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08. Dezember 2017Thomas Ekwall
Hans Seelhofer
TEC21

Virtuos erhöht

In und auf den Bestandsbauten des Schlotterbeck-Areals in ­Zürich sind 104 zusätzliche Wohnungen entstanden. Mit differenzierten Eingriffen gelang es Dr. Lüchinger Meyer Bauingenieuren, die spektakulären Aufstockungen mit dem bestehenden statischen System zu vereinbaren.

In und auf den Bestandsbauten des Schlotterbeck-Areals in ­Zürich sind 104 zusätzliche Wohnungen entstanden. Mit differenzierten Eingriffen gelang es Dr. Lüchinger Meyer Bauingenieuren, die spektakulären Aufstockungen mit dem bestehenden statischen System zu vereinbaren.

Das Schlotterbeck-Areal in Zürich wurde nach einem Entwurf von giuliani hönger Architekten und Dr. Lüchinger Meyer Bauingenieure umgenutzt, umgebaut, aufgestockt und verdichtet (vgl. «Verdichtete Romantik»). Die Transformation der bestehenden, denkmalgeschützten Bauten erforderte von den Ingenieuren unterschiedliche Herangehensweisen. Die Erhöhung des ehemaligen Citroën-Werkstattgebäudes, um ein Stockwerk und die Nachrüstung von drei Treppenhäusern mögen noch als konventionelle Gebäudeanpassungen verstanden werden. Die Aufstockung um weitere drei Etagen an der Südseite und eine Vergrösserung des Untergeschosses bedeuteten aber eine derart erhebliche Umgestaltung des Gebäudes, dass weitreichendere Eingriffe in die Tragstruktur nötig waren. Regelrecht verzahnt wurden hier neue und alte Bausubstanz, um die erhöhten Lasten in die verstärkten Fundamente einzubringen.

Ein identitätsstiftender Neubau für das Areal entstand dagegen mit dem zylindrischen Wohnturm. Es scheint, als bildeten seine neun neuen Stockwerke mit der denkmalgeschützten Rampenanlage unter sich eine Einheit; strukturell jedoch ist der neue Turm grösstenteils von dieser ehemaligen Auffahrt zur Werkstatt entkoppelt.

Rampe windet sich um Turmschaft

Einen Durchmesser von rund 27 m weist der neue Turm auf den Wohnebenen auf. Der tragende Turmschaft mit einem Durchmesser von etwa 12 m führt präzise durch das Auge der doppelhelixförmigen, denkmalgeschützten Rampe auf den mächtigen neuen Fundamentkörper, der unterhalb des Bestands angeordnet wurde. Mit einer Dicke von 2.8 m und einem Durchmesser von 18.4 m gewährleistet dieser den Lastabtrag auf die 140 im Niederdruck-Injektionsverfahren erstellten Mikropfähle. Sie binden in die unter den setzungsempfindlichen Seeablagerungen anstehenden Moräne- und Schotterschichten ein.

Der gewählte Lastabtrag des Wohnzylinders über den Schaft und das separate Turmfundament ermöglichte die Schonung der Rampe aus den 1960er-­Jahren. Die bestehenden inneren Stützen der Anlage mussten jedoch abgefangen und in die neue Fundation integriert werden. Hierfür wurde eine Stahljochkon­struktion entwickelt, die die einzelnen Stützenlasten von bis zu 1200 kN bereits an der Unterkante der Unter­geschossdecke aufnahm. Am Fusspunkt der stempelartig ausgeführten Bauteile wurden die Lasten über Hydraulikpressen und Biegebalken in je vier Mikro­pfähle eingeleitet, die im Lauf der Aushubarbeiten sukzessive mittels angeschweissten Stahlwinkelprofilen gegen Knicken stabilisiert wurden.

Raffiniertes Scheibentragwerk des Turms

Die radialsymmetrische Form der Aufstockung wird für statische Zwecke ausgenutzt, was insbesondere im oberen Wohnbereich ersichtlich wird. Die im Grundriss annähernd kreisförmigen Geschossdecken sind durch radial verlaufende Wandscheiben gestützt bzw. an diesen aufgehängt. Diese auskragenden, auf der äusseren Turmschaftwand aufgelegten Wände werden durch radial wirkende Schubkräfte in die Deckenebene einge­spannt. Da die Wände zweier benachbarter Geschosse zur Maximierung der Spannweiten geschossweise um rund 36° versetzt sind, werden die Decken Scheibenbeanspruchungen unterworfen und schliessen die Schubkräfte der darüber- bzw. darunterliegenden Wände kurz.

Dieses Prinzip liess sich im obersten und untersten Geschoss nicht umsetzen. Oben wurde die mit einem kräftigen Randüberzug versehene Decke konzentrisch vorgespannt, um die hohen Ringzugkräfte aufzunehmen. Am unteren Ende des Wohnzylinders war die doppelte Anzahl Wände erforderlich, um die Decken ausreichend zu lagern. An dieser Stelle leisten die Radialwände einen wertvollen Beitrag zur Tragwirkung des Turms, indem die horizontal wirkenden Wandschubkräfte die Vertikal­lasten der äusseren zylindrischen Kernwand in die innere umlenken. Dank der Geometrie gleichen sich die Horizontalkräfte innerhalb des Systems von selbst aus.

Fundamente zeigen Zähne

Im bestehenden rechteckigen Werkstattgebäude erfolgte die Lastabtragung grösstenteils über Pilzstützen aus Stahlbeton. Durch die Aufstockung um eine Etage und die umnutzungsbedingten Zusatzlasten war die Trag­sicherheit der Stützenfundamente nicht mehr gewährleistet. Die südliche Gebäudeerhöhung um insgesamt vier Etagen bedingte sogar ein alternatives Tragsystem. Da sich zudem das erweiterte Untergeschoss nun bis unmittelbar an die Gründungskörper erstreckte, galt es, diese zu verstärken, zum Teil auch mit unkonventio­nellen Methoden.

Im Bereich ohne Untergeschoss wurden die Pilzstützen bis zur Unterkante der Bodenplatte aufbetoniert. Dadurch erhöhen sich die Biege- und Durchstanzwiderstände der bestehenden Einzelfundamente, und die Lasten werden unmittelbar abgefangen. Neue Mikro­pfähle durchdringen die bestehenden Fundamente und leiten ihre Lasten tiefer in den Baugrund ein.

Die effektive Übertragung der Stützenlasten in die nachträgliche Verstärkung gelang durch aus dem Brückenbau abgeleitete Konstruktionsdetails: Mittels Hochdruckwasserabtrag wurden umlaufende Schlitze in die Stützenquerschnitte gefräst. Diese Schubzähne gewährleisten die Kraftübertragung in die flankierende Fundamentverstärkung und in der Folge die Ein­leitung der Vertikallasten über Betondruckstreben in die Mikropfähle. Die resultierenden horizontalen Kraftkomponenten wurden mit Spannstangen kurzgeschlossen. Die anschliessend erstellten, wandartigen Unterfangungen bildeten in Verbindung mit der neuen Bodenplatte des Erdgeschosses einen kastenartigen Baukörper. Während der Aushubarbeiten sicherte dieser die horizontale Lage von je vier Einzelfundamenten.

Die Technik der Verzahnung und Verstärkung kam auch bei den bestehenden Stützen im Untergeschoss zum Einsatz, die von neuen Betonwänden flankiert ­werden. Anstelle der Vorspannung schliesst hier die Bodenplatte die horizontalen Kräfte kurz. Damit auch bestehende Wände die Vertikallasten der darüberstehenden Stützen auf die beidseits der Einzelfundamente angeordneten Mikropfähle abtragen können, wurden sie am Wandfuss mit zwei Steckträgern versehen. Der Kurzschluss der aus der Spreizung resultierenden Horizontalkräfte erfolgte hier über Zugglieder mit Vierkant-Vollprofil.

Alte Fassade des Werkstattgebäudes

Die filigrane, denkmalgeschützte Betonsprossenfas­sade wurde im Zuge des Umbaus mit Stahlträgern abgefangen. Da nur äusserst geringe Setzungen erlaubt ­waren, setzte man zwischen Decke und Oberflansch ­Flachpressen ein, um die Träger vorzubelasten. Die übrigen Bereiche der Untergeschossdecke wurden ebenfalls mittels aufgepressten Stahlträgern abgefangen, die die Lasten in neue Querwände abtragen. Dadurch konnten die einachsig tragenden Bestandsdecken des Untergeschosses trotz nutzungsbedingtem Rückbau der Längswände – das Untergeschoss wird künftig eine Tiefgarage – grösstenteils erhalten werden.

Durchbrüche und Verstärkungen

Während die Bautätigkeiten im Untergeschoss von Abfangungen geprägt waren, stand bei den Arbeiten im Erdgeschoss und in den Obergeschossen eine Vielzahl Deckendurchbrüche und -verstärkungen an. Je nach Gefährdungsbild wurden verschiedene Massnahmen ergriffen: Auf den mittels Höchstdruckwasserstrahlen aufgerauten Decken wurde eine schlaff bewehrte, verdübelte Aufbetonschicht aufgebracht, die mit den bestehenden Decken im Verbund wirkt. Die Applikation zusätzlicher Stahllamellen auf der Deckenunterseite im Feldbereich erzielte eine Erhöhung des Biegewiderstands. Örtlich kam eine Durchstanzbewehrung zum Einsatz.

Neue Scheiben und Stützen im Aufbau Süd

Die südliche viergeschossige Aufstockung des Werkstattgebäudes hätte das bestehende Tragwerk überbeansprucht. Für diesen Baukörper wurde daher ein alternatives Scheibentragsystem entwickelt, das die Kräfte über wenige Punkte separat bis in die Fundation abträgt. Für die Südfassade waren im Zuge der Umnutzung grosszügige Öffnungen geplant. Die bestehenden Bauteile wiesen bereits ausgeprägte Korrosionsschäden auf, sodass die Fassade rückgebaut und durch eine rahmenartige Betonkonstruktion ersetzt wurde.

Das neue Tragwerk wurde auf die Zusatzlasten des Aufbaus Süd ausgelegt. Für den Abtrag der Vertikal­lasten ordnete man neben dem erforderlichen neuen Erschliessungskern zwei senkrecht an die Südfassade anschliessende Wandscheiben und vier durchlaufende Stützen an. Um die gesamten Lasten diesen wenigen vertikalen Traggliedern zuzuführen, bilden die Wohnungstrennwände im Aufbau Süd ein räumliches Scheibentragsystem. An der Ost- und Westseite des Aufbaus bildete man tragende, zur Begrenzung der Verformung vorgespannte Brüstungen aus. Entlang der Nordfassade wurde eine rahmenartig gestaltete Abfangscheibe platziert.

Die aus den im Grundriss abgewinkelten Wandscheiben resultierenden Horizontalkräfte sind über die Geschossdecken kurzgeschlossen. Zur Aufnahme der entsprechenden Zugkräfte ist die Decke über dem 6. Obergeschoss in Längsrichtung mit einer Vorspannung versehen.

Die das Werkstattgebäude durchdringenden, zur Fundation geführten Stützen werden auf Höhe der Decken nur in Horizontalrichtung gegen Knicken gehalten. Eine verschiebliche Lagerung verhindert die Übertragung von Vertikalkräften aus den bestehenden Decken. Eine Durchstanzbeanspruchung der bestehenden Decken konnte somit wirksam verhindert werden.

Dialog der Generationen

Im Planungsteam wurde ein gangbarer Weg zwischen den erhöhten Bedürfnissen an das bestehende Bauwerk und dem schonenden Umgang mit seiner Substanz gefunden. Ebenso wichtig war der «virtuelle Dialog» mit dem damaligen Ingenieurbüro Schubert & Schwarzenbach, der auf dem Studium der nachgelassenen Schalungs- und Bewehrungspläne basierte. Ohne die sorgfältige Auseinandersetzung mit diesen Zeitdokumenten und den damals gültigen Normen wäre ein solcher Eingriff in den Bestand kaum realisierbar gewesen.

TEC21, Fr., 2017.12.08



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2017|49-50 Schlotterbeck-Areal Zürich

06. Oktober 2017Thomas Ekwall
TEC21

Raumüberspannende Membranen

Stoffe sind eine wesentliche Inspirationsquelle für die Leichtbauweise. Dank dem Einsatz synthetischer Folien lassen sich ihre Eigenschaften in raumbildende Tragwerke übertragen – allerdings nur bedingt. Wenn Stoff jedoch als Metapher aufgegriffen wird und andere Materialien zum Einsatz kommen, öffnen sich ungeahnte Möglichkeiten.

Stoffe sind eine wesentliche Inspirationsquelle für die Leichtbauweise. Dank dem Einsatz synthetischer Folien lassen sich ihre Eigenschaften in raumbildende Tragwerke übertragen – allerdings nur bedingt. Wenn Stoff jedoch als Metapher aufgegriffen wird und andere Materialien zum Einsatz kommen, öffnen sich ungeahnte Möglichkeiten.

Beim Bauen mit Stoff schwebt dem Bauingenieur in der Regel ein Mem­bran­tragwerk vor – eine druck- und biegeweiche Fläche, die reine Zug­kräfte überträgt. Darin enthalten ist das Versprechen absoluter Effizienz: Schliesslich weiss er, dass ein solches Bauteil aus Glasfaser, würde man es aufhängen, 133 km hoch sein müsste, bevor es unter seinem Eigengewicht auf Zug versagen würde (die sog. Reisslänge). Andererseits befürchtet er, dass die Membran instabil oder dynamisch erregt wird, sobald diese Tragwirkung unter ungünstig wirkenden Lasten nicht mehr aktiviert werden kann.

Der breite Einsatz von Stoffen für Membrantragwerke setzt deshalb ihre Formstabilität voraus, einen Zustand permanenter Zugspannung, der trotz unterschiedlich gerichteten Beanspruchungen wie Schnee oder Windsog gewährleistet bleibt. Dieser Zustand lässt sich nur über Vorspannung mit Hilfsmitteln künstlich erzeugen, da die stabilisierenden ständigen Einwirkungen einer Folie  –  etwa ihr geringes Eigen­gewicht  –  vernachlässigbar sind. Das Hilfsmittel kann Luftdruck senkrecht zum Stoff sein, wie bei den pneumatischen Tragwerken, oder vorgespannte Seile, die punktuell oder linienförmig am Stoff ziehen.

Statt sich mit den Tücken von Textilien auseinanderzusetzen, lassen sich manche Architekten und Ingenieure eher von den raumbildenden Qualitäten des Stoffs inspirieren als vom Material selber. Sie übersetzen die Effizienz von Membrantragwerken in andere Baustoffe und können die Probleme der Formstabilität so raffiniert umgehen.

Hochwertig konfektioniert

Im Bauwesen war der Einsatz von Stoffen lange Zeit eingeschränkt. Membranen pflanzlichen oder tierischen Ursprungs sind witterungs- oder lichtempfindlich. Wegen ihres Kriechverhaltens und der geringen Zugfestigkeit lässt sich keine dauerhafte Vorspannung einbringen, die ihre Formstabilität gewährleisten würde. So bilden die ursprünglichen Stofftragwerke – Baldachine und Zeltblachen – eine schlaffe Haut, die regelmässig durch eine Unterkonstruktion abgestützt werden muss und unter Wind gelegentlich ins Flattern kommt.

Ausschlaggebend für den Durchbruch der raumbildenden Tragwerke aus Stoff war die Entwicklung der synthetischen Folien ab Ende der 1960er-Jahre. Im Bauwesen bestehen diese in der Regel aus einem Gewebe (Polymer- oder Glasfaser), das mit einer Haut aus Plasto­meren (PVC, ETFE, PTFE) beschichtet wird. Während das Gewebe der Folie ihre Festigkeit und Elastizität verleiht, stellt die Beschichtung eine wasser- und schmutz­abweisende, UV-beständige Schicht dar, die eine Lebens­dauer von 20 bis 50 Jahren ermöglicht. Noch wichtiger: Die leistungsfähigen Folien können mit Vorspannverfahren kombiniert werden, um dauerhafte, formstabile Tragwerke mit grösseren Spannweiten zu bilden.

Nach 50 Jahren reger Bautätigkeit hat sich um diese Prinzipien eine eindrucksvolle Grammatik der Form- und Raumsprache entwickelt. Allerdings bleibt das Formenvokabular auf die antiklastisch und synklastisch gespannten Flächen beschränkt, die sich auch noch selten miteinander kombinieren lassen.

Antiklastisch gezerrt

Bei den antiklastischen, gegensinnig gekrümmten ­Flächen befindet sich jeder Punkt der Membrane auf der Kreuzung einer konkaven und einer konvexen Haupt­achse. Solche Flächen sind besonders formstabil, da sämtliche Auslenkungen aus der Ebene Zugspan­nungen in einer der Hauptachsen verursachen. Die Vor­spannung wird vorzugsweise in der Ebene durch eingenähte Randseile erzeugt. Antiklas­tische Flächen können aneinandergereiht werden und Öffnungen integrieren, indem Rahmenbedingungen wie Maste, Ring­auflager, Kehl- und Gratseile hinzugefügt werden. Auf diese Weise wurde eine Vielzahl unterschiedlicher Grundrisse mit beachtlichen Weiten überspannt.

Synklastisch aufgeblasen

Bei den synklastischen, gleichsinnig gekrümmten Flächen befindet sich jeder Punkt der Membran auf der Kreuzung zweier konvexer Hauptachsen. Das Gleichgewicht solcher Flächen wird nicht durch Vorspannung in der Ebene erreicht, sondern durch Kräfte gewährleistet, die nach aussen gerichtet den Membranzug aktivieren. Das ist das Prinzip von pneumatischen Konstruktionen, bei denen Form und Stabilität durch einen permanenten Überdruck im Innenraum erzeugt werden, der von entgegengerichteten Kräften wie etwa Schneedruck nie getilgt werden darf.

Die Grösse dieses Innenraums reicht von der wenige Quadratmeter grossen Zelle eines ETFE-Kissens bis hin zur Traglufthalle, die ein Fussballfeld umfasst. Um grössere Spannweiten bei gleichbleibender Höhe zu ermöglichen, müssen die Krümmungsradien der Membran klein gehalten werden. Der Pneu wird dann in kleinere Felder mit geringeren Krümmungsradien unterteilt. Dies kann punktuell durch im Boden verankerte Zugseile mit Pilzkopf erfolgen oder linear mittels gespannten Kehlseilen in der Membran­ebene. So entstehen auch mit synklastisch geformten Flächen unterschiedliche raumbildende Tragwerke.

Das Tabu des Faltens

Die bisher dargestellten Ansätze setzen die Formstabilität als statische Rahmenbedingung voraus und wagen daher nicht von der straff gespannten Haut abzuweichen. Das Falten, Raffen und Knittern mag in der Haute Couture seinen Reiz haben, doch bei den raumbildenden Tragwerken aus Stoff wird es mit allen Mitteln vermieden: Schlaffe Bereiche, dynamische Schwingungen, grosse Verformungen, gar Kollaps wären die Folgen solcher Eskapaden. Leider sind Faltungen eine Rand­erscheinung beim Bauen mit selbsttragenden Stoffen: Man sieht sie nur im Montagezustand oder während sich Schirmdächer und Velakonstruktionen entfalten. Sobald sie ausgewickelt werden und funktionstüchtig sein müssen, nehmen sie ihre charakteristische, gespannte Form an.

Netzstrümpfe aus Stahl

Es gibt jedoch Auswege aus dem Formenkorsett, das dem Prinzip der Formstabilität durch Vorspannung innewohnt. Wenn der Stoff auf seine tragende Eigenschaft als Membran reduziert wird – also dem Prinzip der Leichtbauweise treu bleibt, jedoch mit anderen ­Materialien umgesetzt wird –, dann öffnen sich ungeahnte räumliche Möglichkeiten, und es entstehen überraschende Tragwerke.

Am naheliegendsten sind die Seilnetzkonstruktionen, die direkt mit den Stoffkonstruktionen verwandt sind. Das Geflecht aus gebündelten Stahllitzen wirkt statisch als Membran. Statt des Gewebes aus Schuss- und Kettfäden werden isometrische, grobmaschige Netze mit drehweichen Knoten konstruiert. Ein wesentlicher Vorteil gegenüber dem Gewebe, denn dank der freien Verzerrung von rechteckigen Maschen zu Rauten lassen sich ebene Seilnetze ohne Zuschnitt zu zweifach gekrümmten Flächen formen. Dank der Ausführung in Stahl können deutlich grössere Spannweiten umgesetzt werden.

Mit dem Institutspavillon in Stuttgart (1966) schaffte der Architekt Frei Otto den Übergang vom tragenden Stoff zum Seilnetz. Beim Pavillon in Montreal (1967) dienten ihm Folien noch als aufgehängte, sekundäre Bauteile. Beim Dach des Münchner ­Olympiastadions (1972), das Frei Otto zusammen mit dem Ingenieur Fritz Leonhardt errichtete, wurde die Hülle gänzlich mit Acrylglaspaneelen bedeckt und optisch entmaterialisiert.

Das moderne Zeltdach kommt also ohne Stoff aus, kann die Verwandtschaft mit ihm aber nicht leugnen. An dieser Stelle sei auch auf die Vorgänger der Seilnetze aus Eisen hingewiesen. Für eine Ausstellung in Nischni Nowgorod errichtete der Ingenieur Vladimir Schuchow 1896 eine Rotunde mit einem ringförmigen Hängedach aus kreuzweise verlaufenden, zusammengenieteten Bandeisen. Leider hat dieses Bauwerk die Zeit nicht überdauert.

Baldachine aus Beton

In den 1960er-Jahren entstanden statisch und formal überzeugende Hängedächer aus Spannbeton. Hier ist insbesondere das Dach des Theaters Basel zu erwähnen: Der Ingenieur Heinz Hossdorf und die Architekten Schwarz und Gutmann suchten eine explizite Analogie zum Baldachin (vgl. TEC21 43/2014 und %%gallerylink:31394:Abb.%%). Mit dem plastisch formbaren Material Beton erlaubten sie sich sogar Faltungen der stark ­beanspruchten Membran, die in Oberlichtern an der Fassade mündeten.

Aus statischer Sicht waren die ­Faltungen heikel, da sich die Zugkräfte tendenziell in den verti­kalen Betonscheiben konzentrieren und sich schlaffe Bereiche im Hängedach bilden – wie zwischen punk­tuell gehaltenen, gespannten Stoffen. So wird die ­dünne Betonplatte örtlich auf Biegung beansprucht, der sie nur bedingt standhalten kann. Solche formale Abweichungen vom reinen Hängedach bleiben bis ­ heute eine Randerscheinung.

Reiz der Metapher

Der 1998 errichtete Pavillon von Ingenieur Cecil Balmond und Architekt Álvaro Siza in Lissabon zeigt eindrücklich, wie der Spannbeton durch metaphorische Annäherung das Wesen des Stoffs sublimieren kann: Ein solches Hängedach könnte aus dynamischen Gründen nie aus Stoff erstellt werden. Dass hier aber ein Material zum Einsatz kommt, das weder leicht noch in sich zugfest ist, widerspricht unserer Intuition. Zudem wird das Prinzip der formstabilisierende Vorspannung neu interpretiert: Statt Zug- wird dem Beton eine künstliche Druckkraft zugefügt, weil eine überdrückte Betonplatte biegesteif ist und Zugkräfte aufnehmen kann.

Die Masse des Materials wirkt sich vorteilhaft aus, da sein Eigengewicht nie von abhebenden Kräften wie etwa Windsog übertroffen wird. Auf die zusätzliche Vorspannung durch antiklastische Formgebung kann hier verzichtet werden. So gelingt dem schlichten Baldachin ein beachtlicher Massstabssprung, ohne dass er die Poesie seiner ursprünglichen Form verliert.

Stoff in der Form von synthetischen Folien hat einen eigenen Platz als raumbildendes Tragwerk in der gebauten Umwelt eingenommen. Die stofflichen Eigenschaften und der Massstabssprung vom Kleid zum Bauwerk lassen sich aber auch mit anderen Materialien bewältigen – wenn nicht gar besser.


Weiterführende Literatur:
Michael Seidel: Textile Hüllen. Bauen mit biegeweichen Tragelementen. Berlin 2008.
Diether S. Hoppe: Freigespannte textile Membrankonstruktionen. Wien 2007.
Walter Scheiffele et al.: Das leichte Haus. Utopie und Realität der Membranarchitektur. Dessau 2015.
Winfried Nerdinger et al.: Frei Otto. Das Gesamtwerk: Leicht bauen – natürlich gestalten. Basel 2005.

TEC21, Fr., 2017.10.06



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TEC21 2017|40 Stoff und Raum I – Über das Stoffliche

30. September 2016Thomas Ekwall
TEC21

«Filigrane Stützmauern sind passé»

Wie wirkt sich das neue Gefährdungsbild auf den Unterhalt bestehender Winkelstützmauern aus? Gehören sie zu den Bausünden der Vergangenheit? Der Leiter der Astra-Fachgruppe Geotechnik gibt Auskunft.

Wie wirkt sich das neue Gefährdungsbild auf den Unterhalt bestehender Winkelstützmauern aus? Gehören sie zu den Bausünden der Vergangenheit? Der Leiter der Astra-Fachgruppe Geotechnik gibt Auskunft.

TEC21: Herr Fonyo, die Erkenntnisse aus den neuesten Untersuchungen von Winkelstützmauern klingen alarmierend (vgl. «Zerstören, um zu verstehen»). Wie gehen Sie nun mit solchen Bauwerken um?

Balazs Fonyo: Man sollte aus den Ergebnissen der A5 und A9 und den dort festgestellten Ausführungsmängeln nicht gleich Rückschlüsse auf sämtliche Bauwerke ziehen und die Situation schwarzmalen. Dennoch sind diese nicht zu verniedlichen: Knapp dimensionierte Winkelstützmauern mit bedeutender Korrosion der erdseitigen Biegebewehrung am Wandfuss müssen verstärkt werden.

TEC21: Hat das Astra die kritischen Winkelstützmauern identifizieren können?

Balazs Fonyo: Wir sind dran. Die Tragsicherheit von verankerten Mauern und Winkelstützmauern, die Bestandteil von Unterhaltsprojekten der Nationalstrassen (UPlaNS) sind, ist gut dokumentiert. Die Inventarisierung der Stützwände ausserhalb der UPlaNS wird bis 2018 abgeschlossen sein. Der Korrosionsgrad ist ohne aufwendige Untersuchungen schwierig einzuschätzen, weil die relevante Bewehrung bergseitig liegt und unsichtbar bleibt.

TEC21: In den letzten Jahren haben Sie vorsorgliche Verstärkungsmassnahmen an verankerten Bauwerken ausgeführt. Werden Sie es auch für einzelne Winkelstützmauern tun?

Balazs Fonyo: Bei den mit Stabankern verankerten Wänden hatten wir mit einer Sprödbruchgefahr zu tun, weshalb wir teilweise mit vorgezogenen Massnahmen (VoMa) reagieren mussten. Bei den meisten Objekten, so auch bei den Winkelstützmauern, interveniert das Astra jeweils im Rahmen der UPlaNS-Projekte.

TEC21: Hat es je einen Versagenfall einer Winkelstützmauer infolge von Korrosion am Wandfuss gegeben? Wird dieses Phänomen auch über die Landesgrenzen hinaus fachlich diskutiert?

Balazs Fonyo: Bei den Nationalstrassen in der Schweiz gab es zum Glück keinen solchen Fall. Das Astra unternimmt sehr viel, damit es nicht zu einem Kollaps kommt. Gleichzeitig beobachten wir aufmerksam, was im Ausland passiert. Wir wissen von einem Einsturz in Österreich – die Stützmauer Schönberg an der Brennerautobahn – mit tragischer Konsequenz. Auf unsere Anfrage hin und nach dem fachlichen Austausch mit der zuständigen Fachbehörde zeigte sich jedoch, dass die Korrosion nicht Auslöser des Kollapses war.

TEC21: Dank Risikoanalysen werden die baulichen Inter­ventionen priorisiert. Wie sind die Begriffe «Eintrittswahrscheinlichkeit» und «Gefährdungspotenzial» zu verstehen, die das Risiko definieren?

Balazs Fonyo: Das Gefährdungspotenzial einer Mauer hängt einerseits von ihrer Höhe und ihre Nähe zur Fahrbahn ab, andererseits von der Belegung der Strasse, die als durchschnittlicher täglicher Verkehr (DTV) angegeben wird. Die Wahrscheinlichkeit eines Kollapses hängt von vielen Parametern ab, etwa von der inneren Tragsicherheit des Bauwerks mit ihren Tragreserven, versteckten geotechnischen Reserven, einer funktionstüchtigen Drainage und dem Trag­verhalten in Längsrichtung.

TEC21: Das Gefährdungspotenzial scheint einfach zu erfassen. Wie ermitteln Sie aber die Eintrittswahrscheinlichkeit, wenn der Korrosionsgrad unbekannt ist und ein solches Ereignis nie stattgefunden hat?

Balazs Fonyo: Das ist ein komplexes Thema. An einzelnen Bauwerken werden in der Regel destruktive Untersuchungen ausgeführt. Allerdings sind sie aufwendig und machen bis 10 % des Wiederbeschaffungswerts des Bauwerks aus. Sinnvoll wäre ein Wert zwischen 3 % und 5 %. Eine allgemeingültige Methodik der Risikoanalyse muss noch erarbeitet werden, was zurzeit Gegenstand der Forschung ist. Als erster Schritt planen wir ein neues Merkblatt zur Erhaltung von Winkelstützmauern, das anfangs 2017 publiziert werden sollte.

TEC21: Können die Winkelstützmauern also aus finanziellen Gründen nicht systematisch überprüft werden?

Balazs Fonyo: Destruktive Untersuchungen betreffen vor allem Winkelstützmauern der hohen Gefährdungsklasse, die zu knappe Tragreserven aufweisen und wo eine Korrosion vermutet wird. Zur hohen Gefährdungsklasse gehören schätzungsweise 500 Bauwerke in unserem Inventar. Alternativ besteht die Möglichkeit, bestehende Mauern präventiv zu verstärken, beispielsweise mit Ankern. Bei Mauern bis etwa 6 m Höhe wird diese Möglichkeit interessant, weil eine solche Massnahme nur ca. zwei- bis dreimal teurer ist als eine destruktive Untersuchung. In solchen Fällen sollte man das Geld lieber gleich in präventive bauliche Massnahmen investieren statt in Untersuchungen, die allein betrachtet keine Erhöhung der Sicherheit mit sich bringen. Bei höheren Mauern sieht das Kostenverhältnis anders aus, hier werden Untersuchungen meistens unumgänglich.

TEC21: An der A5 und A9 wurden 150 Millionen Franken an baulichen Massnahmen für knapp 40 Bauwerke investiert. Für die 500 kritischen Bauwerke reden wir also von Bausummen über einer Milliarde Franken?

Balazs Fonyo: Man darf diese Kosten nicht linear extrapolieren, weil die Mauern an der A9 vielfach über 10 m hoch sind. Doch wir rechnen mit Baukosten von 50 bis 60 Millionen Franken pro Jahr, was etwa 5 % des Unterhaltsbudgets des gesamten Strassennetzes der Astra entspricht. Innerhalb der nächsten 15 Jahre werden wir so rund 800 Millionen Franken in die Erhaltung investieren. Diese Zahl umfasst die Gesamt­investitionskosten für alle Stützmauern, verankerte und nicht verankerte Mauern, inklusive Instandsetzung und Verstärkung. Die Erhaltung von Stützmauern wird in Zukunft definitiv stärker in den Fokus rücken.

TEC21: Werden neue Winkelstützmauern infolge dieser Erkenntnisse anders konstruiert als bisher?

Balazs Fonyo: Ja. Anfang 2016 wurden die geltenden Neubauvorschriften des Fachhandbuchs aktualisiert. Konstruktive Regeln sollen den Übergang Wand–Fundament besser schützen: Kiesnester sind mit einer Mörtelvorlage zu vermeiden und Arbeitsfugen sind beidseitig mit einem Abdichtungsband abzukleben. Eine Mindestüberdeckung der Bewehrung von 55 mm wird verlangt. Zudem empfehle ich die Erhöhung der Arbeitsfuge um mindestens 10 cm durch eine sogenannte Kickerschalung, damit das Salzwasser von der Strasse nicht einfach in die kritischen Stellen eindringen kann. Eine Chromstahlausführung der kritischen Bewehrung im Bereich der Arbeitsfuge ist eine weitere Vorkehrung, die wir bei hohen Mauern auch schon getroffen haben. Bereits seit 2012 wenden wir solche Massnahmen an.

TEC21: Haben sämtliche Winkelstützmauern, die vor 2012 erstellt wurden, eine Schwachstelle am Wandfuss?

Balazs Fonyo: Eine Verallgemeinerung ist schwierig, doch die grosse Mehrheit unserer Mauern wurde zu einer Zeit gebaut, in der man möglicherweise zu wenig auf diese kritische Stelle geachtet hat.

TEC21: Gehören die Winkelstützmauern zu den Bausünden der Vergangenheit? Sollten nun andere Stützmauertypen in Betracht gezogen werden?

Balazs Fonyo: Diese Formulierung scheint mir übertrieben, hingegen gelten die nicht ausgebesserten Kiesnester als Bausünde. Wir müssen zur Einsicht kommen, dass Winkelstützmauern aus den 1960er- und 1970er-Jahren die angedachte Nutzungsdauer von 100 Jahren ohne Verstärkung nicht erreichen werden. Ich möchte aber festhalten, dass es weiterhin möglich ist, dauerhafte Winkelstützmauern zu erstellen. Ein gangbarer Weg wäre eine robustere Bauweise zwischen Winkelstützmauern und Schwergewichtsmauern. Auch alternative Bauweisen wie geokunststoffbewehrte Stützkonstruktionen sollten wir künftig öfter in Betracht ziehen. Dilatierte, filigrane Winkelstützmauern sind hingegen definitiv passé.

TEC21, Fr., 2016.09.30



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2016|40 Stützmauern: die Erblast der Boomjahre

29. Juli 2016Thomas Ekwall
TEC21

Präziser Bogenschluss

Bauunternehmer sind auf ihrem Gebiet ebenso grosse Entwerfer wie die planenden Ingenieure. Dank einer Unternehmervariante konnte die Arbeitsgemeinschaft Taminabrücke ein Jahr Bauzeit einsparen und mit grosser Sorgfalt den weichen Bogen im Freivorbau umsetzen.

Bauunternehmer sind auf ihrem Gebiet ebenso grosse Entwerfer wie die planenden Ingenieure. Dank einer Unternehmervariante konnte die Arbeitsgemeinschaft Taminabrücke ein Jahr Bauzeit einsparen und mit grosser Sorgfalt den weichen Bogen im Freivorbau umsetzen.

Bei der Ausschreibung der Baumeisterarbeiten der Taminabrücke war das Herstellungskonzept des Tragwerksplaners beigelegt. Es blieb den bietenden Unternehmern jedoch freigestellt, alternative Bauverfahren vorzuschlagen und sich dadurch gegenüber den Mitbewerbern hervorzuheben. Ende 2012 bekam die ARGE Taminabrücke, bestehend aus den Aktiengesellschaften Strabag, J. Erni und Meisterbau, den Zuschlag. Dies war im Wesentlichen ihrem modifizierten Bauablauf zu verdanken, der bei gleichwertiger Wirtschaftlichkeit die Bauzeit von fünf auf vier Jahre verkürzte.

Das neue Bauverfahren sah vor, den Bogen im Freivorbau mit Hilfsabspannungen herzustellen, allerdings standen die Hilfspylone auf den Bogenkämpfern statt auf der Vorlandbrücke. Die Haltekabel spannten den Bogen in kleineren Intervallen als ursprünglich vorgesehen ab. Anstelle einer konzentrierten Kraftumleitung über einen einzigen Querträgerpylon wurden die Kabelkräfte auf mehrere Querträger- und Rückhalte­kabelebenen aufgeteilt und in den Baugrund eingeleitet. Sie stellten das Überbaugerüst direkt auf den Bogen, anstatt die Freivorbaueinrichtung des Bogens wiederzuverwenden.

Die Argumente der Bauunternehmer leuchten ein: Statt einer seriellen Baureihenfolge Vorlandbrücke–Hilfspylon–Bogen erfolgten die Bauarbeiten möglichst parallel zueinander, indem die Hilfspylone beiderseits der Kämpferfundamente statt auf die Vorland­brücke gesetzt wurden. Die Hilfspylone wurden montiert, während die Vorlandbrücke geschalt und armiert wurde. Je ­weiter der Freivorbauwagen des Bogens über dem Tal voranschritt, desto höher ragten die Hilfspylone und die Querträger, die die Halte- und Rückhaltekabel miteinander koppelten.
Flexible Abläufe, standardisierte Gerüste

Die Bauunternehmer wollten das Gerüst mit möglichst wenigen Sonderanfertigungen bestücken, weil diese teuer sind und mit Unsicherheiten bei den Lieferfristen einhergehen. Gemeint ist insbesondere der Druckstempel, der die horizontalen Kräfte der Rückhaltekabel und der schrägen Kämpferpfeiler kurzgeschlossen hätte. Stattdessen nutzten die Unternehmer den ausgezeichneten Baugrund, um die Rückhaltekabel direkt mit kleineren Kräften und standardisierten Konstruktionsdetails im Fels zu verankern.

«Mit unserem Konzept wollten wir in erster Linie auf den Druckstempel verzichten, eine aufwendige Einzelanfertigung, die bis zu 135 MN standhalten musste. Unser Pylon auf dem ­Kämpfer ist zwar höher, dafür aber weitestgehend mit Standardmaterial hergestellt», erklärt Gerald Greunz, Projektleiter der Bauarbeiten bei Strabag.

Im Sinn der Wirtschaftlichkeit suchten die Unternehmer nach Alternativen zum eher kostspieligen Freivorbaugerüst, um den Überbau herzustellen. Bei einer genaueren Untersuchung erkannten sie, dass diese Methode insbesondere im Scheitelbereich, wo Überbau und Bogen miteinander verschmelzen, nicht geeignet war. Vor allem kamen sie zum Schluss, dass der Bogen zu dem Zeitpunkt schon ausreichend stabil war: Wieso dann nicht ein konventionelles Traggerüst darauf abstellen und die Freivorbaugerüste gleich nach dem Bogenschluss abbauen?

Daraus resultierten weitere Vorteile, wie etwa ein leichteres Hilfsgerüst: «Für den Bogen waren ursprünglich vier auskragende Betonier­etappen vorgesehen, bis die nächsten Kabel eingehängt gewesen wären. Durch den Wegfall der Überbauarbeiten kamen solche Kräfte im aktualisierten Bauablauf nicht mehr vor. Entsprechend war es für den Unternehmer effizienter, die Auskragung durch eine doppelte Anzahl an Hilfskabeln zu halbieren, die somit kleiner wurden und mit Standardankern einzeln im Baugrund verankert werden konnten», erläutert Daniel Ziegler, Chefbauleiter der Ausführung bei dsp Ingenieure & Planer.

Dank dem konventionellen Traggerüst konnten die Unternehmer den Überbau schneller und wirtschaft­licher ausführen: «Anstatt der 5 m langen Freivorbau­etappen im Wochentakt konnten wir 30 m bis 40 m lange Etappen am Stück herstellen – eine wesentliche Effizienzsteigerung», betont Gabriel Derungs, Baustellenchef der Bauarbeiten bei J. Erni. Die geringe Anzahl an Arbeitsfugen in Längsrichtung wirkt sich zudem positiv auf die Dauerhaftigkeit des Bauwerks aus.

Beim Baugerüst kamen nur Standardprodukte zum Einsatz, mit Ausnahme der aus geschweissten Blechen zusammengesetzten Pylonquerträger. An diese Träger sind sämtliche Haltekabel samt Pressen mit unterschiedlichen Neigungen und Kabelkräften von bis zu 2.2 MN angeschlossen. Insgesamt wurden die Baugerüste etwa gleich teuer ausgeführt wie ausgeschrieben, doch die Bauzeit konnte verkürzt werden. Die einfachere Ausführung der Gerüstbauteile mit geringem Sonderanfertigungsgrad war angesichts der schwie­rigen Baustellenzufahrt ein Vorteil.
Betonieren, vorschieben, wieder aufrichten

Die ausserordentliche Weichheit des Stahlbetonbogens während des Freivorbaus war die grösste Herausfor­derung der Baustelle. Vorsicht war geboten, denn ein Versagen der Abspannung während dieser Bauphasen hätte zum Einsturz der Bogensegmente hinunter ins Tal geführt. Greunz bringt es mit Zahlen auf den Punkt: «Im Maximalfall senkte sich die Bogenspitze während des Betonierens um ca. 70 cm. Beim Vorschieben des Freivorbauwagens kamen nochmals 30 cm hinzu. Erst nach Fertigstellung der Etappe zogen wir mit den neuen Halte­kabeln den Bogen wieder 100 cm hoch. Zwischen zwei Spannvorgängen wich die Hilfspylonspitze bis 35 cm aus der Senkrechten.»

Solche hohen Verformungen werden immerhin von ­berechenbaren Lasten verursacht. Veränderliche Einwirkungen wie Wind, ­Sonneneinstrahlung und Betonkriechen sind schwerer erfassbar und machten Verformungen in der Grössen­ordnung von 10 cm aus. Deshalb wurde – wie im Freivorbau üblich – die Nullmessung des Bogens immer frühmorgens ausgeführt. Am Ende eines Arbeitsschritts wurde die Bogenspitze gemäss einem relativen Ko­or­di­na­ten­system wieder ausgerichtet, um die Differenzen zur Nullmessung auszugleichen.

Die Windböen durch das Tal erreichten nicht selten 120 km/h und führten einmal dazu, dass eine Betonieretappe verschoben werden musste. Bei Windgeschwindigkeiten über 70 km/h durften weder der Freivorbauwagen vorgeschoben werden noch die Schalungselementen versetzt werden. «Problematischer als der Wind war der Nebel. Wenn man die Bogenspitze nicht mehr sieht, kann man auch nichts messen!», stellt Fritz Striebel, der örtliche Bauleiter bei Leonhardt, ­Andrä und Partner fest.

«Das Spannen geschah minutiös in 20 bis 30 Schritten. Es wurde zwar messtechnisch überwacht, doch die Verformungen des Bogens und des Hilfspylons mussten wir immer im Auge haben.» Angesichts all dieser Umstände mag es erstaunen, dass sich die zwei Bogenhälften vor dem Bogen­schluss quasi planmässig getroffen haben: Die Valenser Seite stimmte auf den Zentimeter, während die Pfäferser Seite nur 5 cm höher als die Solllage war – beeindruckend für eine Halbbogenlänge von 130 m.

Für den Bogenschluss wurden die Rückhaltekabel Seite Pfäfers leicht entspannt, somit der Pylonkopf um 3 cm Richtung Tal gesenkt und beide Freivorbauwagen mit Pressen angeglichen. Der Bogenschluss am 28. März 2015 konnte feierlich zelebriert werden.

TEC21, Fr., 2016.07.29



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TEC21 2016|31-32 Im hohen Bogen über die Taminaschlucht

10. Juni 2016Thomas Ekwall
TEC21

Am Mythos weitergebaut

Für Marseille entwarfen SCAU Architekten mit den Ingenieuren von Elioth/Egis Concept eine 280 m weit gespannte Gitterschale – sie wurde unter laufendem Spielbetrieb des Heimklubs errichtet und überdacht das bestehende Stadion mit wenigen Stützpunkten.

Für Marseille entwarfen SCAU Architekten mit den Ingenieuren von Elioth/Egis Concept eine 280 m weit gespannte Gitterschale – sie wurde unter laufendem Spielbetrieb des Heimklubs errichtet und überdacht das bestehende Stadion mit wenigen Stützpunkten.

Während andere Städte mit ihren Sta­dien die Innenstadt verlassen und neue Sportpaläste in die Agglomeration verpflanzen, baut Marseille an seiner Geschichte weiter. Die Architekten von SCAU (vgl. Interview S. 35) erweiterten und überdachten das bestehende Vélodrome, das nunmehr mit 67 000 Zuschauerplätzen als zweitgrösstes Stadion Frankreichs – hinter dem Stade de France in Saint-Denis – rangiert (vgl. Kasten S. 41). Weil der Stadt der Umbau zu teuer war und zeitgenössische Stadionbauten sich ohne Mantelnutzungen kaum noch rentieren, ging sie eine Public-Private Partnership (PPP) mit dem Projektentwickler Arema ein, der sich in einem Wettbewerbsverfahren gegen die Teams der Totalunternehmer Eiffage und Vinci durchsetzen konnte. Für 267 Mio. Euro baute Arema das Stadion und das angrenzende Ökoquartier (Abb. S. 33) mit 100 000 m² Nutzfläche an Wohnungen, Büros, Hotels und Geschäften. Im Gegenzug zahlt die Stadt während 30 Jahren 12 Mio. Euro Jahresmiete, bis sie das Stadion übernehmen darf – eine mittlerweile übliche Übereinkunft für solche Grossüberbauungen in Frankreich.

Ein Dach gegen Erkältungen

Neben den Eingriffen in die bestehende Anlage (Abb. S.33) kann die neue Überdachung als architektonischer Abschluss einer bewegten Geschichte von Umbauten gesehen werden. Ursprünglich für die Fussball-WM 1938 gebaut, war das Vélodrome für 30 000 Plätze dimensioniert, mit zwei Vordächern auf den Langseiten. Als 1985 die Tribünen erweitert wurden, fiel die namengebende Radrennbahn dem zum Opfer.

Beim grossen Umbau für die WM 1998 brach der zuständige Architekt Jean-Pierre Buffi die Symmetrie der Anlage, um diese auf 60 000 Plätze zu erweitern. Er ersetzte und erhöhte den länglichen Jean-Bouin-Flügel, um den zunehmenden Bedarf an VIP-Zonen und Medienräumen unter den Tribünen zu befriedigen, während die kurzen Flügel auf die heutige Höhe aufgestockt wurden.

Doch mit dem Ergebnis gab sich der Heimclub Olympique de Marseille (OM) nicht zufrieden: Nach dem Umbau wehten der Mistral und der Ostwind umso ­stärker durch die Tribü­nen. Der damalige OM-Trainer Roland Courbis nannte das Stadion «l’enrhumeur» (ein Ort, an dem man sich den Schnupfen holt). Erste konkrete Vorschläge für eine Komplettüberdachung wurden 2005 vorgestellt, scheiterten jedoch mangels finanzieller Unterstützung. Dank der Vergabe der EM 2016 an Frankreich konnte diese Vision nun umgesetzt werden.

6000 t auf zwölf Stützen

Das räumliche Fachwerk des Stadiondachs besteht aus 5940 Stäben mit Durchmessern von 30 bis 50 cm. Die Fassadenhaut, die die Oberfläche des Tragwerks überspannt, ist mit Polytetrafluorethylen-(PTFE)-Folien materialisiert, die – im Gegensatz zu den Ethylen-Tetra­fluorethylen-(ETFE)-Folien, die bekanntlich die Fassade der Allianz-Arena in München bestücken – mechanisch statt mit Luftdruck in Form gebracht werden (Abb. S. 32). Das Stahldach ist im Querschnitt als gedrehtes L ausgebildet: Die Fassadenebene, von den Projektautoren «Rock» genannt, folgt als gekrümmtes, 25 m hohes Fachwerk der Form der ondulierten Tribünen. Die Dach­-ebene von variabler Neigung besteht aus 60 radialen Fachwerken, die bis zu 80 m auskragen. Die gesamte 6000 t schwere Konstruktion wird über vier paarweise angeordneten Megastützen mit Durchmessern von 120 cm in den Ecken der Tribünen sowie über acht vertikale Stützen unter dem «Rock» im Aussenbereich abgestützt, ohne dass diese den Blick der Zuschauer auf das Spielfeld beeinträchtigen.

Die Ingenieure setzten die komplexe Geometrie an einem parametrischen Modell um und verknüpften es mit dem statischen Modell, um eine hinsichtlich des Kräfte­verlaufs und der Form optimierte Lösung zu finden.

Der Stahlbau wirkt statisch im Endzustand als Schale ohne Dilatationsfugen. Ein minimaler Abstand von 40 cm zu den Tribünen sichert eine gegenüber dem Bestand statisch unabhängige Konstruktion, auch im Erdbebenfall. Die Schale wirkt grundsätzlich auf zwei Arten: Die Haupttragwirkung entsteht durch Membrankräfte – wegen der unregelmässigen Form bestehen sie aus einem hohen Anteil an Schubkräften, die durch die Verstrebung der Dachebene übernommen werden. Zum anderen sind einhüftige Rahmen, bestehend aus Dach- und Fassadenfachwerken, in der radialen Ebene ausgebildet, die die Lasten auf Biegung tragen. Sie sind vertikal vom «Rock» – der als Durchlaufträger zwischen den vertikalen Stützen verläuft – und horizontal von den geschlossenen Druck- und Zugringen am Rand des Kuppelauges bzw. im «Rock» gehalten. Beide Systeme schliessen die Kräfte derart kurz, dass die Megastützen nur axial beansprucht werden.

Bauablauf parallel zum Spielkalender

Eine grosse Herausforderung des Projekts bestand darin, dass die Spielpläne der Ligue 1 zwischen 2013 und 2015 parallel zu den Bauarbeiten verliefen: Alle 14 Tage sollte das Stadion für die Heimspiele von OM bis zu 42 000 Zuschauern Platz bieten, und jedes Mal mussten die Stahlkonstruktion provisorisch gesichert und der statische Nachweis des Bauzustands (vgl. «Bis zu 20 % überdimensioniert», S. 34) von einer Sicherheitskommission bewilligt werden. Insgesamt wurde die Baustelle 80-mal unterbrochen.

Zu den logistischen Schwierigkeiten kam eine statische Problematik hinzu: Die Haupttragwirkung der Schale konnte im Bauzustand nicht aktiviert ­werden, da das unfertige Kuppelauge keinen geschlossenen Druckring ausbildete. Die erste Montageetappe über der Tribüne Ganay erfolgte zwar während der Sommerpause und konnte einfach gelöst werden, indem die provisorische Abstützung der einhüftigen Rahmen ­an den Spielfeldrand versetzt wurde. Im laufenden ­Betrieb durften jedoch keine provisorischen Spriesse ins Blickfeld der Zuschauer hineinragen. Die elegante Lösung der Bau­ingenieure bestand darin, während ­dieser Bauphase die Kopfpunkte der Megastützen ­mit einem Gerüstturm zu versehen und mittels Zug­bän­dern miteinander zu verbinden. Somit entstand in ­der Schale ein Druckbogen von 280 m Spannweite, der ­die provisorische Abstützung mit Spriessen ersetzte und die Sicht der Zuschauer nicht beeinträchtigte ­(Abb. S. 32 unten).

Der gesamte Stahlbau ist gegen Korrosion ­feuerverzinkt, weshalb keine Schweissungen oder Zuschnitte auf der Baustelle zulässig waren. Die feuerverzinkten Einheiten wurden von der Stahlhütte der Firma Horta Coslada in La Coruña hergestellt und nach Marseille verschifft. Auf der Baustelle fügte die Baufirma die Einheiten zu 200 t schweren Modulen à zwei bis drei Radialträger mit vorgespannten Schrauben zusammen. Der Einhub erfolgte anschliessend im Tandem zweier 1250-t-Raupenkräne mit 70-m-Ausleger, während die Verbindungen mit den Gerüsttürmen und den stehenden Fachwerken des «Rocks» durch die Monteure erfolgten. Diese heikle Montage eines Moduls dauerte zwei Tage und musste bei Windgeschwindigkeiten über 25 km/h eingestellt werden.

Materialsparende Gitterschale

Dank dem umfangreichen Umbau gehört das Vélodrome nun zu den «Elite»-Stadien im Uefa-Ranking. Eine vielschichtige Bauaufgabe wurde mit klaren architektonischen und statischen Konzepten umgesetzt.

Entscheidend für den Gewinn des anfangs erwähnten Totalunternehmerwettbewerbs war die Wirtschaftlichkeit des Schalentragwerks: Im Vergleich dazu wäre die konventionelle Überdachung mit Balkenrost eines Mitbewerbers nur mit 30 % höherem Stahlvolumen zu bewältigen gewesen. Gewiss stieg die Komplexität der Geometrie, der Statik und der Herstellung des Stadiondachs, doch die klugen Entscheide der Planer und die CAD-Werkzeuge von heute machen solche Projekte möglich und in diesem Fall wünschenswert.

Thomas Ekwall, Redaktor Bauingenieurwesen


Bis zu 20% überdimensioniert

Die Stahlbauteile des Tragwerks sind in manchen Bereichen verstärkt worden, um den Bauzustand zu berücksichtigen: Solange das Kuppelauge keinen Druckring ausbilden konnte, war das Dach für Abhebekräfte infolge Windböen anfällig, die nicht selten 120 km/h erreichen.

Die Intensität der Windlasten und die dynamischen Einwirkungen konnten wegen der komplexen Dachform nur unzureichend mit Normwerten abgedeckt werden; das Centre Scientifique et Technique du Bâtiment (CSTB) unternahm daher Windkanalversuche an physischen Modellen. In der Entwurfsphase wurden die vom Bauunternehmer geschätzten vier entscheidenden Bauphasen im Massstab 1 : 250 modelliert und unterschiedlichen Wind­richtungen ausgesetzt, um eine erste Annäherung des Winddrucks und -sogs auf der Hülle abzulesen und in das statische Modell einzuspeisen. Zur Modellierung gehörte auch die unmittelbare Umgebung, um den verstärkenden Venturi-Effekt der Nachbarbauten zu berücksichtigen. Die zweite Messkampagne fand in der Ausführungsplanung statt, als die endgültigen Bauphasen bekannt waren.

Insgesamt 15 Versuche bis hin zum Massstab 1 : 80 wurden durchgeführt. Dabei gewannen die Ingenieure wichtige Hinweise bezüglich der Randeinwirkungen, des Über- und Unterdrucks auf der Hülle sowie der dynamischen Einwirkungen wie Schwingungen.

Synergien im Energiekreislauf

Unter dem Vélodrome befindet sich die grösste Abwasserreinigungsanlage Europas. Diese wurde in den Energiekreislauf des Stadions eingebunden: Das behandelte Wasser hat konstante Temperaturen zwischen 12 und 16 °C, die sich für Kühlung im Sommer und Heizung im Winter eignen. Der Kalorienaustauch erfolgt mittels reversibler Wärmepumpen.

Diese Lösung ist günstiger als eine konventionelle Geothermie und reduziert den Primärenergieverbrauch um 50 % gegenüber einer Gaslösung.


«Wir stehen zu diesem plastischen Tanz»

TEC21: Im Gegensatz zu den am Stadtrand von Bordeaux, Nizza, Lille und Lyon erstellten EM-Stadien haben Sie ein bestehendes Stadion erweitert. Wie sind Sie als Architekten an die Aufgabe herangegangen?
Maxime Barbier: Die Stadt Marseille identifiziert sich sehr stark mit ihrem Fussballverein. Das Stadion wurde schon mehrmals umgebaut, doch seine Architektur war nie ­auf Augenhöhe mit der sportlichen Erfolgsbilanz des Vereins. Wir wollten ein Bauwerk auf der Höhe des Mythos Vélodrome erschaffen.

TEC21: Inwiefern trägt Ihr Entwurf dazu bei?
Barbier: Er ist eine Antwort auf gesteigerte Nutzungsanforderungen. Insbesondere wollten die Stadt und ihr Bürgermeister die Zuschauer vor Wind und Wetter schützen. Die Stimmung innerhalb des Stadions sollte optisch und akustisch stärker auf das Spiel fokussiert sein und nicht von Ausblicken auf die Stadt gestört werden. Wir haben das Spielfeld mit einem Kreis von 198 m Durchmesser umgeschrieben – um der Vorstellung eines Brennpunkts näherzukommen.

TEC21: Wird dieser Fokus nach innen nicht auch als Abgrenzung von der Stadt verstanden?
Luc Delamain: Der Bezug zur Stadt wird neu interpretiert. Dank dem Lichtspiel durch die transluzente Fassadenhaut sind die Spiele von OM von aussen gut sichtbar. Diese durchlässige Hülle verbessert den akustischen Komfort, ohne die Stimmung des Stadions zu dämpfen. Wir wollten kein hermetisches Stadion wie zum Beispiel in Lille.

TEC21: Wieso haben Sie sich für das Fassadenmaterial PTFE entschieden?
Delamain: Es war in erster Linie ein Wagnis, die ganze Überdachung nur an vier Punkten zu halten! Von Anfang an haben wir uns die Frage des Gewichts gestellt. Die leichten PTFE-Membranen minimieren das Konstruktionsgewicht und gewährleisten Witterungsschutz und Dauerhaftigkeit. Wegen des Gewichts haben wir auch eine Stahlkonstruk­tion gewählt, das auch noch für kurze Bauzeiten gesorgt hat. Das Dach­konzept haben wir mehrmals und mit verschiedenen Ingenieuren schrittweise optimiert, ein echtes Abenteuer!

TEC21: Die Spiele nehmen nur 1 % der Nutzungsdauer ein, was war Ihre Strategie für die restlichen 99 %?
Delamain: Natürlich muss ein Stadion mehrere Nutzungen anbieten können, um sich zu rentieren, wobei es hier in erster Linie das Stadion des Fussballvereins bleibt. Das Stadion bildet vor allem den Schlussstein eines neuen Quartiers, das den Stadtteil aus der Isolation befreit.

TEC21: Wie nehmen Sie das umgebaute Stadion im Stadtbild wahr?
Delamain: Auf den Hügeln um Marseille und vom Meer aus wirkt das Stadion als Identitätsträger der Stadt. Der Blick vom Schiff ist wesentlich: Man sieht eine weisse Muschel, die aus der umgebenden Stadt heraus­gehoben wird. Wir stehen zu dieser Wellenbewegung, dem plastischen Tanz, der für Marseille charakteristisch ist.

TEC21: Die ursprüngliche Funktion des Vélodrome ist längst vergangen, ist es nicht auch eine formelle Vereinnahmung?
Delamain: Doch! Wir erkennen darin auch die Hochs und Tiefs der unsprünglichen Rennbahn.


[Die Architekten Maxime Barbier und Luc Delamain sind Teilinhaber des Architekturbüros SCAU. Das Interview führte Thomas Ekwall.]

TEC21, Fr., 2016.06.10



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30. Januar 2016Thomas Ekwall
TEC21

Fest und verschieblich

Die Hauptfront des Sprengel-Museums in Hannover ist eine 75 m lange, monolithische Vorhangfassade. Die Ingenieure von Drewes + Speth konstruierten den Sichtbeton möglichst zwängungsarm – ein Balanceakt, der einzig in der Fuge der Südfassade sichtbaren Ausdruck !ndet.

Die Hauptfront des Sprengel-Museums in Hannover ist eine 75 m lange, monolithische Vorhangfassade. Die Ingenieure von Drewes + Speth konstruierten den Sichtbeton möglichst zwängungsarm – ein Balanceakt, der einzig in der Fuge der Südfassade sichtbaren Ausdruck !ndet.

Die Museumserweiterung von Marcel Meili, Markus Peter Architekten Zürich setzt mit ihrer Aussenhaut einen archi­tektonischen Kontrapunkt zu den postmodernen Vorgängerbauten (zur Architektur vgl. «Kabinett der Abstrakten»). Schon auf den ersten Blick hinterlässt die Hauptfassade einen besonderen Eindruck: Die feingliedrige und zugleich wuchtig wirkende Wandscheibe kragt über einem zurückversetzten, verglasten Erdgeschoss aus. Dieser Eindruck bestätigt sich auch statisch, denn die Wand wird an ihrem oberen Rand konsolenartig gefaltet, um ihre Lasten in die Querwände der Ausstellungsräume einzuleiten.

Diese Querwände bilden zusammen mit den übrigen Wänden und den Geschossdecken ein räumliches statisches System, das die Anforderungen grosser Spannweiten und des dreiseitig um bis zu 4 m überhängenden Ausstellungs­geschosses effizient erfüllt. Die umlaufende Sichtbeton­fassa­de aus anthrazitgefärbtem Beton weist fünf unterschiedliche Wanddicken von 25 bis 49 cm auf, die die reliefartigen Vor- und Rücksprünge erzeugen. Verschiedene Nach­bearbeitungstechniken kamen bei der grössten Wandstärke zum Einsatz: Hier wurde die Oberfläche geschliffen und poliert. In den übrigen Bereichen, wo die Schalung mit Schalungstafeln ausgeführt worden war, blieb die Oberfläche roh belassen.

Da die Fassade der Witterung ausgesetzt ist, wird die Zeit nicht spurlos an ihr vorübergehen, doch dank sorgfältig ausgebildeten Details – etwa den minimal geneigten waagrechten Flächen, den ausgerundeten konkaven Kanten zur Begrenzung von Kerbspannungen oder der keilförmigen Tropfkante – könnte eine edle Patina daraus entstehen.

Ein- oder zweischalig

Bis zur Ausschreibung der Baumeisterarbeiten entwickelten die Architekten und Ingenieure mögliche Kon­struktionsprinzipien: Eine einschalige, innengedämmte Sichtbetonfassade wäre bei gleitender Lagerung ohne Dilatationsfugen ausgekommen, eine attraktive Lösung. Eine monolithische einschalige Konstruktion aus Dämmbeton kam nicht in Betracht, da beim Schleifen und Polieren die Zuschlagstoffe ungünstig freigelegt worden wären. Schliesslich wurde eine wirtschaftlichere, dafür konstruktiv anspruchsvollere Lösung mit einer zweischaligen, kerngedämmten Betonfassade realisiert.

Die Kunst dieser Konstruktion bestand darin, die Fassade zu halten und zugleich die Bewegungen, die die Sichtschale gegenüber der Innenschale infolge von Temperatureinwirkung und Betonschwinden vollzieht, möglichst zwängungsfrei zuzulassen. So ist die Fassade bis auf einen mittigen Fixpunkt in Gebäudelängsrichtung frei verschieblich gelagert. Die Eigenlast wird punktuell über Elastomergleitlager in die Primär­kon­struktion übertragen. Für die Sogverankerung entwickelten die Ingenieure Einbauteile aus nichtrostendem Stahl, die Zugkräfte senkrecht zur Fassadenebene auf­nehmen können und im Übrigen frei beweglich sind.

Vorhangfassade aus einem Guss

Bei der gewählten Konstruktion treten rechnerisch an den Enden der Längsfassade Verschiebungen von bis zu 27 mm auf, die sich je nach Jahreszeit in unterschiedli­cher Richtung ergeben. Die gut 24 m langen Stirnseiten sind einschalig konstruiert und in den Längsfassaden aufgehängt, somit können sie der Dehnung der Längsfassaden zwanglos folgen. Die Südfassade wurde mit besonderen Dilatationsfugen ausgebildet, die zugleich Zwangsbeanspruchungen ausschliessen und bestimmte Kraftwirkungen ermöglichen (vgl. Skizze). Der Verlauf der Fuge folgt im Einklang mit dem Fassadenrelief und den statischen Erfordernissen der Figur einer überdimensionalen Nut- und Federverbindung (vgl. Abb.).

«Zu Anfang haben wir uns ganz für die einschalige Konstruktion eingesetzt, da sie dem Grundgedanken in höchster Klarheit entsprochen und die unvermeidlichen Zwangskräfte auf ein Minimum begrenzt hätte», meint Martin Speth vom Ingenieurbüro Drewes Speth. «Doch der wesentliche Vorteil der gewählten zweischaligen Bauweise war die weitgehend unabhängige Ausführung des Innenausbaus und der Relieffassade, die nach der Erstellung der Innenschalen mit wirtschaftlicher Systemschalung parallel zueinander erfolgen konnte.»

Aus der Zusammenarbeit von Architekt und Ingenieur entstand eine Fassade, die schlicht und ruhig erscheint, zugleich aber die Schwere des Betons mit der Empfindlichkeit einer Glasfassade vereint.

TEC21, Sa., 2016.01.30



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TEC21 2016|05-06 Lebendiger Sichtbeton

08. Mai 2015Marko Sauer
Thomas Ekwall
TEC21

Krone aus Holz

burkhalter sumi architekten, Dr. Lüchinger   Meyer und Makiol & Wiederkehr stocken ein ehemaliges Industriegebäude auf. Sie nutzen die Stärken von Holz für diese Aufgabe – das Material hingegen zeigen sie nicht.

burkhalter sumi architekten, Dr. Lüchinger   Meyer und Makiol & Wiederkehr stocken ein ehemaliges Industriegebäude auf. Sie nutzen die Stärken von Holz für diese Aufgabe – das Material hingegen zeigen sie nicht.

Verdichtung und Mobilität: Diese beiden Stichworte prägen die städtebauliche Debatte seit geraumer Zeit. In ihrem Spannungsfeld wird jede Baulücke geschlossen, der öV ausgebaut, und es schiessen die Städte in die Höhe. So auch auf dem Grundstück der Sihltal Zürich Uetliberg­bahn (SZU) im Zürcher Kreis 3: Mit 9000 m² Fläche und einem eigenen Bahnhof – zwei Stationen ab Zürich HB – bot das ehemalige Werksgelände optimale Bedingungen, die beiden Maximen der Entwicklung zu vereinen.

Um ein geeignetes Projekt zu finden, wurde 2006 ein Wettbewerb unter sechs Büros durchgeführt. Das ­Siegerprojekt von burkhalter sumi architekten behielt als einziges das bestehende Umschlaggebäude von 1962 als Teil der Überbauung bei (vgl. Situationsplan S. 31).

Dieses wurde von einem Aufbau aus Stahl aus den 1980er-Jahren befreit, aufgestockt und weitergenutzt. Entscheidend für das Konzept war die Zusammenarbeit mit den Ingenieuren von Dr. Lüchinger   Meyer, denn im Sinn der Verdichtung musste die Aufstockung substanziell ausfallen. Sie erkannten die hohe Tragfähigkeit des zweistöckigen Baukörpers aus Stahlbeton. Und weil das Bauwerk ursprünglich hohen Nutzlasten standhalten musste, waren Stützen und Fundamente entsprechend grosszügig dimensioniert.

Die Untersuchungen zeigten, dass der Stahlbau entfernt werden konnte und ein vierstöckiger Aufbau in Holz ohne kostspielige Verstärkungen des Bestands möglich war. Nicht etwa der kulturelle Wert des Bauwerks, sondern seine Robustheit war für den Erhalt entscheidend. Die grosszügige räumliche Qualität des Gebäudes kam als Bonus dazu. Mit dem Erhalt des Umschlagsgebäudes liessen sich aber auch Kosten sparen: In den beiden Sockelgeschossen sind weiterhin Verwaltungsräume der SZU untergebracht, im Untergeschoss konnte die bestehende Relaisstation verbleiben.

Abbild der bestehenden Struktur

Die Aufstockung bedingte ein Tragwerk in Leichtbauweise. Obwohl ein Stahlskelett mit Verbunddecken – bei vergleichbarer Belastung – etwa 10 % günstiger gewesen wäre, setzte sich ein Holzbau durch. Denn Ständerwände und Decken lassen sich mit dem gleichen Material vorfertigen und schnell montieren, die Einrichtung der Baustelle braucht nur wenig Platz. Zudem können Holzträger ohne thermische Brücken die aussenliegenden Balkone abfangen und die Lasten weiterleiten. Schliesslich geniesst Holz ein gutes Image und benötigt für die Herstellung und Bearbeitung wenig graue Energie.

Der Grundriss der Aufstockung musste auf den Sockel abgestimmt werden, ohne Lasten ins Gebäudezentrum abzugeben. Die bestehenden Rahmen spannen 11 m in Querrichtung bei einem Achsmass von 5 m in Längsrichtung. Der Raster war für die Wohnnutzung geeignet und wurde für die vertikalen Tragelemente übernommen. Analog zum Rahmenriegel überspannen Hauptbinder aus Brettschichtholz den Innenraum. Sie kragen beidseits 2 m aus, um die aussenliegenden Balkone abzufangen. Diese Durchlaufwirkung ist sowohl statisch als auch konstruktiv vorteilhaft, denn die ­Biegemomente des Binders sind reduziert, und die ­Balkone können stützenlos getragen werden.

In den Wandelementen werden die Lasten über Holzstützen getragen, deren Querschnitt gegen oben kontinuierlich abnimmt (180/300, 180/240, 180/180, 180/120). Die oberste Decke des Bestands wurde in der Tragachse mit Stahlträgern verstärkt, um die Holz­ständer des Neubaus abzufangen. Somit leiten die bestehenden Rahmenpfosten sämtliche Vertikallasten der Aufstockung in die Fundamente weiter. Die Anschlüsse des Holzbaus an den Massivbau sind als Neoprenlager ausgeführt und auf diese Weise akustisch entkoppelt – neben der Bahnlinie ein Muss. Die beiden Liftschächte, die Fluchttreppen und das Treppenhaus wurden in Beton erstellt. Sie steifen das Gebäude zusammen mit den Holzständerwänden in Querrichtung gegen Erdbeben und Windkräfte aus.

Um Höhe zu sparen, sind die tragenden Decken in der gleichen ­Ebene wie die Hauptbinder angeordnet. Die Elemente bestehen aus beidseitigen Dreischichtplatten, die mit einem dazwischenliegenden Vollholzträger verleimt sind. Zusammen bilden sie einen Hohlkastenquerschnitt, der mit einer Gesamtstärke von 275 mm entsprechend schlank ausfällt (l/h = 18.2). Den Schallschutz gewähren eingelegte Gartenplatten, ein schwimmender Unterlagsboden und eine an Feder­bügeln abgehängte Decke.

Im Innern ist die Holzkonstruktion nicht sichtbar. Wegen der Anforderungen REI 60, EI 30 (nicht brennbar) sind die tragenden und raumabschliessenden Bauteile mit Gipsplatten verkleidet. Das sechsstöckige Bauwerk entspricht der Qualitätssicherungsstufe Q4 gemäss Lignum-Dokumentation «Bauen mit Holz – Qualitätssicherung und Brandschutz», weshalb die Holzkonstruktion von einem externen und anerkannten Fach­ingenieur bezüglich Brandschutz geprüft werden musste. Die hohen Ansprüche an den Holzbau führten die am Wettbewerb beteiligten Ingenieure dazu, diesen Teil des Projekts an den spezialisierten Holzbauplaner Makiol   Wiederkehr zu vergeben – ein übliches Verfahren, das sich auch in diesem Fall bewährte.

Die Aussenwand ist mit hinterlüfteten Elementen ausgeführt, die zwischen den Ständern gedämmt sind. Beidseitig sind sie mit Gipsfaserplatten beplankt und innen mit einer aussteifende Dreischichtplatte versehen. Ein einheitlicher Putz überzieht Sockel und Aufstockung – das Holz in den Fassaden zeigt sich erst bei genauerem Hinsehen. Noch ist die Stadt nicht das Territorium des offen zur Schau getragenen Holzbaus.

TEC21, Fr., 2015.05.08



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TEC21 2015|19-20 Holzbau aufgesetzt

24. Oktober 2014Thomas Ekwall
TEC21

Statik als Handwerk

Heinz Hossdorf entwarf komplexe Tragwerke mit der Zuversicht, dass die Modellstatik seine Intuition bestätigen werde. Die ­Modelle der Coop-Lagerhallen aus Mikrobeton und des Stadttheaters Basel aus Acryl stehen exemplarisch für diesen Ansatz.

Heinz Hossdorf entwarf komplexe Tragwerke mit der Zuversicht, dass die Modellstatik seine Intuition bestätigen werde. Die ­Modelle der Coop-Lagerhallen aus Mikrobeton und des Stadttheaters Basel aus Acryl stehen exemplarisch für diesen Ansatz.

Den Auftrag für die Überdachung der Lagerhallen des Verbands Schweizer Konsumvereine (VSK, heute Coop) in Wangen bei Olten erhielt Heinz Hossdorf 1958 über einen Ingenieurwett­bewerb. Sein Vorschlag überzeugte die Jury wegen seiner Kombination aus Eleganz und Wirtschaftlichkeit. Eine Prise Mut gehörte dazu, denn die vorgeschlagene Segmentbauweise betrat in mehrfacher Hinsicht technisches Neuland: Das Dach besteht aus 1962 Betonfertigteilen mit 1.4 m Länge und 8.4 m Breite, die in Längsrichtung hintereinander versetzt sind. Erst durch eine externe Vorspannung wirken sie im Endzustand als monolithische Träger mit 25.2 m Spannweite. Dabei galt es zu gewährleisten, dass die unbewehrten Mörtelfugen zwischen den Elementen­ ­unter sämtlichen Lastfällen überdrückt blieben. Ein statisches Prinzip, das mit dünnwandigen Bauteilen und aus heutiger Sicht aussergewöhnlicher Sorgfalt in der konstruktiven Ausbildung umgesetzt wurde. Dieser Kraftakt wäre unverhältnismässig gewesen, wenn nicht ein erheblicher Gewinn bei den Herstellungskosten dahintergestanden hätte: Hier mussten 24 000 m² Dachfläche in kürzester Zeit versetzt werden (Abb. S. 29 Mitte links). Die Auf­gabe war in Trockenbauweise und mit indust­riell vorgefertigten Elementen bestens zu bewältigen.

Die häufige Wiederholung der Elementengeo­metrie ermöglichte Hossdorf, eine ausgeklügelte und materialsparende Querschnittsform zu entwickeln: Die aus einem Guss geformte 4.5 cm dicke Zylinderschale und die abgerundete 8 cm dicke Rinne sorgen für eine optimale Lichtführung im Innern (Abb. S. 29 Mitte rechts). Auf der Oberseite sind Längs- und Querrippen angeordnet, die die dünne Schale gegen Ausbeulen aussteifen. Weil die Schale so dünn ist, müssen die sechs Vorspannkabel extern verlaufen und durch die Rippen gestossen werden. Durch ihre parabolische Führung erzeugen sie zusätzlich günstige, dem Eigengewicht entgegengesetzte Biegemomente und übernehmen einen grossen Anteil der Querkraft. Die Randelemente sind zur Lastabgabe auf die Stützen massiver ausgebildet als die Normal­elemente, sodass die konzentrierten Vorspannkräfte materialverträglich eingeleitet werden.

Die Komplexität des Entwurfs rührte nicht von der Form der Shedträger her – ein einfach gekrümmtes Flächentragwerk –, sondern vielmehr von den konstruktiven Details. Die sichere Führung der Kräfte konnte nicht mehr analytisch nachgewiesen werden: Sind die Mörtel­­fugen unter kombinierter Schub- und Normalkraft tragfähig? Wie verhalten sich die Randelemente unter der exzentrisch eingeleiteten Vorspannkraft? Wie reagieren die dünnen Normalelemente unter unregelmässiger Beanspruchung? Diese Fragen konnten dazumal nur mit der experimentellen Modellstatik zuverlässig und wirtschaftlich beantwortet werden.

Die bittere Wahrheit des Experiments

Das Labor für Modellstatik erstellte im Hinblick auf das heterogene Tragwerk und zur Untersuchung des Bruchverhaltens zwei komplette Schalensheds im Massstab 1 : 10. Die Materialisierung mit Mikrobeton und Bewehrungsdrähten (vgl. Kasten S. 29) war spätestens seit dem Bau der Kirche in Winkeln 1958 (vgl. Abb. S. 34) erprobt. Neuartig beim VSK-Dach war der Einsatz eines vollständigen Modell-Vorspannsystems, das auch bei späteren Projekten angewendet wurde.

Die Versuche bestätigten das Tragverhalten der Fugen unter Schub und Druck. Die exzentrische Einleitung der Vorspannkraft in die Randelemente führte nicht zu vorzeitigem lokalem Versagen, und die analytische Dimensionierung der Bauteile für eine zweifache Gebrauchslast konnte anhand des experimentellen Bruchversuchs für gültig erklärt werden.

Der Modellversuch hatte keinen Einfluss auf die Dimensionierung der Bauteile. Vielmehr bestätigte er die kühnen Annahmen der Ingenieure. Ohne diesen Nachweis wäre nach Ansicht Hossdorfs – und nicht zuletzt der Bauherrschaft – das innovative Grossprojekt nicht verantwortbar gewesen. Hossdorf begründete seine Modellstatik wie folgt: «Es ist uns ein Anliegen, ganz einfach die Wahrheit zu sehen. Der Mensch hat oft die Tendenz, lieber an einen theoretischen Gedankengang zu glauben, welcher ihm schmeichelt, als die ­bittere Wahrheit durch ein Experiment erfahren zu wollen.»[1]

Die Hängeschale in Basel

1975, knapp 14 Jahre nach dem VSK-Dach in Wangen, wurde das Stadttheater Basel eingeweiht. In dieser ­Zwischenzeit entwickelten sich die Messgeräte und die computergestützte Datenverarbeitung rasant, und so bediente sich die Modellstatik zunehmend der elas­tischen Modelle. In der Entwicklungsgeschichte der Modellstatik steht das Stadttheater am Übergang zur Hybridstatik, die das Ziel verfolgte, sämtliche Mess- und Auswertungsschritte mithilfe des Computers zu automatisieren.

Das Wahrzeichen des Stadttheaters Basel ist die 60 m weit spannende und nur 12 cm dicke Hängeschale aus Spannbeton. Heinz Hossdorf und Architekt Rolf Gutmann konnten diese Idee bereits im Entwurfsprozess und mit einfachen Mitteln auf Papier konstruieren. Ein erstes Modell im Massstab 1 : 50 wurde unmittelbar nach dem Wettbewerbserfolg gebaut. Die räumliche Gesamtwirkung bezüglich Tragverhalten und Gestaltung konnte damit überprüft werden. Bis das Konzept ausführungsreif war, mussten noch wesentliche Aspekte geklärt werden, die erst in einem zweiten Modell eine Antwort fanden.

Die Definition des Dachs als Rotationsfläche war im Hinblick auf die Nutzung naheliegend: Sowohl die breiten, niedrigen Foyers und Zuschauerräume als auch der turmartige Aufbau der Bühne fand darin Platz. Im Schnitt entspricht die Dachlinie einer parabelförmigen Annäherung der Kettenlinie unter Eigen­gewicht – eine optimale Form für eine Hängeschale. Die Einteilung des Dachs in einfach gekrümmte Flächensegmente erleichterte die Schalungsarbeiten.

Das Hängedach fungiert als dünne, durchhängende Membrane, die an ihren Enden horizontal gehalten wird. Die dabei entstehenden hohen Kräfte werden durch die massiven seitlichen Turmwände im Bühnenbereich und die radial angeordneten Wider­lagerscheiben im Foyerbereich aufgenommen (Abb. S. 30 unten).

Wenn ein Tuch an einzelnen Punkten gehalten und gezogen wird, entstehen schlaffe Bereiche zwischen diesen Punkten. Genauso verhält es sich bei der Betonschale zwischen den Widerlagerwänden. Diese «schlaffen» Bereiche erhalten hohe Biegemomente, eine Beanspruchung, die angesichts der geringen Bauteilstärke gebührend minimiert werden musste. Zum Teil konnte Hossdorf diese Punkte entschärfen, indem er das Hänge­dach kunstvoll auffaltete, wodurch die Schale eine ­weiche, linienförmige Auflagerung bekam.

400 Arbeitsstunden für den Modellaufbau

Diese Entwurfsentscheide führten dazu, dass die Schalentheorie nur im Regelbereich angewendet werden konnte. Bei den Unstetigkeiten im Auflagerbereich hingegen stiessen die analytischen Methoden an ihre Grenzen. Hossdorf hat sich diese Form dennoch zugetraut, wohl wissend, dass die Modellstatik die letzten Grauzonen des Kräfteverlaufs aufheben würde.

Wie verteilen sich die Horizontalkräfte zwischen den einzelnen Widerlagerscheiben? Wie hoch sind die Biegemomente, die die dünne Schale erheblich schwächen? Wo und um welche Kraft muss die Schale vorgespannt werden, damit keine Zugrisse entstehen? Das Modell sollte diese Fragen beantworten und die Grundlage für die Ausführung liefern.

Weil die Computer mit ihrer damals begrenzten Rechenkapazität solche Zusammenhänge nicht bewältigen konnten, wurde das physische Modell verwendet. Die Ingenieure um den Projektleiter René Guillod wollten vor allem den Gebrauchszustand erfassen, weshalb das Labor für Modellstatik ein elastisches Modell aus Acryl für die statische Untersuchung herstellte.

Das Gesamtmodell von Dach und Wänden wurde im Massstab 1 : 50 erstellt (Kasten S. 30). Die Kräf­te wurden im Massstab 1 : 15 000 modelliert, sodass das Dachgewicht von 1390 t im Modell nur noch 93 kg betrug. Das Hängedach wurde vorgespannt mit der Absicht, dass der Beton trotz der Zugbeanspruchung immer überdrückt blieb. Daher galt der Werkstoff als ungerissen und somit elastisch, wodurch die Analogie zum Modell erst hergestellt wurde. Das Acrylmodell wurde belastet, und die installierten Messeinrichtungen ermittelten Dehnungen, Verformungen und Auflagerkräfte. Zur Plau­sibilitätskontrolle wurden die Spannungen in der Schalenfläche mit den Reaktionskräften verglichen. So konnte man den Kräfte- und Momentenverlauf genau nachvollziehen sowie die Vorspannung und die kon­struktiven Details entsprechend dimensionieren.

Erkenntnisse aus dem Modell

Insgesamt erwiesen sich das Tragwerk als geeignet und die Spannungsspitzen infolge Biegung verkraftbar. Die Geometrie wurde nach diesen Erkenntnissen nur minimal angepasst. Dennoch zeigte sich am Modell, dass die Segmentierung der Dachform in einfach gekrümmte Streifen einen unerwartet starken Einfluss auf die Membranzugspannungen ausübte. Aus dieser Erkenntnis heraus wurden die Spannkabel anders angeordnet als im Entwurf angedacht (Abb. S. 30 Mitte).

Die Bewegungsfugen zwischen den planmässig nichttragenden Saalwänden und der Schale wurden gemäss diesen Erkenntnissen geplant, ebenso die ­Dimensionen der Schale in den Randpartien und Wand­anschlüssen. Die Schalenstärke von 12 cm erfüllte die akustischen Anforderungen – gemäss den statischen Untersuchungen hätte sie sogar dünner sein können.


Anmerkung und Quellen:
[01] Vgl. werk 8/1972
Heinz Hossdorf: Das Erlebnis Ingenieur zu sein. Basel 2003.
Heinz Hossdorf: Modellstatik. Wiesbaden 1971.
René Guillod: Der Modellversuch für das Hängedach des Stadttheaters Basel. Basel 1970/71.

TEC21, Fr., 2014.10.24



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TEC21 2014|43 Heinz Hossdorf und die Modellstatik

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Presseschau 12

08. Dezember 2017Thomas Ekwall
Hans Seelhofer
TEC21

Virtuos erhöht

In und auf den Bestandsbauten des Schlotterbeck-Areals in ­Zürich sind 104 zusätzliche Wohnungen entstanden. Mit differenzierten Eingriffen gelang es Dr. Lüchinger Meyer Bauingenieuren, die spektakulären Aufstockungen mit dem bestehenden statischen System zu vereinbaren.

In und auf den Bestandsbauten des Schlotterbeck-Areals in ­Zürich sind 104 zusätzliche Wohnungen entstanden. Mit differenzierten Eingriffen gelang es Dr. Lüchinger Meyer Bauingenieuren, die spektakulären Aufstockungen mit dem bestehenden statischen System zu vereinbaren.

Das Schlotterbeck-Areal in Zürich wurde nach einem Entwurf von giuliani hönger Architekten und Dr. Lüchinger Meyer Bauingenieure umgenutzt, umgebaut, aufgestockt und verdichtet (vgl. «Verdichtete Romantik»). Die Transformation der bestehenden, denkmalgeschützten Bauten erforderte von den Ingenieuren unterschiedliche Herangehensweisen. Die Erhöhung des ehemaligen Citroën-Werkstattgebäudes, um ein Stockwerk und die Nachrüstung von drei Treppenhäusern mögen noch als konventionelle Gebäudeanpassungen verstanden werden. Die Aufstockung um weitere drei Etagen an der Südseite und eine Vergrösserung des Untergeschosses bedeuteten aber eine derart erhebliche Umgestaltung des Gebäudes, dass weitreichendere Eingriffe in die Tragstruktur nötig waren. Regelrecht verzahnt wurden hier neue und alte Bausubstanz, um die erhöhten Lasten in die verstärkten Fundamente einzubringen.

Ein identitätsstiftender Neubau für das Areal entstand dagegen mit dem zylindrischen Wohnturm. Es scheint, als bildeten seine neun neuen Stockwerke mit der denkmalgeschützten Rampenanlage unter sich eine Einheit; strukturell jedoch ist der neue Turm grösstenteils von dieser ehemaligen Auffahrt zur Werkstatt entkoppelt.

Rampe windet sich um Turmschaft

Einen Durchmesser von rund 27 m weist der neue Turm auf den Wohnebenen auf. Der tragende Turmschaft mit einem Durchmesser von etwa 12 m führt präzise durch das Auge der doppelhelixförmigen, denkmalgeschützten Rampe auf den mächtigen neuen Fundamentkörper, der unterhalb des Bestands angeordnet wurde. Mit einer Dicke von 2.8 m und einem Durchmesser von 18.4 m gewährleistet dieser den Lastabtrag auf die 140 im Niederdruck-Injektionsverfahren erstellten Mikropfähle. Sie binden in die unter den setzungsempfindlichen Seeablagerungen anstehenden Moräne- und Schotterschichten ein.

Der gewählte Lastabtrag des Wohnzylinders über den Schaft und das separate Turmfundament ermöglichte die Schonung der Rampe aus den 1960er-­Jahren. Die bestehenden inneren Stützen der Anlage mussten jedoch abgefangen und in die neue Fundation integriert werden. Hierfür wurde eine Stahljochkon­struktion entwickelt, die die einzelnen Stützenlasten von bis zu 1200 kN bereits an der Unterkante der Unter­geschossdecke aufnahm. Am Fusspunkt der stempelartig ausgeführten Bauteile wurden die Lasten über Hydraulikpressen und Biegebalken in je vier Mikro­pfähle eingeleitet, die im Lauf der Aushubarbeiten sukzessive mittels angeschweissten Stahlwinkelprofilen gegen Knicken stabilisiert wurden.

Raffiniertes Scheibentragwerk des Turms

Die radialsymmetrische Form der Aufstockung wird für statische Zwecke ausgenutzt, was insbesondere im oberen Wohnbereich ersichtlich wird. Die im Grundriss annähernd kreisförmigen Geschossdecken sind durch radial verlaufende Wandscheiben gestützt bzw. an diesen aufgehängt. Diese auskragenden, auf der äusseren Turmschaftwand aufgelegten Wände werden durch radial wirkende Schubkräfte in die Deckenebene einge­spannt. Da die Wände zweier benachbarter Geschosse zur Maximierung der Spannweiten geschossweise um rund 36° versetzt sind, werden die Decken Scheibenbeanspruchungen unterworfen und schliessen die Schubkräfte der darüber- bzw. darunterliegenden Wände kurz.

Dieses Prinzip liess sich im obersten und untersten Geschoss nicht umsetzen. Oben wurde die mit einem kräftigen Randüberzug versehene Decke konzentrisch vorgespannt, um die hohen Ringzugkräfte aufzunehmen. Am unteren Ende des Wohnzylinders war die doppelte Anzahl Wände erforderlich, um die Decken ausreichend zu lagern. An dieser Stelle leisten die Radialwände einen wertvollen Beitrag zur Tragwirkung des Turms, indem die horizontal wirkenden Wandschubkräfte die Vertikal­lasten der äusseren zylindrischen Kernwand in die innere umlenken. Dank der Geometrie gleichen sich die Horizontalkräfte innerhalb des Systems von selbst aus.

Fundamente zeigen Zähne

Im bestehenden rechteckigen Werkstattgebäude erfolgte die Lastabtragung grösstenteils über Pilzstützen aus Stahlbeton. Durch die Aufstockung um eine Etage und die umnutzungsbedingten Zusatzlasten war die Trag­sicherheit der Stützenfundamente nicht mehr gewährleistet. Die südliche Gebäudeerhöhung um insgesamt vier Etagen bedingte sogar ein alternatives Tragsystem. Da sich zudem das erweiterte Untergeschoss nun bis unmittelbar an die Gründungskörper erstreckte, galt es, diese zu verstärken, zum Teil auch mit unkonventio­nellen Methoden.

Im Bereich ohne Untergeschoss wurden die Pilzstützen bis zur Unterkante der Bodenplatte aufbetoniert. Dadurch erhöhen sich die Biege- und Durchstanzwiderstände der bestehenden Einzelfundamente, und die Lasten werden unmittelbar abgefangen. Neue Mikro­pfähle durchdringen die bestehenden Fundamente und leiten ihre Lasten tiefer in den Baugrund ein.

Die effektive Übertragung der Stützenlasten in die nachträgliche Verstärkung gelang durch aus dem Brückenbau abgeleitete Konstruktionsdetails: Mittels Hochdruckwasserabtrag wurden umlaufende Schlitze in die Stützenquerschnitte gefräst. Diese Schubzähne gewährleisten die Kraftübertragung in die flankierende Fundamentverstärkung und in der Folge die Ein­leitung der Vertikallasten über Betondruckstreben in die Mikropfähle. Die resultierenden horizontalen Kraftkomponenten wurden mit Spannstangen kurzgeschlossen. Die anschliessend erstellten, wandartigen Unterfangungen bildeten in Verbindung mit der neuen Bodenplatte des Erdgeschosses einen kastenartigen Baukörper. Während der Aushubarbeiten sicherte dieser die horizontale Lage von je vier Einzelfundamenten.

Die Technik der Verzahnung und Verstärkung kam auch bei den bestehenden Stützen im Untergeschoss zum Einsatz, die von neuen Betonwänden flankiert ­werden. Anstelle der Vorspannung schliesst hier die Bodenplatte die horizontalen Kräfte kurz. Damit auch bestehende Wände die Vertikallasten der darüberstehenden Stützen auf die beidseits der Einzelfundamente angeordneten Mikropfähle abtragen können, wurden sie am Wandfuss mit zwei Steckträgern versehen. Der Kurzschluss der aus der Spreizung resultierenden Horizontalkräfte erfolgte hier über Zugglieder mit Vierkant-Vollprofil.

Alte Fassade des Werkstattgebäudes

Die filigrane, denkmalgeschützte Betonsprossenfas­sade wurde im Zuge des Umbaus mit Stahlträgern abgefangen. Da nur äusserst geringe Setzungen erlaubt ­waren, setzte man zwischen Decke und Oberflansch ­Flachpressen ein, um die Träger vorzubelasten. Die übrigen Bereiche der Untergeschossdecke wurden ebenfalls mittels aufgepressten Stahlträgern abgefangen, die die Lasten in neue Querwände abtragen. Dadurch konnten die einachsig tragenden Bestandsdecken des Untergeschosses trotz nutzungsbedingtem Rückbau der Längswände – das Untergeschoss wird künftig eine Tiefgarage – grösstenteils erhalten werden.

Durchbrüche und Verstärkungen

Während die Bautätigkeiten im Untergeschoss von Abfangungen geprägt waren, stand bei den Arbeiten im Erdgeschoss und in den Obergeschossen eine Vielzahl Deckendurchbrüche und -verstärkungen an. Je nach Gefährdungsbild wurden verschiedene Massnahmen ergriffen: Auf den mittels Höchstdruckwasserstrahlen aufgerauten Decken wurde eine schlaff bewehrte, verdübelte Aufbetonschicht aufgebracht, die mit den bestehenden Decken im Verbund wirkt. Die Applikation zusätzlicher Stahllamellen auf der Deckenunterseite im Feldbereich erzielte eine Erhöhung des Biegewiderstands. Örtlich kam eine Durchstanzbewehrung zum Einsatz.

Neue Scheiben und Stützen im Aufbau Süd

Die südliche viergeschossige Aufstockung des Werkstattgebäudes hätte das bestehende Tragwerk überbeansprucht. Für diesen Baukörper wurde daher ein alternatives Scheibentragsystem entwickelt, das die Kräfte über wenige Punkte separat bis in die Fundation abträgt. Für die Südfassade waren im Zuge der Umnutzung grosszügige Öffnungen geplant. Die bestehenden Bauteile wiesen bereits ausgeprägte Korrosionsschäden auf, sodass die Fassade rückgebaut und durch eine rahmenartige Betonkonstruktion ersetzt wurde.

Das neue Tragwerk wurde auf die Zusatzlasten des Aufbaus Süd ausgelegt. Für den Abtrag der Vertikal­lasten ordnete man neben dem erforderlichen neuen Erschliessungskern zwei senkrecht an die Südfassade anschliessende Wandscheiben und vier durchlaufende Stützen an. Um die gesamten Lasten diesen wenigen vertikalen Traggliedern zuzuführen, bilden die Wohnungstrennwände im Aufbau Süd ein räumliches Scheibentragsystem. An der Ost- und Westseite des Aufbaus bildete man tragende, zur Begrenzung der Verformung vorgespannte Brüstungen aus. Entlang der Nordfassade wurde eine rahmenartig gestaltete Abfangscheibe platziert.

Die aus den im Grundriss abgewinkelten Wandscheiben resultierenden Horizontalkräfte sind über die Geschossdecken kurzgeschlossen. Zur Aufnahme der entsprechenden Zugkräfte ist die Decke über dem 6. Obergeschoss in Längsrichtung mit einer Vorspannung versehen.

Die das Werkstattgebäude durchdringenden, zur Fundation geführten Stützen werden auf Höhe der Decken nur in Horizontalrichtung gegen Knicken gehalten. Eine verschiebliche Lagerung verhindert die Übertragung von Vertikalkräften aus den bestehenden Decken. Eine Durchstanzbeanspruchung der bestehenden Decken konnte somit wirksam verhindert werden.

Dialog der Generationen

Im Planungsteam wurde ein gangbarer Weg zwischen den erhöhten Bedürfnissen an das bestehende Bauwerk und dem schonenden Umgang mit seiner Substanz gefunden. Ebenso wichtig war der «virtuelle Dialog» mit dem damaligen Ingenieurbüro Schubert & Schwarzenbach, der auf dem Studium der nachgelassenen Schalungs- und Bewehrungspläne basierte. Ohne die sorgfältige Auseinandersetzung mit diesen Zeitdokumenten und den damals gültigen Normen wäre ein solcher Eingriff in den Bestand kaum realisierbar gewesen.

TEC21, Fr., 2017.12.08



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TEC21 2017|49-50 Schlotterbeck-Areal Zürich

06. Oktober 2017Thomas Ekwall
TEC21

Raumüberspannende Membranen

Stoffe sind eine wesentliche Inspirationsquelle für die Leichtbauweise. Dank dem Einsatz synthetischer Folien lassen sich ihre Eigenschaften in raumbildende Tragwerke übertragen – allerdings nur bedingt. Wenn Stoff jedoch als Metapher aufgegriffen wird und andere Materialien zum Einsatz kommen, öffnen sich ungeahnte Möglichkeiten.

Stoffe sind eine wesentliche Inspirationsquelle für die Leichtbauweise. Dank dem Einsatz synthetischer Folien lassen sich ihre Eigenschaften in raumbildende Tragwerke übertragen – allerdings nur bedingt. Wenn Stoff jedoch als Metapher aufgegriffen wird und andere Materialien zum Einsatz kommen, öffnen sich ungeahnte Möglichkeiten.

Beim Bauen mit Stoff schwebt dem Bauingenieur in der Regel ein Mem­bran­tragwerk vor – eine druck- und biegeweiche Fläche, die reine Zug­kräfte überträgt. Darin enthalten ist das Versprechen absoluter Effizienz: Schliesslich weiss er, dass ein solches Bauteil aus Glasfaser, würde man es aufhängen, 133 km hoch sein müsste, bevor es unter seinem Eigengewicht auf Zug versagen würde (die sog. Reisslänge). Andererseits befürchtet er, dass die Membran instabil oder dynamisch erregt wird, sobald diese Tragwirkung unter ungünstig wirkenden Lasten nicht mehr aktiviert werden kann.

Der breite Einsatz von Stoffen für Membrantragwerke setzt deshalb ihre Formstabilität voraus, einen Zustand permanenter Zugspannung, der trotz unterschiedlich gerichteten Beanspruchungen wie Schnee oder Windsog gewährleistet bleibt. Dieser Zustand lässt sich nur über Vorspannung mit Hilfsmitteln künstlich erzeugen, da die stabilisierenden ständigen Einwirkungen einer Folie  –  etwa ihr geringes Eigen­gewicht  –  vernachlässigbar sind. Das Hilfsmittel kann Luftdruck senkrecht zum Stoff sein, wie bei den pneumatischen Tragwerken, oder vorgespannte Seile, die punktuell oder linienförmig am Stoff ziehen.

Statt sich mit den Tücken von Textilien auseinanderzusetzen, lassen sich manche Architekten und Ingenieure eher von den raumbildenden Qualitäten des Stoffs inspirieren als vom Material selber. Sie übersetzen die Effizienz von Membrantragwerken in andere Baustoffe und können die Probleme der Formstabilität so raffiniert umgehen.

Hochwertig konfektioniert

Im Bauwesen war der Einsatz von Stoffen lange Zeit eingeschränkt. Membranen pflanzlichen oder tierischen Ursprungs sind witterungs- oder lichtempfindlich. Wegen ihres Kriechverhaltens und der geringen Zugfestigkeit lässt sich keine dauerhafte Vorspannung einbringen, die ihre Formstabilität gewährleisten würde. So bilden die ursprünglichen Stofftragwerke – Baldachine und Zeltblachen – eine schlaffe Haut, die regelmässig durch eine Unterkonstruktion abgestützt werden muss und unter Wind gelegentlich ins Flattern kommt.

Ausschlaggebend für den Durchbruch der raumbildenden Tragwerke aus Stoff war die Entwicklung der synthetischen Folien ab Ende der 1960er-Jahre. Im Bauwesen bestehen diese in der Regel aus einem Gewebe (Polymer- oder Glasfaser), das mit einer Haut aus Plasto­meren (PVC, ETFE, PTFE) beschichtet wird. Während das Gewebe der Folie ihre Festigkeit und Elastizität verleiht, stellt die Beschichtung eine wasser- und schmutz­abweisende, UV-beständige Schicht dar, die eine Lebens­dauer von 20 bis 50 Jahren ermöglicht. Noch wichtiger: Die leistungsfähigen Folien können mit Vorspannverfahren kombiniert werden, um dauerhafte, formstabile Tragwerke mit grösseren Spannweiten zu bilden.

Nach 50 Jahren reger Bautätigkeit hat sich um diese Prinzipien eine eindrucksvolle Grammatik der Form- und Raumsprache entwickelt. Allerdings bleibt das Formenvokabular auf die antiklastisch und synklastisch gespannten Flächen beschränkt, die sich auch noch selten miteinander kombinieren lassen.

Antiklastisch gezerrt

Bei den antiklastischen, gegensinnig gekrümmten ­Flächen befindet sich jeder Punkt der Membrane auf der Kreuzung einer konkaven und einer konvexen Haupt­achse. Solche Flächen sind besonders formstabil, da sämtliche Auslenkungen aus der Ebene Zugspan­nungen in einer der Hauptachsen verursachen. Die Vor­spannung wird vorzugsweise in der Ebene durch eingenähte Randseile erzeugt. Antiklas­tische Flächen können aneinandergereiht werden und Öffnungen integrieren, indem Rahmenbedingungen wie Maste, Ring­auflager, Kehl- und Gratseile hinzugefügt werden. Auf diese Weise wurde eine Vielzahl unterschiedlicher Grundrisse mit beachtlichen Weiten überspannt.

Synklastisch aufgeblasen

Bei den synklastischen, gleichsinnig gekrümmten Flächen befindet sich jeder Punkt der Membran auf der Kreuzung zweier konvexer Hauptachsen. Das Gleichgewicht solcher Flächen wird nicht durch Vorspannung in der Ebene erreicht, sondern durch Kräfte gewährleistet, die nach aussen gerichtet den Membranzug aktivieren. Das ist das Prinzip von pneumatischen Konstruktionen, bei denen Form und Stabilität durch einen permanenten Überdruck im Innenraum erzeugt werden, der von entgegengerichteten Kräften wie etwa Schneedruck nie getilgt werden darf.

Die Grösse dieses Innenraums reicht von der wenige Quadratmeter grossen Zelle eines ETFE-Kissens bis hin zur Traglufthalle, die ein Fussballfeld umfasst. Um grössere Spannweiten bei gleichbleibender Höhe zu ermöglichen, müssen die Krümmungsradien der Membran klein gehalten werden. Der Pneu wird dann in kleinere Felder mit geringeren Krümmungsradien unterteilt. Dies kann punktuell durch im Boden verankerte Zugseile mit Pilzkopf erfolgen oder linear mittels gespannten Kehlseilen in der Membran­ebene. So entstehen auch mit synklastisch geformten Flächen unterschiedliche raumbildende Tragwerke.

Das Tabu des Faltens

Die bisher dargestellten Ansätze setzen die Formstabilität als statische Rahmenbedingung voraus und wagen daher nicht von der straff gespannten Haut abzuweichen. Das Falten, Raffen und Knittern mag in der Haute Couture seinen Reiz haben, doch bei den raumbildenden Tragwerken aus Stoff wird es mit allen Mitteln vermieden: Schlaffe Bereiche, dynamische Schwingungen, grosse Verformungen, gar Kollaps wären die Folgen solcher Eskapaden. Leider sind Faltungen eine Rand­erscheinung beim Bauen mit selbsttragenden Stoffen: Man sieht sie nur im Montagezustand oder während sich Schirmdächer und Velakonstruktionen entfalten. Sobald sie ausgewickelt werden und funktionstüchtig sein müssen, nehmen sie ihre charakteristische, gespannte Form an.

Netzstrümpfe aus Stahl

Es gibt jedoch Auswege aus dem Formenkorsett, das dem Prinzip der Formstabilität durch Vorspannung innewohnt. Wenn der Stoff auf seine tragende Eigenschaft als Membran reduziert wird – also dem Prinzip der Leichtbauweise treu bleibt, jedoch mit anderen ­Materialien umgesetzt wird –, dann öffnen sich ungeahnte räumliche Möglichkeiten, und es entstehen überraschende Tragwerke.

Am naheliegendsten sind die Seilnetzkonstruktionen, die direkt mit den Stoffkonstruktionen verwandt sind. Das Geflecht aus gebündelten Stahllitzen wirkt statisch als Membran. Statt des Gewebes aus Schuss- und Kettfäden werden isometrische, grobmaschige Netze mit drehweichen Knoten konstruiert. Ein wesentlicher Vorteil gegenüber dem Gewebe, denn dank der freien Verzerrung von rechteckigen Maschen zu Rauten lassen sich ebene Seilnetze ohne Zuschnitt zu zweifach gekrümmten Flächen formen. Dank der Ausführung in Stahl können deutlich grössere Spannweiten umgesetzt werden.

Mit dem Institutspavillon in Stuttgart (1966) schaffte der Architekt Frei Otto den Übergang vom tragenden Stoff zum Seilnetz. Beim Pavillon in Montreal (1967) dienten ihm Folien noch als aufgehängte, sekundäre Bauteile. Beim Dach des Münchner ­Olympiastadions (1972), das Frei Otto zusammen mit dem Ingenieur Fritz Leonhardt errichtete, wurde die Hülle gänzlich mit Acrylglaspaneelen bedeckt und optisch entmaterialisiert.

Das moderne Zeltdach kommt also ohne Stoff aus, kann die Verwandtschaft mit ihm aber nicht leugnen. An dieser Stelle sei auch auf die Vorgänger der Seilnetze aus Eisen hingewiesen. Für eine Ausstellung in Nischni Nowgorod errichtete der Ingenieur Vladimir Schuchow 1896 eine Rotunde mit einem ringförmigen Hängedach aus kreuzweise verlaufenden, zusammengenieteten Bandeisen. Leider hat dieses Bauwerk die Zeit nicht überdauert.

Baldachine aus Beton

In den 1960er-Jahren entstanden statisch und formal überzeugende Hängedächer aus Spannbeton. Hier ist insbesondere das Dach des Theaters Basel zu erwähnen: Der Ingenieur Heinz Hossdorf und die Architekten Schwarz und Gutmann suchten eine explizite Analogie zum Baldachin (vgl. TEC21 43/2014 und %%gallerylink:31394:Abb.%%). Mit dem plastisch formbaren Material Beton erlaubten sie sich sogar Faltungen der stark ­beanspruchten Membran, die in Oberlichtern an der Fassade mündeten.

Aus statischer Sicht waren die ­Faltungen heikel, da sich die Zugkräfte tendenziell in den verti­kalen Betonscheiben konzentrieren und sich schlaffe Bereiche im Hängedach bilden – wie zwischen punk­tuell gehaltenen, gespannten Stoffen. So wird die ­dünne Betonplatte örtlich auf Biegung beansprucht, der sie nur bedingt standhalten kann. Solche formale Abweichungen vom reinen Hängedach bleiben bis ­ heute eine Randerscheinung.

Reiz der Metapher

Der 1998 errichtete Pavillon von Ingenieur Cecil Balmond und Architekt Álvaro Siza in Lissabon zeigt eindrücklich, wie der Spannbeton durch metaphorische Annäherung das Wesen des Stoffs sublimieren kann: Ein solches Hängedach könnte aus dynamischen Gründen nie aus Stoff erstellt werden. Dass hier aber ein Material zum Einsatz kommt, das weder leicht noch in sich zugfest ist, widerspricht unserer Intuition. Zudem wird das Prinzip der formstabilisierende Vorspannung neu interpretiert: Statt Zug- wird dem Beton eine künstliche Druckkraft zugefügt, weil eine überdrückte Betonplatte biegesteif ist und Zugkräfte aufnehmen kann.

Die Masse des Materials wirkt sich vorteilhaft aus, da sein Eigengewicht nie von abhebenden Kräften wie etwa Windsog übertroffen wird. Auf die zusätzliche Vorspannung durch antiklastische Formgebung kann hier verzichtet werden. So gelingt dem schlichten Baldachin ein beachtlicher Massstabssprung, ohne dass er die Poesie seiner ursprünglichen Form verliert.

Stoff in der Form von synthetischen Folien hat einen eigenen Platz als raumbildendes Tragwerk in der gebauten Umwelt eingenommen. Die stofflichen Eigenschaften und der Massstabssprung vom Kleid zum Bauwerk lassen sich aber auch mit anderen Materialien bewältigen – wenn nicht gar besser.


Weiterführende Literatur:
Michael Seidel: Textile Hüllen. Bauen mit biegeweichen Tragelementen. Berlin 2008.
Diether S. Hoppe: Freigespannte textile Membrankonstruktionen. Wien 2007.
Walter Scheiffele et al.: Das leichte Haus. Utopie und Realität der Membranarchitektur. Dessau 2015.
Winfried Nerdinger et al.: Frei Otto. Das Gesamtwerk: Leicht bauen – natürlich gestalten. Basel 2005.

TEC21, Fr., 2017.10.06



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30. September 2016Thomas Ekwall
TEC21

«Filigrane Stützmauern sind passé»

Wie wirkt sich das neue Gefährdungsbild auf den Unterhalt bestehender Winkelstützmauern aus? Gehören sie zu den Bausünden der Vergangenheit? Der Leiter der Astra-Fachgruppe Geotechnik gibt Auskunft.

Wie wirkt sich das neue Gefährdungsbild auf den Unterhalt bestehender Winkelstützmauern aus? Gehören sie zu den Bausünden der Vergangenheit? Der Leiter der Astra-Fachgruppe Geotechnik gibt Auskunft.

TEC21: Herr Fonyo, die Erkenntnisse aus den neuesten Untersuchungen von Winkelstützmauern klingen alarmierend (vgl. «Zerstören, um zu verstehen»). Wie gehen Sie nun mit solchen Bauwerken um?

Balazs Fonyo: Man sollte aus den Ergebnissen der A5 und A9 und den dort festgestellten Ausführungsmängeln nicht gleich Rückschlüsse auf sämtliche Bauwerke ziehen und die Situation schwarzmalen. Dennoch sind diese nicht zu verniedlichen: Knapp dimensionierte Winkelstützmauern mit bedeutender Korrosion der erdseitigen Biegebewehrung am Wandfuss müssen verstärkt werden.

TEC21: Hat das Astra die kritischen Winkelstützmauern identifizieren können?

Balazs Fonyo: Wir sind dran. Die Tragsicherheit von verankerten Mauern und Winkelstützmauern, die Bestandteil von Unterhaltsprojekten der Nationalstrassen (UPlaNS) sind, ist gut dokumentiert. Die Inventarisierung der Stützwände ausserhalb der UPlaNS wird bis 2018 abgeschlossen sein. Der Korrosionsgrad ist ohne aufwendige Untersuchungen schwierig einzuschätzen, weil die relevante Bewehrung bergseitig liegt und unsichtbar bleibt.

TEC21: In den letzten Jahren haben Sie vorsorgliche Verstärkungsmassnahmen an verankerten Bauwerken ausgeführt. Werden Sie es auch für einzelne Winkelstützmauern tun?

Balazs Fonyo: Bei den mit Stabankern verankerten Wänden hatten wir mit einer Sprödbruchgefahr zu tun, weshalb wir teilweise mit vorgezogenen Massnahmen (VoMa) reagieren mussten. Bei den meisten Objekten, so auch bei den Winkelstützmauern, interveniert das Astra jeweils im Rahmen der UPlaNS-Projekte.

TEC21: Hat es je einen Versagenfall einer Winkelstützmauer infolge von Korrosion am Wandfuss gegeben? Wird dieses Phänomen auch über die Landesgrenzen hinaus fachlich diskutiert?

Balazs Fonyo: Bei den Nationalstrassen in der Schweiz gab es zum Glück keinen solchen Fall. Das Astra unternimmt sehr viel, damit es nicht zu einem Kollaps kommt. Gleichzeitig beobachten wir aufmerksam, was im Ausland passiert. Wir wissen von einem Einsturz in Österreich – die Stützmauer Schönberg an der Brennerautobahn – mit tragischer Konsequenz. Auf unsere Anfrage hin und nach dem fachlichen Austausch mit der zuständigen Fachbehörde zeigte sich jedoch, dass die Korrosion nicht Auslöser des Kollapses war.

TEC21: Dank Risikoanalysen werden die baulichen Inter­ventionen priorisiert. Wie sind die Begriffe «Eintrittswahrscheinlichkeit» und «Gefährdungspotenzial» zu verstehen, die das Risiko definieren?

Balazs Fonyo: Das Gefährdungspotenzial einer Mauer hängt einerseits von ihrer Höhe und ihre Nähe zur Fahrbahn ab, andererseits von der Belegung der Strasse, die als durchschnittlicher täglicher Verkehr (DTV) angegeben wird. Die Wahrscheinlichkeit eines Kollapses hängt von vielen Parametern ab, etwa von der inneren Tragsicherheit des Bauwerks mit ihren Tragreserven, versteckten geotechnischen Reserven, einer funktionstüchtigen Drainage und dem Trag­verhalten in Längsrichtung.

TEC21: Das Gefährdungspotenzial scheint einfach zu erfassen. Wie ermitteln Sie aber die Eintrittswahrscheinlichkeit, wenn der Korrosionsgrad unbekannt ist und ein solches Ereignis nie stattgefunden hat?

Balazs Fonyo: Das ist ein komplexes Thema. An einzelnen Bauwerken werden in der Regel destruktive Untersuchungen ausgeführt. Allerdings sind sie aufwendig und machen bis 10 % des Wiederbeschaffungswerts des Bauwerks aus. Sinnvoll wäre ein Wert zwischen 3 % und 5 %. Eine allgemeingültige Methodik der Risikoanalyse muss noch erarbeitet werden, was zurzeit Gegenstand der Forschung ist. Als erster Schritt planen wir ein neues Merkblatt zur Erhaltung von Winkelstützmauern, das anfangs 2017 publiziert werden sollte.

TEC21: Können die Winkelstützmauern also aus finanziellen Gründen nicht systematisch überprüft werden?

Balazs Fonyo: Destruktive Untersuchungen betreffen vor allem Winkelstützmauern der hohen Gefährdungsklasse, die zu knappe Tragreserven aufweisen und wo eine Korrosion vermutet wird. Zur hohen Gefährdungsklasse gehören schätzungsweise 500 Bauwerke in unserem Inventar. Alternativ besteht die Möglichkeit, bestehende Mauern präventiv zu verstärken, beispielsweise mit Ankern. Bei Mauern bis etwa 6 m Höhe wird diese Möglichkeit interessant, weil eine solche Massnahme nur ca. zwei- bis dreimal teurer ist als eine destruktive Untersuchung. In solchen Fällen sollte man das Geld lieber gleich in präventive bauliche Massnahmen investieren statt in Untersuchungen, die allein betrachtet keine Erhöhung der Sicherheit mit sich bringen. Bei höheren Mauern sieht das Kostenverhältnis anders aus, hier werden Untersuchungen meistens unumgänglich.

TEC21: An der A5 und A9 wurden 150 Millionen Franken an baulichen Massnahmen für knapp 40 Bauwerke investiert. Für die 500 kritischen Bauwerke reden wir also von Bausummen über einer Milliarde Franken?

Balazs Fonyo: Man darf diese Kosten nicht linear extrapolieren, weil die Mauern an der A9 vielfach über 10 m hoch sind. Doch wir rechnen mit Baukosten von 50 bis 60 Millionen Franken pro Jahr, was etwa 5 % des Unterhaltsbudgets des gesamten Strassennetzes der Astra entspricht. Innerhalb der nächsten 15 Jahre werden wir so rund 800 Millionen Franken in die Erhaltung investieren. Diese Zahl umfasst die Gesamt­investitionskosten für alle Stützmauern, verankerte und nicht verankerte Mauern, inklusive Instandsetzung und Verstärkung. Die Erhaltung von Stützmauern wird in Zukunft definitiv stärker in den Fokus rücken.

TEC21: Werden neue Winkelstützmauern infolge dieser Erkenntnisse anders konstruiert als bisher?

Balazs Fonyo: Ja. Anfang 2016 wurden die geltenden Neubauvorschriften des Fachhandbuchs aktualisiert. Konstruktive Regeln sollen den Übergang Wand–Fundament besser schützen: Kiesnester sind mit einer Mörtelvorlage zu vermeiden und Arbeitsfugen sind beidseitig mit einem Abdichtungsband abzukleben. Eine Mindestüberdeckung der Bewehrung von 55 mm wird verlangt. Zudem empfehle ich die Erhöhung der Arbeitsfuge um mindestens 10 cm durch eine sogenannte Kickerschalung, damit das Salzwasser von der Strasse nicht einfach in die kritischen Stellen eindringen kann. Eine Chromstahlausführung der kritischen Bewehrung im Bereich der Arbeitsfuge ist eine weitere Vorkehrung, die wir bei hohen Mauern auch schon getroffen haben. Bereits seit 2012 wenden wir solche Massnahmen an.

TEC21: Haben sämtliche Winkelstützmauern, die vor 2012 erstellt wurden, eine Schwachstelle am Wandfuss?

Balazs Fonyo: Eine Verallgemeinerung ist schwierig, doch die grosse Mehrheit unserer Mauern wurde zu einer Zeit gebaut, in der man möglicherweise zu wenig auf diese kritische Stelle geachtet hat.

TEC21: Gehören die Winkelstützmauern zu den Bausünden der Vergangenheit? Sollten nun andere Stützmauertypen in Betracht gezogen werden?

Balazs Fonyo: Diese Formulierung scheint mir übertrieben, hingegen gelten die nicht ausgebesserten Kiesnester als Bausünde. Wir müssen zur Einsicht kommen, dass Winkelstützmauern aus den 1960er- und 1970er-Jahren die angedachte Nutzungsdauer von 100 Jahren ohne Verstärkung nicht erreichen werden. Ich möchte aber festhalten, dass es weiterhin möglich ist, dauerhafte Winkelstützmauern zu erstellen. Ein gangbarer Weg wäre eine robustere Bauweise zwischen Winkelstützmauern und Schwergewichtsmauern. Auch alternative Bauweisen wie geokunststoffbewehrte Stützkonstruktionen sollten wir künftig öfter in Betracht ziehen. Dilatierte, filigrane Winkelstützmauern sind hingegen definitiv passé.

TEC21, Fr., 2016.09.30



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TEC21 2016|40 Stützmauern: die Erblast der Boomjahre

29. Juli 2016Thomas Ekwall
TEC21

Präziser Bogenschluss

Bauunternehmer sind auf ihrem Gebiet ebenso grosse Entwerfer wie die planenden Ingenieure. Dank einer Unternehmervariante konnte die Arbeitsgemeinschaft Taminabrücke ein Jahr Bauzeit einsparen und mit grosser Sorgfalt den weichen Bogen im Freivorbau umsetzen.

Bauunternehmer sind auf ihrem Gebiet ebenso grosse Entwerfer wie die planenden Ingenieure. Dank einer Unternehmervariante konnte die Arbeitsgemeinschaft Taminabrücke ein Jahr Bauzeit einsparen und mit grosser Sorgfalt den weichen Bogen im Freivorbau umsetzen.

Bei der Ausschreibung der Baumeisterarbeiten der Taminabrücke war das Herstellungskonzept des Tragwerksplaners beigelegt. Es blieb den bietenden Unternehmern jedoch freigestellt, alternative Bauverfahren vorzuschlagen und sich dadurch gegenüber den Mitbewerbern hervorzuheben. Ende 2012 bekam die ARGE Taminabrücke, bestehend aus den Aktiengesellschaften Strabag, J. Erni und Meisterbau, den Zuschlag. Dies war im Wesentlichen ihrem modifizierten Bauablauf zu verdanken, der bei gleichwertiger Wirtschaftlichkeit die Bauzeit von fünf auf vier Jahre verkürzte.

Das neue Bauverfahren sah vor, den Bogen im Freivorbau mit Hilfsabspannungen herzustellen, allerdings standen die Hilfspylone auf den Bogenkämpfern statt auf der Vorlandbrücke. Die Haltekabel spannten den Bogen in kleineren Intervallen als ursprünglich vorgesehen ab. Anstelle einer konzentrierten Kraftumleitung über einen einzigen Querträgerpylon wurden die Kabelkräfte auf mehrere Querträger- und Rückhalte­kabelebenen aufgeteilt und in den Baugrund eingeleitet. Sie stellten das Überbaugerüst direkt auf den Bogen, anstatt die Freivorbaueinrichtung des Bogens wiederzuverwenden.

Die Argumente der Bauunternehmer leuchten ein: Statt einer seriellen Baureihenfolge Vorlandbrücke–Hilfspylon–Bogen erfolgten die Bauarbeiten möglichst parallel zueinander, indem die Hilfspylone beiderseits der Kämpferfundamente statt auf die Vorland­brücke gesetzt wurden. Die Hilfspylone wurden montiert, während die Vorlandbrücke geschalt und armiert wurde. Je ­weiter der Freivorbauwagen des Bogens über dem Tal voranschritt, desto höher ragten die Hilfspylone und die Querträger, die die Halte- und Rückhaltekabel miteinander koppelten.
Flexible Abläufe, standardisierte Gerüste

Die Bauunternehmer wollten das Gerüst mit möglichst wenigen Sonderanfertigungen bestücken, weil diese teuer sind und mit Unsicherheiten bei den Lieferfristen einhergehen. Gemeint ist insbesondere der Druckstempel, der die horizontalen Kräfte der Rückhaltekabel und der schrägen Kämpferpfeiler kurzgeschlossen hätte. Stattdessen nutzten die Unternehmer den ausgezeichneten Baugrund, um die Rückhaltekabel direkt mit kleineren Kräften und standardisierten Konstruktionsdetails im Fels zu verankern.

«Mit unserem Konzept wollten wir in erster Linie auf den Druckstempel verzichten, eine aufwendige Einzelanfertigung, die bis zu 135 MN standhalten musste. Unser Pylon auf dem ­Kämpfer ist zwar höher, dafür aber weitestgehend mit Standardmaterial hergestellt», erklärt Gerald Greunz, Projektleiter der Bauarbeiten bei Strabag.

Im Sinn der Wirtschaftlichkeit suchten die Unternehmer nach Alternativen zum eher kostspieligen Freivorbaugerüst, um den Überbau herzustellen. Bei einer genaueren Untersuchung erkannten sie, dass diese Methode insbesondere im Scheitelbereich, wo Überbau und Bogen miteinander verschmelzen, nicht geeignet war. Vor allem kamen sie zum Schluss, dass der Bogen zu dem Zeitpunkt schon ausreichend stabil war: Wieso dann nicht ein konventionelles Traggerüst darauf abstellen und die Freivorbaugerüste gleich nach dem Bogenschluss abbauen?

Daraus resultierten weitere Vorteile, wie etwa ein leichteres Hilfsgerüst: «Für den Bogen waren ursprünglich vier auskragende Betonier­etappen vorgesehen, bis die nächsten Kabel eingehängt gewesen wären. Durch den Wegfall der Überbauarbeiten kamen solche Kräfte im aktualisierten Bauablauf nicht mehr vor. Entsprechend war es für den Unternehmer effizienter, die Auskragung durch eine doppelte Anzahl an Hilfskabeln zu halbieren, die somit kleiner wurden und mit Standardankern einzeln im Baugrund verankert werden konnten», erläutert Daniel Ziegler, Chefbauleiter der Ausführung bei dsp Ingenieure & Planer.

Dank dem konventionellen Traggerüst konnten die Unternehmer den Überbau schneller und wirtschaft­licher ausführen: «Anstatt der 5 m langen Freivorbau­etappen im Wochentakt konnten wir 30 m bis 40 m lange Etappen am Stück herstellen – eine wesentliche Effizienzsteigerung», betont Gabriel Derungs, Baustellenchef der Bauarbeiten bei J. Erni. Die geringe Anzahl an Arbeitsfugen in Längsrichtung wirkt sich zudem positiv auf die Dauerhaftigkeit des Bauwerks aus.

Beim Baugerüst kamen nur Standardprodukte zum Einsatz, mit Ausnahme der aus geschweissten Blechen zusammengesetzten Pylonquerträger. An diese Träger sind sämtliche Haltekabel samt Pressen mit unterschiedlichen Neigungen und Kabelkräften von bis zu 2.2 MN angeschlossen. Insgesamt wurden die Baugerüste etwa gleich teuer ausgeführt wie ausgeschrieben, doch die Bauzeit konnte verkürzt werden. Die einfachere Ausführung der Gerüstbauteile mit geringem Sonderanfertigungsgrad war angesichts der schwie­rigen Baustellenzufahrt ein Vorteil.
Betonieren, vorschieben, wieder aufrichten

Die ausserordentliche Weichheit des Stahlbetonbogens während des Freivorbaus war die grösste Herausfor­derung der Baustelle. Vorsicht war geboten, denn ein Versagen der Abspannung während dieser Bauphasen hätte zum Einsturz der Bogensegmente hinunter ins Tal geführt. Greunz bringt es mit Zahlen auf den Punkt: «Im Maximalfall senkte sich die Bogenspitze während des Betonierens um ca. 70 cm. Beim Vorschieben des Freivorbauwagens kamen nochmals 30 cm hinzu. Erst nach Fertigstellung der Etappe zogen wir mit den neuen Halte­kabeln den Bogen wieder 100 cm hoch. Zwischen zwei Spannvorgängen wich die Hilfspylonspitze bis 35 cm aus der Senkrechten.»

Solche hohen Verformungen werden immerhin von ­berechenbaren Lasten verursacht. Veränderliche Einwirkungen wie Wind, ­Sonneneinstrahlung und Betonkriechen sind schwerer erfassbar und machten Verformungen in der Grössen­ordnung von 10 cm aus. Deshalb wurde – wie im Freivorbau üblich – die Nullmessung des Bogens immer frühmorgens ausgeführt. Am Ende eines Arbeitsschritts wurde die Bogenspitze gemäss einem relativen Ko­or­di­na­ten­system wieder ausgerichtet, um die Differenzen zur Nullmessung auszugleichen.

Die Windböen durch das Tal erreichten nicht selten 120 km/h und führten einmal dazu, dass eine Betonieretappe verschoben werden musste. Bei Windgeschwindigkeiten über 70 km/h durften weder der Freivorbauwagen vorgeschoben werden noch die Schalungselementen versetzt werden. «Problematischer als der Wind war der Nebel. Wenn man die Bogenspitze nicht mehr sieht, kann man auch nichts messen!», stellt Fritz Striebel, der örtliche Bauleiter bei Leonhardt, ­Andrä und Partner fest.

«Das Spannen geschah minutiös in 20 bis 30 Schritten. Es wurde zwar messtechnisch überwacht, doch die Verformungen des Bogens und des Hilfspylons mussten wir immer im Auge haben.» Angesichts all dieser Umstände mag es erstaunen, dass sich die zwei Bogenhälften vor dem Bogen­schluss quasi planmässig getroffen haben: Die Valenser Seite stimmte auf den Zentimeter, während die Pfäferser Seite nur 5 cm höher als die Solllage war – beeindruckend für eine Halbbogenlänge von 130 m.

Für den Bogenschluss wurden die Rückhaltekabel Seite Pfäfers leicht entspannt, somit der Pylonkopf um 3 cm Richtung Tal gesenkt und beide Freivorbauwagen mit Pressen angeglichen. Der Bogenschluss am 28. März 2015 konnte feierlich zelebriert werden.

TEC21, Fr., 2016.07.29



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TEC21 2016|31-32 Im hohen Bogen über die Taminaschlucht

10. Juni 2016Thomas Ekwall
TEC21

Am Mythos weitergebaut

Für Marseille entwarfen SCAU Architekten mit den Ingenieuren von Elioth/Egis Concept eine 280 m weit gespannte Gitterschale – sie wurde unter laufendem Spielbetrieb des Heimklubs errichtet und überdacht das bestehende Stadion mit wenigen Stützpunkten.

Für Marseille entwarfen SCAU Architekten mit den Ingenieuren von Elioth/Egis Concept eine 280 m weit gespannte Gitterschale – sie wurde unter laufendem Spielbetrieb des Heimklubs errichtet und überdacht das bestehende Stadion mit wenigen Stützpunkten.

Während andere Städte mit ihren Sta­dien die Innenstadt verlassen und neue Sportpaläste in die Agglomeration verpflanzen, baut Marseille an seiner Geschichte weiter. Die Architekten von SCAU (vgl. Interview S. 35) erweiterten und überdachten das bestehende Vélodrome, das nunmehr mit 67 000 Zuschauerplätzen als zweitgrösstes Stadion Frankreichs – hinter dem Stade de France in Saint-Denis – rangiert (vgl. Kasten S. 41). Weil der Stadt der Umbau zu teuer war und zeitgenössische Stadionbauten sich ohne Mantelnutzungen kaum noch rentieren, ging sie eine Public-Private Partnership (PPP) mit dem Projektentwickler Arema ein, der sich in einem Wettbewerbsverfahren gegen die Teams der Totalunternehmer Eiffage und Vinci durchsetzen konnte. Für 267 Mio. Euro baute Arema das Stadion und das angrenzende Ökoquartier (Abb. S. 33) mit 100 000 m² Nutzfläche an Wohnungen, Büros, Hotels und Geschäften. Im Gegenzug zahlt die Stadt während 30 Jahren 12 Mio. Euro Jahresmiete, bis sie das Stadion übernehmen darf – eine mittlerweile übliche Übereinkunft für solche Grossüberbauungen in Frankreich.

Ein Dach gegen Erkältungen

Neben den Eingriffen in die bestehende Anlage (Abb. S.33) kann die neue Überdachung als architektonischer Abschluss einer bewegten Geschichte von Umbauten gesehen werden. Ursprünglich für die Fussball-WM 1938 gebaut, war das Vélodrome für 30 000 Plätze dimensioniert, mit zwei Vordächern auf den Langseiten. Als 1985 die Tribünen erweitert wurden, fiel die namengebende Radrennbahn dem zum Opfer.

Beim grossen Umbau für die WM 1998 brach der zuständige Architekt Jean-Pierre Buffi die Symmetrie der Anlage, um diese auf 60 000 Plätze zu erweitern. Er ersetzte und erhöhte den länglichen Jean-Bouin-Flügel, um den zunehmenden Bedarf an VIP-Zonen und Medienräumen unter den Tribünen zu befriedigen, während die kurzen Flügel auf die heutige Höhe aufgestockt wurden.

Doch mit dem Ergebnis gab sich der Heimclub Olympique de Marseille (OM) nicht zufrieden: Nach dem Umbau wehten der Mistral und der Ostwind umso ­stärker durch die Tribü­nen. Der damalige OM-Trainer Roland Courbis nannte das Stadion «l’enrhumeur» (ein Ort, an dem man sich den Schnupfen holt). Erste konkrete Vorschläge für eine Komplettüberdachung wurden 2005 vorgestellt, scheiterten jedoch mangels finanzieller Unterstützung. Dank der Vergabe der EM 2016 an Frankreich konnte diese Vision nun umgesetzt werden.

6000 t auf zwölf Stützen

Das räumliche Fachwerk des Stadiondachs besteht aus 5940 Stäben mit Durchmessern von 30 bis 50 cm. Die Fassadenhaut, die die Oberfläche des Tragwerks überspannt, ist mit Polytetrafluorethylen-(PTFE)-Folien materialisiert, die – im Gegensatz zu den Ethylen-Tetra­fluorethylen-(ETFE)-Folien, die bekanntlich die Fassade der Allianz-Arena in München bestücken – mechanisch statt mit Luftdruck in Form gebracht werden (Abb. S. 32). Das Stahldach ist im Querschnitt als gedrehtes L ausgebildet: Die Fassadenebene, von den Projektautoren «Rock» genannt, folgt als gekrümmtes, 25 m hohes Fachwerk der Form der ondulierten Tribünen. Die Dach­-ebene von variabler Neigung besteht aus 60 radialen Fachwerken, die bis zu 80 m auskragen. Die gesamte 6000 t schwere Konstruktion wird über vier paarweise angeordneten Megastützen mit Durchmessern von 120 cm in den Ecken der Tribünen sowie über acht vertikale Stützen unter dem «Rock» im Aussenbereich abgestützt, ohne dass diese den Blick der Zuschauer auf das Spielfeld beeinträchtigen.

Die Ingenieure setzten die komplexe Geometrie an einem parametrischen Modell um und verknüpften es mit dem statischen Modell, um eine hinsichtlich des Kräfte­verlaufs und der Form optimierte Lösung zu finden.

Der Stahlbau wirkt statisch im Endzustand als Schale ohne Dilatationsfugen. Ein minimaler Abstand von 40 cm zu den Tribünen sichert eine gegenüber dem Bestand statisch unabhängige Konstruktion, auch im Erdbebenfall. Die Schale wirkt grundsätzlich auf zwei Arten: Die Haupttragwirkung entsteht durch Membrankräfte – wegen der unregelmässigen Form bestehen sie aus einem hohen Anteil an Schubkräften, die durch die Verstrebung der Dachebene übernommen werden. Zum anderen sind einhüftige Rahmen, bestehend aus Dach- und Fassadenfachwerken, in der radialen Ebene ausgebildet, die die Lasten auf Biegung tragen. Sie sind vertikal vom «Rock» – der als Durchlaufträger zwischen den vertikalen Stützen verläuft – und horizontal von den geschlossenen Druck- und Zugringen am Rand des Kuppelauges bzw. im «Rock» gehalten. Beide Systeme schliessen die Kräfte derart kurz, dass die Megastützen nur axial beansprucht werden.

Bauablauf parallel zum Spielkalender

Eine grosse Herausforderung des Projekts bestand darin, dass die Spielpläne der Ligue 1 zwischen 2013 und 2015 parallel zu den Bauarbeiten verliefen: Alle 14 Tage sollte das Stadion für die Heimspiele von OM bis zu 42 000 Zuschauern Platz bieten, und jedes Mal mussten die Stahlkonstruktion provisorisch gesichert und der statische Nachweis des Bauzustands (vgl. «Bis zu 20 % überdimensioniert», S. 34) von einer Sicherheitskommission bewilligt werden. Insgesamt wurde die Baustelle 80-mal unterbrochen.

Zu den logistischen Schwierigkeiten kam eine statische Problematik hinzu: Die Haupttragwirkung der Schale konnte im Bauzustand nicht aktiviert ­werden, da das unfertige Kuppelauge keinen geschlossenen Druckring ausbildete. Die erste Montageetappe über der Tribüne Ganay erfolgte zwar während der Sommerpause und konnte einfach gelöst werden, indem die provisorische Abstützung der einhüftigen Rahmen ­an den Spielfeldrand versetzt wurde. Im laufenden ­Betrieb durften jedoch keine provisorischen Spriesse ins Blickfeld der Zuschauer hineinragen. Die elegante Lösung der Bau­ingenieure bestand darin, während ­dieser Bauphase die Kopfpunkte der Megastützen ­mit einem Gerüstturm zu versehen und mittels Zug­bän­dern miteinander zu verbinden. Somit entstand in ­der Schale ein Druckbogen von 280 m Spannweite, der ­die provisorische Abstützung mit Spriessen ersetzte und die Sicht der Zuschauer nicht beeinträchtigte ­(Abb. S. 32 unten).

Der gesamte Stahlbau ist gegen Korrosion ­feuerverzinkt, weshalb keine Schweissungen oder Zuschnitte auf der Baustelle zulässig waren. Die feuerverzinkten Einheiten wurden von der Stahlhütte der Firma Horta Coslada in La Coruña hergestellt und nach Marseille verschifft. Auf der Baustelle fügte die Baufirma die Einheiten zu 200 t schweren Modulen à zwei bis drei Radialträger mit vorgespannten Schrauben zusammen. Der Einhub erfolgte anschliessend im Tandem zweier 1250-t-Raupenkräne mit 70-m-Ausleger, während die Verbindungen mit den Gerüsttürmen und den stehenden Fachwerken des «Rocks» durch die Monteure erfolgten. Diese heikle Montage eines Moduls dauerte zwei Tage und musste bei Windgeschwindigkeiten über 25 km/h eingestellt werden.

Materialsparende Gitterschale

Dank dem umfangreichen Umbau gehört das Vélodrome nun zu den «Elite»-Stadien im Uefa-Ranking. Eine vielschichtige Bauaufgabe wurde mit klaren architektonischen und statischen Konzepten umgesetzt.

Entscheidend für den Gewinn des anfangs erwähnten Totalunternehmerwettbewerbs war die Wirtschaftlichkeit des Schalentragwerks: Im Vergleich dazu wäre die konventionelle Überdachung mit Balkenrost eines Mitbewerbers nur mit 30 % höherem Stahlvolumen zu bewältigen gewesen. Gewiss stieg die Komplexität der Geometrie, der Statik und der Herstellung des Stadiondachs, doch die klugen Entscheide der Planer und die CAD-Werkzeuge von heute machen solche Projekte möglich und in diesem Fall wünschenswert.

Thomas Ekwall, Redaktor Bauingenieurwesen


Bis zu 20% überdimensioniert

Die Stahlbauteile des Tragwerks sind in manchen Bereichen verstärkt worden, um den Bauzustand zu berücksichtigen: Solange das Kuppelauge keinen Druckring ausbilden konnte, war das Dach für Abhebekräfte infolge Windböen anfällig, die nicht selten 120 km/h erreichen.

Die Intensität der Windlasten und die dynamischen Einwirkungen konnten wegen der komplexen Dachform nur unzureichend mit Normwerten abgedeckt werden; das Centre Scientifique et Technique du Bâtiment (CSTB) unternahm daher Windkanalversuche an physischen Modellen. In der Entwurfsphase wurden die vom Bauunternehmer geschätzten vier entscheidenden Bauphasen im Massstab 1 : 250 modelliert und unterschiedlichen Wind­richtungen ausgesetzt, um eine erste Annäherung des Winddrucks und -sogs auf der Hülle abzulesen und in das statische Modell einzuspeisen. Zur Modellierung gehörte auch die unmittelbare Umgebung, um den verstärkenden Venturi-Effekt der Nachbarbauten zu berücksichtigen. Die zweite Messkampagne fand in der Ausführungsplanung statt, als die endgültigen Bauphasen bekannt waren.

Insgesamt 15 Versuche bis hin zum Massstab 1 : 80 wurden durchgeführt. Dabei gewannen die Ingenieure wichtige Hinweise bezüglich der Randeinwirkungen, des Über- und Unterdrucks auf der Hülle sowie der dynamischen Einwirkungen wie Schwingungen.

Synergien im Energiekreislauf

Unter dem Vélodrome befindet sich die grösste Abwasserreinigungsanlage Europas. Diese wurde in den Energiekreislauf des Stadions eingebunden: Das behandelte Wasser hat konstante Temperaturen zwischen 12 und 16 °C, die sich für Kühlung im Sommer und Heizung im Winter eignen. Der Kalorienaustauch erfolgt mittels reversibler Wärmepumpen.

Diese Lösung ist günstiger als eine konventionelle Geothermie und reduziert den Primärenergieverbrauch um 50 % gegenüber einer Gaslösung.


«Wir stehen zu diesem plastischen Tanz»

TEC21: Im Gegensatz zu den am Stadtrand von Bordeaux, Nizza, Lille und Lyon erstellten EM-Stadien haben Sie ein bestehendes Stadion erweitert. Wie sind Sie als Architekten an die Aufgabe herangegangen?
Maxime Barbier: Die Stadt Marseille identifiziert sich sehr stark mit ihrem Fussballverein. Das Stadion wurde schon mehrmals umgebaut, doch seine Architektur war nie ­auf Augenhöhe mit der sportlichen Erfolgsbilanz des Vereins. Wir wollten ein Bauwerk auf der Höhe des Mythos Vélodrome erschaffen.

TEC21: Inwiefern trägt Ihr Entwurf dazu bei?
Barbier: Er ist eine Antwort auf gesteigerte Nutzungsanforderungen. Insbesondere wollten die Stadt und ihr Bürgermeister die Zuschauer vor Wind und Wetter schützen. Die Stimmung innerhalb des Stadions sollte optisch und akustisch stärker auf das Spiel fokussiert sein und nicht von Ausblicken auf die Stadt gestört werden. Wir haben das Spielfeld mit einem Kreis von 198 m Durchmesser umgeschrieben – um der Vorstellung eines Brennpunkts näherzukommen.

TEC21: Wird dieser Fokus nach innen nicht auch als Abgrenzung von der Stadt verstanden?
Luc Delamain: Der Bezug zur Stadt wird neu interpretiert. Dank dem Lichtspiel durch die transluzente Fassadenhaut sind die Spiele von OM von aussen gut sichtbar. Diese durchlässige Hülle verbessert den akustischen Komfort, ohne die Stimmung des Stadions zu dämpfen. Wir wollten kein hermetisches Stadion wie zum Beispiel in Lille.

TEC21: Wieso haben Sie sich für das Fassadenmaterial PTFE entschieden?
Delamain: Es war in erster Linie ein Wagnis, die ganze Überdachung nur an vier Punkten zu halten! Von Anfang an haben wir uns die Frage des Gewichts gestellt. Die leichten PTFE-Membranen minimieren das Konstruktionsgewicht und gewährleisten Witterungsschutz und Dauerhaftigkeit. Wegen des Gewichts haben wir auch eine Stahlkonstruk­tion gewählt, das auch noch für kurze Bauzeiten gesorgt hat. Das Dach­konzept haben wir mehrmals und mit verschiedenen Ingenieuren schrittweise optimiert, ein echtes Abenteuer!

TEC21: Die Spiele nehmen nur 1 % der Nutzungsdauer ein, was war Ihre Strategie für die restlichen 99 %?
Delamain: Natürlich muss ein Stadion mehrere Nutzungen anbieten können, um sich zu rentieren, wobei es hier in erster Linie das Stadion des Fussballvereins bleibt. Das Stadion bildet vor allem den Schlussstein eines neuen Quartiers, das den Stadtteil aus der Isolation befreit.

TEC21: Wie nehmen Sie das umgebaute Stadion im Stadtbild wahr?
Delamain: Auf den Hügeln um Marseille und vom Meer aus wirkt das Stadion als Identitätsträger der Stadt. Der Blick vom Schiff ist wesentlich: Man sieht eine weisse Muschel, die aus der umgebenden Stadt heraus­gehoben wird. Wir stehen zu dieser Wellenbewegung, dem plastischen Tanz, der für Marseille charakteristisch ist.

TEC21: Die ursprüngliche Funktion des Vélodrome ist längst vergangen, ist es nicht auch eine formelle Vereinnahmung?
Delamain: Doch! Wir erkennen darin auch die Hochs und Tiefs der unsprünglichen Rennbahn.


[Die Architekten Maxime Barbier und Luc Delamain sind Teilinhaber des Architekturbüros SCAU. Das Interview führte Thomas Ekwall.]

TEC21, Fr., 2016.06.10



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30. Januar 2016Thomas Ekwall
TEC21

Fest und verschieblich

Die Hauptfront des Sprengel-Museums in Hannover ist eine 75 m lange, monolithische Vorhangfassade. Die Ingenieure von Drewes + Speth konstruierten den Sichtbeton möglichst zwängungsarm – ein Balanceakt, der einzig in der Fuge der Südfassade sichtbaren Ausdruck !ndet.

Die Hauptfront des Sprengel-Museums in Hannover ist eine 75 m lange, monolithische Vorhangfassade. Die Ingenieure von Drewes + Speth konstruierten den Sichtbeton möglichst zwängungsarm – ein Balanceakt, der einzig in der Fuge der Südfassade sichtbaren Ausdruck !ndet.

Die Museumserweiterung von Marcel Meili, Markus Peter Architekten Zürich setzt mit ihrer Aussenhaut einen archi­tektonischen Kontrapunkt zu den postmodernen Vorgängerbauten (zur Architektur vgl. «Kabinett der Abstrakten»). Schon auf den ersten Blick hinterlässt die Hauptfassade einen besonderen Eindruck: Die feingliedrige und zugleich wuchtig wirkende Wandscheibe kragt über einem zurückversetzten, verglasten Erdgeschoss aus. Dieser Eindruck bestätigt sich auch statisch, denn die Wand wird an ihrem oberen Rand konsolenartig gefaltet, um ihre Lasten in die Querwände der Ausstellungsräume einzuleiten.

Diese Querwände bilden zusammen mit den übrigen Wänden und den Geschossdecken ein räumliches statisches System, das die Anforderungen grosser Spannweiten und des dreiseitig um bis zu 4 m überhängenden Ausstellungs­geschosses effizient erfüllt. Die umlaufende Sichtbeton­fassa­de aus anthrazitgefärbtem Beton weist fünf unterschiedliche Wanddicken von 25 bis 49 cm auf, die die reliefartigen Vor- und Rücksprünge erzeugen. Verschiedene Nach­bearbeitungstechniken kamen bei der grössten Wandstärke zum Einsatz: Hier wurde die Oberfläche geschliffen und poliert. In den übrigen Bereichen, wo die Schalung mit Schalungstafeln ausgeführt worden war, blieb die Oberfläche roh belassen.

Da die Fassade der Witterung ausgesetzt ist, wird die Zeit nicht spurlos an ihr vorübergehen, doch dank sorgfältig ausgebildeten Details – etwa den minimal geneigten waagrechten Flächen, den ausgerundeten konkaven Kanten zur Begrenzung von Kerbspannungen oder der keilförmigen Tropfkante – könnte eine edle Patina daraus entstehen.

Ein- oder zweischalig

Bis zur Ausschreibung der Baumeisterarbeiten entwickelten die Architekten und Ingenieure mögliche Kon­struktionsprinzipien: Eine einschalige, innengedämmte Sichtbetonfassade wäre bei gleitender Lagerung ohne Dilatationsfugen ausgekommen, eine attraktive Lösung. Eine monolithische einschalige Konstruktion aus Dämmbeton kam nicht in Betracht, da beim Schleifen und Polieren die Zuschlagstoffe ungünstig freigelegt worden wären. Schliesslich wurde eine wirtschaftlichere, dafür konstruktiv anspruchsvollere Lösung mit einer zweischaligen, kerngedämmten Betonfassade realisiert.

Die Kunst dieser Konstruktion bestand darin, die Fassade zu halten und zugleich die Bewegungen, die die Sichtschale gegenüber der Innenschale infolge von Temperatureinwirkung und Betonschwinden vollzieht, möglichst zwängungsfrei zuzulassen. So ist die Fassade bis auf einen mittigen Fixpunkt in Gebäudelängsrichtung frei verschieblich gelagert. Die Eigenlast wird punktuell über Elastomergleitlager in die Primär­kon­struktion übertragen. Für die Sogverankerung entwickelten die Ingenieure Einbauteile aus nichtrostendem Stahl, die Zugkräfte senkrecht zur Fassadenebene auf­nehmen können und im Übrigen frei beweglich sind.

Vorhangfassade aus einem Guss

Bei der gewählten Konstruktion treten rechnerisch an den Enden der Längsfassade Verschiebungen von bis zu 27 mm auf, die sich je nach Jahreszeit in unterschiedli­cher Richtung ergeben. Die gut 24 m langen Stirnseiten sind einschalig konstruiert und in den Längsfassaden aufgehängt, somit können sie der Dehnung der Längsfassaden zwanglos folgen. Die Südfassade wurde mit besonderen Dilatationsfugen ausgebildet, die zugleich Zwangsbeanspruchungen ausschliessen und bestimmte Kraftwirkungen ermöglichen (vgl. Skizze). Der Verlauf der Fuge folgt im Einklang mit dem Fassadenrelief und den statischen Erfordernissen der Figur einer überdimensionalen Nut- und Federverbindung (vgl. Abb.).

«Zu Anfang haben wir uns ganz für die einschalige Konstruktion eingesetzt, da sie dem Grundgedanken in höchster Klarheit entsprochen und die unvermeidlichen Zwangskräfte auf ein Minimum begrenzt hätte», meint Martin Speth vom Ingenieurbüro Drewes Speth. «Doch der wesentliche Vorteil der gewählten zweischaligen Bauweise war die weitgehend unabhängige Ausführung des Innenausbaus und der Relieffassade, die nach der Erstellung der Innenschalen mit wirtschaftlicher Systemschalung parallel zueinander erfolgen konnte.»

Aus der Zusammenarbeit von Architekt und Ingenieur entstand eine Fassade, die schlicht und ruhig erscheint, zugleich aber die Schwere des Betons mit der Empfindlichkeit einer Glasfassade vereint.

TEC21, Sa., 2016.01.30



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TEC21 2016|05-06 Lebendiger Sichtbeton

08. Mai 2015Marko Sauer
Thomas Ekwall
TEC21

Krone aus Holz

burkhalter sumi architekten, Dr. Lüchinger   Meyer und Makiol & Wiederkehr stocken ein ehemaliges Industriegebäude auf. Sie nutzen die Stärken von Holz für diese Aufgabe – das Material hingegen zeigen sie nicht.

burkhalter sumi architekten, Dr. Lüchinger   Meyer und Makiol & Wiederkehr stocken ein ehemaliges Industriegebäude auf. Sie nutzen die Stärken von Holz für diese Aufgabe – das Material hingegen zeigen sie nicht.

Verdichtung und Mobilität: Diese beiden Stichworte prägen die städtebauliche Debatte seit geraumer Zeit. In ihrem Spannungsfeld wird jede Baulücke geschlossen, der öV ausgebaut, und es schiessen die Städte in die Höhe. So auch auf dem Grundstück der Sihltal Zürich Uetliberg­bahn (SZU) im Zürcher Kreis 3: Mit 9000 m² Fläche und einem eigenen Bahnhof – zwei Stationen ab Zürich HB – bot das ehemalige Werksgelände optimale Bedingungen, die beiden Maximen der Entwicklung zu vereinen.

Um ein geeignetes Projekt zu finden, wurde 2006 ein Wettbewerb unter sechs Büros durchgeführt. Das ­Siegerprojekt von burkhalter sumi architekten behielt als einziges das bestehende Umschlaggebäude von 1962 als Teil der Überbauung bei (vgl. Situationsplan S. 31).

Dieses wurde von einem Aufbau aus Stahl aus den 1980er-Jahren befreit, aufgestockt und weitergenutzt. Entscheidend für das Konzept war die Zusammenarbeit mit den Ingenieuren von Dr. Lüchinger   Meyer, denn im Sinn der Verdichtung musste die Aufstockung substanziell ausfallen. Sie erkannten die hohe Tragfähigkeit des zweistöckigen Baukörpers aus Stahlbeton. Und weil das Bauwerk ursprünglich hohen Nutzlasten standhalten musste, waren Stützen und Fundamente entsprechend grosszügig dimensioniert.

Die Untersuchungen zeigten, dass der Stahlbau entfernt werden konnte und ein vierstöckiger Aufbau in Holz ohne kostspielige Verstärkungen des Bestands möglich war. Nicht etwa der kulturelle Wert des Bauwerks, sondern seine Robustheit war für den Erhalt entscheidend. Die grosszügige räumliche Qualität des Gebäudes kam als Bonus dazu. Mit dem Erhalt des Umschlagsgebäudes liessen sich aber auch Kosten sparen: In den beiden Sockelgeschossen sind weiterhin Verwaltungsräume der SZU untergebracht, im Untergeschoss konnte die bestehende Relaisstation verbleiben.

Abbild der bestehenden Struktur

Die Aufstockung bedingte ein Tragwerk in Leichtbauweise. Obwohl ein Stahlskelett mit Verbunddecken – bei vergleichbarer Belastung – etwa 10 % günstiger gewesen wäre, setzte sich ein Holzbau durch. Denn Ständerwände und Decken lassen sich mit dem gleichen Material vorfertigen und schnell montieren, die Einrichtung der Baustelle braucht nur wenig Platz. Zudem können Holzträger ohne thermische Brücken die aussenliegenden Balkone abfangen und die Lasten weiterleiten. Schliesslich geniesst Holz ein gutes Image und benötigt für die Herstellung und Bearbeitung wenig graue Energie.

Der Grundriss der Aufstockung musste auf den Sockel abgestimmt werden, ohne Lasten ins Gebäudezentrum abzugeben. Die bestehenden Rahmen spannen 11 m in Querrichtung bei einem Achsmass von 5 m in Längsrichtung. Der Raster war für die Wohnnutzung geeignet und wurde für die vertikalen Tragelemente übernommen. Analog zum Rahmenriegel überspannen Hauptbinder aus Brettschichtholz den Innenraum. Sie kragen beidseits 2 m aus, um die aussenliegenden Balkone abzufangen. Diese Durchlaufwirkung ist sowohl statisch als auch konstruktiv vorteilhaft, denn die ­Biegemomente des Binders sind reduziert, und die ­Balkone können stützenlos getragen werden.

In den Wandelementen werden die Lasten über Holzstützen getragen, deren Querschnitt gegen oben kontinuierlich abnimmt (180/300, 180/240, 180/180, 180/120). Die oberste Decke des Bestands wurde in der Tragachse mit Stahlträgern verstärkt, um die Holz­ständer des Neubaus abzufangen. Somit leiten die bestehenden Rahmenpfosten sämtliche Vertikallasten der Aufstockung in die Fundamente weiter. Die Anschlüsse des Holzbaus an den Massivbau sind als Neoprenlager ausgeführt und auf diese Weise akustisch entkoppelt – neben der Bahnlinie ein Muss. Die beiden Liftschächte, die Fluchttreppen und das Treppenhaus wurden in Beton erstellt. Sie steifen das Gebäude zusammen mit den Holzständerwänden in Querrichtung gegen Erdbeben und Windkräfte aus.

Um Höhe zu sparen, sind die tragenden Decken in der gleichen ­Ebene wie die Hauptbinder angeordnet. Die Elemente bestehen aus beidseitigen Dreischichtplatten, die mit einem dazwischenliegenden Vollholzträger verleimt sind. Zusammen bilden sie einen Hohlkastenquerschnitt, der mit einer Gesamtstärke von 275 mm entsprechend schlank ausfällt (l/h = 18.2). Den Schallschutz gewähren eingelegte Gartenplatten, ein schwimmender Unterlagsboden und eine an Feder­bügeln abgehängte Decke.

Im Innern ist die Holzkonstruktion nicht sichtbar. Wegen der Anforderungen REI 60, EI 30 (nicht brennbar) sind die tragenden und raumabschliessenden Bauteile mit Gipsplatten verkleidet. Das sechsstöckige Bauwerk entspricht der Qualitätssicherungsstufe Q4 gemäss Lignum-Dokumentation «Bauen mit Holz – Qualitätssicherung und Brandschutz», weshalb die Holzkonstruktion von einem externen und anerkannten Fach­ingenieur bezüglich Brandschutz geprüft werden musste. Die hohen Ansprüche an den Holzbau führten die am Wettbewerb beteiligten Ingenieure dazu, diesen Teil des Projekts an den spezialisierten Holzbauplaner Makiol   Wiederkehr zu vergeben – ein übliches Verfahren, das sich auch in diesem Fall bewährte.

Die Aussenwand ist mit hinterlüfteten Elementen ausgeführt, die zwischen den Ständern gedämmt sind. Beidseitig sind sie mit Gipsfaserplatten beplankt und innen mit einer aussteifende Dreischichtplatte versehen. Ein einheitlicher Putz überzieht Sockel und Aufstockung – das Holz in den Fassaden zeigt sich erst bei genauerem Hinsehen. Noch ist die Stadt nicht das Territorium des offen zur Schau getragenen Holzbaus.

TEC21, Fr., 2015.05.08



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24. Oktober 2014Thomas Ekwall
TEC21

Statik als Handwerk

Heinz Hossdorf entwarf komplexe Tragwerke mit der Zuversicht, dass die Modellstatik seine Intuition bestätigen werde. Die ­Modelle der Coop-Lagerhallen aus Mikrobeton und des Stadttheaters Basel aus Acryl stehen exemplarisch für diesen Ansatz.

Heinz Hossdorf entwarf komplexe Tragwerke mit der Zuversicht, dass die Modellstatik seine Intuition bestätigen werde. Die ­Modelle der Coop-Lagerhallen aus Mikrobeton und des Stadttheaters Basel aus Acryl stehen exemplarisch für diesen Ansatz.

Den Auftrag für die Überdachung der Lagerhallen des Verbands Schweizer Konsumvereine (VSK, heute Coop) in Wangen bei Olten erhielt Heinz Hossdorf 1958 über einen Ingenieurwett­bewerb. Sein Vorschlag überzeugte die Jury wegen seiner Kombination aus Eleganz und Wirtschaftlichkeit. Eine Prise Mut gehörte dazu, denn die vorgeschlagene Segmentbauweise betrat in mehrfacher Hinsicht technisches Neuland: Das Dach besteht aus 1962 Betonfertigteilen mit 1.4 m Länge und 8.4 m Breite, die in Längsrichtung hintereinander versetzt sind. Erst durch eine externe Vorspannung wirken sie im Endzustand als monolithische Träger mit 25.2 m Spannweite. Dabei galt es zu gewährleisten, dass die unbewehrten Mörtelfugen zwischen den Elementen­ ­unter sämtlichen Lastfällen überdrückt blieben. Ein statisches Prinzip, das mit dünnwandigen Bauteilen und aus heutiger Sicht aussergewöhnlicher Sorgfalt in der konstruktiven Ausbildung umgesetzt wurde. Dieser Kraftakt wäre unverhältnismässig gewesen, wenn nicht ein erheblicher Gewinn bei den Herstellungskosten dahintergestanden hätte: Hier mussten 24 000 m² Dachfläche in kürzester Zeit versetzt werden (Abb. S. 29 Mitte links). Die Auf­gabe war in Trockenbauweise und mit indust­riell vorgefertigten Elementen bestens zu bewältigen.

Die häufige Wiederholung der Elementengeo­metrie ermöglichte Hossdorf, eine ausgeklügelte und materialsparende Querschnittsform zu entwickeln: Die aus einem Guss geformte 4.5 cm dicke Zylinderschale und die abgerundete 8 cm dicke Rinne sorgen für eine optimale Lichtführung im Innern (Abb. S. 29 Mitte rechts). Auf der Oberseite sind Längs- und Querrippen angeordnet, die die dünne Schale gegen Ausbeulen aussteifen. Weil die Schale so dünn ist, müssen die sechs Vorspannkabel extern verlaufen und durch die Rippen gestossen werden. Durch ihre parabolische Führung erzeugen sie zusätzlich günstige, dem Eigengewicht entgegengesetzte Biegemomente und übernehmen einen grossen Anteil der Querkraft. Die Randelemente sind zur Lastabgabe auf die Stützen massiver ausgebildet als die Normal­elemente, sodass die konzentrierten Vorspannkräfte materialverträglich eingeleitet werden.

Die Komplexität des Entwurfs rührte nicht von der Form der Shedträger her – ein einfach gekrümmtes Flächentragwerk –, sondern vielmehr von den konstruktiven Details. Die sichere Führung der Kräfte konnte nicht mehr analytisch nachgewiesen werden: Sind die Mörtel­­fugen unter kombinierter Schub- und Normalkraft tragfähig? Wie verhalten sich die Randelemente unter der exzentrisch eingeleiteten Vorspannkraft? Wie reagieren die dünnen Normalelemente unter unregelmässiger Beanspruchung? Diese Fragen konnten dazumal nur mit der experimentellen Modellstatik zuverlässig und wirtschaftlich beantwortet werden.

Die bittere Wahrheit des Experiments

Das Labor für Modellstatik erstellte im Hinblick auf das heterogene Tragwerk und zur Untersuchung des Bruchverhaltens zwei komplette Schalensheds im Massstab 1 : 10. Die Materialisierung mit Mikrobeton und Bewehrungsdrähten (vgl. Kasten S. 29) war spätestens seit dem Bau der Kirche in Winkeln 1958 (vgl. Abb. S. 34) erprobt. Neuartig beim VSK-Dach war der Einsatz eines vollständigen Modell-Vorspannsystems, das auch bei späteren Projekten angewendet wurde.

Die Versuche bestätigten das Tragverhalten der Fugen unter Schub und Druck. Die exzentrische Einleitung der Vorspannkraft in die Randelemente führte nicht zu vorzeitigem lokalem Versagen, und die analytische Dimensionierung der Bauteile für eine zweifache Gebrauchslast konnte anhand des experimentellen Bruchversuchs für gültig erklärt werden.

Der Modellversuch hatte keinen Einfluss auf die Dimensionierung der Bauteile. Vielmehr bestätigte er die kühnen Annahmen der Ingenieure. Ohne diesen Nachweis wäre nach Ansicht Hossdorfs – und nicht zuletzt der Bauherrschaft – das innovative Grossprojekt nicht verantwortbar gewesen. Hossdorf begründete seine Modellstatik wie folgt: «Es ist uns ein Anliegen, ganz einfach die Wahrheit zu sehen. Der Mensch hat oft die Tendenz, lieber an einen theoretischen Gedankengang zu glauben, welcher ihm schmeichelt, als die ­bittere Wahrheit durch ein Experiment erfahren zu wollen.»[1]

Die Hängeschale in Basel

1975, knapp 14 Jahre nach dem VSK-Dach in Wangen, wurde das Stadttheater Basel eingeweiht. In dieser ­Zwischenzeit entwickelten sich die Messgeräte und die computergestützte Datenverarbeitung rasant, und so bediente sich die Modellstatik zunehmend der elas­tischen Modelle. In der Entwicklungsgeschichte der Modellstatik steht das Stadttheater am Übergang zur Hybridstatik, die das Ziel verfolgte, sämtliche Mess- und Auswertungsschritte mithilfe des Computers zu automatisieren.

Das Wahrzeichen des Stadttheaters Basel ist die 60 m weit spannende und nur 12 cm dicke Hängeschale aus Spannbeton. Heinz Hossdorf und Architekt Rolf Gutmann konnten diese Idee bereits im Entwurfsprozess und mit einfachen Mitteln auf Papier konstruieren. Ein erstes Modell im Massstab 1 : 50 wurde unmittelbar nach dem Wettbewerbserfolg gebaut. Die räumliche Gesamtwirkung bezüglich Tragverhalten und Gestaltung konnte damit überprüft werden. Bis das Konzept ausführungsreif war, mussten noch wesentliche Aspekte geklärt werden, die erst in einem zweiten Modell eine Antwort fanden.

Die Definition des Dachs als Rotationsfläche war im Hinblick auf die Nutzung naheliegend: Sowohl die breiten, niedrigen Foyers und Zuschauerräume als auch der turmartige Aufbau der Bühne fand darin Platz. Im Schnitt entspricht die Dachlinie einer parabelförmigen Annäherung der Kettenlinie unter Eigen­gewicht – eine optimale Form für eine Hängeschale. Die Einteilung des Dachs in einfach gekrümmte Flächensegmente erleichterte die Schalungsarbeiten.

Das Hängedach fungiert als dünne, durchhängende Membrane, die an ihren Enden horizontal gehalten wird. Die dabei entstehenden hohen Kräfte werden durch die massiven seitlichen Turmwände im Bühnenbereich und die radial angeordneten Wider­lagerscheiben im Foyerbereich aufgenommen (Abb. S. 30 unten).

Wenn ein Tuch an einzelnen Punkten gehalten und gezogen wird, entstehen schlaffe Bereiche zwischen diesen Punkten. Genauso verhält es sich bei der Betonschale zwischen den Widerlagerwänden. Diese «schlaffen» Bereiche erhalten hohe Biegemomente, eine Beanspruchung, die angesichts der geringen Bauteilstärke gebührend minimiert werden musste. Zum Teil konnte Hossdorf diese Punkte entschärfen, indem er das Hänge­dach kunstvoll auffaltete, wodurch die Schale eine ­weiche, linienförmige Auflagerung bekam.

400 Arbeitsstunden für den Modellaufbau

Diese Entwurfsentscheide führten dazu, dass die Schalentheorie nur im Regelbereich angewendet werden konnte. Bei den Unstetigkeiten im Auflagerbereich hingegen stiessen die analytischen Methoden an ihre Grenzen. Hossdorf hat sich diese Form dennoch zugetraut, wohl wissend, dass die Modellstatik die letzten Grauzonen des Kräfteverlaufs aufheben würde.

Wie verteilen sich die Horizontalkräfte zwischen den einzelnen Widerlagerscheiben? Wie hoch sind die Biegemomente, die die dünne Schale erheblich schwächen? Wo und um welche Kraft muss die Schale vorgespannt werden, damit keine Zugrisse entstehen? Das Modell sollte diese Fragen beantworten und die Grundlage für die Ausführung liefern.

Weil die Computer mit ihrer damals begrenzten Rechenkapazität solche Zusammenhänge nicht bewältigen konnten, wurde das physische Modell verwendet. Die Ingenieure um den Projektleiter René Guillod wollten vor allem den Gebrauchszustand erfassen, weshalb das Labor für Modellstatik ein elastisches Modell aus Acryl für die statische Untersuchung herstellte.

Das Gesamtmodell von Dach und Wänden wurde im Massstab 1 : 50 erstellt (Kasten S. 30). Die Kräf­te wurden im Massstab 1 : 15 000 modelliert, sodass das Dachgewicht von 1390 t im Modell nur noch 93 kg betrug. Das Hängedach wurde vorgespannt mit der Absicht, dass der Beton trotz der Zugbeanspruchung immer überdrückt blieb. Daher galt der Werkstoff als ungerissen und somit elastisch, wodurch die Analogie zum Modell erst hergestellt wurde. Das Acrylmodell wurde belastet, und die installierten Messeinrichtungen ermittelten Dehnungen, Verformungen und Auflagerkräfte. Zur Plau­sibilitätskontrolle wurden die Spannungen in der Schalenfläche mit den Reaktionskräften verglichen. So konnte man den Kräfte- und Momentenverlauf genau nachvollziehen sowie die Vorspannung und die kon­struktiven Details entsprechend dimensionieren.

Erkenntnisse aus dem Modell

Insgesamt erwiesen sich das Tragwerk als geeignet und die Spannungsspitzen infolge Biegung verkraftbar. Die Geometrie wurde nach diesen Erkenntnissen nur minimal angepasst. Dennoch zeigte sich am Modell, dass die Segmentierung der Dachform in einfach gekrümmte Streifen einen unerwartet starken Einfluss auf die Membranzugspannungen ausübte. Aus dieser Erkenntnis heraus wurden die Spannkabel anders angeordnet als im Entwurf angedacht (Abb. S. 30 Mitte).

Die Bewegungsfugen zwischen den planmässig nichttragenden Saalwänden und der Schale wurden gemäss diesen Erkenntnissen geplant, ebenso die ­Dimensionen der Schale in den Randpartien und Wand­anschlüssen. Die Schalenstärke von 12 cm erfüllte die akustischen Anforderungen – gemäss den statischen Untersuchungen hätte sie sogar dünner sein können.


Anmerkung und Quellen:
[01] Vgl. werk 8/1972
Heinz Hossdorf: Das Erlebnis Ingenieur zu sein. Basel 2003.
Heinz Hossdorf: Modellstatik. Wiesbaden 1971.
René Guillod: Der Modellversuch für das Hängedach des Stadttheaters Basel. Basel 1970/71.

TEC21, Fr., 2014.10.24



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TEC21 2014|43 Heinz Hossdorf und die Modellstatik

22. August 2014Thomas Ekwall
TEC21

Die Tragsicherheit einer Idee

Ingenieurpavillons werden im Rahmen einer spezifischen materiell-
kon­struktiven Thematik entwickelt und sind stets Träger einer Vision. Vier historische Beispiele illustrieren ihre Rolle in der Baukunst.

Ingenieurpavillons werden im Rahmen einer spezifischen materiell-
kon­struktiven Thematik entwickelt und sind stets Träger einer Vision. Vier historische Beispiele illustrieren ihre Rolle in der Baukunst.

Im Ursprung des 284 m langen Lang­wieserviadukts stand ein Betonbogen, der 6 m über die grüne Wiese der Schweizer Landesausstellung 1887 spannte. Mit der pavillonartigen Brücke (Abb. S. 25 Mitte links) wollte die Firma Vigier die Tragfähigkeit ihres Zementprodukts zur Schau stellen. Der Leistungsnachweis diente nicht nur wissenschaftlichen, sondern vor allem wirtschaftlichen Zielen. Das gebaute Experiment brachte nicht nur das breite Publikum zum Staunen, sondern interessierte auch den ersten Direktor der Materialprüfanstalt – der heutigen Empa –, Prof. Ludwig Tetmajer, der sich aktiv für die Normierung des neuartigen Betons einsetzte.

25 Jahre und einige Entwicklungsschritte später entstand 1912 aus diesem Material die damals längste Eisenbahnbetonbrücke der Welt zwischen Langwies und Arosa. Solche seltenen Beispiele zeigen, dass ­Ingenieurpavillons die Keime grösserer Bauwerke in sich tragen.

Pavillon versus Prototyp

Auch bei der Ferrozementbauweise stand ein Pavillon Pate. Der Ingenieur-Unternehmer Pier Luigi Nervi (vgl. TEC21 37/2013) wollte sein frisch patentiertes Verfahren auf den Prüfstand setzen und baute 1945 eine Lagerhalle für seine eigene Firma (Abb. Mitte rechts). Fokus dieses Pavillons war nicht die reine Leistungsfähigkeit des Materials, sondern seine Verarbeitung auf der Baustelle und das Zusammenfügen der einzelnen Bauteile. Mit diesem gelungenen Experiment konnte Nervi sowohl künftige Bauherren überzeugen als auch die gleichen Prinzipien zuversichtlich im grösseren Massstab umsetzen: Die Ferrozementbauweise gipfelte 1948 im ­Palazzo delle Esposizioni in Turin, einer Halle mit über 70 m Spannweite.

Der Pavillon des Ingenieurs ist nicht mit dem Prototyp des Maschinenbauers gleichzusetzen, der als Grund­lage der Massenproduktion identischer Objekte dient. Er ist vielmehr der Träger einer Idee und der Vorstellung eines vielfältigen Einsatzgebiets. Er zeugt von der ­Tauglichkeit ihrer zugrunde liegenden materiellen und konstruktiven Prinzipien in der gebauten Umwelt.

Als Impulsgeber gelten Bauunternehmer, Tragwerksplaner und Forscher, die oft Synergien eingehen. Beispiel dafür war Julius Natterer, ehemaliger Professor am Holzbauinstitut der EPFL (Ibois) und Gründer von Bois Consult Natterer SA (BCN). Auf dem EPFL- Campus plante er den «Polydôme» (Abb. unten links), der als erste Holzrippenschale gilt. Hier wurde der ­Zusammenhang zwischen den weichen Verbindungen der Brettstapel und der Stabilität der Schale wissenschaftlich eruiert. Dieser Tragwerkstyp erreichte seinen vorläufigen Höhepunkt mit dem 20 m weit auskragenden Messedach der Hannover Expo 2000. Beide Tragwerke wurden von BCN geplant.

Ingenieurpavillons sind nicht nur für ihre ­eigene Disziplin relevant, sondern greifen auch architektonische Themen auf und können dieses Gebiet demzufolge stark beeinflussen. Ein Beispiel hierfür ist der Glaspavillon am Broadfield House in Kingswindford (Abb. S. 25 unten rechts). Er wurde 1994 von den Ingenieuren Dewhurst MacFarlane and Partners geplant. Hier wurde erstmals eine tragende Konstruktion aus Glas ohne Metallprofile und Punkthalter ausgebildet. Diese technische Meisterleistung dient noch heute als Inspiration für die Ganzglasarchitektur.

Zeitgenössische Experimente

Blicken wir noch auf zwei unlängst realisierte Pavillons. Sie entstanden an technischen Forschungsinstituten und stehen in der Reihe vergangener Experimente: Der Holzpavillon der Ibois (vgl. unten) verfolgt das klassische Ziel des zugleich materialsparenden und leistungsfähigen Tragwerks. Ausgehend von der Idee der gekrümmten Faltung mit Brettsperrholzplatten werden die Zusammenfügung, die ästhetischen und raumbildenden Qualitäten sowie die Entwurfs- und Produktionsabläufe als gleichwertige Ziele behandelt. Das Pavillon nähert sich dem Prototyp, damit schöne Formen einfach geplant und seriell gefertigt werden können.

Das Verbundpavillon der ICD/ITKE (vgl. «Käferschale schützt Menschen», S. 30) plädiert seinerseits für den Einsatz der Bionik im Bauwesen. Mit der Biologie als Inspirationsquelle wird die Wickelbauweise mit harzgetränkten Fasern weiterentwickelt. Weil die Elemente vorgefertigt und auf der Baustelle zusammengefügt werden, entsteht erstmals ein Tragwerk, das grös­ser wurde als die Maschine, die sie hergestellt hat. Träumen ist erlaubt, sogar förderlich!


Anmerkungen:
[01] Claudio Greco: Pier Luigi Nervi. Von den ersten Patenten bis zur Ausstellungshalle in Turin. Luzern 2008.
[02] Christian Schittich: «Auf den zweiten Blick: Glaspavillon am Broadfield House in Kingswindford» in: Detail 1/2 2011, S. 6–9.

TEC21, Fr., 2014.08.22



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2014|34 Ingenieurpavillons

27. Juni 2014Thomas Ekwall
TEC21

Vielteiliger Monolith

Die Ingenieure von Dr. Lüchinger   Meyer spielten ein breites Repertoire aus: Fugenlose Übergänge, einbetonierte Fachwerke und wandartige Träger ­prägen den Bau. Trotz der hohen Komplexität entstand günstiges Wohnen.

Die Ingenieure von Dr. Lüchinger   Meyer spielten ein breites Repertoire aus: Fugenlose Übergänge, einbetonierte Fachwerke und wandartige Träger ­prägen den Bau. Trotz der hohen Komplexität entstand günstiges Wohnen.

Verschiedene Bauherren, unterschiedliche Nutzungen, umringt von hoch frequentierten Verkehrsadern: Das Vorhaben war eine geometrische und organisatorische Knacknuss. Doch die Tragwerksplaner, die vom Wettbewerb bis zur Ausführung mit den Architekten zusammenarbeiteten, trafen eine mutige Entscheidung: Verschiedene fugenlos miteinander verbundene Tragwerke sollten allen Anforderungen gerecht werden. Die Konstruktion umfasst fünf Bereiche (Abb. S. 29 oben links).

Das Zentrum der Anlage bildet die Tramhalle mit Ein- und Ausfahrtstoren der Abstellanlage (Abb. S. 29 oben rechts). Das Tramdepot wird flankiert von achtgeschossigen, konventionellen Skelettbauten. Die 24 bis 26 cm dicken Flachdecken spannen bis zu 7.20 m zwischen den vorfabrizierten Stützen. Ausser den Treppenhauskernen gibt es keine tragenden Innenwände – so konnte die Nutzung flexibel gestaltet werden. Die Fassaden sind als selbsttragende Bauteile an den Deckenstirnen befestigt und bestehen aus vorfabrizierten, gedämmten Holzelementen mit einer Kratzputzschicht. Die Skelettstruktur wird im Nordflügel vom Tragwerk des Kinos unterbrochen. Es besteht aus Betonscheiben, die als wandartige Träger eines räumlichen Tragwerks fungieren (Abb. S. 30 oben rechts).

Die östliche Ausfahrt wird von einer bis zu 37 m langen, brückenähnlichen Konstruktion mit Wohnnutzung überspannt. In ihren Wänden verbergen sich vier Stahlfachwerkträger (Abb. S. 30 Mitte).

Den Abschluss nach Westen bildet ein in der Höhe abgestufter Gebäudeblock, der unmittelbar auf den Betonträgern der Tramhalle aufliegt. Eine konstruktive Verbindung aller Gebäudeteile war notwendig, weil die ringförmige Gesamtstruktur die Tramhalle zu einem Teil des Ganzen macht. Da sie als unbeheizter Raum grösseren Temperaturwechseln ausgesetzt ist, würde sie sich ohne eine starre Verbindung frei deformieren, an den Schnittstellen entstünden Risse. Für die «Wohnbrücke» wurde ein Stahlfachwerk gewählt, das gegenüber einer Betonvariante kostengünstiger und einfacher zu montieren war. Für die Tramhallendecke wurde hingegen aufgrund der Brandschutzanforderungen und der Robustheit Beton als Baustoff verwendet.

Auch der Bauablauf stellte die Projektbeteiligten vor grosse Herausforderungen. Als der Wettbewerb für die Überbauung ausgeschrieben wurde, war die Planung der Tramhalle bereits weit fortgeschritten. Wegen der noch unbekannten Zusatzbelastungen aus der Überbauung mussten die Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ) als Bauherrschaft der Tramhalle die Fundamentlasten pauschal erhöhen. Diese Tragreserven wurden als Randbedingung des Wettbewerbs formuliert. Nicht nur mit Blick auf den erwünschten Lichteinfall aus Süden, sondern auch aus Rücksicht auf die Tragreserven der Halle staffelten die Architekten das Gebäude in der Höhe. Während des Vorprojekts der Überbauung wurden die Fundamente innerhalb der Abstellanlage ausgeführt. Die Winkelstützmauern des Baugrubenabschlusses dienten später als Aussenwände für die Keller, wodurch die Baukosten optimiert werden konnten. Während der Bauausführung musste zudem ein Tramgleis geschützt in Betrieb gelassen werden.

Weitere Schnittstellen wurden sorgfältig geplant: Damit der Trambetrieb die Wohnqualität nicht beeinträchtigt, wählten die VBZ für die Weichen eine schwimmende Lagerung, eine zweischalige, trogartige Konstruktion mit integrierter Dämpfungsschicht. Das Stahlfachwerk wurde in den Innenräumen mit Gipsfaserplatten verkleidet, um die Brandschutzklasse R60 zu gewährleisten. Die monolithische Verbindung von Stahlfachwerk und Betondecken mittels Kopfbolzen verursachte horizontale Zwängungskräfte in der Deckenebene (Abb. oben links). Damit sich die Fundamente bei den stark variierenden Auflagerkräften nicht unterschiedlich tief senken, wurden im Bereich der Gleisanlage Pfahl- und ansonsten Flachgründungen realisiert.

Insgesamt standen die Tragwerksplaner vor der Herausforderung, für diesen Bau zahlreiche massgeschneiderte Einzellösungen zu entwickeln und mit dem Planungsteam abzustimmen. Dadurch war der Entwurfs- und Zeichnungsaufwand in der Ausführung etwa doppelt so gross wie bei einem herkömmlichen Hochbau. Zum Glück führte das nicht zu teuren Wohnungen – vielmehr half die Leistung der Ingenieure mit, die unübliche, aber attraktive Kombination vielfältiger Nutzungen zu ermöglichen.

TEC21, Fr., 2014.06.27



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TEC21 2014|26-27 Kalkbreite: Ein Stück Stadt in Zürich

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