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30. Juni 2010Ivo Bösch
hochparterre

Modern trifft auf Klassik

Seit 1877 ist das Haus im Besitz der Familie Trepp, die hier wohnte und anfangs mit Glas, später mit Futter und Lebensmitteln handelte. Roch es einst in...

Seit 1877 ist das Haus im Besitz der Familie Trepp, die hier wohnte und anfangs mit Glas, später mit Futter und Lebensmitteln handelte. Roch es einst in...

Seit 1877 ist das Haus im Besitz der Familie Trepp, die hier wohnte und anfangs mit Glas, später mit Futter und Lebensmitteln handelte. Roch es einst in Thusis nach Kaffee, dann röstete «Trepp & Co.», erzählt Verena Trepp mit Stolz. 2005 konnte sie das Elternhaus übernehmen und wünschte sich eine Renovation mit Lift. Geschickt verschob Pab-lo Horváth den ersten Treppenlauf und platzierte an dessen Stelle den Lift. Damit schafft er es, alle Geschosse und Zwischenpodeste zu verbinden. Den Anbau stockt er mit einem Terrassenzimmer auf. Schon während der Studienzeit um 1930 soll Rudolf Olgiati die ersten Umbauten im Haus gemacht haben, so die Familiensaga. Noch heute zu sehen ist das «Bubenzimmer» im Dachgeschoss und die Umgestaltung der Stube im zweiten Obergeschoss, wo er anstelle einer Wand eine geschwungene Vorhangschiene einbaute. Warum Horváth im umgestalteten Anbau die «klassische Moderne» sieht, kann er nicht genau erklären. Ist es die plastische Gestaltung oder sind es die stehenden Fenster, die sich an der klassizistischen Fassade des Hauptbaus anlehnen?

hochparterre, Mi., 2010.06.30



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18. Januar 2010Ivo Bösch
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Dudlers Holzhaus

Nach der Legende stand das Chalet auf der Landi. Man stellte es danach ins Prättigau, werkelte daran und verkaufte es wieder. Eine Familie verbrachte hier...

Nach der Legende stand das Chalet auf der Landi. Man stellte es danach ins Prättigau, werkelte daran und verkaufte es wieder. Eine Familie verbrachte hier...

Nach der Legende stand das Chalet auf der Landi. Man stellte es danach ins Prättigau, werkelte daran und verkaufte es wieder. Eine Familie verbrachte hier lange die Ferien, bis sie 2003 Max Dudler beauftragte, eine grössere Küche zu planen. Lange suchte er nach dem Passenden. Nun steht neben dem Chalet ein Holzhaus, das erste Dudlers, nur mit einem gläsernen Gang verbunden. Die drei 33 Quadratmeter grossen Geschosse des Elementbaus sind einzig mit einem Lift verbunden, doch sie sind alle von aussen betretbar. Die Treppe ins Obergeschoss ist zwar unter Dach und hinter Fassade, aber nicht hinter Glas. Sie zählt nicht zur Ausnutzung. Mit diesem Trick kann ein Gast das Obergeschoss separat benutzen. Der Architekt entschied sich für das Bild des Strickbaus, für dessen «Abstraktion», sagt Projektleiterin Nicole Gamisch. Die schwarz geölte Fassade ist präzis entworfen und gebaut. Unerwartet dagegen sind die weissen Zimmer mit den hohen Fenstern. Ein seltsames Raumgefühl ergreift den Besucher.

hochparterre, Mo., 2010.01.18



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Genial oder banal?

Das neue Schulhaus Leutschenbach spaltet die Architekturkritiker. Sechs kontroverse Meinungen zum Bau von Christian Kerez.

Das neue Schulhaus Leutschenbach spaltet die Architekturkritiker. Sechs kontroverse Meinungen zum Bau von Christian Kerez.

Es ist das zweitgrösste Schulhaus der Stadt Zürich und von der Kindergärtlerin bis zum Sekschüler gehen hier alle ein und aus. Der Bau dauerte ein Jahr länger als vorgesehen. Die Erscheinung ist für ein Schulhaus so ungewöhnlich, dass sie polarisieren muss. Seit August ist das Schulhaus Leutschenbach nun in Betrieb und Hochparterres Redaktorinnen und Redaktoren besichtigten es mit dem Architekten Christian Kerez.

Die Heiligsprechung des Banalen

Ivo Bösch: Die Jury traute dem Entwurf von Christian Kerez nicht zu, dass er baubar ist. Im Wettbewerb aus dem Jahr 2003 liess sie zwei Projekte überarbeiten. Zwar gefielen damals die Zonen zwischen den Schulzimmern. Doch dieser Bereich war Fluchtweg, also nicht nutzbar. Erst nach der Überarbeitung schlug Kerez die Fluchtbalkone vor. Der Feuerpolizist entwarf also beträchtlich mit. Eine Turnhalle auf dem Dach, eine Doppeltreppe, aneinander gereihte, hohe Schulzimmer und eine stützenfreie Fassade im Erdgeschoss: Mehr steckt nicht im Entwurf. Der Kern des Projekts ist die Konstruktion.

Das Haus steht nur auf sechs Dreifachstützen. Für den Handstand auf dem kleinen Finger scheute der Architekt keine Kosten. Doch bestimmte der Bauingenieur, wo welche Querschnitte welche Lasten tragen. Was Kerez mit dem kompakten Entwurf gewinnt, verliert er mit dieser Konstruktion. Obwohl beim Ausbau gespart wurde und obwohl es die zweitgrösste Schule der Stadt Zürich ist, ist der Bau im Kubikmetervergleich (BKP 1– 9: CHF 1108.–/m3, Stand August 2009) eines der teuersten Schulhäuser. Schon die Jury schrieb nach der ersten Stufe: «Die durch die kompakte Gebäudeform gegebene Ausgangslage für eine günstige Ökonomie wird durch zu erwartende erhöhte konstruktive Aufwendungen gemindert.» Dass diese Aufwendungen so gross werden und der Ausbau so leiden musste, konnte sie nicht voraussehen: Wände aus Industrieglas, in den Schulgeschossen Kunststeinplatten am Boden, sichtbare PE-Abwasserleitungen. Alles wirkt banal, Kerez würde es reduziert nennen. Glück für ihn, dass das Schulhaus in Schwamendingen steht und die Stadt endlich ein Signal für die Quartierentwicklung neben der Kehrichtverbrennungsanlage setzen musste.

Alles schrumpft

Roderick Hönig: 1994 stellte Pipilotti Rist im Kunstmuseum St. Gallen zwei überdimensionale Fernsehsessel neben eine meterhohe Stehlampe. Wer versuchte, die gigantischen, kaum handhabbaren Möbel zu besteigen, lernte physisch seine Lektion in Raumwahrnehmung. Die drei ungewöhnlich hohen Klassenzimmergeschosse erinnern an Rists Installation. Nur ists im Schulhaus Leutschenbach umgekehrt: Die Räume sind überdurchschnittlich hoch — satte 3,6 Meter, das Minimum schreibt 3 Meter vor. Die Überhöhe verleiht weiten Atem und Grosszügigkeit und lässt, wie in Rists Arbeit, Schülerin und Lehrer auf Kindergrösse «schrumpfen ». Die Architektur stellt so die Machtverhältnisse im Schulhaus in Frage, sie demokratisiert Subjekt und Objekt. Kerez sichert mit seinen überhohen Klassenzimmern und Pausenhallen aber auch die Souveränität seines Werks. Die Überhöhe sorgt dafür, dass Möblierung und Raum kaum in ein Verhältnis treten und dass man nicht plötzlich vor lauter Schulmöbel und farbigem Kinderleben Kerez’ «architecture brut» nicht mehr sieht. Elegant ist, dass der eitle Wunsch nach Wahrung der Reinheit der eigenen Architektur nicht auf Kosten der Nutzer geht — im Gegenteil: Die überdurchschnittliche Raumhöhe ist die Attraktion und Qualität des Schulhauses. Der Luxus, bezahlt auf Kosten des Ausbaus.

Die Paulista-Schule

Axel Simon: Wo ist da die Angemessenheit? Und was ist mit den hohen Kosten? Spätere Erweiterungsmöglichkeiten? Es gibt Bauwerke, an denen perlen solche Fragen ab. Radikalität imprägniert sie zum Manifest. In Leutschenbach steht man vor einem solchen, schaut einfach nur, blöd vor Staunen. Hier liegt Zürich nicht in der Schweiz, sondern am Rande São Paulos. Sicher, Kerez’ Konstruktionen sind komplizierter als diejenigen von Artigas, Bo Bardi oder Mendes da Rocha, die hiesigen Anforderungen sind es sowieso. Die räumliche Idee jedoch ist ähnlich: eine weite Landschaft rundum, die sich im Inneren widerspiegelt, sowie ein Raum, der mit zunehmender Schwere des Hauses an Leichtigkeit gewinnt. Die eidgenössische Komplexität der scheinbar einfachen Struktur überspielt der Architekt, indem er sich jede Oberflächengüte versagt. Der sichtbaren Stapelung der Etagen entsprechen der sichtbar gegossene Beton, der sichtbar geschweisste Stahl, das sichtbar gefügte Gussglas. Die Rohheit des Materials und der immense Raum machen aus der Schule eine Werkstatt, einen Ort, an dem man ohne die Bürde des Perfekten schaffen, sich ausbreiten, auf dem Trottinette durchjagen kann. Keine gebeugten Rücken, keine Schulkrüppel! Diese Forderung, die der spätere Bauhausdirektor Hannes Meyer 1926 seinem konstruktivistischen Petersschul-Entwurf beilegte, könnte auch auf den Leutschenbacher Beton gesprüht stehen — als Kunst am Bau versteht sich.

Ein starkes Stück

Werner Huber: Wie ein Equilibrist steht das Schulhaus auf der Wiese am Rand von Leutschenbach, scheint unter Hochspannung zu sein. Es berührt den Boden kaum, die Tragstruktur balanciert die Lasten der aufeinandergetürmten Nutzungen ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Die gleiche Spannung ist im Innern zu spüren, auch wenn die Fachwerkträger nicht immer zu sehen sind und es nicht auf Anhieb klar ist, wie die Statik überhaupt funktioniert. Kräfte werden über Umwege spazieren geführt, bevor sie den Boden erreichen. Es wäre einfacher gegangen. Ein paar Stützen hier und da diskret platziert — wer würde den Unterschied schon sehen? Kaum jemand, doch spüren würde man ihn bestimmt.

Der Architekt ist seinen Weg konsequent gegangen und hat alles seinem Konzept untergeordnet. Das ist seine grosse Leistung. Die Betonoberflächen sind nicht perfekt, der Ausbau ist karg, konstruktive Ausnahmen gibt es zuhauf. An irgendeinem anderen Bau würde man das beklagen, hier ist das sekundär. Kerez hat die richtigen Prioritäten gesetzt. Nur im Erdgeschoss musste das Konzept vor der Nutzung zurücktreten — und prompt ist
es daneben geraten: Nie und nimmer dürfte es verglast sein.

Republikanisch geschärft

Benedikt Loderer: Zwei Gründe, warum ich das Schulhaus Leutschenbach gut finde: Es ist republikanisch und es ist geschärft. In Schwamendingen leben viele jener Leute, denen man eine bildungsferne Herkunft nachsagt und die ihre Kinder nicht vor allem zum Lernen anstacheln. Für sie baute die Stadt Zürich ein republikanisches Schulhaus. Es ist ein Versprechen. Nie, sagt die Stadt, werden wir vom Prinzip der allgemeinen und obligatorischen Volksschule abweichen. Wir wollen weder Kloster-, noch Koran- oder Eliteschulen. Vor der Schule ist jedes Kind gleich und wir geben keines auf. Wir bilden sie zu Zürchern. Wir bauen Integrationsschulen. Dort, wo die Kinder am schwierigsten sind, machen wir nicht weniger, sondern mehr. Wir sparen nicht an den Bedürftigen. Gut genug gibt es nicht, wo es ein Mehr braucht. Das Schulhaus repräsentiert den Bildungsanspruch der Stadt. Dieses republikanische Schul- und Selbstverständnis strahlt das neue Schulhaus aus. Das Konzept ist einfach: Kerez stapelt. Er setzt die Nutzungen nicht neben-, sondern schichtet sie übereinander. Den Rest des Grundstücks lässt er frei. Das Konzept überzeugte im Wettbewerb, doch dann begann die Arbeit. Es nahm die Hürden der Feuerpolizei, bewältigte das gerade geltende pädagogische Programm, überwand die Schwierigkeiten seiner eigenen Statik, besiegte den Kostendruck, kurz, es wurde verwirklicht.

Selbstverständlich sieht es heute anders aus als im Wettbewerb — aber nicht verwässert, sondern geschärft. Kerez ist einer der wenigen Architekten, die Konzessionen machen können, ohne Schaden an ihrem architektonischen Konzept zu nehmen. Er ist nicht stur, er ist nur konsequent. Er weiss: Wer alles verteidigt, verteidigt nichts. Und er weiss, was er aufgeben kann, um das zu behalten, was er unbedingt haben will. Selektives Wichtignehmen heisst diese Schärfungskunst. Kerez ist ein Meister darin.

Die Konsequenzen der Konsequenz

Rahel Marti: Christian Kerez will konsequente Architektur schaffen. Er kämpft für die Reinheit der einen, einfachen Idee. Offenbar gelang es ihm, die Beteiligten für diese heroische Haltung zu gewinnen. Kerez stapelt, der Park soll frei bleiben. Er baut Glaswände, dazwischen soll Raum zum Lernen entstehen. Er will ein klares und rohes Schulhaus, in dem sich Schülerinnen und Lehrer entfalten. Paradoxerweise braucht es dafür ein komplexes Tragwerk und Bauarbeiten, die ein Jahr länger dauerten als geplant. Was aussieht wie eine strukturalistische Höchstleistung, ist eine Reihung von Ausnahmen und Kompromissen. Um etwa den Park ins Haus fliessen zu lassen — und dies bildlich, denn in der Tat gibt es ja eine Glasfassade —, ist das Gebäude an einer komplexen Fachwerkkonstruktion aufgehängt. Um die Reinheit dieser statischen Idee zu belassen, nimmt der Architekt verschiedenste Fachwerkdimensionen und damit verschiedenste Deckenfelder in Kauf, was zu zahllosen konstruktiven Anpassungen führt. Um den freien Grundriss in den Treppenhallen zu ermöglichen, sind breite, umlaufende Fluchtbalkone nötig. Damit hier keine Kinder herumrennen, werden sich Lehrerinnen und Lehrer Regeln ausdenken müssen. Um die Transluzenz des Industrieglases nicht zu stören, sind an den Wänden der Schulzimmer und der Turngarderoben nicht metallene Kleiderhaken montiert, sondern kleine, ab - bruchgefährdete Plastikhaken aufgeklebt. Die Konsequenz reicht soweit, dass Kerez auch Massnahmen durchsetzt, die mit pädagogischen Zielen nichts mehr zu tun haben. Etwa, dass keine Leuchten, dass nichts von den hohen Decken hängen darf, was aufwändige Betoneinlegearbeiten erforderte. Man wird sehen, denn nun muss sich das aussergewöhnliche Schulhaus bewähren. Sonst war die reine Idee architektonischer Selbstzweck und der Preis dafür hoch.

hochparterre, Mo., 2009.10.12



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08. September 2009Ivo Bösch
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An der Ikone weiterbauen

Luigi Snozzi wollte es noch einmal wissen. Jeder andere vernünftige Architekt hätte den Auftrag abgelehnt. Wie bitte soll man diese Primarschule erweitern?...

Luigi Snozzi wollte es noch einmal wissen. Jeder andere vernünftige Architekt hätte den Auftrag abgelehnt. Wie bitte soll man diese Primarschule erweitern?...

Luigi Snozzi wollte es noch einmal wissen. Jeder andere vernünftige Architekt hätte den Auftrag abgelehnt. Wie bitte soll man diese Primarschule erweitern? Snozzi hatte sie 1993 in das ehemalige Augustinerinnenkloster von Monte Carasso eingebaut. In jedem Architekturgrundkurs zeigen Lehrer dieses stimmige Ensemble als Beispiel für den Umgang mit dem Bestand. Tausende von Architekten haben diese Schule besucht und in den Räumen findet jeden Sommer ein internationales Entwurfsseminar statt. Nicht genug: Für die zwei neuen Schulzimmer wählte sich Snozzi den schwierigsten Bauplatz des Geländes aus, in der Ecke, direkt an der Kirche, dort, wo auch Archäologen gegraben haben.

Der 77-jährige Snozzi entwirft radikal und einfach: Er stellt den Anbau auf zwei Scheiben und berührt so im Erdgeschoss den Boden der Ausgrabungen möglichst wenig. Eine kleine Treppe führt von einem der zwei Schulzimmer direkt hinaus. Doch der eigentliche Zugang führt von der bestehenden Schule ins zweite Obergeschoss des Anbaus. Mit einer Garderobe löst Snozzi nebenbei das Problem mit einer im Weg stehenden Seitenkapelle der Kirche. Der Eingangsraum ist schmaler als der Rest des Anbaus und verbindet wie eine Seufzerbrücke Bestehendes und Neues. Doch vom Platz sieht der Besucher nur eine Betonscheibe, die auch die Zugangsgalerie der neuen Schulräume verdeckt. Darin steckt der Clou des Entwurfs: Snozzi kopiert seinen früheren Schnitt. Die fünf bestehenden Schulzimmer sind zweigeschossig, mit einem halben Tonnendach gedeckt und mit einer Spielgalerie verbunden. Er versetzt diesen Schnitt um ein Geschoss nach unten. Das heisst, der Hauptgang der bestehenden Schule setzt sich im zweiten Obergeschoss des Anbaus fort. Statt dass die Schüler vom Schulzimmer zur Galerie hochgehen, steigen sie von der Galerie ins Schulzimmer hinunter. So einfach kann ein Entwurf sein. Selbstverständlich sind die Schulräume gegen den Platz verglast. Die Oberlichter sind hinter der höher gezogenen Betonscheibe versteckt. Die Schule in Monte Carasso ist damit definitiv zum Lehrbeispiel für den Umgang mit Bestehendem geworden. Snozzi baut wie gewohnt für den Ort.

hochparterre, Di., 2009.09.08



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06. April 2009Ivo Bösch
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Brückenschlag zwischen Statik und Ästhetik

Jürg Conzett zum Auswahlverfahren an Wettbewerben: «Den Bauingenieur über das Honorar zu wählen, macht die Brücken nicht besser.»

Jürg Conzett zum Auswahlverfahren an Wettbewerben: «Den Bauingenieur über das Honorar zu wählen, macht die Brücken nicht besser.»

Gehts dem Brückenwettbewerb in der Schweiz schlecht?
Erfreulicherweise sind heute Brückenwettbewerbe wieder ein Thema. Noch in den Achtzigerjahren gab es sie kaum. In Graubünden war die Tardisbrücke in Landquart 2001 nach etwa zwanzig Jahren der erste Wettbewerb für eine Strassenbrücke im Kanton. Dem vorausgegangen war ein Dialog, in dem ein paar Kollegen und ich das Tiefbauamt aufgefordert hatten, wieder Brückenwettbewerbe auszuschreiben. Man ist darauf eingestiegen und kam zum Schluss, dass das Verfahren gut war. Es folgten im Kanton Graubünden viele Brückenwettbewerbe.

Weshalb haben Sie eine Tagung zum Brückenwettbewerb veranstaltet?
Die verschärften Konkurrenzvorschriften des Gatt / WTO bedrohen den Ingenieurberuf. Denn sie haben vor allem zu Honorarkonkurrenzen geführt. Den Bauingenieur über das Honorar zu wählen, ist zwar üblich, aber die Brücken werden so nicht besser. Denn die Büros schrumpfen ihre Arbeit auf ein Minimum ein und Engagement wird bestraft. So entsteht keine Qualität, sondern die billige Standardisierung wird gefördert. Eine solche Entwicklung widerspricht unseren Interessen, denn wir nennen uns «Gesellschaft für Ingenieurbaukunst». Auch wenn der Brückenwettbewerb immer noch ein neues Verfahren ist, können wir heute dank der kleinen Renaissance des Wettbewerbs auf die letzten Jahre kritisch zurückschauen.

Modell für die Beurteilung

Was muss sich im Ingenieurwettbewerb verbessern?
Über den Einzelfall hinaus hätte ich gerne ein paar allgemeine Konventionen. Die Verfahren sind zwar in den SIA-Ordnungen gut geregelt. Doch wir sollten von den Architekten lernen: Ich wünsche mir beispielsweise, dass alle Projekte auch anhand vom Modellen beurteilt werden.

Das wird nicht gemacht?
Nein, Modelle lässt der Veranstalter erst von den Projekten in der engeren Wahl bauen. Bei der Taminabrücke hatten wir eine schöne Brücke eingereicht. In der Beurteilung hiess es, der Bogen sei zu dick. Wir hatten im Büro natürlich ein Modell gebaut, das wir nicht abgeben durften. Der Bogen war profiliert und nach meiner Beurteilung sah das Modell nicht schlecht aus. Eine erste Wahl akzeptiere ich, aber dann will ich in dieser Stufe keine ästhetische Kritik über Proportionen hören.

Was machen die Bauingenieure sonst noch falsch?
Wir sollten mehr an die Nachwuchsbüros denken. Sie erhalten zu wenige Chancen. Und wir vergessen häufig, dass ein Wettbewerb auch Öffentlichkeitsarbeit ist. Es geht nicht nur darum, einen Sieger zu finden, sondern auch, weitere rangierte und nicht rangierte Projekte zu zeigen. Diese Diskussion sollten wir nicht nur unter Fachleuten führen, sondern auch öffentlich. Das wäre die beste Art, die oft introvertierte Arbeit des Ingenieurs bekannt zu machen.

Jurierungen überdenken

Könnte man auch anders jurieren?
Wir sollten uns bei den Jurierungen fragen, ob man ein bestimmtes Konzept und die entsprechenden Projekte prämiert, die einander ähneln, oder ob man von verschiedenen Konzepten jeweils das am besten ausgearbeitete Projekt belohnt. Die erste Haltung fördert eine präzise Art des Denkens und schafft eine Entwurfskultur, während die zweite nach aussen eher unentschieden wirkt. Man könnte sich vielleicht auch einmal in der Erarbeitung des Programms für den geeignetsten Brückentyp entscheiden und dann einen Wettbewerb mit vorgegebenem Typ durchführen. Dies würde die Entwurfsenergie bündeln und zudem auch die Wettbewerbsveranstalter und die Jurys mehr in die Verantwortung nehmen.

Ist der offene Wettbewerb das Heilmittel?
Im Gegensatz zu den Architekturwettbewerben wird der Veranstalter bei einem Brückenwettbewerb nicht überschwemmt. Bei einem offenen Ingenieurwettbewerb werden zehn bis vierzig Projekte abgegeben, was problemlos zu bewältigen ist. Ich begrüsse den offenen Wettbewerb. Selbstverständlich gibt es auch andere Verfahren, die je nach Fall ebenso ihre Berechtigung haben. Mit Wettbewerb im Brückenbau meine ich den Projektwettbewerb, den Studienauftrag, den Gesamtleistungswettbewerb und zum Beispiel auch den Miniwettbewerb, den Michel Donzel während seiner Amtszeit im Bundesamt für Strassen immer wieder veranstaltete.

Die Tradition des Ankaufs gibt es bei den Ingenieuren nicht. Halten sie sich zu brav an die Bedingungen?
Meine Meinung ist: Es sollte unnötig sein, dass man sich nicht an Bedingungen hält. Es gehört zur Ingenieurarbeit, mit Vorgaben umzugehen. Häufig gibt es bei Strassen- und Bahnbrücken harte Bedingungen. Ich kann die Lage einer Brücke nicht verschieben. Es ist auf jeden Fall gut, klar zu sagen, was geht und was nicht. Je präziser die Bedingungen im Wettbewerbsprogramm formuliert sind, desto besser versteht man die Aufgabe und desto besser das Resultat. Interessant ist, dass auch unter stark einschränkenden Bedingungen immer ein Gestaltungsspielraum besteht.

Die Tradition

Warum ist das Kostenargument so wichtig bei Ingenieurwettbewerben?
Es hat mit der Geschichte des Ingenieurberufs zu tun. Die Tradition reicht bis zur 1747 in Frankreich gegründeten École Nationale des Ponts et Chaussées zurück, zur ersten Ingenieurschule. Man wollte damals alle Strassenbauer zentral ausbilden, damit sie die ökonomischen Interessen des Staates wahrnehmen. Der Strassen- und Brückenbau war vorher in den Händen von Zünften gewesen. Ein Grund für den Beruf des Ingenieurs war: Wir wollen Leute, die präzis voraussagen können, was etwas kostet und leistet. Das war ein Bedürfnis der Gesellschaft vom 18. Jahrhundert an bis heute.

Und der Wettbewerb soll denjenigen belohnen, der am günstigsten ist?
Ein schönes Beispiel ist die 1930 fertiggestellte Salginatobelbrücke von Robert Maillart, die bekanntlich im Wettbewerb die billigste war. Ich wage zu behaupten, dass es damals keine Rolle spielte, ob sie auch die schönste war. Die ganze Eisenbetonbauweise konnte sich durchsetzen, weil sie eben billiger war als Stahl oder Stein. Die Kosten waren ein kräftiges Argument, um das Neue zu fördern.

Maillart war deshalb erfolgreich. Die Auseinandersetzung mit der Wirtschaftlichkeit ist Teil des Ingenieurberufs. Doch heute muss man das im Umgang mit dem baulichen Erbe in Frage stellen. Bei einer Instandsetzung immer die billigste Lösung zu nehmen, ist sicher falsch. Doch nicht nur in der Denkmalpflege müssen diese Fragen neu formuliert werden. Aber es ist schon so: Bei einer grösseren Brücke gehts sofort um viel Geld, meist um zweistellige Millionenzahlen.

Dürfte eine schöne Brücke auch mehr kosten als unbedingt nötig?
Dass man überhaupt wagt, diese Frage zu stellen, und nicht davon ausgeht, dass die wirtschaftliche Lösung auch die richtige ist – das wünsche ich mir.

Das Ansehen des Ingenieurs heben

Im Februar fand zum ersten Mal eine Diskussion zum Thema «Wege zur Ingenieurbaukunst — der Brückenwettbewerb» statt. Veranstaltet hatte sie die Gesellschaft für Ingenieurbaukunst zusammen mit der Stiftung Forschung Planungswettbewerbe.
Jürg Conzett provozierte im Einführungsreferat mit Forderungen zum Brückenwettbewerb, während Michel Donzel, Bereichsleiter Kunstbauten beim Bundesamt für Strassen, den «Miniwettbewerb» propagierte, ein selektives Verfahren für Bausummen unter fünf Millionen Franken. Donzel kam zum Schluss, dass die Öffentlichkeit bereit sei, für Ästhetik mehr zu zahlen. Der ETH-Professor für Baustatik, Thomas Vogel, und der Bauingen-ieur Massimo Lanffranchi berichteten von ihren Erfahrungen mit dem Ingenieurwettbewerb. Jürg Conzett ist Teilhaber des Büros Conzett, Bronzini, Gartmann in Chur. Er ist seit zwei Jahren Präsident der Gesellschaft für Ingenieurbaukunst. Ziel der 270 Mitglieder ist, das Ansehen des Ingenieurs in der Schweiz zu heben. Konkret hat die Gruppe Bücher herausgegeben wie «Robert Maillart — Beton-virtuose» oder «Christian Menn — Brückenbauer».

Kommentar: Austausch tut not

Als Architekt staunt man. Die Ingenieure halten sich an die gleichen SIA-Normen. Und doch herrscht eine andere Wettbewerbskultur. Die Verfahren sind teilweise völlig anders. Wer sich nicht an die Bedingungen hält, der fliegt aus dem Verfahren. Der Ankauf ist unbekannt, also kann der bewusste Verstoss gegen das Wettbewerbsprogramm nicht belohnt werden.

Modelle lassen die Veranstalter selbst bauen, aber nur von den Projekten in der engeren Wahl. Das verbreitete Punktesystem eignet sich kaum für eine faire Gesamtbeurteilung. Selbst Statikprofessoren fordern, die Ingenieurwettbewerbe «architektenmässiger» zu gestalten. Doch staunt der Architekt auch, wie offen die Bauingenieure über die Verfahren reden. Fairness ist oberstes Ziel. Und da wird sogar über die Juryzusammensetzung diskutiert — eine heilige Kuh bei den Architekten. Kurz: Architekten und Bauingenieure können voneinander lernen. Das wäre ein Thema für eine nächste Tagung.

hochparterre, Mo., 2009.04.06



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25. Februar 2009Ivo Bösch
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Vereinigte Bündner Stile

Pablo Horváth ist in St. Moritz aufgewachsen. Dem analogen Architekten liegt der Kanton Graubünden am Herzen. Mit seiner Wohnüberbauung Chalavus knüpft...

Pablo Horváth ist in St. Moritz aufgewachsen. Dem analogen Architekten liegt der Kanton Graubünden am Herzen. Mit seiner Wohnüberbauung Chalavus knüpft...

Pablo Horváth ist in St. Moritz aufgewachsen. Dem analogen Architekten liegt der Kanton Graubünden am Herzen. Mit seiner Wohnüberbauung Chalavus knüpft er an eine regionale Architektur an. Zwar ist ein Bündner Stil nicht genauer definiert, aber wenigstens nennt Horváth seine Quellen: den St. Moritzer Architekten Nikolaus Hartmann, die um die Jahrhundertwende errichteten Grand Hotels La Margna und Suvretta House, den modernen Davoser Architekten Rudolf Gaberel und die traditionellen Engadiner Häuser. Hartmann be­nutzte Tuffstein, Horváth kleidet das Sockelgeschoss seines Neubaus in Travertin. Der grobkörnige Fassadenputz soll an die Besenwurfputze der Bündner Heimatstil-Häuser erinnern und die Hoffassade aus Lärchenschindeln ist auch bei Gabarel zu sehen. Schliesslich sind die grossen Panoramafenster eine Interpretation des «balcun tort» (Erker) des Engadiner Hauses. Kurz: Der Neubau transportiert Elemente des traditionellen Bauens in die heutige Zeit.

Inmitten von St. Moritz-Bad hat Pablo Horváth eine grosse Lücke geschlossen. Im Erdgeschoss sollen Läden und eine Cafeteria die Verkehrsachse beleben. Da in St. Moritz Wohnungen schwer zu finden sind, besonders auch für ältere Einheimische, hat sich die Gemeinde am Bau beteiligt. Im Zwischentrakt stehen 26 Seniorenwohnungen mit einer Spitexstation fürs «Wohnen ab 55» zur Verfügung. Damit sich das Ganze rechnet, hat der Bauherr in den Seitenflügeln zwan­zig Zweitwohnungen verkauft. Immerhin drei davon gingen an Einheimische.

Ist ein Haus mit zwei ganz verschiedenen materialisierten Fassaden nicht gegen jede Regel der Architektur? Horváth erklärt den Entscheid aus der Situation: Vorne ist die lebendige Geschäftsstrasse, auf der Rückseite der ruhige, sonnige und alpine Hof. «Wir haben den beiden unterschiedlichen städtischen und landschaftlichen Gesichtern von St. Moritz-Bad mit der städtebaulichen Setzung Rechnung getragen.» Er wolle den weitverbreiteten Schematismus brechen. Entstanden ist ein dichter und eigenwilliger Bau, der spielerisch, aber nicht willkürlich entworfen ist. Chalavus ist eine gelungene Alternative zum verpönten Chaletbau oder zum ambitionierten Foster-Ufo.

hochparterre, Mi., 2009.02.25



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16. Januar 2009Ivo Bösch
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Zürichs Kunstpalazzo

Das Resultat vieler Vorgaben und Bedingungen: Stein setzt sich durch gegen Glas. Und das alte Kunsthaus muss kuschen.

Das Resultat vieler Vorgaben und Bedingungen: Stein setzt sich durch gegen Glas. Und das alte Kunsthaus muss kuschen.

Viel Spielraum blieb den Architekten nicht. Die Planungsämter hatten zur Vorbereitung des Wettbewerbs ganze Arbeit geleistet. Als Bauplatz hatten sie ein Quadrat gegenüber dem Kunsthaus, auf der andern Seite des Heimplatzes, auserkoren. Für die Turnhallen, die abgerissen werden sollen, setzt sich nur noch der Heimatschutz ein. Die interessante Aufgabe aber, am Konglomerat des Kunsthauses weiterzubauen, war im Wettbewerb von vornherein ausgeschlossen.
Von Karl Moser 1910 erbaut und 1925 erweitert, von den Gebrüdern Pfister 1958 und von Müller & Blumer 1976 erweitert, beschäftigte das Kunsthaus von 1997 bis 2005 auch noch Sam Architekten (Schnebli Manz) mit der Gesamtsanierung. Der Jurybericht fasst diesen Sachzwang positiv zusammen: «Damit wurde die Basis geschaffen für die nun zu planende Erweiterung.»

Mehr als einen Anbau wünscht sich Kunsthausdirektor Christoph Becker. Der Neubau soll zusammen mit dem sanierten Kunsthaus das Neue Kunsthaus formen, so die Worte Beckers. Den Widerspruch, aus zwei getrennten Gebäuden eins zu machen, hatten die Architekten aufzulösen.

Heimplatz muß warten

Einzig ein unterirdischer Gang wird den 150 Millionen Franken teuren Neubau mit dem Mutterhaus verbinden, auch das war eine Vorgabe des Wettbewerbs. Doch der Heimplatz selbst war nicht Gegenstand des Wettbewerbs. Seine Neugestaltung schreibt die Stadt — wenn überhaupt — später aus.
Sonst aber arbeiteten die städtischen Ämter emsig. Sie organisierten 2006 einen Workshop, an dem drei Architektenteams teilnehmen durften. Aus dem Bericht «Vorabklärungen zum Projektwettbewerb» flossen weitere Bedingungen ins Wettbewerbsprogramm ein. Selbst ein Energiekonzept stand den Architekten während des Wettbewerbs zur Verfügung. Es kam zum Schluss, dass der Bedarf nach Kälte dreimal höher sein wird als nach Wärme und dass eine grosse thermische Trägheit notwendig wird, um im Winter nicht tags kühlen und nachts heizen zu müssen. Und es prophezeite, dass ein Drittel des Stroms für Beleuchtung gebraucht werde. Deshalb hatten die Architekten für viel Tageslicht zu sorgen.

Auch der Kanton Zürich redet mit und hat einen Masterplan für das Hochschulgebiet ausarbeiten lassen. Vom Heimplatz bis zur Haldenbachstrasse sieht dieser Entwicklungsplan die Rämistrasse als eine Bildungs- und Kulturmeile. Er legt fest, dass der Kunsthausneubau den Heimplatz räumlich fasst und dass der Freiraum zwischen Erweiterung und alter Kantonsschule als öffentlicher Garten der Kunst genutzt werden soll.

Die meisten der zwanzig Wettbewerbs-Architekten hielten sich brav an die Vorgaben. Denn sie hatten schon die Präqualifikation mit 214 Büros überstanden und deshalb einen Auftrag zu verlieren und nicht einen Wettbewerb zu gewinnen.

Im Gegensatz zu einem selektiven Verfahren riskiert der Architekt in einem offenen Projektwettbewerb mehr. Der Bund Schweizer Architekten (BSA) kritisierte übrigens im Vorfeld das Verfahren ungewöhnlich scharf. Er erinnerte an die goldene Regel: Je öffentlicher die Aufgabe, desto offener das Verfahren. Gefruchtet hat der Appell des Vorstands der BSA-Ortsgruppe Zürich allerdings wenig, trotz der vielen BSA-Mitglieder in der Jury und im Teilnehmerfeld.

Klötze, Klötze, Klötze

Als einziger Preisträger verletzte Roger Diener den Perimeter mit einem länglichen, quer zum Heimplatz gestellten Bau. Damit schuf er eine grosse Terrasse mit Freitreppe entlang der Rämistrasse. Sie sieht im Modell grosszügiger aus als in den Plänen. Guter Städtebau mit zu wenig architektonischem Fleisch am Knochen, urteilte die Jury und belohnte den verhalten Mutigen mit einem Ankauf, aber nicht mit einem Rang.

12 500 Quadratmeter für die Kunst auf 5500 Quadratmetern unterzubringen, führt zu ähnlichen Lösungen: zu Klötzen. Alle Projekte im von der Zürcher Kunstgesellschaft, der Stiftung Kunsthaus und der Stadt Zürich veranstalteten Wettbewerb sind etwas zu gross geraten — die Vorprojekte gingen von mehr Räumen in den Untergeschossen aus. Die 19-köpfige Jury (11 davon Fachpreisrichter) entschied sich knapp für den Bau von David Chipperfield und gegen den von Gigon / Guyer.

Der Graben in der Jury verlief nicht zwischen Architekten und Sachpreisrichtern. Es ging um verschiedene Auffassungen von Architektur. Das Steinerne von Chipperfield setzte sich gegen das Gläserne von Gigon / Guyer durch. Das zweitrangierte Projekt versuchte, sich ganz schweizerisch mit Ausschnitten am Volumen an die Situation anzupassen. Anders der Brite: Er stellt ein schnörkelloses Volumen hin, einen Palazzo. Stünde er in Florenz, dann wärs eher der Palazzo Strozzi als der Palazzo Pitti, also ein grosser Bau mit vielleicht absichtlich zu wenig Umgebung. Die Jury meint, der Bau sprenge mit seinen Dimensionen die im Quartier üblichen Massstäbe, und empfiehlt das oberirdische Volumen zu verkleinern. Im Wettbewerb sprach man noch vom Museum des 21. Jahrhunderts, das entstehen sollte. Doch der grosse Wurf fehlt unter den 20 Projekten. Dafür gabs zu viele Bedingungen.

Kommentar profaner Tempel versus sakrales Warenhaus

Wie sieht ein Kunsthaus aus? Jetzt wissen wirs: Ein mächtiger Kubus mit Steinfassade, die Fenster mit senkrechten Lamellen verschleiert, innen eine durch alle Geschosse gehende Halle, oben Oberlichtlichtsäle, unten Seitenlicht, eine brauchbare innere Organisation, das alles hatten wir schon. Das «Museum des 21. Jahrhunderts» gleicht dem des 19. David Chipperfields neues Kunsthaus ist brav und konventionell. Keine Experimente beim Projekt, das Umfeld ist schon schwierig genug.

Haben alle gemerkt, wie dominant und monumental dieser Quader ist? Nach aussen geschlossen sendet er die Botschaft aus: Ich bin eine Majestät. Er ist der Eckstein der geplanten Bildungs- und Kulturmeile, ein städtebauliches Schwergewicht, dem sich das bestehende Kunsthaus unterordnen muss. Die stumme Masse erzeugt durch ihr Gewicht eine stille Würde. So sieht die Monumentalität heute aus. Chipperfield behauptet den Vorrang des Museums als öffentlicher, genauer als wertvoller, weil wertvermittelnder Bau. Die Kunst ist das andere, sie braucht ein Weihegefäss. Das Museum ist ein profaner Tempel.
Der zweite Preis von Gigon / Guyer sagt: Ich bin ein Republikaner. Das grosse Volumen wird aus einzelnen Baukörpern zusammengesetzt, vielgliedrig versucht der Riesenbau kleiner zu wirken als er ist. Seine Haut leuchtet. Der zweite Preis will nicht Würde, sondern Interesse wecken, will einladen, offen sein. So sieht die prä-tentiöse Bescheidenheit heute aus. Sie behauptet die besondere Selbstverständlichkeit des Museums. Die Kunst ist Wahrnehmung, sie braucht ein Schauhaus. Das Museum ist ein sakrales Warenhaus.

Der erste Preis ist ein später, heimlicher Verwandter des Kunstmuseums Basel. Eine Querelle des Anciens et des Modernes liegt in der Luft wie damals, als Christ und Bonatz sich 1932 gegen Hans Schmidt durchsetzten. Das löste eine Monumen-talitätsdebatte aus, jetzt ist in Zürich eine fällig. Wie sieht ein öffentlicher Bau mit «gehobener Bestimmung» aus, braucht ein Kunsthaus Würde? Wenn ja, was verleiht sie? Der Stein oder das Glas? Ob David Chipperfield das «Museum des 21. Jahrhunderts» gefunden hat, ist fraglich, ein funktionierndes, Würde aus-strahlendes hingegen fand er sicher. Trotzdem, zwischen Schwellenangst und Würde ist ein ziemlicher Spalt. Der will erst gefüllt sein.

hochparterre, Fr., 2009.01.16



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06. August 2008Ivo Bösch
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Obligatorischer Halt

An einem Dienstagnachmittag ist der Parkplatz leer. «Wir mussten die Parkierung auf Spitzenzeiten auslegen», sagt der Architekt Stefan Kurath. Vier der...

An einem Dienstagnachmittag ist der Parkplatz leer. «Wir mussten die Parkierung auf Spitzenzeiten auslegen», sagt der Architekt Stefan Kurath. Vier der...

An einem Dienstagnachmittag ist der Parkplatz leer. «Wir mussten die Parkierung auf Spitzenzeiten auslegen», sagt der Architekt Stefan Kurath. Vier der 9,5 Millionen Franken teuren Autobahnraststätte hat der Parkplatz verschlungen. Der Kostendruck war so gross, dass auch der Parkplatz karg gestaltet ist: Die Steine um die Parkfelder liessen die Architekten aus dem Aushub sammeln und waschen. Als Zweites fällt die schwer beschreibbare Form des Gebäudes auf, die aus schiefen Wänden und unregelmässigem Dach besteht. Der Entwurf sei formal, gibt Kurath zu. Die Form habe sich aber aus der Landschaft, der Raumgliederung und der inneren Organisation ergeben. «Wichtig war uns, dass Wand und Decke sich verweben.» Das Trapez-Profilblech auf dem Dach und an den Wänden soll mit seinen dicken Rändern an Autos erinnern.

Raststätten haben eigene Regeln. Der Grundriss muss ein Rundgang sein. An einem einzigen Ort kommt man rein, gleich daneben geht man wieder raus. Die Kasse steht am Ausgang mit Sicht auf die Tankstelle. Die Architekten haben die strengen Bedingungen eingehalten, aber die Architektur nicht geopfert. Einen Zwang haben sie sich selbst auferlegt: Ein eigenes Dach für die Zapfsäulen kam nicht in Frage. Damit schufen sie das Problem, dass Besucher die Raststätte durch die Tankstelle betreten müssen. Deswegen haben die Architekten den Zugang leicht abgedreht. Das Konzept geht auf: Wer die Raststätte betritt, kommt sich nicht seltsam vor, wenn er kein Benzin nachfüllt; das Tankstellendach ist auch ein Vordach.
Wer den Eingang hinter sich gelassen hat, hält kurz den Atem an. Ein vollständig in Holz verkleideter und unregelmässig geformter Innenraum verbirgt sich hinter der Blechhülle. Was der Besucher nicht sieht, ist die gewaltige Holzkonstruktion, die zusätzlich nur von einzelnen aussteifenden Betonwänden gestützt wird. Die Bar steht im Zentrum, wo der Raum am höchsten ist. Drei Lichtkuppeln belichten ihn und er ist voll von kugelrunden Leuchten. Sonst erhellen nur Neonröhren die offene Halle. Von der Mitte gehts in die ‹Tentakel›, in die zwei Restaurant-Räume, in den Shop und in den ‹Viamala-Markt›.

Der regionale Markt geht zurück auf die Regionalorganisation Heinzenberg, Domleschg und Hinterrhein, die sich heute ‹RegioViamala› nennt. Sie war vor zehn Jahren treibende Kraft hinter der Idee Autobahnraststätte. Die Region will von den täglich 15 000 vorbeibrausenden Autos profitieren und verkauft im Markt Produkte, die man früher in den Dörfern mühsam zusammensuchen musste. Das ‹Fenster zur Region›, wie die Architekten ihr Haus nennen, ist auch wörtlich gemeint. Die Fronten des Restaurants lenken den Blick in die Landschaft. Der Reisende sieht den Beverin und den Bauer auf dem Traktor. Kein Tierzaun stört. Das war möglich, weil die Raststätte nicht direkt von der Autobahn aus erschlossen ist, sondern über einen Kreisel an eine Ausfahrt angebunden wurde. Sie ist übrigens auch zu Fuss und per Velo bequem erreichbar.

hochparterre, Mi., 2008.08.06



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Presseschau 12

30. Juni 2010Ivo Bösch
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Modern trifft auf Klassik

Seit 1877 ist das Haus im Besitz der Familie Trepp, die hier wohnte und anfangs mit Glas, später mit Futter und Lebensmitteln handelte. Roch es einst in...

Seit 1877 ist das Haus im Besitz der Familie Trepp, die hier wohnte und anfangs mit Glas, später mit Futter und Lebensmitteln handelte. Roch es einst in...

Seit 1877 ist das Haus im Besitz der Familie Trepp, die hier wohnte und anfangs mit Glas, später mit Futter und Lebensmitteln handelte. Roch es einst in Thusis nach Kaffee, dann röstete «Trepp & Co.», erzählt Verena Trepp mit Stolz. 2005 konnte sie das Elternhaus übernehmen und wünschte sich eine Renovation mit Lift. Geschickt verschob Pab-lo Horváth den ersten Treppenlauf und platzierte an dessen Stelle den Lift. Damit schafft er es, alle Geschosse und Zwischenpodeste zu verbinden. Den Anbau stockt er mit einem Terrassenzimmer auf. Schon während der Studienzeit um 1930 soll Rudolf Olgiati die ersten Umbauten im Haus gemacht haben, so die Familiensaga. Noch heute zu sehen ist das «Bubenzimmer» im Dachgeschoss und die Umgestaltung der Stube im zweiten Obergeschoss, wo er anstelle einer Wand eine geschwungene Vorhangschiene einbaute. Warum Horváth im umgestalteten Anbau die «klassische Moderne» sieht, kann er nicht genau erklären. Ist es die plastische Gestaltung oder sind es die stehenden Fenster, die sich an der klassizistischen Fassade des Hauptbaus anlehnen?

hochparterre, Mi., 2010.06.30



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18. Januar 2010Ivo Bösch
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Dudlers Holzhaus

Nach der Legende stand das Chalet auf der Landi. Man stellte es danach ins Prättigau, werkelte daran und verkaufte es wieder. Eine Familie verbrachte hier...

Nach der Legende stand das Chalet auf der Landi. Man stellte es danach ins Prättigau, werkelte daran und verkaufte es wieder. Eine Familie verbrachte hier...

Nach der Legende stand das Chalet auf der Landi. Man stellte es danach ins Prättigau, werkelte daran und verkaufte es wieder. Eine Familie verbrachte hier lange die Ferien, bis sie 2003 Max Dudler beauftragte, eine grössere Küche zu planen. Lange suchte er nach dem Passenden. Nun steht neben dem Chalet ein Holzhaus, das erste Dudlers, nur mit einem gläsernen Gang verbunden. Die drei 33 Quadratmeter grossen Geschosse des Elementbaus sind einzig mit einem Lift verbunden, doch sie sind alle von aussen betretbar. Die Treppe ins Obergeschoss ist zwar unter Dach und hinter Fassade, aber nicht hinter Glas. Sie zählt nicht zur Ausnutzung. Mit diesem Trick kann ein Gast das Obergeschoss separat benutzen. Der Architekt entschied sich für das Bild des Strickbaus, für dessen «Abstraktion», sagt Projektleiterin Nicole Gamisch. Die schwarz geölte Fassade ist präzis entworfen und gebaut. Unerwartet dagegen sind die weissen Zimmer mit den hohen Fenstern. Ein seltsames Raumgefühl ergreift den Besucher.

hochparterre, Mo., 2010.01.18



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Genial oder banal?

Das neue Schulhaus Leutschenbach spaltet die Architekturkritiker. Sechs kontroverse Meinungen zum Bau von Christian Kerez.

Das neue Schulhaus Leutschenbach spaltet die Architekturkritiker. Sechs kontroverse Meinungen zum Bau von Christian Kerez.

Es ist das zweitgrösste Schulhaus der Stadt Zürich und von der Kindergärtlerin bis zum Sekschüler gehen hier alle ein und aus. Der Bau dauerte ein Jahr länger als vorgesehen. Die Erscheinung ist für ein Schulhaus so ungewöhnlich, dass sie polarisieren muss. Seit August ist das Schulhaus Leutschenbach nun in Betrieb und Hochparterres Redaktorinnen und Redaktoren besichtigten es mit dem Architekten Christian Kerez.

Die Heiligsprechung des Banalen

Ivo Bösch: Die Jury traute dem Entwurf von Christian Kerez nicht zu, dass er baubar ist. Im Wettbewerb aus dem Jahr 2003 liess sie zwei Projekte überarbeiten. Zwar gefielen damals die Zonen zwischen den Schulzimmern. Doch dieser Bereich war Fluchtweg, also nicht nutzbar. Erst nach der Überarbeitung schlug Kerez die Fluchtbalkone vor. Der Feuerpolizist entwarf also beträchtlich mit. Eine Turnhalle auf dem Dach, eine Doppeltreppe, aneinander gereihte, hohe Schulzimmer und eine stützenfreie Fassade im Erdgeschoss: Mehr steckt nicht im Entwurf. Der Kern des Projekts ist die Konstruktion.

Das Haus steht nur auf sechs Dreifachstützen. Für den Handstand auf dem kleinen Finger scheute der Architekt keine Kosten. Doch bestimmte der Bauingenieur, wo welche Querschnitte welche Lasten tragen. Was Kerez mit dem kompakten Entwurf gewinnt, verliert er mit dieser Konstruktion. Obwohl beim Ausbau gespart wurde und obwohl es die zweitgrösste Schule der Stadt Zürich ist, ist der Bau im Kubikmetervergleich (BKP 1– 9: CHF 1108.–/m3, Stand August 2009) eines der teuersten Schulhäuser. Schon die Jury schrieb nach der ersten Stufe: «Die durch die kompakte Gebäudeform gegebene Ausgangslage für eine günstige Ökonomie wird durch zu erwartende erhöhte konstruktive Aufwendungen gemindert.» Dass diese Aufwendungen so gross werden und der Ausbau so leiden musste, konnte sie nicht voraussehen: Wände aus Industrieglas, in den Schulgeschossen Kunststeinplatten am Boden, sichtbare PE-Abwasserleitungen. Alles wirkt banal, Kerez würde es reduziert nennen. Glück für ihn, dass das Schulhaus in Schwamendingen steht und die Stadt endlich ein Signal für die Quartierentwicklung neben der Kehrichtverbrennungsanlage setzen musste.

Alles schrumpft

Roderick Hönig: 1994 stellte Pipilotti Rist im Kunstmuseum St. Gallen zwei überdimensionale Fernsehsessel neben eine meterhohe Stehlampe. Wer versuchte, die gigantischen, kaum handhabbaren Möbel zu besteigen, lernte physisch seine Lektion in Raumwahrnehmung. Die drei ungewöhnlich hohen Klassenzimmergeschosse erinnern an Rists Installation. Nur ists im Schulhaus Leutschenbach umgekehrt: Die Räume sind überdurchschnittlich hoch — satte 3,6 Meter, das Minimum schreibt 3 Meter vor. Die Überhöhe verleiht weiten Atem und Grosszügigkeit und lässt, wie in Rists Arbeit, Schülerin und Lehrer auf Kindergrösse «schrumpfen ». Die Architektur stellt so die Machtverhältnisse im Schulhaus in Frage, sie demokratisiert Subjekt und Objekt. Kerez sichert mit seinen überhohen Klassenzimmern und Pausenhallen aber auch die Souveränität seines Werks. Die Überhöhe sorgt dafür, dass Möblierung und Raum kaum in ein Verhältnis treten und dass man nicht plötzlich vor lauter Schulmöbel und farbigem Kinderleben Kerez’ «architecture brut» nicht mehr sieht. Elegant ist, dass der eitle Wunsch nach Wahrung der Reinheit der eigenen Architektur nicht auf Kosten der Nutzer geht — im Gegenteil: Die überdurchschnittliche Raumhöhe ist die Attraktion und Qualität des Schulhauses. Der Luxus, bezahlt auf Kosten des Ausbaus.

Die Paulista-Schule

Axel Simon: Wo ist da die Angemessenheit? Und was ist mit den hohen Kosten? Spätere Erweiterungsmöglichkeiten? Es gibt Bauwerke, an denen perlen solche Fragen ab. Radikalität imprägniert sie zum Manifest. In Leutschenbach steht man vor einem solchen, schaut einfach nur, blöd vor Staunen. Hier liegt Zürich nicht in der Schweiz, sondern am Rande São Paulos. Sicher, Kerez’ Konstruktionen sind komplizierter als diejenigen von Artigas, Bo Bardi oder Mendes da Rocha, die hiesigen Anforderungen sind es sowieso. Die räumliche Idee jedoch ist ähnlich: eine weite Landschaft rundum, die sich im Inneren widerspiegelt, sowie ein Raum, der mit zunehmender Schwere des Hauses an Leichtigkeit gewinnt. Die eidgenössische Komplexität der scheinbar einfachen Struktur überspielt der Architekt, indem er sich jede Oberflächengüte versagt. Der sichtbaren Stapelung der Etagen entsprechen der sichtbar gegossene Beton, der sichtbar geschweisste Stahl, das sichtbar gefügte Gussglas. Die Rohheit des Materials und der immense Raum machen aus der Schule eine Werkstatt, einen Ort, an dem man ohne die Bürde des Perfekten schaffen, sich ausbreiten, auf dem Trottinette durchjagen kann. Keine gebeugten Rücken, keine Schulkrüppel! Diese Forderung, die der spätere Bauhausdirektor Hannes Meyer 1926 seinem konstruktivistischen Petersschul-Entwurf beilegte, könnte auch auf den Leutschenbacher Beton gesprüht stehen — als Kunst am Bau versteht sich.

Ein starkes Stück

Werner Huber: Wie ein Equilibrist steht das Schulhaus auf der Wiese am Rand von Leutschenbach, scheint unter Hochspannung zu sein. Es berührt den Boden kaum, die Tragstruktur balanciert die Lasten der aufeinandergetürmten Nutzungen ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Die gleiche Spannung ist im Innern zu spüren, auch wenn die Fachwerkträger nicht immer zu sehen sind und es nicht auf Anhieb klar ist, wie die Statik überhaupt funktioniert. Kräfte werden über Umwege spazieren geführt, bevor sie den Boden erreichen. Es wäre einfacher gegangen. Ein paar Stützen hier und da diskret platziert — wer würde den Unterschied schon sehen? Kaum jemand, doch spüren würde man ihn bestimmt.

Der Architekt ist seinen Weg konsequent gegangen und hat alles seinem Konzept untergeordnet. Das ist seine grosse Leistung. Die Betonoberflächen sind nicht perfekt, der Ausbau ist karg, konstruktive Ausnahmen gibt es zuhauf. An irgendeinem anderen Bau würde man das beklagen, hier ist das sekundär. Kerez hat die richtigen Prioritäten gesetzt. Nur im Erdgeschoss musste das Konzept vor der Nutzung zurücktreten — und prompt ist
es daneben geraten: Nie und nimmer dürfte es verglast sein.

Republikanisch geschärft

Benedikt Loderer: Zwei Gründe, warum ich das Schulhaus Leutschenbach gut finde: Es ist republikanisch und es ist geschärft. In Schwamendingen leben viele jener Leute, denen man eine bildungsferne Herkunft nachsagt und die ihre Kinder nicht vor allem zum Lernen anstacheln. Für sie baute die Stadt Zürich ein republikanisches Schulhaus. Es ist ein Versprechen. Nie, sagt die Stadt, werden wir vom Prinzip der allgemeinen und obligatorischen Volksschule abweichen. Wir wollen weder Kloster-, noch Koran- oder Eliteschulen. Vor der Schule ist jedes Kind gleich und wir geben keines auf. Wir bilden sie zu Zürchern. Wir bauen Integrationsschulen. Dort, wo die Kinder am schwierigsten sind, machen wir nicht weniger, sondern mehr. Wir sparen nicht an den Bedürftigen. Gut genug gibt es nicht, wo es ein Mehr braucht. Das Schulhaus repräsentiert den Bildungsanspruch der Stadt. Dieses republikanische Schul- und Selbstverständnis strahlt das neue Schulhaus aus. Das Konzept ist einfach: Kerez stapelt. Er setzt die Nutzungen nicht neben-, sondern schichtet sie übereinander. Den Rest des Grundstücks lässt er frei. Das Konzept überzeugte im Wettbewerb, doch dann begann die Arbeit. Es nahm die Hürden der Feuerpolizei, bewältigte das gerade geltende pädagogische Programm, überwand die Schwierigkeiten seiner eigenen Statik, besiegte den Kostendruck, kurz, es wurde verwirklicht.

Selbstverständlich sieht es heute anders aus als im Wettbewerb — aber nicht verwässert, sondern geschärft. Kerez ist einer der wenigen Architekten, die Konzessionen machen können, ohne Schaden an ihrem architektonischen Konzept zu nehmen. Er ist nicht stur, er ist nur konsequent. Er weiss: Wer alles verteidigt, verteidigt nichts. Und er weiss, was er aufgeben kann, um das zu behalten, was er unbedingt haben will. Selektives Wichtignehmen heisst diese Schärfungskunst. Kerez ist ein Meister darin.

Die Konsequenzen der Konsequenz

Rahel Marti: Christian Kerez will konsequente Architektur schaffen. Er kämpft für die Reinheit der einen, einfachen Idee. Offenbar gelang es ihm, die Beteiligten für diese heroische Haltung zu gewinnen. Kerez stapelt, der Park soll frei bleiben. Er baut Glaswände, dazwischen soll Raum zum Lernen entstehen. Er will ein klares und rohes Schulhaus, in dem sich Schülerinnen und Lehrer entfalten. Paradoxerweise braucht es dafür ein komplexes Tragwerk und Bauarbeiten, die ein Jahr länger dauerten als geplant. Was aussieht wie eine strukturalistische Höchstleistung, ist eine Reihung von Ausnahmen und Kompromissen. Um etwa den Park ins Haus fliessen zu lassen — und dies bildlich, denn in der Tat gibt es ja eine Glasfassade —, ist das Gebäude an einer komplexen Fachwerkkonstruktion aufgehängt. Um die Reinheit dieser statischen Idee zu belassen, nimmt der Architekt verschiedenste Fachwerkdimensionen und damit verschiedenste Deckenfelder in Kauf, was zu zahllosen konstruktiven Anpassungen führt. Um den freien Grundriss in den Treppenhallen zu ermöglichen, sind breite, umlaufende Fluchtbalkone nötig. Damit hier keine Kinder herumrennen, werden sich Lehrerinnen und Lehrer Regeln ausdenken müssen. Um die Transluzenz des Industrieglases nicht zu stören, sind an den Wänden der Schulzimmer und der Turngarderoben nicht metallene Kleiderhaken montiert, sondern kleine, ab - bruchgefährdete Plastikhaken aufgeklebt. Die Konsequenz reicht soweit, dass Kerez auch Massnahmen durchsetzt, die mit pädagogischen Zielen nichts mehr zu tun haben. Etwa, dass keine Leuchten, dass nichts von den hohen Decken hängen darf, was aufwändige Betoneinlegearbeiten erforderte. Man wird sehen, denn nun muss sich das aussergewöhnliche Schulhaus bewähren. Sonst war die reine Idee architektonischer Selbstzweck und der Preis dafür hoch.

hochparterre, Mo., 2009.10.12



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08. September 2009Ivo Bösch
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An der Ikone weiterbauen

Luigi Snozzi wollte es noch einmal wissen. Jeder andere vernünftige Architekt hätte den Auftrag abgelehnt. Wie bitte soll man diese Primarschule erweitern?...

Luigi Snozzi wollte es noch einmal wissen. Jeder andere vernünftige Architekt hätte den Auftrag abgelehnt. Wie bitte soll man diese Primarschule erweitern?...

Luigi Snozzi wollte es noch einmal wissen. Jeder andere vernünftige Architekt hätte den Auftrag abgelehnt. Wie bitte soll man diese Primarschule erweitern? Snozzi hatte sie 1993 in das ehemalige Augustinerinnenkloster von Monte Carasso eingebaut. In jedem Architekturgrundkurs zeigen Lehrer dieses stimmige Ensemble als Beispiel für den Umgang mit dem Bestand. Tausende von Architekten haben diese Schule besucht und in den Räumen findet jeden Sommer ein internationales Entwurfsseminar statt. Nicht genug: Für die zwei neuen Schulzimmer wählte sich Snozzi den schwierigsten Bauplatz des Geländes aus, in der Ecke, direkt an der Kirche, dort, wo auch Archäologen gegraben haben.

Der 77-jährige Snozzi entwirft radikal und einfach: Er stellt den Anbau auf zwei Scheiben und berührt so im Erdgeschoss den Boden der Ausgrabungen möglichst wenig. Eine kleine Treppe führt von einem der zwei Schulzimmer direkt hinaus. Doch der eigentliche Zugang führt von der bestehenden Schule ins zweite Obergeschoss des Anbaus. Mit einer Garderobe löst Snozzi nebenbei das Problem mit einer im Weg stehenden Seitenkapelle der Kirche. Der Eingangsraum ist schmaler als der Rest des Anbaus und verbindet wie eine Seufzerbrücke Bestehendes und Neues. Doch vom Platz sieht der Besucher nur eine Betonscheibe, die auch die Zugangsgalerie der neuen Schulräume verdeckt. Darin steckt der Clou des Entwurfs: Snozzi kopiert seinen früheren Schnitt. Die fünf bestehenden Schulzimmer sind zweigeschossig, mit einem halben Tonnendach gedeckt und mit einer Spielgalerie verbunden. Er versetzt diesen Schnitt um ein Geschoss nach unten. Das heisst, der Hauptgang der bestehenden Schule setzt sich im zweiten Obergeschoss des Anbaus fort. Statt dass die Schüler vom Schulzimmer zur Galerie hochgehen, steigen sie von der Galerie ins Schulzimmer hinunter. So einfach kann ein Entwurf sein. Selbstverständlich sind die Schulräume gegen den Platz verglast. Die Oberlichter sind hinter der höher gezogenen Betonscheibe versteckt. Die Schule in Monte Carasso ist damit definitiv zum Lehrbeispiel für den Umgang mit Bestehendem geworden. Snozzi baut wie gewohnt für den Ort.

hochparterre, Di., 2009.09.08



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06. April 2009Ivo Bösch
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Brückenschlag zwischen Statik und Ästhetik

Jürg Conzett zum Auswahlverfahren an Wettbewerben: «Den Bauingenieur über das Honorar zu wählen, macht die Brücken nicht besser.»

Jürg Conzett zum Auswahlverfahren an Wettbewerben: «Den Bauingenieur über das Honorar zu wählen, macht die Brücken nicht besser.»

Gehts dem Brückenwettbewerb in der Schweiz schlecht?
Erfreulicherweise sind heute Brückenwettbewerbe wieder ein Thema. Noch in den Achtzigerjahren gab es sie kaum. In Graubünden war die Tardisbrücke in Landquart 2001 nach etwa zwanzig Jahren der erste Wettbewerb für eine Strassenbrücke im Kanton. Dem vorausgegangen war ein Dialog, in dem ein paar Kollegen und ich das Tiefbauamt aufgefordert hatten, wieder Brückenwettbewerbe auszuschreiben. Man ist darauf eingestiegen und kam zum Schluss, dass das Verfahren gut war. Es folgten im Kanton Graubünden viele Brückenwettbewerbe.

Weshalb haben Sie eine Tagung zum Brückenwettbewerb veranstaltet?
Die verschärften Konkurrenzvorschriften des Gatt / WTO bedrohen den Ingenieurberuf. Denn sie haben vor allem zu Honorarkonkurrenzen geführt. Den Bauingenieur über das Honorar zu wählen, ist zwar üblich, aber die Brücken werden so nicht besser. Denn die Büros schrumpfen ihre Arbeit auf ein Minimum ein und Engagement wird bestraft. So entsteht keine Qualität, sondern die billige Standardisierung wird gefördert. Eine solche Entwicklung widerspricht unseren Interessen, denn wir nennen uns «Gesellschaft für Ingenieurbaukunst». Auch wenn der Brückenwettbewerb immer noch ein neues Verfahren ist, können wir heute dank der kleinen Renaissance des Wettbewerbs auf die letzten Jahre kritisch zurückschauen.

Modell für die Beurteilung

Was muss sich im Ingenieurwettbewerb verbessern?
Über den Einzelfall hinaus hätte ich gerne ein paar allgemeine Konventionen. Die Verfahren sind zwar in den SIA-Ordnungen gut geregelt. Doch wir sollten von den Architekten lernen: Ich wünsche mir beispielsweise, dass alle Projekte auch anhand vom Modellen beurteilt werden.

Das wird nicht gemacht?
Nein, Modelle lässt der Veranstalter erst von den Projekten in der engeren Wahl bauen. Bei der Taminabrücke hatten wir eine schöne Brücke eingereicht. In der Beurteilung hiess es, der Bogen sei zu dick. Wir hatten im Büro natürlich ein Modell gebaut, das wir nicht abgeben durften. Der Bogen war profiliert und nach meiner Beurteilung sah das Modell nicht schlecht aus. Eine erste Wahl akzeptiere ich, aber dann will ich in dieser Stufe keine ästhetische Kritik über Proportionen hören.

Was machen die Bauingenieure sonst noch falsch?
Wir sollten mehr an die Nachwuchsbüros denken. Sie erhalten zu wenige Chancen. Und wir vergessen häufig, dass ein Wettbewerb auch Öffentlichkeitsarbeit ist. Es geht nicht nur darum, einen Sieger zu finden, sondern auch, weitere rangierte und nicht rangierte Projekte zu zeigen. Diese Diskussion sollten wir nicht nur unter Fachleuten führen, sondern auch öffentlich. Das wäre die beste Art, die oft introvertierte Arbeit des Ingenieurs bekannt zu machen.

Jurierungen überdenken

Könnte man auch anders jurieren?
Wir sollten uns bei den Jurierungen fragen, ob man ein bestimmtes Konzept und die entsprechenden Projekte prämiert, die einander ähneln, oder ob man von verschiedenen Konzepten jeweils das am besten ausgearbeitete Projekt belohnt. Die erste Haltung fördert eine präzise Art des Denkens und schafft eine Entwurfskultur, während die zweite nach aussen eher unentschieden wirkt. Man könnte sich vielleicht auch einmal in der Erarbeitung des Programms für den geeignetsten Brückentyp entscheiden und dann einen Wettbewerb mit vorgegebenem Typ durchführen. Dies würde die Entwurfsenergie bündeln und zudem auch die Wettbewerbsveranstalter und die Jurys mehr in die Verantwortung nehmen.

Ist der offene Wettbewerb das Heilmittel?
Im Gegensatz zu den Architekturwettbewerben wird der Veranstalter bei einem Brückenwettbewerb nicht überschwemmt. Bei einem offenen Ingenieurwettbewerb werden zehn bis vierzig Projekte abgegeben, was problemlos zu bewältigen ist. Ich begrüsse den offenen Wettbewerb. Selbstverständlich gibt es auch andere Verfahren, die je nach Fall ebenso ihre Berechtigung haben. Mit Wettbewerb im Brückenbau meine ich den Projektwettbewerb, den Studienauftrag, den Gesamtleistungswettbewerb und zum Beispiel auch den Miniwettbewerb, den Michel Donzel während seiner Amtszeit im Bundesamt für Strassen immer wieder veranstaltete.

Die Tradition des Ankaufs gibt es bei den Ingenieuren nicht. Halten sie sich zu brav an die Bedingungen?
Meine Meinung ist: Es sollte unnötig sein, dass man sich nicht an Bedingungen hält. Es gehört zur Ingenieurarbeit, mit Vorgaben umzugehen. Häufig gibt es bei Strassen- und Bahnbrücken harte Bedingungen. Ich kann die Lage einer Brücke nicht verschieben. Es ist auf jeden Fall gut, klar zu sagen, was geht und was nicht. Je präziser die Bedingungen im Wettbewerbsprogramm formuliert sind, desto besser versteht man die Aufgabe und desto besser das Resultat. Interessant ist, dass auch unter stark einschränkenden Bedingungen immer ein Gestaltungsspielraum besteht.

Die Tradition

Warum ist das Kostenargument so wichtig bei Ingenieurwettbewerben?
Es hat mit der Geschichte des Ingenieurberufs zu tun. Die Tradition reicht bis zur 1747 in Frankreich gegründeten École Nationale des Ponts et Chaussées zurück, zur ersten Ingenieurschule. Man wollte damals alle Strassenbauer zentral ausbilden, damit sie die ökonomischen Interessen des Staates wahrnehmen. Der Strassen- und Brückenbau war vorher in den Händen von Zünften gewesen. Ein Grund für den Beruf des Ingenieurs war: Wir wollen Leute, die präzis voraussagen können, was etwas kostet und leistet. Das war ein Bedürfnis der Gesellschaft vom 18. Jahrhundert an bis heute.

Und der Wettbewerb soll denjenigen belohnen, der am günstigsten ist?
Ein schönes Beispiel ist die 1930 fertiggestellte Salginatobelbrücke von Robert Maillart, die bekanntlich im Wettbewerb die billigste war. Ich wage zu behaupten, dass es damals keine Rolle spielte, ob sie auch die schönste war. Die ganze Eisenbetonbauweise konnte sich durchsetzen, weil sie eben billiger war als Stahl oder Stein. Die Kosten waren ein kräftiges Argument, um das Neue zu fördern.

Maillart war deshalb erfolgreich. Die Auseinandersetzung mit der Wirtschaftlichkeit ist Teil des Ingenieurberufs. Doch heute muss man das im Umgang mit dem baulichen Erbe in Frage stellen. Bei einer Instandsetzung immer die billigste Lösung zu nehmen, ist sicher falsch. Doch nicht nur in der Denkmalpflege müssen diese Fragen neu formuliert werden. Aber es ist schon so: Bei einer grösseren Brücke gehts sofort um viel Geld, meist um zweistellige Millionenzahlen.

Dürfte eine schöne Brücke auch mehr kosten als unbedingt nötig?
Dass man überhaupt wagt, diese Frage zu stellen, und nicht davon ausgeht, dass die wirtschaftliche Lösung auch die richtige ist – das wünsche ich mir.

Das Ansehen des Ingenieurs heben

Im Februar fand zum ersten Mal eine Diskussion zum Thema «Wege zur Ingenieurbaukunst — der Brückenwettbewerb» statt. Veranstaltet hatte sie die Gesellschaft für Ingenieurbaukunst zusammen mit der Stiftung Forschung Planungswettbewerbe.
Jürg Conzett provozierte im Einführungsreferat mit Forderungen zum Brückenwettbewerb, während Michel Donzel, Bereichsleiter Kunstbauten beim Bundesamt für Strassen, den «Miniwettbewerb» propagierte, ein selektives Verfahren für Bausummen unter fünf Millionen Franken. Donzel kam zum Schluss, dass die Öffentlichkeit bereit sei, für Ästhetik mehr zu zahlen. Der ETH-Professor für Baustatik, Thomas Vogel, und der Bauingen-ieur Massimo Lanffranchi berichteten von ihren Erfahrungen mit dem Ingenieurwettbewerb. Jürg Conzett ist Teilhaber des Büros Conzett, Bronzini, Gartmann in Chur. Er ist seit zwei Jahren Präsident der Gesellschaft für Ingenieurbaukunst. Ziel der 270 Mitglieder ist, das Ansehen des Ingenieurs in der Schweiz zu heben. Konkret hat die Gruppe Bücher herausgegeben wie «Robert Maillart — Beton-virtuose» oder «Christian Menn — Brückenbauer».

Kommentar: Austausch tut not

Als Architekt staunt man. Die Ingenieure halten sich an die gleichen SIA-Normen. Und doch herrscht eine andere Wettbewerbskultur. Die Verfahren sind teilweise völlig anders. Wer sich nicht an die Bedingungen hält, der fliegt aus dem Verfahren. Der Ankauf ist unbekannt, also kann der bewusste Verstoss gegen das Wettbewerbsprogramm nicht belohnt werden.

Modelle lassen die Veranstalter selbst bauen, aber nur von den Projekten in der engeren Wahl. Das verbreitete Punktesystem eignet sich kaum für eine faire Gesamtbeurteilung. Selbst Statikprofessoren fordern, die Ingenieurwettbewerbe «architektenmässiger» zu gestalten. Doch staunt der Architekt auch, wie offen die Bauingenieure über die Verfahren reden. Fairness ist oberstes Ziel. Und da wird sogar über die Juryzusammensetzung diskutiert — eine heilige Kuh bei den Architekten. Kurz: Architekten und Bauingenieure können voneinander lernen. Das wäre ein Thema für eine nächste Tagung.

hochparterre, Mo., 2009.04.06



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25. Februar 2009Ivo Bösch
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Vereinigte Bündner Stile

Pablo Horváth ist in St. Moritz aufgewachsen. Dem analogen Architekten liegt der Kanton Graubünden am Herzen. Mit seiner Wohnüberbauung Chalavus knüpft...

Pablo Horváth ist in St. Moritz aufgewachsen. Dem analogen Architekten liegt der Kanton Graubünden am Herzen. Mit seiner Wohnüberbauung Chalavus knüpft...

Pablo Horváth ist in St. Moritz aufgewachsen. Dem analogen Architekten liegt der Kanton Graubünden am Herzen. Mit seiner Wohnüberbauung Chalavus knüpft er an eine regionale Architektur an. Zwar ist ein Bündner Stil nicht genauer definiert, aber wenigstens nennt Horváth seine Quellen: den St. Moritzer Architekten Nikolaus Hartmann, die um die Jahrhundertwende errichteten Grand Hotels La Margna und Suvretta House, den modernen Davoser Architekten Rudolf Gaberel und die traditionellen Engadiner Häuser. Hartmann be­nutzte Tuffstein, Horváth kleidet das Sockelgeschoss seines Neubaus in Travertin. Der grobkörnige Fassadenputz soll an die Besenwurfputze der Bündner Heimatstil-Häuser erinnern und die Hoffassade aus Lärchenschindeln ist auch bei Gabarel zu sehen. Schliesslich sind die grossen Panoramafenster eine Interpretation des «balcun tort» (Erker) des Engadiner Hauses. Kurz: Der Neubau transportiert Elemente des traditionellen Bauens in die heutige Zeit.

Inmitten von St. Moritz-Bad hat Pablo Horváth eine grosse Lücke geschlossen. Im Erdgeschoss sollen Läden und eine Cafeteria die Verkehrsachse beleben. Da in St. Moritz Wohnungen schwer zu finden sind, besonders auch für ältere Einheimische, hat sich die Gemeinde am Bau beteiligt. Im Zwischentrakt stehen 26 Seniorenwohnungen mit einer Spitexstation fürs «Wohnen ab 55» zur Verfügung. Damit sich das Ganze rechnet, hat der Bauherr in den Seitenflügeln zwan­zig Zweitwohnungen verkauft. Immerhin drei davon gingen an Einheimische.

Ist ein Haus mit zwei ganz verschiedenen materialisierten Fassaden nicht gegen jede Regel der Architektur? Horváth erklärt den Entscheid aus der Situation: Vorne ist die lebendige Geschäftsstrasse, auf der Rückseite der ruhige, sonnige und alpine Hof. «Wir haben den beiden unterschiedlichen städtischen und landschaftlichen Gesichtern von St. Moritz-Bad mit der städtebaulichen Setzung Rechnung getragen.» Er wolle den weitverbreiteten Schematismus brechen. Entstanden ist ein dichter und eigenwilliger Bau, der spielerisch, aber nicht willkürlich entworfen ist. Chalavus ist eine gelungene Alternative zum verpönten Chaletbau oder zum ambitionierten Foster-Ufo.

hochparterre, Mi., 2009.02.25



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16. Januar 2009Ivo Bösch
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Zürichs Kunstpalazzo

Das Resultat vieler Vorgaben und Bedingungen: Stein setzt sich durch gegen Glas. Und das alte Kunsthaus muss kuschen.

Das Resultat vieler Vorgaben und Bedingungen: Stein setzt sich durch gegen Glas. Und das alte Kunsthaus muss kuschen.

Viel Spielraum blieb den Architekten nicht. Die Planungsämter hatten zur Vorbereitung des Wettbewerbs ganze Arbeit geleistet. Als Bauplatz hatten sie ein Quadrat gegenüber dem Kunsthaus, auf der andern Seite des Heimplatzes, auserkoren. Für die Turnhallen, die abgerissen werden sollen, setzt sich nur noch der Heimatschutz ein. Die interessante Aufgabe aber, am Konglomerat des Kunsthauses weiterzubauen, war im Wettbewerb von vornherein ausgeschlossen.
Von Karl Moser 1910 erbaut und 1925 erweitert, von den Gebrüdern Pfister 1958 und von Müller & Blumer 1976 erweitert, beschäftigte das Kunsthaus von 1997 bis 2005 auch noch Sam Architekten (Schnebli Manz) mit der Gesamtsanierung. Der Jurybericht fasst diesen Sachzwang positiv zusammen: «Damit wurde die Basis geschaffen für die nun zu planende Erweiterung.»

Mehr als einen Anbau wünscht sich Kunsthausdirektor Christoph Becker. Der Neubau soll zusammen mit dem sanierten Kunsthaus das Neue Kunsthaus formen, so die Worte Beckers. Den Widerspruch, aus zwei getrennten Gebäuden eins zu machen, hatten die Architekten aufzulösen.

Heimplatz muß warten

Einzig ein unterirdischer Gang wird den 150 Millionen Franken teuren Neubau mit dem Mutterhaus verbinden, auch das war eine Vorgabe des Wettbewerbs. Doch der Heimplatz selbst war nicht Gegenstand des Wettbewerbs. Seine Neugestaltung schreibt die Stadt — wenn überhaupt — später aus.
Sonst aber arbeiteten die städtischen Ämter emsig. Sie organisierten 2006 einen Workshop, an dem drei Architektenteams teilnehmen durften. Aus dem Bericht «Vorabklärungen zum Projektwettbewerb» flossen weitere Bedingungen ins Wettbewerbsprogramm ein. Selbst ein Energiekonzept stand den Architekten während des Wettbewerbs zur Verfügung. Es kam zum Schluss, dass der Bedarf nach Kälte dreimal höher sein wird als nach Wärme und dass eine grosse thermische Trägheit notwendig wird, um im Winter nicht tags kühlen und nachts heizen zu müssen. Und es prophezeite, dass ein Drittel des Stroms für Beleuchtung gebraucht werde. Deshalb hatten die Architekten für viel Tageslicht zu sorgen.

Auch der Kanton Zürich redet mit und hat einen Masterplan für das Hochschulgebiet ausarbeiten lassen. Vom Heimplatz bis zur Haldenbachstrasse sieht dieser Entwicklungsplan die Rämistrasse als eine Bildungs- und Kulturmeile. Er legt fest, dass der Kunsthausneubau den Heimplatz räumlich fasst und dass der Freiraum zwischen Erweiterung und alter Kantonsschule als öffentlicher Garten der Kunst genutzt werden soll.

Die meisten der zwanzig Wettbewerbs-Architekten hielten sich brav an die Vorgaben. Denn sie hatten schon die Präqualifikation mit 214 Büros überstanden und deshalb einen Auftrag zu verlieren und nicht einen Wettbewerb zu gewinnen.

Im Gegensatz zu einem selektiven Verfahren riskiert der Architekt in einem offenen Projektwettbewerb mehr. Der Bund Schweizer Architekten (BSA) kritisierte übrigens im Vorfeld das Verfahren ungewöhnlich scharf. Er erinnerte an die goldene Regel: Je öffentlicher die Aufgabe, desto offener das Verfahren. Gefruchtet hat der Appell des Vorstands der BSA-Ortsgruppe Zürich allerdings wenig, trotz der vielen BSA-Mitglieder in der Jury und im Teilnehmerfeld.

Klötze, Klötze, Klötze

Als einziger Preisträger verletzte Roger Diener den Perimeter mit einem länglichen, quer zum Heimplatz gestellten Bau. Damit schuf er eine grosse Terrasse mit Freitreppe entlang der Rämistrasse. Sie sieht im Modell grosszügiger aus als in den Plänen. Guter Städtebau mit zu wenig architektonischem Fleisch am Knochen, urteilte die Jury und belohnte den verhalten Mutigen mit einem Ankauf, aber nicht mit einem Rang.

12 500 Quadratmeter für die Kunst auf 5500 Quadratmetern unterzubringen, führt zu ähnlichen Lösungen: zu Klötzen. Alle Projekte im von der Zürcher Kunstgesellschaft, der Stiftung Kunsthaus und der Stadt Zürich veranstalteten Wettbewerb sind etwas zu gross geraten — die Vorprojekte gingen von mehr Räumen in den Untergeschossen aus. Die 19-köpfige Jury (11 davon Fachpreisrichter) entschied sich knapp für den Bau von David Chipperfield und gegen den von Gigon / Guyer.

Der Graben in der Jury verlief nicht zwischen Architekten und Sachpreisrichtern. Es ging um verschiedene Auffassungen von Architektur. Das Steinerne von Chipperfield setzte sich gegen das Gläserne von Gigon / Guyer durch. Das zweitrangierte Projekt versuchte, sich ganz schweizerisch mit Ausschnitten am Volumen an die Situation anzupassen. Anders der Brite: Er stellt ein schnörkelloses Volumen hin, einen Palazzo. Stünde er in Florenz, dann wärs eher der Palazzo Strozzi als der Palazzo Pitti, also ein grosser Bau mit vielleicht absichtlich zu wenig Umgebung. Die Jury meint, der Bau sprenge mit seinen Dimensionen die im Quartier üblichen Massstäbe, und empfiehlt das oberirdische Volumen zu verkleinern. Im Wettbewerb sprach man noch vom Museum des 21. Jahrhunderts, das entstehen sollte. Doch der grosse Wurf fehlt unter den 20 Projekten. Dafür gabs zu viele Bedingungen.

Kommentar profaner Tempel versus sakrales Warenhaus

Wie sieht ein Kunsthaus aus? Jetzt wissen wirs: Ein mächtiger Kubus mit Steinfassade, die Fenster mit senkrechten Lamellen verschleiert, innen eine durch alle Geschosse gehende Halle, oben Oberlichtlichtsäle, unten Seitenlicht, eine brauchbare innere Organisation, das alles hatten wir schon. Das «Museum des 21. Jahrhunderts» gleicht dem des 19. David Chipperfields neues Kunsthaus ist brav und konventionell. Keine Experimente beim Projekt, das Umfeld ist schon schwierig genug.

Haben alle gemerkt, wie dominant und monumental dieser Quader ist? Nach aussen geschlossen sendet er die Botschaft aus: Ich bin eine Majestät. Er ist der Eckstein der geplanten Bildungs- und Kulturmeile, ein städtebauliches Schwergewicht, dem sich das bestehende Kunsthaus unterordnen muss. Die stumme Masse erzeugt durch ihr Gewicht eine stille Würde. So sieht die Monumentalität heute aus. Chipperfield behauptet den Vorrang des Museums als öffentlicher, genauer als wertvoller, weil wertvermittelnder Bau. Die Kunst ist das andere, sie braucht ein Weihegefäss. Das Museum ist ein profaner Tempel.
Der zweite Preis von Gigon / Guyer sagt: Ich bin ein Republikaner. Das grosse Volumen wird aus einzelnen Baukörpern zusammengesetzt, vielgliedrig versucht der Riesenbau kleiner zu wirken als er ist. Seine Haut leuchtet. Der zweite Preis will nicht Würde, sondern Interesse wecken, will einladen, offen sein. So sieht die prä-tentiöse Bescheidenheit heute aus. Sie behauptet die besondere Selbstverständlichkeit des Museums. Die Kunst ist Wahrnehmung, sie braucht ein Schauhaus. Das Museum ist ein sakrales Warenhaus.

Der erste Preis ist ein später, heimlicher Verwandter des Kunstmuseums Basel. Eine Querelle des Anciens et des Modernes liegt in der Luft wie damals, als Christ und Bonatz sich 1932 gegen Hans Schmidt durchsetzten. Das löste eine Monumen-talitätsdebatte aus, jetzt ist in Zürich eine fällig. Wie sieht ein öffentlicher Bau mit «gehobener Bestimmung» aus, braucht ein Kunsthaus Würde? Wenn ja, was verleiht sie? Der Stein oder das Glas? Ob David Chipperfield das «Museum des 21. Jahrhunderts» gefunden hat, ist fraglich, ein funktionierndes, Würde aus-strahlendes hingegen fand er sicher. Trotzdem, zwischen Schwellenangst und Würde ist ein ziemlicher Spalt. Der will erst gefüllt sein.

hochparterre, Fr., 2009.01.16



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Kunsthaus Zürich - Erweiterungsbau



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06. August 2008Ivo Bösch
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Obligatorischer Halt

An einem Dienstagnachmittag ist der Parkplatz leer. «Wir mussten die Parkierung auf Spitzenzeiten auslegen», sagt der Architekt Stefan Kurath. Vier der...

An einem Dienstagnachmittag ist der Parkplatz leer. «Wir mussten die Parkierung auf Spitzenzeiten auslegen», sagt der Architekt Stefan Kurath. Vier der...

An einem Dienstagnachmittag ist der Parkplatz leer. «Wir mussten die Parkierung auf Spitzenzeiten auslegen», sagt der Architekt Stefan Kurath. Vier der 9,5 Millionen Franken teuren Autobahnraststätte hat der Parkplatz verschlungen. Der Kostendruck war so gross, dass auch der Parkplatz karg gestaltet ist: Die Steine um die Parkfelder liessen die Architekten aus dem Aushub sammeln und waschen. Als Zweites fällt die schwer beschreibbare Form des Gebäudes auf, die aus schiefen Wänden und unregelmässigem Dach besteht. Der Entwurf sei formal, gibt Kurath zu. Die Form habe sich aber aus der Landschaft, der Raumgliederung und der inneren Organisation ergeben. «Wichtig war uns, dass Wand und Decke sich verweben.» Das Trapez-Profilblech auf dem Dach und an den Wänden soll mit seinen dicken Rändern an Autos erinnern.

Raststätten haben eigene Regeln. Der Grundriss muss ein Rundgang sein. An einem einzigen Ort kommt man rein, gleich daneben geht man wieder raus. Die Kasse steht am Ausgang mit Sicht auf die Tankstelle. Die Architekten haben die strengen Bedingungen eingehalten, aber die Architektur nicht geopfert. Einen Zwang haben sie sich selbst auferlegt: Ein eigenes Dach für die Zapfsäulen kam nicht in Frage. Damit schufen sie das Problem, dass Besucher die Raststätte durch die Tankstelle betreten müssen. Deswegen haben die Architekten den Zugang leicht abgedreht. Das Konzept geht auf: Wer die Raststätte betritt, kommt sich nicht seltsam vor, wenn er kein Benzin nachfüllt; das Tankstellendach ist auch ein Vordach.
Wer den Eingang hinter sich gelassen hat, hält kurz den Atem an. Ein vollständig in Holz verkleideter und unregelmässig geformter Innenraum verbirgt sich hinter der Blechhülle. Was der Besucher nicht sieht, ist die gewaltige Holzkonstruktion, die zusätzlich nur von einzelnen aussteifenden Betonwänden gestützt wird. Die Bar steht im Zentrum, wo der Raum am höchsten ist. Drei Lichtkuppeln belichten ihn und er ist voll von kugelrunden Leuchten. Sonst erhellen nur Neonröhren die offene Halle. Von der Mitte gehts in die ‹Tentakel›, in die zwei Restaurant-Räume, in den Shop und in den ‹Viamala-Markt›.

Der regionale Markt geht zurück auf die Regionalorganisation Heinzenberg, Domleschg und Hinterrhein, die sich heute ‹RegioViamala› nennt. Sie war vor zehn Jahren treibende Kraft hinter der Idee Autobahnraststätte. Die Region will von den täglich 15 000 vorbeibrausenden Autos profitieren und verkauft im Markt Produkte, die man früher in den Dörfern mühsam zusammensuchen musste. Das ‹Fenster zur Region›, wie die Architekten ihr Haus nennen, ist auch wörtlich gemeint. Die Fronten des Restaurants lenken den Blick in die Landschaft. Der Reisende sieht den Beverin und den Bauer auf dem Traktor. Kein Tierzaun stört. Das war möglich, weil die Raststätte nicht direkt von der Autobahn aus erschlossen ist, sondern über einen Kreisel an eine Ausfahrt angebunden wurde. Sie ist übrigens auch zu Fuss und per Velo bequem erreichbar.

hochparterre, Mi., 2008.08.06



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Viamala Raststätte Thusis



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19. Mai 2008Ivo Bösch
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Festzelt

Wie haben sie das nur gemacht? Pascal Müller und Peter Sigrist stellen in Amriswil eine neue Festhütte hin, die nicht so recht zum Thurgauer Strassendorf...

Wie haben sie das nur gemacht? Pascal Müller und Peter Sigrist stellen in Amriswil eine neue Festhütte hin, die nicht so recht zum Thurgauer Strassendorf...

Wie haben sie das nur gemacht? Pascal Müller und Peter Sigrist stellen in Amriswil eine neue Festhütte hin, die nicht so recht zum Thurgauer Strassendorf passen will: Unregelmässige Gebäudeform, Hülle aus Blech und farbenfrohe Innenverkleidung stehen auffällig da. Doch Amriswil steht zu seiner Grösse mit 11 500 Einwohnerinnen und Einwohnern und nennt sich seit 2005 selbstbewusst ‹Stadt›. Zwar beteuern die Architekten, dass die 100-jährige Festhütte das Vorbild war. Sie stand am selben Ort. Wer in der Region feiern wollte, kam früher hierher. Doch die Infrastruktur genügte nicht mehr. «Das Fest selbst sollte im Zentrum stehen, es brauchte also nur einen Raum, der das Fest vor Witterung schützt», so die Architekten. Doch mit der Hütte von einst hat der Neubau nur noch gedanklich etwas zu tun. Immerhin haben sich die Architekten inspirieren lassen, wie sie sagen.

Stimmungsvoll sollte die Hülle werden, die Feiernden würden den Raum schon selbst füllen. Von «Analogien zu einem Festzelt» reden die Architekten. Die fünfeckige Form erinnert mit der Giebelspitze tatsächlich an ein Zelt. Zur Eröffnung änderte der Stadtrat von Amriswil aber den Namen ‹Festhütte› in ‹Pentorama›. Das Fünfeck dient der Vermarktung besser und schliesslich will man ja nicht nur feiern. Konzernchefs sind inzwischen genauso aufgetreten wie Mundart-Rocker oder das Militärspiel der Panzerbrigade 11. Wichtig war aber die Amriswiler Weihnachts- und Adventsausstellung (awa). Wegen dieser Messe musste der Bau im Oktober 2007 bezugsbereit sein, was 17 Monate Bauzeit bedeutete. Immerhin half die polygonale Form den Architekten, das Raumprogramm äusserst funktional zu füllen. Was von aussen zugänglich sein musste, ist es auch heute. Die Bühne, Künstlergarderobe, Gastroküche, Zuschauergalerie und die Technikräume sind zwiebelförmig um den Hauptraum angeordnet.

Im Zentrum steht der Festraum. In diesem Saal verschlägts einem die Sprache, aber hoffentlich nicht das Feiern. Zehn nicht sichtbare Stahlträger überspannen bis zu 35 Meter. Die fünfzig Tonnen schwere Stahlkonstruktion liegt nur punktuell auf Stahlbetonwänden. Verdeckt wird sie vom Boden bis zur Saalspitze durch die eigens für Amriswil entworfenen Akustikplatten, die sogar die Empa prüfte. Stimmung kommt jedenfalls auf, in der Halle mit den gelben und grünen Akustikstreifen. Wem dieses farbenfrohe Vierfruchtmuster zu modern ist, kann immer noch den Blick durch das grosse Aussichtsfenster in den von Lorenz Eugster gestalteten Park schweifen lassen. Oder sich ins Foyer zurückziehen und die Schnittmuster von Monica Germann und Daniel Lorenzi verfolgen, die ihre Linien bis auf den Vorplatz ziehen. Der grosse Vorplatz war übrigens mit ein Grund, warum die Architekten den offenen Wettbewerb mit 145 teilnehmenden Büros gewonnen haben. Aus dem Zelt von damals ist ein Bau geworden, mit dem sich die Stadt Amriswil zurecht brüstet.

hochparterre, Mo., 2008.05.19



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Festhütte Pentorama



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08. April 2008Ivo Bösch
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Tourismuspionier

Die Herberge Valbella war 1932 der erste Neubau der Schweizer Jugendherbergen. Damals war noch nicht viel los auf der Lenzerheide und der nicht weiter...

Die Herberge Valbella war 1932 der erste Neubau der Schweizer Jugendherbergen. Damals war noch nicht viel los auf der Lenzerheide und der nicht weiter...

Die Herberge Valbella war 1932 der erste Neubau der Schweizer Jugendherbergen. Damals war noch nicht viel los auf der Lenzerheide und der nicht weiter bekannte Architekt J. Keller aus Chur übte sich gleich im Neuen Bauen. Dreimal ist die Jugendherberge bereits erweitert worden. Den Anbau aus den Siebzigerjahren liessen sie stehen, rissen aber den Ursprungsbau ab. Das gab Platz für einen sechsgeschossigen Neubau. Genug der Anbauerei, werden sie sich gesagt haben. So verstehen die Architekten die zwei Volumen als ein Haus. Erkennbar ist das an den Talfassaden. Doch auf der Bergseite sind die zwei Volumen versetzt zueinander und auch noch verschieden bemalt. Unentschiedenheit oder Raffinesse? «Wir wollten die Teile verschweissen», sagt Gian Carlo Bosch. Die Farbgestalterin Andrea Burkhard entscheid sich aber für die zwei Fassadenfarben ‹serpentin› und ‹tuffstein› und verwischt die Volumen wieder. Kubisches, Farbigkeit, Flachdach, Schiebeläden und Eckbalkon der Abwartswohnung: Da sind wir wieder in der Pionierzeit des Tourismus.

hochparterre, Di., 2008.04.08



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Jugendherberge Valbella



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08. Januar 2007Ivo Bösch
TEC21

«Das ist kein freier Markt»

Walter Hunziker hat 2004 einen internationalen Wettbewerb auf Malta gewonnen. Mit welchen Schwierigkeiten hatte der Schweizer Architekt im EU-Land zu kämpfen? Wo sind heute die grössten Hürden, die es Planenden erschweren, ihre Leistungen zu «exportieren», und was könnte dagegen getan werden?

Walter Hunziker hat 2004 einen internationalen Wettbewerb auf Malta gewonnen. Mit welchen Schwierigkeiten hatte der Schweizer Architekt im EU-Land zu kämpfen? Wo sind heute die grössten Hürden, die es Planenden erschweren, ihre Leistungen zu «exportieren», und was könnte dagegen getan werden?

TEC 21: Das Projekt auf Malta ist nun zur Ausführung ausgeschrieben. Welche Probleme zeigten sich bisher bei diesem «Planen fürs Ausland»?
Walter Hunziker: Im Gegensatz zur Schweiz kennt Malta klare Regulierungen für Architekten und Ingenieure. Wir mussten zum Beispiel feststellen, dass nur jemand Haftpflicht versichert werden kann, der garantiert, für die nächsten zehn Jahre in Malta zu bleiben. Zwar gelten internationale Verträge, aber genauere Ausführungsbestimmungen fehlen.
Pierre Henri Schmutz: Das Beispiel zeigt: Ein Schweizer darf zwar an einem Wettbewerb teilnehmen, weil sein Diplom prinzipiell anerkannt ist. Aber er wird stark bei der weiteren Planung behindert, weil er nicht Mitglied einer Architektenkammer ist. Im Ausland besteht ein Unterschied zwischen Berufsbefähigung und Diplom oder Titel, den wir in der Schweiz gar nicht kennen. Wir funktionieren nach dem Prinzip der Selbstdeklaration und Selbstverantwortung.
Daniele Graber: In Italien beispielsweise darf nur derjenige, der qualifiziert ist, einen bestimmten Beruf ausüben. Kein Bäcker darf Architekt oder Ingenieur spielen, in der Schweiz schon.

Wo können Planende sich Hilfe holen?
Walter Hunziker: Das Seco, das Staatssekretariat für Wirtschaft, hat mir gesagt, man müsse schauen, wie man das regeln könnte. Wenn Sie aber einen Wettbewerb gewonnen haben, muss man im Interesse des Auftraggebers schnell reagieren. Es ist eine unhaltbare Situation, dass man selbst sein Recht durchsetzen muss. Es gibt im Moment nur eine Lösung: sich mit einem Büro vor Ort zusammenzuschliessen. Für unser Projekt wollte ich sowieso von Anfang an ein Joint Venture eingehen, was aber die Behörden von Malta wegen Problemen mit der Mehrwertsteuer nicht bewilligten.
Pierre Henri Schmutz: Das BBT, das Bundesamt für Berufsbildung und Technologie, und das Seco bieten Hilfe an. Es besteht jedoch die Gefahr, dass auf einem A4-Blatt irgendetwas bestätigt wird. Grundsätzlich erhält man zwar Hilfe, doch sie ist dieselbe wie für normale Firmen. Es begleitet Sie jemand mit dem Aktenkoffer ins Ausland, und versucht auf dem administrativen Weg Lösungen zu finden. Diese Hilfe von Fall zu Fall führt aber meist zu Zeitverzögerungen.
Daniele Graber: Es ist schon erstaunlich, die Staaten schaffen Gesetze, die schwierig umzusetzen sind. Zum Glück sind Architekten und Ingenieure kreativ genug, um selbst Lösungen zu finden. Solche Einzellösungen sind ineffizient, aber die Bundesverwaltung handelt immer noch nach diesem – zugegeben sehr pragmatischen – Credo. Die Fachleute suchen in der Folge Umwege. Indem der Staat sie dabei unterstützt, anerkennt er diese informellen Wege. Der Staat soll doch nicht diese intransparenten Verfahren fördern. Die Regeln sind im Prinzip gut gemeint. Sie wollen Transparenz, Rechtssicherheit, Gleichbehandlung schaffen.
Pierre Henri Schmutz: Bei den öffentlichen Ausschreibungen haben wir es nicht nur mit den 25 EU-Ländern zu tun, sondern mit fast 250 öffentlichen Körperschaften, wie die Bundesländer in Deutschland oder die Regionen in Italien. Und es gibt fast ebenso viele Architektenkammern.
Daniele Graber: Das heisst nicht, dass wir diese 250 Institutionen abschaffen sollten, obwohl es schon in der Schweiz gefordert wird, zum Beispiel bei der Revision des Binnenmarktgesetzes. Klar, wir wollen mehr Wettbewerb und weniger Kartelle, da sind wir uns alle einig. Aber man muss die Latte schon auf die richtige Höhe setzen. Hinter den Kantonsregistern stecken ja auch kulturelle, soziowirtschaftliche Überlegungen. Wir haben eben nicht eine völlig liberalisierte Wirtschaft.

Beklagen sich Schweizer Büros über den eingeschränkten Zugang zu Planungswettbewerben im Ausland?
Walter Hunziker: Ich war kürzlich in einer Jury eines Wettbewerbs in der Schweiz. Zurzeit sind etwa ein Drittel ausländische Büros im Teilnehmerfeld. Das geht problemlos. Wenn ich aber im Ausland mitmachen will, muss ich zahlreiche Nachweise erbringen, die ich aufgrund unseres Systems nur schwer liefern kann. Das ist kein freier Markt.
Pierre Henri Schmutz: Man muss wissen, dass die bilateralen Verträge keine reziproken Abkommen sind.
Daniele Graber: Reziprozität war nur ein Thema bei den bilateralen Abkommen für die öffentlichen Beschaffungswesen. Wir öffnen unsere Märkte, und ein anderes Land muss im Gegenzug den Marktzugang gewährleisten.
Pierre Henri Schmutz: Schweizer Architekten und Ingenieure sind seit über 200 Jahren weltweit bekannt. Wenn Sie mal zusammenzählen würden, wie viele grosse Werke in der Welt von Schweizern geplant wurden! Wir kennen – übrigens wie Deutschland und Österreich auch – den Wettbewerb seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Heute sind wir in der Situation, dass wir im Ausland nicht mehr an Wettbewerben teilnehmen können. Noch können es grössere Büros, die Mittel haben und Wege kennen. Doch für junge Architekten und Ingenieure ist es schwierig geworden an, ausländischen Wettbewerben teilzunehmen. Es ist paradox: Seit von Freizügigkeit gesprochen wird, sind die Barrieren höher geworden.
Daniele Graber: Wir haben im Semptember einen Aufruf gestartet, uns Schwierigkeiten zu melden. Auch wenn wir wenige Antworten erhalten haben, konnten wir feststellen, dass viele Probleme bestehen. Ingenieure und Architekten benutzen eben ihr Ingenium und finden Lösungen. Einige haben uns sofort gesagt: Kommt zu mir, wir zeigen euch, wie man es macht.

Wo sind denn die Lösungen? In welche Richtung könnten sich die Regelungen entwickeln?
Pierre Henri Schmutz: Die neoliberalistischen Vorstellungen sind verwirrend, weil man oft Liberalisierung und Deregulierung gleichsetzt. Doch die Europäische Kommission hat es nie so gemeint und auch nie so gesagt. Man kann liberalisieren, ohne zu deregulieren. Die Freizügigkeit und der Zugang zum Markt könnten garantiert werden, ohne dass man Berufsregeln abschafft. Die Architekten in Europa haben die gleichen Probleme wie wir. Zwar nicht im gleichen Ausmass, denn wir sind ausserhalb der EU und kennen eben diese Berufsregelungen gar nicht. Im ACE, im Architects‘ Council of Europe, sind wir inzwischen der Meinung, dass wir harmonisieren müssen. Die Frage ist nicht, wie man den Markt in Europa überall gleich aufbauen kann, sondern wie die einzelnen Systeme in den Ländern beibehaltenwerden können und trotzdem Freizügigkeit garantiert werden kann.
Daniele Graber: In der Schweiz möchten wir mit der Bundesverwaltung eine Abmachung treffen: Die Berufsverbände sollen sich um die beruflichen Aspekte kümmern und mit den entsprechenden ausländischen Institutionen die Anerkennungen regeln. Anfangs sagte die Bundesverwaltung immer, die Schweiz hätte das beste System. In der letzten Sitzung Ende November war man nun bereit, den Vorschlag des REG, der Stiftung der Schweizerischen Register der Ingenieure, Architekten und Techniker, im Detail zu prüfen, in einer Expertengruppe mit Bundes- und REG-Vertretern.

SIA und REG haben für die parlamentarische Motion lobbyiert, die Fachleuten den Zugang zum europäischen Markt erleichtern soll. Der REG-Vorschlag ist ein Versuch, diese inzwischen angenommene Motion umzusetzen. Wie sieht er aus?
Pierre Henri Schmutz: Im REG wollen wir das Gleiche tun, wie wir es im ACE beschlossen haben. Wir möchten die Freizügigkeit gewährleisten und gleichzeitig die kulturellen Differenzen behalten. Schweizer Politiker wie alt Bundesrat Deiss sehen die Zukunft noch im total freien Markt. Doch in Europa wird es nicht so schnell so weit kommen. Also möchten wir in der Schweiz eine Institution, welche die Anerkennung, die Transparenz über die Qualifikation und die Erfahrung der Berufsleute registriert – auf freiwilliger Basis. So werden beispielsweise Architekten, die im REG eingetragen sind, von einer deutschen Architektenkammer anerkannt. Man müsste also nicht mehr den Umweg über in- und ausländische Ministerien nehmen – der dauert heute durchschnittlich acht Monate.
Walter Hunziker: Es wäre also sehr einfach. Das Ziel ist, dass man das bei uns einrichtet, was in allen andern europäischen Ländern schon existiert, damit zwischen diesen Institutionen berufsspezifischer Austausch möglich ist.

Und die konkrete Umsetzung?
Pierre Henri Schmutz: Das System ist bei uns im REG eingebaut und wäre in ein paar Wochen zugänglich.
Daniele Graber: Bundesverwaltung und Berufsverbände haben verschiedene Kompetenzen. Die Verwaltung besitzt gewisses Know-how und kann bestimmte Dienstleistungen bestens erledigen, aber andere nicht optimal. Bei den Berufsverbänden ist es fast umgekehrt. Die Kooperation wäre der beste Weg. Wie sie formalisiert wird, ist sekundär. Mit einem Gesetz, einer Abmachung oder mit einer Absprache? Der SIA erwartet vom Bund mehr Anerkennung.
Pierre Henri Schmutz: Wir sind Mitglied der ACE und anderer internationaler Organisationen. Falls wir keine Unterstützung von unserem Staat bekommen, wäre es im Rahmen einer ‹Self-Regulation› trotzdem möglich, unsere Ziele zu erreichen. Wir haben 110 Experten, die Dossiers regelmässig prüfen können. Zwischen Fachleuten könnte der internationale Austausch im Vertrauen funktionieren. Wir werden versuchen, alle Systeme zu harmonisieren, das heisst, dass man von einem System zum andern wechseln kann. Wir wollen beweisen, dass wir Architekten und Ingenieure fähig sind, diese Freizügigkeit zu garantieren, ohne die Eigenständigkeit in jedem Land zu verlieren. Das ist das grosse Ziel.

Bauen in der Fremde – gibt es Unterschiede zwischen Ingenieuren und Architekten?
Daniele Graber: Wo es Architektenkammern gibt, sind meist auch die Ingenieure reglementiert. Unterschiede gibt es aber in den allgemeinen EU-Regeln. Zu Beginn wollte man eine Richtlinie pro Beruf schaffen. Nach den ersten Richtlinien für Anwälte, Ärzte, Hebammen und Architekten hat die EU gemerkt, dass man das System vereinfachen muss. Heute gibt es nur eine einzige Richtlinie für alle Berufe. Trotzdem sind spezifische Richtlinien in die allgemeinen eingeflossen. Weil es eine Architekturrichtlinie gab, hat man heute spezifische Regeln für Architekten, für Ingenieure nicht. Sie sind dem allgemeinen System unterstellt.

Ist es überhaupt nötig, im Ausland zu arbeiten?
Walter Hunziker: Bei den Architekten ist der kulturelle Hintergrund wichtig. In der Architektur haben wir heute ein ‹Showbusiness›. Es gibt die grossen Stars, die herumwandern, das sind – wie Charles Correa einmal gesagt hat – die Konzertpianisten, heute ein Konzert in Tokio, morgen eines in San Francisco. Die Architektur wird unabhängig vom Ort und zu einem internationalen ‹Einheitsbrei›. Die Unesco oder die UIA, die Union Internationale des Architectes, handeln heute gegenteilig. Ein Austausch soll stattfinden im Respekt vor den Diversitäten und Identitäten. Diese internationalen Organisationen sehen einen Zusammenhang zwischen Tourismus und den ‹World Heritage Sites›: Auf dem Weltmarkt konkurrenzieren sich diese touristischen Ziele. Dabei besteht die Gefahr, dass alles vereinheitlicht wird und die lokalen Identitäten verloren gehen. Meine Erfahrung auf Malta zeigt, dass ich wohl einen Wettbewerb gewinnen kann, aber doch am Ursprung dieser Kultur arbeite. Es gibt eben kein Handbuch, wie der maltesische Stein behandelt wird. Wenn ich ein Gebäude auf Malta auf den Boden stelle, muss es anders aussehen, weil Klima und Landschaft anders sind. Da sind Limiten für den Architekten. Dort, wo echte Architektur gemacht wird und kulturelle Sensibilität gefragt ist, wird es automatisch zu einer Zusammenarbeit mit einem lokalen Büro kommen.
Daniele Graber: Dieser kulturelle Aspekt ist sehr wichtig. Dass man mit einem lokalen Büro zusammenarbeiten muss, sollte aber nicht gesetzlich festgeschrieben werden. Da würde man im Namen des freien Marktes protektionistische Massnahmen anwenden.
Pierre Henri Schmutz: Trotzdem würde mir ein liberalisierter Markt im Moment Angst machen. Wir haben bis jetzt in der Schweiz mit einem sehr liberalen System gelebt – für die Qualität der Architektur war das gut. Die Vernetzung der Fachleute ist so, dass alle Architekten und Ingenieure bis jetzt noch in diesem Verständnis vom Bauen aufgewachsen sind. Sobald man aber das Bauen nur noch als Markt sieht, geht die Baukultur verloren. Allein mit Regeln entsteht hingegen auch noch keine gute Architektur.
Daniele Graber: Das Grundproblem liegt vielleicht bei der intellektuellen Dienstleistung – schon die Offerte ist eine Leistung. Intellektuelle Dienstleistungen werden heute als Produkt behandelt. Die standardisierte Beschreibung eines Produkts ist im Detail möglich, nicht aber bei intellektuellen Dienstleistungen.

Hätten Architekten und Ingenieure im Ausland Chancen?
Daniele Graber: Interessant ist, dass bei vielen Planern das hohe Lohnniveau keine Probleme im Ausland verursacht, weil die Qualität stimmt. Schweizer Planer sind so ausgebildet, dass sie sehr effizient arbeiten können. Das wird im Ausland geschätzt und wird auch entsprechend honoriert. Im Ausland zu arbeiten kann auch sonst sehr bereichernd sein.
Pierre Henri Schmutz: Man sieht es an unserer Architektur. In der Ausbildung und in der Praxis herrscht generell eine sehr hohe Qualität. Das ist weltweit anerkannt. Auch die Systeme in Euro-pa haben gut funktioniert – nicht immer einwandfrei, aber jedes Land hat Qualität hervorgebracht. Wir haben fast nur über Europa gesprochen, die gleichen Probleme haben wir aber auch in Asien. Was passiert wohl, wenn wir das alles abschaffen und nur noch von einem Markt reden?

TEC21, Mo., 2007.01.08



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30. Mai 2006Ivo Bösch
TEC21

Siebenfüssler und andere Naturformen

Am 26. Juli wird Heinz Isler 80 Jahre alt. Er hat Hunderte von Schalen gebaut und weltweit Hunderte von Vorträgen gehalten. Seine Welt ist die der Schalen. Deren Möglichkeiten und Grenzen hat er sein Leben lang ausgelotet. Zu Besuch in Islers Schalenwelt, in seinem Büro und Garten.

Am 26. Juli wird Heinz Isler 80 Jahre alt. Er hat Hunderte von Schalen gebaut und weltweit Hunderte von Vorträgen gehalten. Seine Welt ist die der Schalen. Deren Möglichkeiten und Grenzen hat er sein Leben lang ausgelotet. Zu Besuch in Islers Schalenwelt, in seinem Büro und Garten.

Islers Welt ist die der Betonschale, der er sein ganzes Berufsleben gewidmet hat. Deshalb erzählt er schon in der ersten Viertelstunde der Begegnung vom wunderbaren Baustoff Beton. Von der Natur, von der Geologie, vom Kies, der unter der Landschaft liegt, durch die er uns auf dem Weg fährt.

Formsuche

Statt uns direkt in sein Büro zu führen, zeigt er eine seiner über 1000 gebauten Schalen, genauer gesagt zehn Schalen, die für eine Gewerbehalle in der Nähe von Burgdorf aneinander gestellt wurden. Das Grundelement besteht aus Islers weit verbreiteter „Industrieschale“, einer 1954 entwickelten Buckelschale. Zuvor hatte Isler sich an der ETH in Zürich zum Bauingenieur ausgebildet. Schon für seine Diplomarbeit entwarf er ein Schalentragwerk. Danach besuchte er für neun Monate die Kunstgewerbeschule, kehrte aber dann zum Ingenieurberuf zurück. Der kurze Umweg zeigt, wie wichtig für Isler ein gesamtheitlicher Blick ist. Stets interessierte er sich für die schöne Form. In der Eingangshalle seines Büros sehen wir später ein selbst gemaltes Bild: Durch den Nebel, der die Themse einhüllt, dringen gleissende Sonnenstrahlen. Ein Licht, das ihn so faszinierte, dass er zum Malkasten griff. So erstaunt nicht, dass er sich mit den Formen der Schalen nicht zufrieden gab, die er als junger Ingenieur kennen lernte.

1995 schrieb er, dass bis Mitte des 20. Jahrhunderts zahlreiche Bauten mit Schalendächern entstanden, aber dass sich „die Schalenformen auf wenige Formtypen beschränkten: Zylinderdächer, zylindrische Schalensheds, Kegelausschnitte, Kugelausschnitte und Hyperboloide“.1 Diese der elementaren Geometrie entlehnten Formen gefielen Isler nicht. Ihre Tragkraft war beschränkt, und sie enthielten meistens Zonen mit Zugspannungen, sodass der Beton Risse erhält und mit einem Dachbelag abgedichtet werden muss. Besonders störten Isler die Geraden. Ein liegender Halbzylinder weise zum Beispiel in der einen Richtung eine Kreisform auf, in der anderen hingegen eine Gerade, also einen Bogen mit unendlichem Krümmungsradius, und es sei bekannt, dass die Krümmungsradien wesentlich über die Qualität einer Schale entscheiden würden. Während seiner zweieinhalb Jahre als Assistent bei Professor Pierre Lardy hatte er den Wert von Modellen für statische Untersuchungen kennen gelernt. 1954 inspirierte ihn sein Kopfkissen zum Bau eines „technischen Kissens“. Er spannte eine Gummimembran in einen rechteckigen Holzrahmen und blies sie auf. Das war seine erste Methode zur Formfindung. Die entstandene Buckelschale war äusserst leistungsfähig. „Damit war der Ausbruch aus den engen Grenzen rein geometrischer Formen geschafft.“

Auf der Buckelschale

Neben solch einer Schale stehen wir nun, und ehe der zurückhaltende Ingenieur viel erklärt, steigt er die Metallstufen am senkrechten Schacht hoch. Das Dach der Gewerbehalle besteht aus einer ruhigen Betonlandschaft (Bild 1). Isler zeigt, dass die 22u22 m überspannenden Schalen am besten über die Diagonale bestiegen werden. Wir sind fast 8 m über Boden, nur 8cm Beton tragen uns. Isler erzählt, wie er die ersten Oberlichter, die später zum Markenzeichen der Industrieschale wurden, eigenhändig habe giessen müssen. Die glasfaserverstärkten Polyesterschalen mit einem Durchmesser von 5 m wurden später in grossen Mengen in Lizenz produziert. Hier oben erklärt uns Isler auch, wie seine anfänglich weissen Betonschalen mit der Zeit grau und schwarz werden „wie Felsen“. Danach heften sich Moos und Flechten an den Beton. Nie dringen sie in die Schale ein, denn diese habe eben keine Risse. Und tatsächlich lässt sich auf diesen nackten Betonkuppeln kein einziger Riss finden. 44 Jahre haben die Schalen auf dem Buckel, und man glaubt Isler gern, dass sie auch noch weitere Jahrzehnte mühelos überdauern werden. Dann führt uns der 80-jährige Schalenbaumeister den „Stampftest“ vor. Er weiss, an welcher Stelle er aufspringen muss, damit die ganze Schale zu vibrieren und zu tönen beginnt. Diesen Test habe er bei jeder Schale gemacht, nachdem man die Holzschalung zuerst 5cm gesenkt hatte und die Schale sich nach dem Betonieren zum ersten Mal selbst trug.


Im Modellgarten

Wir sind „im Schachen“ zwischen Burgdorf und Kirchberg, wo Isler 1964 sein einstöckiges Bürohaus errichtete. Am dreiflügligen, flach gedeckten Bau wandte Isler das gleiche Konstruktionsprinzip an wie bei den Schalen. Die Decke, die sonst durchhängen würde, ist vorgespannt. Durch diesen Druck können an der Aussenfläche keine Risse entstehen. Auch hier bildet nur der Beton die Dachhaut. Inzwischen ist das Flachdach ganz eingewachsen, es musste noch nie saniert werden.

Das Land um sein abseits gelegenes Büro war immer auch ein Testgelände. Hier stehen Kunststoffschalen im Gras wie Skulpturen in einem Park. Man findet beispielsweise ein 1:1-Modell für erdbebensichere Bauten im Iran (1977), die zusammen mit dem Architekten Justus Dahinden entwickelt wurden (Bild 3). Das „Bubble House“ - so würde man es heute nennen - sollte mit einem aufgeblasenen Ballon als wiederverwendbare Schalung gebaut werden. Der Sturz des Schahs setzte dem Projekt ein Ende. Daneben steht das 1:10-Modell der Schale für die Migros in Bellinzona (1964). An diesem 3.40u3.40 m grossen Modell erkennt auch ein in statischen Stärken Ungeschulter die hohe Tragfähigkeit einer Schale: Man getraut sich kaum, die knapp 1cm dünne Zementschale zu berühren, und fürchet, dass sie zerbrechen könnte. Doch die Schale ist hier seit mehr als 40 Jahren unbeschadet Frost, Wind und Wetter ausgesetzt (Bild 4).

Freie Formen

Vorbei an einem Vogelhaus aus einer Kunststoffschale, einem Modell einer Tennisschale, die Isler Ende der 1970er-Jahre entwickelte, betreten wir sein Büro (Bild 2). Zu den besten Zeiten arbeiteten hier 40 Personen, heute begrüsst Isler nur noch Herrn Glanzmann, seinen „Assistenten“, der ihn seit 40 Jahren begleitet. Dieser hat im Hausdienst begonnen, baute Modelle, kontrollierte Armierungen und bildete sich nach und nach zum Ingenieur weiter. Seit Isler einen neuen Beruf hat - er pflegt seine erkrankte Frau fast rund um die Uhr -, ist er nur noch selten im Büro anzutreffen. Deshalb leitet Glanzmann die anstehenden Arbeiten. Letztes Jahr waren das acht neue Industrieschalen in Bubendorf (BL). Trotzdem scheint die Zeit stillgestanden zu sein. Man kann sich gut vorstellen, wie hier die Ingenieure in den 1960er- und 1970er-Jahren in weissen Kitteln intensiv und gleichzeitig in Keller und Garten an den heute noch vereinzelt herumstehenden Modellen gearbeitet haben.

In den Gängen hängen Bilder von Islers wichtigen Projekten. Er zeigt uns das Gartenzentrum Wyss in Solothurn. Es war 1962 seine erste „freie Form“ - so nennt Isler die Schalen, die er mit seiner zweiten Methode zur Formfindung entwickelte. Die berühmten „Hängeformen“ gehen auf eine Beobachtung auf einer Baustelle zurück: Auf einem Armierungsnetz lag ein Stück Sacktuch. Nass von der vergangenen Nacht, zeigte es die schöne Gestalt der hängenden Form. Bei den folgenden Versuchen „fror“ er jeweils die Formen ein und drehte sie um. „Dabei wechseln die Spannungen das Vorzeichen. Sie gehen vom reinen Zug zum reinen Druck über.“ Später sollte Isler noch an einer dritten Methode arbeiten, an der Fliessmethode. Ziel dabei ist, dass das Material seine eigene Form findet: „selbstwerdende“ Formen, die man nur „richtig starten“ muss.

Isler zeigt uns die Kirche im solothurnischen Lommiswil (1967) und die Autobahnraststätte Deitingen (1968), die vom Abbruch bedroht war und heute geschützt ist. Er erzählt von seiner Mitarbeit an den Sportbauten für die Olympischen Spiele in München (1967-68), von seinem „Siebenfüssler“ für die Fabrikhalle Sicli in Genf (1970), von seinen Dutzenden von Gartencentern, die er in der Schweiz und in Frankreich bauen konnte, und von seiner grössten 54u58 m messenden Buckelschale für das Coop-Verteilzentrum in Wangen bei Olten (1960). Sie überspannt, in der Diagonale und in der Krümmung gemessen, 90 m - mit einer Stärke von 15 cm Beton. „Ist doch verrückt“, sagt Isler selbst.

Modellforschung

In einzelnen Büroräumen stapeln sich Archiv- und Planschachteln. Sie sollen dem Architekturmuseum in München übergeben werden. Was mit Büro und Garten geschieht, ist noch offen. Die Modelle im Keller sollen aber auch in die Pinakothek der Moderne transportiert werden, sobald dort Lagerplatz gefunden ist. Ja, die Modelle: Monatelang wurde an ihnen gearbeitet. Isler blüht auf, wenn er durch den Keller führt, auf die Plexiglasscheiben drückt, um die Wirkung einer Schale zu erläuten, an den unzähligen zusammengehängten Gewichten zieht.

Was hier verspielt aussieht, war jahrelange seriöse Forschung mit eigenen Mitteln. Isler konnte sich bei seinen Neuheiten keinen Fehler leisten. Die grossen Modelle, die ihn bis zu 100000 Franken gekostet haben, dienten dazu, die Grenzen der Schalen kennen zu lernen. Sie zeugen von Islers Gründlichkeit, aber auch von seiner Experimentierfreudigkeit, und sie machen deutlich, dass Isler kein fantastischer Entwerfer, sondern stets auch Baumeister war. Eberhard Schunk redet von der baumeisterlichen Einheit bei Isler.[2] Tatsächlich spricht selbst Isler von einem System. Sie hätten keine Einzelidee entwickelt, sondern sich immer auch mit der Witterung oder etwa mit der Betonmischung beschäftigt. Isler beurteilte die Schalen und kontrollierte die Ausführung. Dafür baute er ein ganzes Netz von Firmen und Zulieferern auf. Er bedauert, dass dieses Know-how langsam verloren geht. Der Architekt Pius Flury zitierte Alberti für Islers Bauwerke: „Eine Figur oder Form ist dann vollkommen, wenn sie ein einheitliches Ganzes bildet, dem man nichts mehr hinzufügen und dem man nichts mehr wegnehmen kann.“[3] Sein Assistent, Herr Glanzmann, fährt uns an den Bahnhof in Burgdorf zurück.

TEC21, Di., 2006.05.30



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13. April 2006Ivo Bösch
TEC21

«Das Patent ist ein neues Thema»

Der Architekt Hans Zwimpfer hat erstmals in der Schweiz ein Patent für ein Architekturkonzept angemeldet. Bisher wurde dieses Vorgehen nur für Elementhäuser angewendet, deren Konstruktionweise geschützt werden sollte. Wie kam es dazu? Ist das freie Entwerfen in Gefahr? Was bedeutet das für den Architekturwettbewerb? Auslöser für das Gespräch – aber nicht Thema – war auch, dass Hans Zwimpfer einem Architekturbüro vorwirft, in einem Wohnbauwettbewerb sein geschütztes Konzept kopiert zu haben.

Der Architekt Hans Zwimpfer hat erstmals in der Schweiz ein Patent für ein Architekturkonzept angemeldet. Bisher wurde dieses Vorgehen nur für Elementhäuser angewendet, deren Konstruktionweise geschützt werden sollte. Wie kam es dazu? Ist das freie Entwerfen in Gefahr? Was bedeutet das für den Architekturwettbewerb? Auslöser für das Gespräch – aber nicht Thema – war auch, dass Hans Zwimpfer einem Architekturbüro vorwirft, in einem Wohnbauwettbewerb sein geschütztes Konzept kopiert zu haben.

Klaus Fischli: Mit dem Urheberrecht beschäftigen wir uns schon lange. Doch das Patent ist für uns in der Wettbewerbskommision SIA 142 ein neues Thema. Es erstaunte uns, dass ein Architekturkonzept geschützt werden kann. Mir ist noch nicht klar, was den Patentschutz so attraktiv macht.

Andreas J. Maier: Das Urheberrecht besitzt jeder, sobald er eine Idee in eine Form gebracht hat. Man erhält es also automatisch. Wenn jemand mein Urheberrecht verletzt, so muss ich beweisen, dass ich der Urheber bin. Wenn ich aber ein Design oder ein Patent angemeldet habe, dann erhalte ich von Amtes wegen eine Verbriefung, dass ich als Erster eine Idee hatte. Der Vorteil und die Grundidee des Schutzrechtes liegen in dieser Beweisumkehrung. Wenn nun etwas geschaffen wird, das meinem Patent entspricht, so wird mein Patent verletzt. Ob die betreffende Person das gewusst hat, spielt keine Rolle mehr. Seine Ansprüche muss der Patentinhaber trotzdem noch geltend machen.

Bruno Trinkler: Als ein Vertreter der Wettbewerbskommission muss ich doch Bedenken anmelden. Müssen wir als Preisrichter bei den vielen Projekten, die wir jeweils zu beurteilen haben, in Zukunft erkennen, ob ein Projekt patentrechtlich geschützt ist? Ich hatte schon Schwierigkeiten, mich in die Patentschrift von ‹Pile up› einzulesen.

Andreas J. Maier: Eine Patentanmeldung ist tatsächlich etwas komplizierter, weil man sie ausformulieren muss. Es genügt nicht – wie bei einer Designanmeldung –, eine Ansicht zu zeigen. Als Hans Zwimpfer mich anfragte, habe ich zuerst in der Patentliteratur nachgeschlagen, was es schon gibt, und danach das architektonische Konzept in Worte gefasst. Mit der Einreichung des Patentes beginnt ein langes Prozedere. Das heisst, das Europäische Patentamt prüft es zuerst auf Neuheit. Ist die Idee nicht schon bekannt? Weiter muss eine erfinderische Tätigkeit gegeben sein – da stellt man sich die Frage, ob die Erfindung nicht heute im Markt selbstverständlich ist. Als Drittes wird geprüft, ob das System wirtschaftlich anwendbar ist. Diese drei Punkte sind fürs Patent entscheidend.

Jürg Gasche: Mich interessiert der berufliche Hintergrund des Prüfers beim Europäischen Patentamt, denn zum Beispiel für mich als Architekturlaie wäre vieles neu am ‹Pile up›.

Andreas J. Maier: Ein Fachmann ist dabei. Wenn es um Architektur geht, wird ein Architekt dabei sein. Bei uns hat der Rechercheur in der Patentliteratur zwei amerikanische Patentschriften gefunden und sie mit unserem Antrag verglichen und festgestellt, dass unsere Idee dem Stand der Technik entspricht, dass sie neu und erfinderisch ist. Aufgrund dieser Prüfung erteilte das Europäische Patentamt die Schutzschrift. Eine objektiv unabhängige Behörde hat demnach beurteilt, dass das nun unsere Erfindung ist.

Hans Zwimpfer: Interessant ist vielleicht, zu sehen, warum ich überhaupt das ‹Pile up› geschützt habe. Vor vier Jahren wollte ich ein kritisches Buch schreiben über den Städtebau, weil ich seit 50 Jahren unzufrieden bin mit der Zersiedlung in Mitteleuropa, mit diesem ‹Urban Sprawl›, der von Amerika zurück nach Europa gelangt. Doch es gibt schon viele Bücher – Avenir Suisse und das ETH-Studio Basel haben schon grosse Bücher herausgegeben, in denen sie die ganze Schweiz neu planen. Schliesslich habe ich mich entschieden, zuunterst anzufangen, beim Wohnen. Dem ‹Hüsli-Bauen› wollte ich eine neue Form des Wohnens entgegenstellen. Und wer hat mich nun auf diesen quasi merkantilen Weg gebracht? Als ich im März vor zwei Jahren meinen beiden Verwaltungsräten Peter Rechsteiner, 1992–1997 Leiter der Rechtsabteilung beim SIA, und dem SIA-Präsidenten Daniel Kündig mein neues Konzept vorstellte, haben sie mir geraten, es gleich patentieren zu lassen. Falls ich mit ihm auf den Markt käme, sagten sie, würde die Idee sofort kopiert.

Klaus Fischli: Für die auch stapelbaren Wohntypen von Le Corbusier lässt sich wahrscheinlich kein Patent finden. Er besass demnach ‹nur› das Urheberrecht. Seine Ideen wären heute sowieso nicht mehr patentierbar, weil sie allgemein bekannt sind. Damit ist eine Bedingung für ein Patent nicht mehr erfüllt. Ich denke, wir sind uns einig, dass es nicht ums Kopieren geht, sondern es gehört zu unserer Arbeitsmethode, dass wir uns Anregungen aus Beispielen holen.

Tina Puffert: Die einzelnen Merkmale von ‹Pile up› sind sicherlich schon mal gebaut worden, nicht aber die Kombination dieser Elemente. Die Maisonette-Wohnung von Le Corbusier ist eine tolle Idee, aber in einer Zeit, in der immer mehr alte Leute eine Wohnung suchen, ist eine Wohnung auf zwei Geschossen unpraktisch. Der hohe Raum ist beim ‹Pile up› aus einer andern Motivation entstanden. Es zeigt unsere heutige Haltung zum zeitgenössischen Wohnen – eine Möglichkeit mindestens. Es gibt bestimmt noch viele andere Möglichkeiten, wie man schön wohnen kann. Das ‹Pile up› ist ein System, in dem die räumliche Idee wiederholt und an jedes neue Grundstück individuell angepasst wird. Innerhalb jedes Projektes haben wir eine extreme soziologische Gleichstellung: Die Wohnungen sind alle gleich konzipiert, es gibt keine Dachgärten, keine Gärten im Erdgeschoss. Es ist eine Systematik, die durchgezogen wird.

Andreas J. Maier: Und ganz konkret gesprochen: Ob das Patentierte neu ist oder nicht, liegt jenseits unserer Beurteilung. Das hat der Prüfer vom Europäischen Patentamt schon beschlossen…

Bruno Trinkler: Ich habe einen grossen Respekt vor der geleisteten Arbeit. Die immense Erfahrung des Büros Zwimpfer erkennt man im Projekt. Ein Unbehagen bleibt mir aber. Versetzen Sie sich mal in jemanden, der noch nicht diese Erfahrung aufweisen kann. Ich bin der Meinung, dass auch jüngere Leute ihre Versuche machen sollten auf diesen Gebieten. Wenn sie aber durch solche doch sehr offen gefassten Patentschriften behindert werden – das Patent von Hans Zwimpfer könnte nur das erste von vielen sein –, so blockiert man doch ein Feld von Entwicklungen.

Klaus Fischli: Wenn ich das ‹Pile up› richtig verstanden habe, geht es vor allem um das räumliche Konzept, das patentiert ist, also um diese Stapelung der Wohneinheiten nach einem bestimmten System.

Hans Zwimpfer: Gestapelte Wohnungen heisst für mich gestapelte Einfamilienhäuser. Das Wesentliche ist, dass jede Wohnung grosszügig ist, also nicht nur das oberste Geschoss eines Wohnhauses. Wichtig war mir, dass es auf verschiedenste Gebäudeformen anwendbar ist. Man kann es in allen städtebaulichen Bauformen realisieren.

Andreas J. Maier: Die Grundidee des ‹Pile up› liegt in der inneren flexiblen Struktur. In der Patentschrift steht dazu, dass die Wohneinheiten individuell anpassbare Wohnflächen besitzen. Sie müssen gestapelt sein. Entscheidend für das Patent ist, dass jede Wohnung aus einem eingeschossigen Wohnungsteil und einem zweigeschossigen Wohnungsteil mit einem zweigeschossigen Aussenraum besteht. Die Fläche des eingeschossigen Wohnungsteils muss dabei mindestens so gross sein wie die des zweigeschossigen. In allen Wohnungen muss jeweils der zweigeschossige Wohnungsteil dieselbe Grundfläche aufweisen, und die eingeschossigen Wohnungsteile müssen übereinander liegen.

Bruno Trinkler: Die Themen der Zersiedelung und des Wohnungsbaus bewegen uns als Architekten schon seit Jahren und haben uns immer wieder zu Versuchen veranlasst – in Wettbewerben oder im ‹normalen› Wohnungsbau. Wir operieren häufig mit zweigeschossigen Räumen in Wohnungen – hie und da auch mit einem zweigeschossigen Aussenraum. Und besteht nicht jedes Mehrfamilienhaus aus gestapelten Wohnungen? Muss ich nun jedes Mal, wenn ich eine solche Wohnung entwerfe, Hans Zwimpfer fragen, ob er diesen Typ schon geschützt hat, und wenn nicht, könnte ich ihn anmelden?

Andreas J. Maier: Es geht nicht nur um ein Stapeln der Wohnungen. Die Bilder in der Patentschrift beschreiben, wie das System der Stapelung konkret funktioniert. Allgemein bin ich der Meinung, dass der «Versicherungsaspekt» nur eine Ebene des Patentes ist, die andere Ebene ist die strategische. Da ist für die Architekten ein Feld, das noch nicht erkannt wurde. Andere Industrien setzen das Schutzrecht schon lange gegen Konkurrenz ein. Dabei geht es um die gegenseitige Aufschaukelung der Innovation. Die Umgehung eines Patentes schafft wieder Kreativität. Im Maschinenbau beispielsweise werden Patente als strategische Mittel eingesetzt. Ich denke, wir werden – weil Amerika Vorreiter ist – in Europa auch in der Architektur häufiger mit Schutzrechten, sprich mit Design und Patent, konfrontiert sein. Und grundsätzlich müsste ein Architekt tatsächlich bei einem neu entworfenen Haus sich überlegen, ob er ein Patent verletzt. Jeder Ingenieur muss sich diese Frage stellen, jeder, der technisch tätig ist.

Hans Zwimpfer: Hier habe ich ein Buch von Le Corbusier. Bevor ich die Idee patentieren liess, habe ich darin nachgesehen. Ich habe in der klassischen Moderne gesucht, bei den Holländern, bei den Engländern. Mir ist bis jetzt kein Vorgängerbeispiel bekannt. Zusammen mit Timothy Nissen habe ich schon in seinen Büchern gesucht. Und kürzlich sagte Kurt Aellen zu mir, Le Corbusier sei beim Pavillon de l’Esprit Nouveau, der nur als Musterhaus gebaut wurde, stehen geblieben, und ich hätte ihn nun weiterentwickelt. Mein Traum ist übrigens, die Immeuble-Villa mal noch zu bauen, weil ich es als eine Schande betrachte, dass das Gebäude nie gebaut wurde. Ich will mich als älterer Architekt nicht blamieren. Deshalb habe ich die ganze Literatur durchsucht und viele Leute gefragt, ob sie so was wie das ‹Pile up› nicht schon gesehen haben. Ich glaube aber auch, dass jede Idee ihre Vorläufer hat.

Jürg Gasche: Hans Zwimpfer hat gesagt, dass ihn die Zersiedelung unseres Territoriums stört. Ich frage mich – vielleicht auf einer philosophischen Ebene –, ob mit dem Trend zur Patentierung nicht auch eine Zersiedelung der geistigen Landschaft entsteht. Andreas J. Maier sieht das optimistisch und glaubt an zusätzliche Kreativität. Unsere Panzersperren oder die Stadtmauern mussten auch irgendwann geschleift werden. Ich befürchte eine Behinderung von Entwicklungen. Segeln die Architekten in Zukunft nicht in einem Gebiet voller Riffe, die nur auf den Patentämtern kartografiert sind?

Tina Puffert: Dass das Patent für uns alle in der Architektur ein neues Thema ist, bezweifelt niemand. Die Motivation, so etwas zu tun, ist, eine solche Systematik überhaupt mal zu formulieren. Mit diesem systematischen Ansatz arbeiten Architekten selbst im Wohnungsbau relativ selten.

Bruno Trinkler: Da muss ich widersprechen. Dass im Wohnungsbau nicht systematisch gearbeitet wird, stelle ich klar in Abrede – wenn wir denn von Architektur reden und nicht von irgendwelchen «Bauereien». Für die engagierte Architekturgilde mindestens reklamiere ich, dass sie systematisch arbeitet.

Tina Puffert: Ich will keinem Architekten vorwerfen, dass er nicht systematisch arbeitet. Mir geht es darum, dass für einzelne Probleme im Wohnungsbau ein System erarbeitet werden kann – also für etwas, das wiederholt und an mehreren Orten angewendet werden kann. Etwas so weit zu formulieren, dass man es patentieren lassen kann, dazu gehört eine andere Systematik und ein gewisser Ehrgeiz. Architekten könnten sich doch motiviert fühlen, wiederkehrende Problemlösungen oder bestimmte Arbeitsschritte, die sie immer wieder tun, patentieren zu lassen. Nur weil es in der Architektur noch nicht üblich ist, heisst nicht, dass es nicht eine Chance für den Markt wäre. Den Architekten geht es im Moment nicht besonders gut. Vielleicht ist die Patentierung eine Chance, anders wirtschaftlich zu denken. Man könnte sich angestachelt fühlen, Lösungen für grundsätzliche Probleme zu finden und nicht jedes Mal individuell für ein Grundstück zu entwerfen. ‹Pile up› ist nicht nur ein Projekt, ‹Pile up› sind im Moment fünf Projekte. In zwei Fällen sind wir inzwischen auch sehr erfolgreich im Verkauf.

Jürg Gasche: Das heisst, es kann durchaus attraktiv sein, ein Konzept patentieren zu lassen, wenn man die entsprechenden Vermarktungsmöglichkeiten besitzt. Für ein junges Büros, das keinen Zugang zu solchen Kanälen hat und sich vor allem in Wettbewerben profilieren möchte, ist es möglicherweise viel weniger attraktiv.

Tina Puffert: Das stimmt sicherlich, und das ist vielleicht auch ein kritischer Punkt. Aber in Deutschland zum Beispiel funktioniert das Wettbewerbssystem schon lange nicht mehr. In Baden-Württemberg soll es so viele Architekturbüros geben wie in ganz Frankreich. Das sind zu viele, als dass die Einzelnen eine Überlebenschance hätten. Als Alternative könnten doch junge Büros ein Idee entwickeln, die sie patentieren lassen und verkaufen. Von der einen Million Franken, die wir in das ganze Konzept gesteckt haben, waren etwa drei Viertel für Marketing und Marktforschung. Ich glaube nicht, dass ein kleines Büros sich die eigentliche Patentierung nicht auch leisten kann. Ein junges Büro kann realistischerweise eher auf einer Patentierung aufbauen als auf der Hoffnung, einen Architekturwettbewerb zu gewinnen.

Hans Zwimpfer: Ein Patent entwickeln ist ein Aufwand. Wir haben sogar ein Modell im Massstab 1:1 für 350000Franken gebaut. Wir liessen zusätzlich technische Studien durchführen, sind die Probleme mit den Sanitär-, Heizungs- und Elektroinstallationen angegangen und haben die statischen und die bauphysikalischen Probleme gelöst. Wenn jemand bei uns eine Lizenz holt, dann kann er von diesem Know-how profitieren. Im Moment haben wir Kontakt mit Tobias Nissen, einem jungen Schweizer Architekten, der die Wohntypologie auf die schwedischen Verhältnisse anpassen möchte. Wir helfen ihm dabei und schulen ihn. In einem solchen Fall ist es doch fair, dass ich unsere Vorleistungen nicht gratis zur Verfügung stelle. Die Lizenzgebühr ist minimal: ein halbes Prozent der Anlagekosten. Ich will also nichts blockieren – im Gegenteil, ich möchte, dass auch junge Architekten meine Typologie weiterentwickeln.

Tina Puffert: Ergänzend kann ich dem hinzufügen, dass in Schweden das Bauen von Totalunternehmern beherrscht wird. Ein junges Büro hat dort keine Möglichkeiten, Fuss zu fassen. In der Zusammenarbeit mit uns kann das Büro von Tobias Nissen mit einem anerkannten Namen auftreten. Er hat die Möglichkeit, darauf hinzuweisen, dass die Wohntypologie schon an fünf Orten angewendet wird. Das ist für das Büro eine attraktive Chance. Es hat denn auch inzwischen unsere Idee weiterentwickelt und ist extrem motiviert, ein passendes Grundstück zu finden.

Bruno Trinkler: Ich habe Verständnis dafür, dass man bei so viel Aufwand seine Arbeit irgendwie schützen will. Wir kämpfen als Architekten immer wieder auf verschiedenster Ebene um den Schutz unserer Arbeit. Aber die Kehrseite der Medaille existiert auch: Ein Büro ohne einen solchen wirtschaftlichen Hintergrund kann eine Idee, die es entwickelt hat, kaum zu einem Patent bringen, eben weil ein tauglicher Patentschutz nur dann möglich ist, wenn man all die Abklärungen vornehmen kann, die Hans Zwimpfer erwähnt hat.

Hans Zwimpfer: Für die reine Patentierung reichen ein paar tausend Franken. Höher sind die Entwicklungskosten im eigenen Büro. Wir mussten ja eine Technologie entwickeln. Ein junges Büro kann, gleich wie wir es getan haben, schrittweise vorgehen. Für eine gute Idee kann zuerst mal die Marke eingetragen werden. In einem zweiten Schritt haben wir das Design angemeldet, und erst in der dritten Stufe stand das Patent.

Andreas J. Maier: Das Unbehagen, das Bruno Trinkler für die allgemeine berufliche Praxis hat, ist durch das Patent bezweckt. Das kommt daher, weil es für ihn neu ist. Wenn man aber weiss, wie man sich in dieser Problematik bewegen muss, ist man entsprechend vorsichtig und kann sich dementsprechend auch strategisch verhalten. In andern Branchen wird längst damit gearbeitet, Siemens beispielsweise meldet aus strategischen Gründen monatlich sehr viele Patente an. Das muss natürlich in der Architektur nicht sein. Aber nehmen wir den Fall des jungen Architekten: Er könnte für
verhältnismässig wenig Geld eine Lizenz von Hans Zwimpfer erwerben, wird dann vom Know-how profitieren und kann das System weiterentwickeln. Das ist die Idee des Patentrechtes, dass durch Konkurrenz und durch Hindernisse Innovation entsteht.

Bruno Trinkler: Auch die Diskussion um Patente in der Gentechnologie führt zum Beispiel immer wieder zu kritischen Fragen. Ich weiss nicht, ob sich der Umgang mit Erfindungen in der Maschinenindustrie so einfach auf architektonische und städtebauliche Fragen übertragen lässt. Wir bauen unsere Häuser letztlich immer im öffentlichen Raum, damit ist die Architektur geprägt von einem allgemeinen Interesse. In diesem Zusammenhang möchte ich auf das Hennebique-System hinweisen, das aus betonierten Hauptträgern, Sekundärträgern und einzelnen Stützen besteht. Der französische Ingenieur liess das System 1892 patentieren. Er konnte das Patent einige Jahre halten, bis es ihm aberkannt wurde, weil es etwas ganz Normales und Allgemeines war. Unser Ingenieur an der Fachhochschule kennt es inzwischen nicht mal mehr. Deshalb habe ich das Gefühl, dass sich das Patentproblem in der Architektur vielleicht von selbst lösen wird.

Klaus Fischli: Aber wie gehen wir damit um? Was bedeuten diese neuen Situationen für uns in den Wettbewerben?

Bruno Trinkler: Ich habe tatsächlich Bedenken für die Wettbewerbe. Wie weit muss eine Jury erkennen, wann Patentverstösse vorliegen? Wenn man nach einer Jurierung feststellt, dass ein erster Preis schon patentiert ist, dann gefährdet man das Verfahren. Sie wissen auch,
dass wir immer wieder überzeugen müssen, dass überhaupt Wettbewerbe durchgeführt werden. Eine Gemeinde, bei der in einem Wettbewerb ein Patentproblem auftaucht, wird kaum mehr einen Wettbewerb durchführen.

Andres J. Maier: Es gibt eine einfache Lösung: In der Ausschreibung muss nur der Paragraf stehen, dass die Teilnehmenden die Rechte berücksichtigen müssen. Und die Vorprüfung könnte vorher in Erfahrung bringen, was auf dem jeweiligen Gebiet schon existiert. Die Architekten sind im Übrigen nicht die Einzigen, die Wettbewerbe durchführen. Das Thema gilt für alle Submissionen.

Tina Puffert: Wenn heute anerkannt werden würde, dass der Patentschutz ein wichtiges Thema ist, dann könnte der SIA Hilfe bieten. Wenn es eine Datrenbank gäbe, auf die der SIA hinweist, wäre es für ein Vorprüfungsbüro einfach, sich zu informieren. So viele Patente wird es im Konzeptbereich sowieso nicht geben – im Architekturwettbewerb geht es häufig um Städtebau und Konzept. Es ist nicht so abwegig, dass eine Jury mindestens darauf hingewiesen wird, ob eventuell ein Patent verletzt wird. Man kann übrigens sehr schnell erkennen, ob ein Patent verletzt ist.

Hans Zwimpfer: Es werden wahrscheinlich nur zwei bis drei so umfassende Patente wie das ‹Pile up› pro Jahr angemeldet. Wir werden zunehmend so auf dem Markt auftreten, dass jeder das ‹Pile up› erkennt. Eine Jury wird sich die Finger nicht verbrennen wollen.

Bruno Trinkler: Aber eine Jury weiss dann immer noch nicht, ob der Projektverfasser eines Wettbewerbsbeitrags eine Lizenz besitzt. Ist er ein ‹Kopist›, oder hat er einen Vertrag mit Hans Zwimpfer? Das kann auch die Vorprüfung nicht entscheiden. Solange ein solches Projekt nicht gewinnt, besteht auch kein Problem. Doch wenn ein solche Projekt zur Ausführung empfohlen ist, dann haben wir ein Wettbewerbsdebakel mehr.

Klaus Fischli: Im Programm müsste stehen – wie es Andreas J. Maier vorgeschlagen hat –, dass der Verfasser mit der Eingabe bestätigt, dass er keine Rechte Dritter verletzt. Er dürfte die Programmbestimmungen nur anerkennen, falls er eine Lizenz erworben hat.

Hans Zwimpfer: Für uns macht es keinen Sinn, mit ‹Pile up› an einem Wettbewerb mitzumachen. Falls der Auslober ein ‹Pile up› bauen will, kommt er direkt zu uns.

Klaus Fischli: Eine Nebenfrage: Was geschieht, falls in einem Wettbewerb das Urheberrecht abgetreten werden muss?

Andreas J. Maier: Ein Büro mit einem Patent müsste sich tatsächlich zuerst überlegen, ob es mitmachen will. Das Patent geht zwar vor, doch kann man das Problem einfach lösen mit einer Gratislizenz. Das entspricht dem Abtreten des Urheberrechts.

Bruno Trinkler: Wann wird es interessant, einen Schutz aufzubauen? Sie haben das ‹Pile up› noch nicht rechtlich verteidigen müssen. Irgendwann wird dieser Fall auftreten, falls die Zahl der Patente in der Architektur wirklich zunimmt.

Andreas J. Maier: Erst wenn wir einen Prozess anstrengen, würde sich zeigen, ob unsere Ansprüche berechtigt sind. Aber ein Streitfall ist selten von Vorteil, denn am Ende ist vielleicht das Patent zerstört, alle haben Geld verloren und niemand konnte profitieren. Für kleinere Einheiten würde ich nie einen Patentstreit eingehen. Novartis hat die Krebsmaus verteidigt, aber das ist eine andere Liga. Und im Übrigen gilt, dass man mit einem Patent einen Vorsprung von drei Jahren hat, bis man eingeholt ist.

[ Gesprächsaufzeichnung: Ivo Bösch ]



Zusatz:

Stapelware – ein Kommentar

(bö) Zuerst reibt man sich die Augen. Ein Patent auf Architektur kann es doch nicht geben. Wir Architektinnen und Architekten, die im Studium lernen müssen, uns andere Projekte als Referenzen zu suchen, und die gelernt haben, dass nichts neu ist in der Architektur, müssen unsere Entwürfe in Zukunft auf mögliche Patentverletzungen prüfen? Ist nicht auch das patentierte System von Hans Zwimpfer von Le Corbusiers Pavillon de l’Esprit Nouveau abgeleitet? Etwas pointiert könnte man behaupten, Zwimpfer habe einfach nur den Maisonette-Typ aufgegeben, also eine Treppe weggelassen. Nein, entgegnen uns die Erfinder des Konzeptes, sie hätten es weiterentwickelt und auf heutige Bedürfnisse angepasst. Und sie sagen selbst, dass alle Elemente schon mal gebaut wurden, aber noch nie so kombiniert. Das kann man kaum glauben. Ein zweigeschossiger Innen- und Aussenraum in einer eingeschossigen Wohnung, alles relativ einfach gestapelt, das soll es noch nie gegeben haben? Das spielt keine Rolle, sagt uns der Patentspezialist, denn eine unabhängige Behörde ist zum Schluss gekommen, dass
das «Pile up» eine Erfindung ist. Und wenn Erfindungen gleichzeitig entstehen, gewinnt die im Patentamt zuerst angemeldete.
Das Projekt ist zweifellos gut und zeugt von grosser Erfahrung auf dem Wohnungsmarkt. Das «Pile up» wurde von Anfang an als Marke propagiert, und die Wohnungen werden im Moment noch einzeln verkauft. Das Patent wird also – ob beabsichtigt oder nicht – als ein Marketinginstrument genutzt. Und als solches ist es bis jetzt äusserst erfolgreich. Von Hans Zwimpfer und seinem Team können wir lernen, wie eine Architekturidee vermarktet wird. Auch wenn vielleicht nicht alle eine Million Franken in eine Idee stecken wollen und können, so zeigt doch das «System Zwimpfer», wie unabhängige Architekten in den Immobilienmarkt vorstossen können. Im Kampf gegen die «Verhäuslichung» der Schweiz leistet das «Pile up» vielleicht wirklich einen kleinen Beitrag. Tina Puffert, die Geschäftsführerin der Firma, die das Patent vermarktet, versichert uns, dass an den zwei Immobilienmessen, an denen das System vorgestellt wurde, die Leute inzwischen nicht nur die grossen Makler kannten, sondern auch schon die Bilder der gestapelten Wohnungen. Nicht das Architekturkonzept, sondern das Marketingkonzept von Hans Zwimpfer sollten mehr gute Büros kopieren. Geschützt sind die Marke, das Design und das Konzept, nicht aber die Marktstrategie.

TEC21, Do., 2006.04.13



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13. April 2006Ivo Bösch
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Hochstapeln

Hans Zwimpfer nennt es ein Architekturkonzept. Er liess es auf seinen Namen als Patent in Europa und den USA anmelden. Verkauft wird es als Antwort auf die zunehmende Zersiedelung der Landschaft. „Pile up“ stapelt Einfamilienhäuser.

Hans Zwimpfer nennt es ein Architekturkonzept. Er liess es auf seinen Namen als Patent in Europa und den USA anmelden. Verkauft wird es als Antwort auf die zunehmende Zersiedelung der Landschaft. „Pile up“ stapelt Einfamilienhäuser.

Ein Wohnhaus nach dem geschützten „Pile up“-Konzept besteht nur aus Geschosswohnungen - also keinen Maisonette-Wohnungen, obwohl jede Wohnung einen zweigeschossigen Wohnraum und einen eingezogenen zweigeschossigen Aussenraum besitzt. Das Patent gilt für die Realisierung in allen möglichen Gebäudetypologien. Kennzeichnend ist weiter der offene Grundriss der Wohneinheiten. Bis anhin musste die Zapco - so Zwimpfer - immer noch nachweisen, dass eine konventionelle Wohnung darin untergebracht werden kann. Aber er wolle die Schweiz „erziehen“. Deshalb kosten die Zwischenwände jetzt extra. Für die Entwicklung - ein Modell im Massstab 1:1 inbegriffen -, Patentierung und Vermarktung wurden rund eine Million Franken aufgewendet.
Die Realisierung des Konzeptes übernimmt eine wieder aktivierte Firma, die Hans Zwimpfer zu Beginn der 1970er-Jahre als Tochterfirma von Zwimpfer Partner gegründet hatte, um Aufträge in Saudi-Arabien auszuführen. Zwimpfer bezeichnet die Zapco als Developer, der alle Aufgaben des Planungs-, Bauvorbereitungs- und Baudurchführungsprozesses übernimmt. Sie tritt bisher immer auch als Bauherrin auf. In Vorbereitung ist ein zweites Patent, das aber laut der Geschäftsleiterin Tina Puffert eine Ergänzung des bestehenden Patentes ist. Sie möchte es als Forschung und Produktentwicklung verstanden wissen.

Rheinfelden, Zug, Mendrisio und Neuhausen

Im Bau ist eine Siedlung in Rheinfelden mit 24 Wohneinheiten, die ab Mai bezogen werden (111-210 m², Preis: 600000-990000Fr.). Mit dem Bau der zweiten Siedlung in Zug mit 28 Einheiten wird im Mai begonnen. Mitbeteiligt sind die Zuger Kamm Architekten. Für ein weiteres Projekt in Rheinfelden mit 46 Einheiten ist das Baugesuch eingereicht, genauso wie für eine Überbauung in Mendrisio mit 38 Einheiten. Die fünfte Siedlung mit 32 Wohnungen wird in Neuhausen am Rheinfall entstehen. Die Baueingabe wird Mitte Mai eingereicht. Konkrete Verhandlungen für weitere Grundstückskäufe bestehen im Raum Schaffhausen. Daneben arbeitet die Zapco mit Tobias Nissen zusammen für ein Projekt in Schweden. In Wien soll es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis ein geeignetes Grundstück von einem österreichischen Partner gefunden wird, das auch mit einem „Pile up“ bebaut werden kann.

Verletzung des Patentschutzes?

Noch hängig ist der Fall, in dem Hans Zwimpfer dem atelier 10:8 vorwirft, es habe im Wettbewerb für die Wohnüberbauung Guggach in Zürich die Idee des „Pile up“ in wesentlichen Punkten kopiert. Das Büro von Georg Rinderknecht, Katrin Schubiger und Jürg Senn hatte mit seinem Vorschlag den zweiten Preis erhalten. Zwimpfer ärgert sich, weil sein Büro sich mit der „Pile up“-Wohnüberbauung in Rheinfelden um die Teilnahme am Wettbewerb beworben hatte, in der Präqualifikation aber ausschied. „Im Nachhinein - in Anbetracht der erfolgten Jurierung - scheinen uns die Kriterien der Vorauswahl äusserst fragwürdig“, schreiben Hans Zwimpfer und Tina Puffert in einem Brief an die Redaktion. Jürg Senn vom atelier 10:8 sagt gegenüber tec21, dass sie das Projekt von Hans Zwimpfer nicht gekannt hätten und durch den Vorwurf des Patentmissbrauchs vor den Kopf gestossen wurden. Für den Wettbewerb hätten sie eine eigene, ortsspezifische Lösung entwickelt, die in Schnitt und Grundriss kaum Gemeinsamkeiten mit dem System „Pile up“ aufweise. Zwischen den Parteien findet ein Vermittlungsgespräch statt.


Zusatz:

Aus der Europäischen Patentschrift EP1455033B1
"Wohnhaus mit gestaffelten Wohnungen basierend auf der Bauweise mit einer Gebäudehülle und einer durch Säulen und Tragbalken geprägten Konstruktion; welche Geschossflächen und Dach trägt und einem räumlichen, mehrfach staffelbaren Angebot für Wohnungen mit offenem Grundriss und für jede Wohneinheit individuellen Wünschen anpassbarer Wohnfläche, dadurch gekennzeichnet, dass…

1) …eine Wohnung aus einem eingeschossigen Wohnungsteil und einem zweigeschossigen Wohnungsteil besteht, wobei die Grundfläche des eingeschossigen Wohnungsteiles mindestens die Fläche der Grundfläche des zweigeschossigen Wohnungsteiles aufweist und letzterer aus einem einer Fassade zugewandten Aussenraum und einem Innenraum besteht.

2) …in einem Wohnhaus der zweigeschossige Wohnungsteil aller gestaffelten Geschosswohnungen die gleiche Grundfläche aufweist.

3) …jeweils über einem eingeschosssigen Wohnungsteil mit derselben Wohnfläche der eingeschossige Wohnungsteil der darüber liegenden Wohneinheit angeordnet ist.

4) …die Grundfläche einer Wohneinheit des eingeschossigen Wohnungsteiles beliebig erweitert werden kann, wobei die darüber liegende Wohnung dieselbe Fläche des eingeschossigen Wohnungsteiles aufweist.

5) …im Erdgeschoss über die ganze Fläche ein offener Grundriss und gleiche Deckenhöhe vorgesehen ist.

6) …die unteren Stockwerke über die ganze Fläche einen offenen Grundriss und über jeweils ein Stockwerk gleiche Deckenhöhe aufweisen.

7) …über den unteren Stockwerken, welche jeweils pro Stockwerk gleiche Deckenhöhe aufweisen, gestaffelte Geschosswohnungen aufgebaut sind."

TEC21, Do., 2006.04.13



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dipl. Architekt ETH Zürich
seit 2000 eigenes Architekturbüro
2003–2007 Wettbewerbsredaktor bei Tec21
seit 2007 Redaktor Wettbewerbe bei Hochparterre
seit 2017 auch Architektur-Wanderleiter

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