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13. Oktober 2017Susanne Frank
Marko Sauer
TEC21

«Neben Handschrift braucht es auch Überraschendes»

Das Interesse an Stoff und Raum verbindet die Architektin Anna Jessen und den Modedesigner Albert Kriemler. Wie begründet sich die gegenseitige Affinität? Und was inspiriert sie in ihrem kreativen Schaffen?

Das Interesse an Stoff und Raum verbindet die Architektin Anna Jessen und den Modedesigner Albert Kriemler. Wie begründet sich die gegenseitige Affinität? Und was inspiriert sie in ihrem kreativen Schaffen?

TEC21: Herr Kriemler, Sie haben ein enormes Interesse an Architektur. Hätten Sie auch Architekt werden können?'
Albert Kriemler: Ja, da ist eine grosse Nähe. Und ich wäre vielleicht auch Architekt geworden, wenn ich nicht die letzten 35 Jahre gemeinsam mit meinem Bruder Peter unsere Firma entwickelt hätte.
Anna Jessen: Ich finde, man könnte dich durchaus als Architekten bezeichnen.
Albert Kriemler: Es gibt interessante Gemeinsam­keiten. Aber das macht mich noch lang nicht zum Architekten. Dazu braucht man das Wissen, das aus Ausbildung, Gefühl und Erfahrung erwächst. Ich diskutiere gern über Architektur und bin ein Partner für Architekten, weil mich das Thema nicht nur in meiner Arbeit interessiert.

TEC21: Inwiefern lässt sich Ihre Arbeit mit der eines Architekten vergleichen?
Albert Kriemler: Architekten, Designer und Künstler arbeiten jeweils mit ihrer Kreativität. Grundsätzlich denken Architekten und Modedesigner über Pro­portionen nach. Was uns verbindet, ist der Zweck. Wir dienen einem Zweck. Ein Künstler drückt sich selbst aus. Bei mir steht das Material am Anfang, daraus folgt die Idee. Das ist sicher bei jedem Einzelnen anders, ob Designer oder Architekt.

TEC21: Sehen Sie noch weitere Parallelen?
Albert Kriemler: Wir fragen beide: Was ist der Mensch im Raum? Natürlich kann man auch von Architektur sprechen, wenn es um das Formulieren eines Volumens bei einem Kleid geht. Mit dem Thema Material ist der Aspekt Farbe eng verbunden.

TEC21: Frau Jessen, Sie beschäftigen sich schon seit geraumer Zeit mit dem Thema des «textilen Raums». Wo liegt für Sie die Faszination darin?
Anna Jessen: Die Beziehungen zwischen Stoff und Raum sind sehr vielfältig und ursprünglich. Das Gegenmodell zur Höhle und zum Erdhügel ist das nomadische Zelt. Da weist die Wand eine textile, gewobene und strukturelle Qualität auf. Der Begriff der «Wand» leitet sich ja offenbar vom althochdeutschen «want» ab, das wiederum verwandt ist mit dem heutigen Verb «winden» und das auf ein mit Lehm bestrichenes Geflecht zurückgeht. Die sprachliche Nähe zwischen Wand und Gewand drückt eine noch direktere Beziehung aus. Auch der Begriff der «Decke» als oberer Raumabschluss verweist auf einen sehr ursprünglichen Zusammenhang zum textilen Raum. Ähnlich verhält es sich mit dem Wort «Knoten», mit dem in der Architektur meist eine starre Verbindung bezeichnet wird, die eigentlich aber eine geknüpfte war, wie Semper es ausführlich dargestellt hat.

TEC21: Sie bauen einen neuen Studiengang für Architektur an der FHS in St. Gallen auf, der im Herbst den Betrieb aufnimmt. Wie lassen Sie dieses Thema dort einfliessen?
Anna Jessen: Unter dem Begriff «textiler Raum» unterscheide ich zwei Denkrichtungen. Es gibt die direkte Übersetzung und die Anwendung im übertragenen Sinn. Beide weisen ein grosses Potenzial auf. Ich glaube, dass das Textile wieder stärker ein Thema in der Architektur werden wird. Daneben gibt es den Begriff «Stoffwechsel», wie ihn Semper eben geprägt hat. Wir leben in einer Zeit des intensiven Stoffwechsels, in der plötzlich altüberlieferte Baustoffe neue Leistungsmerkmale erhalten und ihre klassische Verwendung neu interpretiert wird. Holz ist ein gutes Beispiel dafür. Da passieren spannende Dinge – bei textilen Materialien werden wir Ähnliches erleben.

TEC21: Sie haben aber auch eine ganz persönliche Beziehung zum Textilen.
Anna Jessen: Ich habe vor dem Architekturstudium eine Schneiderausbildung gemacht und immer Bekleidung für mich selbst angefertigt. Weil ich nirgends die Kleider bekommen konnte, die ich mir wünschte.

TEC21: Was hatten Sie denn vermisst?
Anna Jessen: Ich glaube, es hatte etwas mit der eigenen haptischen Wahrnehmung der Kleider zu tun. Sie sind dann natürlich auch so etwas wie eigene Zelte, erste Häuser, die du dir selber baust. Wir sind ständig umgezogen als Kinder – für mich ist es tatsächlich ein eigenes Haus gewesen, das ich mitnehmen kann. Und das ist es auch heute noch.

TEC21: Hat dies Auswirkungen auf Ihr architektonisches Schaffen?
Anna Jessen: Natürlich. Wenn ich heute beim Bauen Dinge füge, dann ist es oft das Bild: Wie und mit welcher Naht füge ich zwei Stoffteile zusammen?

TEC21: Worin gleichen sich für Sie die beiden Disziplinen?
Anna Jessen: Vor allem in der Bekleidung eines Körpers – wobei wir dann schon bei den Unterschieden wären: Denn wir entwerfen den Körper, sprich die Struktur ja mit. In beiden Disziplinen geht es um die Frage: Was sind Raumbeziehungen? Der ganze Entwurfsprozess hat Parallelen. Schnittstellen gibt es natürlich auch in der Art des Fügens, der Art eben, wie Nähte zusammenkommen. Das ist ganz nah an architektonischen Fragen.

TEC21: Ein Architekt, der sich dezidiert zu Mode und Architektur geäussert hat, ist Adolf Loos.
Albert Kriemler: Das Interesse an Loos begleitet mich in meiner Arbeit täglich. Für mich ist er ein wirklich genialer Architekt – gerade in Fragen der Materialiät und der Reduktion. Loos ist viel gereist und hat von jeder Reise Material mit nach Hause gebracht: japanische Tapeten, chinesische Seide, er wusste auch von Kaschmir und Tweed, alles war vom Feinsten.
Anna Jessen: Zur Frage der Materialität beschäftigt mich Mies van der Rohe noch mehr als Loos. Da ist der Stoff sehr präsent. Bei Mies hat das Pure des Materials eine grosse Bedeutung, die man in seinen Häusern sehr stark fühlt. Es gibt da eine haptische Verbindung zum Haus – während das Primäre bei Loos wirklich die Raumfügungen sind, wie die Räume dreidimensional miteinander verwoben sind.
Albert Kriemler: Ich sehe das etwas anders. Wenn Mies das Material in der Reduktion anwendet – und das tut er –, trifft er den Gedanken, den Loos zu wertvollen Materialien formuliert hat, ins Schwarze. Die Onyxwand in der Villa Tugendhat wirkt als massiver Wandkörper, der das Wohnzimmer von der Bibliothek trennt. Mies verwendet Stein, Hölzer wie Mahagoni und edle Stoffe. All diese Materialien sind wertvoll, sie besitzen Farbe und Struktur, benötigen also keine weitere Aufwertung durch Dekoration. Beim Wert und bei der Reduktion treffen sich Loos und Mies. Bei Loos gab es immer auch das Einfache.

TEC21: Um nochmals zu Loos zurückzukommen: Er hat auch Wesentliches zum Ornament geschrieben. Herr Kriemler, wie sieht Ihr Bezug zum Ornament aus?
Albert Kriemler: Das Zitat mit dem Ornament und Verbrechen wird immer ganz schnell aufgegriffen. In meiner Kollektion gibt es aufwendig gestaltete und verarbeitete Stoffe, oft moderne St. Galler Stickerei oder im Haus entwickelte Materialien, die man in ihrer Gesamtstruktur als Ornament bezeichnen könnte. Diese Ornamentik ist vollständig als Stoff in ein Kleidungsstück integriert und wirkt nie wie eine hinzugefügte Dekoration. So hat es die New Yorker Museumskuratorin Valerie Steele einmal beschrieben. Das Prinzip gilt auch für Drucke.
Anna Jessen: Mich interessieren bei Bauwerken nur die Dinge, die etwas fürs Ganze tun. Es gibt strukturelle und dekorative Ornamente. Auch deswegen ist die Mode von Akris interessant, weil das Ornament sehr stark strukturell ist. Wir suchen das ebenfalls in unseren Bauten.

TEC21: Können Sie das illustrieren?
Anna Jessen: Wo gehören zum Beispiel die Bronzerahmen der äusseren Verglasung im Verwaltungszentrum Oberer Graben hin? Auf jeden Fall haben die Öffnungen im Blech eine Funktion. Ihre Zahl und Anordnung ist hinsichtlich Strömungsverhalten und Lüftung des Kastenfensters im Computer simuliert worden. Aber erst die Übersetzung der Öffnungen in je zwei Halbkreise, die sich im Wechsel drehen, macht aus dem einfachen Loch im Blech – sprich aus dem Lochblech – ein spielerisches Element, das die reine Funktion sublimiert, poetisch sanft überhöht und den Charakter des Hauses akzentuiert.
Albert Kriemler: Wenn die Funktionalität unter der Idee leidet, dann darf man das nicht machen. Für mich hat die Funktionalität viel mit der Modernität und Selbstverständlichkeit eines Kleidungsstücks zu tun. Wenn es in irgendeiner Form kompliziert ist, dann ist es schon obsolet.

TEC21: Und doch braucht es eine Balance zwischen Entwurf und Funktionalität – so wie zwischen Tradition und Innovation.
Albert Kriemler: Das ist das Schwierige in der Architektur – und in der Mode ist es dasselbe: Wie entwickelst du deine Handschrift? Und überraschst trotzdem immer wieder mit dem Neuen? Ich habe gelernt, in unserem Entwurfs- und Entwicklungsprozess Raum für Überraschungen zu schaffen. Mode lebt von der Abwechslung, deshalb ist sie Mode. Und dennoch müssen wir innerhalb unserer Handschrift erkennbar bleiben, also Konstanz zeigen. Aber das ist es, was die Passion für den Beruf aufrecht erhält. Es ist eine permanente Evolution. Und das ist bei Architekten vielleicht nicht anders.

TEC21: Sie haben sich für Ihre Sommerkollektion 2016 von der Arbeit des japanischen Architekten Sou Fujimoto inspirieren lassen. Wie würden Sie diese Zusammenarbeit beschreiben? Wie erfolgte dieser Austausch?
Albert Kriemler: Die Auseinandersetzung mit der Architektur von Fujimoto war einer der Momente, wie ich sie immer wieder erlebe, wenn ich reise. Als ich seinen Serpentine-Pavillon von 2013 in London gesehen habe, war ich fasziniert davon, wie man mit einem weissen Metallstab und ein bisschen Glas so ein wunderbares Gebäude schaffen kann, das nicht nur eine fantastisch fragile, schöne Wolke ist, sondern auch als Pavillon funktioniert. Dieses Überraschungsmoment, wenn eine attraktive Erscheinung mit verblüffender Funktionalität zu­sammenfällt, ist für mich eine Parallele zur Mode.
Bei einem Akris-Kleid geht es um ähnliche Faktoren: Attraktivität, Angemessenheit, Freude an Funktio­na­lität und das Ausreizen der Reduktion in jedem Detail hin zu einer einfachen Erscheinungsform.

TEC21: Wie war die Begegnung mit dem Architekten?
Albert Kriemler: Ich habe mit ihm auf Vermittlung des Fotografen Iwan Baan, mit dem ich befreundet bin, über Skype telefoniert und gesagt, dass ich gern eine Kollektion mit der Inspiration seiner Architektur entwerfen möchte. Und obwohl er keinen Bezug zur Mode hatte, hat es ihn interessiert, seine eigenen Arbeiten in einem anderen Kontext zu sehen. Dieser Vertrauensvorschuss ist eine wichtige Voraussetzung für eine solche Zusammenarbeit. So war es auch mit den Künstlern Thomas Ruff und Carmen Herrera. Das verpflichtet zu grösstem Respekt und zum Einsatz all dessen, was mein Team und ich zu geben haben. Danach haben wir uns zweimal in Paris getroffen und beschlossen, zusammenzuarbeiten. Im Sommer darauf habe ich ihn in Tokio besucht und ihm vorgelegt, was wir entwickelt hatten.

TEC21: Wie finden seine Bauten Eingang in Ihre Kollektionen?
Albert Kriemler: Es war seine Auswahl aus meinen Entwürfen. Seinen Naoshima-Pavillon hatte ich auf meiner Japanreise besucht, das Musikhaus in Budapest war ein Entwurf – wir hatten Lasercut-Technostoffe entwickelt, aber auch eine klassische Broderie Anglaise, in der sich jeweils die geplanten Öffnungen im Dach darstellten. Die Bambusstruktur seines Taiwan Towers – ein unrealisierter Entwurf – wurde zum feinsten Strickgewebe, das wir bis anhin gefertigt hatten. In Anlehnung an sein Miami-Projekt aus blauem Glas habe ich einen Stoff entwickelt, der an blaues Plexi erinnert. Die rote Tinte, mit der er alle Skizzen und Notizen festhält, wurde zu einem feinen Sommertweed. Und ein Foto von Iwan Baan vom «House N», seinem ersten gebauten Haus, wurde zu einem digitalen Fotodruck auf Seide. So gab es acht oder neun Themen um Fujimoto, die dann meine Sommerkollektion formulierten.
Anna Jessen: Du lässt dich inspirieren durch Fujimotos Architekturen, durch Teile seiner Archi­tekturen, durch Wandgestaltung, durch Baustoffe, die er verwendet. Sie werden übersetzt in ein ­Kleidungsstück, das dann in einem Nachbau seiner Räume präsentiert wird. Der Raum und der sich darin bewegende, bekleidete Körper sind plötzlich miteinander verwandt und bauen so eine neuartige, spezifische Raumbeziehung auf.
Albert Kriemler: Das «House N» haben Appenzeller Schreiner aus Trogen für das Defilee massstabsgetreu auf dem Set im Grand Palais in Paris nachgebaut, weil ich mit den Pariser Handwerkern nicht zurechtkam. Die Rekonstruktion wurde zur Bühne für den Laufsteg und zum Eingang für alle Gäste. Sie war das erste Posting der New York Times von diesem Defilee.

TEC21: Gibt es weitere räumliche Interpretationen im Entwurf Ihrer Kollektionen?
Albert Kriemler: Ein schönes Beispiel war die Herzog-&-de-Meuron-Kollektion 2007/2008. Die Materialität und die aussergewöhnliche Gestaltung der Fassade, zum Beispiel des Walker Art Center in Minneapolis oder des de Young Museum in San Francisco, waren für mich die Inspiration. Ich habe versucht, diese aufregende Mehrlagigkeit im Erscheinungsbild der Stoffe zu spiegeln, zum Beispiel mit gebrochenem Aluminium in einer Seidengeorgette-Hülle oder einer St. Galler Spitze, die wie Asphalt aussah.

TEC21: Frau Jessen, wie gehen Sie mit dem Thema Inspira­tionen um?
Anna Jessen: Ich bin fasziniert, wie klar sich eine Kollektion auf eine Inspirationsquelle ausrichten kann. Bei uns Architekten läuft das meist unbewusster und über längere Zeiträume ab. Wir bauen uns einen Referenzraum auf, der durch Werke der Architektur, der Kunst und Alltagskultur geprägt ist. Wenn dann das Programm und der Ort dazukommen, dann muss dieser Referenzraum spezifisch und explizit werden. Das äussert sich dann zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit ruraler Holzarchitektur oder dem Funktionalismus der 1960er-Jahre. Deswegen sehen unsere Häuser und Ensembles auch immer anders aus. Für mich muss ein gutes Stück Architektur am Ort ankommen, auch wenn es neu ist und vielleicht provoziert.
Albert Kriemler: Was bei euch der Ort ist, ist bei mir der Stoff. Der steht im Vordergrund, und es ist schon typisch für uns, dass ich immer zuerst den Griff des Stoffs fühle. Und dann weiss ich, wie sich der Stoff verhält und was ich damit machen kann. Das ist ein Sinn für Haptik, den ich von meiner Grossmutter, der Firmengründerin, und meinem Vater geerbt habe.
Anna Jessen: Wir leben ja in einer sehr visuell dominierten Welt. Und doch behaupte ich, das Erste, was man von Architektur wahrnimmt, wenn man einen Raum betritt, ist es nicht das Visuelle, sondern es ist ein Gemisch aus Licht, Klang, aus Geruch …

TEC21: Könnte man das als Atmosphäre zusammenfassen?
Anna Jessen: Genau. Und manchmal beginnt auch bei uns der Entwurf mit einem Material. Am Schaffhauser Rheinweg haben wir mit einem Stück Holz angefangen und sind danach zum Städtebau gekommen. Nicht weil wir uns das vorgenommen haben, sondern weil ich finde, dass das Wohnen am Wasser sich am besten in Holz ausdrückt, vielleicht weil man an ein Boot denkt. Wenn ich morgens barfuss auf meinen Balkon trete, dann ist ein Stück Holz unter meinen Füssen etwas völlig anderes als ein Stück Beton. Da denke ich wieder, Material und Struktur sind entscheidend, wenn es um die haptische Wahrnehmung geht.
Albert Kriemler: Das Interessante ist die Erscheinung in der Bewegung. Die visuelle Seite der Mode ist für viele das Entscheidende – der «Look» ist ja die Hautpsache in der Mode geworden. Für mich ist das nur ein Aspekt. Es beginnt mit dem Fühlen, und ich glaube, dass sich dieses Gefühl letztlich auf die Körpersprache der Trägerin auswirkt, auf ihre Präsenz. Es ist dieses Denken, das mich in der Arbeit für Akris prägt. Alles zusammen ergibt die Selbst­verständlichkeit, die ich suche – wie du sie wohl auch suchst – beim Tragen und in der Erscheinung.
Anna Jessen: Darin liegt ein grosses Potenzial für die Architektur. Die Wahrnehmung in der Bewegung – des Betrachters, aber auch als Veränderung des Bauwerks durch seine Benutzung, im Tagesverlauf oder im Lebenszyklus. Vielleicht öffnet gerade die ephemere Kunst des Textilen wieder den Blick für die Zeitlichkeit der scheinbar immobilen Architektur.

TEC21, Fr., 2017.10.13



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2017|41 Stoff und Raum II – die Arbeit am Textilen

14. Juli 2017Susanne Frank
TEC21

«Basel braucht diesen wichtigen Schlussstein»

Das Basler S-Bahn-Projekt hat nicht nur regionale, sondern auch nationale Bedeutung. Pierre de Meuron erläutert den Gewinn für die Stadt- und Raumplanung mit Blick auf die verschiedenen ­ Massstabsebenen und die gesellschaftlichen Dimensionen.

Das Basler S-Bahn-Projekt hat nicht nur regionale, sondern auch nationale Bedeutung. Pierre de Meuron erläutert den Gewinn für die Stadt- und Raumplanung mit Blick auf die verschiedenen ­ Massstabsebenen und die gesellschaftlichen Dimensionen.

TEC21: Herr de Meuron, Sie engagieren sich sehr für die trinationale S-Bahn. Warum ist dieses Projekt so wichtig?
Pierre de Meuron: Das Projekt birgt beträchtliche Potenziale, nicht nur aus verkehrstechnischer Sicht, sondern besonders auch für die Stadt- und ­Raumentwicklung. Um diese zu erschliessen, müssen wir verschiedene Massstabsebenen in die Betrachtung einbeziehen. Unser Ansatz ist ein territorialer, d. h., wir betrachten das Territorium mit den drei Elementen – Landschaft, Siedlung und Infrastruktur – aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Wir haben die gesellschaftliche Dimension, das betrifft etwa Fragen der Mobilität und Siedlungsentwicklung, aber auch die wirtschaftlichen Themen. Basel als einer der wichtigen, dynamischen und erfolgreichen Wirtschaftsstandorte in der Schweiz braucht eine effi­ziente und leistungsfähige Infrastruktur. Es ist also nicht nur ein regionales Thema, es hat eine nationale Bedeutung – und dadurch auch eine internationale.

TEC21: Warum ist das Projekt bedeutend für die Schweiz?
Pierre de Meuron: Wenn Basel erfolgreich ist und dynamisch bleibt, unterstützt das die gesamte Schweizer ­Wirtschaft. Effiziente Infrastrukturen fördern das Zusammenwachsen der Region, die Wirtschaft im Metropolitanraum wird so insgesamt noch schlagkräftiger. Davon profitiert das ganze Land. Doch ­ es gilt, nicht nur den regionalen Verkehr zu betrachten, sondern auch den Güter- und Fernverkehr. International gesehen ist die Schweiz bedeutend für die Nord-Süd-Verbindung von Kopenhagen, Hamburg, Frankfurt durch die Alpen in Richtung Italien – ­Basel spielt hier eine Schlüsselrolle.

TEC21: Welche Funktion hat der Verkehrsknoten Basel in der europäischen Verkehrs- und Güterinfrastruktur?
Pierre de Meuron: Eine wichtige – in der Region Basel kommt infrastruk­turell sehr viel zusammen. Wir müssen die verschiedenen Verkehrsströme, regional und international, sowie den Güterverkehr aufeinander abstimmen. Basel, früher das «goldene Tor zur Schweiz», ist heute noch immer einer der Haupteingangs- bzw. -ausgangsorte für den Import respektive den Export. Zudem lagern hier in Basel die Not­vorräte, etwa an Getreide oder Mineral­öl, über die für einige Monate der gesamtschweize­rische Bedarf abgedeckt werden kann. Aus meiner Sicht wird in der Schweiz zu wenig wahrgenommen, welche Bedeutung Basel hat.

TEC21: Wie wird das S-Bahn-Projekt die Entwicklung der Metropolitanregion Basel beeinflussen?
Pierre de Meuron: Dazu ist es wichtig zu verstehen, wie sich Siedlungen entwickeln und wo Entwicklungspoten­ziale zu finden sind. Die Öffnung nach Norden am Rheinknie prägt die geografische und topografische Lage von Basel. Dieser Ort ist von der Bronzezeit bis zum Mittelalter durch verschiedene Bedürfnisse der Gemeinschaft immer wieder als Zentrum be­stätigt worden. Jede Stadt hat andere Energien und entwickelt ihre eigene Identität. Basel eben durch die Krümmung ­des Rheins – und gleichzeitig durch die Zuflüsse aus den Tälern. Durch diese Seitenarme haben sich die Siedlungsgebiete als Talschaften ausgedehnt. Vor diesem Hintergrund betrachten wir die Überlegungen zur Siedlungsentwicklung und Mobilität im Zusammenhang, um die Beziehung zum Zentrum zu stärken und das Wachstum entlang dieser Siedlungsachsen zu steuern.

TEC21: Die Aufgabe war, ein im Ansatz vorhandenes S-Bahn-System zu vervollständigen. Wie sind Sie vorgegangen, um ein Konzept zu finden, das die bestehende Situation verbessert und den verschiedenen Ansprüchen gerecht wird?
Pierre de Meuron: Es fehlt bislang ein wichtiges Teilstück. Und nun geht es um die Frage, wie das bestehende S-Bahn-System mit diesem Teilstück in all dem, was schon da ist, topografisch und im Hinblick auf die bestehenden Siedlungs- und Infrastrukturen, ver­bessert werden soll. Wir haben hierzu eine Methode entwickelt und verschiedene Varianten analysiert, weil es sehr viele Dimensionen zu berücksichtigen und viele Akteure zu verstehen und miteinzubeziehen gilt, damit wir am Schluss die Lösung finden, die am besten nachzuvollziehen ist. Den Weg der Entscheidung dazu wollten wir offen­legen und transparent machen.

TEC21: Das jetzige System gilt als nicht mehr zeitgemäss. Wo liegen die Probleme?
Pierre de Meuron: Im Moment haben wir ein halb fertiges S-Bahn-System in Basel. Es ist wie ein Gewölbe, das seinen Schlussstein braucht, damit es tragfähig wird. Basel als eine der drei grossen Metropolitanregionen in der Schweiz braucht diesen Schlussstein, dieses kleine Stück, das so viel bewegt. Es gibt Bahninfrastrukturen entlang des Rheins und in den Tälern, allerdings nicht in allen. Diese Infrastrukturen sind jedoch nicht miteinander verbunden. Die beiden Bahnhöfe Bahnhof SBB und Badischer Bahnhof sind bahntechnisch Sackbahnhöfe, obwohl sie eigentlich als Durchgangsbahnhöfe fungieren – das ist ein grosser Widerspruch, eine Unlogik im System.

TEC21: Und es behindert gleichzeitig die Vernetzung und Entwicklung der Region als Ganzes.
Pierre de Meuron: Genau. Es gilt, diese Sackbahnhof-Realität zu verbessern und diese S-Bahn-Linien durchzubinden. Das ist die Voraussetzung für ein effizientes S-Bahn-System im Metropolitanraum Basel. Und die Verbindung der beiden Bahnhöfe muss durchs Zentrum führen. Das ist städtebaulich wichtig. Das his­torische Zentrum muss erschlossen werden, sonst blutet es aus. Die Leute aus dem Metropolitanraum müssen mit der S-Bahn direkt in die Stadtmitte kommen. Das ist nicht nur eine physische, sondern auch eine mentale Verbindung zum Zentrum – und es verbindet die Region.

TEC21: Es geht also um eine physische und mentale Verbindung, aber letztendlich auch darum, dass die ­Siedlungsachsen entlang der Talschaften gestärkt werden, wenn die Stadt und Region wachsen?
Pierre de Meuron: Das ist das grosse raumplanerische Thema. Wenn wir aufzeigen wollen, was passieren soll – oder eben nicht –, brauchen wir als Gemeinschaft gemeinsame Wertvorstellungen. In der Schweiz haben ­wir ein interessantes rechtliches Instrument: das Bundes­gesetz für Raumplanung, das Gesetz, wie sich die Raumplanung zukünftig darstellen soll. Wir haben mit unserem Konzept eins zu eins versucht, dies ins Basler Territorium zu übersetzen.
Die Siedlungen in den Tälern sollen entlang dieser Hauptachsen wachsen, die mit dem öffentlichen Verkehr erschlossen sind. Wir wollen so die Entwicklung nach innen lenken – und nicht mehr endlos in die Landschaft. Die Landschaft müssen wir schützen. Dann müssen wir die räumlichen Voraussetzungen für die Wirtschaft berücksichtigen. Eine Stadt muss auch solche Flächen zur Verfügung stellen, gut erschlossen, idealerweise durch öffentliche Verkehrsmittel.

TEC21: Wie wurden die Haltepunkte in der Stadt eruiert?
Pierre de Meuron: Wir haben auf Massstabsebene der Stadt Basel untersucht, wo welche Aktivitäten stattfinden – wohnen, arbeiten, einkaufen, sich erholen, sich bilden. Die Analyse zeigt, wie dicht diese Aktivitäten in Basels Zentrum sind. Es ist multifunktional und nicht monofunktional, das macht seine Qualität aus. Dann haben wir eruiert, welche Perimeter bislang nicht durch das S-Bahn-System erschlossen werden, diese haben wir als «Funklöcher» bezeichnet. Wir wollten mit der Verbindungslinie möglichst viele davon anfahren. Damit schaffen wir es, die S-Bahn nicht nur direkt ins Zentrum zu bringen, sondern auch Basel Nord mit dem wichtigen Entwicklungs­gebiet Klybeck direkten S-Bahn-Anschluss zu geben. Das wird für die zukünftigen Stadtquartiere im Basler Norden ein wichtiger Impuls sein.

TEC21: Wie bewerten Sie die städtebaulichen Potenziale der geplanten Ausstiegspunkte im Zentrum?
Pierre de Meuron: Verschiedene Orte im Zentrum erhalten eine neue Bestimmung. Die Hauptpost wäre ein idealer Ort, um anzukommen, sie bekäme ein neues Leben. Dieser Post-Standort steht ja aktuell zur Diskussion. Wenn die Post nicht mehr so wichtig ist, dass sie physisch im Zentrum von Basel präsent sein muss, könnte sie Platz machen für etwas Neues. Auch der Spiegelhof ist jetzt nicht sehr überzeugend, er ist kaum belebt. Mit dem Ausstieg könnte dieser Ort eine neue Wertigkeit erhalten – einfach indem wir die bestehenden baulichen Gegebenheiten ausnutzen, ohne Tabula rasa zu machen. Er erschliesst direkt das Universitätsspital und die Universität, die somit auch eine Verankerung in der Stadt erleben.

TEC21: Und der dritte Haltepunkt führt direkt an den zentralen Ort am Basler Rheinknie, die Schifflände.
Pierre de Meuron: Hier wollen sehr viele Leute hin, um sich ­ zu erholen. Der Rhein hat sich zu einem der interessantesten, lebendigsten und aktivsten öffentlichen Räume in Basel entwickelt. Als Angelpunkt zwischen Gross- und Kleinbasel ist dieser Punkt von besonderer Bedeutung. Man kommt hier genau am Ort an, der die Ursprünge der Stadt definiert.

TEC21: Was bedeutet der Ausbau des «Herzstücks» für den Bahnhof SBB?
Pierre de Meuron: Als wir im Team erkannt haben, dass wir sowohl mit dem Badischen Bahnhof als auch mit dem Bahnhof SBB oberirdisch bleiben können, war das ein grosser Durchbruch. Der Bahnhof SBB ist im heutigen Zustand unbefriedigend. Er hat, geschichtlich bedingt, eine schwierige Lage. Es gibt keinen direkten Weg in die historische Kernstadt. Das ist anders als in Zürich oder Luzern, die direkten Anschluss ans Zentrum haben. Auch die Erschliessung ist unbefriedigend. Jetzt wird das in einem ersten Schritt nach Süden verbessert mit dem Meret-Oppenheim-Platz und dem Hochhaus. Damit wird der Bahnhof zweiseitig und erhält eine Anbindung an das Gundeldinger Quartier. Mit dem «Herzstück» erhält er einen neuen Zugang im Westen im Bereich der Margarethen­brücke, also ein drittes Gesicht.

TEC21: Wie wird sich dieser Ort um den Bahnhof verändern?
Pierre de Meuron: Die Margarethenbrücke soll erweitert werden und einen platzartigen Charakter bekommen, in einer ähnlichen Grösse wie der Centralbahnplatz. Über den Margarethenplatz werden die Perrons direkt erschlossen. Der Bahnhof erhält so im Westen ein neues Portal. Damit eröffnet sich die grosse Chance, diesen Ort über die Innere Margarethen­strasse an die Kernstadt anzubinden sowie das Leimental über die Äussere Margarethenstrasse und den Margarethenstich. Auch die Verknüpfung vom Gundeldinger Quartier in die Innenstadt würde gestärkt. Bahninfrastrukturen sind oft trennend, wenn sie oberirdisch sind, hier gibt es nun eine neue, verbindende dritte Seite über den Margarethenplatz. Da wird es zukünftig auch ums Verdichten gehen. Ein Verkehrsknotenpunkt wie dieser wäre sicher ein guter Ort, um zu verdichten.

TEC21: Die Verflechtungen mit der Stadt- und Raumentwick­lung sind eklatant. Es scheint ja fast stärker ein städtebauliches, raumplanerisches Projekt zu sein als ein verkehrliches.
Pierre de Meuron: Das ist genau der Punkt, der uns beschäftigt. Seit der Boom in der westlichen Welt stattfindet, wurde die Stadtentwicklung hauptsächlich vom infrastrukturellen Denken her bestimmt – und viel zu wenig vom raumplanerischen, territorialen Denken. Es ist höchste Zeit, dass dies nicht nur eine Aufgabe der Infrastruktur und der Ingenieurssicht ist, ­sondern das Territorium, das Raumplanerische muss auch eine tragende Rolle spielen. Das ist unser Beitrag.

TEC21: Also ein interdisziplinäres Projekt?
Pierre de Meuron: Ja, wir brauchen alle Sichten. Selbstverständlich braucht es die Ingenieure und das Bundesamt ­ für Verkehr. Aber wir brauchen auch die raumplanerische und städtebauliche Sicht. In diesem Fall berücksichtigt die Infrastrukturplanung die städtebaulichen Bedürfnisse, das hat Modellcharakter. Wenn wir uns mit Wachstum auseinandersetzen, müssen wir uns fragen: Was heisst das für das Gebaute? Beim Gebauten geht es um die Quartiere, die Städte und die Infrastrukturen – es muss alles miteinander koordiniert werden. Und wir müssen auch alle anderen Dimensionen miteinbeziehen, etwa das Gesellschaftliche oder Politische. Wir sind für ein vernetztes, mehrdimensionales Denken.

TEC21: Wenn wir über die gesellschaftlichen und politischen Dimensionen sprechen, bedeutet das auch, all diese vielfältigen Inhalte und Potenziale zu vermitteln. Was erachten Sie hier als wesentlich?
Pierre de Meuron: Man muss kommunizieren bei einem derart wichtigen Thema. Es geht um grosse Investitionen, wir müssen also erklären, weshalb das sinnvoll ist. Es war uns ein Anliegen, plausibel aufzuzeigen, wie wir zu einer Lösung kommen und weshalb sie besser ist als andere Ansätze. Das wollten wir auch bildlich zeigen, um die Menschen anzusprechen. So haben wir etwa mit einem Linienplan gezeigt, wie das ideale Stadtnetz funktionieren sollte und was das für die einzelnen Haltpunkte bedeutet – so als wäre es schon gebaut. Letztendlich geht es um essenzielle gesellschaftliche Fragen, die bislang zu wenig thematisiert werden: Welche urbane Zukunft wollen wir, und wie soll unser Umfeld gestaltet werden? Was wollen wir uns leisten? Das müssen wir zur Diskussion stellen.


[Herzog & de Meuron analysierten für den Synthesebericht die raumplanerischen Anforderungen sowie ­Stadtentwicklungs- und Stadtgestaltungsaspekte (vgl. «Herzstück aufgegleist»).]

TEC21, Fr., 2017.07.14



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2017|28-29 Herzstück Basel – S-Bahn ins Zentrum

30. Juni 2017Tina Cieslik
Susanne Frank
TEC21

Freigespielt

Nachdem sie 2007 den Wettbewerb gewonnen hatten, entwickelten die Architekten Kuhlbrodt & Peters und Beat Aeberhard die Primarschulanlage in La Neuveville zu einem überzeugenden Ensemble, das sensibel auf Topografie und Stadtstruktur reagiert. Im Innern beeindruckt das Gebäude mit seiner räumlichen Komplexität.

Nachdem sie 2007 den Wettbewerb gewonnen hatten, entwickelten die Architekten Kuhlbrodt & Peters und Beat Aeberhard die Primarschulanlage in La Neuveville zu einem überzeugenden Ensemble, das sensibel auf Topografie und Stadtstruktur reagiert. Im Innern beeindruckt das Gebäude mit seiner räumlichen Komplexität.

Siegreiche Wettbewerbsprojekte machen bisweilen eine erstaunliche Karriere – so auch die Erweiterung der Primarschulanlage in La Neuveville, die die Zürcher Architekten Kuhlbrodt & Peters zusammen mit Beat Aeberhard realisierten. Genau genommen begann mit dem Gewinn des Wettbewerbs erst die eigentliche Erfolgsgeschichte dieses Projekts: die Transformation und Neugestaltung der bestehenden Schulanlage zu einem stimmigen Ensemble aus Altem und Neuem, das sich zur Stadt hin öffnet und seinen Kontext feinfühlig miteinbezieht – eine gelungene Stadtreparatur.

La Neuveville ist ein beschauliches Städtchen mit einem kompakten historischen Kern, dessen Bausubstanz überwiegend aus dem 16. bis 19. Jahrhundert stammt. Die malerischen Gebäude in ortstypischer Materialität Putz und Jurakalk sind authentisch erhalten und bilden wohlproportionierte Stadträume mit eigenem Charme. Nördlich der Altstadt schliessen sich die ­Häuserzeilen der Vorstadt an. Um diese beiden Schwerpunkte erweiterte sich die Gemeinde im Lauf der Zeit mit punktförmigen Einzelhäusern, die frei in die ­Land­schaft gestreut sind. Der Ort am Nordwestufer des Bielersees, umgeben von Weinbergen, ist landschaftlich privilegiert und bietet einzigartige Blick­bezüge zu seiner Umgebung.

Die Primarschulanlage liegt am nordöstlichen Rand der historischen Altstadt am Hang, auf halber Höhe zwischen historischem Kern und Vorstadt. Das Hauptgebäude, ein klassizistischer Bau mit reprä­sen­ta­tiver Fassade, stammt aus dem 19. Jahrhundert. In den 1960er-Jahren wurde es um zwei weitere Gebäude ergänzt, die parallel zum bestehenden quer in den Hang gesetzt wurden. Die einzigartige Sicht vom Aussen­bereich auf den See ging damit verloren, ebenso wie umgekehrt die visuelle Präsenz des historischen Hauptbaus im Stadtraum. An dieses Gebäude grenzt im Westen ein Grundstück mit einem Kindergarten und einem Trafohaus, auf dem die Stadt im Jahr 2007 einen Wettbewerb auslobte: Aufgabe war, hier ein Primarschulhaus inklusive Kindergarten als Erweiterung des bestehenden Ensembles zu planen. Mit ihrem Entwurf entschieden die Architekten Kuhlbrodt & Peters in ­Zusammenarbeit mit Beat Aeberhard das Verfahren für sich und wurden für die weitere Planung beauftragt – die sich dann allerdings ganz anders gestaltete als ­ursprünglich im Wettbewerb vorgesehen.

Sensibel im Kontext integriert

Nach einem zweijährigen Aufschub des Projektstarts, bedingt durch einen politischen Wechsel im Conseil Municipal, sollte der Neubau auch die sanierungsbedürftigen 60er-Jahre-Bauten der bestehenden Anlage ersetzen. Mit diesem Projekt, das das Raumprogramm aus dem Wettbewerb und dem Schulhaus aus den 60er-Jahren aufnimmt, gelang den Architekten, gestützt durch die Gemeinde, eine Neuordnung der gesamten Anlage und damit eine markante Aufwertung dieses Orts im Stadtgefüge. Sie platzierten den Neubau, einen kompakten viergeschossigen Solitär mit allseitig ausgerichteter Fassade und flachem Walmdach, auf dem Gelände des historischen Hauptgebäudes. Der Entwurf überzeugt durch seine städtebauliche Setzung längs zum Hang und leicht versetzt zum Hauptbau, nimmt dessen Proportion und Masstäblichkeit auf und integriert sich geschickt in die Topografie. Altes und neues Schulhaus sind auf wohltuende und angemessene Weise präsent im Stadtbild.

Mit der Weiterentwicklung ihres Wettbewerbsentwurfs lösten die Architekten die Schwierigkeiten der vorherigen Konstellation auf: Beide Schulhäuser – Alt- und Neubau – haben nun freie Sicht auf den See und die Altstadt. So entstand eine grosszügige Anlage mit einem Pausenhof, einem kleinen Garten als Experimentierfeld und zwei neuen Plätzen auf unterschiedlichen Geländeniveaus, über die das neue Schulhaus jeweils zugänglich ist. Das den Ort prägende Motiv der Stützmauer ist in die Gestaltung der Aussenräume einbezogen, bestehende Wegebeziehungen sind gut integriert. Die Idee der Planer, die Grünfläche am Hang mit Weinreben zu bepflanzen, liess sich aus Unterhaltsgründen leider nicht realisieren. Ein Schulgarten neben dem Eingangsbereich an der Nordfassade bietet aber pädagogischen Zugang zur einheimischen Flora.

Ein frei stehender Pavillon komplettiert das Ensemble aus altem und neuem Schulhaus und markiert einen räumlich prägnanten Eckpunkt. Dieser neu geschaffene gedeckte Aussenraum, der zukünftig mit Rankpflanzen begrünt sein wird, kann in der Pause, für den Freiunterricht und für verschiedene Anlässe sowohl von der Schule als auch von der Gemeinde genutzt werden. Zusammen mit einem grossen Saal im Untergeschoss des Neubaus, den die Schule auf gleichem Geländeniveau anbietet, verfügt die Anlage somit über ein interessantes Raumangebot für öffentliche Veranstaltungen in der Gemeinde.

Regionale Referenz

Mit seiner Materialität und in der Gestaltung der Fassa­den nimmt das neue Schulhaus den Dialog zu seiner Umgebung auf. Gestockte Sichtbetonfassaden in warmem Beige-Gelb verleihen dem Gebäude einen repräsentativen Charakter, in ihrer Haptik vermitteln sie zwischen Putzbauten und Natursteinmauern der Umgebung. Die Archi­tekten wählten Jurakalk aus der ­Region als Zuschlagstoff, der durch das Stocken der Betonoberfläche sichtbar gemacht wurde. So fügt sich der Neubau mit dem historischen Schulhaus nicht nur in seiner Volumetrie, sondern auch in seiner Materialität zu einem harmonischen Ensemble, ohne dabei seine Eigenständigkeit zu verlieren.

Auch in weiteren Details schaffen die Architekten Analogien zu dem, was am Ort zu finden ist: So erhalten die Fenster durch eine ungestockt belassene Laibung eine Rahmung, ähnlich wie sie in den Putzfassaden der Umgebung zu finden ist; die Fensterteilung lehnt sich an die klassische Symmetrie der Fenster der umgebenden Solitäre an. Dennoch zeigt die Fassade keinen symmetrischen Aufbau, Brüche ­widerspiegeln die innere Ordnung. Die Themen der ­Umgebung werden aufgegriffen, jedoch neu interpretiert und an das Raumprogramm angepasst.

Raumskulptur im Innern

Im Innern überrascht das Schulhaus mit einer ungewöhnlichen räumlichen Komplexität und Grosszügigkeit. Bewegt man sich im Gebäude, verweilt der Blick nicht in einem Geschoss, sondern öffnet sich gleich­zeitig in die Vertikale: Über die Geschosse hinweg sind diago­nale Bezüge sowohl zwischen den einzelnen Raumeinheiten als auch zwischen den unterschiedlichen Ebenen möglich. Der Raum wirkt dadurch offen und licht, die Übergänge zwischen den Geschossen darüber und darunter erscheinen fliessend. Grosse Fenster rahmen den Blick nach aussen, die Beziehung zu Stadt und Landschaft ist so auch im Innern spürbar.

Um diese Wirkung zu erzielen, konzipierten die Architekten einen z-förmigen Erschliessungsraum: Über dieses Prinzip werden jeweils zwei Einheiten – bestehend aus je einer Klasse, Lehrerzimmer, Sanitärblock und dazugehörigem Vorbereich – zusammen­gefasst. Der Clou besteht darin, dass sich die Achsen geschossweise drehen: Damit erzeugen sie eine (räumliche) Verschränkung in der Horizontalen und Vertikalen. Die Architekten verwendeten dieses Motiv bereits im Wettbewerb. Im nun realisierten Entwurf, mit einem grösseren Volumen und Raumprogramm, hatten sie die Chance, ein noch spannungsreicheres Raumgefüge zu konzipieren.

Zusammenspiel der Disziplinen

Dass die verschiedenen Raumeinheiten geschossweise gedreht angeordnet werden, führt räumlich zu einem Gewinn. Um jedoch den Anforderungen der Gebäudetechnik gerecht zu werden, mussten die Planer beson­­dere Lösungen erarbeiten: Da einzig das Element des Aufzugs über alle Geschosse durchgängig ist, war es notwendig, die Leitungsführung sorgfältig zu planen  – was in konstruktiver Zusammenarbeit zwischen Architek­­ten und Ingenieuren gelang. Auch die Klarheit und die skulpturale Wirkung, die sich im Erschliessungsraum zeigen, sind das Ergebnis sorgfältiger Planung. Für die Treppen wurden keine Fertigteile verwendet, sondern sie wurden vor Ort gegossen – nur so liessen sich die punktgenauen Treppenanschlüsse kontrollieren. Die Akustik im Treppenhaus ist überraschend angenehm für einen Raum, der skulptural in Sichtbeton erscheint. Räumlich-ästhe­tische, konstruktive und technische Anforderungen wurden ganzheitlich betrachtet und gelöst. Ver­schiedene Themen sind konzentriert und in einem Ele­ment zusammengefasst: So wurden Leuchtröhren und Akustik­elemente zu einer Technikeinheit gebündelt und in die Decke integriert.

Mit dem Bezug des Schulhauses im vergan­genen Herbst fand das Projekt nach neunjähriger Laufzeit seinen Abschluss. Nicht immer verheisst eine lange Planungszeit Gutes. Oft genug kann man beobachten, dass ein vielversprechendes Konzept Schritt für Schritt verunklärt wird. In diesem Fall hat sich ein gutes Projekt Schritt für Schritt zu einem besonderen weiterentwickelt.

TEC21, Fr., 2017.06.30



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30. Juni 2017Tina Cieslik
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Monochrom heiter

Mit dem 2015 fertiggestellten Erweiterungsbau der Primarschule Avry gelang den Zürcher Architekten Oeschger Reimann Schermesser ein grosser Wurf: Aussen verspielt und innen gewagt, verbindet der Neubau intensive Raumerlebnisse mit kreativer Pflichterfüllung.

Mit dem 2015 fertiggestellten Erweiterungsbau der Primarschule Avry gelang den Zürcher Architekten Oeschger Reimann Schermesser ein grosser Wurf: Aussen verspielt und innen gewagt, verbindet der Neubau intensive Raumerlebnisse mit kreativer Pflichterfüllung.

Anfang der 1970er-Jahre erlangte Avry im Kanton Freiburg regionale Bekanntheit: Die Migros eröffnete hier 1973 eines der grössten Einkaufszentren der Schweiz, gleichzeitig die erste Shoppingmall im Kanton. Der eigentliche Dorfkern von Avry liegt rund 1 km westlich davon, gut versteckt im hügeligen Hinterland, mit bester Aussicht auf die Freiburger Voralpen.

Die Gemeinde ist nicht nur wegen ihrer idyllischen und gleichzeitig verkehrstechnisch gut erschlossenen Lage attraktiv. Die Ansiedlung des Einkaufszentrums und der folgenden Industriebetriebe schuf Arbeitsplätze, die Nähe zum Kantonshauptort ist für Pendler interessant. In den letzten Jahren entwickelte sich das ehemals landwirtschaftlich geprägte Dorf ­sukzessive zur Wohngemeinde. Die Infrastruktur, vor allem die bestehende Primarschule von 1978, konnte den Platzbedarf für die wachsende Schülerschaft nicht mehr decken. Die Gemeinde schrieb daher 2008 einen offenen Projektwettbewerb für einen Neubau aus. Er sollte Platz für neun Primarklassen und drei Kindergartengruppen bieten und auch einen Mehrzwecksaal für die Gemeinde sowie die Zivilschutzanlage beherbergen.

Als Standort war das Grundstück in der westlichen Verlängerung der bestehenden Schule vorgesehen. Siegreich aus der Konkurrenz hervor gingen die Zürcher Architekten Oeschger Reimann Schermesser. Ihr Entwurf löst die Anforderungen in einem ausgeklügelten Raumkonzept, das Innen- und Aussenraum auf raffinierte und vielschichtige Weise miteinander verknüpft.

Formvollendet kindgerecht

Der zweigeschossige Neubau besteht aus zwei aneinandergedockten, leicht versetzten Quadern in der Verlängerung des bestehenden Pausenhofs und eines der Hauptzufahrtswege zum Wohnquartier. Gemeinsam mit dem Bestandsbau entstand auf diese Weise ​ein ​­Ensemble, das der Bedeutung der Schule als öffentlichem, auch von der Gemeinde genutztem Gebäudekomplex gerecht wird. Ins Auge springen zunächst die tanzenden Fenster des Neubaus – alle Fassaden, Sichtbeton mit Grauzement und gebrochenem Jurakies, haben Öffnungen, die auf unterschiedliche Höhen gesetzt sind und deren Formate zwischen stehend und liegend variieren. Umlaufende, mit der Fassade vor Ort betonierte Zargen aus schalungsglatt belassenem Beton betonen die Asymmetrie ihrer Positionierung.

Durch die versetzte Anordnung der beiden Quader und zusammen mit der dreidimensionalen Gestaltung der Fenster gelingt es, den über 53 m langen Bau in die Nachbarschaft der kleinteiligen Wohnbauten zu integrieren. Ein weiterer Aspekt in der Positionierung der Fenster ist die Funktion: Bei den Klassen im OG bieten die unten liegenden Fenster Ausblicke auf Kinderhöhe, die oberen Fenster sind die Lüftungsflügel. Im EG sind die unteren Öffnungen auch als Eingänge oder Fenstertüren aus­gebildet, die oberen dienen der Belichtung. Die Nordfassade zum Pausenhof ist zudem als gedeckte Arkade ausgeführt. Hier erlauben die Öffnungen den Zugang zum Schulhaus, und die unverglasten Rahmen dienen als Sitzgelegenheit für die Kinder.

Räume mit Mehrwert

Ein wichtiges Kriterium im Wettbewerb – und später bei der Abstimmung über den Baukredit – war der Mehrzwecksaal. Er sollte von der Gemeinde auch zu ausserschulischen Zeiten zu nutzen sein. Die Architekten platzierten den 162 m² grossen Saal an der Ostseite des Baus, gegenüber der bestehenden Anlage, mit deren Pausenhof er einen auch für Veranstaltungen nutzbaren Aussenraum erhielt. Der Zugang für die Besucher erfolgt vom Laubengang an der Nordseite. An der Südseite der Halle liegt die Grossküche. Beide Räume, Küche und Saal, sind über die zentrale Eingangshalle auch von der Schule aus erschlossen.

Überhaupt die Erschliessung: Beim Blick auf die Grundrisse erkennt man, was für ein wichtiges Entwurfsthema sie darstellt. Die Architekten verzichteten auf eine schulhaustypische Erschliessung mit langen Gängen und setzten stattdessen auf eine Aneinanderreihung von Hallen, um die die einzelnen Klassenzimmer gruppiert sind. Diese horizontale und via wenige Stufen auch vertikale Verschränkung der Räume erlaubt zum einen, das ansteigende Terrain ohne grosse Treppenfluchten zu überbrücken; zum anderen handelt es sich bei den Hallen eher um öffentliche ­Plätze denn um reine Verkehrsflächen: Im Zentrum der Quader dienen die zenital belichteten Räume jeweils als Garderobe. Neben vier Reihen mit umlaufenden Kleiderhaken an den Wänden – ehemaligen Schrankgriffen – entwarfen die Architekten dafür amorphe Sitzmöbel in Kleeblattform, die gleichzeitig als Schuhregal dienen. Jeweils drei Möbel zonieren den zentralen Kern, von dem aus vier Klassenzimmer erschlossen werden.

Grosszügig und variabel

Neben dem öffentlichen Bereich mit Saal, Küche und Sanitärräumen ist im Erdgeschoss im ersten, nordöstlichen Quader auch das Lehrerzimmer untergebracht. Der 90 cm höher liegende, südwestliche Teil beherbergt den Kindergarten mit kleineren Spielnischen und einen Klassenraum. Zwei gespiegelte gegenläufige Treppen führen ins Obergeschoss, hier komplettieren acht Klassenzimmer sowie ein Büro für die Logopädie und ein Raum für den Spezial- und Stützunterricht das Raumprogramm. Räumlich (und auch pädagogisch) interessant sind die offenen Lernlandschaften in den zentralen Hallen. Im Obergeschoss sind sie nicht Teil des Brandschutzkonzepts und können daher auch möbliert werden.

Im Brandfall schliessen Brandschutz-Schiebetüren die Bereiche ab, regulär kann die Zirkulationszone so aber auch in zwei Gruppenräume unterteilt werden. Indi­viduelle Gruppenräume für jedes Klassenzimmer, wie sie sich in der Deutschschweiz in jenen Kantonen durchgesetzt haben, die dem Harmos-Konkordat (interkantonale Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule) beigetreten sind, waren nicht gefordert. Dafür liegen die Grundflächen der einzelnen Klassenräume mit je 81 m² deutlich über den rund 70 m² (plus Gruppenräumen), die beispielsweise der Kanton Zürich standardmässig für seine Unterrichtsräume in den Primarschulen veranschlagt.[1]

Und die Farbe?

Neben aller räumlicher Raffinesse ist es jedoch die ungewöhnliche Farbigkeit der Innenräume, die auf den ersten Blick verblüfft und auf den zweiten Blick überzeugt. Über ihre gestalterische Funktion hinaus veranschaulicht die Farbgebung das räumliche Konzept: Das «Herz der Schule», die öffentlichen Räume, Hallen, Treppenhäuser, Sanitärräume sind monochrom in ­Pastellblau gehalten; die  «Innenräume» – Klassen- und Lehrerzimmer, aber auch der Mehrzwecksaal und die Grossküche – in Pas­tellgrün. Die Wahl der Farben greift auch die ländliche Umgebung mit tiefem Horizont, viel Himmel und grünen Weiden auf, die durch praktisch jedes der grossflächigen Fenster zusammen mit viel Tageslicht nach innen wirken.

Mit den wechselnden Lichtsituationen eines Tags, aber auch mit jenen der Jahreszeiten bilden die Flächen eine Palette an Intensität von fast Weiss bis Tiefblau bzw. -grün. Spannend wird es immer dort, wo die Töne aufeinandertreffen und wo farbige Schatten und Überlagerungen zusammenkommen. Und das funktioniert überraschenderweise auch im Betrieb: Rund zwei Jahre nach Bezug erweisen sich die Ober­flächen als bemerkenswert ruhiger Hintergrund für ­ die Werke kindlicher und pädagogischer Kreativität.

Beharrlichkeit lohnt sich

Neun Jahre sind seit dem Wettbewerb vergangen, zwei Jahre seit der Eröffnung der Primarschule. Die lange Planungs- und Bauzeit war primär bedingt durch die planerischen Strukturen mit einer Gemeinde als Bauherrschaft und dem Sujet Schulhaus als öffentlicher Bauaufgabe – mit hoher Relevanz für das Dorfleben und entsprechend vielen Beteiligten. Das hat aber auch seine gute Seiten: Die Akzeptanz des Baus vor Ort ist hoch, die Nutzer sind zufrieden – trotz oder vielleicht auch gerade wegen des gewagten Farbkonzepts. Dies ist das Verdienst der hochwertigen Architektur, aber auch der Geduld und des kommunikativen Geschicks der beteiligten Planer.


Anmerkung:
[01] Vgl. «Raumstandards für Volkshochschulen der Stadt Zürich», zum Download unter: bit.ly/2sh0lQV. Für die Gruppenräume werden den Flächen allerdings jeweils noch einmal ein Viertel bzw. die Hälfte der Klassenzimmerfläche zugerechnet.

TEC21, Fr., 2017.06.30



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09. Juni 2017Tina Cieslik
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«Der Nutzer passt sich dem Haus an»

Fünf Bieler Architekten kauften im September 2015 das 1957–1959 von Max Schlup erbaute Farelhaus. So besonders wie der Bau, so ungewöhnlich ist das Konzept seiner Instandsetzung. Aktuell wird er schrittweise saniert – eine Geschichte von Mut, Fantasie und Verhältnismässigkeit.

Fünf Bieler Architekten kauften im September 2015 das 1957–1959 von Max Schlup erbaute Farelhaus. So besonders wie der Bau, so ungewöhnlich ist das Konzept seiner Instandsetzung. Aktuell wird er schrittweise saniert – eine Geschichte von Mut, Fantasie und Verhältnismässigkeit.

Es war ein Schlüsselwerk in seinem Schaffen: Mit dem Direktauftrag für den Bau des Farelhauses für die evangelisch-reformierte Gesamtkirchgemeinde Biel wandte sich der dort ansässige Architekt Max Schlup Ende der 1950er-Jahre weg vom Heimatstil hin zur Haltung der Solothurner Schule. Das Gebäude an prominenter Lage an der Schüsspromenade war in seiner Architektur ebenso visionär wie in seiner Nutzung: Curtain Wall, offener Innenhof und eine beeindruckende Transparenz im Erdgeschoss, dahinter ein multifunktionaler Kosmos aus Veranstaltungssaal, Bistro und Mehrzweckräumen. Die fünf Obergeschosse beherbergten Büros, Wohnungen und ein Mädchenheim.

Doch was vor rund sechs Jahrzehnten zukunftsträchtig war, ging über die Jahre im Alltag verloren.

Umnutzungen und eine fehlende Gesamtkoordination für eine Instandsetzung setzten dem Bau zu – so weit, dass sich die Gemeinde mangels zeitgenössischem Nutzungskonzept und finanziellen Mitteln 2015 gezwungen sah, den Bau zu verkaufen. Das Raumangebot mit Restaurant und Saal in Kombination mit der anstehenden Sanierung barg aber viele finanzielle Risiken und war damit für klassische Investoren schlicht zu unattraktiv. Ein Glück war die Ausgangslage hingegen für die Bieler Architekten Stephan Buchhofer, Reto Mosimann, Simon Schudel, Oliver Schmid und Ivo Thalmann. Sie hatten be­reits Erfahrungen mit Schlups Bauten gesammelt, sei es in der Bauberatung des Heimatschutzes, bei der Mitarbeit an der 2013 erschienenen Schlup-Monografie[1] oder bei der Instandsetzung von dessen Gebäuden.

Ihr Ansatz für die Sanierung (vgl. «Das Wunder von Biel», TEC21 11/2017) ist nicht modellhaft, aber vorbildlich: Er stellt die bestehende Struktur mit all ihren Qualitäten, aber auch Schwächen ins Zentrum und fokussiert nicht auf heutige Anforderungen an Nutzung und Komfort. Kann diese Grundhaltung auch nicht als universelles Rezept für einen gelungenen Umgang mit Bauten aus dieser Zeit propagiert werden, so zeigt das Beispiel Farelhaus doch, dass eine Herangehensweise frei von Ideologien, gepaart mit Risikobereitschaft und beschränkten ­Mitteln, der Bedeutung und Substanz eines derartigen Objekts durchaus gerecht werden kann. Die heutigen Nutzungen entsprechen dabei jenen von damals: ein bunter Mix aus Büros, Wohnungen, Bistro und dem Veranstaltungssaal. Im Gespräch erzählt das Team von der Gratwanderung zwischen architektonischer Wertschätzung und Wirtschaftlichkeit und von der Doppelrolle als Architekten und Investoren.

TEC21: Beim Farelhaus treten Sie gleichzeitig als Investoren, als Architekten und als Betreiber auf. Wie sind Sie organisiert?

Team Farel: Kauf und Sanierung haben wir selbst finanziert. Zunächst dachten wir, wir übernehmen das Haus, organisieren von Zeit zu Zeit einen Vortrag und füllen es wieder mit Büros. Aber bald merkten wir, dass das wahrscheinlich nicht reichen würde, um die Kirchgemeinde als Verkäuferin zu überzeugen – ein Haus zu renovieren ist eins, aber es mit Nutzungen zu belegen und zu betreiben ist eine ganz andere Sache und war für uns eine Herausforderung. Nebst der Konstituierung der Trägerschaft als AG gründeten wir einen kulturellen Beirat, daraus entstand später der von der Trägerschaft unabhängige Kulturverein. Die Trennung ermöglicht, dass die AG klassische Themen wie Rentabilität und langfristige Finanzierbarkeit verfolgen und so die Rahmenbedingungen für den Kulturverein schaffen kann.

TEC21: Nach dem Kaufentscheid hatten Sie kaum Planungszeit. Wie konnten Sie das als Team bewältigten?

Team Farel: Wir kennen uns schon lang. Gegenseitiges Vertrauen ist die Voraussetzung für ein solches Vorhaben. Für die Sanierung gab es anfangs zwei­wöchentliche Sitzungen mit uns allen. Wir haben aber schnell gemerkt, dass die Fäden irgendwo zusammenlaufen müssen. In diesem Fall wanderte die Verantwortung langsam zu Ivo Thalmann. Jeder im Team nimmt eine spezielle Rolle ein: Der eine ist der Aussenminister, kennt sich im Schlup-Archiv aus und war massgeblich an der Schlup-Monografie beteiligt. Ein anderer regelte die Finanzen, Mietverträge und das Baugesuch. Wiederum andere übernahmen spezifische Themen wie die Fassade oder den Brandschutz. Das ist der Vorteil eines Teams. Wir hätten es sonst nicht geschafft.

TEC21: In welchem Zustand fanden Sie den Bau vor?

Team Farel: Wir haben 40 Jahre Investition rückgebaut. Vor allem die Wohnungen waren in ziemlich schlechtem Zustand. Das hat mit der flachen Hierarchie der Kirchgemeinde zu tun: Jemand hatte eine Idee, brauchte einen Raum und renovierte ihn nach seinem Gusto. Was fehlte, war eine gesamthafte Koordination der individuellen Umbauten. Originale Bodenbeläge wurden mit diversen Materialien belegt, Backsteinwände teilweise gestrichen oder gar verputzt.

TEC21: Seit wann steht das Gebäude unter Denkmalschutz?

Team Farel: Erst seit der Sanierung. Vorher war es im Inventar als schützenswert eingetragen. Im Kanton Bern gibt es für Baudenkmäler die beiden Stufen «erhaltenswert» und «schützenswert». Bauten der ersten Kategorie sollen wegen ihrer ansprechenden architektonischen Qualität oder ihrer charakteristischen Eigenschaften geschont, jene der letzteren ungeschmälert bewahrt werden. Wenn saniert wird und die Denkmalpflege Beiträge spricht, gibt es ab 5 000 Franken einen Unterschutzstellungsvertrag. Die gesprochenen Beiträge sind an eine Begleitung der Sanierung durch die Denkmalpflege geknüpft.

TEC21: Inwieweit hat die Sanierung des Farelhauses den Denkmalschutz interessiert?

Team Farel: Sie war insofern von Interesse für die Denkmalpflege, als wir dafür finanzielle Unterstützung beantragt hatten. Inhaltlich waren wir in dieser Hinsicht gut aufgestellt: Nebst der Bearbeitung vieler im Inventar eingetragenen Bauten durch alle Beteiligten hatten spaceshop Architekten von 2008 bis 2010 die Eidgenössische Sportschule in Magglingen von Max Schlup saniert. 0815 Architekten hatten die Villa Favorita in Biel von 1861 saniert. Die Objekte wurden 2010 und 2012 mit dem Nationalen Denkmalpflegepreis ausgezeichnet. Die Eigentümerschaft hatte also grosses Vertrauen, dass der Bau bei uns in die rich­tigen Hände kommt. Dass das Farelhaus ein Schutz­objekt darstellt, ist in der Fachwelt unbestritten. Aber in der Politik wird alles infrage gestellt, was eine Einschränkung darstellen könnte – ein solches Gebäude braucht einen Mentor, sonst ist es weg.

TEC21: Was ist Ihr Sanierungskonzept?

Team Farel: Die wirtschaftliche Basis hat die Eingriffs­tiefe definiert, wobei sich dieser Ansatz auch mit unserer architektonischen Haltung deckt: möglichst bescheiden, bauschadenfrei und kostendeckend. Bescheidenheit beinhaltet ein stufenweises, situatives Vorgehen in Bezug auf die Substanz. Letztendlich ging es darum, diese zu erhalten. Dazu kommen der wirtschaftliche Aspekt und die Bauzeit von knapp einem halben Jahr: Hätten wir hier mehr Spielraum gehabt, hätten wir möglicherweise vieles anders gemacht. Hingegen gibt es Dinge, die man einfach in die Hand nehmen muss, zum Beispiel die Wasserinfiltrationen ins Untergeschoss. Und dann gibt es Risikoentscheide, wie die über 50-jährigen Installa­tionen oder die der 20-jährige Kessel der Heizung, die wir belassen haben. Als Investoren konnten wir bewusst Risiken in Kauf nehmen, die wir als Architekten im Auftrag einer Bauherrschaft vielleicht auch anders beurteilen würden. Für dieses Projekt war das eine grosse Chance.

TEC21: So zu denken erfordert eine neue Sicht der Dinge im Umgang mit einer derartigen Substanz.

Team Farel: Unsere Strategie war es, nicht zu viel zu machen. Wir gehen nicht von Idealen aus, sondern von dem, was unter diesen Umständen möglich ist. Und das darf man auch spüren. Der Nutzer passt sich dem Haus an, nicht umgekehrt. Es gibt Menschen, die sich in genau solchen Räumen wohlfühlen. Wir müssen diese Leute finden und nicht unsere Vorstellungen, die es auch gibt, auf alle Räume übertragen.

TEC21: Der energetische Aspekt ist bei einem Gebäude aus dieser Zeit durchaus ein Thema – gab es dazu Auf­lagen?

Team Farel: Bauten der 1950er- und 1960er-Jahre erfahren ja im Vergleich zu anderen historischen Bauten wenig Wertschätzung. Sie werden oft totsaniert oder verschwinden zugunsten von Ersatzbauten aus dem Stadtbild. Das liegt auch daran, dass man den Anspruch an die bestehende Substanz zu hoch ansetzt. Wir finden es fragwürdig, eine Sanierung durchzuführen, die gleichbedeutend mit einem Neubau ist – nur um eine Struktur zu erhalten, für die es heute nur bedingt eine Nachfrage gibt. Manchmal kann es auch zu einem Problem werden, wenn zu viel Geld da ist. Bei einem Altstadthaus ist jedem, auch einem Investor, klar, dass es gewisse Einschränkungen beim Komfort gibt. Da herrscht Konsens. Bei einem Gebäude aus den 1950er- oder 1960er-Jahren hat man dagegen das Gefühl, es sei ein modernes Haus, aber mit vielen Fehlern. Man vergleicht es mit einem zeitgenössischen Neubau. Dazu kommen die Standards der Behörden. Dort werden mittels Labels wie Minergie-P-Eco oder 2000-Watt-Gesellschaft politische Leitplanken gesetzt, sodass man als Planer oft nur noch wenig Spielraum hat.

TEC21: Wie ist der aktuelle Stand der Nutzung? Ist alles schon vermietet?

Team Farel: Alles, was fertig ist, ist vermietet. Wir haben mehr Nachfrage als Platz. Im zweiten und dritten Obergeschoss, dem ehemaligen Mädchenheim «Freundinnen junger Mädchen», haben wir mit der Sanierung noch nicht angefangen. Diese startet nach den Verhandlungen mit der zukünftigen Nutzerschaft im Frühsommer dieses Jahres. Hier soll eine Gemeinschaft mit unterschiedlichen Nutzern entstehen.

TEC21: In den Obergeschossen gibt es Büros neben Wohnungen, im Erdgeschoss liegt das Bistro, und im Saal finden Veranstaltungen statt. Führt das mit den Mietern zu Konflikten? Oder ist klar definiert: Wenn man hier wohnen oder arbeiten will, ist man mit der Art, wie das Haus genutzt wird, einverstanden?

Team Farel: Das Multifunktionelle des Hauses wird geschätzt. In den Mietverträgen gibt es einen Passus «Besondere Bestimmungen zu den Räumen». Darin wird alles beschrieben – was dieses Haus ist und was diese Räume können und was nicht. Da gibt es den Satz: «Die Dichtigkeit der Gebäudehülle ist zeittypisch und entspricht dem Standard eines Gebäudes aus den 1950er-Jahren. Allfällige Beeinträchtigungen gehören zum Charme des Gebäudes.» Und unter «Nachbarschaft»: «Das Farelhaus verfügt über eine gemischte Nutzung mit Wohnungen, Büro, Atelier, Bistro und Saal für kulturelle Events. Die unterschiedlichen Nutzungen verlangen von allen Beteiligten Offenheit und Respekt im gegenseitigen Umgang.» So kann das Gebäude als Kulturgut erhalten und ein offener Geist gepflegt werden.


Anmerkung:
[01] Architekturforum Biel (Hg.): Max Schlup. Architekt, Niggli, Sulgen 2013.

TEC21, Fr., 2017.06.09



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Innovatives Bewahren

Zentrales Element im respektvollen Umbau des Hauptsitzes der Zürcher Kantonalbank ist die Schalterhalle. Die Basler Architekten jessenvollenweider haben sie als öffentlichen Stadtraum interpretiert und damit an der Bahnhofstrasse ein urbanes Angebot geschaffen.

Zentrales Element im respektvollen Umbau des Hauptsitzes der Zürcher Kantonalbank ist die Schalterhalle. Die Basler Architekten jessenvollenweider haben sie als öffentlichen Stadtraum interpretiert und damit an der Bahnhofstrasse ein urbanes Angebot geschaffen.

Mit dem Wiederentdecken ursprünglicher Qualitäten verfolgten jessenvollenweider in der Ergänzung und dem Weiterbau des Bankgebäudes eine Strategie, die die Kraft und Eleganz des Altbaus herausarbeitet. Gleichzeitig sind für sie die bestehenden Schwächen der Ausgangspunkt, das Gebäude nach zeitgemässen Ansprüchen an Raum und Nutzung zu interpretieren. So lassen sie ein neues Ganzes entstehen.

Der Hauptsitz der Zürcher Kantonalbank an der Bahnhofstrasse in Zürich entstand Ende der 1960er-Jahren nach Plänen des Architekten Ernst Schindler. Die kraftvolle Stützenordnung der Fassade integriert sich gut in die gründerzeitlichen Strassenfronten der angrenzenden Büro- und Verwaltungsbauten und ist bis heute ein selbstverständlicher Teil im Stadtbild. Zentrales Element im Innern war die zweigeschossige Haupthalle, die von schweren, horizontal umlaufenden Brüstungsbändern in der Höhe gegliedert und von einer Lichtdecke begrenzt wurde. Schindler hat dem Gebäude durch den Einsatz von schwedischem Marmor seine ganz eigene Eleganz verliehen, im Innern unterstützt durch die Verwendung von schwarzem Tropenholz für Wände und Möbel.

Die räumlichen und atmosphärischen Qualitäten, die das Gebäude besass, sind im Zuge von Nutzungsanpassungen und Sanierungsmassnahmen über die Jahre verloren gegangen. Neue Vorstellungen, wie der Hauptsitz zukünftig zu nutzen sei, führten schliesslich 2007 zu einem geladenen Wettbewerb mit Präqualifikation, den jessenvollenweider für sich entscheiden konnten.

Die Architekten haben mit ihrem Konzept den Hauptsitz der Zürcher Kantonalbank – trotz der erforderlichen tiefgreifenden Modernisierung und des dazu notwendigen Rückbaus bis auf die Grundstruktur – im Geiste Schindlers in Wert gesetzt und gleichzeitig die öffentlichen Bereiche im und um das Ge­bäude neu interpretiert.

Neue Öffentlichkeit

Den Passanten, die heute durch die obere Bahnhofstrasse schlendern, mag zunächst nicht auffallen, dass sich der Hauptsitz der Zürcher Kantonalbank mit der Renovation grundlegend gewandelt hat, zu vertraut ist das Bild, das sich ihnen bietet. Die strenge, klare Fassade des Hauses wurde erhalten, auch die neuen Fenster den Originalen nachgebaut. Lediglich das Kafi Züri und das Büro Züri mit temporären Arbeitsplätzen, die neu den Haupteingang flankieren, verweisen auf die Veränderungen, die das Haus mit dem Umbau erfahren hat.

Die von Schindler als offener Bereich konzipierte Haupthalle öffnet sich heute nicht nur zur Bahnhofstrasse, sondern ist zentraler Bereich eines neu entstandenen, alle angrenzenden Strassenräume verbindenden Wegnetzes. An diesem Wegnetz angegliedert liegt auch das neue Atriumhaus, das aus dem geschlossenen Sicherheitsbereich in einen Neubau in den Hof des Gebäudes verlegt wurde, ebenfalls öffentlich zugänglich ist und im oberen Geschoss Medienräume aufnimmt. Diese stadträumliche Öffnung des Gebäudes spiegelt sich in der Ausgestaltung der Haupthalle.

Die ehemalige Schalterhalle ist als öffentlicher Stadtraum interpretiert. Sie hält mit Bancomaten im Innenbereich sowie einem öffentlichen Café und kostenfreien Arbeitsplätzen als Schnittstelle zum Aussenraum einerseits ein urbanes Angebot bereit und ist andererseits auf den Kundenservice der Bank zugeschnitten. Die Halle besticht durch ihren gross­zügigen, wohlproportionierten Raum, der auch heute wieder von einer Lichtdecke überspannt wird. Um dies zu erreichen, haben die Architekten die Decke neu konstruiert und um ein halbes Geschoss angehoben, sodass die Schalterhalle heute dreigeschossig ist.

Die Lifte am Eingang und die einst durch den Raum führenden Rolltreppen, die als Einbauten den Raum beschnitten haben, sind verschwunden, dafür ist die skulpturale Wendeltreppe, die die Schalterhalle mit den Besprechungsbereichen verbindet, erhalten und freigespielt. «Wir haben uns vom Gedanken leiten lassen, wie es Schindler gemacht hätte, wenn er unter den heutigen Rahmenbedingungen arbeiten würde», erläutert der Architekt und Projektleiter Sven Kowalewsky eine der Herangehensweisen von jessenvollenweider.

Sanfte Wucht und fremde Eleganz

Ist die neue Organisation der Halle mit Infotheke und Service-Desk im Erdgeschoss und Beratungszimmern auf den oberen Ebenen dem modernen Servicekonzept der Bank geschuldet, so ist der Ausbau am ursprünglichen Konzept Schindlers angelehnt, dem für die Schalterhalle mit ihrer Lichtdecke das Büro- und Geschäftshaus Rautatalo in Helsinki (Wettbewerb 1951) Pate stand.

Auch bei der Wahl der Materialien referenziert der Ausbau an die ursprüngliche Ausgestaltung. Den Bodenbelag bildet ein Muschelkalk, die Verkleidungen von Stützen und Brüstungen bis ins 2. Obergeschoss sind aus Ekeberger Marmor. Kontrastierend dazu sind die hölzernen Einbauelemente aus geräucherter Elsbeere, einem Schweizer Birnbaum, die entfernt an die von Schindler eingesetzte nordafrikanische, fast schwarze Wenge erinnert. Die wenigen ausgesuchten Materialien unterstreichen die räumliche Wirkung der dreigeschossigen Halle und ihre diskrete Eleganz.

Licht, transparent und identitätsstiftend

Ihre Grosszügigkeit verdankt sie jedoch massgeblich der Anhebung der Lichtdecke um ein halbes Geschoss. Während Schindler die Decke auf der Brüstung des zweiten Obergeschoss angeordnet hatte und die an den Lichthof angrenzenden Räume damit gefangen waren, ist mit der Anhebung der Lichtdecke eine zweite Galerieebene entstanden, die zudem den zusätzlichen Raumbedarf für Beratungszimmer abdeckt. Im Zuge dessen interpretierten die Architekten auch die innere Lichthoffassade neu zugunsten einer höheren Transparenz und mehr Raumtiefe für die dahinter liegenden Zonen.

Die neue Lichtdecke in der Schalterhalle orientiert sich ebenfalls am historischen Vorgänger. Es sind wie zuvor 64 Oberlichter, die in nach aussen leicht gebogenen Reihen an der Decke angeordnet sind. Jeder Leuchtkörper, eine Eigenentwicklung der Architekten, besteht aus 260 Glaszylindern, von denen jeder einzelne mit einem LED-Leuchtmittel ausgestattet ist. Die Leuchten sorgen für eine gleichmässige, homogene Ausleuchtung der Kundenhalle. Dabei kombinieren sie bei Bedarf das über den darüber liegenden Lichthof einfallende Tageslicht mit Kunstlicht. Unter der Lichtdecke kreuzen sich die Wegeverbindungen, die neu über das Areal und in die Kundenhalle führen.

In das Zentrum geleitet werden Kunden und Besucher von einer eigens konzipierten «leuchtenden Linie», die die Wege von den Eingängen in die Kundenhalle begleiten und von der Decke abgespannt sind. In der Halle verbinden sich so beinahe unmerklich Tages- und Kunstlicht zu einer hellen, angenehmen Lichtstimmung, die den Raum nicht nur als Zentrum des Hauses, sondern auch als öffent­lichen Treffpunkt definieren.

Im Sinn Schindlers weitergedacht

Was heute so selbstverständlich erscheint, ist Ergebnis einer insgesamt acht Jahre dauernden Planungs- und Umsetzungsphase, wobei Letztere mit dem Rückbau des Gebäudes bis auf die Tragstruktur und der Beseitigung von Altlasten begann. Die vorangegangene Planungsphase war geprägt von einem intensiven Dialog zwischen Architekten, Bauherrschaft, Denkmalpflege und Behörden. Nicht zuletzt musste das Projekt durch die neue Hof- und Dachform, den Neubau eines Medienzentrums im Hof sowie die Neudefinition der Erdgeschossbereiche und -nutzungen vom Zürcher Gemeinderat bewilligt werden. Mit Erteilung der Baubewilligung wurde das Gebäude, das zuvor bereits inventarisiert war, unter Denkmalschutz gestellt.

Die Fassade, die gesamthaft geschützt ist, ist daher bis auf das Erdgeschoss originalgetreu erhalten, die neuen Fensterelemente sind Nachbauten ihrer Vorgänger. Im Innern, vor allem bei der Erneuerung der zentralen Kundenhalle, hat der Denkmalschutz das Konzept der Architekten mitgetragen, die Absichten Schindlers durch die getroffenen Massnahmen zu akzentuieren und die raumgreifenden Kunstwerke der Künstler Christine Streuli (Bodenintarsie) sowie Andres Lutz und Anders Guggisberg (Endlosschleife) zu integrieren. Bei der Haustechnik ist es gelungen, trotz den raumklimatisch hohen Anforderungen mit einem ausgefeilten Konzept und einer Seewassernutzung die Massnahmen auf das Notwendigste zu reduzieren und Minergiestandard zu erreichen.

Jessenvollenweider haben als «innovative Bewahrer» mit ihrem Konzept einer respektvollen, den Altbau lesenden Erneuerung an der oberen Bahnhofstrasse Bestehendes nicht nur erhalten, sondern im Sinn der ursprünglichen Absichten der Architektur nach­haltig weiterentwickelt.

TEC21, Fr., 2017.05.19



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TEC21 2017|20-21 Innenräume: Same same but different

03. Februar 2017Susanne Frank
Andrea Wiegelmann
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«Die Stadt zuerst»

Die Basler Architekten Anna Jessen und Ingemar Vollenweider haben mit ihren Entwürfen die WerkBundStadt mitgestaltet und die Entwicklung des Projekts im kooperativen Verfahren begleitet. Sie berichten, was sie daraus gewonnen haben und wie man dies zukünftig nutzen kann.

Die Basler Architekten Anna Jessen und Ingemar Vollenweider haben mit ihren Entwürfen die WerkBundStadt mitgestaltet und die Entwicklung des Projekts im kooperativen Verfahren begleitet. Sie berichten, was sie daraus gewonnen haben und wie man dies zukünftig nutzen kann.

TEC21: Frau Jessen, Herr Vollenweider, was ist das Besondere an diesem Projekt? Was macht diese WerkBundStadt aus?

Anna Jessen: Die klassischen Werkbundsiedlungen, wie etwa die Weissenhofsiedlung in Stuttgart, definieren sich darüber, dass neue Wohnmodelle geschaffen werden. Die WerkBundStadt in Berlin definiert sich in erster Linie über die Frage, was ein städtischer Raum heute sein kann und welche Qualitäten es hat, in einem städtischen Kontext zu wohnen. Die Montage der Weissenhofsiedlung in das Grundstück, auf dem die Werkbundstadt entstehen soll (Plan), zeigt gut, dass die WerkBundStadt einen völlig anderen Massstab und Charakter besitzt und dass die kompositorische Setzung von einzelnen Ein- oder Mehrfamilienhäusern heute nicht mehr das Thema sein kann.

Ingemar Vollenweider: Es geht hier nicht zuerst um Wohnungsbau, sondern um Stadtbau. Das bisherige Projekt ist folglich nicht das Ergebnis eines Wohnbauexperiments, wie es von Teilen der Presse reflexartig vermisst und entsprechend kritisch diskutiert wurde. Vielleicht rührt dieses Missverständnis daher, dass wir nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Deutschland zuerst Wohnungs- und Siedlungsbau machen und das dann mit Stadtbau gleichsetzen. Im Zweifelsfall setzt sich auch in Wettbewerben nicht der konsequente Städtebau, sondern der coole oder auch nur wirtschaftliche Wohnungsgrundriss durch. Hinter dem Entwurf zur WerkBundStadt steht eine andere Überzeugung: Er möchte öffentliche Räume schaffen, die Identität und Kollektivität ermöglichen, und thematisiert damit die Frage, was wir vom städtischen Raum erwarten. Daher heisst das Projekt auch WerkBundStadt und nicht Werkbundsiedlung.

TEC21: Der städtebauliche Entwurf ist eine Synthese aus unterschiedlichen Konzepten. Mit welchen Themen haben Sie sich im Vorfeld auseinandergesetzt?

Anna Jessen: Die Frage, wie heute und an diesem Ort ein glaubwürdiger städtischer Raum funktio­nieren und aussehen kann, hat uns interessiert.
Die Bildung von Plätzen haben wir eher hinterfragt, wir hatten Respekt vor deren latenten Zentralität, auch vor der Frage, wie viel anonyme Textur dafür notwendig wäre. Dagegen haben wir uns gewundert, warum im Zusammenhang mit Wohnungsbau keine Strassenräume mehr gebaut werden. Die Strasse scheint uns ein verheissungsvoller öffentlicher Raum. Nicht ein neutrales Raumkontinuum, sondern ein klar gerichteter, vielleicht geknickter Raum, mit einem Ausschnitt des Himmels und dem Vis-à-vis von zwei Strassenseiten.

Ingemar Vollenweider: In unserem städtebaulichen Konzeptbeitrag, den wir gemeinsam mit Caruso St John entwickelten, ging es uns darum, das Quartier mit dem Wasser zu verbinden. Daher waren die Strassen unser Leitmotiv und nicht die Blöcke, die im abgestimmten Modell viel dominanter sind. Ich finde es interessant, dass es jetzt einen Platz gibt, der aber nicht allseitig von Gebäuden umstellt wird, sondern an das Kraftwerksareal von Vattenfall angrenzt. Er wird so zu einem verbindenden Element, gerade wenn sich das Quartier einmal weiterentwickeln sollte.

TEC21: Der Prozess der Entwicklung dieses städtebaulichen Entwurfs ist aussergewöhnlich. Wie kam es zu diesem Entwurf?

Anna Jessen: Acht Teams mit jeweils zwei Büros haben ihre städtebauliche Vision für das Areal entwickelt und an einem langen Wochenende in Berlin sich gegenseitig vorgestellt. Die Gesamtverantwortlichen des Werkbunds, Paul Kahlfeldt und Claudia Kromrei, nahmen dabei eine Schlüsselposi­tion ein, indem sie hier wie später die Qualitäten der Einzelentwürfe bündelten, Entscheide fällten oder, besser noch, diese sanft herbeiführten. Gegen den Widerstand der einzelnen Autoren, die klare, einheitliche Konzepte forderten, am besten natürlich ihr eigenes, haben sie den Mut und den Nerv gehabt, sich die stärksten Elemente aus jedem Plan zu suchen, wie die lange, leicht geknickte Strasse, dann den Platz an der Brandwand zu Vattenfall und schliesslich die parzellierten Blöcke, die in ihrer Kompaktheit den Massstab des Berliner Blocks zu verdichten scheinen.

Ingemar Vollenweider: Dann gab es diese Idee, an besonderen Orten Kopfbauten auszubilden, höhere Häuser am Wasser in Anlehnung an die Spreefront von Vattenfall und Türme am Platz, was aus baurechtlichen Gründen nicht ganz einfach ist und als Tendenz eine gewisse Miniaturisierung des Stadtquartiers befördert. Das wird man in den nächsten Schritten kritisch prüfen müssen.

Anna Jessen: Der heutige Stand hat wohl eher etwas viele Themen für das nicht allzu grosse Stück Stadt. Noch ist es eine Collage von unterschiedlichen Stadträumen, aus denen aber tatsächlich eine städtische Textur entstehen kann, als Alternative sowohl zur homogenen Reformstadt als auch zum Tuttifrutti der postmodernen Architekturzoos in Stadtzentren. Genau an dieser Grenze liegt aber sicher auch das grösste Risiko des Projekts.

TEC21: Beim städtebaulichen Entwurf der WerkBundStadt wurde ausgehend von diesem das Wohnen definiert. Bei Projekten wie «Mehr als Wohnen» ist man hingegen vom Wohnmodell ausgegangen.

Ingemar Vollenweider: Es sind natürlich auch sehr unterschiedliche Ausgangslagen. In Zürich gab es eine Baugenossenschaft mit einem detaillierten Nutzungskonzept, für das man über einen Wettbewerb eine städtebauliche Form gesucht hat. In Berlin gibt es den Werkbund mit einem städtebaulichen Programm, das für den anonymen Wohnungsmarkt eine exemplarische Antwort geben will auf die Frage «Wie geht Stadt heute?». Die Stadträume, die daraus resultieren, unterscheiden sich natürlich auch entsprechend.

TEC21: Sie sind beide sehr erfahren im Wettbewerbswesen. Hier haben die Verantwortlichen ein anderes Verfahren gewählt. Worin unterscheidet es sich vom klassischen Wettbewerb?

Anna Jessen: Man muss unterscheiden zwischen der formellen Frage des Wettbewerbs und der Frage: Wie komme ich zu einem glaubwürdigen Stück Stadt, das sich immer auch aus dem Zueinander von ganz unterschiedlichen Teilen definiert? Der Werkbund Berlin hat eine Auswahl von einzelnen Architekten und damit auch Positionen bestimmt und aufgrund der Klausuren und des gemeinsam definierten Städtebaus eine Basis geschaffen, auf der man nach einer Einheit suchen kann. Die beteiligten Architekten haben gemeinsam um jene Basis gerungen, also gewissermassen die Auslobung und das Programm mitgeschrieben, und tragen entsprechend diese Verantwortung mit. Bei einem städtebaulichen Wett­bewerb gibt es dagegen «phasengerecht» eine klare Schnittstelle zwischen der Definition der Aufgabe und dem Entwurf eines Projekts. Bei einem Areal von vergleichbarer Grösse würde das siegreiche Projekt in der Umsetzungsphase wahrscheinlich unter den Preisträgern aufgeteilt, um die Einheit architektonisch zu differenzieren. Persönlich finde ich es heute sehr viel interessanter, unterschiedliche Positionen in einen Prozess auf der Suche nach Einheit zu ­involvieren, als umgekehrt Einheit im Nachgang und nur mit der Spekulation auf die sogenannte individuelle Handschrift heterogener zu machen.

TEC21: Das Verfahren ist also differenzierter und verspricht, dass so der interessantere Stadtbaustein entsteht?

Anna Jessen: In der öffentlichen Diskussion wird oft die Frage nach der Innovation gestellt. Wenn man an diesen Begriff glaubt, dann ist dieser Prozess des kooperativen Städtebaus sicher eine innovative These. Dazu hat Georg Franck als Gast und Experte der WerkBundStadt bereits in der Klausurphase aufgerufen (vgl. «Städtebau als Gemeinschaftswerk», TEC21 46/2015).

TEC21: Wo liegen die Vorteile eines derartigen Verfahrens gegenüber dem Wettbewerb?

Anna Jessen: Für städtebauliche Projekte in diesem Massstab finde ich es notwendig, über Alternativen zum klassischen Wettbewerb nachzudenken. Es wäre ja denkbar, die Auswahl der Architekten über ein Bewerbungsverfahren zu treffen, das ein Motiva­tionsschreiben oder ein Thesenpapier verlangt. Die Strategie für die WerkBundStadt ist die richtige, um die angestrebte Ganzheitlichkeit des Stadtmodells umzusetzen, das ja vom Mobilitätskonzept in Zusammenarbeit mit BMW bis zu den Entwürfen für Bodenplatten durch beteiligte Produktgestalter reichen soll.

Ingemar Vollenweider: Die inhaltliche Diskussion anhand konkreter Projekte, nicht in einer Jury, sondern als beteiligter Autor, hatte ich so noch nicht erlebt. Am runden Tisch war spürbar, welche städtebaulichen Ideen tragen. Das war ein starkes kooperatives Moment. Dann kamen die Entwürfe für die Häuser. Jeder von uns musste an drei verschiedenen Orten Stellung beziehen. Dadurch haben sich alle gedanklich mit dem ganzen Quartier auseinander­gesetzt. So gab es dann für die spezifischen Orte Entwürfe, die mehr überzeugten als andere.

TEC21: Haben sich in diesem Prozess weitere Ansätze abgezeichnet, wie etwa für das Zusammenleben im Quartier, die weiterzuverfolgen sich lohnen würde?

Ingemar Vollenweider: Die Frage beispielsweise, wie die Erdgeschosse verstanden werden können, ist noch nicht zu Ende gedacht. Auch der Ansatz, den Arno ­Lederer eingebracht hat, als Pendant zum öffentlichen Raum auf Erdgeschossniveau über kollektiv genutzte Dachgärten nachzudenken, hat Potenzial.

Anna Jessen: Noch ist nicht sicher, ob das Thema des kollektiven Dachgartens für eine parzellierte Stadt funktioniert, aber dass solche Ideen eingebracht, kontrovers diskutiert und vorläufig, bis das Gegenteil bewiesen wäre, als Hypothesen im Projekt gehalten werden, ist eine Chance und Qualität dieses Verfahrens.

TEC21: Anders stellt es sich dar, wenn Architekten die Aufgabe bekommen, basierend auf einem Masterplan einen Gebäudeentwurf auszuarbeiten. Dabei fokussiert jeder auf seine Parzelle, und es kümmert sich niemand um die Stadt als Ganzes.

Anna Jessen: Die Partizipation am Gesamtprozess führt zu einem höheren Mass an Identifikation von den Planern und allen Beteiligten. Auch die Investoren und Beteiligten der Stadt Berlin waren schon in den Klausuren mit eingebunden.

Ingemar Vollenweider: Wettbewerbsprojekte haben eine hohe formale Prägnanz und damit das Potenzial, Identität zu schaffen. Gleichzeitig drohen sie dadurch eindimensional zu sein. Sie haben eine Identität, die vielleicht nicht komplex genug ist, um das Leben und die Bedürfnisse an einem spezifischen Ort zu treffen. Das kooperative Verfahren bei der WerkBundStadt verhandelt eine grössere Vielfalt, ist weniger prägnant, dafür elastischer. Damit sind wir wieder beim Prozess: Er lässt tatsächlich Schlaufen zu – und ist damit natürlich sehr zeitaufwendig.

TEC21: Gibt es denn andere Regeln und Verbindlichkeiten?

Ingemar Vollenweider: Einerseits gibt es bei diesem konkreten Modell von Stadt eine höhere Verbindlichkeit über die Strasse, den Platz, die städtebauliche Kante. Auf der anderen Seite steht der Wille: Jeder Einzelne macht sein Haus. Das prallt ein Stück weit aufeinander. Es gab in dieser Phase nicht viele Regeln für die Entwürfe der Häuser, ausser die Parzellengrenzen mit den Höhenvorgaben aus dem städtebaulichen Plan und für die Wandflächen der Fassaden einen minimalen Klinkeranteil von 60 Prozent. Das interessante aber war, dass durch die Klausuren sehr konkrete Themen und Ansprüche im Raum standen – wie die Adressierung und Hinwendung der Haupt­räume zur Strasse oder die vermeintlich banale Forderung, Sanitärräume möglichst natürlich zu belichten. Paul Kahlfeldt sah die Entwürfe zuerst als Hypothesen, um daraus Ideen für tragende typologische Themen oder die Charakterisierung der Strassenräume zu finden. Das ist ein sehr liberaler Ansatz.

TEC21: Sie haben eben den Charakter angesprochen, den das Projekt für Sie hat. Sie sind beide praktizierende Architekten und sehr engagiert in der Lehre. Kann man aus diesen Erfahrungen rund um das Projekt Erkenntnisse für die Lehre gewinnen?

Anna Jessen: Ja, das ist sicher so. Die Erfahrungen allein aus dem Diskurs haben sehr viel gebracht, auch für die Lehre. Wir haben beide damit ein ganzes Entwurfssemester durchgespielt. In Leipzig am Wilhelm-Leuschner-Platz, einer grossen innerstädtischen Brache, haben wir versucht, das Modell des kollektiven städtebaulichen Entwerfens auszuloten. Die Studierenden waren durchaus überrascht, dass wir weniger als Lehrende aufgetreten sind, sondern eher in der Rolle des Choreografen gewirkt haben. Das war auch für uns eine spannende Erfahrung, die uns generell über die Rolle des Architekturlehrers nachdenken liess.

TEC21: Hat das Verfahren also Modellcharakter für die Lehre?

Ingemar Vollenweider: Als Student dachte ich immer, Gruppenarbeit ist das Schutzprogramm für Vielredner und Leute ohne Ambition. Es geht aber um etwas anderes. Der Zusammenhang von Stadtbau und Kooperation ist zentral und gehört ins Curriculum einer Architekturlehre. Man muss den Unterschied zwischen Architektur und Städtebau verstehen – und zum anderen deren Abhängigkeit. Das Verfahren kann helfen, dieses Verständnis zu entwickeln. Man kennt die Gesamtkunstwerke von Stadt, die diesen Unterschied nicht machen. Etwa den Städtebau von Leon und Rob Krier aus den 1990er-Jahren, die designte traditionelle Stadt. Da ist die zeitgenössische Wohnstadt der Solitäre im Vorteil, weil sie sich viel mehr als die Summe der Teile meist nicht zutraut.

TEC21: Nach dem städtebaulichen Entwurf begann dann die Vertiefung der einzelnen Bausteine für die WerkBundStadt mit den Gebäudeentwürfen. Welche Themen standen hier im Vordergrund?

Ingemar Vollenweider: In der Schweiz machen wir viele dicke Häuser mit vielen dunklen Wohnungen, die vielleicht interessant, in jedem Fall aber sehr ökonomisch sind. Das Innovative ist hier gekoppelt an eine sehr hohe Wirtschaftlichkeit. Unter dem enormen Druck, der gerade in den Städten auf dem Wohnungsbau lastet, werden die Konventionen des Metiers ausgelotet. Der Laubengang für eingeschossige Wohnungen ist jetzt auch in der Schweiz denkbar. Das ist vielleicht innovativ, aber die entstehenden Stadträume entsprechen dabei oft jenen der Peripherie. Die WerkBundStadt formuliert das Gegenmodell: Wenn ich an die Strasse glaube, glaube ich an die Randbebauung – ich meine bewusst nicht Block-, sondern Randbebauung –, die hat dann eine Tiefe von 12 bis maximal 15 m, die kann ich nicht gross überschreiten.

TEC21: Daraus ergeben sich dann Module, die sehr flexibel sind.

Ingemar Vollenweider: Die Randbebauung schafft gewisse Bindungen, die dicken Klumpen liegen eher nicht drin, aber so ein parzelliertes Haus ist sehr flexibel, insbesondere wenn es Platz für einen Hof- oder Gartenflügel gibt, was in der WerkBundStadt leider nur stellenweise der Fall ist. Wenn man Gründerzeitgrundrisse betrachtet, muss man sich mit der Frage auseinandersetzen: Wie kann ich das überhaupt besser machen? Dabei kann man über andere Wohnformen nachdenken, etwa Clusterwohnen, Alterswohngemeinschaften oder Gastwohnungen. Interessant aber ist, dass genau in diesen Wohnungen historisch alles schon stattgefunden hat. Das in der WerkBundStadt verfolgte Modell, Sozialwohnungen ohne staatliche Förderung und damit auch ohne die zum Teil problematischen Vorgaben zu realisieren, ist ebenso riskant wie ambitioniert, um nicht zu sagen: wirklich innovativ. Denn es erhöht den Druck, insgesamt haushälterisch mit Raum und Boden umzugehen und ganzheitlich zu planen.

Anna Jessen: Unser Ansatz war es, ein Wohnhaus zu entwickeln, dessen Wohnungen man sich in Berlin auch leisten kann. Das aufzulösen, etwa in Clusterwohnen, ist viel einfacher, als aus einer Clusterwohnung einen gut proportionierten Zimmergrundriss für eine 2.5-Zimmer-Wohnung zu ent­wickeln. Es wird also relevante Antworten zum Thema des zeitgenössischen Wohnens geben. Zugespitzt formuliert ist aber die Innovation bislang: die Stadt zuerst, das Wohnexperiment ordnet sich der Stadt ein und unter. Wir wohnen zuallererst in der Stadt und dann in einer guten Wohnung – die mit dieser Stadt kommuniziert.

Ingemar Vollenweider: Die These zur Typologie wäre dann: Welche Wohnformen lassen sich an diesen Strassen und öffentlichen Räumen realisieren?

TEC21: Wie weit wurde bislang der Bezug des Hauses zum Stadtraum diskutiert?

Ingemar Vollenweider: Es ist diese Frage nach der Gestalt und der Einheit: Wo pendelt sich das ein zwischen Anonymität auf der einen und Individualität der einzelnen Häuser auf der anderen Seite? Welche Architekturen können dieses Zusammenspiel leisten?

Anna Jessen: An diesen Ort in Berlin ziehe ich meiner Meinung nach nicht, weil es hier Wohnungsgrundrisse gibt, die ich noch nie gesehen habe. An diesen Ort ziehe ich in erster Linie wegen seiner zentralen Lage in Berlin, in zweiter Linie wegen des Stadtraums oder des Lebensgefühls. Und dann will ich dort in einer Wohnung leben, die Zimmer und Raumzuschnitte in der Art hat, dass ich in meinen Räumen Rückzug und Privatheit finden kann und dennoch Teil der Stadt bleibe. Ich freue mich über einen Erker, weil ich von dort aus auf die Spree schauen kann. Ich will etwas spüren von dem Ort, an dem ich lebe. Ich will mich quasi mit dem Stadtraum verweben können. Da ist das städtische Leben, und das ist etwas Grossartiges. Ich lebe in der Stadt, weil ich in der Dichte die Anonymität geniessen kann. Und gleichzeitig gehe ich auf in diesem kollektiven Getragensein.

TEC21: Was waren Ihre wichtigsten Entwurfsthemen?

Ingemar Vollenweider: Die architektonische These war eben, eine Antwort zu finden auf: Wie kann man ein Haus machen, das eigenständig ist und sich gleichzeitig ins Kollektiv einbindet – und auch diese Anonymität adressiert. Unsere Strategie war, das Gebäude aus einer einzigen plastischen Idee entstehen zu lassen und daraus dennoch Sockel, Fassade und Dach zu entwickeln. Daher ist es einerseits ein recht abstraktes Haus, das andererseits dieser Dreiteiligkeit entspricht. Dann kann man sich fragen: Wie wohne ich denn an der Strasse? Wir haben das Thema des Erkers aufgegriffen. Das ist ein altes Thema, das nach wie vor für den Wohnraum sehr viel Potenzial bietet. Eine Qualität, die wir von den Basler Baumgartner-Häusern kennen. Die Erker sind ein starkes Element für das Haus, den Baukörper und die einzelne ­Wohnung, sind aber auch wieder in der Lage, ein Thema zu liefern, um die Häuser in den Zusammenhang des Orts einzubinden.

TEC21, Fr., 2017.02.03



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TEC21 2017|05-06 WerkBundStadt II Schweizer Beiträge

20. Januar 2017Susanne Frank
TEC21

Diskurs als Strategie

Mitten in der Stadt plant der Berliner Werkbund ein dichtes, funktionsgemischtes Wohnquartier. Dabei schlägt das Projekt einen ungewöhnlichen Weg ein. Was ist das Besondere an diesem Entwicklungsprozess? Und was macht die WerkBundStadt aus?

Mitten in der Stadt plant der Berliner Werkbund ein dichtes, funktionsgemischtes Wohnquartier. Dabei schlägt das Projekt einen ungewöhnlichen Weg ein. Was ist das Besondere an diesem Entwicklungsprozess? Und was macht die WerkBundStadt aus?

Der Berliner Werkbund hat ein bemerkenswertes Projekt auf den Weg gebracht: die WerkBundStadt. Ungewöhnlich ist es aus mehreren Gründen. Erstmals trägt eine Planung des Werkbunds die «Stadt» im Namen – ob­wohl bereits frühere Projekte, wie etwa die 2007 ­ini­tiierte Werkbundsiedlung Wiesenfeld in München, im städtischen Kontext entwickelt wurden. Damit zeigt die WerkBundStadt augenscheinlich ihren besonderen Fokus: Hier stehen der städtebauliche Ansatz, die Stadträume und die Idee des Wohnens in der Stadt, inmitten eines Quartiers von sehr hoher Dichte, im Vordergrund.

Auch das Verfahren, das die beiden Projektverantwortlichen – der Vorsitzende des Deutschen Werkbunds, Paul Kahlfeldt, und die Vorsitzende des Berliner Werkbunds, Claudia Kromrei – wählten, weicht ab von dem, was bislang üblich war: Sie entschieden sich für einen disziplinenübergreifenden kooperativen Konzeptions-, Entwurfs- und Umsetzungsprozess. 33 Architekturbüros haben sich auf Anfrage zu­sammengetan, um gemeinsam «ein Stück Stadt» zu ­entwerfen. Auf einem ehemaligen Industrieareal mitten in Berlin-Charlottenburg soll ein dichtes, funktionsgemischtes Wohnquartier ent­stehen.

Da drängen sich viele Fragen auf: Wie läuft ein solcher Prozess ab? Ist es überhaupt möglich, dass so viele Architekten einen Entwurf konstruktiv gemeinsam erarbeiten und dafür einen Konsens erzielen? Und welche Aus­sichten hat ein derartiges Projekt auf Realisierung?

Gemeinsame Wissensbasis

Schaut man sich den Prozess der Planung näher an, so zeigt sich, dass die Grundlagen sorgfältig über einen Zeitraum von über einem Jahr geschaffen wurden, um darauf aufbauend die Entwürfe zu diskutieren: Im Rahmen von sieben mehrtägigen Klausurtagungen erarbeiteten sich die beteiligten Architekten gemeinsam mit Experten der unterschiedlichen Fachdisziplinen nicht nur ein umfangreiches Wissen, sondern die Verantwortlichen stellten die Weichen für eine erfolgreiche Umsetzung, indem sie im Rahmen der Tagungen auch die Stadt Berlin, Politik, Anwohner und Investoren frühzeitig in diesen Prozess involvierten.

In den ersten vier Konzeptklausuren wurden die gestalterischen, bautechnischen, sozialen, ökonomischen, ökologischen und politischen Leitlinien des Bauens und Wohnens entwickelt. Konkret standen diese Klausuren unter den Leitthemen Politik und ­Investment, Energie und Nachhaltigkeit, Nutzung und Gestalt sowie öffentlicher Raum und Verkehr. Die Ergebnisse wurden als Regularien formuliert, sie lagen dem Entwurfsprozess zugrunde.

Meilensteine der Entwicklung

Ein erster Meilenstein war mit der fünften Klau­sur erreicht, in der das städtebauliche Konzept der ­WerkBundStadt aufbauend auf Entwürfen von acht Städtebauteams erarbeitet wurde. Ziel war es, die besten Ansätze der verschiedenen Entwürfe herauszukristallisieren und daraus einen Masterplan zu entwickeln, der von allen Architekten mitgetragen wird. Dieser erste Stand eines städtebaulichen Rahmenplans wurde gleichzeitig mit den behördlichen und politischen Vertretern des Bezirks Berlin-Charlottenburg diskutiert und abgestimmt.

Die baurechtliche Situation ist erwartungsgemäss sehr komplex, wenn man bedenkt, dass ein ehemaliges Tanklager zu einem Wohngebiet umfunktioniert werden soll. Noch sind einige Hürden zu nehmen, doch laut dem Leiter des Stadtentwicklungsamts von Charlottenburg-Wilmersdorf, Rainer Latour, ist man hier auf gutem Weg. Dies belegen die aktuellen Entwicklungen: Mit einer Überarbeitung des städtebaulichen Rahmenplans wird das Verfahren zum Bebauungsplan nun eingeleitet.

Auf Grundlage des gemeinsam verabschiedeten Masterplans fertigten die Verantwortlichen einen Parzellierungsplan, in dem sie insgesamt 39 Parzellen auswiesen. Jedes beteiligte Architekturbüro soll mit einem Gebäudeentwurf beauftragt werden. Die einzelnen Parzellen wurden schliesslich auf der sechsten Klausurtagung ausgelost: Jedes Büro bearbeitete zunächst drei Entwürfe für drei unterschiedliche Parzellen, um aus diesem Fundus die stimmigste Lösung für das grosse Ganze – die WerkBundStadt – zu finden. Ausserdem diskutierten die Beteiligten auf dieser Klausur die architektonischen Regularien für die Entwürfe der Häuser und legten hierzu ein Regelwerk fest (Link oben rechts). Mit diesen Grundlagen entwickelten die Architekten ab März 2016 ihre Häuser für das Quartier, die einzelnen Bausteine der WerkBundStadt. Die Vorentwürfe stellten sie bis Sommer 2016 fertig und präsentierten sie auf der siebten Klausur.

Ein gemeinschaftliches Werk

Diese Klausur war der zweite Meilenstein in der Entwicklung: Hier wurden die Vorentwürfe diskutiert und unter der Federführung der Verantwortlichen ­ausgewählt – ein spannender und zugleich herausfordernder Prozess, denn ein derartiges Vorgehen muss gesteuert und moderiert werden. Dazu braucht es diejenigen, die die Rolle der Regisseure annehmen und das kollektive Ganze im Auge behalten, und diejenigen, ­ die im Sinn des Ganzen vermitteln. Und diese Konstellation scheint stimmig gewesen zu sein. Tatsächlich gelang es, einen gemeinsamen Konsens zu finden und eine Lösung zu formulieren, die von der Gemeinschaft mitgetragen wird. Das sei das Ziel dieses Verfahrens, so die Verantwortlichen: Die WerkBundStadt solle ein Entwurf aller Beteiligten werden. Welche Erfahrungen beteiligte Schweizer Architekten daraus gewonnen ­haben, werden wir in der folgenden TEC21-Ausgabe ­ zur WerkBundStadt zum Thema machen.

Hervorheben kann man zu Recht das grosse Engagement aller Beteiligten: seitens der Verantwortlichen des Werkbunds, Claudia Kromrei und Paul Kahlfeldt, der Projektleiterin Corinna Scheller, seitens der Architekten – die bislang ohne Honorar und in Vorleistung arbeiten – und seitens sämtlicher involvierter Gremien und Institutionen. Das war auf der Veranstaltung im vergangenen September spürbar, auf der die Ergebnisse dieses Arbeitsstands der Öffentlichkeit präsentiert wurden.

Das Projekt wird von vielen mitgetragen, und damit ist eine solide Basis für die Realisierung geschaffen. Die Beteiligten haben einen beachtlichen Zwischenstand erarbeitet, der noch Entwicklungspotenzial hat. Die inhaltlich offenen Punkte, etwa die Gestaltung der Stadträume, die Konzeption der Wohnungen oder neue Formen kollektiver Räume und Angebote, werden nun in weiteren Schritten vertieft. Zu wünschen wäre allen Beteiligten, dass sich für die anstehende Herausforderung, wie die Entwürfe im Sinn der WerkBundStadt zusammen mit Investoren realisiert werden können, tragfähige Konzepte finden lassen.

TEC21, Fr., 2017.01.20



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Presseschau 12

13. Oktober 2017Susanne Frank
Marko Sauer
TEC21

«Neben Handschrift braucht es auch Überraschendes»

Das Interesse an Stoff und Raum verbindet die Architektin Anna Jessen und den Modedesigner Albert Kriemler. Wie begründet sich die gegenseitige Affinität? Und was inspiriert sie in ihrem kreativen Schaffen?

Das Interesse an Stoff und Raum verbindet die Architektin Anna Jessen und den Modedesigner Albert Kriemler. Wie begründet sich die gegenseitige Affinität? Und was inspiriert sie in ihrem kreativen Schaffen?

TEC21: Herr Kriemler, Sie haben ein enormes Interesse an Architektur. Hätten Sie auch Architekt werden können?'
Albert Kriemler: Ja, da ist eine grosse Nähe. Und ich wäre vielleicht auch Architekt geworden, wenn ich nicht die letzten 35 Jahre gemeinsam mit meinem Bruder Peter unsere Firma entwickelt hätte.
Anna Jessen: Ich finde, man könnte dich durchaus als Architekten bezeichnen.
Albert Kriemler: Es gibt interessante Gemeinsam­keiten. Aber das macht mich noch lang nicht zum Architekten. Dazu braucht man das Wissen, das aus Ausbildung, Gefühl und Erfahrung erwächst. Ich diskutiere gern über Architektur und bin ein Partner für Architekten, weil mich das Thema nicht nur in meiner Arbeit interessiert.

TEC21: Inwiefern lässt sich Ihre Arbeit mit der eines Architekten vergleichen?
Albert Kriemler: Architekten, Designer und Künstler arbeiten jeweils mit ihrer Kreativität. Grundsätzlich denken Architekten und Modedesigner über Pro­portionen nach. Was uns verbindet, ist der Zweck. Wir dienen einem Zweck. Ein Künstler drückt sich selbst aus. Bei mir steht das Material am Anfang, daraus folgt die Idee. Das ist sicher bei jedem Einzelnen anders, ob Designer oder Architekt.

TEC21: Sehen Sie noch weitere Parallelen?
Albert Kriemler: Wir fragen beide: Was ist der Mensch im Raum? Natürlich kann man auch von Architektur sprechen, wenn es um das Formulieren eines Volumens bei einem Kleid geht. Mit dem Thema Material ist der Aspekt Farbe eng verbunden.

TEC21: Frau Jessen, Sie beschäftigen sich schon seit geraumer Zeit mit dem Thema des «textilen Raums». Wo liegt für Sie die Faszination darin?
Anna Jessen: Die Beziehungen zwischen Stoff und Raum sind sehr vielfältig und ursprünglich. Das Gegenmodell zur Höhle und zum Erdhügel ist das nomadische Zelt. Da weist die Wand eine textile, gewobene und strukturelle Qualität auf. Der Begriff der «Wand» leitet sich ja offenbar vom althochdeutschen «want» ab, das wiederum verwandt ist mit dem heutigen Verb «winden» und das auf ein mit Lehm bestrichenes Geflecht zurückgeht. Die sprachliche Nähe zwischen Wand und Gewand drückt eine noch direktere Beziehung aus. Auch der Begriff der «Decke» als oberer Raumabschluss verweist auf einen sehr ursprünglichen Zusammenhang zum textilen Raum. Ähnlich verhält es sich mit dem Wort «Knoten», mit dem in der Architektur meist eine starre Verbindung bezeichnet wird, die eigentlich aber eine geknüpfte war, wie Semper es ausführlich dargestellt hat.

TEC21: Sie bauen einen neuen Studiengang für Architektur an der FHS in St. Gallen auf, der im Herbst den Betrieb aufnimmt. Wie lassen Sie dieses Thema dort einfliessen?
Anna Jessen: Unter dem Begriff «textiler Raum» unterscheide ich zwei Denkrichtungen. Es gibt die direkte Übersetzung und die Anwendung im übertragenen Sinn. Beide weisen ein grosses Potenzial auf. Ich glaube, dass das Textile wieder stärker ein Thema in der Architektur werden wird. Daneben gibt es den Begriff «Stoffwechsel», wie ihn Semper eben geprägt hat. Wir leben in einer Zeit des intensiven Stoffwechsels, in der plötzlich altüberlieferte Baustoffe neue Leistungsmerkmale erhalten und ihre klassische Verwendung neu interpretiert wird. Holz ist ein gutes Beispiel dafür. Da passieren spannende Dinge – bei textilen Materialien werden wir Ähnliches erleben.

TEC21: Sie haben aber auch eine ganz persönliche Beziehung zum Textilen.
Anna Jessen: Ich habe vor dem Architekturstudium eine Schneiderausbildung gemacht und immer Bekleidung für mich selbst angefertigt. Weil ich nirgends die Kleider bekommen konnte, die ich mir wünschte.

TEC21: Was hatten Sie denn vermisst?
Anna Jessen: Ich glaube, es hatte etwas mit der eigenen haptischen Wahrnehmung der Kleider zu tun. Sie sind dann natürlich auch so etwas wie eigene Zelte, erste Häuser, die du dir selber baust. Wir sind ständig umgezogen als Kinder – für mich ist es tatsächlich ein eigenes Haus gewesen, das ich mitnehmen kann. Und das ist es auch heute noch.

TEC21: Hat dies Auswirkungen auf Ihr architektonisches Schaffen?
Anna Jessen: Natürlich. Wenn ich heute beim Bauen Dinge füge, dann ist es oft das Bild: Wie und mit welcher Naht füge ich zwei Stoffteile zusammen?

TEC21: Worin gleichen sich für Sie die beiden Disziplinen?
Anna Jessen: Vor allem in der Bekleidung eines Körpers – wobei wir dann schon bei den Unterschieden wären: Denn wir entwerfen den Körper, sprich die Struktur ja mit. In beiden Disziplinen geht es um die Frage: Was sind Raumbeziehungen? Der ganze Entwurfsprozess hat Parallelen. Schnittstellen gibt es natürlich auch in der Art des Fügens, der Art eben, wie Nähte zusammenkommen. Das ist ganz nah an architektonischen Fragen.

TEC21: Ein Architekt, der sich dezidiert zu Mode und Architektur geäussert hat, ist Adolf Loos.
Albert Kriemler: Das Interesse an Loos begleitet mich in meiner Arbeit täglich. Für mich ist er ein wirklich genialer Architekt – gerade in Fragen der Materialiät und der Reduktion. Loos ist viel gereist und hat von jeder Reise Material mit nach Hause gebracht: japanische Tapeten, chinesische Seide, er wusste auch von Kaschmir und Tweed, alles war vom Feinsten.
Anna Jessen: Zur Frage der Materialität beschäftigt mich Mies van der Rohe noch mehr als Loos. Da ist der Stoff sehr präsent. Bei Mies hat das Pure des Materials eine grosse Bedeutung, die man in seinen Häusern sehr stark fühlt. Es gibt da eine haptische Verbindung zum Haus – während das Primäre bei Loos wirklich die Raumfügungen sind, wie die Räume dreidimensional miteinander verwoben sind.
Albert Kriemler: Ich sehe das etwas anders. Wenn Mies das Material in der Reduktion anwendet – und das tut er –, trifft er den Gedanken, den Loos zu wertvollen Materialien formuliert hat, ins Schwarze. Die Onyxwand in der Villa Tugendhat wirkt als massiver Wandkörper, der das Wohnzimmer von der Bibliothek trennt. Mies verwendet Stein, Hölzer wie Mahagoni und edle Stoffe. All diese Materialien sind wertvoll, sie besitzen Farbe und Struktur, benötigen also keine weitere Aufwertung durch Dekoration. Beim Wert und bei der Reduktion treffen sich Loos und Mies. Bei Loos gab es immer auch das Einfache.

TEC21: Um nochmals zu Loos zurückzukommen: Er hat auch Wesentliches zum Ornament geschrieben. Herr Kriemler, wie sieht Ihr Bezug zum Ornament aus?
Albert Kriemler: Das Zitat mit dem Ornament und Verbrechen wird immer ganz schnell aufgegriffen. In meiner Kollektion gibt es aufwendig gestaltete und verarbeitete Stoffe, oft moderne St. Galler Stickerei oder im Haus entwickelte Materialien, die man in ihrer Gesamtstruktur als Ornament bezeichnen könnte. Diese Ornamentik ist vollständig als Stoff in ein Kleidungsstück integriert und wirkt nie wie eine hinzugefügte Dekoration. So hat es die New Yorker Museumskuratorin Valerie Steele einmal beschrieben. Das Prinzip gilt auch für Drucke.
Anna Jessen: Mich interessieren bei Bauwerken nur die Dinge, die etwas fürs Ganze tun. Es gibt strukturelle und dekorative Ornamente. Auch deswegen ist die Mode von Akris interessant, weil das Ornament sehr stark strukturell ist. Wir suchen das ebenfalls in unseren Bauten.

TEC21: Können Sie das illustrieren?
Anna Jessen: Wo gehören zum Beispiel die Bronzerahmen der äusseren Verglasung im Verwaltungszentrum Oberer Graben hin? Auf jeden Fall haben die Öffnungen im Blech eine Funktion. Ihre Zahl und Anordnung ist hinsichtlich Strömungsverhalten und Lüftung des Kastenfensters im Computer simuliert worden. Aber erst die Übersetzung der Öffnungen in je zwei Halbkreise, die sich im Wechsel drehen, macht aus dem einfachen Loch im Blech – sprich aus dem Lochblech – ein spielerisches Element, das die reine Funktion sublimiert, poetisch sanft überhöht und den Charakter des Hauses akzentuiert.
Albert Kriemler: Wenn die Funktionalität unter der Idee leidet, dann darf man das nicht machen. Für mich hat die Funktionalität viel mit der Modernität und Selbstverständlichkeit eines Kleidungsstücks zu tun. Wenn es in irgendeiner Form kompliziert ist, dann ist es schon obsolet.

TEC21: Und doch braucht es eine Balance zwischen Entwurf und Funktionalität – so wie zwischen Tradition und Innovation.
Albert Kriemler: Das ist das Schwierige in der Architektur – und in der Mode ist es dasselbe: Wie entwickelst du deine Handschrift? Und überraschst trotzdem immer wieder mit dem Neuen? Ich habe gelernt, in unserem Entwurfs- und Entwicklungsprozess Raum für Überraschungen zu schaffen. Mode lebt von der Abwechslung, deshalb ist sie Mode. Und dennoch müssen wir innerhalb unserer Handschrift erkennbar bleiben, also Konstanz zeigen. Aber das ist es, was die Passion für den Beruf aufrecht erhält. Es ist eine permanente Evolution. Und das ist bei Architekten vielleicht nicht anders.

TEC21: Sie haben sich für Ihre Sommerkollektion 2016 von der Arbeit des japanischen Architekten Sou Fujimoto inspirieren lassen. Wie würden Sie diese Zusammenarbeit beschreiben? Wie erfolgte dieser Austausch?
Albert Kriemler: Die Auseinandersetzung mit der Architektur von Fujimoto war einer der Momente, wie ich sie immer wieder erlebe, wenn ich reise. Als ich seinen Serpentine-Pavillon von 2013 in London gesehen habe, war ich fasziniert davon, wie man mit einem weissen Metallstab und ein bisschen Glas so ein wunderbares Gebäude schaffen kann, das nicht nur eine fantastisch fragile, schöne Wolke ist, sondern auch als Pavillon funktioniert. Dieses Überraschungsmoment, wenn eine attraktive Erscheinung mit verblüffender Funktionalität zu­sammenfällt, ist für mich eine Parallele zur Mode.
Bei einem Akris-Kleid geht es um ähnliche Faktoren: Attraktivität, Angemessenheit, Freude an Funktio­na­lität und das Ausreizen der Reduktion in jedem Detail hin zu einer einfachen Erscheinungsform.

TEC21: Wie war die Begegnung mit dem Architekten?
Albert Kriemler: Ich habe mit ihm auf Vermittlung des Fotografen Iwan Baan, mit dem ich befreundet bin, über Skype telefoniert und gesagt, dass ich gern eine Kollektion mit der Inspiration seiner Architektur entwerfen möchte. Und obwohl er keinen Bezug zur Mode hatte, hat es ihn interessiert, seine eigenen Arbeiten in einem anderen Kontext zu sehen. Dieser Vertrauensvorschuss ist eine wichtige Voraussetzung für eine solche Zusammenarbeit. So war es auch mit den Künstlern Thomas Ruff und Carmen Herrera. Das verpflichtet zu grösstem Respekt und zum Einsatz all dessen, was mein Team und ich zu geben haben. Danach haben wir uns zweimal in Paris getroffen und beschlossen, zusammenzuarbeiten. Im Sommer darauf habe ich ihn in Tokio besucht und ihm vorgelegt, was wir entwickelt hatten.

TEC21: Wie finden seine Bauten Eingang in Ihre Kollektionen?
Albert Kriemler: Es war seine Auswahl aus meinen Entwürfen. Seinen Naoshima-Pavillon hatte ich auf meiner Japanreise besucht, das Musikhaus in Budapest war ein Entwurf – wir hatten Lasercut-Technostoffe entwickelt, aber auch eine klassische Broderie Anglaise, in der sich jeweils die geplanten Öffnungen im Dach darstellten. Die Bambusstruktur seines Taiwan Towers – ein unrealisierter Entwurf – wurde zum feinsten Strickgewebe, das wir bis anhin gefertigt hatten. In Anlehnung an sein Miami-Projekt aus blauem Glas habe ich einen Stoff entwickelt, der an blaues Plexi erinnert. Die rote Tinte, mit der er alle Skizzen und Notizen festhält, wurde zu einem feinen Sommertweed. Und ein Foto von Iwan Baan vom «House N», seinem ersten gebauten Haus, wurde zu einem digitalen Fotodruck auf Seide. So gab es acht oder neun Themen um Fujimoto, die dann meine Sommerkollektion formulierten.
Anna Jessen: Du lässt dich inspirieren durch Fujimotos Architekturen, durch Teile seiner Archi­tekturen, durch Wandgestaltung, durch Baustoffe, die er verwendet. Sie werden übersetzt in ein ­Kleidungsstück, das dann in einem Nachbau seiner Räume präsentiert wird. Der Raum und der sich darin bewegende, bekleidete Körper sind plötzlich miteinander verwandt und bauen so eine neuartige, spezifische Raumbeziehung auf.
Albert Kriemler: Das «House N» haben Appenzeller Schreiner aus Trogen für das Defilee massstabsgetreu auf dem Set im Grand Palais in Paris nachgebaut, weil ich mit den Pariser Handwerkern nicht zurechtkam. Die Rekonstruktion wurde zur Bühne für den Laufsteg und zum Eingang für alle Gäste. Sie war das erste Posting der New York Times von diesem Defilee.

TEC21: Gibt es weitere räumliche Interpretationen im Entwurf Ihrer Kollektionen?
Albert Kriemler: Ein schönes Beispiel war die Herzog-&-de-Meuron-Kollektion 2007/2008. Die Materialität und die aussergewöhnliche Gestaltung der Fassade, zum Beispiel des Walker Art Center in Minneapolis oder des de Young Museum in San Francisco, waren für mich die Inspiration. Ich habe versucht, diese aufregende Mehrlagigkeit im Erscheinungsbild der Stoffe zu spiegeln, zum Beispiel mit gebrochenem Aluminium in einer Seidengeorgette-Hülle oder einer St. Galler Spitze, die wie Asphalt aussah.

TEC21: Frau Jessen, wie gehen Sie mit dem Thema Inspira­tionen um?
Anna Jessen: Ich bin fasziniert, wie klar sich eine Kollektion auf eine Inspirationsquelle ausrichten kann. Bei uns Architekten läuft das meist unbewusster und über längere Zeiträume ab. Wir bauen uns einen Referenzraum auf, der durch Werke der Architektur, der Kunst und Alltagskultur geprägt ist. Wenn dann das Programm und der Ort dazukommen, dann muss dieser Referenzraum spezifisch und explizit werden. Das äussert sich dann zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit ruraler Holzarchitektur oder dem Funktionalismus der 1960er-Jahre. Deswegen sehen unsere Häuser und Ensembles auch immer anders aus. Für mich muss ein gutes Stück Architektur am Ort ankommen, auch wenn es neu ist und vielleicht provoziert.
Albert Kriemler: Was bei euch der Ort ist, ist bei mir der Stoff. Der steht im Vordergrund, und es ist schon typisch für uns, dass ich immer zuerst den Griff des Stoffs fühle. Und dann weiss ich, wie sich der Stoff verhält und was ich damit machen kann. Das ist ein Sinn für Haptik, den ich von meiner Grossmutter, der Firmengründerin, und meinem Vater geerbt habe.
Anna Jessen: Wir leben ja in einer sehr visuell dominierten Welt. Und doch behaupte ich, das Erste, was man von Architektur wahrnimmt, wenn man einen Raum betritt, ist es nicht das Visuelle, sondern es ist ein Gemisch aus Licht, Klang, aus Geruch …

TEC21: Könnte man das als Atmosphäre zusammenfassen?
Anna Jessen: Genau. Und manchmal beginnt auch bei uns der Entwurf mit einem Material. Am Schaffhauser Rheinweg haben wir mit einem Stück Holz angefangen und sind danach zum Städtebau gekommen. Nicht weil wir uns das vorgenommen haben, sondern weil ich finde, dass das Wohnen am Wasser sich am besten in Holz ausdrückt, vielleicht weil man an ein Boot denkt. Wenn ich morgens barfuss auf meinen Balkon trete, dann ist ein Stück Holz unter meinen Füssen etwas völlig anderes als ein Stück Beton. Da denke ich wieder, Material und Struktur sind entscheidend, wenn es um die haptische Wahrnehmung geht.
Albert Kriemler: Das Interessante ist die Erscheinung in der Bewegung. Die visuelle Seite der Mode ist für viele das Entscheidende – der «Look» ist ja die Hautpsache in der Mode geworden. Für mich ist das nur ein Aspekt. Es beginnt mit dem Fühlen, und ich glaube, dass sich dieses Gefühl letztlich auf die Körpersprache der Trägerin auswirkt, auf ihre Präsenz. Es ist dieses Denken, das mich in der Arbeit für Akris prägt. Alles zusammen ergibt die Selbst­verständlichkeit, die ich suche – wie du sie wohl auch suchst – beim Tragen und in der Erscheinung.
Anna Jessen: Darin liegt ein grosses Potenzial für die Architektur. Die Wahrnehmung in der Bewegung – des Betrachters, aber auch als Veränderung des Bauwerks durch seine Benutzung, im Tagesverlauf oder im Lebenszyklus. Vielleicht öffnet gerade die ephemere Kunst des Textilen wieder den Blick für die Zeitlichkeit der scheinbar immobilen Architektur.

TEC21, Fr., 2017.10.13



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TEC21 2017|41 Stoff und Raum II – die Arbeit am Textilen

14. Juli 2017Susanne Frank
TEC21

«Basel braucht diesen wichtigen Schlussstein»

Das Basler S-Bahn-Projekt hat nicht nur regionale, sondern auch nationale Bedeutung. Pierre de Meuron erläutert den Gewinn für die Stadt- und Raumplanung mit Blick auf die verschiedenen ­ Massstabsebenen und die gesellschaftlichen Dimensionen.

Das Basler S-Bahn-Projekt hat nicht nur regionale, sondern auch nationale Bedeutung. Pierre de Meuron erläutert den Gewinn für die Stadt- und Raumplanung mit Blick auf die verschiedenen ­ Massstabsebenen und die gesellschaftlichen Dimensionen.

TEC21: Herr de Meuron, Sie engagieren sich sehr für die trinationale S-Bahn. Warum ist dieses Projekt so wichtig?
Pierre de Meuron: Das Projekt birgt beträchtliche Potenziale, nicht nur aus verkehrstechnischer Sicht, sondern besonders auch für die Stadt- und ­Raumentwicklung. Um diese zu erschliessen, müssen wir verschiedene Massstabsebenen in die Betrachtung einbeziehen. Unser Ansatz ist ein territorialer, d. h., wir betrachten das Territorium mit den drei Elementen – Landschaft, Siedlung und Infrastruktur – aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Wir haben die gesellschaftliche Dimension, das betrifft etwa Fragen der Mobilität und Siedlungsentwicklung, aber auch die wirtschaftlichen Themen. Basel als einer der wichtigen, dynamischen und erfolgreichen Wirtschaftsstandorte in der Schweiz braucht eine effi­ziente und leistungsfähige Infrastruktur. Es ist also nicht nur ein regionales Thema, es hat eine nationale Bedeutung – und dadurch auch eine internationale.

TEC21: Warum ist das Projekt bedeutend für die Schweiz?
Pierre de Meuron: Wenn Basel erfolgreich ist und dynamisch bleibt, unterstützt das die gesamte Schweizer ­Wirtschaft. Effiziente Infrastrukturen fördern das Zusammenwachsen der Region, die Wirtschaft im Metropolitanraum wird so insgesamt noch schlagkräftiger. Davon profitiert das ganze Land. Doch ­ es gilt, nicht nur den regionalen Verkehr zu betrachten, sondern auch den Güter- und Fernverkehr. International gesehen ist die Schweiz bedeutend für die Nord-Süd-Verbindung von Kopenhagen, Hamburg, Frankfurt durch die Alpen in Richtung Italien – ­Basel spielt hier eine Schlüsselrolle.

TEC21: Welche Funktion hat der Verkehrsknoten Basel in der europäischen Verkehrs- und Güterinfrastruktur?
Pierre de Meuron: Eine wichtige – in der Region Basel kommt infrastruk­turell sehr viel zusammen. Wir müssen die verschiedenen Verkehrsströme, regional und international, sowie den Güterverkehr aufeinander abstimmen. Basel, früher das «goldene Tor zur Schweiz», ist heute noch immer einer der Haupteingangs- bzw. -ausgangsorte für den Import respektive den Export. Zudem lagern hier in Basel die Not­vorräte, etwa an Getreide oder Mineral­öl, über die für einige Monate der gesamtschweize­rische Bedarf abgedeckt werden kann. Aus meiner Sicht wird in der Schweiz zu wenig wahrgenommen, welche Bedeutung Basel hat.

TEC21: Wie wird das S-Bahn-Projekt die Entwicklung der Metropolitanregion Basel beeinflussen?
Pierre de Meuron: Dazu ist es wichtig zu verstehen, wie sich Siedlungen entwickeln und wo Entwicklungspoten­ziale zu finden sind. Die Öffnung nach Norden am Rheinknie prägt die geografische und topografische Lage von Basel. Dieser Ort ist von der Bronzezeit bis zum Mittelalter durch verschiedene Bedürfnisse der Gemeinschaft immer wieder als Zentrum be­stätigt worden. Jede Stadt hat andere Energien und entwickelt ihre eigene Identität. Basel eben durch die Krümmung ­des Rheins – und gleichzeitig durch die Zuflüsse aus den Tälern. Durch diese Seitenarme haben sich die Siedlungsgebiete als Talschaften ausgedehnt. Vor diesem Hintergrund betrachten wir die Überlegungen zur Siedlungsentwicklung und Mobilität im Zusammenhang, um die Beziehung zum Zentrum zu stärken und das Wachstum entlang dieser Siedlungsachsen zu steuern.

TEC21: Die Aufgabe war, ein im Ansatz vorhandenes S-Bahn-System zu vervollständigen. Wie sind Sie vorgegangen, um ein Konzept zu finden, das die bestehende Situation verbessert und den verschiedenen Ansprüchen gerecht wird?
Pierre de Meuron: Es fehlt bislang ein wichtiges Teilstück. Und nun geht es um die Frage, wie das bestehende S-Bahn-System mit diesem Teilstück in all dem, was schon da ist, topografisch und im Hinblick auf die bestehenden Siedlungs- und Infrastrukturen, ver­bessert werden soll. Wir haben hierzu eine Methode entwickelt und verschiedene Varianten analysiert, weil es sehr viele Dimensionen zu berücksichtigen und viele Akteure zu verstehen und miteinzubeziehen gilt, damit wir am Schluss die Lösung finden, die am besten nachzuvollziehen ist. Den Weg der Entscheidung dazu wollten wir offen­legen und transparent machen.

TEC21: Das jetzige System gilt als nicht mehr zeitgemäss. Wo liegen die Probleme?
Pierre de Meuron: Im Moment haben wir ein halb fertiges S-Bahn-System in Basel. Es ist wie ein Gewölbe, das seinen Schlussstein braucht, damit es tragfähig wird. Basel als eine der drei grossen Metropolitanregionen in der Schweiz braucht diesen Schlussstein, dieses kleine Stück, das so viel bewegt. Es gibt Bahninfrastrukturen entlang des Rheins und in den Tälern, allerdings nicht in allen. Diese Infrastrukturen sind jedoch nicht miteinander verbunden. Die beiden Bahnhöfe Bahnhof SBB und Badischer Bahnhof sind bahntechnisch Sackbahnhöfe, obwohl sie eigentlich als Durchgangsbahnhöfe fungieren – das ist ein grosser Widerspruch, eine Unlogik im System.

TEC21: Und es behindert gleichzeitig die Vernetzung und Entwicklung der Region als Ganzes.
Pierre de Meuron: Genau. Es gilt, diese Sackbahnhof-Realität zu verbessern und diese S-Bahn-Linien durchzubinden. Das ist die Voraussetzung für ein effizientes S-Bahn-System im Metropolitanraum Basel. Und die Verbindung der beiden Bahnhöfe muss durchs Zentrum führen. Das ist städtebaulich wichtig. Das his­torische Zentrum muss erschlossen werden, sonst blutet es aus. Die Leute aus dem Metropolitanraum müssen mit der S-Bahn direkt in die Stadtmitte kommen. Das ist nicht nur eine physische, sondern auch eine mentale Verbindung zum Zentrum – und es verbindet die Region.

TEC21: Es geht also um eine physische und mentale Verbindung, aber letztendlich auch darum, dass die ­Siedlungsachsen entlang der Talschaften gestärkt werden, wenn die Stadt und Region wachsen?
Pierre de Meuron: Das ist das grosse raumplanerische Thema. Wenn wir aufzeigen wollen, was passieren soll – oder eben nicht –, brauchen wir als Gemeinschaft gemeinsame Wertvorstellungen. In der Schweiz haben ­wir ein interessantes rechtliches Instrument: das Bundes­gesetz für Raumplanung, das Gesetz, wie sich die Raumplanung zukünftig darstellen soll. Wir haben mit unserem Konzept eins zu eins versucht, dies ins Basler Territorium zu übersetzen.
Die Siedlungen in den Tälern sollen entlang dieser Hauptachsen wachsen, die mit dem öffentlichen Verkehr erschlossen sind. Wir wollen so die Entwicklung nach innen lenken – und nicht mehr endlos in die Landschaft. Die Landschaft müssen wir schützen. Dann müssen wir die räumlichen Voraussetzungen für die Wirtschaft berücksichtigen. Eine Stadt muss auch solche Flächen zur Verfügung stellen, gut erschlossen, idealerweise durch öffentliche Verkehrsmittel.

TEC21: Wie wurden die Haltepunkte in der Stadt eruiert?
Pierre de Meuron: Wir haben auf Massstabsebene der Stadt Basel untersucht, wo welche Aktivitäten stattfinden – wohnen, arbeiten, einkaufen, sich erholen, sich bilden. Die Analyse zeigt, wie dicht diese Aktivitäten in Basels Zentrum sind. Es ist multifunktional und nicht monofunktional, das macht seine Qualität aus. Dann haben wir eruiert, welche Perimeter bislang nicht durch das S-Bahn-System erschlossen werden, diese haben wir als «Funklöcher» bezeichnet. Wir wollten mit der Verbindungslinie möglichst viele davon anfahren. Damit schaffen wir es, die S-Bahn nicht nur direkt ins Zentrum zu bringen, sondern auch Basel Nord mit dem wichtigen Entwicklungs­gebiet Klybeck direkten S-Bahn-Anschluss zu geben. Das wird für die zukünftigen Stadtquartiere im Basler Norden ein wichtiger Impuls sein.

TEC21: Wie bewerten Sie die städtebaulichen Potenziale der geplanten Ausstiegspunkte im Zentrum?
Pierre de Meuron: Verschiedene Orte im Zentrum erhalten eine neue Bestimmung. Die Hauptpost wäre ein idealer Ort, um anzukommen, sie bekäme ein neues Leben. Dieser Post-Standort steht ja aktuell zur Diskussion. Wenn die Post nicht mehr so wichtig ist, dass sie physisch im Zentrum von Basel präsent sein muss, könnte sie Platz machen für etwas Neues. Auch der Spiegelhof ist jetzt nicht sehr überzeugend, er ist kaum belebt. Mit dem Ausstieg könnte dieser Ort eine neue Wertigkeit erhalten – einfach indem wir die bestehenden baulichen Gegebenheiten ausnutzen, ohne Tabula rasa zu machen. Er erschliesst direkt das Universitätsspital und die Universität, die somit auch eine Verankerung in der Stadt erleben.

TEC21: Und der dritte Haltepunkt führt direkt an den zentralen Ort am Basler Rheinknie, die Schifflände.
Pierre de Meuron: Hier wollen sehr viele Leute hin, um sich ­ zu erholen. Der Rhein hat sich zu einem der interessantesten, lebendigsten und aktivsten öffentlichen Räume in Basel entwickelt. Als Angelpunkt zwischen Gross- und Kleinbasel ist dieser Punkt von besonderer Bedeutung. Man kommt hier genau am Ort an, der die Ursprünge der Stadt definiert.

TEC21: Was bedeutet der Ausbau des «Herzstücks» für den Bahnhof SBB?
Pierre de Meuron: Als wir im Team erkannt haben, dass wir sowohl mit dem Badischen Bahnhof als auch mit dem Bahnhof SBB oberirdisch bleiben können, war das ein grosser Durchbruch. Der Bahnhof SBB ist im heutigen Zustand unbefriedigend. Er hat, geschichtlich bedingt, eine schwierige Lage. Es gibt keinen direkten Weg in die historische Kernstadt. Das ist anders als in Zürich oder Luzern, die direkten Anschluss ans Zentrum haben. Auch die Erschliessung ist unbefriedigend. Jetzt wird das in einem ersten Schritt nach Süden verbessert mit dem Meret-Oppenheim-Platz und dem Hochhaus. Damit wird der Bahnhof zweiseitig und erhält eine Anbindung an das Gundeldinger Quartier. Mit dem «Herzstück» erhält er einen neuen Zugang im Westen im Bereich der Margarethen­brücke, also ein drittes Gesicht.

TEC21: Wie wird sich dieser Ort um den Bahnhof verändern?
Pierre de Meuron: Die Margarethenbrücke soll erweitert werden und einen platzartigen Charakter bekommen, in einer ähnlichen Grösse wie der Centralbahnplatz. Über den Margarethenplatz werden die Perrons direkt erschlossen. Der Bahnhof erhält so im Westen ein neues Portal. Damit eröffnet sich die grosse Chance, diesen Ort über die Innere Margarethen­strasse an die Kernstadt anzubinden sowie das Leimental über die Äussere Margarethenstrasse und den Margarethenstich. Auch die Verknüpfung vom Gundeldinger Quartier in die Innenstadt würde gestärkt. Bahninfrastrukturen sind oft trennend, wenn sie oberirdisch sind, hier gibt es nun eine neue, verbindende dritte Seite über den Margarethenplatz. Da wird es zukünftig auch ums Verdichten gehen. Ein Verkehrsknotenpunkt wie dieser wäre sicher ein guter Ort, um zu verdichten.

TEC21: Die Verflechtungen mit der Stadt- und Raumentwick­lung sind eklatant. Es scheint ja fast stärker ein städtebauliches, raumplanerisches Projekt zu sein als ein verkehrliches.
Pierre de Meuron: Das ist genau der Punkt, der uns beschäftigt. Seit der Boom in der westlichen Welt stattfindet, wurde die Stadtentwicklung hauptsächlich vom infrastrukturellen Denken her bestimmt – und viel zu wenig vom raumplanerischen, territorialen Denken. Es ist höchste Zeit, dass dies nicht nur eine Aufgabe der Infrastruktur und der Ingenieurssicht ist, ­sondern das Territorium, das Raumplanerische muss auch eine tragende Rolle spielen. Das ist unser Beitrag.

TEC21: Also ein interdisziplinäres Projekt?
Pierre de Meuron: Ja, wir brauchen alle Sichten. Selbstverständlich braucht es die Ingenieure und das Bundesamt ­ für Verkehr. Aber wir brauchen auch die raumplanerische und städtebauliche Sicht. In diesem Fall berücksichtigt die Infrastrukturplanung die städtebaulichen Bedürfnisse, das hat Modellcharakter. Wenn wir uns mit Wachstum auseinandersetzen, müssen wir uns fragen: Was heisst das für das Gebaute? Beim Gebauten geht es um die Quartiere, die Städte und die Infrastrukturen – es muss alles miteinander koordiniert werden. Und wir müssen auch alle anderen Dimensionen miteinbeziehen, etwa das Gesellschaftliche oder Politische. Wir sind für ein vernetztes, mehrdimensionales Denken.

TEC21: Wenn wir über die gesellschaftlichen und politischen Dimensionen sprechen, bedeutet das auch, all diese vielfältigen Inhalte und Potenziale zu vermitteln. Was erachten Sie hier als wesentlich?
Pierre de Meuron: Man muss kommunizieren bei einem derart wichtigen Thema. Es geht um grosse Investitionen, wir müssen also erklären, weshalb das sinnvoll ist. Es war uns ein Anliegen, plausibel aufzuzeigen, wie wir zu einer Lösung kommen und weshalb sie besser ist als andere Ansätze. Das wollten wir auch bildlich zeigen, um die Menschen anzusprechen. So haben wir etwa mit einem Linienplan gezeigt, wie das ideale Stadtnetz funktionieren sollte und was das für die einzelnen Haltpunkte bedeutet – so als wäre es schon gebaut. Letztendlich geht es um essenzielle gesellschaftliche Fragen, die bislang zu wenig thematisiert werden: Welche urbane Zukunft wollen wir, und wie soll unser Umfeld gestaltet werden? Was wollen wir uns leisten? Das müssen wir zur Diskussion stellen.


[Herzog & de Meuron analysierten für den Synthesebericht die raumplanerischen Anforderungen sowie ­Stadtentwicklungs- und Stadtgestaltungsaspekte (vgl. «Herzstück aufgegleist»).]

TEC21, Fr., 2017.07.14



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TEC21 2017|28-29 Herzstück Basel – S-Bahn ins Zentrum

30. Juni 2017Tina Cieslik
Susanne Frank
TEC21

Freigespielt

Nachdem sie 2007 den Wettbewerb gewonnen hatten, entwickelten die Architekten Kuhlbrodt & Peters und Beat Aeberhard die Primarschulanlage in La Neuveville zu einem überzeugenden Ensemble, das sensibel auf Topografie und Stadtstruktur reagiert. Im Innern beeindruckt das Gebäude mit seiner räumlichen Komplexität.

Nachdem sie 2007 den Wettbewerb gewonnen hatten, entwickelten die Architekten Kuhlbrodt & Peters und Beat Aeberhard die Primarschulanlage in La Neuveville zu einem überzeugenden Ensemble, das sensibel auf Topografie und Stadtstruktur reagiert. Im Innern beeindruckt das Gebäude mit seiner räumlichen Komplexität.

Siegreiche Wettbewerbsprojekte machen bisweilen eine erstaunliche Karriere – so auch die Erweiterung der Primarschulanlage in La Neuveville, die die Zürcher Architekten Kuhlbrodt & Peters zusammen mit Beat Aeberhard realisierten. Genau genommen begann mit dem Gewinn des Wettbewerbs erst die eigentliche Erfolgsgeschichte dieses Projekts: die Transformation und Neugestaltung der bestehenden Schulanlage zu einem stimmigen Ensemble aus Altem und Neuem, das sich zur Stadt hin öffnet und seinen Kontext feinfühlig miteinbezieht – eine gelungene Stadtreparatur.

La Neuveville ist ein beschauliches Städtchen mit einem kompakten historischen Kern, dessen Bausubstanz überwiegend aus dem 16. bis 19. Jahrhundert stammt. Die malerischen Gebäude in ortstypischer Materialität Putz und Jurakalk sind authentisch erhalten und bilden wohlproportionierte Stadträume mit eigenem Charme. Nördlich der Altstadt schliessen sich die ­Häuserzeilen der Vorstadt an. Um diese beiden Schwerpunkte erweiterte sich die Gemeinde im Lauf der Zeit mit punktförmigen Einzelhäusern, die frei in die ­Land­schaft gestreut sind. Der Ort am Nordwestufer des Bielersees, umgeben von Weinbergen, ist landschaftlich privilegiert und bietet einzigartige Blick­bezüge zu seiner Umgebung.

Die Primarschulanlage liegt am nordöstlichen Rand der historischen Altstadt am Hang, auf halber Höhe zwischen historischem Kern und Vorstadt. Das Hauptgebäude, ein klassizistischer Bau mit reprä­sen­ta­tiver Fassade, stammt aus dem 19. Jahrhundert. In den 1960er-Jahren wurde es um zwei weitere Gebäude ergänzt, die parallel zum bestehenden quer in den Hang gesetzt wurden. Die einzigartige Sicht vom Aussen­bereich auf den See ging damit verloren, ebenso wie umgekehrt die visuelle Präsenz des historischen Hauptbaus im Stadtraum. An dieses Gebäude grenzt im Westen ein Grundstück mit einem Kindergarten und einem Trafohaus, auf dem die Stadt im Jahr 2007 einen Wettbewerb auslobte: Aufgabe war, hier ein Primarschulhaus inklusive Kindergarten als Erweiterung des bestehenden Ensembles zu planen. Mit ihrem Entwurf entschieden die Architekten Kuhlbrodt & Peters in ­Zusammenarbeit mit Beat Aeberhard das Verfahren für sich und wurden für die weitere Planung beauftragt – die sich dann allerdings ganz anders gestaltete als ­ursprünglich im Wettbewerb vorgesehen.

Sensibel im Kontext integriert

Nach einem zweijährigen Aufschub des Projektstarts, bedingt durch einen politischen Wechsel im Conseil Municipal, sollte der Neubau auch die sanierungsbedürftigen 60er-Jahre-Bauten der bestehenden Anlage ersetzen. Mit diesem Projekt, das das Raumprogramm aus dem Wettbewerb und dem Schulhaus aus den 60er-Jahren aufnimmt, gelang den Architekten, gestützt durch die Gemeinde, eine Neuordnung der gesamten Anlage und damit eine markante Aufwertung dieses Orts im Stadtgefüge. Sie platzierten den Neubau, einen kompakten viergeschossigen Solitär mit allseitig ausgerichteter Fassade und flachem Walmdach, auf dem Gelände des historischen Hauptgebäudes. Der Entwurf überzeugt durch seine städtebauliche Setzung längs zum Hang und leicht versetzt zum Hauptbau, nimmt dessen Proportion und Masstäblichkeit auf und integriert sich geschickt in die Topografie. Altes und neues Schulhaus sind auf wohltuende und angemessene Weise präsent im Stadtbild.

Mit der Weiterentwicklung ihres Wettbewerbsentwurfs lösten die Architekten die Schwierigkeiten der vorherigen Konstellation auf: Beide Schulhäuser – Alt- und Neubau – haben nun freie Sicht auf den See und die Altstadt. So entstand eine grosszügige Anlage mit einem Pausenhof, einem kleinen Garten als Experimentierfeld und zwei neuen Plätzen auf unterschiedlichen Geländeniveaus, über die das neue Schulhaus jeweils zugänglich ist. Das den Ort prägende Motiv der Stützmauer ist in die Gestaltung der Aussenräume einbezogen, bestehende Wegebeziehungen sind gut integriert. Die Idee der Planer, die Grünfläche am Hang mit Weinreben zu bepflanzen, liess sich aus Unterhaltsgründen leider nicht realisieren. Ein Schulgarten neben dem Eingangsbereich an der Nordfassade bietet aber pädagogischen Zugang zur einheimischen Flora.

Ein frei stehender Pavillon komplettiert das Ensemble aus altem und neuem Schulhaus und markiert einen räumlich prägnanten Eckpunkt. Dieser neu geschaffene gedeckte Aussenraum, der zukünftig mit Rankpflanzen begrünt sein wird, kann in der Pause, für den Freiunterricht und für verschiedene Anlässe sowohl von der Schule als auch von der Gemeinde genutzt werden. Zusammen mit einem grossen Saal im Untergeschoss des Neubaus, den die Schule auf gleichem Geländeniveau anbietet, verfügt die Anlage somit über ein interessantes Raumangebot für öffentliche Veranstaltungen in der Gemeinde.

Regionale Referenz

Mit seiner Materialität und in der Gestaltung der Fassa­den nimmt das neue Schulhaus den Dialog zu seiner Umgebung auf. Gestockte Sichtbetonfassaden in warmem Beige-Gelb verleihen dem Gebäude einen repräsentativen Charakter, in ihrer Haptik vermitteln sie zwischen Putzbauten und Natursteinmauern der Umgebung. Die Archi­tekten wählten Jurakalk aus der ­Region als Zuschlagstoff, der durch das Stocken der Betonoberfläche sichtbar gemacht wurde. So fügt sich der Neubau mit dem historischen Schulhaus nicht nur in seiner Volumetrie, sondern auch in seiner Materialität zu einem harmonischen Ensemble, ohne dabei seine Eigenständigkeit zu verlieren.

Auch in weiteren Details schaffen die Architekten Analogien zu dem, was am Ort zu finden ist: So erhalten die Fenster durch eine ungestockt belassene Laibung eine Rahmung, ähnlich wie sie in den Putzfassaden der Umgebung zu finden ist; die Fensterteilung lehnt sich an die klassische Symmetrie der Fenster der umgebenden Solitäre an. Dennoch zeigt die Fassade keinen symmetrischen Aufbau, Brüche ­widerspiegeln die innere Ordnung. Die Themen der ­Umgebung werden aufgegriffen, jedoch neu interpretiert und an das Raumprogramm angepasst.

Raumskulptur im Innern

Im Innern überrascht das Schulhaus mit einer ungewöhnlichen räumlichen Komplexität und Grosszügigkeit. Bewegt man sich im Gebäude, verweilt der Blick nicht in einem Geschoss, sondern öffnet sich gleich­zeitig in die Vertikale: Über die Geschosse hinweg sind diago­nale Bezüge sowohl zwischen den einzelnen Raumeinheiten als auch zwischen den unterschiedlichen Ebenen möglich. Der Raum wirkt dadurch offen und licht, die Übergänge zwischen den Geschossen darüber und darunter erscheinen fliessend. Grosse Fenster rahmen den Blick nach aussen, die Beziehung zu Stadt und Landschaft ist so auch im Innern spürbar.

Um diese Wirkung zu erzielen, konzipierten die Architekten einen z-förmigen Erschliessungsraum: Über dieses Prinzip werden jeweils zwei Einheiten – bestehend aus je einer Klasse, Lehrerzimmer, Sanitärblock und dazugehörigem Vorbereich – zusammen­gefasst. Der Clou besteht darin, dass sich die Achsen geschossweise drehen: Damit erzeugen sie eine (räumliche) Verschränkung in der Horizontalen und Vertikalen. Die Architekten verwendeten dieses Motiv bereits im Wettbewerb. Im nun realisierten Entwurf, mit einem grösseren Volumen und Raumprogramm, hatten sie die Chance, ein noch spannungsreicheres Raumgefüge zu konzipieren.

Zusammenspiel der Disziplinen

Dass die verschiedenen Raumeinheiten geschossweise gedreht angeordnet werden, führt räumlich zu einem Gewinn. Um jedoch den Anforderungen der Gebäudetechnik gerecht zu werden, mussten die Planer beson­­dere Lösungen erarbeiten: Da einzig das Element des Aufzugs über alle Geschosse durchgängig ist, war es notwendig, die Leitungsführung sorgfältig zu planen  – was in konstruktiver Zusammenarbeit zwischen Architek­­ten und Ingenieuren gelang. Auch die Klarheit und die skulpturale Wirkung, die sich im Erschliessungsraum zeigen, sind das Ergebnis sorgfältiger Planung. Für die Treppen wurden keine Fertigteile verwendet, sondern sie wurden vor Ort gegossen – nur so liessen sich die punktgenauen Treppenanschlüsse kontrollieren. Die Akustik im Treppenhaus ist überraschend angenehm für einen Raum, der skulptural in Sichtbeton erscheint. Räumlich-ästhe­tische, konstruktive und technische Anforderungen wurden ganzheitlich betrachtet und gelöst. Ver­schiedene Themen sind konzentriert und in einem Ele­ment zusammengefasst: So wurden Leuchtröhren und Akustik­elemente zu einer Technikeinheit gebündelt und in die Decke integriert.

Mit dem Bezug des Schulhauses im vergan­genen Herbst fand das Projekt nach neunjähriger Laufzeit seinen Abschluss. Nicht immer verheisst eine lange Planungszeit Gutes. Oft genug kann man beobachten, dass ein vielversprechendes Konzept Schritt für Schritt verunklärt wird. In diesem Fall hat sich ein gutes Projekt Schritt für Schritt zu einem besonderen weiterentwickelt.

TEC21, Fr., 2017.06.30



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TEC21 2017|26-27 Neue Schulen in der Romandie

30. Juni 2017Tina Cieslik
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Monochrom heiter

Mit dem 2015 fertiggestellten Erweiterungsbau der Primarschule Avry gelang den Zürcher Architekten Oeschger Reimann Schermesser ein grosser Wurf: Aussen verspielt und innen gewagt, verbindet der Neubau intensive Raumerlebnisse mit kreativer Pflichterfüllung.

Mit dem 2015 fertiggestellten Erweiterungsbau der Primarschule Avry gelang den Zürcher Architekten Oeschger Reimann Schermesser ein grosser Wurf: Aussen verspielt und innen gewagt, verbindet der Neubau intensive Raumerlebnisse mit kreativer Pflichterfüllung.

Anfang der 1970er-Jahre erlangte Avry im Kanton Freiburg regionale Bekanntheit: Die Migros eröffnete hier 1973 eines der grössten Einkaufszentren der Schweiz, gleichzeitig die erste Shoppingmall im Kanton. Der eigentliche Dorfkern von Avry liegt rund 1 km westlich davon, gut versteckt im hügeligen Hinterland, mit bester Aussicht auf die Freiburger Voralpen.

Die Gemeinde ist nicht nur wegen ihrer idyllischen und gleichzeitig verkehrstechnisch gut erschlossenen Lage attraktiv. Die Ansiedlung des Einkaufszentrums und der folgenden Industriebetriebe schuf Arbeitsplätze, die Nähe zum Kantonshauptort ist für Pendler interessant. In den letzten Jahren entwickelte sich das ehemals landwirtschaftlich geprägte Dorf ­sukzessive zur Wohngemeinde. Die Infrastruktur, vor allem die bestehende Primarschule von 1978, konnte den Platzbedarf für die wachsende Schülerschaft nicht mehr decken. Die Gemeinde schrieb daher 2008 einen offenen Projektwettbewerb für einen Neubau aus. Er sollte Platz für neun Primarklassen und drei Kindergartengruppen bieten und auch einen Mehrzwecksaal für die Gemeinde sowie die Zivilschutzanlage beherbergen.

Als Standort war das Grundstück in der westlichen Verlängerung der bestehenden Schule vorgesehen. Siegreich aus der Konkurrenz hervor gingen die Zürcher Architekten Oeschger Reimann Schermesser. Ihr Entwurf löst die Anforderungen in einem ausgeklügelten Raumkonzept, das Innen- und Aussenraum auf raffinierte und vielschichtige Weise miteinander verknüpft.

Formvollendet kindgerecht

Der zweigeschossige Neubau besteht aus zwei aneinandergedockten, leicht versetzten Quadern in der Verlängerung des bestehenden Pausenhofs und eines der Hauptzufahrtswege zum Wohnquartier. Gemeinsam mit dem Bestandsbau entstand auf diese Weise ​ein ​­Ensemble, das der Bedeutung der Schule als öffentlichem, auch von der Gemeinde genutztem Gebäudekomplex gerecht wird. Ins Auge springen zunächst die tanzenden Fenster des Neubaus – alle Fassaden, Sichtbeton mit Grauzement und gebrochenem Jurakies, haben Öffnungen, die auf unterschiedliche Höhen gesetzt sind und deren Formate zwischen stehend und liegend variieren. Umlaufende, mit der Fassade vor Ort betonierte Zargen aus schalungsglatt belassenem Beton betonen die Asymmetrie ihrer Positionierung.

Durch die versetzte Anordnung der beiden Quader und zusammen mit der dreidimensionalen Gestaltung der Fenster gelingt es, den über 53 m langen Bau in die Nachbarschaft der kleinteiligen Wohnbauten zu integrieren. Ein weiterer Aspekt in der Positionierung der Fenster ist die Funktion: Bei den Klassen im OG bieten die unten liegenden Fenster Ausblicke auf Kinderhöhe, die oberen Fenster sind die Lüftungsflügel. Im EG sind die unteren Öffnungen auch als Eingänge oder Fenstertüren aus­gebildet, die oberen dienen der Belichtung. Die Nordfassade zum Pausenhof ist zudem als gedeckte Arkade ausgeführt. Hier erlauben die Öffnungen den Zugang zum Schulhaus, und die unverglasten Rahmen dienen als Sitzgelegenheit für die Kinder.

Räume mit Mehrwert

Ein wichtiges Kriterium im Wettbewerb – und später bei der Abstimmung über den Baukredit – war der Mehrzwecksaal. Er sollte von der Gemeinde auch zu ausserschulischen Zeiten zu nutzen sein. Die Architekten platzierten den 162 m² grossen Saal an der Ostseite des Baus, gegenüber der bestehenden Anlage, mit deren Pausenhof er einen auch für Veranstaltungen nutzbaren Aussenraum erhielt. Der Zugang für die Besucher erfolgt vom Laubengang an der Nordseite. An der Südseite der Halle liegt die Grossküche. Beide Räume, Küche und Saal, sind über die zentrale Eingangshalle auch von der Schule aus erschlossen.

Überhaupt die Erschliessung: Beim Blick auf die Grundrisse erkennt man, was für ein wichtiges Entwurfsthema sie darstellt. Die Architekten verzichteten auf eine schulhaustypische Erschliessung mit langen Gängen und setzten stattdessen auf eine Aneinanderreihung von Hallen, um die die einzelnen Klassenzimmer gruppiert sind. Diese horizontale und via wenige Stufen auch vertikale Verschränkung der Räume erlaubt zum einen, das ansteigende Terrain ohne grosse Treppenfluchten zu überbrücken; zum anderen handelt es sich bei den Hallen eher um öffentliche ­Plätze denn um reine Verkehrsflächen: Im Zentrum der Quader dienen die zenital belichteten Räume jeweils als Garderobe. Neben vier Reihen mit umlaufenden Kleiderhaken an den Wänden – ehemaligen Schrankgriffen – entwarfen die Architekten dafür amorphe Sitzmöbel in Kleeblattform, die gleichzeitig als Schuhregal dienen. Jeweils drei Möbel zonieren den zentralen Kern, von dem aus vier Klassenzimmer erschlossen werden.

Grosszügig und variabel

Neben dem öffentlichen Bereich mit Saal, Küche und Sanitärräumen ist im Erdgeschoss im ersten, nordöstlichen Quader auch das Lehrerzimmer untergebracht. Der 90 cm höher liegende, südwestliche Teil beherbergt den Kindergarten mit kleineren Spielnischen und einen Klassenraum. Zwei gespiegelte gegenläufige Treppen führen ins Obergeschoss, hier komplettieren acht Klassenzimmer sowie ein Büro für die Logopädie und ein Raum für den Spezial- und Stützunterricht das Raumprogramm. Räumlich (und auch pädagogisch) interessant sind die offenen Lernlandschaften in den zentralen Hallen. Im Obergeschoss sind sie nicht Teil des Brandschutzkonzepts und können daher auch möbliert werden.

Im Brandfall schliessen Brandschutz-Schiebetüren die Bereiche ab, regulär kann die Zirkulationszone so aber auch in zwei Gruppenräume unterteilt werden. Indi­viduelle Gruppenräume für jedes Klassenzimmer, wie sie sich in der Deutschschweiz in jenen Kantonen durchgesetzt haben, die dem Harmos-Konkordat (interkantonale Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule) beigetreten sind, waren nicht gefordert. Dafür liegen die Grundflächen der einzelnen Klassenräume mit je 81 m² deutlich über den rund 70 m² (plus Gruppenräumen), die beispielsweise der Kanton Zürich standardmässig für seine Unterrichtsräume in den Primarschulen veranschlagt.[1]

Und die Farbe?

Neben aller räumlicher Raffinesse ist es jedoch die ungewöhnliche Farbigkeit der Innenräume, die auf den ersten Blick verblüfft und auf den zweiten Blick überzeugt. Über ihre gestalterische Funktion hinaus veranschaulicht die Farbgebung das räumliche Konzept: Das «Herz der Schule», die öffentlichen Räume, Hallen, Treppenhäuser, Sanitärräume sind monochrom in ­Pastellblau gehalten; die  «Innenräume» – Klassen- und Lehrerzimmer, aber auch der Mehrzwecksaal und die Grossküche – in Pas­tellgrün. Die Wahl der Farben greift auch die ländliche Umgebung mit tiefem Horizont, viel Himmel und grünen Weiden auf, die durch praktisch jedes der grossflächigen Fenster zusammen mit viel Tageslicht nach innen wirken.

Mit den wechselnden Lichtsituationen eines Tags, aber auch mit jenen der Jahreszeiten bilden die Flächen eine Palette an Intensität von fast Weiss bis Tiefblau bzw. -grün. Spannend wird es immer dort, wo die Töne aufeinandertreffen und wo farbige Schatten und Überlagerungen zusammenkommen. Und das funktioniert überraschenderweise auch im Betrieb: Rund zwei Jahre nach Bezug erweisen sich die Ober­flächen als bemerkenswert ruhiger Hintergrund für ­ die Werke kindlicher und pädagogischer Kreativität.

Beharrlichkeit lohnt sich

Neun Jahre sind seit dem Wettbewerb vergangen, zwei Jahre seit der Eröffnung der Primarschule. Die lange Planungs- und Bauzeit war primär bedingt durch die planerischen Strukturen mit einer Gemeinde als Bauherrschaft und dem Sujet Schulhaus als öffentlicher Bauaufgabe – mit hoher Relevanz für das Dorfleben und entsprechend vielen Beteiligten. Das hat aber auch seine gute Seiten: Die Akzeptanz des Baus vor Ort ist hoch, die Nutzer sind zufrieden – trotz oder vielleicht auch gerade wegen des gewagten Farbkonzepts. Dies ist das Verdienst der hochwertigen Architektur, aber auch der Geduld und des kommunikativen Geschicks der beteiligten Planer.


Anmerkung:
[01] Vgl. «Raumstandards für Volkshochschulen der Stadt Zürich», zum Download unter: bit.ly/2sh0lQV. Für die Gruppenräume werden den Flächen allerdings jeweils noch einmal ein Viertel bzw. die Hälfte der Klassenzimmerfläche zugerechnet.

TEC21, Fr., 2017.06.30



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«Der Nutzer passt sich dem Haus an»

Fünf Bieler Architekten kauften im September 2015 das 1957–1959 von Max Schlup erbaute Farelhaus. So besonders wie der Bau, so ungewöhnlich ist das Konzept seiner Instandsetzung. Aktuell wird er schrittweise saniert – eine Geschichte von Mut, Fantasie und Verhältnismässigkeit.

Fünf Bieler Architekten kauften im September 2015 das 1957–1959 von Max Schlup erbaute Farelhaus. So besonders wie der Bau, so ungewöhnlich ist das Konzept seiner Instandsetzung. Aktuell wird er schrittweise saniert – eine Geschichte von Mut, Fantasie und Verhältnismässigkeit.

Es war ein Schlüsselwerk in seinem Schaffen: Mit dem Direktauftrag für den Bau des Farelhauses für die evangelisch-reformierte Gesamtkirchgemeinde Biel wandte sich der dort ansässige Architekt Max Schlup Ende der 1950er-Jahre weg vom Heimatstil hin zur Haltung der Solothurner Schule. Das Gebäude an prominenter Lage an der Schüsspromenade war in seiner Architektur ebenso visionär wie in seiner Nutzung: Curtain Wall, offener Innenhof und eine beeindruckende Transparenz im Erdgeschoss, dahinter ein multifunktionaler Kosmos aus Veranstaltungssaal, Bistro und Mehrzweckräumen. Die fünf Obergeschosse beherbergten Büros, Wohnungen und ein Mädchenheim.

Doch was vor rund sechs Jahrzehnten zukunftsträchtig war, ging über die Jahre im Alltag verloren.

Umnutzungen und eine fehlende Gesamtkoordination für eine Instandsetzung setzten dem Bau zu – so weit, dass sich die Gemeinde mangels zeitgenössischem Nutzungskonzept und finanziellen Mitteln 2015 gezwungen sah, den Bau zu verkaufen. Das Raumangebot mit Restaurant und Saal in Kombination mit der anstehenden Sanierung barg aber viele finanzielle Risiken und war damit für klassische Investoren schlicht zu unattraktiv. Ein Glück war die Ausgangslage hingegen für die Bieler Architekten Stephan Buchhofer, Reto Mosimann, Simon Schudel, Oliver Schmid und Ivo Thalmann. Sie hatten be­reits Erfahrungen mit Schlups Bauten gesammelt, sei es in der Bauberatung des Heimatschutzes, bei der Mitarbeit an der 2013 erschienenen Schlup-Monografie[1] oder bei der Instandsetzung von dessen Gebäuden.

Ihr Ansatz für die Sanierung (vgl. «Das Wunder von Biel», TEC21 11/2017) ist nicht modellhaft, aber vorbildlich: Er stellt die bestehende Struktur mit all ihren Qualitäten, aber auch Schwächen ins Zentrum und fokussiert nicht auf heutige Anforderungen an Nutzung und Komfort. Kann diese Grundhaltung auch nicht als universelles Rezept für einen gelungenen Umgang mit Bauten aus dieser Zeit propagiert werden, so zeigt das Beispiel Farelhaus doch, dass eine Herangehensweise frei von Ideologien, gepaart mit Risikobereitschaft und beschränkten ­Mitteln, der Bedeutung und Substanz eines derartigen Objekts durchaus gerecht werden kann. Die heutigen Nutzungen entsprechen dabei jenen von damals: ein bunter Mix aus Büros, Wohnungen, Bistro und dem Veranstaltungssaal. Im Gespräch erzählt das Team von der Gratwanderung zwischen architektonischer Wertschätzung und Wirtschaftlichkeit und von der Doppelrolle als Architekten und Investoren.

TEC21: Beim Farelhaus treten Sie gleichzeitig als Investoren, als Architekten und als Betreiber auf. Wie sind Sie organisiert?

Team Farel: Kauf und Sanierung haben wir selbst finanziert. Zunächst dachten wir, wir übernehmen das Haus, organisieren von Zeit zu Zeit einen Vortrag und füllen es wieder mit Büros. Aber bald merkten wir, dass das wahrscheinlich nicht reichen würde, um die Kirchgemeinde als Verkäuferin zu überzeugen – ein Haus zu renovieren ist eins, aber es mit Nutzungen zu belegen und zu betreiben ist eine ganz andere Sache und war für uns eine Herausforderung. Nebst der Konstituierung der Trägerschaft als AG gründeten wir einen kulturellen Beirat, daraus entstand später der von der Trägerschaft unabhängige Kulturverein. Die Trennung ermöglicht, dass die AG klassische Themen wie Rentabilität und langfristige Finanzierbarkeit verfolgen und so die Rahmenbedingungen für den Kulturverein schaffen kann.

TEC21: Nach dem Kaufentscheid hatten Sie kaum Planungszeit. Wie konnten Sie das als Team bewältigten?

Team Farel: Wir kennen uns schon lang. Gegenseitiges Vertrauen ist die Voraussetzung für ein solches Vorhaben. Für die Sanierung gab es anfangs zwei­wöchentliche Sitzungen mit uns allen. Wir haben aber schnell gemerkt, dass die Fäden irgendwo zusammenlaufen müssen. In diesem Fall wanderte die Verantwortung langsam zu Ivo Thalmann. Jeder im Team nimmt eine spezielle Rolle ein: Der eine ist der Aussenminister, kennt sich im Schlup-Archiv aus und war massgeblich an der Schlup-Monografie beteiligt. Ein anderer regelte die Finanzen, Mietverträge und das Baugesuch. Wiederum andere übernahmen spezifische Themen wie die Fassade oder den Brandschutz. Das ist der Vorteil eines Teams. Wir hätten es sonst nicht geschafft.

TEC21: In welchem Zustand fanden Sie den Bau vor?

Team Farel: Wir haben 40 Jahre Investition rückgebaut. Vor allem die Wohnungen waren in ziemlich schlechtem Zustand. Das hat mit der flachen Hierarchie der Kirchgemeinde zu tun: Jemand hatte eine Idee, brauchte einen Raum und renovierte ihn nach seinem Gusto. Was fehlte, war eine gesamthafte Koordination der individuellen Umbauten. Originale Bodenbeläge wurden mit diversen Materialien belegt, Backsteinwände teilweise gestrichen oder gar verputzt.

TEC21: Seit wann steht das Gebäude unter Denkmalschutz?

Team Farel: Erst seit der Sanierung. Vorher war es im Inventar als schützenswert eingetragen. Im Kanton Bern gibt es für Baudenkmäler die beiden Stufen «erhaltenswert» und «schützenswert». Bauten der ersten Kategorie sollen wegen ihrer ansprechenden architektonischen Qualität oder ihrer charakteristischen Eigenschaften geschont, jene der letzteren ungeschmälert bewahrt werden. Wenn saniert wird und die Denkmalpflege Beiträge spricht, gibt es ab 5 000 Franken einen Unterschutzstellungsvertrag. Die gesprochenen Beiträge sind an eine Begleitung der Sanierung durch die Denkmalpflege geknüpft.

TEC21: Inwieweit hat die Sanierung des Farelhauses den Denkmalschutz interessiert?

Team Farel: Sie war insofern von Interesse für die Denkmalpflege, als wir dafür finanzielle Unterstützung beantragt hatten. Inhaltlich waren wir in dieser Hinsicht gut aufgestellt: Nebst der Bearbeitung vieler im Inventar eingetragenen Bauten durch alle Beteiligten hatten spaceshop Architekten von 2008 bis 2010 die Eidgenössische Sportschule in Magglingen von Max Schlup saniert. 0815 Architekten hatten die Villa Favorita in Biel von 1861 saniert. Die Objekte wurden 2010 und 2012 mit dem Nationalen Denkmalpflegepreis ausgezeichnet. Die Eigentümerschaft hatte also grosses Vertrauen, dass der Bau bei uns in die rich­tigen Hände kommt. Dass das Farelhaus ein Schutz­objekt darstellt, ist in der Fachwelt unbestritten. Aber in der Politik wird alles infrage gestellt, was eine Einschränkung darstellen könnte – ein solches Gebäude braucht einen Mentor, sonst ist es weg.

TEC21: Was ist Ihr Sanierungskonzept?

Team Farel: Die wirtschaftliche Basis hat die Eingriffs­tiefe definiert, wobei sich dieser Ansatz auch mit unserer architektonischen Haltung deckt: möglichst bescheiden, bauschadenfrei und kostendeckend. Bescheidenheit beinhaltet ein stufenweises, situatives Vorgehen in Bezug auf die Substanz. Letztendlich ging es darum, diese zu erhalten. Dazu kommen der wirtschaftliche Aspekt und die Bauzeit von knapp einem halben Jahr: Hätten wir hier mehr Spielraum gehabt, hätten wir möglicherweise vieles anders gemacht. Hingegen gibt es Dinge, die man einfach in die Hand nehmen muss, zum Beispiel die Wasserinfiltrationen ins Untergeschoss. Und dann gibt es Risikoentscheide, wie die über 50-jährigen Installa­tionen oder die der 20-jährige Kessel der Heizung, die wir belassen haben. Als Investoren konnten wir bewusst Risiken in Kauf nehmen, die wir als Architekten im Auftrag einer Bauherrschaft vielleicht auch anders beurteilen würden. Für dieses Projekt war das eine grosse Chance.

TEC21: So zu denken erfordert eine neue Sicht der Dinge im Umgang mit einer derartigen Substanz.

Team Farel: Unsere Strategie war es, nicht zu viel zu machen. Wir gehen nicht von Idealen aus, sondern von dem, was unter diesen Umständen möglich ist. Und das darf man auch spüren. Der Nutzer passt sich dem Haus an, nicht umgekehrt. Es gibt Menschen, die sich in genau solchen Räumen wohlfühlen. Wir müssen diese Leute finden und nicht unsere Vorstellungen, die es auch gibt, auf alle Räume übertragen.

TEC21: Der energetische Aspekt ist bei einem Gebäude aus dieser Zeit durchaus ein Thema – gab es dazu Auf­lagen?

Team Farel: Bauten der 1950er- und 1960er-Jahre erfahren ja im Vergleich zu anderen historischen Bauten wenig Wertschätzung. Sie werden oft totsaniert oder verschwinden zugunsten von Ersatzbauten aus dem Stadtbild. Das liegt auch daran, dass man den Anspruch an die bestehende Substanz zu hoch ansetzt. Wir finden es fragwürdig, eine Sanierung durchzuführen, die gleichbedeutend mit einem Neubau ist – nur um eine Struktur zu erhalten, für die es heute nur bedingt eine Nachfrage gibt. Manchmal kann es auch zu einem Problem werden, wenn zu viel Geld da ist. Bei einem Altstadthaus ist jedem, auch einem Investor, klar, dass es gewisse Einschränkungen beim Komfort gibt. Da herrscht Konsens. Bei einem Gebäude aus den 1950er- oder 1960er-Jahren hat man dagegen das Gefühl, es sei ein modernes Haus, aber mit vielen Fehlern. Man vergleicht es mit einem zeitgenössischen Neubau. Dazu kommen die Standards der Behörden. Dort werden mittels Labels wie Minergie-P-Eco oder 2000-Watt-Gesellschaft politische Leitplanken gesetzt, sodass man als Planer oft nur noch wenig Spielraum hat.

TEC21: Wie ist der aktuelle Stand der Nutzung? Ist alles schon vermietet?

Team Farel: Alles, was fertig ist, ist vermietet. Wir haben mehr Nachfrage als Platz. Im zweiten und dritten Obergeschoss, dem ehemaligen Mädchenheim «Freundinnen junger Mädchen», haben wir mit der Sanierung noch nicht angefangen. Diese startet nach den Verhandlungen mit der zukünftigen Nutzerschaft im Frühsommer dieses Jahres. Hier soll eine Gemeinschaft mit unterschiedlichen Nutzern entstehen.

TEC21: In den Obergeschossen gibt es Büros neben Wohnungen, im Erdgeschoss liegt das Bistro, und im Saal finden Veranstaltungen statt. Führt das mit den Mietern zu Konflikten? Oder ist klar definiert: Wenn man hier wohnen oder arbeiten will, ist man mit der Art, wie das Haus genutzt wird, einverstanden?

Team Farel: Das Multifunktionelle des Hauses wird geschätzt. In den Mietverträgen gibt es einen Passus «Besondere Bestimmungen zu den Räumen». Darin wird alles beschrieben – was dieses Haus ist und was diese Räume können und was nicht. Da gibt es den Satz: «Die Dichtigkeit der Gebäudehülle ist zeittypisch und entspricht dem Standard eines Gebäudes aus den 1950er-Jahren. Allfällige Beeinträchtigungen gehören zum Charme des Gebäudes.» Und unter «Nachbarschaft»: «Das Farelhaus verfügt über eine gemischte Nutzung mit Wohnungen, Büro, Atelier, Bistro und Saal für kulturelle Events. Die unterschiedlichen Nutzungen verlangen von allen Beteiligten Offenheit und Respekt im gegenseitigen Umgang.» So kann das Gebäude als Kulturgut erhalten und ein offener Geist gepflegt werden.


Anmerkung:
[01] Architekturforum Biel (Hg.): Max Schlup. Architekt, Niggli, Sulgen 2013.

TEC21, Fr., 2017.06.09



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Innovatives Bewahren

Zentrales Element im respektvollen Umbau des Hauptsitzes der Zürcher Kantonalbank ist die Schalterhalle. Die Basler Architekten jessenvollenweider haben sie als öffentlichen Stadtraum interpretiert und damit an der Bahnhofstrasse ein urbanes Angebot geschaffen.

Zentrales Element im respektvollen Umbau des Hauptsitzes der Zürcher Kantonalbank ist die Schalterhalle. Die Basler Architekten jessenvollenweider haben sie als öffentlichen Stadtraum interpretiert und damit an der Bahnhofstrasse ein urbanes Angebot geschaffen.

Mit dem Wiederentdecken ursprünglicher Qualitäten verfolgten jessenvollenweider in der Ergänzung und dem Weiterbau des Bankgebäudes eine Strategie, die die Kraft und Eleganz des Altbaus herausarbeitet. Gleichzeitig sind für sie die bestehenden Schwächen der Ausgangspunkt, das Gebäude nach zeitgemässen Ansprüchen an Raum und Nutzung zu interpretieren. So lassen sie ein neues Ganzes entstehen.

Der Hauptsitz der Zürcher Kantonalbank an der Bahnhofstrasse in Zürich entstand Ende der 1960er-Jahren nach Plänen des Architekten Ernst Schindler. Die kraftvolle Stützenordnung der Fassade integriert sich gut in die gründerzeitlichen Strassenfronten der angrenzenden Büro- und Verwaltungsbauten und ist bis heute ein selbstverständlicher Teil im Stadtbild. Zentrales Element im Innern war die zweigeschossige Haupthalle, die von schweren, horizontal umlaufenden Brüstungsbändern in der Höhe gegliedert und von einer Lichtdecke begrenzt wurde. Schindler hat dem Gebäude durch den Einsatz von schwedischem Marmor seine ganz eigene Eleganz verliehen, im Innern unterstützt durch die Verwendung von schwarzem Tropenholz für Wände und Möbel.

Die räumlichen und atmosphärischen Qualitäten, die das Gebäude besass, sind im Zuge von Nutzungsanpassungen und Sanierungsmassnahmen über die Jahre verloren gegangen. Neue Vorstellungen, wie der Hauptsitz zukünftig zu nutzen sei, führten schliesslich 2007 zu einem geladenen Wettbewerb mit Präqualifikation, den jessenvollenweider für sich entscheiden konnten.

Die Architekten haben mit ihrem Konzept den Hauptsitz der Zürcher Kantonalbank – trotz der erforderlichen tiefgreifenden Modernisierung und des dazu notwendigen Rückbaus bis auf die Grundstruktur – im Geiste Schindlers in Wert gesetzt und gleichzeitig die öffentlichen Bereiche im und um das Ge­bäude neu interpretiert.

Neue Öffentlichkeit

Den Passanten, die heute durch die obere Bahnhofstrasse schlendern, mag zunächst nicht auffallen, dass sich der Hauptsitz der Zürcher Kantonalbank mit der Renovation grundlegend gewandelt hat, zu vertraut ist das Bild, das sich ihnen bietet. Die strenge, klare Fassade des Hauses wurde erhalten, auch die neuen Fenster den Originalen nachgebaut. Lediglich das Kafi Züri und das Büro Züri mit temporären Arbeitsplätzen, die neu den Haupteingang flankieren, verweisen auf die Veränderungen, die das Haus mit dem Umbau erfahren hat.

Die von Schindler als offener Bereich konzipierte Haupthalle öffnet sich heute nicht nur zur Bahnhofstrasse, sondern ist zentraler Bereich eines neu entstandenen, alle angrenzenden Strassenräume verbindenden Wegnetzes. An diesem Wegnetz angegliedert liegt auch das neue Atriumhaus, das aus dem geschlossenen Sicherheitsbereich in einen Neubau in den Hof des Gebäudes verlegt wurde, ebenfalls öffentlich zugänglich ist und im oberen Geschoss Medienräume aufnimmt. Diese stadträumliche Öffnung des Gebäudes spiegelt sich in der Ausgestaltung der Haupthalle.

Die ehemalige Schalterhalle ist als öffentlicher Stadtraum interpretiert. Sie hält mit Bancomaten im Innenbereich sowie einem öffentlichen Café und kostenfreien Arbeitsplätzen als Schnittstelle zum Aussenraum einerseits ein urbanes Angebot bereit und ist andererseits auf den Kundenservice der Bank zugeschnitten. Die Halle besticht durch ihren gross­zügigen, wohlproportionierten Raum, der auch heute wieder von einer Lichtdecke überspannt wird. Um dies zu erreichen, haben die Architekten die Decke neu konstruiert und um ein halbes Geschoss angehoben, sodass die Schalterhalle heute dreigeschossig ist.

Die Lifte am Eingang und die einst durch den Raum führenden Rolltreppen, die als Einbauten den Raum beschnitten haben, sind verschwunden, dafür ist die skulpturale Wendeltreppe, die die Schalterhalle mit den Besprechungsbereichen verbindet, erhalten und freigespielt. «Wir haben uns vom Gedanken leiten lassen, wie es Schindler gemacht hätte, wenn er unter den heutigen Rahmenbedingungen arbeiten würde», erläutert der Architekt und Projektleiter Sven Kowalewsky eine der Herangehensweisen von jessenvollenweider.

Sanfte Wucht und fremde Eleganz

Ist die neue Organisation der Halle mit Infotheke und Service-Desk im Erdgeschoss und Beratungszimmern auf den oberen Ebenen dem modernen Servicekonzept der Bank geschuldet, so ist der Ausbau am ursprünglichen Konzept Schindlers angelehnt, dem für die Schalterhalle mit ihrer Lichtdecke das Büro- und Geschäftshaus Rautatalo in Helsinki (Wettbewerb 1951) Pate stand.

Auch bei der Wahl der Materialien referenziert der Ausbau an die ursprüngliche Ausgestaltung. Den Bodenbelag bildet ein Muschelkalk, die Verkleidungen von Stützen und Brüstungen bis ins 2. Obergeschoss sind aus Ekeberger Marmor. Kontrastierend dazu sind die hölzernen Einbauelemente aus geräucherter Elsbeere, einem Schweizer Birnbaum, die entfernt an die von Schindler eingesetzte nordafrikanische, fast schwarze Wenge erinnert. Die wenigen ausgesuchten Materialien unterstreichen die räumliche Wirkung der dreigeschossigen Halle und ihre diskrete Eleganz.

Licht, transparent und identitätsstiftend

Ihre Grosszügigkeit verdankt sie jedoch massgeblich der Anhebung der Lichtdecke um ein halbes Geschoss. Während Schindler die Decke auf der Brüstung des zweiten Obergeschoss angeordnet hatte und die an den Lichthof angrenzenden Räume damit gefangen waren, ist mit der Anhebung der Lichtdecke eine zweite Galerieebene entstanden, die zudem den zusätzlichen Raumbedarf für Beratungszimmer abdeckt. Im Zuge dessen interpretierten die Architekten auch die innere Lichthoffassade neu zugunsten einer höheren Transparenz und mehr Raumtiefe für die dahinter liegenden Zonen.

Die neue Lichtdecke in der Schalterhalle orientiert sich ebenfalls am historischen Vorgänger. Es sind wie zuvor 64 Oberlichter, die in nach aussen leicht gebogenen Reihen an der Decke angeordnet sind. Jeder Leuchtkörper, eine Eigenentwicklung der Architekten, besteht aus 260 Glaszylindern, von denen jeder einzelne mit einem LED-Leuchtmittel ausgestattet ist. Die Leuchten sorgen für eine gleichmässige, homogene Ausleuchtung der Kundenhalle. Dabei kombinieren sie bei Bedarf das über den darüber liegenden Lichthof einfallende Tageslicht mit Kunstlicht. Unter der Lichtdecke kreuzen sich die Wegeverbindungen, die neu über das Areal und in die Kundenhalle führen.

In das Zentrum geleitet werden Kunden und Besucher von einer eigens konzipierten «leuchtenden Linie», die die Wege von den Eingängen in die Kundenhalle begleiten und von der Decke abgespannt sind. In der Halle verbinden sich so beinahe unmerklich Tages- und Kunstlicht zu einer hellen, angenehmen Lichtstimmung, die den Raum nicht nur als Zentrum des Hauses, sondern auch als öffent­lichen Treffpunkt definieren.

Im Sinn Schindlers weitergedacht

Was heute so selbstverständlich erscheint, ist Ergebnis einer insgesamt acht Jahre dauernden Planungs- und Umsetzungsphase, wobei Letztere mit dem Rückbau des Gebäudes bis auf die Tragstruktur und der Beseitigung von Altlasten begann. Die vorangegangene Planungsphase war geprägt von einem intensiven Dialog zwischen Architekten, Bauherrschaft, Denkmalpflege und Behörden. Nicht zuletzt musste das Projekt durch die neue Hof- und Dachform, den Neubau eines Medienzentrums im Hof sowie die Neudefinition der Erdgeschossbereiche und -nutzungen vom Zürcher Gemeinderat bewilligt werden. Mit Erteilung der Baubewilligung wurde das Gebäude, das zuvor bereits inventarisiert war, unter Denkmalschutz gestellt.

Die Fassade, die gesamthaft geschützt ist, ist daher bis auf das Erdgeschoss originalgetreu erhalten, die neuen Fensterelemente sind Nachbauten ihrer Vorgänger. Im Innern, vor allem bei der Erneuerung der zentralen Kundenhalle, hat der Denkmalschutz das Konzept der Architekten mitgetragen, die Absichten Schindlers durch die getroffenen Massnahmen zu akzentuieren und die raumgreifenden Kunstwerke der Künstler Christine Streuli (Bodenintarsie) sowie Andres Lutz und Anders Guggisberg (Endlosschleife) zu integrieren. Bei der Haustechnik ist es gelungen, trotz den raumklimatisch hohen Anforderungen mit einem ausgefeilten Konzept und einer Seewassernutzung die Massnahmen auf das Notwendigste zu reduzieren und Minergiestandard zu erreichen.

Jessenvollenweider haben als «innovative Bewahrer» mit ihrem Konzept einer respektvollen, den Altbau lesenden Erneuerung an der oberen Bahnhofstrasse Bestehendes nicht nur erhalten, sondern im Sinn der ursprünglichen Absichten der Architektur nach­haltig weiterentwickelt.

TEC21, Fr., 2017.05.19



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03. Februar 2017Susanne Frank
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«Die Stadt zuerst»

Die Basler Architekten Anna Jessen und Ingemar Vollenweider haben mit ihren Entwürfen die WerkBundStadt mitgestaltet und die Entwicklung des Projekts im kooperativen Verfahren begleitet. Sie berichten, was sie daraus gewonnen haben und wie man dies zukünftig nutzen kann.

Die Basler Architekten Anna Jessen und Ingemar Vollenweider haben mit ihren Entwürfen die WerkBundStadt mitgestaltet und die Entwicklung des Projekts im kooperativen Verfahren begleitet. Sie berichten, was sie daraus gewonnen haben und wie man dies zukünftig nutzen kann.

TEC21: Frau Jessen, Herr Vollenweider, was ist das Besondere an diesem Projekt? Was macht diese WerkBundStadt aus?

Anna Jessen: Die klassischen Werkbundsiedlungen, wie etwa die Weissenhofsiedlung in Stuttgart, definieren sich darüber, dass neue Wohnmodelle geschaffen werden. Die WerkBundStadt in Berlin definiert sich in erster Linie über die Frage, was ein städtischer Raum heute sein kann und welche Qualitäten es hat, in einem städtischen Kontext zu wohnen. Die Montage der Weissenhofsiedlung in das Grundstück, auf dem die Werkbundstadt entstehen soll (Plan), zeigt gut, dass die WerkBundStadt einen völlig anderen Massstab und Charakter besitzt und dass die kompositorische Setzung von einzelnen Ein- oder Mehrfamilienhäusern heute nicht mehr das Thema sein kann.

Ingemar Vollenweider: Es geht hier nicht zuerst um Wohnungsbau, sondern um Stadtbau. Das bisherige Projekt ist folglich nicht das Ergebnis eines Wohnbauexperiments, wie es von Teilen der Presse reflexartig vermisst und entsprechend kritisch diskutiert wurde. Vielleicht rührt dieses Missverständnis daher, dass wir nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Deutschland zuerst Wohnungs- und Siedlungsbau machen und das dann mit Stadtbau gleichsetzen. Im Zweifelsfall setzt sich auch in Wettbewerben nicht der konsequente Städtebau, sondern der coole oder auch nur wirtschaftliche Wohnungsgrundriss durch. Hinter dem Entwurf zur WerkBundStadt steht eine andere Überzeugung: Er möchte öffentliche Räume schaffen, die Identität und Kollektivität ermöglichen, und thematisiert damit die Frage, was wir vom städtischen Raum erwarten. Daher heisst das Projekt auch WerkBundStadt und nicht Werkbundsiedlung.

TEC21: Der städtebauliche Entwurf ist eine Synthese aus unterschiedlichen Konzepten. Mit welchen Themen haben Sie sich im Vorfeld auseinandergesetzt?

Anna Jessen: Die Frage, wie heute und an diesem Ort ein glaubwürdiger städtischer Raum funktio­nieren und aussehen kann, hat uns interessiert.
Die Bildung von Plätzen haben wir eher hinterfragt, wir hatten Respekt vor deren latenten Zentralität, auch vor der Frage, wie viel anonyme Textur dafür notwendig wäre. Dagegen haben wir uns gewundert, warum im Zusammenhang mit Wohnungsbau keine Strassenräume mehr gebaut werden. Die Strasse scheint uns ein verheissungsvoller öffentlicher Raum. Nicht ein neutrales Raumkontinuum, sondern ein klar gerichteter, vielleicht geknickter Raum, mit einem Ausschnitt des Himmels und dem Vis-à-vis von zwei Strassenseiten.

Ingemar Vollenweider: In unserem städtebaulichen Konzeptbeitrag, den wir gemeinsam mit Caruso St John entwickelten, ging es uns darum, das Quartier mit dem Wasser zu verbinden. Daher waren die Strassen unser Leitmotiv und nicht die Blöcke, die im abgestimmten Modell viel dominanter sind. Ich finde es interessant, dass es jetzt einen Platz gibt, der aber nicht allseitig von Gebäuden umstellt wird, sondern an das Kraftwerksareal von Vattenfall angrenzt. Er wird so zu einem verbindenden Element, gerade wenn sich das Quartier einmal weiterentwickeln sollte.

TEC21: Der Prozess der Entwicklung dieses städtebaulichen Entwurfs ist aussergewöhnlich. Wie kam es zu diesem Entwurf?

Anna Jessen: Acht Teams mit jeweils zwei Büros haben ihre städtebauliche Vision für das Areal entwickelt und an einem langen Wochenende in Berlin sich gegenseitig vorgestellt. Die Gesamtverantwortlichen des Werkbunds, Paul Kahlfeldt und Claudia Kromrei, nahmen dabei eine Schlüsselposi­tion ein, indem sie hier wie später die Qualitäten der Einzelentwürfe bündelten, Entscheide fällten oder, besser noch, diese sanft herbeiführten. Gegen den Widerstand der einzelnen Autoren, die klare, einheitliche Konzepte forderten, am besten natürlich ihr eigenes, haben sie den Mut und den Nerv gehabt, sich die stärksten Elemente aus jedem Plan zu suchen, wie die lange, leicht geknickte Strasse, dann den Platz an der Brandwand zu Vattenfall und schliesslich die parzellierten Blöcke, die in ihrer Kompaktheit den Massstab des Berliner Blocks zu verdichten scheinen.

Ingemar Vollenweider: Dann gab es diese Idee, an besonderen Orten Kopfbauten auszubilden, höhere Häuser am Wasser in Anlehnung an die Spreefront von Vattenfall und Türme am Platz, was aus baurechtlichen Gründen nicht ganz einfach ist und als Tendenz eine gewisse Miniaturisierung des Stadtquartiers befördert. Das wird man in den nächsten Schritten kritisch prüfen müssen.

Anna Jessen: Der heutige Stand hat wohl eher etwas viele Themen für das nicht allzu grosse Stück Stadt. Noch ist es eine Collage von unterschiedlichen Stadträumen, aus denen aber tatsächlich eine städtische Textur entstehen kann, als Alternative sowohl zur homogenen Reformstadt als auch zum Tuttifrutti der postmodernen Architekturzoos in Stadtzentren. Genau an dieser Grenze liegt aber sicher auch das grösste Risiko des Projekts.

TEC21: Beim städtebaulichen Entwurf der WerkBundStadt wurde ausgehend von diesem das Wohnen definiert. Bei Projekten wie «Mehr als Wohnen» ist man hingegen vom Wohnmodell ausgegangen.

Ingemar Vollenweider: Es sind natürlich auch sehr unterschiedliche Ausgangslagen. In Zürich gab es eine Baugenossenschaft mit einem detaillierten Nutzungskonzept, für das man über einen Wettbewerb eine städtebauliche Form gesucht hat. In Berlin gibt es den Werkbund mit einem städtebaulichen Programm, das für den anonymen Wohnungsmarkt eine exemplarische Antwort geben will auf die Frage «Wie geht Stadt heute?». Die Stadträume, die daraus resultieren, unterscheiden sich natürlich auch entsprechend.

TEC21: Sie sind beide sehr erfahren im Wettbewerbswesen. Hier haben die Verantwortlichen ein anderes Verfahren gewählt. Worin unterscheidet es sich vom klassischen Wettbewerb?

Anna Jessen: Man muss unterscheiden zwischen der formellen Frage des Wettbewerbs und der Frage: Wie komme ich zu einem glaubwürdigen Stück Stadt, das sich immer auch aus dem Zueinander von ganz unterschiedlichen Teilen definiert? Der Werkbund Berlin hat eine Auswahl von einzelnen Architekten und damit auch Positionen bestimmt und aufgrund der Klausuren und des gemeinsam definierten Städtebaus eine Basis geschaffen, auf der man nach einer Einheit suchen kann. Die beteiligten Architekten haben gemeinsam um jene Basis gerungen, also gewissermassen die Auslobung und das Programm mitgeschrieben, und tragen entsprechend diese Verantwortung mit. Bei einem städtebaulichen Wett­bewerb gibt es dagegen «phasengerecht» eine klare Schnittstelle zwischen der Definition der Aufgabe und dem Entwurf eines Projekts. Bei einem Areal von vergleichbarer Grösse würde das siegreiche Projekt in der Umsetzungsphase wahrscheinlich unter den Preisträgern aufgeteilt, um die Einheit architektonisch zu differenzieren. Persönlich finde ich es heute sehr viel interessanter, unterschiedliche Positionen in einen Prozess auf der Suche nach Einheit zu ­involvieren, als umgekehrt Einheit im Nachgang und nur mit der Spekulation auf die sogenannte individuelle Handschrift heterogener zu machen.

TEC21: Das Verfahren ist also differenzierter und verspricht, dass so der interessantere Stadtbaustein entsteht?

Anna Jessen: In der öffentlichen Diskussion wird oft die Frage nach der Innovation gestellt. Wenn man an diesen Begriff glaubt, dann ist dieser Prozess des kooperativen Städtebaus sicher eine innovative These. Dazu hat Georg Franck als Gast und Experte der WerkBundStadt bereits in der Klausurphase aufgerufen (vgl. «Städtebau als Gemeinschaftswerk», TEC21 46/2015).

TEC21: Wo liegen die Vorteile eines derartigen Verfahrens gegenüber dem Wettbewerb?

Anna Jessen: Für städtebauliche Projekte in diesem Massstab finde ich es notwendig, über Alternativen zum klassischen Wettbewerb nachzudenken. Es wäre ja denkbar, die Auswahl der Architekten über ein Bewerbungsverfahren zu treffen, das ein Motiva­tionsschreiben oder ein Thesenpapier verlangt. Die Strategie für die WerkBundStadt ist die richtige, um die angestrebte Ganzheitlichkeit des Stadtmodells umzusetzen, das ja vom Mobilitätskonzept in Zusammenarbeit mit BMW bis zu den Entwürfen für Bodenplatten durch beteiligte Produktgestalter reichen soll.

Ingemar Vollenweider: Die inhaltliche Diskussion anhand konkreter Projekte, nicht in einer Jury, sondern als beteiligter Autor, hatte ich so noch nicht erlebt. Am runden Tisch war spürbar, welche städtebaulichen Ideen tragen. Das war ein starkes kooperatives Moment. Dann kamen die Entwürfe für die Häuser. Jeder von uns musste an drei verschiedenen Orten Stellung beziehen. Dadurch haben sich alle gedanklich mit dem ganzen Quartier auseinander­gesetzt. So gab es dann für die spezifischen Orte Entwürfe, die mehr überzeugten als andere.

TEC21: Haben sich in diesem Prozess weitere Ansätze abgezeichnet, wie etwa für das Zusammenleben im Quartier, die weiterzuverfolgen sich lohnen würde?

Ingemar Vollenweider: Die Frage beispielsweise, wie die Erdgeschosse verstanden werden können, ist noch nicht zu Ende gedacht. Auch der Ansatz, den Arno ­Lederer eingebracht hat, als Pendant zum öffentlichen Raum auf Erdgeschossniveau über kollektiv genutzte Dachgärten nachzudenken, hat Potenzial.

Anna Jessen: Noch ist nicht sicher, ob das Thema des kollektiven Dachgartens für eine parzellierte Stadt funktioniert, aber dass solche Ideen eingebracht, kontrovers diskutiert und vorläufig, bis das Gegenteil bewiesen wäre, als Hypothesen im Projekt gehalten werden, ist eine Chance und Qualität dieses Verfahrens.

TEC21: Anders stellt es sich dar, wenn Architekten die Aufgabe bekommen, basierend auf einem Masterplan einen Gebäudeentwurf auszuarbeiten. Dabei fokussiert jeder auf seine Parzelle, und es kümmert sich niemand um die Stadt als Ganzes.

Anna Jessen: Die Partizipation am Gesamtprozess führt zu einem höheren Mass an Identifikation von den Planern und allen Beteiligten. Auch die Investoren und Beteiligten der Stadt Berlin waren schon in den Klausuren mit eingebunden.

Ingemar Vollenweider: Wettbewerbsprojekte haben eine hohe formale Prägnanz und damit das Potenzial, Identität zu schaffen. Gleichzeitig drohen sie dadurch eindimensional zu sein. Sie haben eine Identität, die vielleicht nicht komplex genug ist, um das Leben und die Bedürfnisse an einem spezifischen Ort zu treffen. Das kooperative Verfahren bei der WerkBundStadt verhandelt eine grössere Vielfalt, ist weniger prägnant, dafür elastischer. Damit sind wir wieder beim Prozess: Er lässt tatsächlich Schlaufen zu – und ist damit natürlich sehr zeitaufwendig.

TEC21: Gibt es denn andere Regeln und Verbindlichkeiten?

Ingemar Vollenweider: Einerseits gibt es bei diesem konkreten Modell von Stadt eine höhere Verbindlichkeit über die Strasse, den Platz, die städtebauliche Kante. Auf der anderen Seite steht der Wille: Jeder Einzelne macht sein Haus. Das prallt ein Stück weit aufeinander. Es gab in dieser Phase nicht viele Regeln für die Entwürfe der Häuser, ausser die Parzellengrenzen mit den Höhenvorgaben aus dem städtebaulichen Plan und für die Wandflächen der Fassaden einen minimalen Klinkeranteil von 60 Prozent. Das interessante aber war, dass durch die Klausuren sehr konkrete Themen und Ansprüche im Raum standen – wie die Adressierung und Hinwendung der Haupt­räume zur Strasse oder die vermeintlich banale Forderung, Sanitärräume möglichst natürlich zu belichten. Paul Kahlfeldt sah die Entwürfe zuerst als Hypothesen, um daraus Ideen für tragende typologische Themen oder die Charakterisierung der Strassenräume zu finden. Das ist ein sehr liberaler Ansatz.

TEC21: Sie haben eben den Charakter angesprochen, den das Projekt für Sie hat. Sie sind beide praktizierende Architekten und sehr engagiert in der Lehre. Kann man aus diesen Erfahrungen rund um das Projekt Erkenntnisse für die Lehre gewinnen?

Anna Jessen: Ja, das ist sicher so. Die Erfahrungen allein aus dem Diskurs haben sehr viel gebracht, auch für die Lehre. Wir haben beide damit ein ganzes Entwurfssemester durchgespielt. In Leipzig am Wilhelm-Leuschner-Platz, einer grossen innerstädtischen Brache, haben wir versucht, das Modell des kollektiven städtebaulichen Entwerfens auszuloten. Die Studierenden waren durchaus überrascht, dass wir weniger als Lehrende aufgetreten sind, sondern eher in der Rolle des Choreografen gewirkt haben. Das war auch für uns eine spannende Erfahrung, die uns generell über die Rolle des Architekturlehrers nachdenken liess.

TEC21: Hat das Verfahren also Modellcharakter für die Lehre?

Ingemar Vollenweider: Als Student dachte ich immer, Gruppenarbeit ist das Schutzprogramm für Vielredner und Leute ohne Ambition. Es geht aber um etwas anderes. Der Zusammenhang von Stadtbau und Kooperation ist zentral und gehört ins Curriculum einer Architekturlehre. Man muss den Unterschied zwischen Architektur und Städtebau verstehen – und zum anderen deren Abhängigkeit. Das Verfahren kann helfen, dieses Verständnis zu entwickeln. Man kennt die Gesamtkunstwerke von Stadt, die diesen Unterschied nicht machen. Etwa den Städtebau von Leon und Rob Krier aus den 1990er-Jahren, die designte traditionelle Stadt. Da ist die zeitgenössische Wohnstadt der Solitäre im Vorteil, weil sie sich viel mehr als die Summe der Teile meist nicht zutraut.

TEC21: Nach dem städtebaulichen Entwurf begann dann die Vertiefung der einzelnen Bausteine für die WerkBundStadt mit den Gebäudeentwürfen. Welche Themen standen hier im Vordergrund?

Ingemar Vollenweider: In der Schweiz machen wir viele dicke Häuser mit vielen dunklen Wohnungen, die vielleicht interessant, in jedem Fall aber sehr ökonomisch sind. Das Innovative ist hier gekoppelt an eine sehr hohe Wirtschaftlichkeit. Unter dem enormen Druck, der gerade in den Städten auf dem Wohnungsbau lastet, werden die Konventionen des Metiers ausgelotet. Der Laubengang für eingeschossige Wohnungen ist jetzt auch in der Schweiz denkbar. Das ist vielleicht innovativ, aber die entstehenden Stadträume entsprechen dabei oft jenen der Peripherie. Die WerkBundStadt formuliert das Gegenmodell: Wenn ich an die Strasse glaube, glaube ich an die Randbebauung – ich meine bewusst nicht Block-, sondern Randbebauung –, die hat dann eine Tiefe von 12 bis maximal 15 m, die kann ich nicht gross überschreiten.

TEC21: Daraus ergeben sich dann Module, die sehr flexibel sind.

Ingemar Vollenweider: Die Randbebauung schafft gewisse Bindungen, die dicken Klumpen liegen eher nicht drin, aber so ein parzelliertes Haus ist sehr flexibel, insbesondere wenn es Platz für einen Hof- oder Gartenflügel gibt, was in der WerkBundStadt leider nur stellenweise der Fall ist. Wenn man Gründerzeitgrundrisse betrachtet, muss man sich mit der Frage auseinandersetzen: Wie kann ich das überhaupt besser machen? Dabei kann man über andere Wohnformen nachdenken, etwa Clusterwohnen, Alterswohngemeinschaften oder Gastwohnungen. Interessant aber ist, dass genau in diesen Wohnungen historisch alles schon stattgefunden hat. Das in der WerkBundStadt verfolgte Modell, Sozialwohnungen ohne staatliche Förderung und damit auch ohne die zum Teil problematischen Vorgaben zu realisieren, ist ebenso riskant wie ambitioniert, um nicht zu sagen: wirklich innovativ. Denn es erhöht den Druck, insgesamt haushälterisch mit Raum und Boden umzugehen und ganzheitlich zu planen.

Anna Jessen: Unser Ansatz war es, ein Wohnhaus zu entwickeln, dessen Wohnungen man sich in Berlin auch leisten kann. Das aufzulösen, etwa in Clusterwohnen, ist viel einfacher, als aus einer Clusterwohnung einen gut proportionierten Zimmergrundriss für eine 2.5-Zimmer-Wohnung zu ent­wickeln. Es wird also relevante Antworten zum Thema des zeitgenössischen Wohnens geben. Zugespitzt formuliert ist aber die Innovation bislang: die Stadt zuerst, das Wohnexperiment ordnet sich der Stadt ein und unter. Wir wohnen zuallererst in der Stadt und dann in einer guten Wohnung – die mit dieser Stadt kommuniziert.

Ingemar Vollenweider: Die These zur Typologie wäre dann: Welche Wohnformen lassen sich an diesen Strassen und öffentlichen Räumen realisieren?

TEC21: Wie weit wurde bislang der Bezug des Hauses zum Stadtraum diskutiert?

Ingemar Vollenweider: Es ist diese Frage nach der Gestalt und der Einheit: Wo pendelt sich das ein zwischen Anonymität auf der einen und Individualität der einzelnen Häuser auf der anderen Seite? Welche Architekturen können dieses Zusammenspiel leisten?

Anna Jessen: An diesen Ort in Berlin ziehe ich meiner Meinung nach nicht, weil es hier Wohnungsgrundrisse gibt, die ich noch nie gesehen habe. An diesen Ort ziehe ich in erster Linie wegen seiner zentralen Lage in Berlin, in zweiter Linie wegen des Stadtraums oder des Lebensgefühls. Und dann will ich dort in einer Wohnung leben, die Zimmer und Raumzuschnitte in der Art hat, dass ich in meinen Räumen Rückzug und Privatheit finden kann und dennoch Teil der Stadt bleibe. Ich freue mich über einen Erker, weil ich von dort aus auf die Spree schauen kann. Ich will etwas spüren von dem Ort, an dem ich lebe. Ich will mich quasi mit dem Stadtraum verweben können. Da ist das städtische Leben, und das ist etwas Grossartiges. Ich lebe in der Stadt, weil ich in der Dichte die Anonymität geniessen kann. Und gleichzeitig gehe ich auf in diesem kollektiven Getragensein.

TEC21: Was waren Ihre wichtigsten Entwurfsthemen?

Ingemar Vollenweider: Die architektonische These war eben, eine Antwort zu finden auf: Wie kann man ein Haus machen, das eigenständig ist und sich gleichzeitig ins Kollektiv einbindet – und auch diese Anonymität adressiert. Unsere Strategie war, das Gebäude aus einer einzigen plastischen Idee entstehen zu lassen und daraus dennoch Sockel, Fassade und Dach zu entwickeln. Daher ist es einerseits ein recht abstraktes Haus, das andererseits dieser Dreiteiligkeit entspricht. Dann kann man sich fragen: Wie wohne ich denn an der Strasse? Wir haben das Thema des Erkers aufgegriffen. Das ist ein altes Thema, das nach wie vor für den Wohnraum sehr viel Potenzial bietet. Eine Qualität, die wir von den Basler Baumgartner-Häusern kennen. Die Erker sind ein starkes Element für das Haus, den Baukörper und die einzelne ­Wohnung, sind aber auch wieder in der Lage, ein Thema zu liefern, um die Häuser in den Zusammenhang des Orts einzubinden.

TEC21, Fr., 2017.02.03



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TEC21 2017|05-06 WerkBundStadt II Schweizer Beiträge

20. Januar 2017Susanne Frank
TEC21

Diskurs als Strategie

Mitten in der Stadt plant der Berliner Werkbund ein dichtes, funktionsgemischtes Wohnquartier. Dabei schlägt das Projekt einen ungewöhnlichen Weg ein. Was ist das Besondere an diesem Entwicklungsprozess? Und was macht die WerkBundStadt aus?

Mitten in der Stadt plant der Berliner Werkbund ein dichtes, funktionsgemischtes Wohnquartier. Dabei schlägt das Projekt einen ungewöhnlichen Weg ein. Was ist das Besondere an diesem Entwicklungsprozess? Und was macht die WerkBundStadt aus?

Der Berliner Werkbund hat ein bemerkenswertes Projekt auf den Weg gebracht: die WerkBundStadt. Ungewöhnlich ist es aus mehreren Gründen. Erstmals trägt eine Planung des Werkbunds die «Stadt» im Namen – ob­wohl bereits frühere Projekte, wie etwa die 2007 ­ini­tiierte Werkbundsiedlung Wiesenfeld in München, im städtischen Kontext entwickelt wurden. Damit zeigt die WerkBundStadt augenscheinlich ihren besonderen Fokus: Hier stehen der städtebauliche Ansatz, die Stadträume und die Idee des Wohnens in der Stadt, inmitten eines Quartiers von sehr hoher Dichte, im Vordergrund.

Auch das Verfahren, das die beiden Projektverantwortlichen – der Vorsitzende des Deutschen Werkbunds, Paul Kahlfeldt, und die Vorsitzende des Berliner Werkbunds, Claudia Kromrei – wählten, weicht ab von dem, was bislang üblich war: Sie entschieden sich für einen disziplinenübergreifenden kooperativen Konzeptions-, Entwurfs- und Umsetzungsprozess. 33 Architekturbüros haben sich auf Anfrage zu­sammengetan, um gemeinsam «ein Stück Stadt» zu ­entwerfen. Auf einem ehemaligen Industrieareal mitten in Berlin-Charlottenburg soll ein dichtes, funktionsgemischtes Wohnquartier ent­stehen.

Da drängen sich viele Fragen auf: Wie läuft ein solcher Prozess ab? Ist es überhaupt möglich, dass so viele Architekten einen Entwurf konstruktiv gemeinsam erarbeiten und dafür einen Konsens erzielen? Und welche Aus­sichten hat ein derartiges Projekt auf Realisierung?

Gemeinsame Wissensbasis

Schaut man sich den Prozess der Planung näher an, so zeigt sich, dass die Grundlagen sorgfältig über einen Zeitraum von über einem Jahr geschaffen wurden, um darauf aufbauend die Entwürfe zu diskutieren: Im Rahmen von sieben mehrtägigen Klausurtagungen erarbeiteten sich die beteiligten Architekten gemeinsam mit Experten der unterschiedlichen Fachdisziplinen nicht nur ein umfangreiches Wissen, sondern die Verantwortlichen stellten die Weichen für eine erfolgreiche Umsetzung, indem sie im Rahmen der Tagungen auch die Stadt Berlin, Politik, Anwohner und Investoren frühzeitig in diesen Prozess involvierten.

In den ersten vier Konzeptklausuren wurden die gestalterischen, bautechnischen, sozialen, ökonomischen, ökologischen und politischen Leitlinien des Bauens und Wohnens entwickelt. Konkret standen diese Klausuren unter den Leitthemen Politik und ­Investment, Energie und Nachhaltigkeit, Nutzung und Gestalt sowie öffentlicher Raum und Verkehr. Die Ergebnisse wurden als Regularien formuliert, sie lagen dem Entwurfsprozess zugrunde.

Meilensteine der Entwicklung

Ein erster Meilenstein war mit der fünften Klau­sur erreicht, in der das städtebauliche Konzept der ­WerkBundStadt aufbauend auf Entwürfen von acht Städtebauteams erarbeitet wurde. Ziel war es, die besten Ansätze der verschiedenen Entwürfe herauszukristallisieren und daraus einen Masterplan zu entwickeln, der von allen Architekten mitgetragen wird. Dieser erste Stand eines städtebaulichen Rahmenplans wurde gleichzeitig mit den behördlichen und politischen Vertretern des Bezirks Berlin-Charlottenburg diskutiert und abgestimmt.

Die baurechtliche Situation ist erwartungsgemäss sehr komplex, wenn man bedenkt, dass ein ehemaliges Tanklager zu einem Wohngebiet umfunktioniert werden soll. Noch sind einige Hürden zu nehmen, doch laut dem Leiter des Stadtentwicklungsamts von Charlottenburg-Wilmersdorf, Rainer Latour, ist man hier auf gutem Weg. Dies belegen die aktuellen Entwicklungen: Mit einer Überarbeitung des städtebaulichen Rahmenplans wird das Verfahren zum Bebauungsplan nun eingeleitet.

Auf Grundlage des gemeinsam verabschiedeten Masterplans fertigten die Verantwortlichen einen Parzellierungsplan, in dem sie insgesamt 39 Parzellen auswiesen. Jedes beteiligte Architekturbüro soll mit einem Gebäudeentwurf beauftragt werden. Die einzelnen Parzellen wurden schliesslich auf der sechsten Klausurtagung ausgelost: Jedes Büro bearbeitete zunächst drei Entwürfe für drei unterschiedliche Parzellen, um aus diesem Fundus die stimmigste Lösung für das grosse Ganze – die WerkBundStadt – zu finden. Ausserdem diskutierten die Beteiligten auf dieser Klausur die architektonischen Regularien für die Entwürfe der Häuser und legten hierzu ein Regelwerk fest (Link oben rechts). Mit diesen Grundlagen entwickelten die Architekten ab März 2016 ihre Häuser für das Quartier, die einzelnen Bausteine der WerkBundStadt. Die Vorentwürfe stellten sie bis Sommer 2016 fertig und präsentierten sie auf der siebten Klausur.

Ein gemeinschaftliches Werk

Diese Klausur war der zweite Meilenstein in der Entwicklung: Hier wurden die Vorentwürfe diskutiert und unter der Federführung der Verantwortlichen ­ausgewählt – ein spannender und zugleich herausfordernder Prozess, denn ein derartiges Vorgehen muss gesteuert und moderiert werden. Dazu braucht es diejenigen, die die Rolle der Regisseure annehmen und das kollektive Ganze im Auge behalten, und diejenigen, ­ die im Sinn des Ganzen vermitteln. Und diese Konstellation scheint stimmig gewesen zu sein. Tatsächlich gelang es, einen gemeinsamen Konsens zu finden und eine Lösung zu formulieren, die von der Gemeinschaft mitgetragen wird. Das sei das Ziel dieses Verfahrens, so die Verantwortlichen: Die WerkBundStadt solle ein Entwurf aller Beteiligten werden. Welche Erfahrungen beteiligte Schweizer Architekten daraus gewonnen ­haben, werden wir in der folgenden TEC21-Ausgabe ­ zur WerkBundStadt zum Thema machen.

Hervorheben kann man zu Recht das grosse Engagement aller Beteiligten: seitens der Verantwortlichen des Werkbunds, Claudia Kromrei und Paul Kahlfeldt, der Projektleiterin Corinna Scheller, seitens der Architekten – die bislang ohne Honorar und in Vorleistung arbeiten – und seitens sämtlicher involvierter Gremien und Institutionen. Das war auf der Veranstaltung im vergangenen September spürbar, auf der die Ergebnisse dieses Arbeitsstands der Öffentlichkeit präsentiert wurden.

Das Projekt wird von vielen mitgetragen, und damit ist eine solide Basis für die Realisierung geschaffen. Die Beteiligten haben einen beachtlichen Zwischenstand erarbeitet, der noch Entwicklungspotenzial hat. Die inhaltlich offenen Punkte, etwa die Gestaltung der Stadträume, die Konzeption der Wohnungen oder neue Formen kollektiver Räume und Angebote, werden nun in weiteren Schritten vertieft. Zu wünschen wäre allen Beteiligten, dass sich für die anstehende Herausforderung, wie die Entwürfe im Sinn der WerkBundStadt zusammen mit Investoren realisiert werden können, tragfähige Konzepte finden lassen.

TEC21, Fr., 2017.01.20



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TEC21 2017|03-04 WerkBundStadt I Experimentierfeld

20. Januar 2017Susanne Frank
TEC21

«Das ganze Projekt ist ein Experiment»

Die WerkBundStadt wird in einem dialogischen Verfahren entwickelt. Paul Kahlfeldt, Vorsitzender des Deutschen Werkbunds und Mitverantwortlicher des Projekts, erläutert diesen ungewöhnlichen Weg und die nächsten Schritte in der Planung.

Die WerkBundStadt wird in einem dialogischen Verfahren entwickelt. Paul Kahlfeldt, Vorsitzender des Deutschen Werkbunds und Mitverantwortlicher des Projekts, erläutert diesen ungewöhnlichen Weg und die nächsten Schritte in der Planung.

TEC21: Herr Kahlfeldt, wie lang geht die Geschichte dieser WerkBundStadt zurück?
Paul Kahlfeldt: Die ersten Ideen im Werkbund Berlin, sich zu aktuellen Fragen der Stadt und der Wohnungen zu positionieren, entstanden schon 2004/2005 anlässlich der Vorbereitung zu «100 Jahre Werkbund». Als dann der bayerische Werkbund eine Werkbundsiedlung plante, haben wir das erst einmal aufgegeben. Da dieses Vorhaben aber scheiterte, haben wir die Gründe dafür analysiert, um diese Probleme zu umgehen.

TEC21: In welcher Form haben Sie darauf reagiert?
Paul Kahlfeldt: Uns wurde bewusst, dass es ein kleines Entscheidungsteam braucht und keine unkontrollierbaren Eingriffe von aussen stattfinden dürfen. Wir haben daher einen privaten Grundstückseigentümer mit einem geeigneten Areal gesucht. Alle Massnahmen sollen ohne staatliche Förderung erfolgen – die gesetzlichen Vorgaben für den geförderten Wohnungsbau sind in Deutschland äusserst restriktiv –, und sämtliche Verfahren sollen ebenfalls nur von uns gesteuert werden. Daher haben wir keinen Wett­bewerb ausgelobt. Zudem wurden die politischen Entscheidungsträger und Interessenvertretungen vom ersten Tag an eingebunden, um alle Prozesse so transparent wie möglich zu gestalten. Letztlich versuchen wir, die gesamten Projektkosten sofort zu benennen, um schon früh grösstmögliche Transparenz zu erreichen.

TEC21: Wie kam es dann zu dem Projekt WerkBundStadt?
Paul Kahlfeldt: Konkret ist die WerkBundStadt Teil einer Untersuchung zur «Moderne» in der heutigen Zeit. Das Konzept entstand 2012/2013 zuerst ohne genaue Idee zu dem Projekt. Wir haben dann als Beitrag des Deutschen Werkbunds für die Architekturbiennale 2014 in Venedig das Thema «This is modern» herausgegeben und mit Architekten zum Deutschen Pavillon gearbeitet. Danach entstand als Resümee die Idee ­ der WerkBundStadt: die konkrete Umsetzung eines Konzepts zum Wohnen in der Grossstadt. Auch stand anfangs die Idee im Raum, anlässlich des 2019 stattfindenden Jubiläums «100 Jahre Bauhaus» den Werkbund wieder stärker zu positionieren und aus der musealen Betrachtung herauszuführen. Salopp formuliert: «Schaut euch das Bauhaus an – die Aus­bildungsabteilung des Deutschen Werkbunds. Es existierte nur ein paar Jahre und wird sentimental bis heute gefeiert, alles retro! Aber den Werkbund gibt es noch, und der zeigt ein reales Vorhaben.» Leider dauern die Planungsprozesse doch etwas länger als angenommen, und wir werden die WerkBundStadt wohl erst 2021 fertiggestellt haben.

TEC21: Sie haben ein kooperatives Konzeptions-, Entwurfs- und Planungsverfahren gewählt – und keinen ­Wettbewerb. Dieser Weg ist eher ungewöhnlich. Warum haben Sie sich dafür entschieden?
Paul Kahlfeldt: Eigentlich ist ein Wettbewerb kein ideales Instrument zur Qualitätsfindung in der Architektur. Eine Jury – oft falsch besetzt – entscheidet an einem oder zwei Tagen hektisch und einigt sich auf einen Konsens oder Kompromiss, somit fast immer auf Mittelmass. Mies van der Rohe hat bis auf das späte, nicht realisierte Mannheim-Projekt keinen Wettbewerb gewonnen, alle bekannten und guten Gebäude waren Direktaufträge. Auch die berühmte Weissenhofsiedlung in Stuttgart ist nicht aus einem Wett­bewerb entstanden. Mies hat die Teilnehmer nach klaren Kriterien ausgewählt. Alle Werkbundsiedlungen sind nicht Ergebnis eines Wettbewerbs, sondern direkt beauftragt. So haben wir auch die Teilnehmer nach verschiedensten Aspekten ausgesucht und angefragt. Nicht alle Wunscharchitekten haben zugesagt, aber wir haben einen bewusst an Qualität arbeitenden Kreis zusammengestellt, nicht eine stilistische Verbindung, sondern Büros mit Erfahrung im Wohnungsbau und in der Stadtbaukunst.

TEC21: Die Projekte des Werkbunds entstanden immer vor einem ideellen Hintergrund. Welchen Beitrag liefert hier die WerkBundStadt?
Paul Kahlfeldt: Die ganze WerkBundStadt ist ideell entstanden. Wir wollen einen Diskussionsbeitrag zur Frage des heutigen, modernen Städtebaus liefern und uns der Herausforderung nach heutiger Modernität stellen. Es ist sehr spannend zu sehen, dass ein Teil der architektonischen Kritik bemängelt, dass wir heute nicht mehr weisse Kisten mit Flachdächern auf eine Wiese stellen. Eine andere Kritik bemängelt das vermeintliche Fehlen von Experimenten. Das macht mich nachdenklich, denn natürlich ist das ganze Projekt ein Experiment. Warum muss man jedes Jahr eine neue Betonmischung erdenken oder krampfhaft funktionierende Grundrisslösungen infrage stellen? Wir wollen aus den Erfahrungen und Erkenntnissen der letzten 100 Jahre lernen und nicht in die Falle oberflächlicher Innovations- und Nachhaltigkeits­floskeln tappen. Heute ist vermutlich das «Normale» das «Besondere»: unspektakulär, nützlich, nachhaltig und auch «schön».

TEC21: In Anbetracht der zur Verfügung stehenden Bearbeitungszeit liegt ein beeindruckender Zwischenstand vor. Wie und in welcher Form möchten Sie die Wohnungen und Stadträume dieser WerkBundStadt weiterentwickeln?
Paul Kahlfeldt: Wir wollen das Projekt kontinuierlich weiterbearbeiten. Es kommen jetzt die Fachplaner dazu. Dann erstellen wir zusammen mit Entscheidungs­trägern aus der Politik, den städtischen Behörden und Anwohnern den Bebauungsplan. Dafür wird der vorliegende Vorentwurf weiter konkretisiert, um ­möglichst in zwei Jahren mit dem Bauen beginnen ­zu können. Es gibt noch einige planungsrechtliche Hürden zu nehmen. Besondere Aspekte des Lärmschutzes sind wegen des benachbarten Kraftwerks in den Bebauungsplan zu integrieren. Viele Juristen diskutieren die beste Lösung. Der städtebauliche Rahmenplan wird Anfang 2017 überarbeitet werden, und die Ergebnisse fliessen dann in den Bebauungsplan ein. Dieser wird keine Baukörperfestsetzungen vorsehen, um spätere Modifikationen beim Entwurf der Fassaden und Gebäude zu ermöglichen. Wir diskutieren dann sicherlich noch das Mass der Freiheit der Gebäude und deren mögliche Anpassungen an eine einheitliche Haltung. Das wird noch ein spannender Dialog werden. Auch die Grundrisse sind noch nicht in Stein gemeisselt. Sobald die Bauherren der einzelnen Parzellen ermittelt sind, werden wir deren Interessen berücksichtigen. Die Vielfalt an Wohnungsgrössen und Art der Nutzungen werden wir konkretisieren. Neben der Mischung ist der lang­fristige Erhalt der Flexibilität von grosser Bedeutung.

TEC21: Im Hinblick auf die Realisierung ist die Investorenfrage essenziell. Wie waren diese bislang in das Verfahren eingebunden? Wie wollen Sie zusammen mit den Investoren und der Vielzahl an Architekten die WerkBundStadt weiterentwickeln?
Paul Kahlfeldt: Die Grundstückseigentümer waren von Anfang an dabei. Die erste «Grundfinanzierung» der WerkBundStadt übernahmen die Besitzer des Tank­lagers. Jetzt erarbeiten wir ein Bauherrenkonzept zur Realisierung. Die Idee ist, dass am Schluss jede Parzelle oder jedes Haus einem Eigentümer gehört: von Baugenossenschaften bis zum privaten Eigennutzer. Wenn wir das durchhalten können, wäre es ideal. Dafür gründen wir eine WerkBundStadt-Realisierungsgesellschaft, in der alle Entscheider vertreten sind und das Areal übernehmen. Weiter wird es eine Planungsgesellschaft geben, in der die Architekten vertreten sind und gemeinsam planen. Diese Konstellation verspricht eine effiziente Struktur.

TEC21: Wo stehen Sie jetzt gerade, und welche Schritte wollen Sie als Nächstes angehen?
Paul Kahlfeldt: Augenblicklich sprechen wir mit geeigneten Institutionen, um die finanziellen Mittel für die nächsten Planungsstufen bereitstellen zu können. Im kommenden Jahr soll dann mit dem Abbau der Tankanlagen begonnen werden. Im Anschluss er­folgen die Bodenuntersuchungen, um die Gründung festzulegen. Verunreinigungen aus dem Tankbetrieb sind glücklicherweise nicht zu erwarten. Parallel werden wir ein Verkehrsgutachten erstellen lassen, um die Fragen der Mobilität, Erschliessung und des ruhenden Verkehrs zu erörtern. Das bildet die Grundlage für die Vorplanung der einzelnen Häuser. Die Architekten werden dann in kleineren Teams die übergreifenden Themen der Dachflächen als öffentliche Freiflächen bearbeiten, und gemeinsam wollen wir kritisch untersuchen, welche Angleichungen in der Gestaltung der Gebäude möglich und notwendig sind. Der Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf hat den Entwurf zur WerkBundStadt in vorbildlicher Weise planungsrechtlich durchleuchtet und in einem umfangreichen «Stresstest» einige städtebauliche Schwachstellen definiert. Diese werden gemeinsam mit dem Stadtplanungsamt diskutiert. Im Ergebnis soll im nächsten Jahr eine konkrete Vorplanung vorgestellt werden.

TEC21: Wie wird die Öffentlichkeit weiter in diesen Prozess eingebunden sein?
Paul Kahlfeldt: Ziel ist eine kontinuierliche Information und Einbindung der Öffentlichkeit in alle Verfahrensschritte und Entwurfsstände. Eine kritische Debatte zu allen Aspekten sehen wir als Qualitätssicherung im Rahmen der Realisierung der WerkBundStadt. Darüber hinaus wollen wir mit den Unternehmenspartnern die Zusammenarbeit ausbauen. Es sollen 2017 im WerkBundHaus Musterwohnungen realisiert werden, und durch das Zusammenwirken von Produktgestaltern, Architekten, Herstellern und Ver­arbeitern werden konkrete Lösungen präsentiert und erprobt. Die Erkenntnisse sollen in die Planung einfliessen. Ausstellungen, Tagungen und Vorträge im WerkBundHaus werden das Verfahren begleiten.

TEC21, Fr., 2017.01.20



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TEC21 2017|03-04 WerkBundStadt I Experimentierfeld

16. Dezember 2016Susanne Frank
TEC21

Ein Gefäss für viele Nutzungen

Der Verkauf des Gemeindehauses ermöglichte einer protestantischen ­Kirchgemeinde, ihre Kirche umzubauen und umzunutzen. Damit gewann sie neue Perspektiven für ihr kirchliches und gemeinschaftliches Leben.

Der Verkauf des Gemeindehauses ermöglichte einer protestantischen ­Kirchgemeinde, ihre Kirche umzubauen und umzunutzen. Damit gewann sie neue Perspektiven für ihr kirchliches und gemeinschaftliches Leben.

Passt ein Basilika-Typus zu einem achteckigen Zentralbau? Auf den ersten Blick betrachtet wohl kaum. Dass die Kom­bination dieser konträren Bauformen dennoch möglich ist und gleichzeitig auf vielen Ebenen gewinnbringend, zeigt das Architekturbüro bayer uhrig, das in Arbeitsgemeinschaft mit Modersohn & Freiesleben Architekten den ­Umbau der Christuskirche in Bruchhof-Sanddorf im saarländischen Homburg realisierte. Mit einem ebenso ungewöhnlichen wie nachhaltigen Konzept ist es gelungen, nicht nur das bestehende Kirchengebäude räumlicharchitektonisch aufzuwerten: Eine intelligente Umnutzung mit einem passgenauen Raum- und Nutzungskonzept ermöglicht es der Pfarrei, ihr Gemeindeleben in der neu gestalteten Kirche fortzuführen und zukünftig zu erhalten.

Herausforderungen für Kirchgemeinden

Wie viele andere Pfarreien auch stand die protestantische Kirchgemeinde in Homburg / Bruchhof-Sanddorf lang vor einem grossen Problem: Sie konnte die hohen Unterhalts- und Betriebskosten für ihre Kirche und ihr Gemeindehaus nicht mehr bewältigen. Seit geraumer Zeit steigt die Zahl der Kirchenaustritte, ebenso zeichnet sich ab, dass zukünftig immer weniger Menschen einer christlichen Religionsgemeinschaft angehören wollen – so sinken die Gemeindemitgliederzahlen. Kaum überraschend haben die Kirchen zunehmend Schwierigkeiten, die Mittel für den Erhalt und Betrieb ihrer Gebäude aufzubringen.

Diese Zusammenhänge werden aktuell auf unterschiedlichen Ebenen debattiert. Es geht zum einen darum, wie eine Gesellschaft mit ihrem baukulturellen Erbe umgeht und die gemeinsame Verantwortung wahrnehmen kann, es zu erhalten (vgl. «Wieder ein stimmiges Ganzes»). Zum anderen stellt sich aber auch die Frage nach der Weiterentwicklung des Gemeinde­lebens und seines vielfältigen Angebots an sozialen Nutzungen trotz sinkenden Mitgliederzahlen. Die Gemeinden stehen zudem vor der Herausforderung, ihre Gebäudebestände veränderten Nutzungsanforderungen anzupassen – keine leichte Aufgabe angesichts fehlender finanzieller Ressourcen.

Oft scheint es der einzige Ausweg zu sein, Gemeinden zusammenzulegen und kirchliche Einrichtungen zu schliessen. Umso mehr gewinnen intelligente Konzepte zum Umbau und zur Umnutzung von Kirchen an Bedeutung. Gerade in den letzten Jahren konnte man Initiativen beobachten, die derartige Massnahmen fördern und ins öffentliche Bewusstsein rufen. Der hier dargestellte Lösungsansatz kann daher für viele andere Gemeinden exemplarisch sein.

Auf dem Weg zu einer neuen Kirche

Das Projekt der Christuskirche in Homburg / Bruchhof-Sanddorf blickt auf eine lange Geschichte und eine beeindruckende Entwicklung zurück. Wie so oft bei gelungenen Bauvorhaben ist es einem Zusammenspiel von verschiedenen glücklichen Umständen zu verdanken, dass der Umbau in dieser Form realisiert werden konnte: einer aktiven Pfarrgemeinde, einer aufgeschlossenen Seelsorgerin mit sehr gutem Gespür und der Fähigkeit, die Gemeinde einzubinden und zu gewinnen, sowie einem engagierten Architektenteam, das diese ungewöhnliche Aufgabe mit grosser Kreativität und im Zusammenspiel mit allen Beteiligten löste. Während der Bauphase stellte sogar die katholische Nachbargemeinde ihre Räumlichkeiten zur Mitnutzung zur Verfügung, man kann hier in der Tat von einem «gemeinschaftlichen Projekt» sprechen. Wie ergab sich das alles?

Die protestantische Gemeinde war ­lang im Besitz eines überschaubaren Gebäudebestands: eine kleine frei stehende Kirche aus den 1920er-Jahren sowie, in unmittelbarer Nähe dazu, ein kleines Gemeindeheim, das sogenannte Wichernheim aus den 1970er-Jahren. Die Pfarrkirche wurde 1928 im Heimatstil erbaut, jedoch nie unter Denkmalschutz gestellt – was sich im Nachhinein als grosse Chance für die Gemeinde erwies. Denn im Lauf der Zeit wurde das ­kleine Gotteshaus in seinem Innern durch vielfältige bauliche Eingriffe in den 1950er- und 1970er-Jahren derartig verändert, dass der Sakralraum sein ursprüngliches ­Erscheinungsbild gänzlich verloren hatte. Die Malerei im Kirchenraum aus den 1920er-Jahren war komplett zerstört, zurück blieb ein Konglomerat unterschied­licher Umbaumassnahmen und Baustile – der Raum strahlte keine Atmosphäre aus, er wirkte düster und wenig einladend.

Auch das kleine Pfarrgemeindeheim war in die Jahre gekommen. Der grösste Teil der Mittel, die der Gemeinde zur Verfügung standen, floss in den Erhalt und den Unterhalt dieser beiden Gebäude. Dennoch zeichnete sich ab, dass beide Bauten zugleich nicht zu finanzieren waren. Das Presbyterium kam zu dem Ergebnis, dass die Kirche auf jeden Fall das erhaltens­wertere Gebäude sei. Ungelöst war dabei jedoch die Frage, wo und wie das Gemeindeleben zukünftig ­stattfinden könnte.

In dieser Situation hatte Pfarrerin Petra Scheidhauer bereits 2009 den Kontakt zur Technischen Universität Kaiserslautern gesucht – und einen passenden Ansprechpartner gefunden: Prof. Dirk Bayer hatte zusammen mit seiner Büropartnerin Andrea Uhrig schon verschiedene kirchliche Neu- und Umbauprojekte bearbeitet und dieses Thema auch im Rahmen seiner Lehrtätigkeit an der TU behandelt. So leitete Bayer im Frühling 2010 zusammen mit Prof. Modersohn ein Seminar vor Ort, um sich dem Umbau der Christuskirche anzunähern und mit den Studierenden verschiedene Strategien auszuloten. Im Kern ging es um die Frage: Wie kann man den Kirchenraum so umgestalten, dass darin das gesamte Gemeindeleben stattfinden kann? Mit den Grundlagen aus diesem Semester stiegen die Architekten dann in die Planung ein.

Von Anfang an war klar, dass die Gemeinde mit einem äusserst geringen Budget für ihr Bauvorhaben auskommen musste. Für das gesamte Projekt standen 350 000 Euro zur Verfügung – eine grosse Herausforderung, wenn man bedenkt, dass mit diesen Mitteln der gesamte Umbau einschliesslich energetischer Sanierung zu bewältigen war. Auch in diesem Punkt war Kreativität gefragt: Für die Architekten lag die Lösung darin, sich auf das Wesentliche zu beschränken, das Be­stehende weitestmöglich einzubeziehen und einfache, pragmatische Ansätze zu wählen – sowohl konzeptionell als auch in der Umsetzung. Finanziert wurde das Projekt letztendlich durch den Verkauf des Wichernheims, das nun vom örtlichen Bestatter genutzt wird.

Hölzerne Schatulle

Die Architekten haben eine Schatulle entworfen: Sie stellten eine hölzerne Konstruktion in die Kirche und strukturierten damit das Raumgefüge neu. Der Sakralraum wurde um 90° gedreht und liegt nun quer zur Ausrichtung des Hauptgebäudes sowie des Eingangs im Zentrum der Kirche. Er teilt so zwei weitere Einheiten im Erdgeschoss ab: zum einen den Eingangsbereich mit Vor- und Nebenraumzone, zum anderen einen separaten Raum dort, wo sich ursprünglich Altar und Chor befanden. Die bestehende Empore wird weiterhin genutzt, und auf der gegenüberliegenden Seite ist eine neue Ebene für eine zweite Empore eingeführt. Auf diese Weise gelang es, genügend Platz für die gemeindlichen Nutzungen zu gewinnen und gleichzeitig die dringend benötigten Nebenräume zu integrieren.

Über die Ebenen der Emporen kann man den Raum ganzheitlich wahrnehmen. Die Kirche wird zu einem Gefäss, das unterschiedlichen Nutzungen dient. Die Proportionen der Räume empfindet man an jeder Stelle als angenehm und stimmig. Das Schnittprofil der bestehenden Empore mit ihrem charakteristischen Trägerprofil bestimmte auch die Geometrie der neuen. Der zentrale, nun verkleinerte Kirchenraum wird so von zwei Ebenen erlebbar. Ein wichtiges Element in dem neuen Raumprofil ist der Baldachin über dem Sakralraum: Er fasst ihn in der Vertikalen und stärkt dadurch seine Ausrichtung. Zugleich erhalten die seitlichen Emporen mit diesem Element ihren räumlichen Abschluss. Da alle Umbaumassnahmen im Innern ausgeführt wurden, bleibt das äussere Erscheinungsbild der Kirche unangetastet erhalten.

Konstruktion und energetische Sanierung

Parallel zum Umbau der Kirche wurde auch ihre energetische Sanierung vorangetrieben. Dieser Punkt ist von grosser Bedeutung, denn die Betriebskosten für den alten, ungedämmten Kirchenbau waren sehr hoch – und hätten sich im Fall der Umnutzung noch zusätzlich erhöht, da die Kirche für die vielen gemeinschaftlichen Nutzungen öfters beheizt werden muss. An Wänden und Decken entlang der inneren Raumhülle sind daher 8 cm starke Dämmplatten eingebaut. Im Bereich der alten Kirchenfenster gibt es eine zweite Schicht von innenliegenden Fenstern und am Haupteingang einen Windfang. Unter dem Boden des Kirchenraums ist eine Fussbodenheizung integriert, im Gruppenraum und auf den Emporen findet man einfache Radiatoren. Mit diesen Massnahmen konnten der Energieverbrauch und die Heizkosten deutlich reduziert werden.

Um den Holzbau zu installieren und das Gebäude energetisch zu sanieren, musste man zuerst den Altar und das Kirchengestühl ausbauen, da der alte Boden für die Installation der Fussbodenheizung ausgehoben werden musste. Dann wurden Schritt für Schritt die alten Mauern und Decken gedämmt sowie die zweite Ebene der Verglasung eingebaut. Zuletzt wurde die statisch autarke Holzkonstruktion, bestehend aus einfachen Holzständerwänden und Holzständerdecken, in die Kirche eingestellt und mit einer Brettschalung bekleidet.

Sensibel und pragmatisch zugleich

Beeindruckend ist die Verwandlung des Sakralraums: Es entstand ein lichter Raum, würdevoll und zugleich heiter. Die neue Raumhülle aus Holz vermittelt dem Besucher ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit. Wände, Decken und Brüstungen des Kirchenraums sind mit einer weiss gebeizten Lärchenholzschalung bekleidet. Gehobelte und sägerau belassene Bretter in drei unterschiedlichen Brettbreiten wechseln sich ab, die differenzierten Oberflächen geben dem Weiss unterschiedliche Nuancen und beleben die Flächen. Die Wände der Emporen sind mit ihrem Anstrich farblich fein darauf abgestimmt. Der Boden der neuen Empore ist auch mit Holzbrettern ausgelegt, allerdings dunkel gebeizt, ebenso der Treppenaufgang und die Abdeckungen der Brüstungen. Der Kirchenboden besteht aus hellen Steinplatten, die in würfelförmigem Muster verlegt sind.

Die Architekten suchten nach angemessenen Lösungen, sensibel und zugleich pragmatisch. Man findet hier keine überzogenen gestalterischen und künstlerischen Ambitionen. Stattdessen richten sie ihren Blick auf Erhaltenswertes. Die Kirchenfenster sind hierfür ein gutes Beispiel: Sie werden durch die Neuorientierung zum zentralen Element im Raum. Die neu hinzugefügte Fensterschicht, eine Konstruktion aus Bronze, nimmt sich vornehm zurück.

Das Farbkonzept im Innern des Raums ist sorgfältig auf die Gestaltung der Fenster abgestimmt, ebenso sind sämtliche Materialien mit Bedacht ausgewählt und zusammengestellt. In der Planung konzentrierten sich die Architekten auf robuste und saubere Details. Gleichzeitig gibt es verschiedene erhaltene Elemente, die auf die Geschichte der Kirche verweisen: So findet man auf der Empore neben der Orgel weiterhin das traditionelle Kirchengestühl, im Sakralraum sind die zentralen liturgischen Elemente wie Altar und Taufstein ebenso erhalten wie die Liedtafeln aus dem ursprünglichen Kircheninventar.

Alle Nutzungen unter einem Dach

Der Sakralraum wird nach dieser Umgestaltung nicht nur liturgisch, sondern darüber hinaus für Feierlichkeiten in der Gemeinde genutzt. Anstelle fest installierter Bänke hat man sich für eine flexible Bestuhlung entschieden. Mit dieser variablen Möblierung ist es möglich, nach dem Gottesdienst zu einem Beisammensein oder gemeinsamen Essen in der Kirche einzuladen. Bei hohen Festtagen, wenn viele Besucher erwartet werden, können die Emporen als Erweiterung des liturgischen Raums genutzt werden.

Während die Orgelempore in ihrer ursprünglichen Funktion erhalten bleibt, lässt sich die neue Empore auf der gegenüberliegenden Seite von der Gemeinde vielfältig nutzen: Folgt man der neuen, zentral gelegenen Treppe nach oben, gelangt man in einen angenehm proportionierten, grosszügigen Raum, der geschützt und offen zugleich ist. Hier finden beispielsweise die Chorproben statt – zudem kann man an einem grossen Tisch zusammenkommen.

Ausserdem gewinnt die Gemeinde einen weiteren abgeschlossenen Gemeinderaum unter dieser Empore. Der neue Gruppenraum mit einer kleinen integrierten Küche hat einen eigenen Zugang von aussen. Dafür wurde ein bereits bestehender Eingang zur Kirche wieder geöffnet. Die Gemeinde nutzt diesen separaten Raum für Versammlungen, Kurse und den Konfirmandenunterricht – oder auch zum Vorbereiten und Kochen bei Veranstaltungen und Festen. Im Eingangsbereich wurde unter der bestehenden Orgelempore ein behindertengerechtes WC eingebaut, ausserdem sind eine Reihe dringend benötigter Abstell- und Stauräume in dem neuen Raumgefüge integriert.

Damit sind sämtliche Anforderungen an eine zeitgemässe Nutzung erfüllt. Aus der kleinen Kirche wurde so ein multifunktionales Gebäude, das mit seinem prägnanten Schnittprofil ganz unterschiedliche räumliche Situationen schafft – und in dessen Kern ein Sakralraum mit einer eigenen Atmosphäre steht. Alle Nutzungen des kirchlichen und pfarrgemeindlichen Lebens befinden sich nun unter einem Dach.

Der Umbau der Christuskirche ist ein gleichermassen inspirierendes und zukunftsweisendes Projekt für ­Gemeinden, die vor ähnlichen Herausforderungen stehen. Natürlich lassen sich derartige Konzepte nicht pauschal übertragen, jede Situation ist spezifisch und erfordert ein individuelles Vorgehen. Hier sind pass­genaue Lösungen und Kreativität gefragt. Das Projekt der Christuskirche macht jedoch deutlich, dass eine Gemeinde auch mit überschaubaren Ressourcen eine neue Perspektive für ihr kirchliches und gemeinschaftliches Leben gewinnen kann – nicht zuletzt dank dem grossen Engagement aller Beteiligten. Ein Beispiel, das Schule machen sollte.

TEC21, Fr., 2016.12.16



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2016|51-52 Sakraler Raum in neuem Licht

20. Mai 2016Susanne Frank
Marko Sauer
TEC21

«Wir bauen Brücken zu Politik, Planung und Forschung»

Die Stadt der Gegenwart hält sich nicht an politische Grenzen. Sie entwickelt sich als Funktionalraum. An der Schnittstelle zwischen Gemeinden, Regionen und Kanton unterstützt die Regionalplanung Zürich und Umgebung ihre Mitglieder bei der Entwicklung dieser Räume. Deren Direktor Angelus Eisinger zieht nach drei Jahren eine erste Bilanz.

Die Stadt der Gegenwart hält sich nicht an politische Grenzen. Sie entwickelt sich als Funktionalraum. An der Schnittstelle zwischen Gemeinden, Regionen und Kanton unterstützt die Regionalplanung Zürich und Umgebung ihre Mitglieder bei der Entwicklung dieser Räume. Deren Direktor Angelus Eisinger zieht nach drei Jahren eine erste Bilanz.

TEC21: Herr Eisinger, was ist die originäre Aufgabe der Regionalplanung Zürich und Umgebung (RZU)?

Angelus Eisinger: Die RZU ist als Planungsdachverband im Kernraum der Metropolitanregion Zürich tätig. Sie hat aber als privatrechtlicher Verein keine hoheitlichen Kompetenzen wie etwa das Amt für Städtebau der Stadt Zürich oder das kantonale Amt für Raumentwicklung. Das macht die Einrichtung so besonders und schafft der Planung ungewöhnliche Optionen auf dem Weg zu einer zukunftsfähigen Entwicklung des Funktionalraums.

TEC21: Wie sehen diese Optionen aus? Was macht die RZU anders als andere Organisationen?

Angelus Eisinger: Im Grunde verstehen wir uns als «empathische Beobachter» der räumlichen Entwicklung. Als Institution, die permanent präsent ist und mitdenkt, die aber nicht direkt ins Geschehen involviert ist. Daraus ergibt sich eine grosse Freiheit in der Betrachtungsweise. Diese Freiheitsgrade wollen wir zugunsten der Regionen und Gemeinden im RZU-Gebiet nutzen. Wir verstehen uns dabei als Plattform und Netzwerk, das die doppelte Rolle eines alltagsnahen Thinktanks und eines vielfältigen Vermittlers ­zwischen Politik, Planungspraxis und Forschung einnimmt.

TEC21: Das hört sich nach einer komplexen Aufgabe an. Wie bringen Sie das Wissen auf den Boden?

Angelus Eisinger: Die Ergebnisse aus unseren Prozessen sollen so aufbereitet werden, dass sie von den Regionen und Gemeinden in der Praxis umgesetzt werden können. Unsere Arbeitsweise lässt sich als Zyklus beschreiben. Dieser setzt bei den Fragestellungen und Herausforderungen der konkreten Praxis an und endet wieder dort. Dazwischen wechselt aber die Bearbeitung dieser Aufgabenstellungen auf die abstraktere Ebene der Expertenkompetenz und der Recherche, um den konkreten Fragestellungen und Orten in unserem Gebiet angemessener begegnen zu können.

TEC21: Sie haben eine Stelle als Professor an der HafenCity Universität in Hamburg verlassen, um Direktor ­der RZU zu werden. Weshalb sind Sie gewechselt?

Angelus Eisinger: Es war ganz wesentlich eine inhaltliche Motivation, die mich zum Wechsel bewogen hat. Über die letzten Jahre haben mich immer mehr Fragen ­der Funktionalräume beschäftigt, die in den letzten ­50 bis 60 Jahren entstanden sind. Für eine nachhaltige Weiterentwicklung dieser urbanisierten Landschaften zwischen Dorf, Agglomeration und Stadt reichen die gängigen Planungsansätze und tradierten Leitvorstellungen wie Urbanität nicht aus. Unter den Vorzeichen der Innenentwicklung, der Verdichtung und der Entwicklung im Bestand hat sich das Vakuum bezüglich geeigneter Ansätze noch einmal akzentuiert.

TEC21: Mit welchen Methoden muss man solche Probleme angehen?

Angelus Eisinger: Es braucht Ansätze und Vorgehensweisen, die gezielt unterschiedliche Kompetenzen und Methoden verbinden. Solche Fragen aus einer strategischen, aber immer praxisnahen und praxisbezogenen Perspektive heraus zu bearbeiten reizt mich. Als Institution im Dreieck zwischen Planung, Politik und Forschung ist die RZU einmalig. Die Übernahme der Leitung der RZU sah ich deshalb als aussergewöhn­liche Gelegenheit. Dabei erachtete ich es als gute Startbedingung für meine neue Tätigkeit, dass ich mit dem Grossraum Zürich inhaltlich, institutionell und bezüglich wichtiger Stakeholder schon sehr vertraut war.

TEC21: Sie sind seit drei Jahren RZU-Direktor. Was haben Sie seither verändert?

Angelus Eisinger: Wir haben in dieser Zeit die Ausrichtung und die Arbeitsweisen der Geschäftsstelle justiert, neue Angebote entwickelt und eine ganze Palette von aktuell drängenden Themen in Angriff genommen, so unter anderem zur Zukunft der Ortszentren, zur Kulturlandschaft, zur Weiterentwicklung der Testplanung oder einer gesamträumlichen Betrachtung der Wohnungsfrage.

TEC21: Themen mit einer beachtlichen Flughöhe.

Angelus Eisinger: Das ist richtig. Gleichzeitig sind dies alles Themen, die der Praxis unter den Finger brennen. Im Tagesgeschäft ist oft die Zeit nicht vorhanden, diesen Fragen in der angemessenen Tiefe nachzugehen. An diesem Punkt setzen wir mit unseren Arbeiten an. Charakteristisch für unsere Arbeitsweise ist, dass wir die Inhalte gemeinsam mit den Verantwortlichen in Politik und Behörden entwickeln und vermitteln. Wir möchten so das reiche Erfahrungs- und Prozesswissen der Praktiker in Planung, Politik und Behörden aktivieren. Deshalb wollen wir auch die Erkenntnisse unserer Reflexionsprozesse Schritt für Schritt im Sinn des oben angesprochenen Zyklus wieder in die Praxis zurückführen. Mit dieser gezielten Vernetzung von Praxis, Politik und Wissenschaft arbeiten wir an einer eigentlichen Lücke in der Planung.

TEC21: Woher stammt diese Lücke?

Angelus Eisinger: Bislang existieren in Verwaltung, Planung und Hochschulen jeweils parallele Wissenskulturen mit meist nur punktuellen und wenig systematischen Begegnungen zwischen diesen Kompetenz- und Erfahrungsbeständen.

TEC21: Und was tun Sie dagegen?

Angelus Eisinger: Kurz gesagt: Wir möchten Brücken schlagen, indem wir Austausch- und Denkräume schaffen, um Politik und Planung fokussiert und themenorientiert zu vernetzen und mit externen Experten und Expertinnen und der Forschung zu verbinden.

TEC21: Sie füllen sozusagen die Lücke aus, die sich in der hoheitlichen Arbeitsteilung zwischen Gemeinden, Regionen und Kanton ergibt?

Angelus Eisinger: Genau. Wir betrachten die räumlichen funk­tionalen Zusammenhänge aus einer anderen, etwas unabhängigeren Warte, die aber mit dem Hoheitlichen vertraut ist. Als Planungsdachverband haben wir die funktional zusammenhängenden Räume in all ihren Facetten im Blick. Damit rücken diese aus meiner Sicht interessantesten, aber auch herausforderungsreichsten Räume in den Fokus.

TEC21: Und wie agiert die RZU in diesem Funktionalraum?

Angelus Eisinger: Wir bringen einmal das Wissen zwischen den Partnern zusammen und ergänzen es gezielt. Wir suchen weiter einen Rahmen, um die einzelnen, sehr heterogenen Teilräume in Stadt, Land oder Region ihrem Charakter entsprechend weiterzuentwickeln. Die Reinformen von Landschaft, Dorf und Stadt gibt es in unserem Raum nicht mehr.

An ihre Stelle sind unzählige neue, wenn Sie so wollen, hybride Verbindungen getreten. Auf diese müssen wir uns einlassen. Infrastrukturprojekte wie die S-Bahn, die Limmattalbahn oder landschaftliche Projekte wie der Agglo-Park oder der «fil bleu» im Glatttal haben hier wich­tige Zeichen gesetzt.

TEC21: Wie finden Sie Ihre Themen? Kommen die Mitglieder auf Sie zu, oder suchen Sie autonom nach interessanten Fragestellungen?

Angelus Eisinger: Wir handeln vergleichbar zu einem Seismografen oder einem Radar. Da geht es primär darum, aufmerksam zu beobachten, zuzuhören, die Alltags­arbeit der Gemeinden und Regionen und ihre Herausforderungen kennenzulernen. Es geht aber auch darum, die fachlichen und wissenschaftlichen Debatten zu verfolgen. Aus diesen Quellen ergeben sich die Themen und Aufgaben, denen wir nachgehen.

Die RZU bietet den Vorzug, dass wir kontinuierlich im gleichen Raum in unseren Netzwerken und zusammen mit den Akteuren vor Ort arbeiten können. Das schafft Nähe, Vertrautheit und Kontinuität, wie sie zum Beispiel der Hochschulforschung nicht möglich sind.

TEC21: Wie kann man das verstehen? Können Sie das an einem Beispiel erklären?

Angelus Eisinger: Die Studie «Räume zur Alltagserholung» zeigt das sehr gut. Wir haben uns damit ein Thema vorgenommen, das entscheidend zur Lebensqualität in und um Zürich beitragen kann. Massnahmen, die die Erholungsqualität in siedlungsnahen Räumen steigern, bedürfen häufig eines vergleichsweise bescheidenen Mitteleinsatzes. Allein: Diese Option ist noch viel zu wenig bekannt, und wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, die Begeisterung dafür zu wecken.

TEC21: Steht das Thema bisher noch nicht auf der Agenda der Verwaltung? Und wie wollen Sie diese Begeisterung anfachen?

Angelus Eisinger: Das Projekt illustriert unsere Arbeitsweise sehr gut: Wir stossen gemeinsam mit unseren Mitgliedern auf interessante Phänomene, analysieren sie und überlegen, welches Potenzial zur Bereicherung der Planungspraxis besteht. Dann ziehen wir externe Experten bei, in diesem Fall Landschaftsarchitekten, die das Thema in engem Austausch mit uns weiterentwickeln. Den letzten Schritt macht dann die praxisnahe Aufbereitung durch entsprechende Dokumentationen, aber auch durch Workshops oder thematische «Expeditionen» wie auch öffentliche Veranstaltungen.

TEC21: Welche weiteren Dienstleistungen bietet die RZU denn konkret für die Gemeinden und Regionen an?

Angelus Eisinger: Neben Weiterbildungsangeboten oder Unterstützung bei aktuell anstehenden Themen, den Plattformen des Austauschs und den Projekten gibt es seit vergangenem Sommer ein Beratungsangebot, das unsere Regionen und Gemeinden bei strategischen Fragen zielgerichtet unterstützen soll. Dabei stehen die Vorphasen von Planungsvorhaben im Zentrum.

TEC21: Welche Ziele verfolgen Sie damit?

Angelus Eisinger: Wir möchten unsere Mitglieder dabei unterstützen, dass sie die Aufgaben, die sich für sie konkret vor Ort stellen, in der gebotenen Breite und Tiefe bearbeiten können. Der Einstieg geschieht über einen Augenschein, über den Austausch mit den Verantwortlichen einer Gemeinde oder einer Region und über das Studium von Unterlagen. Auf diesen Grundlagen entwickeln wir dann unsere Vorschläge, spiegeln sie zurück, entwickeln sie auf Basis der Rückmeldungen weiter.

TEC21: Das deckt sich doch weitgehend mit dem üblichen Vorgehen einer Gemeinde.

Angelus Eisinger: Das mag auf den ersten Blick banal erscheinen. Entscheidend ist aber der Fokus unserer Beratungstätigkeit: Die Erfahrung zeigt nämlich, dass den Planenden und politisch Verantwortlichen bei der Formulierung und Plausibilisierung der Fragestellung oft das Gegenüber fehlt, um die Aufgabe richtig eingrenzen zu können. Für solche Formen von ­gemeinsamer Reflexion gibt es keinen Markt. Wir beraten gänzlich ohne Eigeninteresse. Wenn die Frage plausibel und präzisiert ist, ziehen wir uns wieder zurück und überlassen das Feld den gängigen Akteuren der Planung.

TEC21: Die grenzüberschreitende Planung stellt eine grosse Herausforderung dar. Wie gehen Sie damit um?

Angelus Eisinger: Tatsächlich halte ich die grenzüberschreitende Planung für eine Schlüsselaufgabe, die bislang ganz allgemein zu wenig behandelt wird. Dementsprechend nehmen wir uns dieser Dimension in verschiedenen Projekten an. Bei unserem Beratungsangebot geben wir den Gemeinden und Regionen die Möglichkeit, gemeinsam Planungsfragen auch über deren Grenzen hinweg anzugehen. Dabei zeigt sich ein grundlegender Aspekt der Planung heute: Sie kann nicht mehr in einer ausschliesslich hierarchischen Struktur politischer Zusammenhänge gelingen, sondern sie verlangt nach dem Austausch mit allen relevanten Akteuren.

TEC21: Dazu fehlen uns heute aber noch entsprechende Werkzeuge, die den Dialog zwischen den hoheit­lichen Ebenen ermöglichen würden.

Angelus Eisinger: Das sehe ich auch so. Wir brauchen neue Arbeits- und Austauschformen zwischen den planenden Disziplinen, der Politik und den Behörden, aber auch neue Formen des Einbezugs der übrigen Stakeholder. Diese Modi muss die Planung erst noch erlernen.

TEC21: Hat sich der Rahmen der Planung verändert?

Angelus Eisinger: Ich bin davon überzeugt, dass die nachhaltige Transformation des Funktionalraums und seiner urbanen, suburbanen und ländlichen Teilräume nicht primär mit Macht zu tun hat, sondern vor allem aus Dialog resultiert. Der Grund dafür ist einfach: Bisher konnte sich Planung darauf verlassen, dass sie die Flächen, um die es geht, kontrollieren kann. Genau diese Voraussetzung ist aber im Zeitalter der Innenentwicklung nicht mehr durchwegs gegeben. So bestehen in und um Zürich praktisch keine Möglichkeiten der Aussenentwicklung auf der «grünen Wiese» mehr, die Kapazitäten der Bauzonen sind zu 90 bis 95 % ausgeschöpft.

TEC21: Gibt es Modelle, die Hinweise darauf liefern könnten, wie solche Aufgaben anzugehen sind?

Angelus Eisinger: Ich möchte an dieser Stelle zwei Projekte hervorheben, bei denen wir vielversprechende ­Planungsansätze bzw. Realisierungen unter die Lupe genommen haben. Zum einen haben wir das Instrument der Testplanungen untersucht und uns ausgehend von einer kritischen Bestandsaufnahme nach weiteren Methoden und Konzepten umgeschaut, ­um den anstehenden Herausforderungen in den Gemeinden und Regionen planerisch gerecht werden zu können. Wir sind dabei, diese Palette auszuwerten und für die Praxis aufzubereiten. Andererseits haben wir über eine europaweite Umfrage interessante Realisierungen in der Stadt- und Raumentwicklung erfragt. Die Hinweise dazu kamen aus so unterschiedlichen Bereichen wie der Landschaftsentwicklung, der Verkehrspolitik, der sozial sensiblen Transformation im Bestand oder neuen Formen der Kooperation.

TEC21: Was kann man daraus für die weitere Entwicklung des Zürcher Grossraums lernen?

Angelus Eisinger: Zunächst ist es wichtig, über den Tellerrand hinaus zu schauen und das Gewohnte und Vertraute kritisch zu beleuchten. Es gibt europaweit viele Beispiele für unterschiedliche Herangehensweisen. So ist in Kopenhagen die Beteiligung der Bewohnerinnen und Bewohnern seit Langem ein selbstverständlicher und elementarer Bestandteil jeglicher Planung. Im Sinn einer möglichst frühen und intensiven Aus­einandersetzung werden sie als spezifische Experten des urbanen Alltags verstanden und in die Strate­­gie- und Konzeptentwicklung miteinbezogen.

TEC21: Partizipation wird auch in der Schweiz zunehmend erprobt. Gibt es noch überraschendere Ansätze?

Angelus Eisinger: Es gibt Projekte, die Dinge vereinen, die im Zürcher Kontext als absolute Widersprüche erscheinen. Zum Beispiel betreibt in Antwerpen die Stadt Quartiersentwicklung, indem sie die Eigentumsverhältnisse verändert. Sie hat eine Entwicklungsgesellschaft unter dem Namen AG Vespa gegründet. Diese saniert prekäre Quartiere über Neu- und Umbau­projekte und zeitgemässe Architektur. Die AG Vespa verkauft die Objekte dann zu Konditionen wie vor der Planung, allerdings mit Auflagen, die der Spekulation entgegenwirken und das Leben im Quartier stärken. Unsere Beispielsammlung umfasst mittlerweile weit über 300 Einträge. Ein wegweisendes Beispiel wie das Antwerpener lädt uns dazu ein, nach den Bedingungen und Voraussetzungen seiner Entstehung zu fragen und zu überlegen, wie ein Transfer solcher Qualitäten in unsere Planungspraxis gelingen kann.

TEC21: Wie wird sich die RZU in Zukunft entwickeln? Haben Sie noch weitere Ziele, die Sie erreichen möchten?

Angelus Eisinger: Wir haben ja im Grunde gerade erst begonnen. Ich sehe zwei unserer prägenden Schwerpunkte auch zukünftig darin, unabhängig und uneigennützig zu unterstützen und zu beraten bzw. die vorhandenen Kompetenzen und Erfahrung im Raum produktiv zu vernetzen. Die RZU muss dazu ihre Funktion als Vermittlerin und Drehscheibe weiter ausbauen und stärken. Ihr Fokus wird die Planungspraxis im Funktionalraum bleiben. Damit will sie für ihre Mitglieder mitten in den Baustellen und konkreten Laboren der Stadt der Gegenwart tätig sein, fokussiert und mit einer weiten Perspektive. Hierin sieht die RZU als Verband und als Geschäftsstelle ihren Schlüsselbeitrag zu einer nachhaltigen Weiterentwicklung des RZU-Gebiets.

TEC21, Fr., 2016.05.20



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TEC21 2016|21 Landschaft im Dialog

Das neue Quartier am Rheinhafen

Die Quartiere Kleinhüningen und Klybeck im Basler Norden sind im Umbruch. Der Druck ist enorm: Die Logistiker im Hafen brauchen Platz für den Güterumschlag, die Stadt benötigt Raum zum Wohnen und Arbeiten. Welche Chancen bietet der geplante Hafenausbau für die Stadtentwicklung?

Die Quartiere Kleinhüningen und Klybeck im Basler Norden sind im Umbruch. Der Druck ist enorm: Die Logistiker im Hafen brauchen Platz für den Güterumschlag, die Stadt benötigt Raum zum Wohnen und Arbeiten. Welche Chancen bietet der geplante Hafenausbau für die Stadtentwicklung?

Nur wenige Schritte trennen den historischen Kern des ehemaligen Fischerdorfs Kleinhüningen (vgl. «Ein Dorf wird Hafenstadt», S. 35) von den Hafen- und Industrieanlagen. In nur ein oder zwei Jahrzehnten wird die Stadt am Rhein hier ganz anders aussehen: Der geplante Ausbau der Hafeninfrastruktur führt dazu, dass sich die Gebiete in ­Hafennähe, auf der Westquaiinsel und entlang der Rheinufer markant verändern werden. Doch diese Entwicklung bleibt nicht auf die Quartiere Klein­hüningen und Klybeck begrenzt, vielmehr wird sich die Transformation dieses ca. 50 ha grossen Areals auf die gesamte Region im 3Land auswirken.

Der Hafen hat in seiner jetzigen Grösse die Grenzen seiner Kapazität erreicht, da der Güterverkehr weltweit stark anwächst und auch weiterhin zunehmen wird. Neben dem Umschlag von trockenen und flüssigen ­Massengütern wie Getreide und Heizöl spielt auch der Containerverkehr eine wichtige Rolle. 2015 wur­den in den Schweizerischen Rheinhäfen[1] 124  267 Con­tainer umgeschlagen (Schweizerische Rheinhäfen, Jahres­bericht 2015). Es ist davon auszugehen, dass sich der Containerverkehr in der Binnenschifffahrt ­bis 2030 verdoppeln oder gar verdreifachen wird. Der ­Neubau eines dritten Hafenbeckens mit Verlagerung ­der Hafeninfrastrukturen ist daher unumgänglich – und gleichzeitig auch eine grosse Chance für den Kanton Basel-Stadt.

Motoren der Stadtentwicklung

In unmittelbarer Nachbarschaft zum Hafen wurde im Mai 2008 die vierspurige Nordtangente eröffnet. Die rund 3 km lange Stadtautobahn verbindet die schweizerische mit der französischen und der deutschen Auto­bahn und verläuft zu 87 % unterirdisch. Für Basel, das an seine räumlichen Grenzen stösst, eine gute Gelegenheit, die Wohnlagen im Norden aufzuwerten; auf der Grossbaslerseite war das Quartier St. Johann zu stärken und über die Voltastrasse hinaus zu entwickeln. Die Voltastrasse hatte mit ihren rund 40 000 Fahrzeugen pro Tag eine unglaubliche Trennwirkung, fast im Sinn einer vorgezogenen Landesgrenze. Die Nordtangente brachte eine spürbare Verkehrsentlastung und war Auslöser für Investitionen in den Wohnungsbau und den öffentlichen Raum in Kleinbasel und St. Johann.

Im Zusammenspiel mit privaten Akteuren und der Quartierbevölkerung konnte die Stadt Basel eine Vielzahl von kleinen und grossen Massnahmen umsetzen: «Mit der Stadtreparatur ProVolta, insbesondere dem Boulevard Volta und den ­begleitenden Neubauten und Stadtplätzen auf dem Nordtangententunnel, konnten wir neue, hochwertige Stadträume schaffen und die Lebensqualität in das äussere St. Johann zurückbringen», erläutert Thomas Waltert, der für die Gesamtprojektkoordination Basel Nord seitens des Kantons ­Basel-Stadt zuständig ist. Die städtebaulichen Massnahmen im Rahmen des Nordtangentenbaus versteht er als Initialzündung für weitergehende Transfor­mationen der nördlichen Wohn- und Industrieareale. «Die direkt nachfolgenden Investitionen der Stiftung Habitat in das Geviert an der Lothringerstrasse (u. a. Musikerwohnhaus, vgl. TEC21 1–2/2016) und die Planung VoltaNord bestätigen, dass der Funken übergesprungen ist», so Waltert.

Zudem verbessert die Nordtangente die Anbindung an den Flughafen, was für die Pharmaindustrie mit ihrem internationalen Publikum interessant ist. Gleichzeitig trug der Wandel mit dem Novartis Campus vom Industrie- zum Forschungsstandort dazu bei, dass die Produktion ausgelagert wurde. Der Hafen St. Johann war nun kein idealer Nachbar mehr, dennoch wurde der Standort in Basels Norden nicht aufgegeben. Mit der Verlagerung dieses Hafens wurden der Kanton Basel-Stadt sowie die Schweizerischen Rheinhäfen beauftragt, eine abgestimmte Hafen- und Stadtentwicklung zu erarbeiten. Parallel dazu begann eine Standortbestimmung der Schweizerischen Rheinhäfen.

Rheinschifffahrt mit dem Ausbau des Hafens stärken

Es stand die Frage im Raum, ob denn zusätzliche Kapazitäten für Containerterminals überhaupt benötigt werden. Eine vom Bundesamt für Verkehr (BAV) initiierte Mediation, an der Vertreter der ganzen Logistikbranche beteiligt waren, schloss mit einer Wachstums­prognose, die von der Branche 2014 einstimmig als realistisch verabschiedet wurde. Auf dieser Vorgabe basiert die aktuelle Planung des trimodalen Terminals, erinnert sich Sabine Villabruna, Bereichsleiterin der Schweizerischen Rheinhäfen, Areale und Hafenbahn. Die Terminallogistik wird damit zum Thema der Raumplanung. Es braucht sowohl den Hafen, um die Versorgung der Schweiz, inbesondere des Mittellands sicherzustellen, als auch den optimalen Umschlagstandort für Schiff und Bahn in Kleinhüningen.

Geplant sind ein Ausbau und die teilweise Verlagerung der Hafenanlagen auf das Gebiet des ehemaligen badischen Rangierbahnhofs; hier soll ein drittes Hafenbecken realisiert werden, es wird ein trimodales Containerterminal (Schiff-Schiene-Strasse) entstehen. Das Hafenbecken III eignet sich einzig für das Gütersegment Containerumschlag. Die Hafenbecken I und II sind in ihrer Nutzung nicht beschränkt, sie bleiben weiter für die Schifffahrt in Betrieb. Die Umnutzung des ehemaligen Gleisfelds stellt die Planer vor einige Herausforderungen, da hier zwei nationale Interessen aufeinandertreffen: auf der einen Seite die Bedeutung des Hafens als Verkehrsdrehscheibe der Stadt und des gesamtschweizerischen Güterverkehrs, auf der anderen Seite die Belange des Naturschutzes, denn viele schützenswerte Tier- und Pflanzenarten haben sich im Lauf der Jahre auf dem Gebiet niedergelassen (vgl. TEC21 48/2012). Wie und wo entsprechende Ausgleichsflächen zur Verfügung stehen, wird derzeit ausgearbeitet.

Die Projektarbeiten für die erste Realisierungsphase des Containerterminals sind so weit fortgeschritten, dass ein konsolidiertes Betriebskonzept und eine Kostenplanung vorliegen. Darin geht es um das Stras­se-Schiene-Terminal (bimodaler Betrieb) auf dem Gelände des ehemaligen Rangierbahnhofs in Basel-Nord. Die Gateway Basel Nord AG[2] hat deshalb im November 2015 das Fördergesuch für die Finanzierung der Terminalinfrastruktur beim BAV eingereicht. Das Subventionsgesuch für die Finanzierung des Hafenbeckens III soll in der ersten Hälfte 2016 von den Schweizerischen Rheinhäfen eingereicht werden; ist diese gesichert, folgt das Plangenehmigungsgesuch.

Ein inhaltliches Leitbild entwickeln

Die Optimierung der Hafeninfrastruktur sichert und stärkt den Hafenstandort Kleinhüningen, der nicht nur für die Stadt, sondern für die gesamte Schweiz eine grosse Bedeutung hat. Mit diesen Perspektiven und Investitionen eröffnet sich für den Kanton Basel-Stadt aber auch die grosse Chance, am Rhein ein neues Stadtquartier zu entwickeln und die bestehenden Quartiere, besonders Klybeck, besser an den Fluss anzubinden. Mit Ablauf der Baurechte per Ende 2029 sollen die ­Hafenaktivitäten auf der Westquaiinsel aufgegeben werden, es besteht erstmals die Möglichkeit, den Hafenbahnhof zu verlagern. Somit werden grosse Flächen am Klybeckquai weitgehend uneingeschränkt für neue Nutzungen frei. An die Rheininsel angrenzend werden weiterhin emissionsträchtige Umschlagaktivitäten im Hafenbecken I stattfinden, die Nutzung auf der Westquaiinsel wird darauf abgestimmt. Die Rahmenbedingungen sind zum heutigen Zeitpunkt aber weder für
die Hafen- noch für die Stadtentwicklung gesichert.

Da die Hafen- und Stadtentwicklung Kleinhüningen-Klybeck sowohl im Kontext der Stadt als auch der trinationalen Agglomeration zu sehen ist, hat Basel im September 2012 mit Weil am Rhein (D) und Huningue (F) eine Planungsvereinbarung unterzeichnet. Auf Basis der Entwicklungsvision 3Land soll sich der Stadtraum entlang des Rheins rund um das Dreiländereck zwischen Dreirosen- und Palmrainbrücke zu einer urbanen Teilstadt innerhalb der trinationalen Agglomeration entwickeln. Die lokalen Planungen sollen aufgrund eines trinationalen Raumkonzepts koordiniert werden. Der Stadtteilrichtplan Kleinhüningen-Klybeck, der zur ­Bearbeitung ansteht, ist in diesem Zusammenhang das lokale Planungsinstrument in Basel.[3]

Mit der voranschreitenden Planung der Hafeninfrastruktur zeichnet sich nun eine neue Etappe ab: Mit dem Grossratsbeschluss im Mai 2014 wurden die Mittel zur Verfügung gestellt, um die Vorarbeiten zu einem Entwicklungsplan, d. h. einem Stadtteilrichtplan für Kleinhüningen-Klybeck, zu beginnen. Eine wesentliche Aufgabe wird nun sein, ein inhaltliches Leitbild für das neue Stadtquartier zu entwickeln (vgl. Interview mit Kantonsbaumeister Beat Aeberhard « ‹Wir wollen diese Jahrhundertchance nutzen› », unten). Aus diesem Grund hat die Stadt Basel im Februar dieses Jahres eine Ausschreibung lanciert, um ein Planerteam zu beauftragen, das die Grundlagen einer «Programma­tion» für die Stadtentwicklung auf den rheinnahen ­Hafenarealen erarbeiten soll. Seit Kurzem steht fest, welches Team für diese nächste Planungsphase beauftragt werden wird. Die Stadt Basel wird in der nächsten Zeit bekannt geben, wer den Zuschlag bekommen hat. Die Ergebnisse der Bearbeitung werden zu Beginn des nächsten Jahres erwartet.


Anmerkungen:
[01] Die Schweizerischen Rheinhäfen sind eine öffentlich-rechtliche Anstalt im Eigentum der Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft, die 2008 gegründet wurde. Zuvor agierten die Rheinhäfen eigenständig und in Konkurrenz zueinander. Heute beschäftigt der «Port of Switzerland», wie sich die Schweizerischen Rhein­häfen im internationalen Kontext nennen, rund 40 Mitarbeiter. Sie sind als öffentlicher Infrastrukturbetreiber dafür verantwortlich, die Güterschifffahrt zu fördern und einen Beitrag zur Verlagerungspolitik des Bundes zu leisten. www.portof.ch
[02] Die drei Schweizer Logistik- und Transportunternehmen Contargo, SBB Cargo und Hupac haben im Juni 2015 die Gateway Basel Nord gegründet. Die Gesellschaft mit Sitz in Basel plant und realisiert das Umschlagterminal Strasse-Schiene-Wasser für den Import-Export-Verkehr in Basel Nord. http://blog.sbbcargo.com/19331/gateway-basel-nord-ag-reicht-foerdergesuch-fuer-containerterminal-ein/
[03] www.3-land.net

TEC21, Fr., 2016.05.13



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2016|20 Hafen und Stadt

«Wir wollen diese Jahrhundertchance nutzen»

Am Basler Rheinhafen entsteht ein neues Quartier. Kantonsbaumeister Beat Aeberhard hat uns einige Fragen zum Verfahren beantwortet und erläutert seine Vorstellung für das neue Stück Stadt.

Am Basler Rheinhafen entsteht ein neues Quartier. Kantonsbaumeister Beat Aeberhard hat uns einige Fragen zum Verfahren beantwortet und erläutert seine Vorstellung für das neue Stück Stadt.

TEC21: Herr Aeberhard, für die Stadtentwicklung im Basler Norden beginnt nun eine neue wichtige Planungsphase. Was passiert aktuell?

Beat Aeberhard: Im Moment befinden wir uns in der Phase der planerischen Grundlagenarbeit. Die bisherigen städtebaulichen Überlegungen und Visionen haben zwar das Potenzial der Transformation im Basler Hafen eindrücklich aufgezeigt und mitgeholfen, die abgestimmte Hafen- und Stadtentwicklung politisch zu verankern. Gleichzeitig haben die ab­strakten Bilder aber auch einen Teil der Bevölkerung verunsichert. Die Chancen der Stadtentwicklung müssen wir den Menschen noch aufzeigen. Konkret verfügen wir erst über relativ wenige gesicherte Rahmenbedingungen. Als Nächstes wollen wir eine «Programmation» für die Entwicklungsgebiete am Rhein erarbeiten.

TEC21: Was verstehen Sie unter einer Programmation?

Beat Aeberhard: Darunter verstehe ich eine inhaltliche Leit­linie der Stadtentwicklung. Auf einer strategischen Ebene macht die Programmation Aussagen zu den Nutzungsarten, deren Verteilung, zu Akteuren, Verfahren und zur zeitlichen Dimension der Transformation. Es geht somit gegenwärtig nicht um Städtebau in seiner entwerferischen Dimension, sondern um die zukünftige Programmierung des Quartiers, das heisst um die Menschen mit ihren Bedürfnissen, die das neue Stadtquartier aufbauen und darin leben werden.

TEC21: Warum macht man eine Programmation als Grundlage für die Stadtentwicklung?

Beat Aeberhard: Stadtplanung ist hochpolitisch und bedingt das Aushandeln. In der anstehenden langen Reihe von Aushandlungsformaten ist die Programmation ein Element. Mit einem akteurbasierten Ansatz gehen wir nun die Grundlage für eine verbindliche Planung an.

TEC21: Wie geht es nach dieser Phase weiter mit der Stadt­entwicklung? Welche Schritte folgen als Nächstes?

Beat Aeberhard: Die Programmation ist ein wichtiger Baustein für den Stadtteilrichtplan Kleinhüningen-Klybeck, der als behördenverbindliches und dynamisches Ins­­­trument den langjährigen Transformationsprozess begleiten wird. Er bindet in der übergeordneten Sichtweise die verschiedenen Themen wie Hafenentwicklung, Mobilität, Frei- und Grünräume, aber auch die bestehenden Wohn- und Arbeitsquartiere zusammen, koordiniert sie und sorgt für einen transparenten Interessenausgleich. Er schafft die Basis, um den politisch notwendigen Konsens, nämlich eine sinnvolle Stadtentwicklung, herbeizuführen. Denn die Frage der gesellschaftlichen Konventionen ist von beträchtlicher Bedeutung. Es braucht die Übereinkunft darüber, wie die Stadt weiterzubauen ist. Auf Basis des Stadtteilrichtplans können dann nutzungsplanerische Massnahmen wie Zonenänderungen und Bebauungspläne bis hin zu konkreten Projektentwicklungen in die Wege geleitet werden.

TEC21: Wie sehen Sie dieses neue Quartier am Rhein? Welche Art von Stadt soll es werden?

Beat Aeberhard: Seit den ersten planerischen Entwürfen ist die Rede von einem lebendigen, gemischt genutzten Stück Stadt, das auf den Hafenarealen entstehen soll. Es entsteht aber nicht aus dem Nichts. Man wird die Auseinandersetzung mit dem Bestand suchen müssen. Die örtlichen Identitäten sind zu berücksichtigen. Darauf aufbauend sollen diese Gegebenheiten in den neuen Quartieren spürbar werden. Auf dem Klybeckquai ist ein Bezug zum bestehenden Klybeckquartier herzustellen, damit im Gegenzug auch für die heutige Bevölkerung Qualitäten und ungeahnte Möglichkeiten resultieren. Auf dem Westquai geht es um das Miteinander von Hafen und Stadt. Die neu entstehende Stadt befindet sich unmittelbar neben einem funktionierenden Hafen. Darauf müssen wir in der Planung Rücksicht nehmen und ein «echtes» Hafenquartier entwickeln. In der Konsequenz – und da wage ich nun eine Prognose – könnte das bedeuten, dass der Schwerpunkt auf dem Klybeckquai tenden­ziell auf Wohnen und Quartierleben, auf dem ­Westquai auf Arbeiten, öffentlichen, trinationalen Nutzungen und urbanem Wohnen liegt. So oder so, die Entwicklung dieses Stadtquartiers ist eine Jahrhundert­chance, die wir nutzen wollen.


[Beat Aeberhard ist seit April 2015 Kantonsbau­­meis­­ter und leitet den Bereich Städtebau & Architektur im Kanton Basel-Stadt. Von 2008 bis 2014 war er Stadtarchitekt in Zug und bis 2014 zudem als selbstständiger Architekt tätig. Er studierte Architektur und Städtebau an der ETH Lausanne und Zürich sowie an der Columbia University, New York.]

TEC21, Fr., 2016.05.13



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2016|20 Hafen und Stadt

13. November 2015Susanne Frank
TEC21

«Stadtplanung ist hochpolitisch»

Welche Einflüsse sind entscheidend in der Stadtplanung? Und woran scheitert der Städtebau in der Agglomeration? Drei Experten diskutieren über aktuelle Fragen in der städtebaulichen Entwicklung
und die grossen Herausforderungen in der Planungspraxis.

Welche Einflüsse sind entscheidend in der Stadtplanung? Und woran scheitert der Städtebau in der Agglomeration? Drei Experten diskutieren über aktuelle Fragen in der städtebaulichen Entwicklung
und die grossen Herausforderungen in der Planungspraxis.

TEC21: Die Grenzen zwischen Städtebau und Raumplanung scheinen fliessend. Im interdisziplinären Kontext fällt auf, dass die Begriffe wenig differenziert verwendet werden. Wie würden Sie Städtebau und Raumplanung charakterisieren? Was sind für Sie die wesentlichen Unterschiede?
Marcel Meili: Für mich ist der Unterschied der, dass Städtebau einen Projektcharakter hat im weitesten Sinne; während Raumplanung die Rahmenbedingungen festlegt über grosse Räume, gesetzliche, aber auch strategische, etwa Erschliessung und Nutzungsverteilung. Städtebau basiert auf einer entwerferischen Dimension, indem auch architek­tonische Begriffe wie Körperlichkeit, Raumpropor­tionen, Gebäudehöhen, Massstäblichkeit, Nutzungsverteilungen, Typologien usw. eine Rolle spielen.
Das war schon bei grossen Städtebauern wie etwa Sitte, Fischer oder Cerda so, meist auch bei Le Corbusier. Das Vokabular der Raumplanung ist etwas vollkommen anderes als im Städtebau.
Patrick Gmür: Der Unterschied betrifft die Massstabsebene. Im Städtebau geht es um Baukörper, Volumen und die Räume dazwischen sowie die damit verbundenen architektonischen Fragen. In diesem Sinn ist der Städtebau dreidimensional, wohingegen die Raumplanung, die strategisch und behördenverbindlich ist und gesetzliche Vorgaben formuliert, eher zweidimensional zu begreifen ist. Ihre Instrumente bilden die Grundlagen, auf deren Basis man sich mit den konkreten städtebaulichen Fragen auseinandersetzt. Die Raumplanung besitzt eine gewisse Unschärfe, während der Städtebau genaue räumliche Vorstellungen entwickelt. Bezieht man diese auf die einzelne Parzelle, kommen die jeweiligen Besitzverhältnisse ins Spiel – und ab diesem Punkt wird es unglaublich präzise, mit maximaler Aus­nutzung, Grenzabständen, Gebäudehöhen usw.
Wilhelm Natrup: In der Raumplanung differenziere ich unterschiedliche Ebenen: die örtliche Raumplanung, meistens nennt man das Stadtplanung, und die überörtliche Raumplanung. Mit der Raumplanung sind die Prozesse und Instrumente verbunden, die notwendig sind, um in der demokratischen Entscheidung die verschiedenen Interessen gegen­einander abzuwägen und die städtebaulichen Vor­stellungen umzusetzen. Darum ist Raumplanung Entscheidvorbereitung im politischen Prozess, Städtebau hingegen ist die Disziplin der baulich-räumlichen Gestaltung. Das darf man aus meiner Sicht nicht immer vermischen. Raumplanung und Städtebau ergänzen sich, sie sind keine Gegensätze.

Es gibt die Ebene der Architektur, die sich auf ein Projekt und eine spezifische Parzelle bezieht, und es gibt die Ebene der Raumplanung, die die räumliche Entwicklung im grossen Kontext koordiniert. Doch die Ebene dazwischen, Städtebau im Sinn von Architektur auf einer grösseren Massstabsebene, stellt eine ganz andere Herausforderung dar. Denken die Architekten über die einzelne Parzelle hinaus in diesem Massstab?
Gmür: Wir hatten heute, zusammen mit auswärtigen Fachexperten, im Amt für Städtebau eine Sitzung. Dort haben wir die Architekturbüros ausgewählt, die sich für Verdichtungsstudien im Zusammenhang mit dem kommunalen Richtplan beworben hatten. Aus den vielen und sehr breiten Bewerbungen schliesse ich, dass das Interesse für diese grössere Massstabsebene durchaus da ist und der Wille, ein ganzes Quartier städtebaulich und räumlich weiterzuentwickeln, vorhanden ist. Darüber haben wir uns sehr gefreut!
Meili: Ja, dieses Bewusstsein gibt es. In diesen Initiativen geht es genau darum, den Zwischenbereich zwischen dem Zonenplan und der Gestalt eines Quartiers aufzuklären. Die Herausforderung besteht darin, herauszufinden, wo der Zonenplan etwa in der Frage der Verdichtung zu einer Gestalt drängt, die so vielleicht gar nicht erwünscht ist. Dennoch wird in diesen Verfahren deutlich, dass die Verfasser den architektonischen Gehalt gegenüber dem Massstab, den es dort zu bearbeiten gilt, eher überschätzen. Das ist ein Grundfehler, denn auch der Städtebau wirft Strukturfragen eines grösseren Massstabs auf, die den Projektcharakter sprengen und überformen. In diesem Punkt berühren sich Raumplanung und Städtebau. Städtebau muss die Form mitverhandeln, oder er muss eine angemessene Verallgemeinerbarkeit der Antworten finden.
Gmür: Architektinnen, Architekten arbeiten meist mit einem Grundeigentümer oder Investor zusammen, der ein Areal oder ein Grundstück hat. Dort liegt ihre Aufgabenstellung. Es geht bei ihnen – schon aufgrund ihres Auftrags – um die einzelne Parzelle. Der Investor oder Eigentümer geht also vom Kleinen ins Grosse. Der Raumplaner hingegen kommt umgekehrt von der übergeordneten Massstabsebene und geht ins Kleine. Es sind ganz unterschiedliche Ausgangspositionen und Arbeitsbedingungen. Dennoch behaupte ich: Das Ziel eines Architekten sollte immer sein, ein Haus zu entwerfen, das auf seine Umgebung oder im besten Fall auf das ganze Quartier strahlt.

Probleme zeigen sich vor allem in der räumlichen Entwicklung über die Grenzen der Stadt hinaus, in der Agglomeration. Wer macht dort Städtebau? Warum sieht es so aus, wie es aussieht?
Natrup: Das Problem ist vielschichtig. Es ist eine Frage der personellen Ressourcen und Kontinuitäten, und es gibt die politische Ebene. Die Haltung ist in Städten oder Gemeinden, die ein Parlament haben, eine andere, hier findet man meistens auch eine grössere Professionalisierung. In den Gemeinden gibt es wenig Personal, das fachlich die Interessen wahrnehmen kann. Es gibt zwar Planer, die beauftragt sind, aber sie haben eine andere Legitimation als eine Verwaltung. Wenn die Gemeinden nur einen Bausekretär haben, der allein alles vorbereitet und macht, dann gibt es diese Interessenswahrnehmung der Öffentlichkeit nicht. Die Politiker verlassen sich darauf, dass das ausreichend war, was da gelaufen ist. Darin sehe ich einen grossen Mangel.
Gmür: Die Verantwortung liegt bei den Städten und Gemeinden. Wir können immer nur das initiieren und umsetzen, was auch politisch unterstützt wird. Dieser politische Zusammenhang ist nicht zu unterschätzen. Wenn ein Vorhaben nicht gestützt wird, dann haben wir wenig Chancen, es durchzubringen.
Natrup: Ausserdem muss man sehen, dass 90 % aller Bauten aufgrund der Bau- und Zonenordnung in den Gemeinden bewilligt werden und nicht mit Sondernutzungsplanung, zum Beispiel mit Gestaltungsplänen. Wenn wir einmal die Bau- und Zonenordnung genehmigt haben, dann kommt die Gemeinde vielleicht 15 Jahre nicht zu uns, wir spielen keine Rolle mehr. Bei grossen Arealen gibt es zwar Gestaltungspläne, doch das Bild der Gemeinden wird über die Alltagsarchitektur viel stärker geprägt – und da redet eigentlich keiner mit.

Ist es auch ein Problem der Planungsinstrumente? Wären gesetzliche Regelungen zum Städtebau hilfreich? Oder ist es eine Frage des kulturellen Bewusstseins?
Natrup: Ich befürworte, die Kompetenzen auf der untersten Ebene zu lassen. Es wird nicht besser, wenn man das an den Kanton oder Bund delegiert und sagt, es gibt jetzt einen Bundesbeauftragten für Qualität im Städtebau. Wir müssen die Gemeinden befähigen. Viele Gemeinden, auch im Kanton Zürich, machen das schon, indem sie Orts- oder Stadtbildkommissionen einrichten – aber aus meiner Sicht sind es zu wenige.
Meili: Falls Städtebau scheitert, liegt das sehr oft weniger an den gesetzlichen Regelungen als an den stadträumlich willkürlich zersplitterten Zuständigkeiten. Im Gemeindeföderalismus ist es immer eine Frage, wer zuständig ist und wer welche Rechte abtritt.
In einer Metropolitanregion wirken politische Grenzen meist zufällig und scheiden Räume aus, deren städtebauliche Identität völlig unklar ist. Aus der Sicht einer Agglomerationsgemeinde heraus ist es fast unmöglich, einen sinnvollen Platz, eine klare Identität in der Metropolitanregion zu definieren: Wer sind wir, und was wollen wir städtebaulich? Das ist eine Frage eines übergeordneten Plans, in dem Recht geschaffen wird. Solange es keine politische Übereinkunft darüber gibt, was eigentlich das Wesen einer Metropolitanregion ausmacht, wird der Städtebau heillos auflaufen. An diesem Punkt hat das «städtebauliche Porträt» des Studio Basel angesetzt.
Natrup: Es hängt sehr stark an Personen und am Bewusstsein, wenn man qualitätvolle Entwicklung in den Gemeinden machen will. Es gibt immer Phasen, da sind plötzlich Personen am Ruder, die in dieser Zeit eine zukunftsweise Entwicklung in ihren Gemeinden erreichen. Aber die Prozesse sind langwierig, und wenn diese Personen nicht dabeibleiben, dann bricht das wieder ab.
Meili: Dass zum Beispiel Zürich städtebaulich den Anschluss an die umgebenden Gemeinden findet, halte ich für eine der bedeutendsten Aufgaben des kommunalen Städtebaus. Nur muss man dabei von einem enormen Gefälle im städtebaulichen Know-how zwischen den Gemeindebauämtern und der Stadt ausgehen.

Das kann man sich vorstellen. Was bedeutet das?
Meili: Eine grossräumige städtebauliche Qualitätssteigerung ist im Raum Zürich praktisch nur von den städtischen Abteilungen ausgehend vorstellbar. Dort ist so viel Manpower und Fachwissen konzentriert, dass dieser Apparat wohl in der Lage wäre, grössere städtebauliche Raumzusammenhänge aufzubauen. Gemeindeämter sind damit überfordert. Einen solchen Eingriff in die Gemeindeautonomie lassen sich die Gemeinden allerdings traditionell nicht bieten. Sie verteidigen ihre Steuerprivilegien und das Gemeindebaureglement. Ich glaube, es ist nicht dramatisiert zu behaupten, dass ein Städtebau, der sich um urban sinnvolle Planungsräume kümmert, in der Schweiz immer am Gemeindeföderalismus scheitern wird. Dass selbst örtliche Gemeindekooperationen sich so schwertun, belast­bare Ergebnisse hervorzubringen, stützt diese These.
Gmür: Du hast es gut beschrieben, Marcel. Wenn die Leute hören, dass ich das Amt für Städtebau vertrete, werde ich oft gefragt, wie viele Leute in diesem Amt arbeiten. Ich sage 125. Entgegnet wird mir: Wir haben nur einen Bausekretär, der auch noch das Protokoll der Gemeinderatssitzung schreibt. Diese eine Person macht alles. Wenn wir nun eine gemeinsame Sitzung haben, komme ich mit all
meinen Fachspezialistinnen und Fachspezialisten, während uns gegenüber eine einzelne Person sitzt. Dies erzeugt – verständlicherweise – Vorbehalte. Es ist das Bild von David und Goliath, das hier aufblitzt. Ganz klar gibt es aber auch eine politische Dimension: Wenn man die politische Karte von Zürich und der gesamten Schweiz anschaut, stellt man schnell fest, die Städte sind meistens rot-grün dominiert und auf dem Land regieren  …
Meili: …  die Konservativen. Da fangen die Diskussionen an.

Welche Möglichkeiten gäbe es aus Ihrer Sicht, die städtebauliche Entwicklung in der Agglomeration zu steuern und positiv zu beeinflussen?
Gmür: In der Theorie könnte man viel machen, aber die Wirklichkeit sieht anders aus: Die Entwickler und Investoren haben längst gemerkt, dass es in Zürich fast keine freien Grundstücke mehr gibt. Also weichen sie in die Agglomeration aus. Schlieren und Dietikon sind gute Beispiele dafür. Die städtebaulichen Inputs in der Agglomeration sind in der Folge also meist nicht von der Gemeinde initiiert, sondern von Investoren oder Grundeigentümern. Sie erhoffen sich in erster Linie, mit hoher Dichte bzw. Ausnützung, Geld zu verdienen. Die öffentliche Hand, die Gemeinde, spielt im besten Fall nebenbei mit – wenn sie überhaupt die Möglichkeit hat. Auch diesen Herausforderungen müssen wir uns als Stadt stellen. Eben: Man könnte viel machen, und es gäbe die Möglichkeit, über die Gemeindegrenzen ­hinaus die städtebauliche Entwicklung positiv zu beeinflussen. Die entscheidende Frage ist jedoch, ob der Wille dazu da ist – vor allem der politische Wille.

Es setzt auch voraus, dass die Verantwortung von den Kommunen und Städten wahrgenommen wird?
Natrup: Die städtebaulichen Fragen unterliegen der kommunalen Planungshoheit. Es liegt in der Verantwortung der Gemeinden, ob sie ihre Ortsplaner oder Experten beiziehen wollen – oder ob sie den Investor allein machen lassen. Dann wird das Projekt in der Gemeinde vom Bausekretär auf Übereinstimmung mit dem Planungs- und Baurecht geprüft, und wir müssen es genehmigen. Wenn die Gemeinden die übergeordneten Vorgaben nicht einhalten, müssen sie die Planung überarbeiten. Wir machen Auflagen und empfehlen, eine qualifizierte Person beizuziehen, letztlich jedoch ist es Sache der Gemeinde. Aber sie wissen mittlerweile, dass sie mit uns ein Problem bekommen, wenn die nächste Vorprüfung ähnlich ausfällt: Wir genehmigen nicht. Sie müssten dann, das machen sie zum Teil auch, gegen den Kanton die Genehmigung einklagen. Das ist alles sehr rechtsstaatlich, was wir da machen.
Gmür: Ja, das ist der Föderalismus! Ob die Kommune ihre Verantwortung jedoch stets wahrnehmen kann, so wie wir uns das vorstellen, das ist eine andere Frage. Mit der Individualisierung der Gesellschaft ist vieles komplexer und komplizierter geworden. Darum ist es auch schwierig, eine gemeinsame Vorstellung zu entwickeln und, wenn wir jetzt vom Städtebau reden, eine gemeinsame Typologie oder Morphologie festzulegen. Meine grössten Diskussionen habe ich mit den Architektinnen und Architekten selbst. Jeder, jede hat eine spezifische Meinung. Und sie alle möchten möglichst viele Freiheiten, um das zu machen, was sie für richtig empfinden.

Der Verlust von gemeinsamen gesellschaftlichen Vorstellungen, der Zusammenhang von Stadt­planung und Politik – was bedeutet das in der Planungspraxis? Wie gehen Sie damit um?
Gmür: Man kann dies gut am Beispiel der Thurgauerstrasse (Leutschenbach) veranschaulichen. Dort hat das Amt für Städtebau eine Testplanung durchgeführt. Es gibt einerseits ein 65 000 Quadratmeter grosses Grundstück und andererseits einen Gemeinderat, der einen Gestaltungsplan fordert. In einem aufwendigen Verfahren haben wir ausgelotet, was man an diesem Ort machen soll, welche Nutzungen möglich sind und welche Dichte die richtige ist. Auf der Basis der vorliegenden Testplanung müssen wir nun einen Gestaltungsplan erstellen. Da stellt sich die Frage: Machen wir dies möglichst einfach, indem wir Baufelder definieren, auf denen man frei projektieren kann, oder braucht es eine Form von Zusammenhalt, von Regeln? Das führt uns wiederum zur grundlegenden Frage, ob die Architektinnen und Architekten tatsächlich städtebaulich denken und um die Sicht auf das Ganze besorgt sind.
Meili: Ja, es braucht eine Kohäsion. Es gab eine Expertenrunde, die die Frage diskutiert hat, wie eng wir das Korsett stricken sollen. Das waren namhafte Experten, und das Ergebnis ist klar gewesen: Man muss es sehr eng stricken, damit die städtebauliche Konzeption des Testentwurfs in Zukunft eine Rolle spielen wird: der grosse Massstab, die geschlossene Strassenfront, die Wohnhöfe. Daran arbeiten wir jetzt, das stricken wir relativ eng und legen es der Stadt vor. Das hat zur Folge, dass das Ausbrechen von Architekten aus individuellen Motiven heraus recht schwierig wird. An dieser Stelle sind wir nun selbst herausgefordert, dem Städtebau jenen Atem zu lassen, den er zu seiner Verwirklichung benötigt.
Gmür: Es ist auch eine Herausforderung, diesen Gestaltungsplan dann durch den Gemeinderat zu bringen und dort die Sinnhaftigkeit der Regeln zu erklären. Im vorliegenden Fall ist es eine grosse Chance, einmal 900 Meter Stadt am Stück und aus einem Guss zu gestalten. Das wäre etwas Einzigartiges und Starkes.

Braucht man Vorgaben und Regeln, um diesen Prozess zu kontrollieren?
Gmür: Ja, es braucht diese, um einen Zusammenhalt herzustellen, davon bin ich aufgrund zahlreicher Erfahrungen – Europaallee, Manegg – überzeugt. Aber das wird oft ins Gegenteil gekehrt und uns negativ ausgelegt. Es heisst dann, dass wir zu strenge Vorgaben formulieren, nur um zu kontrollieren.
Meili: Die Frage der gesellschaftlichen Konventionen ist von grosser Bedeutung. Wenn es natürlich keine Übereinkunft darüber gibt, was eine Stadt ausmacht, dann ist die umgekehrte Frage: Woher kommen diese Regeln, die man da festlegt? In der Schweiz sind viele Stadtbewohner in ihrer Seele gar keine Städter. Stattdessen gibt es endlos viele Meinungen, wie eine halbländliche «Stadt» ohne jede Wucht weiterzubauen ist. Vor dieser grossen Herausforderung steht die Stadt jetzt. Sie beruft sich darauf, die Gegebenheiten des Bestands neu zu interpretieren. Das ist vermutlich die einzige Art, wie man irgendwann Zustimmung organisieren kann: indem man eine städtebauliche Gestalt postuliert, die ihre Wurzeln in der Geschichte der Stadt haben muss.

Wie wäre das in der Praxis machbar?
Meili: Die Stadt Zürich ist genau daran, das zu machen. Nehmen wir die Verdichtungsstudien, die hier im Amt für Städtebau gerade gemacht werden. Da wird in grossen Gebieten gearbeitet, in denen man sich mit dem Bestand auseinandersetzen muss. Es geht darum, ein Regelwerk (Anm. d. Red.: Kommunaler Richtplan) zu erarbeiten, das an bestimmte Bedingungen geknüpft ist, damit auch ein politischer Konsens herbeigeführt werden kann, nämlich Verdichtung sicherzustellen. Ich wüsste nicht, wie man das anders machen könnte, als dass man die konkrete Auseinandersetzung mit dem Bestand sucht.

In unserer Diskussion kristallisiert sich heraus, dass der Ebene der Politik eine grosse Bedeutung zukommt. In welchem Zusammenhang stehen Stadtplanung, Raumplanung und Politik?
Gmür: Stadtplanung ist hochpolitisch. Wenn es um Planung geht, ob Raumplanung oder Städtebau, dann geht es immer auch um Politik. Es ist ganz wichtig, sich dessen stets bewusst zu sein. Meine Rolle besteht vor allem darin, dem Stadt-, aber auch dem Gemeinderat zu vermitteln, was die Stadtplanung macht und wohin sie will. Im Gegenzug hole ich dort die Unterstützung, die es braucht, um unsere Stadt weiterzuentwickeln – so wie dies wahrscheinlich deine Aufgabe ist in Bezug auf den Regierungsrat.
Natrup: Ja, ganz genau.
Gmür: Das Amt für Städtebau ist aus meiner Sicht eines der politischsten Ämter in der Stadt Zürich, wir haben extrem viele Schnittstellen zur Politik …
Natrup: …  und das gilt analog für die Raum­planung im Kanton. Wir sind das Amt, das mit den entsprechenden Themenfeldern sehr oft im Regierungsrat vertreten ist, es ist sehr politisch.
Gmür: Man könnte es auch anders sagen: ohne Politik keinen Städtebau ...
Natrup: … und keine Stadtplanung.

TEC21, Fr., 2015.11.13



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TEC21 2015|46 Eine Frage des Massstabs

16. Oktober 2015Susanne Frank
TEC21

«Vom Groben ins Feine»

Wie sinnvoll ist BIM für Wettbewerbe? Geht die Optimierung der Verwaltung auf Kosten der Innovation? Wir wollen beitragen, eine differenzierte Sichtweise zu entwickeln. Dazu haben wir eine Reihe von kritischen Fragen zusammengestellt, die uns der Präsident der Kommission SIA 2051 BIM schriftlich beantwortet hat.

Wie sinnvoll ist BIM für Wettbewerbe? Geht die Optimierung der Verwaltung auf Kosten der Innovation? Wir wollen beitragen, eine differenzierte Sichtweise zu entwickeln. Dazu haben wir eine Reihe von kritischen Fragen zusammengestellt, die uns der Präsident der Kommission SIA 2051 BIM schriftlich beantwortet hat.

TEC21: Herr Huber, gibt es Defizite in den aktuellen Planungs- und Bauprozessen, die man mit einer neuen Methode (BIM) beheben muss?
Manfred Huber: Die Planungs- und Bau­prozesse, wie sie im Modell Bauplanung SIA 112 beschrieben sind, haben sich aus einer langen ­Tradition entwickelt und sind bewährt. Die neuen digitalen Planungs- und Baumethoden helfen aber, diese bewährten Prozesse zu stützen und weiterzuentwickeln – gerade weil im Kern der Methode das Bauwerksmodell und die interdiszi­plinäre Zusammen­arbeit stehen.

Vor welchem Hintergrund hat der SIA das Merkblatt SIA 2051 BIM erarbeitet? Warum ist ein spezifisches Merkblatt für die Schweiz notwendig?
Die digitalen Planungs- und Bau­methoden haben sich in den vergangenen Jahren rasch entwickelt und haben auch in der Schweiz Einzug gehalten. Kaum ein grösserer Baugrubenaushub findet zum Beispiel heute ohne die GPS-Daten statt, die der Bauingenieur dem Tiefbauer respektive dem Baggerführer zur Verfügung stellt. Skandinavien, Grossbritannien, die USA und zahlreiche weitere Länder wenden diese digitalen Methoden nun schon seit mehreren Jahren an und zeigen auch deren grosses Potenzial auf. Schweizer Architekten und Planer, aber auch Bauherrschaften, wurden auf diese Methode aufmerksam und haben begonnen, sie ebenfalls anzuwenden. Der Bedarf an Verständigung ist augenscheinlich geworden. Die Schweiz könnte nun beginnen, BIM-Leitfäden aus dem Ausland eins zu eins zu übernehmen und anzuwenden. Das Planen und Bauen ist aber immer noch sehr stark von der lokalen Kultur geprägt. Eine Übernahme von bestehenden BIM-Leitfäden ist daher nicht zielführend. Dennoch können wir offensichtlich von den Erfahrungen anderer Länder lernen, indem wir schauen, was sich bewährt hat und was weniger. Es gilt dabei, die BIM-Methode auf die schweizerischen Verhältnisse zu adaptieren. Das Merkblatt SIA 2051 wird dies leisten und zur Verständigung der BIM-Methode in der Schweiz beitragen.

BIM verspricht Vorteile in den höheren Leistungsphasen, der Ausführungsplanung – und vor allem im Facility Management. So beeinflusst die Methode BIM, von einem späten Zeitpunkt der Planung aus gedacht, auch die entscheidenden ersten Planungsphasen: Konzep­tion und Entwurf. Hier stellen sich die meisten Fragen, zum Beispiel wie am Entwurf gearbeitet wird, wie flexibel eine Planung mit BIM ist und ob sich der Aufwand erhöht. Sollte man in der Strukturierung und Optimierung der Planungsprozesse nicht «von vorn nach hinten» denken? Ein Gebäude fängt doch beim Entwurf an?
Die Methode BIM zwingt uns Architekten und Planer gerade, wieder vom Groben ins Feine zu denken – etwas, das mit dem Übergang vom Tuschstift zum CAD verloren ging. Wie beim Planungsprozess üblich, sollten wir uns zuerst über das zu erreichende Ziel im Klaren sein, dann über die dafür nötigen Inhalte sprechen und am Schluss uns noch Gedanken machen, wie wir die Zielerreichung überprüfen können. Dies sollte selbstverständlich entlang der uns bekannten Phasen des Planungs- und Bauprozesses erfolgen. Wir müssen uns wieder vermehrt darauf konzentrieren, phasen- und adressatengerecht zu arbeiten. Gerade für die BIM-Methode ist das zwingend. Trial and Error, das klassische Prinzip des Entwerfens und Verwerfens, lässt sich sehr gut mit der BIM-Methode anwenden. Ziele formulieren, die richtigen Inhalte beigeben, prüfen und dann entscheiden – aber bitte phasen- und adressatengerecht. Es sind pro Planungsphase nur die Informationen ins Modell einzufügen, die für die Beantwortung entwurflicher Fragen hilfreich sind. Es gilt, dabei das Prinzip «so viel als nötig, aber so wenig als möglich» zu beachten. Richtig angewandt, ergänzt BIM die uns bekannten Entwurfswerkzeuge und stärkt damit den klassischen architektonischen und ingeniösen Entwurf.

Der Entwurf eines Gebäudes ist ein Prozess. Vor allem beim Wettbewerbsentwurf bewegt man sich, oft gleichzeitig, auf unterschiedlichen Massstabsebenen, vom Städtebau bis ins Gebäudedetail. In der konzeptionellen Phase haben sich dabei sehr unterschiedliche Werkzeuge bewährt. Wie sinnhaft ist BIM für Wettbewerbe?
Die Anwendung einer Methode darf nie Selbstzweck sein. Dies gilt gerade auch bei der Anwendung von BIM im Wettbewerbswesen. Auslober, aber auch Teilnehmer von Wettbewerben müssen sich im Klaren sein, was sie mit der Anwendung der BIM-Methode erreichen möchten. Es gilt auch hier, zuerst über das Ziel zu sprechen und dann über die Inhalte. Ist es das Ziel, Kenngrössen wie zum Beispiel «Hauptnutzfläche zu Geschossfläche» zu erhalten, oder die architektonische Wirkung zusätzlich im digitalen Modell zu prüfen, so ist BIM ein starkes Werkzeug, um den Entwurfsprozess zu unterstützen. Dies geschieht in der Phase Wettbewerb sinnvollerweise meist über reine Raummodelle, die nur die Informationen enthalten, die dafür wirklich nötig sind. Von BIM-Modellen, die unzählige, nicht phasengerechte Informationen enthalten, ist aber dringend abzuraten. BIM basiert auf dem Gedanken des Optimums und nicht des Maximums.

BIM geht von einer progressiven Vertiefung der Detaillierung aus (LOD 100 bis 500). Der architektonische Entwurf springt jedoch häufig vom Detail zum Gebäudevolumen und zurück. Wie wird der LOD innerhalb des Projekts koordiniert und von wem?
Die progressive Vertiefung der Detaillierung von grob zu fein ist ein bekanntes Prinzip aus dem Entwurf. Selbstverständlich gibt es eine Wechselwirkung von grob zu fein und umgekehrt. Die LOD sind nicht in Stein gemeisselt. Sie sind projektspezifisch zu vereinbaren und können sich innerhalb der jeweiligen Planungsphase zwischen den Disziplinen auch unterscheiden. Auch hier steht im Vordergrund, zu welchem Ziel die BIM-Methode eingesetzt wird. Zu Beginn eines Planungsprozesses verständigen sich die beteiligten Planer zusammen mit der Bauherrschaft über die Ziele und die dafür nötigen Inhalte und Informationstiefen – und zwar bezogen auf die jeweilige Phase. Im Hochbau ist es naheliegend, dass dies unter der Leitung des ­Architekten geschieht, der auch üblicherweise die Funktion eines Gesamtleiters innehat. Voraussetzung dafür ist, dass er die nötigen Kenntnisse bezüglich eines BIM-Prozesses hat. Das Merkblatt SIA 2051 BIM und die dazu parallel erscheinende Dokumentation kann ihm dabei als Hilfestellung dienen. Fehlen die nötigen Kenntnisse, so muss der Verantwortliche bezüglich des BIM-Wissens Verstärkung holen.

Die Schnittstellen mit den Fachplanern werden ins digitale Modell ausgelagert. Häufig entstehen innovative Lösungen jedoch an den Fachplanersitzungen, wenn alle an einem Tisch sitzen und miteinander diskutieren. Droht diese Kultur – die in der Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern ausgesprochen hoch ist – nicht zu verschwinden, wenn die Planer nur noch auf virtuelle Abstimmungen setzen? Geht die Optimierung der Verwaltung nicht auf Kosten der Innovation?
Schnittstellen können am digitalen Modell gelöst werden. Sie werden aber nicht durch das digitale Modell gelöst. Dies ist ein grosser Unterschied. Das Modell hilft, Schnittstellen zu erkennen, zu visualisieren und dar­über zu sprechen. Die Lösungen müssen in interdisziplinären Workshops gefunden werden. Dabei diskutieren die Beteiligten gemeinsam die anstehenden Herausforderungen und entwickeln innovative Lösungen, und zwar real von Angesicht zu Angesicht und nicht in einem virtuellen Raum. Das digitale Modell unterstützt aber die Diskussion erheblich, indem es die Fragen sichtbar macht. In der BIM-Fachwelt spricht man von ICE(Integrated Concurrent Engineering)-Sessions. Eine Form der Zusammenarbeit, die in der Schweiz hoch entwickelt ist und mit den digitalen Modellen eine zusätzliche Stärkung erhält.

Es stellt sich auch die Frage, ob BIM für alle Bauvorhaben gleichermassen geeignet ist. Wäre es nicht sinnvoll, je nach Projekt und Rahmenbedingungen zu differenzieren, ob BIM für den spezifischen Fall die beste Methode ist – oder ob nicht ein anderer Weg praktikabler und daher vorzuziehen ist?
BIM als Methode, die digitale Bauwerksmodelle in einer interdisziplinären Zusammenarbeit nutzt, kann unabhängig von der jeweiligen Grösse und Objekt­art genutzt werden. Hingegen unterscheiden sich sehr wohl die Ziele der Anwendung der BIM-Methode von Projekt zu Projekt stark und damit auch der Umfang und die Tiefe der Informationen, die mit dem Modell verknüpft werden. Für einen einfachen Umbau eines Einfamilienhauses ist die Art und der Umfang der Informationen ganz anders gelagert als bei einem Spitalneubau, bei dem sogar in der Phase Bewirtschaftung das Facility Management an das digitale Gebäudemodell angeknüpft wird.

TEC21, Fr., 2015.10.16



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TEC21 2015|42 Zwischen BIM und Bleistift

09. November 2014Judit Solt
Susanne Frank
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«Es braucht eine neue Sensibilität»

Ein interdisziplinäres Team hat untersucht, wie Politik und Verwaltung ­unsere gebaute Umwelt prägen. Ein Gespräch mit dem Forschungsleiter.

Ein interdisziplinäres Team hat untersucht, wie Politik und Verwaltung ­unsere gebaute Umwelt prägen. Ein Gespräch mit dem Forschungsleiter.

TEC21: In Ihrer Forschung geht es um Entscheidungsprozesse im Städtebau. Dabei stehen die Akteure und die Entstehungsabläufe auf Ebene der kommunalen Verwaltung im Mittelpunkt – und nicht die Planerinnen und Planer. Warum dieser Ansatz?
Joris Van Wezemael: Es ist ein Fehler, die Siedlungsentwicklung einseitig vom Planer her zu denken. Planung entsteht nicht im leeren Raum. Die Siedlungsentwicklung geschieht heute vermehrt durch Verdichtung, in Gebieten also, wo Menschen wohnen und Infrastrukturen vorhanden sind. Dabei gilt es, die Planung als kollektives Vorhaben zu begreifen, das nicht auf eine einzelne Berufsgruppe beschränkt ist. Uns ging es darum, das Zusammenspiel zwischen den betroffenen Akteuren zu ergründen. Planung entwickelt sich im interaktiven Prozess. Für das Endprodukt sind aber nicht nur die beteiligten Menschen oder Institutionen prägend, sondern auch Gesetze, Sachpläne und räumliche Ausgangssituationen. Diese Dinge verdienen ebenso Beachtung, weil sie im Sinn einer vorgelagerten materiellen Begrenzung das Handeln der menschlichen Akteure beeinflussen. Wir haben auf unterschiedlichen Massstabsebenen – Parzelle, Areal oder Stadtgebiet – mit verschiedenen Perspektiven Handlungsspielräume, Muster, Wirkungen, Eigenlogiken und Praktiken untersucht. Die Gemeinde als Ausgangspunkt hat vor allem forschungspragmatische Gründe.

Welche Thesen lagen Ihrer Forschung zugrunde?
Van Wezemael: Am Anfang stand die Feststellung, dass wir zwar kollektiv eine Kulturlandschaft und Städte produzieren, uns aber nicht heimisch darin fühlen. Hinter diesem Widerspruch stecken komplexe Prozesse. Wir haben versucht, sie zu beschreiben und zu verstehen.

Sie haben also Wirkungsforschung betrieben?
Van Wezemael: Ja. Wir wollten herausfinden, warum der Raum, wie wir ihn heute sehen, so und nicht anders produziert wurde und warum er weiterhin so reproduziert wird. Wir haben Fragen des Städtebaus und der Raumentwicklung nicht durch die normative Brille betrachtet und untersucht, wie es sein sollte. Wir wollten wahrnehmen und verstehen, wie es ist. Päpste gibt es schon genug, die behaupten, sie könnten das Land wunderbar entwickeln, wenn die «bösen» Behörden, Gesetze, Anwohner und Investoren usw. ihre schöne Idee nicht immer torpedieren würden. Wir wollten dieser Haltung entgegenwirken, die Realität ernst nehmen und ihre Entstehungsprozesse begreifen. Wir haben uns weniger für das Selbstverständnis der Planenden interessiert als vielmehr dafür, in welche Handlungszusammenhänge sie eingebunden sind, welche Voraussetzungen ihre Tätigkeiten haben und welche Wirkungen sie tatsächlich erzielen. Denn dadurch, dass Planung im Zusammenspiel vieler Akteure und vorangegangener Entscheide stattfindet, ist ihre Wirkung nicht vorhersehbar. Ja, vielfach ist sie gar paradox. Es ist verständlich, dass viele Planerinnen und Planer das als frustrierend empfinden.

Wenn niemand wirklich glücklich ist mit der heutigen räumlichen Entwicklung der Schweiz, warum tragen dann so viele dazu bei, sie genauso fortzuführen? Sind die Gemeinden eigentlich zufrieden mit ihrer eigenen Entwicklung?
Van Wezemael: Das ist eine sehr wichtige Frage. Um sie zu beantworten, ist eine intensive Auseinandersetzung mit dem Konzept der «Identität» nötig: Wer sind wir in Bezug auf unsere Lebensweise und Kultur, und wer wollen wir in Zukunft sein? Für die Herstellung einer identifikationsfähigen gebauten Umwelt ist die Beantwortung dieser Frage zentral. Die Fallstudien (vgl. folgende Artikel) zeigen auf, dass es in den Gemeinden an einem gemeinsamen Referenzrahmen jenseits idealisierter Vorstellungen von «Stadt» und «Land» fehlt, der auf die Eigenheit und den Genius Loci des jeweiligen Orts Bezug nimmt. Der Frage der Identität wird in der Regel viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Das ist ein unterschätztes Risiko im Planungsprozess: Wenn zum Beispiel eine Gemeindeverwaltung oder Planer «etwas Städtisches bauen» wollen, das die Investoren aber für ein ländlich ausgerichtetes Mietersegment entwickeln, kommt es unweigerlich zum Konflikt.

Warum wird die Frage der Identität so oft ausgeklammert?
Van Wezemael: Weil sie extrem heikel ist. Sie wird zwar in jedem Projekt mehr oder weniger explizit sichtbar, doch in den wenigsten Fällen hat jemand Interesse daran, sie zur Diskussion zu stellen. In einem direktdemokratischen System kann das schnell dazu führen, dass sich keine Mehrheit für ein Projekt findet. Für die politische Seite wie für die Investoren steht aber die Machbarkeit des Projekts im Vordergrund. Darum findet eine systematische «Entpolitisierung» der Projekte statt: Man versucht, sie möglichst zu versachlichen, zu technokratisieren – und klammert die grundsätzliche Frage, ob sie überhaupt wünschenswert sind, aus. Es ist einfacher, über Nutzung und Morphologie zu sprechen als über Sinn, Bedeutung und Identität.

Sie haben Fallstudien gemacht und mit einer Reihe von Gemeinden zusammengearbeitet. Warum haben Sie diese Gemeinden gewählt?
Van Wezemael: Wir haben elf Gemeinden angeschaut, aber nicht jede gleich intensiv. Wir wollten keine «Leuchtturmprojekte» feiern, sondern ganz alltägliche Planung untersuchen, und zwar in Gemeinden, die vor den grössten Herausforderungen stehen, etwa in Bezug auf Nachverdichtung, und gleichzeitig limitierte Ressourcen haben. Das trifft in der Schweiz auf viele Umlandgemeinden von Kernstädten zu. Dort wird die Schweiz im Moment gebaut. Wir haben Gemeinden gesucht, bei denen die eingespielten Routinen versagen, weil sie durch «externe Schocks» durchbrochen werden wie Veränderungen ihrer Erreichbarkeit infolge von Infrastrukturprojekten oder Transformationsdruck infolge wirtschaftlichen Strukturwandels.

Wie haben Sie die Prozesse analysiert?
Van Wezemael: In der ersten Phase haben wir uns Grundlagen besorgt. Wir haben durch das Eruieren von abgeschlossenen oder laufenden Projekten versucht herauszufinden, was in der Gemeinde passiert. Dann sind wir auf den Gemeindepräsidenten zugegangen und haben gefragt: Dürfen wir mit Ihnen Ihre Gemeinde anschauen? Welche Aspekte möchten Sie hervorheben? Wir sind nicht mit einer vorgefassten Meinung über urbane Qualität hingegangen, sondern haben den Dialog mit den Leuten gesucht. Wir wollten herausfinden, was sie unter urbaner Qualität verstehen, warum sie eine bestimmte Entwicklung wollen oder nicht, was sie tun, um diese Entwicklung zu erreichen. Wir wollten dann in einem nächsten Schritt die Konzeptionen der urbanen Qualität nachzeichnen, wie sie für die Akteure handlungsrelevant sind.

Wie war die Zusammenarbeit mit den Gemeinden?
Van Wezemael: Die Leute hatten ein grosses Interesse am Austausch, am Erzählen ihrer täglichen Erfahrungen. Auch die Bereitschaft, uns relativ intime Prozesse beobachten zu lassen, war gross.

Was haben Sie denn konkret beobachtet? Wie haben Sie die Prozesse analysiert und bewertet?
Van Wezemael: Das Forschungsprojekt hatte zum Ziel, die Übersetzungen von Konzeptionen urbaner Qualität zwischen verschiedenen «Arenen» zu analysieren. Bei diesen Arenen handelt es sich grob um die politische Rahmensetzung, die Arbeit in verschiedenen Projektphasen und die Verwaltungsarbeit. Wir haben unseren Forschungsgegenstand aus dem Blickwinkel dreier Disziplinen untersucht. Wir haben versucht, die spezifische Stärke jeder Disziplin zu nutzen und zu schauen, was sie zu der interdiszi­plinären Fragestellung beitragen kann: Der Politologe hat auf der Basis von Tiefeninterviews vor allem Prozesse der politischen Rahmensetzung ergründet. Der Planer/Geograf hat neben Befragungen planerische Arbeitsdokumente untersucht, Prozessanalysen hergestellt und die Transformationen von Qualitätskriterien im Projektverlauf nachgezeichnet. Und die Ethnografin hat die alltäglichen administrativen Prozesse beobachtet und sich damit beschäftigt, wie sie organisiert sind und wie sie auf Qualitätskriterien wirken – beispielsweise: Was passiert in einem Bewilligungsprozess zu welchem Zeitpunkt mit welchen Dokumenten? In diesen drei Teilprojekten haben wir gezielt unterschiedlich gearbeitet – aber immer mit Instrumenten der Sozialwissenschaften. Unser Projekt komplementiert mit seiner konsequent sozialwissenschaftlichen Ausrichtung die Projektlandschaft im NFP 65.

Haben Sie in Ihrer Arbeit Überraschungen erlebt?
Van Wezemael: Ja. Die grösste war: Wir haben sehr unterschiedliche Gemeinden und Ausgangssituationen analysiert, aber trotz dieser Unterschiedlichkeit festgestellt, dass es auch eine Konstante gibt. Heterogene Raumeinheiten – also Gebiete, die einen ganz anderen Charakter haben als ihre Umgebung – entstehen systematisch überall. Es entsteht ein Stückwerk aus Quartieren und Arealen mit jeweils komplett unterschiedlichen Charakteren. Dieser Mechanismus findet in reichen und armen Gemeinden statt, mit und ohne Schrumpfungs- oder Wachstumsdruck, mit höherer oder geringerer Professionalität, mit aktiver oder weniger aktiver Bodenpolitik, in diversen Konstellationen von Akteuren. Damit kann man belegen, dass genau die Raumstrukturen, die so oft moniert werden – das Heterogene, was unsere Agglomerationslandschaften ausmacht –, systematisch und nachvollziehbar produziert werden.

Das NFP 65 lief unter dem Leitsatz «Neue urbane Qualität». Sie betrachten den Prozess losgelöst vom «Blick des Architekten» auf urbane Qualität. Wäre es nicht aufschlussreich gewesen, wenn Architekten und Sozialwissenschaftler in dieser Forschung stärker zusammengearbeitet hätten? Die Schwierigkeiten ergeben sich doch gerade, wenn die Akteure getrennt agieren. Ist das nicht eine verpasste Chance?
Van Wezemael: Das ist zunächst ein Missverständnis. Wir sind den Deutungen und Umdeutungen von Qualität durch die Akteure gefolgt und haben unter anderem herausgefunden, dass Vorstellungen von Qualität unterschiedlich verhandelt und produziert werden. Während in liberal-passiven Gemeinden (vgl. Infobox und die drei Fallstudien ab S. 26) grundsätzlich eher die Qualitätsvorstellungen der privaten Akteure umgesetzt werden, zeichnet sich in aktiven Gemeinden eine Koproduktion von Qualität ab. Unser Ansatz ist aber vor allem auch eine Reak­tion auf das Scheitern der Wunschvorstellung aus den 1960er-Jahren, dass nämlich die Sozialwissenschaften den Architekten Informationen liefern, die in den Entwurf einfliessen. Bei komplexen Aufgabenstellungen wie der Innenentwicklung, bei der viele andere Akteure dazukommen, funktioniert das auf keinen Fall. Die Probleme sind vor allem in mangelndem gemeinsamem Vokabular und zu unterschied­lichen Instrumenten begründet. Im Wirklichkeit geht es aber um einen viel grundsätzlicheren Perspektivenwechsel, den John Habraken so treffend benennt: Wir müssen die gebaute Umwelt als etwas Autonomes untersuchen, nicht als etwas, das wir geschaffen haben, sondern als etwas, zu dem wir beitragen können. Darum stellt sich nicht die Frage, wie Laien an der Arbeit von Experten, den Städtebauern, teil­haben können, sondern vielmehr, wie der Entwerfer an der bereits existierenden Welt teilhaben und zu dieser positiv beitragen kann. Der Begriff der Partizipation wird so vom Kopf wieder auf die Beine gestellt. Diesem Befund Rechnung tragend, haben wir urbane Qualität untersucht, wie sie in der Wirklichkeit und nicht nur in Planerfachkreisen zirkuliert.

Wird urbane Qualität in den Gemeinden thematisiert? Gibt es konkrete Vorstellungen dazu?
Van Wezemael: Unsere Daten zeigen, dass häufig überhaupt keine Debatte zu urbaner Qualität stattfindet – und wenn doch, dann meist aufgrund von stark trivialisierten Vorstellungen etwa der «europäischen Stadt». Man spricht über öffentliche Räume und manchmal sogar über Interaktionsdichte; aber diese Vorstellungen beschränken sich in der Regel auf die Morphologie. Wenn man von Gartenstadt spricht, meint man eine Abfolge von grünen und bebauten Flächen – und blendet den sozialutopischen Aspekt dabei komplett aus.

Haben Sie Möglichkeiten gefunden, innovative Wege in der Stadtentwicklung zu eröffnen?
Van Wezemael: Wir haben Innovationspotenzial identifiziert. Ein wichtiger Punkt ist die Kontinuität im Planungsprozess. In der Planungslehre wird vorausgesetzt, dass die Vorgaben der übergeordneten Planung quasi automatisch in alle Massstabsebenen einfliessen. Wir haben dokumentiert, dass das nicht stimmt: Im regionalen Entwicklungsleitbild zum ­Beispiel mögen Vorstellungen zu einer qualitätsvollen Innenverdichtung festgehalten sein, doch damit diese tatsächlich den Weg in ein Bauprojekt finden, muss man vor allem auf Seiten der öffentlichen Hand ex­trem viel Energie in den Prozess stecken – was nicht zwingend gegeben ist. Denn zwischen den Massstabs­ebenen des Bundes, des Kantons, der Region, aber auch der Gemeinde, des Ortsteils oder des Entwicklungsareals ändern sich die Rechtsätze, Zuständigkeiten und ökonomische Zusammenhänge – und die Akteure werden ausgewechselt. Somit werden Konzeptionen urbaner Qualität in der Mehrheit der Fälle nicht übersetzt. Es gibt selten jemanden, der den Überblick b­ehält und den Informationstransfer zwischen den verschiedenen Instanzen und Massstabs­ebenen sicherstellt. Das ist aus unserer Sicht einer der wichtigsten Gründe, warum so viele gut gemeinte Ansätze und Leitbilder nie in die Realität umgesetzt werden.


Wer könnte die Aufgabe übernehmen, die Durchlässigkeit im Planungsprozess zu sichern – Stadtplaner und Architekten?
Van Wezemael: An den professionellen Planern hängt gleichzeitig sehr viel und sehr wenig. Innovation fängt immer damit an, dass sich jemand über seine vorgegebene Rolle hinwegsetzt. In diesem Fall hiesse das, dass die Planer sich auch dort für ein übergeordnetes Ziel einsetzen, wo sie – bezogen auf die Planungsebene oder den Zuständigkeitsbereich – streng genommen gar nicht hingehören. Wenn man wirklich etwas erreichen will, muss man sich engagieren und exponieren. Ich glaube, das hat viel mit Bildung, Ausbildung und dem beruflichen Selbstverständnis zu tun. Die Architekten sollten ihr angestammtes Umfeld vermehrt verlassen; und sie sollten sich wieder selbstbewusst «Generalist» nennen, trotz dem Trend zu immer grösseren Teams von Fachplanern. Architekten haben die Kompetenz, zwischen den verschiedensten Ansprüchen zu vermitteln. Sie haben eine soziale Verantwortung; es ist ihre Sache, Fragen zu stellen – und nicht, sie immer gleich selbst zu beantworten. Sie können eine Rolle als Moderator und Mediator mit einer ganz spezifischen Kompetenz einnehmen, die andere nicht haben: nämlich die, räumliche Alternativen aufzuzeigen.

Das sind Leistungen, die für ein gutes Projekt
notwendig sind, die aber in keiner Art und Weise honoriert werden.
Van Wezemael: Das ist ernüchternd, aber ich glaube, aus dieser Feststellung heraus kann man auch Sachen entwickeln. Es muss neue Formen der Zusammenarbeit geben, beispielsweise zwischen Ortsplanern und Architekten. Es braucht eine neue Sensibilität, die noch gar nicht da ist, etwa in Bezug auf die Bauherren. Die sind nicht alle gleich, und es würde sich lohnen, die Blackbox «private Investoren» zu öffnen. Doch diese Differenzierung der Akteure findet in den Gemeinden zurzeit kaum statt. Darum kennen sie ihr Gegenüber oft schlecht. Es gibt schon Handlungsspielräume.

Was sind Ihre wichtigsten Ergebnisse und Ihre Empfehlungen an die Planer?
Van Wezemael: Wir möchten keine Empfehlung nur an die Planer geben – denn unsere Ergeb­nisse zeigen ja gerade auf, dass das ganze Kollektiv an verschiedensten Akteuren unsere Siedlungslandschaft produziert. Die verbreitete Fragmentierung in Agglomerationsräumen ist nun als Ergebnis von Planung und unserer Lebensweise erkannt. Weil man auf Dauer nur mit dem arbeiten kann, was da ist, sollten wir die resultierende Schollenbildung als Eigenheit unserer Siedlungsproduktion anerkennen und daran arbeiten, diese zu verbessern. Zwar sind die Situationen in den verschiedenen Gemeinden derart unterschiedlich, dass es keine Best-Practice-Empfehlung geben kann, wie man die Prozesse am besten gestalten soll. In jedem Prozess gibt es aber sehr ähnliche kritische Punkte, an denen das Verhandeln von urbaner Qualität an einem seidenen Faden hängt. Das ist insbesondere an den Übergängen zwischen den Massstabs- und Bedeutungsebenen der Fall. An diesen Nahtstellen muss man genau hinschauen, den Prozess sauber gestalten, situations- und projektspezifisch Fragen stellen. Man muss den Städtebau oder die Architektur nicht neu erfinden. An sehr guten Architekten fehlt es in der Schweiz nicht. Aber es fehlt an Sensibilität von Planern, Behörden und wirtschaftlichen Akteuren gegenüber diesen heiklen «Übersetzungsstellen» im Prozess. Hier werden ursprünglich wichtige Gedanken trivialisiert und gehen verloren – zum Beispiel, wenn der zu Recht geforderte öffentliche Raum sich am Ende, wenn das Projekt realisiert ist, als Lieferantenzufahrt entpuppt.

TEC21, So., 2014.11.09



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