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10. Mai 2019Judit Solt
TEC21

Bauten im Licht

Das Licht der Sonne wird in der Baukunst seit jeher gestalterisch genutzt. Wie genau, ist kulturell bedingt und wurzelt in uralten ästhetischen Traditionen. Bevor wir diese zugunsten neuer Kriterien – wie Energieeffizienz – aufgeben, lohnt sich ein Blick in die Geschichte. Denn der Einsatz von Tageslicht ist Teil unserer baukulturellen Identität.

Das Licht der Sonne wird in der Baukunst seit jeher gestalterisch genutzt. Wie genau, ist kulturell bedingt und wurzelt in uralten ästhetischen Traditionen. Bevor wir diese zugunsten neuer Kriterien – wie Energieeffizienz – aufgeben, lohnt sich ein Blick in die Geschichte. Denn der Einsatz von Tageslicht ist Teil unserer baukulturellen Identität.

Menschen auf allen Kontinenten, die in dichten Städten wohnen und arbeiten, verbringen heute im Durchschnitt 90 % ihrer Zeit in Innenräumen. Historisch betrachtet ist das ein relativ junges Phänomen: Während den ersten Jahrmillionen seiner Evolution lebte der Mensch draussen. Sein Rückzug in anfangs rudimentäre, dann immer elaboriertere Bauten begann vor rund 50 000 Jahren; doch erst in den letzten Jahrhunderten, im Zuge von technischem Fortschritt und Industrialisierung, verlagerte sich der Arbeits- und Lebensmittelpunkt ins Innere von Gebäuden. In Zukunft dürfte sich diese Tendenz verstärken. Prognosen zeigen, dass 2050 zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben werden.

Vom Tageslicht entfremdet

Eine Konsequenz dieser Entwicklung ist, dass die Menschen sich immer weniger direktem Sonnenlicht aussetzen. In traditionellen Architekturen spielte die Sonne immer eine zentrale Rolle. Gebäude und Siedlungen wurden dem Klima entsprechend orientiert, dimensioniert, aufgeteilt, geöffnet oder verschattet; die Notwendigkeit, Innenräume möglichst natürlich zu belichten, setzte der Gebäudetiefe Grenzen. Im Gegensatz dazu erlauben es moderne Bauweisen und eine avancierte Haustechnik, weitgehend unabhängig von Lage, Klima und Orientierung zu bauen. Um die Funktionalität, Wirtschaftlichkeit oder Energieeffizienz von Gebäuden zu verbessern, wird ihr Fussabdruck vergrössert. Damit reduziert sich die Nutzfläche, die direkt über die Fassade belichtet und belüftet wird. Bei vielen energetisch optimierten Fassaden verringern tiefe Laibungen und Dreifachverglasungen den Lichteinfall zusätzlich. Grosse Öffnungen sind bei bestimmten Nutzungen – etwa im Bürobau – ohnehin problematisch: Zu viel Licht wirkt an Computerarbeitsplätzen störend, und die Sonneneinstrahlung kann in gut gedämmten Gebäuden rasch zu einer Überhitzung führen. Daher wird die Fensterfläche verringert, oder es kommen Gläser zum Einsatz, die das eintreffende Sonnenlicht nur sehr selektiv ins Gebäude lassen. Die Innenräume, in denen sich die Menschen aufhalten, sind deshalb auch tagsüber zunehmend künstlich ausgeleuchtet. Wie genau dies zu geschehen habe, war bisher nur punktuell geregelt. Erst im Juni dieses Jahres tritt die neue europäische Norm EN 17037 «Tageslicht in Gebäuden» in Kraft, die europaweit anwendbare Empfehlungen für die Tageslichtversorgung und die Tageslichtqualität innerhalb von Gebäuden gibt (vgl. «Tageslicht planen?»).

Hinzu kommt, dass mangels attraktiver Aussenräume in vielen Städten kaum Anreiz besteht, im Alltag viel Zeit draussen zu verbringen. Die weltweit steigende Urbanisierungsrate und das exponentielle globale Bevölkerungswachstum führen nicht nur zu einer Flächenexpansion bestehender Siedlungen, sondern auch zu deren Verdichtung; Freiflächen werden überbaut, mit Verkehr belastet oder durch Nachbarbauten verschattet.

Diese Entfremdung vom Tageslicht wirft Fragen auf. Die Evolution des Menschen spielte sich in einer von der Sonne beleuchteten und vom natürlichen Tag-Nacht-Zyklus rhythmisierten Umgebung ab. Seine ganze Entwicklungsgeschichte ist davon geprägt. Zum einen körperlich: Licht tangiert praktisch jeden Aspekt seiner Physiologie, es beeinflusst das Zusammenwirken vieler physikalischer, chemischer und biochemischer Vorgänge im ganzen Körper (vgl. «Im Licht der Wissenschaft»). Zum anderen intellektuell und emotional: Die Auseinandersetzung mit den gestalterischen, symbolischen und technischen Aspekten des wechselnden Tageslichts prägt die gesamte Kulturgeschichte – und damit auch das Bauen.

Spirituelle Konnotationen

Der natürliche Tag-Nacht-Zyklus gehört zu den Faktoren, die es uns Menschen ermöglichten, die zu werden, die wir sind. Die scheinbare Bewegung der Sonne am Himmel war der entscheidende Reiz für den Menschen, Zeit und Raum bewusst wahrzunehmen und schliesslich mit rationalen Mitteln zu erfassen. Dazu betrieb er auch beträchtlichen baulichen Aufwand. So diente die zwischen 2500 und 2000 vor Christus errichtete Megalithstruktur von Stonehenge unter anderem dazu, die für die steinzeitliche Zivilisation wichtigen Jahreszeitenwenden vorherzusagen: Die gigantischen Steine sind so ausgerichtet, dass am Mittsommertag, wenn die Sonne im Jahresverlauf am nördlichsten steht, die Sonne direkt über dem Fersenstein aufgeht und ihre Strahlen ins Innere des hufeisenförmigen Bauwerks dringen.

In der abendländischen Kultur, und besonders im Christentum, ist das Licht der Sonne stark mit dem Begriff des einzig Göttlichen verbunden. Die Sonnenverehrung gilt als möglicher Ursprung des Mono­theismus. Der Gott Aton, den der Pharao Echnaton im 14. Jahrhundert vor Christus zum Gott über alle Götter Ägyptens erhob, wurde in der Gestalt einer Sonnenscheibe angebetet. Im 3. nachchristlichen Jahrhundert förderten römische Kaiser, darunter auch Konstantin vor seiner Konversion, den Kult des Sonnengottes Sol Invictus. Das Christentum integrierte viele Elemente dieses Kults: So wurde der 25. Dezember, der Geburtstag des Sonnengotts, zum Weihnachtstermin umgedeutet; der arbeitsfreie Sonntag (dies solis) mutierte vom Tag der Sonne zum Tag des Herrn. Nicht zuletzt übernahm das Christentum die Licht- und Finsternismetaphorik des Sonnenkults, die unsere Kultur – auch unsere Baukultur – bis heute in vielfältiger Weise prägt.

Diese uralte gedankliche Verbindung zwischen Licht und Göttlichkeit ist in vielen europäischen S­prachen erkennbar. Besonders deutlich wird sie in Be­griffen, die Erkenntnis, Verständnis, Wissen und Intelligenz beschreiben – und zwar unabhängig davon, ob diese Begriffe im religiösen Sinn gebraucht werden («Erleuchtung», «göttliches Licht», «himmlisch») oder ob sie im Gegenteil dazu dienen, rationales Denken in einem weltlichen Kontext zu beschreiben («Aufklärung», «Leuchte», «heller Kopf»). Die positive Symbolkraft des Lichts ist offenbar stark genug, um selbst heftigste gesellschaftliche und politische Umwälzungen wie die Französische Revolution, den Siegeszug der Naturwissenschaften und die Industrialisierung zu überstehen.

Natürliches Licht als Kunstprodukt

Auch in Bezug auf die Produktion und die Rezeption von Kunst sind moderne Gesellschaften von ihren religiösen Ursprüngen geprägt. Heutige Kunstformen wie Malerei, Skulptur, Literatur, Musik und Baukunst wurzeln in einer jahrtausendelangen Geschichte, in der das Kunstschaffen fast ausschliesslich religiösen Themen gewidmet war. Viele dieser historisch gewachsenen Motive, Traditionen und Konventionen haben die Zeit überdauert. Bis heute bilden sie den kulturellen Hintergrund, vor dem sich das Kunstschaffen abhebt. Sie sind der wichtigste Referenzpunkt sowohl für die Kunstschaffenden, die Artefakte produzieren, als auch für das ­Publikum, das sie rezipiert.

Zu diesen Artefakten gehören – und zwar unabhängig von ihrer künstlerischen Qualität – auch städtebauliche und architektonische Werke. Dabei hat die Baukunst, im Gegensatz zu anderen Kunstgattungen, eine dominante Präsenz im Alltag: Alle sind ihr zwingend ausgesetzt, im Gegensatz etwa zur Poesie, mit der man sich aus freien Stücken beschäftigt. Und weil wir den grössten Teil unseres Lebens in einer gebauten Umgebung verbringen, ist auch die Menge und die Art des Tageslichts, das wir erhalten, fast vollständig von Bauwerken bestimmt. Insofern ist unser Licht, selbst wenn es natürliches Tageslicht ist, ebenso ein Kunstprodukt wie unsere Städte und Gebäude – und damit auch ein Ausdruck unseres kulturellen Erbes. Daher müssen wir unser Verhältnis zum Tageslicht nicht nur biologisch, sondern auch in einer kulturellen Perspektive betrachten.

Kulturelle Deutungen in Ost und West

In der westlichen Architektur hat das Licht aufgrund seiner symbolischen Verbindung zum Göttlichen eine stark positive Konnotation. Gotische Kathedralen streckten sich zum Himmel, um das göttliche Licht einzufangen und seine magischen Farben durch Buntglasfenster zu offenbaren. Eine säkularisierte Version dieses Strebens nach Höherem schwingt in der Formulierung nach, mit der Le Corbusier 1923 in «Vers une architecture» die Baukunst definierte: «L’architecture est le jeu savant, correct et magnifique des volumes assemblés sous la lumière.» Für die frühe architektonische Moderne waren Licht und Luft mehr als hygienische Notwendigkeiten: Sie galten geradezu als Symbole eines neuen, besseren Zeitalters. Auf dem Buchdeckel von Sigfried Giedions eindringlichem Manifest «Befreites Wohnen» von 1929 zum Beispiel scheinen die Worte «Licht», «Luft» und «Oeffnung» wie gute Geister durch die raumhohe Balkontüre ins Zimmer zu schweben.

Um eine Atmosphäre von Erhabenheit zu erzeugen, bedient sich die zeitgenössiche Architektur der gleichen Lichteffekte wie vor Jahrhunderten. Die geradezu mystische Stimmung beispielsweise, die in Peter Zumthors Therme in Vals herrscht, hat viel mit dem Einsatz von Licht als Gestaltungsmittel zu tun. Das von oben einfallende, in präzisen Strahlen ins Halbdunkel gelenkte Licht verwandelt das Baden in eine fast heilige Zeremonie. Der Zauber dieser Architektur, dem Experten und die breite Öffentlichkeit gleichermassen verfallen, beruht nicht nur auf der hohen ästhetischen Qualität des Gebäudes, sondern auch auf den Assoziationen, die es aufgrund seiner Ähnlichkeit mit einem sakralen Raum weckt. Die vom Architekten verwendeten Codes – Licht vom Himmel und Licht, das durch farbiges Glas scheint – lösen in unserem kulturellen Kontext bestimmte Emotionen aus; und zwar unabhängig davon, ob der Betrachter diesen Mechanismus bewusst identifiziert oder nicht.

Wie sehr solche Reaktionen kulturell bedingt sind, zeigt ein Vergleich. Die traditionelle japanische Architektur zum Beispiel behandelt das Tageslicht mit mehr Zurückhaltung. Die religiöse Welt Japans – Shint¯o und Buddhismus – ist nicht auf eine einzige Gottheit fo­kussiert. Die Sonne ist nur eine der vielen natürlichen Kräfte, die das Schicksal beeinflussen: Die Menschen fürchten und respektieren sie ähnlich wie Erdbeben, Vulkanausbrüche oder das Meer. In der traditionellen japanischen Architektur gelangt das Licht denn auch in gemilderter Form ins Gebäude, subtil gefiltert durch verschiedene Schichten von transparenten und semi­transparenten Oberflächen. Jun’ichiro Tanizakis 1933 veröffentlichter Essay «Lob des Schattens – Entwurf einer japanischen Ästhetik» ist auch als Protest gegen den Einfluss des Westens auf Japan zu verstehen.

Der Bedarf des Menschen nach Licht wird also nicht nur durch biologische Faktoren bestimmt (die im Übrigen je nach Individuum stark variieren können, vgl. «Im Licht der Wissenschaft»). Auch der kulturelle Hintergrund ist entscheidend, wenn es darum geht, Gebäude zu erstellen, in denen sich die Nutzerinnen und Nutzer wohlfühlen. Letztlich ist das auch ein Gebot der Nachhaltigkeit, ebenso wie die Bestrebungen nach Energieeffizienz, haushälterischem Umgang mit dem Boden, Verdichtung und Funktionsoptimierung: Denn die Lebensdauer eines Gebäudes hängt entscheidend davon ab, ob es auf Akzeptanz oder Ableh­nung stösst. Das erweist sich als neue Herausforderung für die Baukunst. In einer von Mobilität und Migration geprägten Welt lässt sich nicht automatisch vom geografischen Standort auf den Hintergrund der Menschen schliessen; in multikulturellen Gesellschaften gilt es, vielfältige und teilweise widersprüchliche Bedürfnisse zu befriedigen. Das macht die Auseinandersetzung mit dem baukulturellen Aspekt des Lichts als Gestaltungsmittel nicht einfacher – aber ganz bestimmt vielschichtiger und spannender.


[Dieser Artikel ist eine teilweise aktualisierte Zu­sammenfassung von Auszügen aus: Judit Solt, Colin Fournier, Mariëlle P. Aarts, Marilyne Andersen, Siegrun Appelt, Magali Bodart, Jérôme Kempf, Bruno Bueno, Tilmann E. Kuhn, Silvia Coccolo, Jean-Louis Scartezzini, Andreas Schüler, Barbara Szybinska Matusiak, Carlo Volf, Jan Wienold, Anna-Wirz-Justice: «Daylight in the built environment», in: Changing perspectives on daylight: Science, technology, and culture. A sponsored Supplement to Science. © 2017 The American Association for the Advancement of Science AAAS, 3. November 2017, S. 24–32.]

[Kostenloser Download der ganzen Publikation unter
daylight.academy/wp-content/uploads/2017/11/Daylight-Booklet_3-Nov-2017_med_single-pages.pdf]

TEC21, Fr., 2019.05.10



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10. Mai 2019Judit Solt
TEC21

Im Licht der Wissenschaft

Das Licht beeinflusst diverse Aspekte der menschlichen Physiologie, vom Sehen über die «innere Uhr» bis hin zur Photochemie der Haut. Doch wie viel Licht braucht der Mensch? Und vor allem: welches? Ist es ­möglich, Tageslicht durch künstliches Licht zu ersetzen? Die Antwort fällt differenziert aus. Was müssen Baufachleute wissen?

Das Licht beeinflusst diverse Aspekte der menschlichen Physiologie, vom Sehen über die «innere Uhr» bis hin zur Photochemie der Haut. Doch wie viel Licht braucht der Mensch? Und vor allem: welches? Ist es ­möglich, Tageslicht durch künstliches Licht zu ersetzen? Die Antwort fällt differenziert aus. Was müssen Baufachleute wissen?

Die Sonne ist der Ursprung allen Lebens auf der Erde. Auch der Mensch lebte während fast seiner ganzen Evolution im Freien, in einer Umgebung also, in der die Sonne die vorherrschende Lichtquelle ist. Nicht nur unsere Sehfähigkeit – das photopische und skotopische Sehen, d. h. das Tag- bzw. Nachtsehen – ist auf Sonnenlicht ausgelegt; auch unsere Physiologie ist grundlegend davon geprägt. Seit der Industrialisierung hat sich die Lebensweise der meisten Menschen gewandelt. Je nach geografischer Lage, Breitengrad, Jahreszeit, Gesundheitszustand und Lebensweise ist eine genügende Versorgung mit natürlichem Tageslicht nicht mehr gegeben. Besonders stark betroffen sind Schichtarbeiter oder in ihrer Mobilität eingeschränkte Personen, etwa in Pflegeheimen und Spitälern. Dank künstlicher Beleuchtung bleibt die Sehfähigkeit zwar gewährleistet; dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in anderen Bereichen Mängel mit schädlichen Folgen entstehen.

Daher sind Forschung und Industrie bestrebt, Beleuchtungssysteme zu entwickeln, die Tageslicht simulieren. Bis heute gelingt das nur teilweise, selbst mit den technologisch fortschrittlichsten Lichtquellen. Um zu verstehen, woran das liegt, muss man zum einen die Eigenschaften von natürlichem Licht versus künstlichem Licht kennen (vgl. Kasten «Tageslicht imitieren?», S. 30). Zum anderen gilt es zu untersuchen, wie sich natürliches Licht auf den Menschen auswirkt. Gemäss heutigem Stand der Forschung beeinflusst es das menschliche Wohlbefinden in vier Bereichen: Sehfähigkeit und -komfort, Chronobiologie, psychologische Effekte und Photochemie der Haut.

Sehfähigkeit

Die primäre Verwendung von Licht für den Menschen ist das Sehen, d. h. die räumliche und zeitliche Wahrnehmung von Objekten und das Erfassen von Farbe, Bewegung und Helligkeit. Wenn das von Objekten reflektierte Licht auf die Netzhaut des Auges trifft, können wir Informationen aus der Umgebung auswerten. Licht bewirkt in der Netzhaut die Freisetzung des Neurotransmitters Dopamin, das die Lichtanpassung reguliert. Für qualitativ hochwertige Bilder auf der Netzhaut ist eine hohe Lichtintensität erforderlich. Diese ist auch wichtig für eine normale Entwicklung des Auges im Kindesalter, bei der die axiale Länge und die refraktiven Medien so aufeinander abgestimmt werden, dass ein genau auf die Netzhaut fokussiertes Bild entsteht (Emmetropisierung). Ein Mangel an Tageslicht im Kindesalter kann zu Missbildungen führen (vgl. Kasten «Tageslicht und Medizin», S. 34). Das Spektrum von Tageslicht wiederum deckt den gesamten sichtbaren Bereich ab, mit ähnlicher Stärke in allen Wellenlängen, was der Farbunterscheidung förderlich ist. Aus diesen Gründen ist der Umgang mit Sehbehinderungen bei Tageslicht in der Regel einfacher als bei elektrischer Beleuchtung.

Chronobiologie

Licht beeinflusst die Physiologie, das Verhalten und das Wohlbefinden des Menschen auch über nicht vi­suelle Reize. Es löst Reaktionen im Auge aus, die sich auf die zirkadiane Uhr im Gehirn und auf andere neu­ro­nale Wege auswirken. Der Begriff zirkadianisch kommt von Circa-Diem, d. h. fast ein Tag: Die «innere Uhr» des Menschen, die seinen Schlaf-Wach-Rhythmus steuert, muss immer wieder mit dem natürlichen Tag-Nacht-­Zyklus abgeglichen werden. Das zirkadia­nische System umfasst unter anderem die Ausschüttung  des ­Zirbeldrüsenhormons Melatonin in der Nacht und die Freisetzung des Nebennierenrindenhormons Cortisol am Tag. Zudem trägt Licht dazu bei, die Stimmung durch die Freisetzung der Neurotransmitter ­Dopamin und Serotonin zu modulieren. Bemerkenswert ist, dass die zirkadiane Uhr die Komplexität des Tageslichts in Bezug auf Dynamik, Intensität und spektrale ­Zusammensetzung nutzt: So verwendet sie einen speziellen, nicht visuellen Photorezeptor (Melanopsin), um besser auf das blaue Licht in der Morgen- und Abenddämmerung zu reagieren, und sie verfolgt saisonale Veränderungen durch Netzwerke von Neuronen in bestimmten Gehirnregionen. Ein Mehr an Tageslicht erhöht also die Aufmerksamkeit, das Wohlbefinden, die Stimmung, die Schlafqualität und die kognitive Leistungsfähigkeit des ­Menschen.

Umgekehrt beeinflusst das Licht auch den Schlaf. Eine ausreichende Lichtversorgung tagsüber erhöht die Dauer und Qualität des Schlafs in der folgenden Nacht. Wichtig ist auch, dass die Nacht tatsächlich dunkel ist – was heute vielerorts nicht mehr der Fall ist. Auch Morgen- und Abenddämmerung, die die Übergänge zwischen Tag und Nacht signalisieren, sind wichtige Signale für den zirkadianischen Rhythmus; doch insbesondere die Abenddämmerung wird oft gestört durch Kunstlicht mit hohem Blauanteil sowie durch elektronische Geräte wie Fernseher und Computerbildschirme, die kurzwelliges blaues Licht emittieren. Dies verzögert den folgenden Schlaf nicht nur, sondern beeinträchtigt ihn auch. Daher sollte man helles Licht und Licht mit einem hohen Anteil an kurzen Wellenlängen (kaltweiss) abends und nachts vermeiden, ausser bei bestimmten Arten von Nachtschichtarbeit.

Wie viel Tageslicht der Mensch im Minimum für seine Gesundheit und sein Wohlbefinden braucht, ist nicht abschliessend geklärt. Die notwendige Dosis hängt von mindestens drei Faktoren ab: erstens den Eigenschaften des Lichts (z. B. Radianz, Spektrum, Dynamik und Verteilung) in Abhängigkeit von der geografischen Lage und dem Klima sowie, in Innenräumen, von der Gebäudeausrichtung, der Distanz zu den ­Fenstern und deren Beschaffenheit; zweitens dem ­Zeitpunkt und der Dauer der Lichtexposition; und drittens in­dividuellen Eigenschaften des Menschen wie Alter, ­geistige und körperliche Verfassung oder kultureller Hintergrund. Gesichert ist, dass eine geringe Licht­intensität am Tag die Lichtempfindlichkeit bei Nacht erhöht. Solche Sensibilisierungseffekte haben zur Folge, dass Personen, die tagsüber nur schwachem Licht ausgesetzt sind, anfälliger sind für die negativen ­Auswirkungen von künstlichem Licht bei Nacht.

Psychologische Auswirkungen

In der gebauten Umwelt ist Tageslicht meist gleichbedeutend mit einem Blick ins Freie. Der Betrachter erhält Informationen über Tageszeit und Wetter; sieht er dabei auch natürliche Vegetation, kommt eine messbare positive psychologische Wirkung hinzu. Die Wirkung von Licht auf den psychischen Zustand des Betrachters variiert je nach Breitengrad, Tages- und Jahreszeit. Auf der Nordhalbkugel beispielsweise herrscht im Winter Lichtmangel und im Sommer Überfluss; dies ist eine mögliche Erklärung für ein höheres Aufkommen von saisonal affektiven Störungen (SAD, «Winterdepres­sion») in nördlichen Ländern.

Photochemie in der Haut

Sonnenlicht löst thermische und photochemische Reaktionen in der Haut aus, und zwar sowohl im ultravio­letten als auch im sichtbaren und infraroten Bereich. Hohe Dosierungen sind schädlich. Tiefe dagegen verursachen wenig zelluläre Schäden und haben positive Effekte: Die Exposition gegenüber UVB-Strahlung löst die Produktion von Vitamin D aus, während die UVA-Exposition epidermale Stickoxide (Nitrosothiole, Nitrite und Nitrate) in Lachgas (NO) umwandelt, was eine arterielle Gefässerweiterung bewirkt und damit den Blutdruck senkt. Tageslicht enthält sowohl UVA- als auch UVB-Strahlung, sodass eine regelmässige, kurze Exposition für die Vitamin D- und NO-Produktion ausreicht. Elektrische Lampen dagegen geben wenig oder gar kein UV-Licht ab. Auch die meisten Fenstergläser (ausser eisenarmes Glas) sind nicht UVB-transparent und reduzieren die UVA-Transmission deutlich. Um die Vitamin-D-Synthese zu stimulieren, reicht eine normale Innenbeleuchtung also nicht aus; ob eine Umwandlung von epidermalen Stickoxiden in NO erfolgt, ist fraglich.


[Dieser Artikel ist eine selektive Zusammenfassung von drei Kapiteln der Publikation Changing perspectives on daylight: Science, technology, and culture. A sponsored Supplement to Science. © 2017 The American Association for the Advancement of Science AAAS, 3. November 2017.

Die Inhalte stammen aus den Kapiteln:
Brian Norton, Arthur Braun, Michael Balick, Richard Hobday, Colin Fournier, Jean-Louis Scartezzini, Judit Solt: «Daylight: Contexts and concepts», S. 4–8.
Mirjam Münch, Anna Wirz-Justice, Adam E. Brøndsted, Steven A. Brown, Albert Gjedde, Thomas Kantermann, Klaus Martigny, Danielle Mersch, Debra J. Skene: «The effect of light on humans», S. 16–23.
Mariëlle P. Aarts, Jérôme Kempf, Steven A. Brown, Bruno Bueno, Albert Gjedde, Danielle Mersch, Mirjam Münch, Jean-Louis Scartezzini, Carlo Volf, Jan Wienold, Anna-Wirz-Justice, Magali Bodart: «Reinventing daylight», S. 33–37.]

[Kostenloser Download der ganzen Publikation unter:
daylight.academy/wp-content/uploads/2017/11/Daylight-Booklet_3-Nov-2017_med_single-pages.pdf]

TEC21, Fr., 2019.05.10



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26. April 2019Judit Solt
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«Die Komplexität nimmt zu»

Grundwasser wird als Trink- und Brauchwasser und als Energiequelle zum Heizen oder Kühlen genutzt. In dicht besiedelten Gebieten ist die Bewirtschaftung deshalb anspruchsvoll. Welche ­Heraus­forderungen sind künftig zu bewältigen? Ein Gespräch mit ­Exponenten aus Verwaltung, Industrie, Planung und Forschung.

Grundwasser wird als Trink- und Brauchwasser und als Energiequelle zum Heizen oder Kühlen genutzt. In dicht besiedelten Gebieten ist die Bewirtschaftung deshalb anspruchsvoll. Welche ­Heraus­forderungen sind künftig zu bewältigen? Ein Gespräch mit ­Exponenten aus Verwaltung, Industrie, Planung und Forschung.

TEC21: Das Projekt «Sichere Wasserversorgung 2025» des Bundesamts für Umwelt zeigt, dass in der Schweiz trotz Klimawandel in Zukunft genügend Wasser vorhanden sein wird, um den Bedarf an Trink-, Brauch- und Lösch­wasser zu decken. Voraussetzungen sind eine nachhaltige Nutzung und umsichtige Verteilung des Wassers sowie die Erhöhung der Versorgungssicherheit – ein kluges Management also. Doch die Schweiz ist kleinräumig organisiert; es gibt über 2500 Trinkwasserversorgungen, vielerorts fehlen redundante Systeme ebenso wie geomorphologische und hydrologische Inventare. Was gibt es da zu tun?

Max Maurer: Die Nachteile der kleinräumigen Organisation sind offensichtlich. Die föderalistische Schweiz delegiert viele Aufgaben nach unten, was bei übergeordneten Themen schwierig ist. Die Planung von Schutzzonen beispielsweise tangiert Gemeindekompetenzen. Und die Fragmentierung führt oft dazu, dass Akteure, die primär strategische Entscheide fällen sollten, stattdessen operative Aufgaben im Infrastrukturmanagement übernehmen. Gleichzeitig fehlt ihnen die Kompetenz dafür. Trotzdem hat die Kleinräumigkeit auch Vorteile: Sie bietet eine starke Identifikation, und die Wasserversorgung ist dank Freiwilligenarbeit und lokal angepassten Lösungen teilweise sehr günstig.

Felix Finardi: Ein weiterer Vorteil ist, dass Pannen überschaubar bleiben. Wenn es irgendwo hapert, kann man die wenigen Betroffenen notfalls via Tankwagen versorgen. Und wenn Betriebe die ­Planung und den Unterhalt ihrer Infrastrukturen vernachlässigen, wenn ein Brunnen versandet oder eine Leitung bricht, dann lässt sich der Schaden be­heben. Das ist teuer, aber möglich.

Wo liegen dann die Herausforderungen?

Finardi: Das wirkliche Problem sind die Schutzzonen. Wenn Gemeinden ihre Schutzzonen aufheben, die Böden versiegelt werden und das Wasser nicht mehr versickert, ist die Trinkwasserfassung gefährdet. Land ist eine knappe Ressource. Es braucht dringend Gesetze, die den Gemeinden «top down» verordnen, die für ihre Trinkwasserversorgung nötigen Gebiete zu schützen. Grundwasserschutzzonen, die überbaut wurden, sind für immer verloren.

Maurer: Die gesetzlichen Grundlagen sind da. Der Schutz des Grundwassers geniesst in der Schweiz einen hohen Stellenwert. Das Problem ist die Umsetzung: Hier beginnt eine Grauzone, in der es zu Güterabwägungen kommt. Um die Ressource Grundwasser zu schützen, kann man praktisch jede Massnahme juristisch begründen, aber bei radikalen Eingriffen wie Enteignungen ist man zurückhaltend.

Mit wachsender Bevölkerung steigt auch der Nutzungsdruck: Es gibt Zielkonflikte zwischen Siedlungspolitik, Naturschutz, Landwirtschaft und Industrie. Und verschärft nicht auch der Klimawandel die Verknappung der Ressource Wasser?

Matthias Nabholz: Trotz Klimawandel ist nicht das Wasser, sondern das Land in der Schweiz die knappe Ressource. Im Kanton Basel-Stadt ist das Problem besonders akut: Auf nur gerade 37 km² gilt es, Trinkwasser für die Menschen und Brauchwasser für die Industrie bereitzustellen. Der steigende Nutzungsdruck erfordert weiter reichende Kon­zepte, zum Beispiel für die Nutzung des Grundwassers. Bisher hat man recht unbekümmert unbefristete Rechte vergeben; nun erstellt der Kanton ein Nutzungskonzept. Das Grundwasser gehört gewissermassen allen, aber die Rechte sind nicht abschliessend geregelt. Das führt zu Nutzungskonflikten.

Nach welchen Kriterien lösen Sie solche Konflikte?

Nabholz: Ein Patentrezept haben wir nicht. Wir gehen interdisziplinär vor und eruieren, wie sich die Bedürfnisse entwickeln. Bei der Vergabe von Nutzungsrechten braucht es langfristige Szenarien und genug Flexibilität, um auf zukünftige Bedürfnisse zu reagieren. Trotzdem müssen Nutzungsrechte eine gewisse Laufzeit haben, damit der Investitionsschutz gewährleistet ist.

Michel Walker: Die interdisziplinäre Betrachtung ist zweifellos richtig. Doch die grosse Anzahl von Beteiligten macht Planern zu schaffen. Nur schon im Amt für Umwelt gibt es Spezialisten für Gewässer, Grundwasserschutz oder Abwasser, die unterschiedliche Ansprüche haben. Klare Vorgaben für die Planung gibt es nicht; wir machen einen ersten Entwurf, den die Behörden im Rahmen einer Güterabwägung diskutieren. Daraus ergibt sich der Handlungsspielraum, in dem wir bei der Überarbeitung des Projekts agieren können. Diesen Prozess zu planen ist nicht möglich.

Finardi: Schwierig ist es auch, wenn sich die Randbedingungen unerwartet ändern. Ein Beispiel: Vor 14 Jahren hat die Novartis entschieden, ein Werks­areal mit dem Wasserverbrauch einer Kleinstadt in einen Campus für Entwicklung und Forschung zu verwandeln. Man hat 2 Mrd. Franken in die Umnutzung investiert und für die Neubauten ein Wassernutzungskonzept entwickelt. Trinkwasser wurde möglichst nur im Hygiene- und Pharmabereich eingesetzt; damit wurde der Verbrauch halbiert. Die technischen Kreisläufe sollten mit Fabrikwasser betrieben werden, das dem Rhein entnommen wurde und etwa bei der direkten Kühlung und in Hybrid­türmen bei der indirekten Kühlung zum Einsatz kam. Das ermöglichte enorme Energieeinsparungen, weil Laborbauten und industriell genutzte Gebäude während der warmen Jahreszeit gekühlt werden. Das Fabrikwasser wurde durch Energieentzug auch zum Heizen mit Wärmepumpen eingesetzt; wenn die Temperatur des Rheins für den Betrieb der Wärmepumpen zu tief war, durften wir in Absprache mit dem Kanton auf Trinkwasser zurückgreifen. Fünf Jahre wurden die Neubauten nach diesem Konzept erstellt. Dann kam ein Hitzesommer, der Rhein war thermisch bis zum Grenzwert belastet, und man durfte von Gesetzes wegen kein Wasser mehr entnehmen. Die folgenden Bauten mussten anders konzipiert werden. Innerhalb eines Projekts haben sich die Randbedingungen komplett geändert.

Das Gewässerschutzgesetz ist nicht neu, es gilt seit 1991. Was hat sich tatsächlich geändert?

Nabholz: In den letzten Jahrzehnten ist die Wassertemperatur im Rhein nicht nur wegen des Klimawandels, sondern vor allem wegen der Nutzung gestiegen: Jedes Atomkraftwerk erwärmt ihn um rund 1 Grad. Wenn die Temperatur eines Gewässers 25 Grad Celsius übersteigt, darf kein Nutzwasser mehr entnommen werden. Das trifft zwar nur selten auf den Rhein zu, in heissen Sommern einige Stunden im Jahr, aber wenn die Industrie deswegen die Produktion abstellen muss, sind die Folgen natürlich massiv. Wir haben uns an den Bund gewandt, damit eine Änderung eingeführt wird und die kantonalen Behörden kurzfristig Ausnahmebewilligungen erteilen können. Die 25-Grad-Grenze ist für die meis­ten Fliessgewässer sinnvoll, insbesondere für kleine. Aber ein Fluss wie der Rhein führt auch an Hitz­etagen genug Wasser. Kein Gesetz kann alle Fälle abdecken, deshalb braucht es für die Umsetzung Ermessensspielraum.

Finardi: Es muss Opportunitäten geben, und es muss möglich sein, über die nachhaltige Nutzung von Ressourcen zu verhandeln. Gemäss Energie­strategie 2050 wollen wir weg von fossilen Energiequellen, und im Wasser steckt Energie, die man zum Heizen oder Kühlen nutzen kann. Ich habe das Campus-Beispiel nicht als Vorwurf erwähnt, die Kooperation mit den Behörden ist gut. Nicht unser Wille zur Zusammenarbeit oder die Kompetenz der Beteiligten setzt Grenzen, sondern dass heute mehr Anforderungen an die Nutzung des Wassers gestellt werden als vor einigen Jahrzehnten. Deshalb ist der Schutz der Ressourcen wichtiger denn je.

Ausnahmebewilligungen mögen schwierige Situationen überbrücken, langfristig braucht es aber Systeme, die auf neue Nutzungsansprüche und die Folgen des Klimawandels reagieren können. Was ist zu tun?

Walker: Veränderte gesetzliche Grundlagen, der Klimawandel und der Nutzungsdruck sind Faktoren, die unsere Arbeit komplexer machen; aber letztlich sind es auch nur Randbedingungen, die wir respektieren müssen. Veränderungen können auch neue Synergien ermöglichen. Das Grundwasser zum Beispiel wird durch die Bauten, die in den Untergrund ragen, und durch die Nutzung als Kühlwasser erwärmt. Stellenweise ist es in Basel-Stadt 16 statt 12 °C warm. Man könnte die Differenz nutzen, um Energie zu gewinnen, und das Wasser dabei wieder auf die natürliche Temperatur abkühlen. Was es dazu braucht, ist eine Diversifizierung der Nutzungen und eine intelligente Koordination – und die bereits erwähnte interdisziplinäre Betrachtung, was die Komplexität erhöht, die Arbeit aber auch interessant macht.

Werden die Aufgaben komplexer, verändert sich auch das Berufsbild der Ingenieurinnen und Ingenieure: Sie sollen nicht nur klar umrissene technische Probleme lösen, sondern in interdisziplinären Prozessen mit einer Vielzahl von Akteuren ganzheitliche Ansätze entwickeln. Werden sie dazu ausgebildet?

Maurer: Ja. Darauf legen wir Wert, in der Ausbildung und in der Forschung. Früher haben Ingenieure ihre Projekte aufgrund von Prognosen gerechnet und gehofft, das Ergebnis würde 30 Jahre funktionieren. Das war schon damals falsch, aber man konnte es ignorieren. Heute ist offensichtlich, dass Flexibilität unabdingbar ist. Es braucht Fachleute, die nicht nur Werte aus einer Tabelle herauslesen und Richtlinien anwenden, sondern in einem kom­plexen Umfeld mit vielen Faktoren gute Ergebnisse erzielen können. Sie müssen über den eigenen Tellerrand hinausschauen, die Systemgrenze erweitern, Prozesse verstehen und konzeptuell denken. Sie müssen lernen, mit Unsicherheiten umzugehen, mit Sze­narien zu arbeiten und zu kommunizieren. Mit diesem Rüstzeug kann sie keine zukünftige Aufgabe ab­schrecken. Das ist nicht neu, aber wichtiger denn je.

Walker: Ich fühle mich als junger Umweltingenieur bestens gerüstet. Problematisch ist aber, dass viele Entscheidungsträger es nicht sind: Ge­ra­de in kleinen Gemeinden haben die beteiligten Akteure nicht immer die nötige Kompetenz, um alle Faktoren zu überblicken und eine qualifizierte Güterabwägung zu machen. Die Gemeinde müsste je­man­den anstellen oder mandatieren, um das Dossier aufzubereiten, doch das würde das Budget sprengen.

Womit wir wieder bei der Kleinräumigkeit der Schweiz wären.

Walker: Als Planer habe ich oft die Aufgabe, eine Situation in aller Komplexität darzustellen, aber doch so, dass das Gegenüber versteht, worauf es ankommt. Das ist ziemlich schwierig …

Maurer: … und äusserst wichtig! Leider ist in der Schweiz noch zu wenig anerkannt, dass das Denken eine Leistung ist, die entlohnt werden muss. Ingenieurleistungen nur am Umsatzvolumen zu messen, wie es die heutige Honorarpraxis tut, setzt falsche Anreize. Die Aufgaben sind komplexer geworden; wenn man die Ingenieure nicht für die verbauten Kubikmeter Beton belohnen würde, sondern für flexible und nachhaltige Lösungen, könnte man viel Geld sparen. Das Denken ist wertvoll. Es sollte uns auch etwas wert sein.

Walker: Die Randbedingungen sind so komplex, dass man grössere Projekte nicht im normalen Rahmen eines Auftrags abwickeln kann. Die Beteiligung des Kantons ist unerlässlich, etwa um Daten zu erheben und Projekte zu koordinieren. Ein Wasser­management auf regionaler Stufe hilft, Redundanzen zu schaffen und die Versorgungssicherheit zu erhöhen. Die Kantone sollten auch die Gemeinden stärker mit Know-how unterstützen, wie es zum Beispiel Solothurn tut, damit nicht jeder eigene Arbeitswerkzeuge entwickeln muss und die Datenmodelle kompatibel sind. Die Aufgaben sind auch ohne technische Hindernisse anspruchsvoll genug.


[Der Text wurde erstmals im Geschäftsbericht 2018 der Rapp Gruppe veröffentlicht.]

TEC21, Fr., 2019.04.26



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TEC21 2019|16-17 Trinkwasser: Der Kreislauf stockt

02. November 2018Judit Solt
TEC21

«Der Mehrwert liegt bei der Steuerung»

Im Gespräch mit Judit Solt berichtet die an der Glasi-Überbauung massgeblich beteiligte Architektin Sabine Bär über ihre Erfahrungen mit der Anwendung von BIM.

Im Gespräch mit Judit Solt berichtet die an der Glasi-Überbauung massgeblich beteiligte Architektin Sabine Bär über ihre Erfahrungen mit der Anwendung von BIM.

TEC21: Frau Bär, wild bär heule ist ein mittelgrosses Büro, in dem rund ein Dutzend Architektinnen und Architekten arbeiten – und keine IT-Fachleute. Ist die Glasi Ihr erstes BIM-Projekt?
Sabine Bär: Nachdem wir den Studienauftrag für das Hochhaus in der Glasi gewonnen hatten, wen­deten wir mit unserem CAD-Programm Vectorworks zum ersten Mal das Buil­­ding Information Modelling in unserem Büro an. Eine erweiterte Zeichnungstechnik direkt am konkreten Beispiel anzuwenden ist die schnellste Methode, Neues zu erlernen. Wohl­gemerkt han­delt es sich um eine erwei­terte Form des 3-D-Zeichnens auf der vorhandenen CAD-Software. Von der architektonisch-entwerferischen Seite aus betrachtet stellt diese Erweiterung keine Hilfe dar; es nützt einzig für die Detailinformationen der Ausschreibungs- und Kostenplanung.
Beim Glasi-Projekt kommt ein Open-Source-BIM zum Einsatz. Die beteiligten Planungsbüros arbeiten mit unter­schiedlichen Softwares, ein Austauschformat ermöglicht das Zusammenfügen der Informationen im Koordinationsmodell. Das setzt einiges an technischem Wissen voraus.

TEC21: Hat sich Ihr Team das Know-how selbst erarbeitet?
Sabine Bär: «Open BIM» ermöglicht es den unterschiedlichen Büros mit ebenso unterschiedlichen CAD-Programmen, Informationen ohne Probleme untereinander auszutauschen und zu lesen. Die dafür notwendige Kommunikation und das Know-how fand programmiertechnisch bei den IT-Spezia­listen im Hintergrund satt. So benö­tigen wir Architekten ausschliess­­lich gute Kenntnisse und Übung in der 3-D-Anwendung des bürointernen CAD-Programms. Auf dieser Basis werden die BIM-Anforderungen erar­beitet. Das haben wir mit dem Software-Supporter selbst gemacht. Der BIM-Koordinator innerhalb der Projektorganisation auf Seiten des Auftraggebers erstellte übergeordnet einen Projektabwicklungsplan, in dem für alle Arbeitsschritte ein Leitfaden für die Inhalte vorgegeben war. Darin wurde auch der jeweilige Level Of Development festgelegt. Es gibt zu BIM noch keine SIA-Normen – das heisst, das Level der Informa­tionen, die in den Plan einbeschrieben werden soll, muss im Projektabwicklungsplan definiert werden.

TEC21: Bringt BIM nach dieser anfänglichen Investition einen Mehrwert, indem zum Beispiel die Fehlerquote sinkt?
Sabine Bär: Es hängt wie früher sehr stark von den jeweiligen Partnern im Team ab. Studiert ein Fachplaner die Unterlagen noch etwas oberflächlich, wird er seinen Teil auch nicht in der notwendigen Planungstiefe bearbeiten können. Was aber neu hinzugekommen ist, sind Zusatzprogramme, die in der Koordi­nation selbst so genannte Kollisionen herausfinden und anmelden können. Auf diese Weise lassen sich die meisten Fehler – insbesondere in der Haus­technik – schon sehr früh erkennen und eliminieren. Das spart Zeit und er­­leich­tert die Zusammenarbeit. Der Mehrwert der BIM-Methode liegt sicherlich bei der Steuerung und ins­besondere der Kostenplanung. Zu einem sehr frühen Zeitpunkt können die Kosten und allfällige Überschreitungen erkannt und angegangen werden.

TEC21: Es heisst, dank BIM würden die Koordinationssitzungen strukturierter und effizienter ablaufen. Stimmt das?
Sabine Bär: Sicherlich werden Koordinationssitzungen effizienter, wenn alle Beteiligten direkt am Modell die Problempunkte besprechen können. Strukturieren muss aber noch immer die Person, die die Sitzung leitet. Wie effizient eine Sitzung abläuft, steht und fällt wie eh und je mit der Vorbereitung aller Teilnehmenden.

TEC21, Fr., 2018.11.02



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TEC21 2018|44 BIM für komplexe Projekte

02. November 2018Judit Solt
TEC21

BIM – Begriffe in Kürze

Können Sie mitreden? TEC21 hat ein Glossar der wichtigsten Begriffe zum Building Information Modelling zusammengestellt.

Können Sie mitreden? TEC21 hat ein Glossar der wichtigsten Begriffe zum Building Information Modelling zusammengestellt.

Building Information Modelling (BIM) ist eine Methode, bei der Baufachleute verschiedener Disziplinen Informationen zu einem Projekt über Planungs, Bau-, Nutzungs- und Erneuerungsphasen hinweg in einem digitalen Modell zusammenfügen. Das Modell dient als gemeinsame Arbeits- und Archivierungsplattform, vgl. Merkblatt SIA 2051 «Building Information Modelling (BIM) – Grundlagen zur Anwendung der BIM-Methode».

Das offene Austauschformat ifc ist die Abkürzung für Industry Founda­tion Classes. Es dient dem software­unabhängigen Informationsaustausch im Bauwesen, insbesondere bei BIM-basierten Projekten. Definiert hat es building­SMART International, eine Non-Profit-Organisation von Akteuren aus der Bau- und Softwarebranche, darunter auch der CRB. Das ifc-Format ist Open Source und gemäss International Standard registriert (ISO 16739:2013).

Das Format bcf (BIM Collaboration Format) ist ein offenes Standardfor­mat, das von vielen Tragwerks-, HKLSE- und Modellprüfprogrammen verwendet wird, um ifc-Modellen Kommentare, Bildschirm­fotos, Kamerapositionen und 3-D-Schnitt­ebenen hinzuzufügen. Der bcf-basierte Daten­austausch wird verwendet, um Überschneidungen (etwa Kollisionen, Model­lierungs- und andere Fehler) zu identifizieren. Solche Unstimmigkeiten können entstehen, wenn meh­rere Modelle aus verschiedenen Appli­ka­tionen in einem Programm (zum Beispiel einem Model Checker) zusammengefasst werden.

Model Checker sind Programme, mit denen sich die Qualität eines BIM-Modells als Ganzes überprüfen lässt. Die Komponenten werden einzeln oder in einer Gruppe analysiert, um Kollisionen festzustellen.

Die Schweizerische Zentralstelle für Baurationalisierung CRB entwickelt und vertreibt Arbeitsmittel für die Adminis­tration und Verständigung im Bauwesen, etwa den Normpositionen-Katalog NPK, den Baukostenplan BKP, den elementorientierten Baukostenplan Hochbau eBKP-H und den Standard eBKP-Gate, der den eBKP mit dem NPK und dem BKP ver­bindet. Der CRB ist Mitglied von buildingSMART International. Die Trägerver­bände des CRB sind der Bund Schweizer Architekten BSA, der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein SIA und der Schweizerische Baumeisterverband SBV.

Bauen digital Schweiz ist die führende Plattform für die digitale Transformation der Schweizer Bau- und Immobi­lien­wirtschaft und umfasst Institutionen, Unternehmen und Verbände, darunter auch den SIA. Sie veranstaltet den Schweizer BIM Kongress.

www.buildingsmart.org
www.bauen-digital.ch

TEC21, Fr., 2018.11.02



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13. Juli 2018Judit Solt
TEC21

Zu viel des Schönen

Die Hauptausstellung der Biennale legt den Fokus auf Entwurf und Gestaltung. Anders als vor zwei Jahren sind soziopolitische Probleme meist kein Thema. Die Ausstellungsräume sind kunstvoll inszeniert, harmonisch reihen sich die gepflegten Exponate aneinander. Das ist formal zwar ansprechend, aber inhaltlich etwas belanglos.

Die Hauptausstellung der Biennale legt den Fokus auf Entwurf und Gestaltung. Anders als vor zwei Jahren sind soziopolitische Probleme meist kein Thema. Die Ausstellungsräume sind kunstvoll inszeniert, harmonisch reihen sich die gepflegten Exponate aneinander. Das ist formal zwar ansprechend, aber inhaltlich etwas belanglos.

Die Kuratorinnen der 16. Architekturbiennale Venedig, Yvonne Farrell und Shelley McNamara vom irischen Büro Grafton, stellen die Hauptausstellung unter das Motto «Freespace». Was sie darunter verstehen, definieren sie in einem Manifest. Dessen Formulierung ist recht vage, um den eingeladenen Architektinnen und Architekten aus aller Welt möglichst viel Interpretationsfreiheit für ihre Beiträge zu lassen. Dennoch fällt auf, dass der Fokus eindeutig auf gestalterischen Fragen liegt: Es geht fast ausschliesslich um Themen wie räumliche Grosszügigkeit, Sinnlichkeit, Haptik und Materialisierung. «Die Grosszügigkeit des Geistes und der Sinn für Menschlichkeit im Herzen der architektonischen Agenda konzentrieren sich auf die Qualität des Raums», schreiben Farrell und McNamara gleich zu Beginn.

Im Gegensatz zu früheren Kuratoren – und insbesondere zum Chilenen Alejandro Aravena, dem Leiter der letzten Biennale – rufen Farrell und McNamara nicht dazu auf, die Mittel der Baukunst strategisch einzusetzen, um die Schaffung einer gerechteren und ökologisch nachhaltigeren Welt zu fördern. Sie verstehen Architektinnen und Architekten als Gestalter, deren gesellschaftlich-politische Verpflichtung sich darauf beschränkt, Räume «für noch nicht bestimmte Nutzungen» bereitzustellen und «zusätzliche und unerwartete Grosszügigkeit in jedem Projekt zu erzeugen, selbst unter privaten, zurückweisenden, ausschliessenden oder kommerziellen Bedingungen». So gesehen besteht die Aufgabe der Baukunst nicht darin, gegebene Umstände grundsätzlich infrage zu stellen; ihr subversives Potenzial erschöpft sich darin, eine Qualität zu erzeugen, die über jene der Bestellung hinausgeht.

Räume als Hauptdarsteller

Dem thematischen Fokus entsprechend haben die Kuratorinnen die Hauptausstellung klaren gestalterischen Vorgaben unterstellt. Das szenografische Konzept basiert auf ihrem Selbstverständnis als Entwerferinnen: Die Bauten, in denen die Schau stattfindet, interpretieren sie als den Kontext ihres Eingriffs, den Eingriff selbst als eine Antwort auf diesen Kontext. «Over the many months as we developed it, we came to believe that the buildings themselves had become the first participants of the Freespace exhibition», berichteten sie an der Eröffnung.

Tatsächlich kann man die wichtigsten Biennale-Bauten – die Corderie und die Artiglerie im Arsenale sowie den Hauptpavillon in den Giardini – dieses Jahr so unmittelbar erleben wie schon lang nicht mehr. Farrell und McNamara räumten die riesigen Gebäude frei. Sie entfernten Einbauten, enthüllten die historische Bausubstanz und entdeckten dabei wahre Schätze, etwa ein Fenster von Carlo Scarpa im Arsenale, das jahrelang unter späteren Schichten verborgen war. Nun ist der leicht makabre Kontrast zwischen vergangener Pracht und heutigem Pragmatismus, der ganz Venedig prägt, auch in der Ausstellung spürbar.

In den Corderie, wo einst Seile für die mächtige venezianische Flotte gedreht wurden, ist die Wucht der riesigen, wohlproportionierten Räume geradezu umwerfend; doch der Verputz blättert ab, in den Mauerritzen wachsen Büsche; von der stolzen Handels- und Kriegsindustrie der Lagunenstadt, die das östliche Mittelmeer jahrhundertelang als Kolonialmacht beherrscht hat, bleiben kaum mehr als notdürftig gesicherte Brachen übrig. Auch der Haupt­pavillon in den Giardini geht auf imperialistische Zeiten zurück; unter faschistischer Herrschaft als italienischer Pavillon gebaut, pompös und überdimensioniert, verströmt er heute mit seinen verwitterten Wandmalereien, beschlagenden Spiegeln und bröckelndem Stuck einen melancholischen Charme.

Farrell und McNamara haben den Teilnehmenden Richtlinien erlassen, um die spezifische Qualität der historischen Räume nicht zu beeinträchtigen. Insbe­sondere haben sie darauf geachtet, die Fenster nicht zu verbergen; wo nötig verhindern Stoffbahnen eine allzu starke Sonneneinstrahlung, doch meist kommt direktes Tageslicht herein. In den Corderie sind die Exponate hinter den Säulen in den Seitenschiffen aufgereiht, während der mittlere Gang frei bleibt; das Zusammenspiel von Licht und Baukörper in den endlos langen, rauen, von Säulen und Öffnungen rhythmisierten Räumen ist besonders eindrücklich. Den Kontrapunkt bildet der Hauptpavillon mit seinem grossen, von einem Oberlicht erhellten zentralen Saal, um den sich die kleineren kabinettartigen Räume gruppieren; hier sind die Wände glatt und in fein abgestimmten Farben gestrichen.

Kreisen um die eigene Kreativität

Auch die Beiträge der eingeladenen Baukünstlerinnen und Baukünstler zeichnen sich durch einen ausgesprochen «architektonischen» Zugang aus. Anders als in früheren Jahren zeigen sie kaum Zahlen, Texte, Statistiken, Funktionsdiagramme und grossmassstäbliche Stadtpläne. Das einzelne Objekt ist allgegenwärtig, dargestellt in Zeichnungen, Präsentationsplänen, kunstvollen Fotos, handwerklich perfekten Modellen, Installationen und Detailzeichnungen. Erdige Töne und Materialien wie Backstein, Holz, Textilien, roher Beton und oxidierter Stahl herrschen vor. Digitale Medien sind zurückhaltend eingesetzt; zwar gibt es vereinzelt Videos und Projektionen, doch wilde Renderings und Klangteppiche findet man praktisch keine. Die vielfältigen, aber nach einem strengen ästhetischen Konzept angeordneten Exponate laden zum Studium ein und erzeugen ein harmonisches Gesamtbild. Die Stimmung ist ruhig, konzentriert und gepflegt.

Visuell und in Bezug auf die Kunst des Entwerfens hat die diesjährige Schau also viel zu bieten. Dennoch löst sie im Publikum gegensätzliche Reaktionen aus. Das ist angesichts der fehlenden politischen Bri­sanz zunächst erstaunlich. Doch die Polarisierung findet nicht auf der Ebene der Aussagen statt; sie ist im Kontrast zwischen formaler Stringenz und inhaltlicher Unbestimmtheit begründet. Zwar gehört es zum Wesen der Biennale, dass das Thema offen formuliert ist, um unterschiedliche Ansätze zuzulassen.

Dieses Jahr allerdings begnügen sich auffällig viele Teilnehmende damit, einen sehr lockeren Bezug zu «Freespace» herzustellen, um sich dann ganz auf die Darstellung eigener Themen zu konzentrieren. Einige verknüpfen die von den Kuratorinnen angesprochene Freiheit nicht mit gebauten Produkten der Architektur – etwa mit physischen Räumen, die den Menschen Freiräume eröffnen –, sondern mit deren Enstehungsprozess: Sie erforschen ihren eigenen, persönlichen Umgang mit den geistigen Freiräumen der Entwurfsarbeit. Das ist zwar auch spannend, in einer punktuellen Installation aber schwer zu vermitteln.

Lebensferne Blüten der Baukunst

Vor allem aber wirkt die Aneinanderreihung so vieler selbstbezogener Darstellungen irritierend. Gibt es wirklich keine wichtigeren Themen für eine internationale Schau als das Kreisen von auserwählten Schöpferinnen und Schöpfern um die eigene Kreativität? Keine drängenderen Fragen als die intime Auseinandersetzung der Baukünstler mit sich selbst? Die letzten Biennalen waren globalen Problemen – Krieg, Armut, ökologisches Desaster – gewidmet, die mit architektonischen Mitteln allein nicht zu lösen sind. Entsprechend gerieten die Gesten zuweilen etwas gar theatralisch; doch immerhin zeugten die meisten Beiträge nicht nur von Engagement, Mut und Pragmatismus, sondern auch von Bescheidenheit, Kritik an der eigenen Disziplin und einem Denken in grossen Zusammenhängen.

Davon ist heuer wenig zu spüren. Nur ver­einzelte Teilnehmende haben die Stichworte «demo­kratisch» und «unprogrammiert» aufgegriffen, die im Manifest durchaus auch enthalten waren, und sich ernsthaft gefragt, welchen gesellschaftlichen oder politischen Beitrag ihre Architektur leisten könne.

Das befriedigt auf die Dauer nicht. So inspirierend all die schönen Projekte, Modelle und Installationen sein mögen: In der Summe, als hunderte von Metern lange Aneinanderreihung von Preziosen wirken sie seltsam belanglos. Was haben diese hochgezüchteten Blüten der Baukunst mit der Realität unseres Lebensraums zu tun? Der Austausch auf höchstem Niveau innerhalb der Profession ist zweifellos wichtig, gerade auch über gestalterische Finessen; doch wie klug ist es, diesen internen Diskurs an einer Publikumsveranstaltung wie der Biennale öffentlich zu inszenieren? Die Gefahr, dass Architekturschaffende als hoffnungslos weltfremd erscheinen, ist nicht von der Hand zu weisen.

Schweizer Leistungsschau

Die Schweiz ist in der Hauptausstellung sehr präsent, vertreten hauptsächlich durch Exponenten der Accademia di architettura di Mendrisio, an der die beiden Kuratorinnen lehren.[1] Auch bei diesen Beiträgen steht die Aufmerksamkeit für Objekt und Konstruktion im Zentrum. Einige eröffnen zwar zaghaft weitere Denkräume: «Re-use, Black Yellow Red» von Elisabeth und Martin Boesch beispielsweise verweist auf die Notwendigkeit, jeden Eingriff als historisch reflektierten baukulturellen Beitrag zu begreifen; der filmische Werkstattbericht von Sergison Bates Architects über Forschung und Praxis enthält spannende Gedanken, denen zu folgen vor der akustischen Kulisse im Arsenale allerdings schwer ist; und wenn Aurelio Galfetti die Aufzeichnung eines Vortrags zeigt, in dem er den Bau seines Ferienhauses in Griechenland erläutert, knüpft er dies immerhin an allgemeine Überlegungen zum Kontext.

Andere Installationen lassen ratlos zurück. Unklar bleibt etwa, was Mario Botta mit den studentischen Arbeiten, die er in einer eigens gebauten Folly präsentiert, eigentlich vermitteln will. Peter Zumthor zeigt Präsentations­modelle der letzten Jahrzehnte – eine schöne Darstellung seines Schaffens, die genauso gut anderswo zu sehen sein könnte. Die als Palimpseste gestalteten Pläne des Schulhauses in Thal von Angela Deuber sind grafisch attraktiv, aber wenig aufschlussreich. Valerio Olgiati kontrastiert mit weissen Zylindern die patinierten Säulen des Arsenals. Alles sehr hübsch; doch der Bezug zu «Freespace» drängt sich, gelinde gesagt, nicht wirklich auf.

Als einer von wenigen Schweizer Gästen geht Gion A. Caminada auf die volle Dimension des Begriffs ein: Anhand der Entwicklung von Vrin seit den 1980er-Jahren demonstriert er am konkreten Beispiel, wie man mit kleinen, aber präzisen materiellen Eingriffen grosse immaterielle Wirkungen erzielen und neue Freiheiten für die Zukunft schaffen kann.

Hingehen? Hingehen! Trotz Vorbehalte ist auch die diesjährige Architekturbiennale ein Must für alle an Baukultur interessierte. Abgesehen davon, dass die Hauptausstellung eine Augenweide ist, dass die alten Bauten allemal sehenswert sind und dass es unter den Exponaten auch Überraschendes und Eindrückliches zu entdecken gibt: Die 61 Länderpavillons in den Giardini und in der ganzen Stadt (vgl. «Von Quo vadis zum Status quo») sowie die zahlreichen begleitenden Veranstaltungen haben auch viel zu bieten.


Anmerkung:
[01] Architekturschaffende mit Schweizer Büros an der Hauptausstellung: Michele Arnaboldi, Mario Botta, Bearth & Deplazes, Elisabeth & Martin Boesch, Burkhalter Sumi, Gion A. Caminada, Caruso St John, Angela Deuber, Aurelio Galfetti, Miller & Maranta, Valerio Olgiati, Sergison Bates, Peter Zumthor.

TEC21, Fr., 2018.07.13



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TEC21 2018|28-29-30 16. Architekturbiennale Venedig: Freespace

25. Mai 2018Judit Solt
TEC21

Industrielle Pracht

Das Hamel-Gebäude wurde 1907 als Stickereifabrik erbaut. Pfister Schiess Tropeano & Partner haben das Industrie­denkmal mit viel Feingefühl transformiert. Heute dient es als Wohn- und Geschäftshaus, als Verkehrsknotenpunkt – und als edle backsteinerne Visitenkarte für ein neues Quartier auf dem Saurer-Areal in Arbon.

Das Hamel-Gebäude wurde 1907 als Stickereifabrik erbaut. Pfister Schiess Tropeano & Partner haben das Industrie­denkmal mit viel Feingefühl transformiert. Heute dient es als Wohn- und Geschäftshaus, als Verkehrsknotenpunkt – und als edle backsteinerne Visitenkarte für ein neues Quartier auf dem Saurer-Areal in Arbon.

Es war das letzte Gebäude, das der Stickereibaron Arnold Baruch Heine 1907 auf seinem Fabrikationsgelände in Arbon errichtete – ein feingliedriger Beton­skelettbau, eingespannt in massive Backsteinfassaden mit grossen, in leichtem Grauton gestrichenen Fenstern. Die oberirdische Tragkonstruktion aus Stahlbeton war ebenso innovativ wie die unterirdische Fundation: Um das riesige Volumen im feuchten Untergrund am Bodenseeufer zu stabilisieren, war das Untergeschoss als dichte Waben­struktur aus Stampfbeton ausgebildet; bei Hochwasser wurden die Kammern geflutet, und sie leerten sich, wenn sich das Wasser wieder zurückzog.

Das Gebäude war in jedem Sinn des Wortes das Flaggschiff für ein boomendes Unternehmen, von dem fünf Jahre später nicht mehr übrig blieb als Millionenschulden, unverkaufte Lagerbestände und ein Gebäudepark, den sich die Gläubiger zähneknirschend aufteilten.

Das Gebiet als Ganzes wurde als Saurer-Areal bekannt. Nach dem Ende der industriellen Nutzung und weiteren Handwechseln wird das Gelände nun als multifunktionaler Stadtteil neu entwickelt. Doch der letzte Bau der Stickerei-Hochblüte, nach einem vormaligen Besitzer heute als Hamel-Gebäude bekannt, fungiert weiterhin als repräsentativer Auftakt.

Direkt am Bahnhof Arbon gelegen und durch eine neue Unterführung an diesen angeschlossen, bildet es das Tor zum Stadtteil, das nach dem Untergang vieler bestehender Bauten gegenwärtig aus dem sumpfigen Boden gestampft wird. Als einer der wenigen erhaltenen Zeitzeugen soll das Hamel-Gebäude dazu beitragen, die Identität des Neubaugebiets mit der Pracht aus der industriellen Blütezeit zu veredeln – ähnlich, wie dies heute an vielen ehemals industriellen Standorten geschieht, etwa auf dem Sulzer-Areal in Winterthur.

Historischer Auftakt für Neubaugebiet

Zwei unter Denkmalschutz stehende Bauten spannen das Saurer-Areal von Nord nach Süd auf: das Hamel- und das Arbomec-Gebäude (Erläuterungen zum Arbomec-Gebäude vgl. Kasten unten); die Webmaschinenhalle und das Presswerk stehen ebenfalls unter Schutz. HRS Real Estate, die das Gebiet als Totalunternehmerin entwickelt, beauftragte Pfister Schiess Tropeano & Partner Architekten aus Zürich, den Umbau der beiden sensiblen Bauten zu projektieren. Beim Hamel-Gebäude haben die Architekten auch die Ausführung geplant, beim Arbomec-Gebäude haben sie diese als Vermittler zur Denkmalpflege begleitet.

Trotz Nutzungswechseln und Umbauten in den 1970er-Jahren war die vormalige Pracht des Hamel-Gebäudes weitgehend erhalten. Die Westfassade war wegen eines Anbaus zwar nicht mehr sichtbar, aber vorhanden: Man hatte das neue Volumen an den Bestand angedockt und die Backsteinfassaden verputzt. Die ursprünglichen feingliedrigen Holzfenster waren zum Teil noch da. Aufgrund der grosszügigen Raumhöhen und Fensterformate – für die Stickereiproduktion war gute Belichtung nötig – liessen die Räume unterschiedliche Nutzungen zu; der Skelettbau ermöglichte eine flexible Grundrissdisposition. Entsprechend vielfältig wird der Bau heute bespielt.

Zusammen mit den Bauherren, den Haustechnikern und der Denkmalpflege haben die Architekten die Planungsziele erörtert und Lösungen entwickelt. Sie entfernten die nachträglichen Anbauten und führten den Bau auf das Volumen von 1907 zurück – dies erwies sich als ökonomisch vertretbar, weil die zu Planungsbeginn noch gültige Brandschutzverordnung sonst ein zusätzliches Treppenhaus verlangt hätte.

Ein Teil des Erdgeschosses ist als offene Halle ausgestaltet, in der Aussenklima herrscht und die man von zwei Seiten über Arkaden betritt; auch die Bahnhofsunterführung mündet hier. Diese Ebene dient als Einkaufspassage mit Post, Coop-Filiale, Coiffeursalon, Optik- und Hörgeräte-Fachgeschäft, Chocolaterie, Fotostudio, Fitness- und Gesundheitszentrum und Klinik. Dennoch hat sie einen öffentlicheren Charakter als vergleichbare bahnhofsnahe Einrich­tungen, zum einen wegen der allseitigen Offenheit und zum anderen dank der räumlichen Grosszügigkeit, die eine Markthalle evoziert.

Die Materialisierung wirkt wohltuend neutral, die nüchterne Tragkonstruktion wurde freigelegt. Eigens entwickelte Lampen, inspiriert von den Leuchten der ehemaligen Stickereisäle, setzen warme Kontrapunkte. Sie unterstreichen, dass die Halle auch als Empfangsraum fungiert: Über die bereits vorab neu gebaute Unterführung – die einen beträchtlichen Eingriff ins Untergeschoss erfordert hatte – gelangt man vom Bahnhof direkt ins Gebäude und von dort ins neue Quartier. Die Halle ist gut frequentiert; nur in den hinteren Bereichen stehen noch Verkaufs­lokale leer – wenig erstaunlich angesichts der Tatsache, dass die Einkaufspassage einem Stadtteil mit rund 1000 Einwohnern und Hunderten von Arbeitsplätzen dienen soll, der aber erst im Entstehen begriffen ist.

Restauriert, ergänzt, gepflegt, gesichert

Im ganzen Hamel-Gebäude sind die Spuren der Ver­gangenheit spürbar – ebenso wie die grosse Sensibilität, mit der die Architekten diese freigelegt und ins Projekt integriert haben. Wo möglich, wurden die ursprünglichen Fenster erhalten. Knapp ein Dutzend der 130 Fens­ter konnten restauriert werden, die anderen wurden nachgebildet. Sämtliche Fenster sind mit einer Zweifachverglasung versehen. Eine Dreifachverglasung lehnte der Investor ab, weil die Denkmalpflege die finan­zielle Unterstützung verweigert hätte.

Die Backsteinfassaden waren meist in gutem Zustand. Nur auf den Westseiten des Kopfbaus und des zweigeschossigen Längsbaus, wo die Anbauten aus den 1970er-Jahren entfernt wurden, hatten die Oberflächen gelitten: Die Backsteine und der nachträglich angebrachte Putz hatten einen Verbund gebildet, sodass die Steine beim Entfernen des Putzes Schaden nahmen; sie wurden hydrophobiert und wo erforderlich ersetzt. Das Gebäude erhielt eine Innendämmung. Um die historische Bausubstanz nicht weiter zu tangieren, haben die Architekten die Technikzentrale auf dem Dach des Längsbaus platziert.

In den drei Obergeschossen des Kopfbaus sind 16 loftartige Mietwohnungen eingebaut, wobei die Eingriffe in die Substanz – bis auf den Einbau von Steigzonen – möglichst gering gehalten wurde. Auch hier blieb die Tragkonstruktion sichtbar und mit industriell anmutenden, aber sorgfältig behandelten Materialien für den Innenausbau kombiniert. Als Sonnenschutz dienen leinenfarbige Stoffmarkisen, wie man sie aus alten Schulhäusern kennt. Die Wohnungen haben keine Balkone; das Dach wurde zu einer kollektiv genutzten Terrasse mit Seesicht transformiert. Die ursprüngliche Dachkrone aus Sichtbeton mit Backsteineinsätzen wurde nach historischen Profilplänen neu gebaut – erstaunlicherweise nicht vorfabriziert, sondern vor Ort geschalt und gegossen.

«Bei diesem Projekt gab es vier grosse Herausforderungen», berichtet Hauke Möller, zusammen mit Rita Schiess Projektverantwortlicher seitens der Architekten. «Erstens galt es, die Leistungsfähigkeit des Tragwerks zu ermitteln und zu sichern; zweitens zog die bereits gebaute SBB-Unterführung, die wie ein Torpedo die heiklen Fundationen des vierstöckigen Hamel-Kopfbaus bedrängte, einige räumliche, technische und finan­zielle Folgen nach sich; drittens wollten wir die Ganzheit des Gebäudes trotz flexibler Nutzung be­wahren; und viertens sollten attraktive Wohnungen entstehen.»

Dies ist gelungen. Heute, fast zwei Jahre nach Fertigstellung, fallen die hochwertigen Details und Materialien des Hamel-Gebäudes wohltuend auf – nicht nur in der zurzeit in Transformation befindlichen, von Staub und Baustellenlärm gesättigten Umgebung, sondern auch im Vergleich mit ersten Neubauten.

TEC21, Fr., 2018.05.25



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TEC21 2018|21 Harmel-Gebäude, Arbon

25. Mai 2018Judit Solt
TEC21

«Das Konzept wurde dauernd hinterfragt»

Zur Restaurierung des Hamel-Gebäudes in Arbon sprach Judit Solt mit Hauke Möller, Pfister Schiess Tropeano & Partner Architekten.

Zur Restaurierung des Hamel-Gebäudes in Arbon sprach Judit Solt mit Hauke Möller, Pfister Schiess Tropeano & Partner Architekten.

TEC21: Herr Möller, woher stammten die Backsteine, mit denen das Hamel-Gebäude ursprünglich gebaut wurde?
Hauke Möller: Unser Bauleiter Christian Witzig aus Kreuzlingen berichtete während der Bauphase: «Die Backsteine kommen mit grösster Wahrscheinlichkeit aus der Ziegelei Noppelsgut in Kreuzlingen, damals noch Emmishofen. Dies erzählte mir der alte Baumeister Rolf Uhler aus Kreuzlingen, dessen Grossvater an­scheinend den Hamel gebaut hat. Damals gab es keine Lkw, man such­te Transportwege für das Material an den Eisenbahnlinien – und die Eisenbahnlinie Kreuzlingen–Arbon existierte schon. Die Ziegelei brannte 1917 ab und wurde nicht wieder auf­gebaut. Heute existiert nur noch der Ziegeleiweiher, aus dem seinerzeit der Ton für die Ziegel gewonnen wurde. Noch heute stehen in Kreuzlingen einige Gebäude aus diesen Steinen. Der Besitzer hiess Thomas Würtenberger; seine beiden Söhne wurden relativ bekannte Künstler und hatten kein Interesse, die Ziegelei zu übernehmen.»

TEC21: An der Westfassade mussten teilweise neue Steine eingesetzt werden. Wo kommen diese her?
Hauke Möller: Es handelt sich um Spezial­anfertigungen, also um einen Sonderbrand, angefertigt durch Firma Keller Ziegeleien im Werk Frick. Die bestehenden Fassadensteine wurden hinsichtlich Qualität und Far­be analysiert; anschliessend hat man einige Musterriemen im Labor erstellt und vor Ort geprüft. Vom Favoriten wurden einige Steine an einer beschädigten Stelle in den bestehenden Mauerverband eingemauert, bemustert und freigegeben, unter anderem auch durch das Amt für Denkmalpflege.

TEC21: Worauf mussten Sie besonders achten?
Hauke Möller: Eine Schwierigkeit bei der optischen Beurteilung der neuen Steine ist, dass die alte Oberfläche sich nach über 100 Jahren Witterungseinflüssen und teils mechanischer Beanspruchung stark vom rekonstruierten Ursprungsstein unterscheidet. In solchen Fällen wählt man häufig eine dunklere, quasi vorpatinierte Oberfläche, um die Patina der Originalsubstanz zu imitieren. Im Gegensatz dazu haben wir uns entschieden, die Unterschiede zwi­schen Alt und Neu zu zeigen.
Eine weitere Herausforderung war die Angleichung des Fugenbilds: Die ursprünglichen Steine wurden sehr viel handwerklicher produziert und variierten stärker in den Grössen, was mit den Fugenbreiten ausgeglichen wurde. Daher galt es, ein durchschnittliches industriell gefertigtes Steinformat zu finden – eine Gratwanderung, denn die Fugen wirken schnell zu breit oder zu schmal. Das Fugenmaterial wurde vor Ort per Hand abgemischt: 16 Teile gewaschener Sand 0 bis 4 mm, 5 Teile hydraulischer Kalk, 2 Teile Zement.

TEC21: Weshalb wurden die beschädigten Steine hydrophobiert?
Hauke Möller: Wir hatten es hier nicht mit einem zweischaligen Mauerwerk zu tun, in dem die Feuchtigkeit in der Hinterlüftungsebene abtrocknen kann. Deshalb bestand die Gefahr, dass das Mauerwerk an den beschädigten Stellen Wasser zieht; insbesondere wurde die harte, schützende Ober­fläche, die beim Brennen der Steine entsteht, durch den Freilegungsprozess an vielen Stellen beschädigt. Der mine­ralische, atmende Wandaufbau mit neuer mineralischer Innendämmung wurde daher an bestimmten Aussen­flächen mit einer hydrophoben, dampfdurchlässigen Schutzlasur versehen.

TEC21: Kann man eine so differenzierte Intervention in die historische Sub­stanz überhaupt planen?
Hauke Möller: Man muss sich die gesamte Fassadensanierung als eine Planung in Etappen vorstellen, Hand in Hand mit der Bauleitung bzw. Ausführung vor Ort koordiniert. Dabei gab es viele unbekannte Faktoren; nach den einzelnen Fassadenrückbauten und Freilegungen mussten wir die vorgefundene Situation unter Beiziehung der erforderlichen Fachspezialisten neu beurteilen. Zunächst haben wir den Zustand und die Massnahmen in Form von detaillierten Ansichtszeichnun­gen «kartiert». Mithilfe dieser Zeichnungen wurden die Massnahmen unter Berücksichtigung der Projektziele festge­legt; das zuvor erstellte Restaurierungskonzept wurde dabei immer wieder hinterfragt und, wenn erforderlich, in eine neue konzeptionelle Richtung gelenkt.

TEC21, Fr., 2018.05.25



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Presseschau 12

10. Mai 2019Judit Solt
TEC21

Bauten im Licht

Das Licht der Sonne wird in der Baukunst seit jeher gestalterisch genutzt. Wie genau, ist kulturell bedingt und wurzelt in uralten ästhetischen Traditionen. Bevor wir diese zugunsten neuer Kriterien – wie Energieeffizienz – aufgeben, lohnt sich ein Blick in die Geschichte. Denn der Einsatz von Tageslicht ist Teil unserer baukulturellen Identität.

Das Licht der Sonne wird in der Baukunst seit jeher gestalterisch genutzt. Wie genau, ist kulturell bedingt und wurzelt in uralten ästhetischen Traditionen. Bevor wir diese zugunsten neuer Kriterien – wie Energieeffizienz – aufgeben, lohnt sich ein Blick in die Geschichte. Denn der Einsatz von Tageslicht ist Teil unserer baukulturellen Identität.

Menschen auf allen Kontinenten, die in dichten Städten wohnen und arbeiten, verbringen heute im Durchschnitt 90 % ihrer Zeit in Innenräumen. Historisch betrachtet ist das ein relativ junges Phänomen: Während den ersten Jahrmillionen seiner Evolution lebte der Mensch draussen. Sein Rückzug in anfangs rudimentäre, dann immer elaboriertere Bauten begann vor rund 50 000 Jahren; doch erst in den letzten Jahrhunderten, im Zuge von technischem Fortschritt und Industrialisierung, verlagerte sich der Arbeits- und Lebensmittelpunkt ins Innere von Gebäuden. In Zukunft dürfte sich diese Tendenz verstärken. Prognosen zeigen, dass 2050 zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben werden.

Vom Tageslicht entfremdet

Eine Konsequenz dieser Entwicklung ist, dass die Menschen sich immer weniger direktem Sonnenlicht aussetzen. In traditionellen Architekturen spielte die Sonne immer eine zentrale Rolle. Gebäude und Siedlungen wurden dem Klima entsprechend orientiert, dimensioniert, aufgeteilt, geöffnet oder verschattet; die Notwendigkeit, Innenräume möglichst natürlich zu belichten, setzte der Gebäudetiefe Grenzen. Im Gegensatz dazu erlauben es moderne Bauweisen und eine avancierte Haustechnik, weitgehend unabhängig von Lage, Klima und Orientierung zu bauen. Um die Funktionalität, Wirtschaftlichkeit oder Energieeffizienz von Gebäuden zu verbessern, wird ihr Fussabdruck vergrössert. Damit reduziert sich die Nutzfläche, die direkt über die Fassade belichtet und belüftet wird. Bei vielen energetisch optimierten Fassaden verringern tiefe Laibungen und Dreifachverglasungen den Lichteinfall zusätzlich. Grosse Öffnungen sind bei bestimmten Nutzungen – etwa im Bürobau – ohnehin problematisch: Zu viel Licht wirkt an Computerarbeitsplätzen störend, und die Sonneneinstrahlung kann in gut gedämmten Gebäuden rasch zu einer Überhitzung führen. Daher wird die Fensterfläche verringert, oder es kommen Gläser zum Einsatz, die das eintreffende Sonnenlicht nur sehr selektiv ins Gebäude lassen. Die Innenräume, in denen sich die Menschen aufhalten, sind deshalb auch tagsüber zunehmend künstlich ausgeleuchtet. Wie genau dies zu geschehen habe, war bisher nur punktuell geregelt. Erst im Juni dieses Jahres tritt die neue europäische Norm EN 17037 «Tageslicht in Gebäuden» in Kraft, die europaweit anwendbare Empfehlungen für die Tageslichtversorgung und die Tageslichtqualität innerhalb von Gebäuden gibt (vgl. «Tageslicht planen?»).

Hinzu kommt, dass mangels attraktiver Aussenräume in vielen Städten kaum Anreiz besteht, im Alltag viel Zeit draussen zu verbringen. Die weltweit steigende Urbanisierungsrate und das exponentielle globale Bevölkerungswachstum führen nicht nur zu einer Flächenexpansion bestehender Siedlungen, sondern auch zu deren Verdichtung; Freiflächen werden überbaut, mit Verkehr belastet oder durch Nachbarbauten verschattet.

Diese Entfremdung vom Tageslicht wirft Fragen auf. Die Evolution des Menschen spielte sich in einer von der Sonne beleuchteten und vom natürlichen Tag-Nacht-Zyklus rhythmisierten Umgebung ab. Seine ganze Entwicklungsgeschichte ist davon geprägt. Zum einen körperlich: Licht tangiert praktisch jeden Aspekt seiner Physiologie, es beeinflusst das Zusammenwirken vieler physikalischer, chemischer und biochemischer Vorgänge im ganzen Körper (vgl. «Im Licht der Wissenschaft»). Zum anderen intellektuell und emotional: Die Auseinandersetzung mit den gestalterischen, symbolischen und technischen Aspekten des wechselnden Tageslichts prägt die gesamte Kulturgeschichte – und damit auch das Bauen.

Spirituelle Konnotationen

Der natürliche Tag-Nacht-Zyklus gehört zu den Faktoren, die es uns Menschen ermöglichten, die zu werden, die wir sind. Die scheinbare Bewegung der Sonne am Himmel war der entscheidende Reiz für den Menschen, Zeit und Raum bewusst wahrzunehmen und schliesslich mit rationalen Mitteln zu erfassen. Dazu betrieb er auch beträchtlichen baulichen Aufwand. So diente die zwischen 2500 und 2000 vor Christus errichtete Megalithstruktur von Stonehenge unter anderem dazu, die für die steinzeitliche Zivilisation wichtigen Jahreszeitenwenden vorherzusagen: Die gigantischen Steine sind so ausgerichtet, dass am Mittsommertag, wenn die Sonne im Jahresverlauf am nördlichsten steht, die Sonne direkt über dem Fersenstein aufgeht und ihre Strahlen ins Innere des hufeisenförmigen Bauwerks dringen.

In der abendländischen Kultur, und besonders im Christentum, ist das Licht der Sonne stark mit dem Begriff des einzig Göttlichen verbunden. Die Sonnenverehrung gilt als möglicher Ursprung des Mono­theismus. Der Gott Aton, den der Pharao Echnaton im 14. Jahrhundert vor Christus zum Gott über alle Götter Ägyptens erhob, wurde in der Gestalt einer Sonnenscheibe angebetet. Im 3. nachchristlichen Jahrhundert förderten römische Kaiser, darunter auch Konstantin vor seiner Konversion, den Kult des Sonnengottes Sol Invictus. Das Christentum integrierte viele Elemente dieses Kults: So wurde der 25. Dezember, der Geburtstag des Sonnengotts, zum Weihnachtstermin umgedeutet; der arbeitsfreie Sonntag (dies solis) mutierte vom Tag der Sonne zum Tag des Herrn. Nicht zuletzt übernahm das Christentum die Licht- und Finsternismetaphorik des Sonnenkults, die unsere Kultur – auch unsere Baukultur – bis heute in vielfältiger Weise prägt.

Diese uralte gedankliche Verbindung zwischen Licht und Göttlichkeit ist in vielen europäischen S­prachen erkennbar. Besonders deutlich wird sie in Be­griffen, die Erkenntnis, Verständnis, Wissen und Intelligenz beschreiben – und zwar unabhängig davon, ob diese Begriffe im religiösen Sinn gebraucht werden («Erleuchtung», «göttliches Licht», «himmlisch») oder ob sie im Gegenteil dazu dienen, rationales Denken in einem weltlichen Kontext zu beschreiben («Aufklärung», «Leuchte», «heller Kopf»). Die positive Symbolkraft des Lichts ist offenbar stark genug, um selbst heftigste gesellschaftliche und politische Umwälzungen wie die Französische Revolution, den Siegeszug der Naturwissenschaften und die Industrialisierung zu überstehen.

Natürliches Licht als Kunstprodukt

Auch in Bezug auf die Produktion und die Rezeption von Kunst sind moderne Gesellschaften von ihren religiösen Ursprüngen geprägt. Heutige Kunstformen wie Malerei, Skulptur, Literatur, Musik und Baukunst wurzeln in einer jahrtausendelangen Geschichte, in der das Kunstschaffen fast ausschliesslich religiösen Themen gewidmet war. Viele dieser historisch gewachsenen Motive, Traditionen und Konventionen haben die Zeit überdauert. Bis heute bilden sie den kulturellen Hintergrund, vor dem sich das Kunstschaffen abhebt. Sie sind der wichtigste Referenzpunkt sowohl für die Kunstschaffenden, die Artefakte produzieren, als auch für das ­Publikum, das sie rezipiert.

Zu diesen Artefakten gehören – und zwar unabhängig von ihrer künstlerischen Qualität – auch städtebauliche und architektonische Werke. Dabei hat die Baukunst, im Gegensatz zu anderen Kunstgattungen, eine dominante Präsenz im Alltag: Alle sind ihr zwingend ausgesetzt, im Gegensatz etwa zur Poesie, mit der man sich aus freien Stücken beschäftigt. Und weil wir den grössten Teil unseres Lebens in einer gebauten Umgebung verbringen, ist auch die Menge und die Art des Tageslichts, das wir erhalten, fast vollständig von Bauwerken bestimmt. Insofern ist unser Licht, selbst wenn es natürliches Tageslicht ist, ebenso ein Kunstprodukt wie unsere Städte und Gebäude – und damit auch ein Ausdruck unseres kulturellen Erbes. Daher müssen wir unser Verhältnis zum Tageslicht nicht nur biologisch, sondern auch in einer kulturellen Perspektive betrachten.

Kulturelle Deutungen in Ost und West

In der westlichen Architektur hat das Licht aufgrund seiner symbolischen Verbindung zum Göttlichen eine stark positive Konnotation. Gotische Kathedralen streckten sich zum Himmel, um das göttliche Licht einzufangen und seine magischen Farben durch Buntglasfenster zu offenbaren. Eine säkularisierte Version dieses Strebens nach Höherem schwingt in der Formulierung nach, mit der Le Corbusier 1923 in «Vers une architecture» die Baukunst definierte: «L’architecture est le jeu savant, correct et magnifique des volumes assemblés sous la lumière.» Für die frühe architektonische Moderne waren Licht und Luft mehr als hygienische Notwendigkeiten: Sie galten geradezu als Symbole eines neuen, besseren Zeitalters. Auf dem Buchdeckel von Sigfried Giedions eindringlichem Manifest «Befreites Wohnen» von 1929 zum Beispiel scheinen die Worte «Licht», «Luft» und «Oeffnung» wie gute Geister durch die raumhohe Balkontüre ins Zimmer zu schweben.

Um eine Atmosphäre von Erhabenheit zu erzeugen, bedient sich die zeitgenössiche Architektur der gleichen Lichteffekte wie vor Jahrhunderten. Die geradezu mystische Stimmung beispielsweise, die in Peter Zumthors Therme in Vals herrscht, hat viel mit dem Einsatz von Licht als Gestaltungsmittel zu tun. Das von oben einfallende, in präzisen Strahlen ins Halbdunkel gelenkte Licht verwandelt das Baden in eine fast heilige Zeremonie. Der Zauber dieser Architektur, dem Experten und die breite Öffentlichkeit gleichermassen verfallen, beruht nicht nur auf der hohen ästhetischen Qualität des Gebäudes, sondern auch auf den Assoziationen, die es aufgrund seiner Ähnlichkeit mit einem sakralen Raum weckt. Die vom Architekten verwendeten Codes – Licht vom Himmel und Licht, das durch farbiges Glas scheint – lösen in unserem kulturellen Kontext bestimmte Emotionen aus; und zwar unabhängig davon, ob der Betrachter diesen Mechanismus bewusst identifiziert oder nicht.

Wie sehr solche Reaktionen kulturell bedingt sind, zeigt ein Vergleich. Die traditionelle japanische Architektur zum Beispiel behandelt das Tageslicht mit mehr Zurückhaltung. Die religiöse Welt Japans – Shint¯o und Buddhismus – ist nicht auf eine einzige Gottheit fo­kussiert. Die Sonne ist nur eine der vielen natürlichen Kräfte, die das Schicksal beeinflussen: Die Menschen fürchten und respektieren sie ähnlich wie Erdbeben, Vulkanausbrüche oder das Meer. In der traditionellen japanischen Architektur gelangt das Licht denn auch in gemilderter Form ins Gebäude, subtil gefiltert durch verschiedene Schichten von transparenten und semi­transparenten Oberflächen. Jun’ichiro Tanizakis 1933 veröffentlichter Essay «Lob des Schattens – Entwurf einer japanischen Ästhetik» ist auch als Protest gegen den Einfluss des Westens auf Japan zu verstehen.

Der Bedarf des Menschen nach Licht wird also nicht nur durch biologische Faktoren bestimmt (die im Übrigen je nach Individuum stark variieren können, vgl. «Im Licht der Wissenschaft»). Auch der kulturelle Hintergrund ist entscheidend, wenn es darum geht, Gebäude zu erstellen, in denen sich die Nutzerinnen und Nutzer wohlfühlen. Letztlich ist das auch ein Gebot der Nachhaltigkeit, ebenso wie die Bestrebungen nach Energieeffizienz, haushälterischem Umgang mit dem Boden, Verdichtung und Funktionsoptimierung: Denn die Lebensdauer eines Gebäudes hängt entscheidend davon ab, ob es auf Akzeptanz oder Ableh­nung stösst. Das erweist sich als neue Herausforderung für die Baukunst. In einer von Mobilität und Migration geprägten Welt lässt sich nicht automatisch vom geografischen Standort auf den Hintergrund der Menschen schliessen; in multikulturellen Gesellschaften gilt es, vielfältige und teilweise widersprüchliche Bedürfnisse zu befriedigen. Das macht die Auseinandersetzung mit dem baukulturellen Aspekt des Lichts als Gestaltungsmittel nicht einfacher – aber ganz bestimmt vielschichtiger und spannender.


[Dieser Artikel ist eine teilweise aktualisierte Zu­sammenfassung von Auszügen aus: Judit Solt, Colin Fournier, Mariëlle P. Aarts, Marilyne Andersen, Siegrun Appelt, Magali Bodart, Jérôme Kempf, Bruno Bueno, Tilmann E. Kuhn, Silvia Coccolo, Jean-Louis Scartezzini, Andreas Schüler, Barbara Szybinska Matusiak, Carlo Volf, Jan Wienold, Anna-Wirz-Justice: «Daylight in the built environment», in: Changing perspectives on daylight: Science, technology, and culture. A sponsored Supplement to Science. © 2017 The American Association for the Advancement of Science AAAS, 3. November 2017, S. 24–32.]

[Kostenloser Download der ganzen Publikation unter
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TEC21, Fr., 2019.05.10



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10. Mai 2019Judit Solt
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Im Licht der Wissenschaft

Das Licht beeinflusst diverse Aspekte der menschlichen Physiologie, vom Sehen über die «innere Uhr» bis hin zur Photochemie der Haut. Doch wie viel Licht braucht der Mensch? Und vor allem: welches? Ist es ­möglich, Tageslicht durch künstliches Licht zu ersetzen? Die Antwort fällt differenziert aus. Was müssen Baufachleute wissen?

Das Licht beeinflusst diverse Aspekte der menschlichen Physiologie, vom Sehen über die «innere Uhr» bis hin zur Photochemie der Haut. Doch wie viel Licht braucht der Mensch? Und vor allem: welches? Ist es ­möglich, Tageslicht durch künstliches Licht zu ersetzen? Die Antwort fällt differenziert aus. Was müssen Baufachleute wissen?

Die Sonne ist der Ursprung allen Lebens auf der Erde. Auch der Mensch lebte während fast seiner ganzen Evolution im Freien, in einer Umgebung also, in der die Sonne die vorherrschende Lichtquelle ist. Nicht nur unsere Sehfähigkeit – das photopische und skotopische Sehen, d. h. das Tag- bzw. Nachtsehen – ist auf Sonnenlicht ausgelegt; auch unsere Physiologie ist grundlegend davon geprägt. Seit der Industrialisierung hat sich die Lebensweise der meisten Menschen gewandelt. Je nach geografischer Lage, Breitengrad, Jahreszeit, Gesundheitszustand und Lebensweise ist eine genügende Versorgung mit natürlichem Tageslicht nicht mehr gegeben. Besonders stark betroffen sind Schichtarbeiter oder in ihrer Mobilität eingeschränkte Personen, etwa in Pflegeheimen und Spitälern. Dank künstlicher Beleuchtung bleibt die Sehfähigkeit zwar gewährleistet; dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in anderen Bereichen Mängel mit schädlichen Folgen entstehen.

Daher sind Forschung und Industrie bestrebt, Beleuchtungssysteme zu entwickeln, die Tageslicht simulieren. Bis heute gelingt das nur teilweise, selbst mit den technologisch fortschrittlichsten Lichtquellen. Um zu verstehen, woran das liegt, muss man zum einen die Eigenschaften von natürlichem Licht versus künstlichem Licht kennen (vgl. Kasten «Tageslicht imitieren?», S. 30). Zum anderen gilt es zu untersuchen, wie sich natürliches Licht auf den Menschen auswirkt. Gemäss heutigem Stand der Forschung beeinflusst es das menschliche Wohlbefinden in vier Bereichen: Sehfähigkeit und -komfort, Chronobiologie, psychologische Effekte und Photochemie der Haut.

Sehfähigkeit

Die primäre Verwendung von Licht für den Menschen ist das Sehen, d. h. die räumliche und zeitliche Wahrnehmung von Objekten und das Erfassen von Farbe, Bewegung und Helligkeit. Wenn das von Objekten reflektierte Licht auf die Netzhaut des Auges trifft, können wir Informationen aus der Umgebung auswerten. Licht bewirkt in der Netzhaut die Freisetzung des Neurotransmitters Dopamin, das die Lichtanpassung reguliert. Für qualitativ hochwertige Bilder auf der Netzhaut ist eine hohe Lichtintensität erforderlich. Diese ist auch wichtig für eine normale Entwicklung des Auges im Kindesalter, bei der die axiale Länge und die refraktiven Medien so aufeinander abgestimmt werden, dass ein genau auf die Netzhaut fokussiertes Bild entsteht (Emmetropisierung). Ein Mangel an Tageslicht im Kindesalter kann zu Missbildungen führen (vgl. Kasten «Tageslicht und Medizin», S. 34). Das Spektrum von Tageslicht wiederum deckt den gesamten sichtbaren Bereich ab, mit ähnlicher Stärke in allen Wellenlängen, was der Farbunterscheidung förderlich ist. Aus diesen Gründen ist der Umgang mit Sehbehinderungen bei Tageslicht in der Regel einfacher als bei elektrischer Beleuchtung.

Chronobiologie

Licht beeinflusst die Physiologie, das Verhalten und das Wohlbefinden des Menschen auch über nicht vi­suelle Reize. Es löst Reaktionen im Auge aus, die sich auf die zirkadiane Uhr im Gehirn und auf andere neu­ro­nale Wege auswirken. Der Begriff zirkadianisch kommt von Circa-Diem, d. h. fast ein Tag: Die «innere Uhr» des Menschen, die seinen Schlaf-Wach-Rhythmus steuert, muss immer wieder mit dem natürlichen Tag-Nacht-­Zyklus abgeglichen werden. Das zirkadia­nische System umfasst unter anderem die Ausschüttung  des ­Zirbeldrüsenhormons Melatonin in der Nacht und die Freisetzung des Nebennierenrindenhormons Cortisol am Tag. Zudem trägt Licht dazu bei, die Stimmung durch die Freisetzung der Neurotransmitter ­Dopamin und Serotonin zu modulieren. Bemerkenswert ist, dass die zirkadiane Uhr die Komplexität des Tageslichts in Bezug auf Dynamik, Intensität und spektrale ­Zusammensetzung nutzt: So verwendet sie einen speziellen, nicht visuellen Photorezeptor (Melanopsin), um besser auf das blaue Licht in der Morgen- und Abenddämmerung zu reagieren, und sie verfolgt saisonale Veränderungen durch Netzwerke von Neuronen in bestimmten Gehirnregionen. Ein Mehr an Tageslicht erhöht also die Aufmerksamkeit, das Wohlbefinden, die Stimmung, die Schlafqualität und die kognitive Leistungsfähigkeit des ­Menschen.

Umgekehrt beeinflusst das Licht auch den Schlaf. Eine ausreichende Lichtversorgung tagsüber erhöht die Dauer und Qualität des Schlafs in der folgenden Nacht. Wichtig ist auch, dass die Nacht tatsächlich dunkel ist – was heute vielerorts nicht mehr der Fall ist. Auch Morgen- und Abenddämmerung, die die Übergänge zwischen Tag und Nacht signalisieren, sind wichtige Signale für den zirkadianischen Rhythmus; doch insbesondere die Abenddämmerung wird oft gestört durch Kunstlicht mit hohem Blauanteil sowie durch elektronische Geräte wie Fernseher und Computerbildschirme, die kurzwelliges blaues Licht emittieren. Dies verzögert den folgenden Schlaf nicht nur, sondern beeinträchtigt ihn auch. Daher sollte man helles Licht und Licht mit einem hohen Anteil an kurzen Wellenlängen (kaltweiss) abends und nachts vermeiden, ausser bei bestimmten Arten von Nachtschichtarbeit.

Wie viel Tageslicht der Mensch im Minimum für seine Gesundheit und sein Wohlbefinden braucht, ist nicht abschliessend geklärt. Die notwendige Dosis hängt von mindestens drei Faktoren ab: erstens den Eigenschaften des Lichts (z. B. Radianz, Spektrum, Dynamik und Verteilung) in Abhängigkeit von der geografischen Lage und dem Klima sowie, in Innenräumen, von der Gebäudeausrichtung, der Distanz zu den ­Fenstern und deren Beschaffenheit; zweitens dem ­Zeitpunkt und der Dauer der Lichtexposition; und drittens in­dividuellen Eigenschaften des Menschen wie Alter, ­geistige und körperliche Verfassung oder kultureller Hintergrund. Gesichert ist, dass eine geringe Licht­intensität am Tag die Lichtempfindlichkeit bei Nacht erhöht. Solche Sensibilisierungseffekte haben zur Folge, dass Personen, die tagsüber nur schwachem Licht ausgesetzt sind, anfälliger sind für die negativen ­Auswirkungen von künstlichem Licht bei Nacht.

Psychologische Auswirkungen

In der gebauten Umwelt ist Tageslicht meist gleichbedeutend mit einem Blick ins Freie. Der Betrachter erhält Informationen über Tageszeit und Wetter; sieht er dabei auch natürliche Vegetation, kommt eine messbare positive psychologische Wirkung hinzu. Die Wirkung von Licht auf den psychischen Zustand des Betrachters variiert je nach Breitengrad, Tages- und Jahreszeit. Auf der Nordhalbkugel beispielsweise herrscht im Winter Lichtmangel und im Sommer Überfluss; dies ist eine mögliche Erklärung für ein höheres Aufkommen von saisonal affektiven Störungen (SAD, «Winterdepres­sion») in nördlichen Ländern.

Photochemie in der Haut

Sonnenlicht löst thermische und photochemische Reaktionen in der Haut aus, und zwar sowohl im ultravio­letten als auch im sichtbaren und infraroten Bereich. Hohe Dosierungen sind schädlich. Tiefe dagegen verursachen wenig zelluläre Schäden und haben positive Effekte: Die Exposition gegenüber UVB-Strahlung löst die Produktion von Vitamin D aus, während die UVA-Exposition epidermale Stickoxide (Nitrosothiole, Nitrite und Nitrate) in Lachgas (NO) umwandelt, was eine arterielle Gefässerweiterung bewirkt und damit den Blutdruck senkt. Tageslicht enthält sowohl UVA- als auch UVB-Strahlung, sodass eine regelmässige, kurze Exposition für die Vitamin D- und NO-Produktion ausreicht. Elektrische Lampen dagegen geben wenig oder gar kein UV-Licht ab. Auch die meisten Fenstergläser (ausser eisenarmes Glas) sind nicht UVB-transparent und reduzieren die UVA-Transmission deutlich. Um die Vitamin-D-Synthese zu stimulieren, reicht eine normale Innenbeleuchtung also nicht aus; ob eine Umwandlung von epidermalen Stickoxiden in NO erfolgt, ist fraglich.


[Dieser Artikel ist eine selektive Zusammenfassung von drei Kapiteln der Publikation Changing perspectives on daylight: Science, technology, and culture. A sponsored Supplement to Science. © 2017 The American Association for the Advancement of Science AAAS, 3. November 2017.

Die Inhalte stammen aus den Kapiteln:
Brian Norton, Arthur Braun, Michael Balick, Richard Hobday, Colin Fournier, Jean-Louis Scartezzini, Judit Solt: «Daylight: Contexts and concepts», S. 4–8.
Mirjam Münch, Anna Wirz-Justice, Adam E. Brøndsted, Steven A. Brown, Albert Gjedde, Thomas Kantermann, Klaus Martigny, Danielle Mersch, Debra J. Skene: «The effect of light on humans», S. 16–23.
Mariëlle P. Aarts, Jérôme Kempf, Steven A. Brown, Bruno Bueno, Albert Gjedde, Danielle Mersch, Mirjam Münch, Jean-Louis Scartezzini, Carlo Volf, Jan Wienold, Anna-Wirz-Justice, Magali Bodart: «Reinventing daylight», S. 33–37.]

[Kostenloser Download der ganzen Publikation unter:
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TEC21, Fr., 2019.05.10



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26. April 2019Judit Solt
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«Die Komplexität nimmt zu»

Grundwasser wird als Trink- und Brauchwasser und als Energiequelle zum Heizen oder Kühlen genutzt. In dicht besiedelten Gebieten ist die Bewirtschaftung deshalb anspruchsvoll. Welche ­Heraus­forderungen sind künftig zu bewältigen? Ein Gespräch mit ­Exponenten aus Verwaltung, Industrie, Planung und Forschung.

Grundwasser wird als Trink- und Brauchwasser und als Energiequelle zum Heizen oder Kühlen genutzt. In dicht besiedelten Gebieten ist die Bewirtschaftung deshalb anspruchsvoll. Welche ­Heraus­forderungen sind künftig zu bewältigen? Ein Gespräch mit ­Exponenten aus Verwaltung, Industrie, Planung und Forschung.

TEC21: Das Projekt «Sichere Wasserversorgung 2025» des Bundesamts für Umwelt zeigt, dass in der Schweiz trotz Klimawandel in Zukunft genügend Wasser vorhanden sein wird, um den Bedarf an Trink-, Brauch- und Lösch­wasser zu decken. Voraussetzungen sind eine nachhaltige Nutzung und umsichtige Verteilung des Wassers sowie die Erhöhung der Versorgungssicherheit – ein kluges Management also. Doch die Schweiz ist kleinräumig organisiert; es gibt über 2500 Trinkwasserversorgungen, vielerorts fehlen redundante Systeme ebenso wie geomorphologische und hydrologische Inventare. Was gibt es da zu tun?

Max Maurer: Die Nachteile der kleinräumigen Organisation sind offensichtlich. Die föderalistische Schweiz delegiert viele Aufgaben nach unten, was bei übergeordneten Themen schwierig ist. Die Planung von Schutzzonen beispielsweise tangiert Gemeindekompetenzen. Und die Fragmentierung führt oft dazu, dass Akteure, die primär strategische Entscheide fällen sollten, stattdessen operative Aufgaben im Infrastrukturmanagement übernehmen. Gleichzeitig fehlt ihnen die Kompetenz dafür. Trotzdem hat die Kleinräumigkeit auch Vorteile: Sie bietet eine starke Identifikation, und die Wasserversorgung ist dank Freiwilligenarbeit und lokal angepassten Lösungen teilweise sehr günstig.

Felix Finardi: Ein weiterer Vorteil ist, dass Pannen überschaubar bleiben. Wenn es irgendwo hapert, kann man die wenigen Betroffenen notfalls via Tankwagen versorgen. Und wenn Betriebe die ­Planung und den Unterhalt ihrer Infrastrukturen vernachlässigen, wenn ein Brunnen versandet oder eine Leitung bricht, dann lässt sich der Schaden be­heben. Das ist teuer, aber möglich.

Wo liegen dann die Herausforderungen?

Finardi: Das wirkliche Problem sind die Schutzzonen. Wenn Gemeinden ihre Schutzzonen aufheben, die Böden versiegelt werden und das Wasser nicht mehr versickert, ist die Trinkwasserfassung gefährdet. Land ist eine knappe Ressource. Es braucht dringend Gesetze, die den Gemeinden «top down» verordnen, die für ihre Trinkwasserversorgung nötigen Gebiete zu schützen. Grundwasserschutzzonen, die überbaut wurden, sind für immer verloren.

Maurer: Die gesetzlichen Grundlagen sind da. Der Schutz des Grundwassers geniesst in der Schweiz einen hohen Stellenwert. Das Problem ist die Umsetzung: Hier beginnt eine Grauzone, in der es zu Güterabwägungen kommt. Um die Ressource Grundwasser zu schützen, kann man praktisch jede Massnahme juristisch begründen, aber bei radikalen Eingriffen wie Enteignungen ist man zurückhaltend.

Mit wachsender Bevölkerung steigt auch der Nutzungsdruck: Es gibt Zielkonflikte zwischen Siedlungspolitik, Naturschutz, Landwirtschaft und Industrie. Und verschärft nicht auch der Klimawandel die Verknappung der Ressource Wasser?

Matthias Nabholz: Trotz Klimawandel ist nicht das Wasser, sondern das Land in der Schweiz die knappe Ressource. Im Kanton Basel-Stadt ist das Problem besonders akut: Auf nur gerade 37 km² gilt es, Trinkwasser für die Menschen und Brauchwasser für die Industrie bereitzustellen. Der steigende Nutzungsdruck erfordert weiter reichende Kon­zepte, zum Beispiel für die Nutzung des Grundwassers. Bisher hat man recht unbekümmert unbefristete Rechte vergeben; nun erstellt der Kanton ein Nutzungskonzept. Das Grundwasser gehört gewissermassen allen, aber die Rechte sind nicht abschliessend geregelt. Das führt zu Nutzungskonflikten.

Nach welchen Kriterien lösen Sie solche Konflikte?

Nabholz: Ein Patentrezept haben wir nicht. Wir gehen interdisziplinär vor und eruieren, wie sich die Bedürfnisse entwickeln. Bei der Vergabe von Nutzungsrechten braucht es langfristige Szenarien und genug Flexibilität, um auf zukünftige Bedürfnisse zu reagieren. Trotzdem müssen Nutzungsrechte eine gewisse Laufzeit haben, damit der Investitionsschutz gewährleistet ist.

Michel Walker: Die interdisziplinäre Betrachtung ist zweifellos richtig. Doch die grosse Anzahl von Beteiligten macht Planern zu schaffen. Nur schon im Amt für Umwelt gibt es Spezialisten für Gewässer, Grundwasserschutz oder Abwasser, die unterschiedliche Ansprüche haben. Klare Vorgaben für die Planung gibt es nicht; wir machen einen ersten Entwurf, den die Behörden im Rahmen einer Güterabwägung diskutieren. Daraus ergibt sich der Handlungsspielraum, in dem wir bei der Überarbeitung des Projekts agieren können. Diesen Prozess zu planen ist nicht möglich.

Finardi: Schwierig ist es auch, wenn sich die Randbedingungen unerwartet ändern. Ein Beispiel: Vor 14 Jahren hat die Novartis entschieden, ein Werks­areal mit dem Wasserverbrauch einer Kleinstadt in einen Campus für Entwicklung und Forschung zu verwandeln. Man hat 2 Mrd. Franken in die Umnutzung investiert und für die Neubauten ein Wassernutzungskonzept entwickelt. Trinkwasser wurde möglichst nur im Hygiene- und Pharmabereich eingesetzt; damit wurde der Verbrauch halbiert. Die technischen Kreisläufe sollten mit Fabrikwasser betrieben werden, das dem Rhein entnommen wurde und etwa bei der direkten Kühlung und in Hybrid­türmen bei der indirekten Kühlung zum Einsatz kam. Das ermöglichte enorme Energieeinsparungen, weil Laborbauten und industriell genutzte Gebäude während der warmen Jahreszeit gekühlt werden. Das Fabrikwasser wurde durch Energieentzug auch zum Heizen mit Wärmepumpen eingesetzt; wenn die Temperatur des Rheins für den Betrieb der Wärmepumpen zu tief war, durften wir in Absprache mit dem Kanton auf Trinkwasser zurückgreifen. Fünf Jahre wurden die Neubauten nach diesem Konzept erstellt. Dann kam ein Hitzesommer, der Rhein war thermisch bis zum Grenzwert belastet, und man durfte von Gesetzes wegen kein Wasser mehr entnehmen. Die folgenden Bauten mussten anders konzipiert werden. Innerhalb eines Projekts haben sich die Randbedingungen komplett geändert.

Das Gewässerschutzgesetz ist nicht neu, es gilt seit 1991. Was hat sich tatsächlich geändert?

Nabholz: In den letzten Jahrzehnten ist die Wassertemperatur im Rhein nicht nur wegen des Klimawandels, sondern vor allem wegen der Nutzung gestiegen: Jedes Atomkraftwerk erwärmt ihn um rund 1 Grad. Wenn die Temperatur eines Gewässers 25 Grad Celsius übersteigt, darf kein Nutzwasser mehr entnommen werden. Das trifft zwar nur selten auf den Rhein zu, in heissen Sommern einige Stunden im Jahr, aber wenn die Industrie deswegen die Produktion abstellen muss, sind die Folgen natürlich massiv. Wir haben uns an den Bund gewandt, damit eine Änderung eingeführt wird und die kantonalen Behörden kurzfristig Ausnahmebewilligungen erteilen können. Die 25-Grad-Grenze ist für die meis­ten Fliessgewässer sinnvoll, insbesondere für kleine. Aber ein Fluss wie der Rhein führt auch an Hitz­etagen genug Wasser. Kein Gesetz kann alle Fälle abdecken, deshalb braucht es für die Umsetzung Ermessensspielraum.

Finardi: Es muss Opportunitäten geben, und es muss möglich sein, über die nachhaltige Nutzung von Ressourcen zu verhandeln. Gemäss Energie­strategie 2050 wollen wir weg von fossilen Energiequellen, und im Wasser steckt Energie, die man zum Heizen oder Kühlen nutzen kann. Ich habe das Campus-Beispiel nicht als Vorwurf erwähnt, die Kooperation mit den Behörden ist gut. Nicht unser Wille zur Zusammenarbeit oder die Kompetenz der Beteiligten setzt Grenzen, sondern dass heute mehr Anforderungen an die Nutzung des Wassers gestellt werden als vor einigen Jahrzehnten. Deshalb ist der Schutz der Ressourcen wichtiger denn je.

Ausnahmebewilligungen mögen schwierige Situationen überbrücken, langfristig braucht es aber Systeme, die auf neue Nutzungsansprüche und die Folgen des Klimawandels reagieren können. Was ist zu tun?

Walker: Veränderte gesetzliche Grundlagen, der Klimawandel und der Nutzungsdruck sind Faktoren, die unsere Arbeit komplexer machen; aber letztlich sind es auch nur Randbedingungen, die wir respektieren müssen. Veränderungen können auch neue Synergien ermöglichen. Das Grundwasser zum Beispiel wird durch die Bauten, die in den Untergrund ragen, und durch die Nutzung als Kühlwasser erwärmt. Stellenweise ist es in Basel-Stadt 16 statt 12 °C warm. Man könnte die Differenz nutzen, um Energie zu gewinnen, und das Wasser dabei wieder auf die natürliche Temperatur abkühlen. Was es dazu braucht, ist eine Diversifizierung der Nutzungen und eine intelligente Koordination – und die bereits erwähnte interdisziplinäre Betrachtung, was die Komplexität erhöht, die Arbeit aber auch interessant macht.

Werden die Aufgaben komplexer, verändert sich auch das Berufsbild der Ingenieurinnen und Ingenieure: Sie sollen nicht nur klar umrissene technische Probleme lösen, sondern in interdisziplinären Prozessen mit einer Vielzahl von Akteuren ganzheitliche Ansätze entwickeln. Werden sie dazu ausgebildet?

Maurer: Ja. Darauf legen wir Wert, in der Ausbildung und in der Forschung. Früher haben Ingenieure ihre Projekte aufgrund von Prognosen gerechnet und gehofft, das Ergebnis würde 30 Jahre funktionieren. Das war schon damals falsch, aber man konnte es ignorieren. Heute ist offensichtlich, dass Flexibilität unabdingbar ist. Es braucht Fachleute, die nicht nur Werte aus einer Tabelle herauslesen und Richtlinien anwenden, sondern in einem kom­plexen Umfeld mit vielen Faktoren gute Ergebnisse erzielen können. Sie müssen über den eigenen Tellerrand hinausschauen, die Systemgrenze erweitern, Prozesse verstehen und konzeptuell denken. Sie müssen lernen, mit Unsicherheiten umzugehen, mit Sze­narien zu arbeiten und zu kommunizieren. Mit diesem Rüstzeug kann sie keine zukünftige Aufgabe ab­schrecken. Das ist nicht neu, aber wichtiger denn je.

Walker: Ich fühle mich als junger Umweltingenieur bestens gerüstet. Problematisch ist aber, dass viele Entscheidungsträger es nicht sind: Ge­ra­de in kleinen Gemeinden haben die beteiligten Akteure nicht immer die nötige Kompetenz, um alle Faktoren zu überblicken und eine qualifizierte Güterabwägung zu machen. Die Gemeinde müsste je­man­den anstellen oder mandatieren, um das Dossier aufzubereiten, doch das würde das Budget sprengen.

Womit wir wieder bei der Kleinräumigkeit der Schweiz wären.

Walker: Als Planer habe ich oft die Aufgabe, eine Situation in aller Komplexität darzustellen, aber doch so, dass das Gegenüber versteht, worauf es ankommt. Das ist ziemlich schwierig …

Maurer: … und äusserst wichtig! Leider ist in der Schweiz noch zu wenig anerkannt, dass das Denken eine Leistung ist, die entlohnt werden muss. Ingenieurleistungen nur am Umsatzvolumen zu messen, wie es die heutige Honorarpraxis tut, setzt falsche Anreize. Die Aufgaben sind komplexer geworden; wenn man die Ingenieure nicht für die verbauten Kubikmeter Beton belohnen würde, sondern für flexible und nachhaltige Lösungen, könnte man viel Geld sparen. Das Denken ist wertvoll. Es sollte uns auch etwas wert sein.

Walker: Die Randbedingungen sind so komplex, dass man grössere Projekte nicht im normalen Rahmen eines Auftrags abwickeln kann. Die Beteiligung des Kantons ist unerlässlich, etwa um Daten zu erheben und Projekte zu koordinieren. Ein Wasser­management auf regionaler Stufe hilft, Redundanzen zu schaffen und die Versorgungssicherheit zu erhöhen. Die Kantone sollten auch die Gemeinden stärker mit Know-how unterstützen, wie es zum Beispiel Solothurn tut, damit nicht jeder eigene Arbeitswerkzeuge entwickeln muss und die Datenmodelle kompatibel sind. Die Aufgaben sind auch ohne technische Hindernisse anspruchsvoll genug.


[Der Text wurde erstmals im Geschäftsbericht 2018 der Rapp Gruppe veröffentlicht.]

TEC21, Fr., 2019.04.26



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TEC21 2019|16-17 Trinkwasser: Der Kreislauf stockt

02. November 2018Judit Solt
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«Der Mehrwert liegt bei der Steuerung»

Im Gespräch mit Judit Solt berichtet die an der Glasi-Überbauung massgeblich beteiligte Architektin Sabine Bär über ihre Erfahrungen mit der Anwendung von BIM.

Im Gespräch mit Judit Solt berichtet die an der Glasi-Überbauung massgeblich beteiligte Architektin Sabine Bär über ihre Erfahrungen mit der Anwendung von BIM.

TEC21: Frau Bär, wild bär heule ist ein mittelgrosses Büro, in dem rund ein Dutzend Architektinnen und Architekten arbeiten – und keine IT-Fachleute. Ist die Glasi Ihr erstes BIM-Projekt?
Sabine Bär: Nachdem wir den Studienauftrag für das Hochhaus in der Glasi gewonnen hatten, wen­deten wir mit unserem CAD-Programm Vectorworks zum ersten Mal das Buil­­ding Information Modelling in unserem Büro an. Eine erweiterte Zeichnungstechnik direkt am konkreten Beispiel anzuwenden ist die schnellste Methode, Neues zu erlernen. Wohl­gemerkt han­delt es sich um eine erwei­terte Form des 3-D-Zeichnens auf der vorhandenen CAD-Software. Von der architektonisch-entwerferischen Seite aus betrachtet stellt diese Erweiterung keine Hilfe dar; es nützt einzig für die Detailinformationen der Ausschreibungs- und Kostenplanung.
Beim Glasi-Projekt kommt ein Open-Source-BIM zum Einsatz. Die beteiligten Planungsbüros arbeiten mit unter­schiedlichen Softwares, ein Austauschformat ermöglicht das Zusammenfügen der Informationen im Koordinationsmodell. Das setzt einiges an technischem Wissen voraus.

TEC21: Hat sich Ihr Team das Know-how selbst erarbeitet?
Sabine Bär: «Open BIM» ermöglicht es den unterschiedlichen Büros mit ebenso unterschiedlichen CAD-Programmen, Informationen ohne Probleme untereinander auszutauschen und zu lesen. Die dafür notwendige Kommunikation und das Know-how fand programmiertechnisch bei den IT-Spezia­listen im Hintergrund satt. So benö­tigen wir Architekten ausschliess­­lich gute Kenntnisse und Übung in der 3-D-Anwendung des bürointernen CAD-Programms. Auf dieser Basis werden die BIM-Anforderungen erar­beitet. Das haben wir mit dem Software-Supporter selbst gemacht. Der BIM-Koordinator innerhalb der Projektorganisation auf Seiten des Auftraggebers erstellte übergeordnet einen Projektabwicklungsplan, in dem für alle Arbeitsschritte ein Leitfaden für die Inhalte vorgegeben war. Darin wurde auch der jeweilige Level Of Development festgelegt. Es gibt zu BIM noch keine SIA-Normen – das heisst, das Level der Informa­tionen, die in den Plan einbeschrieben werden soll, muss im Projektabwicklungsplan definiert werden.

TEC21: Bringt BIM nach dieser anfänglichen Investition einen Mehrwert, indem zum Beispiel die Fehlerquote sinkt?
Sabine Bär: Es hängt wie früher sehr stark von den jeweiligen Partnern im Team ab. Studiert ein Fachplaner die Unterlagen noch etwas oberflächlich, wird er seinen Teil auch nicht in der notwendigen Planungstiefe bearbeiten können. Was aber neu hinzugekommen ist, sind Zusatzprogramme, die in der Koordi­nation selbst so genannte Kollisionen herausfinden und anmelden können. Auf diese Weise lassen sich die meisten Fehler – insbesondere in der Haus­technik – schon sehr früh erkennen und eliminieren. Das spart Zeit und er­­leich­tert die Zusammenarbeit. Der Mehrwert der BIM-Methode liegt sicherlich bei der Steuerung und ins­besondere der Kostenplanung. Zu einem sehr frühen Zeitpunkt können die Kosten und allfällige Überschreitungen erkannt und angegangen werden.

TEC21: Es heisst, dank BIM würden die Koordinationssitzungen strukturierter und effizienter ablaufen. Stimmt das?
Sabine Bär: Sicherlich werden Koordinationssitzungen effizienter, wenn alle Beteiligten direkt am Modell die Problempunkte besprechen können. Strukturieren muss aber noch immer die Person, die die Sitzung leitet. Wie effizient eine Sitzung abläuft, steht und fällt wie eh und je mit der Vorbereitung aller Teilnehmenden.

TEC21, Fr., 2018.11.02



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TEC21 2018|44 BIM für komplexe Projekte

02. November 2018Judit Solt
TEC21

BIM – Begriffe in Kürze

Können Sie mitreden? TEC21 hat ein Glossar der wichtigsten Begriffe zum Building Information Modelling zusammengestellt.

Können Sie mitreden? TEC21 hat ein Glossar der wichtigsten Begriffe zum Building Information Modelling zusammengestellt.

Building Information Modelling (BIM) ist eine Methode, bei der Baufachleute verschiedener Disziplinen Informationen zu einem Projekt über Planungs, Bau-, Nutzungs- und Erneuerungsphasen hinweg in einem digitalen Modell zusammenfügen. Das Modell dient als gemeinsame Arbeits- und Archivierungsplattform, vgl. Merkblatt SIA 2051 «Building Information Modelling (BIM) – Grundlagen zur Anwendung der BIM-Methode».

Das offene Austauschformat ifc ist die Abkürzung für Industry Founda­tion Classes. Es dient dem software­unabhängigen Informationsaustausch im Bauwesen, insbesondere bei BIM-basierten Projekten. Definiert hat es building­SMART International, eine Non-Profit-Organisation von Akteuren aus der Bau- und Softwarebranche, darunter auch der CRB. Das ifc-Format ist Open Source und gemäss International Standard registriert (ISO 16739:2013).

Das Format bcf (BIM Collaboration Format) ist ein offenes Standardfor­mat, das von vielen Tragwerks-, HKLSE- und Modellprüfprogrammen verwendet wird, um ifc-Modellen Kommentare, Bildschirm­fotos, Kamerapositionen und 3-D-Schnitt­ebenen hinzuzufügen. Der bcf-basierte Daten­austausch wird verwendet, um Überschneidungen (etwa Kollisionen, Model­lierungs- und andere Fehler) zu identifizieren. Solche Unstimmigkeiten können entstehen, wenn meh­rere Modelle aus verschiedenen Appli­ka­tionen in einem Programm (zum Beispiel einem Model Checker) zusammengefasst werden.

Model Checker sind Programme, mit denen sich die Qualität eines BIM-Modells als Ganzes überprüfen lässt. Die Komponenten werden einzeln oder in einer Gruppe analysiert, um Kollisionen festzustellen.

Die Schweizerische Zentralstelle für Baurationalisierung CRB entwickelt und vertreibt Arbeitsmittel für die Adminis­tration und Verständigung im Bauwesen, etwa den Normpositionen-Katalog NPK, den Baukostenplan BKP, den elementorientierten Baukostenplan Hochbau eBKP-H und den Standard eBKP-Gate, der den eBKP mit dem NPK und dem BKP ver­bindet. Der CRB ist Mitglied von buildingSMART International. Die Trägerver­bände des CRB sind der Bund Schweizer Architekten BSA, der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein SIA und der Schweizerische Baumeisterverband SBV.

Bauen digital Schweiz ist die führende Plattform für die digitale Transformation der Schweizer Bau- und Immobi­lien­wirtschaft und umfasst Institutionen, Unternehmen und Verbände, darunter auch den SIA. Sie veranstaltet den Schweizer BIM Kongress.

www.buildingsmart.org
www.bauen-digital.ch

TEC21, Fr., 2018.11.02



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13. Juli 2018Judit Solt
TEC21

Zu viel des Schönen

Die Hauptausstellung der Biennale legt den Fokus auf Entwurf und Gestaltung. Anders als vor zwei Jahren sind soziopolitische Probleme meist kein Thema. Die Ausstellungsräume sind kunstvoll inszeniert, harmonisch reihen sich die gepflegten Exponate aneinander. Das ist formal zwar ansprechend, aber inhaltlich etwas belanglos.

Die Hauptausstellung der Biennale legt den Fokus auf Entwurf und Gestaltung. Anders als vor zwei Jahren sind soziopolitische Probleme meist kein Thema. Die Ausstellungsräume sind kunstvoll inszeniert, harmonisch reihen sich die gepflegten Exponate aneinander. Das ist formal zwar ansprechend, aber inhaltlich etwas belanglos.

Die Kuratorinnen der 16. Architekturbiennale Venedig, Yvonne Farrell und Shelley McNamara vom irischen Büro Grafton, stellen die Hauptausstellung unter das Motto «Freespace». Was sie darunter verstehen, definieren sie in einem Manifest. Dessen Formulierung ist recht vage, um den eingeladenen Architektinnen und Architekten aus aller Welt möglichst viel Interpretationsfreiheit für ihre Beiträge zu lassen. Dennoch fällt auf, dass der Fokus eindeutig auf gestalterischen Fragen liegt: Es geht fast ausschliesslich um Themen wie räumliche Grosszügigkeit, Sinnlichkeit, Haptik und Materialisierung. «Die Grosszügigkeit des Geistes und der Sinn für Menschlichkeit im Herzen der architektonischen Agenda konzentrieren sich auf die Qualität des Raums», schreiben Farrell und McNamara gleich zu Beginn.

Im Gegensatz zu früheren Kuratoren – und insbesondere zum Chilenen Alejandro Aravena, dem Leiter der letzten Biennale – rufen Farrell und McNamara nicht dazu auf, die Mittel der Baukunst strategisch einzusetzen, um die Schaffung einer gerechteren und ökologisch nachhaltigeren Welt zu fördern. Sie verstehen Architektinnen und Architekten als Gestalter, deren gesellschaftlich-politische Verpflichtung sich darauf beschränkt, Räume «für noch nicht bestimmte Nutzungen» bereitzustellen und «zusätzliche und unerwartete Grosszügigkeit in jedem Projekt zu erzeugen, selbst unter privaten, zurückweisenden, ausschliessenden oder kommerziellen Bedingungen». So gesehen besteht die Aufgabe der Baukunst nicht darin, gegebene Umstände grundsätzlich infrage zu stellen; ihr subversives Potenzial erschöpft sich darin, eine Qualität zu erzeugen, die über jene der Bestellung hinausgeht.

Räume als Hauptdarsteller

Dem thematischen Fokus entsprechend haben die Kuratorinnen die Hauptausstellung klaren gestalterischen Vorgaben unterstellt. Das szenografische Konzept basiert auf ihrem Selbstverständnis als Entwerferinnen: Die Bauten, in denen die Schau stattfindet, interpretieren sie als den Kontext ihres Eingriffs, den Eingriff selbst als eine Antwort auf diesen Kontext. «Over the many months as we developed it, we came to believe that the buildings themselves had become the first participants of the Freespace exhibition», berichteten sie an der Eröffnung.

Tatsächlich kann man die wichtigsten Biennale-Bauten – die Corderie und die Artiglerie im Arsenale sowie den Hauptpavillon in den Giardini – dieses Jahr so unmittelbar erleben wie schon lang nicht mehr. Farrell und McNamara räumten die riesigen Gebäude frei. Sie entfernten Einbauten, enthüllten die historische Bausubstanz und entdeckten dabei wahre Schätze, etwa ein Fenster von Carlo Scarpa im Arsenale, das jahrelang unter späteren Schichten verborgen war. Nun ist der leicht makabre Kontrast zwischen vergangener Pracht und heutigem Pragmatismus, der ganz Venedig prägt, auch in der Ausstellung spürbar.

In den Corderie, wo einst Seile für die mächtige venezianische Flotte gedreht wurden, ist die Wucht der riesigen, wohlproportionierten Räume geradezu umwerfend; doch der Verputz blättert ab, in den Mauerritzen wachsen Büsche; von der stolzen Handels- und Kriegsindustrie der Lagunenstadt, die das östliche Mittelmeer jahrhundertelang als Kolonialmacht beherrscht hat, bleiben kaum mehr als notdürftig gesicherte Brachen übrig. Auch der Haupt­pavillon in den Giardini geht auf imperialistische Zeiten zurück; unter faschistischer Herrschaft als italienischer Pavillon gebaut, pompös und überdimensioniert, verströmt er heute mit seinen verwitterten Wandmalereien, beschlagenden Spiegeln und bröckelndem Stuck einen melancholischen Charme.

Farrell und McNamara haben den Teilnehmenden Richtlinien erlassen, um die spezifische Qualität der historischen Räume nicht zu beeinträchtigen. Insbe­sondere haben sie darauf geachtet, die Fenster nicht zu verbergen; wo nötig verhindern Stoffbahnen eine allzu starke Sonneneinstrahlung, doch meist kommt direktes Tageslicht herein. In den Corderie sind die Exponate hinter den Säulen in den Seitenschiffen aufgereiht, während der mittlere Gang frei bleibt; das Zusammenspiel von Licht und Baukörper in den endlos langen, rauen, von Säulen und Öffnungen rhythmisierten Räumen ist besonders eindrücklich. Den Kontrapunkt bildet der Hauptpavillon mit seinem grossen, von einem Oberlicht erhellten zentralen Saal, um den sich die kleineren kabinettartigen Räume gruppieren; hier sind die Wände glatt und in fein abgestimmten Farben gestrichen.

Kreisen um die eigene Kreativität

Auch die Beiträge der eingeladenen Baukünstlerinnen und Baukünstler zeichnen sich durch einen ausgesprochen «architektonischen» Zugang aus. Anders als in früheren Jahren zeigen sie kaum Zahlen, Texte, Statistiken, Funktionsdiagramme und grossmassstäbliche Stadtpläne. Das einzelne Objekt ist allgegenwärtig, dargestellt in Zeichnungen, Präsentationsplänen, kunstvollen Fotos, handwerklich perfekten Modellen, Installationen und Detailzeichnungen. Erdige Töne und Materialien wie Backstein, Holz, Textilien, roher Beton und oxidierter Stahl herrschen vor. Digitale Medien sind zurückhaltend eingesetzt; zwar gibt es vereinzelt Videos und Projektionen, doch wilde Renderings und Klangteppiche findet man praktisch keine. Die vielfältigen, aber nach einem strengen ästhetischen Konzept angeordneten Exponate laden zum Studium ein und erzeugen ein harmonisches Gesamtbild. Die Stimmung ist ruhig, konzentriert und gepflegt.

Visuell und in Bezug auf die Kunst des Entwerfens hat die diesjährige Schau also viel zu bieten. Dennoch löst sie im Publikum gegensätzliche Reaktionen aus. Das ist angesichts der fehlenden politischen Bri­sanz zunächst erstaunlich. Doch die Polarisierung findet nicht auf der Ebene der Aussagen statt; sie ist im Kontrast zwischen formaler Stringenz und inhaltlicher Unbestimmtheit begründet. Zwar gehört es zum Wesen der Biennale, dass das Thema offen formuliert ist, um unterschiedliche Ansätze zuzulassen.

Dieses Jahr allerdings begnügen sich auffällig viele Teilnehmende damit, einen sehr lockeren Bezug zu «Freespace» herzustellen, um sich dann ganz auf die Darstellung eigener Themen zu konzentrieren. Einige verknüpfen die von den Kuratorinnen angesprochene Freiheit nicht mit gebauten Produkten der Architektur – etwa mit physischen Räumen, die den Menschen Freiräume eröffnen –, sondern mit deren Enstehungsprozess: Sie erforschen ihren eigenen, persönlichen Umgang mit den geistigen Freiräumen der Entwurfsarbeit. Das ist zwar auch spannend, in einer punktuellen Installation aber schwer zu vermitteln.

Lebensferne Blüten der Baukunst

Vor allem aber wirkt die Aneinanderreihung so vieler selbstbezogener Darstellungen irritierend. Gibt es wirklich keine wichtigeren Themen für eine internationale Schau als das Kreisen von auserwählten Schöpferinnen und Schöpfern um die eigene Kreativität? Keine drängenderen Fragen als die intime Auseinandersetzung der Baukünstler mit sich selbst? Die letzten Biennalen waren globalen Problemen – Krieg, Armut, ökologisches Desaster – gewidmet, die mit architektonischen Mitteln allein nicht zu lösen sind. Entsprechend gerieten die Gesten zuweilen etwas gar theatralisch; doch immerhin zeugten die meisten Beiträge nicht nur von Engagement, Mut und Pragmatismus, sondern auch von Bescheidenheit, Kritik an der eigenen Disziplin und einem Denken in grossen Zusammenhängen.

Davon ist heuer wenig zu spüren. Nur ver­einzelte Teilnehmende haben die Stichworte «demo­kratisch» und «unprogrammiert» aufgegriffen, die im Manifest durchaus auch enthalten waren, und sich ernsthaft gefragt, welchen gesellschaftlichen oder politischen Beitrag ihre Architektur leisten könne.

Das befriedigt auf die Dauer nicht. So inspirierend all die schönen Projekte, Modelle und Installationen sein mögen: In der Summe, als hunderte von Metern lange Aneinanderreihung von Preziosen wirken sie seltsam belanglos. Was haben diese hochgezüchteten Blüten der Baukunst mit der Realität unseres Lebensraums zu tun? Der Austausch auf höchstem Niveau innerhalb der Profession ist zweifellos wichtig, gerade auch über gestalterische Finessen; doch wie klug ist es, diesen internen Diskurs an einer Publikumsveranstaltung wie der Biennale öffentlich zu inszenieren? Die Gefahr, dass Architekturschaffende als hoffnungslos weltfremd erscheinen, ist nicht von der Hand zu weisen.

Schweizer Leistungsschau

Die Schweiz ist in der Hauptausstellung sehr präsent, vertreten hauptsächlich durch Exponenten der Accademia di architettura di Mendrisio, an der die beiden Kuratorinnen lehren.[1] Auch bei diesen Beiträgen steht die Aufmerksamkeit für Objekt und Konstruktion im Zentrum. Einige eröffnen zwar zaghaft weitere Denkräume: «Re-use, Black Yellow Red» von Elisabeth und Martin Boesch beispielsweise verweist auf die Notwendigkeit, jeden Eingriff als historisch reflektierten baukulturellen Beitrag zu begreifen; der filmische Werkstattbericht von Sergison Bates Architects über Forschung und Praxis enthält spannende Gedanken, denen zu folgen vor der akustischen Kulisse im Arsenale allerdings schwer ist; und wenn Aurelio Galfetti die Aufzeichnung eines Vortrags zeigt, in dem er den Bau seines Ferienhauses in Griechenland erläutert, knüpft er dies immerhin an allgemeine Überlegungen zum Kontext.

Andere Installationen lassen ratlos zurück. Unklar bleibt etwa, was Mario Botta mit den studentischen Arbeiten, die er in einer eigens gebauten Folly präsentiert, eigentlich vermitteln will. Peter Zumthor zeigt Präsentations­modelle der letzten Jahrzehnte – eine schöne Darstellung seines Schaffens, die genauso gut anderswo zu sehen sein könnte. Die als Palimpseste gestalteten Pläne des Schulhauses in Thal von Angela Deuber sind grafisch attraktiv, aber wenig aufschlussreich. Valerio Olgiati kontrastiert mit weissen Zylindern die patinierten Säulen des Arsenals. Alles sehr hübsch; doch der Bezug zu «Freespace» drängt sich, gelinde gesagt, nicht wirklich auf.

Als einer von wenigen Schweizer Gästen geht Gion A. Caminada auf die volle Dimension des Begriffs ein: Anhand der Entwicklung von Vrin seit den 1980er-Jahren demonstriert er am konkreten Beispiel, wie man mit kleinen, aber präzisen materiellen Eingriffen grosse immaterielle Wirkungen erzielen und neue Freiheiten für die Zukunft schaffen kann.

Hingehen? Hingehen! Trotz Vorbehalte ist auch die diesjährige Architekturbiennale ein Must für alle an Baukultur interessierte. Abgesehen davon, dass die Hauptausstellung eine Augenweide ist, dass die alten Bauten allemal sehenswert sind und dass es unter den Exponaten auch Überraschendes und Eindrückliches zu entdecken gibt: Die 61 Länderpavillons in den Giardini und in der ganzen Stadt (vgl. «Von Quo vadis zum Status quo») sowie die zahlreichen begleitenden Veranstaltungen haben auch viel zu bieten.


Anmerkung:
[01] Architekturschaffende mit Schweizer Büros an der Hauptausstellung: Michele Arnaboldi, Mario Botta, Bearth & Deplazes, Elisabeth & Martin Boesch, Burkhalter Sumi, Gion A. Caminada, Caruso St John, Angela Deuber, Aurelio Galfetti, Miller & Maranta, Valerio Olgiati, Sergison Bates, Peter Zumthor.

TEC21, Fr., 2018.07.13



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25. Mai 2018Judit Solt
TEC21

Industrielle Pracht

Das Hamel-Gebäude wurde 1907 als Stickereifabrik erbaut. Pfister Schiess Tropeano & Partner haben das Industrie­denkmal mit viel Feingefühl transformiert. Heute dient es als Wohn- und Geschäftshaus, als Verkehrsknotenpunkt – und als edle backsteinerne Visitenkarte für ein neues Quartier auf dem Saurer-Areal in Arbon.

Das Hamel-Gebäude wurde 1907 als Stickereifabrik erbaut. Pfister Schiess Tropeano & Partner haben das Industrie­denkmal mit viel Feingefühl transformiert. Heute dient es als Wohn- und Geschäftshaus, als Verkehrsknotenpunkt – und als edle backsteinerne Visitenkarte für ein neues Quartier auf dem Saurer-Areal in Arbon.

Es war das letzte Gebäude, das der Stickereibaron Arnold Baruch Heine 1907 auf seinem Fabrikationsgelände in Arbon errichtete – ein feingliedriger Beton­skelettbau, eingespannt in massive Backsteinfassaden mit grossen, in leichtem Grauton gestrichenen Fenstern. Die oberirdische Tragkonstruktion aus Stahlbeton war ebenso innovativ wie die unterirdische Fundation: Um das riesige Volumen im feuchten Untergrund am Bodenseeufer zu stabilisieren, war das Untergeschoss als dichte Waben­struktur aus Stampfbeton ausgebildet; bei Hochwasser wurden die Kammern geflutet, und sie leerten sich, wenn sich das Wasser wieder zurückzog.

Das Gebäude war in jedem Sinn des Wortes das Flaggschiff für ein boomendes Unternehmen, von dem fünf Jahre später nicht mehr übrig blieb als Millionenschulden, unverkaufte Lagerbestände und ein Gebäudepark, den sich die Gläubiger zähneknirschend aufteilten.

Das Gebiet als Ganzes wurde als Saurer-Areal bekannt. Nach dem Ende der industriellen Nutzung und weiteren Handwechseln wird das Gelände nun als multifunktionaler Stadtteil neu entwickelt. Doch der letzte Bau der Stickerei-Hochblüte, nach einem vormaligen Besitzer heute als Hamel-Gebäude bekannt, fungiert weiterhin als repräsentativer Auftakt.

Direkt am Bahnhof Arbon gelegen und durch eine neue Unterführung an diesen angeschlossen, bildet es das Tor zum Stadtteil, das nach dem Untergang vieler bestehender Bauten gegenwärtig aus dem sumpfigen Boden gestampft wird. Als einer der wenigen erhaltenen Zeitzeugen soll das Hamel-Gebäude dazu beitragen, die Identität des Neubaugebiets mit der Pracht aus der industriellen Blütezeit zu veredeln – ähnlich, wie dies heute an vielen ehemals industriellen Standorten geschieht, etwa auf dem Sulzer-Areal in Winterthur.

Historischer Auftakt für Neubaugebiet

Zwei unter Denkmalschutz stehende Bauten spannen das Saurer-Areal von Nord nach Süd auf: das Hamel- und das Arbomec-Gebäude (Erläuterungen zum Arbomec-Gebäude vgl. Kasten unten); die Webmaschinenhalle und das Presswerk stehen ebenfalls unter Schutz. HRS Real Estate, die das Gebiet als Totalunternehmerin entwickelt, beauftragte Pfister Schiess Tropeano & Partner Architekten aus Zürich, den Umbau der beiden sensiblen Bauten zu projektieren. Beim Hamel-Gebäude haben die Architekten auch die Ausführung geplant, beim Arbomec-Gebäude haben sie diese als Vermittler zur Denkmalpflege begleitet.

Trotz Nutzungswechseln und Umbauten in den 1970er-Jahren war die vormalige Pracht des Hamel-Gebäudes weitgehend erhalten. Die Westfassade war wegen eines Anbaus zwar nicht mehr sichtbar, aber vorhanden: Man hatte das neue Volumen an den Bestand angedockt und die Backsteinfassaden verputzt. Die ursprünglichen feingliedrigen Holzfenster waren zum Teil noch da. Aufgrund der grosszügigen Raumhöhen und Fensterformate – für die Stickereiproduktion war gute Belichtung nötig – liessen die Räume unterschiedliche Nutzungen zu; der Skelettbau ermöglichte eine flexible Grundrissdisposition. Entsprechend vielfältig wird der Bau heute bespielt.

Zusammen mit den Bauherren, den Haustechnikern und der Denkmalpflege haben die Architekten die Planungsziele erörtert und Lösungen entwickelt. Sie entfernten die nachträglichen Anbauten und führten den Bau auf das Volumen von 1907 zurück – dies erwies sich als ökonomisch vertretbar, weil die zu Planungsbeginn noch gültige Brandschutzverordnung sonst ein zusätzliches Treppenhaus verlangt hätte.

Ein Teil des Erdgeschosses ist als offene Halle ausgestaltet, in der Aussenklima herrscht und die man von zwei Seiten über Arkaden betritt; auch die Bahnhofsunterführung mündet hier. Diese Ebene dient als Einkaufspassage mit Post, Coop-Filiale, Coiffeursalon, Optik- und Hörgeräte-Fachgeschäft, Chocolaterie, Fotostudio, Fitness- und Gesundheitszentrum und Klinik. Dennoch hat sie einen öffentlicheren Charakter als vergleichbare bahnhofsnahe Einrich­tungen, zum einen wegen der allseitigen Offenheit und zum anderen dank der räumlichen Grosszügigkeit, die eine Markthalle evoziert.

Die Materialisierung wirkt wohltuend neutral, die nüchterne Tragkonstruktion wurde freigelegt. Eigens entwickelte Lampen, inspiriert von den Leuchten der ehemaligen Stickereisäle, setzen warme Kontrapunkte. Sie unterstreichen, dass die Halle auch als Empfangsraum fungiert: Über die bereits vorab neu gebaute Unterführung – die einen beträchtlichen Eingriff ins Untergeschoss erfordert hatte – gelangt man vom Bahnhof direkt ins Gebäude und von dort ins neue Quartier. Die Halle ist gut frequentiert; nur in den hinteren Bereichen stehen noch Verkaufs­lokale leer – wenig erstaunlich angesichts der Tatsache, dass die Einkaufspassage einem Stadtteil mit rund 1000 Einwohnern und Hunderten von Arbeitsplätzen dienen soll, der aber erst im Entstehen begriffen ist.

Restauriert, ergänzt, gepflegt, gesichert

Im ganzen Hamel-Gebäude sind die Spuren der Ver­gangenheit spürbar – ebenso wie die grosse Sensibilität, mit der die Architekten diese freigelegt und ins Projekt integriert haben. Wo möglich, wurden die ursprünglichen Fenster erhalten. Knapp ein Dutzend der 130 Fens­ter konnten restauriert werden, die anderen wurden nachgebildet. Sämtliche Fenster sind mit einer Zweifachverglasung versehen. Eine Dreifachverglasung lehnte der Investor ab, weil die Denkmalpflege die finan­zielle Unterstützung verweigert hätte.

Die Backsteinfassaden waren meist in gutem Zustand. Nur auf den Westseiten des Kopfbaus und des zweigeschossigen Längsbaus, wo die Anbauten aus den 1970er-Jahren entfernt wurden, hatten die Oberflächen gelitten: Die Backsteine und der nachträglich angebrachte Putz hatten einen Verbund gebildet, sodass die Steine beim Entfernen des Putzes Schaden nahmen; sie wurden hydrophobiert und wo erforderlich ersetzt. Das Gebäude erhielt eine Innendämmung. Um die historische Bausubstanz nicht weiter zu tangieren, haben die Architekten die Technikzentrale auf dem Dach des Längsbaus platziert.

In den drei Obergeschossen des Kopfbaus sind 16 loftartige Mietwohnungen eingebaut, wobei die Eingriffe in die Substanz – bis auf den Einbau von Steigzonen – möglichst gering gehalten wurde. Auch hier blieb die Tragkonstruktion sichtbar und mit industriell anmutenden, aber sorgfältig behandelten Materialien für den Innenausbau kombiniert. Als Sonnenschutz dienen leinenfarbige Stoffmarkisen, wie man sie aus alten Schulhäusern kennt. Die Wohnungen haben keine Balkone; das Dach wurde zu einer kollektiv genutzten Terrasse mit Seesicht transformiert. Die ursprüngliche Dachkrone aus Sichtbeton mit Backsteineinsätzen wurde nach historischen Profilplänen neu gebaut – erstaunlicherweise nicht vorfabriziert, sondern vor Ort geschalt und gegossen.

«Bei diesem Projekt gab es vier grosse Herausforderungen», berichtet Hauke Möller, zusammen mit Rita Schiess Projektverantwortlicher seitens der Architekten. «Erstens galt es, die Leistungsfähigkeit des Tragwerks zu ermitteln und zu sichern; zweitens zog die bereits gebaute SBB-Unterführung, die wie ein Torpedo die heiklen Fundationen des vierstöckigen Hamel-Kopfbaus bedrängte, einige räumliche, technische und finan­zielle Folgen nach sich; drittens wollten wir die Ganzheit des Gebäudes trotz flexibler Nutzung be­wahren; und viertens sollten attraktive Wohnungen entstehen.»

Dies ist gelungen. Heute, fast zwei Jahre nach Fertigstellung, fallen die hochwertigen Details und Materialien des Hamel-Gebäudes wohltuend auf – nicht nur in der zurzeit in Transformation befindlichen, von Staub und Baustellenlärm gesättigten Umgebung, sondern auch im Vergleich mit ersten Neubauten.

TEC21, Fr., 2018.05.25



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25. Mai 2018Judit Solt
TEC21

«Das Konzept wurde dauernd hinterfragt»

Zur Restaurierung des Hamel-Gebäudes in Arbon sprach Judit Solt mit Hauke Möller, Pfister Schiess Tropeano & Partner Architekten.

Zur Restaurierung des Hamel-Gebäudes in Arbon sprach Judit Solt mit Hauke Möller, Pfister Schiess Tropeano & Partner Architekten.

TEC21: Herr Möller, woher stammten die Backsteine, mit denen das Hamel-Gebäude ursprünglich gebaut wurde?
Hauke Möller: Unser Bauleiter Christian Witzig aus Kreuzlingen berichtete während der Bauphase: «Die Backsteine kommen mit grösster Wahrscheinlichkeit aus der Ziegelei Noppelsgut in Kreuzlingen, damals noch Emmishofen. Dies erzählte mir der alte Baumeister Rolf Uhler aus Kreuzlingen, dessen Grossvater an­scheinend den Hamel gebaut hat. Damals gab es keine Lkw, man such­te Transportwege für das Material an den Eisenbahnlinien – und die Eisenbahnlinie Kreuzlingen–Arbon existierte schon. Die Ziegelei brannte 1917 ab und wurde nicht wieder auf­gebaut. Heute existiert nur noch der Ziegeleiweiher, aus dem seinerzeit der Ton für die Ziegel gewonnen wurde. Noch heute stehen in Kreuzlingen einige Gebäude aus diesen Steinen. Der Besitzer hiess Thomas Würtenberger; seine beiden Söhne wurden relativ bekannte Künstler und hatten kein Interesse, die Ziegelei zu übernehmen.»

TEC21: An der Westfassade mussten teilweise neue Steine eingesetzt werden. Wo kommen diese her?
Hauke Möller: Es handelt sich um Spezial­anfertigungen, also um einen Sonderbrand, angefertigt durch Firma Keller Ziegeleien im Werk Frick. Die bestehenden Fassadensteine wurden hinsichtlich Qualität und Far­be analysiert; anschliessend hat man einige Musterriemen im Labor erstellt und vor Ort geprüft. Vom Favoriten wurden einige Steine an einer beschädigten Stelle in den bestehenden Mauerverband eingemauert, bemustert und freigegeben, unter anderem auch durch das Amt für Denkmalpflege.

TEC21: Worauf mussten Sie besonders achten?
Hauke Möller: Eine Schwierigkeit bei der optischen Beurteilung der neuen Steine ist, dass die alte Oberfläche sich nach über 100 Jahren Witterungseinflüssen und teils mechanischer Beanspruchung stark vom rekonstruierten Ursprungsstein unterscheidet. In solchen Fällen wählt man häufig eine dunklere, quasi vorpatinierte Oberfläche, um die Patina der Originalsubstanz zu imitieren. Im Gegensatz dazu haben wir uns entschieden, die Unterschiede zwi­schen Alt und Neu zu zeigen.
Eine weitere Herausforderung war die Angleichung des Fugenbilds: Die ursprünglichen Steine wurden sehr viel handwerklicher produziert und variierten stärker in den Grössen, was mit den Fugenbreiten ausgeglichen wurde. Daher galt es, ein durchschnittliches industriell gefertigtes Steinformat zu finden – eine Gratwanderung, denn die Fugen wirken schnell zu breit oder zu schmal. Das Fugenmaterial wurde vor Ort per Hand abgemischt: 16 Teile gewaschener Sand 0 bis 4 mm, 5 Teile hydraulischer Kalk, 2 Teile Zement.

TEC21: Weshalb wurden die beschädigten Steine hydrophobiert?
Hauke Möller: Wir hatten es hier nicht mit einem zweischaligen Mauerwerk zu tun, in dem die Feuchtigkeit in der Hinterlüftungsebene abtrocknen kann. Deshalb bestand die Gefahr, dass das Mauerwerk an den beschädigten Stellen Wasser zieht; insbesondere wurde die harte, schützende Ober­fläche, die beim Brennen der Steine entsteht, durch den Freilegungsprozess an vielen Stellen beschädigt. Der mine­ralische, atmende Wandaufbau mit neuer mineralischer Innendämmung wurde daher an bestimmten Aussen­flächen mit einer hydrophoben, dampfdurchlässigen Schutzlasur versehen.

TEC21: Kann man eine so differenzierte Intervention in die historische Sub­stanz überhaupt planen?
Hauke Möller: Man muss sich die gesamte Fassadensanierung als eine Planung in Etappen vorstellen, Hand in Hand mit der Bauleitung bzw. Ausführung vor Ort koordiniert. Dabei gab es viele unbekannte Faktoren; nach den einzelnen Fassadenrückbauten und Freilegungen mussten wir die vorgefundene Situation unter Beiziehung der erforderlichen Fachspezialisten neu beurteilen. Zunächst haben wir den Zustand und die Massnahmen in Form von detaillierten Ansichtszeichnun­gen «kartiert». Mithilfe dieser Zeichnungen wurden die Massnahmen unter Berücksichtigung der Projektziele festge­legt; das zuvor erstellte Restaurierungskonzept wurde dabei immer wieder hinterfragt und, wenn erforderlich, in eine neue konzeptionelle Richtung gelenkt.

TEC21, Fr., 2018.05.25



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25. Mai 2018Judit Solt
TEC21

Im Strudel der Geschichte

Die Entstehung des Hamel-Gebäudes fällt in eine bewegte, von dramatischen Umbrüchen erschütterte Zeit. Der Bauherr war der deutsche Stickereibaron Arnold...

Die Entstehung des Hamel-Gebäudes fällt in eine bewegte, von dramatischen Umbrüchen erschütterte Zeit. Der Bauherr war der deutsche Stickereibaron Arnold...

Die Entstehung des Hamel-Gebäudes fällt in eine bewegte, von dramatischen Umbrüchen erschütterte Zeit. Der Bauherr war der deutsche Stickereibaron Arnold Baruch Heine. Auf Vermittlung von Adolph Saurer, der sich als Bevollmächtigter in der Bürgergemeinde für den Verkauf eingesetzt hatte, erwarb Heine 23 000 m² Riedland südlich der St. Gallerstrasse in Arbon. Ab 1898 errichtete er in atemberaubendem Tempo die weltweit zweitgrösste Stickerei­fabrik (Feldmühle Rorschach war die grösste): Noch im selben Jahr ratterten in den neuen Werkhallen die ersten hundert Saurer-Stickmaschinen.

Kurzlebiges Imperium

Weitere Bauten folgten, darunter auch das Hamel-Gebäude, das 1907 als letzte Etappe nach einem Entwurf des St. Galler Architekten Wendelin Heene fertiggestellt wurde. Bald beschäftigte Heine 2200 Mitarbeiter und ebenso viele Heimarbeiter. Doch auf den rasanten Aufstieg folgte jäh der Fall. Das Geschäfts­jahr 1909/10 wies einen Verlust von 3 Millionen Franken aus; es gab unverkaufte Lagerbestände in Millionenhöhe. Der Schweizerische Bankverein als Hauptgläubiger des Unternehmens entzog Heine das Prä­si­dium des Verwaltungsrats und die Geschäftsleitung. Eine Aktionärsgruppe regte eine Strafklage an, und Heines Privatvermögen wurde blockiert.

Bankpräsident und Direktor auf der «Titanic»

Heine reagierte prompt. Er setzte sich Anfang April 1912 aus Arbon ab und schiffte sich in Southampton auf dem Dampfer «Carpathia» nach New York ein. Zwei hochrangige Gläubigervertreter – Alfons Simonius, Präsident des Bankvereins, und Max Staehelin, Direktor der Schweizerischen Treuhandgesellschaft – nahmen die Verfolgung auf. Da es ihnen nicht gelang, den Flüch­tigen rechtzeigig einzuholen, bestiegen sie den nächsten Dampfer: die «Titanic», die am 10. April in Southampton zur Jungfernfahrt nach New York auslief.

Die «Titanic» kam bekanntlich nie in New York an, doch die beiden Verfolger hatten Glück. Sie überlebten den Un­tergang und wurden gerettet. Zuflucht ­fanden sie ausgerechnet auf der «Car­pathia», die als erster Dampfer am Unglücksort eintraf. Was sich auf hoher See zwischen den drei Herren ereignete, ist nicht bekannt. Die spätere Prüfung der Geschäftsbücher des Unternehmens ergab indes keine belastenden Ergebnisse, die eine Strafverfolgung gerechtfertigt hätten, und auch Heines Privatkonten wurden freigegeben.

Umbauten, Handwechsel, Zwischennutzungen

Später ging das Gebäude in den Besitz von Herrmann und Edmund Hamel aus Chemnitz über. Diese gründeten 1923 die Carl Hamel AG Arbon und nutzten das Hamel-Gebäude, wie es nun genannt wurde, als Fabrik- und Verwaltungs­gebäude. In den 1970er-Jahren folgten unterschiedliche Um- und Anbauten. 1988 erwarb der Saurer-Konzern die Liegenschaft. Die Stadt Arbon kaufte sie 2009 und verkaufte sie 2013 an die HRS Real Estate weiter, die sie als Total­unternehmerin entwickelte. Die St. Galler Pensionskasse erwarb das Hamel-Gebäude 2015 von der HRS samt dem Projekt für eine Nutzung als Einkaufs-, Wohn- und Verkehrsstandort.


[Die Details zu Heines Abenteuern basieren auf folgendem Artikel:
«Verfolgungsjagd auf der Titanic», in: St. Galler Tagblatt, 7. April 2012.]

TEC21, Fr., 2018.05.25



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08. Dezember 2017Judit Solt
TEC21

Verdichtete Romantik

Ein runder Turm mit Wohnungen, die sich zum Licht öffnen? Hohe Hallen, in denen Pilzstützen wie Ungetüme herumstehen? Bei Neubauten ist derlei kaum denkbar. giuliani hönger Architekten und Dr. Lüchinger Meyer Bauingenieure haben die Transformation einer Garage genutzt, um eine aussergewöhnliche Wohnanlage zu errichten.

Ein runder Turm mit Wohnungen, die sich zum Licht öffnen? Hohe Hallen, in denen Pilzstützen wie Ungetüme herumstehen? Bei Neubauten ist derlei kaum denkbar. giuliani hönger Architekten und Dr. Lüchinger Meyer Bauingenieure haben die Transformation einer Garage genutzt, um eine aussergewöhnliche Wohnanlage zu errichten.

Umbauten machen heute einen Drittel aller baulichen Eingriffe aus. Ihr Anteil dürfte weiter steigen: Rund 80 % des Schweizer Gebäudeparks sind älter als 25 Jahre und oft erneuerungsbedürftig; zudem gilt es, bestehende Agglomerationen zu verdichten, anstatt das Land weiter zu zersiedeln. Doch Umbauten sind auch anspruchsvoll. Die Eigenschaften der gegebenen Bausubstanz sind nicht immer dazu angetan, die Planerinnen und Planer zu beflügeln; hinzu kommen einschränkende gesetzliche Auflagen, etwa wenn der Altbau unter Denkmalschutz steht oder das vorhandene Volumen nicht mehr bewilligbar, sondern nur dank der Bestandsgarantie zu halten ist.

Aus diesen manchmal schwierigen Ausgangslagen können aber auch Projekte entstehen, deren einzigartige Qualitäten bei Neubauten nicht realisierbar wären. Dann nämlich, wenn die Entwerfenden die Zwänge des Bestands nicht als Einschränkung verstehen, sondern die Unverhandelbarkeit des Gegebenen als Basis nutzen, um Neues zu wagen. Dies gilt auf der Ebene des Objekts ebenso wie im städtebaulichen Massstab, wo die Verdichtung im Idealfall nicht nur mehr Bauvolumen, sondern auch mehr räumliche Qualität und soziale Bezüge generiert.

Ein Beispiel, das diese These aufs Eleganteste bestätigt, ist der Umbau des Schlotterbeck-Areals in Zürich. Der Altbau, eine ehemalige Citroën-Garage, war 1951 als Hauptsitz der Firma C. Schlotterbeck Automobile Aktiengesellschaft an der Badenerstrasse entstanden%%gallerylink:34989: (Abb.)%%. Das moderne Beton- und Glasgebäude des Basler Architekturbüros Suter & Suter wurde bis 1960 in mehreren Etappen aufgestockt und mit einem Vorbau an der Badenerstrasse erweitert. Zuletzt bestand es aus einem zylindrischen Rampenbau zur Strasse und einem rückwärtigen, an den Heiligfeld-Park grenzenden Werkstattgebäude. Das Ensemble, das eine hohe architektonische Qualität aufweist, ist im Inventar der schützenswerten Bauten der Stadt Zürich eingetragen und war zu erhalten. Dennoch war es im Sinn der Stadt, an diesem Ort auch starke Veränderungen zu ermöglichen.

Wohnungen statt Werkstätten

Das Schlotterbeck-Areal liegt an der Nahtstelle zwischen der geschlossenen Blockrandbebauung rund um den Albisriederplatz und der offenen Bebauung jenseits des Letzigrabens. Beim aktuellen Umbau wurden die bestehenden Bauten unter Beibehaltung ihres Fussabdrucks in die Höhe gezogen – eine Strategie, die bereits in den 1950er-Jahren mehrfach zur Anwendung gekommen war. Die neuen Aufstockungen sind teilweise beträchtlich. Sie stärken und differenzieren die Volumen, und sie akzentuieren die Präsenz des Ensembles in seiner stadträumlichen Scharnierfunktion, indem sie Bezüge zum nahen und weiteren Kontext herstellen.

Das Rampengebäude wurde zu einem 40 m hohen Turm aufgestockt und übernimmt die Höhe der beiden Wohnhochhäuser der nahen Siedlung Letzigraben-Heiligfeld, die der damalige Stadtbaumeister Albert Heinrich Steiner 1953–1955 erbaut hatte. Der neue, ­zylindrische Turm fungiert als markanter Kopfbau für das Schlotterbeck-Areal, aber auch als Landmark für die Grenze zwischen Badenerstrasse und Heiligfeld-Park. Umgekehrt diffundiert der Park bis an die Strasse hinaus – die Aussenraumgestaltung des Areals führt jene des Parks weiter und stellt mit Baum- und Strauchgruppen eine Verbindung zwischen Park- und Stras­senraum her.

Auch das Werkstattgebäude wurde aufgestockt. Ein zusätzliches Geschoss über die ganze Gebäudefläche schafft eine neue Traufhöhe, die auf das im Südosten benachbarte Brahmshof-Wohnhaus reagiert. An der südwestlichen Baulinie erhielt das Gebäude weitere drei Etagen und erreicht nun rund 25 m; damit bezieht es sich auf die Traufhöhe der vorgelagerten Häuser der Siedlung Letzigraben-Heiligfeld und betont den Übergang vom Park zum Brahmshof.

Mit dem Umbau erfolgte nicht nur eine städtebauliche Neuinterpretation, sondern auch eine Umnutzung des Areals: Neu sind darin 2150 m² Gewerberäume und 104 Wohnungen untergebracht. Wegen der Garagen und Tankstellen, die sie seit Jahrzehnten säumen, gilt die Badenerstrasse zwar als «automobile road» Zürichs, doch zugleich durchquert sie mehrere Wohnquartiere; die Garage auf dem Schlotterbeck-Areal galt in ihrer Entstehungszeit als Fremdnutzung, die einer Aus­nah­mebewilligung bedurfte. Angesichts der Nachbarschaft lag es also auf der Hand, die bestehenden Bauten in Wohnhäuser zu verwandeln. Was jedoch die baulichen Voraussetzungen anging, war es ein abenteuerliches Unterfangen.

Ein Schleier von Vergangenheit

Das geschützte Werkstattgebäude ist 35 m tief und hat unterschiedliche Etagenhöhen, was gewöhnliche Typo­logien von vornherein ausschloss. Die Architekten entwickelten deshalb verschiedene, gemäss den jeweiligen räumlichen Gegebenheiten und Orientierungen differenzierte Wohnungstypen: Lofts mit 4 m hohen Räumen im Parterre, Maisonettewohnungen im 1. und 2. Obergeschoss, Atriumwohnungen in der neu aufgestockten 3. Etage und 2.5- bis 4.5-Zimmer-Wohnungen im Aufbau auf der Parkseite.

Das Tragwerk wurde weitestgehend erhalten. Die Aufstockung um eine Etage war ohne zusätzliche statische Massnahmen möglich, nur im Bereich des Aufbaus auf der Parkseite gibt es pro Geschoss zwei neue Stützen und zwei Querwände. Das bestehende Tragwerk – der letzte Zeuge der industriellen Vergangenheit des Hauses – wurde sorgfältig inszeniert. Die wuchtigen, für grosse Räume und schwere Lasten ausgelegten Pilzstützen blieben sichtbar, auch in den Wohnungen, wo sie als überdimensionierte, skulpturale Elemente die Räume gliedern.

Um für jede Einheit mindestens eines dieser Ungetüme freizuspielen, haben die Architekten die Trennwände der Wohnungen und Gewerberäume gegenüber dem Stützenraster verschoben und die 2.5-Zimmer-Maisonettewohnungen im Längsschnitt versetzt angeordnet. Die Wohnungen reihen sich entlang der Fassaden, durch die grosse Bautiefe ergeben sich in der Mitte des Gebäudes weitläu­fige Hallen. Diese sind, obschon teilweise künstlich belichtet, nicht unfreundlich; die ruhigen Reihen der Pilzstützen verleihen ihnen eine würdevolle Grosszügigkeit. Als rhythmisierende Elemente kommen drei neue, von den Brandschutzvorschriften geforderte Treppenkerne hinzu, die als raumhaltige Körper zwischen den Stützen platziert wurden; im 2. und 3. OG alternieren sie mit den Atrien, die als Lichtkörper in den Raum ragen.

Bemerkenswert ist die heitere, leicht nostalgische Stimmung, die im ganzen Gebäude herrscht. Die Vergangenheit bleibt nicht nur in Gestalt der Pilzstützen präsent. Die alte Fassade – ein feingliedriges, ehedem mit Glas ausgefachtes Betongitter – wurde teilweise erhalten und innen aufgedoppelt; nun erscheint sie im Gegenlicht wie ein Schleier von Vergangenheit zwischen den modernen Wohnungen und der zeitgenössischen Stadt. Auch das innere Material- und Farbkonzept ist voller Andeutungen.

Die tragenden Elemente sind nicht verputzt, sondern betonfarben gestrichen. Im Gegensatz dazu sind die mit Glasvliestapeten bezogenen, weiss bemalten Trennwände über Fugen abgesetzt und bleiben als hineingestellte Elemente erkennbar; ebenso die Küchen, die keine Oberschränke haben und maximal 140 cm hoch sind. Die Farben der Wohnungstüren, Küchenfronten und Steinzeugplatten in den Nassräumen wählten die Wohnungsbesitzer aus einer Kollektion, die auf die Lackfarben der Citroën DS von 1955 zurückgeht.

In den Himmel gewachsen

Der zur Badenerstrasse orientierte Rampenbau, der ursprünglich als Erschliessung des Werkstattgebäudes diente, erhielt neun zusätzliche Geschosse – ein Mehrfaches seiner alten Höhe. Weil die bestehende Trag­konstruktion diese Last nicht hätte aufnehmen können, ist die Aufstockung als völlig neues, tragwerkstechnisch und konstruktiv von der bestehenden Struktur unabhängiges Gebäude konzipiert. Das ist bei aufmerksamer Betrachtung auch von aussen sichtbar: Die Fassaden von Alt- und Neubau schliessen zwar bündig aneinander an, doch ein feiner Spalt weist darauf hin, dass die oberen Geschosse nicht auf den unteren ruhen.

Wie die Statik tatsächlich gelöst ist, ist von aus­sen allerdings kaum zu erraten. Erst im Innern erahnt man, wie das kunstvolle Ingenieurwerk funktioniert. Der Neubau wächst wie ein Baum aus dem Altbau hervor, fast ohne ihn zu berühren: Ein runder, zentraler Erschliessungskern fungiert als Stamm, der leicht abgesetzt aus dem Rampenauge des Altbaus herausragt. Als Wurzelwerk dient ein tragender und aussteifender Fuss, der ins bestehende Untergeschoss eingepasst wurde (vgl. «Virtuos erhöht»).

Wie beim Werkstattgebäude haben die Architekten auch hier einen Weg gefunden, dem Charakter des bestehenden Baus gerecht zu werden. Die ursprünglich für Autos dimensionierte Rampe wird nun als befahrbare Abstellhalle für Velos genutzt. Im oberen Bereich sind mittels Holzpodesten Räume mit ebenen Böden ausgeschieden; belichtet werden sie über vertikale Schlitze, die dem Muster der Schalungstafeln folgend aus der Fassade geschnitten wurden. Im Neubau kragen runde, horizontale Geschossplatten aus dem zentralen Erschliessungskern.

Die Wohnungstrennwände sind aus statischen Gründen gegeneinander versetzt – auch hier sind Tragkonstruktion und Raumkonzept nicht voneinander zu trennen. Die segmentförmigen Wohnungen sind unterschiedlich dimensioniert; doch alle wirken grösser, als sie sind, weil die Räume ihren schmalen Rücken dem Kern zuwenden und sich in Richtung Fassade, in Richtung Licht immer weiter öffnen. Die Wohnungen sind nüchtern materialisiert, manche blicken auf eine raue städtische Umgebung. Trotzdem atmen sie eine Offenheit und Grosszügigkeit, die ihresgleichen sucht.

TEC21, Fr., 2017.12.08



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24. November 2017Judit Solt
TEC21

Es muss nicht immer hässlich sein

Woran liegt es, dass das solare Bauen so viele ästhetisch unbefriedigende Beispiele hervorbringt? Wieso haben sich bislang so wenige Architekturbüros ernsthaft damit beschäftigt, die neue Technologie in den Entwurf zu integrieren? Und woher kommt die Trendwende, die sich seit einigen Jahren abzeichnet? Eine Spurensuche.

Woran liegt es, dass das solare Bauen so viele ästhetisch unbefriedigende Beispiele hervorbringt? Wieso haben sich bislang so wenige Architekturbüros ernsthaft damit beschäftigt, die neue Technologie in den Entwurf zu integrieren? Und woher kommt die Trendwende, die sich seit einigen Jahren abzeichnet? Eine Spurensuche.

Solares Bauen kam im architektonischen Diskurs der Schweiz lange Zeit so gut wie nicht vor. Den meisten Büros, die sich national und international profi­lierten, lag das Thema fern; viele betrachteten die Auseinandersetzung mit Solartechnologie als wenig prestigeträchtiges Betätigungsfeld für Berufskollegen, die ihre ästhetischen Ansprüche längst ad acta gelegt hatten.

Selbstverständlich gab es immer auch Gegenbeispiele, die bewiesen, dass hohe architektonische Qualität und die Produktion erneuerbarer Energien sich keineswegs ausschliessen müssen. Beat Kämpfen und Karl Viridén aus Zürich, Peter Dransfeld aus Er­matingen und einige andere demonstrieren immer ­wieder, dass die Integration von Photovoltaik und Solar­thermie in den Entwurf nicht nur möglich ist, sondern auch sehr inspirierend sein kann. Sie nutzen die neuen Solartechnologien als Bereicherung des zeitgenössischen Formenvokabulars.[1]

Doch solche Projekte sind Ausnahmen. Die gebaute Realität ist in der Regel eine andere: ungeschlachte Elemente, die ohne Rücksicht auf Kontext, Form, Farbe oder Proportion an Gebäude montiert werden. Das mag wohl daran liegen, dass der Markt bisher wenig Schönes hergab und vielen Akteuren die nötige technische und entwerferische Kompetenz fehlt. Pro­blematisch ist aber auch, dass im Zusammenhang mit Solartechnologie ästhetische Kriterien auf ein absolutes Minimum reduziert werden: Eine Photovoltaikanlage gilt im Allgemeinen schon als gut inte­griert, wenn sie halbwegs symmetrisch angeordnet ist und nicht allzu sehr über den Dachrand hinausragt.

Ohne Rücksicht auf Verluste

Diese Haltung genügt nicht, um das gestalterische Niveau zu heben. Der Branchenverband Swissolar betont zwar zu Recht: «Die ästhetische Einbindung verschiedener solarer Bauteile ist Herausforderung und Chance zugleich» und empfiehlt, sich sorgfältig damit zu beschäftigen.[2] Und auch die Solar Agentur Schweiz scheint mittlerweile für das Thema sensibilisiert; bei der Vergabe des diesjährigen Schweizer Solarpreises[3] hat sie mehrere aus architektonischer Sicht gelungene Projekte berücksichtigt, denen eine intensive Auseinandersetzung mit dem gestalterischen Potenzial von Photovoltaikelementen zugrunde liegt (vgl. Bilder über diesem Artikel). Doch diese Entwicklung ist neu.

Noch vor Kurzem schien die Solar Agentur ganz andere Massstäbe anzulegen. Ein Blick auf die Bauten, die in den letzten Jahren ausgezeichnet wurden, legt die Vermutung nahe, dass die Energieertragsoptimierung gegenüber allen anderen Bewertungskriterien ein absolutes Primat genoss. Gewürdigt wurden auch Projekte, die man getrost als Vandalismus im Namen der energetischen Korrektheit bezeichnen kann – etwa wenn die rund hundertjährige, fein gegliederte Fassade eines städtischen Baumeisterhauses zerstört und mit dunklen, hell gerahmten Photovoltaikpaneelen beziehungsweise einer babyblauen Kompaktfassade bestückt wird.

Die Laudatio des damaligen Beurteilungsgremiums offenbart einen verblüffenden Willen, baukulturelle Ver­luste zu ignorieren: «Die Transformation des energie­verschwendenden Mehrfamilienhauses […] in einen verfassungskonformen, gut gedämmten Minergie-P-Bau […] erfolgte ohne Eingriffe in die Jugendstilarchi­tektur.»[4] Die ­Energieproduktion dient nicht etwa als Rechtfertigung für die Zerstörung der historischen Fassade – die Zerstörung wird schlicht negiert, was zugleich auch die Notwendigkeit einer Güterabwägung zwischen kulturellen und energetischen Anliegen aufhebt.

Bescheidene ästhetische Ansprüche

Von einer ähnlich einseitigen Betrachtung zeugt Artikel 18 a des Eidgenössischen Raumplanungsgesetzes. Diesem zufolge bedürfen «genügend angepasste Solar­anlagen» auf Dächern in Bau- und Landwirtschaftszonen im Allgemeinen keiner Baubewilligung – im Gegensatz zu praktisch allen anderen Eingriffen in die Gebäudehülle. Lediglich Solaranlagen auf Kultur- und Naturdenkmälern von kantonaler oder nationaler Bedeutung sind bewilligungspflichtig. «Ansonsten gehen die Interessen an der Nutzung der Solarenergie […] den ästhetischen Anliegen grundsätzlich vor.»[5] Dieser Grundsatz ist bemerkenswert, weil er faktisch einer Bankrotterklärung gleichkommt: Anstatt die Vereinbarung von ökologischer und gestalterischer Qualität einzufordern, wie dies einem baukulturell privilegierten Land wie der Schweiz anstehen würde, beschränkt sich das Gesetz auf ein resigniertes «genügend». Und so – nämlich «genügend» – sieht der Grossteil der gebauten Realität aus; manchmal auch schlimmer.

All dies trägt wenig dazu bei, ambitionierte Architektin­nen und Architekten für das solare Bauen zu gewinnen. Bedauerlich, denn gebaut wird trotzdem. Bis auf einige Ausnahmen – etwa die Supsi, die gemeinsam mit dem Förderprogramm des Bundes Energie­Schweiz eine Website mit Produkten für das solare Bauen betreibt[6] – haben die Hochschulen das Thema jahrelang nur zögerlich behandelt. Das erstaunt doppelt: Zum einen sind wichtige Schritte bei der Entwicklung von gebäudeintegrierter Photovoltaik in der Schweiz erfolgt (vgl. TEC21 48/2017 «Photovoltaik II – die Komposition», erscheint am 1. Dezember 2017). Und zum anderen ist die Verbindung zwischen Entwurf, Konstruktion und Ausführung in der Schweizer Architektur­ausbildung sehr eng, was zu einer im internationalen Vergleich hohen Affinität der Architekturschaffenden für technische Finessen, handwerkliche Qualität und innovative Details geführt hat.

Konstruktive Tradition als Chance

Erst in jüngster Zeit zeichnet sich eine Wende ab. Die ETH Zürich sorgte dieses Jahr für Aufsehen: Im ­Frühlingssemester 2017 stellte Professor Miroslav Šik seinen Studierenden die Aufgabe, gehobene Wohneinheiten zu entwerfen, bei denen die Solartechnologie in der Gebäudehülle integriert ist.[7] Das technische Grundlagenwissen brachte die Dozentur Daniel Mettler/Daniel Studer ein. In Kooperation mit Prof. Arno Schlüter vom Lehrstuhl für Architektur und Gebäudesysteme sowie mit Swissolar wurde eine Onlinedatenbank aufgebaut, die Konstruktionen und Produkte zur Nutzung von Sonnenenergie in der Architektur versammelt.[8] Ausgerechnet Miroslav Šik, der profilierteste Exponent der als traditionsverbunden geltenden analogen Architektur, hat das Experiment gewagt. Auf den ersten Blick etwas unerwartet, doch eigentlich liegt es nahe, dass die Beschäftigung mit konstruktiven Fragen, wie sie die «Analogen» betreiben, früher oder später die ­Neugier auf technische Innovationen weckt.

Auch in der Praxis lassen sich vergleichbare Ansätze beobachten. Die Basler Architekten Anna Jessen und Ingemar Vollenweider, ehemalige Studierende des ebenfalls konservativen Hans Kollhoff, gewannen 2013 den Wettbewerb für das Amt für Umwelt und ­Energie in Basel mit einem Entwurf, der nicht nur ­städtebaulich und architektonisch, sondern auch mit einem ausgefeilten Energiekonzept überzeugt. Der ­Neubau, der allseitig goldglänzende Photovoltaikfas­saden aufweist, soll 2021 in Betrieb gehen. Und auch huggenbergerfries Architekten, die diesen Sommer ein Haus mit einer All-over-Photovoltaikhülle fertig­gestellt haben (vgl. «Seismograf des Himmels»), greifen auf einen soliden konstruktiven Hintergrund zurück: Adrian Berger hat ursprünglich Hochbauzeichner gelernt, während Lukas Huggenberger und Erika Fries bei Hans Kollhoff studiert haben.

Offensichtlich interessiert das solare Bauen vermehrt auch Architekturbüros, die sich weder mit gebauten Öko-Manifesten noch mit einer didaktischen Techno-Ästhetik hervortun möchten. Der Umgang mit der Solartechnologie sickert langsam ins klassische architektonische Repertoire ein. So ist zu hoffen, dass die Energieproduktion sich allmählich als eine unter den vielen Aufgaben etablieren kann, die eine Fassade oder ein Dach zu erfüllen hat – und die je nach Situa­tion unterschiedlich zu gewichten sind. Dass die Industrie heute eine grössere Vielfalt an Produkten anbietet, kommt als günstiger Umstand hinzu (vgl. TEC21 24/2015 «Gebäudeintegrierte Photovoltaik»). Die Farbenpalette der Photovoltaikelemente umfasst mittlerweile matte Rot- und Brauntöne, die Formate und Kombinationsmöglichkeiten sind flexibler geworden; das erweitert den Gestaltungsspielraum der Entwerfenden erheb­lich. Doch gerade der Neubau von huggenbergerfries zeigt: Auch mit Standardprodukten ist vieles möglich.

Neugier und Kompetenz

Für den baukulturellen Gewinn, der entstehen kann, wenn begabte Entwerferinnen und Entwerfer sich von neuen Technologien beflügeln lassen, gibt es in der Architekturgeschichte viele Beispiele. Insbesondere in der fortschrittsgläubigen Neuzeit haben Baukünstler materialtechnische und konstruktive Innovationen freudig aufgegriffen, um sie für ihre Zwecke zu adaptie­ren. So ermöglichten die breite Verfüg­barkeit von Stahl und die Erfindung des Lifts den Bau von ersten Hochhäusern; die industrielle Produktion von Float­glas war eine Vor­aussetzung für die Vorhang­fassaden der 1960er-Jahre; Alison und Peter Smithson nutzten die Wucht des Stahlbetons für ihre brutalistischen Bauten, Le Corbusier dessen Plastizität für seine Kapelle in Ronchamp; ­Marcel Breuer und Charlotte Perriand experimentierten mit verchromten Stahlrohren, Willy Guhl mit Eternit. Frank O. Gehry griff auf eine ursprüng­lich für die Raumfahrtindustrie entwickelte Software zurück, um die dekonstruktivistischen Formen des Guggenheim Museum Bilbao zu realisieren. In neuester Zeit sind es Innovationen im Holzbau – Leimbinder, CNC-Vorfabrikation, BIM und Robotik –, die der Architektur neue Impulse verleihen. Nur in der Solararchitek­tur schien bisher etwas blockiert zu sein. Höchste Zeit, dass sich das ändert.

Abzuwarten bleibt, ob die solaren Technologien zu einer neuen, spezifischen architektonischen Formensprache führen werden. Idealerweise verlangt ihre ­Nutzung Ost-West-orientierte Bauten mit kompakten Volumen, um ein günstiges Verhältnis zwischen Inhalt und Oberfläche zu erreichen, und geometrisch einfache Dach- und Fassa­denflächen, die sich für das Anbringen von modularen Elementen eignen. Ein eigener Stil ist allerdings nicht absehbar. Im Gegenteil: Die wachsende Vielfalt an Farben, Oberflächen, Formaten und Anwendungsmöglichkeiten macht es immer einfacher, die Solartechnologie in den bestehenden Formenkanon unterschiedlichster Architekturbüros zu integrieren. Die Zukunft wird uns wohl diverse Interpretationen des Themas bescheren.

Seit Jahren beschäftigt sich TEC21 mit Solartechnologie am Bau. Eine Auswahl der Artikel, die in regulären Ausgaben, Sonderheften und online erschienen sind, finden Sie in unserem E-Dossier «Solares Bauen».


Anmerkungen:
[01] Vgl. TEC21-Sonderheft «Solares Bauen», 2013.
[02] www.swissolar.ch/ueber-solarenergie/solares-bauen/aesthetik/
[03] www.solaragentur.ch/node/775
[04] Das Projekt wurde 2016 mit einem PlusEnergieBau®-Diplom gewürdigt. www.solaragentur.ch/sites/default/files/g-16-09-21_jugendstil_peb_sanierung_culmannstrasse_zuerich_def_0.pdf
[05] Bundesgesetz über die Raumplanung vom 22. Juni 1979, Stand vom 1. Januar 2016. Art. 18a RPG ist am 1. Mai 2014 in Kraft getreten.
[06] www.bipv.ch
[07] www.systems.arch.ethz.ch/de/news/2017/06/solar-design-studio--rueckblick.html
[08] www.buk.arch.ethz.ch/Solardatenbank

TEC21, Fr., 2017.11.24



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24. November 2017Judit Solt
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Seismograf des Himmels

Ästhetik versus Effizienz? huggenbergerfries Architekten haben im Sommer 2017 ein Wohnhaus fertiggestellt, das diese Frage obsolet erscheinen lässt. Der Neubau an der Seestrasse in Zürich Wollishofen hat eine All-over-Hülle aus braun schimmerndem profiliertem Glas. Dass diese ­Solarstrom produziert, fällt auch beim zweiten Blick nicht auf.

Ästhetik versus Effizienz? huggenbergerfries Architekten haben im Sommer 2017 ein Wohnhaus fertiggestellt, das diese Frage obsolet erscheinen lässt. Der Neubau an der Seestrasse in Zürich Wollishofen hat eine All-over-Hülle aus braun schimmerndem profiliertem Glas. Dass diese ­Solarstrom produziert, fällt auch beim zweiten Blick nicht auf.

Von aus­sen ist nicht zu erkennen, dass das Haus ein aktuelles Beispiel für solares Bauen ist. Die rostbraun schimmernde All-over-Hülle aus geripptem Gussglas wirkt urban und elegant, und selbst bei näherem Hinsehen lässt sich nicht vermuten, dass sich Photovoltaikzellen dahinter verbergen. «Die Fassade erfüllt eine Reihe von Funktionen», so ­Adrian Berger von huggenbergerfries Architekten, «und zwar seit Jahrtausenden immer die gleichen: Klima­regulierung, Schutz, städtebauliche Kontrastierung oder Einordnung, Repräsentation, Identifikation … Wir haben uns gefragt, ob sie nicht eine weitere Aufgabe übernehmen und elektrische Energie erzeugen könnte. Das heisst aber nicht, dass wir unsere städtebauliche und architektonische Haltung über Bord werfen. Die Stromproduktion soll als zusätzliche Qualität hinzukommen, nicht andere Qualitäten beeinträchtigen.» In der Tat ist die Produktion von erneuerbarer Energie bei Weitem nicht der einzige Vorzug dieses Hauses.

Mehrfach optimiertes Volumen

Der Neubau steht in Zürich Wollishofen, zwischen der verkehrsreichen Seestrasse und dem ebenfalls viel befah­renen Bahndamm, am Übergang zwischen der dichten Stadt des 19. Jahrhunderts und einem lockerer bebauten, von Villen und Solitären geprägten Quartier. Er ersetzt ein Mehrfamilienhaus, das ursprünglich der Seidenfirma von Gustav Henneberg als Investitionsobjekt diente – die gleiche Firma, die 1892 auch die gegenüber liegende Rote Fabrik erbaut hatte. Auch der Neu­bau enthält Mietwohnungen, dahinter steht allerdings eine leicht andere Intention. Die Architekten haben das Grundstück in Eigeninitiative entwickelt – und ein Stück weit auch als Forschungsfeld betrachtet.

Das orthogonal zur Seestrasse stehende Haus enthält zehn Wohnungen, was eine beträchtliche Verdichtung darstellt. Trotzdem wirkt es nicht erdrückend. Das Volumen folgt dem leichten Gefälle des Grundstücks, und seine Grundfläche evoziert eine leicht asymmetrische Sanduhr, sodass ein horizontal wie vertikal mehrfach geknickter, eher kleinmassstäblich strukturierter Baukörper entsteht.

Diese Volumetrie dient nicht nur der städte­baulichen Eingliederung, sondern schafft auch in Bezug auf die Wohnqualität mehrere Vorteile. Durch die taillierte Gebäudeform haben alle Wohnungen, die jeweils entweder in der vorderen oder hinteren Hälfte des Hauses untergebracht sind, nicht weniger als fünf Expositionen; das beschert ihnen abwechslungsreiche Grundrisse, ganztägige Besonnung, vielfältige Ausblicke inklusive Seesicht und vor allem auch zwei lärmabgewandte Fassaden zum Lüften. In der schmalen Mitte ist das Treppenhaus angeordnet; wegen der Staffelung der Gebäude­hälften entsteht eine Split-­Level-Erschliessung, sodass es auf jedem Halbgeschoss nur einen Eingang gibt. Die bewegte Abwicklung des Vo­lumens schliesslich ermöglicht eine verhältnismässig grosse, vielfältig orien­tierte Photovoltaikfläche.

Das Innere des Hauses ist geprägt von wenigen, schlichten Materialien. Eingangshalle und Treppenhaus sind mit Holzdielen aus dem Vorgängerbau ausgelegt, die ausgebaut und wiederverwendet wurden. Sie sind aus pitch pine, einer nordamerikanischen Sumpfkiefer, deren Holz ähnlich hart ist wie Eiche, die jedoch wegen der Trockenlegung vieler Sümpfe zur Rarität geworden ist. Die Wohnungen wiederum haben Böden aus dunklem Asphalt-Terrazzo, weisse Wände sowie Decken und Dachschrägen aus Sichtbeton; die roh gehauenen Eiben­stützen sind aus dem ursprünglichen Baumbestand des Grundstücks gefertigt.

Unsichtbares Kraftwerk

Mit dem Neubau stieg nicht nur die bauliche Dichte, sondern auch die der Bewohner: Der Wohnflächen­verbrauch von 37 m² pro Person liegt leicht unter dem Stadtzürcher Durchschnitt. Dafür haben die Architekten auf eine Renditemaximierung verzichtet und die Wohnungen rund 15 % unter dem quartierüblichen Preisniveau vermietet, um eine nachhaltige Nutzung der Immobilie durch eine gemischte, stabile Haus­gemeinschaft zu ermöglichen. In der Miete ist auf Wunsch auch die Nutzung des hauseigenen Elektro­autos inbegriffen, das per WeShare-App reserviert ­werden kann – neun von zehn Parteien machen mit. Die Produktion von Solarstrom ist lediglich ein Element eines ganzheitlichen, an Nachhaltigkeit orientierten Gesamtkonzepts. Geheizt wird indes nicht mit elektrischen Wärmepumpen, sondern mit Biogas.

«Wir sind nicht gekommen und haben gesagt, wir bauen jetzt ein Solarhaus», so Berger. «Am Anfang war die Atmosphäre des Orts: Die ephemeren, changierenden Lichtstimmungen am See, das Schimmern und Spiegeln des Wassers haben uns fasziniert. Wir dachten über eine Glasfassade nach, die solche Phänomene aufnehmen könnte. Floatglas kam nicht infrage, es ist zu nüchtern. Während wir mit verschiedenen Gussgläsern experimentierten, stellten wir die Frage nach der Photovoltaik. Könnte die Fassade wie ein Seismograf des Himmels funktionieren, optisch und technisch? Eine bestimmte Technologie didaktisch abzufeiern lag uns dagegen fern. Wir gaben dem Projekt den Arbeitstitel ‹Unsichtbares Kraftwerk›.» Dazu gehörte auch, dass die Photovoltaikelemente weder gerahmt noch sichtbar befestigt sein sollten.

Die schlichte All-over-Hülle ist das Ergebnis einer langen Entwicklungsarbeit, an der die Hochschule Luzern sowie fünf in einem Konkurrenzverfahren beteiligte Photovoltaikhersteller mitgewirkt haben. Ermöglicht hat dies wiederum der Investor. Berger betont: «Wenn wir jedes Quartal vor einer Baukommission oder einem Stiftungsrat hätten Rechenschaft ablegen müssen, ­hätten die das Projekt irgendwann gestoppt. Wir ­wussten ja nicht, wohin die Reise geht. Die Photovoltaikhülle ist ein Prototyp, ihre Entwicklung war ein iterativer Prozess mit vielen Rückschlägen.» Das Er­gebnis erscheint dennoch verblüffend einfach – und ­könnte heute, da die Entwicklungsarbeit geleistet ist, auch verhältnismässig günstig produziert werden.

Standardkomponenten neu kombiniert

Die äussere Schicht besteht aus profiliertem Gussglas in einem handelsüblichen Format. Auf dessen glatte Rückseite wurde mittels Keramikdigitaldruck ein Muster angebracht, das die dahinter liegenden Solarzellen verbirgt, ohne sie übermässig zu verschatten. «Digitaldruck ist eine neue Technologie, Keramik da­gegen ist bewährt», erläutert der Architekt. «Die emaillierten Glasfassaden an Bauten von Werner Stücheli zum Beispiel sehen seit den 1960er-Jahren wie neu aus, während die Kunststoff­farben der 1980er-Jahre mit der Zeit auskreiden.» Bei den Solarzellen handelt es sich um monokristalline Siliziumzellen, «wie man sie mittlerweile fast auf jedem Scheunendach findet», in zwei Reihen. An das Glas befestigt werden sie mit einer im Vakuumverfahren angebrachten schwarzen PVP-Folie – eine Technologie, die aus dem Fassadenbau für Hochhäuser bekannt ist. Die Folie ist chemisch stabil und altert praktisch nicht. Die Module bestehen also aus Standardkomponenten, die mittels Standardverfahren zusammengefügt wurden. Ihre Kombination dagegen ist neu.

Berger schildert den Entstehungsprozess: «Unsere Module wurden im Labortest untersucht, um zu wissen, wie viel Licht durchgeht und wie viel reflektiert wird. Sie haben so schlecht abgeschnitten, dass der Ingenieur fand, wir könnten gleich aufhören. Trotzdem haben wir auf einen Freilufttest bestanden, und der hat bestätigt, was wir als Laien vermutet haben: Das prismatische Glas kann erstaunlich viel Streulicht auf die Solarzellen leiten – genau das Streulicht, das in der Realität immer vorkommt. Ausschliesslich zenitales Licht wie im Labor gibt es draussen ja nie. Das Ergebnis: Die Transmission des profilierten Glases ist nur 1.5 % schlechter als die des besten handelsüblichen Solarglases! Hinzu kommt der Druck, der einen Teil des Lichts abhält. Unter dem Strich hat die Praxis erwiesen, dass die Abschattung unserer Module ca. 15 bis 20 % beträgt. Damit erreichen sie einen Wirkungsgrad von ca. 13 bis 14 %. Zum Vergleich: Zellen, die für die Raumfahrt produziert werden, haben einen Wirkungsgrad von ca. 22 %, die besten Zellen am Bau kommen auf ca. 17 bis 18 %. So viel zum Thema Ästhetik und Effizienz.»

Mittlerweile liegen die ersten gemessenen Kennzahlen vor. Sie belegen, dass die unsichtbare Photovoltaikanlage rund 56 000 kWh Strom pro Jahr produzieren kann, was über dem erwarteten Eigenverbrauch liegt (vgl. Grafik). Der gewonnene Strom dient in erster Linie dem Eigengebrauch; dank der vielfältigen Ausrichtung der Oberflächen ist der Ertrag über den Tag bzw. das Jahr relativ ausgeglichen. Der Überschuss wird in einer 10-kW-Batterie und in der Batterie des Elektroautos zwischengespeichert. Was dann noch ­übrig ist, wird gegen Rückvergütung ins öffentliche Netz ein­gespiesen.

Seit Jahren beschäftigt sich TEC21 mit Solartechnologie am Bau. Eine Auswahl der Artikel, die in regulären Ausgaben, Sonderheften und online erschienen sind, finden Sie in unserem E-Dossier «Solares Bauen».

TEC21, Fr., 2017.11.24



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03. November 2017Judit Solt
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Ernster Spass

Das Amager Ressource Center in Kopenhagen hat kürzlich den Testbetrieb aufgenommen. Doch der Neubau von BIG Architekten ist mehr als eine gigantische Kehrichtverwertungsanlage. Er bietet einige ungewöhnliche Nutzungen – und eine Vielzahl an Deutungen: Monument der sauberen Energiegewinnung, Mahnmal gegen enthemmten Konsum, bewaldeter Berg, Ozeankreuzer oder Destination für Freizeitsportler.

Das Amager Ressource Center in Kopenhagen hat kürzlich den Testbetrieb aufgenommen. Doch der Neubau von BIG Architekten ist mehr als eine gigantische Kehrichtverwertungsanlage. Er bietet einige ungewöhnliche Nutzungen – und eine Vielzahl an Deutungen: Monument der sauberen Energiegewinnung, Mahnmal gegen enthemmten Konsum, bewaldeter Berg, Ozeankreuzer oder Destination für Freizeitsportler.

Der dänische Architekt Bjarke Ingels war im Office for Metropolitan Architecture OMA von Rem Koolhaas tätig, bevor er 2006 sein eigenes Büro gründete. Der Einfluss des Meisters ist bis heute nicht zu übersehen. Wie Koolhaas und dessen ältere Zöglinge, etwa das niederländische Architekturbüro MVRDV, nähert sich auch Ingels dem Entwurf mit einer Kombination von geschäftsmässiger Nüchternheit und entfesselter Fantasie.

Mittlerweile beschäftigt das Büro Bjarke Ingels Group – entwaffnend BIG abgekürzt – zwölf Partner und Hunderte von Mit­arbeitenden. Zu seinen bekanntesten Bauten zählen das Maritime Museum in Helsingør, das 8 House in Kopenhagen oder der Umbau des Transit­lagers in Basel (vgl. «Seefahrt auf dem Trockenen», «Gestapelt und geschichtet», «Substanzieller Eingriff, räumlicher Gewinn»). Auch für das Amager Ressource Center ARC, eine gigantische Kehrichtverwertungsanlage in Kopenhagen, hat BIG einen Entwurf entwickelt, der vor lauter Pragmatismus geradezu poetisch wirkt.

Landmarks für das Hafengebiet

Das ARC liegt auf Amager, einer Insel gleich gegenüber der historischen Königsstadt. Das ganze Hafengebiet, zu dem Amager gehört, wird seit einigen ­Jahren transformiert: Strategisch platzierte, pres­tigeträchtige öffentliche Bauten – insbesondere ­Kulturinstitutionen – sollen die Aufwertung der ehemals industriellen Umgebung ankurbeln. Zu diesen urbanen Kristallisationspunkten gehören etwa der Anbau für die Königliche Bibliothek (Schmidt, Hammer & Lassen, 1999), die Königliche Oper (Henning Larsen, 2004) oder das neue Konzerthaus des Dänischen Rundfunks (Jean Nouvel, 2009), das ­ebenfalls auf Amager steht.

Die neue Kehrichtverwertungsanlage steht in der erweiterten Achse zwischen Palast und Königlicher Oper. Ihrer Gestaltung und ihrer Rolle im Stadtgefüge kam eine entsprechend hohe Bedeutung zu. Die Bauherrschaft schrieb einen internationalen Architekturwettbewerb aus, der 2011 zugunsten von BIG entschieden wurde (vgl. Video der Projekte). Der im Sommer 2017 weitgehend fertiggestellte Bau dürfte sich tatsächlich zu einer identitätsstiftenden Landmark entwickeln. Er zeugt von einer sehr eigenwilligen Interpretation der Kehrichtverwertungsanlage: Diese dient neben ihrem eigentlichen Zweck auch als Freizeitdestination – und zwar nicht nur für Lernwillige, die sich über die Energieerzeugung aus Abfall informieren möchten, sondern auch für Sportlerinnen und Sportler.

Sport auf dem eigenen Müllberg

Die Anlage ist nicht in einem grossen Quader untergebracht, sondern in einem Volumen, das praktisch ohne Hohlraum auf die Masse der technischen Einrichtungen zugeschnitten ist. Auf diese Weise entstand ein Volumen mit einem bis zum Boden reichenden abgeschrägten Dach, das von Grösse und Form her eher an einen Berg oder an einen Ozeankreuzer erinnert als an ein Gebäude. Entsprechend gibt es keine Fassade im klassischen Sinn, sondern eine massstabslos wirkende, gewebe­artige Hülle, die über das Ganze gestülpt ist (vgl. «Integral und überdimensional»). Ein expressiv an die Fassade montierter Kamin, in der Anmutung ebenso industriell wie maritim, pafft pro ausgestossene Tonne CO2 einen Ring in die Luft – als mahnendes Rauchzeichen für die Folgen des Konsums und als ironische Brechung in einem.

Der Baukörper wiederum, der wie ein Berg in der flachen Landschaft aufragt, wird tatsächlich auch als geologische Formation interpretiert. In den Aluminiumtrögen, die versetzt aufeinander geschichtet die Aussenhülle bilden, sollen Pflanzen wachsen. Das schräge Dach wird als bewaldete Bergflanke mit Wanderwegen, Kletterfelsen, einem Mountain­bike-Trail und Skipisten in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden gestaltet. Der Aufstieg soll unter anderem in einem Glaslift erfolgen, aus dem man das Innenleben der Anlage betrachtet, bevor man im Café zuoberst auf dem Dach die Aussicht geniesst.

Die spektakulären Visualisierungen mit ganzjährig betriebenen Skipisten haben, zumal in der Schweiz, gelegentlich für Kopfschütteln gesorgt, doch im Grunde genommen lag die Idee nah: Amager dient schon länger als Erholungsgebiet zwischen Brache und Wohnen, in ehemaligen Industrieanlagen der Nachbarschaft haben sich Sportarten wie Cable-Wakeboarding, Gokart oder Felsklettern eingenistet. Das Volumen ist tatsächlich gross wie ein Berg, und die Landschaft rund um den Hafen ist ohnehin weitgehend künstlich. Die Energie, die für den ganzjährigen Betrieb der Skipisten nötig ist, fällt vor Ort bei der Kehrichtverbrennung an, und in Bezug auf den Energieverbrauch sind die offenen Pisten auf dem Dach des ARC immerhin vorteilhafter als Indoor-Skianlagen, die es in Kopenhagen auch gibt.

Indem die Architekten dem Bau eine ausdrucksvolle Form und eine attraktive Zusatznutzung gaben, schufen sie einen bisher unbekannten, hybriden Typus. Die Idee wirkt auf den ersten Blick effekthascherisch; doch sie ist keineswegs beliebig, sondern minutiös aus den Gegebenheiten des Umfelds und den stadtplanerischen Zielen von Kopenhagen abgeleitet.

Ungewöhnlich ist allerdings die extreme, irritierend amoralische Konsequenz, mit der BIG – ganz nach Koolhaas’ Vorbild – die städtebauliche und soziale Funktion der Anlage zu Ende gedacht hat. Das ARC lässt sich als Monument einer «hedonistischen Nachhaltigkeit» deuten: Technologische Lösungen sollen den Menschen in die Lage versetzen, die Welt ohne unnötige Zerstörung und mit weniger Schuldgefühlen zu geniessen; denn an freiwilligen Verzicht zu appellieren sei erfahrungsgemäss zwecklos. Wenn die Menschen schon Müllberge produzieren, sollen die nicht nur möglichst ökologisch beseitigt werden, sondern auch gleich noch etwas Spass machen … Zugleich macht die Anlage die erschreckende Grösse dieser Müllberge sichtbar, ebenso wie die Tonnen von CO2, die bei deren Verbrennung anfallen – sodass sie manchen vorerst begeisterten Sportler zum Nachdenken ermahnen dürfte.

Die Anlage wurde dieses Jahr fertiggestellt. Sie ist bereits im Testbetrieb und produziert Strom für die Stadt und die Region Kopenhagen. In Zukunft soll sie aus jährlich 400 000 t Müll rund 160 000 Haushalte mit Fernwärme und 625 000 Häuser mit Strom versorgen. Die offizielle Einweihung des gesamten Komplexes ist für Herbst 2018 geplant. Jetzt fehlt nur noch die Skipiste …

Angaben zu den am Bau beteiligten Unternehmen sowie wichtige Eckdaten zum Projekt finden sich im Artikel «Integral und überdimensional».

Alle bisher erschienenen Beiträge zum Thema Stahlbau finden Sie in unserem digitalen Dossier «Stahl».

TEC21, Fr., 2017.11.03



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TEC21 2017|44 Der Koloss von Kopenhagen

05. Mai 2017Judit Solt
TEC21

Geerdete Meister

Rafael Aranda, Carme Pigem und Ramón Vilalta sind die Gewinner des Pritzker-Architekturpreises 2017. Ihr Büro RCR Arquitectes im katalanischen Olot erregt Aufsehen mit Bauten, die im lokalen Kontext verwurzelt sind, deren Ausstrahlung jedoch weit darüber hinausreicht.

Rafael Aranda, Carme Pigem und Ramón Vilalta sind die Gewinner des Pritzker-Architekturpreises 2017. Ihr Büro RCR Arquitectes im katalanischen Olot erregt Aufsehen mit Bauten, die im lokalen Kontext verwurzelt sind, deren Ausstrahlung jedoch weit darüber hinausreicht.

Im 20. Mai 2017 werden die Gründer des Büros RCR Arquitectes den Pritzker-Preis entgegennehmen. Überreicht wird die höchste Architekturauszeichnung der Welt in Tokio. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, begründet doch die Jury ihren Entscheid unter anderem damit, dass die herausragende Qualität der Bauten von RCR aus einer intensiven Auseinandersetzung mit der lokalen Landschaft, Kultur und Tradition resultiert. Doch auch wenn das Werk der drei Katalanen fast ausschliesslich in Spanien und im benachbarten Frankreich zu finden ist, vermag es der Architektur weit über regionale Grenzen hinaus neue Impulse zu verleihen. Die Jury schreibt: «Immer mehr Menschen haben Angst, wegen der Globalisierung ihre lokalen Werte, ihre Kunst und ihre Bräuche zu verlieren. Rafael Aranda, Carme Pigem und Ramón Vilalta zeigen uns auf die schönste und poetischste Weise, dass wir zumindest in der Architektur beides haben können.» Eine besondere Qualität ortet die Jury im Umgang von RCR mit Material: «Trotz ihrer lokalen Verwurzelung evozieren ­ die Architekten eine universelle Identität, indem sie mo­derne Baustoffe wie rezyklierten Stahl und Plastik auf höchst radikale und schöpferische Weise einsetzen.» Die konsequente Interpretation des Materials verleihe ihren Bauten unglaubliche Kraft und Einfachheit.

In der Bildergalerie finden sich Projekte, bei denen sich RCR Arquitectes mit den konstruktiven und gestalterischen Möglichkeiten von Stahl auseinandergesetzt haben.

Lesen Sie auch: zwei Bauten von RCR Arquitectes in Barcelona, die gegensätzlicher nicht sein könnten: eine kleine Bibliothek in einem Innenhof, der sich dank dem Eingriff zu einem intimen, lebendigen Zentrum für ein Gründerzeitquartier entwickelt (vgl. «Passage zur Stadtoase»), und ein Verwaltungsgebäude in einem grossmassstäblichen, unterkühlten Neubaugebiet (vgl. «Korpus mit Durchblick»).

TEC21, Fr., 2017.05.05



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TEC21 2017|18 RCR Arquitectes – ausgewählte Bauten

21. April 2017Judit Solt
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Zupacken statt abwarten

Mit dem Projekt «Die Schweiz 2050» erarbeitet der SIA eine Vision für einen qualitätsvollen Lebensraum. Der interdisziplinäre Ansatz ist ebenso aussergewöhnlich wie der aufgeschlossene Geist hinter dem Projekt: Die Zukunft ist nicht etwas, das in Prognosen angekündigt wird, sondern ein Ziel, das Planerinnen und Planer gestalten können – und sollen.

Mit dem Projekt «Die Schweiz 2050» erarbeitet der SIA eine Vision für einen qualitätsvollen Lebensraum. Der interdisziplinäre Ansatz ist ebenso aussergewöhnlich wie der aufgeschlossene Geist hinter dem Projekt: Die Zukunft ist nicht etwas, das in Prognosen angekündigt wird, sondern ein Ziel, das Planerinnen und Planer gestalten können – und sollen.

Vor zwei Jahren lancierte der SIA das Projekt «Die Schweiz 2050» mit dem Ziel, eine Vision für die Schweiz zu entwerfen und sich dafür einzusetzen, dass sie auch realisiert wird. Dafür hat er Eigenschaften definiert, die er für den zukünftigen Lebensraum Schweiz als wünschenswert erachtet. Neu sind diese nicht: eine hohe Lebensqualität, die nachhaltige Nutzung und Gestaltung der Landschaft und des Gebauten, Umweltschutz, effektive Energieversorgung und Mobilität. Dennoch ist das Projekt etwas Besonderes, sowohl in Bezug auf die Methode als auch auf die Grundhaltung, auf der es basiert.

Ganzheitlich und optimistisch

«Die Schweiz 2050» ist interdisziplinär angelegt und verfolgt einen integrierenden Ansatz. Es geht also nicht um die Lösung von einzelnen Aufgaben der Landschafts-, Infrastruktur-, Verkehrs-, Siedlungs- und Stadtplanung, sondern darum, die Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Faktoren und Akteuren zu nutzen. Das bedingt ganzheitliches statt sektorielles Denken – in einer Zeit der Spezialisierung ein geradezu extravaganter Anspruch. Anstatt komplexe Themen in isolierte Teilfragen zu zergliedern und an Spezialisten zu verteilen, die unabhängig voneinander arbeiten und schwer kompatible Ergebnisse produzieren, soll vorerst eine gemeinsame Vision entwickelt werden. Erst dann, mit diesem verbindenden Ziel, sollen sich die verschiedenen Disziplinen an die Lösung ihrer spezifischen Aufgaben machen. Dies betrifft die ganze Bandbreite des Planens und Bauens, gefordert sind aber auch die Geistes- und Sozialwissenschaften.

Vor allem aber hebt sich der Vorsatz, eine Vision zu entwickeln, erfrischend vom Vorgehen der Zukunftsforschung ab. Eine Vision kann sich komplett von der Realität lösen; Prognosen dagegen, wie sie die Zukunftsforschung liefert, leiten sich von einem realen Ausgangspunkt ab. Die Zukunftsforschung analysiert in erster Linie die Vergangenheit und die Gegenwart, um bestehende Entwicklungen zu identifizieren; anschliessend extrapoliert sie diese mit diversen Rechenmodellen, um vorhersagen zu können, welche Folgen zu erwarten sind. In anderen Worten: Die Zukunftsforschung untersucht bereits angebahnte Wege, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wohin sie führen. Sie eruiert die Wahrscheinlichkeit verschiedener Szenarien, auf die sich die Menschen bestmöglich einstellen sollen. Dahinter steckt die etwas resignative, fatalistische Überzeugung, man könne zwar auf die Zukunft reagieren, sie aber kaum aktiv gestalten.

Das Projekt «Die Schweiz 2050» dagegen atmet einen anderen, optimistischeren Geist – und geht genau umgekehrt vor: Man will gemeinsam ein Idealbild des Lebensraums entwerfen und erst dann untersuchen, wie aktuelle Entwicklungen gesteuert werden können, um es zu verwirklichen. Die Zukunft soll nicht hingenommen, sondern lustvoll entworfen und aktiv gestaltet werden. Oder, um die Analogie wieder aufzugreifen: Man legt ein Ziel fest und sucht anschliessend nach geeigneten Wegen, um es zu erreichen.

Planungsfachleute erheben die Stimme

Den Auftrag für dieses Projekt hat sich der SIA selbst erteilt. Dahinter steckt die Überzeugung, dass er als interdisziplinärer, normengebender Verband von Baufachleuten die Kompetenz, die Verantwortung und die zivilgesellschaftliche Verpflichtung hat, eine öffentliche Diskussion über die Zukunft der Schweiz anzuregen (vgl. «Bauen für die Welt von morgen»). In letzter Konsequenz ist das ein Aufruf an alle Baufachleute, jenseits des Berufsalltags und der konkreten Aufträge ­darüber nachzudenken, welchem übergeordneten Ziel die eigene Tätigkeit zu dienen habe.

Wie der Lebensraum Schweiz im Jahr 2050 tatsächlich beschaffen sein wird, können wir nur bedingt beeinflussen. Globale Entwicklungen wie der Klimawandel oder die Bevölkerungsexplosion werden viel tiefer greifende Konsequenzen haben als lokale Planungen (vgl. «Es ist fünf vor zwölf»). Umso wichtiger ist, dass die Schweiz ihre privilegierte Lage nutzt, um ihren – wenn auch bescheidenen – Handlungsspielraum optimal zu nutzen. Denn die Schweiz kann es sich leisten, nachhaltige Planungsansätze zu erproben und umzusetzen, woraus sich wiederum neue Perspektiven in einem viel grösseren Massstab ergeben könnten.

Den Papiertiger zum Leben erwecken

Noch steckt dieses mutige, für die besonnene Schweiz untypische Projekt in den Anfängen. Doch dass es überhaupt in dieser Art konzipiert wird, deutet darauf hin, dass die Planerbranche sich eine neue Freiheit des Denkens und eine stärkere politische Präsenz erkämpfen will. Das ist eine gute Nachricht.

Nun gilt es, die Absichtserklärung in Taten umzusetzen. Erste Ergebnisse aus der Initialphase liegen vor und wurden teilweise publiziert (vgl. Kasten unten). Gespräche mit Fachstellen und Behörden haben stattgefunden und sollen in wechselnden Konstellationen weitergeführt werden (vgl. «Der Hürdenlauf der nächsten 33 Jahre»). Weitere Partner werden ins Projekt einbezogen. Wünschenswert wären aber auch offene Calls for Ideas, Hearings in verschiedenen Regionen und Workshops mit lokalen Entscheidungsträgern.

Vor allem aber braucht es eine breit abgestützte, offene Diskussion – unter Planungsfachleuten und in weiten Teilen der Gesellschaft. Denn wenn die erarbeitete Vision nicht wie Tausende früherer Ideen, Gutachten, Testplanungen und Expertenberichte in einer Schublade verschwinden, sondern die Planungspolitik der Schweiz verändern soll, dann muss sich die Öffentlichkeit damit identifizieren können. Die Vision muss gesellschaftliche Relevanz bekommen und jene politische Reife erreichen, die es braucht, damit das Stimmvolk darüber befindet. Erst dann wird es gelingen, die Kompetenz der SIA-Fachleute und der Projektpartner in der Realpolitik zu verankern.

TEC21, Fr., 2017.04.21



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TEC21 2017|16 Die Schweiz 2050

04. November 2016Judit Solt
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Mit Mut und Witz

Ein Bravourstück haben Herzog & de Meuron mit der Umgestaltung des Museums Unterlinden in Colmar abgeliefert: Die Neubauten werten den Bestand städtebaulich auf, die Architektur ist hintergründig und feinfühlig – und schreckt doch nicht vor Tabubrüchen zurück.

Ein Bravourstück haben Herzog & de Meuron mit der Umgestaltung des Museums Unterlinden in Colmar abgeliefert: Die Neubauten werten den Bestand städtebaulich auf, die Architektur ist hintergründig und feinfühlig – und schreckt doch nicht vor Tabubrüchen zurück.

Die Aufgabe, die Herzog & de Meuron in der Altstadt von Colmar zu erfüllen hatten, stellt sich zurzeit rund um die Welt: In die Jahre gekommene Mu­seums­bauten müssen renoviert und erweitert werden, um die stets wachsenden Sammlungen unterzubringen und die Besu­cherfrequenz mit rasch wechselnden Ausstellungen zu erhöhen. Auch der Ansatz, mit dem die Basler Architekten den internationalen Wettbewerb gewannen, ­erinnert an viele andere Lösungen, die in den letzten Jahren rund um die Welt gebaut wurden: Sie fügten ein neues Volumen hinzu und verbanden Alt und Neu mit einem unterirdischen Trakt. Doch so bewährt diese Rezeptur klingt, so unterschiedlich wird sie jeweils konkret umgesetzt (vgl. «Kunst­museen, erweitert», TEC21 33–34/2016); und die Umsetzung von Herzog & de Meuron in Colmar ist eine ausserordentlich gut gelungene.

Eigentlich mag man hier gar nicht von einer Erweiterung sprechen, die man in Zukunft mit weiteren beliebig fortsetzen könnte. Viel eher ist es eine Ergänzung – und zwar nicht nur deshalb, weil Teile hinzugefügt wurden, die Lücken im Stadtgefüge füllen, sondern durchaus auch im Sinn einer neuen Ganzheit, einer Vollendung. Vor allem auf städtebaulicher Ebene erlangt die Anlage erst mit den Neubauten jene Kraft, die sie hervortreten und auf ihre Umgebung ausstrahlen lässt.

Ergänzendes Gegenüber

Vor dem Eingriff war das Museum Unterlinden am gleichnamigen Platz in der Altstadt in einer mittelalterlichen Klosteranlage mit Kapelle, offenem Kreuzgang, Brunnen und Garten untergebracht. Nach dreijähriger Bauzeit ist im Dezember 2015 auf der anderen Seite der Place Unterlinden ein zweites Ensemble hinzugekommen, das dem Kloster spiegelbildlich gegenübersteht: ein neu errichteter, «Ackerhof» genannter Trakt, die für Museumszwecke umgenutzten ehemaligen kommunalen Bäder und ein neuer, ummauerter Hof.

Die strukturelle Ähnlichkeit zwischen den beiden Gegenübern ist gewollt. Der «Ackerhof»-Neubau orientiert sich volumetrisch nach der Klosterkapelle, der neue Hof erinnert an einen Kreuzgang und ist wie der Klostergarten in einem geometrischen Muster bepflanzt. Dennoch ist das neue Ensemble als das zu erkennen, was es ist: eine ausgewogen komponierte Collage von Elementen aus unterschiedlichen Epochen. Damit passt es sich in die Altstadt ein und fügt deren vielfältigen, sich überlagernden Zeitschichten eine neue hinzu.

Selbst die eher durchschnittlichen Nachkriegsbauten, die zwischen den historischen Häusern der Umgebung eingestreut sind, erhalten dadurch eine gewisse Würde. Gleichzeitig bewirkt die volumetrische Symmetrie der beiden Gegenüber, dass sie die zwischen ihnen liegende Place Unterlinden neu definieren – als gefassten urbanen Platz, der in der dichten Altstadt einen Ort der Weite und Erholung darstellt, aber auch als starke Mitte zwischen den beiden Polen des Museums.

Weil der Platz von den Parkplätzen befreit wurde, die ihn bisher besetzt hatten, ist er auch auf Fussgängerebene räumlich wirksam. Damit erhält er jene Bedeutung zurück, die in der Geschichte der Klosteranlage angelegt ist, als Stallungen und Wirtschaftsgebäude vis-à-vis von Kirche und Kreuzgang den Ort formten. Zudem wurde der Canal de la Sinn, der unter der Altstadt von Colmar hindurchfliesst, geöffnet und zum zentralen Element des Platzes aufgewertet. Unter dem Platz und dem Kanal verbindet der neue unterirdische Trakt «Galerie» die beiden Pole des Museums.

Und schliesslich kommt noch ein kleiner, auf den ersten Blick rätselhafter Neubau hinzu: das sogenannte «Haus» auf dem Platz, das als Oberlicht dient und die darunter liegende «Galerie» mit Tageslicht versorgt.

Dichtes Gewebe von urbanen Bezügen

Auch architektonisch zeugt dieses Projekt von einer äusserst reflektierten Auseinandersetzung mit der historischen Dimension der Stadt. Die Eingriffe am Kloster hatten zum Ziel, frühere Umbauten wieder rückgängig zu machen und die Qualität der historischen Bausub­stanz wieder zu offenbaren; sie sind entsprechend zurückhaltend gestaltet und fügen sich als elegante, erst auf den zweiten Blick erkennbare Ergänzungen in den Bestand ein.

Die kommunalen Bäder wurden nur so weit wie nötig verändert: Das Schwimmbecken beispielsweise ist noch im Eventsaal sichtbar, und die neuen Treppenhäuser sind in Materialisierung und Farbe den Altbauten angepasst. Auch die beiden oberirdischen Neubauten – der neue Trakt «Ackerhof» und das «Haus» – vermeiden jeden plakativen Kontrast zur Umgebung. Sie reihen sich mit Selbstverständlichkeit zwischen den Nachbarbauten ein; nur sind ihre Volumen eine Spur stärker abstrahiert, und ihre rauen Fassaden aus gebrochenen Ziegeln bilden eine textil anmutende Hülle, die über die Volumen gespannt zu sein scheint.

Mit präzisen Baukörpern, ausgewählten Formen, traditionellen Materialien und vertrauten Motiven fügen die Architekten ihre Neubauten in das komplexe, historisch gewachsene urbane Gewebe von gegenseitigen Bezügen ein.

Das «Haus» als vieldeutiges Zeichen

Nähert man sich der Anlage, fällt zuerst der kleinere der beiden Neubauten auf. Das stilisierte «Haus» am Kanal steht mitten auf dem Platz, also gewissermassen im Weg, und seine Rolle erschliesst sich nicht auf den ersten Blick. Tatsächlich verdichtet sich darin eine Vielzahl von direkten und indirekten Referenzen. Zum einen evoziert es die Vergangenheit, indem es eine Mühle, die früher fast genau an jener Stelle gestanden hatte, volumetrisch wieder auferstehen lässt. Zum anderen verweist es auf die gegenwärtige Situa­-tion:

Rein funktional betrachtet ist es ein Oberlicht, das die unterirdische Galerie tagsüber von oben erhellt und nachts in die Stadt hinaufleuchten lässt; man kann durch die grossformatigen Fenster des «Hauses» in die Ausstellung blicken und den Zusammenhang der Gesamtanlage erkennen. So betrachtet ist es auch eine Replik auf die Pyramiden im Hof des Pariser Louvre (Ieoh Ming Pei, 1985–1989), die ebenfalls als Oberlichter eines unterirdischen Trakts dienen, deren Stahl-Glas-Ästhetik jedoch die Beziehung zwischen Alt und Neu auf einen harten Gegensatz zuspitzt.

Und nicht zuletzt lässt sich das «Haus» als Variation eines Themas lesen, das Herzog & de Meuron in den letzten Jahren immer wieder aufgegriffen haben – etwa 2003 beim stilisierten Pförtnerhäuschen des Schaulagers in Münchenstein BL (vgl. «Landschaft und Identität», TEC21 25/2003) oder auch, in etwas pragmatischerer Form, 2015 beim schopfartigen Gebäude über der Tiefgarageneinfahrt des Mehrfamilienhauses im Zellwegerpark in Uster (vgl. «My home is my castle», TEC21 9–10/2016): das geradezu arch­e­typische Motiv des kleinen Hauses als getarntes Tor zu einer anderen Welt.

Nachahmer unerwünscht

Der neue «Ackerhof» ist deutlich grösser, fällt aber als spiegelbildliches Pendant zur Klosterkapelle weniger auf. Zudem wirkt er mit seiner länglichen Form, seinem Giebeldach, seinen Spitzbogenfenstern und seinem jäh abgeschnittenen Volumen wie die zerbombten und später umgebauten Überreste eines Kirchenschiffs. Das Bild ist im kriegsversehrten Europa und insbesondere im Elsass vertraut, doch dieses Gebäude hier ist neu. Eine Maskerade also, ein Fake? Mitten in einer mittelalterlichen Altstadt, gegenüber einer authentischen, 1269 geweihten Klosterkapelle …? Aber ja. Selbst ein vermeintlich zugemauertes Spitzbogenfenster gibt es in der Fassade zu entdecken – eine liebevoll und vielleicht nicht ganz ohne Ironie gelegte falsche Fährte für Liebhaber des kultivierten Rätselspiels.

In welchem anderen zeitgenössischen Bau kommt ein solcher Tabubruch so wunderbar leichtfüssig, so verblüffend sinnfällig daher? Wo sonst gibt es eine so stilsichere Verschmelzung von minimalistischen, analogen und postmodernen Ansätzen? Eine wahre Freude – die allerdings durch die Befürchtung getrübt wird, das virtuose Spiel könnte eines Tages auf weniger hohem Niveau nachgeahmt werden …

TEC21, Fr., 2016.11.04



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Musée Unterlinden - Erweiterung



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TEC21 2016|45 Die Kunst, für Kunst zu bauen

16. September 2016Judit Solt
TEC21

«Man muss ganz konkret hinschauen»

TEC21: Frau Linder-Guarnaccia, was sind die Besonderheiten der IBA Basel 2020 im Vergleich zu früheren?

Monica Linder-Guarnaccia: Es ist die erste,...

TEC21: Frau Linder-Guarnaccia, was sind die Besonderheiten der IBA Basel 2020 im Vergleich zu früheren?

Monica Linder-Guarnaccia: Es ist die erste,...

TEC21: Frau Linder-Guarnaccia, was sind die Besonderheiten der IBA Basel 2020 im Vergleich zu früheren?

Monica Linder-Guarnaccia: Es ist die erste, die ausserhalb Deutschlands und in drei Ländern gleichzeitig stattfindet. Wir haben ein deutsches Planungsinstrument exportiert, um damit grenzüberschreitende Projekte zu fördern. Anhand dieser Beispiele untersuchen wir, wie wir in Zukunft besser, effizienter und nachhaltiger kooperieren können, um die Region Basel gesamthaft zu entwickeln. Diese ist zwar bekannt dafür, dass sie grenzüberschreitend denkt und agiert; doch bisher geschah dies vor allem auf der politischen Ebene, mit konkreten Projekten hatte man wenig Erfahrung. Existierende Gremien haben keine projektbezogene Zusammenarbeit generiert. Deshalb hat die Politik diese IBA einberufen.

TEC21: Wie haben Sie die Projekte gefunden?

Monica Linder-Guarnaccia: Auch das ist eine Besonderheit dieser IBA: Wir haben einen Bottom-up-Prozess initiiert. Die Gemeindeverwaltungen in den drei Ländern haben dazu aufgerufen, Projektideen einzureichen. In der Region sind so rund 120 Projekte zusammengekommen, und wir haben eine Triage gemacht. Die Kriterien waren: Was ist wirklich nachhaltig, fördert das Zusammenleben, steigert die Lebensqualität, erhöht die Adap­ti­vität der Region? Ursprünglich wollten wir uns auf 45 Projekte konzentrieren, doch das war, gemessen an der Grösse unseres Teams, zu viel. Nicht alle Verwaltungen und Private haben die Mittel, um ihr Projekt im vorgeschriebenen sehr engen Zeitrahmen voranzutreiben; solche Projekte musste die IBA-Geschäftsstelle an sich nehmen und weiterführen, was viel Personal und Ressourcen erfordert. Die IBAs sind Ausnahmezustand und ­Qualifizierungsverfahren zugleich. Im Arbeitsablauf prüfen wir mit unserem Fachbeirat die Entwicklung der Projekte genauso wie deren Qualitätsansprüche und Machbarkeit – ob sie bis 2020 zumindest ansatzweise realisiert werden können.

TEC21: Die ausgewählten Projekte sind in der aktuell laufenden Ausstellung zu sehen. Wie viele sind es nun?

Monica Linder-Guarnaccia: Nominiert sind 19. Hinzu kommen drei Projekte, die bereits jetzt fertiggestellt wurden und das IBA-Label erhalten haben: «Region Grüngürtel», «24 Stops» und «Rheinuferweg St. Johann–Huningue». Zehn weitere Projekte befinden sich in einem Vornominierten-Sta­dium und erhalten keine direkte Unterstützung der IBA; wenn es den Verantwortlichen jedoch gelingt, das Projekt bis 2018 so weit zu entwickeln, wie wir es mit ihnen vereinbart haben, kann es nominiert werden und die Unterstützung der IBA in Anspruch nehmen.

TEC21: Die Projekte sollen die Nachhaltigkeit fördern und als Katalysatoren wirken, um ein grenzüberschreitendes Gebiet aufzuwerten. Was bedeutet Aufwertung in diesem Zusammenhang?

Monica Linder-Guarnaccia: Das ist eine sehr gute Frage. Das Thema Nach­haltigkeit ist immens, es lässt so viele Auslegungen zu! Die IBA hat Qualitätskriterien ausgearbeitet, etwa um festzuhalten, wie wir nachhaltige Entwicklung interpretieren. Das Projekt 3Land, die Entwicklung eines deutsch-französisch-schweizerischen Stadtteils, ist ein gutes Beispiel dafür. Wir haben zwar ein gemeinsames Raumkonzept verabschiedet, doch bei der Umsetzung stellen sich Fragen: Was versteht man in den drei Ländern jeweils unter Qualität, Modellhaftigkeit, nachhal­tiger Entwicklung? Wenn es konkret wird, muss man auch ganz konkret hinschauen und Prioritäten setzen. Beim 3Land haben wir entschieden, das Kriterium der sozialen Nachhaltigkeit in den Vordergrund zu rücken, weil zwischen den beteiligten Nationen grosse wirtschaftliche Disparitäten bestehen. Andere Aspekte sind Suffizienz oder Kreislaufwirtschaft: Wie werden sie in den verschiedenen Ländern interpretiert?

TEC21: Ist es überhaupt möglich, Projekte anhand von Kriterien zu vergleichen, wenn diese so unterschiedlich ausgelegt werden?

Monica Linder-Guarnaccia: Wenn man die Themen weit genug fasst, geht es. Je nach Land gibt es unterschiedliche Schwerpunkte. Frankreich zum Beispiel betreibt sozialen Wohnungsbau durch die Förderung von Bauten, in die eine bestimmte Zielgruppe einzieht. Im Gegensatz dazu versucht die Schweiz, Personen direkt zu unterstützen, was zu einer grösseren sozialen Durchmischung führt: Soziale Nachhaltigkeit heisst hier so zu bauen, dass unterschiedliche Menschen im gleichen Quartier unterkommen. Die IBA Basel versucht, aufgrund dieser differierenden Interpretationen einen Katalog von Qualitätskriterien aufzustellen, an dem sich alle trotz ihren länderspezifischen Entwicklungen orientieren können. Individuelle Schwerpunkte sind möglich, doch insgesamt muss eine bestimmte Punktzahl erreicht werden.

TEC21: Gibt es auch Ausschlusskriterien?

Monica Linder-Guarnaccia: Ein No-Go ist sicher, wenn ein Projekt nur Partikularinteressen verfolgt. Alle Akteure sollen überlegen, welchen ökonomischen, ökologischen, sozialen Nutzen ihr Projekt anderen bringen könnte; sie sollen mit dem Nachbarn denken statt gegen ihn. Die Projekte müssen sich grenzüberschreitend positiv auswirken, wobei nicht die Grenze der Nachbar­parzelle gemeint ist, sondern Gemeinde- oder Landesgrenzen. Das braucht Zeit, denn jedes Land und jede Gemeinde steht in Konkurrenz zu anderen. Politiker müssen diese Konkurrenzhaltung überwinden, bevor sie ihren Wählern sagen können: «Ihr profitiert immer noch, aber nicht mehr allein – und das ist gut so.» An diesem Prozess des Umdenkens arbeitet die IBA.

TEC21: Die 19 ausgestellten Projekte erfüllen die Kriterien der IBA Basel und werden von ihr unterstützt. Wie muss man sich diese Unterstützung vorstellen?

Monica Linder-Guarnaccia: Sehr unterschiedlich. Das IBA-Team umfasst hoch qualifizierte Fachleute aus diversen Bereichen: Architektur, Raum- und Stadtplanung, Soziologie, Kommunikation etc. Es ist ein heterogenes Team, das die Projekte heterogen angeht. Wir arbeiten inter­disziplinär und beziehen auch die Bevölkerung ein. Dabei beschränken wir uns nicht auf die gesetzlich vorgeschriebene Mitwirkung, sondern nehmen frühzeitig Stimmungsbilder auf. Wir bereiten Studien vor und schreiben sie aus. Wir unterstützen kleinere Gemeinden, denen die nötigen Fachpersonen fehlen, und übernehmen in diesen Fällen auch die Projekt­leitung. Vor allem aber agieren wir als Mediator zwischen Ländern oder Kommunen. Bei jedem Projekt gibt es auch Partikularinteressen, und die sind ja auch legitim; schliesslich sind Politiker dazu da, für ihre Gemeinde oder ihr Land das Beste herauszu­holen. Doch wenn die IBA als unabhängige Stelle aufzeigen kann, welchen zusätzlichen Gewinn eine Massnahme bringt, und wenn sie nach Wegen sucht, sie zu ermöglichen, etwa durch die Akquisition von Fördermitteln – dann entsteht manche Kooperation, die allen Beteiligten nützt. Das ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit: Fördermittel suchen, Anträge stellen, überhaupt viel Administration.

TEC21: Leistet die IBA auch gestalterische Unterstützung?

Monica Linder-Guarnaccia: Ja, indirekt, über die Jury als oberstes beratendes Gremium. Auch hier gibt es länderspezifische Unterschiede. In Frankreich entscheiden die Gewählten, les élus; wir sind nur beratend beteiligt, was aber sehr viel bringt, wenn man glaubwürdig ist und gut begründen kann, warum ein Projekt qualitativ hochstehend ist und sich Mehrkosten lohnen. Wir haben eine starke Mediations- und Beratungsrolle.

TEC21: Wie wird die IBA finanziert?

Monica Linder-Guarnaccia: Beteiligt sind insgesamt 22 Gebietskörperschaften: Gemeinden um Basel, das Land Baden-­Württemberg, die Kantone Aargau und Basel-Stadt, der Bund, die EU. Das eröffnet immense Chancen! In Deutschland zum Beispiel gibt es viele städtebau­liche Fördergelder, und weil Baden-Württemberg zu den Partnern der IBA gehört, werden unsere Anträge prioritär behandelt: Wir können sie direkt an die oberste Stelle schicken und bekommen innert kürzester Zeit eine Reaktion. Dadurch gewinnen wir sehr wertvolle Zeit! Auf EU-Ebene ist die Interreg-Behörde in Strasbourg für die Förderung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zuständig. Zurzeit läuft ein neues Programm, das Interreg V; die IBA ist das erste Vorhaben, das mit Fördergeldern aus diesem Programm unterstützt wird. Sie gilt als Pilotprojekt, was den Nachteil hat, dass wir die noch nicht er­probten Abläufe in der administrativen Abwicklung durchlaufen, um in Nachgang auch gleich die optimierten Abläufe umzusetzen … dafür lernen wir, welche Kriterien und Indikatoren für die EU wichtig sind, und können diese umgehend in die Antrag­stellung unserer neuen Studien integrieren.

TEC21: Welche Kriterien und Indikatoren sind das?

Monica Linder-Guarnaccia: Für die EU-Projekte ist vor allem relevant, was konkret gebaut wird, was der Quadratmeter Baufläche kostet, wie viele Personen man damit ­erreicht und wie man sie erreicht. Für die IBA selbst steht die Ver­net­zungs- und Vermittlungsarbeit, die Governance der Projekte, im Vordergrund. Dies geht von der Anzahl Sitzungen oder Gespräche bis hin zur Anzahl erreichte Personen pro Anlass. Insgesamt sind es unglaublich viele Indikatoren – wir schreiben gerade einen Bericht, der gefühlt mehrere Tausend Seiten lang wird!

TEC21: Wie können Sie in diesem Papierkrieg noch Kriterien gewichten und auf das Wesentliche fokussieren?

Monica Linder-Guarnaccia: Im Team sind zwei Personen, die sich in diesen Verfahren auskennen; die schaffen das. Auf Ebene der Projektentwicklung konzentrieren wir uns auf die Frage, welchen Nutzen ein Projekt für die Bevölkerung bringt; damit kann man sehr viel ab­decken. Im administrativen Bereich sind es zum Teil ganz banale Abläufe, die man pflegen muss, etwa Anwesenheitslisten bei Sitzungen; denn auch die Anzahl Treffen, die nötig waren, um ein Projekt ins Laufen zu bringen, ist ein Indikator. Am Anfang fand ich es absurd, solche Dinge zu dokumentieren. Doch daraus resultieren eine Datenbasis und eine aussagekräftige Statistik, die für neue Projekte lehrreich ist. Es ist nützlich zu wissen, wie unvorstellbar viele Gespräche mit Politikern und dann mit Fachmitar­beiterinnen und -mitarbeitern man einplanen muss, um eine Idee durchzubringen! Heute vergeht keine Woche ohne Projektsitzung, bei der die politischen Entscheidungsträger am Tisch sitzen. Das zeigt, dass die Prozesse sich intensiviert haben und die Hierarchien flacher geworden sind. Auch daran merken wir, dass alle am Projekt zusammenarbeiten.

TEC21: Es hat sehr viel Arbeit gebraucht, um die Kommu­nikationswege aufzubauen und das Vertrauen zu schaffen …

Monica Linder-Guarnaccia: … und jetzt geht es darum, es zu bewahren. Dazu eine kleine Anekdote. Mit den drei Labels, die wir bisher vergeben durften, wollten wir auch ein Objekt überreichen. Lange wussten wir nicht, was es sein sollte. Schliesslich haben wir entschieden, mit der Schweizer Künstlerin Maude Schneider ein Keramikstück zu produzieren: ein Dreieck als Symbol für das Zusammenleben der drei Länder, und ringsum ein Piktogramm, das alle Projekte vereint, gemalt mit echtem Silber; das jeweils ausgezeichnete Projekt ist in echtem Gold. Jedes Exemplar des Kunstwerks ist mit viel Liebe handgefertigt. Keramik braucht so viele Ofengänge bei höchster Hitze, sie muss immer wieder gebrannt werden, bevor sie hart und beständig wird! Doch wenn man sie fallen lässt, zerbricht sie. Ich finde, das symbolisiert unsere Arbeit sehr treffend: Es braucht so viele Durchgänge, so viel Arbeit, bis das gegenseitige Vertrauen aufgebaut und ein für alle stimmiges Ergebnis erreicht ist. Und das muss man sorgfältig behandeln, sonst geht es kaputt.

TEC21, Fr., 2016.09.16



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TEC21 2016|38-39 IBA Basel 2020 – der Stand der Dinge

15. Juli 2016Danielle Fischer
Judit Solt
TEC21

Blicke über Grenzen

Die Hauptausstellung unter dem Titel «Reporting from the Front» belegt, was Baukunst jenseits der formalen Disziplin in einem mitunter chaotischen Umfeld bewirken kann. Manche Projekte sind ein Lehrstück in Engagement und Erfindungskraft.

Die Hauptausstellung unter dem Titel «Reporting from the Front» belegt, was Baukunst jenseits der formalen Disziplin in einem mitunter chaotischen Umfeld bewirken kann. Manche Projekte sind ein Lehrstück in Engagement und Erfindungskraft.

Das Plakat der 15. Architekturbiennale in Venedig zeigt eine Frau, die auf einer Aluminiumleiter steht und in die Wüste hinausblickt. Es handelt sich um die deutsche Archäologin Maria Reiche in Südamerika: Von dieser erhöhten ­Warte aus studierte sie Zeichnungen auf dem Boden, die eine präkolumbianische Kultur dort hinterlassen ­hatte und die aus dem normalen Stand betrachtet lediglich als wirre Linien gewirkt hätten. Das Bild ist Programm: Um etwas zu erkennen, muss man zuweilen einen unbequemen Standpunkt einnehmen und sich etwas einfallen lassen, um die Grenzen der Wahr­nehmung zu erweitern – auch in der Architektur. Der chilenische Architekt Alejandro Aravena, der die Hauptausstellung kuratiert, hat diese unter das Motto «Repor­ting from the Front» gestellt.

Hehre Versprechen …

Aravenas Ziel ist es nach eigener Aussage, neue Per­spektiven auf das Bauen und vor allem auch neue Tätig­keitsfelder zu eröffnen; er möchte die Architektur nicht als rein gestalterische Disziplin verstanden ­wissen, sondern sie mit gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Fragen erweitern. ­«Reporting from the Front» soll vermitteln, was unterschiedliche Akteure am Horizont dieser Möglichkeiten erspähen – neue Aktionsfelder und aussergewöhnliche Projekte, in denen sich Pragmatisches mit Existenziellem vermischt, Angemessenes mit Verwegenem, Kreatives mit Rationalem. Die ausgestellten Architektur­beispiele sollen aufzeigen, wo der Unterschied zu konventionellen Projekten liegt.

Auch Biennale-Präsident Paolo Baratta betont, dass positive Nachrichten im Zentrum der Ausstellung stünden. Damit seien nicht nur Ergebnisse gemeint, sondern die Prozesse, die aus den jeweiligen Bedürf­nissen und Begebenheiten heraus zu einer Lösung geführt hätten. Architektur als soziales und politisches Instrument interessiert: Denn wenn Architektur öffentliche Güter schafft, ist sie selbst ein öffentliches Gut. Sie wird als Werkzeug präsentiert, mit dem sich die menschliche Zivilisation selbst verwaltet und mit dessen Hilfe sie ihre Zukunft eigenständig meistert – auch wenn es zurzeit eine wachsende Divergenz zwischen Architektur und Zivilgesellschaft gebe.

… überraschend eingelöst

Bereits anlässlich der 7. Architekturbiennale im Jahr 2000 hatte der damalige Kurator Massimiliano Fuksas im Titel der Hauptausstellung «Less Aesthetics, More Ethics» gefordert. Ähnliche Aufrufe hört man seit eini­gen Jahren immer häufiger, sowohl an der Bienna­le als auch anderswo; doch glaubwürdig umgesetzt werden sie selten. Ebenso inflationär, wie dereinst der Begriff Nachhaltigkeit verwendet wurde, scheinen sich heute Projekte zu vermehren, die mit akademischem Ehrgeiz und unübersehbarer Koketterie den ärmsten Gegenden der Welt gewidmet sind – und letztlich mehr dem Image der Verfasser dienen als den Menschen vor Ort.

Daher stand zu befürchten, dass das Motto der Ausstellung auch dieses Jahr verwässert würde. Doch Aravena, dessen Werk unter anderem mit dem Global Award for Sustainable Architecture 2008 und dem ­Pritzker-Preis 2016 ausgezeichnet wurde, vertritt seine Forderung konsequent und hat die Ausstellung streng kuratiert. Die Beiträge seiner Gäste sind vielfältig und bis auf einige halbherzige Exponate meist etablierter Büros wirklich erhellend.

Verblüffend einfach

Und was sieht Maria Reiche von ihrer Leiter aus? Wohl das Chaos, das die menschliche Zivilisation angerichtet hat, und die vielen Enttäuschungen; dazwischen aber auch zusammenhängende Linien, die ein Bild ergeben, ein Zeichen von Kreativität darstellen. Das Entrée des Hauptpavillons ist als Maria Reiches Raum deklariert: Er ist ebenso wie der Eingangsraum des Arsenale mit verbogenen Stahlrahmen und kaputten Gipswänden gestaltet, Trümmer der letztjährigen Kunstbiennale. Erst nach diesem Auftakt beginnt die Ausstellung, eine dichte Folge von realisierten und geplanten Eingriffen, die belegen, wie vielfältig die Fronten sind und wie unterschiedlich sich Akteure den jeweiligen Themen annähern. Im Unterschied zu den Länderpavillons gibt es hier viele Projekte von Verfassern, die nicht aus Hochschulen kommen und keinen akademischen Zugang zum Bauen haben: Menschen, die vor ein Problem gestellt waren und erstaunliche Lösungen dafür gefunden haben, wie sie wahrscheinlich nie aus einer Akademie hervorgegangen wären. Manche der Arbeiten sind nicht nur äussert pragmatisch, sondern auch poetisch und schön.

Zu erwähnen ist etwa der Beitrag der paraguayanischen Gruppe «Gabinete de Arquitectura» um Solano Benitez (Abb. S. 31 links). Diese gewann den Goldenen Löwen für den besten Teilnehmer der internationalen Sammelausstellung. Benitez baut Gewölbeskelette mit einfachen Mitteln: Zement, Backsteine und eine wiederverwendbare Holzschalung genügen als Konstruktionsmaterial. Ungelernte Arbeiter fertigten daraus schlichte, unerwartet elegante Gewölbe. Diese Strukturen bilden die Grundlage für Bauten, die den Landflüchtigen in Paraguay und zukünftig vielleicht auch in anderen Ländern als Unterkünfte dienen sollen.

Der südafrikanische Beitrag «From Police to Policy» ist einer neuen Fussgängerbrücke gewidmet. Sie führte soziale Verbesserungen an der Warwick Junc­tion, einem der gefährlichsten Orte in Durban, herbei. In der Ausstellung sind auf Tischen faszinierende Gegenstände präsentiert, die im Markt unter der Brücke verkauft werden: weisse und rote Tonbälle, Stachelschweinborsten, Kräuter, Flaschen und vieles mehr. An einer gegenüberliegenden Wandstelle erfährt man, was es mit den Gegenständen im Kontext auf sich hat. Überhaupt zeugt die dichte und bunte Präsentation von dem umfassend und vielschichtig aufgearbeiteten Inhalt – der zur Brücke führte.

Krieg und Architektur

Dass es mehr braucht als ein unterzeichnetes Friedensabkommen, um eine Konfliktzone zu entmilitarisieren, zeigt Milinda Pathiraja aus Sri Lanka. Nach dem Ende des Bürgerkriegs vertauschten die Soldaten seiner Truppe ihre Waffen mit Baugeräten und begannen Schulen zu errichten. Dabei betrachteten sie die Aufgabe über die eigentliche Funktionalität hinaus auch als einen eigenen Lernprozess und haben an Hochschulen das nötige Bauwissen erworben. Auf diese Weise sind nicht nur praktische, sondern auch schöne, dem Klima und der Topografie entsprechende Bauten entstanden.

Besonders eindrücklich ist auch die forensische Architektur von Eyal Weizmann in Kriegsgebieten (Abb. S. 28). Mittels akribischer Recherche sucht er Beweise dafür, wann, womit und von wem ein Haus oder eine Stadt zerstört wurde. Mittels zahlreicher Fotos und Filme, die Laien aus den bombardierten Städten ins Internet hochluden, erstellt er eine Art Gesamtplan des kriegerischen Hergangs. Eine andere Methode dient dazu, anhand von Gebäudetrümmern herauszufinden, wie Menschen in einem zerstörten Bau ums Leben gekommen sind. So kann zum Beispiel eine offizielle Darstellung widerlegt werden, wonach Menschen durch einen Bombenanschlag von Rebellen getötet wurden: Form und Grösse der Gebäudesplitter und die Art des Einschlags in ein Dach können zeigen, dass eine Drohne die Ursache war, zu der Rebellen keinen Zugang haben.

Noch Fragen?

Es gibt viele weitere sehenswerte Beiträge – etwa der Bericht von Manuel Herz über die Urbanisierung von Flüchtlingslagern in der Westsahara (vgl. «Von Rabouni nach Zürich-West», TEC21 7–8/2016), der Bambus-Baukünstler Simón Vélez (Abb. S. 30 oben links und «Simón Veléz ins Bild gesetzt», TEC21 36/2013), die Tonpioniere Anna Heringer und Martin Rauch (vgl. «Ein Teil des menschlichen Habitats», TEC21 29–30/2013) oder das ETH-Team um Phi­lippe Block, das mit finiten Elementen Druckgewölbe von betörender Fili­granität schafft (Abb. S. 30 Mitte rechts). Auffällig ist: Die meisten der gezeigten Bauten befinden sich ausserhalb Europas, viele davon sind durch Partizipation entstanden und wurden mit lokal gewonnenen oder rezyklierten Materialien realisiert. Der Umgang mit den knappen Ressourcen und den überbordenden Problemen in den ärmeren Teilen der Welt steht im Vordergrund. Dem Chilenen Alejandro Aravena ist es gelungen, eine nicht allzu eurozentrische Ausstellung zusammenzustellen. Das ist ungewöhnlich und allemal spannender als die Hochglanz-Selbstdarstellungen, die es in den letzten Jahren häufig zu sehen gab. Einiges bleibt dennoch offen.

Zum einen fragt man sich, ob es in der west­lichen Welt keine gesellschaftlichen und politischen Themen gäbe, zu denen die Architektur jenseits ausgetretener Gedankenpfade etwas beitragen könnte – in den Länderpavillons (vgl. «Die Rückkehr des Einfachen, S. 32) findet diese Recherche immerhin vermehrt statt. Zum anderen ist unklar, ob Aravenas Blick auf die Fronten ganz so frei und unbefangen ist wie derjenige von Maria Reiche in der flachen Wüste. Neben den Arabischen Emiraten, Jemen und Kuwait, deren politische Position weitgehend von der westlichen Welt geprägt ist, sind zwar auch die Grossmächte Russland und China vertreten. Wirklich umfassend aber wäre das Bild, wenn auch Länder wie Libyen, Syrien oder Nordkorea von der anderen Seite der Front berichtet hätten – gewiss ein nicht ganz einfaches Unterfangen. Vergleichsweise unkompliziert wäre es dagegen gewesen, das Board mit einigen dunkelhäutigen oder weiblichen Mitgliedern zu besetzen. Die Ausstellung selbst zeichnet sich durch eine sehr erfreuliche Vielfalt der Themen und Teilnehmenden aus; eine repräsentativere Zusammensetzung des Steuerungsorgans hätte indes zu einem noch breiteren Verständnis der Ausstellung beitragen können – und wäre beim Thema «Reporting from the Front» eigentlich eine Selbstverständlichkeit gewesen.

TEC21, Fr., 2016.07.15



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TEC21 2016|29-30 15. Architekturbiennale Venedig

Die Rückkehr des Einfachen

Rund fünf Dutzend Länderpavillons gibt es an der Biennale zu sehen – die meisten lohnen den Besuch. Auffällig ist, wie viele Beiträge sich existenziellen Problemen widmen: ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit, aber mit treffenden Ideen und unkonventionellen Lösungsvorschlägen. Eine kleine Auswahl.

Rund fünf Dutzend Länderpavillons gibt es an der Biennale zu sehen – die meisten lohnen den Besuch. Auffällig ist, wie viele Beiträge sich existenziellen Problemen widmen: ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit, aber mit treffenden Ideen und unkonventionellen Lösungsvorschlägen. Eine kleine Auswahl.

Weil das Motto der Hauptausstellung – und somit der ganzen Biennale – in der Regel erst zu einem Zeitpunkt bekannt gegeben wird, wenn die Themen der Länderpavillons bereits feststehen, gehen nicht alle nationalen Ausstellungen darauf ein. Dennoch fällt auf, dass dieses Jahr viele Pavillons jenen Fragen gewidmet sind, um die auch die Hauptausstellung kreist: die Aktionsmöglichkeiten von Architektinnen und Architekten jenseits ästhetischer Themen. Armut, prekäre Lebensverhältnisse, Krieg, Ausbeutung, Leben auf der Flucht, Migration, Krankheit und Entfremdung scheinen die Architekturschaffenden zunehmend zu beschäftigen, und das kommt in vielen Pavillons zur Sprache.

Die Vielfalt der Ansätze und die zum Teil brillanten Inszenierungen sind erfreulich und lassen – trotz der thematisierten Missstände – ein hoffnungsvolles Gefühl zurück. Daneben gibt es wie jedes Jahr eine Reihe von Pavillons, die mit einer unerwarteten, zuweilen eher zufällig ­anmutenden Schau überraschen. Und schliesslich sind – weniger überraschend – die Selbstdarstellungen diverser Diktaturen zu sehen, die in ihrer Selbstverherrlichung amüsant wirken würden, wären sie nicht so todernst gemeint.

Finnland: soziale Integration

Ein Absperrband in den finnischen Nationalfarben begrüsst die Besucher im Türrahmen, um darauf hinzuweisen, dass man eine Grenze überschreitet und finnisches Hoheitsgebiet betritt. Die Ausstellung ist der Flüchtlingskrise und den Antworten seitens der Architektur gewidmet. Dokumentiert werden die Ergebnisse eines Architekturwettbewerbs, bei dem Immigrantenunterkünfte konzipiert werden sollten. Es ging um die Schaffung eines neuen Zuhauses, das die Integration der Neuankömmlinge erleichtert. Die Strategien reichen von Umnutzungen über Infrastrukturen zur Verteilung bestehenden Wohnraums ­ bis hin zur Schaffung temporärer Wohn­einheiten. Immer im Fokus: die soziale Dimension der Integration, die über durchmischte Wohnformen erreicht werden soll. Die Ausstellung will einen Anstoss zu Diskussionen bieten: Mitreden kann jeder, direkt vor Ort oder online unter www.frombordertohome.fi

Irland: der Raum als Feind

Um die Installation «Losing Myself» zu verstehen, muss man sich ein wenig Zeit nehmen. Dann aber erfährt man mehr über die räumliche Wahrnehmung von Alzheimerkranken als nach der Lektüre von manchem Wälzer: am eigenen Leib nämlich. Während man sich auf die Pläne für ein Heim konzentriert, die auf den Boden projiziert werden, verändern sich das Licht und die Geräusche schleichend. Auf einmal wirkt Kindergelächter bedrohlich, Kirchenglocken lassen einen taumeln, und die Sicht scheint sich zu trüben. Man erahnt, wie unerträglich es für die vielen dementen Menschen in unserer alternden Gesellschaft sein muss, sich im Raum zu orientieren – und wie anspruchsvoll die architektonische Aufgabe ist, ihnen dennoch adäquate Lebensräume zur Verfügung zu stellen. Eine Lektion in Demut und eine sinnliche Bereicherung zugleich.

Grossbritannien: suffizient bis ins Letzte

Die Ausstellung thematisiert die hohen Wohnpreise in London und reflektiert neue Wohnkonzepte. Unter dem Titel «Home Economics» sind fünf Wohnmodelle zu sehen, die für unterschiedliche Nutzungsdauern optimiert und dem ökonomischen Existenzminimum der Bewohner angepasst wurden. Alle Projekte lassen britischen Humor erkennen und sind so klein, dass sie als 1 : 1-Modell im Pavillon Platz finden. Die erste Einheit ist eine aufblasbare Kugel, die für die Nutzung während weniger Tage gedacht ist: Alles, was man benötigt, um sich zu Hause zu fühlen, ist ein Wi-Fi-Anschluss.

Für mehrere Monate genügt eine Holzbox mit Hochbett, Wasch­becken und Toilette. Auch das etwas grössere Eigenheim für Jahre erinnert an die Grundausstattung einer Gefängniszelle. Zur Nutzung über Dekaden wird eine Reihe funktionsloser Räumen für maximale Flexibilität vorgeschlagen. Für einige Stunden sind Orte zur Nutzung für mehrere Personen angedacht, ganz nach dem Motto «Own nothing, share everything». Die Ausstellung bietet auf kleiner Fläche jede Menge Raum für Diskussionen und zeigt in überspitzter Form, was passiert, wenn das Thema Suffizienz zu Ende gedacht wird.

Rumänien: selbst- und ferngesteuert

Aus unterschiedlichen Positionen – als distanzierte Beobachter oder mitten in den Installationen – können die Besucher sechs mechanische Automaten mit stereotyp anmutenden Holzpuppen steuern. Die Frage des Kurators, ob unsere aktive, willentliche  Partizipation am Weltgeschehen nur eine Illusion sei, bleibt offen. Als Alternative zum Selfie, wie von den Ausstellungsmachern vorgeschlagen, eignet sich die rumänische Ausstellung ausgezeichnet – an kaum einem anderen Ort werden so viele Fotos von Besuchern mit den Installationen gemacht.

Niederlande: Blau steht für Frieden

An hunderten von Orten weltweit sind UNO-Friedenstruppen stationiert. Die Blauhelme sollen die Lebensbedingungen der dortigen Menschen verbessern, doch die Architektur ihrer Camps lässt wenig davon erahnen und trägt kaum dazu bei. Die Architektin und Kuratorin Malkit Shoshan präsentiert ein Gegenmodell: Camp Castor in Mali – hier ist die UNO im Einsatz, und die Niederlande versuchen dabei, die Basis nicht als Festung, sondern als Katalysator für die lokale Entwicklung zu gestalten. In geisterhaft blaues Licht getaucht, zeigt die Ausstellung Chancen und Herausforderungen im Land der Tuareg, die wegen ihrer indigofarbenen Kleider auch «blue men» genannt werden.

Japan: zwischen Ding und Mensch

Die japanische Gesellschaft befindet sich an einem Wendepunkt: Arbeitslose Jugendliche und wachsende Armut gehören nach dem wirtschaftlichen Wohlstand heute zum Alltag. Die Kuratoren fragen danach, wie sich die Archi­tektur den neuen Verhältnissen anpassen wird. Die ausgestellten Arbeiten sind aber nicht der Architektur selber gewidmet, sondern den Verbindungen der Dinge zu den Menschen und umgekehrt. In der buddhistischen Kultur prägt der Begriff «En» diesen Sachverhalt. Es werden verschiedene Aspekte von «En» untersucht – das, so die Kuratoren, das Potenzial in sich birgt, die Schwierigkeiten der kommenden Zeiten zu überbrücken.

Polen: von Fairness keine Spur

Sind faire Arbeitsbedingungen auf einer Grossbaustelle eine Ausnahme? Während die Besucher im polnischen Pavillon auf Baugerüsten sitzen, erzählen Bauarbeiter im Film über ihren Arbeitsalltag. Im zweiten Teil der Ausstellung führen Grafiken an den Wänden vor Augen, wie viele Schwarzarbeiter es gibt, wie viele unbezahlte Überstunden geleistet werden und welche anderen Missbräuche Planende und Arbeiter erdulden müssen. Widersprüche offenbaren sich zwischen dem Bild einer sich entwickelnden Gesellschaft und dem individuellen Schicksal. Im Gegensatz zu «Fair Trade» bei Konsumprodukten ist «Fair Work» auf Baustellen kein Thema – und das nicht nur in Polen.

Spanien: Qualität des Unvollendeten

In Spanien ist vieles, das während der Hochkonjunktur gebaut wurde, nie fertig geworden. Überall gibt es moderne Bau­ruinen. Im Gegensatz dazu steht das von den Architektur­medien vermittelte Bild eines baulichen Endzustands, der sich scheinbar nicht mehr wandelt. Die Ausstellung führt vor Augen, wie wichtig das Konzept des Unfertigen für die Architektur ist. Es lässt einen kontinuierlichen Prozess der Entwicklung zu und eine Tür offen zu Überraschendem, Unerwartetem und Ideen für zukünftige Erfindungen. Die Kuratoren Inaqui Carnicero und Carlos Quintans meinen, die Ökonomiekrise habe die Architektur in Spanien radikaler gemacht. Für ihren Beitrag wurden sie mit dem Goldenen Löwen 2016 ausgezeichnet.

Skandinavien: auf der Couch

Was ist die Essenz zeitgenössischer skandinavischer Architektur? Finnland, Norwegen und Schweden versuchen sich in ihrer Ausstellung «In Therapy» an einer Psychoanalyse. Aus 500 Projekten wurden neun ausgesucht und drei Kategorien zugeordnet: Projekte, die menschliche Grundbedürfnisse an Obdach, Gesundheit und Bildung erfüllen, die eine Zugehörigkeit ihrer Bewohner über öffentliche Räume und Begegnungsorte fördern und die die Werte der skandinavischen Gesellschaft ausdrücken. Im Pavillon darf man auf der sprichwörtlichen Couch Platz nehmen, und via Fernseher informieren Architekturtherapeuten über die Erkennt­nisse.

Das prägnanteste Ausstellungsstück ist eine Holzpyramide, die bis unter das Dach des Pavillons reicht. Sie lädt zum Klettern oder Sitzen ein, ihr tieferer Sinn erschliesst sich jedoch nicht auf den ersten Blick: Sie soll die Maslow’sche Bedürfnispyramide darstellen, ein Entwicklungsmodell der Hierarchie menschlicher Bedürfnisse. So versteht sich die Ausstellung als Ausdruck einer Gesellschaft, die bereits die Spitze erreicht hat und es sich leisten kann, eine Architektur­diskussion in höheren Sphären zu führen.

Deutschland: Willkommen. Aber wie?

«Making Heimat» thematisiert die Frage, wie die Integration von Flüchtlingen und Migranten gelingen kann. Die Ausstellung zeigt Fotos von Bauprojekten, die aus Problemvierteln Orte der Toleranz machen. So wird die hessische Stadt Offenbach mit einem Anteil von über 50 % an Personen mit Migrationshintergrund als Vorbild für Integration präsentiert. Eine Fotoserie über Bewohner der Stadt dokumentiert die vielfältigen individuellen Lebenswege. Der Grundtenor der Ausstellung bleibt trotz Flüchtlingskrise optimistisch, das Fazit ist nicht neu: Heimat ist da, wo man sich zu Hause fühlt; wichtig für die Integration sind Bildung, Sprachkenntnisse, berufliche und familiäre Perspektiven, Offenheit sowie der Wille, sich mit der neuen Heimat zu identifizieren. Auch der Pavillon zeigt sich passend zum Thema ungewohnt zugänglich: Vier Durchbrüche durch die Aussenwände laden dazu ein, über Deutschland als offenes Einwanderungsland nachzudenken.

Uruguay: Krisenarchitektur

Die mit einfachen Mitteln realisierte Ausstellung «Reboot» thematisiert Architektur in Extremsituationen. Denn nur in einer solchen werde Kreativität von voreingenommenen baulichen Erfahrungen frei, sagt Kurator Marcello Danza. Ein Loch im Pavillonboden, aus dem die Erde ausgehoben wurde, erinnert an eine Gruppe des Liberacion Nacional Tupamaros, die Ende der 1960er-Jahre mitten in Montevideo im Untergrund ein Raum­system baute, das versteckt neben dem offiziellen existierte. Eine andere Installation erinnert an das «Wunder der Anden» von 1972, als einige Passagiere nach einem Flugzeugabsturz monatelang im ewigen Eis des Hochgebirges überleben.

Ungarn: Planungsprozess umgekehrt

Junge Architekten in der Stadt Eger, im Norden Ungarns, setzten  ein Projekt fast ohne Geld um. Sie baten die Behörden um einen Bau, den niemand haben wollte, und erhielten das 15-jährige Nutzungsrecht eines Hauses in einem Park. Bedingung war, dass der Umbau eine Wertsteigerung zur Folge hatte. Die Architekten kehrten den üblichen Planungsprozess um: Zuerst klärten sie ab, welche Materialien sie von Sponsoren erhalten konnten und was es aus der Umgebung zu rezyklieren gab. Erst dann entwarfen sie den Umbau. Studierende aus einem Polytechnikum halfen bei der Ausführung, die als kollektive Aktivität ins Zentrum rückte. Das Netzwerk, das dabei entstand, ist neben den Wohnräumen für die Architekten die wichtigste Komponente des Projekts. 

TEC21, Fr., 2016.07.15



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TEC21 2016|29-30 15. Architekturbiennale Venedig

03. Juni 2016Judit Solt
TEC21

Rätselhafter Raum

Der Architekt Christian Kerez bespielt den Schweizer Pavillon an der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig. Sein «Incidental Space» ist ein Raum, der mit ästhetischen Konventionen bricht und die Wahrnehmung herausfordert. Hier wird sichtbar, was digitale Technologien und interdisziplinäre Zusammenarbeit heute ermöglichen.

Der Architekt Christian Kerez bespielt den Schweizer Pavillon an der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig. Sein «Incidental Space» ist ein Raum, der mit ästhetischen Konventionen bricht und die Wahrnehmung herausfordert. Hier wird sichtbar, was digitale Technologien und interdisziplinäre Zusammenarbeit heute ermöglichen.

Ein Raum, der an nichts erinnert, keiner Konvention folgt und keinem anderen Zweck dient, als anders zu sein als alles, was man kennt: Die Installation im Schweizer Pavillon an der Architekturbiennale Venedig 2016 ist darauf ausgerichtet, den Rahmen des Gewohnten zu sprengen. Doch die systematische Vermeidung von geschicht­lichen, technischen oder ästhetischen Referenzen ist nicht Selbstzweck. Vielmehr soll die Installation dazu anregen, darüber nachzudenken, wie wir Architektur erschaffen und erleben – und was darüber hinaus auch möglich wäre.

Der Architekt und ETH-Professor Christian Kerez und die Kuratorin Sandra Oehy konfrontieren das Publikum mit einem Raum, der gleichermassen verstört und fasziniert.

Der Entwurfsprozess begann mit Abgüssen von Materialien und der Herstellung von Hohlformen (vgl. S. 20). Aus 300 Modellen wurde eines ausgewählt und digital erfasst, wobei wegen der hohen Komplexität der Formen unterschiedliche Techniken wie optischer und tomografischer Scan zum Einsatz kamen. Deren Kombi­nation und die anschliessende Umsetzung des digitalen Modells erfolgten mit Unterstützung von Benjamin ­Dillenburger, Assistenzprofessor für Digitale Bautechnologien an der ETH Zürich (vgl. S. 24). Auch die Fertigung der Schalungselemente für den geplanten Betonbau erforderte eine Kombination unterschiedlicher Methoden und Technologien: Die Elemente wurden mittels CNC-Fräse oder, wenn die Formen zu komplex waren, im 3-D-Druck hergestellt.

Statisch betrachtet ist die Installation eine selbsttragende Raumhülle. Deren Tragverhalten zu ­bestimmen war jedoch alles andere als trivial. Sehr dünne Schalen mit doppelter Krümmung sind statisch aus­serordentlich effizient; hier handelt es sich aber um eine frei geformte Schale, um ein Flächentragwerk also, das nicht nach den Kriterien des inneren Kräfteverlaufs geformt und statisch hochgradig überbestimmt ist.

Um die inneren Kräfte und das systemische Verhalten zu analysieren, wandte der Bauingenieur und ETH-Professor Joseph Schwartz die sogenannte Diskrete Analyse an. Diese Methode folgt dem Ansatz der grafischen Statik, bei der – im Gegensatz zur analytischen Statik – alle mathematischen Operationen vektorgeometrisch durchgeführt und frei von numerischen Berechnungen sind, sodass die Zusammenhänge zwischen Kraft und Form auch im Raum visuell fassbar werden (vgl. S. 28).

Die 1 bis 4 cm starke, glasfaserverstärkte Betonschale wurde schliesslich in wenigen Wochen und mit hohem handwerklichem Aufwand im Schweizer Pavillon erbaut. Dort steht das Gebilde nun: eine im Verhältnis zum beträchtlichen Volumen fragil anmutende Hülle um einen rätselhaften Raum im Raum. Wenn man diesen betritt, verlässt man das Gewohnte. Am ehesten erinnert der subtil ausgeleuchtete Innenraum an eine Grotte. Man kann darin verweilen, sich umsehen – und ins Sinnieren geraten.

TEC21, Fr., 2016.06.03



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TEC21 2016|23 «Incidental Space» im Schweizer Pavillon

27. Mai 2016Judit Solt
TEC21

«Man darf scheitern»

Next Evolution in Sustainable Building Technologies – NEST: Der jüngste Neubau der Empa erlaubt es, Wechselwirkungen zwischen Produkten, Systemen und Menschen in einem real genutzten Gebäude zu testen. Warum das nötig ist und was der Bau sonst noch ermöglicht, erläutert Dr. Peter Richner, Initiant des NEST und stellvertretender Empa-Direktor.

Next Evolution in Sustainable Building Technologies – NEST: Der jüngste Neubau der Empa erlaubt es, Wechselwirkungen zwischen Produkten, Systemen und Menschen in einem real genutzten Gebäude zu testen. Warum das nötig ist und was der Bau sonst noch ermöglicht, erläutert Dr. Peter Richner, Initiant des NEST und stellvertretender Empa-Direktor.

Das NEST ist kein gewöhnlicher Bau, sondern eine Versuchsanlage in stetem Wandel. Er besteht aus einem zentralen Betonkern – dem Backbone –, gemeinschaftlich genutzten Räumen und ­Geschossplatten. Alles andere sind sogenannte Innovationsobjekte oder Units, die auf die Geschossplatten gestellt, im Plug-in-System an die ­Medienkanäle im Backbone angeschlossen und nach einigen Jahren wieder entfernt werden.

Für die Tragkonstruktion bedeutet das maximal auskragende, stützenfreie Geschossplatten, um eine möglichst grosse Freiheit bei der Anordnung der Units zu ermöglichen, und immer wieder andere Belastungen (vgl. «Solides Rückgrat», S. 34). Für die Gebäudetechnik macht die wechselnde Nutzung ein redundantes System erforderlich, das in der Lage sein soll, alle erdenklichen zukünftigen Nutzungen abzudecken (vgl. «Schaufenster für die Avantgarde», S. 38). Und für die Architekten stellte sich die Aufgabe, ein Gebäude ohne fertiges Raumprogramm und ohne Fassade zu entwerfen, das dennoch einen eigenständigen Charakter aufweist.

Gramazio & Kohler Architekten betrachteten das Projekt nicht als Gebäude, sondern als Konzentrat eines Stadtteils. Die Geschossplatten stellen gleichsam den Baugrund an gut erschlossener Lage dar und die Units die einzelnen Häuser, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten von unterschiedlichen Architekturbüros erstellt werden. Wie bei einer Blockrandbebauung haben die Einheiten verschiedene Ausrichtungen, Nutzungen und Gestaltungsansprüche. Anstelle einer Fassade haben Gramazio & Kohler daher «städtebauliche» Richtlinien entworfen, denen alle Units zu folgen haben. Dazu gehört etwa die mit einer Baulinie vergleichbare Vorgabe, dass die Units einen bestimmten Abstand von der Kante der Geschossplatte einhalten müssen, damit deren horizontale Linie als prägendes Element erhalten bleibt, oder die Vorschrift, dass die obersten Units maximal zwei Geschosse aufweisen dürfen. Zudem müssen alle Units so gedämmt sein, dass sie sich in Bezug auf den Energiehaushalt nicht gegenseitig beeinflussen.

Am 23. Mai 2016 wurde das NEST feierlich eingeweiht. Doch fertig ist es noch lang nicht und soll es auch nicht sein: Der Wandel gehört zum Programm.


TEC21: Herr Richner, welche Funktion hat das NEST?

Peter Richner: Es dient als Forschungs- und Technologietransferplattform für den Hochbaubereich. Die akademische Welt und die Industrie können hier Materialien, Produkte oder Systeme, die sie im Labor entwickelt haben, unter realitätsnahen Bedingungen testen und verbessern, um den Schritt auf den Markt vorzubereiten. Das gab es bisher nicht.

TEC21: Und weshalb braucht es eine solche Institution?

Peter Richner: Weil die Baubranche vergleichsweise langsam ist, wenn es um die Implementierung von Innovationen geht. Um neue Entwicklungen zur Marktreife zu bringen, braucht sie viel länger als andere Branchen. Das hat mehrere Gründe. Zum einen besteht die Schweizer Baubranche aus vielen unterschiedlichen Akteuren. Für die meisten liegt es weder finanziell noch personell drin, Forschung aus eigener Kraft zu betreiben; Entwicklungen entstehen direkt am Bau. Zum anderen sind Auftraggeber selten bereit, sich auf technische Experimente einzulassen, weil sie viel Geld investieren und zu Recht erwarten, dass ihre Bauten mehrere Jahrzehnte lang ihre Funktion erfüllen. Dank der Möglichkeit, Innovationen realitätsnah an einem Bau zu testen, können sie sich ­im NEST diesbezüglich absichern.

TEC21: Worin unterscheidet sich diese Realitätsnähe von den Laborbedingungen oder von Mock-ups, wie sie auf dem Bau oft zum Einsatz kommen?

Peter Richner: Im Labor werden neue Produkte in der Regel isoliert entwickelt. Das ist wissenschaftlich korrekt, denn um ihre Performance zu verstehen, muss man sie zuerst isoliert untersuchen. Auch Mock-ups beschränken sich auf bestimmte Funktionen eines einzelnen Gebäudeteils, etwa das Witterungsver­halten einer Fassade. Doch es gibt Sekundäreffekte, die sich erst zeigen, wenn das Produkt mit anderen kombiniert und von Menschen genutzt wird. Ein Gebäude ist immer ein Gesamtsystem, in dem die Materialien, die technischen Einrichtungen und – nicht zu vergessen – die Benutzerinnen und Benutzer interagieren. Es ist kaum möglich, ihr komplexes Zusammenwirken theoretisch vorauszusehen. Im NEST kann man solche Wechselwirkungen in einem tatsächlich genutzten Gebäude analysieren.

TEC21: Heute arbeiten am NEST Partner aus Forschung und Industrie intensiv zusammen. Was hat es gebraucht, um sie zusammenzuführen?

Peter Richner: Die Idee ist sieben Jahre alt. Anfangs war es schwierig, Industriepartner zu finden: Die meisten Akteure, die wir angefragt haben, fanden die Idee zwar grundsätzlich gut, wollten sich aber nicht verpflichten, weil sie wohl nicht glaubten, dass sie realisiert würde. Letztlich war es die Nuklearkata­strophe von Fukushima, die Bewegung ins Projekt brachte: Der grösste Teil der Finanzierung kommt aus dem Energiebereich. Doch mittlerweile sind sehr gute Partner aus unterschiedlichsten Bereichen beteiligt (vgl. Kasten S. 40). Was mich besonders freut: Es sind auch Akteure interessiert, die nicht aus der Baubranche stammen, aber ein grosses Immobilienportfolio haben und von den Erkenntnissen am NEST profitieren möchten. Ich hoffe, dass diese positive Stimmung anhält. Gibt es in einigen Jahren Produkte oder Lösungen auf dem Markt, die hier zum ersten Mal ausprobiert wurden, sind wir auf dem richtigen Weg.

TEC21: Wie muss man sich die Units vorstellen?

Peter Richner: Weil die Geschossplatten stützenfrei auskragen, gibt es praktisch keine Einschränkungen in Bezug auf die Gestaltung der einzelnen Units. Sie können ganz unterschiedlich organisiert, materialisiert und ausgerüstet werden. Sie sind auf eine Lebensdauer von fünf bis sechs Jahren ausgelegt und entwickeln sich in dieser Zeit laufend weiter. In und an diesen Einheiten kann man Neues erforschen, testen, verbessern oder ersetzen. Vor allem aber: Man darf auch scheitern. In einem Innovationsprozess ist das enorm wichtig, denn nur so kann man den Dingen auf den Grund gehen und daraus lernen. Auf der Baustelle ist das keine Option mehr.

TEC21: Was wird in diesen Units erforscht?

Peter Richner: Sehr Unterschiedliches. In «Vision Wood» sind Ergebnisse einer gemeinsamen Forschung der Empa und der ETH Zürich implementiert, die darauf abzielt, die Eigenschaften von holzbasierten Materialien zu verbessern. Getestet werden unter anderem hydrophobes oder magnetisierbares Holz, eine bindemittelarme Holzfaserdämmung und antimikrobielle Holzoberflächen. «Solare Fitness & Wellness» sucht nach neuen Wegen, Bedürfnisse zu befriedigen, ­die sonst mit einem hohen Verbrauch von fossilen Energien verbunden sind. Die Anlage – darunter eine Sauna, eine Bio-Sauna und ein Dampfbad – ist mit modernen Technologien aus der Haustechnikbranche ausgestattet; es gibt ein neues Energiesystem mit CO2-Wärmepumpen, Wärme- und Feuchterückgewinnung, Regenwassernutzung ...
«HiLo» ist ein ETH-Projekt, in dem Ultraleicht­bau und adaptive Gebäudetechnik erprobt werden; das System von ultraleichten, superintegrierten Elementen ist am geschwungenen Dach sichtbar. «Meet2Create» der Hochschule Luzern HSLU ist ein Bürolabor für Arbeitsplätze der Zukunft; bei «SolAce» der EPFL geht es um die Gewinnung von Solarenergie in der Fassade, aber auch um Tageslichtnutzung und visuellen ­Komfort. Weitere Themen sind Urban Mining, digitale Fabrikation, Assisted Living und viele mehr.

TEC21: Solche Versuchsanlagen könnten doch auch einzeln, an unterschiedlichen Orten gebaut werden. Wozu hat man sie hier versammelt?

Peter Richner: Die räumliche Konzentration bringt Vorteile. Erstens ermöglicht sie eine maximale Flexibilität für die Forschung. Im Grund genommen bietet das NEST einen Baugrund an extrem gut erschlossener Lage: Das Versorgungssystem im Backbone, an dessen Komponenten die Units ganz nach Bedarf angeschlossen werden, stellt alles zur Verfügung; neben Strom, Wasser und Luft gibt es zum Beispiel drei Wärmenetze auf unterschiedlicher Temperatur, und die Eawag wird die Möglichkeit aufbauen, Abwasser in sechs verschiedenen Qualitäten zurückzuspeisen und aufzuarbeiten.
Zweitens entsteht mit diesem Gebäude eine Art kreatives Biotop, in dem sich Neues entwickeln kann: Die beteiligten Forschungsanstalten und Industriepartner können ihre Produkte nicht nur in der eigenen Unit ­testen, sondern auch die Nähe anderer innovativer ­Akteure nutzen. Deshalb hat das NEST öffentliche Bereiche wie das Atrium, wo sich Menschen begegnen können; es soll auch gemeinsame Anlässe geben. ­Dieses Plattformkonzept stösst auf grosses Interesse.

TEC21: Das Gebäude funktioniert also als offenes System, in dem sich akademische oder industrielle Partner provisorisch niederlassen und untereinander ver­netzen können. Gibt es bereits Wechselwirkungen unter den verschiedenen Units?

Peter Richner: Auf jeden Fall. In den «Meet2Create»-Büros der HSLU ist das NEST-Team untergebracht, aber auch Partner können Arbeitsplätze belegen. «Vision Wood» ist eine Wohneinheit für akademische Gäste der Empa und der Eawag, die typischerweise nicht aus dem Baubereich kommen, aber als Bewohnerinnen und Bewohner ein Feedback zum Experiment abgeben. Im Fitness- und Wellnesszentrum, das allen offen steht, werden Ergebnisse aus anderen Projekten erprobt, etwa ein Waschbecken aus hydrophobiertem Holz. Indem die Beteiligten im NEST wohnen, arbeiten und sich begegnen, fungieren sie auch als Testpersonen für die Forschung – die eigene, aber auch die der anderen.

TEC21: Gibt es auch Interaktionen über das eigentliche Gebäude hinaus?

Peter Richner: Das NEST eröffnet ein zusätzliches Forschungsfeld, denn eigentlich ist es nichts anderes als ein gestapeltes Quartier. Dementsprechend beschäftigt sich die Eawag mit dem kompletten Wasserkreislauf (Versorgung, Entsorgung, Wiederaufbereitung). Das Multienergienetz im Backbone wiederum ist mit dem Energy Hub der Empa verbunden. Dort versuchen wir, lokal gewonnene erneuerbare Energie zu speichern, umzuwandeln, zu verteilen und nutzbar zu machen für Wohnen, Arbeiten und Mobilität. Zur Ausrüstung gehören Batterien, Supercaps, ein ­Hydrolyseur, um Wasserstoff bereitzustellen, modi­fizierte Brennstoffzellen (die mit einem Erdgas-­Wasserstoff-Gemisch funktionieren), Erdsonden, ein Eisspeicher ... Auch der Energy Hub lässt sich wie das NEST in unterschiedlichsten Konfigurationen fahren, und auch er ist überdimensioniert; denn wir wollen die Kombination der Elemente testen.

TEC21: Das NEST und der Energy Hub sind Teile eines Gesamtsystems. Gibt es noch weitere Bausteine?

Peter Richner: Hinzu kommt das Projekt «move – Future Mobility Demonstrator» mit unterschiedlichen Fahrzeugen, die man mit unterschiedlichen Energieträgern betanken kann, sei es mit elektrischem Strom, Wasserstoff oder einem Erdgas-Wasserstoff-Gemisch. Neue Fahrzeugantriebskonzepte und ihre Energieversorgung sollen einen möglichst tiefen CO2-Ausstoss verursachen. Geplant ist ein weiteres Projekt mit der ETH, das zusätzliche Elemente hinzufügen wird.
Wir können das NEST als isoliertes System betreiben oder jene Teile davon, die sich bewährt haben, wachsen lassen und mit dem Rest der Empa verknüpfen. In Zukunft soll sich das Ganze wie ein Industriequartier erweitern und verbinden. Wir müssen umdenken, weg vom Einzelobjekt und hin zum Areal.


[Dr. Peter Richner ist Leiter des Departements Bau- und Maschineningenieurwesen, stellvertretender Direktor der Empa und Leiter des im Juni 2014 gegründeten Swiss Competence Center in Energy Research «Future Energy Efficient Buildings & Districts». Er ist Initiant der Forschungs- und Technologietransferplattform ­NEST und deren Hauptverantwortlicher.]

TEC21, Fr., 2016.05.27



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TEC21 2016|22 Empa NEST – Brutplatz für die Forschung

01. März 2016Judit Solt
db

Kindheitstraum für Erwachsene

Ein Blockhaus aus wenigen Elementen, ganz aus Holz, ohne Dämmung und Fenster – für diese scheinbar fast zu einfache Aufgabe haben Rossetti+Wyss Architekten aus Zürich eine Antwort gefunden, die nicht nur technisch konsequent, sondern auch poetisch ist.

Ein Blockhaus aus wenigen Elementen, ganz aus Holz, ohne Dämmung und Fenster – für diese scheinbar fast zu einfache Aufgabe haben Rossetti+Wyss Architekten aus Zürich eine Antwort gefunden, die nicht nur technisch konsequent, sondern auch poetisch ist.

Die 2 000-Seelen-Gemeinde Andelfingen liegt idyllisch im Zürcher Weinland. Die mittelalterlichen Häuser des Ortskerns drängen sich auf einer Hügelkuppe zusammen; unten schlängelt sich der Fluss Thur durch eine Landschaft, die trotz Siedlungserweiterungen und Industriezonen immer noch von Feldern, Wiesen und Wäldern dominiert ist. Um die neue Werkhalle des Wasserbauwerkhofs Neugut zu erreichen, braucht man ein gutes GPS. Man kurvt scheinbar endlos über eine einspurige Waldstraße, bis man unvermittelt auf einer Lichtung am Flussufer landet – und vor einem Gebäude steht, das einen allmählich an den eigenen Sinnen zweifeln lässt.

Spiel mit der Wahrnehmung

Auf den ersten Blick wirkt der Neubau ganz einfach. Er gibt sich als das zu erkennen, was er ist: ein Blockhaus aus aufeinander gestapelten und ineinander verzahnten Holzelementen. Doch so archaisch diese Bauweise ist, so raffiniert wurde sie hier umgesetzt. Die auf einem Betonsockel stehende Holzkonstruktion besteht aus lediglich 36 Elementen, und der gesamte Elementstapel ist nur fünf Schichten hoch. Weil die Fassaden keine Fenster aufweisen und die Tore als abstrakte Flächen ausgebildet sind, ist es kaum möglich, die Maßstäblichkeit des Gebäudes zu erfassen. Aus der Ferne betrachtet wirkt es eher klein und auch ein wenig geduckt – ein Eindruck, der dadurch verstärkt wird, dass die Höhe der Binder nach oben hin zunimmt.

Erst wenn man auf den Neubau zugeht, beginnt man, seine wahren Dimensionen zu begreifen – allerdings auf eine sehr ungewöhnliche Art und Weise. Je mehr man sich der Werkhalle nähert, desto mehr scheint sie zu wachsen, bis man sich selbst ganz winzig vorkommt. Alles ist gigantisch: Die massiven Binder der Wände, die Tore und im Innern die Regale, in denen man als Kind problemlos hätte stehen können. Diese kindliche Perspektive drängt sich geradezu auf, wenn man das Gebäude betritt, und mit ihr auch eine im besten Sinn kindliche Begeisterung: Die prägende Erfahrung der ersten Lebensjahre, die Mysterien der Welt aus der Froschperspektive zu entdecken, vermischt sich mit der Freude an einem Haus, das aus Kapla-Klötzchen aufgeschichtet zu sein scheint.

Tatsächlich verkörpert die Werkhalle, die aus wenigen einfachen Holzelementen und sonst fast gar nichts aufgebaut ist, den Kindheitstraum aller Architekturschaffenden – einen Traum, den die wenigsten heute, in einer Zeit immer restriktiverer Energie- und Brandschutzvorschriften, auch nur annähernd realisieren können. Rossetti+Wyss war dies bewusst, und es ist kein Zufall, dass sie beim Entwurf u. a. auch ein Computer-Bauspiel eingesetzt haben. Doch dieses Gebäude ist weit mehr als eine Spielerei; es stellt auch das Ergebnis einer äußerst konsequenten Suche nach der richtigen Form, Konstruktion und Materialanwendung dar.

Einheit von Raum, Statik, Ästhetik und Material

Die Werkhalle, 30 m lang, 16,5 m breit und 10 m hoch, besteht aus einem einzigen Raum, deren Nutzfläche 475 m² beträgt. Sie dient als Einstellhalle für Fahrzeuge und Maschinen, als Lagerfläche und bei Bedarf als wettergeschützter Platz für die Verrichtung diverser Kleinarbeiten. Ihre Maße beziehen sich daher nicht primär auf den menschlichen Maßstab, sondern auf die Abmessungen der riesigen Fahrzeuge, die darin untergestellt werden. Insofern sind die eindrücklichen Dimensionen der Teile, aus denen sie zusammengesetzt ist, durchaus stimmig.

Von der Typologie her ähnelt die Halle den ländlichen Ökonomiegebäuden der Umgebung, mit denen sie auch Elemente wie z. B. das ausladende Vordach über die Wetter abgewandten Toröffnungen gemeinsam hat. Ihre Anordnung in der Landschaft – auf dem höchsten Punkt des zum Fluss hin abfallenden Terrains, vor Hochwasser geschützt, und als Gegenüber zum bestehenden Werkhof – zeugt ebenfalls von einem ruhigen Pragmatismus. Die einfache Konstruktion und das traditionelle Material Holz sind in diesem Kontext verständlich und angemessen. Die Anordnung der riesigen Wandelemente, die nach oben hin jeweils etwas weiter nach außen gerückt sind, zeugt von abstrakten Gestaltungsprinzipien, folgt aber der gleichen konstruktiven Logik wie die überlappenden Holzschindeln an alten Scheunenfassaden: Das Wasser tropft an den Kanten ab, und jede Schicht schützt die darunter liegende.

Die Holzkonstruktion, die auf einem betonierten Sockel steht, wurde in nur vier Tagen mit einem Pneukran aufeinander gestapelt. Sämtliche Bauteile wie Wandelemente, Dachbinder, Dachfläche und Tore wurden aus Massivholz vorfabriziert und auf die Baustelle gebracht – für die teilweise 30 m langen Elemente waren Spezialtransporte erforderlich. Verwendet wurde Fichte, je nach Einsatz gehobelt und/oder geschliffen und vorvergraut; insgesamt wurden 340 m³ davon verbaut. Die Tragstruktur besteht aus Schweizer Holz. Sie ist so verzahnt, dass sie sich zu einer stabilen Konstruktion zusammenfügt. Auf weitere Bauteile und Materialien konnte somit verzichtet werden. Weil die Halle nicht klimatisiert ist, hat sie auch keine verglasten Fenster; an den Längsseiten sind die Zwischenräume zwischen den Bindern unter der Dachfläche offen, sodass Tageslicht und frische Luft ins Innere gelangen.

Der Bau ist weder innen noch von außen bekleidet. Die Elemente, aus denen er zusammengesetzt ist, erfüllen alle Funktionen gleichzeitig: Sie sind statisch notwendig, dienen als räumliche Abgrenzung, und prägen innen wie außen das Erscheinungsbild. Ihre Fügung ist direkt von den Materialeigenschaften des verwendeten Holzes abgeleitet. Das statische, räumliche und ästhetische Konzept sind eins, und untrennbar mit dem Materialkonzept verbunden. Dass diese absolute Konsequenz keineswegs stur daherkommt, sondern ganz selbstverständlich und leicht, ist bemerkenswert. Der zufällige Betrachter sieht nur ein riesiges Blockhaus mit gelungenen Proportionen; erst bei näherem Hinschauen lässt sich erkennen, wie viel Reflexion und Wille zur Perfektion darin stecken. Es ist ein architektonisches Statement, das die Unbeschwertheit eines Kindheitstraums ausstrahlt.

db, Di., 2016.03.01



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db 2016|03 Holz

18. Dezember 2015Judit Solt
TEC21

Der Preis der Schönheit

Ferienhäuser werden gern in unberührten Landschaften und urchigen Dörfern erstellt. Ihre Architektur inszeniert die sie umgebende Idylle – und zerstört sie oft auch. Diesem Dilemma stellten sich drei namhafte Entwerfer aus dem Norden, als sie im Tessin bauten. Die Ergebnisse.

Ferienhäuser werden gern in unberührten Landschaften und urchigen Dörfern erstellt. Ihre Architektur inszeniert die sie umgebende Idylle – und zerstört sie oft auch. Diesem Dilemma stellten sich drei namhafte Entwerfer aus dem Norden, als sie im Tessin bauten. Die Ergebnisse.

Wenn man von der Kälte kommt und in die Wärme tritt, beschlägt die Brille. Man steht da und wartet neugierig dar­auf, etwas zu sehen. Ähnlich ergeht es der Architekturkritikerin aus Zürich, wenn sie im Tessin ankommt. Wie das Kondenswasser am Brillenglas verschleiert der Mythos des Südens die rationale Sicht, sobald der Zug den Bahnhof Airolo verlässt und das Leventina-Tal hinuntersaust. Im Tessin gibt es Palmenhaine und Kastanienwälder, Grotti und Rustici, urtümliche Dörfer und liebliche Marienkirchen. Es ist die «Sonnenstube der Schweiz» und birgt die Kindheitserinnerungen all jener Deutschschweizer, die hier ein abenteuerliches Klassenlager verbracht haben. Und es ist die heimliche geistige Heimat unzähliger Architek­tinnen und Architekten, die in ihrer Jugend von den Meistern der Tendenza ausgebildet und für immer mit deren unerschütterlichem Glauben an die moderne Architektur beseelt wurden.

Dies alles trübt vorerst die Sicht. Doch irgendwann zieht man die Brille ab, wischt die Wassertröpfchen und die Nostalgie beiseite – und schaut, um die vor­übergehende Blindheit zu kompensieren, umso genauer hin. Auf einmal sieht man erschreckend scharf. Und auf einmal fragt man sich, ob man das, was man sieht, wirklich sehen wollte. Denn Reisende aus der deutschen Schweiz entdecken im Tessin neben der Idylle, die sie sich erhofft haben, auch eine verschärfte, überdeutlich ausgeprägte Version ihrer eigenen Realität.

Banalität in zauberhafter Landschaft

Abgesehen von regionalen Stilunterschieden ist die gebaute Schweiz recht einheitlich. Die historischen Zent­ren der Dörfer und Städte sind meist gut erhalten: Die Weltkriege haben sie verschont, und die bittere Armut, die bis ins 20. Jahrhundert hinein in vielen Bergregionen herrschte, hat die bauliche Erneuerung hinausgezögert. Bis der Wohlstand auch die entlegenen Gebiete erreichte, war der Fortschrittsglaube der Hochkonjunktur etwas abgeflaut und die öffentliche Meinung bereit, alte Siedlungskerne integral unter Schutz zu stellen. Was hingegen seit Generationen schutzlos dem Wirtschaftswachstum geopfert wird, ist die Kulturlandschaft. Wie der Rest des Landes trägt auch das Tessin die Spuren der helvetischen Raumpolitik: Dank kommunaler Planungshoheit darf sich jede einzelne Gemeinde ohne Rücksicht auf die übergeordneten Interessen ihrer Region entwickeln, und der föderalistische Ausgleich stellt sicher, dass sie sich das auch leisten kann.

Die Folgen der Zersiedlung sind in der ganzen Schweiz desaströs, doch im Tessin sind sie besonders auffällig (vgl. «Ticino Città Diffusa», TEC21 12/2010). Das liegt erstens daran, dass das Tessin tatsächlich stark zersiedelt ist. Der Traum vom Eigenheim im ­Grünen wird hier häufiger verwirklicht als anderswo: Der Anteil der Einfamilienhäuser am totalen Gebäudebestand beträgt ca. 68 %, während er gesamtschweizerisch bei ca. 58 % liegt.[1] Zweitens ist die durchschnittliche Zahl der Zweitresidenzen mit ca. 24.4 % aller Wohnungen sehr hoch; in vielen Gemeinden des Sopraceneri werden 20 % bis deutlich über 50 % aller Wohnungen innerhalb der Bauzonen nur periodisch genutzt.[2] Denn im Tessin bauen sowohl urbane Einheimische, die sich im entlegenen Herkunftsdorf ihrer Familie ein Wochenendrefugium einrichten, als auch Aus­wärtige. Dass unter diesen Ferienhäusern auch wahre Preziosen der modernen Architektur sind, ist ein schwacher Trost. Sie sind die Ausnahmen. Die Mehrheit der Bauproduktion ist genauso banal wie überall sonst – doch im Kontrast zu den atemberaubend schönen Dörfern und Landschaften, die sie verschandelt, wirkt sie im Tessin noch kläglicher. Hier hat man wirklich etwas zu verlieren.

Das Ferienhaus als typologischer Eindringling

Ein Problem des Ferienhauses ist, dass es unabhängig von seiner architektonischen Qualität oft per definitio­nem ein Fremdkörper in seiner Umgebung ist. In seinem Wesen ist das Ferienhaus modern und urban: Das Gesellschaftsmodell, auf dem es basiert, impliziert die räumliche Trennung von Wohnen, Arbeit und Freizeit. Damit steht es im Gegensatz zu ruralen Bauformen, die diese Bereiche stets vereint haben – und die an den Orten, wo Ferienhäuser typischerweise gebaut werden, oft vorherrschen. In Bergdörfern beispielsweise stellen Ferienresidenzen meist eine typologische Innovation dar. Als solche bewirken sie eine neue Deutung des dörflichen Kontexts, die nicht immer zugunsten des Vorhandenen ausfällt. Eine zerbeulte Badewanne als Viehtränke auf der Weide oder ein Haufen alter Werkzeuge im Hinterhof zum Beispiel stören in der Nachbarschaft eines Bauernhofs überhaupt nicht; neben einem makellosen Ferienhaus samt blitzblankem Offroader dagegen wirken sie schäbig, ärmlich, unordentlich.

Diese Abwertung der bäuerlichen Umgebung stellt sich zwar auch ein, wenn Einfamilienhausquartiere auf alte Dorfkerne stossen, aber weniger ausgeprägt. Denn obwohl das Einfamilienhaus die Trennung der Lebensbereiche voraussetzt und auf das Wohnen fokussiert, bleibt es doch bis zu einem gewissen Grad mit der Wirklichkeit der Arbeitswelt verbunden. Es beherbergt nicht nur die reine Familienidylle, sondern auch praktische Vorgänge wie Hausarbeit und, dank Homeoffice, zunehmend auch Erwerbstätigkeit. Anders das Ferienhaus: Sein einziger Zweck besteht darin, einen Ort des Rückzugs aus dem Arbeitsalltag zu bieten, wo man für kurze Zeit von einem Leben ohne Mühsal träumen kann. Deshalb darf kein hässliches Detail die Illusion beeinträchtigen. Der Ausblick in die Natur oder in das romantische Dorf wird sorgfältig inszeniert, die Sicht auf moderne Infrastrukturbauten systematisch ausgeblendet – auch dann, wenn das ­Ferienhaus selbst auf diese Infrastruktur, etwa Zufahrtsstrassen, angewiesen ist. Polemisch formuliert: Das Ferienhaus ist dazu verdammt, die Idylle, von der es lebt, zu zerstören. Es muss stets darauf ausgerichtet sein, alles Reale auszuschalten, was das Trugbild einer idealen Welt trüben könnte – mit allen architektonischen Mitteln, zu jedem Preis und ungeachtet der Schäden, die es möglicherweise seiner Umgebung zufügt.

Blicke aus dem Norden

Angesichts dieser beklemmenden Erkenntnis ist es keine leichte Aufgabe, sich auf die gestalterische Qualität eines einzelnen Ferienhauses zu konzentrieren. So her­ausragend ein solcher Bau sein mag – die Frage, ob es nicht besser gewesen wäre, ihn anderswo oder gar nicht hinzustellen, schwingt immer mit. Andererseits wäre es absurd, vor lauter Scham über die Zersiedlung, die heikle Typologie und die planlos hingeklotzte Massenware die Diskussion aufzugeben und ausgerechnet über jene wenigen Bauten zu schweigen, die eine architektonische Würdigung verdienen.

Von den drei Ferienhäusern, die hier zur Sprache kommen, ist jedes auf seine Weise einzigartig, doch sie haben auch eine wichtige Gemeinsamkeit: Weder die Bauherrschaften noch die Architekten, die sie realisiert haben, stammen aus dem Tessin. Sie sind also bauliche Umsetzungen von Sichtweisen und Erwartungen, die Besucher aus dem Norden an die italienische Schweiz herantragen. Betrachtet werden sie wiederum aus zwei Perspektiven: Zum einen mit der – nun nicht mehr beschlagenen – Brille der Architekturkritikerin aus Zürich; zum anderen aus der ortskundigen Sicht von Tessiner Baufachleuten der Redaktion Archi, der Schwesterzeitschrift von TEC21. Dass weder die architektonischen Haltungen der Bauten noch die Interpretationen der Kritiker einheitlich sind, versteht sich von selbst. Trotzdem weisen die drei ausgewählten Häuser erwähnenswerte konzeptuelle Ähnlichkeiten auf.

Conradin Clavuot: Bootshaus am Lago Maggiore

Das Dorf San Nazzaro besetzt einen schmalen Streifen am Ufer des Lago Maggiore. Der Platz ist knapp; die Häuser drängen sich zwischen See und Berge. So steil ist der Hang, dass es aussieht, als ob die Siedlung langsam ins Wasser rutschen müsste, einzig aufgehalten durch die Befestigungen der Bahnlinie und der See­strasse, die sich parallel zum Ufer zwischen die Bauten quetschen. Das Ferienhaus, das der Churer Architekt Conradin Clavuot 2012 fertiggestellt hat, steht an einem besonders beengten Ort, an dem die Kräfte von Natur und Zivilisation spektakulär aufeinanderprallen: direkt am Wasser, unmittelbar unterhalb der auf Stützmauern und Pfeilern gelagerten Uferstrasse. Oben braust der Verkehr vorbei, unten kräuselt sich der Lago Maggiore, der bei aller Schönheit nicht ganz so zahm ist wie die meisten Schweizer Seen – die Parzelle, auf der das Haus steht, wird regelmässig überschwemmt.

Clavuot hat diese Situation zum Entwurfsthema gemacht. Von der Strasse aus gesehen wirkt der Neubau wie ein Bootshaus: Er ist aufgeständert und ragt über die Wasseroberfläche, und auch die rundum verglaste Fassade wirkt wegen der naturfarbenen Holzrahmen der Fenster eher hölzern als gläsern. Eine Betontreppe führt längs des Hauses von der Strasse zum Ufer hinunter; auf etwa halber Höhe befindet sich ein Podest mit dem Eingang, dann geht es weiter hinunter in den Garten. Dort erkennt man, dass das Haus nicht auf Pilotis steht, sondern auf zwei Bügeln aus Beton, mit denen es lediglich zwei Berührungspunkte hat; weitere zwei Betonbügel stehen davor im See. Weil die Betonplatte, die den Boden des Hauses bildet, sich an den Rändern verjüngt, wirkt sie wie der Rumpf eines Boots, das auf die Bügel aufgebockt ist und auf seinem Kiel im Gleichgewicht steht.

Obwohl das Bootsthema an diesem Ort naheliegend ist, wirkt die Umsetzung nicht kitschig. Clavuot integriert auch die verwitterten Betonpfeiler, Mauern und Hangbefestigungen in seinen Entwurf, die die Stras­se über die Uferlinie erheben und die Rückwand der Parzelle bilden. Der als Terrasse ausgebildete Parkplatz und die Zugangstreppe wirken ebenso pragmatisch hinzugefügt wie die glitschige alte Betontreppe, die von der Strasse zum benachbarten Freibad hinunterführt. Weil das Haus hoch über dem Boden schwebt, entsteht darunter ein schattiges, feuchtes Mini-Idyll, das nahtlos in den Wildwuchs am Fuss der Stützmauer übergeht. Bilder, Themen und Zitate überlagern sich zu einem stimmungsvollen Ganzen.

Nur wenige Schönheitsfehler gibt es – etwa dass die Auflagepunkte des Hauses auf den Bügeln einseitig verstärkt wurden oder dass das kleine Treppenpodest vor dem Eingang gleich dick erscheint wie die Bodenplatte des Hauses. Im Innern dagegen zieht sich die Eleganz durch. Die Räume sind rund um einen Funk­tionskern organisiert; vom Wohnzimmer blickt man auf den See, die Schlafzimmer sind zur Strasse oder zum Nachbargrundstück hin orientiert. Zwei Details fallen besonders auf: die Höhe der Räume, die auch schmale Flure zu lichtdurchfluteten Passagen macht, und der gezielte Einsatz des Holzes im Innenausbau. An sehr vielen Stellen – aber nicht überall – ist der Sichtbeton der tragenden Wände mit Holz überzogen, das gleichsam eine honigfarben schimmernde, warme, samtige Tapete bildet. Insbesondere der Wohnbereich ist als holzverkleidete Nische ausgebildet. Mit dem Rücken an diese verfeinerte Oberfläche gelehnt, kann man bequem auf den stürmischen See hinausblicken.

Bearth & Deplazes: Festung gegen die Hässlichkeit

Der Genuss, von einem sicheren Rückzugsort in eine wilde Landschaft hinauszublicken, durchdringt auch das Haus in Mergoscia, das Bearth & Deplazes Architekten aus Chur errichtet haben. Hier ist dieses Thema fast allgegenwärtig. Das Haus ist vollständig in einen steilen Rebhang hineingegraben. Der Eingang erfolgt durch eine Türe, die sich unten, auf der Höhe der Zufahrtsstrasse, in einer alten Trockenstein-Befestigungsmauer öffnet. Eine lange, schmale Kaskadentreppe führt unterirdisch nach oben. Wenn man wieder unter freiem Himmel auftaucht, findet man sich in einer anderen Welt wieder: auf einer in den Hang geschnittenen Terrasse, rechts und links mächtige Stützmauern aus Sichtbeton, vor sich die strenge Hauptfassade. Vor dem vollflächig verglasten Erdgeschoss steht eine quadratische Stütze, die ein Vordach trägt und auf den ersten Blick unverständlich massiv wirkt, im Obergeschoss gliedern vier französische Fenster die Sichtbetonoberfläche.

Im Innern offenbart sich der räumliche Reichtum, von dem die unterirdische Treppe eine Vorahnung vermittelt hat. Das Erdgeschoss besteht hauptsächlich aus einem Wohn- und Essraum, der sich wie eine private Theatergalerie der grossartig inszenierten Aussicht zuwendet. An der Rückwand aus Sichtbeton befindet sich – auch hier – eine mit Holz verkleidete Nische. Aus der Tiefe dieser Loge erblickt man ein genau komponiertes Bild: Die Seitenmauern der Terrasse und das Vordach wirken wie ein Objektiv, das auf einen ausgewählten Ausschnitt der fernen Bergkulisse fokussiert. Im Gegenlicht verschwinden die filigranen Rahmen der raumhohen Verglasung, und die mittlere Stütze erscheint schlanker und eleganter als von aussen; nun ist sie gerade noch dominant genug, um die perspektivische Staffelung zu unterstreichen.

Hinter der Nische führt eine einläufige Treppe ins Obergeschoss hinauf. Auch dieser Aufstieg ist ein Erlebnis: Das Treppenhaus aus Sichtbeton ist ein langer, schmaler, fast acht Meter ­hoher, zenital beleuchteter Raum. Der Eindruck ist ­überwältigend, wie wenn man sich ins Innere einer Staumauer wagt – was de facto nicht ganz falsch ist, weil man das ganze Haus als erweiterte Befestigungsmauer im Hang betrachten kann. Im Obergeschoss setzt sich das perspektivische Spiel fort: Die tiefen Laibungen der Fenster geben kleine, vertikale Portionen des Panoramas frei, die noch ferner erscheinen, als sie sind, weil die Raumhöhe aufgrund der Dachschräge nach hinten zunimmt.

Im ganzen Haus herrscht kontemplative Ruhe. Das liegt an den extremen Proportionen der Räume, die schmal und hoch in die Höhe streben, an der Symmetrie der Hauptfassade und an der Materialisierung. Zu sehen gibt es fast nur Sichtbeton, der vor Ort in kleinen Mengen gemischt wurde, kombiniert mit massivem Bündner Nussbaumholz für die Möbel und die Ausfachungen der Nischen. In den Badezimmern und an der Wasserstelle auf der Terrasse wurde anstelle des Holzes glitzernder, weisser Cristallino-Marmor wie eine Intarsie in den Beton gefügt. Die Atmosphäre des ganzen Gebäudes ist still und erhaben.

Umso frappanter ist der Kontrast zur Umgebung. Steht man am vorderen Rand der Terrasse, sieht man nicht nur das tief unten liegende Verzasca-Tal, den glitzernden See und den Monte Tenero, sondern auch die Nachbarbauten: gewöhnliche und eigentlich ganz nützliche Häuser (eines davon enthält den Parkplatz, der es ermöglichte, beim Neubau auf eine Tiefgarage zu verzichten), aber alles andere attraktiv. Um die Aussicht zu geniessen, muss man sich nach hinten zurückziehen, mit dem Rücken zur Wand in einem Haus, das sich wie eine Festung gegen die unerträgliche Hässlichkeit der Zivilisation in den Berg stemmt. Die innere Schönheit und der fantastische Ausblick sind teuer erkauft: Um sie zu ermöglichen, brauchte es einen unübersehbaren Einschnitt in den Rebhang. Das Haus ragt zwar nicht über den Boden hinaus, aber es lädiert die Bergflanke ähnlich brutal wie ein eingezogener Balkon ein historisches Giebeldach. Der Eingriff in die Landschaft ist architektonisch zwar ungleich intelligenter gelöst als bei den Nachbarbauten, aber er ist ebenso massiv.

Sergison Bates: vertraut und verfremdet

Im Gegensatz zu diesem Kraftakt strebt das Ende 2014 fertiggestellte Ferienhaus von Sergison Bates nach kultivierter Normalität. Es steht im historischen Dorfkern von Monte, einem Weiler von Castel San Pietro oberhalb von Mendrisio. Die eng aneinander gedrängten Häuser wurden über die Jahrhunderte laufend transformiert, sie zeugen von Enge und knappen Ressourcen; doch der Ort trägt auch unübersehbare Spuren jener Stuckateure, die in Norditalien zu Ruhm gekommen und manchmal in ihre Herkunftsdörfer zurückgekehrt waren. Die Piazza ist schön proportioniert, und es gibt eine eindrückliche Barockkirche.

Auch der Bau, den Sergison Bates in ein Ferien­haus verwandelt haben, hat eine lange und wechselvolle Geschichte. Über dem Eingang an der Strassenfassade prangt eine Madonna; die Stuckverzierung ist ein Ex Voto, das im 17. Jahrhundert nach einer Pest angebracht wurde. Diese Fassade wurde im Rahmen des Umbaus nur wenig verändert. Die östliche, zu einem kleinen abgetreppten Platz orientierte Ansicht dagegen ist neu. Dieser Teil des Hauses war in einem schlechten Zustand. Anfang des 20. Jahrhunderts hat man an der Fassade eine Treppe hinzugefügt, die Holzloggia im Erdgeschoss zugemauert und jene im Obergeschoss umgebaut. Diese ausserhalb der Fassade gelegene Raumschicht haben Sergison Bates abgebrochen und ersetzt. Das Untergeschoss, das wegen des steilen Hangs auf dieser Seite ebenerdig ist und ein Gästezimmer enthält, erhielt eine grosse Öffnung; im Erd- und Obergeschoss wurden neue Loggien angebaut.

Der Eindruck, den diese Ansicht des Hauses vermittelt, ist vielschichtig und verwirrend. Auf den ersten Blick fällt nur auf, dass die Loggien neu – oder besser: neuer als jene der Nachbarhäuser – sein müssen; doch aus welcher Zeit sie stammen, bleibt rätselhaft. Die gemauerten Stützen, betonierten Böden und recht massiven Proportionen verweisen auf die 1970er-Jahre; auch der grobkörnige helle Verputz evoziert diese Zeit, doch in Wirklichkeit ist er von der Oberfläche der barocken Kirche inspiriert; das feingliedrige Geländer wiederum erinnert mit seinen abwechslungsweise gekippten Staketen an die 1950er-Jahre. Das Gebäude ist als neu erkennbar, aber es scheint auch über lange Zeit gewachsen zu sein. Es ist der Effekt, den man in der Schweiz von einigen Werken der analogen Architektur kennt (vgl. TEC21 37/2015 und 38/2015): Aus vielen alltäglich-­banalen Einzelheiten, die scheinbar beiläufig zusammengefügt wurden, entsteht ein vertrautes Bild, das erst auf den zweiten Blick durch kleine Verfremdungen und Irritationen zu verstehen gibt, dass es bei Weitem nicht so naiv ist, wie es erscheinen mag.

Im Innern des Hauses setzt sich dieses Spiel mit dem Vorgefundenen fort. Die neu hinzugefügten Wände sind aus hellem Holz, im Unterschied zu den massiven Mauern und dunklen Balken des Altbaus. Sie schmiegen sich massgeschneidert an den Bestand, gleichen dessen Unregelmässigkeiten aus und betonen sie gleichzeitig. Auch hier gibt es Details, die belegen, mit welcher fast manieristischen Sorgfalt der Dialog zwischen Alt und Neu gepflegt wurde – zum Beispiel die neuen Fussleisten, die bei den alten Mauern aufgesetzt sind, bei den neuen Holzwänden aber mit deren Oberfläche verschmelzen. Die alten Fensterlaibungen, die sich nach aussen verengen, haben die Architekten erhalten; teilweise haben sie die Schiefen und Schrägen leicht überhöht und bei neuen Einbauten wie der Treppe wieder aufgegriffen. Da im Obergeschoss die Zwischendecke zum Estrich entfernt und das Dach erneuert wurde, kommt hier die Dachschräge noch hinzu.

Geborgenheit, Einkehr und Schönheit

So unterschiedlich diese drei Häuser sind, sie haben auch einiges gemeinsam. Erstens die gezielte Verwendung von Holz als «Weichzeichner», um in einem mineralischen Gehäuse – Sichtbeton oder Mauerwerk – wohnliche Nischen zu gestalten. Wie ein Futteral schmiegt sich das Holz an die Oberflächen, es schimmert sanft in Kombination mit Polstern und Kissen. Obwohl die Bauten zurückhaltend ausgestattet sind, kommen sie nicht ohne ein gewisses Mass an Cocooning aus; und das Material, das Geborgenheit vermitteln soll, ist Holz.

Eine zweite Gemeinsamkeit sind die überhohen Räume, deren Proportionen darauf ausgelegt sind, eine Stimmung der Ruhe und Ausgewogenheit zu erzeugen, die den kontemplativen Rückzug aus der Welt erleichtert. Das geht stellenweise so weit, dass der Rückzug einen mystischen Charakter erhält. Ob intendiert oder nicht, dieser Effekt ist in allen drei Häusern spürbar – bei Clavuot nur sehr diskret, bei Bearth & Deplazes ausgeprägter. Die Treppen etwa sind dort nicht nur eindrücklich, sie führen auch zum Licht, und selbst das Badezimmer im Obergeschoss scheint in den Himmel zu streben. Auch Sergison Bates haben ein Giebelfenster freigelegt, durch das ein schmaler Sonnenstrahl von oben ins Wohnzimmer fällt und aus der Enge des Dorfs in die Weite des Himmels weist. Kein Zweifel: Tessiner Ferien sind nicht nur eine Chance, die Arbeit zu vergessen und sich den Freuden des Nichtstuns hinzugeben. Sie scheinen für Nordländer manchmal auch eine ernsthafte, geradezu erhabene Angelegenheit zu sein.

Und der Umgang mit dem Kontext? Wenig erstaunlich ist, dass alle drei Häuser mit sorgfältig komponierten Ausblicken aufwarten: auf den See, die Berge, den historischen Dorfkern – und auf möglichst wenig Modernes. In Mergoscia kulminiert dieses Bestreben darin, dass der Neubau den Blick auf seine Nachbarschaft komplett verweigert. Angesichts von deren Banalität mag das verständlich sein; doch die architektonische Geste, der es für diese Einkehr bedurfte, war kräftig. Im Gegensatz dazu fügt sich das Haus in Monte diskret in den Dorfkern ein und fokussiert auf ausgewählte Ansichten der historischen Umgebung. In San Nazzaro schliesslich war alles versammelt: Dorfkern, Infrastrukturbauten, Verkehr, Bergpanorama und die Weite des Sees. Es ist bemerkenswert, wie gut es Conradin Clavuot gelang, seinen Entwurf nicht nur auf die Seesicht auszurichten, sondern auch an Land einen angenehmen Ort zu schaffen, der die rauen und pragmatischen Aspekte der Umgebung nicht negiert.

[Diese vier Texte zu Tessiner Ferienhäusern sind zuerst erschienen in: Archi 1/2015 «Vacanze sudalpine», Februar 2015. In jener Ausgabe von Archi finden sich weitere Artikel zum Thema – nachzulesen unter: www.espazium.ch/archi/archivio/2015/1]


Anmerkungen:
[01] Statistischer Atlas der Schweiz, Zahlen von 2012.
[02] Bundesamt für Statistik, Zahlen von 2000.

TEC21, Fr., 2015.12.18



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TEC21 2015|51-52 Tessiner Träume

08. Mai 2015Judit Solt
TEC21

Verzogen und verzerrt

SAM Architekten und die Ingenieure von Conzett Bronzini Gartmann haben ein Ferienhaus nach traditionellem Rezept erstellt: Holzaufbau auf mineralischem Sockel. Das Konstruktionsprinzip ist bekannt, doch die Interpretation hält Überraschungen bereit.

SAM Architekten und die Ingenieure von Conzett Bronzini Gartmann haben ein Ferienhaus nach traditionellem Rezept erstellt: Holzaufbau auf mineralischem Sockel. Das Konstruktionsprinzip ist bekannt, doch die Interpretation hält Überraschungen bereit.

In aufgeklärten Architektenkreisen geniesst die Bauaufgabe «Ferienhaus» einen zwiespältigen Ruf – und dies nicht erst seit der Annahme von Zweitwohnungsinitiative und revidiertem Raumplanungsgesetz. Beim Ferienhaus spitzt sich das Dilemma zu, das auch beim Einfamilienhaus stets mitschwingt: Der Reiz, mit einem frei stehenden Gebäude zu experimentieren, kollidiert mit dem Unbehagen, die Landschaft zu zersiedeln und Ressourcen zu verschleissen.

Dabei ist die Nutzung beim Feriendomizil naturgemäss noch spärlicher, die induzierte Mobilität höher und der Eingriff in die Landschaft empfindlicher als beim Einfamilienhaus. Gleichzeitig ist die gestalterische Freiheit oft grösser: Neben all dem Pragmatismus, der solche Investitionen begleitet, ist das Thema des architektonischen Entwurfs näher beim Lustschloss als beim Bauen für das Existenzminimum angesiedelt. Schliesslich soll dieser Typus einen Rückzugsort aus den Zwängen des Berufslebens ermöglichen – eine fast unwiderstehliche Verlockung für viele Architektinnen und Architekten, deren Arbeitsalltag selten solche Gelegenheiten bereithält. Und eine Chance, die Bauaufgabe als technische und formale Versuchsanordnung zu nutzen.

Beim Ferienhaus Tgiesa Crapera in Lenzer­heide GR haben SAM Architekten und Partner aus Zürich und die Churer Bauingenieure Conzett Bronzini Gartmann denn auch die Gelegenheit genutzt, konstruktive und gestalterische Ideen konsequent weiterzudenken. Das Haus befindet sich am östlichen Rand des Dorfs; es ist das vorletzte Gebäude an einem Strässchen, das sich den Hang hinaufschlängelt und im Wald verliert.

Unterhalb liegt das Tal mit dem Dorfkern, oberhalb gibt es nur noch Fichten und Lärchen und in der Ferne den kahlen Gipfel des Rothorns. Die Nachbarschaft besteht aus meist älteren Bauten, die sich unter ihren Sattel­dächern ins Gelände ducken.

Der Neubau ersetzt ein Baumeisterhaus aus den 1940er-Jahren, das nach mehreren Besitzerwechseln und einem stark gewachsenen Raumprogramm einiges von seiner ursprünglichen Qualität eingebüsst hatte. Seine prägenden Attribute – die Zufahrt von unten, der Knick im Grundriss entlang der Höhenlinie, die mächtige Terrasse im Westen, die Ausrichtung des Baukörpers gemäss den Hauptwindrichtungen und die Hinwendung zum Panorama – waren indes stimmig, und die Planer haben sie für den Neubau wieder aufgegriffen. Dabei haben sie zwei Themen besonders vertieft: zum einen die verzerrte Form des Gebäudes, dessen Geometrie dem Verlauf der Bergkante folgt, und zum anderen die traditionelle Kombination eines mineralischen Sockels mit einer aufgesetzten Holzkonstruktion.

Holz auf Beton

Die Vorfahrt unterhalb des Hauses wird dominiert von massiven, aus Weissbeton gegossenen Stützmauern. Hinter diesen befinden sich die Garage, diverse Keller- und Technikräume und der Eingang; man betritt das Haus durch eine harte, felsige, in den Hang gestemmte Sequenz. Eine Etage weiter oben, im Sockelgeschoss, wo das Gebäude teilweise aus dem Erdreich ragt, reihen sich fünf Schlafzimmer und drei Nassräume um die zentrale Treppe. Hier wechselt die Stimmung: Die Trennwände sind aus Holz, ebenso wie die Decke, die von vorgefertigten, in den Sockel eingespannten Holzpilastern gehalten wird. Die nächste Etage schliesslich, die wegen des steilen Hangs ebenerdig zum oberen Strässchen liegt, besteht aus einem einzigen, nach allen Seiten offenen Küchen- und Wohnbereich, der ganz aus Holz gezimmert ist und von einem mehrfach gefalteten Dach überspannt wird.

Chalet oder Pagode?

In diesem Dach konzentrieren sich mehrere Eigenheiten des Hauses. Auf den ersten Blick erkennbar ist die ungewöhnliche Konstruktion: Anstelle der Sparren sind in der Untersicht Pfetten als regelmässiges Streifenmuster zu sehen. Dies ist nicht nur ein Hinweis auf die besondere statische Lösung (vgl. Kasten «Räumliches Tragwerk aus Holz», S. 28); die dicht angeordneten ­Pfetten betonen die horizontale Ausdehnung des Dachs, das dadurch flächiger und weiter wirkt und den Raum entsprechend grösser erscheinen lässt. Die Sparren dagegen sind nur von aussen zu erkennen, wo ihre ­Stirnen im offenen Dachrand sichtbar werden. Ihre unregelmässige Anordnung verweist auf den Kräftefluss innerhalb der Dachkon­struktion: Über den Stützen sind die Sparren doppelt so dicht angeordnet wie dazwischen. Gleichzeitig bilden die Stirnen ein rhythmisches Muster, das im Kontrast zu den strengen Streifen der Pfetten eine gestalterische Komponente einbringt.

Diese Spannung zwischen den nüchternen Entwurfs- und Konstruktionsregeln, die sich die Planer selbst auferlegt haben, und der zurückhaltenden Verspieltheit, mit der sie sie auslegen, prägt das ganze Gebäude und verleiht ihm seinen leicht subversiven Reiz. Dass im ganzen Haus kein einziger rechteckiger Raum zu finden ist, müsste keineswegs zwingend aus der Figur des Vorgängerbaus folgen. Doch im Neubau ist fast alles verzerrt und verzogen: die Zimmer, das Treppenhaus, die fünfeckigen Bodenplatten im Eingangsgeschoss, die sich nach unten verjüngenden Pilaster in der Fassadenebene, die schrägen Stützen rund um das Treppenauge, das Dreieck-Sterne-Muster der Tapeten in den Zimmern, das Faltdach aus Trapez- und Dreiecksflächen, der schräg abgeschnittene Dachabschluss und sogar noch das Kamin mit der trapezförmigen Seitenansicht.

Selbst «unverfängliche» Elemente wie die Wasserspeier wirken mehrdeutig: Ihre Überlänge ist im alpinen Raum sinnvoll und durchaus üblich; doch die Proportionen und die schrägen Spitzen evozieren auch gereckte Drachenhälse, und diese Assoziation unterläuft die rationale Begründung. Ein latenter Spiel­trieb beseelt das Haus mit unzähligen, leise angedeuteten Fährten, denen die geneigte Fantasie folgen kann. Wer sich darauf einlässt, entdeckt eine Welt von Interpretationen. Dieses mächtige, bewegte Dach mit seinen spitzigen Speiern, das sich unter dunklen Fichten und Lärchen und steilen Schneehängen an den Berg schmiegt – gehört es zu einem alpinen Ferienhaus, einem würdigen Nachfolger des gemütlich-hölzernen helvetischen Chalets, oder am Ende vielleicht doch zu einer japanischen Pagode, die sich aus einem Manga hierher verirrt hat?

TEC21, Fr., 2015.05.08



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TEC21 2015|19-20 Holzbau aufgesetzt

09. November 2014Judit Solt
Susanne Frank
TEC21

«Es braucht eine neue Sensibilität»

Ein interdisziplinäres Team hat untersucht, wie Politik und Verwaltung ­unsere gebaute Umwelt prägen. Ein Gespräch mit dem Forschungsleiter.

Ein interdisziplinäres Team hat untersucht, wie Politik und Verwaltung ­unsere gebaute Umwelt prägen. Ein Gespräch mit dem Forschungsleiter.

TEC21: In Ihrer Forschung geht es um Entscheidungsprozesse im Städtebau. Dabei stehen die Akteure und die Entstehungsabläufe auf Ebene der kommunalen Verwaltung im Mittelpunkt – und nicht die Planerinnen und Planer. Warum dieser Ansatz?
Joris Van Wezemael: Es ist ein Fehler, die Siedlungsentwicklung einseitig vom Planer her zu denken. Planung entsteht nicht im leeren Raum. Die Siedlungsentwicklung geschieht heute vermehrt durch Verdichtung, in Gebieten also, wo Menschen wohnen und Infrastrukturen vorhanden sind. Dabei gilt es, die Planung als kollektives Vorhaben zu begreifen, das nicht auf eine einzelne Berufsgruppe beschränkt ist. Uns ging es darum, das Zusammenspiel zwischen den betroffenen Akteuren zu ergründen. Planung entwickelt sich im interaktiven Prozess. Für das Endprodukt sind aber nicht nur die beteiligten Menschen oder Institutionen prägend, sondern auch Gesetze, Sachpläne und räumliche Ausgangssituationen. Diese Dinge verdienen ebenso Beachtung, weil sie im Sinn einer vorgelagerten materiellen Begrenzung das Handeln der menschlichen Akteure beeinflussen. Wir haben auf unterschiedlichen Massstabsebenen – Parzelle, Areal oder Stadtgebiet – mit verschiedenen Perspektiven Handlungsspielräume, Muster, Wirkungen, Eigenlogiken und Praktiken untersucht. Die Gemeinde als Ausgangspunkt hat vor allem forschungspragmatische Gründe.

Welche Thesen lagen Ihrer Forschung zugrunde?
Van Wezemael: Am Anfang stand die Feststellung, dass wir zwar kollektiv eine Kulturlandschaft und Städte produzieren, uns aber nicht heimisch darin fühlen. Hinter diesem Widerspruch stecken komplexe Prozesse. Wir haben versucht, sie zu beschreiben und zu verstehen.

Sie haben also Wirkungsforschung betrieben?
Van Wezemael: Ja. Wir wollten herausfinden, warum der Raum, wie wir ihn heute sehen, so und nicht anders produziert wurde und warum er weiterhin so reproduziert wird. Wir haben Fragen des Städtebaus und der Raumentwicklung nicht durch die normative Brille betrachtet und untersucht, wie es sein sollte. Wir wollten wahrnehmen und verstehen, wie es ist. Päpste gibt es schon genug, die behaupten, sie könnten das Land wunderbar entwickeln, wenn die «bösen» Behörden, Gesetze, Anwohner und Investoren usw. ihre schöne Idee nicht immer torpedieren würden. Wir wollten dieser Haltung entgegenwirken, die Realität ernst nehmen und ihre Entstehungsprozesse begreifen. Wir haben uns weniger für das Selbstverständnis der Planenden interessiert als vielmehr dafür, in welche Handlungszusammenhänge sie eingebunden sind, welche Voraussetzungen ihre Tätigkeiten haben und welche Wirkungen sie tatsächlich erzielen. Denn dadurch, dass Planung im Zusammenspiel vieler Akteure und vorangegangener Entscheide stattfindet, ist ihre Wirkung nicht vorhersehbar. Ja, vielfach ist sie gar paradox. Es ist verständlich, dass viele Planerinnen und Planer das als frustrierend empfinden.

Wenn niemand wirklich glücklich ist mit der heutigen räumlichen Entwicklung der Schweiz, warum tragen dann so viele dazu bei, sie genauso fortzuführen? Sind die Gemeinden eigentlich zufrieden mit ihrer eigenen Entwicklung?
Van Wezemael: Das ist eine sehr wichtige Frage. Um sie zu beantworten, ist eine intensive Auseinandersetzung mit dem Konzept der «Identität» nötig: Wer sind wir in Bezug auf unsere Lebensweise und Kultur, und wer wollen wir in Zukunft sein? Für die Herstellung einer identifikationsfähigen gebauten Umwelt ist die Beantwortung dieser Frage zentral. Die Fallstudien (vgl. folgende Artikel) zeigen auf, dass es in den Gemeinden an einem gemeinsamen Referenzrahmen jenseits idealisierter Vorstellungen von «Stadt» und «Land» fehlt, der auf die Eigenheit und den Genius Loci des jeweiligen Orts Bezug nimmt. Der Frage der Identität wird in der Regel viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Das ist ein unterschätztes Risiko im Planungsprozess: Wenn zum Beispiel eine Gemeindeverwaltung oder Planer «etwas Städtisches bauen» wollen, das die Investoren aber für ein ländlich ausgerichtetes Mietersegment entwickeln, kommt es unweigerlich zum Konflikt.

Warum wird die Frage der Identität so oft ausgeklammert?
Van Wezemael: Weil sie extrem heikel ist. Sie wird zwar in jedem Projekt mehr oder weniger explizit sichtbar, doch in den wenigsten Fällen hat jemand Interesse daran, sie zur Diskussion zu stellen. In einem direktdemokratischen System kann das schnell dazu führen, dass sich keine Mehrheit für ein Projekt findet. Für die politische Seite wie für die Investoren steht aber die Machbarkeit des Projekts im Vordergrund. Darum findet eine systematische «Entpolitisierung» der Projekte statt: Man versucht, sie möglichst zu versachlichen, zu technokratisieren – und klammert die grundsätzliche Frage, ob sie überhaupt wünschenswert sind, aus. Es ist einfacher, über Nutzung und Morphologie zu sprechen als über Sinn, Bedeutung und Identität.

Sie haben Fallstudien gemacht und mit einer Reihe von Gemeinden zusammengearbeitet. Warum haben Sie diese Gemeinden gewählt?
Van Wezemael: Wir haben elf Gemeinden angeschaut, aber nicht jede gleich intensiv. Wir wollten keine «Leuchtturmprojekte» feiern, sondern ganz alltägliche Planung untersuchen, und zwar in Gemeinden, die vor den grössten Herausforderungen stehen, etwa in Bezug auf Nachverdichtung, und gleichzeitig limitierte Ressourcen haben. Das trifft in der Schweiz auf viele Umlandgemeinden von Kernstädten zu. Dort wird die Schweiz im Moment gebaut. Wir haben Gemeinden gesucht, bei denen die eingespielten Routinen versagen, weil sie durch «externe Schocks» durchbrochen werden wie Veränderungen ihrer Erreichbarkeit infolge von Infrastrukturprojekten oder Transformationsdruck infolge wirtschaftlichen Strukturwandels.

Wie haben Sie die Prozesse analysiert?
Van Wezemael: In der ersten Phase haben wir uns Grundlagen besorgt. Wir haben durch das Eruieren von abgeschlossenen oder laufenden Projekten versucht herauszufinden, was in der Gemeinde passiert. Dann sind wir auf den Gemeindepräsidenten zugegangen und haben gefragt: Dürfen wir mit Ihnen Ihre Gemeinde anschauen? Welche Aspekte möchten Sie hervorheben? Wir sind nicht mit einer vorgefassten Meinung über urbane Qualität hingegangen, sondern haben den Dialog mit den Leuten gesucht. Wir wollten herausfinden, was sie unter urbaner Qualität verstehen, warum sie eine bestimmte Entwicklung wollen oder nicht, was sie tun, um diese Entwicklung zu erreichen. Wir wollten dann in einem nächsten Schritt die Konzeptionen der urbanen Qualität nachzeichnen, wie sie für die Akteure handlungsrelevant sind.

Wie war die Zusammenarbeit mit den Gemeinden?
Van Wezemael: Die Leute hatten ein grosses Interesse am Austausch, am Erzählen ihrer täglichen Erfahrungen. Auch die Bereitschaft, uns relativ intime Prozesse beobachten zu lassen, war gross.

Was haben Sie denn konkret beobachtet? Wie haben Sie die Prozesse analysiert und bewertet?
Van Wezemael: Das Forschungsprojekt hatte zum Ziel, die Übersetzungen von Konzeptionen urbaner Qualität zwischen verschiedenen «Arenen» zu analysieren. Bei diesen Arenen handelt es sich grob um die politische Rahmensetzung, die Arbeit in verschiedenen Projektphasen und die Verwaltungsarbeit. Wir haben unseren Forschungsgegenstand aus dem Blickwinkel dreier Disziplinen untersucht. Wir haben versucht, die spezifische Stärke jeder Disziplin zu nutzen und zu schauen, was sie zu der interdiszi­plinären Fragestellung beitragen kann: Der Politologe hat auf der Basis von Tiefeninterviews vor allem Prozesse der politischen Rahmensetzung ergründet. Der Planer/Geograf hat neben Befragungen planerische Arbeitsdokumente untersucht, Prozessanalysen hergestellt und die Transformationen von Qualitätskriterien im Projektverlauf nachgezeichnet. Und die Ethnografin hat die alltäglichen administrativen Prozesse beobachtet und sich damit beschäftigt, wie sie organisiert sind und wie sie auf Qualitätskriterien wirken – beispielsweise: Was passiert in einem Bewilligungsprozess zu welchem Zeitpunkt mit welchen Dokumenten? In diesen drei Teilprojekten haben wir gezielt unterschiedlich gearbeitet – aber immer mit Instrumenten der Sozialwissenschaften. Unser Projekt komplementiert mit seiner konsequent sozialwissenschaftlichen Ausrichtung die Projektlandschaft im NFP 65.

Haben Sie in Ihrer Arbeit Überraschungen erlebt?
Van Wezemael: Ja. Die grösste war: Wir haben sehr unterschiedliche Gemeinden und Ausgangssituationen analysiert, aber trotz dieser Unterschiedlichkeit festgestellt, dass es auch eine Konstante gibt. Heterogene Raumeinheiten – also Gebiete, die einen ganz anderen Charakter haben als ihre Umgebung – entstehen systematisch überall. Es entsteht ein Stückwerk aus Quartieren und Arealen mit jeweils komplett unterschiedlichen Charakteren. Dieser Mechanismus findet in reichen und armen Gemeinden statt, mit und ohne Schrumpfungs- oder Wachstumsdruck, mit höherer oder geringerer Professionalität, mit aktiver oder weniger aktiver Bodenpolitik, in diversen Konstellationen von Akteuren. Damit kann man belegen, dass genau die Raumstrukturen, die so oft moniert werden – das Heterogene, was unsere Agglomerationslandschaften ausmacht –, systematisch und nachvollziehbar produziert werden.

Das NFP 65 lief unter dem Leitsatz «Neue urbane Qualität». Sie betrachten den Prozess losgelöst vom «Blick des Architekten» auf urbane Qualität. Wäre es nicht aufschlussreich gewesen, wenn Architekten und Sozialwissenschaftler in dieser Forschung stärker zusammengearbeitet hätten? Die Schwierigkeiten ergeben sich doch gerade, wenn die Akteure getrennt agieren. Ist das nicht eine verpasste Chance?
Van Wezemael: Das ist zunächst ein Missverständnis. Wir sind den Deutungen und Umdeutungen von Qualität durch die Akteure gefolgt und haben unter anderem herausgefunden, dass Vorstellungen von Qualität unterschiedlich verhandelt und produziert werden. Während in liberal-passiven Gemeinden (vgl. Infobox und die drei Fallstudien ab S. 26) grundsätzlich eher die Qualitätsvorstellungen der privaten Akteure umgesetzt werden, zeichnet sich in aktiven Gemeinden eine Koproduktion von Qualität ab. Unser Ansatz ist aber vor allem auch eine Reak­tion auf das Scheitern der Wunschvorstellung aus den 1960er-Jahren, dass nämlich die Sozialwissenschaften den Architekten Informationen liefern, die in den Entwurf einfliessen. Bei komplexen Aufgabenstellungen wie der Innenentwicklung, bei der viele andere Akteure dazukommen, funktioniert das auf keinen Fall. Die Probleme sind vor allem in mangelndem gemeinsamem Vokabular und zu unterschied­lichen Instrumenten begründet. Im Wirklichkeit geht es aber um einen viel grundsätzlicheren Perspektivenwechsel, den John Habraken so treffend benennt: Wir müssen die gebaute Umwelt als etwas Autonomes untersuchen, nicht als etwas, das wir geschaffen haben, sondern als etwas, zu dem wir beitragen können. Darum stellt sich nicht die Frage, wie Laien an der Arbeit von Experten, den Städtebauern, teil­haben können, sondern vielmehr, wie der Entwerfer an der bereits existierenden Welt teilhaben und zu dieser positiv beitragen kann. Der Begriff der Partizipation wird so vom Kopf wieder auf die Beine gestellt. Diesem Befund Rechnung tragend, haben wir urbane Qualität untersucht, wie sie in der Wirklichkeit und nicht nur in Planerfachkreisen zirkuliert.

Wird urbane Qualität in den Gemeinden thematisiert? Gibt es konkrete Vorstellungen dazu?
Van Wezemael: Unsere Daten zeigen, dass häufig überhaupt keine Debatte zu urbaner Qualität stattfindet – und wenn doch, dann meist aufgrund von stark trivialisierten Vorstellungen etwa der «europäischen Stadt». Man spricht über öffentliche Räume und manchmal sogar über Interaktionsdichte; aber diese Vorstellungen beschränken sich in der Regel auf die Morphologie. Wenn man von Gartenstadt spricht, meint man eine Abfolge von grünen und bebauten Flächen – und blendet den sozialutopischen Aspekt dabei komplett aus.

Haben Sie Möglichkeiten gefunden, innovative Wege in der Stadtentwicklung zu eröffnen?
Van Wezemael: Wir haben Innovationspotenzial identifiziert. Ein wichtiger Punkt ist die Kontinuität im Planungsprozess. In der Planungslehre wird vorausgesetzt, dass die Vorgaben der übergeordneten Planung quasi automatisch in alle Massstabsebenen einfliessen. Wir haben dokumentiert, dass das nicht stimmt: Im regionalen Entwicklungsleitbild zum ­Beispiel mögen Vorstellungen zu einer qualitätsvollen Innenverdichtung festgehalten sein, doch damit diese tatsächlich den Weg in ein Bauprojekt finden, muss man vor allem auf Seiten der öffentlichen Hand ex­trem viel Energie in den Prozess stecken – was nicht zwingend gegeben ist. Denn zwischen den Massstabs­ebenen des Bundes, des Kantons, der Region, aber auch der Gemeinde, des Ortsteils oder des Entwicklungsareals ändern sich die Rechtsätze, Zuständigkeiten und ökonomische Zusammenhänge – und die Akteure werden ausgewechselt. Somit werden Konzeptionen urbaner Qualität in der Mehrheit der Fälle nicht übersetzt. Es gibt selten jemanden, der den Überblick b­ehält und den Informationstransfer zwischen den verschiedenen Instanzen und Massstabs­ebenen sicherstellt. Das ist aus unserer Sicht einer der wichtigsten Gründe, warum so viele gut gemeinte Ansätze und Leitbilder nie in die Realität umgesetzt werden.


Wer könnte die Aufgabe übernehmen, die Durchlässigkeit im Planungsprozess zu sichern – Stadtplaner und Architekten?
Van Wezemael: An den professionellen Planern hängt gleichzeitig sehr viel und sehr wenig. Innovation fängt immer damit an, dass sich jemand über seine vorgegebene Rolle hinwegsetzt. In diesem Fall hiesse das, dass die Planer sich auch dort für ein übergeordnetes Ziel einsetzen, wo sie – bezogen auf die Planungsebene oder den Zuständigkeitsbereich – streng genommen gar nicht hingehören. Wenn man wirklich etwas erreichen will, muss man sich engagieren und exponieren. Ich glaube, das hat viel mit Bildung, Ausbildung und dem beruflichen Selbstverständnis zu tun. Die Architekten sollten ihr angestammtes Umfeld vermehrt verlassen; und sie sollten sich wieder selbstbewusst «Generalist» nennen, trotz dem Trend zu immer grösseren Teams von Fachplanern. Architekten haben die Kompetenz, zwischen den verschiedensten Ansprüchen zu vermitteln. Sie haben eine soziale Verantwortung; es ist ihre Sache, Fragen zu stellen – und nicht, sie immer gleich selbst zu beantworten. Sie können eine Rolle als Moderator und Mediator mit einer ganz spezifischen Kompetenz einnehmen, die andere nicht haben: nämlich die, räumliche Alternativen aufzuzeigen.

Das sind Leistungen, die für ein gutes Projekt
notwendig sind, die aber in keiner Art und Weise honoriert werden.
Van Wezemael: Das ist ernüchternd, aber ich glaube, aus dieser Feststellung heraus kann man auch Sachen entwickeln. Es muss neue Formen der Zusammenarbeit geben, beispielsweise zwischen Ortsplanern und Architekten. Es braucht eine neue Sensibilität, die noch gar nicht da ist, etwa in Bezug auf die Bauherren. Die sind nicht alle gleich, und es würde sich lohnen, die Blackbox «private Investoren» zu öffnen. Doch diese Differenzierung der Akteure findet in den Gemeinden zurzeit kaum statt. Darum kennen sie ihr Gegenüber oft schlecht. Es gibt schon Handlungsspielräume.

Was sind Ihre wichtigsten Ergebnisse und Ihre Empfehlungen an die Planer?
Van Wezemael: Wir möchten keine Empfehlung nur an die Planer geben – denn unsere Ergeb­nisse zeigen ja gerade auf, dass das ganze Kollektiv an verschiedensten Akteuren unsere Siedlungslandschaft produziert. Die verbreitete Fragmentierung in Agglomerationsräumen ist nun als Ergebnis von Planung und unserer Lebensweise erkannt. Weil man auf Dauer nur mit dem arbeiten kann, was da ist, sollten wir die resultierende Schollenbildung als Eigenheit unserer Siedlungsproduktion anerkennen und daran arbeiten, diese zu verbessern. Zwar sind die Situationen in den verschiedenen Gemeinden derart unterschiedlich, dass es keine Best-Practice-Empfehlung geben kann, wie man die Prozesse am besten gestalten soll. In jedem Prozess gibt es aber sehr ähnliche kritische Punkte, an denen das Verhandeln von urbaner Qualität an einem seidenen Faden hängt. Das ist insbesondere an den Übergängen zwischen den Massstabs- und Bedeutungsebenen der Fall. An diesen Nahtstellen muss man genau hinschauen, den Prozess sauber gestalten, situations- und projektspezifisch Fragen stellen. Man muss den Städtebau oder die Architektur nicht neu erfinden. An sehr guten Architekten fehlt es in der Schweiz nicht. Aber es fehlt an Sensibilität von Planern, Behörden und wirtschaftlichen Akteuren gegenüber diesen heiklen «Übersetzungsstellen» im Prozess. Hier werden ursprünglich wichtige Gedanken trivialisiert und gehen verloren – zum Beispiel, wenn der zu Recht geforderte öffentliche Raum sich am Ende, wenn das Projekt realisiert ist, als Lieferantenzufahrt entpuppt.

TEC21, So., 2014.11.09



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TEC21 2014|45 Prozess Stadt

Wunderkammer oder Prototyp?

Am 7. Juni 2014 öffnete die 14. Architekturbiennale Venedig ihre Tore. Die von Rem Koolhaas kuratierte «Monditalia» mit 41 Ausstellungsbeiträgen, Film und Tanz lohnt den Besuch.

Am 7. Juni 2014 öffnete die 14. Architekturbiennale Venedig ihre Tore. Die von Rem Koolhaas kuratierte «Monditalia» mit 41 Ausstellungsbeiträgen, Film und Tanz lohnt den Besuch.

Rem Koolhaas, internationaler Architekturstar und Pritzkerpreis-Träger 2000, ist einer der radikalsten Theoretiker der zeitgenössischen Architektur. Der Niederländer hat eine Generation von mittlerweile ebenfalls weltweit tätigen Architekturschaffenden beeinflusst; deutliche Spuren seiner Gedanken finden sich unter anderem bei BIG, MVRDV und Herzog & de Meuron. Noch mehr als seine Bauten haben seine Bücher und Ausstellungen den architektonischen Diskurs seit drei Jahrzehnten inhaltlich und stilistisch geprägt. Auch an der Biennale in Venedig war er mehrfach mit Ausstellungen präsent, vor vier Jahren erhielt er den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk. Daher kam seine Ernennung zum Kurator der diesjährigen Biennale wenig überraschend. Zu erwarten war auch, dass die Ausstellung vom gewohnten Schema – einer disparaten Werkschau von bekannten Architekten, notdürftig mit einer möglichst allgemeinen thematischen Klammer zusammengehalten – abweichen würde. Überhaupt waren die Erwartungen extrem hoch. Koolhaas hat sie teils erfüllt, auch wenn die leise erhoffte Revolution ausfällt.

Italien: von Afrika bis zu den Alpen

Die Schau «Monditalia» ist als Stationenweg durch Italien organisiert. «Das Gebäude ist lang, und auch Italien ist lang», bemerkte Koolhaas trocken an der Eröffnung. Zudem sei Italien exemplarisch für die meisten anderen Länder unserer Welt: «auf der Kippe zwischen Chaos und der bisher verpassten Chance, sein volles Potenzial auszuschöpfen» – so der Niederländer. Die Aussage verspricht wenig Konkretes, doch Koolhaas’ Auseinandersetzung mit Italien ist tatsächlich sehenswert. Man betritt die Ausstellung beziehungsweise den Stiefel von Süden her und landet vorerst auf der Insel Lampedusa – gemeinsam mit unzähligen Bootsflüchtlingen aus Afrika, deren Elend einen gleich zu Anfang in beeindruckenden Filmsequenzen empfängt. Hier beginnen zwei parallele Stränge der Schau, die sich auf dem Weg von Süden nach Norden immer wieder thematisch und räumlich überschneiden: auf der einen Seite Kapitel aus Italiens Architektur- und Kulturgeschichte, auf der anderen Seite Ausschnitte aus italienischen Spielfilmen, die an den Stationen des Parcours spielen (Abb. unten links). So korrespondiert etwa «The Architecture of Hedonism – three Villas on the Island of Capri» des Kurators Martino Stierli mit Ausschnitten aus Filmen wie Jean-Luc Godards «Le mépris», der in der Villa Malaparte des Architekten Adalberto Libera spielt.

Die Auswahl der nach ihren geografischen Koordinaten angeordneten Stationen wirkt zuweilen etwas episodisch; sie scheint nicht nur durch die Dringlichkeit der Themen, sondern auch durch die Knotenpunkte im Beziehungsnetz des Kurators beeinflusst zu sein. Doch das ist an der Biennale ohnehin meist der Fall – von einer Einzelperson wäre die schiere Grösse des Anlasses nicht zu bewältigen. Immerhin haben Koolhaas und seine Gäste eine eindrückliche Dichte an spannenden, provokativen und tiefgründigen Beiträgen zusammengestellt, die trotz ihrer Vielfalt ein Ganzes ergeben. Besonders erfreulich ist, dass viele Kapitel zwar architektonischen Themen gewidmet sind, andere aber landschaftliche, soziale oder wirtschaftliche Aspekte beleuchten. Insgesamt sind die Beiträge stets in einen weiteren Kontext gestellt, ohne dabei ins Allgemein- Nichtssagende abzugleiten.

So widmen die Kuratoren Ila Beka und Louise Lemoine eine Videoinstallation dem Ort La Maddalena mit den Koordinaten 41° 12' 53" N / 09° 24' 21" E.

Der G8-Gipfel 2009 sollte plangemäss auf dieser Insel vor Sardinien stattfinden, dafür wurde ein Kongresszentrum gebaut. Doch am 23. April 2009 gab der damalige Ministerpräsident Silvio Berlusconi bekannt, dass das Treffen nach L’Aquila verlegt würde. Er wollte damit die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die vom Erdbeben am 6. April 2009 zerstörte Abruzzen-Region lenken und den dortigen Bewohnern ein Zeichen der Hoffnung geben. In einem Film erzählt der Architekt des Kongresszentrums von La Maddalena, Stefano Boeri, von seiner persönlichen Beziehung zum Ort. Der fertige, aber nie in Betrieb genommene Komplex zerfällt, nachdem Bau und Planung 300 Millionen Euro verschlungen hatten. In einem parallel dazu laufenden Film – quasi stellvertretend für den Kongressbau – wird ein Mann gezeigt, der seit Jahrzehnten in der Nachbarschaft lebt und aus angespültem Strandgut Objekte baut. Naheliegend, dass sein Material auch aus der zerfallenden Anlage stammt.

Die Installation «The Business of People» des Kurators Ramak Fazel erzählt voneinander unabhängige Geschichten aus der Gegend um Turin. Nach scheinbar willkürlichen Kriterien sind Wirtschaftszweige wie der Traubenhandel und Firmen wie der Pistolenhersteller Beretta oder der Autokarosseriefabrikant Bertone dokumentiert. Durch Bilder, Zeichnungen und kleine Alltagsgegenstände entsteht pixelhaft ein umfassenderes Bild. Gruppiert sind die Tafeln an den Wänden um Zeitschwellen am Boden – hintereinander liegende Holzbalken mit je einer eingeschnitzten Tagesetappe wie «Morning Café», «Break» oder «Lunch». Das hinterste Wort ist so klein, dass man ganz nah hingehen muss, um «out» zu erkennen.

Interessant ist auch die Station «Italian Limes» (Abb. oben) der Gruppe Folder, die sich mit den Grenzen Italiens befasst – ein Gebilde, das nicht so statisch ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. Dargestellt wird das Gletschergebiet zwischen Italien und Österreich. Die Eisschmelze, beschleunigt durch die globale Erwärmung, verändert den Grenzverlauf, der historisch durch die Wasserscheide definiert ist. Mittels GPS wird synchron zur Ausstellungsdauer die Veränderung millimetergenau aufgezeichnet.

Als Dreingabe wird der theoretische Stationenweg durch eine Reihe von zusätzlichen Komponenten angereichert: Zum ersten Mal sind auch die anderen venezianischen Biennalen und Festivals – Tanz, Musik, Theater und Film – an der Veranstaltung beteiligt. Ob dies jedoch tatsächlich zu einem Erkenntnisgewinn beiträgt, die Reizüberflutung steigert oder der punktuellen Entspannung der Besucher während der Ausstellungstour dient, bleibt abzuwarten.

Angesichts der Vielzahl der Beiträge ist es verlockend, vor der inhaltlichen Analyse der einzelnen Stationen erst einmal über dem sinnlichen Eindruck zu verweilen: Die Ausstellung in den Corderie wirkt wie eine üppige temporäre Wunderkammer mit Objekten aus Architekturgeschichte, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Wie Objekte in einem Renaissance-Kabinett bildet die Auswahl der Installationen eine persönliche und auch zufällige Parade. Die Sammlung ist thematisch vielseitig, bleibt aber fragmentarisch. Die einzelnen Stationen haben meist anekdotischen Charakter, dennoch erhellen sie in ihrer Gesamtheit das Bild des Landes Italien. So weit ist das Ausstellungsmodell wie versprochen auf andere Länder übertragbar. Ob aber Italien «auf der Kippe zwischen Chaos und der bisher verpassten Chance» auch exemplarisch für den Rest der Welt ist und daher als globaler Prototyp taugt, wäre von Fall zu Fall zu überprüfen. Insofern sagt das Konzept der Ausstellung wohl mehr über die gegenwärtige Betrachtungsweise der Welt aus als ihr Inhalt.

TEC21, Fr., 2014.07.25



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TEC21 2014|30-31 Architekturbiennale Venedig: Fundamentals

Ganzes Stückwerk

«Elements of Architecture» im Hauptpavillon der Giardini reflektiert Architektur in ihren baulichen Einzelteilen.

«Elements of Architecture» im Hauptpavillon der Giardini reflektiert Architektur in ihren baulichen Einzelteilen.

Der zweite grosse Brocken der Biennale, die Ausstellung im Hauptpavillon der Giardini, ist ebenso straff von Rem Koolhaas kuratiert wie die Schau im Arsenale. «Elements of Architecture» ist das Ergebnis einer zweijährigen Untersuchung der Harvard Graduate School of Architecture und weiterer Partner aus Forschung und Industrie. Wie in «Monditalia» gibt es auch hier klar definierte Kapitel, diesmal zu verschiedenen Bauteilen wie Boden, Wand, Decke, Dach, Türe, Fenster, Fassade, Balkon, Korridor, Feuerstelle, Toilette, Treppe, Rolltreppe, Lift, Rampe, Fundament. Jedes der Bauteile ist in einem eigenen Raum um eine zentrale Bibliothek angeordnet. In Letzterer sind Studien, Filme, Grafiken und Reklame zu den Bauelementen zu finden.

Doch in der Ausstellung vermisst man die inhaltliche Tiefe und die fantasievolle Betrachtungsweise, die im Arsenale mehrheitlich vorherrscht und die Koolhaas selbst in seinem Buch «Delirious New York» (1978) im Zusammenhang mit dem Lift fulminant vorgeführt hat. So gibt es wunderbare Exponate wie alte russische Fenster aus Birkenrinde oder einen Korridor, der mit seinem flimmernden Licht und seinem dumpfen Spannteppich das Zeug dazu hat, klaustrophobische Schübe auszu­lösen. Doch die theoretische Stringenz fehlt bei den meisten Statio­nen ebenso wie beim zwar sehr unterhaltsamen, aber letztlich etwas beliebig wirkenden Zusammenschnitt von Filmszenen zu den verschiedenen Bauteilen.

TEC21, Fr., 2014.07.25



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TEC21 2014|30-31 Architekturbiennale Venedig: Fundamentals

06. Juni 2014Claudia Carle
Judit Solt
TEC21

«Den Elefanten ist das Dach egal»

Unter artgerechter Tierhaltung stellen sich Fachleute und Besucher nicht unbedingt das Gleiche vor. Der Elefantenpark möchte beiden gerecht werden: den neuen Erkenntnissen der Tierforschung und dem Wunsch der Besucher nach einem naturnahen und spannenden Lebensraum.

Unter artgerechter Tierhaltung stellen sich Fachleute und Besucher nicht unbedingt das Gleiche vor. Der Elefantenpark möchte beiden gerecht werden: den neuen Erkenntnissen der Tierforschung und dem Wunsch der Besucher nach einem naturnahen und spannenden Lebensraum.

TEC21: Herr Zingg, Zoos dienen heute nicht mehr nur dazu, Tiere zu halten und auszustellen, sondern bauen eine Umgebung nach, die ihrem natürlichen Lebensraum möglichst ähnlich ist. In unseren Breiten­graden braucht es dafür in der Regel ein Dach.
Bei dem 2003 eingeweihten Masoala-Regenwald entschied sich der Zoo Zürich für eine rein funktionale Lösung, beim Elefantenpark wurde das Dach gestaltet. War das ein Wunsch des Zoos, oder hat es sich aus dem Architekturwettbewerb ergeben?
Robert Zingg: Architekten haben es nicht einfach im Zoo. Ein Ausspruch des früheren Zoo­direktors Heini Hediger war: «Das gefährlichste Tier im Zoo ist der Architekt.» Das soll nichts anderes aussagen, als dass der Zoo der falsche Ort ist, um sich ein Denkmal zu setzen. Hier muss die Funktionalität im Vordergrund stehen. Was den Elefantenpark betrifft, wussten wir, dass das Gebäude nicht nur riesig sein würde, sondern auch von oben gut sichtbar, weil es am Hang steht. Damit ein solcher Bau mit einer Dachfläche von ca. 6000 m² den Besucher nicht erschlägt, sollte er möglichst leicht und wie eine natürliche Form wirken. Unter den 50 Wettbewerbsbeiträgen gab es dafür verschiedenste Lösungen – von Glashäusern über ganze Felslandschaften, in die das Haus integriert war, bis hin zu durchbrochenen Hüllen wie der jetzt realisierten. Das Lichtspiel unter dieser Hülle ähnelt demjenigen in einem Wald. Der Besucher soll möglichst kein Gebäude, sondern einen Lebensraum betreten. Diesem Anspruch dient die Architektur.

Die Inszenierung des natürlichen Lebensraums wird also in erster Linie für die Besucher gemacht, nicht für die Tiere?
Zingg: Ja, das Dach ist sicher ein Element, bei dem es um die Gesamtwirkung auf die Besucher geht – den Elefanten ist es egal. Heutige Besucher haben Reisen unternommen und Filme gesehen und darum eine bestimmte Vorstellung vom Lebensraum der Tiere. Eine fantasielose Umgebung mit nur ein paar Zäunen kommt einfach schlecht an – ungeachtet dessen, ob das Tier darin gut zurechtkommt oder nicht. Ein schönes Beispiel ist das Gehege des Brillenbären mit einer wunderbaren Felswand im Hintergrund. Dem Brillenbären ist es egal, aus welchem Material diese Wand ist; sie ist einfach ein Hindernis, das er nicht überwinden kann. Aber damit es für die Besucher stimmt, hat man etwas geschaffen, das natürlich wirkt. Die Besucher müssen das Gefühl haben, dass die Tiere gut gehalten werden.

Im Elefantenpark ist eine waldartige Umgebung entstanden.
Zingg: Ja, der Asiatische Elefant wäre in einem immergrünen Wald zu Hause. Das lässt sich im Zoo aber nicht 1 : 1 umsetzen, weil die Elefanten den schnell zerstören würden. Wir versuchen daher, mit Totholzbäumen einen Wald zu suggerieren. Auch die Besucher werden sich in einem waldähnlichen Bereich bewegen, wenn die Pflanzen grösser geworden sind. Zur Inszenierung gehört ausserdem die Kom­position der Blickachsen: Die Besucher schauen nie in eine grosse Menschenmenge. Auch die technischen Einrichtungen soll man möglichst nicht sehen. ­Gerade beim Elefant ist das eine spezielle Herausforderung. In einem Gehege für ein Tier, das eine Stosskraft von bis zu 15 t entwickeln kann, braucht es nun einmal massive Wände, die man dann zu kaschieren versucht. Trotzdem bauen wir nicht einfach nur Kulissen. Unsere Verantwortung liegt auch beim Tier.

Welche Anforderungen gab es denn von Seiten der Tierhaltung an den neuen Elefantenpark?
Zingg: Im Masterplan 2030 des Zoos ist schon länger festgelegt, dass es eine neue Elefantenanlage geben wird. 2007 haben wir begonnen, uns konkret Gedanken zu machen, was die Anlage leisten soll.
Ein Wunsch war ein deutlich grösseres Haus, weil die Tiere in unserem Klima etwa die Hälfte des Jahres drinnen verbringen. Wir wollen ihnen daher auch im Innenbereich etwas Interessantes bieten. Auf einer grösseren Fläche hat man mehr Optionen für viel­fältige Einrichtungen. Ein weiterer Wunsch war, den Elefantenkühen die Möglichkeit zu geben, ihre natürliche Sozialstruktur in Form von matrilinearen Gruppen zu entwickeln. Wir möchten, dass in Zukunft Mütter und Töchter zusammenbleiben und sich so Weibchenverbände bilden können.

Wieso war das in der alten Anlage nicht möglich?
Zingg: Bisher war das nie das Ziel. Früher haben wir jeweils Einzeltiere von anderen Zoos übernommen. Wenn für ein Jungtier nicht genug Platz da war, hat man es auch wieder einzeln
an ­andere Zoos abgegeben. Man hat es also aus einem sozialen Kontext herausgenommen, in einen neuen gebracht und damit sozial geschwächt. Dass man soziale Einheiten beibehalten möchte, ist eine neuere Entwicklung, die auf Erkenntnissen der modernen Tierhaltung beruht. Allerdings sind dafür spezielle Anlagen nötig: Zum einen braucht es für grössere Gruppen mehr Platz, zum anderen wird sich die Dynamik innerhalb der Gruppe anders entwickeln.

Inwiefern?
Zingg: Wenn die matrilineare Sozialstruktur richtig ausgeprägt ist, wird der Elefantenpfleger zum schwächsten Glied in der Gruppe. Um seine Sicherheit zu gewährleisten, müssen wir ihn aus dem Sozialgefüge herausnehmen und das Managementsystem ändern. In der alten Anlage hatten die Tierpfleger direkten Kontakt zu den Elefantenkühen («hands on») und die Rolle des Alphatiers inne. In der neuen Anlage gehen wir – wie bisher schon bei den Elefantenbullen – zum sogenannten geschützten Kontakt («protected contact») über, bei dem immer eine ­Barriere zwischen Tier und Pfleger besteht. Das setzt entsprechende Räume voraus, in denen die Tiere zum Beispiel für medizinische Behandlungen isoliert werden können. Zudem wird es möglicherweise mehr Auseinandersetzungen zwischen den Tieren geben, wenn der Tierpfleger nicht mehr dazwischen geht. Daher braucht es sowohl innen als auch aussen Räume, um die Tiere bei Bedarf zu separieren.

Der Elefantenbulle bleibt nach wie vor allein?
Zingg: Jungbullen kann man weiterhin im Alter von 4 bis 5 Jahren weggeben. Dann werden sie etwas schwierig im Handling und würden auch im Freiland die Herde verlassen, um sich mit anderen Jungbullen zu einer Junggesellengruppe zusammenzuschliessen. Wir werden aber in Kürze noch einen Jungbullen als Partner unserer beiden jungen Weibchen dazubekommen, um Inzucht zu vermeiden.
Der Bullenbereich liegt abseits der Besucherzonen im Hintergrund der Anlage, weil Bullen manchmal etwas unberechenbar sind und man sie daher nicht an der Front haben möchte.

Was beim neuen Elefantenpark auffällt, sind die vielen Wasserflächen und der Sand- anstelle des Betonbodens im alten Elefantenhaus.
Zingg: Der weiche Boden ist besonders für die älteren Tiere angenehmer. Die Bullen mit den grossen Stosszähnen können sich besser zum Schlafen hin­legen, und die Tiere haben allgemein weniger Nagelprobleme. Einen festen Boden, der leicht zu reinigen ist, hat es nur noch in den Managementboxen, wo die Tiere nur temporär sind.
Wasser ist ein wichtiges Element im Lebensraum der Elefanten. Daher hat es im Innen- und im Aussenbereich verschiedene Bassins, von seicht bis so tief, dass die Elefanten richtig schwimmen können.

Kommen all diese Vorgaben daher, dass man heute besser als beim Bau des alten Elefantenhauses vor 40 Jahren versteht, wie man Elefanten artgerecht hält – oder misst man dem heute einfach mehr Gewicht bei?
Zingg: Man hat in der Zwischenzeit sehr viel gelernt, zum einen im Freiland, aber auch aus der Haltung im Zoo. Man weiss heute zum Beispiel, dass Elefanten 16 bis 18 Stunden pro Tag auf Futtersuche sind. Wir haben uns daher überlegt, wie wir das Fütterungssystem für sie anspruchsvoller machen können. Es gibt etwa 40 Futterstellen in der neuen Anlage. Ein Teil davon lässt sich über eine Zeitschalt­uhr auslösen, sodass die Fütterungszeiten nicht mehr an die Präsenz der Tierpfleger gekoppelt sind. Zudem bekommen sie nicht mehr einfach einen Haufen Heu, sondern nur kleine Portionen, die sie aus den ­Futterstellen herausklauben müssen. Die Elefanten sollen längere Zeiträume mit der Futtersuche ­verbringen und ihre Geschicklichkeit nutzen.

Der Zoo versucht also, sowohl den Ansprüchen der Tiere als auch den Erwartungen der Besucher gerecht zu werden.
Zingg: Die Ansprüche der Tiere werden so «verpackt», dass eine auch für die Besucher interessante Anlage entsteht. Die ernsthaft geführten Zoos entwickeln sich in Richtung Naturschutzzentren.
Die Tiere fungieren dabei als Botschafter ihrer Art, die die Besucher emotional abholen, damit sie für Informationen zugänglich sind. Wir möchten zum Beispiel erreichen, dass die Besucher die Verbindung zwischen der Zerstörung des Lebensraums Regenwald und dem Aussterben der darin lebenden Tiergemeinschaften erkennen. Die Leute sollen realisieren, dass wir alle in diese Zerstörung involviert sind und mit unserem täglichen Konsumverhalten beeinflussen können, wie es dort weitergeht.

Hinzu kommen in letzter Zeit Projekte, mit denen der Zoo versucht, den Lebensraum in den Herkunfts­ländern der Tiere zu erhalten.
Zingg: Ja, mit allen grösseren Projekten, die wir in letzter Zeit realisiert haben, ist ein Freilandprojekt verbunden. Beim Kaeng-Krachan-Elefantenpark bringen wir uns über eine Patenorganisation im gleichnamigen Nationalpark in Thailand ein, um im Konflikt zwischen Mensch und Elefant zu vermitteln.

Worin besteht dieser Konflikt?
Zingg: Der Mensch dehnt seinen Lebensraum immer weiter aus und zerstört denjenigen der Ele­fanten. Zudem realisieren die Elefanten, dass es bei den Menschen Felder mit Pflanzen gibt, die sie selber gern verspeisen. Die Frage ist, wie man diesen Konflikt so lösen kann, dass eine Win-win-Situation für beide Seiten entsteht. Wir werden diese Probleme im Elefantenpark symbolisch darstellen, etwa mit einer Hütte, die von Elefanten halb eingedrückt ist. Auch die Lodge im thailändischen Stil dient unter anderem dazu, dieses Thema aufzugreifen. Wir wollen zeigen, wie die Leute in Thailand mit diesen Problemen umgehen und wie man sie dabei unterstützen kann.

TEC21, Fr., 2014.06.06



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TEC21 2014|23 Ein Dach für Zürichs Elefanten

28. Februar 2014Judit Solt
TEC21

Senioren statt Kinder

Ein Schulhaus samt Zivilschutzanlage in Alterswohnungen zu verwandeln, ist keine alltägliche Aufgabe. Trotzdem können Architekten und Ingenieure viel daraus lernen. Auch darüber, was man vermeiden soll.

Ein Schulhaus samt Zivilschutzanlage in Alterswohnungen zu verwandeln, ist keine alltägliche Aufgabe. Trotzdem können Architekten und Ingenieure viel daraus lernen. Auch darüber, was man vermeiden soll.

Das Schulhaus Neustadt II in Zug ist in ein Alterswohnhaus umgebaut worden, die darunter liegende Zivilschutzanlage in eine Tiefgarage. Das Ergebnis ist, wie jeder gelungene Umbau, ein Unikat. Es ist die gebaute Reaktion auf die Gegebenheiten des Altbaus, den städtebaulichen Kontext und die Forderungen der Bauherrschaft. Doch im Grunde war die Aufgabenstellung an die Architekten und Ingenieure alles andere als ungewöhnlich: Gebäude aus den 1960er-Jahren, die es zu dämmen, aufzustocken und umzunutzen gilt, sind in der Schweiz keine Seltenheit.

Was geschieht, wenn ein solches Gebäude mit der neuen, energetisch optimierten Fassade einen komplett neuen Ausdruck erhält? Wie erreicht man, dass die Verdichtung der Stadtzentren nicht lediglich mehr Bauten und Menschen auf weniger Raum beschert, sondern auch einen Gewinn an Lebensqualität bringt (vgl. TEC21 9/2013)? Ist es möglich, die neue Tragstruktur so auf die alte abzustimmen, dass möglichst wenig Abfangkonstruktionen nötig sind? Und was tun, wenn sich herausstellt, dass die bestehende Bausubstanz für die gewünschte Umnutzung gänzlich ungeeignet ist?

Radikale Lösungen für typische Probleme

Das Projekt Neustadt II liefert spezifische, konsequent zu Ende gedachte und gerade deshalb überaus lehrreiche Antworten auf diese Fragen. Als Vertreter der «Analogen Architektur» entschied sich Miroslav Šik gegen eine angeblich «ehrliche», weil sichtbare Gegenüberstellung von alter und neuer Bausubstanz. Er verschmolz sie zu einem neuen Ganzen, das zwar seltsam alterslos wirkt, sich aber als Segen für den Ort erweist: Indem das Gebäude subtile volumetrische und gestalterische Bezüge zu seinen Nachbarbauten herstellt, wertet es die ganze Umgebung auf (vgl. «Kunst des Dialogs», S. 24).

Auch in Bezug auf die Tragkonstruktion sind Alt und Neu eng verknüpft. Dank der guten Zusammenarbeit zwischen den Architekten und dem Tragwerksplaner Thomas Boyle, die bereits 2007 beim Studienauftrag begann, sind die Grundrisse des dreigeschossigen Schulhauses und der zweigeschossigen Aufstockung aufeinander abgestimmt. Diese wurde mit einer leichten Holzkonstruktion in Elementbauweise und ohne aufwendige Abfangung ermöglicht (vgl. Kasten S. 33). Die Nutzungs- und Grundrissänderungen in den bestehenden Obergeschossen wurden konventionell gelöst. Der komplette Umbau des Untergeschosses dagegen stellte Thomas Boyle vor unerwartete Schwierigkeiten, die zu findigen konstruktiven Lösungen führten (vgl. «Diamantsäge schafft Raum», S. 29).

Diese Transformation einer Zivilschutzanlage in eine Tiefgarage steht für die radikale Lösung einer typischen Aufgabenstellung.

Typisch, weil Zivilschutzanlagen eine besondere Typologie aufweisen, die durch klare Richtlinien definiert ist. Diese entsprechen teilweise nicht mehr den heutigen Anforderungen, womit sich eine Neunutzung zunehmend als vernünftige Alternative anbietet. Radikal, weil in diesem Fall die alte und die neue Nutzung mit ganz unterschiedlichen räumlichen Bedürfnissen verknüpft sind. Dank einer anspruchsvollen Planung, aber mit einfachen technischen Mitteln gelang es den Ingenieuren, einen neuen Raum zu schaffen, der kaum etwas mit der kleinteiligen Gliederung der ursprünglichen Konstruktion gemeinsam hat. Die Lösung ist virtuos, doch die Verhältnismässigkeit der Intervention ist zweifelhaft. Anstatt der angestrebten 19 Abstellplätzen wurden neun grosszügige Parkboxen realisiert. Weil bei einem Verzicht auf die Parkplätze das ganze Projekt gefährdet gewesen wäre, hat man sie trotzdem gebaut – eine beachtenswerte Ingenieurleistung für eine fragwürdige Aufgabestellung.

TEC21, Fr., 2014.02.28



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TEC21 2014|09 Alterswohnhaus Neustadt II

21. Juni 2013Judit Solt
TEC21

«Getrennte Stadtteile wieder verbinden»

Unter dem Hauptbahnhof Zürich wird im kommenden Jahr der unterirdische Durchgangsbahnhof Löwenstrasse eröffnet. Als die Planung des Neubaus ­begann, waren seine Lage und seine Abmessungen bereits festgelegt. Wie Architekt Jean-Pierre Dürig erläutert, beschränkt sich der Entwurf jedoch nicht auf Verschönerungsmassnahmen für die räumlich sehr enge Anlage, sondern setzt auch wichtige städtebauliche Akzente.

Unter dem Hauptbahnhof Zürich wird im kommenden Jahr der unterirdische Durchgangsbahnhof Löwenstrasse eröffnet. Als die Planung des Neubaus ­begann, waren seine Lage und seine Abmessungen bereits festgelegt. Wie Architekt Jean-Pierre Dürig erläutert, beschränkt sich der Entwurf jedoch nicht auf Verschönerungsmassnahmen für die räumlich sehr enge Anlage, sondern setzt auch wichtige städtebauliche Akzente.

TEC21: In vielen Schweizer Städten wurden in den letzten Jahren Infrastrukturanlagen der SBB aufgehoben. Bauten, die bisher als Puffer zwischen den Bahnlinien und den Quartieren fungiert hatten, wurden abgebrochen. Die Quartiere rücken immer dichter an die Gleise ­heran, und die gebaute Präsenz der SBB im Stadtbild nimmt ab. Die Bahnhöfe gehören zu den Orten, wo die SBB sich noch baulich darstellen können. War architektonische Repräsentation beim Bahnhof Löwenstrasse ein Thema?

Jean-Pierre Dürig: Nein. Einen oberirdischen Bahnhof zu bauen kam aus städtebaulichen Gründen nicht infrage. Zudem ist der Verkehr heute überwiegend Umsteigeverkehr; um ­kurze Umsteigzeiten zu gewährleisten, mussten die Perrons möglichst nah an- bzw. über­einander angeordnet werden. Aus Platzgründen haben sich die SBB für eine unterirdische Lösung entschieden, wie bereits beim ersten Durchgangsbahnhof, dem 1990 eröffneten Bahnhof Museumstrasse für S-Bahn-Linien, und wie beim Bahnhof SZU für die Sihltal- und die Üetlibergbahn. Es gab keine andere Möglichkeit. Dank der Durchmesserlinie kann aber der provisorische Bahnhof Sihlpost mit den vier Zusatzgleisen aufgehoben werden. Dort entsteht ein neuer Stadtteil, die Europaallee. Wo die Stadt am dichtesten und die Infrastruktur am besten ausgebaut ist, soll der Platz nicht für Abstellgleise verschwendet werden. Umgekehrt führt die zusätzliche Verdichtung dazu, dass noch mehr Infrastruktur benötigt wird. Unter diesem Druck können es sich die SBB gar nicht leisten, nur an Repräsentation zu denken. Das Hauptanliegen ist Effizienz: Wie befördert man möglichst viele Menschen zu den Stosszeiten? Übrigens gibt es noch Platz für einen dritten unterirdischen Durchgangsbahnhof zwischen den beiden Bahnhöfen Museumstrasse und Löwenstrasse …

TEC21: Dass das Thema Effizienz bei den Menschenmassen, die heute unterwegs sind, an Bedeutung gewinnt, leuchtet ein. Haben die SBB auch gestalterische Anforderungen an den Bahnhof Löwenstrasse gestellt?

J.-P. D.: Die Auftraggeber wollten selbstverständlich eine schöne, helle, übersichtliche Anlage. Aber die Prioritäten haben sich seit den Pionierjahren des Bahnverkehrs verschoben. Die grosse Haupthalle von 1871, von Jakob Friedrich Wanner im prunkvollen Neorenaissancestil erbaut, mit einem Triumphbogen als Tor zur damals neuen Bahnhofstrasse – diese ­architektonische Haltung stammt aus einer Zeit, als das Reisen noch etwas Exklusives war. Man betrat die Halle, gab sein Gepäck auf und begab sich auf Reise. Noch vor einer ­Generation war man von diesem Bild geprägt. Davon sind auch Robert und Trix Haussmann ausgegangen, als sie die Aufgänge in die Bahnhofshalle gebaut haben. Es gab lange Diskussionen darüber, ob die Rolltreppen parallel zur Halle verlaufen müssten oder nicht. Auch die schwarz-weiss gestreiften, marmorverkleideten Wände und die verspiegelten Decken bezeugen, wie wichtig die Repräsentation damals noch war. Diese Vorstellung vom Reisen gibt es nicht mehr – heute spricht man vom Pendeln. Die S-Bahn ist so erfolgreich, dass die SBB schleunigst neue Kapazitäten zur Verfügung stellen müssen. Relevant ist, dass die Pendlerinnen und Pendler ihren Anschluss nicht verpassen. Unsere Aufgabe war daher nicht, einen repräsentativen Bau zu entwerfen, sondern möglichst viele Menschen bequem und in kurzer Zeit durchzuschleusen. Die wichtigsten Stichworte lauten Personenfluss, ­Sicherheit, Übersicht. Und natürlich braucht es ein Shoppingcenter: nicht nur aus kommerziellen Interessen, sondern auch aus einem Bedürfnis heraus, denn die Pendlerinnen und Pendler müssen sich mit Dingen des täglichen Bedarfs eindecken können.

TEC21: Welche städtebauliche Tragweite hat die Tatsache, dass der Zürcher Hauptbahnhof allmählich von einem oberirdischen Kopf- zu einem unterirdischen Durchgangsbahnhof wird?

J.-P. D.: Auch in Bezug auf den Städtebau hat sich die Fragestellung komplett verschoben. Für Robert und Trix Haussmann war die Haupthalle von Wanner das Zentrum und das Shopville, die heutige Passage Löwenstrasse, lediglich ein darauf ausgerichteter Weg. Im Gegensatz dazu sind wir bei unserem Wettbewerbsprojekt von einem Netz ausgegangen (Abb. 02). Unser Ziel war, viele Eingänge zu schaffen, damit man möglichst ungezielt auf den Bahnhof zugehen kann. Umgekehrt haben wir auch geschaut, dass es im Untergrund keine Sackgassen gibt und dass jede Ecke einen attraktiven Ausgang zur Stadt hat. Das verändert die Wahrnehmung des Bahnhofs massiv – in Bezug auf Funktion und Charakter gleicht er immer mehr einer Metrostation. Das hat seine Berechtigung: Die S-Bahn ist nichts anderes als eine sehr gute Metro, und auch der Fernverkehr bedient mit dem Stunden- und Halbstundentakt hauptsächlich Pendlerströme. Unser wichtigstes städtebauliches Anliegen aber war, die beiden vom Bahnhof getrennten Stadteile wieder zu verbinden. Es sollte kein «hinter den Gleisen» mehr geben, sondern viele gleichwertige Seiten, die zusammenwachsen und sich stark verdichten. Mit dieser Idee haben wir den Wettbewerb gewonnen.

TEC21: Die Lage des Bahnhofs war durch betriebliche Notwendigkeiten gegeben, seine Grösse durch bestehende Bauten und der Verlauf der Gleise durch den Tunnelbau (vgl. Kasten S. 24). Welche Aufgabe blieb Ihnen als Architekten überhaupt noch?

J.-P. D.: Zum Zeitpunkt des Wettbewerbs 2002 war die Geometrie vorgegeben. Die Inge­nieure hatten im Vorfeld festgelegt, wo und wie der Tunnel liegen muss. Dabei hatten sie ­extrem einschränkende Randbedingungen zu berücksichtigen: Die Sihl und die Limmat mussten unterquert werden, ebenso ein Teil der Halle und sechs Gleise, und zwar unter ­laufendem Betrieb. Zudem musste man dem bereits als Vorinvestition erbauten Stadttunnel ausweichen. Daraus ergibt sich für den Bahnhof Löwenstrasse eine Geometrie, die nicht viel mit dem Bestand zu tun hat. An uns lag es, Alt und Neu räumlich zu verbinden.

TEC21: Es ging also in erster Linie um einen städtebaulichen Eingriff, die räumliche Verknüpfung des geplanten Ingenieurbaus mit dem Bestand?

J.-P. D.: Das Schöne an diesen Aufgaben für die SBB ist, dass sie zwischen Städtebau und Architektur angesiedelt sind. Neben dem Bahnhof Löwenstrasse haben wir auch beim ­Bahneinschnitt und den Brücken in Zürich-Oerlikon den Gestaltungsauftrag. Solche Infrastrukturanlagen haben einen grossen Massstab und stellen die Frage nach der urbanen Anbindung. Man muss innerhalb eines streng gesteckten Rahmens das Gegebene möglichst intelligent formen und organisieren. Trotzdem kann – muss – man sich mit ganz grundlegenden architektonischen und städtebaulichen Fragen beschäftigen: Wie betritt man einen Raum, wie ­verlässt man ihn, wie sind seine Funktionen angeordnet, wie vernetzt er sich mit dem ­Stadtkörper? Meiner Meinung nach sind das äusserst schöne, zeitgemässe Frage­stellungen. Selbstverständlich gibt es auch hier formale Aspekte, aber die Arbeit beginnt an einem ganz anderen Punkt.

TEC21: Was war dieser Punkt beim Bahnhof Löwenstrasse?

J.-P. D.: In Bezug auf die Funktionen lautete die wichtigste Frage: Wie bringt man die ­Menschen von unten nach oben? Wie verbindet man die drei Ebenen Tiefbahnhof, Halle ­Löwenstrasse, die Passagen und die bestehende Gleishalle miteinander? Wir konnten die Aufgänge nicht nach Belieben platzieren: Ihre Ausgangspunkte waren durch die Lage des unterirdischen Bahnhofs vorgegeben und ihr Verlauf durch den Autotunnel und die Sihl, die es zu umgehen galt. Weil die unterirdischen Gleise nicht genau unter den oberirdischen liegen, haben wir schräge Lifte eingeführt; so haben mindestens zwei von drei Perrons einen direkten Weg nach unten, und man braucht nicht umzusteigen. Statisch haben die Aufgänge zudem die Aufgabe, das Dach der bestehenden Perronhalle abzufangen. Wir haben deshalb prägnante Sichtbetonkörper ausgebildet, die wie Arme vom Tiefbahnhof über die Passage bis in die Perronhalle hinaufgreifen; sie fassen die Aufgänge und ersetzen, einmal in der Halle angelangt, jeweils eine Stütze. Weil sie irgendwo oben in der Halle ankommen – zum Teil unter einer Stütze, zum Teil auch nicht – haben sie je nach Lage unterschiedliche Formen. Trotzdem bleibt der architektonische Ausdruck gleich, sodass eine gemeinsame Identität entsteht. In der Negativform betrachtet, bildet die Passage zusammen mit diesen Armen eine Art Krake, einen verzweigten Raum, den man zwar spürt, aber nie so sieht.

TEC21: War auch die Raumhöhe des Tiefbahnhofs schon vorgegeben?

J.-P. D.: Von Höhe kann man gar nicht reden – es sind U-Bahn-Dimensionen. Der Bahnhof Löwenstrasse hat noch weniger Höhe als der Bahnhof Museumstrasse. Und selbst dieser sehr enge Querschnitt wird im ausgebauten Zustand noch beträchtlich enger als im Rohbau. Seit der Fertigstellung des Bahnhofs Museumstrasse sind die Vorgaben in puncto Sicherheit strenger geworden, die Entrauchung ist aufwendiger geworden. Damit kein Rauch in den Bahnhof Löwenstrasse dringt, wenn es im Tunnel brennt, wird ein Entrauchungskamin ­gebaut, und über den Perrons des Bahnhofs Löwenstrasse gibt es durchgehende Galerien mit Entrauchungsanlagen. Das macht die Decke noch einmal niedriger. Die Züge stehen definitiv nicht in einer Halle, sondern in einem Tunnel. Wir haben versucht, architektonisch darauf zu reagieren. Darum haben wir entschieden, die Perrons als farbige, warm beleuchtete Inseln auszubilden. Nur der Boden und die Decken der Perrons sind im Licht; die Tunnelwände und die seitlichen Verkleidungen der Galerien sind schwarz, sodass man die Grenzen des Raums nicht sieht und nicht merkt, dass er klein ist.

TEC21: Dieses «Verschönern» ist eine Aufgabe, mit der manche Architekten hadern dürften. Doch für die Menschen, die sich in diesen Räumen aufhalten, ist eine gute Gestaltung umso wichtiger, je enger der Platz und je dominanter die funktionalen Zwänge sind.

J.-P. D.: Das Ziel war eine helle, übersichtliche Wegführung, die die Ebenen miteinander verbindet. Der Perronbereich, wo man sich vielleicht einige Minuten aufhält, bekommt einen warmen Ton mit einer goldfarbenen Metalldecke, die mit dem Licht eine warme, ruhige Atmosphäre erzeugt. Die Passage ist durchgehend neutral und hell – hellgrauer Granitboden, helle Wände, helle Decke. Die Ladenfront ist eine Fassade, bei der die Module für die Öffnungen und das Beschriftungsband festgelegt sind. Die Läden wählen aus einer Palette das für sie Passende aus; ihre Beschriftungen und Schaufenster sind es, die – neben der typischen Signaletik der SBB – Farbe in die Passage bringen. Auch die Aufgänge sind dank Sichtbeton und Granitstufen hell. Dabei mussten wir mit günstigen, langlebigen und unterhaltsarmen Materialien arbeiten. Beim Beton und den Vollstahlstützen des Tiefbahnhofs ist das offensichtlich; die golden leuchtende Perrondecke ist aus Metall und kann überall geöffnet werden, um Nachinstallationen vorzunehmen; und der Granit ist langfristig das günstigste Material für Boden und Treppenstufen, weil er so dauerhaft ist. Bei der Farb­gebung haben wir uns am Bestand orientiert. Das Shopville ist schwarz; wir haben von der Stadt den Auftrag erhalten, es bis zur Passage Gessnerallee zu verlängern, damit es keine Sackgasse bleibt, und wir werden auch die Verlängerung schwarz halten. Der Haussmann-Teil dazwischen ist schwarz-weiss. Uns blieb also weiss. Es soll eine Einheit über das Ganze entstehen – mit feinen Unterschieden.

TEC21: Wie ist die Zusammenarbeit mit den Ingenieuren organisiert?

J.-P. D.: Der Wettbewerbsentwurf basiert auf den Vorgaben der Ingenieure. 2002–2006 haben wir in engem Austausch mit den Bauingenieuren das Projekt ausgearbeitet, aufgrund dessen die Rohbaupläne erstellt worden sind. Wir sind übrigens auch Generalplaner, der Gebäudetechniker ist in unserem Team dabei. In diesem Sinn ist die Zusammenarbeit ganz traditionell, bis auf die Grösse, die Komplexität und die vielen Beteiligten. Die Bauarbeiten haben 2006 begonnen, der Rohbau wird zum grössten Teil dieses Jahr beendet. Es hat ­verhältnismässig lang gedauert, weil alles unter Betrieb realisiert wurde. Jetzt sind wir am Ausbau. Die Eröffnung findet Mitte 2014 statt.

TEC21, Fr., 2013.06.21



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TEC21 2013|26 Station im Tunnel

«Gesellschaftlicher Relevanz eine Form geben»

Die Architekten Marco Graber und Thomas Pulver erläutern ihre Strategie beim Entwurf der Energiezentrale Forsthaus Bern. Warum erhielt dieser Infrastrukturbau einen monumentalen Ausdruck? Welche Aspekte bestimmten die Form, die Materialisierung und die Konstruktion? Wie verlief die Zusammenarbeit mit den Tragwerksplanern und den Verfahrensingenieuren?

Die Architekten Marco Graber und Thomas Pulver erläutern ihre Strategie beim Entwurf der Energiezentrale Forsthaus Bern. Warum erhielt dieser Infrastrukturbau einen monumentalen Ausdruck? Welche Aspekte bestimmten die Form, die Materialisierung und die Konstruktion? Wie verlief die Zusammenarbeit mit den Tragwerksplanern und den Verfahrensingenieuren?

TEC21: Dass ein Architekturwettbewerb für eine Kehrichtverwertungsanlage (KVA) veranstaltet wird, ist ungewöhnlich. Was hat Sie an dieser Aufgabe gereizt?

Marco Graber (M.G.): Selbst in der Schweiz, einem Land mit hochstehender Baukultur, werden die wenigsten Infrastrukturbauten einem architektonischen Anspruch gerecht. Das ist bedauerlich, denn sie prägen durch ihre Anzahl und Grösse unsere gebaute Umwelt und stehen für Themen wie Umweltschutz oder Energieproduktion. Wir sind überzeugt, dass bei der Planung solcher Bauten die Kompetenz der Architekturschaffenden stärker ins Spiel kommen sollte. Beim Wettbewerb haben uns die ungewöhnliche, sehr technische Aufgabe und der spezielle Ort interessiert: Der Bauplatz liegt in einem Waldstück – einem Heiligtum in der Schweiz! – am Stadtrand von Bern, der Stadt, in der wir beide aufgewachsen sind. Sicher war die Lage im Wald auch der Grund für das gewählte Vergabeverfahren.

Thomas Pulver (T.P.): Es gehört zu unserem Selbstverständnis als Architekten, der gesellschaftlichen Relevanz einer Aufgabe eine angemessene Form zu verleihen. Der Bauplatz im Wald war aussergewöhnlich – man hatte die Freiheit, Grösse und Form der Parzelle nach Bedarf festzulegen und zu roden, eine komplette Umkehr üblicher Vorgaben. Zudem bildet der Wald eine Art Scharnier zwischen Stadt und Autobahn. Bereits der Umfang des Programms und die Dimensionen einzelner Räume liessen die energetische Leistung des Kraftwerks erahnen. Uns wurde rasch klar, dass es ein grosses Objekt geben würde, das wir der Bedeutung entsprechend monumentalisieren und zur Landmarke erhöhen wollten. Der Bau hat mit 300 m Länge etwas Endloses. Aber seine extremen Proportionen haben mit dem Ort zu tun, der schmalen Parzelle und der Massstäblichkeit der Autobahn. Es war den Wettbewerbsteilnehmern freigestellt, den Waldrand zu «ritzen». Wir beschlossen jedoch, ihn bestehen zu lassen und mit den zwei unterschiedlichen Seiten des langen Gebäudes und der Art, wie sie hinter den Bäumen aufscheinen sollten, zu spielen.

M.G.: Über diese Energiezentrale dringt das komplexe und weitläufige System von unterir dischen Werkleitungen überhaupt an die Oberfläche. Der Massstab unseres Gebäudes verweist auf die Dimension dieses Systems, das die urbane Landschaft von Bern durchzieht.

TEC21: Es gibt wenige Bauten, die den Themen Entsorgung und Energieproduktion durch Kehrichtverbrennung einen repräsentativen und architektonisch wirksamen Ausdruck ver leihen. Auf ein bestehendes Formenvokabular konnten Sie nicht zurückgreifen, auch wenn einzelne Elemente wie der monumentale Kamin vertraut wirken. Wie sind Sie vorgegangen?

T.P.: Wir dachten an alle diese prägnanten Infrastrukturbauten in der Landschaft, kräftige Zeichen von hoher Autonomie und grossartiger ikonografischer Wirkung. Insbesondere dachten wir an Kraftwerksbauten wie Birsfelden, Landmarken wie den Spredaturm in Burgdorf oder an die Wucht der berühmten Getreidespeicher am Chicago River (Abb. 07–09). Jedes dieser Beispiele hat einen hohen Repräsentationsanspruch und stellt für sich einen Typus dar. Eine KVA war allerdings nicht darunter – die bekannten Beispiele überzeugten uns nicht. Wir suchten nach einer Strategie, die Grösse des Gebäudes zu vermitteln. Wie kann ein 300 m langes Haus aussehen? Rafael Moneo hat sein ähnlich langes Kaufhausprojekt an der Avinguda Diagonal in Barcelona mit einem abgelegten Rockefeller Centre verglichen. Auch wenn wir sein Bild nicht direkt verwenden konnten, wollten wir wie er den Baukörper staffeln und gliedern, ohne ihm die Kraft zu nehmen. Daraus hat sich ein Prozess der Formfindung entwickelt. Das Bild des Frachtschiffs hat uns geholfen, die Fragen der Massstäblichkeit zu klären, ein Gefühl für die Dimensionen zu bekommen.

M.G.: Wir entwerfen nicht analog. Referenzen sind für uns ein Hilfsmittel, um gewisse Vorstellungen zu konkretisieren, zu übersetzen und präzise auszuformulieren. Grundsätzlich versuchen wir, aus den spezifischen kontextuellen und programmatischen Rahmenbedingungen eigene, signifikante Räume zu entwickeln und den Gebäuden einen synthetisierenden Gestus zu verleihen, der all das zum Ausdruck bringt, was das Projekt enthält. Diese Qualitäten versuchen wir jeweils zu verstärken und zu radikalisieren.

TEC21: Die vertikalen Rippen und der aufragende Kamin erinnern auch an eine Kathedrale.

M.G.: In Italo Calvinos «Unsichtbaren Städten» wird eine Stadt beschrieben, die von der einen Seite anders aussieht als von der anderen. Vom Meer her gesehen gleicht sie zwei Kamelbuckeln, von der Wüste her einem Schiff, das vor Anker liegt. Uns gefällt die Vorstellung, dass unsere Energiezentrale von der Stadt aus betrachtet ein Schiff evoziert und von der Autobahn aus eine Kathedrale.

T.P.: Früher waren es die Kirchtürme, die als Zeichen der Kirche und der Obrigkeit den Reisenden die Stadt weitherum ankündigten und die urbanen Merkpunkte einer spärlich besiedelten Landschaft bildeten. Heute sind es die Infrastruktur bauten, die als bauliche Artikulationen verborgener technischer Netzwerke Zeichen in unsere verstädterte Landschaft setzen. In einem Grössenvergleich überlagerten wir die EZF mit dem Berner Münster, das man von der EZF aus sieht (Abb. 06).

TEC21: Beim Wettbewerb war nur ein grobes Raumprogramm bekannt, das bis in die Bauphase hinein verändert wurde. Wie sind Sie damit umgegangen?

T.P.: Wir haben mit einem klassischen Re-engineering begonnen und verschiedene bestehende Anlagen «analytisch zerlegt»: Welche Raumgruppen gehören zwingend zusammen, welche sind frei positionierbar? Bei gewöhnlichen KVA werden Prozessgebäude (Verbrennung) und Fernwärmezentrale parallel nebeneinander gestellt; im Gegensatz dazu haben wir uns für eine lineare Anordnung entschieden, was nahezu ohne energetische Verluste möglich ist. Gebaut wurden zwei parallele Linien: zum einen die Kehrichtverbrennung, zum anderen – ebenfalls hintereinander – ein Holzheiz- und ein Gas-und-Dampf-Kraftwerk. Das verdoppelte nicht nur die Gebäudelänge, auch in Bezug auf eine spätere Erweiterung bietet es Vorteile: Man könnte problemlos eine dritte Verbrennungslinie parallel dazu schalten.

M.G.: Ein weiterer Vorteil dieses linearen Konzepts ist, dass wir im Planungsprozess äusserst flexibel auf Programmveränderungen reagieren konnten. Das Bild des Frachtschiffs hat uns auch hier inspiriert: Das Sockelgeschoss aus Ortbeton greift ins Erdreich ein und bildet gleichsam den Rumpf, auf den die technischen Anlagen wie Container gestapelt werden können. Die wuchtige Aufwerfung des Bunkergebäudes mit der Steuerzentrale, die ähnlich einer Kommandobrücke den Blick freigibt auf die Zu- und Wegfahrt beim Waaghaus, und die filigrane Passerelle, die 30 m weit ausgreift und zum Eingang hochführt, bilden jeweils skulptural modulierte Abschlüsse dieser gegossenen Sockelstruktur. Dazwischen stapeln sich die Hallen, deren Fassaden aus kleinteiligeren, abmontierbaren, vorfabrizierten Betonelementen zusammengesetzt sind. Dieses modulare Fassadenprinzip hat sich bereits in der Entwurfsphase als sehr flexibel erwiesen: Vom Wettbewerb zur Ausführung hat sich der Bau von 260 auf 308 m verlängert, dies entspricht zwölf 4-m-Modulen. Bei einer kompakten Anordnung mit Abhängigkeiten zwischen Länge, Höhe und Breite wären wir wohl weniger flexibel gewesen. Beim fertigen Bau erlaubt die modulare Fassade die wichtige Zugänglichkeit zum Innern. Alles muss durch Fahrzeuge und Kräne von aussen erreichbar sein, der Ein- und Ausbau der technischen Anlagen erfolgt seitlich. Auch diesbezüglich ist die Linearität mit der grossen Abwicklung vorteilhaft, weil alle Anlagen nahe an der Fassade liegen.

T.P.: Von uns stammte das Grundkonzept, also die Linearität als Abbild der inneren Pro zesse, das plastisch-volumetrische Zusammenspiel von vertikalen und horizontalen Elementen und letztlich die entwerferische Strategie im Umgang mit der Grossmassstäblichkeit der Aufgabe. Die konkrete Formfindung, das Ausreizen der technischen Möglichkeiten des Betons, die konstruktive Umsetzung in Ortbeton und vorfabrizierten, modularen Elementen geschah dann im intensiven und fruchtbaren Dialog zwischen den Disziplinen – so, wie es bei so komplexen Bauten immer der Fall sein sollte. Exemplarisch für dieses Vorgehen war die zusammen mit Carlo Galmarini getroffene Materialwahl. Der Entscheid für den Baustoff Beton kam aus unserer gemeinsamen Affinität für alle Arten von Infrastrukturbauten, Brücken und Staudämmen, die ihre Kraft aus dem Material entwickeln. Die Schweiz ist ein Betonland, die Grundbestandteile sind hier vorhanden und Betonbauten haben Tradition. Zwingend für Beton sprach zudem der Umstand, dass der Kehrichtbunker im Grundwasser zu liegen kam. Wir mussten also eine dichte Wanne bauen, um Verschmutzungen zu vermeiden. Im Wettbewerb hatten wir zunächst eine reine Ortbetonstruktur. Bei der Über arbeitung wurde uns bewusst, dass diese mit der Vorgabe, jederzeit überall in den Innenraum gelangen zu können, nicht vereinbar war. Nachträgliche Öffnungen hätten unserer Vorstellung von Präzision und der angestrebten hohen Ökonomie der Konstruktion widersprochen. Im Gespräch mit den Verfahrensingenieuren schliesslich definierten wir den Übergang zwischen dem fugenlos gegossenen Sockel und dem darüber liegenden, modularen Aufbau.

M.G.: Die Zusammenarbeit zwischen Architekt und Bauingenieur war intensiv und von gegenseitigem Interesse geprägt. Dies hat sich nicht nur bei der Gebäudehülle manifestiert, sondern bei sämtlichen strukturellen Elementen, zumal bei diesem Projekt das Tragwerk ja nicht gedämmt und eingepackt werden musste. Das beharrliche Bestreben von Carlo Galmarini, die Strukturen ökonomisch und effizient zu dimensionieren, deckte sich mit unserem Interesse, das Material Beton sehr differenziert auszuformulieren und ihm sogar Leichtigkeit zu verleihen. Einzelne Platten wie beispielsweise beim Dach der Abladehalle konnten extrem ausgedünnt werden, ohne dabei ihre aussteifende Wirkung im Verbund innerhalb des Faltwerks zu verlieren. Wir wollten eine dramatische Wirkung erzielen. Durch den Massstab der Anlage entsteht eine Verschiebung in der Wahrnehmung: Wandscheiben mit einer normalen Dicke von 20 oder 30 cm wirken dünn und leicht wie Karton, doch aus diesen dünnen Scheiben entstehen massiv wirkende Volumen, die ihrerseits wiederum über dem Boden zu schweben scheinen. Dieses Spiel mit der Wahrnehmung von Leichtigkeit und Schwere konnten wir erst dank dem Massstab der Anlage zu einem wichtigen Thema entwickeln.

TEC21: Wie bei vielen Ihrer Projekte ist die Wegführung ein zentrales Entwurfsthema.

T.P.: Uns wurde bereits früh im Wettbewerb klar, dass die Öffentlichkeit ein hohes Interesse an der Anlage haben würde und einen angemessenen Zugang dazu bräuchte, auch wenn diesem Aspekt im Programm keine Bedeutung zugemessen war. Die KVA Thun zählte 2005 bereits 3500 Besucher pro Jahr – für uns Indiz genug, die Wegführung von Personal und Besuchern zu einem tragenden Entwurfsthema zu machen. Neben den Funktionen der technischen Räume stand deshalb die Frage nach den Erschliessungsräumen im Vordergrund, die für uns immer auch Raumerschliessung sind: Sie machen den Raum durch Bewegung erlebbar. Die Wegführung ist identitätsbildend. Die Fassade zur Autobahn ist ja primär konzeptuell definiert: Prägend ist der weithin sichtbare Kamin, alle anderen Bauteile liegen sozusagen im Wald verborgen und könnten nach Bedarf geändert werden, bis hin zum Hinzufügen einer weiteren Verbrennungslinie. Anders die Stadtfassade und die dahinter verborgene Raumfolge, die sorgfältig inszeniert sind: Der Aufgang auf die Passerelle, der Eingang unter dem kreisrunden Oberlicht, der 300 m lange, verglaste Korridor mit den Bullaugen in die Anlage – die in einem Art Stationenweg sämtlichen Schritten des Prozesses folgen –, danach der Übergang in die Treppenanlage mit dem dramatischen Aufstieg unter zenitalem Licht und die Treppe in die Steuerzentrale. Den krönenden Abschluss bildet die Liftfahrt auf die Besucherplattform auf dem Kamin. Dies sind zentrale Elemente des Entwurfs. Der Korridor zeichnet sich nachts deutlich ab, je nach Lichtsituation als gelbes Band oder als Reihe leuchtender Bullaugen. Er bildet die Schnittstelle zwischen innen und aussen, einen surrealen Raum zwischen Technik und Wald.

TEC21: Dieser Besuchergang hält wie ein Geschenkband das pragmatisch gestapelte Paket der industriellen Funktionen zusammen. Als schmale Linie betont er die Dimensionen des Gebäudes und seine Horizontalität im Gegensatz zu den Baumstämmen.

M.G.: Die Perspektive der Besucherinnen und Besucher hat schon in der frühesten Konzeptphase im Wettbewerb den Entwurf geprägt. So entstand die Idee des öffentlichen Korridors, dessen Linearität ein Abbild der inneren Abläufe ist. Umgekehrt hat der Anspruch, die Abläufe für Laien verständlich zu machen, das Konzept der linearen Anordnung der Funk tionen gestärkt und zur logischen Abfolge von Anlieferung, Kehrichtbunker, Verbrennung, Reinigung der Rauchgase und Energieproduktion geführt. Szenografische Überlegungen haben die Formfindung ebenso bestimmt wie die technischen und funktionalen Anforderungen. Der didaktische Aufbau ist eine gebaute Einladung an die Öffentlichkeit. Die Bauherrschaft war von Anfang an von dieser Haltung eingenommen; sie hat das Konzept mitgetragen und weiterentwickelt. Mit dem Besucherzentrum hat sie ein Element ins Programm aufgenommen, das die Öffentlichkeitswirkung noch zusätzlich auflädt.

TEC21, Fr., 2013.03.22



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2013|13-14 Energiezentrale Bern

12. Oktober 2012Judit Solt
Andrea Wiegelmann
TEC21

«Was ist das Verbindende?»

Miroslav Šik hat – zusammen mit den Architekturbüros Miller & Maranta aus Basel und Knapkiewicz & Fickert aus Zürich – an der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig die Ausstellung im Schweizer Pavillon realisiert. Unter dem Titel «And now the Ensemble!» gehen die Aussteller der Frage nach, was das Verbindende in der Architektur ausmacht. Im Hof des Schweizer Pavillons diskutierten sie am Eröffnungstag mit TEC21 über ihre Zusammenarbeit und die Bedeutung von Bildern in der Architektur.

Miroslav Šik hat – zusammen mit den Architekturbüros Miller & Maranta aus Basel und Knapkiewicz & Fickert aus Zürich – an der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig die Ausstellung im Schweizer Pavillon realisiert. Unter dem Titel «And now the Ensemble!» gehen die Aussteller der Frage nach, was das Verbindende in der Architektur ausmacht. Im Hof des Schweizer Pavillons diskutierten sie am Eröffnungstag mit TEC21 über ihre Zusammenarbeit und die Bedeutung von Bildern in der Architektur.

Mittwochnachmittag am Eröffnungstag der 13. Architekturbiennale in Venedig: Miroslav Šik kommt von einer Diskussionsveranstaltung im Deutschen Pavillon, bei der es darum ging, die Ausstellungen im Schweizer und im deutschen Pavillon zu vergleichen. Dabei entzieht sich die Frage nach dem Wert der vorhandenen Bausubstanz, die der Generalkommissar Muck Pezet im deutschen Pavillon thematisiert, genauso jeder eindeutigen Antwort wie die Suche des Schweizer Teams nach dem Verbindenden (zum deutschen Pavillon vgl. S. 14). Das Interview ist Reflektion und Weiterführung dieser Diskussion, die auch die Frage nach der Bedeutung von Referenzen, gemeinsamen Hintergünden und Arbeitsweisen der drei Büros wie der Architektenschaft im Allgemeinen stellt. Versteht man die diesjährigen Aussteller als offizielle Vertreter der Schweizer Architektur, dann wäre das Gemeinsame im Schweizer Architekturschaffen nicht in formalen oder technischen Aspekten zu suchen, sondern in der Entwurfsmethodik: Der Bezug auf den Kontext und das Beiziehen von Referenzbildern sind verbreitet. Auch wenn es Unterschiede in der Auslegung gibt, scheint es eine verbindende Komponente zu sein – es ist sicher kein Zufall, dass Valerio Olgiati im Arsenale eine Sammlung von Referenzbildern bekannter Architektinnen und Architekten präsentiert (vgl. «Patina, Pasticcio, Palimpsest, Patent», S. 22).

TEC21: Miroslav Šik, Sie kommen gerade vom deutschen Pavillon. Ein wichtiger Unterschied zwischen der Ausstellung im Schweizer und jener im deutschen Pavillon ist, dass Letztere von einer Einzelperson kuratiert wurde, während Sie das Fresko und die begleitenden Räume im Team entwickelt und umgesetzt haben. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

Miroslav Šik (MŠ): Pro Helvetia wollte zunächst etwas über mich sehen; Šik als Lehrer, als Architekt, als Theoretiker. Es wäre eine Rückschau geworden. Ich aber wollte nach vorne schauen und Dinge thematisieren, die mich beschäftigen. Ich wollte meine Arbeit als Architekt reflektieren; eben kontextgebundene Architektur. Im Grunde machen das viele Schweizer Büros, Entwerfen ist bei uns kontextgebunden. Darum habe ich entschieden, für diese Reflektion noch weitere Büros beizuziehen. Wir fünf haben bereits im Rahmen des Projekts «Andermatt Swiss Alps» des Unternehmers Samih Sawiris zusammengearbeitet. Das soll aber nicht heissen, dass alles harmonisch verlaufen ist: Wir haben auch gekämpft und miteinander gerungen. Die Idee der Collage gab es nicht von Anfang an; auch dass Bruno Giacomettis Pavillon ein wichtiger Protagonist in unserer Ausstellung sein müsse, haben wir nicht sofort verstanden.

Quintus Miller (QM): Im ersten Moment war es für uns nicht offensichtlich, wie diese Zusammenarbeit aussehen könnte. Wir haben alle sehr unterschiedliche Herangehensweisen. Aber dann haben wir innerhalb von einigen Sitzungen herausgefunden, wo unsere gemeinsame Stärke liegen kann. Wir respektieren einander im hohen Masse und schätzen uns als Kollegen.

TEC21: Was waren die ersten Ideen, und wie kam es schliesslich zur Umsetzung des Freskos?

MŠ: Die Idee zum Fresko ergab sich aus unseren Diskussionen, sie ist Produkt des Prozesses. Irgendwann haben wir gesagt: Wenn wir von Ensemble reden, dann lasst uns auch ein Ensemble bilden! Die Art der Ausführung ist ebenfalls aus dieser Diskussion entstanden. Es war Axels Idee, die ursprünglich geplante Blackbox aufzuheben, die Architektur des Pavillons in unsere Ausstellung zu integrieren und folgerichtig mit Tageslicht zu arbeiten.

Axel Fickert (AF): Der Wunsch, ein Ensemble umzusetzen, stand relativ am Anfang – dorthin wollen wir ja auch mit unserer Architektur. Es gab Anregungen und Vorbilder, wie die Bilder des Architekten und Malers Joseph Michael Gandy[1]im Soane Museum in London, eine Anregung von Kaschka. Das hat uns an das Bild «Città Analoga» von Arduino Cantafora erinnert, das uns seit unserer Studienzeit beschäftigt (Abb. 2). Cantafora hat in einer Art Panorama Bauten von Aldo Rossi in den Kontext historischer Bauten und Stadtvisionen eingebunden und zu einer Collage kombiniert. Genau das passiert auf unserem Fresko – es ist unsere «Città Analoga», die wir weiter behandeln.

TEC21: Woher stammt der Titel «And now the Ensemble!»?

MŠ: Nach der Entscheidung, ein Ensemble zu collagieren, kamen wir auf den Slogan. Auch hier war es Axel, der uns darauf gebracht hat. Ich hätte wohl «Ensemble City» vorgeschlagen, aber das hätte nicht diese Kraft gehabt. Wir haben die «Città Analoga» mit neuen Mitteln gestaltet. Die Linie ist klar, wir beziehen uns auf Aldo Rossi und seine Zeit. Aber es gibt auch Unterschiede, was auch damit zusammenhängt, dass wir eine andere Generation sind. Wir haben verstanden, dass die Stadt heterogen und dennoch einheitlich sein kann.

QM: Viele verstehen diese Collage als eine Arbeit mit Bildern. Ich möchte das Wort lieber im englischen Sinn als «Images» gebrauchen. Darin liegen zwei Bedeutungen: einerseits das Bild und andererseits das Image, ein Wort, das wir im Deutschen auch kennen und bei dem es um Inhalt geht. Über diese Inhalte haben wir diskutiert und aus ihnen ein Fresko entwickelt. Kaschka Knapkiewicz (KK): Wir haben uns gefragt, wann eine Stadt oder ein Ort überhaupt einheitlich ist und wie man eine Vielfalt in der Einheit schaffen kann. Die meisten Architekten realisieren einen Solitär nach dem anderen; die Bauten stehen nebeneinander, bilden aber kein Ensemble.

AF: Im Zentralen Pavillon (Padiglione Centrale, Giardini) stellt Peter Eisenman den Plan von Piranesi als Modell aus – eine «Città Analoga» des antiken Rom. Was bindet dieses Häusermeer zusammen? Sind es die Säulen, weil ein grosser Prozentsatz von Bauten Säulenportiken aufweist? Gibt es in unserer Zeit etwas, das eine ähnliche Trägerfunktion aufweist und unsere Gebäude zusammenhält? Es ist nicht nur der Raum, es ist nicht nur die Volumetrie, es ist nicht nur die Gebäudestellung, es ist nicht die Ähnlichkeit der Fenster – was ist das genau, was die Gebäude verbindet? Unsere Collage wirkt auf den Betrachter, weil es ein monumentales Fresko ist. Die interessante Frage ist, warum es als Ensemble wahrgenommen wird? Welches Bindemittel hält die abgebildeten Bauten zusammen? Das Kontextuelle gehört sicher dazu, aber viele Architekten machen kontextuelle Projekte. Was ist also dieses «Mehr»?

QM: Ich denke, es ist die dichte kulturelle Schichtung, die jeder von uns pflegt und die wir in unseren Bauten auch transportieren. Es sind profund gedachte Architekturen, die über das blosse Gefallen an einer Form, einem Volumen oder einer Aussage hinausgehen. Jeder von uns bringt aufgrund seines ganz persönlichen Hintergrunds eine bestimmte Geschichte in ein Projekt hinein, und die Vielschichtigkeit, die in den Bauten liegt, ermöglicht dies auch. Wir betten uns in eine gemeinsame Kultur, in ein kollektives Bewusstsein ein.

AF: Das machen doch alle Architekturschaffenden. Wir haben mit Studierenden deren Projekte versuchsweise zu einem Ensemble zusammengefügt, heraus kam aber nur ein Häuserhaufen. Ein anderes Beispiel: Im Arsenale sind zurzeit Fotos von Thomas Struth zu sehen. Einmal sind diverse Berliner Hinterhöfe dargestellt – banale Fassaden, die nur Fenster haben, nichts sonst. Daneben ist ein Bild von St. Petersburger Fassaden – wieder lauter Fenster, aber trotzdem ist der Strasseneindruck im öffentlichen Raum völlig anders. Es muss etwas geben, was diesen Eindruck ausmacht und den urbanen Raum prägt.

KK: Es ist die Zuwendung zum öffentlichen Raum. Es ist das Verständnis dafür, die Hauptfassade im traditionellen Sinn als repräsentatives Antlitz des Gebäudes zur Strasse hin aufzufassen. Im Hinterhof dagegen muss man nicht repräsentieren. Schaut euch Venedig an: Es gibt in der ganzen Stadt schmale, hohe Fenster im Piano nobile und sonst kleine Fenster, aber trotz den unterschiedlichen Grössen und Positionierungen tragen sie alle zum Schmuck der Strasse bei. Es ist, als hätte man sich auf einen Gestus zur Strasse hin geeinigt.

TEC21: Spannend ist ja gerade, dass Sie sich eben nicht auf Fenstergrössen oder sonstige Formen geeinigt haben. Auf dem Fresko zeigen Sie Werke, die jeweils für einen ganz bestimmten Kontext geschaffen, aus diesem Kontext herausgerissen und neu zusammengestellt worden sind. Alle diese «Entwurzelten» bilden ein neues Ensemble – da stellt sich schon die Frage, warum das funktioniert. Am direkten Bezug zum unmittelbaren Nachbarn auf dem Fresko kann es jedenfalls nicht liegen. Die Verbindung muss auf einer viel allgemeineren Ebene liegen.

QM: Es geht um eine Haltung, ein Verhalten – und darum, dass ein Gebäude ein «Gesicht» hat und etwas aussagt. Ich bin überzeugt, dass die vermittelte Bedeutung immer vielschichtig sein muss. Sonst wäre es unmöglich, aus unterschiedlichen kulturellen Umfeldern Zugang zum Gebäude zu finden.

MŠ: Nehmen wir ein Gegenbeispiel, den Novartis Campus in Basel. Der Masterplan von Vittorio Magnago Lampugnani gibt strenge städtebauliche Regeln und durchgehende Gestaltungselemente vor, und dennoch ist kein städtisches Ensemble entstanden.

AF: Weil die Bauten Solitäre sind: Sie basieren auf der Eitelkeit einzelner Architekturschaffender. Das ist das Paradoxe. Die verbindenden Strassenräume sind an sich gelungen, aber die Bauten streben das pure Gegenteil des Gemeinsamen an, sie konkurrenzieren und verschliessen sich, stellen das eine Thema gegen das andere. Angenommen, alle Bauten hätten Loggien oder raumhaltige Fassaden – ich denke jetzt beispielsweise an die Planung von Auguste Perret für Le Havre[2] – vielleicht hätten sie dann etwas, das Plastizität erzeugt. Es wäre anders.

TEC21: Liegt es in diesem Fall nicht auch an der Monofunktionalität der Büro- und Labornutzung und daran, dass der Campus kein öffentlicher Raum ist? Lampugnani hat ihn als Stadtraum gestaltet, aber de facto ist es eine «verbotene Stadt». Dort ist alles andere gewünscht als Öffentlichkeit, und das merkt man einigen Gebäuden auch an. Wozu sollen sie sich zu einer Strasse öffnen, die keine ist?

AF: Ich glaube, es liegt an der Art, wie sich die Gebäude dem öffentlichen Raum zuwenden oder eben nicht – der Grad der Plastizität, der Raumhaltigkeit. Darum bin ich auch gegen die Verdammung des Motivs: Das Motiv ist ein wichtiges Mittel, um diese Zuwendung auszudrücken.

QM: Ich verdamme das Motiv nicht. Ein anderer Gedanke: Liegt das Verbindende zwischen uns vielleicht darin, dass wir Architekturen schaffen, die Patina ansetzen können? Wir verwenden mineralische Materialien, die altern können. Dass ein Gebäude den Gebrauch, das Leben annehmen kann, ist wichtig.

MŠ: Das ist jetzt ein schönes Beispiel dafür, wie wir in der Gruppe diskutiert, gesucht und gerungen haben. Das Fresko ist ein empirisches Produkt. Das «masterpiece» dort ist tatsächlich dieses Ensemble, das Bindende. Wahrscheinlich hat jeder von uns noch eine eigene Gewichtung im Hinblick darauf, was ein Ensemble ist.

TEC21: Wie haben Sie es geschafft, sich auf diese Präsentation zu einigen? Haben Sie sich von Anfang an auf das Referenzbild «La Città Analoga» von Cantafora bezogen?

AF: Zunächst wollten wir eine gemeinsame Collage machen, sind aber damit gescheitert: Das geht einfach nicht, wenn man verschiedene Positionen vertritt. Darum ist das Fresko dreigeteilt: Jedes Büro hat eine Wand mit einer Collage seiner Bauten gestaltet. Wenn man die drei Bilder jetzt als Einheit liest, ist es das schönste Kompliment, das man uns machen kann! Offenbar sind die verschiedenen Visionen kompatibel.

MŠ: Es gab die Option, einen Comicstrip machen zu lassen. Wir hatten Kontakt mit Zürcher Zeichnern, u.a. mit Andreas Gefe. Er hätte das Unifizierende herstellen können, aber bei der Umsetzung seine eigene Handschrift auf die Collage übertragen. Dies hätte den Schwerpunkt auf ausserarchitektonische Massnahmen und Objekte wie Bäume verlagert, und die Architektur, die wir eigentlich abbilden wollten, wäre auf der Strecke geblieben. Wir wollten kein Kunstwerk schaffen, sondern das Ensemble in den Vordergrund stellen.

TEC21: Welche anderen Darstellungsformen haben Sie noch diskutiert?

MŠ: Es gab die Idee einer «russischen Hängung»[3], und auch die Technik der «Frottage» haben wir verfolgt. Schliesslich kamen wir auf das Verfahren mit der Fotoemulsion. Technisch war es ein Risiko, weil es bisher fast nur kleinformatige Versuche mit diesem Verfahren gegeben hat, maximal ein auf zwei Meter. Einige Künstler hatten in den 1970er-Jahren zwar grössere Formate ausprobiert, allerdings waren die Arbeiten damals häufig als Performance angelegt. Die Bilder wurden nicht fixiert, sondern sollten im Laufe der Ausstellung verblassen. Die technische Machbarkeit unserer Idee war daher nicht gesichert, wir haben mehr oder weniger alles auf eine Karte gesetzt.

TEC21: Wie wurde das Fresko dann tatsächlich ausgeführt?

MŠ: Zunächst mussten wir den Raum vollständig abdunkeln. Anschliessend wurde die Emulsion auf die Wand aufgetragen und mit Unterstützung von Klimaanlagen getrocknet. Danach konnten wir belichten. Parallel arbeiteten wir an den Vorlagen für die Projektion über Dia. Die Schärfe der Darstellung war teilweise nicht ausreichend, sie sollte bei ca. 600 dpi liegen. Als wir mit der Belichtung anfingen, kamen neue Schwierigkeiten hinzu. Zuvor hatte hier der Künstler Thomas Hirschhorn[4] ausgestellt. Er hatte den Pavillon völlig verkleidet und mit einem Kleber auf die Bodenplatten und an die Säulen und Wände mit Klebeband diverse Materialien und Objekte geklebt. Als wir die Fotoemulsion auftrugen, gab es punktuell unkontrollierte chemische Reaktionen, und die Bilder wurden unscharf. Also haben wir das ganze Spiel noch einmal wiederholt, die Wand zwischendurch gereinigt und neu verputzt. Inzwischen war es Mitte Juli, und hier in Venedig wurde es tagsüber 32 °C warm …

AF: Anstelle von drei Wochen haben die Arbeiten sechs Wochen gedauert. Am Ende hatte das Ganze die Dimension von Raffaels Werkstatt …

MŠ: Die Realisierung der Fotoemulsion verdanken wir dem deutschen Fotografen und Künstler Michael Zirn und seinem Team. Wir hatten angesichts der technischen Schwierigkeiten schon aufgegeben, als sich einer von Zirns Mitarbeitern an ein fotochemisches Rezept erinnerte: Man bringt Harnsäure auf, die anschliessend mit Salzsäure abgewaschen wird. Das haben wir gemacht. Die Arbeiter trugen Gasmasken – bei der Hitze wahrlich keine idealen Arbeitsbedingungen. Eine Woche vor der Eröffnung waren wir über den Berg. Zwischendurch haben wir alle ein bisschen die Nerven verloren und dachten: Hätten wir doch die Wände tapeziert ... Aber es wäre nicht dasselbe gewesen. Im deutschen Pavillon sind die Bilder auf die Wände geklebt; das sind aber Fotografien, die als solche wirken können und sollen. Bei unserer Collage ist es wichtig, dass der einzelne Pinselstrich vom Auftragen der Emulsion sichtbar bleibt. Dieser handwerkliche Aspekt und die Verfremdung durch das Belichtungsverfahren machen das Fresko zu dem, was es ist. Eine Verfremdung mit Photoshop haben wir übrigens auch getestet, aber als zu direkt verworfen.

QM: Die Kontrastveränderung, der Prozess hat den Bildern einen weiteren vereinheitlichenden Filter übergelegt. Was von der Sache her auch Sinn ergibt: Wir arbeiten alle mit dem Material und dem Detail. Es ist eine Arbeit, die für diesen Moment und für diese Wände gemacht ist, und das verleiht ihr ihren Charakter. Was ich noch ergänzen wollte: Wir sind sehr unterschiedlich, und das sieht man den Bildern auch an. Dass die Zusammenarbeit trotzdem so gut funktioniert hat, liegt daran, dass wir uns als Kollegen respektieren. Bei aller Unterschiedlichkeit sind wir passioniert für ähnliche Vorstellungen.

MŠ: Die anderen zwei Räume sind begleitend: der Lesetisch und unsere Referenzwand. Die fasziniert das Publikum am meisten, insbesondere die deutschen Kollegen, was mich doch überrascht, weil wir seit Jahren mit Referenzbildern arbeiten. Auch von meinen Studierenden verlange ich, dass sie mir ihre Referenzen immer wieder zeigen.

KK: Wir verständigen uns über unsere Referenzen. Wir sagen: «Weisst du, wie bei dem und dem Bau …» Wenn man das Bild hat, die Referenz, hat man die Richtung. Und bei den Deutschschweizer Architekten sind wir bei Weitem nicht die Einzigen, die so arbeiten.

MŠ: Das vierte Element unserer Ausstellung neben Fresko, Referenzen und Lesetisch – vielleicht die wichtigste Komponente – ist der Pavillon von Bruno Giacometti. Was er für eine Kraft hat, haben wir erst im Lauf der Zeit realisiert. Wir wollten, dass man die Räume wahrnehmen kann, den Bezug zwischen innen und aussen spürt.


Anmerkungen:
[01] Joseph Gandy (1771–1843) war englischer Architekt, Theoretiker und Maler, vor allem bekannt für seine imaginierenden Bilder der architektonischen Entwürfe von Sir John Soanes
[02] Auguste Perret war der hauptverantwortliche Stadtplaner für den Wiederaufbau von Le Havre nach dem Zweiten Weltkrieg
[03] Die «russische Hängung», auch «Petersburger Hängung», bezeichnet eine enge Reihung von Bildern. Sie wird benannt nach der Hängung der Gemälde in der Eremitage
[04] Thomas Hirschhorn, «Crystal of Resistance», Swiss Pavilion, Venice Biennale, Venice, Italy, 2011

And now the Ensemble! Ebenfalls unter dem Titel «And now the Ensemble!» ist eine Publikation erschienen mit Beiträgen u.a. von Adam Caruso, Vittorio Magnago Lampugnani, Quintus Miller und Miroslav Šik. Sie möchte dazu auffordern, Stadtplanung als dynamischen, kollektiven Prozess zu begreifen und zu gestalten: Miroslav Šik, Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, And now the Ensemble!, Zürich 2012

TEC21, Fr., 2012.10.12



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2012|42-43 13. Architekturbiennale

01. Juni 2012Judit Solt
Alberto Caruso
TEC21

Geläuterte ikone

Die von Ludwig Mies van der Rohe von Juni 1929 bis Dezember 1930 erbaute Villa Tugendhat im tschechischen Brünn gehört zu den Ikonen der architektonischen...

Die von Ludwig Mies van der Rohe von Juni 1929 bis Dezember 1930 erbaute Villa Tugendhat im tschechischen Brünn gehört zu den Ikonen der architektonischen...

Die von Ludwig Mies van der Rohe von Juni 1929 bis Dezember 1930 erbaute Villa Tugendhat im tschechischen Brünn gehört zu den Ikonen der architektonischen Moderne. Nachdem zunächst die Nationalsozialisten und später das kommunistische Regime den Bau in Besitz nahmen, wurde die Villa 2001 in das Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen. Unter der Schirmherrschaft des Tugendhat House International Committee erneuerte ein Team aus den Architekturbüros Omnia projekt (Brünn) und Archteam (Prag) von 2010 bis 2012 die Villa – die Geschichte der Instandstellung ist dabei streckenweise ebenso abenteuerlich wie jene des Baus selbst. Seit März 2012 ist die Villa als Museum wieder für die Öffentlichkeit zugänglich.

Die Villa Tugendhat ist ein Gesamtkunstwerk: eine Komposition, in der Mies van der Rohe
einerseits seine entwerferischen Ideen von fliessenden Räumen und freiem Grundriss
umsetzen konnte, die andererseits aber den Bedürfnissen einer Familie zu genügen hatte. Das damalige Vorurteil, moderne Architektur sei kalt und streng, widerlegte Mies mit dem Einsatz von edlen Materialien, sorgfältigen Details – beispielsweise in der Anordnung der Räume und der Gebäudetechnik – und speziell für die Villa entworfenen Möbeln.

genialer Architekt, kongeniale Bauherrschaft
Diese Konsequenz in Entwurf und Ausführung verlangte eine enge Beziehung zwischen
Architekt und Bauherrschaft. Bis zum Zweiten Weltkrieg war Brünn eines der lebendigsten Zentren des damaligen multikulturellen Osteuropa. Die Koexistenz von tschechischen, ­deutschen und jüdischen Gemeinschaften führte zu einem äusserst regen Kulturleben, was sich auch architektonisch durch eine hohe Anzahl an modernen Bauten manifestierte.
Grete Tugendhat, 1903 in Brünn als Tochter der grossbürgerlichen jüdischen Industriellen­familie Löw-Beer geboren, heiratete 1928 in zweiter Ehe den Brünner Textilindustriellen Fritz Tugendhat. Zur Hochzeit schenkten Gretes Eltern dem Paar einen Teil ihres eigenen Gartens als Baugrundstück und finanzierten auch den Bau der Villa. Während ihrer ersten Ehe hatte Grete Tugendhat in Berlin gelebt, wo sie oft Mies’ zweiten realisierten Bau, das vom Kulturwissenschaftler Eduard Fuchs bewohnte Haus Perls (1911), besucht hatte; auch die 1927 erbaute Weissenhofsiedlung faszinierte sie. Gemeinsam mit ihrem Mann kontaktierte sie daher Mies van der Rohe für den Bau ihres Hauses. Die Lage des Grundstücks am oberen Ende des Parks gegenüber der Brünner Festung Spielberg begeisterte Mies. Mit der für die
Gartengestaltung verantwortlichen Brünner Landschaftsarchitektin Grete Roder-Müller schuf er ein Haus, dessen Struktur wesentlich vom Dialog zwischen Innen und Aussen, zwischen Natur und Architektur bestimmt war.
Der Eingang erfolgte von der Strassenseite, von wo aus sich der Bau als eingeschossiger Bungalow präsentierte (Abb. 2). Hier waren die Privaträume untergebracht, eine Treppe führte von der Eingangshalle in das Wohngeschoss, das aus den auf der Nordseite angeordneten Wirtschaftsräumen und einem grosszügigen offenen Wohnbereich bestand. Weite Terrassen in Ober- und Erdgeschoss und eine Treppe zum Garten verknüpften den Bau mit der Landschaft. Die dreigeschossige Villa war als Stahlskelett konstruiert, wodurch Mies die Trennung von Konstruktion und Wand ermöglichte.1 Die Komposition von fliessenden Räumen, die Gegenüberstellung von tragenden Stahlstützen und trennenden Wänden aus kostbaren Materialien wie Onyxmarmor und Makassar-Ebenholz oder die beiden rund 15 m² ­grossen versenkbaren Fenster zum Park waren für die damalige Zeit geradezu revolutionär – im Gegensatz zum Raumprogramm, das mit der strengen Trennung von Tag- und Nacht­bereich oder mit den Personalzimmern gutbürgerliche Wohnvorstellungen widerspiegelt. Gemäss Grete Tugendhat legte Mies Wert auf edle Materialien: «Dann legte er uns dar, wie wichtig gerade im modernen, sozusagen schmucklosen […] Bauen die Verwendung von
edlem Material sei und wie das bisher vernachlässigt worden sei, z. B. von Le Corbusier.
Als Sohn eines Steinmetzes war Mies vertraut mit schönem Stein […]. Er liess im Atlas­gebirge lange nach einem schönen Onyxblock für die Wand suchen und überwachte selbst das ­Zersägen und Aneinanderfügen der Platten […]. Als sich nachher zeigte, dass der Stein durchscheinend war und gewisse Stellen der Zeichnung auf der Rückseite rot leuchteten, wenn die untergehende Sonne auf die Vorderseite schien, war das auch für ihn eine freudige Überraschung.»2

Villa, Büro, Stall und Spital
Bewohnt wurde die Villa allerdings nicht lange. Nach der Annektion des Sudetenlandes durch das Deutsche Reich flüchtete die Familie Tugendhat 1938 vor den Nazis zunächst in die Schweiz, 1941 nach Venezuela.1950 kehrte die Familie in die Schweiz zurück und liess sich in St. Gallen nieder.3
Die Villa Tugendhat wurde 1939 für den Bedarf der Gestapo formell beschlagnahmt und 1942 als Besitz des Grossdeutschen Reiches eingetragen. Zeitweise bewohnte sie der Flugzeugkonstrukteur Walter Messerschmidt, der die Villa als Konstruktionsbüro nutzte und mit massiven Einbauwänden unterteilte. Nach Einmarsch der Roten Armee diente der Bau deren Kavalleristen als Pferdestall. Von 1950 bis 1979 nutzten ihn die tschechoslowakischen Behörden für die orthopädische Abteilung des benachbarten Kinderspitals, das Wohnzimmer mutierte zur Turnhalle (Abb. 3). 1980 ging die Villa in den Besitz der Stadt Brünn über. In den 1980er-Jahren wurde der Bau für Repräsentationszwecke und als Gästehaus für hochrangige Besucher eingesetzt. Bei der damaligen «denkmalpflegerischen Wiederherstellung» (1981 – 1985) zerstörte man trotz hehren Absichten weitere Originalteile – unter ­anderem wurde das letzte noch erhaltene Fenster der Gartenfront ersetzt, das im Zweiten Weltkrieg die Explosion einer Bombe nur deswegen überstanden hatte, weil es gerade versenkt war. Fast alle Holzeinbauten wurden «erneuert», anderes mehr schlecht als recht ­rekonstruiert, etwa die verloren geglaubte Makassar-Wand: Weil das Regime nicht über
den Willen oder die Mittel verfügte, das richtige Furnier zu beschaffen, erhielt die Wand ein dominantes Vertikalmuster und einen horizontalen Saum, die ihre Wirkung ruinierten.
Fragwürdige Auftragsvergabe
Brünns beeindruckendes Erbe an modernen Bauten aus der Zwischenkriegszeit fällt nach Vernachlässigung durch die sozialistischen Machthaber heute der Erneuerungswut von
Investoren und der Gleichgültigkeit der Stadtverwaltung zum Opfer. Zumindest der Villa ­Tugendhat blieb dieses Schicksal erspart. Das Gebäude wurde 1995 zum Nationalen Kulturdenkmal erklärt und gehört seit 2001 zum Unesco-Welterbe. Entsprechend aufwendig war die Restaurierung, die die Villa und den dazugehörenden Garten umfasste. Insgesamt kann das Unterfangen als gelungen bezeichnet werden. Dennoch erstaunt, dass der Auftrag für die Rettung des funktionalistischen Kunstwerks nicht an ein Architekturbüro ging, das sich auf die frühe moderne Architektur spezialisiert hat. Ein auch international bekannter profunder Kenner des Gebäudes, der Brünner Architekt Jan Sapák, der sich seit Jahrzehnten für deren Rettung eingesetzt hat, aber als politischer Querulant gilt, wurde aufgrund eines Formfehlers aus dem Bewerbungsverfahren ausgeschlossen. Der Hauptauftrag ging an eine Firma, die sich neben guten Beziehungen zu den Behörden bisher vor allem mit der Instandsetzung von barocken Schlössern hervorgetan hat. Auf eine Sichtung der originalen Detailpläne, die im Mies-Archiv im Museum of Modern Art in New York lagern, haben die Architekten denn auch verzichtet. Andere kompetente Fachleute wurden zwar beigezogen, doch nur für eng umrissene Bereiche wie die Möblierung oder die Gestaltung der neuen Ausstellung im Keller. Es gibt Anzeichen dafür, dass das gute Ergebnis nicht zuletzt ihrem informell ­eingebrachten Wissen zu verdanken ist sowie der Aufsicht eines mit namhaften Experten besetzten – allerdings erst nach Beginn der Arbeiten eingesetzten – Aufsichtskomitees
(vgl. Kasten S. 18), worin auch Mitglieder der Familie Tugendhat vertreten sind.
Sorgfalt und Detektivarbeit
Trotz allen Zerstörungen, Umnutzungen und Transformationen ist sehr viel Originalsubstanz erhalten geblieben. Die Lüftung im Keller ist weiterhin funktionstüchtig; rund 80 % der Wandoberflächen sind im Original vorhanden und können in «archäologischen Fenstern» – zum Beispiel im Verputz der Fassade – begutachtet werden.
Neue Elemente, die Verlorenes ersetzen, wurden mit den ursprünglichen Materialien nachgebaut: Der neu verlegte Linoleum wurde eigens nach der historischen Rezeptur hergestellt, die Schreinerarbeiten sind perfekt. Eine Sensation stellt die gewölbte Makassar-Wand im Essbreich dar. Während zweier Generationen galt sie als verloren, bis der Kunsthistoriker
Dr. Miroslav Ambroz, der Bruder des für den Nachbau der Möbel zuständigen Restaurators, sie auf eigene Faust aufspürte: Das Tagebuch eines deutschen Soldaten, das er in einem Antiquariat erstanden hatte, erwähnte eine Holzwand, die die Gestapo aus einer Villa in ihr neues Hauptquartier – heute eine Universitätsmensa – transferiert hatte. Tatsächlich fand er das wertvolle Edelholz, das dort seit zwei Generationen und von tausenden von Studierenden unbeachtet als Brusttäfer diente. Die Teile wurden kaum sichtbar zusammengefügt und wo nötig ergänzt. Dank den sorgfältig ausgewählten Materialien und der äusserst hohen handwerklichen Qualität der Ausführung sind Alt und Neu nur für den geübten Blick zu unterscheiden. Nur wenige Misstöne sind zu vernehmen – im Schlafzimmer etwa feine Risse im Stucco, der aus Rücksicht auf die Proportionen der Fussleiste zu dünn aufgetragen werden musste, plumpe Vorhänge und Teppiche oder ein eckiges Element statt eines runden im Abflussrohr an der Strassenfassade. Ein weiterer Wermutstropfen ist die fehlende Plastik, die auf historischen Bildern jeweils auf der Wintergartenseite der Onyxwand platziert ist. Mies van der Rohe hatte hier bereits in frühen Zeichnungen eine Plastik vorgesehen, die Familie Tugendhat erwarb dafür den «Torso der Schreitenden» von Wilhelm Lehmbruck (1914). Nachdem sie während des Zweiten Weltkriegs zunächst von den Nationalsozialisten konfisziert wurde, war sie bis 2006 im Besitz der Galerie Moravska in Brünn, bis die Familie sie im selben Jahr zurückerhielt. 2007 wurde die Plastik verkauft – und ihr Fehlen schmerzt, die Wirkung des Raumes ist beeinträchtigt. In der Gesamtwirkung ist die Villa jedoch wieder als das erlebbar, was sie einmal war – ein bis ins letzte Detail perfekt durchdachter, in seiner Wirkung umwerfender Bau.

Judit Solt, solt@tec21.ch
Die Autorin dankt Tina Cieslik und Rahel Hartmann Schweizer für ihre wertvollen Hinweise.

Anmerkungen 
1 Etwa zeitgleich zur Villa entwarf Mies den Barcelona-Pavillon für die Weltaustellung 1929. Darin verwirklichte er die entwerferischen Prinzipien vom «fliessenden Raum» und vom «freien Grundriss». In der Villa Tugendhat übertrug Mies diese Motive auf ein Wohnhaus, das den Anforderungen und Bedürfnissen des grossbürgerlichen Alltags gerecht werden musste
2 Grete Tugendhat in einem Vortrag, gehalten auf der internationalen Konferenz zur Rekonstruktion des Hauses (17. März 1969, Mährisches Museum, Brünn) in: Daniela Hammer-Tugendhat, Wolf Tegethoff (Hrsg.), «Ludwig Mies van der Rohe. Das Haus Tugendhat», Springer-Verlag Wien, 1998, S. 5 ff.
3 ebd., S. 27. 1957 liess sich die Familie vom St. Galler Büro Danzeisen & Voser in St. Gallen ein Haus bauen, das an die Ideen der Villa Tugendhat anschloss
4 ebd., S. 7

Eine Kurzfassung dieses Artikels erschien anlässlich der Eröffnung in TEC21 11/2012 sowie auf . Dort finden Sie auch zusätzliches Bildmaterial.
Ausführliche Informationen zu den Eingriffen, eine Bilddokumentation der Baustelle und für die
Reservation von Besuchsterminen gibt es auf «www.tugendhat.eu».

Weiterführende Literatur:
– Daniela Hammer-Tugendhat, Wolf Tegethoff (Hrsg.), Ludwig Mies van der Rohe. Das Haus Tugendhat, Springer-Verlag Wien, 1998
– Adolph Stiller (Hrsg.), Das Haus Tugendhat. Ludwig Mies van der Rohe. Brünn 1930, Verlag Anton
Pustet, Salzburg, 1999
– Villa Tugendhat. Rehabilitace a slavnostní znovuotevrˇení / Rehabilitation and Ceremonial Reopening, Study and Documentation Centre – Villa Tugendhat and Brno City Museum, Brno 2012
– Terence Riley, Barry Bergdoll (Hrsg.), Mies in Berlin. Mies van der Rohe. Die Berliner Jahre 1907–1938, Prestel Verlag, München, 2002

TEC21, Fr., 2012.06.01

25. Mai 2012Judit Solt
Alberto Caruso
TEC21

Geläuterte Ikone

Die von Ludwig Mies van der Rohe von Juni 1929 bis Dezember 1930 erbaute Villa Tugendhat im tschechischen Brünn gehört zu den Ikonen der architektonischen Moderne. Nachdem zunächst die Nationalsozialisten und später das kommunistische Regime den Bau in Besitz nahmen, wurde die Villa 2001 in das Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen. Unter der Schirmherrschaft des Tugendhat House International Committee erneuerte ein Team aus den Architekturbüros Omnia projekt (Brünn) und Archteam (Prag) von 2010 bis 2012 die Villa – die Geschichte der Instandstellung ist dabei streckenweise ebenso abenteuerlich wie jene des Baus selbst. Seit März 2012 ist die Villa als Museum wieder für die Öffentlichkeit zugänglich.

Die von Ludwig Mies van der Rohe von Juni 1929 bis Dezember 1930 erbaute Villa Tugendhat im tschechischen Brünn gehört zu den Ikonen der architektonischen Moderne. Nachdem zunächst die Nationalsozialisten und später das kommunistische Regime den Bau in Besitz nahmen, wurde die Villa 2001 in das Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen. Unter der Schirmherrschaft des Tugendhat House International Committee erneuerte ein Team aus den Architekturbüros Omnia projekt (Brünn) und Archteam (Prag) von 2010 bis 2012 die Villa – die Geschichte der Instandstellung ist dabei streckenweise ebenso abenteuerlich wie jene des Baus selbst. Seit März 2012 ist die Villa als Museum wieder für die Öffentlichkeit zugänglich.

Die Villa Tugendhat ist ein Gesamtkunstwerk: eine Komposition, in der Mies van der Rohe einerseits seine entwerferischen Ideen von fliessenden Räumen und freiem Grundriss umsetzen konnte, die andererseits aber den Bedürfnissen einer Familie zu genügen hatte. Das damalige Vorurteil, moderne Architektur sei kalt und streng, widerlegte Mies mit dem Einsatz von edlen Materialien, sorgfältigen Details – beispielsweise in der Anordnung der Räume und der Gebäudetechnik – und speziell für die Villa entworfenen Möbeln.

Genialer Architekt, kongeniale Bauherrschaft

Diese Konsequenz in Entwurf und Ausführung verlangte eine enge Beziehung zwischen Architekt und Bauherrschaft. Bis zum Zweiten Weltkrieg war Brünn eines der lebendigsten Zentren des damaligen multikulturellen Osteuropa. Die Koexistenz von tschechischen, deutschen und jüdischen Gemeinschaften führte zu einem äusserst regen Kulturleben, was sich auch architektonisch durch eine hohe Anzahl an modernen Bauten manifestierte. Grete Tugendhat, 1903 in Brünn als Tochter der grossbürgerlichen jüdischen Industriellenfamilie Löw-Beer geboren, heiratete 1928 in zweiter Ehe den Brünner Textilindustriellen Fritz Tugendhat. Zur Hochzeit schenkten Gretes Eltern dem Paar einen Teil ihres eigenen Gartens als Baugrundstück und finanzierten auch den Bau der Villa. Während ihrer ersten Ehe hatte Grete Tugendhat in Berlin gelebt, wo sie oft Mies’ zweiten realisierten Bau, das vom Kulturwissenschaftler Eduard Fuchs bewohnte Haus Perls (1911), besucht hatte; auch die 1927 erbaute Weissenhofsiedlung faszinierte sie. Gemeinsam mit ihrem Mann kontaktierte sie daher Mies van der Rohe für den Bau ihres Hauses. Die Lage des Grundstücks am oberen Ende des Parks gegenüber der Brünner Festung Spielberg begeisterte Mies. Mit der für die Gartengestaltung verantwortlichen Brünner Landschaftsarchitektin Grete Roder-Müller schuf er ein Haus, dessen Struktur wesentlich vom Dialog zwischen Innen und Aussen, zwischen Natur und Architektur bestimmt war.

Der Eingang erfolgte von der Strassenseite, von wo aus sich der Bau als eingeschossiger Bungalow präsentierte (Abb. 2). Hier waren die Privaträume untergebracht, eine Treppe führte von der Eingangshalle in das Wohngeschoss, das aus den auf der Nordseite angeordneten Wirtschaftsräumen und einem grosszügigen offenen Wohnbereich bestand. Weite Terrassen in Ober- und Erdgeschoss und eine Treppe zum Garten verknüpften den Bau mit der Landschaft. Die dreigeschossige Villa war als Stahlskelett konstruiert, wodurch Mies die Trennung von Konstruktion und Wand ermöglichte.[1] Die Komposition von fliessenden Räumen, die Gegenüberstellung von tragenden Stahlstützen und trennenden Wänden aus kostbaren Materialien wie Onyxmarmor und Makassar-Ebenholz oder die beiden rund 15 m² grossen versenkbaren Fenster zum Park waren für die damalige Zeit geradezu revolutionär – im Gegensatz zum Raumprogramm, das mit der strengen Trennung von Tag- und Nachtbereich oder mit den Personalzimmern gutbürgerliche Wohnvorstellungen widerspiegelt. Gemäss Grete Tugendhat legte Mies Wert auf edle Materialien: «Dann legte er uns dar, wie wichtig gerade im modernen, sozusagen schmucklosen […] Bauen die Verwendung von edlem Material sei und wie das bisher vernachlässigt worden sei, z.B. von Le Corbusier. Als Sohn eines Steinmetzes war Mies vertraut mit schönem Stein […]. Er liess im Atlasgebirge lange nach einem schönen Onyxblock für die Wand suchen und überwachte selbst das Zersägen und Aneinanderfügen der Platten […]. Als sich nachher zeigte, dass der Stein durchscheinend war und gewisse Stellen der Zeichnung auf der Rückseite rot leuchteten, wenn die untergehende Sonne auf die Vorderseite schien, war das auch für ihn eine freudige Überraschung.»[2]

Villa, Büro, Stall und Spital

Bewohnt wurde die Villa allerdings nicht lange. Nach der Annektion des Sudetenlandes durch das Deutsche Reich flüchtete die Familie Tugendhat 1938 vor den Nazis zunächst in die Schweiz, 1941 nach Venezuela.1950 kehrte die Familie in die Schweiz zurück und liess sich in St. Gallen nieder.[3]

Die Villa Tugendhat wurde 1939 für den Bedarf der Gestapo formell beschlagnahmt und 1942 als Besitz des Grossdeutschen Reiches eingetragen. Zeitweise bewohnte sie der Flugzeugkonstrukteur Walter Messerschmidt, der die Villa als Konstruktionsbüro nutzte und mit massiven Einbauwänden unterteilte. Nach Einmarsch der Roten Armee diente der Bau deren Kavalleristen als Pferdestall. Von 1950 bis 1979 nutzten ihn die tschechoslowakischen Behörden für die orthopädische Abteilung des benachbarten Kinderspitals, das Wohnzimmer mutierte zur Turnhalle (Abb. 3). 1980 ging die Villa in den Besitz der Stadt Brünn über. In den 1980er-Jahren wurde der Bau für Repräsentationszwecke und als Gästehaus für hochrangige Besucher eingesetzt. Bei der damaligen «denkmalpflegerischen Wiederherstellung» (1981–1985) zerstörte man trotz hehren Absichten weitere Originalteile – unter anderem wurde das letzte noch erhaltene Fenster der Gartenfront ersetzt, das im Zweiten Weltkrieg die Explosion einer Bombe nur deswegen überstanden hatte, weil es gerade versenkt war. Fast alle Holzeinbauten wurden «erneuert», anderes mehr schlecht als recht rekonstruiert, etwa die verloren geglaubte Makassar-Wand: Weil das Regime nicht über den Willen oder die Mittel verfügte, das richtige Furnier zu beschaffen, erhielt die Wand ein dominantes Vertikalmuster und einen horizontalen Saum, die ihre Wirkung ruinierten.

Fragwürdige Auftragsvergabe

Brünns beeindruckendes Erbe an modernen Bauten aus der Zwischenkriegszeit fällt nach Vernachlässigung durch die sozialistischen Machthaber heute der Erneuerungswut von Investoren und der Gleichgültigkeit der Stadtverwaltung zum Opfer. Zumindest der Villa Tugendhat blieb dieses Schicksal erspart. Das Gebäude wurde 1995 zum Nationalen Kulturdenkmal erklärt und gehört seit 2001 zum Unesco-Welterbe. Entsprechend aufwendig war die Restaurierung, die die Villa und den dazugehörenden Garten umfasste. Insgesamt kann das Unterfangen als gelungen bezeichnet werden. Dennoch erstaunt, dass der Auftrag für die Rettung des funktionalistischen Kunstwerks nicht an ein Architekturbüro ging, das sich auf die frühe moderne Architektur spezialisiert hat. Ein auch international bekannter profunder Kenner des Gebäudes, der Brünner Architekt Jan Sapák, der sich seit Jahrzehnten für deren Rettung eingesetzt hat, aber als politischer Querulant gilt, wurde aufgrund eines Formfehlers aus dem Bewerbungsverfahren ausgeschlossen. Der Hauptauftrag ging an eine Firma, die sich neben guten Beziehungen zu den Behörden bisher vor allem mit der Instandsetzung von barocken Schlössern hervorgetan hat. Auf eine Sichtung der originalen Detailpläne, die im Mies-Archiv im Museum of Modern Art in New York lagern, haben die Architekten denn auch verzichtet. Andere kompetente Fachleute wurden zwar beigezogen, doch nur für eng umrissene Bereiche wie die Möblierung oder die Gestaltung der neuen Ausstellung im Keller. Es gibt Anzeichen dafür, dass das gute Ergebnis nicht zuletzt ihrem informell eingebrachten Wissen zu verdanken ist sowie der Aufsicht eines mit namhaften Experten besetzten – allerdings erst nach Beginn der Arbeiten eingesetzten – Aufsichtskomitees (vgl. Kasten S. 18), worin auch Mitglieder der Familie Tugendhat vertreten sind.

Sorgfalt und Detektivarbeit

Trotz allen Zerstörungen, Umnutzungen und Transformationen ist sehr viel Originalsubstanz erhalten geblieben. Die Lüftung im Keller ist weiterhin funktionstüchtig; rund 80% der Wandoberflächen sind im Original vorhanden und können in «archäologischen Fenstern» – zum Beispiel im Verputz der Fassade – begutachtet werden.

Neue Elemente, die Verlorenes ersetzen, wurden mit den ursprünglichen Materialien nachgebaut: Der neu verlegte Linoleum wurde eigens nach der historischen Rezeptur hergestellt, die Schreinerarbeiten sind perfekt. Eine Sensation stellt die gewölbte Makassar-Wand im Essbreich dar. Während zweier Generationen galt sie als verloren, bis der Kunsthistoriker Dr. Miroslav Ambroz, der Bruder des für den Nachbau der Möbel zuständigen Restaurators, sie auf eigene Faust aufspürte: Das Tagebuch eines deutschen Soldaten, das er in einem Antiquariat erstanden hatte, erwähnte eine Holzwand, die die Gestapo aus einer Villa in ihr neues Hauptquartier – heute eine Universitätsmensa – transferiert hatte. Tatsächlich fand er das wertvolle Edelholz, das dort seit zwei Generationen und von tausenden von Studierenden unbeachtet als Brusttäfer diente. Die Teile wurden kaum sichtbar zusammengefügt und wo nötig ergänzt. Dank den sorgfältig ausgewählten Materialien und der äusserst hohen handwerklichen Qualität der Ausführung sind Alt und Neu nur für den geübten Blick zu unterscheiden. Nur wenige Misstöne sind zu vernehmen – im Schlafzimmer etwa feine Risse im Stucco, der aus Rücksicht auf die Proportionen der Fussleiste zu dünn aufgetragen werden musste, plumpe Vorhänge und Teppiche oder ein eckiges Element statt eines runden im Abflussrohr an der Strassenfassade. Ein weiterer Wermutstropfen ist die fehlende Plastik, die auf historischen Bildern jeweils auf der Wintergartenseite der Onyxwand platziert ist. Mies van der Rohe hatte hier bereits in frühen Zeichnungen eine Plastik vorgesehen, die Familie Tugendhat erwarb dafür den «Torso der Schreitenden» von Wilhelm Lehmbruck (1914). Nachdem sie während des Zweiten Weltkriegs zunächst von den Nationalsozialisten konfisziert wurde, war sie bis 2006 im Besitz der Galerie Moravska in Brünn, bis die Familie sie im selben Jahr zurückerhielt. 2007 wurde die Plastik verkauft – und ihr Fehlen schmerzt, die Wirkung des Raumes ist beeinträchtigt. In der Gesamtwirkung ist die Villa jedoch wieder als das erlebbar, was sie einmal war – ein bis ins letzte Detail perfekt durchdachter, in seiner Wirkung umwerfender Bau.

[Die Autorin dankt Tina Cieslik und Rahel Hartmann Schweizer für ihre wertvollen Hinweise.]


Anmerkungen:
[01]Etwa zeitgleich zur Villa entwarf Mies den Barcelona-Pavillon für die Weltaustellung 1929. Darin verwirklichte er die entwerferischen Prinzipien vom «fliessenden Raum» und vom «freien Grundriss». In der Villa Tugendhat übertrug Mies diese Motive auf ein Wohnhaus, das den Anforderungen und Bedürfnissen des grossbürgerlichen Alltags gerecht werden musste
[02] Grete Tugendhat in einem Vortrag, gehalten auf der internationalen Konferenz zur Rekonstruktion des Hauses (17. März 1969, Mährisches Museum, Brünn) in: Daniela Hammer-Tugendhat, Wolf Tegethoff (Hrsg.), «Ludwig Mies van der Rohe. Das Haus Tugendhat», Springer-Verlag Wien, 1998, S. 5 ff.
[03] ebd., S. 27. 1957 liess sich die Familie vom St. Galler Büro Danzeisen & Voser in St. Gallen ein Haus bauen, das an die Ideen der Villa Tugendhat anschloss
[04] ebd., S. 7

Eine Kurzfassung dieses Artikels erschien anlässlich der Eröffnung in TEC21 11/2012 sowie auf . Dort finden Sie auch zusätzliches Bildmaterial. Ausführliche Informationen zu den Eingriffen, eine Bilddokumentation der Baustelle und für die Reservation von Besuchsterminen gibt es auf «www.tugendhat.eu».

Weiterführende Literatur:
Daniela Hammer-Tugendhat, Wolf Tegethoff (Hrsg.), Ludwig Mies van der Rohe. Das Haus Tugendhat, Springer-Verlag Wien, 1998
Adolph Stiller (Hrsg.), Das Haus Tugendhat. Ludwig Mies van der Rohe. Brünn 1930, Verlag Anton Pustet, Salzburg, 1999
Villa Tugendhat. Rehabilitace a slavnostní znovuotevrˇení / Rehabilitation and Ceremonial Reopening, Study and Documentation Centre – Villa Tugendhat and Brno City Museum, Brno 2012
Terence Riley, Barry Bergdoll (Hrsg.), Mies in Berlin. Mies van der Rohe. Die Berliner Jahre 1907–1938, Prestel Verlag, München, 2002

TEC21, Fr., 2012.05.25



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2012|22 Zwei Villen der Moderne

«Gleichgewicht ist einer der schönsten Begriffe»

Der geplante Abbruch der von Robert Maillart entworfenen Schrähbachbrücke im Wägital war der Anstoss für das Gespräch zwischen dem Ingenieur Christian Menn und dem Kunsthistoriker Werner Oechslin. Sie haben sich für TEC21 zusammengesetzt und über die Tagesaktualität hinaus die Frage des Erhalts historischer Brücken diskutiert. Was bedeutet es, sie zu schützen? Wo liegen Verantwortungen, Kosten und Gewinn? Der hilflose Umgang mit Kunstwerken des Ingenieurbaus entlarvt das Selbstverständnis einer Gesellschaft, die technische und kulturelle Aspekte zu trennen versucht.

Der geplante Abbruch der von Robert Maillart entworfenen Schrähbachbrücke im Wägital war der Anstoss für das Gespräch zwischen dem Ingenieur Christian Menn und dem Kunsthistoriker Werner Oechslin. Sie haben sich für TEC21 zusammengesetzt und über die Tagesaktualität hinaus die Frage des Erhalts historischer Brücken diskutiert. Was bedeutet es, sie zu schützen? Wo liegen Verantwortungen, Kosten und Gewinn? Der hilflose Umgang mit Kunstwerken des Ingenieurbaus entlarvt das Selbstverständnis einer Gesellschaft, die technische und kulturelle Aspekte zu trennen versucht.

Christian Menn: Ein Eingriff in ein Bauwerk wird dann notwendig, wenn die Funktionalität nicht mehr gewährleistet ist – sei es aufgrund der Geometrie, der ungenügenden Tragsicherheit oder von Mängeln mit Schadenfolgen. Kritisch ist die Beurteilung, wenn die Erhaltungskosten deutlich höher sind als die eines Abbruchs mit Neubau, wenn mit der Erhaltung eine beschränkte Funktionalität in Kauf genommen werden muss oder wenn die Mehrkosten einer Erneuerung unter Beibehaltung der Authentizität zu gross werden – grösser, als wenn man das Bauwerk normal erhalten könnte. Die Alternative zur Erhaltung eines Bauwerks ist der Abbruch. Prioritäten sollten bezüglich Konzeption, Konstruktion, Erscheinungsbild und Erbauer gesetzt werden.

Werner Oechslin: Die Kosten und die Funktionalität sind die Hauptargumente gegen die Erhaltung. Doch was sind diese Kosten? Wir müssen vorerst bestimmen, von welcher Kostenwahrheit wir sprechen. Lediglich die Kosten des Eingriffs zu berücksichtigen ist nicht ausreichend. Die Schrähbachbrücke im Wägital ist Teil eines kulturellen Ensembles, das man touristisch vermarkten könnte (Abb. 1). Das ist ein Plus, das sich als Gewinn niederschlagen würde, leider aber schwierig zu berechnen ist. Kostenwahrheit ist nicht auf die unmittelbar mit dem Projekt allein verknüpften Aufwendungen zu begrenzen, volkswirtschaftliches Denken ist erforderlich. Das gleiche gilt bei der Funktionalität: Es wird festgelegt, welche Funktionalität erbracht werden muss, doch wer überprüft die Zahlen? Wer hinterfragt die Annahmen, die ja letztlich auf Hypothesen basieren? Wie kommt man dazu, die Funktionalität so stark verändern beziehungsweise erhöhen zu wollen? Wenn wir erhaltenswerte Bauwerke nicht zu Kulissen verkommen lassen wollen, müssen wir die geplante Nutzung hinterfragen. Es hat keinen Sinn, Werke museal zu erhalten, die dann einfach in der Landschaft herumstehen. Man muss ihnen die gleiche, eine leicht veränderte, eine stark veränderte oder eine andersartige Nutzung zuweisen können. Bei Brücken ist die Hauptnutzung so evident, dass sie auf jeden Fall funktionsfähig bleiben müssen. Die Frage ist also, ob ihr Erhalt eine Anpassung an eine leicht verbesserte oder an eine leicht erweiterte Nutzung ermöglichen soll – und ob man diese im Rahmen des Bestehenden vernünftigerweise garantieren kann.

Christian Menn: Verbesserungen oder Verschönerungen im Erscheinungsbild eines schützenswerten Bauwerks sind nur beschränkt möglich. Konsequenterweise müsste man eine neue Brücke in einem ähnlichen Stil bauen. Die Erhaltung, wie wir sie heute verstehen, hat bei wertvollen Bauwerken jedoch absolute Priorität. Ihr Ziel ist eine möglichst grosse Authentizität. Das Projekt, das das Berner Nachfolgebüro von Maillart – Diggelmann Partner AG – für die Schrähbachbrücke gemacht hat, ist ein gutes Beispiel dafür (vgl. TEC21 11/2010, ‹Einsprache für die Schrächbachbrücke›). Der Wert eines Bauwerks misst sich dabei an zwei Kriterien: Entweder das Bauwerk selbst ist kulturhistorisch bedeutend, oder der Projektverfasser war eine Art Kultfigur. Hat das Bauwerk aus kulturhistorischen Gründen Priorität, muss es so erhalten bleiben, wie es konzipiert und gebaut wurde; konstruktive Änderungen können allerdings ohne weiteres vorgenommen werden, sofern man sie nicht sieht. Wenn der Projektverfasser prioritär ist, muss das Erscheinungsbild auf jeden Fall erhalten bleiben; das Konstruktive sollte dabei auch auf jeden Fall sichtbar bleiben, denn man möchte ja wissen, wie sich der Ingenieur entwickelt hat. Wenn Maillart die Schrähbachbrücke nicht befriedigt hat, soll das nicht kaschiert werden. Die Widerlager der Schrähbachbrücke zum Beispiel sind zumindest fragwürdig. Seine späteren Kunstbauten haben keine solchen massiven Klötze – bei der Überführung bei Arth hat er auf jeden Fall darauf verzichtet. An der Schrähbachbrücke aber hat er sie gebaut, aus welchen Gründen auch immer. Werner Oechslin: Selbst Maillart war in den kulturellen Kontext seiner Zeit eingebunden. Selbst er konnte sich der damaligen Vorstellung, wie eine Brücke auszusehen habe, nicht entziehen; er musste nicht nur stabile Konstruktionen entwerfen, sondern die Leute auch visuell abholen, damit sie das Werk begreifen und akzeptieren konnten. Menschen haben Angst, eine Brücke zu betreten, wenn sie nicht visuell nachvollziehen können, dass sie hält. Die massiven Widerlager können damals solche visuellen Stützen gewesen sein.

Christian Menn: Ingenieurkunst besteht auch darin, etwas so zu konstruieren, dass es den Laien durch Eleganz und Leichtigkeit verblüfft.

Werner Oechslin: Der Laie ist aber nur anfangs verblüfft, danach tritt Gewöhnung ein. Mittlerweile haben wir uns daran gewöhnt, dass wir über sehr filigrane oder äusserst hohe und vielleicht auch schwingungsanfällige Brücken gehen können – wir befürchten nicht mehr jedes Mal, dass sie einstürzen. Das ist gut so: Wenn wir uns nicht an neue Dinge gewöhnen könnten, würden wir uns auch nicht mehr verändern. Man muss sich von eingebrannten Bildvorstellungen lösen, um sich weiterzuentwickeln. Der Mensch kann sich auf seinen Sehsinn verlassen, doch muss er dem Auge auch die Möglichkeit geben, sich anzupassen und zu verbessern. Die Widerlager der Schrähbachbrücke sind ein typischer Fall dieser fortschreitenden Adaption. Es hat Zeiten gegeben, da konnte man sich nicht vorstellen, dass sich Kräfte schräg verlagern, alles musste horizontal geschichtet werden. Die Geschichte des Bogens hat die Welt jahrhundertelang durcheinander gebracht! In spätgotischen Gewölbebauten hat man sogar Gewichte an den Schlussstein gehängt – um die Stabilität zu beweisen, aber auch als Provokation.

Christian Menn: Ebenso wichtig wie der kulturelle Kontext sind auch das topografische und das gewachsene Umfeld. Am Anfang eines Entwurfs denke ich nicht an das Tragsystem der Brücke, sondern an die Umgebung, in die sie sich einfügen soll. Kürzlich wurde eine meiner Fussgängerbrücken fertig (Abb. 3). Sie steht in Princeton in einem waldigen Umfeld, und das Konzept ist meines Erachtens gelungen. Berufskollegen hätten mit ihren Überlegungen vermutlich direkt bei der Brücke angesetzt und eine Konstruktion mit Seil da und Seil dort konstruiert – etwas Spektakuläres eben. Diese Brücke ist nicht spektakulär: Stützen aus Cortenstahl verzweigen sich und halten eine Betonplatte. Das gesamte Erscheinungsbild fügt sich so in den Wald ein, dass man die Stützen kaum mehr von den Baumstämmen im Wald unterscheiden kann. Leider lernt man diesbezüglich kaum etwas während der Ausbildung: Brücken werden als rein technische Konstrukte vermittelt, ohne jegliche kulturellen oder topografischen Bezüge – das ist unbefriedigend.

Werner Oechslin: Heute herrscht eine technisch-wirtschafliche Denkweise vor, in der die Effizienz alles und der Rest nichts ist. Planung und Projektierung sind selten von geschichtlichem Denken begleitet. Doch Planung wäre umfassend zu verstehen, die Einbettung des Werks in seinen kulturellen, ökonomischen, topografischen Kontext sollte selbstverständlich sein. Leider hat sich der Ensemble-Begriff nicht einmal in der Denkmalpflege richtig durchgesetzt: Angeblich ist er nicht praktikabel. Wir sind offenbar unfähig geworden, etwas im städtebaulichen Ensemble zu denken respektive durchzusetzen. Schon bei einem einfachen Fall wie diesem Maillart-Brücklein sind wir mit der schier unlösbaren Frage konfrontiert, wer überhaupt etwas dazu sagen darf. Die Meinungen driften auseinander, weil nur eine Minderheit sich bewusst ist, dass man die Dinge umfassend sehen muss. Ich kenne die Brücke in Princeton nicht, doch wenn du aus Cortenstahl etwas machst, worüber du selber sagst, dass es wie ein Baumstamm aussieht, dann denkst du über das rein Technische hinaus und benutzt Symbole und Bilder, um das Umfeld erfahrbar zu machen. Genau an diesem Punkt könnte eine Begegnung von Ingenieur und Architekt stattfinden. Dass der Ingenieur nur rechnen und der Architekt der kreative Kopf sein soll, ist doch absurd! Man müsste alles unternehmen, um die angebliche totale Andersartigkeit von Ingenieur und Architekt zu hinterfragen. Es gibt zwar spezifische Befähigungen, Kompetenzen und Begabungen, aber eben auch Überlappungen.

Christian Menn: Gerade wenn das Umfeld Teil des Ganzen ist, können Ingenieure bei ihren Konstruktionen – vor allem bei Brücken – das Räumliche ausnützen. Wenn eine Brücke auf so feinen Stützen steht wie die Sunnibergbrücke, ist das nur möglich, weil das Fahrbahndeck mit beiden Endwiderlagern fest verbunden ist (Abb. 4).

Werner Oechslin: In der Architektur entspricht das der Forderung nach Angemessenheit. Wenn eine dünne Stütze das Geforderte leisten kann, mache sie nicht künstlich dicker. Die Sparsamkeit ist eine alte Tugend, die nicht nur der Ingenieur kennt, sondern die unzähligen Massnahmen der Gesellschaft inhärent ist. Eine räumlich definierte Bibliothek beispielsweise ist eine Sparsamkeitsübung im Vergleich zur Utopie, man könne täglich Millionen von zusätzlichen Informationen auftürmen, mit denen wir in Tat und Wahrheit nichts mehr anfangen können. Wir Menschen sind ökonomische Gebilde. Unser Raum und unsere Zeit sind endlich.

Christian Menn: Du brauchst das Wort Angemessenheit. Ich brauche im Brückenbau ein ganz anderes Wort, nämlich Gleichgewicht – physikalisches Gleichgewicht und metaphysisches Gleichgewicht. Gleichgewicht ist einer der schönsten Begriffe, die es gibt.

Werner Oechslin: Es ist klar, dass sich die beiden Bereiche stark voneinander entfernt haben. Die kulturrelevante Reihenfolge ist: notwendig – nützlich – schön. Notwendig ist selbstverständlich die Statik; Schönheit leistet man sich, wenn man zu viel Geld hat. Hier orte ich eine Krise unserer Gesellschaft. Früher waren die drei Bereiche viel enger miteinander verbunden. Giedion schreibt in ‹Bauen in Frankreich› 1928 zur Abbildung von Gropius’ Dessauer Bauhaus: ‹Erst nach einem halben Jahrhundert ist man imstande, die Spannungen, die in den Materialien sind, wirklich auszunützen und den dekorativen Schleim zu überwinden›, und präzisiert in einer Fussnote: ‹Spannung im ästhetischen Sinn›. Da ist doch der Wurm drin. Spannungen – ein Begriff, den wir ingenieurspezifisch verstehen – löst er aus dem Ingenieurbereich heraus und ordnet ihn eindeutig dem ästhetischen zu. In der Ideologie der Moderne müssten diese beiden Bereiche eigentlich zusammenkommen. In diesem Punkt ist die Spaltung geschehen. Wir müssen korrigieren. Synthesen sind möglich; es stimmt nicht, dass wir auf der einen Seite präzise Zahlen und auf der anderen schwammige Beschreibungen haben. Tatsache ist, dass alles ein Ganzes bildet.

Christian Menn: Das wiederum wirft die Frage der Mitsprache bei der Erneuerung oder Erhaltung eines Kunstbauwerks auf. Sollen Nichtbrückenbauer in der Diskussion um den Erhalt von Ingenieurkunstbauwerken mitreden und mitbestimmen dürfen? Wenn es um die Erhaltung geht, auf jeden Fall, weil sie dem Gespräch ein Gegengewicht zum ingenieurspezifischen und auf das Technische fokussierten Denken geben können.

Werner Oechslin: Wir haben heute zwei Kompetenzen – Architektur und Ingenieurwissenschaft. Der Gegenstand aber ist immer der gleiche, und die Einheit des Gegenstandes verkörpert beide Elemente. Es ist falsch, wenn man die Ingenieure nur ingenieurspezifisch beurteilen und den Kulturhistoriker nur kulturhistorisch argumentieren lässt. Die Argumente müssen sich begegnen, denn sie sind miteinander verkettet. Wir können sie nicht auseinanderdividieren und das Ingenieurspezifische, das Ästhetische und das Kulturgeschichtliche voneinander trennen. Im Gegenteil, wesentlich ist der Zusammenhang aller einzelnen Elemente; erst dieser bildet den Wert des Kunstbauwerks. Das Bauwerk ist vermutlich weniger bedeutend, wenn es einfach zerlegt werden kann, weil die verschiedenen Aspekte additiv zueinandergefügt wurden. Die guten Werke leben davon, dass alles untrennbar zusammenfindet. In der Diskussion um das Bauwerk müssen darum zwingend alle Tatsachen aller Beteiligten respektiert werden. Jeder begegnet einmal der Situation, in der mangelnde Kenntnisse ein Risiko werden, das zu einem Fehlurteil führen kann. Darum braucht es verschiedene Fachspezialisten, die mitdenken, die Tatsachen aufdecken. Auf diese Weise gibt es Berührungen mit anderen Sachverständigen, es gibt Berührungen mit andern Menschen und mit anderen Kompetenzen. Erst dann erfüllt sich, was in der Gesellschaft wirklich passiert. Heute achtet man ja vor allem darauf, dass in der Zusammenarbeit keine Widersprüche entstehen. Hier haben wir riesige Mängel und Tabus, die wir nicht ausdiskutieren.

Christian Menn: Auch der Projektverfasser sollte mit einbezogen werden – und das betrifft in gewissen Fällen auch mich. Falls der Projektverfasser noch lebt, sollte man ihn bei einer Anpassung beiziehen und seine Erfahrungen nutzen. Aber auch wenn er tot ist, sollte ihn jemand gleichsam vertreten. Bei der Eisenbahnbrücke der Rhätischen Bahn in Klosters, die ebenfalls von Maillart stammt, war dies nicht der Fall. Niemand hat gegen die bedenkliche Veränderung des Brückenbildes im gesamten Umfeld Einsprache erhoben. Die ursprüngliche Brückenkonstruktion war schön entwickelt und lag elegant in der Kurve (Abb. 5). Ein Neubau (Abb. 6) wäre nicht notwendig gewesen, denn das andere Gleis hätte auf die bestehende Konstruktion aufgebaut werden können. Der Beschluss ging durch alle Instanzen, die RhB, die Gemeinde, den Denkmalschutz, den Heimatschutz – an mich haben sich die Verantwortlichen nicht gewandt.

Werner Oechslin: Auch ich gehöre zu denjenigen, die ihr Leben lang nicht gefragt wurden. Warum? Weil die Verantwortlichen Angst haben, dass ihre ‹Gradlinigkeit› durch eine andere, unberechenbare Meinung gestört würde. Als Intellektuelle pflegen wir die radikal offene Situation. Wir schalten kein Argument a priori aus, wir bedenken alles. Du hast eine vorbildliche Toleranz gegenüber Personen, die etwas zu einer Brücke sagen, obwohl sie vom Konstruktiven nichts verstehen. Diese radikal offene Situation finden wir in der Gesellschaft jedoch selten, sie wird von den Verursachern der Handlungen häufig gemieden. Wir haben in der Schweiz insofern absolut unkoordinierte Zuständigkeiten, und das entspricht jener radikal offenen Situation in keiner Weise. Im Fall der Schrähbachbrücke war es so, dass der ganze Prozess für den Abbruch ‹abgekoppelt von der Öffentlichkeit› eingeleitet wurde. Erst in letzter Minute habe ich zufälligerweise in der Zeitung davon erfahren und mit ein paar Kollegen darüber gesprochen. Ist es möglich, dass eine Maillart-Brücke tatsächlich an der öffentlichen Diskussion vorbei ‹weggeschoben› wird? Das richtige Vorgehen hätte sein müssen, dass sich die zuständige Behörde mit Aufsichtspflicht an kompetente Personen gewendet, die Problematik geschildert und mit ihnen diskutiert hätte. Doch wir haben hier eine Gemeinde, einen Kanton und eine komplexe Situation, in der die Kompetenzen nicht freigelegt sind.

Christian Menn: Das ist eine fragwürdige Entwicklung. Aber ich bin einverstanden, Maillart war ein aussergewöhnlicher Mensch... Soll man denn nun die Schrähbachbrücke erhalten? Und soll man die Widerlager zeigen oder nicht? Nun, es geht um Maillart und nicht prioritär um das Bauwerk. In diesem Fall sage ich: Ja, die Brücke müsste man in ihrem Erscheinungsbild und mit ihren konstruktiven Elementen erhalten.

Werner Oechslin: Selbstverständlich. Wir Schweizer haben nicht viele so grosse Figuren. Maillart spielte nicht nur in der Schweiz, sondern international eine bedeutende Rolle, was die Entwicklung des Brückenbaus betrifft. Kommt hinzu, dass er kulturgeschichtlich etwas zustandegebracht hat, womit sich die Schweiz rühmen kann: eine grosse Schweizer Tradition, die zum Kernbereich unserer kulturellen Leistung gehört. Man kann nicht sagen, es habe genügend Maillart-Brücken! Genauso wenig sagen wir, es gebe genügend Gemälde von Hodler, weniger würden auch reichen. Robert Maillart ist von solcher Bedeutung, dass es auf jede einzelne Brücke ankommt. Mir gefällt übrigens, dass du als Ingenieur sagst: Maillart ist nicht ein Mensch ohne Fehler. Ich habe früh von Architekten – allerdings nicht in der Schweiz – gelernt, dass man ein berühmtes Bauwerk nicht nur anschauen, sondern auch kritisieren kann. Man darf auch von einem Borromini sagen, dass er Fehler gemacht hat. Wohin führt es, wenn wir nur mit Autoritätsbeweisen durch die Geschichte gehen? Maillart hat ausprobiert, Erfahrungen umgesetzt und seine eigenen Ansichten verbessert. Gerade darum ist die Schrähbachbrücke als Objekt wichtig, weil sie uns nicht nur über Maillart mehr Erkenntnisse ermöglicht, sonder auch darüber informiert, wie sich die relativ junge Technologie entwickelt hat. Nun muss man Lösungen suchen, den Sachverstand haben und Fachleute beiziehen. Man muss die bestehende Situation nicht als gottgegeben annehmen, sondern sie zur Disposition stellen. Dann sieht man plötzlich, dass Vieles machbar ist. Das ist unsere Überzeugung.

Christian Menn: Ich habe den Eindruck, dass man manchmal über das Ziel hinausschiesst. Man sollte das Gleichgewicht halten. Ich habe mich sehr darüber geärgert, dass man die Brücke in Klosters kaputt gemacht hat. Das gleiche soll nun nicht auch bei der Schrähbachbrücke geschehen. Sie sollte authentisch erhalten werden. Baut man eine neue Brücke, vielleicht sogar im gleichen Stil, so geht viel Kulturgeschichtliches verloren. Denn dann ist es keine Maillart-Brücke mehr – es ist nicht mehr der Robert Maillart zu dieser Zeit, in der er war und die Brücke gebaut hat.

Moderation: Judit Solt und Clementine van Rooden

TEC21, Fr., 2010.09.10



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2010|37 Kunstbauten im Wägital

25. Juni 2010Judit Solt
TEC21

Nouvelle Vague

Seit Februar dieses Jahres ist das nach dem Hauptsponsor benannte Rolex Learning Center der Eidgenössischen Technischen Hochschulen auf dem Campus in Ecublens bei Lausanne in Betrieb. Die Architekten Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa (Sanaa) haben einen Bau realisiert, der in Bezug auf räumliche Innovation international seinesgleichen sucht. Das Publikum hat ihn mit grosser Selbstverständlichkeit angenommen.

Seit Februar dieses Jahres ist das nach dem Hauptsponsor benannte Rolex Learning Center der Eidgenössischen Technischen Hochschulen auf dem Campus in Ecublens bei Lausanne in Betrieb. Die Architekten Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa (Sanaa) haben einen Bau realisiert, der in Bezug auf räumliche Innovation international seinesgleichen sucht. Das Publikum hat ihn mit grosser Selbstverständlichkeit angenommen.

Das im Mai offiziell eingeweihte Learning Center der EPFL hat nicht nur eine gewellte Form, es schlägt seit dem 2004 durchgeführten internationalen Wettbewerb (vgl. TEC21 1-2/2005) auch sonst immer wieder Wellen. Nach Bekanntgabe des Siegerprojekts von Sanaa gab es Stimmen, die bedauerten, dass kein Schweizer Büro das Prestige-Objekt entwerfen solle. Als das Budget von 60 auf 110 Millionen Franken erhöht wurde – wobei Sponsoren aus der Privatwirtschaft die zusätzlichen Kosten übernahmen –, sprach man von Masslosigkeit und Amerikanisierung. Während der Realisierungsphase schliesslich sorgte die aufwendige Bauweise für Irritationen. Der Boden des 166.5 m × 121.5 m grossen, eingeschossigen Gebäudes wurde fugenlos betoniert, was ein kontinuierliches Giessen über zwei Wochen hinweg bedeutete. Er ist nicht eben, sondern wirft zwei grosse Blasen, die sich als flache Schalenkonstruktionen über den Baugrund erheben; die 70 vorgespannten Kabel, die zur Stabilisierung dieser Konstruktionen nötig sind, führen bei der Betondecke des Untergeschosses zu einer statischen Höhe bis zu 80 cm (vgl. «Bodenwellen» S. 23); trotz diesen Verstärkungen konnte auf zwei Stützen unter der grösseren Schale nicht verzichtet werden.

Weil der grossflächige Betonboden und die Stahl-Holz-Decke sich unter klimatischen Einflüssen ungleich bewegen, sind die raumhohen, teilweise gewölbten Glasfassaden unterschiedlichen Kräften ausgesetzt; daher musste jede Scheibe einzeln zugeschnitten werden und bewegt sich unabhängig von den anderen in einem gefugten Rahmen (vgl. S. 30).

Zahllose neue Details wurden entwickelt, um die architektonische Vision verwirklichen zu können. Der komplizierte Kräftefluss, der hohe Armierungsgrad des Betons und die vielen Speziallösungen lösen denn auch Diskussionen aus: Wie wird ein solcher Bau altern? Wie soll er unterhalten, saniert, bei Bedarf umgebaut werden? Hat sich der technische Kraftakt gelohnt?

Besteht man auf der Einheit des Werks als stringente Synthese seiner technischen, ökonomischen und kulturellen Aspekte, sind solche Fragen berechtigt. Doch Angesichts der wirklich ausserordentlichen räumlichen Qualitäten des Learning Center ist eine etwas angestrengte Tragstruktur durchaus zu rechtfertigen. Aus architektonischer Sicht – und, viel wichtiger, aus Sicht der Nutzerinnen und Nutzer – heiligt der Zweck in diesem Fall die Mittel.

Öffentlichkeit und informelle Treffpunkte

Auf Wunsch des Auftraggebers sollte das Learning Center zum Begegnungsort für die EPFL und die benachbarte Universität Lausanne werden. Aus diesem Grund entschieden sich Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa – als einzige unter den Architektenteams der Schlussrunde – für einen Bau, in dem alle Nutzungen auf der gleichen Ebene untergebracht sind. Ein weiteres wichtiges Anliegen war, unterschiedliche Nutzungen und verschiedene Grade an Öffentlichkeit zu ermöglichen. Der Bau dient nicht nur Angehörigen der beiden Hochschulen, sondern auch Ehemaligen und Interessierten; neben der Bibliothek mit 500 000 Bänden enthält er unter anderem auch Arbeitsplätze für 860 Studierende, eine Sammlung wertvoller Bücher, eine Café-Bar, ein Restaurant, Büros und einen Mehrzwecksaal mit 600 Sitzplätzen. All diese Bereiche galt es zu differenzieren, ohne den offenen Charakter des Gebäudes zu relativieren.Mit einer ähnlich komplexen Aufgabenstellung – einerseits klar definierte und teilweise sensible Nutzungen, andererseits die Möglichkeit zwangloser Begegnungen innerhalb des gleichen Gebäudes – waren Sanaa beim 2005 eröffneten 21st Century Museum of Contemporary Art in Kanazawa konfrontiert. In Japan wird der städtische Aussenraum traditionell nicht als Aufenthaltsort genutzt, Strassencafés gibt es nicht; öffentliche Räume im europäischen Sinn, wo man zwanglos länger bleiben kann, sind auch in modernen Städten kaum zu finden.

Entsprechend frequentiert sind halböffentliche Innenräume wie Malls, die sich am ehesten als informelle Treffpunkte anbieten. Die Schaffung von öffentlich zugänglichen Innenräumen mit hoher Aufenthaltsqualität ist deshalb ein wiederkehrendes Entwurfsthema von Sejima und Nishizawa, das sie im Museum in Kanazawa eindrücklich umgesetzt haben: Der kreisrunde, rundum verglaste und von Innenhöfen durchlöcherte Bau weist vielfältige Innenund Aussenbereiche auf, in denen sich nicht nur Museumsbesucher dankbar niederlassen. An der EPFL war die Situation insofern vergleichbar, als der bestehende Campus kaum attraktive Aufenthaltsräume bietet und das Learning Center dieses Manko kompensieren sollte. In Ecublens gingen die Architekten jedoch konzeptuell weiter als in Kanazawa. Während die allseitige Zugänglichkeit beim Museum durch vier periphere Eingänge gelöst wurde, hat das Learning Center einen einzigen, im Herzen des Gebäudes angeordneten Eingang, und auch die Idee eines offen fliessenden Raums konnte hier radikaler umgesetzt werden. Ermöglicht wurde dies durch das Wellen und partielle Anheben des Gebäudes: Unter den Schalen stösst man bis zum Eingang vor, im Inneren gliedert die künstliche Topografie den Raum und macht Wände weitgehend überflüssig.

Einladendes Raumkontinuum

Der im Modell spektakuläre Bau wirkt, wenn man sich ihm in der Realität nähert, eher zurückhaltend. Er ist deutlich niedriger als seine Nachbarbauten. Dass er sich teilweise vom Boden erhebt, erlebt man als Besucher nicht als ingenieurtechnische Parforceleistung, sondern als höfliches Ausweichen – als ob jemand den Eingang eines Zeltes hochheben und mit einladender Geste zurücktreten würde. Unter den Schalen öffnet sich ein gefasster Raum, der von allen Seiten zum Eingang führt. Es ist aber auch möglich, weiterzugehen und dasGebäude zu unterqueren; dies ist ein Grund, warum es trotz seiner beachtlichen Grundfläche nicht als Barriere in Erscheinung tritt.

Auch im Inneren ist die Bewegungsfreiheit kaum eingeschränkt. Man spaziert über Hügel und Täler, nimmt bei Bedarf schräg fahrende Aufzugsplattformen und lässt sich nieder, wo es einem gefällt. Wände gibt es keine – einzig die Büros, Besprechungszimmer und Infrastrukturräume sind als geschlossene «Bubbles» ausgebildet. Weil Boden und Decke sich parallel heben und senken, entstehen mehr optische und akustische Schranken als in einer natürlichen Landschaft: Obwohl die durchgehenden Flächen das ungehinderte Fliessen des Raumes andeuten, sieht man zum Beispiel nicht von einem Hügel auf den nächsten und hört kaum, was in der Ebene vor sich geht. Dies trägt zusammen mit den 14 unterschiedlich grossen Patios, die für Orientierung und natürliches Licht sorgen, entscheidend dazu bei, verschiedenen Zonen die notwendige Abgeschiedenheit zu verschaffen. Um ein angenehmes Raumklima zu gewährleisten, kamen zusätzliche Massnahmen zum Einsatz. So fungiert die Decke im ganzen Gebäude als grossflächiges Akustikelement, an den höchsten Stellen über der Bibliothek und dem Restaurant wurde sie zusätzlich als Kühldecke ausgebildet (vgl. «Technik nach Mass» S. 28). Ansonsten wird der Bau, der den Minergiestandard erfüllt, natürlich belüftet und durch aussen liegende Rafflamellenstoren verschattet. Das funktioniert verblüffend gut: Die Bibliothek beispielsweise mag sich auf einem Hügel befinden, doch selbst mittags ist nichts von den Gerüchen und Gesprächen der unten befindlichen Café-Bar wahrnehmbar.

Wenige Wochen nach der Eröffnung haben die Menschen den Bau vollständig in Besitz genommen. Die künstliche Topografie, die das Raumkontinuum von der zweiten in die dritte Dimension hebt, ist ein architektonisches Ereignis – aber ein harmonisches, leise anregendes. Das sanfte Wogen generiert Räume, die weltweit einzigartig sind und jedoch ganz natürlich wirken. Genau so nehmen sie die Nutzerinnen und Nutzer wahr: Überall sitzen und liegen sie, an Tischen und auf Kissen, lesend, diskutierend, arbeitend, schlafend. Ein besseres Aushängeschild für eine erfolgreiche Schule kann es nicht geben.

TEC21, Fr., 2010.06.25



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TEC21 2010|26 Learning Center EPFL

30. Oktober 2009Judit Solt
TEC21

Komplexität ohne Rhetorik

Anfang September wurde das Schulhaus Leutschenbach eingeweiht. Dank einer engen Zusammenarbeit des Architekten Christian Kerez und des Ingenieurs Joseph Schwartz ist ein Gebilde entstanden, in dem Raum und Tragkonstruktion sich gegenseitig bedingen. Die Stapelung unterschiedlichster Funktionsbereiche – vom Kindergarten über Schulzimmer, Saal und Bibliothek bis zur Turnhalle – bestimmt Form und Struktur des Gebäudes. So einfach die einzelnen Grundrisse sind, so spannungsvoll entwickeln sich die Raumstimmungen, wenn man sich im Schulhaus bewegt.

Anfang September wurde das Schulhaus Leutschenbach eingeweiht. Dank einer engen Zusammenarbeit des Architekten Christian Kerez und des Ingenieurs Joseph Schwartz ist ein Gebilde entstanden, in dem Raum und Tragkonstruktion sich gegenseitig bedingen. Die Stapelung unterschiedlichster Funktionsbereiche – vom Kindergarten über Schulzimmer, Saal und Bibliothek bis zur Turnhalle – bestimmt Form und Struktur des Gebäudes. So einfach die einzelnen Grundrisse sind, so spannungsvoll entwickeln sich die Raumstimmungen, wenn man sich im Schulhaus bewegt.

Das Schulhaus ist das Ergebnis eines 2003 entschiedenen Wettbewerbs, den Christian Kerez mit einem eigenwilligen Projekt gewonnen hat (vgl. TEC 21 21 / 2003): Im Gegensatz zu den anderen Teilnehmenden schlug er einen einzigen Baukörper vor, der alle Nutzungen in sich vereinigt und dessen Abmessungen durch jene der zuoberst liegenden Turnhalle bestimmt sind. Der fertige Bau zeigt, dass die städtebauliche Entscheidung richtig war: Dank ihrem kompakten, mächtigen Volumen vermag die Schule den grossformatigen Industrie-, Gewerbe- und Wohnbauten der Umgebung ein angemessenes Gegenüber zu bieten, während der gewonnene Freiraum dem Andreaspark zugutekommt, der hier seinen Abschluss und Höhepunkt findet (vgl. Kasten S. 34).

Mit zwölf Primarschul- und zehn Oberstufe-Klassenzimmern, einer Dreifachturnhalle, einem Kinderhort und vier Kindergärten samt Infrastruktur ist das Schulhaus Leutschenbach das zweitgrösste der Stadt. In der Fassade zeigt sich, dass die verschiedenen Funktionen übereinandergestapelt wurden. Dennoch ging es beim Entwurf weder um eine Überhöhung der Unterschiede – wie sie MVRDV beim Niederländischen Pavillon an der Expo 2000 in Hannover erreichten, indem sie sieben niederländische Landschaftstypen aufeinanderschichteten und einen maximalen Kontrast zwischen den Geschossen erzielten – noch um ein nüchternes Spiel um Repetition, Regel und Ausnahme. Auch die Platzierung der Turnhalle zuoberst im Gebäude ist an sich keine Innovation. Die Schulanlage Neumarkt in Biel enthält ein klassisch modernes Sportgebäude aus den 1930er-Jahren, in dem ein Schwingraum, zwei Turnhallen und eine offene Gymnastikterrasse aufeinandergestapelt sind (vgl. TEC21 36 / 2009). In neuerer Zeit haben Stücheli Architekten zwei Sporthallen im Turm des 2005 fertiggestellten Schulgebäudes TBZ am Sihlquai in Zürich untergebracht. Das Besondere am Schulhaus Leutschenbach sind weniger die Themen, die es aufgreift, als die vielschichtige Art und Weise, wie sie miteinander verwoben werden.

Spannung beim Betreten

Vordergründig manifestiert sich diese Vielschichtigkeit auf einer formalen Ebene. Zum einen ist die filigrane Glasfassade, die bauphysikalische Hülle Gebäudes, nur eine von mehreren sich überlagernden Ebenen: Hinzu kommen die Glasbrüstungen der umlaufenden Balkone, das je nach Geschosstyp innen oder aussen liegende tragende Stahlfachwerk und der Sonnenschutz. Zum anderen entsteht durch die Stapelung unterschiedlicher, durch die Linie der Balkone unterstrichener Geschosse eine Betonung der Horizontalen, die durch die schrägen Fachwerkträger wieder relativiert wird (Abb. 5).

Im Inneren sind es die Räume, Nutzungen und Tragstruktur, die sich gegenseitig überlagern und bedingen. Das Erdgeschoss ist niedrig, nicht nur im Verhältnis zur Grösse des Gebäudes, sondern auch in Bezug auf vertraute Raumgewohnheiten. In der Tat wurde von der städtischen Vorschrift, die für solche Fälle ein Volumen von 3 m³/m2 vorsieht, eine Ausnahme gemacht: Die gefaltete Betondecke ergibt am tiefsten Punkt eine lichte Höhe von nur 2.5 m. Die dramatische Auskragung der oberen Geschosse und die leicht nach innen gerückte Fassade tragen zur Vorstellung bei, dass man sich beim Eintreten unter das Gebäude begibt.

Umso verblüffender ist die Weite, die sich auf einmal eröffnet – der Raum scheint, als hätte ihn das Gewicht der anderen Geschosse nach unten gedrückt, seitlich auszuweichen und in den Park hinauszufl iessen (Abb. 03). Die durchgehenden Faltungen der Decke, der bis auf einen zentralen Kern offene Grundriss und die raumhohen Glasfassaden mit rahmenlosen, liegenden Gläsern verstärken den Eindruck, sich in einem Raumkontinuum zu befinden.

Weitblick für die Kleinen

Im Gegensatz zum geduckten, allseitig offenen Erdgeschoss wirken die darüber liegenden Klassenzimmergeschosse hoch und klar gegliedert. Über die doppelläufige Treppe gelangt man in einen grossen mittleren Raum, der zugleich als Treppenpodest, Pausenhalle, Vorzone zu den Klassenzimmern oder fl exibel nutzbarer Unterrichtsbereich dient (Abb. 2). So weitläufig dieser Raum mit seinen rund 160 m² wirkt, erlaubt er gleichzeitig auch – dank Mehrfachnutzung und dem Verzicht auf Erschliessungskorridore – eine beträchtliche Platzersparnis. Rechts und links davon, an den Längsseiten des Gebäudes, sind Klassenzimmer und Nebenräume aufgereiht. An den Schmalseiten stösst der mittlere Raum an die Fassade, zusätzlich dringt gedämpftes Licht durch die grünlichen Profilit-Wände der Klassenzimmer hinein. Der Bezug zum Aussenraum ist auf diesem Geschoss trotz Glasfassade weniger direkt, weil die Faltung der Decke jenseits der Fassade nicht weitergeführt wird – die Untersichten der Balkone sind glatt – und weil das aussen liegende Fachwerk eine zusätzliche Raumbegrenzung darstellt.

Es gibt drei solche Klassengeschosse; sie sind identisch, doch ihre Stapelung ist mehr als stumpfe Repetition. Sie bilden nicht nur eine formale und funktionale, sondern auch eine konstruktive Einheit. Die Stäbe des tragenden Fachwerks fassen die drei Etagen zusammen, was nicht nur in der Fassade, sondern auch im Inneren sichtbar wird: Beim Ersteigen der drei Geschosse zeigt sich, dass das Schulzimmervolumen sowohl im Schnitt als auch im Grundriss gedrittelt wurde.

Das vierte OG enthält wie das EG Gemeinschaftsräume (Abb. 1). Es zeichnet sich durch eine entsprechende Grosszügigkeit und eine analoge Behandlung der Raumbegrenzungen aus: Die durchgehende Faltung der Decke betont die Weitläufigkeit und lenkt den Blick nach aussen. Die Fachwerkträger, die hier – anders als im EG – wegen der zuoberst liegenden Turnhalle nötig waren, sind auf der Innenseite der Fassade angeordnet. Die Turnhalle selbst ist ein heiterer und eindrücklicher Raum, der abends wie eine monumentale Laterne über dem Gelände leuchtet. Umgekehrt eröffnet sich ein Rundblick in die Umgebung, der nicht nur aus ästhetischer Sicht wertvoll ist: Für einmal dürfen die Kinder auf riesige Strukturen wie die Kehrichtverbrennungsanlage hinunterschauen, anstatt von ihnen dominiert zu werden.

Symbiose von Raum und Tragwerk

Das Schulhaus lebt von den vielfältigen Bezügen zwischen seinen räumlichen, funktionalen, statischen und formalen Komponenten. Ein besonderer Stellenwert kommt dabei dem Tragwerk zu (vgl. «Hohe Schule», S. 35). Dank der engen Zusammenarbeit zwischen Architekt und Ingenieur, die bereits in der Wettbewerbsphase begann und während des ganzen Projekts fortgesetzt werden konnte, bedingen sich Raum- und Tragstruktur gegenseitig. Dies ist auch bei anderen Bauten Kerez’ der Fall, etwa beim Wohnhaus an der Forsterstrasse in Zürich, wo Wände und Decken ein räumliches Betontragwerk erzeugen, sodass sie raumbildende und tragende Elemente zugleich sind. Beim Schulhaus Leutschenbach ist diese Beziehung jedoch komplexer. Zwar folgt die Statik dem architektonischen Konzept, indem die Anordnung der Tragstruktur die Grundrisslinien nachzeichnet, doch sie behält eine gewisse Ambivalenz. In Kombination mit der transparenten Fassade wirkt das Fachwerk raumbildend, indem es die Grenze nach aussen verdeutlich, doch gleichzeitig tritt es eher als optischer Filter denn als Abschluss in Erscheinung. Durch mattes Profilit-Glas hinterlegt, wie dies in den Klassenzimmergeschossen und im 4. OG der Fall ist, verstärkt sich dagegen sein trennender Charakter als (aufgelöste) Wand.

Auch in Bezug auf das Thema der Stapelung nimmt die Tragkonstruktion eine schillernde Stellung ein. So vereint das Fachwerk nicht nur die drei funktional zusammengehörenden Schulzimmergeschosse, sondern verbindet sie formal auch mit der Turnhalle. Auf diese Weise sind sämtliche Unterrichtsgeschosse – im Unterschied zu den beiden komplementären Gemeinschaftsgeschossen EG und 4. OG – durch eine aussen liegende Tragkonstruktion gekennzeichnet. Dadurch entsteht eine Verbindung zwischen den Geschossen bzw. zwischen den beiden grossen Hauptvolumina. Dies wiederum legt eine neue Deutung nahe: Das Gebäude ist nicht mehr nur als Stapelung von Geschossen lesbar, sondern auch, wie der Architekt anmerkt, als zwei übereinander stehende «maisons sur pilotis».

Eine der Qualitäten des Schulhauses besteht darin, dass sein Reichtum an Bezügen und Andeutungen sich nicht aufdrängt, sondern sich erst langsam erschliesst. Spannungsvoll ist die Bewegung von einem Raum in den anderen; die einzelnen Räume jedoch sind ruhig und zurückhaltend materialisiert. Die Baustoffe – Beton, Stahl, Glas, Kunststein – sind prägnant, ohne erdrückend zu wirken. Wo immer möglich, wurde vereinfacht. Die gefalteten Betondecken enthalten viel Infrastruktur (vgl. «Reiches Innenleben», S. 40), doch im Normalfall, das heisst bei geradeaus gerichtetem Blick, erscheinen sie monolithisch: Zu sehen sind einzig kleine Sprinkler. Die Beleuchtungskörper und Lüftungsöffnungen sind in die Faltungen der Decken integriert und nur sichtbar, wenn man den Kopf hebt. Ebenfalls in die Falten geschmiegt und im Beton kaum zu erkennen sind graue Akustikplatten, die angesichts der durchgehend harten Oberfl ächen die Nachhallzeiten senken sollen. Ob der Lärmpegel damit genügend gesenkt werden kann, wird sich im Gebrauch zeigen. Sicher dagegen ist, dass die Schulkinder in diesem Gebäude einiges über Baukunst lernen können.

TEC21, Fr., 2009.10.30



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tec21 2009|44 Schulhaus Leutschenbach

12. Juni 2009Judit Solt
TEC21

«Nachhaltigkeit ist keine gesonderte Disziplin»

Fünf Jahre nach der Bologna-Reform plädiert der SIA für eine Stärkung des dualen Bildungssystems in den Bereichen Architektur und Ingenieurwesen. Andrea Deplazes, Präsident der Bildungskommission des SIA und Professor für Architektur und Konstruktion an der ETH Zürich, erläutert die Gründe für dieses Engagement – und warum gerade das duale Bildungssystem besonders geeignet wäre, qualifi zierte Fachleute hervorzubringen, die einen Beitrag zur nachhaltigen Gestaltung des Lebensraums leisten können.

Fünf Jahre nach der Bologna-Reform plädiert der SIA für eine Stärkung des dualen Bildungssystems in den Bereichen Architektur und Ingenieurwesen. Andrea Deplazes, Präsident der Bildungskommission des SIA und Professor für Architektur und Konstruktion an der ETH Zürich, erläutert die Gründe für dieses Engagement – und warum gerade das duale Bildungssystem besonders geeignet wäre, qualifi zierte Fachleute hervorzubringen, die einen Beitrag zur nachhaltigen Gestaltung des Lebensraums leisten können.

Judit Solt: Im April dieses Jahres hat der SIA das Positionspapier «Bildung für eine nachhaltige Gestaltung des Lebensraums» mit fünf Forderungen zur Bildung in Architektur und Ingenieurwissenschaften veröffentlicht (vgl. Kasten S. 19). Was soll damit erreicht werden?

Andrea Deplazes: Wir wollen eine Debatte darüber auslösen, was die Ausbildung in diesen Berufsgruppen leisten soll, sei es auf universitärer oder Fachhochschulstufe. In der Bildungskommission des SIA, die die Sicht der Berufspraxis einnimmt, sind deshalb mit den Berufsgruppen Architektur und Ingenieurwesen auch die Hoch- und Fachhochschulen vertreten. Wir haben festgestellt, dass noch viele Fragen offen sind. Beispielsweise gibt es unter den Ingenieuren noch grundsätzliche Differenzen in Bezug auf die Berufsbefähigung nach der Ausbildung. Während sich die Architektinnen und Architekten einig sind, dass eine ernsthafte Ausbildung im Rahmen eines Bachelor-Programms allein nicht zu leisten ist, gibt es beiden Ingenieurinnen und Ingenieuren unterschiedliche Positionen. Einige sind der Meinung, eine dreijährige Ausbildung sei geeignet, um qualifizierten Nachwuchs zu formen, denn Berufseinsteiger würden in den Büros ohnehin weiter ausgebildet; andere finden, dass eine gute Ausbildung über das Technische hinaus- und ins Konzeptionelle hineingehen müsse und daher länger dauern würde. Hier muss jede Disziplin eine Haltung finden. Dass eine Ausbildung in drei oder fünf Jahren alles vermitteln kann, ist ohnehin eine Illusion; wir lernen ein Leben lang weiter, nur schon deshalb, weil die Zeit nicht stillsteht und Dinge sich laufend ändern. Wichtig ist die Entscheidung, welches Wissen am Ende einer Ausbildung im Minimum vorhanden sein muss, damit die Berufsbefähigung gegeben ist. Ein ebenso zentrales Thema ist dann folgerichtig der Ausbau eines attraktiven Weiterbildungsangebots: Fachleute aus der Praxis sollen auch nach dem Master die Möglichkeit haben, sich neues Wissen anzueignen. Das wäre eine attraktive, vielleicht sogar lukrative Aufgabe für die Schulen.

Judit Solt: Fünf Jahre nach der Einführung der Bologna-Reform herrscht eine gewisse Ernüchterung: Die ursprüngliche Hauptaufgabe der Fachhochschulen, Baufachleute mit Kernkompetenz in der Ausführung zu formen, wurde zugunsten einer theoretischeren Ausbildung relativiert. Nun werden Stimmen laut, die eine Angleichung der Fachhochschulen an die Universitäten hinterfragen. Das Positionspapier bringt diese Bedenken auf den Punkt: Es spricht sich unmissverständlich für das duale Bildungssystem aus und fordert eine komplementäre Differenzierung zwischen den Bildungsgängen.

Andrea Deplazes: Vor der Bologna-Reform gab es keinen dringenden Anlass, das duale Bildungssystem infrage zu stellen. Beide Bildungswege – der universitäre und jener über Handwerk, Lehre und die damaligen HTL – haben sehr gut funktioniert und sich perfekt ergänzt. Entsprechend hatten die Universitäten und die HTL klare Profile: Überspitzt formuliert bildeten die einen Theoretiker, Forscher oder Entwerfende aus, die anderen Praktiker. Diese Rollenteilung wurde in der öffentlichen Wahrnehmung teilweise auf ein holzschnitt-artiges Modell mit fragwürdigen Klischees reduziert. Doch im Grundsatz war sie sinnvoll.
Heutzutage kommt es ja kaum noch vor, dass eine einzige Person für alle Projektphasen – Konzeption, Ausführungs planung, Ausführung – allein zuständig ist; umso wichtiger ist daher, dass innerhalb des gleichen Berufes unterschiedliche, sich ergänzende Ausbildungsschwerpunkte kompetent vertreten sind.
Ich bin überzeugt, dass die hohe Qualität der Schweizer Baukultur unter anderem dem dualen Bildungssystem zu verdanken ist. Es ist ein Grund dafür, dass Schweizer Architekten und Ingenieure nicht nur als Ideenlieferanten in Thinktanks sitzen, wie das zum Beispiel in den USA der Fall ist, wo die Fachleute ihre Kernkompetenz längst eingebüsst haben. Dass sie die Übersetzung ihrer Projekte bis in die Realisierung und sogar darüber hinaus verfolgen können und wollen, sichert die Kohärenz, die Kontinuität und ebendiese Qualität langfristig. Mit Kernkompetenz meine ich die unauflösliche Wechselbeziehung von Entwurf, Konstruktion und Integration von Fachdisziplinen (E+K+I). In allen diesen Kernbereichen sind aber auch Schwächen in den aktuellen Ausbildungs gängen festzustellen, und das betrifft nicht nur die Fachhochschulen, sondern durchaus und im gleichen Mass auch die Universitäten.

Judit Solt: Hat die Bologna-Reform die Fachhochschulen besonders stark getroffen?

Andrea Deplazes: Leider sind die Fachhochschulen durch Bologna noch zusätzlich unter Druck geraten. Denn Bologna ist ein EU-Programm im universitären Bereich, das kein duales Bildungssystem kennt. In der Schweiz ging diese Tatsache im Eifer der Bologna-Etablierung offenbar unter. Seither stehen die Fachhochschulen unter latentem Druck, sich tendenziell in Richtung von Hochschulen entwickeln zu müssen. Die Akademisierung der Fachhochschulen hat diese jedoch nicht aufgewertet, sondern lediglich ihr Profil geschwächt. Nun müssen wir, aus Sicht der Berufspraxis, ernsthaft über die Stärkung der Fachhochschulen nachdenken. Es gibt jedoch Interessenkonflikte: Die gegenwärtige Entwicklung der Fachhochschulen hängt stark von ihrer Förderung durch die einzelnen Kantone ab, und deren bildungspolitische Ziele stimmen nicht ohne Weiteres mit den Schwerpunktsetzungen der Berufsverbände überein. Drängende Fragen – etwa in Bezug auf die Qualitätssicherung, die Förderung von Studiengängen nach Massgabe von praxisorientierten Inhalten oder das Angebot von Masterstudiengängen – sind weiterhin ungelöst. Selbstverständlich betrifft das nicht alle Fachhochschulen in gleichem Mass. Tendenziell konnten sich die Fachhochschulen finanzstarker Kantone besser mit der neuen Situation arrangieren.

Judit Solt: War diese Verunklärung des dualen Bildungssystems eine zwingende Folge der Bologna- Reform, oder hätte sie vermieden werden können?

Andrea Deplazes: Selbstverständlich hätte sie vermieden werden können. Dafür hätte man allerdings vorher überlegen müssen, was die eigentlichen Ziele unseres dualen Bildungssystems sind. Dieser Aufgabe widmet sich im Nachhinein nun der sogenannte Architekturrat, der auf Initiative der Schulen gegründet wurde und sich aus Vertretern der Hochschulen, der Fachhochschulen und des SIA (vgl. TEC21 3-4/2009) zusammensetzt. Ein entsprechender Rat im Ingenieurbereich wäre möglicherweise ebenso wünschenswert. Der Architekturrat versucht, gemeinsam zu einer Klärung der Ausbildungsschwerpunkte zu gelangen. Diese gilt es so zu legen, dass sich die Kompetenzbereiche der verschiedenen Ausbildungsgänge ergänzen: Sofern nämlich eine hinreichende Schnittmenge gegeben ist, können Fachleute miteinander kommunizieren und ihre spezifischen Fähigkeiten koordiniert ins Spiel bringen. Gerade bei der zentralen Frage nach dem Stellenwert von Generalisten- und Spezialistentum vertreten Ingenieure und Architekten divergierende Auffassungen. Im Ingenieurwesen können Gebiete wie Geomatik, Tief- und Hochbau in gewissen Fällen so klar getrennt werden, dass sie nur noch in den physikalisch-mechanischen Grundlagen Gemeinsamkeiten aufweisen und tatsächlich unterschiedliche Disziplinen darstellen. Im Gegensatz dazu sind sich Architektinnen und Architekten tendenziell einig, dass die Architekturausbildung immer den ganzen Bau als komplexes Gesamtsystem berücksichtigen muss – vergleichbar mit dem Medizinstudium, das sich anfangs auf den ganzen Menschen konzentriert und erstspäter eine Spezialisierung zulässt. – Es wäre schon ein grossartiger Fortschritt, wenn wir uns im Grundsatz auf dieses komplementäre, duale Bildungsmodell einigen könnten!

Judit Solt: Sollen die Fachhochschulen demnach Fachleute ausbilden, die auf die Ausführung spezialisiert sind?

Andrea Deplazes: Ja und nein: Es kommt darauf an, was wir unter Spezialisierung verstehen. Sind Spezialisten Leute, denen jegliches Grundlagenwissen fehlt und die nur von einem eng abgesteckten Gebiet etwas verstehen? Oder sind es Generalisten, die ihre Kompetenz fachspezifisch vertieft haben? Sprechen wir von einer Atomisierung des Wissens oder von der Setzung gezielter Schwerpunkte? Meiner Meinung nach sollten die Ausbildungsgänge – der konzeptbetonte der Universitäten und der ausführungsbetonte der Fachhochschulen – zusammen ein Gesamtes ergeben. Im Zentrum steht darum bei beiden nach wie vor die Stärkung der Kernkompetenz (E+K+I), nur mit jeweils unterschiedlichen, gegenseitig ausbalancierten Schwerpunkten. Dabei müssen die Schwerpunkte so gelegt werden, dass es eine hinreichend grosse Überlappung gibt. Die aktuelle Umsetzung der Bologna-Reform gefährdet jedoch den Aufbau dieses komplexen, verknüpften Wissens, weil sie tendenziell die Zergliederung der Studiengänge in unabhängige Leistungsmodule fördert. Doch Inhalte, die entkoppelt sind und die man nicht mehr zueinander in Bezug setzen kann, sind wertlos.

Judit Solt: Zeichnen sich in der Praxis bereits erste Folgen dieser Schwächung des dualen Bildungssystems ab?

Andrea Deplazes: Katastrophale Folgen zeigen sich schon jetzt am Beispiel Bauleitung. Frühere HTL-Absolventinnen und -Absolventen hatten ein breites Grundwissen darüber, wie man ein Projekt in Baureife überführt und realisiert; dank diesen umfassenden Kenntnissen waren sie geradezu dafür prädestiniert, sich auf den äusserst anspruchsvollen Beruf des Bauleiters, der Bauleiterin zu spezialisieren. Mit der Akademisierung haben viele Fachhochschulen diese Kompetenz abgegeben, und es stellt sich die Frage, wo zukünftige Bauleiterinnen und Bauleiter ausgebildet werden sollen.
Die höhere Berufsbildung hat das Vakuum erkannt und bietet entsprechende Lehrgänge an. Doch kann man diesen verantwortungsvollen Beruf erlernen, indem man eine Lehre absolviert und anschliessend eine Bauleiterschule besucht? Eine Schnellbleiche in Kostenund Zeitmanagement nützt doch nichts, solange das Verständnis für die konzeptionellen Grundlagen fehlt. Wenn man den inneren Zusammenhang eines Projekts, seine Abhängigkeiten, Hierarchien und Prozessfolgen nicht kennt, kann man es nicht erfolgreich abwickeln, jedenfalls nicht im Sinne einer nachhaltigen Gestaltung unserer Umwelt. Man scheint schlicht vergessen zu haben, dass die Realisierung eines Bauprojekts – die gemäss SIA 102 beziehungsweise SIA 103 einen beträchtlichen Anteil des Auftragsvolumens ausmacht – eine ebenso wertvolle Leistung darstellt wie die vorangehenden konzeptionellen Phasen. Die Verknüpfung von konzeptionellen, organisatorischen, strukturellen und materiellen Zusammenhängen ist äusserst anspruchsvoll. Die Vermittlung der bauleiterischen Kompetenz muss daher zwingend wieder zurück auf die Stufe der Fachhochschulen angehoben werden.

Judit Solt: Inwiefern hat das alles mit der nachhaltigen Gestaltung des Lebensraums zu tun?

Andrea Deplazes: Nachhaltiges Bauen ist keine Disziplin, die man gesondert erlernen kann. Man muss die Interaktion verschiedener Einflüsse verstehen und steuern können. Einzelne Parameter separat zu betrachten, genügt nicht – Zusammenhänge sind eben nur dann sinnvoll, wenn sie wirklich zusammenhängen. Es braucht also Fachleute, die über ein breit abgestütztes Wissen verfügen und die Fähigkeit mitbringen, sich mit einem komplexen Beziehungsgeflecht auseinanderzusetzen. Erst dann kann man definieren, in welchem Sinn ein Gebäude nachhaltig sein soll: Oft müssen widersprüchliche Zielsetzungen – etwa energetische versus kulturelle Nachhaltigkeit – gegeneinander abgewogen werden. Ob etwas nachhaltig ist oder nicht, muss daher unter vielen Gesichtspunkten verhandelt werden. Leider wird derBegriff Nachhaltigkeit heute fast nur noch inflationär, ideologisch oder propagandistisch, eingesetzt. Das behindert oft die klare Formulierung der Zielsetzungen und der Wege, diese zu erreichen.

Judit Solt: Mit der Definition von Standards und Labels wird diese Komplexität auf handhabbare Grössen reduziert. Das hat Vorteile, wirft aber auch Fragen auf. Zum einen sind Labels teilweise an wirtschaftliche Interessen von Herstellerfirmen gebunden und erfordern eine technische Aufrüstung von Bauten, die nicht in jedem Fall erforderlich gewesen wäre. Zum anderen sind Standards naturgemäss starr und auf wenige Aspekte beschränkt; damit werden innovative Lösungen, die zwar nachhaltig sind, die Bedingungen für eine Zertifizierung aber nicht erfüllen, von vornherein ausgeschlossen. Beides lässt die politische Förderung solcher Festlegungen fragwürdig erscheinen.

Andrea Deplazes: Standards und Normen sind politische Lenkungsinstrumente und als solche gute Mittel, um Anliegen in der Praxis breit durchzusetzen. Entscheidend ist aber auch hier, dass man sich zuerst über das Anliegen Klarheit verschafft und sich erst dann mit den Mitteln beschäftigt. Festzulegen ist das Ziel – ob man auch die Wege dahin festlegen muss, bezweifle ich sehr. Wenn die Erfüllung von Standards die einzige Möglichkeit ist, ein Gebäude bewilligungs fähig und nachhaltig fit zu machen, ist der Fortschritt zu Ende: Standards legen Grenzen und Leitplanken fest, Forschung aber heisst, Grenzen zu verschieben und Leitplanken auseinanderzuwuchten. Universitäten und Fachhochschulen betreiben zum Beispiel wertvolle Forschung zum Thema Energieeffizienz, die man nicht einfach in Standards verpacken kann.

Judit Solt: In welche Richtung tendiert die entsprechende Forschung an der ETH?

Andrea Deplazes: Im Bereich Energieeffizienz beispielsweise wird mit einem Simulationsprogramm gearbeitet, das von Anfang an im Entwurf einsetzbar ist und sehr schnell Auskunft über die Implikationen einer Änderung geben kann – etwa über die energetischen Konsequenzen einer Variation des Fassadenöffnungsgrads oder eines veränderten Fassadenaufbaus. Dieses Tool liefert ad hoc Informationen, die früher wochenlang berechnet werden mussten, und verleiht der Zeichnung eine neue Wertigkeit. Dabei ist es nicht ideologisch besetzt: Es schreibt also nicht vor, man dürfe die Dämmung nicht weglassen, sondern sagt nur, welche bauphysikalischen und energetischen Folgen das hätte. Die Wertung liegt beim Entwerfenden; er oder sie legt fest, welche Eigenschaften des Gebäudes verändert werden sollen, damit es die erwünschte Energiebilanz aufweist. Im Gegensatz zu Standards, die jeden Parameter festlegen, kann hier gezielt und projektspezifisch operiert werden. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass eine historische Backsteinmauer bei einer Sanierung nicht unbedingt gedämmt werden muss, wenn die gewünschte Gesamtwirkung auch anders erreicht werden kann. Mit solchen Instrumenten arbeiten die Studierenden heute gern und ganz selbstverständlich; ich bin zuversichtlich, dass sie sich sehr bald schon in der Praxis etablieren werden.
Standards sollen dem aktuellen Forschungsstand folgen, nicht umgekehrt. Wir dürfen nicht vergessen, dass auch Forschung in einem Wettbewerbsumfeld geschieht. Es ist lebenswichtig, dass gute Ideen und neue Verfahren möglichst ungehindert ihren Weg in die Praxis finden. Und ebenso zentral ist, dass sich auch in der Forschung die Rollen der unterschiedlichen Schulen stärker ausprägen: Die Universitäten näher bei der Grundlagen-, die Fachhochschulen eher bei der angewandten Forschung. Einmal mehr: Wir müssen das duale Bildungssystem, das wir jahrzehntelang erfolgreich gepflegt haben, innerhalb des Bologna-Gerüstes wieder neu aufbauen. Es zu vernachlässigen, war ein fundamentaler Fehler.

TEC21, Fr., 2009.06.12



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tec21 2009|24 Auf lange Sicht

22. Januar 2009Judit Solt
db

Felsen im Park

Im Innenraum angewendet, gilt Grün als beruhigend und hat sich deshalb vor allem als »Spitalfarbe« etabliert. Fassaden grün zu streichen, ist hingegen ein Wagnis, denn die Farbe der Pflanzenwelt kann an einem Gebäude unerträglich deplatziert erscheinen. Die Architekten Annette Gigon und Mike Guyer haben sich zusammen mit dem Künstler Pierre André Ferrand der schwierigen Aufgabe gestellt. Das Farbkonzept ist ausgefeilt und der Erfolg verblüffend: Die drei Neubauten im Park der Villa Grünenberg wirken wie überdimensionierte Elemente eines Landschaftsgartens, ohne ihren Charakter als Wohnhäuser zu verleugnen.

Im Innenraum angewendet, gilt Grün als beruhigend und hat sich deshalb vor allem als »Spitalfarbe« etabliert. Fassaden grün zu streichen, ist hingegen ein Wagnis, denn die Farbe der Pflanzenwelt kann an einem Gebäude unerträglich deplatziert erscheinen. Die Architekten Annette Gigon und Mike Guyer haben sich zusammen mit dem Künstler Pierre André Ferrand der schwierigen Aufgabe gestellt. Das Farbkonzept ist ausgefeilt und der Erfolg verblüffend: Die drei Neubauten im Park der Villa Grünenberg wirken wie überdimensionierte Elemente eines Landschaftsgartens, ohne ihren Charakter als Wohnhäuser zu verleugnen.

Wädenswil liegt an der Westküste des Zürichsees, an jenem linken Seeufer, das wegen seiner vergleichsweise schattigen Lage den wenig schmeichelhaften Namen »Pfnüselküste« (Schnupfenküste) trägt. Doch obwohl die gegenüberliegende, selbst abends noch sonnige »Goldküste« ungleich begehrter ist, hat der vom nahen Zürich ausgehende Siedlungsdruck längst auch die westlichen Seegemeinden erreicht: In den letzten fünfzig Jahren hat sich die Einwohnerzahl von Wädenswil auf rund 20 000 verdoppelt. Seit einigen Jahren entstehen vermehrt auch Wohnungen gehobenen Standards. Dabei erfährt der zwischen beschaulicher Ländlichkeit und industrieller Betriebsamkeit schwankende Charakter der Stadt, den Robert Walser 1908 in seinem Roman »Der Gehülfe« beschrieben hat, einen empfindlichen Wandel. Die dörfliche, von Großbauten durchsetzte Baustruktur wird von einem auf zahlungskräftige Pendler ausgerichteten Wohnungsangebot überlagert. Quartiere werden teilweise stark verdichtet, entsprechend ändert sich ihre Bewohnerschaft. An den seit jeher begehrten Hängen drängen sich Neubauten zwischen verwitterte Villen. Das Giessenareal – eine direkt am See gelegene Fabrikationsanlage mit denkmalgeschützten Bauten, darunter ein Fabrikgebäude von Robert Maillart, eine Direktorenvilla und mehrere Kosthäuser – soll en bloc in ein luxuriöses Wohnquartier verwandelt werden; das Projekt, in der lokalen Presse als »Millionärsoase« kritisiert, wirft auch in architektonischer Hinsicht Fragen auf. Im Gegensatz dazu fallen die drei Wohnhäuser Park Grünenberg, die das Zürcher Architekturbüro Gigon / Guyer zwischen 2005 und 2007 in Wädenswil erbaut hat, durch ihre feinfühlige Einfügung in ihren Kontext auf. Der Gestaltungsplan für den Park der Villa Grünenberg sah vor, im nordwestlichen Teil der Grünanlage verdichtetes Wohnen anzubieten; dadurch konnten die Villa selbst und die andere Hälfte des Parks erhalten bleiben. Für den Entwurf der Neubauten schrieb die Bauherrschaft im Sommer 2002 einen eingeladenen Wettbewerb aus. Annette Gigon und Mike Guyer setzten sich mit einem Entwurf durch, der sich in erster Linie mit dem Park befasst, gleichzeitig aber auch Verbindungen zur heterogenen Nachbarschaft herzustellen vermag – und das nicht zuletzt auch dank dem Einsatz ungewöhnlicher Fassadenfarben.

Differenzierte Volumina, Wohnungen und Farben

Ganz pragmatisch ging es vorerst darum, alle Wohnungen an den Vorzügen der Lage teilhaben zu lassen: Seesicht im Nordosten, Sonne im Südwesten und Bezug zum umgebenden Landschaftspark. Die drei Neubauten sind leicht von der Villa abgerückt und bilden ein eigenes Ensemble, dessen Anordnung jedoch mit derjenigen des Altbaus korreliert. Weil sie versetzt und leicht gegeneinandergedreht stehen, bleibt die räumliche Kontinuität des Parks weiterhin spürbar. Eine differenzierte, auf unregelmäßigen Polygonen basierende und mit Erkern variierte Volumetrie ermöglicht immer neue Aus- und Durchblicke in den Park und auf den See. Die Wohnungsgrundrisse sind nicht weniger sorgfältig optimiert als die Gebäudeformen. Die dreißig Einheiten teilen sich in acht verschiedene Typen auf. Das kleinere Gebäude, ein Zweispänner, enthält dreiseitig orientierte Geschosswohnungen mit drei bis fünf Zimmern. In den beiden anderen Häusern sind weitere unterschiedlich große Geschosswohnungen untergebracht, die mindestens zweiseitig ausgerichtet sind und teilweise über die ganze Bautiefe reichende Wohnräume aufweisen sowie kreuzweise angeordnete Maisonette-Wohnungen, deren Orientierung von einer Etage zur anderen wechselt. Trotz dieser Vielfalt gibt es zwischen den Wohnungen auch Gemeinsamkeiten: Alle verfügen über mindestens zweiseitig orientierte Loggien, die in räumlichem Zusammenhang zwischen der Küche und dem weitläufigen Wohn- und Essraum stehen; die Tag- und Nachtbereiche sind getrennt, die Nassräume innen liegend, die Fenster großflächig. Bemerkenswert sind auch die zentralen Treppenhäuser: Die einläufigen Treppen sind gerade, das Treppenauge und die Podeste jedoch aufgrund der polygonalen Grundform der Bauten geknickt oder trapezförmig. Diese Unregelmäßigkeit wird dadurch unterstrichen, dass der Handlauf nicht exakt über dem Geländer verläuft, sondern eine eigene, ebenfalls geknickte Bahn verfolgt – eine sehr wirkungsvolle Abweichung. Subtil und kraftvoll zugleich ist auch die Farbigkeit der Fassaden. Der in Genf und Krakau lebende Künstler Pierre André Ferrand hat jedem Haus eine eigene, raffinierte und schwer definierbare Nuance von Grün zugewiesen: Das kleinere Haus schimmert in hellem Gelbgrün, während die beiden größeren zu erdigen Ocker- und Olivtönen tendieren. Je nach Standort, Wetter und Lichtstimmung wirken die mineralischen Farben gedeckt oder leuchtend, dumpf oder lebendig; nur bunt erscheinen sie nie, was umso erstaunlicher ist, als die Fassaden meist als Hintergrund zur Vegetation zu sehen sind.

Wechselspiel von mineralischem und pflanzlichem Grün Farbe ist im Werk von Gigon / Guyer ein immer wiederkehrendes Thema, ebenso wie die Zusammenarbeit mit Kunstschaffenden. Davon zeugen, um nur zwei zu nennen, Bauten wie das Sportzentrum Davos oder die Wohnüberbauung Susenbergstraße in Zürich (1996 bzw. 2000, Farbkonzept Adrian Schiess). Deren leuchtende Farben haben in den letzten zwei Jahrzehnten die Schweizer Architekturlandschaft unübersehbar geprägt, sei es als Inspiration für Nachwuchstalente oder als Vorlage für stümperhafte Investoren-Kopien; entsprechend wird das Büro Gigon / Guyer häufig mit Farbigkeit assoziiert. Doch längst nicht alle Bauten von Gigon / Guyer sind auch wirklich farbig. Die beiden betonen, dass sie Farbe als ein Gestaltungsmittel unter vielen betrachten und nur dann einsetzen, wenn sie für das Projekt unentbehrlich ist. Und in der Tat ist im Park Grünenberg nur das Äußere der Häuser farbig, während in den Wohnungen zurückhaltende Materialtöne vorherrschen. Die Treppenhäuser sind weiß – strahlende, flimmernde Übergangsräume von einer Farbenwelt in die andere. Die unterschiedlichen Grüntöne der Fassaden erfüllen mehrere Aufgaben. Zum einen setzen sie die drei Häuser voneinander ab: Durch die farbliche Unterscheidung nimmt man sie auch dann als einzelne Volumina wahr, wenn man sie hintereinander sieht, was den Raum zwischen ihnen größer erscheinen lässt. Zum anderen trägt die Farbe dazu bei, die Bauten in den Park zu integrieren: Natürliches und künstliches Grün überlagern, relativieren und verstärken sich gegenseitig, im Herbst kommt der Kontrast durch gold- und rostfarbenes Laub hinzu; die Bauten werden zu ungewohnten, aber nicht grundsätzlich fremdartigen Bestandteilen der Gartengestaltung. Am ehesten erinnern sie an sorgfältig platzierte, mit Moos und Flechten überzogene Felsbrocken – eine durchaus gewollte Analogie, wurde doch im Park ein Steingarten entdeckt, der nach Abschluss der Bauarbeiten auch wiederhergestellt wurde. Bemerkenswert ist, wie dieser Effekt durch das Zusammenwirken von Volumen, Farbe und Konstruktion zustande kommt. Alle Elemente bedingen einander. Bei der Fassade handelt es sich um ein Zweischalenmauerwerk, wobei die äußere Betonschale nicht lediglich selbsttragend ist, sondern sich stellenweise von der inneren Schale entfernt und auskragende Loggien bildet. Dank dieser Materialisierung war es auch möglich, die Bauten in den Hang zu integrieren und gleichsam aus dem Boden heraus wachsen zu lassen. Der Beton ist fein sandgestrahlt, Grün gestrichen ist jedoch nur die äußerste Oberfläche, während die Laibungen grau belassen sind. Dem Farbauftrag wurde besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Erste Muster, bei denen die Betonstruktur stark durchschimmerte und die Oberfläche wie ein wolkiges Gemälde erscheinen liess, wurden wieder verworfen: Großflächig angewendet, hätte diese Technik die Bauten frühzeitig verwittert erscheinen lassen. Von einer nur geringfügigen Abstufung der Farben kam man ebenfalls ab: Übereck betrachtet, hätten sich die besonnten beziehungsweise verschatteten Fassaden des selben Hauses mehr voneinander unterschieden als vom Nachbargebäude. Um die gewünschte Wirkung zu erreichen, wurde das olivgrüne Haus schließlich dreimal gestrichen, während beim ockergrünen ein Farbauftrag ausreichte. Diese fein austarierte Kombination von massiver Außenschale, unregelmäßigem Volumen und hauchdünner Farbschicht ist es, die den Eindruck des Felsig-Überwachsenen erzeugt. Gleichsam als zusätzlicher Gewinn bewirkt die farbige Fassung nicht nur die scheinbar mühelose Integration der Häuser in den Park, sondern auch – und das erscheint noch erstaunlicher – in die gebaute Umgebung. Denn diese ist teilweise äußerst farbig: Zwischen Fabrikantenvilla im Osten, Fabrik im Norden und leuchtend fleischkäsefarbenen Mehrfamilienhäusern im Süden zeigen die Neubauten, was Farbe vermag, ohne ihre Nachbarn zu desavouieren. Zu Recht wurden sie 2008 mit der Auszeichnung »Gute Bauten« der Stadt Wädenswil geehrt.

db, Do., 2009.01.22



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16. Juni 2008Judit Solt
TEC21

«Etwas ganz Besonderes»

Aufgrund welcher Kriterien wurde beim Tamina-Wettbewerb das Siegerprojekt ermittelt? Wie wurden diese Kriterien gewichtet, und inwiefern haben sie sich – verglichen mit älteren Brückenwettbewerben – im Laufe der Zeit verändert? Mathis Grenacher, Ingenieur und Jurymitglied, spricht über den Beurteilungsprozess und erläutert, warum sich das Siegerprojekt zu einem Wahrzeichen für die Landschaft entwickeln könnte.

Aufgrund welcher Kriterien wurde beim Tamina-Wettbewerb das Siegerprojekt ermittelt? Wie wurden diese Kriterien gewichtet, und inwiefern haben sie sich – verglichen mit älteren Brückenwettbewerben – im Laufe der Zeit verändert? Mathis Grenacher, Ingenieur und Jurymitglied, spricht über den Beurteilungsprozess und erläutert, warum sich das Siegerprojekt zu einem Wahrzeichen für die Landschaft entwickeln könnte.

Judit Solt: Die landschaftliche, topografische und geologische Situation in der Taminaschlucht lässt verschiedene Tragwerkskonzepte zu. Entsprechend unterschiedlich sind die eingereichten Vorschläge: Bogen-, Sprengwerk-, Rahmen- und Fachwerkkonstruktionen, über der Fahrbahn liegende Tragwerke. Bei allen vier Projekten der engeren Auswahl handelt es sich aber um Bogenbrücken. Zeichnet sich hier eine ‹richtige› Haltung ab?

Mathis Grenacher: Unter den 24 Abgaben waren alle technisch machbaren Lösungen vertreten. Das haben wir nicht erwartet, weil in einem solchen V-Tal zwei Ansätze gewissermassen auf der Hand lagen: der Bogen und das Sprengwerk. Beide gehen mit grossen horizontalen Kräften einher, doch diese sind an den steilen, auf der einen Seite rutschgefährdeten Hängen der Taminaschlucht kein Nachteil, vielmehr tragen sie zur Versteifung bei. Trotzdem waren wir gegenüber allen Ideen offen. Eine nähere Betrachtung hat allerdings gezeigt, dass nur wenige Lösungen wirklich in Frage kamen.
Dass eine Balkenbrücke wegen der riesigen Spannweite in Bezug auf die Wirtschaftlichkeit und den Bauvorgang ungünstig sein würde, war von vornherein klar. Auch beim Sprengwerk hat sich die Spannweite als Problem erwiesen. Unter den acht Projekten, die im ersten Rundgang ausgewählt wurden, waren immerhin noch zwei Sprengwerkbrücken: Die erste war aus Beton, was der ohnehin gewagten Konstruktion viel Gewicht beschert hätte; die zweite war aus Stahl und daher leichter, doch hier stimmte die Massstäblichkeit nicht. Die Brücke mit annähernd gleich langen Spannweiten konnte keine optische Spannung aufbauen und befriedigte ästhetisch nicht.
Die Nachteile der Hängebrücken waren weniger offensichtlich. Erst in der Diskussion wurden drei wirkliche Probleme deutlich. Erstens vergrössert diese Lösung die Spannweite und damit auch die Kosten, weil man die Pylone – beziehungsweise den einen mindestens nötigen Pylon – wegen der grossen Auflagekräfte nicht in den Steilhang der Schlucht bauen kann, sondern nur weiter draussen in der Ebene. Zweitens gab es technische Schwierigkeiten: Die Kabel, an denen die Brücke hängt, müssen verankert werden; die Verankerung im Untergrund wäre aber aufwendig und teuer gewesen. Es existieren zwar Hängebrücken, die ohne solche Anker auskommen, weil die Kräfte wieder in die Brückenkonstruktion zurückgeführt werden: Diese Selbstverankerung war in diesem Fall aber aus statischen Gründen ausgeschlossen, weil die beiden Enden der Brücke gekrümmt sind. Und drittens sind wir zur Einsicht gelangt, dass eine Hängebrücke an dieser Stelle nicht mit der Forderung nach einer sorgfältigen Einbindung in die Landschaft zu vereinen gewesen wäre. In der engeren Auswahl verblieben schliesslich vier Bogenbrücken – auch das zweitplatzierte Projekt, eine polygonale Bogenbrücke, ist eher einem Bogentragwerk als einem Sprengwerk zuzuordnen.

Was ist unter ‹sorgfältige Einbindung in die Landschaft› zu verstehen? Gemäss kantonalem Richtplan ist das Gebiet der Taminaschlucht bei Bofel als Lebensraum-Schongebiet für Gämsen ausgeschieden. Im Wettbewerbsprogramm wird daher gefordert: ‹Stark in Erscheinung tretende, den Landschaftscharakter verändernde Bauten sollen vermieden werden.› Was bedeutet das konkret? Ist eine Brücke, die den Landschaftscharakter nicht verändert, überhaupt denkbar? Zudem wird dem Siegerprojekt die Chance attestiert, ein Wahrzeichen für die Gegend zu werden – durchaus im positiven Sinn.

Die Taminaschlucht ist eine eindrückliche Landschaft, die in ihrer Wirkung auf keinen Fall durch die Brücke ‹konkurrenziert› werden sollte. An einer solchen Stelle soll kein bauliches Zeichen gesetzt werden! Eine Hängebrücke hätte aber eine eigentliche Landmarke dargestellt, der Pylon wäre schon von weitem unübersehbar gewesen. Auch konzeptionell hätte ein solches Tragwerk Fragen aufgeworfen: Wozu erst 100 Meter in die Höhe bauen, wenn unten eine 200 Meter tiefe Schlucht für das Abtragen der Kräfte zur Verfügung steht? Wir wollten kein auffälliges Bauwerk, sondern eines, das sich möglichst selbstverständlich in die Landschaft einfügt und dabei eine besonders gute Gestaltung aufweist. Das trifft auf das Siegerprojekt zu: Es drängt sich nicht mit spektakulären Gesten in den Vordergrund, aber mit seiner Asymmetrie und seinen radialen Stützen ist es doch etwas ganz Besonderes, für die Schweiz vielleicht sogar Einmaliges. Jeder könnte erkennen: Das ist die Brücke über die Taminaschlucht. Das ist mit Wahrzeichen gemeint. Im Übrigen stösst die Asymmetrie nicht nur auf Gegenliebe. Doch sie ist keine formale Spielerei, sondern hat viel mit der Landschaft zu tun: Das Tal ist asymmetrisch, und die Talflanke auf der Valenser Seite ist ein Rutschhang. Von den vier prämierten Projekten sind drei symmetrisch, und sie sind alle drei mehr oder weniger an der gleichen heiklen Stelle im Hang abgestützt (Bild 1). Die Fundation des Siegerprojekts liegt weiter oben und bedeutet vom Baugrund her das kleinste Risiko.

Gemäss Ausschreibung erfolgte die Beurteilung der Projekte nach folgenden Kriterien: Qualität des Bauwerks in der Nutzungsphase, Wirtschaftlichkeit (Erstellung, Betrieb, Unterhalt), Umweltverträglichkeit, Chancen und Risiken sowie Qualität des Projekts. Unter ‹Qualität› wurden Dauerhaftigkeit, Ästhetik, Funktionstüchtigkeit, konstruktive Ausbildung und Ausführbarkeit subsumiert. Wie wurden diese einzelnen Punkte gewichtet? Welche Minimalanforderungen mussten zwingend erfüllt werden, was galt als ‹nice to have›? Haben diese Anforderungen – im Vergleich mit älteren Brückenwettbewerben – in den letzten Jahrzehnten Veränderungen erfahren?

Die neuen Tragwerksnormen SIA 260–267 (Swisscodes) regeln, was ein Tragwerk zu leisten hat: Es soll bei einer angemessenen Einpassung, Gestaltung und Zuverlässigkeit vor allem wirtschaftlich, robust und dauerhaft sein. Das Kriterium der Robustheit, das 2003 in die SIANorm 260 aufgenommen wurde, ist heute ein wichtiges Thema. Das Risiko, dass das Tragwerk Schaden nimmt oder im Extremfall versagt, soll in einem vertretbaren Verhältnis zur Ursache stehen. Alternative Lastpfade in Tragwerksystemen müssen möglich sein, der sogenannte Dominoeffekt muss verhindert werden. Daneben wird die Dauerhaftigkeit einer Konstruktion speziell beurteilt. Lager und Fahrbahnübergänge zum Beispiel sind mögliche Schwachstellen; sie zu ersetzen ist teuer. Daher werden heute möglichst monolithische Tragwerke angestrebt. Insofern haben sich die Prioritäten etwas verschoben. Ein anderes Beispiel: Wenn wir heute 20, 30 Jahre alte Betonbrücken instandsetzen müssen, sind wir oft mit korrodierten Bewehrungen konfrontiert. Die Überdeckung war nicht ausreichend – doch man darf nicht vergessen, dass damals der gute Ingenieur eine möglichst filigrane Brücke bauen wollte. Heute tendiert man zu dauerhafteren und robusteren Konstruktionen.
Auch die Funktionstüchtigkeit kann unterschiedlich gut gewährleistet sein. Bei einer der Bogenbrücken, die im Wettbewerb vorgeschlagen wurden, ragt der Bogen zwischen den beiden Fahrspuren in die Höhe. Solche Brücken gibt es im Ausland einige, aber die weisen acht bis zwölf Spuren auf. Bei nur einer Spur pro Fahrbahnseite wäre mit Problemen betreffend Fahrsicherheit, Schneeräumung, Unfall- und Pannenversorgung etc. zu rechnen. Hinzu kommt in diesem Fall die starke Beanspruchung durch Chloride beim winterlichen Salzen der Strasse: Tragwerke, die über die Fahrbahn hinausragen, sind dem Spritzwasser ausgesetzt und in Bezug auf die Dauerhaftigkeit besonders gefährdet. So betrachtet sind alle vier in der engeren Auswahl verbliebenen Projekte als sehr gut einzustufen.
Was die Wirtschaftlichkeit betrifft, kann in diesem Projektstadium lediglich die Grössenordnung der Erstellungskosten geschätzt werden – bei einem Vorprojekt sind Abweichungen von bis zu 20 % möglich. Die meisten vorgeschlagenen Brücken kosten zwischen 15 und 20 Millionen. Geringe Mehrkosten wären bei einem Projekt, das allen anderen überlegen ist, wohl kein Hinderungsgrund gewesen, doch alle vier prämierten Projekte lagen im Durchschnitt. Die Betriebs- und Unterhaltskosten waren bei diesen vier sehr ähnlich. Brücken aus wetterfestem Stahl erfordern vergleichbare Unterhaltskosten wie gut konzipierte Betonbrücken. Auch punkto Umweltbelastung waren die Unterschiede minim: Alle Teams haben das Gämsenschongebiet respektiert und auf eine Abstützung auf dem Talgrund verzichtet. Vermutlich war das Schongebiet auch ein Grund dafür, dass sich einige für eine Hängebrücke entschieden haben, die die Talflanken gar nicht tangiert. Aber auch bei den vier prämierten Projekten sind die Eingriffe begrenzt und daher gut vertretbar. In Bezug auf die Risiken gab es geringfügige Unterschiede (vgl. S. 24–27).

Mehrere eingereichte Projekte stammen von gemischten Teams, in denen neben Ingenieurinnen und Ingenieuren auch Architektinnen und Architekten vertreten waren.

Eine solche Zusammenarbeit kann äusserst gewinnbringend sein, und ich freue mich, dass sie heute vermehrt praktiziert wird. Wichtig ist dabei, dass sie in einer möglichst frühen Projektphase beginnt und dass die beteiligten Fachleute ein gewisses Verständnis für das Metier der anderen aufbringen. Das gilt sowohl für den Hochbau, wo die Architekten die Federführung haben, als auch für den Brückenbau, bei dem die Ingenieure die Leitung übernehmen. Ein Ingenieur, der nur gerade die Statik und die Kosten sieht, nützt dem Architekten bei einem Wettbewerb nicht viel: Er sollte bei der Entwicklung des Tragwerkskonzepts in der Lage sein, frühzeitig auf entwurfsrelevante Fragen hinzuweisen, etwa im Bereich der Erdbebensicherung. Umgekehrt sollte bei einem Brückenwettbewerb auch der beteiligte Architekt etwas von Tragwerkslehre verstehen.

Auch in der Jury des Tamina-Wettbewerbs war mit Andrea Deplazes ein Architekt vertreten. Worin bestand sein Beitrag bei der Entscheidungsfindung?

Die Zusammenarbeit mit Andrea Deplazes war sehr wertvoll. Er hat nie aus architektonischen Gründen ein Projekt portiert, das aus Ingenieursicht negativ beurteilt wurde, sondern hat sich immer zuerst mit den Argumenten der Ingenieure vertraut gemacht. Es ist ohnehin so, dass das Gesamtkonzept stimmen muss: Eine Brücke, deren Tragstruktur gut konzipiert ist, ist in der Regel auch ästhetisch nicht ganz misslungen, und ein Gestaltungskonzept, das die Tragwerkslehre ausser Acht lässt, kann nie wirklich befriedigen. Ein weiterer Beitrag, den Architektinnen und Architekten als Jurymitglieder bei Ingenieurwettbewerben leisten können, hat mit ihrer Vermittlerfunktion innerhalb des Gremiums zu tun: Als Baufachleute sind sie den Ingenieuren nahe, und sie können mit den beteiligten Laien – etwa politischen Vertretern – kompetent über ästhetische Kriterien debattieren. Das ist nicht zu unterschätzen.

TEC21, Mo., 2008.06.16



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tec21 2008|25 Taminabrücke

10. März 2008Judit Solt
TEC21

Kunst der Künstlichkeit

Seit den Anfängen ihres gemeinsamen Architekturbüros beschäftigen sich Marianne Burkhalter und Christian Sumi mit Holz. Vom kostenoptimierten Elementbau über raffinierte Fassadenverkleidungen bis hin zu Inneneinrichtungen aus modernen Holzwerkstoffen setzen sie sich mit fast allen Facetten des vielseitigen Materials auseinander. 2007 wurden sie im Rahmen von holz21, dem Förderprogramm des Bundesamtes für Umwelt (Bafu), für ihr bisheriges Werk ausgezeichnet.

Seit den Anfängen ihres gemeinsamen Architekturbüros beschäftigen sich Marianne Burkhalter und Christian Sumi mit Holz. Vom kostenoptimierten Elementbau über raffinierte Fassadenverkleidungen bis hin zu Inneneinrichtungen aus modernen Holzwerkstoffen setzen sie sich mit fast allen Facetten des vielseitigen Materials auseinander. 2007 wurden sie im Rahmen von holz21, dem Förderprogramm des Bundesamtes für Umwelt (Bafu), für ihr bisheriges Werk ausgezeichnet.

Holz ist ein natürlich gewachsenes Material, und mit ihm wächst auch die Vielfalt seiner architekturtheoretischen Deutungen. Mancher Baustoff wird seit Jahrhunderten immer wieder ähnlich bewertet: Marmor verkörpert kostbare Erhabenheit, Stahl industriellen Fortschritt. Holz dagegen weist eine breite Palette möglicher Interpretationen auf. Spätestens im 18. Jahrhundert avancierte es zum Inbegriff urtümlicher Rustikalität. Vitruv hatte die Ursprünge der menschlichen Bautätigkeit noch in drei unterschiedlich materialisierten Behausungstypen – Laubdächer, künstliche Höhlen und Gebilde aus Lehm und Zweigen – geortet und die Entstehung der Baukunst auf die Konkurrenz zwischen diesen Konstruktionstechniken zurückgeführt.[1] Im Gegensatz dazu war die Urhütte des Abbé Laugier ein reiner Holzbau: vier im Quadrat angeordnete, in die Erde gerammte Äste, vier weitere als horizontale Verbindung und ein Satteldach. Daraus hätten sich mit Säulen, Gebälk und Giebel die wesentlichen Bestandteile des dorischen Tempels entwickelt.[2]

Von der Urhütte zum Nullenergiehaus

Hundert Jahre später wies Gottfried Semper diese Theorie zwar dezidiert zurück, lokalisierte aber seinerseits die Anfänge des Bauens im «aus Pfählen und Zweigen verbundenen und verflochtenen Zaun» – und damit in einer anderen Form des Holzbaus. Er betonte, dass technische Ausdrücke wie «Decke, Bekleidung, Schranke, Zaun (gleich mit Saum)» auf den textilen Ursprung dieser Bauteile hinwiesen.[3] Moderne Theoretiker wiederum haben hervorgehoben, dass in der englischen Sprache des Mittelalters die Begriffe «timber» und «house» Synonyme waren und dass auch das deutsche Wort «Zimmer» dieselbe Wurzel habe. Demnach verweise Holz nicht nur auf ein Material, sondern auf das Wohnen schlechthin – eine Interpretation, die in der weit verbreiteten Meinung, Holz sei gemütlich, ihre volkstümliche Bestätigung findet. Von der Urhütte des «guten Wilden» bis zum heutigen Ikea-Interieur signalisiert Holz unkomplizierte, einfache Natürlichkeit. Gleichzeitig steht es aber auch für das Gegenteil: Kostbare Furniere, lackierte Preziosen, Edelhölzer, Schnitzereien und Intarsien sind bis heute Luxuserzeugnisse geblieben. Die geschwungenen Rokokomöbel im Schloss von Versailles ebenso wie die in den 1990er-Jahren schon fast obligaten Ahorn-Wandverkleidungen in Schweizer Bankfilialen sollen nicht Gemütlichkeit, sondern Exklusivität ausstrahlen.

Bei den Exponenten der frühen Moderne löste der Baustoff Holz zwiespältige Reaktionen aus. Einerseits kam er den Forderungen nach Materialgerechtigkeit, Modularität, menschlichem Massstab, Rationalisierung, Standardisierung und Vorfabrikation entgegen. Als organisch gewachsener Baustoff weist Holz Materialeigenschaften auf, die seine Anwendungsbereiche weitgehend vorgeben: Die Belastbarkeit längs zur Faser ist gross, quer zur Faser dagegen klein, der Wuchs des jeweiligen Baumes bestimmt den Massstab der Bauteile, für deren Herstellung sich eine standardisierte Vorfertigung geradezu anbietet. Traditionelle Fügungstechniken – Dübel, Keile, Federn, Schwalbenschwänze – erfordern eine hohe Präzision im Detail, das Postulat nach einer Ablesbarkeit der Konstruktion ist naturgemäss erfüllt. Andererseits lässt der Holzbau nur bedingt jene Abstraktion zu, die Le Corbusier für sein «jeu savant, correct et magnifique des volumes» postuliert.[4] Henry-Russell Hitchcock und Philip Johnson empfehlen denn auch entgegen aller konstruktiven Logik, bei Holzverkleidungen möglichst alle Überlappungen, Fugen und Umrahmungen zu vermeiden, weil diese die Kontinuität der Oberfläche unterbrechen könnten.[5]

Die Verunsicherung, die diese Mehrdeutigkeit auslöst, ist bis heute spürbar. Holz steht für das Urtümliche, Traditionelle, Natürliche, aber auch für kunstvolle Fügung und perfekte Detaillierung. Es gilt als «ehrliches» Material, bei dem sich Form und Konstruktion gegenseitig bedingen; in einer Zeit des formalen Reichtums – und zuweilen auch der Beliebigkeit – ist die Versuchung, die Form durch die Konstruktion gleichsam legitimieren zu wollen, zweifellos gross. Gleichzeitig ist Holz aber auch das Material der Anstriche und Abdeckleisten, die jeder «unverfälschten» formalen Radikalität zuwiderlaufen; in dieser Hinsicht ist es ein Material der Kompromisse. Seine Interpretationen sind widersprüchlich, häufig emotional bedingt und meist moralisch konnotiert. In den letzten Jahren ist ein zusätzlicher Aspekt hinzugekommen: Als nachwachsender Rohstoff, der zudem CO2 bindet, wurde Holz als ökologisch sinnvolles Baumaterial wiederentdeckt. Industrielle Holzwerkstoffe mit homogenisierten Materialeigenschaften, Fortschritte im Bereich mehrgeschossiger Konstruktionen und neue Oberflächenbehandlungen bieten fast unbeschränkte Einsatzmöglichkeiten, die Holz zu einer attraktiven Alternative zu Stahl oder Beton machen. Doch auch bei diesem scheinbar rationalen Umdenken macht sich eine moralische Komponente bemerkbar – etwa, wenn Holz in «ökologischen» Bauten trotz vergleichsweise schlechter Wärmespeicherkapazität als thermischer Puffer eingesetzt wird.

Variationen in Rot

Die Auseinandersetzung mit den kulturellen Referenzen, Materialeigenschaften und technischen Möglichkeiten von Holz prägt die Entwürfe von Marianne Burkhalter und Christian Sumi seit den Anfängen ihrer Zusammenarbeit in den 1980er-Jahren. Dabei nehmen sie sich immer wieder die Freiheit heraus, gewohnte Wahrnehmungsmuster über den Haufen zu werfen: Ihre Annäherung an das Material ist von einer sorgfältig durchdachten Freude am Experiment geprägt. Auch wenn gewisse Themen regelmässig wiederkehren, ist doch die räumliche, akustische, taktile und visuelle Wahrnehmung des Holzes stets auf die jeweilige Bauaufgabe zugeschnitten. Im Folgenden soll anhand verschiedener Projekte von Burk­halter Sumi ein Aspekt hervorgehoben werden, dem sie seit je besondere Aufmerksamkeit widmen: die Beschaffenheit der Oberfläche.

Bereits einer ihrer ersten Bauten, der Forstwerkhof in Turbenthal (1993), hat mit seiner feinfühligen Dialektik von Natur und Künstlichkeit für Aufsehen gesorgt (Bild 1). Er beruht auf einem Holzbausystem, das die Architekten im Auftrag des Hochbauinspektorats Zürich für vier Werkhöfe des Forstamtes entworfen hatten. Der Baukasten besteht aus drei Teilen, die je nach Topografie und betrieblichen Anforderungen zusammengesetzt werden können: einem Administrationstrakt, einer Garage und einer offenen Halle. Letztere besteht in Turbenthal hauptsächlich aus einem grossen Dach, unter dem der Waldboden als Chaussierung weiterläuft. Getragen wird es von grob entrindeten Stämmen in bester Laugier-Tradition; allerdings sind sie nicht in den Boden gerammt, sondern stecken, dem zeitgenössischen Stand der Technik entsprechend, in Stahlschuhen. In Kontrast dazu steht die präzise, rot gestrichene Ausfachung aus horizontalen Brettern, ein diskretes Bekenntnis zur textilen Wand Gottfried Sempers. Beim Dach durchstossen die Unterspannungen der stählernen Träger die abstrakt wirkende, ebenfalls rote Holzuntersicht. Diverse Schattierungen dieses Rots tauchen in späteren Projekten von Burkhalter Sumi wieder auf. Der Erweiterungsbau des Hotels Zürichberg in Zürich (1995, Bild 2), der Pavillon Wildpark Langenberg in Langnau am Albis (1998), das Laubenhaus in Laufenburg (1996, Bild 3) oder die Wohnhäuser an der Wehrenbachhalde in Zürich (2004, Bild 4) sind nur einige Beispiele für das Wiederkehren einer Farbe, die zuweilen als Markenzeichen der Beiden betrachtet wird. Dabei beruht sie auf einer langen Tradition; das Ochsenblutrot historischer Fachwerkhäuser hat sich über die Jahrhunderte so weit zur Konvention etabliert, dass ausgerechnet dieser künstliche Anstrich als «natürlich» empfunden wird.

Täuschungen und Verfremdungen

Doch Burkhalter Sumi beschränken sich keineswegs auf Bekanntes. Ihre Frage nach der adäquaten Oberflächenbehandlung des Holzes ist immer auch eine Frage nach dessen hybridem Charakter als Natur- und Kunstprodukt: Dass Holz in aller Regel einen Witterungsschutz braucht, hat zwar mit seiner natürlichen Beschaffenheit zu tun, doch die vom Anstrich gebildete äusserste Haut ist immer eine künstliche. Die direkt am Zürichsee gelegene Wohnüberbauung Ziegelwies in Altendorf (2002, Bild 5) ist in einem matten Grün gestrichen, das einerseits Assoziationen an Bootshäuser weckt, anderseits in einem Spannungsverhältnis zur umgebenden Vegetation steht. Leuchtend grün dagegen sind die Holzstützen, die die Terrasse des Restaurants «Rigiblick» in Zürich (2006, Bild 6) tragen: Gerade in unmittelbarer Nachbarschaft zum Wald erscheinen sie besonders artifiziell.

Einen speziellen Verfremdungseffekt erproben Burkhalter Sumi mit metallfarbigen Anstrichen, mit denen sie seit einigen Jahren – nicht nur in Zusammenhang mit Holz – experimentieren (vgl. TEC21 44/2003, Dossier Farbe). Ein frühes Beispiel ist die selbsttragende Ständerholzfassade des Expo-Pavillons Onoma in Yverdon-les-Bains (2001, Bild 7): Die gefaltete, glänzende Oberfläche ist mit einer umgekehrten Drehkartei, einem Akkordeon oder einem plissierten Seidenstoff verglichen worden. Die Deckenstirnen der Wohnüber­bauung Ziegelwies, die Fensterumrahmungen des Holzpavillons beim Stockalperpalast in Brig (2002, Bild 8) reflektieren das Licht; je nach Sonnenstand treten sie in den Vordergrund oder lösen sich optisch auf. Beim Doppelwohnhaus in Küsnacht (2002, Bild 11) kommt eine weitere Steigerung des Verfremdungseffektes hinzu: Das ganz in Silber gehaltene Gebäude evoziert jenen silbrig schimmernden Grauton, den unbehandelte Holzfassaden mit der Zeit annehmen; die Oberflächenbehandlung erweist sich als Verwandte eines durch Witterungseinflüsse herbeigeführten Urzustands. Ein bemerkenswertes Pendant bildet ein Einfamilienhaus in Erlenbach (2005, Bild 12): Die feingliedrige Holzlattung der Fassade wirkt naturbelassen, ist aber als Schutz gegen Alterungsprozesse mit einem durchsichtigen Nano-Anstrich behandelt und entpuppt sich damit als Hightech-Produkt.

Innenräume

Im innenarchitektonischen Bereich schliesslich lösen sich die Grenzen zwischen Natur und Künstlichkeit vollends auf. Gerade im Innenausbau bieten sich Holzwerkstoffe als vergleichsweise günstige, homogene und einfach zu bearbeitende Materialien an. Nicht zuletzt aus Kostengründen herrschen furnierte Spanplatten oder gespritztes MDF vor, während Naturholz allenfalls als Parkett zum Einsatz kommt. Die Gestaltungsfreiheit, die zeitgenössische Holzbearbetungstechniken mit sich bringt, nutzen Burkhalter Sumi, um atmosphärische Wirkungen zu generieren. Das Restaurant und Bar «Werd» in Zürich (2007, Bild 10) leuchtet in Grün und Rot; im Gegensatz dazu lassen schwarze und platinfarbene Einbauten in einem soeben bezogenen Loft in Zürich (Bild 9) die Raffinesse des bürgerlichen Wohnens in moderner Form wieder auferstehen. Zelebriert wird nicht das Material, sondern die Raumstimmungen, die dank seiner diversen Aggregatzustände erzeugt werden können. «Letztlich geht es um den stilsicheren Umgang mit Oberflächen», bemerkt Christian Sumi – und bezieht sich ungeachtet aller modernen Polemiken auf Gottfried Semper.

TEC21, Mo., 2008.03.10



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tec21 2008|11 Werkstoff Holz

31. Juli 2007Judit Solt
db

Virtuelle Kuben und echtes Leben

Nicht alle Gebäude, die den Max-Bill-Platz in Neu-Oerlikon säumen, erfüllen den Anspruch einer Platzrandbebauung – was auf mangelnde Weitsicht in einem frühen Stadium der Planung zurückzuführen ist. Dank kommerzieller Erdgeschossnutzungen und einer kunstvollen Gestaltung entwickelt sich der Platz dennoch zum Mittelpunkt des neuen Stadtteils.

Nicht alle Gebäude, die den Max-Bill-Platz in Neu-Oerlikon säumen, erfüllen den Anspruch einer Platzrandbebauung – was auf mangelnde Weitsicht in einem frühen Stadium der Planung zurückzuführen ist. Dank kommerzieller Erdgeschossnutzungen und einer kunstvollen Gestaltung entwickelt sich der Platz dennoch zum Mittelpunkt des neuen Stadtteils.

Der Max-Bill-Platz soll zum Zentrum von Neu-Oerlikon werden. Geografisch ist er es schon: Er liegt an der Schnittstelle zwischen dem Binzmühle-Quartier beim Bahnhof Oerlikon und dem weiter nordwestlich gelegenen Birch-Quartier. Er ist auch der einzige Platz im neuen Stadtteil, der einen urbanen Charakter besitzt, denn bis zu seiner Fertigstellung im November 2006 bestimmten vor allem monofunktionale Großbauten, menschenleere Straßen und frisch bepflanzte Parks das Bild des Quartiers. Doch wurde offensichtlich bereits jetzt aus den Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit gelernt: Die Platzbebauung weist eine gemischte Nutzung auf, in den Erdgeschossen sind Läden und Restaurants untergebracht und der Platz selbst hat dank Hartbelag, Sitzgelegenheiten und Schattenspendenden Föhren eine hohe Aufenthaltsqualität. Der Ort könnte also in der Tat zum belebten Zentrum Neu-Oerlikons werden. Erste Ansätze für eine positive Entwicklung sind bereits zu sehen – unübersehbar sind aber leider auch die Chancen, die in einem frühen Stadium der städtebaulichen Planung verpasst worden sind und die auch die beste Platzgestaltung nicht mehr wettmachen kann.

Ein Platz entsteht
Die dreieckige Form des Platzes ist durch die Geometrie der beiden angrenzenden Quartiere bestimmt. Das Binzmühle-Quartier basiert auf einem orthogonalen Raster, dessen Hauptrichtung parallel zu den Bahngleisen verläuft. Das Birch-Quartier ist ebenfalls orthogonal angelegt, seine Orientierung jedoch um etwa 30 Grad verdreht. Beide Strukturen gehen auf die Industrieanlagen zurück, die vor wenigen Jahrzehnten an diesem Ort standen – und wie diese bilden auch die neuen Gebiete Inseln, die in sich schlüssig sind, aber wenig Bezug zu ihren Nachbarn aufbauen. Zwischen den zwei Quartieren verläuft die Binzmühlestraße; entlang dieser Achse treffen die beiden rechteckigen Raster aufeinander und bilden dreieckige Restflächen, eine davon ist der Max-Bill-Platz.

Gute Seiten, schlechte Seiten
An sich bietet dieses unkontrollierte Aufeinanderprallen zweier regelmäßiger Geometrien gestalterisches Potenzial. Leider wurde es bei der Planung des ersten Gebäudes, das hier erstellt wurde, sträflich vernachlässigt. Das 1998–2001 von atelier ww realisierte »Center Eleven« liegt an der Binzmühlestraße und bildet somit die längste Kante des Platzes – präsentiert ihm jedoch seine Rückfassade. Der Bau umfasst ein Einkaufszentrum mit Baumarkt, Büros, Gewerbe, ein öffentliches Parkhaus und 86 Mietwohnungen. Der »multifunktionale Komplex« mit Zentrumsfunktion ist eine Welt für sich. Zwar öffnet er sich mit einem Vorplatz zum Binzmühle-Quartier, gegenüber der stark befahrenen Binzmühlestraße schottet er sich jedoch ab: Der untere Bereich der Fassade ist weitgehend geschlossen, und hinter dem Bandfenster im zweiten Obergeschoss sind die Holzgitter erkennbar, welche die Kellerabteile der darüber liegenden Wohnungen voneinander trennen. Diese ablehnende Haltung ist insofern verständlich, als zum Zeitpunkt des Entwurfs Neu-Oerlikon noch hauptsächlich aus Industrieruinen und Baustellen bestand; sie lässt jedoch wenig Weitblick erkennen. Trotz sorgfältiger Gestaltung in dunklem Klinker ist keine tristere Platzfassade denkbar.
Jenseits der Straße ist die Situation anders. An der Westseite des Platzes steht das Wohn- und Geschäftshaus »Max-Bill-Platz«, das ebenfalls von atelier ww entworfen und zwischen 2004 und 2006 erbaut wurde. Ursprünglich war an dieser Stelle das »Grand Casino Zürich« geplant, das jedoch keine Lizenz erhielt – was nachträglich als Glück zu werten ist. Der Neubau ist um zwei Höfe organisiert. Der größere Hofrand dabei vom Platz zurückversetzt. In den Obergeschossen enthält er eine Seniorenresidenz mit Pflegeabteilung, im Erdgeschoss sind die öffentlichen Bereiche der Institution sowie ein Kindergarten untergebracht. Der Hof selbst ist an zwei Stellen offen, so dass eine Gehverbindung zwischen Birchstraße und Oerlikerpark entsteht. Der kleinere Hofrand definiert die Westkante des Platzes. Das gesamte Erdgeschoss inklusive Hof wird von Läden und einem Restaurant genutzt; auf der Ebene des ersten Obergeschosses liegt der halbprivate Hof, welcher zu den insgesamt 48 Wohnungen im oberen Geschoss gehört. Das Gebäude reagiert differenziert auf die angrenzenden Außenräume, die Fassadengestaltung ist gelungen und die in Zusammenarbeit mit dem Künstler Harald F. Müller entwickelte Farbgebung – die Außenfassaden sind perlgrau verputzt, die Innenfassaden leuchten gelbgrün – setzt willkommene Akzente.
Die Nordseite des Platzes schließlich prägt das 2006 bezogene Wohn- und Geschäftshaus »Accu« von Voelki Partner Architekten. Auch hier handelt es sich um einen Block mit zwei Höfen und publikumswirksamen Nutzungen im Erdgeschoss. An der südöstlichen Ecke gibt es ein Hotel, zum Platz hin Läden und Gastronomiebetriebe, in Richtung Oerlikerpark im Westen beziehungsweise Wahlenpark im Norden weitere Läden, Gewerbe und Dienstleistungen. Die Wohnungen richten sich an ein heterogenes Publikum: Familien, kinderlose Berufseinsteiger und so genannte Kosmopoliten, die mit Maisonnetten im Attikabereich angelockt werden sollen. Ungewöhnlich sind die Wohnungen auf der Platzseite, wo in Kooperation mit der Studentischen Wohngenossenschaft Zürich (Woko) Wohnungen für Studierende erbaut wurden. Jeweils zwei Einheiten werden über eine zum Platz orientierte Loggia erschlossen, die auch als gemeinsamer Außenraum fungiert. Damit haben sich die Investoren bewusst um eine soziale Durchmischung und Belebung des Gebiets bemüht – unter anderem auch, um eine langfristig gute Performance zu sichern: Selbst im von chronischer Wohnungsnot geplagten Zürich ist es in den letzten Jahren schwieriger geworden, in Neu-Oerlikon Wohnungen zu vermieten.

Komplexe Ordnung
Der Max-Bill-Platz wurde vom Bildhauer Christoph Haerle und der Architektin Sabina Hubacher gestaltet, die auch für den Oerlikerpark verantwortlich zeichnen. Der Entwurf leitet sich aus den Gesetzmäßigkeiten der beiden angrenzenden Quartiere ab und thematisiert deren Zusammentreffen; gleichzeitig definiert er eine starke Mitte für das heterogen gesäumte Dreieck. Die dafür eingesetzten Mittel sind ebenso kunstvoll wie preisgünstig: Der Bodenbelag besteht aus gewöhnlichen rechteckigen Zementplatten, die jedoch unterschiedlich gefärbt sind – entweder einheitlich weiß, grau oder schwarz, oder aber diagonal in zwei unterschiedlich farbige Hälften unterteilt. Die Platten sind jedoch so verlegt, dass aus diesen einfachen Vorgaben ein außerordentlich komplexes Ergebnis resultiert.
Das Platzmuster ergibt sich aus der Weiterführung und Überlagerung der orthogonalen Geometrien des Binzmühle- und des Birch-Quartiers. Die Dreifarbigkeit des Plattenmusters wiederum lässt sich auf ein Grundmuster der Platonischen und Euklidischen Geometrie zurückführen, bei dem es um die räumliche Darstellung des Kubus im Sechseck geht: Durch die Kombination zweifarbiger Platten entstehen Rhomben, die zusammen mit den einfarbigen Rechtecken in der Fläche liegende, aber räumlich wirkende Kuben zeichnen. Dieses geometrische Phänomen findet sich bereits in frühen Mosaikböden. Und nicht zuletzt hat es auch Max Bill fasziniert, nach dem der Platz benannt ist und in dessen Werk die Analyse von geometrischen Formen und Körpern eine zentrale Rolle spielt. Im Gegensatz zu den strengen, geschlossenen Systemen der Konkreten Kunst weist der Platz jedoch freie Elemente auf; runde, von Sitzbänken umgebene Pflanzpunkte mit wildwüchsigen Föhren, die über den Platz bis an die Birchstraße hinausgreifen.
Für den unaufmerksamen Spaziergänger ist der Platz einfach ein anregender Ort, wo sich von jedem Standpunkt aus betrachtet irgendwo Kuben aus dem Boden zu erheben scheinen. Er ist aber auch ein Konzentrat räumlicher, zeitlicher und thematischer Bezüge – und mit dieser inhaltlichen Dichte, die sich nicht auf Ausnutzungsziffern beschränkt, eine echte Bereicherung für Neu-Oerlikon.

db, Di., 2007.07.31



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Max-Bill-Platz



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db 2007|08 Alltagswege

02. März 2007Judit Solt
db

Innere Einkehr

Das ehemaligen Kloster dient heute als Ort der Begegnung und als Seminarhotel. Die sehr reduzierte Gestaltung der Hotelzimmer atmet den Geist von Mönchszellen. Ein besinnlicher Ort, um der Hektik des Alltags zu entfliehen.

Das ehemaligen Kloster dient heute als Ort der Begegnung und als Seminarhotel. Die sehr reduzierte Gestaltung der Hotelzimmer atmet den Geist von Mönchszellen. Ein besinnlicher Ort, um der Hektik des Alltags zu entfliehen.

Die Kartause Ittingen zählt zu den wichtigsten Kulturdenkmälern im Thurgau: Die Gründung durch die Augustiner geht auf das Jahr 1150 zurück. 1461 wurde die Anlage an den Kartäuserorden verkauft, dem sie fast vier Jahrhunderte lang als Kloster diente. Die ehrwürdige Bausubstanz – Mönchsklausen, Refektorium, Kapitelsaal, Sakristei und Klosterkirche – ist bis heute weitgehend erhalten geblieben, obwohl die Kartause 1848 säkularisiert und später als privater Landwirtschafts-, Weinbau- und Weinhandelsbetrieb genutzt wurde. In den letzten zwei Jahrzehnten hat das ehemalige Kloster als Seminarzentrum neue Bekanntheit erlangt; zurzeit umfasst der Betrieb zwei Hotels mit insgesamt 67 Betten, ein Restaurant und 21 Räume für Workshops und Kongresse. Weiterhin gibt es ein landwirtschaftliches Gut mit Käserei und Weinbau, einen Laden, ein Heim und einen Werkbetrieb für psychisch und geistig Behinderte, ein evangelisches Begegnungs- und Bildungszentrum sowie zwei Museen im inneren Klosterbezirk.

Verantwortlich für den ungewöhnlichen Nutzungsmix ist die Stiftung Kartause Ittingen, welche das Kloster 1977 gekauft und in den folgenden Jahren restauriert hat. Das Betriebskonzept beruft sich auf die »an diesem Ort gelebten klösterlichen Werte wie Fürsorge, Bildung und Begegnung, Besinnung, Spiritualität und Naturverbundenheit«. Damit hat die Stiftung insbesondere in Bezug auf den Seminarbetrieb ökonomische Weitsicht bewiesen. Schließlich ist die Kartause Ittingen keineswegs das einzige Seminarzentrum der Ostschweiz, die Region ist reich an ebenso idyllisch gelegenen Konkurrenten: Auf diesem gesättigten Markt stellt Geschichte ein nicht zu vernachlässigendes Verkaufsargument dar. Mit viel Sorgfalt widmet sich die Stiftung deshalb der Erhaltung und Aufwertung der historischen Bausubstanz; dass diese nicht – wie es nur allzu oft geschieht – zur kommerziellen Kulisse verkommt, sondern mit viel Sensibilität gepflegt wird, kann den Verantwortlichen nicht hoch genug angerechnet werden.

Ein Ganzes aus alt und neu

Jüngstes Beispiel dieses baukulturellen Engagements ist der Umbau des Unteren Gästehauses. Das Ökonomiegebäude aus dem 18. Jahrhundert ist seit seiner Entstehungszeit laufend den neuesten Bedürfnissen der Landwirtschaft angepasst worden. Zwischen 1977 und 82 erfolgte die Umnutzung zu einer einfachen Herberge mit Mehrbett-Zimmern, Etagenbädern und Seminarräumen; Projektarchitekten waren damals Esther und Rudolf Guyer, die im Auftrag der Stiftung während 25 Jahren für die baulichen Interventionen in der Kartause verantwortlich zeichneten. Mit der Zeit ging die Nachfrage nach bescheidenen Unterkünften indes kontinuierlich zurück. Es erfolgte der Beschluss, die Herberge in ein Seminarhotel neuesten Standards zu transformieren. Ausschlaggebend waren neben gestiegenen Komfortansprüchen auch betriebliche Überlegungen: Durch den Umbau sollte ein gleichwertiges Pendant zum Oberen Gästehaus entstehen, das bereits als Seminarhotel diente. Es galt, die beiden Hotels zu einem einzigen Betrieb zusammenzufassen und dank einheitlicher Übernachtungspreise mehr Flexibilität bei der Auslastung zu erzielen. Den 2001 unter drei Architekturbüros ausgeschriebenen Studienauftrag – Esther und Rudolf Guyer gingen damals in Pension – konnten Harder und Spreyermann für sich entscheiden.

Heute präsentiert sich das Untere Gästehaus, das eine markante Ecke der Klosteranlage bildet, als kraftvolles Volumen mit schwerem Dach. Den Architekten ist es gelungen, die nach vielen Umbauten etwas chaotische Erscheinung des Gebäudes zu vereinheitlichen. Die Erker aus den achtziger Jahren, die das Dach durchstießen und die Fassade dominierten, wurden entfernt und neue Öffnungen hinzugefügt. Dabei vermieden Harder und Spreyermann jede kontrastierende Gegenüberstellung von Alt und Neu. So ist etwa das kleine Fenster unter dem Quergiebel kaum als neu zu identifizieren; und obschon das Schiebefenster im Foyer oder das Panoramafenster im Dachgeschoss unverkennbar aus unserer Zeit stammen, zeigen sie die gleichen massiven Laibungen wie auch die im Original erhaltenen Tore und Fenster. Trotz teilweise sehr unterschiedlicher Formate bilden alte und neue Öffnungen eine harmonische Komposition, die den muralen Charakter des Gebäudes unterstreicht.

Luxuriöse Kargheit

Auch im Inneren werden längst vergessene Qualitäten des Altbaus wieder spürbar. Die Dimension des ursprünglich zusammenhängenden Raumvolumens, das durch spätere Einbauten in funktional unabhängige Teile getrennt worden ist, wird durch einen haushohen Treppenturm wirkungsvoll inszeniert. Wie eine riesige Skulptur nimmt der Turm die Mitte des Hauses ein: Im Erdgeschoss öffnet er sich zum Foyer, in den beiden Obergeschossen erweitert er sich zu verschiedenen Aufenthaltsbereichen, im Dachgeschoss kulminiert er in einer großen Halle unter dem Quergiebel, die wiederum zur bestehenden Kaskadentreppe der Aula führt. Der Treppenturm leistet indes mehr als die Herstellung räumlicher Zusammenhänge: Dank den künstlerischen Interventionen von Harald F. Müller und Ernst Thoma fungiert er zugleich auch als Zentrum eines Farb- und Klangraumes, in dem sich die Geschichte der Kartause in abstrahierter Form niederschlägt. Harald F. Müller hat zwei Wände des Gästehauses auf der Basis einer Farbanalyse der historischen Gebäude gestaltet. Die Stirnwand des Foyers ist türkisblau, während die über drei Geschosse aufragende Wandscheibe des Treppenturms in einem kräftigen Rot leuchtet, dessen Reflexionen die weiß gekalkten Betonoberflächen in wechselnde Farbschattierungen tauchen. Die Klanginstallation von Ernst Thoma wiederum zeichnet mit kurzen, unvermittelt durch die Räume hallenden Klangstücken den Tagesrhythmus der Mönche nach. Selbst die zurückhaltenden Beschriftungen des Grafikers Urs Stuber sind von strenger Schlichtheit.

Die moderne Interpretation klösterlicher Motive prägt auch die Gästezimmer. Die Räume sind von der Einsamkeit, Konzentration und Kargheit der Kartäuserzellen inspiriert: Weiße Wände, Böden aus beige-grauem Hartbeton, als Möbel gibt es lediglich ein Bett und einen Stuhl aus massivem Holz. Dennoch wirken die Zimmer nicht unterkühlt: Die ungewohnte Leere lässt die Sinnlichkeit der Materialien umso deutlicher hervortreten. In aller Ruhe gleitet der Blick, einmal nicht durch unzählige Alltagsgegenstände abgelenkt, über die ausgewogenen Linien des Raums und der Möbel. Manchen Gast mag die Ordnung des Zimmers zu einer Ordnung der eigenen Gedanken inspirieren. Auf jeden Fall steht die heitere, fast meditative Ruhe der »Zellen« in erholsamem Kontrast zu dem, was die meisten wohl vom Reisen oder womöglich auch von zu Hause kennen: Reizübersättigung und Chaos. Dennoch verfügen die Zimmer über alle Annehmlichkeiten eines Seminarhotels. Ein frei im Raum stehender Holzkubus verbirgt Garderobe, Dusche, WC, Waschbecken, Ablagen und Minibar; ein Flatscreen-Fernseher und eine Tischplatte können herausgeklappt werden. So einfach der minimalistische Block auf den ersten Blick wirkt, so kunstvoll ist die Infrastruktur darin integriert. Dies mag als Widerspruch zur scheinbar mönchischen Einfachheit der Zimmer gelesen werden – viel eher aber als Brückenschlag in vergangene Jahrhunderte: Mit ebenso pragmatischer Virtuosität waren die hölzernen Bettnischen in den Klausen der Kartäuser verborgen.

Die Architektursprache von Harder und Spreyermann ist präzise und vielschichtig, selbstbewusst und rücksichtsvoll. Über 800 Jahre Kulturgeschichte sind ein wertvolles USP für ein Seminarhotel – und eine hohe Messlatte für bauliche Interventionen. Diesbezüglich ist das Untere Gästehaus der Kartause Ittingen ein Glücksfall: Alt und Neu ergänzen sich harmonisch, der Bezug auf klösterliche Motive wirkt raffiniert und selbstverständlich.

db, Fr., 2007.03.02



verknüpfte Bauwerke
Unteres Gästehaus Kartause Ittingen



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db 2007|03 Wohlfühlen außer Haus

Profil

2000 - 2007 Redaktorin ARCHITHESE
Seit 2007 Chefredaktorin TEC21 – Schweizerische Bauzeitung

Lehrtätigkeit

Referate, Gastkritiken, Seminare an verschiedenen Hochschulen
ehem. Dozentin Architekturkritik ETH Zürich
ehem. Dozentin Architekturtheorie HTW Chur

Mitgliedschaften

Mitgliedschaften
Schweizerischer Ingenieur- und Architektenverein SIA
Fachjournalistin BR
Natur- und Heimatschutzkommission des Kantons Zürich
Vorstand Haus der Farbe

Auszeichnungen

1. Preis, Award Verband Schweizer Fachjournalisten SFJ, 2019

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