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01. Januar 2020Werner Oechslin
Neue Zürcher Zeitung

Historische Verwerfungen: Wie das Neue Bauen begann

Der Sieg der Moderne wurde schon 1898 gefeiert. Das Bauhaus war nicht der Anfang der modernen Architektur, es schrieb lediglich eine neue Ursprungslegende.

Der Sieg der Moderne wurde schon 1898 gefeiert. Das Bauhaus war nicht der Anfang der modernen Architektur, es schrieb lediglich eine neue Ursprungslegende.

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04. September 2019Werner Oechslin
Neue Zürcher Zeitung

«Das Bauhaus kracht in allen Fugen» – Johannes Itten und sein Zerwürfnis mit dem Bauhaus-Gründer

Der Schweizer Maler und Kunstpädagoge Johannes Itten provozierte die Kreativität und stellte auch die Konventionen am Bauhaus infrage. Mit seinen Zeichnungen und Formbildungen suchte er vor allem die «selbständige Gestalt».

Der Schweizer Maler und Kunstpädagoge Johannes Itten provozierte die Kreativität und stellte auch die Konventionen am Bauhaus infrage. Mit seinen Zeichnungen und Formbildungen suchte er vor allem die «selbständige Gestalt».

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07. Januar 2012Werner Oechslin
Neue Zürcher Zeitung

Moderne Architektur – welche Geschichte?

Die Geschichtslosigkeit der modernen Architektur ist eine Geschichtslüge. Es gab Abgrenzung, Programm, «neue Tradition» und schliesslich eine Geschichte, die sich als «inner history» ausschliesslich auf sich selbst bezog.

Die Geschichtslosigkeit der modernen Architektur ist eine Geschichtslüge. Es gab Abgrenzung, Programm, «neue Tradition» und schliesslich eine Geschichte, die sich als «inner history» ausschliesslich auf sich selbst bezog.

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29. November 2008Werner Oechslin
Neue Zürcher Zeitung

«Wirkliche Grösse und Körperlichkeit»

Beim Tode Palladios war seine gebaute Architektur Stückwerk. Er hatte dies selbst erkannt und geschrieben, man werde gleichwohl auf das schliessen können, was es vollendet einmal sein würde. Damit hatte er auch vorweggenommen, dass man auf ihn in doppelter Weise, über seine Bauten und über sein Werk der «Quattro Libri», Bezug nehmen würde.

Beim Tode Palladios war seine gebaute Architektur Stückwerk. Er hatte dies selbst erkannt und geschrieben, man werde gleichwohl auf das schliessen können, was es vollendet einmal sein würde. Damit hatte er auch vorweggenommen, dass man auf ihn in doppelter Weise, über seine Bauten und über sein Werk der «Quattro Libri», Bezug nehmen würde.

Am 19. September 1786 traf Johann Wolfgang von Goethe in Vicenza ein und notierte: «Vor einigen Stunden bin ich hier angekommen und habe schon die Stadt durchlaufen, das Olympische Theater und die Gebäude des Palladio gesehen. Von der Bibliothek kannst du sie in Kupfer haben, also sag ich nichts, nenn ich nichts, als nur im allgemeinen. Wenn man diese Werke nicht gegenwärtig sieht, hat man doch keinen Begriff davon.» Goethe hat sich also die Bauten Palladios in einem ersten Gang durch die Stadt vorgenommen. Um nicht unnötig Zeit zu verlieren, verweist er für Einzelheiten und Beschreibung auf die Bücher. Stattdessen kommt er zur Sache, zu Palladio selbst, der sich ihm aus der körperlichen Wirklichkeit der Bauten erschliesst. Er sei «von innen heraus» ein grosser Mensch gewesen.

Goethe in Vicenza

Man möchte unterstellen, dass Goethe umgekehrt aus den Büchern lediglich jene Oberflächen, die gekonnten und zur harmonischen Perfektion geführten Fassadenkompositionen, zur Kenntnis genommen hat. Und nun hat ihn die Wirklichkeit übermannt und hinter den Bildern den Menschen Palladio erkennen lassen. Daraus, aus dieser konkreten Erfahrung, gewinnt Goethe einen «Begriff» von Palladios Architektur. Helmuth Plessners Ästhesiologie des Geistes vorgreifend, steht ihm hier die «Griffigkeit» des Sehens zu Diensten, lässt ihn Glieder und Formen der Architektur verstehen als «reine Erfassung der Dinglichkeit einer Inhaltsfülle». Wie sich das genau verhält, lässt Goethe aus der bereinigten Textfassung der «Italienischen Reise» erkennen: «Wenn man nun diese Werke gegenwärtig sieht, so erkennt man erst den grossen Wert derselben, denn sie sollen ja durch ihre wirkliche Grösse und Körperlichkeit das Auge füllen, und durch die schöne Harmonie ihrer Dimensionen nicht nur in abstrakten Aufrissen, sondern mit dem ganzen perspektivischen Vordringen und Zurückweichen den Geist befriedigen.»

Goethe hat hier sein ganzes architektonisches Wissen bemüht. Die Verbindung der Perspektive mit den Vor- und Rücksprüngen, den «abgestuften Reliefvorstellungen», wie es Peter Behrens später nennt, ist präzis Vitruv nachformuliert. Sein Wissen orientiert sich am Sehvorgang und beschreibt, was man «auf einen Blick» erfährt. «Tous ceux qui ont vû les bâtimens de Palladio, conviennent, qu'ils ravissent au premier coup d'œil.» So schreibt es schon C. E. Briseux 1752 in seinem «Traité du Beau Essentiel». Er bricht mit der akademischen Tradition, die alles und jedes ausschliesslich am einzelnen Glied und Mass erproben und gleich auch als Regel verstehen will. (Insofern war Vignola – bei François Blondel – das massgebliche Vorbild und – bei Le Corbusier – das zu überwindende Hindernis. Palladios Villa Rotonda dagegen führt Le Corbusier 1923 in seinem Aufsatz über «pérennité» vor, an dessen Ende er eine Architektur «au-delà du calcul» beschwört.) Das Bild- und Bücherwissen ist vornehmlich flach. «Wirkliche Grösse und Körperlichkeit» sind die wahren Kennzeichnungen des Gebauten. Palladio zum Anfassen!

Architektur und Gesellschaft

Palladio, über dessen Leben wir so wenig wissen und der von Anfang an – durch die Namensgebung – einer Idealisierung zugeführt wird, scheint sich gerade dagegen, gegen das Verschwinden seiner Architektur in einem diffusen Klassizismus, zu wehren. In Georg Andreas Böcklers erster deutscher Teilübersetzung (1698) überlagern sich die Vorstellungen einer «Pallas Architectonica» und eines «sinnreichen Palladius». Allein, Palladio, der «vortrefflich-Italiänische Baumeister», überstrahlt alles durch seine Person und seinen unangefochtenen Vorbildcharakter. Es geht eben stets darum, den richtigen «Begriff» seiner Architektur zu besitzen, und das ist mehr als ein Regelwerk.

Andrea Calmo, ein Zeitgenosse Palladios, beantwortet die Frage, was der Mensch von der Architektur erwartet: «un sguardo suave, un viso mansueto, e una vita perfetta». Die Architektur ist im Leben verwurzelt, und dort soll sie auch verankert bleiben. In Berlin wird Riedel d. Ä. 1796, als es wieder einmal um Situierung und um einen Neuanfang der Architektur ging, schreiben: «Das Bauen hat stets unmittelbar kultiviert.» Man ist sich dieser Bedeutung und der dazugehörigen Tat bewusst. Und deshalb soll man auch schreiben, um die eigene Einsicht und Erfahrung einer Entwicklung und einem Fortschritt zuzuführen. «Bisognerebbe che ogni eccellente maestro, scrivesse sempre della sua arte: accioche operando & scrivendo un'altro, la s'andassi sempre megliorando.» So führt es Antonfrancesco Doni 1551 in seiner «seconda libraria» aus.

Wer hätte sich mehr darum gekümmert als Palladio selbst, der zu Beginn des «Proemio ai Lettori» seiner vier Bücher ausführt, wie er auf der doppelten Grundlage der antiken römischen Architektur, der Autorität Vitruvs und der antiken Bauten selbst seine eigene Baukunst entwickelt. Palladio legt sein Vorgehen offen, was nun eben in der Abgleichung des theoretischen Wissens mit dem «archäologischen» Befund zugrunde gelegt ist und in der systematischen Abfolge von Aufmessen («misurare minutissimamente»), Verstehen («comprendere») und Aufzeichnen («& in disegno ridurlo») besteht. Aber dies ist nur Mittel zum Zweck. Palladios Botschaft ist keine grammatikalische, sosehr gerade er tief in die Strukturen von Bau und Gliedern und Form eindringt, so wie das der antike Grammatiker Priscian vorgibt, der in den Buchstaben («litera») das Zeichen («nota elementis») und sogar ein Bild («imago») erkennt. Natürlich setzt Palladio «Zeichen» – diesbezüglich der Vitruv-Interpretation Daniele Barbaros folgend, der vom «segno dell'artefice» spricht.

Aber Palladio geht weit darüber hinaus. Seine Botschaft ist eine umfassende, architektonisch-ethische in bester humanistischer Tradition. So wie schon Leonbattista Alberti festhielt, es sei nicht verhandelbar, dass die Bauwerke für die Menschen geschaffen seien, so formuliert Palladio, es erscheine ihm menschenwürdig («cosa degna di huomo»), nicht nur für sich selbst, sondern zum Nutzen auch der andern tätig zu sein. Daraus leitet er seine Aufgabe ab und definiert Zeilen später Architektur als «modo di fabricare con universale utilità». Architektur sei eine Bautätigkeit zum allgemeinen Nutzen. Architektur im Dienste der Gesellschaft.

Weil dies im Vordergrund steht, kommt Palladio auch schnell auf jene Menschen zu sprechen, die ihn in dieser Absicht bestärken und unterstützen, die «Gentiluomini», angefangen bei seinem ersten Mentor und Namensgeber Giangiorgio Trissino. Dem entspricht dann, dass Palladio noch in seinem Proemio betont, dass er von den Menschen und deren Behausungen ausgehen wolle, um erst dann zu den öffentlichen Bauten fortzuschreiten, so wie eben die Gesellschaft sich dem Einzelnen verdankt. Sie ist nicht einfach gottgegeben, sondern ein Resultat ökonomisch-kultureller Entscheidung. Das Glücksstreben ist das einsehbare, vernünftige Ziel der Menschen. In der Nikomachischen Ethik Aristoteles' wird das verhandelt. Und seit den Kommentatoren Leonardo Aretino und Jacques Lefèvre d'Estaples erscheint die Ökonomie der Politik gleichwertig an die Seite gesetzt, gerade weil sie sich beide auf die «civitas» in umfassendster Weise beziehen.

Bei Lefèvre d'Estaples ist die «civitas» in «domus, pagus, civitas» unterschieden im Sinne des Diktums Albertis, wonach das Haus und die Stadt im Grunde genommen ein und dasselbe sind. Die «Ökonomie» leitet Lefèvre d'Estaples vom Haushalt – «apo tou oikou kai nomou» – ab, weil sich hier exemplarisch herausstellt, was sich auch im grösseren Zusammenhang bewähren muss. Wer sich also dem Haus zuwendet, arbeitet an einem gesellschaftlichen Entwurf. Schon Aristoteles hatte festgestellt, dass eine solche, Ordnung setzende und entwickelnde menschliche Gesellschaft natürlich dem «Bienenstaat», der «bloss» gut organisiert ist, überlegen ist. Das ist es, was sich Palladio, von seinen Gentiluomini unterstützt, vorgenommen hat und was ihn dann zur Überzeugung kommen lässt, er habe una «usanza nuova» gefunden, ein «Neues» entwickelt.

Haus und Tempel

Der Architekt ist also gesellschaftsbildend. Palladio hat das längst verinnerlicht. Deshalb kann er umgekehrt davon ausgehen, dass wohl auch in der Antike zuerst Hausbauten erstellt wurden und die Tempel erst danach deren Formen übernommen hätten. Nach Massgabe dieser Geschichtskonstruktion nimmt Palladio die Tempelfront und setzt sie als Fassade vor seine Paläste und Villen und hat damit ein Kennzeichen seiner Architektur und einer gehobenen Zivilarchitektur etabliert, das «frontespicio nella facciata dinanti».

Folgt man dieser von Palladio selbst gelegten Spur, so begreift man, dass man ihm in keiner Weise gerecht werden kann, solange man seine Architektur auf ein Formenrepertoire zurückbuchstabiert. Es ist Voraussetzung und Pflicht und dient einem höheren Ziel. Gerade dies ist damals offensichtlich bemerkt worden. Pietro Leone Casella hat Palladio 1606 in seinen Epigrammata, die er den berühmten Künstlern widmet, unter dem Stichwort der «philosophia» abgehandelt, während er anderweitig die engeren Begriffe der Kunst, den «modulus» für Michelangelo und Raphael und die «inventio» für Giorgione und Leonardo, benützt. Im Epigramm selbst wird festgehalten, wie Palladio aus einem Antikenverständnis heraus eine neue Wirklichkeit sichtbar werden lässt: «Per antiquae Urbis monumenta nobilis ad aemulationem oculata provocat ingenia.» Doch Casella enthebt hier die «aemulatio», jenes berühmte Nacheifern, dem konkreten Vorgang künstlerischen Tuns und ordnet es der «Philosophie» zu. Palladio wird als Gegenbild jenes im engen Vergleich stehenden, «historistisch» nachahmenden Zugangs gedacht. Das ist ja auch der tiefere Grund, weshalb seine Architekturvorstellung viel später die Schwelle der Moderne mühelos überschritten hat und stets modern geblieben ist. Der klügste aller Kritiker Palladios, Quatremère de Quincy, verbindet die Formel «c'est du Palladio» eben auch damit, dass sie in seiner Zeit für gelungene architektonische Neuschöpfungen Anwendung fand.

Palladio hat uns aus den römischen Monumenten eine neue sichtbare Welt zur Nachahmung, genauer: zur Nacheiferung vorgegeben. Und der Akzent liegt auf der Neuartigkeit des Resultats, der «usanza nuova», wie es Palladio selbst kennzeichnet. Palladios Architektur lässt sich nicht auf eine Grammatik der antiken Architektur reduzieren. Es zählen weniger die antiken Monumente als das, was in deren Verständnis neu zur Erscheinung drängt. Legrand nennt Palladios Verhältnis zum antiken Vorbild «une application savante», um dann noch viel radikaler festzustellen, dass sich vor Palladio die Architekten ausschliesslich dem «Monument» zugewandt hätten und nun mit ihm eben der «Hausbau» zum grossen Thema geworden sei. Das belegte «um 1800» die besondere Aktualität Palladios.

Später gab es im Zeichen der Moderne Missverständnisse jeder Art bis hin zu «Fassaden-Spielerei» und «Säulenunfug». Aber auch die Reduktion auf Gesetzmässigkeit – an Jacob Burckhardt anschliessend – und der Versuch, die Villen auf ein «fundamental geometrical skeleton» zurückzuführen, beschreiben bei Rudolf Wittkower wie bei Colin Rowe einen Irrweg und werden Palladio nicht gerecht. (Die Smithson haben in den 1950er Jahren ihren neuerlichen Neo-Palladianismus schnell überwunden!) Architektur ist keine Logik, sondern Körpergestaltung. Man sollte sich bei Palladios wichtigstem Mentor, Daniele Barbaro, besser umsehen, der die Kunst der Architektur als Resultat einer fortgesetzten Erfahrung beschreibt und ihr deshalb vor allem die Aufgabe zuschreibt, Lösungen zu finden. Was Palladio mit seinem Hausbau in Palast und Villa in Vorschlag gebracht hat, verkörpert im Sinne Barbaros stets eine «regolata inventione», ein Resultat, das aus einem gesellschaftlich und ökonomisch zugrunde gelegten Ordnungssinn heraus die Wirklichkeit ergreift und sie fasst.

[ Prof. Dr. Werner Oechslin, Institut GTA, ETH Zürich. – Jüngste Publikation: Palladianismus. Andrea Palladio – Kontinuität von Werk und Wirkung. GTA-Verlag, Zürich 2008. 342 S., Fr. 160.–. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2008.11.29

12. Mai 2007Werner Oechslin
Neue Zürcher Zeitung

Streben nach Proportion und Harmonie

Mit dem klassischen Formenrepertoire der Bauten Palladios konnte die Moderne wenig anfangen. Umso mehr interessierte sein radikaler Zugang zu den entwerferischen Grundlagen der Architektur. Palladio hat das moderne Körperideal und das Prinzip Fassade radikal vorgedacht.

Mit dem klassischen Formenrepertoire der Bauten Palladios konnte die Moderne wenig anfangen. Umso mehr interessierte sein radikaler Zugang zu den entwerferischen Grundlagen der Architektur. Palladio hat das moderne Körperideal und das Prinzip Fassade radikal vorgedacht.

Die moderne Architektur kündigt sich im Zeichen der Überwindung historischer Architektur und von deren wirkungsmächtigstem Symbol, der Säule, an. Bezeichnenderweise ist es Vignola, der prominenteste Vertreter der Säulenlehre, der dafür herhalten muss. Le Corbusier wendet sich allerdings nicht so sehr gegen die Säule, die er in der Form der Pilotis weiter benützt. Er zielt vielmehr auf das Doktrinäre, das sich damit verbindet. François Blondel hatte in der in Paris 1671 gegründeten Architekturakademie von der Säulenlehre und insbesondere von Vignola ausgehend die klassische Architekturtheorie herangebildet, deren erklärtes Ziel die Formulierung eines verlässlichen Regelwerks war. Die Nachfolgeinstitution, die Académie des Beaux-Arts, bekämpft Le Corbusier in seiner «Croisade» 1933 aufs Schärfste. Bei genauerem Hinsehen erkennt man jedoch selbst hier Einvernehmen: Eine ordnungsgebende «ordonnance», ein von Proportion und Harmonie bestimmtes Gefüge wünschen sich Blondel wie Le Corbusier.

REGELWERK CONTRA KUNSTWERK

Die frühe Publikation der Tracés régulateurs in «Esprit Nouveau», die Le Corbusier als Versicherung «contre l'arbitraire» vorbringt, zeigt über dem Titel Blondels Porte Saint-Denis. Unter dem Eindruck eines Textes zu den musikalischen Proportionen von Ouvrard wandte sich Blondel am Ende seines Cours d'architecture der Frage der Proportionierung eines Baukörpers zu. Und hier fiel der Blick in erster Linie auf Palladio. Briseux, der dies 1752 in seinem «Traité du Beau essentiel» aufnahm, verdeutlichte, dass es hier weniger um objektive Massbezüge als um die Wirkung auf den Betrachter geht: «Tous ceux qui ont vû les bâtimens de Palladio, convient qu'ils ravissent au premier coup d'œil.» Was ins Auge fällt, ist entscheidend. Und dies bezeichnet «beauté». Le Corbusier hat seiner Entwurfslehre in nuce, den Tracés régulateurs, genau diese Beobachtung hinzugesetzt: Es interessiert in erster Linie und unmittelbar «das, was das Auge sieht». «Preuve par l'expérience», das ist die Losung von Briseux, die er auf Palladio projiziert; und das markiert das Gegenteil der Empfehlung «upon right models of perfection» von Anthony Earl of Shaftesbury, nach dem die englischen Neopalladianer sich richteten, um beinahe blindlings Palladios Fassaden in endlosen Varianten herunterzudeklinieren.

Der Gegensatz ist offensichtlich: rigides, mechanisches Regelwerk contra offenes, am Wahrnehmungsvorgang orientiertes Kunstwerk. Le Corbusier hat diesen Dualismus in eine klassische Definition gehüllt, die er 1923 «Vers une architecture» voranstellte und in der nun der moderne Gegensatz von Ingenieur contra Architekt zum Paradigma auserkoren wird. Während der Ingenieur durch den «calcul» - gleichsam naturgesetzlich - die Harmonie herstellt, ist es dem Architekten gegeben, durch seine «ordonnance» das zu erreichen, was die von Menschen empfundene und erlebte Schönheit ausmacht. Dafür, für das «au- delà du calcul», steht Palladio. Die Zeilen stehen am Ende eines Aufsatzes zu «Perennité» (1928), in dem Le Corbusier einmal mehr die Dichotomie Ingenieur/Architekt behandelt und an dessen Ende kommentarlos das Bild der Villa Rotonda gefügt wird: «Ce sera l'architecture qui est tout ce qui est au-delà du calcul.» Mittelbar identifiziert sich Le Corbusier mit Palladio. Theo van Doesburg hatte im ersten Heft von «G» im Juli 1923 mitgeteilt, Le Corbusier habe eben eine Renaissancevilla erstellt. Koinzidenz? Es fiel offensichtlich ins Auge! So besehen ist das, was später im Sinn der Festlegung einer klassischen Moderne durch den Vergleich der Villa Stein in Garches mit Palladios Malcontenta suggeriert wurde, nichts anderes als logische Konsequenz.

Hier entstanden Missverständnisse zuhauf. Der radikale Rückgriff auf Geometrie schien sich im Zeichen absoluter Objektivität jeglicher Geschichtlichkeit entledigen zu wollen. Man übersah, wie wichtig Le Corbusier in seinen Tracés régulateurs das menschliche Auge, die Wahrnehmung war. Selbst Rudolf Wittkower liess sich durch diese gleichsam pythagoräische oder eben neuplatonische Sicht verführen und fiel ins Schema. Er hatte in seinen «Architectural Principles in the Age of Humanism» (1949), deren Einfluss auf die damaligen englischen Architekten und auf Colin Rowe einzigartig war, nicht nur einzelne Villengrundrisse schematisch dargestellt, sondern ihnen ein alles vereinheitlichendes «geometrical pattern of Palladio's villas» hinzugefügt. Dies, die totale Verallgemeinerung der palladianischen Villa im Strichcode, nahm vorweg, was CAAD- Architekten der ersten Stunde mit der «grid construction rule» an Palladio genüsslich vorexerzierten, zweidimensional, versteht sich.

Reyner Banham schrieb damals: «Neo-Palladianism became the order of the day.» Colin Rowe verstand Palladios Architektur als «logical disposition of motifs dogmatically accepted». Von jener Mathematisierung hatten sich die Smithsons, die 1951 für Coventry einen Entwurf «raised on a plan of Neo-Palladian symmetry» entwickelt hatten, schnell losgesagt. Dafür sorgte auch letztlich Le Corbusier, der mit seinen Bauten, dem Paukenschlag von Ronchamp (1956) insbesondere, die Architekten mit Macht an die Architektur erinnerte: auch dies eine «preuve par l'expérience». Nur Peter Eisenman - 1961 auf Italienreise mit Rowe - liess sich, näher dem «calcul» als der bewohnbaren Architektur, auf diese formale Linie ein und fand in Terragni seinen Palladio.

DER KÜNSTLERISCHE AKT

Wie viel Ratio erträgt der Mensch, ist hier die alte und neue Frage. Zwischen der Aufforderung einer Nötigung der Natur und der Warnung vor Hirngespinsten oszilliert selbst Kant. Der Grat ist schmal, das Thema hochsensibel, zutiefst nicht nur in der Erkenntnis, sondern auch in der Erfahrung angesiedelt. Das ist eine nicht unbedingt sichere Basis, jedoch die unausweichliche Bedingung des architektonischen Tuns. Dort, im «operare», hatte der Mentor Palladios, Daniele Barbaro, die architektonische Zuständigkeit angesiedelt. Im «segno dell'Artefice» (modern übersetzt: im künstlerischen Akt), auf Einsicht und Erkenntnis aufgebaut, und im Disegno - dem Entwurf - angelegt, veräusserlicht der Architekt einen inneren Habitus und zeichnet die äussere Materie mittels Qualität und Form. Das beschreibt nicht die Reduktion auf euklidische Geometrie, sondern meint - präzis den Darlegungen der aristotelischen Physik nachgebildet - die notwendige Verschränkung von Form und Materie. Wenn Palladio selbstbewusst seine Nuova usanza, die Neuartigkeit seiner Architektur, beschreibt, erklärt er dies nicht durch Konzepte, sondern durch die ihm durch geneigte und verständige «Gentil'huomini», Bauherren, gegebene Chance, jene zu verwirklichen.

Vom Menschen aus ist die Architektur zu sehen, wie das - modern - von Heinrich Tessenow in «Hausbau und dergleichen» ausgeführt ist, was zu überraschenden architektonischen Kriterien wie Anstand führt. Darin wiederum gibt sich das alte Decorum, die Angemessenheit als Regulierung zwischen Konzept und Ausführung, zu erkennen. Wenn ein ausgeprägter Theoretiker wie Quatremère de Quincy im Falle Palladios auf eine einfache Zuweisung und Kategorisierung verzichtet, um dann das Wesen seiner Architektur schlicht mit «c'est du Palladio» zu umschreiben, so trifft er den Kern dieser «alten» Auffassung, wonach in jeder Situation die gleichen Einsichten und Überzeugungen in jeweils anderer Weise zur Geltung gebracht werden. Bei Le Corbusier ist das die Recherche patiente, sind es - ganz im Geiste Barbaros und Palladios - «conclusions théoriques d'observations successives faits dans les chantiers»: gemäss der Einleitung zu den «Cinq Points d'une Architecture Nouvelle».

Das beschreibt das «au-delà du calcul», das sich mit dem Bild der Rotonda verbindet. Le Corbusier spitzt das polemisch zu. Das Schicksal des Ingenieurs sei es, «de rester dans la raison». Dem steht seine Einsicht entgegen: «Il y a toujours une passion quelconque dans un homme raisonnable.» Und diese Leidenschaft führt uns weiter. Es ist letztlich «le potentiel sentimental», das den Schöpfer der Architektur bewegt. Kurz vor Vollendung der IIT Chapel in Chicago äusserte sich 1950 Mies van der Rohe, an die Bauherrschaft adressiert, durchaus in diesem Sinne: «Wherever technology reaches its real fulfillment, it transcends into architecture.» Und damit, so die Folgerung, erreiche die Architektur ihre eigentliche Bedeutung. Jene Rede begann gleichfalls mit der provokativen Feststellung «Technology is rooted in the past», während Architektur «the real battleground of the spirits» sei.

NORMIERTE DARSTELLUNGSWEISE

Aber auch die Versuchung, Architektur gerade umgekehrt auf eine verlässliche, berechenbare Spur zu setzen, hat Tradition. Auch dieser Sichtweise bot sich Palladio an. Die Usanza nuova, worunter Palladio letztlich seine unverkennbare Architektur in ihrer vielfältigsten, stets variierten Art versteht, wurde so in der Typologie diszipliniert und ganz wörtlich auf den Nenner, nämlich in eine normierte Darstellungsweise, gebracht. Dieses Vorgehen einer letztlich schrittweisen Entbindung vom geschichtlichen Kontext charakterisiert die Methode von J. N. L. Durand genauso wie die moderne Propaganda, die sich schon in Gropius' «Internationaler Architektur» von 1925 der Vorteile der Reduktion auf das Bild bewusst wird und in die Kodifizierung des International Style führt. Insofern gilt dann, dass gemäss August Schmarsow die Einbildungskraft dort neu etwas kreieren muss, «wo nur Striche sind».

Das «Zeitalter der Reproduzierbarkeit» beginnt - bezogen auf den Palladianismus - mit den «Quattro Libri» (1570). Dort ist die systematische Anordnung der Motive und die Disziplinierung der Darstellung angelegt. Palladio kennt die Vorzüge und die Bedingungen des «insegnare facilmente con parole, e con figure». Mittelbar begründet dies die Erfolgsgeschichte der «Quattro Libri» und begünstigt die nachfolgenden Korrekturen, Bereinigungen und Idealisierungen, die sich im 18. Jahrhundert in England wie im Veneto in aufwendigen Editionsprogrammen niederschlagen, zum Faksimile des Architekturbuches und zur getreuen Wiedergabe der Architekturzeichnung führen. Mit J. N. L. Durand erfasst diese Entwicklung die Geschichte. In seinem «Recueil et Parallèle» bringt er das historische Material in eine kategorielle, typologische Ordnung und - noch entscheidender - in die Darstellungsform von Strichzeichnung und massstäblicher Identität, was für die danach in Vorschlag gebrachte Entwurfslehre und deren Durchschlagskraft entscheidend ist. Mit diesen grafischen Reduktionen sind Grundlagen geschaffen, auf denen die Moderne im 20. Jahrhundert ihre Erfolgsgeschichte in wichtigen Belangen aufbaut.

DAS GESETZMÄSSIGE IN PALLADIO

Mit dieser Entwicklung trat die Einsicht zurück, dass Palladios Architektur eine ganz spezifische «Physiognomie» zukomme. Es interessierte eine Kompositionsweise, die als «combinaison des éléments des édifices» angelegt war und dementsprechend einen Baukasten als Lehrgebäude der Architektur vorsah. Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, dass die moderne Kritik in Palladio in erster Linie das Gesetzmässige erkannte. Cornelius Gurlitt wird 1914 vom «Geist ästhetischer Schulmässigkeit» und vom «Gefühl der Notwendigkeit, sich beim Schaffen einem Gesetze zu unterwerfen» als Wesenszügen Palladios sprechen. Das scheint alles zu begünstigen, was die äussere Anwendung einer Geometrie als Linienwerk in gleicher Weise als palladianisch und modern begreift.

Abstraktion auf allen Ebenen! Berlage, der sich ja wie kaum ein anderer seiner Generation mit geometrischen Grundformen und Gesetzen auseinandergesetzt hat, kritisiert Palladio gerade umgekehrt wegen des Verdachts der Imitation gegebener Vorbilder, äusserer Nachahmung. Man hat die konkrete Körperhaftigkeit der Architektur Palladios, die schon für Goethe den Besuch in Vicenza zum Erlebnis machte, also nicht vergessen. Als Fritz Hoeber 1913 mit der Darstellung zu Peter Behrens die Reihe «Moderne Architekten» begann, charakterisierte er dessen architektonisches Temperament als bestimmt durch den «Respekt vor dem Materiellen». Behrens selbst äusserte sich damals zu den «aussichtsvollen Hinweisen, die die moderne Konstruktion für die Formgestaltung gibt», um dann mit der Kritik an der «Körperlosigkeit der Eisenkonstruktion» zu enden: «Eisen und Glas entbehren in ihrer Erscheinung des Voluminösen der aus Steinen geschichteten Mauern.» Gegen die Gotiker mit ihren Auflösungstendenzen gerichtet bekannte Behrens: «Architektur ist Körpergestaltung.»

Behrens' Palladianismus liegt also im Festhalten an der Körperlichkeit begründet, was aber durchaus auf die neuen Materialien angewandt werden konnte. «Eisen und Glas prinzipiell in eine Ebene zusammenzulegen, um so den Eindruck von körperbegrenzenden Flächenwänden zu bekommen», lautete das Rezept. Es entspricht in der grundsätzlichen Anlage durchaus dem «Frontespicio nella facciata dinanti», womit Palladio eine für jegliche Fasssadenbildung valable, universale Lösung, im vorgesetzten Säulenportikus nämlich, empfohlen hat. Behrens' Musterbau, die für die AEG errichtete Turbinenhalle, scheint - ganz palladianisch - das Körperideal mit der körperbegrenzenden Flächenwand in der Synthese zusammenzuführen. Nicht umsonst hat dieses Werk bis heute die Bedeutung einer Ikone der modernen Architektur behalten.

Behrens' Werke sind gleichzeitig mit den Bauten von Ludwig Hoffmann entstanden, in denen Mauertexturen nach dem Vorbild Palladios wörtlich zitiert werden, und insbesondere mit denjenigen Messels, den Walter Curt Behrendt 1911 als den Gründer der Neuen Berliner Bauschule feierte. Dabei konnte der explizite Verweis auf Palladio nicht mehr fehlen. Das Verhältnis Messel- Hoffmann charakterisierte Behrendt so: «Wo aber Hoffmann mit sicher geschultem Auge das Gesetz der Proportionen erkennt und ihre kontrapunktische Schönheit nachrechnet, fühlt Messel die Wirkung der plastischen Form.» Behrendt hatte 1911, anderen Prognosen zur kommenden Baukunst vorauseilend, ein «neu erwachtes Raumgefühl», das «nach Klarheit der kubischen Formen und Massen drängt», prognostiziert. Und es konnte nicht ausbleiben, dass er diesen Gedanken auf Palladio hin verlängerte: «Wenn Messel anfangs nur durch ein äusserliches Moment auf Palladio hingewiesen wurde, so fand er sich zuletzt durch die gleichen künstlerischen Ziele ihm geistig verbunden.»

Es ist augenscheinlich, dass das Messelsche Pergamonmuseum «palladianisch» gedacht ist. Aber, so Behrendt, das ist nur ein «Moment», und dahinter steht die Einsicht in die jeder architektonischen Gestaltung zugrundeliegenden Proportionen: «Bei Palladio, dem ‹durch und durch gesetzlichen›, der nach einem Worte Burckhardts sich nie an den dekorativen Einzeleffekt hielt, sondern ausschliesslich von der Disposition und von dem Gefühl der Verhältnisse aus seine Bauten organisierte, ging Messel in die Schule, nicht um ihm dekorative Einzeleffekte abzusehen, wie die stilgerechten Akademiker, sondern um die ihm eigentümliche Kunst der grossen Dispositionen und Proportionen zu erlernen, um aus einem Zeichner ein Formendenker zu werden.»

Der moderne Blick erkennt in Palladio das Grosse und Monumentale, die Gültigkeit der Proportionsgesetze und das Allgemeine, weshalb auch der einflussreiche Lehrer Friedrich Ostendorf für seine «Sechs Bücher vom Bauen» eine moderne Variante der Villa Rotonda - ohne Kuppel - zeichnet, um das Prinzip «entwerfen heisst, die einfachste Erscheinungsform zu finden» zu illustrieren. Hier entsteht ein moderner Konsens. Diesbezüglich ergibt sich ein weiterer moderner Blick auf Palladio. Sein Erfolg ist zu einem Grossteil darin begründet, dass er die «hohe» Architektur seinem Zweck der Wohnarchitektur und seiner Kundschaft angepasst hat und daraus seine neue Architektur, die Usanza nuova, propagiert hat. Er hat nicht davor zurückgeschreckt, zur Begründung eine Geschichtsfiktion aufzubauen, wonach auch in der Antike die - verlorenen, unbekannten - Wohnbauten den Tempeln vorangegangen seien; und jenen hätten sie ihre Formen wohl zu verdanken. So lässt sich die Tempelfront für den Hausbau beanspruchen. Sie ist eben gerade nicht Tempelfront, sondern gemäss Palladio «frontespicio dinanti» - oder, modern, Fassade.

Was Ostendorf und Tessenow (oder auch Georg Muche in Weimar) unternahmen, ist nur der folgerichtige nächste Schritt, auch diese letzten Zeichen einer historischen Architektur unter Wahrung der Bautradition und unter ausdrücklicher Beanspruchung einer Baukultur zugunsten eines noch radikaleren Charakters des Elementaren der Moderne zuzuführen. Insofern ist der Zusammenhang mit Palladio nicht nur in der äusseren Formgebung, sondern eben in der gemeinsamen Sache der Architektur hergestellt und bewahrt. Sie bleibt der klaren Erscheinung und der grossen Einfachheit zugewiesen. Nicht die Abstraktion, die Körperhaftigkeit, die Architektur hat gesiegt. Heinrich Wölfflin zitiert in «Italien und das deutsche Formgefühl» 1931 Goethes Einverständnis mit der traditionellen Kunstanschauung: «Nur aus dem Natürlichen kann Grösse entwickelt werden.» Und Wölfflin kommentiert: «Palladio hat sie.»

[ Prof. Dr. Werner Oechslin, Institut gta, ETH Zürich. - Jüngste Publikation: Werner Oechslin, Palladianesimo. Teoria e Prassi. Arsenale editrice, Venezia 2007. 327 S., 100 Euro. - Ausserdem: Peter Eisenman. Die formale Grundlegung der modernen Architektur. Hrsg. Werner Oechslin. gta-Verlag, Zürich 2005. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2007.05.12



verknüpfte Publikationen
Die formale Grundlegung der modernen Architektur

04. Dezember 2004Werner Oechslin
Neue Zürcher Zeitung

Geschichte ohne Falten

Das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt widmet seine neuste Ausstellung der «Revision der Postmoderne». Anhand von über 300 Zeichnungen, Modellen und Fotografien vergleicht sie Arbeiten postmoderner Pioniere mit Beispielen zeitgenössischer Architektur. Die Schau erlaubt damit neue Blicke auf eine architekturgeschichtliche Strömung, die es liebte, die Moderne mit historischen Bildern zu maskieren.

Das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt widmet seine neuste Ausstellung der «Revision der Postmoderne». Anhand von über 300 Zeichnungen, Modellen und Fotografien vergleicht sie Arbeiten postmoderner Pioniere mit Beispielen zeitgenössischer Architektur. Die Schau erlaubt damit neue Blicke auf eine architekturgeschichtliche Strömung, die es liebte, die Moderne mit historischen Bildern zu maskieren.

Das Deutsche Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt begeht seinen 20. Geburtstag und feiert damit auch seinen Bau mit Oswald Mathias Ungers' «Haus im Haus». Von dieser Idee eines übergiebelten Hauses im Kern einer umgebauten Villa abgesehen, war und ist diese Architektur in erster Linie weiss, kubisch und autonom. Sie entspricht somit präzis jener Kurzformel, die Ungers' Kollegen und Generationsgenossen, Alison und Peter Smithson, noch in den fünfziger Jahren der modernen Architektur als Wesensdefinition zugedacht hatten. Das in den Raum hineingestülpte kleine Haus gibt sich zudem als Variante all jener Urhütten zu erkennen, die in moderner Zeit mehr denn je zuvor an die Stelle historischer Erörterung gesetzt wurden. Kein Grund also, Ungers, der das Haus für die von Heinrich Klotz an dieser Stelle 1984 initiierte «Revision der Moderne» erbaute, der Postmoderne zuzuordnen. Ungers selbst hat sich damals wie heute vehement dagegen gewehrt, als postmoderner Architekt klassifiziert zu werden. Wer möchte nicht ein moderner Architekt sein - und wer liesse sich durch das Attribut «postmodern» stigmatisieren!

Ein Blick Zurück

In ihrer Frankfurter «Revision der Postmoderne» haben Ingeborg Flagge und Romana Schneider klugerweise darauf verzichtet, der Postmoderne ihre (end)gültigen Stilmerkmale zuzuweisen. Das erübrigt sich. Denn Charles Jencks, der wie kein Zweiter die Ismen dieser Periode lancierte, hat dies längst besorgt. Er fügte die zugehörigen Begriffe in eine Matrix, der neben der Rubrik der Moderne und der Postmoderne auch noch jene der naiv-unbewussten Fortführung der Moderne in einer Spätmoderne zugehört. Alles ist darin - in gewohnt kunsthistorischer Manier - auf die Linie gebracht: vom Einfachen zum Komplexen, vom Puristischen zum Eklektischen, von der geradlinigen zur hybriden Aussage und selbstverständlich vom Nicht-Stil des alles dominierenden «einen» International Style über den Unconscious Style der Spätmoderne zum berühmten Double-coding of Style, der wohl verbreitetsten Kennzeichnung der architektonischen Postmoderne. Selbstverständlich ist dies alles und vieles mehr an den Bauten - ihren «Phänotypen», ihren Erscheinungsformen - abgeschaut. Denn in der Fixierung auf die Oberfläche hat sich die Postmoderne kein Jota von der Moderne wegbewegt, sosehr die Doppelkodierung vordergründig alle neuen und alten Inhaltsdimensionen der Architektur zu erschliessen schien: in Jencks' Liste von «pro-metaphor» über «pro-historical reference» und «pro-humour» bis «pro-symbolic».

Die Ausstellung im DAM in Frankfurt begnügt sich stattdessen mit einem Blick zurück und beschreibt einige mögliche Fährten, die von dort in unsere heutige Zeit hineinreichen. Man begegnet also den Ikonen von 1980. Dabei drängt sich einem zuweilen ein Eindruck auf, der auf diese Weise wohl kaum intendiert gewesen sein kann. Die postmodernen Bildwelten sind in die Jahre gekommen, ohne dass man ihnen das Altern ansehen würde. Sie sind weniger Geschichte als blosse Vergangenheit. Die Bauten haben Falten gekriegt, die nicht erwünscht sind und die man lieber verdecken möchte. All das verträgt sich schlecht mit der damals postulierten Wiederentdeckung der Geschichte. Man denkt also eher an die immer kürzer gewordenen Zyklen neuer Bilderscheinungen und andererseits an die von der Moderne geforderte Geschichtslosigkeit, das Aufgehobensein in einer zeitlos gültigen Welt, womit man die grösste aller Utopien der Moderne beschreibt. Daran hat sich mit der Postmoderne, so die Vermutung, kaum was geändert. Sie wurzelt in der modernen Welt. Sie hat den Gang der Dinge weder aufgehalten, noch hat sie sich - Ausnahmen vorbehalten - wirklich in ein wesenhaft Geschichtliches hineinvertieft. Damit ist sie zumindest konform. Und konform ist die Kultur und sind die Kulturinstitute schon längst. Unsere Welt lebt immer noch von modernen Fiktionen trotz allen längst historisch gewordenen Warnungen wie denjenigen der «Grenzen des Wachstums». Sie behält ihren naiven Optimismus, ist immer noch einseitig und zuweilen blind zukunftsgläubig und hat mangels Visionen je länger, je weniger brauchbare Vorstellungen von der Zukunft.

Halbwertszeit von Bauikonen

Der Architektur fällt immer wieder die Aufgabe zu, all diese unterschiedlichen Aspekte in möglichst suggestiven Bildern vor Augen zu führen beziehungsweise zu verdecken. Und häufig genug tun das Architekten mehr als willfährig. Rund um Ground Zero hat Daniel Libeskind seine Presseauftritte im Look eines Raumschiffkapitäns aus der Science-Fiction-Welt gestaltet. Er ist nur einer von vielen, deren Marktwert sich nach dem Bekanntheitsgrad der von ihm geschaffenen Icons richtet. So ist insgesamt zumindest die moderne Versprechung der Form in Erfüllung gegangen, die schon Hermann Muthesius 1911 in seinem Werkbund-Vortrag «Wo stehen wir?» als «höhere Architektonik» bezeichnete, «die zu erzeugen ein Geheimnis des menschlichen Geistes ist, wie dessen poetische und religiöse Vorstellungen».

Aber auch diese Formen sind der Zeit ausgesetzt. Selbst die glänzenden Bauten der ersten, zweiten und dritten High-Tech-Generation sind dem unterworfen. Sie altern zwar nicht, aber ihre Halbwertszeit ist im Einvernehmen mit der daran interessierten Bauwirtschaft festgesetzt, dient der Investitions- und Amortisationsplanung und garantiert, dass unsere Bauten stets möglichst neu und zeitlos erscheinen. Der «Faktor Zeit» ist eine wirtschaftliche, keine kulturelle Grösse. Das Zeitmass ist standardisiert und auf zeitlos-neu getrimmt. Älter werden ist hässlich und vermeidbar. Eine sichtbare Geschichte, Ruskinsche Vorstellungen, der ästhetische Wert von Altersspuren sind ausgeklammert. Hinter jeder Patina schlummert schliesslich der Hausschwamm, und Verfallserscheinungen gehören nicht in unsere Welt. Selbst auf den archäologischen Feldern ist man wieder vermehrt darum bemüht, Säulen neu aufzurichten, damit unserer mangelnden Vorstellungskraft ein konkretes Bild gegenübergestellt wird. Der Hinweis auf «missverstandene Fortschrittsideen» und «unangebrachte Verschönerungs- und Neuerungssucht» hat uns zwar seit Max Dvoraks «Katechismus der Denkmalpflege» (1916) begleitet, aber die Verdrängung der Geschichte charakterisiert die moderne Zeit bis heute weit mehr als eine gegenteilige Position.

Es bleibt das Altwerden, gegen das die moderne Architektur mit allen formalen Mitteln von Anfang an Sturm lief. Mit ihrem Hang zu Zeitlosigkeit und Objektivität flüchtete sie sich schon früh in die Arme der «Klassizität», wozu die Postmoderne mit ihrem vorübergehenden Flirt mit der Säule lediglich eine weniger abstrakte Variante bot. Schon 1911 entdeckte Walter Gropius «neben den bisherigen Forderungen nach technischer und wirtschaftlicher Vollkommenheit ein Verlangen nach Schönheit der äusseren Form» und kündigte daraufhin - durchaus visionär - die ästhetische Ausgestaltung der modernen Architektur «in Bezug auf Geschlossenheit der Form, auf Farbe und auf Eleganz des ganzen Eindrucks» an. Eleganz als ästhetischer Imperativ der Moderne, glatte Haut, faltenlos! Das war und ist es wohl, was man sich immer noch von der Architektur erhofft. Es beschreibt den Mainstream der Moderne auch in spät- und postmodernen Zeiten. Man hat zwar den «Teint» gelegentlich «brutalistisch» aufgeraut und postmodern belebt. Im Übrigen bleibt es dabei, beim Hochglanz.

Ausserhalb dieser Orthodoxie hat der Autor des «Verschimmelungsmanifestes», Friedensreich Hundertwasser, den höchsten je erzielten Popularitätsgrad eines Architekten erzielt. Er hat am ehesten der berühmten Kritik Ortega y Gassets, die Moderne erreiche die Massen nicht, etwas Konkretes entgegengesetzt. Das müsste zu denken geben. Es lässt sich nicht mit der tendenziös gestellten Frage «Populismus oder Baukunst» beiseite schieben.

Inzwischen hat die Verschimmelung auch die eleganten Bauten der Moderne und Postmoderne erreicht. Icons werden zuweilen überflüssig; man scheidet sie aus dem Kanon orthodoxer Architekturbetrachtung aus. Charles Moores «Piazza d'Italia» in New Orleans, um 1980 gefeiert, hat die Architekturdiskussion nicht nachhaltig bestimmt. Man liest jetzt im Frankfurter Katalog zur Revision der Postmoderne, dieses «ambitionierte Projekt postmoderner Stadterneuerung» sei von den Bewohnern nie wirklich angenommen worden. Nun werde die «städtebauliche» Anlage zum Eingangsbereich eines Hotels umfunktioniert. Sollte die Postmoderne tatsächlich städtebauliche Ambitionen gehabt haben, und niemand möchte das wirklich bestreiten, so sind diese im Falle der «Piazza d'Italia» der Privatisierung anheim gefallen. Was städtisch gedacht war, ist jetzt Lifestyle- und Wellness-Ornament. Oder war die «Piazza d'Italia», trotz den humanistischen Intentionen ihres Erfinders, doch nur ein Bild, ein kulturgeschichtliches Versatzstück?

Historismus der Moderne

Man kann ex negativo schliessen: Insofern auch die Postmoderne nicht gelernt hat, mit Geschichte wirklich umzugehen, ist sie Teil der Moderne. Umso weniger mangelt es uns an eleganten und formschönen Bauten, modernen wie spät- und postmodernen, weshalb man wohl doch alles am besten in ein Bild der architektonischen, der Form verpflichteten Moderne einfügt. Dem darf man noch die ähnlich unkorrekte, postmoderne Variante des Syllogismus gemäss Andy Warhol anfügen: «Das Schönste an Tokio ist McDonald's / das Schönste an Stockholm ist McDonald's / das Schönste an Florenz ist McDonald's / Peking und Moskau haben bis jetzt noch nichts Schönes.» Auch diese Versprechungen der Moderne sind mittlerweile längst eingelöst. Es geht - global - in diesem Sinn einer diskurslosen Welt der affirmativen Bilder und Hauptsätze weiter. Wir haben unsere - veralteten - Bilder längst nach Schanghai verkauft. Kurzum, wir befinden uns in der voll entwickelten Phase des Historismus der Moderne, der Reproduktion ihrer Bilder.

Diese Sichtweise hat Nikolaus Pevsner schon 1936 in «Pioneers of modern architecture» vorweggenommen: «our circle is complete». Mit Gropius sei die moderne Versprechung eingelöst worden, der Jahrhundertstil sei mit ihm zur vollkommenen Entfaltung gelangt. Zum Entsetzen der jungen Generation britischer Architekten, die sich nach 1950 im Aufwind befand, hielt er an dieser Meinung fest und reagierte auf die Neuheiten des «Brutalismus» 1961 mit der Darstellung «the return of historicism». Er quittierte das 1968 nochmals: «no successful effort has been made since». Das ist alles polemisch gefasst. Es ist eben nicht erst Richard Meier mit ewig gleichen - oder besser: ähnlichen - Varianten zu Le Corbusiers Villa Savoye aufgetreten und hat nicht erst Michael Graves' Reproduktionen nach Boullée und Ledoux in Bauten umgesetzt. Gemäss Pevsner ist auch schon der gestelzte Oberteil der Torre Velasca in Mailand formal mit den Stützkonstruktionen der «bay-windows» um 1900 zusammen zu sehen. Solange sich die Architektur selbst an den (kunstgeschichtlichen) Bildvergleichen und Ismen orientiert, sind solche Einwürfe nicht unangebracht. Im oben erwähnten Vortrag hat Muthesius im Rückblick auf das 19. Jahrhundert formuliert: «Die kunstgeschichtliche Erkenntnisarbeit verscheuchte die lebendige Architektur.»

Verkunstgeschichtlichung

Die damals in Angriff genommene Suche nach einem «überzeugenden Stilausdruck» hatte wohl zu einer Form geführt; aber seither scheint diese in den Bildern - und in den Bildvergleichen - gefangen und bestenfalls innerhalb von Bildvorstellungen modifiziert worden zu sein. Und vieles davon ist kunstgeschichtliche Referenz. Wir haben unseren Neo-Konstruktivismus und unseren Neo- Kubismus; und jetzt werden auch die kristallenen Formationen aus Bruno Tauts «Alpiner Architektur» gebaut; und das Auskragen gemäss Lissitzkys Wolkenbügel erfreut sich - auf vielfältigste Weise variiert - grossen Zuspruchs. Nach Massgabe solcher äusserlicher Ähnlichkeit wird zurzeit in der Basler Ausstellung «ArchiSkulptur» Norman Fosters Swiss Re Tower in London mit Brancusis «Vogel» verglichen - weshalb nicht gleich mit einer Gurke, was in London jedermann versteht? Dem Historismus der Moderne dient sich auch noch die Verkunstgeschichtlichung der Architektur an. Auch dies liesse sich auf die modernen Ursprünge zurückverfolgen.

Gewiss: Das ist alles sehr einseitig betrachtet. Es übersieht vor allem den Architekten, der auf vielfältigste Weise seine Aufgabe definiert und das einzelne Werk in eigener künstlerischer wie gesellschaftlicher Verantwortung schafft. Allein, im Blick auf Stil als eine übergeordnete, universale Kategorie hat ja gerade die moderne Kunstgeschichte immer wieder so getan, als ob nicht einzelne Menschen, sondern - auf der Basis menschlicher «Gleichförmigkeit» - «das menschliche Formgefühl» zur Kunst und zum Kunstwerk führe und dass auf dieser Grundlage die Formgesetzlichkeit und der «neue Stil» gesucht werden müssten (Wölfflin). Das hat 1925 Gropius mit seinem «Willen zur Entwicklung eines einheitlichen Weltbildes» bestärkt, womit er meinte, es seien «die geistigen Werte aus ihrer individuellen Beschränkung zu befreien» und «objektiver Geltung» zuzuführen, woraus dann eben auch die «Einheit der äusseren Gestaltungen, die zur Kultur führen», folgen würde. Insofern schliesst sich zumindest dieser Kreis moderner Bildvorstellungen und ihrer kunstgeschichtlichen Erklärungen. Ihnen fehlt allerdings der Blick auf die architektonischen Aufgaben, auf das Wohnen, auf die Stadt und schliesslich auf den Menschen selbst.

[ Die Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt dauert bis 6. Februar 2005. Katalog: Revision der Postmoderne. Hrsg. Ingeborg Flagge und Romana Schneider. Junius-Verlag, Hamburg 2004. 296 S., Euro 34.90 (in der Ausstellung). ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2004.12.04

18. Dezember 2002Werner Oechslin
Neue Zürcher Zeitung

„The era of the skyscraper is not over“

Ein erster Versuch, brauchbare Projekte für Ground Zero zu gewinnen, endete im Fiasko. Nun haben auf Einladung sieben renommierte Büros ihre Entwürfe verfasst, die heute, am 18. Dezember, in New York vorgestellt werden. Sie dienen in erster Linie der Anfertigung eines Masterplans, den die Bauherrschaft am 31. Januar vorlegen will. Ob eines der Projekte wirklich zum Zuge kommt, bleibt derweil völlig offen.

Ein erster Versuch, brauchbare Projekte für Ground Zero zu gewinnen, endete im Fiasko. Nun haben auf Einladung sieben renommierte Büros ihre Entwürfe verfasst, die heute, am 18. Dezember, in New York vorgestellt werden. Sie dienen in erster Linie der Anfertigung eines Masterplans, den die Bauherrschaft am 31. Januar vorlegen will. Ob eines der Projekte wirklich zum Zuge kommt, bleibt derweil völlig offen.

Drei Tage nach der Zerstörung des World Trade Center rief Rudolph Giuliani bereits zum Wiederaufbau der Hochhäuser auf. Inzwischen ist Ground Zero zum obligaten Ziel des New-York- Tourismus geworden. Man erkennt dort in der Tiefe, dass schon längst wieder mit Hochdruck gearbeitet wird, dass die Verkehrsstränge nach New Jersey ausgebaut und alle notwendigen Infrastrukturen für ein Welthandelszentrum in verbesserter Version ausgelegt werden. Insofern ist Pragmatismus in Aktion umgeschlagen. Man versteht die Ängste der Verantwortlichen der Lower Manhattan Development Corporation (LMDC), die nun nach langer, aufwendiger Anhörung der «Volksmeinung» das Heft wieder fester in die Hand nehmen möchten. Deshalb halten sie jetzt, da sieben Architektenteams ihre Projekte abgegeben haben, eifersüchtig Informationen zurück, auf dass eine zu breite Diskussion gar nicht erst entstünde. Denn nachdem die LMDC mit der Port Authority handelseinig geworden ist, geht es um Entscheidungen und Termine. Am 31. Januar soll der Masterplan stehen: ganz unabhängig davon, wie die «spatial concepts» der sieben Teams - mehr hält man von Architekturprojekten nicht - nun ausfallen.

Nun sind deren Pläne, Modelle und Videos vergangene Woche abgeliefert worden. Sie sollen heute, am 18. Dezember, der Öffentlichkeit vorgestellt werden. «Spione» haben schon mal von einem Zickzack-Wolkenkratzer Daniel Libeskinds berichtet. Norman Foster liess auf Anfrage mitteilen, «New York verdiene etwas Grosses». Der besondere Ort rufe nach einer «Ikone». Das überrascht alles nicht. Im Vorfeld hielt jetzt die «Daily News», die sich «New York's Hometown Newspaper» nennt, den New Yorkern die Petronas Towers in Kuala Lumpur unter die Nase und forderte unmissverständlich dazu auf, den alten Wettbewerb um den höchsten Turm nicht nur wieder aufzunehmen, sondern ihn auch zu gewinnen. Da darf man sich also fragen, ob Foster vor dem Tokioter «Millennium Tower» noch einen Zwischenrekord in Lower Manhattan einzuschieben gedenkt. Auf alle Fälle passen die «plans for world's tallest» bestens zur Führungsrolle, die in jedem Interview aus Washington unvermindert anklingt. Wer so selbstverständlich von der eigenen Überlegenheit ausgeht, wird sich wohl kaum auf architektonische Nachdenklichkeit oder gar auf Bescheidenheitsformeln wie der von der «Demokratie als Bauherr» einlassen wollen. Immerhin, auf ein «Memorial» will man vorerst nicht verzichten, weil dies Millionen von Besuchern anzieht. Aber auch hier hat man die Realität im Blick: Man könne entsprechende Einrichtungen später mühelos in Büroräume konvertieren.

Wer und was hat Chancen? Libeskind, der sich «emotional, intellektuell und kulturell» engagiert gibt? Die «United Architects» - unter ihnen Greg Lynn -, die atypisch mit dem vordringlichen Kriterium «öffentliche Sicherheit» an die Arbeit gegangen sind? Norman Foster, der sich längst - wenigstens mit Projekten - in sämtliche Rekordlisten der Architektur (der grösste Flughafen, der höchste Turm) eingetragen hat und so der Provokation von Kuala Lumpur am ehesten begegnen könnte? Die mit der New Yorker Bauindustrie am besten verbundenen SOM-Architekten; oder gar die Verfasser des Lower Manhattan Urban Design Plan, das Büro Peterson/Littenberg?

Bleibt da noch das allein schon durch seine Zusammensetzung überraschendste Team: Richard Meier, Peter Eisenman, Charles Gwathmey und Steven Holl. Da haben sich drei der legendären «New York Five» zum ersten Mal wieder zusammengefunden und mit einem jüngeren Partner vereint. Sie schwören darauf, dass sie ihre - zweifellos ausgeprägten - «egos» nunmehr zugunsten des gemeinsamen Anliegens in eine «black box» verbannt hätten. Aus diesem Zusammengehen ist ein Projekt entstanden, das Mahnmal, Turmbau und urbanes Zentrum (in Form von Plazas) zusammenführen will. Diese Architekten kennen noch den Markusplatz in Venedig als Ikone für öffentlichen Raum. Sie wollen die Schatten der eingestürzten Türme als sichtbare Spuren «bauen». Und sie wollen in erster Linie jene Stätte als Raum umgrenzen, statt ihn bloss zu bebauen.

Man wird sehen, welches der Projekte am besten zum Kalkül der «developers» passt, welche «icon» zum neuen «Symbol» erhoben wird. Ob hier - europäisch - der alte neue Traum des Babylonischen «als eine Art Rache am Allzumenschlichen» (J. Ponten in «Architektur, die nicht gebaut wurde») mühsam angepeilt wird oder ob im direkten Gang der amerikanische Traum wieder einmal in Erfüllung geht, wird sich weisen. Mit Le Corbusier kann man - europäisch - sagen: «Craignez les architects américains!», oder eben in seinem Sinne einfach anfügen: «On met du verre autour.» Nichts von alldem, so viel ist sicher, plagt die New Yorker Verantwortlichen. Schliesslich hat man ja schon Fritz Koenigs beschädigte Skulptur «The Sphere» vom Ort der Zerstörung in den Battery Park versetzt und dort am vergangenen 11. März eingeweiht. Jener Park trägt auch den Namen «hope garden», was als «icon of hope and the indestructible spirit of this country» an Ort und Stelle präzisiert und erläutert wird. Jene Weltkugel sei ein Symbol für «world peace through trade». So hat es schliesslich auch Präsident Bush am 22. März in Monterrey in Mexiko der Welt zugerufen: «a new era of global economic growth through free markets and free trade», und dabei handelt es sich - amerikanisch - über jeden Zweifel erhaben und in jenem Papier betont um «moral principles». - Amerika braucht keine Intellektuellen, um seine - ideologischen - Inhalte auszudeuten. Amerikas Ideale und moralischen Überzeugungen zeichnen sich in den Ikonen architektonischer Höchstleistungen dafür umso direkter und unmissverständlicher ab.

Was «innovativere Wolkenkratzer» seien, worüber vor Jahresfrist noch heftig diskutiert wurde, erscheint in Zeiten solcher Eindeutigkeiten obsolet. Damals sprachen auch die Architekten von SOM von halbhohen Wolkenkratzern auf Ground Zero. Man wird bald sehen, ob sich Amerika mit solchen Halbheiten zufriedengeben wird. Zurzeit stehen die Zeichen eher auf den «plans for world's tallest». Alles andere käme jetzt einer Überraschung gleich, so anders dies in der jetzt gerade vorübergehenden Architektenphase auch ausschauen mag. Das letzte Wort aber haben die Verantwortlichen vom LMDC Board und von der Port Authority. Und die haben jetzt schon deutlich gemacht, dass der entscheidende Moment nicht heute, sondern am 31. Januar sein wird. Keine Zeit also für unnötige Diskussionen!

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2002.12.18

25. September 1999Werner Oechslin
Neue Zürcher Zeitung

Borromini und die «intelligenza» seiner Architektur

Wie beurteilt man eine herausragende künstlerische Leistung? Woher bezieht man die Kriterien der Beurteilung - gerade dann, wenn es sich anerkanntermassen um einen ausserordentlichen Fall handelt? Nach verlässlichen Selbstdarstellungen oder nach einer die Praxis adäquat abbildenden Theorie sucht man meist vergebens. Die «histoire des opinions» ist zwar von der Encyclopédie als «recueil des erreurs humaines» entlarvt worden. Gleichwohl ist man auf die Rezeptionsgeschichte angewiesen. Trotz viel Ausgefallenem dokumentiert diese die Bedeutung des Gegenstandes oft genauer als manch solide nachgereichte Analyse. So auch im Falle des aus Bissone stammenden Borromini (1599-1667), dessen 400. Geburtstag am 27. September gefeiert wird.

Wie beurteilt man eine herausragende künstlerische Leistung? Woher bezieht man die Kriterien der Beurteilung - gerade dann, wenn es sich anerkanntermassen um einen ausserordentlichen Fall handelt? Nach verlässlichen Selbstdarstellungen oder nach einer die Praxis adäquat abbildenden Theorie sucht man meist vergebens. Die «histoire des opinions» ist zwar von der Encyclopédie als «recueil des erreurs humaines» entlarvt worden. Gleichwohl ist man auf die Rezeptionsgeschichte angewiesen. Trotz viel Ausgefallenem dokumentiert diese die Bedeutung des Gegenstandes oft genauer als manch solide nachgereichte Analyse. So auch im Falle des aus Bissone stammenden Borromini (1599-1667), dessen 400. Geburtstag am 27. September gefeiert wird.

Anton Francesco Doni überrascht den Leser seiner «Seconda Libreria» (1555) mit dem Hinweis auf einen schriftlichen Nachlass Bramantes, der aus einem Traktat zu den Säulenordnungen und einer - auch als «trattato del lavoro tedesco» umschriebenen - «Pratica di Bramante» bestehe. Das hat zu Irritationen geführt. Für Doni selbst ist allerdings weniger die Existenz solcher Dokumente als der grundsätzliche Anspruch entscheidend, die herausragenden Künstler möchten doch im Hinblick auf eine allgemeine Verbesserung der Künste ihr Tun mit Schriften begleiten.

DIE RICHTIGE SICHT DER DINGE

Was für Bramante zutrifft, gilt auch für Borromini. Man kann sie, die Grossen der Kunst, nicht so einfach in die Pflicht nehmen. Nun ist gerade seit Joseph Connors' jüngsten Forschungen im Falle Borrominis dokumentiert, wie sehr dieser sich angestrengt hat, die richtige Sicht der Dinge festzulegen. Sein «Opus» ist allerdings erst lange nach seinem Tode erschienen, seine «Lieblingskinder», die Zeichnungen, hat er vor seinem Tode verbrannt und so der Nachwelt - eifersüchtig - entzogen. Es gibt sie also nicht, jene «Pratica di Borromini», die man sich in seinem Falle genauso gewünscht hätte und die man - wie bei Bramante - als «un trattato del lavoro tedesco» hätte untertiteln können. Gerade dies, wie Borromini seine Architektur konzipiert, entworfen und umgesetzt hat, ist heute einmal mehr Kernfrage der Forschung - und keineswegs so entschieden, wie man das gemäss Donis Unterstellung einem Traktat hätte entnehmen können. Glücklicherweise hat sich trotz Borrominis Zerstörungswerk einer der grössten Zeichnungsnachlässe erhalten. Und hier hat die jüngere Borromini-Forschung, insbesondere seit Heinrich Thelens mustergültigem erstem Band der «Handzeichnungen Francesco Borrominis» (1967), auch neu angesetzt.

Johann Caspar Füesslin unterstellt 1774 dem jungen Borromini, er sei «mit dem ernstlichen Vorsatz und der innern Überzeugung» nach Rom gereist, «einer der grössten Männer seines Zeitalters zu werden». Folgt man dieser Spur, wird man verstehen, weshalb schon die frühen Biographien meist eher Psychogramme als kommentierte Werklisten Borrominis festgeschrieben haben. Eine solche Sichtweise, die auch die Kleidung des Künstlers mit ins Visier nimmt, hat sich schon lange vor Adolf Loos festgesetzt. Entsprechend diente Borrominis konsequent getragenes «Spanisch-Schwarz» auch nur dazu, die Besonderheit und Abweichung seines Charakters glaubhaft zu illustrieren. Passeri meint, Borromini habe auf diese Weise als «besonders» auffallen wollen.

Borromini verstösst gegen die Konvention. Das Charakterbild stimmt auf Schlimmeres ein. Schlechter Charakter, schlechte Architektur, heisst die Gleichung. Am Höhepunkt klassizistischer Ästhetik wird Milizia diese Betrachtungsweise auf die Spitze treiben, wenn er die Losung ausgibt, Borrominis Werke seien Verrücktheiten, «frenesie». Selbst verrückt geworden, habe sich Borromini schliesslich umgebracht. Und jene architektonische Verrücktheit sei ansteckend. Ein Krankheitsbild, die pathologische Sicht der Dinge, hat die architektonische Beschreibung der Werke Borrominis schon 1787 und nicht erst 1930 überlagert, als Hans Sedlmayr Borrominis Weltbild mit Hilfe der Kretschmerschen Temperamentenlehre als «schizotym» bezeichnet hat.

NOTORISCHE EIFERSUCHT

Für jene frühe psychologisierende Panegyrik der Künstlerviten bot sich die Konkurrenz Borromini - Bernini als ideale Folie an. Diese war geschichtlich solide abgestützt, nachdem Bernini die Nachfolge Madernos als Leiter der Fabrica di San Pietro, des höchsten Architektenamtes, angetreten hatte. Borromini, der die Arbeit leistet und die guten Ideen entwickelt, und Bernini, der nach aussen als Realisator auftritt, das ist der Stoff eines echten Psychodramas. Doch so romantisch wird dies kaum je gesehen. Bei Baldinucci (1728) erscheint Borromini formal vielleicht korrekt, aber doch reichlich tendenziös als «Discepolo del Cav. Bernino». Angelo Comolli (1788) nimmt das dann zum Anlass, um von Borromini als einem kaum würdigen Schüler eines so berühmten Lehrers zu sprechen. So werden Bruchstücke einer Biographie und Anekdoten zu einer kunstgeschichtlichen Topik verfestigt. Unter dem Druck knapper Fassung schreibt etwa Roland le Virloys 1770: «Il fut jaloux de la réputation du Bernin, jusqu'au désespoir.»

Andere versuchen sich herauszuhalten. Lione Pascoli (1730) meint, die notorische «gelosia» Borrominis wäre nicht halb so schlimm, wenn daraus nicht auch noch Hass, Missgunst, Feindschaft, Streit und Blutvergiessen entstanden wären. So lasse sich der Konflikt zwischen Borromini und Bernini eben kaum verschweigen. Schlimmer: dieser habe sich auch auf alle anderen, so insbesondere auf die «animi degl'intendenti» übertragen. So müsste man zumindest darauf vertrauen können, dass sich Sympathie und Antipathie eben auch genauer, in architektur- und kunstspezifischen Begriffen niederschlügen. Bellori hat diesbezüglich in einer berühmt gewordenen Postille zu Baglione über San Carlino den Anfang gemacht: «brutta e deforme, gotico ignorantissimo e corruttore dell'architettura, infamia del nostro secolo».

Da ist alles enthalten, was die klassizistische Kritik hundert Jahre später genüsslich ausbreiten wird. Pascoli vereinigt statt dessen schon früh die doppelte - positive wie negative - Sichtweise; Genialität («era portato dal genio») steht auf der einen, der Regelverstoss auf der andern Seite. Letzteres wird auf die Innovationssucht - und öfters auch auf das Dekorative bezogen. Passeri empfiehlt, man möge Borromini jene «kapriziösen», aber doch stets genialen («ingegnose») Irregularitäten nachsehen. Er sei ein «architetto spiritoso» und seine «intelligenza» sei schon seit Anbeginn in der Bauhütte von St. Peter offenkundig geworden. Allein, die umgekehrte Sicht der Dinge setzt sich durch: zwar habe Borromini über ausserordentliche Talente verfügt, doch diese seien fehlgeleitet worden. Resultat: Borromini sei «uno de'principali corruttori dell'arte» geworden, was dann später zur Definition eines «Style-Italique dégénéré» oder «Style-Italique corrompu» (so der Chevalier de Wiebeking) führte.

Man schreibt schon längst Kunstgeschichte. Und natürlich nimmt die klassizistische Kritik bald einmal überhand. Man übersieht dabei, was für ein grundsätzlicher Wechsel in der Beurteilung von der offen formulierten Einsicht in die Notwendigkeit «einiger weniger universaler Regeln» durch Palladio (1570) zur schulmeisterlich ausgelegten Liste architektonischer Verfehlungen durch Milizia eingetreten ist, so wie man später kaum bemerkt hat, dass jene Umwertung des - vorerst negativ bestimmten - Barockbegriffs ins Positive noch lange nicht den Blick aufs Ganze zurückgebracht hat. Die Reduktion der borrominischen Architektur auf das nunmehr akzeptierte Kurvenspiel - «quel suo modo ondulato ed a zic zac» (Milizia) - bleibt formalistisch-klassisch und wird Borrominis Architekturauffassung nicht gerecht.

Andererseits sind differenziertere Positionen bis heute teilweise völlig vergessen. Bottari geht 1754 von der in seiner Zeit vermissten Synthese von Theorie und Praxis, von Kenntnis und Erfahrung aus, um dann am Beispiel der Deckenkonstruktion über dem Oratorio Borrominis Befähigung zu virtuoser Problemlösung herauszustellen. Deshalb figuriert er als «uno de'più ingegnosi talenti». Seine Exzellenz ist dort angesiedelt, wo weitab von den ästhetischen Kategorien architektonisches Können, Problembewältigung gefordert sind. Der Antiquar aus Pesaro, Giambattista Passeri, hat 1772 aus denselben Gründen das Urteil des «gran pensatore Borromino» gefällt.

Gleichzeitig hatte sich aber längst jene klassizistische, ästhetisierende Sichtweise durchgesetzt, die von Alessandro Pompei und dessen Verdikt gegen die «cieca pratica», die blinde Praxis der römischen Architektur, ausging. Dieser hatte sich schon früh nach England ausgerichtet und im Palladio-Apologeten Lord Burlington sein Ideal erkannt. Und so verurteilt Pompei jetzt unmissverständlich jeglichen Drang nach Schaffung neuer Formen. Das hat bei Milizia zu einer eigenwilligen Beurteilung der Leistungen Borrominis geführt. Er verleiht ihm gute Noten für jene Zeit, in der er sich noch aufs Kopieren beschränkte, während mit dem Beginn seiner Eigenständigkeit - und dem Exzess an «novità» - Borromini der Häresie und der «malinconia» verfallen sei.

Doch selbst bei Milizia finden sich Spuren der anderweitigen Betrachtungsweisen eines Bottari. Auch er kann die Qualitäten der Bauten Borrominis nicht einfach totschweigen. «E' però mirabil», entfährt es ihm, wenn er auf das kunstvoll eingezogene flache Gewölbe im Oratorio zu sprechen kommt. Und so lässt selbst er sich bezüglich der Vorzüge der Architektur Borrominis «un certo non so che di grande, di armonioso, di scelto che fa conoscere il suo sublime talento» entlocken. Unversehens begibt sich Milizia aufs Terrain des Erhabenen. Doch ist er schnell wieder bei seinen rational-stringenten Beurteilungen angelangt. Wenn Borromini wegen seiner hohen geistigen Gaben zu den Ersten seines Jahrhunderts zu zählen sei, dann eben auch zu den Letzten wegen des «lächerlichen Gebrauchs», den er davon gemacht habe. Borrominis Qualitäten bezüglich «firmitas» und «utilitas» nützen ihm, der bezüglich Schönheit ein «matto» ist, gar nichts: «chi lo condanna in questa lo condanna anco in quelle», lautet die erstaunliche Logik. Deutlicher kann man den Primat des Ästhetischen kaum herausstellen.

Auf dieser - glatten - Oberfläche lässt sich so ziemlich alles aussagen. San Carlino, für Milizia das «delirio maggiore del Borromino», ist für Comolli ein «gabinetto di una galante Madama», was parallel zu den profanisierten Interpretationen von Berninis Verzückung - oder eben den orgasmusähnlichen Konvulsionen - der heiligen Theresa zu lesen ist. Die stereotype Sicht der Dinge hebt sich je länger, je stärker vom Gegenstand ab. Cancellieri sammelt in seiner Fussnote zu Borromini alles, was an Anekdoten zu finden ist, so Berninis gegen Borrominis Fassade der Propaganda Fidei gerichtete priapische Stuckformen und Borrominis Antwort in Form von Eselsohren gleichen Materials. Uggeri liefert dann das griffige und scheinbar so unverfängliche Bild der massstabsgleichen Grundrisse von San Carlino und eines Vierungspfeilers von St. Peter: San Carlino als Barockjuwel! In den Romführern des 19. Jahrhunderts gerät dies zum Stereotyp: «is worth observing from the fact that the whole building corresponds with one of the four piers supporting the cupola of St. Peter's». Mehr findet man in Augustus J. C. Harpes «Walks in Rome», einem Standardwerk für britische Touristen, nicht - nicht einmal Borrominis Namen.

CARTESIANISCHE WELTAUFFASSUNG

«A curious work of Borromini» - zum Turm von Sant'Andrea delle Fratte im weitverbreiteten Romführer von Vasi und Nibby - sagt auch viel weniger aus als frühere Bezeichnungen wie «con ingegnoso, e vago disegno del Borromini». Das kann nicht erstaunen, zumal auch die Forschung kaum danach fragte, was zu Zeiten Borrominis Emanuele Tesauro in seinem «Cannocchiale Aristotelico» unter «ingegno» und «argutezza» im spezifisch architektonischen Sinn verstand: Erfindungsgabe, aber auch Ingeniosität! Worauf dann Tesauro prompt an die Bezeichnung «Ingegnere» für den Architekten erinnert. Auch Ermenegildo Pini geht es 1770 um ein tieferes Verständnis des «ingegno umano». Und so interessiert er sich - ähnlich wie Bottari - für das, was er als innere Kohärenz begreift, selbst wenn sich dies in Anbetracht ästhetischer Wertsetzungen als «combinazione d'errori» erweisen sollte. Auf diesem Weg gelangt Pini zur provokativen Äusserung, Borrominis architektonisches Verdienst müsste doch zumindest demjenigen gleichgesetzt werden, das ohne Zweifel Descartes zukäme. Das führte in den «Effemeridi Letterarie» in Rom zu einem Aufschrei der Entrüstung: «Dio volesse . . .»! Wo käme man hin, wenn man von den Delirien Borrominis auf Descartes schliessen würde.

Sedlmayr ist also auch hier nicht der erste, wenn er für Borromini eine «cartesianische Weltauffassung» reklamiert. Die Rede ist auch hier von System und von Elementen, die zu Kombinationen und Konstellationen führen, was dann Sedlmayr den Vergleich noch enger zur Chemie eines Lavoisier ziehen lässt. Der Hinweis auf die Zugehörigkeit Borrominis und Descartes' zu derselben Generation konnte in der Zeit von Pinders Kunstgeschichte nach Generationen (1926) kaum fehlen. Erstaunlicher ist allerdings, dass Sedlmayr mit seinem Ansatz massiv gegen den im Trend liegenden modernen Einheitsbegriff anging, den die Stilgeschichte - Hubala nannte es eine «stilgeschichtliche Fundamentalkonstruktion» - genauso verkörperte wie die damals der Ideologie der «einheitlichen Erscheinungsform» aufsitzende Architektur. Als dann Sedlmayr das Cartesianische Weltbild mit Bezug auf Kretschmer auch noch als typisch schizothyme Weltauffassung freilegte, musste der letzte gestandene Kunstwissenschafter sich empört abwenden.

Gurlitts für die Ehrenrettung barocker Kunst hochangesehene «Geschichte des Barockstils in Italien» (1887) lässt auch nur Unbeholfenheit im Umgang mit dem komplexen Phänomen Borromini erkennen. San Carlino wird jetzt wegen der «ächt barocken Grösse ihrer Verhältnisse» gerühmt. Gurlitt lässt das Bild eines antiklassischen, zu neuen Horizonten aufbrechenden Künstlers entstehen. Plötzlich ist da die Rede vom «bewussten Bruch mit der Antike und den Gesetzen Vignolas». Nicht mehr der Regelverstoss ist das Thema, sondern modernes Kunstwollen. Borromini, ein Mann von «selbstbewusster Kraft» und «kühner Tat», habe gemerkt, «in welche Wüsteneien die schematische Befolgung der Buchlehren der grossen Renaissancetheoretiker führten». Lange hält Gurlitt diesen Ton nicht durch. Er verfällt alsbald in die üblichen Topoi der klassizistischen Borromini-Kritik. Der Turm von Sant'Andrea delle Fratte ist zwar «eines der keckesten Geniestücke», allein die Fassade von San Carlino erscheint auch ihm als «ein reines Dekorationsstück». Schliesslich folgt Gurlitt Milizia und den Deutungen des Suizids: «Diese traurige Tatsache erklärt manches.» «Nirgends innere Würde, Übereinstimmung zwischen Mass und Absicht.» Auch er sieht das «Krankhafte» Borrominis, was er dann am Ende mit seinem zuerst geäusserten Enthusiasmus auf höchst zeitgemässe Weise zusammenführt: «Er war ein Riese im Wollen.»

NERV DES BAROCK

Eine solch spontan-zufällige Vermengung überkommener Vorurteile mit neuformulierten Ansprüchen an künstlerische Kreativität wollte Heinrich Wölfflin sicherlich vermeiden. Seine Absicht in «Renaissance und Barock» (1888) war es ja, in den «Symptomen des Verfalls», in «Verwilderung und Willkür» «womöglich das Gesetz zu erkennen». Doch auch bei ihm ist das Psychologisieren sehr schnell zur Hand. Er nimmt sich das «Gesetz der Abstumpfung» - «das erschlaffte Formgefühl verlangt nach einer Verstärkung des Eindrucks» - zwecks Erklärung barocker Expressivität vor. Da hatte er doch in den «Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur» (1886) den Abschied vom Psychologisieren genommen und sich den «allgemeinen Formgesetzen» zugewandt. Aus den bekannten Wesensdefinitionen der Architektur wie der «Schwere» und den von ihm selbst weiter benützten Begriffen von «Kraft», «Wille» und «Leben» formte er sodann den Kompromiss: «Ich nenne es Formkraft.» Dann griff er in der Gleichsetzung von «Architektonik» und «System» bis auf Kant zurück. Kehrtwendung? Auf alle Fälle zeigt sich schnell, dass bei dieser neuerlichen Beschränkung Borromini kaum beizukommen ist. Natürlich konnte die Umkehrung der Winckelmannschen Begriffe von «Mass und Form, Einfalt und Linienadel, Stille der Seele und sanfte Empfindung» gemäss Wölfflins Empfehlung - «Man setze das Gegenteil eines jeden dieser Begriffe, und man hat das Wesen der neuen Kunst bezeichnet» - kaum zum Ziel führen.

Wölfflin hatte bemängelt, den Barock begleite keine Theorie wie die Renaissance, was übrigens nur dann zutrifft, wenn man - fälschlicherweise - von einer kontinuierlichen Fortschreibung der älteren Theorie in gegebenen Grenzen ausgeht. Hat denn niemand in Perraults «Ordonnance» (1683) nachgelesen, dass selbst aus der Sicht der französischen Architekturtheorie ausserhalb der engen Doktrin der Säulenordnung so gut wie (noch) nichts geregelt war? Von jener beschränkten Basis aus wird man die Gesetzmässigkeit «barocker Architektur» nicht erreichen können.

Wölfflin flüchtet - ganz im Sinne des Zeitgeistes - in atmosphärische Beschreibungen: «weniger Anschauung, mehr Stimmung». «Gesamteindruck» und «Barockgeist» sind entscheidend. «Hier treffen wir auf den Nerv des Barock», stellt Wölfflin fest: «Aufgehen im Unendlichen, Sich-Auflösen im Gefühl eines Übergewaltigen und Unbegreiflichen», «Verzicht auf das Fassbare», «eine Art von Berauschung». Wie schnell entfernt sich hier der Kunsthistoriker von seinen guten Vorsätzen! Man ist kaum erstaunt, dass Wölfflin mangels passender «Gesetzmässigkeiten» bei Borromini nur einen «wilden Taumel» verspürt und auch er sich der pathologischen Annäherung verschreibt: «Die Hauptbarockmeister litten alle an Kopfweh», präzisiert Wölfflin in einer Fussnote und belegt dies mit Milizia.

Wölfflins Flucht in «Stimmung» findet anderswo ihre konsequente Fortsetzung und Parallele. Alois Riegl fragt in seinen Vorlesungen zur «Entstehung der Barockkunst in Rom» (1908) nach dem «Sinn» des Barockbegriffs und kommt auf die Bedeutung «wunderlich, ungewöhnlich, ausserordentlich». Dem kann er offensichtlich selbst wenig abgewinnen, denn, «jenes Ausserordentliche, das die Barockkunst darstellt, verstehen wir nicht, es überzeugt uns nicht, enthält einen Widerspruch, wirkt unwahr, wir finden es daher wunderlich» - als ob ein solches Urteil gefragt wäre! Wieder kommt ein Vorurteil in die Quere. Es heisst «lästige Unklarheit». Da findet Riegl zu den Vorurteilen der Klimatheorie zurück: «Wir hassen vor allem die heftige Handlung» (der Südländer) und nur (der nördliche) Rembrandt kann ihn beruhigen. Das «Psychologisieren» feiert Urständ. Wie sollte es anders sein, wenn Wölfflin von der folgenden Definition ausgeht: «Wir bezeichnen die Wirkung, die wir empfangen, als Eindruck. Und diesen Eindruck fassen wir als Ausdruck des Objekts.» Ein- und Ausdruck dasselbe! Das Objekt letztlich in harmonischer Identität mit seiner Interpretation! So einfach wird subjektive Betrachtungsweise zur kunstgeschichtlichen Methode erhoben. Vor den «Fatalitäten», in die die Kunstgeschichte stürzt, wenn sie «als letzten Rat zur Lösung des Barockproblems die Psycho-Physiologie heranholt», hat schon 1912 Carl Horst - ein heute im Gegensatz zu den eben zitierten Vertretern der Kunstgeschichte vergessener Name - allerdings ohne Erfolg gewarnt.

MODERNE BORROMINI-FORSCHUNG

Man muss also Hempel verstehen, wenn er zu Beginn seiner ersten modernen Monographie (1924) als Ziel angab, «für die Darstellung des Lebenswerkes Francesco Borrominis durch die Heranziehung des gesamten in Betracht kommenden Materials eine möglichst breite Basis zu gewinnen». Das war der Ausgangspunkt der modernen Borromini-Forschung, aber natürlich keine ausreichende Option auf eine verlässliche Beantwortung des längst im Raum stehenden, den Rahmen einer blossen Fallstudie sprengenden Borromini-Problems. Man muss deshalb auch verstehen, dass Sedlmayrs systematischer Ansatz und die an den Beginn der ersten Ausgabe (1930) seiner Borromini-Studie gestellte Kritik der Orientierung am blossen «Bild» und der Nähe kunstgeschichtlicher Arbeit zu «literarischen Formen» völlig berechtigt war. Doch mit dem Vorschlag einer «ersten» und «zweiten» Kunstwissenschaft hatte er in den Augen der soliden kunstgeschichtlichen Basis den Bogen überspannt. So wenig man den psychologischen Grundton seiner Vorgänger zu bemerken schien, so übel stiess nun Sedlmayrs «Zur Psychologie Borrominis» auf. Anthony Blunt bezeichnete Sedlmayrs Arbeit noch 1979 als «ingenious but perverse analysis of his (Borrominis) work in terms of Freudian (!) psychoanalysis». Offensichtlich reichte für Blunt die saloppe Gleichsetzung von Psychologie und Freud, um über die Angelegenheit der Wesenserfassung barocker Kunst hinwegzugehen.

Wirkliche Kritik an Sedlmayr würde sich erst dann ergeben, wenn seine Schlussfolgerungen mit den zum Ausgangspunkt genommenen Auffassungen der Gestalttheorie verglichen würden. Dieser Mühe hat sich die Kunstgeschichte nicht unterzogen. Doch wer mag sich mit Friedrich Sanders experimentellen Untersuchungen über rhythmusartige Reihen- und Gruppenbildungen, über «Vorgestalterlebnis» oder mit dem von Sedlmayr wiederholt zitierten Hans Reichenbach und seinen Feststellungen zum Verhältnis einer «normativen Funktion der Anschauung» und «dem Zwang einer logischen Implikation» auseinandersetzen? Solche Fragen haben Sedlmayr auf seinem Gang zu einer Strukturanalyse der Architektur am Beispiel Borrominis zweifellos beschäftigt. Er ist nur gar schnell von den Fragen der Wahrnehmung zu denen einer «architektonischen Vorstellungswelt» - wie Wölfflin vom «Eindruck» zum «Ausdruck» - gelangt und hat diese wiederum voreilig in der Orthodoxie reiner Geometrie (auch dies ein Modernismus!) aufgelöst, womit dann die architektonische Kreativität Borrominis einmal mehr zu Grabe getragen war.

EINE «PRACTICA DI BORROMINI»

Auch Sedlmayr hatte sich also von Borromini entfernt. Gleichwohl hat er am richtigen Ort, dem Entwurfsvorgang, angesetzt, um endlich hinter das «Bild» zu kommen. Allein, was tut man, um sowohl die Strukturanalyse mit ihren geometrischen Reduktionen als auch die Auflösung der Frage in eine Kasuistik einzelner Untersuchungen zu vermeiden? Man brauchte bloss den Kontext von den Fakten auf die Denkformen auszuweiten, um ein ziemlich brachliegendes Forschungsgebiet zu entdecken. Und natürlich würde dies nicht bedeuten, Borrominis Entwurfsmethoden - analog zu Sedlmayrs Schlussfolgerungen - etwa auf Nicolaus Cusanus' «De transmutationibus Geometricis» zurückzuführen. Aber auf solchen Grundlagen liesse sich gleichwohl - das «gotico», die Praxis der (Mailänder) Bauhütte, wie die gerühmte «intelligenza» Borrominis, seine intellektuelle Begabung, berücksichtigend - eine «Pratica di Borromini» umschreiben, wenn man sich denn einiger anderer Grundsätze, ja, wenn man sich etwa jenes bei Scamozzi (1615) vermerkten «Ars est universalium cognitio, experientia vero singularium, come dice Aristotele» vergewissern würde. Wie wollte man in Anbetracht der umfangreichen Zeugnisse ausgerechnet Borromini auf das eine oder das andere festlegen! Bei ihm ist vielmehr, wovon man meist nur zu träumen wagt, Praxis und Theorie, das Einzelne und das Ganze aufs engste ineinander verwoben, und dies macht den Zugang zu seinem Werk und zu seiner Architektur insgesamt so anspruchsvoll und schwer und immer wieder lohnenswert.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 1999.09.25

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Artikel 12

20. Januar 2012Urs Hafner
Neue Zürcher Zeitung

Ein Kosmos der Gelehrsamkeit

Die Bibliothek Werner Oechslins in Einsiedeln ist nicht nur ihrer von Mario Botta entworfenen Architektur wegen, sondern auch – und vor allem – aufgrund ihrer Bestände ein Kulturschatz.

Die Bibliothek Werner Oechslins in Einsiedeln ist nicht nur ihrer von Mario Botta entworfenen Architektur wegen, sondern auch – und vor allem – aufgrund ihrer Bestände ein Kulturschatz.

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Presseschau 12

01. Januar 2020Werner Oechslin
Neue Zürcher Zeitung

Historische Verwerfungen: Wie das Neue Bauen begann

Der Sieg der Moderne wurde schon 1898 gefeiert. Das Bauhaus war nicht der Anfang der modernen Architektur, es schrieb lediglich eine neue Ursprungslegende.

Der Sieg der Moderne wurde schon 1898 gefeiert. Das Bauhaus war nicht der Anfang der modernen Architektur, es schrieb lediglich eine neue Ursprungslegende.

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04. September 2019Werner Oechslin
Neue Zürcher Zeitung

«Das Bauhaus kracht in allen Fugen» – Johannes Itten und sein Zerwürfnis mit dem Bauhaus-Gründer

Der Schweizer Maler und Kunstpädagoge Johannes Itten provozierte die Kreativität und stellte auch die Konventionen am Bauhaus infrage. Mit seinen Zeichnungen und Formbildungen suchte er vor allem die «selbständige Gestalt».

Der Schweizer Maler und Kunstpädagoge Johannes Itten provozierte die Kreativität und stellte auch die Konventionen am Bauhaus infrage. Mit seinen Zeichnungen und Formbildungen suchte er vor allem die «selbständige Gestalt».

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07. Januar 2012Werner Oechslin
Neue Zürcher Zeitung

Moderne Architektur – welche Geschichte?

Die Geschichtslosigkeit der modernen Architektur ist eine Geschichtslüge. Es gab Abgrenzung, Programm, «neue Tradition» und schliesslich eine Geschichte, die sich als «inner history» ausschliesslich auf sich selbst bezog.

Die Geschichtslosigkeit der modernen Architektur ist eine Geschichtslüge. Es gab Abgrenzung, Programm, «neue Tradition» und schliesslich eine Geschichte, die sich als «inner history» ausschliesslich auf sich selbst bezog.

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29. November 2008Werner Oechslin
Neue Zürcher Zeitung

«Wirkliche Grösse und Körperlichkeit»

Beim Tode Palladios war seine gebaute Architektur Stückwerk. Er hatte dies selbst erkannt und geschrieben, man werde gleichwohl auf das schliessen können, was es vollendet einmal sein würde. Damit hatte er auch vorweggenommen, dass man auf ihn in doppelter Weise, über seine Bauten und über sein Werk der «Quattro Libri», Bezug nehmen würde.

Beim Tode Palladios war seine gebaute Architektur Stückwerk. Er hatte dies selbst erkannt und geschrieben, man werde gleichwohl auf das schliessen können, was es vollendet einmal sein würde. Damit hatte er auch vorweggenommen, dass man auf ihn in doppelter Weise, über seine Bauten und über sein Werk der «Quattro Libri», Bezug nehmen würde.

Am 19. September 1786 traf Johann Wolfgang von Goethe in Vicenza ein und notierte: «Vor einigen Stunden bin ich hier angekommen und habe schon die Stadt durchlaufen, das Olympische Theater und die Gebäude des Palladio gesehen. Von der Bibliothek kannst du sie in Kupfer haben, also sag ich nichts, nenn ich nichts, als nur im allgemeinen. Wenn man diese Werke nicht gegenwärtig sieht, hat man doch keinen Begriff davon.» Goethe hat sich also die Bauten Palladios in einem ersten Gang durch die Stadt vorgenommen. Um nicht unnötig Zeit zu verlieren, verweist er für Einzelheiten und Beschreibung auf die Bücher. Stattdessen kommt er zur Sache, zu Palladio selbst, der sich ihm aus der körperlichen Wirklichkeit der Bauten erschliesst. Er sei «von innen heraus» ein grosser Mensch gewesen.

Goethe in Vicenza

Man möchte unterstellen, dass Goethe umgekehrt aus den Büchern lediglich jene Oberflächen, die gekonnten und zur harmonischen Perfektion geführten Fassadenkompositionen, zur Kenntnis genommen hat. Und nun hat ihn die Wirklichkeit übermannt und hinter den Bildern den Menschen Palladio erkennen lassen. Daraus, aus dieser konkreten Erfahrung, gewinnt Goethe einen «Begriff» von Palladios Architektur. Helmuth Plessners Ästhesiologie des Geistes vorgreifend, steht ihm hier die «Griffigkeit» des Sehens zu Diensten, lässt ihn Glieder und Formen der Architektur verstehen als «reine Erfassung der Dinglichkeit einer Inhaltsfülle». Wie sich das genau verhält, lässt Goethe aus der bereinigten Textfassung der «Italienischen Reise» erkennen: «Wenn man nun diese Werke gegenwärtig sieht, so erkennt man erst den grossen Wert derselben, denn sie sollen ja durch ihre wirkliche Grösse und Körperlichkeit das Auge füllen, und durch die schöne Harmonie ihrer Dimensionen nicht nur in abstrakten Aufrissen, sondern mit dem ganzen perspektivischen Vordringen und Zurückweichen den Geist befriedigen.»

Goethe hat hier sein ganzes architektonisches Wissen bemüht. Die Verbindung der Perspektive mit den Vor- und Rücksprüngen, den «abgestuften Reliefvorstellungen», wie es Peter Behrens später nennt, ist präzis Vitruv nachformuliert. Sein Wissen orientiert sich am Sehvorgang und beschreibt, was man «auf einen Blick» erfährt. «Tous ceux qui ont vû les bâtimens de Palladio, conviennent, qu'ils ravissent au premier coup d'œil.» So schreibt es schon C. E. Briseux 1752 in seinem «Traité du Beau Essentiel». Er bricht mit der akademischen Tradition, die alles und jedes ausschliesslich am einzelnen Glied und Mass erproben und gleich auch als Regel verstehen will. (Insofern war Vignola – bei François Blondel – das massgebliche Vorbild und – bei Le Corbusier – das zu überwindende Hindernis. Palladios Villa Rotonda dagegen führt Le Corbusier 1923 in seinem Aufsatz über «pérennité» vor, an dessen Ende er eine Architektur «au-delà du calcul» beschwört.) Das Bild- und Bücherwissen ist vornehmlich flach. «Wirkliche Grösse und Körperlichkeit» sind die wahren Kennzeichnungen des Gebauten. Palladio zum Anfassen!

Architektur und Gesellschaft

Palladio, über dessen Leben wir so wenig wissen und der von Anfang an – durch die Namensgebung – einer Idealisierung zugeführt wird, scheint sich gerade dagegen, gegen das Verschwinden seiner Architektur in einem diffusen Klassizismus, zu wehren. In Georg Andreas Böcklers erster deutscher Teilübersetzung (1698) überlagern sich die Vorstellungen einer «Pallas Architectonica» und eines «sinnreichen Palladius». Allein, Palladio, der «vortrefflich-Italiänische Baumeister», überstrahlt alles durch seine Person und seinen unangefochtenen Vorbildcharakter. Es geht eben stets darum, den richtigen «Begriff» seiner Architektur zu besitzen, und das ist mehr als ein Regelwerk.

Andrea Calmo, ein Zeitgenosse Palladios, beantwortet die Frage, was der Mensch von der Architektur erwartet: «un sguardo suave, un viso mansueto, e una vita perfetta». Die Architektur ist im Leben verwurzelt, und dort soll sie auch verankert bleiben. In Berlin wird Riedel d. Ä. 1796, als es wieder einmal um Situierung und um einen Neuanfang der Architektur ging, schreiben: «Das Bauen hat stets unmittelbar kultiviert.» Man ist sich dieser Bedeutung und der dazugehörigen Tat bewusst. Und deshalb soll man auch schreiben, um die eigene Einsicht und Erfahrung einer Entwicklung und einem Fortschritt zuzuführen. «Bisognerebbe che ogni eccellente maestro, scrivesse sempre della sua arte: accioche operando & scrivendo un'altro, la s'andassi sempre megliorando.» So führt es Antonfrancesco Doni 1551 in seiner «seconda libraria» aus.

Wer hätte sich mehr darum gekümmert als Palladio selbst, der zu Beginn des «Proemio ai Lettori» seiner vier Bücher ausführt, wie er auf der doppelten Grundlage der antiken römischen Architektur, der Autorität Vitruvs und der antiken Bauten selbst seine eigene Baukunst entwickelt. Palladio legt sein Vorgehen offen, was nun eben in der Abgleichung des theoretischen Wissens mit dem «archäologischen» Befund zugrunde gelegt ist und in der systematischen Abfolge von Aufmessen («misurare minutissimamente»), Verstehen («comprendere») und Aufzeichnen («& in disegno ridurlo») besteht. Aber dies ist nur Mittel zum Zweck. Palladios Botschaft ist keine grammatikalische, sosehr gerade er tief in die Strukturen von Bau und Gliedern und Form eindringt, so wie das der antike Grammatiker Priscian vorgibt, der in den Buchstaben («litera») das Zeichen («nota elementis») und sogar ein Bild («imago») erkennt. Natürlich setzt Palladio «Zeichen» – diesbezüglich der Vitruv-Interpretation Daniele Barbaros folgend, der vom «segno dell'artefice» spricht.

Aber Palladio geht weit darüber hinaus. Seine Botschaft ist eine umfassende, architektonisch-ethische in bester humanistischer Tradition. So wie schon Leonbattista Alberti festhielt, es sei nicht verhandelbar, dass die Bauwerke für die Menschen geschaffen seien, so formuliert Palladio, es erscheine ihm menschenwürdig («cosa degna di huomo»), nicht nur für sich selbst, sondern zum Nutzen auch der andern tätig zu sein. Daraus leitet er seine Aufgabe ab und definiert Zeilen später Architektur als «modo di fabricare con universale utilità». Architektur sei eine Bautätigkeit zum allgemeinen Nutzen. Architektur im Dienste der Gesellschaft.

Weil dies im Vordergrund steht, kommt Palladio auch schnell auf jene Menschen zu sprechen, die ihn in dieser Absicht bestärken und unterstützen, die «Gentiluomini», angefangen bei seinem ersten Mentor und Namensgeber Giangiorgio Trissino. Dem entspricht dann, dass Palladio noch in seinem Proemio betont, dass er von den Menschen und deren Behausungen ausgehen wolle, um erst dann zu den öffentlichen Bauten fortzuschreiten, so wie eben die Gesellschaft sich dem Einzelnen verdankt. Sie ist nicht einfach gottgegeben, sondern ein Resultat ökonomisch-kultureller Entscheidung. Das Glücksstreben ist das einsehbare, vernünftige Ziel der Menschen. In der Nikomachischen Ethik Aristoteles' wird das verhandelt. Und seit den Kommentatoren Leonardo Aretino und Jacques Lefèvre d'Estaples erscheint die Ökonomie der Politik gleichwertig an die Seite gesetzt, gerade weil sie sich beide auf die «civitas» in umfassendster Weise beziehen.

Bei Lefèvre d'Estaples ist die «civitas» in «domus, pagus, civitas» unterschieden im Sinne des Diktums Albertis, wonach das Haus und die Stadt im Grunde genommen ein und dasselbe sind. Die «Ökonomie» leitet Lefèvre d'Estaples vom Haushalt – «apo tou oikou kai nomou» – ab, weil sich hier exemplarisch herausstellt, was sich auch im grösseren Zusammenhang bewähren muss. Wer sich also dem Haus zuwendet, arbeitet an einem gesellschaftlichen Entwurf. Schon Aristoteles hatte festgestellt, dass eine solche, Ordnung setzende und entwickelnde menschliche Gesellschaft natürlich dem «Bienenstaat», der «bloss» gut organisiert ist, überlegen ist. Das ist es, was sich Palladio, von seinen Gentiluomini unterstützt, vorgenommen hat und was ihn dann zur Überzeugung kommen lässt, er habe una «usanza nuova» gefunden, ein «Neues» entwickelt.

Haus und Tempel

Der Architekt ist also gesellschaftsbildend. Palladio hat das längst verinnerlicht. Deshalb kann er umgekehrt davon ausgehen, dass wohl auch in der Antike zuerst Hausbauten erstellt wurden und die Tempel erst danach deren Formen übernommen hätten. Nach Massgabe dieser Geschichtskonstruktion nimmt Palladio die Tempelfront und setzt sie als Fassade vor seine Paläste und Villen und hat damit ein Kennzeichen seiner Architektur und einer gehobenen Zivilarchitektur etabliert, das «frontespicio nella facciata dinanti».

Folgt man dieser von Palladio selbst gelegten Spur, so begreift man, dass man ihm in keiner Weise gerecht werden kann, solange man seine Architektur auf ein Formenrepertoire zurückbuchstabiert. Es ist Voraussetzung und Pflicht und dient einem höheren Ziel. Gerade dies ist damals offensichtlich bemerkt worden. Pietro Leone Casella hat Palladio 1606 in seinen Epigrammata, die er den berühmten Künstlern widmet, unter dem Stichwort der «philosophia» abgehandelt, während er anderweitig die engeren Begriffe der Kunst, den «modulus» für Michelangelo und Raphael und die «inventio» für Giorgione und Leonardo, benützt. Im Epigramm selbst wird festgehalten, wie Palladio aus einem Antikenverständnis heraus eine neue Wirklichkeit sichtbar werden lässt: «Per antiquae Urbis monumenta nobilis ad aemulationem oculata provocat ingenia.» Doch Casella enthebt hier die «aemulatio», jenes berühmte Nacheifern, dem konkreten Vorgang künstlerischen Tuns und ordnet es der «Philosophie» zu. Palladio wird als Gegenbild jenes im engen Vergleich stehenden, «historistisch» nachahmenden Zugangs gedacht. Das ist ja auch der tiefere Grund, weshalb seine Architekturvorstellung viel später die Schwelle der Moderne mühelos überschritten hat und stets modern geblieben ist. Der klügste aller Kritiker Palladios, Quatremère de Quincy, verbindet die Formel «c'est du Palladio» eben auch damit, dass sie in seiner Zeit für gelungene architektonische Neuschöpfungen Anwendung fand.

Palladio hat uns aus den römischen Monumenten eine neue sichtbare Welt zur Nachahmung, genauer: zur Nacheiferung vorgegeben. Und der Akzent liegt auf der Neuartigkeit des Resultats, der «usanza nuova», wie es Palladio selbst kennzeichnet. Palladios Architektur lässt sich nicht auf eine Grammatik der antiken Architektur reduzieren. Es zählen weniger die antiken Monumente als das, was in deren Verständnis neu zur Erscheinung drängt. Legrand nennt Palladios Verhältnis zum antiken Vorbild «une application savante», um dann noch viel radikaler festzustellen, dass sich vor Palladio die Architekten ausschliesslich dem «Monument» zugewandt hätten und nun mit ihm eben der «Hausbau» zum grossen Thema geworden sei. Das belegte «um 1800» die besondere Aktualität Palladios.

Später gab es im Zeichen der Moderne Missverständnisse jeder Art bis hin zu «Fassaden-Spielerei» und «Säulenunfug». Aber auch die Reduktion auf Gesetzmässigkeit – an Jacob Burckhardt anschliessend – und der Versuch, die Villen auf ein «fundamental geometrical skeleton» zurückzuführen, beschreiben bei Rudolf Wittkower wie bei Colin Rowe einen Irrweg und werden Palladio nicht gerecht. (Die Smithson haben in den 1950er Jahren ihren neuerlichen Neo-Palladianismus schnell überwunden!) Architektur ist keine Logik, sondern Körpergestaltung. Man sollte sich bei Palladios wichtigstem Mentor, Daniele Barbaro, besser umsehen, der die Kunst der Architektur als Resultat einer fortgesetzten Erfahrung beschreibt und ihr deshalb vor allem die Aufgabe zuschreibt, Lösungen zu finden. Was Palladio mit seinem Hausbau in Palast und Villa in Vorschlag gebracht hat, verkörpert im Sinne Barbaros stets eine «regolata inventione», ein Resultat, das aus einem gesellschaftlich und ökonomisch zugrunde gelegten Ordnungssinn heraus die Wirklichkeit ergreift und sie fasst.

[ Prof. Dr. Werner Oechslin, Institut GTA, ETH Zürich. – Jüngste Publikation: Palladianismus. Andrea Palladio – Kontinuität von Werk und Wirkung. GTA-Verlag, Zürich 2008. 342 S., Fr. 160.–. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2008.11.29

12. Mai 2007Werner Oechslin
Neue Zürcher Zeitung

Streben nach Proportion und Harmonie

Mit dem klassischen Formenrepertoire der Bauten Palladios konnte die Moderne wenig anfangen. Umso mehr interessierte sein radikaler Zugang zu den entwerferischen Grundlagen der Architektur. Palladio hat das moderne Körperideal und das Prinzip Fassade radikal vorgedacht.

Mit dem klassischen Formenrepertoire der Bauten Palladios konnte die Moderne wenig anfangen. Umso mehr interessierte sein radikaler Zugang zu den entwerferischen Grundlagen der Architektur. Palladio hat das moderne Körperideal und das Prinzip Fassade radikal vorgedacht.

Die moderne Architektur kündigt sich im Zeichen der Überwindung historischer Architektur und von deren wirkungsmächtigstem Symbol, der Säule, an. Bezeichnenderweise ist es Vignola, der prominenteste Vertreter der Säulenlehre, der dafür herhalten muss. Le Corbusier wendet sich allerdings nicht so sehr gegen die Säule, die er in der Form der Pilotis weiter benützt. Er zielt vielmehr auf das Doktrinäre, das sich damit verbindet. François Blondel hatte in der in Paris 1671 gegründeten Architekturakademie von der Säulenlehre und insbesondere von Vignola ausgehend die klassische Architekturtheorie herangebildet, deren erklärtes Ziel die Formulierung eines verlässlichen Regelwerks war. Die Nachfolgeinstitution, die Académie des Beaux-Arts, bekämpft Le Corbusier in seiner «Croisade» 1933 aufs Schärfste. Bei genauerem Hinsehen erkennt man jedoch selbst hier Einvernehmen: Eine ordnungsgebende «ordonnance», ein von Proportion und Harmonie bestimmtes Gefüge wünschen sich Blondel wie Le Corbusier.

REGELWERK CONTRA KUNSTWERK

Die frühe Publikation der Tracés régulateurs in «Esprit Nouveau», die Le Corbusier als Versicherung «contre l'arbitraire» vorbringt, zeigt über dem Titel Blondels Porte Saint-Denis. Unter dem Eindruck eines Textes zu den musikalischen Proportionen von Ouvrard wandte sich Blondel am Ende seines Cours d'architecture der Frage der Proportionierung eines Baukörpers zu. Und hier fiel der Blick in erster Linie auf Palladio. Briseux, der dies 1752 in seinem «Traité du Beau essentiel» aufnahm, verdeutlichte, dass es hier weniger um objektive Massbezüge als um die Wirkung auf den Betrachter geht: «Tous ceux qui ont vû les bâtimens de Palladio, convient qu'ils ravissent au premier coup d'œil.» Was ins Auge fällt, ist entscheidend. Und dies bezeichnet «beauté». Le Corbusier hat seiner Entwurfslehre in nuce, den Tracés régulateurs, genau diese Beobachtung hinzugesetzt: Es interessiert in erster Linie und unmittelbar «das, was das Auge sieht». «Preuve par l'expérience», das ist die Losung von Briseux, die er auf Palladio projiziert; und das markiert das Gegenteil der Empfehlung «upon right models of perfection» von Anthony Earl of Shaftesbury, nach dem die englischen Neopalladianer sich richteten, um beinahe blindlings Palladios Fassaden in endlosen Varianten herunterzudeklinieren.

Der Gegensatz ist offensichtlich: rigides, mechanisches Regelwerk contra offenes, am Wahrnehmungsvorgang orientiertes Kunstwerk. Le Corbusier hat diesen Dualismus in eine klassische Definition gehüllt, die er 1923 «Vers une architecture» voranstellte und in der nun der moderne Gegensatz von Ingenieur contra Architekt zum Paradigma auserkoren wird. Während der Ingenieur durch den «calcul» - gleichsam naturgesetzlich - die Harmonie herstellt, ist es dem Architekten gegeben, durch seine «ordonnance» das zu erreichen, was die von Menschen empfundene und erlebte Schönheit ausmacht. Dafür, für das «au- delà du calcul», steht Palladio. Die Zeilen stehen am Ende eines Aufsatzes zu «Perennité» (1928), in dem Le Corbusier einmal mehr die Dichotomie Ingenieur/Architekt behandelt und an dessen Ende kommentarlos das Bild der Villa Rotonda gefügt wird: «Ce sera l'architecture qui est tout ce qui est au-delà du calcul.» Mittelbar identifiziert sich Le Corbusier mit Palladio. Theo van Doesburg hatte im ersten Heft von «G» im Juli 1923 mitgeteilt, Le Corbusier habe eben eine Renaissancevilla erstellt. Koinzidenz? Es fiel offensichtlich ins Auge! So besehen ist das, was später im Sinn der Festlegung einer klassischen Moderne durch den Vergleich der Villa Stein in Garches mit Palladios Malcontenta suggeriert wurde, nichts anderes als logische Konsequenz.

Hier entstanden Missverständnisse zuhauf. Der radikale Rückgriff auf Geometrie schien sich im Zeichen absoluter Objektivität jeglicher Geschichtlichkeit entledigen zu wollen. Man übersah, wie wichtig Le Corbusier in seinen Tracés régulateurs das menschliche Auge, die Wahrnehmung war. Selbst Rudolf Wittkower liess sich durch diese gleichsam pythagoräische oder eben neuplatonische Sicht verführen und fiel ins Schema. Er hatte in seinen «Architectural Principles in the Age of Humanism» (1949), deren Einfluss auf die damaligen englischen Architekten und auf Colin Rowe einzigartig war, nicht nur einzelne Villengrundrisse schematisch dargestellt, sondern ihnen ein alles vereinheitlichendes «geometrical pattern of Palladio's villas» hinzugefügt. Dies, die totale Verallgemeinerung der palladianischen Villa im Strichcode, nahm vorweg, was CAAD- Architekten der ersten Stunde mit der «grid construction rule» an Palladio genüsslich vorexerzierten, zweidimensional, versteht sich.

Reyner Banham schrieb damals: «Neo-Palladianism became the order of the day.» Colin Rowe verstand Palladios Architektur als «logical disposition of motifs dogmatically accepted». Von jener Mathematisierung hatten sich die Smithsons, die 1951 für Coventry einen Entwurf «raised on a plan of Neo-Palladian symmetry» entwickelt hatten, schnell losgesagt. Dafür sorgte auch letztlich Le Corbusier, der mit seinen Bauten, dem Paukenschlag von Ronchamp (1956) insbesondere, die Architekten mit Macht an die Architektur erinnerte: auch dies eine «preuve par l'expérience». Nur Peter Eisenman - 1961 auf Italienreise mit Rowe - liess sich, näher dem «calcul» als der bewohnbaren Architektur, auf diese formale Linie ein und fand in Terragni seinen Palladio.

DER KÜNSTLERISCHE AKT

Wie viel Ratio erträgt der Mensch, ist hier die alte und neue Frage. Zwischen der Aufforderung einer Nötigung der Natur und der Warnung vor Hirngespinsten oszilliert selbst Kant. Der Grat ist schmal, das Thema hochsensibel, zutiefst nicht nur in der Erkenntnis, sondern auch in der Erfahrung angesiedelt. Das ist eine nicht unbedingt sichere Basis, jedoch die unausweichliche Bedingung des architektonischen Tuns. Dort, im «operare», hatte der Mentor Palladios, Daniele Barbaro, die architektonische Zuständigkeit angesiedelt. Im «segno dell'Artefice» (modern übersetzt: im künstlerischen Akt), auf Einsicht und Erkenntnis aufgebaut, und im Disegno - dem Entwurf - angelegt, veräusserlicht der Architekt einen inneren Habitus und zeichnet die äussere Materie mittels Qualität und Form. Das beschreibt nicht die Reduktion auf euklidische Geometrie, sondern meint - präzis den Darlegungen der aristotelischen Physik nachgebildet - die notwendige Verschränkung von Form und Materie. Wenn Palladio selbstbewusst seine Nuova usanza, die Neuartigkeit seiner Architektur, beschreibt, erklärt er dies nicht durch Konzepte, sondern durch die ihm durch geneigte und verständige «Gentil'huomini», Bauherren, gegebene Chance, jene zu verwirklichen.

Vom Menschen aus ist die Architektur zu sehen, wie das - modern - von Heinrich Tessenow in «Hausbau und dergleichen» ausgeführt ist, was zu überraschenden architektonischen Kriterien wie Anstand führt. Darin wiederum gibt sich das alte Decorum, die Angemessenheit als Regulierung zwischen Konzept und Ausführung, zu erkennen. Wenn ein ausgeprägter Theoretiker wie Quatremère de Quincy im Falle Palladios auf eine einfache Zuweisung und Kategorisierung verzichtet, um dann das Wesen seiner Architektur schlicht mit «c'est du Palladio» zu umschreiben, so trifft er den Kern dieser «alten» Auffassung, wonach in jeder Situation die gleichen Einsichten und Überzeugungen in jeweils anderer Weise zur Geltung gebracht werden. Bei Le Corbusier ist das die Recherche patiente, sind es - ganz im Geiste Barbaros und Palladios - «conclusions théoriques d'observations successives faits dans les chantiers»: gemäss der Einleitung zu den «Cinq Points d'une Architecture Nouvelle».

Das beschreibt das «au-delà du calcul», das sich mit dem Bild der Rotonda verbindet. Le Corbusier spitzt das polemisch zu. Das Schicksal des Ingenieurs sei es, «de rester dans la raison». Dem steht seine Einsicht entgegen: «Il y a toujours une passion quelconque dans un homme raisonnable.» Und diese Leidenschaft führt uns weiter. Es ist letztlich «le potentiel sentimental», das den Schöpfer der Architektur bewegt. Kurz vor Vollendung der IIT Chapel in Chicago äusserte sich 1950 Mies van der Rohe, an die Bauherrschaft adressiert, durchaus in diesem Sinne: «Wherever technology reaches its real fulfillment, it transcends into architecture.» Und damit, so die Folgerung, erreiche die Architektur ihre eigentliche Bedeutung. Jene Rede begann gleichfalls mit der provokativen Feststellung «Technology is rooted in the past», während Architektur «the real battleground of the spirits» sei.

NORMIERTE DARSTELLUNGSWEISE

Aber auch die Versuchung, Architektur gerade umgekehrt auf eine verlässliche, berechenbare Spur zu setzen, hat Tradition. Auch dieser Sichtweise bot sich Palladio an. Die Usanza nuova, worunter Palladio letztlich seine unverkennbare Architektur in ihrer vielfältigsten, stets variierten Art versteht, wurde so in der Typologie diszipliniert und ganz wörtlich auf den Nenner, nämlich in eine normierte Darstellungsweise, gebracht. Dieses Vorgehen einer letztlich schrittweisen Entbindung vom geschichtlichen Kontext charakterisiert die Methode von J. N. L. Durand genauso wie die moderne Propaganda, die sich schon in Gropius' «Internationaler Architektur» von 1925 der Vorteile der Reduktion auf das Bild bewusst wird und in die Kodifizierung des International Style führt. Insofern gilt dann, dass gemäss August Schmarsow die Einbildungskraft dort neu etwas kreieren muss, «wo nur Striche sind».

Das «Zeitalter der Reproduzierbarkeit» beginnt - bezogen auf den Palladianismus - mit den «Quattro Libri» (1570). Dort ist die systematische Anordnung der Motive und die Disziplinierung der Darstellung angelegt. Palladio kennt die Vorzüge und die Bedingungen des «insegnare facilmente con parole, e con figure». Mittelbar begründet dies die Erfolgsgeschichte der «Quattro Libri» und begünstigt die nachfolgenden Korrekturen, Bereinigungen und Idealisierungen, die sich im 18. Jahrhundert in England wie im Veneto in aufwendigen Editionsprogrammen niederschlagen, zum Faksimile des Architekturbuches und zur getreuen Wiedergabe der Architekturzeichnung führen. Mit J. N. L. Durand erfasst diese Entwicklung die Geschichte. In seinem «Recueil et Parallèle» bringt er das historische Material in eine kategorielle, typologische Ordnung und - noch entscheidender - in die Darstellungsform von Strichzeichnung und massstäblicher Identität, was für die danach in Vorschlag gebrachte Entwurfslehre und deren Durchschlagskraft entscheidend ist. Mit diesen grafischen Reduktionen sind Grundlagen geschaffen, auf denen die Moderne im 20. Jahrhundert ihre Erfolgsgeschichte in wichtigen Belangen aufbaut.

DAS GESETZMÄSSIGE IN PALLADIO

Mit dieser Entwicklung trat die Einsicht zurück, dass Palladios Architektur eine ganz spezifische «Physiognomie» zukomme. Es interessierte eine Kompositionsweise, die als «combinaison des éléments des édifices» angelegt war und dementsprechend einen Baukasten als Lehrgebäude der Architektur vorsah. Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, dass die moderne Kritik in Palladio in erster Linie das Gesetzmässige erkannte. Cornelius Gurlitt wird 1914 vom «Geist ästhetischer Schulmässigkeit» und vom «Gefühl der Notwendigkeit, sich beim Schaffen einem Gesetze zu unterwerfen» als Wesenszügen Palladios sprechen. Das scheint alles zu begünstigen, was die äussere Anwendung einer Geometrie als Linienwerk in gleicher Weise als palladianisch und modern begreift.

Abstraktion auf allen Ebenen! Berlage, der sich ja wie kaum ein anderer seiner Generation mit geometrischen Grundformen und Gesetzen auseinandergesetzt hat, kritisiert Palladio gerade umgekehrt wegen des Verdachts der Imitation gegebener Vorbilder, äusserer Nachahmung. Man hat die konkrete Körperhaftigkeit der Architektur Palladios, die schon für Goethe den Besuch in Vicenza zum Erlebnis machte, also nicht vergessen. Als Fritz Hoeber 1913 mit der Darstellung zu Peter Behrens die Reihe «Moderne Architekten» begann, charakterisierte er dessen architektonisches Temperament als bestimmt durch den «Respekt vor dem Materiellen». Behrens selbst äusserte sich damals zu den «aussichtsvollen Hinweisen, die die moderne Konstruktion für die Formgestaltung gibt», um dann mit der Kritik an der «Körperlosigkeit der Eisenkonstruktion» zu enden: «Eisen und Glas entbehren in ihrer Erscheinung des Voluminösen der aus Steinen geschichteten Mauern.» Gegen die Gotiker mit ihren Auflösungstendenzen gerichtet bekannte Behrens: «Architektur ist Körpergestaltung.»

Behrens' Palladianismus liegt also im Festhalten an der Körperlichkeit begründet, was aber durchaus auf die neuen Materialien angewandt werden konnte. «Eisen und Glas prinzipiell in eine Ebene zusammenzulegen, um so den Eindruck von körperbegrenzenden Flächenwänden zu bekommen», lautete das Rezept. Es entspricht in der grundsätzlichen Anlage durchaus dem «Frontespicio nella facciata dinanti», womit Palladio eine für jegliche Fasssadenbildung valable, universale Lösung, im vorgesetzten Säulenportikus nämlich, empfohlen hat. Behrens' Musterbau, die für die AEG errichtete Turbinenhalle, scheint - ganz palladianisch - das Körperideal mit der körperbegrenzenden Flächenwand in der Synthese zusammenzuführen. Nicht umsonst hat dieses Werk bis heute die Bedeutung einer Ikone der modernen Architektur behalten.

Behrens' Werke sind gleichzeitig mit den Bauten von Ludwig Hoffmann entstanden, in denen Mauertexturen nach dem Vorbild Palladios wörtlich zitiert werden, und insbesondere mit denjenigen Messels, den Walter Curt Behrendt 1911 als den Gründer der Neuen Berliner Bauschule feierte. Dabei konnte der explizite Verweis auf Palladio nicht mehr fehlen. Das Verhältnis Messel- Hoffmann charakterisierte Behrendt so: «Wo aber Hoffmann mit sicher geschultem Auge das Gesetz der Proportionen erkennt und ihre kontrapunktische Schönheit nachrechnet, fühlt Messel die Wirkung der plastischen Form.» Behrendt hatte 1911, anderen Prognosen zur kommenden Baukunst vorauseilend, ein «neu erwachtes Raumgefühl», das «nach Klarheit der kubischen Formen und Massen drängt», prognostiziert. Und es konnte nicht ausbleiben, dass er diesen Gedanken auf Palladio hin verlängerte: «Wenn Messel anfangs nur durch ein äusserliches Moment auf Palladio hingewiesen wurde, so fand er sich zuletzt durch die gleichen künstlerischen Ziele ihm geistig verbunden.»

Es ist augenscheinlich, dass das Messelsche Pergamonmuseum «palladianisch» gedacht ist. Aber, so Behrendt, das ist nur ein «Moment», und dahinter steht die Einsicht in die jeder architektonischen Gestaltung zugrundeliegenden Proportionen: «Bei Palladio, dem ‹durch und durch gesetzlichen›, der nach einem Worte Burckhardts sich nie an den dekorativen Einzeleffekt hielt, sondern ausschliesslich von der Disposition und von dem Gefühl der Verhältnisse aus seine Bauten organisierte, ging Messel in die Schule, nicht um ihm dekorative Einzeleffekte abzusehen, wie die stilgerechten Akademiker, sondern um die ihm eigentümliche Kunst der grossen Dispositionen und Proportionen zu erlernen, um aus einem Zeichner ein Formendenker zu werden.»

Der moderne Blick erkennt in Palladio das Grosse und Monumentale, die Gültigkeit der Proportionsgesetze und das Allgemeine, weshalb auch der einflussreiche Lehrer Friedrich Ostendorf für seine «Sechs Bücher vom Bauen» eine moderne Variante der Villa Rotonda - ohne Kuppel - zeichnet, um das Prinzip «entwerfen heisst, die einfachste Erscheinungsform zu finden» zu illustrieren. Hier entsteht ein moderner Konsens. Diesbezüglich ergibt sich ein weiterer moderner Blick auf Palladio. Sein Erfolg ist zu einem Grossteil darin begründet, dass er die «hohe» Architektur seinem Zweck der Wohnarchitektur und seiner Kundschaft angepasst hat und daraus seine neue Architektur, die Usanza nuova, propagiert hat. Er hat nicht davor zurückgeschreckt, zur Begründung eine Geschichtsfiktion aufzubauen, wonach auch in der Antike die - verlorenen, unbekannten - Wohnbauten den Tempeln vorangegangen seien; und jenen hätten sie ihre Formen wohl zu verdanken. So lässt sich die Tempelfront für den Hausbau beanspruchen. Sie ist eben gerade nicht Tempelfront, sondern gemäss Palladio «frontespicio dinanti» - oder, modern, Fassade.

Was Ostendorf und Tessenow (oder auch Georg Muche in Weimar) unternahmen, ist nur der folgerichtige nächste Schritt, auch diese letzten Zeichen einer historischen Architektur unter Wahrung der Bautradition und unter ausdrücklicher Beanspruchung einer Baukultur zugunsten eines noch radikaleren Charakters des Elementaren der Moderne zuzuführen. Insofern ist der Zusammenhang mit Palladio nicht nur in der äusseren Formgebung, sondern eben in der gemeinsamen Sache der Architektur hergestellt und bewahrt. Sie bleibt der klaren Erscheinung und der grossen Einfachheit zugewiesen. Nicht die Abstraktion, die Körperhaftigkeit, die Architektur hat gesiegt. Heinrich Wölfflin zitiert in «Italien und das deutsche Formgefühl» 1931 Goethes Einverständnis mit der traditionellen Kunstanschauung: «Nur aus dem Natürlichen kann Grösse entwickelt werden.» Und Wölfflin kommentiert: «Palladio hat sie.»

[ Prof. Dr. Werner Oechslin, Institut gta, ETH Zürich. - Jüngste Publikation: Werner Oechslin, Palladianesimo. Teoria e Prassi. Arsenale editrice, Venezia 2007. 327 S., 100 Euro. - Ausserdem: Peter Eisenman. Die formale Grundlegung der modernen Architektur. Hrsg. Werner Oechslin. gta-Verlag, Zürich 2005. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2007.05.12



verknüpfte Publikationen
Die formale Grundlegung der modernen Architektur

04. Dezember 2004Werner Oechslin
Neue Zürcher Zeitung

Geschichte ohne Falten

Das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt widmet seine neuste Ausstellung der «Revision der Postmoderne». Anhand von über 300 Zeichnungen, Modellen und Fotografien vergleicht sie Arbeiten postmoderner Pioniere mit Beispielen zeitgenössischer Architektur. Die Schau erlaubt damit neue Blicke auf eine architekturgeschichtliche Strömung, die es liebte, die Moderne mit historischen Bildern zu maskieren.

Das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt widmet seine neuste Ausstellung der «Revision der Postmoderne». Anhand von über 300 Zeichnungen, Modellen und Fotografien vergleicht sie Arbeiten postmoderner Pioniere mit Beispielen zeitgenössischer Architektur. Die Schau erlaubt damit neue Blicke auf eine architekturgeschichtliche Strömung, die es liebte, die Moderne mit historischen Bildern zu maskieren.

Das Deutsche Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt begeht seinen 20. Geburtstag und feiert damit auch seinen Bau mit Oswald Mathias Ungers' «Haus im Haus». Von dieser Idee eines übergiebelten Hauses im Kern einer umgebauten Villa abgesehen, war und ist diese Architektur in erster Linie weiss, kubisch und autonom. Sie entspricht somit präzis jener Kurzformel, die Ungers' Kollegen und Generationsgenossen, Alison und Peter Smithson, noch in den fünfziger Jahren der modernen Architektur als Wesensdefinition zugedacht hatten. Das in den Raum hineingestülpte kleine Haus gibt sich zudem als Variante all jener Urhütten zu erkennen, die in moderner Zeit mehr denn je zuvor an die Stelle historischer Erörterung gesetzt wurden. Kein Grund also, Ungers, der das Haus für die von Heinrich Klotz an dieser Stelle 1984 initiierte «Revision der Moderne» erbaute, der Postmoderne zuzuordnen. Ungers selbst hat sich damals wie heute vehement dagegen gewehrt, als postmoderner Architekt klassifiziert zu werden. Wer möchte nicht ein moderner Architekt sein - und wer liesse sich durch das Attribut «postmodern» stigmatisieren!

Ein Blick Zurück

In ihrer Frankfurter «Revision der Postmoderne» haben Ingeborg Flagge und Romana Schneider klugerweise darauf verzichtet, der Postmoderne ihre (end)gültigen Stilmerkmale zuzuweisen. Das erübrigt sich. Denn Charles Jencks, der wie kein Zweiter die Ismen dieser Periode lancierte, hat dies längst besorgt. Er fügte die zugehörigen Begriffe in eine Matrix, der neben der Rubrik der Moderne und der Postmoderne auch noch jene der naiv-unbewussten Fortführung der Moderne in einer Spätmoderne zugehört. Alles ist darin - in gewohnt kunsthistorischer Manier - auf die Linie gebracht: vom Einfachen zum Komplexen, vom Puristischen zum Eklektischen, von der geradlinigen zur hybriden Aussage und selbstverständlich vom Nicht-Stil des alles dominierenden «einen» International Style über den Unconscious Style der Spätmoderne zum berühmten Double-coding of Style, der wohl verbreitetsten Kennzeichnung der architektonischen Postmoderne. Selbstverständlich ist dies alles und vieles mehr an den Bauten - ihren «Phänotypen», ihren Erscheinungsformen - abgeschaut. Denn in der Fixierung auf die Oberfläche hat sich die Postmoderne kein Jota von der Moderne wegbewegt, sosehr die Doppelkodierung vordergründig alle neuen und alten Inhaltsdimensionen der Architektur zu erschliessen schien: in Jencks' Liste von «pro-metaphor» über «pro-historical reference» und «pro-humour» bis «pro-symbolic».

Die Ausstellung im DAM in Frankfurt begnügt sich stattdessen mit einem Blick zurück und beschreibt einige mögliche Fährten, die von dort in unsere heutige Zeit hineinreichen. Man begegnet also den Ikonen von 1980. Dabei drängt sich einem zuweilen ein Eindruck auf, der auf diese Weise wohl kaum intendiert gewesen sein kann. Die postmodernen Bildwelten sind in die Jahre gekommen, ohne dass man ihnen das Altern ansehen würde. Sie sind weniger Geschichte als blosse Vergangenheit. Die Bauten haben Falten gekriegt, die nicht erwünscht sind und die man lieber verdecken möchte. All das verträgt sich schlecht mit der damals postulierten Wiederentdeckung der Geschichte. Man denkt also eher an die immer kürzer gewordenen Zyklen neuer Bilderscheinungen und andererseits an die von der Moderne geforderte Geschichtslosigkeit, das Aufgehobensein in einer zeitlos gültigen Welt, womit man die grösste aller Utopien der Moderne beschreibt. Daran hat sich mit der Postmoderne, so die Vermutung, kaum was geändert. Sie wurzelt in der modernen Welt. Sie hat den Gang der Dinge weder aufgehalten, noch hat sie sich - Ausnahmen vorbehalten - wirklich in ein wesenhaft Geschichtliches hineinvertieft. Damit ist sie zumindest konform. Und konform ist die Kultur und sind die Kulturinstitute schon längst. Unsere Welt lebt immer noch von modernen Fiktionen trotz allen längst historisch gewordenen Warnungen wie denjenigen der «Grenzen des Wachstums». Sie behält ihren naiven Optimismus, ist immer noch einseitig und zuweilen blind zukunftsgläubig und hat mangels Visionen je länger, je weniger brauchbare Vorstellungen von der Zukunft.

Halbwertszeit von Bauikonen

Der Architektur fällt immer wieder die Aufgabe zu, all diese unterschiedlichen Aspekte in möglichst suggestiven Bildern vor Augen zu führen beziehungsweise zu verdecken. Und häufig genug tun das Architekten mehr als willfährig. Rund um Ground Zero hat Daniel Libeskind seine Presseauftritte im Look eines Raumschiffkapitäns aus der Science-Fiction-Welt gestaltet. Er ist nur einer von vielen, deren Marktwert sich nach dem Bekanntheitsgrad der von ihm geschaffenen Icons richtet. So ist insgesamt zumindest die moderne Versprechung der Form in Erfüllung gegangen, die schon Hermann Muthesius 1911 in seinem Werkbund-Vortrag «Wo stehen wir?» als «höhere Architektonik» bezeichnete, «die zu erzeugen ein Geheimnis des menschlichen Geistes ist, wie dessen poetische und religiöse Vorstellungen».

Aber auch diese Formen sind der Zeit ausgesetzt. Selbst die glänzenden Bauten der ersten, zweiten und dritten High-Tech-Generation sind dem unterworfen. Sie altern zwar nicht, aber ihre Halbwertszeit ist im Einvernehmen mit der daran interessierten Bauwirtschaft festgesetzt, dient der Investitions- und Amortisationsplanung und garantiert, dass unsere Bauten stets möglichst neu und zeitlos erscheinen. Der «Faktor Zeit» ist eine wirtschaftliche, keine kulturelle Grösse. Das Zeitmass ist standardisiert und auf zeitlos-neu getrimmt. Älter werden ist hässlich und vermeidbar. Eine sichtbare Geschichte, Ruskinsche Vorstellungen, der ästhetische Wert von Altersspuren sind ausgeklammert. Hinter jeder Patina schlummert schliesslich der Hausschwamm, und Verfallserscheinungen gehören nicht in unsere Welt. Selbst auf den archäologischen Feldern ist man wieder vermehrt darum bemüht, Säulen neu aufzurichten, damit unserer mangelnden Vorstellungskraft ein konkretes Bild gegenübergestellt wird. Der Hinweis auf «missverstandene Fortschrittsideen» und «unangebrachte Verschönerungs- und Neuerungssucht» hat uns zwar seit Max Dvoraks «Katechismus der Denkmalpflege» (1916) begleitet, aber die Verdrängung der Geschichte charakterisiert die moderne Zeit bis heute weit mehr als eine gegenteilige Position.

Es bleibt das Altwerden, gegen das die moderne Architektur mit allen formalen Mitteln von Anfang an Sturm lief. Mit ihrem Hang zu Zeitlosigkeit und Objektivität flüchtete sie sich schon früh in die Arme der «Klassizität», wozu die Postmoderne mit ihrem vorübergehenden Flirt mit der Säule lediglich eine weniger abstrakte Variante bot. Schon 1911 entdeckte Walter Gropius «neben den bisherigen Forderungen nach technischer und wirtschaftlicher Vollkommenheit ein Verlangen nach Schönheit der äusseren Form» und kündigte daraufhin - durchaus visionär - die ästhetische Ausgestaltung der modernen Architektur «in Bezug auf Geschlossenheit der Form, auf Farbe und auf Eleganz des ganzen Eindrucks» an. Eleganz als ästhetischer Imperativ der Moderne, glatte Haut, faltenlos! Das war und ist es wohl, was man sich immer noch von der Architektur erhofft. Es beschreibt den Mainstream der Moderne auch in spät- und postmodernen Zeiten. Man hat zwar den «Teint» gelegentlich «brutalistisch» aufgeraut und postmodern belebt. Im Übrigen bleibt es dabei, beim Hochglanz.

Ausserhalb dieser Orthodoxie hat der Autor des «Verschimmelungsmanifestes», Friedensreich Hundertwasser, den höchsten je erzielten Popularitätsgrad eines Architekten erzielt. Er hat am ehesten der berühmten Kritik Ortega y Gassets, die Moderne erreiche die Massen nicht, etwas Konkretes entgegengesetzt. Das müsste zu denken geben. Es lässt sich nicht mit der tendenziös gestellten Frage «Populismus oder Baukunst» beiseite schieben.

Inzwischen hat die Verschimmelung auch die eleganten Bauten der Moderne und Postmoderne erreicht. Icons werden zuweilen überflüssig; man scheidet sie aus dem Kanon orthodoxer Architekturbetrachtung aus. Charles Moores «Piazza d'Italia» in New Orleans, um 1980 gefeiert, hat die Architekturdiskussion nicht nachhaltig bestimmt. Man liest jetzt im Frankfurter Katalog zur Revision der Postmoderne, dieses «ambitionierte Projekt postmoderner Stadterneuerung» sei von den Bewohnern nie wirklich angenommen worden. Nun werde die «städtebauliche» Anlage zum Eingangsbereich eines Hotels umfunktioniert. Sollte die Postmoderne tatsächlich städtebauliche Ambitionen gehabt haben, und niemand möchte das wirklich bestreiten, so sind diese im Falle der «Piazza d'Italia» der Privatisierung anheim gefallen. Was städtisch gedacht war, ist jetzt Lifestyle- und Wellness-Ornament. Oder war die «Piazza d'Italia», trotz den humanistischen Intentionen ihres Erfinders, doch nur ein Bild, ein kulturgeschichtliches Versatzstück?

Historismus der Moderne

Man kann ex negativo schliessen: Insofern auch die Postmoderne nicht gelernt hat, mit Geschichte wirklich umzugehen, ist sie Teil der Moderne. Umso weniger mangelt es uns an eleganten und formschönen Bauten, modernen wie spät- und postmodernen, weshalb man wohl doch alles am besten in ein Bild der architektonischen, der Form verpflichteten Moderne einfügt. Dem darf man noch die ähnlich unkorrekte, postmoderne Variante des Syllogismus gemäss Andy Warhol anfügen: «Das Schönste an Tokio ist McDonald's / das Schönste an Stockholm ist McDonald's / das Schönste an Florenz ist McDonald's / Peking und Moskau haben bis jetzt noch nichts Schönes.» Auch diese Versprechungen der Moderne sind mittlerweile längst eingelöst. Es geht - global - in diesem Sinn einer diskurslosen Welt der affirmativen Bilder und Hauptsätze weiter. Wir haben unsere - veralteten - Bilder längst nach Schanghai verkauft. Kurzum, wir befinden uns in der voll entwickelten Phase des Historismus der Moderne, der Reproduktion ihrer Bilder.

Diese Sichtweise hat Nikolaus Pevsner schon 1936 in «Pioneers of modern architecture» vorweggenommen: «our circle is complete». Mit Gropius sei die moderne Versprechung eingelöst worden, der Jahrhundertstil sei mit ihm zur vollkommenen Entfaltung gelangt. Zum Entsetzen der jungen Generation britischer Architekten, die sich nach 1950 im Aufwind befand, hielt er an dieser Meinung fest und reagierte auf die Neuheiten des «Brutalismus» 1961 mit der Darstellung «the return of historicism». Er quittierte das 1968 nochmals: «no successful effort has been made since». Das ist alles polemisch gefasst. Es ist eben nicht erst Richard Meier mit ewig gleichen - oder besser: ähnlichen - Varianten zu Le Corbusiers Villa Savoye aufgetreten und hat nicht erst Michael Graves' Reproduktionen nach Boullée und Ledoux in Bauten umgesetzt. Gemäss Pevsner ist auch schon der gestelzte Oberteil der Torre Velasca in Mailand formal mit den Stützkonstruktionen der «bay-windows» um 1900 zusammen zu sehen. Solange sich die Architektur selbst an den (kunstgeschichtlichen) Bildvergleichen und Ismen orientiert, sind solche Einwürfe nicht unangebracht. Im oben erwähnten Vortrag hat Muthesius im Rückblick auf das 19. Jahrhundert formuliert: «Die kunstgeschichtliche Erkenntnisarbeit verscheuchte die lebendige Architektur.»

Verkunstgeschichtlichung

Die damals in Angriff genommene Suche nach einem «überzeugenden Stilausdruck» hatte wohl zu einer Form geführt; aber seither scheint diese in den Bildern - und in den Bildvergleichen - gefangen und bestenfalls innerhalb von Bildvorstellungen modifiziert worden zu sein. Und vieles davon ist kunstgeschichtliche Referenz. Wir haben unseren Neo-Konstruktivismus und unseren Neo- Kubismus; und jetzt werden auch die kristallenen Formationen aus Bruno Tauts «Alpiner Architektur» gebaut; und das Auskragen gemäss Lissitzkys Wolkenbügel erfreut sich - auf vielfältigste Weise variiert - grossen Zuspruchs. Nach Massgabe solcher äusserlicher Ähnlichkeit wird zurzeit in der Basler Ausstellung «ArchiSkulptur» Norman Fosters Swiss Re Tower in London mit Brancusis «Vogel» verglichen - weshalb nicht gleich mit einer Gurke, was in London jedermann versteht? Dem Historismus der Moderne dient sich auch noch die Verkunstgeschichtlichung der Architektur an. Auch dies liesse sich auf die modernen Ursprünge zurückverfolgen.

Gewiss: Das ist alles sehr einseitig betrachtet. Es übersieht vor allem den Architekten, der auf vielfältigste Weise seine Aufgabe definiert und das einzelne Werk in eigener künstlerischer wie gesellschaftlicher Verantwortung schafft. Allein, im Blick auf Stil als eine übergeordnete, universale Kategorie hat ja gerade die moderne Kunstgeschichte immer wieder so getan, als ob nicht einzelne Menschen, sondern - auf der Basis menschlicher «Gleichförmigkeit» - «das menschliche Formgefühl» zur Kunst und zum Kunstwerk führe und dass auf dieser Grundlage die Formgesetzlichkeit und der «neue Stil» gesucht werden müssten (Wölfflin). Das hat 1925 Gropius mit seinem «Willen zur Entwicklung eines einheitlichen Weltbildes» bestärkt, womit er meinte, es seien «die geistigen Werte aus ihrer individuellen Beschränkung zu befreien» und «objektiver Geltung» zuzuführen, woraus dann eben auch die «Einheit der äusseren Gestaltungen, die zur Kultur führen», folgen würde. Insofern schliesst sich zumindest dieser Kreis moderner Bildvorstellungen und ihrer kunstgeschichtlichen Erklärungen. Ihnen fehlt allerdings der Blick auf die architektonischen Aufgaben, auf das Wohnen, auf die Stadt und schliesslich auf den Menschen selbst.

[ Die Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt dauert bis 6. Februar 2005. Katalog: Revision der Postmoderne. Hrsg. Ingeborg Flagge und Romana Schneider. Junius-Verlag, Hamburg 2004. 296 S., Euro 34.90 (in der Ausstellung). ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2004.12.04

18. Dezember 2002Werner Oechslin
Neue Zürcher Zeitung

„The era of the skyscraper is not over“

Ein erster Versuch, brauchbare Projekte für Ground Zero zu gewinnen, endete im Fiasko. Nun haben auf Einladung sieben renommierte Büros ihre Entwürfe verfasst, die heute, am 18. Dezember, in New York vorgestellt werden. Sie dienen in erster Linie der Anfertigung eines Masterplans, den die Bauherrschaft am 31. Januar vorlegen will. Ob eines der Projekte wirklich zum Zuge kommt, bleibt derweil völlig offen.

Ein erster Versuch, brauchbare Projekte für Ground Zero zu gewinnen, endete im Fiasko. Nun haben auf Einladung sieben renommierte Büros ihre Entwürfe verfasst, die heute, am 18. Dezember, in New York vorgestellt werden. Sie dienen in erster Linie der Anfertigung eines Masterplans, den die Bauherrschaft am 31. Januar vorlegen will. Ob eines der Projekte wirklich zum Zuge kommt, bleibt derweil völlig offen.

Drei Tage nach der Zerstörung des World Trade Center rief Rudolph Giuliani bereits zum Wiederaufbau der Hochhäuser auf. Inzwischen ist Ground Zero zum obligaten Ziel des New-York- Tourismus geworden. Man erkennt dort in der Tiefe, dass schon längst wieder mit Hochdruck gearbeitet wird, dass die Verkehrsstränge nach New Jersey ausgebaut und alle notwendigen Infrastrukturen für ein Welthandelszentrum in verbesserter Version ausgelegt werden. Insofern ist Pragmatismus in Aktion umgeschlagen. Man versteht die Ängste der Verantwortlichen der Lower Manhattan Development Corporation (LMDC), die nun nach langer, aufwendiger Anhörung der «Volksmeinung» das Heft wieder fester in die Hand nehmen möchten. Deshalb halten sie jetzt, da sieben Architektenteams ihre Projekte abgegeben haben, eifersüchtig Informationen zurück, auf dass eine zu breite Diskussion gar nicht erst entstünde. Denn nachdem die LMDC mit der Port Authority handelseinig geworden ist, geht es um Entscheidungen und Termine. Am 31. Januar soll der Masterplan stehen: ganz unabhängig davon, wie die «spatial concepts» der sieben Teams - mehr hält man von Architekturprojekten nicht - nun ausfallen.

Nun sind deren Pläne, Modelle und Videos vergangene Woche abgeliefert worden. Sie sollen heute, am 18. Dezember, der Öffentlichkeit vorgestellt werden. «Spione» haben schon mal von einem Zickzack-Wolkenkratzer Daniel Libeskinds berichtet. Norman Foster liess auf Anfrage mitteilen, «New York verdiene etwas Grosses». Der besondere Ort rufe nach einer «Ikone». Das überrascht alles nicht. Im Vorfeld hielt jetzt die «Daily News», die sich «New York's Hometown Newspaper» nennt, den New Yorkern die Petronas Towers in Kuala Lumpur unter die Nase und forderte unmissverständlich dazu auf, den alten Wettbewerb um den höchsten Turm nicht nur wieder aufzunehmen, sondern ihn auch zu gewinnen. Da darf man sich also fragen, ob Foster vor dem Tokioter «Millennium Tower» noch einen Zwischenrekord in Lower Manhattan einzuschieben gedenkt. Auf alle Fälle passen die «plans for world's tallest» bestens zur Führungsrolle, die in jedem Interview aus Washington unvermindert anklingt. Wer so selbstverständlich von der eigenen Überlegenheit ausgeht, wird sich wohl kaum auf architektonische Nachdenklichkeit oder gar auf Bescheidenheitsformeln wie der von der «Demokratie als Bauherr» einlassen wollen. Immerhin, auf ein «Memorial» will man vorerst nicht verzichten, weil dies Millionen von Besuchern anzieht. Aber auch hier hat man die Realität im Blick: Man könne entsprechende Einrichtungen später mühelos in Büroräume konvertieren.

Wer und was hat Chancen? Libeskind, der sich «emotional, intellektuell und kulturell» engagiert gibt? Die «United Architects» - unter ihnen Greg Lynn -, die atypisch mit dem vordringlichen Kriterium «öffentliche Sicherheit» an die Arbeit gegangen sind? Norman Foster, der sich längst - wenigstens mit Projekten - in sämtliche Rekordlisten der Architektur (der grösste Flughafen, der höchste Turm) eingetragen hat und so der Provokation von Kuala Lumpur am ehesten begegnen könnte? Die mit der New Yorker Bauindustrie am besten verbundenen SOM-Architekten; oder gar die Verfasser des Lower Manhattan Urban Design Plan, das Büro Peterson/Littenberg?

Bleibt da noch das allein schon durch seine Zusammensetzung überraschendste Team: Richard Meier, Peter Eisenman, Charles Gwathmey und Steven Holl. Da haben sich drei der legendären «New York Five» zum ersten Mal wieder zusammengefunden und mit einem jüngeren Partner vereint. Sie schwören darauf, dass sie ihre - zweifellos ausgeprägten - «egos» nunmehr zugunsten des gemeinsamen Anliegens in eine «black box» verbannt hätten. Aus diesem Zusammengehen ist ein Projekt entstanden, das Mahnmal, Turmbau und urbanes Zentrum (in Form von Plazas) zusammenführen will. Diese Architekten kennen noch den Markusplatz in Venedig als Ikone für öffentlichen Raum. Sie wollen die Schatten der eingestürzten Türme als sichtbare Spuren «bauen». Und sie wollen in erster Linie jene Stätte als Raum umgrenzen, statt ihn bloss zu bebauen.

Man wird sehen, welches der Projekte am besten zum Kalkül der «developers» passt, welche «icon» zum neuen «Symbol» erhoben wird. Ob hier - europäisch - der alte neue Traum des Babylonischen «als eine Art Rache am Allzumenschlichen» (J. Ponten in «Architektur, die nicht gebaut wurde») mühsam angepeilt wird oder ob im direkten Gang der amerikanische Traum wieder einmal in Erfüllung geht, wird sich weisen. Mit Le Corbusier kann man - europäisch - sagen: «Craignez les architects américains!», oder eben in seinem Sinne einfach anfügen: «On met du verre autour.» Nichts von alldem, so viel ist sicher, plagt die New Yorker Verantwortlichen. Schliesslich hat man ja schon Fritz Koenigs beschädigte Skulptur «The Sphere» vom Ort der Zerstörung in den Battery Park versetzt und dort am vergangenen 11. März eingeweiht. Jener Park trägt auch den Namen «hope garden», was als «icon of hope and the indestructible spirit of this country» an Ort und Stelle präzisiert und erläutert wird. Jene Weltkugel sei ein Symbol für «world peace through trade». So hat es schliesslich auch Präsident Bush am 22. März in Monterrey in Mexiko der Welt zugerufen: «a new era of global economic growth through free markets and free trade», und dabei handelt es sich - amerikanisch - über jeden Zweifel erhaben und in jenem Papier betont um «moral principles». - Amerika braucht keine Intellektuellen, um seine - ideologischen - Inhalte auszudeuten. Amerikas Ideale und moralischen Überzeugungen zeichnen sich in den Ikonen architektonischer Höchstleistungen dafür umso direkter und unmissverständlicher ab.

Was «innovativere Wolkenkratzer» seien, worüber vor Jahresfrist noch heftig diskutiert wurde, erscheint in Zeiten solcher Eindeutigkeiten obsolet. Damals sprachen auch die Architekten von SOM von halbhohen Wolkenkratzern auf Ground Zero. Man wird bald sehen, ob sich Amerika mit solchen Halbheiten zufriedengeben wird. Zurzeit stehen die Zeichen eher auf den «plans for world's tallest». Alles andere käme jetzt einer Überraschung gleich, so anders dies in der jetzt gerade vorübergehenden Architektenphase auch ausschauen mag. Das letzte Wort aber haben die Verantwortlichen vom LMDC Board und von der Port Authority. Und die haben jetzt schon deutlich gemacht, dass der entscheidende Moment nicht heute, sondern am 31. Januar sein wird. Keine Zeit also für unnötige Diskussionen!

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2002.12.18

25. September 1999Werner Oechslin
Neue Zürcher Zeitung

Borromini und die «intelligenza» seiner Architektur

Wie beurteilt man eine herausragende künstlerische Leistung? Woher bezieht man die Kriterien der Beurteilung - gerade dann, wenn es sich anerkanntermassen um einen ausserordentlichen Fall handelt? Nach verlässlichen Selbstdarstellungen oder nach einer die Praxis adäquat abbildenden Theorie sucht man meist vergebens. Die «histoire des opinions» ist zwar von der Encyclopédie als «recueil des erreurs humaines» entlarvt worden. Gleichwohl ist man auf die Rezeptionsgeschichte angewiesen. Trotz viel Ausgefallenem dokumentiert diese die Bedeutung des Gegenstandes oft genauer als manch solide nachgereichte Analyse. So auch im Falle des aus Bissone stammenden Borromini (1599-1667), dessen 400. Geburtstag am 27. September gefeiert wird.

Wie beurteilt man eine herausragende künstlerische Leistung? Woher bezieht man die Kriterien der Beurteilung - gerade dann, wenn es sich anerkanntermassen um einen ausserordentlichen Fall handelt? Nach verlässlichen Selbstdarstellungen oder nach einer die Praxis adäquat abbildenden Theorie sucht man meist vergebens. Die «histoire des opinions» ist zwar von der Encyclopédie als «recueil des erreurs humaines» entlarvt worden. Gleichwohl ist man auf die Rezeptionsgeschichte angewiesen. Trotz viel Ausgefallenem dokumentiert diese die Bedeutung des Gegenstandes oft genauer als manch solide nachgereichte Analyse. So auch im Falle des aus Bissone stammenden Borromini (1599-1667), dessen 400. Geburtstag am 27. September gefeiert wird.

Anton Francesco Doni überrascht den Leser seiner «Seconda Libreria» (1555) mit dem Hinweis auf einen schriftlichen Nachlass Bramantes, der aus einem Traktat zu den Säulenordnungen und einer - auch als «trattato del lavoro tedesco» umschriebenen - «Pratica di Bramante» bestehe. Das hat zu Irritationen geführt. Für Doni selbst ist allerdings weniger die Existenz solcher Dokumente als der grundsätzliche Anspruch entscheidend, die herausragenden Künstler möchten doch im Hinblick auf eine allgemeine Verbesserung der Künste ihr Tun mit Schriften begleiten.

DIE RICHTIGE SICHT DER DINGE

Was für Bramante zutrifft, gilt auch für Borromini. Man kann sie, die Grossen der Kunst, nicht so einfach in die Pflicht nehmen. Nun ist gerade seit Joseph Connors' jüngsten Forschungen im Falle Borrominis dokumentiert, wie sehr dieser sich angestrengt hat, die richtige Sicht der Dinge festzulegen. Sein «Opus» ist allerdings erst lange nach seinem Tode erschienen, seine «Lieblingskinder», die Zeichnungen, hat er vor seinem Tode verbrannt und so der Nachwelt - eifersüchtig - entzogen. Es gibt sie also nicht, jene «Pratica di Borromini», die man sich in seinem Falle genauso gewünscht hätte und die man - wie bei Bramante - als «un trattato del lavoro tedesco» hätte untertiteln können. Gerade dies, wie Borromini seine Architektur konzipiert, entworfen und umgesetzt hat, ist heute einmal mehr Kernfrage der Forschung - und keineswegs so entschieden, wie man das gemäss Donis Unterstellung einem Traktat hätte entnehmen können. Glücklicherweise hat sich trotz Borrominis Zerstörungswerk einer der grössten Zeichnungsnachlässe erhalten. Und hier hat die jüngere Borromini-Forschung, insbesondere seit Heinrich Thelens mustergültigem erstem Band der «Handzeichnungen Francesco Borrominis» (1967), auch neu angesetzt.

Johann Caspar Füesslin unterstellt 1774 dem jungen Borromini, er sei «mit dem ernstlichen Vorsatz und der innern Überzeugung» nach Rom gereist, «einer der grössten Männer seines Zeitalters zu werden». Folgt man dieser Spur, wird man verstehen, weshalb schon die frühen Biographien meist eher Psychogramme als kommentierte Werklisten Borrominis festgeschrieben haben. Eine solche Sichtweise, die auch die Kleidung des Künstlers mit ins Visier nimmt, hat sich schon lange vor Adolf Loos festgesetzt. Entsprechend diente Borrominis konsequent getragenes «Spanisch-Schwarz» auch nur dazu, die Besonderheit und Abweichung seines Charakters glaubhaft zu illustrieren. Passeri meint, Borromini habe auf diese Weise als «besonders» auffallen wollen.

Borromini verstösst gegen die Konvention. Das Charakterbild stimmt auf Schlimmeres ein. Schlechter Charakter, schlechte Architektur, heisst die Gleichung. Am Höhepunkt klassizistischer Ästhetik wird Milizia diese Betrachtungsweise auf die Spitze treiben, wenn er die Losung ausgibt, Borrominis Werke seien Verrücktheiten, «frenesie». Selbst verrückt geworden, habe sich Borromini schliesslich umgebracht. Und jene architektonische Verrücktheit sei ansteckend. Ein Krankheitsbild, die pathologische Sicht der Dinge, hat die architektonische Beschreibung der Werke Borrominis schon 1787 und nicht erst 1930 überlagert, als Hans Sedlmayr Borrominis Weltbild mit Hilfe der Kretschmerschen Temperamentenlehre als «schizotym» bezeichnet hat.

NOTORISCHE EIFERSUCHT

Für jene frühe psychologisierende Panegyrik der Künstlerviten bot sich die Konkurrenz Borromini - Bernini als ideale Folie an. Diese war geschichtlich solide abgestützt, nachdem Bernini die Nachfolge Madernos als Leiter der Fabrica di San Pietro, des höchsten Architektenamtes, angetreten hatte. Borromini, der die Arbeit leistet und die guten Ideen entwickelt, und Bernini, der nach aussen als Realisator auftritt, das ist der Stoff eines echten Psychodramas. Doch so romantisch wird dies kaum je gesehen. Bei Baldinucci (1728) erscheint Borromini formal vielleicht korrekt, aber doch reichlich tendenziös als «Discepolo del Cav. Bernino». Angelo Comolli (1788) nimmt das dann zum Anlass, um von Borromini als einem kaum würdigen Schüler eines so berühmten Lehrers zu sprechen. So werden Bruchstücke einer Biographie und Anekdoten zu einer kunstgeschichtlichen Topik verfestigt. Unter dem Druck knapper Fassung schreibt etwa Roland le Virloys 1770: «Il fut jaloux de la réputation du Bernin, jusqu'au désespoir.»

Andere versuchen sich herauszuhalten. Lione Pascoli (1730) meint, die notorische «gelosia» Borrominis wäre nicht halb so schlimm, wenn daraus nicht auch noch Hass, Missgunst, Feindschaft, Streit und Blutvergiessen entstanden wären. So lasse sich der Konflikt zwischen Borromini und Bernini eben kaum verschweigen. Schlimmer: dieser habe sich auch auf alle anderen, so insbesondere auf die «animi degl'intendenti» übertragen. So müsste man zumindest darauf vertrauen können, dass sich Sympathie und Antipathie eben auch genauer, in architektur- und kunstspezifischen Begriffen niederschlügen. Bellori hat diesbezüglich in einer berühmt gewordenen Postille zu Baglione über San Carlino den Anfang gemacht: «brutta e deforme, gotico ignorantissimo e corruttore dell'architettura, infamia del nostro secolo».

Da ist alles enthalten, was die klassizistische Kritik hundert Jahre später genüsslich ausbreiten wird. Pascoli vereinigt statt dessen schon früh die doppelte - positive wie negative - Sichtweise; Genialität («era portato dal genio») steht auf der einen, der Regelverstoss auf der andern Seite. Letzteres wird auf die Innovationssucht - und öfters auch auf das Dekorative bezogen. Passeri empfiehlt, man möge Borromini jene «kapriziösen», aber doch stets genialen («ingegnose») Irregularitäten nachsehen. Er sei ein «architetto spiritoso» und seine «intelligenza» sei schon seit Anbeginn in der Bauhütte von St. Peter offenkundig geworden. Allein, die umgekehrte Sicht der Dinge setzt sich durch: zwar habe Borromini über ausserordentliche Talente verfügt, doch diese seien fehlgeleitet worden. Resultat: Borromini sei «uno de'principali corruttori dell'arte» geworden, was dann später zur Definition eines «Style-Italique dégénéré» oder «Style-Italique corrompu» (so der Chevalier de Wiebeking) führte.

Man schreibt schon längst Kunstgeschichte. Und natürlich nimmt die klassizistische Kritik bald einmal überhand. Man übersieht dabei, was für ein grundsätzlicher Wechsel in der Beurteilung von der offen formulierten Einsicht in die Notwendigkeit «einiger weniger universaler Regeln» durch Palladio (1570) zur schulmeisterlich ausgelegten Liste architektonischer Verfehlungen durch Milizia eingetreten ist, so wie man später kaum bemerkt hat, dass jene Umwertung des - vorerst negativ bestimmten - Barockbegriffs ins Positive noch lange nicht den Blick aufs Ganze zurückgebracht hat. Die Reduktion der borrominischen Architektur auf das nunmehr akzeptierte Kurvenspiel - «quel suo modo ondulato ed a zic zac» (Milizia) - bleibt formalistisch-klassisch und wird Borrominis Architekturauffassung nicht gerecht.

Andererseits sind differenziertere Positionen bis heute teilweise völlig vergessen. Bottari geht 1754 von der in seiner Zeit vermissten Synthese von Theorie und Praxis, von Kenntnis und Erfahrung aus, um dann am Beispiel der Deckenkonstruktion über dem Oratorio Borrominis Befähigung zu virtuoser Problemlösung herauszustellen. Deshalb figuriert er als «uno de'più ingegnosi talenti». Seine Exzellenz ist dort angesiedelt, wo weitab von den ästhetischen Kategorien architektonisches Können, Problembewältigung gefordert sind. Der Antiquar aus Pesaro, Giambattista Passeri, hat 1772 aus denselben Gründen das Urteil des «gran pensatore Borromino» gefällt.

Gleichzeitig hatte sich aber längst jene klassizistische, ästhetisierende Sichtweise durchgesetzt, die von Alessandro Pompei und dessen Verdikt gegen die «cieca pratica», die blinde Praxis der römischen Architektur, ausging. Dieser hatte sich schon früh nach England ausgerichtet und im Palladio-Apologeten Lord Burlington sein Ideal erkannt. Und so verurteilt Pompei jetzt unmissverständlich jeglichen Drang nach Schaffung neuer Formen. Das hat bei Milizia zu einer eigenwilligen Beurteilung der Leistungen Borrominis geführt. Er verleiht ihm gute Noten für jene Zeit, in der er sich noch aufs Kopieren beschränkte, während mit dem Beginn seiner Eigenständigkeit - und dem Exzess an «novità» - Borromini der Häresie und der «malinconia» verfallen sei.

Doch selbst bei Milizia finden sich Spuren der anderweitigen Betrachtungsweisen eines Bottari. Auch er kann die Qualitäten der Bauten Borrominis nicht einfach totschweigen. «E' però mirabil», entfährt es ihm, wenn er auf das kunstvoll eingezogene flache Gewölbe im Oratorio zu sprechen kommt. Und so lässt selbst er sich bezüglich der Vorzüge der Architektur Borrominis «un certo non so che di grande, di armonioso, di scelto che fa conoscere il suo sublime talento» entlocken. Unversehens begibt sich Milizia aufs Terrain des Erhabenen. Doch ist er schnell wieder bei seinen rational-stringenten Beurteilungen angelangt. Wenn Borromini wegen seiner hohen geistigen Gaben zu den Ersten seines Jahrhunderts zu zählen sei, dann eben auch zu den Letzten wegen des «lächerlichen Gebrauchs», den er davon gemacht habe. Borrominis Qualitäten bezüglich «firmitas» und «utilitas» nützen ihm, der bezüglich Schönheit ein «matto» ist, gar nichts: «chi lo condanna in questa lo condanna anco in quelle», lautet die erstaunliche Logik. Deutlicher kann man den Primat des Ästhetischen kaum herausstellen.

Auf dieser - glatten - Oberfläche lässt sich so ziemlich alles aussagen. San Carlino, für Milizia das «delirio maggiore del Borromino», ist für Comolli ein «gabinetto di una galante Madama», was parallel zu den profanisierten Interpretationen von Berninis Verzückung - oder eben den orgasmusähnlichen Konvulsionen - der heiligen Theresa zu lesen ist. Die stereotype Sicht der Dinge hebt sich je länger, je stärker vom Gegenstand ab. Cancellieri sammelt in seiner Fussnote zu Borromini alles, was an Anekdoten zu finden ist, so Berninis gegen Borrominis Fassade der Propaganda Fidei gerichtete priapische Stuckformen und Borrominis Antwort in Form von Eselsohren gleichen Materials. Uggeri liefert dann das griffige und scheinbar so unverfängliche Bild der massstabsgleichen Grundrisse von San Carlino und eines Vierungspfeilers von St. Peter: San Carlino als Barockjuwel! In den Romführern des 19. Jahrhunderts gerät dies zum Stereotyp: «is worth observing from the fact that the whole building corresponds with one of the four piers supporting the cupola of St. Peter's». Mehr findet man in Augustus J. C. Harpes «Walks in Rome», einem Standardwerk für britische Touristen, nicht - nicht einmal Borrominis Namen.

CARTESIANISCHE WELTAUFFASSUNG

«A curious work of Borromini» - zum Turm von Sant'Andrea delle Fratte im weitverbreiteten Romführer von Vasi und Nibby - sagt auch viel weniger aus als frühere Bezeichnungen wie «con ingegnoso, e vago disegno del Borromini». Das kann nicht erstaunen, zumal auch die Forschung kaum danach fragte, was zu Zeiten Borrominis Emanuele Tesauro in seinem «Cannocchiale Aristotelico» unter «ingegno» und «argutezza» im spezifisch architektonischen Sinn verstand: Erfindungsgabe, aber auch Ingeniosität! Worauf dann Tesauro prompt an die Bezeichnung «Ingegnere» für den Architekten erinnert. Auch Ermenegildo Pini geht es 1770 um ein tieferes Verständnis des «ingegno umano». Und so interessiert er sich - ähnlich wie Bottari - für das, was er als innere Kohärenz begreift, selbst wenn sich dies in Anbetracht ästhetischer Wertsetzungen als «combinazione d'errori» erweisen sollte. Auf diesem Weg gelangt Pini zur provokativen Äusserung, Borrominis architektonisches Verdienst müsste doch zumindest demjenigen gleichgesetzt werden, das ohne Zweifel Descartes zukäme. Das führte in den «Effemeridi Letterarie» in Rom zu einem Aufschrei der Entrüstung: «Dio volesse . . .»! Wo käme man hin, wenn man von den Delirien Borrominis auf Descartes schliessen würde.

Sedlmayr ist also auch hier nicht der erste, wenn er für Borromini eine «cartesianische Weltauffassung» reklamiert. Die Rede ist auch hier von System und von Elementen, die zu Kombinationen und Konstellationen führen, was dann Sedlmayr den Vergleich noch enger zur Chemie eines Lavoisier ziehen lässt. Der Hinweis auf die Zugehörigkeit Borrominis und Descartes' zu derselben Generation konnte in der Zeit von Pinders Kunstgeschichte nach Generationen (1926) kaum fehlen. Erstaunlicher ist allerdings, dass Sedlmayr mit seinem Ansatz massiv gegen den im Trend liegenden modernen Einheitsbegriff anging, den die Stilgeschichte - Hubala nannte es eine «stilgeschichtliche Fundamentalkonstruktion» - genauso verkörperte wie die damals der Ideologie der «einheitlichen Erscheinungsform» aufsitzende Architektur. Als dann Sedlmayr das Cartesianische Weltbild mit Bezug auf Kretschmer auch noch als typisch schizothyme Weltauffassung freilegte, musste der letzte gestandene Kunstwissenschafter sich empört abwenden.

Gurlitts für die Ehrenrettung barocker Kunst hochangesehene «Geschichte des Barockstils in Italien» (1887) lässt auch nur Unbeholfenheit im Umgang mit dem komplexen Phänomen Borromini erkennen. San Carlino wird jetzt wegen der «ächt barocken Grösse ihrer Verhältnisse» gerühmt. Gurlitt lässt das Bild eines antiklassischen, zu neuen Horizonten aufbrechenden Künstlers entstehen. Plötzlich ist da die Rede vom «bewussten Bruch mit der Antike und den Gesetzen Vignolas». Nicht mehr der Regelverstoss ist das Thema, sondern modernes Kunstwollen. Borromini, ein Mann von «selbstbewusster Kraft» und «kühner Tat», habe gemerkt, «in welche Wüsteneien die schematische Befolgung der Buchlehren der grossen Renaissancetheoretiker führten». Lange hält Gurlitt diesen Ton nicht durch. Er verfällt alsbald in die üblichen Topoi der klassizistischen Borromini-Kritik. Der Turm von Sant'Andrea delle Fratte ist zwar «eines der keckesten Geniestücke», allein die Fassade von San Carlino erscheint auch ihm als «ein reines Dekorationsstück». Schliesslich folgt Gurlitt Milizia und den Deutungen des Suizids: «Diese traurige Tatsache erklärt manches.» «Nirgends innere Würde, Übereinstimmung zwischen Mass und Absicht.» Auch er sieht das «Krankhafte» Borrominis, was er dann am Ende mit seinem zuerst geäusserten Enthusiasmus auf höchst zeitgemässe Weise zusammenführt: «Er war ein Riese im Wollen.»

NERV DES BAROCK

Eine solch spontan-zufällige Vermengung überkommener Vorurteile mit neuformulierten Ansprüchen an künstlerische Kreativität wollte Heinrich Wölfflin sicherlich vermeiden. Seine Absicht in «Renaissance und Barock» (1888) war es ja, in den «Symptomen des Verfalls», in «Verwilderung und Willkür» «womöglich das Gesetz zu erkennen». Doch auch bei ihm ist das Psychologisieren sehr schnell zur Hand. Er nimmt sich das «Gesetz der Abstumpfung» - «das erschlaffte Formgefühl verlangt nach einer Verstärkung des Eindrucks» - zwecks Erklärung barocker Expressivität vor. Da hatte er doch in den «Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur» (1886) den Abschied vom Psychologisieren genommen und sich den «allgemeinen Formgesetzen» zugewandt. Aus den bekannten Wesensdefinitionen der Architektur wie der «Schwere» und den von ihm selbst weiter benützten Begriffen von «Kraft», «Wille» und «Leben» formte er sodann den Kompromiss: «Ich nenne es Formkraft.» Dann griff er in der Gleichsetzung von «Architektonik» und «System» bis auf Kant zurück. Kehrtwendung? Auf alle Fälle zeigt sich schnell, dass bei dieser neuerlichen Beschränkung Borromini kaum beizukommen ist. Natürlich konnte die Umkehrung der Winckelmannschen Begriffe von «Mass und Form, Einfalt und Linienadel, Stille der Seele und sanfte Empfindung» gemäss Wölfflins Empfehlung - «Man setze das Gegenteil eines jeden dieser Begriffe, und man hat das Wesen der neuen Kunst bezeichnet» - kaum zum Ziel führen.

Wölfflin hatte bemängelt, den Barock begleite keine Theorie wie die Renaissance, was übrigens nur dann zutrifft, wenn man - fälschlicherweise - von einer kontinuierlichen Fortschreibung der älteren Theorie in gegebenen Grenzen ausgeht. Hat denn niemand in Perraults «Ordonnance» (1683) nachgelesen, dass selbst aus der Sicht der französischen Architekturtheorie ausserhalb der engen Doktrin der Säulenordnung so gut wie (noch) nichts geregelt war? Von jener beschränkten Basis aus wird man die Gesetzmässigkeit «barocker Architektur» nicht erreichen können.

Wölfflin flüchtet - ganz im Sinne des Zeitgeistes - in atmosphärische Beschreibungen: «weniger Anschauung, mehr Stimmung». «Gesamteindruck» und «Barockgeist» sind entscheidend. «Hier treffen wir auf den Nerv des Barock», stellt Wölfflin fest: «Aufgehen im Unendlichen, Sich-Auflösen im Gefühl eines Übergewaltigen und Unbegreiflichen», «Verzicht auf das Fassbare», «eine Art von Berauschung». Wie schnell entfernt sich hier der Kunsthistoriker von seinen guten Vorsätzen! Man ist kaum erstaunt, dass Wölfflin mangels passender «Gesetzmässigkeiten» bei Borromini nur einen «wilden Taumel» verspürt und auch er sich der pathologischen Annäherung verschreibt: «Die Hauptbarockmeister litten alle an Kopfweh», präzisiert Wölfflin in einer Fussnote und belegt dies mit Milizia.

Wölfflins Flucht in «Stimmung» findet anderswo ihre konsequente Fortsetzung und Parallele. Alois Riegl fragt in seinen Vorlesungen zur «Entstehung der Barockkunst in Rom» (1908) nach dem «Sinn» des Barockbegriffs und kommt auf die Bedeutung «wunderlich, ungewöhnlich, ausserordentlich». Dem kann er offensichtlich selbst wenig abgewinnen, denn, «jenes Ausserordentliche, das die Barockkunst darstellt, verstehen wir nicht, es überzeugt uns nicht, enthält einen Widerspruch, wirkt unwahr, wir finden es daher wunderlich» - als ob ein solches Urteil gefragt wäre! Wieder kommt ein Vorurteil in die Quere. Es heisst «lästige Unklarheit». Da findet Riegl zu den Vorurteilen der Klimatheorie zurück: «Wir hassen vor allem die heftige Handlung» (der Südländer) und nur (der nördliche) Rembrandt kann ihn beruhigen. Das «Psychologisieren» feiert Urständ. Wie sollte es anders sein, wenn Wölfflin von der folgenden Definition ausgeht: «Wir bezeichnen die Wirkung, die wir empfangen, als Eindruck. Und diesen Eindruck fassen wir als Ausdruck des Objekts.» Ein- und Ausdruck dasselbe! Das Objekt letztlich in harmonischer Identität mit seiner Interpretation! So einfach wird subjektive Betrachtungsweise zur kunstgeschichtlichen Methode erhoben. Vor den «Fatalitäten», in die die Kunstgeschichte stürzt, wenn sie «als letzten Rat zur Lösung des Barockproblems die Psycho-Physiologie heranholt», hat schon 1912 Carl Horst - ein heute im Gegensatz zu den eben zitierten Vertretern der Kunstgeschichte vergessener Name - allerdings ohne Erfolg gewarnt.

MODERNE BORROMINI-FORSCHUNG

Man muss also Hempel verstehen, wenn er zu Beginn seiner ersten modernen Monographie (1924) als Ziel angab, «für die Darstellung des Lebenswerkes Francesco Borrominis durch die Heranziehung des gesamten in Betracht kommenden Materials eine möglichst breite Basis zu gewinnen». Das war der Ausgangspunkt der modernen Borromini-Forschung, aber natürlich keine ausreichende Option auf eine verlässliche Beantwortung des längst im Raum stehenden, den Rahmen einer blossen Fallstudie sprengenden Borromini-Problems. Man muss deshalb auch verstehen, dass Sedlmayrs systematischer Ansatz und die an den Beginn der ersten Ausgabe (1930) seiner Borromini-Studie gestellte Kritik der Orientierung am blossen «Bild» und der Nähe kunstgeschichtlicher Arbeit zu «literarischen Formen» völlig berechtigt war. Doch mit dem Vorschlag einer «ersten» und «zweiten» Kunstwissenschaft hatte er in den Augen der soliden kunstgeschichtlichen Basis den Bogen überspannt. So wenig man den psychologischen Grundton seiner Vorgänger zu bemerken schien, so übel stiess nun Sedlmayrs «Zur Psychologie Borrominis» auf. Anthony Blunt bezeichnete Sedlmayrs Arbeit noch 1979 als «ingenious but perverse analysis of his (Borrominis) work in terms of Freudian (!) psychoanalysis». Offensichtlich reichte für Blunt die saloppe Gleichsetzung von Psychologie und Freud, um über die Angelegenheit der Wesenserfassung barocker Kunst hinwegzugehen.

Wirkliche Kritik an Sedlmayr würde sich erst dann ergeben, wenn seine Schlussfolgerungen mit den zum Ausgangspunkt genommenen Auffassungen der Gestalttheorie verglichen würden. Dieser Mühe hat sich die Kunstgeschichte nicht unterzogen. Doch wer mag sich mit Friedrich Sanders experimentellen Untersuchungen über rhythmusartige Reihen- und Gruppenbildungen, über «Vorgestalterlebnis» oder mit dem von Sedlmayr wiederholt zitierten Hans Reichenbach und seinen Feststellungen zum Verhältnis einer «normativen Funktion der Anschauung» und «dem Zwang einer logischen Implikation» auseinandersetzen? Solche Fragen haben Sedlmayr auf seinem Gang zu einer Strukturanalyse der Architektur am Beispiel Borrominis zweifellos beschäftigt. Er ist nur gar schnell von den Fragen der Wahrnehmung zu denen einer «architektonischen Vorstellungswelt» - wie Wölfflin vom «Eindruck» zum «Ausdruck» - gelangt und hat diese wiederum voreilig in der Orthodoxie reiner Geometrie (auch dies ein Modernismus!) aufgelöst, womit dann die architektonische Kreativität Borrominis einmal mehr zu Grabe getragen war.

EINE «PRACTICA DI BORROMINI»

Auch Sedlmayr hatte sich also von Borromini entfernt. Gleichwohl hat er am richtigen Ort, dem Entwurfsvorgang, angesetzt, um endlich hinter das «Bild» zu kommen. Allein, was tut man, um sowohl die Strukturanalyse mit ihren geometrischen Reduktionen als auch die Auflösung der Frage in eine Kasuistik einzelner Untersuchungen zu vermeiden? Man brauchte bloss den Kontext von den Fakten auf die Denkformen auszuweiten, um ein ziemlich brachliegendes Forschungsgebiet zu entdecken. Und natürlich würde dies nicht bedeuten, Borrominis Entwurfsmethoden - analog zu Sedlmayrs Schlussfolgerungen - etwa auf Nicolaus Cusanus' «De transmutationibus Geometricis» zurückzuführen. Aber auf solchen Grundlagen liesse sich gleichwohl - das «gotico», die Praxis der (Mailänder) Bauhütte, wie die gerühmte «intelligenza» Borrominis, seine intellektuelle Begabung, berücksichtigend - eine «Pratica di Borromini» umschreiben, wenn man sich denn einiger anderer Grundsätze, ja, wenn man sich etwa jenes bei Scamozzi (1615) vermerkten «Ars est universalium cognitio, experientia vero singularium, come dice Aristotele» vergewissern würde. Wie wollte man in Anbetracht der umfangreichen Zeugnisse ausgerechnet Borromini auf das eine oder das andere festlegen! Bei ihm ist vielmehr, wovon man meist nur zu träumen wagt, Praxis und Theorie, das Einzelne und das Ganze aufs engste ineinander verwoben, und dies macht den Zugang zu seinem Werk und zu seiner Architektur insgesamt so anspruchsvoll und schwer und immer wieder lohnenswert.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 1999.09.25

28. April 1999Werner Oechslin
Neue Zürcher Zeitung

Wie man Bedeutung vermeidet

Ein Symbol des wiedervereinigten Deutschland sollte es werden. Die Politiker hatten sich was vorgenommen und sich, das kann man nicht bestreiten, auch...

Ein Symbol des wiedervereinigten Deutschland sollte es werden. Die Politiker hatten sich was vorgenommen und sich, das kann man nicht bestreiten, auch...

Ein Symbol des wiedervereinigten Deutschland sollte es werden. Die Politiker hatten sich was vorgenommen und sich, das kann man nicht bestreiten, auch sehr um das Gebäude gekümmert. Was vorerst als Umbau «im geringst möglichen Umfang» anvisiert wurde, geriet zu einem 600- Millionen-Projekt, ohne dass sehr viel mehr als eine gewöhnliche Renovierung vorgenommen worden wäre. Das scheint jetzt - unabhängig vom Preis - auch der Architekt so zu sehen. Sie, die Architekten, seien gebeten worden, «einen Bus zu entwerfen, und plötzlich sollte es nur noch ein Kleinwagen sein - ein wichtiger Kleinwagen, aber eben kein Bus».

Gleichwohl durfte Norman Foster eine Kuppel bauen, die andere vorgeschlagen hatten. Die Politiker, genauer die architektonisch allein kompetenten Alt-Funktionalisten unter ihnen, forderten nur, dass sie von aussen wie innen und auch von unten sichtbar sei. Da zeigte sich die feste, durch nichts zu erschütternde Überzeugung, dass (fast- oder halbdurchsichtiges) Glas ganz unmittelbar auf politische Transparenz schliessen lasse. «Demokratie als Bauherr!» Das Konzept sollte sich einmal mehr bewähren, und der Architekt quittierte, sie hätten jetzt «so etwas wie einen Leuchtturm für den demokratischen Prozess gebaut», womit nun offensichtlich ganz präzis der Symbolgehalt des teuren Unternehmens beschrieben war.

«Dem deutschen Volk!» Jetzt dürfen die Bürgerinnen und Bürger, aber auch andere Besucher, per Aufzug in den Kuppelraum fahren und das Berliner Panorama geniessen. Man profitiert vom Ausblick (wie beim Centre Pompidou) und vom Raumerlebnis im Innern, das mit dem riesigen halbverspiegelten Konus Nouvels gläsernes Experiment in den Galeries Lafayette in den Schatten stellt, ein grandioser «Cloud Club» à la Chrysler Building mit der imposanten Mittelstütze eines mächtigen englischen Chapter House, oder eben doch nur die Umsetzung eines Bildes von Poelzig, das auf dem Umschlag eines bekannten Buches zur «Architektur des Expressionismus» abgebildet ist. Die Nachwelt mag darüber staunen, was alles dieser demokratischen Transparenz-Idee zu entlocken ist.

Diese luftige Vorstellung hat sich so sehr eingeprägt, dass man jetzt einfach nicht mehr erinnern will, dass hier am protzigen Reichstag - und natürlich nicht in der Kuppel, die als blosses Glas-Eisen-Dach funktional gedacht war - im November 1918 die Republik ausgerufen wurde. Jetzt zeigt sich der Reichstag frisch restauriert. Man hat ihn entkernt, archäologisch seziert und - so scheint es - freigelegt von aller störenden Geschichte. Nicht der Zustand von 1894, als der Reichstag sein Haus bezog, auch nicht derjenige von 1918, als die Republik ausgerufen wurde, ist wiederhergestellt. Auch gegenüber dem Umbau von Baumgarten (1960-73) galt kein Respekt. Ihm hatte man vorgeworfen «ein historisches Denkmal zu erhalten» und «Hoffnung auf Einheit zu dokumentieren», jedoch nicht ein funktionierendes Parlamentsgebäude konzipiert zu haben. Nun ist die Einheit da und Baumgartens Einbau weg. Was ist denn noch vom steinernen Monument Wallots geblieben? Fein säuberlich renoviert, zeigt sich der Zustand von 1945, ein Zustand der Zerstörung, den die Sowjetarmee hinterliess, nachdem sie hier gegen das vermeintliche Symbol der Hitler-Herrschaft gewütet hatte. Da sind sie nun zu sehen, die Graffiti - wie in der Domus Aurea und in Pompeji und von ähnlich gewichtigem Gehalt. Die zufällig zurückgelassenen Kritzeleien sind jetzt, denkmalpflegerisch präpariert, zum geschichtlichen Gehalt des alten neuen Reichstags promoviert worden. Hier hat sich die Idee der «Demokratie als Bauherr», so scheint es, in eine unmonumentale Demutsgeste verwandelt. Das mahnmalgeschüttelte Berlin will von solchen Gesten offensichtlich nicht lassen.

Man stelle sich vor, man hätte einfach den alten Reichstag wieder hergerichtet, ohne Kuppelerlebnis, ohne museale Nebentöne, ohne die konservierten Einschusslöcher! Ganz einfach als Parlamentsgebäude, das sich im Wallot-Bau im internationalen Vergleich - auch ohne die teuren Rechtfertigungsmassnahmen - durchaus als solches zu erkennen gegeben hätte. «Dem deutschen Volk!» Was hat man nicht alles getan, um den Geruch des Monumentalen, um alles Pathos-Verdächtige abzustreifen. Eine Reihe von neuen Begriffen wie «Arbeitsparlament», «Werkstatt des Parlaments», «moderate Würde» sind erfunden worden. Nur das Naheliegendste durfte es wohl nicht sein: ein repräsentatives, historisches Gebäude, das bei allen Einschränkungen seine Eignung unter Beweis gestellt hat, funktionstüchtig und - ganz normal eben - repräsentativ.

Statt dessen hat man wieder einmal Öffentlichkeit mit Rummel vertauscht. Und da die Symbole und Bedeutungen im medialen Zeitalter ohnehin von ihren Inhalten abgelöst, frei verfügbar durch den Äther gleiten, kann man besser als je zuvor Graffiti als Geschichte und Glas als Demokratie verkaufen. Die Beliebigkeit ist längst verinnerlicht. Und Berlin, das dem zugegebenermassen schwierigen Test ausgesetzt ist, eine neue Hauptstadt zu begründen, stolpert von einer Peinlichkeit zur andern, von Gedenkstätte zu Mahnmal und umgekehrt. Die Angst vor der Geschichte geht um! Da war wohl Norman Forster die richtige Wahl. Von Lloyds und Hongkong kommend, sollte er unbefangen die «grand manner» in die mufflige Provinz bringen. Berlin braucht Stars! Auch wenn es bloss um einen «Kleinwagen» geht!

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 1999.04.28



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