. Im Zuge der Sharing Economy sind bei der Unterkunftswahl auch ökologische und moralische Überlegungen bedeutend.

Bewohnbare Geschichten

Als Verband aller Tourismusunternehmen springt Schweiz Tourismus auf diesen Zug auf und initiierte für den Sommer 2018 eine unkonventionelle Kampagne: In verschiedenen Schweizer Städten entstanden Pop-up-Hotels. Der Begriff «Hotel» erhält dabei eine erweiterte Bedeutung: Es handelt sich um Unterkünfte auf Zeit – drei bis fünf Monate – in Bauten, die eigentlich andere Funktionen erfüllten. Um den Gästeservice zu gewährleisten, sind sie jedoch einem konventionellen Betrieb angegliedert. Als gemeinsame Voraussetzung für die Wahl der Orte galt, dass sie Platz für ein Doppel­bett boten und über sanitäre Anlagen verfügten.

In Bellinzona konnte man hoch über der Stadt in einer der drei Burgen übernachten. Abends erhielt man feuerpolizeiliche Instruktionen und wurde anschliessend bis zum nächsten Morgen eingeschlossen. In Basel durfte man sich gegen alle Traditionen in einem privaten Fischergalgen am Rheinufer einquartieren, was allein baurechtlich nicht ganz unkompliziert war. Das Angebot, an einem Fischereikurs teilzunehmen und damit an die kulturelle Bestimmung anzuschliessen, machte es möglich. Sanitäre Anlagen und Frühstück bot die nahe gelegene Jugendherberge. Am besten vom Wasser aus zu erreichen war ein im Schilf verstecktes Bootshaus in Kastanienbaum, gerade gross genug, um ein Bett zu beherbergen. Von dort aus liess sich der Vierwaldstättersee aus privater Perspektive betrachten.

Der Luxus dieser Standorte liegt nicht im Komfort oder Service. Ihr Reiz bestand in der zeitlich begrenzten Existenz und der exklusiven Lage, die maximal «instagrammable» war. Die wenigen nötigen Einbauten wurden möglichst frei in die alten Räume gestellt, sodass sie anschliessend spurlos wieder entfernt werden konnten. Auf diese Weise blieb auch ihre Andersartigkeit ablesbar. Die Geschichten, die den Häusern eingeschrieben sind, werden so Teil des touristischen Erlebnisses.

Wohin es führen kann, wenn Bilder von vermeintlich unberührten Orten viral gehen, konnte man vor einiger Zeit am Beispiel des Berggasthauses Äscher in Wildkirchli AI verfolgen: Es landete auf dem Cover von «National Geographic» als einer der schönsten Orte der Welt und wurde anschliessend überrannt. Die Wirte haben zum Ende dieser Saison gekündigt. In deutlich geringerem Ausmass, aber ebenfalls über die Attraktivität der Bilder in den sozialen Netzwerken haben die Pop-up-Hotels eine grosse Nachfrage ausgelöst.

Übernachten im Zollhaus auf der Brücke

So wurde ein Hotelzimmer auf Zeit in ein ehemaliges Zollhaus zwischen der Berner Altstadt und dem Bärengraben implantiert. Es steht als einer von vier qua­dratischen Wächtern, aus dem ortstypischen grünen Sandstein gefügt, auf der Nydeggbrücke (1844) und wurde nur wenige Jahre zum Zolleintreiben benutzt: Die Idee, eine Gebühr für das Begehen der zwar privat gebauten, sich aber eindeutig im städtischen Raum ­befindlichen Brücke zu entrichten, wollte den Bernern offenbar nicht einleuchten.

Nach der späteren Nutzung als Wohnhaus des Bärenwächters und langen Zeiten des Leerstands bis zuletzt als Standort des Swiss Brand Museums, das allerdings wegen einer schwie­rigen Positionierung zwischen Kunst und Kommerz schnell wieder verschwand, hat es die Stadt Bern erneut zur Miete ausgeschrieben. Die Betreiber zweier benachbarter Restaurants ergriffen in Kooperation mit Schweiz Tourismus die Gelegenheit und beauftragten die Berner Architekten Campanile + Michetti mit dem reversiblen Ausbau der Liegenschaft.

Die Oberflächen tragen zum Teil Beschriftungen oder deren Spuren aus den Zeiten als Museum. Vor einem Fenster sind der Bärenpark, die Altstadt und tief unten der Fluss sichtbar. Der Orts reizt in diesem Fall nicht mit seiner «splendid isolation», sondern inszeniert das Wohnen inmitten des städtischen Treibens an einer Lage, wo es sonst nicht möglich ist. Die umgebenden Attraktionen, aber auch die Gesichter der hautnah vorbeiströmenden Touristen und später die nächtliche Stille über dem Wasser schaffen zusammen eine aus­sergewöhnliche Atmosphäre. Im Kanon der elf Unterkünfte, die in diesem Rahmen zur Auswahl stehen, ist die Übernachtung hier vergleichsweise günstig. Manche Angebote, deren Zimmerpreise sich zwischen 150 und 750 Franken pro Nacht bewegen, sind allerdings schlicht zu kostspielig, um eine Alternative zu Airbnb zu sein.

Fraglich ist auch, ob die Häuser über die kurzzeitige Popularität hinaus vom Projekt profitieren. Die Pop-up-Hotels werden als Magnet eingesetzt, um ein neues Licht auf vermeintlich bekannte Orte zu werfen. Folgenlos für die Umgebung fallen die Liegenschaften anschliessend in ihren Dornröschenschlaf zurück. Nachhaltigkeit scheint in diesem Zusammenhang kein Thema zu sein. Eher geht es um den Gewinn neuer Touristengruppen, und der scheint zu gelingen. Das Angebot trifft auf einen gesellschaftlichen Trend. Die Nähe, die gute Erreichbarkeit und das Fieber, das der enge Zeitrahmen auslöst, machen die Idee innerhalb des Landes attraktiv. Obschon an ein internationales Publikum gerichtet, buchen vor allem Schweizer diese Angebote. Sobald sich die Fotos ins Ausland verbreitet und das touristische Bild der Städte erweitert haben, ist aus Sicht des Marketings der Zweck der Häuser erfüllt.

Eine Reise durch Jahrhunderte

Ebenfalls vor allem von Schweizer Touristen gebucht sind die Häuser der Stiftung Ferien im Baudenkmal. Hier steht der langfristige und qualitativ hochwertige Erhalt des Kulturerbes im Fokus. Im Angebot befinden sich 26 von der Stiftung renovierte Baudenkmäler. Anders als bei den Pop-up-Hotels soll mit den einzigartigen Bauten für die Gäste eine möglichst grosse Bandbreite an Stilen und Epochen der Schweizer Baukultur in allen Landesregionen erlebbar gemacht werden. Gleichzeitig bleiben so historisch wertvolle Bauten erhalten.

Das Türalihuus im bündnerischen Valendas ist Teil eines Dorfgefüges, das seit 2004 durch die Stiftung Valendas Impuls entwickelt wird, um einer Entleerung der Gemeinde entgegenzuwirken. Das preisgekrönte Engagement richtet sich auch auf eine Reintegration leer stehender Häuser. Neben altem Schulhaus und Restaurant begab man sich auch auf die Suche nach einer Nutzung für das Türali­huus, das prominent am ­Dorfplatz steht.

Nach einer Machbarkeitsstudie durch den Heimatschutz im Jahr 2007 entstand die Idee, das ehemalige Wohnhaus für Ferienwohnungen zu nutzen und damit seine vielschichtige Gestalt mit allen Schwächen und Stärken erlebbar zu machen. Ein gewünschter Nebeneffekt der zwei wochenweise vermieteten Wohnungen ist es, die Gäste in das Dorfgeschehen einzubinden und für die Situation der Einwohner zu sensibilisieren.

Der aus dem späten Mittelalter stammende Hauptteil des Baus wurde in der ferneren Vergangenheit mehrfach um- und ausgebaut sowie aufgestockt. Die Architekten Capaul & Blumen­thal erarbeiteten mit der Denkmalpflege zunächst die verschiedenen epochalen Spuren. Malereien an der Fassade wurden in Teilen renoviert, aber nicht rekonstruiert. Auch die Innenräume wirken nicht «oberflächensaniert». Die Architekten verwendeten wenige Materialien, vor allem Holz, Stein, Luftkalk und Schmiedeisen, wie sie ursprünglich eine Rolle spielten. In den ungeheizten Erschliessungsräumen und Küchen, die hauptsächlich in Stein gefasst sind, wurden nach Bedarf neue Stufen oder Beläge zugefügt.

Die Ausstattung der mit Schweizer Klassikern eingerichteten historischen Räume ist, auch in Küchen und Bädern, komfortabel und zeitgenössisch. Dennoch muss sich der Gast den Häusern anpassen: Niedrige Türen, steile Treppen und dunkle Küchen zählen gewöhnlich nicht als Pluspunkte. In diesem Fall fordern sie aber mehr oder weniger sanft zur Auseinandersetzung mit dem Haus und seiner Geschichte, seinen Geschichten heraus, und darin liegt der eigentliche Reiz.

Lebendige Spuren und Schichten

Der Russ aus der Zeit, als man noch am offenen Feuer kochte, wurde auf den Wänden beider Küchen belassen. Nicht nur die Oberflächen verströmen Sinnlichkeit, sie liegt auch in der spärlichen Belichtung und den ­Gerüchen. Die hellen Wohnräume erzählen dagegen ­andere Geschichten: Eine Malerei von einem Paar beim Tête-à-­Tête auf dem Holztäfer befindet sich im selben Zimmer wie ein geisterhaftes Gesicht, das früher den Hintergrund eines Büfetts schmückte. In der «maserierten Stube» imitiert eine Struktur auf dem einfachen Fichten­täfer ein edleres Holz. Diese befand sich in gutem Zustand, sie musste lediglich gereinigt und mit Leinöl behandelt werden.

Je nach Nutzung sind die Holzauskleidungen von simplen Bretterwänden bis zu reich verziertem Täfer abgestuft. Wände und Decken der Schlafzimmer sind schmucklos mit alten Holzkassetten verkleidet. Aus Löchern in diesem Täfer ragen Haken und seltsame ­Ketten, die wahrscheinlich von ehemals landwirtschaftlichen Funktionen der Zimmer zeugen. Ansonsten ­strahlen die Schlafräume klösterliche Einfachheit aus.

Im Haus das Reiseziel

Die individuellen Räume zu entdecken ist ein Erlebnis voller Überraschungen. Mancherorts führen ein paar Stufen hinauf und hinab zu einer weiteren Tür, hinter der sich noch ein unerwartetes Zimmer verbirgt. Insgesamt erinnert das Haus an die alten amerikanischen Patchworkarbeiten, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben, immer wieder ausgebessert, geflickt und den veränderten Bedürfnissen angepasst wurden. In diesem Sinn werden die zukünftigen Feriengäste das Erscheinungsbild weiter verändern und ihren Teil zur Haushistorie beitragen. In seiner handwerklichen Sorgfalt – und scheinbar ohne die Substanz zu werten – wirkt der Bau kostbar und in der Zeit verankert.

Mit der Öffnung von Baudenkmälern gelangen diese aus dem bewahrenden musealen Kontext zurück in die Gesellschaft. Die Schweizer Kombination von gepflegtem Kulturgut, Landschaft, hochstehendem ­Gastronomie- und Hotelangebot kommt dem touristischen Trend zu Authentizität und Erlebnis entgegen und kann vielfältig interpretiert werden.

TEC21, Fr., 2018.10.26



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TEC21 2018|43 Zeitreisen – Tourismus in der Schweiz

13. Juli 2018Danielle Fischer
Hella Schindel
TEC21

Von Quo vadis zum Status quo

Das Motto «Freespace» der Architekturbiennale hat viele Länder veranlasst, in ihren Beiträgen eine kontemplative Haltung gegenüber der Baukultur einzunehmen: Wiederkehrende Themen sind das Weiterbauen am Bestand oder sogar das Nicht-Bauen, ausserdem das Bauen im Kontext von Natur und von Religionen.

Das Motto «Freespace» der Architekturbiennale hat viele Länder veranlasst, in ihren Beiträgen eine kontemplative Haltung gegenüber der Baukultur einzunehmen: Wiederkehrende Themen sind das Weiterbauen am Bestand oder sogar das Nicht-Bauen, ausserdem das Bauen im Kontext von Natur und von Religionen.

Grosszügigkeit ist der zentrale Begriff, auf den sich die Kuratorinnen Yvonne Farrell und Shelley McNamara immer wieder beziehen. Mit vielschichtigen Ansätzen ermutigen sie zur Wahrnehmung von Bauten als Teil einer Umgebung, die sich in Bewegung befindet – und zwar sowohl räumlich als auch zeitlich. Sie bezeichnen Grosszügigkeit auch als Grundlage einer Willkommenskultur, die durch die Politik in die Gesellschaft getragen und durch entsprechende Architektur gefördert werden muss.

Im Sinn dieser ganzheitlichen Betrachtungsweise legen die Kuratorinnen den Planenden aber auch ans Herz, Gegebenheiten wie Licht, Schatten, Wind und Erde in die Entwurfsprozesse einzubeziehen. Mit solchen Empfehlungen gerät das Manifest an den Rand des Beliebigen, sogar des Kitschs, was sich leider in manchen Beiträgen widerspiegelt (vgl. «Zu viel des Schönen»). Im Gegensatz zu der vorangegangenen Schau wirken die Statements zur neuen Bescheidenheit etwas selbstgefällig. Sie entspringen eher dem Luxus einer freiwilligen Beschränkung als der Notwendigkeit einer sozialen und radikal einfachen Architektur, die direkt bei von Armut Betroffenen zum Einsatz kommt.

Im Austausch über die vielen Länderbeiträge, die wir als anregend empfunden haben, kamen wir immer wieder auf Themen, in denen es ums Erhalten, Wiederbeleben oder gar um das Nicht-Bauen geht. Die Ausstellungen kreisen um bestehende oder zu schaffende Leerstellen, wie zum Beispiel im deutschen Pavillon, oder darum, natürliche Gegebenheiten zu akzeptieren und mit ihnen als Teil einer Landschaft umzugehen, wie im französischen Pavillon. Der Erhalt von Freiraum muss bewusst erarbeitet werden.

Weder Besitzer noch Nutzer sind dafür zur Verantwortung zu ziehen – die Pflege dieser Möglichkeitsräume unterliegt einer gesellschaftlichen Verantwortung. Im soziolo­gischen Zusammenhang führt das zu Überlegungen, den Kulturbegriff so weit zu öffnen, dass andere Lebensformen und Reli­gionen ihren Platz darin finden können. Die Qualität der Länderpavillons als Freiraum per se erhält eine besondere Bedeutung und wird als wichtige Inspiration für die Form der Ausstellungen genutzt. Die Baukörper dienen dabei nicht als Gefässe, sondern sind in ein politisch aufgeladenes Verhältnis zum Inhalt gesetzt.

Die Präsenz der Abwesenheit

So zeigt der belgische Pavillon ein Europa-blaues Amphitheater, das unbeeindruckt von der orthogonalen Struktur des Pavillons den Innenraum besetzt. Radikal durchschneidet die Grossform das Gebäude und bringt als Inbegriff gebauter Demokratie Überlegungen zu den Parlamentsgebäuden in Brüssel in Gang. Die Kura­toren dieser «Eurotopie» stellen damit ein Podium für Debatten zur Verfügung, wie sie im Europäischen Viertel in Brüssel fehlen und die zum Fortbestehen der Europäischen Gemeinschaft so wichtig sind.

Gleich­zeitig spielt die Installation auch mit dem menschlichen Massstab: In einem Raum fühlt man sich ganz klein, in einem anderen fällt einem die Decke fast auf den Kopf – ein Thema, das auch der Schweizer Pavillon %%gallerylink:42045:%% behandelt.

Auffallend viele Länder haben sich entschieden, den Pavillon vollkommen leer zu lassen, um die Besucher anzuregen, den Freiraum zu okkupieren. Besonders elegant haben das Caruso St John Architects für Grossbritannien gelöst: Der eigentliche Pavillon steht für öffentliche Veranstaltungen – auch anderer Länder – zur Verfügung. Unter dem Motto «Island» haben sie mit einfachen Baugerüsten eine Terrasse über dem Dach installiert. Die Besucher können hinaufsteigen und bis zum Meer blicken.

Die hölzerne Plattform wirkt wie ein Floss und pro­voziert Fragen nach Zuflucht und Verbannung, die seit dem Brexit über der politischen Situation des Vereinigten Königreichs, in einem anderen Zusammen­hang über dem gesamten Mittelmeerraum schweben. Das Bodenmuster, das auf die Marmormosaiken der italienischen Palazzi in nächster Nähe verweist, macht deutlich, dass diese Problematik keineswegs auf ferne Regionen begrenzt, sondern auch in der näheren Umgebung präsent ist.

Ganz ähnlich operiert der ungarische Pavillon: Im Innenhof steht ein begehbares Baugerüst, auf dem sich eine Aussichtsplattform befindet – hier allerdings als Zitat einer echten Okkupation: Als die Freiheitsbrücke in Buda­pest ertüchtigt wurde, nahm die Bevölkerung sie in Besitz.

Kein Freiraum ohne Grenze

Als seine Schattenseite untrennbar mit dem Freiraum verbunden geht der Begriff der Be­grenzung einher. Im deutschen Pavillon haben Graft Architekten gemeinsam mit Marianne Birthler, einer engagierten Politikerin und Bürgerrechtlerin aus Ostdeutschland, den heutigen Umgang mit der ehemaligen innerdeutschen Grenze untersucht. Schwarze Tafeln, die den Mauerstücken nachempfunden sind, stellen sich dem Besucher ent­gegen. Erst beim Betreten des Innenraums verwandelt sich die Geschlossenheit aus einer neuen Perspek­tive in Durchlässigkeit und zeigt auf den Rückseiten der Stelen Informationen zu den ausgewählten Grenzabschnitten.

Durch die Konfrontation mit der faschistischen Architektur des Pavillons erhält die Insze­nierung zusätzliche Eindringlichkeit. Der Todesstreifen, das Niemandsland, verliert erst langsam seinen Schrecken. Die Berliner Mauer ist inzwischen in relativ handliche Stücke zerlegt worden und grösstenteils in die Museen der Welt gewandert. Die frei gewordenen Gelände befinden sich in inner­städtischer Lage und wecken Begehrlichkeiten.

Als weitere Steigerung in der Wertschätzung von Freiraum ist das Abwenden vom Bauen insgesamt zu betrachten, so wie es das Kuratorenteam «Encore Heureux» im französischen Pavillon vorführt. Hier wird das Interesse auf bestehende Bauten gelenkt, deren Nutzung neu zu erfinden ist. Unter «Infinite Places» firmiert eine Auswahl von zehn Projekten in allen Ecken Frankreichs, die zu kreativen Brutstätten geworden sind.

In einer Zeit, in der der Architekt viel zu oft selbstbezogen und an den Interessen von Nutzern vorbei agiert, formiert sich seine Aufgabe im Team von Soziologen, Urbanisten und Umweltingenieuren neu. Abseits einer auf das Gestalten und Herstellen zielenden Tätigkeit ist er als Anwalt der baulichen Umgebung und seiner potenziellen Nutzer, als moralische Instanz gefragt. Es geht darum, Orte aufzuspüren, Bedürfnisse zu erkennen, geeignete Prozesse in Gang zu bringen und den selbstverantwortlichen Protagonisten mit fachlicher Expertise langfristig als Berater zur Seite zu stehen.

Geschichte, Natur und Nostalgie

Auffällig viele Präsentationen wenden sich von dichten Siedlungen ab und beschäftigen sich mit ländlichen und naturbelassenen Gebieten. Italien zeigt mit «Archi­pela­go Italia» unter anderem den Apennin und die Alpen samt Wäldern, Bergen und Dörfern; diese, so der Kurator Mario Cucinella, seien ein grosses Kapital Italiens.

Australiens Wohninstallation «Repair» will die Sichtweise, das Bild, unter dem Architektur normalerweise verstanden wird, verfremden: Der Raum ist ein Vegetationsfeld, das den Besuchern einen Dialog zwi­schen Architektur und gefährdeter Pflanzenwelt ermöglicht: Tausende von Pflanzen aus 65 Arten der Western Plains Grasslands sollen daran erinnern, was auf dem Spiel steht, wenn Land besetzt wird. Erstaunlich, wie die Luft im Pavillon durch die Pflanzen duftet und die Atmosphäre frischer ist als anders­wo. Daneben werden in einer experimentellen Videoserie 15 australische Architekturprojekte gezeigt, die ver­­schiedene Arten von Reparatur an der Natur aufzeigen; allerdings ist nicht immer nachvollziehbar, in welcher Form die Reparatur genau erfolgt und was sie bewirkt.

Um ein ähnliches Themenfeld kreist die Präsentation Mexikos: Urwälder, Vulkane, Seen, Erdbeben, Wüsten, Hurrikane, Häfen und Ozeane – sie seien keine Hindernisse, sondern bildeten die Besonderheiten des Territo­riums; sie seien als Möglichkeiten zu betrachten, Umgebung anders zu denken, sagt die Kuratorin Gabrie­la Etchegaray. Nach Alexander von Humboldt ver­knüpfe und verbinde Architektur als Intervention die Natur mit dem Menschen. Dass der europäische Wissensfürst für die Präzisierung des Inhalts zitiert wird, ist schade, gerade weil mexikanische Werte im Vordergund stehen sollen.

Der kanadische Pavillon geht noch einen Schritt weiter und vermittelt in einer Art New-Age-Show ein Bild der Ureinwohner des Landes als «gute Wilde», deren Lebensweise eins ist mit der Natur.

Klagemauer, Freitagsgebet und Kapellen

Architektur im religiösen Kontext ist ein Thema, dem man in verschiedenen Zusammenhängen begegnet. Drei Ausstellungsbeiträge sind Sakralbauten gewidmet. «Friday Sermon», der Beitrag von Bahrain, ist eine akustisch unterlegte Rauminstallation in Form eines schemenhaft abgesteckten Gebetsraums. Sie erforscht das Zusammenspiel von Oratorium, Ton und Raum beim Freitagsgebet. Dieses geht auf vorislamische Rituale zurück, aus deren Tradition unter anderem auch einige der schönsten Beiträge zur arabischen Literatur hervorgegangen sind. Vor und nach dem Gebet treffen sich die Gläubigen, um politische und soziale Fragen zu diskutieren – eine Moschee ist überall auf der Welt, entgegen dem Bild, das Nichtmuslime davon haben, auch ein Versammlungsraum.

Auf der Aussenseite des Gebetsraums an der Biennale wird auf weiterführende Themen eingegangen, etwa auf das akustische Problem in islamischen Städten – es gibt immer mehr Moscheen, die sich in ihren Gebetsrufen mittels Lautsprechern übertrumpfen und einen Störfaktor innerhalb der Quartiere darstellen. Es braucht Feingefühl, um zu intervenieren und Änderungen herbeizuführen.

Israels Beitrag «In Statu Quo: Structures of Negotiation» zeichnet den komplexen und widersprüchlichen Weg der Bauten auf, die der Koexistenz verschiedener Religionen dienen. Grabeskirche, Klagemauer, Mughrabi-Brücke in Jerusalem, Rachels Grab in Bethlehem und die Höhle der Patriarchen in Hebron, die als Grabesstätte der Stammesväter Abraham, Isaak und Jakob gilt, sind Baukomplexe, die mehrere Religionen zugleich für sich beanspruchen. Der Status quo dieser Monumente im Heiligen Land ist eine Verständigung zwischen den Religionsgemeinschaften in Bezug auf neun gemeinsame religiöse Stätten in Jerusalem und Bethlehem.

Dieser Weg der Koexistenz wurde, so die Ausstellungsmacher, im 19. Jahrhundert begründet. Der Blick richtet sich auf die Zusammenhänge, wie an den fünf Standorten architektonische Entscheidungen getroffen wurden und werden und wie diese deren Bauten formten und prägten. Leider ist unter den Kuratoren kein einziger arabischer Name zu finden; eine ablesbare Zusammenarbeit hätte dem interreligiösen Ansatz sicher gut zu Gesicht gestanden.

Mit einem aufwendigen Projekt ist zum ersten Mal der Vatikan mit einem Länderbeitrag vertreten. In einem Park auf der Insel San Giorgio Maggiore haben auf Einladung zehn namhafte Architekten, darunter Sir Norman Foster und Eduardo Souto de Moura, offene Kapellen gebaut. Als Referenzprojekt steht ihnen die Skogskapellet voran, die Gunnar Asplund 1920 für einen Friedhof in Stockholm geschaffen hat. Abseits vom Rummel in den Giardini ist der kontemplative Rundgang von einem Objekt zum nächsten durchaus inspirierend. Dennoch: So schön die Bauten sind, so deutlich spricht aus diesem Aufbäumen des Katholizismus die Angst vor dem Verlust an gesellschaftlicher Bedeutung.
Auf zu neuen Ufern!

Die 16. Biennale steht in vielerlei Hinsicht für die Rückbesinnung auf bestehende Werte – sei dies die Natur, die Religion oder auch historisch gewachsene Prozesse. Dabei fällt der Blick oft von aussen, vom Kontext auf die Architektur – und nicht wie bisher in umgekehrter Richtung. Architektur steht nicht mehr im Zentrum: Sie ist Gegenstand der Betrachtung, nicht Subjekt, und man fragt bescheidener nach dem, was sie umgibt und geformt hat. Der behutsame Umgang mit der Umwelt ist von bewährten Theorien untermauert und dadurch nicht guten Gewissens infrage zu stellen.

Ist die damit aufscheinende Mutlosigkeit vielleicht auf eine gewisse Verunsicherung zurückzuführen bezüglich dem, was in den letzten Jahrzehnten entstanden ist? Angesichts der vielen Fragen um Städte und Umwelt, die unsere Gegenwart und Zukunft betreffen, ist eine konservative Strategie durchaus verständlich. Dennoch wünschte man sich ein paar mutigere Statements, eine radikale Geste, mit der sich eine neue und relevante Haltung aus der Reserve wagt.

TEC21, Fr., 2018.07.13



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04. Mai 2018Danielle Fischer
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Britisch-muslimisch, ökologisch-modern

Cambridge bekommt eine Moschee – die Londoner Architekten Marks Barfield und Blumer Lehmann aus Gossau erstellten die Freiform des Dachs aus 30 stilisierten Bäumen.

Cambridge bekommt eine Moschee – die Londoner Architekten Marks Barfield und Blumer Lehmann aus Gossau erstellten die Freiform des Dachs aus 30 stilisierten Bäumen.

Architektonisch ist Cambridge für seine gotischen Universitätsbauten aus Backstein bekannt, darunter das King’s College mit der imposanten Kapelle. Doch nun entsteht in einem zentrumsnahen Wohnquartier eine der Hochschule an­gegliederte moderne Holzmoschee. Was im ersten ­Moment überraschen mag, ist auf den zweiten nachvollziehbar: Rund 7000 Muslime aus 60 Nationen wohnen, studieren oder arbeiten hier.

Obschon die Baustelle kaum über den Rohbau hinaus ist, spürt man wenig von der an solchen Orten sonst üblichen Hektik. In den Pfützen auf dem Betonboden spiegeln sich durch die provisorisch mit Plastik abgedeckten Oberlichter die Wolken am Himmel. Vielleicht herrschte eine solch kontemplative Atmosphäre mit einem Gewirr aus hölzernen Hilfsgerüsten auch um die sich im Bau befindlichen Steinstützen gotischer Kathedralen oder iranischer Freitagsmoscheen, bevor die fertigen Gewölbe in den Himmel ragten. In Cambridge gliedern 30 «Bäume» aus Schweizer und EU-Holz hain­artig die Innenräume des Neubaus. Natürlich handelt es sich nicht um wirkliche Bäume, sondern um die ­bauliche Interpretation des Themas als hölzerne Freiform.

Die Bauweise in dieser Form ist – ein wenig wie damals die gotischen Gewölbe – charakteristisch für unsere Zeit. Statt in Kathedralen macht sie jedoch Furore für repräsentative Cooperate Architecture wie beim Golfklubhaus in Yeoju in Südkorea, auf öffentlichen Plätzen wie dem Metropol Parasol in Sevilla oder bei dem sich im Bau befindenden Firmenhauptsitz von Swatch in Biel. In Cambridge kommt sie für einmal beim Dach eines Sakralbaus zum Einsatz.

Nicht nur der formale Ausdruck war schon ein gotisches Thema, sondern auch der Symbolgehalt von Stämmen, die eine Decke tragen, und Kronen, die ein Dach bilden und so Himmel und Erde verbinden. Er ist darüber hinaus aber viel älter – ein historischer Beschrieb des Hauses des Propheten Mohammed besagt, dass sein Dach auf Palmstämmen ruhte. Da er von seinem Hof aus predigte, gilt es als erste Moschee.

Würdevoll das Erbe weitertragen

Ursprünglich sahen die Architekten Marks Barfield im Wettbewerbsentwurf einen Massivbau vor. Doch schon bald stellte sich heraus, dass ein so ausgeführtes Baumthema zu teuer war. Statt darauf zu verzichten, sahen sie sich nach einer alternativen Bauweise um und wandten sich an die auf Freiformen spezialisierte Firma Blumer Lehmann aus Gossau, die sie von früher realisierten Projekten kannten.

Trotz dem nachträglichen Entscheid für eine hölzerne Tragstruktur ist vom massiven Ausgangsentwurf manches geblieben: Die Aussen- und Zwischenwände sind mit einer 20 mm starken Fassade aus Klinker­steinen verblendet, um den Eindruck zu verhindern, es handle sich um ein Provisorium. Obschon vom Hauptcampus durch die Bahnlinie getrennt, ist die Moschee Teil des Gebäudebestands der Cambridge University, die sich durch die erwähnten herrschaftli­chen Backsteinbauten auszeichnet.

«Ein Stück weit mit ­diesem würdevollen Erbe mithalten sollte das Bauwerk schon», meint Gemma Collins, leitende Architektin bei Marks Barfield. Aber bis zum Hauptcampus muss man nicht gehen, die Kombination Backstein und Holz findet ihre Referenz unmittelbar vor der Tür des Geländes: Viele Reihenhäuser bestehen hier aus einer mit Backstein verkleideten Holzstruktur.

Eine klassische Aufgabe

Eine traditionelle Moschee gliedert sich in eine Waschzone vor der Gebetshalle, die längs der gegen Mekka gewandten Gebetsrichtung, der sogenannten Qibla, angeordnet ist. In der Mitte der Qibla liegt das Mihrab, eine Nische, vor der der Iman steht, während er das Gebet vorsagt; ausserdem gehört zur Moschee meist ein Minarett. Gemma Collins meint: «Überall auf der Welt prägten neben religiösen auch kulturelle und regio­nale bauliche ­Einflüsse die Architektur von Moscheen.» Die Hallen-, Kuppel- und Iwanmoschee sind drei Grundtypen. Die Architekten haben sich für eine Mischung aus den ersten beiden entschieden.

Aber wie kommt es, dass englische Architekten mit christlichem oder jüdischem Hintergrund eine Moschee bauen – noch dazu eine, die der im späten Mittelalter gegründeten Cambridge University angegliedert ist? Vielleicht vermag die Tatsache, dass ein islamisches Gotteshaus nicht wie eine Kirche eine geweihte Stätte ist, sondern pragmatisch ein religiöser, politischer und kultureller Versammlungsort, dies ein wenig klären. Nach Einhalten seiner Gesetze – wie der Ausrichtung nach Mekka und der Kennzeichnung der Qibla – kann ein Gebetsraum in jeden bestehenden Ort eingefügt werden.

Tatsächlich gibt es in Cambridge bereits eine Moschee, die wie viele andere in England in einem entsprechend umfunktionierten Bau untergebracht ist. Timothy Winter, Professor am Cambridge Muslim College und Vorsitzender des Muslim Academic Trust, bestätigt, dass die Bauherrschaft sich als offene Gesellschaft betrachte, die Experten aus jeder Tradition und jedem Land willkommen heisse. Die Cambridge Mosque ist die erste neu geplante und gebaute Moschee im Land.

Trotzdem beängstigen die 1000 während des Ramadans zu erwartenden Muslime viele Anwohner. In der Tat wirkt die Position des Baus mitten in einem Wohn­quartier auch für Aussenstehende zunächst erklärungsbedürftig, ist aber nach der Erläuterung durchaus verständlich: Wie Timothy Winter sagt, beten viele Mo­scheebesucher bis zu fünfmal täglich, daher sei es wichtig, dass der Bau von der Uni aus schnell erreichbar ist. Das Quartier um die Mill Road, das bereits viele mus­­li­mische Bewohner hat, sei daher ein guter Standort. 30 Jahre, so sagt er, habe die Gemeinschaft nach einem geeigneten Grundstück und nach Geldgebern gesucht. Er betont auch, die Community werde nicht von einer einzelnen muslimischen Ausrichtung dominiert, sondern sei sehr heterogen. Dies sieht er als günstige Voraussetzung, um eine «britische Moschee» zu bauen.

Ökologisch und angepasst

Wie eine britische Moschee im Kontext der aktuellen Zeitfragen um den Islam aussehen soll, war ein zentraler Punkt, mit dem sich Architekten und Muslim Acade­mic Trust auseinandersetzten. Angesichts der gros­sen Anzahl Muslime in England sei es Zeit, über diese Bauaufgabe nachzudenken, sagt auch die Architektin.

Britisch an dem Bau, oder vielmehr europäisch modern – denn eine zeitgenössische britische Archi­tektur gebe es nicht mehr, ergänzt Timothy Winter –, sei der Anspruch, eine Ökomoschee zu bauen. Die Räume können im Sommer quergelüftet werden, und über 63 Oberlichter fällt Tageslicht ins Innere. Das Dach ist begrünt; für die Toiletten wird Regenwasser verwendet. Wärmepumpen sorgen in Kombination mit einem Heiz- und Kühlsystem für angenehme Temperaturen, und ein Energiemanagement gehört ebenfalls zum ökologischen Gotteshaus.

Neben der architektonisch modern interpretierten Bauaufgabe wurden mit dem Muslim Academic Trust auch inhaltliche Anpassungen in Richtung eines zeitgenössisch britischen Islam vorgenommen: Hier sollen Imame ausgebildet werden, um Inhalt und Form der Ausbildung in England zu steuern. Für die Studenten sind die Wohn­räume im oberen Stockwerk vorgesehen. ­Neben der Moschee, die ohnehin jeder betreten darf, ist auch das Café in der Eingangszone öffentlich. ­Weiter sind im Gegensatz zu traditionellen Moscheen die Gebetsbereiche der Männer und Frauen nur durch eine hüfthohe Wand separiert. Zusätzlich gibt es im ­oberen Stock ein durch eine Glasbrüstung vom Haupt­raum abgetrenntes Zimmer, in das sich die ­Frauen für das Gebet zurückziehen können.

Logistisch austariert

2011 kamen die Architekten mit dem Entwurf auf Blumer Lehmann zu. Sie erteilten ihnen ein Mandat für die Vorstudie von Statik und Design. Das war eine ideale Ausgangslage, sagt Jephtha Schaffner, Projektleiter bei Blumer Lehmann – so konnte die Firma das Projekt von Anfang an begleiten und erhielt dank offerierter Qualität und Preis den Zuschlag für die Ausführung.

Wegen des Transports per Lkw durfte der Raster nur ein maximales Mass von 8.10 m haben. Die angelieferten, mit dem Ingenieurbüro SJB Statik entwickelten Elemente messen einen Drittel der Gesamtlänge und sind mit 2.70 m per Lkw gerade noch transpor­tierbar. Nach der Herstellung in Gossau brachte man sie nach Schaffhausen und von dort nach Rotterdam. Der Lastwagenanhänger wurde mitsamt den Elementen auf die Fähre verladen.

Schaffner erzählt, dass es eine grosse Herausforderung war, alles einen Monat im Vor­aus zu planen. Jeder der 80 Lkw war eine Woche unterwegs, zwei ­Wochen vorher musste er die Bewilligungen bei den Zollbehörden in Deutschland, den Niederlanden und Grossbritannien einholen. Am Ende der Produktionskette wollten die Arbeiter in Cambridge nicht tagelang auf die Elemente warten, die aus Platzgründen in der engen Wohnstrasse just in time angeliefert wurden. Die Montage des hölzernen Rohbaus ist seit Januar 2018 fertig – bis die Moschee eröffnet wird, dauert es aber voraussichtlich noch bis Ende 2018.

TEC21, Fr., 2018.05.04



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26. Januar 2018Danielle Fischer
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Tag the Town!

Ein Stadtspaziergang verdeutlicht, wie stark Marseille von Graffiti gezeichnet ist. Die Autoren der facettenreichen Bilder und Tags – Künstler, Touristen, Gesellschaftskritiker, waghalsige Akrobaten – erzählen eine informelle Geschichte der Stadt, an der täglich neu geschrieben wird.

Ein Stadtspaziergang verdeutlicht, wie stark Marseille von Graffiti gezeichnet ist. Die Autoren der facettenreichen Bilder und Tags – Künstler, Touristen, Gesellschaftskritiker, waghalsige Akrobaten – erzählen eine informelle Geschichte der Stadt, an der täglich neu geschrieben wird.

Auf kaum zwanzig Metern begegne ich an den Hausmauern am Cours Julien einem Yeti, dem überdimensionalen Zeichen NAT und einem silber-roten Drachen. Sie alle sind umgeben von einem unüberschaubaren Geflecht an kryptischem Gekritzel auf den Fassaden der Bauten aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende. Was zu ihrem Verständnis beitragen könnte, wäre ein kleiner Babelfisch – jenes Wesen aus dem Roman «Per Anhalter durch die Galaxis», das im Ohr seines Trägers sitzt und dort jede beliebige aus­serirdische Sprache übersetzt.

Die Dichte an Graffiti und Streetart-Bildern charakterisiert seit den frühen 1980er-Jahren das Marseiller «Quartier des Créateurs» um den Cours Julien. Bis dahin war der Platz Umschlagsort für Grossisten von Importwaren aus Afrika und Händler lokaler Landwirtschaftsprodukte. Heute machen Restaurants, Läden mit biologischen Produkten und eine Sitzlandschaft mit Stufen und Wasserflächen den Platz zum vielbesuchten Aufenthaltsort von Quartierbewohnern und Touristen. Immer mehr Kreative und junge Familien aus dem Mittelstand ziehen ins vormals ärmliche Quartier, und in der Folge steigen die Wohnungspreise.

Der Widerspenstigen Zähmung …

Eigentlich ist Graffiti überall in Marseille illegal – auch am Cours Julien, meint Tito, Inhaber der Backside ­Gallery und selber ehemaliger Graffeur. Aber die Stadtverwaltung und die meisten Bewohner tolerieren die Bilder auf dem Platz und in den umliegenden Strassen – es wäre zu aufwendig, die vielen Sprayer, die dieses Quartier besuchen, zu kon­trollieren. Die Anti-Graffeur-Brigaden der Stadt konzentrieren sich vor allem auf die repräsentativen Zentrumsquartiere und Schulhäuser und überlassen den Cours den Kreativen.

Diese Strategie wird von der Tatsache begünstigt, dass das Graffitimodell am Cours geschäftsfördernd ist. Mit der Zeit hat sich daraus eine erstaunliche Symbiose aus Kommerz und Kunst ergeben: Kleine ­Boutiquen vergeben Auftragsarbeiten an Street­art-Künstler, und der Verein Juxtapoz lanciert seit 2012 das Projekt Le M.U.R.-Marseille, bei dem halbjährlich an der Seitenstrasse Rue Crudère ein eingeladener Künstler ein Mauerstück von 3 × 5 m bemalt. Ein anderes Event ist ein regelmässig stattfindendes Streetart-­Festival, bei dem Quartierbewohner und auswärtige Besucher zuschauen, wie Künstler die Wände der Openair-Galerie, die der Platz darstellt, mit neuen Werken übermalen. Unter dem Platz hat die Metrogesellschaft die Gestaltung der Station Cours Julien bei ­verschiedenen Künstlern in Auftrag gegeben, und das Tourismusbüro der Stadt bietet geführte Touren durch das Quartier an. Viele der übrigen Wände werden durch ein babylonisches Gekritzel von tausendfach überschriebenen Tags dominiert.

… oder die wahre Kunst?

Das alles hat gemäss Tito nicht viel mit ursprünglicher Streetart zu tun, sondern dient vor allem kommerziellen Zwecken. Symptomatisch zeigt sich das darin, dass die Kommunikation und die Gesetze unter den Street­art-Künstlern, die anderorts meist funktionieren, hier nicht respektiert werden. Die Situation ist ausser Kontrolle geraten, und jeder macht, was er will. Oft sind es keine Marseiller Inside-Tagger, sondern Sprayertouristen aus ganz Europa, die ihre Kürzel auf die Wände schreiben und bestehende Arbeiten respektlos übermalen.

Was Tito meint, wenn er von der wirklichen Graffitikunst spricht, findet man in einigen der kleinen Seitenstrassen. Zwar sind auch in der Gasse Armand-­Bédarrides die Erdgeschossfassaden flächendeckend bemalt, doch im Unterschied zu den Einzelbildern am Cours stellen sie als Ensemble eine eindrückliche Hommage an den früh verstorbenen Cofre dar, einen jungen Marseiller Graffeur. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion brachten seine Freunde, jeder in seinem Stil, den Schriftzug «Cofre» an den Mauern an. Der junge Mann starb 2017 im Alter von 19 Jahren, als er in einem Athener Metrodepot mit den Elektroleitungen eines Waggons in Berührung kam. Cofres Ziel war es, Metro- und Zugwaggons von möglichst vielen Bahnlinien in Europa mit seiner Signatur zu versehen.

Schade, findet Tito, wenn Leute aus anderen Ländern kommen und diese Hommage ahnungslos übermalen. Tito erläutert an der Strasse auch, was Respekt in der Sprayerszene bedeutet: Manche der Cofre-Bilder sind in die älteren, darunterliegenden farblich integriert und so eingepasst, dass sie mit dem Vorgängerbild eine ­Einheit bilden.

Auf der anderen Strassenseite des Cours Lieu­taud, hoch oben unter dem Dach an einer Brandmauer, befindet sich ein einzelnes, gut sichtbares Tag mit den Buchstaben NDC. Der Künstler ist in der Nacht vor der Demontage auf ein Gerüst gestiegen, das für die Fassadenrenovation und das Entfernen alter Graffiti angebracht worden war. Erstaunlich auch, was Tito aus den Zahlen und Buchstaben herauslesen kann, die für Uneingeweihte wie Hieroglyphen wirken – vielleicht ist er ein Babelfisch?

Wandelbare Kapitel

Graffiti erzählen eine inoffizielle Geschichte der Stadt. In manchen Fällen transportieren Streetart-Bilder ­politische und soziale oder über Auftragsarbeiten kommerzielle Aussagen. Viel öfters aber handelt es sich um Botschaften, die nur Insider entschlüsseln können.

Neben der individuellen Aussage eines Werks gibt es eine Lesbarkeit im Kontext des Stadtraums: Insgesamt legen sich die Tags, Bilder und Zeichen wie ein unregelmässiges Netz über Hausmauern, Eingangs­türen, Gara­gentore, Metroeingänge, Bänke und Briefkästen. Das Gesamtbild verändert sich täglich, wird übermalt, überklebt, ergänzt – oder es verblasst.

Die Darstellungen treten in unzähligen, kreativen Facetten in Erscheinung und verleihen im Nebeneinander Strassenzügen und sogar Stadtquartieren eine charakteristische Oberfläche – und diese Räume prägen ihrerseits wieder die Bilder und Tags: Je nachdem, ob sie darin toleriert werden oder unerwünscht sind, fallen die Darstellungen ausführlicher, grösser, sorgfältiger oder kleiner, flüchtiger und flächiger aus. Die wenig bildhaften Zeichen in vielen Strassenzügen zeugen von der Geschwindigkeit, mit der sie angebracht wurden, denn Taggen ist nach wie vor eine illegale Tätigkeit, auf die hohe Bussen verhängt werden.

Je nach Material des Untergrunds und je nach Architekturstil wirken die Bilder und Tags anders. Die Werke in einer Strasse oder einem Quartier unterscheiden sich so von denen an anderen Orten und lassen sich fast wie Kapitel eines Buchs lesen. Die Bilder in der Altstadt von Marseille, dem Panier, stammen meist von Sprayern aus dem Quartier, die sich gegenseitig und die übrigen Bewohner kennen. Diese relative Akzeptanz lässt die Arbeiten, die illegal sind und denen kein Auftrag vorausging, dennoch sorgfältig erscheinen.

Dass Sprayen im Panier vorwiegend positiv wahr­genommen wird, zeigte sich am Protest der Bewohner, als vor zwei ­Jahren die Anti-Graffiti-Brigade der Stadtverwaltung 30 Bilder um einen Platz übermalte. Einzelne Bilder – den traurigen Fischer mit den grünen ­Sardinen etwa von einem Sprayer mit dem Pseudonym Nhobi – verbindet man mit dem Panier. Die Tags und Bilder auf den Mauerflächen in und um den Kultur­komplex La Friche Belle de Mai (vgl. TRACÉS 7/2013) beim ­Bahnhof sind oft mit kulturellen Projekten verbunden, die Museen und Vereine indirekt auch staatlich subventionieren. Die flüchtigen Bilder der ärmeren Quartiers Nord drücken dagegen oftmals elementare Lebens­fragen aus.

Natürlich nimmt auch die Bevölkerung von Marseille – wie diejenige anderer Städte – Graffiti entweder als Bereicherung oder im Gegenteil als Vandalismus wahr. Einige der Ladenbesitzer am Cours Julien ärgern sich, wenn ihre Auftragsbilder innert kurzer Zeit wieder übersprüht werden. Im Gegensatz zur Schweiz jedoch kennen viele die «Stars» der Szene; man spricht über ihre Geschichten, und den Protagonisten haftet etwas Heldenhaftes an, auf das man auch ein wenig stolz ist. Diese unterschwellige Toleranz bewirkt, dass sich die Werke unbefangener ausbreiten und so Teil der Gestaltungskultur der Stadt werden.

TEC21, Fr., 2018.01.26



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TEC21 2018|04-05 Urban Colouring: zwischen Kunst und Vandalismus

10. November 2017Danielle Fischer
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Verlorenes Paradies

Die expressive Ferienanlage La Grande Motte in der Nähe von Montpellier fasziniert bis heute viele Architekten: Nach einer fulminanten Gründungszeit zu Beginn der 1960er-Jahre befand sich die Stadt während 20 Jahren im Aufbau. Noch immer ist ihr Wandel nicht abgeschlossen.

Die expressive Ferienanlage La Grande Motte in der Nähe von Montpellier fasziniert bis heute viele Architekten: Nach einer fulminanten Gründungszeit zu Beginn der 1960er-Jahre befand sich die Stadt während 20 Jahren im Aufbau. Noch immer ist ihr Wandel nicht abgeschlossen.

Wie aufgeblähte Segel, die gerade zur Fahrt übers Meer ansetzen, liegen die Hotel- und Appartementgebäude von La Grande Motte am Strand. Die filigranen Veranden und Balkone verleihen den riesigen Betonbauten Leichtigkeit. Von der anderen Seite des Hafenbeckens aus gesehen, am Point Zéro, stehen sie mit diesem Ausdruck symbolisch für den Schwung, den Enthusiasmus und die Zuversicht ihrer Erbauer.

Ihr Planungsbeginn ab 1963 fiel in die Blütezeit der «Trente Glorieuses»[1] und des damit verbundenen Wirtschaftswachstums. Es war auch die Zeit der Unabhängigkeit vieler Kolonien Frankreichs und der moralischen, künstlerischen, wissenschaftlichen Revolutionen und Umwälzungen – die politische stand unmittelbar bevor. Nicht jede Befreiungsbewegung triumphierte, aber insgesamt kündigten sie eine neue Zeit an, für die La Grande Motte formal, funktional und bezüglich der Geschwindigkeit seiner Entstehung in der erste Etappe repräsentativ erscheint.

Mission für die Massen

Die Mission Racine[2], die der architektonischen Vision von La Grande Motte vorausging, war ein Plan, das Gebiet zwischen Petit Rhône und Albères in der Camargue entlang von 180 km Meeresküste zu einer Tourismusdestination zu machen. Nachdem die französischen Arbeiter ab 1956 jährlich immer mehr Ferien erhielten, sah sich der Staat vor die Aufgabe gestellt, Feriendestinationen für den Mittelstand zu schaffen. Verglichen mit anderen europäischen Staaten gab es in Frankreich kaum Orte für den Massentourismus. Die Franzosen, die bis anhin oft nach Spanien oder Deutschland in die Ferien fuhren, sollten ihre Freizeit künftig in ihrer eigenen Heimat verbringen. Georges Pompidou[3] als Premierminister und Präsident Charles de Gaulle lancierten die Mission Racine also aus wirtschaftlichen Gründen.

Erstmals betrachteten Planer die Camargue als Ganzes und nicht als eine Reihe isolierter Fischerdörfer. Ein Strassennetz sollte abwechselnd Natur- und bebaute Zonen verbinden. In der ersten Phase wurde die Region auf 700 ha von Moskitos befreit. Für die «Demoustication» musste der Staat Flugzeuge, Tanks für die Insektizide und anderes Material anschaffen. Anschliessend erfolgte die Trockenlegung des Sumpfs. 1962 bestimmte das Ministerium für Planung und Konstruktion die Architekten Jean Balladur für La Grande Motte, Georges Candilis für Barcarès-Leucate, Jean Lecouteur für Cap d’Agde und Raymond Gleize und Edouard Hartané für Gruissan. Zuständiger Planer zwischen den Zonen war Elie Mauret, und die Grünraumplanung von La Grande Motte übernahm Pierre Pillet. So erstellte man zwischen 1963 und 1983 in den Départements Pyrénées-Orientales, Aude, Hérault und Gard Unterkünfte für 650 000 Touristen.[4]

Die Kunst aus dem Sumpf

Auf dem 400 ha umfassenden Gelände von La Grande Motte entstanden ab 1963 während rund 20 Jahren Bauten. 1964 wurde die erste Pyramide auf dem Hafengelände errichtet. Dahinter liegen gegeneinander versetzte Bauvolumen, die im Schnitt eine Wellenbewegung mit Zwischenräumen zum Meer hin bilden. Bagger hoben den 17 ha grossen Hafen aus, Strassen wurden gebaut und Leitungen für Wasser und Elektrizität verlegt.

In seinen Schriften betonte Balladur wiederholt, wie wichtig der menschliche Massstab bei Architektur und Grünraum sei, um uniforme Gestaltung zu vermeiden. Überhaupt leitete und lenkte der Architekt alles. So bestimmte er Position und Höhe der Bauten, die die Umgebung vom starken Mistral abschirmen. Er kümmerte sich aber nicht nur um den Massenplan, sondern kontrollierte auch die Höhe der Gehsteige, die Entwürfe für Strassenampeln sowie Trafohäuschen und beauftragte junge Künstler mit der Anfertigung von Skulpturen. Die Kunstobjekte sollten als Sitzgelegenheiten oder Duschen genutzt werden können und die Gäste im Alltag umgeben. Der Architekt strebte so eine Art Demokratisierung der Kunst an.

Auch ökonomisch war die Mission Racine erfolgreich: Schon bald war der Tourismus – nach Stahl- und Autoindustrie – der grösste Wirtschaftszweig Frankreichs. Bereits wenige Jahre später kamen jährlich 20 Mio. Touristen nach Südfrankreich, unter ihnen 7 Mio. ausländische, und die günstigen Ferienwohnungen waren auch für die Arbeiterklasse erschwinglich.

«Si j’étais Dieu …»

Viele der am Bau von La Grande Motte beteiligten Architekten und Handwerker waren im Zweiten Weltkrieg in der Résistance tätig gewesen und hatten danach am Wiederaufbau der zerstörten Städte mitgewirkt. Nachdem diese Basisarbeit bis Ende der 1950er-Jahre grundlegend vollzogen war, sahen sie der Herausforderung, an einer urbanen Vision für eine bessere, freiere Gesellschaft mitzuarbeiten, mit Freude entgegen. Man sehnte sich nach einer neuen, unbeschwerten Lebensform.

Für diesen Traum fand Jean Balladur die architektonischen Symbole: Die grosse Pyramide ist eine Referenz an den Pic Saint-Loup, das Palais Maya eine an die präkolumbianischen Bauten Mexikos, und der Village du Soleil sowie die Place de Cosmos beziehen sich auf die Gestirne. Balladur war der Ansicht, dass die Grossformen der Mayabauten in Teotihuacan mit ihren archaischen Volumen die Kraft besassen, in der fast menschenleeren Ebene der Camargue ohne lokale historische Bezüge eine eigenständige Anlage zu bilden.

Später erinnert er sich in einem Interview, dass die Leute der Architektur anfangs skeptisch gegenüber- standen, sie später aber akzeptierten und sogar stolz auf sie waren. Balladur entwarf seiner eigenen Ansicht nach auch nichts Geringeres als das verlorene Paradies. «Si j’etais Dieu, je me mefierais des architectes! Ils sont les instruments subversifs du projet secret de l’espèce humaine: reconstruire le Paradis perdu …».

Lokalkolorit oder neues Florida?

Die Gegend verband jedoch nicht ein 180 km langer, leerer Strand, sondern es gab einige alte Fischerdörfer. Das Ministeriums betonte immer wieder, dass man sie in die Planung mit einbeziehen wolle. Tatsächlich aber erhielten die neuen Ferienorte riesige Kredite, während die kleinen Gemeinden leer ausgingen.

La Grand Motte liess kaum jemanden gleichgültig und weckte widersprüchliche Gefühle. Balladur sagte: «Die Leute denken, dass sie ihre Ferien allein verbringen wollen, aber sie sind Herdentiere.»[5] Kritiker wie der Architekt François Spoerry[6] entgegnen, dass Städter lieber in einem Dorf als in einer Massentourismusanlage Ferien machen. Bereits vor der Planung sprachen Kritiker sowie Bewunderer vom «Neuen Florida». Das kann zweideutig interpretiert werden: als Befürchtung, das Lokalkolorit werde verschwinden und die Gegend die Seele verlieren, oder als Stolz, einen zukunftsweisenden Ferienort geschaffen zu haben.

Noch nach 50 Jahren Platz für Wandel

Was von beidem trifft nun aus zeitlicher Distanz zu? Und was zeichnet La Grande Motte heute aus? Neben dem Meer und dem Klima sicher die einheitliche Architektursprache und die prächtig entwickelte Grünanlage auf rund 283 ha. Zusammen mit 20 km Baumalleen entlang der Strassen ist der Ferienort heute eine der grünsten Städte Frankreichs. Die expressiven architektonischen Gesten, die aufgrund des damaligen freiheitlichen politischen und kulturellen Umfelds entstanden, faszinieren Architekten wie Gäste. Die markanten Bauten und die öffentlichen Räume mit den Parks bilden ein Gesamtkunstwerk, an dem der Aufbruchsgeist seiner Gründerzeit bis heute ablesbar ist. Unter anderem dafür wurde der Ort 2010 mit dem Label «Patrimoine du XXe siècle» ausgezeichnet. Zurzeit werden die Bauten etappenweise renoviert – 2016 war die Instandstellung der Centre Ville abgeschlossen.

Doch der Alltag hat sich gewandelt. Neben den jährlich zwei Millionen Touristen wohnen fast 10 000 Menschen das ganze Jahr über in La Grande Motte. Die 30 km nach Montpellier sind für französische Pendler ein Katzensprung. Infolge dieser Entwicklung entstanden neben den Ferienunterkünften auch Schulen, Sportanlagen und Einkaufsläden – viele noch bis Ende der 1990er-Jahre unter Aufsicht Balladurs. Die grosszügige Anlage lässt diesen Funktionswandel zu. Ausserdem war von Anfang an mit Kirche, Post, Theater und Palais de Congrès eine weiterführende Infrastruktur – damals für die vielen Angestellten – mit eingeplant worden.

Anders als in alpinen Schweizer Ferienorten, wo Einheimische sich in Randzonen der Dörfer zurückziehen und im Zentrum ein «Loch» mit meist leer stehenden Zweitwohnungen zurückbleibt, findet hier das umgekehrte Phänomen statt. Aber die Bewohner von La Grande Motte beklagen sich über dieselben Dinge wie die Ortsansässigen in alpinen Touristendörfern: zu teure Lebensmittel in den Läden, schlechte Restaurants, zu wenig Parkplätze und zu viele Fremde während der Hochsaison. Zudem, so sagen kritische Stimmen, sei La Grande Motte überaltert: Jüngere Touristen und die ständigen Bewohner des Orts verbringen ihre Sommerferien wohl lieber anderswo.


Anmerkungen:
[01] Die 30 Jahre des Aufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg in den OECD-Ländern von 1948 bis 1978.
[02] Pierre Racine war von 1959 bis 1962 Direktor des Kabinetts unter Premierminister Michel Debré. Ab 1963 setzte er den Bau der Ferienorte im Languedoc um.
[03] Georges Pompidou war ehemaliger Direktor der Bank Rothschild und schuf die Voraussetzungen für den Kauf der Bank von Hunderten von Hektaren Land.
[04] «Tous à la Plage», Lienart Editions, Paris 2016, Bernard Toulier, S. 24.
[05] Filmzitate: www.ina.fr/video/I00013789
[06] François Spoerry baute Port Grimaud, das als grosses Fischerdorf die Antithese zu La Grande Motte darstellt.

TEC21, Fr., 2017.11.10



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TEC21 2017|45 Ferienarchitektur an der Côte d'Azur

03. März 2017Danielle Fischer
TEC21

«Lehm zum Tragen bringen»

Anna Heringer, Martin Rauch, Roger Boltshauser und Jeremy Hoskyn gehen der Frage nach, weshalb Lehmbauten in Städten eine Ausnahmeerscheinung sind. Was muss sich ändern, damit das Material alltäglich wird?

Anna Heringer, Martin Rauch, Roger Boltshauser und Jeremy Hoskyn gehen der Frage nach, weshalb Lehmbauten in Städten eine Ausnahmeerscheinung sind. Was muss sich ändern, damit das Material alltäglich wird?

TEC21: Wird in der Stadt Zürich oft mit Lehm gebaut?
Jeremy Hoskyn: In den letzten 20 Jahren baute die Stadt Zürich die Gerätehäuschen auf dem Areal Sihlhölzli und den Kinderhort Allenmoos. An beiden Projekten waren Roger Boltshauser und Martin Rauch beteiligt. Für uns als öffentliche Bauherrschaft ist Lehm ein Baustoff wie jeder andere auch – weder gut noch schlecht. Es kommt darauf an, wie damit umgegangen wird. Wir machen keine Vorgaben bezüglich Konstruktion und Materialisierung, der Impuls muss von den Architekten in den Wettbewerben kommen.
Martin Rauch: Im städtischen Triemlispital wurden 5000 m² Decken in den Krankenzimmern mit Lehm verputzt (vgl. TEC21-Sonderheft «Neubau Bettenhaus Triemlispital Zürich»). Auch wenn das nicht erkennbar ist, ist es wesentlich, denn dass Lehm klimaregulierend ist, beeinflusste die Kosten für die Belüftungsanlagen positiv. Auch durch den 3 cm dicken Verputz beim Landesmuseum in Bregenz sanken die Kosten für die Klimaanlage um 40 %. Vor 15 Jahren hätte kein Klimatechniker Lehm verwendet. Da hat sich etwas geändert.

TEC21: Braucht es gar nicht immer eine Vollbauweise, um das Material gesellschaftlich zu etablieren?
Anna Heringer: Der Altbaubestand in Europa ist riesig, und zu seiner Sanierung kann Lehm eingesetzt werden. Die Vollbauweise braucht dagegen eine relativ hohe Risikobereitschaft, so wie alles Neue und Ungewohnte.
Roger Boltshauser: Lehm eignet sich für Putz, Beplankungen, Wände oder Teilwände, er hat grosses Hybridpotenzial. An der EPFL haben wir ihn mit Holz, Recyclingbeton oder Stahl zu einem Hybrid kombiniert. So konnten Statik, Dämmungen oder Bauabläufe verbessert werden. Viele Möglichkeiten entdeckt man erst allmählich.

TEC21: Besteht also auch Forschungsbedarf?
Roger Boltshauser: Für Bauphysik und Bautechnik trifft das zu. Je nachdem, wie gut Lehm dämmt, ist er weniger tragfähig – oder umgekehrt. Das Dämmverhalten im Bezug auf die Lehmmischung und die Tragfähigkeit muss untersucht werden, der Feuchtigkeitshaushalt und die Bilanz der grauen Energie. Beim Bau des Ozeaniums in Basel machen wir Ver­suche, die Lehmwände als Speicher­masse zu ver­wenden. Durch die Einlage eines Leitungsregisters wird eine Wärme- und Kälterückgewinnung möglich (vgl. TEC21 7–8/2013).
Martin Rauch: Über Lehm wird mehr geredet, als dass damit gebaut wird. Vor allem aber sind die daran beteiligten Fachleute zu wenig vernetzt. Wir haben jetzt ein Forschungsprojekt mit Trans­solar[1] und der neuen Alnatura-Firmenzentrale in Darmstadt. Dabei soll die graue Energie der in Vor­fertigung produzierten Fassade des neuen Alnatura Campus in Darmstadt untersucht werden. Stromwandler messen im Moment den Energieverbrauch der Vorfertigungsanlage.

TEC21: Wie gross ist das Interesse an Lehmbau unter Architekten und in der Ausbildung?
Anna Heringer: Architekten und Bauherren nehmen Lehm noch zu wenig zur Kenntnis. Aber in unserem Entwurfsstudio an der ETH Zürich 2015/2016 und auch am Lehrstuhl von Annette Spiro war das Interesse gross. Es gibt beim Lehmbau viel zu entdecken, das finden die jungen Leute spannend.
Roger Boltshauser: Das ist auch bei uns an der EPF Lausanne so. Die Gastprofessur hat dort viele Studierende ange­zogen, denn Nachhaltigkeit ist ein wichtiges Thema. Gerade in der Zeit der Digitalisierung wollen junge Leute wieder direkt mit dem Material in Kontakt kommen – vor allem in Bezug auf Lehmbau, da es hier noch viel zu entdecken gibt.

TEC21: Wirkt sich diese Interesse an den Hochschulen bereits auf Wettbewerbsebene aus?
Jeremy Hoskyn: Lehmkonstruktionen oder auch Lehmputze im Innenbereich kommen bei Wettbewerbsprojekten nur selten vor.
Martin Rauch: Das sehe ich anders. Wir werden monatlich angefragt – wenn ein Büro z. B. Stampflehmwände im Wettbewerb vorschlägt. In Paris entsteht in einem Universitätscampus eine 7000 m² grosse Lehmfassade, bei der wir beratend tätig sind.
Anna Heringer: Ich kenne viele Architekten, die bei den zahlreichen Wettbewerben, die sie machen, gern Lehm verwenden würden. Aber im konkreten Fall sind sie sparsam, weil sie das Risiko minimieren wollen, bei der Jury wegen der hohen Kosten durchzufallen. Vielleicht würde Lehm mehr verwendet, wenn bei Wettbewerben erwähnt würde, dass auch natürliche, lokale Materialien geschätzt sind.
Roger Boltshauser: Wir fragen uns auch immer wieder, wie viel Lehm wir einsetzen sollen. In den Kalkula­tionen und Tools für die Wettbewerbsabgaben ist Lehm nicht aufgeführt. Zum Beispiel bei den Kosten weiss man nicht, was der Kostenplaner auf der anderen Seite einsetzt. Mehr Grundlagen gäben uns und den Bauherren Sicherheit.
Jeremy Hoskyn: Öffentliche Bauherrschaften beurteilen ein Bauprojekt immer auch nach den Kosten in der Erstellung und im Unterhalt. Es ist schwierig für einen Kostenplaner, eine Stampflehmwand richtig zu erfassen. Wenn es in halb Westeuropa nur den Martin Rauch gibt, der sie bauen kann, dann fehlt es an Industrie und an Konkurrenz, aber auch an Ausbildung und Forschung. Das führt dazu, dass die Wirtschaftlichkeit der Lehmbauten nicht so einfach nachvollziehbar ist.
Martin Rauch: Oder anders gesagt, Lehm hat keine Lobby, die seine Entwicklung finanziert. Er war schon immer ein Krisenbaustoff, und Kohle und Erdöl verdrängten ihn im Lauf der Industrialisierung: Materialien wie Ziegel, Beton und Stahl waren billig. In Zeiten mit wenig Energie und vielen Arbeitslosen kam Lehm wieder zum Tragen und wurde staatlich gefördert. Wir haben zurzeit keine finanzielle Krise, aber eine ökologische, und hinterfragen den Sinn unseres Tuns. 85 % von dem, was wir bauen, ist Abfall – das muss irgendwann recycelt werden.

TEC21: Sollten wie im Holzbau auch Förderprogramme oder Regulierungen etabliert werden?
Anna Heringer: Ja, die öffentliche Hand müsste eingreifen. Es geht um gutes Raumklima und den Aufbau von Sozialstrukturen durch partizipative Bauprozesse im Rahmen der handwerklichen Herstellung. Das sollten Gründe sein, das Material aufzugreifen – z. B. über die Finanzierung von Workshops. Nachhaltigkeit muss von oben mitgetragen werden, davon bin ich überzeugt. Von allein geht nichts. Regulierungen wären fair – wie das beim Holz geschieht.
Roger Boltshauser: Es gibt auch Einflussmöglich­keiten für öffentliche Bauherren, um Unternehmer zum Umdenken zu bewegen – indem sie CO2-Bilanzen einfordern. Christian Keller von Keller Holding, ein Ziegelfabrikant, entwickelt neu Produkte aus un­gebranntem Lehm, um die CO2-Bilanz des Unternehmens zu verbessern. Es geht auch um ökonomische Vorteile der Firmen.

TEC21: Braucht es eine spezifische Architektursprache?
Martin Rauch: Junge Architekten sind gefordert, eine solche Sprache zu entwickeln. Als ich in den 1980ern meine Diplomarbeit machte, stellte ich mir die Aufgabe, ein Lehmhaus von aussen als solches erkennbar zu machen. Ich suchte nach einer Lösung für regenreiche Orte. Das war ein langsames Ausprobieren von Projekt zu Projekt bis hin zur kalkulierbaren Erosion mit Bauten ohne Vordach. Die Herausforderung ist, so weit zu gehen, dass das Projekt nicht scheitert und trotzdem innovativ ist.
Roger Boltshauser: Ich finde, Lehmbau muss nicht zwingend eine eigene Sprache entwickeln. Es gibt auch verputzte Lehmbauten – zum Beispiel in der Innenstadt von Lyon oder jener aus dem Jahr 1670 in Hauptwil –, die grundsätzlich nicht auffallen. Ziel ist es, dass Lehm genutzt wird, aber natürlich ist es spannend, als Architekt an einem ganz expliziten Ausdruck für Lehmbauten zu arbeiten.
Jeremy Hoskyn: Es ist aber so, dass Sie in Zürich mit dem Sihlhölzli und dem Allenmoos den Lehm aus der Ökoecke geholt haben. Vorher gab es hier keine zeitgemässe Form, denn das Material war in der Moderne fast bedeutungslos.
Roger Boltshauser: In Frankreich gab es bereits in den 1980er-Jahren in Villefontaine bei der Siedlung Domaine de la Terre den Versuch – mit einen post­modernen Unterton –, eine zeitgenössische Sprache für den Lehmbau zu entwickeln.

TEC21: Wie sind die Erfahrungen der Stadt mit dem Unterhalt und Nutzung?
Jeremy Hoskyn: Die städtische Immobilienabteilung sagt, die Bewirtschaftung sei problemlos. Die Lehmbauten finden grossen Anklang, von der Öffentlichkeit über die Nutzer bis hin zu den Hauswarten.
Martin Rauch: Beim Landeskrankenhaus in Feldkirch von 1990 und beim Haus Etoscha in Basel von 1999, einem der grössten Stampflehmbauten in der Schweiz, wurde nie etwas retuschiert. Beim Sihlhölzli gab es Beschädigungen durch Fussbälle – die Ober­flächen wurden seit 2002 einmal überarbeitet und die Graffiti entfernt, was 4000 Fr. kostete. Stampflehm altert gut, kleine Beschädigungen sind nicht so auffällig, wie wenn etwas glatt und perfekt ist.
Roger Boltshauser: Bei den verputzten Lehmhäusern in Lyon spricht man nicht mehr darüber, ob sie dauerhaft sind, weil man einfach vergessen hat, dass sie aus Lehm sind. In neuerer Zeit hat man ausserdem anlässlich von Renovationen festgestellt, dass sich das Material über Jahrzehnte zu einem weichen Naturstein verdichtet hat. Die Mauern werden mit der Zeit immer härter. Um neue Öffnungen zu integrieren, mussten diese mit Spitzeisen bearbeitet werden.


Anmerkung:
[01] Der am Projekt beteiligte Thomas Auer von Trans­solar ist Professor am Lehrstuhl für Gebäudetechnologie und klimagerechtes Bauen an der TU München.

TEC21, Fr., 2017.03.03



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TEC21 2017|09-10 Lehmarchitektur entwickeln

15. Juli 2016Danielle Fischer
Judit Solt
TEC21

Blicke über Grenzen

Die Hauptausstellung unter dem Titel «Reporting from the Front» belegt, was Baukunst jenseits der formalen Disziplin in einem mitunter chaotischen Umfeld bewirken kann. Manche Projekte sind ein Lehrstück in Engagement und Erfindungskraft.

Die Hauptausstellung unter dem Titel «Reporting from the Front» belegt, was Baukunst jenseits der formalen Disziplin in einem mitunter chaotischen Umfeld bewirken kann. Manche Projekte sind ein Lehrstück in Engagement und Erfindungskraft.

Das Plakat der 15. Architekturbiennale in Venedig zeigt eine Frau, die auf einer Aluminiumleiter steht und in die Wüste hinausblickt. Es handelt sich um die deutsche Archäologin Maria Reiche in Südamerika: Von dieser erhöhten ­Warte aus studierte sie Zeichnungen auf dem Boden, die eine präkolumbianische Kultur dort hinterlassen ­hatte und die aus dem normalen Stand betrachtet lediglich als wirre Linien gewirkt hätten. Das Bild ist Programm: Um etwas zu erkennen, muss man zuweilen einen unbequemen Standpunkt einnehmen und sich etwas einfallen lassen, um die Grenzen der Wahr­nehmung zu erweitern – auch in der Architektur. Der chilenische Architekt Alejandro Aravena, der die Hauptausstellung kuratiert, hat diese unter das Motto «Repor­ting from the Front» gestellt.

Hehre Versprechen …

Aravenas Ziel ist es nach eigener Aussage, neue Per­spektiven auf das Bauen und vor allem auch neue Tätig­keitsfelder zu eröffnen; er möchte die Architektur nicht als rein gestalterische Disziplin verstanden ­wissen, sondern sie mit gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Fragen erweitern. ­«Reporting from the Front» soll vermitteln, was unterschiedliche Akteure am Horizont dieser Möglichkeiten erspähen – neue Aktionsfelder und aussergewöhnliche Projekte, in denen sich Pragmatisches mit Existenziellem vermischt, Angemessenes mit Verwegenem, Kreatives mit Rationalem. Die ausgestellten Architektur­beispiele sollen aufzeigen, wo der Unterschied zu konventionellen Projekten liegt.

Auch Biennale-Präsident Paolo Baratta betont, dass positive Nachrichten im Zentrum der Ausstellung stünden. Damit seien nicht nur Ergebnisse gemeint, sondern die Prozesse, die aus den jeweiligen Bedürf­nissen und Begebenheiten heraus zu einer Lösung geführt hätten. Architektur als soziales und politisches Instrument interessiert: Denn wenn Architektur öffentliche Güter schafft, ist sie selbst ein öffentliches Gut. Sie wird als Werkzeug präsentiert, mit dem sich die menschliche Zivilisation selbst verwaltet und mit dessen Hilfe sie ihre Zukunft eigenständig meistert – auch wenn es zurzeit eine wachsende Divergenz zwischen Architektur und Zivilgesellschaft gebe.

… überraschend eingelöst

Bereits anlässlich der 7. Architekturbiennale im Jahr 2000 hatte der damalige Kurator Massimiliano Fuksas im Titel der Hauptausstellung «Less Aesthetics, More Ethics» gefordert. Ähnliche Aufrufe hört man seit eini­gen Jahren immer häufiger, sowohl an der Bienna­le als auch anderswo; doch glaubwürdig umgesetzt werden sie selten. Ebenso inflationär, wie dereinst der Begriff Nachhaltigkeit verwendet wurde, scheinen sich heute Projekte zu vermehren, die mit akademischem Ehrgeiz und unübersehbarer Koketterie den ärmsten Gegenden der Welt gewidmet sind – und letztlich mehr dem Image der Verfasser dienen als den Menschen vor Ort.

Daher stand zu befürchten, dass das Motto der Ausstellung auch dieses Jahr verwässert würde. Doch Aravena, dessen Werk unter anderem mit dem Global Award for Sustainable Architecture 2008 und dem ­Pritzker-Preis 2016 ausgezeichnet wurde, vertritt seine Forderung konsequent und hat die Ausstellung streng kuratiert. Die Beiträge seiner Gäste sind vielfältig und bis auf einige halbherzige Exponate meist etablierter Büros wirklich erhellend.

Verblüffend einfach

Und was sieht Maria Reiche von ihrer Leiter aus? Wohl das Chaos, das die menschliche Zivilisation angerichtet hat, und die vielen Enttäuschungen; dazwischen aber auch zusammenhängende Linien, die ein Bild ergeben, ein Zeichen von Kreativität darstellen. Das Entrée des Hauptpavillons ist als Maria Reiches Raum deklariert: Er ist ebenso wie der Eingangsraum des Arsenale mit verbogenen Stahlrahmen und kaputten Gipswänden gestaltet, Trümmer der letztjährigen Kunstbiennale. Erst nach diesem Auftakt beginnt die Ausstellung, eine dichte Folge von realisierten und geplanten Eingriffen, die belegen, wie vielfältig die Fronten sind und wie unterschiedlich sich Akteure den jeweiligen Themen annähern. Im Unterschied zu den Länderpavillons gibt es hier viele Projekte von Verfassern, die nicht aus Hochschulen kommen und keinen akademischen Zugang zum Bauen haben: Menschen, die vor ein Problem gestellt waren und erstaunliche Lösungen dafür gefunden haben, wie sie wahrscheinlich nie aus einer Akademie hervorgegangen wären. Manche der Arbeiten sind nicht nur äussert pragmatisch, sondern auch poetisch und schön.

Zu erwähnen ist etwa der Beitrag der paraguayanischen Gruppe «Gabinete de Arquitectura» um Solano Benitez (Abb. S. 31 links). Diese gewann den Goldenen Löwen für den besten Teilnehmer der internationalen Sammelausstellung. Benitez baut Gewölbeskelette mit einfachen Mitteln: Zement, Backsteine und eine wiederverwendbare Holzschalung genügen als Konstruktionsmaterial. Ungelernte Arbeiter fertigten daraus schlichte, unerwartet elegante Gewölbe. Diese Strukturen bilden die Grundlage für Bauten, die den Landflüchtigen in Paraguay und zukünftig vielleicht auch in anderen Ländern als Unterkünfte dienen sollen.

Der südafrikanische Beitrag «From Police to Policy» ist einer neuen Fussgängerbrücke gewidmet. Sie führte soziale Verbesserungen an der Warwick Junc­tion, einem der gefährlichsten Orte in Durban, herbei. In der Ausstellung sind auf Tischen faszinierende Gegenstände präsentiert, die im Markt unter der Brücke verkauft werden: weisse und rote Tonbälle, Stachelschweinborsten, Kräuter, Flaschen und vieles mehr. An einer gegenüberliegenden Wandstelle erfährt man, was es mit den Gegenständen im Kontext auf sich hat. Überhaupt zeugt die dichte und bunte Präsentation von dem umfassend und vielschichtig aufgearbeiteten Inhalt – der zur Brücke führte.

Krieg und Architektur

Dass es mehr braucht als ein unterzeichnetes Friedensabkommen, um eine Konfliktzone zu entmilitarisieren, zeigt Milinda Pathiraja aus Sri Lanka. Nach dem Ende des Bürgerkriegs vertauschten die Soldaten seiner Truppe ihre Waffen mit Baugeräten und begannen Schulen zu errichten. Dabei betrachteten sie die Aufgabe über die eigentliche Funktionalität hinaus auch als einen eigenen Lernprozess und haben an Hochschulen das nötige Bauwissen erworben. Auf diese Weise sind nicht nur praktische, sondern auch schöne, dem Klima und der Topografie entsprechende Bauten entstanden.

Besonders eindrücklich ist auch die forensische Architektur von Eyal Weizmann in Kriegsgebieten (Abb. S. 28). Mittels akribischer Recherche sucht er Beweise dafür, wann, womit und von wem ein Haus oder eine Stadt zerstört wurde. Mittels zahlreicher Fotos und Filme, die Laien aus den bombardierten Städten ins Internet hochluden, erstellt er eine Art Gesamtplan des kriegerischen Hergangs. Eine andere Methode dient dazu, anhand von Gebäudetrümmern herauszufinden, wie Menschen in einem zerstörten Bau ums Leben gekommen sind. So kann zum Beispiel eine offizielle Darstellung widerlegt werden, wonach Menschen durch einen Bombenanschlag von Rebellen getötet wurden: Form und Grösse der Gebäudesplitter und die Art des Einschlags in ein Dach können zeigen, dass eine Drohne die Ursache war, zu der Rebellen keinen Zugang haben.

Noch Fragen?

Es gibt viele weitere sehenswerte Beiträge – etwa der Bericht von Manuel Herz über die Urbanisierung von Flüchtlingslagern in der Westsahara (vgl. «Von Rabouni nach Zürich-West», TEC21 7–8/2016), der Bambus-Baukünstler Simón Vélez (Abb. S. 30 oben links und «Simón Veléz ins Bild gesetzt», TEC21 36/2013), die Tonpioniere Anna Heringer und Martin Rauch (vgl. «Ein Teil des menschlichen Habitats», TEC21 29–30/2013) oder das ETH-Team um Phi­lippe Block, das mit finiten Elementen Druckgewölbe von betörender Fili­granität schafft (Abb. S. 30 Mitte rechts). Auffällig ist: Die meisten der gezeigten Bauten befinden sich ausserhalb Europas, viele davon sind durch Partizipation entstanden und wurden mit lokal gewonnenen oder rezyklierten Materialien realisiert. Der Umgang mit den knappen Ressourcen und den überbordenden Problemen in den ärmeren Teilen der Welt steht im Vordergrund. Dem Chilenen Alejandro Aravena ist es gelungen, eine nicht allzu eurozentrische Ausstellung zusammenzustellen. Das ist ungewöhnlich und allemal spannender als die Hochglanz-Selbstdarstellungen, die es in den letzten Jahren häufig zu sehen gab. Einiges bleibt dennoch offen.

Zum einen fragt man sich, ob es in der west­lichen Welt keine gesellschaftlichen und politischen Themen gäbe, zu denen die Architektur jenseits ausgetretener Gedankenpfade etwas beitragen könnte – in den Länderpavillons (vgl. «Die Rückkehr des Einfachen, S. 32) findet diese Recherche immerhin vermehrt statt. Zum anderen ist unklar, ob Aravenas Blick auf die Fronten ganz so frei und unbefangen ist wie derjenige von Maria Reiche in der flachen Wüste. Neben den Arabischen Emiraten, Jemen und Kuwait, deren politische Position weitgehend von der westlichen Welt geprägt ist, sind zwar auch die Grossmächte Russland und China vertreten. Wirklich umfassend aber wäre das Bild, wenn auch Länder wie Libyen, Syrien oder Nordkorea von der anderen Seite der Front berichtet hätten – gewiss ein nicht ganz einfaches Unterfangen. Vergleichsweise unkompliziert wäre es dagegen gewesen, das Board mit einigen dunkelhäutigen oder weiblichen Mitgliedern zu besetzen. Die Ausstellung selbst zeichnet sich durch eine sehr erfreuliche Vielfalt der Themen und Teilnehmenden aus; eine repräsentativere Zusammensetzung des Steuerungsorgans hätte indes zu einem noch breiteren Verständnis der Ausstellung beitragen können – und wäre beim Thema «Reporting from the Front» eigentlich eine Selbstverständlichkeit gewesen.

TEC21, Fr., 2016.07.15



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TEC21 2016|29-30 15. Architekturbiennale Venedig

Die Rückkehr des Einfachen

Rund fünf Dutzend Länderpavillons gibt es an der Biennale zu sehen – die meisten lohnen den Besuch. Auffällig ist, wie viele Beiträge sich existenziellen Problemen widmen: ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit, aber mit treffenden Ideen und unkonventionellen Lösungsvorschlägen. Eine kleine Auswahl.

Rund fünf Dutzend Länderpavillons gibt es an der Biennale zu sehen – die meisten lohnen den Besuch. Auffällig ist, wie viele Beiträge sich existenziellen Problemen widmen: ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit, aber mit treffenden Ideen und unkonventionellen Lösungsvorschlägen. Eine kleine Auswahl.

Weil das Motto der Hauptausstellung – und somit der ganzen Biennale – in der Regel erst zu einem Zeitpunkt bekannt gegeben wird, wenn die Themen der Länderpavillons bereits feststehen, gehen nicht alle nationalen Ausstellungen darauf ein. Dennoch fällt auf, dass dieses Jahr viele Pavillons jenen Fragen gewidmet sind, um die auch die Hauptausstellung kreist: die Aktionsmöglichkeiten von Architektinnen und Architekten jenseits ästhetischer Themen. Armut, prekäre Lebensverhältnisse, Krieg, Ausbeutung, Leben auf der Flucht, Migration, Krankheit und Entfremdung scheinen die Architekturschaffenden zunehmend zu beschäftigen, und das kommt in vielen Pavillons zur Sprache.

Die Vielfalt der Ansätze und die zum Teil brillanten Inszenierungen sind erfreulich und lassen – trotz der thematisierten Missstände – ein hoffnungsvolles Gefühl zurück. Daneben gibt es wie jedes Jahr eine Reihe von Pavillons, die mit einer unerwarteten, zuweilen eher zufällig ­anmutenden Schau überraschen. Und schliesslich sind – weniger überraschend – die Selbstdarstellungen diverser Diktaturen zu sehen, die in ihrer Selbstverherrlichung amüsant wirken würden, wären sie nicht so todernst gemeint.

Finnland: soziale Integration

Ein Absperrband in den finnischen Nationalfarben begrüsst die Besucher im Türrahmen, um darauf hinzuweisen, dass man eine Grenze überschreitet und finnisches Hoheitsgebiet betritt. Die Ausstellung ist der Flüchtlingskrise und den Antworten seitens der Architektur gewidmet. Dokumentiert werden die Ergebnisse eines Architekturwettbewerbs, bei dem Immigrantenunterkünfte konzipiert werden sollten. Es ging um die Schaffung eines neuen Zuhauses, das die Integration der Neuankömmlinge erleichtert. Die Strategien reichen von Umnutzungen über Infrastrukturen zur Verteilung bestehenden Wohnraums ­ bis hin zur Schaffung temporärer Wohn­einheiten. Immer im Fokus: die soziale Dimension der Integration, die über durchmischte Wohnformen erreicht werden soll. Die Ausstellung will einen Anstoss zu Diskussionen bieten: Mitreden kann jeder, direkt vor Ort oder online unter www.frombordertohome.fi

Irland: der Raum als Feind

Um die Installation «Losing Myself» zu verstehen, muss man sich ein wenig Zeit nehmen. Dann aber erfährt man mehr über die räumliche Wahrnehmung von Alzheimerkranken als nach der Lektüre von manchem Wälzer: am eigenen Leib nämlich. Während man sich auf die Pläne für ein Heim konzentriert, die auf den Boden projiziert werden, verändern sich das Licht und die Geräusche schleichend. Auf einmal wirkt Kindergelächter bedrohlich, Kirchenglocken lassen einen taumeln, und die Sicht scheint sich zu trüben. Man erahnt, wie unerträglich es für die vielen dementen Menschen in unserer alternden Gesellschaft sein muss, sich im Raum zu orientieren – und wie anspruchsvoll die architektonische Aufgabe ist, ihnen dennoch adäquate Lebensräume zur Verfügung zu stellen. Eine Lektion in Demut und eine sinnliche Bereicherung zugleich.

Grossbritannien: suffizient bis ins Letzte

Die Ausstellung thematisiert die hohen Wohnpreise in London und reflektiert neue Wohnkonzepte. Unter dem Titel «Home Economics» sind fünf Wohnmodelle zu sehen, die für unterschiedliche Nutzungsdauern optimiert und dem ökonomischen Existenzminimum der Bewohner angepasst wurden. Alle Projekte lassen britischen Humor erkennen und sind so klein, dass sie als 1 : 1-Modell im Pavillon Platz finden. Die erste Einheit ist eine aufblasbare Kugel, die für die Nutzung während weniger Tage gedacht ist: Alles, was man benötigt, um sich zu Hause zu fühlen, ist ein Wi-Fi-Anschluss.

Für mehrere Monate genügt eine Holzbox mit Hochbett, Wasch­becken und Toilette. Auch das etwas grössere Eigenheim für Jahre erinnert an die Grundausstattung einer Gefängniszelle. Zur Nutzung über Dekaden wird eine Reihe funktionsloser Räumen für maximale Flexibilität vorgeschlagen. Für einige Stunden sind Orte zur Nutzung für mehrere Personen angedacht, ganz nach dem Motto «Own nothing, share everything». Die Ausstellung bietet auf kleiner Fläche jede Menge Raum für Diskussionen und zeigt in überspitzter Form, was passiert, wenn das Thema Suffizienz zu Ende gedacht wird.

Rumänien: selbst- und ferngesteuert

Aus unterschiedlichen Positionen – als distanzierte Beobachter oder mitten in den Installationen – können die Besucher sechs mechanische Automaten mit stereotyp anmutenden Holzpuppen steuern. Die Frage des Kurators, ob unsere aktive, willentliche  Partizipation am Weltgeschehen nur eine Illusion sei, bleibt offen. Als Alternative zum Selfie, wie von den Ausstellungsmachern vorgeschlagen, eignet sich die rumänische Ausstellung ausgezeichnet – an kaum einem anderen Ort werden so viele Fotos von Besuchern mit den Installationen gemacht.

Niederlande: Blau steht für Frieden

An hunderten von Orten weltweit sind UNO-Friedenstruppen stationiert. Die Blauhelme sollen die Lebensbedingungen der dortigen Menschen verbessern, doch die Architektur ihrer Camps lässt wenig davon erahnen und trägt kaum dazu bei. Die Architektin und Kuratorin Malkit Shoshan präsentiert ein Gegenmodell: Camp Castor in Mali – hier ist die UNO im Einsatz, und die Niederlande versuchen dabei, die Basis nicht als Festung, sondern als Katalysator für die lokale Entwicklung zu gestalten. In geisterhaft blaues Licht getaucht, zeigt die Ausstellung Chancen und Herausforderungen im Land der Tuareg, die wegen ihrer indigofarbenen Kleider auch «blue men» genannt werden.

Japan: zwischen Ding und Mensch

Die japanische Gesellschaft befindet sich an einem Wendepunkt: Arbeitslose Jugendliche und wachsende Armut gehören nach dem wirtschaftlichen Wohlstand heute zum Alltag. Die Kuratoren fragen danach, wie sich die Archi­tektur den neuen Verhältnissen anpassen wird. Die ausgestellten Arbeiten sind aber nicht der Architektur selber gewidmet, sondern den Verbindungen der Dinge zu den Menschen und umgekehrt. In der buddhistischen Kultur prägt der Begriff «En» diesen Sachverhalt. Es werden verschiedene Aspekte von «En» untersucht – das, so die Kuratoren, das Potenzial in sich birgt, die Schwierigkeiten der kommenden Zeiten zu überbrücken.

Polen: von Fairness keine Spur

Sind faire Arbeitsbedingungen auf einer Grossbaustelle eine Ausnahme? Während die Besucher im polnischen Pavillon auf Baugerüsten sitzen, erzählen Bauarbeiter im Film über ihren Arbeitsalltag. Im zweiten Teil der Ausstellung führen Grafiken an den Wänden vor Augen, wie viele Schwarzarbeiter es gibt, wie viele unbezahlte Überstunden geleistet werden und welche anderen Missbräuche Planende und Arbeiter erdulden müssen. Widersprüche offenbaren sich zwischen dem Bild einer sich entwickelnden Gesellschaft und dem individuellen Schicksal. Im Gegensatz zu «Fair Trade» bei Konsumprodukten ist «Fair Work» auf Baustellen kein Thema – und das nicht nur in Polen.

Spanien: Qualität des Unvollendeten

In Spanien ist vieles, das während der Hochkonjunktur gebaut wurde, nie fertig geworden. Überall gibt es moderne Bau­ruinen. Im Gegensatz dazu steht das von den Architektur­medien vermittelte Bild eines baulichen Endzustands, der sich scheinbar nicht mehr wandelt. Die Ausstellung führt vor Augen, wie wichtig das Konzept des Unfertigen für die Architektur ist. Es lässt einen kontinuierlichen Prozess der Entwicklung zu und eine Tür offen zu Überraschendem, Unerwartetem und Ideen für zukünftige Erfindungen. Die Kuratoren Inaqui Carnicero und Carlos Quintans meinen, die Ökonomiekrise habe die Architektur in Spanien radikaler gemacht. Für ihren Beitrag wurden sie mit dem Goldenen Löwen 2016 ausgezeichnet.

Skandinavien: auf der Couch

Was ist die Essenz zeitgenössischer skandinavischer Architektur? Finnland, Norwegen und Schweden versuchen sich in ihrer Ausstellung «In Therapy» an einer Psychoanalyse. Aus 500 Projekten wurden neun ausgesucht und drei Kategorien zugeordnet: Projekte, die menschliche Grundbedürfnisse an Obdach, Gesundheit und Bildung erfüllen, die eine Zugehörigkeit ihrer Bewohner über öffentliche Räume und Begegnungsorte fördern und die die Werte der skandinavischen Gesellschaft ausdrücken. Im Pavillon darf man auf der sprichwörtlichen Couch Platz nehmen, und via Fernseher informieren Architekturtherapeuten über die Erkennt­nisse.

Das prägnanteste Ausstellungsstück ist eine Holzpyramide, die bis unter das Dach des Pavillons reicht. Sie lädt zum Klettern oder Sitzen ein, ihr tieferer Sinn erschliesst sich jedoch nicht auf den ersten Blick: Sie soll die Maslow’sche Bedürfnispyramide darstellen, ein Entwicklungsmodell der Hierarchie menschlicher Bedürfnisse. So versteht sich die Ausstellung als Ausdruck einer Gesellschaft, die bereits die Spitze erreicht hat und es sich leisten kann, eine Architektur­diskussion in höheren Sphären zu führen.

Deutschland: Willkommen. Aber wie?

«Making Heimat» thematisiert die Frage, wie die Integration von Flüchtlingen und Migranten gelingen kann. Die Ausstellung zeigt Fotos von Bauprojekten, die aus Problemvierteln Orte der Toleranz machen. So wird die hessische Stadt Offenbach mit einem Anteil von über 50 % an Personen mit Migrationshintergrund als Vorbild für Integration präsentiert. Eine Fotoserie über Bewohner der Stadt dokumentiert die vielfältigen individuellen Lebenswege. Der Grundtenor der Ausstellung bleibt trotz Flüchtlingskrise optimistisch, das Fazit ist nicht neu: Heimat ist da, wo man sich zu Hause fühlt; wichtig für die Integration sind Bildung, Sprachkenntnisse, berufliche und familiäre Perspektiven, Offenheit sowie der Wille, sich mit der neuen Heimat zu identifizieren. Auch der Pavillon zeigt sich passend zum Thema ungewohnt zugänglich: Vier Durchbrüche durch die Aussenwände laden dazu ein, über Deutschland als offenes Einwanderungsland nachzudenken.

Uruguay: Krisenarchitektur

Die mit einfachen Mitteln realisierte Ausstellung «Reboot» thematisiert Architektur in Extremsituationen. Denn nur in einer solchen werde Kreativität von voreingenommenen baulichen Erfahrungen frei, sagt Kurator Marcello Danza. Ein Loch im Pavillonboden, aus dem die Erde ausgehoben wurde, erinnert an eine Gruppe des Liberacion Nacional Tupamaros, die Ende der 1960er-Jahre mitten in Montevideo im Untergrund ein Raum­system baute, das versteckt neben dem offiziellen existierte. Eine andere Installation erinnert an das «Wunder der Anden» von 1972, als einige Passagiere nach einem Flugzeugabsturz monatelang im ewigen Eis des Hochgebirges überleben.

Ungarn: Planungsprozess umgekehrt

Junge Architekten in der Stadt Eger, im Norden Ungarns, setzten  ein Projekt fast ohne Geld um. Sie baten die Behörden um einen Bau, den niemand haben wollte, und erhielten das 15-jährige Nutzungsrecht eines Hauses in einem Park. Bedingung war, dass der Umbau eine Wertsteigerung zur Folge hatte. Die Architekten kehrten den üblichen Planungsprozess um: Zuerst klärten sie ab, welche Materialien sie von Sponsoren erhalten konnten und was es aus der Umgebung zu rezyklieren gab. Erst dann entwarfen sie den Umbau. Studierende aus einem Polytechnikum halfen bei der Ausführung, die als kollektive Aktivität ins Zentrum rückte. Das Netzwerk, das dabei entstand, ist neben den Wohnräumen für die Architekten die wichtigste Komponente des Projekts. 

TEC21, Fr., 2016.07.15



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2016|29-30 15. Architekturbiennale Venedig

17. Juni 2016Danielle Fischer
TEC21

Die Geschichte mit der Tradition

Der Wiederaufbau von 13 abgebrannten Walserhäusern in der Nähe von Davos war Anlass, über Tradition im Holzbau, einen einfachen Baustandard und massvoll integrierte Entwicklungen nachzudenken.

Der Wiederaufbau von 13 abgebrannten Walserhäusern in der Nähe von Davos war Anlass, über Tradition im Holzbau, einen einfachen Baustandard und massvoll integrierte Entwicklungen nachzudenken.

Auf den ersten Blick ist Wiesen ein Berg­dorf wie viele andere. Gut 350 Einwohner leben an dem Ort, etwa 18 km von Davos entfernt am Südhang des Landwassertals. Das ehemalige Kurhotel Bellevue, die Schule und die Kirche mit ihrer gut erhaltenen Rokokoorgel im alten Dorfteil bilden neben der Strasse, die Davos mit Thusis verbindet, die wesentliche Infrastruktur.

Eine Besonderheit des Orts befindet sich jedoch auf der rund 1900 m ü. M. gelegenen, gleichnamigen Alp: Eine Stunde Aufstieg durch den moosigen Kiefernwald führt zu einer der ältesten und grössten Walsersiedlungen Graubündens. Es handelte sich um eine homogene Gruppierung von jahr­hundertealten Sennhütten mit Stall- und Heuteil, die nach einem einheitlichen Muster aufgebaut waren. Auf ­der Terrasse umgeben die 40 Häuser in lockerem Verbund eine Gemeinschaftswiese. Auf dieser sogenannten ­Sopa spriessen im Mai tausende von Bergkrokussen. Dahinter erhebt sich die über 3000 m hohe Bergkette mit Piz Michel, Ela, Kesch und dem Tinzenhorn.

Die idyllisch gelegene Alp hat über die Jahrhunderte schon viele Gemüter bewegt. Emotionsbeladen war wohl bereits die Einwanderung der Walser, die im 13./14 Jahrhundert infolge des Bevölkerungswachstums im Wallis auf der Suche nach Acker- und Weideland nach Graubünden kamen. Im Landwassertal fanden sie eine neue Heimat. Die lokale Bevölkerung tolerierte sie allerdings nur dort, wo sie ihre Weidegründe nicht konkurrenzierten – also an der Baumgrenze, wo der Schnee länger liegen bleibt und der Zugang mühsamer ist.

Eine kalte Nacht mit Folgen

Weitaus dramatischer als die Gründung der Siedlung war wohl die Novembernacht im Jahr 2007, als zwei Jäger, die eines der Häuser aufheizen wollten, einen Brand entfachten. Bis auf dem Weg zur Alp der Schnee geräumt war und die Feuerwehr Albula sowie eine ­Einsatzgruppe aus Davos den Löschhelikopter unterstützen konnte, waren 13 Häuser abgebrannt und neun teilweise zerstört.

Der Bündner Heimatschutz, die kantonale Denkmalpflege und das Amt für Raumentwicklung beauftragten die Architekten Valentin Bearth, Andrea Deplazes und Daniel Ladner mit einer Studie für gestalterische Richtlinen für den Wiederaufbau. Diese umfasste sowohl die Positionierung der Bauten als auch deren Architektur. Der naheliegende Vorschlag, sie am gleichen Ort wieder zu errichten, wurde jedoch aus feuerpolizeilichen Gründen abgelehnt. In den folgenden ausführlichen Studien diente die Position dreier Häuser, die bereits in der alten Siedlung etwas abseits standen, als Vorlage.

In Anlehnung daran schlugen die Architekten vor, die 13 Bauten in grösserer Distanz zueinander und zum Siedlungskern anzuordnen. Die bauliche Dichte – Ausdruck des ursprünglichen Gemeinschaftsgefühls der Walser, das sich hier speziell artikulierte – trat so hinter feuerpolizei­lichen Vorschriften zurück. Der Heimatschutz stellte zudem die Bedingung, dass die Grundfläche der neuen Bauten mit derjenigen der alten identisch sein musste. Die Architekten arbeiteten deshalb drei Typen nach denselben räumlichen Kriterien aus: ein Doppelhaus, ein Einzelhaus sowie ein kleines Einzelhaus von 5 × 5 m Grundfläche.

Faszinierend einfach

Anders als die lokalen Steinbauten im Tal konstruier­-ten die Walser ihre Häuser aus Holz. Oft standen sie mit der Rückseite gegen den Hang. In einem talseitigen­ zweistöckigen Raum, der Sennerei, gab es eine Feuerstelle, daneben lag der eingeschossige Stall und darüber ein Wohn- und Heuteil. Da das Haus kaminlos war, zog der Rauch durch die offenen Ritzen des Rundholzes im Obergeschoss ab. Das Untergeschosses war aus Strickholz gebaut. Auf der Bergseite führte ein Weg zu einem Tor, um das Heu direkt in den oberen Stock anzuliefern.

Der variantenreich umgesetzte Bautyp auf der Wiesner Alp spricht für den kulturellen Reichtum und den Sachverstand der damaligen Erbauer. Ausgehend von den traditionellen Bauten entwarf Daniel Ladner ein modern adaptiertes Gebäude: Der Wohnteil ist durch eine raumhohe Glasfront von einem eingezogenen, wettergeschützten Eingangs­bereich abgetrennt. Statisch trägt ein mächtiges dreidimensionales Kreuz auch im Winter die beachtlichen Schneelasten ab.

Das Fundament ist nach dem Vorbild der alten Stelzenspeicher leicht vom Boden abgehoben, und das Dach, an dessen Vorsprung die Schindeln durch die Unterkonstruktion erkennbar sind, wirkt überraschend leicht. Bei Minustemperaturen wärmt der Specksteinofen das Haus innert vier Stunden wohnlich auf. Da das neue Gebäude nicht den energetischen Anforderungen eines konventionellen Wohnhauses entsprechen muss, verzichtete man auf die Isolation der 12 cm dicken, massiven Strickholzwände, und auch Durchlüftungsschichten oder Dampfsperren waren nicht notwendig.

Weil wegen des relativ trockenen ­Klimas moderne bauphysikalische Massnahmen fast überflüssig sind, eignet sich Holz in diesen Höhenlagen ausgezeichnet zum Bauen. Die damit verbundenen baulichen Qualitäten sind offensichtlich: Das neue Walserhaus ist genauso wie das alte vollkommen aus Holz. In einer Zeit, in der komplexe mehrschichtige Wandaufbauten und aus verschiedenen Komponenten zusammengesetzte Materialien die Regel sind, fasziniert diese Einfachheit.

Bearth & Deplazes setzten einen zeitgemässen Wiederaufbau um, basierend auf den traditionellen Typen und ihrer Bauweise, und nicht eine Kopie der alten Gebäude. Sie distanzierten sich durch diese Entwurfshaltung von einer ausschliesslich nostalgischen Annäherung an die Aufgabe. Ihr gestalterischer Ansatz reflektiert die Tradition über das Bestehende hinaus und integriert massvoll neue Entwicklungen. Zentral war dabei die Frage, was funktional notwendig, was entbehrlich und was gestalterisch angebracht ist.

So erzeugt ein Solarpaneel neben dem Eingang die Elek­trizität fürs Licht, aber auf Warmwasser wird verzichtet. Der Rundholzteil des Obergeschosses wurde zugunsten einer Konstruktion aus Strickholz weggelassen, denn die rechteckigen Querschnitte der Balken sind in modernen Schreinereien einfach und effizient herzustellen. Beim verglasten Eingangsbereich zeigt sich aber, dass die Gestaltung über den Ansatz des Notwendigen hinausgeht: Die geschützte, von aussen nicht sichtbare Vorzone lädt zum Sitzen ein und lässt Licht ins Innere des sonst dunklen Hauses. Es erstaunt nicht, dass der Bau den 1. Rang Region Ost des Prix Lignum 2015 erhalten hat.

Individuell statt einheitlich

Doch das Einzelhaus am Rand zur Sopa blieb das einzige, das nach den Plänen der Architekten umgesetzt wurde. Denn der räumlich und materiell überschaulichen Architekturaufgabe standen die unterschiedlichen Auffassungen der Hausbesitzer, wie Tradition zu interpretieren sei, gegenüber.

Die Gemeindeversammlung im Jahr 2008 lehnte den Gestaltungsvorschlag der ­Architekten ab, und in der Folge wurde jedes Haus individuell wieder aufgebaut. Durch dieses Vorgehen ging weit mehr der gestalterischen Einheitlichkeit der Siedlung verloren, als dies bereits vor dem Brand geschehen war, als die Nutzungsänderung von den Sennereien zu Wochenend- und Jagdhäusern ihre Spuren an der ­Architektur hinterlassen hatte. Beim Wiederaufbau wünschen einige Eigentümer beispielsweise die traditionelle Zweiteilung mit Strick- und Rundholzbau im Obergeschoss beizubehalten.

Die heute unterschiedlichen Wandkonstruktionen – sie reichen von dickem Rundholz über Massivholzbalken bis hin zu Brettsperrholz – haben verschiedene Durchmesser und Stirnseiten. Einige der neuen Häuser erinnern mit ihren überdimensionalen Dachbalken eher an konventionelle Block­hütten denn an Walserhäuser. Ein Wiederaufbau nach einem Gesamtplan wäre eine Chance gewesen, die charakteristische Handschrift der Siedlung teilweise wiederherzustellen.

TEC21, Fr., 2016.06.17



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TEC21 2016|25 Alpine Holzbauten im Wandel

13. Februar 2016Danielle Fischer
TEC21

«Theoretisch ist es einfach»

Der Neftenbacher Gemeinderat Urs Wuffli kritisiert die bestehenden Asylunterkünfte. Um in Zukunft genügend und vor allem menschenwürdige Unterkünfte zu gewährleisten, müssten Bauvorschriften gelockert und neue bauliche Lösungen gefunden werden.

Der Neftenbacher Gemeinderat Urs Wuffli kritisiert die bestehenden Asylunterkünfte. Um in Zukunft genügend und vor allem menschenwürdige Unterkünfte zu gewährleisten, müssten Bauvorschriften gelockert und neue bauliche Lösungen gefunden werden.

TEC21: Herr Wuffli, Sie haben Asylunterkünfte in verschiedenen Gemeinden besucht und dokumentiert. Wie war Ihr Eindruck?
Urs Wuffli: Die Gemeinden sind beim Bau der Unterkünfte von einer temporären Nutzung ausgegangen. Unterdessen haben sich viele Familien vergrössert, in einem Studio für eine Person leben zwei oder mehr Leute. Zum Teil sind die Wohnungen so eng, dass eine schulische Integration bei Kindern fast nicht möglich ist – sie haben zum Beispiel keinen Platz zum Lernen. Eine Familie bewohnt seit sechs Jahren eine Wohnung mit einem Korridor von 50 cm Breite – das ist mühsam im täglichen Gebrauch. Oder eine dreiköpfige Familie hat in ihrer Küche seit sechs Jahren nur eine Kochplatte. In Neftenbach gibt es im Moment noch bessere Lösungen. Aber alle Liegenschaften, die der Gemeinderat freigegeben hat, sind belegt, und Private können wir nicht zwingen, etwas zu vermieten.

TEC21: Wie viele neue Asylunterkünfte braucht es?
Urs Wuffli: Auf Januar 2016 hat der Bund die Aufnahmequote von 0.5 auf 0.7 % pro Tausend Einwohner erhöht. Auf den Kanton Zürich mit 1.45 Mio. Einwohnern fallen so 2900 Plätze. Für Neftenbach sind dies elf neue Leute. Hinzu kommen jene 13, die einen positiven Asylentscheid erhalten haben. Zudem wird oft vergessen, dass Gemeinden sich auch um die Unterkünfte von Leuten im Tief­lohn­segment, Rentnern mit wenig Geld und den Working Poor kümmern muss.

TEC21: Was sieht das Unterbringungskonzept vor?
Urs Wuffli: Wenn die Flüchtlinge von den Kantonen auf die Gemeinden verteilt werden, dann haben sie den Status N (Asylsuchende). Und nachher gibt es einen Asylentscheid, der lautet «vorläufig aufgenommen», oder «anerkannter Flüchtling». Das Konzept sieht vor, dass sie nach der ersten Unterkunft in eine Wohnung ziehen. Theoretisch ist das einfach, aber in der Realität funktioniert es nicht mehr. Wir haben in einem Haus Leute mit Status N, F oder B (vgl. Kasten unten), und wir haben innerhalb bestimmter Mietzins­limiten, bei einem Leerwohnungsbestand von praktisch null, keinen bezahlbaren Wohnraum mehr. Wenn doch einmal eine Wohnung frei wird, dann sind die Widerstände der Besitzer oft gross, diese an Asylsuchende oder Flüchtlinge zu vermieten.

TEC21: Müsste man anstelle temporärer in Zukunft permanente Unterkünfte bauen?
Urs Wuffli: Das wäre ein zukunftsweisender Weg. Das Temporäre funktioniert nicht mehr. Bisher war man der Ansicht, dass Asylanten kurzfristig auch in einfachen Verhältnissen leben können. Aber wir haben Leute, die sind als Flüchtlinge aufgenommen worden, und sie leben seit 15 Jahren in ähnlichen Unterkünften. Man sollte so bauen, dass die Menschen zumutbaren Wohnraum haben, auch wenn sie dort bleiben und Kinder bekommen.

TEC21: Wie müsste ein solcher Neubau konkret aussehen?
Urs Wuffli: Wir studieren in Neftenbach ein Projekt, bei dem die Wohnungen flexibel dem Bedarf angepasst werden können. Es gibt Schaltzimmer, um den Bedürfnissen grösserer und kleinerer Familien gerecht zu werden. Das 3.5-m-Raster der Holzrahmenkonstruktion ist breiter als die Container, die oft zu schmal und zu lang sind. Mit dem Mass lässt sich besser planen. Ein ähnlich gebautes Beispiel in Dietlikon zeigt, dass die Häuser von den Leuten besser akzeptiert werden und man weniger benutzerverursachte Schäden hat.

Wichtig ist aber auch der Kostenrahmen. Wenn man permanent baut, dann muss man die Umweltauflagen erfüllen. Das ist nicht der Fall bei Provisorien für bis zu fünf Jahren. Darum sind Billigcontainer verlockend. Doch letztendlich kommen sie teurer – da sie eine Lebensdauer von nur fünf bis zehn Jahren haben. Es ist aber einfacher, dem Stimmbürger an der Gemeindeversammlung etwas «pro rata» für fünf Jahre zu verkaufen, als ihn von einem Bau zu überzeugen, der 20 Jahre stehen bleibt.
Und nach Ablauf der fünf Jahre stellt man fest, dass das Problem mit der Unterbringung immer noch besteht – und man verlängert nochmals um fünf Jahre. Nach zehn Jahren müssen die Bauten dann dringend saniert werden. Falls die Flüchtlingsströme eines Tages abnehmen, könnte man permanente Unterkünfte an Familien in wirtschaftlich kritischen Verhältnissen und mit vielen Kindern vermieten. Es ist auch enorm schwierig, für sie Wohnraum zu finden.

TEC21: Das von Ihnen geschilderte Projekt würde die Gemeinde Neftenbach selber bauen?
Urs Wuffli: Das ist noch nicht entschieden. Wir überprüfen aber, ob ein Investor für uns bauen kann. Obschon solche Bauten nicht viel Rendite abwerfen, kann man damit auch Einnahmen generieren. Natürlich muss man zuerst investieren, aber in den nächsten zehn Jahren werden die Kosten den Gemeinden vom Kanton zurückerstattet. Das kann interessant sein für private Investoren und die Gemeinden entlasten.

TEC21: Planen Sie einen Holzbau, um von der Container­architektur weg zu kommen?
Urs Wuffli: Wir werden das Projekt so materialneutral wie möglich angehen und Varianten durchspielen. Ich bin dafür, dass man permanente Gebäude erstellt. Trotzdem lässt sich der Stimmbürger einfacher überzeugen, wenn man Holzmodule wieder abbauen und versetzen kann.

TEC21: Wie sehen die zeitlichen Rahmenbedingungen für so einen Bau aus?
Urs Wuffli: In der Schweiz haben wir – anders als in Deutschland – mit Gemeindeversammlung, Bau­ausschreibung, Baurekurs lange Prozesse. Wir haben zu wenig Zeit. Gerade haben wir eine ehemaligen Früchtehalle umgenutzt. Baubeginn war der 18. Dezember, und bezogen wurden die Räume am 12. Januar. Wir haben Zimmer und Duschen eingebaut, Laminat verlegt, die Heizung und Elektroanlagen umgebaut und komplett neu möbliert.

TEC21: In Zürich sind an der Röslistrasse 120 Männer unterirdisch in einer Zivilschutzanlage untergebracht.
Urs Wuffli: In diesem Fall muss man überirdische Tagesstrukturen anbieten. Wenn Leute an Leib und Leben bedroht sind, dann müssen wir ihnen ein Dach über dem Kopf geben, das ist klar. Wir können ihnen aber, schon von der Kapazität her, nicht versprechen, dass sie eine perfekte Wohnung erhalten.

TEC21: Was müsste sich an den Entscheidungsprozessen ändern, damit es schneller geht?
Urs Wuffli: Es braucht verschiedene Lockerungen. So zum Beispiel Sonderbauvorschriften ausserhalb der Bauzone – weil man dort für höchstens fünf Jahre einen nicht zonenkonformen Bau erstellen darf. Wenn der Kanton die Kontingente allenfalls noch erhöht und wir nicht ausserhalb der Bauzonen oder erleichtert in einer Gewerbezone bauen dürfen, wird es schwierig. Für die Umnutzung gilt dasselbe. Wenn man einen Industriepark umnutzen will, dann muss das zuerst publiziert werden, und meist werden Rekursmittel ergriffen. Ausnahmebewilligungen sind möglich, aber auch gegen die kann man Rekurs einreichen.

TEC21: Ist mehr Flexibilität gefragt?
Urs Wuffli: Wir sind ein Land, das mit seinen geordneten Abläufen gefordert, wenn nicht gar überfordert ist. Flexibiliät ist nicht unbedingt das, was uns auszeichnet, da können wir von anderen Ländern lernen. Dazu kommt, dass die meisten Leute gar keinen Kontakt zu Flüchtlingen haben, das schürt Vorurteile. Dennoch sind die meisten Flüchtlinge froh, wenn man sie in Ruhe lässt.

TEC21: Das heisst, die vielbeschworene Nutzerdurchmischung ist keine gute Idee?
Urs Wuffli: Nutzerdurchmischung ist denkbar. Aber wenn man in einen 08/15-Block Asylfamilien platziert, ist das problematisch. Ihre Gastfreundschaft ist eine andere als die unsere. Sie besuchen sich gegenseitig oft, und ihr Tagesrhythmus entspricht nicht dem des Schweizers, der morgens um sechs Uhr aufsteht. Sie sitzen abends lang zusammen. Und Leute aus anderen Kulturen sind oft lauter als Schweizer. Das birgt Konfliktpotenzial … Ob man eine Kinderkrippe da reintun will, das ist eine politische Frage. Ich glaube, das geht nicht. Da sagen manche Leute, ich schicke mein Kind nicht zu so ausländischen Männern.

TEC21, Sa., 2016.02.13



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TEC21 2016|07-08 Asylunterkünfte: Integration im Städtebau

13. Februar 2016Danielle Fischer
TEC21

Asylarchitektur im Umbruch

Unterkünfte für Flüchtlinge sind ein brisantes Thema. Viele Gemeinden brauchen in diesen Wochen schnell temporäre Lösungen. Bei all der Eile ist es aber wichtig, bauliche Langzeitstrategien zu finden. Das Baubüro NRS in situ befasst sich seit 2010 mit der Aufgabe.

Unterkünfte für Flüchtlinge sind ein brisantes Thema. Viele Gemeinden brauchen in diesen Wochen schnell temporäre Lösungen. Bei all der Eile ist es aber wichtig, bauliche Langzeitstrategien zu finden. Das Baubüro NRS in situ befasst sich seit 2010 mit der Aufgabe.

Umgerüstete Zivilschutzanlagen im Untergrund, Hüttendörfer in Hallen, Militärzelte auf Kasernenplätzen oder leer stehende Kommunalbauten an gesichtslosen Einfahrtsstrassen sind Orte, an denen Asylsuchende in der Schweiz untergebracht werden. Diese Unterkünfte sollen nur einen zeitlichen Aufschub bieten, bis passendere Lösungen gefunden sind. In Wirklichkeit jedoch bleiben viele Asylsuchende länger als geplant darin.

Unterbringungsmöglichkeiten bieten auch in aller Eile erstellte Containersiedlungen. Meist sind die Einheiten pragmatisch aufeinander gestapelt, zu Zeilen zusammengefasst und befinden sich ausserhalb vom Dorf- oder Stadtzentrum. Nicht zuletzt weil Containerbauten wenig Gestaltungsspielraum lassen, sind sie architektonisch und städtebaulich nicht besonders prestigeträchtig. Es verwundert also nicht, dass die Aufgabe bis anhin unter Architekten keinen grossen Stellenwert hatte und entsprechend wenig gestalterische Denkarbeit dafür aufgewendet wurde.

Doch es gibt Ausnahmen. Pascal Angehrn, Sebastian Güttinger und Marc Angst mit ihrem Team vom Baubüro NRS in situ befassen sich seit 2010 mit Asyl­unterkünften: «Wir sind Idealisten aus den Bereichen Industriedesign, Stadt- und Landschaftsplanung sowie Architektur, die mit engen Vorgaben hinsichtlich Kosten, Qualität und Terminen das Bestmögliche für Menschen in Not erreichen möchten», sagt Pascal Angehrn.

Drei Nutzergruppen, eine Brache

Die Büroräume von NRS in situ liegen im Basislager an der Aargauerstrasse in Zürich Altstetten; unmittelbar daneben steht auf dem gleichen Grundstück eine Asylunterkunft. Beide Bereiche sind dreistöckige Containersiedlungen – die eine für rund 200 Leute aus dem Kunst-, Kultur- oder Gewerbebereich, die andere für 120 Asylsuchende. Auf der gegenüberliegenden Seite platzierte die Stadt 2013 ausserdem die umstrittenen Strichboxen. Alle drei Anlagen hat NRS in situ geplant und ausgeführt.

Nachdem die Verträge im Zürcher Binz-Quartier ausgelaufen waren, wurden die Ateliercontainer 2012 nach Altstetten transportiert. Die Stadt Zürich ver­pachtet Swiss Life, der Eigentümerin des Basislagers, das Areal an der Aargauerstrasse bis ins Jahr 2027 – danach soll hier ein Tramdepot entstehen. Das Grundstück diente früher als Abfalldeponie. Später befanden sich eine Autolackiererei und Schrebergärten auf der ins Altlastenverzeichnis eingetragenen Brache.

Die periphere Lage zwischen Autobahnzufahrt und Gleisfeldern scheint typisch für eine Asylunter­kunft – und doch unterscheidet sie sich von anderen. Leute aus den Ateliers gehen an den Asylcontainern vorbei und durch die Gartenwirtschaft «zum Transit», die sich unmittelbar gegenüber befindet. So kommen Asylsuchende und Gäste miteinander in Kontakt. Die Bauten sind einzeln oder gruppenweise angeordnet, und aus dem gestampften Kiesboden wachsen Grasbüschel. Vor den Eingangstüren einiger Stahl­container stehen schwere Gefässe, Prototypen für Kunstwerke oder verblasste Möbel.

Betriebsstudien vor Ort

Von ihrem Arbeitsplatz in der ersten Etage können Pascal Angehrn und sein Team mitverfolgen, wie sich das Areal entwickelt und wie es genutzt wird. Sie erfahren, wo es Pro­bleme gibt und was verbessert werden kann. Der direkte Kontakt mit der Asylorganisation Zürich (AOZ), die die Flüchtlingsunterkünfte leitet, ­erlaubt es, das Baukonzept für die Zukunft weiterzuentwickeln. Materialisierung, Raum- und Fenstergrössen, Rückzugsorte und Stehtoiletten können verbessert werden. So wurden aufgrund von Gesprächen mit der AOZ die Module von fünf Schlafzimmern, wie sie an der Aargauer­strasse vorkommen, bei später gebauten Unterkünften zugunsten eines Schaltzimmers auf drei modifiziert. Auch die Gemeinschaftsräume wurden zu­guns­ten des Schaltzimmers verkleinert.

Eine grössere Anzahl von Menschen verschiedener Nationalitäten und Kulturen in einer Wohneinheit zu platzieren erwies sich als problematisch. Künftig sollen die Projekte kleinteiliger werden, ähnlich wie Wohngemeinschaften für Studierende. Der aus zwei Flügeln bestehende Haupttrakt an der Aargauerstrasse ist aus 70 Raummodulen zusammengesetzt, die in zwölf Wohneinheiten gegliedert sind. Jede Einheit enthält vier bis fünf Schlafzimmer sowie eine Küchen- und Sanitäranlage. Bei einer Zweierbelegung wohnen acht bis zehn Personen darin. Ein zusätzlicher Pavillon bietet 26 Personen Wohnraum. Da die Bauten aus Kostengründen ohne Aushub auf einem Betonplattenfundament stehen, mussten die alten Bäume nicht gefällt werden. Den Bestand zu erhalten ist oft besser und kostengünstiger als etwas neu anzulegen.

Auch die Verbindung mit der Umgebung ist wichtig für die Integration. Die meisten Leute, die in einem Quartier leben, kommen gar nie persönlich mit Flüchtlingen in Kontakt. Dadurch wachsen Vorurteile. Dabei sind die Synergien, die zwischen den Nutzergruppen entstehen, meist positiv – wenn sie auch zurückhaltend erscheinen. Die Durchmischung der Flüchtlinge und der Kreativen weist durchaus Schnittstellen auf. An den Tischen in der «Wirtschaft zum Transit» machen Kinder, wenn es dort keine Gäste hat, ihre Hausaufgaben, oder es finden Malkurse statt. Und auch wenn unter den Gästen kaum Asylsuchende sind, so haben einige hier später eine Anstellung gefunden.

Raumprogramme hinterfragen

Der Bau einer Asylanlage erfordert von den Planern geschickte Verhandlungen mit Auftrag­gebern, Gemeinden, Kantonen, Investoren und Politikern. Problematisch wird es, wenn sich Auftraggeber nicht auf einen gemeinsamen Planungsprozess einlassen, sondern auf die Umsetzung eines unsinnigen Programms bestehen. In solchen Fällen hinterfragt NRS in situ teils vorgegebene Standorte, Raumprogramme und Anforderungsprofile und arbeitet auf Eigeninitiative Vorschläge aus. Das kann an der Gemeindeversammlung auf Unverständnis stossen.

Das Planungsbüro hat Elemente und Module in Holz, Metall oder Beton umgesetzt. Holz wird immer häufiger verwendet, weil es wohnlicher wirkt als Stahl. Um rentabel zu sein, erfordern temporäre Bauten eine andere Kostenrechnung, indem man eine Nachnutzung mit einkalkuliert. Unabhängig vom Material ist dies aus einem weiteren Grund sinnvoll: Die Erschliessung kann nicht gezügelt werden, und damit entsteht ein Verlust von rund 40 % der Erstellungskosten. Auch das erfordert Überzeugungsarbeit bei den Bauträgern. Baulich müssen die Container gängige Auflagen hinsichtlich Brandschutz und Energie erfüllen. Hinzu kommt, dass von der Projektierung bis zur Fertigstellung oft nicht mehr als zehn Monate bleiben.

Gesellschaftlich relevant

Angesichts der politischen Situation im Nahen Osten, am Hindukusch und in Afrika werden Menschen auch künftig nach Europa und in die Schweiz flüchten. Sie bilden eine heterogene Gruppe, über deren Position in unserer Gesellschaft wir nachdenken müssen. Gerade wenn Menschen aus meist anderen Kulturkreisen für Jahrzehnte bei uns Fuss fassen sollen, kommt ihrer Wohnsituation eine Schlüsselrolle zu.

Architekten sind gefordert, offene Potenziale wie Brachen, Umnutzungen oder Leerbestände in Innenstädten und Dörfern in ihre Planung mit einzubeziehen. Es geht darum, wohnlichen, flexibel nutzbaren und auch kostengünstigen Wohnraum zu schaffen, der über seine Vernetzung mit der Umgebung Integration ermöglicht. Da die Unterkünfte erfahrungsgemäss schnell verfügbar sein müssen, sollten auch unkonventionelle Ideen realisierbar sein. Das setzt voraus, dass sie bei Bedarf jenseits von starrem Regelwerk und Normen entstehen, und dafür muss die Politik demokratische und bauliche Prozesse beschleunigen.

Die Antwort auf die Frage, wie Menschen nach ihrer Flucht bei uns wohnen, weitet sich in Zukunft hoffentlich von der allzu oft üblichen Praxis der «Gated Communities» an der Peripherie auf das Zu­sammenleben in Wohnquartieren und an öffentlichen Orten aus. Nur so kann der zweiseitige Prozess der Integration ein gesellschaftliches Entwicklungspotenzial entfalten.

TEC21, Sa., 2016.02.13



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TEC21 2016|07-08 Asylunterkünfte: Integration im Städtebau

Wunderkammer oder Prototyp?

Am 7. Juni 2014 öffnete die 14. Architekturbiennale Venedig ihre Tore. Die von Rem Koolhaas kuratierte «Monditalia» mit 41 Ausstellungsbeiträgen, Film und Tanz lohnt den Besuch.

Am 7. Juni 2014 öffnete die 14. Architekturbiennale Venedig ihre Tore. Die von Rem Koolhaas kuratierte «Monditalia» mit 41 Ausstellungsbeiträgen, Film und Tanz lohnt den Besuch.

Rem Koolhaas, internationaler Architekturstar und Pritzkerpreis-Träger 2000, ist einer der radikalsten Theoretiker der zeitgenössischen Architektur. Der Niederländer hat eine Generation von mittlerweile ebenfalls weltweit tätigen Architekturschaffenden beeinflusst; deutliche Spuren seiner Gedanken finden sich unter anderem bei BIG, MVRDV und Herzog & de Meuron. Noch mehr als seine Bauten haben seine Bücher und Ausstellungen den architektonischen Diskurs seit drei Jahrzehnten inhaltlich und stilistisch geprägt. Auch an der Biennale in Venedig war er mehrfach mit Ausstellungen präsent, vor vier Jahren erhielt er den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk. Daher kam seine Ernennung zum Kurator der diesjährigen Biennale wenig überraschend. Zu erwarten war auch, dass die Ausstellung vom gewohnten Schema – einer disparaten Werkschau von bekannten Architekten, notdürftig mit einer möglichst allgemeinen thematischen Klammer zusammengehalten – abweichen würde. Überhaupt waren die Erwartungen extrem hoch. Koolhaas hat sie teils erfüllt, auch wenn die leise erhoffte Revolution ausfällt.

Italien: von Afrika bis zu den Alpen

Die Schau «Monditalia» ist als Stationenweg durch Italien organisiert. «Das Gebäude ist lang, und auch Italien ist lang», bemerkte Koolhaas trocken an der Eröffnung. Zudem sei Italien exemplarisch für die meisten anderen Länder unserer Welt: «auf der Kippe zwischen Chaos und der bisher verpassten Chance, sein volles Potenzial auszuschöpfen» – so der Niederländer. Die Aussage verspricht wenig Konkretes, doch Koolhaas’ Auseinandersetzung mit Italien ist tatsächlich sehenswert. Man betritt die Ausstellung beziehungsweise den Stiefel von Süden her und landet vorerst auf der Insel Lampedusa – gemeinsam mit unzähligen Bootsflüchtlingen aus Afrika, deren Elend einen gleich zu Anfang in beeindruckenden Filmsequenzen empfängt. Hier beginnen zwei parallele Stränge der Schau, die sich auf dem Weg von Süden nach Norden immer wieder thematisch und räumlich überschneiden: auf der einen Seite Kapitel aus Italiens Architektur- und Kulturgeschichte, auf der anderen Seite Ausschnitte aus italienischen Spielfilmen, die an den Stationen des Parcours spielen (Abb. unten links). So korrespondiert etwa «The Architecture of Hedonism – three Villas on the Island of Capri» des Kurators Martino Stierli mit Ausschnitten aus Filmen wie Jean-Luc Godards «Le mépris», der in der Villa Malaparte des Architekten Adalberto Libera spielt.

Die Auswahl der nach ihren geografischen Koordinaten angeordneten Stationen wirkt zuweilen etwas episodisch; sie scheint nicht nur durch die Dringlichkeit der Themen, sondern auch durch die Knotenpunkte im Beziehungsnetz des Kurators beeinflusst zu sein. Doch das ist an der Biennale ohnehin meist der Fall – von einer Einzelperson wäre die schiere Grösse des Anlasses nicht zu bewältigen. Immerhin haben Koolhaas und seine Gäste eine eindrückliche Dichte an spannenden, provokativen und tiefgründigen Beiträgen zusammengestellt, die trotz ihrer Vielfalt ein Ganzes ergeben. Besonders erfreulich ist, dass viele Kapitel zwar architektonischen Themen gewidmet sind, andere aber landschaftliche, soziale oder wirtschaftliche Aspekte beleuchten. Insgesamt sind die Beiträge stets in einen weiteren Kontext gestellt, ohne dabei ins Allgemein- Nichtssagende abzugleiten.

So widmen die Kuratoren Ila Beka und Louise Lemoine eine Videoinstallation dem Ort La Maddalena mit den Koordinaten 41° 12' 53" N / 09° 24' 21" E.

Der G8-Gipfel 2009 sollte plangemäss auf dieser Insel vor Sardinien stattfinden, dafür wurde ein Kongresszentrum gebaut. Doch am 23. April 2009 gab der damalige Ministerpräsident Silvio Berlusconi bekannt, dass das Treffen nach L’Aquila verlegt würde. Er wollte damit die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die vom Erdbeben am 6. April 2009 zerstörte Abruzzen-Region lenken und den dortigen Bewohnern ein Zeichen der Hoffnung geben. In einem Film erzählt der Architekt des Kongresszentrums von La Maddalena, Stefano Boeri, von seiner persönlichen Beziehung zum Ort. Der fertige, aber nie in Betrieb genommene Komplex zerfällt, nachdem Bau und Planung 300 Millionen Euro verschlungen hatten. In einem parallel dazu laufenden Film – quasi stellvertretend für den Kongressbau – wird ein Mann gezeigt, der seit Jahrzehnten in der Nachbarschaft lebt und aus angespültem Strandgut Objekte baut. Naheliegend, dass sein Material auch aus der zerfallenden Anlage stammt.

Die Installation «The Business of People» des Kurators Ramak Fazel erzählt voneinander unabhängige Geschichten aus der Gegend um Turin. Nach scheinbar willkürlichen Kriterien sind Wirtschaftszweige wie der Traubenhandel und Firmen wie der Pistolenhersteller Beretta oder der Autokarosseriefabrikant Bertone dokumentiert. Durch Bilder, Zeichnungen und kleine Alltagsgegenstände entsteht pixelhaft ein umfassenderes Bild. Gruppiert sind die Tafeln an den Wänden um Zeitschwellen am Boden – hintereinander liegende Holzbalken mit je einer eingeschnitzten Tagesetappe wie «Morning Café», «Break» oder «Lunch». Das hinterste Wort ist so klein, dass man ganz nah hingehen muss, um «out» zu erkennen.

Interessant ist auch die Station «Italian Limes» (Abb. oben) der Gruppe Folder, die sich mit den Grenzen Italiens befasst – ein Gebilde, das nicht so statisch ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. Dargestellt wird das Gletschergebiet zwischen Italien und Österreich. Die Eisschmelze, beschleunigt durch die globale Erwärmung, verändert den Grenzverlauf, der historisch durch die Wasserscheide definiert ist. Mittels GPS wird synchron zur Ausstellungsdauer die Veränderung millimetergenau aufgezeichnet.

Als Dreingabe wird der theoretische Stationenweg durch eine Reihe von zusätzlichen Komponenten angereichert: Zum ersten Mal sind auch die anderen venezianischen Biennalen und Festivals – Tanz, Musik, Theater und Film – an der Veranstaltung beteiligt. Ob dies jedoch tatsächlich zu einem Erkenntnisgewinn beiträgt, die Reizüberflutung steigert oder der punktuellen Entspannung der Besucher während der Ausstellungstour dient, bleibt abzuwarten.

Angesichts der Vielzahl der Beiträge ist es verlockend, vor der inhaltlichen Analyse der einzelnen Stationen erst einmal über dem sinnlichen Eindruck zu verweilen: Die Ausstellung in den Corderie wirkt wie eine üppige temporäre Wunderkammer mit Objekten aus Architekturgeschichte, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Wie Objekte in einem Renaissance-Kabinett bildet die Auswahl der Installationen eine persönliche und auch zufällige Parade. Die Sammlung ist thematisch vielseitig, bleibt aber fragmentarisch. Die einzelnen Stationen haben meist anekdotischen Charakter, dennoch erhellen sie in ihrer Gesamtheit das Bild des Landes Italien. So weit ist das Ausstellungsmodell wie versprochen auf andere Länder übertragbar. Ob aber Italien «auf der Kippe zwischen Chaos und der bisher verpassten Chance» auch exemplarisch für den Rest der Welt ist und daher als globaler Prototyp taugt, wäre von Fall zu Fall zu überprüfen. Insofern sagt das Konzept der Ausstellung wohl mehr über die gegenwärtige Betrachtungsweise der Welt aus als ihr Inhalt.

TEC21, Fr., 2014.07.25



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TEC21 2014|30-31 Architekturbiennale Venedig: Fundamentals

Ganzes Stückwerk

«Elements of Architecture» im Hauptpavillon der Giardini reflektiert Architektur in ihren baulichen Einzelteilen.

«Elements of Architecture» im Hauptpavillon der Giardini reflektiert Architektur in ihren baulichen Einzelteilen.

Der zweite grosse Brocken der Biennale, die Ausstellung im Hauptpavillon der Giardini, ist ebenso straff von Rem Koolhaas kuratiert wie die Schau im Arsenale. «Elements of Architecture» ist das Ergebnis einer zweijährigen Untersuchung der Harvard Graduate School of Architecture und weiterer Partner aus Forschung und Industrie. Wie in «Monditalia» gibt es auch hier klar definierte Kapitel, diesmal zu verschiedenen Bauteilen wie Boden, Wand, Decke, Dach, Türe, Fenster, Fassade, Balkon, Korridor, Feuerstelle, Toilette, Treppe, Rolltreppe, Lift, Rampe, Fundament. Jedes der Bauteile ist in einem eigenen Raum um eine zentrale Bibliothek angeordnet. In Letzterer sind Studien, Filme, Grafiken und Reklame zu den Bauelementen zu finden.

Doch in der Ausstellung vermisst man die inhaltliche Tiefe und die fantasievolle Betrachtungsweise, die im Arsenale mehrheitlich vorherrscht und die Koolhaas selbst in seinem Buch «Delirious New York» (1978) im Zusammenhang mit dem Lift fulminant vorgeführt hat. So gibt es wunderbare Exponate wie alte russische Fenster aus Birkenrinde oder einen Korridor, der mit seinem flimmernden Licht und seinem dumpfen Spannteppich das Zeug dazu hat, klaustrophobische Schübe auszu­lösen. Doch die theoretische Stringenz fehlt bei den meisten Statio­nen ebenso wie beim zwar sehr unterhaltsamen, aber letztlich etwas beliebig wirkenden Zusammenschnitt von Filmszenen zu den verschiedenen Bauteilen.

TEC21, Fr., 2014.07.25



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TEC21 2014|30-31 Architekturbiennale Venedig: Fundamentals

12. Juli 2013Danielle Fischer
TEC21

«Ein Teil des menschlichen Habitats»

Anna Heringer und Martin Rauch sind Honorarprofessoren an der Universität Grenoble – sie haben dort je einen UNESCO-Lehrstuhl für Lehmarchitektur inne[1]. Mit dem Material haben sie Projekte unter anderem in Bangladesch und in der Schweiz umgesetzt. TEC21 befragt sie zu der alternativen Bauweise und zu ihren sozialen, politischen und kulturellen Aspekten. Dabei stellt sich heraus: Spricht man vom Bauen mit Lehm, spricht man auch über Abhängigkeiten zwischen Nord und Süd und über die globalen Folgen der gegenwärtigen baulichen Standards. Und es wird deutlich, dass auch Lehmbaubefürworter unterschiedlicher Meinung sein können.

Anna Heringer und Martin Rauch sind Honorarprofessoren an der Universität Grenoble – sie haben dort je einen UNESCO-Lehrstuhl für Lehmarchitektur inne[1]. Mit dem Material haben sie Projekte unter anderem in Bangladesch und in der Schweiz umgesetzt. TEC21 befragt sie zu der alternativen Bauweise und zu ihren sozialen, politischen und kulturellen Aspekten. Dabei stellt sich heraus: Spricht man vom Bauen mit Lehm, spricht man auch über Abhängigkeiten zwischen Nord und Süd und über die globalen Folgen der gegenwärtigen baulichen Standards. Und es wird deutlich, dass auch Lehmbaubefürworter unterschiedlicher Meinung sein können.

TEC21: In Asien und Afrika werden moderne Bauten nach europäischen Standards erstellt, obwohl sie nicht den lokalen Bedingungen entsprechen und daher klimatisiert werden müssen. Materialien und Techniken werden teuer importiert. Das macht die Bauten in ihrer Umgebung zu Fremdkörpern. Vernakuläre Architektur geht dagegen verloren. Weshalb?

Anna Heringer (A.H.): Der Lehmbau verschwindet, weil sich die Menschen die Bauweise der nördlichen Hemisphäre zum Vorbild nehmen. Folglich geraten die sogenannten Entwicklungsländer in fatale Abhängigkeiten: Sie müssen teure Materialien aus Ländern importieren, in denen das Bauen hochindustrialisiert und kostenintensiv ist. An dieser Misere trifft die Entwicklungszusammenarbeit eine Mitschuld, den sie blendet die lokale Situation im Baubereich oft aus. Für die Entwicklungshilfe steht meist die Vorhersehbarkeit eines Projekts im Vordergrund: Bauten aus Stahlbeton oder Zementbausteinen sind finanziell kalkulierbar. Das verrringert das Risiko, dass etwas schiefgeht. Bei den lokalen, nicht standardisierten Techniken fehlt es dagegen – mittlerweile, so muss man sagen – an Wissen und an Fachkräften. Und dann ist da noch die Frage des Prestiges: Jene, die in Entwicklungsgebieten Wohlstand verkörpern, bauen mit Beton und Stahl. Da ist es naheliegend, dass auch die breite Bevölkerung diese Bauweisen für besser hält als lokale Techniken.

TEC21: In Kairo und seiner Agglomeration gibt es 20 Mio. Einwohner bei einer Verstädterungsrate[2] von über 4 %. Allein in Ostafrika braucht es hunderttausende Wohnungen. Wäre Lehm für derart grosse Siedlungen eine gute Wahl?

Martin Rauch (M.R.): Es gibt viele interessante Lehmstrukturen in städtischen Gebieten, die bis zu acht Stockwerke hoch sind. In Marokko haben früher auch die Reichen mit Lehm gebaut, Kasbahs[3] sind bis zu 20 Meter hoch. Aber man kann nicht einfach Beton durch Lehm ersetzen. Eine moderne Lehmarchitektur würde anders aussehen als die traditionelle und andere städtebauliche Regeln generieren. Natürlich kann man das Rad nicht zurückdrehen und alles mit Lehm bauen. Es wäre aber gerade in Kairo möglich, häufiger mit ungebrannten Ziegeln und in dickeren Dimensionen zu bauen. Das bringt handfeste Vorteile gegenüber Bauten aus Stahlbeton oder Zementbausteinen, die zur Kostenoptimierung mit möglichst dünnen Wänden ausgeführt werden. Dickere Lehmmauern halten die Hitze besser ab, die Räume müssen nicht klimatisiert werden. Eine Klimaanlage können sich ohnehin nur die wenigsten Bewohner leisten.

TEC21: Die Kosten sind ein gutes Stichwort. Lehm ist meist günstig zu beschaffen, aber zum Verhältnis von Maschineneinsatz und Handarbeit gibt es unterschiedliche Positionen. Sie, Herr Rauch, entwickeln Maschinen zur Stampflehmverarbeitung. Das spart Arbeitskraft und ist günstiger, was dem Lehmbau in Mitteleuropa zu Akzeptanz verhelfen könnte. Frau Heringer dagegen plädiert für den Lehmbau von Hand. Wieso?

A. H.: Zunächst ist die gängige Baupraxis qualitativ zu hinterfragen. In Indien und Bangladesch gibt es mehrstöckige Betonbauten, deren Armierungen nach kurzer Zeit rosten, weil der Zement mit ungewaschenem Sand gemischt wurde. Die Bauten stehen schnell, aber es besteht Einsturzgefahr, wie das jüngste Beispiel der Textilfabrik in Bangladesch gezeigt hat. Weiter sind die Ressourcen Arbeitskraft und Zeit in Entwicklungsgebieten ausreichend vorhanden. Den Rohbau der METI-Schule[4] in Bangladesch haben wir in vier Monaten erstellt – mit 30 Personen ohne Maschinen. In Europa würde man das mit Maschinen und sechs Leuten machen. Vergleichen wir die Kosten: Dort hat das Projekt 4500 Euro gekostet, hier wäre es das Zehnfache. Zement kostet in Bangladesch zwar fast gleich viel wie bei uns, aber die Arbeitskraft ist im Vergleich viel billiger. Für den Gegenwert eines Sacks Zement muss ein Facharbeiter in Bangladesch drei Tage arbeiten, einer in der Schweiz dagegen nur ein paar Minuten. Kurz und gut: Ich finde es sinnvoll, auf Handarbeit statt auf Automatisierung zu setzen. Denn für mich ist die Frage der Arbeitskräfte auch eine politische. Ich wage eine These: Ohne Arbeit werden religiöser Fundamentalismus und Aggressionen zunehmen. In Entwicklungsgebieten böte die Baubranche ein grosses Beschäftigungspotenzial, wenn sie handwerklich produzieren würde. Überspitzt gesagt: Andernfalls muss man das, was man durch die Automatisierung spart, in Antiterrorprogramme investieren. Die modernen Transportmöglichkeiten begünstigen die weltweite Bevölkerungswanderung. Deshalb müssen wir die Menschen überall auf der Welt fundiert in Handwerksberufen ausbilden. Wenn sie dann wirklich in die Industrieländer auswandern, bringen sie ein reiches Wissen mit, können unsere Häuser handwerklich erstellen und haben Arbeit. Dann schaffen wir es, nachhaltige und qualitativ hochwertige Lebensräume zu bauen. Das ist meine liebste Zukunftsvision.

M. R.: Anna, ich muss da etwas korrigieren: Du hast in Bangladesch auch eine Bohrmaschine gebraucht. Aber darum geht es nicht. Meiner Meinung nach muss man den Lehmbau weiterentwickeln, um Schwerarbeit zu erleichtern. Zudem müssen wir differenzieren, von welchen Orten wir sprechen: Hierzulande sind grosse Lehmbauprojekte nicht ohne Maschinen umsetzbar. Nehmen wir als Beispiel die 29 m breite und 111 m lange Fabrikhalle für Ricola in Laufen, die wir bauen (vgl. «Fertigbauteile aus Lehm», S. 19): Ohne Maschinen müssten dort 5000 Leute beschäftigt werden – und das im Hochpreisland Schweiz. A. H.: Gut, ich kann mir schon vorstellen, dass die durch Maschinen ersetzte Arbeitskraft Freiräume schafft, um das Handwerk zu entwickeln.

TEC21: Der Lehmbau ist weder in Bangladesch noch in Europa als eigenständige Bauweise anerkannt. An der ETH Zürich setzen sich derzeit nur zwei Lehrstühle mit dem Thema auseinander. Wo liegt das Problem, und was muss sich ändern?

A. H.: Die Verantwortlichen an europäischen Universitäten sagen, dass sie keine Handwerker ausbilden. Aber diese Haltung verkennt, dass Lehm ein Baustoff ist, der praktische Erfahrung erfordert – nicht nur für den Bau, sondern auch für den Entwurf. Wer nur am Computer arbeitet und Material und Bauprozess nicht kennt, entwirft daher anders. Das hängt auch damit zusammen, dass Europäer eine andere Wahrnehmung haben, weil die hochtechnisierte Bauindustrie ihr Bild prägt. Diese trägt viel dazu bei, das ihre Produkte verbaut werden. Der Lehmbau hingegen hat keine Lobby. In Europa halten viele Lehmarchitektur für etwas Romantisches und Exotisches. Dabei lebt die Mehrheit der Menschen auf der Welt in Lehmbauten – nur geht das Wissen um die Technik vielerorts verloren, und die Qualitäten des Materials werden nicht mehr geschätzt. In Bangladesch und anderen südlichen Ländern verbinden die Menschen mit einem Lehmbau eine temporäre, minderwertige Behausung. An diesem Sachverhalt muss man arbeiten. Wenn Martin Rauch erzählt, dass er ein Luxushotel mit Lehmwänden baut, dann beeindruckt das die Leute in der breiten Bevölkerung und an den Universitäten. Es entsteht der überraschende Eindruck: Was die Europäer können, das würden wir auch schaffen. So kann sich die Wahrnehmung des Baustoffs wandeln.

M. R.: Beim Ricola-Projekt sind wir 13 Mitarbeiter, vier davon Architekten. Niemand arbeitet dort, weil er einen Job braucht, sondern weil er sich für Lehmbau interessiert. Ich bin überzeugt, dass alle Beteiligten auch in Zukunft mit dem Material bauen werden. Aber ich glaube auch, dass bereits Kinder mit Lehm spielen sollten und Bauhandwerker, Ingenieure und Architekten in ihrer Ausbildung das Thema genauso wie Beton behandeln müssen, damit es in Zukunft ein alltägliches Material wird.

TEC21: Bei Lehm wie bei Holz muss man mit dem Alterungsprozess, dem Verfall leben. In unseren Breiten scheint das oft ein Tabu zu sein – alles soll lange neu und hübsch sauber aussehen. Was entgegnen Sie solchen Bedenken?

M. R.: Ein Gebäude aus Lehm kann einfach mit Lehm repariert werden. Wenn es eines Tages verschwindet, hat es die Umwelt nicht belastet, und an seiner Stelle wachsen später wieder Nahrungsmittel. Es ist Teil des Zyklus des menschlichen Habitats.

A. H.: Viele Häuser reisst man bei uns nach 40 Jahren ab, und trotzdem baut man, als ob sie für die Ewigkeit wären. Lehmbauten sind erstens langlebiger als das, was heute in Mitteleuropa entsteht, und zweitens viel einfacher zu recyceln. Es wäre schön, wenn von einem Haus nichts übrig bliebe als Kompost und das Wissen, wie es gebaut wurde. Meist jedoch bleibt nur Müll für kommende Generationen. Das hat mich in Haiti so schockiert. Dort hat man mit dem Bauschutt nach dem Erdbeben Ebenen aufgeschüttet, auf denen neben den neuen Häusern nichts mehr wächst.

TEC21: Sie sind je Inhaber eines UNESCO Chair of Earthen Architecture, also gewissermassen von der Weltgemeinschaft beauftragt, das Baumaterial zu schützen und weiterzudenken[5]. Wie sehen Sie die Zukunft?

M. R.: Generell steht bei der UNESCO mehr Geld für die Renovation der alten, geschützten Bauwerke zur Verfügung als für moderne Forschung. Es fehlen jedoch die Experten für den Erhalt der alten Lehmbauten. Die moderne Entwicklung geht aber aus der traditionellen Technik hervor. Der Lehrstuhl und die Zusammenarbeit mit der UNESCO sind für mich deshalb eine Gelegenheit, den Lehmbau weiterzuentwickeln. Nehmen wir den Betonfertigteilbau: Vor rund hundert Jahren begannen innovative Pioniere daran zu forschen, heute ist er Standard. Ich kann mir gut vorstellen, dass es mit dem Lehm in eine ähnliche Richtung geht. Den Weg werden letztlich ökologische und ökonomische Zwänge weisen.


Anmerkungen:
[01] CRATerre ist seit 1998 das offizielle Zentrum und der Lehrstuhl für Lehmarchitektur der UNESCO an der Universität Grenoble. Gegründet wurde es 1979 durch das französische Kultusministerium und die UNESCO. Das Zentrum verfolgt drei Ziele: erstens das Studium und den Erhalt des Architekturerbes im Lehmbau, zweitens die Erforschung seiner Ökonomie und Produktion sowie drittens kostengünstiges Wohnen und nachhaltige Siedlungsentwicklung. www.craterre.org
[02] Verstädterungsrate: jährlicher Zuwachs des Anteils der Stadtbevölkerung an der Gesamtbevölkerung. Die durchschnittliche Verstädterungsrate betrug 1990 weltweit 4.2 %.
[03] Kasbah: eine Wohnfestung, die vor allem von reichen politisch engagierten Familienverbänden im arabischen Gebieten gebaut wurde. Viele bemerkenswerte Kasbahs befinden sich in Marokko.
[04] Die METI-Schule (Modern Education and Training Institute) von Anna Heringer und Eike Roswag in Rudrapur, Bangladesch, gewann 2007 den Aga Khan Award für Architektur.
[05] Die UNESCO stuft Lehmbauten als bedeutend ein, drei von vier Welterbestätten bestehen aus
diesem Material.

TEC21, Fr., 2013.07.12



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TEC21 2013|29-30 Lehmbau Nord-Süd

17. Mai 2013Danielle Fischer
TEC21

Mission oder Austausch?

Das Bauwesen in Äthiopien profitiert in vielfacher Hinsicht von der Entwicklungszusammenarbeit. So werden Infrastrukturprojekte und Gebäude erstellt, Städtebaukonzepte...

Das Bauwesen in Äthiopien profitiert in vielfacher Hinsicht von der Entwicklungszusammenarbeit. So werden Infrastrukturprojekte und Gebäude erstellt, Städtebaukonzepte...

Das Bauwesen in Äthiopien profitiert in vielfacher Hinsicht von der Entwicklungszusammenarbeit. So werden Infrastrukturprojekte und Gebäude erstellt, Städtebaukonzepte ausgearbeitet sowie Universitäten und Berufsschulen im Bau- und Technikbereich reorganisiert. Doch was einzelne Akteure wie multilaterale Organisationen – darunter die UN-Habitat, Agenturen wie die deutsche GIZ oder die chinesische Regierung – bauen, ist von unterschiedlicher Qualität. Es fehlt ein städtebaulicher Konsens. Und es stellt sich die Frage, ob die Abgänger aus Hochschulen, die aus Kooperationen zwischen afrikanischen, europäischen und chinesischen Partnern hervorgehen und grundverschiedene Berufsethiken vermittelt bekommen, gemeinsam einen übergreifenden Städtebau umsetzen können.

Die äthiopische Hauptstadt Addis Abeba hat bei 9 Millionen Einwohnern eine Urbanisierungsrate von 4.3 %.[1] Die Regierung schätzt, dass gegenwärtig allein in den grösseren Städten eine Million neue Häuser nötig wären und nur 30 % der bestehenden Gebäude in gutem Zustand sind.[2] Es werden grosse Anstrengungen unternommen, um der Wohnungsnot zu begegnen und die Infrastruktur auszubauen. Allerdings lässt die Koordination oft zu wünschen übrig. Habitat for Humanity baut mit der deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und der äthiopischen Regierung seit 2005 im Eiltempo Condominiums für den Mittelstand. In der Umgebung der Hauptstadt entstanden effizient an die 170 000 Wohneinheiten. Teilweise befinden sich die Siedlungen aber abseits von Zentren, Arbeitsplätzen und Transportmitteln und sind qualitativ ungenügend. Beim Bau des Peace & Security Center für die African Union – es liegt neben deren neuem Hauptsitz, den die Chinesen gebaut haben – legt die GIZ dagegen Wert auf bauliche Qualität und erstellt es erdbebensicher und nach Deutscher Industrie-Norm. Neben der Koordination mangelt es an Nachhaltigkeit. Es stellt sich aber auch die Frage, wie schnell und effektiv angesichts dieser wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten alternative Baustrategien in den erforderlichen Dimensionen zur Problemlösung beitragen könnten.

Visionen der Nachhaltigkeit

Bei europäischen Agenturen, aber auch an Polytechniken und Hochschulen mit Bildungsaufträgen in Entwicklungsgebieten ist der Solidaritätsgedanke der EZA in neuerer Zeit in den Hintergrund gerückt. Übergeordnete Interessen spielen eine Rolle; zentral ist unter anderem das Thema Nachhaltigkeit. Diese jedoch kann in letzter Konsequenz nur dann wirksam sein, wenn sie global ist. Bekannt ist auch, dass in Europa ein Interesse an alternativer Material- und Typologieforschung besteht, obwohl es dafür neben der aktuellen Agenda der Forschungsthemen kaum Platz gibt. Die Forschungsrichtung in Europa wird durch politische und wirtschaftliche Strategien von Lobbys und Interessenverbänden mitbestimmt. Diese Gegebenheiten lassen die im Rahmen von Bildungsreformen entstandenen neuen Universitäten in Afrika zu attraktiven Partnern werden – gerade wenn die europäischen Bildungsinstitute selbst an deren Reformen beteiligt sind.

Das Engagement der ETH Zürich und anderer Hochschulen aus Europa innerhalb des ecbp-Programms (vgl. Kasten S. 18) ist aber auch eine Reaktion auf die negativen Folgen, die der Entwicklungsprozess in den vergangenen Jahrzehnten in Afrika zeitigte: Plastikverpackungen ohne Abfallentsorgung lassen Müllberge entstehen; gute Strassen ohne Verkehrsplanung und Abgasregelungen führen zu Staus, Emissionen und Blechschrott; medizinische Vorsorge ohne Familienplanung zu Überbevölkerung und Landflucht. Die ETH und andere internationale Partner arbeiten am EiABC (vgl. Kasten S. 18) im Bereich Materialforschung und studieren den Prozess der Wissensvermittlung alternativer Typologien und Materialien wie Lehm oder Stroh (vgl. «Comeback für Lehmhäuser» S. 19). Dirk Hebel, ehemaliger wissenschaftlicher Direktor des EiABC, befasst sich am FCL in Singapur (vgl. TEC21 15-16/2013, «Digitale Fabrikation für Hochhäuser») weiterhin mit dem Thema.

Er sieht in dieser ökologischen Ausrichtung eine Chance für die Südhalbkugel. Entwicklungsgebiete könnten durch grüne Technologien unabhängig von teuren Importen aus dem Norden werden – gerade bei Entwicklungen mit Bambus bestehe ein enormes Potenzial. Ziel sei eine Gesellschaft, die nachhaltig produziere, ohne die Umwelt zu belasten. An der EiABC wird eine Denkweise vermittelt, die globale Fragen mit lokalen Situationen verknüpft und daraus situationsspezifischen Städtebau generiert. Allerdings stossen alternative Bautechnologien und Materialien, die unter Akademikern Anerkennung finden, in der Bevölkerung auf Akzeptanzprobleme. Nach fast 100 Jahren auch von Europa propagierter Stahl-Beton-Bauten ist es schwierig, das Bild dieser Moderne durch Lehmhäuser mit traditionelleren Grundrissen zu ersetzen. Veränderung im Denken und Handeln braucht Zeit.

Geschäftspartner

Auch die chinesische Regierung engagiert sich in Äthiopien im Bildungsbereich. Sie errichtete 2005 für 14 Millionen Dollar das Ethio-China Polytechnic College[3] (ECPC) für Technische Berufsausbildung. Dort werden gegenwärtig nicht nur 1000 Lehrer ausgebildet, die Absolventen sollen zudem dereinst von chinesischen Firmen ausgeführte Infrastruktur- und Bauprojekte umsetzen. Die Fachleute kommen zurzeit noch aus Asien. Sie erstellten zwischen 1998 und 2004 unter anderem die Ringstrasse um Addis Abeba oder die Wereta-Weldiya-Strasse durch das Rift Valley; vor zwei Jahren wurde der neue Hauptsitz der African Union für 200 Millionen Dollar eröffnet; und bis 2015 werden im Auftrag der äthiopischen Regierung 2600 km Eisenbahnlinien verlegt. Grösse und zeitliche Umsetzung der Projekte beeindrucken – doch ob sie nachhaltig sind, ist zu bezweifeln. Das erstaunt nicht. Die Handelsbeziehungen zwischen China und Ostafrika bestehen seit Jahrhunderten.

China verbindet mit seinen Bildungsaufträgen in Afrika seine durch wirtschaftliche Interessen begründete Präsenz. Über «soft loans» werden Projekte finanziert, die nicht als Entwicklungshilfe, sondern als wirtschaftliche Zusammenarbeit verstanden werden: Die asiatische Grossmacht gewährt afrikanischen Ländern wie Äthiopien oder Tansania Kredite[4] mit Absatzgarantien auf deren Exportartikel. Mit dem Geld lassen die afrikanischen Regierungen meist von chinesischen Privatfirmen Infrastruktur bauen.

Die Strategien des EiABC und des chinesischen ECPC zeigen nur einen Teil des Spektrums auf. Die EiABC und die Technische Fakultät der AAU haben zahlreiche Partnerschaften mit europäischen Universitäten, jedoch kaum welche mit chinesischen – und umgekehrt die von China gegründeten keine mit europäischen Instituten. Fraglich ist, ob das der afrikanischen Städteplanung zuträglich ist, für die die Absolventen dieser Schulen faktisch gemeinsam zuständig sein werden. Wenn Städtebau in Afrika zukünftig nachhaltig und effizient sein soll, dann müssen afrikanische Länder ihre baulichen Aktivitäten und den angrenzenden Bildungsbereich mit allen ausländischen Partnern koordinieren. Letztlich müssen der Wissensaustausch Nord-Süd und die Koordination seiner Mittel und Ziele eine globale Dimension anstreben und auch vermehrt die Ost-West-Richtung umfassen. Gerade in Afrika können europäische und chinesische Partner voneinander lernen.


Anmerkungen:
[01] Die Urbanisierungsrate bezeichnet den jährlichen Zuwachs des Anteils der Stadt- an der Gesamtbevölkerung.
[02] Condominium Housing in Ethiopia: The Integrated Housing Development Programme, UN-Habitat.
[03] http://en.tute.edu.cn/index/International_Cooperation/Ethio_China_Polytechnic_College.htm
Das College ist Teil des «20 20 Project» unter der China-Africa Cooperation, lanciert vom Ministerium für Bildung in China. Es schafft Partnerschaften von je 20 afrikanischen mit chinesischen Universitäten.
[04] Zu Libor-Konditionen plus 1.5 %; vgl. Deborah Brautigam: The Dragon’s Gift. Oxford 2009.

TEC21, Fr., 2013.05.17



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TEC21 2013|21 Bauen in Äthiopien

21. September 2012Danielle Fischer
TEC21

Majestic, Art-DÉco-Kino in der Stone Town

Sansibars Stone Town gehört seit zwölf Jahren zum Unesco-Weltkulturerbe. Berühmt ist die Stadt für ihre arabisch und indisch geprägten Bauten aus Korallenstein. Das märchenhafte Image ist jedoch eine Vereinfachung, die über die Stadtgrenzen hinaus Auswirkungen auf die bauliche Entwicklung hat. Die Stone Town und ihr Umfeld bieten eine grössere kulturelle und stilistische Vielfalt. Diese wird jedoch wegen der zu touristischen Zwecken idealisierten Darstellung übersehen und zerfällt. Das zeigt die Geschichte eines Kinos zwischen schottischem Sarazenismus und afro-indischer Art-déco-Moderne.

Sansibars Stone Town gehört seit zwölf Jahren zum Unesco-Weltkulturerbe. Berühmt ist die Stadt für ihre arabisch und indisch geprägten Bauten aus Korallenstein. Das märchenhafte Image ist jedoch eine Vereinfachung, die über die Stadtgrenzen hinaus Auswirkungen auf die bauliche Entwicklung hat. Die Stone Town und ihr Umfeld bieten eine grössere kulturelle und stilistische Vielfalt. Diese wird jedoch wegen der zu touristischen Zwecken idealisierten Darstellung übersehen und zerfällt. Das zeigt die Geschichte eines Kinos zwischen schottischem Sarazenismus und afro-indischer Art-déco-Moderne.

Sansibars Stone Town gehört seit zwölf Jahren zum Unesco-Weltkulturerbe. Berühmt ist die Stadt für ihre arabisch und indisch geprägten Bauten aus Korallenstein. Das märchenhafte Image ist jedoch eine Vereinfachung, die über die Stadtgrenzen hinaus Auswirkungen auf die bauliche Entwicklung hat. Die Stone Town und ihr Umfeld bieten eine grössere kulturelle und stilistische Vielfalt. Diese wird jedoch wegen der zu touristischen Zwecken idealisierten Darstellung übersehen und zerfällt. Das zeigt die Geschichte eines Kinos zwischen schottischem Sarazenismus und afro-indischer Art-déco-Moderne.

Der Archipel Sansibar vor der Küste Tansanias besteht aus den Inseln Unguja und Pemba sowie zahlreichen Nebeninseln. Die Hauptstadt Stone Town befindet sich im Westen Ungujas – diese Insel wird fast immer vereinfachend als Sansibar bezeichnet. Die ersten Bewohner der Region waren vom Festland stammende Bantu. Ab dem 8. Jahrhundert prägten arabische, indische, später chinesische und portugiesische Händler, die mit dem Monsun übers Meer gesegelt kamen, die Kultur. Als verbindende Sprache der Küstenregion entstand das Swahili. 1832 entschied der omanische Sultan Sayyid Sa’ îd, wegen der strategisch günstigen Lage für den Sklavenhandel, seinen Hof nach Sansibar zu verlegen. Ihm folgten viele wohlhabende Händlerfamilien. Unter seinem Nachfolger Sultan Barghash zählte die Stadt um 1890 über 3000 Häuser und 80 000 Einwohner. Sansibar blieb in der Folge trotz seiner bewegten Geschichte (vgl. Kasten S. 19) ein Ort unterschiedlichster Kulturen.

Schottischer Baustil aus 1001 Nacht

Die mitunter verwirrende kulturelle Vielfalt manifestiert sich im Stadtbild der historischen Stone Town. Die meisten der dicht aneinandergebauten, mehrstöckigen Wohnhäuser aus Korallenstein wurden von Einwanderern aus Indien und Oman erstellt.

Dekorationen und Formen bestimmter Bauteile, wie etwa der Türbogen, weisen auf Bautraditionen in den verschiedenen Herkunftsländern hin. Die Stadt ist aber noch von vielen anderen kulturellen und stilistischen Einflüssen geprägt, denen jedoch weder die Denkmalpflege noch der Tourismus Beachtung schenken.

Anschaulich zeigt dies die Geschichte zweier Kinogebäude, des «Majestic Cinema» und seines Vorgängerbaus, des «Royal Theater», im wohlhabenden Quartier Vuga am südlichen Rand der Stadt. Hier legte die Kolonialverwaltung um die Jahrhundertwende ein Gartenquartier nach europäischem Vorbild an. Repräsentative Bauten wie das Spital, die Aga-Khan-Schule und das Memorial Peace Museum zeugen davon.

In vielen ostafrikanischen Städten entstanden ab den 1920er-Jahren Kinobauten. Sie wurden bis in die späten 1950er-Jahre auch für Konzerte, Theatervorstellungen, Lesungen und politische Veranstaltungen genutzt.[1] In Sansibar hatte der indische Seidenhändler Hassanali Adamji Jariwalla von 1916 bis 1936 eine Lizenz für Unterhaltungslokale. Er besass mehrere Theater und Kinos, bis er 1942 nach Daressalam übersiedelte, um dort sein Kinoimperium auszubauen.[2] 1921 gab er das Royal Theater in Auftrag. Architekt war kein geringerer als der britische Konsul. John Sinclair, ein Schotte, war seit 1896 auf Sansibar stationiert und als Konsul unter anderem für die Stadtplanung zuständig.

Aussergewöhnlich war, dass er die Stadt mit seinen Bauten massgeblich auch als Architekt prägte. Er entwarf neben dem Royal Theater und der angrenzenden Aga Khan Secondary School[3] auch das Gerichtsgebäude und das Peace Memorial Museum im Quartier Vuga, den Seyyideieh-Markt im Quartier Darajani und das Postgebäude im Quartier Shangani. Der Autodidakt kombinierte dabei europäische Architektur mit Elementen aus dem arabischen und indischen Stilrepertoire – den neuen Stil nannte er «Sarazenismus»[4]. Ein Kolonialbeamter schilderte das später süffisant in seinen Memoiren: «In Sansibar mussten alle Baueingabepläne vom Konsul, dessen Steckenpferd die Architektur war, überprüft werden. Es war seine – ohne Zweifel herausragende – Idee, dass alle modernen Gebäude einem Stil entsprechen mussten, den er ‹saracenic› nannte. Dieser wurde von ihm als die angemessene Umsetzung der arabischen Bauweise betrachtet. So sah das neue Spital aus wie der Palast eines Kalifen, ein Kino in der Nähe das Hafens hatte Ähnlichkeit mit der Alhambra, während der neue Flughafen aussah, als wären seine Details der Grossen Moschee in Kairo entnommen …»[5] Die meisten Bauten Sinclairs stehen heute unter Denkmalschutz und sind gut dokumentiert. Sein Royal Theater (Abb. 1) zeigte gegen die Hauptstrasse eine zweistöckige Front mit Ecktürmen, die im Erdgeschoss und im ersten Stock durch eine Veranda mit drei arabischen Spitzbögen verbunden waren. Französische Balustraden begrenzten die Balkone auf den Türmen. Auch Sinclairs Nachfolger, Konsul Eric Dutton, beeinflusste die Stadtplanung. Er erarbeitete einen ehrgeizigen Zehnjahresplan für 1946 bis 1955, den der Kolonialbeamte Henry Kendall weiterentwickelte. Doch kurz nach der Veröffentlichung wurde klar, dass die britische Regierung nicht gewillt war, die damit verbundenen Kosten zu tragen. Die Zeit des Kolonialismus ging ihrem Ende entgegen, das British Empire schränkte die Aufgabenbereiche seiner Kolonialbeamten allmählich ein. Kendall setzte lediglich noch eine Zonierung des Stadtgebiets in die Zonen A (High Class), B (Middle Class), C und D (Native Huts) in Kraft (vgl. «Michenzani, Häusermeer und Plattenbauten», S. 27).[6] Damit sollten die Stone Town und die Villengebiete, in denen Europäer, aber auch vermögende Inder und Araber wohnten, nicht zuletzt im Hinblick auf eine touristische Erschliessung der Insel vor unerwünschten baulichen Entwicklungen geschützt werden. Die Stone Town und mit ihr das Royal Theater wurden der Zone A zugeordnet, in der einer guten baulichen Gestaltung viel Wert beigemessen wurde.[7]

Jitterbug und Kommunismus

Die politische Übergangszeit von der Mitte der 1950er-Jahre bis zur Revolution bedarf in architekturhistorischer Hinsicht der Aufarbeitung. Sie ist bedeutungsvoll, denn die Bevölkerung bereitete sich politisch und kulturell auf die Unabhängigkeit vor und wurde mit vielfältigen Einflüssen aus dem Ausland konfrontiert. Mit dem Mau-Mau-Krieg 1951 – 1956 in der Kolonie Kenia gerieten die Grundfesten der britischen Kolonialmacht in Ostafrika ins Wanken. Viele junge Sansibarer und Tansanier reisten zu Bildungszwecken nach Russland, China, Kuba oder England, die meisten von der aufstrebenden Afroshirazi Party abgesandt und von kommunistischen Parteien aus der ganzen Welt eingeladen. Manche traten der Partei bei und erlernten das politische Handwerk, das sie zehn Jahre später in der Revolution und beim Aufbau des sozialistischen Staates in Tansania brauchen konnten. Aus dem Ausland brachten sie aber auch einen neuen Lebensstil mit. Der spätere Minister Ali Sultan Issa schildert die 1950er-Jahre in seiner Autobiografie wie folgt: «Ich trug Dungarees (Jeans aus Denim) und T-Shirts mit aufgedruckten Motiven. Ich lernte den Jitterbug tanzen, der in Sansibar total unbekannt war. Wir kannten schon Walzer, Rumba und Tango, aber der Jitterbug, der ursprünglich aus dem Süden der Vereinigten Staaten kam, war neu. Ich hatte auch eine Leidenschaft für Nat King Cole, Perry Como und Frank Sinatra …»[8] Auch in der Architektur distanzierte man sich vom kolonialen Stil. Neue Bauten entwarfen nun häufig Fachleute aus wohlhabenden indisch- und arabischstämmigen Familien. Manche hatten in den Heimatländern ihrer Vorfahren oder in Europa studiert.

Art déco, Kolonialstil und Moderne

1954 brannte das mittlerweile Majestic Cinema genannte Royal Theater ab. Die Besitzerin Zanzibar Theater Ltd. gab einen Neubau an derselben Stelle in Auftrag. Über den Architekten Dayaliji Pitamber Sachania – einen Sansibarer, dessen Familie aus dem westindischen Gujarat stammte – ist wenig bekannt; wahrscheinlich hatte er in England Architektur studiert. In den 1940er- und 1950er-Jahren baute er einige Regierungsgebäude und den Hindutempel Shree Shiv Shakti Mandi im Quartier Malindi. Nach Angaben seines Enkels hat auch Sachanias Tochter Tarla Gunvantlal Valambhia am Majestic Cinema mitgearbeitet.[9] Das neue Kino wurde am 20. Oktober 1955 vom Sultan Seyyid Khalifa bin Haroub im Beisein von Konsul Henry Steven Porter mit dem indischen Film «Uran Khatola» feierlich eröffnet.

Das Gebäude kann als ein später Vorbote der Moderne in Sansibar betrachtet werden. Entscheidender ist jedoch, dass seit Beginn der Kolonialzeit erstmals einheimische Architekten allein für die Planung und Ausführung wichtiger Bauten verantwortlich waren. Für Fachleute aus indisch- und arabischstämmigen Familien war das aber nur in der kurzen Zeitspanne bis zur Revolution möglich. D. P. Sachania starb noch vor der Revolution 1960 bei einem Autounfall in Sansibar.[10] Stilistisch ist das sorgfältig proportionierte und mit dekorativen Details versehene Kino vom Art déco geprägt. Der Bau verfügt über moderne Elemente wie die horizontale Betonung durch Balkone, Brises-Soleil und Vordach und die zu einer Grossform zusammengefassten Fenster auf der rechten Seite. Das Kino erinnert an Gebäude in Daressalam wie das 1946 erbaute Diamond Jubilee Building oder an die von Italienern wie Mario Fanan oder Arturo Mezzidimi entworfenen, ebenfalls bis spät in die 1950er-Jahre errichteten Gebäude in Eritreas Art-déco-Stadt Asmara (TEC21 23/2004).[11]

Zeugen einer multikulturellen Architekturgeschichte

Solche Bauten, ob von bekannten oder unbekannten Architekten, sind Zeugen einer weitgehend unabhängig von den Kolonialmächten umgesetzten modernen Architektur. Diese Bewegung setzte gegen Ende der Kolonialzeit ein. In Sansibar stammten die Fachleute, die sie trugen, in der Regel aus indischen, arabischen oder europäischen Familien. Sie waren, im Gegensatz zu den britischen Kolonialbeamten, in Afrika aufgewachsen. Im britisch verwalteten Sansibar bedeutete die Auseinandersetzung mit den neuen Formen der Moderne auch ansatzweise eine Befreiung vom Stildiktat der Kolonialverwaltung. Dass dazu auch Anleihen beim französisch-nordamerikanischen Art déco dienen konnten, zeigt genauso wie die romantische Exotik eines schottischen Kolonialbeamten, wie vielfältig die wechselseitigen Bezugnahmen im Architekturschaffen in einem von Handel, Migration und Kolonialismus geprägten Kontext waren. Das Majestic Cinema ist ein Beispiel für die Vielfalt der Altbauten in afrikanischen Städten, die mit meist qualitativ guter Bausubstanz auch ein Potenzial für Umnutzungen aufweisen – gerade auch im Kontext der Entwicklungszusammenarbeit.

Viele Jahre sind vergangen, seit im Majestic Cinema der letzte Film lief. Es steht seit langem leer und zerfällt. Im Conservation Plan der Unesco, der die schützenswerten Bauten und Plätze von Sansibars Stone Town bezeichnet, ist es nicht vermerkt. Gemäss Sam Pickens, dem stellvertretenden Direktor des Aga Khan Trust for Culture, der den Plan erstellt hat, würde das Majestic Cinema heute wohl aufgelistet.[12]


Anmerkungen:
[01] Brigitte Reinwald: «Tonight at the Empire; Cinema and Urbanity in Zanzibar, 1920s to 1960s», in: Verdier /Afrique & histoire, 2006/1, Bd. 5, S. 85 – 90
[02] Brigitte Reinwald, a.a.O., S. 90
[03] Heute Sitz des Kiswahili-Instituts der Universität Sansibar
[04] Abdul Sheriff: «The History & Conservation of Zanzibar Stone Town», in: Eastern African Studies, London 1992, S. 24 ff. Nach Sheriff war Sinclairs «Sarazenismus» hauptsächlich von Architekturstilen in Marokko und Instanbul inspiriert
[05] F. D. Ommanney: «Isle of Cloves», London, M. W. Books, 1957, S. 86
[06] William Cunningham Bissell: Urban Design, Chaos and Colonial power in Zanzibar. Bloomington, USA 2011, S. 280
[07] Gart A. Myers: Verandahs of Powers. Colonialism and Space in Urban Africa. Syracuse University Press, Syracuse / New York 2003, S. 101
[08] G. T. Burgess: Race, Revolution and the Struggle for Human Rights in Zanzibar – The Memoirs of Ali Sultan Issa and Seif Sharif Hamad. Ohio University Press, Athens OH 2009, S. 46
[09] Persönliches Telefonat am 18.1.2012 mit Bash Valambia (Enkel Sachanias)
[10] Laut persönlichen Auskünften von Narendra Gajjar (E-Mail und Telefonat am 20.1.2012) sowie Bash Valambia (Telefonat am 25.1.2012)
[11] Vgl. auch: Edward Denison, Guang Yu Ren, Naigzy Gebremedhin: Asmara, Africa’s secret Modernist City. London / New York 2003, S. 228
[12] Sam Pickens, stellvertretender Direktor, Aga Khan Trust for Culture, Genf, E-Mail am 12.1.2012

TEC21, Fr., 2012.09.21



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2012|39 Sansibar-Stadt

24. Februar 2012Danielle Fischer
TEC21

Schlund über Gewölbe

Wie ein roter Faden zieht sich das Verständnis für die historischen Gebäude durch den Umbau der ehemaligen Brauerei Hürlimann in Zürich zu einem Hotel mit Spa. Und in den neuen Teilen überraschen Althammer Hochuli Architekten und die Innenarchitektin Ushi Tamborriello mit eigenständigen Architekturelementen, die sich subtil in die historischen Bauten einfügen.

Wie ein roter Faden zieht sich das Verständnis für die historischen Gebäude durch den Umbau der ehemaligen Brauerei Hürlimann in Zürich zu einem Hotel mit Spa. Und in den neuen Teilen überraschen Althammer Hochuli Architekten und die Innenarchitektin Ushi Tamborriello mit eigenständigen Architekturelementen, die sich subtil in die historischen Bauten einfügen.

Die Brauerei Hürlimann in Zürich wurde 1997 stillgelegt. Der oberirdische Teil ihrer Kernanlage besteht aus Sudhaus, Maschinenhaus und Kühlschiff (vgl. Abb. 3 und 4 und «Wellness in der Brauerei» S. 18). In diesem historischen Ensemble wird bald ein Hotel eröffnet. Bereits in Betrieb ist das neue Thermalbad mit irisch-römischem Bad in den Gewölbekellern. Über dem Bad liegen die drei Stockwerke mit Hotelzimmern und – für die Badegäste durch einen Schnelllift mit dem Untergeschoss verbunden – das Restaurant (Abb. 2) sowie ein Aussenbad auf dem Dach (Abb. 1).

Vom Bestand ausgehend

In einer ersten Planungsphase gingen der Architekt René Hochuli, die Innenarchitektin Ushi Tamboriello und der Bauingenieur Bruno Patt während mehrerer Wochen durch die Räumlichkeiten und studierten die Altbausubstanz. Diese Begehungen waren notwendig, um eine konzeptionelle Grundhaltung zu entwickeln. Sie beschlossen, das bauliche Konglomerat, das sich schwerlich in seine Komponenten zerlegen liess, als eine Ganzheit zu betrachten und nicht einer bestimmten zeitlichen Schicht den Vorzug gegenüber einer anderen zu geben (vgl. «Wir sahen uns als Spurensucher», S. 26). Als Erstes liessen sie die Wände von Verputz und Verkleidungen befreien und ihre Grundsubstanz freigelegen (vgl. «Über einen Umweg ans Ziel», S. 30). Während des Umbaus musste dann bei jedem Eingriff entschieden werden, ob das jeweils betroffene Element für die künftige Nutzung wichtig und ob es historisch relevant war. Wo sich die Antworten auf diese Fragen nicht deckten, mussten manchmal nachträglich die Funktionen angepasst oder gar weggelassen werden. So wurde zum Beispiel aus Platzmangel auf Solarien verzichtet. Solche Änderungen erfolgten nicht in einem einmaligen Planungsschritt, sondern laufend während des gesamten Bauprozesses.

Integrativ mit Fugen

Formal heben sich die neuen architektonischen Eingriffe von der Altbausubstanz ab, zwischen Alt und Neu wird eine Fuge gesetzt, wie Ushi Tamboriello sagt. Im Unterschied zu Projekten, wie man sie aus den 1980er-Jahren kennt, die Alt und Neu einander didaktisch gegenüberstellen, fügen sich die Eingriffe bezüglich Haptik, Farb- und Materialwahl jedoch integrativ in die historischen Räume ein. Sie ergänzen diese und relativieren das gewählte Konzept des Sich-Abhebens. Die historische Substanz dient nicht als dekoratives Hintergrundbild, und die neuen Elemente treten nicht markant aus dem Gesamtbild hervor. Ein variantenreiches Thema sind die neuen Holzeinbauten in der ganzen Anlage, beispielsweise in der 30 000 Bücher fassenden Hotelbibliothek im Erdgeschoss. Ihre rund 9 m hohen Regale kleiden den gesamten Raum bis auf die Fenster aus. Im Spa sind die Garderoben («Wir sahen uns als Spurensucher», Abb. 2, S. 27) als schatullenartige Holzeinbauten mit Schränken und Spiegeltischen in die Gewölberäume eingefügt. Spektakulär sind die in den Gewölbekeller eingebauten Schwimmbottiche aus Lärchenholz, die an die einstigen Gärbottiche erinnern. Die mit Stramin bezogenen Wände im Hotel passen gut zu den historischen Bauten. Das Netzmaterial, das bis um die Jahrhundertwende für die Verkleidung von Wandflächen im Wohnungsbau verwendet wurde, wird heute noch als Basis für Gobelinstickereien hergestellt.

Ein Neues inneres System

Die Hotelzimmer im Sudhaus sind kranzartig entlang der denkmalgeschützen Fassade angelegt. Jedes Zimmer hat eine andere Grundfläche, Anzahl und Position der Fenster variieren. Die Nasszelle aus Bad, Toilette und Garderobe ist die einzige eingebaute Standardeinheit. In der Mitte des Sudhauses liegt ein Konferenzraum mit einem Lichtschacht darüber, dessen Grundriss ein unregelmässiges Polygon bildet. Seine Wände sind in jeder Etage unterschiedlich schräg. Über Fenster im Schacht sind Blickkontakte zu den anderen Etagen möglich. Ein Oberlicht, das mitten im Dachbad liegt und mit Badewasser geflutet ist, wirft ein bewegtes Lichtspiel auf die Schachtwände. Das Dachbad ist der schönste Teil der Anlage. Vom Wasser aus hat man einen Blick über die Stadt (vgl. äusseres Titelbild und Abb. 1). Von der Dachlandschaft (Abb. 1) führt ein hügelförmiges, mit Holzlatten verkleidetes Portal hinunter ins Restaurant. Das Becken ist ins Zentrum des darunter liegenden Stockwerks abgesenkt.

Dort gliedern Holzeinbauten, die die technischen Installationen enthalten, den Raum (Abb. 2). Dachbad, Lichtschacht und Restaurant bilden ein neues System, das sich von der übrigen Architektur, die weitgehend aus Altbausubstanz besteht, abhebt. Der gestalterische Grundton verleiht der Anlage eine angenehme atmosphärische Dichte. Die Eingriffe auf dem Dach und auf den Etagen erzeugen zusammen mit der städtischen Umgebung und der historischen Anlage vielfältige Situationen mit grossen räumlichen Qualitäten.

TEC21, Fr., 2012.02.24



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