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07. Juni 2019Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

«Wir müssen seinem Werk Sorge tragen»

Eugen Brühwiler verband eine enge Freundschaft mit Christian Menn. Clementine Hegner-van Rooden, die Menn ebenfalls persönlich kannte, hat mit ihm über seinen Kollegen und Freund gesprochen.

Eugen Brühwiler verband eine enge Freundschaft mit Christian Menn. Clementine Hegner-van Rooden, die Menn ebenfalls persönlich kannte, hat mit ihm über seinen Kollegen und Freund gesprochen.

TEC21: Herr Brühwiler, was lässt uns Christian Menn neben Entwürfen, Ideen und Konzepten als sein Vermächtnis für die Baukultur zurück?
Eugen Brühwiler: Christian Menn pflegte einen intensiven Austausch mit Berufskollegen. Er empfand die Gespräche als bereichernd, wenn er mit interessantem Fachwissen konfrontiert war. Diese Gesprächskultur und seine Offenheit für Kritik nehme ich mit. Ich werde sie pflegen und dadurch hoffentlich wiederum Fachleute zum mündlichen Austausch und zur Kritik von Projekten und Bauwerken ermuntern.

TEC21: Sie haben viele Gespräche mit ihm geführt. Wie kam es zu dieser kollegialen Freundschaft?
Eugen Brühwiler: Im Mai 1998 hatte er mir vorgeschlagen, mit ihm sein 1986 erschienenes Buch «Stahlbetonbrücken» zu überarbeiten und um Aspekte der Dauerhaftigkeit und der Erhaltung zu erweitern. Dieser überraschende Vorschlag war mir eine grosse Ehre, die ich als Chance verstand – damals war ich gerade drei Jahre als Pro­fessor für Bauwerkserhaltung an der ETH Lausanne tätig. Menn und ich hatten 1993 beim Brückenwett­bewerb für den Doppelspurausbau des Wipkinger­viadukts zusammengearbeitet. Er war Jurymitglied und ich als Brückeningenieur bei den SBB. Bei der Erarbeitung der dritten Auflage, die 2003 erschienen ist, hat mir Menn viel mitgegeben. Ich war beeindruckt, wie er bei seinen Ausführungen oft Skizzen erstellte – immer mit Kugelschreiber – und die Statik und das Kräftespiel seiner Entwürfe mit Pfeilen für Zug- und Druckkräfte einfach und klar erklärte. Diese Erfahrung hat meine Tätigkeit als Hochschullehrer, Forscher, beratender Ingenieur und Experte stark beeinflusst.

TEC21: Inwiefern?
Eugen Brühwiler: Es ist ein Aspekt, den wohl viele seiner Gesprächspartner mitnahmen: sein Geschick, dem Entwurf von Brücken und dem Verständnis, wie eine Brücke «funktioniert», eine hohe Gewichtung beizumessen. Auf dieses wesentliche Kriterium, das Menn im Brückenentwurf vertrat, konzentriert sich unser Fachbuch; entwurfsspezifische und konstruktive Aspekte von Stahlbetonbrücken. Denn die grössten Mängel im Brückenbau betrafen und betreffen den technischen und gestalterischen Entwurf. Einfache Modelle schaffen Klarheit. Detailberechnungen behandelten wir nicht, da sie meist nur von sekundärer Bedeutung sind und weder auf Qualität noch auf Wirtschaftlichkeit einen nennenswerten Einfluss haben. Das kreative Denken steht im Vordergrund.

TEC21: Bemerkenswert ist, dass Sie das Kapitel über den Brückenentwurf vollständig umgeschrieben haben. Hinterfragte Menn seine Entwurfskriterien?
Eugen Brühwiler: Diese Überarbeitung hat mich sehr überrascht, da ich davon ausging, dass Menn aufgrund seiner grossen Entwurfserfahrung eine konsolidierte Haltung aufweisen würde. Aber nein, er vertrat die Haltung, dass alles (noch) besser gemacht werden kann. Noch vor wenigen Jahren sagte er mir, dass dieses Kapitel erneut überarbeitet werden sollte.

TEC21: Das Buch nimmt keinen Bezug auf Normen, bringt keine Hintergrundinformation zu Normartikeln …
Eugen Brühwiler: Auch das widerspiegelt eine grundlegende Haltung von Menn: Nicht das sture Einhalten der Norm, sondern der kreative Entwurf nach den Kriterien der «Structural Art» schafft gute Ingenieurbaukunst. Allerdings entspricht dies nicht mehr der gegenwärtigen Arbeitsweise. Der Bauingenieur führt seine Berechnungen in einem streng normierten Rahmen aus. Ihm bleibt kaum Zeit, und es fehlen oft Anreize, um ein Projekt intensiv zu bearbeiten und zu verbessern. Die Digitalisierung des Ingenieurwesens wird die Tragwerksanalyse und die rechnerischen Normnachweise beeinflussen – und hoffentlich ba­na­lisieren. So könnten die Ingenieure wieder ver­mehrt Rechenergebnisse detailliert beurteilen und Normvorschriften nicht buchstabengetreu, sondern projektbezogen interpretieren. Dies setzt allerdings solide Kenntnisse voraus, wie ein Brückentragwerk funktioniert. Deshalb werden die Methodik von Menn und Fachbücher in Zukunft wieder einen wichtigeren Stellenwert erhalten.

TEC21: Menns Meinung, dass Ingenieurbaukunst das Ergebnis von Innovation, Kreativität und Ideenreichtum ist – und nicht etwa von Normen und Berechnungen –, hält dann in die Praxis Einzug?
Eugen Brühwiler: Zu viele Nachweise und Detailberechnungen lenken vom Wesentlichen ab. Sie lähmen die Fantasie und Kreativität der Bauingenieure. Dies gilt auch bei bestehenden Brücken, die oft nur stur «nachgerechnet» und nicht wirklich überprüft werden. Insofern ist zu hoffen, dass eine Neuausrichtung der Arbeitsmethodik der Ingenieure stattfinden wird, wie Menn dies immer forderte.

TEC21: Trotz durchdachter Entwürfe mussten die meisten Stahlbetonbrücken von Menn bereits nach 20 Jahren Betriebsdauer instand gesetzt werden. Weshalb?
Eugen Brühwiler: Die meisten seiner Brücken wurden in einer Zeit gebaut, als die Kenntnisse über die Dauerhaf­tigkeit von Stahlbeton rudimentär waren und noch keine Tausalze für die Schnee- und Eisräumung verwendet wurden. Entsprechend zeigten die der ­Witterung und den Tausalzen ausgesetzten Betonober­flächen nach geraumer Zeit Bewehrungskorrosionsschäden und deutliche Zeichen einer Alkali-Aggregat-Reaktion auf. Dies betraf besonders die Ganterbrücke, die 2007/08 nach nur 27 Betriebsjahren instand gesetzt werden musste.

TEC21: Der Entwurf kann also nur so gut sein, wie die technischen Kenntnisse bekannt sind?
Eugen Brühwiler: Dem ist so. Menn gab es zu denken, dass seine und andere Brücken so früh instandsetzungsbedürftig waren. Er äusserte unaufgefordert seine Bedenken – wenn es sein musste bis zum Bundesrat wie im Fall des Felsenauviadukts. Ausserdem beschäf­tigte er sich als ETH-Professor in der Forschung mit der Dauerhaftigkeit von Stahlbeton und Methoden zur Instandsetzung von Stahlbetonbrücken. Er war beispielsweise fasziniert von der UHFB-Technologie und erkannte das Potenzial, die Betonbauweise damit dauerhaft zu verbessern. 2014/2015 wurde diese Technologie weltweit erstmals in einem Grossprojekt eingesetzt: für den Chillon-Autobahnviadukt am Genfersee (TEC21 47/2014 «Ultrahochleistungs-Faserbeton in der Praxis»). Während der Projektierungsphase hinterfragte Menn im persönlichen Gespräch mit mir Aspekte dieser Anwendung. Als 85-Jähriger half er mir so, diese Grossanwendung zu konsolidieren.

TEC21: Freunde, Kollegen und am Brückenbau Interessierte haben das Gespräch mit Menn gesucht. Dieser Austausch zwischen Jung und Alt ist heute nicht selbstverständlich.
Eugen Brühwiler: Menn war auch nach seiner Emeritierung aktiv, vor allem für Bauherrschaften und Ingenieurfirmen aus dem Ausland. Er hatte eine gewisse Präsenz in den Medien und erhielt Anfragen für Vorträge, denn er war bekannt für seine inspirierenden Brückenprojekte und markanten Aussagen. Er nahm diese Anfragen gern und pflichtbewusst an. Wenn es ihm zu viel wurde, bat er mich, ihn zu vertreten. Zudem wussten Berufskollegen seine zuweilen patriarchalisch formulierten Ratschläge zu schätzen, denn diese konnten durchaus Garant sein für ein ausgewogenes Brückenprojekt. Und nicht zuletzt war Menn von diesem Austausch mit jüngeren Kollegen abhängig, denn er musste seine Entwürfe mit Visualisierungen auf Papier bringen und mit statischen Berechnungen und Modellen nachweisen. Dies war nur durch eine enge Zusammenarbeit mit Ingenieurbüros ­möglich.

TEC21: Und wie reagierte er auf die Änderung des Berufsbilds der Ingenieure über die letzten Jahrzehnte?
Eugen Brühwiler: Sie war ihm keinesfalls gleichgültig – im Gegenteil. Er schrieb Leserbriefe, hielt Vorträge und verfasste Beiträge in den Medien. Er hat versucht, ­seiner Sorge um den Ingenieurberuf Ausdruck zu verleihen, indem er unermüdlich forderte, dass der Bauingenieur wieder die Federführung im ­Brückenentwurf übernimmt. Denn abgesehen von der Erfüllung der normierten, technischen Anfor­derungen, die vom Ingenieur immer garantiert werden muss, sind die Wahl des Tragsystems und die grundlegende Formgebung primär Ingenieur­aufgaben. Leider delegieren viele Ingenieure ihre Gestaltungsfragen an den Architekten, manchmal gar den gesamten Entwurf. Dadurch sind die Inge­nieure immer mehr zu Handwerkern, zu Ausführenden geworden, statt Führende im Bau­wesen zu bleiben.

TEC21: Solche Meinungen vertrat Menn durchaus energisch.
Eugen Brühwiler: Er sorgte sich um den Berufsstand. Ich interpretiere seine spontanen, manchmal zornigen Aussagen auch als Ohnmacht gegenüber Meinungen und Ansichten, an denen nicht zu rütteln war und die er als falsch erachtete. Hinzu kam, dass er oft daran zweifelte, dass seine Projektideen richtig verstanden würden. Er befürchtete, man würde sie verändern. Seine Leidenschaft für das Ingenieur­wesen war gross – ebenso sein Leidensdruck. Es hat mich be­eindruckt, wie auch ein anerkannter «Weltstar des Brückenbaus» andauernd um Anerkennung für seine Standpunkte kämpfen musste.

TEC21: Weshalb setzte er sich diesem Druck aus und plante und beriet bis ins hohe Alter?
Eugen Brühwiler: Es war sein Lebensstil. Der Brückenbau mit allen seinen Facetten war ihm wichtiger als manch anderes. Sogar an seinem 80. Geburtstagsfest dis­kutierten wir spät abends noch über die aerodynamische Funktionsweise von breiten, aufgelösten Fahrbahnträgern für Hängebrücken. Er ist nicht umsonst einer der grössten Brückenbauer, der viel kreiert, un­eigennützig gelehrt und realisiert hat, der viel nachgedacht und gründlich recherchiert hat – und eine klare Haltung hatte. Seine Verpflichtung an die intellektuelle Ingenieurleistung ist beispielhaft. Er scheint daraus Energie gewonnen statt verloren zu haben.

TEC21: Worin fand Menn seine Inspiration?
Eugen Brühwiler: Zu Beginn inspirierten ihn vor allem die Brücken von Robert Maillart. Er analysierte sie und bewertete sie kritisch. Aber auch die Brücken von Berufskollegen und die Brücken aus früheren Zeiten wie die Steinbrücken der Rhätischen Bahn erkundete er systematisch, um das Wesentliche des Entwurfs herauszukristallisieren. Dadurch gewann er eine reiche Kenntnis der Geschichte des Brückenbaus und der Ingenieurbaukunst.

TEC21: Von diesem Wissen profitierte er in seiner Entwurfsarbeit. Können auch wir davon profitieren?
Eugen Brühwiler: Auch wenn nicht alle seine Brückenentwürfe gebaut oder gemäss der ursprünglichen Entwurfsidee ausgeführt wurden, können aufmerksame Ingenieure aus diesem beachtlichen Werk wesentliche Impulse für ihre eigenen Entwürfe filtern. Es ist wichtig, dass wir ihm Sorge tragen, dann wird es nachhaltig bestehen bleiben und zu einem erfahrbaren Erbgut Schweizer Ingenieurbaukunst.

TEC21, Fr., 2019.06.07



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TEC21 2019|22-23 Christian Menn (1927-2018)

07. Dezember 2018Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Einzeleingriffe mit Gesamtkonzept

Während des aktuellen Umbaus des Kongresshauses und der Tonhalle in Zürich setzen sich die Ingenieure von Conzett Bronzini Partner eingehend mit zahlreichen Einzelbaustellen auseinander.

Während des aktuellen Umbaus des Kongresshauses und der Tonhalle in Zürich setzen sich die Ingenieure von Conzett Bronzini Partner eingehend mit zahlreichen Einzelbaustellen auseinander.

Mit der laufenden Instandsetzung wird das Kongresshaus in Zürich an die heutigen Anforderungen in puncto Gebäudetechnik, Tragwerk oder Brandschutz angepasst, um für die nächsten 50 Jahre nutzbar zu sein. Teile des Ensembles werden rückgebaut, um die Attraktivität des architektonisch einzigartigen Baus zu steigern. Die Innenräume werden heller, moderner, sicherer und flexibler nutzbar (vgl. «Intelligenter Schachzug»).

Auf Holz im Wasser fundiert

Der bestehende Gebäudekomplex besteht aus fünf einzelnen Baukörpern, die sich in unmittelbarer Nähe des Zürichsees befinden und von den Schwankungen des Seespiegels tangiert werden. Ehemals das frühere See­ufer bildend – der Bereich hin zum See wurde in den 1880er-Jahren nach Plänen von Stadtingenieur Arnold Bürkli aufgeschüttet –, ist der Baugrund setzungsempfindlich. Die Gebäude sind deshalb auf Pfählen fundiert.

Die 1895 erbaute Tonhalle und zu einem grossen Teil die Gebäudeerweiterung aus den 1930er-Jahren stehen auf Holz-, andere und später erstellte Bauteile auf Betonpfählen. Der Grundwasserspiegel folgt den Schwankungen des Seespiegels. Der tiefste Spiegel und damit die Fäulnisgrenze der Holzpfähle liegt etwa 0.60 bis 1.10 m über der bestehenden Gebäudesohle bzw. über den Pfahlköpfen. Die wichtigste Voraussetzung für eine lange Lebensdauer dieser Pfähle war somit gegeben.

Allerdings musste der konservierende Zustand auch während der Bauarbeiten bewahrt werden. Die Ingenieure von Conzett Bronzini Partner planten deshalb eine ausgeklügelte Grundwasserhaltung und ­detaillierte Bauetappen unter Terrain und Grundwasserspiegel wie Betonieren und Ausheben unter Wasser. So gewährleisteten sie, dass die bestehenden Holzpfähle auch bei über 5 m tiefen Baugruben, die für die Erweiterung nötig waren, nie trockengelegt und somit nie dem schwer kalkulierbaren Fäulnisprozess aus­gesetzt waren.

Um die Wasserdichtigkeit des Fundaments zu bewahren, wurden Eingriffe in die bestehenden Bodenplatten nur dort vorgenommen, wo es zum Beispiel für neue Kanalisationsrohre nicht anders ­möglich war. Die Nahtstellen sind auch nach der Bauphase zugänglich, falls nötig wird man nachinjizieren. Der durchdachte Grundbau ermöglichte es, die Fundamenterweiterungen inklusive zusätzlicher Pfahlgründungen nur durch punktuelle Eingriffe umzusetzen.

Tragwerk bewahren

Vergleichbar gingen die Ingenieure die Instandsetzung und Erweiterung des Tragwerks der Gebäude an. Um möglichst viel von der vorgefundenen Substanz zu ­bewahren und dennoch einen modernen Betrieb zu ­gewährleisten, sind bauliche Eingriffe bezüglich Gebäudetechnik, Brandschutz, Gebäudehülle und Erdbebensicherheit unumgänglich. Architekten und Ingenieure behandelten jeden Eingriff gesondert – allerdings mit einem ganzheitlichen, baustellenübergreifenden Ansatz. So sollte das vertikale Tragkonzept belassen werden. Dieses Vorgehen wird den denkmalpflegerischen und den wirtschaftlichen Interessen gerecht, denn ­zusätzliche Belastungen von bestehenden Bau­teilen werden vermieden und Tragreserven aus Nutz­last­veränderungen ausgenutzt.

Wo trotzdem neue Betonbauteile erforderlich sind, schliessen die Ingenieure sie monolithisch an die bestehende Konstruktion an. Dazu wird die Be­wehrung der angrenzenden Bauteile lokal freigelegt und mit den neuen Bauteilen vergossen. Beim Betonieren von neuen tragenden Wänden zwischen vorhan­denen Decken werden in der oben liegenden Decke ­Kernbohrungen erstellt, durch die der selbstverdichtende Beton gepumpt wird. Dieser in kurzen Etappen und mit relativ kleinen Baugeräten ausführbare Bauablauf ­berücksichtigt die örtlichen Gegebenheiten: ­Die mehrheitlich innen liegenden Bauteile sind meist nur über die bestehenden, teilweise schmalen Erschliessungswege zugänglich.

Eingriff für Eingriff klären

Bevor mit der Planung der Eingriffe begonnen werden konnte, war eine umfassende Aufnahme des Bestands erforderlich. Die Ingenieure lernten das Gebäude in seinen Details kennen, befassten sich mit seiner baulichen und statischen Geschichte, versuchten den Kräftefluss und die Konstruktion zu begreifen und analysierten das Potenzial. Über tausend Bestands­pläne unterschiedlicher Detaillierungstiefe und die statischen Berechnungen des Büros Maillart zum Kongresssaal­trakt geben Auskunft über die Tragkonstruktion der fünf Trakte. Andere Bauteile waren weniger gut dokumentiert, weshalb vorab viele Sondierungen nötig waren, um die Nachweise führen zu können.

Historischer Gartensaal neu eingebettet

In den 1980er-Jahren erfolgte mit der Erweiterung des Gartensaaltrakts inklusive Panoramasaal der radikalste Eingriff in den Bestand (vgl. «Bewegte Geschichte»). Diese Anbauten wurden nun abgebrochen, erhalten blieb der Gartensaal mit seiner filigranen Trag­konstruktion, ­dessen Untergeschoss und das Untergeschoss des Tagungszentrums. Die Neubauten mit einem Tragsystem aus Stahlbetonstützen mit aufgelagerten vorgespannten Unterzügen umschliessen die belassenen Gebäudeteile.

Die neuen Decken werden monolithisch mit dem Bestand verbunden und stabilisieren ihn so gleichzeitig horizontal. Vertikale Lasten werden kaum übertragen, um Zusatzbelastungen der vorgefundenen Stützen und deren Pfahlfundation möglichst zu ver­hindern. Das neue Restaurant auf der Terrasse über dem historischen Gartensaal wird als Stahlskelettbau konstruiert. Dieser Pavillon gibt die Lasten ausschliesslich auf die Decken und Stützen der Erweiterung ab, die auf Grossbohrpfählen oder, wo nicht anders möglich, auf Mikropfählen fundiert wurde.

Neu miteinander verzahnt

Die Verzahnung und die horizontale Stabilisierung erfolgten nicht nur rund um den Gartensaal, sondern über den gesamten Komplex. Dadurch wird dieser auch den aktuellen Anforderungen bezüglich Erdbebensicherheit gerecht. Die einzelnen Gebäudetrakte waren durch Dilatationsfugen getrennt. Sie fingen die längst abgeklungenen Bewegungen aus Temperaturänderungen im Gebäudeinnern und vor allem die Schwind- und Kriechvorgänge sowie die Setzungen der Fundamente auf.

Da im Erdbebenfall die Fugenweiten für ein unabhängiges Schwingverhalten der einzelnen Gebäudetrakte mit 1 bis 2 cm zu schmal sind, wurden sie im Bereich der Geschossdecken stellenweise vergossen. Die Gebäudetrakte verschmolzen miteinander und wurden insgesamt steifer. Zudem liessen die Ingenieure ohnehin notwendige Wände erdbebenstabil ausbilden oder vorhandene Betonwände lokal ertüchtigen.

Konservierte Stahlfachwerke

Verstärkt werden mussten auch die Dachkonstruktionen aus Stahl-Fachwerken, die die Tonhalle und das Kongresshaus überspannen. Die statische Nachrechnung zeigte, dass sie grundsätzlich genügend tragfähig und aufgrund des trockenen Raumklimas kaum korrodiert sind. Wegen der zusätzlichen Beanspruchungen aus Bühnen- und Gebäudetechnik musste das Dachtragwerk über dem grossen Tonhallesaal aber trotzdem statisch ertüchtigt werden.

Da die Stahlqualität Schweissungen nicht zuliess, lösten die Ingenieure sämtliche Anschlüsse an die bestehenden Stahlteile mittels Umfassungslaschen, Klemmen und Druckanschlüssen. Die Verstärkung wurde vorgespannt, damit diese bereits unter ständigen Lasten Kräfte abträgt und vorab keine plastischen Umlagerungen nötig sind – eine Bedingung, um den Bestand nicht unnötig zu beschädigen (vgl. «Stuck an feinen Drähten», Kasten unten).

Die detaillierten Eingriffe widerspiegeln die Verflechtung der Disziplinen. So unterschiedlich die einzelnen baulichen Eingriffe letztlich auch ausfallen, ihnen liegt ein gleicher Ansatz zugrunde: Originales möglichst als Ganzes zu erhalten und Neues interdisziplinär aufeinander abgestimmt an die Merkmale des Bestands anzuknüpfen.


Literatur:
Robert Maillart, Tonhalle und Kongresshaus, ETH-Bibliothek, Hochschularchiv ETHZ (HS 1085 : 1936/38-1)
Strategie Kongressstadt Zürich, Norbert Müller, Martina Glaser, Präsidialdepartement, Stadt Zürich
Arthur Rüegg und Reto Gadola (Hrsg.), Kongresshaus Zürich 1937–1939: Moderne Raumkultur, Zürich, gta Verlag, 2007
Sonja Hildebrand, Bruno Maurer und Werner Oechslin (Hrsg.), Haefeli Moser Steiger: die Architekten der Schweizer Moderne, Zürich, gta Verlag, 2007

TEC21, Fr., 2018.12.07



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2018|49-50 Kongresshaus und Tonhalle Zürich

23. November 2018Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Zwischen hartem und weichem Verbauungsgrad

Bauvorhaben an Schweizer Seeufern sind situativ unterschiedlich – hier dicht besiedelter Raum, dort schützenswerte Moore. Oft ist den Orten aber eines gemeinsam: Sie sind nicht mehr natürlich. Die Uferzone wird zur Aufgabe für Ingenieure, die sich mit den Wellen- und Windverhältnissen auseinandersetzen.

Bauvorhaben an Schweizer Seeufern sind situativ unterschiedlich – hier dicht besiedelter Raum, dort schützenswerte Moore. Oft ist den Orten aber eines gemeinsam: Sie sind nicht mehr natürlich. Die Uferzone wird zur Aufgabe für Ingenieure, die sich mit den Wellen- und Windverhältnissen auseinandersetzen.

Viele Schweizer Seeufer sind nicht mehr natürlich. Sie wurden in den letzten Jahr­hunderten aufgeschüttet, um für Uferpromenaden, Bahntrassen und Strassen Land zu gewinnen. Naturufer – insbesondere mit flachem Verlauf – wurden in ­harte ­Verbauungen mit Geländesprüngen umgebaut. So geschehen beispielsweise um 1880 am Zürichsee oder am Vierwaldstättersee in Brunnen um 1870. Aquatisch und ökologisch wertvolle Wasserwechselzonen gingen unwiderruflich verloren. Solche künstlich erschaffe­ne Uferzonen rückzubauen, wie es der Naturschutz verlangt, oder zu renaturieren und die aquatischen Le­bensräume der Flachwasserzonen wiederherzustellen, ist in Siedlungsgebieten oft nicht ohne Weiteres bzw. nur von der bestehenden Ufermauer her möglich. Denn mittlerweile stehen auf den Aufschüttungen Bauwerke.

Aus­serdem sind viele Seen inzwischen reguliert, und die natürlichen Prozesse haben sich grundlegend verändert. Jedes Projekt am geschützten Seeufer bedingt eine Ausnahmebewilligung. Diese einzuholen bedarf meist eines jahrelangen Planungsprozesses, der städtebau­liche oder landschaftsarchitektonische, ökologische und technische Aspekte zu berücksichtigen hat. Solche oft kontrovers diskutierten Projekte kann die öffentliche Hand nur dann angehen, wenn der Nutzungsdruck der Bevölkerung hoch ist, wenn sie als Nah­erholungsgebiete von grosser Bedeutung sind und wenn ein kompetentes Planungsteam dahintersteht.

Ähnliche Einwirkung – ungleiche Konzepte

Im naturgetreuen Zustand bildet sich am Ufer eines Flachwasserbereichs ein stabiler Seegrundverlauf aus, der sich dynamisch verändert. Harte Verbauungen stören dieses dynamische Gleichgewicht des Grundverlaufs, sodass heute an diesen Bauwerken ungewöhnlich hohe Wellen brechen und reflektieren – vergleichbar mit einer felsigen Küste. Die Bauten sind teilweise immensen Aufschlagbelastungen ausgesetzt, die vor allem in den Bauwerksfugen grosse Schäden anrichten und Kolklöcher verursachen. An vielen Orten wird der Seegrund vor den Uferbauten durch Wellenbewegungen erodiert, und es kommt zu Unterspülungen von Kon­struktionen. Zahlreiche Uferbauten sind daher instandsetzungsbedürftig und müssten umgestaltet werden. Eine diffizile Aufgabe.

In der Instandsetzung oder Renaturierung von Uferbauten verflechten sich ökologische, architektonische, politische und technische Themen. Exemplarisch zeigen dies die Seeufergestaltung im Zentrum von Brunnen (vgl. «Die Promenade am See»). und die ökologischen Aufwertungsmassnahmen am Seeufer im Moorgebiet Hopfräben (vgl. «Ein schmaler Pfad für mehr Natur»). Die beiden Standorte in der Gemeinde Ingenbohl, Kanton Schwyz, unterscheiden sich – hier der dichte Siedlungsraum, da ein schützenswertes, aber eingezwängtes Flachmoor. Dennoch sind sie landschaftlich eng verbunden. Ihre Ufer sind nach Süd-Südwesten ausgerichtet und den Wellen ausgesetzt. Die lange Streichlänge (freie Anlaufstrecke des Winds) von Süden und Westen her über den See mit starken, über Stunden konstanten Winden führt zu beachtlich hohen Wellen, und es können grosse Schwemmholzmengen auftreten.

Es ist die Aufgabe des Bauingenieurs, diese ­Prozesse im Wasser zu analysieren, daraus realistische Belastungsszenarien abzuleiten und die Bauwerke ­entsprechend zu dimensionieren – nicht nur die Trag-, sondern auch die Ermüdungssicherheit muss nachgewiesen werden (Bestimmung der Dimensionierungswellen, Risikoanalyse und daraus Ableitung sinnvoller Lastkombinationen). Neben den Nutzlasten sind Wellen und Strömungen weitaus die grössten Einwirkungen. Wellen erzeugen keine kontinuierlichen Kräfte, sondern Spitzenlasten, die durch Extremereignisse wie einen Sturm entstehen (wie bei Naturgefahren üblich unterscheidet man die Auftretenswahrscheinlichkeit – 30-, 100-, 300-jährliches Wellenereignis und Extremereignis). Strömungen wirken hingegen ständig und belasten Bauwerke dauerhaft.

Die Bauten im und am Wasser müssen beiden dynamischen Belastungen langfristig standhalten (vgl. «Wellen als Belastung», Kasten unten). Nur so können wirtschaftliche Bauwerke entstehen, die den hohen gestalterischen, ökologischen und technischen Anforderungen am See­ufer gerecht werden.

TEC21, Fr., 2018.11.23



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TEC21 2018|47 Dynamik am Seeufer

23. November 2018Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Die Promenade am See

Viele harte Verbauungen an Schweizer Seeufern sind über 100 Jahre alt. Ihre Instandsetzung und Aufwertung sind diffizile Aufgaben, da Wellen auf der einen und der Bevölkerungsdruck auf der anderen Seite auf die Uferzone prallen. Die neue Seeufergestaltung im siedlungsdichten Raum von Brunnen steht dafür exemplarisch.

Viele harte Verbauungen an Schweizer Seeufern sind über 100 Jahre alt. Ihre Instandsetzung und Aufwertung sind diffizile Aufgaben, da Wellen auf der einen und der Bevölkerungsdruck auf der anderen Seite auf die Uferzone prallen. Die neue Seeufergestaltung im siedlungsdichten Raum von Brunnen steht dafür exemplarisch.

Brunnen wandelte sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Kurort. Die Landschaft am Vierwaldstättersee zog den Tourismus an; die touristische Infra­struktur folgte. Insbesondere am ­See­ufer wurde grosszügig und mutig gebaut (Aufschüttung von Wehrihaggen, Waldstätterquai und -terrasse sowie Bellevuequai). Die heutige Ufer­anlage ­basiert in ihrer Disposition immer noch auf dieser his­torisch gewachsenen Grundlage. Über das letzte Jahrhundert ergänzt und sporadisch ausgebessert, ­entsprach sie aber in Teilbereichen nicht mehr den aktuellen Anforderungen. Der Zugang zum Wasser für die Bevölkerung über die Uferpromenade sollte ver­bessert und das Bauwerk instand gesetzt werden.

2005 lobte die Gemeinde Ingenbohl einen Studienauftrag aus. Dettling Wullschleger Architekten mit Ryffel + Ryffel Landschaftsarchitekten gewannen und wurden 2006 zusammen mit den Ingenieuren von ­Staubli, Kurath & Partner mit der Projektausarbeitung beauftragt. Seit Sommer 2016 ist die erste von vier Etappen realisiert. Die Uferlinie erscheint neu mit einem rund 70 m langen und fast 4 m breiten Seesteg und einer Treppenanlage mit Sitzstufen beim Bootssteg. Dabei griff das Planerteam die ­his­torische Gestaltung auf und verknüpfte die nutzungsspezifischen Aspekte mit den statischen und ­sicherheitsrelevanten Anforderungen so, dass sie das architektonische Konzept stützen.

Konsequenz aus Belastung und Nutzung

Bei mittlerem Seewasserstand befindet sich der Seesteg nur etwa 0.6 m über dem Wasser. Die zwei untersten Stufen der Treppenanlage sind permanent überspült. Damit die Ingenieure eine Konstruktion entwickeln konnten, die spezifisch auf den Kontext mit seinen statischen Rahmenbedingungen reagiert, und damit bei Sturmereignissen keine Schäden durch Überbelastung, schädliche Erosionsprozesse oder Materialverfrachtungen entstehen, wurden die Prozesse im Wasser genau analysiert. An diesem Ufer treten rechnerisch signifikante Wellenhöhen von 1.6 m auf. Die einzelnen Maximalwellen sind sogar nochmals 80 % grösser. Während der Föhnlage trifft die für die Bemessung der Uferverbauung relevante Welleneinwirkung auf der gesamten Länge gleichzeitig auf.

Ausserdem ist der Baugrund schwierig. Die oberen Schichten bestehen aus einer künstlichen Aufschüttung, die im Rahmen der Quaiverbreiterung und beim Bau der alten Ufermauer eingebracht wurde. Sie enthält grosse Blöcke, was die Rammbarkeit stark beeinträchtigte und die Wasserhaltung beim Trockenlegen der Baugrube erschwerte. Darunter folgt eine setzungsempfindliche, schlecht tragfähige Schicht. Die neue Uferverbauung steht nun auf schwimmenden Pfählen, die 30 bis 40 m in den Baugrund reichen. Auf den Pfahlköpfen lagern ein Fundamentriegel und darüber die Oberkonstruktion. Sie ist an den Auflagern gefugt. Die Fugen und die sich daraus ergebende statische Bestimmtheit des Tragsystems verhindern, dass die differentiellen Setzungen das Tragverhalten infolge unerwünschter Zwängungen beeinflussen.

Weil die Seetreppe durchlässig ausgestaltet wurde, gelangt ein Teil der Wellenenergie in den darunter liegenden Hohlraum. Dort wurde ein massiver Blockwurf eingebaut, der die Wellenenergie vernichtet und dadurch die auf das Bauwerk wirkende Belastung markant reduziert. Die Brüstungen entlang des Seestegs und die Treppenstufen sind seeseitig abgeschrägt. Auch diese angewinkelte Untersichtsfläche reduziert die Wellenkraft auf die Verbauung, da die senkrecht auf das Ufer treffenden Wellen wieder auf den See zurückgeworfen werden. Der Hohlraum unter der Treppe ist zugleich Unterschlupf für Jungfische und Wassertiere. Damit und mit den teils nicht begehbaren Kiesstränden und neuen Blockwürfen beim Seesteg erhält die Situation auch punktuelle ökologische Aufwertungen.

Was unbeschwert erscheint, ist ein detailliert ausgearbeitetes Projekt, das auf die spezifische ­Wellen- und Windsituation vor Ort abgestimmt ist. Die
Konstruktion der Uferzone verhindert eine schadensreiche Erosion und einen übermässig belastenden ­Wellenschlag. Obwohl das Bauwerk nach wie vor eine unnatürliche und harte Verbauung ist, beruht es auf einem Eingriffskonzept, das die gestalterische, technische und sicherheitsspezifische Massnahmen verträglich mit den Nutzungsbedürfnissen vereint.

TEC21, Fr., 2018.11.23



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2018|47 Dynamik am Seeufer

Ein schmaler Pfad für mehr Natur

Das Naturschutzgebiet Hopfräben liegt am Ufer des Vierwaldstättersees, der Zugang zum Wasser ist teilweise verbaut. Die Renaturierung des Verlandungsbereichs wurde mit einer Schutzplanung für das dahinter liegende Flachmoor kombiniert.

Das Naturschutzgebiet Hopfräben liegt am Ufer des Vierwaldstättersees, der Zugang zum Wasser ist teilweise verbaut. Die Renaturierung des Verlandungsbereichs wurde mit einer Schutzplanung für das dahinter liegende Flachmoor kombiniert.

Schwyz ist ein Voralpen- und Moorkanton. Wohl am bekanntesten ist Rothenthurm. Diese Hochmoorlandschaft hatte die Schweiz vor 31 Jahren zur Annahme des Moorschutzartikels verleitet. Seither sammelt die kantonale Umweltbehörde wichtige Erfahrungen, wie das strenge Gesetz für Eigen­tümer, Nutzer und Besucher verbindlich umgesetzt ­werden kann. Im Moor darf an sich nichts verändert werden, und auch die Zugänglichkeiten sind zu beschränken. Verbote funktionieren aber nicht immer. Gemäss Remo Bianchi vom Amt für Natur, Jagd und Fische­rei des Kantons Schwyz werden Lösungen häufig besser akzeptiert, wenn sie auch gegensätzliche Ansprüche verbinden. «Konkret heisst das: Zwischen Naturschutz und Naherholung gilt es einen Ausgleich zu finden.» Auch im Hopfräben direkt neben dem Siedlungsgebiet von Brunnen wird nun ein solcher Spagat geübt.

Grossräumlich ist der Standort eine der wenigen Flachuferzonen am Vierwaldstättersee. Im Kern enthält diese Landzunge ein Streuried als letzten Rest des Muota­deltas. Das Areal steht auf der Liste der Flachmoore von nationaler Bedeutung. Es ist bäuerliches Grundeigentum und wird standorttypisch genutzt und gepflegt. Die knapp sieben Fussballfelder grosse Fläche besticht durch ihre ökologische Qualität: Sauergräser, Schilfgürtel und Wasserpflanzen bilden die ökologisch wertvolle Vegetation; Fische, Wasservögel und Amphibien profitieren von der Verlandungszone, so gut es eben geht.

Denn wie der Augenschein vor Ort verrät, drängt der Mensch bis hart an den Rand. Das Feuchtbiotop wird von Gewerbe- und Erholungsinteressen in die Zange genommen. Im Norden und Süden steckt je ein Campingplatz den Schutzperimeter ab. Im Nordwesten bildet eine öffentliche Badeanstalt die künstliche Grenze. Und auch eine Kieswaschanlage gehört zur einengenden Nachbarschaft. Einen Puffer, der Raum für die natürliche Dynamik bieten würde, gibt es kaum. Doch auch für Wanderer, Biker und Hundefreunde ist das Muotadelta attraktiv. Örtliche Hängegleiterschulen peilen eine nahe gelegene Landewiese an. Fussgänger suchen derweil eine Abkürzung dem Vierwaldstättersee entlang. Misslungene Anflugmanöver und Trampelpfade hinterlassen mehr als nur temporäre Spuren im empfindlichen Feuchtgebiet.

Im Einzelnen und in der Summe sind die Störungen für die besondere Flora und Fauna uner­träglich und unkontrollierbar geworden. Um weitere Konflikte zu verhindern, hat die Kantonsbehörde vor zweieinhalb Jahren einen Schutzplan in Kraft gesetzt. Die einvernehmliche Lösung mit Grundeigentümern, Nachbarn und der Gemeinde wartet nun auf den Abschluss ihrer Umsetzung. Ausstehend ist die Bewilligung dreier Einzelprojekte, die gemeinsam der ökologi­schen Aufwertung von Uferzone und Flachmoor dienen.

Widerstand an den Grenzen

Die ersten Schritte zum Schutz des Feuchtstandorts unternahm die Gemeinde Ingenbohl vor fast einem halben Jahrhundert. Aber erst 2011 wurde die Dringlichkeit der Angelegenheit erhöht. Bis 2016 verhandelten die Behörden von Brunnen und des Kantons Schwyz mit Eigentümern und Nutzern über eine Neuordnung des räumlichen Geflechts. Eine ökologische Bewirtschaftung mit Düngerverbot wurde nie infrage gestellt. Die härteren Nüsse waren an den bisherigen Grenzen zu knacken: Weil die Schwyzer Behörde den Abstand zwischen Flachmoor und Erholungsnutzung vergrössern wollte, sprach man mit den Nachbarn über eine Umlegung der Campingplätze westlich und östlich des Biotops. Einer wehrte sich juristisch dagegen. Ohne Erfolg: Das Bundesgericht lehnte die Beschwerde ab.[1]

Anfang 2016 setzte der Kanton Schwyz den neuen Nutzungsplan Hopfräben in Kraft. Im Osten muss der Zeltplatz Flächen für eine Pufferzone freigeben. Im Gegenzug wird das davor liegende Seeufer zu einem attraktiven Badeplatz umgestaltet. Ein Sichtschutz und ein kleines Fliessgewässer sollen den öffentlichen Bereich vom Flachmoorperimeter abtrennen. Denn ennet dieser neuen Grenze erhält die Natur nun Vorrang. ­Dafür muss das harte Seeufer aber aufgeweicht werden.

Aktuell schützt ein künstlicher Damm aus Abbruchmaterial das natürliche Hinterland; dieser wird gemäss Renaturierungsprojekt durch einen Überflutungsbereich mit Graben und Teich ersetzt. Danach soll ein künstliches Unterwasserriff 25 m seeseitig der heutigen Uferkante den Wellenbelastungen standhalten und trotzdem dynamische Umlagerungsprozesse ermöglichen. Seine Oberkante liegt 20 cm unter dem Mittelwasserspiegel, sie soll die anlaufenden Wellen brechen und zugleich in der Flachwasserzone verhindern, dass das Moorufer erodiert. Je nach Wasserstand, Wellen- und Windsituation wirkt das Riff unterschiedlich. Die Ingenieure dimensionieren es mithilfe von Wellenmodellierungen und binden es im Untergrund ein, damit es selbst nicht erodiert oder von den Wellen zerstört wird.

Dank dem Dammrückbau wird die Verbindung zwischen Moor und See wiederhergestellt, und beide Ökosysteme werden vernetzt: Wasservögel, Fische und Amphibien finden im verzahnten Ufer zusätzliche Brut- und Laichplätze. Auf dem Wasser ist zudem ein 200 m breiter Streifen mit Bojen markiert; das Seeufer vor dem Hopfräben ist für Schwimmer und für das Befahren oder Ankern mit Booten neuerdings tabu.

Die Natur am Ufer gewinnt

Die Abflachung des Ufers wird auch in den Bereichen fortgesetzt, die als kommunale Badezone zugänglich sein werden. Hierfür werden massive Steinblöcke entfernt, um flache Strände und Kiesbuchten ausbilden zu können. Damit die uferparallele Strömung das Mate­rial des neugestalteten Abschnitts nicht verfrachtet und dieses den Einlauf des Hechtgrabens verstopft, werden Umlenkbuhnen rechtwinklig zum Ufer bis in eine Was­ser­tiefe von 2.5 m gezogen.

Während die Natur am Ufer gewinnt, steht am Nordrand der Flachmoorparzelle die Naherholung im Vordergrund. Die kantonale Schutzplanung sieht hier einen neuen Wanderweg vor, der mehrheitlich durch die Pufferzone und teilweise über den Rand des Streurieds führt. Den Hopfräbenweg hiess das Bundesgericht in Lausanne gut. In der Urteilsbegründung wurde die Strategie anerkannt, die sich die Schwyzer Planungsbehörde zur Entflechtung der Nutzungen ausgedacht hatte. Der schmale Moorpfad soll weitere Störungen vermeiden und eine «schutzverträgliche Besucherlenkung» ermöglichen. Vorgesehen ist ein Weg auf Holzprügeln und mit Kiesab­deckung, der höchstens 1.4 m breit ist. Als Sichtschutz für die Vögel auf der Riedfläche können halboffene Palisaden oder Sträucher dienen.

Aktive Beteiligung, hängige Beschwerde

Der Hopfräben hat eine lange Geschichte. Das bezieht sich auf die natürliche Entstehung und inzwischen auch auf die Anerkennung der ökologischen Werte: Bereits im frühen Mittelalter wird die Verlandungszone urkundlich erwähnt. Ab dem 16. Jahrhundert wird sie sogar zum Fischereischongebiet erklärt. Und Ende des letzten Jahrhunderts setzt sich die Besorgnis durch, dass der Rest der einstigen Moorfläche besseren Schutz verdiene.

Inzwischen beteiligen sich weitere Kreise aktiv an der Aufwertung des naturnahen Standorts: Das Elektrizitätswerk des Bezirks Schwyz will hier verfügbaren Raum nutzen für einen ökologischen Ausgleich zur Wasserkraftgewinnung an der benachbarten ­Muota. Eine zusätzliche Gewässerrinne in der Moorpufferzone soll dem seltenen Bachneunauge neue Laichplätze bieten.

Und am Ufer könnte eine Bucht dem Hecht als Rückzugsort dienen. Beide Eingriffe würden gleichzeitig eine Trennlinie zwischen öffentlichem Seeufer und Biotop bilden. Das Konglomerat an baulichen Massnahmen wird dazu führen, dass der Flora und Fauna sowie dem Menschen eigene Nutzungsräume zugewiesen werden.

Insofern scheint ein glückliches Ende vieler ­Bemühungen in Sicht; gut ist es, trotz ausdiskutierten Projekten und zur Genehmigung eingereichten Plänen, aber noch nicht. Abermals steht die Bereinigung eines juristischen Streits aus. Die Schwyzer Umweltorganisationen wehren sich gegen den Abbruch eines alten Badehauses am Aufwertungsufer; auch der Kanton rügt die Gemeinde deswegen. Ein gültiger Entscheid dazu steht aber noch aus, weswegen auch die Baubewilligung sistiert ist. Klarheit herrscht hingegen, was am Ufer vor dem Flachmoor geschehen darf: Um die Fauna vor äusseren, physischen und visuellen Störungen besser abzuschirmen, muss nun auch hier ein Sichtschutz erstellt werden, dessen Höhe sich an Standards in anderen Naturschutzgebieten orientiert. Diesen Vorschlag der Naturschutzorganisationen hat die kommunale Bewilligungsbehörde als Zusatzauflage akzeptiert. Somit stünde der baldigen Aufwertung des Flachmoors Hopfräben inklusive Ufer nichts mehr im Weg.


Anmerkung:
[01] Bundesgerichtsentscheid (BGer) 1C_222/2015 vom 26. Januar 2016.

TEC21, Fr., 2018.11.23



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TEC21 2018|47 Dynamik am Seeufer

«Die Natur vor sich selber schützen»

Am Seeufer von Brunnen in der Gemeinde Ingenbohl wird geplant und gebaut. Die Projektbeteiligten tauschen sich aus über Ansprüche, die sie zu erfüllen, und über Interessen, die sie zu vertreten haben. Wo waren und sind die Hürden, was wünscht man sich am Seeufer, und was ist unmöglich zu realisieren?

Am Seeufer von Brunnen in der Gemeinde Ingenbohl wird geplant und gebaut. Die Projektbeteiligten tauschen sich aus über Ansprüche, die sie zu erfüllen, und über Interessen, die sie zu vertreten haben. Wo waren und sind die Hürden, was wünscht man sich am Seeufer, und was ist unmöglich zu realisieren?

TEC21: Sie haben am Seeufer des siedlungsdichten Raums von Brunnen gebaut (vgl. «Die Promenade am See»), und Sie planen bauliche Aufwertungsmassnahmen rund um ein benachbartes Naturschutz­gebiet, das Flachmoor Hopfräben (vgl. «Ein schmaler Pfad für mehr Natur»). Zwei sehr gegensätzliche Gebiete am Seeufer mit unterschiedlichen Anforderungen an die Eingriffskonzepte. Ohne ins Detail zu gehen, ist ihnen aber ein langjähriger Planungs­prozess gemeinsam.
Albert Auf der Maur: Das ist in der Tat so. Verbauungen am Seeufer dauern lang – in unserem Fall dauert die Planung bereits Jahrzehnte. Die erste Etappe in Brunnen ist nun aber umgesetzt. Beim Hopfräben sind wir noch in der Planung.
Beat Schuler: Kernelement ist der Zugang zum Wasser. Insgesamt sollen beide Orte an Attraktivität gewinnen und trotzdem den Sicherheits- und ökologischen Anforderungen entsprechen.
Richard Staubli: Wir sind oft bei Seeufer­planungen involviert und bemerken, dass nicht unbedingt der schlechte Zustand beispielsweise von ­Hafenmauern der Auslöser für eine Erneuerung ist, sondern im Siedlungsgebiet vielmehr der Nutzungs­druck durch die Bevölkerung. Um 1900 baute man an vielen städtischen Uferbereichen Prome­naden rund 2 m über dem Seespiegel. Man flanier­te, hatte aber keinen eigentlichen Bezug zum Wasser. Heute wird gerade dieser Punkt zum Thema. Die Be­völkerung möchte näher ans Wasser. Nicht nur an Seen, auch an Flüssen. Die Uferanlagen sind an schönen Tagen teilweise so rege genutzt, dass man sie erweitern und attraktiver gestalten möchte. Bei einem Eingriff ist man mit den bestehenden, 50 bis 100 Jahre alten Strukturen konfrontiert und ent­sprechend mit den Werten, die es zu erhalten gilt. Andererseits ist ein Grossteil der See- und Fluss­ufer in der Schweiz künstlich verbaut, und man ist bestrebt, solche Uferzonen wo möglich zu renaturieren.

TEC21: Steht die Zugänglichkeit zum Wasser denn nicht im Widerspruch zu Sicherheitsfragen?
Albert Auf der Maur: Das war in der Tat der grosse Dis­kussionspunkt für die lokale Bevölkerung. Die Ufer­promenade ist exponiert. Ein Föhnsturm am Quai bedeutet, alle Kursschiffe ­fahren in den Föhn­hafen, und die Wellen schwappen bis über die Kantons­strasse. Baumstämme und Holz werden in Massen an­geschwemmt. Die erste Erneuerungs­etappe der Ufer­zone im Siedlungsbereich von Brunnen aber schafft Zugänglichkeit und ist sicher zugleich. Die Sicher­heit von früher ist auch heute noch gewährleistet.
Richard Staubli: Es gibt verschiedene Arten von Sicherheit. Für den Ingenieur ist gewiss die Tragsicherheit der Bauwerke wichtig. Im Wasser sind Bauwerke über längere Zeiträume wenig belastet, doch plötzlich treten bei Sturm Spitzenbelastungen auf. Das Bauwerk sollte auf die­se Extreme ausgelegt sein und ­keinen Schaden nehmen. Welche Wellen kom­men mit welcher Jährlichkeit aus welcher Richtung? Wenn wir das Bauwerk entsprechend dimensionieren, müssen wir unter Umständen relativ harte Verbau­ungen einplanen. Das steht aber mit ökologischen As­pekten im Konflikt – insbesondere in einem ökologisch wertvollen Raum wie den Uferzonen. Zudem gilt es die Sicherheit der Bevölkerung zu beachten. Wie na­h darf der Mensch – insbesondere das Kind – ans Wasser? Braucht es ein Geländer? Die politische Behörde muss die verschiedenen Ansprüche abwägen und entscheiden, welche Risiken sie übernehmen kann.
Stephanie Matthias: Speziell die Frage, ob es ein Geländer benötigt, ist individuell zu beurteilen. Bei Rampenabgängen gewährleistet dieses die Absturzsicherheit. An der Uferkante von Brunnen ist die ­­Absturzhöhe allerdings so gering, dass man sich bewusst gegen ein Geländer entschieden hat.

TEC21: Wie werden die ökologischen Aspekte berücksichtigt?
Kuno von Wattenwyl: Die Fischereigesetzgebung ist besorgt um Fisch, Krebs und Fischnährtiere – also alles, was Fische fressen – und um deren Lebens­raum. Bei Verbauungen und auch bei der ­Neugestaltung von Verbauungen fordert sie eine ökologische Verbesserung dieses Lebensraums. Dabei weiss man: Kiesstrände oder Flachuferzonen, even­tuell mit Schilf bepflanzt, sind ökologisch viel wert­voller als ein harter Abschluss durch eine Mauer. Meine erste As­­so­ziation zum gestalterischen Plan, das Wasser am Ufer von Brunnen erlebbar zu machen, war daher ein Kies­strand. Man kann direkt ans Wasser gehen, sieht vielleicht einen Fisch, kann Steine ins Wasser werfen, zugleich wird aber auch der Fisch­lebensraum aufgewertet. Doch diese vielleicht naive Vorstellung stiess auf ­Widerstand. Daher war zu ­verhandeln, welche Aufwertungsmassnahmen den ökologischen Zustand tatsächlich verbessern können.

TEC21: Welche Aufwertungsmassnahmen sind das?
Kuno von Wattenwyl: Grundsätzlich können das unterschiedliche Massnahmen sein. Sie reichen vom totalen Rückbau der Ufermauer über die Schaffung neuer Laichplätze und einer neuen Uferbestockung bis zum Anlegen einzelner Fischunterstände. In Brunnen hat man sich für eine Treppe entschieden, die ins Wasser reicht und hohl ist. Der Hohlraum – ein ­Fischunterstand – ist für aquatische Lebewesen erreichbar. Das ist aber eine Kompromisslösung, weil damit der vorhandene aquatische Lebensraum nur minimal aufgewertet wird.
Richard Staubli: Die Schüttung eines grossflächigen Flachstrands wäre aufgrund des steil abfallenden Seegrunds nicht möglich gewesen, ohne die Stabilität des Geländes zu beeinträchtigen. Uferzonen in städtischen Gebieten bergen diesen typischen Konflikt zwischen verschiedensten Interessen. Einerseits haben wir den Menschen, der das Gebiet nutzen möchte und mit seinen Verbauungen und Nutzungen die Ökologie stört. Andererseits sollen wir die Öko­logie verbessern.
Stephanie Matthias: Auch an die Schifffahrt mussten wir denken. So wollte man auf keinen Fall badende Gäste in der Nähe des Anlegestegs. Ein Badeverbot ist aber schwierig umzusetzen, wenn der Strand zum Baden einlädt. Eine Badestelle ist nun etwas ausserhalb der Quaizone, im Umfeld des Naturschutzgebiets Hopf­räben, vorgesehen.
Kuno von Wattenwyl: Ein Knackpunkt ist auch, dass Flachuferverbauungen mehr Platz an Land ­benötigen. Und dieser war beim vorliegenden Projekt schlicht nicht vorhanden.

TEC21: Auf welche Variante konnte man sich einigen?
Kuno von Wattenwyl: Für die harte Verbauung im Siedlungsraum bediente man sich eines Kunst­griffs: Dem Projekt wurde eine nahe gelegene­ Aufwertungsmassnahme am See zugeschlagen. In der Bewilligungspraxis ist es nicht verboten, Aus­­gleichsmassnahmen ausserhalb des eigentlichen Projektperi­meters umzusetzen. Allerdings ist eine naturräumli­che Nähe zum Projekt sinnstiftender als eine weit entfernte Ausgleichsmassnahme.

TEC21: Oft wirken ökologische Massnahmen aufgesetzt ­beziehungsweise kommen zu einem späten Zeitpunkt hinzu. Sind sie denn nicht gestalterisch in die Architekturplanung eingebunden?
Richard Staubli: Bei Projekten dieser Grössenordnung werden Wettbewerbe für Architektur oder Landschaftsarchitektur durchgeführt. Im Siedlungsgebiet sind es städtebauliche und architektonische Überlegungen, die zur Gestaltung führen; das Projekt basiert weniger oder kaum auf ökologischen Aspekten. Erst nachträglich beginnt man örtliche Massnahmen wie Fischnischen oder Blocksteine anzuordnen. Der gestalterische Spielraum für solche späteren Einzelmassnahmen im Gesamtkonzept ist klein. Hier müss­te man ansetzen und die ökologischen Gesichtspunkte bereits frühzeitig in den Wettbewerb einbringen.
Kuno von Wattenwyl: Entwickelt man ein technisches Bauwerk und baut am Schluss die Ökologie ein, die ebenso notwendig ist, dann sieht das Projekt aus ökologischer Sicht ganz anders aus, als wenn man es als Ökologieprojekt beginnt und nachher die Hochwassersicherheit einbaut. Es war hier kein wirkliches Ökologie-, Renaturierungs- oder – was es eigentlich hätte sein sollen – Revitalisierungsprojekt.
Sandro Betschart: Aus Sicht des Gewässerschutzes war der erweiterte Perimeter durchaus ­zweckerfüllend. Denn es ist schwierig, den Raum in städtischen Gebieten so aufzuwerten, dass er der Natur stark dient. Es liegt an uns Verantwortlichen, sich auf einen Kompromiss einzulassen und zu ­schauen, wo es sich lohnt zu kämpfen. Die Seeufer­verbauungen im Zentrum von Brunnen und im ­naturnahen Gebiet Hopfräben bilden daher sich gut ergänzende Gegensätze.
Albert Auf der Maur: Diese Kombination wurde auch möglich, weil Gemeinde und Kanton eng zusammengearbeitet haben.
Stephanie Matthias: Allerdings war es Zufall, dass die jahrzehntelangen und aufwendigen Planungspro­zesse der beiden an und für sich getrennten Projekte zeitlich schliesslich zusammengefallen sind.

TEC21: Die Uferverbauung beim Flachmoor Hopfräben ist erst noch in Planung.
Stephanie Matthias: Das Projekt nahm seinen Anfang vor 40 Jahren. Wie die Uferzone in Brunnen ist auch die Landzunge vor dem Hopfräben künstlich aufgeschüttet worden. Dieses Gebiet war immer ein beliebter Rückzugsort für die Bevölkerung. Nun ist ­ge­plant, dass knapp 100 m des öffentlich zugänglichen Damms zurückgebaut werden, um das geschützte Flachmoor mit dem offenen Gewässer aquatisch wieder zu vernetzen. Für die Bevölkerung sollen Badebuchten erstellt werden, und zudem wird eine grössere Liegewiese geschaffen. Mit einer konsequenten Besucherlenkung trennt man Naturschutzgebiet und öffentliche Nutzung.
Albert Auf der Maur: Aber Nachbarn und Schutz­organisationen werden Einsprachen machen.
Stephanie Matthias: Wir führen bereits Einigungs­gespräche. Die Interessen des Menschen und der Ökologie widersprechen sich: Camping, Erschliessung der Ufer, Kieswerk, Kiesgewinnung bei der Muotamün­dung, Flachmoor und so weiter. Der bereits in Kraft gesetzte Teilzonenplan hilft, die Interessen gegeneinander abzuwägen. Zusammen mit dem Nutzungsplan und der Schutzverordnung ist es dieser Abwägung und einer guten Kommunikation zu verdanken, dass wir das Projekt überhaupt umsetzen können.

TEC21: Kann man trotz der künstlichen Verbauung an ­beiden Orten von guten ökologischen Beispielen ­sprechen?
Sandro Betschart: Durchaus. Wir haben die Situa­tion sicher nicht verschlechtert. Der Dialog fand statt, und die unterschiedlichen Disziplinen haben sich ausgetauscht. Früh miteinander reden heisst früh selber denken und eruieren, wie man die einzelnen Fach­aspekte in das Projekt konstruktiv einbinden kann.
Richard Staubli: Auch in der naturnahen Zone müssen wir verhindern, dass das Ufer durch Wellen weg­erodiert wird. Aus Sicht der Wellenbelastung finden wir beim Hopfräben eine ähnliche Ausgangslage vor wie am Quai von Brunnen. Es handelt sich um eine exponierte Lage mit einer starken Wellenbelastung bei Sturm. Aber während wir bei der Seeufer­gestaltung in Brunnen eine harte Kante dagegen ­setzen, nutzen wir im Hopfräben weichere und naturnähere Mittel. Mit einem vorgelagerten Riff werden ein Teil der Wellenenergie vernichtet und die Ufer­zone geschützt.
Kuno von Wattenwyl: Es ist eine schizophrene ­Situation. Man schützt die Natur vor sich selber, weil man sie vorher so eingeengt hat, dass sie sich nicht mehr ausbreiten kann. Wir haben der Natur die Dynamik weggenommen.

TEC21: Wie stehen die Erfolgsaussichten?
Kuno von Wattenwyl: Ob es ein Erfolg wird, ist gar nicht so einfach zu sagen. Beim Hopfräben besteht die Möglichkeit einer Erfolgskontrolle. Bei der Verbau­ung im Zentrum von Brunnen gibt es weder Vor- noch Nachaufnahmen – das war damals noch nicht not­wen­dig. Es wäre mir für weitere Projekte ein wichtiges Anliegen, dass das Ziel der ökologischen Aufwertung definiert wird. Dazu gehören entsprechende Massnahmen und messbare Indikatoren. Bei Aufwertungen ist es wichtig, kleine Strukturen für die Flora und Fauna zu schaffen.
Richard Staubli: Wir Ingenieure verfassen für unsere Projekte jeweils eine Nutzungsvereinbarung. Darin ist zum Beispiel festgehalten, wie weit das Seeufer erodieren darf. Auch in der Ökologie sind solche klaren Zielvereinbarungen wichtig; sie sollten dann mit einem Monitoring überprüft werden.

TEC21, Fr., 2018.11.23



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TEC21 2018|47 Dynamik am Seeufer

05. Oktober 2018Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Neu eingebettet

Die St. Jakobshalle in Basel bestand aus Einzelbauten. Die Arbeitsgemeinschaft Degelo Architekten / Berrel Berrel Kräutler und die Ingenieure von Schnetzer Puskas formten ein harmonisches Ganzes, indem sie dem Bestand einen Mantel gaben – funktional, gestalterisch prägend und statisch wirksam.

Die St. Jakobshalle in Basel bestand aus Einzelbauten. Die Arbeitsgemeinschaft Degelo Architekten / Berrel Berrel Kräutler und die Ingenieure von Schnetzer Puskas formten ein harmonisches Ganzes, indem sie dem Bestand einen Mantel gaben – funktional, gestalterisch prägend und statisch wirksam.

Die St. Jakobshalle erfuhr von 2016 bis 2018 eine Transformation in die Gegenwart. Kurz vor der Wiedereröffnung am 15. Oktober erscheint sie nicht mehr als die solitäre «Arena» mit Annexbauten auf einem Treppensockel an der Brüg­linger­strasse, sondern zeigt sich neu gegenü­ber «Joggeli», dem Stadion St. Jakobs-Park, als öffentliche, multi­funktionale Anlage mit einladendem und wit­­te­rungs­geschütztem Zugang. Damit erfüllt sie, was ­der Wettbewerbsentwurf 2013 versprach: nämlich, ­«die fun­ktionale Grundproblematik der (…) Anlage (…) strategisch auf der städtebaulichen Ebene zu lösen» (vgl. «Sach- und Dachgeschichten»).

Zeitgemässer Komplex

Die im September 1976 eröffnete St. Jakobshalle um­-fasst mehrere Gebäudeteile. Mit einer Zuschauerkapazität von rund 9000 Personen ist sie nach dem Zürcher Hallen­stadion die zweitgrösste Veranstaltungshalle der Schweiz und beherbergt zwei kleinere Hallen mit jeweils einem Betonfaltdach (Kleine Halle und Halle 2) und eine Haupthalle mit einem eleganten Hängedach (Grosse Halle, vgl. «Das Hängedach von 1976», Kasten unten). Ursprünglich für sportliche Aktivitäten mit oder ohne Publikum konzipiert, musste die Liegenschaft bereits seit Jahrzehnten einem breiteren Nutzungsmix gerecht werden. Als Teil der Sport- und Eventstätte St. Jakob dient der Gebäude­komplex dem Breitensport und dem Schul-, Universitäts- und Vereinssport. Andererseits bietet sie Platz für Grossevents in den Bereichen Sport und Kultur sowie für verschiedenste Firmenanlässe wie Generalversammlungen, Konferenzen, Kongresse und Tagungen.

Um für alle bisherigen und potenziellen Veranstalter attraktiv zu bleiben, wurde die St. Jakobshalle laufend unterhalten. Dabei erfolgten die Instandsetzungsarbeiten in den letzten 15 Jahren vor allem modulartig in kurzen Zeitfenstern, um den Events nach wie vor ihren bespielbaren Zeitraum zu ermöglichen. Diese Strategie liess sich nun aber nicht weiter umsetzen, da die erforderliche Instandsetzung tief greifende bauliche Massnahmen an der Gebäudehülle, im Innenausbau und an der technischen Infrastruktur nötig machte. Dies bedingte grössere Betriebsunterbrüche und ein technisches und betriebliches Gesamt­konzept. Zudem musste die gesamte Halle an aktuelle Sicherheitsvorschriften angepasst werden. In erster Linie betraf das die Fluchtwege, den Brandschutz und die Erdbebensicherheit.

Mit der neuesten Instandsetzungs- und Modernisierungsaufgabe galt es also, aus der ehemaligen Sport­halle einen zeitgemässen, multifunktionalen Hal­len­komplex entstehen zu lassen. Der dafür ausgeschriebene Wettbewerb von 2013 sollte ein Projekt ausfindig machen, das den Bestand mit weiteren Nutzflächen und neuen Funktionen ergänzt und ihn zugleich mit den aktuellen sicherheitsspezifischen Anforderungen in Einklang bringt. Die komplette Erneuerung sollte darüber hinaus in Etappen abgewickelt werden können, die auf die wiederkehrenden Anlässe wie das Tennisturnier «Swiss Indoors» abgestimmt sind.

Die Arbeitsgemeinschaft Degelo Architekten / Berrel Berrel Kräutler zusammen mit Schnetzer Puskas Ingenieure überzeugte das Preisgericht mit ihrem Projekt: Es ergänzt den Bestand aus einzelnen Gebäuden so, dass die Einzelstücke zu einem Ganzen zusammengefasst werden. Der Bestand – mit wahren ingenieurspezifischen Perlen – erhält einen Mantel, der funktional genutzt wird, gestalterisch das neue Erschei­nungsbild prägt und statisch wirksam ist.

Raumhoch aufgespanntes Dach

Teil der Mantelnutzung, die den Bestand wörtlich umfasst, ist die neue Eingangshalle. Sie ist direkt zur Tramhaltestelle an der St. Jakobs-Strasse gerichtet. Über den vorgelagerten grosszügigen Platz, der für Ereignisse mit über 12 000 Zuschauern angemessen ist, zieht sich das Strassenniveau fliessend ins doppelgeschossige Foyer hinein. Über Foyer und Platz spannt ein weit auskragendes Dach und verdeutlicht den ­öffentlichen Charakter des Gebäudes. Hierfür wurde das bestehende Dach der Eingangshalle auf derselben Höhe weitergeführt und mit einer markanten, 130 m langen Stirn aus Sichtbeton gefasst. «Die Spannweiten von bis zu 70 m bewogen uns, ein aufgelöstes Raumtragwerk zu entwickeln, das diese grosse Spannweite bewältigen konnte und zugleich Raum für die Gebäudetechnik bot», erklärt Tivadar Puskas, der leitende Ingenieur des Teams von Schnetzer Puskas Ingenieure.

Das Dachtragwerk aus Beton kann als grossmassstäblicher Gitterrost gelesen werden. Seine Kon­struktionshöhe nimmt von 3.65 m auf 4.65 m zu und schwebt 6.5 m über dem Strassenniveau. Er besteht prinzipiell aus lamellenartig alle 5 m angeordneten, bis 28 m weit gespannten Wandscheiben. Als geschoss­hohe Rippen und Längsträger funktionierend, werden sie an der Unterseite mit einer Sichtbetondecke und an der Oberseite mit einer Eindeckung aus leichten, isolierenden Holz-Sandwich-Elementen eingefasst. Beide Decken wirken statisch als horizontale Scheiben. Die Rippen und die zwei quer dazu verlaufenden Längsträger – der Rand- und der Innenträger – sind zumeist vorgespannt. Die Vorspannkabel sind entsprechend dem Momentenverlauf verlegt, was planerisch, geometrisch und umsetzungsspezifisch komplex war, da die Kabel geschickt aneinander vorbeigefädelt werden mussten.

Der neue Mantel baut grundsätzlich auf der bestehenden Raum- und Tragstruktur auf. Das schlug sich öko­nomisch, bezüglich Umsetzbarkeit und auf die notwendige Etappierung positiv nieder. Der Rost ruht auf ­einzelnen Auflagern aus Beton – dem Kassenhaus, den Wandscheiben des neuen Warenlifts, den Wänden des neu erstellten Flucht- und Verkehrswegs aus der Arena (Lkw-Ausfahrt) sowie der einzelnen, markanten Pendelstütze (max. 2000 t) an der nordwestlichen Ge­bäudeecke. Diese Pendelstütze aus einem 420-mm-Vollstahlrohr, das mit einer Betonhaut ummantelt ist, wird vom «Findling» des Schweizer Künstlers Eric Hattan in Form eines 25 t schweren Granitblocks als sta­tisches Punktlager des Dachs betont.

Fundiert ist die markant skulptural geformte Stütze auf einem kreuzförmigen Trägerrost aus verschweissten Stahlblechträgern. Das Kreuz leitet die anfallenden Lasten um den bestehenden Sammelkanal herum auf vier Grossbohrpfähle. Diese haben einen Durchmesser von 1.3 m und ragen 15 m tief in den Baugrund. Die Zugkräfte infolge der Abspannung des Dachs werden durch Zugstützen entlang des Bestands aufgenommen und dort in den Baugrund ein­geleitet (%%gallerylink:42845:vgl. Abb.%%).

Das geschosshohe Dach schafft Raum für die aufwendigen technischen Installationen der Gebäudetechnik (vgl. «Luft im Dach») und bietet zudem Platz für das Materiallager. Damit können alle Lüftungs- und Entrauchungseinrichtungen verdeckt und in den Innenraum integriert werden. Das macht die Dachaufsicht zur fünften Fassade und optimiert die Zugänglichkeit, die Wartung und den Lärmschutz. Die statisch notwendige Höhe wird als Stauraum genutzt, was anderenorts Mehrfläche generieren würde. «Aus der ästhetisch und bezüglich der Gebäudetechnik erforderlichen Höhe ergab sich die statische Leistungsfähigkeit des Dachtragwerks», so Tivadar Puskas.

Verankert, gekoppelt und geschützt

Statisch effizient war auch die bestehende Grosse Halle – und zwar sowohl für gewöhnliche als auch für aus­sergewöhnliche Ereignisse wie Erdbeben. Einzig die Dilatationsfuge (vgl. «Das Hängedach von 1976», Kasten unten) liessen die Ingenieure mit der aktuellen Ertüchtigungsarbeit punktuell schliessen. Heute wirkt der Bestand – neu aussen gedämmt und verputzt – als statischer ­Anker für das über die Mantelnutzung zusammengeschlossene Ganze. Das neue Dach des funktio­nellen Rings wurde an allen Seiten der steifen Grossen Halle über jeweils 20 m Länge gekoppelt. Die Eck­bereiche liess man frei, damit Bewegungsspielraum vorhanden blieb und Zwängungen minimiert werden.

Die St. Jakobshalle – eine Perle des Ingenieurwesens – erhielt auf diese Weise eine aufgewertete Bedeutung und eine Erdbebenertüchtigung zugleich. Abgesehen davon, dass der Erhalt von Bausubstanz ohnehin nachhaltig ist, zeigt dieses Bauprojekt exemplarisch auf, dass in die Jahre gekommene Ingenieurbaukunst mit relativ einfachen Massnahmen unter Berücksichtigung aller gegenwärtigen Anforderungen modernisiert erhalten bleiben kann – auch ohne Unterschutzstellung. Das heisst allerdings nicht, dass hier nicht durchaus noch Nachholbedarf besteht.

Bislang weder geschützt noch im Inventar für schützenswerte Bauten aufgeführt, erhielt die St. Jakobs­halle zumindest einen sinnbildlichen Schutz: Gleich einem Konglomerat, das einzelne Gesteine in einer feinkörnigen Matrix verkittet, sind nun auch hier die Einzel­bauten verkittend in der Ummantelung eingebettet – und in gewissem Sinn konserviert. Dass die Grosse Halle mit dem Hängedach nach wie vor einen wesentlichen Kern der Anlage darstellt, ist aus Ingenieurssicht ein besonderer Mehrwert dieses Umbauprojekts.

TEC21, Fr., 2018.10.05



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TEC21 2018|40-41 St. Jakobshalle, Basel

31. August 2018Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Das Minimum ist das Maximum

Das Museum für Gestaltung und die Kunstgewerbeschule in Zürich erstrahlen seit März wieder im Glanz der 1930er-Jahre – auch dank der Analyse der Ingenieure von Dr. Deuring + Oehninger. Damit liessen sich die notwendigen statischen Massnahmen auf ein Minimum beschränken.

Das Museum für Gestaltung und die Kunstgewerbeschule in Zürich erstrahlen seit März wieder im Glanz der 1930er-Jahre – auch dank der Analyse der Ingenieure von Dr. Deuring + Oehninger. Damit liessen sich die notwendigen statischen Massnahmen auf ein Minimum beschränken.

Das Stammhaus des Museums für Gestaltung strahlt seit den aktuellsten Umbauarbeiten neue Ruhe aus – sowohl äus­sere als auch innere. Die äussere Ruhe hatte der Komplex aus drei Kuben mit jeweils rhythmisierten und differenzierten Fassaden grundsätzlich nie verloren. Die innere Ruhe aller­dings war aus statischer Sicht nie gegeben. In einer Krisensituation wie einem Erdbeben wäre der Bau gemäss neuesten Berechnungen nach den aktuellen norma­tiven Grundlagen des SIA kollabiert; damals war die mögliche konstruktive Erdbebensicherheit eines Gebäudes noch zu wenig im Bewusstsein der Planer. Mit den Umbauarbeiten sollte der Bau deshalb auch auf den Lastfall Erdbeben ertüchtigt werden. Doch die vorgesehenen Massnahmen hatten es in sich – die ausgeführten Eingriffe hätten mit weniger vertieften Analysen so massiv sein können, dass die Seele des Bauwerks zerstört worden wäre.[1]

Ein Winkel aus drei Trakten

Zwischen Ausstellungsstrasse und Sihlquai steht seit 1933 das Museum für Gestaltung – früher als Kunstgewerbemuseum und Gewerbeschule bekannt . Adolf Steger und Karl Egender lieferten in einem zweistufigen Projektwettbewerb (1925–1927) den Entwurf für den Massivbau. Er besteht aus drei Trakten und ist der erste öffentliche Bau in Zürich, der nach den Ideen des «Neuen Bauens» ausgeführt wurde (vgl. «Zurück in die Zukunft»). 1981 wurde er ins Inventar der kunst- und kulturhistorischen Schutz­objekte von überkommunaler Bedeutung der Stadt Zürich aufgenommen. Die Trakte – Berufsschule, Museum und Saal – wurden in drei Losen vergeben und unabhängig voneinander von drei verschiedenen Ingenieurbüros erstellt. Sie sind mit Fugen voneinander getrennt.

Im Nordosten des Grundstücks, zur Limmat hin, liegt der fünfgeschossige Berufsschultrakt. Der Bau des Ingenieurbüros Terner & Chopard ist als Rahmenkon­struktion mit einem Achsabstand von 3.50 m erstellt und bildet den langen Flügel der im Grundriss winkelartig angeordneten Gebäudevolumen. Die Rippendecken mit eingelegten Bimsbetonhohlsteinen tragen quer zu den Rahmen. Die Hauptkonstruktion ist bis ins vierte Obergeschoss identisch, das fünfte Obergeschoss ist an der Südfassade zurückversetzt. In Traktmitte ist quer zum Gebäude über die gesamte Höhe eine zusätzliche Dilatationsfuge angeordnet.

Bemerkenswert sind die Wände zwischen dem Korridor und den Klassen­zimmern, die den Raum zwischen den Hauptstützen nur so weit ausfachen, dass jeweils im oberen Teil eine grosszügige Verglasung entsteht – eine gestalterisch wertvolle Geste für den Korridor, der auch als grosszügiger Aufenthaltsbereich der Studierenden funktioniert.

Der Saaltrakt des Ingenieurbüros Robert Maillart ist der kurze Flügel und zugleich der Haupteingang des Museums. Über dem Eingangsbereich spannt die Decke stützenfrei über die gesamte Gebäudebreite. Sie ist auf Unterzügen und eingespannten Stahl­beton­stützen gelagert. Darüber liegt der grosse Saal, der ebenfalls von einer Unterzugsdecke überspannt wird. Die Kon­struktionen bestehen aus Unterzugs­decken und Rippendecken mit Bimsbetonhohlsteinen wie beim Berufsschultrakt. Im Bereich des Treppenaufgangs sind zusätzlich massive Mauerwerkswände vorhanden. Im Unter­geschoss befindet sich ein Raum mit einer für Maillart typischen Pilzdecke.

Der dreischiffige Museumstrakt des Ingenieurbüros E. Rathgeb zwischen den beiden Flügelbauten besteht wie der Schulbau wiederum aus einer Rahmenkonstruktion mit einem Achsabstand von 3.50 m. Die typischen Rippendecken mit eingelegten Bims­betonhohlsteinen finden sich auch hier quer zu den ge­vou­teten Rahmen tragend. Die im obe­ren Geschoss zurückspringenden Fassadenstützen werden über die Hauptrahmen abgefangen. Im Mittelschiff ist der Raum zweigeschossig und erinnert mit seiner markanten Tragkonstruktion an eine Mischung aus Basi­lika und Industriehalle. «Der Trakt sollte den hier vermittelten Berufsfeldern eine würdevolle und doch industrielle Heimat geben», so der heutige Direktor des Hauses, Christian Brändle. Damit war die Halle von Beginn an das Herzstück des 85 Jahre alten Gebäudes.

Leider wurden diesem Raum 1958 innenräumliche Strukturen implantiert, die das Ge­bäude zu seinen Ungunsten veränderten – insbesondere die Zwi­schen­decke im Mittelschiff. In den letzten Jahren durften Ruggero Tropeano Architekten das Museum aber erneut um­bauen – den Schultrakt renovierten die Architekten Arthur Rüegg und Silvio Schmed. Erstere verhalfen dem Museum in respektvoller Herangehensweise wieder zu altem Glanz (vgl. «Zurück in die Zukunft»).

Die Seele bewahren

Der brandschutzspezifische Aspekt war einer der Treiber, den ursprünglichen Zustand der Halle wiederherzustellen. Die eingebaute Zwischendecke aus Holz war der Feuerpolizei ein Dorn im Auge – so erhielten all jene, die das Mittelschiff freilegen wollten, neben den gestalterischen Argumenten auch die notwendige technische Unterstützung. Allerdings waren weitere Eingriffe so aufwendig, dass der Charakter des Bauwerks an anderen Stellen zu verschwinden drohte.

Vor mehreren Jahren wirkende Ingenieure hatten in einer oberflächlichen Studie für eine Erdbebenertüchtigung ermittelt, dass im langen Flügelgebäude Erdbebenwände notwendig seien. Dafür hätten die charakteristischen Ober­lichter in den Korridoren des Schultrakts geschlossen werden müssen. «Das wäre weder stimmig noch die adäquate Lösung gewesen», betont der projektierende Bauingenieur Martin Deuring, der im Zuge der aktuellen Arbeiten von den Architekten angefragt wurde, eine vertiefte Analyse der Erdbebenertüchtigung des Ge­bäudekomplexes durchzuführen. Ein Tragwerk sei nicht deshalb das beste Tragwerk, wenn es für sich betrachtet das geeignetste sei, sondern es sei dann das beste, wenn es das Gesamtkonzept am besten stütze.

In interdis­zi­plinärer Weise erfassten die Ingenieure von Dr. Deuring + Oehniger schliesslich zusammen mit den Architekten und der Denkmalpflege den Bestand des Bauwerks mit seiner Bau- und Nutzungsgeschichte, seinem architektonischen Konzept, seinen tragwerks- und materialspezifischen Eigenschaften sowie seinen nutzungsbezogenen Bedürfnissen bzw. zeitgemässen Anforderungen.

Auch Prof. Hugo Bachmann, der von Martin Deuring als Experte für Schwingungsprobleme und Erdbebensicherung beigezogen wurde, um die Arbeiten der Erdbebenertüchtigung korreferieren zu lassen, betont: «Die Ingenieure sollten sich ganz am Anfang mit der Geschichte und der Substanz des Gebäudes vertieft auseinandersetzen. Erst wenn man das Gebäude und sein Tragwerk wirklich kennt und versteht, kann man ihm neue, statisch wirksame Elemente einfügen, die dem geschützten Bestand gerecht werden.»

Kluge Wahl der Methode

Die Ingenieure erfassten, gut mit Archivplänen bestückt, die gegebene Bausubstanz (Bauwerksklasse II, Erd­beben­zone Z1, Baugrundklasse C), entnahmen Proben und aktualisierten die Baustoffeigenschaften aller Querschnitte der Tragelemente. Danach untersuchten sie das Gebäude bezüglich Erdbebensicherheit gemäss den aktuell gültigen Tragwerksnormen mittels dyna­mi­scher Computerberechnung. In einem dreidimensionalen Finite-Elemente-Modell unter Einbezug der wichtigen Interaktion zwischen Baugrund und Tragwerk erfolgte die wirklichkeitsnahe Erdbebenanalyse.

Ausschlaggebend für die später umgesetzten Massnahmen war, dass die Ingenieure nicht nach dem vereinfachten Ersatzkraftverfahren vorgingen – eine statische, lineare Berechnungsmethode mit horizontalen Ersatzkräften –, mit einer losgelösten Betrachtung der einzelnen Kuben. Vielmehr führten sie eine ver­tiefte Tragwerksanalyse mit dem dreidimensionalen, kräftebasierten Antwortspektrenverfahren durch – eine dynamische, lineare Berechnungsmethode, bei der das Schwingungsverhalten der massgebenden Eigenschwingungsformen ermittelt wird. Die drei im Grundriss asymmetrisch angeordneten Gebäudetrakte mit unterschiedlichen Bauwerkshöhen wurden an einem Gesamtmodell analysiert. Erst so konnten die Inge­nieure dem asymmetrischen Tragwerk Rechnung tragen.

Die Resultate aus dem Antwortspektrenverfahren wurden mit dem verformungsbasierten Push-over-Verfahren plausibilisiert – ein Verfahren, das vergleicht, wie stark sich ein Tragwerk unter Erd­beben­einwirkung verformen könnte und wie stark es sich im örtlichen Erdbebenfall tatsächlich rechnerisch verformt. Dieses Verfahren war zur Planungszeit mit der SIA-Norm 269/8 «Erhaltung von Tragwerken – Erdbeben» zwar noch nicht in Kraft – diese Norm gilt erst seit 1. Dezember 2017 –, zählte aber bereits zum etablierten neuen Know-how.

Ist das Verhältnis – der sogenannte Erfüllungsfaktor – von Verformungsvermögen zu erforderlicher Verformung kleiner als 1, muss eine Verstärkung des Tragwerks in Betracht gezogen oder die Nutzung eingeschränkt werden. Unter Berücksichtigung des nichtlinearen Baustoffverhaltens eruierten die Ingenieure, ob das Verformungsvermögen vorhanden ist, das im Erdbebenfall benötigt würde. Mit Ausnahme von Teilbereichen wiesen sie für das Gesamttragwerk eine ausreichende Erdbebensicherheit von r > 1 nach.

Bedingung für die ausreichende Sicherheit war die kraftschlüssige Verbindung der nur 2 cm breiten Fugen zwischen den Gebäudetrakten. Denn die Stockwerke sind teilweise auf ungleicher Höhe. Eine Decke hätte bis anhin beispielsweise an eine Rahmenstütze stossen können, und durch den Anprall hätten die Stützen knicken und einen Kollaps verursachen können. Die kraftschlüssige Verbindung wurde im Rahmen der Umbaumassnahmen umgesetzt. Alle drei Kuben wirken nun zusammen und schwingen – wie im Gesamtmodell modelliert – nicht mehr unabhängig voneinander.

In Teilbereichen des Gebäudes zeigt die Analyse eine ungenügende Sicherheit von ca. r = 0.50. Die problematischen Zonen wie die gelenkig ausgebildeten Rahmen und der ungenügend gehaltene Aktsaal im fünften Obergeschoss wurden mit eingebohrten Ge­windestangen ertüchtigt, womit für das Gesamttragwerk nun eine ausreichende Sicherheit von r > 1.0 vorliegt. Alle anderen Eingriffe, wie neue Leitungen durch bestehende Unterzüge, wurden in Abstimmung aller Fachplaner einzeln besprochen und punktuell so platziert, dass sie das Tragwerk nicht zusätzlich schwächen.

Mehr Planung gleich weniger Massnahmen

Dank der Analyse mittels des verformungsbasierten Verfahrens konnten die Ingenieure einen ausreichenden Erfüllungsfaktor nachweisen. So konnte das Mass an baulichen Eingriffen stark reduziert und dennoch die Anforderungen der aktuellen Normen erfüllt werden. «Eine vertiefte Analyse ist auch bei anderen bestehenden Bauwerken sinnvoll», bemerkt Hugo Bachmann, «hier waren die Konsequenzen allerdings beachtlich.» Der finanzielle Aufwand für die baulichen Massnahmen, die hier umgesetzt wurden, war gemäss Martin Deuring schliesslich kleiner als der planerische Mehraufwand. Dieser Mehraufwand verhinderte aber radikale Baumassnahmen, die teuer gewesen wären und das Denkmal mit seinem Charakter zerstört hätten. Die kreative Leistung vorab reduzierte den baulichen Aufwand danach – ohne statische, gestalterische oder allzu grosse denkmalpflegerische Abstriche machen zu müssen.


Anmerkung:
[01] Zu diesem Thema siehe auch: «Damit Denkmäler nicht zu Mahnmälern werden», TEC21 14–15/2017.

TEC21, Fr., 2018.08.31



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TEC21 2018|35 Museum für Gestaltung Zürich

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Presseschau 12

07. Juni 2019Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

«Wir müssen seinem Werk Sorge tragen»

Eugen Brühwiler verband eine enge Freundschaft mit Christian Menn. Clementine Hegner-van Rooden, die Menn ebenfalls persönlich kannte, hat mit ihm über seinen Kollegen und Freund gesprochen.

Eugen Brühwiler verband eine enge Freundschaft mit Christian Menn. Clementine Hegner-van Rooden, die Menn ebenfalls persönlich kannte, hat mit ihm über seinen Kollegen und Freund gesprochen.

TEC21: Herr Brühwiler, was lässt uns Christian Menn neben Entwürfen, Ideen und Konzepten als sein Vermächtnis für die Baukultur zurück?
Eugen Brühwiler: Christian Menn pflegte einen intensiven Austausch mit Berufskollegen. Er empfand die Gespräche als bereichernd, wenn er mit interessantem Fachwissen konfrontiert war. Diese Gesprächskultur und seine Offenheit für Kritik nehme ich mit. Ich werde sie pflegen und dadurch hoffentlich wiederum Fachleute zum mündlichen Austausch und zur Kritik von Projekten und Bauwerken ermuntern.

TEC21: Sie haben viele Gespräche mit ihm geführt. Wie kam es zu dieser kollegialen Freundschaft?
Eugen Brühwiler: Im Mai 1998 hatte er mir vorgeschlagen, mit ihm sein 1986 erschienenes Buch «Stahlbetonbrücken» zu überarbeiten und um Aspekte der Dauerhaftigkeit und der Erhaltung zu erweitern. Dieser überraschende Vorschlag war mir eine grosse Ehre, die ich als Chance verstand – damals war ich gerade drei Jahre als Pro­fessor für Bauwerkserhaltung an der ETH Lausanne tätig. Menn und ich hatten 1993 beim Brückenwett­bewerb für den Doppelspurausbau des Wipkinger­viadukts zusammengearbeitet. Er war Jurymitglied und ich als Brückeningenieur bei den SBB. Bei der Erarbeitung der dritten Auflage, die 2003 erschienen ist, hat mir Menn viel mitgegeben. Ich war beeindruckt, wie er bei seinen Ausführungen oft Skizzen erstellte – immer mit Kugelschreiber – und die Statik und das Kräftespiel seiner Entwürfe mit Pfeilen für Zug- und Druckkräfte einfach und klar erklärte. Diese Erfahrung hat meine Tätigkeit als Hochschullehrer, Forscher, beratender Ingenieur und Experte stark beeinflusst.

TEC21: Inwiefern?
Eugen Brühwiler: Es ist ein Aspekt, den wohl viele seiner Gesprächspartner mitnahmen: sein Geschick, dem Entwurf von Brücken und dem Verständnis, wie eine Brücke «funktioniert», eine hohe Gewichtung beizumessen. Auf dieses wesentliche Kriterium, das Menn im Brückenentwurf vertrat, konzentriert sich unser Fachbuch; entwurfsspezifische und konstruktive Aspekte von Stahlbetonbrücken. Denn die grössten Mängel im Brückenbau betrafen und betreffen den technischen und gestalterischen Entwurf. Einfache Modelle schaffen Klarheit. Detailberechnungen behandelten wir nicht, da sie meist nur von sekundärer Bedeutung sind und weder auf Qualität noch auf Wirtschaftlichkeit einen nennenswerten Einfluss haben. Das kreative Denken steht im Vordergrund.

TEC21: Bemerkenswert ist, dass Sie das Kapitel über den Brückenentwurf vollständig umgeschrieben haben. Hinterfragte Menn seine Entwurfskriterien?
Eugen Brühwiler: Diese Überarbeitung hat mich sehr überrascht, da ich davon ausging, dass Menn aufgrund seiner grossen Entwurfserfahrung eine konsolidierte Haltung aufweisen würde. Aber nein, er vertrat die Haltung, dass alles (noch) besser gemacht werden kann. Noch vor wenigen Jahren sagte er mir, dass dieses Kapitel erneut überarbeitet werden sollte.

TEC21: Das Buch nimmt keinen Bezug auf Normen, bringt keine Hintergrundinformation zu Normartikeln …
Eugen Brühwiler: Auch das widerspiegelt eine grundlegende Haltung von Menn: Nicht das sture Einhalten der Norm, sondern der kreative Entwurf nach den Kriterien der «Structural Art» schafft gute Ingenieurbaukunst. Allerdings entspricht dies nicht mehr der gegenwärtigen Arbeitsweise. Der Bauingenieur führt seine Berechnungen in einem streng normierten Rahmen aus. Ihm bleibt kaum Zeit, und es fehlen oft Anreize, um ein Projekt intensiv zu bearbeiten und zu verbessern. Die Digitalisierung des Ingenieurwesens wird die Tragwerksanalyse und die rechnerischen Normnachweise beeinflussen – und hoffentlich ba­na­lisieren. So könnten die Ingenieure wieder ver­mehrt Rechenergebnisse detailliert beurteilen und Normvorschriften nicht buchstabengetreu, sondern projektbezogen interpretieren. Dies setzt allerdings solide Kenntnisse voraus, wie ein Brückentragwerk funktioniert. Deshalb werden die Methodik von Menn und Fachbücher in Zukunft wieder einen wichtigeren Stellenwert erhalten.

TEC21: Menns Meinung, dass Ingenieurbaukunst das Ergebnis von Innovation, Kreativität und Ideenreichtum ist – und nicht etwa von Normen und Berechnungen –, hält dann in die Praxis Einzug?
Eugen Brühwiler: Zu viele Nachweise und Detailberechnungen lenken vom Wesentlichen ab. Sie lähmen die Fantasie und Kreativität der Bauingenieure. Dies gilt auch bei bestehenden Brücken, die oft nur stur «nachgerechnet» und nicht wirklich überprüft werden. Insofern ist zu hoffen, dass eine Neuausrichtung der Arbeitsmethodik der Ingenieure stattfinden wird, wie Menn dies immer forderte.

TEC21: Trotz durchdachter Entwürfe mussten die meisten Stahlbetonbrücken von Menn bereits nach 20 Jahren Betriebsdauer instand gesetzt werden. Weshalb?
Eugen Brühwiler: Die meisten seiner Brücken wurden in einer Zeit gebaut, als die Kenntnisse über die Dauerhaf­tigkeit von Stahlbeton rudimentär waren und noch keine Tausalze für die Schnee- und Eisräumung verwendet wurden. Entsprechend zeigten die der ­Witterung und den Tausalzen ausgesetzten Betonober­flächen nach geraumer Zeit Bewehrungskorrosionsschäden und deutliche Zeichen einer Alkali-Aggregat-Reaktion auf. Dies betraf besonders die Ganterbrücke, die 2007/08 nach nur 27 Betriebsjahren instand gesetzt werden musste.

TEC21: Der Entwurf kann also nur so gut sein, wie die technischen Kenntnisse bekannt sind?
Eugen Brühwiler: Dem ist so. Menn gab es zu denken, dass seine und andere Brücken so früh instandsetzungsbedürftig waren. Er äusserte unaufgefordert seine Bedenken – wenn es sein musste bis zum Bundesrat wie im Fall des Felsenauviadukts. Ausserdem beschäf­tigte er sich als ETH-Professor in der Forschung mit der Dauerhaftigkeit von Stahlbeton und Methoden zur Instandsetzung von Stahlbetonbrücken. Er war beispielsweise fasziniert von der UHFB-Technologie und erkannte das Potenzial, die Betonbauweise damit dauerhaft zu verbessern. 2014/2015 wurde diese Technologie weltweit erstmals in einem Grossprojekt eingesetzt: für den Chillon-Autobahnviadukt am Genfersee (TEC21 47/2014 «Ultrahochleistungs-Faserbeton in der Praxis»). Während der Projektierungsphase hinterfragte Menn im persönlichen Gespräch mit mir Aspekte dieser Anwendung. Als 85-Jähriger half er mir so, diese Grossanwendung zu konsolidieren.

TEC21: Freunde, Kollegen und am Brückenbau Interessierte haben das Gespräch mit Menn gesucht. Dieser Austausch zwischen Jung und Alt ist heute nicht selbstverständlich.
Eugen Brühwiler: Menn war auch nach seiner Emeritierung aktiv, vor allem für Bauherrschaften und Ingenieurfirmen aus dem Ausland. Er hatte eine gewisse Präsenz in den Medien und erhielt Anfragen für Vorträge, denn er war bekannt für seine inspirierenden Brückenprojekte und markanten Aussagen. Er nahm diese Anfragen gern und pflichtbewusst an. Wenn es ihm zu viel wurde, bat er mich, ihn zu vertreten. Zudem wussten Berufskollegen seine zuweilen patriarchalisch formulierten Ratschläge zu schätzen, denn diese konnten durchaus Garant sein für ein ausgewogenes Brückenprojekt. Und nicht zuletzt war Menn von diesem Austausch mit jüngeren Kollegen abhängig, denn er musste seine Entwürfe mit Visualisierungen auf Papier bringen und mit statischen Berechnungen und Modellen nachweisen. Dies war nur durch eine enge Zusammenarbeit mit Ingenieurbüros ­möglich.

TEC21: Und wie reagierte er auf die Änderung des Berufsbilds der Ingenieure über die letzten Jahrzehnte?
Eugen Brühwiler: Sie war ihm keinesfalls gleichgültig – im Gegenteil. Er schrieb Leserbriefe, hielt Vorträge und verfasste Beiträge in den Medien. Er hat versucht, ­seiner Sorge um den Ingenieurberuf Ausdruck zu verleihen, indem er unermüdlich forderte, dass der Bauingenieur wieder die Federführung im ­Brückenentwurf übernimmt. Denn abgesehen von der Erfüllung der normierten, technischen Anfor­derungen, die vom Ingenieur immer garantiert werden muss, sind die Wahl des Tragsystems und die grundlegende Formgebung primär Ingenieur­aufgaben. Leider delegieren viele Ingenieure ihre Gestaltungsfragen an den Architekten, manchmal gar den gesamten Entwurf. Dadurch sind die Inge­nieure immer mehr zu Handwerkern, zu Ausführenden geworden, statt Führende im Bau­wesen zu bleiben.

TEC21: Solche Meinungen vertrat Menn durchaus energisch.
Eugen Brühwiler: Er sorgte sich um den Berufsstand. Ich interpretiere seine spontanen, manchmal zornigen Aussagen auch als Ohnmacht gegenüber Meinungen und Ansichten, an denen nicht zu rütteln war und die er als falsch erachtete. Hinzu kam, dass er oft daran zweifelte, dass seine Projektideen richtig verstanden würden. Er befürchtete, man würde sie verändern. Seine Leidenschaft für das Ingenieur­wesen war gross – ebenso sein Leidensdruck. Es hat mich be­eindruckt, wie auch ein anerkannter «Weltstar des Brückenbaus» andauernd um Anerkennung für seine Standpunkte kämpfen musste.

TEC21: Weshalb setzte er sich diesem Druck aus und plante und beriet bis ins hohe Alter?
Eugen Brühwiler: Es war sein Lebensstil. Der Brückenbau mit allen seinen Facetten war ihm wichtiger als manch anderes. Sogar an seinem 80. Geburtstagsfest dis­kutierten wir spät abends noch über die aerodynamische Funktionsweise von breiten, aufgelösten Fahrbahnträgern für Hängebrücken. Er ist nicht umsonst einer der grössten Brückenbauer, der viel kreiert, un­eigennützig gelehrt und realisiert hat, der viel nachgedacht und gründlich recherchiert hat – und eine klare Haltung hatte. Seine Verpflichtung an die intellektuelle Ingenieurleistung ist beispielhaft. Er scheint daraus Energie gewonnen statt verloren zu haben.

TEC21: Worin fand Menn seine Inspiration?
Eugen Brühwiler: Zu Beginn inspirierten ihn vor allem die Brücken von Robert Maillart. Er analysierte sie und bewertete sie kritisch. Aber auch die Brücken von Berufskollegen und die Brücken aus früheren Zeiten wie die Steinbrücken der Rhätischen Bahn erkundete er systematisch, um das Wesentliche des Entwurfs herauszukristallisieren. Dadurch gewann er eine reiche Kenntnis der Geschichte des Brückenbaus und der Ingenieurbaukunst.

TEC21: Von diesem Wissen profitierte er in seiner Entwurfsarbeit. Können auch wir davon profitieren?
Eugen Brühwiler: Auch wenn nicht alle seine Brückenentwürfe gebaut oder gemäss der ursprünglichen Entwurfsidee ausgeführt wurden, können aufmerksame Ingenieure aus diesem beachtlichen Werk wesentliche Impulse für ihre eigenen Entwürfe filtern. Es ist wichtig, dass wir ihm Sorge tragen, dann wird es nachhaltig bestehen bleiben und zu einem erfahrbaren Erbgut Schweizer Ingenieurbaukunst.

TEC21, Fr., 2019.06.07



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TEC21 2019|22-23 Christian Menn (1927-2018)

07. Dezember 2018Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Einzeleingriffe mit Gesamtkonzept

Während des aktuellen Umbaus des Kongresshauses und der Tonhalle in Zürich setzen sich die Ingenieure von Conzett Bronzini Partner eingehend mit zahlreichen Einzelbaustellen auseinander.

Während des aktuellen Umbaus des Kongresshauses und der Tonhalle in Zürich setzen sich die Ingenieure von Conzett Bronzini Partner eingehend mit zahlreichen Einzelbaustellen auseinander.

Mit der laufenden Instandsetzung wird das Kongresshaus in Zürich an die heutigen Anforderungen in puncto Gebäudetechnik, Tragwerk oder Brandschutz angepasst, um für die nächsten 50 Jahre nutzbar zu sein. Teile des Ensembles werden rückgebaut, um die Attraktivität des architektonisch einzigartigen Baus zu steigern. Die Innenräume werden heller, moderner, sicherer und flexibler nutzbar (vgl. «Intelligenter Schachzug»).

Auf Holz im Wasser fundiert

Der bestehende Gebäudekomplex besteht aus fünf einzelnen Baukörpern, die sich in unmittelbarer Nähe des Zürichsees befinden und von den Schwankungen des Seespiegels tangiert werden. Ehemals das frühere See­ufer bildend – der Bereich hin zum See wurde in den 1880er-Jahren nach Plänen von Stadtingenieur Arnold Bürkli aufgeschüttet –, ist der Baugrund setzungsempfindlich. Die Gebäude sind deshalb auf Pfählen fundiert.

Die 1895 erbaute Tonhalle und zu einem grossen Teil die Gebäudeerweiterung aus den 1930er-Jahren stehen auf Holz-, andere und später erstellte Bauteile auf Betonpfählen. Der Grundwasserspiegel folgt den Schwankungen des Seespiegels. Der tiefste Spiegel und damit die Fäulnisgrenze der Holzpfähle liegt etwa 0.60 bis 1.10 m über der bestehenden Gebäudesohle bzw. über den Pfahlköpfen. Die wichtigste Voraussetzung für eine lange Lebensdauer dieser Pfähle war somit gegeben.

Allerdings musste der konservierende Zustand auch während der Bauarbeiten bewahrt werden. Die Ingenieure von Conzett Bronzini Partner planten deshalb eine ausgeklügelte Grundwasserhaltung und ­detaillierte Bauetappen unter Terrain und Grundwasserspiegel wie Betonieren und Ausheben unter Wasser. So gewährleisteten sie, dass die bestehenden Holzpfähle auch bei über 5 m tiefen Baugruben, die für die Erweiterung nötig waren, nie trockengelegt und somit nie dem schwer kalkulierbaren Fäulnisprozess aus­gesetzt waren.

Um die Wasserdichtigkeit des Fundaments zu bewahren, wurden Eingriffe in die bestehenden Bodenplatten nur dort vorgenommen, wo es zum Beispiel für neue Kanalisationsrohre nicht anders ­möglich war. Die Nahtstellen sind auch nach der Bauphase zugänglich, falls nötig wird man nachinjizieren. Der durchdachte Grundbau ermöglichte es, die Fundamenterweiterungen inklusive zusätzlicher Pfahlgründungen nur durch punktuelle Eingriffe umzusetzen.

Tragwerk bewahren

Vergleichbar gingen die Ingenieure die Instandsetzung und Erweiterung des Tragwerks der Gebäude an. Um möglichst viel von der vorgefundenen Substanz zu ­bewahren und dennoch einen modernen Betrieb zu ­gewährleisten, sind bauliche Eingriffe bezüglich Gebäudetechnik, Brandschutz, Gebäudehülle und Erdbebensicherheit unumgänglich. Architekten und Ingenieure behandelten jeden Eingriff gesondert – allerdings mit einem ganzheitlichen, baustellenübergreifenden Ansatz. So sollte das vertikale Tragkonzept belassen werden. Dieses Vorgehen wird den denkmalpflegerischen und den wirtschaftlichen Interessen gerecht, denn ­zusätzliche Belastungen von bestehenden Bau­teilen werden vermieden und Tragreserven aus Nutz­last­veränderungen ausgenutzt.

Wo trotzdem neue Betonbauteile erforderlich sind, schliessen die Ingenieure sie monolithisch an die bestehende Konstruktion an. Dazu wird die Be­wehrung der angrenzenden Bauteile lokal freigelegt und mit den neuen Bauteilen vergossen. Beim Betonieren von neuen tragenden Wänden zwischen vorhan­denen Decken werden in der oben liegenden Decke ­Kernbohrungen erstellt, durch die der selbstverdichtende Beton gepumpt wird. Dieser in kurzen Etappen und mit relativ kleinen Baugeräten ausführbare Bauablauf ­berücksichtigt die örtlichen Gegebenheiten: ­Die mehrheitlich innen liegenden Bauteile sind meist nur über die bestehenden, teilweise schmalen Erschliessungswege zugänglich.

Eingriff für Eingriff klären

Bevor mit der Planung der Eingriffe begonnen werden konnte, war eine umfassende Aufnahme des Bestands erforderlich. Die Ingenieure lernten das Gebäude in seinen Details kennen, befassten sich mit seiner baulichen und statischen Geschichte, versuchten den Kräftefluss und die Konstruktion zu begreifen und analysierten das Potenzial. Über tausend Bestands­pläne unterschiedlicher Detaillierungstiefe und die statischen Berechnungen des Büros Maillart zum Kongresssaal­trakt geben Auskunft über die Tragkonstruktion der fünf Trakte. Andere Bauteile waren weniger gut dokumentiert, weshalb vorab viele Sondierungen nötig waren, um die Nachweise führen zu können.

Historischer Gartensaal neu eingebettet

In den 1980er-Jahren erfolgte mit der Erweiterung des Gartensaaltrakts inklusive Panoramasaal der radikalste Eingriff in den Bestand (vgl. «Bewegte Geschichte»). Diese Anbauten wurden nun abgebrochen, erhalten blieb der Gartensaal mit seiner filigranen Trag­konstruktion, ­dessen Untergeschoss und das Untergeschoss des Tagungszentrums. Die Neubauten mit einem Tragsystem aus Stahlbetonstützen mit aufgelagerten vorgespannten Unterzügen umschliessen die belassenen Gebäudeteile.

Die neuen Decken werden monolithisch mit dem Bestand verbunden und stabilisieren ihn so gleichzeitig horizontal. Vertikale Lasten werden kaum übertragen, um Zusatzbelastungen der vorgefundenen Stützen und deren Pfahlfundation möglichst zu ver­hindern. Das neue Restaurant auf der Terrasse über dem historischen Gartensaal wird als Stahlskelettbau konstruiert. Dieser Pavillon gibt die Lasten ausschliesslich auf die Decken und Stützen der Erweiterung ab, die auf Grossbohrpfählen oder, wo nicht anders möglich, auf Mikropfählen fundiert wurde.

Neu miteinander verzahnt

Die Verzahnung und die horizontale Stabilisierung erfolgten nicht nur rund um den Gartensaal, sondern über den gesamten Komplex. Dadurch wird dieser auch den aktuellen Anforderungen bezüglich Erdbebensicherheit gerecht. Die einzelnen Gebäudetrakte waren durch Dilatationsfugen getrennt. Sie fingen die längst abgeklungenen Bewegungen aus Temperaturänderungen im Gebäudeinnern und vor allem die Schwind- und Kriechvorgänge sowie die Setzungen der Fundamente auf.

Da im Erdbebenfall die Fugenweiten für ein unabhängiges Schwingverhalten der einzelnen Gebäudetrakte mit 1 bis 2 cm zu schmal sind, wurden sie im Bereich der Geschossdecken stellenweise vergossen. Die Gebäudetrakte verschmolzen miteinander und wurden insgesamt steifer. Zudem liessen die Ingenieure ohnehin notwendige Wände erdbebenstabil ausbilden oder vorhandene Betonwände lokal ertüchtigen.

Konservierte Stahlfachwerke

Verstärkt werden mussten auch die Dachkonstruktionen aus Stahl-Fachwerken, die die Tonhalle und das Kongresshaus überspannen. Die statische Nachrechnung zeigte, dass sie grundsätzlich genügend tragfähig und aufgrund des trockenen Raumklimas kaum korrodiert sind. Wegen der zusätzlichen Beanspruchungen aus Bühnen- und Gebäudetechnik musste das Dachtragwerk über dem grossen Tonhallesaal aber trotzdem statisch ertüchtigt werden.

Da die Stahlqualität Schweissungen nicht zuliess, lösten die Ingenieure sämtliche Anschlüsse an die bestehenden Stahlteile mittels Umfassungslaschen, Klemmen und Druckanschlüssen. Die Verstärkung wurde vorgespannt, damit diese bereits unter ständigen Lasten Kräfte abträgt und vorab keine plastischen Umlagerungen nötig sind – eine Bedingung, um den Bestand nicht unnötig zu beschädigen (vgl. «Stuck an feinen Drähten», Kasten unten).

Die detaillierten Eingriffe widerspiegeln die Verflechtung der Disziplinen. So unterschiedlich die einzelnen baulichen Eingriffe letztlich auch ausfallen, ihnen liegt ein gleicher Ansatz zugrunde: Originales möglichst als Ganzes zu erhalten und Neues interdisziplinär aufeinander abgestimmt an die Merkmale des Bestands anzuknüpfen.


Literatur:
Robert Maillart, Tonhalle und Kongresshaus, ETH-Bibliothek, Hochschularchiv ETHZ (HS 1085 : 1936/38-1)
Strategie Kongressstadt Zürich, Norbert Müller, Martina Glaser, Präsidialdepartement, Stadt Zürich
Arthur Rüegg und Reto Gadola (Hrsg.), Kongresshaus Zürich 1937–1939: Moderne Raumkultur, Zürich, gta Verlag, 2007
Sonja Hildebrand, Bruno Maurer und Werner Oechslin (Hrsg.), Haefeli Moser Steiger: die Architekten der Schweizer Moderne, Zürich, gta Verlag, 2007

TEC21, Fr., 2018.12.07



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TEC21 2018|49-50 Kongresshaus und Tonhalle Zürich

23. November 2018Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Zwischen hartem und weichem Verbauungsgrad

Bauvorhaben an Schweizer Seeufern sind situativ unterschiedlich – hier dicht besiedelter Raum, dort schützenswerte Moore. Oft ist den Orten aber eines gemeinsam: Sie sind nicht mehr natürlich. Die Uferzone wird zur Aufgabe für Ingenieure, die sich mit den Wellen- und Windverhältnissen auseinandersetzen.

Bauvorhaben an Schweizer Seeufern sind situativ unterschiedlich – hier dicht besiedelter Raum, dort schützenswerte Moore. Oft ist den Orten aber eines gemeinsam: Sie sind nicht mehr natürlich. Die Uferzone wird zur Aufgabe für Ingenieure, die sich mit den Wellen- und Windverhältnissen auseinandersetzen.

Viele Schweizer Seeufer sind nicht mehr natürlich. Sie wurden in den letzten Jahr­hunderten aufgeschüttet, um für Uferpromenaden, Bahntrassen und Strassen Land zu gewinnen. Naturufer – insbesondere mit flachem Verlauf – wurden in ­harte ­Verbauungen mit Geländesprüngen umgebaut. So geschehen beispielsweise um 1880 am Zürichsee oder am Vierwaldstättersee in Brunnen um 1870. Aquatisch und ökologisch wertvolle Wasserwechselzonen gingen unwiderruflich verloren. Solche künstlich erschaffe­ne Uferzonen rückzubauen, wie es der Naturschutz verlangt, oder zu renaturieren und die aquatischen Le­bensräume der Flachwasserzonen wiederherzustellen, ist in Siedlungsgebieten oft nicht ohne Weiteres bzw. nur von der bestehenden Ufermauer her möglich. Denn mittlerweile stehen auf den Aufschüttungen Bauwerke.

Aus­serdem sind viele Seen inzwischen reguliert, und die natürlichen Prozesse haben sich grundlegend verändert. Jedes Projekt am geschützten Seeufer bedingt eine Ausnahmebewilligung. Diese einzuholen bedarf meist eines jahrelangen Planungsprozesses, der städtebau­liche oder landschaftsarchitektonische, ökologische und technische Aspekte zu berücksichtigen hat. Solche oft kontrovers diskutierten Projekte kann die öffentliche Hand nur dann angehen, wenn der Nutzungsdruck der Bevölkerung hoch ist, wenn sie als Nah­erholungsgebiete von grosser Bedeutung sind und wenn ein kompetentes Planungsteam dahintersteht.

Ähnliche Einwirkung – ungleiche Konzepte

Im naturgetreuen Zustand bildet sich am Ufer eines Flachwasserbereichs ein stabiler Seegrundverlauf aus, der sich dynamisch verändert. Harte Verbauungen stören dieses dynamische Gleichgewicht des Grundverlaufs, sodass heute an diesen Bauwerken ungewöhnlich hohe Wellen brechen und reflektieren – vergleichbar mit einer felsigen Küste. Die Bauten sind teilweise immensen Aufschlagbelastungen ausgesetzt, die vor allem in den Bauwerksfugen grosse Schäden anrichten und Kolklöcher verursachen. An vielen Orten wird der Seegrund vor den Uferbauten durch Wellenbewegungen erodiert, und es kommt zu Unterspülungen von Kon­struktionen. Zahlreiche Uferbauten sind daher instandsetzungsbedürftig und müssten umgestaltet werden. Eine diffizile Aufgabe.

In der Instandsetzung oder Renaturierung von Uferbauten verflechten sich ökologische, architektonische, politische und technische Themen. Exemplarisch zeigen dies die Seeufergestaltung im Zentrum von Brunnen (vgl. «Die Promenade am See»). und die ökologischen Aufwertungsmassnahmen am Seeufer im Moorgebiet Hopfräben (vgl. «Ein schmaler Pfad für mehr Natur»). Die beiden Standorte in der Gemeinde Ingenbohl, Kanton Schwyz, unterscheiden sich – hier der dichte Siedlungsraum, da ein schützenswertes, aber eingezwängtes Flachmoor. Dennoch sind sie landschaftlich eng verbunden. Ihre Ufer sind nach Süd-Südwesten ausgerichtet und den Wellen ausgesetzt. Die lange Streichlänge (freie Anlaufstrecke des Winds) von Süden und Westen her über den See mit starken, über Stunden konstanten Winden führt zu beachtlich hohen Wellen, und es können grosse Schwemmholzmengen auftreten.

Es ist die Aufgabe des Bauingenieurs, diese ­Prozesse im Wasser zu analysieren, daraus realistische Belastungsszenarien abzuleiten und die Bauwerke ­entsprechend zu dimensionieren – nicht nur die Trag-, sondern auch die Ermüdungssicherheit muss nachgewiesen werden (Bestimmung der Dimensionierungswellen, Risikoanalyse und daraus Ableitung sinnvoller Lastkombinationen). Neben den Nutzlasten sind Wellen und Strömungen weitaus die grössten Einwirkungen. Wellen erzeugen keine kontinuierlichen Kräfte, sondern Spitzenlasten, die durch Extremereignisse wie einen Sturm entstehen (wie bei Naturgefahren üblich unterscheidet man die Auftretenswahrscheinlichkeit – 30-, 100-, 300-jährliches Wellenereignis und Extremereignis). Strömungen wirken hingegen ständig und belasten Bauwerke dauerhaft.

Die Bauten im und am Wasser müssen beiden dynamischen Belastungen langfristig standhalten (vgl. «Wellen als Belastung», Kasten unten). Nur so können wirtschaftliche Bauwerke entstehen, die den hohen gestalterischen, ökologischen und technischen Anforderungen am See­ufer gerecht werden.

TEC21, Fr., 2018.11.23



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TEC21 2018|47 Dynamik am Seeufer

23. November 2018Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Die Promenade am See

Viele harte Verbauungen an Schweizer Seeufern sind über 100 Jahre alt. Ihre Instandsetzung und Aufwertung sind diffizile Aufgaben, da Wellen auf der einen und der Bevölkerungsdruck auf der anderen Seite auf die Uferzone prallen. Die neue Seeufergestaltung im siedlungsdichten Raum von Brunnen steht dafür exemplarisch.

Viele harte Verbauungen an Schweizer Seeufern sind über 100 Jahre alt. Ihre Instandsetzung und Aufwertung sind diffizile Aufgaben, da Wellen auf der einen und der Bevölkerungsdruck auf der anderen Seite auf die Uferzone prallen. Die neue Seeufergestaltung im siedlungsdichten Raum von Brunnen steht dafür exemplarisch.

Brunnen wandelte sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Kurort. Die Landschaft am Vierwaldstättersee zog den Tourismus an; die touristische Infra­struktur folgte. Insbesondere am ­See­ufer wurde grosszügig und mutig gebaut (Aufschüttung von Wehrihaggen, Waldstätterquai und -terrasse sowie Bellevuequai). Die heutige Ufer­anlage ­basiert in ihrer Disposition immer noch auf dieser his­torisch gewachsenen Grundlage. Über das letzte Jahrhundert ergänzt und sporadisch ausgebessert, ­entsprach sie aber in Teilbereichen nicht mehr den aktuellen Anforderungen. Der Zugang zum Wasser für die Bevölkerung über die Uferpromenade sollte ver­bessert und das Bauwerk instand gesetzt werden.

2005 lobte die Gemeinde Ingenbohl einen Studienauftrag aus. Dettling Wullschleger Architekten mit Ryffel + Ryffel Landschaftsarchitekten gewannen und wurden 2006 zusammen mit den Ingenieuren von ­Staubli, Kurath & Partner mit der Projektausarbeitung beauftragt. Seit Sommer 2016 ist die erste von vier Etappen realisiert. Die Uferlinie erscheint neu mit einem rund 70 m langen und fast 4 m breiten Seesteg und einer Treppenanlage mit Sitzstufen beim Bootssteg. Dabei griff das Planerteam die ­his­torische Gestaltung auf und verknüpfte die nutzungsspezifischen Aspekte mit den statischen und ­sicherheitsrelevanten Anforderungen so, dass sie das architektonische Konzept stützen.

Konsequenz aus Belastung und Nutzung

Bei mittlerem Seewasserstand befindet sich der Seesteg nur etwa 0.6 m über dem Wasser. Die zwei untersten Stufen der Treppenanlage sind permanent überspült. Damit die Ingenieure eine Konstruktion entwickeln konnten, die spezifisch auf den Kontext mit seinen statischen Rahmenbedingungen reagiert, und damit bei Sturmereignissen keine Schäden durch Überbelastung, schädliche Erosionsprozesse oder Materialverfrachtungen entstehen, wurden die Prozesse im Wasser genau analysiert. An diesem Ufer treten rechnerisch signifikante Wellenhöhen von 1.6 m auf. Die einzelnen Maximalwellen sind sogar nochmals 80 % grösser. Während der Föhnlage trifft die für die Bemessung der Uferverbauung relevante Welleneinwirkung auf der gesamten Länge gleichzeitig auf.

Ausserdem ist der Baugrund schwierig. Die oberen Schichten bestehen aus einer künstlichen Aufschüttung, die im Rahmen der Quaiverbreiterung und beim Bau der alten Ufermauer eingebracht wurde. Sie enthält grosse Blöcke, was die Rammbarkeit stark beeinträchtigte und die Wasserhaltung beim Trockenlegen der Baugrube erschwerte. Darunter folgt eine setzungsempfindliche, schlecht tragfähige Schicht. Die neue Uferverbauung steht nun auf schwimmenden Pfählen, die 30 bis 40 m in den Baugrund reichen. Auf den Pfahlköpfen lagern ein Fundamentriegel und darüber die Oberkonstruktion. Sie ist an den Auflagern gefugt. Die Fugen und die sich daraus ergebende statische Bestimmtheit des Tragsystems verhindern, dass die differentiellen Setzungen das Tragverhalten infolge unerwünschter Zwängungen beeinflussen.

Weil die Seetreppe durchlässig ausgestaltet wurde, gelangt ein Teil der Wellenenergie in den darunter liegenden Hohlraum. Dort wurde ein massiver Blockwurf eingebaut, der die Wellenenergie vernichtet und dadurch die auf das Bauwerk wirkende Belastung markant reduziert. Die Brüstungen entlang des Seestegs und die Treppenstufen sind seeseitig abgeschrägt. Auch diese angewinkelte Untersichtsfläche reduziert die Wellenkraft auf die Verbauung, da die senkrecht auf das Ufer treffenden Wellen wieder auf den See zurückgeworfen werden. Der Hohlraum unter der Treppe ist zugleich Unterschlupf für Jungfische und Wassertiere. Damit und mit den teils nicht begehbaren Kiesstränden und neuen Blockwürfen beim Seesteg erhält die Situation auch punktuelle ökologische Aufwertungen.

Was unbeschwert erscheint, ist ein detailliert ausgearbeitetes Projekt, das auf die spezifische ­Wellen- und Windsituation vor Ort abgestimmt ist. Die
Konstruktion der Uferzone verhindert eine schadensreiche Erosion und einen übermässig belastenden ­Wellenschlag. Obwohl das Bauwerk nach wie vor eine unnatürliche und harte Verbauung ist, beruht es auf einem Eingriffskonzept, das die gestalterische, technische und sicherheitsspezifische Massnahmen verträglich mit den Nutzungsbedürfnissen vereint.

TEC21, Fr., 2018.11.23



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TEC21 2018|47 Dynamik am Seeufer

Ein schmaler Pfad für mehr Natur

Das Naturschutzgebiet Hopfräben liegt am Ufer des Vierwaldstättersees, der Zugang zum Wasser ist teilweise verbaut. Die Renaturierung des Verlandungsbereichs wurde mit einer Schutzplanung für das dahinter liegende Flachmoor kombiniert.

Das Naturschutzgebiet Hopfräben liegt am Ufer des Vierwaldstättersees, der Zugang zum Wasser ist teilweise verbaut. Die Renaturierung des Verlandungsbereichs wurde mit einer Schutzplanung für das dahinter liegende Flachmoor kombiniert.

Schwyz ist ein Voralpen- und Moorkanton. Wohl am bekanntesten ist Rothenthurm. Diese Hochmoorlandschaft hatte die Schweiz vor 31 Jahren zur Annahme des Moorschutzartikels verleitet. Seither sammelt die kantonale Umweltbehörde wichtige Erfahrungen, wie das strenge Gesetz für Eigen­tümer, Nutzer und Besucher verbindlich umgesetzt ­werden kann. Im Moor darf an sich nichts verändert werden, und auch die Zugänglichkeiten sind zu beschränken. Verbote funktionieren aber nicht immer. Gemäss Remo Bianchi vom Amt für Natur, Jagd und Fische­rei des Kantons Schwyz werden Lösungen häufig besser akzeptiert, wenn sie auch gegensätzliche Ansprüche verbinden. «Konkret heisst das: Zwischen Naturschutz und Naherholung gilt es einen Ausgleich zu finden.» Auch im Hopfräben direkt neben dem Siedlungsgebiet von Brunnen wird nun ein solcher Spagat geübt.

Grossräumlich ist der Standort eine der wenigen Flachuferzonen am Vierwaldstättersee. Im Kern enthält diese Landzunge ein Streuried als letzten Rest des Muota­deltas. Das Areal steht auf der Liste der Flachmoore von nationaler Bedeutung. Es ist bäuerliches Grundeigentum und wird standorttypisch genutzt und gepflegt. Die knapp sieben Fussballfelder grosse Fläche besticht durch ihre ökologische Qualität: Sauergräser, Schilfgürtel und Wasserpflanzen bilden die ökologisch wertvolle Vegetation; Fische, Wasservögel und Amphibien profitieren von der Verlandungszone, so gut es eben geht.

Denn wie der Augenschein vor Ort verrät, drängt der Mensch bis hart an den Rand. Das Feuchtbiotop wird von Gewerbe- und Erholungsinteressen in die Zange genommen. Im Norden und Süden steckt je ein Campingplatz den Schutzperimeter ab. Im Nordwesten bildet eine öffentliche Badeanstalt die künstliche Grenze. Und auch eine Kieswaschanlage gehört zur einengenden Nachbarschaft. Einen Puffer, der Raum für die natürliche Dynamik bieten würde, gibt es kaum. Doch auch für Wanderer, Biker und Hundefreunde ist das Muotadelta attraktiv. Örtliche Hängegleiterschulen peilen eine nahe gelegene Landewiese an. Fussgänger suchen derweil eine Abkürzung dem Vierwaldstättersee entlang. Misslungene Anflugmanöver und Trampelpfade hinterlassen mehr als nur temporäre Spuren im empfindlichen Feuchtgebiet.

Im Einzelnen und in der Summe sind die Störungen für die besondere Flora und Fauna uner­träglich und unkontrollierbar geworden. Um weitere Konflikte zu verhindern, hat die Kantonsbehörde vor zweieinhalb Jahren einen Schutzplan in Kraft gesetzt. Die einvernehmliche Lösung mit Grundeigentümern, Nachbarn und der Gemeinde wartet nun auf den Abschluss ihrer Umsetzung. Ausstehend ist die Bewilligung dreier Einzelprojekte, die gemeinsam der ökologi­schen Aufwertung von Uferzone und Flachmoor dienen.

Widerstand an den Grenzen

Die ersten Schritte zum Schutz des Feuchtstandorts unternahm die Gemeinde Ingenbohl vor fast einem halben Jahrhundert. Aber erst 2011 wurde die Dringlichkeit der Angelegenheit erhöht. Bis 2016 verhandelten die Behörden von Brunnen und des Kantons Schwyz mit Eigentümern und Nutzern über eine Neuordnung des räumlichen Geflechts. Eine ökologische Bewirtschaftung mit Düngerverbot wurde nie infrage gestellt. Die härteren Nüsse waren an den bisherigen Grenzen zu knacken: Weil die Schwyzer Behörde den Abstand zwischen Flachmoor und Erholungsnutzung vergrössern wollte, sprach man mit den Nachbarn über eine Umlegung der Campingplätze westlich und östlich des Biotops. Einer wehrte sich juristisch dagegen. Ohne Erfolg: Das Bundesgericht lehnte die Beschwerde ab.[1]

Anfang 2016 setzte der Kanton Schwyz den neuen Nutzungsplan Hopfräben in Kraft. Im Osten muss der Zeltplatz Flächen für eine Pufferzone freigeben. Im Gegenzug wird das davor liegende Seeufer zu einem attraktiven Badeplatz umgestaltet. Ein Sichtschutz und ein kleines Fliessgewässer sollen den öffentlichen Bereich vom Flachmoorperimeter abtrennen. Denn ennet dieser neuen Grenze erhält die Natur nun Vorrang. ­Dafür muss das harte Seeufer aber aufgeweicht werden.

Aktuell schützt ein künstlicher Damm aus Abbruchmaterial das natürliche Hinterland; dieser wird gemäss Renaturierungsprojekt durch einen Überflutungsbereich mit Graben und Teich ersetzt. Danach soll ein künstliches Unterwasserriff 25 m seeseitig der heutigen Uferkante den Wellenbelastungen standhalten und trotzdem dynamische Umlagerungsprozesse ermöglichen. Seine Oberkante liegt 20 cm unter dem Mittelwasserspiegel, sie soll die anlaufenden Wellen brechen und zugleich in der Flachwasserzone verhindern, dass das Moorufer erodiert. Je nach Wasserstand, Wellen- und Windsituation wirkt das Riff unterschiedlich. Die Ingenieure dimensionieren es mithilfe von Wellenmodellierungen und binden es im Untergrund ein, damit es selbst nicht erodiert oder von den Wellen zerstört wird.

Dank dem Dammrückbau wird die Verbindung zwischen Moor und See wiederhergestellt, und beide Ökosysteme werden vernetzt: Wasservögel, Fische und Amphibien finden im verzahnten Ufer zusätzliche Brut- und Laichplätze. Auf dem Wasser ist zudem ein 200 m breiter Streifen mit Bojen markiert; das Seeufer vor dem Hopfräben ist für Schwimmer und für das Befahren oder Ankern mit Booten neuerdings tabu.

Die Natur am Ufer gewinnt

Die Abflachung des Ufers wird auch in den Bereichen fortgesetzt, die als kommunale Badezone zugänglich sein werden. Hierfür werden massive Steinblöcke entfernt, um flache Strände und Kiesbuchten ausbilden zu können. Damit die uferparallele Strömung das Mate­rial des neugestalteten Abschnitts nicht verfrachtet und dieses den Einlauf des Hechtgrabens verstopft, werden Umlenkbuhnen rechtwinklig zum Ufer bis in eine Was­ser­tiefe von 2.5 m gezogen.

Während die Natur am Ufer gewinnt, steht am Nordrand der Flachmoorparzelle die Naherholung im Vordergrund. Die kantonale Schutzplanung sieht hier einen neuen Wanderweg vor, der mehrheitlich durch die Pufferzone und teilweise über den Rand des Streurieds führt. Den Hopfräbenweg hiess das Bundesgericht in Lausanne gut. In der Urteilsbegründung wurde die Strategie anerkannt, die sich die Schwyzer Planungsbehörde zur Entflechtung der Nutzungen ausgedacht hatte. Der schmale Moorpfad soll weitere Störungen vermeiden und eine «schutzverträgliche Besucherlenkung» ermöglichen. Vorgesehen ist ein Weg auf Holzprügeln und mit Kiesab­deckung, der höchstens 1.4 m breit ist. Als Sichtschutz für die Vögel auf der Riedfläche können halboffene Palisaden oder Sträucher dienen.

Aktive Beteiligung, hängige Beschwerde

Der Hopfräben hat eine lange Geschichte. Das bezieht sich auf die natürliche Entstehung und inzwischen auch auf die Anerkennung der ökologischen Werte: Bereits im frühen Mittelalter wird die Verlandungszone urkundlich erwähnt. Ab dem 16. Jahrhundert wird sie sogar zum Fischereischongebiet erklärt. Und Ende des letzten Jahrhunderts setzt sich die Besorgnis durch, dass der Rest der einstigen Moorfläche besseren Schutz verdiene.

Inzwischen beteiligen sich weitere Kreise aktiv an der Aufwertung des naturnahen Standorts: Das Elektrizitätswerk des Bezirks Schwyz will hier verfügbaren Raum nutzen für einen ökologischen Ausgleich zur Wasserkraftgewinnung an der benachbarten ­Muota. Eine zusätzliche Gewässerrinne in der Moorpufferzone soll dem seltenen Bachneunauge neue Laichplätze bieten.

Und am Ufer könnte eine Bucht dem Hecht als Rückzugsort dienen. Beide Eingriffe würden gleichzeitig eine Trennlinie zwischen öffentlichem Seeufer und Biotop bilden. Das Konglomerat an baulichen Massnahmen wird dazu führen, dass der Flora und Fauna sowie dem Menschen eigene Nutzungsräume zugewiesen werden.

Insofern scheint ein glückliches Ende vieler ­Bemühungen in Sicht; gut ist es, trotz ausdiskutierten Projekten und zur Genehmigung eingereichten Plänen, aber noch nicht. Abermals steht die Bereinigung eines juristischen Streits aus. Die Schwyzer Umweltorganisationen wehren sich gegen den Abbruch eines alten Badehauses am Aufwertungsufer; auch der Kanton rügt die Gemeinde deswegen. Ein gültiger Entscheid dazu steht aber noch aus, weswegen auch die Baubewilligung sistiert ist. Klarheit herrscht hingegen, was am Ufer vor dem Flachmoor geschehen darf: Um die Fauna vor äusseren, physischen und visuellen Störungen besser abzuschirmen, muss nun auch hier ein Sichtschutz erstellt werden, dessen Höhe sich an Standards in anderen Naturschutzgebieten orientiert. Diesen Vorschlag der Naturschutzorganisationen hat die kommunale Bewilligungsbehörde als Zusatzauflage akzeptiert. Somit stünde der baldigen Aufwertung des Flachmoors Hopfräben inklusive Ufer nichts mehr im Weg.


Anmerkung:
[01] Bundesgerichtsentscheid (BGer) 1C_222/2015 vom 26. Januar 2016.

TEC21, Fr., 2018.11.23



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TEC21 2018|47 Dynamik am Seeufer

«Die Natur vor sich selber schützen»

Am Seeufer von Brunnen in der Gemeinde Ingenbohl wird geplant und gebaut. Die Projektbeteiligten tauschen sich aus über Ansprüche, die sie zu erfüllen, und über Interessen, die sie zu vertreten haben. Wo waren und sind die Hürden, was wünscht man sich am Seeufer, und was ist unmöglich zu realisieren?

Am Seeufer von Brunnen in der Gemeinde Ingenbohl wird geplant und gebaut. Die Projektbeteiligten tauschen sich aus über Ansprüche, die sie zu erfüllen, und über Interessen, die sie zu vertreten haben. Wo waren und sind die Hürden, was wünscht man sich am Seeufer, und was ist unmöglich zu realisieren?

TEC21: Sie haben am Seeufer des siedlungsdichten Raums von Brunnen gebaut (vgl. «Die Promenade am See»), und Sie planen bauliche Aufwertungsmassnahmen rund um ein benachbartes Naturschutz­gebiet, das Flachmoor Hopfräben (vgl. «Ein schmaler Pfad für mehr Natur»). Zwei sehr gegensätzliche Gebiete am Seeufer mit unterschiedlichen Anforderungen an die Eingriffskonzepte. Ohne ins Detail zu gehen, ist ihnen aber ein langjähriger Planungs­prozess gemeinsam.
Albert Auf der Maur: Das ist in der Tat so. Verbauungen am Seeufer dauern lang – in unserem Fall dauert die Planung bereits Jahrzehnte. Die erste Etappe in Brunnen ist nun aber umgesetzt. Beim Hopfräben sind wir noch in der Planung.
Beat Schuler: Kernelement ist der Zugang zum Wasser. Insgesamt sollen beide Orte an Attraktivität gewinnen und trotzdem den Sicherheits- und ökologischen Anforderungen entsprechen.
Richard Staubli: Wir sind oft bei Seeufer­planungen involviert und bemerken, dass nicht unbedingt der schlechte Zustand beispielsweise von ­Hafenmauern der Auslöser für eine Erneuerung ist, sondern im Siedlungsgebiet vielmehr der Nutzungs­druck durch die Bevölkerung. Um 1900 baute man an vielen städtischen Uferbereichen Prome­naden rund 2 m über dem Seespiegel. Man flanier­te, hatte aber keinen eigentlichen Bezug zum Wasser. Heute wird gerade dieser Punkt zum Thema. Die Be­völkerung möchte näher ans Wasser. Nicht nur an Seen, auch an Flüssen. Die Uferanlagen sind an schönen Tagen teilweise so rege genutzt, dass man sie erweitern und attraktiver gestalten möchte. Bei einem Eingriff ist man mit den bestehenden, 50 bis 100 Jahre alten Strukturen konfrontiert und ent­sprechend mit den Werten, die es zu erhalten gilt. Andererseits ist ein Grossteil der See- und Fluss­ufer in der Schweiz künstlich verbaut, und man ist bestrebt, solche Uferzonen wo möglich zu renaturieren.

TEC21: Steht die Zugänglichkeit zum Wasser denn nicht im Widerspruch zu Sicherheitsfragen?
Albert Auf der Maur: Das war in der Tat der grosse Dis­kussionspunkt für die lokale Bevölkerung. Die Ufer­promenade ist exponiert. Ein Föhnsturm am Quai bedeutet, alle Kursschiffe ­fahren in den Föhn­hafen, und die Wellen schwappen bis über die Kantons­strasse. Baumstämme und Holz werden in Massen an­geschwemmt. Die erste Erneuerungs­etappe der Ufer­zone im Siedlungsbereich von Brunnen aber schafft Zugänglichkeit und ist sicher zugleich. Die Sicher­heit von früher ist auch heute noch gewährleistet.
Richard Staubli: Es gibt verschiedene Arten von Sicherheit. Für den Ingenieur ist gewiss die Tragsicherheit der Bauwerke wichtig. Im Wasser sind Bauwerke über längere Zeiträume wenig belastet, doch plötzlich treten bei Sturm Spitzenbelastungen auf. Das Bauwerk sollte auf die­se Extreme ausgelegt sein und ­keinen Schaden nehmen. Welche Wellen kom­men mit welcher Jährlichkeit aus welcher Richtung? Wenn wir das Bauwerk entsprechend dimensionieren, müssen wir unter Umständen relativ harte Verbau­ungen einplanen. Das steht aber mit ökologischen As­pekten im Konflikt – insbesondere in einem ökologisch wertvollen Raum wie den Uferzonen. Zudem gilt es die Sicherheit der Bevölkerung zu beachten. Wie na­h darf der Mensch – insbesondere das Kind – ans Wasser? Braucht es ein Geländer? Die politische Behörde muss die verschiedenen Ansprüche abwägen und entscheiden, welche Risiken sie übernehmen kann.
Stephanie Matthias: Speziell die Frage, ob es ein Geländer benötigt, ist individuell zu beurteilen. Bei Rampenabgängen gewährleistet dieses die Absturzsicherheit. An der Uferkante von Brunnen ist die ­­Absturzhöhe allerdings so gering, dass man sich bewusst gegen ein Geländer entschieden hat.

TEC21: Wie werden die ökologischen Aspekte berücksichtigt?
Kuno von Wattenwyl: Die Fischereigesetzgebung ist besorgt um Fisch, Krebs und Fischnährtiere – also alles, was Fische fressen – und um deren Lebens­raum. Bei Verbauungen und auch bei der ­Neugestaltung von Verbauungen fordert sie eine ökologische Verbesserung dieses Lebensraums. Dabei weiss man: Kiesstrände oder Flachuferzonen, even­tuell mit Schilf bepflanzt, sind ökologisch viel wert­voller als ein harter Abschluss durch eine Mauer. Meine erste As­­so­ziation zum gestalterischen Plan, das Wasser am Ufer von Brunnen erlebbar zu machen, war daher ein Kies­strand. Man kann direkt ans Wasser gehen, sieht vielleicht einen Fisch, kann Steine ins Wasser werfen, zugleich wird aber auch der Fisch­lebensraum aufgewertet. Doch diese vielleicht naive Vorstellung stiess auf ­Widerstand. Daher war zu ­verhandeln, welche Aufwertungsmassnahmen den ökologischen Zustand tatsächlich verbessern können.

TEC21: Welche Aufwertungsmassnahmen sind das?
Kuno von Wattenwyl: Grundsätzlich können das unterschiedliche Massnahmen sein. Sie reichen vom totalen Rückbau der Ufermauer über die Schaffung neuer Laichplätze und einer neuen Uferbestockung bis zum Anlegen einzelner Fischunterstände. In Brunnen hat man sich für eine Treppe entschieden, die ins Wasser reicht und hohl ist. Der Hohlraum – ein ­Fischunterstand – ist für aquatische Lebewesen erreichbar. Das ist aber eine Kompromisslösung, weil damit der vorhandene aquatische Lebensraum nur minimal aufgewertet wird.
Richard Staubli: Die Schüttung eines grossflächigen Flachstrands wäre aufgrund des steil abfallenden Seegrunds nicht möglich gewesen, ohne die Stabilität des Geländes zu beeinträchtigen. Uferzonen in städtischen Gebieten bergen diesen typischen Konflikt zwischen verschiedensten Interessen. Einerseits haben wir den Menschen, der das Gebiet nutzen möchte und mit seinen Verbauungen und Nutzungen die Ökologie stört. Andererseits sollen wir die Öko­logie verbessern.
Stephanie Matthias: Auch an die Schifffahrt mussten wir denken. So wollte man auf keinen Fall badende Gäste in der Nähe des Anlegestegs. Ein Badeverbot ist aber schwierig umzusetzen, wenn der Strand zum Baden einlädt. Eine Badestelle ist nun etwas ausserhalb der Quaizone, im Umfeld des Naturschutzgebiets Hopf­räben, vorgesehen.
Kuno von Wattenwyl: Ein Knackpunkt ist auch, dass Flachuferverbauungen mehr Platz an Land ­benötigen. Und dieser war beim vorliegenden Projekt schlicht nicht vorhanden.

TEC21: Auf welche Variante konnte man sich einigen?
Kuno von Wattenwyl: Für die harte Verbauung im Siedlungsraum bediente man sich eines Kunst­griffs: Dem Projekt wurde eine nahe gelegene­ Aufwertungsmassnahme am See zugeschlagen. In der Bewilligungspraxis ist es nicht verboten, Aus­­gleichsmassnahmen ausserhalb des eigentlichen Projektperi­meters umzusetzen. Allerdings ist eine naturräumli­che Nähe zum Projekt sinnstiftender als eine weit entfernte Ausgleichsmassnahme.

TEC21: Oft wirken ökologische Massnahmen aufgesetzt ­beziehungsweise kommen zu einem späten Zeitpunkt hinzu. Sind sie denn nicht gestalterisch in die Architekturplanung eingebunden?
Richard Staubli: Bei Projekten dieser Grössenordnung werden Wettbewerbe für Architektur oder Landschaftsarchitektur durchgeführt. Im Siedlungsgebiet sind es städtebauliche und architektonische Überlegungen, die zur Gestaltung führen; das Projekt basiert weniger oder kaum auf ökologischen Aspekten. Erst nachträglich beginnt man örtliche Massnahmen wie Fischnischen oder Blocksteine anzuordnen. Der gestalterische Spielraum für solche späteren Einzelmassnahmen im Gesamtkonzept ist klein. Hier müss­te man ansetzen und die ökologischen Gesichtspunkte bereits frühzeitig in den Wettbewerb einbringen.
Kuno von Wattenwyl: Entwickelt man ein technisches Bauwerk und baut am Schluss die Ökologie ein, die ebenso notwendig ist, dann sieht das Projekt aus ökologischer Sicht ganz anders aus, als wenn man es als Ökologieprojekt beginnt und nachher die Hochwassersicherheit einbaut. Es war hier kein wirkliches Ökologie-, Renaturierungs- oder – was es eigentlich hätte sein sollen – Revitalisierungsprojekt.
Sandro Betschart: Aus Sicht des Gewässerschutzes war der erweiterte Perimeter durchaus ­zweckerfüllend. Denn es ist schwierig, den Raum in städtischen Gebieten so aufzuwerten, dass er der Natur stark dient. Es liegt an uns Verantwortlichen, sich auf einen Kompromiss einzulassen und zu ­schauen, wo es sich lohnt zu kämpfen. Die Seeufer­verbauungen im Zentrum von Brunnen und im ­naturnahen Gebiet Hopfräben bilden daher sich gut ergänzende Gegensätze.
Albert Auf der Maur: Diese Kombination wurde auch möglich, weil Gemeinde und Kanton eng zusammengearbeitet haben.
Stephanie Matthias: Allerdings war es Zufall, dass die jahrzehntelangen und aufwendigen Planungspro­zesse der beiden an und für sich getrennten Projekte zeitlich schliesslich zusammengefallen sind.

TEC21: Die Uferverbauung beim Flachmoor Hopfräben ist erst noch in Planung.
Stephanie Matthias: Das Projekt nahm seinen Anfang vor 40 Jahren. Wie die Uferzone in Brunnen ist auch die Landzunge vor dem Hopfräben künstlich aufgeschüttet worden. Dieses Gebiet war immer ein beliebter Rückzugsort für die Bevölkerung. Nun ist ­ge­plant, dass knapp 100 m des öffentlich zugänglichen Damms zurückgebaut werden, um das geschützte Flachmoor mit dem offenen Gewässer aquatisch wieder zu vernetzen. Für die Bevölkerung sollen Badebuchten erstellt werden, und zudem wird eine grössere Liegewiese geschaffen. Mit einer konsequenten Besucherlenkung trennt man Naturschutzgebiet und öffentliche Nutzung.
Albert Auf der Maur: Aber Nachbarn und Schutz­organisationen werden Einsprachen machen.
Stephanie Matthias: Wir führen bereits Einigungs­gespräche. Die Interessen des Menschen und der Ökologie widersprechen sich: Camping, Erschliessung der Ufer, Kieswerk, Kiesgewinnung bei der Muotamün­dung, Flachmoor und so weiter. Der bereits in Kraft gesetzte Teilzonenplan hilft, die Interessen gegeneinander abzuwägen. Zusammen mit dem Nutzungsplan und der Schutzverordnung ist es dieser Abwägung und einer guten Kommunikation zu verdanken, dass wir das Projekt überhaupt umsetzen können.

TEC21: Kann man trotz der künstlichen Verbauung an ­beiden Orten von guten ökologischen Beispielen ­sprechen?
Sandro Betschart: Durchaus. Wir haben die Situa­tion sicher nicht verschlechtert. Der Dialog fand statt, und die unterschiedlichen Disziplinen haben sich ausgetauscht. Früh miteinander reden heisst früh selber denken und eruieren, wie man die einzelnen Fach­aspekte in das Projekt konstruktiv einbinden kann.
Richard Staubli: Auch in der naturnahen Zone müssen wir verhindern, dass das Ufer durch Wellen weg­erodiert wird. Aus Sicht der Wellenbelastung finden wir beim Hopfräben eine ähnliche Ausgangslage vor wie am Quai von Brunnen. Es handelt sich um eine exponierte Lage mit einer starken Wellenbelastung bei Sturm. Aber während wir bei der Seeufer­gestaltung in Brunnen eine harte Kante dagegen ­setzen, nutzen wir im Hopfräben weichere und naturnähere Mittel. Mit einem vorgelagerten Riff werden ein Teil der Wellenenergie vernichtet und die Ufer­zone geschützt.
Kuno von Wattenwyl: Es ist eine schizophrene ­Situation. Man schützt die Natur vor sich selber, weil man sie vorher so eingeengt hat, dass sie sich nicht mehr ausbreiten kann. Wir haben der Natur die Dynamik weggenommen.

TEC21: Wie stehen die Erfolgsaussichten?
Kuno von Wattenwyl: Ob es ein Erfolg wird, ist gar nicht so einfach zu sagen. Beim Hopfräben besteht die Möglichkeit einer Erfolgskontrolle. Bei der Verbau­ung im Zentrum von Brunnen gibt es weder Vor- noch Nachaufnahmen – das war damals noch nicht not­wen­dig. Es wäre mir für weitere Projekte ein wichtiges Anliegen, dass das Ziel der ökologischen Aufwertung definiert wird. Dazu gehören entsprechende Massnahmen und messbare Indikatoren. Bei Aufwertungen ist es wichtig, kleine Strukturen für die Flora und Fauna zu schaffen.
Richard Staubli: Wir Ingenieure verfassen für unsere Projekte jeweils eine Nutzungsvereinbarung. Darin ist zum Beispiel festgehalten, wie weit das Seeufer erodieren darf. Auch in der Ökologie sind solche klaren Zielvereinbarungen wichtig; sie sollten dann mit einem Monitoring überprüft werden.

TEC21, Fr., 2018.11.23



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05. Oktober 2018Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Neu eingebettet

Die St. Jakobshalle in Basel bestand aus Einzelbauten. Die Arbeitsgemeinschaft Degelo Architekten / Berrel Berrel Kräutler und die Ingenieure von Schnetzer Puskas formten ein harmonisches Ganzes, indem sie dem Bestand einen Mantel gaben – funktional, gestalterisch prägend und statisch wirksam.

Die St. Jakobshalle in Basel bestand aus Einzelbauten. Die Arbeitsgemeinschaft Degelo Architekten / Berrel Berrel Kräutler und die Ingenieure von Schnetzer Puskas formten ein harmonisches Ganzes, indem sie dem Bestand einen Mantel gaben – funktional, gestalterisch prägend und statisch wirksam.

Die St. Jakobshalle erfuhr von 2016 bis 2018 eine Transformation in die Gegenwart. Kurz vor der Wiedereröffnung am 15. Oktober erscheint sie nicht mehr als die solitäre «Arena» mit Annexbauten auf einem Treppensockel an der Brüg­linger­strasse, sondern zeigt sich neu gegenü­ber «Joggeli», dem Stadion St. Jakobs-Park, als öffentliche, multi­funktionale Anlage mit einladendem und wit­­te­rungs­geschütztem Zugang. Damit erfüllt sie, was ­der Wettbewerbsentwurf 2013 versprach: nämlich, ­«die fun­ktionale Grundproblematik der (…) Anlage (…) strategisch auf der städtebaulichen Ebene zu lösen» (vgl. «Sach- und Dachgeschichten»).

Zeitgemässer Komplex

Die im September 1976 eröffnete St. Jakobshalle um­-fasst mehrere Gebäudeteile. Mit einer Zuschauerkapazität von rund 9000 Personen ist sie nach dem Zürcher Hallen­stadion die zweitgrösste Veranstaltungshalle der Schweiz und beherbergt zwei kleinere Hallen mit jeweils einem Betonfaltdach (Kleine Halle und Halle 2) und eine Haupthalle mit einem eleganten Hängedach (Grosse Halle, vgl. «Das Hängedach von 1976», Kasten unten). Ursprünglich für sportliche Aktivitäten mit oder ohne Publikum konzipiert, musste die Liegenschaft bereits seit Jahrzehnten einem breiteren Nutzungsmix gerecht werden. Als Teil der Sport- und Eventstätte St. Jakob dient der Gebäude­komplex dem Breitensport und dem Schul-, Universitäts- und Vereinssport. Andererseits bietet sie Platz für Grossevents in den Bereichen Sport und Kultur sowie für verschiedenste Firmenanlässe wie Generalversammlungen, Konferenzen, Kongresse und Tagungen.

Um für alle bisherigen und potenziellen Veranstalter attraktiv zu bleiben, wurde die St. Jakobshalle laufend unterhalten. Dabei erfolgten die Instandsetzungsarbeiten in den letzten 15 Jahren vor allem modulartig in kurzen Zeitfenstern, um den Events nach wie vor ihren bespielbaren Zeitraum zu ermöglichen. Diese Strategie liess sich nun aber nicht weiter umsetzen, da die erforderliche Instandsetzung tief greifende bauliche Massnahmen an der Gebäudehülle, im Innenausbau und an der technischen Infrastruktur nötig machte. Dies bedingte grössere Betriebsunterbrüche und ein technisches und betriebliches Gesamt­konzept. Zudem musste die gesamte Halle an aktuelle Sicherheitsvorschriften angepasst werden. In erster Linie betraf das die Fluchtwege, den Brandschutz und die Erdbebensicherheit.

Mit der neuesten Instandsetzungs- und Modernisierungsaufgabe galt es also, aus der ehemaligen Sport­halle einen zeitgemässen, multifunktionalen Hal­len­komplex entstehen zu lassen. Der dafür ausgeschriebene Wettbewerb von 2013 sollte ein Projekt ausfindig machen, das den Bestand mit weiteren Nutzflächen und neuen Funktionen ergänzt und ihn zugleich mit den aktuellen sicherheitsspezifischen Anforderungen in Einklang bringt. Die komplette Erneuerung sollte darüber hinaus in Etappen abgewickelt werden können, die auf die wiederkehrenden Anlässe wie das Tennisturnier «Swiss Indoors» abgestimmt sind.

Die Arbeitsgemeinschaft Degelo Architekten / Berrel Berrel Kräutler zusammen mit Schnetzer Puskas Ingenieure überzeugte das Preisgericht mit ihrem Projekt: Es ergänzt den Bestand aus einzelnen Gebäuden so, dass die Einzelstücke zu einem Ganzen zusammengefasst werden. Der Bestand – mit wahren ingenieurspezifischen Perlen – erhält einen Mantel, der funktional genutzt wird, gestalterisch das neue Erschei­nungsbild prägt und statisch wirksam ist.

Raumhoch aufgespanntes Dach

Teil der Mantelnutzung, die den Bestand wörtlich umfasst, ist die neue Eingangshalle. Sie ist direkt zur Tramhaltestelle an der St. Jakobs-Strasse gerichtet. Über den vorgelagerten grosszügigen Platz, der für Ereignisse mit über 12 000 Zuschauern angemessen ist, zieht sich das Strassenniveau fliessend ins doppelgeschossige Foyer hinein. Über Foyer und Platz spannt ein weit auskragendes Dach und verdeutlicht den ­öffentlichen Charakter des Gebäudes. Hierfür wurde das bestehende Dach der Eingangshalle auf derselben Höhe weitergeführt und mit einer markanten, 130 m langen Stirn aus Sichtbeton gefasst. «Die Spannweiten von bis zu 70 m bewogen uns, ein aufgelöstes Raumtragwerk zu entwickeln, das diese grosse Spannweite bewältigen konnte und zugleich Raum für die Gebäudetechnik bot», erklärt Tivadar Puskas, der leitende Ingenieur des Teams von Schnetzer Puskas Ingenieure.

Das Dachtragwerk aus Beton kann als grossmassstäblicher Gitterrost gelesen werden. Seine Kon­struktionshöhe nimmt von 3.65 m auf 4.65 m zu und schwebt 6.5 m über dem Strassenniveau. Er besteht prinzipiell aus lamellenartig alle 5 m angeordneten, bis 28 m weit gespannten Wandscheiben. Als geschoss­hohe Rippen und Längsträger funktionierend, werden sie an der Unterseite mit einer Sichtbetondecke und an der Oberseite mit einer Eindeckung aus leichten, isolierenden Holz-Sandwich-Elementen eingefasst. Beide Decken wirken statisch als horizontale Scheiben. Die Rippen und die zwei quer dazu verlaufenden Längsträger – der Rand- und der Innenträger – sind zumeist vorgespannt. Die Vorspannkabel sind entsprechend dem Momentenverlauf verlegt, was planerisch, geometrisch und umsetzungsspezifisch komplex war, da die Kabel geschickt aneinander vorbeigefädelt werden mussten.

Der neue Mantel baut grundsätzlich auf der bestehenden Raum- und Tragstruktur auf. Das schlug sich öko­nomisch, bezüglich Umsetzbarkeit und auf die notwendige Etappierung positiv nieder. Der Rost ruht auf ­einzelnen Auflagern aus Beton – dem Kassenhaus, den Wandscheiben des neuen Warenlifts, den Wänden des neu erstellten Flucht- und Verkehrswegs aus der Arena (Lkw-Ausfahrt) sowie der einzelnen, markanten Pendelstütze (max. 2000 t) an der nordwestlichen Ge­bäudeecke. Diese Pendelstütze aus einem 420-mm-Vollstahlrohr, das mit einer Betonhaut ummantelt ist, wird vom «Findling» des Schweizer Künstlers Eric Hattan in Form eines 25 t schweren Granitblocks als sta­tisches Punktlager des Dachs betont.

Fundiert ist die markant skulptural geformte Stütze auf einem kreuzförmigen Trägerrost aus verschweissten Stahlblechträgern. Das Kreuz leitet die anfallenden Lasten um den bestehenden Sammelkanal herum auf vier Grossbohrpfähle. Diese haben einen Durchmesser von 1.3 m und ragen 15 m tief in den Baugrund. Die Zugkräfte infolge der Abspannung des Dachs werden durch Zugstützen entlang des Bestands aufgenommen und dort in den Baugrund ein­geleitet (%%gallerylink:42845:vgl. Abb.%%).

Das geschosshohe Dach schafft Raum für die aufwendigen technischen Installationen der Gebäudetechnik (vgl. «Luft im Dach») und bietet zudem Platz für das Materiallager. Damit können alle Lüftungs- und Entrauchungseinrichtungen verdeckt und in den Innenraum integriert werden. Das macht die Dachaufsicht zur fünften Fassade und optimiert die Zugänglichkeit, die Wartung und den Lärmschutz. Die statisch notwendige Höhe wird als Stauraum genutzt, was anderenorts Mehrfläche generieren würde. «Aus der ästhetisch und bezüglich der Gebäudetechnik erforderlichen Höhe ergab sich die statische Leistungsfähigkeit des Dachtragwerks», so Tivadar Puskas.

Verankert, gekoppelt und geschützt

Statisch effizient war auch die bestehende Grosse Halle – und zwar sowohl für gewöhnliche als auch für aus­sergewöhnliche Ereignisse wie Erdbeben. Einzig die Dilatationsfuge (vgl. «Das Hängedach von 1976», Kasten unten) liessen die Ingenieure mit der aktuellen Ertüchtigungsarbeit punktuell schliessen. Heute wirkt der Bestand – neu aussen gedämmt und verputzt – als statischer ­Anker für das über die Mantelnutzung zusammengeschlossene Ganze. Das neue Dach des funktio­nellen Rings wurde an allen Seiten der steifen Grossen Halle über jeweils 20 m Länge gekoppelt. Die Eck­bereiche liess man frei, damit Bewegungsspielraum vorhanden blieb und Zwängungen minimiert werden.

Die St. Jakobshalle – eine Perle des Ingenieurwesens – erhielt auf diese Weise eine aufgewertete Bedeutung und eine Erdbebenertüchtigung zugleich. Abgesehen davon, dass der Erhalt von Bausubstanz ohnehin nachhaltig ist, zeigt dieses Bauprojekt exemplarisch auf, dass in die Jahre gekommene Ingenieurbaukunst mit relativ einfachen Massnahmen unter Berücksichtigung aller gegenwärtigen Anforderungen modernisiert erhalten bleiben kann – auch ohne Unterschutzstellung. Das heisst allerdings nicht, dass hier nicht durchaus noch Nachholbedarf besteht.

Bislang weder geschützt noch im Inventar für schützenswerte Bauten aufgeführt, erhielt die St. Jakobs­halle zumindest einen sinnbildlichen Schutz: Gleich einem Konglomerat, das einzelne Gesteine in einer feinkörnigen Matrix verkittet, sind nun auch hier die Einzel­bauten verkittend in der Ummantelung eingebettet – und in gewissem Sinn konserviert. Dass die Grosse Halle mit dem Hängedach nach wie vor einen wesentlichen Kern der Anlage darstellt, ist aus Ingenieurssicht ein besonderer Mehrwert dieses Umbauprojekts.

TEC21, Fr., 2018.10.05



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TEC21 2018|40-41 St. Jakobshalle, Basel

31. August 2018Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Das Minimum ist das Maximum

Das Museum für Gestaltung und die Kunstgewerbeschule in Zürich erstrahlen seit März wieder im Glanz der 1930er-Jahre – auch dank der Analyse der Ingenieure von Dr. Deuring + Oehninger. Damit liessen sich die notwendigen statischen Massnahmen auf ein Minimum beschränken.

Das Museum für Gestaltung und die Kunstgewerbeschule in Zürich erstrahlen seit März wieder im Glanz der 1930er-Jahre – auch dank der Analyse der Ingenieure von Dr. Deuring + Oehninger. Damit liessen sich die notwendigen statischen Massnahmen auf ein Minimum beschränken.

Das Stammhaus des Museums für Gestaltung strahlt seit den aktuellsten Umbauarbeiten neue Ruhe aus – sowohl äus­sere als auch innere. Die äussere Ruhe hatte der Komplex aus drei Kuben mit jeweils rhythmisierten und differenzierten Fassaden grundsätzlich nie verloren. Die innere Ruhe aller­dings war aus statischer Sicht nie gegeben. In einer Krisensituation wie einem Erdbeben wäre der Bau gemäss neuesten Berechnungen nach den aktuellen norma­tiven Grundlagen des SIA kollabiert; damals war die mögliche konstruktive Erdbebensicherheit eines Gebäudes noch zu wenig im Bewusstsein der Planer. Mit den Umbauarbeiten sollte der Bau deshalb auch auf den Lastfall Erdbeben ertüchtigt werden. Doch die vorgesehenen Massnahmen hatten es in sich – die ausgeführten Eingriffe hätten mit weniger vertieften Analysen so massiv sein können, dass die Seele des Bauwerks zerstört worden wäre.[1]

Ein Winkel aus drei Trakten

Zwischen Ausstellungsstrasse und Sihlquai steht seit 1933 das Museum für Gestaltung – früher als Kunstgewerbemuseum und Gewerbeschule bekannt . Adolf Steger und Karl Egender lieferten in einem zweistufigen Projektwettbewerb (1925–1927) den Entwurf für den Massivbau. Er besteht aus drei Trakten und ist der erste öffentliche Bau in Zürich, der nach den Ideen des «Neuen Bauens» ausgeführt wurde (vgl. «Zurück in die Zukunft»). 1981 wurde er ins Inventar der kunst- und kulturhistorischen Schutz­objekte von überkommunaler Bedeutung der Stadt Zürich aufgenommen. Die Trakte – Berufsschule, Museum und Saal – wurden in drei Losen vergeben und unabhängig voneinander von drei verschiedenen Ingenieurbüros erstellt. Sie sind mit Fugen voneinander getrennt.

Im Nordosten des Grundstücks, zur Limmat hin, liegt der fünfgeschossige Berufsschultrakt. Der Bau des Ingenieurbüros Terner & Chopard ist als Rahmenkon­struktion mit einem Achsabstand von 3.50 m erstellt und bildet den langen Flügel der im Grundriss winkelartig angeordneten Gebäudevolumen. Die Rippendecken mit eingelegten Bimsbetonhohlsteinen tragen quer zu den Rahmen. Die Hauptkonstruktion ist bis ins vierte Obergeschoss identisch, das fünfte Obergeschoss ist an der Südfassade zurückversetzt. In Traktmitte ist quer zum Gebäude über die gesamte Höhe eine zusätzliche Dilatationsfuge angeordnet.

Bemerkenswert sind die Wände zwischen dem Korridor und den Klassen­zimmern, die den Raum zwischen den Hauptstützen nur so weit ausfachen, dass jeweils im oberen Teil eine grosszügige Verglasung entsteht – eine gestalterisch wertvolle Geste für den Korridor, der auch als grosszügiger Aufenthaltsbereich der Studierenden funktioniert.

Der Saaltrakt des Ingenieurbüros Robert Maillart ist der kurze Flügel und zugleich der Haupteingang des Museums. Über dem Eingangsbereich spannt die Decke stützenfrei über die gesamte Gebäudebreite. Sie ist auf Unterzügen und eingespannten Stahl­beton­stützen gelagert. Darüber liegt der grosse Saal, der ebenfalls von einer Unterzugsdecke überspannt wird. Die Kon­struktionen bestehen aus Unterzugs­decken und Rippendecken mit Bimsbetonhohlsteinen wie beim Berufsschultrakt. Im Bereich des Treppenaufgangs sind zusätzlich massive Mauerwerkswände vorhanden. Im Unter­geschoss befindet sich ein Raum mit einer für Maillart typischen Pilzdecke.

Der dreischiffige Museumstrakt des Ingenieurbüros E. Rathgeb zwischen den beiden Flügelbauten besteht wie der Schulbau wiederum aus einer Rahmenkonstruktion mit einem Achsabstand von 3.50 m. Die typischen Rippendecken mit eingelegten Bims­betonhohlsteinen finden sich auch hier quer zu den ge­vou­teten Rahmen tragend. Die im obe­ren Geschoss zurückspringenden Fassadenstützen werden über die Hauptrahmen abgefangen. Im Mittelschiff ist der Raum zweigeschossig und erinnert mit seiner markanten Tragkonstruktion an eine Mischung aus Basi­lika und Industriehalle. «Der Trakt sollte den hier vermittelten Berufsfeldern eine würdevolle und doch industrielle Heimat geben», so der heutige Direktor des Hauses, Christian Brändle. Damit war die Halle von Beginn an das Herzstück des 85 Jahre alten Gebäudes.

Leider wurden diesem Raum 1958 innenräumliche Strukturen implantiert, die das Ge­bäude zu seinen Ungunsten veränderten – insbesondere die Zwi­schen­decke im Mittelschiff. In den letzten Jahren durften Ruggero Tropeano Architekten das Museum aber erneut um­bauen – den Schultrakt renovierten die Architekten Arthur Rüegg und Silvio Schmed. Erstere verhalfen dem Museum in respektvoller Herangehensweise wieder zu altem Glanz (vgl. «Zurück in die Zukunft»).

Die Seele bewahren

Der brandschutzspezifische Aspekt war einer der Treiber, den ursprünglichen Zustand der Halle wiederherzustellen. Die eingebaute Zwischendecke aus Holz war der Feuerpolizei ein Dorn im Auge – so erhielten all jene, die das Mittelschiff freilegen wollten, neben den gestalterischen Argumenten auch die notwendige technische Unterstützung. Allerdings waren weitere Eingriffe so aufwendig, dass der Charakter des Bauwerks an anderen Stellen zu verschwinden drohte.

Vor mehreren Jahren wirkende Ingenieure hatten in einer oberflächlichen Studie für eine Erdbebenertüchtigung ermittelt, dass im langen Flügelgebäude Erdbebenwände notwendig seien. Dafür hätten die charakteristischen Ober­lichter in den Korridoren des Schultrakts geschlossen werden müssen. «Das wäre weder stimmig noch die adäquate Lösung gewesen», betont der projektierende Bauingenieur Martin Deuring, der im Zuge der aktuellen Arbeiten von den Architekten angefragt wurde, eine vertiefte Analyse der Erdbebenertüchtigung des Ge­bäudekomplexes durchzuführen. Ein Tragwerk sei nicht deshalb das beste Tragwerk, wenn es für sich betrachtet das geeignetste sei, sondern es sei dann das beste, wenn es das Gesamtkonzept am besten stütze.

In interdis­zi­plinärer Weise erfassten die Ingenieure von Dr. Deuring + Oehniger schliesslich zusammen mit den Architekten und der Denkmalpflege den Bestand des Bauwerks mit seiner Bau- und Nutzungsgeschichte, seinem architektonischen Konzept, seinen tragwerks- und materialspezifischen Eigenschaften sowie seinen nutzungsbezogenen Bedürfnissen bzw. zeitgemässen Anforderungen.

Auch Prof. Hugo Bachmann, der von Martin Deuring als Experte für Schwingungsprobleme und Erdbebensicherung beigezogen wurde, um die Arbeiten der Erdbebenertüchtigung korreferieren zu lassen, betont: «Die Ingenieure sollten sich ganz am Anfang mit der Geschichte und der Substanz des Gebäudes vertieft auseinandersetzen. Erst wenn man das Gebäude und sein Tragwerk wirklich kennt und versteht, kann man ihm neue, statisch wirksame Elemente einfügen, die dem geschützten Bestand gerecht werden.»

Kluge Wahl der Methode

Die Ingenieure erfassten, gut mit Archivplänen bestückt, die gegebene Bausubstanz (Bauwerksklasse II, Erd­beben­zone Z1, Baugrundklasse C), entnahmen Proben und aktualisierten die Baustoffeigenschaften aller Querschnitte der Tragelemente. Danach untersuchten sie das Gebäude bezüglich Erdbebensicherheit gemäss den aktuell gültigen Tragwerksnormen mittels dyna­mi­scher Computerberechnung. In einem dreidimensionalen Finite-Elemente-Modell unter Einbezug der wichtigen Interaktion zwischen Baugrund und Tragwerk erfolgte die wirklichkeitsnahe Erdbebenanalyse.

Ausschlaggebend für die später umgesetzten Massnahmen war, dass die Ingenieure nicht nach dem vereinfachten Ersatzkraftverfahren vorgingen – eine statische, lineare Berechnungsmethode mit horizontalen Ersatzkräften –, mit einer losgelösten Betrachtung der einzelnen Kuben. Vielmehr führten sie eine ver­tiefte Tragwerksanalyse mit dem dreidimensionalen, kräftebasierten Antwortspektrenverfahren durch – eine dynamische, lineare Berechnungsmethode, bei der das Schwingungsverhalten der massgebenden Eigenschwingungsformen ermittelt wird. Die drei im Grundriss asymmetrisch angeordneten Gebäudetrakte mit unterschiedlichen Bauwerkshöhen wurden an einem Gesamtmodell analysiert. Erst so konnten die Inge­nieure dem asymmetrischen Tragwerk Rechnung tragen.

Die Resultate aus dem Antwortspektrenverfahren wurden mit dem verformungsbasierten Push-over-Verfahren plausibilisiert – ein Verfahren, das vergleicht, wie stark sich ein Tragwerk unter Erd­beben­einwirkung verformen könnte und wie stark es sich im örtlichen Erdbebenfall tatsächlich rechnerisch verformt. Dieses Verfahren war zur Planungszeit mit der SIA-Norm 269/8 «Erhaltung von Tragwerken – Erdbeben» zwar noch nicht in Kraft – diese Norm gilt erst seit 1. Dezember 2017 –, zählte aber bereits zum etablierten neuen Know-how.

Ist das Verhältnis – der sogenannte Erfüllungsfaktor – von Verformungsvermögen zu erforderlicher Verformung kleiner als 1, muss eine Verstärkung des Tragwerks in Betracht gezogen oder die Nutzung eingeschränkt werden. Unter Berücksichtigung des nichtlinearen Baustoffverhaltens eruierten die Ingenieure, ob das Verformungsvermögen vorhanden ist, das im Erdbebenfall benötigt würde. Mit Ausnahme von Teilbereichen wiesen sie für das Gesamttragwerk eine ausreichende Erdbebensicherheit von r > 1 nach.

Bedingung für die ausreichende Sicherheit war die kraftschlüssige Verbindung der nur 2 cm breiten Fugen zwischen den Gebäudetrakten. Denn die Stockwerke sind teilweise auf ungleicher Höhe. Eine Decke hätte bis anhin beispielsweise an eine Rahmenstütze stossen können, und durch den Anprall hätten die Stützen knicken und einen Kollaps verursachen können. Die kraftschlüssige Verbindung wurde im Rahmen der Umbaumassnahmen umgesetzt. Alle drei Kuben wirken nun zusammen und schwingen – wie im Gesamtmodell modelliert – nicht mehr unabhängig voneinander.

In Teilbereichen des Gebäudes zeigt die Analyse eine ungenügende Sicherheit von ca. r = 0.50. Die problematischen Zonen wie die gelenkig ausgebildeten Rahmen und der ungenügend gehaltene Aktsaal im fünften Obergeschoss wurden mit eingebohrten Ge­windestangen ertüchtigt, womit für das Gesamttragwerk nun eine ausreichende Sicherheit von r > 1.0 vorliegt. Alle anderen Eingriffe, wie neue Leitungen durch bestehende Unterzüge, wurden in Abstimmung aller Fachplaner einzeln besprochen und punktuell so platziert, dass sie das Tragwerk nicht zusätzlich schwächen.

Mehr Planung gleich weniger Massnahmen

Dank der Analyse mittels des verformungsbasierten Verfahrens konnten die Ingenieure einen ausreichenden Erfüllungsfaktor nachweisen. So konnte das Mass an baulichen Eingriffen stark reduziert und dennoch die Anforderungen der aktuellen Normen erfüllt werden. «Eine vertiefte Analyse ist auch bei anderen bestehenden Bauwerken sinnvoll», bemerkt Hugo Bachmann, «hier waren die Konsequenzen allerdings beachtlich.» Der finanzielle Aufwand für die baulichen Massnahmen, die hier umgesetzt wurden, war gemäss Martin Deuring schliesslich kleiner als der planerische Mehraufwand. Dieser Mehraufwand verhinderte aber radikale Baumassnahmen, die teuer gewesen wären und das Denkmal mit seinem Charakter zerstört hätten. Die kreative Leistung vorab reduzierte den baulichen Aufwand danach – ohne statische, gestalterische oder allzu grosse denkmalpflegerische Abstriche machen zu müssen.


Anmerkung:
[01] Zu diesem Thema siehe auch: «Damit Denkmäler nicht zu Mahnmälern werden», TEC21 14–15/2017.

TEC21, Fr., 2018.08.31



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TEC21 2018|35 Museum für Gestaltung Zürich

08. Juni 2018Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Aufgefrischtes Äquivalent

Der Umbau der ehemaligen Volksbank an der Zürcher Bahnhofstrasse 53 erforderte aufwendige Eingriffe am Tragwerk – manche radikaler, als den beteiligten Planern zunächst lieb war. Die sorgfältige Auseinandersetzung mit dem Bestand ermöglichte es den Ingenieuren von WaltGalmarini dennoch, den Bau von 1925 für die kommenden 50 Jahre fit zu machen.

Der Umbau der ehemaligen Volksbank an der Zürcher Bahnhofstrasse 53 erforderte aufwendige Eingriffe am Tragwerk – manche radikaler, als den beteiligten Planern zunächst lieb war. Die sorgfältige Auseinandersetzung mit dem Bestand ermöglichte es den Ingenieuren von WaltGalmarini dennoch, den Bau von 1925 für die kommenden 50 Jahre fit zu machen.

Die neue Bauherrschaft des Gebäudes an der Zürcher Bahnhofstrasse 53 war ein Glücksfall: Ohne die langfristige Planung des Versicherungsunternehmens AXA, das die ehemalige Volksbank 2012 von der Credit Suisse kaufte, hätte der Umbau so nicht realisiert werden können. Er war eine Gratwanderung zwischen der über 90-jährigen Geschichte des Baus und den gegenwärtig verlangten Anforderungen. Dennoch konnte die Bauherrschaft vier Jahre nach dem Kauf die Räume Anfang Mai wieder der Alltagsnutzung übergeben. Eine lange Zeit, die sich relativiert, wenn man weiss, was dazwischen geschah: nämlich eine intensive und aufwendige Planungs-, Ertüchtigungs- und Umbauzeit.

Für den Umbau des seit 2004 denkmalgeschützten Bauwerks setzten sich die Planenden intensiv mit dem Bestand auseinander. «Die bewusst investierte und von der Bauherrschaft bewilligte Zeit lohnt sich», so Projektleiter Wolfram Kübler vom Ingenieurbüro WaltGalmarini, «denn unsere Erfahrung zeigt, dass nur so die neuralgischen Stellen entdeckt werden können.»

Als das Bauen mit Beton neu war

Die Bahnhofstrasse 53 wurde zwischen 1923 und 1925 als Stahlbetonrahmenkonstruktion mit Hourdis­decken (Betonrippendecken mit Ziegelhohlkörpern) gebaut. Das Gebäude ist flach fundiert, mit einer Pfahlreihe entlang der Grundstücksgrenze zum St. Annahof. Schrägdach, Binder, Unterzüge, Innen- und Fassadenstützen sowie Wandscheiben wurden in Ortbetonbauweise erstellt. Über der ehemaligen Schalterhalle im Innenhof befindet sich ein Stahlfachwerkdach mit Glasbetondecke.

Betonkonstruktionen aus den 1920er-Jahren haben grundsätzlich ähnliche Eigenschaften und basieren auf der ersten Betonnorm von 1905. Der Baustoff Beton war damals neu und musste seine material­gerechte Form noch finden. Die Betonbauwerke waren analog zu Holzkonstruktionen konstruiert – lineare Tragwerke wie Rippendecken und Hourdisdecken waren Standard. Flächentragwerke wurden noch kaum ausgeführt. Das Material war teuer, und die damaligen Ingenieure versuchten, möglichst wenig davon einzusetzen.

Eine andere Vorstellung von Robustheit

Mit der Planung für die Umbauarbeiten waren die Ingenieure zugleich auch mit dem Wandel vom elastischen zum plastischen Modell konfrontiert. Die Modellvorstellungen für das statische System des historischen Betonbaus waren rein elastisch; die Verformungen waren reversibel. Diese Vorstellung des statischen Modells – insbesondere des Betonbaus – hat sich inzwischen geändert. Heute sollen sich Betontragwerke irreversibel verformen können und duktil sein. Ein spröder Bruch darf nicht auftreten. Die Tragelemente dürfen reissen – die Risse sollen aber zahlreich und klein sein, damit sie sich unsichtbar verteilen. Gegenüber der Bauzeit von damals sind dies grundlegend andere Anforderungen, die die Tragkonstruktion gegenwärtig zu erfüllen hat. Die Ingenieure sollten diese Aspekte verstehen, um das historische Tragwerk begreifen und ihm letztlich auch moderne und funktionierende Ertüchtigungen implementieren zu können.

Ein Charakteristikum des Tragwerkbestands sind die glatten Stahlstäbe der Bewehrung. Sie bestehen aus ungeripptem Betonstahl. Die Kraftübertragung in den Beton erfolgt über die Haken nur am Ende der Stäbe. Es wurden aufgebogene Eisen verwendet, und es gab keine konstruktive Bewehrung. Die Eisen wurden einzig dort eingelegt, wo im Balkenmodell und in den Trajektorienbildern Zug auftrat – das ergab beispielsweise in den Unterzügen und Stützen eine sparsame Bewehrung mit Bügeln von 7 mm Durchmesser alle 30 cm. Die Rippen der Hourdisdecken haben gar keine Verbügelung.

Ein zweites Charakteristikum ist der Beton selber, der gestampft ist. Als unvibrierter Stampfbeton ist er viel heterogener und weist mehr Kiesnester auf als vibrierter Beton. Ausserdem ist die Überdeckung viel streuender – zum Teil war sie nur 2 cm stark oder gar nicht vorhanden. Bezüglich Brand- und Korrosionsschutz ist dies unzuverlässig und genügt den heutigen Normen nicht, entsprach in dieser Ausführung jedoch dem damaligen Kenntnisstand.

Die SIA-Norm 269 «Grundlagen der Erhaltung von Tragwerken» ist für ein solches Umbauprojekt ein gutes Werkzeug. Sie erlaubt explizit, die Eigenschaften des Bestands zu berücksichtigen und mit statischen Modellen und Versuchen nachzuweisen, dass historische Konstruktionen sehr wohl tragsicher, dauerhaft und gebrauchstauglich sein können, obwohl sie die aktuellen SIA-Normen für Neubauten nicht erfüllen.

Tückische Lücke

Die Auflager der Hourdisdecken vereinen die Problematik sinnbildlich: Die Hourdisdecken spannen einachsig von der Aussenfassade zum Korridorunterzug. Die Endhaken der Biegebewehrung in den Hourdisdecken reichten aber nicht in die Aussenwand, sondern endeten davor. Die Decken sind so unzureichend auf Schub und Biegung dimensioniert. Das per Zufall und mit Schrecken in den Bestandsplänen entdeckte und mit Sondierungen bestätigte Konstruktionsdetail tauchte bei sämtlichen Auflagern an der Aussenfassade auf. Es ist ein Konstruktionsdetail im denkmalgeschützten Bestand, das zur neuralgischen Stelle bezüglich der Machbarkeit, der Termine, des Kräfteflusses, des Bauablaufs und der gestalterischen und konstruktiven Umsetzung wurde. Die Ingenieure entdeckten dieses mangelhafte Detail nur, weil sie sich die Zeit für eine eingehende Bestandsuntersuchung nehmen durften.

Um die historisch wertvollen Decken trotzdem erhalten zu können, beschlossen die Planer mit der Unterstützung eines Vertrauensingenieurs seitens Denkmalpflege – Jürg Conzett – und eines Experten seitens Bauherrschaft – Prof. Dr. Peter Marti –, bereits während des Vorprojekts die tatsächlichen Tragreserven und das Versagensverhalten der Konstruktion mittels Belastungsversuchen an der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt Empa zu erörtern und eine bauliche Ertüchtigungsmassnahme zu entwickeln. Ziel war es, die bestehenden Decken trotz der statischen Mängel erhalten und künftig mit aktuell höheren Bürolasten beanspruchen zu können. Keinesfalls aber durften sie bei entsprechender Belastung ohne Vorankündigung spröde brechen. Es sollte ein – nach heutiger Begrifflichkeit – robustes Tragwerk resultieren.

Die Ingenieure ertüchtigten den mehrere Meter langen Auflagerbereich mit einem einzigen, wiederkehrenden Konstruktionsdetail, ohne dass für die Bauherrschaft und Nutzer gegenüber einer Ersatzdecke aus Stahlbeton nach heutigem Stand der Technik Nachteile entstanden sind. Der Kräftefluss konnte mit verhältnismässigem Aufwand geschlossen werden. Für diese Ertüchtigung des Deckenanschlusses erhielt die Bauherrschaft eine vorgezogene Baubewilligung. So konnten die Planenden bereits während des Bau­projekts in den Bestand eingreifen und den Zeitplan entschärfen.

Eingefügt, abgesenkt, verstärkt

Im Vordergrund der Planung stand der frühestmögliche Wiedervermietungstermin. Dieser beeinflusste massgeblich das Umbau-, Nutzungs- und Tragwerkskonzept unter Berücksichtigung der denkmalpflegerischen Vorgaben und durchzog alle Überlegungen und Abwägungen wie ein roter Faden. Jedes Gebäude hat allerdings seine Eigenheiten. Kübler betont: «Standardlösungen, die einen schnell zum Ziel bringen, gibt es nicht. Oft müssen für Ertüchtigungen in Bestandsgebäuden aufgrund der Randbedingungen individuelle, aber möglichst skalierbare Lösungen entwickelt werden.» Daher gaben vor allem drei andere Bausteine den Ausschlag für das definitiv ausgeführte Projekt der Tragkon­struktion: die Erhöhung des 1. Untergeschosses, die Erd­bebenertüchtigung und die Einfädelung der Gebäudetechnik auf Ebene des Tragwerks.

Die Implementierung der Gebäudetechnik in den Bestand ist die offensichtlichste Problematik. Sie hatte einen erheblichen Einfluss auf die baulichen Massnahmen am Tragwerk. Um keine Raumhöhe zu verlieren, sollten die Lüftungskanäle auf Ebene der Tragkon­struktion liegen, wofür Unterzüge zu durchstossen waren. Bei elastisch dimensionierten Tragwerksteilen wie den Unterzügen, die eine schwache Verbügelung aufweisen, ist das heikel und war hier nicht ­möglich. Das Planerteam beschloss – und die Denkmalpflege bewilligte –, die Unterzüge zu ersetzen. Gebäudetechnik und Tragwerk in einer Ebene wurden so realisierbar.

Ebenso liess es die Denkmalpflege zu, die Stützen im Kernbereich und in den beiden Untergeschossen zu ersetzen. Das bahnte den Weg für das neu genutzte 1. UG. Die Planer liessen die Zwischendecke absenken (ausser beim geschützten Tresorraum) und alle bestehenden Trag­elemente komplett entfernen. Aus zwei gedrungenen Ebenen wurden ein grosszügiges hohes Untergeschoss und ein Kriechgeschoss für die Gebäudetechnik. Die neuen Stützen stehen auf Einzelfundamenten im Kriechboden, die die Lasten in die un­verstärkte Fundation leiten. Die Erhöhung des 1. UG schaffte 2000 m² zusätzliche vermietbare Verkaufsfläche an der Bahnhofstrasse – ein relevanter Punkt in der langfristig ausgelegten Kosten-Nutzen-Rechnung.

Dieses «Geschenk des Himmels», wie Architektin Tilla Theus es an der Eröffnungsfeier nannte, war nur dank einer temporär errichteten %%gallerylink:41682:Spriesskonstruktion aus Stahl%% möglich. Diese befand sich während des gesamten Umbaus im Korridorbereich – dem ringförmigen Kern des im Grundriss fünfeckigen Gebäudes, der den Hof auf allen Seiten umgibt –, trug Fassaden, Deckenteilstücke sowie das Dach und stabilisierte das ganze Gebäude während des Rückbaus. Der Bereich um die Spriesskonstruktion durfte ebenfalls rückgebaut werden. Stützen, Unterzüge und für die Globalstabilität notwendige Decken wurden ringförmig in Ortbetonbauweise neu aufgebaut. Die Lastumlagerung vom Bestand in die Spriesskonstruktion und wieder zurück in das zum ursprünglichen Tragwerk äquivalente Ersatztragwerk erfolgte mittels Hydraulikpressen.

Der Neubau im Kern garantiert nicht nur die Tragsicherheit, die infolge der Lasterhöhung aus Ertüchtigung, des schwereren Aufbaus und der von 200 auf 300 kg/m2 aktualisierten Büronutzlasten neu zu bemessen war, sondern erhöht auch den anfänglich zu tiefen Erfüllungsgrad für die Erdbebensicherheit.
Erdbebenwand: aus der Not eine Tugend

Neben der Erweiterung des ersten Untergeschosses und der Einfädelung der Gebäudetechnik auf Tragwerk­ebene war für die Instandsetzung des Tragwerks ein weiterer Baustein taktbestimmend: die Erdbebenertüchtigung. Der Erdbebenwiderstand war nach Merkblatt SIA 2018 im Ursprungszustand unter 0.25. In Zone Z1 auf Baugrundklasse B gelegen und bezüglich Nutzung als Büro- und Geschäftsgebäude mit einer Belegungszahl > 50 Personen deklariert, wird das Gebäude der Bauwerksklasse BWK II zugeordnet. Es war zwingend erforderlich, das Verhalten während eines Erdbebens zu verbessern.

Die Planenden entwickelten das Erdbebenkonzept kombiniert mit den Massnahmen, die ohnehin geplant waren. Dabei konnten sich die Ingenieure allein auf das Gebäude konzentrieren. Gemäss den Abklärungen der Bauherrschaft erfüllen die direkt angrenzenden Liegenschaften die Erdbebensicherheit bereits oder werden es künftig tun und geben keine Einwirkungen auf das Tragwerk der Bahnhofstrasse 53 ab. Eine über die Geschosse durchgehende Dilatationsfuge zum Nachbargebäude von einigen Zentimetern ermöglicht gemäss den Ingenieuren Gebäudeverformungen im Erdbebenfall, ohne dass Kräfte gegenseitig übertragen werden.

So nutzten die Ingenieure die Treppenhäuser, die über alle Geschosse neu erstellt wurden, als aussteifende Kerne. Der Steifigkeitsschwerpunkt S – ursprünglich einzig durch die Sandsteinfassaden bestimmt und nur knapp innerhalb des Gebäudegrundrisses liegend – und der Massenschwerpunkt M lagen aber weit auseinander. Diese Exzentrizität sorgte für eine ungünstige Torsion. Die neu eingebundenen Erdbebenwände %%gallerylink:41689:holten den Steifigkeitsschwerpunkt nah zum Massenschwerpunkt%%. Das verringert die ungünstigen Belastungen deutlich und versteift das gesamte Bauwerk.

Ausserdem wurden drei weitere durchgehende Erdbebenwände erstellt. Eine davon parallel zur Bahnhofstrasse – im Erdgeschoss ein Sichtblocker und im 2. OG ein störender Wandriegel zwischen Empfangsbereich der Anwaltskanzlei und denkmalgeschütztem Sitzungszimmer. Im Erdgeschoss wurde die Wand in der Breite reduziert, sodass sie dort einen Durchgang in das Ladenlokal bildet. Im Eingangsbereich der Anwaltskanzlei hingegen entwickelten die Planenden eine kreative Konstruktion in Form einer %%gallerylink:41686:Gitterwand%%.
Mit Sinneswandel in die Neunutzung

Es gleicht einem Sinneswandel, statische Elemente als Raumskulpturen zu nutzen. Eine ebensolche veränderte Einstellung widerspiegelt auch das Auditorium im Dachgeschoss. Früher Raum für Lager und Gebäudetechnik, ist es heute ein repräsentatives Sitzungszimmer mit einer sakral anmutenden Atmosphäre. Das histo­rische lineare Betontragwerk aus betonierten Dach­bindern prägt den Raum. Es wurde mit Spritzbeton auf die notwendige Überdeckung von 3 cm reprofiliert.

Jetzt ist es zwar nicht mehr so schlank und filigran, doch es erfüllt alle aktuellen Anforderungen bezüglich Dauerhaftigkeit, Tragsicherheit oder Brandschutz und ist dennoch ein Zeitzeuge der Ingenieurbaukunst aus dem letzten Jahrhundert. Es zeigt auch der nächsten Generation, wie kreative Bauingenieure mit breitem Fachwissen konstruieren und welche räumliche Anpassungen und vorübergehend radikalen Lastumlagerungen, insbesondere während komplexer Bauphasen, ein Betontragwerk ermöglicht – selbst ein historisches.

TEC21, Fr., 2018.06.08



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TEC21 2018|23 Bahnhofstrasse 53, Zürich

Hängende Räume

In die bestehende Tragstruktur einer Firmenhalle haben Furrer Jud Architekten eine gestapelte Raumsequenz eingehängt, um neue Gemeinschaftsräume für die Mitarbeitenden zu schaffen. Das nötige Tageslicht gelangt durch eine transparente Fassadendecke ins Innere der mehrheitlich geschlossenen Halle.

In die bestehende Tragstruktur einer Firmenhalle haben Furrer Jud Architekten eine gestapelte Raumsequenz eingehängt, um neue Gemeinschaftsräume für die Mitarbeitenden zu schaffen. Das nötige Tageslicht gelangt durch eine transparente Fassadendecke ins Innere der mehrheitlich geschlossenen Halle.

Umbauten steigern den Wert einer Immobilie und verbessern oft die Aufenthaltsqualität für die Nutzer. Auch bei Indus–triegebäuden sind Umbauten an der Tagesordnung. Dabei geht es nicht immer nur um die Verbesserung der Arbeitsabläufe. Beim Umbau einer Werkhalle für eine Firma im Fahrleitungssektor in Gwatt bei Thun stand das Wohl der Mitarbeiter im Zentrum. Auf dem Gelände sollten ein Schulungs-, ein Aufenthalts- und ein Garderobenraum entstehen, für deren Umsetzung die Bauherrschaft Furrer Jud Architekten direkt beauftragte.

Hoch gestapelt

Schon zu Beginn der Planung wurde klar, dass eine Erweiterung auf dem freien Gelände des Firmenareals den vorherrschenden Werkverkehr stark beeinträchtigen würde. Also setzten sich die Architekten mit einer Ergänzung im Innern der bestehenden Werkhalle auseinander. Um die Arbeitsabläufe möglichst nicht zu behindern, sollte die Intervention allerdings wenig Verkehrsfläche der Halle besetzen. Eine Stapelung der Räume lag auf der Hand: die Garderobe im EG, der Schulungsraum im 1. OG und der Aufenthaltsraum im 2. OG. Besonders reizvoll erschien es den Architekten, den bestehenden Stahlbau zu nutzen und die neue Konstruktion in das vorhandene Tragwerk zu integrieren. Die statischen Abklärungen durch Dr. Uwe Teutsch, Bauingenieur und Inhaber von Tragstatur, stützten diesen Ansatz.

Integration und Anbindung

Der existierende Skelettbau der leicht gedämmten Halle zeichnet sich durch unterschiedlich starke Stützen und Riegel aus. In Querrichtung ist die «dreischiffige» Halle über Rahmenwirkung ausgesteift, in Längsrichtung durch Verbände in der Fassadenebene. In 6.24 m Höhe liegen in Längsrichtung der Halle Kranbahnträger auf Stützenkonsolen auf; die Laufkatze trug bis zu 20 t schwere Lasten von Bobinen und Fahrleitungsmasten.

In der südlichen Hallenecke, wo die Architekten den Raumstapel verorteten, wurde der Kran stillgelegt. Mit dieser Massnahme liess sich das statische Potenzial des überdimensionierten Tragwerks für den Einbau aktivieren. Die beiden Obergeschosse der neuen Sozialräume planten die Architekten als eine hybride und relativ leichte Konstruktion aus Stahl und Hohlkastenelementen aus Holz, die in die Kranbahn eingehängt wurde (14 t Stahl und 20 t Ausbaulasten). Alle Mehrlasten liessen sich über die bestehende Tragkonstruktion der Halle ableiten, da die Aufhängungen des Stahlkastens relativ nah am Auflager der Kranbahnschiene positioniert wurden. Eine zusätzliche Fundierung oder Verstärkung war nicht notwendig. Einzig die Kranbahnschiene entlang der Fassade wurde stellenweise an den Flanschen mit aufgeschweissten dünnen Blechen verstärkt.

Schwebende Kiste

Durch die heterogene Materialisierung des Einbaus – 2. OG silbergraues Profilblech, 1. OG dunkler Stahl und EG Sichtkalksandstein – treten das oberste und das unterste Stockwerk in den Hintergrund, sodass das stählerne Volumen in der Mitte im Raum zu schweben scheint. Zwischen dem gemauerten Sockel im EG und dem Stahl-Holz-Hybridbau darüber haben die Architekten eine 50 cm hohe Fuge belassen, die sie nur mit einer einfachen Verglasung schlossen. Die Fuge stärkt den schwebenden Eindruck des darüber angeordneten Körpers noch und gewährleistet gleichzeitig eine angemessene Belichtung der Umkleidekabinen mit Tageslicht.

Der fast schwarze Stahlkörper mit einer Höhe von 3.6 m, einer Breite von 9.5 m und einer Tiefe von 7.4 m ist als Hohlkasten ausgebildet und wird in Querrichtung durch die beiden raumhohen Stahlwangen ausgesteift. Sie bestehen aus einem Rahmen aus H-Profilen, der mit einem 5 mm starken, alle 1.8 m mit Rippen ausgesteiften Blech ausgefacht ist. In Längsrichtung wird die Aussteifung des Kastens durch eine Rahmenwirkung gewährleistet. Hierfür sind die Verbindungen der Stahlprofile in Längsrichtung des Kastens mit den Endpfosten der Seitenwände in Querrichtung biegesteif ausgeführt.

Diese Rahmenwirkung ermöglicht schliesslich die Vollverglasung der Vorder- und Rückseite des raumhohen Hohlkastens. Boden und Decke sind als Lignatur-Hohlkastenelemente ausgeführt, was die Konstruktion deutlich leichter macht als eine klassische Betonverbunddecke. Die Gewichtseinsparung ermöglichte es, die bestehende Kranbahn unverstärkt zu verwenden und eine schlanke, aber dennoch auffallende Aufhängung der vier Ecken der Gesamtkonstruktion an die Kranbahnträger – jeweils zwei konstruktive Aufhängedetails pro Kranbahn – zu realisieren.

Auf der zur Fassade gewandten Seite umfassen zu einer Lasche zusammengeschweisste Walz- und Blechprofile den Kranbahnträger. Auf der Seite zum Halleninnern haken sich die Walzprofile am Kranbahnträger ein. Die beiden geschlossenen Seitenwände des Kastens wurden mit der Aufhängung der einen Seite komplett in der Werkstatt verschweisst und auf die Baustelle geliefert. Die Verbindung der beiden Seitenwände mit den Längsprofilen des Kastens erfolgte auf der Baustelle durch Schraubverbindungen. Lediglich an vier Stellen im Bereich der Aufhängung des Kastens an den Kranbahnträger in Fassadenebene waren Baustellenschweissungen notwendig. Alle vier Lager sind mit einem schwingungsdämpfenden Elastomer ausgestattet, damit die Vibrationen, die durch die in den anderen Feldern der Halle befindlichen Laufkatzen entstehen, nicht in die Sozialräume übertragen werden.

Die oberen Räume werden über zwei Stahltreppen erschlossen. Die Lauffläche besteht aus Gitterrosten, die auf beiden Seiten des Stahlbaus auf Konsolen aufliegen und von den Profilen des raumhohen Hohlkastens auskragen. Im 1. OG sind die beiden Treppen über eine Art Laubengang verbunden.

Der Aufenthaltsraum im 2. OG erweitert sich über eine Aussentür zu einem neuen Balkon an der Aussenfassade der Werkhalle. Ähnlich wie eine Fensterreinigungs-Hängebühne am Dach befestigt ist, hängt auch der Balkon an einer Tragkonstruktion, die in der Dachebene verankert ist. Vier IPE-400-Profile stehen auf Vierkantrohren, die ihre Lasten auf die Querträger der bestehenden Dachkonstruktion der Halle abgeben. An diesen um 2.3 m über den Dachrand auskragenden Profilen hängen 3.75 m lange Zugstangen, die über eine Blechwange die Profile des Balkons abfangen. Die Thematik der aufgehängten Konstruktion zeigt sich somit nicht nur im Innern der Halle, sondern auch aussen.

Fassadenrhythmus bewahrt

Die Hallenfassade war bis anhin nahezu vollflächig mit einem Wellblech verkleidet. Lediglich auf Höhe des Erdgeschosses kam Licht durch ein durchlaufendes Fensterband in den Raum. Um nun auch die neuen Aufenthaltsräume mit Tageslicht zu versorgen, haben die Architekten den Eckbereich der Fassade auf einem Abschnitt von 11 × 15,7 m mit einer neuen Verglasung versehen. Auch die Dachhaut des Hallendachs musste in diesem Bereich erneuert werden, wobei die Tragkonstruktion unverändert und unverstärkt bestehen bleiben konnte. Die neue Pfosten-Riegel-Konstruktion korrespondiert farblich mit dem für den neuen Halleneinbau verwendeten Stahl, aber auch mit dem Rhythmus der alten, anschliessenden Fassade.

Die transformierte Hallenecke erscheint heute aufgefrischt, hell und transparent, dennoch ist sie als Teil des Bestehenden zu erkennen. Einer Apparatur oder einer grossformatigen Installation gleich fügt sich der neue Einbau als wichtiger Bestandteil wie selbstverständlich in und an die Werkhalle.


Anmerkung:
Dieser Artikel erschien bereits unter dem Titel «Neue Transparenz für eine Werkhalle» in steeldoc 01/18.

TEC21, Fr., 2018.04.13



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TEC21 2018|15 Stahl: eingehängt und aufgestockt

09. März 2018Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Dünne Platte über der Eulach

In Winterthur entstand 2016 eine Fahrradbrücke, die es in sich hat: Der von Staubli, Kurath & Partner zusammen mit der ZHAW entwickelte Übergang ist statt mit Stahl mit vorgespanntem Carbon bewehrt. Das macht die Konstruktion bemerkenswert leicht und schlank.

In Winterthur entstand 2016 eine Fahrradbrücke, die es in sich hat: Der von Staubli, Kurath & Partner zusammen mit der ZHAW entwickelte Übergang ist statt mit Stahl mit vorgespanntem Carbon bewehrt. Das macht die Konstruktion bemerkenswert leicht und schlank.

Zwischen dem Campus der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Winterthur (ZHAW) und der Kantonsschule Büelrain überspannt eine Velobrücke als einfacher, 7.7 m langer Balken wenig spektakulär die kanalisierte Eulach. Eine nähere Betrachtung allerdings lässt stutzen: Die Betonbrücke wirkt nicht massiv, und mit 80 mm fallen die Stege für diese Spannweite äusserst schmal aus. Planung und Bau der Brücke lagen bei den Bauingenieuren von Staubli, Kurath & Partner. Weil aber das Tragwerk alles andere als eine herkömmliche Konstruktion ist, waren die Planenden auf Entwicklungsarbeit angewiesen.

Schlank dank Forschung

Die Fachgruppe Faserverbundkunststoffe FVK am Institut Konstruktives Entwerfen des Departements Architektur, Gestaltung und Bauingenieurwesen an der ZHAW erforscht und entwickelt seit 2011 dünne und gleichzeitig sehr tragfähige Betonplatten. Dabei wird der Beton nicht mehr mit Stahl, sondern mit vorgespanntem Carbon bewehrt. Stahlbewehrung muss in konventionellen Betonbauteilen mit einer Betonüberdeckung vor Korrosion geschützt werden. Diese Überdeckung kann zur Lastabtragung im besten Fall nur teilweise herangezogen werden, trägt bei schlanken Bauteilen aber wesentlich zum Eigengewicht und zur Form bei. Der Filigranität sind dadurch Grenzen gesetzt. Der Einsatz von Carbon bietet Vorteile, da es nicht korrodiert (vgl. Kasten unten). Entwicklungen mit schlaff eingelegten Fasern, Filamenten oder Netzen aus Kohlenstofffasern treffen unter dem Namen Carbonbeton oder auch Textilbeton bereits seit einigen Jahrzehnten auf reges Interesse.

Die technischen Eigenschaften des Carbons, wie die hohe Zugfestigkeit und die Ermüdungsfreiheit auch im Bereich der Bruchspannung, können im Verbund mit Beton aber erst ausgeschöpft werden, wenn die Bewehrung vorgespannt eingesetzt wird. Dadurch kann die hohe Zugfestigkeit von Carbon ausgenutzt und der Materialeinsatz der Kohlenstofffasern um etwa 90 % reduziert werden. Eine Minimierung des Carboneinsatzes ist im Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit der Betonprodukte und den Ressourcenverbrauch relevant.

Gemeinsam mit einem Industriepartner hat die Fachgruppe in einem KTI-Forschungsprojekt eine leistungsfähige, nur 40 mm dünne Platte aus hochfestem Beton C65/75 entwickelt, die ausschliesslich mit vorgespanntem Carbon bewehrt ist. Sie lässt sich industriell und grossformatig in der Abmessung von 2.40 m × 10.0 m fertigen und anschliessend auf Mass zuschneiden – ähnlich wie grossformatige Stahlplatten im Stahlbau oder Holzwerkstoffplatten im Holzbau. Neben einfachen sind auch frei geformte Zuschnitte, Oberflächenbearbeitungen wie Bürsten und Fräsen, Bohrungen, Schlitzfräsungen, Taschen und Fasen möglich. Aufgrund der vielfältigen Bearbeitungsmöglichkeiten wurden diese sogenannten cpc-Platten (carbon prestressed concrete; vgl. Kasten unten) bereits häufig als Sekundärtragwerk eingesetzt, etwa als Treppen- oder Brückenbelag.

Mit dem Bauwerk über der Eulach haben die Bauingenieure der ZHAW aus den zum Patent angemeldeten cpc-Betonplatten eine Brücke für den Langsamverkehr konzipiert. Sie ersetzt ihre instandsetzungsbedürftige Vorgängerin und zeigt die Leistungsfähigkeit dieses Werkstoffs erstmals in einem komplett eigenständigen Brückentragwerk.

Vorgängerin: wegen Korrosion gesperrt

Das Tragwerk der ehemaligen Brücke bildeten zwei Einfeldträger aus Stahl, die neben dem aufliegenden Brückendeck aus Betonbohlen auch diverse Werkleitungen trugen. Durch die Lücken zwischen den Betonbohlen gelangte Regenwasser auf die Stahlträger und führte über die Jahre zu Korrosionsschäden. Anfang 2016 musste das Hochbauamt des Kantons Zürich als Eigentümerin die Brücke sperren lassen. Für den Ersatzneubau aus cpc-Platten entfernte man die 120 mm dicken Betonbohlen des alten Brückendecks und die über Konsolen angeschlossenen Geländer. Die Stahlträger blieben für die Führung der Werkleitungen weiterhin erhalten, wurden jedoch um 225 mm verkürzt, um Platz für das Auflager der neuen Brücke zu schaffen.

Geklebte Rahmenkonstruktion

Wie eine Tischkonstruktion stülpt sich die neue Brücke über die alten Stahlträger und schützt diese, ohne sie zu berühren, vor direkter Bewitterung. Die verbliebenen Stahlträger können somit mindestens 40 Jahre weiter genutzt werden. Eine einzige, 7.815 m × 2.37 m grosse und 40 mm starke cpc-Platte formt das Deck. Aufgrund der Vorspannung ist die Brückenplatte «rissfrei», was ihre Dauerhaftigkeit erhöht. Ein zusätzlicher Belag ist nicht erforderlich – die oberste Betonschicht dient als Verschleissschicht. Die Platte ist mit Senkkopf­muttern aus Edelstahl auf einen darunter liegenden, umlaufenden, 320 mm hohen Tragrahmen verschraubt und über die gesamte Länge verklebt. Der Rahmen, der aus zwei flächig verklebten cpc-Platten besteht, ist an der Oberseite in Längsrichtung in einem leichten Kreisbogen mit einem Radius von 218 m geschnitten. Aufgrund ihres Eigengewichts folgte die Brücken­platte der Überhöhung und wurde in dieser vorgekrümmten Form mit dem Tragrahmen verbunden.

Am unteren Rand der Längsträger ist jeweils eine ­Carbonlamelle Sika Carbodur M 1014 als zusätzliche Bewehrung in einer eingefrästen Nut eingeklebt. Die Querstege weisen Ausnehmungen für die Werkleitungen auf. Die nutz­bare statische Höhe des Rahmens ergab sich direkt aus den bestehenden Höhenlagen der Auflager und der Steg­zufahrten, die unverändert blieben. Zur Entwässerung des Belags ist die Brücke in Längsrichtung etwa 35 mm überhöht. Eine umlaufend eingefräste Nut an der Unterseite dient als Wassernase.

Bemessung und Grossversuch

Die Bauingenieure richteten sich bei der Bemessung nach den Anforderungen gemäss den SIA-Normen 260:2013 und SIA 261:2014. Neue Kennwerte, die nicht in den Normen vorhanden sind, ermittelten sie anhand von Versuchen. An einem Grossversuch testeten sie das gesamte Zusammenwirken der einzelnen Elemente und überprüften die Belastungssituation experimentell. Die maximal eingeleitete Kraft betrug 88.56 kN, was einer Belastung von über 8.5 t entspricht. Das war rund 10 % mehr Last, als statisch berechnet worden war. Die neuartige Brückenkonstruktion konnte also gut mit den üblichen statischen Modellen beschrieben werden.

Mit Erfahrung weiter entwickeln

Die Staketen des Geländers aus gebürsteten Chromstahlrohren ROR 26.9 × 2.6 (1.4301) werden von einem mit der Brücke verklebten Randstreifen gehalten und tragen einen schlichten Handlauf. Beide Bauteile be­stehen ebenfalls aus carbonbewehrten cpc-Platten. Die Geländer der Zufahrten sind passend in der gleichen Weise ausgeführt und wurden erst montiert, nachdem die Brücke komplett auf einem Tieflader zum Bauplatz geliefert und mit einem leichten Pneukran auf den vorbereiteten Auflagern abgesetzt worden war.

Anhand des modularen Konzepts der Eulach­brücke konnten die Beteiligten wichtige Erfahrungen sammeln, um Brückenaufbauten zu verbessern und materialgerechte Details weiterzuentwickeln. Industriell herstell- und weiterverarbeitbar, robust und transportabel verfügen cpc-Platten über ein hohes Potenzial in der Baubranche. Aus finanzieller Sicht sind die cpc-Platten konkurrenzfähig. Im Fall der Eulachbrücke boten sie sogar die günstigere Variante als eine konventionelle Lösung. Die Kosten lagen im Rahmen eines vorgesehenen Bauprovisoriums. Die Betonplatten sind herkömmlichen korrosionsanfälligen Konstruktionen in Wirtschaftlichkeit und Tragfähigkeit mindestens ebenbürtig.

«Durch den deutlich reduzierten Material­einsatz», so Josef Kurath von Staubli, Kurath & Partner und Professor an der ZHAW, «sind sie aber im Ressourcenverbrauch und in der Nachhaltigkeit den kon­ven­tionellen überlegen.» Um die Nachhaltigkeit der neuen Carbonbetonbrücke beurteilen zu können, seien zwei Varianten einer Ortsbetonbrücke durchgerechnet worden. Vergleiche man die cpc-Modulbrücke mit konventionellen Stahlbetonbrücken in puncto Ökobilanz, erhalte man erstaunliche Werte, erläutert Kurath. Die berechneten Massivbrücken würden 11 800 kg respektive 14 700 kg Beton benötigen. An Stahl bräuchte es 525 kg beziehungsweise 385 kg.

Bei der gebauten cpc-Modulbrücke wurden hingegen nur 3200 kg Beton und 14.5 kg Carbonbewehrung verwendet. «Ausserdem ist kein Belag notwendig», ergänzt der Spezialist, «da der Carbonbeton resistent gegen Salzwasser ist.» Durch die umgesetzte cpc-Modulbrücke konnten deshalb etwa 75 % an Umweltbelastungspunkten eingespart werden. Ein enormes Potenzial, denn solche Kleinbrücken gibt es allein in der Schweiz tausendfach.

TEC21, Fr., 2018.03.09



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09. Februar 2018Clementine Hegner-van Rooden
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Wanne im Wasser

Das neue Hauptgebäude der Swiss Re am Zürichsee ist ein Skelettbau mit Stahlbetonverbunddecken – so weit Routine. Doch die Arbeit der Ingenieure von EBP war alles andere als alltäglich. Dem Tragwerk blieb wenig Platz, und der Ersatzneubau schwimmt regelrecht im Wasser.

Das neue Hauptgebäude der Swiss Re am Zürichsee ist ein Skelettbau mit Stahlbetonverbunddecken – so weit Routine. Doch die Arbeit der Ingenieure von EBP war alles andere als alltäglich. Dem Tragwerk blieb wenig Platz, und der Ersatzneubau schwimmt regelrecht im Wasser.

Den Mythenquai am westlichen Ufer des Zürichsees gab es so nicht immer. Erst mit der Aufschüttung der Quaianlage in den 1880er-Jahren erschloss sich das unzugängliche Sumpfland am See­ufer. Die Stadtbewohner erhielten eine Flaniermeile vom Zürichhorn am östlichen bis hin zum Belvoirpark am westlichen Ufer.

Der Mythenquai entstand – und mit ihm eine prominente Bauzone. Den Wandel von der öffentlichen Promenade hin zum Geschäftsviertel leiteten drei Versicherungsgesellschaften ein, die am Mythen- und am damaligen Alpenquai ihre Hauptsitze erstellten: 1897 die Rentenanstalt, 1899 die Zürich-Versicherung und 1913 die Schweizer Rückversicherungs-Gesellschaft, die heutige Swiss Re.

Die Lage war zwar attraktiv, doch der Baugrund am Seeufer äusserst diffizil. Als aufgeschüttetes Sumpfland ist dieser ein von Grundwasser gesättigter und nur schlecht tragfähiger und setzungsempfindlicher Untergrund (künstliche Aufschüttungen gelagert auf Seeschlamm und Seekreide; erst in etwa 20 m Tiefe finden sich gut gelagerte Silte). R. Henauer & J. Lee Bauinge­nieure liessen Mitte der 1960er-Jahre für den Neubau der Schweizer Rückversicherungs-Gesellschaft von Werner Stücheli, den Vorgänger des aktuellen Gebäudes, ein dem Standort angepasstes Verfahren einsetzen.

Die Konstruktion wurde in Deckelbauweise erstellt – zuerst die Bodenplatte des Erdgeschosses und danach schrittweise die Untergeschosse ins Erdreich hinein. Der Aushub der Baugrube erfolgte dabei jeweils unter der bereits erstellten Decke, zuletzt wurde die Bodenplatte eingebracht. Umringt sind die Untergeschosse von einer 60 cm starken und 25 m in den Untergrund reichenden Schlitzwand, die als Baugrubenabschluss funktioniert. Zusammen mit der Bodenplatte bildet diese Schlitzwand eine Wanne – schwarz abgedichtet –, die regelrecht im wassergesättigten Uferbereich treibt.

Unter dem Grundwasserspiegel

Anfang der Nullerjahre war der Stücheli-Bau in die Jahre gekommen. Den Studienauftrag zum Ersatzneubau «Swiss Re Next» gewannen 2008 Diener & Diener Architekten. Der Bestand musste weichen, aber seine noch einwandfreie Schlitzwand war ein zentrales Element der aktuellen Arbeiten. Ein Rückbau ohne die Sicherung dieses bestehenden Baugrubenabschlusses hätte fatale Folgen gehabt, ebenso eine unbedachte Demontage der Untergeschosse.

Für Baustellen, die sich wie hier unterhalb des Grundwasserspiegels befinden, müssen sich die Ingenieure mit komplexen bodenmechanischen Begebenheiten auseinandersetzen. Die Gebäudewanne könnte aufschwimmen, wenn der Auftrieb plötzlich grösser ist als die Last. Ein Aushub kann nur trockenen Fusses geschehen, wenn der Wasserspiegel innerhalb der Schlitzwand abgesenkt wird. Eine Wasserhaltung mit Abpumpen und Wiedereinleiten ist notwendig.

Durch die Absenkung des Wasserspiegels entsteht in diesem wenig durchlässigen Boden ein hydrostatischer Druck von unten gegen die Sohle. Ihm entgegen wirkt einzig die vertikale Last, die innerhalb der Baugrube auf die Sohle wirkt. Ist sie zu klein, kann es zu einem verheerenden Sohlenaufbruch kommen.

Ausserdem wirken starke seitliche Kräfte auf den Baugrubenabschluss. Aktiver Erd- und Wasserdruck presst die Schlitzwand in die Baugrube hinein. Bliebe diese nicht durch die bestehenden Untergeschossdecken und die Bodenplatte gestützt – sie wirken wie Spriesse –, so würden die horizontalen Kräfte zum Kollaps des Baugrubenabschlusses führen, was drastische Konsequenzen für die direkte Umgebung hätte. Trotzdem musste auch der Bestand in den Untergeschossen ersetzt werden.

Stets im Kräftegleichgewicht

Aus diesem Grund entwickelten die Bauingenieure ein sorgfältiges Konzept für den Rückbau des Bestands. Statt der Decken übernahm eine temporäre Spriessplattform die Stützfunktion, und die Bodenplatte wurde in kleinen Teilen von 15–70 m² sukzessive ersetzt. Zudem liessen sie 20 Kleinfilterbrunnen bohren, durch die das Grundwasser stetig abgepumpt und der Wasserspiegel, der sich normalerweise etwa 1 bis 2 m unter dem Stras­senniveau am Mythenquai befindet, innerhalb der Baugrube sukzessive gesenkt wurde.

Der Porenwasserdruck unterhalb Unterkante Schlitzwand wurde mithilfe von Überlaufbrunnen entspannt, womit die Sicherheit gegen einen Sohlbruch gewährleistet war. Der Bau­prozess war minu­tiös und in klar abgestimmten Phasen auf dieses Konzept ausgelegt.

Zuerst erfolgte der Rückbau des Bestands in klassischer Weise bis hinunter ins erste Untergeschoss. Parallel dazu liessen die Ingenieure entlang der Schlitzwand vertikale Stahlträger und mit ihnen verbundene Longarinen einbauen.

Die Spriessplattform wurde direkt nach dem Rückbau des ersten Untergeschosses eingebaut. Sie ist eine tischartige Kon­struktion aus über 1000 t Stahl und besteht aus einem etwa 55 × 80 m grossen und 6.8 bis 8.8 m weit gerasterten Trägerrost aus HEB500-Profilen über den gesamten Baugrubengrundriss.

Dieser Rost lagerte auf HEB300-Stützen, die durch den Restbestand hindurch auf bereits neu betonierte Bodenplattenteilstücke platziert wurden. Sobald die Spriess­plattform fertiggestellt war, gaben hydraulische Pressen an allen vier Stirnseiten des Rosts Kräfte von 100 bis 200 t auf die vertikalen Stahlträger ab. Über die Longarinen wurden diese auf die Schlitzwand übertragen.

Ähnlich einem Tunnelschalwagen – aber horizontal angeordnet – übernahm ein Schild aus vertikalen Stahl­trägern und Longarinen die Stützfunktion des Baugrubenabschlusses und entlastete schliesslich die Decken des Bestands. Diese Kraftumlagerung ermöglichte den weiteren Rückbau ohne ungewollte Verformungen der Schlitzwand und damit ohne Setzungen des Baugrunds ausserhalb der Baugrube.

Zwischen dieser temporären Konstruktion konnten die Bauarbeiter unter stetiger Beobachtung und Messung der Baugrube die bestehende Altbau­substanz rückbauen, die zusätzlich notwendigen schwimmenden Pfähle für die Fundation setzen (900 Selbstbohrpfähle mit Mantelreibung), etappenweise die Bodenplatte ersetzen, Schutt abtransportieren und den neuen Beton für die drei wasserdichten Untergeschosse einbringen.

Der Wasserspiegel wurde den Rückbauarbeiten und der entsprechenden Last­reduktion folgend abgesenkt und danach wieder angehoben. Sobald die Decke über dem zweiten Untergeschoss vollständig eingebaut war, konnten die Spriessplattform insgesamt zurückgebaut und die verbliebenen Öffnungen in den neuen Decken zubetoniert werden. Ab diesem Zeitpunkt erst nahm man den Fortschritt des Ersatzneubaus wahr – nach fast eineinhalb Jahren.

Aus Betonwanne wächst Skelettbau

Im folgenden, für die notwendigen Arbeiten zeitlich knapp bemessenen Jahr schossen die weiteren sieben Geschosse als kompakter Quader mit einem Grundriss von 57 × 71 m regelrecht aus dem Boden in eine Höhe von 25 m. Auf dem Erdgeschoss mit dem Eingangsbereich stapeln sich fünf Obergeschosse, von denen vier als Grossraumbüros dienen und das oberste seeseitig für in­formellere Tätigkeiten konzipiert ist.

Der Bau unter Terrain ist statisch ein Massivbau mit Flachdecken auf vorfabrizierten Stützen und Wandscheiben. Die Decken funktionieren auch als Scheiben, die im Endzustand die bestehende Schlitzwand dauerhaft abstützen und horizontale Einwirkungen aus Wind- und Erdbebenlasten in den Baugrund ableiten. Das Bauwerk über Terrain ist hingegen ein Skelettbau mit vorfabrizierten Stahlstützen und gedrungenen Stahl-Beton-Verbunddecken. Die Stützen sind aus Vollstahlrohren mit einem ergänzenden Stahlmantel ge­fertigt, deren Zwischenraum aus brandschutzspezifischen Gründen vor Ort ausbetoniert wurde.

An den Fassaden stehen runde Profile mit einem von den oberen bis zu den unteren Geschossen von 250 bis 450 mm zunehmenden Durchmesser. Im Innern stehen auch Vierkantrohre. Generell spannen die Primärträger als geschweisste Blechträger senkrecht zur Strassenachse. Die grossen Spannweiten von bis zu 14 m ermöglichen flexibel nutzbare Grossraumbüroflächen.

Die Sekundärträger aus HEB550-Profilen, die als Verbundträger ausgebildet sind, verlaufen orthogonal dazu. Die Trägerunterkanten liegen in derselben Ebene, und die 18 cm starke Betonplatte auf Verbundblechen ist schubfest mit den Stahlträgern verbunden. Die gesamte Konstruktionshöhe inklusive der untergehängten Decke beträgt nur 75 cm.

Um die Medien und das Tragwerk in dieser reduzierten Konstruktions­­höhe unterbringen zu können, sind alle Träger systematisch für Medienleitungen perforiert. Nur bei den Kernzonen, wo HLKS-Leitungen aus den Erschliessungsschächten austreten, erleichtern 30 cm starke Flachdecken die Leitungsführung.

Zwei Atrien durchstossen den Quader vom Erdgeschoss bis zum Dach und belichten die inneren Flächen der 72 × 58 m grossen Grundrissfläche. Vier Betonkerne, die die Etagen erschliessen und im steifen Stahlbetonkasten des Untergeschosses eingespannt sind, steifen des Gebäude gegen horizontale Kräfte aus.

Vorhang vor Verbundbau

Umhüllt wird der kompakte Quader von einer zweischichtigen Glasfassade. Die äussere Haut ist gewellt und hängt als Vorhang an auskragenden Konsolen. 914 Glaswellen bringen es auf ein Gewicht von 377 t. Der obere, höher frequentiert gewellte Vorhang hängt über Chromstahlstangen am sechsten Obergeschoss, der untere, breiter gewellte Vorhang am vierten Obergeschoss. An den Anschlussstellen ergänzten die Bauingenieure den Trägerraster der Decken mit zu­sätzlichen Tertiär­trägern, um die Torsion des Fassaden­trägers auffangen zu können.

Der Ersatzneubau ist aus tragwerksspezifischer Sicht also ein Stahl-Beton-Verbundbau mit einem Skelettbau als Tragstruktur, kein Glasbau. Das Glas ist nur die Fassade – der Vorhang, der das Tragwerk transparent einhüllt. Es bildet die Schauseite, die das Gebäude nach aussen repräsentieren soll und damit auch den Zeitgeist widerspiegelt – so vergänglich dieser manchmal auch sein mag. Das Tragwerk dahinter bezeugt als solide Ausführung hingegen Beständigkeit.

TEC21, Fr., 2018.02.09



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Integral und überdimensional

Das Amager Ressource Center hat zwei Hauptmerkmale: die netzartig strukturierte Fassade aus Aluminiumkästen und die eingegliederte Tragkonstruktion aus Stahl. Die Ingenieure von Dr. Lüchinger Meyer und von MOE stärken mit ihrer Leistung den architektonischen Entwurf von BIG.

Das Amager Ressource Center hat zwei Hauptmerkmale: die netzartig strukturierte Fassade aus Aluminiumkästen und die eingegliederte Tragkonstruktion aus Stahl. Die Ingenieure von Dr. Lüchinger Meyer und von MOE stärken mit ihrer Leistung den architektonischen Entwurf von BIG.

Das Amager Ressource Center ist wahrhaft gigantisch: Mit einer Grundfläche von 200 × 60 m und 90 m Höhe erhebt es sich wie ein Berg aus der flachen Landschaft und ist von weit her sichtbar (vgl. «Ernster Spass»). Dennoch sind die wahren Dimensionen des solitären, zu einer Rampe geformten Volumens aus der Distanz kaum abzuschätzen – ebensowenig wie die Funktionen, die sich hinter der einheitlichen Fassade aus massstabslos wirkenden, additiv aufeinander geschichteten Elementen verbergen.

Die Anlage besteht im Innern aus unterschiedlichen funktionellen Einheiten wie Müllbunker, Administrationshochhaus, Maschinen- und Anlieferungshalle, die sich alle in das zu einer Rampe geformte Volumen einfügen. Das Tragwerk gliedert sich in diese Form ein, wobei es entsprechend seiner raumbildenden Funktion aus der Basisstruktur aus Beton und der Superstruktur aus Stahl besteht.

Der Müllbunker ist als konventionelle Betonkonstruktion ausgeführt, und das Administrationshochhaus ist ein elfgeschossiges Gebäude, das aus einer Stahlverbundkonstruktion besteht. Über diese Basis stülpt sich die ganze Stahlrahmenkonstruktion aus vertikalen Hauptträgern (S355 und S460) und dazwischen spannenden Sekundärträgern (S235). Sie generiert einen überdimensionalen Innenraum, hüllt die Ma­schinen- und die Anlieferungshalle ein und gibt dem ­Bauwerk zugleich seine markante Form. Die Stahltrag­elemente bestehen hauptsächlich aus HEA-, Rohr-, Vierkantrohr- und Blechprofilen.

Über der Anlieferung spannt ein Fachwerk-Halbrahmen mit einer Spannweite von über 46 m und einer statischen Höhe von bis zu 5 m, über dem Bunker ein 40 m langer Fachwerk­träger und über der Prozesshalle wiederum ein 60 m weit gespannter, bis zu 4 m hoher Fach­werkträger, der auf Blechprofilstützen von 500 bzw. 750 mm × 1000 bzw. 1600 mm lagert. Die Stützen sind bis zu 61 m hoch und stehen alle 10 m in der Fassade. Sie sind die einzige Anknüpfstelle für horizontale und vertikale Lasten aus der Fassadenebene. Ein feingliedrigerer Stützenabstand war wegen der Leitungsführung in der Fassadenebene nicht möglich. Das Gebäudevolumen ist so weit optimiert, dass es genau über die Maschinerie passt und kaum noch ­ freien Raum lässt.

Integrale und homogene Hülle

Die komplexe Tragkonstruktion wird von der charakteristischen Fassade eingehüllt. Obwohl diese an verschiedenen Stellen verschiedene Funktionen erfüllt – an manchen Stellen verhüllt und schliesst sie nur, an anderen dämmt sie zusätzlich –, bildet sie über die gesamte 30 000 m² grosse Fläche eine einheitliche Haut. Sie erinnert an ein schachbrettartig perforiertes Mauerwerk oder eine widerstandsfähige Schutz­matte. Es scheint, als würden Stahlstifte breitbandige Laschen zu einem Geflecht zusammenfügen, das sich formbar und dennoch steif an das Volumen anschmiegt. Es ist indes der immense Massstab, der dieses fein­gliedrige Abbild trägt. Tatsächlich sind die Stahlstifte die grossen Blechprofilstützen und die Laschen grosse Hohlkästen, die als Pflanzenkörbe genutzt werden. ­Dazwischen bilden sich grosszügige Fensteröffnungen von 2.8 × 1 m.

Ursprünglich war ein additiver Fassadenaufbau von 1 m Tiefe geplant gewesen – ein in diesem Fall in­effizientes System. Dr. Lüchinger Meyer entwickelten ein Konstruktionsprinzip, das Synergien zwischen den Fassadenkomponenten und -schichten nutzt. Die Ingenieure wandten sich von der klassischen Bauweise ab, bei der das Fassadentragwerk von der Fassaden­verkleidung getrennt ist. Sie aktivierten die Verkleidung strukturell. Sie übernahmen die Abmessungen und ­Formen, die gestalterisch ohnehin gegeben waren, und nutzten sie statisch. Jeder einzelne Hohlkasten ist entsprechend seinen funktionellen Rahmenbedingungen geformt und torsionssteif zusammengeschweisst. Das zusätzliche Tragwerk, das ergänzend zum Haupttragwerk die Hohlkästen hätte tragen sollen, wurde obsolet.

Die Hohlkästen fügen sich präzise ineinander, und ihre Länge ist auf die Haupttragkonstruktion abgestimmt. Zwischen den Blechprofilstützen sind überlappend verschweisste oder verschraubte Hohlkastenpakete aufgespannt. Diese Pakete sind symmetrische Arrangements aus vier oder fünf Hohlkästen. Das Fünferelement bildet eine H-Form, das Gegenstück ist aus vier Steinen zusammengesetzt. Die so kombinierten Elemente bilden das statische System eines einfachen Balkens, der auf den flankieren­den Stützen lagert. Die Torsionskräfte, die infolge hori­zontaler Kräfte auf ein asymmetrisches Paket entstanden wären, heben sich auf.

Dünnwandige Hohlkästen aus Aluminium

Die Ingenieure führten mit den Architekten eine detaillierte Abklärung der Materialisierung und der Konstruktion der Fassade durch. An massstäblich gefertigten Musterelementen in Aluminium und Stahl untersuchten sie die Machbarkeit, die Oberflächenbeschaffenheit und -qualität, den Korrosionsschutz, die Toleranzen sowie den terminlichen Verzug durch das Verzinken. An einem finalen Mock-up prüften die Planenden das entwickelte System auf seinen Widerstand, die Windeinwirkung, die Luftdurchlässigkeit und die Wasserdichtigkeit.

Neben der Produktion und dem Transport standen bei der Dimensionierung und der Materialisierung vor allem die Optimierung des Materialverbrauchs im Vordergrund. Dass eine Reduktion der Blechstärke um lediglich 0,5 mm bereits zu einer Materialersparnis von 50 t Aluminium oder 140 t Stahl führte, zeigt die Effektivität einer präzisen Bemessung. Die Ingenieure erreichten denn auch eine signifikante Reduktion der Blechstärken von den ursprünglich ermittelten 7 mm bis auf 5.5 mm, an manchen Stellen sogar auf 4.5 mm Stärke.

Die Durchbiegung der Elemente blieb aufgrund der unveränderten statischen Höhe klein. Allerdings waren die Bleche aufgrund der ausgeprägten Schlankheit beulgefährdet. Mittels der versierten Anwendung von FE-Programmen und dem entsprechenden Hintergrundwissen zu nichtlinearen Berechnungen ermitteln die Ingenieure die optimierte Blechstärke und erreichten eine stabile und dennoch sehr schlanke Konstruktion. Die Rippen im Bereich der Krafteinleitung waren dabei Teil der Materialoptimierung.

Die Materialisierung der Hohlkästen blieb während der Planung bis zum Kostenvoranschlag offen, um den spezifischen Rahmenbedingungen optimal begegnen zu können. Aufgrund seiner strukturellen Effizienz favorisierten die Planer den Stahl. Eine entsprechende Kostenanalyse zeigte allerdings, dass bei roh belassenem Aluminium und unter Berücksichtigung aller wegfallenden Vor- und Nachbearbeitungen sowie Unterhaltsarbeiten Aluminium attraktiver wird.

Gelungene Synthese von Ingenieurwesen und Architektur

Die Weiterentwicklung des Fassadensystems vom additiven zum integralen System war aus architektonischer und statischer Sicht vorteilhaft. Mit der entworfenen Formgebung und der errechneten Materialstärke erreichten die Planenden ein in vielen Belangen effi­zientes Fassadenpaket – es integriert statische und ­architektonische Komponenten, es erfüllt montage- und transportspezifische Aspekte, indem es auf einen Sattel­schlepper passt und vor Ort auf nur wenige Millimeter genau in die Fassade eingesetzt werden kann, und es erfüllt neben den strukturellen und statischen Aspekten auch energetische Ansprüche, indem es beispielsweise im Bereich des Administrationshochhauses auch Fenster, Dämmung und Abdichtung aufnimmt.

Die Tragkonstruktion ist Teil der Architektur. Sie fügt sich passgenau in die komplexe Geometrie der Anlage und trägt die künftig begrünte Fassade sowie das Formdach. Damit wird einerseits der architektonische Entwurf gestärkt und andererseits die Konstruktion nicht nur auf tragwerksspezifischer Ebene, sondern ebenso mit visuellen, gestalterischen und technischen Aspekten begründet. Letztlich bedingen sich Archi­tektur und Tragwerk.

Wichtige Daten rund um das Projekt

Wettbewerb: Entscheid 2011
Teilnehmende:
Gottlieb Paludan Arkitekter, Kopenhagen;
Dominique Perrault Architecture, Paris;
Wilkinson Eyre Architects, London/Hongkong;
3XN, Kopenhagen/Stockholm/ Sydney/New York;
Lundgaard og Tranberg Arkitekter, Kopenhagen;
BIG, Kopenhagen/New York/London
Projektierung: 2011– 2014
Ausführung Rohbau: 2015–2016
Fertigstellung Rohbau: 2016
Start Testbetrieb: 2017
Offizielle Einweihung: Herbst 2018
Nutzung: Kehrichtverwertungsanlage, Sportanlage (Dach)
Volumen: 41 000 m³
Tragsystem: Binderunterstütztes Träger-Stützen-System mit unterschiedlichen Tragbalken im Dach
Konstruktionsart: Stahlrahmenkonstruktion
Tonnage: 7500 t Stahl, LEK 2015
Stahlsorten: S355 und S460 für das Haupttragwerk und S235 für das sekundäre Tragwerk
Fassadenkonstruktion: 25 000 m² Stahlsandwichpaneele ummantelt, Aluminiumhohlkästen
Brand- und Oberflächenschutz: Material roh
Energieeffizienz/Nachhaltigkeit: LEK 2015
Kosten: 530 Mio. Euro

Alle bisher erschienenen Beiträge zum Thema Stahlbau finden Sie in unserem digitalen Dossier «Stahl».

TEC21, Fr., 2017.11.03



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27. Oktober 2017Clementine Hegner-van Rooden
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In der Bautradition der Bündner Bogenbrücken

Seit Juni 2017 rollt der Verkehr ein Stück geradliniger in Richtung Oberalppass. Eine neue Bogenbrücke von Schnetzer Puskas Ingenieure begradigt eine Kurve bei Rabius und ist ein Beispiel für ein statisch effizientes Bauwerk mit gelungener Gestaltung.

Seit Juni 2017 rollt der Verkehr ein Stück geradliniger in Richtung Oberalppass. Eine neue Bogenbrücke von Schnetzer Puskas Ingenieure begradigt eine Kurve bei Rabius und ist ein Beispiel für ein statisch effizientes Bauwerk mit gelungener Gestaltung.

Oberhalb des Vorderrheins schlängelt sich die Hauptstrasse 19 kurvenreich von Reichenau auf den Oberalppass. Eine neue Bogenbrücke überspannt nun die Val Mulinaun und begradigt den rund 1.3 km langen Strassenabschnitt zwischen Rabius und Sumvitg – folgte doch die bisherige instandsetzungsbedürftige Betonfahrbahn dem Geländeeinschnitt.

Effizienter Wettbewerb

Für den Brückenentwurf schrieb das Tiefbauamt Graubünden 2013 einen anonymen, zweistufigen Wettbewerb aus (vgl. TEC21 37/2014). In der ersten Phase waren nur eine Ideenskizze der Brücke und ein Kurzbeschrieb einzureichen. 37 Projektvorschläge gingen hierzu ein. Sechs Teams wurden daraufhin eingeladen, in einem reduzierten Vorprojekt ihren Brückenentwurf auszuarbeiten, die Hauptmassen zu ermitteln und die technische Machbarkeit und Wirtschaftlichkeit zu belegen. Aufgrund der überschaubaren Abgabeleistungen in der ersten Phase und danach erhöhter Gewinnchancen bei steigendem Aufwand ist ein solches zweistufiges Verfahren sowohl für die Projektverfasser als auch die Auslober effizient und vorteilhaft (vgl. Interview mit Christian Menn).

Bogen als Kernstück der Korrektion

Die Randbedingungen des Bauprojekts waren anspruchsvoll: Steile Talflanken und die anstehende Geologie bargen baugrundtechnische Risiken. Die Brücke musste der vorgegebenen, gekrümmten Linienführung der zukünftigen Strasse folgen, gleichzeitig war ein Lawinenzug in der Val Mulinaun zu berücksichtigen. Ausserdem stellte die landschaftlich exponierte Lage etwa 60 m über dem Bach trotz verdeckenden Waldhängen hohe Ansprüche an das Erscheinungsbild. Von drei vorgeschlagenen Bogenbrückenkonstruktionen kam nur der Entwurf von Schnetzer Puskas Ingenieure in die engere Auswahl und konnte letztlich den Wettbewerb für sich entscheiden.

Obwohl die gekrümmte Linienführung der Strasse für eine Bogenkonstruktion nicht optimal war, wählte der Projektverfasser Heinrich Schnetzer dieses Tragsystem aufgrund statischer, herstellungstechnischer und ästhetischer Gesichtspunkte. Ein Bogen füge sich optimal in die Umgebung ein und lasse sich an dieser Stelle mit dieser Spannweite in effizienter Weise umsetzen – so Schnetzer. Der Entwurf basiere auf statischen und kontextuellen Überlegungen zum Typus Bogen und leite sich grundsätzlich von der Strassengeometrie ab. Eine herkömmliche Bauweise mit teuren Lehrgerüsten habe er aber im Wettbewerbsentwurf mit modernen Herstellungsverfahren weiterentwickelt, wodurch der Bogen als statisches System wirtschaftlich noch interessanter würde (vgl. «Ursprüngliches Bauverfahren», Kasten unten).

Die ästhetische Bogenkonstruktion mit ihrem schlanken, sichelförmigen Bogen, der den Lawinenzug respektvoll überbrückt, dem ruhigen Rhythmus der Aufständerung und der bedachten Einbindung in die Umgebung überzeugte auch die Jury.

Inspiriert von Robert Maillart und Christian Menn

Die knapp 210 m lange Stahlbetonkonstruktion führt teilweise als Hangbrücke bis zu den Widerlagern. Die Spannweite des Bogens beträgt 97.8 m, der Stich 16.8 m, was ein statisch günstiges Verhältnis von 5.8 nach sich zieht. Die monolithische Konstruktion ist lediglich an den Widerlagern verschieblich gelagert. Der Bewegungsmittelpunkt befindet sich im Bogenscheitel, an dem Bogen und Fahrbahn miteinander verbunden sind.

Die Brückenansicht erinnert zwar an einen versteiften Stabbogen, wie ihn Robert Maillart in den 1930er-Jahren entwickelte, das statische System jedoch ist ein anderes: Bei der Punt Mulinaun ist der Bogen ausgesteift und der Fahrbahnträger vorgespannt. Eine solche Kombination setzte bereits Christian Menn bei Bogenbrücken um. Die einzelnen Tragelemente werden zu einem ganzheitlichen Tragkonzept zusammengefügt. Im Grundriss ist die Bogenbreite variabel.

Der kurvenaussenseitige Bogenrand gegen das Vorderrheintal hin ist gerade, der kurveninnenseitige ist gekrümmt ausgebildet. Der Bogen folgt im Grundriss also der vorgegebenen horizontalen Linienführung der Strasse und ist kein ebenes Tragwerk. Dies widerspricht grundsätzlich dem statisch idealen Konzept, wonach ein Bogen sich nur in der vertikalen Ebene entwickeln sollte. Die Krümmung des inneren Bogenrands führt zu einer im Grundriss gekrümmten Bogenachse.

Die Bogennormalkräfte verursachen deshalb horizontale Umlenkkräfte. Diese kompensieren die aus der gekrümmten Strassenführung entstehenden Torsions­kräfte zumindest teilweise. Um die verbleibenden Torsionskräfte aufnehmen zu können, ist der Bogen gegen die Kämpferfundamente hin relativ breit und mit stabi­lisierenden Rippen versehen.

Um die Wölbung des Bogens insgesamt zu minimieren, tarierten die Ingenieure die Bogenachse an der Strassenlinie aus – eine geometrisch diffizile Parallelverschiebung, da sich die Strassenlinie im Brückenperimeter aus einer Geraden, einer Klothoide und einem Radius zusammensetzt. Die Bogenachse positionierten die Ingenieure so, dass die positive Exzentrizität im Scheitel (Stütze 8) gleich gross wird wie die negativen Exzentrizitäten bei den ersten Bogenstützen (Stützen 6 und 10). Dadurch glichen sie die Exzentrizitäten zwischen den Bogenstützen aus und konnten die Torsion des Bogens trotz seiner räumlichen Geometrie begrenzen.

Schnittkräfte bestimmen die Form

In der Ansicht verläuft die 35 cm starke Bogenplatte polygonal entlang der Stützlinie (Spitzbogen mit höchstem Polygonpunkt im Scheitel). Die den Bogen stabilisierenden 40 cm breiten Rippen variieren in ihrer Höhe von 1.25 m im Viertelspunkt bis zu 1.65 m am Scheitel. Diese sichelförmige U-Form des Bogens leitet sich von der statischen Grenzwertbetrachtung der Momentenbeanspruchung ab. Wie schon bei Maillarts Brücken bestimmt die Schnittkraftlinie die Form des Haupttragelements.

Der vorgespannte, 1.20 m hohe Fahrbahnträger ist als Plattenbalken (d = 32 cm, verjüngend auf 26 cm am Kordon) mit zwei Längsträgern ausgestaltet, zwischen denen Werkleitungen nicht direkt sichtbar verlaufen. Die Breite der Längsträger nimmt von 1.20 m im Feld auf 1.82 m an den Auflagern zu. Der Fahrbahnträger ist auf Stützenscheiben mit einem Abstand von 16.30 m respektive 15 m an den Endfeldern aufgeständert. Über dem Bogen sind die Scheiben im Grundriss rechtwinklig zur Bogenachse ausgerichtet, in den Lehnenbrücken radial zur Fahrbahnachse.

Da der Bogen zum Scheitel hin schmaler wird, der Überbau gegenüber dem Bogen (im Grundriss) stärker gekrümmt ist und das Quergefälle von 7 % (Rabius) auf 3 % (Sumvitg) abnimmt, verändert sich der jeweilige Anzug der Stützen. Jede Stütze hat im Querprofil der Brücke gesehen eine eigene Ansicht. Die Kämpferstützen – sie stehen nicht auf dem Bogen selbst, sondern auf dem Kämpferfundament am Bogenansatz – sind 55 cm dick, die übrigen 40 und 30 cm. Alle Stützen sind grundsätzlich mit einem 10 cm weiten Versatz nach innen auf dem Bogen angeordnet, am Anschluss an den Fahrbahnträger beträgt dieser 20 cm gegenüber den Trägerkanten. Dies ergibt optisch eine klare Abgrenzung zwischen den Ständern und den längs laufenden Elementen wie Bogen und Fahrbahn.

Die Kämpfer stehen ausserhalb der Lawinenzone der Val Mulinaun und ruhen auf Schwerge­wichtsfundamenten. Die übrigen Tragelemente konnten auf Flachfundationen abgestellt werden, da die Lasten bei den Vorlandstützen und den Widerlagern dank den kurzen Spannweiten bescheiden sind. Die Widerlager sind konventionell ausgestaltet und weisen einen Kontrollgang auf. Der Fahrbahnträger ruht hier auf Topflagern und ist mit Fahrbahnübergängen dilatiert.

Brücke als Kunst des Ingenieurs

Die neue Überquerung widerspiegelt die statisch und gestalterisch sachverständige Leistung der Ingenieure. Schliesslich ist die statische Effizienz, die für eine qualitativ gut gestaltete Brücke unabdingbar ist, ein gewichtiges Kriterium des Entwurfs. Anders als rein auf gestalterische und geometrische Argumente ausgelegte Tragwerke entsprechen die Tragelemente hier der effektiven Beanspruchung. Mit dem dadurch gewon­nenen effizienten Tragverhalten erhält die Brücke ihre Wirtschaftlichkeit und fügt sich als exponiertes Bauwerk leicht und schwungvoll in die Landschaft der Surselva ein.

TEC21, Fr., 2017.10.27



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TEC21 2017|42-43 Neue Brücken für Stadt und Land

Teil eines Kontinuums

Die neue Aarebrücke, das Herzstück des Bypass Thun Nord, geht am 9. November 2017 in Betrieb. Der von Bänziger Partner Ingenieure gebaute, über 500 m lange Durchlaufträger überspannt Bahnlinie und Aare, verbindet den Entwicklungsschwerpunkt Thun Nord mit Steffisburg und soll zukünftig zur Entlastung der städtischen Brücken beitragen.

Die neue Aarebrücke, das Herzstück des Bypass Thun Nord, geht am 9. November 2017 in Betrieb. Der von Bänziger Partner Ingenieure gebaute, über 500 m lange Durchlaufträger überspannt Bahnlinie und Aare, verbindet den Entwicklungsschwerpunkt Thun Nord mit Steffisburg und soll zukünftig zur Entlastung der städtischen Brücken beitragen.

Die Bevölkerung und der Motorisierungsgrad in der Agglomeration Thun haben in den letzten Jahren überdurchschnittlich zugenommen. Obwohl bereits seit 1955 verschiedene Anläufe unternommen wurden, die Verkehrsprobleme zu lösen, blieb das Verkehrssystem in den letzten Jahrzehnten im Wesentlichen unverändert. Insbesondere die Innenstadt von Thun und die dorthin führenden Hauptachsen sind mittlerweile sehr stark belastet. Im Jahr 2002 erarbeitete daher der Oberingenieurkreis I des Tiefbau­amts des Kantons Bern im Rahmen eines Forumsprozesses mit rund 80 beteiligten Interes­senvertretern Lösungen für das Verkehrsproblem.

Die Ergebnisse flossen in die Gesamtverkehrsstudie Agglomeration Thun ein, deren Kernstück der Bypass Thun Nord mit einer neuen Querung der Aare und der Eisenbahn ist. Der Bypass sorgt nicht nur für eine bessere Anbindung Thuns an die Nachbargemeinden Steffisburg und Heimberg, auch der Entwicklungsschwerpunkt (ESP) Thun Nord – ein künftiger Wirtschaftspark, der auf nicht mehr militärisch genutzten Arealen entsteht – wird über die neue Aarebrücke an den Autobahnzubringer Thun Nord angeschlossen. Verkehrstechnisch und wirtschaftlich gilt der Bypass daher als Schlüsselprojekt für die Agglomeration Thun.

Studienaufträge für Schlüsselprojekt

In einem Studienauftrag im Jahr 2006 wurden Lösungsvorschläge für die Linienführung, den Betrieb und die Ausgestaltung der neuen Strassenanlage sowie deren Integration in das Siedlungsgefüge und den Landschaftsraum gesucht. Vier Ingenieurbüros mit Architekten als Fachspezialisten waren daraufhin eingeladen, im Rahmen eines weiteren Studienauftrags ein Projekt für eine neue Aarebrücke zu erarbeiten. Das Beurteilungsgremium entschied sich für das Projekt von Bänziger Partner mit der Architektin Corinna Menn. Der Vorschlag war eine schlichte, doch elegante und in den Details sorgfältig gestaltete Stahlbetonbrücke, die auf bewährte Brückenbautechniken zurückgreift und sich gut in das heterogene Siedlungsgefüge und den Landschaftsraum integriert.

Randbedingungen, ober- und unterirdisch

Die heterogene Abfolge von öffentlichem Raum, militärischer und gewerblicher Nutzung im direkten Umfeld, aber auch die weitere Umgebung mit den Berner Alpen verlangte ein schlichtes, harmonisches und präzise konstruiertes Brückenbauwerk. Massgebend für den Entwurf waren die Geometrien der zu überbrückenden Gebäude und Erschliessungsanlagen. Auch Fundationen einengende, unterirdische Anlagen wie Schiesskeller und Werkleitungen waren zu berücksichtigen. Ausserdem erwarteten die SBB und die BLS Eisenbahngesellschaft nach der Erstellung des Bauwerks Freiraum für zukünftige Erweiterungen. Die Strassen­achse war durch das übergeordnete Gesamtprojekt gegeben und konnte lediglich im Dezimeterbereich verschoben werden. Die aktuelle Nutzung der an die Brücke angrenzenden Areale musste auch während des Baus stets gewährleistet sein. Ausserdem sollte das Bauwerk eine geschlossene Konstruktion mit Lärmschutzelementen bis zu einer Höhe von 1.20 m aufweisen. Schliesslich war seitens der Bauherrschaft eine «Landmark»-Lösung unerwünscht.

Ellipsen, Parabeln und Rhomben

Aus städtebaulichen und gestalterischen Überlegungen heraus entschloss sich das Planerteam, das Bauwerk als homogene Einheit zu konzipieren. Die Ingenieure entschieden sich für einen kompakten Hohlkastenträger in Spannbetonbauweise mit konstantem Querschnitt im Vorlandbereich und einem gevouteten Abschnitt über der Aare.

Der Brückenüberbau mit trapezförmigem Hohlkastenquerschnitt zieht sich zwischen den Widerlager­achsen über die gesamte Brückenlänge von 541 m, wobei die Spannweiten der 14 Felder zwischen 25 und 68 m variieren. Bedingt durch die im rechten Aareufer liegenden Hauptkanäle der Abwasserentsorgung Thun ist die grösste Spannweite exzentrisch über dem Fluss­profil angeordnet. Die 12.5 m breite Brückenplatte kragt rund 3 m über den für den Unterhalt begehbaren und beleuchteten Hohlkasten aus.

Die Neigung der vorgespannten Hohlkasten­stege setzt sich in den 13 Pfeilern fort und geht fliessend in eine parabelförmige Verjüngung von 5 m (4.18 m bei den gevouteten Brückenträgern) auf 3 m über. Dies lässt das Bauwerk als Einheit erscheinen. Ab 8 m unterhalb der Fahrbahnachse bleibt der rhombusförmige Pfeilerquerschnitt bis zum Stützenfuss konstant. Die wohlproportionierte Pfeilerform gibt dem Bauwerk seine Stabilität in Längs- und Querrichtung.

Die sich ändernden Höhen der gevouteten Kastenträger an der Aare ziehen am Anschluss an die rhombischen Pfeilerquerschnitte elliptische Formen der Kastenunterseite nach sich. Zusammen mit der Brückenkrümmung im Grundriss erhält das Erscheinungsbild dadurch im Aarebereich eine zusätzliche formale und fliessende Dynamik.

Die Absturzsicherung besteht aus einer Stahlbetonbrüstung mit eingelassenen Lärmschutzelementen. Auf die Brüstungen, die auch Vorinstallationen für eine spätere Gehwegbeleuchtung enthalten, wird zusätzlich ein Überwurfschutz aus Glas montiert werden, der sich ohne ästhetische Nachteile in das Brückensystem integrieren soll.

Schwimmend gelagert

Das Tragwerk ist als Durchlaufträger konzipiert, wobei die Aarequerung mit der maximalen Spannweite von 68 m als Brückenzentrum betrachtet wird. Vom «Zentrum Aare», das zwar weder der geometrischen Mitte noch dem Scheitelpunkt entspricht, reduzieren sich die Spannweiten unter Berücksichtigung der Bestandsbauten kontinuierlich zu den Widerlagern hin.

Die tragfähige Fundationsschicht liegt rund 3 m unterhalb des heutigen Terrains. Aufgrund der Platzverhältnisse fundieren die Stützen auf Bohrpfählen. Nördlich der Aare (Seite Steffisburg) besteht eine Grundwasserschutzzone, in der die Pfeiler flach auf einem Materialersatz fundiert wurden. Ebenfalls flach gegründet sind die Widerlager, beide Rampen und die Fussgängerunterführung.

Die Brücke ist in Längsrichtung schwimmend gelagert, der Fixpunkt liegt beim linksufrigen Pfeiler an der Aare (P9). Bei den beiden Widerlagern und den Pfeilern P1 bis P5 sowie P12 und P13 sind Topfgleitlager eingebaut. Einzig bei den Widerlagern sind mechanische Fugenübergänge montiert. Damit die Widerlager – über die auch der Einstieg in den Hohlkasten erfolgt – mühe­los begehbar sind, sind sie mit einen minimalen Freiraum von 2 m Höhe unterhalb des Brückenträgers angeordnet.

Wasser im Kasten

Die Brücke liegt mit Ausnahme des Bereichs der Aare über genutztem Gelände. Eine konventionelle Belagsentwässerung mittels Entwässerungsröhren ist nicht möglich. Entlang dem Tiefpunkt der Fahrbahnplatten wurden deshalb gelochte, in Epoxid-Drainmörtel verlegte Hutprofile eingelegt, die über die Einlaufschächte die Belagsentwässerung sicherstellen. Die Oberflächenentwässerung erfolgt über Einlaufschächte in einem Abstand zwischen 25 und 40 m.

Die Schächte liegen am Gehwegrand und damit ausserhalb des Hohlkastenträgers. Aus ästhetischen Gründen sowie zu ihrem Schutz und Unterhalt sind die Entwässerungslängsleitungen allerdings im Hohlkasten aufgehängt. Für die von aussen nicht sichtbare Querung der Stege des Hohlkastens musste die Lage der Einlaufschächte auf die Spannkabelführung abgestimmt werden. Die Spülschächte sind in einem Abstand vom maximal 80 m angeordnet. Das Oberflächenwasser fliesst in den Längsleitungen bis zu den Widerlagern und wird mit dem Abwasser des übrigen Trassees in die Becken der Strassenabwasserbehandlungsanlage (SABA) geleitet. Diese befinden sich südlich der Aare unter den beiden ersten Vorlandfeldern, nördlich des Flusses am Kreisel Glattmüli.

Kontinuum durch städtisches Gebiet

Die konventionell mit einem Flächengerüst hergestellte Brücke ist aus dem Stadtgebiet heraus nur in Abschnitten und nie gesamthaft erfahrbar. Wegen ihrer gestalterischen Einheit bilden die Abschnitte dennoch ein Kontinuum. Das Planerteam teilte das Bauwerk gestalterisch und statisch nicht in Sektoren, sondern konzipierte es als Ganzes und schaffte dadurch eine zurückhaltende Selbstverständlichkeit. Die geraden Kanten am Brückenträger, die glatten, in der Fläche aber strukturierten Pfeiler und das bereits in der Submission vorgeschriebene Schalungsbild verstärken den formalen Ausdruck eines einheitlichen Bands, das die Ingenieure als Durchlaufträger statisch konsequent umgesetzt haben.

TEC21, Fr., 2017.10.27



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TEC21 2017|42-43 Neue Brücken für Stadt und Land

16. Juni 2017Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Durchdachte Gestaltung

Die Fassade des neu gebauten Grosspeter Towers in Basel ist komplett mit Solarmodulen bestückt. Technoid wirkt die Fassade trotzdem nicht. Voraussetzung war die Abstimmung der Disziplinen Architektur, Tragwerk und Solartechnik zu einem Gesamtsystem, das die Nutzung mit einbezieht.

Die Fassade des neu gebauten Grosspeter Towers in Basel ist komplett mit Solarmodulen bestückt. Technoid wirkt die Fassade trotzdem nicht. Voraussetzung war die Abstimmung der Disziplinen Architektur, Tragwerk und Solartechnik zu einem Gesamtsystem, das die Nutzung mit einbezieht.

Der 22-geschossige Grosspeter Tower steht am südöstlichen Eingang Basels unmittelbar beim Autobahnanschluss A2/A3 und in der Nähe des Basler SBB-Bahnhofs. Mit 78 m Höhe überragt er alle umliegenden Bauten. Einem Wahrzeichen gleich steht das Hochhaus für die Verknüpfung von Architektur, Nutzung, Tragwerk, ­Fas­sadenplanung und Solartechnik zu einem Gesamt­konzept. Das Tragwerk ist entsprechend dem Kräftefluss abgestuft und spiegelt sich in den Riegeln und Stegen der Fassade wider. Der Rhythmus der Fassadenele­­mente korrespondiert wiederum mit der Geschoss­nutzung und gibt dem Gebäude sein typisches Erscheinungsbild. Die Fassadenpaneele mit flächendeckenden Solarmodulen sind gänzlich in die Fassadengestaltung integriert. Es ist ein Projekt, in dem die verschiedenen Disziplinen am Bau sich nicht nur ergänzen, sondern einander bedingen.

Das Hochhaus steht auf einer trapezförmigen Parzelle. Diese ist Teil des Grosspeter-Bebauungsplans und das östlichste der sechs Baufelder. Auf dem Areal sollte der Dienstleistungsbereich um den Bahnhof SBB sinnvoll erweitert werden. Das in einem mehrstufigen Wettbewerbsverfahren entwickelte Bebauungskonzept gewannen 2002 Miller & Maranta Architekten. Zu berücksichtigen waren Optionen für geplante Verkehrs­bauten, das Nationalstrassen-Teilstück der A2 zwischen Bahnhof SBB und Gellert sowie ein fünftes Gleis der SBB. Im Osten sollte ein Hochhaus einen Akzent setzen, der stadtauswärts den Abschluss der Bebauung bildet. Die Projektierung dieses Hochhauses vergab die Bauherrschaft zunächst direkt dem Basler Büro Degelo Architekten. Nach dem Vorprojekt beauftragte die Bauherrschaft die Basler Architekten Burckhardt Partner. Zusammen mit den Basler Tragwerksplanern von ZPF Ingenieure und weiteren Fachplanern und Spezialisten sind sie für den Grosspeter Tower verantwortlich.

Tragstruktur widerspiegelt Nutzung

Das Gebäude mit Hotel- und Büronutzung setzt sich aus zwei ineinandergreifenden Volumen zusammen und hat von jeder Seite eine andere Form (Abb.). Im sechsgeschossigen Sockelbereich sind Büro­flächen und das Hotel angeordnet, und im 25 × 24 m grossen, im Grundriss also fast quadratischen Hochhaus mit zusätzlichen 16 Geschossen werden bis Mitte Sommer dieses Jahres weitere 11 000 m² Büroflächen realisiert. Der Mieterausbau ist im «Core and Shell»-Prinzip individuell konzipiert worden. Dabei werden sämtliche Mietflächen vorerst nur in einem Grund­ausbau ausgeführt. Dieser umfasst die Gebäudehülle (shell = Schale) und die zentrale Er­schlies­sung (core = Kern) wie Aufzüge, Treppen­häuser und Installationsschächte. Dadurch ermöglicht die Bauherrschaft unterschiedliche Mieteinheiten von 210 bis 880 m², die ­variabel ausgebaut, flexibel im Grundriss disponiert und über mehrere Geschosse ­zusammengelegt werden können.

Die Tragstruktur als Skelettbau mit Ortbetonflach­decken von 26 bis 30 cm Stärke ist die optimale Antwort auf diese Anforderungen. Beim Turm sind die Flach­decken mit einer Regelspannweite von bis zu 8 m auf einer Stahlrahmenkonstruktion (Vierendeelträger) in der Fassaden­ebene und auf tragenden Wänden im Kernbereich ge­lagert. Im Sockelbereich lagern die Flachdecken auf Stahlbetonwänden in der Fassadenebene, drei weiteren Kernen und Fertigbetonstützen im Geschoss­innern. Zwei zusätzliche Stahlkernstützen leiten die hohen Lasten aus dem Turm im Gebäudeinnern ab. Das betonierte Untergeschoss wirkt als steifer Kasten, in dem die Kerne und aussteifende Wände eingespannt sind.

Oberhalb des ersten Obergeschosses kragt das Hochhaus um rund 8.8 m aus – eine Vorgabe aus dem Bebauungsplan. Statt es auf seinem kompletten Fuss stehen zu lassen, wurde dem Volumen ein beträchtlicher Teil seiner Standfläche genommen. Unter der Auskragung verlaufen die neue Erschliessungsstrasse und unmittelbar daneben die Gleise der SBB-­Linie Basel–Zürich sowie ein Rad- und Fussweg (Abb.).

Die Ingenieure von ZPF aus Basel entwickelten ein Tragsystem, das diese statische Rahmenbedingung gezielt berücksichtigte und zugleich der architektonischen Intention des Basler Architekturbüros Burckhardt Partner entsprach. Die Architekten referenzieren das «Permanent Model» von Monadnock aus Rotterdam, wonach sich die in den unteren Geschossen noch als Lochfassade erscheinende Gebäudehülle mit steigender Gebäudehöhe zugunsten grösserer Fassadenöffnungen auflöst und oben im Turm zur leichten Pfosten-Riegel-Konstruktion wird. Ein nutzungsbezogenes Konzept, da die unteren Geschosse mit dem Hotel nach mehr Privatsphäre verlangen und in den Obergeschossen mit den Büros mehr Transparenz und Ausblick möglich ist.

Das Tragwerk ist ein Vierendeel-System aus Stahl in Form eines gebäudehohen Vierkantrohrs. Ohne störende Diagonalen leitet es die anfallenden vertikalen Lasten in den Baugrund ab. Seiner biegesteifen Rahmenkonstruktion entsprechend trägt es zudem ­horizontale Lasten ab und steift das Gebäude aus. Der zentrale Gebäudekern im Turm leistet dazu rechnerisch einen kleineren Beitrag, weil er für Installationen und Erschliessung perforiert ist.

Um den Innenraum im Hochhaus möglichst effizient und uneingeschränkt – das heisst stützenfrei – nutzen zu können, ist das Tragwerk in die Fassadenebene integriert. Die Planenden haben die Fassaden- und die Tragelemente entsprechend stark aufeinander abgestimmt. Die Fassadenelemente übernehmen die Abmessungen der Tragelemente, wodurch beide mit dem Kräftefluss korrespondieren und so gleichzeitig die Statik und das architektonische Konzept widerspiegeln.

Fassade integriert Solarmodule

In sämtliche Fassadenelemente sind flächendeckende Dünnfilm-Solarmodule integriert. Abgestimmt auf die Breite und Höhe der Fassadenpaneele wurden für alle Gebäudeseiten über 450 unterschiedliche PV-Fassaden­elementtypen auf Mass angefertigt. Doch anders als bei Standardprojekten entstand hier zugleich ein ­Demonstrations- und im besten Fall auch ein Nach­ahmungsprojekt. Denn die Module sind unabhängig von ihrer Ausrichtung, ihrer lokalen Beschattungssituation und der Grösse des Fassadenelements rund um das Gebäude und in unterschiedlichen Abmessungen angebracht. Dies ist nur möglich dank der ausgeklügelten elektrotechnischen Verschaltung und der Mass­anfertigung der Dünnfilm-Solarmodule (vgl. «Mass­geschneiderte Solartechnik», Kasten unten). Die unterschiedlich «ertragreichen» Fassadenseiten – ob Süd-, West-, Ost-, Nordseite oder auf dem Dach – konnten so miteinander verknüpft und ein einheitliches Fassadenbild erreicht werden. In der ausgeführten elektrotechnischen Anordnung lässt sich der Stromertrag unter den gegebenen Rahmenbedingungen optimieren.

Die rund 10 000 Fassaden-Solarmodule mit einer Leistung von 440 kWp generieren zusammen mit dem Dach-Solarkraftwerk (mit einer zusätzlichen Leistung von 100 kWp) eine erwartete Stromproduktion von rund 260 000 kWh/a; sie deckt einen grossen Teil des Grundstrombedarfs. Ein Erdwärmesondenfeld mit 52 Sonden, die 250 m in die Tiefe führen, versorgt zudem die Wärmepumpenheizung und die Kältemaschine mit geothermischer Energie. Während im Winter damit geheizt wird, kann gleichzeitig die Kälte zurückgeführt werden, um sie im Sommer zur Kühlung des Neubaus zu verwenden.

Technik folgt Architektur

Die Architekten haben die Solarmodule zusammen mit den Solarplanern des Zürcher «energiebüro» designt. Das Fassadenbild wird dadurch weniger von der Technik bestimmt, ohne dass energetische Ertragseinbussen hätten hingenommen werden müssen. Denn auch wenn die Dünnfilmzellen – im Gegensatz zu herkömmlichen kristallinen Solarzellen – ohne Siebdruck des Frontglases kaum als Solarmodule erkennbar sind, bleiben die fotoaktiven Solarpatches mit den typischen «Nadelstreifen» schwach sichtbar. Indem das Planerteam jeden einzelnen Solarmodultyp bewusst gestaltete, verhinderte es ein optisches Patchwork. Stattdessen ergab sich ein geordnetes Fassadenbild.

Die maximalen Abmessungen der Patches richten sich nach den produktionstechnischen Möglich­keiten. Da nur Solarmodule mit gleicher Spannung zu Strings verschaltet werden können (vgl. «Massgeschneiderte Solartechnik», Kasten unten), mussten die Zellabstände variieren. So kann die Spannung bei unterschiedlichen Modulgrössen ausgeglichen werden. Die Variation ist auf 10 % begrenzt, damit die Veränderung optisch nicht stört.

Gesamtsystem aus Technik, Architektur und Tragwerk

Vor allem aus elektrotechnischer Sicht wird deutlich, dass für ein solches rigoros durchdachtes Projekt neue planerische und produktspezifische Lösungen notwendig sind. Ein aufwendiger, aber aus architektonischen Gründen lohnenswerter Prozess. Denn durch die komplexe und projektspezifisch ausgearbeitete elektrotechnische Anlage und durch die gestalterisch hochwertige Integration der Solarmodule in die Gebäudefassade inklusive Tragwerk profitiert schliesslich das Gesamtkonzept aus Solartechnik, Architektur und Tragwerk. Durch statische und elektrotechnische Rahmenbedingungen ergibt sich aus der energetisch leistungsfähigen Fassade auch ein gestalterisch wirkungsvolles Er­scheinungsbild: Ohne technoid zu wirken, sind die Solarmodule integraler Bestandteil des architektonischen und statischen Gesamtkonzepts.

TEC21, Fr., 2017.06.16



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TEC21 2017|24-25 Fassaden – Hüllen mit Hintergrund

05. Mai 2017Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Korpus mit Durchblick

An der Plaça d’Europa in Barcelona tummeln sich mehr oder minder gelungene Solitäre diverser Büros. Hier errichteten RCR Arquitectes und die Ingenieure von Blázquez Guanter 2011 ein Gebäude, das von einem fruchtbaren Dialog zwischen den Planenden zeugt. Tragwerk, Raum und Form bilden ein starkes Ganzes.

An der Plaça d’Europa in Barcelona tummeln sich mehr oder minder gelungene Solitäre diverser Büros. Hier errichteten RCR Arquitectes und die Ingenieure von Blázquez Guanter 2011 ein Gebäude, das von einem fruchtbaren Dialog zwischen den Planenden zeugt. Tragwerk, Raum und Form bilden ein starkes Ganzes.

Das 2011 errichtete Verwaltungsgebäude Layetana steht an der Plaça d’Europa im Stadtgebiet L’Hospitalet de Llobregat. Es ist eine neu entwickelte, heterogene Umgebung: Kreisförmig um den Platz herum angeordnet stehen Hochhäuser verschiedener Architekturbüros und niedrigere, geknickte Zeilenbauten; die kürzeste von ihnen ist der Neubau, den RCR Arquitectes mit den in Girona ansässigen Tragwerksplanern Blázquez Guanter entworfen haben.

Die Lage, die Orientierung und das Volumen – insbesondere die Abtreppung der Nordfassade – waren weitgehend vom Masterplan vorgegeben. Die Entwerfer konzentrierten sich deshalb auf das Objekt selbst (vgl. Kasten unten: «Geschlossen? Offen? Anders!»). Dabei spielte die Gestaltung des Tragwerks eine zentrale ­Rolle, denn es sollte die architektonische Erscheinung prägen und die Gebäudeform definieren.

Haupttragwerk am Grundriss ausgerichtet

Der Neubau mit drei Untergeschossen, einem Erdgeschoss und fünf Ober­geschossen basiert auf einem trapezförmigen, sich zur Platzmitte hin keilförmig ver­schmälernden Grundriss. Das Tragwerk ist ober- und unterirdisch grundsätzlich unterschiedlich materialisiert. Einzig zwei Betonkerne, die der Erschliessung dienen, durchstossen das gesamte Gebäude vertikal und geben ihm die notwendige Gesamtstabilität. Die Untergeschosse sind in Stahlbeton auf einer 12 m tief liegenden Fundamentplatte errichtet, über dem Baugrund erhebt sich die markante Stahlkonstruktion. Die Schnittstelle der Materialien befindet sich beim ersten Untergeschoss, wo die Stahlkonstruktion im Stahlbeton verankert ist.

Rahmen aus Stahl bilden das Haupt­tragwerk. Sie richten sich nach den Grundrisslinien und reihen sich im Abstand von 1.6 m aneinander – fast parallel, alle leicht gegen die Plaça-Mitte hin verdreht gefächert.

Die Stahlrahmenkonstruktion bildet das Skelett und damit das Rückgrat des Baus. An der Südfassade sind die Stützen von Traufe bis Fuss vertikal angeordnet, an der nördlichen Fassade sind sie – gemäss den städtebaulichen Vorgaben des Masterplans – zwei Mal abgestuft. An der Aussenseite der Fassadenebene angeordnet, definieren die Rahmen das Gebäudevolumen mit seiner markanten Form und seiner gewollten Transparenz.

Biegesteife und schlanke Tragelemente

Die schmalen, lamellenartigen Rahmenstützen mit einer Abmessung von 100 cm × 14 cm sind vor allem aus gestalterischen Gründen so nah aneinandergereiht und so schlank ausgebildet. Neben viel Transparenz er­möglichen sie zugleich viel Privatsphäre. Der Knick­bemessung und der Verformungsanalyse hatten die Ingenieure deshalb besondere Aufmerksamkeit zu schenken – sie modellierten das statische Verhalten der Tragelemente mit iterativen Verfahren II. Ordnung und berücksichtigten das nicht lineare Verhalten des Materials.

Ausgebildet wurden die Rahmenquerschnitte als verschweisste Blechprofile mit einem eingeschweissten Vierkantrohr, welches das Profil versteift und die Seitenbleche gegen Beulen stabilisiert. Die Rahmen wurden für eine effiziente Herstellung, für einen reibungslosen Transport und für eine zweckmässige Montage in Einzelteilen fabriziert und erst vor Ort auf der Baustelle biegesteif verschweisst. Praktisch alle anderen Verbindungen wurden verschraubt, um Schweissarbeiten auf der Baustelle zu reduzieren.

Mehr Rahmen als statisch notwendig

Strebenfachwerke aus Stahl zwischen jedem zweiten Rahmen bilden im Gebäudeinnern das sekundäre Tragwerk. Sie sind durchlässig für Installa­tionen auf Konstruktionshöhe und über Konsolen am Stahlrahmen des Haupttragwerks angehängt. Die Geschossdecken aus Wabenblechen mit Überbeton liegen auf den Trägern auf. Sie wirken als Scheiben und geben neben den vertikalen auch die horizontalen Lasten an die Stahlbetonkerne ab. Zwei Innenhöfe, die Licht ins Gebäudevolumen ­bringen, durchtrennen die Geschossdecken und damit die Scheibenwirkung. Eine entsprechende Dimensionierung und Bewehrungszulagen leiten den Kraftfluss um.

Durch den Verbund der Decken mit den Stahlträgern erhielt die leichte, schwingungsanfällige Konstruktion die notwendige Steifigkeit. Die Stahlträger des vertikalen Tragwerks wurden nur bei jeder zweiten Rahmenstütze montiert, die Spannweite von 3.2 m war für die Deckenverbundkonstruktion effizienter. Die übersprungenen Rahmenstützen verband man in der Fassadenebene jeweils über einen Vierendeelträger mit ­den Konsolen. Dieser Lastabtrag ermöglichte in allen Geschossen stützenfreie, flexibel nutzbare Innenräume.

Wertvolles Zusammenspiel

Die Abmessungen der Tragelemente hingen also nicht nur von den statischen Anforderungen ab, die grundsätzlich eine konventionellere Bauweise ermöglicht hätten, sondern waren auch stark vom Gestaltungswillen der Architekten geprägt. Diese Verknüpfung des Tragwerkkonzepts mit dem architektonischen Entwurf erhöhte zwar die konstruktiven Anforderungen, doch das Ergebnis zeigt eindrücklich: Erst durch die Synthese von Raum, Tragwerk, Material und Konstruktion konnte ein ruhiges, starkes und in sich stimmiges Ganzes entstehen, das in der unterkühlten Umgebung der Plaça d’Europa neben seinen dominanten Nachbarn zu bestehen vermag.

Weitere technische Informationen zum Verwaltungsgebäude Layetana finden Sie in steeldoc 2/2017 (erscheint am 30.6.2017), www.szs.ch/steeldoc

TEC21, Fr., 2017.05.05



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TEC21 2017|18 RCR Arquitectes – ausgewählte Bauten

Kraftfluss für die Musik

Der Entwurf der Architekten Herzog & de Meuron ist spektakulär und die Aufstockung auf dem bestehenden Kaispeicher ein Ingenieurbauwerk sondergleichen. Im wahrsten Sinn des Wortes zum Tragen gebracht haben es Schnetzer Puskas Ingenieure.

Der Entwurf der Architekten Herzog & de Meuron ist spektakulär und die Aufstockung auf dem bestehenden Kaispeicher ein Ingenieurbauwerk sondergleichen. Im wahrsten Sinn des Wortes zum Tragen gebracht haben es Schnetzer Puskas Ingenieure.

Einer gläsernen Krone gleich erhebt sich die 19-geschossige Aufstockung auf dem bestehenden Kaispeicher A im Hamburger Hafen. Sie bildet einen eigenständigen Körper auf dem siebengeschossigen Backsteinvolumen (vgl. «Fuss gefasst und abgehoben»). Nicht nur die Materialisierung gliedert Alt und Neu, auch die geschosshohe Fuge dazwischen trennt das unterschiedliche Paar optisch in Bestand und Erweiterung. Dank ihr scheint die Auf­stockung über dem historischen Sockel zu schweben. Dennoch haben die beiden Körper einen engen Bezug zueinander. Ihre trapezförmigen Grundrisse stehen exakt übereinander, und hinter der Backsteinfassade ist ebenfalls alles neu. Die neue Tragkonstruktion erschliesst sich aus der bestehenden; zumindest aus dem, was davon geblieben ist – nämlich der Fundation und der teils tragenden Fassade.

Reserven waren das Potenzial

Der Kaispeicher mit einer praktisch geschlossenen Backsteinfassade bestand aus einem Stahlbetonskelett, das auf eine Nutzlast von 2 t/m2 im oberen und 3 t/m2 im unteren Bereich ausgelegt war. Das Stützenraster von 4.30 auf 5.00 m war orthogonal ausgelegt, allerdings in zwei Bereichen zueinander verdreht, sodass dazwischen eine «Naht» bestand. Die Lasten wurden über Betonrammpfähle mit entsprechendem Raster in den Baugrund geleitet. Insgesamt waren für den 1963 gebauten Kaispeicher 1111 Pfähle in den sandigen und durch­nässten Boden eingerammt worden. Sie bestehen heute noch. Dazwischen befinden sich zudem Holzpfähle des 1875 gebauten Kaiserspeichers – der vorangehende Bau. Das beachtliche Pfahlvolumen verdichtete den Sand, was die Tragfähigkeit der Pfähle wiederum erhöhte. Der Tidehub schwemmte zudem die Grenzschicht der Pfahloberflächen über Jahrzehnte ein – Boden und Pfahl sind regelrecht miteinander «verwachsen». Deswegen können die Pfähle gegenwärtig sogar 40 % mehr Lasten tragen als zur Bauzeit in den 1960er-Jahren. Dies trifft allerdings nicht auf die Senkkästen entlang der Längsfassaden zu. Eine erhöhte Traglast war bei dieser Fundationsart weniger feststellbar.

Die zu Beginn der Planungsarbeiten durchgeführte Analyse des Kaispeichers zeigte, dass mit dieser Nutzlastauslegung des Tragwerks und den Traglast­reserven der Pfähle ein beträchtliches Potenzial für ein aufgesetztes Bauvolumen vorhanden war. Auf dieser Grundlage wurde ein Erweiterungsbau auf dem alten Speicher erst möglich.

Getrennt und doch darauf aufbauend

Grundsätzlich besteht die Aufstockung aus einem ­Stahlbetonskelettbau, der sich an der Pfahlfundation bzw. am innerhalb der Backsteinfassade neu erstellten Stahlbetonskelett orientiert. Einzelne hoch belastete Tragelemente sind aus Stahl.

Um die verschiedenen Nutzungen wie den Grossen und den Kleinen Saal, einen dritten Saal, das Hotel, die Wohnungen, die sich teilweise über den Grossen Saal schieben, das Parking, den Backstage- und den Konferenzbereich, die Gastronomie und die Wellnessanlage überhaupt aufnehmen zu können, wird das Stahlbetonskelett in der Aufstockung durchwegs von Unregelmässigkeiten durchbrochen. Von einem kontinuierlichen und einheitlich materialisierten Tragwerksraster blieb nicht mehr viel übrig.

Infolge des grossen Konzertsaals beispielsweise ergeben sich inmitten des Aufbaus Spannweiten, die die Dimensionen des Rasters bei Weitem sprengen. Er erstreckt sich umgeben von den Hotelgeschossen im Osten und den Wohngeschossen im Westen vom 11. bis hinauf ins 22. Obergeschoss. Sein ovaler Grundriss weist Hauptspannweiten von 50 bzw. 55 m auf und nimmt so teilweise rund ein Drittel einer Geschossfläche auf. Die Ingenieure konzipierten den Grossen Saal daher als statisch eigenständigen Baukörper, der punktuell gestützt ist. Acht grosse Stahleinbauteile sammeln die Kräfte und geben sie an Schrägstützen ab. Diese leiten die Lasten geneigt weiter, bis sie an das Stahlbetonraster anknüpfen. Die relativ wenigen Lagerungen des in sich stabilen Saals ermöglichen es, die Erschliessung und Teile der Plaza unter dem Saal praktisch stützenfrei auszubilden und das Foyer entlang dieses Körpers kaskadenartig hochzuschrauben. Nur wenige schräge Stützen durchstossen diese terrassenartige Decken- und Treppenlandschaft.

Der Grosse Saal als Box-in-Box-System

Der eiförmige Saalkörper ist ein in sich komplexes Tragwerk. Um ihn vom Umgebungslärm der Stadt und des Hafens akustisch abzukoppeln, forderte der japanische Akustiker Yasuhisa Toyota ein Box-in-Box-System – einen Körper aus zwei unabhängigen Schalen. Die äussere Box ist eine Stahlbetonkonstruktion, die fest mit dem Tragwerk des Gesamtgebäudes verbunden ist. Sie besteht aus einem Wandring und einem Boden mit auf­gesetzten Rippen. Während die 20 bis 40 cm dicken Wände parallel zu den Fassaden angeordnet sind, verlaufen die 21 innenliegenden Rippen orthogonal dazu zur Saalmitte hin. Der trapezförmige Gebäudegrundriss führt zu einer Nahtstelle in der Saalmitte bzw. auf der Winkelhalbierenden des Gebäudegrundrisses. Dort treffen sich die Rippen und werden – ähnlich wie die Spanten und der Kiel bei einem Schiffsrumpf – mit einer Längsrippe gefasst. In den Querfassaden im Osten und Westen sind die Rippen ausgehend vom Kiel gefächert angeordnet, und wenn sie nicht ausnahmsweise direkt auf Stützen gelagert sind, hängen sie am 6 bis 10 m hohen Wandring der äusseren Betonschale, in dem die Stahleinbauteile eingelassen sind.

Ab den obersten Tribünen geht die äussere Schale in die Saaldach-Aussenschale über, einer Stahlverbundkonstruktion, die gleichzeitig den Deckel für die äussere Box bildet. Das Saaldach besteht aus einer räumlichen Stahlfachwerkkonstruktion, die statisch im Verbund mit der darübergelegten Betonschale funktioniert. Diese Konstruktion liegt auf dem Wandring auf und kragt bis zur Fassade aus, wo die Deckenränder der Foyergänge hochgehängt sind. Die 21 Stahlträger sind als ebene Fachwerkträger konzipiert und verlaufen analog zu den Betonrippen der Aussenschale sternförmig zum Längsträger in der Saaldachmitte. Durch die zuerst nur leicht und dann steiler ansteigende Querschnittsgeometrie ähnelt die Saaldachkonstruktion einem spitzen Hut mit umlaufender Krempe.

Diese Tragwerkskonzeption war anspruchsvoll und hat zu Diskussionen mit Hochtief Solutions als Generalunternehmer und mit namhaften deutschen Professoren geführt, obwohl der Prüfingenieur Dr.-Ing. Rainer Grzeschkowitz die Saaldachkonstruktion geprüft und freigegeben hatte. Die Skeptiker fanden die Tragwirkung nicht vollumfänglich in den DIN-Normen abgebildet. Sie lässt sich mit einem Speichenrad vergleichen: Die annähernd radial angeordneten Stahlfachwerke (Speichen) werden durch ein Zugband (Felge) zusammengehalten. Als Zugband dienen das stehende umlaufende Stahlfachwerk und der Betonzugring in Form der Krempe des Huts. Der innere, zur Spitze aufsteigende Hutteil dient wegen seiner facettierten Geometrie einzig der Stabilisierung der auf Druck belasteten Fachwerkobergurte. Die Krempe erhält infolge der radialen Kräfte eine grosse Zugbeanspruchung und wegen des eiförmigen Saalgrundrisses zusätzlich grosse Biegebeanspruchungen. Damit sie als Zug- und Biegeelement wirken kann, gaben die Ingenieure ihr die geometrische Form eines flachen Kegelstumpfs. Die Konstruktion überspannt so die gesamte Saalfläche und trägt ein Gesamtgewicht von rund 2000 t.

In die Aussenschale, die während des Bau­zustands noch ohne Topfdeckel wie ein riesiger Betonkessel erschien, montierte man die Innenschale mit ihrer ­räumlichen Stahlkonstruktion. Sie ist über 342 Federpakete auf den Betonrippen der äusseren Schale gelagert. So dringen weder tieffrequente Schiffsgeräusche, die unter Wasser übertragen werden, oder Lärm von der öffentlich zugänglichen Plaza in den Konzertsaal noch Musikklänge vom Konzertsaal nach aussen, etwa in die Schlafräume des Hotelbereichs. Die Akustik des Saals verlangt eine Frequenzabstimmung des Systems von etwa 4.5 Hz – eine herausfordernde Aufgabe mit den weit auskragenden Balkonen, mit einer Anregungsfrequenz durch die Konzertbesucher von rund 2 Hz und mit der ersten Oberfrequenz von 4 Hz – insbesondere da Normwerte für die Anregung und Überprüfung nicht vorhanden waren. Die innere Box wurde aussenseitig umlaufend mit einer 20 cm dicken Betonhaut und die Saalinnenseite mit einer schallstreuenden und -reflektierenden weissen Haut aus tausenden individuell gefrästen Gipsfaserplatten von 150 kg/m2 überzogen ­(vgl. «Von Welle und Klang»).

Das Saaldach steigt bis unter das zeltartig geformte Gebäudedach auf, wo es als Auflager für eben dieses funktioniert. Das Gebäudedach ist statisch weniger anspruchsvoll, geometrisch aber umso mehr. Seine Geometrie entsteht aus acht wellenförmig angeordneten Kugelteilflächen, wobei sich die Hochpunkte – bis auf die Spitze des Grossen Saals inmitten der Dach­fläche – ausschliesslich an den Fassaden befinden. Das Dachtragwerk setzt sich aus 1000 ungleichen und gekrümmten Trägern mit einem aufgeschossenen ­Trapezblech zusammen. Das Gewicht beträgt etwa 800 t. Die horizontalen Lasten werden über drei Erschliessungskerne abgetragen, die vertikalen Lasten zusätzlich über unregelmässig verteilte Innenstützen und regelmässig im Abstand von 4.30 bis 5.00 m angeordnete Randstützen in der Fassadenebene.
Spalt in der Fassade

Die Fassaden und die raumbegrenzenden Oberflächen verdecken die gesamte Tragkonstruktion, die das ­charakteristische Bauwerk erst ermöglicht. Ausge­rechnet dort, wo sich die Fassade wie ein Spalt zwischen Alt und Neu öffnet und sich das Tragwerk zeigen könnte, weicht es zurück. Mit dem Wegfall der Fassadenstützen erreichen die Planenden die optische Trennung von Neu und Alt. Die Kräfte entlang der Fassade werden drei Geschosse über der Plaza mittels Schrägstützen auf die zweite Stützenreihe geführt. Die darunter­liegenden beiden Stockwerke sind über Zugstützen ­aufgehängt. An der schmalen Westseite ist diese Konzeption geo­met­risch nicht möglich, daher sammelt ein über der Plaza liegendes und über die beiden Gebäudeecken umlaufendes Fachwerk als Abfangträger die ­Stützenlasten.

Über Zugstützen gelangen die Kräfte drei Stockwerke darüber zu Schrägstützen, diese wiederum leiten die Lasten auf die zweite Stützenreihe.

Die indirekte Lagerung führt bei diesem 110 m hohen Gebäude zu grösseren lastabhängigen ­Verformungen. Hinzu kommen die Lasten der Fassaden­elemente, die möglichst früh angeschlagen werden mussten, um bereits während des Rohbaus in den ­darunterliegenden Geschossen mit dem Innenausbau beginnen zu können. Ausserdem wurde die spezielle Glasfassade für den Endzustand mit kleinen Deckenverformungen konzipiert. Unter den Rohbauverformungen wären die Gläser deshalb gebrochen. Um die Verformungen während des Rohbaus regulieren zu können, entwickelten die Ingenieure ein konstruktives Konzept: Massgebende Diagonalen des Fachwerks wurden dem Baufortschritt folgend mithilfe von hydraulischen ­Pressen verkürzt und im Endzustand fest verschweisst.

Dadurch wurden das Fachwerk schrittweise vorgespannt und die Verformungen sukzessive ausgeglichen.

Zäsur im Meisterstück

Die hohen Fassadenlasten von bis zu 101 kN/m konnten bei den Längsfassaden nicht gesamthaft in die vorhandenen Senkkästen fundiert werden, weil diese weniger Lastreserven als die bestehende Pfahlfundation aufwiesen. Die Ingenieure mussten die zusätzlichen Lasten an dieser Stelle entsprechend reduzieren. Diese «Entlastung» erfolgte am wirtschaftlichsten mit einer Umlagerung der grossen Saaldachlasten. Dazu wurden ausgewählte Auflagerpunkte des etwa 1800 t schweren Saaldachs entlang der Längsfassaden erhöht eingebaut und nach der Fertigstellung der Stahlkonstruktion und der darüber im Verbund wirkenden Betonschale mit hydraulischen Pressen in die Endlage abgesenkt. Dadurch erfolgte die notwendige Umverteilung der Lasten hin zur Mitte des Gebäudegrundrisses, wo Tragreserven in der Pfahlfundation vorhanden sind.

Dieser konstruktiv ingeniöse Umgang mit den Kräften zeigt, welche aussergewöhnliche Leistung die Ingenieure hier vollbracht haben. Dass die Aufstockung heute so selbstverständlich auf dem historischen Sockel aus Backstein steht und die Stadt mit einer unvergleichbaren Ausstrahlung überragt, ist ein planerisches und kreatives Meisterstück und verdient eine Atempause – eine musikalische Zäsur in der Tonfolge sozusagen. Wenn perfekt ausgeführt, ist sie kaum hörbar und verlangsamt das Tempo des Stücks nicht. Ohne sie – die präzise gesetzte Zäsur oder die sorgsam durchdachte Ingenieurleistung – wäre ein Musikwerk bzw. ein solcher architektonischer Entwurf mit seinem einverleibten Tragwerk nicht umsetzbar.

TEC21, Fr., 2017.03.24



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TEC21 2017|12 Hamburger Himmelsstürmer

17. März 2017Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Gefalteter Monolith

Der Erweiterungsbau des Landesmuseums Zürich ist gewagt und im ingenieurspezifischen Sinn alles andere als sperrig. Schnetzer Puskas Ingenieure liessen sich auf die architektonische Intention ein und schufen ein räumliches Tragwerk für den expressiven Baukörper. Möglich machte dies der Werkstoff Beton.

Der Erweiterungsbau des Landesmuseums Zürich ist gewagt und im ingenieurspezifischen Sinn alles andere als sperrig. Schnetzer Puskas Ingenieure liessen sich auf die architektonische Intention ein und schufen ein räumliches Tragwerk für den expressiven Baukörper. Möglich machte dies der Werkstoff Beton.

Die Umbauarbeiten am Landesmuseum Zürich auf der Halbinsel zwischen Limmat und Sihl hinter dem Hauptbahnhof haben einen Meilenstein erreicht: Nach 15 Jahren Ausschreibung, Wettbewerb[1], Planung, Vor- und Bauprojekt sowie Ausführung ist der fünfgeschossige Erweiterungsbau von Christ & Gantenbein Architekten seit Juli 2016 eröffnet. Die in Grund- und Aufriss mehrfach geknickte Erweiterung dockt an den Bestand von 1898 an und schliesst den U-förmigen Haupttrakt des Altbaus von Gustav Gull. Sie behebt den Platzmangel des Museums – Ausstellungsflächen, eine Bibliothek und ein Auditorium für öffentliche Veranstaltungen finden darin Platz – und ermöglicht erstmals einen Rundlauf durch alle Ausstellungsräume.

Fugenloses Fassadenkonzept

Während den Altbau eine historistische, feingliedrige Fassade auszeichnet, prägen grossflächige, wuchtig anmutende und schlichte Sichtbetonfassaden den Neubau. Diese sind weitgehend geschlossen, denn die Ausstellungsräume gegenwärtiger Museen benötigen kaum natürliches Licht. Einzig Bandfenster in der nordöstlichen Gebäudeecke und 69 Rundfenster, die einzeln und gruppiert in allen Ansichten angeordnet sind, durchbrechen die Fassade. Die Bandfenster zeigen, wo die Bibliothek platziert ist. Als Einschnitte in den geschlossenen Kubus sind sie vorab als Aussparungen in die Schalung eingelegt worden. Die Rundfenster lassen erahnen, wo sich der Neubau im Innern erschliesst. Sie wurden nachträglich als Kernbohrungen in die Fassade gebohrt und lassen punktuell die Sicht von innen nach aussen – weniger von aussen nach innen – zu.

Die Fassaden sind monolithisch und damit fugenlos erstellt. Um eine solche Wandfläche mit einer abgewickelten Länge von 103 m (Seite Landesmuseum) bzw. 162 m (Seite Park) erstellen zu können, ist ein ausgeklügeltes konstruktives Prinzip erforderlich. Normalerweise nehmen in regelmässigen Abständen angeordnete Dilatationsfugen die Verformungen der Wände auf. Die Bewegungen werden auf diese Weise klein gehalten. Allerdings bedingen direkt bewitterte Fugen einen hohen Unterhaltsaufwand und sind ein ästhetischer ­Störfaktor. Deswegen ist die selbsttragende, 21 cm dicke Aussenhaut der zweischaligen Aussenwand durch die 33 cm dicke Isolationsschicht hindurch an die tragende 25–40 cm starke Innenwand rückverankert.

Die Verformungen, die aus relativ hohen Temperaturschwankungen von –10 bis 30 °C entstehen, werden mit geschaffe­nen Bewegungsfreiräumen aufgefangen. Die Aussenhaut verschiebt sich horizontal auf Gleitlagern. Nur lokal sind Fixpunkte platziert (vgl. Abb.). Die gegen innen oder gegen aussen springenden Fassadenecken sind nicht verankert. Hier «pumpt» die Aussenhaut, da sie sich beidseitig der Ecken infolge Temperaturschwankungen, Schwinden und Kriechen ausdehnt und zusammenzieht. Um diese Bewegungsfreiheit zu gewährleisten, ist die Isolationsschicht an den Gebäudeecken 6 cm dünner ausgeführt. Im Freiraum zwischen Betonwand und Dämmung bewegt sich die Fassade.

Spezieller Beton – eigene Verantwortung

Aus dem Fassadenkonzept erschliesst sich die Betonrezeptur, denn die entstehenden Zwängungen und Verformungen bedingen bestimmte Betoneigenschaften, wie beispielsweise einen Wasser/Zement-Wert von < 0.45 bzw. ein Schwindmass von < 0.4 0/00. Daneben musste mit der Betonrezeptur auch eine konkrete Farbe erreicht werden, denn so sehr sich die historische Bruchsteinfassade und die neue Fassade strukturell voneinander unterscheiden, verbindet vor allem ihre Farbgebung und eine gewisse Rauheit in der Oberfläche die beiden Gebäudeteile miteinander. Der Tuffstein des historischen Bruchsteinmauerwerks findet sich deshalb in der neuen Fassade wieder. Er wurde dem Beton zusammen mit Kalk beigemischt, um ihm die Farbe der historischen Bausubstanz zu geben.

Allerdings war die Beimengung nicht ohne Weiteres möglich. Aufgrund der vulkanischen Gaseinschlüsse ist Tuff häufig porös und saugt Wasser. «Es ist daher schwierig», so Heinrich Schnetzer von Schnetzer Puskas Ingenieure aus Basel, «mit einem solchen Zuschlag Beton herzustellen, denn er hat für die Betonher­stellung ungeeignete Eigenschaften.» Tuff entzieht dem Beton vor und während dem Abbinden Wasser. Dadurch ist die Betonmischung schlecht verarbeitbar, und der Wasser/Zement-Wert und damit das Schwindmass werden unkontrollierbar. Ausserdem schleifen sich die weichen Gesteinskörner beim Mischen ab und verändern ihre Korngrösse – ein gut abgestuftes Korngerüst für ein kompaktes Volumen wird unmöglich.

Für eine monolithische Fassadenkonstruktion wie die am Erweiterungsbau des Landesmuseums sind diese Aspek­te aber ­zentral. Erst ein eineinhalb Jahre andauernder Entwick­lungs­prozess inklusive Prüfungen und Fassadenmuster auf der Baustelle ergab die richtige Rezep­tur (Tuff­stein-Beton C 25/30 nach Zusammen­setzung). Der Clou war vor allem, den Tuff vorab zu nässen und ihn wassergesättigt in die Betonmischung einzubringen. Für diesen Beton nach Zusammensetzung trugen die Ingenieure die volle Verantwortung, denn die Ausschreibung konnte nicht wie gewohnt mit Expositionsklassen, sondern musste wie früher nach Rezeptur erfolgen. Dank seiner jahrelangen Erfahrung in der Baupraxis und in der Beton-Werkstoffforschung an der ETH Zürich konnte Heinrich Schnetzer diese Verantwortung übernehmen.

Die Betonrezeptur musste noch vor der Ausschreibung – bevor der ausführende Baumeister bestimmt war – mit einem Betonlieferanten definiert werden. Dass dieser den Auftrag nicht erhalten könnte, war ein reales Risiko, das in diesem Fall tatsächlich eintraf. Mit dem neuen Lieferanten wurde der Wasser/Zement-­Wert bei jeder Lieferung überprüft. Für die richtige Konsistenz zum Einbringen und Vibrieren sorgten wie üblich und je nach Bedarf Verzögerer, Stabilisatoren, Luftporenbildner und Verflüssiger.

Grundwasser, Schotter und Moräne

Besondere Anforderungen an den Beton waren im Untergeschoss erforderlich, da es sich grösstenteils im Grundwasser befindet (die Gründungssohle liegt etwa 2.5 m im Grundwasser) und als weisse Wanne ausgeführt wurde. Geplant und umgesetzt wurde nur ein Untergeschoss, da die Baukosten so vor allem bezüglich Baugrubensicherung und Auftriebssicherheit während der Bauphase reduziert werden konnten. Der Baugrubenabschluss bildete eine rückverankerte Spundwand mit einer Länge von etwa 16 bis 20 m. Sie durchstösst im oberflächennahen Bereich den sehr durchlässigen Schotter und darunter, in einer Tiefe von etwa 12 bis 16 m, die mässig durchlässigen Seeablagerungen, die wiederum auf den Moränen der letzten Eiszeit liegen. Die Spundwand wurde in die Seeablagerung und teilweise in die Moräne eingebunden.

Das funktionale statische System erkennen

Der architektonische Ausdruck und das Tragwerk der Erweiterung bedingen sich grundsätzlich gegen­seitig: Der räumliche Körper setzt somit auch ein ­räumliches Tragwerk voraus. Schnetzer Puskas Ingenieure stiessen erst während des Vorprojekts zum ­Planungsteam hinzu. Sie verstanden es, für den mäand­rierenden Bau das zweckmässige und angemessene statische System festzulegen. Gerade in einem solchen Fall ist die Analyse, das heisst das gedankliche – nicht digitale – Zerlegen des Tragwerks in seine wesentlichen Komponenten unter Berücksichtigung des gegenseitigen Zusammenwirkens, unentbehrlich.

Heinrich Schnetzer betont denn auch: «Das richtige statische System für einen Bau zu finden setzt voraus, dass der Ingenieur ganzheitlich Bescheid weiss über das räumliche Zu­sammenwirken von einzelnen Tragelementen und über den tragwerkspezifischen Kraftfluss. Nur mithilfe ­dieses analytischen Vorgangs lassen sich die wesent­lichen bauwerksspezifischen Eigenschaften der Tragwerkselemente erarbeiten und für die Konzeption des Tragwerks optimal verwenden.» Nach der Analyse kann das Bauwerk im Sinn einer Synthese als Ganzes betrachtet und auch mit den digitalen Hilfsmitteln ­berechnet werden.

Die Leistungsfähigkeit einer einfachen, aber das Wesentliche erfassenden Tragwerksanalyse lässt sich am Beispiel der Verbindung vom bestehenden Hof in den Park aufschlussreich zeigen. Der brückenartig ausgebildete Neubaukörper mit der torförmigen Öffnung ermöglicht diese Verbindung und ist ein zentrales Element des architektonischen Entwurfs. Seine Tragwirkung zu definieren und seine Tragelemente zu dimensionieren waren wesentliche Ingenieuraufgaben.

Die Wirkungsweise der 46 m weit spannenden Brückenkonstruktion lässt sich auf zwei substanzielle Elemente abstrahieren: eine gefaltete Platte als stützen­der Sockel – der eigentliche «Torbogen» – und die Wandscheiben (vgl. Abb.). Die beiden 45 und 27 Grad geneigten Druckplatten des «Torbogens» sind an ihren Füssen über die Decke des Untergeschosses miteinander verbunden. Diese Untergeschossdecke als Bodenplatte in der Verbindung zum Park ist vorgespannt und funktioniert statisch als Zugband. Die Decke ist somit Raum­abschluss und Tragelement zugleich.

Die Druckplatten bilden zusammen mit dem Zugband ein Dreieck, das ein Kräftegleichgewicht herstellt und die Fassadenscheiben stützt. Gleichzeitig steifen die hohen Scheiben die Druckplatten aus, sodass diese relativ dünn ausgebildet werden können. Die Firstlinie bzw. der Stützpunkt der beiden Druckplatten reduziert die Spannweiten der Fassadenscheiben um etwa die Hälfte und damit die Schnittkräfte auf ein Viertel. Dadurch können auch die Wandscheiben relativ schlank ausgebildet und trotz scheibenartiger Träger teilweise aufgelöst bzw. perforiert werden.

Anschluss ohne Kraftübertragung

Nicht ganz offensichtlich ist auch die Tragwirkung des Erweiterungsbaus an seinen Enden bzw. seinen Anschlussstellen an die bestehende historische Substanz. An dieser Stelle treffen markant unterschiedliche Gebäudeteile aufeinander – hier die einheitliche und grossflächige neue Wand, dort die feingliedrige historische Altbaufassade.

Beidseitig dockt die Erweiterung zwar wie eine Landungsbrücke am West- und Ostflügel des bestehenden Baus an. Doch weil die bestehende Bausubstanz und ihre Fundation nicht für zusätzliche Lasten ausgelegt sind und um aufwendige Verstärkungsmassnahmen im Altbau zu verhindern, überträgt der Neubau keine Lasten: Der flach mit partiellen Vertiefungen fundierte Massivbau, der durch die Betonscheiben der Aussen-, Treppen- und Liftwände horizontal ausgesteift ist, steht grundsätzlich nur auf zwei Füssen und kragt gegen den Altbau beidseitig aus – am einen Ende mit einer Auskragung, die einen zweiten Durchgang kreiert, am anderen Ende – weil so kurz – nur im statischen System sichtbar.

Aus ingenieurkon­struktiver Sicht schmiegt sich der Neubau also behutsam an den Bestand. Und ebenso bedacht werden die Kräfte aus der Auskragung in die dahinterliegenden Tragelemente weitergeleitet: Die Gebäudeform des Neubaus mäandriert. Einzelne Gebäudevolumen reihen sich abgewinkelt aneinander. Auch die auskragenden Enden sind über die Fassadenscheiben abgewinkelt am folgenden Gebäudeteil eingespannt. Der Knick verursacht im Zug- und im Druckbereich der vertikalen Scheiben Ablenkkräfte. Es ist nicht sinnvoll, diese Kräfte über Biegung abzutragen. Effizienter ist die Rückverankerung des Knicks bzw. die Kraftumlenkung mittels horizontaler Scheiben. Dazu dient im Zugbereich die Dachscheibe und im Druckbereich eine Deckenscheibe. Die horizontalen Kräfte bzw. das Kräftepaar in den Scheiben ist zugleich die Torsionseinspannung des abgeknickten und auskragenden Gebäudeteils. Es wird über Wandscheiben oder Kerne gekoppelt und schliesst so den Kräftefluss zu einem Gleichgewicht.

Intention verwirklichen

Mit diesem gekonnten Umgang der Kräfte zeigt sich die Effizienz des Tragwerks, das zugleich Teil der Architektur ist. Die Ingenieure bedienen sich der architek­tonisch ohnehin vorhandenen Elemente und dimen­sionieren sie statisch effizient. Ob Flaggschiff oder Felsenriff, reizvoll oder brachial – das Landesmuseum ist aus ingenieurspezifischer Sicht eine besondere, behutsame und vor allem auch kreative Ingenieurarbeit. Aus ihr entwickelte sich eine Beton-Tragkonstruktion, die zusammen mit der Betonrezeptur die architektonische Intention verwirklicht.


Anmerkung:
[01] TEC21 33-34/2002, S. 44–45.

Weiterführende Literatur (Auswahl):
«Einweihung des Schweiz. Landesmuseums. Rede des Herrn Stadtpräsidenten Pestalozzi», in: Schweizerische Bauzeitung, 2. Juli 1898, S. 1–2.
«Der Entwurf von Architekt Gustav Gull für ein Schwei­zerisches Landesmuseum in Zürich», in: Schweizerische Bauzeitung, 6. Dezember 1890, S. 142–144.
Sanierung Altbau: TEC21-Dossier «Sanierung Landesmuseum», Dezember 2008.
Roman Hollenstein, «Ein graues Felsenriff. Kritische Anmerkungen zur Erweiterung des Landes­museums», in: Neue Zürcher Zeitung, 24. 9. 2016.

TEC21, Fr., 2017.03.17



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TEC21 2017|11 Beton, exponiert

04. November 2016Clementine Hegner-van Rooden
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Aus dem Bestand heraus

Die Erweiterung der Tate Modern steht auf dem bestehenden Betonsockel der drei Öltanks, die 2012 rückgebaut wurden. Der kleeblattförmige Grundriss der...

Die Erweiterung der Tate Modern steht auf dem bestehenden Betonsockel der drei Öltanks, die 2012 rückgebaut wurden. Der kleeblattförmige Grundriss der...

Die Erweiterung der Tate Modern steht auf dem bestehenden Betonsockel der drei Öltanks, die 2012 rückgebaut wurden. Der kleeblattförmige Grundriss der rund 30 m weit spannenden und 9 m tief in den Untergrund reichenden Tanks ist an den Brüstungen der vorgelagerten Terrasse noch ablesbar. Regelrecht erlebbar ist die alte Trag­konstruktion des Tanksockels, ein Betontragwerk aus massiven Stützen, Unterzügen und Betonscheiben, das die Räumlichkeiten im Untergeschoss prägt.

Die Tragelemente sind heute gekennzeichnet von Kernbohrungen und Frässchnitten, die das Tragwerk auf das tragwerkspezifisch Notwendigste reduzieren und Durchgänge von und zur Turbinenhalle schaffen. Die Planenden beliessen die erhaltene Tragkonstruk­tion roh, sie zeigen die Eingriffe, die angeschnittenen Bewehrungseisen und das getrocknete Spritzwasser vom Fräsen. Aus diesem – bildhaft und im wahrsten Sinn des Wortes – kraftvollen Raum erstreckt sich die Tragstruktur der Erweiterung; sinngemäss als Skelettbau. Die neuen Betontragelemente verflechten sich hier optisch und statisch mit der bestehenden Tragkonstruktion.

Dabei leitet sich die Lage der neuen Tragelemente von den örtlichen Bedingungen des Bauplatzes bzw. von den Rahmenbedingungen der bestehenden Bausubstanz im Sockel ab. Betonbalken innerhalb des Gebäudegrundrisses und am Perimeter fangen die Lasten im EG ab und bilden die Basis für die empor­ragende komplexe Gebäudeform. Die abfallenden Fassadenflächen bilden in jedem Geschoss neue Grundrisse ohne rechte Winkel – vom Tragwerk geprägte, grosszügige Räumlichkeiten entstehen. Allerdings generiert die Form auch viele Tragelemente in unterschiedlichen Abmessungen; vorfabriziert erreichen sie eine hohe Präzision.

Die primäre Tragkonstruktion, die diese Grundrisswechsel statisch ermöglicht, besteht aus Stahlbeton. Sekundär, wie beispielsweise im Dachbereich, kommen auch Stahlkonstruktionen zum Einsatz. Zudem sind Fassadenstützen dort als Stahlverbundstützen ausgeführt, wo die Tragsicherheit oder die Stabilität bzw. die Schlankheit es erfordert. Sie sind mit Konsolen versehen, die wie Arme die unterschiedlichen Ausfachungen tragen und die Kräfte in die Hauptstützen leiten. Neben den markanten Fassadenstützen tragen im Innern des Grundrisses maximal sechs zusätzliche Stützen vertikale Lasten ab. Die gross­zügigen Spannweiten stehen für die grossflächigen und flexibel nutzbaren Räume.

Der Witterungsschutz aus perforiertem Mauerwerk prägt das Erscheinungsbild des Switch House. Es ist wahrlich eine ingeniöse Leistung, die die Ingenieure von Ramboll hier konstruktiv erbracht haben. Total 336»000 Steine in 212 unterschiedlichen Formen wurden zwischen August 2014 und Februar 2016 bei jeder Witterung montiert. Dabei liessen die Ingenieure die Mauerwerksfläche ohne Dilatationsfugen erstellen. Die Mauerwerkssteine funktionieren zusammen als seriell «geschaltete» Bögen, die der Konstruktion horizontale und vertikale Bewegungen erlaubt. Die gesamte Fläche ist über 11 500 Konsolen in 400 verschiedenen Ausführungstypen an die Gebäudefassade rückverankert.

TEC21, Fr., 2016.11.04



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Tate Modern Switch House



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TEC21 2016|45 Die Kunst, für Kunst zu bauen

12. August 2016Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Keine Illusion

Die Fassade der Erweiterung des Kunstmuseums in Basel ist gemauert, riesig und ohne Dilatationsfugen erstellt – mit ein Grund, weshalb sich der Neubau geglückt in den Kontext eingliedert. ZPF Ingenieure aus Basel konzipierten die Fassadenkonstruktion, ohne ein Trugbild zu erstellen.

Die Fassade der Erweiterung des Kunstmuseums in Basel ist gemauert, riesig und ohne Dilatationsfugen erstellt – mit ein Grund, weshalb sich der Neubau geglückt in den Kontext eingliedert. ZPF Ingenieure aus Basel konzipierten die Fassadenkonstruktion, ohne ein Trugbild zu erstellen.

Als grauer, präzise geformter Körper bettet sich die Erweiterung in den städtischen Kontext mit dem monumentalen Hauptbau gegenüber und der St. Alban-Vorstadt daneben, einer der historisch wertvollen Altstadtgassen Basels (vgl. «Eigenständig, aber eng verbunden»). Der aus einem strukturellen Entwurf von den Architekten Christ & Gantenbein entwickelte Kubus hat gegenüber den Häuserzeilen in seiner Umgebung eine auffallende Proportion und Dimension.

Mit seiner Form und Grösse kontrastiert er das Massintervall im direkten Umfeld, gleichzeitig orientiert er sich auch an ihm: Der vertikale Farbverlauf von dunklem zu hellem Grau nimmt Bezug zum Hauptbau und den umliegenden Gebäuden. Ausserdem betten sich die kolossalen Wandflächen aus Sichtmauerwerk von bis zu knapp 28 m Höhe nuanciert und erstaunlich konform in den Kontext. Erstaunlich deshalb, weil historische und moderne Fassaden vor allem aus technischer Sicht so unterschiedlich sind.

Gerade das Fassadenbild des Neubaus ermöglicht die geglückte Eingliederung in den städtischen Kontext. Es oszilliert zwischen einer hellen, einheitlichen Fläche aus der Weite und einer rauen, handgefertigten Anmutung aus der Nähe. Damit öffnet sich ein Spannungsfeld zwischen detaillierter Feinheit und oberflächlicher Einfachheit – ein Effekt, wie ihn Fassaden vor allem historischer Häuserzeilen bewirken können.

Das durchdachte Konstruktionsprinzip der Basler ZPF Ingenieure ermöglichte diese Wirkung – keine einfache Aufgabe, denn aktuelle Dämmanforderungen verhindern heute oft die in europäischen Altstädten so prägenden monolithischen Fassaden von Massivbauten.

Fassade und Massivität

Bevor Wärmedämmanforderungen an Gebäude gestellt wurden, waren Wände vergleichsweise homogene Gebilde, die durchgängig gemauert werden konnten. Infolge der Ansprüche an den Energieverbrauch von Gebäuden ist eine solche Bauweise heute nur noch selten möglich. Die erforderliche Dämmschicht bricht die Wand als kompaktes Tragwerk auf, den Abschluss zum Stadtraum bilden meist leichte Schichten wie Verputz, Plättchen, Glasplatten oder Blech, die vor der Dämm­ebene aufgebracht werden.

Die äussere Wandschicht ist zudem von der Tragkonstruktion thermisch entkoppelt und hohen Temperaturschwankungen ausgesetzt. Aussenhaut und Innenkonstruktion sind somit infolge unterschiedlicher Temperaturen differenziellen Bewegungen ausgesetzt. Vor allem auch deshalb sind Mauer­werksfassaden – vor allem solche in der schieren Grösse des Erweiterungsbaus – zu komplexen Ingenieurtragwerken geworden.

Bei bisherigen Standardlösungen wird die äus­sere Wandschicht als Mauerwerksimitat an die Dämmung geklebt oder als Vormauerung an die innenliegende Tragkonstruktion gehängt und mit horizontalen und vertikalen Bewegungsfugen versehen. Solche Bewegungsfugen sind zwar klein und kaum wahrnehmbar, trotzdem prägen sie das Erscheinungsbild einer neu erstellten Fassade markant.

Die jüngeren Konstruktionen unterschieden sich dadurch von den monolithischen (ohne Dilatationsfugen = fugenlos) Fassadenwänden. Das Konstruktionsprinzip Ersterer widerspricht zudem dem Baumaterial Mauerwerk – dessen Eigen­schaften werden nicht ausgeschöpft, nicht einmal mehr vertikale Lasten werden übernommen. Die Standardlösungen erzeugen folglich ein illusionäres, irreführendes Bild der Fassade. Die wahre Massivität der Mauerwerks­fassade geht verloren – aus konstruktiver, aber auch aus gestalterischer und oft auch optischer Sicht.

Um die architektonische Massivität im Sinn einer ­kompromisslosen Klarheit des Fassadenentwurfs trotz aktuellen Ansprüchen zu bewahren, liessen sich die ­Ingenieure von ZPF auf einen herausfordernden ­Planungsprozess ein. Sie fanden einen ingeniösen Weg, die monolithischen Fassaden wiederzubeleben, ohne die diversen Anforderungen einzuschränken und insbesondere ohne dabei ein Trugbild zu erstellen. Sie konstruierten eine selbsttragende und durchgehend fugenlose Aussenhaut.

Handwerk und Simulationen

Die zehn Wandabschnitte des polygonalen Baus sind 9.4 m bis 32.4 m lang und insgesamt 75 bis 85 cm dick. Auf der inneren, 30 bis 40 cm dicken Betonwand klebt die 24 cm starke Dämmschicht, und zwischen der Isolation und der Fassade ist ein rund 4 cm breiter Luftraum angeordnet. Die äussere etwa 172 bis 197 mm starke Schale aus dänischen Vollziegeln (228 × 108 × 40 mm) ist frei stehend, in sich bewehrt und an die innere Betonwand rückverankert.

Die Bewegungen der Fassade werden von Lagern, Ankern und den Mörtelfugen aufgenommen. Dabei handelt es sich um konstruktive Elemente, die mit Forschungsarbeit, Versuchen und Computersimulationen entwickelt und geprüft wurden, weil dieses Konstruktionskonzept in der Schweiz für Grossprojekte bislang noch nicht angewendet wurde.

Nach dem Vorprojekt beauftragten die Ingenieure den dänischen Experten Hans Bendix Pedersen von Grontmij A/S in Glostrup mit einer unabhängigen Überprüfung des Konzepts. Eine zweite Prüfung erfolgte auf Wunsch der Bauherrschaft durch Dr. Hans Rudolf Ganz der Ganz Consulting in Bösingen.

Im Anschluss an die positiven Rückmeldungen erfolgten experimentelle Untersuchungen der einzusetzenden Ziegelsteine, des Mörtels und der Verankerung. Das Fassaden-Mock-up wurde mit Sensoren bestückt und die Temperatur im Innern der Mauer über einen halben Jahreszyklus gemessen und aufgezeichnet. Die Messungen bestätigten den Entscheid der Ingenieure, die rechnerisch ein­zusetzende Temperaturdifferenz von ±15 °C nach SIA 261:2003 auf projektspezifische ±25 °C zu erhöhen.

Unter der Leitung von Prof. Dr. Harald Schuler führte die Fachhochschule Nordwestschweiz zudem eine aufwendige Versuchsreihe im Zusammenhang mit Mauerwerk und Verankerung durch.

Drei Druck- und 25 Ausziehversuche der Verankerung an 29 cm hohen, 1.5 Ziegelsteine tiefen und 46 cm breiten Mauerstücken – eigens dafür erstellte Probekörper in zwei Grautönen (ganz hell und ganz dunkel, um die Unterschiede der Herstellung auszuschliessen) – übertrafen die statisch notwendigen Widerstände nach Abminderung durch die Sicherheitsbeiwerte. Zusätzliche experimentelle Prüfungen erörterten die Frost-Tau-Beständigkeit des Baustoffs. Auch diese Versuche fielen für die vorgesehenen Steine positiv aus.

Die Erstellung der Fassade und die Produktion der Ziegel erforderten viel handwerkliches Know-how und Geschick. Die Produktion erfolgte maschinell, jedoch bewusst nicht wie bei herkömmlichen Backsteinen im Strangpressverfahren. Stattdessen presste man einen nassen Lehmklumpen in einen Holzrost und strich den überflüssigen Lehm ab. Die Steine werden weniger homogen, sie unterscheiden sich in Textur und Form leicht voneinander und geben der Fassade eine handwerkliche, vorindustriell gefertigte Komponente.

Gemauert wurden die Fassadenwände schliesslich in reiner Handarbeit. Auf knapp 4000 m² Fassadenfläche (inkl. Öffnungen) verlegten die Maurer anderthalb Steine in der Tiefe pro Lage und damit rund 550 000 Ziegel in 399 (strassenseitig) bis 528 (hofseitig) Lagen – jede Steinlage mit individuellen Anforderungen und Detaillösungen: drei ineinander laufende Grautöne, vier Mauerwerksarten (liniertes Relief 2 cm, liniertes Relief 1 cm, LED-Fries, glattes Mauerwerk), vier Mörtel (einer für unter Terrain plus drei Lagen über Terrain, drei für über Terrain in verschiedenen Farbtönen), 18 Öffnungen (12 Fenster in sechs verschiedenen Geometrien, sechs Türen in sechs verschiedenen Geo­metrien und Ausführungen) sowie diverse integrierte Spezialelemente wie Überwachungskameras, Aussenwasserhahn, Badge-Leser, Schlüsseltresor, Wandleuchte, Mauerringe und Mauerbolzen zur Befestigung von Strassenbeleuchtung und Tramfahrleitungen.

Konstruktive Einfachheit

Hinter der schlichten und doch prägnanten Aussenhaut steckt differenzierte, anspruchsvolle und profunde Konstruktionsarbeit. Es entstand eine Mauerwerks­fassade, die den aktuellen energetischen Anforderungen zu entsprechen vermag und zugleich die architektonischen Ansprüche erfüllen kann.

Ermöglicht haben es die Ingenieure, die eine Konstruktion entwickelten, die dem Mauerwerk gerecht wird. Dabei bleiben sie der ingenieurspezifischen Terminologie treu, wonach mit Massivität nicht nur die Masse, sondern in gewissem Sinn auch der Massivbau angesprochen ist. Sie erstellten eine Fassade, die als raumabschliessendes Element mit der vertikalen Lastabtragung zumindest teilweise auch eine statische Funktion übernimmt und die ohne störende Dilata­tionsfugen sowie selbsttragend tatsächlich einen massiven Körper darstellt. Diesem konstruktiven Kunstgriff und dieser konstruktiven Einfachheit liegt das Potenzial inne, die herkömmliche Massivität eines städtischen Fassadenbilds zu erhalten.

TEC21, Fr., 2016.08.12



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2016|33-34 Kunstmuseen, erweitert

30. Januar 2016Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Die Narben der Baugeschichte

Unverputzte, roh belassene Betonflächen prägen den gestalterischen Ausdruck eines Bauwerks. In die Jahre gekommen und der Witterung ausgesetzt, zeigen sie aber oft Schäden auf: Abgeplatzte Betonüberdeckungen und freigelegte rostende Bewehrungseisen lassen solche Flächen unansehnlich werden. Ihre Instandsetzung ist anspruchsvoll – umso mehr, wenn neben technischen auch denkmalpflegerische Aspekte zu berücksichtigen sind.

Unverputzte, roh belassene Betonflächen prägen den gestalterischen Ausdruck eines Bauwerks. In die Jahre gekommen und der Witterung ausgesetzt, zeigen sie aber oft Schäden auf: Abgeplatzte Betonüberdeckungen und freigelegte rostende Bewehrungseisen lassen solche Flächen unansehnlich werden. Ihre Instandsetzung ist anspruchsvoll – umso mehr, wenn neben technischen auch denkmalpflegerische Aspekte zu berücksichtigen sind.

Am Goetheanum in Dornach SO ist die neulich abgeschlossene Instandsetzung der 1928 erstellten, kunstvoll geformten Sichtbetonfassade geglückt. Zusammen mit dem Amt für Denkmalpflege und Archäologie des Kantons Solothurn und mit Prof. Dr. Eugen Brühwiler, Konsulent des Bundesamts für Kultur, hat das Planungsbüro Gruner die Gratwanderung zwischen den Anforderungen gemeistert.

Ein Unikat – einzigartig und eigenständig

Das Goetheanum ist das internationale Zentrum der Anthroposophen. Es ist zugleich Verwaltungsgebäude, Sitz und Tagungsort der freien Hochschule für Geis­teswissenschaft. Insbesondere ist es aber auch ein ­Theaterbau (vgl. «Sichtbar geformter Beton», TEC21 44/2004). Neben den Mysterien­dramen Rudolf Steiners – des Begründers der Anthropo­sophie – ist Goethes «Faust» das zentrale Bühnenstück am Goetheanum. Die Uraufführung des ungekürzten «Faust I und II» fand 1938 hier statt. Seither hat das Goetheanum 74 Mal zu den ungekürzten Theateraufführungen eingeladen – die nächste findet an Ostern 2016 statt. Mit ein Grund, um das ins Alter gekommene und instandsetzungsbedürftige Gebäude wieder von seiner schönsten Seite zu zeigen.

Als markantes, plastisch geformtes Bauwerk aus Sichtbeton steht das Goetheanum auf dem westlichen Ende des Dornacher Hügels, direkt an der Kantonsgrenze zum Kanton Basel-Landschaft auf solothurnischem Gebiet. Das Goetheanum wurde von 1925 bis 1928 nach dem Entwurf Steiners gebaut und ersetzte das gleichnamige, aus Holz konstruierte Vorgängergebäude, das in der Neujahrsnacht am 1. Januar 1923 niedergebrannt war. Steiner liess den Bau in der neuartigen «Eisenbetonbauweise» errichten. Ihn überzeugten die Vorteile des Baustoffs bezüglich Feuersicherheit und Kosten. Angetan war er insbesondere von seiner freien Formbarkeit, die er hier konsequent nutzte – so, wie dies weltweit bis heute nur wenige Architekten und Ingenieure tun.

Der Sichtbetonbau erscheint als ein massiver Block mit windschief gekrümmten und gewölbten, monolithisch verwachsenen Wand- und Dachflächen sowie mit scharfkantigen Graten. Details wie in die Fassaden eingelassene, abgekantete Pfeiler, abgeschrägte Fenster­öffnungen und mehrfach geknickte Dachplatten charak­terisieren das Bauwerk, das mit seinen expressiven und plastischen Formen organisch wirkt. Diese Formen soll­ten ein Ausdruck des kreativen und freien Gestaltungsprozesses Steiners sein, der allerdings kurz nach Baubeginn, am 30. März 1925, starb.

Die Schweizer Hermann Ranzenberger und Otto Moser, der Deutsche Ernst Aisen­preis und der Österreicher Albert von Baravalle setzten den Entwurf als ausführende Architekten um; erstere drei waren bereits an der Errichtung des ersten Goetheanums beteiligt gewesen. Für die Tragkonstruktion aus Eisenbeton war das Basler Ingenieurbüro Leup­recht & Ebbell verantwortlich. Die aufwendigen Schalungen erstellte die Schreinerei des Anthroposophen-Zentrums unter der Leitung von Heinrich Liedvogel, einem gelernten Zimmermann mit Schiffbauerfahrung. Sie stellen in sich eine aussergewöhnliche Bauleistung dar.

Die aus der Schalung hervorgegangene Brettstruktur der Betonflächen ist entsprechend wertvoll und trägt massgeblich zum Meisterwerk bei. Die einzigartige Formgebung und die frühe Anwendung des Sichtbetons machen das Goetheanum zu einer der Pio­nierleistungen der frühen Betonbauweise weltweit. Es steht unter Denkmalschutz und bildet zusammen mit den stilis­tisch ähnlichen Wohn- und Zweckbauten in der näheren Umgebung ein Ensemble. Dieses zählt zu den Kulturgütern von nationaler Bedeutung im Kanton Solothurn.

Massiv und doch filigran

Der Sockelunterbau mit einer Grundfläche von 3200 m² erstreckt sich in Ost-West-Richtung über 90 m und in Nord-Süd-Richtung über 85 m. Der Oberbau ist 72 m lang und 64 m breit, er ragt 37 m in die Höhe. Der umbaute Raum beträgt 110 000 m³, wobei 15 000 m³ Beton mit 990 t Stahlbewehrung verbaut wurden. Dennoch ist die Massivität nur vorgetäuscht. Vielmehr besteht das Bauwerk aus einer filigranen, ungedämmten Betonrippenkonstruktion (einzelne Räume wurden von innen nachgedämmt). Eisenbetonstützen und -träger sind in grossen Bereichen mit nur etwa 8 cm dicken Betonscheiben aus­gefacht. Einzig die Erdgeschosswände beim Westeingang weisen eine durchgehende Stärke von 50 cm auf.

Die sichtbaren massiven Säulen sind teilweise nicht einmal tragend, sondern erheben einzig den Anspruch, das Gebäude «zu erden», wie etwa die wuchtigen Stützen im zentralen Theatersaal. Über der abgehängten Saaldecke befindet sich ein Hohlraum, der bis zu 7 m hoch wird. Fachwerkbinder aus Eisenbeton tragen das Dach und führen die Lasten zu den Aussenwänden.

Zustandsentwicklung und bisherige Erhaltungsmassnahmen

Trotz ihrer Filigranität ist die Tragkonstruktion, die zugleich Hülle ist, äusserst dauerhaft. Während der ersten 50 Jahre Nutzungsdauer kam die Sichtbeton­fassade ohne Erhaltungsmassnahmen aus. Erste kleinflächige Reparaturarbeiten an der Dachauskragung im Nordwesten und an Teilen der Westfassade wurden 1972 vorgenommen. Im Zeitraum von 1984 bis 1988 reprofilierte man die Brüstung des Terrassengeschosses im Süden und Südwesten. Das Sockelgeschoss wurde gestrichen, wobei das Ergebnis visuell bis heute nicht zu überzeugen vermag.

Der Frischbeton aus den 1920er-Jahren wurde mit relativ viel Wasser hergestellt und durch Stampfen verdichtet. Die so erhöhte Porosität begünstigte die Karbonatisierung. In den 1980er-Jahren liess die Bauherrschaft die Eindringtiefen der Karbonatisierung messen (vgl. Kasten am Ende des Artikels). Es stellte sich heraus, dass bei 90 % der untersuchten Fläche die Eindringtiefe 30 mm und mehr betrug, womit die äussere Eisenlage im karbonatisierten Beton lag. Man ging davon aus, dass diese Bewehrung bei genügender Feuchtigkeit korrodieren würde. Es bestand also Handlungsbedarf.

Von 1993 bis 1996 liess die Bauherrschaft deshalb tief greifende und flächendeckende Massnahmen ausführen. Wandflächen der Fassaden des rückwärtigen Bühnentrakts (Nordostseite, Ostseite und Südostseite) wurden bis zu 4 cm tief abgetragen, um danach neuen Beton von 7 cm Stärke vorzubetonieren. In die Schalung setzte man Silikonmatrizen mit Kopie der originalen Betontextur ein, die die ursprüngliche Oberflächenbeschaffenheit imitieren sollte – ein radikales Verfahren, das jedoch damals üblich war und von der Denkmalpflege unterstützt wurde.

Die aus bautechnischer Sicht qualitativ einwandfreie Umsetzung führte aber zu einem Ergebnis, das aus formalen Gründen nicht überzeugt. Die Stösse der einzelnen Matrizen und ­Schalbretter zeichnen sich zu stark an der Oberfläche ab und wirken gegenüber der ursprünglichen Beschaffenheit fremd und störend. Es entstand eine neuzeitliche Textur, die nicht mehr an die Bauzeit der 1920er-Jahre erinnert. Aus heutiger Sicht war diese kostenintensive «Beton­sanierung» unverhältnismässig.

Auch weitere Instandsetzungsmassnahmen von geringem Ausmass im Jahr 2000 blieben ästhetisch unzureichend. Spritzbeton ersetzte den karbonatisierten Beton, wobei man eine rekonstruierte Holzschalung verwendete und die Oberfläche stockte. Versuchsflächen mit filmbildenden Oberflächenschutzsystemen wurden angelegt. Erst mit den Hydrophobierungsversuchen in den Jahren 2000, 2005 und 2008 zeichnete sich eine geeignete Methode für den Schutz des Sichtbetons ab.

Erhaltung der originalen Substanz

2013 fragte die Denkmalpflege des Kantons Solothurn Eugen Brühwiler als Bundesexperten an, den aktuellen Zustand der Gebäudehülle nochmals zu beurteilen. Neue Instandsetzungsarbeiten sollten die Dauerhaftigkeit gewährleisten und den ursprünglichen Ausdruck der noch originalen Bausubstanz erhalten. Die Kosten für die Arbeiten sollten für die Bauherrschaft auch inklusive der finanziellen Unterstützung von kantonaler und eidgenössischer Denkmalpflege verhältnismässig ausfallen.

«Die Fragestellung lautete, ob und wie die noch originalen Sichtbetonflächen mit einem geeigneten zerstörungsfreien Verfahren instandgesetzt und geschützt werden konnten», so Brühwiler. «Wichtig war dabei, dass das originale Erscheinungsbild so weit wie ­möglich bestehen bleibt und künftig notwendige Instand­setzungen anwendbar bleiben.»

Die äussere Erscheinung des Sichtbetons war bis auf wenige Stellen, wo der Überdeckungsbeton abgeplatzt war, in gutem Zustand; auch die bis dahin nicht behandelten Sichtbetonflächen. Abgesehen davon, dass sich die Eisenbewehrung weitgehend im karbonatisierten Beton befindet, waren keine anderen Schädigungsmechanismen wie zum Beispiel infolge einer Alkali-­Aggregat-Reaktion, durch Chloride oder Frost sichtbar. Dennoch war es wichtig, da kosteneffizient und vorausschauend, umgehend Erhaltungsmassnahmen für den Sichtbeton vorzusehen.

Es genügte ein sanftes Verfahren. Brühwiler empfahl, einerseits einzelne, lokale Betoninstandsetzungen der Zonen mit sichtbaren Korrosionsschäden auszuführen und andererseits die gesamten Sichtbetonflächen mit einer Tiefenhydrophobierung zu behandeln (vgl. Kasten am Ende des Artikels). Deren Wirkstoffe stossen in den Beton eindringendes Wasser ab und halten so die Betonfeuchtigkeit tief, was die Korrosion stark eindämmt. Zudem ist die Tiefen­hydrophobierung nicht filmbildend, sodass eine allfällig ­vorhandene hohe ­Betonfeuchtigkeit nach aussen austrocknen kann.

Es war nicht erforderlich, den oberflächennahen karbonatisierten Beton vollflächig zu ersetzen. Die bestehende Oberfläche konnte in Textur und Farbe weitestmöglich erhalten und geschützt werden. Die Evaluation dieser Arbeit war wenig aufwendig. Der Auftrag auf den vorab schonend gereinigten Betonoberflächen sollte nicht glänzen und die Eindringtiefe im Standardbeton mindestens 10 mm betragen. Dafür wurden vorab Proben genommen und verschiedene ausführende Fachfirmen beigezogen.

Aufwendiger waren die Vorversuche, die das Instandsetzungsverfahren präzisieren sollten. Das eingesetzte Material sollte sich hinsichtlich Farbgebung an die vorliegende helle, aber auch stark variierende Oberfläche angleichen. Standardmässige Reprofiliermörtel haben den Nachteil, dass sie häufig zu dunkel sind und Kunststoffzusätze enthalten, die in diesem Fall nicht eingesetzt werden durften. Auch die Haft­brücken für die Reprofilierungen sollten nicht aus kunststoffmodifiziertem Material bestehen, sondern aus Zementmilch (Bojacke).

Im Archiv über die Baugeschichte des Goetheanums befand sich ein Beschrieb der ursprünglichen Betonmischung: Die Rezeptur aus dem Jahr 1924 bestand aus 750 kg Kies und Sand pro 100 kg Zement. Dieser Zement wurde vermutlich aus einem mittlerweile geschlossenen Werk in Münchenstein bezogen, das das Ausgangsmaterial aus dem nahe gelegenen Kalk­steinbruch bezogen hatte. Versuche am Altbeton zeigten Mittlerwerte der Druckfestigkeit von 47.3 N/mm2, des E-Moduls von 23 000 N/mm2 und der Haftzugfestigkeit von 2.8 N/mm2.

Aufgrund dieser Nachforschungen und Testergebnisse wurden Betonrezepturen erstellt und vor Ort bemustert – ein Findungsprozess, der beinahe ein halbes Jahr in Anspruch nahm. Ab März 2014 erstellte der Bauunternehmer schliesslich das Fassadengerüst für die ebenfalls notwendigen Instandsetzungsarbeiten am Dach. Darauf abgestimmt erfolgten die Arbeiten an den West- und Südfassaden Ende 2014 sowie der Nord- und Ostfassaden im 2015.

«Lebendige» Betonfassade

Die Stellen der neuesten lokalen Betoninstandsetzungen sind heute vor allem in der Südfassade zu erkennen. Die Reprofilierungen heben sich vom Altbeton ab, weil dieser bewusst nicht abrasiv gereinigt wurde und deshalb im Unterschied zu den Reprofilierungen dunkle Verschmutzungen aufweist.

Martin Zweifel vom Baubüro des Goetheanums, somit Vertreter der Bauherrschaft, meint pragmatisch: «Die Dringlichkeit der Instandsetzungsmassnahmen war gegeben, und wir haben nach bestem Gewissen den Stand der Technik von heute angewendet.» Eine Erhaltung und Instandsetzung basiere auf immer wieder neuen Technologien. Offensichtlich sei es schwierig, ein perfektes Abbild der historischen Betonsubstanz anzufertigen. «Aber», so Zweifel weiter, «ich gehe ohnehin davon aus, dass Steiner das Goetheanum dunkelrot verputzt hätte. Allerdings habe ich dafür nur Indizien, ich kann es noch nicht beweisen.»

Nach dem Tod Steiners lag die Ausführung bei den Architekten und Mitarbeitern des Baubüros, die bemüht waren, seine Intentionen minuziös umzusetzen. Ob der Sichtbeton tatsächlich Steiners Absicht war oder ob er aus dem Bauprozess und den knappen finanziellen Mitteln heraus entstand, lässt sich bis heute nicht belegen. Womöglich ging der damals auf einer Betonfassade übliche Verputz vergessen, zumal der Sichtbeton einfach Gefallen fand? Zweifel, der sich des Denkmalwerts bewusst ist, betont indes, «dass dieser Gedanke die Sorgfaltspflicht der Instandsetzungsarbeiten keineswegs schmälern soll».

Auch die zurückhaltenden Bedenken, die der Projektleiter der Gruner-Gruppe, Roland Marty, äusserte, sollen nicht über die gelungene Instandsetzung hinwegtäuschen: «Ich hatte mir erhofft, noch näher an die bestehende Farbgebung zu gelangen. Denn wir ermittelten die Betonrezeptur für die Reprofilierung in einem langwierigen und aufwendigen Prozess, und die Versuche und die Bemusterungen waren grundsätzlich vielversprechend.» Dennoch sehen die bearbeiteten Stellen mit den «Schnäuzen», der Holzbrettstruktur der Schalung und den Lunkern ähnlich aus wie die bestehenden Flächen. Die lokalen helleren Flächen werden zudem aufgrund der Luftverschmutzung mit der Zeit nachdunkeln.

Eine Anforderung, die lokalen Betoninstandsetzungen unsichtbar zu halten, wäre aus technischer Sicht ohnehin nicht oder kaum realisierbar. Farbe und Oberflächenbeschaffenheit des Sichtbetons variieren infolge seines Herstellungsprozesses und der unterschiedlichen Exposition gegenüber Umwelteinflüssen. Dies ist ein positiver Charakterzug des Betons, der gegenwärtig nur allzu oft verschmäht wird und den man häufig durch ein monotones, nicht materialgerechtes Erscheinungsbild ersetzt haben möchte.

Die Variation führt dazu, dass die Sichtbetonfassaden «leben», ganz im Gegensatz zur komplett ersetzten «leblosen» Fassade, die vor 20 Jahren «saniert» wurde. Ein Aspekt, den es gerade bei diesem Bauwerk hoch zu gewichten gilt. Brühwiler betont denn auch: «Die lokalen Betoninstandsetzungen sind ‹Narben› auf der origi­nalen Bausubstanz, die durchaus diskret sicht- und erkennbar sein sollen. Sie lassen die Baugeschichte und das Alter des Bauwerks ablesen.»


[Die Gesellschaft für Ingenieurbaukunst veranstaltet im Herbst 2016 eine Exkursion zum Goetheanum. Details auf www.ingbaukunst.ch]


Karbonatisierung

Durch den Kontakt mit dem Kohlendioxid aus der Luft und durch die Einwirkung von Feuchtigkeit karbonatisiert der oberflächennahe Beton. Anders ­ausgedrückt: Das Kalziumhydroxid im ­Porenwasser des Betons wird chemisch in Kalkstein umgewandelt. Erreicht die Karbonatisierungsfront den Bewehrungsstahl, so verliert dieser seinen Schutzfilm, der im basischen Milieu des Porenwassers des (nicht karbonatisierten) Betons stabil ist und den Bewehrungsstahl vor Korrosion schützt.

Dass sich der Bewehrungsstahl in karbonatisiertem Beton befindet, ist allein noch keine hinreichende Bedingung, damit der Stahl zu korrodieren beginnt. Es muss Sauerstoff vorhanden sein – was praktisch immer der Fall ist –, und im Beton muss eine gewisse Feuchtigkeit vorherrschen. Bei einer relativen Betonfeuchtigkeit zwischen 85 und 95 % läuft die Bewehrungskorrosion schneller ab als bei einer solchen von 60 bis 80 %; bei weniger als 60 % findet praktisch keine Bewehrungskorrosion mehr statt.

Die Feuchtigkeit im Beton ist somit der wesentliche Parameter, der je nach Exposition des Bauteils variabel ist. Diese Erkenntnis ist bei der Beurteilung des Korrosionsrisikos und der Wahl der Instandsetzungsmethode entscheidend.

Tiefen­hydrophobierung

Die Tiefenhydrophobierung oder hydrophobierende Imprägnierung ist eine technische Oberflächenbehandlung von Sichtbeton, um die kapillare Aufnahme von Wasser und aggressiven Lösungen zu unterbinden. Sie funktioniert rein physikalisch: Die Wasser abstossenden (hydrophobierenden) Wirkstoffe treten infolge Kapillarwirkung in den Beton ein und lagern sich an den Porenflächen an. Dabei erfolgt keine chemische Re­aktion mit dem Zementstein oder den Zuschlagstoffen. Es handelt sich also um eine Wasser abweisende Imprägnierung des mineralischen Baustoffs Beton.

Die Betonfeuchtigkeit wird reduziert und der elektrische Widerstand erhöht, womit eine Korrosionsaktivität gebremst oder gestoppt wird. Die Dauer der Wirksamkeit einer Tiefenhydrophobierung hängt von der Eindringtiefe und -menge in die oberflächennahe Betonschicht ab, denn die Wirkstoffe werden vor allem durch die UV-Strahlen des Sonnenlichts zersetzt. Ab einer Tiefe von etwa 1 mm sind die Wirkstoffe vor den UV-Strahlen geschützt.

Eine genügende Konzentration bei gegebener Eindringtiefe ist die massgebende Kenngrösse einer Tiefenhydrophobierung. Die heutigen Produkte mit Molekülgrössen im Nanobereich können Eindringtiefen von 4 bis 6 mm ohne Weiteres erreichen und damit auch in der Ausschreibung gefordert werden. In einem solchen Fall hält die hydrophobierende Wirkung wahrscheinlich mehr als 25 Jahre lang an.

Die Qualität einer Tiefenhydrophobierung wird am Bauwerk zerstörungsfrei anhand von Wassereindringversuchen und im Labor anhand von Aufsaugversuchen an Bohrkernen bestimmt. Die Bauunternehmung muss die Imprägnierung nötigenfalls weitere Male applizieren, bis die geforderte Eindringtiefe und Konzentration der Wirkstoffe und damit die Schutzwirkung erreicht sind.

Unter den Bezeichnungen «hydrophobierende Imprägnierung» und «Tiefenhydrophobierung» gibt es verschiedene Produkte auf dem Markt, deren Eignung am konkreten Bauwerk mittels Eignungsprüfungen nachgewiesen werden muss. Angaben und Zertifikate der Produktelieferanten allein genügen nicht, da der jeweils zu behandelnde Beton einen Einfluss auf das Ergebnis hat. Produkte, die an der Oberfläche zu einer Glanzbildung führen, sind zu vermeiden.

TEC21, Sa., 2016.01.30



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2016|05-06 Lebendiger Sichtbeton

27. November 2015Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Brücken am vereinigten Fluss

Wo Hinter- und Vorderrhein zusammen fliessen, prägen Brücken den Weiler Reichenau. Seit dem 14. Jahrhundert sind sie Teil des Landschaftbilds. Nun kommt eine neue hinzu.

Wo Hinter- und Vorderrhein zusammen fliessen, prägen Brücken den Weiler Reichenau. Seit dem 14. Jahrhundert sind sie Teil des Landschaftbilds. Nun kommt eine neue hinzu.

Die Rhätische Bahn (RhB) ist bekannt für ihr meterspuriges Netz mit Infrastrukturbauten von historischem Wert. Die berühmtesten RhB-Strecken sind die Bernina- und die Albulalinie, die seit Juli 2008 zum UNESCO-Welterbe zählen. Die RhB ist sensibilisiert für einen pfleglichen Umgang mit ihren Bauwerken. Dafür hat sie Experten, Planer und Unternehmer um sich scharen können. Nun ist sie erstmals in ihrer 125-jährigen Geschichte noch einen Schritt weiter gegangen und hat den ersten formellen Wettbewerb im Sinn des SIA ausgeschrieben: für eine zweite Hinterrheinbrücke in Reichenau. Seit Ende September ist bekannt, wie diese Brücke aussehen soll.

Reichenau[1] ist topografisch und historisch ein aussergewöhnlicher Ort. Hier fliessen Hinter- und Vorderrhein zusammen. Am Zugang der beiden Täler führen von alters her wichtige Wegverbindungen durch. Waren diese historischen Wege ursprünglich eher den Hangfüssen gefolgt und hatten den Rhein andernorts überquert, wurde der Brückenkopf in Reichenau spätestens im 14. Jahrhundert zu einer Schlüsselstelle im bündnerischen Verkehrsnetz und später mit der Bernardino-Passstrasse ein bedeutender Streckenabschnitt des europaweiten Transitverkehrsnetzes.

Bemerkenswerte Topografie

Die Topografie im Bereich des Zusammenflusses ist einzigartig. Der Felskopf des Schlosses Reichenau im Norden und die Ausläufer der Anhöhen Ils Aults im Süden formen eine markante Talenge, die die beiden Flüsse frontal aufeinander zufliessen lässt, bevor sie als vereinigter Rhein nach Osten abdrehen. Dieses Engnis ist auch für die Lage der alten Brücken über den Rhein zum Schloss Reichenau verantwortlich. Beim Bau der Eisenbahn wurde der südliche Sporn erstmals angeschnitten, dann weitere Male 1962 bei der Erweiterung des Bahnhofs Reichenau-Tamins im Zug des Doppelspurausbaus ab Chur und 1963 beim Bau der Autobahn A13. Bei Letzterem sind die engen Platzverhältnisse zwischen Berg und bestehenden Brückenbauten offensichtlich.

Jürg Conzett, Bauingenieur und Mitglied der Wettbewerbsjury, bedauert, dass die neueren Strassenbrücken eine Art «Anti-Ensemble» zu den alten Fachwerkbrücken bilden: «Obwohl von bedeutenden Brückenbauern konzipiert, sind sie Entwürfe, die eine in sich stimmige und kohärente Brückenlandschaft gesprengt haben.» Trotzdem bleibt Reichenau eine von zahlreichen wertvollen Zeitzeugen geprägte Landschaftskammer.

«Auf dem linken Felssporn soll nur ein Zollhaus ge­standen haben, bis Anfang des 17. Jahrhunderts herrschaftliche Gebäude errichtet wurden, aus denen sich die heutige Schlossanlage entwickelt hat», weiss Johannes Florin, Architekt, Berater der kantonalen Denkmalpflege Graubünden und ebenfalls Mitglied der Wettbewerbsjury. Das Schloss mit seinen umliegenden Bauten ist heute die einzige grössere klassizistische Anlage der Region, und der ihm vorgelagerte, bis zum Rhein hinab­reichende Garten ist weitgehend im ursprünglichen Zustand erhalten.

Der Dorfkern von Tamins und das Schloss Reichenau sind je im Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung (ISOS) aufgeführt. Weiter ist die südlich der Bahnlinie respektive der A13 liegende Flusslandschaft des Hinterrheins mit der östlichen Talflanke Teil des Bundesinventars der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung (BLN). Das Inventar der historischen Verkehrswege der Schweiz (IVS) nennt als Strassenabschnitte von nationaler Bedeutung die Kantonsstrassen Chur–Reichenau-Tamins/Thusis (GR 13 und GR 9) und Reichenau–Ilanz (GR 71).

Bedeutende Brücken en masse

Der Ort ist auch kunstbaugeschichtlich interessant: Zwei Brücken, eine über den Vorderrhein und eine über den vereinigten Rhein, gestatteten hier seit Anfang des 16 Jahrhunderts[2] eine effiziente Wegführung der «Unteren Strasse» (Chur–Splügen-/Bernardinopass) und verknüpften diese mit der Verbindung Richtung Oberland/Lukmanier- und Oberalppass. Heute nutzt der Strassenverkehr die 1963 gebaute A13, die vormaligen Brücken wurden ersetzt.

Über den vereinigten Rhein spannt sich seit 1881 eine eiserne Fachwerkbrücke, die die Eisengiesserei- und Façonschmiede Mertin, Crétin, Borner & Cie. in Romanshorn erstellte. Die 70 m weit gespannte Brücke wird zurzeit instand gesetzt. Etwa an derselben Stelle standen von 1757 bis 1799 eine der damals am weitesten gespannten Holzbrücken von Johannes und Hans-Ulrich Grubenmann (vgl. TEC21 42-43/2009) und von 1814 bis 1881 eine Holzbrücke von Johann Stiefenhofer.

Weitere bedeutende Brücken vor Ort sind die Rheinbrücke Tamins von Christian Menn von 1963 mit einer Spannweite von 100 m, die Lavoitobelbrücke mit einer Spannweite von 106 m, die Mirko Robin Roš mit Max Bill 1967 projektierte und die gegenwärtig instand gestellt wird, und schliesslich die Hinterrheinbrücke, die die RhB 1895 von den Firmen Buss AG, Basel (Fundamente und Pfeiler), und Bell AG, Kriens (eiserne Träger), ausführen liess (vgl. Situationskarte).

Die dreifeldrige eiserne Fachwerkbrücke mit parallelen Gurten und vierfachem Strebenzug ist eine Flussüberquerung nach klassischem Muster. Ihre Spannweiten betragen 44.10 63.00 44.10 m. Sie ist ein Beispiel für den hohen Stand der schweizerischen Brückenbautechnik der vorletzten Jahrhundertwende. Ihre präzise gemauerten Pfeiler und der filigrane genietete Fachwerkträger zeugen von den handwerklichen Fertigkeiten ihrer Erbauer. Der engmaschige Fachwerkträger gehört zu den letzten seiner Art, die für Eisenbahnen noch voll in Betrieb stehen.[3]

Entsprechend hoch ist der denkmalpflegerische Wert dieses Bauwerks. Conzett präzisiert: «Die historische Hinterrheinbrücke ist bis heute Teil des Rests eines starken Brückenensembles mit der erhaltenen ‹Schlossbrücke› von 1881 über den vereinigten Rhein. Zudem ist sie Teil einer nicht direkt sichtbaren geschichtlichen Entwicklung. Die räumliche und die zeitliche Dimen­sion belegen ihre hohe Bedeutung als Baudenkmal.»

Die Suche nach einer Neuen

Nun hat die RhB im Hinblick auf die Stabilisierung des Verkehrsnetzes und auf den Ausbau des Angebots eine Verlängerung der Doppelspur in Reichenau projektiert. Das Nadelöhr Hinterrheinbrücke verschwindet, und die Surselva- und die Albulalinie erhalten bereits vor der Flussüberquerung je ihre eigene Linie. Um dem wertvollen Umfeld und insbesondere der historischen Brücke Rechnung zu tragen, soll für die Doppelspur eine neue, unabhängige einspurige Brücke gebaut werden.

Für den Bau dieser zweiten Hinterrheinbrücke inklusive des Baus der zweiten und des Ersatzes der bestehenden Überführung über die Nationalstrasse A13 sowie der Neugestaltung der landschaftlichen Umgebung hat die RhB einen Projektwettbewerb im anonymen, einstufigen und offenen Verfahren lanciert. Das Siegerprojekt soll das Umfeld ebenbürtig ergänzen und es um ein heutiges Bauwerk bereichern.

Christian Florin, Leiter Infrastruktur bei der RhB und Präsident der Wettbewerbsjury, bezeichnete die Aufgabe als ungewöhnlich: «Es galt, eine wertvolle eiserne Bahnbrücke aus dem 19. Jahrhundert mit einer neuen in unmittelbarer Nähe zu ergänzen, erschwert durch die Sachzwänge der Querung der Nationalstrasse.»

Mit dem Siegerprojekt «Sora Giuvna», «junge Schwester» (vgl. «Brückenduett»), erhalte die RhB eine Brücke, die durch ihre Konzeption besteche, freut sich Conzett und ergänzt: «Das Projekt schafft Ordnung, indem es die Vielfalt der Eisenbahnbrücken reduziert.» Das Siegerteam weiss die «Serienschaltung» von vier aneinandergereihten Eisenbahnbrücken auf eine «Parallelschaltung» von zwei Brücken zu reduzieren (vgl. Grafiken).

Die neue Brücke wird flussaufwärts (südlich) der historischen stehen. Diese Linienführung tangiert die Flussufer am wenigsten und belässt das Ensemble von Schloss Reichenau und den beiden Fachwerkbrücken räumlich intakt. Künftig fahren die Züge der stärker frequentierten Albulalinie über die neue Brücke. Dadurch verlängert sich die Lebensdauer der bestehenden, weil die Materialermüdung reduziert wird.

Zwischen den Überführungen über die A13 und dem Bahnhof Reichenau-Tamins soll die heute auf kurze Distanz mehrfach gekrümmte Linienführung begradigt werden. Der Hangabschluss südlich der Gleise wird bergwärts versetzt. Der parallel zur Bahn höher verlaufende Polenweg[4] muss in diesem Bereich neu angelegt werden.

Die RhB schlug drei mögliche Linienführungen A, B und C vor, die bahnbetrieblich gleichwertig sind. Die Wahl der Linienführung und der Entscheid für einen bestimmten Brückentyp standen in einem engen Zusammenhang – so stand A für eine räumliche Kompaktheit und Bündelung, C für eine stärkere Absetzung des neuen Projekts von der bestehenden Brücke, und B wurde als Mittelweg aus A und C in den Wettbewerb aufgenommen. Die Wettbewerbsteilnehmer konnten eine der drei vorgeschlagenen Linienführungen wählen.

Paarbildung bei hohem Altersunterschied

Die Haltung der teilnehmenden Projektteams, wie das Brückenduett zueinanderfinden soll, widerspiegelt sich in den Eingaben. Analogien und modernisierte Kopien wurden bei der Wettbewerbseingabe ebenso eingereicht wie Neuinterpretationen und Weiterführungen bis hin zu völlig losgelösten Konstruktionen. Die Paarbildungen waren nachvollziehbar, erzwungen oder selbstverständlich. Die Konstruktionen wurden in Form von Stahl- oder Betonfachwerken, Balken-, ­Vouten- oder Vollwandträgern, Trögen oder V-Stiel-­Brücken ausgearbeitet. Einen der sechs Entwürfe mit V-Stielen empfand die Jury schliesslich als die richtige Antwort auf die komplexe Aufgabenstellung (vgl. «Brückenduett»).


Anmerkungen

[01] Der Name Reichenau geht vermutlich auf Besitzungen des Klosters Reichenau auf der Bodenseeinsel zurück.
[02] Ab 1522 sind beide Zollbrüchen schriftlich bezeugt; Quelle: IVS (GA Trin, Urkunde 14).
[03] Aus dem Wettbewerbsprogramm zweite Hinterrheinbrücke Reichenau.
[04] Als Polenweg werden in der Schweiz Waldwege, Feldwege und Strassen bezeichnet, die während des Zweiten Weltkriegs von internierten Soldaten der 2. polnischen Schützendivision angelegt oder ausgebaut wurden.

TEC21, Fr., 2015.11.27



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2015|48 Wettbewerb zweite Hinterrheinbrücke

27. November 2015Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

«Ein Anstoss von aussen»

Was motivierte die Rhätische Bahn, einen Wettbewerb zu lancieren? Hält die historische Hinterrheinbrücke den künftigen Belastungen stand? Karl Baumann, Leiter Kunstbauten der RhB Infrastruktur, nimmt Stellung.

Was motivierte die Rhätische Bahn, einen Wettbewerb zu lancieren? Hält die historische Hinterrheinbrücke den künftigen Belastungen stand? Karl Baumann, Leiter Kunstbauten der RhB Infrastruktur, nimmt Stellung.

TEC21: Herr Baumann, Reichenau ist topografisch und baugeschichtlich eine aussergewöhnliche Landschaft (vgl. «Brücken am vereinigten Fluss»). Die Stahlbrücke der Rhätischen Bahn (RhB) ist als Teil des Ensembles zu erhalten. Woran orientieren Sie sich?

Karl Baumann: Die RhB hat vor einigen Jahren zusammen mit der Denkmalpflege Graubünden und Jürg Conzett das Dokument «Umgang mit bestehenden Brücken» erarbeitet. Dieses Dokument dient uns als Leitfaden für alle Massnahmen bei Instandsetzungen oder beim Ersatz von Brückenbauwerken. Die Hinterrheinbrücke Reichenau wird in diesem Dokument als eine Rarität von sehr hohem denkmalpflegerischem Wert bezeichnet. Es war somit von Anfang an klar, dass sie nach Möglichkeit zu erhalten ist. Die RhB hat deshalb 2010 die Durchführung einer Sonderinspektion mit einer statischen Nachrechnung der Hinterrheinbrücke in Auftrag gegeben.

Mit welchem Ergebnis?

Die 120 Jahre alte Brücke soll für insgesamt rund 5 Millionen Franken instand gesetzt und mit einem neuen Korrosionsschutzsystem versehen werden. Die In­standsetzungsarbeiten beinhalten den Ersatz der sekundären Stahlkonstruktion, was in diesem Umfang nur während eines mehrmonatigen Betriebsunterbruchs realisierbar ist.

Die historische Brücke rückzubauen war nie ein Thema?

Nicht, seit wir ihren immateriellen Wert kennen. So steht auch die Frage eines späteren Abbruchs im Moment nicht zur Diskussion. Mit entsprechenden Massnahmen lässt sich ein solches Bauwerk auch noch länger als 70 Jahre in Betrieb halten. Zum Beispiel wäre es heute undenkbar, den Eiffelturm oder die Golden-Gate-Brücke abzubrechen.

Was hat die RhB dazu bewogen, erstmals in ihrer Geschichte einen formellen Wettbewerb zu lancieren?

Die Projektierung einer zweiten Bahnbrücke neben der bestehenden Fachwerkbrücke in der historisch bedeutenden Umgebung von Reichenau, genau beim Zusammenfluss von Vorder- und Hinterrhein, ist nach Beurteilung der RhB eine äusserst anspruchsvolle Planerarbeit. Für solche Aufgaben eignet sich das Werkzeug eines Wettbewerbs.

Im Wettbewerbsprogramm wurden drei betrieblich gleichwertige Linienführungen vorgeschlagen. Wie begründen Sie deren Lage?

Ursprünglich war die RhB davon ausgegangen, dass die zweite Hinterrheinbrücke auf der Nordseite liegen müsse, da das bestehende Bauwerk in der Ansicht fast ausschliesslich von Süden wahrgenommen wird. Während der Vorbereitung der Grundlagen für den Projektwettbewerb mussten wir unsere Meinung aber revidieren. Wasserbauliche, denkmalpflegerische und betriebliche Gründe sprechen eindeutig für eine Lage auf der Südseite. Die geschwungene Linienführung C war ursprünglich die einzige Linienführung, vorrangig um aus bautech­nischen Gründen einen genügend grossen Abstand zwischen neuen und alten Pfeilern bzw. Widerlagern zu schaffen.

Die gerade Linienführung A parallel zur bestehenden Brücke kam später hinzu. Wir beliessen beide Varianten, weil wir zum damaligen Zeitpunkt keine schlüssigen Gründe für den Ausschluss der einen oder anderen Variante hatten. Unsere Unschlüssigkeit widerspiegelt die Linienführung B. Sie ist ein Kompromiss zwischen A und C und ist als solcher auch in den Eingaben zu erkennen.

Aus den Eingaben ging hervor, dass die Linienführung A nach einer konstruktiven Annäherung und C nach einer gewissen Eigenständigkeit der neuen Brücke «verlangt». Die Linienführung B wurde selten eingegeben. Das Siegerprojekt zeichnet sich durch eine Eigenständigkeit auf der Linienführung C aus, wobei das Siegerteam betont, dass die beiden Brücken dennoch ein Ensemble bilden (vgl. «Das Siegerteam und sein Vorschlag», Kasten unten). Sehen Sie als Bauherrschaft das neue Brückenduo ebenfalls als Ensemble?

Die RhB ist der Meinung, dass das neue Bauwerk «Sora Giuvna» klar Bezug auf die bestehende Fachwerkbrücke nimmt. Natürlich reagiert das Projekt nicht spezifisch auf ein eigentliches Brückenduo. Dies ist mit der 1963 dazugekommenen Über­führung über die A13 nicht mehr möglich. Vielmehr besticht das Projekt mit einem einheitlichen Tragwerkskonzept, das sowohl die grosse Spannweite über den Hinterrhein als auch das etwas kleinere, aber in der Bauwerkshöhe stark eingeschränkte Feld über der A13 überbrückt. Diese Eigenheit ist nur bei ganz wenigen Projekten vorhanden.

Mit der schlanken Trägerhöhe von 1.70 m und der Ausbildung eines leicht nach oben versetzten Trogquerschnitts gelingt es ausserdem, die bestehende Fachwerkbrücke fast vollständig frei sichtbar zu belassen. Das ist schliesslich das gewünschte Zusammenspiel, das die beiden Brücken zum Ensemble werden lässt.

Ich persönlich begrüsse die Linienführung C zudem noch wegen zweier weiterer Aspekte: Sie bewirkt eine leichte Entflechtung der engen Platzverhältnisse im Bereich der A13-Überführung, und der Respektabstand zum bestehenden Bauwerk ermöglicht unseren Fahrgästen bei der Überfahrt über die neue Brücke einen Blick auf das alte Tragwerk. Schliesslich nutzen viele Touristen unsere Bahn.

Das Siegerprojekt stammt von einem internationalen Team. Die RhB gilt als regional verortet. Ist das ein Widerspruch?

Ich habe mich während der Jurierung immer wieder gefragt: Wer könnte der RhB eine solche Stahlbrücke mit V-Stielen anbieten? Und im ersten Moment nach der Couvertöffnung war ich überrascht, dass es ein internationales Team ist. Wir haben – das darf ich ehrlich sagen – mit Bedauern zur Kenntnis genommen, dass unter den preisgekrönten Projekten keine einheimische Firma ist. Dies, obwohl im Kanton Graubünden mehrere gute Firmen vertreten sind, die ihre Kompetenz bei verschiedenen Projekten immer wieder beweisen.

Es stellen sich Fragen, die ich so (noch) nicht beantworten kann: Zeigt dieses Resultat nicht auch auf, dass manchmal eine etwas grössere Weitsicht sinnvoll und nötig ist? Hat die Wettbewerbs­auf­gabe dazu geführt, dass neue Ideen angeboten wurden – V-Stiel-Brücken, Stahllösungen, integrale Brückenprojekte? Haben sich die lokalen Anbieter nicht getraut, bisher wenig bekannte Konzepte anzubieten? Ist der Markt Graubünden zu stark abgeschottet und demzufolge weniger offen?

Vermutlich hat die Offenheit, die wir mit dem Wettbewerb sichergestellt haben, dazu geführt, dass wir nun andere Lösungen präsentiert erhielten, als wir das im Bündnerland gewohnt sind. Es könnte durchaus sein, dass regional verankerte Firmen in erster Linie auf eine gute technische Qualität und auf gut funktionierende Bauvorgänge achteten. Hingegen fehlten leider wirklich gute Lösungen, die der Erwartungshaltung der RhB standhielten.

Ein Anstoss von aussen dürfte nicht schaden. Zumal es sich beim Siegerprojekt nicht einfach nur um eine gute Idee handelt. Das Projekt ist durchdacht und zeigt, dass es von erfahrenen Stahlbauern erarbeitet wurde. Man spürt die Sicht des Ingenieurs und die Sicht des Architekten. Beides vereint sich zu einem einheitlichen Gesamtbauwerk.

Wir sind als Bauherrschaft mit den eingereichten Projekten sehr zufrieden und anerkennen den grossen Einsatz aller Teilnehmenden. Die Wertschätzung möchten wir auch mit dem ausführlichen Jurybericht äussern. Wir hoffen, damit etwas zur künftigen Entwicklung im regionalen und nationalen Ingenieurbau beigetragen zu haben.

TEC21, Fr., 2015.11.27



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TEC21 2015|48 Wettbewerb zweite Hinterrheinbrücke

27. November 2015Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Brückenduett

Die zweite Hinterrheinbrücke ist eine Stahltrogkonstruktion mit V-Stielen, die die historische Fachwerkbrücke gut sichtbar belässt. Auszüge aus dem Jurybericht zeigen, dass sie dem Bestand mit Respekt begegnet.

Die zweite Hinterrheinbrücke ist eine Stahltrogkonstruktion mit V-Stielen, die die historische Fachwerkbrücke gut sichtbar belässt. Auszüge aus dem Jurybericht zeigen, dass sie dem Bestand mit Respekt begegnet.

Der rätoromanische Name «Sora Giuvna» steht für das Siegerprojekt der zweiten Hinterrheinbrücke Reichenau. Mit ihm werden künftig inklusive der A13-Überführungen nur zwei Hinterrheinbrücken stehen: die heutige und ihre «junge Schwester», die den Rhein einspurig und die A13 doppelspurig überquert. Diese starke Konzeption bestimmt das ganze Projekt.

Stahlkasten auf V-Stielen

Das Siegerteam schlägt für die neue Brücke eine Stahlkasten-Trogkonstruktion über Rhein und A13 vor, die von V-Stielen getragen wird. Zwei seitlich der Gleise angeordnete dickwandige, steifenlose Stahlkästen tragen eine halb versenkte orthotrope Fahrbahnplatte. Ihre Höhe ist konstant über die ganze Brückenlänge. Über den Hauptpfeilern sind sie mit ebenfalls stählernen V-Stielen unterstützt – diese ragen jeweils wie vier Finger aus den Betonpfeilern. Die Schlankheit der Hauptträger ist so gewählt, dass die im Lichtraumprofil eingeschränkte Überquerung der A13 gut möglich ist, die Träger die bestehende Brücke jedoch kaum überragen.

Die jeweils vier Stiele treffen sich auf einer Auflagerplatte auf den Köpfen der beiden Hauptpfeiler. Diese Pfeiler korrespondieren in Form, Lage und Ausrichtung mit den Natursteinpfeilern der historischen Brücke. Das Siegerteam setzt die neuen Hauptpfeiler östlich und westlich des Hinterrheins flussaufwärts in die Flucht der bestehenden Pfeiler, wie in den Rahmenbedingungen gefordert. Der Übergang von den Stahl-V-Stielen zum Betonpfeiler wiederum nimmt die untere Kante des Stahlfachwerks der historischen Brücke auf.

Die neue Brücke besitzt zwischen Rhein und A13 kein Widerlager, sondern einen weiteren Pfeiler. Wegen der engen Platzverhältnisse ist er als V-Stiel parallel zur A13 gedreht. Eine – gemäss Jurybericht – reizvolle Idee, die das Platzproblem elegant löst, dem Grundkonzept der V-Stiel-Stützung treu bleibt und den Blick von der Autobahn auf das bestehende Widerlager frei lässt. Ausserdem wird die neue Hinterrheinbrücke über die A13 so erweitert, dass sie beide Gleisstränge umfasst. Sechs Felder der insgesamt siebenfeldrigen neuen Brückenkonstruktion dienen der Südspur der Rhätischen Bahn (RhB), und ein Feld ist für die Nordspur vorgesehen.

Aus einem Brückentrio oder gar -quartett wird so ein übersichtliches und reduziertes Duett. «Die bestehende Betonbrücke und die Stützmauer östlich des Widerlagers der alten Stahlfachwerkbrücke werden zurückgebaut. Damit definiert sich die historische Stahlbrücke als die zuerst gebaute, und die Vielfalt der Brückenlandschaft wird reduziert», bekräftigt das Siegerteam.

Bezug zwischen Alt und Neu

Mit der gewählten leicht geschwungenen Linienführung C erhält die neue Brücke den grösstmöglichen Abstand zur bestehenden, was ihre Eigenständigkeit betont. Dennoch nimmt sie Bezug auf die historische Konstruktion (vgl. «Das Siegerteam und sein Vorschlag», Kasten unten). Zudem lässt «Sora Giuvna» mit ihrer transparenten Konstruktion – dem schlanken parallelgurtigen Balken und den relativ schmalen V-Stielen – ­einen weitgehend freien Blick auf die bestehende Brücke zu. Schliesslich verweist die neue auch durch die Wahl des Materials Stahl auf die alte. Sämtliche Stahlteile sind in heller Farbe im Ton der bestehenden Fachwerkbrücke lackiert.

Da die beiden Brücken ein Ensemble bilden, trotzdem aber klar eigenständige Bauwerke sind, ist gemäss den Projektierenden keine farbliche Differenzierung nötig. Die Betonelemente sollen analog zum umgebenden Gesteinsmaterial eine hellgraue Farbe und eine glatte Oberfläche erhalten.

Landschaftliche Eingriffe

Heute dominieren massive, mehrere Meter hohe Stützmauern den östlichen Hang zum Plong Vaschnaus über dem Bahnhof Reichenau-Tamins. Darin eingeschnitten verlaufen auf unterschiedlichen Niveaus Strasse, Bahnlinie und Fussweg. Der Entwurf ersetzt die obere Stützmauer und sieht stattdessen eine bepflanzte Steil­böschung der Neigung 1 : 1 unter und über dem Polenweg vor. Der notwendige Hangabtrag von 31 000 m³ – etwa die Hälfte des jährlichen Abbaus im Steinbruch Plong Vaschnaus nebenan – soll für die Rekultivierung ebendieser Kiesgrube verwendet werden.

Auf der Südwestseite ist eine Verbreiterung des Damms unvermeidlich. Sie nimmt Richtung Rhein kontinuierlich zu. Der parallel zum Damm führende Fahrweg wird verlegt und die dort bestehende Wildhecke längs der Böschung ersetzt.

Die markante, geneigte Natursteinmauer auf der Ostseite der A13 wird heute durch den hohen, vertikalen Betoneinsatz abrupt unterbrochen. Das Siegerprojekt sieht deshalb vor, das Brückenende der Churer Seite auf einen knapp in die bestehende Natursteinmauer eingelassenen Auflagerkörper zu legen. Die Mauer läuft künftig ungestört unter der neuen Brücke durch.

Auf der Westseite der Nationalstrasse soll eine Betonmauer das Auflagerbauwerk zwischen bestehender Fachwerkbrücke und A13-Überführung begrenzen. Beide Mauern entlang der Strasse fügen sich an den durch die A13 vorgenommenen Hangdurchschnitt. Gleichzeitig bilden sie zusammen mit der V-förmigen Stütze parallel zur Strasse einen sich weitenden Trichter, der den Verkehr zielgerichtet durch das Strassenengnis führt.

Beruhigte Situation

«Sora Giuvna» schaffe Ordnung, schreibt die Jury in ihrem Bericht. Sie tut dies sowohl bezüglich konstruktiver als auch landschaftlicher Aspekte. Die Massnahmen beruhigen die Landschaft oberhalb der Bahngleise, und weil unterhalb der Bahnlinie so viel passiert, wirkt sich der Effekt positiv auf das gesamte Landschaftsbild aus. Jürg Conzett, Bauingenieur und Mitglied der Wettbewerbsjury, verdeutlicht: «Ganz allgemein sind bergseitige Stützmauern heiklere Elemente als talseitige Mauern, weil sie eine ‹Wunde› in der Hügel­land­schaft bedecken.»

Zwar habe der Schweizer Architekt Rino Tami (1908–1994) bei der Planung versucht, die Stützmauer als «Gebäude» erscheinen zu lassen, indem er die Oberkante parallel zum Verkehrsweg führte. Doch dies bedinge eine gewisse Länge der Mauer im Verhältnis zur Höhe. Die gegenwärtige, eher kurze und hohe Mauer zeige den Schnitt in die Landschaft etwas zu deutlich auf, gibt Conzett zu bedenken. «Hingegen wird die Landschaft ohne Mauer so erscheinen, als hätte man die Bahnlinie an eine bestehende Felswand herangebaut.»

Andreas Galmarini von WaltGalmarini, Mitglied des Siegerteams, betont wiederum: «Vom ingenieurspezifischen Standpunkt her haben wir versucht, die Tragkonstruktion schlicht zu halten, um der Dauerhaftigkeit und der Unterhaltsfreundlichkeit gerecht zu werden und um eine ausgewogene Balance zwischen Neu und Alt zu finden.»

Die Auslegungen im ausführlichen Jurybericht überzeugen (vgl. «Jurybericht», Kasten unten). Die Argumente des Preisgerichts sind gerade auch deshalb plausibel, weil sich die Jurymitglieder nicht durch Visualisierungen beeinflussen liessen. Sie stützten ihre Beurteilung auf Gipsmodelle, die aus allen Blickwinkeln begutachtet werden konnten.

TEC21, Fr., 2015.11.27



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TEC21 2015|48 Wettbewerb zweite Hinterrheinbrücke

25. September 2015Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Sparsamkeit als Tugend

So reduziert im Material das Hebelschulhaus in den 1950er-Jahren erstellt wurde, so sparsam an Eingriffen ertüchtigten die Bauingenieure von Proplaning die bestehende Bausubstanz. Dafür waren allerdings durchdachte Konstruktionsideen erforderlich.

So reduziert im Material das Hebelschulhaus in den 1950er-Jahren erstellt wurde, so sparsam an Eingriffen ertüchtigten die Bauingenieure von Proplaning die bestehende Bausubstanz. Dafür waren allerdings durchdachte Konstruktionsideen erforderlich.

Das im Inventar der schützenswerten Bauten aufgeführte Hebelschulhaus in Riehen ist in seiner Bausubstanz von 1952/53 noch original erhalten. Seit der Inbetriebnahme erfuhr es nur geringfügige Veränderungen. Entsprechend erfüllte es in verschiedener Hinsicht die aktuellen Anforderungen bezüglich betrieblicher und bautechnischer Aspekte nicht mehr. Unlängst ist der Bau nun instandgesetzt worden.

Das Hochbauamt des Kantons Basel-Stadt plante nach rund 60-jähriger Nutzung eine Gesamtinstandsetzung aller historischer Trakte exklusive des 1994 erstellten Trakts A (vgl. Situation S. 22). Diese umfasste die energetische Ertüchtigung der Gebäudehülle, das Einfügen von neuen Erdbebenwänden, die Erfüllung verschiedener betrieblicher, behördlicher, akustischer und brandschutzspezifischer Auflagen sowie die Erneuerung der Gebäudetechnik. Da allerdings im Trakt E (Turnhalle/Zeichensaal) auch tiefgreifende räumliche Veränderungen angedacht waren, schrieb die Bauherrschaft im Herbst 2009 ein offenes Planerwahlverfahren aus. Diesen konnten die Basler Architekten Thomas Thalhofer und Roula Moharram für sich entscheiden, in der Folge erhielten sie mit ihrem neu gegründeten Büro MET Architects auch den Auftrag für die Instandsetzung des Schulhauses.

Reduziert im Material, präzise im Eingriff

Die Bausubstanz ist gut erhalten. Ihre Tragkonstruktion wurde damals rationell gebaut, mancherorts ist sie geradezu filigran. Das Ingenieurbüro F. Riggen-bach & J. Eger aus Pratteln liess das Gebäude in Massivbauweise mit dünnen und sparsam bewehrten Stahlbeton- bzw. Betonrippendecken (vgl. Bestandsplan S. 27), schlanken Fassadenstützen aus Stahlbeton und zweckmässigen Mauerwerkswänden erstellen. Das Untergeschoss wurde jeweils in Stahlbeton konstruiert und auf einer Bodenplatte mit Streifenfundamenten gegründet. Die konstruktive Reduziertheit sozusagen als Markenzeichen des Schulhauses aufgreifend, liess das Fachplanerteam in Absprache mit der kantonalen Denkmalpflege auch die neuen Eingriffe und Veränderungen sparsam und entsprechend nur punktuell ausführen. Denn Ziel sämtlicher Baumassnahmen war es, die vorhandene Gebäudestruktur in ihrem Erscheinungsbild möglichst zu belassen.

Die Bauingenieure vom Basler Büro Proplaning waren verpflichtet, das gesamte Schulhaus auf Erdbeben bzw. ganz allgemein auf die heutzutage viel höher angesetzten horizontalen Einwirkungen zu ertüchtigen. In der Erdbebenzone 3a und als Bauwerksklasse BWK II wies die Tragkonstruktion auf dem vorliegenden Baugrund laut spezieller Mikrozonierungskarte Basel keine ausreichende minimale Erdbebensicherheit auf ( ≤ 0.25). Laut Merkblatt SIA 2018 ist die Erdbebensicherheit bei einer Restnutzungsdauer von 40 Jahren auf einen Ertüchtigungsgrad von eff = 0.72 auszulegen. Das bedeutete markante Eingriffe in die historische Bausubstanz.

Verhältnismässigkeit und Zumutbarkeit der zu investierenden Kosten waren aufgrund des baukulturellen Werts des Schulhauses dennoch gegeben.

Proplaning griff für die statischen Bemessungen einerseits auf die vorhandenen Ingenieurpläne und die statische Berechnung von 1952, andererseits auf die Nutzungsvereinbarung von ZPF Ingenieure vom August 2009 (Vorstudie) zurück. Anspruchsvoll war die eigentliche Architektur: Die Schulhaustrakte weisen eine Glasfassade auf, in der keine Versteifungselemente vorhanden sind und keine eingebracht werden sollten. Die Ingenieure wussten aber die Anordnung der tragenden Bauteile zu nutzen. Ohnehin vorhandene oder neu eingezogene Wände aus Stahlbeton steifen das Gebäude gegen horizontale Lasten aus. So funktioniert der neue Lift im Trakt B als aussteifender Kern (vgl. Grundriss S. 22). Die mittleren Dilatationsfugen in den Trakten wurden zudem aufgelöst und die Decken in diesen Bereichen miteinander verbunden. Schliesslich bestimmten die Ingenieure in den Erdgeschossen L-förmig angeordnete Mauerwerkswände, die in Stahlbetonwände umgemünzt werden sollten. Hier boten sich die wenigen, aber nutzbaren langen Korridorwände und die Trennwände zwischen den Klassenzimmern an (vgl. Schalungsplan Trakt D, S. 27). Eine kluge Vorgehensweise, die allein schon von den Abmessungen der Mauerwerkswände von 25 cm Stärke gestützt wurde. Diese Wandstärke bot genügend Raum für die notwendige Bewehrung. Um die Betonwand in der gleichen Ebene verputzen zu können, brachte man auf die Schalung eine 20 mm dicke Sagexeinlage auf, die man nach dem Betonieren wieder entfernte. Es entstand eine raue zurückversetzte Oberfläche, die mit den angrenzenden Mauerwerkswänden zu einer einheitlichen Fläche verputzt werden konnte.

Die Erdbebenwände sind von der Dachkonstruktion bis ins Fundament durchgehend. Die Verankerung erfolgt mit in Kernbohrungen eingeklebten Bewehrungseisen in die bestehenden Streifenfundamente oder in die vorhandenen Stahlbetonwände des Untergeschosses. Diese Bohrungen aus dem Erdgeschoss minimierten die Eingriffe im Untergeschoss erheblich.

Von introvertiert zu extrovertiert

Neben den Erdbebenertüchtigungen der vier Schultrakte stand im Trakt E die räumliche Veränderung im Mittelpunkt der Instandsetzung – von der Turnhalle zur Aula. Ein Foyer und eine Bühnen- und Besuchergarderobe sollten integriert und zusätzliche Fluchttüren eingebaut werden.

Wo ursprünglich Umkleidekabinen platziert waren, befindet sich heute ein lichtdurchflutetes Foyer, das sich gegen die Terrasse hin mit raumhohen Schiebefenstern öffnen lässt (vgl. Abb. S. 29). Diese räumliche Ausweitung akzentuiert die bestehende Verbindungsachse und macht die Terrasse zu einem zentralen Aufenthaltsort. Die ursprünglich tragende und mehrheitlich geschlossene Fassadenwand wurde durch eine Stützenreihe ersetzt, auf der ein Abfangträger als Unterzug liegt. Das statische Tragsystem des schlanken Foyerdachs blieb erhalten. Die tragende Fassadenwand erhielt ein neues Erscheinungsbild und fügt sich dennoch selbstverständlich in die neue Situation ein. Der geschlossene Raum neben der Turnhalle – hier waren ursprünglich die Umkleidekabinen untergebracht – ist zum extrovertierten und hellen Foyer geworden. Hierfür musste allerdings die Aula um eine Fensterachse verkürzt werden. Den gewonnenen Raum nutzten MET Architects für Abstellräume und Toiletten. Die Aula ist so zwar gegenüber der Turnhalle etwas gedrungener geraten, doch tut ihr das ästhetisch und funktional keinen Abbruch. Der Innenraum erhielt ein Holzlamellenkleid, das die Raumakustik verbessert. Zusammen mit dem geölten Holzparkett und der Bühne mit den raumhohen schwarzen Vorhängen erzeugt es eine stimmungsvolle Atmosphäre (vgl. Abb. S. 29).

Die Tragkonstruktion mit den trapezförmigen Trägern als Riegel, den typischen Rippendecken dazwischen und den vierkantigen Stützen musste nicht angepasst werden. Das Dach ist zwar, wie Jörg Paschke, projektierender Ingenieur von Proplaning, meint, «ohne Reserven bemessen und dimensioniert», doch die Ingenieure mussten im Zug der Umbauten keine Verstärkungsmassnahmen veranlassen. Allerdings könnte eine Erweiterung der PV-Anlage auf Trakt E nicht auf der gesamten Fläche angebracht, sondern nur bis zur Hälfte im Bereich der grössten Trägerhöhe montiert werden.

In die Substanz integrierte Tragelemente

Im Verlauf der Planung wurde entschieden, im Obergeschoss zusätzlich die Gemeindebibliothek unterzubringen. Der Trakt E erhielt somit eine öffentliche Funktion, die einen Liftanbau erforderte. Der neue Liftturm ist verklinkert und nimmt Bezug auf den Schornstein beim Trakt B. Eine freilaufende Treppe führt neu in den Bibliotheksraum im ersten Obergeschoss, der im Bereich des Treppenaufgangs rundum verglast ist. Die Glaswände machen den Raum zum eigenen Brandabschnitt und halten überdies den Blick über den gesamten Raum frei (vgl. Abb. S. 29).

Das Planerteam realisierte die Bibliothek als vollständig entkernten Raum. Einzig vier Rundstützen (ROR 114.3 × 5.6) an den Eckpunkten der Innenverglasung reduzieren die Spannweiten. Sie ersetzen die ehemaligen Korridorwände an derselben Stelle. Um die Dachtragkonstruktion trotzdem beibehalten zu können, platzierten die Ingenieure zwei Unterzüge (HEB 200) entlang der ehemaligen Korridorwände bzw. durchgehend über die zwei Stützenpaare. Statt der vormaligen tragenden Wände leiten nun Abfangträger die Lasten ab, die einzig mit einem neuen Verteilriegel aus Beton auf den bestehenden Aussenwänden gelagert sind.

In der Ebene des Dachs war es komplizierter, die neue Tragkonstruktion zu integrieren. Denn einerseits mussten für die neue Lastabtragung parallel zur Rückwand noch zwei Verteilträger (HEB 180) eingebracht werden, und andererseits ist das Dach über der Bibliothek wie in der Aula schräg. Die Raumhöhe war an der hinteren Wand entsprechend niedrig (vgl. Grundriss Decke über Obergeschoss S. 27). Um die reduzierte Raumhöhe möglichst uneingeschränkt nutzen zu können, versenkten die Ingenieure die neuen Träger in die Ebene der bestehenden Dachkonstruktion. Dafür schnitten sie die historische Rippendecke partiell auf und legten die Verteilträger ein, ergänzt mit seitlichen Laschen als Konsolen für die durchtrennten Rippen. Eine entsprechend angeformte Gipskartondecke verdeckt diese «unruhige» Konstruktion und schützt sie zugleich im Brandfall.

Respektvoller Umgang mit der Substanz

Das Projekt zeigt exemplarisch auf, wie mit einem eingängigen architektonischen Konzept und mit grundlegend konventionellen Ingenieurleistungen ein historisches Bauwerk in die Gegenwart transferiert werden kann. Trotz der teilweise tiefen Eingriffe wirken die Veränderungen dezent und unauffällig. Sie fügen sich vielmehr passend in die Architektur des Hebelschulhauses ein. Auch wenn vom integrierten neuen Tragwerk in den Innen- und Aussenräumen kaum etwas zu erkennen ist, ermöglicht es den räumlichen Wandel und die statische Ertüchtigung. Das Tragwerk hält sich zurück und überlässt der Architektur das Schauspiel. Das ist in diesem Fall richtig, denn es dient dem respektvollen Umgang mit der historischen Bausubstanz und bewahrt die architektonischen Qualitäten des Schulhauses.

TEC21, Fr., 2015.09.25



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TEC21 2015|39 Hebelschulhaus Riehen

24. April 2015Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Vom Bahntrassee zum Höhenweg

Die Instandsetzung des Panoramawegs First–Rigi Scheidegg gehört ­grundsätzlich zu den klassischen Unterhaltsarbeiten. Das Objekt an und für sich aber ist alles andere als konventionell.

Die Instandsetzung des Panoramawegs First–Rigi Scheidegg gehört ­grundsätzlich zu den klassischen Unterhaltsarbeiten. Das Objekt an und für sich aber ist alles andere als konventionell.

Vor 140 Jahren wurde die Rigi-Scheid­egg-Bahn (RSB) eröffnet. Die meterspurige Adhäsionsbahn ging am 1. Juni 1875 in Betrieb.[1] Erbauer der Bahn­strecke und der Ingenieurkunstbauten war der Schweizer Bergbahnpionier Niklaus Riggenbach[2]. Zur gleichen Zeit wurde die Rigi auch vom Tal erschlossen: 1871 ab Vitznau und 1875 ab Goldau – jeweils mit einer Zahnradbahn. Nie elektrifiziert, verband die RSB Hotelkomplexe, die heute verschwunden sind (vgl. TEC21 16/2015), und brachte die Gäste in 40 Minuten von Kaltbad First (1423 m ü. M.) via Unterstetten bis in die Scheidegg (1648 m ü. M.); allerdings nur etwa 50 Jahre lang. Weil sie unrentabel war, stellten die Betreiber den Dienst am 20. September 1931 ein. 1942 brach man die Schienen ab. Seither wird das Trassee als Wander-, Landwirtschafts- und Forstweg benutzt, im Winter als Winterwanderweg und ­Loipe. Der sogenannte Panoramaweg ist die einzige Strasse in die Gebiete Scheidegg, Burggeist und Rotenflue. Er dient als Erschliessung für Bau und Instandhaltung der ­Infrastruktur sowie für die Alpen und Wälder in diesem Gebiet. Auch für Rettungseinsätze oder die Abwehr von Naturgefahren ist der Weg wichtig.

Kunstbauten erinnern an die Bahn

Das rund 5.5 km lange und etwa 3.5 m breite historische Trassee ist ein hindernisfreier Höhenweg – das Längsgefälle beträgt im Durchschnitt nur 2–4 % (Karte rechts). Er verläuft beidseits einer Bergflanke und bietet abwechslungsreiche Tief- und Weitblicke in die Region rund um den Vierwaldstättersee und in den Talkessel Schwyz mit Zuger- und Lauerzersee sowie auf die ­Mythen. Er ist einer der meistbegangenen Wanderwege der Zentralschweiz – jährlich benutzen ihn etwa eine Viertelmillion Gäste.[3] Nicht nur der gemächliche Anstieg erinnert daran, dass hier einmal Gleise eine Bahn geführt haben. Auch aufwendige Erd- und Felsarbeiten sowie ein markanter Hohlwegabschnitt in Nagelfluh sind zu sehen. Die damals erstellten Kunstbauten sind immer noch erhalten: der 70 m lange Wisstannegg-Tunnel, die zwei kleineren Brücken Rothenflue und Schild als Einfeldträger sowie die eiserne Brücke Unterstetten als Durchlaufträger von 50 m Länge (vgl. Abb. S. 30). Schliesslich begleiten hunderte Meter von Stützmauern und Dämme den noch originalen Verlauf des Trassees.

Oberste Priorität: Entwässerung

Die vielfältige Nutzung hat dem Trassee zugesetzt. Der Weg war erosionsanfällig, und die Bauwerke wiesen typische Abnutzungserscheinungen auf, die sich durch den Gebrauch und die exponierte Lage auf dieser Höhe erklären lassen. Deshalb veranlassten die Bauherrschaften, die Strecke 2013 bis 2015 in enger Zusammenarbeit mit dem kantonalen Amt für Wald und Natur­gefahren (Fachstelle Langsamverkehr), dem Bundesamt für Strassen (Astra) und der kantonalen Denkmalpflege instand zu setzen. Das Trassee ist im Bundesinventar der historischen Verkehrswege der Schweiz als Objekt von nationaler Bedeutung aufgeführt. Daher hatten alle Massnahmen nicht nur auf die Natur und die Landschaft, sondern auch auf die Aspekte der Denkmalpflege Rücksicht zu nehmen.

Um künftig Schäden am Trassee zu verhindern, musste prioritär die Oberflächenentwässerung wieder hergestellt werden. Der Weg hat heute durchgehend ein einseitiges Quergefälle von 5 % (Normalprofil rechts). Das Längsgefälle blieb grundlegend erhalten. Um das nötige Quergefälle zu erreichen und den Weg mit einer wirksamen Verschleissschicht zu versehen, liess André Annen von Annen Forstingenieurbüro die Wegoberfläche in den obersten 5 bis 10 cm aufreissen, vor Ort mit einem mobilen Steinbrecher brechen und neu planieren. Dabei wurde die oberste Schicht mit gebrochenen Nagelfluhsteinen aus der Umgebung angereichert – in der für die Rigi typischen rötlichen Farbe. Dieses Verfahren sparte Kies, das für eine neue Planierung nötig gewesen wäre. Einzig bei der Umfahrung der Brücke Unterstetten – sie ist zu schmal für Landwirtschaftsfahrzeuge – war Kies ungeeignet, da der Abschnitt ca. 20 % Längsneigung aufweist. Deshalb liess Annen dem Nagelfluhkies auf rund 80 m Zement beimischen. Der Abschnitt gleicht heute einer Betonstrasse mit der typischen ­Farbe der Rigi-Nagelfluh. Diese Variante verträgt sich mit der Landschaft besser als ortsfremder Beton. Die überdeckten historischen Längs- und Quergräben – besonders die gepflasterten Rigolen – und die Wasserdurchlässe wurden freigelegt. Das anfallende Wasser fliesst wieder in einen seitlichen, in der Regel bergseitigen Graben, der in ein Gerinne führt. Auch der durchgehende Abfluss über das talseitig angeordnete Bankett entwässert den Weg wirksam.

Ingenieurkunstbauten instand setzen

Die Instandsetzung des Wisstannegg-Tunnels und der Brücken Rothenflue, Schild und Unterstetten erfor­derte spezielle fachliche Aufmerksamkeit. Eugen Brühwiler, Professor an der EPFL und Experte des Bundesamts für Kultur für Fragen der Denkmalpflege, verfasste 2008 im Auftrag des BAK ein Gutachten zur Brücke Unter­stetten. Die Instandsetzungsarbeiten der drei Brückenbauten begleitete er aus der Sicht der ­Denkmalpflege. Er hat das Konzept für den Eingriff und gewisse Ausführungsdetails bestimmt. Jakob Hedinger vom Ingenieurbüro Edy Toscana setzte die geplanten Arbeiten um. Brühwiler meint dazu: «Das Ergebnis zeigt, wie Anforderungen der Denkmalpflege mit den Betriebs- und Sicherheitsanforderungen einer modernen Nutzung des Panoramawegs kosteneffizient vereint werden können.»

Der Wisstannegg-Tunnel war grundsätzlich in einem guten Zustand. Dies hatte das Schwyzer Amt für Wald und Naturgefahren im Rahmen einer geologisch-geotechnischen Überprüfung festgestellt. Allerdings gab es Wandstellen, die stark erodierten, womit der Firstverbau mittelfristig instabil geworden wäre. Stahlstützen, Drainagen, Netze und Spritzbeton stützen das Gewölbe heute zusätzlich.

Die Brücken Rothenflue und Schild bestehen aus tragenden Betonplatten, die auf historischen genieteten Eisenträgern aufliegen. Die Platten wurden eingebaut, als der Betrieb eingestellt war. Da die Brücken seit 2013 im kantonalen Inventar schützenswerter Bauten verzeichnet sind (Kigbo-Nr. 02.079 und 02.080), war es den Vertretern der Denkmalpflege wichtig, dass die Träger nach den Instandsetzungsarbeiten an den Brücken sichtbar bleiben und den Charakter der alten Bahnzeiten wiedergeben. Die Betonplatten waren mit 2.3 m Fahrbahnbreite zu schmal. Breitere Platten ersetzten die alten – bei der Rothenflue eine von 3.4 m und bei der Schild eine von 3.2 m Breite.

Der bestehende Damm aus Blocksteinen bei der Schild-Brücke war talseitig zu steil ausgebildet. Aufgrund der Belastung wies er vielerorts Deformationen und Anzeichen von beginnendem Zerfall auf. Um ihn zu entlasten, wurde er bergseitig auf einer Länge von 80 m um etwa 1 m verbreitert, der Pano­ra­maweg wurde in diesem Bereich um etwa 50 bis 80 cm bergseitig verschoben. Die bestehende Blocksteinmauer wurde mit Mörtel behandelt, um eine weiterschreitende Deformation und den Zerfall aufzuhalten und ohne ihren historischen Anblick zu beeinträchtigen.

Die 1874 gebaute Brücke Unterstetten ist ein Ingenieurbauwerk von hohem kulturellem Wert (Kigbo-Nr. 02.077). Sie überquert eine rund 100 m breite Öffnung eines Bergkamms. Die Zufahrt erfolgt auf beiden Seiten über einen Damm, der an die Widerlagerpfeiler angeschüttet ist. Der Zustand der Eisenkonstruktion gilt als gut. Die Fahrbahnplatte – die nach der Stilllegung eingesetzt wurde – zeigt Betonabplatzungen. Beim Widerlager Nord ist das Mauerwerk unterhalb der Auflagerbank stark ausgebaucht, und ein klaffender vertikaler Riss zeigt eine Verschiebung der Widerlagerwand an. Haupt­ursache ist das Wasser, das hinter dem Mauerwerks­pfeiler versickert. Seit etwa sechs Jahren stützt eine provisorische Spriessung das letzte Feld. Derzeit wird ein separates Projekt für die Erneuerung erstellt. Die Kosten sind etwas höher als jene für den Panoramaweg, die sich auf 1 Mio Fr. belaufen und nur gemeinschaftlich finanziert werden konnten. Unter anderen beteiligten sich neben der Rigi Scheidegg AG mit der treibenden Kraft des Verwaltungsrats Karl Küttel auch die Rigi Bahnen AG, das Astra, die Fachstelle Wanderwege, die Denkmalpflege des Kantons Schwyz und die Unterallmeind Korporation Arth. Die Instandsetzung der Brücke Unterstetten soll ebenfalls gemeinschaftlich finanziert werden und – damit eine Finanzierung realistisch ist – in denselben Kostenrahmen fallen. Die Brücke soll 2015/2016 restauriert werden – als Schlusspunkt der Instandsetzungsarbeiten des ehemaligen Bahntrassees.

Funktion unverändert, Nutzung angepasst

Ein weiterer nicht zu unterschätzender Aspekt für den Erhalt dieses bedeutenden Denkmals war die Ausholzung. Dadurch wurden die Böschungen und die Widerlager entlang des Trassees von der schädigenden Durchwurzelung der bis zu 30 m hohen Bäume befreit. Mitunter hat sich durch die Holzereiarbeiten die Aussicht verbessert. Denn erhalten und instand gesetzt, bleibt die Hauptfunktion des kulturhistorisch wertvollen Bauwerks unverändert: Es dient noch heute dem Tourismus auf der Rigi.

Dass sich die Hauptfunktion über 140 Jahre nicht veränderte, ist aussergewöhnlich. Darauf dürfen die vielen Nutzer des Bahntrassees aufmerksam gemacht werden. Denn was Seltenheitswert hat, wirkt attraktiv und lockt Gäste. Was wiederum Motivation für die aufwendigen Unterhaltsarbeiten und schliesslich Garant für die nachahmenswerte Erhaltung ist.


Anmerkungen:
[01] Florian Inäbnit: Rigi-Scheidegg-Bahn. Prellbock Druck & Verlag, Leissigen 1999, ISBN 3-907579-13-5
[02] Niklaus Riggenbach (1817–1899) war ein Schweizer Ingenieur, Erbauer von Lokomotiven sowie Erfinder des Zahnradbahn­systems Riggenbach (Leiterzahnstange) und der Gegendruckbremse. Er plante und baute weltweit mehrere Bergbahnen.
[03] Rigianzeiger, Oktober 2013

TEC21, Fr., 2015.04.24



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TEC21 2015|17-18 Rigi II – bewegter Berg

«Wir agieren wie die Betonpioniere»

Mit dem Kräuterzentrum von Ricola erobert der Lehmbau eine neue Grössen­ordnung. Nur gemeinsam konnten die Planer die Aufgabe meistern. Ein Lehrstück zu Vorfertigung, Vertrauen und Verantwortung.

Mit dem Kräuterzentrum von Ricola erobert der Lehmbau eine neue Grössen­ordnung. Nur gemeinsam konnten die Planer die Aufgabe meistern. Ein Lehrstück zu Vorfertigung, Vertrauen und Verantwortung.

TEC21: Herr Schnetzer, wie war Ihre erste Reaktion, als Sie erfahren haben, dass Sie mit Stampflehm in Berührung kommen werden?
Schnetzer: Ich bin es gewohnt, an Sitzungen teilzunehmen, an denen ich neuen Herausforderungen begegne. Ich versuche dabei, bei den vorgestellten gestalterischen Konzepten oder Projekten möglichst schnell die Problempunkte herauszuarbeiten und zu schauen, ob sie zu lösen, einigermassen lösbar oder gar nicht lösbar sind. Die definitive Lösung ist dann noch nicht ersichtlich. Aber man spricht miteinander und entwickelt zusammen Ideen, wie man den herausgefilterten Problempunkt als Schlüsselstelle in den Griff bekommen könnte.

Und wie haben Sie die Probleme gelöst?
Schnetzer: Ich glaube, das war ein Lehrbeispiel, wie man an ein Projekt mit vielen Unbekannten herangehen sollte. Es waren verschiedene Fachleute beteiligt, die alle ein spezifisches Wissen über ihr Gebiet haben: Lehmbau, Architektur, die statischen Zusammenhänge. Das Wichtigste war, die plane­rischen Schnittstellen zu definieren, unser Team entsprechend zu organisieren und zu klären, wer wofür verantwortlich war (vgl. «Den Lehm stützen», S. 21). Mit diesem unkonventionellen Organigramm konnte jeder sein Wissen optimal und auf einem direkten Kommunikationsweg einbringen. Es gab keine unnötigen und fehleranfälligen Schnittstellen.
Rauch: Wir befinden uns an einem interes­santen Punkt im Lehmbau, denn wir agieren wie die Betonpioniere vor 100 Jahren. Damals hat man ebenfalls grosse Bauwerke erstellt, die mit viel Innovation verbunden waren. Die Zusammenarbeit zwischen den Ingenieuren, Architekten und Bau­meistern war damals vermutlich ähnlich wie beim Kräuterzentrum: Man hat eine Idee, verfolgt diese gemeinsam, entwickelt sie, prüft die Machbarkeit, und danach zieht man begeistert in eine Richtung. Daraus entstehen ganz neue Themen.
Schnetzer: Die Analogie ist interessant. Wie begann man vor 100 oder 120 Jahren mit Beton zu bauen? Zuerst imitierte man den Holzbau mit Stützen und Balken. Bis man merkte, dass mit Beton nicht nur lineare, sondern auch flächige Formen möglich sind. Das hat zu neuen Formen und Bauwerken geführt. Flächentragwerke entstanden, und Pilz­stützen wurden erfunden. Ich denke, dass es beim Lehmbau ähnlich ist. Mit zunehmender Erfahrung kommen wir zu anderen Bauformen.

Wie müssten denn diese Formen aussehen?
Schnetzer: Lehmwände brauchen eine gewisse Tiefe, damit sie Horizontalkräfte aufnehmen können. Eine flächige Fassade ist für einen Lehmbau nicht unbedingt geeignet – im Übrigen auch für eine Backsteinwand nicht. Man erreicht keine ausreichende Steifigkeit. Der Lehm bietet aber noch andere Möglichkeiten als die gerade Fassade. Am Ricola Kräuterzentrum haben wir den Lehm in einer Richtung ausgelotet: in der Länge. Diese Dimension ist ausgeschöpft. Es bleiben andere Aspekte, die zu prüfen sind. Zum Beispiel die horizontal selbsttragende Fassade – die Fassade hier ist nur stehend und würde kippen, wenn sie nicht durch das innen­liegende Tragwerk aus Stahlbeton gehalten würde. Es gibt kleinere Bauten, bei denen die Lehmfassade problemlos die Horizontalkräfte aufnehmen kann. Es liessen sich auch für grössere Gebäude selbst­tragende Lehmfassaden entwickeln.
Rauch: Dazu ist viel Forschung nötig. An der ETH haben wir eine Kuppel aus Stampflehm errichtet (vgl. «Lehmbau im Experiment», S. 20). Die Studentinnen und Studenten hatten die Aufgabe, ein gestampftes Gewölbe aus vorgefertigten Teilen zu erstellen. Normalerweise verlaufen die charakteristischen Stampflehmschichten horizontal, so wie sie auch gestampft werden. Bei der Kuppel haben wir die fertigen Elemente teilweise um bis zu 90° gedreht. Die Schichten ver­laufen also vertikal. Uns interessierte, ob die Festigkeit gleich bleibt. Wir haben festgestellt, dass die Druckfestigkeit dadurch eher noch besser wird. Das sind Überlegungen, die noch in den Kinderschuhen stecken. Wir müssen noch viel machen, damit dieses Wissen in die Breite geht.

Wo steht der Lehmbau im Moment?
Rauch: Die wichtigste Arbeit ist, Vertrauen in das Material Lehm aufzubauen und das Interesse dafür zu wecken. Wir dachten immer, dass die Architekten angesprochen werden müssen, aber eigentlich müssen wir die Ingenieure gewinnen (lacht). Wobei ich immer positive Erfahrung gemacht habe. Die Ingenieure waren offen für das Material.
Schnetzer: In Ihrem Referat zur Eröffnung des Kräuterzentrums sprachen Sie die Normierung des Materials an. Das könnte ein Weg sein, um ­Vertrauen aufzubauen. Allerdings ist die Norm nur so gut wie die Fachleute, die sie erstellen. Es braucht also nicht nur eine Norm, sondern auch die entsprechenden Fachleute. Es schafft Vertrauen in das Material, wenn man einen genormten Baustoff hat, der fachgerecht eingebaut wird.
Rauch: Fixe Normen wären der Innovation abträglich. Wenn es eine Norm gibt und ich mich aus­serhalb der Vorgaben befinde, kann der Ingenieur schnell einmal sagen, dass das nicht geht. Dann muss ich als Unternehmer eine zugelassene Lösung ent­wickeln. Beim Lehmbau funktioniert das nicht, weil keine Lobby dahintersteht wie beim Betonbau oder bei Glasfassaden. Deshalb muss man beim Stampflehm ein bisschen vorsichtig sein. Das Ziel könnten auch Regeln sein. Wenn ich mich genau daran halte, dann kann nichts schiefgehen.
Schnetzer: Sie sprechen mir aus dem Herzen. Ich bin dagegen, dass man Normen erstellt und alles verbietet, was sich ausserhalb der Norm bewegt. In der Schweiz ist die Situation anders: Man muss sich grundsätzlich nicht an die Normen halten, denn sie sind nicht Gesetz. Bei uns fassen die Normen den Stand der Bautechnik zusammen – diese Unterscheidung ist sehr wichtig. Man trägt das vorhandene Fachwissen zusammen, ergänzt es mit Forschungs­resultaten und hält alles schriftlich fest. Es ist jeder­zeit möglich, vom festgelegten Stand der Bautechnik abzuweichen, solange neues Fachwissen – mit Forschungsresultaten belegt – dies rechtfertigt. Im Prinzip müssten Sie oder jemand anders ein ­Forschungs­programm für die Erstellung einer Norm für Lehmbauten beantragen.

Kann man Lehm überhaupt normieren?
Die Bandbreite der Materialkennwerte ist gross.
Schnetzer: Es ist möglich. Wie bei jeder Norm müsste man über die Herstellung sprechen. Und über die Materialeigenschaften, die verschiedenen Zuschläge, die Dauerhaftigkeit, die Kornverteilungen, die Abrasion usw.

Das erinnert an Geotechnik.
Schnetzer: Es hat gewiss auch mit geotechnischen Aspekten zu tun. Wie man den Ton untersucht und bestimmt, das kennen die Ingenieure bereits aus der Geotechnik.
Herr Rauch, Sie nannten als wichtige Aufgabe, Vertrauen in das Material aufzubauen. Wie ist Ihnen das beim Kräuterzentrum gelungen?
Rauch: Hierzu möchte ich Richard Niemeyer erwähnen, der nach dem Zweiten Weltkrieg Bücher über den Lehmbau geschrieben hat. Für ihn war das Wichtigste, dass eine Fachkraft auf der Baustelle ist – alle anderen können Hilfsarbeiter sein. Damit wird der Facharbeiter zur Gewähr, dass beim Lehmbau nichts schiefgeht. Bei unseren Projekten ist es immer so, dass wir als Personen und Mitarbeiter hinter den Projekten stehen. Dies schafft Vertrauen beim Auftraggeber. Bei Ricola war am Anfang schon ein bisschen Angst da, ob das Material den Anforderungen genügen würde. Wir haben uns dann auf eine höhere Garantie geeinigt. Hinzu kommt, dass ich von Herzog & de Meuron als Subplaner für die Fassade beauftragt wurde, danach von Ricola als Fachplaner und in der Folge als Unternehmer. Das heisst, die Verantwortung lag immer bei derselben Person. Sorgen bereiten mir zukünftige Projekte, bei denen ein anderer Unternehmer den Stampflehm ausführen soll. Ein Baumeister gibt diese Garantien nicht ab.
Schnetzer: Das unternehmerische Risiko ist sicherlich zu würdigen. Ich gehe aber davon aus, dass Sie als Unternehmer stets genau gewusst haben, was Sie tun und welche Verantwortung Sie übernehmen. Es war kein Vabanquespiel. Und schliesslich waren andere Fachplaner dabei, die ebenfalls ihren Teil der Verantwortung übernommen haben. Dank unserer durchdachten Organisation konnten wir die Verantwortung teilen – was nicht zuletzt auch für die Bauherrschaft beruhigend war.

Wo sehen Sie die Zukunft des Lehmbaus?
Schnetzer: Lehmbauten sind sehr arbeitsintensiv. Was in unserer Gesellschaft leider mit teuer gleichzusetzen ist. Die gegenwärtige Entwicklung geht in eine komplett andere Richtung: Bauen mit möglichst wenig Arbeit – unabhängig vom Materialverbrauch. Der Lehm hat nur dann eine Chance, wenn er halbindustriell hergestellt werden kann. Ansonsten ist Lehm im Bauwesen zu teuer und bleibt eine Ideologie. Und die Trag­konstruktion der Wand und die Isolation müssten zusammengerechnet werden, um in der Gesamt­berechnung konkurrenzfähig sein zu können.
Rauch: In Europa wird Lehm sicher ein Nischenprodukt bleiben und niemals den Beton ersetzen. Da der Einsatz der anderen Baumaterialien aber die Energie von drei Welten braucht, fängt man an umzudenken. Auf lange Sicht können wir so nicht weitermachen. Vielleicht werden in anderen Ländern, wo die Tradition noch vorhanden ist, unsere Beispiele motivierend wirken und das Image des Lehmbaus verbessern. Deshalb ist es wichtig, dass wir mit unseren Bauten Zeichen setzen.

Und welche Konstruktionen sind in Zukunft zu erwarten?
Rauch: Ich glaube, dass wir tragende Kon­struktionen aus Lehm in Verbindung mit anderen Materialien sehen werden, etwa einen Holzbau als Deckentragwerk oder die Kombination von Lehm und Beton in sinnvoller, vernünftiger Weise. Ich kann mit Beton und Lehm sehr einfache und schlüssige Konstruktionen entwickeln, weil der Stampflehmbau eigentlich wie Betonbau funk­tioniert – in vielen alten Lehrbüchern wird er auch als Erdbeton bezeichnet.
Schnetzer: Ich sehe vor allem aufgrund der Arbeitsintensität, der Verfügbarkeit des Baustoffs und seines Verhaltens bei Erdbeben ein grosses Potenzial in Entwicklungsländern. Dort wird viel mit Lehm gebaut – allerdings nicht erdbeben­gerecht. Hier kann man mit Forschungsarbeiten ansetzen. Ausserdem werden viele Stahlbeton­skelettbauten mit Backsteinwänden ausgefacht. Man könnte auch Lehm einsetzen.
Rauch: Genau. Es ist eine grosse Heraus­forderungen, einen tragenden Lehmbau zu ent­werfen, der einem Erdbeben standhält. Damit bin ich oft konfrontiert. Ich bin überzeugt, dass der Stampflehm sehr resistent gegen Erdbeben ist, da die Schichtung aufgrund des Wechsels von harten und schwachen Lagen Energie umwandeln kann. Wenn man das mit einer geeigneten Be­wehrung verbinden würde, könnte man erdbebensichere Strukturen generieren. Das wäre eine enorme Chance für Entwicklungsländer.

TEC21, Fr., 2015.01.16



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TEC21 2015|03-04 Hinter der Lehmfassade

16. Januar 2015Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Den Lehm stützen

Die Dimension der Lehmfassade ist Neuland. Für Herzog & de Meuron und Schnetzer Puskas Ingenieure eine ungewöhnliche Aufgabe, die sie pragmatisch angingen.

Die Dimension der Lehmfassade ist Neuland. Für Herzog & de Meuron und Schnetzer Puskas Ingenieure eine ungewöhnliche Aufgabe, die sie pragmatisch angingen.

Das Ricola-Kräuterzentrum in Laufen ist ein grosszügiger Kubus aus Stampflehm, der durch ein inneres Stahlbetonskelett getragen und stabilisiert wird. Im Grundriss rechteckig, weist er Abmessungen von 111 × 30 m auf und ist 11 m hoch. Teile des Gebäudes sind unterkellert und über einen unter Terrain liegenden Gang mit der weiteren Produktion verbunden. Der Kubus ist grundsätzlich eine grosse Halle. Im mittleren Bereich sind eine Besucherzone und die Aufenthaltsräume des Personals angeordnet; die Halle hat hier einen Zwischenboden aus Massivbau. Alle übrigen Einbauten sind Stahlleichtbauten (vgl. Pläne S. 24).

Die Architekten und der Lehmbauer bezogen die Ingenieure von Schnetzer Puskas schon während der Vorprojektphase in die Projektentwicklung mit ein. So wurde baustoffspezifisches, unternehmerisches, architektonisches und ingenieurspezifisches Fachwissen von Beginn an zusammengetragen. Die angestrebte Fugenlosigkeit und die notwendige Beweglichkeit der Lehmfassade sollten geklärt und die entsprechenden Detailkonstruktionen ausgearbeitet werden. Doch wie geht man ein solches Projekt an, für das Verantwortlichkeiten und Schnittstellen ungewohnt sind und für dessen Materialisierung insbesondere der Ingenieur erst noch ein Gespür entwickeln muss?

Schnittstellen und statisches Repertoire

Zwei Aspekte in der Planungsphase legten die Grundsteine, die das Vorhaben zum gewünschten Ziel führten: erstens das projektspezifische Organigramm der Planenden. Die Bauherrschaft sollte nicht die Schnittstelle zwischen Lehmbauer und Ingenieur sein, und die Organisation sollte nicht durch vertragsspezifisch optimalste Aufteilungen bestimmt werden. Vielmehr entsprachen die vertraglichen Verknüpfungen während jeder Projektphase dem fachlichen Kommunikationsweg. Die Verantwortung lag stets bei denselben Personen, weil die Fachplaner während des Vor- und Bauprojekts sowie der Ausführung dieselben blieben. Die Kommunikation war direkt und enthielt weniger fehleranfällige Schnittstellen. So setzten die Planenden Schnetzer Puskas Ingenieure zweimal ins Organigramm: einmal als klassische Bauingenieure für die Tragkonstruktion in Stahlbeton, das andere Mal als Bauingenieure und Berater für den Lehmbau.

Der zweite Aspekt war die adäquate Anwendung des bestehenden statischen Repertoires auf die lehmspezifische Bemessung und Dimensionierung. Der Baustoff Lehm ist weder normiert noch standardisiert – Lehm nach Eigenschaften, wie es bei Beton der Fall ist, gibt es nicht. Das Schwindmass und die Konsistenz können variieren, die Materialeigenschaften sind unterschiedlich. Dennoch bildet das vorhandene Repertoire an klassischen baustatischen Methoden die Grundlage, um eine Stampflehmfassade zu bemessen und zu dimensionieren. Der Lehmbauer spezifizierte den Stampflehm, der aus dem Laufentaler Boden gewonnen wurde, in Zusammenarbeit mit den Ingenieuren und abgestimmt auf die Anforderungen, die das Bauwerk vorgab. Sie legten das spezifische Gewicht, die ungefähre Zugfestigkeit sowie das Schwind- und Kriechmass, das von der Wassermenge im Lehm abhängig ist, fest (vgl. Kennwerte S. 25). Die Ingenieure bauten darauf das statische Konzept des gesamten Tragwerks auf und führten die Berechnungen aus. Sie entwickelten schrittweise das notwendige Gespür und Gefühl für den Werkstoff mit seinen Eigenschaften.

Betonskelett trägt stehende Lehmfassade

Das statische Konzept des Hauptgebäudes besteht aus einem Skelettbau aus Stahlbeton mit vorgesetzter Stampflehmfassade. Der Skelettbau ist eine biegesteife Pfosten- und Riegelkonstruktion aus vorfabrizierten Stahlbetonelementen. Die Bauherrschaft liess das Tragwerk aus Beton herstellen, weil es als Massivbau optisch zum massiven Lehmbau passte. Eine Stahlkonstruktion wäre zu filigran und zu duktil gewesen, und auf den Flanschen hätten Staub oder Kräuterreste aus der Produktion liegen bleiben können. Ein Stahlskelett hätte also aus ästhetischen, hygienischen – Ricola-Bonbons gelten als Medizin – und tragwerkspezifischen Gründen nicht mit dem Lehmbau harmoniert. Die Pfosten und Riegel weisen Abmessungen von 55 × 55 cm bzw. 55 × 60 cm auf. 19 Querachsen und drei Längsachsen liegen auf einem Stützenraster von 6.10 × 6.10 m. Die mittlere Längsachse teilt sich bei den Büros und den Verarbeitungsstätten in zwei auf. Es kann ein Korridor angeordnet werden (vgl. Isometrie S. 21). Die Aussteifung des Hauptgebäudes erfolgt allein durch die biegesteifen Rahmen. Die Querriegel spannen als Zweifeldträger über den Stützen und sind gelenkig an den Fassadenstützen angeschlossen. Um die notwendige aussteifende Zweigelenkrahmen-Konstruktion zu gewähren, sind die Stützen entsprechend an ihren Füssen in Längs- und Querrichtung eingespannt. Streifenfundamente und Rammpfähle gewähren die Lastabtragung in den lehmhaltigen Baugrund. Im Endzustand funktionieren die Dachträger als Plattenbalken; der Überbeton (19 cm) auf den vorfabrizierten Elementen (6 cm) bildet als Verbunddecke eine aussteifende Scheibe.

An das Stahlbetonskelett rückverankert ist die fugenlose 45 cm dicke Stampflehmfassade. Denn die Fassade ist stehend, also nur in vertikaler Richtung selbsttragend. Die horizontalen Einwirkungen wie Wind und Erdbeben müssen abgefangen werden. Allerdings ist die Interaktion zwischen den zwei Materialien Beton und Lehm nicht zu unterschätzen: Lehm schwindet und schrumpft mit der Zeit mehr als Beton – bei seinem isotropen Verhalten auch noch in alle Richtungen. Die Befestigung der Lehmfassade am steifen Betonskelett muss daher verschiebbar sein, sonst reisst die Fassade.

Stahllaschen, befestigt an Halfenschienen, die in alle Betonstützen eingelassen sind, schaffen die notwendige vertikale Beweglichkeit (vgl. Detail rechts). Auf der kurzen Gebäudeseite wurden extra dafür zusätzliche Fassadenstützen angeordnet. Das horizontale Schwindmass des Lehms kann im Allgemeinen aufgefangen werden, weil sich die Fassade horizontal verformen kann. So wurden die Gebäudeecken nicht mit der Tragkonstruktion verbunden, um auch hier die notwendige Beweglichkeit zu erhalten. Wegen ihrer geometrischen Form sind sie ohnehin stabil und können Horizontalkräfte aufnehmen. Am Fassadenfuss hingegen, wo die Lehmfassade wegen ihrer Saugfähigkeit auf einem Dämmbetonsockel steht, werden die Verformungen verhindert. Es entstehen Zwängungen, und es bilden sich kleine verteilte Risse, die der Lehm aber selbst «heilt».

Die Schwächen sind auch die Stärken

Lehm ist kein Alleskönner. In konventioneller Denkweise ist der Lehm schwer, steif und wenig duktil. Ausserdem ist Lehm kein Biegetragmaterial. Eine Dachkonstruktion wäre deshalb einzig als architektonisch gebundene Gewölbekonstruktion möglich; auch die Wände müssten – wenn sie denn horizontale Kräfte abtragen können sollen – in geschwungener Form ausgeführt werden (vgl. «‹Wir agieren wie die Betonpioniere›», S. 18). Doch man sollte das Material gemäss seinen guten Eigenschaften einsetzen. Die Ingenieure wussten diese zu nutzen. Die vermeintlichen Schwächen erweisen sich in einem anderen Zusammenhang und unter anderen Rahmenbedingungen als Stärken.

Die Wasserlöslichkeit zum Beispiel ist verantwortlich für die Feuchtigkeitsregulierung und dafür, dass der Lehm zu 100 % reversibel ist. So muss der Fassadenfuss zwar auf einem Sockel aus Dämmbeton stehen, weil er sonst zu viel Wasser aufsaugen und sich auflösen würde. Doch gerade die Porosität und die Kapillarwirkung bewirken, dass Lehm dicht ist – Lehm quillt und dichtet die Fassade auf natürliche Weise ab.

Die Porosität des Stampflehms gleicht zudem Temperatur und Feuchtigkeit im Innenraum aus. Infolge ihrer Masse nivelliert die Lehmwand Tagesschwankungen und glättet Jahresschwankungen. Der Lehm schafft im Innenraum der Betriebsstätte also ganz ohne Technik ein passendes Raumklima. Allerdings nur in den Bereichen Kalt-Kalt – im mittleren Bereich des Gebäudes, wo die Büroräumlichkeiten untergebracht sind und geheizt wird, besteht die Aussenwand aus einer Zweischalenkonstruktion.

Schwinden konstruktiv auffangen

Der Wassergehalt des Lehms wirkt sich auf das Schwindmass aus. Die Ingenieure mussten deshalb nicht nur zwischen Tragkonstruktion und Lehmfassade, sondern bei allen Details konstruktive Lösungen finden, um das Schwindproblem aufzufangen. So schliesst ein feines Blech den Dachrand ab, und der Luftraum zwischen Lehm und Blech fängt die differenziellen Setzungen infolge Schwindens zwischen Betonskelett und Lehmwand auf – bis zu 5 cm können das am Dachrand sein. Die Lehmfassade kann unter dem Blech frei schrumpfen. Auch die runden Fenster lassen sich nicht ohne Weiteres in die Fassade integrieren, weil auch hier das Schwinden rund um den Rahmen Risse in der Lehmschicht verursachte, hätten die Ingenieure nicht eine ausgeklügelte, aber in sich einfache Detailkonstruktion entwickelt, die genau dies verhindert. An den zwei Hälften der Fensterrahmen sind jeweils zwei Stahllaschen angeschweisst. Sie bilden auf halber Fensterhöhe das Auflager des Stahlrahmens in der Lehmwand. Oben und unten am Rahmen sind Hohlräume angeordnet. Auf diese Weise werden das Setzmass halbiert und die Setzungsdifferenzen zwischen dem oberen und unteren Punkt des Rundfensters ausgeglichen; es entstehen keine grössere Risse. Die horizontalen Lasten gibt das Kreisfenster über kurze, als Pendelstützen ausgebildete Zug- bzw. Druckstahlstäbe an die mittig innenliegende Betonstütze ab (vgl. Horizontalschnitt S. 25).

Kognition als Ingenieurbaukunst

Mit jedem Konstruktionsdetail ist die Erfahrung des Ingenieurs für den Lehm gewachsen. «Dimensionen auf ihre Richtigkeit einzuschätzen war zu Beginn der Planung kaum möglich», erläutert Heinrich Schnetzer. «Wir haben aber nichts Neues erfunden. Wir sahen Zusammenhänge und quantifizierten sie, und wir zogen Rückschlüsse aus Verhalten anderer Baustoffe. So konnten wir im Voraus beurteilen, wie sich Lehm unter bestimmten Belastungen verhalten würde.»

Beim Neubau des Kräuterzentrums das Wort Innovation zu verwenden, wäre zu hoch gegriffen. Die Ingenieure haben vor allem bestehende baustatische Methoden auf Neues angewendet. Darin liegt hier allerdings die beachtenswerte Ingenieurbaukunst: übergeordnete Gesichtspunkte bezüglich Werkstoff und Baustatik zu betrachten, zu bewerten und neu anzuwenden – auf kognitiv höchster Ebene. Man darf gespannt sein, wie der althergebrachte Werkstoff Lehm mit diesem Entwicklungsschritt im Bauwesen vorankommt.

TEC21, Fr., 2015.01.16



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TEC21 2015|03-04 Hinter der Lehmfassade

19. Dezember 2014Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Konsequent widerborstig

Das Fachstellenhaus des Bildungs- und Beratungszentrums Arenenberg zeigt sich als Edelrohbau in Holz und Beton. Sein Thema ist das Zusammenspiel von Tragwerk und Raum. Es äussert sich in den sichtbaren Tragrichtungen und – eigensinnig, aber reizvoll – in einer Gegenordnung.

Das Fachstellenhaus des Bildungs- und Beratungszentrums Arenenberg zeigt sich als Edelrohbau in Holz und Beton. Sein Thema ist das Zusammenspiel von Tragwerk und Raum. Es äussert sich in den sichtbaren Tragrichtungen und – eigensinnig, aber reizvoll – in einer Gegenordnung.

Das Schloss Arenenberg am Untersee in der thurgauischen Gemeinde Salenstein ist bekannt durch seine bewegte Geschichte. Historische Bedeutung erlangte das Anwesen ab 1817 als Wohnsitz der vormaligen holländischen Königin Hortense de Beauharnais und des späteren französischen Kaisers Napoleon III. Aus jüngerer Zeit nennenswert sind die Reparatur, Rekonstruktion und Neuinterpretation des Landschaftsparks von Staufer & Hasler (TEC21 33-34/2008). Ebendiese Architekten haben nun zusammen mit den Ingenieuren von Conzett, Bronzini, Gartmann im durch Landwirtschaftsgebäude besetzten Geviert des Arenenbergs das Fachstellenhaus für das Bildungs- und Beratungszentrum Arenenberg (BBZ) gebaut (vgl. Situation rechts).

Die Kernkompetenz des BBZ liegt in der land- und hauswirtschaftlichen Ausbildung. Neben ihrer Lehrtätigkeit sind die Fachpersonen hauptsächlich in der Beratung der Landwirte und Bäuerinnen tätig.

Um Synergien zu nutzen, sollten die Arbeitsplätze in einem Kompetenzzentrum am Arenenberg konzentriert werden. Der Kanton Thurgau schrieb deshalb 2010 einen Projektwettbewerb im Einladungsverfahren aus.

Die Holzwirtschaft steht der Landwirtschaft nah, und das kantonale Hochbauamt prüft gemäss ­Carmen Haag, Regierungsrätin und Vorsteherin des Departements für Bau und Umwelt, bei Bauvorhaben grundsätzlich die Möglichkeit, Holz zu verwenden.[1]

Der Kanton forderte deshalb einen «innovativen, zukunftsweisenden und möglichst reinen Holzbau, der neue Massstäbe setzen sollte. Die Bauweise sollte ­umfassende architektonische Qualitäten mit ökono­mischer Verantwortung, ökologischem Bewusstsein, funktionaler Klarheit und neuesten Energiekonzepten vereinen.»[2]

In enger Zusammenarbeit haben Staufer & Hasler mit Conzett, Bronzini, Gartmann ein kompaktes Gebäudevolumen entworfen, das von neuen Ideen ebenso lebt wie von bewährten Ansätzen.

Gegenordnung von Tragwerk und Raum

Das Tragwerk stellt sich im gesamten Gebäude in den Vordergrund und löst sich von der architektonisch vorgegebenen Raumeinteilung. Primäre Tragelemente aus Holz erhalten eine gewollt markante Stellung.

Die Planenden zelebrieren die Stützen regelrecht – markant mit Sattel, wo grosse Lasten auftreten, weniger markant am Rand, wo weniger Last anfällt. Aber stets mit den gleichen Abmessungen und immer frei stehend im Raum. Die Ingenieure reden von einer gewissen Widerborstigkeit zwischen Raum- und Trag­struktur im positiven Sinn. Conzett findet diesen Ansatz spannend: «Die attraktive Gestalt der Stützen gibt ihnen eine Qualität, dank der sie im Weg stehen dürfen.» Marcus Schmid – Projektleiter von Conzett, Bronzini, Gartmann – ergänzt: «Man sieht hier vom Grundsatz ab, dass die Raumnutzung, der Innenausbau und die Stützen in einer identischen Ordnung stehen müssen.» Das heisst nicht, dass die Stützen die Raumnutzung verhindern würden. Thomas Hasler betont: «Die Logik der Grundrisse bleibt selbstverständlich.» Das verschobene Raster von Trag- und Raumstruktur hätte durchaus auch praktische Vorteile: Zwischen­wände können flexibel gesetzt werden und stossen nicht auf Stützen. Deshalb können Wände mühelos an andere Wände angeschlossen werden. «Der Entwurf und die Planung werden ein Prozess der Gewichtung: Formale, konstruktive und logische Aspekte halten sich die Waage», ergänzt Hasler.

Markante Fassade

Das Gebäude ist für rund 4.91 Mio. Franken in einer Bauzeit von 16 Monaten nach Minergie-P-Standard erstellt worden. Es ist der erste mehrgeschossige Bürobau, den der Kanton Thurgau aus Holz realisiert hat. Dabei stammt das Holz zu 70 % aus Schweizer ­Wäldern, ein Drittel davon – insbesondere die Fichte – direkt aus dem Thurgauer Staatswald, den Forst­revieren Feldbach und Seerücken. Bei der Ausführung wurde von jedem verwendeten Holzprodukt die Herkunftsdeklaration «regionales, FSC-zertifiziertes Holz» verlangt. Für die Wärme im Haus sorgt eine Holzschnitzelheizung.

Eine gegen unten abgetreppte lasierte Holzfassade aus Thurgauer Fichte fasst das Gebäude ein. Die Übersprünge beim Geschosswechsel garantieren einen guten konstruktiven Holzschutz – statt nur eines Dachvorsprungs schützt auf jeder Geschosshöhe ein Vorsprung das Stirnholz vor Witterung.

Gleichzeitig sind sie Nischen für die Holzrollläden und bilden eine Brandschutzabschottung von Stockwerk zu Stockwerk.

Trotz geringer Grösse erhält das Gebäude durch die abgetreppte Fassade eine gewisse Mächtigkeit. Das der Stirnfläche eingeschriebene Viereck ist zwar quadratisch, trotzdem wirkt das Gebäude stehend. Ausserdem wächst die Grundrissfläche gegen oben an, der Fussabdruck bleibt klein.

Die beplankte Ständerfassadenkonstruktion trägt geringe vertikale Lasten ab (die inneren Fassadenstützen übernehmen die Hauptlast) und übernimmt teilweise horizontale Einwirkungen wie Wind. Auch die nördliche Giebelwand unterscheidet sich formal nicht von der umlaufenden Fassade. Sie ist aber als starre Scheibe konstruiert, und die verschiedenen Funktionen sind hier auf drei Schichten aufgeteilt. Die innerste Schicht besteht aus einer beplankten Ständerwand, die zwischen den Decken steht. Die äusserste Schicht ist eine Aufdoppelung für die gestufte Fassadenkonstruktion. Dazwischen ist im Anschluss der Deckenränder ein Fachwerk angebracht, das zusammen mit dem Kern das Gebäude aussteift. Diese Konstruktion ist zwei­geteilt; ein Teil ist anderthalb Stockwerke hoch und
in der Mitte des zweiten Geschosses gestossen (vgl. ­Skizze S. 32). Das Fachwerk mit den durchgehenden Diago­nalen erzeugt eine schubfeste Verbindung zwischen den versetzten Fassadenteilen. So erst wird es möglich, die geplanten asymmetrisch übereinander verschobenen grossen Fenster umzusetzen, die einer aussteifenden Scheibe widersprechen.

Kein reiner Holzbau

Das Kompetenzzentrum ist kein reiner Holzbau, auch wenn die Tragkonstruktion hauptsächlich aus Holz besteht. Das Sockelgeschoss aus Bodenplatte und ­Wänden ist betoniert. Es ist flach im leicht abfallenden Terrain fundiert. Generell ist die 20.5 m × 12.3 m grosse Bodenplatte 35 cm dick.

Zusätzlich gevoutet bzw. verstärkt ist sie bei den Stützen und im Bereich der Liftunterfahrt respektive des Kerns. Einerseits, weil der Boden lehmhaltig und darum setzungsempfindlich ist. Andererseits, weil das Untergeschoss wegen des fehlenden Betondeckels keine steife Kiste bildet.

Der Sockel schafft die Basis für das viergeschossige Holzgebäude darüber und nimmt den öffentlichen Eingang, das Archiv und die Nebenräume auf. Der exzentrisch in der südöstlichen Grundrissecke angeordnete Kern mit Treppe und Lift ist über die gesamte Höhe betoniert und stabilisiert das Gebäude zusammen mit der nördlichen Giebelwand.

Edelrohbau in Holz

Der Holzbau über dem Sockel ist ein Giebelhaus in Skelettbauweise mit Satteldach. Im Innern besticht vor allem der Sichtrohbau aus Holz und zeigt, dass sich der leichte Holzbau von seinen Nachteilen – beim Schall- und Brandschutz – durchaus zu lösen vermag.

Das Tragwerk aus Holz ist roh belassen und zeigt den Kräftefluss in den Stützen und den Decken offensichtlich. Gedrungene Vollholzstützen mit einem quadratischen Querschnitt und einer Seitenlänge von 36 cm sind in einem Raster von 4 auf 6 m angeordnet. Der Kern der Stützen besteht aus Fichte, die Umman­telung aus einer 4 cm dicken Schicht aus Eichenholz. Diese war aus brandschutzspezifischen Gründen und wegen Anpralls sinnvoll: Die teurere Eiche ist härter als Fichte und schwerer entflammbar, zudem brennt sie mit 0.5 mm/min weniger schnell ab als die Fichte mit einem Abbrand von 0.8 mm/min.
Die Randstützen im Fassadenbereich stehen jeweils um ihren halben Querschnitt nach aussen versetzt übereinander. Ein Stahlteil im Deckenbereich gewährleistet die exzentrische Kraftübertragung und sorgt dafür, dass die punktgelagerte Decke auf der Stütze genügend Auflagerfläche erhält (vgl. Detail S. 33).

Nur zwei Bohrlöcher von 40 mm Durchmesser in den Deckenplatten reichten aus, um das Stahlteil zu versetzen; das Durchstanzen konnte so entschärft werden. Allerdings mussten die Brettsperrholzplatten der Deckenkonstruk­tion in den durchstanzgefährdeten Zonen verfestigt werden – dafür wurden die Zwischenlagen der Platten, bestehend aus einzelnen, normalerweise nur zweiseitig verleimten Stäben, allseitig verleimt; der Schubwiderstand der Platten wurde so vergrössert.

Auf den Mittelstützen liegt ein markanter Sattel aus Eiche – ein Querriegel im längs verlaufenden Korridor, der für die Deckenkonstruktion eine ausreichend grosse Auflagerfläche bereitstellt. Das Linienlager gibt der Deckenplatte zudem die erforderliche Biegesteifigkeit in Querrichtung.

Für die Decken kombinierten die Planenden Leicht- und Massivbau. Auf einzelnen Brettsperrholzplatten – verleimte fünfschichtige Platten aus horizontal verleimten Lärchen-­ und Douglasiestäben – wurde ein 14 cm starker Überbeton gegossen (vgl. Deckenschnitte S. 33). Die sichtbaren Brettsperrholzplatten als Deckenuntersicht tragen die Lasten linear ab (vgl. Schema S. 33) und dienten als verlorene Schalung.

Die ebenfalls sichtbaren geschliffenen Betonplatten bilden den Bodenbelag. Conzett erklärt: «Man kann zwar nicht von einer Holz-Beton-Verbundkonstruktion sprechen, dennoch ist es ein Zusammenwirken von Holz und Beton.» Aufgrund dieser hybriden Konstruktion gewinnen die Decken an Masse und können als Wärmespeicher dienen. Mit ihrer geschichteten Ausführung helfen sie, die ­erforderlichen Schallschutzwerte einzuhalten; die ter­tiären Plattenfelder sind mit gelochten Akustikeinlagen versehen. In der Kombination der Materialien gewähren sie einen Brandschutz von REI 60, der für einen viergeschossigen Holzbau einzuhalten ist; es sind keine Gipsabdeckungen notwendig.

Flexibel zwischen den Tragwerkselementen

Der Skelettbau gewährt im Grundriss eine flexible Raumeinteilung. Die drei Normalgeschosse für Büro- und Beratungsräume sind je nach Bedarf in Mehrplatz- oder in Einzelbüros eingeteilt. Im Dachgeschoss sind ein Sitzungszimmer und ein Aufenthaltsraum unter­gebracht. Die Tragkonstruktion prägt auch hier den Innenraum: Die zwischen den Randstützen frei tragende Dachkonstruktion besteht aus Sparren, die alle 60 cm angeordnet sind. Die sichtbare Sparrenhöhe beträgt 14 cm – die Konstruktion erscheint filigran. Sie entspricht einem fünfgelenkigen Druckpolygon, das in der 36 cm starken Dämmebene durch eine 17 cm hohe Sparrenaufdopplung biegesteif wird. Dadurch können Differenzialkräfte aus einseitigen Lasten übernommen werden. Die Konstruktion hat eine Verwandtschaft mit den altbewährten liegenden Stühlen (vgl. Schnitt S. 30). Die Strebenneigung ist auf einen optimierten Momentenverlauf in den Sparren abgestimmt. Auf Traufhöhe übernimmt ein Stahlband die anfallenden Zugkräfte und sorgt für das Kräftegleichgewicht.

Unverwechselbarer Raumeindruck

Durch das Gefüge von Deckenelementen und die geradezu aufdringlich in den Räumen stehenden Stützen entsteht eine unverwechselbare Innenarchitektur, die von gerichteten Holzoberflächen geprägt ist. Die Randstützen stehen teilweise direkt vor den Fenstern. Mittelstützen stehen auffällig im Korridor.

Die Trag­wirkung ist über den gesamten Raum ablesbar. Eine unkonventionelle, aber inspirierende Ausführung. Das Tragwerk stellt sich zwar für das Auge in den Vordergrund, allerdings vornehmlich in den Erschliessungsbereichen. Wo nötig, lässt es Raum für Flexibilität.

Holzdecken als Sichtkonstruktion mit Auflage REI60 wären als reine Rippenkonstruktion über die ganze Deckenfläche eher schwerfällig geworden. In der hier umgesetzten Konstruktion erhalten die Decken in grosszügigen Bereichen – vor allem in den Arbeits­räumen – eine verspielte Leichtigkeit. Der Sichtrohbau aus Holz und Beton wird zum Fertigteil, das eine Komponente der Innenausbaufunktion übernimmt.


Anmerkungen:
01 Thurgauer Zeitung online, E-Paper-Ausgabe vom 11. November 2014
02 BBZ Arenenberg, Ersatzbau Kompetenzzentrum Beratung, Jurybericht Projektwettbewerb, Frauenfeld, 16. Dezember 2010

TEC21, Fr., 2014.12.19



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Tragendes Potenzial

Das Betonskelett der Toni-Molkerei blieb erhalten, weil bereits bei seiner Erstellung ein enormes Anpassungspotenzial einkalkuliert wurde. Die Ingenieure von Walt     Galmarini haben diese Stärke in
die Neunutzung einbezogen.

Das Betonskelett der Toni-Molkerei blieb erhalten, weil bereits bei seiner Erstellung ein enormes Anpassungspotenzial einkalkuliert wurde. Die Ingenieure von Walt     Galmarini haben diese Stärke in
die Neunutzung einbezogen.

Die Toni-Molkerei in Zürich erfuhr eine radikale Erneuerung. Bis auf den 40 Jahre alten Rohbau wurde das ganze Bauwerk rückgebaut. Dabei wurde die Umnutzung des Areals im Gestaltungsplan von 2003 festgehalten. Studien in den Jahren 2001 bis 2005 belegten die Machbarkeit von Nutzungsänderungen der damals 30-jährigen Liegenschaft und zeigten auf, dass ein totaler Rückbau weder ökonomisch, ökologisch noch städtebaulich sinnvoll sei. Zum einen hätte er viel graue Energie freigesetzt. Allein die Bodenplatte besteht aus ein bis zwei Meter dickem Beton, insgesamt wurden 12 000 t Stahl verbaut.

Zum anderen liegt die Fabrik tiefer, als es das Amt für Abfall, Wasser, Energie und Luft heute genehmigen würde, denn seit dem Bau ist der Grundwasserspiegel um 1 bis 1.5 m gestiegen. Bei einem Neubau hätten sich die Planenden an die höher liegende Kote halten müssen, womit man Nutzfläche verloren hätte. Gegen einen Rückbau sprach auch die gut erhaltene Tragkonstruktion, die grossräumig ausgelegt und für hohe Lasten bemessen ist. Das ermöglicht eine grosse Flexibilität und verschiedene Nutzungen; die Grundsteine für das Projekt.

Das Tragwerk, das Dialma Jakob Bänziger 1973 plante und ausführen liess, besteht aus vier Haupt­trakten: das Kesselhaus mit Trockenwerk und die markante Rampe an den beiden Enden des Gebäudes sowie der Fabrikationstrakt und das Kühllager als Flachbau dazwischen. Drei quer verlaufende Dilatationsfugen gliedern das Bauwerk in die vier Hauptabschnitte. Jeweils zwei Treppenkerne und eine Windscheibe sta­bilisieren jeden Trakt. Der Skelettbau im Flachbau ist auf einem Raster von 10 × 10 m Abmessung aufgebaut. Die bis zu 7.28 m hohen und schlanken Stützen ( = 36–15) sind als Pendelstützen ausgebildet. Die Flachdecken sind 52 bis 74 cm dick und nicht vorgespannt, da es möglich sein sollte, nachträglich grosszügige Aussparungen aus der Stahlbetondecke auszuschneiden. Darin liegt das dem Projekt eigene Veränderungspotenzial («Ingenieurbaukunst unter Zeitdruck», S. 27).

Das Tragwerk: vorausschauend geplant

Die Tragkonstruktion war eine ausgeprägte Stärke des Bauwerks, die die Ingenieure von Walt   Galmarini für den Umbau zu nutzen wussten. Der Bestand war in den Ausführungsplänen ersichtlich, die alle im Archiv des Ingenieurbüros Bänziger Partner vorhanden sind. «Wir scannten über 200 Schalungspläne und 1000 Dokumente ein und zeichneten alles neu», berichtete Gregorij Meleshko, Projektleiter bei Walt   Galmarini. Die Ingenieure bauten das Projekt auf einem digitalisierten Zustand der damaligen Planung auf. Abweichungen des Bestands von den Plänen nahm ein Geometer auf; ebenfalls digitalisiert bot sich eine komfortable Situation für die Planung und die Ausführung des Umbaus. Der Aufwand war gross, doch das Risiko für Unvorhergesehenes in der Ausführung verkleinerte sich dadurch.

Ingenieure und Architekten liessen sich zusammen auf den Bestand, d. h. den bestehenden Rohbau ein, und in einem intensiven iterativen Prozess kristallisierten sich die Grundrisse heraus (vgl. «Industrie – Kultur», S. 18) und insbesondere die markanten Durchstösse für die Lichthöfe.

Den Schnittkraftlinien folgend

Die Neubaumassnahmen passten die Ingenieure den Erkenntnissen an, die sie aus der Bestandsanalyse gewonnen hatten. Dabei setzten sie tragwerkspezifische Regeln virtuos in die Architektur um. Die Lichthöfe stehen exemplarisch dafür: Ihre Platzierungen sind auf die statischen Rahmenbedingungen abgestimmt, damit möglichst wenige kostspielige Tragwerksverstärkungen vorgenommen werden mussten.

Bänziger hatte sein Tragwerk für nachträgliche Öffnungen von 7 × 7 m konzipiert – aus betrieblichen Gründen war es notwendig, die Maschinerie für den Milchverarbeitungsprozess auswechseln zu können. Bänziger legte deshalb die schlaffe Bewehrung in 3 m breite Streifen. Für die Platzierung der Perforierungen hielten sich die Ingenieure an diese planerisch dokumentierten Angaben. Sie reizten das statische Konzept allerdings weiter aus, um grössere Ausschnitte zu ermöglichen: Sie schnitten die Stahlbetondecke dort, wo die Momentenschnittkraftlinie null ist. Folgt man diesem Prinzip, sind auch bei grösseren Öffnungen als 7 × 7 m in der Regel keine Verstärkungen notwendig, denn die Beanspruchung der Decke bleibt gleich. So gelang eine Symbiose zwischen dem architektonischen Raumprogramm und dem statischen Kräftefluss: Licht gelangt bis in den Kern des 90 m tiefen Gebäudes.

Konzept der Gebäudestabilität erhalten

Auch das Konzept der Gebäudestabilität ist erhalten. Nach wie vor stabilisieren dieselben Tragelemente das Bauwerk – auch bei aussergewöhnlichen Ereignissen wie einem Erdbeben. Dank dem Erdbebenkonzept ­waren alle notwendigen Elemente da. Allerdings mussten einzelne Bauteile verstärkt werden, denn die auf da­malige Anforderungen ausgelegte Tragkonstruktion genügte den aktuellen Normen nicht mehr. Die rechnerisch aufzubringenden Einwirkungen sind seit der Erstellung des Gebäudes um den Faktor vier angestiegen. Die Neunutzung als Schule bedingt für die Dimensionierung zudem eine höhere Gebäudeklasse; die Bauwerksklasse II. Das erhöht die rechnerischen Einwirkungen nochmals um 20 %.

Um die Flexibilität des Grundrisses zu bewahren, verstärkten die Ingenieure möglichst nur den Bestand, indem sie bestehende Scheiben aufdoppelten. Wo zusätzliche Tragelemente für die horizontale Last­abtragung notwendig waren, nutzten sie aus dem architektonischen Konzept notwendige Elemente wie die neuen Fluchttreppenhäuser. In einzelnen Fällen er­neuerte man die Konstruktion ganz, um die Tragsicherheit zu erreichen. So entkernte man zwei Treppenhäuser, und zwei weitere trug man ab, um sie entsprechend dimensioniert neu aufzubauen.

Für die Lastabtragung im Erdbebenfall fehlte im Untergeschoss die sogenannte «steife Kiste», worin die Erdbebenwände geschosshoch eingespannt werden sollten. Um die Stützenreihe im Fassadenbereich und damit den Lichteinfall beibehalten zu können, verlegte man die «steife Kiste» nach innen. Die Ingenieure nutzten notwendige Wände im Kernbereich der untersten Geschosse und führten sie in Stahlbeton statt in Kalksandsteinmauerwerk aus.

Kompatibilität zwischen Alt und Neu

Trotz den guten Voraussetzungen, die der Rohbau für das neue statische Konzept mitbrachte, waren gewichtige Anpassungen nötig. Die Neunutzung bedingte neue Zwischendecken, und der neue 22-geschossige Turm, dessen oberste zehn Etagen als Wohnungen genutzt werden, erforderte Verstärkungen der Rahmenkonstruktion und der Bodenplatten. Bänziger hatte Massnahmen eingeplant, um nachträglich Zwischendecken einbauen zu können. Wertvoll waren die eingerechneten Lasten, die aus den 2 t/m2 Nutzlast (20 kN/m2) und den Lastreserven bestanden. Denn es waren fast 80 000 m² neue Flächen notwendig. Mit dem leichten (ca. 350 kg/m2) und bewährten Deckensystem aus einer Stahl-Beton-Verbundkonstruktion war es möglich, die ursprünglichen 10 m Spannweite einzuhalten, ohne zusätzliches Eigengewicht auf das Tragsystem. Auf der Höhe der Bodenplatte erreichten die Ingenieure bei den Stützen zu 80 % einen Lastausgleich. Verstärkungen im Flachfundament waren deshalb kaum erforderlich. Flachdecken wären gegenüber dem gewählten Stabtragwerk in Detailkonstruktionen wie den Anschlüssen von Brandschutzwänden einfacher zu handhaben gewesen, doch hätten sie die Tragfähigkeit der Bodenplatte überschritten. Bei den restlichen 20 % wären massive Durchstanzverstärkungen notwendig gewesen. Mit einem Modell, das bestehenden Bauten zugrunde liegt (die aktuelle Normenreihe 269 gab es noch nicht), konnten die Ingenieure mit Unterstützung der ETH nachweisen, dass nur etwa 10 von über 100 Stützen verstärkt werden mussten. Für diese Fälle doppelte man die Bodenplatte auf und presste Mikropfähle kontrolliert in den Untergrund.

Es war nicht einfach, alle Verstärkungen in den Bestand zu integrieren, denn Alt und Neu waren nicht kompatibel. Die Geilinger-Stahlpilze in den ­Stahlbetondecken zum Beispiel genügten gegen Durchstanzen nicht mehr. Durchgebohrte Gewindestangen verstärken die Decken im Stützenbereich. Sie sind vorgespannt und ausinjiziert, damit sie für die Lastabtragung wirksam sind. Ebenso galt es, die Kompatibilität zwischen alten und neuen Stützenkonstruktionen im aufgestockten Trockenwerk zu beurteilen. Denn hier waren infolge der zusätzlichen Geschosse Verstärkungen erforderlich. Der neue Beton schwindet, der bestehende nicht mehr. So entsteht zwischen Stützenkopf und Decke eine klaffende Fuge, und die Last wird nicht in die neue Stütze abgetragen, sondern nur in die bestehende; es droht Versagen. Flachpressen schlossen die Schwindfuge und spannten die neuen Stützen vertikal vor. Etappenweise wurde die Verkürzung infolge Schwinden und Kriechen kompensiert und das Zusatzgewicht der Aufstockung ausgeglichen. Im letzten ­Pressgang ersetzte man das Wasser mit Zementmilch. Nur so konnten auch diese neu integrierten, sicheren Tragelemente wirksam werden.

Aufstockung auf Abfangtisch

Nicht nur die Neunutzung, auch die Aufstockung des Trockenwerks erforderte eine Angleichung der Tragkonstruktion. Im bestehenden Trockenhaus ist das Tragwerk auf einem Industrieraster von 5 × 12.5 m aufgebaut; alle 5 m ist ein Rahmen angeordnet. Diese Struktur ist für den Wohnungsbau, der oben aufgestockt wurde, nicht optimal – dafür sollte ein Raster von 6.5 × 6.5 m erreicht werden. Eine Abfangdecke aus einem Trägerrost aus Stahl bildet den Wechsel.

Damit das Geschoss mit der Abfangdecke gut nutzbar blieb – es ist ein Dozentenfoyer –, durfte die Trag­werkshöhe des Rosts 1.5 m nicht überschreiten. Dies erforderte auch in diesem Fall einen geschickten Umgang mit den Kräften. Die Beine des Abfangtischs (Abb. links) stehen schräg und verkürzen die Spannweite des Abfangträgers – die Tischplatte sozusagen. Die Achslinien der Stützen sind so gestellt, dass das Stützmoment des Abfangträgers gleich dem Feldmoment ist. Dadurch ist das maximale Moment kleiner als bei einem einfachen Balken, weshalb der Träger eine geringere statische Höhe benötigt. Die aufgrund der schräg gestellten Beine entstehenden Zugkräfte übernehmen ein vorgespanntes Zugband aus einem Walzprofil HEB 360 und zwei Zugstangen d = 50 mm. Der Kräftefluss ist in sich geschlossen, und die Stützenfüsse konnten unten einfach auf die neuen Betonstützen abgestellt werden.

Der Abfangtisch mit seiner schieren Grösse verwischt die Dimensionen des Gebäudes – man verliert die Massstäblichkeit. Er zeigt, dass Konstruieren im Bestand eine grosse Herausforderung ist, die zuweilen Neubaukonstruktionen in den Hintergrund drängt. So wurden die Konzertsäle auf dem Dach für 400 Personen mit einer 20 m weit gespannten Stahlverbundkonstruktion zu Nebenbaustellen.

Die gesamte Transformation von der Milchverarbeitungs- zur Kunststätte basiert entscheidend auf der Anpassungsfähigkeit des bestehenden Rohbaus. Hier bot sich mit dem gegebenen Potenzial und den archivierten Grundlagen eine feudale Situation. Dabei von Glück zu sprechen, wäre zu bequem. Denn der Grundstein liegt in einem wertvollen Prinzip: ein einfaches, aber intelligentes Tragwerk zu erstellen, das mit verschiedenen Nutzungs- und Architekturformen kompatibel ist. Ein weitsichtiger Gedanke, der künftig mit dem Anwachsen der Umbauten noch bedeutender wird.

TEC21, Fr., 2014.09.26



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25. April 2014Clementine Hegner-van Rooden
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Wider die Vernunft

Nicht immer sind die technologisch besten Materialeigenschaften an einem Ort auch die besten aus emotionaler Sicht. Staubli, Kurath & Partner ­konstruierten deshalb den Werdhölzlisteg in Zürich Altstetten aus Holz – ­obwohl Kunststoff hier nachhaltiger und dauerhafter gewesen wäre.

Nicht immer sind die technologisch besten Materialeigenschaften an einem Ort auch die besten aus emotionaler Sicht. Staubli, Kurath & Partner ­konstruierten deshalb den Werdhölzlisteg in Zürich Altstetten aus Holz – ­obwohl Kunststoff hier nachhaltiger und dauerhafter gewesen wäre.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Limmat kanalisiert, und während dieser 130 Jahre gingen die auentypischen Lebensräume und Landschaften sukzessive fast vollständig verloren. Diesem Verlust wollte der Kanton Zürich entgegenwirken.[1] Grün Stadt Zürich beschloss deshalb, die Limmatauen im Rahmen der Verbesserung des Hochwasserschutzes und der Renaturierung der Limmatufer zwischen dem Stauwehr Zürich-Höngg und der Autobahnbrücke bei Oberengstringen wiederzubeleben.

Weichholzauen sind Uferbereiche von Bächen und Flüssen, die wiederkehrend von Hochwasser überflutet werden und mit dem Grundwasser verbunden sind. Sie zeichnen sich durch «weiche», biegsame Baumarten wie die Silberweide aus, die länger anhaltende Überschwemmungen und starke Strömungen aushalten. Auch das Werdhölzli war bis vor 200 Jahren eine Weichholzaue, die mehrmals pro Jahr überschwemmt wurde. Als die Limmat in ihren engen Lauf gezwängt wurde, verlor sie an Dynamik und überflutete das Werdhölzli nur noch bei extremen Hochwassern. Es entwickelte sich zunächst zu einer Hartholzaue. Deren Baumarten, wie beispielsweise Eschen und Ulmen, zeichnen sich durch ein «hartes» Holz aus. Da das Werdhölzli in den vergangenen Jahrzehnten immer seltener überflutet wurde, trocknete auch die Hartholzaue weiter aus und veränderte sich allmählich zu einem Laubmischwald.

Die renaturierte Limmat ist nun wieder mit dem Werdhölzli vernetzt. Ein Rohr schwemmt durchschnittlich 18-mal pro Jahr Flusswasser in den geschützten Landschaftsbereich ein. Es entsteht wieder ein Lebensraum für typische Arten der Hartholzauen.

Holz ist hier weder dauerhaft noch nachhaltig

Um diese Landschaft zugänglich zu machen, ohne sie zu beeinträchtigen oder gar zu beschädigen, liess Grün Stadt Zürich die Auenlandschaft mit einem Steg erschliessen. Von ihm aus lässt sich das Gebiet beobachten. Die Materialisierung war dabei von Anfang an klar: Holz musste es sein; es ist nachhaltig und fügt sich optisch und gefühlsmässig ansprechend in die Landschaft ein. Allerdings, so gibt der verantwortliche Bauingenieur Josef Kurath zu bedenken, sei Holz aus technischer und ökologischer Sicht in diesem feuchten Auenlandwald nicht das richtige Konstruktionsmaterial für den Steg – auf 400 m ü. M., bei Luftfeuchtigkeiten von meist über 80 % im Mittellandklima, sei es nicht nachhaltig und dauerhaft. Bewittertes Holz hat hier eine Lebensdauer von nur acht bis zehn Jahren, dann muss es ersetzt werden. Baumstämme, die neben dem Steg liegen, zeigen die Verhältnisse auf: Ungeschützt verfaulen sie in nur wenigen Jahren. Man wird ungeschütztes oder schlecht geschütztes Holz in der Konstruktion deshalb immer wieder ersetzen müssen, ausser man verwendet Tropenholz wie Teak oder Iroko. Diese häufigen Unterhaltsmassnahmen erfordern viel graue Energie, die im Transport und in der Verarbeitung steckt.

Glasfaserverstärkter Kunststoff ist geeignet

Eigentlich, so Kurath, wäre glasfaserverstärkter Kunststoff (GFK) in dieser feuchten und sonnenarmen Umgebung konstruktiv und bezüglich Nachhaltigkeit geeigneter gewesen. Dies zeigt auch eine Ökobilanz, die im Rahmen der EXPO.02 gemacht wurde, relativ deutlich (vgl. «Ökologischer Vergleich», S. 38). Das Erdöl ist bei GFK-Bauten in grossen Bauelementen gebunden, diese sind zwar naturfremd, verrotten aber nicht und haben gerade in dieser Umgebung eine hohe Lebensdauer. Entsprechend einer Kaskadennutzung können sie später weiterverwendet werden und lassen keine Spuren im Wald zurück. Doch dem Menschen, so sinniert Kurath weiter, widerstrebt es optisch und gefühlsmässig, «Plastik» in der Natur zu verwenden. Dies haben auch die Diskussionen im Planungsteam gezeigt. Viele Besuchende würden diese Materialien hier nicht schätzen und den Einsatz als falsch empfinden. «Was begreiflich ist», fügt er schliesslich an. Der Mensch soll sich hier wohl fühlen, und der Steg soll den Besuchern Freude bereiten.

Kompromisse für die Holzlösung

Naturwissenschaftliche und emotionale Aspekte müssen vereinbar sein. Das Vergnügen der Besuchenden sollte im Vordergrund stehen, allerdings innerhalb klarer Grenzen. Die Konstruktion des Werdhölzlistegs ist ein Kompromiss, den sich die Beteiligten erarbeitet haben, wobei die Planenden vor allem drei Grundsätze befolgten: Der Förster des Waldreviers Nord Grün Stadt Zürich, Emil Rhyner, und sein Team sollten den Steg erstens selber und zweitens mit möglichst viel eigengeschlagenem Holz bauen können.

Der Anspruch, eine unaufgeregte Stegkonstruktion zu bauen, schlug sich positiv im Budget nieder: Normalerweise setzt man für einen Fussgängersteg 2500 bis 4500 Fr. pro m2 ein; hier waren es 1500 Fr./m2. Drittens sollte der Holzsteg dem Ort entsprechend eine ökologische und nachhaltige Bauweise aufweisen. Folglich verwendeten die Planenden grundsätzlich Material aus den städtischen Wäldern, das ohne weite Transportwege in die Betriebe der Försterei gelangte – einzige Ausnahme bilden die Tragpfähle. Das Holz wurde zwei Jahre zuvor in den Wintermonaten geschlagen, gesägt und an der Luft getrocknet. So konnte einer frühzeitigen Pilzbildung vorgebeugt werden, und der Energieaufwand für die übliche Ofentrocknung entfällt.

Wichtig für die Energiebilanz dieses Bauwerks ist ein guter Holzschutz, damit der Steg eine hohe Lebensdauer aufweist und nicht viel Energie für eine häufige Instandsetzung verwendet werden muss. Auf einen chemischen Schutz wurde trotz des unwirtlichen Klimas für den Holzsteg verzichtet, denn dieser hätte ausgewaschen werden können und hätte die Natur belastet. Man strebte darum einen konstruktiven Schutz des unbehandelten Holzes an. Die beste Schutzvariante wäre eine Überdeckung des gesamten Stegs. Um die Aussicht nicht zu beeinträchtigen, verzichteten die Beteiligten darauf. Der ungeschützte Brückenbelag muss deshalb voraussichtlich in acht bis zehn Jahren instandgesetzt oder ersetzt werden. Um trotz allem eine möglichst dauerhafte Brücke erstellen zu können, muss die Konstruktion sorgfältig geplant und ausgeführt werden.

Holzkonstruktion in feuchter Umgebung

Der 320 m lange Holzsteg fügt sich in einer Zickzacklinie in die Auenlandschaft ein. Er besteht aus einzelnen Einfeldträgern, die auf Rundhölzern lagern, welche mit einem kleinen Bagger in den Boden gerammt wurden; es sind FSC-zertifizierte Robinien aus Ostdeutschland. Die Pfähle konnten mit einer maximalen Länge von zwei bis drei Meter geliefert und dadurch nur einen Meter tief in den Boden eingebunden werden. Ihre Belastung musste deshalb gering gehalten werden. Dies und die Länge des für die Tragbalken verwendeten Rundholzes ergab die obere Grenze für die Spannweiten; mit sechs bis zehn Meter belassen sie den Boden trotzdem möglichst frei.

Die Hauptträger sind nicht unter, sondern über dem Laufsteg angeordnet. Der Raum unter der Brücke wird so besser durchlüftet, was für den Belag und die darunter liegenden Sekundärträger in Eiche vorteilhaft ist. Die oben liegenden Hauptträger sind gut umlüftet und sichtbar, können phasenweise wieder austrocknen und von Unterholz freigeschnitten werden. Ausserdem kann sich die Vegetation unter der aufgestelzten Brücke hindurch entfalten.

Im rohen Förstersteg stecken die Finessen in den Details

Jeder Hauptträger besteht aus einem unverleimten Brettschichtholzträger, der mit einem rohen Stahlblech abgedeckt ist. Vorgespannte Schrauben ziehen die Konstruktion zusammen und bewerkstelligen den Verbund. Die Anzahl der Vorspannschrauben ist auf die Grösse der Querkraft abgestimmt; mit abnehmender Querkraft nimmt auch die Anzahl Schrauben ab – es entsteht eine auf die Statik abgestimmte Komposition. Über Reibung gibt der Brettschichtholzträger den Schub weiter an die Trägerenden und vor dort auf die Pfähle. Das Stahlblech ist breiter als die Holzbretter, was eine umlaufende Wassernase an der unteren Kante ermöglicht. Das Stahlblech hat also mehrere Funktionen:

Es beteiligt sich an der Quervorspannung und schützt den Holzträger vor der Witterung. Zudem trägt es zur Steifigkeit der Brückenkonstruktion bei und übernimmt die Widerlagerfunktion. Und schliesslich sind darauf die Handläufe aufgeständert.

Der Abstand zwischen den Hauptträgern und dem Gehbelag beträgt etwa 30 cm – ausreichend, um die Konstruktion vor Spritzwasser zu schützen. Einzig bei der Überspannung des Mäanders ist das nicht der Fall. Um den Handlauf durchgehend auf derselben Höhe zu behalten, erweiterte man den Träger, der wegen der Spannweite eine grössere statische Höhe erforderte, gegen unten – auf Kosten des Spritzschutzes. Auch an den Brückenenden und in den Aufenthaltsbereichen weicht die Konstruktion vom Grundprinzip ab: Die Brückenenden sind mit einem Gitterrost bedeckt. Er sorgt für eine bessere Durchlüftung unter der Brücke und verhindert, dass an diesen heiklen Stellen Holzelemente verfrüht faulen. Die Aufenthaltsbereiche – grundsätzlich Verbreiterungen der normalen Rhythmen der Einfeldträger – erfordern quer zur Brückenachse grössere Spannweiten, weshalb zusätzliche Träger montiert werden mussten; sie sind zugleich Sitzgelegenheiten und laden zum Verweilen ein (Abb. S. 36).

Der konstruktive Schutz muss stets greifen

Die Brücke muss gepflegt werden, damit der konstruktive Schutz wirkt. Die Wassernasen an den Stahllaschen müssen funktionieren und die Hauptträger von Unterholz befreit sein. Alle Abstände zwischen den Holzteilen müssen frei bleiben, damit die Stellen durchlüftet werden und nirgends auch nur wenig Wasser liegen bleibt. Nur auf diese Weise wird die Brücke die geplanten 40 Jahre halten. Wenn denn doch einmal einzelne Bretter, Latten oder Träger ausgewechselt werden müssen, kann die Instandsetzungsarbeit innerhalb des Brückenquerschnitts erfolgen; es ist nicht erforderlich, die Auenlandschaft zu betreten. So bleibt die geschützte Landschaft mit ihrer Flora und Fauna noch lang unbeschadet bestehen.


Anmerkung:
[01] Der Limmat-Auenpark Werdhölzli ist ein Projekt der Baudirektion des Kantons Zürich, unterstützt von der Stadt Zürich, der Gemeinde Oberengstringen, dem naturemade-star-Fonds von ewz, dem WWF in Kooperation mit der Zürcher Kantonalbank sowie dem Bundesamt für Umwelt.

TEC21, Fr., 2014.04.25



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25. April 2014Clementine Hegner-van Rooden
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Über die Kante geschoben

:mlzd und Tschopp Ingenieure gewannen den Wettbewerb für den ­Pavillon auf dem Gurten, weil sie ihn über die Hangkante hinausschoben.
Die sichtbare Unterkonstruktion ermöglicht die Auskragung und zeigt sich im Unterschied zum Überbau als pragmatischer Rohbau.

:mlzd und Tschopp Ingenieure gewannen den Wettbewerb für den ­Pavillon auf dem Gurten, weil sie ihn über die Hangkante hinausschoben.
Die sichtbare Unterkonstruktion ermöglicht die Auskragung und zeigt sich im Unterschied zum Überbau als pragmatischer Rohbau.

Der Gurten ist ein 864 m hoher Molasseberg südlich der Stadt Bern. Der seit 1959 autofreie Berner Hausberg ist ab Wabern mit der Gurtenbahn erschlossen und ein beliebtes Ausflugsziel. Die Bahn wurde bereits 1899 erbaut und war einst die schnellste Standseilbahn der Schweiz. Auch heute ist sie mit 8 m/s noch relativ schnell und überwindet in nur 5 Minuten eine Strecke von 1059 m und eine Höhendifferenz von 267 m.[1] Mit der Bahn kam 1901 auch das Hotel Kulm. Doch nach der ersten Blütezeit bis 1915 harzte der Betrieb, und 1983 wurde das Hotel geschlossen. Ebenso erging es dem Restaurantbetrieb; zeitweise betrieb die Gurtenbahn gar im Wartesaal einen Imbiss. Zwar stieg die Besucherzahl mit der Totalrevision der Bahn ab 1944 – statt nur der Oberschicht kam nun auch die breite Masse auf den Berg. Doch die Infrastruktur hielt der anhaltenden Veränderung nicht stand.[2]

Mehrere Projekte für eine Neugestaltung des Gurtengeländes scheiterten aus politischen oder finanziellen Gründen. Nur Teilprojekte konnten umgesetzt werden. So beschloss die Stadt Bern als Besitzerin Ende der 1950er-Jahre beispielsweise, die Gurtenmatte, die ab 1937 als Golfplatz betrieben wurde und von Aussenstehenden nicht betreten werden durfte, zum öffentlichen Naherholungsgebiet umzufunktionieren. 1990 drehte der Wind, und ein ganzheitliches Konzept fand seine Umsetzung. Die Genossenschaft Migros bot an, den Gurten zu übernehmen und für 30 Millionen instandzusetzen. So weckte das Kulturprozent der Migros Aare den Berg ab 1999 aus seinem Dornröschenschlaf.

Vom Festzelt zum Pavillon

Die Gurten-Stiftung mit der Migros als Hauptstifterin besitzt seither den «Park im Grünen», und die Migros Aare betreibt ihn. Jedes Jahr resultiert ein Betriebsdefizit in Millionenhöhe, weil viele Veranstaltungen gratis sind; das Migros-Kulturprozent deckt dieses Defizit.[3] Die Nachfrage nach Räumlichkeiten für geschäftliche Anlässe überstieg schon bald das bestehende Angebot. Deshalb stellte die Betreiberin des Restaurants Gurtenkulm ab 2003 regelmässig ein Zelt für Tagungen und Feste auf. Die weisse Blache war von weither sichtbar und nicht nur aus ästhetischer Sicht unzureichend; das Panoramazelt genügte den Ansprüchen an Komfort, Logistik, Betriebswirtschaft und Gebäudetechnik nicht. Darum und weil man saisonal unabhängig sein wollte, sollte ein fester Pavillon das provisorische Zelt ersetzen. 2012 schrieb die Stiftung Gurten-Park im Grünen einen Studienauftrag im Einladungsverfahren mit drei Teams aus. Daraus ging das Siegerprojekt von :mlzd und Tschopp Ingenieure hervor.

An prominenter Lage an der Bergkante

Der neue Pavillon für bis zu 500 Personen steht als gedrungenes Volumen zwischen Bergstation der Gurtenbahn und dem Restaurant Gurtenkulm in grösstmöglichem Abstand zum alten Hotel. Er liegt noch in der Hotelzone, wo Bauten und Anlagen des Gastgewerbes erlaubt sind. Bereits im Jurybericht wurde die Platzierung gelobt: «Mit seiner eingeschossigen, auskragenden und vollverglasten Front gegen Norden setzt sich der Pavillon von der hohen, zurückversetzten und massiven Fassade des Hauptbaus ab und belässt diesem trotz selbstbewusster gestalterischer Ausprägung die Hauptrolle.» Diese Platzierung wählten die Planenden nicht von Anfang, denn sie hatten Respekt vor dem Ort. Anfänglich noch zögerlich und zurückhaltend, schoben sie den Pavillon erst spät in der zweiten Wettbewerbsstufe radikal über die befestigte Kante der terrassierten Umgebung hinaus. Ein Schritt, der erst recht den Respekt vor dem Ort zum Ausdruck bringt, denn das neue Bauwerk setzt sich so nicht nur vom Hauptbau ab, sondern berührt und beeinträchtigt mit seiner Auskragung weniger die vorhandene Landschaft.

Überbau: Stahlbau, als wäre es ein Möbel

Der eingeschossige Neubau ist allseitig verglast und behält den ephemeren Charakter des Plastikzelts. Die Nordfassade eröffnet den Blick auf die Stadt Bern, den Jura und das Mittelland. Das architektonische und tragwerksspezifische Kernstück des Gebäudes ist ein 22.8  × 15.25 m grosser, stützenfreier Raum, der für Konferenzen, Schulungen, Versammlungen und Feste nutzbar ist. Über ihm ist ein schwarzer Trägerrost gespannt. Er steht auf gelenkig gelagerten, runden Vollstahlstützen, die, wo sichtbar, glanzvernickelt und, wo verdeckt, gespritzt sind. Ausgesteift wird der Überbau mit 20 mm dünnen Zugstangen, die im Raum kaum sichtbar sind.

Es ist ein Stahlbau, der konstruiert ist, als wäre er ein Möbel für dieses Ausflugs- und Erholungsgebiet. Statt eines für den Stahl typischen Rohbaus erinnert der Rost an eine grossformatige Schlosserarbeit: dünnwandige (d = 8 mm Stege, 25 mm Flansche), übereck monolithisch geschweisste Kastenträger formen den Rost. Sichtbare Schweissnähte sind flach verschliffen, keine Schrauben sind vorhanden, nur scharfe Kanten. Keine gebäudetechnischen Anlagen oder Leitungen durchqueren diese Tragkonstruktion, alle sind in die Randzone verlegt – einzig Lüftungsschlitze im Übergang zu den Aussenbereichen zeugen von dieser Freilegung.

Um den Kernbereich legt sich eine etwa vier Meter tiefe und grundsätzlich transparente Raumschicht – eine Referenz an die Beletage des alten Hotels. Mit einem Vorhangsystem, das aus dem Japanischen inspiriert ist und dem Projekt den Namen «shôji» für verschiebbare Raumteiler gibt, lassen sich Saal und Raumschicht optisch trennen. Es ist keine gleichzeitige Nutzung der unterteilten Räume vorgesehen, weshalb mit dem Trennsystem keine Schallanforderungen erfüllt werden mussten. In der äusseren Raumschicht sind die Eingänge (zu drei Seiten), Garderobe, der Apérobereich und Nebenräume untergebracht; die Toi- letten finden sich ausserhalb des Pavillons im bestehenden Terassensockel. Die vom Trägerrost auskragenden Stahlträger verjüngen sich hier gegen aussen und begleiten so den Blick öffnend hinaus. An ihnen hängt ein Lochblech; im Raum dazwischen ist die gesamte Gebäudetechnik versteckt untergebracht.

Die gesamte Dachkonstruktion wurde vor Ort auf der Bodenplatte verschweisst und nachträglich mit Pneukran und drei Hilfsjochen inkl. Flaschenzügen auf die definitiven Stahlstützen gestellt (vgl. Abb. S. 40).

Unterbau: Stahlbau in klassischer Rohbauform

Die Konstruktion des Unterbaus ist als pragmatischer Rohbau konstruiert: Der auskragende Teil der Bodenplatte ist in Verbundbauweise erstellt worden, wobei die Bodenkonstruktion aus konventionellem Stahlbau mit 12 cm Überbeton besteht. Die Tragkonstruktion darunter ist in Mischbauweise aus Stahl und Betontragelementen, wobei der visuelle Eindruck und die vorgefundene Topografie die Bauweise diktieren – insbesondere bezüglich der Lagerung: Auf der einseitig der alten Stützmauer vorgelagerten Bodenkanzel steht ein hangparalleler Betonriegel, und über der daneben liegenden Mulde kragt eine Betonscheibe aus dem Technikraum. Alle Lasten werden über Pfähle in den Baugrund geleitet, und die ganze Montage erfolgte schwebend über steilem Hang und ohne Gerüst. Baubeginn auf der 840 m ü. M. liegenden und nach Norden exponierten Baustelle war im Oktober 2013, und Ende Juni möchte die Migros Aare den Pavillon bereits in Betrieb nehmen; die Räume sind jetzt schon gebucht. Deshalb war es unabdingbar, das Bauprogramm einzuhalten, auch wenn die Bauzeit in die beiden winterlichen Quartale des Jahres fiel. Es musste also bei jedem Wetter gearbeitet werden, weshalb alle Vorkehrungen für Winterbaumassnahmen in die Installation einzurechnen waren. Planende und Ausführende waren gefordert, und das Zeitkorsett war eng.

In der Unterkonstruktion widerspiegelt sich dies in besonderer Weise. Sie ist die Schnittstelle zur vorgefundenen Landschaft und, weil sie auskragt und ihre Fläche sichtbar macht, die sechste Fassade des Bauwerks. Anders als bei den ersten fünf Fassaden, die üblicherweise spät während der Ausführung erstellt werden, blieb bei dieser als letzte gezählten Fassade wenig Planungszeit, da sie als erste und sehr früh in der Bauphase erstellt wird.

Deshalb und weil sie nicht den Anspruch hat, begangen und begutachtet zu werden, ist sie grundsätzlich Mittel zum Zweck und entsprechend nicht wie der Überbau als feines Möbel konstruiert. Allerdings ist die Unterkonstruktion ein kostbares Mittel zum Zweck, denn sie hebt den Pavillon vom Gelände ab und ermöglicht die herausragende Platzierung des darauf gebauten Möbels. Erst dadurch sorgen Architekt Roman Lehmann und Bauingenieur Adrian Tschopp schliesslich dafür, dass das unaufgeregte Gelände des Gurtens nicht übermässig angegraben und prahlerisch erweitert wird. Dass die Unterkonstruktion dabei trotz ihrer hochwertigen Aufgabe Rohbau bleibt, ist kein Widerspruch, sondern eine Wertschätzung des funktionsgerechten Bauens an sich.


Anmerkungen:
[01] Mehr Infos unter: www.gurtenbahn.ch
[02] Benedikt Loderer, Sonderausgabe Hochparterre, «Aussicht, Landschaft und Architektur: Niedergang, Rettung und Erneuerung des Gurtens», Band 13, 2000.
[03] Berner Zeitung: «Gurten erhält neuen Pavillon», Bern 30.11.2012.

TEC21, Fr., 2014.04.25



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TEC21 2014|17-18 Ingenieure erschliessen sensible Landschaften

22. November 2013Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Wertvolle Tragwerke

Tragwerke sollten nicht unbesehen rückgebaut werden. Zu oft gehen materielle und immaterielle Werte verloren: eine Substanz, die ihre endgültige Lebensdauer noch nicht erreicht hat, ein Zeitzeuge, eine Konstruktionsart oder ein bautechnisches Vorbild. Weil bestehende Tragwerke aber veraltet und vielleicht sogar marode erscheinen können, unterschätzen oft selbst Fachpersonen ihr Potenzial – trotz vorhandenen Regelwerken zu ihrer Einschätzung. Es ist an der Zeit, Tragwerke differenziert zu betrachten.

Tragwerke sollten nicht unbesehen rückgebaut werden. Zu oft gehen materielle und immaterielle Werte verloren: eine Substanz, die ihre endgültige Lebensdauer noch nicht erreicht hat, ein Zeitzeuge, eine Konstruktionsart oder ein bautechnisches Vorbild. Weil bestehende Tragwerke aber veraltet und vielleicht sogar marode erscheinen können, unterschätzen oft selbst Fachpersonen ihr Potenzial – trotz vorhandenen Regelwerken zu ihrer Einschätzung. Es ist an der Zeit, Tragwerke differenziert zu betrachten.

Das Spektrum der Begründungen, ein Tragwerk zu erhalten, ist breit. Ebenso zahlreich sind allerdings oft die Argumente dafür, es rückzubauen. Baubeteiligte schrecken vor allem vor allfälligen Überraschungen zurück, die eine bestehende Bausubstanz birgt und die während der Umbauphase zutage treten können. Die Gebäudesubstanz – und im Speziellen auch das Tragwerk – lässt sich aber immer objektiv analysieren. Nicht selten sprechen die Erkenntnisse in mancher Hinsicht für eine Erhaltung – einschliesslich immaterieller und ­emotionaler Gründe (vgl. «Erhalten zahlt sich aus», S. 18).

Breite Palette der Werte

Jedes Tragwerk hat seine Qualitäten und seine Minderwertigkeiten. Nach diesen gilt es zu suchen, wenn ein bestehendes Tragwerk auf seinen Erhaltenswert hin analysiert wird. Das Merkblatt 2017 des SIA[1] gibt dafür eine Checkliste, wobei die Kriterien in imma­terielle und materielle Werte gruppiert werden. So gehen die wichtigsten Be­wertungsfaktoren nicht vergessen – zu denen auch die immateriellen gehören. Wenn Experten – meist Bauinge­nieure – aber ein Tragwerk in seinem individuellen Kontext und mit den für seine Aus­legung spezi­fischen Rahmenbedingungen beurteilen, ­ergibt sich der Erhaltenswert nicht aus fix festgelegten und stets gleich definierten Kriterien. Vielmehr sind die einzelnen Fak­toren ­immer wieder neu zu bestimmen, zu ergänzen und zu gewichten. Es kann durchaus sein, dass ein einziges das Tragwerk auszeichnendes Merkmal für die Erhaltung entscheidend ist. ­Vielleicht ist die Tragkonstruktion weder schön noch effizient oder wirtschaftlich tragbar, aber sie ist ein beispielhafter Zeuge ihrer Zeit oder die letzte Ausführung in dieser Art – dann ist das unter Umständen Grund genug, sie zu bewahren. Ebenso, wenn ihre Form­gebung, ihre Materialisierung oder ihr statisches System ihrer Zeit voraus oder für die Zeit typisch war oder wenn ihr Erbauer berühmt ist und das Werk – ob im Guten oder im Schlechten – eine gewichtige Arbeit im Gesamtwerk ist (vgl. «Ein Tragwerk wirbt für sich», S. 21). Im einzelnen Fall ist es erhaltenswert, weil das Tragwerk sozusagen einen Lehrpfad an spezifischen, historischen und nicht mehr existierenden Konstruktionsdetails darstellt.

Werte Offenlegen, um sie zu sehen

Das Ziel jeder Beurteilung besteht also darin, die Besonderheiten eines spezifischen Tragwerks mit seinen typischen und charakteristischen Details zu erkennen und seine materiellen und vor allem auch immateriellen Werte offenzulegen[2]. Dadurch wird die dahintersteckende kostbare oder seltene, einmalige oder gewöhnliche, be- oder verkannte Leistung aufgedeckt. Nur so wird man diese bei Eingriffen auch respektieren und nach Möglichkeit bewahren können. Denn erst eine kritische Auseinandersetzung mit dem Tragwerk und seinen mate­riellen und immateriellen Werten führt zu einer ganzheit­lichen Beurteilung des Bauwerks und legt schliesslich sein Entwicklungspotenzial offen.[3]

Ein Bauwerk steht und fällt mit seinem Tragwerk

Auf dieses Entwicklungspotenzial gilt es auch die Öffentlichkeit aufmerksam zu machen. Ihr muss gezeigt werden – wider den Zeitgeist, sich auf das Aussehen, statt auf den Inhalt zu konzentrieren –, welche Leistung hinter den Tragwerken steckt und welches Handwerk es dazu braucht. Denn auch wenn ein bestehendes Tragwerk unattraktiv erscheint – sei es unansehnlich oder verdeckt, ab­genutzt oder überholt, unmodisch oder einfach nur in ein schlechtes Licht gerückt –, sind es schliesslich doch die tragenden Teile, die das Bauwerk zusammenhalten. Die Kunst, ein Tragwerk schlank auszulegen oder mit einer raffinierten ­Konstruktion oder Technik weite Spannweiten oder ausgeklügelte Details zu ermöglichen, ist eine bemerkenswerte Leistung, die es zu würdigen, schätzen zu lernen und schliesslich auch zu erhalten gilt.

Tragwerke haben Stil und sind fotogen

Tragwerke als Ingenieurbauwerke haben im Übrigen durchaus einen Stil, den es nicht nur kritisch zu bewerten gilt, sondern den es auch fotografisch einzufangen lohnt – wenn man denn ein ingenieurspezifisches Auge dafür hat oder entwickelt. Die oben stehenden Fotos mögen andeuten, welches Potenzial in der Bebilderung von Ingenieurbauwerken noch steckt. Mit attraktiven Fotografien von Rohbauten oder Baustellen zum Beispiel liessen sich vermehrt Emotionen für Tragwerke wecken – einen immateriellen Wert also, der sich – so bitter es sein mag, dass man so argumentieren muss – grundsätzlich auch versilbern liesse, wenn man ihn entsprechend als wertvoll vermarktete. In­sofern werden die immateriellen Werte gegenüber den materiellen Werten klar unterschätzt.


Anmerkungen:
[01] B. Schnitter, M. Aczél, H. U. Aeschlimann, M. Diggelmann, C. Haldemann, L. Held, A. Kölliker, N. Ruoss, M. Wohlgemuth: «Erhaltungswert von Bauwerken», SIA-Merkblatt 2017. Zürich, 2000.
[02] Als materielle Werte sind u. a. standort- und nutzungsspe zi fi sche, substanzielle, gesellschaftli - che, wirtschaftliche und/oder umweltspezifische Werte aufzufassen; zu den immateriellen zählen da gegen die situativen, historischen und soziokul - turellen, gestalterischen, handwerklich-techni - schen und/oder emotionalen Werte.
[03] Eugen Brühwiler: «Grundsätze der Denkmal - pflege bei Bahnbrücken» in: Schweizer Bahnbrü - cken. Zürich, 2013, S. 215–220

TEC21, Fr., 2013.11.22



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TEC21 2013|48 Tragende Werte

14. Juni 2013Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Noch ist der Viadukt einspurig

Die 112 Jahre alte Bahnstrecke Bern–Neuenburg soll doppelspurig ausgebaut werden. Dem kurvenreichen Teilabschnitt zwischen Rosshäusern und Gümmenen kommt dabei eine wichtige Bedeutung zu, denn hier liegen der Rosshäuserntunnel und der Saaneviadukt. Um einen geeigneten Ausbau des denkmalgeschützten Viadukts zu finden, der die Anforderungen bezüglich Denkmalschutz, Instandsetzungsbedarf und Doppelspurigkeit erfüllt, untersuchte die Besitzerin BLS das Bauwerk, liess Vorstudien ausarbeiten und schrieb schliesslich Mitte 2012 einen Studienauftrag aus.[1]

Die 112 Jahre alte Bahnstrecke Bern–Neuenburg soll doppelspurig ausgebaut werden. Dem kurvenreichen Teilabschnitt zwischen Rosshäusern und Gümmenen kommt dabei eine wichtige Bedeutung zu, denn hier liegen der Rosshäuserntunnel und der Saaneviadukt. Um einen geeigneten Ausbau des denkmalgeschützten Viadukts zu finden, der die Anforderungen bezüglich Denkmalschutz, Instandsetzungsbedarf und Doppelspurigkeit erfüllt, untersuchte die Besitzerin BLS das Bauwerk, liess Vorstudien ausarbeiten und schrieb schliesslich Mitte 2012 einen Studienauftrag aus.[1]

Die Bahnstrecke Bern–Neuenburg verbindet die zwei Kantonshauptstädte und ist Teil der internationalen Verbindung Bern–Paris. Die ehemalige schweizerische Eisenbahngesellschaft Bern-Neuenburg-Bahn eröffnete diese ursprünglich einspurig angelegte Strecke am 1. Juli 1901. Elektrifiziert wurde sie in zwei Etappen zwischen 1923 und 1928, heute gehört sie zum Streckennetz der BLS Lötschbergbahn[2]. Die grösstenteils einspurig betriebene Bahnstrecke von Bern über Gümmenen, Kerzers und Ins nach Neuenburg ist eine fast gerade Linie, weshalb sie auch «die Direkte» genannt wird. Einzig der Abschnitt zwischen Rosshäusern und Gümmenen im Saanetal ist kurvenreich (Abb. 1) und hemmte letztlich den stetig wachsenden Bahnverkehr. Deshalb plant die Besitzerin BLS, die Strecke schrittweise doppelspurig mit einer Streckengeschwindigkeit von 160 km/h auszubauen. So kann sie die Kapazität für den stetig wachsenden Nah- und Fernverkehr erhöhen. Dafür wird nun in einem ersten Schritt zwischen Rosshäusern und Mauss ein neuer doppelspuriger Tunnel ausgebrochen (vgl. Kasten S. 15). Für den einspurigen, noch auf 90 km/h ausgelegten Saaneviadukt sucht man eine Lösung, die der grössten Kunstbaute der Strecke betrieblich, gestalterisch und konstruktiv gerecht wird.

Ein Denkmal von nationaler Bedeutung

Der Saaneviadukt gilt als Zeuge der industriellen und verkehrstechnischen Entwicklung im ausgehenden 19. Jahrhundert. Die 112 Jahre alte Querung der insgesamt rund 700 m langen Talebene ist ein Ensemble aus einem markanten Bahndamm, Viaduktbögen aus Natursteinmauerwerk und einer Stahlfachwerkbrücke (Abb. 3 und 4). Der leicht geschwungene Damm ist 200 m lang und besteht aus Ausbruchmaterial des Rosshäuserntunnels. Seine Böschungen sind Naturschutzgebiet und gelten als Trockenstandort von nationaler Bedeutung.

Der an den Damm anschliessende 400 m lange und über 30 m hohe Viadukt hat westlich der Saane 22 Natursteinbögen, östlich in Richtung Mauss fünf. Im Vergleich mit anderen Bahnviadukten aus Mauerwerk weisen die Gewölbe eine geringe lichte Öffnung von 10 m auf. Unterbrochen werden die Viaduktabschnitte von einer Fachwerkbrücke von Wartmann & Valette aus Brugg, die eine Stützweite von 63 m aufweist. Die 7.16 m hohe und 4 m breite Kastenkonstruktion spannt als einfacher Balken über die Saane (Abb. 2). Die parallelgurtigen Hauptträger sind in neun gleiche Felder von je 7 m Breite unterteilt und mit zweifachem Strebenzug mit Pfosten ausgefacht. Das Fachwerk besteht aus Walzprofilen aus Flussstahl, wobei die Zugstreben aus Flacheisen und die Druckstreben aus zwei U-Profilen konstruiert sind. Die Fahrbahn liegt in der Höhe des Obergurts auf einer offenen Stahlkonstruktion, wodurch eine Zugüberfahrt lärmig und der Gleisunterhalt aufwendig ist. Die Querträger bestehen aus genieteten Blechbalken und übertragen die Last zur Hälfte direkt auf die Pfosten der Hauptträger; die andere Hälfte wird – was relativ selten ist – durch sekundäre, an den Obergurt vernietete und auf die Kreuzung des Streben abgestützte Pfosten aufgenommen.[3] Die Stahlbrücke dominiert örtlich den Flussbereich, bei einer Gesamtsicht des Viadukts tritt sie wegen des Uferbewuchses nur wenig in Erscheinung. Als signifikantes Element der Landschaft im Saanetal ist der gesamte Viadukt ein Denkmal von nationaler Bedeutung. Die BLS zog deshalb im Rahmen der Vorstudien zum Doppelspurausbau die eidgenössischen Kommissionen für Denkmalpflege (EKD) und Natur- und Heimatschutz (ENHK) hinzu. Diese forderten für den Ausbau des Viadukts eine konstruktive Lösung, bei der Substanz und Funktion des Bauwerks erhalten bleiben.

Aufsattelung auf den Bestand, Ersetzen der Fachwerkbrücke

Aufgrund dieser Vorgabe sowie zusätzlicher bahnbetrieblicher Randbedingungen und umfassender statischer und materialtechnologischer Zustandsbeurteilungen des Bestands (vgl. Kasten S. 16) entwickelte die Bauherrschaft mehrere Varianten für einen Doppelspurausbau. Schliesslich entschied sie sich für jene, worin beide Gleise symmetrisch über den Bestand mittels einer Dammanschüttung resp. eines aufgesetzten Stahlbetontrogs geführt werden und die bestehende Fachwerkbrücke ersetzt wird. Die beigezogenen Kommissionen EDK und ENHK bestätigten diese technische und gestalterische Bestvariante im Grundsatz und empfahlen, insbesondere für die Ausbildung der neuen Brückenkonstruktion über die Saane ein ordentliches Vergabeverfahren durchzuführen. Die BLS schrieb sodann 2012 einen Studienauftrag mit Präqualifikation für Teams aus den Disziplinen Bauingenieurwesen / Brückenbau (Federführung), Gestaltung und Geotechnik aus.[4]

Einschränkende Rahmenbedingungen für den Studienauftrag

Die dem Studienauftrag vorgelegte Variante beruhte also auf dem Konzept, den bestehenden Viadukt unter Nutzung und Beibehaltung des Damms und der Hausteinbögen auf eine Doppelspurlinie auszubauen. Dabei würde auf dem Viadukt kein Spurwechsel notwendig sein. Die vertikale Linienführung war auf die Anschlussstellen und die Ausrundungsradien für eine Ausbaugeschwindigkeit von 160 km/h auszulegen. Dabei konnte man die Gleislage um höchstens 1.40 m anheben. Die horizontale Linienführung war für diese Ausbaugeschwindigkeit vorgegeben und musste übernommen werden, damit die Anschlusspunkte beim Tunnel Rosshäusern und beim Bahnhof Gümmenen gewährleistet sind. Die Gleise verliefen aufgrund der Radien für eine Geschwindigkeit von 160 km/h im Bereich der Saanequerung und dem Anschluss Seite Mauss mit dem zweiten kürzeren Viaduktabschnitt allerdings asymmetrisch zur heutigen Brückenachse – die Lasteinwirkung verändert sich dadurch, und die Anforderungen an die Steifigkeit steigen. Folglich lag es nahe, ein neues Tragwerk über die Saane und eine seitliche Erweiterung der Hausteinbogen Seite Mauss zu erstellen. Für die neue Konstruktion durften keine Pfeiler im Flusslauf erstellt werden, und die bestehenden Widerlagerstandorte waren zu übernehmen. Verstärkungen der Widerlager oder Auflager der neuen Konstruktion durften ausserdem die lichte Flussbreite nicht reduzieren. Falls die Teilnehmenden die Stahlfachwerkträger beibehalten wollten, war die Machbarkeit entsprechend nachzuweisen. Des Weiteren sollte die Realisierung grundsätzlich unter Aufrechterhaltung des Bahnbetriebs erfolgen. Zulässig war eine einmalige Vollsperrung der Strecke von maximal vier Wochen. Das öffentliche Strassennetz konnte für die Baulogistik grundsätzlich genutzt werden, und es war möglich, die Bahnlinie für den An- und Abtransport zu nutzen. Die an den Viadukt angrenzenden Flächen konnten Installationen aufnehmen, wobei die temporär verstellten Bereiche möglichst klein zu halten waren, da es sich um Kulturland mit entsprechendem Ertragsausfall handelt.

Diese vielen Rahmenbedingungen waren für die Ausarbeitung des Studienauftrags sehr einschränkend. Dennoch waren die eingegangenen Lösungsvorschläge überraschend und erfreulich vielfältig (vgl. «Die Preisträger», S. 24, und «Weitere Projekte», S. 26).


Anmerkungen:
[01] Der Artikel basiert auf dem Beurteilungsbericht «Doppelspurausbau Mauss–Gümmenen: Saaneviadukt. Studienauftrag im selektiven Verfahren», April 2013, BLS Netz und dem Beitrag zum Gutachten der EKD und der ENHK von Eugen Brühwiler und Alix Grandjean, Oktober 2006.
[02] Im Juni 1997 fusionierte die Bern-Neuenburg-Bahn zusammen mit der Spiez-Erlenbach-Zweisimmen-Bahn, der Gürbetal-Bern-Schwarzenburg-Bahn und der Berner Alpenbahngesellschaft BLS (Bern–Lötschberg–Simplon) zur BLS Lötschbergbahn.
[03] Schweizerische Bauzeitung, Albin Beyeler, «Die neue Bern-Neuenburg Bahn: Direkte Linie», Vol. 39, 4. Januar 1902, S. 7.
[04] Auszuarbeiten war ein reduziertes Vorprojekt nach SIA 103:2003 (exkl. Kostenschätzung) für den Doppelspurausbau des Saaneviadukts zwischen Mauss und Gümmenen.
[05] Zustandsbericht Ingenieurbüro Emch   Berger, Bern, Saaneviadukt Gümmenen – Zustandserfassung, 6. 2. 2006.
[06] Prof. Dr. Eugen Brühwiler, EPFL-MCS-Bericht Nr. 230805.1, BLS: Doppelspurausbau Rosshäusern–Gümmenen, Saaneviadukt Gümmenen, Verformungen – Interpretationen d

TEC21, Fr., 2013.06.14



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2013|25 Saaneviadukt erweitert

14. Juni 2013Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Mit Weitwinkeleffekt

Seit Ende März 2013 steht das Siegerprojekt des Studienauftrags für den Ausbau des Saaneviadukts fest. Der Ausbau des Denkmals auf Doppelspur wird eine sichtbare Veränderung des Erscheinungsbilds zur Folge haben. Da kommt vorerst Wehmut auf, denn der Wert des bestehenden Viadukts ist hoch: Trotz seiner Grösse bettet er sich erhaben in die Umgebung ein. Während die markanten Mauerwerksbögen beschwingt die Vorlandbereiche überziehen, überspannt das leichte Stahlfachwerk das Hauptfeld über die Saane. Das Bauwerk ist eine beachtliche ingenieurtechnische Leistung. Ist ihm das Siegerprojekt von Fürst Laffranchi Bauingenieure mit Flury und Rudolf Architekten, Sieber Cassina   Partner sowie Uta Hassler ebenbürtig?

Seit Ende März 2013 steht das Siegerprojekt des Studienauftrags für den Ausbau des Saaneviadukts fest. Der Ausbau des Denkmals auf Doppelspur wird eine sichtbare Veränderung des Erscheinungsbilds zur Folge haben. Da kommt vorerst Wehmut auf, denn der Wert des bestehenden Viadukts ist hoch: Trotz seiner Grösse bettet er sich erhaben in die Umgebung ein. Während die markanten Mauerwerksbögen beschwingt die Vorlandbereiche überziehen, überspannt das leichte Stahlfachwerk das Hauptfeld über die Saane. Das Bauwerk ist eine beachtliche ingenieurtechnische Leistung. Ist ihm das Siegerprojekt von Fürst Laffranchi Bauingenieure mit Flury und Rudolf Architekten, Sieber Cassina   Partner sowie Uta Hassler ebenbürtig?

Das Siegerprojekt fällt durch das neue Stahlfachwerk mit seiner dynamischen Wirkung auf. Es überrascht damit und widerspiegelt so gar nicht die starren und vor allem zahlreichen Rahmenbedingungen, die der Studienauftrag gestellt hatte. Neben den technischen Vorgaben (vgl. «Noch ist der Viadukt einspurig», S. 14) galt es für die Planerteams vor allem auch den Wert des knapp 112 Jahre alten Baudenkmals zu respektieren. Es gilt als Zeuge der industriellen und verkehrstechnischen Entwicklung des späten 19. Jahrhunderts. Ausserdem ist es im Bauinventar des Kantons Bern als schützenswertes Objekt verzeichnet; gemäss kantonalem Baugesetz sind solche Baudenkmäler ungeschmälert zu bewahren. Diese Vorgaben schränkten den Spielraum für Lösungen ein.

Der Saaneviadukt ist wertvoll

Der bestehende Saaneviadukt ist klar gestaltet und besteht aus drei Teilen: der Damm auf Seite Gümmenen, die Steinviadukte in den Vorlandbereichen und das Stahlfachwerk über der Flussquerung (vgl. «Noch ist der Viadukt einspurig», Abb. 3 und 4, S. 16). Zusammen bilden sie ein Ensemble, das die umliegende Landschaft prägt. Insbesondere der Damm und der Steinviadukt auf der Seite Gümmenen dominieren die Talebene. Das Fachwerk ist vor allem im Sommer weniger sichtbar. Neben seinem Situationswert und seiner historisch-kulturellen Bedeutung hat das Ensemble auch einen hohen emotionalen und ästhetischen Wert. Für die BLS ist es die grösste Kunstbaute der Strecke, die einen Liebhaberwert aufweist. Die regelmässigen Viaduktbögen sind harmonisch gestaltet, und die rechteckförmigen, sich nach oben verjüngenden Pfeiler mit den grob behauenen Jurakalksteinen sind kräftig und versinnbildlichen Stand- und Tragfähigkeit – ihr Tragvermögen ist bei Weitem noch nicht ausgeschöpft (vgl. «Noch ist der Viadukt einspurig», Kasten S. 16). Der leichte einfeldrige Stahlträger mit zweifachem Strebenzug mit Pfosten wirkt filigran und zeigt sich noch im Originalzustand. Die Filigranität erhält der Träger vor allem durch die Struktur der genieteten Flach- und Walzprofile. Mit ihren Kanten bewirken sie ein Schattenspiel, das den Profilen vermeintlich ihre wahre Abmessung nimmt – so erscheinen die Flacheisen breiter als die U-Profile, obwohl ihre Abmessungen gleich sind (Abb. 2).

Das Erscheinungsbild wird sich verändern

Der ausgebaute Saaneviadukt soll den ursprünglichen Charakter behalten. Das Team um Fürst Laffranchi Bauingenieure fügt deshalb in seinem Siegerprojekt die neuen Bauteile nicht im Kontrast zum Bestand ein. Die Pfeiler und die Gewölbe werden generell in Steinmauerwerk instandgestellt und die erforderlichen Verbreiterungen des Viadukts in gleicher Gestalt und Materialisierung weitergebaut. Die Rhythmisierung des bestehenden Bauwerks durch die Gruppenpfeiler des Steinviadukts wird beibehalten und wie bisher durch die Lage der Fahrleitungsmasten akzentuiert.

Trotzdem wird sich das Erscheinungsbild verändern, denn an allen drei Teilen des Ensembles – Damm, Viaduktbögen und Fachwerk – sind die Eingriffe für den Ausbau sichtbar. Der bestehende Damm wird ohne Stützbauwerke verbreitert, damit der Viadukt nach wie vor am Damm endet und seine ursprüngliche Gestalt bewahrt. Die erforderlichen Anpassungen resultieren aus der Erhöhung der Nivellette von 0.72 m im Bereich der Brücke sowie aus dem zusätzlichen Flächenbedarf und den vergrösserten Radien im Grundriss. Teile des Trockenstandorts von nationaler Bedeutung können erhalten werden.

Markante, aber feine Linie auf der Mauerwerkskrone

Der neue doppelspurige Betonschottertrog, der den Viadukt auch neu abdichtet, kragt weit über die bestehende Viaduktkante aus und erscheint neu als markante Linie auf der Talquerung. Die beidseitige Auskragung von 3.35 m, die sich im Regelquerschnitt aus den Anforderungen an die neue Fahrbahn ergibt, ist über die gesamte Brückenlänge konstant und nicht strukturiert. Sie ist von Weitem sichtbar. Der Schattenwurf betont die Horizontale zusätzlich – vor allem bei hohem Sonnenstand, wenn der Schatten bis tief ins Mauerwerk auf halbe Viadukthöhe ragt. Immerhin entschärft die aufwärts gerichtete Trogunterseite diesen Effekt, und die gleichbleibende Auskragung über die gesamte Bauwerkslänge erzeugt ein ruhiges Schattenbild. Im Siegerprojekt liegt der neue Trog auf dem bestehenden Mauerwerk, nachdem der vorhandene vollständig abgetragen ist. Dies verdeutlicht, dass der Unterbau die Mehrlasten abtragen kann und seinen Dienst noch lange nicht getan hat. Der Trog wirkt als Versteifungsträger über die Steinbogenöffnungen und wird grau belassen, womit die Bauteile mit ihrer unterschiedlichen Funktion und Geschichte ablesbar bleiben. Die Stirnansicht verläuft durchgehend vom Damm bis zum Widerlager auf Seite Mauss und bindet so die Viaduktbögen und Fachwerkträger zusammen.

Diese Zusammenbindung geschieht nicht nur optisch, sondern auch statisch: Der in Längsrichtung vorgespannte Schottertrog verbindet nämlich die Natursteinpfeiler und gibt den Mauerwerksbögen zusätzliche Steifigkeit, insbesondere für nicht affine Belastungen. Er ist in Längsrichtung in nur drei Abschnitte von etwa 90 m Länge unterteilt, damit auf eine Schienendilatationsvorrichtung verzichtet werden kann. Über die Verbindung zwischen Trog und Mauerwerk kann ausserdem eine genügend grosse Zugkraft aktiviert werden, um den infolge Bewegungen verschobenen Widerlagerpfeiler wieder in die ursprüngliche Lage zu führen. Eine Verspannvorrichtung, mit der die bestehende Fachwerkbrücke 1944 versehen werden musste (Abb. 2), braucht die neue Stahlbrücke also nicht mehr.

Die bestehende Fachwerkbrücke wird ersetzt

Eine weitere hervorstechende Veränderung ist die neue Brücke über die Saane. Das bestehende Stahlfachwerk zwischen den beidseits des Flusses liegenden Kalksteinviadukten wird durch eine neue Stahlfachwerkverbundbrücke ersetzt, weil die Querschnittsabmessungen im Hinblick auf die künftige Nutzung nicht ausreichen. Verstärkungsmassnahmen hätten das Erscheinungsbild der bestehenden Brücke unerwünscht stark geprägt. Die neue Saanequerung wird wie das historische Vorbild mit einem Fachwerk ausgeführt. Es besteht aus rechteckigen, unterhaltsfreundlichen und gegen Ermüdung tauglichen Hohlkastenprofilen, die über ausgerundete Knoten zusammengeschweisst sind. Es fällt durch seine Ausfachung auf: Die Maschenweite des Fachwerks passt sich an die Grenzwertlinie der Schubbeanspruchung an und folgt damit der Bedingung V × cot (α) = konstant, wobei mit α §die Neigung der Diagonalen gemeint ist. Damit wird die Ausfachung gleichmässig und statisch sinnvoll ausgenutzt. Das Fachwerk beginnt also an den Auflagern dichter und wird im Feld allmählich transparenter. Ausserdem wird die Zunahme der Zugkraft im Untergurt durch den gegen die Flussmitte anwachsenden Gurtquerschnitt erkennbar. Der Obergurt, der direkt mittels Kopfbolzendübel mit der Betonplatte des Schottertrogs verbunden ist, weist kleinere Abmessungen auf. Der Kräfteverlauf ist also ablesbar. Dies bewirkt insbesondere in der frontalen Ansicht, aber auch in der Seitenansicht eine optische Täuschung.

Wie bei einem Weitwinkeleffekt scheint sich das Fachwerk nach vorn zu wölben (Abb. 6). Wegen der gleichbleibenden Auskragung des Trogs, der sich gegen Mauss hin infolge der Gleisachsverschiebung verbreitert (Abb. 5), ist der unterwasserseitige Träger gekrümmt. Dies führt am Untergurt zu Ablenkkräften, die über biegesteif angeschlossene Querträger auf beide Gurten verteilt werden. Diese Rahmenwirkung erhält auch die Trägerform im Feld. Querverbände sind nur an den Brückenenden angeordnet, wo sie ebenfalls die Form des Trägers erhalten, aber auch Beanspruchungen quer zur Fahrbahn einleiten (Abb. 4). Im bestehenden Fachwerk ist die Form konstant, und die einzelnen Bauteile variieren in ihrer Stärke. Das moderne Fachwerk hingegen fällt mit einer variablen Form und dafür konstanten Bauteilabmessungen auf. Jede Konstruktion widerspiegelt ihren Zeitgeist. Die Stahlfachwerkverbundbrücke reizt neue statische Erkenntnisse aus, die beim Bau der alten noch nicht zur Verfügung standen – die erste echte Verbundbrücke für eine Schweizer Eisenbahn liess die SBB beispielsweise erst in den 1940er-Jahren bauen. Mit den variabel angeordneten Streben erreichen die Verfasser trotz der Hohlkastenprofile mit ihrer flachen Aussenform eine ähnliche Transparenz und Filigranität, wie sie das bestehende Fachwerk mit seinen Walzprofilen aufweist. Schliesslich erzielen sie mit der speziellen Ausfachung ein günstiges Verhältnis von Material- und Arbeitsaufwand, das wiederum umgekehrt proportional vergleichbar ist mit der ursprünglichen Konstruktion.

In eine neue Epoche überführt

Der neue Fachwerkträger als Hauptmerkmal des angepassten Saaneviadukts fesselt einen insofern mehrfach. Ohne beim Ausbau auf historisierende Elemente zurückzugreifen, nimmt die moderne Konstruktion Form und Materialisierung des bestehenden Fachwerks auf.

Eine neue Epoche beginnt, in der der Saaneviadukt mit einem veränderten Bild erscheint, seinen Charakter aber bewahrt. Wie so oft aber ist auch diese Beurteilung nur vorläufig, denn wie die Brücke wirken wird, wenn sie denn tatsächlich steht – die BLS geht davon aus, sie bis 2019 in Betrieb zu nehmen –, darauf darf man gespannt sein. Dann zeigt sich definitiv, ob das Siegerprojekt dem historischen Denkmal ebenbürtig ist. Wie die Jury sagt: Das Potenzial dafür ist da.


Der Artikel basiert auf dem Technischen Bericht des Teams um Fürst Laffranchi Bauingenieure, Oktober 2006.es Ergebnisse, 7. 9. 2009.

TEC21, Fr., 2013.06.14



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TEC21 2013|25 Saaneviadukt erweitert

«Der Alte Albulatunnel bleibt Teil des Systems»

Der rund sechs Kilometer lange Einspurtunnel zwischen Preda und Spinas auf der Albulalinie genügt den heutigen Anforderungen an Bahntechnik und Sicherheit nicht mehr. Ab 2014 soll ein neuer Albulatunnel gebaut, der bestehende ab 2021 als Sicherheitstunnel genutzt werden. Eine nachvollziehbare Entscheidung, die aber auch Wehmut auslöst. TEC21 hat sich mit Projektbeteiligten über Gestaltung, Erhalt und Neubau der Anlage unterhalten.

Der rund sechs Kilometer lange Einspurtunnel zwischen Preda und Spinas auf der Albulalinie genügt den heutigen Anforderungen an Bahntechnik und Sicherheit nicht mehr. Ab 2014 soll ein neuer Albulatunnel gebaut, der bestehende ab 2021 als Sicherheitstunnel genutzt werden. Eine nachvollziehbare Entscheidung, die aber auch Wehmut auslöst. TEC21 hat sich mit Projektbeteiligten über Gestaltung, Erhalt und Neubau der Anlage unterhalten.

TEC21: Der Bau eines neuen Albulatunnels ist beschlossen, das Genehmigungsverfahren läuft, der Baubeginn ist für 2014 geplant. Ist noch mit relevanten Einsprachen zu rechen?
Christian Florin (C. F.): Wir haben früh den Dialog mit Vertretern der Denkmalpflege, der Raumplanung und verschiedener Umweltverbände gesucht, um Überraschungen während des Verfahrens zu vermeiden. Wir rechnen zwar mit Auflagen, aber nicht mit einem No-Go. Nach intensiven Diskussionen unterstützt nun auch das Bundesamt für Kultur (BAK) den Neubau. In einem Gutachten der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege (EKD) vom Dezember 2010 im Auftrag des BAK bevorzugten die Autoren die Instandsetzung des bestehenden Albulatunnels. Wir haben diese Variante geprüft, uns dann aber mit Zustimmung der Denkmalpflege für den Neubau entschieden.

TEC21: Was passiert mit dem alten Tunnel?
Werner Kradolfer (W. K.): Der alte Tunnel ist als Sicherheitstunnel Bestandteil des Systems. Er wird nicht zu einem Denkmal ohne Nutzen.
Paul Loser (P. L.): Auch Unterhaltsarbeiten lassen sich so besser planen und leichter erledigen.
Jürg Conzett (J. C.): Das Positive am Entscheid, einen neuen Tunnel zu bauen, ist, dass der alte als Ganzes erhalten bleibt. Nun muss man sorgfältig mit ihm umgehen. Es leuchtet ein, dass ein Neubau der Instandsetzung unter Betrieb vorgezogen wird. Zu wissen, dass es hier einen Tunnel gibt, der die Bautechnik um 1900 dokumentiert, das ist doch etwas Wertvolles. Wichtig sind die Fragen: Wie erhält man den alten Tunnel? Was passiert nachher dort drin? Wie werden die Portalbereiche gestaltet?

TEC21: Was sagt die Bündner Denkmalpflege dazu?
Johannes Florin (J. F.): Der Albulatunnel ist ein wesentlicher Teil des Unesco-Welterbes. Die Welterbekandidatur lief 2008 parallel zu den Anfängen der Projektierung. Schon damals stand fest, dass der Tunnel an die heutigen Anforderungen angepasst werden muss. Die Befürchtung, ihn nicht anrühren zu dürfen, lag in der Luft. Deshalb gab es von Anfang an eine intensive Zusammenarbeit mit der EKD. Was bedeutet eine Baumassnahme für die Kandidatur? Geht es um die Bausubstanz? Muss der Tunnel seine Funktion behalten? Die EKD schlug eine Variante vor, bei der der alte Tunnel die Funktion behält und ein neuer Fluchtstollen gebaut wird, also die alte Linie mit neuer Bahntechnik weiter besteht.

TEC21: Das heisst, die Rhätische Bahn (RhB) gewichtete andere Argumente höher als den Betriebserhalt des bestehenden Tunnels?
P. L.: Die bautechnische Beurteilung inklusive Kosten, die Sicherheit und die Nachhaltigkeit des Bauvorhabens wurden mit unabhängigen Sachverständigen diskutiert. Bei der Sicherheit haben wir schnell gesehen, dass ein Neubau in Kombination mit dem bestehenden Tunnel einen Sicherheitsstandard bietet, der die Anforderungen heute und künftig erfüllt und mit dem die Fahrgäste im Ereignisfall durch den zusätzlichen Fluchttunnel eine faire Überlebenschance haben. Demgegenüber wurde das Sicherheitsniveau der Variante «Instandsetzung» als sehr schlecht beurteilt. Hinsichtlich der Rettung von Passagieren aus dem Tunnel bei Brand würde das Sicherheitsniveau dem vor 110 Jahren entsprechen. Der Neubau hat dagegen ein hohes Sicherheitsniveau. Brandszenarien bei Zügen beziehungsweise Lokomotiven kommen zwar selten vor, aber heute werden alle modernen Bahnsysteme auf diese Szenarien ausgerichtet. Aufgrund des höheren Sicherheitsniveaus und trotz der höheren Kosten hat sich die RhB für für die Variante «Instandsetzung» entschieden.

TEC21: Wie stark unterscheiden sich die Kosten für die Instandsetzung und den Neubau?
P. L.: Wir haben einen Preisunterschied von 10 bis 15 % ermittelt. Für das vorliegende Neubauprojekt inklusive Umbauten an den Bahnhöfen Preda und Spinas rechnen wir mit rund 345 Millionen Franken.

TEC21: Diese Differenz ist erstaunlich klein. Heisst das, der Neubau fällt günstig aus?
P. L.: Nein, eine Instandsetzung unter Betrieb ist sehr aufwendig und teuer. Wir hätten neue elektro- und bahntechnische Anlagen einbauen, die Sohle absenken und instand setzen, einzelne Gewölbeabschnitte ersetzen und die Gleise neu verlegen müssen.
C. F.: Die Lebenszykluskosten zeigen vor allem, dass sich der Neubau langfristig auszahlt. Bei den Sicherheitsüberlegungen spielt auch die Sicherheit während des Baus eine entscheidende Rolle. Ausserdem bedeutet Bauen unter Betrieb in einem Einspurtunnel nur rund fünf Stunden produktive Arbeit pro Nacht – das bedeutet fast zehn Jahre Bauzeit.
P. L.: Wir haben bei Instandsetzungen unter Betrieb auch schon schlechte Erfahrungen gemacht. Beim Tasnatunnel im Unterengadin kam es zu einem Tagbruch. Die Linie musste neun Monate stillgelegt werden. Das Risiko, für sieben bis acht Jahre am Albulatunnel keinen sicheren Betrieb zu haben, floss in die Güterabwägung ein.

TEC21: Oft ist die Vorgeschichte interessant. Gab es weitere Projektideen?
C. F.: Eine Idee war, einen neuen Fluchttunnel zu bauen und den alten Bahntunnel instand zu setzen. Aber der wäre danach nicht mehr der alte, denn das heutige Lichtraumprofil reicht nicht aus. Gewisse Güterzüge könnten die Strecke nicht mehr befahren. Auf diese Wertschöpfung sind wir aber angewiesen.
P. L.: Wir haben diskutiert, ob der neue Tunnel rechts oder links vom heutigen Tunnel liegen soll und wie die Einführung in den Berg aussehen könnte. Die aktuelle Lösung ist technisch ausgereift und überzeugt gestalterisch auch aus Sicht der Denkmalpflege.
J. F.: Abschliessend muss die Unesco-Kommission in Paris beurteilen, ob dieser Eingriff in das Streckendenkmal den Welterbestatus in Frage stellt. Die Gefahr gilt aber als gering. Die Diskussion zeigte vor allem, dass sich die denkmalpflegerischen Aspekte nicht nur auf den Tunnel beziehen, sondern auf die gesamte Strecke.
P. L.: Eine Eisenbahn muss sich verändern und weiterentwickeln können, das ist ein Wert einer kulturellen Anlage. Bei der Eingabe des Unesco-Dossiers hat die RhB darauf hingewiesen, dass ein Neubau im Rahmen des Weltkulturerbes möglich sein müsse.

TEC21: Wie sieht der Innenausbau des Sicherheitsstollens aus?
W. K.: Die Gleise werden entfernt und durch eine befahrbare Piste ersetzt. Seitlich bleibt ein Schotterstreifen für die Entwässerung erhalten. Das gemauerte Gewölbe bleibt so weit wie möglich unangetastet. Wo es nötig ist, werden wir es ersetzen, sodass der Tunnel während der kommenden 50 Jahre benutzt werden kann. Problematisch ist nicht das vorhandene Mauerwerk, sondern die Sanierungsmassnahmen der letzten 40 bis 50 Jahre.
P. L.: Damit der Fluchtweg im Ereignisfall unter Überdruck gesetzt werden kann, werden im Abstand von 200 m vom Portal auf der Seite Preda und 400 m ab Portal auf der Seite Spinas zwei Lüftungszentralen mit je einem Ventilator und einer Durchgangsschleuse angeordnet. Wir haben viele Schäden an unseren Bauten durch eindringendes Wasser oder Frost, durch die Schleusen verbessern sich die klimatischen Verhältnisse im Tunnel. Heute friert er von beiden Seiten rund zwei Kilometer ein. Das zehrt an der Substanz.
W. K.: Zwei Kavernen und zwölf Querverbindungen im Abstand von 425 m, 435 m bzw. 460 m werden an geologisch günstigen Stellen gebaut. Der Bau der Kavernen bedingt Eingriffe in die bestehende Bausubstanz auf 20 bis 25 m. Der grosse Teil des Albulatunnels bleibt aber erhalten – unverkleidet bleibt der nackte Fels weiterhin sichtbar. Als Bahntunnel hätte der bestehende Tunnel vollständig neu ausgekleidet werden müssen. Als Sicherheitstunnel sind die Anforderungen nicht mehr ganz so hoch. Durch seine Funktion wird er weiterhin unterhalten, ohne eine Funktion würde er mit der Zeit Schaden nehmen.

TEC21: Herr Conzett, Sie haben die Vorstudie für die Gestaltung der Portalbereiche erarbeitet, die dem Wettbewerb als eine Art Testplanung diente. Was war das Ergebnis?
J. C.: Das Ziel war, die Gleisgeometrie der Röhren so zu legen, dass man keine Sachzwänge produziert, die man später bereut. Wichtig war die Anordnung der neuen Portale. Rückblickend hätten wir mehr diskutieren können. Ich habe bei einigen Punkten nur angemerkt, dass wir darüber reden sollten – zum Beispiel, dass die eine Röhre ein Gleis hat und die andere nicht. Wie wirkt ein Tunnelloch ohne ein Gleis? Wie geht man mit diesem schwarzen Loch um? Heute bedauere ich, dass wir das nicht detaillierter betrachtet haben.
C. F.: Viele Abhängigkeiten sehen wir erst heute. Jürg Conzett hatte einen klaren Auftrag, und wir mussten mit einem Modell oder einer Visualisierung zeigen, was die Doppelportale bedeuten. Heute schauen wir es mit einer gewissen Distanz an.
P. L.: Distanz ist ein gutes Stichwort. Es dauert noch, bis die Arbeiten 2021 am Sicherheitstunnel beginnen, und wir haben ausreichend Zeit, die Gestaltungsplanung zu reflektieren.
C. F.: Ideen für eine Nutzung werden viele an uns herangetragen, ob als wintersichere Autoverbindung oder als Schleichweg, z. B. für Jäger. Als Sicherheitstunnel kann er nicht für jedermann offen sein, denn durch die Querschläge gelangt man direkt auf das Streckengleis.
J. C.: Öffentliche Führungen durch den Tunnel bei besonderen Anlässen, im Zusammenhang mit Aktivitäten des Bahnmuseums Bergün, erscheinen mir im Interesse einer Vermittlung sonst unzugänglicher Ingenieurleistungen sinnvoll.
W. K.: Man darf die Attraktivität aber auch nicht überschätzen. Wer nicht bautechnisch versiert ist und interpretieren kann, was warum und wie gebaut wurde, schaut auf ein Loch, das über den Grossteil der Strecke gleich aussieht. Ausserdem existieren solche schwarzen Löcher auch anderswo und stören dort nicht. Beim Simplon- oder Gotthardtunnel zum Beispiel sind die früheren Eingänge der Richtstollen noch als schwarze Löcher zu sehen. Sie haben heute auch eine andere Funktion. Unbefriedigend an der Situation am Albula ist, dass die neue Nutzung des alten Tunnels künftig nicht ersichtlich ist. Das ist eine herausfordernde Aufgabe für die Arbeitsgruppe Gestaltung.

TEC21: Die zwei Tunnelportale sind technisch eine Symbiose und gestalterisch ein Zwilling. Ist das ein konzeptionelles Problem?
J. F.: Ja, in Preda beispielsweise führen die Gleise direkt auf das alte Portal zu, biegen dann leicht links in den nach hinten versetzten neuen Tunnel ab, das vordere Portal ist leer. Eine Lösung könnte sein, dieses mit zwei Holztoren analog der heutigen Schneetore zu schliessen. Zwar wäre dies gestalterisch umsetzbar, doch bisher funktioniert das mit der Lüftung nicht. Die Überlegungen, wie wir mit der Symbolik umgehen, müssen noch reifen.
J. C.: Mich fasziniert der Zusammenhang Station, Tunnel, Berg. Wenn man von Preda zum Tunnel schaut, sieht man dahinter in einer Linie den Berg, auf dem seinerzeit das Vermessungssignal stand. Das zeigt, wie die Menschen im 19. Jahrhundert gebaut haben: Sie mussten gerade durch den Berg. Erstens, weil so vermessen wurde, und zweitens, weil man die Geologie nicht differenziert genug kannte. Das ist etwas, was jeder begreift. Eine klare Aufgabe, die im Einzelnen unendlich schwierig war. Diese Bauten hatten und haben eine überwältigende Einfachheit und Grösse. Diese Einfachheit kann nicht erhalten bleiben. Das ist ein Verlust. Chancen sind aber vorhanden und müssen berücksichtigt werden, wie bei den Mauerwerksviadukten auf der Albulastrecke, die sehr wohl instand gesetzt werden können. Dort haben wir das Glück, dass die Bausubstanz, die man auch aus kulturellen Gründen erhalten möchte, genügend Möglichkeiten bietet. Beim Tunnel ist die Problematik allerdings eine andere und vergleichbar mit dem Farbtobelviadukt in Peist, der die gestellten Anforderungen nicht mehr erfüllen konnte. Dort entschied sich die RhB, eine neue Brücke neben der alten zu bauen. Die historische Natursteinbrücke bleibt als Denkmal erhalten.

TEC21: Hat man sich Gedanken gemacht, das historische Ensemble zu umfahren, um seine Substanz zu konservieren?
C. F.: Ich wehre mich dagegen, eine Museumsbahn zu werden. Das bestehende Ensemble soll genutzt und unterhalten und damit erhalten bleiben. Mit der gewählten Lösung können wir die Gebäude am besten nutzen. Teilweise werden sie verschoben und nach Bauende wieder zurückgeschoben oder anders positioniert.
P. L.: Das Bauprojekt geht von Einfahrweiche bis Einfahrweiche. Die Bahnhöfe Preda und Spinas sind Teil des Projekts und Gesamtbilds. Es gibt einen Masterplan zum Umgang mit dem bauhistorischen Inventar. Inventarisiert sind die Gebäude der Gründerzeit und beim Bahnbau hinterlassene Spuren im Gelände. Die prägenden Aufnahmegebäude können am heutigen Standort belassen werden, andere Objekte werden an einem neuen Standort ins Gesamtbild eingefügt. Von weniger prägenden Strukturen wird man sich aufgrund der Bautätigkeit trennen müssen.
J. F.: Das ist das Spezielle am Albula: In den Vorbereichen in Spinas und Preda sieht man links und rechts der Gleise noch die Baustelleninstallation und die Gebäude von 1903. Sogar die Fundamente einiger Holzbaracken, die Trasseen der Materialbahnen und die Vermessungsinstallationen sind noch erkennbar. Dieses Umfeld zu verlassen wäre ein Verlust. Und es wäre ein Verlust, dies mit einer Neubauinstallation zu zerstören. Erstaunlich ist, dass selbst die geplante neue Baustelleninstallation ähnlich aussieht wie vor hundert Jahren und nicht mehr Platz beanspruchen wird als dazumal. Die Gebäude in den Vorbereichen können deshalb weitgehend erhalten werden. Wir haben die Chance, etwas zu verbessern und für heute ungenutzte Gebäude eine Lösung zu finden, sie erlebbar zu machen und wieder besser einzubinden.
C. F.: Man muss tatsächlich auch das Positive sehen: Wir können zum Beispiel den Schneefang über dem alten Portal bei Preda abhängen und ihm damit seinen ursprünglichen Charakter zurückzugeben.

TEC21: Der Albulatunnel ist der längste auf der Strecke, aber nicht der einzige. Und bestimmt auch nicht der einzige, der instand gesetzt werden muss. Ist die Entscheidung, die für den Albulatunnel gefällt wurde, beispielhaft für die anderen Tunnel auf der Linie?
P. L.: Die RhB arbeitet zurzeit an einer Normalbauweise, um alle Tunnel nach einem Standard instand setzen zu können. Aus Sicherheits- und Bahntechnikgründen müssen die Lichtraumprofile vergrössert werden, das heisst bestehendes Mauerwerk abgebrochen und erweitert werden. Aber in den Portalbereichen zeigt sich die Situation immer wieder anders.
J. C.: Ein Beispiel ist der Argenteritunnel bei St. Moritz. Er schliesst direkt an eine Brücke an, die Tunnelsohle kann nicht weiter abgesenkt werden, da sonst die Höhenkoten von Tunnelsohle und Brückenfahrbahn nicht mehr übereinstimmen. Ausserdem sind die Portale ein Merkmal einer Bahnlinie, und wir möchten die Proportionen erhalten. Deshalb wird in einem solchen Fall das Portal proportional vergrössert und wieder aufgemauert.
J. F.: Der damalige Baumeister hatte sein Material für die ganze Strecke aus einem einzigen Steinbruch und mauerte alle Portale wie die übrigen Kunstbauten in der gleichen Art auf. Bei dieser schönen Materialeinheit auf der ganzen Albulalinie und dem Aufwand, den wir bei den Instandsetzungsarbeiten der Brücken betreiben, dürfen wir nicht beliebig gegen den Kanon der Strecke verstossen: Deren Material ist der Stein. Die Diskussionen in der Jury haben uns immer wieder an diesen Punkt zurückgeführt.
C. F.: Die Diskussion betrifft nicht nur den Albulatunnel. Der Handlungsbedarf bei den Kunstbauten auf der gesamten Linie ist gross. Wir haben eine Pionierleistung geerbt. 100 Jahre lang haben wir davon profitiert. Jetzt suchen wir Methoden zur Instandsetzung, die den Spagat zwischen Sicherheit, Baudenkmal, Wirtschaftlichkeit und betrieblichen Möglichkeiten schaffen.

TEC21, Fr., 2013.04.26



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TEC21 2013|18 Albulatunnel

27. Januar 2012Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Schöner parkieren

Seit Dezember 2011 zeigt sich das über 40 Jahre alte Parkhaus «Hohe Promenade » in Zürich mit einer markant verbesserten Innenbeleuchtung, einem erweiterten Zugang über die Rämistrasse und einem neuen Zugang über den Bahnhof Stadelhofen. Die Beleuchtung und das Farbkonzept der Architekten von Schindler & Zinsli betonen die klare Struktur der übereinander gestapelten «Säulenhallen». Das Generalplanerteam von Jauslin Stebler Ingenieure führte die einjährige Bauarbeit im unterirdischen Parkhaus unter Betrieb und in beengten Platzverhältnissen aus.

Seit Dezember 2011 zeigt sich das über 40 Jahre alte Parkhaus «Hohe Promenade » in Zürich mit einer markant verbesserten Innenbeleuchtung, einem erweiterten Zugang über die Rämistrasse und einem neuen Zugang über den Bahnhof Stadelhofen. Die Beleuchtung und das Farbkonzept der Architekten von Schindler & Zinsli betonen die klare Struktur der übereinander gestapelten «Säulenhallen». Das Generalplanerteam von Jauslin Stebler Ingenieure führte die einjährige Bauarbeit im unterirdischen Parkhaus unter Betrieb und in beengten Platzverhältnissen aus.

Das fünfgeschossige, unterirdische Parkhaus Hohe Promenade wurde von Gottfried Schindler zwischen 1964 und 1968 erbaut und von 1992 bis 1994 teilweise instand gesetzt. Es liegt in der Nähe des Bellevues in der Innenstadt von Zürich (Abb. 1), schiebt sich teilweise unter die vorhandene Bebauung und ist nur durch seine Zufahrt und die Zugänge von aussen wahrnehmbar. Der Fussgängertunnel zum Parkhaus liegt unterhalb der gleichnamigen, 2010 renovierten und auf die neuen Erdbebenanforderungen ertüchtigten Kantonsschule (vgl. TEC21 36/2008). Die Parkebenen und Zugänge erschienen vor dem Umbau düster, und die sicherheitsspezifischen und gebäudetechnischen Einbauten entsprachen nicht mehr den aktuellen Anforderungen. Zwischen Oktober 2010 und November 2011 wurde das Parkhaus deshalb – bis auf eine kurze Unterbrechung – unter ständigem Betrieb komplett erneuert, und die Zugänglichkeit wurde verbessert.

Unveränderte Tragstruktur

Das Parkhaus besteht im Wesentlichen aus vier Teilen: den Zufahrtsrampen, den Fussgängererschliessungen, den eigentlichen Parkgeschossen und dem Haupteingang als neu gestaltetem Kopfbau. Die übereinander gestapelten «Säulenhallen» der Parkebenen zeichnen sich durch ihre grosszügige und klare Raumstruktur mit schlanken Stützen aus (Abb. 2). Die schlaff bewehrten Pilzdecken und -stützen aus Stahlbeton waren mit den Arbeiten in den 1990er-Jahren bereits instand gesetzt worden und erforderten gemäss der Zustandserfassung vor dem Baubeginn im Januar 2010 keine weiteren Massnahmen. Die Parkgeschosse blieben in ihrer Tragstruktur unverändert. Einzig die Dilatationsfugen mussten wieder erneuert und der Hartbetonbelag von der abgenutzten Imprägnierung befreit und mit einer neuen Zweikomponentenbeschichtung versehen werden.

Neue und erweiterte Zugänge zum Parkhaus

Die einzigen von aussen sichtbaren Elemente des Parkhauses sind die Zugangs- bzw. Zufahrtsportale. Der Hauptzugang für zu Fuss Gehende und für den Autoverkehr erfolgt über die Rämistrasse. Er wird über Autozufahrtsrampen und einen 75 m langen Fussgängertunnel mit den Parkflächen verbunden. Der Fussgängerzugang wurde komplett neu gestaltet und wird im öffentlichen Raum besser wahrgenommen. Gleichzeitig erhält das Parkhaus mit der Vergrösserung des Kopfbaus mehr Transparenz. Die Absenkung des bestehenden Fussgängertunnels ermöglichte die Ausführung eines über seine gesamte Länge überblickbaren, behindertengerechten Zugangs (Abb. 5). Die Überwachungszentrale lag ursprünglich in der Mitte dieser Fussgängerverbindung und hatte kein Tageslicht. Sie wurde neu in die Stützmauer, zwischen den Einfahrten Hirschengraben und Rämistrasse, integriert. Der Arbeitsplatz in der Loge ist dadurch heller und attraktiver geworden.

Die Neugestaltung des Kopfbaus erforderte markante tragwerkspezifischen Eingriffe. Die Absenkung der Bodenplatte des Fussgängertunnels um teilweise mehr als 2.50 m erfolgte etappenweise mit Unterfangung der bestehenden Stahlbetonkonstruktion. Im Bereich von hoch belasteten Bauteilen gründet die Unterfangungswand auf vorgängig erstellten Mikrobohrpfählen, um Setzungen, vor allem an der frisch renovierten Kantonsschule, zu vermeiden. Für diese Abbruch-, Baumeister- und Spezialtiefbauarbeiten mussten zahlreiche Leitungen gekappt oder umgeleitet werden. Die engen Platzverhältnisse, insbesondere die geringe Raumhöhe, erschwerten dabei die Arbeiten, da die Bodenplatte bis zu 1.20 m stark war und entsprechend grosse und schwere Blöcke abgebrochen und abtransportiert werden mussten – spezielle Kleingeräte meisterten diese Eingriffe. Wegen des Schulbetriebs lagen diese lärmintensiven Arbeiten zudem auf den unterrichtsfreien Zeiten und Randzeiten. Die Bauunternehmung musste sich an strikte Sperrzeiten halten.

Die Erweiterung des Kopfbaus über drei Geschosse erforderte den Abbruch bestehender Gebäudeteile, früherer Bauhilfsmassnahmen zur Sicherung der Baugrube (Rühlwand) und eines Teilbereichs der Stützmauer entlang der Rämistrasse. Diese Abbrucharbeiten bedingten eine etappierte Unterfangungsbauweise mit einer zweilagigen Rückverankerung. Der neue Kopfbau wurde dieser Unterfangung schliesslich vorgestellt.

Bauen von oben und Umleitung der Fussgängerwege

Die Bauarbeiten durften den Verkehr auf der stark befahrenen Rämistrasse nicht behindern, weshalb die Erweiterungsarbeiten beim Haupteingang von oben erfolgten. Der Installationsplatz wurde am Rand des Pausenplatzes der Kantonsschule nahe der Krone der Stützmauer eingerichtet. Der Fussgängerzugang Rämistrasse war während der gesamten Umbauzeit gesperrt. Alle Besucher konnten das Parkhaus zu Fuss nur über den Olgastollen erreichen. Dieser 85 m lange Stollen verläuft im Südosten des Untergeschosses Richtung Bahnhof Stadelhofen. Bis zum Umbau wurde er als Zufahrt und Parkfläche für Dauermieter genutzt.

Als Verbindung zum Bahnhof Stadelhofen und als zweiter Zugang zum Parkhaus ist er nun für den Autoverkehr geschlossen und für die Fussgänger reserviert. Zwei neue Liftanlagen gewährleisten eine behindertengerechte vertikale Erschliessung der Parkgeschosse. Mit diesem neuen Zugang gibt es eine attraktive Alternative zum Zugang über die Rämistrasse, zudem sind Seefeldquartier, See und Opernhaus bequem zu Fuss erreichbar.

Farbkonzept und Beleuchtung vermitteln Sicherheit

Materialisierung und installierte Beleuchtung auf den Parkebenen und in den Erschliessungsbereichen schaffen eine Atmosphäre, die anspricht und positiv auffällt. Sie wurde mit bescheidenen finanziellen Mitteln realisiert: Die Oberflächen in den Zufahrtsrampen und Parkdecks sind lediglich farblich gestaltet; das Material tritt in den Hintergrund. Die stark beleuchteten Längswände in den fünf Parkgeschossen mit ihren Nischen zwischen den Rippen bilden zudem «Bühnen» für die in der direkten Umgebung liegenden Kulturinstitutionen: Opernhaus, Tonhalle, Kunsthaus und Schauspielhaus präsentieren sich mit grossformatigen Bildszenarien, im 4. Geschoss der Zoo Zürich.

In den Fussgängerbereichen dagegen spielen die Architekten von Schindler & Zinsli mit den eingesetzten Materialien und deren Attributen hart und weich, lichtdurchlässig und opak, leicht und schwer. So erscheint beispielsweise die sandgestrahlte Betonoberfläche des Olgastollengewölbes in diesem grosszügigen Raum wieder in einem sauberen und roh belassenen Zustand (Abb. inneres Titelbild). Die Lichtelemente aus glasfaserverstärktem Kunststoff (GFK) an der Decke bilden dazu einen Kontrapunkt. Um ihren textilen Charakter zu wahren, wurden sie zur Aushärtung wie Tücher aufgehängt. Den Übergang zwischen den Auto- und Fussgängerbereichen bilden wiederum weisse, neutrale Räume.

Die Beleuchtung ermöglicht im Zusammenspiel mit dem Farb- und Materialkonzept eine bessere Orientierung in der Parkgarage, gleichzeitig entsteht in Verbindung mit den Projektionsflächen der kulturellen Institutionen eine gegenüber dem ursprünglichen Zustand angenehmere Atmosphäre. Insofern steigert dies auch das Sicherheitsgefühl – denn dort, wo sich Menschen wohlfühlen, fühlen sie sich auch sicher.

TEC21, Fr., 2012.01.27



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TEC21 2012|5-6 Verkehr in die Tiefe

30. September 2011Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Höhenrausch in Linz

Ein Holzsteg führt über die Dächer von Linz in Österreich und eröffnet ungewohnte Blicke auf die Stadt. Kürzlich erweiterten die Ingenieure von Conzett Bronzini Gartmann den Rundgang mit zwei Holzbrücken. Roh belassen und in ihrer Erscheinung an traditionelle Lehrgerüste erinnernd, zeigt sich die Holzkonstruktion als das, was sie ist: ein temporäres Bauwerk.

Ein Holzsteg führt über die Dächer von Linz in Österreich und eröffnet ungewohnte Blicke auf die Stadt. Kürzlich erweiterten die Ingenieure von Conzett Bronzini Gartmann den Rundgang mit zwei Holzbrücken. Roh belassen und in ihrer Erscheinung an traditionelle Lehrgerüste erinnernd, zeigt sich die Holzkonstruktion als das, was sie ist: ein temporäres Bauwerk.

Das japanische Architekturbüro Atelier Bow-Wow entwarf die Erschliessung der Dachlandschaft für die Kulturhauptstadt Linz 2009 (Abb. 1). Das Offene Kulturhaus des Landes Oberösterreich wollte damit unzugängliche Stadträume öffnen, sie mit Kunst bestücken und ungewöhnliche Blicke auf den Standort freigeben. Das Projekt war so erfolgreich, dass der verästelte Gehweg nun unter dem Namen «Höhenrausch.2» erweitert wurde: Zusätzliche Holzstege über die Dächer der Innenstadt und zwei spektakuläre Holzbrücken über einen tiefen Innenhof erschliessen einen neuen Rundgang. Die von den Ingenieuren von Conzett Bronzini Gartmann entwickelten Brückenkonstruktionen, die seit Mai 2011 begehbar sind, schliessen dabei nahtlos an das modulare Stegsystem des Ateliers Bow-Wow an.

Das Umfeld bestimmt das Konzept

Von weitem sichtbar klammern sich die beiden Holzbrücken an einen der beiden Türme der barocken Ursulinenkirche in der Innenstadt. Sie wurden in nur einer Woche aufgebaut. Die erste Brücke verbindet das Dach des Einkaufzentrums Passage mit dem Kirchturm (Abb. 1), die zweite Brücke führt wieder zurück aufs Dach des Warenhauses. Auf dieser Brücke öffnet sich der Blick in die Landstrasse, die Linzer Einkaufsmeile (Abb. 2).

So leichtfüssig sich die Konstruktionen in dieser urbanen Umgebung zeigen, so schwierig war es, sie in das komplexe Umfeld einzufügen. Ursprünglich dachte die Bauherrschaft an Hängebrücken, doch die Ingenieure wollten das Tragwerk an die Bedingungen vor Ort anpassen. Diese ergaben sich aus der engmaschigen Anordnung der umliegenden Bauwerke, der Substanz der bestehenden Gebäude und des Kirchgemäuers sowie den Anliegen der betroffenen Anwohnerinnen und Anwohner. Diese Einschränkungen waren so präzise vorgegeben, dass sich das Tragwerk aus ihnen heraus definierte – eine andere Lösung wäre gemäss den Ingenieuren nicht möglich gewesen. Vor allem die Lagerung der Brücken bestimmte das Tragwerkskonzept: Die Konstruktion im Bestand abzustützen und zu verankern, war geometrisch anspruchsvoll. Die Vermessungsarbeiten vor Ort schufen wichtige Grundlagen, sodass Neues nur wenige Zentimeter von Altem getrennt aufgerichtet werden konnte. Die Lagerungs- und Verankerungsanschlüsse sollten zudem reversibel angefertigt werden. Nach dem Rückbau in anderthalb Jahren wird nichts mehr sichtbar sein.

Spreng- und Stützwerk betten sich in die Dachlandschaft

Eine Brücke wurde als Stützwerk, die andere als Sprengwerk ausgebildet. Auf diese Weise konnten die wenigen Lagerungsmöglichkeiten genutzt werden und die vielen Stellen, wo eine Lastabtragung unmöglich oder zumindest fraglich war, unberührt bleiben. So ist das Stützwerk vom Dach des Einkaufszentrums zur Ursulinenkirche ein etwa 25 m hoher Pfeiler, von dem aus der Gehweg auf zwei Seiten auskragt. Die Brückenenden drücken praktisch nicht auf das Kaufhaus bzw. auf die Kirche – so wird die bestehende Bausubstanz von ungewünschten Zugkräften verschont und dennoch als Halterung gegen horizontale Kräfte wie zum Beispiel Windeinwirkungen genutzt.

Tragkonstruktion des Stützwerks

Der Gehweg des Stützwerks ruht auf einem 8° längs geneigten, 22.4 m weit gespannten, in regelmässigen Abständen aufgeständerten Brettschichtholzträger, der mit einem Längsträger aus Vollholz schubfest verbunden ist (Abb. 6 und 8). Dieser Brückenträger dient der seitlichen Stabilisierung und ist auf der Seite des Kirchturms horizontal und vertikal über eine Plattformkonstruktion gelagert – eine Übergangskonstruktion, die die Auflagerkräfte aus den beiden Brücken und dem aus dem Glockenturm auskragenden Balkon gleichmässig in die Kirchturmmauern einleitet (Abb. 5). Auf der Seite des Einkaufszentrums ist der Brückenträger auf Stahlschuhen gelagert, die die Horizontallasten quer zur Brücke in die bestehende Decke einleiten, sie aber vertikal praktisch nicht belasten. Der Brückenpfeiler ist als Fächertragwerk ausgebildet und besteht aus zwei Teilen: Fächerung und Stützturm. Die Fächerung aus Streben und Andreaskreuzdiagonalen fängt den geneigten Brückenträger auf und hält die Geländerpfosten. Der Stützenturm besteht aus vier Fachwerkebenen. In Querrichtung setzt er sich aus zwei Böcken (räumliche Fachwerke) mit 24 m durchschnittlicher Höhe und 4 m Breite zusammen; in Brückenlängsrichtung ist er aus zwei 24 m hohen und 4 m breiten Fachwerken zusammengestellt. Der Turm lagert auf vier Stahlschuhen, die in vorfabrizierten, seitlich im Boden gehaltenen Betonsockeln verankert sind (Abb. 9). Das Gewicht der Betonsockel gewährleistet eine begrenzte vertikale Einspannung des Turms.

Tragkonstruktion des Sprengwerks

Der Querschnitt des Sprengwerkgehwegs ist der gleiche wie derjenige des Stützwerks (Abb. 8). Die Sprengwerkpfeiler (Abb. 7) bestehen aus in Querrichtung steifen, bis 12 m hohen und 5.4 m breiten Böcken, die mit unterschiedlicher Neigung den Brettschichtholzträger auffangen und die Geländerpfosten halten. Auf der Terrasse des Einkaufszentrums stehen die Böcke auf zwei Stahlschuhen, welche die horizontalen und vertikalen Kräfte in die bestehende Attikadecke einleiten. Ausserdem fängt der Brettschichtholzträger hier die Anschlussbrücke auskragend auf (Abb. 2). Die Böcke auf der Seite des Kirchturms sind speziell gelagert: Die beiden Pfeilerfüsse stehen nicht auf dem Turmgesimse – es ist zu schwach –, sondern hängen an zwei 10.6 m langen Zugstangen (Abb. 4). Diese ziehen die vertikalen Zugkräfte vor dem Auflager bis auf die obere Kante des Kirchturmfensters hinauf und leiten sie dort in die Plattformkonstruktion ein. Die zwei Konsolen aus Brettschichtholz bei den Pfeilerfüssen sorgen dafür, dass das System nicht schaukelt. Sie leiten die horizontalen Druckkräfte über eine Aufstandsfläche von 500 × 500 mm in die Kirchturmwände.

Assoziation zwischen Temporärem Bauwerk und Gerüst

Die Nutzungsdauer von nur anderthalb Jahren war wegweisend für Planung und Ausführung. Die Ingenieure mussten nicht in der gleichen Weise auf die Dauerhaftigkeit achten wie bei einer bleibenden Holzbrücke. Es war kein schützendes Holzdach notwendig, man musste die Bauteile nicht auswechselbar planen oder darauf bedacht sein, dass die Konstruktion jederzeit ohne Hilfskonstruktionen ergänzt werden kann.

Jede Brückenkonstruktion beinhaltet nur einen verleimten Holzträger. Alle anderen Hölzer sind aus Fichten-Vollholz und können somit weiterverwendet werden. Der Einsatz von Vollholz hat gemäss den Ingenieuren zu einer gerüstähnlichen Konstruktion geführt. Sie erinnert an die Lehrgerüste, wie sie Richard Coray[1] Anfang des 20. Jahrhunderts konstruiert hat. Diese waren ebenfalls nur für eine begrenzte Zeit installiert und einfach zu demontieren.

Aus einem anderen Blickwinkel sehen

Die Stege bleiben den Besuchern und Besucherinnen bis Ende 2012 erhalten – gerade dieses Temporäre macht den Reiz des Bauwerks aus. Es erweitert die Wahrnehmung des Standortes, lässt ungewohnte Blicke in alle Himmelsrichtungen zu, rückt Details in die Nähe, die sonst weit weg und unerreichbar sind. Der Glockenturm der Ursulinenkirche, von unten klein, wirkt oben auf der Brücke gross. Die Dachlandschaft zeigt sich plötzlich in ungewohnter Schärfe. Dieser Wechsel von Massstab und Perspektive wirkt unmittelbar auf die Besucherinnen und Besucher. Ihn spürbar zu machen, war die Absicht der Bauherrschaft. Das funktioniert nicht zuletzt auch für die Ingenieurkonstruktion selber. So zeigen der Holzsteg und die beiden Brücken an diesem ungewöhnlichen Ort Details so anschaulich, wie es sonst selten zu sehen ist. Das macht den Rundgang zu einem Lehrpfad für Statik und konstruktive Lösungen.


Anmerkung:
[01] Richard Coray (1869 bis 1946) war ein Schweizer Zimmermann und Gerüstbauer. Seine Lehrgerüste ermöglichten den Bau weit gespannter Brücken aus Beton (vgl. Lehrgerüst der Salginatobelbrücke) und gelten als technische und handwerkliche Meisterwerke

TEC21, Fr., 2011.09.30



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TEC21 2011|40 Konstruktion auf Zeit

Tresor aus Nagelfluh

2007 gewannen die Luzerner Architekten Lütolf und Scheuner den Wettbewerb für den Neubau der Raiffeisenbank in Küssnacht am Rigi. Ihr Entwurf «Nagelfluh» überzeugte städtebaulich, mit guter Raumorganisation und einem lokalpatriotischen Kniff: Der Projektname weist auf das vorherrschende Gestein der benachbarten Rigi hin und stellt so den Bezug zum Standort her. Die in der Materialisierung der Nagelfluh nachempfundenen, vorfabrizierten Fassadenschwerter sind scharfkantig, glatt – fast geschmeidig – und beeindruckend präzise ausgeführt.

2007 gewannen die Luzerner Architekten Lütolf und Scheuner den Wettbewerb für den Neubau der Raiffeisenbank in Küssnacht am Rigi. Ihr Entwurf «Nagelfluh» überzeugte städtebaulich, mit guter Raumorganisation und einem lokalpatriotischen Kniff: Der Projektname weist auf das vorherrschende Gestein der benachbarten Rigi hin und stellt so den Bezug zum Standort her. Die in der Materialisierung der Nagelfluh nachempfundenen, vorfabrizierten Fassadenschwerter sind scharfkantig, glatt – fast geschmeidig – und beeindruckend präzise ausgeführt.

Die Raiffeisenbank ist die drittgrösste Bank der Schweiz. Zur Firmenphilosophie gehören neben der genossenschaftlichen Struktur insbesondere die Kundennähe und die lokale Verankerung, die auch durch die Pflege der Baukultur verwirklicht wird (vgl. Dossier Raiffeisenbank, Beilage zu TEC21 47/2006). 2006 fusionierten die Raiffeisenbanken am Rigi und Arth-Goldau zur Raiffeisenbank am Rigi mit Hauptsitz in Küssnacht. Um dem zusätzlichen Raumbedarf gerecht zu werden, lobte das Unternehmen im Frühling 2007 einen Studienauftrag mit Präqualifikation unter zehn eingeladenen Architekturbüros aus, den die Luzerner Architekten Lütolf und Scheuner für sich entschieden. Ihr Entwurf überzeugte mit der präzisen Reaktion auf die städtebauliche Ausgangslage und mit der intelligenten Umsetzung des Raumprogramms. Ausschlaggebend war aber der örtliche Bezug: Das Motiv für die Materialisierung der Fassade lieferte die Nagelfluh – ein junges Konglomerat aus Sedimentgestein mit gerundeten, farblich unterschiedlichen Gesteinskomponenten, das für die benachbarte Rigi typisch ist (Abb. 12).

Transparent und sicher

Das Grundstück, auf dem die im August 2010 eröffnete Filiale steht, liegt an der Bahnhofstrasse im Zentrum von Küssnacht (Abb. 1). Die Nutzung des Quartiers ist durchmischt, auch für den Neubau war ein Wohnflächenanteil von einem Viertel der Gesamtfläche vorgeschrieben. Die umgebende Bebauung stammt aus den 1960er- bis 1980er-Jahren und zeichnet sich durch eine gewisse Beliebigkeit sowie eine Vielfalt an Formen und Farben aus. Mit seiner nahezu quadratischen Form und der zurückhaltenden Materialisierung bildet der viergeschossige Neubau einen Ruhepol im heterogenen Stadtbild.

Leicht von der Strasse zurückversetzt, befindet sich das Gebäude in einer Linie mit den benachbarten Bauten, die Südwestfassade reagiert mit einer Schräge auf die leichte Krümmung im Strassenverlauf. Eine gedeckte Vorzone führt in den Eingangsbereich im Erdgeschoss. Aufgestellte Kunststeinschwerter mit rechteckigem Querschnitt hüllen das Gebäude bis zum Dach ein. Von der Seite betrachtet, erscheinen sie als Fläche und thematisieren damit ein Kernthema einer Bank: Das Spannungsfeld zwischen Öffnen und Schliessen, zwischen Transparenz und Sicherheit. Unterschiede im Rhythmus der Schwerter betonen die einzelnen Geschosse und die verschiedenen Nutzungen: An der Südwestfassade stehen die Schwerter im Erdgeschoss, wo die Kunden die Bank betreten, im Abstand von 2.54 m; sonst variiert ihr Achsabstand zwischen 0.64 m und 1.27 m (Abb. 1).

Gemeinsame Erschliessung, getrennte Funktionen

Auf das Entrée der Bank mit Bancomat folgt die grosse Kundenhalle. An der Nordostseite des Baus sind Einzelbüros, Besprechungs- und Nebenräume angeordnet, in den beiden Obergeschossen gibt es weitere Büros und ein grosses Besprechungszimmer. Die Erschliessung der Räumlichkeiten erfolgt vom Untergeschoss bis zum 2. Obergeschoss über eine einläufige Treppe. Ein zweigeschossiger Einschnitt in der Nordwestfassade – er gliedert den Kubus zusätzlich (Abb. 1, Abb.13) – bildet einen geschützten Aussenraum für die Mitarbeitenden der Bank. Um diesen Aussenraum herum sind im Dachgeschoss die Räume der Wohnung angeordnet, mit den Zimmern an der Nordostseite des Baus und einem grossen Wohnraum gegen Süden. Die 3.5-Zimmer-Wohnung wird über den gemeinsam mit der Bank genutzten Lift und über ein unauffällig an der Nordostseite des Baus platziertes Treppenhaus erschlossen. Ein an der südöstlichen Ecke des Kubus eingebetteter Patio erweitert den Innenraum – selbst die Vorhangschienen sind in diesen Bereich weitergezogen – um ein Viertel der Wohnfläche. Zwischen den beiden funktionalen Einheiten Bank und Wohnung gibt es keinen Sichtkontakt.

Sorgfältig verhüllt

Die Innenräume der Bank zeichnen sich durch eine Eleganz aus, die wesentlich vom sorgfältigen Einsatz der Materialien erzeugt wird. Die Wände sind komplett mit Nussbaumfurnier belegt, Türen und Einbauschränke verschwinden in der zusammenhängenden Holzoberfläche (Abb.15). Der über 100-jährige Baum, der das Furnier lieferte, stammte aus dem luzernischen Napfgebiet und musste wegen eines Sturms gefällt werden, das Holz wurde versteigert. Das aus dem Stamm produzierte Furnier reichte für eine Fläche von mehr als 1000 m², das überschüssige Material wurde für allfällige Reparaturen und Renovationen eingelagert. Der geschliffene Terrazzoboden enthält den gleichen Schwyzer Kies wie die Fassadenelemente.

Dadurch scheint der optische Übergang von Fassade zu Fussboden, von innen nach aussen, nahtlos (Abb. 11). Aus der Farbpalette der Gesteinskörnung im Terrazzo stammen auch die farblichen Akzente der ansonsten schwarzen Möbel: Die Lederober flächen der Servicemöbel im Erdgeschoss sind ochsenblutrot, die Verdunkelungsvorhänge im Sitzungszimmer dunkelgrün gehalten. Der Hintergrund ist mit weissen Vorhängen vor den Glasfassaden und ebenso gestrichenen Decken schlicht gestaltet, gebäudetechnische Elemente sollten möglichst reduziert oder ganz eliminiert werden. Neben den obligatorischen Rauchmeldern finden sich an den Decken daher lediglich die Beleuchtungskörper, die die Architekten speziell für diesen Bau entwickelt haben. Sie gewährleisten eine ausreichende Beleuchtung, ohne zu blenden, – hinter den minim abgehängten Sichtblenden befinden sich zudem die Zugänge für Zu- und Abluft.

Auch die gesamte tragende Konstruktion des Gebäudes in Massivbauweise ist unsichtbar: Die schlaff armierten Betonwände, die Flachdecken und innen liegenden, schlanken Stahlstützen an den Deckenrändern sind eingekleidet und in das architektonische Raster eingegliedert. Die Stahlstützen beispielsweise – gedrungene, mit einem Brandschutzanstrich versehene Vollstahlprofile – sind in Aluminiumbleche eingefasst. Ob ein solches Aluminiumblech hohl ist oder ein tragendes Element beinhaltet, ist nur noch auf Plänen zu erkennen (Abb. 11). Das Verkleiden des Tragwerks mag verwundern, ästhetisch macht es durchaus Sinn: Die regelmässig angeordneten, identischen «Stützen», die wiederum die Abmessungen und den Rhythmus der äusseren Fassadenschwerter übernehmen, schaffen eine visuelle Ruhe im Inneren.

Präzis und scharfkantig

Den gleichen Ansatz verfolgt die Fassade. Hier schaffen einheitlich dimensionierte und materialisierte Elemente ein ausgewogenes Bild. Der Kräftefluss lässt sich in der Anordnung der Schwerter vermeintlich ablesen, tatsächlich tragen die Fassadenschwerter aber nur ausnahmsweise, wie teilweise im Erdgeschoss. Auch diese bautechnisch verschiedenen Elemente behandelten die Planenden nicht unterschiedlich: Die Nagelfluh ist Vorbild für die Materialisierung der Schwerter aus vorfabriziertem Beton – ob sie tragen oder nicht. Die Fassadenelemente, die einen Querschnitt von 35 × 16 cm und eine maximale Länge von 7.20 m aufweisen, bestehen aus hochfestem Stahlbeton. Dieser wird mit einem gebrauchsfertig vorgemischten Bindemittel auf Portlandzementbasis[1] und mit einer Gesteinskörnung von 0–16 mm hergestellt. Durch Zusätze von Fliessmittel, Entlüfter und Schwindreduktionsmittel werden die Verarbeitungseigenschaften optimiert und ein dichtes Betongefüge erzielt.

Der Wasser/Bindemittel-Wert liegt dabei unter 0.2. Durch die hohe Frühfestigkeit des Betons – der Beton für Küssnacht erreichte am 7. Tag eine Druckfestigkeit von 71.44 N/mm2 – konnten die Elemente bereits nach nur sechs Stunden ausgeschalt und nur einen Tag nach dem Betonieren betonwerksteinmässig bearbeitet werden; eine Zwischenlagerung der Ele- mente entfiel. Wegen seiner geringen Porosität konnten die gegossenen und mit vorfabrizierten Körben schlaff armierten Elemente ohne vorheriges Schlämmen direkt geschliffen werden.

Die Vorfabrikanten schliffen und polierten die Elementoberfläche mit einer eigens für dieses Projekt entwickelten Maschine mit fahrbarem Schleifkopf. Aus architektonischer Sicht war es dabei wichtig, dass die vielfarbigen Rundkiese des 16er-Korns aus der Innerschweiz nicht nur angeschliffen wurden, sondern dass diese auch in genügend grosser Form in Erscheinung traten – wie es bei Nagelfluh der Fall ist. Indem die Vorfabrikanten die Schalung für die Elemente auf jeder Seite etwa 3 bis 4 mm grösser erstellten als das definitive Sollmass und das Übermass anschliessend abschliffen, konnten sie diesen ästhetischen Anspruch erfüllen. Das problematische und bei diesem Beton ausgeprägtere Schwindmass konnte so ebenfalls aufgefangen werden. Entsprechend präzise mussten jedoch die Einlagen in die Schalung versetzt werden.

Der Self Compacting Concrete (SCC) ermöglichte in diesem Fall eine effiziente Vorfabrikation, wodurch sich sein Einsatz rechtfertigte beziehungsweise die Vorfabrikation erst rentabel wurde. Ausserdem lassen sich mit diesem Beton respektive mit seinen Materialeigenschaften unter anderem die scharfen Kanten und die glatte Oberfläche der Schwerter erklären – die Präzision und die Geschmeidigkeit beeindrucken auch aus der Nähe.

Angemessen selbstbewusst

Mit dem Neubau erhält die Raiffeisenbank einen repräsentativen Firmensitz, der sich baulich im heterogenen Umfeld behauptet, ohne den Strassenzug zu dominieren. Die aussergewöhnliche Präzision in Projektierung, Planung und Ausführung – vor allem in der Verwendung des Materials durch die verschiedenen Massstäbe hindurch – sorgt für die starke Präsenz, die der Bau an seinem Standort am Fuss der Rigi entwickelt.


Anmerkung:
[01] Flowstone der Firma Dyckerhoff. Dieses Produkt ist, neben Portlandzementklinker und Sulfatträgern (wie Gips), aus Hüttensand und Quarzmehl zusammengesetzt

TEC21, Fr., 2011.05.13



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TEC21 2011|19-20 Ortsverbunden

01. Oktober 2010Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Faltwerk aus Spannbeton

Das Sportausbildungszentrum Mülimatt in Brugg neben der Bahnlinie in Richtung Zürich fällt durch seine Form auf: Das markante Faltwerk gibt dem Gebäude seinen Charakter. Fürst Laffranchi Bauingenieure entwickelten das Tragwerk für den Neubau an der Aare aufgrund der architektonischen Ideen von Livio und Eloisa Vacchini. Sie investierten dafür viel in die Detaillierung und schöpften die technologischen Möglichkeiten des Betonbaus aus.

Das Sportausbildungszentrum Mülimatt in Brugg neben der Bahnlinie in Richtung Zürich fällt durch seine Form auf: Das markante Faltwerk gibt dem Gebäude seinen Charakter. Fürst Laffranchi Bauingenieure entwickelten das Tragwerk für den Neubau an der Aare aufgrund der architektonischen Ideen von Livio und Eloisa Vacchini. Sie investierten dafür viel in die Detaillierung und schöpften die technologischen Möglichkeiten des Betonbaus aus.

Das neue Sportausbildungszentrum mit den beiden Dreifachturnhallen (Abb. 1) wird durch ein sichtbares vorfabriziertes Faltwerk aus Spannbeton überdacht. Das Tragwerk umhüllt das über dem Gelände herausragende Gebäudevolumen von 80 m Länge und 55 m Breite und wirkt zugleich als wetterfeste Haut. Die Glasfassaden und die Turnhallendecke liegen innerhalb der Faltwerkhülle. Der Raumabschluss erfolgt unter den Dachträgern respektive an der Innenleibung der Faltwerkstiele mit der Glasfassade.

Die charakteristische Tragstruktur spannt in Querrichtung, das heisst in kurzer Richtung des Ausbildungszentrums, und erstreckt sich im leicht zur Aare hin abfallenden Gelände über die gesamte Fassadenhöhe und Dachfläche – von dem um ein Geschoss tiefer liegenden nördlichen Bankett zum südlichen Bankett auf der Seite der SBB-Linie. Daraus resultiert ein asymmetrischer Rahmen mit zwei unterschiedlich langen Stielen (Abb. 6). Formgebende Rahmen und stabilisierendes Zugb and Das statische System des Faltwerks setzt sich aus 27 Rahmeneinheiten zusammen. Sie sind in zwei Bankette eingespannt, die auf 7 bis 11 m langen Bohrpfählen liegen. Die Pfähle tragen die Lasten in die kompakte, mittel bis dicht gelagerte Aareschotterschicht ab. Die innerhalb des Fachwerks errichteten Hallenbauten aus Sichtbeton sind unabhängig davon in der oberen Schotterschicht flach fundiert. Diese in der Faltwerkhülle eingeschlossenen, statisch unabhängigen Betonbauten werden allerdings genutzt, um den Schub der Faltwerkrahmen aufzunehmen: Der Boden der Dreifachturnhallen ist als vorgespannte Zugscheibe ausgebildet, die bei jedem Rahmen einen Horizontalschub von maximal Nd = 900 kN aufnimmt. Der Anschluss von zwei Edelstahl-Zugstangen erfolgt auf der Südseite der Sporthallendecke über eine Kupplung ins Ortbetonbankett und auf der Nordseite infolge der Höhendifferenz direkt und sichtbar an die Rahmenstiele (Abb. 4). Um relative Vertikalverschiebungen zwischen Faltwerk und Halle bis 5 mm zu ermöglichen, wurden die gerippten Zugstangen über eine Länge von 1 m mit einem weichen Zylinder umhüllt.

Die als Zugscheibe wirkende Hallendecke ist 26 bis 30 cm stark und im Bereich der Spannweiten von 14 m – über den Gymnastiksälen – durch Unterzüge verstärkt. Mit der aufgrund der Biegebeanspruchung erforderlichen Vorspannung wurde der Querschnitt derart überdrückt, dass die Spannkräfte den Zugkräften aus Rahmenschub entgegenwirken. Diese Vorspannung dient zudem der Risssicherung für die Zugbeanspruchung und damit indirekt der Kontrolle des Spannungszustandes im Faltwerk.

Moduleinheiten und homogene Faltwerkhülle

Das Tragwerk mit seinen Rahmeneinheiten wurde in einzelne Fertigteile mit einem Gewicht bis 50 t eingeteilt. Jeder Binder besteht aus drei Modulen, sodass sich allein die Dachfläche aus 81 Teilstücken zusammensetzt. Die Stiele sind in einem Stück vorfabriziert. Die 54 Module setzen sich aus einer vertikalen, 36 cm starken Scheibe und zwei angewinkelten, 20 cm dicken Scheiben zusammen (Abb. 2). Entlang einer Kante, die aus der Untersicht als Knick wahrgenommen wird, öffnet sich der Rahmenstiel mit seinen zwei Schenkeln. Er schliesst an die Dachscheibe an und geht fliessend über in das «V» der Dachbinder (Abb. 3).

Formgebung und Optimierung

Alle Fertigteile – es sind grundsätzlich fünf mal 25 identische Module und fünf mal zwei Stirnseitenmodule zu unterscheiden – haben eine Breite von 2.93 m und eine Querschnittshöhe von 2.59 m. Sie sind aus selbstverdichtendem hochfestem Feinbeton 0/8 mm der Klasse C50/60 hergestellt, und für jeden Elementtyp ist eine Schalung erforderlich. Die detaillierte Formgebung erfolgte in Abstimmung mit architektonischen, statischen, herstellungs- und montagespezifischen Aspekten. Funktionale Bedingungen gaben den Tragelementen Formund Detailausbildungen vor. Der Dachuntergurt musste beispielsweise eine variable Stärke bzw. ein Gefälle aufweisen, um den Wasserabfluss zu gewährleisten. Denn entwässert wird offen über die Dach- und Stielflächen (vgl. «Krustentier und Vogel», S. 18). Produktions-, transport-, montagespezifische und wirtschaftliche Gründe beeinflussten die Neigung der Scheiben, die statische Höhe und die Faltenbreite. Krantraglasten limitierten die Gewichtseinheiten, Bahnunterfahrten auf dem Transportweg hatten maximale Durchfahrtshöhen und -breiten, und mit der Neigung der Scheiben im Querschnitt um 60 ° konnte im Werk mit selbstverdichtendem Beton «über Kopf» (Abb. 8) betoniert werden, sodass sich nahezu keine Lunkern bildeten.

Die Definition und Optimierung der Querschnittsformen erfolgte aber vor allem iterativ mit der Bestimmung des Vorspannkonzeptes, weil die Verlegung der Spannkabel eine statisch sinnvolle Form der Rahmenquerschnitte bedingte. Grössere Durchbiegungen sind nicht erwünscht, weder an den Stirnseiten, wo die Glasfassade von unten anschliesst, noch im Feldbereich, wo Sportgeräte unter der abgehängten, dämmenden Decke installiert sind. In jeder Rahmeneinheit sind im Dach sechs Kabel mit einer initialen Spannkraft von 1.1 MN eingebaut (Abb. 4 und 6). In den Stielen ist der Vorspanngrad kleiner: Sechs Kabel mit einer initialen Spannkraft von je 0.78 MN sind einbetoniert.

Dünnwandige Scheiben und Vorspannung

Die 16 cm starken Dachscheiben sind mit Litzenspanngliedern im Verbund vorgespannt. Während die Stielvorspannung komplett im Werk ausgeführt wurde, betonierte man in den Trägermodulen nur die Hüllrohre ein. Die Litzen wurden erst nach der Montage der Trägermodule eingezogen, gespannt und injiziert. Dabei erfolgte das Spannen über Zwischenverankerungen an der Dachaufsicht, wobei die Nischen nachträglich bündig mit der Dachoberfläche geschlossen wurden (Abb. 3 und 6). Die Querfugen zwischen den Trägermodulen sind 26 cm breit und wurden nach der Montage der Fertigteile mit selbstverdichtendem Beton 0/16 mm vergossen. Die Längsfugen im Dachfirst zwischen den Rahmeneinheiten sind 3 cm breit und wurden mit Vergussmörtel geschlossen. Stahleinlagen dienen als Montagesicherung und gewährleisten zudem die Kraftübertragung im Endzustand.

Mit den Hüllrohren, der schlaffen Bewehrung und den erforderlichen Überdeckungen waren die Platzverhältnisse in den Scheibenquerschnitten eng. Dennoch beträgt der Bewehrungsgehalt nur etwa 135 kg/m3 in den Trägern und etwa 180 kg/m3 in den Stielen. Im Bereich der Rahmenecken, wo sich Stiel- und Dachträgervorspannung kreuzen, war es durch die räumliche Führung der Kabel notwendig, die Wandstärke auf 24.5 cm zu erhöhen und feste Anker mit Spreizung der Litzen in einer Ebene einzusetzen. Bedingt durch den Transport- und den Montagezustand musste ausserdem für die Stiele eine zusätzliche Montagevorspannung aus acht Monolitzen ohne Verbund angeordnet werden.

Statische Modelle und dargestelltes Kräftespiel

Die Faltwerkkonstruktion wurde an einem Rahmenmodell mit Zugband bemessen. Für die Untersuchung der Wirkung von Wind und Erdbeben sowie zur Kontrolle stark beanspruchter Bereiche wurde auch eine Bemessung an Schalenmodellen durchgeführt. Das Kräftespiel im Rahmeneck liess sich mit Vektorgeometrie an einem räumlichen Stabmodell untersuchen, in dem unter anderem die Geometrien der Spannglieder von Träger und Stiel nachgebildet waren. Daraus wurde die Beanspruchung der formerhaltenden Diagonalscheibe unter Dach auf der Innenseite des Rahmenecks erkennbar (Abb. 9 und 10). Gemäss diesem Modell müssen Druckkräfte über die Elementfuge auf der Aussenseite des Rahmenecks übertragen werden. Auf der Innenseite ergibt sich aus der räumlichen Kraftumlenkung auf der Höhe des Trägerdruckgurtes eine Zugkraft in Längsrichtung. Die Rahmeneinheiten stützen sich jeweils gegenseitig, sodass in diesem Zugglied lediglich die Zugkraft aus den stirnseitigen Rahmen verbleibt. Um die Ablenkkraft an den Stirnseiten der Halle aufzunehmen, musste an den Hallenenden die Diagonalscheibe über Dach geführt werden. Ein stirnseitiges Bauteil unter Dach im Rahmeneck als Fortsetzung der Diagonalscheibe in Hallenlängsrichtung erübrigte sich und wäre auch ästhetisch nicht erwünscht gewesen (vgl. «Krustentier und Vogel », S. 18).

Fachkompetenz und Synergien

Die Vorfabrikation der Betonelemente spielte für die Umsetzung des Faltwerks und für den «Zusammenklang» der tragenden Elemente eine wesentliche Rolle. Sie war gemäss Bauingenieur dem Erfolg des Projektes zuträglich, denn die Qualität des wetterfesten Faltwerks profitierte davon. Für die Elementherstellung im Werk wurden Stahlschalungen – ihre Herstellung beanspruchte drei Monate – verwendet, weshalb keine Schalungsverformungen entstanden und keine Strukturbilder auf den Elementoberflächen sichtbar sind. Die Kanten der vorfabrizierten Elemente sind scharf, unverletzt und in stets gleicher Präzision hergestellt. Wegen der optimierten Rezeptur des selbstverdichtenden Feinbetons sind die Oberflächen ausserdem sehr kompakt und weisen die Betoneigenschaften konstante Werte auf. Anspruchsvoll in der Bearbeitung waren die Verbindungen und die Detailgestaltung der Bewehrung in den engen Platzverhältnissen. Da die Elementformen aber bereits in den ersten Planungsschritten festgelegt und beibehalten wurden, konnte die aufwendige und zeitintensive Vorfabrikation früh beginnen.

Dieses Bauvorhaben konnte nur gelingen, weil fachspezifische Kompetenzen bei der Ausführung in allen Fachbereichen vorhanden waren und Synergien genutzt wurden. Das Verhältnis zwischen Bauingenieuren, Architekten und Vorfabrikanten widerspiegelt sich im Endergebnis: Tragwerk und Architektur bedingen sich gegenseitig.

TEC21, Fr., 2010.10.01



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TEC21 2010|40 MÜLIMATT

«Gleichgewicht ist einer der schönsten Begriffe»

Der geplante Abbruch der von Robert Maillart entworfenen Schrähbachbrücke im Wägital war der Anstoss für das Gespräch zwischen dem Ingenieur Christian Menn und dem Kunsthistoriker Werner Oechslin. Sie haben sich für TEC21 zusammengesetzt und über die Tagesaktualität hinaus die Frage des Erhalts historischer Brücken diskutiert. Was bedeutet es, sie zu schützen? Wo liegen Verantwortungen, Kosten und Gewinn? Der hilflose Umgang mit Kunstwerken des Ingenieurbaus entlarvt das Selbstverständnis einer Gesellschaft, die technische und kulturelle Aspekte zu trennen versucht.

Der geplante Abbruch der von Robert Maillart entworfenen Schrähbachbrücke im Wägital war der Anstoss für das Gespräch zwischen dem Ingenieur Christian Menn und dem Kunsthistoriker Werner Oechslin. Sie haben sich für TEC21 zusammengesetzt und über die Tagesaktualität hinaus die Frage des Erhalts historischer Brücken diskutiert. Was bedeutet es, sie zu schützen? Wo liegen Verantwortungen, Kosten und Gewinn? Der hilflose Umgang mit Kunstwerken des Ingenieurbaus entlarvt das Selbstverständnis einer Gesellschaft, die technische und kulturelle Aspekte zu trennen versucht.

Christian Menn: Ein Eingriff in ein Bauwerk wird dann notwendig, wenn die Funktionalität nicht mehr gewährleistet ist – sei es aufgrund der Geometrie, der ungenügenden Tragsicherheit oder von Mängeln mit Schadenfolgen. Kritisch ist die Beurteilung, wenn die Erhaltungskosten deutlich höher sind als die eines Abbruchs mit Neubau, wenn mit der Erhaltung eine beschränkte Funktionalität in Kauf genommen werden muss oder wenn die Mehrkosten einer Erneuerung unter Beibehaltung der Authentizität zu gross werden – grösser, als wenn man das Bauwerk normal erhalten könnte. Die Alternative zur Erhaltung eines Bauwerks ist der Abbruch. Prioritäten sollten bezüglich Konzeption, Konstruktion, Erscheinungsbild und Erbauer gesetzt werden.

Werner Oechslin: Die Kosten und die Funktionalität sind die Hauptargumente gegen die Erhaltung. Doch was sind diese Kosten? Wir müssen vorerst bestimmen, von welcher Kostenwahrheit wir sprechen. Lediglich die Kosten des Eingriffs zu berücksichtigen ist nicht ausreichend. Die Schrähbachbrücke im Wägital ist Teil eines kulturellen Ensembles, das man touristisch vermarkten könnte (Abb. 1). Das ist ein Plus, das sich als Gewinn niederschlagen würde, leider aber schwierig zu berechnen ist. Kostenwahrheit ist nicht auf die unmittelbar mit dem Projekt allein verknüpften Aufwendungen zu begrenzen, volkswirtschaftliches Denken ist erforderlich. Das gleiche gilt bei der Funktionalität: Es wird festgelegt, welche Funktionalität erbracht werden muss, doch wer überprüft die Zahlen? Wer hinterfragt die Annahmen, die ja letztlich auf Hypothesen basieren? Wie kommt man dazu, die Funktionalität so stark verändern beziehungsweise erhöhen zu wollen? Wenn wir erhaltenswerte Bauwerke nicht zu Kulissen verkommen lassen wollen, müssen wir die geplante Nutzung hinterfragen. Es hat keinen Sinn, Werke museal zu erhalten, die dann einfach in der Landschaft herumstehen. Man muss ihnen die gleiche, eine leicht veränderte, eine stark veränderte oder eine andersartige Nutzung zuweisen können. Bei Brücken ist die Hauptnutzung so evident, dass sie auf jeden Fall funktionsfähig bleiben müssen. Die Frage ist also, ob ihr Erhalt eine Anpassung an eine leicht verbesserte oder an eine leicht erweiterte Nutzung ermöglichen soll – und ob man diese im Rahmen des Bestehenden vernünftigerweise garantieren kann.

Christian Menn: Verbesserungen oder Verschönerungen im Erscheinungsbild eines schützenswerten Bauwerks sind nur beschränkt möglich. Konsequenterweise müsste man eine neue Brücke in einem ähnlichen Stil bauen. Die Erhaltung, wie wir sie heute verstehen, hat bei wertvollen Bauwerken jedoch absolute Priorität. Ihr Ziel ist eine möglichst grosse Authentizität. Das Projekt, das das Berner Nachfolgebüro von Maillart – Diggelmann Partner AG – für die Schrähbachbrücke gemacht hat, ist ein gutes Beispiel dafür (vgl. TEC21 11/2010, ‹Einsprache für die Schrächbachbrücke›). Der Wert eines Bauwerks misst sich dabei an zwei Kriterien: Entweder das Bauwerk selbst ist kulturhistorisch bedeutend, oder der Projektverfasser war eine Art Kultfigur. Hat das Bauwerk aus kulturhistorischen Gründen Priorität, muss es so erhalten bleiben, wie es konzipiert und gebaut wurde; konstruktive Änderungen können allerdings ohne weiteres vorgenommen werden, sofern man sie nicht sieht. Wenn der Projektverfasser prioritär ist, muss das Erscheinungsbild auf jeden Fall erhalten bleiben; das Konstruktive sollte dabei auch auf jeden Fall sichtbar bleiben, denn man möchte ja wissen, wie sich der Ingenieur entwickelt hat. Wenn Maillart die Schrähbachbrücke nicht befriedigt hat, soll das nicht kaschiert werden. Die Widerlager der Schrähbachbrücke zum Beispiel sind zumindest fragwürdig. Seine späteren Kunstbauten haben keine solchen massiven Klötze – bei der Überführung bei Arth hat er auf jeden Fall darauf verzichtet. An der Schrähbachbrücke aber hat er sie gebaut, aus welchen Gründen auch immer. Werner Oechslin: Selbst Maillart war in den kulturellen Kontext seiner Zeit eingebunden. Selbst er konnte sich der damaligen Vorstellung, wie eine Brücke auszusehen habe, nicht entziehen; er musste nicht nur stabile Konstruktionen entwerfen, sondern die Leute auch visuell abholen, damit sie das Werk begreifen und akzeptieren konnten. Menschen haben Angst, eine Brücke zu betreten, wenn sie nicht visuell nachvollziehen können, dass sie hält. Die massiven Widerlager können damals solche visuellen Stützen gewesen sein.

Christian Menn: Ingenieurkunst besteht auch darin, etwas so zu konstruieren, dass es den Laien durch Eleganz und Leichtigkeit verblüfft.

Werner Oechslin: Der Laie ist aber nur anfangs verblüfft, danach tritt Gewöhnung ein. Mittlerweile haben wir uns daran gewöhnt, dass wir über sehr filigrane oder äusserst hohe und vielleicht auch schwingungsanfällige Brücken gehen können – wir befürchten nicht mehr jedes Mal, dass sie einstürzen. Das ist gut so: Wenn wir uns nicht an neue Dinge gewöhnen könnten, würden wir uns auch nicht mehr verändern. Man muss sich von eingebrannten Bildvorstellungen lösen, um sich weiterzuentwickeln. Der Mensch kann sich auf seinen Sehsinn verlassen, doch muss er dem Auge auch die Möglichkeit geben, sich anzupassen und zu verbessern. Die Widerlager der Schrähbachbrücke sind ein typischer Fall dieser fortschreitenden Adaption. Es hat Zeiten gegeben, da konnte man sich nicht vorstellen, dass sich Kräfte schräg verlagern, alles musste horizontal geschichtet werden. Die Geschichte des Bogens hat die Welt jahrhundertelang durcheinander gebracht! In spätgotischen Gewölbebauten hat man sogar Gewichte an den Schlussstein gehängt – um die Stabilität zu beweisen, aber auch als Provokation.

Christian Menn: Ebenso wichtig wie der kulturelle Kontext sind auch das topografische und das gewachsene Umfeld. Am Anfang eines Entwurfs denke ich nicht an das Tragsystem der Brücke, sondern an die Umgebung, in die sie sich einfügen soll. Kürzlich wurde eine meiner Fussgängerbrücken fertig (Abb. 3). Sie steht in Princeton in einem waldigen Umfeld, und das Konzept ist meines Erachtens gelungen. Berufskollegen hätten mit ihren Überlegungen vermutlich direkt bei der Brücke angesetzt und eine Konstruktion mit Seil da und Seil dort konstruiert – etwas Spektakuläres eben. Diese Brücke ist nicht spektakulär: Stützen aus Cortenstahl verzweigen sich und halten eine Betonplatte. Das gesamte Erscheinungsbild fügt sich so in den Wald ein, dass man die Stützen kaum mehr von den Baumstämmen im Wald unterscheiden kann. Leider lernt man diesbezüglich kaum etwas während der Ausbildung: Brücken werden als rein technische Konstrukte vermittelt, ohne jegliche kulturellen oder topografischen Bezüge – das ist unbefriedigend.

Werner Oechslin: Heute herrscht eine technisch-wirtschafliche Denkweise vor, in der die Effizienz alles und der Rest nichts ist. Planung und Projektierung sind selten von geschichtlichem Denken begleitet. Doch Planung wäre umfassend zu verstehen, die Einbettung des Werks in seinen kulturellen, ökonomischen, topografischen Kontext sollte selbstverständlich sein. Leider hat sich der Ensemble-Begriff nicht einmal in der Denkmalpflege richtig durchgesetzt: Angeblich ist er nicht praktikabel. Wir sind offenbar unfähig geworden, etwas im städtebaulichen Ensemble zu denken respektive durchzusetzen. Schon bei einem einfachen Fall wie diesem Maillart-Brücklein sind wir mit der schier unlösbaren Frage konfrontiert, wer überhaupt etwas dazu sagen darf. Die Meinungen driften auseinander, weil nur eine Minderheit sich bewusst ist, dass man die Dinge umfassend sehen muss. Ich kenne die Brücke in Princeton nicht, doch wenn du aus Cortenstahl etwas machst, worüber du selber sagst, dass es wie ein Baumstamm aussieht, dann denkst du über das rein Technische hinaus und benutzt Symbole und Bilder, um das Umfeld erfahrbar zu machen. Genau an diesem Punkt könnte eine Begegnung von Ingenieur und Architekt stattfinden. Dass der Ingenieur nur rechnen und der Architekt der kreative Kopf sein soll, ist doch absurd! Man müsste alles unternehmen, um die angebliche totale Andersartigkeit von Ingenieur und Architekt zu hinterfragen. Es gibt zwar spezifische Befähigungen, Kompetenzen und Begabungen, aber eben auch Überlappungen.

Christian Menn: Gerade wenn das Umfeld Teil des Ganzen ist, können Ingenieure bei ihren Konstruktionen – vor allem bei Brücken – das Räumliche ausnützen. Wenn eine Brücke auf so feinen Stützen steht wie die Sunnibergbrücke, ist das nur möglich, weil das Fahrbahndeck mit beiden Endwiderlagern fest verbunden ist (Abb. 4).

Werner Oechslin: In der Architektur entspricht das der Forderung nach Angemessenheit. Wenn eine dünne Stütze das Geforderte leisten kann, mache sie nicht künstlich dicker. Die Sparsamkeit ist eine alte Tugend, die nicht nur der Ingenieur kennt, sondern die unzähligen Massnahmen der Gesellschaft inhärent ist. Eine räumlich definierte Bibliothek beispielsweise ist eine Sparsamkeitsübung im Vergleich zur Utopie, man könne täglich Millionen von zusätzlichen Informationen auftürmen, mit denen wir in Tat und Wahrheit nichts mehr anfangen können. Wir Menschen sind ökonomische Gebilde. Unser Raum und unsere Zeit sind endlich.

Christian Menn: Du brauchst das Wort Angemessenheit. Ich brauche im Brückenbau ein ganz anderes Wort, nämlich Gleichgewicht – physikalisches Gleichgewicht und metaphysisches Gleichgewicht. Gleichgewicht ist einer der schönsten Begriffe, die es gibt.

Werner Oechslin: Es ist klar, dass sich die beiden Bereiche stark voneinander entfernt haben. Die kulturrelevante Reihenfolge ist: notwendig – nützlich – schön. Notwendig ist selbstverständlich die Statik; Schönheit leistet man sich, wenn man zu viel Geld hat. Hier orte ich eine Krise unserer Gesellschaft. Früher waren die drei Bereiche viel enger miteinander verbunden. Giedion schreibt in ‹Bauen in Frankreich› 1928 zur Abbildung von Gropius’ Dessauer Bauhaus: ‹Erst nach einem halben Jahrhundert ist man imstande, die Spannungen, die in den Materialien sind, wirklich auszunützen und den dekorativen Schleim zu überwinden›, und präzisiert in einer Fussnote: ‹Spannung im ästhetischen Sinn›. Da ist doch der Wurm drin. Spannungen – ein Begriff, den wir ingenieurspezifisch verstehen – löst er aus dem Ingenieurbereich heraus und ordnet ihn eindeutig dem ästhetischen zu. In der Ideologie der Moderne müssten diese beiden Bereiche eigentlich zusammenkommen. In diesem Punkt ist die Spaltung geschehen. Wir müssen korrigieren. Synthesen sind möglich; es stimmt nicht, dass wir auf der einen Seite präzise Zahlen und auf der anderen schwammige Beschreibungen haben. Tatsache ist, dass alles ein Ganzes bildet.

Christian Menn: Das wiederum wirft die Frage der Mitsprache bei der Erneuerung oder Erhaltung eines Kunstbauwerks auf. Sollen Nichtbrückenbauer in der Diskussion um den Erhalt von Ingenieurkunstbauwerken mitreden und mitbestimmen dürfen? Wenn es um die Erhaltung geht, auf jeden Fall, weil sie dem Gespräch ein Gegengewicht zum ingenieurspezifischen und auf das Technische fokussierten Denken geben können.

Werner Oechslin: Wir haben heute zwei Kompetenzen – Architektur und Ingenieurwissenschaft. Der Gegenstand aber ist immer der gleiche, und die Einheit des Gegenstandes verkörpert beide Elemente. Es ist falsch, wenn man die Ingenieure nur ingenieurspezifisch beurteilen und den Kulturhistoriker nur kulturhistorisch argumentieren lässt. Die Argumente müssen sich begegnen, denn sie sind miteinander verkettet. Wir können sie nicht auseinanderdividieren und das Ingenieurspezifische, das Ästhetische und das Kulturgeschichtliche voneinander trennen. Im Gegenteil, wesentlich ist der Zusammenhang aller einzelnen Elemente; erst dieser bildet den Wert des Kunstbauwerks. Das Bauwerk ist vermutlich weniger bedeutend, wenn es einfach zerlegt werden kann, weil die verschiedenen Aspekte additiv zueinandergefügt wurden. Die guten Werke leben davon, dass alles untrennbar zusammenfindet. In der Diskussion um das Bauwerk müssen darum zwingend alle Tatsachen aller Beteiligten respektiert werden. Jeder begegnet einmal der Situation, in der mangelnde Kenntnisse ein Risiko werden, das zu einem Fehlurteil führen kann. Darum braucht es verschiedene Fachspezialisten, die mitdenken, die Tatsachen aufdecken. Auf diese Weise gibt es Berührungen mit anderen Sachverständigen, es gibt Berührungen mit andern Menschen und mit anderen Kompetenzen. Erst dann erfüllt sich, was in der Gesellschaft wirklich passiert. Heute achtet man ja vor allem darauf, dass in der Zusammenarbeit keine Widersprüche entstehen. Hier haben wir riesige Mängel und Tabus, die wir nicht ausdiskutieren.

Christian Menn: Auch der Projektverfasser sollte mit einbezogen werden – und das betrifft in gewissen Fällen auch mich. Falls der Projektverfasser noch lebt, sollte man ihn bei einer Anpassung beiziehen und seine Erfahrungen nutzen. Aber auch wenn er tot ist, sollte ihn jemand gleichsam vertreten. Bei der Eisenbahnbrücke der Rhätischen Bahn in Klosters, die ebenfalls von Maillart stammt, war dies nicht der Fall. Niemand hat gegen die bedenkliche Veränderung des Brückenbildes im gesamten Umfeld Einsprache erhoben. Die ursprüngliche Brückenkonstruktion war schön entwickelt und lag elegant in der Kurve (Abb. 5). Ein Neubau (Abb. 6) wäre nicht notwendig gewesen, denn das andere Gleis hätte auf die bestehende Konstruktion aufgebaut werden können. Der Beschluss ging durch alle Instanzen, die RhB, die Gemeinde, den Denkmalschutz, den Heimatschutz – an mich haben sich die Verantwortlichen nicht gewandt.

Werner Oechslin: Auch ich gehöre zu denjenigen, die ihr Leben lang nicht gefragt wurden. Warum? Weil die Verantwortlichen Angst haben, dass ihre ‹Gradlinigkeit› durch eine andere, unberechenbare Meinung gestört würde. Als Intellektuelle pflegen wir die radikal offene Situation. Wir schalten kein Argument a priori aus, wir bedenken alles. Du hast eine vorbildliche Toleranz gegenüber Personen, die etwas zu einer Brücke sagen, obwohl sie vom Konstruktiven nichts verstehen. Diese radikal offene Situation finden wir in der Gesellschaft jedoch selten, sie wird von den Verursachern der Handlungen häufig gemieden. Wir haben in der Schweiz insofern absolut unkoordinierte Zuständigkeiten, und das entspricht jener radikal offenen Situation in keiner Weise. Im Fall der Schrähbachbrücke war es so, dass der ganze Prozess für den Abbruch ‹abgekoppelt von der Öffentlichkeit› eingeleitet wurde. Erst in letzter Minute habe ich zufälligerweise in der Zeitung davon erfahren und mit ein paar Kollegen darüber gesprochen. Ist es möglich, dass eine Maillart-Brücke tatsächlich an der öffentlichen Diskussion vorbei ‹weggeschoben› wird? Das richtige Vorgehen hätte sein müssen, dass sich die zuständige Behörde mit Aufsichtspflicht an kompetente Personen gewendet, die Problematik geschildert und mit ihnen diskutiert hätte. Doch wir haben hier eine Gemeinde, einen Kanton und eine komplexe Situation, in der die Kompetenzen nicht freigelegt sind.

Christian Menn: Das ist eine fragwürdige Entwicklung. Aber ich bin einverstanden, Maillart war ein aussergewöhnlicher Mensch... Soll man denn nun die Schrähbachbrücke erhalten? Und soll man die Widerlager zeigen oder nicht? Nun, es geht um Maillart und nicht prioritär um das Bauwerk. In diesem Fall sage ich: Ja, die Brücke müsste man in ihrem Erscheinungsbild und mit ihren konstruktiven Elementen erhalten.

Werner Oechslin: Selbstverständlich. Wir Schweizer haben nicht viele so grosse Figuren. Maillart spielte nicht nur in der Schweiz, sondern international eine bedeutende Rolle, was die Entwicklung des Brückenbaus betrifft. Kommt hinzu, dass er kulturgeschichtlich etwas zustandegebracht hat, womit sich die Schweiz rühmen kann: eine grosse Schweizer Tradition, die zum Kernbereich unserer kulturellen Leistung gehört. Man kann nicht sagen, es habe genügend Maillart-Brücken! Genauso wenig sagen wir, es gebe genügend Gemälde von Hodler, weniger würden auch reichen. Robert Maillart ist von solcher Bedeutung, dass es auf jede einzelne Brücke ankommt. Mir gefällt übrigens, dass du als Ingenieur sagst: Maillart ist nicht ein Mensch ohne Fehler. Ich habe früh von Architekten – allerdings nicht in der Schweiz – gelernt, dass man ein berühmtes Bauwerk nicht nur anschauen, sondern auch kritisieren kann. Man darf auch von einem Borromini sagen, dass er Fehler gemacht hat. Wohin führt es, wenn wir nur mit Autoritätsbeweisen durch die Geschichte gehen? Maillart hat ausprobiert, Erfahrungen umgesetzt und seine eigenen Ansichten verbessert. Gerade darum ist die Schrähbachbrücke als Objekt wichtig, weil sie uns nicht nur über Maillart mehr Erkenntnisse ermöglicht, sonder auch darüber informiert, wie sich die relativ junge Technologie entwickelt hat. Nun muss man Lösungen suchen, den Sachverstand haben und Fachleute beiziehen. Man muss die bestehende Situation nicht als gottgegeben annehmen, sondern sie zur Disposition stellen. Dann sieht man plötzlich, dass Vieles machbar ist. Das ist unsere Überzeugung.

Christian Menn: Ich habe den Eindruck, dass man manchmal über das Ziel hinausschiesst. Man sollte das Gleichgewicht halten. Ich habe mich sehr darüber geärgert, dass man die Brücke in Klosters kaputt gemacht hat. Das gleiche soll nun nicht auch bei der Schrähbachbrücke geschehen. Sie sollte authentisch erhalten werden. Baut man eine neue Brücke, vielleicht sogar im gleichen Stil, so geht viel Kulturgeschichtliches verloren. Denn dann ist es keine Maillart-Brücke mehr – es ist nicht mehr der Robert Maillart zu dieser Zeit, in der er war und die Brücke gebaut hat.

Moderation: Judit Solt und Clementine van Rooden

TEC21, Fr., 2010.09.10



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TEC21 2010|37 Kunstbauten im Wägital

Hochseilakt

Der Hängelaufsteg unterhalb des Triftgletschers im Berner Oberland wurde 2004 gebaut, um nach dem rasanten Schwund des Gletschers den Zustieg zur Trifthütte zu gewährleisten. Doch der Wind am speziellen Standort beschädigte seither die Konstruktion. Deshalb wurde in diesem Sommer eine neue Brücke an einer günstigeren Stelle aufgebaut und die alte demontiert.

Der Hängelaufsteg unterhalb des Triftgletschers im Berner Oberland wurde 2004 gebaut, um nach dem rasanten Schwund des Gletschers den Zustieg zur Trifthütte zu gewährleisten. Doch der Wind am speziellen Standort beschädigte seither die Konstruktion. Deshalb wurde in diesem Sommer eine neue Brücke an einer günstigeren Stelle aufgebaut und die alte demontiert.

Der Weg von der Sustenpassstrasse zur Trifthütte führte ursprünglich über den Triftgletscher: Über steil abfallende Leitern stiegen die Alpinistinnen und Alpinisten hinunter auf die Gletscherzunge, von dort aus überquerten sie den Gletscher bis auf eine Höhe von 1900 m ü. M., via «Telliblatti» führte der Weg dann dem Südhang entlang hinauf zur Trifthütte auf 2520 m ü. M. In den letzten Jahren ist die Gletscherzunge abgeschmolzen, allein im Sommer 2004 um 164 m. Es ist ein grosser See entstanden, und die Triftschlucht hat sich geöffnet, sodass ab etwa 2003 der Abstieg via Leitern nicht mehr möglich war. Die Bergsteiger waren gezwungen, am Nordhang entlang einen mühsamen Aufstieg zu bewältigen, um dann wieder etwa 200 m abzusteigen, damit sie den Triftgletscher oberhalb des Abbruches überqueren konnten. Diese Route war gut ausgerüsteten und erfahrenen Alpinisten vorbehalten, da die Gletscherquerung hier in Spaltenrichtung erfolgte, was vor allem im Frühsommer und Spätherbst eine genaue Routenwahl und Lagebeurteilung erforderte.

Der Hängelaufsteg, der im September 2004 nach nur fünfmonatiger Planungs- und Ausführungszeit eröffnet wurde, machte den Weg wieder einfacher: Auf ihm konnte man die Triftschlucht etwa 30 m unter ihrem oberem Ende 70 m über dem Wasser überqueren.

Konstruktion der ersten Brücke

Die Brücke wurde als einfaches, unversteiftes Tragwerk mit einem Eigengewicht von 100 kg/m2 und einer maximalen Belastung von 750 kg/m2 konzipiert. Schwingungen wurden toleriert – wobei sie gering ausfielen, weil die Tragseile wenig durchhingen. Das nach nepalesischer Bauweise[1] erstellte Tragwerk bestand aus sechs Stahlseilen mit 32 mm Durchmesser und einer daran angehängten einfachen Stahlunterkonstruktion. Die zwei oben liegenden Tragseile wurden im Abstand von 120 cm montiert, sodass sich eine Person beim Überschreiten der Brücke rechts und links am Seil halten konnte. Sie waren zu den beiden in etwa 1.5 × 1.5 m grossen Fundamenten eingegossenen, 1.60 m hohen Pylonen geführt und dahinter mit Schwerlastanker im Fels verankert. Ebenso waren die vier unten liegenden Spannseile verankert, die jeweils als Paar pro Seite 117 t Zugkraft aufnahmen. Die Tragseile bildeten zusammen mit darunter angebrachten weiteren Drahtseilen das Geländer. Es wurde kein Drahtgeflecht montiert, da durch Schneeverwehungen die Windlast auf die Konstruktion erhöht worden wäre. Die Lauffläche war mit einheimischen, druckimprägnierten Lärchenholzplanken belegt. Jede einzelne Planke war luftumflossen und auf den im Abstand von 1.50 m montierten Querbalken der Unterkonstruktion verschraubt (Abb. 1).

Ursprünglicher Standort

Die Lage der ersten Brücke wurde gewählt, weil sie sich dank der nahezu perfekten Felsstruktur (kompakter Granit) für Verankerungen eignete und ausserdem die engste Stelle war, wo noch ein verantwortbarer Ein- und Ausstieg möglich war. Eine Zerstörung durch Lawinenniedergang konnte ausgeschlossen werden, da die Brücke im Schutz einer Felsrippe im Gebiet «Drosi» auf der Ostseite lag. In den vier Betriebsjahren hat sich diese Annahme bestätigt. Auch entlang des neuen Weges waren keine aussergewöhnlichen Gefährdungenbekannt – kleine Rutschungen konnten mit Unterhaltsarbeiten kontrolliert oder umgangen werden. Zwar wäre ein Standort weiter oben in der Schlucht bereits damals sinnvoller gewesen, war aber angesichts der zu Baubeginn noch unsicheren Finanzierung zu teuer.

Unterschätzter Wind

Nach den ersten vier Betriebsjahren zeigte sich, dass die lokalen Windverhältnisse unterschätzt worden waren und die Konstruktion beschädigten. Für die erste Brücke berücksichtigte der Bauingenieur Föhnstürme um 120 km/h, wie sie von der Messanlage auf dem «Bänzlauistock» gemessen werden. Wegen des Venturieffekts sind die Windgeschwindigkeiten in der Schlucht aber wesentlich höher, am Standort der ersten Brücke gibt es Böen von bis zu 200 km/h. Die starken Turbulenzen bewirkten zudem Kräfte auf das Tragwerk, die in diesem Masse für die Bemessung der Konstruktion nicht berücksichtig worden waren. Zahlreiche Holzplanken wurden darum durch das Kippen der Brücke abgerissen, viele Zugstangen zwischen Tragseil und Gehsteg mussten ersetzt werden. Einige Windabspannungen, die nachträglich montiert worden waren (wegen der topografischen Verhältnisse in sehr spitzem Winkel), hielten der Beanspruchung nicht stand.

Bei der Planung 2004 war man davon ausgegangen, dass vorwiegend Alpinistinnen und Alpinisten die Brücke benutzen würden. Mit der Eröffnung der Triftbahn im Frühling 2005 und dem Bekanntwerden des spektakulären Gletscherrückgangs etwa zur gleichen Zeit kamen aber auch weniger geübte Wanderer auf diese Route. Bis zu 35 000 Personen überquerten pro Jahr den längsten Hängelaufsteg im Alpenraum. Sie unterschätzten häufig den alpinen Zustieg zur Brücke hinunter, wodurch dieser zu einem Sicherheitsrisiko wurde.

Neuer Standort

Um den technischen Problemen zu begegnen und den erhöhten Sicherheitsanforderungen zu genügen, entschieden sich die Verantwortlichen 2007 dafür, die Brücke an einen weniger gefährdeten Standort zu versetzen bzw. eine neue aufzubauen. Die Finanzierungsmöglichkeiten hatten sich dank der Attraktivität der ersten Brücke stark verbessert. Der neue Standort befindet sich 20 m talauswärts und 30 m höher, wo die Schlucht breiter ist und die Windgeschwindigkeiten deshalb tiefer sind (Abb. 4 und 5).

Konstruktion der Neuen Brücke

Die neue Brücke wurde vom gleichen Ingenieur konzipiert wie die alte und hat eine ähnliche Tragkonstruktion. Der neue Hängelaufsteg ist jedoch 170 m statt 100 m lang und hat Abspannungen, die als parabolische Zugspannseile unter der Brücke angeordnet sind.

Diese Zugspannseile mit 32 mm Durchmesser sind mit senkrecht zum Laufsteg montierten Drahtseilen (16 mm) verspannt (Abb. 6) und geben der Brücke ihre Stabilität gegen Windeinwirkungen. Die gesamte Traglast verteilt sich auf die sechs Tragseile. Masse, Anordnung und Auslegung entsprechen der Konstruktion der ersten Brücke. Für die Stabilisierung des Geländers, mit zusätzlichen horizontalen und vertikalen Seilen zwischen den Tragseilen ausgespannt, und auch um die Tragseile auszusteifen, sind in den Drittelspunkten des Stegs Stabilisationsrahmen aus Stahl und in U-Form platziert. Sie erhöhen das Sicherheitsgefühl der Benutzer ebenso wie die Kanthölzer am Rand der Lauffläche, die wie die alte Brücke mit einheimischen, druckimprägnierten Lärchenholzplanken belegt ist (Abb. 6 und 7). Der Bau der neuen Brücke dauerte zwei Monate. Eingeweiht wurde sie am 12. Juni 2009 – rechtzeitig zur Saison- und Bahneröffnung. Vor allem der Einbau der Spannseile mit dem Helikopter war ein spektakulärer Vorgang, der von Windturbulenzen geprägt war (Abb. 2). Die alte Brücke wurde für den Montagevorgang genutzt und deshalb erst nach dem Einbau der neuen demontiert. Sie hat unterdessen eine neue Aufgabe erhalten: Seit August verbindet sie am Salbitschijen im Urner Göscheneralptal die SAC-Hütten Salbit und Voralp direkt miteinander.[2]


Anmerkungen:
[01] Hans Pfaffen: Hängebrücken in Nepal, in: Schweizerische Technische Zeitschrift STZ, Ausgabe Nr. 21/22, 1. Juni 1978
[02] www.salbitbruecke.ch

TEC21, Fr., 2009.12.04



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tec21 2009|49-50 Auf Zug

02. Oktober 2009Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Kräftefluss durch Nadelöhre

Ein direkter Kräftefluss in der Tragkonstruktion von «Kubus Titan» hatte für :mlzd-Architekten keine Priorität. Tschopp & Kohler Ingenieure fanden im Entwurf dennoch einen Weg, die Kräft e abzutragen und ein sinnvolles Tragwerk zu entwickeln, das das architektonische Konzept kaum beeinflusste. Dafür war ein aufwendiger und intensiver Planungsprozess mit Neuentwicklungsleistungen im Bereich der Betonfassade notwendig. Ein zu kostspieliger Beitrag, stellt sich nun heraus, denn die Realisierung endete für die Bauingenieure in einem Verlustgeschäft.

Ein direkter Kräftefluss in der Tragkonstruktion von «Kubus Titan» hatte für :mlzd-Architekten keine Priorität. Tschopp & Kohler Ingenieure fanden im Entwurf dennoch einen Weg, die Kräft e abzutragen und ein sinnvolles Tragwerk zu entwickeln, das das architektonische Konzept kaum beeinflusste. Dafür war ein aufwendiger und intensiver Planungsprozess mit Neuentwicklungsleistungen im Bereich der Betonfassade notwendig. Ein zu kostspieliger Beitrag, stellt sich nun heraus, denn die Realisierung endete für die Bauingenieure in einem Verlustgeschäft.

Das Historische Museum Bern erweiterte ihre Liegenschaft im südöstlichen Teil an der Helvetiastrasse mit einem Bau, der kompakt und schlicht erscheint. Dessen Tragkonstruktion ist jedoch komplex und anspruchsvoll: Das markante Turmgebäude, die Aussenstufen mit der Pferdetreppe und der Anschluss an die bestehende Gebäudesubstanz stellen bemerkenswerte ingenieurtechnische Herausforderungen dar.

Alt schmiegt sich an neu

Der gesamte Erweiterungsbau schmiegt sich unterirdisch an das alte Museumsgebäude. Die dafür notwendige, 6.40 m tiefe Baugrube schloss deshalb unmittelbar an die bestehende Substanz an. Sie wurde nach ausführlichen geologischen Untersuchungen auf drei Seiten mit einer rückverankerten Rühlwand erstellt, wobei sie teilweise durch eine rückverankerte überschnittene Pfahlwand unterbrochen wurde (Abb. 6). Die durch diverse «wilde» Umbauaktionen beeinträchtigte Altbaufundation entlang der bestehenden Fassade konnte so in jedem Bereich sicherheitsspezifisch und kostenmässig optimal gesichert werden. Die vierte, südliche Seite der Baugrube wurde als Nagelwand ausgebildet.

Gemäss geologischem Gutachten musste im nicht setzungsempfindlichen Baugrund mit einem Grundwasserspiegel gerechnet werden, der bis 2.5 oder gar 5 m über der Bodenplatte liegt. Solange der Wasserstand nicht abschliessend mit seiner Kote geklärt werden konnte, berücksichtigten die Bauingenieure Lastfälle mit Auftriebskräften und sahen konstruktive Massnahmen für Bodenplatte und Betonaussenwände vor (Abdichtungen, entsprechende Dimensionierung, thermische Isolation usw.). Tatsächlich traf man kein Wasser in der Baugrube an – die vorgesehenen konstruktiven Massnahmen entfielen. Einzig zwei unabhängige Leitungssysteme wurden verlegt, die einen Wasserstau verhindern würden; anfallendes Wasser würde in die nördlich liegende Sickeranlage abgeleitet. Deren Lage konnte aus einer Isohypsen-Analyse und mit Sondierschlitzen festgelegt werden. In der südwestlichen Ecke des Neubaus befindet sich der Zugang vom Altbau in den Erweiterungsbau. Über diesen erreichen die Benutzer die Räumlichkeiten in den unteren Geschossen: Haustechnik und Kulturgüterschutzräume im 1. und 2. Untergeschoss sowie die zweigeschossige Wechselausstellungshalle. Da das neue Gebäude nach den Vorstellungen der Architekten an und unter das bestehende Gebäude gebaut werden sollte, musste für den Anschluss während der Ausführung eine spezielle und aufwendige Abfangkonstruktion erstellt werden (Abb. 2). In Absprache mit den beteiligten Unternehmungen wurde eine Variante ausgeführt, die den etappenweisen notwendigen Teilabbruch, den Einbau von Presspfählen unter dem Altbau (Altbau als Gegenlast), den definitiven Einbau eines Betonriegels und den temporären Einsatz eines Stahlbocks (Anpressen der Abfangkonstruktion mit Flachpressen) vorsah. Die neuen Rohbauteile konnten dann in kleinen Etappen ausgeführt werden.

Unterirdisch geschlossen - oberirdisch offen

Über den konstruktiv anspruchsvollen Zugang von Alt- zu Neubau (Galerie) erreichen die Besucherinnen und Besucher die fensterlose Wechselausstellungshalle. Sie ist ein stützenloser, frei installierbarer Raum, der mit einer vorgespannten Rippendecke überdeckt ist (Abb. 3 und 4), und sie bildet gleichzeitig den Boden der darüberliegenden Terrasse, der den Museumsbesuchern offen steht. Nachträglich wurde die gesamte Betonhaut der Rippendecke zurückhaltend schwarz gestrichen.

Die Terrasse ist über eine Treppe von Süden her erreichbar. Diese «Tempeltreppe» mit integrierter Pferdetreppe ist eine zweischalige Deckenkonstruktion mit Betonnocken als Distanzhalter. Sie schliesst als schräge Platte den unterirdischen Eingangsbereich ab (Abb. 5 und 11). Der Zwischenraum der Konstruktion ist mit Misaporbeton wärmedämmend gefüllt. Die Sichtbetontreppe musste unmittelbar nach dem Betonieren geschützt werden. Dies erfolgte mit OSB-Restplatten der Turmfassaden-Schalung.

Schatten für die Wissenschaft

Der markante oberirdische Teil des Neubaus umfasst den Büroturm für die wissenschaftlich tätigen Angestellten. Eine massive Betonfassade schliesst ihn auf drei Seiten annähernd komplett ab. Nur die vierte Seite – die Nordseite – ist als reine Glasfassade ausgebildet. Mit diesem Konzept konnten die Architekten der Anforderung, möglichst schattenreiche Büroräume zu erstellen, gerecht werden (Abb. 7).

Die Lastabtragung erfolgt auf der Nordseite über geschosshohe Ortsbetonstützen (Breite × Tiefe: 20 × 30 cm). Bei den drei anderen Seiten wandern die Lasten über die tragende, 35 cm starke Fassadenhaut aus Beton in den Baugrund. Die einschalige Konstruktion ist innen gedämmt, was den Anschluss der Betondecken erheblich erschwert. Die Bauingenieure haben ihn mit betonierten Nocken gelöst, die bis zu 150 t Last übertragen (Abb. 9). Damit diese Nadelöhre trotzdem möglichst klein blieben und bauphysikalische Ansprüche eingehalten werden konnten, mussten die Auflagernischen dicht ausarmiert und mit speziellen Lagern ausgestattet werden.

Die indirekte Lastabtragung von den Wänden über die Decken via Nocken auf die Fassade und schliesslich in den Baugrund führt zu einem unübersichtlichen Kräftefluss. So täuschen massive Stützen im Geschoss 0 (ab OK Hofplatte) beispielsweise eine tragende Funktion nur vor. Sie tragen praktisch keine Last, weil die Decken zusammen mit den Wandscheiben in den Obergeschossen steifer sind als die Decke, auf der die massiven Ortsbetonstützen stehen (Abb. 10). Entsprechend sind die Stützenfüsse mit Dornen nicht kraftschlüssig und vertikal verschieblich angeschlossen.

Mit bestehenden Bausteinen Neues schaffen

Die drei massiven Fassadenseiten erscheinen kompakt und einfach. Deren Tragkonstruktion mit den bereits angesprochenen Nocken ist jedoch aufwendig: Die Betonwände stehen nicht lotrecht, sondern ragen angewinkelt aus dem Baugrund und sind mit einer präzisen Gehrungslinie miteinander verbunden. Ausserdem ist die über mehrere Geschosse statisch freistehende Fassade vollflächig in Sichtbeton erstellt (Betonsorte: C30/37, XF4, Kieskörnung bis 16 mm). Dabei wurde dem Beton ein Farbzusatz (0.6 % gelbgrüner Farbzusatz 920 der Sika) beigemischt, der der Sichtbetonoberfläche zusammen mit der Schalung aus OSBPlatten eine gewisse «Weichheit» geben sollte.

Die Bauingenieure waren mit dieser aussergewöhnlichen Problemstellung mit Unbekanntem konfrontiert – sie mussten den Fertigungsprozess der Sichtbetonfassade neu entwickeln. Um ein wirtschaftliches Resultat zu erhalten, wählten sie bestehende Bausteine. Zu berücksichtigen galt es auch die hohen architektonischen Anforderungen bezüglich Oberflächenbeschaffenheit, Farbkonstanz, gleich bleibender Verarbeitung, Präzision der geneigten Flächen und schiefen Gehrungslinien sowie Anordnung, Tiefe und Unregelmässigkeit der 4 bis 12 cm dicken Einlagen (Pixels) (Abb. 12 und 13).

Ausschreibung trennt Spreu vom Weizen

Um ein diesen Ansprüchen gerechtes Erscheinungsbild der Fassade zu erhalten, schrieben die Planer die entsprechenden Baumeisterarbeiten in spezieller Weise aus: Die Vergabe wurde an die Bedingung geknüpft, dass die Bewerber an einer Besichtigung inklusive Besprechung teilnehmen und auf der Baustelle ein Modell im 1:1-Masstab erstellen, das die Planer in allen Belangen (Architektur, Ausführung, Qualität usw.) zufriedenstellt – die Baumeister hatten sich erst zu beweisen, bevor sie tatsächlich den Auftrag erhielten.

Die Bauingenieure teilten die Submission der Betonarbeiten ausserdem in zwei Lose auf, um, gemäss ihrer Aussage, die Spreu vom Weizen zu trennen: Los 1 wurden alle Sichtbetonarbeiten zugeordnet, in Los 2 wurde der Massenbeton ausgeschrieben. Diese Trennung ermöglichte den Planern eine allfällige Vergabeaufteilung zwischen Spezialarbeiten und «Massenproduktion» an verschiedene Unternehmen, was Kosten hätte einsparen können. Schliesslich führte aber eine einzige ARGE die Baumeisterarbeiten aus.

Das Risiko, dass bei einer solch komplexen Ausschreibung nur wenige Unternehmen offerieren und die eingegangenen Offerten sehr teuer ausfallen, ist gross. Auch in diesem Fall erhielten die Projektierenden für das Los «Sichtbeton» nur wenige Offerten. Im Laufe der Projektierung konnten Unternehmer und Planer jedoch ein wirtschaftliches Konzept entwickeln, mit dem alle anfallenden Kosten finanziell tragbar wurden – ohne Unternehmervarianten und Redimensionierungen. Eine Lösung innerhalb des Kostenvoranschlags wurde gefunden. Nach der Ausführung der Arbeiten bleibt aber für die Ingenieure die Frage, ob mit einem weniger strengen Leistungsverzeichnis und mehr Offerten eine günstigere Lösung hätte gefunden werden können. Allerdings hätten dann für einen so komplexen Bau Kostenrückstellungen bzw. eine Abgeltungsreserve bereitgestellt werden müssen – eine für die Bauherrschaft wohl weniger praktikable Vorgehensweise (Kostenwahrheit).

Neuentwicklung als Verlustgeschäft

Das gesamte Bauwerk war (nicht nur) aus ingenieurtechnischer Sicht eine äusserst aufwendige planerische Leistung. Im Speziellen hatten die Bauingenieure den Fertigungsprozess der Sichtbetonfassade neu zu entwickeln. Machbarkeitsdiskussionen mussten mit den Architekten geführt und Ausführungsdetails bestimmt und besprochen werden. Dies ist an sich nicht aussergewöhnlich, die gewählten Bausteine sind alle auf dem Markt erhältlich. Das Zusammensetzen aller Einzelelemente zum Erhalt eines möglichen, sicheren und darüber hinaus wirtschaftlichen Fertigungsprozesses bedarf aber eines breiten Fachwissens aller Beteiligten. Ein aufwendiger Prozess, der selbstverständlich auch entsprechend als planerische Leistung abgegolten werden muss.

Tschopp & Kohler Ingenieure meinen jedoch, gerade aus Kostengründen künftig auf solche «Abenteuer» verzichten zu müssen. Für sie war dieses Projekt aus wirtschaftlicher Sicht keinesfalls rentabel. So betrug der mittlere erarbeitete Stundenansatz nur Fr. 62.40 zuzüglich MwSt. – wobei die gesamte Verantwortung gemäss SIA-Norm zu tragen war. Die Bauingenieure sagen selber deutlich, dass sie die Ursache dafür zuerst bei sich selber suchen müssen. Es sei schwierig, vor Vertragsabschluss eine genaue Kostenschätzung anzugeben, da der Weg zum Ziel unbekannt sei. Ausserdem seien sie zu bereitwillig gewesen bei der Bestimmung der Schwierigkeitsgrade.

Um ein solches Projekt nicht nur für die Ausführung wirtschaftlich, sondern auch für die Planer rentabel zu erstellen, müsste die Leistung im eigentlichen Projekt vollumfänglich abgegolten werden, oder zumindest müssten das Resultat, die Erfahrungen und Synergien des beteiligten Teams in einem künftigen Projekt hoffentlich wieder genutzt werden können. Nur so könnten die Prozesse und das erworbene Know-how in Schalungs- und Betontechnik weiterentwickelt und damit schliesslich auch die Rentabilität gesteigert werden.

TEC21, Fr., 2009.10.02



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tec21 2009|40 Kubus Titan

«Was man verlangt, sollte man vergüten»

Drei Gesprächsteilnehmer diskutieren die heutige Situation im Ingenieurwesen. Im Vordergrund stehen die Frage nach den Gründen für den herrschenden Futterneid und Punkte wie Marktsituation, Image, Submissionswesen, Urheberrecht und Missgunst. Konkrete Lösungsansätze kommen nicht zum Vorschein – dafür die Erkenntnis, dass diese vor allem aus den eigenen Reihen kommen müssten.

Drei Gesprächsteilnehmer diskutieren die heutige Situation im Ingenieurwesen. Im Vordergrund stehen die Frage nach den Gründen für den herrschenden Futterneid und Punkte wie Marktsituation, Image, Submissionswesen, Urheberrecht und Missgunst. Konkrete Lösungsansätze kommen nicht zum Vorschein – dafür die Erkenntnis, dass diese vor allem aus den eigenen Reihen kommen müssten.

Walter Kaufmann: Wir haben heute die paradoxe Situation, dass Bauingenieure eigentlich zu viel Arbeit haben und trotzdem über schlechte Honorare klagen. Das führt dazu, dass viele permanent überlastet sind und dass im Vergleich zu anderen Branchen weniger attraktive Löhne bezahlt werden können. Wir bewegen uns im marktwirtschaftlichen Umfeld und brauchen die Konkurrenz, um gute Leistungen zu bringen. Niemand verlangt Fantasiehonorare: Es ist mir bewusst, dass wir – gerade bei der öffentlichen Hand – mit Steuergeldern arbeiten und dass diese wirtschaftlich angelegt werden müssen – inklusive unseres Honorars.

Heinz Dudli: In der Schweiz gibt es zu viele Anbieter. Die Mehrzahl der Ingenieurbüros hat weniger als zehn Mitarbeitende. Eine solche Struktur ist weltweit selten. Dieser Konkurrenzkampf – nicht unbedingt «Futterneid» – führt dazu, dass Leistungen zu Preisen angeboten werden, die in keinem Verhältnis zur Komplexität der Aufgabe, unserem Aufwand und unserer Verantwortung stehen. Wir Ingenieure haben es in den letzten Jahren zugelassen, dass unserer hochqualifizierten Arbeit in der Gesellschaft und in der Politik wenig Wertschätzung entgegengebracht wird. Unser Ansehen hat stark gelitten, und unsere Ingenieurleistung, die man früher anerkannt und respektiert hat, ist zur Selbstverständlichkeit geworden.

Kaufmann: Darum werden wir vermehrt Probleme mit dem Berufsnachwuchs bekommen.

Hans Rudolf Spiess: Tiefe Honorare, nicht angemessene Löhne und das daraus resultierende schlechte Image machen den Ingenieurberuf immer weniger attraktiv. Es ist eine sich nach unten drehende Spirale. Die Frage ist, woran es liegt? Ein wichtiger Punkt ist, dass sich Bauingenieure heute in der Öffentlichkeit miserabel verkaufen. Bekannte Architekten schaffen es, sich periodisch öffentlich in Szene zu setzen, ihre Projekte werden in den Medien diskutiert. Vor allem wenn man an private Bauherren denkt, fällt das ins Gewicht: Grosse Privatfirmen wollen Namen. Dazu müssen sich Architekten her vorragend verkaufen. Das fehlt vielen Ingenieuren. Sie könnten sich ruhig mehr in Szene setzen. Dieser Mangel an Öffentlichkeitsarbeit liegt nicht zuletzt daran, dass es Ingenieure viel weniger gewohnt sind, in einem Wettbewerb zu arbeiten – höchstens in einem Brückenwettbewerb – und dass sich Ingenieure aus der Politik verabschiedet haben.

Dudli: Das erlebe ich in der Politik. Wo sind die Ingenieure? Wo ist deren Einsatz? Wenn man nicht weiss, wie eine Vernehmlassung abläuft, wie soll man dann Einfluss nehmen? Kaufmann: Architekten haben deutlich mehr Medienpräsenz – im Positiven wie im Negativen. Es hat Seltenheitswert, wenn etwas über Bauingenieure erscheint. Wenn sich die wenigen einem breiteren Publikum bekannten Berufskollegen, die ab und zu die Gelegenheit erhalten, ihre Meinung kundzutun, dann auch noch negativ über unseren Beruf äussern, schadet das unserem Ansehen massiv.

Spiess: Auch Projekte von namhaften Architekten werden in die Pfanne gehauen. Ein Unterschied zwischen Ingenieuren und Architekten ist jedoch, dass Architekten ein interessantes standespolitisches System haben: die grosse Masse, die SIA-Architekten, und den exklusiven Kreis der BSA-Architekten. Eventuell müssten sich die Bauingenieure überlegen, ob sie nicht auch einen exklusiven Zirkel wollen, um den Level zu heben.

Kaufmann: Solange Ingenieure Mühe haben anzuerkennen, dass ein anderer Ingenieur etwas besser abdecken kann, wird das Ansehen nicht besser. Die Situation führt dazu, dass alle Büros vermeintlich alles können und überall offerieren, auch wenn es nicht ihre Kernkompetenzen betrifft. Wenn die Referenzen oder das Know-how fehlen, versucht man dies mit einem tiefen Preis wettzumachen. Beispiele für die fehlende Anerkennung gibt es viele: Wenn ein Büro bei einem Architekturwettbewerb «mitgenommen» wird und ein anständiges Honorar erhält, dann wird seine Leistung nicht anerkannt, sondern es wird bei Berufskollegen oder beim Auftraggeber quasi als «teurer Krämer» angeschwärzt.
Wenn man einen Brückenwettbewerb gewinnt, gibt es Berufskollegen, die gratulieren. Aber oft wird das Siegerprojekt hintenrum schlechtgemacht – aus Enttäuschung und wegen der leider weitgehend fehlenden konstruktiven Diskussionskultur in unserem Beruf.

Dudli: Wenn ich mich an einem Wettbewerb beteilige, muss ich den Juryentscheid anerkennen. Es gibt immer eine andere Sicht. Das sind teilweise sehr subjektive Einschätzungen. Wichtig ist, dass die Jury darauf achtet, dass die Randbedingungen eingehalten werden.

Spiess: Was die Situation noch unbefriedigender macht, ist die Tatsache, dass die intellektuelle Leistung des Ingenieurs unterbewertet wird. Bei Architekturwettbewerben werden heute von Anfang an Bauingenieure, Haustechniker usw. involviert. Ingenieure werden aber bei Siegerprojekten selten genannt. Sie sind im Zuschlag nicht dabei, und häufig wird ihre Leistung noch einmal ausgeschrieben. Sie müssen gar froh sein, wenn sie mitofferieren dürfen, da sie – juristisch streng genommen – vorbefasst sind. Die intellektuellen Dienstleistungen sind schwierig zu fassen, aber wenn man primär eben diese statt das Honorar ausschreiben würde, könnte sich die Situation ändern. Das hat mit der Gewichtung der Kriterien zu tun. Kaufmann: Man kann durchaus auch heute den Preis weniger gewichten und den weichen Faktoren mehr Gewicht geben. Bei vielen Submissionen wirkt sich dies faktisch aber nicht auf das Resultat aus. Den Bauherren oder Vergabestellen fehlt der Mut, Anbieter selektiv zu bewerten – sie vergeben annähernd gleich viele Punkte, da sie nicht diskutieren möchten. Das führt dazu, dass letztlich doch der Preis allein entscheidend ist.

Dudli: Mit Softkriterien hat die Vergabestelle andererseits einen riesigen Spielraum, um den zu beauftragen, den sie gerne will. Damit wird immer noch sehr stark gespielt. Kaufmann: Heute kommt es oft vor, dass ein Anbieter, der nur 5 bis 10 % billiger ist, den Zuschlag erhält, obwohl er bei den Qualitätskriterien deutlich schlechter abschneidet. Wie gesagt würde das Submissionsgesetz durchaus die Möglichkeiten bieten, anders zu gewichten. Und es gibt zum Glück Bauherren, die den Mut haben, sich zu exponieren und die weichen Kriterien zu bewerten. Das hängt nicht allein von der Vergabestelle ab – sie muss Rückendeckung von den Amtsvorstehern, von der Politik und von uns Ingenieuren haben. Wenn wir als Ingenieure Rekurs einlegen, wenn einmal nicht der Billigste den Zuschlag bekommt, dann untergraben wir jeden Versuch, die Qualität zu honorieren. Mit der Folge, dass dieser Bauherr es in den nächsten zehn Jahren nicht mehr wagen wird, nicht den Billigsten zu berücksichtigen.

Dudli: Zu der ungenügenden Gewichtung der weichen Faktoren kommt hinzu, dass der Auftrag und die geforderte Leistung meist nicht exakt beschrieben werden. Das führt zu Spekula tion. Das Claimmanagement hält in unsere Branche Einzug – und zwar massiv. Kaufmann: Das Grundübel sollte aber keinesfalls darin gesehen werden, dass die Bauherren die Leistungen, die sie verlangen, nicht detailliert ausschreiben. Bei einer intellektuellen Dienstleistung ist das Resultat im Voraus nicht genau definiert, und auch nicht der Weg und die Leistungen, die zu erbringen sind. Ansonsten würde das einer Bestelldienstleistung gleichkommen. Dass wir es bis heute nicht geschafft haben, dass unsere intellektuelle Leistung politisch anerkannt wird, und dass Ingenieurdienstleistungen noch wie Bestellungen von Büromaterial ausgeschrieben werden, das ist unverständlich!

Dudli: Wie soll man diese intellektuelle Dienstleistung ausschreiben? Wir sind 20 Jahre nicht vom Fleck gekommen. Solange wir so ausschreiben, wie wir es jetzt tun, bauen wir wirtschaftlich schlechter als früher. Wir wählen eine Lösung, die technisch gut ist, doch für eine Optimierung fehlt die vergütete Zeit. Wenn in der Ausschreibung deutlicher würde, welche qualitative Leistung in einer gewissen Phase mit welcher Zielsetzung verlangt wird, dann erreichte man einen faireren Wettbewerb, mit mehr Kostentransparenz und für den Bauherrn besseren Entscheidungsgrundlagen für die Bewertung der intellektuellen Dienstleistung. Dies erhebt hohe Ansprüche an den Auslober. Leider sind Personen in den entsprechenden Positionen rar geworden. Das erforderliche Wissen, die Ideen und die Kreativität fehlen. Stattdessen wird heute oft versucht, die Verantwortung sowie die Projekt- und Kostenrisiken auf die Planer abzuschieben, indem man grosszügige Projektabgrenzungen vornimmt, darin enthaltene Leistungen allgemein beschreibt, in grosse Auftragspakete zusammenfasst und als Pauschale offerieren lässt. Diese für unsere Schweizer Strukturen zu grossen Auftragspakete benötigen für die termingerechte Leistungserbringung grosse Konsortien mit entsprechenden Ressourcen. Für den Zuschlag wird der Preis meist massgebend.

Kaufmann: Bei solchen grossen Ausschreibungen ist selbst das Unvorhergesehene zu offerieren, weil der Bauherr keine Nachträge riskieren will. Die Ingenieurbüros müssen dieses Risiko übernehmen und machen es auch.

Spiess: Es reicht schon, wenn sich nur ein Büro darauf einlässt.

Dudli: Gute Ideen und konzentriertes Wissen werden vom Auftraggeber aufgenommen und weitergegeben – aber nicht honoriert.

Kaufmann: Für die Bauherrschaft ist es, kurzfristig gedacht, bequem und günstig, statt eines Gesamtplanerwettbewerbs einen Architekturwettbewerb zu machen. Sie weiss, dass ein Architekturbüro, das eine anspruchsvolle Tragstruktur wählt, ohnehin einen Ingenieur hinzuzieht. Die Bauherren bekommen die intellektuelle Leistung des Ingenieurs quasi gratis. Anschliessend können sie die Ingenieurleistungen offen ausschreiben und einen billigen Anbieter finden, der das Ganze produziert.

Dudli: Bei einer anspruchsvollen Ingenieursubmission ist der Aufwand für die intellektuelle Arbeit horrend, insbesondere dann, wenn Teilleistungen des Vorprojekts erbracht werden müssen. Bei einem Preiswettbewerb ist nur noch die preiseffiziente Umsetzung gefragt. Das sind falsche Anreize. Die Kreativität, das Know-how und die Leistungsfähigkeit sollten zum Auftrag führen. Was man verlangt – hier die intellektuelle Dienstleistung in der Submissionsphase – sollte man entsprechend vergüten.

Spiess: Der nachträgliche Preiswettbewerb funktioniert, weil sich im Nachhinein kaum beweisen lässt, dass der Bau günstiger gekommen wäre, wenn ein anderer Ingenieur die Arbeit übernommen hätte. Vermutlich ist es aber so, dass ein besserer Ingenieur, der 10 % teurer angeboten hat, dafür 10 % der Baukosten eingespart hätte. Ein Ansatz wäre, dass auch bei den Ingenieuren die kreative Idee in die Submission eingebracht und gewichtet wird. Das führt zu einem weiteren kritischen Punkt: dem Urheberrecht. Der Ingenieur, der seine Idee einbringt, kann heute kaum verhindern, dass nach Ermittlung des Siegerprojekts ein anderer zu 80 % seines Honorars die Idee weiterverfolgt. Ein Ingenieur, der an einem Architekturwett bewerb teilnimmt, müsste seine Leistung besser schützen können. Hier besteht Handlungsbedarf.

Kaufmann: Das Problem ist nicht auf Wettbewerbe beschränkt. Wenn ich den Auftrag für eine frühe Projektphase, zum Beispiel für eine Studie, will, dann muss ich oft einen Vertrag unterschreiben, in dem steht, dass ich auf das Urheberrecht verzichte. Spiess: Die öffentliche Hand hat eine Nachfragemacht – sie nimmt die grosse Verantwortung hier zum Teil nicht wahr. In Deutschland gibt es das AGB-Gesetz mit «ungültigen Bauvertragsklauseln ». Was in der Schweiz von der öffentlichen Hand vertraglich gefordert wird, würde in Deutschland oft durch das Gesetz fallen.

Dudli: Warum lässt man das zu? Das Urheberrecht von intellektuellen Dienstleistungen in den Submissionsverordnungen zu verankern, wäre ein kreativer Ansatz. Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Kreativität, das Know-how und die Leistungsfähigkeit zum Auftrag führen, dafür müssen wir Ingenieure mit den Verbänden einstehen und kämpfen. Kaufmann: Wir dürfen nicht darauf vertrauen, dass uns jemand da herausholt, sondern wir müssen selber den Hebel ansetzen. Wir können es allenfalls nicht alleine, aber wir müssen von uns aus diesen ersten Schritt machen.


[Heinz Dudli: dipl. Bauingenieur ETH/SIA; CEO der Edy Toscano AG, Zürich; Präsident der SIA Berufsgruppe Ingenieurbau; Grossrat des Kantons Graubünden
Walter Kaufmann: Dr. sc. techn., dipl. Bauingenieur ETH/SIA; Teilhaber und Vorsitzender der Geschäftsleitung der dsp Ingenieure & Planer AG, Greifensee; Delegierter der Schweizer Gruppe der fib; Mitglied der Arbeitsgruppe Brückenforschung
Hans Rudolf Spiess: dipl. Bauingenieur ETH und lic. iur., SPIESS + PARTNER Büro für Baurecht, Zürich; Geschäft sleiter der Sektion Zürich des SIA; Präsident der SIA-Kommission 118 für Allgemeine
Vertragsbedingungen bei Bauarbeiten; Mitglied des Kantonsrates des Kantons St. Gallen]

TEC21, Fr., 2009.02.27



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tec21 2009|09 Futterneid

17. November 2008Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Versunkene Kirche

Die East of England Development Agency[1] schrieb 2003 den internationalen Ideenwettbewerb «Landmark East» aus. Neue Sehenswürdigkeiten sollten auf sich...

Die East of England Development Agency[1] schrieb 2003 den internationalen Ideenwettbewerb «Landmark East» aus. Neue Sehenswürdigkeiten sollten auf sich...

Die East of England Development Agency[1] schrieb 2003 den internationalen Ideenwettbewerb «Landmark East» aus. Neue Sehenswürdigkeiten sollten auf sich und die Region aufmerksam machen und die Attraktivität von Ostengland als Touristenregion steigern. Anne Niemann und Johannes Ingrisch wollen eine versunkene Kirche wiederaufbauen. Das Schweizer Bauingenieurbüro Staubli, Kurath & Partner unterstützt das deutsche Architektenteam dabei. Die Küste von Ostengland ist stark von Erosion betroffen. Jedes Jahr geht ein bis zu 3 m breiter Küstenstreifen aus sandigen Klippen und Stränden an die Nordsee verloren – mit ihm auch ganze Dörfer. So ist die mittelalterliche Stadt Walton-on-the-Naze an der Küste der Grafschaft Essex – wie zum Beispiel auch die alte Königsstadt Dunwich, Easton Bavents oder Old Felixstowe – über die Jahrhunderte teilweise im Meer versunken. 1789 versank die All-Saints-Kirche von Walton, und werden keine schützenden Massnahmen gegen die Küstenerosion getroffen, wird in den nächsten 50 Jahren auch der 1720 erbaute, unter Denkmalschutz stehende Leuchtturm Naze Tower ins Meer stürzen.

Attraktives Symbol für notwendigen Küstenschutz

Mit ihrem attraktiven Vorschlag «Lost Town» – eines der vier Siegerprojekte, die nun realisiert werden sollen – wollen die deutschen Architekten Anne Niemann und Johannes Ingrisch an die versunkenen Städte Ostenglands erinnern und auf den notwendigen Küstenschutz auf - merksam machen. Als symbolisches Kunstwerk, das zeigt, was Naturgewalt bewirken kann, soll die All-Saints-Kirche in Originalgrösse am ursprünglichen Standort wiederaufgebaut werden. 800 m von der Küste entfernt (Bild 1) sollen 41 vertikal aus dem Meer ragende Rohre die Kirche formen. Die Aussenhaut der Stelen wollen die Architekten in poliertem Edelstahl ausführen; darin würden Licht und Farben an den Oberflächen reflektiert. Gemäss den Architekten soll die Skulptur so je nach Lichtstimmung ihr Erscheinungsbild verändern, und Sonne, Himmel und Meer sollen Teil des Kunstwerks werden (Bild 3). Die Bauingenieure des Schweizer Ingenieurbüros Staubli, Kurath & Partner planen grundsätzlich die Stelen als edelstahlummantelte Betonsäulen. Mit ihrem runden Querschnitt böten sie geringe Angriffsfläche für Meerwasser und Wellen; in Edelstahl mit entsprechender Qualität geliefert, wären sie korrosionsbeständig und hielten der salzhaltigen Umgebung stand. Das Variantenstudium für die tragenden Säulen ergab zwei Konstruktionen, die die aussergewöhnlichen Einwirkungen[2] am besten aufnähmen und wesentlich günstiger wären als Volledelstahlrohre, wie sie im Wettbewerb vorgesehen waren: armierte Ortbetonsäulen mit GFK-Hülle als Schalung für den Stahlbetonpfahl und als Korrosionsschutz (Bild 6) oder vorfabrizierte, stahl- oder kohlefaserarmierte Spannbetonmasten (Bild 7). Welche Variante realisiert würde, hängt vom ausführenden Unternehmen ab, da die Ausführungsweise für Konstruktionsdetails bei Wasserbauten sehr entscheidend ist; sie werden entsprechend erst bei Vergabe konkretisiert.

Die Edelstahlummantelung muss von der Stahlarmierung getrennt werden. In der ersten Variante erfolgt dies bei der Säule mit einer GFK-Hülle, die auch bei gerissenem Beton Kriechströme zwischen Armierung und Edelstahlhülle verhindert. Für die zweite Variante setzen die Ingenieure Kohlefaserarmierung ein. Der Zwischenraum soll mit Fliessmörtel ausinjiziert werden. Da dadurch aber unkontrollierte Hohlräume entstehen können und allenfalls Salzwasser in das Fundament eindringen kann, wird auch diese Ausführung erst nach Ausführungsvergabe definitiv festgelegt. Die Trennung des in das Fundament eingebundenen Edelstahlrohrs von der Fundamentarmierung erfolgt mit einer ausreichenden Überdeckung beziehungsweise Distanzhalterung (bis 20 cm notwendig).

Gesiterhaftes wird konkret

Die Stahlrohrskulptur soll in einer Schiffswerft an der Küste hergestellt werden. Gründe für die Vorfabrikation liegen in der erhöhten Genauigkeit, der verbesserten Kontrollierbarkeit und den geringeren Kosten. Aus 1.20 m hohen Blechträgern wollen die Ingenieure einen Trägerrost von etwa 8.5 × 24.5 m und einem Raster von 2.7 m konstruieren (Bild 4). Auf jedem Knoten sehen sie jeweils ein aufgeschweisstes Rohr vor. Die als grosse «Stahlbürste» erscheinende Konstruktion würde nach der mehrwöchigen Montage bei ruhiger See an ihren vorgesehenen Standort geschifft. Dazu sind Pontons oder Krane notwendig, die, je nach Stelenkonstruktion und allfälliger Trennung der Gesamtkonstruktion in Teilstücke, 300 bis maximal 1000 t Tragkraft aufbringen müssten.

Wegschwimmen verhindern

Parallel zu den Arbeiten in der Werft soll das Fundament der Kirche vorbereitet werden. Um es in dieser aussergewöhnlichen Lage erstellen zu können, müsste vorerst der Arbeitsbereich im Meer eingespundet werden. Geplant ist eine 31 × 14.5 m grosse Baugrube, gebildet aus eingerammten Spundwänden (PU18). (Bilder 4 und 5) Ausgesteift mit Longarinen (HEB 500), würden diese im Inneren für eine ruhige Wasseroberfläche sorgen und damit die Arbeit erheblich erleichtern, denn sämtliche Arbeiten vor Ort müssten unter Wasser ausgeführt werden. In einer zweiten Phase sollen von einem Kranschiff aus 20 provisorische Holzpfähle (Durchmesser 40 cm) in den Seegrund gerammt werden. Die Einbindetiefe wird durch Messen des Eindringwiderstandes oder anhand von Proberammungen definiert. Anschliessend soll der Seegrund mit einem Saugbagger einen Meter tief ausgebaggert werden. Auf den danach etwa 40 cm über den Seegrund ragenden Holzpfahlspitzen würde die angeschiffte «Stahlbürste» versetzt und ausgerichtet. Der gesamte Trägerrost – der Fuss der Kirchenskulptur – soll dann unter Wasser einbetoniert werden, wobei die Spundwände in dieser Phase als verlorene Stirnschalungen dienen. Abschliessend würden sie über Oberkante Fundamentplatte abgetrennt – sie dienen dann als Abrasionsschutz und als Schutz vor Unterkolkung.

«Lost Town» soll bis 2012 erstellt werden – die Planer wollen Englands Medienpräsenz infolge der Olympischen Spiele nutzen. Die Finanzierung ist jedoch noch nicht gesichert. Da die regionale Entwicklungsbehörde (EEDA1) nur die Hälfte der Gesamtkosten von etwa 3.2 Mio. Pfund (6.4 Mio. CHF) übernimmt, muss das Projektteam die restlichen Gelder selber auftreiben – erste Gespräche mit möglichen Sponsoren und die Bewerbung um öffentliche[3] und EU-Gelder erfolgten bereits. Sobald diese bewilligt sind – voraussichtlich im Januar 2009 –, wird als nächster Schritt die Baugenehmigung beantragt. Dafür sind Umweltstudien und zusätzliche statische Berechnungen notwendig.

Anmerkungen
[1] EEDA ist die verantwortliche Behörde für regionale Entwicklung von Ostengland (Befordshire, Cambridgeshire, Essex, Hertfordshire, Norfolk und Suffolk).
[2] Wellenhöhen bis über 5 m mit Wasserströmungen mindestens kurzfristig, aber laufend wiederkehrend von 5 m/s bis 15 m/s; Hochwasser in Schweizer Flüssen erzeugen Strömungen von 3 m/s bis max. ca. 5 m/s.
[3]In diesem Fall das Förderprogramm «sea change», das Kunst in Küstenorten fördert

TEC21, Mo., 2008.11.17



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tec21 2008|47 Ghost Architecture

14. April 2008Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Gleichgewicht

Seit mehr als 30 Jahren arbeiten der Künstler Jürg Altherr und der Bauingenieur Peter Osterwalder zusammen an Kunstobjekten. Dabei quantifiziert der Ingenieur die Kräfte, die in den beweglichen Gleichgewichtssystemen des Künstlers wirken. Er bedient sich dabei nicht nur des leistungsstarken Computers, sondern in grossem Umfang auch der traditionellen Bemessungshilfsmittel. Dem Artikel liegt ein Gespräch mit Altherr und Osterwalder zu Grunde, in dem sie über realisierte und geplante Werke philosophierten.

Seit mehr als 30 Jahren arbeiten der Künstler Jürg Altherr und der Bauingenieur Peter Osterwalder zusammen an Kunstobjekten. Dabei quantifiziert der Ingenieur die Kräfte, die in den beweglichen Gleichgewichtssystemen des Künstlers wirken. Er bedient sich dabei nicht nur des leistungsstarken Computers, sondern in grossem Umfang auch der traditionellen Bemessungshilfsmittel. Dem Artikel liegt ein Gespräch mit Altherr und Osterwalder zu Grunde, in dem sie über realisierte und geplante Werke philosophierten.

Der Umgang mit der Baustatik und den statischen Bemessungen von Tragwerken hat sich über die letzten Jahrzehnte mit der Entwicklung der Rechenleistung der Computer stark verändert. Selten arbeiten Bauingenieure heute ohne Softwareprogramme. Auf der Grundlage der Finite-Elemente-Methode (FEM) erhalten die Anwender schnell alle Schnittkräfte und Verformungen von komplizierten statischen Systemen an beliebiger Stelle. Sie können komplexe Tragwerke innert nützlicher und wirtschaftlicher Frist dimensionieren. Früher quälten sich Bauingenieure beispielsweise tagelang mit der Dimensionierung einer Flachdecke. Sie mussten den realen Zustand abstrahieren und vereinfachen, damit sie überhaupt eine Bemessung vornehmen konnten. Flächentragwerke führte der Statiker auf lineare Systeme zurück und näherte sich sodann von Hand mit grafischen Methoden, iterativen Prozessen und dem Rechenschieber der Lösung. Oft kamen Modelle zum Einsatz, wodurch das Gesamtverständnis für die Konstruktion und deren Tragweise geschult wurde.

Diskretisierung

Nach wie vor stellt die Abstraktion von realen Zuständen in statische Systeme eine Hauptaufgabe des Ingenieurs dar. Die Flachdecke, um beim Beispiel zu bleiben, als hochkomplexes System ist jedoch kaum mehr als solches erkennbar, da der Computer den Rechenaufwand für die Ermittlung von aussagekräftigen Schnittkräften und Verformungen (es müssen zahlreiche Differenzialgleichungen gelöst werden) innerhalb sehr kurzer Zeit meistert. Mit der Fokussierung auf die massgeblichen Punkte hält man die Resultatmenge in Grenzen und reduziert somit den Interpretationsaufwand der Datenmenge. Varianten sind dann tatsächlich innerhalb nützlicher Frist studiert und Anpassungen rasch berücksichtigt. «Den Softwarehilfsmitteln gewinne ich durchaus etwas Positives ab», so Bauingenieur Peter Osterwalder, der über 35 Jahre ein eigenes Büro geführt hat. Für den täglichen Gebrauch, insbesondere bei komplizierten und schwierigen Tragsystemen, sei der leistungsfähige Computer für den Statiker eine enorme Erleichterung. Es sei möglich, immer komplexere Systeme wirklichkeitsnah zu erfassen und zu realisieren. Häufig greifen laut Osterwalder die Statiker heute aber zu rasch zu Statikprogrammen. Sie nähmen sich oft zu wenig Zeit, sich konzeptionell über das Tragwerk und den Kräftefl uss Gedanken zu machen, bevor sie die Daten des zu berechnenden Systems in die Masken des Programms eingeben. Während früher eine nicht dauernd kontrollierte Rechnung normalerweise falsch war, betrachte man heute die Computerresultate oft als unfehlbar.

FE-Berechnungen basieren auf Annahmen und Vereinfachungen, die bei der Anwendung unbedingt berücksichtigt werden müssen und die der Statiker als Voraussetzung für die Interpretation der Resultate kennen muss. Nähert sich das Rechenverfahren asymptotisch von der unsicheren Seite der Lösung? Die Eingabe des Tragsystems und der Belastung mit Hilfe einer grafischen Benutzeroberfl äche setzt somit eine hohe technische Kompetenz voraus. Einschlägige Literatur [1] weisst darauf hin, dass ein gesundes Misstrauen gegenüber den ermittelten Resultaten stets angebracht sei. So stellen zum Beispiel Betonplattenelemente nur ein numerisches Modell einer realen Platte dar. In die Elementsätze gehen Annahmen bezüglich des Dehnungszustandes und der Verformungsfreiheitsgrade ein. Daraus folgt, dass das Programm Normalspannungen in der Plattenmittelebene, die beispielsweise aus behinderten Verformungen entstehen können, nicht darstellen kann. Gerade aus solchen und analogen Gründen ist die Handrechnung nach «traditioneller» Art neben dem Computereinsatz immer noch notwendig, ebenso natürlich die Kontrolle auf zweitem Weg.

Konkretisierung

Der schnelle Griff zum Computer, bemerkt Osterwalder, wäre bei aussergewöhnlichen Projekten, die in sich beweglich sind und grosse Verformungen aufweisen, inneffizient, unwirtschaftlich, ja gar gefährlich. Für diese sehr schlanken Systeme müssen Stabilitätsprobleme oder komplizierte Seilstatik gelöst werden. Dafür seien die üblichen und alltäglich verwendeteten Statikprogramme nicht geeignet. Es werde deshalb meist zuerst versucht, die Kräfte «von Hand» abzuschätzen und die grossen, durchaus erwünschten Bewegungen der Seilwerke an Modellen zu veranschaulichen. Teilweise ermittelt man die Grösse der Kräfte direkt mittels dieser Modelle. Die Kunstwerke von Jürg Altherr (TEC21 6/2008, Artikel «Schwerter und Seile») gehören zu diesen komplexen Tragsystemen. Osterwalder geht darum mit traditioneller Handarbeit an die Bemessung der Tragsysteme heran. Viel Gespür für den Kräftefl uss und Neugier für die realisierbare Lösung sind für die Umsetzung not - wendig. Jürg Altherr war zu Beginn der Zusammenarbeit überrascht: «Ich erhielt keine wissenschaftlichen Erklärungen über das Wesen der Kräfte, sondern nur über das Funktionieren der Kräftebeziehungen.» Die Kunstobjekte, die Altherr umfassend und bezeichnenderweise als «Organisation der Leere» bezeichnet, setzen sich aus Pendelstützen und Drahtseilen zusammen. Diese Bezeichnung sei zwar in sich ein Widerspruch, meint der Künstler, dieser Name beschreibe aber, was die Tragwerke im Raum bewirken und wie sie ihn für die Benutzer erlebbar machen. Um diesen Zwischenraum zu definieren und zu realisieren, brauche es sowohl ihn als Künstler als auch den Bauingenieur, der die auftretenden Kräfte «lothartauglich» und ästhetisch überzeugend quantifiziert, ohne dabei das Konzept des Künstlers zu zerstören.

Die Durchführbarkeit stand nie grundlegend zur Diskussion, meinen der Künstler und der Bauingenieur einstimmig – die Art und Weise, das System zu beherrschen, war das Entscheidende. Dabei ist der Rationalisierungsprozess, der bei jedem Kunstwerk diskutiert wird, für Altherr eine wertvolle Bereicherung und gleichzeitig eine Steigerung der Komplexität und Aussagekraft. Das System vereinfache sich und erhalte eine klare Präsenz, wodurch die Kunst – der Zwischenbereich – mehr Raum einnehme. Gleichzeitig erhalten die Projekte durch Osterwalders Einfl uss die nötige Sicherheit. Die Ähnlichkeit zur Zusammenarbeit von Bauingenieuren mit Architekten ist offensichtlich – nur die Zweckgebundenheit der Architektur unterscheidet sie hier von der Kunst.

Schnittmenge zweier Disziplinen

Durch den Dialog zweier Fachdisziplinen entsteht etwas Drittes. Diesen Aspekt nimmt Altherr in seinen Arbeiten auf. Dabei ist die Statik die Sprache des Kunstwerks und übernimmt damit die verbindende Ebene der Disziplinen. Neben der klaren Lesbarkeit der Statik haben die Kunstwerke eine sinnliche Ebene, die jede Person anders erlebt. Die Skulptur auf dem Waffenplatz Frauenfeld (Bild 4), die Altherr für sich «Verhängnis» nennt, von den Benutzern aber «Bedrohung» genannt wird, wirkte auf die Rekruten sowohl erstaunlich (kein Nutzen für den Soldaten – also sinnlos) als auch gefährlich (unter hängenden Lasten lauert der Tod). Viel einfacher und klarer noch wirkt das Tragwerk «Equilibre» in Biel (Bild 1). Das höchst simpel erscheinende Seiltragwerk ist de facto relativ komplex. Das System ist wegen der geometrischen Anordnung der Druck- und Zugelemente und der Spannung im Seil stabil, nicht aber wegen der Wirkung der Schwerkraft. Das Seil wird von den Fundamenten her gespannt. Altherr sucht eine weitere Möglichkeit, dieser Skulptur sein bewegliches Gleichgewicht zu geben: Aus der Kunst soll eine Brücke werden (Bild 2). Als solche ist das System dann sehr wohl von der Schwerkraft abhängig: Das Gewicht der Gehwegplatte bringt die notwendige Seilspannung in das System. Altherr entfernt sich mit diesem Brückenprojekt aus dem Kunstbereich hinein in die Zweckgebundenheit. Für Osterwalder stellt sich eine weitere schwierige Frage: Die Brücke bewegt sich unter der Belastung der Fussgänger. Wie sie trotzdem sicher und ohne beängstigende Schwingungen realisiert werden kann, ist offen. Er meint: «Auch die Lösung dieser Aufgabe stellt eine neue Herausforderung dar.» Aktuell beschäftigt sich das Team ausserdem mit einer Skulptur in Hueb bei Wald (Bild 3). Ab Frühling 2009 soll eine Pendelstütze mit angehängten Seilen ihr bewegtes Gleichgewicht finden und den neu gestalteten Aussenraum der dann umgebauten Weberei definieren. Die Seile sollen dabei genügend schwer sein, sodass sie durch die Belastung nie voll gespannt werden, gleichzeitig aber so leicht, dass sie filigran wirken und als Tragelemente nicht viel Raum einnehmen.

TEC21, Mo., 2008.04.14



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tec21 2008|16 Kunst und Ingenieur

10. März 2008Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Intuitiv Bemessen

Auffallend, trotzdem schlicht und zurückhaltend in den Dorfkern von Bonaduz integriert zeigt sich der neue Holzbau von Walter Bieler. An diesem Projekt soll seine Tätigkeit in Zusammenhang mit Holzkonstruktionen, für die er Ende 2007 von holz21, dem Förderprogramm des Bundes für Umwelt (Bafu), gewürdigt wurde, aufgezeigt werden. Im Vordergrund stehen die geschichtlichen Meilensteine der Holzentwicklung und die intuitive Arbeitsweise, die Bielers Ingenieurleistung prägen.

Auffallend, trotzdem schlicht und zurückhaltend in den Dorfkern von Bonaduz integriert zeigt sich der neue Holzbau von Walter Bieler. An diesem Projekt soll seine Tätigkeit in Zusammenhang mit Holzkonstruktionen, für die er Ende 2007 von holz21, dem Förderprogramm des Bundes für Umwelt (Bafu), gewürdigt wurde, aufgezeigt werden. Im Vordergrund stehen die geschichtlichen Meilensteine der Holzentwicklung und die intuitive Arbeitsweise, die Bielers Ingenieurleistung prägen.

Der in Bonaduz aufgewachsene Holzbauingenieur Walter Bieler war beim Neubau des Pfarreizentrums in seinem Heimatdorf nicht nur für die Tragkonstruktion verantwortlich, er nahm erstmals alle Funktionen der am Bau beteiligten Fachplaner wahr. Die Lust, in alle Fachbereiche hineinzuschauen, verführte ihn zu dieser ganzheitlichen Arbeit. Rationale Argumente hätten dagegen gesprochen, so Bieler, weder aus finanzieller noch aus fachlicher Sicht hätte er diese Herausforderung annehmen dürfen. Normalerweise integriert Bieler nicht alle Funktionen in einer Person, sondern schätzt die konstruktive Arbeit im Team. Architekten suchen bereits zu Beginn der Planung seine Erfahrung und seine Ideen zu konzeptionellen Tragwerksentwürfen. Die Statik losgelöst von der Architektur zu planen sei nüchtern, meint Bieler, das Tragwerk mit Konzept und als integralen Bestandteil der Architektur zu entwerfen sei viel bereichernder. Seine Freude an und sein Respekt vor der Architektur fördern die Teamarbeit – waren aber auch mit ein Grund, warum er das Pfarreizentrum im Alleingang verwirklicht hat. Es steht nun anstelle des alten Stalls auf dem Areal der Kirchgemeinde im Dorfkern von Bonaduz. Drei Hauptelemente in einfacher und präziser Form aus Holz bilden den Neubau: Vom Steg als Eingangspforte gelangt man ins Erschliessungsgebäude und von dort ins Hauptgebäude mit einem grosszügigen Saal, dem Sitzungszimmer und dem Kulturarchiv. Die Aussenwandverkleidung aller drei Objekte ist aus Holz (Lamellen und Schindeln) und grenzt sich mit ihren warmen Farben von den umliegenden Holz- und Steinhäusern ab. Das Haupthaus übernimmt die Fluchtlinie der angrenzenden Häuser und führt so die Identität stiftende Baukultur des Dorfs fort.

Der Zugang

Das Tragwerk des Stegs ist als einfacher Balken konzipiert. Ein massiver, blockverleimter Brettschichtholzträger von 44 cm Höhe und 178 cm Breite überbrückt flachkant eine Spannweite von 10.70 m. Die Auflager befinden sich auf der Südwand des Erschliessungsgebäudes und auf dem Passerellenportal, das den Zugang vom Kirchenplatz bildet. Das Portal ist ein steifer Rahmen aus verschweisstem, feuerverzinktem Flachstahl und übernimmt die horizontale Aussteifung in Querrichtung des Stegs, ohne massiv zu wirken. Sprossen (69 /112 mm) aus Lärchenholz hängen im Abstand von 12.8 mm vom Biegebalken herunter (Länge 3.15 bis 3.50 m) und tragen als Zugstangen die horizontal angeschlossene, begehbare Fläche. Als vertikale Sprossenwände schliessen sie den Gehweg in einen Korridor ein, ermöglichen aber den Blick in die Umgebung. Blosses Rechnen erbrachte für diese leichte Holzkonstruktion keinen Steifigkeitsnachweis – die Bemessungen lieferten zu hohe Schwingungen. Bielers Gespür, seine Intuition und die jahrelange Erfahrung mit Holzbauten machten es trotzdem möglich. Jede einzelne, englisch versetzt gestossene Planke des Gehweges (Verschleissschicht) trägt zur horizontalen Aussteifung bei, sodass zwar Schwingungen spürbar sind, doch in einem tolerierbaren Mass. In solchen kleinen Projekten werden Feinheiten, die in grossen Bauten verloren gehen, zur ingenieurmässigen Herausforderung. Die Suche nach Einfachheit unter gleichzeitiger Gewährleistung der Stabilität führt zu einer Gratwanderung. Erst mit dem über Jahre aufgebauten Erfahrungsschatz und dem grösser werdenden Selbstbewusstsein nahm sich Bieler die Freiheit und auch den Mut, im Rahmen der Tragwerksplanung dem Gespür für den Kräftefluss bei der Bemessung, aber auch der Architektur eine so wesentliche Rolle beizumessen. «In jungen Jahren traute man sich das noch nicht zu», so der 60-jährige Walter Bieler.

Das Verflechten

Die Verbindungen der einzelnen Holztragelemente am Steg zeigen eine Qualität auf, die für Bielers Bauten kennzeichnend ist. Sowohl aus technischer als auch aus architektonischer Sicht legt er Wert auf das Erscheinungsbild von Verbindungsdetails. Am Steg stossen die Sprossen aus den Seitenwänden und dem Gehbereich nicht satt aneinander – die Verbindungsstellen sind luftumspült, sodass potenzielle Nassstellen trocknen können. Damit erreicht der Planer Dauerhaftigkeit und erfüllt einen wesentlichen Aspekt holzgerechten Entwerfens. Anhaltende Feuchtigkeit würde zu Fäulnis führen und damit das Tragwerk verrotten lassen, denn trotz allen Holzwerkstoffen und neuen Technologien bleibt Holz ein natürlicher Baustoff und damit biologisch abbaubar. Gerade die Weiterentwicklung der Verbindungstechnik hat dem Holzbau neuen Aufschwung gegeben. Galt Holz im 19. Jahrhundert vor allem bei Brücken noch als Hightechmaterial (Holzbrücken überspannten 50–60 m, während die Spannweite von Steinbogenbrücken max. 20 m betrug), machten ihm Stahl und Beton zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Platz streitig. Erst in den 1960er-Jahren entdeckte man den einheimischen Rohstoff wieder. Antriebe kamen aus der Forschung zu Holzverbindungstechniken an der ETH Zürich sowie vom Bund, der mit einem Impulsprogramm (1986 bis 1991) unter anderem den von Amerika importierten Elementbau unterstützte. Der heimische Roh- und Baustoff sollte besser genutzt werden, denn vom Zuwachs von 8 bis 10 Mio. m3/Jahr in der Schweiz wurden damals nur 3.5 bis 4 Mio. genutzt. Zwar wurden 2006 bereits 5.7 Mio. m3 Wald geschlagen, doch heute noch überaltert der Wald Jahr für Jahr, und grosse Mengen Holz verrotten ungenutzt.

Der Durchbruch

Zusammen mit der weiterentwickelten Verbindungstechnik kamen die Holzwerkstoffeigenschaften besser zum Tragen. Holz kann beispielsweise genauso viel Druckspannung im Querschnitt aufnehmen wie Beton (16 N/mm2 für Brettschichtholzträger), ist dafür aber leich-ter (spezifisches Gewicht Holz: 500–800 kg/m3, Stahlbeton: 2500 kg/m3, Stahl: 7900 kg/m3). Ausserdem weist das Material eine höhere Oberflächentemperatur auf als Stahl und Beton, was die Kondensation verringert. Letzteres ist mit ein Grund, warum gerade bei Eishallen Ingenieurtragwerke aus Holz mit jenen aus Beton und Stahl konkurrieren können. Bieler erstellte 1979 zusammen mit Krähenbühl Architekten die Davoser Eishalle (Bild 4) mit einem spektakulären Holztragwerk, das eine Fläche von 88 × 88 m stützenfrei überspannt (max. Höhe des Hauptträgers: 1.96 m). Zweifelten die Bauherren vor Erstellen dieses Klassikers bezüglich Tragstruktur noch daran, dass mit einer Holzkonstruktion eine grössere Spann­weite als 15 m überbrückt werden kann, verflogen diese Bedenken danach rasch. Zwar unterschätzt man das Potenzial des Baustoffs Holz immer noch, doch mit jeder Realisation eines kühnen, modernen und eindrücklichen Holztragwerks wird die Akzeptanz von Holz als leistungsfähiges Material im Ingenieurbau gesteigert. Im ökologischen Zusammenhang fand der Holzbau ebenfalls seinen Platz in der Baubranche, unterstützt durch den psychologisch guten Zugang des Menschen zu diesem Baustoff. Im Pfarreizentrum Bonaduz wurden Hölzer aus dem Bündnerland und aus dem Gebiet um St. Gallen verarbeitet. Bieler unterstützt diese einheimische Baustoffnutzung – unter Vor-behalt. Langfristig könne dieses oft zur Forderung gewordene Argument eine einschränkende Wirkung haben. Ein allzu starker Selbstschutz, bei dem Beteiligte sich auf den handwerklich verbauten Baustoff versteifen und industriell hergestellten Fertigprodukten keinen Zugang mehr gewähren, könne in eine Sackgasse führen. Neuen Lösungen und Entwicklungen, neuen Techniken und Formen müsse man unbedingt Raum lassen und offen gegen­übertreten. Nur so könnten die Weiterentwicklung voranschreiten und Synergien zwischen Statik und Konstruktion geschaffen werden: Kreuzweise verleimte Massivplatten bieten z.B. neue Möglichkeiten für das Zusammensetzspiel mit Holzelementen.

Die Formgebung

Der Steg am Pfarreizentrum Bonaduz erhält durch die gewählte Tragstruktur ein Dach, das die tragenden Bauteile vor direkter Witterung schützt. Im Holzbrückenbau wurde diese oft kostenintensive Art von Schutz über Jahrzehnte angewandt, bis Walter Bieler eine Alterna­tive entwickelte. Bei der Laaderbrücke in Nesslau (SG, Bild 5) konstruierte er im Jahre 1996 eine dichte Fahrbahn, die die darunter liegende Tragkonstruktion vor direkter Witterung schützt: eine tragfähige Fahrbahnplatte aus Furnierschichtholz, darüber eine wasserdichte Kunststoffabdichtung, abgedeckt mit Bitumenbelag. Auf chemischen Schutz verzichtet er dabei vollständig, da er der Meinung ist, dass der wertvollste Schutz konstruktiv sei. Trotz dieser Pionierarbeit kehrt Bieler scheinbar zur alten Konstruktionsweise zurück. «In jedem Projekt suche ich die optimale Form und wende die passende Technik an», erklärt er, «so kam diese (eher historische) Formgebung für den Steg in Bonaduz zustande.» Sie minimiert den Terraineinschnitt und maximiert die Öffnung zwischen Böschung und Steg – ein offener, lichtdurchfluteter Gartenbereich breitet sich unter dem Steg hindurch aus.

Die Einschränkung

«Der Baustoff Holz diszipliniert den Konstrukteur», erwähnt Walter Bieler. Grundsätzlich ist Holz eine Stabstatik und keine Flächenstatik, was einen in der Konstruktionsfreiheit einschränkt. Das Tragwerk ist geprägt von zusammengefügten Stäben, wodurch der Kräftefluss erkennbar wird. Die Freude an Holztragwerken werde aber dennoch nicht getrübt. Im Gegenteil, «es tut gut, Grenzen zu haben und in gewisser Weise eingeschränkt zu sein». Der gewonnenen Freiheit durch die Liberalisierung der Brandschutzrichtlinien im Holzbau (Schweizerische Brandschutzvorschriften der Vereinigung der kantonalen Feuerversicherungen VKF, Ausgabe 2003, gültig seit 2005) setzt Bieler ebenfalls Grenzen. Mehrgeschossige Bauten sind zwar möglich, doch müsse ein 7-geschossiges Haus nicht a priori in Holz gebaut werden. Denn Holz hat, wie jeder andere Baustoff auch, seine Schwächen (z.B. Schall). Gefördert werden solle vielmehr die Mischbauweise. Bieler schöpft darum die sich bietenden werkstoffspezifischen Möglichkeiten aus und weist jedem Material sein technisch und architektonisch optimales Einsatzgebiet zu – entsprechend auch im Pfarreizentrum. Die zwei auf den alten Grundmauern errichteten, gegenüber dem ursprünglichen Stall um 60 cm erhöhten Häuser sind komplett als Holzrahmenbau aus Fichte erstellt. Tragende Wände aus Rahmenelementen mit Vorsatzschalung und Dächer aus Kastenelementen, die bis zu 10 m Spannweite überbrücken, leiten die anfallenden Lasten in die neuen Betonfundamente ab (Frosttiefe 80 cm). Einzig die Decke über dem Kulturarchiv, der Öffentlichkeit zugänglich und im alten Heustall gebaut, wurde aus brandtechnischen Gründen aus Beton erstellt. Die Steine der ursprünglichen, während des Umbaus eingestürzten Grundmauern wurden an gleicher Stelle wieder aufgeschichtet. Auf die neue, wesentlich höhere Raumhöhe aufgemauert, sind sie im Sitzungszimmer im Erdgeschoss (alter Kuhstall) ersichtlich und dienen der Lastabtragung, übernehmen aber ebenso eine ästhetische Funktion. Alle Innenräume sind von warmen Le-Corbusier-Farben (französischer Goldocker, Melser Schiefer, Pompeijanisch Rot etc.) nach einem Farbkonzept von kt. C0L0R (Katrin Trautwein) geprägt und die Holzverkleidung millimetergenau den Abmessungen von Fensterlaibungen und Raumecken angepasst. Dies gibt den ganz auf gesellschaftliche Anlässe ausgelegten zwei Häusern eine ruhige Atmosphäre. Grosszügige Fenster – vor allem im Festsaal des Hauptgebäudes – geben ausserdem den Blick in die umliegende Berglandschaft frei (Calanda, Feldis).

Die Unschärfe

Das Gefälle des Stegs ab dem Kirchplatz und die Forderung nach schwellenlosen, invalidengerechten Bödenübergängen ergaben das Niveau der Deckenoberkante im Obergeschoss, wobei die zwei Geschosse aber nur mit Treppen verbunden sind. Rollstuhlfahrende finden ihren Weg über die Aussenwege und die unteren beiden Eingänge. Die wegen der beschränkten Platzverhältnisse bewusst schmal ausgeführte Treppe im Erschliessungsgebäude bringt die ingenieurmässige Arbeitsweise von Bieler ein weiteres Mal zum Vorschein: Das Geländer ist als Biegeträger tragend und lässt die Treppe zusammen mit dem stufenweisen Zuschnitt an der Unterseite als Körper erscheinen. Eine rechnerische Bemessung alleine hätte zu grosse Dimensionen ergeben und die Geländerdicke zu massiv werden lassen. Das intuitive, von Erfahrung geprägte Handrechnen brachte einen eleganten Körper hervor: «Man muss die Deformationen auch einmal zu gross sein lassen – das Spiel mit der rechnerischen Durchbiegung und der Erfahrung in der Praxis bringt schliesslich die ausreichende Steifigkeit.»

TEC21, Mo., 2008.03.10



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tec21 2008|11 Werkstoff Holz

24. Dezember 2007Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Reisebegleiter

Seit 1997 hängt die Grossplastik von Niki de Saint Phalle im Zürcher Hauptbahnhof und macht als Schutzengel ununterbrochen seine Arbeit. Am Dach der grossen Bahnhofshalle aufgehängt, begegnen ihm täglich tausende Reisende. Der schwebende, farbige Engel soll sie für einen kurzen Moment auf ihrem Weg begleiten und sinnbildlich beschützen.

Seit 1997 hängt die Grossplastik von Niki de Saint Phalle im Zürcher Hauptbahnhof und macht als Schutzengel ununterbrochen seine Arbeit. Am Dach der grossen Bahnhofshalle aufgehängt, begegnen ihm täglich tausende Reisende. Der schwebende, farbige Engel soll sie für einen kurzen Moment auf ihrem Weg begleiten und sinnbildlich beschützen.

Dampf und Rauch ausstossende Lokomotiven verkehrten ursprünglich in der zentralen Halle des Zürcher Hauptbahnhofs, die im Jahre 1871 vom Architekten Friedrich Wanner erbaut wurde. Der Neurenaissancebau aus Sandstein nahm nur sechs Gleise auf, dennoch war der Verkehr im Sackbahnhof bereits dazumal beträchtlich. Um die Sichtverhältnisse infolge der erheblichen Verqualmung in der halboffenen Bahnhofshalle nicht zu trüben, musste die von Eisenfachwerkträgern überspannte Halle in grosszügigen Abmessungen gebaut werden. Gerade wegen ihrer Höhe von 24 m und ihrer enormen Grundrissabmessungen von 130 m Länge auf 43 m Breite erweckt die Haupthalle noch heute einen monumentalen Raumeindruck. Mit den Gleisanpassungen und den Erweiterungsbauten bis in die 1930er-Jahre verlor die Haupthalle sukzessive ihre ursprüngliche Funktion als Passagiereinstiegsplattform und als Abfertigungshalle des Bahnbetriebs. Die Züge fuhren ab 1933 in die vorgebaute Gleishalle ein. Zu deren Perrons gelangten die Reisenden über die schlichte Querhalle, an deren Dach gegenwärtig die Hauptanzeigetafel hängt. Noch heute wird ein Grossteil des Zugbetriebs in dieser Weise geregelt. Die grosszügige Haupthalle indes wurde ab den 1930er-Jahren allmählich komplett verbaut und für allerlei Büroräumlichkeiten und Innenbauten unterschiedlichster Nutzung (Gepäckaufgabe, Velounterstand, Kiosk, Kino) gebraucht. Die Grosszügigkeit des Raumes ging während dieser stetig voranschreitenden Umnutzung verloren, die Reisenden sahen sich in der Haupthalle mit einem Konglomerat von provisorischen Einbauten konfrontiert.

Befreit von all diesen nachträglich eingebauten und beengenden Gebäuden wurde die Haupthalle erst im Jahre 1996, als der neue Nordosttrakt erstellt wurde – zur gleichen Zeit erhielt die Perron- bzw. Gleishalle auf beiden Seiten schräge, sich gegen die Stadt öffnende Dächer auf schiefen Betonstützen. Die Innenbauten in der Hauthalle wichen wieder der Weite des Raumes, brachten die Steinwände mit ihren Arkaden und Bogenfenstern erneut ans Licht und sorgten regelrecht für ein Aufschnaufen bei Mensch und Halle.

Kunstobjekt als technische Herausforderung

Der wiedergewonnene Raum bot Platz für Blickfänge und Kunstobjekte. Bereits 1992 war der westliche Hallenabschluss mit einem Kunstwerk von Mario Merz bestückt worden, das man allerdings der intensiven Möblierung der Halle wegen kaum wahrnahm. Neben dem «philosophischen Ei» mit seiner rot leuchtenden Neonspirale, den Tierkörpern aus Airex- Schaumstoff mit Polyesterüberzug und den Neonzahlen (Fibonacci-Zahlen) sollte auch am gegenüberliegenden Ende der Halle ein Kunstobjekt seinen Platz fi nden. Mit der Idee der im Jahr 2002 verstorbenen Künstlerin Niki de Saint Phalle, einen Schutzengel in der Halle schweben zu lassen, fand man das gesuchte Gegenstück. «Geballte, farbige Nichttechnik als Wohltat neben all der Technik der Bahn», meint Jürg Widmer, zuständiger Bauingenieur des SBB-Ingenieurbaus, noch heute begeistert, obwohl ihn die Erfahrung eines anderen hätte belehren und die Begeisterung für dieses Kunstobjekt hätte trüben können.Bestellt vom Sponsor Securitas AG (anlässlich des 90-Jahre-Firmenjubiläums), schickte die Künstlerin das in Zürich mit Neugier und Spannung erwartete Objekt nach monatelanger Arbeit auf den Weg in die Schweiz. Wegen seiner Druckempfi ndlichkeit kam der vorfabrizierte Schutzengel in einer überdimensionalen Holzkiste verpackt und an einem Gerüst hängend aus Kalifornien: per Schiff über den Panamakanal via Rotterdam den Rhein hinauf nach Basel und schliesslich mit einem Tiefl ader nach Zürich. Als die in Niki de Saint Phalles Arbeit so typische Nana-Figur ausgepackt war, sahen sich die Spezialisten tatsächlich mit einem grosszügigen, farbigen Kunstwerk konfrontiert. Es würde sie zusammen mit der erforderlichen Aufhängetechnik über Jahre beschäftigen und herausfordern – noch heute! Insgesamt ist die Figur, die es an die Fachwerkdecke der Bahnhofhaupthalle aufzuhängen galt, 1.5 t schwer und 11 m hoch. Während dreier Nächte wurde die Zeit zwischen ein Uhr morgens bis fünf Uhr in der Früh genutzt, den Engel zusammenzusetzen und an der bestehenden Dachkonstruktion zu montieren (siehe Kasten). Ausserhalb dieser wenigen Nachtstunden versteckte sich der Schutzengel hinter einem vor neugierigen Blicken schützenden Vorhang. Erst an der Vernissage am Abend des 14. Novembers 1997, als Abschluss des Jubiläums «150 Jahre Schweizer Bahnen», wurde die schwebende Grossplastik enthüllt. Unter musikalischer Begleitung und feierlichen Reden von Benedikt Weibel und Niki de Saint Phalle trat der Schutzengel der Reisenden seinen Dienst an.

Hängekonstruktion bringt Engel zum Schweben

Mehr als 300 000 Passagiere benutzen heute täglich den Zürcher Hauptbahnhof. Bis 2020 werden es voraussichtlich jeden Tag über eine halbe Million Passagiere und Passanten sein. Alle diese Reisenden werden seit nunmehr zehn Jahren – meist unbemerkt – vom «ange protecteur » begleitet. Damit dieser über den Köpfen der Reisenden nicht unangenehm auffallen und zum Racheengel würde, haben die Ingenieure alle Sicherheitsvorkehrungen der Aufhängung geprüft. Zur Sorgfaltspfl icht gehörte auch die Überprüfung aller bereits bestehenden und durch die neu hinzugefügte Last betroffenen Bauteile des Hallendachs. Dessen Tragfähigkeit musste infolge der zusätzlichen Belastung und der Umnutzung neu beurteilt werden. Zudem sollte ein Nutzungskonzept für verschiedene Standorte der Kunstfi gur sowie für die Lasten aus übriger Nutzung der Halle erstellt werden. WKP Bauingenieure AG in Zürichwurde mit der Nachrechnung, einer intensiven Inspektion und der zukünftigen Überwachung der Dachkonstruktion betraut. Diese erwies sich dabei nach der damals gültigen SIA-Norm und mit der zusätzlichen Belastung als voll tragfähig. Sie hielt den neuen Anforderungen an die Tragsicherheit und Gebrauchstauglichkeit stand. Die gar vorhandenen Tragreserven konnten für Nutzlasten verwendet werden. Für die Befestigung des Engels waren darum keine Verstärkungsmassnahmen an den alten Fachwerkträgern erforderlich. Die Lasten des Engels mussten jedoch ausdrücklich über die Fachwerkknoten in das Dachtragwerk eingeleitet werden. An den möglichen Aufhängepunkten wurden 18 Nutzlastanker mit Lastmessdosen angebracht, die je 800 kg Anhängelast übernehmen können. Noch heute hängt der Schutzengel an vier harfenförmig angeordneten Stahlseilen vorerst an einem Verteilbalken und dieser wiederum an zwei Seilen an je einem solchen Lastanker. Dieses System erlaubt es, den Engel nicht nur an einem Hängeort zu belassen, sondern an mehreren Orten in der Halle aufzuhängen.

Der für die Sicherheit der Passanten unter der Kunstfi gur verantwortliche Bauingenieur war sich der exponierten Lage, des Gefährdungspotenzials und der dynamischen Eigenheiten dieses Objektes bewusst – ebenfalls seiner Grenzen bezüglich Ausbildung und Erfahrung. Deshalb wurde für die dauernde Überwachung eine Fachperson aus der Seilbahntechnik gesucht und mit Stefan Barandun der Bündner Ingenieurfi rma Barandun-Tech GmbH, auch gefunden. Barandun wies darauf hin, dass aus sicherheitstechnischen Gründen dieselben Normen wie in der Seilbahntechnik angewendet werden sollten. Er ordnete an, die Seile in regelmässigen Abständen von mindestens fünf Jahren mit einem Zugversuch im Herstellerwerk auf ihre Festigkeit zu prüfen und wenn nötig zu ersetzen. Ausserdem wurden vergrösserte Seilköpfe nötig, denn die Krafteinleitung in die bestehenden, fi ligranen Ösen erfolgte nicht in Seilrichtung, sondern verursachte neben Normalkräften auch Momente, die die Laschen verformten. Aus diesem Grund entwickelte Barandun ein kardanisches (allseitig drehbares) Gelenk, sodass die Krafteinleitung über die Laschen in Seilrichtung erfolgte. Eine unerwünschte Momentenbeanspruchung konnte so verhindert werden. Zwei weitere Ösen bei den Pobacken der Figur waren für weitere vier Seile vorgesehen. Diese konnten jedoch nicht verwendet werden, da die Schräglage des Engels sonst nicht dem Wunsch von Niki de Saint Phalle entsprochen hätte

Rekonstruktion des statischen Innenlebens

Die SBB-Ingenieure tragen nur die Verantwortung für die Hängekonstruktion. Diejenige für die Innenkonstruktion des Engels blieb nach der Übergabe des Geschenks weiterhin bei den amerikanischen Ingenieuren. Risse in der Haut und der Entschluss, dass der Engel auch nach der ursprünglich vorgesehenen Einsatzdauer von zehn Jahren seinen Dienst verrichten sollte, erforderten Überlegungen bezüglich des Langzeitverhaltens der Tragkonstruktion. Dafür musste das bis anhin unbekannte Innenleben des Engels aufgedeckt werden. Erschwert wurde diese Arbeit jedoch dadurch, dass das verantwortliche amerikanische Ingenieurbüro nicht mehr existierte und weder technische Berichte noch Pläne auffi ndbar waren. Die Unkenntnis über das Innenleben des Engels blieb somit von Anfang an eine Ungewissheit bezüglich Tragsicherheit. Das Geheimnis konnte aber mit aufwändigen, zerstörungsfreien Rekonstruktionsarbeiten und statischen Untersuchungen, die von Juni bis August 2007 dauerten, gelüftet werden. Mittels Magnetinduktions-, Georadar- und Infrarot-Thermografi e-Messungen konnte die Firma Irscat AG aus Altdorf die metallischen Konstruktionselemente und deren Verbindungen im Rumpf der Kunstfi gur lokalisieren. Für eine statische Überprüfung der Innentragkonstruktion waren die gewonnenen Resultate aber zu ungenau. Aus diesem Grund entschloss man sich, an zwei Rückenpartien die Styroporfüllung aufzuschneiden und die Tragkonstruktion an den Verbindungsknoten freizulegen. Die Schweissnähte konnten auf diese Weise mit entsprechenden Verfahren überprüft werden. Diese Arbeiten mussten äusserst sorgfältig ausgeführt werden, damit man die Aussenhülle (glasfaserverstärktes Acryl) nicht beschädigte – insbesondere deshalb, weil die Farben nach wie vor der ursprünglichen Bemalung entsprechen.

Durch diese Untersuchungen hat sich der Wissensstand über die Innenkonstruktion der Figur stark vergrössert, sodass bereits erste Analysen gemacht werden konnten. Im erstellten Bericht wird die bestehende Konstruktion beschrieben: Ein Aluminiumgerippe aus einer geschweissten Rohrkonstruktion bildet die Tragstruktur des Schutzengels. Eine Sagexschicht, die auf das Gerippe aufgeklebt wurde, gibt dem Engel seine Form. Die Zwischenräume sind ausgeschäumt, und eine glasfaserverstärkte Polyesterhülle, die auf den Sagex aufgezogen ist, bildet die Haut. Acrylfarben am Körper, Blattgold für die Flügel und Blattmetall aus Palladium für die silbernen Gefässe, die der Engel in den Händen hält, geben ihm das jetzige Erscheinungsbild. Im Bericht wird aber auch aufgezeigt, dass die vorhandenen Risse aus elastischen Verformungen durch Wind- und Transportbeanspruchungen herrührten. Die neuralgischen Stellen sind auf diese Untersuchung hin nun über eingebaute Abschlussdeckel jederzeit einfach erreich- und überprüfbar. Die periodische Überprüfung erfolgt halbjährlich respektive nach jedem Standortwechsel.

Nicht der ursprüngliche «Arbeitsort»

Gerade der Transport und das Wiederaufhängen der fragilen Dame bergen das grösste Verschleissrisiko. Am vorgesehenen «Arbeitsort» am östlichen Ende der Haupthalle, wo der Engel wohl den besten Überblick über alle Reisenden hätte und wohin Niki de Saint Phalle ihn platziert hatte, kommen ihm regelmässige Veranstaltungen mit grossen Bühnenkonstruktionen in die Quere. Stattdessen beschützt er im vorderen Bereich der Halle neben dem «Nova-Kubus» der ETH (aus statischen Gründen nicht auf der gleichen Fachwerkträgerachse) und vor dem «philosophischen Ei». So hängt die erste und einzige hängende Grossplastik von Niki de Saint Phalle zwar nicht an seinem zugewiesenen «Arbeitsort», doch um den erwähnten Rissbildungen infolge Umhängebeanspruchungen, aber auch um organisatorischen Schwierigkeiten und stets wiederkehrenden Kosten vorzubeugen, belässt man ihn an seinem jetzigen Ort.

TEC21, Mo., 2007.12.24



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tec21 2007|51-52 Schutzengel

Fussverbindung

Das Dreiländereck bei Basel hat der neuen Fussgängerbrücke den Namen gegeben. Über den Rhein gespannt, verbindet sie Weil am Rhein (Deutschland) mit Hüningen (Frankreich) und steht keine 200 m von der Schweizer Landesgrenze entfernt. Seit der Eröffnung im März 2007 soll die neue Verbindung die Fussgängerinfrastruktur der industrialisierten Region verbessern und die Beziehungen über die Ländergrenzen hinweg fördern.

Das Dreiländereck bei Basel hat der neuen Fussgängerbrücke den Namen gegeben. Über den Rhein gespannt, verbindet sie Weil am Rhein (Deutschland) mit Hüningen (Frankreich) und steht keine 200 m von der Schweizer Landesgrenze entfernt. Seit der Eröffnung im März 2007 soll die neue Verbindung die Fussgängerinfrastruktur der industrialisierten Region verbessern und die Beziehungen über die Ländergrenzen hinweg fördern.

Im Juli 2001 schrieben die Stadt Weil am Rhein und die Communauté de Communes des Trois Frontières (CC3F) einen Wettbewerb für eine Fuss- und Radwegbrücke über den Rhein aus. Die Planungsgemeinschaft Leonhardt, Andrä und Partner / Feichtinger Architectes aus Berlin bzw. Paris gewannen die Konkurrenz und erhielten 2004 den Auftrag für die ­Planungsarbeiten der Dreiländerbrücke. Die Eröffnung der komplett aus Stahl gefertigten Bogenbrücke fand im März dieses Jahres statt.

Die Asymmetrie des Bauwerks

Die Fussgängerverbindung über den Rhein liegt in der Achse der Hauptstrasse von Friedlingen, einem Ortsteil von Weil am Rhein, und der Rue de France von Hüningen mit dem historischen Turm im Hintergrund. Die beiden Aussichten über die Brückenenden hinweg spielten für das architektonische Konzept eine wesentliche Rolle. Um die Sichtachse für die Fussgänger nicht zu unterbrechen, neigt sich der südliche Bogen um 16° zur Seite und gibt dem Brückenquerschnitt seine Asymmetrie – eine starke und eine schwache Achse prägen die Tragstruktur. Entsprechend sind die Querschnitte der Haupttragelemente ungleich ausgebildet. Der stärkere, vertikale Nordbogen besteht aus zwei hexagonalen, 900 mm hohen Stahlkästen, der schwächere, geneigte Südbogen hingegen aus einem Stahlrohr mit dem Durchmesser von 609 mm. Durch diese spezielle Formgebung wird der nördliche Bogen etwa doppelt so stark belastet wie der südliche.

Ein Teil des Bogenschubs wird an den Auflagerpunkten umgelenkt und an den Brücken­enden nach unten gespannt. Dadurch konnte die Gesamthöhe des Bauwerks auf 23 m ­gesenkt werden. Vom Schnittpunkt der Stahlbogen mit dem Fahrbahndeck bis zu deren Scheitelpunkt misst der Bogenstich sogar nur 16.95 m. Bei einer freien Spannweite von 229.40 m zwischen den Bogenfusspunkten erscheint die Brücke entsprechend flach und schlank. Um das erforderliche Lichtraumprofil der Rheinschifffahrt dennoch freizuhalten, wurde die Gehwegplatte mit einer Kuppenausrundung ausgebildet. Der Hochpunkt befindet sich in Brückenmitte. Die orthotrope Platte aus 10 mm dickem Deckblech und Trapezhohlsteifen hat ein Quergefälle von 2 % und liegt alle 3.10 m auf Querträgern auf. Die anfallende Last wird auf die beiden Längsträger weitergeleitet. Auch bei diesen Tragelementen wurde die Asymmetrie umgesetzt. Der nördliche Träger besteht aus zwei hexagonalen Querschnitten mit 600 mm Bauhöhe, der südliche ist ein Rohr mit 325 mm Durchmesser. Beidseitig hängt der Gehweg alle 9.30 m mit galvanverzinkten Spiralseilen an den Stahlbögen. Die Seildurchmesser variieren entsprechend der Belastung von 30 bis 36 mm.

Die statische Berechnung des asymmetrischen Gesamtsystems erfolgte mit einem räumlichen Stabwerksmodell. Zur Erfassung der korrekten Quersteifigkeit wurde die Gehwegplatte mit einer Finite-Element-Struktur in das Programm eingegeben. Der massgebende Bemessungslastfall für die schlanke Tragkonstruktion war in Querrichtung die Windbelastung. In Brückenlängsrichtung war die Verkehrslast auf der halben Brückenlänge bemessungsrelevant. Die Durchbiegung in diesem Lastfall beträgt 1275 mm, was in etwa L/200 entspricht.

Die schlanke Konstruktion

Um den Einfluss der grossen Durchbiegungen zu berücksichtigen, erfolgte die Schnitt-kraftermittlung nach Theorie III. Ordnung. Die Überhöhung musste bei der Dimensionierung der Tragelemente ebenfalls berücksichtigt werden. Sie konnte infolge der Nichtlinearität nicht direkt aus der Durchbiegung, sondern musste aus der Überlagerung der einzelnen Abtriebskräfte infolge des Eigengewichtes ermittelt werden.

Wegen der schlanken Konstruktion ist die Brücke schwingungsanfällig – man spürt regelrecht die Dynamik, wenn man über die Gehwegplatte geht. Um die Schwingungsanfälligkeit der leichten Konstruktion zu testen, wurden im Januar 2007 am Bauwerk Untersuchungen mit bis zu 1000 Teilnehmern durchgeführt. Nennenswerte Schwingungen stellten sich erst bei einer Brückennutzung von über 500 Personen ein. Bei üblicher Nutzung treten sie nicht auf. Es besteht somit kein relevantes Gefährdungsbild.

Die sich aus der statischen Berechnung ergebenden Auflagerreaktionen wiesen grosse ­Horizontalkräfte in Richtung Süden auf. Demgegenüber waren die vertikalen Auflagerkräfte wegen der leichten Stahlkonstruktion relativ klein. Darum war die Anordnung von konven­tionellen, horizontal ebenen Auflagern nicht möglich. Mit Kalottenlagern an den beiden Bogenenden auf der französischen Seite und der längsverschieblichen Lagerung am Ufer von Weil am Rhein konnte die Lastabtragung jedoch gewährleistet werden. Konstruktiv aufwändig waren auch manche Knotenpunkte. Die unterschiedlichen Profilquerschnitte und die grosse Spannweite in Verbindung mit der geringen Brückenhöhe verursachten beispielsweise «schleifende» Schnittpunkte der Bögen mit dem Gehbahndeck. Am nördlichen Bogen beträgt die Länge eines Knotenpunktes ganze 7.70 m. An dieser Stelle wurde ein geschweisster Knoten mit Stahl- und Gussblechen ausgebildet. Die Schweisszugänglichkeit war aber bei den geringen Querschnittshöhen teilweise schwierig. Ausserdem entstanden bei einigen Knotenpunkten in den Stahlquerschnitten hohe Spannungen. Eine konventionelle Ausbildung von Schweissknoten war dann nicht immer möglich. So wurden an den Auflagern zur Verbindung der Haupttragglieder Gussknoten angeordnet. Die freie Formwahl bei der Verbindung der Querschnitte und die einfache Anpassung der Wandstärke entsprechend der statischen Beanspruchung begünstigten diese Konstruktionsweise.

Auf dem Rhein zum endgültigen Standort

Die gesamte Brücke wurde auf dem Vormontageplatz gefertigt. Er befand sich etwa 500 m rheinabwärts auf französischer Seite. Nach dem etwa halbjährigen Zusammenbau der kompletten Konstruktion wurden temporäre Abspannungen an den Brückenenden eingebaut, um die Stabilität und die Steifigkeit zu gewährleisten. Mit Schwerlastfahrzeugen wurde das Bauwerk auf im Fluss treibende Pontons verladen und anschliessend im November 2006 an seine endgültige Lage geschifft. Dafür war die Rheinschifffahrt für einen Tag gesperrt. Nach dem Vorspannen der Zugabspannungen am Brückenende konnten die Lager vergossen werden. Die Brücke war den Fussgängern und Radfahrern nach den Abschlussarbeiten ab März 2007 zugänglich – und diente während des Hochwassers vom letzten August bereits als Aussichtsplattform.

TEC21, Mo., 2007.10.08



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Passerelle sur le Rhin



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tec21 2007|41 Zu Fuss

Der Rochen von Lüttich

Zur neuen Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Brüssel und der deutschen Grenze gehören zahlreiche Kunstbauten und der neue TGV-Bahnhof in der belgischen Stadt Lüttich. Eine monumentale, aber filigrane Konstruktion aus Glas und Stahl von Santiago Calatrava wird ab 2008 die Gleise überspannen.

Zur neuen Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Brüssel und der deutschen Grenze gehören zahlreiche Kunstbauten und der neue TGV-Bahnhof in der belgischen Stadt Lüttich. Eine monumentale, aber filigrane Konstruktion aus Glas und Stahl von Santiago Calatrava wird ab 2008 die Gleise überspannen.

Heute nutzen täglich 35 000 Menschen die Infrastruktur des Bahnhofs Liège-Guillemins. Künftig werden 50 000 Personen erwartet. Gemäss einer Machbarkeitsstudie von 1995 genügt der bestehende Bahnhof den Anforderungen an die neue Hochgeschwindigkeitsstrecke nicht. Durch einen international ausgeschriebenen Wettbewerb suchte die Euro Liège TGV SA eine Idee für ein modernes, multifunktionales Reisezentrum als Nahtstelle zwischen Bahn und Passagier. Lange, gerade Bahnsteige, die das Einfahren der Züge in den Bahnhof und das Ein- und Aussteigen für die Passagiere erleichtern, sollten die hohen Anforderungen an die Geschwindigkeit, die Erreichbarkeit, den Passagierkomfort und die Sicherheit erfüllen. Den Wettbewerb für den Entwurf des neuen TGV-Bahnhofs in Lüttich gewann 1997 das Architektur- und Ingenieurbüro von Santiago Calatrava. In Zusammenarbeit mit dem Ingenieurbüro Greisch aus Belgien baut es gegenwärtig den neuen Bahnhof.

Fussgänger auf drei Ebenen

Aus der Stadt kommend, betreten die Reisenden einen weitläufigen Vorplatz. An dessen Ende überspannt ein riesiger Bogen die Bahnhofsfront und bildet den grosszügigen Eingangsbereich. Der Bahnhof kann von beiden Seiten betreten werden, sodass die zerschneidende Wirkung der Gleise aufgehoben wird. Auf der gesamten Breite gelangen die Reisenden ebenerdig in den Bahnhof und erblicken auf der linken Seite das Reisezentrum und die Fahrkartenschalter. Rechts hingegen bietet sich Infrastruktur zum Verweilen an: eine Bar, ein Restaurant sowie Läden und Warteräume. Auf dem Niveau über dem Reisezentrum liegen die Gleise und Bahnsteige. Von den 13 Bahnsteigen des alten Bahnhofes bleiben neun erhalten. Dazu kommen fünf neue, 8 m breite und grosszügig ausgestaltete Plattformen. Drei davon, 450 m lang, werden zukünftig eine Doppeleinheit des TGV aufnehmen können. Auf der dritten Ebene erlauben zwei Passerellen das Queren zwischen den Perrons und den ebenerdigen Austritt in das höher gelegene Quartier hinter dem Bahnhof. Alle drei Ebenen sind durch Treppen, Rolltreppen und Glasaufzüge verbunden, sodass sich die Passagiere mühelos im ganzen Bahnhof bewegen können. Das erste Gleis kann gar direkt vom Vorplatz aus erreicht werden.

Kräftefluss im Skelett

Über den Gleisen und den Bahnsteigen wölbt sich in Längsrichtung ein Dach, das den neuen Bahnhof prägt. Die monumentale, aber doch filigrane Konstruktion aus Glas und weissem Stahl überdeckt die Gleise und die gesamte neue Infrastruktur der Anlage. Sie lebt von ihrem organischen Erscheinungsbild und hat keine Fassade im klassischen Sinn. Das statische System scheint komplex, ist im Grunde aber einfach. Die insgesamt 39 Bogen aus Stahl sind im Abstand von 1.92 m parallel angeordnet. Am Rand sind sie während der Bauphase mit Verbänden gegeneinander ausgesteift. Als hohle Blechträger kons­truiert, haben die Stahlbogen über ihre Länge einen variablen Querschnitt und eine statische Höhe von bis zu 1.20 m. Mit einem Auflagerabstand von mehr als 157 m und einer Scheitelhöhe von 35 m über Terrain weist das Bauwerk eine beeindruckende Grösse auf. Dementsprechend gross sind die Lasten, die diese Tragstruktur aufnimmt und ableitet. Doch nicht die Belastung bestimmte die Dimensionierung der Tragkonstruktion, sondern die nötige Begrenzung der Verformungen, die durch die Glasverkleidung des Daches gegeben sind. Das komplexe Verhalten, vor allem infolge der Windeinwirkungen, konnte mit einem dreidimensionalen Finite-Elemente-Programm analysiert werden. Die sich aus den Berechnungen ergebenden Beanspruchungen und Verformungen wurden schliesslich in Windkanalversuchen verifiziert. Die Bogenenden sind auf Stahlträgern am Rand der Passerellen gelagert. Von dort aus fliessen die Kräfte in je fünf Auflager. Diese sind als Vierfüsser und gänzlich aus Stahl konstruiert. Allseitig unverschiebbar, aber in Bogenachse gelenkig, geben die Auflager die Reaktionen in die Betonfundamente ab. Mit dieser Auflagersituation kann die Steifigkeit des Daches in Längsrichtung erreicht werden. In Querrichtung wird die Aussteifung durch die geneigten Bogen der zwei Vordächer sichergestellt. Vier Stahlbogen, die diese Seitendächer stützen, sind wiederum in einem weissen, dreibeinigen Betonsockel verankert. Beide auskragenden Seitendächer (Casquettes genannt) sind mit dem gesamten zentralen Hauptdach verbunden und lassen das Bahnhofsgebäude wie einen Rochen aussehen, der sich mit seinen zwei Flügeln (Vordächer) und fünf Schwänzen (Bahnsteige) an den Hügelhang schmiegt.

Verknüpfung mit dem Strassennetz

Das Vordach auf der Rückseite überspannt das dreistöckige Parkhaus am Fusse des Hügels von Cointe. Es wird durch eine Brücke und eine Überführung direkt an die Autobahn angeschlossen. Diese Zufahrt wird nach der Fertigstellung des Bahnhofs eröffnet. Für das Parkhaus musste der Hügel auf einer Länge von rund 200 m abgetragen werden. Dafür wurden präzise Voruntersuchungen gemacht, denn die Stabilität einiger Erdschichten in diesem Bereich ist prekär. 1950 lösten hier die Erschütterungen des Zugverkehrs einen Hangrutsch aus. Fachspezialisten aus der Geologie und der Vermessungstechnik entschieden sich, die Baugrube mit einer Pfahlwand zu sichern. Dazu wurden armierte Betonpfähle mit einem Durchmesser von 1.50 m verwendet. Jeder einzelne Pfahl wurde rückverankert. Die Anker wurden etappenweise alle 3 m gesetzt, bis die Baugrube eine Gesamttiefe von 18 m erreichte. Um den Wasserdruck hinter der Pfahlwand abzusenken, legten die Planer Pumpensümpfe im Fussbereich der Pfahlwand an. Nach dem Errichten des Parkhauses verlieren die temporären Anker ihre Funktion. Sie werden im Erdreich belassen und bauen allmählich ihre Zugkraft ab. Die neue Tragstruktur des Parkhauses übernimmt sukzessiv den anfallenden horizontalen Erd- und, nach dem Abstellen der Pumpen, auch den Wasserdruck.

Organische Struktur aus Weissem Sichtbeton

Das grosszügige Dach aus Stahl und Glas prägt den Bahnhof. Doch darüber hinaus werden im Gebäude auch 65 000 m³ armierter Beton verarbeitet. Für das Parking werden 28 000 m³ verwendet, für die zentrale Passage und Technikkorridore unter den Gleisen 17 000 m³, für die Haupthalle noch einmal 13 000 m³ und schliesslich 13 000 m³ für zwei Retentionsbecken, die das Wasser der 33 000 m² grossen Dachfläche aufnehmen. Alle massiven Bauteile, die für die Passanten sichtbar sind (etwa 23% der gesamten Betonmenge), werden aus weissem Sichtbeton erstellt. Das Planerteam stellte dafür hohe Anforderungen und verlangte strenge Qualitätskontrollen. Spezialisten bestimmten die Eigenschaften der Schalung, den Wassergehalt, die Zusätze und die Vibrationsdauer bei der Verarbeitung des Betons. Mit mehr als hundert Betonproben auf der Baustelle kontrollierten sie alle Anforderungen.
Zahlreiche Oberflächen der Betonbauteile sind gekrümmt und präsentieren sich als organische Formen. Gebogene Träger und geschwungene Stützen, die an Knochen eines Skelettes erinnern, tragen in den Innenräumen die Kräfte ab. Wenn der Reisende im Bauch des Rochen zu den Gleisen eilt oder durch die Ladenzone schlendert, wird er aber von der Struktur nicht erdrückt. Im Gegenteil, was tatsächlich schwer und statisch ist, erscheint leicht und dynamisch.

Bestehender Bahnhof

Die letzten Arbeiten am neuen Bahnhof werden voraussichtlich bis Anfang 2009 ausgeführt. Sie beinhalten die Verglasung des Daches, die gesamte Haustechnik, die Beleuchtung und die Bahninfrastruktur (Signaletik), die Ausbauarbeiten (Läden, Schalterhallen, Büros) sowie die Umgebungsgestaltung. Bis dahin darf der Zugverkehr, wie schon während der gesamten Bauzeit, nicht unterbrochen werden. Dies erforderte verschiedene Bauphasen und die Aufrechterhaltung des Betriebs des benachbarten alten Bahnhofs. Bis vor wenigen Wochen hielt der alte Bahnhof mit der Hälfte seiner früheren Kapazität den Bahnbetrieb aufrecht, nun ist er abgebrochen. An seiner Stelle wird der Rochen mit fünf Schwänzen diese Funktion übernehmen.

TEC21, Mo., 2007.09.24



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tec21 2007|39 Bahnarchitektur

«Sorgfalt in jedem Fall»

Bilder eingestürzter Brücken oder Gebäude werfen Fragen nach den Gründen, der Verantwortung und den Konsequenzen auf. Drei Fachleute diskutierten über die Abgrenzung der Verantwortung und die Gratwanderung der am Bau Beteilig-ten. Besteht ein Zusammenhang zwischen Schadenfällen und tiefen Honoraren? Welche Rolle spielen Fachkompetenz und Vertrauen? Inwiefern sind Technische Normen verbindliche Berechnungsgrundlage.

Bilder eingestürzter Brücken oder Gebäude werfen Fragen nach den Gründen, der Verantwortung und den Konsequenzen auf. Drei Fachleute diskutierten über die Abgrenzung der Verantwortung und die Gratwanderung der am Bau Beteilig-ten. Besteht ein Zusammenhang zwischen Schadenfällen und tiefen Honoraren? Welche Rolle spielen Fachkompetenz und Vertrauen? Inwiefern sind Technische Normen verbindliche Berechnungsgrundlage.

TEC21: Die Baubranche steht heute unter enormem Kosten- und Termindruck. Ist es unter solchen Bedingungen möglich, spontane Entscheidungen zu treffen, die den juristischen Gegebenheiten standhalten?
Erich Ramer: Grundsätzlich kann man solche Entscheidungen auf der Baustelle schon fällen. Aber gerade bei Grabenbauten sieht man regelmässig heikle Situationen. So kam mir auch schon ein Graben zu Gesicht, der unmittelbar neben den Gleisen senkrecht in den Baugrund «abgetieft» war. Er stand, aber es hätte auch genau anders sein können!

Wie kommt es zu diesen heiklen Situationen im Bauprozess?
Walter Ramseier: Wenn zum Beispiel die Planung in Frage oder auf den Kopf gestellt wird. Man plant etwas korrekt, und es ist sowohl ingenieurmässig als auch vom Bauablauf her abgesichert. Der Gesamtprojektleiter kennt zu diesem Zeitpunkt den Ablauf. Wird die Ausführung kurzfristig umgestellt, können die Unfälle passieren. In den meisten Fällen sind solche kurzfristigen Anpassungen Optimierungsangelegenheiten. Man will Kosten und Zeit einsparen. Das ist das tägliche Brot in einem Bauablauf: Wie können wir schneller und billiger bauen. Dieser Mechanismus von Änderungen technischer Abläufe findet auf der Baustelle oft statt. Die Schwierigkeit liegt darin, die richtige Einschätzung vorzunehmen. Es gehört zu den Aufgaben des Gesamtprojektleiters, hier den Finger aufzuheben und auf die Risiken aufmerksam zu machen.
Jürg Gasche: Auch aus meiner Sicht passiert immer dann etwas, wenn Abläufe geändert werden. Baustellen sind dynamisch. Dass die Beteiligten in einem solchen dynamischen Prozess Änderungen vornehmen können, ist natürlich zwingend. Für die Fachleute ist es darum eine Herausforderung, Änderungen in den dynamischen Abläufen so zu steuern, dass nichts passiert.

Trotzdem müssen die Regeln der Baukunde eingehalten werden. Kann diese Forderung in der Praxis umgesetzt werden?
Jürg Gasche: Wie man das macht, ohne dass Menschenleben gefährdet werden, müssen die Fachleute diskutieren. Auf jeden Fall müssen im Moment des Bauens die dann gültigen Regeln der Technik erfüllt sein. Dass sich diese immer weiter entwickeln, ist klar. Trotzdem kann man nicht alle Häuser im gleichen 10-Jahres-Takt, in dem technische Normen überarbeitet werden, nachrüsten. Wenn jedoch beispielsweise ein grosser Umbau vorgenommen wird, dann müssen sich die Planer damit auseinandersetzen, was der aktuelle Stand der Regeln der Technik ist. Es muss zwingend geklärt werden, was aus Sicherheitsgründen baulich angepasst werden muss.
Erich Ramer: Bei Umbau und/oder Nutzungsänderungen sind die neuen Normen einzuhalten. Wird aber weder an der Nutzung noch am Bauwerk etwas geändert, soll (ausser bei offensichtlichen Fehlern) das Bauwerk belassen werden, wie es seinerzeit dimensioniert wurde. Ein aktuelles Beispiel ist die Erdbebensicherheit. Nur wegen der Normen können wir nicht sämtliche Gebäude in der Schweiz erdbebentechnisch nachrüsten.
Jürg Gasche: In einem Fall beauftragte der Bauherr einen zweiten Ingenieur, weil der Erstbeauftragte gestorben war. Er überprüfte die Dimensionierung seines verstorbenen Kollegen und stellte fest, dass dieser mit den alten SIA-Normen gerechnet hatte. Die statische Berechnung der Tiefgarage entsprach somit nicht den gültigen Normen. Das Bauwerk war aber schon in der Ausführung. Die Haftpflichtversicherung des Verstorbenen übernahm die Mehrkosten der Anpassungen an die aktuelle Norm.
Erich Ramer: Das ist ja das Beste, was einem passieren kann. Aber wenn dieser nun nicht gestorben wäre?
Jürg Gasche: Dann hätte der Bauherr ein Bauwerk erhalten, das nicht den neuen Normen entsprechend dimensioniert gewesen wäre. Wahrscheinlich hätte auch das gehalten. Es ist eben beim Bauen so, solange etwas hält, auch wenn es gegen die Regeln der Technik verstösst, wird niemanden belastet: «Wo kein Kläger, da kein Richter». Zur Sorgfaltsspflicht des Fachmanns gehört aber, dass er seine Bauherrschaft darauf hinweist, wenn er eine Verletzung der Regeln der Technik bemerkt.

Wird man so nicht bei jedem Projekt «frecher» in der Dimensionierung? Sind Schäden eine Frage der Zeit, und häufen sich die Schadensfälle?
Erich Ramer: Frecher zu werden darf man sich als Ingenieur nicht leisten. Baustellen, auf denen nichts passiert, gelten nicht als Referenz. Man muss sich auf Erfahrungen stützen, die mit Berechnungen oder vielleicht sogar mit Kontrollmessungen gemacht wurden. Einstürze von fertigen Bauwerken sind übrigens eher die Ausnahme. Eine ungenügende Bemessung führt in der Regel nicht gleich zum Einsturz. Häufiger sind Einschränkungen der Gebrauchs­tauglichkeit. Ausserdem laufen Bauzustände eher Gefahr, bei der Bemessung vergessen zu werden. Aus diesem Grund ist es wichtig, die einzelnen Bauzustände systematisch anzugehen und alle Gefährdungsbilder zu erfassen. Dies ist wiederum eine Termin- und Honorarfrage. Mehr Geld heisst mehr Zeit. Wenn ich die Zeit habe, sorgfältiger nachzudenken, dann komme ich auch auf die relevanten Gefährdungsbilder. Wenn ich aber alles in Rekordzeit durchpauken muss, dann ist das Risiko grösser, dass ich das eine oder andere Gefährdungsbild übersehe.
Jürg Gasche: Zu beachten ist, dass rein juristisch gesehen sogar der Fachmann, der gratis arbeitet, trotzdem verpflichtet ist, sorgfältig zu arbeiten. Die Relation zwischen Honorar und Denkkapazität gibt es aus rechtlicher Sicht nicht. Wenn etwas passiert und die Untersuchung beginnt, werden die Juristen nicht zuerst sagen: «Aha, er hat nur 50 % vom üblichen Honorar erhalten. In diesem Falle müssen wir das Auge um zwei Viertel zudrücken.» Im Gegenteil, die Gesellschaft erwartet volle Sorgfalt in jedem Fall. Aber um der Sorgfaltspflicht nachzukommen, muss das Honorar stimmen. Man kann auch nicht einen Esel dazu bringen, eine Karre zu ziehen, ohne ihm jemals zu saufen zu geben!

Wie beurteilen Sie die derzeitige Honorarsituation in Bezug auf die Denkkapazität?
Walter Ramseier: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man mit den Honoraransätzen nach SIA 102 und den seit 2005 geltenden z-Werten klar kommt. Mit dem für mein Büro ermittelten Stundenansatz können wir die erwartete Leistung erbringen. Bei Ansätzen, die mehr als 10 % darunter liegen, gibt es ein Problem.
Erich Ramer: Im Tiefbau liegen die Honorare manchmal um 50 % oder mehr unter jenen, die man nach Honorarordnung ermitteln würde. Es gibt zwei Möglichkeiten, das zu erreichen. Ich kann einerseits weniger Leistung anstreben. Andererseits kann ich die Löhne der Mitarbeiter drücken und von ihnen verlangen, dass sie Gratisstunden leisten. Dann komme ich mit weniger bezahlten Stunden durch. Wenn Bezahlungen von nur 20 bis 50 % der empfohlenen SIA-Honorare angeboten werden, kann der Aufwand nicht einfach mit Rationalisieren und Erfahrung reduziert werden. Das birgt Risiken. Das sind zusätzliche Kostenrisiken neben den bereits angesprochenen Fehlerrisiken. Oft wird versucht, Zeit und somit Geld zu sparen, indem einfach weniger optimiert und sicherer bemessen wird. Der Bauherr hat dann zwar die teuren Bauten, hat aber ein paar Franken Honorar gespart.
Jürg Gasche: Das ist ein ganz wichtiger Ansatz, den Sie ansprechen! Man tut ein wenig mehr Eisen rein und dann hält’s. Das ist eine wichtige Relation: Was ist die Ersparnis am Ingenieur-Honorar in Franken und was die Bauverteuerung, die damit ausgelöst wird. Wenn klar dargelegt werden könnte, dass hier quasi eine Hebelwirkung besteht: Ein Franken gespartes Honorar bedeutet beispielsweise drei Franken teureres Bauen, dann müsste der Bauherr ganz klar sagen: «Dann legen wir lieber einen Franken drauf. Wir investieren zwar mehr in die Planung, das Bauen hingegen kostet uns weniger. Am Schluss haben wir insgesamt weniger ausgegeben!»
Walter Ramseier: Da staune ich jedes Mal wieder. Warum reiten die Bauherren auf den Honoraren rum? Es ist der kleinste Teil, gemessen an der Bausumme. Wenn sie eine gute Planerleistung haben, können sie wirklich Geld sparen.

Sind für Schadensfälle die Honorare der Grund allen Übels?
Walter Ramseier: Die niedrigen Honorare und Werklöhne sind bestimmt mit eine Ursache für das hohe Tempo, das auf den Baustellen vorgelegt wird. Das lässt das Risiko steigen. Meines Erachtens hat aber auch der Unternehmer grossen Einfluss darauf, einen Schaden zu verhüten oder zu verursachen. Dort sehe ich ein viel grösseres Gefahrenpotenzial als bei den Planern. Es sind die komplexen Zusammenhänge, aber auch die Schnittstellen in den Bauabläufen, die Fehler, Bauschäden und Unfälle forcieren. Zudem ist jeder Bau ein Prototyp. Das macht die Sache auch nicht einfacher.
Jürg Gasche: Wie konfrontieren denn Architekten den Bauherrn mit einem innovativen Projekt, das Prototyp-Charakter hat? Sagen sie dem Bauherrn: «Wenn Sie diese Lösung wollen, dann haben Sie etwas Spezielles, tragen jedoch mehr eigene Verantwortung»? Angenommen die Verantwortung wird nicht übernommen, zieht der Architekt dann eine konventionelle Lösung vor?
Walter Ramseier: Das machen Architekten nie, denn Architekten sind so ehrgeizig, dass sie das Risiko eingehen. Sie versuchen, sich in einem solchen Fall vielmehr abzusichern.

Innovation ist ein Risikofaktor. Stellen die Normen und Regelwerke heute eine Innova-tionsbremse dar?
Walter Ramseier: Als Innovationsbremse würde ich die SIA-Normen nicht bezeichnen. Es ist vielleicht so, dass sie das Bauen manchmal verkomplizieren. Der Aufwand, ständig auf dem neusten Wissenstand zu sein, ist verhältnismässig gross und sollte nicht unterschätzt werden.
Erich Ramer: Man kann sich nach gewissen Regeln auch ausserhalb der Norm bewegen, durch Versuche und Berechnungen nachweisen, dass der Sicherheit trotzdem Genüge getan ist. Normen sind darum eindeutig keine Innovationsbremse.
Jürg Gasche: Zur juristischen Absicherung müssen die Vereinbarungen ein Kapitel zu «Abweichungen von den Normen» enhalten. Ich empfehle bei Innovationen den Abweichungsvorgang, den darüber geführten Dialog zwischen Planer und Bauherr sowie die vom Bauherrn gefällten Entscheidungen akribisch zu dokumentieren.

Ist ein Schaden eingetreten, wird der Schuldige gesucht. Wer übernimmt die Verantwortung?
Walter Ramseier: Klare Richtlinien regeln die Verantwortung. Fehlen solche Richtlinien, kann in einem Schadenfall jeder am Bau Beteiligte in die Pflicht genommen werden. Als verantwortlicher Gesamtprojektleiter kann ich mich nur schützen, indem ich mich bei Spezialisten absichere.
Jürg Gasche: Der Gesamtprojektleiter hat eine Führungs- und Managementfunktion. Er ist verpflichtet kritische Fragen zu stellen und sich seriöse Entscheidungsgrundlagen zu verschaffen. Er darf sich nicht ohne weiteres auf das Urteil eines Spezialisten verlassen, wenn er keine Schuldzuweisung riskieren will.
Erich Ramer: Ich bin oft als Gesamtprojektleiter tätig und habe mit Spezialisten aus Fachgebieten zu tun, von denen ich selbst wenig oder nichts verstehe. Es würde mich stören, wenn der Richter mir ein Fachurteil zumessen würde, auf einem Gebiet für dessen Fragen ich einen Spezialisten zugezogen habe.
Wenn ich mich in die Rolle des Spezialisten versetze, masse ich mir an, für mich zu entscheiden, ob ich aus Erfahrung oder aus dem Bauch die Sachlage beurteilen kann oder, ob ich eine Berechnung brauche, um den Sachverhalt nachzuweisen. Wenn ich am Tisch sage: «Das ist für mich sonnenklar, das muss ich nicht noch einmal rechnen!», dann erwarte ich, dass mir der Gesamtprojektleiter das auch abnimmt. Umgekehrt muss sich der Gesamtprojektleiter auch darauf verlassen können, wenn sein zugezogener Spezialist behauptet: «Jawohl, ich habe mir das jetzt gerade überlegt, es ist für mich klar.»
Sie haben schon recht, ich bin auch der Meinung, der Gesamtprojektleiter muss nachfragen. Wenn dieser dafür aber immer eine Berechnung auf Papier verlangen müsste, würde mir dies zu weit gehen.
Jürg Gasche: Würde es Ihnen als Spezialist zu weit gehen oder würden Sie als Gesamtprojektleiter nicht so weit gehen wollen?
Erich Ramer: In beiden Rollen. Ich bin der Meinung, der Spezialist muss in der Lage sein, zu entscheiden, ob er eine Berechnung braucht, um etwas zu beurteilen oder ob er es ohne Berechnung nachweisen kann.

Die fehlende Fachkenntnis ist die eine Seite. Wer übernimmt die Verantwortung, wenn Aufgaben aus Kapazitätsgründen abgegeben werden?
Jürg Gasche: Man kann ja niemals alles selber machen. Wenn man aber aus Kapazitätsgründen eine Aufgabe delegiert, so trägt man die volle Verantwortung. Immer.
Erich Ramer: Es kommt ausserdem darauf an, wie man das Arbeitsverhältnis mit dem Auftraggeber vertraglich geregelt hat. Werden separate Verträge abgeschlossen, ist in jedem Vertrag auch eine gewisse Verantwortung zugewiesen. Hoffentlich eindeutig und ohne Lücken und Überschneidungen. Im Auftragsrecht hafte ich hingegen nur für die sorgfältige Auswahl des erlaubterweise zugezogenen Subplaners.

Wie sehen Massnahmen gegen die vorhandenen Fehlerrisiken aus? Sind Prüfingenieure eine Lösung?
Erich Ramer: Das kann für den projektierenden Ingenieur sehr bequem sein, denn dann übernimmt der Prüfingenieur einen Teil der Verantwortung.
Jürg Gasche: Wollen Sie das wirklich?
Erich Ramer: Eigentlich nicht. Das hat natürlich zur Folge, dass man in einem Fall, in dem ein Prüfingenieur mitwirkt, seine Statik in einer ganz bestimmten Form aufbereiten und abgeben muss. Andererseits aber hat der Prüfingenieur ein Auge darauf, ob alle massgebenden Fälle berücksichtigt sind. Jeder Prüfingenieur hat seine primäre Aufgabe in der Plausibilitätskontrolle, die er auf verschiedene Arten durchführt. So gesehen gibt es eine gewisse grössere Sicherheit gegen Schadenfälle. Allerdings kostet ein Prüfingenieur wiederum Geld und ich persönlich ziehe es vor, als Projektverfasser die finanziellen Mittel für eine sorgfältige Planung zur Verfügung zu haben.
Neben den Prüfingenieuren sehe ich als Massnahme auch das Beseitigen der Hauptfehlerquellen. Vor allem den oft politisch bedingten Termindruck und die harte Selektion auf Grund des tiefsten Preises.

TEC21, Mo., 2007.01.29



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2007|05 Sicher Bauen

«Studieren mit mehr Eigenverantwortung»

Mit der Bologna-Reform verändern sich Lehre, Forschung und Praxis im Bauingenieurwesen. Die ersten Master-Absolventen der neuen Studiengänge kommen in einigen Jahren auf den Arbeitsmarkt. tec21 befragte Lehrende und Praktiker, wie sich die Ausbildung der Studierenden verändern wird und was die späteren Arbeitgeber von den Absolventen erwarten und sich erhoffen. Die fünf Interview-Partner wurden in schriftlicher Form nach ihren Vorstellungen befragt, wodurch unabhängige Stellungnahmen aus fünf Bauingenieur-Tätigkeitsfeldern zusammengetragen werden konnten.

Mit der Bologna-Reform verändern sich Lehre, Forschung und Praxis im Bauingenieurwesen. Die ersten Master-Absolventen der neuen Studiengänge kommen in einigen Jahren auf den Arbeitsmarkt. tec21 befragte Lehrende und Praktiker, wie sich die Ausbildung der Studierenden verändern wird und was die späteren Arbeitgeber von den Absolventen erwarten und sich erhoffen. Die fünf Interview-Partner wurden in schriftlicher Form nach ihren Vorstellungen befragt, wodurch unabhängige Stellungnahmen aus fünf Bauingenieur-Tätigkeitsfeldern zusammengetragen werden konnten.

Lehre

Welche inhaltlichen Veränderungen lassen sich nach der Bologna-Revision gegenüber der früheren Bauingenieur-Ausbildung feststellen?

Kenel: Die Umstellung auf den Bachelor bot die Möglichkeit, das Curriculum kritisch zu hinterfragen, den neuen Anforderungen anzupassen und die Unterrichtseinheiten zeitlich sowie fachlich besser abzustimmen. Die Hochschule für Technik Rapperswil (HSR) hat beispielsweise den Bereich Nachhaltigkeit und Umwelt verstärkt und vernetzt sich mehr mit den Abteilungen Raumplanung und Landschaftsarchitektur. Dies wirkt sich sehr positiv in der Bearbeitung von interdisziplinären Projektarbeiten aus.

Fontana: Es lassen sich im Wesentlichen zwei Veränderungen feststellen: Erstens zeigt sich eine stärkere Ausrichtung auf das wissenschaftliche Vorgehen, und zweitens besteht die Möglichkeit, sich im Master-Studium in zwei von sechs Richtungen (Konstruktion, Geotechnik, Verkehrssysteme, Wasserbau und Wasserwirtschaft, Bauplanung und Baubetrieb, Werkstoffe und Mechanik) zu vertiefen. Das bisherige breite Studium war in der vollen Tiefe für Studierende in vier Jahren kaum zu bewältigen. Sie sind nicht mehr bereit oder in der Lage, 70 und mehr Wochenstunden zu leisten – was auch verständlich ist. Auch ist eindeutig ein Trend zu mehr Mobilität mit Auslandsemestern festzustellen, was sich positiv auf die internationale Konkurrenzfähigkeit der Absolventen auswirkt. Die Fähigkeit zu präsentieren ist heute deutlich besser, eventuell aber zu Lasten der Selbstkritik an den eigenen technischen Kenntnissen und der Bescheidenheit.

Haben Sie in Zusammenhang mit der Bologna-Revision negative Erfahrungen gemacht?

Kenel: Der Bachelor-Studiengang wurde an der HSR im Wintersemester 05 / 06 problemlos eingeführt. Die Studierenden müssen vermehrt Eigenverantwortung im Studium übernehmen, so beispielsweise für das Selbststudium. Es ist aber noch zu früh, um über positive oder negative Erfahrungen zu berichten. Die zukünftigen Arbeitgeber unserer Abgänger wissen noch nicht genau, was sie von den jungen Ingenieurinnen und Ingenieuren erwarten können. Dieser Verunsicherung müssen wir im Dialog Rechnung tragen und die Chancen solcher Revisionen vermehrt ins Zentrum der Gespräche rücken.

Fontana: Mit dem bereits heute eingeführten euro-päischen Credit-System entfällt das grosse Schlussdiplom, mit dem das Wissen umfassend geprüft wurde. Das Wissen in den einzelnen Fächern ist zum Zeitpunkt der jeweiligen Prüfungen aus diesem Grund heute grösser. Leider fehlen Studierenden aber damit oft die Querbezüge, und das analytische gewinnt gegenüber dem synthetischen Denken.

Ist die Fachhochschule ein möglicher Weg, das Bildungsniveau der Technischen Hochschulen auf dem sekundären Bildungsweg zu erreichen?

Fontana: Ja ganz klar, sofern das Studium an der FH mit einem Master an der ETH abgeschlossen wird. Der Weg über die sekundäre Bildung wird, durch die zunehmende Bedeutung der sprachlichen Fähigkeiten gegenüber den mathematisch-naturwissenschaftlichen der gymnasialen Bildung, für die Ingenieurausbildung immer wichtiger. Gut ist, dass schon heute zwischen den Studierenden ein reger Austausch zwischen praktischer Erfahrung und theoretischem Wissen stattfindet.

Kenel: Die Fachhochschulen haben ein zur ETH verschiedenes Eintritts- und Austrittsprofil, welches die Studierenden auf die verschiedenen Aufgaben der Wirtschaft vorbereitet. Dabei geht es nicht um vergleichbare Bildungsniveaus. Das in der Schweizer Wirtschaft gut verankerte duale Bildungssystem erlaubt es, auch zukünftig einerseits IngenieurInnen an den FH mit stark praxisorientiertem Hintergrund als auch andererseits naturwissenschaftlich geprägte IngenieurInnen an der ETH auszubilden.
Um zu gewährleisten, dass Studierende einer bestimmten Fachrichtung ohne weitere Vorbehalte und Auflagen in ein entsprechendes Master-Studium an irgendeiner Fachhochschule der Schweiz eintreten können, war es bei der Konzipierung der Studiengänge notwendig, die Gliederung der Themengebiete und die Gewichte in der Ausbildung in den Grundzügen festzulegen. Die Konferenz der Fachhochschulen der Schweiz hat die Konzeption gestufter Studiengänge anhand einer ‹Best Practice und Empfehlungen› bereits im Jahr 2003 vorbereitet.

Deuring: Beide Ausbildungssysteme sind sehr wichtig, sollten sich aber auf die jeweiligen Stärken konzentrieren. Die FH kann auf in der Berufslehre erlangte Berufserfahrungen aufbauen, während die Absolventen des Gymnasiums eine gute Allgemeinbildung und Grundkenntnisse in naturwissenschaftlichen Gebieten mitbringen. Ein Studium ist dann effizient, wenn optimal auf diesen Voraussetzungen aufgebaut wird. Dennoch ist eine Durchlässigkeit der Ausbildungswege erforderlich, der Übertritt muss möglich sein. So absolvierte ich, damals etwas schulmüde, nach der Sekundarschule die Berufslehre. Die Freude am Studieren erlangte ich während der letzten Semester meiner Ausbildung zum Ingenieur HTL, und ich wollte meine Kenntnisse, nach dieser soliden Ausbildung, vor allem in den konstruktiven Fächern sowie der Materialtechnologie vertiefen. So war es für mich sehr willkommen, dass ich dank einem Übertrittskurs den Zugang an das zweite Vor-diplom der ETH erlangen konnte und damit für mich die Fortsetzung des Studiums im 5. Semester der ETH möglich war.

De Dominicis: Der Übertritt von der FH zur ETH soll möglich sein, die Übergangsanforderungen sollten aber hoch angesetzt werden. Schon wegen des heutigen Mangels an Fachkräften brauchen wir verschiedene Eingangspforten mit unterschiedlichen Voraussetzungen. Die Praxis braucht diese ‹Breite›, denn bei der Personalrekrutierung zeichnet sich der Trend ab, dass wir keine passenden Leute auf unserem Markt finden. Unsere Aufforderung an die Hochschulen lautet deswegen: Gestaltet die Lehrgänge so, dass die Studiengänge an Attraktivität gewinnen.

Die Stufe Master auf dem sekundären Bildungsweg zu erreichen, fehlt heute vollständig und wird nun nach der Bologna-Revision angeboten. Bildet der Master of Science FH ein
Konkurrenzprodukt gegenüber dem Master of Science ETH?

De Dominicis: Man sollte aufhören, von ‹konkurrenzierenden› Titeln zu sprechen, sondern vielmehr ‹sich ergänzende› Titel anstreben. In der Praxis ist die Konkurrenzierung bei der Anstellung kein Thema, was zählt, sind die vorhandenen Kompetenzen der Inge-nieurInnen. Und eine gute Qualität der Ausbildung ist die Basis dafür. Angesichts der rückläufigen Studentenzahlen sollte das Ziel die Fokussierung auf die Qualität sein. Die beschränkten Gelder müssen konzentriert und Doppelspurigkeiten vermieden werden. Ein möglicher Ansatz wäre, den Master nur an der ETH und einigen wenigen FH anzubieten. Von Konkurrenz hingegen müssen wir im internationalen Kontext sprechen. Dort brauchen wir ein gutes Produkt wie die Ausbildung und Forschung an der ETH bzw. der EPFL.

Fontana: Dank den guten Übertrittsmöglichkeiten von der FH an die ETH besteht in der Schweiz meines Erachtens keine Notwendigkeit für einen allgemeinen Master der FH im Bauingenieurwesen. Damit entfällt auch die Diskussion über ‹Andersartigkeit und Gleichwertigkeit›. Die ohnehin knappen Ressourcen sollten sinnvoller für berufsbegleitende Master der FH in Spezialbereichen eingesetzt werden.

Kenel: Das Masterprogramm FH bildet mit der praxisbezogenen Ausbildung eine gute Ergänzung zum wissenschaftlichen Master an der ETH. Die Wirtschaft braucht neben den naturwissenschaftlich tiefer gehend ausgebildeten ETH-Masters auch FH-Master, die in der Ausführung und Begleitung komplexer Bauvorhaben ihre Stärken haben.

Deuring: Die Praxis hat einen grossen Bedarf an Ingenieuren beider Ausbildungswege. Eine Angleichung ist für die Master-Stufe nicht sinnvoll, da beide Ausbildungswege erwünscht sind. Würde jedoch trotzdem eine Angleichung durchgeführt, müsste bei der Anstellung verstärkt auf die Spezialisierung der Absolventen geachtet werden.

An den FH wurde stets angestrebt, eine praxisnahe Ausbildung mit Dozierenden aus der Praxis anzubieten. Wird dies auch in Zukunft möglich sein?

Kenel: Der Lehrkörper der FH setzt sich aus hauptamtlichen Professoren und nebenamtlichen Dozenten zusammen. Während sich die Professoren neben der Lehre auch in der angewandten Forschung engagieren, garantieren die Dozenten den engen Kontakt zur Wirtschaft. Der Aufbau eines starken Mittelbaus, also die Anstellung von Assistenten, ermöglicht die Realisation verschiedener Projekte in der angewandten Forschung.

Fontana: Die Forschung an der FH im Bauingenieurbereich ist nicht unproblematisch. Den grössten Erfolg verspricht wohl die praxisnahe Forschung an aussergewöhnlichen Tragwerken, für die neue Bauteile und Materialien eingesetzt werden. Darin sollte die praktische Tätigkeit der FH-Dozierenden und die sorgfältige Evaluation und Analyse der am Bau erzielten Ergebnisse eingebettet sein. Damit liesse sich auch der Spagat zwischen praktischer Tätigkeit und Forschung der FH-Dozenten entschärfen.

Forschung

Wie reagiert die ETH mit ihren Forschungsprojekten auf die neue ‹Konkurrenz›, die durch die Forschungsmöglichkeiten an der FH entstehen?

Fontana: Das Verknüpfen von projektbezogener Forschung, Entwicklung und Dienstleistung hat für die FH einen besonderen Stellenwert und ist ihre starke Ausgangsposition. Die Beziehungen der Firmen zu den Forschern sind dabei häufig personenbezogen und richten sich nach deren besonderem Fachwissen und Reputation. Jedoch sollten an Hochschulen nicht Routinearbeiten ohne Forschungs- oder Ausbildungscharakter durchgeführt werden, womit private Anbieter mit öffentlichen Geldern konkurrenziert würden.
Das Humankapital der Doktorierenden der ETH und der Wissenstransfer beim Stellenwechsel in die Praxis haben für die Unternehmen einen hohen Stellenwert. Die Ausbildung von zukünftigen Spitzenkräften in der wissenschaftlichen Arbeit ist integrierender Bestandteil der Forschung an der ETH. Verbunden mit der Führung von technischen Mitarbeitern, der Organisation und Finanzierung des eigenen Projektes ist dies eine wichtige Erfahrung für die spätere praktische Tätigkeit. Neben der Forschung an der ETH und den FH darf aber auch die Bedeutung der Forschung an der Empa im Bereich der Bauingenieurwissenschaften nicht vergessen werden. ETH und Empa arbeiten hier zum Bespiel mit gemeinsamen Doktorierenden eng zusammen.

Stellen die Förderung der Grundlagenforschung an der ETH und die anwendungsorientierte Forschung an der FH eine Abgrenzung der beiden Forschungsgebiete dar?

Fontana: Mit den Doktorierenden und den Festangestellten wird sich automatisch eine mehr auf grundlagenorientierte und auf langfristige Ziele ausgerichtete Forschung an der ETH einstellen, mit anwendungsorientierten Projekten in Spezialbereichen. Andererseits festigt sich eine mehr entwicklungsorientierte Forschung an den Fachhochschulen mit stärkerem Bezug auf die forschenden Personen und ihr Spezialwissen, das von den Unternehmungen für ihre Entwicklungsprojekte auch in Form von Dienstleistungen gefragt ist.

Deuring: An der Empa und an den beiden ETH habe ich erlebt, wie effizient Forschungsprojekte durchgeführt werden. Sowohl die Unterstützung durch Fachkräfte als auch die Bedingungen in den Labors sind gut. Die betreuenden Professoren sind mit ihrem Wissen für die Leitung der Arbeiten bestens geeignet. An Fachhochschulen hingegen sind die Voraussetzungen sehr unterschiedlich, genauso wie die Qualität der Arbeiten. Wir sollten deshalb gut abwägen, wo welche Arbeiten vorgenommen werden. Konkurrenz belebt, aber zu viel Energie für die Akquisition von Forschungsarbeiten und deren Verteilung auf zu viele Schulen kann nicht sinnvoll sein. Ein Ansatz könnte sein, dass alle Regionen ein starkes Forschungszentrum haben und die übrigen Schulen mit einem entsprechenden Verbund auch von diesen Arbeiten profitieren.
Ebenso gilt es, gut zu überlegen, welche Zielsetzungen mit den Forschungsarbeiten zu verfolgen sind. Die Grundlagenforschung ist wichtig, dabei dürfen aber die Bedürfnisse der Bauindustrie nicht vergessen werden. Eine intensive Zusammenarbeit mit der Praxis sowie den verschiedenen Baustofflieferanten ist unabdingbar.

De Dominicis: Die Forschung sollte – egal ob ETH oder FH – zu einem gewissen Mass immer anwendungsorientiert sein, denn schliesslich sollten die Erkenntnisse für die Praxis mittel- oder langfristig einen Mehrwert ergeben. Die raren Forschungsgelder müssen konzentriert eingesetzt werden. Entsprechend unterstützen wir den Vorschlag, Forschung bei der ETH / EPFL sowie bei ausgewählten, spezialisierten FH zu betreiben.

Praxis

Besteht in der Praxis der Wunsch nach Generalisten oder mehrheitlich spezialisiert ausgebildeten Studenten?

Somaini: Mein Wunsch wäre ein Ingenieur oder eine Ingenieurin mit einem oder zwei Spezialfächern und mit guten Grundkenntnissen in den übrigen Gebieten. Damit wird einerseits die Fähigkeit geschult, sich in einer bestimmten Materie zu vertiefen, gleichzeitig wird aber auch die Gesamtübersicht gefördert.

De Dominicis: Bei der SBB Infrastruktur brauchen wir Generalisten und Fachspezialisten. Generalisten werden für das Projektmanagement in mittleren bis hochkomplexen Projekten mit verschiedensten Fachdisziplinen aus der Bahntechnik eingesetzt. Spezialisierte BauingenieurInnen nehmen wiederum wichtige Aufgaben im Bereich Engineering und Produktmanagement wahr. Wir benötigen also sowohl anwendungs- wie auch entwicklungsorientierte IngenieurInnen.

Deuring: Die Praxis benötigt den Generalisten und den Spezialisten. Der Generalist sollte mit Umsicht die Anliegen des Kunden und der Gesellschaft optimal umsetzen. Diese Generalisten müssen ihre Grenzen kennen und rechtzeitig die Spezialisten einsetzen, die in ausgewählten Themen über ein vertieftes Wissen verfügen. Dies bedeutet aber nicht, dass die Schule, oder sogar jede Schule, alle Ausbildungen anbieten muss. Eine Fachhochschule könnte sich zu einem Kompetenzzentrum für einen ausgewählten Bereich entwickeln, wie dies für den Bereich Holz in Biel mit Erfolg durchgeführt wird. Die Wahl von Vertiefungsrichtungen wiederum für die Hochschulen erachte ich als eine sehr gute Form.

Kenel: Das Abschlussprofil der FH ist generalistisch ausgerichtet. Eine Spezialisierung sollte auf dem Arbeitsmarkt oder im Master-Studium erfolgen.
Fontana: Der Studienplan der ETH ist Sache des Departements, die Meinungen der Praxis bilden darin einen wichtigen Teil des Findungsprozesses für das Curriculum. Es werden sehr wohl Generalisten ausgebildet, wobei nach wie vor die Möglichkeit besteht, Vertiefungsbereiche zu wählen.

Wie beurteilen Sie als Praktiker die Qualität der Absolventen heute?

Deuring: Wir dürfen uns sehr glücklich schätzen, dass die Qualität der in unserem Land ausgebildeten IngenieurInnen hoch ist. Diesen hohen Standard zu halten ist aber eine sehr grosse Herausforderung. Nur die besten Lehrkräfte sollten an die Schulen berufen werden. Sie müssen sowohl ihr Fach als auch die Ausbildungsmethodik beherrschen. Aber gerade die letztere Fähigkeit wird für Anstellungen selten geprüft. Die am besten geschulten Lehrer findet man an den Grundschulen. An den Hochschulen verfügen die Lehrkräfte selten über methodische Ausbildungen. Darüber hinaus ist für diesen Standard die Messlatte für die Studierenden weiterhin hoch zu halten. Weder der Mangel an BauingenieurInnen noch der Druck, genügend Studenten an einer Schule zu haben, dürfen dazu führen, dass die hohen Ansprüche nach unten korrigiert werden. Schulen sollten sich nicht gegenseitig die Studenten abwerben, vielmehr sollten klare inhaltliche Abgrenzungen dazu führen, dass ein Student die für ihn passende Ausbildungsstätte wählt. Die Anzahl der entsprechenden Angebote muss sich an Bedarf und Nachfrage sowie wirtschaftlich optimierten Studentenzahlen pro Studiengang orientieren und darf sich nicht nach födera-listischen Kriterien richten. Nur so wird unser Ausbildungsangebot im Vergleich zum Ausland weiterhin zur ersten Wahl gehören.

Wie wird sich die Qualität der zukünftigen Absolventen durch die Bologna-Revision verändern?

De Dominicis: Ich habe noch keine Erfahrung mit den Absolventen aus den Bachelor- und Master-Studiengängen sammeln können. Für uns ist es wichtig, dass im Hinblick auf die künftigen Herausforderungen insbesondere die Sozialkompetenz der Absolventen gestärkt wird. Das Arbeiten in multidisziplinären Teams mit strengen Qualitäts- und Kostenvorgaben nimmt stark zu. Mit der Einführung der Bologna-Revision wird hoffentlich auch die Vergleichbarkeit der Ausbildungen auf dem internationalen Parkett besser. Wir haben in den letzten Jahren vermehrt Fachkräfte aus dem grenznahen Ausland rekrutiert und gute Erfahrungen mit ihnen gemacht. Die rückläufigen Studentenzahlen an den inländischen Hochschulen werden diesen Trend verschärfen.


Haben Sie Befürchtungen, dass wesentliche Aspekte des Bauingenieurstudiums mit dem neuen Ausbildungssystem nicht mehr berücksichtigt werden können?

Somaini: Ich hoffe, dass damit die Möglichkeit genutzt wird, alte Strukturen aufzufrischen und der Praxis mehr Gewicht zu schenken. Gerade die Einführung eines obligatorischen Praktikums während des Studiums ist zu fördern. Mit einem Praxisbezug ist die Theorie viel einprägsamer, und es gibt ein bewussteres Lernen.

De Dominicis: Die Hochschulen müssen mit den Entwicklungen der Technik Schritt halten und für eine solide Grundausbildung sorgen. Ich habe das breite Spektrum der Fachdisziplinen immer als eine Stärke des Bauingenieurstudiums an der ETH erachtet. BauingenieurInnen sind mit ihren analytischen, vernetzenden und umsetzungsorientierten Fähigkeiten in der Praxis sehr polyvalent einsetzbar. Empfehlenswert ist die Einführung eines obligatorischen Praktikums. Die Stärken älterer Bauingenieur-Lehrgänge lagen darin, dass der Praxiserfahrung ein hoher Stellenwert eingeräumt wurde. Diesem Bezug zur Praxis muss die Hochschule weiterhin Rechnung tragen und entsprechend Zeit dafür im Lehrplan einräumen.

Deuring: Ich hoffe sehr, dass mit der Umsetzung des neuen Ausbildungssystems die sich eröffnenden Chancen genutzt werden. Die Fachhochschulen bilden die Praktiker aus, die bereits nach nur kurzer Einführung die ingenieurtechnische Bearbeitung vieler interessanter Projekte übernehmen können und dank ihrem Werdegang die konstruktive Durchbildung kennen und auch Konstrukteure anleiten können. Die Hochschulen dagegen dürfen in den wichtigen Grundlagenfächern keinen Abbau vornehmen. Gerade das analytische Denken zeichnet den Absolventen dieses Ausbildungsweges aus. Gleichzeitig soll die Ausbildung an den ETH nicht a priori die Vorbereitung auf eine Forschungskarriere sein. Durchaus wäre möglich, einen Teil der Studierenden entsprechend ihrer Neigung und Eignung ab den letzten Semestern auf diesen Weg zu schicken. Die übrigen aber sollen in den traditionellen Bauingenieurthemen eine fundierte Ausbildung erhalten, die sie, nach einer gegenüber dem FH-Abgänger längeren Einarbeitungszeit, zur Bearbeitung sehr komplexer Aufgaben befähigt.


Sollten unternehmerische Kompetenzen (Akquisition, Management, soziale Kompetenzen, Führungsqualitäten, Finanzierung usw.) bereits in der Grundausbildung geschult oder erst mit Weiterbildungsmöglichkeiten angeboten werden?

Somaini: Der Einbezug der erfahrenen BauingenieurIn-nen in die Projektleitung und in die Geschäftsleitung erfordert Zeit, in der das angeeignete Wissen wieder verloren geht. Es ist meiner Meinung nach nicht sinnvoll, bereits im Grundstudium die Ausbildung danach auszurichten, da dies nur auf Kosten von anderen Fächern erfolgen könnte. Viel sinnvoller ist es, dies in der Weiterbildung anzubieten. Schliesslich entwickelt sich der Stoff der entsprechenden Fächer auch weiter und soll bei der Vermittlung und anschliessenden Anwendung aktuell sein.

Deuring: Die Schulen müssen sich auf eine solide Grundausbildung konzentrieren. Es ist nicht sinnvoll, in allen Themen nur an der Oberfläche zu arbeiten. Daher sollten im Studium die hier angesprochenen Themen nur gestreift werden. Es ist vielmehr Aufgabe der Praxis, nach der gründlichen Einarbeitung einzugreifen. Darüber hinaus gibt es ein breites Kursangebot sowie Nachdiplom- und Ergänzungsstudien, deren Kernkompetenzen gerade darin liegen.
Die BauingenieurInnen sind im Hochbau PlanungspartnerInnen des Architekten. Im Rahmen der interdisziplinären Zusammenarbeit entwickeln sie mit ihm von Beginn weg hochwertige Strukturen. Aber eine Unterstützung des Architekten ist nur möglich, wenn die BauingenieurInnen diesen verstehen, die Zusammenarbeit nicht scheuen, sondern diese aktiv suchen und schliesslich zum Gelingen des Bauwerks mit einem hohen Engagement beitragen. Es kann definitiv nicht, wie heute immer wieder beobachtet, das Nacheinander sein, bei dem die IngenieurInnen nur noch ‹gesundrechnen›. Dies bedingt aber, dass die BauingenieurInnen eine Struktur entwerfen können, die physikalisch korrekt ist und dabei alle Randbedingungen berücksichtigt. Leider finden diesbezügliche Ausbildungen, nämlich das Entwerfen von Tragstrukturen, kaum statt.

De Dominicis: Was die Sozialkompetenz betrifft, sollte diese während der ganzen Ausbildung gefördert werden. Dazu gehört in erster Linie das Arbeiten in Teams. Die restlichen Aspekte der Unternehmungsführung sind meines Erachtens Themen der stetigen beruflichen Weiterbildung. Verschiedenste Personalentwicklungsmassnahmen lösen diese Herausforderungen. Das Bild, IngenieurInnen hätten verglichen zu anderen Akademikern wie Betriebswirtschaftern weniger Führungskompetenzen, ist falsch. Gerade BauingenieurInnen bringen sehr gute Voraussetzungen für Führungsaufgaben mit. Eine spezialisierte Weiterbildung ist heute für IngenieurInnen, die an unternehmerischen Aspekten interessiert sind, ein Muss. Persönlich finde ich es sinnvoll, die unternehmerischen Kompetenzen zu einem Zeitpunkt aufzubauen, wenn sie auch angewendet werden können.

Inwieweit werden Sie als Praktiker von den Schulen mit einbezogen, wenn Lehrziele definiert werden?

De Dominicis: Im Rahmen von speziellen Lehrgängen an der FH Winterthur konnten erste Erfahrungen bei der Mitgestaltung von Lehrgängen gesammelt werden. Ausserdem laufen Forschungs- und Diplomarbeiten mit verschiedensten Professuren an den Hochschulen. Wir versuchen, jährlich durch die Vermittlung von Praktika die Zusammenarbeit zu intensivieren. Auch uns steht jedoch nur eine beschränkte Menge von Ressourcen für die Betreuung der Studenten zur Verfügung. Im Hinblick auf den ausgetrockneten Markt im Bau- und Verkehrsbereich müssen aber auch wir den Fokus vermehrt auf junge Leute richten, um diese für das Bauwerk Bahnnetz zu faszinieren.

Somaini: Ich bin überzeugt, dass die Praxis ein Interesse an der Ausbildung ihrer zukünftigen Mitarbeiter haben muss.

Deuring: Ich glaube nicht, dass die Praxis oft für diese Fragen hinzugezogen wird. Das Interesse, an den Zielen mitarbeiten zu dürfen, ist aber sehr gross. Wir dürfen die jungen BauingenieurInnen einsetzen, also kann es uns nicht egal sein, mit welchem Rüstzeug sie bei uns ihre berufliche Karriere starten. Es ist ein grosses Privileg, als BauingenieurIn arbeiten
zu dürfen. Wir müssen aber intensiv daran arbeiten, in der Gesellschaft unseren Ruf wieder zu verbessern, indem wir unsere Leistungen nach aussen tragen und uns nicht verstecken. Dazu gehört auch, dass wir unseren IngenieurInnen entsprechend ihrer Ausbildung und Verantwortung angemessene Löhne bezahlen können. Die Umsetzung der erforderlichen Massnahmen wird hoffentlich dazu führen, dass wieder vermehrt junge Menschen diesen Ausbildungsweg wählen. Dann müssen die Schulen Garant dafür sein, dass wir in der Praxis auf gut ausgebildete Persönlichkeiten zählen dürfen.

TEC21, Mo., 2006.11.06



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