Übersicht

Texte

22. März 2018Roderick Hönig
Neue Zürcher Zeitung

Vom grossen Bruder zum grossen Baumeister

Der Architekt Theo Hotz ist im Alter von 89 Jahren gestorben. Der Zürcher lernte Hochbauzeichner und wurde Grossarchitekt. Er war aber nie ein Mann des «Hüslis»: Hotz war der schweizerische Stahl- und Glasbaumeister.

Der Architekt Theo Hotz ist im Alter von 89 Jahren gestorben. Der Zürcher lernte Hochbauzeichner und wurde Grossarchitekt. Er war aber nie ein Mann des «Hüslis»: Hotz war der schweizerische Stahl- und Glasbaumeister.

Hinweis: Leider können Sie den vollständigen Artikel nicht in nextroom lesen. Sie haben jedoch die Möglichkeit, diesen im „Neue Zürcher Zeitung“ Archiv abzurufen. Vollständigen Artikel anssehen

18. Januar 2011Roderick Hönig
hochparterre

S AM wieder auf Kurs

Das Architekturmuseum Basel hat die Schulden getilgt. Parallel zur neuen Ausstellung sagt die Direktion, wohin die Reise geht.

Das Architekturmuseum Basel hat die Schulden getilgt. Parallel zur neuen Ausstellung sagt die Direktion, wohin die Reise geht.

Wie geht es dem S AM ein Jahr nach der Krise?
Sandra Luzia Schafroth: Es geht uns gut. Wir sind zwar noch immer in der Konsolidierung und diese wird auch nicht von heute auf morgen abgeschlossen sein. Aber die Schulden sind bereinigt. Unser Jahresbudget wurde bis auf Weiteres auf 680 000 Franken angepasst — gegenüber 1,1 Millionen Franken vor der Krise. Das ist zwar ein kleines Budget, dafür ist es bis Ende 2011 gesichert. Projektbezogen versuchen wir, laufend zusätzliche Einnahmen zu generieren; 2010 gelang uns dies in der Höhe von rund 200 000 Franken.

Heisst «Schulden bereinigt», dass das Museum alle offenen Rechungen, insgesamt rund 800 000 Franken bezahlen konnte? Sandra Luzia Schafroth: Ja, wir haben keine offenen Rechnungen aus Altlasten mehr. Wir konnten mit jedem der rund 200 Gläubiger einzelne Vereinbarungen treffen und wir freuen uns, dass wir mit allen Lieferanten auch in Zukunft weiterarbeiten können. Wir konnten Schritt für Schritt die Schuldlast abtragen. Einige Gläubiger haben sogar auf Teile ihrer Forderungen verzichtet. Dank der finanziellen Unterstützung von Stiftungen, privaten Gönnern, einigen Ingenieur- und Architekturbüros, dem SIA (mit einem zinslosen Darlehen von 100 000 Franken) und dem BSA konnten die Rechnungen beglichen werden. Während und besonders nun, nach der Krise, erfuhren wir eine grosse Solidarität aus der ganzen Schweiz, viele Architektur- und Ingenieurbüros, aber auch Kunst- und Kulturinstitutionen, Firmen und Private haben das S AM unterstützt.

Welche neuen Geldgeber sind dazugekommen?
Hubertus Adam: Seit Sommer 2010 bezahlt der Kanton Basel Stadt jährlich 80 000 Franken ans Budget. Mit dem Bund sind wir noch in Verhandlung. Wir glauben aber fest, dass er Architekturvermittlung mehr fördern sollte, weil Architektur ein wichtiger Faktor für die Aussen-, aber auch Innenwahrnehmung der Schweiz ist.

Wie steht es um die Sponsoren?
Sandra Luzia Schafroth: Neue Sponsoren sind seit der Krise noch nicht dazu gekommen, wir haben aber projektbezogen doch einige gewinnen können und unsere aktuellen Gespräche etwa mit Vertretern der Bauindustrie lassen uns hoffen. Die Unsicherheit, die durch die Krise auf Sponsorenseite entstanden ist, ist verständlich, trotzdem ist niemand abgesprungen. Wir sind überzeugt, dass wir das Vertrauen wieder gewinnen können oder sogar bereits wieder gewonnen haben.

Wie viele Ausstellungen pro Jahr sollen mit dem knappen Budget von 680 000 Franken zu sehen sein?
Hubertus Adam: Drei, eine davon eine Eigenproduktion. Was aber nicht heisst, dass Übernahmen weniger kosten und keine Arbeit bedeuten: Fremde Ausstellungen müssen an unsere Räume und auch ans Schweizer Publikum angepasst werden. Je nach Ausstellung ist der Aufwand grösser oder kleiner.

Francesca Ferguson hat 2009 das Museum verlassen. Wieso ist so viel Zeit vergangen, bis eine neue künstlerische Leitung eingesetzt wurde?
Sandra Luzia Schafroth: Das Museum war unter mir inhaltlich keineswegs führungslos, zudem hat mich der künstlerische Beirat stark unterstützt. Wir konnten nach der Sanierung bereits ab Januar 2010 mit einem neuen Programm beginnen — die «Environments-and-counter-Environments»-Ausstellung war ein voller Erfolg und auch die Gesprächsreihe «expanding museum » war gut besucht. Wir mussten in dieser Zeit aber Prioritäten setzen: Die Konsolidierung war vordringlicher. Erst als wir sahen, wie es weitergehen könnte, als die ersten Budgets fixiert und angepasst waren, die erste neue Ausstellung lief und wir viele Gespräche geführt hatten, haben wir dem Stiftungsrat die aktuelle Lösung einer Co-Leitung von «Artistic Director» und «Managing Director» vorgeschlagen. In unseren Augen ging das so schnell wie möglich.

Wieso wurde die Stelle nicht ausgeschrieben?
Sandra Luzia Schafroth: Bevor das Museum nicht wieder einigermassen auf Kurs ist, ist eine Ausschreibung unrealistisch. Die Konsolidierung wird noch einige Zeit dauern. Hubertus Adam ist als künstlerischer Leiter mindestens bis Ende 2012 tätig, dann soll die Stelle international ausgeschrieben werden. Hubertus Adam: In der aktuellen Konsolidierungsphase sind die Aufgaben des Managing Directors vordringlich. Wir sind zwar auf gutem Weg, aber es gibt noch so viel zu tun in diesem Bereich. Zukünftiges Ziel ist ganz klar eine Co-Leitung, bei der die künstlerische und administrative Direktion hinsichtlich der Stellenprozente paritätisch besetzt sind.

Mehr Schweizbezug

Als künstlerischer Leiter haben Sie nicht nur die Aufgabe, das Museum mit Ausstellungen und Debatten zu bespielen, sondern auch die Institution zu profilieren und zu positionieren. Wohin soll die Reise gehen?
Hubertus Adam: Wir wollen das S im S AM wieder stärken, ohne dass sich das Museum, im Sinne einer Nabelschau, nur um die Schweiz kümmert. Mit «grenzüberschreitenden» Ausstellungen wollen wir versuchen, das Museum gegenüber anderen Disziplinen zu öffnen und die Zusammenarbeit — bei der aktuellen Viebrock-Ausstellung etwa mit dem Theater Basel und der Nationalbibliothek Bern — mit anderen Institutionen zu fördern. Damit wollen wir neben Architektinnen und Architekten ein erweitertes, kulturell und an Gestaltungsfragen interessiertes Publikum ansprechen. Wichtige Rolle werden auch Debatten spielen, das heisst, wir wollen nicht nur Ausstellungen organisieren, sondern den Diskurs direkt mit dem Publikum führen.

Können Sie konkrete Beispiele nennen?
Hubertus Adam: 2011 werden wir die Ausstellung des Brückenbauers Jürg Conzett aus dem Schweizer Pavillon der Architekturbiennale Venedig 2010 übernehmen. Danach zeigen wir voraussichtlich «Architektur, wie sie im Buche steht», eine Ausstellung des Architekturmuseums der TU München, die wir für die Schweiz adaptieren. Ende 2011 wird eine Ausstellung zur Schweizer Architektur im Ausland zu sehen sein. Im Vordergrund steht dabei die Frage, welche Büros mit welchen Strategien im Ausland erfolgreich sind. 2012 organisieren wir dann eine Ausstellung zum Thema «Architektur und Biologie». Darin wollen wir aufzeigen, was biologische Forschung mit der Entwurfsgenese in der Architektur zu hat.

Das S AM nennt sich Museum, funktioniert aber wie eine Kunsthalle. Wie steht es um das Thema Sammeln?
Hubertus Adam: Wir wollen und können aufgrund mangelnder räumlicher und personeller Ressourcen nicht zu Institutionen, die archivieren, inventarisieren und konservieren, in Konkurrenz treten. Es gibt zwar diesen Ast im S AM — das Museum besitzt Nachlässe —, aber uns fehlten bislang die Kapazitäten für die Aufarbeitung. Wenn schon «Forschung und Dokumentation », könnten wir uns vorstellen, das Thema «oral history» zu besetzen. Mit der Dokumentation von Interviews und Befragungen von Architekten liesse sich mit vergleichsweise einfachen Mitteln ein Kompetenzzentrum aufbauen. Sandra Luzia Schafroth: Uns fehlt letztlich auch eine Art Kabinett, in welchem man zeitlich flexibel gute Studioausstellungen zeigen könnte. Unsere vier Ausstellungssäle sind kaum einzeln bespielbar.

Selbst wenn wir einen Vortrag veranstalten, müssen wir auf auswärtige Räume ausweichen. Das ist immer ein zusätzlicher finanzieller und personeller Aufwand.

Wie steht es jetzt um eure Publikationen?
Hubertus Adam: Die Katalogreihe mit dem Christoph Merian Verlag wird bei eigenen Ausstellungen fortgeführt — am 21. Januar erscheint anlässlich der Museumsnacht der Katalog zur Anna-Viebrock-Ausstellung. Zu jeder Ausstellung erscheint überdies eine Zeitung mit Grundinformationen für die Besucher und einem Überblick über die aktuellen Aktivitäten des S AM. Beide Publikationen sind deutsch / englisch und, sofern es das Budget erlaubt, auch französisch.

Wenn Sie das S AM zwischen Architekturinstitut, Museum, Kunsthalle und Forum positionieren müssten, wo käme es zu liegen?
Hubertus Adam: Wir wollen ein Kompetenzzentrum für Architektur sein. Das S AM hat darum Kunsthallencharakter mit Forumsaspekten. Weil aber nicht alle Besucher Architekten sind und viele aus dem Ausland kommen, bieten wir auch ein niederschwelliges Angebot an, etwa Architekturführungen. Trotzdem nennen wir uns Museum— vielleicht sind wir eine neue Art eines Museums. Unsere Exponate stehen auch in Basel, der Region, der Schweiz und darüber hinaus.


Wie definieren Sie ihr Zielpublikum?
Hubertus Adam: Unser Stammpublikum sind Architekten oder Menschen aus architekturnahen Bereichen, aber auch solche, die an Kultur im weitesten Sinne interessiert sind. Sandra Luzia Schafroth: Die Besucher sind national und international. Besonders während der Art Basel, der Swissbau und der Uhren- und Schmuckmesse haben wir Besucher aus aller Welt. Viele Reisegruppen machen auf ihrer Schweiztour gezielt im Museum Halt.

Ihr Stammpublikum ist aber klar schweizerisch. Wie sieht es mit dem Schweizanspruch aus?
Hubertus Adam: Wie gesagt, wir wollen das S im S AM stärken, ohne in einen Provinzialismus zu verfallen. Als Schweizerisches Architekturmuseum sehen wir unsere Aufgabe darin, das hiesige Bau- und Planungsgeschehen zu präsentieren und zu reflektieren. Daneben bedeutet das S auch, dem Schweizer Publikum zu zeigen, was anderswo geschieht und erprobt wird.

Macht es Sinn, dass die Person, die das Museum nun inhaltlich positioniert und entwickelt, nachher ihren Sessel für jemand anderes frei macht?
Hubertus Adam: Ich fülle das Museum programmatisch mit Inhalten, bis wir und der Stiftungsrat genauer wissen, was und wohin das S AM will. Die Strategie, die wir entwickeln, muss aber klar Spielräume beinhalten. Meine Aufgabe ist es, unter den gegebenen Rahmenbedingungen sinnvolle Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen.

Kommentar Gelungener Warmstart

Das S AM ist schuldenfrei. Eineinhalb Jahre nachdem bekannt wurde, dass ein 800 000 Franken schwerer Schuldenberg das Museum zu erdrücken drohte, sind die Verantwortlichen mit den rund 200 Gläubigern ins Reine gekommen. Chapeau! Das ist wohl das schönste Weihnachtsgeschenk, das sich das Architekturmuseum 2010 machen konnte. Und es ist die wichtigste Voraussetzung für den Neustart, den das um Hubertus Adam erweiterte operative Team nun nach der Krise hinlegen muss und will. Der neue künstlerische Leiter ist insofern ein Glücksfall, indem er bereits als Kurator und Beirat einen Fuss im Museum hatte und andererseits ein versierter Kenner der Schweizer, aber auch internationalen Szene ist. Sein Anspruch, das Museum neu entlang der Schnittstellen der Architektur zu anderen Disziplinen zu bewegen, lässt hoffen. Mit solchen «grenzüberschreitenden » Ausstellungen können neue Besucher angesprochen und andere Institutionen zu Zusammenarbeiten motiviert werden. Trotzdem: Offen bleibt, was es genau heisst, «das S im S AM stärken, ohne in irgendeinen Provinzialismus zu verfallen ». Hier muss das Museum noch viele Hausaufgaben erledigen. Wie der Schweizbezug aussieht, wird über Erfolg und Misserfolg entscheiden, denn: Auch wenn das Publikum und auch der Anspruch teilweise international sind, kommt der grosse Teil der Besucher aus der Deutschschweiz, ja aus der Region Basel. Auch wie potenzielle, aus der Schweizer Bauwirtschaft stammende Sponsoren auf die Neupositionierung ansprechen, bleibt abzuwarten. Des- halb: Bevor sich das S AM in der internationalen Architekturlandschaft positioniert, sollte es klar machen, wie seine Rolle in der Schweiz aussehen kann und soll.

[Die Gesprächspartner:
Sandra Luzia Schafroth hat das Museum seit dem Abgang von Francesca Ferguson im August 2009 interimistisch geführt. Sie ist heute Managing Director und hat das S AM massgeblich entschuldet.

Hubertus Adam ist bis 2012 künstlerischer Leiter. Der Kunsthistoriker und Architekturjournalist soll in dieser Zeit die Positionierung und Profilierung des Museums verankern.]

hochparterre, Di., 2011.01.18



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2011-01|02

18. Januar 2011Roderick Hönig
hochparterre

Spiegelkabinett auf chinesisch

Das ‹‹unsichtbare Haus›› nennt der junge Architekt Mitsunori Sano sein Erstlingswerk. Unsichtbar ist nicht ganz korrekt, weggespiegelt wäre richtiger....

Das ‹‹unsichtbare Haus›› nennt der junge Architekt Mitsunori Sano sein Erstlingswerk. Unsichtbar ist nicht ganz korrekt, weggespiegelt wäre richtiger....

Das ‹‹unsichtbare Haus›› nennt der junge Architekt Mitsunori Sano sein Erstlingswerk. Unsichtbar ist nicht ganz korrekt, weggespiegelt wäre richtiger. Die Rede ist vom neuen Atelierhaus des Schweizer Künstlers Not Vital in Peking. Sano arbeitete dreieinhalb Jahre als Assistent für den Bündner Künstler in Sent. Der Japaner arbeitete dort am ‹‹Rauf-Runter-Rauf-Haus›› siehe HP 4 / 09 und konstruierte eine Chromstahl-Brücke für Vitals Park in Sent. Fürs Gesellenstück übertrug Vital dem an der Accademia in Mendrisio ausgebildeten Architekten den Auftrag für ein Atelierhaus im Pekinger Kunstquartier Caochangdi. Vital konnte ein kleines Backsteinhaus in unmittelbarer Nachbarschaft des Ateliers des Künstlers Ai Weiwei und der Galerie des Luzerners Urs Meile im Baurecht erwerben.

Sano orientierte sich bei seinem Entwurf an der lokalen Handwerkstradition und den Materialien: Die Aussenhülle des ehemals zweigeschossigen Hauses liess er stehen, sie besteht aus einem feinen dunkelbraunen Klinkermauerwerk. Sano liess den zehn Meter hohen Bau leer räumen und stellt den Wohnteil als Stahlkonstruktion in die Backsteinhülle hinein. Der Wohntrakt besetzt einen Viertel des 14 auf 25 Meter grossen Grundrisses. Hier stapeln sich eine Wohn-Ess-Küche, ein Wohnraum, drei Schlafzimmer und ein Arbeitszimmer übereinander. Die Haupträume sind gegen einen schmalen Lichthof orientiert, die Nebenräume werden durch kleine Fenster auf der Rückfassade belichtet. Spannend ist, wie Sano das innen liegende ‹‹Wohnhaus›› im luftigen Atelier verschwinden lässt.

Indem er die beiden Innenfassaden vollständig mit riesigen, verchromten Stahlplatten verkleidet, spiegelt sich der Einbau einfach weg. Stundenlang hätten chinesische Arbeiter die langen Schweissfugen der einzelnen Platten wieder glatt gehämmert, noch einmal verchromt und poliert, so Sano. Die Schweissnähte sind zwar nicht ganz verschwunden — sie werden in der Reflektion sichtbar — doch tut das dem faszinierenden Effekt keinen Abbruch. Vital arbeitet und wohnt jeweils vier Monate pro Jahr in Peking, wo er vor allem grössere Chromstahlplastiken besser und günstiger realisieren kann als in Europa. Über den von der Stadt angedrohten Abbruch des Künstlerquartiers, von dem der Bauherr kurz nach Bezug des Ateliers erfuhr, wird zum Glück nicht mehr viel geredet.

hochparterre, Di., 2011.01.18



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2011-01|02

08. November 2010Roderick Hönig
hochparterre

Leuchtende Städte

In den Neunzigerjahren hielt der Plan Lumière Einzug in die Schweiz. Die Aufregung hat sich gelegt. Zeit für eine Zwischenbilanz. Ein Blick nach Zürich, Luzern, Winterthur und Burgdorf.

In den Neunzigerjahren hielt der Plan Lumière Einzug in die Schweiz. Die Aufregung hat sich gelegt. Zeit für eine Zwischenbilanz. Ein Blick nach Zürich, Luzern, Winterthur und Burgdorf.

In den Neunzigerjahren grassierte in der Schweiz erstmals ein unbekanntes Fieber, das Lichtfieber: Zuerst erfasste es die Städte Basel, Zürich und Lausanne, später auch kleinere Orte und Gemeinden wie Frauenfeld oder Gruyère. Allen Infizierten gemeinsam war, dass sie um ihr Bild in der Nacht besorgt waren oder nach einer übergeordneten Handhabe für private Beleuchtungsprojekte suchten. Die meisten schielten damals nach Frankreich oder Deutschland, wo Plans Lumières, Lichtpläne, schon seit geraumer Zeit versuchten, den allgemeinen und unkoordinierten Lichterwildwuchs gesamtstädtisch zu regeln und aktiv zu gestalten.

2010 scheint das Lichtfieber mehr oder weniger geheilt. «Grundsätzlich gibt es zwei Auslöser für einen Plan Lumière: Bei den grösseren Städten geht es ums Standortmarketing. Hier wirkt die nationale und internationale Städtekonkurrenz», erklärt Christian Blum, der beim Büro Feddersen & Klostermann das Dossier Plan Lumière betreut. Zürich, Basel oder auch Winterthur gehören dazu.

Bei kleineren Gemeinden geht es in erster Linie darum, für die immer häufiger werdenden privaten Beleuchtungsprojekte eine allgemeine Bewilligungsgrundlage herzustellen. Die Basis liefert der Plan, das gesamtstädtische Lichtkonzept gibts gratis mit dazu. Als Beispiel dient Burgdorf, das im Rahmen einer Aufwertung der Altstadt auch seine Lichtsituation untersucht hat. In der Folge beauftragte es Feddersen & Klostermann zusammen mit Wiederkehr und Partner, ein kleines Konzept inklusive Pilotprojekt auszuarbeiten. Auch St. Moritz braucht eine planerische Handhabe im Umgang mit öffentlichen und privaten Lichtinstallationen, vor allem in der Weihnachtszeit. Ein wichtiges Ziel des Kurorts ist deshalb, den teilweise bis in den März hinein leuchtenden privaten Rentierschlitten- Blinkstern-und Lichterbaum-Wildwuchs einzudämmen.

Top-down und Bottom-up

Kleine Gemeinden und grosse Städte unterscheiden sich im Vorgehen: Zürich und Basel haben zuerst umfangreiche und detaillierte Lichtpläne fürs ganze Stadtgebiet ausgearbeitet, dann sind sie an die Umsetzung einzelner Projekte gegangen. Nennen wir es das «Top-down»-Modell. Bei kleineren Gemeinden hingegen macht die Unterteilung in Planung und Ausführung wenig Sinn, meint Lichtplaner Blum: «In Burgdorf haben wir zuerst eine kleine Lichtskizze nur für die Oberstadt erstellt und dann am konkreten Fall Kronenplatz eine Diskussion lanciert. Mittels einer Bemusterung haben wir vor Ort Behörden, das Elektrizitätswerk, Hausbesitzer, Nachbarn und Anrainer involviert und informiert.» Dieser pragmatische Weg zeigt direkt und einfach Chancen und Probleme auf. Weitere Projekte werden fortlaufend bei Bau- und Sanierungsarbeiten umgesetzt — Voraussetzung dafür ist, dass in der Verwaltung alle das Anliegen verinnerlicht haben, was durchaus seine Zeit braucht. Eine Bemusterung hat aber noch andere Vorteile: Sie weckt bei Laien Verständnis für die doch eher komplexe Materie.

«Wichtig ist aber bei einem solchen -Verfahren, dass im Anschluss die weiteren Lichtprojekte von den Behörden beharrlich verfolgt und koordiniert werden. Sonst bleibt es beim reinen Aha-Effekt», meint Blum.

In Winterthur ging man einen anderen Weg: Das Konzept «Stadtlicht Winterthur » des deutschen Lichtplaners Uwe Knappschneider setzt die Leitplanken und definiert die Gestaltungsbereiche und -objekte innerhalb des Stadtgebiets. Das Konzept ist aber kein Realisierungsprogramm. In einer ersten Phase wurden offene Wettbewerbe zu vier Pilotprojekten durchgeführt. Bewährt sich das Vorgehen, werden weitere Wettbewerbspakete geschnürt, so Lorenz Schmid, Projektleiter der Stadt Winterthur.

Grosses portemonnaie, ppp und Contracting

Für Lichtpläne gibt es drei Finanzierungsmodelle, die frei miteinander kombiniert werden. Etabliert hat sich vor allem eines: Eine Stadt spricht einen Gesamtkredit für Planung und Ausführung. In Zürich beispielsweise bewilligten Parlament und Regierung in mehreren Schritten rund zehn Millionen Franken. Damit werden bis 2013 rund 35 Projekte realisiert. Basel hat acht Millionen für Konzept und Umsetzung von «B-leuchtet» gesprochen, ebenso viel haben die Luzerner zur Verfügung gestellt. Zürich kombiniert das Gesamtkredit- mit dem Public-Private-Partnership-Modell. Denn, weil der Plan Lumière» in erster Linie Stadträume sichtbar machen will, müssen teilweise auch private Gebäudefassaden angeleuchtet werden. «Die Beteiligung von Privaten ist sehr wichtig. Doch die Partnerschaften laufen zuweilen etwas harzig und sind für uns nicht immer wie gewünscht steuerbar, nicht zuletzt, weil in umfangreichen Verträgen Rechte und Pflichten bis ins Detail festgelegt werden müssen», resümiert Stephan Bleuel, Verantwortlicher des Plan Lumière im Amt für Städtebau. 295 000 Franken haben die Zürcher Behörden für das Konzept und die Beratung, aber auch für Muster und einen Teil der Installation und Projektoren, beispielsweise am Utoquai, ausgegeben. Die Stadt zahlt auch den Strom und stellt den öffentlichen Raum den Privaten kostenlos zur Verfügung. Sechs von sieben Eigentümern haben im Gegenzug zusammen 230 000 Franken für die Beleuchtung von rund 300 Metern Fassadenabwicklung bezahlt.

«Auslöser für unser Engagement war die Kongresshaus-Pleite: Nachdem das tolle Projekt bachab geschickt wurde, wollten wir als halböffentliche Institution ein Zeichen der Solidarität setzen. Überzeugt hat uns zudem die technisch ausgefeilte und energetisch effiziente Lösung, die die Zimmer unserer Gäste im Dunkeln lässt, das Haus aber erleuchtet», sagt dazu Beat Sigg, Direktor des Hotels «Eden au Lac» am Utoquai. Das Projekt zeigt aber auch gut die Grenzen des PPP-Modells: Weil ein Hausbesitzer noch zuwarten wollte, leuchten nur sechs von sieben Häusern. Diese «Zahnlücke» beeinträchtigt das Gesamtkonzept deutlich. Von bis anhin sechs PPP-Projekten wurden in Zürich fünf abgeschlossen. Mit einer Contracting-Lösung, einer Art Leasing inklusive Betrieb und Unterhalt, wird das Beleuchtungskonzept in Luzern realisiert. Der Luzerner Energiedienstleister «ewl» finanziert die gesamte Anlage vor und ist verantwortlich für Betrieb und Unterhalt in den nächsten 25 Jahren. Die Stadt Luzern bezahlt unter dem Strich zwar etwas mehr für diese Lösung, dafür muss sie nicht einmalig tief in die Tasche greifen, sondern kann die Gesamtkosten von rund acht Millionen in jährlichen Raten abzahlen.

Rechtliche Grundlagen

Die Umsetzung jedes Plan Lumière erschwert, dass er eine unverbindliche Empfehlung ist. Regulieren können die Behörden durch die Bewilligungspflicht einer Anlage. Meistens erlaubt der Plan Lumière aber gar keine Lichtinstallationen mehr ausserhalb des von ihm bezeichneten Gebiets. Eingebürgert hat sich der aufwendige Weg des direkten Verhandelns. Das heisst, das Plan-Lumière-Team versucht, Laden- und Hausbesitzer für eine gemeinsame Lösung zu gewinnen. «Viele Hausbesitzer erlauben die Installation von Leuchten an der eigenen Fassade problemlos, geht es aber ums Geld, winken die meisten ab. Beleuchtung ist für sie Aufgabe der Stadt», meint Christian Blum.

Vorreiter Luzern

Einzigartig in der Schweiz ist die Schaufenster- Lösung in Luzern. «Weil die Altstadt Kernelement unseres Konzepts und auch ein wichtiges Wohnquartier ist, basiert unser Plan darauf, dass sie auch einmal schlafen geht», erklärt Mario Rechsteiner, dessen Firma art light die Projektleitung innehatte. Er unterscheidet in Luzern zwischen szenografischem Abend- und funktionalem Nachtprogramm. Wer aber Gassen und Plätze bis 23 Uhr inszenieren und danach wieder ins Fast-Dunkel zurückfallen lassen will, kommt um die Schaufensterbeleuchtung nicht herum. «Bei einigen Uhren- und Bijouterieläden haben wir bis zu 40 000 Lux gemessen. Damit kann man ganze Gassen erhellen», schmunzelt Ueli Habegger, ehemaliger Denkmalpfleger der Stadt. Er hat sich zusammen mit Rechsteiner für eine Reduktion der Intensität der Schaufensterbeleuchtung in der Altstadt stark gemacht. Das Engagement führte zu einer Verordnung, die der Grosse Gemeinderat 2008 verabschiedet hat. Neu dürfen in einem Abstand von 1,5 Metern vom Schaufenster nur noch maximal 80 Lux sowie eine maximale mittlere Beleuchtungsstärke von 110 Candela gemessen werden. Bestehende Schaufenster müssen nicht angepasst werden. Doch weil kommerzielles Licht neu bewilligungspflichtig ist und weil Schaufensterbeleuchtungen soweiso im Schnitt alle sechs bis sieben Jahre erneuert werden, löst sich das Problem von selbst: Nach einer Schaufenster-Generation sind alle an den Plan Lumière angepasst, also dunkler. Der Luzerner Plan Lumière hat im September den internationalen «City People Light Award» 2010 verliehen bekommen.

Energie sparen?

Eines der wichtigen politischen Verkaufsargumente eines Plan Lumière ist, dass er beim Energiesparen hilft. Mit modernen Lampen und Reflektoren könne man das Licht dorthin lenken, wo es gebraucht wird, steht im Konzept Stadtlicht Winterthur. Damit könnten auch Wartungszyklen verlängert, Leuchtenstandorte verringert und die Energieeffizienz erhöht werden, so die Winterthurer. Um 20 Prozent versprach der ehemalige Luzerner Finanzdirektor Franz Müller den Energieverbrauch mit dem Plan zu senken. Auch Genf rechnet vor, dass, wenn man alle veralteten Leuchten im öffentlichen Raum durch effizientere ersetzen würde, man den städtischen Energieverbrauch um 20 Prozent und damit das Globalbudget der Stadt um 16 Prozent senken könnte. Das klingt gut, doch sind diese Zahlen kritisch zu hinterfragen, denn szenografische Beleuchtung macht nur einen Bruchteil der Grundbeleuchtung aus. In Zürich betrug der jährliche Energieverbrauch gesamthaft rund 3,1 Millionen Megawattstunden (MWh), davon entfallen 22 000 MWh auf die öffentliche Beleuchtung.

Reine Plan-Lumière-Beleuchtungen verbrauchten aber rund 70 MWh, also nur 0,03 Prozent des Gesamtverbrauchs. Wer also den Hebel nur bei der szenografischen Beleuchtung ansetzt, kann den Gesamtverbrauch nicht senken. «Doch die Grundbeleuchtung, bei der Sparen einschenken würde, ist eines der letzten Tabus», sagt Christian Blum. Allerdings spürt der Lichtplaner ein Umdenken bei den städtischen Werken und der Polizei. Denn einerseits adaptiert sich das Auge automatisch an die Lichtverhältnisse, wenn das Gesamtniveau gesenkt wird. Andererseits hat die Lichtausbeute neuerer Autoscheinwerfer deutlich zugenommen. St. Gallen will deshalb die Betriebsdauer der Strassenbeleuchtung anpassen. Die Stadt will sie künftig bereits ab 22 statt erst ab 24 Uhr reduzieren.

Grosse Bedeutung für die Energieeinsparung haben Sendeprogramme, also Steuerungen, die bestimmen, wann eine Lampe wie hell leuchtet. Auch in Zürich werden die Strassenlampen künftig zwischen 1 und 5 Uhr in der Helligkeit zurückgenommen. Das sind begrüssenswerte Engagements. Doch solange Verkehrspolizei, städtische Werke und grosse Teile der Bevölkerung die Quantität des Lichts in direkter Relation zur Sicherheit setzen, ist der Hebel zum Energiesparen begrenzt.

Weniger Licht ist oft mehr

Und nun? Der Plan Lumière ist in der Schweiz als Planungsinstrument etabliert. Grosse Unterschiede im gestalterischen Ansatz gibt es nicht: Die Lichtplaner zeichnen in erster Linie Ortsbilder nach, die sich nachts in die Erinnerung brennen sollen. Dazu akzentuieren sie Verkehrsachsen, reagieren auf topografische Eigenheiten und verteilen die einzelnen Lichtprojekte dezentral über den Stadtraum.

Im Ausland finden sich mehr auch künstlerische Ansätze, etwa Lichtpläne, die nur die Stadteingänge markieren, oder solche, die sich am Biorhythmus orientieren. Hierzulande hat sich für die Szenografie warmweisses Licht eingebürgert. Es gibt die Materialien des beleuchteten Objekts am besten wieder. Farbiges Licht gilt als Festlicht, zumindest in der Deutschschweiz. Eine grosse Rolle spielt die technische Entwicklung, allen voran der LED. Doch beim Heilsbringer LED braucht es oft mehr Leuchten, was — wenn man genau rechnet — nicht weniger Energie braucht. Zweitens ist der Austausch eines LED-Moduls in gleicher Qualität noch nicht gewährleistet — was bei einer Fassadenbeleuchtung auffällt.
Allgemein ist auch eine Tendenz zu weniger Licht festzustellen. Grund dafür ist, dass das Grundlicht oft sehr hoch, ja zu hoch ist.

«Bei einzelnen Projekten in Zürich haben wir die geplante Beleuchtung reduziert oder gar weggelassen, obwohl sie Teil des Plan Lumière war», erklärt Stephan Bleuel. «Die Beleuchtungsnormen verlangen eigentlich immer zu viel Licht, doch nicht nur helle Orte definieren eine Stadt, sondern auch dunkle», doppelt Christian Blum nach. Von der «Gnade der Verschattung» spricht der Denkmalpfleger Ueli Habegger und meint damit nicht nur, dass schlechte Architektur nachts nicht inszeniert werden muss, sondern auch, dass weniger oft mehr ist. In diesem Sinne verstehen die Spezialisten auch Weihnachtsbeleuchtungen oder Lichtfestivals. Sie ergänzen die Lichtpläne. Solche Veranstaltungen sensibilisieren und zeigen die Unterschiede zwischen Alltags- und Festbeleuchtung auf. Sie lassen Tests zu, die dann vielleicht wieder im Gesamtkonzept wirksam werden.

hochparterre, Mo., 2010.11.08



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2010-11

20. Oktober 2010Roderick Hönig
hochparterre

Auf den zweiten Blick

Mike Guyer, Jurypräsident der Distinction Romande d’Architecture über die Szene im Welschland: «Die Architektur ist verspielter.»

Mike Guyer, Jurypräsident der Distinction Romande d’Architecture über die Szene im Welschland: «Die Architektur ist verspielter.»

2006 schrieb der Architekturprofessor Martin Steinmann anlässlich der ersten Distinction romande d’architecure (Dra): «L’architecture romande n’existe pas.» Stimmen Sie dem zu? Nein. Die 256 Eingaben zeichnen auf den ersten Blick kein klar erkennbares Bild, aber die Architektur in der Romandie zeigt Merkmale, welche sie von derjenigen in der Deutschschweiz, im Kanton Graubünden oder im Tessin unterscheiden.

Welche? Die Architektur ist weniger ernsthaft, unbeschwerter, verspielter, von einem südländischeren Lebensgefühl geprägt. Man geht unvoreingenommener mit architektonischen Vorbildern und Referenzen um. Ihre Architekten sind bescheidener in den architektonischen Ambitionen und oft entspannt pragmatisch.

Welchen Stellenwert hat Architektur in der Westschweiz im Vergleich zur Deutschschweiz? In der Romandie wird weniger gebaut als in Zürich oder Basel. Demzufolge ist die Auseinandersetzung mit Städtebau und Architektur weniger intensiv, die Architektur in den Tagesmedien weniger präsent. Umso stolzer sind die politischen Vertreter der Gemeinden und Städte auf ihre einmal realisierten öffentlichen Gebäude. Die Architektur in der Romandie wächst langsamer, stiller, bodenständiger, aber in den Inhalten oft verdichteter und in der Tradition abgestützter.

Welche rolle spielt die Architekturhochschule EPFL? Sie ist das fachliche und theoretische Zentrum, an dem sich alle mitunter orientieren. Viele der Protagonisten — auch solche, die jetzt ausgezeichnet wurden — haben in Lausanne studiert und lehren jetzt an der Schule. Der Austausch zwischen der Romandie und der Deutschschweiz ist an der EPFL in Form des Studenten- und Lehreraustausches am fortgeschrittensten. Die EPFL ist durch ihre dynamische Entwicklung — in der Architektur dokumentiert durch das Erasmus-Programm und dem prestigeträchtigen Bau des Learning Center — durchaus mit der ETHZ vergleichbar und hat eine Ausstrahlung, die weit ins Ausland reicht.

Gibt es eine Architekturszene? Ja, die DRA ist der Beweis dafür. Die Szene ist in den ländlichen Gebieten verstreut, verdichtet sich aber in Genf, Lausanne, Neuenburg und Freiburg. Jede Region hat eine Handvoll herausragender Büros, die das lokale Architekturgeschehen prägen.

Gibt es Tendenzen in der Westschweizer Architektur? Die ausgezeichneten Projekte: zwei Schulen, ein Bürogebäude, ein Chalet, ein Stadion, Einfamilienhäuser und ein Umbau zeichnen sich nicht durch ein primär «lautes» Auftreten aus. Ihre Qualitäten sind erst auf den zweiten Blick erkennbar. Das gewählte Entwurfskonzept ist in allen Massstabsebenen mit unterschiedlicher Gewichtung präsent. Es entstehen Vielschichtigkeiten, die bei der Begehung der Gebäude immer wieder zu Überraschungen und neuen Erkenntnissen führen, die in den Plänen und Fotografien der Portfolios nicht erkennbar waren. In der Nutzung und Typologie sind die ausgewählten Gebäude verschieden, ihnen gemeinsam sind aber Lösungen, die eine allgemein gültige Relevanz haben. Es ist eine Tendenz, die geprägt ist durch Inhalt und nicht durch Form.

2006 hat Martin Steinmann geschrieben, dass die Kategorie Wohnungsbau quasi fehlt, weder Gemeinden noch Genossenschaften nähmen ihre Verantwortung wahr. Hat sich das gegenüber 2010 geändert? Leider nein. Wer die Verhältnisse in Zürich und Basel kennt, ist ernüchtert. Das Regelwerk für Wohnungsbau in der Westschweiz, also welche Mieterträge man erwarten kann, was das Land kostet, was das Bauen überhaupt kostet, führt zu so harten Bedingungen, die kaum qualitätvolle Architektur zulassen. Hier braucht es ganz klar ein grösseres Engagement von der Bauherrenseite, sei sie privat oder öffentlich. Der Bedarf nach gutem Wohnraum, in Genf, aber auch in kleineren Städten, ist grösser als nirgendwo, doch gute Architektur braucht geschütztere Räume. Dazu kommt, dass der Mietermarkt sehr konservativ ist und Bauherren deswegen das Risiko von innovativen Grundrissen scheuen.

Was konnten Sie von der mehrtägigen Jury - reise mit in die Deutschschweiz nehmen? Ich habe einen Teil der Schweiz besser kennengelernt, den ich äusserst vielfältig und sehr interessant finde. Wir haben während der Reise Landschaften und Architekturen in einer kontinuierlichen Bewegung wahrgenommen. Die verschiedenen Regionen wurden wie in einem Zeitraffer aneinandergereiht. Die Erinnerungen sind mir wie ein Film erhalten geblieben.

Für die «Distinction» haben sich Verbände und Kantone zusammengetan und sich auf einen Preis konzentriert. In Zürich schreiben Stadt und Kanton je einen eigenen Architekturpreis aus und konkurrenzieren sich gegenseitig. Was hilft der Vermittlung der Architektur mehr? Die DRA ist eines der nachhaltigsten Konzepte für einen Architekturpreis. Alle, die in irgendeiner Weise involviert waren, sei es von Behörden-, Planer- oder Bauherrenseite, sind vom Verfahren und der Auszeichnung überzeugt. Ein wichtiger Pulspunkt ist die Koppelung der DRA an eine Medienbegleitung, die über die Fachkreise hinausgeht. Eine Ausstellung mit allen nominierten Bauten wandert durch die Schweiz und das Ausland. L’Hebdo legt die Begleitpublikation bei und erreicht so über 200 000 Leser, zudem porträtiert die Zeitschrift wöchentlich eine Auswahl Büros beziehungsweise Projekte. Damit wird der Wirkungsgrad der DRA beträchtlich erhöht. Auch öffnen die Besitzer der nominierten Projekte ihre Häuser an bestimmten Daten für die Öffentlichkeit.

hochparterre, Mi., 2010.10.20



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2010-10

01. September 2010Roderick Hönig
hochparterre

Der Roche-Turm zu Basel

Angelus Eisinger: «Es geht nicht nur um die Silhouette, sondern auch darum, ob ein Hochhaus Brücken zur Stadt schlagen kann.»

Angelus Eisinger: «Es geht nicht nur um die Silhouette, sondern auch darum, ob ein Hochhaus Brücken zur Stadt schlagen kann.»

Der Roche-Turm wird durch die geplante Höhe von 175 Metern das Stadtbild neu definieren. trotzdem ist in Basel kaum über das Projekt diskutiert worden. Fand in anderen Städten bei vergleichbaren Hochhaus-Projekten eine Diskussion statt?
Bei der Frage nach der Höhe von Hochhäusern handelt es sich um eine alte Debatte, die immer dann losgetreten worden ist, wenn es um die Konfrontation eines Hochhauses mit einer historisch gewachsenen Silhouette geht. Ich denke an die Diskussion rund um den Tour Montparnasse in Paris, an die bereits in der Zwischenkriegszeit verhandelte Frage des Umgangs mit Hochhäusern rund um die St. Paul’s Cathedral in London oder auch an das Hochhausverbot von Zürich in den Achtzigerjahren. Das waren zunächst Expertendebatten, die mit Stichworten wie Identität oder Bewahrung des Bestehenden emotionalisiert zu breiten Debatten wurden. Das Hochhaus wurde da meist ein Platzhalter für eine allgemeine Verunsicherung über den Gang der Dinge.

Wie verunsichert das Hochhaus den Basler Gang der Dinge?
Anlässlich des Roche-Turms wird eine andere, global bedingte Stadtlogik sichtbar, die Basel prägt. Roche ist Teil des globalen Wirtschaftsnetzwerkes, der Konzern kann sich da nicht einfach lokalen Betrachtungsweisen und Bedürfnissen unterwerfen. Solch globale Logiken artikulieren sich dann in einem hohen Gebäude mit 1900 Arbeitsplätzen. Sie sind auf der globalen Ebene stimmig, geraten aber in Konflikt mit den Orten, an denen sie stehen.

Das heisst, die Globalisierung verleiht dem Hochhaus neuen Schwung?
Ja, wir stecken in einer neuen Phase in der Auseinandersetzung mit dieser Bauaufgabe. Einerseits befinden wir uns immer noch in den Ausläufern des modernen Denkmodells, das das Hochhaus zur planerisch strikt kontrollierten Ausnahme erklärt hat. Es prägt die gesamten Planungsregeln in Europa, insbesondere in der Schweiz. Andererseits ist aber mit der internationalen Standortkonkurrenz eine Renaissance des Hochhauses eingeleitet worden, die ihm neue Aufgaben zuteilt: Sichtbarkeit, Aufmerksamkeit für Unternehmungen auf globaler Ebene, Imagebildung über Architektur.

Kann man also sagen, dass das Hochhaus dem heutigen Planungsreglement Fragen stellt, auf welche dieses keine antworten parat hat?
Auf alle Fälle. Deshalb glaube ich auch, dass man die Frage nach dem Hochhaus viel grundsätzlicher thematisieren sollte. Wir müssen zuerst darüber nachdenken, ob wir das Hochhaus überhaupt wollen. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass es elementare Beiträge zur Stadtentwicklung leisten kann. Aber wenn wir mit dem bisherigen Planungsreglement weiterfahren, also einem engen Korsett, das dem Hochhaus keine Mehrausnützung ermöglicht, das es einzig als städtebaulichen Akzent versteht oder zur Schaffung von Freiflächen zwingt, werden wir uns nicht mehr lange mit ihm auseinandersetzen müssen.

Wieso?
Weil, sobald alle Industriebrachen mit ihren Mehrausnutzungen überbaut sind, es nur noch dort planungsrechtlichen Spielraum geben wird, wo noch Ausnützungsdifferenzen zwischen dem Gebauten und dem faktisch Möglichen liegen. Diese Differenzen sind aber in den wenigsten Fällen ausreichend, um ein Hochhaus ökonomisch attraktiv zu machen. Wenn man sagt, dass dem Hochhaus eine neue und wichtige Rolle zukommen soll, müssen auch die Spielregeln verändert werden.

Wie könnten solche veränderte Spielregeln aussehen?
Im Auftrag des Amtes für Städtebau Zürich habe ich mir verschiedene Planungsreglemente zu Hochhäusern in europäischen und nordamerikanischen Städten angeschaut. Ich habe festgestellt, dass gerade die Europäer dem Hochhaus gegenüber skeptisch eingestellt sind, aber dass in Städten wie Frankfurt oder Innsbruck, die bereits seit Längerem mit dem Hochhaus konfrontiert sind, ein äusserst produktiver Umgang mit dem Thema herrscht. Es geht hier nämlich um die Stichworte Weiterbauen und Bewirtschaften des Bestandes.

Welche Stadt geht am weitesten?
Innsbruck mit seinem Konzept «Urbanissima»: Die Stadt spricht sich für Hochhäuser aus, aber zu Bedingungen, welche die Stadt stellt. Innsbrucker Hochhäuser müssen eine gemischte Nutzung haben, müssen topografische Bedingungen oder Sichtachsen einhalten, geniessen dafür einen Bonus an Mehrausnützung. Erst mit diesem Instrument wird das Hochhaus für den Investor wie auch die Stadt interessant. Ironischerweise gibt es im Konzept einen Passus, der besagt, dass das Hochhaus nicht gebaut werden kann, wenn jemand innerhalb eines 300-Meter-Radiusses Einsprache erhebt. Das zeigt die tief sitzende Ambivalenz im Umgang mit dem Hochhaus.

Was bringt die private Landmarke Roche-Turm der Stadt?
Zwei Dinge: Auf der einen Seite kann er Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit für Basel weltweit generieren. Auf der anderen Seite festigt und intensiviert der Turm wohl die Betriebsabläufe von Roche in Basel. Darüber hinaus sehe ich allerdings keinen unmittelbaren Mehrwert für Basel. Der Mehrwert für eine Stadt ist aber nicht zwingend eine Frage des Hochhauses, denn auch der Novartis-Campus geht wenig Beziehung mit der Stadt ein, obwohl er ein städtebaulich und ästhetisch perfekt inszeniertes Stück Stadt ist.
Bei der Projektpräsentation war von «städtebaulicher Eingliederung» die rede. Kann sich ein 175 Meter hohes Gebäude überhaupt städtebaulich eingliedern? Wieso denn nicht? Wenn wir an die wirklich hohen Gebäude, wie beispielsweise den Eiffelturm denken, merken wir, dass sich unsere Wahrnehmung mit der Zeit komplett verändert hat. Er ist aus der Pariser Stadtsilhouette nicht mehr wegzudenken. Städtebauliche Eingliederung ist eines, architektonische Präsenz das andere. Denn je nach Positionierung, Gestaltung und Ausformulierung des Volumens kann ein Projekt aus unterschiedlichen Perspektiven ganz anders wirken. Eine Höhenquote auf der anderen Seite kann bestimmte Exzesse verhindern, ob dann aber das Hochhaus stadtverträglich ist, ist eine andere Frage. «Städtebauliche Eingliederung» muss viel breiter gefasst werden: Es geht nicht nur um die Silhouette, sondern auch darum, ob ein Hochhaus funktional Brücken zur Stadt schlagen kann.


[Angelus Eisinger: Der Städtebau- und Planungshistoriker ist Professor für Geschichte und Kultur der Metropole an der HCU in Hamburg und Dekan des Studiengangs Kultur der Metropole. Im Auftrag des Amtes für Städtebau der Stadt Zürich hat er Hochhaus-Planungsreglemente in Europa und Nordamerika untersucht.]

hochparterre, Mi., 2010.09.01



verknüpfte Bauwerke
Roche-Turm, Hauptsitz



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2010-09

15. April 2010Roderick Hönig
hochparterre

Erstling auf den zweiten Blick

Das Schulhaus gibt drei kluge Antworten auf die zentralen Fragen des Wettbewerbs. Zuerst der Ort. Indem die Architekten ihren Kubus an eine der Quartierstrasse...

Das Schulhaus gibt drei kluge Antworten auf die zentralen Fragen des Wettbewerbs. Zuerst der Ort. Indem die Architekten ihren Kubus an eine der Quartierstrasse...

Das Schulhaus gibt drei kluge Antworten auf die zentralen Fragen des Wettbewerbs. Zuerst der Ort. Indem die Architekten ihren Kubus an eine der Quartierstrasse folgenden Geländekante setzen, gehen sie geschickt auf die schwierige Topografie des Baugrundes ein. So entsteht ein kleiner Vorplatz zur Strasse hin, die Würfelform sorgt zusätzlich für einen eigenständigen Auftritt. Zweitens der Grundriss. Die Architekten platzieren den Mehrzwecksaal und die Technikräume ins halb im Hang liegende Sockelgeschoss und machen ihn über eine Aussentreppe autonom zugänglich. Sie spielen so das Strassen- und Obergeschoss für reine Schulnutzungen frei. Der Clou ist, dass die zentral angeordneten Gruppenräume zwar keinen Fassadenanschluss haben, aber trotzdem Tageslicht geniessen. Die Erfindung liegt im Schnitt: Zwei kreisrunde Oberlichter über den unteren bringen auch von der Seite her Licht in die oberen Gruppenräume. Drittens die Fassade. Die Verkleidung der Holz-Elementfassade ist einfach, aber effektvoll. Wein - rot gestrichene, stehende Tannenholz-Latten sind jeweils einmal leicht nach innen und einmal leicht nach aussen geknickt. Die abwechselnde Anordnung ergibt in der Serie einen faszinierend flirrenden Holzteppich, der den Kubus rundherum einhüllt. Die abgerundeten Ecken verleihen zusätzlichen Schwung und Eleganz.

Das Schulhaus Büttenen zeigt, dass gute Architektur nicht spektakulär sein muss und dass sie durch den klassischen offenen Wettbewerb entsteht, in diesem Fall sogar durch einen Gesamtleistungswettbewerb. Der Bau zeigt aber auch, dass Baukunst sich sehr wohl in eine mengen Kostenrahmen bewegen und dabei auch die Ansprüche der Nachhaltigkeit erfüllen kann: Mit Baukosten von 491 Franken pro Kubikmeter (BKP 2) ist das Schulhaus satte 303 Franken pro Kubikmeter günstiger als Christian Kerez’ bereits weltberühmte Schule in Leutschenbach siehe HP 10 / 09. Einziger Wermutstropfen: Räumlich hält das Haus nicht ganz, was der Grundriss und der Schnitt verspricht. Die geschickte Grundrissorganisation geht teilweise zulasten der Raumqualitäten.

Die Gänge und Arbeitsnischen rund um die Klassenzimmer sind überall ein bisschen knapp bemessen. Dem Foyer beispielsweise würde man mehr Atem wünschen, auch trägt die Zweigeschossigkeit der Gruppenräume weniger zur Raumqualität bei, als man erwarten würde.

hochparterre, Do., 2010.04.15



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2010-04

16. November 2009Roderick Hönig
hochparterre

Zuerst die Landschaft, dann die Architektur

Beim Bürohaus Futuro ist alles umgekehrt: Die 9100 Quadratmeter Nutzfläche liegt unter der Erde, der Garten auf dem Dach. Damit markieren die Architekten...

Beim Bürohaus Futuro ist alles umgekehrt: Die 9100 Quadratmeter Nutzfläche liegt unter der Erde, der Garten auf dem Dach. Damit markieren die Architekten...

Beim Bürohaus Futuro ist alles umgekehrt: Die 9100 Quadratmeter Nutzfläche liegt unter der Erde, der Garten auf dem Dach. Damit markieren die Architekten den Anfangspunkt der Kulturlandschaft des Waldenburgertals nicht, wie man erwarten würde, mit einem kantigen Volumen. Sie verwandeln die ehemalige Kuhweide in eine Art Klostergarten auf einer monumentalen, gegen Liestal ansteigenden Rampe. Erschlossen werden die Büroflächen übers Dach, in dessen Vegetationsmosaik ein Wegraster und Sitzplätze eingelassen sind. Der Aushub wurde aufs Dach geschüttet und grossflächig mit Stauden bepflanzt, die je nach Jahreszeit eine andere Farbe in den Vordergrund treten lassen.

Vier doppelgeschossige grüne Glaskuben mit den Eingängen und ein betonierter «Kopfbau» wachsen aus dem Dach heraus und geben den vorbeiflitzenden Pendlern einen Hinweis darauf, dass unter der Grünfläche auch noch ein Gebäude liegt. Alle Büros sind nach innen orientiert und reihen sich um insgesamt zehn grosse, im vorderen Teil zwei-, im hinteren Teil eingeschossige Lichthöfe. Diese sind karge klösterliche Orte der Ruhe, in denen aus langen Pflanzkisten mehrstämmige Grosssträucher wachsen. Die verglasten Hoffassaden sind gerade so hoch, dass man die umliegenden Hügelsilhouetten noch sieht. Überraschend ist, wie hell und offen die Büroräume sind und wie wenig man die entlang dem Gebäude verlaufende Überlandstrasse und die Waldenburgerbahn hört.

Diese städtebauliche Idee zeigt jedoch Schwachstellen auf der architektonischen Ebene — insbesondere bei den Abgängen zu den Büros. Der inszenierte spannende Zugang übers Dach weckt Erwartungen: Man fragt sich, wie es in den Glaskuben wohl nach unten geht. Doch wenn man die monumentalen Kästen betritt, passiert nichts. Man kommt in eine kühle Glashaube über einem schmucklosen Betontreppenhaus, aus dem ein kantiger Liftturm wächst. Das war ursprünglich nicht so geplant: Die Glastürme hätten bis in die Tiefgarage hinabreichen und Tageslicht ins Parkgeschoss bringen sollen, und sie sollten die Orientierung in den Untergeschossen erleichtern. Nun sind aus den emblemhaften Lichtkaminen blosse architektonische Zeichen ohne lichtleitende Funktion geworden.

hochparterre, Mo., 2009.11.16



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2009-11

Alle 66 Texte ansehen

Publikationen

Presseschau 12

22. März 2018Roderick Hönig
Neue Zürcher Zeitung

Vom grossen Bruder zum grossen Baumeister

Der Architekt Theo Hotz ist im Alter von 89 Jahren gestorben. Der Zürcher lernte Hochbauzeichner und wurde Grossarchitekt. Er war aber nie ein Mann des «Hüslis»: Hotz war der schweizerische Stahl- und Glasbaumeister.

Der Architekt Theo Hotz ist im Alter von 89 Jahren gestorben. Der Zürcher lernte Hochbauzeichner und wurde Grossarchitekt. Er war aber nie ein Mann des «Hüslis»: Hotz war der schweizerische Stahl- und Glasbaumeister.

Hinweis: Leider können Sie den vollständigen Artikel nicht in nextroom lesen. Sie haben jedoch die Möglichkeit, diesen im „Neue Zürcher Zeitung“ Archiv abzurufen. Vollständigen Artikel anssehen

18. Januar 2011Roderick Hönig
hochparterre

S AM wieder auf Kurs

Das Architekturmuseum Basel hat die Schulden getilgt. Parallel zur neuen Ausstellung sagt die Direktion, wohin die Reise geht.

Das Architekturmuseum Basel hat die Schulden getilgt. Parallel zur neuen Ausstellung sagt die Direktion, wohin die Reise geht.

Wie geht es dem S AM ein Jahr nach der Krise?
Sandra Luzia Schafroth: Es geht uns gut. Wir sind zwar noch immer in der Konsolidierung und diese wird auch nicht von heute auf morgen abgeschlossen sein. Aber die Schulden sind bereinigt. Unser Jahresbudget wurde bis auf Weiteres auf 680 000 Franken angepasst — gegenüber 1,1 Millionen Franken vor der Krise. Das ist zwar ein kleines Budget, dafür ist es bis Ende 2011 gesichert. Projektbezogen versuchen wir, laufend zusätzliche Einnahmen zu generieren; 2010 gelang uns dies in der Höhe von rund 200 000 Franken.

Heisst «Schulden bereinigt», dass das Museum alle offenen Rechungen, insgesamt rund 800 000 Franken bezahlen konnte? Sandra Luzia Schafroth: Ja, wir haben keine offenen Rechnungen aus Altlasten mehr. Wir konnten mit jedem der rund 200 Gläubiger einzelne Vereinbarungen treffen und wir freuen uns, dass wir mit allen Lieferanten auch in Zukunft weiterarbeiten können. Wir konnten Schritt für Schritt die Schuldlast abtragen. Einige Gläubiger haben sogar auf Teile ihrer Forderungen verzichtet. Dank der finanziellen Unterstützung von Stiftungen, privaten Gönnern, einigen Ingenieur- und Architekturbüros, dem SIA (mit einem zinslosen Darlehen von 100 000 Franken) und dem BSA konnten die Rechnungen beglichen werden. Während und besonders nun, nach der Krise, erfuhren wir eine grosse Solidarität aus der ganzen Schweiz, viele Architektur- und Ingenieurbüros, aber auch Kunst- und Kulturinstitutionen, Firmen und Private haben das S AM unterstützt.

Welche neuen Geldgeber sind dazugekommen?
Hubertus Adam: Seit Sommer 2010 bezahlt der Kanton Basel Stadt jährlich 80 000 Franken ans Budget. Mit dem Bund sind wir noch in Verhandlung. Wir glauben aber fest, dass er Architekturvermittlung mehr fördern sollte, weil Architektur ein wichtiger Faktor für die Aussen-, aber auch Innenwahrnehmung der Schweiz ist.

Wie steht es um die Sponsoren?
Sandra Luzia Schafroth: Neue Sponsoren sind seit der Krise noch nicht dazu gekommen, wir haben aber projektbezogen doch einige gewinnen können und unsere aktuellen Gespräche etwa mit Vertretern der Bauindustrie lassen uns hoffen. Die Unsicherheit, die durch die Krise auf Sponsorenseite entstanden ist, ist verständlich, trotzdem ist niemand abgesprungen. Wir sind überzeugt, dass wir das Vertrauen wieder gewinnen können oder sogar bereits wieder gewonnen haben.

Wie viele Ausstellungen pro Jahr sollen mit dem knappen Budget von 680 000 Franken zu sehen sein?
Hubertus Adam: Drei, eine davon eine Eigenproduktion. Was aber nicht heisst, dass Übernahmen weniger kosten und keine Arbeit bedeuten: Fremde Ausstellungen müssen an unsere Räume und auch ans Schweizer Publikum angepasst werden. Je nach Ausstellung ist der Aufwand grösser oder kleiner.

Francesca Ferguson hat 2009 das Museum verlassen. Wieso ist so viel Zeit vergangen, bis eine neue künstlerische Leitung eingesetzt wurde?
Sandra Luzia Schafroth: Das Museum war unter mir inhaltlich keineswegs führungslos, zudem hat mich der künstlerische Beirat stark unterstützt. Wir konnten nach der Sanierung bereits ab Januar 2010 mit einem neuen Programm beginnen — die «Environments-and-counter-Environments»-Ausstellung war ein voller Erfolg und auch die Gesprächsreihe «expanding museum » war gut besucht. Wir mussten in dieser Zeit aber Prioritäten setzen: Die Konsolidierung war vordringlicher. Erst als wir sahen, wie es weitergehen könnte, als die ersten Budgets fixiert und angepasst waren, die erste neue Ausstellung lief und wir viele Gespräche geführt hatten, haben wir dem Stiftungsrat die aktuelle Lösung einer Co-Leitung von «Artistic Director» und «Managing Director» vorgeschlagen. In unseren Augen ging das so schnell wie möglich.

Wieso wurde die Stelle nicht ausgeschrieben?
Sandra Luzia Schafroth: Bevor das Museum nicht wieder einigermassen auf Kurs ist, ist eine Ausschreibung unrealistisch. Die Konsolidierung wird noch einige Zeit dauern. Hubertus Adam ist als künstlerischer Leiter mindestens bis Ende 2012 tätig, dann soll die Stelle international ausgeschrieben werden. Hubertus Adam: In der aktuellen Konsolidierungsphase sind die Aufgaben des Managing Directors vordringlich. Wir sind zwar auf gutem Weg, aber es gibt noch so viel zu tun in diesem Bereich. Zukünftiges Ziel ist ganz klar eine Co-Leitung, bei der die künstlerische und administrative Direktion hinsichtlich der Stellenprozente paritätisch besetzt sind.

Mehr Schweizbezug

Als künstlerischer Leiter haben Sie nicht nur die Aufgabe, das Museum mit Ausstellungen und Debatten zu bespielen, sondern auch die Institution zu profilieren und zu positionieren. Wohin soll die Reise gehen?
Hubertus Adam: Wir wollen das S im S AM wieder stärken, ohne dass sich das Museum, im Sinne einer Nabelschau, nur um die Schweiz kümmert. Mit «grenzüberschreitenden» Ausstellungen wollen wir versuchen, das Museum gegenüber anderen Disziplinen zu öffnen und die Zusammenarbeit — bei der aktuellen Viebrock-Ausstellung etwa mit dem Theater Basel und der Nationalbibliothek Bern — mit anderen Institutionen zu fördern. Damit wollen wir neben Architektinnen und Architekten ein erweitertes, kulturell und an Gestaltungsfragen interessiertes Publikum ansprechen. Wichtige Rolle werden auch Debatten spielen, das heisst, wir wollen nicht nur Ausstellungen organisieren, sondern den Diskurs direkt mit dem Publikum führen.

Können Sie konkrete Beispiele nennen?
Hubertus Adam: 2011 werden wir die Ausstellung des Brückenbauers Jürg Conzett aus dem Schweizer Pavillon der Architekturbiennale Venedig 2010 übernehmen. Danach zeigen wir voraussichtlich «Architektur, wie sie im Buche steht», eine Ausstellung des Architekturmuseums der TU München, die wir für die Schweiz adaptieren. Ende 2011 wird eine Ausstellung zur Schweizer Architektur im Ausland zu sehen sein. Im Vordergrund steht dabei die Frage, welche Büros mit welchen Strategien im Ausland erfolgreich sind. 2012 organisieren wir dann eine Ausstellung zum Thema «Architektur und Biologie». Darin wollen wir aufzeigen, was biologische Forschung mit der Entwurfsgenese in der Architektur zu hat.

Das S AM nennt sich Museum, funktioniert aber wie eine Kunsthalle. Wie steht es um das Thema Sammeln?
Hubertus Adam: Wir wollen und können aufgrund mangelnder räumlicher und personeller Ressourcen nicht zu Institutionen, die archivieren, inventarisieren und konservieren, in Konkurrenz treten. Es gibt zwar diesen Ast im S AM — das Museum besitzt Nachlässe —, aber uns fehlten bislang die Kapazitäten für die Aufarbeitung. Wenn schon «Forschung und Dokumentation », könnten wir uns vorstellen, das Thema «oral history» zu besetzen. Mit der Dokumentation von Interviews und Befragungen von Architekten liesse sich mit vergleichsweise einfachen Mitteln ein Kompetenzzentrum aufbauen. Sandra Luzia Schafroth: Uns fehlt letztlich auch eine Art Kabinett, in welchem man zeitlich flexibel gute Studioausstellungen zeigen könnte. Unsere vier Ausstellungssäle sind kaum einzeln bespielbar.

Selbst wenn wir einen Vortrag veranstalten, müssen wir auf auswärtige Räume ausweichen. Das ist immer ein zusätzlicher finanzieller und personeller Aufwand.

Wie steht es jetzt um eure Publikationen?
Hubertus Adam: Die Katalogreihe mit dem Christoph Merian Verlag wird bei eigenen Ausstellungen fortgeführt — am 21. Januar erscheint anlässlich der Museumsnacht der Katalog zur Anna-Viebrock-Ausstellung. Zu jeder Ausstellung erscheint überdies eine Zeitung mit Grundinformationen für die Besucher und einem Überblick über die aktuellen Aktivitäten des S AM. Beide Publikationen sind deutsch / englisch und, sofern es das Budget erlaubt, auch französisch.

Wenn Sie das S AM zwischen Architekturinstitut, Museum, Kunsthalle und Forum positionieren müssten, wo käme es zu liegen?
Hubertus Adam: Wir wollen ein Kompetenzzentrum für Architektur sein. Das S AM hat darum Kunsthallencharakter mit Forumsaspekten. Weil aber nicht alle Besucher Architekten sind und viele aus dem Ausland kommen, bieten wir auch ein niederschwelliges Angebot an, etwa Architekturführungen. Trotzdem nennen wir uns Museum— vielleicht sind wir eine neue Art eines Museums. Unsere Exponate stehen auch in Basel, der Region, der Schweiz und darüber hinaus.


Wie definieren Sie ihr Zielpublikum?
Hubertus Adam: Unser Stammpublikum sind Architekten oder Menschen aus architekturnahen Bereichen, aber auch solche, die an Kultur im weitesten Sinne interessiert sind. Sandra Luzia Schafroth: Die Besucher sind national und international. Besonders während der Art Basel, der Swissbau und der Uhren- und Schmuckmesse haben wir Besucher aus aller Welt. Viele Reisegruppen machen auf ihrer Schweiztour gezielt im Museum Halt.

Ihr Stammpublikum ist aber klar schweizerisch. Wie sieht es mit dem Schweizanspruch aus?
Hubertus Adam: Wie gesagt, wir wollen das S im S AM stärken, ohne in einen Provinzialismus zu verfallen. Als Schweizerisches Architekturmuseum sehen wir unsere Aufgabe darin, das hiesige Bau- und Planungsgeschehen zu präsentieren und zu reflektieren. Daneben bedeutet das S auch, dem Schweizer Publikum zu zeigen, was anderswo geschieht und erprobt wird.

Macht es Sinn, dass die Person, die das Museum nun inhaltlich positioniert und entwickelt, nachher ihren Sessel für jemand anderes frei macht?
Hubertus Adam: Ich fülle das Museum programmatisch mit Inhalten, bis wir und der Stiftungsrat genauer wissen, was und wohin das S AM will. Die Strategie, die wir entwickeln, muss aber klar Spielräume beinhalten. Meine Aufgabe ist es, unter den gegebenen Rahmenbedingungen sinnvolle Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen.

Kommentar Gelungener Warmstart

Das S AM ist schuldenfrei. Eineinhalb Jahre nachdem bekannt wurde, dass ein 800 000 Franken schwerer Schuldenberg das Museum zu erdrücken drohte, sind die Verantwortlichen mit den rund 200 Gläubigern ins Reine gekommen. Chapeau! Das ist wohl das schönste Weihnachtsgeschenk, das sich das Architekturmuseum 2010 machen konnte. Und es ist die wichtigste Voraussetzung für den Neustart, den das um Hubertus Adam erweiterte operative Team nun nach der Krise hinlegen muss und will. Der neue künstlerische Leiter ist insofern ein Glücksfall, indem er bereits als Kurator und Beirat einen Fuss im Museum hatte und andererseits ein versierter Kenner der Schweizer, aber auch internationalen Szene ist. Sein Anspruch, das Museum neu entlang der Schnittstellen der Architektur zu anderen Disziplinen zu bewegen, lässt hoffen. Mit solchen «grenzüberschreitenden » Ausstellungen können neue Besucher angesprochen und andere Institutionen zu Zusammenarbeiten motiviert werden. Trotzdem: Offen bleibt, was es genau heisst, «das S im S AM stärken, ohne in irgendeinen Provinzialismus zu verfallen ». Hier muss das Museum noch viele Hausaufgaben erledigen. Wie der Schweizbezug aussieht, wird über Erfolg und Misserfolg entscheiden, denn: Auch wenn das Publikum und auch der Anspruch teilweise international sind, kommt der grosse Teil der Besucher aus der Deutschschweiz, ja aus der Region Basel. Auch wie potenzielle, aus der Schweizer Bauwirtschaft stammende Sponsoren auf die Neupositionierung ansprechen, bleibt abzuwarten. Des- halb: Bevor sich das S AM in der internationalen Architekturlandschaft positioniert, sollte es klar machen, wie seine Rolle in der Schweiz aussehen kann und soll.

[Die Gesprächspartner:
Sandra Luzia Schafroth hat das Museum seit dem Abgang von Francesca Ferguson im August 2009 interimistisch geführt. Sie ist heute Managing Director und hat das S AM massgeblich entschuldet.

Hubertus Adam ist bis 2012 künstlerischer Leiter. Der Kunsthistoriker und Architekturjournalist soll in dieser Zeit die Positionierung und Profilierung des Museums verankern.]

hochparterre, Di., 2011.01.18



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2011-01|02

18. Januar 2011Roderick Hönig
hochparterre

Spiegelkabinett auf chinesisch

Das ‹‹unsichtbare Haus›› nennt der junge Architekt Mitsunori Sano sein Erstlingswerk. Unsichtbar ist nicht ganz korrekt, weggespiegelt wäre richtiger....

Das ‹‹unsichtbare Haus›› nennt der junge Architekt Mitsunori Sano sein Erstlingswerk. Unsichtbar ist nicht ganz korrekt, weggespiegelt wäre richtiger....

Das ‹‹unsichtbare Haus›› nennt der junge Architekt Mitsunori Sano sein Erstlingswerk. Unsichtbar ist nicht ganz korrekt, weggespiegelt wäre richtiger. Die Rede ist vom neuen Atelierhaus des Schweizer Künstlers Not Vital in Peking. Sano arbeitete dreieinhalb Jahre als Assistent für den Bündner Künstler in Sent. Der Japaner arbeitete dort am ‹‹Rauf-Runter-Rauf-Haus›› siehe HP 4 / 09 und konstruierte eine Chromstahl-Brücke für Vitals Park in Sent. Fürs Gesellenstück übertrug Vital dem an der Accademia in Mendrisio ausgebildeten Architekten den Auftrag für ein Atelierhaus im Pekinger Kunstquartier Caochangdi. Vital konnte ein kleines Backsteinhaus in unmittelbarer Nachbarschaft des Ateliers des Künstlers Ai Weiwei und der Galerie des Luzerners Urs Meile im Baurecht erwerben.

Sano orientierte sich bei seinem Entwurf an der lokalen Handwerkstradition und den Materialien: Die Aussenhülle des ehemals zweigeschossigen Hauses liess er stehen, sie besteht aus einem feinen dunkelbraunen Klinkermauerwerk. Sano liess den zehn Meter hohen Bau leer räumen und stellt den Wohnteil als Stahlkonstruktion in die Backsteinhülle hinein. Der Wohntrakt besetzt einen Viertel des 14 auf 25 Meter grossen Grundrisses. Hier stapeln sich eine Wohn-Ess-Küche, ein Wohnraum, drei Schlafzimmer und ein Arbeitszimmer übereinander. Die Haupträume sind gegen einen schmalen Lichthof orientiert, die Nebenräume werden durch kleine Fenster auf der Rückfassade belichtet. Spannend ist, wie Sano das innen liegende ‹‹Wohnhaus›› im luftigen Atelier verschwinden lässt.

Indem er die beiden Innenfassaden vollständig mit riesigen, verchromten Stahlplatten verkleidet, spiegelt sich der Einbau einfach weg. Stundenlang hätten chinesische Arbeiter die langen Schweissfugen der einzelnen Platten wieder glatt gehämmert, noch einmal verchromt und poliert, so Sano. Die Schweissnähte sind zwar nicht ganz verschwunden — sie werden in der Reflektion sichtbar — doch tut das dem faszinierenden Effekt keinen Abbruch. Vital arbeitet und wohnt jeweils vier Monate pro Jahr in Peking, wo er vor allem grössere Chromstahlplastiken besser und günstiger realisieren kann als in Europa. Über den von der Stadt angedrohten Abbruch des Künstlerquartiers, von dem der Bauherr kurz nach Bezug des Ateliers erfuhr, wird zum Glück nicht mehr viel geredet.

hochparterre, Di., 2011.01.18



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2011-01|02

08. November 2010Roderick Hönig
hochparterre

Leuchtende Städte

In den Neunzigerjahren hielt der Plan Lumière Einzug in die Schweiz. Die Aufregung hat sich gelegt. Zeit für eine Zwischenbilanz. Ein Blick nach Zürich, Luzern, Winterthur und Burgdorf.

In den Neunzigerjahren hielt der Plan Lumière Einzug in die Schweiz. Die Aufregung hat sich gelegt. Zeit für eine Zwischenbilanz. Ein Blick nach Zürich, Luzern, Winterthur und Burgdorf.

In den Neunzigerjahren grassierte in der Schweiz erstmals ein unbekanntes Fieber, das Lichtfieber: Zuerst erfasste es die Städte Basel, Zürich und Lausanne, später auch kleinere Orte und Gemeinden wie Frauenfeld oder Gruyère. Allen Infizierten gemeinsam war, dass sie um ihr Bild in der Nacht besorgt waren oder nach einer übergeordneten Handhabe für private Beleuchtungsprojekte suchten. Die meisten schielten damals nach Frankreich oder Deutschland, wo Plans Lumières, Lichtpläne, schon seit geraumer Zeit versuchten, den allgemeinen und unkoordinierten Lichterwildwuchs gesamtstädtisch zu regeln und aktiv zu gestalten.

2010 scheint das Lichtfieber mehr oder weniger geheilt. «Grundsätzlich gibt es zwei Auslöser für einen Plan Lumière: Bei den grösseren Städten geht es ums Standortmarketing. Hier wirkt die nationale und internationale Städtekonkurrenz», erklärt Christian Blum, der beim Büro Feddersen & Klostermann das Dossier Plan Lumière betreut. Zürich, Basel oder auch Winterthur gehören dazu.

Bei kleineren Gemeinden geht es in erster Linie darum, für die immer häufiger werdenden privaten Beleuchtungsprojekte eine allgemeine Bewilligungsgrundlage herzustellen. Die Basis liefert der Plan, das gesamtstädtische Lichtkonzept gibts gratis mit dazu. Als Beispiel dient Burgdorf, das im Rahmen einer Aufwertung der Altstadt auch seine Lichtsituation untersucht hat. In der Folge beauftragte es Feddersen & Klostermann zusammen mit Wiederkehr und Partner, ein kleines Konzept inklusive Pilotprojekt auszuarbeiten. Auch St. Moritz braucht eine planerische Handhabe im Umgang mit öffentlichen und privaten Lichtinstallationen, vor allem in der Weihnachtszeit. Ein wichtiges Ziel des Kurorts ist deshalb, den teilweise bis in den März hinein leuchtenden privaten Rentierschlitten- Blinkstern-und Lichterbaum-Wildwuchs einzudämmen.

Top-down und Bottom-up

Kleine Gemeinden und grosse Städte unterscheiden sich im Vorgehen: Zürich und Basel haben zuerst umfangreiche und detaillierte Lichtpläne fürs ganze Stadtgebiet ausgearbeitet, dann sind sie an die Umsetzung einzelner Projekte gegangen. Nennen wir es das «Top-down»-Modell. Bei kleineren Gemeinden hingegen macht die Unterteilung in Planung und Ausführung wenig Sinn, meint Lichtplaner Blum: «In Burgdorf haben wir zuerst eine kleine Lichtskizze nur für die Oberstadt erstellt und dann am konkreten Fall Kronenplatz eine Diskussion lanciert. Mittels einer Bemusterung haben wir vor Ort Behörden, das Elektrizitätswerk, Hausbesitzer, Nachbarn und Anrainer involviert und informiert.» Dieser pragmatische Weg zeigt direkt und einfach Chancen und Probleme auf. Weitere Projekte werden fortlaufend bei Bau- und Sanierungsarbeiten umgesetzt — Voraussetzung dafür ist, dass in der Verwaltung alle das Anliegen verinnerlicht haben, was durchaus seine Zeit braucht. Eine Bemusterung hat aber noch andere Vorteile: Sie weckt bei Laien Verständnis für die doch eher komplexe Materie.

«Wichtig ist aber bei einem solchen -Verfahren, dass im Anschluss die weiteren Lichtprojekte von den Behörden beharrlich verfolgt und koordiniert werden. Sonst bleibt es beim reinen Aha-Effekt», meint Blum.

In Winterthur ging man einen anderen Weg: Das Konzept «Stadtlicht Winterthur » des deutschen Lichtplaners Uwe Knappschneider setzt die Leitplanken und definiert die Gestaltungsbereiche und -objekte innerhalb des Stadtgebiets. Das Konzept ist aber kein Realisierungsprogramm. In einer ersten Phase wurden offene Wettbewerbe zu vier Pilotprojekten durchgeführt. Bewährt sich das Vorgehen, werden weitere Wettbewerbspakete geschnürt, so Lorenz Schmid, Projektleiter der Stadt Winterthur.

Grosses portemonnaie, ppp und Contracting

Für Lichtpläne gibt es drei Finanzierungsmodelle, die frei miteinander kombiniert werden. Etabliert hat sich vor allem eines: Eine Stadt spricht einen Gesamtkredit für Planung und Ausführung. In Zürich beispielsweise bewilligten Parlament und Regierung in mehreren Schritten rund zehn Millionen Franken. Damit werden bis 2013 rund 35 Projekte realisiert. Basel hat acht Millionen für Konzept und Umsetzung von «B-leuchtet» gesprochen, ebenso viel haben die Luzerner zur Verfügung gestellt. Zürich kombiniert das Gesamtkredit- mit dem Public-Private-Partnership-Modell. Denn, weil der Plan Lumière» in erster Linie Stadträume sichtbar machen will, müssen teilweise auch private Gebäudefassaden angeleuchtet werden. «Die Beteiligung von Privaten ist sehr wichtig. Doch die Partnerschaften laufen zuweilen etwas harzig und sind für uns nicht immer wie gewünscht steuerbar, nicht zuletzt, weil in umfangreichen Verträgen Rechte und Pflichten bis ins Detail festgelegt werden müssen», resümiert Stephan Bleuel, Verantwortlicher des Plan Lumière im Amt für Städtebau. 295 000 Franken haben die Zürcher Behörden für das Konzept und die Beratung, aber auch für Muster und einen Teil der Installation und Projektoren, beispielsweise am Utoquai, ausgegeben. Die Stadt zahlt auch den Strom und stellt den öffentlichen Raum den Privaten kostenlos zur Verfügung. Sechs von sieben Eigentümern haben im Gegenzug zusammen 230 000 Franken für die Beleuchtung von rund 300 Metern Fassadenabwicklung bezahlt.

«Auslöser für unser Engagement war die Kongresshaus-Pleite: Nachdem das tolle Projekt bachab geschickt wurde, wollten wir als halböffentliche Institution ein Zeichen der Solidarität setzen. Überzeugt hat uns zudem die technisch ausgefeilte und energetisch effiziente Lösung, die die Zimmer unserer Gäste im Dunkeln lässt, das Haus aber erleuchtet», sagt dazu Beat Sigg, Direktor des Hotels «Eden au Lac» am Utoquai. Das Projekt zeigt aber auch gut die Grenzen des PPP-Modells: Weil ein Hausbesitzer noch zuwarten wollte, leuchten nur sechs von sieben Häusern. Diese «Zahnlücke» beeinträchtigt das Gesamtkonzept deutlich. Von bis anhin sechs PPP-Projekten wurden in Zürich fünf abgeschlossen. Mit einer Contracting-Lösung, einer Art Leasing inklusive Betrieb und Unterhalt, wird das Beleuchtungskonzept in Luzern realisiert. Der Luzerner Energiedienstleister «ewl» finanziert die gesamte Anlage vor und ist verantwortlich für Betrieb und Unterhalt in den nächsten 25 Jahren. Die Stadt Luzern bezahlt unter dem Strich zwar etwas mehr für diese Lösung, dafür muss sie nicht einmalig tief in die Tasche greifen, sondern kann die Gesamtkosten von rund acht Millionen in jährlichen Raten abzahlen.

Rechtliche Grundlagen

Die Umsetzung jedes Plan Lumière erschwert, dass er eine unverbindliche Empfehlung ist. Regulieren können die Behörden durch die Bewilligungspflicht einer Anlage. Meistens erlaubt der Plan Lumière aber gar keine Lichtinstallationen mehr ausserhalb des von ihm bezeichneten Gebiets. Eingebürgert hat sich der aufwendige Weg des direkten Verhandelns. Das heisst, das Plan-Lumière-Team versucht, Laden- und Hausbesitzer für eine gemeinsame Lösung zu gewinnen. «Viele Hausbesitzer erlauben die Installation von Leuchten an der eigenen Fassade problemlos, geht es aber ums Geld, winken die meisten ab. Beleuchtung ist für sie Aufgabe der Stadt», meint Christian Blum.

Vorreiter Luzern

Einzigartig in der Schweiz ist die Schaufenster- Lösung in Luzern. «Weil die Altstadt Kernelement unseres Konzepts und auch ein wichtiges Wohnquartier ist, basiert unser Plan darauf, dass sie auch einmal schlafen geht», erklärt Mario Rechsteiner, dessen Firma art light die Projektleitung innehatte. Er unterscheidet in Luzern zwischen szenografischem Abend- und funktionalem Nachtprogramm. Wer aber Gassen und Plätze bis 23 Uhr inszenieren und danach wieder ins Fast-Dunkel zurückfallen lassen will, kommt um die Schaufensterbeleuchtung nicht herum. «Bei einigen Uhren- und Bijouterieläden haben wir bis zu 40 000 Lux gemessen. Damit kann man ganze Gassen erhellen», schmunzelt Ueli Habegger, ehemaliger Denkmalpfleger der Stadt. Er hat sich zusammen mit Rechsteiner für eine Reduktion der Intensität der Schaufensterbeleuchtung in der Altstadt stark gemacht. Das Engagement führte zu einer Verordnung, die der Grosse Gemeinderat 2008 verabschiedet hat. Neu dürfen in einem Abstand von 1,5 Metern vom Schaufenster nur noch maximal 80 Lux sowie eine maximale mittlere Beleuchtungsstärke von 110 Candela gemessen werden. Bestehende Schaufenster müssen nicht angepasst werden. Doch weil kommerzielles Licht neu bewilligungspflichtig ist und weil Schaufensterbeleuchtungen soweiso im Schnitt alle sechs bis sieben Jahre erneuert werden, löst sich das Problem von selbst: Nach einer Schaufenster-Generation sind alle an den Plan Lumière angepasst, also dunkler. Der Luzerner Plan Lumière hat im September den internationalen «City People Light Award» 2010 verliehen bekommen.

Energie sparen?

Eines der wichtigen politischen Verkaufsargumente eines Plan Lumière ist, dass er beim Energiesparen hilft. Mit modernen Lampen und Reflektoren könne man das Licht dorthin lenken, wo es gebraucht wird, steht im Konzept Stadtlicht Winterthur. Damit könnten auch Wartungszyklen verlängert, Leuchtenstandorte verringert und die Energieeffizienz erhöht werden, so die Winterthurer. Um 20 Prozent versprach der ehemalige Luzerner Finanzdirektor Franz Müller den Energieverbrauch mit dem Plan zu senken. Auch Genf rechnet vor, dass, wenn man alle veralteten Leuchten im öffentlichen Raum durch effizientere ersetzen würde, man den städtischen Energieverbrauch um 20 Prozent und damit das Globalbudget der Stadt um 16 Prozent senken könnte. Das klingt gut, doch sind diese Zahlen kritisch zu hinterfragen, denn szenografische Beleuchtung macht nur einen Bruchteil der Grundbeleuchtung aus. In Zürich betrug der jährliche Energieverbrauch gesamthaft rund 3,1 Millionen Megawattstunden (MWh), davon entfallen 22 000 MWh auf die öffentliche Beleuchtung.

Reine Plan-Lumière-Beleuchtungen verbrauchten aber rund 70 MWh, also nur 0,03 Prozent des Gesamtverbrauchs. Wer also den Hebel nur bei der szenografischen Beleuchtung ansetzt, kann den Gesamtverbrauch nicht senken. «Doch die Grundbeleuchtung, bei der Sparen einschenken würde, ist eines der letzten Tabus», sagt Christian Blum. Allerdings spürt der Lichtplaner ein Umdenken bei den städtischen Werken und der Polizei. Denn einerseits adaptiert sich das Auge automatisch an die Lichtverhältnisse, wenn das Gesamtniveau gesenkt wird. Andererseits hat die Lichtausbeute neuerer Autoscheinwerfer deutlich zugenommen. St. Gallen will deshalb die Betriebsdauer der Strassenbeleuchtung anpassen. Die Stadt will sie künftig bereits ab 22 statt erst ab 24 Uhr reduzieren.

Grosse Bedeutung für die Energieeinsparung haben Sendeprogramme, also Steuerungen, die bestimmen, wann eine Lampe wie hell leuchtet. Auch in Zürich werden die Strassenlampen künftig zwischen 1 und 5 Uhr in der Helligkeit zurückgenommen. Das sind begrüssenswerte Engagements. Doch solange Verkehrspolizei, städtische Werke und grosse Teile der Bevölkerung die Quantität des Lichts in direkter Relation zur Sicherheit setzen, ist der Hebel zum Energiesparen begrenzt.

Weniger Licht ist oft mehr

Und nun? Der Plan Lumière ist in der Schweiz als Planungsinstrument etabliert. Grosse Unterschiede im gestalterischen Ansatz gibt es nicht: Die Lichtplaner zeichnen in erster Linie Ortsbilder nach, die sich nachts in die Erinnerung brennen sollen. Dazu akzentuieren sie Verkehrsachsen, reagieren auf topografische Eigenheiten und verteilen die einzelnen Lichtprojekte dezentral über den Stadtraum.

Im Ausland finden sich mehr auch künstlerische Ansätze, etwa Lichtpläne, die nur die Stadteingänge markieren, oder solche, die sich am Biorhythmus orientieren. Hierzulande hat sich für die Szenografie warmweisses Licht eingebürgert. Es gibt die Materialien des beleuchteten Objekts am besten wieder. Farbiges Licht gilt als Festlicht, zumindest in der Deutschschweiz. Eine grosse Rolle spielt die technische Entwicklung, allen voran der LED. Doch beim Heilsbringer LED braucht es oft mehr Leuchten, was — wenn man genau rechnet — nicht weniger Energie braucht. Zweitens ist der Austausch eines LED-Moduls in gleicher Qualität noch nicht gewährleistet — was bei einer Fassadenbeleuchtung auffällt.
Allgemein ist auch eine Tendenz zu weniger Licht festzustellen. Grund dafür ist, dass das Grundlicht oft sehr hoch, ja zu hoch ist.

«Bei einzelnen Projekten in Zürich haben wir die geplante Beleuchtung reduziert oder gar weggelassen, obwohl sie Teil des Plan Lumière war», erklärt Stephan Bleuel. «Die Beleuchtungsnormen verlangen eigentlich immer zu viel Licht, doch nicht nur helle Orte definieren eine Stadt, sondern auch dunkle», doppelt Christian Blum nach. Von der «Gnade der Verschattung» spricht der Denkmalpfleger Ueli Habegger und meint damit nicht nur, dass schlechte Architektur nachts nicht inszeniert werden muss, sondern auch, dass weniger oft mehr ist. In diesem Sinne verstehen die Spezialisten auch Weihnachtsbeleuchtungen oder Lichtfestivals. Sie ergänzen die Lichtpläne. Solche Veranstaltungen sensibilisieren und zeigen die Unterschiede zwischen Alltags- und Festbeleuchtung auf. Sie lassen Tests zu, die dann vielleicht wieder im Gesamtkonzept wirksam werden.

hochparterre, Mo., 2010.11.08



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2010-11

20. Oktober 2010Roderick Hönig
hochparterre

Auf den zweiten Blick

Mike Guyer, Jurypräsident der Distinction Romande d’Architecture über die Szene im Welschland: «Die Architektur ist verspielter.»

Mike Guyer, Jurypräsident der Distinction Romande d’Architecture über die Szene im Welschland: «Die Architektur ist verspielter.»

2006 schrieb der Architekturprofessor Martin Steinmann anlässlich der ersten Distinction romande d’architecure (Dra): «L’architecture romande n’existe pas.» Stimmen Sie dem zu? Nein. Die 256 Eingaben zeichnen auf den ersten Blick kein klar erkennbares Bild, aber die Architektur in der Romandie zeigt Merkmale, welche sie von derjenigen in der Deutschschweiz, im Kanton Graubünden oder im Tessin unterscheiden.

Welche? Die Architektur ist weniger ernsthaft, unbeschwerter, verspielter, von einem südländischeren Lebensgefühl geprägt. Man geht unvoreingenommener mit architektonischen Vorbildern und Referenzen um. Ihre Architekten sind bescheidener in den architektonischen Ambitionen und oft entspannt pragmatisch.

Welchen Stellenwert hat Architektur in der Westschweiz im Vergleich zur Deutschschweiz? In der Romandie wird weniger gebaut als in Zürich oder Basel. Demzufolge ist die Auseinandersetzung mit Städtebau und Architektur weniger intensiv, die Architektur in den Tagesmedien weniger präsent. Umso stolzer sind die politischen Vertreter der Gemeinden und Städte auf ihre einmal realisierten öffentlichen Gebäude. Die Architektur in der Romandie wächst langsamer, stiller, bodenständiger, aber in den Inhalten oft verdichteter und in der Tradition abgestützter.

Welche rolle spielt die Architekturhochschule EPFL? Sie ist das fachliche und theoretische Zentrum, an dem sich alle mitunter orientieren. Viele der Protagonisten — auch solche, die jetzt ausgezeichnet wurden — haben in Lausanne studiert und lehren jetzt an der Schule. Der Austausch zwischen der Romandie und der Deutschschweiz ist an der EPFL in Form des Studenten- und Lehreraustausches am fortgeschrittensten. Die EPFL ist durch ihre dynamische Entwicklung — in der Architektur dokumentiert durch das Erasmus-Programm und dem prestigeträchtigen Bau des Learning Center — durchaus mit der ETHZ vergleichbar und hat eine Ausstrahlung, die weit ins Ausland reicht.

Gibt es eine Architekturszene? Ja, die DRA ist der Beweis dafür. Die Szene ist in den ländlichen Gebieten verstreut, verdichtet sich aber in Genf, Lausanne, Neuenburg und Freiburg. Jede Region hat eine Handvoll herausragender Büros, die das lokale Architekturgeschehen prägen.

Gibt es Tendenzen in der Westschweizer Architektur? Die ausgezeichneten Projekte: zwei Schulen, ein Bürogebäude, ein Chalet, ein Stadion, Einfamilienhäuser und ein Umbau zeichnen sich nicht durch ein primär «lautes» Auftreten aus. Ihre Qualitäten sind erst auf den zweiten Blick erkennbar. Das gewählte Entwurfskonzept ist in allen Massstabsebenen mit unterschiedlicher Gewichtung präsent. Es entstehen Vielschichtigkeiten, die bei der Begehung der Gebäude immer wieder zu Überraschungen und neuen Erkenntnissen führen, die in den Plänen und Fotografien der Portfolios nicht erkennbar waren. In der Nutzung und Typologie sind die ausgewählten Gebäude verschieden, ihnen gemeinsam sind aber Lösungen, die eine allgemein gültige Relevanz haben. Es ist eine Tendenz, die geprägt ist durch Inhalt und nicht durch Form.

2006 hat Martin Steinmann geschrieben, dass die Kategorie Wohnungsbau quasi fehlt, weder Gemeinden noch Genossenschaften nähmen ihre Verantwortung wahr. Hat sich das gegenüber 2010 geändert? Leider nein. Wer die Verhältnisse in Zürich und Basel kennt, ist ernüchtert. Das Regelwerk für Wohnungsbau in der Westschweiz, also welche Mieterträge man erwarten kann, was das Land kostet, was das Bauen überhaupt kostet, führt zu so harten Bedingungen, die kaum qualitätvolle Architektur zulassen. Hier braucht es ganz klar ein grösseres Engagement von der Bauherrenseite, sei sie privat oder öffentlich. Der Bedarf nach gutem Wohnraum, in Genf, aber auch in kleineren Städten, ist grösser als nirgendwo, doch gute Architektur braucht geschütztere Räume. Dazu kommt, dass der Mietermarkt sehr konservativ ist und Bauherren deswegen das Risiko von innovativen Grundrissen scheuen.

Was konnten Sie von der mehrtägigen Jury - reise mit in die Deutschschweiz nehmen? Ich habe einen Teil der Schweiz besser kennengelernt, den ich äusserst vielfältig und sehr interessant finde. Wir haben während der Reise Landschaften und Architekturen in einer kontinuierlichen Bewegung wahrgenommen. Die verschiedenen Regionen wurden wie in einem Zeitraffer aneinandergereiht. Die Erinnerungen sind mir wie ein Film erhalten geblieben.

Für die «Distinction» haben sich Verbände und Kantone zusammengetan und sich auf einen Preis konzentriert. In Zürich schreiben Stadt und Kanton je einen eigenen Architekturpreis aus und konkurrenzieren sich gegenseitig. Was hilft der Vermittlung der Architektur mehr? Die DRA ist eines der nachhaltigsten Konzepte für einen Architekturpreis. Alle, die in irgendeiner Weise involviert waren, sei es von Behörden-, Planer- oder Bauherrenseite, sind vom Verfahren und der Auszeichnung überzeugt. Ein wichtiger Pulspunkt ist die Koppelung der DRA an eine Medienbegleitung, die über die Fachkreise hinausgeht. Eine Ausstellung mit allen nominierten Bauten wandert durch die Schweiz und das Ausland. L’Hebdo legt die Begleitpublikation bei und erreicht so über 200 000 Leser, zudem porträtiert die Zeitschrift wöchentlich eine Auswahl Büros beziehungsweise Projekte. Damit wird der Wirkungsgrad der DRA beträchtlich erhöht. Auch öffnen die Besitzer der nominierten Projekte ihre Häuser an bestimmten Daten für die Öffentlichkeit.

hochparterre, Mi., 2010.10.20



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2010-10

01. September 2010Roderick Hönig
hochparterre

Der Roche-Turm zu Basel

Angelus Eisinger: «Es geht nicht nur um die Silhouette, sondern auch darum, ob ein Hochhaus Brücken zur Stadt schlagen kann.»

Angelus Eisinger: «Es geht nicht nur um die Silhouette, sondern auch darum, ob ein Hochhaus Brücken zur Stadt schlagen kann.»

Der Roche-Turm wird durch die geplante Höhe von 175 Metern das Stadtbild neu definieren. trotzdem ist in Basel kaum über das Projekt diskutiert worden. Fand in anderen Städten bei vergleichbaren Hochhaus-Projekten eine Diskussion statt?
Bei der Frage nach der Höhe von Hochhäusern handelt es sich um eine alte Debatte, die immer dann losgetreten worden ist, wenn es um die Konfrontation eines Hochhauses mit einer historisch gewachsenen Silhouette geht. Ich denke an die Diskussion rund um den Tour Montparnasse in Paris, an die bereits in der Zwischenkriegszeit verhandelte Frage des Umgangs mit Hochhäusern rund um die St. Paul’s Cathedral in London oder auch an das Hochhausverbot von Zürich in den Achtzigerjahren. Das waren zunächst Expertendebatten, die mit Stichworten wie Identität oder Bewahrung des Bestehenden emotionalisiert zu breiten Debatten wurden. Das Hochhaus wurde da meist ein Platzhalter für eine allgemeine Verunsicherung über den Gang der Dinge.

Wie verunsichert das Hochhaus den Basler Gang der Dinge?
Anlässlich des Roche-Turms wird eine andere, global bedingte Stadtlogik sichtbar, die Basel prägt. Roche ist Teil des globalen Wirtschaftsnetzwerkes, der Konzern kann sich da nicht einfach lokalen Betrachtungsweisen und Bedürfnissen unterwerfen. Solch globale Logiken artikulieren sich dann in einem hohen Gebäude mit 1900 Arbeitsplätzen. Sie sind auf der globalen Ebene stimmig, geraten aber in Konflikt mit den Orten, an denen sie stehen.

Das heisst, die Globalisierung verleiht dem Hochhaus neuen Schwung?
Ja, wir stecken in einer neuen Phase in der Auseinandersetzung mit dieser Bauaufgabe. Einerseits befinden wir uns immer noch in den Ausläufern des modernen Denkmodells, das das Hochhaus zur planerisch strikt kontrollierten Ausnahme erklärt hat. Es prägt die gesamten Planungsregeln in Europa, insbesondere in der Schweiz. Andererseits ist aber mit der internationalen Standortkonkurrenz eine Renaissance des Hochhauses eingeleitet worden, die ihm neue Aufgaben zuteilt: Sichtbarkeit, Aufmerksamkeit für Unternehmungen auf globaler Ebene, Imagebildung über Architektur.

Kann man also sagen, dass das Hochhaus dem heutigen Planungsreglement Fragen stellt, auf welche dieses keine antworten parat hat?
Auf alle Fälle. Deshalb glaube ich auch, dass man die Frage nach dem Hochhaus viel grundsätzlicher thematisieren sollte. Wir müssen zuerst darüber nachdenken, ob wir das Hochhaus überhaupt wollen. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass es elementare Beiträge zur Stadtentwicklung leisten kann. Aber wenn wir mit dem bisherigen Planungsreglement weiterfahren, also einem engen Korsett, das dem Hochhaus keine Mehrausnützung ermöglicht, das es einzig als städtebaulichen Akzent versteht oder zur Schaffung von Freiflächen zwingt, werden wir uns nicht mehr lange mit ihm auseinandersetzen müssen.

Wieso?
Weil, sobald alle Industriebrachen mit ihren Mehrausnutzungen überbaut sind, es nur noch dort planungsrechtlichen Spielraum geben wird, wo noch Ausnützungsdifferenzen zwischen dem Gebauten und dem faktisch Möglichen liegen. Diese Differenzen sind aber in den wenigsten Fällen ausreichend, um ein Hochhaus ökonomisch attraktiv zu machen. Wenn man sagt, dass dem Hochhaus eine neue und wichtige Rolle zukommen soll, müssen auch die Spielregeln verändert werden.

Wie könnten solche veränderte Spielregeln aussehen?
Im Auftrag des Amtes für Städtebau Zürich habe ich mir verschiedene Planungsreglemente zu Hochhäusern in europäischen und nordamerikanischen Städten angeschaut. Ich habe festgestellt, dass gerade die Europäer dem Hochhaus gegenüber skeptisch eingestellt sind, aber dass in Städten wie Frankfurt oder Innsbruck, die bereits seit Längerem mit dem Hochhaus konfrontiert sind, ein äusserst produktiver Umgang mit dem Thema herrscht. Es geht hier nämlich um die Stichworte Weiterbauen und Bewirtschaften des Bestandes.

Welche Stadt geht am weitesten?
Innsbruck mit seinem Konzept «Urbanissima»: Die Stadt spricht sich für Hochhäuser aus, aber zu Bedingungen, welche die Stadt stellt. Innsbrucker Hochhäuser müssen eine gemischte Nutzung haben, müssen topografische Bedingungen oder Sichtachsen einhalten, geniessen dafür einen Bonus an Mehrausnützung. Erst mit diesem Instrument wird das Hochhaus für den Investor wie auch die Stadt interessant. Ironischerweise gibt es im Konzept einen Passus, der besagt, dass das Hochhaus nicht gebaut werden kann, wenn jemand innerhalb eines 300-Meter-Radiusses Einsprache erhebt. Das zeigt die tief sitzende Ambivalenz im Umgang mit dem Hochhaus.

Was bringt die private Landmarke Roche-Turm der Stadt?
Zwei Dinge: Auf der einen Seite kann er Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit für Basel weltweit generieren. Auf der anderen Seite festigt und intensiviert der Turm wohl die Betriebsabläufe von Roche in Basel. Darüber hinaus sehe ich allerdings keinen unmittelbaren Mehrwert für Basel. Der Mehrwert für eine Stadt ist aber nicht zwingend eine Frage des Hochhauses, denn auch der Novartis-Campus geht wenig Beziehung mit der Stadt ein, obwohl er ein städtebaulich und ästhetisch perfekt inszeniertes Stück Stadt ist.
Bei der Projektpräsentation war von «städtebaulicher Eingliederung» die rede. Kann sich ein 175 Meter hohes Gebäude überhaupt städtebaulich eingliedern? Wieso denn nicht? Wenn wir an die wirklich hohen Gebäude, wie beispielsweise den Eiffelturm denken, merken wir, dass sich unsere Wahrnehmung mit der Zeit komplett verändert hat. Er ist aus der Pariser Stadtsilhouette nicht mehr wegzudenken. Städtebauliche Eingliederung ist eines, architektonische Präsenz das andere. Denn je nach Positionierung, Gestaltung und Ausformulierung des Volumens kann ein Projekt aus unterschiedlichen Perspektiven ganz anders wirken. Eine Höhenquote auf der anderen Seite kann bestimmte Exzesse verhindern, ob dann aber das Hochhaus stadtverträglich ist, ist eine andere Frage. «Städtebauliche Eingliederung» muss viel breiter gefasst werden: Es geht nicht nur um die Silhouette, sondern auch darum, ob ein Hochhaus funktional Brücken zur Stadt schlagen kann.


[Angelus Eisinger: Der Städtebau- und Planungshistoriker ist Professor für Geschichte und Kultur der Metropole an der HCU in Hamburg und Dekan des Studiengangs Kultur der Metropole. Im Auftrag des Amtes für Städtebau der Stadt Zürich hat er Hochhaus-Planungsreglemente in Europa und Nordamerika untersucht.]

hochparterre, Mi., 2010.09.01



verknüpfte Bauwerke
Roche-Turm, Hauptsitz



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2010-09

15. April 2010Roderick Hönig
hochparterre

Erstling auf den zweiten Blick

Das Schulhaus gibt drei kluge Antworten auf die zentralen Fragen des Wettbewerbs. Zuerst der Ort. Indem die Architekten ihren Kubus an eine der Quartierstrasse...

Das Schulhaus gibt drei kluge Antworten auf die zentralen Fragen des Wettbewerbs. Zuerst der Ort. Indem die Architekten ihren Kubus an eine der Quartierstrasse...

Das Schulhaus gibt drei kluge Antworten auf die zentralen Fragen des Wettbewerbs. Zuerst der Ort. Indem die Architekten ihren Kubus an eine der Quartierstrasse folgenden Geländekante setzen, gehen sie geschickt auf die schwierige Topografie des Baugrundes ein. So entsteht ein kleiner Vorplatz zur Strasse hin, die Würfelform sorgt zusätzlich für einen eigenständigen Auftritt. Zweitens der Grundriss. Die Architekten platzieren den Mehrzwecksaal und die Technikräume ins halb im Hang liegende Sockelgeschoss und machen ihn über eine Aussentreppe autonom zugänglich. Sie spielen so das Strassen- und Obergeschoss für reine Schulnutzungen frei. Der Clou ist, dass die zentral angeordneten Gruppenräume zwar keinen Fassadenanschluss haben, aber trotzdem Tageslicht geniessen. Die Erfindung liegt im Schnitt: Zwei kreisrunde Oberlichter über den unteren bringen auch von der Seite her Licht in die oberen Gruppenräume. Drittens die Fassade. Die Verkleidung der Holz-Elementfassade ist einfach, aber effektvoll. Wein - rot gestrichene, stehende Tannenholz-Latten sind jeweils einmal leicht nach innen und einmal leicht nach aussen geknickt. Die abwechselnde Anordnung ergibt in der Serie einen faszinierend flirrenden Holzteppich, der den Kubus rundherum einhüllt. Die abgerundeten Ecken verleihen zusätzlichen Schwung und Eleganz.

Das Schulhaus Büttenen zeigt, dass gute Architektur nicht spektakulär sein muss und dass sie durch den klassischen offenen Wettbewerb entsteht, in diesem Fall sogar durch einen Gesamtleistungswettbewerb. Der Bau zeigt aber auch, dass Baukunst sich sehr wohl in eine mengen Kostenrahmen bewegen und dabei auch die Ansprüche der Nachhaltigkeit erfüllen kann: Mit Baukosten von 491 Franken pro Kubikmeter (BKP 2) ist das Schulhaus satte 303 Franken pro Kubikmeter günstiger als Christian Kerez’ bereits weltberühmte Schule in Leutschenbach siehe HP 10 / 09. Einziger Wermutstropfen: Räumlich hält das Haus nicht ganz, was der Grundriss und der Schnitt verspricht. Die geschickte Grundrissorganisation geht teilweise zulasten der Raumqualitäten.

Die Gänge und Arbeitsnischen rund um die Klassenzimmer sind überall ein bisschen knapp bemessen. Dem Foyer beispielsweise würde man mehr Atem wünschen, auch trägt die Zweigeschossigkeit der Gruppenräume weniger zur Raumqualität bei, als man erwarten würde.

hochparterre, Do., 2010.04.15



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2010-04

16. November 2009Roderick Hönig
hochparterre

Zuerst die Landschaft, dann die Architektur

Beim Bürohaus Futuro ist alles umgekehrt: Die 9100 Quadratmeter Nutzfläche liegt unter der Erde, der Garten auf dem Dach. Damit markieren die Architekten...

Beim Bürohaus Futuro ist alles umgekehrt: Die 9100 Quadratmeter Nutzfläche liegt unter der Erde, der Garten auf dem Dach. Damit markieren die Architekten...

Beim Bürohaus Futuro ist alles umgekehrt: Die 9100 Quadratmeter Nutzfläche liegt unter der Erde, der Garten auf dem Dach. Damit markieren die Architekten den Anfangspunkt der Kulturlandschaft des Waldenburgertals nicht, wie man erwarten würde, mit einem kantigen Volumen. Sie verwandeln die ehemalige Kuhweide in eine Art Klostergarten auf einer monumentalen, gegen Liestal ansteigenden Rampe. Erschlossen werden die Büroflächen übers Dach, in dessen Vegetationsmosaik ein Wegraster und Sitzplätze eingelassen sind. Der Aushub wurde aufs Dach geschüttet und grossflächig mit Stauden bepflanzt, die je nach Jahreszeit eine andere Farbe in den Vordergrund treten lassen.

Vier doppelgeschossige grüne Glaskuben mit den Eingängen und ein betonierter «Kopfbau» wachsen aus dem Dach heraus und geben den vorbeiflitzenden Pendlern einen Hinweis darauf, dass unter der Grünfläche auch noch ein Gebäude liegt. Alle Büros sind nach innen orientiert und reihen sich um insgesamt zehn grosse, im vorderen Teil zwei-, im hinteren Teil eingeschossige Lichthöfe. Diese sind karge klösterliche Orte der Ruhe, in denen aus langen Pflanzkisten mehrstämmige Grosssträucher wachsen. Die verglasten Hoffassaden sind gerade so hoch, dass man die umliegenden Hügelsilhouetten noch sieht. Überraschend ist, wie hell und offen die Büroräume sind und wie wenig man die entlang dem Gebäude verlaufende Überlandstrasse und die Waldenburgerbahn hört.

Diese städtebauliche Idee zeigt jedoch Schwachstellen auf der architektonischen Ebene — insbesondere bei den Abgängen zu den Büros. Der inszenierte spannende Zugang übers Dach weckt Erwartungen: Man fragt sich, wie es in den Glaskuben wohl nach unten geht. Doch wenn man die monumentalen Kästen betritt, passiert nichts. Man kommt in eine kühle Glashaube über einem schmucklosen Betontreppenhaus, aus dem ein kantiger Liftturm wächst. Das war ursprünglich nicht so geplant: Die Glastürme hätten bis in die Tiefgarage hinabreichen und Tageslicht ins Parkgeschoss bringen sollen, und sie sollten die Orientierung in den Untergeschossen erleichtern. Nun sind aus den emblemhaften Lichtkaminen blosse architektonische Zeichen ohne lichtleitende Funktion geworden.

hochparterre, Mo., 2009.11.16



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2009-11

Genial oder banal?

Das neue Schulhaus Leutschenbach spaltet die Architekturkritiker. Sechs kontroverse Meinungen zum Bau von Christian Kerez.

Das neue Schulhaus Leutschenbach spaltet die Architekturkritiker. Sechs kontroverse Meinungen zum Bau von Christian Kerez.

Es ist das zweitgrösste Schulhaus der Stadt Zürich und von der Kindergärtlerin bis zum Sekschüler gehen hier alle ein und aus. Der Bau dauerte ein Jahr länger als vorgesehen. Die Erscheinung ist für ein Schulhaus so ungewöhnlich, dass sie polarisieren muss. Seit August ist das Schulhaus Leutschenbach nun in Betrieb und Hochparterres Redaktorinnen und Redaktoren besichtigten es mit dem Architekten Christian Kerez.

Die Heiligsprechung des Banalen

Ivo Bösch: Die Jury traute dem Entwurf von Christian Kerez nicht zu, dass er baubar ist. Im Wettbewerb aus dem Jahr 2003 liess sie zwei Projekte überarbeiten. Zwar gefielen damals die Zonen zwischen den Schulzimmern. Doch dieser Bereich war Fluchtweg, also nicht nutzbar. Erst nach der Überarbeitung schlug Kerez die Fluchtbalkone vor. Der Feuerpolizist entwarf also beträchtlich mit. Eine Turnhalle auf dem Dach, eine Doppeltreppe, aneinander gereihte, hohe Schulzimmer und eine stützenfreie Fassade im Erdgeschoss: Mehr steckt nicht im Entwurf. Der Kern des Projekts ist die Konstruktion.

Das Haus steht nur auf sechs Dreifachstützen. Für den Handstand auf dem kleinen Finger scheute der Architekt keine Kosten. Doch bestimmte der Bauingenieur, wo welche Querschnitte welche Lasten tragen. Was Kerez mit dem kompakten Entwurf gewinnt, verliert er mit dieser Konstruktion. Obwohl beim Ausbau gespart wurde und obwohl es die zweitgrösste Schule der Stadt Zürich ist, ist der Bau im Kubikmetervergleich (BKP 1– 9: CHF 1108.–/m3, Stand August 2009) eines der teuersten Schulhäuser. Schon die Jury schrieb nach der ersten Stufe: «Die durch die kompakte Gebäudeform gegebene Ausgangslage für eine günstige Ökonomie wird durch zu erwartende erhöhte konstruktive Aufwendungen gemindert.» Dass diese Aufwendungen so gross werden und der Ausbau so leiden musste, konnte sie nicht voraussehen: Wände aus Industrieglas, in den Schulgeschossen Kunststeinplatten am Boden, sichtbare PE-Abwasserleitungen. Alles wirkt banal, Kerez würde es reduziert nennen. Glück für ihn, dass das Schulhaus in Schwamendingen steht und die Stadt endlich ein Signal für die Quartierentwicklung neben der Kehrichtverbrennungsanlage setzen musste.

Alles schrumpft

Roderick Hönig: 1994 stellte Pipilotti Rist im Kunstmuseum St. Gallen zwei überdimensionale Fernsehsessel neben eine meterhohe Stehlampe. Wer versuchte, die gigantischen, kaum handhabbaren Möbel zu besteigen, lernte physisch seine Lektion in Raumwahrnehmung. Die drei ungewöhnlich hohen Klassenzimmergeschosse erinnern an Rists Installation. Nur ists im Schulhaus Leutschenbach umgekehrt: Die Räume sind überdurchschnittlich hoch — satte 3,6 Meter, das Minimum schreibt 3 Meter vor. Die Überhöhe verleiht weiten Atem und Grosszügigkeit und lässt, wie in Rists Arbeit, Schülerin und Lehrer auf Kindergrösse «schrumpfen ». Die Architektur stellt so die Machtverhältnisse im Schulhaus in Frage, sie demokratisiert Subjekt und Objekt. Kerez sichert mit seinen überhohen Klassenzimmern und Pausenhallen aber auch die Souveränität seines Werks. Die Überhöhe sorgt dafür, dass Möblierung und Raum kaum in ein Verhältnis treten und dass man nicht plötzlich vor lauter Schulmöbel und farbigem Kinderleben Kerez’ «architecture brut» nicht mehr sieht. Elegant ist, dass der eitle Wunsch nach Wahrung der Reinheit der eigenen Architektur nicht auf Kosten der Nutzer geht — im Gegenteil: Die überdurchschnittliche Raumhöhe ist die Attraktion und Qualität des Schulhauses. Der Luxus, bezahlt auf Kosten des Ausbaus.

Die Paulista-Schule

Axel Simon: Wo ist da die Angemessenheit? Und was ist mit den hohen Kosten? Spätere Erweiterungsmöglichkeiten? Es gibt Bauwerke, an denen perlen solche Fragen ab. Radikalität imprägniert sie zum Manifest. In Leutschenbach steht man vor einem solchen, schaut einfach nur, blöd vor Staunen. Hier liegt Zürich nicht in der Schweiz, sondern am Rande São Paulos. Sicher, Kerez’ Konstruktionen sind komplizierter als diejenigen von Artigas, Bo Bardi oder Mendes da Rocha, die hiesigen Anforderungen sind es sowieso. Die räumliche Idee jedoch ist ähnlich: eine weite Landschaft rundum, die sich im Inneren widerspiegelt, sowie ein Raum, der mit zunehmender Schwere des Hauses an Leichtigkeit gewinnt. Die eidgenössische Komplexität der scheinbar einfachen Struktur überspielt der Architekt, indem er sich jede Oberflächengüte versagt. Der sichtbaren Stapelung der Etagen entsprechen der sichtbar gegossene Beton, der sichtbar geschweisste Stahl, das sichtbar gefügte Gussglas. Die Rohheit des Materials und der immense Raum machen aus der Schule eine Werkstatt, einen Ort, an dem man ohne die Bürde des Perfekten schaffen, sich ausbreiten, auf dem Trottinette durchjagen kann. Keine gebeugten Rücken, keine Schulkrüppel! Diese Forderung, die der spätere Bauhausdirektor Hannes Meyer 1926 seinem konstruktivistischen Petersschul-Entwurf beilegte, könnte auch auf den Leutschenbacher Beton gesprüht stehen — als Kunst am Bau versteht sich.

Ein starkes Stück

Werner Huber: Wie ein Equilibrist steht das Schulhaus auf der Wiese am Rand von Leutschenbach, scheint unter Hochspannung zu sein. Es berührt den Boden kaum, die Tragstruktur balanciert die Lasten der aufeinandergetürmten Nutzungen ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Die gleiche Spannung ist im Innern zu spüren, auch wenn die Fachwerkträger nicht immer zu sehen sind und es nicht auf Anhieb klar ist, wie die Statik überhaupt funktioniert. Kräfte werden über Umwege spazieren geführt, bevor sie den Boden erreichen. Es wäre einfacher gegangen. Ein paar Stützen hier und da diskret platziert — wer würde den Unterschied schon sehen? Kaum jemand, doch spüren würde man ihn bestimmt.

Der Architekt ist seinen Weg konsequent gegangen und hat alles seinem Konzept untergeordnet. Das ist seine grosse Leistung. Die Betonoberflächen sind nicht perfekt, der Ausbau ist karg, konstruktive Ausnahmen gibt es zuhauf. An irgendeinem anderen Bau würde man das beklagen, hier ist das sekundär. Kerez hat die richtigen Prioritäten gesetzt. Nur im Erdgeschoss musste das Konzept vor der Nutzung zurücktreten — und prompt ist
es daneben geraten: Nie und nimmer dürfte es verglast sein.

Republikanisch geschärft

Benedikt Loderer: Zwei Gründe, warum ich das Schulhaus Leutschenbach gut finde: Es ist republikanisch und es ist geschärft. In Schwamendingen leben viele jener Leute, denen man eine bildungsferne Herkunft nachsagt und die ihre Kinder nicht vor allem zum Lernen anstacheln. Für sie baute die Stadt Zürich ein republikanisches Schulhaus. Es ist ein Versprechen. Nie, sagt die Stadt, werden wir vom Prinzip der allgemeinen und obligatorischen Volksschule abweichen. Wir wollen weder Kloster-, noch Koran- oder Eliteschulen. Vor der Schule ist jedes Kind gleich und wir geben keines auf. Wir bilden sie zu Zürchern. Wir bauen Integrationsschulen. Dort, wo die Kinder am schwierigsten sind, machen wir nicht weniger, sondern mehr. Wir sparen nicht an den Bedürftigen. Gut genug gibt es nicht, wo es ein Mehr braucht. Das Schulhaus repräsentiert den Bildungsanspruch der Stadt. Dieses republikanische Schul- und Selbstverständnis strahlt das neue Schulhaus aus. Das Konzept ist einfach: Kerez stapelt. Er setzt die Nutzungen nicht neben-, sondern schichtet sie übereinander. Den Rest des Grundstücks lässt er frei. Das Konzept überzeugte im Wettbewerb, doch dann begann die Arbeit. Es nahm die Hürden der Feuerpolizei, bewältigte das gerade geltende pädagogische Programm, überwand die Schwierigkeiten seiner eigenen Statik, besiegte den Kostendruck, kurz, es wurde verwirklicht.

Selbstverständlich sieht es heute anders aus als im Wettbewerb — aber nicht verwässert, sondern geschärft. Kerez ist einer der wenigen Architekten, die Konzessionen machen können, ohne Schaden an ihrem architektonischen Konzept zu nehmen. Er ist nicht stur, er ist nur konsequent. Er weiss: Wer alles verteidigt, verteidigt nichts. Und er weiss, was er aufgeben kann, um das zu behalten, was er unbedingt haben will. Selektives Wichtignehmen heisst diese Schärfungskunst. Kerez ist ein Meister darin.

Die Konsequenzen der Konsequenz

Rahel Marti: Christian Kerez will konsequente Architektur schaffen. Er kämpft für die Reinheit der einen, einfachen Idee. Offenbar gelang es ihm, die Beteiligten für diese heroische Haltung zu gewinnen. Kerez stapelt, der Park soll frei bleiben. Er baut Glaswände, dazwischen soll Raum zum Lernen entstehen. Er will ein klares und rohes Schulhaus, in dem sich Schülerinnen und Lehrer entfalten. Paradoxerweise braucht es dafür ein komplexes Tragwerk und Bauarbeiten, die ein Jahr länger dauerten als geplant. Was aussieht wie eine strukturalistische Höchstleistung, ist eine Reihung von Ausnahmen und Kompromissen. Um etwa den Park ins Haus fliessen zu lassen — und dies bildlich, denn in der Tat gibt es ja eine Glasfassade —, ist das Gebäude an einer komplexen Fachwerkkonstruktion aufgehängt. Um die Reinheit dieser statischen Idee zu belassen, nimmt der Architekt verschiedenste Fachwerkdimensionen und damit verschiedenste Deckenfelder in Kauf, was zu zahllosen konstruktiven Anpassungen führt. Um den freien Grundriss in den Treppenhallen zu ermöglichen, sind breite, umlaufende Fluchtbalkone nötig. Damit hier keine Kinder herumrennen, werden sich Lehrerinnen und Lehrer Regeln ausdenken müssen. Um die Transluzenz des Industrieglases nicht zu stören, sind an den Wänden der Schulzimmer und der Turngarderoben nicht metallene Kleiderhaken montiert, sondern kleine, ab - bruchgefährdete Plastikhaken aufgeklebt. Die Konsequenz reicht soweit, dass Kerez auch Massnahmen durchsetzt, die mit pädagogischen Zielen nichts mehr zu tun haben. Etwa, dass keine Leuchten, dass nichts von den hohen Decken hängen darf, was aufwändige Betoneinlegearbeiten erforderte. Man wird sehen, denn nun muss sich das aussergewöhnliche Schulhaus bewähren. Sonst war die reine Idee architektonischer Selbstzweck und der Preis dafür hoch.

hochparterre, Mo., 2009.10.12



verknüpfte Bauwerke
Schulanlage Leutschenbach



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2009-10

08. September 2009Roderick Hönig
hochparterre

Kräftiger Kern

Die Winterthurer «Maurerschule», eine Sonderschule für cerebralgelähmte Kinder, hat ein zweites Gebäude für die Oberstufe bekommen. Der äussere Auftritt...

Die Winterthurer «Maurerschule», eine Sonderschule für cerebralgelähmte Kinder, hat ein zweites Gebäude für die Oberstufe bekommen. Der äussere Auftritt...

Die Winterthurer «Maurerschule», eine Sonderschule für cerebralgelähmte Kinder, hat ein zweites Gebäude für die Oberstufe bekommen. Der äussere Auftritt ist zurückhaltend: in sandbraunem Kratzbeton und mit raumhohen Verglasungen. Blickfang ist die Nordfassade mit 350 Kernbohrungen, die den dahinterliegenden Spielplatz mit einem Schattenspiel belichten. So zurückhaltend sich das Haus aussen präsentiert, so stark haben die Architekten das Innere gestaltet. Die Treppenhauskerne sind knallig magenta, das vom kräftigen Akzent bei dunkler Umgebung bis fast zum Weiss wechselt, wenn die Sonne darauf scheint. Die Böden der Schulzimmer und Korridore sind aus blauem Gummigranulat, die Sonnenstoren in Bordeauxrot und die Textiltapeten im Korridor schimmern anisgrün. Der Neubau bildet zusammen mit dem Schulhaus aus den Siebzigerjahren und dem Pfarreiheim einen Hof.

Alt- und Neubau sind mit einem unterirdischen Gang miteinander verbunden. Auch er spielt mit dem Licht und kappt die Monotonie, indem in seiner Mitte die Beleuchtung von Gelb zu Blau wechselt.

hochparterre, Di., 2009.09.08



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2009-09

11. August 2009Roderick Hönig
hochparterre

Wer wagt, gewinnt

Dass Annick Hess und Alexander Maier gleich ihre eigenen Bauherren würden, haben sie nicht gedacht, als sie sich für das kleine Grundstück an bester Wohnlage...

Dass Annick Hess und Alexander Maier gleich ihre eigenen Bauherren würden, haben sie nicht gedacht, als sie sich für das kleine Grundstück an bester Wohnlage...

Dass Annick Hess und Alexander Maier gleich ihre eigenen Bauherren würden, haben sie nicht gedacht, als sie sich für das kleine Grundstück an bester Wohnlage in Zürich bewarben. Das junge Architektenpaar entwarf ein Projekt mit soliden Grundrissen, putzte Klinken bei den Banken, fand schliesslich eine und erhielt den Zuschlag. Maier Hess übernahmen aber nicht nur ein finanzielles Risiko, sondern liessen sich auch auf das Abenteuer Dämmbeton ein. Misapor überzeugte sie nicht nur, weil es trägt und gleichzeitig dämmt, sondern auch wegen seiner Farbe, der Druckfestigkeit und der geringen Wasseraufnahme. Die Architekten spielen die plastischen Möglichkeiten an der Fassade aus: Die schräg geschnittenen Leibungen der grossen Fenster simulieren die Fensterläden und «reduzieren» beim Blick nach aussen die Wandstärke. Wie überall an der Strasse liegt der Eingang im Hof, wo noch ein kleiner zweistöckiger Solitär liegt. Ihn haben die Architekten der benachbarten Kindertagesstätte als Bastelwerkstatt vermietet — eine zeitgemässe Interpretation der Hof-Manufakturen, die ein weiteres städtebauliches Merkmal des Quartiers sind.

hochparterre, Di., 2009.08.11



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2009-08

06. April 2009Roderick Hönig
Annina Weber
hochparterre

Alles oder nichts

Der Künstler Not Vital hat in Sent ein Haus gebaut, das auf Knopfdruck in der Erde verschwindet.

Der Künstler Not Vital hat in Sent ein Haus gebaut, das auf Knopfdruck in der Erde verschwindet.

Not Vital verwirklicht einen Bubentraum nach dem anderen. Letztes Jahr hat der international erfolgreiche Künstler aus Sent im Unterengadin eine Insel im chilenischen Patagonien gekauft, in die er ein Höhlensystem graben will. Im italienischen Carrara höhlen seit über einem Jahr zwei Steinmetze in seinem Auftrag ein 9x2x2 Meter grosses Marmorstück aus — daraus entsteht eine begehbare Turmskulptur für einen belgischen Sammler. Auch in der afrikanischen Wüstenstadt Agadez baut der Künstler.

Seit 2000 erstellt er dort Lehm-Skulpturen — eine Schule oder ein Haus, das nur dazu dient, den Sonnenuntergang zu beobachten siehe HP 11 / 06. 1999 kaufte er den unfertigen Traum eines Anfang letztes Jahrhundert ausgewanderten Senters, einen Park, den der Industrielle am Eingang zu seinem Heimatdorf zwischen den Weltkriegen anlegen liess. Vital hat ihn in die Stiftung «Parkin Not dal mot» überführt und in jahrelanger Arbeit zusammen mit seinem Bruder Duri renoviert. 14 Skulpturen und Installationen hat er bis anhin darin realisiert. Unter anderem ein Haus aus Glas, eine Holzhütte am Wasserfall, zwei Eselsbrücken aus Aluminium, einen Turm der Stille.

Ein Bubentraum

Seinen Hang zum Bauen erklärt der Künstler mit seiner Lebensgeschichte, schon als Kind baute er Hütten im Wald: «Die Sommer in Sent waren lang, die Schulen fünf Monate geschlossen. Was mit der vielen Freizeit anfangen», fragt er und gibt die Antwort gleich selbst: «Hütten bauen!» Zusammen mit den anderen Dorfbuben, aber auch alleine konstruierte er aus Abfallholz und Fundstücken Baumhütten, Unterstände, kleine Refugien. «Ich wollte schon immer meine bauen», so der heute 61-Jährige. Sein internationaler Erfolg als Plastiker, Zeichner oder Kupferstecher erlaubt es ihm nun, an seine Bubenträume anzuknüpfen und sie rund um die Welt und im grösseren Massstab zu verwirklichen. So hat sich das Haus als Skulptur als wichtiger Zweig in Vitals vielseitigem Schaffen etabliert.

Rauf und runter

Sein neustes Werk ist «Josüjo» («Runter-Rauf-Runter»in Rumantsch). Er hat es mit seinem Assistenten Mitsunori Sano entwickelt und in den «Parkin» gebaut. Es ist ein Einraum-Stahlhaus — ein «Teepavillon», wie Vital sagt — der auf Knopfdruck in der Erde verschwindet. «Ich wollte eine neue Skulptur in den bauen, aber den Gesamteindruck, die ausgewogene Verteilung der bisherigen Werke im Gelände, nicht in Frage stellen», erklärt Vital sein Dilemma rückblickend. «Das führte schliesslich zur Idee von , einem Haus, das da und dann wieder weg ist.» Form und Ausführung waren schnell klar: Das «Haus» sollte aus 10 Millimeter dicken Stahlplatten gebaut sein, im steilen Hang unterhalb der Strasse liegen und die Form eines Kuchenstücks haben.

Hydraulische Hebeanlage

Mit diesen wenigen Vorgaben ging Vital zum Ingenieur Jürg Buchli, der schnell Feuer fing für das Projekt. «Anfangs haben wir noch Ideen verfolgt, das Haus mit Luftkissen oder Wasserdruck zu heben. Wir haben aber schnell gemerkt, dass solche Lösungen das Budget sprengen. Deshalb haben wir uns für eine konventionelle hydraulische Hebeanlage entschieden. Sie lässt heute das über zehn Tonnen schwere Gebilde rauf- und runterfahren», so der Ingenieur aus Haldenstein. Das Projekt musste zwei grosse Hürden nehmen: Das schwierige Gelände und Kosten, die sich in einem vernünftigen Rahmen bewegen. Denn die Betonwanne, in der der Stahlkörper rauf und runter fährt, liegt in einem Grund, der nicht sehr stabil ist und erst noch Wasser führt. Deshalb mussten die Arbeiter eine ziemlich grosse — und damit teure — Baugrube für die über fünf Meter tiefe Betonwanne ausheben. Aushub und Wanne machen rund die Hälfte der Baukosten aus, erklärt Jürg Buchli. Die hohen Kosten der Arbeit unter der Erde schränkten die Raffinesse der Hebeanlage ein. Deshalb liegen die drei Hubzylinder für den Betrachter unsichtbar in den Ecken des Innenraums und nicht wie erwartet zwischen Betonwanne und Haushülle. «Eigentlich ist die Hebeanlage nicht mit einem Lift, sondern eher mit der Kippanlage eines Lastwagens vergleichbar», schmunzelt der Ingenieur.

Kunst und Architektur

Not Vital selbst klassiert «Josüjo» als Architektur- und Kunstwerk. An seinem jährlichen «Parkin»-Fest präsentierte der Bündner das Haus zum ersten Mal einer grösseren Öffentlichkeit. Geladen waren viele Architekten und Künstler.

Die Reaktionen gingen von Begeisterung bis hin zur Irritation. «Mich erinnert das Haus an Filmsets von Ken Adam», sagt der Lausanner Künstler Karim Noureldin, «besonders interessant finde ich aber auch, wie sich das Haus wortwörtlich an der Schnittstelle von Skulptur und Architektur bewegt. Selten nähert sich eine Plastik derart an ein Gebäude an, ein bewohnbares Haus, das gleichzeitig nur Zeichen, Bild und Kunstwerk ist.» Robert Obrist sieht das Haus weniger als Architekturobjekt, denn als begehbare Plastik: «Für mich ist vor allem ein wichtiger Diskussionsanstoss», meint der St. Moritzer Architekt, «es wäre doch elegant — und meiner Meinung nach technisch durchaus machbar —, wenn man alle Zweitwohnungsbauten im Engadin auf Knopfdruck verschwinden lassen könnte. Doch leider ist die rege städtebauliche Diskussion verstummt, die an Vitals Fest entbrannte.»

Für Christoph Gantenbein stellt das Haus grundsätzliche Fragen ans Bauen und die Architektur: «Für uns Architekten ist es das tägliche Brot, anstelle des Nichts etwas zu schaffen», so der Partner bei Christ & Gantenbein. «Not Vital kehrt dieses Prinzip um: Er lässt ein Haus einfach wieder verschwinden.»

Aus dem Nichts ins Nichts

Ob Kunst- oder Architekturwerk — «Josüjo» kann durch sein quasi spurloses Verschwinden auf Knopfdruck als subversive Kritik an der Architektur verstanden werden. Denn wenn das Haus versenkt und der Lärm der Hydraulik verhallt ist, bleibt nur noch scheinbar unberührte Landschaft übrig. Dadurch, dass der Ort gleichzeitig mit und ohne Haus erlebbar ist, sozusagen das Vorher und Nachher gleichzeitig abrufbar sind, schärft Vital unsere Wahrnehmung und den Blick auf die Landschaft. Damit ist die Skulptur trotz ihrer rohen Umsetzung radikaler als manches ausgefeilte Bauwerk: Sie stellt nicht die Frage nach der Art der Architektur, sondern ob es sie überhaupt braucht.

Skulpturenpark Sent

Den Skulpturenpark «Not dal mot» am Dorfeingang von Sent kann man im Sommer besichtigen. Not Vital hat den historischen Park gekauft, ihn zusammen mit seinem Bruder Duri ausgeräumt und darin unter anderem eine Baumhüt-te platziert, einen Turm der Ruhe, eine Esels-brücke, ein Haus aus Glas und ein Haus, um den Wald anzuschauen. Vitals neuste Arbeiten sind «Josüjo» und die Spiegelbrücke «Punt». Im Sommer veranstaltet Sent Tourismus jeden Freitag Führungen durch den Park.

hochparterre, Mo., 2009.04.06



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2009-04

25. Februar 2009Roderick Hönig
hochparterre

Das Fenster zum Wald

Peter Kunz hat in Winterthur einen neuen Haustypus gebaut: Die Reihenvilla mit Sicht in den Wald.

Peter Kunz hat in Winterthur einen neuen Haustypus gebaut: Die Reihenvilla mit Sicht in den Wald.

Beim «Oberen Alpgut» handelt es sich nicht um irgendein Grundstück, sondern um eine einzigartige Bauparzelle am Fusse des Goldenbergs, dem Zürichberg von Winterthur, zu der ein 10 000 Quadratmeter grosser Privatwald gehört. 1789 erwarben das Anwesen die Vorfahren der Familie Sulzer, der Winterthurer Industriellendynastie. Sie machten den Ort mit traumhaftem Blick über die Stadt zu einem ihrer Familiensitze. Und wie es sich für eine industriellenfamilie gehört, ist der Wald nicht Nutzforst, sondern ein romantischer Park, in welchem der Gartenarchitekt Ewartiste Mertens ab 1880 Spazierwege und Lichtungen, eine Steinbrücke und Sitzplätze anlegen liess. Soweit die Vorgeschichte.

Mitte der Neunzigerjahre beschlossen die Nachfahren, das «Obere Alpgut» weiterzuentwickeln. Der Architekt Peter Kunz hörte das, nahm Kontakt auf und machte, was Architekten in so einem Fall tun: ein Projekt. Kunz schlug vor, die einzelnen Parzellen, welche die weit verstreuten Familienmitglieder verkaufen wollten, nicht stückweise, sondern einmalig und grossflächig zu entwickeln. Tatsächlich konnten sich die Sulzer-Nachfahren darauf einigen, sodass Kunz 2001 die erste Skizze zeichnete und 2004 einen privaten Gestaltungsplan für acht Villen und die Umnutzung des ehemaligen Ökonomiegebäudes einreichte.

Unerwarteter Entwurf

Der Winterthurer Architekt, der bis anhin vor allem mit exklusiven Villen auffiel, reagiert städtebaulich unerwartet und originell auf den besonderen Ort. Sein Entwurf besteht aus einem dichten, eingeschossigen Bungalowkonglomerat. Es sind aneinandergereihte Wohneinheiten, die sich jeweils zwischen zwei weit in die Landschaft und den Wald greifenden Trennwänden Fotos Seite 48 entwickeln.
Kunz plant das Ensemble um den alten Baumbestand herum und lässt auch das ehemalige Ökonomiegebäude stehen, heute der älteste Bau auf dem Gelände. Baurechtlich möglich und sicherlich einfacher in der Vermarktung und dem Verkauf gewesen wären mehrere zweigeschossige und freistehende Villen oder Mehrfamilienhäuser. Doch die Idee des Architekten überzeugt nicht nur durch die subtile Einbettung in den Waldpark, sondern auch durch ihre Flexibilität — was sich vor allem in der Verkaufsphase als Vorteil entpuppte: Denn ob der Abstand zwischen den neun Trennmauern grösser oder kleiner ist — das Prinzip, die hohe Privatsphäre und die Wohnqualität bleiben gleich.

Ungewöhnliche Nordzimmer

Bei der Orientierung der Wohnräume schlägt Kunz noch einmal einen unerwarteten Haken. Er richtet alle Wohn- und Esszimmer gegen Norden aus, also gegen den Wald. Denn Kunz war von Anfang an überzeugt, dass der einzigartige Blick in den Privatwald der Trumpf der Häuser ist. Als seine Pläne öffentlich wurden, rümpfte die Winterthurer Architektenszene die Nase und begrub das Projekt schon vor dem Spatenstich: Eine Villenanlage mit Verkaufspreisen von bis zu 3,4 Millionen Franken in Winterthur, deren Haupträume sich — besonders an einem Ort, der sich durch seinen Panoramablick über die Stadt auszeichnet — gegen Norden und den Wald orientieren, finde keine Käufer, so der Tenor.

Doch heute ist klar, dass die «verkehrte» Orientierung des Oberen Alp­guts eine Qualität ist: Der Blick aus dem Wohnzimmer geht mit dem Licht und untermalt die Interpretation des Grundstücks als begehbares Bild: In der Abendsonne leuchtet der Waldpark und wird zum begehbaren Gemälde. Nur konsequent ist dann die klare Trennung der Räume in einen Tages- und Nachtbereich. Die Schlaf- oder Arbeitszimmer liegen auf der Südseite und sind auf einen klösterlich ummauerten Innenhof orientiert.

Zwischen dem Tag- und Nachtbereich liegt eine Raumschicht mit den Bädern, der Sauna und den Nebenräumen, durchsetzt von mediterran anmutenden, begehbaren Lichthöfen.

Unschlagbares Innen-Aussen

Und das Raumerlebnis? Was auf dem Plan aussieht wie eine profane Reiheneinfamilienhaus-Siedlung, entpuppt sich bei der Begehung auch räumlich als spannend. Es ist ein anspruchsvolles «Innen-Aussen-Innen»-Raumgewebe. Es gibt zwei Haustypen, drei 15 Meter breite Bungalows und fünf acht Meter breite Einheiten mit einem zusätzlichen Sockelgeschoss. Das halb in die Erde gegrabene Geschoss der schmalen Einheiten ist ein Patzer im überzeugenden «Alle-Wohnräume-gehen-fliessend-in-die-Landschaft-über»-Konzept. Ein Zugeständnis an die Wirtschaftlichkeit, wie Kunz zugibt, der nicht nur Architekt, sondern auch Projektentwickler war.

Die Rauminszenierung ist dramatisch und wirkungsvoll: Hinter den schweren Eichenholztüren öffnet sich eine sinnliche, abgeschlossene Welt aus Licht und Raum. Ein weisser Gang führt entlang abgestufter Deckenflächen und eleganter, indirekter Oberlichter zickzackartig in die offene Wohn-, Ess- und Küchenlandschaft auf der Waldseite. Erst hier gewährt der Architekt dem Auge wieder Raum zum Schweifen, das dafür grosszügig. Die Überraschung gelingt: Eine breite Glasfront gibt den Blick auf den romantischen Waldpark frei. Die Architektur lässt einen förmlich in die Natur eintauchen. Die Übergänge sind sorgfältig gestaltet und darauf ausgelegt, dass sie möglichst fliessend sind: Schiebt man die Gläser in ihren schweren Eichenrahmen zur Seite, geht der Innenraum nahtlos in die weitüberdachte Terrasse über. Diese schliesst direkt an den privaten Garten zwischen den gelblichen Betonmauern an, die weit in den Park hinausreichen. Draussen verliert sich der Park dann im gemeinschaftlichen Wald.

hochparterre, Mi., 2009.02.25



verknüpfte Bauwerke
Oberes Alpgut



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2009-03

24. November 2008Roderick Hönig
hochparterre

Alltag einer Ikone

Zehn Jahre KKL Luzern. Wie bewährt sich das Gebäude?
Der Hausmeister berichtet.

Zehn Jahre KKL Luzern. Wie bewährt sich das Gebäude?
Der Hausmeister berichtet.

Eigentlich hätte Joe Michel nur während der ersten drei Betriebsjahre den Unterhalt und den technischen Betrieb des KKL, des Kultur- und Kongresszentrum Luzern aufbauen sollen. Doch der heutige Leiter Gebäude und Infrastruktur liess sich, wie viele andere, von Jean Nouvels Architekturikone verzaubern und feiert dieses Jahr sein zehnjähriges Dienstjubiläum. «Wer fürs KKL arbeitet, muss sich hundert Prozent mit dem Bau und der Architektur identifizieren», erklärt der Baufachmann und Betriebswirt, «und wer sich über den Aufwand aufregt, beispielsweise bei der Reinigung, ist bei uns nicht am richtigen Platz: Unser Haus ist ein Sonderfall — jeder Tag ist eine spannende Herausforderung.»

818 000 Franken hat die KKL Luzern Management AG letztes Jahr für die Reinigung der Architekturikone ausgegeben. Das sind immerhin knapp fünf Prozent des gesamten Betriebsaufwands von 17,58 Millionen Franken. Täglich zu Buche schla-gen vor allem die grossen Glasflächen und die vielen Chromteile in den weiten Foyers. «Die meisten Besucher schauen mit den Händen — wir müssen einzelne Glasflächen einmal pro Tag putzen lassen», sagt Michel gelassen. Weniger aufwendig ist die Pflege des dunklen Granitbodens, der Dreck und Kratzer gutmütig schluckt: «Der Stein, den Jean Nouvel ausgewählt hat, ist äus-serst widerstandsfähig. Den würde ich morgen wieder einbauen.»

Putzen nur mit Kletterdiplom

Eine viel gerühmte architektonische Attraktion, aber eine Herausforderung beim Entstauben und Pflegen, ist auch der «Geigenkasten». Die bauchige Holzhülle, die den Konzertsaal rundherum einmantelt, macht das Putzen zur Kletterübung. «Die Reinigung der Konzertsaal-Verkleidung und der Metallgitter-Fassade sind aufwendige Kletteraktionen», so Michel. «Es sind immer dieselben Firmen, die für uns putzen. Für die Reinigung der Hülle des wie ein Schiff vor Anker liegenden Saals konnten wir sogar dieselben Holzfachleute verpflichten, die die Verkleidung auch gebaut und montiert haben.» Konstanz und eine Beziehung zum Objekt sind aber nicht die einzigen Voraussetzungen für Michel. Wer am Haus herumturnt, braucht auch ein Kletterdiplom. Drei bis vier Mal pro Jahr seilen sich drei bis vier Arbeiter der Schreinerei Pfyl mit Klettergürtel und Helm ab und entstauben, waschen und ölen die Holzflächen.

Dass das KKL spektakuläre Putzaktionen nach sich ziehen würde, war schon bei der Planung klar. Nicht gerechnet haben Michel und sein 14-köpfiges Team aber mit der 1,5 Zentimeter grossen Argyroneta aquatica. Der unscheinbaren Wasserspinne gefiel es am weit auskragenden Dach so gut, dass sie den See dafür verliess und mit ihren Kolleginnen die 7000 Quadratmeter grosse Alucobond-Verkleidung mit Spinnweben überzog. Die feinen Netze beeinträchtigten die vom Architekten präzis austarierte Reflektion — wie aber gegen das kleine Tier vorgehen? Michel beauftrage drei Kammerjäger, sich eine Lösung auszudenken. Erst das dritte und kleinste Unternehmen fand eine, indem es eigens fürs KKL einen Zerstäuber entwickelte, der das Insektizid so atomisierte, dass das Spinnengift immer noch wirksam ist, obwohl die feinen Flüssigkeitströpfchen auf der Untersicht unsichtbar blieben. Einmal pro Jahr baut die auf Schädlingsbekämpfung spezialisierte Ronner AG nun einen Hublift auf, entstaubt und wäscht die 21 Meter hohe Decke und «impft» sie mit ihrem Mittel gegen Wasserspinnen.

Das Dach hält

Weniger Überraschungen als erwartet bot die 107 auf 113 Meter grosse und bis zu 45 Meter auskragende Dachkonstruktion. Seit der Fertigstellung wird sie elektronisch überwacht. Zweistündlich werden alle Bewegungen mit-tels Sensoren aufgezeichnet. 29 Zentimeter darf der Dachrand bei starkem Wind ausschlagen, sobald dieser Grenzwert überschritten wird, geht der Alarm los. Zusätzlich wird alle zwei Jahre die Konstruktion von Spezialisten direkt und systematisch überprüft: Monteure kriechen zwischen den Trägern und Bindern hin und her und suchen an festgelegten Prüfstellen nach Verformungen, Rissen, Rostflecken oder Feuchtigkeit. Da Ende 2009 die zehnjährige Garantie abläuft, liess das KKL alle Daten und Rapporte seit 1998 analysieren. Das Fazit ist positiv: Das Dach überstand den Sturm Lothar ohne Schaden und zeigt auch bei Schnee oder Böen ein gutes Verhalten. «Was die Statik betrifft, werden wir auf die regelmässige Überwachung und Kontrollen verzichten, nicht aber auf die Kontrolle der Feuchte oder Korrosion», sagt Michel. Die dreiwöchige Dachkontrolle, die Teil des Werkvertrags ist, geht aufs Budget «Unterhalt, Reparaturen und Ersatz» der Trägerstiftung. Es betrug letztes Jahr 1,36 Millionen Franken.

Mehr Gastro, weniger Kongresse

Auf einer ganz anderen Ebene musste Elisabeth Dalucas auf die Architekturikone reagieren. Die Kunstwissenschaftlerin und Kommunikations-Fachfrau übernahm 2003 die Direktion in einem Moment, als das Vertrauen der Luzerner in «ihr KKL» langsam, aber sicher zu bröckeln begann: Insgesamt 160 Millionen Franken in fünf Abstimmungen haben sie bewilligt — und trotzdem schien das Subventionsloch nicht gestopft. Dalucas brachte den Kultur-Supertanker mit einer Reduktion der Veranstaltungen und einem Ausbau der Gastronomie wieder auf Kurs. Bis 2002 fanden jährlich etwa 850 Events im KKL statt, letztes Jahr noch 414. Bei den Kulturveranstaltungen positionierte Dalucas das Haus konsequent im «High-End»-Bereich. Das funktioniert auch dank der Strahlkraft der Architektur: «Wir können heute auswählen, wer im KKL Luzern auftritt oder einlädt», so Dalucas. Und der Chüngelizüchterverein, dem das Haus vor Eröffnung ja auch versprochen wurde? «Das KKL ist immer noch ein Begegnungsort für alle, aber nicht alle Veranstaltungen eignen sich fürs KKL Luzern», argumetiert die Direktorin.

Zweites wichtiges Gegensteuermanöver war der Ausbau der Gastronomie. Das ursprüngliche Konzept setzte nur auf Fremd-Catering. Doch von den Satellitenküchen musste das angelieferte Essen lange und komplizierte Wege quer durchs Haus nehmen. «Es war ein unüberbrückbarer Widerspruch: Die Gäste verbrachten einen erstklassigen Konzertabend mit den besten Solisten der Welt und assen danach wenig inspirierende Häppchen», erklärt die Direktorin.

2002 wurde deshalb im rückwärtigen Versorgungsbereich eine professionelle Produktionsküche eingebaut — die erste Voraussetzung für die Repositionierung des Hauses analog des neuen Slogans «culture, convention, cusine». Dalucas und ihr Team stimmten auch die Angebote der bei ihrer Übernahme bereits bestehenden Lokale besser aufeinander ab und eröffneten zwei weitere Restaurants und die «Crystal-Lounge» für private Anlässe. Die Kursänderung macht das KKL einerseits für mehr Luzerner attraktiv, zeigt sich andererseits auch positiv in der Betriebsrechnung: Heute trägt die Gastronomie aufwendige Konzerte und Veranstaltungen mit — sie macht mehr als die Hälfte des gesamten Umsatzes aus.

Schwarze Zahlen

Die KKL Luzern Management AG schloss das Jahr 2007 mit einem positiven Unternehmensergebnis von 114 073 Franken ab. So hat das Kongresszentrum sein betriebswirtschaftliches Ziel einer mindestens kostendeckenden Rechnung im volatilen Veranstaltungsbusiness erreicht. Das KKL führte 2007 414 Veranstaltungen mit rund 400 000 Gästen durch. Zusätzlich haben gut 11 600 Besuchende das Haus besichtigt.

Links

Wie sich das Dach im Lothar-Sturm verhalten hat, alle Messresultate und weitere Links zum KKL > www.hochparterre.ch / links

hochparterre, Mo., 2008.11.24



verknüpfte Bauwerke
Kultur- und Kongresszentrum



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2008-11

13. Oktober 2008Roderick Hönig
hochparterre

Ein Wellenboden für den Geist

Auf dem Campus der EPFL (Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne) wird 2010 das Learning Center seine Türen öffnen. Doch vor den Türen liegt im Moment noch eine riesige Armierungseisen- und Betonlandschaft. Ein Augenschein in die Planung und auf die Baustelle.

Auf dem Campus der EPFL (Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne) wird 2010 das Learning Center seine Türen öffnen. Doch vor den Türen liegt im Moment noch eine riesige Armierungseisen- und Betonlandschaft. Ein Augenschein in die Planung und auf die Baustelle.

Das Learning Center soll die Bibliothek der Zukunft werden. Der Bau basiert auf einer hügelartigen Fläche, in der Wissen und Informationen möglichst ungehindert und frei ausgetauscht und zugänglich gemacht werden sollen. Das rechteckige Gebäude ist 160 Meter lang und 120 Meter breit. Es besteht aus einem Untergeschoss mit Parkplätzen und einem Hauptgeschoss mit Arbeitsplätzen, Café, Lese- und Hörsälen. Rund 30 blasenförmige, verglaste Raumzonen unterteilen die eingeschossige Betonlandschaft und bieten Rückzugsmöglichkeiten. Elf Patios durchlöchern das ‹Raumsandwich› wie einen Käse. 700 Arbeitsplätze wird das Learning Center bieten, sie sollen rund um die Uhr zugänglich sein und so die Bibliothek nicht nur zum Bücherherz, sondern auch zum sozialen Mittelpunkt des Campus machen.

Die Geschichte des ‹Making of› ist gebogen und hügelig – wie die Betonlandschaft selbst. Als 2004 das Wettbewerbsprojekt der japanischen Architekten Sanaa / Sejima Nishizawa gekürt wurde, haben als erste einige Ingenieure ihre Stimme erhoben: So eine in zwei Richtungen frei gebogene Schale liesse sich nur auf Stützen stellen. Die von den Architekten entworfenen stützenfreien Gewölbe unter dem Hauptgeschoss – sie ermöglichen den ebenerdigen Zugang und spannen bis zu 90 Meter – widersprächen der wirtschaftlichen Vernunft, so der Tenor. Das tun sie noch heute, doch wenigstens haben die Bauingenieure Bollinger Grohmann aus Frankfurt zusammen mit Walther Mory Maier aus Basel eine Lösung gefunden, die das architektonische Konzept des freien Raumflusses überhaupt erst möglich macht. Dabei hat der Beton nur noch Symbolwert: Die Hügellandschaft des Learning Centers ist eine Stahlkonstruktion im Zement-Negligée.

Mehr Eisen als Beton

Das Misch-Tragsystem, welches das Bauingenieur-Team entwickelt hat, ist in die sichtbare Schalenstruktur integriert. Es besteht aus Stahlbeton-Bögen mit Zugbändern aus Spannkabeln, die sich in der Decke über dem Tiefgaragengeschoss befinden. Die sich zwischen den Bögen spannenden Stahlbeton-Elemente haben eine kombinierte Schalen- und Plattenwirkung. Kein Aufwand wird gescheut: Insgesamt 11 dieser Bögen sind in die Schalen eingelassen, 4 in der kleineren, 7 in der grösseren Schale. Die Schalenränder sind in die vorgespannte Stahlbeton-Decke über dem Tiefgaragengeschoss eingespannt. In den Schalen sind gewaltige Mengen an Armierungseisen eingelegt: 850 Tonnen Rundstahl mit einem Durchmesser von 5 Zentimetern und einer Länge von 21 Metern sichern die Stabilität und Tragfähigkeit. Das sind rund 450 Kilogramm Stahl pro Kubikmeter – mindesten vier- bis fünfmal so viel, wie für eine konventionelle Stahlbeton-Konstruktion verwendet wird. Da das statische System nicht viel räumlichen Spielraum liess, mussten die Architekten ihren Grundriss und die Raumgrössen anpassen: Einige Patios wurden kleiner und mussten in die Restflächen zwischen den Armierungsbögen geschoben werden, einige Hügel wurden steiler oder flacher, das heisst, rückten näher an die ideale Bogenform. Das System garantiert zwar die Tragfähigkeit und Stabilität, sagt aber noch nicht viel darüber aus, wie die doppelt gekrümmten Flächen auf der Baustelle umzusetzen sind. Dafür waren Denkarbeit und rund 1500 verschiedene Schalungstische aus Holz-Grobspanplatten (OSB) nötig. Die Ansprüche an die Ausführung der Schalung waren hoch, denn die höhlenartigen Räume unter den Hügeln sind Teil der Aussenfassade und des Eingangs und somit für jedermann zugänglich.
Die Schalungstische bilden exakt die im CAD-Plan der Architekten definierte Hügelform nach. Toleranz: plus / minus 5 Millimeter. Sie setzen sich aus rund 10 000 verschiedenen, 18 Millimeter dicken Einzelteilen zusammen. Immer 7 vertikale Konsolen bilden ein Gerüst, auf welche die Schaltafeln geschraubt sind. Sie werde plan angeliefert, ihre doppelte Krümmung entsteht bei der fixen Verschraubung mit den unterschiedlich hohen und schrägen Konsolen. Die Dimensionen der Tische (Quadrate von 2,50 auf 2,50 Meter) basieren in erster Linie auf der Tragfähigkeit der Gerüsttürme, welche mit maximal 20 Tonnen belastbar sind. Sie sind aber auch so bemessen, dass möglichst wenig Verschnitt aus den 2,50 auf 3 Meter grossen Ausgangsplatten entsteht.

Vom Plan auf die Fräse

Hätte man die Werkzeichnungen für die Schalungstische von Hand gezeichnet, wären dafür 10 000 Detailpläne nötig gewesen. Das ETH-Spin-off Designtoproduction hat den Fertigungsprozess abgekürzt, indem es die digitale Kette zwischen CAD-Plan und CNC-Fräse geschlossen hat. Die kleine Firma mit Sitz in Zürich und Stuttgart hat in einer ersten Phase die Detailgeometrien der Tische berechnet und in einer zweiten Phase diese in Fertigungsdaten umgewandelt, mit welchen die CNCFräse direkt angesteuert werden konnte. Aufgrund der Maschinendatensätze hat die auf Holzwerkstoffe spezialisierte Firma Kronoply aus Heiligengrabe in Deutschland die Einzelteile geschnitten und sie dann zu Rauh nach Uetendorf bei Thun transportieren lassen.

In der Werkstatt des Spezialisten für Betonschalungen haben die Arbeiter daraus die 1500 Schalungstische gebaut. Um den Transport von der Werkstatt auf die Baustelle möglichst effizient über die Bühne gehen zu lassen, baute Rauh ein spezielles Gestell auf die Ladefläche seines Lastwagens: So konnten 15 Tische pro Fahrt transportiert werden. 110 Arbeiter haben auf dem Campus der EPFL rund 30 Tische pro Tag aufgebaut. Nachdem sie die Tische, welche bereits werkseitig mit einer dünnen Kunststoffschicht überzogen wurden, zur grossen, weich gewellten Fläche zusammengesetzt hatten, gossen die Arbeiter die rund 5 Millimeter grosse Fuge zwischen den Tischen mit Silikon aus. Dann begannen die Eisenleger, die unzähligen Armierungseisen darauf zu verteilen. Die zwei Schalen wurden in zwei Etappen betoniert. Resultat langwieriger Tests war auch die Betonmischung: Sie durfte nicht zu flüssig sein, sodass der Beton nicht die ‹Hügel› hinunter fliesst. Sie durfte aber auch nicht zu zäh sein, weil der Beton teilweise 200 Meter gepumpt werden musste.

Und das Resultat? Der Wunsch der Architekten nach einer glatten, glänzenden Betonuntersicht wurde grundsätzlich erfüllt: Die 7500 Quadratmeter grossen Hügel kommen wie aus einem Guss daher und schlagen weiche und stufenlose Bögen. Anspruchslos ist die Ausführung der Oberseite, denn sie wird mit einem Hohlboden verdeckt werden. Wichtig ist jedoch die Untersicht. Hier ist aber nicht nur der Fugenraster sichtbar, sondern auch die Abdrücke der Löcher, welche die Schrauben auf den Holzplatten hinterliessen. Und wer genauer hinschaut, merkt auch, dass die Silikonfugen nicht so dicht waren, wie sie hätten sein sollen: Es drang Wasser ein und liess die Kanten der Schalungstafeln leicht aufquillen. Die Folge: Die mäulchenförmigen Einrisse hinterliessen kleine Rümpfe entlang der Fugenlinie.
http://learningcenter.epfl.ch

hochparterre, Mo., 2008.10.13



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2008-10

15. September 2008Roderick Hönig
hochparterre

Eine Hülle licht und dicht

Die Umnutzung des Sulzer Areals in Oberwinterthur geht langsam, dafür nachhaltig voran. Einer der Pioniere auf der Industriebrache ist die Überbauung Eulachhof. Nur erneuerbare Energien versorgen die 136 Wohnungen der ersten grossmassstäblichen Minergie-P-Eco-Siedlung. Schlüsselrolle beim «Null-Energie-Haus» spielen die lichtdurchlässigen Wärmedämm-Elemente der Südfassade.

Die Umnutzung des Sulzer Areals in Oberwinterthur geht langsam, dafür nachhaltig voran. Einer der Pioniere auf der Industriebrache ist die Überbauung Eulachhof. Nur erneuerbare Energien versorgen die 136 Wohnungen der ersten grossmassstäblichen Minergie-P-Eco-Siedlung. Schlüsselrolle beim «Null-Energie-Haus» spielen die lichtdurchlässigen Wärmedämm-Elemente der Südfassade.

Im Hochparterre 6-7/08 schrieb der Architekt Ueli Schäfer in seinem Artikel «Von Solar nach Polar», dass die Zeit der so genannten Solararchitektur abgelaufen sei. Sonnenfänger-Häuser mit ihren grossen Fensterflächen seien von Thermoskannen-Typen abgelöst worden, also Häuser bei denen die Wärmeschutz vor dem maximalen Sonneneinfall steht. Dietrich Schwarz, der sich auch seit Jahren mit Solararchitektur auseinandersetzt und sie bereits in mehreren Bauten umgesetzt hat, verfolgt einen anderen Weg. Das Verhältnis von Aussenhülle zu Volumen, sei zwar ausschlaggebend für die Energiebilanz, so Schwarz, doch der Weg zum energiesparenden Bauen führe nicht zwingend nur über die Thermoskanne, sondern liege in der Balance zwischen Sonnenfänger und Thermoskanne. Auf dem Sulzer-Areal setzt der Architekt seine These konsequent um.

Beim Eulachhof sind drei Dinge bemerkenswert: Erstens das intelligente Energiekonzept, zweitens die Wirtschaftlichkeit, drittens dass die Kombination der beiden keine Einbussen beim Wohnkomfort zur Folge hat. Zuerst das Energiekonzept. Es gehorcht mit seiner hoch isolierten Gebäudehülle, der Komfortlüftung, den Abluft- sowie Abwasser-Wärmepumpen im Boden und der Photovoltaik-Anlage auf dem Dach allen Regeln der Energiespar-Kunst. Doch Nachhaltigkeit und Energiesparen fängt bei Schwarz vor dem Haustechnik-Konzept an – bei der Gebäudeform und der Fassadengestaltung. Der Eulachhof ist vom Prinzip her ein Sonnenfänger. Er besteht aus zwei u-förmigen Riegeln mit jeweils einem sechsgeschossigen Hauptbau an dem zwei zweigeschossige Flügel hängen. Diese beiden Klammern bilden zusammen eine Art einseitigen Blockrand, der sich fast exakt gegen Süden öffnet. Die Abstände zwischen den Hauptbauten bestimmte der Sonneneinfallswinkel am kürzesten Wintertag: Auch am 21. Dezember muss die Sonne noch direkt in die Erdgeschosswohnungen scheinen können.

Der Architekt verglast die Südfassade zu drei Viertel: «Der Solargewinn auf der Südseite ist immer grösser, als der Transmissionsverlust, den ich nur bedingt durch dickere Isolation reduzieren kann», erklärt der Architekt. Die Überhitzungsgefahr der Wohnungen, die bei einem Fensteranteil von über fünfzig Prozent entsteht, geht Schwarz mit seiner eigenen Erfindung an: «Die Differenz zwischen den Prinzipien Sonnenfänger und Thermoskanne gleichen meine GlassX-Elemente aus», erklärt er. Insgesamt sind 910 Quadratmeter dieser lichtdurchlässigen Solarspeicherwände an der Südfassade verbaut. Sie sehen von aussen aus wie Gläser aus Kunststoff-Stegplatten, innen wie blinde Scheiben. Im ersten Zwischenraum der Vierfach-Gläser ist innerhalb der Gasfüllung eine Prismenplatte eingebaut, welche die hoch stehende Sommersonne reflektiert, die Wintersonne aber durch lässt. Im zweiten Zwischenraum liegt eine weitere Gasfüllung, im dritten ein so genannter Latentspeicher, ein in Polykarbonatbehältern eingeschweisstes Salzhydrat, das solare Energie aufnimmt, speichert und zeitverzögert als Strahlungswärme in die Wohnungen wieder abgibt. Nur dank dem kontrollierten solaren Energieüberschuss, den die High-Tech-Wärmespeicher produzieren, erreicht Schwarz die von Minergie geforderte Wärmebilanz über die gesamte Gebäudehülle. Der Eulachhof ist also Mischung aus Thermoskanne und Sonnenfänger, was sich positiv im Wohnkomfort äussert, konkret in grossen Fenstern statt Gucklöchern gegen Norden.

Dass die Überbauung kein Experiment von Öko-Gutmenschen ist, zeigen die Renditeüberlegungen der beiden Besitzer Allianz Suisse und Profond. Die beiden Grossinvestoren haben das Projekt der Allreal Generalunternehmung abgekauft. Sie rechnen, laut der Zeitschrift Faktor, kurzfristig zwar mit einer Minderrendite von 0.3 Prozent gegenüber einem konventionellen Neubau, aber immer noch mit einer Nettorendite von vier Prozent. «Je höher die Energiepreise steigen, umso interessanter werden die Wohnungen für die Mieter. Wir können also mit tieferen Leerständen rechnen» lässt sich Rainer Gfeller von der Allianz in der Zeitschrift zitieren. Die fünf bis zehn Prozent Mehrkosten, die beim Minergie-P-Eco-Standard entstehen, bezahlen die Mieter gut zur Hälfte. Sie profitieren dafür von tiefen Nebenkosten – für viele ein wichtiges Entscheidungskriterium, vor allem wenn sie planen, länger im Eulachhof zu bleiben. Konkret beträgt bei einer Viereinhalb-Zimmer-Wohnung die Nebenkostenpauschale 130 Franken pro Monat – inklusive Kabelanschlussgebühren notabene.

Schwarz musste, um Kosten zu sparen, zwar ein paar Gestaltungs-Kompromisse eingehen, beispielsweise die lieblose und billige Ausgestaltung der Treppenhäuser oder die klobige Ausführung der Schiebewände in den Wohnungen, doch konnte er den Generalunternehmer auch von architektonischen Details überzeugen, die normalerweise nicht auf dem Tagesprogramm von Allreal stehen: Der Architekt motivierte seinen Auftraggeber beispielsweise dazu, nur je zwei Wohnungen pro Geschoss mit einem Treppenhaus zu erschliessen, was sechs Liftanlagen für 62 Wohnungen bedeutet. Die Mehrkosten dafür spart er durch effiziente Wohnungsgrundrisse und konsequent zweiseitig belichtete Einheiten ein: Im Eulachhof haben die Wohnungen keine Korridore und alle Einheiten haben von der Süd- bis zur Nordfassade durchgehenden Wohn-Ess-Räume. Auch die 2.60 Meter Raumhöhe sind bei einem GU nicht Standard. Doch auf die Gesamtkosten von 55 Millionen Franken gerechnet, schlägt die überdurchschnittliche Raumhöhe kaum zu Buche, die höhere Wohnqualität, die vor allem in den 15.5 Meter langen Wohn-Ess-Räumen daraus erwächst, hingegen schon.

Energiesalon

Der Eulachhof – zusammen mit weiteren Bauten im Spannungsfeld zwischen Nachhaltigkeit und Architektur – ist auch Thema des Energiesalons. Diese Veranstaltungsreihe führt Täter, Expertinnen und Forscher aus unterschiedlichen Disziplinen zusammen. Sie reden über Innovationen im Bereich Architektur und Nachhaltigkeit, stellen Projekte, Erfahrungen und Denkweisen vor und tauschen Wissen aus. Der Energiesalon ist eine Initiative von Hochparterre, dem Architekturbüro Bob Gysin und der Firma Energiekonzepte. Die Veranstaltungsdaten: 24.9., 22.10., 12.11. und 3.12., jeweils 18 Uhr in der Galerie Bob Gysin in Zürich.
Der Energiesalon wird unterstützt von Archimedia, Zumtobel, Bundesamt für Energie, Gasser Passivhaustechnik, Erne und Alternative Bank.
Infos und Anmeldung: www.hochparterre.ch/energiesalon

Energiekonzept

Die Energien, welche die 20000 Quadratmeter grosse Energiebezugsfläche des Eulachhofs verbraucht, sind zu 100 Prozent erneuerbar. Die Heizungs-Wärmepumpe wandelt warme Abluft aus den Wohnungen in Heizungswärme um, Wasser für Küche und Bad wird mit einer Abwasser-Wärmepumpe erwärmt. Die Spitzen-Verbrauchszeiten deckt ein Anteil von 20 Prozent Heizenergie aus der Kerichtverbrennungsanlage. Der Abfall, den die Bewohner produzieren (180 kg/Jahr/P), produziert bei seiner Verbrennung mindestens viel Wärme, wie der Eulachhof zu Spitzenlastzeiten zusätzlich verbraucht. Die Photovoltaikanlage auf dem Dach deckt den Strombedarf der Wärmepumpen und des Lifts, Treppenhausbeleuchtung und Lüftung, nicht aber der einzelnen Wohnungen.

hochparterre, Mo., 2008.09.15



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2008-09

15. September 2008Roderick Hönig
hochparterre

Tarn-Architektur

An der alten Dorfstrasse in Wiesendangen ist die Welt noch in Ordnung: Ihr entlang stehen alte, gut erhaltene Wohn- und Bauernhäuser, dahinter Ökonomiegebäude...

An der alten Dorfstrasse in Wiesendangen ist die Welt noch in Ordnung: Ihr entlang stehen alte, gut erhaltene Wohn- und Bauernhäuser, dahinter Ökonomiegebäude...

An der alten Dorfstrasse in Wiesendangen ist die Welt noch in Ordnung: Ihr entlang stehen alte, gut erhaltene Wohn- und Bauernhäuser, dahinter Ökonomiegebäude in Nutzgärten. Das neue Kirchgemeindehauses ist eine Antwort auf diese ‹heile› Siedlungsstruktur: Die Architekten entwarfen eine massive Betonkonstruktion, die sich als leichte Holzscheune gibt. Das Resultat ist frappant: Das Haus passt sich so gut in die Umgebung ein, dass man das Gefühl hat, es sei schon immer da gewesen. Im Vergleich zur Scheune lassen die Holzlamellen jedoch Blicke und Licht ins Haus hinein und auch hinaus. Vor allem am Abend wirkt das beleuchtete Haus leicht und luftig. Im Erdgeschoss, wo Foyer und Café liegen, ist der Abstand der Lamellen breit und die Schiebefenster gross. Gegen oben werden die Räume privater, die Fenster kleiner und der Lamellenraster enger. Der Entwurf ist aber nicht nur formal elegant, sondern auch funktional: Um die Holzfassade vor dem Regen zu schützen, lassen die Architekten jedes Geschoss 15 Zentimeter über das darunter liegende auskragen. Wie bei den Nachbarhäusern schützen diese ‹Vordächer› die Fassade vor dem Regen.

Willkommener Nebeneffekt: Sie lassen das Volumen kleiner erscheinen. Ein gekonnter vertuschter ‹Ausrutscher› ist das asymmetrische Walmdach. Es passt sich perfekt in die Gibel-Dachlandschaft ein – der Grund für die Form ist aber ein anderer: Sie versteckt die Lift-Überfahrt am besten.

hochparterre, Mo., 2008.09.15



verknüpfte Bauwerke
Kirchgemeindehaus Wiesendangen



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2008-09

06. August 2008Roderick Hönig
hochparterre

Die Rauminstallation

Es gibt Modemacher, die stellen ihre Kleider aus wie Preziosen: Mit warmem Licht lassen sie Stoffe wie Edelmetalle leuchten, präzis verlaufende Schatten...

Es gibt Modemacher, die stellen ihre Kleider aus wie Preziosen: Mit warmem Licht lassen sie Stoffe wie Edelmetalle leuchten, präzis verlaufende Schatten...

Es gibt Modemacher, die stellen ihre Kleider aus wie Preziosen: Mit warmem Licht lassen sie Stoffe wie Edelmetalle leuchten, präzis verlaufende Schatten ziehen die eleganten Schnittlinien nach, ausgesuchte Farben komponieren abstrakte Bilder. Nicht so Ida Gut. Die Zürcherin eröffnete vor 14 Jahren ihr eigenes Geschäft, nun hat sie sich im 300 Quadratmeter grossen Erdgeschoss einer ehemaligen kleinen Fabrik eingerichtet. Es ist Verkaufsraum, Atelier und Lager in einem. Der Grundriss bietet eine konkrete Raumerfahrung: Im Plan flattern flügelförmige Formholz-Wände entlang eines luftigen Dreiecks. Im Zentrum der Verkaufsraum, auf der einen Schenkelseite das Atelier, auf der anderen das Lager und im schmalen Zwischenraum sind die Garderoben untergebracht. Aus der Perspektive der Kundin ist der Raum weniger durchlässig, als er auf dem Plan wirkt: Die wellenförmigen Elemente ziehen einen förmlich in den Raum, verstecken aber auf der Eingangsseite die Kleider. Die Kundin erlebt zuerst den Raum und findet nachher die Produkte. Die Kleider hängen fast beiläufig zwischen den Flügeln, wo auch die Decken- und Punktstrahler untergebracht sind.

hochparterre, Mi., 2008.08.06



verknüpfte Bauwerke
Sport- und Kultursaal ‹Haulismatt›



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2008-08

18. Juni 2008Roderick Hönig
hochparterre

100 Villen für den Milchmogul

In Ordos, der Provinzhauptstadt der inneren Mongolei, planen derzeit 100 Architekten aus aller Welt 100 Villen in 100 Tagen. ‹Ordos 100› heisst die kuriose Architekturolympiade im Auftrag eines mongolischen Milchmoguls. Im April war Ortstermin, Hochparterre war dabei.

In Ordos, der Provinzhauptstadt der inneren Mongolei, planen derzeit 100 Architekten aus aller Welt 100 Villen in 100 Tagen. ‹Ordos 100› heisst die kuriose Architekturolympiade im Auftrag eines mongolischen Milchmoguls. Im April war Ortstermin, Hochparterre war dabei.

«‹Ordos 100› ist eine grossartige Chance, China kennenzulernen, und eine tollkühne Performance des Individualismus der westlichen Welt», fasst Jachen Könz das Projekt zusammen. «Spannend finde ich auch den von Ai Weiwei und seinem Team aufgespannten Rahmen: Er macht kaum Vorgaben und garantiert grosse Freiheiten», meint der Bündner Architekt mit Büro in Lugano. Auch Reto Pedrocchi schwärmt: «‹Ordos 100› ist eine Utopie, wie sie derzeit nur in China realisiert werden kann.» Der Basler freut sich über die für ein junges Büro einmalige Chance: «Wir können spannende Erfahrungen in einem völlig fremden kulturellen Kontext sammeln und erst noch ein Haus bauen. Gleichzeitig ist die Vorgabe, dass man bereits das Vorprojekt inklusive Urheberrechte nach 100 Tagen aus der Hand geben muss, ein gutes ‹Höhentraining› für die Architektenpraxis in der Schweiz.» Für Simon Hartmann, vom Basler Büro HHF, steht noch ein weiterer Punkt im Vordergrund: «Anlässlich von ‹Ordos 100› lernen wir 99 andere Büros aus der ganzen Welt über ihr Werk, viele sogar persönlich kennen. Das Projekt ist deshalb auch eine ausserordentliche Gelegenheit, über Architektur zu diskutieren und freundschaftliche Beziehungen zu knüpfen.» Dass bei den Beteiligten kaum Kritik zur absurden Architekturveranstaltung zu hören ist, die eher Züge einer Kunstperformance trägt, überrascht nicht. Überraschend ist eher die Offenheit – oder ist es Naivität? –, mit der die meisten Teams der Einladung nach China folgten. Sie erhielten Ende 2007 eine E-Mail, die das Projekt nicht einmal skizzenhaft umriss, und mussten innert zehn Tagen zusagen. Honorar: 25 000 Euro für ein überarbeitetes Vorprojekt für eine 1000-Quadratmeter-Villa inklusive Urheberrechte.

Viel Geld und politische Rückendeckung

Doch beginnen wir von vorne, also bei Cai Jiang. Der Mongole spielt die Hauptrolle im kuriosen Stück – er ist der Bauherr. Der 40-Jährige ist ein zurückhaltender, makellos gekleideter Geschäftsmann mit Ziegenbärtchen und schwarzer Mercedes V-12-Limousine, einem 3000-Euro-Handy in der einen und einer kubanischer Zigarre in der anderen Hand. Von sich selbst sagt er, dass er seine Karriere begonnen hat, indem er mit Russen Kaschmir- und Süsswasserperlen gegen recyclierten Stahl getauscht habe. Heute führe Cai Jiang ein verzweigtes Rohstoff-Imperium. Das Nachprüfen, ob das stimmt, ist sowohl für die Architekten wie auch für den Journalisten ein Ding der Unmöglichkeit. Der Mongole besitze unter anderem eine der grössten Milchfarmen Chinas mit 50 000 Stück Vieh an der nördlichen Grenze zur Mongolei. Das wiederum kann stimmen, denn in seinem Privatmuseum steht ein Foto, das den Business-Bauern auf seiner Farm Arm in Arm mit dem chinesischen Ministerpräsidenten Wen Jiabao zeigt. Cai Jiang hat also nicht nur Geld im Überfluss, sondern auch die nötige Rückendeckung von ganz oben.

Wie es sich für einen kultivierten Neureichen gehört, sammelt der schlanke Chinese seit einigen Jahren zeitgenössische Kunst und lernt dabei – wenn einer das seriös tut, kommt er kaum um ihn herum – den voluminösen Ai Weiwei kennen. Der wiederum ist nicht nur Künstler, sondern auch (ungelernter) Architekt und hat sich in den letzten Jahren zu den weltweit einflussreichsten Persönlichkeiten in der Kunst- und Architekturszene hochgearbeitet. Und weil Cai Jiang nicht nur mit Rohstoffen handelt, sondern auch im Immobiliengeschäft tätig ist, beauftragt er den Pekinger Künstler, der ‹Architektur als Hobby› betreibt, neben seinem Privatmuseum für Kunst und Architektur in Ordos Künstlerateliers zu bauen. So wurde aus der spinnigen Idee eine Realität: Das Museum wurde letztes Jahr eröffnet, Ai Weiweis elegante Artist-in-residence-Studios bekamen ihren letzten Schliff im April dieses Jahres. Beide Bauten sind die ersten realen Vorboten eines 1 460 000 Quadratmeter grossen ‹Creative Industry Park›, der rund um diese beiden ersten Leuchttürme herum entstehen soll. Die Investitionskosten gibt der Geschäftsmann mit 4,5 Milliarden Renminbi an, umgerechnet 650 Millionen Franken. Das Quartier für die noch in die innere Mongolei zu lockende Kreativ-Industrie soll aus Konzertsälen, Akademien, Theater, Filmstudios, Wohnungen und Büros bestehen. Und eben den 100 Luxusvillen, welche Cai Jiangs Yuan Water Engineering Company als Teil des Parks realisieren will. Das Budget für eine dieser 1000-Quadratmeter-Villen beträgt umgerechnet eine halbe Million Franken, der ganze Villenpark soll 50 Millionen Franken kosten. Cai Jiang will alle Villen bis Ende 2009 gebaut haben und sie für rund 1,5 Millionen Franken an örtliche Geschäftsleute verkaufen, die sie entweder selbst als Wohnhäuser oder als Gästehäuser für wichtige Kunden oder Geschäftspartner brauchen.

Und wie kam die ominöse Liste der 100 ‹Avant-Garde-Architekten› (Artforum) zusammen? Sie hat, wegen ihrer geografischen Unausgeglichenheit und des fehlenden Praxisnachweises einzelner Teams für bissige Kommentare in verschiedenen Architekturmedien (HP 4/08) gesorgt. Zusammengestellt hat sie Herzog & de Meuron, die bereits am Olympia-Stadtion mit Ai Weiwei zusammengearbeitet haben. Den verhältnismässig hohen Anteil an Schweizer beziehungsweise Basler Büros erklärt Jacques Herzog in der New York Times lapidar: «Die Zusammenstellung ist keine Aussage über ein Land, sondern ein Abbild unseres eigenen Netzwerks.» Voraussetzung für eine Einladung war also ein persönlicher oder professioneller Berührungspunkt mit dem Basler Büro: Eingeladen wurden ehemalige Mitarbeiter, Assistenten des ETH Studios Basel, Kollegen aus dem Lehrkörper in Harvard, Freunde von Freunden. Dass einige, vor allem amerikanische Architektinnen und Architekten, die vornehmlich in der Lehre und Forschung tätig sind, noch nie gebaut haben, ist für Simon Hartmann kein Ausdruck von Gefälligkeit: «Offensichtlich zählten bei der Auswahl nicht nur gutschweizerische Werte wie Praxiserfahrung und Werkliste, sondern auch andere Dinge, beispielsweise akademische Erfahrungen.»

Bauen in China?

«Wir haben lange diskutiert, ob wir bei der Aktion mitmachen oder nicht», antwortet Anne Marie Wagner auf die derzeit in deutschen Feuilletons heiss diskutierte Frage, ob man als westliche Architektin in einem Land mit einem politischen System wie China bauen darf. «Aber was haben wir davon, wenn wir nicht mitmachen? ‹Ordos 100› ist auch eine Gelegenheit, sich vor Ort ein eigenes Bild zu machen, sich mit dieser Frage direkt zu konfrontieren. Ausserdem bauen wir nicht für die Staatsmacht, sondern für chinesische Oligarchen. Und im Unterschied zu anderen Vorhaben dieser Art stehen Ai Weiwei und Herzog & de Meuron als Kuratoren für das Projekt.» Ähnlich sieht das Luca Selva: «Wir haben im Vorfeld, soweit es uns möglich war, recherchiert, wer der Bauherr ist. Cai Jiang ist ein Financier, wie es sie hier auch gibt. Er hat ein privates Wohnhausprojekt lanciert, an dem einige Fragen der Stadtentwicklung dranhängen.» Für den Basler ist klar: «Der Architekt ist immer Komplize, denn bauen tut nur, wer Geld und damit Macht hat. Das ist im Westen wie auch in China so.» Simon Hartmann doppelt nach: «Der Diskurs ‹Bauen in China – ja oder nein› ist interessant.» Aber die Basis, sich ein Urteil über den Bauherrn oder den sozialen und politischen Kontext zu bilden, sei wacklig. Architekten sähen nur selten, woher das Geld für ein Bauvorhaben wirklich komme, und trotzdem bauen sie, so Hartmann. «Der Ort als Kriterium für moralische Fragen erscheint mir ziemlich unbrauchbar. Ist ein Resort in den Schweizer Alpen a priori moralisch unbedenklicher als ein Projekt in China oder in den USA?»

Vorstadt in der Wüste

Und wie stellen sich die Teilnehmer zur Übungsanlage, also zum Verfahren, das keinen Kontext erzeugt, weil alle Architekten praktisch gleichzeitig und ohne Austausch an ihren Projekten arbeiten? Oder zum von Ai Weiweis Büro Fake Design dürftig ausgearbeiteten Masterplans, der nicht viel mehr als ein einfacher Raster von Bauparzellen ist? Viele Teilnehmer waren denn auch sichtlich schockiert, als sie zum ersten Mal das Ensemble der 28 niedlichen Modelle sahen, welche die Teilnehmer der ersten Phase ins Masterplanmodell in Ordos einsetzten. Sie bilden nicht etwa eine elegante Villensiedlung, sondern einen laut brüllenden Architekturenzoo. Sie formen eine Nachbarschaft, die in der Schweiz als Vorzeigebeispiel für schlechten Städtebau gelten würde. Es scheint, dass jeder einzelne der 28 Architekten der ersten Phase den – notabene unausgeschriebenen – Preis für Originalität gewinnen wollte und dabei deutlich übers Ziel hinausschoss. Die hohe Dichte – gefordert sind absurde 1000 Quadratmeter pro Villa auf Grundstücken mit einer Fläche von 1200 bis 2200 Quadratmetern – trägt das ihre zum traurigen Gesamtbild bei. «Es geht um die Erfindung von Suburbia. Was in unserer freiheitlichen Welt als Folge individueller Rechte entstanden ist, wird von Ai Weiwei geplant. Vorstadt ist für uns negativ behaftet, für die Chinesen positiv», meint Könz lakonisch. Mehr Mühe habe er mit der vorgegebenen Dichte: «Für ein Villenviertel sei sie zu hoch, für ein Stadtquartier zu niedrig.» Auch Reto Pedrocchi moniert den rigiden Masterplanentwurf: «Es wird ein Villenviertel entstehen, das an eine Semesterarbeit zum Thema Villa in der Vorstadt erinnert. ‹Ordos 100› wird eine Ansammlung von Einzelobjekten, eine Art Architekturausstellung. Wir konzentrierten uns deshalb auf den Innenraum.» Für Simon Hartmann ist klar: «‹Ordos 100› ist vielmehr Kunst- als Architekturprojekt – eine clevere Marketingstrategie, die bewusst auf unkontrollierte Diversität setzt.».
Der aus Architektensicht unausgereifte Masterplan überzeugt vor dem künstlerischen Hintergrund von Ai Weiwei: «Ich kenne meine eigenen Grenzen und wollte nicht, dass sie das Projekt limitieren», verteidigt sich der Künstler, «zudem gibt es für mich keine Grenzen in der Architektur, weder positive noch negative. Ordos ist eine ausserordentliche Gelegenheit, etwas zu lernen und seinen Horizont zu erweitern.» So sieht das auch Anne Marie Wagner: «Die wenigen Vorgaben erzeugen so viele Freiheiten, wie wir sie als Architektinnen selten geniessen. ‹Ordos 100› erwartet von uns eine gute Antwort, wie wir mit diesen Freiheiten umgehen. Wir nutzen die Gelegenheit für eine Selbstanalyse: Wir beobachten uns beim Entwerfen, fragen uns, wieso uns etwas fasziniert, und versuchen, daraus zu lernen.» Die ungewöhnlich grosse Entwurfsfreiheit, mit der viele der eingeladenen Architekten hadern, hat am Schluss vielleicht doch mit dem Ort zu tun, mit der grenzenlosen Weite der mongolischen Wüste.

[Roderick Hönigs Chinatagebuch und weitere Bilder unter: www.schweizblog.hochparterre.ch/architektur/hochparterres-china-tagebuch-1-tag.html]


Interview mit dem Künstler Ai Weiwei

Der Künstler Ai Weiwei hatte für die Kunst-Performance ‹Fairytail› an der letztjährigen Documenta 1001 Chinesen nach Kassel eingeladen. Dieses Jahr organisiert er ‹Ordos 100›. Roderick Hönig sprach mit ihm in China.

Ist ‹Ordos 100› die Umkehrung von Fairy-tail, also eine Kunstperformance?
‹Ordos 100› ist keine Performance. Der grosse Unterschied zu einer Kunstaktion ist, dass die Architekten hier einen Gebrauchsgegenstand für einen Bauherren entwerfen. Richtig hingegen ist: Ich bin Künstler und kein Architekt. Und weil nun viele Menschen das Gefühl haben, dass ich solche Projekte gut manage, beginne ich selbst zu zweifeln, ob ich überhaupt ein Künstler bin.

Um was geht es bei ‹Ordos 100›?
Für ‹Ordos 100› habe ich Architekten aus verschiedenen Kulturen eingeladen, sich mit China, mit Ordos und mit den anderen 99 Teams auseinanderzusetzen. Dass sie im vergangenen April alle in Ordos zusammentrafen, zwang sie dazu, miteinander zu kommunizieren. Und Kommunikation hilft, Grenzen zu überwinden, und löst sehr viele Probleme. Wichtig ist mir auch, dass die 100 Architekten merken, dass sie als Individuum nur ein Prozent der Masse ausmachen. Das verändert ihre Selbstwahrnehmung.

Was war zuerst: Der Bauherr Cai Jiang oder Sie mit der Projektidee?
Cai Jiang und ich kennen uns schon eine Weile. Aber der Kontakt ist lose: Er ist Geschäftsmann und ich Künstler. Ich habe die Ateliers neben seinem Museum gebaut. In der Folge schlug ich vor, für die Villen 100 Architekten aus der ganzen Welt anzufragen. So einfach war das.

Wie nutzen Sie das Projekt?
‹Ordos 100› ist für mich die Gelegenheit herauszufinden, wie wir ausländische Wissensressourcen effizient nutzen können. Im Westen wird viel mehr über Architektur nachgedacht, als gebaut. In China ist es genau umgekehrt. Anlässlich meiner Zusammenarbeit mit Herzog & de Meuron beim Olympiastadion habe ich gelernt, was es braucht, damit ein gutes Projekt entsteht und wie ein Architekturprojekt die aktuelle gesellschaftliche Situation verändern kann. Kurz, ich profitiere von den Kontakten und von den interessanten Gesprächen, die Architekten haben einen Auftrag und der Bauherr Cai Jiang macht ein Geschäft.

Einverstanden, Sie, der Bauherr und die 100 eingeladenen Teams profitieren. Wo aber profitieren chinesische Architekten?
Wie ich schon sagte, in China wird im ganz grossen Massstab gebaut, aber es wird ganz wenig oder einseitig darüber diskutiert. ‹Ordos 100› wird ein eigener Beitrag zur Architekturdiskussion in China werden.

Um die Diskussion zu lancieren, müssen Sie das Projekt kommunizieren. Wie sehen ihre Vermittlungspläne aus?
Im Informationszeitalter ist es eher schwer zu verhindern, dass so ein Projekt nicht die Runde macht. Als Sender werden die 100 Teams aus über 30 Nationen wirken. Sie werden ihre Erfahrungen aus China in ihre Projekte, aber auch in ihre Lehrtätigkeit einfliessen lassen.

Was ist für Sie wichtiger: der Prozess oder das Resultat?
Der Prozess ist wichtiger. Aber auch viele Architekten haben mir bestätigt, dass sie diese Gelegenheit, andere Architekten persönlich zu treffen und mit ihnen über ihre Arbeit und Architektur zu sprechen, sehr genossen haben.

Während der Fragerunden und Diskussionen haben die Architekten heftig über den ‹Architekturenzoo› debattiert, der entstehen wird. Waren Sie auch schockiert, als die das wilde Nebeneinander der Häuser zum ersten Mal sahen?
Für mich gibt es keine Grenzen in der Architektur. Weder positive noch negative. Die negative Bezeichnung ‹Architekturenzoo› hat für mich keine Bedeutung. Ich frage mich viel lieber, ob der heutige Tag eine Bedeutung hatte für mich oder nicht. Ich bin ein Pragmatiker: Lieber einen Architekturenzoo bauen, als darüber lästern und ihn nicht bauen. Diskutieren können wir ewig, nur wer baut, muss eine Entscheidung treffen. Noch einmal: Ordos ist eine ausserordentliche Gelegenheit, etwas zu lernen und seinen Horizont zu erweitern. Die Alternative ist der «sichere» Arbeitsalltag zu Hause.

Wie finden Sie die ersten 28 Entwürfen?
Die Formen möchte ich nicht kommentieren. Ich will nicht den Geschmack der Architekten kritisieren, sondern die Gebrauchstauglichkeit ihrer Entwürfe. Spannend finde ich, wie die Gestalter mit den vielen Freiheiten und den wenigen Randbedingungen umgegangen sind: Wie haben sie eine andere Kultur verstanden, welchen Respekt haben sie dem fremden Ort entgegengebracht.

Was meinen Sie mit Respekt?
Unter Respekt verstehe ich, dass die Architekten ein Haus entwerfen, das den Verhältnissen der Zeit und des Orts entspricht. Sie sollen aber etwas probieren, das sie in ihrem heimatlichen Arbeitsalltag nicht probieren würden.

Wie haben die Architekten auf ihre offene Fragestellung geantwortet?
Ich wollte möglichst wenige Randbedingungen aufstellen. Denn ich kenne meine Grenzen und wollte nicht, dass sie das Projekt limitieren. Einige Architekten haben gemerkt, um was es mir geht, andere werden es nie merken.

‹Ordos 100› wäre auch eine gute Gelegenheit gewesen, ein Statement zum energieeffizienten Bauen zu machen. Nachhaltiges Bauen ist kein Thema. Wieso?
Energieeffizienz und Nachhaltigkeit sind nur zwei von vielen Antworten. Die Kritik aus dem Westen tönt immer gleich: Architektur in China erreicht das westliche Komfort-Niveau nicht. Gleichzeitig kritisieren viele Westler, dass chinesische Bauten nicht effizient mit Energien umgehen. Unser Beitrag zur Umwelt-Diskussion ist, dass die 100 Teams viel einfachere und viel billigere Häuser als in Europa bauen werden. In Europa oder in den USA kostet das Bauen rund sechs Mal mehr als in China.

Würden Sie in einer der Villen wohnen?
Jede der geplanten Häuser wäre gut für mich! Jeder Raum kann bedeutungsvoll sein.

hochparterre, Mi., 2008.06.18



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2008-06|07

18. Juni 2008Roderick Hönig
hochparterre

Residenz auf Zeit

1902 eröffnete der holländische Unternehmer Jan Holzbur auf der Schatzalp oberhalb Davos ein Luxussanatorium. Das heutige Hotel Schatzalp ist ein Bau der...

1902 eröffnete der holländische Unternehmer Jan Holzbur auf der Schatzalp oberhalb Davos ein Luxussanatorium. Das heutige Hotel Schatzalp ist ein Bau der...

1902 eröffnete der holländische Unternehmer Jan Holzbur auf der Schatzalp oberhalb Davos ein Luxussanatorium. Das heutige Hotel Schatzalp ist ein Bau der Zürcher Architekten Pfleghard & Haefeli. 1907 lässt Holzbur für den leitenden Arzt gleich nebenan die herrschaftliche Villa Guarda bauen. Der kompakte, ortstypisch verputzte Massivbau gibt sich halbmodern: Ihn krönt zwar ein modernes Flachdach, es liegt aber immer noch auf einem traditionellen Sgraffiti-Dachfries auf. 2007 haben die neuen Besitzer des Hotels die Villa ins 21. Jahrhundert überführt, das heisst, in eine 235 Quadratmeter grosse Suite für WEF-Gäste, Geschäftsleute oder Familien umgebaut. Sie haben das Haus in eine Arbeits- und eine Wohnetage unterteilt. Im Erdgeschoss gibt es wohnliche Sitzungszimmer, eine Kaminecke und ein Arvenstübli. Alt und Neu gehen nicht ineinander über, die Eingriffe bleiben nachvollziehbar, nur die Technik bleibt unsichtbar. Das Obergeschoss atmet weniger Business-Charme, hier liegt ein weites Wohn- zwischen zwei grosszügigen Schlafzimmern mit – zumindest bis der Schatzalpturm von Herzog & de Meuron gebaut ist – dem schönsten Hotelblick von Davos.

hochparterre, Mi., 2008.06.18



verknüpfte Bauwerke
Umbau Villa Guarda



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2008-06|07

19. Mai 2008Roderick Hönig
hochparterre

Künstlerischer Grundbruch

Der Architekt Hans Zwimpfer hat ein Flair für Kunst. Das hat er mit den Auftragsarbeiten an Roni Horn, Beat Zoderer oder François Morellet anlässlich seiner...

Der Architekt Hans Zwimpfer hat ein Flair für Kunst. Das hat er mit den Auftragsarbeiten an Roni Horn, Beat Zoderer oder François Morellet anlässlich seiner...

Der Architekt Hans Zwimpfer hat ein Flair für Kunst. Das hat er mit den Auftragsarbeiten an Roni Horn, Beat Zoderer oder François Morellet anlässlich seiner Peter-Merian- und Jacob-Burckhardt-Bürohäuser am Bahnhof Basel bewiesen. Kunst-und-Bau spielt auch bei der ersten PileUp-Überbauung eine Rolle, die in Rheinfelden entstanden ist. Dort hat Katja Schenker (HP 12/05) den Innenhof gestaltet. Die Künstlerin hat Zwimpfers Stapel-Idee ernst genommen und von einer Geologin berechnen lassen, wie viele Wohnungen man übereinander stapeln müsste, bis es zum Grundbruch käme. Es sind 1589. Die Erdverwerfungen eines solchen Grundbruchs hat sie nun mit diesem ‹Garten› nachgebaut. Nach einem Lehmmodell hat sie die flachen ‹Hügelzüge› entlang der parallelen Hoffassaden mit Misapor-Blähglasschotter geformt und mit einem farbigen Moosteppich überzogen. Zwischen den beiden ‹Moränen› hat die Künstlerin in Handarbeit aus 8000 farbig lasierten Keramikplatten eine Fläche entstehen lassen, die vom Balkon aus einem Satellitenbild einer Landschaft gleicht und ebenerdig als Gehweg zum Rheinufer funktioniert.

hochparterre, Mo., 2008.05.19



verknüpfte Bauwerke
Innenhofgestaltung



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2008-05

08. April 2008Roderick Hönig
hochparterre

Adlerhorst aus Glas

Staatsarchiv klingt nach einem stattlichen und zentral gelegenen Gebäude. Doch dieses kollektive Gedächtnis des Kantons Baselland liegt mitten in einem...

Staatsarchiv klingt nach einem stattlichen und zentral gelegenen Gebäude. Doch dieses kollektive Gedächtnis des Kantons Baselland liegt mitten in einem...

Staatsarchiv klingt nach einem stattlichen und zentral gelegenen Gebäude. Doch dieses kollektive Gedächtnis des Kantons Baselland liegt mitten in einem harmlosen Wohnquartier auf der ‹falschen›, der Liestaler Altstadt gegenüberliegenden Seite des Bahndamms. Obwohl im Wettbewerbsprogramm explizit ausgeschlossen, schlugen die Architekten zur Verdoppelung der Fläche eine Aufstockung vor und lösten damit mehrere Probleme auf einen Schlag. Das daraus resultierende Attikageschoss aus Glas macht das Haus zu einem offensichtlich öffentlichen Gebäude. Der Adlerhorst schafft helle Arbeits- und Leseplätze mit Weitblick für Personal und Besucher und bindet das Haus, zumindest visuell, ans Stadtzentrum an. Von hier sieht man über den Bahndamm hinweg. Konsequenz der Aufstockung ist ein unbemanntes Entree, doch in der zweigeschossigen Eingangshalle erwartet die Besucher ein architektonisches Feuerwerk: Fein horizontal gerillte Betonwände geben dem Raum so viel Schwung, dass man meint, die Wendeltreppe beginne gleich zu drehen.

hochparterre, Di., 2008.04.08



verknüpfte Bauwerke
Staatsarchiv Basel-Landschaft



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2008-04

16. Januar 2008Roderick Hönig
hochparterre

Harmlose Gletscherspalte

Herzog & de Meuron waren fünf Jahre mit dem Hotelier Urs Karli unterwegs auf Planungswanderung. Resultat ist der erste Hotelbau der Architekten und ein letzter Passstein in Karlis Hotelimperium. Das ‹Astoria› in Luzern sollte eine bewohnbare ‹Gletscherspalte› werden, doch nach Gletscherlicht, Eiskristallen und Gipfelerlebnis sucht man vergeblich.

Herzog & de Meuron waren fünf Jahre mit dem Hotelier Urs Karli unterwegs auf Planungswanderung. Resultat ist der erste Hotelbau der Architekten und ein letzter Passstein in Karlis Hotelimperium. Das ‹Astoria› in Luzern sollte eine bewohnbare ‹Gletscherspalte› werden, doch nach Gletscherlicht, Eiskristallen und Gipfelerlebnis sucht man vergeblich.

Der Luzerner Hotelier- und Gastrounternehmer Urs Karli liess sich bereits 2000 von Jean Nouvel ‹The Hotel› bauen. Beim nur ein paar Schritte entfernten ‹Astoria› erteilte er den 23-Millionen-Franken-Auftrag wieder an Architekten mit Namen – Stararchitekten generieren Hotelnächte und erhöhen den Marktwert eines Hauses. Doch es scheint, dass Herzog & de Meuron mehr als Marketing-Etikett dienen, denn als Architekten. Es wundert deshalb nicht, dass die Basler beim Projekt den Gipfel nicht erklimmen konnten. Das Projekt bleibt in der durchaus spannenden Grundriss-Figur stecken. Karli, der sein Geschäft à coeur kennt, wollte die eierlegende Wollmilchsau: Herzog & de Meuron sollten für die nur 21 Meter breite und 34 Meter tiefe Blockrand-Parzelle zwischen Winkelriedstrasse und Kauffmannweg ein Passstück entwerfen, das möglichst viele Zimmer, ein Tageslicht-Kongress- und Seminargeschoss auf dem Dach und mehrere Küchen im Keller hat sowie die 150 Zimmer der drei bereits bestehenden Hotelbauten des ‹Astoria› mit einer zentralen Lobby verbindet. Herzog & de Meuron haben trotz minimalem städtebaulichen Spielraum eine originelle und auch funktionale Antwort gefunden. Sie füllen die wenig lichtverwöhnte Baulücke mit einer komplizierten Hoffigur, mit einem Glashaus, dessen vier tiefe, über die gesamte Gebäudehöhe verlaufende Einschnitte, sogenannte ‹Gletscherspalten›, Tageslicht bis in die unteren Geschosse holen. Die Raumskulptur ist nicht nur Lichttrichter, sondern verlängert auch die Fassadenlinie: Es gelingt den Architekten, 90 unterschiedliche Zimmer, natürlich belüftet und belichtet, entlang dieser ‹Gletscherspalten› aufzureihen – deutlich mehr, als wenn sie alle direkt auf die Strasse hin orientiert hätten. Noch spannender wäre, von der einen zur anderen Strasse durch das Haus zu laufen, was ursprünglich geplant war.

Soweit die Vorgeschichte. Die effiziente Ausnutzung der Parzelle und die geschickte Verknüpfung durch eine zentrale Lobby mit den Nachbarhäusern führen zwar zu kurzen Wegen, zu einem reibungslosen Hotelbetrieb und zu einem unverwechselbaren Haustyp, nicht aber zu besonderen räumlichen oder architektonischen Qualitäten. Die Erwartungen, welche die expressive Fassadenskulptur von aussen schürt, werden im Inneren nicht erfüllt. «Das ‹Astoria› ist ein interessantes Projekt, doch wir konnten aus Kostengründen viele unserer Ideen nicht realisieren», resümiert Jacques Herzog, «Das Konzept hätte eine radikale Umsetzung verlangt – dass wir die letzten Meter nicht gehen konnten, sieht man dem Projekt heute an. Vielleicht waren wir zu nachsichtig.»

Wo ist der Kofferlift?

Erster Berührungspunkt mit dem Hotel ist der Empfang. Die Art der Inszenierung der Ankunft definiert das Niveau der Gastfreundschaft, kein Hotelier bekommt eine zweite Chance auf den ersten Eindruck. Die Dramaturgie im ‹Astoria› und die Fassade orientieren sich an internationalen Vorlagen. Höhepunkt ist die gelbe Kaskadentreppe in Stein, welche die verspiegelte Glassschlucht an der Winkelriedstrasse herunterplätschert, ein Auftritt der funktioniert und beeindruckt: Die Treppe zur Lobby im ersten Obergeschoss (weil im Erdgeschoss eine Bar oder ein Restaurant entstehen soll) wird zur Bühne und sie markiert zeichenhaft den neuen Haupteingang im nachts von innen heraus leuchtenden Glasgebirge. Gleichzeitig verströmt die 2800 Quadratmeter grosse Fassade aber auch das Flair eines Hotel-Towers in Manhattan oder Shanghai: Grossflächige Spiegelgläser, gefasst von klobigen, glänzenden Chromstahlleisten verkleiden den Bau vollflächig. Sie reduzieren ihn auf ein markantes abstraktes Volumen und unweigerlich hebt man in der ‹Gletscherschlucht› den Kopf zum Himmel, was sicherlich einigen Gästen ein kleines «Ah» abringt. Ihre Tücken zeigt die internationale Schaufassade im Luzerner Alltag – und das nicht nur bei Regen: Rolltreppe und Gepäcklift haben die Architekten so gut versteckt, dass zumindest tagsüber – wer nicht weiss, dass sie sich hinter der Spiegelwand im Erdgeschoss befinden – der Gast entweder den Koffer mühsam ins Obergeschoss schleppt oder darauf hofft, dass ihm jemand den Geheimgang zum Kofferlift zeigt. Hat man diese Hürde einmal geschafft, wird die erste Etappe der Gletscherwanderung aber nicht mit einem Ort der persönlichen, opulenten und warmen Gastlichkeit belohnt, sondern mit einer unterkühlten, klinisch weissen (eben nicht schnee- oder gletscherweissen) Hotellobby. Sie geniesst zwar dank des rückseitigen Einschnitts viel Tageslicht und durch die doppelte Raumhöhe einen weiten Atem, doch ist sie hilflos mit drei grauen Ledersofas und einer modisch-organisch geformten Reception möbliert, die auf einem Lichtband schwebt: Ihr steriler Charme erinnert eher an den Warteraum einer Zahnarztpraxis als an die Hotelhalle eines Viersternehotels. Die Sperma-Lampen, die lustlos von der Decke hängen, und der kalte Steinboden unterstreichen – gewollt oder ungewollt – die medizinischen Assoziationen. Kurz, zum Verweilen, zum Tee trinken oder zum Zeitunglesen lädt dieser Ort nicht ein.

Fliessende Schlaf- und Badelandschaft

In den Gängen der oberen Geschosse wird der geschliffene Terrazzoboden der Lobby von einem schwarz-grauen Leoparden-Teppich abgelöst, wie er auch in den Büroräumen der Neuen Zürcher Zeitung am Boden liegt. Hier erinnert auch mit viel Vorstellungskraft nichts mehr an die Gletscherwelt, die aussen und in der Lobby angetönt wurde. Die 90 neuen Zimmer sind im Normalfall einseitig raumhoch verglast, in den Spitzen gegen die Strassen hin sogar dreiseitig. Weiss ist auch hier das erste Farbthema, nur der Boden ist mit einem rotbraunen Kirschholz-Parkett ausgelegt. Die Bäder sind – so ein neuer Trend in der Hotellerie – vom Schlafzimmer nicht räumlich abgetrennt, sondern befinden sich in einer offenen, weiss gekachelten Nische hinter dem Bett. Die fliessende Schlaf- und Badelandschaft verleiht den eher kleinen Zimmern zwar Grosszügigkeit, das Geruch- und Privatsphäreproblem des offenen WCs bleibt hingegen ungelöst. «Wir haben die Bäder als dunkle Gruften geplant, sie hätten im Kontrast zur kristallinen Zimmerwelt stehen sollen. Das Möblierungskonzept sah unzählige Einzelstücke vor, die sich an den spannendsten Berghotels orientierten, doch am Schluss blieb dafür zu wenig Geld», erklärt Jacques Herzog.

Kein Spiel mit Transparenz

Wer aber beurteilen muss, wie die Zimmer heute daherkommen, der wundert sich nicht über die Möblierung, sondern darüber, dass die zur Lichtumlenkung in die Tiefe trichterförmig geneigte Fassade aus 437 verschiedenen Einzelteilen in den Zimmern erstaunlich wenig Thema ist. Das hat mit ihrer Effektivität zu tun, die kaum wahrnehmbar ist, da Vergleichswerte fehlen: Die Gläser sind zwar mit einer lichtreflektierenden Schicht versehen, doch sie lenken das Licht – ausser über Mittag, wenn sich kaum jemand im Zimmer aufhält – wenig spürbar in die Tiefe. Das hat zu Folge, dass man weniger die Lichtlenkwirkung wahrnimmt als ihre Randbedingung: die Nähe zum gegenüberliegenden Zimmernachbar. In den Gasträumen sind denn nicht Helligkeit, Licht-, Schatten- und Wetterspiele oder der in den Himmel gelenkte Blick Hauptthema, sondern Transparenz und Nähe zur nur wenige Meter gegenüberliegenden Hotelfassade. Das ist an sich noch kein Problem, sondern wäre eine Vorlage für den architektonischen Umgang mit Themen gewesen, die beispielsweise der amerikanische Künstler Dan Graham in seinen architekturnahen Glas-Installationen gekonnt umsetzt. Doch ein Spiel mit Einsicht, Durchsicht, Spiegelung oder sogar Desorientierung findet nicht statt. Nur schon Vorhänge, die der Gast vom Bett oder gar von der Dusche aus hätte steuern können, hätten zu so einem Spiel eingeladen. Doch kleine Schmankerl dieser Art fehlen. Wenn der Gast nicht will, dass ihm der Zimmernachbar beim Duschen oder beim Fernsehschauen zuschaut, muss er die Vorhänge ziehen und findet sich damit in einem austauschbaren Hotelzimmer wieder. Die Spiegelbeschichtung dient nicht der Inszenierung der Hotelwelt, sondern bleibt auf ihre profane Funktion reduziert: Sie verhindert tagsüber die Einsicht in die wenige Meter gegenüberliegende Zimmerschicht.

Mit angezogener Handbremse

Beim ‹Astoria› sind die Architekten Herzog & de Meuron mit angezogener Handbremse gefahren. «Wir wollten der Bauherrschaft entgegenkommen, vielleicht sind wir deshalb zu viele Kompromisse eingegangen», sagt Herzog rückblickend. Fazit bleibt: Dieses Hotel schreibt die an Beispielen reiche Architekturgeschichte der (Luzerner) Hotels nicht weiter. Ein Beitrag ist die skulpturale Fassade mit ihren tiefen Einschnitten auf der Vorder- und Rückseite. Sie ist eine intelligente Antwort auf die Frage, wie durchlässig eine Blockrandbebauung sein kann, und macht dabei den Neubau eindeutig zum Haupthaus des ‹Astoria›-Komplexes. Im Inneren hingegen bringen der planerische, finanzielle und bauliche Aufwand der geneigten Glasfassade weder einzigartige Raumqualitäten noch besonders spannende Lichtsituationen. Der kristalline Eindruck bleibt an der Oberfläche haften.


Drei Extras im ‹Astoria›

--› Tagungsgeschoss:
Mit dem neuen Seminar- und Kongressgeschoss auf dem Dach will der Hotelier Übernachtungen generieren und das ‹Astoria› auch als Kongresshotel positionieren. Im Gegensatz zu seinen Konkurrenten geniessen alle zwölf Tagungsräume Tageslicht und einen weiten Blick über die Dächer von Luzern – zwei nicht zu unterschätzende Startvorsprünge. Eine elegante Dachlounge mit Pianobar und riesiger Terrasse verbindet die Räume und hat gute Chancen, nach Tagungsende zum neuen Hotspot des Luzerner Nachtlebens zu werden.

--› Optimierter Betrieb:
Urs Karli ist in der Gastro- und Hotelszene als erfolgreicher Selfmade-Unternehmer bekannt. Es wundert deshalb nicht, dass er mit dem Neubau ‹Astoria› die Betriebsabläufe auf ein Maximum optimiert hat. Das neue, für die Gäste unsichtbare Herz sind die beiden Küchen in den Untergeschossen: In der Produktions- und in der darüberliegenden Fertigungsküche werden Fleisch, Teigwaren und Pasta für alle drei Restaurants im Hotel vorbereitet. Die Wege zu den Restaurants oder den Kongressräumen auf dem Dach sind in der Horizontalen wie auch in der Vertikalen kurz und von den Gästen getrennt.

--› Hotelzimmer:
Die Hotelzimmer sind eher klein, in erster Linie Schlafzimmer. Eine grosszügige Dusche, die gut zu zweit benutzt werden kann, ersetzt die ‹Bakterienfalle› Badewanne. Erwarten würde man in einem Viersternehotel eine abschliessbare Toilette, sie ging zugunsten der offenen Bade- und Schlaflandschaft unter. Die Zimmer funktionieren gut für Einzelpersonen, wie es wohl die meisten Seminarteilnehmer sind. Wenn am Wochenende aber Paare einziehen, wird es eng. Schönes Detail ist das im Bad versteckte Safe und Minibar-Möbel. Es steht im Schlafzimmer nicht im Weg und bietet zusätzliche Staufläche. Jürg Landert

hochparterre, Mi., 2008.01.16



verknüpfte Bauwerke
Hotel Astoria



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2008-01|02

16. Januar 2008Roderick Hönig
hochparterre

Denkmalpflege zeichnet mit


Einfamilienhaus, 2007
Frontenex
--› Architektur: Charles Pictet, Genf; Philippe Le Roy
--› Bauingenieur: Jean Regad, Genf
--› Auftragsart: Direktauftrag, 2003


Einfamilienhaus, 2007
Frontenex
--› Architektur: Charles Pictet, Genf; Philippe Le Roy
--› Bauingenieur: Jean Regad, Genf
--› Auftragsart: Direktauftrag, 2003

Auf einer Anhöhe über dem südlichen Genferseeufer liegt das parkähnliche Areal eines ehemaligen Gutshofs mit weitem Blick über See und Stadt. Mitten auf dem Grundstück steht eine nach Süden voll verglaste Orangerie, dahinter duckt sich ein eleganter Wohnwürfel in Sichtbeton. Das Projekt ist das Resultat eines kostspieligen Tauschgeschäfts zwischen Behörden und der alt eingesessenen Besitzerfamilie: denkmalpflegerische Restauration der verfallenen Orangerie gegen Neubaubewilligung. Da Geld keine Rolle spielte, schöpfte der Architekt aus dem Vollen und machte aus beiden Projekten ein Ganzes, unterteilt in einen Tag- und Nachtbereich. Die Orangerie ist lichtdurchflutete Küche, Ess-, Cheminée- und Wohnhalle in einem. Die Höhe der Pflanzenkübel, die früher hier standen, bestimmt ihr Bodenniveau und die Brüstungshöhe: Es liegt 60 Zentimeter unter beziehungsweise über dem Boden. Ein durch einen kleinen Patio belichteter Gang verbindet die Orangerie mit dem dahinterliegenden ‹Schlafhaus›. Die Zimmer und Bäder sind rund um eine zweiläufige Treppe auf zwei Geschossen organisiert. Das in die Erde versenkte Hauptgeschoss hat einen garagenartigen Eingang, doch anders hätte der Architekt dies nicht lösen können, da der Neubau von der Orangerie verdeckt wird.

hochparterre, Mi., 2008.01.16



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2008-01|02

19. Dezember 2007Roderick Hönig
hochparterre

Man höre und staune

Das Leichtathletik- und Fussballstadion Letzigrund ist nicht nur eine elegante Architekturskulptur und eine Meisterleistung der Ingenieure, sondern auch ein Klangort: Der Klangspezialist Andres Bosshard hat sich während eines Fussballspiels umgehört und kommentiert die akustische und visuelle Direktheit und Transparenz.

Das Leichtathletik- und Fussballstadion Letzigrund ist nicht nur eine elegante Architekturskulptur und eine Meisterleistung der Ingenieure, sondern auch ein Klangort: Der Klangspezialist Andres Bosshard hat sich während eines Fussballspiels umgehört und kommentiert die akustische und visuelle Direktheit und Transparenz.

Was ist das Sportzentrum Letzigrund für ein Klangort?

Während einem Fussballspiel ist das Stadion ein intensiver Klangort, ich würde sogar sagen ein Ruf- und Gesangsort. Er unterscheidet sich von anderen Stadträumen durch seine Offenheit. Tagsüber ist er sogar öffentlich zugänglich und bekommt damit eine Art Parkcharakter. Er hat ein klar definiertes Aussen: Auf der ums Stadion herum geführten Zugangsterrasse sind die Geräusche der Stadt präsent. Dann geht man durch eine tunnelartige Betonschleuse, der einzige Ort, der bei mir akustische Verwirrung
hinterliess. Höhepunkt aber ist die Arena selbst. Sie ist offen. Das Stadion ist akustisch gesehen eine spannende Mischform zwischen innen und aussen. Es verleiht dem Quartier eine eigene akustische Identität und ist einer der wichtigen Stadtklang-Brennpunkte von Zürich.

Die Form des Stadions ist aufgrund der Leichtathletikanlagen und der Sehwinkel der Zuschauer entstanden. Wie reflektiert die gewählte Geometrie Schall und Klang?

Das Oval ist die beste Form, um akustisch überhaupt nicht zu erscheinen, noch besser als die Kreisform. Man hört im Letzigrund förmlich, dass die Ecken fehlen, sie würden einen akustischen Fokus bilden. Akustisch gesehen hat der Torwart wahrscheinlich am meisten Sound, er steht im Brennpunkt der Kurven. Schön ist, dass man den offenen Raum auch akustisch spürt. Denn die Seitenwände sind so weit auseinander, dass sie bei der Dämpfung des Klangs keine Rolle mehr spielen. Hingegen ist der Raum auf der Nordseite des Stadions, dort wo die beiden Trainings-Spielfelder an die Nachbarhäuser grenzen, viel mehr akustischer Innenraum als das Stadion selbst. Wenn man so will, ist die Akustik umgestülpt: aussen der Innenraum, innen der Aussenraum.

Welche Wirkung hat die räumliche Offenheit auf die Akustik?

Das Stadion unterscheidet sich von anderen Stadien, in denen der Baukörper die Stimmen der Zuschauer zurückspiegelt und eine soziale Sphäre bildet. Im Letzigrund entsteht – nicht nur akustisch – kein Massengefühl und trotzdem entsteht keine Leere. Eine schöne Balance zwischen Offen- und Geschlossenheit.

Welche Rolle spielen Akustik und Klang für die Stimmung in einem Stadion?

Die akustische Orientierung ist eine Grundlage für Kommunikation und für Gemeinschaft. Für die Emotionen der Zuschauer ist die Akustik deshalb ein zentrales Element. In einem Stadion will sich der Zuschauer von den Emotions-Wellen, die das Spiel auslöst, mittragen lassen.

Was ist das Sportzentrum Letzigrund für ein Klangort?

Während einem Fussballspiel ist das Stadion ein intensiver Klangort, ich würde sogar sagen ein Ruf- und Gesangsort. Er unterscheidet sich von anderen Stadträumen durch seine Offenheit. Tagsüber ist er sogar öffentlich zugänglich und bekommt damit eine Art Parkcharakter. Er hat ein klar definiertes Aussen: Auf der ums Stadion herum geführten Zugangsterrasse sind die Geräusche der Stadt präsent. Dann geht man durch eine tunnelartige Betonschleuse, der einzige Ort, der bei mir akustische Verwirrung hinterliess. Höhepunkt aber ist die Arena selbst. Sie ist offen. Das Stadion ist akustisch gesehen eine spannende Mischform zwischen innen und aussen. Es verleiht dem Quartier eine eigene akustische Identität und ist einer der wichtigen Stadtklang-Brennpunkte von Zürich.

Die Form des Stadions ist aufgrund der Leichtathletikanlagen und der Sehwinkel der Zuschauer entstanden. Wie reflektiert die gewählte Geometrie Schall und Klang?

Das Oval ist die beste Form, um akustisch überhaupt nicht zu erscheinen, noch besser als die Kreisform. Man hört im Letzigrund förmlich, dass die Ecken fehlen, sie würden einen akustischen Fokus bilden. Akustisch gesehen hat der Torwart wahrscheinlich am meisten Sound, er steht im Brennpunkt der Kurven. Schön ist, dass man den offenen Raum auch akustisch spürt. Denn die Seitenwände sind so weit auseinander, dass sie bei der Dämpfung des Klangs keine Rolle mehr spielen. Hingegen ist der Raum auf der Nordseite des Stadions, dort wo die beiden Trainings-Spielfelder an die Nachbarhäuser grenzen, viel mehr akustischer Innenraum als das Stadion selbst. Wenn man so will, ist die Akustik umgestülpt: aussen der Innenraum, innen der Aussenraum.

Welche Wirkung hat die räumliche Offenheit auf die Akustik?

Das Stadion unterscheidet sich von anderen Stadien, in denen der Baukörper die Stimmen der Zuschauer zurückspiegelt und eine soziale Sphäre bildet. Im Letzigrund entsteht – nicht nur akustisch – kein Massengefühl und trotzdem entsteht keine Leere. Eine schöne Balance zwischen Offen- und Geschlossenheit.

Welche Rolle spielen Akustik und Klang für die Stimmung in einem Stadion?

Die akustische Orientierung ist eine Grundlage für Kommunikation und für Gemeinschaft. Für die Emotionen der Zuschauer ist die Akustik deshalb ein zentrales Element. In einem Stadion will sich der Zuschauer von den Emotions-Wellen, die das Spiel auslöst, mittragen lassen.

Weil das Letzigrund in erster Linie eine Leichtathletik-Arena ist, sind die Fussballfans nicht glücklich über die Akustik. Was raten sie Ihnen?

Es stimmt, die Fans müssen sich mehr anstrengen als im alten Stadion, denn es ist viel schwieriger, im neuen Stadion Stimmung zu erzeugen. Doch ich würde ihnen empfehlen, ein paar Klangexperimente durchzuführen, um die Wirkung ihrer Chöre zu optimieren. Von einer baulichen Optimierung, beispielsweise mit Plexiglas-Platten rund um die obersten Ränge, halte ich wenig: Man könnte die Akustik damit zwar verbessern, aber wenn die Fans von sich aus eine freche Antwort auf das neue Letzigrund finden, ist das doch viel spannender. Denn das Stadion ist auch akustisch gesehen ein offenes Spielfeld.

Wie beschreiben Sie den Klang des Stadions?

Das Dach und die schrägen Stützen geben dem Stadion ein eigenständiges Klangprofil. Nur hier klingt Zürich so. Man spürt die Materialien, die man sieht: Den Rasen, die Holzdecke, die Stahlstützen, die Kunststoffstühle, die Betonkonstruktion – auch von der Stadt habe ich einen schönen Klangeindruck. Besonders gefällt mir, dass der Massengesang aus den Fankurven während eines Fussballspiels nicht akustisch verstärkt und doch sehr präsent ist. Diese Art der unverstärkten Gesangseinlagen ist der Pop- und Rockmusik abhanden gekommen. Kämen die Chöre aus Lautsprechern, wären sie banal.

In welchem Verhältnis steht die akustische mit der visuellen Direktheit?

Wir haben wenig Hörerfahrung mit so grossen Baukörpern, die derart gedämpft sind. Die akustische Dämpfung im Dach verstärkt den Eindruck des Schwebens. Das Dach gibt dem Raum also auch akustisch eine Weite. Nicht nur wegen der Architektur, sondern auch weil der Raum den Klang nicht so reflektiert, wie wir uns das gewöhnt sind – ich denke hier an die schrägen Stahlstützen –, entsteht der Eindruck der Weite. Sie entspricht dem, was ich sehe. Einige Irritationen entstehen bei den Materialien und der Technik: Ich kann die Durchsagen und die Musik nicht klar den Lautsprechern zuordnen und wir können aufgrund der akustischen Reflexionen nicht sagen, ob die Untersicht der Decke wirklich mit Holz verkleidet ist. Die Gestaltung fordert das Ohr heraus.

Wie steht es um die akustische und visuelle Transparenz?

Sie manifestiert sich beim umstrittenen Stahlzaun rund ums Stadion. Auch ich war am Anfang skeptisch. Ich fand die eng aneinandergereihten Stahllatten zu schroff und hart. Doch der Zaun entspricht der visuellen Durchlässigkeit des Stadions und lässt einen beim vorbeifahren mithören, was im Innern läuft. Insofern vermittelt das Letzigrund innen wie aussen die aktuelle Stimmung. Diese hohe Kommunikationsfähigkeit sollte ein öffentlicher Raum in der Stadt haben.

Bei der Planung des Stadions hat man in erster Linie darauf geachtet, dass möglichst wenig Lärm nach aussen dringt. Wie wird dieses Ziel eingelöst?

Das riesige Dach schluckt zwar viel Schall, das Stadion wäre aber noch weniger im umliegenden Stadtraum zu hören, wenn man auch noch die Fassade des Stadions gegen die Stadt hin schallisoliert und damit auch den Aussen-Resonanzraum gedämpft hätte.

Kann man differenzieren, was im Stadion Letzigrund Klang ist und was Lärm?

Die Gesänge der Fankurven kommen direkt und aktiv auf mich zu. Die Chöre haben eine Qualität, ich würde sie sogar als Musik oder zumindest als aktiven Stadtklang bezeichnen. Sobald sie aber nach aussen dringen und der Kontext verloren geht, werden sie zu Lärm. Unbeabsichtigter Klang, dem ich mich nicht entziehen kann, wird zu Lärm. Als Klangabfall würde auch ich die Musik, die Kommentare des Stadion-DJs und die Werbejingles bezeichnen, mit denen die Zuschauer vor und nach dem Spiel berieselt werden. Aber das gehört heute scheinbar zum Ritual einer Sportveranstaltung. Was aber nicht heisst, dass man nicht besser und intelligenter mit diesem Klang-abfall hätte spielen können: Wenn beispielsweise die Musik sich langsam bewegen und damit den Raum ein bisschen nachzeichnen würde, würde das der architektonischen Eleganz des Stadions entsprechen. Derzeit hat der Klangabfall mit dem Raum nichts zu tun, es herrscht Warenhausbeschallung.

Sie haben Erfahrung mit Klanginstallationen an städtischen Brennpunkten. Was hätten sie anders gemacht, wenn Sie am Brennpunkt Stadion mitgeplant hätten?

Man muss zwischen dem ‹Instrument›, also dem Stadion, und wie man darauf spielt unterscheiden. Ich finde die Akustik und den Raum des ‹Instruments› toll. Die elektro-akustische Anlage hingegen empfinde ich als nicht zeitgemäss, es gibt Lautsprecher, die besser klingen. Beim Rasen hat man auch nicht auf Qualität verzichtet, wieso beim Klang? Ich denke, man hätte mit der Musikanlage gestalterischer umgehen können – man kann mit Klang sehr wohl soziale Räume mitgestalten. Das erlauben die Lautsprecher nicht und es wird hier nicht getan.

Das Künstlerpaar Relax hat als eine der Kunst-und-Bau-Arbeiten eine Klanginstallation fürs Stadion konzipiert: Gelächter und Weinen drehen ihre Runden im Oval. Ist ein Stadion der richtige Ort für diese Art Kunstinstallation?

Ja, ich glaube schon. Das Letzigrund ist sehr wohl ein Ort für Kunst und Kultur im Stadtraum, hier liegt sehr viel Potenzial brach. Doch die Kunst-und-Bau-Arbeit von Relax hört nicht zu, ist nicht interaktiv. Deshalb sind die Fanchöre im Vergleich frischer und frecher – elementare Emotionen bringen sie direkter.


Kommentar der Jury:
Überzeugt hat die Jury vor allem, dass das Stadion Letzigrund nicht nur eine elegante Architekturskulptur ist, sondern auch ein städtebauliches Projekt. Das eingegrabene Spielfeld macht der Zugang auf Strassenniveau möglich, eine Voraussetzung für die sanfte Einbettung ins Quartier. Die Arena besteht aus nur wenigen Elementen: die Mulde mit dem Spielfeld, die Erschliessungsrampe, die auf Strassenhöhe beginnt, zwei Geschosse ansteigt und wieder sinkt, und das schwebende Dach. Es ruht auf dem Ingenieursmeisterstück, den ‹tanzenden Stützen›. Das Oval ist öffentlicher Sportplatz, Austragungsort des internationalen Leichtathletik Meetings, Konzertarena und Fussballstadion.

hochparterre, Mi., 2007.12.19



verknüpfte Bauwerke
Stadion Letzigrund



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2007-12

05. September 2007Roderick Hönig
hochparterre

Polierter Vorgeschmack

Zwei Jahre nach ihrem hundertsten Geburtstag hat die Genfer Privatbank Pictet &Cie ihren neuen Hauptsitz bezogen. Die 1800 Backoffice-Arbeitsplätze im polierten Betonpalast sind funktional und banal wie überall; lehrreich ist die Inszenierung der 65 Kundenräume.

Zwei Jahre nach ihrem hundertsten Geburtstag hat die Genfer Privatbank Pictet &Cie ihren neuen Hauptsitz bezogen. Die 1800 Backoffice-Arbeitsplätze im polierten Betonpalast sind funktional und banal wie überall; lehrreich ist die Inszenierung der 65 Kundenräume.

Während Ferrari mit einem sich aufbäumenden Pferd auf gelbem Grund die Kraft und Dynamik seiner Boliden im Logo zum Ausdruck bringt, haben es Banken oder Versicherungen bei der Visualisierung ihrer Kompetenz schwerer. Ihre abstrakte, rationale und gefühlsarme Dienstleistung lässt sich kaum so prägnant und unverkennbar symbolisieren, wie es der italienische Sportwagenhersteller kann. Finanz- und andere Dienstleister sind deshalb gezwungen, den Umweg zur Vermittlung ihrer Haltung und Werte über Begriffe wie Solidität, Verlässlichkeit, Tradition oder Dauerhaftigkeit zu nehmen. Sie lassen sich schon eher in Architektur oder Form umsetzen. Der neue Hauptsitz der Genfer Privatbank Pictet & Cie mitten im Genfer Entwicklungsgebiet Acacias ist ein gutes Beispiel für eine solche Übersetzung abstrakter Firmenwerte in Architektur. Andrea Bassi gewann den Wettbewerb für die Fassadengestaltung und die Kundenräume, weil der Architekt innen und aussen unterschiedlich, aber komplementär verknüpft. Von aussen ist das Haus ein monumentaler Edelstein, dessen polierte Steinfassade in der rauen Gegend besonders gut zur Geltung kommt: Die schwere, panzerartige Haut besteht aus einem strengen Raster aus hochpolierten, vorgehängten Betonelementen. Sie fassen in Uhrmacherpräzision sprossenlose, 6,5 auf 2,2 Meter grosse Vitrinenfenster.

Andrea Bassi gibt von aussen keinen Hinweis auf den menschlichen Massstab. Das Haus setzt die Messlatte für die boomende Quartierentwicklung, welche die Stadtväter Acacias in den kommenden Jahren versprechen. Pictet- Teilhaber Jean-François Demole interpretiert die Architektur so: «Mit ihrer Länge von acht Metern und einem Gewicht von sechs Tonnen stehen die Fassadenelemente für Solidität und Beständigkeit, ebenso wie Farbe und Linienführung für Objektivität und Diskretion.»

Spagat zwischen innen und aussen

Andrea Bassi übersetzt aber nicht nur die wichtigen Unternehmenswerte in Architektur, sondern auch das calvinistische Verhältnis zum Geld: Aussen ist das Haus ein Saab, innen ein Bentley. Was auch bedeutet, dass der Spagat zwischen äusserer Zurückhaltung und innerer Luxuswelt gross ist. Aussen der klare, strenge und schwere Stadtmassstab, innen steht der Mensch, also der Kunde im Mittelpunkt der intimen Luxuswelt, die Tradition, Eleganz und Präzision verkörpern soll.

Schnittstelle zwischen den beiden Welten ist die Vorfahrt beziehungsweise die Reception. Die Vorfahrt spricht noch die Sprache der Stadt. Es ist eine karge, aus dem Betonhaus herausgeschnittene polierte Steinnische. Zwei Säulen trennen den Haupteingang zum Bankenmonument vom profanen Strassenraum. Wie in einem Luxushotel halten hier dunkle Limousinen und lassen exklusiv gekleidete Menschen aussteigen. Selbstverständlich können Kunden, die es noch diskreter wollen, also gar nicht gesehen werden möchten, auch auf der Rückseite vorfahren oder den Weg durch die Tiefgarage nehmen. Nicht ungesehen vorbei kommen sie allerdings an der Reception. Der weite, ebenerdige Raum ist durch einen verglasten, aber beschichteten Windfang von der strassen- und rückseitigen Vorfahrt getrennt. Die Ausstattung ist karg und wenig gemütlich – kein Ort zum Verweilen, sondern einerfür Transitpassagiere. Der grösste Teil des Lichts wird durch die mit dunklem Nussbaum verkleideten Wände geschluckt, ein paar Lux wirft der polierte grüne Granit aus Afrika am Boden zurück. Den Schall schluckt der orange Künstlerteppich von Paola Lenti. Nicht nur die reduzierte Eleganz gibt die Augenhöhe an: Hinter dem wie ein schwarzer Steinway-Flügel glänzenden Tresen hängt eine Alpenlandschaft von François Diday aus dem Jahre 1844 in einem matt schimmernden Goldrahmen – die ‹Sicht auf Rosenlaui, Wellhorn und Wetterhorn› ist ein kunstvoller Verweis auf die Gründungszeit der Bank.

Wie im Wohnzimmer

Dass innen und aussen zwei verschiedene Welten sind, merkt man spätestens in den Obergeschossen: Steigt man aus dem Lift, empfängt einen erst ein grosszügiger offener Raum. Er ist eher Lounge als Wartezimmer. Hier ist der Strassenlärm weg, es gibt fast keine Geräusche mehr. Dicke Teppiche am Boden und stoffverkleidete Wände schlucken die wenigen Schritte und Stimmen. Nur die Ventilatoren der hässlichen Iris-Scanner, die wie falsch platzierte Telefonanlagen neben den Türen zum Backoffice-Bereich montiert sind, surren leise vor sich hin. In der Mitte steht jeweils ein flaches Lederhocker-Gebirge, an den Wänden verleiht grossformatige zeitgenössische oder Gründerzeit- Kunst jeder Etage eine eigene Note.

Die intimen Besprechungsräume werden nicht durch Grösse geadelt, sondern durch exklusive Materialien, edle Verarbeitung und diskrete Farben. Die Räume erinnern eher an Wohn- oder Esszimmer und sind zurückhaltend möbliert. Sie bieten einen charaktervollen, aber nicht allzu persönlichen Rahmen fürs Geschäft mit dem Geld. Es gibt je nach Grösse einen Besprechungstisch, an dem manchmal auch gegessen wird, eine bequeme Sitzgruppe fürs lockere Gespräch, immer aber ein dunkles Nussbaumbuffet, in dem alle Anzeichen für ein Büro versteckt sind. Die grossformatigen Fenster, die von aussen die Hauptrolle spielten, haben hier nur noch eine Nebenrolle. Die Fenster sind auf Lichtwände reduziert und unterstreichen die Introvertiertheit der Räume: Wer den weiten Blick über das Industrie- und Gewerbegebiet geniessen will, muss sich durch Vorhang- und Sonnenschutzschichten kämpfen. Der neue Hauptsitz der Bank ist kein Bankenpalast mit Eiffelturm- Qualität, sondern gebautes Understatement. Der konstruktive Kraftakt, den es braucht, um die tonnenschweren Fassadenelemente zu verankern, verlangt genaueres Hinsehen. Auch im Inneren wird nirgends Technik inszeniert, obwohl die siebzig Zentimeter zwischen Decke und Boden zum Bersten voll sind mit Elektronik und Haustechnik und die Ingenieure gern noch mehr Platz gehabt hätten. Das aufwendige, fast vollständige Ausblenden von profanen haustechnischen ‹Nebengeräuschen› macht das klare Bild von Solidität und Beständigkeit von aussen und die wohnliche Eleganz im Inneren erst möglich.

hochparterre, Mi., 2007.09.05



verknüpfte Bauwerke
Bank Pictet & Cie



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2007-09

05. September 2007Roderick Hönig
hochparterre

Zweimal anders wohnen

Das Sulzer-Areal in Oberwinterthur ist das grösste Entwicklungsgebiet der Stadt. Die Architekturbüros Burkhalter Sumi und Novaron haben fünf Häuser mit 110 Wohnungen gebaut. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein: Von frei unterteilbaren Lofts für Eigentümer bis zu Miet-Maisonette- und Geschosswohnungen.

Das Sulzer-Areal in Oberwinterthur ist das grösste Entwicklungsgebiet der Stadt. Die Architekturbüros Burkhalter Sumi und Novaron haben fünf Häuser mit 110 Wohnungen gebaut. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein: Von frei unterteilbaren Lofts für Eigentümer bis zu Miet-Maisonette- und Geschosswohnungen.

Winterthur hat sich mit seinen durchgrünten Arbeitersiedlungen einen Namen als lebenswerte Wohn- und Gartenstadt gemacht. Einige der Siedlungen wurden und werden nachverdichtet, doch wächst die ehema-lige Industriestadt heute vor allem an den Rändern. 2004 etwa hat der Bauunternehmer Leopold Bachmann in Oberwinterthur die Siedlungen ‹Wässerwiesen› und ‹Im Gern› (HP 9/04) gebaut, insgesamt 840 Wohnungen im unteren Preissegment. Auch das Bauvolumen des Jahres 2005 ist eindrücklich: 850 Millionen Franken wurden in den Wohnungsbau investiert. Das wichtigste und grösste Entwicklungsgebiet der Stadt ist das sechzig Hektaren grosse Sulzer-Areal in Oberwinterthur. Aus der mit dem öffentlichen Verkehr gut erschlossenen Industriebrache soll in den kommenden Jahren eine Wohn-, Dienstleistungs- und Parklandschaft entstehen.

Raffinierte Grundrisse Am nördlichen Rand des Industrieareals liegt das Ensemble Am Eulachpark. Es besteht aus 110 Wohnungen für Besserverdienende. Sie sind zwischen dem Bahnhof Oberwinterthur und dem vom Landschaftsarchitekten Stefan Koepfli geplanten, 60 000 Quadratmeter grossen Eulachpark platziert. Die Überbauung besteht aus fünf Baukörpern: zwei dreigeschossige Stadtvillen entlang der Strasse und drei lange Riegel gegen den Park hin. Durch die Kombination von Punkt- und Langhäusern gliedern sich die Bauten zumindest ansatzweise in die biedere ‹Hüsliwelt› entlang der Strasse ein, gleichzeitig übernehmen die bis zu 75 Meter langen und bis zu sechs Geschossen hohen Riegel im rückwärtigen Teil den Massstab der Industriebauten, die früher hier auf dem Areal standen. Den Arealbonus, welcher der Überbauung wegen der Grösse des Baugrunds zuteil wurde, haben die Architekten aber nicht wie erwartet gleichmässig auf den Dachflächen der Riegel verteilt, sondern das Mehrvolumen als dreigeschossige Türme jeweils versetzt draufgestellt. So geniessen die Turmwohnungen Weit- und Rundsicht.

In die beiden westlichen Riegel haben Burkhalter Sumi achtzig Mietwohnungen eingepasst. Die Grundrisse sind ausgetüftelt und effizient: Insgesamt gibt es zehn Wohnungstypen, und durch die geschickte Kombination von Treppenhaus und Rue intérieure braucht es pro Block nur einen Lift. Wie das geht? Burkhalter Sumi kombinieren Le Corbusiers Rue-intérieure-Typ mit Reihenhäuschen im Erdgeschoss und Geschosswohnungen im Turm. Im Erdgeschoss liegen je acht Reihenhäuschen und ein Studio. Man betritt sie über einen würfelförmigen Windfang. Er ragt zwei Meter in den gemeinschaftlichen Zwischenraum hinein; die Vor- und Rücksprünge verleihen dem Hof einen Rhythmus und signalisieren die Hauseingänge. Grosse Glasscheiben geben den Blick auf den 17 Meter tiefen Küchen-, Ess- und Wohnbereich frei. Er erstreckt sich von der einen Fassade zur andern. Neben dem Badkern in der Mitte führt eine kleine Treppe hinunter zu einem Studio im Untergeschoss und macht die Durchschusswohnung zur abwärts orientierten Maisonette.

Über dem Reihenhäuschen-Geschoss liegen acht aufwärts orientierte Maisonetten auf der einen Seite sowie neun 1- bis 2-Zimmer-Wohnungen auf der anderen. Sie werden über eine knallig gelb gestrichene, 75 Meter lange Rue intérieure erschlossen. Die Rahmen der grauen Wohnungs-türen sind auf die Wand aufgesetzt, sodass die Monotonie des langen Gangs etwas gebrochen wird. Zwei Lichtschächte lassen wenig Tageslicht von oben einfallen, an den beiden Enden geben grosse Fenster den Blick nach draussen frei. Eine enge Rue intérieure erschliesst zwei Duplextypen: Den einen betritt man über einen kleinen fensterlosen Vorraum, den die Architekten zugunsten der Zimmergrösse geopfert haben. Von hier aus werden zwei Schlafzimmer, ein Bad und – über eine interne Treppe – die oberen Räume erschlossen. Darüber wird die Wohnung wieder zum Durchschusstyp: Parallel zum 17 Meter langen Wohn- und Essraum liegen hier Küche, Bad, Waschküche sowie die zwei Zimmer.

Anders der zweite Duplextyp: Man betritt ihn über einen weiten, grosszügigen Raum, der sich über zwei Fenster-achsen erstreckt. Die Nutzungsmöglichkeiten für diesen Raum sind offen: Man kann sich darin ein Fernsehzimmer, einen Fitnessraum oder auch ein grosszügiges Heimbüro vorstellen. An der Rückseite führt eine einläufige Treppe nach oben. Über sie gelangt man in eine Mittelzone, die zwei Schlafzimmer auf der einen vom offenen Wohn- und Essraum auf der anderen Seite trennt. Die gegensätzliche Orientierung der Haupträume im Eingangs- und Obergeschoss macht das Wohnen spannend, scheint aber bei Mieterinnen und Mietern auf wenig Interesse zu stossen: Lange blieben diese Wohnungen frei. Die Turmwohnungen in den Etagen vier bis sechs sind jeweils übers Eck orientierte Geschosswohnungen. Hier sind der weite Blick und die grosszügigen Balkone die Attraktion. Die unterschiedlichen Raumtiefen sind an der Fassadengestaltung ablesbar: Lochfassade für den Aufbau, raumhohe Fenster in den drei Geschossen des Riegels.

Ausgeklügeltes Geschäftsmodell

Das Prinzip der 30 Eigentumswohnungen von Novaron un- terscheidet sich grundsätzlich von den Mietwohnungen. Hier ist nicht die Vielfalt von Typologien auf engem Raum das Thema, sondern die vom Besitzer bestimmte Variante einer immer ähnlichen Grundrissvorlage. Unter dem Label ‹loftprojekt.ch› lancierten die Architekten zusammen mit dem Zürcher Generalunternehmer Halter 2003 einen Bautyp, den sie bis anhin in der Schweiz und in Österreich bereits dreizehnmal realisieren konnten. Die Idee ist einfach und marktorientiert: Wohnraum, bei dem die Käufer die Raumeinteilung und den Ausbaustandard selbst wählen. Die Rationalisierung beim Bauen und Planen eines jeweils ähnlichen Wohnungstyps senkt die Preise, man bekommt verhältnismässig viel Raum fürs Geld: 400 000 bis 890 000 Franken kosten in Winterthur die Lofts in der Basisvariante, 490 000 Franken kostet zum Beispiel ein 155 Quadrat- meter grosser Loft. Im Normalfall, also in Oberwinterthur, bestehen die Loftprojekt-Baukörper aus langen mehrgeschossigen Riegeln, in denen Treppenhauskerne jeweils zwei stützenfreie Wohnungen pro Geschoss erschliessen. Das Konzept ist pragmatisch: Die Abmessungen der Tiefgarage unter dem Haus bestimmen mehr oder weniger die maximale stützenfreie Gebäudetiefe von etwa zwölf Metern. Die Abstände der Stützen entlang der Längsfassade vari- ieren Am Eulachpark zwischen fünf und sechs Metern.

Edelrohbau für jedermann

Die Grundausstattung entspricht einem sogenannten Edelrohbau: Die Lofts besitzen in der Minimalvariante eine rohe Betondecke und einen Anhydrit-Unterlagsboden, eine bestimmte Anzahl raumhoher Lochfenster auf der einen Seite sowie eine Vollverglasung vor der tiefen Balkon-schicht auf der anderen. Im Preis inbegriffen sind je ein Standard-Küchen- und Standard-Badmodul. Den Rest bestimmt der Käufer und sein Budget. Ganz frei sind die Kunden aber in der Grundrissgestaltung nicht. Weil die Steigzonen immer entlang der Treppenhauswände verlaufen, liegen auch Küche und Bad immer links und rechts des Eingangs. Die Lage der Trennwände, der Lochfenster sowie den Ausbaustandard bestimmt der Käufer. Der Rohbau ist so vorbereitet, dass Bodenbeläge, Wände, Bad- und Küchenmodule ohne grossen Aufwand wieder zurückgebaut werden können. So kann bei einem Weiterverkauf oder einer bei einer Umnutzung, etwa von einer Wohnung in ein Büro, der Raum für wenig Geld an die Bedürfnisse der neu-en Nutzung angepasst werden.

Während Burkhalter Sumi versuchten, möglichst viele Grundrisstypen in einen Baukörper einzupassen, konzentrieren sich Novaron darauf, eine grosse Bandbreite an Grundrissen innerhalb eines Typus anzubieten. So reagieren beide Projekte unterschiedlich auf die noch offene Ausgangslage in Oberwinterthur. Denn in welche Richtung sich das Sulzer-Areal entwickelt und welche Art von Bewohner und Nutzer sich hier niederlassen wird, ist derzeit noch völlig unklar. Wie die Räume in zwanzig Jahren genutzt werden, weiss heute noch niemand. Deshalb sind die Grundrisse darauf ausgelegt, auf Schwankungen zu reagieren. Mit kleinen Eingriffen lassen sich beispielsweise die Geschosse der Duplexwohnungen voneinander tren- nen und von mehreren Parteien nutzen. Mit wenig Aufwand können die Wohnungen von Novaron in Büros umgenutzt werden. Dass es im Eulachpark bereits heute Studios für Studenten, Lofts für junge Doppelverdiener, Reihenhäuschen für Familien oder Wohnlandschaften für gut situierte Senioren gibt, hat sich ausbezahlt. Die Vermietung beziehungsweise der Verkauf lief erfolgreich. Das internationale Orthopädieunternehmen Zimmer zum Beispiel, dessen Hauptsitz sich in Gehdistanz auf dem Areal befindet, hat gleich mehrere der neuen Turmwohnungen für seine Kadermitarbeiter gemietet.

hochparterre, Mi., 2007.09.05



verknüpfte Bauwerke
Eigentumswohnungen Am Eulachpark



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2007-09

04. April 2007Roderick Hönig
hochparterre

Gehversuch in der EU

Am Rand von Köln entwickelt ein Baulöwe ein Gewerbegebiet. Bewusst setzt er auf Architektur und Naturnähe statt gut erschlossene Blechkisten. Nun haben die Zürcher Architekten Giuliani Hönger das erste Haus fertig gestellt: einen flexibel nutzbaren Lager- und Bürobau im Klinkerkleid.

Am Rand von Köln entwickelt ein Baulöwe ein Gewerbegebiet. Bewusst setzt er auf Architektur und Naturnähe statt gut erschlossene Blechkisten. Nun haben die Zürcher Architekten Giuliani Hönger das erste Haus fertig gestellt: einen flexibel nutzbaren Lager- und Bürobau im Klinkerkleid.

Anton Bausinger ist ein Patron der alten Schule. Wenn der Besitzer der Friedrich Wassermann Bauunternehmung mit seinem neuen schwarzen Audi über die staubige Grossbaustelle neben seinem Werkhof rollt, grüsst er jeden Arbeiter aus dem Fenster heraus mit Namen. Die Firma ist noch heute ein Familienbetrieb, wenn auch die Wassermanns nur noch den Namen geben: Angefangen hat der Gründer 1906 mit Kanalbau und Kiesförderung; nach dem Zweiten Weltkrieg hat diese Firma massgeblich zur ‹Entschuttung› der Innenstadt beigetragen, später war sie am Wiederaufbau beteiligt. Für die Lastwagen, Bagger, Baumaterialien und vor allem für die hohen Schuttberge, die die Arbeiter nach dem Krieg aus der Kölner Innenstadt herausgekarrt haben, hat Friedrich Wassermann ein riesiges Grundstück am Rand des nördlichen Grüngürtel erworben. Das lag damals noch ‹JWD› – also ‹Janz weit draussen›. Heute liegt das Gebiet, durch S-Bahn und Schnellstrasse gut erschlossen, am Stadtrand.

Inspiriert vom Hafen Hamburg

Der gesunkene Platzbedarf und die gut erschlossene Lage waren Anlass für die Entwicklung der zwölf Hektaren grossen Brache. Vor allem aber nutzt der Unternehmer seinen Heimvorteil: Das Land ist abgeschrieben und er kann es als Startkapital einsetzen. Bausinger will die Konkurrenz mit hoher Ausbau- und Raumqualität schlagen, deshalb setzt er einen Teil der eingesparten Landkosten für Architektur und Materialien ein. Das Gewerbehaus von Giuliani Hönger, die Bausinger von seinen Aufenthalten in der Schweiz kennt, ist nun der erste fertig gewordene Baustein im Masterplan. Die Zürcher massen sich an den Ambitionen des Bauherrn und versuchten, einen eigenen Typus Lagerhaus zu entwickeln: In Anlehnung an die hohen Speicher im Hamburger Hafen bauten sie den ersten Schritt zu einer flachen Speicherstadt. Wie in der Hansestadt befinden sich Büro- und Lagerfläche im selben Bau.

Anders als in der Speicherstadt hingegen ist der Umgang mit den Öffnungen: In die raue, dunkelrot leuchtende Klinkerfassade sind riesige sprossenlose Fenster eingelassen. Die Rahmen und die Lüftungsflügel sind vollständig hinter den Brüstungen respektive Leibungen versteckt. So entsteht ein ausgewogenes Stein-Glas-Verhältnis, was dem Haus Eleganz und Ruhe verleiht. An den beiden Stirnseiten sind Eingang, Treppen und Nebenräume untergebracht. Diese dreigeschossige Raumklammer spannt die 830 Quadratmeter grosse zweigeschossige stützenfreie Lagerhalle ein. Die Materialien sind einfach und in den meisten Fällen unbehandelt. Sie untermalen den industriellen Charakter: torfgebrannter und handverlesener Klinker an der Fassade, Sichtbeton in der Halle, Hartsteinholz am Boden sowie im Obergeschoss Faserplatten an der Decke und Gipswände als Raumteiler.

Die Konstruktion ist Teil der Architektur: Im Inneren überspannen mächtige Vierendeel-Träger in Sichtbeton die gesamte Breite der Halle von zwanzig Metern. Zusammen mit dem Fensterraster versetzen sie den Raum in einen beschwingten, aber strengen Rhythmus. Der architektonische Anspruch des Bauherrn manifestiert sich an der oberen Fensterreihe der Halle: Hier hätte auch eine Anzahl kleinerer und damit deutlich günstigerer Bullaugen gereicht. Doch die Gleichbehandlung mit der Reihe auf Bodenhöhe sieht nicht nur eleganter aus, sie macht den Einzug eines zweiten Lager- oder Bürobodens in die Halle möglich. Damit gewinnt das Haus an Flexibilität und an Raumqualität. Das räumliche Erlebnis ist mit dem weiten Atem der Halle nicht vorbei: In der Mittelachse der darüber angelegten Büroebene liegen zwei Lichthöfe. Einer öffnet sich zum Himmel und dient als Pausenhof und Raucherecke, dem anderen fehlt der Boden – er gibt die Sicht in die darunter liegende Halle frei. So holen die Aussparungen zusätzliches Tageslicht ins Innere der Büroetage, gleichzeitig entstehen unerwartete Durchblicke und Sichtbeziehungen in der Horizontalen wie auch in der Vertikalen.

Bauen nach anderen Normen

Die Architekten sind mit ihrem ersten Gehversuch in einem EU-Land zufrieden. Das Haus ist auch dank einer guten Bauleitung vor Ort so herausgekommen, wie sie es geplant hatten. Gewöhnungsbedürftig war für Giuliani Hönger der Widerstand gegen Sonderlösungen jeglicher Art: Für Bauelemente, die zwar einzeln, aber nicht in Kombination DIN-geprüft und zertifiziert sind, wollten weder die Bauherrschaft, die Behörden noch die Unternehmer die Haftung übernehmen. Und für Einzelzulassungen, die in der Schweiz reine Formsache sind, war keine Zeit: Die kurze Entwicklungs- und Bauzeit von 16 Monaten vom ersten Entwurf bis zum Einzug des Mieters zwang die Architekten, nur zugelassene Elemente zu verwenden. Staunend haben Giuliani Hönger auch erfahren, dass der Statiker jeden Träger einzeln berechnet hat, um den Armierungsstahl minimal zu halten. Dass die Eisenleger dann deutlich mehr Aufwand auf der Baustelle hatten, fiel wenig ins Gewicht; deutsche Arbeit ist deutlich günstiger als Schweizer. Das Gewerbehaus kostet trotz ähnlicher Materialpreise rund zehn Prozent weniger als ein vergleichbares Objekt in der Schweiz.

hochparterre, Mi., 2007.04.04



verknüpfte Bauwerke
Büro-/Logistikcenter Alpha Eins



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2007-04

04. April 2007Roderick Hönig
hochparterre

Ein Thron für den Weltfussball

Tilla Theus hat dem Fussball einen Sitz am Zürichberg gebaut: in Hochgeschwindigkeit, mit opulenten Materialien, brillanten Oberflächen und einem tief in der Erde liegenden Regierungssaal für das Exekutivkomitee. Hier tagt die FIFA, die Fédération Internationale de Football Association.

Tilla Theus hat dem Fussball einen Sitz am Zürichberg gebaut: in Hochgeschwindigkeit, mit opulenten Materialien, brillanten Oberflächen und einem tief in der Erde liegenden Regierungssaal für das Exekutivkomitee. Hier tagt die FIFA, die Fédération Internationale de Football Association.

Bis anhin hatte die FIFA ihre rund 250 Mitarbeiter auf sechs Häuser von Zürich bis nach Zug verteilt. Um sie an einem Ort zu versammeln, hat sich der Dachverband aller Fussballverbände ein einziges ‹Home of FIFA› auf dem Zürichberg geschenkt, gelegen zwischen der Masoalahalle des Zoos und dem ehemaligen Geschäftssitz auf dem Sonnenberg. Das Haus kostete satte 240 Millio-nen Franken und übersetzt das gutschweizerische Verhältnis zum Reichtum in Architektur: von aussen ein VW Golf, innen ein Maybach. Neben den Quadratmetern war auch die geforderte architektonische Augenhöhe für diesen Direktauftrag keineswegs durchschnittlich: Elegant, exklusiv und vor allem repräsentativ sollte der Hauptsitz werden. Und herausragend in geringem Energieverbrauch und bester Haustechnik. Die Architektin Tilla Theus, die bereits den Sitz des Internationalen Hockeyverbands erweitert hat, bewältigte ein Hochgeschwindigkeitsprojekt: Grundstückkauf 2003, dann politische Durchsetzung inklusive Gestaltungsplan, ein komplexer Bauprozess, Bezug im April 2006 und schliesslich Eröffnung im Mai 2007.

Zwei Drittel unter der Erde

Die Architektin hat den Grundriss einfach strukturiert: Er erinnert in seinen Geschossen über der Erde an ein Klos-ter. Entlang der Längsseiten reiht sich ein Büro ans andere. Die Fussball-Verwalter blicken entweder in den Park oder in den geheimnisvollen Urwald im Innenhof – beide hat der Landschaftsarchitekt Günther Vogt gestaltet. Und wie bei einem Kloster bleibt uns Normal-sterblichen nur der Blick auf die Fassade, auf ein silbern schimmerndes Aluminiumgewebe, das den 140 Meter langen und knapp 50 Meter breiten Bau rundherum einwickelt und so die FIFA-Beamten vor zu viel Sonnenlicht schützt. Wer es ins Kloster schafft, darf staunen, wie teure Materialien adeln: kostbare Glasarbeiten, gebrochene Schiefersteinstreifen aus Brasilien und amerikanisches Nussbaumholz an der Wand, Lapislazuli am Boden, von einer eigens konstruierten Maschine gehämmerte, kunstvoll verzogene Aluminiumwände, ein Andachtsraum für die fünf Weltreligionen aus hinterleuchteten Onyxplatten sowie Chromstahlhandläufe als Reflektoren der Lichtinstallationen des amerikanischen Künstlers James Turrell.
Das ‹Home of FIFA› ist nicht nur wegen der exquisiten Lage und der eindrücklichen Materialsammlung ein besonderer Konzernsitz, sondern auch wegen der Art, wie hier Grösse bewältigt wird. Nur ein Drittel des Gebäudes ist sichtbar: 6000 Quadratmeter für Archive und Lager, 3000 Quadratmeter für Technik und 240 Parkplätze hat Tilla Theus in der Erde vergraben. An die Oberfläche kommen also nur die Eingangshalle, ein Auditorium, die rund 300 Arbeitsplätze sowie eine 1750 Quadratmeter grosse Sport- und Fitnessanlage neben dem Haus. Das Raumprogramm, das Budget und die Wucht des Tiefbaus beeindrucken. In der Bearbeitung der Ausstattung stecken Fantasie, Spielfreude und Kunstfertigkeit. Was Raumfolgen und -gefüge angeht, ist das ‹Home of FIFA› kein Meilenstein. Exemplarisch gilt das für den mickrigen Eingang in die riesige Empfangshalle und den banalen Weg von hier über ein Treppenhaus oder einen Glaslift ins Auditorium, dessen gestauchtes Foyer unmittelbar an die Treppen anschliesst. Die Geschichte kennt berauschendere Beispiele, wie der eine Mächtige dem anderen Mächtigen seine Bedeutung mit Raumdramatik und der ‹Dimension princière› zeigt.

Rundleder-Machtzentrale

Die Bedeutung von Architektur und Macht spielt dieses Haus im Untergrund aus. Im dritten Untergeschoss ist der Saal des Exekutivkomitees untergebracht: ein zwei Geschosse hoher, fensterloser Raum, dessen Boden mit dicken Lapislazuliplatten belegt ist und dessen Wände in dunklem Edelholz schimmern. Hier regieren – eingerichtet von einer Frau – 24 hohe Herren unter Leitung von Josef ‹Sepp› Blatter den Weltfussball. Die Funktionäre sitzen auf Polstersesseln unter einem prächtigen Kronleuchter. Der Thron des Königs ist zwei Zentimeter höher als die anderen Sessel, Bildschirme fahren aus und ein, unsichtbare Übersetzer flüstern aus drahtlosen Ohrmuscheln, leise summen versteckte Datenserver – Machtarchitektur pur.

hochparterre, Mi., 2007.04.04



verknüpfte Bauwerke
FIFA-Hauptsitz



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2007-04

04. April 2007Roderick Hönig
hochparterre

Lernen am Flügeldach

Mit dem Projekt ‹1:1 Metal Works› der Architekturabteilung der ETH Zürich haben rund zwanzig Studentinnen die Chance wahrgenommen, aus dem Elfenbeinturm...

Mit dem Projekt ‹1:1 Metal Works› der Architekturabteilung der ETH Zürich haben rund zwanzig Studentinnen die Chance wahrgenommen, aus dem Elfenbeinturm...

Mit dem Projekt ‹1:1 Metal Works› der Architekturabteilung der ETH Zürich haben rund zwanzig Studentinnen die Chance wahrgenommen, aus dem Elfenbeinturm der Architekturlehre in die Niederungen eines Pausenplatzes im Zürcher ‹Chreis Cheib› herabzusteigen. Dafür haben die Professuren Architektur und Konstruktion sowie CAAD zwei Arbeitswochen zum Thema ‹Materialspektrum Metall› organisiert. In der ersten Woche gab es einen Crash-Kurs fürs Schweissen, Blech-Laserschneiden und Blechabkanten, danach entwarfen die Studierenden in einem internen Wettbewerb ein Pausendach für ein Schulhaus. Während der zweiten Woche konnten sie in der Werkstatt der Firma Blechteam in Rümlang die Bauteile der fünfzehn flügelartig geknickten Dachelemente des Siegerprojekts herstellen. In den Sommerferien haben sie die Teile zusammengesetzt und auf die Stützen montiert. Dann kam der Praxistest: Mit viel Geduld und Feinarbeit haben die angehenden Architekten im Herbst ihre ‹Flügelsäulen› in die Fundamente auf dem Pausenplatz eingepasst. Dabei haben sie die Unterschiede zwischen Planung und Ausführung am eigenen Leib erfahren.

hochparterre, Mi., 2007.04.04



verknüpfte Bauwerke
Pausendächer Schulhaus Kern



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2007-04

07. März 2007Roderick Hönig
hochparterre

Hüttenarchitektur gibt es genug

Die beiden jungen Architekten Reto Pedrocchi und Beat Meier haben sechs Monate nach Bürogründung einen Volltreffer gelandet. Beim Ausbau zweier Ferienwohnungen in Davos genossen sie fast vollständige gestalterische Freiheit und Geld spielte keine grosse Rolle. Im Interview sprechen die beiden Zürcher in Basel über das Bauen in den Bergen, Gemütlichkeit und den eigenen Stil.

Die beiden jungen Architekten Reto Pedrocchi und Beat Meier haben sechs Monate nach Bürogründung einen Volltreffer gelandet. Beim Ausbau zweier Ferienwohnungen in Davos genossen sie fast vollständige gestalterische Freiheit und Geld spielte keine grosse Rolle. Im Interview sprechen die beiden Zürcher in Basel über das Bauen in den Bergen, Gemütlichkeit und den eigenen Stil.

Wie kommt ein junges Büro, das zum Zeitpunkt der Auftragsvergabe kaum Referenzen vorweisen konnte, zu einem solchen Prestige-Auftrag?

Reto Pedrocchi: Erich Schmid, einer der beiden Bauherren der Erdgeschoss-Wohnung, ist zusammen mit Pius App auch Bauherr des geplanten Schatzalpturms von Herzog de Meuron. Der Davoser Hotelier hat die Projektleiterin des Schatzalpturms nach einem jungen Architekturbüro gefragt, das für die Wohnung eine unerwartete Lösung finden könnte. Die Projektleiterin hat uns dann empfohlen.

Wieso genau dieser Entwurf?

Beat Meier: Wir haben zwei sehr unterschiedliche Vorprojekte für zwei verschiedene Benutzergruppen entworfen: Eine „Massenlager“ für acht jugendliche Wintersportler sowie eine Wohnung für ein junges Paar. Die Bauherren haben sich für die letzte Variante entschieden.

Reto Pedrocchi: Erich Schmid und Peter Thöny haben die Wohnung im Erdgeschoss gekauft, weil es in ganz Davos keine Ferienwohnung mit viereinhalb Meter hohen Räumen gibt. In diese „räumliche Ausnahme“ wollten die beiden Herren keinen konventionellen Grundriss einbauen. Sie erwarteten von uns nicht nur einen unkonventionellen Entwurf, sondern auch einen unkonventionellen Nutzungsvorschlag. Insofern ist unser Projekt auch eine Antwort auf die gesichtslosen Zweitwohnungen, die in den Bergen massenweise entstehen.

Wie kam es zum Auftrag für den Ausbau der beiden Attikawohnungen?

Beat Meier: Schmid hat im Auftrag des Investors die Wohnungen im Haus verkauft. Die neuen Besitzer der Attikawohnungen fragten ihn nach einem Architekten, der aus den zwei Wohnungen eine macht. Da hat Schmid uns empfohlen.

Beide Projekte brechen mit jedem Ofenbänkli-Chalet-Klischee. Sie erinnern eher an Designer-Kleiderläden als an Ferienwohnungen. Was sind das für Wohnwelten, die ihr inszeniert habt?

Reto Pedrocchi: Am Anfang stand die klare, fast schon funktionale Raumaufteilung. Bei der Attikawohnungen war uns der Kontrast zwischen den einzelnen Räumen wichtig. Wir haben intern von Filmsets gesprochen: Verschiedene Wohn- und Badewelten sind nebeneinander aufgereiht, ein neutraler weisser Gang, eine Referenz an Stanley Kubriks Film „A Space Odyssey 2001“, verbindet sie. Wer will, kann auch von einer Kulissen-Architektur sprechen. Damit und mit ungewohnt angewendeten und verarbeiteten Materialien versuchten wir die bestehende, durchschnittliche Architektur auszublenden. So ein Über-Akzentuieren funktioniert natürlich nur bei einer Bauherrschaft, die nur wenige Wochen im Jahr in der Wohnung verbringt. Aber grundsätzlich gilt: Wir haben nichts gegen das Chalet! Unser Ofenbänkli hat einfach eine andere Form.

Beat Meier: Wären die Wohnungen dauerhaft bewohnt, wären die Kontraste nicht so dominant ausgefallen. Vor allem die Attikawohnung ist für die Bauherrschaft Ersatz für die Erlebniswelt Hotel. Wichtig ist aber noch etwas anderes: Beide Ausbauten liegen in Davos – und Davos ist eine Stadt. Mit seiner Flachdacharchitektur gehört sie zu einem der urbansten Orte in den Bergen. Auch die älteren Häuser in Davos entsprechen nicht dem Chalet-Klischee. Deshalb haben auch wir uns nicht an diesen traditionellen Bildern von Bauen in den Bergen orientiert.

Trotzdem: Ich habe immer gedacht, eine Ferienwohnung in den Bergen müsse eine gewisse Gemütlichkeit ausstrahlen. Der kühle Dalmatiner-Terrazzo macht einen aber nicht an, sich mit einem Glas Wein auf ein weiches Kissen vor das Cheminee zu setzen und dem Spiel der Flammen zuzusehen. Welche Bedeutung hat der Begriff „Gemütlichkeit“ für die beiden Ausbauten?

Reto Pedrocchi: „Gemütliche“ Hüttenarchitektur gibt es genug in den Bergrestaurants. Gemütlichkeit war weder für die Bauherrschaft, wie auch für uns kein Thema. Es gibt gemütliche Bereiche in der Wohnung, beispielsweise der Wellnessbereich mit seinem geräucherten Eichenboden und dem groben, platinfarbenen Putz an der Wand.

Fürs Bauen in den Bergen, besonders in Davos, gibt es zahlreiche Beispiele aus der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Spielten sie, die Berge oder die lokale Architekturtradition eine Rolle bei eurem Projekt?

Reto Pedrocchi: Für uns nicht, aber viele Besucher der Wohnungen finden alpine Anknüpfungspunkte: die weissen Punkte im Terrazzoboden erinnern die einen an Schneeflocken, das Relief an der Korridorwand erinnert die anderen an vereiste Topografiemodelle. Solche Referenzen waren nie geplant. Wir freuen uns aber darüber, da uns beim Entwurf keine Bildern geleitet haben.

Die Räume sind sorgfältig bis ins Detail gestaltet, wirken aber sehr unpersönlich, ja sogar unbewohnt. Wo bringt sich die Bauherrschaft ein?

Beat Meier: In der Nüchternheit und im Anspruch an die Ausführungsqualität. Sie wollte klare Formen, eine klare Sprache und eine solide und präzise Ausführung. Nichts sollte zuviel sein. Weil beide Bauherrschaften keine konkreten Bilder für ihre Ferienwohnungen hatten, waren wir im Entwurf sehr frei. Gleichzeitig war es für uns sehr schwierig, anhand dieser abstrakten Vorgaben, das Richtige zu finden.

Reto Pedrocchi: Da uns die Auftraggeber nicht mit Lösung eines konkreten Problems beauftragten, mussten wir uns die Entwurfsaufgabe selber stellen. Das waren eine grosse Chance und ein grosser Luxus.

Verstehe ich das richtig? Beide Bauherrschaften hatten keine konkreten formalen Vorstellungen, sondern nur hohe Ansprüche an Ausführungsqualität und Materialien?

Beat Meier: Ja, so unglaublich das klingt. Mit zwei jeweils gegenteiligen Vorprojekten, also einmal die Attikawohnung als fliessender, offener Raum versus die Aneinanderreihung von unterschiedlich ausgefütterten Kammern, haben wir versucht herauszufinden, wo die Bauherrschaft steht. Das Risiko, nicht zu finden, was der Bauherrschaft gefällt, war zwar gross, trotzdem haben wir einen Volltreffer gelandet.

Dann ist die Attikawohnungen kein Massanzug für die Bauherrschaft sondern ein Pedrocchi-Meier-Designerdress?

Beat Meier: Unsere Auftraggeber haben uns bewusst einen Pedrocchi-Meier-Desingerdress abgekauft. Es passierte zwar nichts ohne vorherige Absprache, aber wir genossen praktisch gestalterische Narrenfreiheit.

Beide Wohnungen sind ein starkes Stil-Statement: Die Farbwahl sowie auch die verwendeten Materialien und ihre Verarbeitung erinnern an die 60er und 70er Jahre. Auch das Ornament ist ein Thema. Ist eure Architektur nun Retro-Design oder besonders zeitgenössisch?

Reto Pedrocchi: Wahrscheinlich ist sie beides. Von den Materialien her lehnt sich der Entwurf an die siebziger Jahre an, von der Ausformulierung her empfinde ich es eher als Statement zur zeitgenössischen Architektur. Die Herstellung der kristallinen Formen zum Beispiel, ist teilweise nur mit modernen computergesteuerten Maschinen möglich.

Beat Meier: Ist Retro-Design heute nicht besonders zeitgenössisch? Es ist doch praktisch unmöglich, etwas Neues zu erfinden. Fast alles, das einem heute als neu verkauft wird, gab es schon einmal, vielleicht in einer anderen Form oder Funktion. Die letzten hundert Jahre Gestaltungsgeschichte sind so gut dokumentiert wie keine anderen. Wir machen, was uns gefällt.

Beat Meier hat bei Buchner Bründler das UNO-Projekt, Reto Pedrocchi hat für HdeM Prada Tokio geleitet. Beide Lehrmeister sind in der vorliegenden Arbeit zu erkennen. Welche Bedeutung haben die Lehr- und Wanderjahre fürs eigene Werk?

Beat Meier: Sie waren sehr wichtig. Dass sie nun in unserer eigenen Arbeit sichtbar sind, verstehen wir als Lob an unsere Arbeit. Die Entwicklung eines eigenen Stils geht nicht von heute auf morgen.

Welche Bedeutung hat der eigene Stil?

Reto Pedrocchi: Der eigene Stil ist wichtig, ich frage mich nur, ob er überhaupt möglich ist. Zumindest bei der ersten Arbeit. Wir wissen noch gar nicht genau, was uns interessiert und wo wir hin wollen. Heute entscheidet sich niemand mehr am Anfang seiner Karriere für einen gewissen Stil. Es werden hoffentlich noch viele Einflüsse kommen, die uns verleiten werden.

Die Ferienhalle
Die Ferienhalle liegt im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses am steilen Schatzalphang. Die Wohnung ist eine typische Restfläche: Sie ist direkt auf die Strasse orientiert und hat weder Blick noch einen attraktiven Aussenraum. Um die schlechte Lage zu kompensieren und um mehr Tageslicht in die Räume zu holen, sind sie viereinhalb Meter hoch. Pedrocchi Meier machen die Raumhöhe zur Hauptattraktion. Dafür unterteilen sie den rechteckigen Grundriss in drei Zonen: Eine dunkle Wellness-Höhle im Hang, eine mittlere Raumschicht mit Entrée, Bad, Schlafzimmer und Gäste-WC sowie die offene, dreiseitig belichtete Wohnhalle. Augenfänger ist der aufgeregt gemusterte Trennvorhang der die Nebenräume vom Wohn-Essbereich trennt: Es ist eine horizontal und vertikal unregelmässig gefaltete Wand aus glasfaserarmiertem Kunststoff. Zusammen mit dem eigens fürs Projekt entworfenen Stoffvorhang, der die restlichen drei Wände einhüllt, schaffen die Architekten einen Raum im Raum. Die feierliche Ferienhalle kommt besonders beim Après-Ski zur Geltung, wenn das Licht hinter der Faltwand die gelben Muster leuchten und einen die biedere Umgebung vergessen lässt.

Das Hotel für zu Hause
Für das elegante Penthouse für eine dreiköpfige Familie haben die Architekten die beiden obersten Dachwohnungen des Mehrfamilienhauses zusammengefasst. Pedrocchi Meier belassen die Rohbau-Infrastruktur und reihen entlang eines langen rückwärtigen Korridors alle Haupträume auf. Die Stimmungen erinnert an ein Designer-Hotel: Auf die weite Terrasse hin das loungeartige Wohnzimmer mit seinem Dalmatiner-Terrazzo-Boden, die beiden mit grauem Teppich und grüngrauen Tapeten ausgekleideten Schlafzimmer sowie der platinfarben getünchte Wellnessbereich mit seinem Boden aus geräucherter Eiche. Zwischen dem weissen Gang und den Haupträumen liegen Küche, Gäste-WC, Bäder, Sauna und Waschküche. Einzig ein Gästezimmer sowie ein kleines Heimbüro sind auf die Rückseite ausgerichtet. Der Empfang ist kühl und geheimnisvoll: Man betritt das Penthouse über das Spiegelkabinett des weissen Korridors: Seine Aussenwandseite ist mit lackierten Holzplatten beplankt. Darin spiegeln sich die gegenüberliegenden, matten Corian-Wände. Sie sind zu einem flachen Prismen-Relief gefaltet, so dass das Licht in den Gang hinein gelenkt wird. An den Enden liegen jeweils Fenster. Sie sind so elegant versteckt, dass man tagsüber meint, die weissen Wände würden sich am Ende des Gangs in Licht auflösen.

hochparterre, Mi., 2007.03.07



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2007-03

07. März 2007Roderick Hönig
hochparterre

Turnen im Glashaus

Der Badweiher ist ein typisches Schulhaus-Ensemble, bei dem die Architektur-Jahrringe gut abzulesen sind: Ein pavillonartiges Schulhaus aus den Fünfzigern,...

Der Badweiher ist ein typisches Schulhaus-Ensemble, bei dem die Architektur-Jahrringe gut abzulesen sind: Ein pavillonartiges Schulhaus aus den Fünfzigern,...

Der Badweiher ist ein typisches Schulhaus-Ensemble, bei dem die Architektur-Jahrringe gut abzulesen sind: Ein pavillonartiges Schulhaus aus den Fünfzigern, eine Schnellbau-Turnhalle aus den Sechzigern, ein strenges Beton-Schulhaus aus den Siebzigern. Nun haben die beiden jungen Architekten Thomas Schwendener und Peter Habe die sanierungsbedürftige Turnhalle ersetzt und am selben Ort eine neue Doppelturnhalle im Minergiestandard erstellt. Ihr grünes Glashaus passt sich trotz der wuchtigen Grösse in die lockere Anordnung der beschaulichen Solitärbauten ein. Wie das geht? In der Längsachse treppt sich das Volumen mehrfach ab: Auf der Ostseite der hohen Halle liegt das eingeschossige Gerätelager, auf der Westseite staffeln das Foyer, der Mehrzweckraum und darüber die Garderoben die Schnittlinie. So passt sich das Volumen dem Massstab den Nachbarbauten an. Faszinierend ist die Fassade, vor allem im Sommer, wenn das Grün der vorgehängten Profilitgläser im Blattgrün der umgebenden Bäume aufgeht. Ihre Lichtdurchlässigkeit verleiht dem Haus Leichtigkeit und Eleganz. Und für den Fall, dass die neue Turnhalle die Sportlust der Einwohner von Muri über die Massen steigert, haben die Architekten schon vorgesorgt: Auf der Südseite kann die Halle erweitert werden.

hochparterre, Mi., 2007.03.07



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2007-03

23. Januar 2007Roderick Hönig
hochparterre

«Ich bin ein klassischer Architekt»

Peter Märkli hat für die Novartis in Basel ein Bürogebäude mit Visitor Center gebaut. Der Architekt spricht über Symmetrie und den ‹Märkli-Klassizismus›, über Lampugnanis Masterplan, Kunst-und-Bau-Arbeiten sowie über Materialien, die wie Ornamente verwendet werden, und über direkt auf der Wand verlegte Leitungen.

Peter Märkli hat für die Novartis in Basel ein Bürogebäude mit Visitor Center gebaut. Der Architekt spricht über Symmetrie und den ‹Märkli-Klassizismus›, über Lampugnanis Masterplan, Kunst-und-Bau-Arbeiten sowie über Materialien, die wie Ornamente verwendet werden, und über direkt auf der Wand verlegte Leitungen.

Waren die städtebaulichen Vorgaben des Masterplans von Vittorio M. Lampugnani Fluch oder Segen?

Weder noch. Ein Masterplan ist das Prinzip eines jeden Städtebaus. Innerhalb der festgelegten Baufelder können sich die Architekten gewisse Freiheiten erarbeiten, doch das einzelne Gebäude soll keine Ausnahme sein, sondern sich dem übergeordneten Plan unterwerfen. Man kann mit einem einzelnen Gebäude nicht die Stadtstruktur ändern.

«Architektur ist keine Sportveranstaltung», haben Sie einmal gesagt. Die Bauten auf dem Novartis-Gelände erinnern trotzdem an eine Architektur-Olympiade. Kümmert sich Ihr Haus um die anderen Bauten?

In grossem Masse! Als wir 2004 mit dem Bau begonnen haben, standen ja nur der steinverkleidete Hauptsitz aus dem Jahr 1939 sowie das Forum 3 von Diener & Diener Architekten. Die Erscheinungsform unseres Hauses wurde durch diese Nachbarschaft determiniert. Auf den Stadtplatz hin, das sogenannte Forum, haben wir die Proportion so gewählt, dass der LED-Screen von Jenny Holzer relativ weit herunterkommt. So steht das Gebäude fest am Platz und wirkt nicht aufgeständert.

Lampugnani sah auf dem Grundstück Fabrikstrasse 6 ursprünglich eine Bibliothek vor. Was ist aus ihr geworden?

Die Bibliothek hat sich zu einem ‹Marktplatz des Wissens› gewandelt. Sie wird ins Zentrum des Campus verlegt. Die Lage am Platz, gleich hinter dem zukünftigen Haupteingang, erwies sich für diesen Zweck als ungeeignet. Deshalb hat die Novartis entschieden, an der Fabrikstrasse 6 das Visitor Center einzurichten.

Was ist ein Visitor Center?

Das Visitor Center empfängt auswärtige Gäste wie auch Mitarbeiter aus aller Welt, es ist eine Art Verteilerzentrale. Hier finden auch Anlässe wie Weihnachtsapéros statt. Man kann sich darin für informelle Sitzungen treffen, auch Schulkassen werden hier empfangen. Deshalb war uns die Art und Weise, wie das Haus Menschen aufnimmt, also wie gastfreundlich es ist, sehr wichtig. Wie und wie viele Informationen über Novartis darin transportiert werden, liegt in der Kompetenz des Auftraggebers.

Die Baueingabe war im April 2004, die Übergabe im Mai 2006. Ist schnelles Bauen ein Vor- oder Nachteil?

Den hohen Takt empfand ich als Vorteil. Denn wenn ich an eine neue Bauaufgabe herantrete, bin ich immer sehr motiviert. Diese Leidenschaft kann ich nicht unendlich lange aufrechterhalten. Zur hohen Realisierungsgeschwindigkeit gehört aber auch eine entsprechende Entwurfsstrategie.
Das heisst, die Grundstruktur eines Hauses, seine Proportionen und die Gliederung der Fassade sind unumstösslich.
Für die Haustechnik hingegen muss ich ein System entwickeln, das auf nachträgliche Änderungen, die zu jedem Bau gehören, reagieren kann, ohne dass sie die Architektur in Frage stellen. Deshalb haben wir sehr wenig einbetoniert. Die Leitungen in den Lager- und Technikräume sind sichtbar montiert und werden so zum Ornament.

Mein erster Eindruck war: ein amerikanisches Haus der Vierzigerjahre. Was für eine Art Architektur ist es?

Es ist eine Architektur, die mir entspricht. Wir wollten ein zeitgemässes, frisches Gebäude machen – ein Haus, das als intim, sinnlich, gelassen und reich empfunden wird. Einige sagen es wirke ‹altneu›. In der Architektur gibt es eine Grundfrage: der Raum. Wie wird er strukturiert, organisiert und proportioniert, wie ausdruckshaft ist er? Wenn der Architekt diese Fragen beantwortet hat, kann er beispielsweise eine gewisse Sinnlichkeit oder Intimität für diese Räume wählen. Sie ist aber nicht auf irgendein Jahrzehnt bezogen, sondern relevant für alle Epochen.

Der Novartis-CEO Daniel Vasella hat den Aus- und Umbau des Novartis Campus zur Chefsache erklärt. Um sich eine genaue Vorstellung von den zukünftigen Gebäuden zu machen, liess er 1:1-Modelle von allen Fassaden erstellen. Wie verlief die Zusammenarbeit?

Unser Beruf setzt ein grosses Abstraktionsvermögen voraus. Das Entscheidungsgremium, dem Daniel Vasella vorsteht,
braucht haptische und visuelle Erfahrungen. Darum die aufwendige Bemusterung und die 1:1-Modelle. Dazu hat der CEO jeweils sehr rasch Stellung bezogen.

An der Fabrikstrasse 6 liegt Marmor auf den Böden, die Wände sind in Eibe, die Handläufe in Olivenholz furniert, die Stützen mit Chromstahl verkleidet. Sie verwenden edle Materialien wie Ornamente. Welche Rolle spielt das Ornament?

Eine grosse Rolle. Das Visitor Center wird durch den weissen Marmor nobilitiert, es ist ein Liebesbeweis an die alten Griechen. Der Materialwechsel zwischen den Geschossen lässt einen ohne Beschriftung merken, wo der Besucherbereich aufhört. In einer zweiten Hierarchieebene haben wir die Zeichnungen der Materialien als ornamentalen Ersatz verwendet. Wir haben aber nur die Richtungen der Adern bestimmt und nicht die Lage der einzelnen Platten. Eine Art kalkulierter Zufall. Ich glaube, dass der Architekt nicht alles bestimmen sollte, sondern dass er dem Arbeiter oder Unternehmer einen Rahmen ausstecken sollte. So kommt Frische in den Bau und man muss nicht immer alles umzeichnen, wenn es Änderungen gibt.

Der Grundriss des Hauses basiert auf einer doppelsymmetrischen Form. Ein Märkli-Klassizismus?

Ich bin ein klassischer Architekt und fühle mich der abendländischen Stadt und Baukunst verpflichtet. Meine Erfahrung ist, dass klassische Grundmuster ein unglaubliches Potenzial beinhalten. Das Haus hat zwei wichtige Seiten: vorne das Forum, hinten der Long-Square, der noch gebaut wird. Wir versuchten in dieser Gebäudetiefe Büros zu organisieren, ohne dass man denkt, wir hätten einfach die Trennwände weggelassen. So ist das symmetrische Raumsystem entstanden. Aber es gibt genügend Abweichungen von der Grundsymmetrie. Man muss die Symmetrie mit Ausnahmen attackieren – sie ist nicht relevant.

Das Budget war beschränkt, aber wohl dotiert. Beim Entwurf kann der Architekt lenken, wo er wie viel Geld investieren will. Wo haben Sie investiert?

Es stimmt nicht, was Sie sagen: Alles ist wichtig! Es geht darum, das Baukonto so zu bewirtschaften, dass ein Maximum an Wirkung entsteht. Ein Gebäude soll doppelt so reich aussehen, als es ist.

Ich war der Meinung, dass Peter Märkli bei Kunst-und-Bau-Projekten nur den Bildhauer Hans Josephsohn an sein Werk ‹heranlässt›. In die Platzfassade aber ist eine Leuchtschrift der Künstlerin Jenny Holzer integriert.

Die Frage muss andersherum gestellt werden: Wie viele Bildhauer könnte der Architekt Peter Märkli finden, die für seine Häuser gut wären? Ich kann mir verschiedene Zusammenarbeiten vorstellen, doch habe ich bis anhin niemanden
gefunden, ausser Hans Josephsohn und Alberto Giacometti, dessen Plastiken mit meiner Architektur so zusammenspielen, wie ich es mir wünsche. Es ist nicht eine Frage der Qualität, sondern es sind die darin widergespiegelten Haltungen zum Leben, die mich ansprechen.

Wie kamen Sie zu Jenny Holzer?

Harald Szeemann war für das künstlerische Konzept auf dem Novartis Campus verantwortlich. Er hat mir Jenny Holzer vorgeschlagen. Ich habe sofort zugesagt. Die Arbeit ist integraler Bestandteil der Fassade, wie es auch ein Relief von Josephsohn wäre. Kunstwerk und Fassade bedingen einander. In diesem Sinne funktioniert ihre Arbeit wie die Reliefs- und Halbfigur-Arbeiten von Josephsohn, wie ich sie bereits in anderen Bauten integriert habe.

hochparterre, Di., 2007.01.23



verknüpfte Bauwerke
Bürogebäude und Besucherzentum WSJ-157



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2007-01|02

17. Oktober 2006Roderick Hönig
hochparterre

Alpine Chic

Seit 1926 ist das Parkhotel ‹Bellevue› in Adelboden im Besitz der Familie Richard. Nach einem Brand des hölzernen Türmchenhotels 1931 liessen die Richards...

Seit 1926 ist das Parkhotel ‹Bellevue› in Adelboden im Besitz der Familie Richard. Nach einem Brand des hölzernen Türmchenhotels 1931 liessen die Richards...

Seit 1926 ist das Parkhotel ‹Bellevue› in Adelboden im Besitz der Familie Richard. Nach einem Brand des hölzernen Türmchenhotels 1931 liessen die Richards das Haus neu bauen. Ihre Architektenwahl war damals mutig und stiess im Dorf auf Unverständnis: Urfer und Stähli aus Interlaken hatten sich vor allem als progressive Freibadbauer einen Namen gemacht – entsprechend war auch ihr Entwurf für Adelboden bedingungslos modern. Was damals eine weitherum weiss leuchtende Provokation war, geht heute fast lautlos im lärmigen Chaletgestapel unter.

75 Jahre später, nach etlichen Um-, An- und Ausbauten sowie Stilbrüchen, haben die Enkel des Gründerpaars dem Haus ihren Stempel aufgedrückt. Die jungen Richards wollten nicht weniger progressiv als ihre Grosseltern sein und haben sich zur Zusammenarbeit mit dem trendigen Büro Buchner Bründler entschlossen. Die Basler haben in den zwei Monaten, in denen das Hotel jährlich geschlossen ist, zehn Zimmer und zwei Restaurants mit Bar und Lounge umgebaut. Die Forderung der Gastgeber nach ‹zeitgenössischer Gemütlichkeit› lösten die Architekten mit ‹Alpine Chic› ein. Er beginnt im entrümpelten Korridor, dessen Grau und dessen eigens gestaltete Leuchten die verschiedenen Bauetappen wieder zusammenhält. In den Zimmern heisst ‹Alpine Chic›: Weg von ‹Louis Toujours›, hin zu klaren Formen, natürlichen Materialien und diskreten Farbtönen – kunstvoll bespielt mit Schnurgeflecht-Klassikern des dänischen Möbeldesigns aus den Fünfzigerjahren von Hans J. Wegner (in den Doppelzimmern) und Sesselobjek-ten von zeitgenössischen Designern wie Citterio oder Kon-stantin Grcic (in den Suiten). Mit einfachen Details haben die Architekten den kleinen Zimmern Platz für eine Sitzecke abgetrotzt: Fernseher und Schreibtisch können aus der Schrankwand herausgeklappt werden, der sperrige Koffer verschwindet in der Schublade unterm Bett.

Im Erdgeschoss verwandelten die Basler das zudekorierte Bellevue-Stübli in ein luftiges und offenes Restaurant mit Lounge. Buchner Bründler haben den angestauten Muff so stark ausgelüftet, dass einzelne Stammgäste sich von der Adressliste streichen liessen, als sie die ersten Bilder in der Hauszeitung sahen. Dabei haben die Basler den Anbau nur auf seine ursprüngliche Offenheit zurückgeführt. Grosse Panoramafenster geben nun wieder den Blick auf Wildstrubel und Engstlingenfälle frei. Interessant ist, dass die Trompetenhosenzeit auch wieder bei der dunklen Braun-in-Braun-Lounge mitschwingt: Ein kantiger Tresen, verkleidet mit brüniertem Messing, dunkle Mooreiche am Boden, ein offenes Cheminée unter einer riesigen Eisenhaube, aufgeschlitzte Messingleuchten und luftige Holzreliefs als Wände erinnern an die frühen James-Bond-Sets von Ken Adams. Für den Teilumbau ist Andi Bründler von der Zeitschrift Bilanz zum Hoteldesigner 2006 gekürt worden.

hochparterre, Di., 2006.10.17



verknüpfte Bauwerke
Umbau Parkhotel Bellevue



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2006-10

08. September 2006Roderick Hönig
hochparterre

Aufgefangen im freien Fall

Das altehrwürdige Ankerhaus in Wien wurde nach dem Zweiten Weltkrieg mehr schlecht als recht umgebaut. Nun hat die Anker Versicherung das Gebäude erneut...

Das altehrwürdige Ankerhaus in Wien wurde nach dem Zweiten Weltkrieg mehr schlecht als recht umgebaut. Nun hat die Anker Versicherung das Gebäude erneut...

Das altehrwürdige Ankerhaus in Wien wurde nach dem Zweiten Weltkrieg mehr schlecht als recht umgebaut. Nun hat die Anker Versicherung das Gebäude erneut renoviert. Neben dem Einbau von 250 Arbeitsplätzen hat sie auch den kruden, mit Keramikplatten verkleideten Innenhof mit einem Glasdach überdacht. Er wird zur siebengeschossigen Haupthalle des Hauses. Um dem neuen Innenraum entsprechendes Gewicht zu verleihen, hat die Versicherung zu einem Kunst-und-Bau-Wettbewerb eingeladen. Fünf Künstler sollten mit Installationen Licht bis ins Erdgeschoss bringen. Eva Afuhs hat die Konkurrenz gewonnen. Die Direktorin des Museums Bellerive in Zürich, die auch Künstlerin ist, lässt sieben Leuchter durch den Hof nach unten purzeln – drei Barockluster-Repliken und vier aus dem Brandschadenfall der Sofiensäle in Wien. Die im freien Fall (mit fast unsichtbaren Seilen) aufgefangenen Leuchter sollen Besucher daran erinnern, dass im Leben nicht alles versicherbar ist. Damit die Lichtobjekte ihre volle Wirkung entfalten, hat Afuhs den Hintergrund entsprechend gestaltet: elfenbeinfarbige Kämmputzwände lassen das weisse Lüsterlicht leuchten, rote Stucco-Lustro-Flächen reflektieren die einzelnen Leuchten matt.

hochparterre, Fr., 2006.09.08



verknüpfte Bauwerke
Kunst und Bau Ankerhaus



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2006-09

08. September 2006Roderick Hönig
hochparterre

Beton in Steinhausen

Rund zwei Drittel der 8000 Einwohner von Steinhausen sind Mitglieder der katholischen Kirchgemeinde. Den Ausbau ihres Pfarrhauses haben sie deshalb nie...

Rund zwei Drittel der 8000 Einwohner von Steinhausen sind Mitglieder der katholischen Kirchgemeinde. Den Ausbau ihres Pfarrhauses haben sie deshalb nie...

Rund zwei Drittel der 8000 Einwohner von Steinhausen sind Mitglieder der katholischen Kirchgemeinde. Den Ausbau ihres Pfarrhauses haben sie deshalb nie in Frage gestellt. Heftig diskutiert haben sie hingegen, ob man das alte Heim des Pfarrers aus den Siebzigerjahren abbrechen dürfe. Sie entschieden: nein. Weil die Architekten aber nur das Untergeschoss, die Tragstruktur im Erd- und Obergeschoss sowie das Treppenhaus rezyklieren konnten, sieht der Umbau trotzdem aus wie ein Neubau. BDE Architekten erweiterten die Struktur gegen den angrenzenden Dorfplatz hin, wo neu auch der Eingang liegt. Neues Zentrum des Hauses ist der Innenhof, um den herum sich Empfang, Foyer, Büros sowie der hohe Gemeinschaftsraum gruppieren. Darüber liegen zwei Wohnungen. Eingefasst haben die Architekten das Haus mit vorgefertigten und sandgestrahlten Betonplatten. Sie sind kunstvoll um die stehenden und liegenden Fenster aus dunkel eloxiertem Aluminium herummontiert. Das gekonnte Platten-Fenster-Spiel macht das Haus von aussen zur massstabslosen Architekturskulptur und verleiht den sanft eingefärbten Innenräumen einzigartige Ausblicke und Lichtspiele.

hochparterre, Fr., 2006.09.08



verknüpfte Bauwerke
Erweiterung Pfarrhaus



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2006-09

07. August 2006Roderick Hönig
hochparterre

Viel Raum - wenig Energie

Als Wasserforschungsinstitut des ETH-Bereichs hatte die Eawag hohe Nachhaltigkeits-Ansprüche an ihr neues Verwaltungs- und Forschungsgebäude in Dübendorf....

Als Wasserforschungsinstitut des ETH-Bereichs hatte die Eawag hohe Nachhaltigkeits-Ansprüche an ihr neues Verwaltungs- und Forschungsgebäude in Dübendorf....

Als Wasserforschungsinstitut des ETH-Bereichs hatte die Eawag hohe Nachhaltigkeits-Ansprüche an ihr neues Verwaltungs- und Forschungsgebäude in Dübendorf. Der Architekt Bob Gysin und sein Team haben dem Institut ein Hightech-Ökohaus für 120 Arbeitsplätze gebaut, das keinen Birkenstock-Sandalen-Duft verströmt. Der rundherum mit stramm ausgerichteten blauen Glaslamellen eingefasste Bau liegt am Rand des Hallenensembles der Empa im Niemandsland zwischen Auto-, S-Bahn und Möbelhäusern. Die bedruckten Gläser sind zwischen die Fluchtbalkone eingespannt. Im Winter stehen sie offen, sodass das Haus passiv die Strahlungsenergie nutzen kann, im Sommer sind sie geschlossen und werden zu Schattenspendern.

Da man von aussen nichts über das Innere erfährt, ist beim Eintritt die Überraschung gross: Es empfängt einen ein riesiges fünfgeschossiges Atrium. Es ist der kommunikative und haustechnische Kern des Gebäudes. Kommunikativ, weil es auch Ausstellungsraum ist und drumherum über alle Geschosse grosszügige Galerien mit offenen Besprechungs- und Arbeitsplätzen laufen. Haustechnisch, weil das Atrium Klimapuffer, unbeheizte Kühlzone sowie Licht- und Entlüftungskamin ist. Die automatischen Luken im Doppeldach unterstützen die Nachtauskühlung und Querlüftung. Die versetzte Anordnung der Sitzungszimmer bricht die Monumentalität des Luftraums. Nur der Vortragssaal, die Bibliothek, die Mediathek, die Seminarräume sowie einige wenige Büros auf der Nordseite sind nicht zweiseitig belichtet. Die meisten haustechnischen Anlagen sind offen geführt. Das hat zwar einen aufgeregten Materialmix zur Folge, doch so bleiben die Installationen jederzeit für die Wartung zugänglich.

Das Forum Chriesbach ist ein ‹Nullenergiehaus›. Nur das Personalrestaurant, die gemeinsam mit der Empa genutzte Bibliothek sowie der Empfang haben - für den Notfall - eine herkömmliche Heizung. Für die restlichen Räume reicht die Wärme der Mitarbeiter, der Computer, der Lampen sowie der Sonne für eine angenehme Raumtemperatur. Es hilft dabei die kontrollierte Lüftung: Die Zuluft wird im Sommer durch das Erdregister abgekühlt und im Winter vorgewärmt. Dank dieser und weiterer technischer Massnahmen soll das Forum nur rund 50 MJ/m²a verbrauchen und den Minergie-P-Standard um rund 40 MJ/m²a unterschreiten. Mit ihrem Haus statuiert die Eawag ein Exempel im nachhaltigen und energiesparenden Bauen. Trotzdem sei die Frage erlaubt, ob ein Haus für 120 Arbeitsplätze mit einer Energiebezugsfläche von 11000 Quadratmetern und einer Nutzfläche von 8400 Quadratmetern zu den effizientesten Raumnutzern gehört.

hochparterre, Mo., 2006.08.07



verknüpfte Bauwerke
EAWAG Forum Chriesbach Zürich



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2006-08

10. März 2006Roderick Hönig
hochparterre

Viel Raum, wenig Details

Die F + F Schule für Kunst- und Mediendesign hat nach 34 Jahren Nomadentum und Provisorien endlich alle Räume unter einem Dach. Das neue Heim in Zürich Altstetten ist ein unspektakuläres Gewerbehaus, aus dem der Architekt Stephan Rutz mit wenig Geld viel Raum herausgeholt hat. Entstanden ist ein Schulhaus, aber auch eine Kunsthalle, eine Partybühne oder ein Atelier.

Die F + F Schule für Kunst- und Mediendesign hat nach 34 Jahren Nomadentum und Provisorien endlich alle Räume unter einem Dach. Das neue Heim in Zürich Altstetten ist ein unspektakuläres Gewerbehaus, aus dem der Architekt Stephan Rutz mit wenig Geld viel Raum herausgeholt hat. Entstanden ist ein Schulhaus, aber auch eine Kunsthalle, eine Partybühne oder ein Atelier.

Die private Kunstschule F + F (Form und Farbe) wurde 1971 als Alternative zur staatlichen Kunstgewerbeschule gegründet. Der Unterricht in den Räumen des Jugendzentrums Drahtschmidli (heute Dynamo) brachte kunstpolitische Auseinandersetzungen und einigen frischen Wind in die Schweizer Kunstschullandschaft. In der Achtziger-Bewegung gehörte die F + F mit zu den Besetzern der Roten Fabrik. Die Malateliers in der ehemaligen Seidenspinnerei direkt am Zürichsee sind zwar immer noch in Betrieb, doch die vielen späteren Schulräume an den verschiedenen Adressen in Zürich sind Vergangenheit: Heute hat sich die F + F – nicht nur in der Szene – als Alternative zu den Fachhochschulen etabliert. Im Jahr 2006 studieren rund 220 junge Männer und Frauen vollzeitlich Kunst und Mediendesign an der F + F, zahlreiche Abendkurse ergänzen das Angebot. Der Umzug an die Flurstrasse in Zürich Altstetten reduziert die Schuladressen von sechs auf zwei. Er vereinfacht nicht nur die Verwaltung und Logistik, sondern manifestiert die Etablierung der Kunstschule auch räumlich.

Das unscheinbare Haus, in dem ein Händler ursprünglich Gemüse, später die UBS Kunst lagerte, ist keine Perle der Architektur. Gebaut hat es der Baumeister Gottlieb Welti 1949 als profanes, aber funktionales Lager- und Bürohaus. Der Grundriss des 46 auf 20 Meter grossen Baus basiert auf einem regelmässigen fast quadratischen Stahlbeton-Stützenraster mit einem Abstand von rund sechseinhalb Metern. Auf der Nordseite zeigt ein aus dem Grundriss heraustretender Treppenhausturm den Haupteingang und die Erschliessung gegen aussen an. Zwei in den diagonal gegenüberliegenden Ecken liegende Treppenhäuser sowie ein zentral gelegener Lastenlift verbinden die fünf Ebenen miteinander. Entlang der beiden Längsfassaden lassen lange Fensterreihen Licht von Osten und Westen in die 20 Meter tiefen Räume fallen. Kurz: Ein Gewerbehaus aus den Fünfzigerjahren – nicht schlecht, aber auch nicht besonders gut – einfach so, wie es in manchem Vorort einer grösseren Schweizer Stadt mehrfach steht.

Zwei Eingriffe: Gang und Treppe

Nach einigen Handänderungen rutschte der Bau ins Immo-bilien-Portefeuille der von der Zahnradfabrik zur Immobi-lienbesitzerin geschrumpften Maag. Ende 2003 zog die UBS aus und es wurden drei Etagen frei. Kurz darauf präsentierte der Zürcher Architekt Stephan Rutz zum ersten Mal Kurt Weber von der Maag Property Company sein in enger Zusammenarbeit mit der Schulleitung der F+F und mit Unterstützung des Präsidialdepartements der Stadt Zürich entwickeltes Umnutzungskonzept. Rutz schlug vor, das nördliche Treppenhaus in den Keller sowie das südliche ins Dach zu verlängern – eine Grundvoraussetzung, um aus den etwas mehr als 3700 Quadratmeter Lagerfläche zusammenhängende Schulräume zu machen. Zweites Element des Entwurfs ist der innen liegende Gang im Erd- und in den beiden Obergeschossen. Er verbindet die drei Erschliessungskerne horizontal. Seine Ausformung richtet sich nach dem Öffentlichkeitsgrad und seine Lage nach den Nutzungen – immer eingepasst in die bestehenden Strukturen. Im Erdgeschoss nimmt er rund einen Drittel der Fläche ein, in den Obergeschossen mit zunehmender Höhe immer weniger. Der Raum ist mit seinen unterschiedlich grossen ‹Ausstülpungen› zur Fassade hin mehr als Korridor. Er ist auch erweitertes Schulzimmer, Pausenplatz, Kritik-Koje oder Ausstellungsraum.

140 Franken pro Kubikmeter

Sorgfältig gelöste Details oder Konstruktionskapriolen sucht man bei der F + F vergebens. Sie treten zugunsten des Raums und des minimalen Budgets in den Hintergrund: Es gibt keine Sockelleisten, keine Plättli in den WCs, die Leitungen sind offen verlegt und die Wände in den bestehenden Treppenhäusern wurden nicht noch einmal gemalt, denn sie waren schon weiss. Der rohe Charme passt zum Haus und zur Schule: Die Zementböden zeigen ihre Narben aus fünfzig Jahre Nutzung, die Waschbecken hat der Hausmeister auf Baustellen zusammengesucht, die Stahlzargen der neuen Türen sind nicht gestrichen, weil sie unbehandelt schöner und authentischer sind. Der Architekt hat an den Räumen und nicht am Ausbau geschliffen und hat sich wegen des knappen Budgets nicht auf die Entwicklung von Details konzentriert, sondern auf deren Kontrolle. Das Resultat ist wohltuend unprätentiös: Es ist eine rohe, dafür aber massgeschneiderte Leinwand, auf die das Schulleben malen kann.

Mit einem Budget von knapp zwei Millionen Franken hat Stephan Rutz rund 12 500 Kubikmeter Schule aus dem alten Lagerhaus geholt. Den tiefen Umbau-Kubikmeterpreis von 140 Franken (BKP 2) konnte er, auf der einen Seite, dank der Bereitschaft der Bauherrschaft erreichen, die Raumnutzung vor Ausbaustandard stellte. Auf der anderen Seite konnte der Architekt seine eigenen Aufwände vor allem im Bereich Planung und Devisierung minimieren: Es fielen beispielsweise keine Fachplanerhonorare an, weil Stephan Rutz direkt mit dem Elektriker oder dem Sanitärinstallateur durch die Baustelle lief und vor Ort die Schacht- und Leitungsverläufe festlegte. Auch konnte er Freymit der Bauherrschaft vereinbaren, dass die Aufträge ohne Submission direkt an Unternehmer vergeben wurden, mit denen Stephan Rutz schon einmal zusammengearbeitet hatte. Einen Freipass bei der Vergabe hatte der Architekt trotzdem nicht, denn schien ihm oder der Bauherrschaft eine Offerte zu hoch, lud er zwei weitere Handwerker ein und der günstigere erhielt den Auftrag. Wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Umnutzung bleibt allerdings die Substanz selbst: So unspektakulär das Lager- und Bürohaus auch ist, die Räume sind dank der grosszügigen Raumhöhe und des eher kleinen Stützenabstands auch beinahe sechzig Jahre nach der Erstellung noch anpassungsfähig und gut umnutzbar.

Dreimal 130 Quadratmeter Atelier

Den architektonischen Umbau konnte der Rektor Sandi Paucic noch um eine soziale Dimension erweitern, die heute für das stimmige Bild mitverantwortlich ist. Denn als Paucic erfuhr, dass die Stadt Räume für Austausch-ateliers suchte, nahm er mit Jean-Pierre Hoby, dem Leiter der städtischen Kulturabteilung Kontakt auf. Schnell wurden sich die Parteien handelseinig: Die Stadt gab grünes Licht für den Ausbau des bis dahin ungenutzen Estrichs in drei grosszügige Künstlerateliers. Das Resultat: Nicht nur die Räume, auch die internationalen Gäste – gegenwärtig bespielt die Kulturstiftung Pro Helvetia eines der Ateliers – sind eine Bereicherung für die Schule. Sie profitiert so auch von der Ausstrahlung als Ort der Kultur.

Aufgrund des stimmigen Projekts war die Maag Property Company sogar bereit, die Eigeninvestitionen in die Substanz deutlich aufzustocken. Die Besitzerin der Liegenschaft leistete damit aber keinen Sozialdienst, sondern bekam dafür einen langfristigen und prestigeträchtigen Mieter für bis anhin schlecht vermietbare Räume. Der Umbau für die F + F zeigt, dass man auch ohne aufwändige und teure Konstruktionsdetails stimmigen Raum gestalten kann. Er zeigt auch, dass es sich lohnt, wenn der Architekt wieder vermehrt an Spezialisten abgegebenes Terrainzurückerobert: Rutz hat sich nicht nur als formaler Entwerfer im Auftrag der Bauherrschaft verstanden, sondern auch als Nutzungsgestalter für den Vermieter und Flächenoptimierer für den Mieter

hochparterre, Fr., 2006.03.10



verknüpfte Bauwerke
F + F Schule für Kunst und Mediendesign - Umbau



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2006-03

22. Januar 2006Roderick Hönig
hochparterre

Der Dick- und Dünnhäuter

Das AZ Medienhaus ist auf den ersten Blick ein fragiler Dünnhäuter. Doch unter der Glashaut liegt ein dickwandiges Holzmöbel. Burkard Meyer Architekten spielen bei ihrem Geschäftshaus in Aarau souverän mit den Materialien und der Wahrnehmung – das Haus ist aber auch ein passgenauer Lückenfüller, der feine Wurzeln in den Stadtkörper schlägt.

Das AZ Medienhaus ist auf den ersten Blick ein fragiler Dünnhäuter. Doch unter der Glashaut liegt ein dickwandiges Holzmöbel. Burkard Meyer Architekten spielen bei ihrem Geschäftshaus in Aarau souverän mit den Materialien und der Wahrnehmung – das Haus ist aber auch ein passgenauer Lückenfüller, der feine Wurzeln in den Stadtkörper schlägt.

Spiegeln die Gläser nun oder verzerren sie? Je nach Verhältnis, das man zu den Medien hat, stimmt beides. Auf der Glasfassade des Wohn- und Geschäftshauses der AZ Mediengruppe tanzen die Nachbarhäuser auf und ab. Die kristalline Haut verwirrt das Auge des Passanten, weil die linke obere Ecke der schweren Scheiben jeweils – wie ein Eselsohr in einem Buch – nach innen geknickt ist. Das Bild zwischen den weissen Deckenelementen wird deshalb nur teilweise parallel zurückgeworfen. In der Ecke rutscht es quasi in den Spalt hinein und mischt sich mit Himmel und Wolken. Der faszinierende optische Effekt macht das Haus leichter und luftiger und aus einer auf den ersten Blick profanen Glas- eine überraschende Medienfassade, die ohne Elektronik auskommt.Fragile Bänder aus Verbund-Sicherheitsglas hüllen den rund 70 Meter tiefen Block an der Aarauer Bahnhofstrasse geschossweise ein. Sie übernehmen die Fassadenlinien der mächtigen Nachbargebäude, die tragende Schicht liegt bis zu einen Meter hinter der Fassadenlinie. Diese Trennung in Innen- und Aussenhülle spielt Oberfläche und Tiefe aus und lässt dem gewichtigen Nachbarn, dem steinernen Bankhaus von Robert Curjel und Karl Moser aus dem Jahre 1913, den Vortritt.

Entschleunigter Windkanal

Die Hülle ist aber nicht nur ein abstraktes Prachtgewand, sondern auch Klimapuffer und Konvektionsgehäuse: Der Raum zwischen der Glashaut und dem Holzmöbel ist eine Art entschleunigter Windkanal in den sich die Büro- und Wohnungsfenster bei jedem Wetter öffnen lassen. Draussen bleiben (zumindest teilweise) der Strassenlärm, UV-Strahlen und ein Teil der Wärmelast. Die Trennung und räumliche Staffelung der Klima- und Wetterschicht machen sich Burkard Meyer immer wieder zum Thema: Für den Swisscom Tower (2000) in Winterthur entwickelten die Architekten raumhohe Kastenfenster mit Lichtumlenker und Sonnenschutz im Zwischenraum, beim Wohn- und Geschäftshaus Falken (2006) in Baden sind es vom Wind bewegte Vorhänge zwischen den Schichten, die in Kombination mit dem innen liegenden Blendschutz helfen, die Tageslicht- und passive Sonnenenergie zu nutzen. Die Badener Architekten pendeln lustvoll und mit zunehmendem Interesse zwischen Dick- und Dünnhäuter.

Kleid und KörperJedes glitzernde Ballkleid ist aber wertlos, wenn es keinen eleganten Körper inszenieren kann. Hinter den Bogengläsern in Aarau leuchtet ein Körper, der mit rötlich lackierten Holzzementplatten verkleidet ist. Sie bilden die innere Aussenhaut des Hauses. Erst in den Innenräumen sind die Leibungen mit massiver, rot gebeizter Eiche ausgeschlagen. Der Effekt ist vielschichtig: Je nach Tageszeit und Lichtverhältnis schimmern die Platten mal bordeauxrot, mal kastanienbraun, mal sind sie deutlich zu sehen, mal verschwommen. Die Erinnerung an ein hochpoliertes Stil-Möbel in der Glasvitrine ist gewollt: Die seidige Lackierung der roten Tafeln ist eine Referenz an die ausgetäfelten Sitzungszimmer der historischen Bankgebäude in der unmittelbaren Nachbarschaft.

Der Unterschied ist, dass diese eleganten Gründerzeit-Sitzungszimmer in der Regel mit edlen Hölzern und nicht mit Holzzementplatten ausgekleidet sind. Weil die Brandschutz-Vorschriften während des Bauprozesses beim AZ-Haus geändert wurden, war die geplante Edelholzverkleidung der Klimafassade plötzlich nicht mehr erlaubt. Die Architekten machten aus der Not eine Tugend und gaben dem Maler Bruno Giuliani in Wettingen einen unkonventionellen Auftrag: Giuliani sollte die 2000 Quadratmeter Duripanelplatten von Hand und in sechsfacher Lasur maserieren.

Ob des unerwarteten Pragmatismus reibt sich der verwunderte Architekturflaneur die Augen: Was ist mit der ‹konstruktiven Ehrlichkeit›, die jahrelang hoch aufs Schild der Schweizer Architektur gehoben wurde, fragt er sich. Wieso erlauben sich Burkard Meyer in Aarau einfach nur so zu tun, wie wenn? Der Architekt Adrian Meyer verweist auf die Tradition der optischen Verwischung im Barock, bei der die Imitation von Materialien nicht nur ökonomische Ursachen hatte, sondern oftmals zur Überhöhung einer expressiven Absicht diente. Nicht nur damals suchten die Architekten nach den Beziehungen zwischen Wirklichkeit und Realität. Zum Beispiel auch beim Barcelona Pavillon von Mies van der Rohe aus dem Jahre 1929 ist nicht alles so, wie es scheint. Die schweren Steinwände beispielsweise scheinen das Dach zu tragen. Tatsächlich sind die Wände aber alle Hohlkonstruktionen und die sich selbst wegspiegelnden Kreuzstützen tragen die Deckenlast ausserhalb der Wände durch den ebenfalls hohlen Sockel auf die Fundamente ab. «Ein wunderbares und heu-te noch zeitgemässes Beispiel der optischen Verwischung, wie es auch der Barock schon kannte», sagt Meyer dazu.

Ein Stück Stadt

Kein Schein, sondern städtebauliche Präzisionsarbeit ist die Form und die Platzierung des rund 70 Meter langen und 25 Meter breiten Baukörpers. Ins schmale Grundstück, auf dem früher das Haus des Aargauer Tagblatts stand, passt sich das mächtige Volumen mit sorgfältig gesetzten Knicken ein und lässt den Umgebungsbauten Luft zum Atmen. Auch mit seiner Traufhöhe von 19 Metern übernimmt das Haus den städtischen Massstab. Das und die Glasfassade lassen den neuen Stadtblock trotz seines beachtlichen Volumen nicht sperrig wirken. Dazu kommt, dass die neue Ladenpassage quer durchs Haus neue Fussgängerverbindungen schafft. Die Knicke in der Fassade schaffen einen Platz vor der Bar und einen Gassenraum, der für mehr als nur für den einfachen Durchgang dient. Das Gefüge ist aber nicht nur ein räumlich exakt austariertes, sondern auch die Nutzungen (Buchladen, Restaurant, Büros und Wohnungen) sind städtisch und klug verteilt. In seinem Buch ‹Stadt und Architektur› (HP 6-7/04) schreibt Adrian Meyer über die beiden Fassadentypen, die das Bü-ro immer wieder thematisiert: «Dick- und Dünnhäuter stehen für ein scheinbar gegenläufiges Interesse bei einigen unserer Projekte (…) Der Dickhäuter entzieht sich in aller Regel einer Mehrdeutigkeit seiner Wahrnehmung. Er vertritt viel eher das Körperliche, Dauerhafte und Widerstandsfähige (…) Dünnhäuter lassen mehrfache Lesbarkei-ten zu. Sie spielen das Spiel des Uneindeutigen durch ihren Wechselbezug von Tiefe und Oberfläche.» Das AZ-Medien-haus wäre demnach eine Mischform, ein Kind beider Eltern: Ein Dick- und Dünnhäuter.

hochparterre, So., 2006.01.22



verknüpfte Bauwerke
AZ Medienhaus



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2006-01|02

20. November 2005Roderick Hönig
hochparterre

Im Rhythmus der Stadt

Die ‹Vereinigung Zürcher Bahnhofstrasse› hat sich zum fünfzigsten Geburtstag eine neue Weihnachstbeleuchtung geschenkt. Lange haben die Architekten Gramazio & Kohler mit Spezialisten getüftelt, um bei ihren Lichtröhren Technik, Stabilität und Lichtdurchlässigkeit zu synchronisieren.

Die ‹Vereinigung Zürcher Bahnhofstrasse› hat sich zum fünfzigsten Geburtstag eine neue Weihnachstbeleuchtung geschenkt. Lange haben die Architekten Gramazio & Kohler mit Spezialisten getüftelt, um bei ihren Lichtröhren Technik, Stabilität und Lichtdurchlässigkeit zu synchronisieren.

Im Winter 1970 konnten Willi Walter und Charlotte Schmid ihr Meisterwerk über der Bahnhofstrasse in Zürich einweihen. Die vertikal hängenden, mit einfachen 12-Watt-Glühbirnen bestückten Lichterketten lösten plumpe Sterne und traditionelle Konturbeleuchtung ab. Doch nicht nur radikal abstrakt war der Entwurf, sondern auch poetisch: Die Kabel der Low-Tech-Anlage drehten sich sachte im Wind und vermittelten so das Gefühl, sie würden an- und ausgehen. Der unberechenbare Faktor Wind war es, der den geometrisch-abstrakten Lichtraum zu einer sinnlichen Skulptur machte. Im internationalen Wettbewerb vor zwei Jahren stachen Fabio Gramazio und Matthias Kohler mit ‹The World’s Largest Timepiece› ihre zehn Konkurrenten aus. Die zur Vereinigung Zürcher Bahnhofstrasse zusammengeschlossenen Ladenbesitzer und -betreiber waren begeistert, denn die High-Tech-Leuchtstäbe der jungen Zürcher Architekten erfüllten alle Prämissen: Sie erinnern nicht an die alte Weihnachtsbeleuchtung, nutzen die Möglichkeiten neuster (und damit langlebiger und unterhaltsarmer) Leuchtmittel und sind individuell programmierbar. Seit dem Wettbewerb ist es zwei Jahre her, sind etliche Projektphasen vergangen und über ein Dutzend Prototypen entstanden. 275 Stäbe mit einer Länge von sieben Metern und einem Durchmesser von 15 Zentimetern hängen über die gesamte Länge von 1080 Metern in der Bahnhofstrasse. Der Abstand zwischen den Stäben beträgt rund vier Meter. Geändert gegenüber dem Wettbewerbsprojekt hat sich das Material und die Konstruktion der Leuchtröhren: Als eine im Schnitt quadratische Hülle aus Polycarbonat geplant, sind die Stäbe nun rund und bestehen aus siebzig Prozent Glasfasern und dreissig Prozent Epoxi-Harz. Die elegante Oberflächenstruktur ist sorgfältig gestaltet: Die Fasern sind nicht wie herkömmliche gewickelt, sondern rhombenartig übers Kreuz. Die Stäbe sind das Ergebnis einer aufwändigen interdisziplinären Teamarbeit: Lange haben die Architekten und die Projektpartnerin Industrial Micro Systems aus Winterthur mit dem Glasfaser-Produzenten Cowex daran getüftelt, das Lastprofil und das gewünschte Wickelmuster sowie eine grosse Lichtdurchlässigkeit unter einen Hut zu bringen. Das Resultat: Die Fasern sorgen trotz einer Wandstärke von nur 1,2 bis 1,9 Millimeter für genügend Stabilität und Lichtdurchlässigkeit – und das bei einem Gewicht von nur rund dreissig Kilogramm (inkl. Innenleben) pro Stab. Auch das Statikproblem ist elegant gelöst: Das sieben Meter lange Rohr trägt sich selbst, was den Vorteil hat, dass keine Tragkonstruktion von Innen ihren Schatten auf den transluzenten Fiberglas-Mantel wirft. Der Effekt: Die Hülle selbst scheint zu leuchten.

Temperaturbeständig und störungssicher

Dem Diodenträger und der Steuerungselektronik im Kopf sieht man die intensive Entwicklungsarbeit nicht an: Rund um ein Aluminium-Rohr sind 32 Lichtelemente auf federleichten Folien (mit je 28 LED-Leuchten) über die gesamte Länge geklebt. Dass Blitze, die im Winter zwischen Stromabnehmer und Tramleitung entstehen, die Steuerung nicht stören, ist die Koppelelektronik nicht mit Strom, sondern mit Licht gesteuert. So kann der Stab unabhängig von atmosphärischen elektromagnetischen Störungen bis zu 25 Mal pro Sekunde angesteuert werden – und das bei Temperaturen von Minus 45 bis zu Plus 80 Grad Celsius. Die Leuchtröhre wird oben und unten von einem Kopf- und Fussteil aus Aluminium abgeschlossen. Aufgrund des Gewichts und der Länge von sieben Metern ist auch das Seiltragwerk in der Bahnhofstrasse ein Neues: Ein Stahlseil, das jeweils zwischen die Fassaden gespannt ist, trägt oben und fixiert unten. Die runde Querschnittform des Rohrs hat nicht nur statische Vorteile, sondern kann auch Windlasten besser aufnehmen. Die ganze Aufhängung hat ein wenig Spiel, das macht ein minimales Pendeln möglich und verleiht den Stäben eine gewisse Leichtigkeit.

Das Einzelrohr braucht das Ensemble

Die 32 dynamisch dimmbaren Lichtelemente pro Stab machen – über die Länge von 1080 Metern gesehen – aus der Stabreihe eine Art Bildschirm mit insgesamt 8800 Pixel. Diese Zahl scheint hoch, doch die Auflösung ist viel kleiner als die eines Handydisplays. Dank des Sehwinkels des Betrachters auf der Strasse kann diese Leuchten-Matrix trotzdem als eine Art Bildträger bespielt werden. Denn der Passant sieht von der Strasse aus immer rund hundert Stäbe gleichzeitig. Das erhöht auch das subjektive Lichtvolumen. Wie kann dieser ‹Bildschirm› bespielt werden? Die Bilder, die Gramazio & Kohler entwickelten, sind abstrakt und das System bleibt offen. Ähnlich der alten Weihnachtsbeleuchtung bestimmt ein nicht terminierter Algorithmus die einzelnen Stimmungen und die Abfolge der Bilder, beispielsweise sanfte Lichtwogen. Zwei Parameter beeinflussen das System von aussen: Die Fussgängerdichte und das Datum. Sensoren messen die Passantenströme in der Bahnhofstrasse und geben ihre Daten an den Zentral-computer weiter. Die drei Messstationen reagieren aber nicht auf Einzelpersonen, sondern nur auf Bewegungen im Stadtmassstab, beispielsweise Menschenmassen am Sonntagsverkauf oder auf einen Umzug. Gleichzeitig ist die Anlage eine Art Weihnachtskalender, der sich mit den immer näher rückenden Festtagen ändert. Doch nicht – wie man es erwarten würde – steigern soll sich die Lichtintensität oder die Geschwindigkeit der Veränderungen gegen Weihnachten hin, sondern ruhige und gelassene Stimmungen wechseln sich ab.

Die neue Weihnachtsbeleuchtung inszeniert den prächtigen Zürcher Stadtraum elegant und bedient sich zeitge-mässer und – heute eine Selbstverständlichkeit – energiesparender Leuchtmittel, die noch einen Drittel des früheren Strom brauchen. Dies macht ‹The world’s largest Timepiece› einzigartig und vielleicht so beispielhaft wie die vorhergehende Weihnachtsbeleuchtung. Und: Wie beim Low-Tech-Vorgänger lässt auch das neue System den Zufall zu. Die Zeit und der Rhythmus der Stadt beeinflussen die Bilder und bringen eine poetische Unschärfe ins hochtechnisierte System.

[ Einweihung der neuen Weihnachtsbeleuchtung in der Bahnhofstrasse: 23. November 2005, 19 Uhr. ]

hochparterre, So., 2005.11.20



verknüpfte Bauwerke
Weihnachtsbeleuchtung Bahnhofstrasse Zürich



verknüpfte Zeitschriften
hochparterre 2005-11

15. Juni 2004Roderick Hönig
zuschnitt

Kantonales Brandschutz-Pilotprojekt

Zürich ist nicht bekannt für seine Holzbauten. Das wollen die Behören ändern und haben deshalb die Siedlung Hegianwandweg zum Pilotprojekt erklärt und damit die erste vier- bzw. fünfgeschossige Holzbausiedlung auf Stadtgebiet ermöglicht. Gelungen ist das Projekt dank eines frühzeitigen und intensiven Planerpingpongs zwischen Holzbauingenieuren, Architekten, Haustechnikplanern und Behörden.

Zürich ist nicht bekannt für seine Holzbauten. Das wollen die Behören ändern und haben deshalb die Siedlung Hegianwandweg zum Pilotprojekt erklärt und damit die erste vier- bzw. fünfgeschossige Holzbausiedlung auf Stadtgebiet ermöglicht. Gelungen ist das Projekt dank eines frühzeitigen und intensiven Planerpingpongs zwischen Holzbauingenieuren, Architekten, Haustechnikplanern und Behörden.

Hegianwandweg klingt nach herausgeputzen Vorgärten, braun geteerten Gartenzäunen, putzigen Reiheneinfamilienhäuser und strammen Pflanzgartenkommissionen. Und so ist es auch am Hegianwandweg in Zürich. Doch seit der Fertigstellung der Genossenschaftssiedlung von EM2N Architekten nicht mehr nur. Ein frischer Wind weht durchs Quartier. Nur elf Tramminuten vom weltberühmten Paradeplatz entfernt, haben die Architekten Mathias Müller und Daniel Niggli fünf Mehrfamilienhäuser aus Holz gebaut. Die Siedlung ist ein Pilotprojekt der Kantonalen Feuerpolizei Zürich, denn bis anhin gab es im Kanton keinen Holzbau in diesen Dimensionen.

Feuerpolizei als Partner
Schon früh banden die beiden Holzbauingenieure Pirmin Jung aus Rain sowie der Brandschutzspezialist Reinhard Wiederkehr aus Beinwil am See die Behörden ein und überzeugten Jürg O. Neeracher, den Leiter der Kantonalen Feuerpolizei Zürich, vom Projekt. Die Siedlung bot sich als Prüfstein für die damals geplante Überarbeitung der Brandschutzvorschriften geradezu an. Neeracher wurde der Dritte im Bunde und erklärte das Bauvorhaben zum kantonalen Brandschutz-Pilotprojekt. Wiederkehrs Brandschutz-Konzept wurde durch die Kantonale Feuerpolizei bewilligt.

Massivbau oder Mischbauweise
Beim Holzbausystem standen Massivbau und Mischbauweise, also Holzkonstruktion mit aussteifenden Betonkernen, zur Wahl. Die Architekten planten mit den Spezialisten je ein Haus im jeweiligen System bis ins Detail. Das Ergebnis: Die Mischbauweise überzeugt gegenüber der Massivbauweise vor allem durch eine bessere Ökobilanz, einen tieferen Wärmedurchgangskoeffizienten, kleinere Lasten und größere Flexibilität in der Grundrissgestaltung. Außerdem sprachen kurze Bau- und Austrocknungszeiten dafür. Dagegen standen die höheren Kosten: Sie überstiegen den Massivbau um rund 3,8 Prozent, doch für die Bauherrschaft überwogen die Vorteile des Mischbaus.

Brettstapel und Rahmenbau
Für die Deckenkonstruktion verglichen sie Brettstapel, Holzbetonverbund, Hohlkasten sowie einfache Balkenlage miteinander. Die Brettstapeldecke überzeugte am meisten, weil damit am vielseitigsten und kostengünstigsten auf die gestellten Anforderungen reagiert werden konnte. In Kombination mit dem Trockenanhydritunterlagsboden und der abgehängten Gipskartonverkleidung verhält sie sich trittschalltechnisch optimal. Mit den daraus hervorstoßenden Balken konnten die weit auskragenden Balkone einfach realisiert werden. Das Wandsystem ist ein speziell angepasster Rahmenbau. Er ist problemlos mit der Brettstapeldecke kombinierbar und nutzt die Ressourcen effizient: Wo Lasten anfallen, sind die Pfosten massiv und verlaufen über alle Geschosse hindurch, wo nur wenig Kräfte in den Boden abgeleitet werden, sind die Wände gedämmt und mit Gipsfaserplatten beplankt. Die einzelnen Elemente können ohne Spezialmaschinen hergestellt und einfach montiert werden.

Logistik im Mischbau
Zuerst wurde die Tiefgarage in den Hang gebaut. Aus der flachen Betonschachtel wuchsen bald fünf Betonkerne. Darin liegen Entree, Liftschacht und Treppenhaus sowie die Bäder. Baumeister vor Ort überprüften regelmäßig Plan und Realität der Baustelle, um Abweichungen auf ein Minimum zu reduzieren. Die Wand- und Bodenelemente wurden im Winter in Gehdistanz zur Baustelle vorgefertigt. Im darauf folgenden Frühling haben Lastwagen alle Elemente auf die Baustelle transportiert. Die Transportwege blieben kurz und damit die Ökobilanz positiv. Die Montage dauerte pro Haus nur rund zwei Wochen.

Ständerkonstruktion mit Vorsatzschale
Die Wandelemente sind bis zu 14 Meter lang und drei Meter hoch. Sie bestehen im Kern aus einer 18 Zentimeter breiten Ständerkonstruktion, die beidseitig mit Gipsfaserplatten verkleidet ist. Auf der Baustelle haben die Arbeiter die Elementstöße statisch verbunden und luftdicht abgeklebt. Dann wurden die Sanitär- und Elektroleitungen verlegt. Erst zum Schluss haben die Gipser die Wandinnenseiten mit einer zweiten Mineralfaserschicht und einer Gipsvorsatzschale verkleidet. Mit dieser Zusatzschale konnten die Fachingenieure auf die Planung der Elektroleitungen verzichten und die Installateure wie gewohnt arbeiten.

Brettstapel-Deckenbalken
Nicht hohl wie die Wandelemente, sondern durch und durch massiv sind die Deckenplatten: Sie bestehen im Kern aus einem 20 Zentimeter starken Fichtenholz-Brettstapel. Darauf liegt ein feucht eingebrachter Trockenanhydritunterlagsboden. Mit dieser Konstruktion wird das beste Verhältnis betreffend Masse, Querlastverteilung und Kosten erreicht.

Das gewählte System muss auch bezüglich Schallschutz den Vergleich mit einem herkömmlichen nicht scheuen. Zuletzt wurden die Zimmertrennwände eingezogen: Es sind dünne Leichtbauwände zwischen Decke und Boden. Weil alle Lasten entweder über die Außenwände oder den Betonkern abgetragen werden, können sie frei im Raum verteilt werden.

Brandschutzkonzept Hegianwandweg

* Fluchttreppenhäuser in nichtbrennbarer F 60-Bauweise
* Garage und Untergeschosse in nichtbrennbarer F 60-Bauweise
* Tragende und brandabschnittsbildende Bauteile (pro Wohnung) in Holzbauweise mit 60 Minuten Feuerwiderstand
* Nichttragende Außenwandverkleidung in Holzbauweise F30bb (F30 brennbar)
* Außenwandverkleidung grundsätzlich nichtbrennbar; im Bereich der Balkone Holz möglich, wenn Balkonuntersicht nichtbrennbar verkleidet
* Optimale Zufahrt für die Feuerwehr
* Ausreichende Löschversorgung und optimale Hydrantenstandorte
* Blitzschutzanlage für jedes Gebäude
* Haustechnikanlagen gemäß Brandschutzvorschriften

Neue Brandschutzvorschriften in der Schweiz
Bei der Bauteilklassierung wird dieses Jahr die europäische Klassierung nach den Kriterien Tragfähigkeit (R), Raumabschluss (E) und Wärmedämmung (I) auch in der Schweiz eingeführt. Holz-Außenwandverkleidungen sind deshalb neu auch bei mehr als dreigeschossigen Bauten (ohne Hochhäuser) mit entsprechenden Maßnahmen (z.B. Begrenzung der Holzflächen, Sprinklervollschutz, Maßnahmen im Hinterlüftungsbereich, Schürzen usw.) möglich. Daraus ergeben sich zwei Standardkonzepte für Holzbau in der Schweiz:

1. Brandschutz mit vorwiegend baulichen Maßnahmen
Für tragende und/oder brandabschnittsbildende Bauteile für Wohn-, Büro- und Schulbauten gilt:
* Eingeschossige Gebäude: R0/EI30 Holzbau
* Gebäude bis 3 Geschosse: R30/EI30 Holzbau
* Gebäude bis 4 Geschosse: R60/EI60 Holzbau
* Gebäude bis 6 Geschosse: R60/EI60 Holzbau mit nichtbrennbarer EI30 Verkleidung
* Gebäude über 6 Geschosse: nicht brennbare Bauweise, dh. kein Holzbau

2. Brandschutz mit vorwiegend technischen Maßnahmen
Wird in einem Gebäude in Holzbauweise eine Sprinkleranlage installiert, kann der oben festgehaltene Feuerwiderstand für tragende und / oder brandabschnittsbildende Holzbauteile auf bis zu 30 Minuten reduziert werden.

zuschnitt, Di., 2004.06.15



verknüpfte Bauwerke
Wohnbau Hegianwandweg



verknüpfte Zeitschriften
Zuschnitt 14 Holz brennt sicher

01. November 2003Roderick Hönig
NZZ-Folio

Der Luxus des Blicks in Manhattan

In New York ist Wohnen ein Dauerthema. Wie wohl nirgends auf der Welt geht es in dieser Stadt darum, zur richtigen Zeit im richtigen Quartier an der richtigen...

In New York ist Wohnen ein Dauerthema. Wie wohl nirgends auf der Welt geht es in dieser Stadt darum, zur richtigen Zeit im richtigen Quartier an der richtigen...

In New York ist Wohnen ein Dauerthema. Wie wohl nirgends auf der Welt geht es in dieser Stadt darum, zur richtigen Zeit im richtigen Quartier an der richtigen Strasse zu wohnen. Da aber fast jede Woche ein neues Quartier zum neusten Trendquartier wird, ist die eigene Wohnlage - ehe man sich's versieht - schon wieder out. Im fiebrigen Immobilienpoker gibt es trotzdem zwei feste Werte: erstens die zentrale Lage, das heisst Manhattan, noch genauer, alles, was südlich der Mitte vom Central Park liegt.

Der zweite sichere Wert ist der unverbaubare Blick: am besten natürlich auf den Central Park oder auf die Flusslandschaften des East River oder des Hudson River. Denn wer seinen Tag in den tiefen und schattigen Strassenschluchten Manhattans verbringt, weiss, wie wertvoll der weite Atem einer Wohnung mit Aussicht sein kann.

Wenn nun der Blick auf die Flusslandschaft und die New Jersey Skyline sogar vom beliebten Wohnquartier West Village aus möglich ist, dann ist das finanzielle Risiko für den Investor eines Bauprojekts an dieser Lage klein: Reiche New Yorker - oder solche, die sich hier eine Zweitwohnung leisten - zahlten zwischen 2,4 und 4,5 Millionen Dollar für eine Wohnung in den zwei von Richard Meier und Partner entworfenen Glastürmen an der Perry Street.
Das lauschige West Village ist wegen seiner gemütlichen Kleinstadtatmosphäre, seiner edlen Restaurants, der kopfsteinbepflasterten und alleengesäumten Seitenstrassen beliebt. Das Quartier stösst auf der Westseite an den Hudson River. Dessen Uferpromenade wird derzeit mit viel Aufwand in einen über zehn Kilometer langen Park umgebaut, der sich von Midtown bis an die Südspitze Manhattans erstrecken wird. Der sogenannte Hudson River Park hat nun bereits vor seiner Fertigstellung mit dem Bau von Richard Meier einen markanten Referenzpunkt erhalten: Die beiden Glastürme liegen ziemlich genau in der Mitte der langgezogenen Parkanlage und ragen mit 57 Metern Höhe unübersehbar aus dem vorwiegend viergeschossigen Quartier heraus.

Für den amerikanischen Stararchitekten Richard Meier, der seit 1963 ein eigenes Büro in Manhattan hat, sind die Glastürme ein spätes Heimspiel. Denn Meier hat fast überall auf der Welt schon seine typisch weiss strahlenden Lichtkathedralen errichtet, doch noch nie in New York. So hat der Architekt beispielsweise in Los Angeles - sich immer treu an der klassischen Moderne orientierend - das Getty Center, in Barcelona das Museum für zeitgenössische Kunst oder an der Viaduktstrasse beim Bahnhof Basel ein weiss leuchtendes Bürohaus entworfen. Umso programmatischer ist sein erstes Projekt, das er für seine Heimatstadt von Grund auf realisieren konnte.

In ihrer Sowohl-als-auch-Bauweise haben die beiden Türme in der hiesigen Architekturszene für Diskussionsstoff gesorgt. Denn bis anhin gab es in New York eigentlich nur zwei Typen von Wohnhochhäusern: zum einen den weit verbreiteten, behäbigen Backsteinbau. Dort liegt die massive Tragstruktur hinter der schweren, meist dunklen Backsteinwand, in die kleine Lochfenster eingeschnitten sind. Zum anderen den eleganteren, aber auch teureren Curtain-Wall-Bau, wie man ihn von den Bürohochhäusern aus dem Financial District her kennt. Bei dieser transparenten «Leichtvariante» sind Tragstruktur und Glashaut sichtbar voneinander getrennt.

Die Türme von Meier sind eine Mischform der beiden Fassadensysteme. Gegen den Fluss hin sowie im Norden und Süden sind sie von einem filigranen, feingewobenen Glasvorhang eingekleidet. Schmale Aluminiumschwerter fassen die geschosshohen Scheiben rundherum ein. Auf der Flussseite betont ein weiss gestrichener Stahlrahmen die Geschosseinteilung. Wer genauer hinsieht, sieht hinter der transparenten Fassade die runden weissen Pfeiler des Stahlbetonskeletts, die eigentliche Tragstruktur. Die Gläser haben einen Pazifikblaustich. Die ausgewogene Hellblau-Weiss-Komposition verleiht den Häusern einen mediterranen Charme - und das mitten in Manhattan.

Auf die flussabgewandte Seite hat Meier den massiven Erschliessungskern mit Treppen und Liften gesetzt. Es ist ein scharf geschnittener, dunkelgrauer Sichtbetonturm, der dem luftigen Glasturm den Rücken zu stärken scheint. Auf dem Dach liegt jeweils eine zweigeschossige Glasbox - darin untergebracht ist der Maschinenraum, der nachts wie ein Leuchtturm strahlt. Die elegante Mischung aus Beton, Aluminium und Glas hebt das Projekt aus der Masse der schweren Backsteinbauten hervor.

Alle Wohnungen gehen über ein ganzes Stockwerk. Es sind grosse, aber unspektakuläre Lofts, in deren Mitte sich die Küche und die Bäder befinden. Neben dem offenen Wohn-und-EssBereich gibt es ein bis zwei Schlafzimmer, die jeweils gegen den anderen Turm, der nur 13 Meter entfernt ist, orientiert sind. Die Raumhöhe ist mit rund 3 Metern für New Yorker Verhältnisse sehr grosszügig.

Der nördliche, schlankere Turm misst im Grundriss rund 16 auf 12 Meter, seine Apartments sind rund 170 Quadratmeter gross. Im südlichen Turm (21 auf 16 Meter) haben sie mit 350 Quadratmetern fast doppelt so viel Fläche. Die Wohnungen sind individuell gestaltet, denn sie werden nicht - wie in der Schweiz üblich - fertig ausgebaut, sondern im Rohbau verkauft. Die Türme sind zwar seit letztem Jahr fertiggestellt, doch viele Käufer sind derzeit noch daran, sich ihre Traumwohnung von ihrem eigenen Innenarchitekten schneidern zu lassen.

Einzigartig ist der spektakuläre Ausblick aufs Wasser, den Meier mit seiner reduzierten Architektur in Szene setzt. Tagsüber fahren Kreuzfahrtschiffe vorbei, nachts verschwindet der Fluss, und die New Jersey Skyline beginnt zu leuchten.

Der weite Atem hat wahrscheinlich auch Nicole Kidman darüber hinweggetröstet, dass die beiden Türme an der achtspurigen West Street liegen. Die australische Schauspielerin hat sich gleich mehrere übereinanderliegende Etagen gekauft, die sie sich derzeit von Richard Meier ausbauen lässt.

NZZ-Folio, Sa., 2003.11.01



verknüpfte Bauwerke
Perry Street Condominium Towers

22. September 2003Roderick Hönig
NZZ-Folio

Sozialer wohnen in klösterlicher Strenge

In Andalusien steht im Sommer das öffentliche Leben am Nachmittag still.

In Andalusien steht im Sommer das öffentliche Leben am Nachmittag still.

Im August ist es in der südspanischen Weite tagsüber durchschnittlich 36 Grad Celsius heiss, und im Winter fallen die Temperaturen kaum unter 15 Grad. Abends spielt sich das gesellschaftliche Leben - wie oft in südlichen Ländern - nicht in den Wohnungen ab, sondern auf den Strassen, Plätzen und in den Bars.

Die Wohnung ist weniger Kuschelhöhle als kühler Schutzraum und Möbeleinstellplatz. Die Hitze und das trockene Klima haben ihren Einfluss auf die Architektur: Wohnhäuser in Andalusien, die vor der Erfindung der Klimaanlage gebaut wurden, haben kaum Fenster nach aussen. Fenster sind zum Lüften da und nicht für die Aussicht oder um Sonne ins Haus zu lassen.

In alten Häusern öffnen sich die Wohnräume zu einem schattigen Innenhof, wo es kühler ist als auf der Strasse. Das Hofhaus ist in Südspanien aber nicht nur klimatisch, sondern auch historisch bedingt. Es findet seinen Ursprung in der islamischen Baukunst, für deren Verbreitung in Spanien die arabische Herrschaft während über 500 Jahren sorgte. Dass die daraus entstandene maurische Bauweise auch fast 800 Jahre nach der Reconquista, der Rückeroberung der Iberischen Halbinsel durch die Spanier, noch in der zeitgenössischen Architektur nachwirkt, zeigt eine Wohnanlage in Carmona.

Im 25 000 Einwohner zählenden Städtchen, das rund 30 Kilometer ausserhalb der Provinzhauptstadt Sevilla liegt, haben sich die beiden Architekten Oscar Gil Delgado und José Daroca Bruño bei der Gestaltung von 56 Sozialwohnungen von der Architektur arabischer Städte und Hofhäuser inspirieren lassen. Die Anlage am Rand von Carmona baut auf dem Bild des labyrinthischen Stadtgeflechts auf, wie man es beispielsweise von marokkanischen Städten her kennt: von geschlossenen Fassaden gesäumte Strassen, die zu Wegen werden, die sich immer weiter verästeln und schliesslich in kleine Wohnhöfe auslaufen.

Die Entscheidung der Architekten für diese Typologie hat aber auch einen funktionalen Grund: Die kantigen Häuser liegen auf einer sehr ungünstig geschnittenen Restparzelle, welche die Stadt für Sozialwohnungen ausgeschieden hat. Die besseren Parzellen auf dem Areal einer ehemaligen Textilfabrik hat die Gemeinde privaten Investoren verkauft. Für die von der Provinzregierung sehr stark subventionierte Wohnanlage - die Wohnungen kosten den symbolischen Preis von 100 Euro pro Monat - blieb nur noch das 25 Meter breite und 200 Meter lange Grundstück am Rand übrig.

Es machte die Planung nicht einfacher, dass die Erschliessung nur von einer Seite her möglich war, denn auf der anderen Seite beginnt bereits die Landwirtschaftszone. Die maximale Bautiefe von 25 Metern - sie ist bei der geforderten Ausnutzung für eine einzelne Hausreihe zu breit, für zwei Reihen aber zu schmal - sowie der Zugang nur von einer Seite her waren eine planerische Knacknuss.

Delgado und Daroca Bruño haben einen rechtwinkligen Raster aus schmalen, zweigeschossigen Wohneinheiten über die gesamte Parzelle gelegt und ihn anschliessend mit Erschliessungs- und Innenhöfen ausgehöhlt. Auf diese Weise ist ein komplexes System aus Maisonnette-Wohnungen, gepaart mit Erschliessungs-, Licht- und Küchenhöfen, entstanden.

Von aussen ist der räumliche Reichtum nur andeutungsweise zu erkennen. Wie bei maurischen Herrschaftshäusern ist die Fassade geschlossen, das Innenleben bleibt unsichtbar. Um die drohende Monotonie einer 200 Meter langen fensterlosen Strassenfassade zu brechen, haben die Architekten übergrosse Löcher in die Wände und hohe Schlitze in die Dachsilhouette geschnitten. Sie sind das Gegenstück zu den biederen Fensterchen und Minibalkonen der Nachbarhäuser. Die sich regelmässig abwechselnden Öffnungen machen aus der Wand ein mäandrierendes Band.

Mit diesem Gestaltungstrick nehmen die Architekten auch elegant die Höhenunterschiede auf. Weil das Terrain abfällt, liegen immer zwei Einheiten mit je fünf Wohnungen auf einem Niveau. Die Einschnitte in der Dachsilhouette nehmen die versetzten Höhen auf und sorgen dafür, dass die sanft die Strasse herunterplätschernde Architekturskulptur nicht aus dem Rhythmus fällt.

Geht man durch einen der tunnelartigen Hauseingänge, empfängt einen ein weiter Innenhof von klösterlicher Strenge. Der fünfeinhalb Meter breite und knapp zwanzig Meter lange „Innen- sowie Aussenraum“ lässt einen die lärmige und heisse Quartierstrasse vergessen. Schmale Betonlamellen, hinter denen jeweils ein kleiner (Wasch-)Küchenhof liegt, betonen seine Länge. Es gibt keine Beziehung nach aussen, nur am Kopf des Hofes ist der Olivenhain durch die Schlitze knapp sichtbar. Obwohl dieser Hof noch nicht zur Wohnung gehört, hat man das beklemmende Gefühl, ein fremdes Zimmer zu betreten.

Rundherum sind die Wohnungen nebeneinander aufgereiht, insgesamt neun Vierzimmerwohnungen mit je 70 Quadratmetern und eine Fünfzimmerwohnung mit 90 Quadratmetern. Die Hauseingänge liegen hinter Einschnitten im Lamellengitter. Öffnet man die Wohnungstür, ist die Überraschung gross: Man betritt einen Wohn- und Essraum ohne Fenster, der trotzdem hell und luftig ist. Er grenzt auf der Eingangsseite an die Küche und gegen das Hausinnere an einen drei auf drei Meter grossen, übereck verglasten Lichthof. Vier Stufen führen auf das nächste Niveau, auf dem ein Bad und ein Schlafzimmer liegen. Das Zimmer besitzt nur ein kleines Fenster auf den Lichthof. Von diesem Zwischengeschoss aus geht es in den oberen Stock zu den restlichen Schlafzimmern. Auch in ihnen hat man keinen Ausblick, sondern sie sind auf den grossen Erschliessungshof orientiert - trotzdem kommt kein Gefühl von Enge auf.

Was für Schweizer Verhältnisse undenkbar ist - eine Wohnung ohne Fenster nach aussen -, ist in Südspanien notwendig und normal. Denn im Gegensatz zu ihren Schweizer Kollegen sollen Oscar Gil Delgado und José Daroca Bruño bei ihrer Arbeit nicht möglichst viel Sonnenlicht oder einen weiten Blick in die Innenräume der Häuser holen, sondern müssen eine Architektur finden, die der Hitze trotzt. Dass diese dennoch räumlichen Reichtum und damit spannendes Wohnen auch armen Leute ermöglicht, ist das Verdienst der Architekten. Sie haben es geschafft, dass man am Rande von Carmona zwar sehr nahe beieinander wohnt, aber trotzdem genügend attraktive Rückzugsmöglichkeiten hat.

NZZ-Folio, Mo., 2003.09.22



verknüpfte Bauwerke
Wohnanlage

01. Juli 2003Roderick Hönig
NZZ-Folio

Luxuswohnungen im Solarhaus

Am äussersten Rand von Zürich, beim Rütihofquartier im Stadtteil Höngg, liegt direkt am Waldrand das Mehrfamilienhaus „Sunny Woods“.

Am äussersten Rand von Zürich, beim Rütihofquartier im Stadtteil Höngg, liegt direkt am Waldrand das Mehrfamilienhaus „Sunny Woods“.

Auf den ersten Blick sieht der viergeschossige Holzbau des Zürcher Architekten Beat Kämpfen aus wie viele andere Mehrfamilienhäuser. Dass sich hinter der schnörkellosen Architektur ein Null-Heizenergie-Haus versteckt, ist aber auch auf den zweiten Blick nicht zu erkennen: Das Haus wirkt weder selbstgestrickt noch hemdsärmlig und schlägt das Vorurteil, dass zeitgenössische Architektur und hoher Wohnstandard mit energiesparendem Bauen nicht unter einen Hut zu bringen seien, in den Wind. Dafür wurde es im Dezember 2002 mit dem schweizerischen und dem europäischen Solarpreis ausgezeichnet.

Die sechs Sechs-Zimmer-Maisonnettewohnungen mit je 230 Quadratmetern Wohnfläche haben eine ausgeglichene Energiebilanz. Das heisst, das Haus verbraucht übers Jahr gerechnet nicht mehr Energie, als es selbst produziert. Der wenige Strom, den es für Heizung, Lüftung und Warmwasser braucht (rund zehn Prozent eines vergleichbaren herkömmlichen Neubaus), wird von der 300 Quadratmeter grossen Photovoltaikanlage auf dem Dach produziert. «Sunny Woods» erreicht damit Passivhausstandard, das heisst, es verbraucht maximal 15 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr und produziert diese Energie gleich selbst.

«Sunny Woods» heisst also höchster Wohnkomfort ohne die Zuführung fossiler und nuklearer Energie. Wie das funktioniert? Durch das geschickte Zusammenspiel des Architekten mit dem Energieingenieur und durch das Einhalten einiger grundsätzlicher Regeln. Wichtigstes Prinzip: maximale Ausschöpfung der passiven Sonnenenergie. Diese nutzt Beat Kämpfen nicht mit Hilfe von Hightech-Maschinen, sondern durch architektonische Mittel.

Alle Wohnräume sind gegen Süden orientiert und fast vollständig verglast, gegen Norden gibt es kaum Fenster. Die Dreifachverglasung lässt die Sonnenstrahlen herein, aber die Wärme nicht mehr hinaus: Eineinhalb Stunden Sonne pro Tag reichen aus, um das Haus im Winter auf eine Durchschnittstemperatur von 20 bis 21 Grad zu bringen. Die Sonne heizt den schwarzen Schieferboden auf, der speichert die Wärme wie ein Kachelofen und gibt sie im Lauf des Tages langsam wieder ab. In den Wohnungen gibt es deshalb weder Radiatoren noch eine Bodenheizung. Wenn die Sonnenenergie nicht ausreicht, übernimmt die Luft-Wasser-Wärmepumpe die Energieversorgung. Sie heizt die Räume über die Luft, welche über ein Erdregister unter dem Garagenboden vorgewärmt, im hangseitigen Technikraum auf die benötigte Temperatur gebracht und dann in die Wohnräume geblasen wird.

Die Thermoskanne funktioniert nur optimal in Kombination mit einer kontrollierten mechanischen Lüftung. Diese sorgt tagtäglich lautlos für frische Luft im Haus, ohne die geheizte Luft über das offene Fenster wieder nach draussen ziehen zu lassen. Selbstverständlich können die Fenster trotzdem nach Belieben geöffnet werden. Dank dem effizienten achtfachen Luftaustausch pro Tag ist dies aber nicht nötig, und nach einer gewissen Zeit gewöhnt man sich an diese neue Nutzungsregel.

Wie sieht es nun in einem Haus aus, das nach dem Prinzip einer Thermoskanne gebaut ist? Eigentlich wie in anderen Häusern auch. An der Rückseite des Hauses führen drei kleine Betonbrücken in den Kubus hinein. Immer zwei Maisonnettewohnungen sind übereinandergestapelt. Die Eingangstüren liegen jeweils ein halbes Geschoss höher oder tiefer als Strassenniveau.

Man betritt alle Wohnungen im Schlafgeschoss, wo einen ein grosses Entrée empfängt. Verheissungsvoll schraubt sich in der oberen Wohnung die grosszügige offene Treppe ins luftige Wohngeschoss hinauf und bringt von dort etwas Tageslicht in den eher dunklen, hangseitigen Bereich des Hauses. Vier je 17 Quadratmeter grosse Zimmer, ein grosser Abstellraum und zwei Bäder sind sternförmig um das Entrée angeordnet.

Nicht kleinteilig, sondern weit ist das Wohngeschoss: Der Raum ist bis zu 11 Meter breit und 10 Meter tief und kann frei eingeteilt werden. Loft oder Wohnzimmer mit Büro - alles ist möglich. Atemraubend ist das Panorama: Der Blick öffnet sich übers Limmattal, und bei klarem Wetter sieht man sogar die Gipfel der Berner und der Glarner Alpen. Hier ist die Stadt kaum mehr spürbar. Man meint, auf dem Land zu wohnen. «Aufs Land» führt in der unteren Wohnung auch ein kleines Holzdeck direkt vor dem Wohnzimmer; dort ist das Landschaftserlebnis noch intensiver. Die oberen Wohnungen von «Sunny Woods» besitzen eine grosse Terrasse mit einer kleinen Laube vor dem Wohngeschoss.

Ganz im Sinn des Hauses sind die Balkongeländer: Sie bestehen aus grossen Glasröhren, in welche Warmwasserkollektoren eingebaut sind. Diese Kollektoren sind Kupferröhren mit feinen Metallflügeln, durch die das Brauchwasser geschleust und so von der Sonne erwärmt wird. Die Brüstung ist dank dem Glas halbtransparent, so dass die Durchsicht trotzdem einigermassen gewährleistet ist.

«Sunny Woods» ist ein wichtiger architektonischer Beitrag zum energiesparenden Bauen. Es zeigt eindrücklich, dass weite und helle Räume, hoher Ausbaustandard, wohlkomponierte Raumdramaturgie, kurz: höchster Wohnkomfort auch in einem Energiespar-Mehrfamilienhaus zu verwirklichen sind. Der Wohnkomfort hat seinen Preis: Eine Luxuswohnung im prämierten Solarhaus kostet rund 1,2 Millionen Franken.

Energiesparend heisst aber noch nicht umweltfreundlich. Denn dafür sind neben energetischen Kriterien auch ökologische massgebend. Das Mehrfamilienhaus ist wegen seiner Lage am Stadtrand von Zürich nicht optimal ans öffentliche Verkehrsnetz angeschlossen. Bis zur nächsten Busstation sind es rund zehn Minuten zu Fuss. Einer konsequent zu Ende gedachten ökologischen Idee widerspricht auch die grosse unterirdische Parkgarage hinter dem Haus und das darin parkierte Sportauto für den Sonntagsausflug.

«Sunny Woods» ist, trotz allen Anstrengungen im Energiebereich, kein richtiges Ökohaus. Denn ein Drittel der Energie, die in der Schweiz verbraucht wird, wird verfahren. Energiesparendes Bauen heisst deshalb auch, die Stadt dort weiterzubauen, wo sie ans öffentliche Verkehrsnetz gut angeschlossen ist. Denn erst wenn wir bereit sind, den Traum des eigenen Hauses im Grünen aufzugeben, wird ökologischer Städtebau möglich.

NZZ-Folio, Di., 2003.07.01



verknüpfte Bauwerke
Sunny Woods

01. April 2003Roderick Hönig
NZZ-Folio

Willkommen in Disneyville

Ende der sechziger Jahre beschloss die französische Regierung den Ausbau ihrer Hauptstadt. Acht sogenannte Villes nouvelles wurden in den siebziger Jahren in der Grossregion Paris gebaut.

Ende der sechziger Jahre beschloss die französische Regierung den Ausbau ihrer Hauptstadt. Acht sogenannte Villes nouvelles wurden in den siebziger Jahren in der Grossregion Paris gebaut.

Die meisten dieser Trabantenstädte, die damals mit viel Pomp eingeweiht wurden, geniessen heute keinen guten Ruf mehr. Zu funktional und zu verkehrslastig orientiert war diese Art des Städtebaus, der sich als äusserst unwohnlich erwies. Gemeinden wie Cergy-Pontoise im Westen von Paris sind heute triste Pendlerstädte, in denen bereits erste Anzeichen von Verslumung sichtbar werden.

Marne la Vallée, die fünfte der Villes nouvelles im Osten der Hauptstadt, ist zwanzig Kilometer lang und vier Kilometer breit. Ihre Entwicklung wurde 1973 durch die Ölkrise jäh gestoppt und kam nie wieder in Schwung. Erst als 1984 die Walt Disney Company mit der französischen Regierung Kontakt aufnahm, änderte sich die Situation.

Der Unterhaltungskonzern präsentierte Pläne, für 915 Millionen Euro mitten in Marne la Vallée den grössten Vergnügungspark Europas zu bauen, und stellte 30 000 Arbeitsplätze in Aussicht. 1987 wurden die Verträge unterschrieben, 1992 wurde in Anwesenheit der gesamten französischen Politprominenz Disneyland Resort Paris eingeweiht.

Für den Vergnügungspark wurden fünf Gemeinden von Marne la Vallée zusammengelegt und in Val d'Europe umbenannt. Bis heute hat Disney über vier Milliarden Euro in Disneyland Resort Paris (Disneyland Park, Walt Disney Studios, Disney Village, Hotels und Golfplatz) und Umgebung investiert. Im Rückblick haben sich die Ausgaben gelohnt - die Themenparks gehören zu den erfolgreichsten Tourismusregionen Europas. 16 Millionen Menschen besuchen sie jährlich, die fast 6000 Hotelzimmer sind zu über 80 Prozent ausgelastet.

Der Betreiber Eurodisney kümmert sich mit der Mischung aus historisierender Inszenierung und modernem Serviceangebot nicht nur um die Bedürfnisse und Wünsche der Besucher, sondern auch um seine 13 000 Mitarbeiter: Nach dem Vorbild von Celebration, der ersten Disneystadt bei Disneyworld in Florida, baut Eurodisney seit 1987 in Zusammenarbeit mit der staatlichen Planungsgesellschaft EPA und den fünf Gemeinden eine völlig neue Stadt rund um die Themenparks.

Und dieses Manifest des «New Urbanism» boomt: 1992 hatte Val d'Europe 5000 Einwohner, heute sind es rund 15 000, im Jahr 2015 sollen 40 000 Menschen rund um das Disneyland Resort Paris leben und arbeiten.
Der amerikanische Städteplaner Jacquelin Robertson, der 1996 zusammen mit Robert A. M. Stern auch schon die Pläne für Celebration gezeichnet hatte, liess sich für Val d'Europe wieder von historisierend-romantisierenden Ideen leiten: Im Zentrum der konzentrisch angelegten Stadt stehen die Themenparks mit ihren riesigen Parkplatzflächen sowie der TGV-Bahnhof, der die Verbindung zum Flughafen und in die grossen französischen Städte herstellt.

Rund einen Kilometer daneben liegt das derzeit noch verwaiste neue Stadtzentrum, das sich mit seiner pariserisch anmutenden Place d'Ariane vergeblich gegen die Sogwirkung der an den Platz anschliessenden, eineinhalb Kilometer langen Shopping-Mall durchzusetzen versucht. Unter der Place d'Ariane liegt ein zweiter Bahnhof, von dem aus man mit den Pariser Vorortszügen in nur 30 Minuten die Champs-Elysées erreicht.

Rund um die Ringstrasse, die das Zentrum und die Themenparks weitläufig einkreist, schiessen mehrere verstreute Einfamilienhausquartiere aus dem Boden. Sie sind durch kleine künstliche Seen, einen Golfplatz, unzählige Verkehrskreisel, einen durchgrünten Businesspark, weite Felder und kleine Waldstücke miteinander verbunden.
Alles ist lieblich: Die Strassen sind geschwungen wie Wege in einem romantischen Park, die Häuser herausgeputzt, als gelte es, einen Nettigkeitswettbewerb zu gewinnen. Noch warten die gut ausgebauten Velowege entlang den Alleen auf den Ansturm der Arbeiter, die ins Büro radeln. Val d'Europe versucht, mit Architektur und Landschaftsplanung ein Gefühl von Harmonie, Sicherheit, Ruhe und Stabilität auszulösen. Die neue Siedlung ruft das Bild einer durchgrünten Stadt hervor, die nicht von den Gefahren und Irritationen der Moderne betroffen ist.

Als Landpächter hat der amerikanische Konzern das letzte Wort auch in Gestaltungsfragen: Nur wer die traditionalistische Architekturhaltung mit Disney teilt, darf in Val d'Europe bauen. So soll verhindert werden, dass die Dörfer zu modernen Städten werden. Zeitgenössische Architektur bleibt auf öffentliche Gebäude wie Schulen oder Bahnhöfe beschränkt. Umgeben von Retroarchitektur, wirken sie wie Meteoriten aus einer anderen Zeit. Für den Rest gilt eine wilde Stilmix-Vorschrift, welche Stadthäuser fordert, die sich an der Pariser Gründerzeit orientieren, farbige niederländisch-venezianische Siedlungen am Kanal und putzige Cottages am Rand des Golfplatzes.

Es werden vor allem grosse Appartements gebaut, denn in die lieblichen Arbeitersiedlungen sollen in erster Linie mittelständische Familien ziehen. Die Preise sind für französische Verhältnisse hoch: Eine Dreizimmerwohnung kostet rund 250 000 Euro, ein Haus mit 160 Quadratmetern Fläche zwischen 300 000 und 350 000 Euro.

Die Architektur erinnert an die gute alte Zeit. Mit dem Erscheinungsbild von Val d'Europe will Disney garantieren, dass die Häuser nicht eines Tages aus der Mode kommen wie die Bauten der anderen sieben Villes nouvelles. Alle wichtigen gestalterischen Entscheide, wie etwa Fassadenverkleidungen oder die Pflästerung der Place d'Ariane, werden deshalb Michael Eisner vorgelegt, dem Geschäftsführer der Walt Disney Company.

Mit den rigiden Gestaltungsregeln für Wohnhäuser und den öffentlichen Raum macht der Disney-Konzern klar, dass er nicht nur ein gigantisches Unterhaltungs- und Tourismusunternehmen ist, sondern sich auch als moralische Instanz versteht. Wie zur Zeit der Industrialisierung, als die Patrons ihre Arbeiter mit Fabriksiedlungen ans Unternehmen banden, um sie besser kontrollieren zu können, hat auch Disney eine genaue Vorstellung, wie seine Angestellten zu leben haben.

Der amerikanische Unterhaltungsmulti bleibt mit der Architektur für diese neue Stadt bei seinem Kerngeschäft, der Kreation künstlicher Welten: Val d'Europe ist ein kostenlos zu betretender, reaktionärer Themenpark fürs Wohnen. Mit seiner starken Ausstrahlung ist er den zeitgenössischen Architekten ein Dorn im Auge, doch entspricht er angesichts seines Erfolges anscheinend den Vorstellungen vieler Menschen von Wohnen zwischen Stadt und Land.

NZZ-Folio, Di., 2003.04.01

01. Februar 2003Roderick Hönig
NZZ-Folio

Das Eigenheim als Karikatur

Die frischeste und frechste Architekturszene findet sich derzeit in Holland. Häuser, die in der Schweiz allenfalls als Objekte einer Ausstellung über Architekturutopien vorstellbar wären, gehören in den Niederlanden zum gebauten Alltag.

Die frischeste und frechste Architekturszene findet sich derzeit in Holland. Häuser, die in der Schweiz allenfalls als Objekte einer Ausstellung über Architekturutopien vorstellbar wären, gehören in den Niederlanden zum gebauten Alltag.

Vor allem im Wohnbausektor haben ­ dank staatlicher Förderung ­ viele junge Architekten die Chance, ihren Visionen Form zu geben. Denn die Bevölkerung des dichtbesiedelten Landes braucht Platz: bis 2015 sollen im Rahmen des Vinex-Bauprogramms eine Million neue Häuser rund um die urbanen Zentren gebaut werden!

So entstehen vor den Toren Amsterdams, Rotterdams oder Utrechts end- und zentrumslose sowie oft auch monotone Häusermeere. Sie verweben die niederländischen Städte zu einem ringförmigen Siedlungsteppich. Die holländische Version des Schweizer Mittellands heisst Randstad und frisst sich wie dieses grossflächig in die Landschaft.
Das Resultat: Wie zwischen Boden- und Genfersee hört auch in Holland zwischen Amsterdam, Den Haag, Rotterdam, Dordrecht, Eindhoven, Nimwegen und Utrecht die Zersiedelung nirgends und nie wirklich auf.

Eine der vielen neuen Vinex-Vorstädte heisst Ypenburg und liegt etwa 15 Tramminuten ausserhalb von Den Haag. Im einstigen Niemandsland wurden innert weniger Jahre mehrere tausend Wohnungen aus dem Boden gestampft. Eine neue Tram- und Buslinie und ein Autobahnanschluss dienen dem Monokultur-Satelliten als Nabelschnur zum Stadtzentrum. Die weitläufige Siedlung wird mit grossen Alleen entlang trister Kanäle strukturiert. Schmale Nebenstrassen führen von den Hauptachsen zu den einzelnen Quartieren, die jeweils nach einem Thema gestaltet sind.

In Waterwijk ist das Thema Wasser. Die vom Rotterdamer Architekturbüro MVRDV entworfene Anlage liegt auf fünf künstlichen Halbinseln in einem künstlichen See. Rund 900 Wohnungen werden hier gebaut. Die jungen Architekten haben versucht, ähnlich einer Wohnbauausstellung möglichst viele Varianten des Wohnens nebeneinanderzustellen. So gibt es beispielsweise eine Hofhausinsel und eine Gartenhausinsel und grosse Blöcke, die rund um einen gemeinsam genutzten Innenhof angeordnet sind. Der drohenden Monotonie wird begegnet, indem jede Halbinsel von einem anderen Architektenteam bebaut wird.

Am frechsten sind die Häuser von MVRDV auf Hageneiland, der Gartenhausinsel. Das mit dem holländischen Pavillon an der Weltausstellung Expo 2000 Hannover und mit visionären Studien über die Bebauungsdichte in Holland weltweit berühmt gewordene junge Architektenteam überrascht mit einem provokativen Entwurf: Hageneiland ist die gebaute Karikatur des Eigenheimtraums. Die 119 Wohnhäuser sind bunte Lego-Häuschen, die Erschliessungen romantische Weglein und die Vorgärten so putzig, dass man am liebsten eine Gartenzwergsammlung darin unterbringen möchte.
Die kraftvoll auf die Urform des Hauses reduzierten Skulpturen bieten den idealen Hintergrund für architektonische Elemente wie Zäune, Gartenhäuschen, Vorgärten oder Strassenlampen. Die Häuser unterscheiden sich nur im Material und in der Länge. In den Vordergrund tritt also nicht die Architektur, den Blick ziehen vielmehr Elemente auf sich, die die Architekten normalerweise aus ihren Plänen verbannen und aus den Publikationsfotos herausretouchieren lassen.
So ruft der Spaziergang durch Hageneiland Bilder einer hyperindividuellen Schrebergartensiedlung hervor, nur dass die Häuser irgendwie irritieren: Die roten Ziegel, silbernen Zinkplatten, die braunen Holzschindeln, schwarzen Eternitpaneele, die blauen oder grünen Kunststoffplatten hören nicht etwa am Dachrand auf, sondern kleiden die Häuser rundherum vollkommen ein. Auch fehlen typische Elemente wie Dachtraufen.

Dieser subtile Trick macht aus dem Häuschen eine kunstvolle minimalistische Plastik und aus der Anlage ein vieldeutiges Muster. Und um kein Reihenhaussiedlungsgefühl aufkommen zu lassen, haben die Architekten die Häuser nicht zu langen Riegeln zusammengeschoben. Meist sind es Zweifamilienhäuser, die in gebührendem Abstand nebeneinander oder gegeneinander verschoben stehen. Das erzeugt immer wieder neue Aussenräume, und MVRDV gelingt es so, trotz den strengen niederländischen Planungsrichtlinen eine dorfähnliche Siedlungsstruktur herzustellen.

Das Häuser-Layout auf Hageneiland war es denn auch, und nicht die Architektur, was die Jury des NAI- Preises am meisten überzeugt hat. Der Preis, mit dem das renommierte holländische Architekturinstitut jährlich Projekte von holländischen Architekten unter 40 Jahren auszeichnet, ging im Dezember letzten Jahres zum ersten Mal an MVRDV.
Im Inneren sind die Häuschen konventionell gestaltet: Man betritt sie ebenerdig und wird von einem weiten Raum empfangen, der in der Mitte vom Küche/WC/Treppe-Kern in ein Wohn- und ein Esszimmer unterteilt ist. Mit 2,55 Metern sind die Räume für holländische Verhältnisse relativ hoch. Im oberen Stock liegen drei mittelgrosse Schlafzimmer und ein Bad. Von hier führt die schmale Treppe ins offene Dachgeschoss. Aus Kostengründen wurden die Häuser nicht unterkellert, als Stauraum teilt man sich mit dem Nachbar jeweils eines der transparenten Gartenhäuschen im Vorgarten. Diese gewächshausartigen Häuschen im Häuschenpark überspitzen die Karikatur noch.

Die Mietpreise für ein zwischen 121 und 130 Quadratmeter grosses Haus betragen zwischen 541 und 707 Euro pro Monat, die Kaufpreise lagen zwischen 164 000 und 237 000 Euro. Mit dem unterschiedlich grossen Wohn- und Ausbauangebot gelingt es, Mieter aus unterschiedlichen finanziellen Verhältnissen nach Ypenburg zu locken. Diese Durchmischung der sozialen Schichten soll der Gefahr entgegenwirken, dass aus Ypenburg ein Wohnghetto für einen sozial und finanziell schlechter gestellten Bevölkerungsteil wird.

In der radikalen und provokativen Architektur steckt eine betont familienfreundliche Anlage: Alle Häuser sind mit einem Netz kleiner, autofreier Fusswege miteinander verbunden, dazwischen sind Spielplätze eingestreut, und jedes Haus hat einen eigenen (Pflanz-)Garten, entweder vor oder hinter dem Haus.

Die zu gross geratene Schrebergartensiedlung hat nicht nur die Diskussion in der Nachbarschaft, sondern auch den internationalen Architekturdiskurs angeheizt: Darf man beim Wohnungsbau ­ vor allem von den Vertretern der Moderne zu einer sozialen Bauaufgabe deklariert ­ mit Ironie agieren?, fragen die Kritiker. Sind die Häuschen gar eine zynische Antwort auf den Traum vom Eigenheim?

MVRDV waren bei diesem Projekt in der Zwickmühle. Einerseits hatten sie im Jahr 2001 in ihrer vielbeachteten Studie «Pig City» vorgeschlagen, der drohenden ökologischen Katastrophe und baulichen Zersiedlung mit einer ungewöhnlichen Verdichtungsmethode entgegenzuwirken: In 600 Meter hohen Türmen entlang der Maasflanke soll die landraubende Nutztierzucht übereinandergestapelt werden, lautete ihr provokativer Vorschlag, Land zu sparen. Gleichzeitig realisieren sie in Ypenburg nun selbst ein landverschleissendes Ein- und Mehrfamilienhausquartier.
MVRDV begegnen der ungemütlichen Situation mit Ironie und hoffen so, auf das Problem der gedankenlos und uniform geplanten Streusiedlungen ausserhalb der Zentren aufmerksam zu machen.

Trotzdem bleibt die Sache zweischneidig. Gelungen ist dem Büro jedenfalls, die Diskussion auf eine Frage zu lenken, die im Häuserbaugetöse offenbar wirklich untergegangen und auch für die Schweiz aktuell ist: Ist das Einfamilienhaus die richtige Strategie, auf die gestiegenen Wohnraumbedürfnisse zu reagieren?

NZZ-Folio, Sa., 2003.02.01



verknüpfte Bauwerke
Hageneiland

01. November 2002Roderick Hönig
NZZ-Folio

New York zu Füssen

Nicht nur die Stadt ist einmalig, auch ihr Immobilienmarkt ist es: New York erlebt derzeit - trotz dem 11. September - einen regelrechten Luxusimmobilienboom.

Nicht nur die Stadt ist einmalig, auch ihr Immobilienmarkt ist es: New York erlebt derzeit - trotz dem 11. September - einen regelrechten Luxusimmobilienboom.

Nach einem kurzen Einbruch der Preise im letzten Herbst hat sich der Luxuswohnungsmarkt erstaunlich schnell erholt. Die Verkaufspreise für Wohnungen zwischen der 42. und der 86. Strasse in Manhattan betrugen diesen Sommer schon wieder 10 135 Dollar pro Quadratmeter - nur vier Prozent unter dem Höchstpreis von 10 555 Dollar vom Sommer 2001. Im vierterljährlich erscheinenden «Trump Report», der diese Zahlen veröffentlichte, wird der Boom einerseits auf die tiefen Hypothekarzinsen und andererseits auf das verloren gegangene Vertrauen der Anleger in die Börse zurückgeführt.

Und wirklich: Derzeit herrscht in New York eine Art Goldgräberstimmung. An fast jeder Ecke Manhattans werden teure Wohnungen gebaut. Viele Quartiere sind gleichzeitig im Aufwind: Nach dem Ausverkauf von Soho - das ehemalige Künstlerviertel ist zur riesigen Shopping Mall verkommen - etablierte sich die arrivierte Kunstszene in zu Galerien umgebauten Lagerräumen und in kostspieligen Neubauwohnungen in Chelsea. Auch Harlem wird trotz seiner weniger zentralen Lage nördlich des Central Park eine grosse Zukunft vorausgesagt - und das nicht erst, seit Bill Clinton sein Büro dort eröffnet hat.

Gleichzeitig werden Quartiere jenseits des East River, etwa Williamsburg oder Brooklyn Heights, wegen des Blicks auf Manhattans Skyline und der guten Metroverbindung bei den New Yorkern immer beliebter. Doch wer etwas auf sich hält und, vor allem, wer es sich leisten kann, bleibt in Manhattan selbst. Am beliebtesten sind grosse Wohnungen mit weitem Blick: über den Central Park, auf den Hudson oder den East River.

Donald J. Trump, der wohl reichste, berühmteste und auch berüchtigtste Immobilien-Tycoon Manhattans, reitet schon lange und erfolgreich auf der Luxusimmobilienwelle. Mit seinem jüngsten Projekt, dem Trump World Tower, hat er sich vorgenommen, alle Rekorde zu brechen: Trump nennt seinen neusten Wolkenkratzer das grösste, höchste, luxuriöseste und eleganteste Wohnhochhaus der Welt. Auf einem Grundstück, angrenzend ans Uno-Hauptquartier und direkt am East River gelegen, hat er vom New Yorker Architekten Costas Kondylis und seinem siebzigköpfigen Team auf einer Fläche von 43 mal 23 Metern einen schlanken Glasbarren von 262 Metern Höhe bauen lassen. Der gläserne Monolith erinnert in seiner Einfachheit und Ausgewogenheit an die New Yorker Stahl-Glas-Türme von Philip Johnson oder von Mies van der Rohe. Auch mit der Höhe spielt der Trump World Tower in der obersten Liga mit: Nach dem Empire State Building und dem Chrysler Building ist er wohl nun das dritthöchste Hochhaus Manhattans.

Doch der Bau, der heute scheinbar selbstverständlich die Skyline von New York neu bestimmt, bewegte die Gemüter und viele Anwälte schon während der Planung heftig. Denn gemäss Zonenordnung hätte das Hochhaus nur rund 140 Meter hoch werden dürfen. Die Vorschrift besagt nämlich, dass die Höhe eines Gebäudes in Relation zur Grösse der Bauparzelle stehen muss - also je grösser der Baugrund, desto höher das Gebäude.

Doch Trump baute nicht zum ersten Mal in Manhattan und kannte das Kleingedruckte der Reglemente genau: Zuerst forderte er einen Ausnützungsbonus von 20 Prozent ein, indem er einen Teil des Baugrundes in einen öffentlichen Park verwandelte. Dann kaufte er den sieben Besitzern der anliegenden Gebäude ihre sogenannten Air Rights ab und übertrug sie auf sein eigenes Bauprojekt. (Die Air Rights umfassen die ungenutzen Ausbaumöglichkeiten eines Gebäudes.) Noch mehr Gebäudehöhe gewann Trump, indem er die Raumhöhe der 70 Wohngeschosse um fast 20 Prozent über den New Yorker Durchschnitt erhöhte. Denn es steht nirgends geschrieben, dass auch die Raumhöhe mit der Nutzfläche in Relation stehen muss.

Vielen der äusserst betuchten Nachbarn im Quartier war das neue Baumonument ein Dorn im Auge: Sie formierten sich zu einem Komitee gegen den Trump World Tower. Ein Mitglied spendete sogar eine Million Dollar für die Anwaltskosten. Die Klage gegen die Bauverwaltung New Yorks wurde bis vors Bundesgericht gezogen und dort abgeschmettert.

Noch vor diesem Entscheid waren an der United Nations Plaza die Bagger aufgefahren und hatten das nur 20 Jahre alte und völlig intakte 24-stöckige Bürogebäude, das auf dem Baugrund stand, zu demontieren begonnen. Schon bald wuchs eine gewaltige Tragstruktur in die Höhe. Während in den oberen Stockwerken noch die Stützen und Decken aus speziell belastbarem Stahlbeton in ihre Form gegossen wurden, wurde in den unteren Geschossen bereits die im Windkanal auf besondere Belastungen getestete «Curtain Wall»-Glasfassade montiert und mit dem Innenausbau begonnen.

Nach nur neunmonatiger Planungs- und zwanzigmonatiger Bauzeit konnte das grösste Wohnhochhaus der Welt in Betrieb genommen werden. Die reinen Baukosten für das 376 Appartements umfassende Gebäude betrugen 180 Millionen Dollar. Spezialisten schätzen, dass Trump sich den Baugrund, die Anwälte sowie die Honorare noch einmal so viel kosten liess.

Doch nicht nur beim Bau setzt das Hochhaus neue Massstäbe, auch das Angebot für die Bewohner ist ausserordentlich. Der Trump World Tower ist eine Art Fünfstern-Appartementhotel: eine zehn Meter hohe Marmor-Eingangshalle mit rund um die Uhr besetzter Empfangsloge, ein hauseigener Fitnessclub, ein Gourmetrestaurant, private Weinkeller, ein Sicherheitsdienst, ein privater Garten, Konferenzräume - das alles steht den Bewohnern zur Verfügung.

Die 376 Wohnungen sind sehr unterschiedlich geschnitten; in den unteren Stockwerken liegen vor allem Studios und kleinere Wohnungen. Sie sind zwischen 50 und 180 Quadratmeter gross und ab 520 000 Dollar zu haben. Dazu kommen monatliche Unterhalts- bzw. Nebenkosten, die zum Beispiel für eine Einzimmerwohnung rund 900 Dollar betragen. Viele, die sich oben eine Wohnung erwarben, kauften ein Studio oder eine kleine Wohnung für ihre Hausangestellten oder für ihre erwachsenen Kinder dazu. Je höher im Haus gelegen, desto grösser und teurer die Wohnungen.

Unüberbietbaren Luxus bieten die vier Penthouses in den obersten beiden Stockwerken: Die zwei grösseren, mit Blick auf das Chrysler und das Empire State Building, sind rund 500 Quadratmeter gross; jenes im obersten Geschoss kostet annähernd 17 Millionen Dollar. Die Räume sind hier an die fünf Meter hoch, und die vollverglasten Aussenwände reichen fast bis zum Boden. Aber solche Wohnungen dienen in New York nicht in erster Linie als Behausung, sondern als Statussymbol. Es geht weniger um eine besonders ausgefeilte Architektur als darum, hier abends seine Gäste über das Lichtermeer blicken zu lassen.

Für europäische Verhältnisse sind die Preise schwindelerregend, und das Design würde hier manchem Bauchweh machen. Doch scheint Donald J. Trump einmal mehr seine Klientel gut eingeschätzt zu haben: Schon vor der Fertigstellung konnte er rund 70 Prozent der Wohnungen verkaufen.

Es gibt offenbar genug Leute, die fast jeden Preis für eine gute Adresse in New York zahlen. Zumindest für jenen Käufer, der gleich zwei Penthouses des Trump World Tower zusammenlegen und sich für 38 Millionen Dollar die wahrscheinlich teuerste Wohnung im Land kaufen wollte, währte der Traum allerdings nicht lange. Er musste den Vertrag unter Verlust einer Anzahlung in Millionenhöhe wieder rückgängig machen, denn seine mit Internetgeschäften generierten Millionen hatten sich an der Börse ebenso schnell aufgelöst, wie sie sich gebildet hatten.

NZZ-Folio, Fr., 2002.11.01



verknüpfte Bauwerke
Trump World Tower

01. September 2002Roderick Hönig
NZZ-Folio

Deutsche Italianità

Vor nicht allzu langer Zeit wurde einem in Berlin noch eine dünne braune Brühe in einer ebenso dünnen weissen Tasse als Espresso verkauft. Doch seit Berlin Hauptstadt ist, ist vieles anders geworden, auch der Kaffee.

Vor nicht allzu langer Zeit wurde einem in Berlin noch eine dünne braune Brühe in einer ebenso dünnen weissen Tasse als Espresso verkauft. Doch seit Berlin Hauptstadt ist, ist vieles anders geworden, auch der Kaffee.

Der Italiener um die Ecke (und es gibt davon unzählige) weiss um die Italophilie seiner anspruchsvoll gewordenen Kundschaft und zelebriert ihr zuliebe Italianità - meist italienischer als in Italien. In den Berliner Ristoranti wird einem heute hervorragender Caffè serviert, rabenschwarz und in dickwandigen Tassen.

Die Liebe der Deutschen zu Italien und seiner Kultur geht jedoch weit über Caffè, Linguine und Rosso di Montepulciano hinaus - zumindest unter den Architekten. Denn die Architektur der italienischen Renaissance ist, neben jener der klassischen Moderne, immer noch gültige Referenz für viele zeitgenössische Architekten. Idealtypische Städte mit ihren am Reissbrett entworfenen Grundrissen, ihren klar gegliederten Palazzi und wohlgeformten Piazze haben nicht nur den Dichterfürsten Goethe vom «Land der Formen» schwärmen lassen, sondern beispielsweise auch den grossen Berliner Baumeister Karl Friedrich Schinkel auf seiner ersten Italienreise derart fasziniert, dass er über 400 Zeichnungen mit nach Hause brachte.

Bei der Überbauung «Leibnitzkolonnaden» in Berlin hat nun die Sehnsucht nach dem mediterranen Leben den kühlen Geist des Nordens getroffen. Der international renommierte Berliner Architekt Hans Kollhoff hat mit seiner Partnerin Helga Timmermann und seinem Team unter einen Hut gebracht, was unvereinbar schien: die italienische Piazza und die Neuinterpretation des Berliner Gründerzeithauses. Auf dem fast 10 000 Quadratmeter grossen Grundstück in unmittelbarer Nähe des Kurfürstendamms konnten die Architekten einen 32 Meter breiten und 100 Meter langen Stadtplatz bauen, den Walter-Benjamin-Platz. Er wird von zwei imposanten U-förmigen Riegeln gefasst. In den sieben- und achtgeschossigen Bauten befinden sich, verteilt auf insgesamt acht Häuser, 108 Wohnungen, 22 Läden, eine Kindertagesstätte im Dachgeschoss sowie grosse Büroflächen in drei Häusern.

Selbstverständlich gab das architektonische Schwergewicht mit der monumentalen Palazzofassade in Berlin schon vor Baubeginn Anlass zu Diskussionen: Zum einen bangte die Auto- und Gewerbelobby um die zentralen Parkplätze, die sich bis anhin auf der Baubrache befanden, zum andern wollten die Initianten einer Bürgerinitiative nicht verstehen, dass statt einer introvertierten Wohnhofbegrünung, wie sie in Berlin allgemein üblich ist, nun ein monumentaler Stadtplatz mitten in Charlottenburg entstehen sollte, den erst noch kein Grün zierte. Zu guter Letzt stimmten die Architekturkritiker in den Kanon ein und bemängelten, was sie bei den Bauten von Kollhoff und Timmermann immer bemängeln: dass die Fassadengestaltung einem Stadtbild aus der Gründerzeit Leben einhauche - wo man sich doch im 21. Jahrhundert befinde!

Knapp ein Jahr nach Bezug sind 95 der nicht eben günstigen 108 Wohnungen vermietet oder verkauft, und die Aufregung um den Bau hat sich gelegt. Geblieben sind die strenge Raster-Natursteinfassade, die das Gebäude rundherum einhüllt, und das fehlende Grün. Nur zu einem leicht aus der Mittelachse geschobenen Baum und zu einem Wasserspiel auf der gegenüberliegenden Seite konnten sich die Architekten auf dem Walter-Benjamin-Platz durchringen.

Sonst ist alles aus Stein, wie es sich für eine italienische Piazza gehört. Die Fassade besteht aus einem grüngrauen Sandstein, der dem Bau Schwere und damit Wichtigkeit und Autorität verleiht. Die Pflasterung der Piazza mit grauen Granitplatten setzt sich unter den Kolonnaden fort, wird dort jedoch kleinteiliger, fast mosaikartig und damit wohnlicher. Hauptmerkmal der Überbauung sind die eher für Turin oder Bologna typischen Kolonnadengänge. Sie erweitern den Aussenraum ins Haus hinein und umgekehrt. Sie funktionieren für die Bewohner als Portale zu diesem riesigen steinernen Salon.

Die beiden Riegel sind nach klassischer Manier in einen hohen Sockel, einen dominanten Mittelteil und eine kurze Balustrade als Dachabschluss unterteilt. Wie auch bei anderen Bauten von Kollhoff und Timmermann zerlegt die ausgeklügelte Fassadengestaltung die Grossform in einzelne Hauseinheiten, ohne dass das gemeinsame Fassadenthema verloren geht.

Die Architekten beherrschen die Kunst, den Eindruck eines steinernen Hauses zu erwecken und trotzdem den heutigen Ansprüchen an Grösse und Anzahl der Öffnungen gerecht zu werden. Es geht ihnen darum, dass die Wand und damit die kubische Geschlossenheit bei dieser Menge Fenster nicht verloren geht. Der Trick liegt in der Tiefenstaffelung der Fassade: Die zurückversetzten Gesimse rund um jede Öffnung lassen das Haus schwerer und mächtiger erscheinen, als es in Wirklichkeit ist. In den Leibnitzkolonnaden herrscht ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Öffnung und Stein, was dem Bau eine elegante Note verleiht.

Die Eleganz dieses öffentlichen Salons mit seinem Steinteppich setzt sich im Foyer der Wohnhäuser fort: Schwere Bronze-Eiche-Türen öffnen sich auf einen langgezogenen hohen Raum, der zur einen Seite den Blick auf den begrünten Hinterhof freigibt. Seine Wände sind mit Holz verkleidet, der Boden ist mit in Flechtmuster ausgelegtem Naturstein belegt - das Entrée eines Stadtpalais. Diese Grandezza steigert die Erwartungen, doch die werden nicht erfüllt: Die Räume der Standardwohnungen sind nur gerade zweieinhalb Meter hoch, die Wohnungen zwischen 54 und 169 Quadratmeter gross. Sie haben oft eine sehr grosse Raumtiefe, worunter die natürliche Belichtung leidet und oft auch die Psyche der Bewohner. Sie erinnern eher an die Neben- als an die Haupträume eines Stadtpalais. Prächtig ist einzig der Blick auf den Platz mit seinen mächtigen Fassaden. Den für Berliner Verhältnisse hohen Preis der Eigentumswohnungen rechtfertigt hauptsächlich die zentrale Lage. Zu haben sind derzeit noch Wohnungen zwischen 167 000 Euro (54 Quadratmeter) und 640 000 Euro (182 Quadratmeter).

Die Leibnitzkolonnaden sind in erster Linie ein städtebaulicher Wurf: Kollhoff und Timmermann haben mit viel Hartnäckigkeit gegen den begrünten Schmückplatz und für den «leeren» Stadtplatz gekämpft. Sie haben deshalb dieses heterogene Bauprogramm nicht, wie das derzeit sehr viele Architekten in Berlin tun, wie in einem Shoppingcenter rund um eine introvertierte Mall gebaut, sondern Tiefgarage, Restaurants, Wohnungen, Appartements, Büros und Kindergarten dem öffentlichen Raum untergeordnet. So kommt beim Caffè auf der Piazza ein bisschen Ferienstimmung auf - und das gleich hinter dem Kurfürstendamm.

NZZ-Folio, So., 2002.09.01



verknüpfte Bauwerke
Überbauung der Leibnitzkolonnaden

01. Juli 2002Roderick Hönig
NZZ-Folio

Fertighaus nach Mass

In Japan werden pro Jahr rund eineinviertel Millionen Häuser gebaut. Diese Zahl ist unter anderem deswegen so unglaublich hoch, weil die durchschnittliche Lebensdauer eines Hauses auf dem Archipel nur etwa 25 Jahre (in der Schweiz 90 Jahre) beträgt.

In Japan werden pro Jahr rund eineinviertel Millionen Häuser gebaut. Diese Zahl ist unter anderem deswegen so unglaublich hoch, weil die durchschnittliche Lebensdauer eines Hauses auf dem Archipel nur etwa 25 Jahre (in der Schweiz 90 Jahre) beträgt.

Trotz hohen Preisen und beschränktem Bauland (das Land besteht zu 80 Prozent aus Bergen) träumen immer noch unzählige Japaner in wehmütiger Erinnerung an das kleine Dorf der Reisbauerngemeinschaft den Traum vom Einfamilienhaus.

Da nun zwölf Jahre nach der Wirtschaftskrise die Bodenpreise in Japan um rund 80 Prozent gefallen und bei den Banken variable Hypothekarkredite mit einer Laufzeit von bis zu 40 Jahren zu unter 2 Prozent zu haben sind, können sich auch jüngere Familien wieder Wohneigentum leisten. 90 Prozent der Nachfrage nach Einfamilienhäusern befriedigen Multis wie Mitsubishi, Toyota oder Panasonic mit Fertighäusern im sogenannten Western Style.

Darunter muss man sich langweilige gleichförmige Baukastenhäuser mit wenigen Grundrissvariationen vorstellen, die im Prospekt immer frei stehend und mit Umschwung dargestellt werden, sich in Wirklichkeit aber im Meterabstand an end- und gesichtslosen Peripherie-Quartierstrassen aufreihen - mit direkter Sicht auf die kahlen Wände des Nachbarn.

Aber auch ein solches Haus, das nicht mehr bietet als eine grosszügige Mietwohnung, ausser dass man mit dem Nachbarn die Wände nicht teilt, kostet, trotz Vorfertigung und Standardisierung, immer noch die stolze Summe von rund 450 000 Dollar, ohne Land. Dieses Missverhältnis hat den wendigen Architekten Katsu Umbeyashi vom Büro F.O.B Architecture aus Kyoto zusammen mit seinem Kollegen Kazuo Kobayashi dazu bewogen, ein ähnliches Produkt mit mehr Stil zum selben Preis anzubieten. Die beiden Architekten gründeten 1999 in Tokio die Firma F.O.B Homes, deren Slogan sinngemäss «Eigener Stil zum angemessenen Preis» lautet.

Was, ausser dem modernistischen Stil, unterscheidet die beiden von den andern Fertighausanbietern? Es ist die individuelle Architekturleistung. Denn auch bei traditionellen Fertighausproduzenten zahlt man rund 15 Prozent der Bausumme fürs individuelle Design und kann dennoch nur aus zwei bis drei Grundrissvarianten wählen.

Diese «Marktlücke» machte F.O.B Homes zum Verkaufsargument: Die Firma geht beim Design speziell auf die Kundenwünsche ein. In Japan war das bis anhin nur in den oberen Segmenten der Architektur eine Selbstverständlichkeit.

Das Vorgehen ist einfach: Der Architekt besucht mit dem interessierten Kunden eines der Musterhäuser in Tokio oder Osaka. Dann arbeitet er mit seinem Team ein auf stets demselben Grundtypus basierendes Projekt aus. Die Kunden können Gebäudevolumen und Raumaufteilung vom hauseigenen Designerteam gegen eine Pauschalsumme von 3000 Dollar ihren individuellen Ansprüchen anpassen lassen. Den Entwurf präsentiert Umbeyashi wenig später mit Plänen und einem Modell. Ist ein Grundstück gefunden, wird das Haus innert eines halben Jahres in traditioneller Bauweise an Ort und Stelle gebaut.

Der Prototyp, das F.O.B Home 1, steht in einem typischen Vorstadt-Einfamilienhausquartier vor den Toren Osakas. Wie ein vom Himmel gefallener Monolith liegt der weisse Kubus in der biederen Nachbarschaft. Die verschlossenen Wände sind bis ans Äusserste der Parzellengrenzen geschoben. Von der Strasse her ist nicht viel zu sehen: Eine kleine Öffnung in der weissen Wand deutet den Eingang an. Entlang einem kleinen Quartierweg auf der Südseite ist ein grosses Fenster bis zum Boden ausgeschnitten - eine eingeschossige Wand aus Milchglasscheiben verwehrt den Einblick. Sonst strahlt der im Sonnenlicht gleissende Block makellos.

Im Inneren ist dann die Überraschung gross: Ein luftiges Wohn- und Esszimmer empfängt den staunenden Besucher. Das Haus mit 128 Quadratmetern Wohnfläche scheint auf den ersten Blick nur aus grosszügigen Leerräumen zu bestehen: Da gibt es das doppelstöckige Wohn- und Esszimmer und gleich daran anschliessend, nur durch eine breite Glaswand getrennt, den nach oben offenen Gartenhof.

Diese beiden riesigen Leerräume verschaffen dem Haus eine für Japan eher ungewohnte Grandezza, viel Licht, Luft und Atem. Für Schlafzimmer, Bäder und Nebenräume bleiben nur zwei schmale Raumtranchen entlang der Vorder- und der Rückfassade. Diese Räume werden als das behandelt, was sie in Japan sind: als Nebenräume, in denen man sich nur in zweiter Linie aufhält.

F.O.B Homes finden selbstverständlich nicht beim gemeinen Fertighauskunden Zuspruch. Sie sprechen den bis anhin kleinen, aber laufend wachsenden Prozentsatz derer an, die trendbewusst und «stylish» sind und sich auch getrauen, Individualität gegenüber den Nachbarn auszudrücken.

Trendbewusst bedeutet in diesem Fall: modernistische Gestaltung, ein auf einen makellosen Kubus reduzierter introvertierter Baukörper und ein kontinuierlicher Innenraum. Die Häuser bieten eine räumlich wie auch finanziell attraktive Alternative zum unansehnlichen Fertighaus-Einheitsbrei in Japan.

Denn zwar viele, aber noch lange nicht alle Japaner wollen dasselbe Haus.

NZZ-Folio, Mo., 2002.07.01

01. April 2002Roderick Hönig
NZZ-Folio

Eine zweite Haut aus Glas

Am östlichen Stadtrand von St. Gallen franst die Siedlungsstruktur langsam aus.

Am östlichen Stadtrand von St. Gallen franst die Siedlungsstruktur langsam aus.

Eine heruntergekommen wirkende Sichtbeton-Hochhaussiedlung aus den siebziger Jahren, ansatzweise begonnene Reihenhausstrukturen aus den fünfziger Jahren und eine Handvoll lieblos placierter Einfamilienhäuser neueren Datums verzahnen hier Stadt und Land. Um dem scheinbaren Wildwuchs an Bauten Einhalt zu gebieten, hat die Stadt 1987 einen Gestaltungswettbewerb für ein dazwischen gelegenes, rund 36 000 Quadratmeter grosses Hanggrundstück ausgeschrieben. Das rigide Gewinnerprojekt aber blieb in der Schublade liegen. Sieben Jahre später wurde die Baubewilligung einem anderen Büro erteilt. Die Architektengemeinschaft Baumschlager-Eberle aus dem Vorarlberg und Senn Architektur aus St. Gallen sollte die erste Etappe des vor Jahren prämierten Vorschlags umsetzen.

Der Plan sah eine monumentale, senkrecht zum Hang verlaufende Kammstruktur für das gesamte Grundstück vor. Nur drei von dreizehn Baukörpern wurden in einer ersten Etappe 1996/97 realisiert. Insgesamt 55 Wohnungen in über 60 m langen, mehrgeschossigen Riegeln. Trotz der Fertigstellung erst gegen Ende der neunziger Jahre ist dieser erste Teil der Überbauung mit seiner aus heutiger Sicht verspielten Architektur, mit den gemeinsam genutzten Laubengängen und dem aufwendigen Erschliessungssystem exemplarisch für die Architektur der achtziger Jahre.

Ganz anders präsentiert sich die dieses Jahr fertiggestellte zweite Bauetappe. Die Architekten konnten die Behörden von einem planerischen Neuanfang überzeugen: Anstatt die Riegelstruktur weiterzuziehen, verteilen sie nun acht kompakte Baukörper, schachbrettartig versetzt, über die gesamte Grundstücksfläche. Die Überbauung reagiert subtil auf die Topographie: Der Hang fliesst sozusagen frei durch die Siedlung hindurch, und die Häuser verzahnen sich mit dem Grundstück. Trotz der hohen Zahl von Wohnungen (120) schaffen sie es mit einer geschickten Disposition in der Ebene und durch die Staffelung der Häuser in der Höhe, den notwendigen Abstand zwischen den Häusern, die Durchsichten, die Besonnung und die Aussicht auf den Bodensee zu gewährleisten.

Die acht Baukörper sind jeweils um ein gemeinsames Treppenhaus herum organisiert. Es ist nicht grosszügig, hat aber dennoch Grandezza: Weisser Marmor am Boden und die eleganten skulptural gestalteten Treppengeländer aus schwarzem Stahl machen diesen halböffentlichen Ort zu einem veritablen Entrée. Um diesen Kern herum sind jeweils die Nebenräume und Nasszellen der Wohnungen gelagert. Alle Zimmer liegen entlang der Fassade und haben französische Fenster auf die umlaufenden Balkone.

Der Ausbau ist einfach und funktional. Ein schönes Detail: In die Schicht mit den Nasszellen sind begehbare Schränke eingepasst. Die tragenden Böden und Decken liegen auf den Aussenwänden und auf dem Erschliessungskern auf, was erlaubt, die Wohnfläche ohne Probleme in ein Loft oder in eine Fünf-Zimmer-Wohnung einzuteilen. Man kann Zimmerwände einziehen oder weglassen, je nach Bedarf. Matte, geschosshohe Glasscheiben hüllen den Kubus wie eine zweite Haut ein. Sie schützen die grosszügige Balkonzone vor Wind, Wetter und Blicken. Durch die leichte Verschiebbarkeit der Gläser verändern die Bewohner das Bild der Gebäude ständig.

An den beiden Bebauungsstrategien - Zeilenbau und Punkthaus - ist eine generelle Entwicklung im Wohnungsbau abzulesen. Nicht ästhetische, sondern wirtschaftliche, energetische und soziale Gründe sprachen gegen die Vollendung der Ende der achtziger Jahre geplanten Kammstruktur. Heute sind möglichst kompakte und einfach strukturierte Bauten gefragt. Das wirkt sich in St. Gallen auch auf die Miete aus: Eine Viereinhalb-Zimmer-Wohnung mit 104 Quadratmetern beispielsweise kostet 1685 Franken pro Monat. Auch die Nebenkosten sind geringer, denn eine kompakte Gebäudehülle spart Energie: je weniger Aussenfläche, desto weniger Wärme verliert ein Haus. Punkthäuser sind zudem flexibler in der Grundrisseinteilung; Wohnbauten müssen heute bis zum letzten Augenblick auf Schwankungen des Marktes reagieren können. Gesellschaftliche Veränderungen sind am Achslengut insofern abzulesen, als gemeinsam genutzte Zonen minimiert werden: Auf öffentliche Laubengänge oder Gemeinschaftsräume wird zugunsten eines privaten Aussenraums verzichtet.

Denn es sind derzeit vor allem Wohnungen gefragt, die den Mieter den Traum des Eigenheims träumen lassen: Am besten, man merkt gar nicht, dass man das Haus mit anderen Menschen teilt.

NZZ-Folio, Mo., 2002.04.01



verknüpfte Bauwerke
Wohnüberbauung Achslengut

01. Februar 2002Roderick Hönig
NZZ-Folio

Nachhaltigkeit auf Japanisch

Das Japanische Gifu, einige Kilometer nördlich der Millionenstadt Nagoya gelegen, ist eine der vielen gesichtslosen Agglomerationen im Landesinneren des Archipels.

Das Japanische Gifu, einige Kilometer nördlich der Millionenstadt Nagoya gelegen, ist eine der vielen gesichtslosen Agglomerationen im Landesinneren des Archipels.

Die Grenze zwischen den beiden Städten ist fliessend, ein grossflächiger Häuserteppich, aus dem Hochspannungsmasten herausstechen, verwebt die Orte miteinander. Die Region ist mit dem schweizerischen Mittelland zu vergleichen: Kein Zentrum ist auszumachen, erst am Fuss der Berge schlägt die träge Welle der Zersiedelung an. Wer genauer hinsieht, merkt aber, dass der Teppich aus unzähligen eigenständigen Stadtteilen besteht. Gifu ist, wie viele andere japanische Städte auch, eine Stadt der 1000 Dörfer.

Im Rahmen eines radikalen Stadtentwicklungsprogramms haben die Vertreter der Präfektur vor ein paar Jahren beschlossen, eines dieser natürlich gewachsenen «Dörfer» abzubrechen und an seiner Stelle - ganz im Sinne des Mottos der europäischen Moderne «Licht, Luft und Sonne» - einen neuen, modernen Ort im Niemandsland zu schaffen. Gefördert vom Staat, sollten 420 Wohneinheiten von je rund 70 Quadratmetern entstehen. Unter der Koordination von Arata Isozaki, einem Altmeister der japanischen Architektur, haben die vier Architektinnen Kazuyo Sejima, Akiko Takahashi, Elisabeth Diller und Christine Hawley den neuen Stadtteil erbaut. Anstelle des engmaschigen Quartiers aus meist zweigeschossigen Häuschen schlängeln sich nun vier gewaltige Wohnscheiben entlang der Parzellengrenze. Sie fassen einen trostlosen Leerraum, den die amerikanische Landschaftsarchitektin Martha Schwarz ungelenk mit einem Garten dekorierte.

Trotz der Brutalität des städtebaulichen Eingriffs sind ausserordentliche Wohnungen entstanden: Einzigartig sind die Einheiten in der mehrfach geknickten Scheibe von Kazuyo Sejima. Die 45-jährige Architektin gilt als Shootingstar der internationalen Architekturszene. Bekannt wurde sie auch ausserhalb von Fachkreisen mit ihrer Arbeit am Verpackungsdesign der neuen Kosmetiklinie von Prada und mit dem Design der Prada-Kosmetikshops.

In Gifu hat Sejima jedoch keineswegs Kosmetik betrieben, sondern beim Bau ihrer 107 Einheiten versucht, ein System zu etablieren, das auf zukünftige Änderungen im Wohnverhalten der Menschen flexibel reagieren kann. Die Architektin glaubt, dass sich die traditionelle Familienstruktur auflösen wird, und hat deshalb ein Haus gebaut, das auf Familien ebenso gut wie auf Singles, Paare oder auch Wohngemeinschaften zugeschnitten ist.

Ihre neungeschossige Wohnwand ist beeindruckend schmal. Die geringe Tiefe von 8,5 Metern ist eine Antwort auf die heissen und schwülen japanischen Sommer: Die natürliche Querlüftung ist immer noch effizienter und kostengünstiger als jede Klimaanlage. Über die gesamte Länge des Riegels regelmässig verteilt, stehen auf jeder Etage die Zimmerwände im Abstand von 2,85 Metern. Sie unterteilen den Wohnriegel in der Horizontalen in unzählige Zellen von jeweils 16,5 Quadratmetern Fläche. Diese Wände sind gleichzeitig Tragstruktur, darauf stehen alle Geschossdecken. Auf der Südseite hören sie 1,20 Meter vor der mit Bandfenstern verglasten Fassade auf. Dadurch entsteht eine Art wohnungsinterner Laubengang, der alle Zimmer miteinander verbindet.

Auf der ziemlich schroff gestalteten Rückseite führt parallel dazu auf jedem Stock ein offener und öffentlicher Laubengang entlang dieser fast unendlichen Aufreihung von Zimmern. So kann jedes Raummodul vom inneren wie auch vom äusseren Laubengang her betreten werden. Das macht jedes Zimmer zum selbständigen Modul eines grossen Systems. Der Vorteil: Eltern oder Kinder können so beispielsweise die Wohnung verlassen oder betreten, ohne die anderen Mitbewohner zu stören.

Um den engen Wohnverhältnissen etwas Luft zu geben, hat Sejima fast jeder Wohnung ein zweigeschossiges Wohn- und Esszimmer zugeordnet. Es dient als Scharnier zwischen oben und unten. Denn alle Wohnungen haben zwei Ebenen, eine kleine interne Treppe in diesem über fünf Meter hohen Raum verbindet die Etagen miteinander. Dieses Maisonnette-System macht es möglich, dass auf einer Etage Eltern und Kinder wohnen und auf einer darüber- oder darunterliegenden Etage etwa die Grossmutter. Auch gehört zu jedem Appartement ein Aussenraum, eine grosszügige Loggia, die sich über die gesamte Gebäudetiefe erstreckt und auf beiden Seiten offen ist. Sie wird dankbar und rege als Waschküche, Lagerraum, Velogarage oder Balkon benutzt. Sejima versteht diesen Aussenraum aber auch als eine Art Garten, in dem der Bewohner den Kontakt zur Natur, zu Wind und Wetter aufrechterhalten kann - auch 20 Meter über dem Boden.

Die scheinbar zufällige Anordnung dieser Loggias verleiht dem riesigen Baukörper eine gewisse Leichtigkeit. Das gekonnte Spiel mit der Durchlässigkeit, mit Löchern und Schichten, nimmt dem Bau etwas von seiner Monumentalität. Die Fassade wird zur grossflächigen Textur, an den Löchern wird der menschliche Massstab wieder erkennbar. Der Architektin gelingt es bei diesem Bau, mit einem relativ einfachen System unterschiedliche Wohnformen zu ermöglichen. In diesem Sinne versteht sich der Bau als Beitrag zum Thema Nachhaltigkeit. Denn nicht nur die Wahl dauerhafter Baumaterialien wie Beton erhöht die Lebensdauer eines Gebäudes - die durchschnittliche Lebensdauer eines Hauses in Japan beträgt 25 Jahre -, auch die Fähigkeit der Anpassung an unterschiedliche Benutzer garantiert ein längeres Leben.

NZZ-Folio, Fr., 2002.02.01



verknüpfte Bauwerke
Stadtentwicklungsprogramm in Gifu

01. Dezember 2001Roderick Hönig
NZZ-Folio

Bilbao-Effekt in Wien

Angefangen hat alles 1997 in Bilbao. Dort stellte der amerikanische Stararchitekt Frank O. Gehry im Auftrag der baskischen Regierung für die Guggenheim-Stiftung eine phantastische Bauskulptur ans Nervión-Ufer.

Angefangen hat alles 1997 in Bilbao. Dort stellte der amerikanische Stararchitekt Frank O. Gehry im Auftrag der baskischen Regierung für die Guggenheim-Stiftung eine phantastische Bauskulptur ans Nervión-Ufer.

Angefangen hat alles 1997 in Bilbao. Dort stellte der amerikanische Stararchitekt Frank O. Gehry im Auftrag der baskischen Regierung für die Guggenheim-Stiftung eine phantastische Bauskulptur ans Nervión-Ufer. Der schon fast unheimliche Besucherrekord im heute weltberühmten Museum (3,5 Millionen in den ersten drei Jahren) und der wirtschaftliche Erfolg (bis 2000 flossen Zusatzerträge von 500 Millionen Dollar in die rezessionsgebeutelte baskische Hauptstadt) führten dazu, dass man bald weltweit vom «Bilbao-Effekt» sprach. Der Begriff steht für die wirtschaftlich-kulturelle Initialzündung in einem heruntergekommenen Stadtquartier, bei der die Architektur eine führende Rolle spielt.

Nun hat die Sage von Bilbao Wien erreicht. Nicht weit von der Donau entfernt, wurde eines der wuchtigsten Architekturmonumente der österreichischen Hauptstadt - die vier prunkvollen Gas-Silos aus dem Jahre 1899 - im unwirtlichen Niemandsland des 11. Bezirks wiederbelebt. Doch im Gegensatz zu Bilbao sollte nicht Kultur diese Initialzündung auslösen, sondern Kommerz und Wohnen. Die vier im Volksmund Gasometer genannten Backsteinhüllen sind diesen Sommer als schriller Wohn-, Freizeit- und Shoppingpark wiedereröffnet worden.

Die Stadtväter hatten 1996 einen Investorenwettbewerb durchgeführt mit dem Ziel, die denkmalgeschützten Bauten einer wirtschaftlich selbsttragenden Nutzung zuzuführen. Unter anderem mit der Bereitschaft, insgesamt 2,3 Milliarden Schilling zu investieren, entschieden drei grosse Wiener Wohnbaugesellschaften - SEG, Gesiba und GPA - die Konkurrenz für sich. Gleichzeitig suchte man in einem zweiten Wettbewerb international bekannte Architekten, die dem ausserordentlichen Bauvorhaben ihren gestalterischen Stempel, gewissermassen die Marke, aufdrücken sollten. Den Standortfaktor Architektur garantierten Architectures Jean Nouvel aus Paris und Coop Himmelb(l)au aus Wien sowie die vor allem in Österreich bekannten Baumeister Wilhelm Holzbauer und Manfred Wehdorn. Jeder Architekt gestaltete einen Gasometer.

Obwohl vier Gestalter am Werk waren, gab es bei den Gasometern mit heute 615 Wohnungen, 11 000 Quadratmetern Büros, 15 000 Quadratmetern Archivfläche und einer 22 000 Quadratmeter grossen Shoppingmall, mit Studentenheim, Kindergarten und Veranstaltungshalle nur zwei Bebauungsstrategien: die Ring- und die Mittenhinein-Variante. Denn die Knacknuss eines kreisrunden Baukörpers ist die Führung des Lichts: Wie bringt man möglichst viel Tageslicht in eine 65 Meter hohe Backsteintonne mit einem Durchmesser von 72 Metern? Jean Nouvel, Coop Himmelb(l)au und Manfred Wehdorn entschlossen sich zur Ringbebauung. Sie passten einen bis zu elfgeschossigen Wohn- und Büroring in die Tonne und formten so ein grosses kreisförmiges Atrium. Bei Nouvel hat der neue Innenraum einen Durchmesser von 34 Metern.

Nur Wilhelm Holzbauer entschied sich für die Mittenhinein-Bebauung und setzte einen sternförmigen Baukörper mitten in die Tonne, der den Innenraum in drei grosszügige Gärten unterteilt und die Gasometerwand nicht berührt. Eine spektakuläre Abweichung von der Ringbebauung erlaubten sich Coop Himmelb(l)au: sie bauten zusätzlich ein von weitem sichtbares, 18-geschossiges Schild an die Nordseite ihres Gasometers. In den oberen Stockwerken finden sich Wohnungen und Büros, die über eine grosszügige, jedoch nach Norden orientierte Glasfassade mit Loggien belichtet werden.

Eine grundsätzliche Antwort auf die Lichtfrage geben alle, indem sie den unteren Geschossen der Gasometer Funktionen zuordneten, die fast oder ganz ohne Tageslicht auskommen: 856 Parkplätze, die Veranstaltungshalle für rund 3000 Besucher und vier kreisrunde Shoppingmalls, die mit Fussgängerbrücken verbunden sind. Erst darüber befinden sich die drei Bürogeschosse bzw. - im Gasometer von Coop Himmelb(l)au - das Studentenheim. Die sechs bis acht Wohngeschosse pro Gasometer beginnen erst auf einer Höhe von 30 Metern.

Am interessantesten hat Jean Nouvel die Lichtfrage gelöst. Er zerschnitt seine Ringbebauung in neun Segmente. Durch die Schlitze fällt viel Sonne in den Hof und in die Wohnungen und der Blick der Bewohner nach aussen. Die Seitenwände sind mit spiegelndem Chromstahl verkleidet, was zusätzlich Licht nach innen lenkt.

Schwieriger gestaltete sich bei der Ringbebauung die Erschliessung: Ungemütliche, dunkle Laubengänge zwischen der bestehenden Aussenhaut und der neuen Innenhaut führen alle zwei Stockwerke zu den Wohnungen. Von dort aus geht es entweder direkt in die kreissegmentförmigen oder über eine schmale Treppe in die darüberliegenden Wohnungen. Wenig Licht und neugierige Blicke machen jedoch alle direkt hinter dem Laubengang liegenden Wohnräume fast unbrauchbar. Trost spenden der Blick auf den spektakulären Innenhof und - von den grösseren, teilweise zweigeschossigen Wohnungen in den oberen Geschossen - die Sicht über die Simmeringer Peripherie.

Dass alle 615 Wohnungen zwei Monate nach Fertigstellung verkauft oder vermietet waren, kann nicht an der Wohnqualität liegen. Eher am Bilbao-Effekt, der sich an der Donau eingestellt und das Shoppingcenter zum quirligen samstäglichen Ausflugsziel der Wiener gemacht hat. Erzeugt haben diesen Effekt das Charisma der reaktivierten hundertjährigen Architekturikone, der gelungene Mix der Nutzungen, die hervorragenden Verkehrsverbindungen (die verlängerte U-Bahn-Linie bringt einen in acht Minuten zum Stephansdom, die Schnellbahn in wenigen Minuten zum Flughafen und die neue Nord-Ost-Tangente ohne Stau ins Umland) und die tiefen Preise der Wohnungen: Eine 3-Zimmer-Wohnung von Jean Nouvel mit 73 Quadratmetern Wohnfläche etwa kostete freifinanziert umgerechnet 170 000 Franken.

Wie in Bilbao haben sich auch bereits Folgeinvestitionen eingestellt: Der Architekt Rüdiger Lainer konnte gleich neben den vier Gasometern ein riesiges Multiplexkino mit 15 Sälen verwirklichen, und in unmittelbarer Nachbarschaft entstand ein grosses Bürohaus. Wenn die Kettenreaktion in dieser Geschwindigkeit weitergeht, wird das Hoffnungsgebiet der Wiener Stadtplanung innert weniger Jahre zur autark funktionierenden Gasometercity.

NZZ-Folio, Sa., 2001.12.01



verknüpfte Bauwerke
Gasometer Simmering - Neubau und Revitalisierung

01. Oktober 2001Roderick Hönig
NZZ-Folio

Die hängenden Gärten von Kobe

Die Wohnüberbauung Rokko I-III im japanischen Kobe ist das wohl grösste Bauwerk des Stararchitekten Tadao Ando und der Traum eines jeden Baumeisters: ein Projekt, das über Jahre hinweg wächst und sich kontinuierlich entwickelt.

Die Wohnüberbauung Rokko I-III im japanischen Kobe ist das wohl grösste Bauwerk des Stararchitekten Tadao Ando und der Traum eines jeden Baumeisters: ein Projekt, das über Jahre hinweg wächst und sich kontinuierlich entwickelt.

Bisher besteht es aus 244 Wohneinheiten, die zwischen 1981 und 2000 in drei Etappen gebaut worden sind. Rokko I ist - nach einer beachtlichen Reihe von Einfamilienhäusern - das erste grosse Wohnbauprojekt des gelernten Zimmermanns aus Osaka. Die Elemente seines späteren Stils sind hier bereits deutlich sichtbar: Der aus einfachen Verhältnissen stammende Autodidakt verwendet kompromisslos schmucklosen Beton und lässt bewusst Licht und Wind in die geometrisch genau definierten Räume ein. Das Projekt, das 1983 fertiggestellt wurde, machte Tadao Ando endgültig international bekannt.

Die 20 Wohnungen von Rokko I sind am Rande von Kobe situiert. Das Quartier der Millionenstadt ist nobler Wohnort für betuchte Geschäftsleute, von denen die meisten im 20 Zugminuten entfernten Osaka arbeiten. Die Siedlung liegt am Fusse des steil aufragenden Rokko-Gebirges und ist in den nach Süden gerichteten Hang mit einem Gefälle von 60 Grad regelrecht eingegraben. Die Lage ist nach Auffassung der japanischen Geomantik ideal: Der Abstand zum Meer ist kurz und der Blick darauf weit, der Rücken des Hauses ist durch den Berg geschützt, und der leichte Hangwind und die dichte Vegetation verschaffen im Sommer Kühlung.

Der Grundriss des Komplexes basiert auf einem regelmässigen und symmetrischen Grundraster, in diesem Falle von 5,4 × 4,8 Metern. In der Mitte liegt die gemeinsam genutzte Erschliessungstreppe. Die unregelmässige Topographie des Berghangs bricht die Strenge des Plans und sorgt für unterschiedliche skulpturale Gestaltung der Wohneinheiten. Man könnte fast meinen, die Betonkuben plätscherten ganz natürlich den Hang hinunter.

Rokko II liegt etwas oberhalb der Bauten der ersten Etappe und wurde zwischen 1989 und 1993 erstellt. Ando vergrösserte den Grundrissraster minim auf 5,2 × 5,2 Meter. Die Anlage besteht aus 50 Einheiten, ist aber viermal so gross wie Rokko I. Auch das Zielpublikum ist ein anderes: Rokko I richtete sich an junge Leute und ist deutlich der Idee des gemeinschaftlichen Wohnens verhaftet - Rokko II hingegen ist eine Frucht der japanischen Bubble Economy der neunziger Jahre. Es ist Luxus pur. Die für japanische Verhältnisse riesigen Wohnungen mit hohen Räumen und Parkettböden haben grosszügige private Terrassen und Gärten; die Bewohner teilen sich Sauna, Fitnessraum mit Blick über den Hafen und einen grossen Swimmingpool. Der Meister des Lichts und des samtenen Betons erfüllte sich mit Rokko II einen langen Traum und kaufte sich das oberste Appartement im 14. Stock gleich selbst. Heute wohnt der ehemalige Profiboxer jedoch hauptsächlich im Zentrum von Osaka und benutzt die Wohnung vor allem am Wochenende und für repräsentative Einladungen.

Rokko III ist wiederum dreimal so gross wie Rokko II. Obwohl die 174 Wohneinheiten schon lange geplant waren, wurde ihr Bau erst durch das Erdbeben von 1995 ermöglicht. Zwei Jahre nach dem schrecklichen Unglück konnten Ando und ein Investor den Besitzer des Landes vom Verkauf überzeugen. Ziel war diesmal aber nicht teurer und luxuriöser Wohnungsbau, sondern schnell realisierbare Wohnungen für Erdbebenopfer.

Die Anlage liegt auf einem Plateau oberhalb von Rokko I und II und besteht aus fünf siebengeschossigen Wohnscheiben, die zusammen - der Hanglinie folgend - ein grosses L formen. Am Fusse der Längsseite liegen noch vier dreigeschossige Atriumhäuser. Insgesamt verfügt Rokko III über 24 000 Quadratmeter Wohnfläche. Dazu kommen wiederum ein Swimmingpool und ein Gymnastikraum, in einem viertelkreisförmigen Gebäude in der Ecke des L placiert.

Zwischen den Wohnscheiben und den Atriumhäusern liegt ein grosszügiger gemeinschaftlich genutzter Garten, der jedoch nicht öffentlich ist. Überhaupt misst Ando den Grünflächen grosse Bedeutung bei: Im Gegensatz zu den vorhergehenden Projekten sind die Wohnungen nicht mit kargen Betontreppen und urbanen Terrassen miteinander verbunden, sondern mit lauschigen Weglein, die durch einen grünen Park führen. Auch alle einsehbaren Dachflächen sind bepflanzt.

Trotz der deutlich höheren Dichte gegenüber seinen Vorgängern hat man in Rokko III nirgends das Gefühl, eingeengt zu sein. Am schönsten sind die Dachwohnungen der fünf Wohnscheiben hoch über dem Park. Ein riesiges Wohnesszimmer unter dem luftigen Tonnendach gibt den weiten Blick über die Bucht von Osaka und Kobe frei - vergessen sind die üblichen, für unsere Begriffe äusserst engen japanischen Wohnverhältnisse. Zu haben waren im vergangenen April noch rund 50 Wohnungen in den hängenden Gärten von Kobe. Ab umgerechnet 650 000 Franken ist der Traum zu erstehen, so viel kostet eine knapp 80 Quadratmeter grosse Dreizimmerwohnung - allerdings im Parterre.

Aber Tadao Ando wäre nicht Tadao Ando, wenn er die vierte Etappe nicht bereits fertig geplant aus der Schublade ziehen könnte: Das gegenüber Rokko III noch viel grösser geplante Rokko IV wird realisiert, sobald die benachbarte Universität Kobe sich entschliesst, ihre Parzelle zu verkaufen, auf der sich derzeit ihr Sportplatz befindet. Dann steht einer weiteren Hangskulptur aus Sichtbeton wohl nicht mehr viel im Weg.

NZZ-Folio, Mo., 2001.10.01



verknüpfte Bauwerke
Rokko I-III

01. August 2001Roderick Hönig
NZZ-Folio

Gestalt gewordene Sozialutopie

Wenn die Wirtschaft nichts mehr mit uns anfangen kann, müssen wir uns anderweitig umschauen

Wenn die Wirtschaft nichts mehr mit uns anfangen kann, müssen wir uns anderweitig umschauen

«Wenn die Wirtschaft nichts mehr mit uns anfangen kann, müssen wir uns anderweitig umschauen.» Auf diesem Grundsatz der Gruppe Kraftwerk 1 aus dem Jahre 1993 basiert ein Bauprojekt im ehemaligen Zürcher Industriequartier. Acht Jahre später haben sich rund 450 Menschen zwölf Tramminuten vom Hauptbahnhof entfernt den Traum vom massgeschneiderten Wohnen (300) und Arbeiten (150) im Trendquartier erfüllt. Der trotzige Slogan stiess bei Erscheinen des Manifests der damals noch kleinen Interessengemeinschaft auf unerwartet grosse Resonanz: Mehrere hundert Personen füllten den Optionsschein im Büchlein aus und legten damit den Grundstein für die Genossenschaft Kraftwerk 1 und für die Realisierung einer Sozialutopie.

Die Baugenossenschaft Kraftwerk 1 setzte sich aber nicht nur zum Ziel, günstige und ökologische Wohn- und Gewerbeflächen zu bauen, sie lancierte auch ein gross angelegtes Wohnexperiment. Was ist daran anders? Es ist auch die Architektur, aber vor allem, was darin steckt: Die rund 110 Wohneinheiten auf über 10 000 Quadratmetern Fläche richten sich nicht an die Standardfamilie, sondern tragen mit ihrer ausserordentlichen Vielfalt an Wohnungsgrössen - zur Auswahl stehen ein bis dreizehn Zimmer - den gesellschaftlichen Veränderungen der letzten 20 Jahre Rechnung. Zum Beispiel, dass Wohnen und Arbeiten nicht mehr zwingend räumlich getrennt sind. Oder dass man miteinander unter einem Dach wohnen, aber trotzdem seine eigenen vier Wände haben will. Deshalb ist es möglich, mehrere Wohnungen zu sogenannten Suitengemeinschaften zusammenzuschliessen.

Ein anderes Modell sind die Riesenwohngemeinschaften: Bis zu 20 Menschen können in einer der fünf übergrossen Wohnungen ihre Lebens- und Arbeitsbereiche miteinander verknüpfen. Zimmer von mindestens 14 Quadratmetern Fläche, grosszügige gemeinsam genutzte Räume und teilweise zwei Küchen pro Haushalt machen Rückzug und Zusammenleben nicht zu einem Müssen, sondern zu einem Dürfen. Dazu gibt es in der Anlage Gästezimmer, Gemeinschaftsraum auf der Dachterrasse, Kindergarten und Hort, Ateliers, Waschsalon, Coiffeur, Blumen- und Früchteladen, Restaurant oder Nähatelier.

Doch an der Hardturmstrasse haben sich nicht ausschliesslich linksalternative und bewusst solidarische Menschen (jeder Bewohner bezahlt einen Solidaritätsbeitrag für Wenigerverdienende, gemeinsam genutzte Räume und Ökomassnahmen) gefunden. Denn schon die Charta aus dem Jahre 1997 klingt - gegenüber den kämpferischen Slogans des Manifests - etwas milder: «Wir können uns vorstellen, ohne Auto auszukommen, Autofreaks aber nicht auszugrenzen», steht dort beispielsweise. Viele Bewohner von Kraftwerk 1 verzichten deshalb auch nicht auf ein Auto, sondern teilen sich mittels Mobility Car Sharing mehrere Wagen, die in der hauseigenen Tiefgarage stehen.

Die Immobilienkrise stand bei der Realisierung des Projekts Pate. In den neunziger Jahren fielen wegen des Überangebots an Büroflächen die Bodenpreise im Industriequartier zusammen, die Bauzinsen und -kosten sanken, und die Immobilienfirmen waren ratlos, wussten nicht, was sie mit den ausrangierten Industriearealen anfangen sollten. Die linke Baugenossenschaft wurde deshalb schnell zu einem ernst zu nehmenden Partner, auch für mächtige Immobilienfirmen.

Konkret wurde es 1998: Nachdem sich schon mehrere Architekten und Investoren die Zähne am Areal ausgebissen hatten, fanden sich die Genossenschaft Kraftwerk 1, Oerlikon-Bührle Immobilien (heute Allreal Generalunternehmung) sowie die beiden Zürcher Architekturbüros Bünzli & Courvoisier und Stücheli Architekten zu einem pragmatischen Team zusammen.

Doch die 7755 Quadratmeter grosse Parzelle war nicht nur industriell, sondern auch planerisch vorbelastet: Wer auf dem Grundstück bauen wollte, musste das nach einem alten städtischen Gestaltungsplan tun. Dieser legt Grösse und Lage der vier Baukörper zwingend fest. Die Folge: Die Architekten konzentrierten sich vor allem auf die innere Organisation.

Das spektakuläre Innenleben des zentralen achtgeschossigen Baukörpers ist von aussen kaum sichtbar. Seine schroffe, mit dunklem Klinker verkleidete Backsteinhaut und der regelmässige Fensterraster lassen nicht auf den komplexen Aufbau schliessen.

Im Inneren kreuzen sich zwei Erschliessungssysteme: In der Vertikalen verbinden vier Treppen- und Lifttürme oben und unten. Im Erdgeschoss, im dritten und im sechsten Obergeschoss verbinden das Haus in der Längsachse - analog Le Corbusiers Unité d'habitation - sogenannte rues intérieurs.

Die Architekten nutzen die Möglichkeiten, die die Schottenbauweise bietet, und schaffen es, zwei- oder mehrgeschossige Maisonnettewohnungen, Durchschusswohnungen (ihr grösster Raum erstreckt sich über die gesamte Gebäudetiefe von 17 Metern), loftartige Einheiten sowie Apartments mit gegeneinander versetzten Geschossen in einem Baukörper unterzubringen. Am schönsten sind die Maisonnettewohnungen: Sie haben gegen den Hof jeweils einen luftigen, überhohen Raum, der die oberen und unteren Räume der Wohnung miteinander verbindet. Der Trick liegt im Schnitt: Dort, wo sich auf der Westseite vier Geschosse erstrecken, sind auf der Ostseite nur drei Geschosse untergebracht.

Dass innovativer Wohnungsbau nicht nur günstig, sondern auch ökologisch sein kann, beweist Kraftwerk 1 ganz nebenbei: Der Gesamtenergieverbrauch der vier Bauten beträgt rund ein Drittel des derzeitigen Durchschnitts der Häuser in der Schweiz und erreicht damit den Minergie-Standard. Die Anlagekosten betragen rund 50 Millionen Franken, die Mieten liegen rund 20 Prozent unter dem derzeitigen Durchschnitt von Neubauten. Eine zweigeschossige 8½-Zimmer-Wohnung mit rund 240 Quadratmetern Wohnfläche kostet beispielsweise 4378 Franken pro Monat inklusive Nebenkosten. Einzurechnen ist noch das Genossenschafts-Anteilscheinkapital: Es beträgt für diese Wohnung 102 000 Franken.

Kraftwerk 1 ist Ausdruck einer anderen Auffassung der Gesellschaft. Das Projekt richtet sich gegen monotone Einfamilienhausquartiere und anonyme Wohnblöcke. Es ist auch eine Reaktion auf den spekulativen Wohnungsbau der achtziger und neunziger Jahre. Ob es bald Kraftwerk 2 oder Kraftwerk 3 geben wird, bleibt abzuwarten. Fest steht, dass in Zürich 450 Menschen eine andere Wohnform gesucht und sie im ehemaligen Industriequartier gefunden haben.

NZZ-Folio, Mi., 2001.08.01



verknüpfte Bauwerke
Wohnüberbauung KraftWerk1

01. Juni 2001Roderick Hönig
NZZ-Folio

Wald im Haus

Bäume spielen oft eine wichtige Rolle im Gestaltungsprozess von Architekten.

Bäume spielen oft eine wichtige Rolle im Gestaltungsprozess von Architekten.

Bäume spielen oft eine wichtige Rolle im Gestaltungsprozess von Architekten. Wenn immer möglich, wird heute der Baumbestand auf einem Grundstück in den Entwurf eines Hauses mit einbezogen. Diese inszenierte Allianz zwischen Baum und Bauwerk sehen Architekten gerne als einen ihrer Beiträge zum Thema Natur und Künstlichkeit. Meister der Inszenierung von künstlicher Natur sind die Japaner. Ihre jahrhundertealte Tradition der Gartengestaltung und die Blumensteckkunst Ikebana zeugen davon, und heute spielt in Japan der Umgang mit der Natur eine wichtige Rolle in der Gestaltung der Umwelt.

Beim Entwurf von elf Wohnungen im noblen Tokioter Wohnquartier Setagaya-ku war denn auch wichtigste Prämisse die Erhaltung der 27 zufällig verteilten Bäume auf dem rund 1000 Quadratmeter grossen Grundstück. Da es keine passende und genügend grosse Baufläche auf der Parzelle gab, die nicht von einem Baum besetzt war, musste der japanische Architekt Shigeru Ban die Luxusapartments um den Baumbestand herum planen. Er entwarf also nicht ein Haus im Wald, sondern holte den Wald ins Haus.

Zweite wichtige Vorgabe waren die beschränkten Mittel, die er zur Verfügung hatte. Zwar kann der international bekannte Baumeister etliche Luxusvillen in seiner eindrucksvollen Werkliste vorzeigen, der 44-Jährige hat sich aber vor allem im Westen auch einen Namen mit innovativen und kostengünstigen Papier- und Kartonkonstruktionen gemacht. Mit seinen «Paper Tube Structures» - mit wasserfestem Papier überzogene Kartonröhrenbauten - hat er die japanische Bautradition auf einzigartige Weise weiterentwickelt. Bans grosse Stunde schlug, als er 1996 zahlreichen Erdbebenopfern in Kobe mit günstigen sowie schnell montierbaren Kartonhäuschen ein erstes Dach über dem Kopf schuf. Auch in Europa hat sein Büro solche faszinierende Papier- und Kartonkonstruktionen realisiert. Man rief Ban auch zu den Opfern des letzten grossen Erdbebens in der Türkei, und er entwarf für Hilfswerke neue Zelttypen für die Flüchtlingsströme aus Rwanda. Und letztes Jahr konnte er für sein Land den vielfach publizierten japanischen Pavillon an der Weltausstellung Expo in Hannover realisieren.

Da die Baupolizei in Tokio wegen der Brandgefahr nur eingeschossige Holz- oder Papierbauten erlaubt, musste sich der Architekt in Setagaya-ku für ein anderes Tragsystem entscheiden. Das tat Ban nicht mit Widerwillen, denn es ist nicht das Material, das ihn in erster Linie interessiert, sondern die Struktur eines Bauwerks. Er wählte dafür einen mit Zementplatten ausgefachten Stahlbau. Die Schwierigkeit lag im Finden eines passenden Grundrissrasters. Denn hätte der Architekt wegen des unregelmässigen Baumbestandes auch ein unregelmässiges und damit aus Sonderanfertigungen bestehendes Stahlgerüst gewählt, hätte das die Kosten erhöht. Nur mit vorgefertigten Standardprofilen liessen sich Zeit und Geld sparen. Doch kein Gerüst aus regelmässigen quadratischen Einheiten wollte so richtig zwischen die Bäume passen. Die Lösung bot schliesslich ein zwar regelmässiger, aber auf gleichseitigen Dreiecken mit vier Metern Seitenlänge basierender Raster. Dieser Grundrissraster erlaubte ein grosszügiges und fast ortsunabhängiges Aushöhlen des Baukörpers mit ovalen Licht- und Baumhöfen.

Um das Wurzelwerk nicht zu beschädigen, setzte der Architekt sein Haus auf Stützen und liess das Erdgeschoss fast unbebaut. Unter dem Haus herrscht eine ungewohnte Stimmung, etwas zwischen Vorgarten und Wald. Von den Blättern der Bäume grünlich gefärbtes Licht fällt durch die sieben mit Glasbausteinen verkleideten Höfe. Das Spiel mit den Begriffen Natur und Künstlichkeit greift: Stahlsäulen und Baumstämme werden zu einem Wald. Darin führen ausgetretene Pfade auf dunklem Holzschnitzelbett zu elf unter dem Haus frei verteilten Glashäuschen. Ihre Wände sind teilweise verspiegelt, was den Wald optisch vergrössert und noch verwirrender macht. In diesen Kristallkuben sind weisse Treppen verpackt. Sie führen in den ersten Stock, wo die Wohnräume beginnen.

Die Wohnungen sind für europäische Verhältnisse eher klein und teuer. Sie sind zwischen 50 und 80 Quadratmeter gross und kosten zwischen 3000 und 4000 US-Dollar pro Monat. Alle Apartments sind zweigeschossig und haben mindestens einen spektakulären Balkon, der ins Grüne ragt. In den Einheiten auf der Nordseite wird man von einem luftigen doppelgeschossigen Wohn-Ess-Zimmer empfangen, eine interne Treppe führt zur Galerie, auf der sich ein bis zwei eher kleine Schlafzimmer befinden. Die Wohnungen auf der Südseite sind geräumiger. Die meisten haben ein grosses Wohn- und Esszimmer im ersten Geschoss und zwei kleine Zimmer darüber. Wie schon bei früheren Projekten macht Ban die innenliegenden Wände zu Möbeln: Er verkleidet sie mit geschosshohen Schrankwänden - Schallschutz gegenüber den Nachbarn ist willkommener Nebeneffekt.

Bans Wohnbau aus dem Jahre 1997 besticht dadurch, dass er leichtfüssig auf komplizierte Baubedingungen geantwortet hat. Unerwartet für Europäer ist der starke Einfluss der europäischen Moderne. Denn Ban hält sich mit seinem Entwurf an fast alle Punkte, mit denen Le Corbusier 1925 seinen neuen Wohnhaustypus definierte. Auch in Setagaya-ku gibt ein Stützenskelett einem weissen Kubus mit Bandfenstern die Form. Zudem steht das Haus auf Säulen, und seine Innenräume gehen ineinander über. Zum Glück erlaubte sich Ban beim Dachgarten eine kleine Interpretation.

NZZ-Folio, Fr., 2001.06.01



verknüpfte Bauwerke
Wohnüberbauung

01. April 2001Roderick Hönig
NZZ-Folio

Von der Wasch- zur Wohnanstalt

Die Geschichte der Waschanstalt Zürich ist eine Geschichte des Wandels. Sie begann mit einer Entdeckung des Zürcher Unternehmers Heinrich Treichler: Auf...

Die Geschichte der Waschanstalt Zürich ist eine Geschichte des Wandels. Sie begann mit einer Entdeckung des Zürcher Unternehmers Heinrich Treichler: Auf...

Die Geschichte der Waschanstalt Zürich ist eine Geschichte des Wandels. Sie begann mit einer Entdeckung des Zürcher Unternehmers Heinrich Treichler: Auf einer Reise nach Paris sah er Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten Waschschiffe in der Seine vor Anker liegen. Treichler brachte die Idee mit nach Zürich und beauftragte keinen geringeren als den berühmten Architekten Gottfried Semper mit der Planung einer solchen schwimmenden Waschküche. Das Treichlersche Waschschiff - ein prächtiges Manifest des Klassizismus - war ein grosser Erfolg. Und schon bald musste der findige Unternehmer auf festen Boden expandieren. Er fand ein Gelände direkt am linken Seeufer in Wollishofen, damals noch ein Vorort von Zürich.

1863 zog Treichler das elegante Waschschiff an Land und baute darum herum Schuppen, Hallen, Trockenräume, eine Filteranlage und eine Heizzentrale. Bis zur Jahrhundertwende wuchs das kleine Waschschiff zur mächtigen Waschanstalt Zürich. Die Hülle des schlichten Backsteinbaus aus dem Jahre 1906 an der Ecke des Areals markiert noch heute das Tor zu Zürich. 1959 fand die letzte wichtige Erweiterung der Anlage statt: Der Zürcher Architekt André Bosshardt entwarf auf der Seeseite einen eleganten modernistischen Stahlskelettbau, der über die gesamte Fassadenlänge mit milchigen Glasbaustein-Streifen überzogenen war.

Als 1997 die Waschanstalt Zürich mit der Firma CWS fusionierte, begann die vorerst letzte Station im Wandel des Areals. Beim Handwechsel fiel das Gelände in die Hände der Gewerbebank Zürich. Diese war sich des Werts des Grundstücks bewusst, denn es bot sich damit die wahrscheinlich letzte Gelegenheit, innerhalb der Stadtgrenze am Zürichsee zu bauen. Direkt am Wasser gelegene Wohnobjekte sind deshalb heiss begehrt - und bieten attraktive Renditeaussichten. 1998 veranstaltete die Bank einen Wettbewerb unter drei Zürcher Architekturbüros. Das Team Angélil/Graham/Pfenninger/Scholl (A/G/P/S), das derzeit auch mit der Planung des Neubaus Midfield Dock des Flughafens Zürich beauftragt ist, gewann die Konkurrenz mit einem Vorschlag der sich zwischen Neubau, Umbau, Renovation und Abbruch bewegt. A/G/P/S übernahmen die Masse der bestehenden Volumen, unterteilten das Areal aber nutzungsmässig in einen viergeschossigen seeseitigen Riegel mit 20 Luxuswohnungen und einem Restaurant sowie einem zweigeschossigen Bereich auf der Strassenseite mit Büros, Läden und Ateliers. Eine schmale Wohnstrasse, in deren Mitte der alte Kamin thront (heute Abluftkanal des Restaurants), zerschneidet die Überbauung in der Längsachse und dient der Erschliessung der Wohnungen und Ateliers.

Augenfällig, ja zeichenhaft sind die kistenartigen Atelierräume, die sich waghalsig über das Erdgeschoss des strassenseitigen Teils zur Fahrbahn hin schieben. Die drei roten «Augen» sind der architektonische Ersatz für das markante Zackendach, das dem Autofahrer bisher signalisierte, dass er in Zürich angekommen war. Am schönsten sind die Wohnungen im ehemaligen Bosshardt-Bau am See. Die Architekten höhlten das über 40-jährige Industriegebäude mit grossem Aufwand aus und passten drei Wohnungstypen ins alte Stahlskelett ein. Sie unterteilten den Neubau in der alten Baustruktur quer in acht Tranchen, die alle mehr oder weniger attraktiven Wohnraum mit Blick auf den See bieten.

In den zweistöckigen Lofts im Erdgeschoss führt jeweils eine luftige Treppe entlang der Wand in den oberen Stock, wo sich ein offenes Schlafzimmer und ein zweites Bad befinden. Türen und abgeschlossene Zimmer gibt es nicht, alle Räume sind offen und fliessen ineinander über. Darüber liegen auf der selben Grundfläche acht weitere, eingeschossige Lofts.

Die spektakulärsten Räume sind auf dem Dach. Im zurückgestuften Attikabau, einem Neubau aus Holz, befinden sich vier Wohnungen mit grosszügigen Terrassen: Auf bis zu 220 Quadratmetern geniesst man hier einen luxuriösen Ausbau und den atemraubenden Blick über den See. Dunkle Gussasphaltplatten und glänzende Chromstahlabdeckungen versprühen industrieromantisches Flair, ein heller, ahornverkleideter Körper versteckt Bad und Waschküche. Der schnörkellose Einbau unterteilt zudem die weite Fläche in einen rückseitigen Schlaf- und einen seeseitigen Wohn- und Essbereich. Beeindruckend ist aber nicht nur das Panorama, auch die Preise sind es: Zwischen 3000 Franken (für einen 80 Quadratmeter grossen Loft) und 11 000 Franken (für den 220 Quadratmeter grossen) kostet das Wohnen in der einstigen Waschanstalt. Dazu kommen noch Nebenkosten wie Strom, Heizung und Wasser. Wer sich das leisten kann? Unter anderem die französische Popsängerin Patricia Kaas.

Die rund 30 Millionen Franken teure Umnutzung ist eine hybride Anlage, wie sie heute an vielen Architekturschulen gelehrt wird: Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Einkaufen unter einem Dach. Mit der innenliegenden Erschliessungstrasse sind viele Probleme, die das Grundstück bietet, gut gelöst: die Belichtung und Erschliessung eines Areals mit zwei grundverschiedenen Seiten. Die Wahl des architektonischen Themas fiel weniger entschieden aus. A/G/P/S spielen zwar mit Alt und Neu - aber nur sehr oberflächlich: Sie degradieren die Zeugen der industriellen Vergangenheit zu Fussnoten.

Von der ehemaligen Waschanstalt ist nicht mehr viel zu sehen, die einstige Funktion der Anlage diente in erster Linie als Verkaufsargument. Die gesamte Baustruktur ist neu, mit Ausnahme der renovierten Hülle des Backsteinbaus aus der Jahrhundertwende, des dekorativen Kamins und des Stahlskelett des seeseitigen Industriebaus. Aufgehen wird die Rechnung aber sicher für den Investor - die Wohnungen waren innert kürzester Zeit vermietet.

NZZ-Folio, So., 2001.04.01



verknüpfte Bauwerke
Waschanstalt - Umgestaltung

01. Februar 2001Roderick Hönig
NZZ-Folio

Meteorit im Häusermeer

Holländische Architekten sind bekannt für ihre unkonventionelle Baukunst.

Holländische Architekten sind bekannt für ihre unkonventionelle Baukunst.

Holländische Architekten sind bekannt für ihre unkonventionelle Baukunst. Doch gibt nicht nur ihre frische Architektursprache zu reden, auch im Städtebau hat Holland die Nase vorn: Die Umnutzung zweier ehemaliger Hafen in zentral gelegene Wohngebiete in Amsterdam und Rotterdam gehört derzeit zu den wohl interessantesten Projekten europäischer Stadtplanung.

Das Beispiel Amsterdam fasziniert durch die ungewöhnliche Strategie und das Tempo seiner Realisierung. Im östlichen Hafengebiet ist dort seit Ende der achtziger Jahre unter der Leitung von holländischen - und auch ausländischen - Architekten und Urbanisten eine komplette neue Stadt entstanden. Auf den ehemaligen Docks Entrepot-West, KNSM Island, Java Island sowie Borneo und Sporenburg, wo früher Frachter aus den ehemaligen Kolonien ihre Ware löschten, wohnen heute mehr als 15 000 Menschen in rund 6000 Häusern und Wohnungen.

Wohnen im alten Hafen von Amsterdam hat mehrere Vorteile: Alle Häuser und Wohnungen liegen nahe des Zentrums - mit dem Schifftaxi sind es nur 15 Minuten bis zum Hauptbahnhof. Zudem herrscht fast nur Anwohnerverkehr, und die meisten Häuser gewähren den Blick aufs heute eher ruhige Hafenbecken, falls sie nicht sogar daran anstossen. Städtebaulich einzigartig ist die noch nicht vollständig abgeschlossene Stadterweiterung auf den Docks Borneo und Sporenburg. Die Planung dafür begann 1993. Die Vorgabe der städtischen Projektgruppe war einfach und klar: In diesem neuen Wohngebiet sollen insgesamt 2150 Wohneinheiten gebaut werden. Das ergibt eine sehr hohe Bebauungsdichte von 100 Häusern pro Hektar. Damit wollte die Projektgruppe die Wirtschaftlichkeit, aber auch das städtische Flair dieses neuen Wohngebiets garantieren.

Man lud drei Planungsbüros zu einem Wettbewerb ein. Die Teams arbeiteten Vorschläge aus, wo und wie diese immense Zahl Häuser bzw. Wohnungen auf den beiden langgezogenen rechteckigen Halbinseln gebaut werden könnte. Überzeugt hat die Juroren die Vision des Architekten Adriaan Geuze, Spiritus rector des Rotterdamer Architektur- und Landschaftsarchitekturbüros West 8. Er schlägt in seinem Masterplan ein weites und flaches Häusermeer vor, in das drei Meteoriten, so nennt er die gewaltigen Wohnbauten, einschlagen.

Heute ist Geuzes Idee belebte und bei den Bewohnern beliebte Realität geworden: Schier endlose Reihen von schmalen, maximal dreigeschossigen Reiheneinfamilienhäusern - sie sind teils nur vier Meter breit und bis zu 15 Meter tief sind - überziehen die beiden über 1000 Meter langen Docks. West 8 erreicht mit der Reihenhausstrategie eine Dichte von rund 70 Wohneinheiten pro Hektar, und dennoch besitzt fast jede Wohneinheit eine eigene Türe zur Strasse. Verglichen mit konventionellen holländischen Reihenhaussiedlungen, stehen auf den ehemaligen Docks rund doppelt so viele Häuser auf gleicher Fläche. Um den strengen Rhythmus und die doch spürbare Dichte aufzulockern - und um die verlangten 100 Wohneinheiten pro Hektar zu erreichen -, stellte der Architekt drei Superblocks mit je 150 bis 214 Wohnungen in seine Häuserlandschaft.

Der zweite der drei geplanten Meteoriten ist nach nur zweijähriger Bauzeit im Dezember vergangenen Jahres fertiggestellt worden. Die von Fenstern durchlöcherte und silbern schimmernde Wohnskulptur des Amsterdamer Architekturbüros de Architekten Cie. ist bis jetzt der schrillste bauliche Akzent in diesem Architekturbiotop. 150 Sozialwohnungen und 64 nicht finanziell geförderte Wohnungen finden im umgerechnet 24 Millionen Franken teuren Bau Platz. Unübersehbar ragt der kantige Wohnbock mit seiner hellen Haut aus Zinkschuppen aus dem dunklen Backstein-Häusermeer und zieht alle Blicke auf sich. Am eindrücklichsten wirkt er, wenn man unverhofft in eine der engen Wohnstrassen einbiegt und sich an deren Ende die gewaltige Mauer aus Fenstern und Metall aufbaut.

Erst beim Näherkommen aber nimmt man die riesigen Dimensionen und die bizarre Form ganz wahr. An den Schmalseiten ist der bis zu zehngeschossige Hofbau jeweils um einige Meter vom Boden aufgestützt - die Dachlinien folgen diesem Knick. Dieser kleine Eingriff in die sonst eigentlich konventionelle Form hat grosse Wirkung auf unsere Wahrnehmung: Aus dem im Grundriss rechteckigen Wohnblock wird sofort eine autonome Skulptur. Auch ist damit klar, wo die Eingänge sind, und zudem fällt viel Licht in den von West 8 gestalteten begrünten Innenhof.

Fährt man mit einem der an den Ecken gelegenen Lifte zu den Wohnungen hinauf, ist die Überraschung komplett: Die innere Fassade hat keinen flächigen Charakter mehr, sondern ist alle zwei Geschosse von langen, tiefen horizontalen Schlitzen aufgeschnitten. Diese mit Lärchenholz ausgefütterten und gelb beleuchteten Einschnitte sind die Laubengänge, die zu den einzelnen Wohnungen führen. Sie erinnern an Blockhüttenelemente und geben damit dem grossmassstäblichen Bau eine gewisse Intimität zurück. Metallverkleidete Feuerleitern sind an der Innenfassade befestigt und verbinden im Brandfall die einzelnen Gänge miteinander.

Die Wohnungen selbst sind brauchbar, aber eher konventionell geschnitten: Es sind schmale Drei- und Vier-Zimmer-Wohnungen, die sich jeweils über die ganze Tiefe des Baus erstrecken. Sie bestehen aus einem breiteren Wohn- und einem schmaleren Servicestreifen mit WC, Bad und Waschküche. Alle Wohnungen besitzen eine grosszügige Loggia gegen Süden. Die staatlich geförderten Wohnungen kosten rund 525 Franken pro Monat für 75 Quadratmeter Wohnfläche beziehungsweise 700 Franken für 95 Quadratmeter.

Am schönsten sind die Dachwohnungen. Hier haben die Architekten mit der Deckengeometrie und -höhe gespielt und teilweise Wohnräume mit grosszügigen Raumhöhen oder elegante Maisonettewohnungen gestaltet. Von dort aus geniessen die Bewohner einen prächtigen Blick über das Häusermeer, manche sogar bis hin zur geschwungenen Glashalle des Hauptbahnhofs, die nachts wie ein Glühwurm leuchtet.

Das Amsterdamer Beispiel zeigt eindrücklich, wie und in welcher Geschwindigkeit heute Städtebau gemeistert werden kann. Noch fehlt dem neuen Stadtteil zwar ein befriedigender Anschluss an den öffentlichen Verkehr. Ist auch dieses Problem noch gelöst, wird der alte Hafen als Wohnquartier noch attraktiver werden.

NZZ-Folio, Do., 2001.02.01



verknüpfte Bauwerke
Stadterweiterung auf den Docks Borneo und Sporenburg

01. Dezember 2000Roderick Hönig
NZZ-Folio

Der versteckte Wohngarten

Herzog & de Meuron gehören zu den Schrittmachern der aktuellen Architekturszene. Mit ihrem 1999 fertiggestellten Umbau eines Londoner Kraftwerks in eines der weltgrössten Museen für moderne Kunst, die Tate Modern, hat sich das Basler Team endgültig einen Platz in der internationalen Liga der Toparchitekten gesichert.

Herzog & de Meuron gehören zu den Schrittmachern der aktuellen Architekturszene. Mit ihrem 1999 fertiggestellten Umbau eines Londoner Kraftwerks in eines der weltgrössten Museen für moderne Kunst, die Tate Modern, hat sich das Basler Team endgültig einen Platz in der internationalen Liga der Toparchitekten gesichert.

Was aber, wenn diese hochgelobten Museumsspezialisten nicht ein verführerisches Kür-, sondern ein pragmatisches Pflichtprogramm zu absolvieren haben? Mit ihrem Ende November eingeweihten Bau, 57 Sozialwohnungen für Familien an der Rue des Suisses in Paris, beweisen Herzog & de Meuron, dass sie das Handwerk nicht verlernt haben: Im 14. Arrondissement - einem relativ zentral gelegenen Wohnquartier südlich der Seine - verzaubern sie einen unwirtlichen städtischen Restraum mit leichter Hand in eine intime und vielschichtige Wohnwelt.

Beginnen wir von vorne. 1996 lädt die Wohnbaugesellschaft der Stadt Paris eine Handvoll Architektenteams zu einem Wettbewerb ein. Gesucht werden Lösungen für ein rund 2730 Quadratmeter grosses Grundstück, dessen grösster Teil zwischen zwei langen Mauern im Hinterhof einer für das Quartier typischen Blockrandbebauung versteckt liegt. Herzog & de Meuron gewinnen die Konkurrenz mit einer ebenso sorgfältig auf die enge Nachbarschaft zugeschnittenen wie dreisten Lösung: Sorgfältig zugeschnitten deshalb, weil alle Baukörper direkt und differenziert auf ihre nächste Umgebung Bezug nehmen. Und dreist, weil das Ensemble eine Ansammlung architektonischer Zitate aus dem eigenen Werk ist.

Für das Wettbewerbsprojekt gruben die beiden Architekten im eigenen Fundus: Die beiden strassenseitigen Lücken des Gevierts füllen sie mit je einem siebengeschossigen Wohnblock, der auf dem Thema ihres viel publizierten Wohn- und Geschäftshauses mit den gusseisernen Faltläden an der Schützenmattstrasse in Basel aus dem Jahre 1993 basiert. Das eigentliche Kernstück des Ensembles, der dreigeschossige Hofbau, hat ein berühmtes Frühwerk als Vorbild: das holzverkleidete Basler Wohnhaus an der Scheidemauer aus dem Jahre 1988.

Den langgezogenen Zwischenraum im Hinterhof unterteilen die Architekten mit zwei Betonhütten, die je eine Zweizimmerwohnung enthalten. Diese Minihäuser lehnen sich formal an das karikaturistische Einfamilienhaus in Leymen bei Basel aus dem Jahre 1997 an. Herzog & de Meuron wären nicht Herzog & de Meuron, würden sie die Gratwanderung zwischen Zitat aus dem eigenen Fundus und Weiterentwicklung einer erprobten Typologie nicht meistern. Das Projekt ist trotz aller Referenz an frühere Bauten ein eigenständiges und vor allem ortsspezifisches Werk.

Die Architekten reagieren auf die zwei grundsätzlich unterschiedlichen Ausgangslagen: Strassenseite und Hof. Die strassenseitigen Mehrfamilienhäuser quetschen sich zwischen die unscheinbaren Nachbarhäuser aus dem 19. Jahrhundert. Um die Enge und die Spannung zwischen den Brandmauern zu betonen, wurde die vollständig verglaste Fassade des grösseren der beiden städtischen Betonskelettbauten mehrmals geknickt. Geschosshohe Faltläden aus Gitterblech hüllen die durchlaufenden Balkone wie ein grosser Vorhang ein. Sie geben dem Haus ein homogenes Fassadenbild und nehmen im Kleinen das Thema Falten wieder auf.

Im grösseren der beiden Lückenfüller befinden sich 33 Wohnungen, die sich - bis auf eine durchgehende Wohnung pro Geschoss - mit einem schmalen Balkon entweder zur Strassen- oder zur Hofseite orientieren. Diese knapp geschnittenen Wohnungen haben zwischen drei und vier Zimmer.

Im kleineren Hofrandbau finden sieben loftartige, rund 76 Quadratmeter grosse Geschosswohnungen Platz, in denen sich ein kleines Schlafzimmer gegen den ruhigeren Innenhof orientiert und ein luftiger Wohn- und Essraum, durch das innenliegende Treppenhaus unterteilt, von der Strasse bis zum Hof erstreckt. Ganz anders präsentiert sich die Situation im Hof des Gevierts. Erst auf den zweiten Blick gibt dieser Ort seine Qualitäten preis: Ruhe, Abgeschiedenheit, mit Efeu überwucherte Backsteinmauern, ein paar vergessene Bäume.

Dieser «Park» ist die Hauptattraktion des Ensembles. Der Grünstreifen ist mit rund 50 Bäumen bepflanzt. Herzog & de Meuron inszenieren den Hinterhof als versteckten Garten und möblieren ihn mit einem langen flachen Wohnblock mit 15 Drei- bis Fünfzimmerwohnungen und mit zwei Mini-Einfamilienhäusern.

Im Riegel sind alle Räume konsequent gegen Süden und den laubenartigen Balkonvorbau geöffnet. Mit den Holzjalousien regulieren die Bewohner den Grad der Öffnung. Wenn alle Läden, die in ihrem lässigen Schwung an die berühmten Pariser Metrostationen von Hector Guimard erinnern, geschlossen sind, wird das Haus vollends zum eleganten Möbelstück in dieser wundersamen Hinterhoflandschaft.

An die Rückseite sind, wie in den englischen Industriearbeitersiedlungen aus der Jahrhundertwende, fünf weitere kleine Betonhäuschen angebaut, worin sich jeweils Bad und Küche der Erdgeschosswohnungen befinden. Diese Anbauten unterteilen den engen Zwischenraum in intime Gartenhöfe. Wie mit den Klappläden an den beiden Lückenbauten übersetzen die Architekten mit dieser Hof-im-Hof-Idee auch hier ihre grosse Geste ins Kleine.

An der Rue des Suisses schafften Herzog & de Meuron also eine differenzierte Wohnwelt, die sich aus wichtigen Wohnhaustypen unserer Zeit zusammensetzt: Blockrand, Riegelbau und Einfamilienhaus. Damit bietet die Überbauung auf engstem Raum ein vielfältiges Wohnungsangebot und mit der geschickten Anordnung der Baukörper sehr unterschiedliche, attraktive Aussenräume, und fast alle Wohnungen haben viel Licht und einen Blick ins Grüne. Und das bei einem Quadratmeterpreis von 51 Francs pro Monat.

Fast könnte man sagen: In Paris schaffen Herzog & de Meuron die Quadratur des Kreises und erzählen nebenbei noch eine kleine Geschichte des urbanen Wohnens.

NZZ-Folio, Fr., 2000.12.01



verknüpfte Bauwerke
Wohnhäuser an der Rue des Suisses

01. Oktober 2000Roderick Hönig
NZZ-Folio

Die Bundesschlange

«Architektur im Volksmund», so könnte ein Buch heissen, das sich über Bauten in Berlin schreiben liesse. Die Berliner Schnauze erfindet immer wieder schnodderige,...

«Architektur im Volksmund», so könnte ein Buch heissen, das sich über Bauten in Berlin schreiben liesse. Die Berliner Schnauze erfindet immer wieder schnodderige,...

«Architektur im Volksmund», so könnte ein Buch heissen, das sich über Bauten in Berlin schreiben liesse. Die Berliner Schnauze erfindet immer wieder schnodderige, manchmal liebevolle, immer aber treffende Ausdrücke für die einheimischen Baumonumente: Der Fernsehturm am Alexanderplatz heisst «Telespargel», der unweit davon gelegene Palast der Republik «Palazzo Protzo», wegen seiner Masslosigkeit. Und gleich gegenüber der «Schwangeren Auster» im Tiergartenpark - einem ehemaligen Kongresszentrum, das seinen Spitznamen der waghalsigen Hängedachkonstruktion verdankt -, steht ein neues Beispiel, nämlich die «Bundesschlange».

Die 500 Meter lange, lässig geschwungene Wohnwand des Berliner Architekten Georg Bumiller ist das markanteste Stück des grössten Wohnbauprojektes in der Innenstadt Berlins. Sie beherbergt 437 der insgesamt 718 Wohnungen, die für Abgeordnete und Mitarbeiter des Bundestages vorgesehen waren. Das neue Quartier grenzt zur einen Seite an den Bundespräsidentensitz Schloss Bellevue und zur anderen ans Westende des von Axel Schultes und Charlotte Frank entworfenen anderthalb Kilometer langen «Bandes des Bundes», des grössten Bauprojekts für Parlament und Regierung in Berlin.

Trotz der zentralen Lage - den neuen Bundestag etwa erreicht man in nur 20 Gehminuten durch den lauschigen Tiergartenpark - scheint das Grundstück abseits zu liegen. Der Ort ist weder Vorstadt noch Zentrum. Seine «Landseite» liegt gegen Süden, gegen die idyllische und grüne Flusslandschaft mit Uferwanderweg; seine spröde «Stadtseite» liegt gegen Norden - hier rattern die Züge fast im Minutentakt über den Viadukt. Bei der Bebauung des schwierigen Grundstücks stellte sich die Frage nach der städtebaulichen Einordnung. Sollen die Rheinländer Bundesbeamten in einer kleinbürgerlichen Vorstadtsiedlung oder in einer Berlin-typischen Blockrandbebauung mit Hof und Hinterhaus wohnen? Die Antwort auf die - allerdings nicht explizit gestellte - Frage hatte ein Architekturwettbewerb im Jahre 1995 zu geben.

Der damals 38-jährige Bumiller stach seine 29 Konkurrenten mit dem Vorschlag für eine städtebauliche Zwitterlösung aus: Peripherie und City zugleich. Er strickte das vielgepriesene Spreebogenkonzept für die neuen Bundesbauten weiter, indem er eine der beiden grossen Alleen in sein Planungsareal hinein verlängerte. Diese Baumreihe teilt das Areal in zwei dreieckige Flächen und ist zum Rückgrat des Ensembles geworden. Auf der südlichen Seite zeichnete Bumiller seine kraftvoll geschwungene Schlange mit einem Kopfbau, auf der Nordseite setzte er um zwei offene Höfe herum vier städtisch wirkende Atriumhäuser. Die Realisierung musste er sich allerdings mit zwei andern Büros teilen: Die Architektur des Kopfgebäudes entwarf Jörg Pampe mit Irene Keil, die Gestalt der Atriumhäuser stammt aus dem Atelier der Architekten Müller Rhode Wandert.

Bumillers städtebauliche «Sowohl-als-auch-Lösung» rief in der Fachwelt heftige Diskussionen hervor. Konfliktpotential birgt Bumillers Überbauung deshalb, weil die derzeit den Wiederaufbau Berlins beherrschende Architektursprache eine traditionalistischere ist: Unter dem Schlagwort «Kritische Rekonstruktion» wird mit streng und behäbig wirkenden Neubauten einem Stadtbild aus der Gründerzeit Leben eingehaucht. Viele Bauten des neuen Berlins orientieren sich deshalb am Modell Blockrandbebauung mit Hof und Hinterhaus. Eine zweite Front bildete sich gegen die tatsächlich einfältige Idee der beiden Wohnbaugesellschaften, ein luxuriöses «Beamtenghetto» zu errichten.

Knapp ein Jahr nach der Fertigstellung hat sich die Aufregung gelegt, die Bundesschlange hat ihren festen Platz in der Metropole eingenommen, die Einwände der Kritiker haben an Gewicht verloren: Im Gegensatz zu den städtischen Atriumhäusern ist die Schlange fast vollständig vermietet, und das nicht nur an Bundesbeamte. Die meisten zogen es nämlich vor - wen wundert's -, nicht in ein Beamtenreservat, sondern in eine bereits gewachsene Nachbarschaft zu ziehen.

Die Schlange mit ihrer im Sonnenlicht sanft golden schimmernden Klinkerfassade empfängt Besucher und Bewohner auf der nördlichen Eingangsseite mit einer arenaartigen Fassadenwand, wohlkomponiert mit liegenden und stehenden Fenstern durchlöchert. Sie fasst drei gartenähnliche Höfe über der Tiefgarage. Hinter den grosszügigen Fensterbändern auf der Flussseite sind konsequent alle Wohnräume gegen Süden und den Tiergartenpark orientiert. So fällt - in den Aussenkurven natürlich mehr, in den Innenkurven leider weniger - den ganzen Tag Sonnenlicht in die Wohnzimmer.

Schade ist, dass die Bauherrschaft die von Bumiller vorgeschlagenen innenliegenden Wintergärten eingespart hat. Die meisten Wohnungen besitzen keinen privaten Aussenraum, sondern teilen sich den grossen öffentlichen Garten, den Tiergarten, der nun über die Spree bis an die Hausmauer heranreicht.

Die Wohnungen - überwiegend Zwei- und Dreizimmerwohnungen - sind zwischen 61 und 78 beziehungsweise zwischen 80 und 91 Quadratmeter gross. Für Berliner Verhältnisse ist die Raumhöhe von knapp 2,6 Meter eher gering. Der Innenausbau mit Parkett im Wohnbereich und einer funktional ausgestatteten Küche ist nicht luxuriös. Die Wohnungen leben denn auch nicht von einem exklusiven Ausbau, sondern vom Blick auf die beiden gegensätzlichen Landschaften. Man kann in der Schlange beim Anblick der über die Wiese hoppelnden Tiergarten-Kaninchen frühstücken und abends mit dem Licht einschlafen, das die S-Bahn an die Zimmerdecke wirft, deren Züge nachts wie Lichterketten durch die städtische Dachlandschaft auf der Nordseite ziehen.

Aber noch ist das Idyll nicht perfekt: Erst im späten Herbst wird der weite öffentliche Park der Zürcher Landschaftsarchitekten Kienast Vogt und Partner fertiggestellt sein. Mit seinen zu ovalen Hainen gruppierten Bäumen erstreckt er sich entlang des Ufers der Spree.

Und noch fehlt auch die kleine Brücke, die das neue Wohnquartier auf der Ostseite mit dem Tiergarten und den Bundesbauten verbinden soll. Auch scheint die andernorts in Berlin so erfolgreiche Umnutzung von Bahnbögen hier nicht voranzukommen. Erst ein Restaurant hat unter dem Viadukt seine Pforten geöffnet. Bis diese Schritte zur Integration des Quartiers in die Stadt getan sind, bleibt die Bundesschlange ein äusserst attraktiver, der Hauptstadt aber auf wundersame Weise entrückter Flecken.

NZZ-Folio, So., 2000.10.01



verknüpfte Bauwerke
„Die Bundesschlange“

19. September 2000Roderick Hönig
Neue Zürcher Zeitung

Am Thema vorbei

Das 3. Architektursymposium Pontresina

Das 3. Architektursymposium Pontresina

In Pontresina fand vom 13. bis zum 15. September zum dritten Mal das internationale Architektursymposium statt. Wie schon in den Vorjahren versammelten sich Stararchitekten und ihre Gäste im Kongresszentrum Rondo: Hans Kollhoff, Jean Nouvel und Toyo Ito waren dieses Jahr mit von der Partie. Auch Massimiliano Fuksas hätte zur illustren Runde gehört, wenn ihm nicht ein «unverrückbarer Termin im Engagement für die Architekturbiennale in Venedig», so die offizielle Mitteilung, einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. Trotz der Absenz des italienischen Biennaledirektors (für den offensichtlich kein ebenbürtiger Ersatz gefunden wurde) hatte man erwartet, dass die angereisten drei Schrittmacher der Gegenwartsarchitektur genügend Diskussionsstoff zum Thema «Global city versus local identity» lieferten. Doch anders als bei den letzten Symposien wollten die durch die einzelnen Vorträge erzeugten Assoziationsflüsse nicht so recht zum grossen Gedankenstrom zusammenfinden - die Architekten gingen zu frei oder gar nicht auf das Thema ein.

Hans Kollhoff beispielsweise sprach über Bilder. Das zweidimensionale bildhafte Sehen löse zunehmend die dreidimensionale körperliche Wahrnehmung ab, stellte er fest. Vermarktungsbilder und spektakuläre Architekturfotos seien heute wichtiger als der Bau selbst. Er fordert deshalb, dass sich die Architektur aus dem Kunstdiskurs ausklinke und wieder dem Nutzer und dem Passanten diene. Während der polemische Auftritt und die traditionalistische Architektur Kollhoffs noch für eine Protestwelle beim Publikum und damit auch für eine Diskussion sorgten, blieb es bei den nüchternen und einfallslosen Werkschauen von Nouvel und Ito eher ruhig im Saal: Nouvel elektrisierte mit der ausgedehnten Präsentation seines Kunst- und Kulturzentrums Luzern höchstens noch Gäste aus dem Ausland, und Ito begann seinen Vortrag tatsächlich mit seinem «Turm der Winde» in Yokohama, ein Projekt aus dem Jahre 1986, das jede Architekturzeitschrift mindestens schon einmal publiziert hat.

Immerhin erfüllte sich teilweise die Hoffnung, durch die Vorträge der von den Stars eingeladenen Koreferenten unerwartete Anstösse zu bekommen: Itos Gäste Yoshiharu Tsukamoto und Momoyo Kaijima fesselten mit ihrer Studie über skurrile Bauten in Tokyo, die unter dem hohen baulichen Druck und den fehlenden Regulativen entstanden sind. Das junge Architektenteam zeigte beispielsweise ein «Betonmischerwohnhaus» oder eine Abwasseraufbereitungsanlage mit Sportplätzen auf dem Dach. Doch auch dieses Referat hatte mit dem eigentlichen Thema der Veranstaltung nichts zu tun, sondern faszinierte vor allem durch den Einblick in eine für die meisten Europäer unverständliche, exotische Welt.

Nach dem dritten internationalen Architektursymposium Pontresina stellt sich deshalb dringend die Frage nach der Struktur: thematisch oder nicht thematisch? Wenn ja, wie bringt man viel beschäftigte Stars dazu, nicht nur von ihren aktuellen Projekten zu erzählen, sondern sich gewissenhaft auf das gestellte Thema vorzubereiten? Vor allem diese Fragen müssen die Organisatoren lösen, wenn sie nicht wollen, dass der «Architekturgipfel» nach dem verheissungsvollen Start zu einem jährlichen Sehen-und-gesehen-Werden in Pontresina verkommen soll.


[Unter www.hochparterre.ch findet man Zusammenfassungen der Vorträge sowie Kommentare.]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2000.09.19

07. April 2000Roderick Hönig
Neue Zürcher Zeitung

Haus des Lichts

Eigentlich hätten im Neubau in Ittigen Arbeitsplätze für den ehemaligen Schweizerischen Bankverein Platz finden sollen. Doch Einsprachen verzögerten den...

Eigentlich hätten im Neubau in Ittigen Arbeitsplätze für den ehemaligen Schweizerischen Bankverein Platz finden sollen. Doch Einsprachen verzögerten den...

Eigentlich hätten im Neubau in Ittigen Arbeitsplätze für den ehemaligen Schweizerischen Bankverein Platz finden sollen. Doch Einsprachen verzögerten den Baubeginn, und während dieser Zeit überdachte die Bank ihren Raumbedarf in Bern und Umgebung neu. Das Geldinstitut kam dabei zum Schluss, dass es für das Gebäude zwischen Bahndamm und Worblentalstrasse gar keinen Bedarf mehr hatte. Trotzdem liess die Pensionskasse des Bankvereins den Bau mit 400 Arbeitsplätzen erstellen und fand im Bund einen interessierten Mieter.

Doch vor Baubeginn musste das auf die Bedürfnisse einer Bank gemünzte Siegerprojekt des Architekturwettbewerbes aus dem Jahre 1991 in einen eidgenössischen Verwaltungsbau mit Büros für die Bundesämter Buwal und Astra verwandelt werden. Im Klartext hiess das: Das Team um die Architekten Nick Gartenmann, Mark Werren und Andreas Jöhri (GWJ) sollte die luftigen Grossraumbüros auf eine dem Bundesraster von 1,25 Metern entsprechende Zellenstruktur zurückstutzen. Doch wie das Haus heute zeigt, ist gute Architektur geduldig. Denn auch mit langen Korridoren anstatt loftartigen Grossraumbüros ist der rechteckige Bau ein Haus des Lichts geblieben: Eine hohe gläserne Eingangshalle, ein schmaler Lichtschlitz und ein offener Innenhof bleiben die Eckpunkte des Entwurfs. Diese drei Lichtkamine lassen Helligkeit ins Innere dringen, akzentuieren einzelne Bereiche im Haus und helfen den Benützern zudem bei der Orientierung.

Man betritt den Bau durch den etwas kleinlichen, als geschlossene Betonkiste ins verglaste Erdgeschoss hineingeschobenen Windfang. Ist man erst einmal in der Eingangshalle, so ist die Überraschung gross, denn von aussen lässt nichts auf den luftigen Innenraum schliessen: Das viergeschossige Atrium ist Herzstück und Drehscheibe des Gebäudes. Es zieht den Blick der Besucher unweigerlich nach oben. Die Aufzüge, die Nasszellen sowie die Putz- und Nebenräume sind seitlich in einem leuchtend roten Baukörper zusammengefasst. Im Erdgeschoss befinden sich Konferenzräume, eine Cafeteria und - etwas tiefer - ein Restaurant. In den oberen Geschossen reihen sich die einzelnen Büros entlang weitläufiger Korridore. Diese Gänge führen bald der inneren Glasfassade, bald langen Tür- und Schrankreihen, bald einem schmalen Lichtschlitz entlang um den grossen Innenhof. Der Rundkurs endet in der offenen Galerie, die um die Halle herumführt. Die Bewegung durch das Haus wird dabei belebt durch wechselnde Blicke auf die Landschaft oder in die anderen Geschosse.

Der Neubau der GWJ Architekten ist aber nicht nur ein sorgfältig geplantes Bürohaus, das seine Flexibilität in der Grundrissanordnung unter Beweis stellt, sondern auch ein städtebauliches Zeichen für die Berner Vorortsgemeinde: In Ittigen befinden sich nun rund 1000 der mehr als 15 000 Arbeitsplätze des Bundes. Dienstleistungsbetriebe und die Bundesverwaltung haben in den vergangenen Jahren die kleineren Industrie- und Gewerbebetriebe entlang der Worblen abgelöst und rücken den Ort damit noch näher zur Hauptstadt.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2000.04.07



verknüpfte Bauwerke
Verwaltungsbau

06. November 1999Roderick Hönig
Neue Zürcher Zeitung

Haus der Architekturen

Das Kornhaus in Bern erzählt eine wechselvolle Baugeschichte. Der ehemalige Kornspeicher wurde 1711 bis 1718 errichtet. 1895 bis 1898 baute der Architekt...

Das Kornhaus in Bern erzählt eine wechselvolle Baugeschichte. Der ehemalige Kornspeicher wurde 1711 bis 1718 errichtet. 1895 bis 1898 baute der Architekt...

Das Kornhaus in Bern erzählt eine wechselvolle Baugeschichte. Der ehemalige Kornspeicher wurde 1711 bis 1718 errichtet. 1895 bis 1898 baute der Architekt Adolf Tièche das gedrungene Haus am heutigen Kornhausplatz in ein stattliches Gewerbemuseum mit einem luftigen zweigeschossigen Ausstellungssaal um. Dafür vergrösserte er die schmalen Lüftungsschlitze an der Fassade in lichte Fenster und ersetzte im ersten und zweiten Obergeschoss die hölzerne Tragkonstruktion durch genietete Eisenstützen mit elegant geschwungenen Fachwerkträgern. Aus Anlass des europäischen Jahres für Heimatschutz und Denkmalpflege haben dann die Architekten Hans Haltmeyer und Ulrich Stucky den Bau 1975 bis 1980 restauriert und die Fassaden wieder in den ursprünglichen Zustand zurückgeführt. Das ist heute schwer zu verstehen, denn aus dem ehemaligen Tageslichtmuseum ist dabei wieder ein dunkler Kunstgewerbespeicher geworden.

Im Jahr 1987 entwickelte die Stadt dann ein neues Konzept für eine Nutzung des geduldigen Baus: Schwerpunkt des neuen Kornhauses sollte das Forum für Medien und Gestaltung werden. Letztes Jahr ist nun dieses kleine Centre Pompidou nach gut einjähriger Bauzeit eröffnet worden. Für den 15 Millionen Franken teuren Umbau waren sam Architekten aus Zürich verantwortlich. Kern des neuen Kornhauses ist der öffentlichen Stadtsaal, den zwei Kuratoren des Forums für Medien und Gestaltung mit vier bis sechs Ausstellungen pro Jahr bespielen. Zwischendurch ist der Raum auch Heimat des Architekturforums Bern. Darum herum gliederten die Architekten die Regionalbibliothek Bern mit ihrer Abteilung für Gestaltung. Unter das Dach des viergeschossigen Baus placierten sie dann noch das Kornhaustheater, die Kammerbühne des benachbarten Stadttheaters. Der Auftrag für das Café im Erdgeschoss hingegen ging an den italienischen Designer Claudio Silvestrin. Er kleidete die Halle unter den Arkaden mit etwas schwerfälligen Glaswänden ein und machte aus dem ursprünglichen Aussenraum ein elegantes sandfarbenes Designer-Café mit urbanem Flair.

Das letzte Umbauvorhaben, das Restaurant im Keller, gestaltete das Zürcher Architektenduo Grego und Smolenicky. Das monumentale Gewölbe des traditionsreichen Restaurantkellers mit seinen geschützten üppigen Fresken von Rudolf Münger liess jedoch keine grosse Geste zu. Die Architekten respektierten wohl oder übel die folkloristische Festlichkeit und setzten ihr schlichte Formen und Materialien gegenüber. Nun ist jeglicher Zeughauskeller-Mief verweht, und es ist ein elegantes Restaurant mit grossen stilvollen Lounges auf der Galerie entstanden. Mit der Wiedereröffnung des renovierten und umgebauten Kornhauskellers am vergangenen Sonntag ist das vorerst letzte der vielen Um- und Rückbaukapitel des Baudenkmals abgeschlossen worden. Bern besitzt mit dem Kornhaus nun nicht nur einen vielfältigen und lebendigen Kulturbau, sondern auch ein ein Haus der unterschiedlichsten Architekturen.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 1999.11.06



verknüpfte Bauwerke
Kornhaus - Umbau

05. November 1999Roderick Hönig
Neue Zürcher Zeitung

Städtebauliche Analyse

Die vier Architekten Jacques Herzog, Pierre de Meuron, Roger Diener und Marcel Meili teilen sich seit Oktober für die nächsten fünf Jahre einen ordentlichen...

Die vier Architekten Jacques Herzog, Pierre de Meuron, Roger Diener und Marcel Meili teilen sich seit Oktober für die nächsten fünf Jahre einen ordentlichen...

Die vier Architekten Jacques Herzog, Pierre de Meuron, Roger Diener und Marcel Meili teilen sich seit Oktober für die nächsten fünf Jahre einen ordentlichen Entwurfslehrstuhl an der Architekturabteilung der ETH Zürich. «Die Schweiz - ein städtebauliches Porträt» heisst ihr Thema für die kommenden drei Jahre. Doch nicht auf dem Hönggerberg in Zürich, sondern in einem grosszügigen Atelier in Basel wollen sich die neuen Architekturprofessoren zusammen mit maximal 20 Studenten pro Semester mit der Schweiz auseinandersetzen. Ziel dieses Lehrexperiments sind nicht individuelle Entwurfsarbeiten, sondern ein Buch mit einer städtebaulichen Analyse der Schweiz. Ausgangslage bildet ein Phänomen, das erst vor wenigen Jahren in die Planungsdiskussion Aufnahme fand: die Globalisierung. Sie stellt an Urbanisten und Architekten neue Fragen - beispielsweise nach der Identität der Schweiz, nach dem Verhältnis von Stadt und Land oder nach der Rolle Zürichs innerhalb der Schweiz. Die Wahl des Standorts des Ateliers soll denn auch gerade als ein Statement der Dekonzentration und Verflechtung gelesen werden.

Der Kurs ist aber mehr als ein Versuch, den Campus in Zürich mit Basel zu vernetzen, er ist auch Ausdruck einer Protesthaltung der Initianten gegenüber der derzeitigen Unterrichtsmethodik an der Architekturabteilung der ETH Zürich. Die vier Professoren stehen dem Betrieb auf dem Hönggerberg skeptisch gegenüber. Sie fürchten die Reibungsverluste an der Architekturabteilung, denn die ETH sei - verglichen mit der Zeit, als die neuernannten Professoren selbst dort studierten - eine träge Institution geworden. Das Angebot sei mittlerweile so gross, dass für Studenten die Gefahr bestehe, sich zu verlieren. Auch gebe es bei der grossen Studentenzahl zuwenig Austauschmöglichkeiten zwischen Studenten und Professoren und der Blick sowohl der angehenden Architekten wie auch der Lehrerschaft beschränke sich zu fest auf den Projektunterricht, erklärte Marcel Meili anlässlich einer Pressekonferenz in Basel. Ihr Ziel sei deshalb, die kleine Studentengruppe in intimer Atmosphäre persönlich zu unterrichten und die Breite des Blickfeldes zu öffnen. Dabei helfen auch zwei externe Fachleute: Der visuelle Gestalter Cornel Windlin aus Zürich betreut den graphischen Teil, der Wirtschafts- und Stadtgeograph Christian Schmid von der Universität Bern vermittelt Recherchetechnik, hilft bei der Informationssuche und bei der Formulierung der erarbeiteten Inhalte.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1999.11.05

05. November 1999Roderick Hönig
Neue Zürcher Zeitung

Hochseilakt im Prättigau

Die Prättigauer Dörfer leiden unter dem Durchgangsverkehr. Mit der «Neuen Prättigauerstrasse» soll sich das ändern. Die 950 Millionen Franken teure Umfahrungsstrasse...

Die Prättigauer Dörfer leiden unter dem Durchgangsverkehr. Mit der «Neuen Prättigauerstrasse» soll sich das ändern. Die 950 Millionen Franken teure Umfahrungsstrasse...

Die Prättigauer Dörfer leiden unter dem Durchgangsverkehr. Mit der «Neuen Prättigauerstrasse» soll sich das ändern. Die 950 Millionen Franken teure Umfahrungsstrasse erstreckt sich von Küblis bis zur Autoverladeanlage des Vereinabahntunnels bei Klosters Selfranga. Bis oberhalb von Serneus verläuft die neue Strasse auf der rechten Talseite der Landquart. Dann wechselt sie in sechzig Meter Höhe auf die linke Talseite und sticht durchs Westportal des 4,2 Kilometer langen Gotschnatunnels. Verbindungsstück ist die 526 Meter lange Sunnibergbrücke, die letztes Jahr fertiggestellt wurde. Am Tunnel wird voraussichtlich noch bis ins Jahr 2007 gebaut, doch um die 600 000 Tonnen Ausbruch abtransportieren zu können, hat man den Bau der 18 Millionen Franken teuren Brücke vorgezogen.

Die Entstehungsgeschichte der Sunnibergbrücke ist so unkonventionell wie der Bau selbst: 1994 vergab das Tiefbauamt Graubünden einen Studienauftrag an drei Ingenieurbüros für die Gestaltung des Brückenschlags über die Landquart. Der emeritierte ETH-Brückenbauprofessor Christian Menn, Berater im Preisgericht des Wettbewerbs, war von den eingereichten Vorschlägen nicht überzeugt. Zu konventionell und zu wenig zeichenhaft. Menn schlug deshalb zusammen mit Andrea Deplazes, dem Architekturberater des Tiefbauamtes, eine filigrane Kabelbrücke auf hohen Stützen vor. Der auf einem Gestaltungskonzept von Menn aus dem Jahre 1989 basierende Entwurf überzeugte die Bauherrschaft. Die Detailprojektierung und die technische Bauleitung übernahm daraufhin das Churer Ingenieurbüro Bänziger, Köppel, Brändli + Partner.

Die gebogene Schrägseilbrücke ist eine Weltneuheit. Denn normalerweise hängt die Fahrbahn einer Kabelbrücke tief unter der Spitze der Pylone an einem steilen, radialen Kabelfächer. Hier liegt sie auf sechzig Meter Höhe im oberen Viertel des Pfeilers auf, und die parallel angeordnete Kabelharfe ist dementsprechend flach. Die ungewöhnliche Kombination von hochgelegener Fahrbahn und flach geführten Kabeln macht den Bau gegenüber einer konventionellen Balkenbrücke oder einer Bogenbrücke feingliedriger und eleganter: Nur eine schmale Fahrbahn zerschneidet das Panorama.

Geschickt sind auch die vier Pylone gesetzt: Die zwei äusseren verschwinden fast im Wald, so dass nur die beiden mittleren Pfeiler ins Auge stechen. Diese sind aber keine wuchtigen Hohlkörperstützen, sondern profilierte Gabeln mit je zwei flachen Zinken. Oben breit und unten schmal, visualisieren sie den Kräftefluss. Doch nicht nur von der Ferne ist die Brücke ein Erlebnis, auch die Überfahrt ist spektakulär: Die parallelen Kabelharfen spannen einen durchlässigen Fahrraum auf. Die Kurve sorgt für Dynamik. Man bekommt das Gefühl, in einem transparenten Kanal zu fahren. Leider hat man begonnen, die schwarzen Seile weiss einzufassen, was den bisher unauffälligen Kabeln eine unnötige Dominanz verleiht.

Bei der Gestaltung von Brücken ist der Bezug zur Landschaft eine wichtige Frage. Die Sunnibergbrücke schafft trotz der Talquerung auf sechzig Meter Höhe den Spagat zwischen Unterordnung und Eigenständigkeit im Gelände. Der Bau ist nicht kleinlich, aber auch nicht gigantisch. Obwohl die Kosten der gebauten Variante die der günstigsten, einer Balkenbrücke, um 14 Prozent überstiegen, ist die Differenz von 2,2 Millionen Franken im Vergleich zu den 506 Millionen Franken betragenden Gesamtkosten für die erste Etappe der Umfahrung eher klein. Dabei ergibt es Sinn, diese Mehrkosten zugunsten der Gestaltung in den markantesten und auch sichtbaren Teil der Umfahrung zu investieren.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1999.11.05



verknüpfte Bauwerke
Schrägkabelbrücke

15. April 1999Roderick Hönig
Neue Zürcher Zeitung

Die Schweiz als labyrinthischer Klangkörper

Der Schweizer Architekt Peter Zumthor zeichnet für den Auftritt der Schweiz an der Weltausstellung im Jahr 2000 in Hannover verantwortlich. Der Baumeister inszeniert keine Leistungsschau im herkömmlichen Sinn, sondern zeigt die Schweiz mit ihren Klängen, Worten und ihrer Gastronomie. Die Besucher erwartet ein Labyrinth aus Holzstapeln, in dem sie sich genüsslich verlieren sollen.

Der Schweizer Architekt Peter Zumthor zeichnet für den Auftritt der Schweiz an der Weltausstellung im Jahr 2000 in Hannover verantwortlich. Der Baumeister inszeniert keine Leistungsschau im herkömmlichen Sinn, sondern zeigt die Schweiz mit ihren Klängen, Worten und ihrer Gastronomie. Die Besucher erwartet ein Labyrinth aus Holzstapeln, in dem sie sich genüsslich verlieren sollen.

Wer je an einer Weltausstellung war, weiss, wie überbordend die Länder und internationalen Organisationen um die Aufmerksamkeit der Besucher buhlen. Leuchtschriften, Multimediaspektakel und Spezialitätenrestaurants werben schrill um die Gunst der von Reizen überfluteten und überforderten Besucher. Der Schweizer Auftritt in Hannover soll nach den Plänen Zumthors anders werden: Nicht augenfällig und laut, sondern dezent und geheimnisvoll will sich die Eidgenossenschaft präsentieren. Zumthors sogenannter «Klangkörper Schweiz» soll eine erholsame Antwort auf die Reiz- und Informationsflut einer Weltausstellung werden: In einem Labyrinth aus gestapelten Lärchenholzbalken sollen Schweizer Klänge, Wörter und Gaumenfreuden die Gäste verführen. Der Architekt will mit seinem Bau in erster Linie die Sinne der Besucher ansprechen. Die reine Informationsvermittlung tritt dabei in den Hintergrund.


Labyrinthisches Holzlager

Auf einer Fläche von rund 50 mal 60 Metern plant Zumthor eine verwinkelte Raumstruktur aus gestapelten Holzwänden. Die Strenge der rechtwinkligen Anordnung bricht er durch einen subtilen Trick: Der Architekt stellt alle Holzwände senkrecht auf eine auf zwei Seiten leicht abfallende schiefe Ebene. Keine Nägel halten die Balken zusammen, alle Hölzer liegen, durch kleine Schifthölzer getrennt, lose aufeinander und werden nur durch Stahlseile zusammengehalten. Nach der Expo sollen sie unversehrt abgebaut und wiederverwertet werden. Etwa 100 dieser knapp neun Meter hohen Balkenstapel bilden das unregelmässige rechtwinklige Gassenmuster. Es entsteht eine exakt ausgewogene Horizontal- Vertikalkomposition, die der Bündner Bauingenieur Jürg Conzett berechnet hat. Über 70 schmale Gänge, 3 nach oben offene Höfen und 8 überdachte Innenräume formen das labyrinthische Holzlager. In die verbleibenden Resträume setzt der Architekt 3 Servicecontainer.

In den dreigeschossigen Holzkörpern aus farbigen Mehrschichtplatten sind Infrastrukturräume wie Küche, Toiletten, Buchladen, Informationsbüro, Administration oder VIP-Lounges untergebracht.


Duftende Gassen und klingende Höfe

Was erlebt der Besucher des «Klangkörpers Schweiz»? Wer eine der 1,80 Meter breiten und 6,30 Meter hohen Gassen betritt und sich ins Innere des Pavillons vortastet, landet dank der ausgeklügelten Wegführung zunächst in einem der drei offenen Innenhöfe. Sie wirken als Drehscheibe und sind ein Ort der Orientierung. Hier stellt sich beispielsweise die Frage: Will man seinem Appetit folgen, der sich wegen des verführerischen Dufts aus einer der drei Häppchenbars bemerkbar macht, und ein Glas Weisswein und eine Walliser Randenwurst geniessen? Oder soll man sich von der geheimnisvollen Musik in einen der fünf Klanghöfe locken lassen? Zumthor will, dass sich die Besucher von ihrer Stimmung leiten lassen und sozusagen sinnlich flanierend den Pavillon entdecken. An die Wände projizierte Schriftzüge und Wörter, die gleichzeitig auch Lichtquelle sind, säumen diese Reise der Sinne durch Schweizer Klänge, Wörter und Gastronomie.

Durch den Fokus auf Literatur, Musik und Gastronomie werden grossen Teile der Schweizer Kultur ausgeblendet. Peter Zumthor, der gleichzeitig auch künstlerischer Leiter ist und somit auch für den Inhalt des Pavillons verantwortlich zeichnet, will nicht mit geschriebenen oder audiovisuellen Beiträgen über die Schweiz informieren. Am Ort nicht vorhandene Wirklichkeit soll nicht mit Bildern nachgestellt werden. Alles, was in Hannover ausgestellt wird, ist echt. Die rund 40 Angestellten, die den Pavillon täglich betreuen werden, sollen im persönlichen Gespräch informieren. Vier kleine Ausstellungskataloge zur Architektur, Musik, Gastronomie und zu den Wortcollagen liefern weiterführende Informationen. Wer noch mehr wissen will, der wird ans Auskunftsbüro verwiesen, wo eine umfassende Dokumentation bereit liegt und der Zugriff aufs Internet möglich ist.

Der Schweizer Auftritt in Hannover ist mutig, unkonventionell und dennoch gefahrlos. Denn der Verführer Zumthor verzichtet zugunsten sinnlicher Erlebnisse in einer hochästhetischen Welt aus Holz auf eine umfassende Informationsvermittlung und Leistungsschau, die ohnehin nie allen Ansprüchen gerecht werden kann.

Neue Zürcher Zeitung, Do., 1999.04.15

06. Februar 1999Roderick Hönig
Neue Zürcher Zeitung

„Steinernes Jona“

Das neue Gemeindehaus der Architekten Truniger und Müller

Das neue Gemeindehaus der Architekten Truniger und Müller

Noch bevor Jona und Rapperswil Fusionsgedanken hegten, schrieb die Aufsteigergemeinde am Obersee einen Wettbewerb für ein neues Gemeindehaus aus. Gewonnen haben die beiden jungen Zürcher Architekten Daniel Truniger und Andreas Müller mit einem strengen Entwurf für ein schnörkelloses Stadtpalais. Das nun fertiggestellte Erstlingswerk der Architekten erzählt nicht nur die Geschichte eines städtischen Hauses an einem unstädtischen Ort, es verrät auch einiges über ein Meister-Schüler-Verhältnis.

Hö. Wer das Zentrum von Jona sucht, sucht vergeblich. Die Gemeinde am Obersee ist ein unförmiger Vorstadtgürtel, der sich um das schöne Rapperswil schnürt und der 1973 nur wegen seines schnellen Wachstums zur Stadt erklärt wurde. Wer mit dem Zug nach Jona fährt, steigt bei einem Bahnhof aus, den man eher als Haltestelle bezeichnen sollte. Auf der einen Seite liegt freies Feld, auf der andern Seite deutet ein Häuserverbund auf so etwas wie einen Ort. Man läuft durch die lose Ansammlung von Bauten, bis einen an der Kreuzung plötzlich doch ein Gefühl von Zentrum überkommt. Denn dort, wo sich das Flüsschen Jona und die verkehrsreiche Hauptstrasse treffen, steht nun ein stattliches Haus aus graugrünem Stein.

Das neue Gemeindehaus zieht unweigerlich die staunenden Blicke der Passanten und Autofahrer auf sich und tut selbstbewusst kund: «Schaut, hier ist die Mitte von Jona!» Dieser unschweizerische Bau ist ein eindrückliches Hôtel de Ville, das einen mit seinen französischen Fenstern an klassizistische Stadtpaläste in Mailand oder Paris erinnert. Die strenge Rasterfassade hüllt das Gebäude rundherum ein, und nur wenige Ausnahmen brechen die Regelmässigkeit der Aussenhaut. Das viergeschossige Haus ist nach klassischer Manier in Sockel, Mittelteil und Dach unterteilt. Es herrscht ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Fenster und Stein, was dem Bau eine elegante Note verleiht. Das karge Einheitskleid unterstreicht aber auch die Autorität, die das Haus ausstrahlt. Schnell wird einem klar: Das Gebäude ist nicht irgendein Haus, sondern das Prunkstück einer selbstbewussten Gemeinde.

Weit herum sichtbar

Die Entscheidung, einen in sich abgeschlossenen, freistehenden Solitärbau an der vielbefahrenen Kreuzung zu errichten, war richtig. Die Architekten haben erkannt, dass eine Stadtreparatur wenn überhaupt, nur durch ein eigenständiges, weit herum sichtbares Zeichen möglich ist. Denn wo keine einheitliche Baustruktur vorhanden ist, können Planer auch keine weiterstricken. Oder anders herum: Wieso soll sich der Architekt mit seinem Bau bei einer unkoordiniert gewachsenen Häuseransammlung anbiedern? So steht das neue Gemeindehaus Jona an der Stelle des alten und kümmert sich um seine direkte Umgebung wenig. Es ist ein kompakter Baukörper, der sich neben Kirche, Schulhaus und Tagungs- bzw. Gemeindeversammlungszentrum gut behauptet. Mit dem Bau des Gemeindehauses entsteht zwar noch keine bauliche Mitte, wie wir sie von mittelalterlichen Stadtkernen her kennen, doch die starke Präsenz des neuen Baus vermittelt ein deutliches Gefühl von Zentrum.

Betritt man den Bau, ist die Überraschung gross: Das Innere des Gemeindehauses ist eine hölzerne Höhle. Vergessen ist die schwere Sandsteinfassade, hier ist alles in warmes Eichentäfer gehüllt. Eine luftige Halle ist der Kern des Baus. Um sie herum reihen sich die aussenliegenden Büros auf. Die Halle ist aber eigentlich keine Halle, sondern vielmehr eine Abfolge von Foyers auf drei Ebenen: Über eine breite Defiliertreppe steigt man vom zweigeschossigen Entrée, über welches das Einwohneramt, die Schulgemeinde und der Polizeiposten zu erreichen sind, ins hohe, wiederum doppelgeschossige Hauptfoyer im ersten Obergeschoss. Darin öffnet ein riesiges, fast rahmenloses, quadratisches Fenster den weiten Blick auf die Landschaft und die Kirche. Von hier aus führt eine weitere, schmalere Treppe zur dritten und letzten Station der Raumabfolge. Der Besucher landet im nunmehr eingeschossigen Vorraum im dritten Stock, wo auf der Nordseite ein breites Panoramafenster einen exakten Ausschnitt aus der Dachlandschaft Jonas sticht. Ständiger Begleiter dieser Promenade architecturale ist der hellgraue Valser Quarzit, der sich als Bodenbelag vom Sockelbereich der Fassade durch das ganze Haus bis unters Dach zieht.

Die strenge Säulenabfolge, welche das Haus von aussen bestimmt, charakterisiert auch die drei grosszügigen und hellen Innenräume. Hinter den breiten, holzummantelten Stützen, die den Innenraum begrenzen, liegen die diskreten Erschliessungsgänge für die Angestellten. Sie verbinden die aussenliegenden Büros miteinander. Im Dachgeschoss sind dann noch das Bauamt, ein grosses Sitzungszimmer und die Cafeteria untergebracht. Diese Etage ist zwar abgetrennt von der Halle, aber nicht weniger öffentlich. Die Büros im vierten Geschoss sind nur über das zweite, rückseitige Treppenhaus oder den Lift erreichbar. Die eindrückliche und schöne Halle wirft aber auch eine kritische Frage auf: Für wen ist dieser luxuriöse Innenraum gedacht? Das Gemeindehaus Jona will zwar ein Haus für Besucher sein, doch eignet sich der Raum weder als Veranstaltungsort, noch kann man sich vorstellen, dass er Treffpunkt der Gemeinde wird. Die meisten Besucher werden ihr Gemeindehaus nur betreten, wenn sie beispielsweise ihren Pass verlängern wollen. Vielleicht hätte man die Cafeteria, die nun in der obersten Etage versteckt und nur für Personal geöffnet ist, in die Halle mit dem grossen Fenster im ersten Stock legen sollen. So gäbe es allenfalls auch einen Anreiz, diesen öffentlichen Innenraum beispielsweise in Verbindung mit einer Ausstellung zu betreten.

Das Meisterstück

Ein pikantes Detail fällt in Jona vielleicht vor allem Fachleuten auf: Das stattliche Gemeindehaus weist deutlich Parallelen zu einer Architektursprache auf, die derzeit den Wiederaufbau Berlins beherrscht: Unter dem Schlagwort «Kritische Rekonstruktion» wird dort mit Neubauten an neuralgischen Punkten einem Stadtbild aus der Gründerzeit Leben eingehaucht. Die unverkennbaren Neubauten im «steinernen Berlin» orientieren sich an der klassizistischen Formensprache der Häuser aus der Jahrhundertwende. Federführend in dieser hitzigen städtebaulichen Diskussion um die Art des Wiederaufbaus Berlins, die auch weit über die Grenzen der deutschen Metropole geführt wird, ist unter anderem der international bekannte Architekt Hans Kollhoff. Der Berliner vertritt seine traditionalistische Architekturauffassung auch seit vielen Jahren als Professor für Entwurf an der Architekturabteilung der ETH Zürich.

Die jungen Architekten Andreas Müller und Daniel Truniger haben während ihrer Ausbildung an der ETH beide bei Hans Kollhoff studiert. Obwohl die beiden Gestalter ungern mit ihrem Lehrer in Verbindung gebracht werden, ist die Ähnlichkeit mit der umstrittenen Formensprache ihres ehemaligen Professors augenfällig. Doch mit ihrem Erstlingswerk ist den ehemaligen Kollhoff- Studenten nun ein sorgfältig detailliertes und konsequent zu Ende gedachtes Meisterstück gelungen, das den eindrücklichen Bauten ihres Lehrers in keiner Weise nachsteht. Daneben macht der stattliche Bau aus Jona zwar noch keine Stadt, doch vermittelt er der gesichtslosen Gemeinde immerhin einen wichtigen Orientierungspunkt und ein deutliches Gefühl von Mitte.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 1999.02.06



verknüpfte Bauwerke
Gemeindehaus

Profil

dipl. Architekt ETH Zürich
CAS-Kulturmanager Universität Bern
seit 2002 Redaktor Architektur Hochparterre, seit 2009 Leiter Edition Hochpaterre

7 | 6 | 5 | 4 | 3 | 2 | 1