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08. August 2014Ruedi Weidmann
TEC21

Wo Gärten landen

«Landing» heisst das Motto von Lausanne Jardins 2014. Die urbane Gartenschau testet mobile Gärten, die im Asphaltdschungel landen, ihren Segen verbreiten und weiterziehen können. Das funktioniert zwar fast nirgends, doch gerade das macht den Besuch interessant.

«Landing» heisst das Motto von Lausanne Jardins 2014. Die urbane Gartenschau testet mobile Gärten, die im Asphaltdschungel landen, ihren Segen verbreiten und weiterziehen können. Das funktioniert zwar fast nirgends, doch gerade das macht den Besuch interessant.

Halt dich am Gras fest, der Boden rutscht!» Mit diesem Satz pflegte mich mein Grossvater wieder aufzurichten, wenn ich auf unseren Spaziergängen den Halt unter den Füssen verlor. Der Satz beschäftigt mich noch heute wegen der Abgründe, die sich hinter seiner jovialen Harmlosigkeit auftun. Als Lausanne Jardins 2014 mobile Gärten als Thema ankündigte, war mir deshalb sofort klar: Hier hatte jemand Lust, sich auf ein Paradox einzulassen. Denn zumindest in der abendländischen und orientalischen Kulturgeschichte ist der Garten der Ort der Ruhe par excellence, Metapher für Heimfinden, Wurzelnschlagen und Bleiben. Versprechen da Gärten in Bewegung nicht eine tiefsinnige Auseinandersetzung mit unserer hypermobilen Lebensweise – und ausserdem raffinierte Installationen?

Rundgang zu mobilen Gärten

Doch zunächst die Fakten: Bis zum 11. Oktober erwartet die fünfte Auflage von Lausanne Jardins Gartenfreundinnen und Stadtwanderer. Anders als gewöhnliche Gartenschauen findet diese in der gebauten Stadt, in Parks und Gärten, Strassen und Gassen, auf Plätzen, Treppen und Hausdächern statt. Zeitgemässe Formen für Stadtgärten zu finden ist ihr hehrer Zweck, Lausanne mit seinem reichen Erbe an Gärten und Parks bekannter zu machen der erhoffte und legitime Nebeneffekt. Die Stadt Lausanne und der Verein «Jardin urbain» schreiben dazu seit 1997 alle paar Jahre einen internationalen Wettbewerb aus, an dem sich Landschafts- und Gartenarchitekturbüros, Architektur- und Kunstschaffende beteiligen.

Ein Kuratorium ist für Konzept, Motto und Standortwahl verantwortlich, organisiert den Wettbewerb und überwacht die Ausführung der Projekte. Dieses Jahr teilen sich der Lausanner Designer Adrien Rovero und der französische Szenograf und Landschaftsplaner Christophe Ponceau die Verantwortung. Die von einer Jury ausgewählten Beiträge laden dann einen Sommer lang zum kontemplativen Besuch und zur Reflexion über das Verhältnis von Fauna und Urbanität ein. Für 2014 verzeichnete der Wettbewerb 133 Eingaben, 25 aus der Schweiz. Die Jury wählte 26 Projekte. Das städtische Gartenbauamt, das für das Ziehen der Pflanzen, den Aufbau und den Unterhalt von Lausanne Jardins verantwortlich ist, steuerte wie immer einige eigene Projekte bei, die in einem Wettbewerb unter seinen Mitarbeitenden ermittelt wurden.

Das realisierte Programm umfasst 29 Beiträge. Alle sind in der Innenstadt zu sehen und lassen sich an einem Tag besuchen; zwei davon sind allerdings so mobil, dass man sie nur mit Glück antrifft. Vor Ort erläutern Tafeln mit etwas knappen Informationen die Objekte. Eine recht brauchbare Karte schlägt einen Parcours vor. Sie ist unabdingbar, denn die ziemlich krude Signaletik weist den Weg nur ungenügend. Auf der Website finden sich nebst Karte und Rahmenprogramm auch Hinweise auf themenverwandte Anlässe in der Region.

Kreative Logistik im harten Millieu

Auslober und Jury wollten wissen, wie (in welcher Form, in welchen Gefässen, mit welchen Unterhaltsmassnahmen) die Pflanzenwelt anders als auf traditionelle Weise einen Platz an asphaltierten und betonierten Orten finden kann. Die Teams mussten transportierbare Gärten vorschlagen und dafür eine Logistik kreieren. Gesucht waren kreative Formen, aber bereits auch die Annäherung an Prototypen, die andere Gemeinden übernehmen könnten. Gefragt waren Teams mit verschiedenen disziplinären Ansätzen, die jedoch die Bedürfnisse der verwendeten Pflanzen respektieren und alle Phasen der Planung und des Wachstums des Gartens dem Publikum erklären mussten. Die Besucher sollten neue Wege und versteckte Winkel entdecken und einen frischen Blick auf die bauliche Vielfalt im historischen Stadtzentrum werfen.

Von Blümchen und Bierdosen

Letzteres erreicht der Rundgang zweifellos. Nur sagt das noch nichts aus über die Qualität der einzelnen Projekte. Was wäre ein geeigneter Massstab für deren Beurteilung? Vielleicht die bekannteste Form des mobilen Gartens, seine Urzelle sozusagen: der Blumentopf, der im Frühling auf dem Fensterbrett und im Herbst wieder im Keller landet? Tatsächlich trägt ein gutes halbes Dutzend der Projekte kaum zur Erweiterung dieses bewährten Prinzips bei. Eine grosse Geste wie den Eisenbahnzug, der für Lausanne Jardins 2000 mit 14 unterschiedlich bepflanzten Güterwagen durch die Schweiz fuhr, sucht man 2014 vergeblich. Es waren eher kleine Interventionen mit poetischer Wirkung gefragt.

In der Buntheit des Lausanner Stadtzentrums gehen allzu zarte Pflänzchen allerdings unter. Etliche Projekte überzeugen nicht, weil eine an sich schöne Idee zu kleinlich oder zu wenig konsequent umgesetzt wurde. Laut dem für das Fundraising zuständigen Cedric van der Poel ist dies teilweise dem Budget geschuldet, aber auch den Rahmenbedingungen im Stadtzentrum. Die Hochbeete mit Blumen zum Selberschneiden auf der Place de la Riponne (Abb. S. 25 unten) könnten durchaus dazu animieren, die Versorgung der Stadt mit Schnittblumen zu überdenken und den riesigen Marktplatz in neuem Licht zu sehen. Doch dazu müssten sie viel grösser sein. Jetzt wirken sie eher lächerlich. Wegen Bürgerprotesten gegen die temporäre Sperrung einer Parkhauszufahrt hat man das Projekt verkleinert.

Einige Blumen haben schlicht keine Chance, in der städtischen Realität zu bestehen, etwa die bemitleidenswerten Kosmeen, die auf der Place Chauderon auf Nutzer stossen, denen der Sinn mehr nach der nächsten Bierdose steht als nach poetischen Farbtupfern. Chancenlos auch die Eternittopf-Skulpturen in der Rue de la Tour (Abb. S. 5 oben). Ein paar Dutzend von ihnen könnten diese Hintergasse verzaubern, doch zu dritt kommen sie gegen deren Trostlosigkeit nicht an. Fairerweise sei eingestanden, dass einige Gärten ihre volle Wirkung erst im Lauf des Sommers entfalten werden.

Mehr Kraft entwickeln Interventionen, die die Nutzung und damit die soziale Dimension des Gartens thematisieren. Manon Briod, Julien Mercier, Pablo Gabbay und Pierre Ménetrey haben zwischen zwei Häusern im Flon Blumentöpfe an bewegliche Wäscheleinen gehängt, den mobilen Blumentopf also quasi hypermobilisiert. Die Bewohner können sich so Kräuter, Blumen und das Giessen teilen – ein starkes Bild, kommunikationsfördernd und lustig anzusehen (Abb. oben).

Gärten der Ungeduld

Einige Beiträge legen den Fokus auf ein genuines Thema der Gartengestaltung: den ewigen Zirkel von Werden und Vergehen. Das kollidiert aber mit der Vorgabe «13 Juni bis 11. Oktober». Die aus lebenden Weidenzweigen geflochtenen, mit Erde gefüllten und daher wachsenden Körbe in der Rue de la Mercerie (Abb. S. 26, unten rechts) haben immerhin bis im Oktober Zeit zu zeigen, was in ihnen steckt. Wie aber soll das Publikum erfahren, ob die Tannzapfen, die es im Parc de Montbenon in ein Wiesencarré werfen darf (Abb. S. 25, 2. von oben), je versamen werden? An der Promenade Schnetzler dringen aus einem Gefäss in der Mitte des Rasens Regenwürmer in den Boden vor und lockern ihn auf. In der Folge verändert sich die Zusammensetzung der Pflanzenarten. Weil das aber Jahre dauert, haben die Stadtgärtner die neuen Arten gleich schon gesetzt. Dadurch bleibt der Prozess beim Projekt «Unsichtbare Gärtner» (gemeint sind die Regenwürmer) leider ebenso unsichtbar wie die Regenwürmer selbst. Projekten, die auf das Beobachten langer Zyklen setzen, fehlt in diesem Rahmen schlicht die Zeit, um überzeugend zu wirken.

So schwankt Lausanne Jardins 2014 merkwürdig unentschieden zwischen temporären Installationen – die besten funktionieren als Ideengeber, sind aber eben Installationen, keine Gärten – und «Landungen» von Gärten, die missglücken, weil der Sommer zu kurz ist, um zu sehen, ob die Pflanzen versamen und Wurzeln schlagen, und damit unbeantwortet bleibt, ob die Idee funktioniert.

Schöne Gesten, kluge Eingriffe

Mehrere Projekte zielen auf rein ästhetische Wirkung, sind eher Kunstwerke als Gärten. Je nach Geschmack wird man sie schön oder kitschig finden. Dazu gehören Sukkulenten in Gläsern (Abb. S. 26 unten links) in einer Wiese im Parc de l’Hermitage, ein Alpinum auf Stelzen auf der Place du Tunnel und eine miniaturisierte Genferseelandschaft aus Marmor und Flechten, die Evelyne Darcy und Olivier Sévère in der Kathedrale aufgebaut haben (Abb. S. 26 unten Mitte).

Einige Projekte aber sind schöne Gesten und gleichzeitig kluge Beiträge. Sie allein schon lohnen den Besuch. Wie die Autoren von «Botanic Box» die Aufgabe mobiler Garten umsetzen, ist fast banal, funktioniert aber besser als manch konzeptlastigerer Zugang: Ein kurzer Frachtcontainer ist aussen rot bemalt, oben offen, darin wuchern subtropische Pflanzen (Abb. S. 22). Ein schmaler Pfad führt hinein, verspiegelte Wände vergrössern das in der gemässigten Zone gelandete Stück Dschungel. Der rote Container mit den grünen Palmen ist gewiss nicht sehr innovativ, aber ein starkes Zeichen – und im Unterschied zu den meisten anderen Projekten tatsächlich transportabel. Er liesse sich überall als Café, Pausenecke oder Gärtchen einsetzen.

Der Beitrag «Outbreak» (Abb. S. 26 oben) von FHV architectes und Adrien Zwingli bezieht wie kein anderer Architektur und Lage mit ein: Aus allen Öffnungen eines zierlichen klassizistischen Säulenportikus an der Rue Neuve quillt Rasen. Der fast gewalttätige Ausbruch von Fruchtbarkeit rückt den Brunnen davor, den die Gewohnheit längst zur Unsichtbarkeit verdammt hat, jäh ins Bewusstsein zurück. Die Brunnenfigur bietet Fische aus ihrem Korb an, doch die eiligen Passanten tragen volle Einkaufstaschen und haben keine Hand frei für die Gaben der Natur.

Überzeugend ist ein stiller, unprätentiöser Beitrag von Thilo Folkerts, Marie Alléaumet und Nathanaelle Baës-Cantillon. Ihre sanfte Intervention stärkt ein Kleinod, das auch viele Einheimische übersehen. Im Schatten einiger Bäume neben dem viel befahrenen Pont Chauderon liegt der sandige Spielplatz des Pétanque-Klubs Boule d’Or Lausannois. In Blumentöpfen kommen Spargel, Pfefferminze, Salbei, Anis und Wermut auf das Terrain, zarte Pflanzen, die charakteristische angenehme Gerüche verbreiten. Die Autoren haben Stahlrohre in den Grüntönen dieser fünf Pflanzenarten gestrichen und daraus einige schlichte Geländer und Zuschauerbänke gebaut. Das tönt simpel, wirkt aber sympathisch, macht den Ort bewusst, ohne ihn zu stören – und darf bleiben (Abb. S. 25, 3. von oben).

Brauchen wir mobile Gärten?

Der Parcours ist abwechslungsreich. Doch in seinem Verlauf drängt sich immer mehr die Frage auf: Sind mobile Gärten wirklich das, was Städte heute brauchen – vor allem, wenn unter Stadt nicht die Altstadt, sondern die suburbane Region als realer Lebensraum der Mehrheit verstanden wird? Mangelt es dort nicht gerade am Gegenteil, an Verwurzelung, stabiler Identität, an festen Orten – Ort verstanden als Gegenstück zum Weg, der mit räumlichen Qualitäten und Sinneseindrücken zum Bleiben verführt? Bleiben können, Zeit vergehen lassen, ist Voraussetzung dafür, dass Pflanzen gedeihen und soziale Beziehungen entstehen können. Die Strasse, als Transitraum, hält Begegnungen bereit, der Ort, als Lebensraum, lässt Bindungen wachsen. Menschen brauchen beides. Doch ist es nicht gerade die Stärke des Gartens, Ort sein zu können?

Eine kluge Antwort hält «Place de parcs» bereit. Das Projekt von Yves Fidalgo, Cédric Decroux, Catherine Cotting und Yann Mingard gibt sich zunächst sehr mobil: Auf vier Parkplätzen in der Avenue Vinet parken hintereinander vier Plattformen, darauf vier verschiedene Gärten. Der zweite Blick zeigt, dass es Ausschnitte aus Parks in Zürich, Basel, Bern und Genf sind. Auf Plakatwänden an der Stützmauer dahinter zeigen Fotografien die Ursprungsorte (vgl. Titelbild). Nicht mobile Gärten sind also hier gelandet, sondern Schollen aus dauerhaften Gärten wurden herausoperiert und in einem Transitraum platziert – als Gruss von festen Orten.

Immerhin könnten transportierbare und einfach zu installierende Gartenformen ja nützlich sein zur raschen Verbesserung der Lebensqualität in Gebieten mit Bedarf.

Die Beiträge sollten Prototypen sein, die irgendwo eingesetzt werden können, und tatsächlich würden einige anderswo sogar besser funktionieren. Denn das topografisch lebendige, gepflegte Lausanner Stadtzentrum ist dermassen reich an Architektur, aussergewöhnlichen stadträumlichen Situationen und eben auch an Gärten, dass manche «Landung» hier schlicht überflüssig wirkt.

Warum die Wahl auf den Stadtkern fiel, wird nirgends begründet. Man habe wieder zu den Ursprüngen von Lausanne Jardins zurückkehren wollen, geben die Kuratoren im Programmheft lediglich an. Warum, sagen sie nicht, und es erschliesst sich auch auf dem Rundgang nicht. Auf das Definieren eines spezifischen Effekts oder gar Nutzens der Ausgabe 2014 scheint generell nicht allzu viel Energie verwendet worden zu sein. Diesen Eindruck verstärken die Kuratoren noch, wenn sie erzählen, sie hätten die Standorte mittels Ausstreuen von Samen auf einem Stadtplan bestimmt – als poetische Geste. Natürlich, Poesie verweigert sich dem Nützlichkeitsdenken, aber Ziellosigkeit ist deswegen nicht automatisch auch poetisch. Etlichen Projekten fehlt es schlicht an Relevanz. Nach den früheren Auflagen, besonders denjenigen von 2004 den Bahngleisen entlang bis nach Renens und 2009 entlang der U-Bahnstrecke M2, wirkt diese Ortswahl deshalb als wenig inspirierender Rückschritt.

Bruchlandung vermeiden

Die Kuratoren schreiben im Konzept, es gehe um die Erfindung von neuen Arten der pflanzlichen Installation. Doch stünden heute nicht andere Fragen im Vordergrund? Neue Organisationsformen für das gemeinschaftliche Bewirtschaften öffentlicher Parks, wie es etwa die Stadt Paris fördert? Das integrative Potenzial von Gemeinschaftsgärten, die weltweit boomen (und laufend neue Arten von pflanzlichen Installationen hervorbringen und gleich auch einem realistischen Praxistest unterwerfen)? Die Frage, wie Erholung und Artenvielfalt in Grünräumen vereinbar sind (TEC21 19/2013, S. 16–20)? Möglichkeiten zur Relokalisierung der Lebensmittelproduktion und neue Formen urbaner Landwirtschaft (denen sich gerade die Architekturbiennale Rotterdam widmet)? Oder die Frage, wie sich im öffentlichen Raum von sub- und periurbanen Zonen lokale Identität und Interaktionen fördern lassen?

Lausanne Jardins ist eine wunderbare Erfindung. Der Ansatz, den ideologisch konstruierten Gegensatz zwischen Grau und Grün zu überwinden und neue Symbiosen von Stadt und Garten zu suchen, war 1997 pionierhaft und ist heute aktueller denn je. Die Stadt Lausanne sollte die Tradition unbedingt fortführen und künftig besser vermarkten, besonders auch im deutschen Sprachraum. Doch muss ihr neues Leben eingehaucht werden. Sonst wird sie von der spriessenden Buntheit der Urban-Gardening-Bewegung in den Schatten gestellt. Lausanne Jardins braucht die brennenden Fragen der Zeit und ein Einsatzgebiet, wo die Schau Wirkung entfalten kann, dann brauchen auch wir Lausanne Jardins. Im grandiosen suburbanen Chaos im Westen von Lausanne warten Tausende sinnlose Restflächen auf Ideen, was mit ihnen anzufangen wäre. Dort läge ein überaus dankbares Feld für die nächste Ausgabe.

Trotzdem lohnt sich der Besuch von Lausanne Jardins 2014, und dieses Jahr besonders, wenn man ihn mit einem Abstecher zur Ausstellung «Genève, villes et champs» verbindet (vgl. S. 27).

TEC21, Fr., 2014.08.08



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2014|32-33 Städte, Gärten und Felder

27. Juni 2014Ruedi Weidmann
TEC21

Lebensraum­generator

Der genossenschaftliche Wohn- und Gewerbebau Kalkbreite in Zürich demonstriert, welches Potenzial für das nachhaltige Bauen im Mix aus Wohnen, Arbeiten und Gemeinschaft liegt. Seine Lebensqualität teilt er mit dem Quartier.

Der genossenschaftliche Wohn- und Gewerbebau Kalkbreite in Zürich demonstriert, welches Potenzial für das nachhaltige Bauen im Mix aus Wohnen, Arbeiten und Gemeinschaft liegt. Seine Lebensqualität teilt er mit dem Quartier.

Das Areal war eine schwarze Perle: 6350 m² städtischer Boden im dichten Zürcher Quartier Aussersihl, auf dem nur nachts ein paar blaue Züritrams schliefen. Kein Wunder, weckte dies bei Zürichs notorischem Mangel an günstigen Wohnungen schon vor Jahrzehnten den Wunsch nach einer Wohnüberbauung. Doch die Rahmenbedingungen waren komplex. Das Dreieck liegt in der Gabelung von Badener- und Kalkbreitestrasse, zwei lauten Strassen mit Tram- und Buslinien, und nach Süden hin am Seebahngraben, in dem die SBB-Linie Zürich–Thalwil verläuft. Dies dämpfte den Enthusiasmus der Stadtbehörden. Es zeigte sich auch, dass die Verkehrsbetriebe (VBZ) auf den Abstellplatz im Stadtzentrum angewiesen waren. Eine Wohnsiedlung musste also mit einer Trameinstellhalle kombiniert werden. Eine Motion im Gemeindeparlament verlangte 2003 von der Stadtregierung, Grundlagen für kommunale, allenfalls genossenschaftliche Wohn- und Gewerbebauten zu erarbeiten.

Urbanes Graswurzelprojekt Doch wer sollte das Projekt realisieren? In Zürich begann man zu merken, dass eine Wohnsiedlung Läden und Restaurants braucht, wenn ein Stück Stadt und nicht ein monofunktionaler Pendlerpol entstehen soll. Damit wurde das Vorhaben definitiv so komplex, dass es jede traditionelle Genossenschaft überfordert hätte. Doch da kam Hilfe aus dem Quartier. Bewohnerinnen und Bewohner gründeten im Frühling 2006 den Verein Kalkbreite mit dem Ziel, das Areal zu übernehmen. Laien und Profis aus verschiedenen Berufen entwickelten in öffentlichen Debatten eine starke Vision für eine zeitgemässe Überbauung. Mit dabei waren Leute aus den Genossenschaften Dreieck und Karthago, die Erfahrungen mit innovativen Wohnformen und aus einem erfolgreichen Stadtreparaturprojekt mitbrachten (TEC21 6/2006, S. 11–14). Die Gruppe wollte einen Baustein für eine sozial und ökologisch nachhaltige Stadt entwickeln und dem Baugeschehen insgesamt Impulse verleihen. Sie beschränkte sich nicht auf technische Lösungen, sondern suchte möglichst konsequent nach dem Potenzial, das in gemeinsam genutzten Räumen, neuen Wohnformen und der innovativen Kombination von Nutzungen steckt. Nicht allein die neue Siedlung sollte davon profitieren, sondern das Quartier als Ganzes.

So konkretisierte sich die Vision von einem integralen Lebensraum, einem Stück Stadt mit hoher Lebensqualität, das nicht von vornherein auf eine komplementäre Ergänzung durch andere Quartiere und weit entfernte Landschaften angewiesen ist. Dieses Programm führte weg von der überholten Idee der «Wohnbaugenossenschaft» hin zur Wohn- und Gewerbegenossenschaft. Weil eine Genossenschaft keinen finanziellen Gewinn abwerfen muss, kann sie eine grosse funktionale und soziale Komplexität organisieren und verwalten. Der Verein forderte keck die Abgabe im Baurecht an eine Genossenschaft, da die Aufgabe für die Stadtverwaltung zu anspruchsvoll sei.

Die Stadt liess sich das gefallen und schrieb das Gelände im Herbst 2006 im Baurecht aus, behielt sich aber vor, selbst zu bauen, falls der Baurechtnehmer an der Aufgabe scheitern sollte. Der Verein Kalkbreite gab sich die Form einer Genossenschaft und erhielt ein Jahr später das Areal zugesprochen. Es war eine mutige Entscheidung der Stadtregierung, das Gelände einer Genossenschaft anzuvertrauen, die noch kein Projekt realisiert hatte.

Gemeinsam zum Wettbewerbsprogramm

Das ehemalige Wirtshaus «Rosengarten» an der prominentesten Ecke wurde Geschäftssitz der Genossenschaft. Zu ihrer breiten Vernetzung lancierte sie ein Veranstaltungsprogramm, das im Quartier rasch be-liebt wurde und bis heute andauert. Die «Intendanz Rosengarten» organisiert seither allerhand Veranstaltungen, die das Leben in der Stadt thematisieren und es zugleich bereichern.

Die Vorgaben und das Raumprogramm für den 2009 durchgeführten offenen Projektwettbewerb erarbeitete die Genossenschaft in Workshops mit interessierten Genossenschaftsmitgliedern und in Abstimmung mit den VBZ sowie dem städtischen Amt für Hochbauten. Die Anforderungen an die Architekturschaffenden waren höher als üblich. Um alle zu erfüllen, waren Erfindungen nötig. Es galt, Wohnungsgrössen für Haushalte von einer bis zu fünfzig Personen zu planen und höchste energetische und ökologische Ziele zu erreichen. Die Lärmbelastung war auf allen Seiten hoch, die Stützenstellung der Tramabstellhalle musste berücksichtigt werden, auf ihrem Deckel sollte ein öffentlicher Raum entstehen. Und nicht zuletzt war ein passendes Gesicht für die umtriebige junge Genossenschaft gesucht. Das Zürcher Architekturbüro Müller Sigrist gewann die Konkurrenz im Team mit Dr. Lüchinger Meyer Bauingenieure, Zürich (TEC21 25/2009, S. 8–9). Die Landschaftsarchitektur stammt von der Freiraumarchitekten GmbH aus Luzern. Unterdessen begannen die VBZ als zweite Bauherrin mit der Vorarbeit für die Tramhalle, die als erste Etappe mit Baubeginn 2009 zu realisieren war.

Kosten, Finanzierung und Termine

Die Projektierung des Baus samt Trameinstellhalle kostete 6 Mio. Franken. 2 Mio. schoss die Stadt aus dem von ihr nur teilweise beanspruchten Projektierungskredit vor, 2 Mio. brachte die Genossenschaft über private Darlehen und Anteilscheine auf, die zu einem guten Teil von anderen Genossenschaften gezeichnet wurden, 2 Mio. steuerte eine Bank bei. Der Voranschlag sah Anlagekosten von 63.7 Mio. Franken vor (BKP 1–9). Die Landkosten entsprechen den von der Stadt geleisteten Vorinvestitionen und werden mit dem Baurechtszins abgegolten. Die Finanzierung konnte definitiv gesichert werden, nachdem der Gemeinderat 2011 dem Baukredit für die Tramhalle zugestimmt hatte und das Baurecht im Grundbuch eingetragen war.

Die Genossenschaftsmitglieder konnten sich auch an der Weiterentwicklung des Bauprojekts periodisch beteiligen. Dadurch flossen weitere Vorschläge und Ideen ein, und die Pläne wurden dem kritischen Blick potenzieller Nutzerinnen und Nutzer ausgesetzt. So identifizierten sie sich stärker mit dem Ort und engagierten sich mehr für das Vorhaben. Als erstes Teilprojekt erneuerten die VBZ Ende 2010 die Gleisanlage. Die Bauarbeiten am Gebäude begannen im Januar 2012.

Wohnen – Arbeiten 240 : 150 Der Neubau ist eine Art Hofrandbebauung; der Hof liegt auf dem Dach der Tramhalle. Der Baukörper mit seiner einprägsamen polygonalen Form nimmt ebenso selbstbewusst wie selbstverständlich seinen Platz im Stadtraum ein. Auf der Nordseite ist er achtstöckig, er überbrückt die Ein- und Ausfahrten für die Trams und sinkt auf der Südseite bis fast auf die Höhe des Hofs ab. So scheint die Sonne in den 2500 m² grossen Hof. Er ist von der Strasse her über eine breite, durch das Haus hindurchführende Treppe erschlossen und dient als öffentlicher Erholungsraum. Ab dem zweiten OG auf Ebene des Hofs und in den darüberliegenden bis zu vier Geschossen sind die 97 Wohneinheiten in 55 Wohnungen für 240 Personen untergebracht, in den unteren beiden Stockwerken entlang der Badener- und Kalkbreitestrasse die 25 Gewerbebetriebe und Büros mit rund 150 Arbeitsplätzen.

Günstige Mieten, ein breites Angebot an WG-, Familien-, Paar- und Singlewohnungen, eine sorgfältige Vermietung und die Zusammenarbeit mit der Stiftung Domicil, die günstige Wohnungen an Leute mit kleinem Budget vermittelt, fördern eine breite soziale und altersmässige Durchmischung. Kleinwohnungen sind zu Clustern mit grossem Gemeinschaftsraum und Küche gruppiert, ein Grosshaushalt mit etwa 20 Wohnungen und 50 Personen unterhält eine Grossküche samt Speisesaal und Köchin. Über das Gebäude verteilt gibt es ausserdem «Jokerräume»: Einzelzimmer, die zu einer Wohnung hinzugemietet werden können.

Kleine und mittelgrosse Läden, dazu Gastrobetriebe beleben das Erdgeschoss entlang der Strassen und an der Treppe zum Hof. Sie machen die Ecke zu einem neuen Zentrum im Quartier. Die Neugass Kino-AG eröffnet das Kino Houdini mit fünf kleinen Sälen und einer Bar, gleich daneben liegen ein Gemüseladen und das grosse Café Bebek, dazu die Pension Kalkbreite mit elf Gästezimmern, zwei weitere Bars, ein Blumenladen und diverse Boutiquen. Eine Kinderkrippe, eine Hausarztpraxis und das Geburtshaus Delphys runden das Angebot ab. Im ersten und im zweiten Obergeschoss haben sich nebst kleineren Dienstleistern die Alternative Bank und Greenpeace Schweiz eingemietet.

Rue intérieure als verbindendes Element

Die im Wettbewerbsprogramm formulierte Aufgabe, die diversen Wohnformen und das vielseitige Raumprogramm miteinander zu verknüpfen, lösten Müller Sigrist mit einer inneren Erschliessungskaskade, die sich als Rue intérieure durch das gesamte Haus zieht. Sie beginnt in der Eingangshalle am Hof, verbindet auf verschiedenen Geschossen Kleinwohnungscluster mit Gemeinschaftsräumen und führt auf die gemeinschaftlichen Terrassen. Diese sind über Freitreppen miteinander verbunden, sodass ein Rundlauf durch und über die ganze Siedlung und rund um den Hof entsteht.

33 Quadratmeter sind genug, wenn ...

Die Genossenschaft Kalkbreite versteht Nachhaltigkeit als zwingenden Bestandteil aller Phasen von der Planung über den Bau bis zum Betrieb. Für alle drei Phasen hat sie einen Katalog mit Zielen in den Bereichen Ökonomie, Ökologie und Soziales erarbeitet, die zusammen mit den Planungsprofis und den Mieterinnen und Mietern umgesetzt werden. Im Unterschied zu den meisten Bauten mit Energielabel wird das Resultat hier auch tatsächlich gemessen, und das externe Monitoring empfiehlt bei Bedarf korrigierende Massnahmen.

Beim Flächenverbrauch pro Kopf zu sparen ist wohl der effektivste Beitrag, den der Bausektor an eine nachhaltige Entwicklung leisten kann. An der Kalkbreite nutzt eine Person inklusive der 300 m² nicht zumietbarer Gemeinschaftsräume durchschnittlich 33 m² Wohnfläche (Schweiz: ca. 50 m², Zürich: ca. 40 m²). Dank den vielen Gemeinschaftsräumen ist dies ohne Verzicht auf Lebensqualität möglich. Gästezimmer, Büroarbeitsplätze, Schulungs- und Sitzungsräume, die Eingangshalle mit Caféteria, ein Waschsalon und eine Pension entlasten die Wohnungen von nur sporadisch anfallenden Nutzungen. Ausserdem ist der Anteil von Wohnungen hoch, die von mehreren Personen bewohnt werden.

Der Standard Minergie-P-Eco galt als minimaler Zielwert. Die Vorgaben werden vor allem durch den gut gedämmten Gebäudekörper und die geringe Eigenverschattung erreicht. Die wenige Wärme, die zugeführt werden muss, holt eine Wärmepumpe aus dem Grundwasser. Vier nachgeschaltete Wärmepumpen erzeugen das warme Brauchwasser; dabei hilft auch die Abwärme der gewerblichen Kühlanlage und vom Gemeinschaftstiefkühler. Eine Photovoltaikanlage liefert einen grossen Teil des von der Wärmepumpe und den Lüftungsanlagen verbrauchten Stroms. Das gesamte Gebäude verfügt über Komfortlüftung mit Wärmerückgewinnung. Das Regenwasser wird für die Bewässerung der Dachterrassen gesammelt, der Rest versickert unter dem Gebäude. LED-Leuchten, Bestgeräte, Wasserspararmaturen und ein zentraler «Strom aus»-Schalter minimieren den Wasser- und Stromverbrauch in allen Räumen. Die Genossenschaft hat die baulichen Voraussetzungen für die 2000-Watt-Gesellschaft geschaffen, motiviert die Mieterinnen und Mieter aber auch zu einem schonenden Umgang mit Ressourcen. Die Kalkbreite ist eine autofreie Siedlung. Wer hier wohnen möchte, muss auf ein eigenes Auto verzichten, wer hier arbeitet, kommt ohne. Mit dem Tram im Haus und an dieser zentralen Lage lag das nah. Statt einer Tiefgarage gibt es ebenerdige Garagen für über 300 Velos.

Grünes Wohnzimmer fürs Quartier

Die Aussenflächen auf den Dächern, im Hof und auf den Trottoirs sind zentral für die integrativen Ziele des Projekts. Geht es nach dem Wunsch der Genossenschaft, soll die Terrasse über der Tramhalle im Sommer zum Wohnzimmer des an Freiflächen armen Quartiers werden. Die halböffentlichen Dachterrassen dienen den Bewohnerinnen und Bewohnern, die sie mitgestalten und pflegen. Schon in der Planungsphase legte die Genossenschaft einen temporären Garten an, der zum Labor des gemeinschaftlichen Gärtnerns wurde. Eine Mehrheit der Genossenschaftsmitglieder wünschte sich in einer Umfrage, auch künftig gemeinsam gärtnern zu können. Eine Terrasse wird darum zum Urban-Gardening-Areal mit Hochbeeten.

Service-Wohnen trotz günstigen Mieten

Die wichtigste Voraussetzung für eine soziale Durchmischung und eine sozial nachhaltige Integration ins Quartier sind günstige Mieten. Eine 100-m2-Wohnung kostet rund 2000 Fr./Monat netto, der Grundpreis für Büros und Ateliers inklusive technischen Grundausbaus liegt zwischen 250 und 300 Fr./m2 im Jahr. Für einen Neubau in der Zürcher Kernstadt ist das ausserordentlich günstig. Wer an der Kalkbreite einziehen will, muss Anteilscheine zum Preis von 260 Fr./m2 kaufen. Das macht pro Person zwischen 6000 und 11 000 Franken. Dank einem Solidaritätsfonds kann dieser Beitrag aufgeschoben oder verkleinert werden.

Trotz tiefen Mieten – wer an der Kalkbreite wohnt oder arbeitet, kann Serviceleistungen in Anspruch nehmen, wie sie bisher nur weit teurere Residenzen anbieten: In der am Innenhof gelegenen, grosszügigen Eingangshalle für die Bewohnerinnen und Bewohner befindet sich die Réception. Der Desk ist ganztags besetzt; die «Deskjockeys» kümmern sich um Betrieb und Unterhalt des Gebäudes, betreuen das Reservationssystem für Gästezimmer und Arbeitsplätze und bieten daneben Hilfen im Alltag an.

Die Mitbestimmung dauert an. Acht Arbeitsgruppen haben Regeln für den Betrieb und Nutzungskonzepte für die Gemeinschaftsräume erarbeitet. Dabei entstanden der «Gemeinrat», die monatliche Mieter- und Mieterinnenversammlung, sowie das «Gemeinwerk» zur Koordination der freiwilligen Aktivitäten.

Aus dem Mix an günstigen Wohnungen, Gemeinschaftsräumen, kulturellen Angeboten, sozialen Einrichtungen, Läden und Restaurants resultieren ein höchst urbaner Ort und eine hohe Lebensqualität, von der nicht nur wenige Mitglieder, sondern das Quartier und die Stadt Zürich profitieren. Diese erhält damit einen grossen Gemeinnutzen für den günstigen Baurechtszins, den sie der Genossenschaft gewährt.

Ohne GU flexibel bis zur Bauabnahme

Die Genossenschaft arbeitet ebenso visionär wie professionell. Für die Mitwirkung schuf sie in allen Phasen geeignete, effiziente Strukturen. Beeindruckend ist, dass sie das Projekt zusammen mit dem Architekturbüro Müller Sigrist ohne Generalunternehmen durchzog und selber eine zweiköpfige professionelle Projektleitung stellte. Dadurch wahrte sie sich viel Flexibilität während der Ausführung und konnte noch spät neue Materialien wählen, wie das massive Eichenholz in den Küchen, oder auf Wünsche der Mieter eingehen und Wohnungen zusammenlegen. Der Endausbau ist dem Zeitplan zurzeit einen Monat voraus, die Kosten werden vermutlich rund 1 Mio. Franken unter dem Budget bleiben. Die Wohnungen, Läden und Büros werden seit April etappenweise bezogen; am 22. und 23. August steigt das Eröffnungsfest.

TEC21, Fr., 2014.06.27



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2014|26-27 Kalkbreite: Ein Stück Stadt in Zürich

27. Dezember 2013Ruedi Weidmann
TEC21

«Gemeinden haben viel Gestaltungsspielraum»

Die Revision des Raumplanungsgesetzes, die das Volk im März 2013 beschlossen hat, bedeutet für die meisten Schweizer Gemeinden, dass sie kein Bauland mehr einzonen können und künftig nach innen wachsen müssen. Planen und Bauen im Bestand ist komplizierter als auf der Wiese und verlangt kleinen Gemeinden viel ab. Die Vereinigung für Landesplanung (VLP-ASPAN) unterstützt sie mit dem Beratungsprogramm «Dialog ­Siedlung». Direktor Lukas Bühlmann erzählt, was er in den Dörfern erlebt.

Die Revision des Raumplanungsgesetzes, die das Volk im März 2013 beschlossen hat, bedeutet für die meisten Schweizer Gemeinden, dass sie kein Bauland mehr einzonen können und künftig nach innen wachsen müssen. Planen und Bauen im Bestand ist komplizierter als auf der Wiese und verlangt kleinen Gemeinden viel ab. Die Vereinigung für Landesplanung (VLP-ASPAN) unterstützt sie mit dem Beratungsprogramm «Dialog ­Siedlung». Direktor Lukas Bühlmann erzählt, was er in den Dörfern erlebt.

TEC21: Die VLP bietet ihr Beratungsprogramm «Dialog Siedlung» Gemeinden an, die ­Fragen im Bereich der Ortsplanung haben. Wie helfen Sie den Gemeinden?
Lukas Bühlmann: Zuerst gehen wir auf Ortsbesichtigung mit einem Gemeinderat, dem Bauverwalter oder einer Behördendelegation. Wir lassen uns die Probleme erläutern, schauen aber auch nach links und rechts und stellen Fragen. Dann schreiben wir einen ­Bericht mit einer Einschätzung der Lage und schlagen der Gemeinde nächste Schritte vor. Diese bieten wir nicht selber an, sondern empfehlen dafür private Büros oder Hochschul­institute. Je nach Ausgangslage und Problemstellung schlagen wir eine Machbarkeitsstudie, einen Studienauftrag oder eine Testplanung mit zwei bis drei Planungsbüros vor. Oder als günstigere Variante ein Projekt mit Studierenden.

TEC21: Warum war in ländlichen Gemeinden Verdichten bisher kein Thema?
L. B.: Weil sie einfach neues Bauland einzonen konnten, wenn jemand bauen wollte. Das ist viel einfacher als Bauen im Bestand. Doch das ist nun vorbei. Das Volk hat im März der Revision des Raumplanungsgesetzes zugestimmt (vgl. Kasten). Nun merken die Gemeinden, dass sie nicht mehr um die Innenentwicklung herumkommen. Kleine und mittlere Gemeinden – mit nebenamtlichen Gemeinderäten und minimalen Verwaltungen – sind damit rasch überfordert. Darum bieten wir die Beratung an.

TEC21: Sie sprechen von Innenentwicklung, nicht von Verdichten. Mit Absicht?
L. B.: Ja. Verdichten, im Sinn von dichter und höher bauen, ist nur ein Teil der Siedlungs­entwicklung nach innen. Zu dieser gehören auch Massnahmen, die das Bauvolumen nicht vergrössern, sondern bestehende Bauten besser und vielfältiger nutzen.
«Innenentwicklung» ist im ländlichen Raum auch weniger ein Reizwort als «Verdichten».

TEC21: Wie kommt das verschärfte Raumplanungsgesetz in den Gemeinden an?
L. B.: Unterschiedlich. Einige treten sogar aus der VLP-ASPAN aus mit der frustrierten ­Begründung, sie könnten nun nicht mehr planen, der Kanton schreibe ja jetzt alles vor. Viele merken aber, dass sie beträchtliche Gestaltungsspielräume haben. Natürlich ist es für die Gemeinden eine enorme Aufgabe, Lösungen für strukturelle Probleme zu ­ent­wickeln – ich beobachte aber oft, dass sie mit der Zeit Freude daran bekommen.
Die ­Siedlungsentwicklung gehört zu den ureigenen Kernaufgaben der Gemeinden.
Sie sind nun gefordert, etwas aus dem Bestehenden zu machen – wie sie das tun, können sie selber am besten bestimmen.

TEC21: Welche neuen Fragen kommen auf die Gemeinden zu?
L. B.: Die Anliegen, mit denen sich die Gemeinden an uns wenden, sind vielfältig, doch ­drehen sie sich um ähnliche strukturelle Probleme. Meist werden diese zuerst im Orts­zentrum bewusst, oft an einzelnen Problemliegenschaften: Soll die Gemeinde eine ­Wirtschaft am Dorfplatz kaufen, für die sich kein Pächter mehr findet? Bei der Begehung merken wir dann, dass man die Frage in einem grösseren Rahmen betrachten muss: Der ganze Ortsteil hat Probleme, Läden ziehen weg, Durchgangsverkehr macht das Wohnen unattraktiv, Wohn- und Ökonomiegebäude stehen leer usw. Aus der Distanz können wir eine gesamtheitliche Sicht einbringen, Potenziale für mögliche Entwicklungen erkennen und zeigen, wie andere Gemeinden mit ähnlichen Situationen umgehen.

TEC21: Wo brennt es mehr, in den Agglomerationen oder in Randgebieten?
L. B.: Überall. In boomenden Agglomerationsgemeinden ist zwar die Ausgangslage eine ganz andere als in schrumpfenden Berggemeinden. Aber die Aufgabe einer nachhaltigen Siedlungsentwicklung ist für alle eine enorme Herausforderung.

TEC21: Planen im Bestand ist gewiss komplex, vor allem, wenn noch Auflagen vom Ortsbild- und Denkmalschutz hinzukommen. Doch dünkt einen oft, dass Gemeinden das ­Potenzial ihres Bestands nicht erkennen: Wertvolle Altbauten, Gärten, Plätze oder Bach­ufer bleiben ungenutzt oder werden gar beseitigt.
L. B.: Ja, das stimmt leider. Ich glaube, das ist die Folge einer Überforderung. Die Gemeinden sind ja nicht nur in der Raumplanung, sondern auch bei der Bildung, im Sozialwesen laufend stärker gefordert; gleichzeitig steht weniger Geld zur Verfügung.
Das kann Frust erzeugen. Aber ich treffe auch erfreuliche Situationen an und staune, wie stark sich manche Gemeindebehörden engagieren.

TEC21: Lähmend für die Innenentwicklung ist das Horten von Bauland: Eigentümer von ­eingezontem Land bebauen es nicht, weil sie hoffen, später mehr Geld dafür zu erhalten.
L. B.: Viele Gemeinden konnten Bauwilligen deswegen kein Land anbieten und zonten darum neues ein. Das revidierte RPG weist nun die Kantone an, rechtliche Massnahmen gegen die Baulandhortung vorzusehen, etwa ein Kaufrecht der Gemeinde nach zehn Jahren,
wie es Obwalden kennt. So entsteht eine Baupflicht. Appenzell Ausserhoden kann solche Flächen wieder auszonen; deshalb kommen solche Parzellen dort heute auf den Markt.
Ein Problem sind auch unternutzte Grundstücke: leere Scheunen oder einstöckige Gewerbehallen an gut erschlossenen Lagen, wo eigentlich Wohnungen und Läden sinnvoll wären.
Im Entwurf für ein neues Planungs- und Baugesetz im Kanton St. Gallen schlägt die Regierung vor, dass die Gemeinden über solche Parzellen Entwicklungszonen mit einem kommunalen Enteignungsrecht verhängen können. Nur schon, dass solche Verfahren möglich sind, bringt Bewegung in den Grundstückmarkt.
Was auch nützt, sind Gespräche. Die Luzerner Gemeinde Ruswil hat den pensionierten ­Verwalter der Regionalbank als «Kümmerer» angestellt. Als Respektsperson, die die lokalen Verhältnisse gut kennt, führt er Gespräche, versucht zu überzeugen und Gelegenheiten wahrzunehmen. Das ist unbefangener, als wenn der Gemeindepräsident auftaucht, und günstiger, als wenn es der Ortsplaner macht.

TEC21: Wo liegen weitere Möglichkeiten für die Innenentwicklung ausser im Füllen von Baulücken und im Ersetzen von leer stehenden Bauten?
L. B.: Im Umnutzen von nicht mehr genutzten Ökonomiegebäuden und in Umzonungen: Viele ländliche Gemeinden haben zu grosse Industrie- und Gewerbezonen. Auch Aufzonen kann sinnvoll sein.
Wir hören zwar oft: «Verdichten ist etwas für die Stadt, wir sind hier
ein Dorf.» Doch auch in ländlichen Gemeinden gibt es Potenzial für Aufzonungen, etwa um die Bahnstation herum. Man muss allerdings behutsam vorgehen! Gute Beispiele für sorgfältige Anbauten und Aufstockungen sind da sehr wertvoll.

TEC21: Ein zentrales Problem ist sicher, dass in kleinen Gemeinden das Wissen fehlt, wie man solche Planungsverfahren aufgleist und steuert. Dieses Wissen kann man einkaufen – oder ist das für die Gemeinden zu teuer?
L. B.: Ja, die Kosten sind ein grosses Problem. Wenn Gemeindevertreter hören, was eine Testplanung oder ein Studienauftrag kostet, verwerfen sie oft die Hände. Selbst wenn der Gemeinderat vom Nutzen überzeugt ist, kann der Kredit in der Gemeindeversammlung scheitern. Dabei geht es um niedrige sechstellige Beträge – wenig Geld, verglichen mit dem, was eine Gemeinde für die Erschliessung von neu eingezontem Land ausgibt.
Aber das Resultat eines Studienauftrags ist eben nicht vorhersehbar, und danach folgen noch weitere Planungsschritte. Wir merken, dass wir die Gemeinden hier etwas länger ­begleiten und besser mit Argumenten versorgen müssen. Eine andere Möglichkeit ist, das ­Projekt als Modellvorhaben des Bundes anzumelden oder Finanzierungshilfen beim Kanton, bei Patengemeinden oder Stiftungen zu organisieren. Qualität kostet eben, aber eine gute Planung lohnt sich später x-fach. Letztlich kommt man nicht um Studienaufträge herum, trotzdem suchen wir nun nach günstigeren Verfahren, die wir kleinen Gemeinden anbieten können.

TEC21: Was könnte das sein?
L. B.: Gut moderierte eintägige Workshops etwa können schon viel leisten: die entschei­denden Akteure für Probleme sensibilisieren, verschiedene Sichtweisen eines Problems ­erfassen, Gründe für Blockaden aufspüren und auch bereits mögliche Lösungswege ­andenken. Natürlich entsteht so noch kein Projekt, aber man kann einen Prozess lancieren und auf der wichtigen Ebene der Kommunikation schon erstaunlich viel erreichen.

TEC21: Der Erfolg solcher Entwicklungsprozesse hängt wohl gerade in kleinen Gemeinden davon ab, ob die Bevölkerung dahintersteht. Das bedeutet, dass partizipative Elemente ­nötig sind – eine weitere Überforderung? Was raten Sie Gemeinden bei diesem Thema?
L. B.: Es gibt ein paar allgemeine Regeln: Die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt für die Information der Bevölkerung ist zentral, man darf nicht zu hohe Erwartungen wecken, ­usw. – aber ein allgemeingültiges Rezept gibt es nicht. Es kommt auf die Art des Projekts, die Grösse des Perimeters und die Vorgeschichte eines Orts an: Wo schon mehrere ­Anläufe in Konflikten geendet haben, muss man umsichtiger vorgehen als an einer Stelle, wo alle sich einig sind, dass etwas geschehen muss.
Mich überzeugt nach wie vor die Vorgehensweise in unserem Programm «Netzwerk Altstadt», das wir schon länger für Gemeinden mit einer Altstadt anbieten (vgl. Kasten).
Dort beginnen wir – noch ohne die Bevölkerung – mit einer «Stadtanalyse»: einer ersten groben Einschätzung des Bestands, der laufenden Veränderungen und von vorhandenem Potenzial. Dann erarbeiten wir – nun zusammen mit wichtigen Akteuren, vor allem dem ­Gewerbe – eine Nutzungsstrategie. Sie zeigt mögliche Entwicklungen auf und diskutiert mögliche Massnahmen. Diese Strategie besprechen wir dann mit der Bevölkerung. Anschliessend richten wir «Gassenclubs» ein: Die Eigentümer aus einer Gasse setzen sich an einen Tisch und diskutieren mit uns ihre Probleme, Wünsche, Bedenken und Möglich­keiten – ganz offen, denn nun ist bewusst niemand von der Gemeinde anwesend. So spüren wir, was wirklich nötig und möglich ist, und es entstehen neue Ideen. In Delsberg ist das beispielsweise ausgezeichnet gelungen. Diese Erfahrungen mit partizipativen Prozessen aus dem «Netzwerk Altstadt» übertragen wir nun ins Programm «Dialog Siedlung». Denn das Vorgehen kann durchaus auch in Land- und Agglomerationsgemeinden funktionieren.

TEC21: Sind solche Methoden nicht extrem anfällig? Kann da nicht ein einziger Besitzer, der sich querstellt, den Prozess zu blockieren?
L. B.: Jedem Planungsprozess drohen Blockaden, beispielsweise durch Rekurse. Der Erfolg ist immer eine Frage von erfolgreicher Kommunikation. Der Einbezug aller Stakeholder scheint zunächst aufwendig, und natürlich muss man dann auch mit Leuten diskutieren, die zunächst partout nichts ändern wollen. Aber mich überzeugen die Erfolge, die wir damit erzielen.

TEC21: Design und Moderation von partizipativen Prozessen und eine gute Öffentlichkeitsarbeit brauchen Erfahrung. Wenn sie nicht vorhanden ist, braucht eine Gemeinde Unter­stützung: Entsteht hier ein neuer Beruf?
L. B.: Ja, tatsächlich, das kann ich mir vorstellen. Solche Projektbegleitungen sind zunehmend gefragt. Das muss kein Planer sein, es kann auch eine Kommunkationsspezialistin oder eine Fachperson mit Erfahrung in soziokultureller Entwicklung und Kenntnis der raumplanerischen Instrumentarien sein.

TEC21: Wäre es eine Aufgabe der Kantone, die Gemeinden hier zu unterstützen?
L. B.: Ja. Die Kantone würden nämlich entlastet, wenn alle Gemeinden in der Lage wären, selbstständig eine nachhaltige Siedlungsentwicklung zu planen. Einige Kantone unterstützen die Gemeinden bereits fachlich, etwa der Kanton Aargau, der dafür vor einigen Jahren ein Team eingerichtet hat. Finanzielle Hilfe vom Kanton für eine Prozessbegleitung können Gemeinden jedoch nicht erwarten. Es wäre aber grundsätzlich zu überlegen.

TEC21: Für die Gemeinden ist die Situation belastend – Sie sehen sie als Chance?
L. B.: Ja, die Entwicklung macht mir viel Freude! In der Kommunalplanung wird eine ganz neue Dimension erkennbar. Ich bin zuversichtlich, dass sich bald in vielen Gemeinden etwas bewegt. Es sind ja nicht nur Bund und Kantone und das RPG, die eine nachhaltige Entwicklung fordern. Es ist auch die Bevölkerung, die begriffen hat, dass wir das Siedlungsgebiet nicht mehr ausdehnen dürfen. Heute wehren sich auch die Bauern für das Kulturland. Und immer mehr Leute, alte und junge, in der Stadt oder im Dorf, möchten wieder in einem lebendigen Ortskern wohnen, nah beim Geschehen, bei den Dingen des täglichen Bedarfs und den öffentlichen Verkehrsmitteln. Es besteht also auch ein Wunsch nach Innen­entwicklung. So entstehen neue Koalitionen. Die Siedlungsqualität erhält einen ­grösseren Stellenwert. Was hier gerade geschieht, ist mehr als eine Trendwende beim Bodenverbrauch: ­Ich sehe, dass sich ein Paradigmenwechsel in der Siedlungsentwicklung abzeichnet.
Damit er wirklich stattfindet, muss die Aufbruchstimmung, die in einem Teil der Gemeinden schon herrscht, sich auf andere übertragen und möglichst lang anhalten.

TEC21: Steckt darin nicht ein gehöriger Schuss Wunschdenken?
L. B.: Zugegeben: Zu uns kommen nur Gemeinden, die etwas tun wollen. Das prägt meine Wahrnehmung. Die Kantonsplaner sind da sicher skeptischer, da sie sich auch mit allen anderen Gemeinden auseinandersetzen müssen. Natürlich ist der Paradigmenwechsel erst in einigen Pioniergemeinden deutlich sichtbar – die ja dann den Wakkerpreis erhalten. Viele Gemeinden lassen die Ortsentwicklung immer noch schlittern, andere sind erst am Anfang.

TEC21: Was sind Erfolgsfaktoren für die Innenentwicklung?
L. B.: Sich nicht zu viel vornehmen, behutsam vorgehen, gut informieren, die Bevölkerung einbeziehen. Wenn die Bevölkerung nur hört, dass etwas im Tun ist und dass es Geld ­kostet, aber nichts Genaues weiss und sich nicht äussern kann, dann ist die Gefahr des Scheiterns gross. Lang bevor gebaut wird, braucht es sichtbare Meilensteine gegen die ­Ungeduld: Veranstaltungen, eine Ausstellung, ein Fest, öffentliche Zwischennutzungen … Hilfreich sind auch gute Beispiele. Ganz wichtig ist eine Schlüsselperson, die sich des ­Prozesses annimmt, idealerweise eine Gemeinderätin oder der Bauverwalter, eventuell eine Bürgergruppe oder ein Investor mit Sinn für den Gemeinnutzen. Es braucht eine engagierte Projektleitung.
Die geeigneten Planungsinstrumente müssen gefunden und ein Netzwerk für fachliche, ­ideelle und finanzielle Unterstützung aufgebaut werden.
Wir empfehlen auch dringend eine aktive Bodenpolitik: Dass die Gemeinde in den Besitz von Land kommt, ist ein Schlüsselelement der Innenentwicklung. Es schafft vor allem ­Spielraum: Gute Projekte können dann mit einem Landabtausch ermöglicht werden. Die ­Gemeinde kann ihr Land danach wieder verkaufen, aber vorher dafür sorgen, dass darauf ein gutes Projekt entsteht, in das die Interessen der Dorfgemeinschaft einfliessen. Noch besser kann sie ein Projekt steuern, wenn sie das Land im Baurecht abgibt.

TEC21: Man sieht heute Bauten, die Postulate der Innenentwicklung erfüllen. Doch oft fehlt die architektonische Qualität. Was können Sie in dieser Hinsicht ausrichten?
L. B.: Um diesen Aspekt wird man sich künftig stärker kümmern müssen. Denn nur ein schönes Dorf ist ein nachhaltiges Dorf. Wir weisen die Gemeinden darauf hin, dass gute Architekur allen nützt, und empfehlen Architekturwettbewerbe. Einige Gemeinden erlassen Gestaltungsregeln für bestimmte Bauzonen oder verlangen von den Grundeigentümern vor Einzonungen Überbauungsstudien, die in der Gemeinde diskutiert werden. Der Kanton Luzern hat dazu eine Arbeitshilfe geschaffen. Der Kanton Graubünden bietet Bauherrschaften und Gemeinden Beratung in Gestaltungsfragen an.
Gemeinden wie Disentis oder Fläsch haben die Elemente der traditionellen Bauweise analysieren lassen und daraus ­Regeln für die ­bauliche Weiterentwicklung abgeleitet. Dort wissen Investoren, dass die Gemeinde sie unterstützt, dass aber über die Qualität der Gestaltung diskutiert wird. Da ab jetzt im Bestand gebaut wird, werden sich ästhetische Fragen häufiger und schärfer stellen.

TEC21, Fr., 2013.12.27



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TEC21 2014|01-02 Dörfer verdichten

18. Oktober 2013Ruedi Weidmann
TEC21

Genfs Richtplan 2030: Ende der Zonenplanung

Genfs Kantonsparlament hat den neuen kantonalen Richtplan genehmigt. Er ist von historischer Bedeutung, denn er verlässt das überholte Prinzip, die Stadt in Wohn-, Industrie- und Dienstleistungszonen aufzuteilen. ­Künftig soll der Raum im Kanton Genf entweder Stadt oder Land sein: entweder dicht bebaut und funktional gemischt oder unbebaut und naturnah. Die bestehende Bebauung wird radikal verdichtet. Die grosse Frage aber ist: Wer soll das alles bauen?

Genfs Kantonsparlament hat den neuen kantonalen Richtplan genehmigt. Er ist von historischer Bedeutung, denn er verlässt das überholte Prinzip, die Stadt in Wohn-, Industrie- und Dienstleistungszonen aufzuteilen. ­Künftig soll der Raum im Kanton Genf entweder Stadt oder Land sein: entweder dicht bebaut und funktional gemischt oder unbebaut und naturnah. Die bestehende Bebauung wird radikal verdichtet. Die grosse Frage aber ist: Wer soll das alles bauen?

Im Kanton Genf waren Verkehrs- und Stadtentwicklung und der Wohnungsbau in den letzten Jahrzehnten politisch weitgehend blockiert. Alle Projekte scheiterten an der Urne. Daraus resultierten Versäumnisse: Die 1.5-Millionen-Metropole hat bis heute keine S-Bahn, dafür einen katastrophal hohen Anteil der Autos am Gesamtverkehr, tägliche Staus, Luft- und Lärmwerte im Alarmbereich. Die Agglomeration ist rasch gewachsen, jedoch nur in Frankreich, da in Genf kaum Wohnungen gebaut wurden. Ein Grund dafür liegt in der kantonalen Politik, die stark auf soziale Gerechtigkeit ausgerichtet ist. Das ist aus Sicht einer nachhaltigen Entwicklung zwar positiv, doch bremsen etliche Gesetze Investitionen in den Wohnungsbau. Das Resultat: grosse Wohnungsnot in Genf, Abwanderung über die Grenze und noch mehr Pendlerverkehr (TEC21 36/2011).

Raumplanung über die Landesgrenzen

Nach einem langen Vernehmlassungsverfahren und etlichen Modifikationen hat nun aber das Kantonsparlament am 20. September den neuen kantonalen Richtplan 2030 angenommen. Er basiert auf den Hauptthemen Stadtentwicklung, Verkehr und Landschaftsraum. Neu und ausserordentlich an diesem Plan ist zunächst, dass er das Genfer Agglomerationsprogramm konkretisiert, das neben dem Kanton Genf auch den Waadtländer Bezirk Nyon und Teile der französischen Departemente Ain und Haute-Savoie umfasst. Somit beschreibt der Richtplan die künftige Entwicklung Genfs auf überkantonaler, ja internationaler Ebene.

50 000 Wohnungen in 17 Jahren

Im Bereich Stadtentwicklung sieht der Richtplan den Bau von 50 000 neuen Wohnungen bis 2030 vor. Zur Erinnerung: Das boomende Zürich realisierte im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts «10 000 Wohnungen in 10 Jahren». Bemerkenswert ist auch, wo und wie dieses Wachstum stattfinden soll: Das dichte, multifunktionale Stadtzentrum Genfs dient als Vorlage für die Stärkung von Subzentren und die Nachverdichtung bestehender Quartiere entlang von Achsen des öffentlichen Verkehrs. Ziel ist eine Stadt der kurzen Wege, in der man sich zu Fuss, mit dem Velo und in öffentlichen Verkehrsmitteln zwischen Wohnung, Arbeitsplatz, Einkaufsläden und Erholungsorten bewegen kann. Im Richtplan sind dafür zehn prioritäre Entwicklungszonen bestimmt worden, die «Grand Projets» (vgl. Kasten).

Stadt oder Land

Ziel ist auch eine Stadt, die bis an ihre Ränder so dicht und lebendig bleibt wie in ihrem Zentrum, aber von naturnahen und landwirtschaftlichen Grünzügen umgeben und durchdrungen ist. Denn zwischen den dichten Stadtteilen liegt ein Netz von öffentlichen Grünräumen, die bis in die Kernstadt führen. Der ländliche Raum wird nicht mehr als Reserve für die Siedlungsentwicklung betrachtet, sondern als Raum für die stadtnahe Lebensmittelproduktion und für Projekte zur Vernetzung der natürlichen Lebensräume (vgl. S. 32). öffentlicher nahVerkehr Im Bereich Verkehr sieht der Richtplan endlich ein ausreichendes Regionalverkehrsnetz vor. Kernstück ist die S-Bahnlinie CEVA, die seit 2011 im Bau ist (Tec21 36/2011). Rund um ihre von Jean Nouvel entworfenen Stationen soll die Bebauung nachverdichtet werden. Der Richtplan stärkt auch die Renaissance des Genfer Trams, das vor 60 Jahren fast ganz abgeschafft wurde. Das heute wieder existierende Netz soll mit Linien nach Bernex und über die Landesgrenzen nach St. Julien, Ferney-Voltaire und Annemasse ergänzt werden.

Anfang vom Ende der Zonenplanung

Die Verdichtung geschieht zum einen auf einigen neu eingezonten Flächen, vor allem aber in bestehenden Industrie- und Einfamilienhausgebieten, von denen viele für mehr Ausnützung und gemischte Nutzung geöffnet werden. Ein Beispiel ist das auch im internationalen Vergleich herausragende Projekt zur Umwandlung des Industriegebiets Praille-Acacias-Vernets (PAV) in ein Zentrumsgebiet (Tec21 36/2011). Auch wenn der Zonenplan erhalten bleibt, läutet der neue Genfer Richtplan damit das Ende der klassischen Zonenplanung ein. Er überwindet das überholte Konzept der Aufteilung in Wohn-, Industrie- und Dienstleistungszonen. Die nachhaltige Stadt bietet alles im Quartier und produziert keinen Zwangspendelverkehr. Das ist ein historischer Schritt hin zu nachhaltigen Siedlungsmustern.

Wenig politischer Widerstand

Auf dieser planerischen und konzeptionellen Ebene überholt der Kanton Genf alles, was bisher in der Deutschschweiz in Sachen nachhaltiger Raumplanung gelaufen ist, um Längen. Der politische Widerstand war diesmal, zum Erstaunen aller Beteiligten, nicht unüberwindbar. Gegen das Aufzonen der Einfamilienhausgebiete gab es einigen Protest, doch scheinen das Genfer Stimmvolk und die wichtigsten Parteien und Verbände eingesehen zu haben, dass es einfach nicht weitergehen konnte wie bisher. Auch der Gewerkschaftsbund und der ebenso mächtige Mieterverband unterstützen den Aufbruch, nachdem sie teilweise höhere Anteile für den gemeinnützigen Wohnungsbau aushandeln konnten.

Und wer BAUT das alles?

Das grösste Hindernis liegt für einmal nicht in der Politik, sondern in der Macht der Gewohnheit. Die Frage ist nämlich, wer das alles bauen soll. Private und institutionelle Anleger werden in Genf durch Gesetze gebremst, die für soziale Gerechtigkeit im Wohnungsmarkt sorgen sollen, diesen jedoch kompliziert und unlukrativ gemacht haben. Non-Profit-Investoren wie Genossenschaften, Stiftungen oder die Gemeinden sind in den vergangenen Jahren auch nicht durch Initiative aufgefallen. Hier gäbe es Anregungen ennet dem Röstigraben – der für junge Genferinnen und Genfer übrigens kaum mehr von Bedeutung ist. Die jahrzehntelange Blockade in der Stadtentwicklung hat eine Planermentalität gefördert, die alles berücksichtigen will und sich nicht traut, Fehler zu machen. Deshalb wurden in Genf in den letzten Jahren in umfassenden Überlegungen und beeindruckenden Diskussionen zahllose kluge Studien, überzeugende Konzepte, wunderbare Pläne und schöne Publikationen erarbeitet – jedoch kaum Bauten realisiert, an denen die Ideen endlich sichtbar würden und überprüft werden könnten. Das Savoir-faire, der Mut zum Versuch scheint verloren gegangen zu sein. Beschleicht einen in der Deutschschweiz in neuen Quartieren nicht selten das Gefühl, etwas mehr konzeptionelle Überlegungen wären der Nachhaltigkeit und der Lebensqualität zuträglich gewesen, so packt einen in Genfs epischer Debatte pure Ungeduld: Baut doch endlich! Dann kann man die ersten Bauten evaluieren und die Konzepte und Verfahren aufgrund erster konkreter Erfahrungen justieren (vgl. S. 24). Nur in realen Projekten können Architekturschaffende adäquate Formen für die neuen Ansprüche finden – etwa im Wohnungbau, wo die Genfer Büros mangels Gelegenheit offensichtlich aus der Übung gekommen sind (vgl. S. 28).

TEC21, Fr., 2013.10.18



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TEC21 2013|43 Genf plant die Zukunft

30. August 2013Ruedi Weidmann
Andreas Hofer
TEC21

Grandhotel – Dichte und Lebensqualität

Viele Qualitäten, die heute Ziel von nachhaltigen Überbauungen sein müssen, finden sich im Grandhotel: Es ist kompakt, dicht, vereint Wohnen und Arbeiten, ist sozial durchmischt und darauf getrimmt, mit seinen ­Räumen und Dienstleistungen hohe Lebensqualität zu schaffen. Kann das Grandhotel der Siedlungsplanung als Inspirationsquelle dienen? Die Artikel in diesem Heft gehen dieser Frage am Beispiel des Hotels Waldhaus Sils nach. Die vielleicht wichtigste Antwort: Nicht immer führt Sparsamkeit zu mehr Nachhaltigkeit, denn die Schönheit von gemeinsam genutzten Räumen ist vermutlich Voraussetzung für eine nachhaltige Lebensweise.

Viele Qualitäten, die heute Ziel von nachhaltigen Überbauungen sein müssen, finden sich im Grandhotel: Es ist kompakt, dicht, vereint Wohnen und Arbeiten, ist sozial durchmischt und darauf getrimmt, mit seinen ­Räumen und Dienstleistungen hohe Lebensqualität zu schaffen. Kann das Grandhotel der Siedlungsplanung als Inspirationsquelle dienen? Die Artikel in diesem Heft gehen dieser Frage am Beispiel des Hotels Waldhaus Sils nach. Die vielleicht wichtigste Antwort: Nicht immer führt Sparsamkeit zu mehr Nachhaltigkeit, denn die Schönheit von gemeinsam genutzten Räumen ist vermutlich Voraussetzung für eine nachhaltige Lebensweise.

Viele Qualitäten, die heute Ziel von nachhaltigen Überbauungen sein müssen, finden sich im Grandhotel: Es ist kompakt, dicht, vereint Wohnen und Arbeiten, ist sozial durchmischt und darauf getrimmt, mit seinen ­Räumen und Dienstleistungen hohe Lebensqualität zu schaffen. Kann das Grandhotel der Siedlungsplanung als Inspirationsquelle dienen? Die Artikel in diesem Heft gehen dieser Frage am Beispiel des Hotels Waldhaus Sils nach. Die vielleicht wichtigste Antwort: Nicht immer führt Sparsamkeit zu mehr Nachhaltigkeit, denn die Schönheit von gemeinsam genutzten Räumen ist vermutlich Voraussetzung für eine nachhaltige Lebensweise.

Die Schweiz wächst, und dieses Wachstum findet heute auch wieder in den Städten statt. Es entstehen Grosssiedlungen, eigentliche Stadterweiterungen, die in ihrer Dimension mit den Projekten der 1960er- und 1970er-Jahre vergleichbar sind. Waren diese Höhe- und Endpunkt der funktionalistischen Konzepte aus den 1920er-Jahren, so ist man sich heute einig in der Kritik am monofunktionalen Siedlungsbau, an den im Abstandsgrün stehenden, infrastrukturell unterversorgten Wohnblocks, die oft schlecht an die öffentlichen Verkehrsnetze angebunden sind. Heute geht es um Verdichtung, urbane Qualitäten und Vielfalt.

Was ist eine nachhaltige Siedlung?

An guten Lagen versuchen Investoren Zentralität neu zu schaffen, indem sie Stadtteile mit einer eigenen Nachfrage und hoher Attraktivität für die weitere Nachbarschaft entwickeln. Diese urbanen Implantate bedienen sich häufig bei Bildern aus dem 19. Jahrhundert, und ihre Vermarktung spielt mit Assoziationen der dichten europäischen Stadt. Beispiele sind die an S-Bahnstationen im Grossraum Zürich liegenden Quartiere im Limmatfeld in Dietikon, das im Rahmen eines Gestaltungsplans von Hans Kollhoff mit dem Slogan «Unsere kleine Stadt» wirbt, und das Richti-Areal in Wallisellen, dem Vittorio Magnago Lampugnani ein gründerzeitliches Gepräge mit Blockrandbebauung, Innenhöfen, Plätzen und Arkaden verliehen hat. Als Vorbilder für eine weitere nachhaltige Entwicklung sind diese Grossüberbauungen aber nicht geeignet. Denn eine Massstabsebene kleiner und an weniger prominenten Standorten fehlen dieser Strategie Masse und Überzeugungskraft. Die Einkaufs- und Freizeitlandschaften an den Autobahnkreuzen saugen die Kaufkraft aus Quartieren und Ortschaften, und die Produktion ist – bestenfalls – in Gewerbegebiete ausgelagert. Für eine urbane Vielfalt in den neuen Bebauungen fehlen deshalb die Nutzungen; es entstehen Siedlungen mit Wohnungen bis ins Erdgeschoss, deren private Vorzonen an Freiräume grenzen, die keine wirklichen Plätze sind. Der Versuch, mit guter Architektur und hochwertiger Materialisierung Identität zu schaffen, bleibt an der Oberfläche. Die mittlerweile hohen Dichten in diesen behaupteten «Zentrumsgebieten» und «Stadtentwicklungsschwerpunkten» führen nicht zu urbaner Lebendigkeit, sondern einzig zu Beengtheit.

Anreicherung durch soziale Funktionen

Wenn die Siedlung als Ort für nachhaltige Lebensstile mit hoher Lebensqualität tauglich werden soll, muss sie neu erfunden und angereichert werden. Material dafür bieten der demografische Wandel und die komplexeren Lebensentwürfe. Kollektive Organisation der Kinderbetreuung, neue Formen von Heim- und Teilzeitarbeit, Unterstützung bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit, Wellness, Sport und Erholung, Geselligkeit und Mitbestimmung, Mitarbeit bei der lokalen Nahrungsproduktion und -versorgung: All diese Bedürfnisse brauchen Räume und können Erdgeschosse zu verschiedenen Tageszeiten beleben. Die damit verbundene Kultur der Nähe und gegenseitigen Hilfe kann die Gemeinschaft gegenüber einer immer prekäreren Lohn- und Geldwirtschaft robuster machen. Vielleicht gelänge mit dieser Relokalisierung sozialer Funktionen im Wohnkontext auch eine Trendwende bei der Mobilität.

Keine historischen Vorbilder

Für diese neuen planerischen Aufgaben taugen als Referenz weder Rückgriffe auf dörfliche Strukturen noch der Fundus der Wohnutopien frühsozialistischer Gemeinschaften. So eindrücklich etwa die soeben als nationales Monument renovierte Familistère in Guise[1] einen verantwortungsvollen Kapitalismus als Alternative im 19. Jahrhundert dokumentiert – solche historischen Beispiele leiten das Wohnen von ökonomischen Zwangsgemeinschaften ab. Ihnen fehlt die luftige Freiwilligkeit einer reichen, postindustriellen Gesellschaft. Eine Reihe von genossenschaftlichen Projekten im Grossraum Zürich erprobt zurzeit das Potenzial dieser sozialen Funktionen für den Siedlungsbau. Diese Pionierprojekte sind äusserst ambitioniert und stellen sich breit den gesellschaftlichen Herausforderungen, sie können aber leicht als Einzelfälle und «gated communities» für Gutmenschen kritisiert werden. Deshalb haben wir in der Baugeschichte nach Beispielen für die Kraft von dichten, integrierten, hybriden Gebäuden gesucht. Fündig geworden sind wir bei bei der Luxushotellerie, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts in den Schweizer Alpen entwickelte.

Das Grandhotel als Inspiration

Gerade in ihrer Künstlichkeit, ihrem Exotismus sind die Grandhotels umfassende Organismen. Hier leistete sich zum ersten Mal eine erfolgreiche bürgerliche Gesellschaft einen voll ausgestatteten Raum jenseits der alltäglichen Arbeits- und Familienzwänge und ausserhalb der Stadt. Das Grandhotel ist kompakt gebaut, dicht belegt, vereint Wohnen und Arbeiten unter einem Dach, ist sozial durchmischt (Gäste und Angestellte) und darauf getrimmt, durch hoch verdichtete Dienstleistungen Lebensqualität zu produzieren – Charaktereigenschaften, die in ihrer Kombination in dichten, nachhaltigen Siedlungen und Quartieren hochwillkommen sind (TEC21 9/2013, S. 18). Viele der in diesem Kontext entwickelten Qualitäten, Infrastrukturen und Dienstleistungen, nicht zuletzt das damit verbundene Wissen über die «Herstellung» von Lebensqualität, scheinen uns aufschlussreich und anregend für die aktuelle Debatte um Stadt- und Raumentwicklung, Nachhaltigkeit und Suffizienz. Wohl wissend, dass das ökonomische Modell eines Hotels nicht dem einer Wohnsiedlung entspricht, wollten wir herausfinden, ob und in welcher Hinsicht das Grandhotel als Inspirationsquelle für die Siedlungsplanung dienen kann. Deshalb haben wir die Leitung des Hotels Waldhaus in Sils angefragt, ob sie bereit wäre, mit uns zusammen ihr Haus daraufhin zu durchleuchten und diese Frage zu erörtern. Das Resultat dieser Recherche umfasst auf den folgenden Seiten eine Beschreibung der Räume und der Dienstleistungen dieses Fünfsternehauses im Oberengadin und das Protokoll eines Rundgangs und eines langen Gesprächs mit dem Hoteldirektor.


Anmerkung:
[01] www.familistere.com

TEC21, Fr., 2013.08.30



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2013|36 Inspiration Grandhotel

30. August 2013Ruedi Weidmann
TEC21

Hotel Waldhaus Sils: Räume, Service und Stil

Im Gegensatz zu vielen anderen Grandhotels wurde das Waldhaus Sils nie durch grobe Umbauten verändert. Noch immer führt die Gründerfamilie das 1908 eröffnete Haus. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht das Prinzip der Pflege – von Gästen und Personal, von Architektur und Mobiliar, von Dienstleistungen und Räumen, von Tradition und sanfter Erneuerung.

Im Gegensatz zu vielen anderen Grandhotels wurde das Waldhaus Sils nie durch grobe Umbauten verändert. Noch immer führt die Gründerfamilie das 1908 eröffnete Haus. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht das Prinzip der Pflege – von Gästen und Personal, von Architektur und Mobiliar, von Dienstleistungen und Räumen, von Tradition und sanfter Erneuerung.

Josef und Amalie Giger-Nigg hatten in Bad Ragaz, St. Moritz und im Ausland erfolgreich grosse Hotels geleitet, als sie sich entschlossen, ein eigenes Haus zu eröffnen. Der Aufschwung des Oberengadins zur Feriendestination für die Reichen Europas war seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Gang und beschleunigte sich mit der Erschliessung durch Strasse und Bahn. Das Paar wählte den Ort sorgfältig: Sein Waldhaus steht über dem Dorf Sils-Maria auf einem Felssporn, der am Ausgang des Fextals in die Ebene zwischen Silser- und Silvaplanersee vorstösst und Aussicht nach allen Richtungen bietet.

Ein Stück Stadt im Bergwald

Der mächtige Bau entstand 1906–1908 nach Plänen des jungen, aber bereits erfolgreichen Architekten Karl Koller. Das kompakte Volumen wächst mit mehreren Untergeschossen aus dem steilen Fels. Auf dem Eingangsniveau, Saaletage genannt, reihen sich die Empfangs- und Gasträume in schönen Enfiladen aneinander; mehrere Sichtachsen eröffnen Blicke quer durch die Säle in die baumbestandene Landschaft hinaus und lassen Sonnenlicht bis tief in die Räume dringen. Ein grosses Treppenhaus steigt aus der Eingangshalle in die vier Obergeschosse, auf denen an breiten Gängen 140 Zimmer liegen. Die Implantation eines mondänen Wohnkomplexes in ein alpines Bergdorf samt allen Annehmlichkeiten, die sonst nur die Stadt bot, verlangte eine umfangreiche Infrastruktur: Ein kleines Kraftwerk mit Dieselmotoren erzeugte eigenen Strom, eine Grossküche mit diversen Lagerräumen versorgte die Gäste, ebenso Bäckerei und Wäscherei. Dazu gab es eine Kapelle, ein Hausorchester, einen Coiffeursalon, eine Floristin usw. Die vielen Angestellten wohnten unter dem Dach und in den Halbgeschossen unter und über der Saaletage.

Den Gästen standen zahlreiche Gemeinschaftsräume zur Verfügung, allen voran die grosse Hotelhalle, dazu zwei Speisesäle, ein Restaurant, eine Bar, eine Bibliothek und weitere Aufenthaltsräume, eine Gartenterrasse im Wald und ein eigenes Schiff samt Kapitän, mit dem die Gäste Ausflüge auf dem Silsersee unternehmen konnten. In der Hochsaison lebten in diesem Stück Stadt mitten im Bergwald über 400 Gäste und Angestellte – damals doppelt so viele Menschen wie in Sils-Maria und im nahen Sils-Baselgia zusammen.

Das Hotel erlebte nach seiner Eröffnung einige erfolgreiche Jahre, durchlitt dann mit dem Zusammenbruch des Tourismus im Ersten Weltkrieg seine erste schwere Krise und folgte in den folgenden Jahrzehnten dem Auf und Ab des Luxustourismus im Engadin und den wirtschaftlichen Konjunkturen und sozialen Moden des 20. Jahrhunderts. Es blieb immer in Familienbesitz. Seit 2010 wird es von Claudio und Patrick Dietrich in fünfter und ihrem Onkel Urs Kienberger in vierter Generation geführt. In der Hochsaison hat es 290 Gäste, etwa 70 davon sind Kinder, und über 150 Angestellte.

Die starke Bindung an die Betreiber- und Besitzerfamilie prägt Charakter, Ökonomie und Entwicklungsstrategie. Das Waldhaus versteht sich als temporäre Heimat, Gasthaus und dauerhaftes Projekt. Überschüsse in guten Jahren werden in die Werterhaltung, die Anpassung an neue Bedürfnisse und die zurückhaltende Erweiterung der Infrastruktur investiert.

Tradition, Erneuerung und räumliche Vielfalt

In den letzten Jahren hat das Architekturbüro Miller & Maranta den Eingang und einen Teil der Aufenthaltsräume neu organisiert und gestaltet (TEC21 13/2009, S. 22). Dabei wurden dem Dolomit unter dem Haus drei Konferenzzimmer abgerungen. Das Haus ist äusserst kompakt gebaut und soll auch kompakt bleiben. Beim jüngsten Eingriff 2012 schufen die Architekten durch Demontage, Drehung um 90 Grad und Wiedereinbau des kleinen À-la-carte-Restaurants Platz für ein ovales Fumoir mit Cheminée. Grosser Respekt vor dem Bestand und viel Gespür für ein Weiterbauen im Geist des Hauses leitet diese Umbauten. 2005 wurde es als historisches Hotel des Jahres ausgezeichnet.

Der Architekt Armando Ruinelli aus Soglio erneuert fast jährlich einige Zimmer. Der hohe Installationsgrad eines Hotels führt zu einer «vertikalen Baustrategie»: Über alle Geschosse hinweg werden jeweils einige nebeneinander liegende Zimmer erneuert. Somit wechseln sich die Epochen horizontal ab; neu gestaltete Zimmer liegen neben solchen aus den 1920er-Jahren mit historischem Mobiliar. Alle haben mittlerweile ein eigenes Bad. Dafür mussten einige kleine Zimmer zusammengelegt werden. Dank Ausbauten im Dach und der Auslagerung von Personalzimmern in Neubauten mit 29 Wohnungen blieb aber das Raumangebot für Gäste und Personal erhalten. Im Hotelgebäude sind 48 Personalzimmer verblieben. Die Betreiber wirtschaften mit unterschiedlichsten Raumgrössen, Bettformaten und Ausstattungen und nehmen es auf sich, dem Gast, der «das gleiche Zimmer wie letztes Jahr» wünscht, Varianten zu erklären, falls sein Lieblingszimmer schon belegt ist. Der Anspruch, jeden Gast persönlich zu begrüssen und zu betreuen, begrenzt die Grösse des Betriebs auf sein heutiges Mass. Die Besitzerfamilie empfindet den behutsamen Umgang mit dem denkmalgeschützten Bestand nicht als lästige Pflicht, sondern als permanente Pflege und Ergänzung einer reichen Geschichte, durch die der Charakter des Hotels erhalten bleibt.

Wohnen und Arbeiten

Diese respektvolle, aber nie erstarrte Haltung zeigt sich auch in der Gestaltung des Hotelalltags. Der Stil des Hauses ist traditionsbewusst, nicht nur was die bauliche Substanz, sondern auch was die angebotenen Dienstleistungen betrifft. Das feine, öffentlich zugängliche Kulturprogramm mit Schwerpunkten in Musik, Literatur und Theater ist das Markenzeichen des Waldhauses und zieht ein internationales kulturinteressiertes Publikum an.

Ein grosser Teil davon sind Stammgäste. Unter ihnen wie unter den Angestellten gibt es etliche, die schon in zweiter und dritter Generation hier Ferien machen oder arbeiten.

Die Stimmung im Haus ist entspannt, der Umgang unter den Gästen und mit dem Personal ausgesprochen herzlich. Man kommt ungezwungen ins Gespräch, es ist ein Ort, wo man Bekanntschaften macht.

Das Waldhaus Sils bietet die üblichen Dienstleistungen eines Fünfsternehotels: eine gepflegte Küche mit grossem Weinkeller, warmes Essen und Zimmerservice rund um die Uhr, tagsüber Bedienung in allen Gasträumen, Limousinenservice zum Bahnhof St. Moritz und zum Flugplatz Samedan usw. Die ursprünglichen Gemeinschaftsräume existieren im Waldhaus alle noch, während sie in Grandhotels, die heute im Besitz von Investitionsgesellschaften sind, Labelshops Platz gemacht haben. Vergleichsweise bescheiden ist das Wellnessangebot. Das von Otto Glaus und Robert Obrist 1970 in den felsigen Lärchenwald eingepasste Hallenbad hat heute bereits Denkmalwert und wird auch in diesem Sinne gepflegt. Dafür spielt im Waldhaus nach wie vor täglich das Hausorchester – nachmittags klassisch in der Halle oder im Garten, abends Jazz in der Bar.

TEC21, Fr., 2013.08.30



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TEC21 2013|36 Inspiration Grandhotel

22. Februar 2013Ruedi Weidmann
TEC21

Vierfach verdichten

Um die Landschaft zu schonen, Energie zu sparen und die Mobilität zu begren zen, müssen unsere Siedlungen dichter werden. Das löst Widerstand, dabei kann Verdichten die Lebensqualität steigern. Die Frage ist nur: wie? Als Auftakt zur TEC21Heftserie «Dichte» versammelt dieser Beitrag Erkenntnisse aus verschiedenen Disziplinen. Er liefert keine Rezepte, sondern will bisher vernachlässigte Aspekte des Verdichtens in die Dis kussion einbringen. Dazu stellt er eine These auf: Verdichten ist nur nachhaltig und mehrheitsfähig, wenn es vierfach geschieht – baulich, funktional, sozial und historisch.

Um die Landschaft zu schonen, Energie zu sparen und die Mobilität zu begren zen, müssen unsere Siedlungen dichter werden. Das löst Widerstand, dabei kann Verdichten die Lebensqualität steigern. Die Frage ist nur: wie? Als Auftakt zur TEC21Heftserie «Dichte» versammelt dieser Beitrag Erkenntnisse aus verschiedenen Disziplinen. Er liefert keine Rezepte, sondern will bisher vernachlässigte Aspekte des Verdichtens in die Dis kussion einbringen. Dazu stellt er eine These auf: Verdichten ist nur nachhaltig und mehrheitsfähig, wenn es vierfach geschieht – baulich, funktional, sozial und historisch.

Dass wir dichter bauen müssen, ist in Planerkreisen heute unbestritten. Auch die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger haben gezeigt, dass sie gewillt sind, die Zersiedelung zu stoppen. Doch niemand ist derzeit in der Lage, aus den vielen Aspekten einer nachhaltigen Siedlungsentwicklung die Vision eines dichten, nachhaltigen Quartiers zusammenzufügen, eine Vision, die bauliche, ökologische, technische und soziale Themen verbindet und wirtschaftliche Überlegungen und politische Schwierigkeiten berücksichtigt. Wie werden solche Quartiere aussehen? Wie wird man dort leben? Was ist ein 2000-W-1t-CO2-pro-Kopf-und-Jahr-Lebensstil?

Mehr bauliche Dichte hätte viele Vorteile: Sie würde helfen, die Zersiedelung zu bremsen, Energie zu sparen, Verkehr zu reduzieren, Infrastruktur und öffentliche Verkehrsmittel besser auszulasten und noch mehr.[1] Doch ein Bonmot in Planer und Politikerkreisen besagt, alle Verdichtungsprojekte hätten einen Feind: den Nachbarn – und den fürchten alle. In Diskus sionen unter Befürwortern baulicher Dichte herrscht Ratlosigkeit, wie dem befürchteten Wider stand begegnet werden könnte. Und zuweilen scheint auch auf, wie tief die städtebaulichen Dogmen der Moderne, das Auflockern der Besiedlung und das Trennen der Funktionen, in Fleisch und Blut übergegangen sind. So verkünden heute alle fast unsono: «Verdichten ohne Verlust an Lebensqualität.» Warum nicht: «Mehr Lebensqualität dank Verdichten»? Wieso sollen wir die Energie und Umweltkrise nicht dazu nutzen, besser weiterzuleben als bisher? Und so ist es bis jetzt – nebst gesetzlichen Einschränkungen, veralteten Denk weisen und offenen Fragen – vor allem fehlender Mut, der Projekte verhindert, die wirklich dicht genug wären, um wirkungsvoll im Sinn der Nachhaltigkeit zu sein.

Die Bauwirtschaft hingegen weiss, wie sie die Gunst der Stunde nutzen will: «Zur nachhaltigen Umgestaltung des Gebäudeparks Schweiz ist der vermehrte Abbruch und Neubau von Immobilien erforderlich», behauptet der Verein Greenbuilding. Das steht im Widerspruch zu einem nachhaltigen Umgang mit Ressourcen, grauer Energie und kulturellem Erbe. Trotzdem gibt es im Namen der Energiewende vorläufig viel politischen Support für diese grobe Ersatzstrategie.[2] Eine nachhaltige Siedlungsentwicklung verlangt jedoch nach differenzierteren Konzepten.

Um nachhaltige Lebensstile zu entwickeln, werden wir viele Dinge und Tätigkeiten wieder mischen müssen, die im 20. Jahrhundert voneinander getrennt wurden. Man versprach sich davon bessere Lebensbedingungen und Rationalisierungen. Doch heute merken wir, die Art und Weise, wie wir unser Leben organisiert haben, hat viele Irrationalitäten und ­ungewollte negative Folgen für die Gesellschaft und die Umwelt hervorgebracht: Verkehr produziert, Energie, Ressourcen und Landschaft verbraucht, die Artenvielfalt dezimiert und immense Infrastruktur, Sozial und Gesundheitskosten generiert. Wir brauchen wieder Siedlungsmuster mit kurzen Wegen: Was wir im Alltag benötigen, muss zu Fuss erreichbar sein.

Bisher realisierte Beispiele für verdichtetes Bauen, oft Neuüberbauungen von Industrie­ brachen oder Ersatzneubauten von Genossenschaftssiedlungen oder von Villen, bringen zwar energieeffizientere Gebäude und mehr Wohn oder Arbeitsraum, reproduzieren jedoch meist die (zonenkonforme) monofunktionale Nutzung und damit für weitere Jahrzehnte die irrationale Stadtstruktur des 20. Jahrhunderts. Zu kürzeren Wegen tragen sie nichts bei.

Vierfach verdichten

In einem Schweizer Durchschnittsquartier oder dorf mit den Qualitäten, die es heute hat, die Zahl der Wohnungen, der Menschen und der Autos zu verdoppeln – das reizt die ­Bewohner selbstverständlich nicht. Was hätten sie davon? Deshalb müssen Ortschaften und Quartiere nach dem Verdichten mehr Lebensqualität bieten als heute. Wer verdichten will, muss von dem erzählen, was dank höherer Dichte möglich wird: Sie bringt mehr Menschen und damit mehr Nachfrage ins Quartier und ermöglicht dadurch mehr Versorgungs, Kultur und Freizeitangebote. Dieser einfache ökonomische Zusammenhang zwischen Dichte und Nutzungsvielfalt lässt sich auf einem Spaziergang durch die nächstgelegene Stadt überprüfen. Dörfer und Quartiere, in denen es dank mehr Einwohnern wieder eine Post, Läden und Cafés gibt – das wäre ein Gewinn. Grössere Nutzungsvielfalt hebt die Lebensqualität. Auch weil sie den Verkehr reduziert, indem sie die Wege verkürzt. Verdichten heisst also, nicht nur über Gebäudehöhen und formen nachzudenken, sondern öffentlich über Nutzungen zu diskutieren: über ihre Art und ihre Mischung, ihre Anteile und ihre Verteilung. Sinnvollerweise auf Dorf und Quartierebene, aber auch bei jedem Bauprojekt.

Doch es braucht noch mehr. Es kann ja nicht sein, dass wir das Leben nur noch aushalten, wenn wir pro Person 50 m² Wohnfläche belegen und jedes Wochenende in die Berge fahren. Warum sollen die verdichteten Quartiere nicht so schön werden wie unsere Ferienziele?

Hier tut eine Trendumkehr Not: Die Wohnung sollte nicht mehr als dauernd wachsendes ­privates Reich die strukturellen, ästhetischen und emotionalen Defizite unserer Siedlungen kompensieren müssen. Würden unsere Häuser, Quartiere, Dörfer und Städte ein reiches Angebot an angenehmen Räumen für Arbeit und Freizeit, Einkauf und Erholung bieten und unsere Strassen und Plätze eine hohe Aufenthaltsqualität, dürfte die Wohnung als privater Rückzugsort wieder kleiner werden. Das wäre ein substanzieller Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung.

Folgende These soll das Spektrum der Faktoren erweitern, die in der Diskussion um das Verdichten eine Rolle spielen sollten: Verdichten (in einem Mass, wie es nötig ist, um eine nachhaltige Siedlungsstruktur zu erreichen) ist politisch nur möglich, wenn es gleichzeitig vierfach geschieht – baulich, funktional, sozial und historisch.

1. Baulich verdichten

Bauliches Verdichten allein bringt nichts ausser Widerstand der Nachbarn und eine Perpetuierung oder gar Akzentuierung der strukturellen Probleme unserer heutigen Ortschaften. Nachhaltige Häuser müssen nicht nur Platz und Energie sparen, sondern einen gesamthaft nachhaltigen Lebens, Wohn und Arbeitsstil ermöglichen. Das würde bedeuten, dass Arbeiten und Wohnen, Einkaufen und Erholen wieder zusammenrücken (damit Verkehr vermieden wird), die Generationen wieder Nachbarn werden (damit die Pflegekosten nicht weiter steigen) und die verschiedenen Bevölkerungssegmente wieder näher beisammen leben (damit sie sich nicht weiter voneinander entfremden). Das Trennen ist vorbei. Die Ortsplanung mittels Zonen mit verschiedenen Funktionen ist nicht mehr zeitgemäss. In dieser Hinsicht dürfte es sich lohnen, nach Genf zu schauen, das bis 2030 um 100.000 Einwohner und 50.000 Arbeitsplätze wachsen will und 50.000 neue Wohnungen plant. Der kantonale «Richtplan 2030», den die Kantonsregierung dieser Tage dem Parlament vorlegt, sieht dazu 12 Grossprojekte und 16 strategische Entwicklungsprojekte vor. Sie liegen in locker überbauten Gebieten oder neu eingezontem Land, jedoch alle an neuen ÖVLinien. Die Nutzung ist gemischt und die Dichte hoch (Ausnützungsziffern bis 3, teilweise höher). Der Wohnanteil schwankt um 80%, wobei 25% der Wohnungen gemeinnützig und weitere 25% subventioniert sein müssen. Im Prinzip wird so die Qualität der dichten, funktional und sozial vielfältigen Genfer Innenstadt kopiert. Der Richtplan fördert aber das Verdichten und die funktionale und soziale Durchmischung auch in den bestehenden Stadt und Vorstadtquartieren; dort werden Ausnutzungsziffern von 1.5 bis 3 in zentralen, gut vom ÖV erschlossenen Gebieten und 1 bis 1.5 in allen übrigen stadtnahen Quartieren angestrebt.3 Gleichzeitig erhalten der Schutz von Kulturland und Naturräumen und der Denkmalschutz mehr Gewicht. Damit ist der neue Genfer Richtplan ein historischer Schritt zur Überwindung der Ortsplanung mittels monofunktionaler Zonen.[4] Für die Häuser heisst das: Dem Hybrid gehört die Zukunft – unten Läden und Restaurants, Veranstaltungsorte und Märkte, darüber Schulen, Amtstellen und Büros, oben und hinten hinaus Wohnungen, auf den Dächern Gärten und Solaranlagen. Damit all diese Funktionen überleben können, braucht es Ausnützungsziffern von 2.5 bis 4. Die dichteste in Zürich geplante Siedlung mit gemischter Nutzung, ein Neubau der Genossenschaft Kalkbreite, hat eine Ausnützungsziffer von 2.8, andere Siedlungsprojekte liegen zwischen 1.1 und 2.6.[5] An der Europaallee, dem neuen Stadtteil am Hauptbahnhof, erlaubt der Gestaltungsplan eine Ausnützung von etwa 4.1, doch ist der Wohnanteil dort minimal.[6]

Wie müssen Häuser und der Raum dazwischen gestaltet sein, damit wir solche Dichten nicht nur aushalten, sondern angenehm finden? Damit wir uns in der Dichte erholen können, ohne sie verlassen zu müssen? Wo kommt welche Nutzung hin? Wie gestalten wir die überquellende Markthalle, den stillen Dachgarten, die ruhige Wohnung? Was ist ein angemessener architektonischer Ausdruck für den Hybrid? Die Frage der Gestaltung betrifft auch die Aussenräume, denn die Aufenthaltsqualität auf Strassen, Höfen und Plätzen, in privaten und öffentlichen Grünräumen wird umso wichtiger, je dichter das Siedlungsmuster ist.

2. Funktional verdichten

Funktional verdichten meint: die Vielfalt der Funktionen im Haus, in der Strasse, im Quartier fördern und innovativ kombinieren. Als Resultat winken grössere kulturelle und soziale Abwechslung, mehr Dienstleistungen, kurze Wege, weniger Verkehr, mehr Lebensqualität. Doch nicht in jedem Haus trägt sich ein kommerzielles Erdgeschoss. Gefragt wäre hier mehr mikroökonomisches Wissen über den Zusammenhang von Stadtgestalt und Überlebensbedingungen für Kleinbetriebe.

Vor allem aber liegt in der innovativen (Re)Kombination von Funktionen, die im 20. Jahrhundert getrennt wurden, eine neue Art von Effizienz brach. Das zeigen erste, noch vorsichtige Versuche, etwa in der Zürcher Genossenschaft Dreieck[5]: Möglichkeiten sind das Verbinden zweier Branchen in Läden wie «Buch & Wein», ServicePublicAngebote durch Gewerbe betreiber oder fallspezifische Kombinationen eines kommerziellen Geschäfts mit einer gemeinnützigen Dienstleistung. So lässt sich beispielsweise die Poststelle in einer Gemeinde halten, wenn sie in die Apotheke integriert wird, oder ein Café kann überleben, wenn der Wirt auch für das Altersheim kochen und so mangelnden Umsatz mit dem Lohn von der Gemeinde wettmachen kann.

Wir können auch Berufe wieder einführen, die wir einst einer vermeintlich fortschrittlichen Technik geopfert haben. Ein Portier beispielsweise bietet einer Siedlung mehr als eine ­Gegensprechanlage, nämlich vielfältige Dienstleistungen von der Türkontrolle über das Postverteilen, Blumengiessen und Reparaturen bis zum Kinderhüten. Und vielleicht teilt sich eine Gruppe von Pensionierten den Portierjob und entwickelt dabei weitere nachhaltige Dienstleistungen, einen Mittagstisch für Kinder oder eine Kleiderflickwerkstatt? Dass das funktionieren kann, zeigen heute immer mehr Alterswohnprojekte, Mehrgenerationenhäuser und der Boom beim ServiceWohnen.

Noch weiter gehen gegenwärtig innovative Genossenschaften wie Kraftwerk[1], «Mehr als Wohnen» und Kalkbreite in Zürich mit ihren grossen hybriden Bauprojekten.[8] «Wohnen wie im Hotel» ist das Stichwort: Die grosse Dichte bringt genug Leute zusammen, damit zahl reiche Dienstleistungen wie ein Kochteam und Annehmlichkeiten wie ein Wellnessbereich und somit höchste Lebensqualität auch für Leute mit schmalem Budget finanzierbar werden.

Es wäre nun nahe liegend zu überlegen, ob solche Dienstleistungen nicht auch eine Sub­sistenzstrategie wären. Ein Portier kann ja auch, wenn sich ein heisser Tag ankündigt, über die Laubengänge gehen und die Klappläden auf der Südseite schliessen. Das spart viele Elektromotoren. Kreative Kombinationen von Lowtech mit sozialen Tätigkeiten eröffnen im Siedlungsbau neue Möglichkeiten, wie nachhaltige Bilanzen auch anders als durch die bekannten Labels erreicht werden können. In einer nachhaltigen Siedlung wird möglicherweise vieles wieder von Menschen statt von Apparaten gemacht. Wichtig ist, dass Dienstleistungen, die in einer Siedlung oder Gemeinde erwünscht, aber nicht per se rentabel sind, aus verschiedenen Kassen finanziert werden können, wenn man sie geschickt kombiniert. Hier liegt ein noch nicht abschätzbares, enormes Potenzial für eine neue Art von gesellschaftlicher Effizienz und für funktionale Vielfalt. Natürlich bedingen alle diese Kombinationen mehr Aufwand und Sorgfalt bei der Erstvermietung und der Verwaltung. Erste Immobilienverwaltungen setzen aber bereits erfolgreich auf diese Strategie.[9]

3. Sozial verdichten

Nicht jede bauliche ist auch eine soziale Verdichtung. Wenn das zusätzliche Bauvolumen durch grösseren Wohnflächenkonsum pro Kopf «aufgefressen» wird, hat es keinen positiven Effekt auf das Quartierleben. Generell ist zu bedenken, dass die Mieten in dichteren Neubauten und aufgestockten Altbauten stets höher sind als im Altbestand, selbst bei gemeinnützigen Projekten. Wird Verdichten ohne soziale Auflagen möglich, treibt es Mieten und Bodenpreise in die Höhe. Das verdrängt bisherige Nutzer und Bewohner – häufig ältere Leute und Gewerbe – aus zentralen Lagen und fördert so die politisch wie volkswirtschaftlich unerwünschte soziale Segregation und die weitere Zersiedelung an den Rändern der Agglomerationen.

Bestehende soziale Netze, etwa funktionierende Nachbarschaften, sind vermutlich etwas vom Nachhaltigsten, was es überhaupt gibt. Wir sollten ihnen Sorge tragen und sie ­stärken, wo immer es geht (vgl. «Babel – Ein Quartier gestaltet seine Zukunft»). Werden sie auseinandergerissen und müssen sie durch Institutionen ersetzt werden – etwa Nachbarschaftshilfe durch Pflegeheime, soziale Kontrolle durch Polizei –, können enorme Kosten anfallen: im Verkehr, beim Sozialamt, im Gesundheitswesen, bei der Sicherheit und Prä vention, bei der sozialen Integration usw.

Damit solche Reboundeffekte vermieden werden, sollten Verdichtungsstrategien ganzheitlich und interdisziplinär evaluiert werden. Aus volkswirtschaftlicher Perspektive braucht das Verdichten flankierende Massnahmen: den Erhalt billiger Wohn und Gewerberäume und einen Anteil günstiger Neubauten. Das liesse sich über Auflagen für Bauprojekte, durch Landkäufe der Gemeinden, gemeinnützige Bauträger oder kommunale Einrichtungen erreichen. Teure und bezahlbare Wohnungen kann man bauen, billige gibt es aber nur in Altbauten. Diese sind deshalb wertvolle Bausteine für nachhaltige Quartiere.

Verdichten kann aber auch eine Chance zur Stärkung sozialer Netze sein, wenn bei der ­Planung darauf geachtet wird, dass sich soziale Schichten, Berufe und Generationen wieder besser mischen können. Natürlich steckt in dicht bewohnten Siedlungen Konfliktpotenzial, etwa im Lärm der Nachbarn, was beim architektonischen Entwurf und bei der Organisation des Siedlungslebens berücksichtigt werden muss. Dichte Siedlungen mit einem vielfältigen Wohnungs und Dienstleistungsangebot und flexibel verfügbaren Räumen erleichtern aber auch gemeinsame Aktivitäten, Nachbarschaftshilfe, Entlastungen für Familien, das Betreuen alter und kranker Menschen, die Integration von Migranten und Alleinstehenden und die Aufrechterhaltung von sozialer Kontrolle im öffentlichen Raum. Sie tragen so zum gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt bei.

4. Historisch verdichten

Verdichten bringt Ersatzneubauten und neue Menschen in die Quartiere. Beides bedroht die lokale Identität, die Identifiktion der Bewohnerinnen und Bewohner mit ihrem Quartier – ihr Heimatgefühl. Dagegen wehren sie sich zurecht. Als politische Vorbedingung für das Verdichten muss deshalb wohl ein wesentlicher Teil des Vertrauten erhalten bleiben. Es darf nicht passieren, dass die verdichteten Quartiere überall gleich aussehen. Sie müssen Heimat bleiben und brauchen Einzigartigkeit, sonst werden sie zu Unorten.

Häuser und Stadtteile haben eine umso stärkere Identität, je mehr Menschen Erinnerungen damit verbinden. Das heisst, dass Identität Zeit braucht, um zu wachsen. Alte Bauten, Plätze und Winkel besitzen sie schon, sie ist ein Kapital, das leicht übersehen wird und lange Zeit braucht, um nachzuwachsen. Wir sollten es erhalten und pflegen. So kann ein Patchwork aus vertrauten alten und dichten neuen Bauten entstehen.

Für historisches Verdichten spricht auch die nachhaltige Ressourcenbewirtschaftung. «Wir werfen heute noch zu viele ganze Bauwerke fort», sagt Ingenieur und EPFLProfessor Eugen Brühwiler. Und Paul Lüchinger, Projektleiter der neuen SIANorm 269 «Erhaltung von Tragwerken», meint: «Die Erhaltung ist einer der wirksamsten Beiträge des Baubereichs an die Nachhaltigkeit.»[10] Das widerspricht der Forderung der Bauwirtschaft nach genereller Förderung von Ersatzneubauten. Da wir nicht nur Energie und Landschaft, sondern auch die Ressourcen und das Kulturerbe schonen müssen, wird Bauen in Zukunft wohl vor allem heissen: umnutzen, umbauen, renovieren, restaurieren, ergänzen, aufstocken.[11] Die SIANorm 269 bietet hierfür die technische Handhabe. Die Bauwirtschaft wird deshalb nicht weniger zu tun haben, jedoch ihr Knowhow stärker auf Umbauten ausrichten müssen, bei denen sich neue Aufgaben mit hoher Wertschöpfung auftun und neue, auf das Instandsetzen und Umnutzen von Materialien und Bauteilen spezialisierte Berufe entstehen werden.

Das betrifft auch die Denkmalpflege. Unser Kulturerbe möglichst intakt den nächsten Generationen weiterzugeben gehört auch zur Nachhaltigkeit. Und zwar nicht einfach, weil es schön ist: Analog zur Artenvielfalt müssen wir lernen, die Baugeschichte als Genpool kon struktiven Wissens zu begreifen; als Reservoir von Bautechniken, Formen und Nutzungs weisen, die zu Zeiten entwickelt wurden, als die Ressoucen ebenfalls knapp waren und es weder Strom noch Erdöl gab. Auf diesen Wissensschatz an einfachen, ressourcenschonenden Bautechniken aus der präfossilen Epoche können wir beim Bauen im postfossilen Zeit alter zurückgreifen. Ein Beispiel dafür ist die wiederentdeckte Kellerlüftung in den Zürcher Baumeisterhäusern aus dem 19. Jahrhundert, die ohne Energieverbrauch allein durch das Gewicht kalter Luft funktioniert.[12]

Historisch verdichten[13] meint also, einen wesentlichen Anteil der Bauten und der gestalteten Aussenräume aus früheren Epochen zu erhalten, umzunutzen und allenfalls zu erweitern – wegen der günstigen Mieten, ihrer identitätsstiftenden Funktion, der darin gespeicherten grauen Energie und als Schaulager von ressourcensparenden Bautechniken. Wie viel soll stehen bleiben? Wer bestimmt, was bleiben darf? Woran hängen die Erinnerungen? Brauchen wir Inventare der lokalen Identitätsecken?

Fragen Aus all dem ergeben sich viele Fragen. Es ist klar, dass ein solches Programm für eine einzelne Disziplin zu komplex ist und auch nicht verordnet werden kann. Es muss interdisziplinär und im öffentlichen Dialog erarbeitet und zusammen mit der Bevölkerung konkretisiert und umgesetzt werden. Ebenso klar scheint uns, dass eine inhaltlich breitere Diskussion als bisher über die Definition von Wohlstand und von Lebensqualität in unseren Ortschaften nötig ist, über die Ziele und das Mass des Verdichtens und darüber, welche Teile unserer gebauten Umgebung wir behalten wollen. Als Diskussionsgrundlage wären konkretere Bilder und Beschreibungen der möglichen Zukunft hilfreich, dazu Inputs der Sozialwissenschaften und der Regionalökonomie. Ziel der Diskussion sollten Verdichtungsstrategien mit einer Art Gesamtnachhaltigkeitsbilanz sein und natürlich gebaute Beispiele, die man besuchen kann – damit Dichte nicht mehr Angst macht, sondern das dichte 2000WattQuartier ein Ort wird, wo wir gern leben möchten. Welcher Weg führt in eine nachhaltige Dichte? Soll das ganze Siedlungsgebiet aufgezont und für alle Nutzungen geöffnet werden? Oder muss das kontrolliert geschehen? Wie stark sollen wir aufzonen? Wer wählt die Teile aus, die wir davon ausnehmen wollen? Wie kann der Umbau gemeindeübergreifend koordiniert werden? Brauchen Kernstädte, Agglomera tionsgemeinden und Dörfer auf dem Land verschiedene Strategien? Und wie kommen wir zur gestalterischen Qualität, die nötig ist, damit die Dichte angenehm sein wird? Oder sollen wir die Zonenpläne lassen, wie sie sind, und arealweise mit Sonderbauvorschriften und Ausnützungsboni operieren, die an Auflagen geknüpft werden? Es dürfte dann massiv verdichten, wer viele Nutzungen, soziale Vielfalt, partizipative Verfahren und den Erhalt von Altbauten garantiert und die Bebauung in Wettbewerbsverfahren entwickelt. Was tun wir mit Baugesetzen, die Dichte verhindern? Sollen wir sie abschaffen, lockern oder ebenfalls als Pfand für hohe Qualität einsetzen?

Ingenieurwesen und Architektur in der Dichte

Höhere Dichten werfen auch technische Fragen auf: Reichen die Verkehrswege, Werk­leitungen und Kläranlagen noch aus? Das Bauen im Bestand braucht teilweise andere Baumethoden, schonendere und emissionsärmere, und neue Geräte. In dichten Ortschaften wird öfter und in engeren Verhältnissen gebaut, auch häufiger in die Höhe und in die Tiefe. Das heisst, dass Tragwerk und Erschliessung, Versorgung und Entsorgung der Bauten komplexer werden. Damit werden Ingenieurleistungen wichtiger.

Das Architekturschaffen hat sich im vergangenen Jahrzehnt stark mit Wohnungsgrundrissen beschäftigt. Das war nötig, um mit grossen Bautiefen umgehen zu lernen und die 3 und 4-Zimmer-Wohnung zu überwinden. Wird es sich nun vermehrt dem Umgang mit Dichte widmen? Dem Anordnen vielfältiger Funktionen in dichten Häusern und Quartieren? Wie seit je wird die Architektur eine Gestaltung finden müssen für die praktische Nutzung und die symbolische Bedeutung der wichtigen Orte. In einem nachhaltigen Quartier werden das vermutlich wieder vermehrt die Stellen sein, wo soziale Interaktion stattfindet, wo Wohnung und Haus, Haus und Stadt ineinandergreifen: Erdgeschosse, Eingänge, Durchgänge, Hallen, Gemeinschaftsräume, Höfe, gemeinsame Gärten und Terrassen, öffentliche wie kommerzielle Orte des Kollektiven. Häuser für nachhaltige Lebensstile werden wohl eher durchlässig als kompakt sein, die Räume eher verbunden als abgeschottet.

Architektur und Ingenieurbüros werden noch mehr Umnutzungskompetenzen brauchen, auch mit Wissen aus der Geschichte, dazu aber auch die soziale und kulturelle Kompetenz, sich neue Nutzungsweisen und ungewohnte Nutzungskombinationen vorstellen zu können und sie den Bauherrschaften vorzuschlagen. Die Ausbildung wird wohl noch mehr Interesse an der Sicht anderer Disziplinen wecken müssen und das Bewusstsein für den Gewinn bei interdisziplinärer Zusammenarbeit.

Das Programm des Verdichtens hält jedoch auch mehr als genug genuin architektonische Aufgaben bereit: Je dichter die Siedlung, umso wichtiger und kniffliger wird ein kompetentes Anordnen und Gestalten aller Räume vom Schlafzimmer bis zum Stadtraum. Hingegen wäre zu überlegen, ob das Ausarbeiten von Wettbewerbsprogrammen künftig nicht konsequent interdiszplinären Teams überantwortet werden sollte. Denn das beste Architekturbüro kann nicht mehr viel ausrichten, wenn bereits in den Vorgaben funktionale, soziale oder konservatorische Fragestellungen vergessen gegangen sind.

Siedlungsentwicklung wird in der Architektur oft noch zu stark als formale Aufgabe betrachtet und von einer einzigen Aufgabe, vom Wohnen oder von sogenannten Leuchtturm projekten oder bestenfalls vom Stadtraum her gedacht und noch zu wenig vom konkreten, vielfältigen, komplexen Alltag der Bewohner aus. Wie auch immer eine nach haltige Siedlungsweise dereinst aussehen wird, sie kann wohl weniger denn je nur als bauliche Form oder als technisches Netz von Verkehrs und Leitungssträngen konzipiert werden, sondern wird vielmehr in gemeinsamer Entwicklung von gebauter Form, verwendeten Techniken und neuen Organisationsformen des sozialen Lebens gefunden werden müssen.


Anmerkungen:
[01] Schön beschreibt die Vorteile dichter Bauweise Vittorio M. Lampugnani in «Die Architektur der städtischen Dichte» in: Städtische Dichte, hrsg. von V. M. Lampugnani u. a. Zürich 2007, S. 11–18.
[02] Der Nationalrat hat 2012 eine Motion von FDPNationalrat Filippo Leutenegger gutgeheissen, die beim Ersatz von Gebäuden mit schlechtem Energiestandard Ausnahmen von der Zonenordnung fordert. Diese «Abwrackprämie» für Häuser läuft den Zielen der Raumplanung zuwider und benachteiligt die Eigentümer energiesparender Bauten.
[03] Plan directeur cantonal Genève 2030 (Mai 2011), S. 61–68.
[04] Vgl. TEC21 36/2011, Tracés 1516/2011 sowie «Genf handelt», Beilage zu Hochparterre 11/2011.
[05] Marcel Meili, Markus Peter Architekten AG: Freilager ABCD, Zürich 2012, S. 8–9.
[06] Angaben aus www.europaallee.ch.
[07] Zum Dreieck vgl. TEC21 6/2006, S. 11–14.
[08] Informationen zu Kraftwerk1: TEC21 42/2001, zur Kalkbreite: TEC21 25/2009, S. 8–9, zu «Mehr als Wohnen»: TEC21 26/2009, S. 8–9.
[09] Bekannt geworden ist die Fischer AG Immo bilienmanagement in Zürich, www.fischer97.ch.
[10] Beide Zitate aus: «Bauwerke lassen sich ertüchtigen» in: TEC21 24/2011, S. 33.
[11] TEC21 56/2011.
[12] TEC21 4243/2011, S. 22–28.
[13] Idee und Begriff des historischen Verdichtens verdanke ich dem Vortrag «1 m² 0815/s» von Marc Angélil, gehalten an der Schlusstagung zum NFP 54 am 8.6.2011 in Renens.

Ausnützungsziffer
Die Ausnützungsziffer bezeichnet das Verhältnis der Bruttogeschossfläche eines Gebäudes zur Parzellenfläche. Die Bruttogeschossfläche ist die Summe aller ober und unterirdischen Geschossflächen einschliesslich Mauer und Wandquerschnitten. Bei einer zur Hälfte zweistöckig und ohne Keller bebauten Parzelle ist demnach die Ausnützungsziffer 1.

Dichten am Beispiel Zürichs
Die Bebauungsdichte in den Siedlungsgebieten der Schweiz hat in den vergangenen Jahrzehnten nicht etwa zu, sondern laufend abgenommen. Zahlen dazu sind nicht einfach greif und vergleichbar. Für die Stadt Zürich lassen sich aus den im Statistischen Jahrbuch 2012 ausgewiesenen Bruttogeschossflächen und den von Gebäuden und Umschwung besetzten Flächen folgende durchschnittlichen Ausnützungsziffern der Gebäude berechnen:
Ganze Stadt: 1.38
CityQuartier: 4.5 (Bahnhofstrasse)
RathausQuartier: 3.9 (Altstadt)
Aussersihl: 2.3 (Arbeiterquartier, Blockrandbebauung)
Kreis 6: 1.5 (bürgerliche Mehrfamilienhäuser und Gartenstadt)
Kreis 7: 1.0 (Zürichberg, bürgerliche Mehrfamilienhäuser und Villen)
Kreis 12: 0.9 (Schwamendingen, Wohnsiedlungen der Nachkriegszeit)

Massvoll oder effektiv?
Um Ängsten in der Bevölkerung zu begegnen, wird heute oft «massvolles» Verdichten angestrebt. Doch möglicherweise sind gerade dabei die Reboundeffekte am grössten. Damit Effekte im Sinn einer nachhaltigen Siedlungsentwicklung entstehen und bauliches Verdichten auch soziale und funktionale Dichte bewirkt, muss es vermutlich deutlich sein.
Die Metron AG zeigt in ihrer Publikation «7 Tools zur Innenentwicklung: die Metron Dichtebox» (Themenheft 27, Nov. 2011), dass die Gewinne des Verdichtens in ein bis zweistöckigen Wohnzonen am grössten sind, weil die Bewohnerzahl nicht linear mit der Stockwerkzahl zunimmt, sondern in dreistöckigen Zonen zwei bis dreimal so viele Menschen leben wie in zweistöckigen. Hingegen schafft die Aufzonung eines fünfstöckigen Quartiers um eine Etage nur 20% mehr Raum. Und weil das Aufstocken die Mieten verteuert, würde ein Teil der Bewohnerschaft durch kaufkräftigere Schichten ersetzt, die das zusätzliche Bau volumen mit grösserem Flächenkonsum kompensieren. Die höhere bauliche Dichte trüge hier also nichts zu einer höheren sozialen und funktionalen Dichte bei, sondern würde nur die soziale Segregation fördern. Verdichtungspotenzial besteht deshalb weniger in Ortszentren, die bereits dicht und vielfältig sind, sondern vor allem in den ausufernden monofunktionalen Gewerbe und Einfamilienhauszonen an den Ortsrändern.

TEC21, Fr., 2013.02.22



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TEC21 2013|09 Vierfach verdichten

16. November 2012Ruedi Weidmann
TEC21

Aus Chaos geboren

Der Lausanner Westen ist ein Paradebeispiel ungeplanter Suburbanisierung. Acht Gemeinden sind jedoch entschlossen, zusammen ihre Zukunft in den Qualitäten der europäischen Stadt zu suchen. Was bisher fehlte, soll nun geschaffen werden: öffentlicher Raum und sanfte Mobilität, Nutzungsvielfalt und öffentlicher Verkehr – eine neue Stadt im Westen von Lausanne.

Der Lausanner Westen ist ein Paradebeispiel ungeplanter Suburbanisierung. Acht Gemeinden sind jedoch entschlossen, zusammen ihre Zukunft in den Qualitäten der europäischen Stadt zu suchen. Was bisher fehlte, soll nun geschaffen werden: öffentlicher Raum und sanfte Mobilität, Nutzungsvielfalt und öffentlicher Verkehr – eine neue Stadt im Westen von Lausanne.

In und um Lausanne sind die Standorte klar verteilt: Im Osten Villen und stille Gärten, hier verstreicht die Zeit langsam. Im Westen dagegen Lärm und Dynamik: Fabrikareale und Arbeiterquartiere, Güterbahnhöfe und Autobahnen, Verteilzentren und Hochschulen, Einfamilienhäuser und Lagerhallen, Einkaufszentren und Tankstellen, Parkplätze, Garagen und Wohnblöcke bilden ein gewaltiges Durcheinander. Das Gebiet umfasst die westlichen Quartiere der Stadt Lausanne und die acht Gemeinden Renens, Prilly, Ecublens, Bussigny, Chavannes-près-Renens, Crissier, Saint-Sulpice, Villars-Sainte-Croix. Auf der sanft gegen den See abfallenden Geländeschulter wurde 1877 der Güterbahnhof Renens angelegt. In der Folge wurden zwischen den Bauerndörfern Fabriken errichtet – allmählich entstand der heutige Flickenteppich.

Mit dem Bau der Autobahn 1964 zogen weitere Industrieunternehmen und 1970 die beiden Hochschulen aus der Enge der Stadt Lausanne hierher. In den 1990er-Jahren begann die Industrie zu serbeln und ins Ausland abzuwandern, dafür schossen nun Einkaufs- und Logistikzentren aus dem Boden. Mit 65 000 Einwohnern und 46 000 Arbeitsplätzen wäre Lausanne West die zweitgrösste Stadt in der Waadt – aber es ist eben keine Stadt. Die Gegend ist stark fragmentiert, ohne Zentrum, zu Fuss kaum zu bewältigen, fast ohne öffentlichen Verkehr und ohne öffentlichen Raum, der diesen Namen verdiente – ein typisches Agglomerationschaos. Doch die acht Gemeinden unterscheiden sich stark. So ist etwa das am Seeufer gelegene St-Sulpice wohlhabend, Renens dagegen ist arm und hat einen Ausländeranteil von über 50 %.

Stopp dem Wildwuchs

Seit 1991 führt eine Metrolinie vom Lausanner Stadtzentrum über Uni und EPFL zum Bahnhof Renens. Trotzdem fuhren im Jahr 2000 in den acht Gemeinden zwischen 67 und 94 % der Pendler mit dem Auto zur Arbeit. In jenem Jahr waren die Luftqualität so besorgniserregend, die Verkehrsüberlastung und die räumliche Desorganisation so unhaltbar geworden, dass die Kantonsregierung für Vorhaben wie Einkaufszentren und Einfamilienhauszonen, die viel Verkehr verursachen, einen Baustopp verhängte. Ein ausserordentlich hartes Vorgehen, das aber den Weg zur Zusammenarbeit ebnen sollte: Den Gemeinden wurde eine Vereinbarung vorgeschlagen, wonach sie ihre weitere Entwicklung unter der Leitung des Kantons gemeinsam koordinieren sollten.

Zunächst ging es aber darum, die vom industriellen Niedergang verursachte Mutlosigkeit zu überwinden und bewusst zu machen, über welche Trümpfe das Gebiet verfügt: eine wunderbare Lage über dem Genfersee mit Blick in die Alpen, gute Erschliessung durch Bahn und Autobahn, intakte Ortskerne, zwei Hochschulen, Baulandreserven und Verdichtungspotenzial auf Industriebrachen. Doch wegen der planlosen Überbauung war die Gegend zu unattraktiv geworden, um dieses Potenzial nutzen zu können. Nach vielen Diskussionen, vor allem mit den Gemeindepräsidenten, setzte sich die Einsicht durch, dass eine überkommunale Planung wünschenswert sei.

Überkommunale Planung

Instrument dazu ist das Schéma directeur de l’Ouest lausannois (SDOL), ein Masterplan für das ganze Gebiet, der 2003/2004 von den Gemeinden, der Stadt Lausanne und vom Kanton unterzeichnet wurde und Bestandteil des Agglomerationsprogramms Lausanne-Morges und des kantonalen Richtplans ist. Der SDOL basiert auf der Raumplanungsstudie eines interdisziplinären Teams unter der Leitung des Stadtplaners Pierre Feddersen. Dieses schlug ein prinzipielles Schema für die raumplanerische Gestaltung vor und schuf ein dreidimensionales Modell, die bis heute als Referenzen dienen.[1] Feddersen setzte viel Vertrauen in die Zusammenarbeit der Gemeinden und machte daraus eine Methode: Die vier territorialen und drei thematischen «Baustellen» sind gemeindeübergreifend angelegt. Aus dem Nebenund Gegeneinander der Dörfer soll Stadt werden, Verantwortungsgefühl für das Ganze soll kommunale Partikularinteressen ablösen (vgl. S. 24).

Der SDOL strebt eine rationelle Nutzung des Baulands an. Er krempelt Lausanne West aber nicht komplett um, sondern stützt sich auf vorhandene Infrastruktur und Siedlungskerne ab, nutzt vorhandene Situationen und Ressourcen. Die neue Stadt soll eine starke Identität bekommen, zugleich sollen Autonomie und Charakter der Gemeinden erhalten bleiben. Nebst den sieben «Baustellen» ist der SDOL richtungsweisend für den Ausbau von Bahnhöfen, S-Bahn-Stationen, Bus- und Tramlinien, die Aufwertung öffentlicher Räume und die Erhaltung des industriellen Erbes. Ausserdem legt er Bedingungen für Bauvorhaben bezüglich Dichte und funktionaler Durchmischung fest.

Organisation und Werkzeuge

2003 wurde das Büro des SDOL eingerichtet. Unter der Leitung von Ariane Widmer koordiniert es mit vier Vollzeitstellen die Planungen. Es erarbeitet selbst keine Projekte, sondern beauftragt spezialisierte Firmen mit Studien und wertet die Ergebnisse aus. Die Leitung eines Planungsvorhabens liegt stets bei einer Gemeindeverwaltung. Daneben gibt es zwei koordinierende Gremien: Die «Pilotgruppe» besteht aus den Gemeindepräsidenten, zwei Regierungsräten und den Leitern der involvierten kantonalen Ämter; sie trifft alle Entscheide und trägt die politische Verantwortung. Im «Stab für die technische Leitung» treffen sich monatlich die Leiter der zuständigen Gemeindeämter und Vertreter der kantonalen Departemente, sie betreuen die einzelnen Studien, evaluieren alle wichtigen Bauprojekte im Gebiet (vgl. Kasten unten) und bereiten die Entscheide der Pilotgruppe vor.

Als Planungswerkzeuge dienen Expertenberichte, Wettbewerbe und Teststudien. Letztere erweisen sich bei komplexen Aufgaben als besonders fruchtbar: Resultate mehrerer interdisziplinärer Teams werden öffentlich verglichen und diskutiert; Fachleute und Bevölkerung erarbeiten so gemeinsam eine Vision. Jeder Eingriff verlangt nach einer sensiblen Bestandsaufnahme, muss auf einer strategischen Vision basieren und braucht Zeit für Verhandlungen, damit Gelegenheiten genutzt und Partnerschaften geschaffen werden können. Zentrales Anliegen aller Massnahmen ist die Qualität des öffentlichen Raums (vgl. S. 22).

Mit öffentlichen Räumen Bruchstücke verbinden

Der Lausanner Westen besteht aus untereinander nicht verbundenen Teilstücken – eine Folge grosser Bahn- und Strassenbauten, aber auch von vielen ohne Blick auf das Gesamte errichteten Einzelgebäuden. Die für den Transitverkehr ausgelegten Strassen führen strahlenförmig von Lausanne weg und trennen die Agglomerationsteile, statt sie zu verbinden. Da sie nur für Autos konzipiert sind, eignen sie sich für die heutigen Bedürfnisse nicht. Heute wird jedes Bauvorhaben als Chance gesehen, Räume zu schaffen, mit denen sich die Bevölkerung identifizieren kann. Öffentliche Räume – Plätze, Parks, Wege, Brücken, Strassen und Vorgärten – schaffen Durchlässigkeit und verknüpfen, was zusammengehört, wenn eine Siedlung eine hohe Lebensqualität aufweisen soll. Die grosse Aufgabe besteht also darin, eine Stadt mit urbanen Qualitäten zu schaffen. Im suburbanen Kontext heisst das: den Autoverkehr reduzieren und kanalisieren, den öffentlichen Verkehr fördern, Wege für die sanfte Mobilität öffnen, öffentliche Räume schaffen, die Bebauung verdichten, die Funktionen sinnvoll mischen und die Zersiedelung stoppen. Dabei helfen Bundesgelder aus dem Agglomerationsprogramm.

Die neue Stadt, die in den nächsten zehn Jahren etwa 30 000 neue Einwohner aufnehmen soll, wächst nicht vom historischen Zentrum Lausanne aus, sondern soll im Westen geboren werden und ihre Gestalt aus eigenen Qualitäten entwickeln. Die Studienphase ist abgeschlossen. Die Ausgaben von Gemeinden, Kanton und Bund werden auf mehrere hundert Millionen Franken geschätzt; dazu dürften private Investitionen von mehreren Milliarden kommen.

Sieben Baustellen – viele Projekte

Der SDOL hat sieben sogenannte «Baustellen» festgelegt. Vier davon sind strategische Teilgebiete (Karte S. 17), drei weitere betreffen übergreifende Aufgaben im gesamten Planungsgebiet. Jede Baustelle ist in Teilgebiete unterteilt, die Gegenstand spezifischer Analysen sind, und enthält zahlreiche, unterschiedlich weit gediehene Projekte – insgesamt sind es bisher rund 70, viele weitere werden aber in den nächsten Jahren hinzukommen. Die wichtigsten Baustellen und Projekte werden auf den folgenden Seiten vorgestellt.[2]


Anmerkungen:
[01] Schéma directeur de l’Ouest lausannois, verfasst von Feddersen & Klostermann, Plarel S.A., CEAT, Transitec, Metron, Joël Christin, Renens 2003. Bezug beim SDOL-Büro, www.ouest-lausannois.ch
[02) Weitere Informationen finden sich im Buch «Im Westen die Zukunft» (vgl. S. 11), in der Ausstellung «Pièces à Conviction» (vgl. S. 38) und auf der Internetseite des SDOL: www.ouest-lausannois.ch

TEC21, Fr., 2012.11.16



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TEC21 2012|47 Vorbild Lausanne West

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Publikationen

Presseschau 12

08. August 2014Ruedi Weidmann
TEC21

Wo Gärten landen

«Landing» heisst das Motto von Lausanne Jardins 2014. Die urbane Gartenschau testet mobile Gärten, die im Asphaltdschungel landen, ihren Segen verbreiten und weiterziehen können. Das funktioniert zwar fast nirgends, doch gerade das macht den Besuch interessant.

«Landing» heisst das Motto von Lausanne Jardins 2014. Die urbane Gartenschau testet mobile Gärten, die im Asphaltdschungel landen, ihren Segen verbreiten und weiterziehen können. Das funktioniert zwar fast nirgends, doch gerade das macht den Besuch interessant.

Halt dich am Gras fest, der Boden rutscht!» Mit diesem Satz pflegte mich mein Grossvater wieder aufzurichten, wenn ich auf unseren Spaziergängen den Halt unter den Füssen verlor. Der Satz beschäftigt mich noch heute wegen der Abgründe, die sich hinter seiner jovialen Harmlosigkeit auftun. Als Lausanne Jardins 2014 mobile Gärten als Thema ankündigte, war mir deshalb sofort klar: Hier hatte jemand Lust, sich auf ein Paradox einzulassen. Denn zumindest in der abendländischen und orientalischen Kulturgeschichte ist der Garten der Ort der Ruhe par excellence, Metapher für Heimfinden, Wurzelnschlagen und Bleiben. Versprechen da Gärten in Bewegung nicht eine tiefsinnige Auseinandersetzung mit unserer hypermobilen Lebensweise – und ausserdem raffinierte Installationen?

Rundgang zu mobilen Gärten

Doch zunächst die Fakten: Bis zum 11. Oktober erwartet die fünfte Auflage von Lausanne Jardins Gartenfreundinnen und Stadtwanderer. Anders als gewöhnliche Gartenschauen findet diese in der gebauten Stadt, in Parks und Gärten, Strassen und Gassen, auf Plätzen, Treppen und Hausdächern statt. Zeitgemässe Formen für Stadtgärten zu finden ist ihr hehrer Zweck, Lausanne mit seinem reichen Erbe an Gärten und Parks bekannter zu machen der erhoffte und legitime Nebeneffekt. Die Stadt Lausanne und der Verein «Jardin urbain» schreiben dazu seit 1997 alle paar Jahre einen internationalen Wettbewerb aus, an dem sich Landschafts- und Gartenarchitekturbüros, Architektur- und Kunstschaffende beteiligen.

Ein Kuratorium ist für Konzept, Motto und Standortwahl verantwortlich, organisiert den Wettbewerb und überwacht die Ausführung der Projekte. Dieses Jahr teilen sich der Lausanner Designer Adrien Rovero und der französische Szenograf und Landschaftsplaner Christophe Ponceau die Verantwortung. Die von einer Jury ausgewählten Beiträge laden dann einen Sommer lang zum kontemplativen Besuch und zur Reflexion über das Verhältnis von Fauna und Urbanität ein. Für 2014 verzeichnete der Wettbewerb 133 Eingaben, 25 aus der Schweiz. Die Jury wählte 26 Projekte. Das städtische Gartenbauamt, das für das Ziehen der Pflanzen, den Aufbau und den Unterhalt von Lausanne Jardins verantwortlich ist, steuerte wie immer einige eigene Projekte bei, die in einem Wettbewerb unter seinen Mitarbeitenden ermittelt wurden.

Das realisierte Programm umfasst 29 Beiträge. Alle sind in der Innenstadt zu sehen und lassen sich an einem Tag besuchen; zwei davon sind allerdings so mobil, dass man sie nur mit Glück antrifft. Vor Ort erläutern Tafeln mit etwas knappen Informationen die Objekte. Eine recht brauchbare Karte schlägt einen Parcours vor. Sie ist unabdingbar, denn die ziemlich krude Signaletik weist den Weg nur ungenügend. Auf der Website finden sich nebst Karte und Rahmenprogramm auch Hinweise auf themenverwandte Anlässe in der Region.

Kreative Logistik im harten Millieu

Auslober und Jury wollten wissen, wie (in welcher Form, in welchen Gefässen, mit welchen Unterhaltsmassnahmen) die Pflanzenwelt anders als auf traditionelle Weise einen Platz an asphaltierten und betonierten Orten finden kann. Die Teams mussten transportierbare Gärten vorschlagen und dafür eine Logistik kreieren. Gesucht waren kreative Formen, aber bereits auch die Annäherung an Prototypen, die andere Gemeinden übernehmen könnten. Gefragt waren Teams mit verschiedenen disziplinären Ansätzen, die jedoch die Bedürfnisse der verwendeten Pflanzen respektieren und alle Phasen der Planung und des Wachstums des Gartens dem Publikum erklären mussten. Die Besucher sollten neue Wege und versteckte Winkel entdecken und einen frischen Blick auf die bauliche Vielfalt im historischen Stadtzentrum werfen.

Von Blümchen und Bierdosen

Letzteres erreicht der Rundgang zweifellos. Nur sagt das noch nichts aus über die Qualität der einzelnen Projekte. Was wäre ein geeigneter Massstab für deren Beurteilung? Vielleicht die bekannteste Form des mobilen Gartens, seine Urzelle sozusagen: der Blumentopf, der im Frühling auf dem Fensterbrett und im Herbst wieder im Keller landet? Tatsächlich trägt ein gutes halbes Dutzend der Projekte kaum zur Erweiterung dieses bewährten Prinzips bei. Eine grosse Geste wie den Eisenbahnzug, der für Lausanne Jardins 2000 mit 14 unterschiedlich bepflanzten Güterwagen durch die Schweiz fuhr, sucht man 2014 vergeblich. Es waren eher kleine Interventionen mit poetischer Wirkung gefragt.

In der Buntheit des Lausanner Stadtzentrums gehen allzu zarte Pflänzchen allerdings unter. Etliche Projekte überzeugen nicht, weil eine an sich schöne Idee zu kleinlich oder zu wenig konsequent umgesetzt wurde. Laut dem für das Fundraising zuständigen Cedric van der Poel ist dies teilweise dem Budget geschuldet, aber auch den Rahmenbedingungen im Stadtzentrum. Die Hochbeete mit Blumen zum Selberschneiden auf der Place de la Riponne (Abb. S. 25 unten) könnten durchaus dazu animieren, die Versorgung der Stadt mit Schnittblumen zu überdenken und den riesigen Marktplatz in neuem Licht zu sehen. Doch dazu müssten sie viel grösser sein. Jetzt wirken sie eher lächerlich. Wegen Bürgerprotesten gegen die temporäre Sperrung einer Parkhauszufahrt hat man das Projekt verkleinert.

Einige Blumen haben schlicht keine Chance, in der städtischen Realität zu bestehen, etwa die bemitleidenswerten Kosmeen, die auf der Place Chauderon auf Nutzer stossen, denen der Sinn mehr nach der nächsten Bierdose steht als nach poetischen Farbtupfern. Chancenlos auch die Eternittopf-Skulpturen in der Rue de la Tour (Abb. S. 5 oben). Ein paar Dutzend von ihnen könnten diese Hintergasse verzaubern, doch zu dritt kommen sie gegen deren Trostlosigkeit nicht an. Fairerweise sei eingestanden, dass einige Gärten ihre volle Wirkung erst im Lauf des Sommers entfalten werden.

Mehr Kraft entwickeln Interventionen, die die Nutzung und damit die soziale Dimension des Gartens thematisieren. Manon Briod, Julien Mercier, Pablo Gabbay und Pierre Ménetrey haben zwischen zwei Häusern im Flon Blumentöpfe an bewegliche Wäscheleinen gehängt, den mobilen Blumentopf also quasi hypermobilisiert. Die Bewohner können sich so Kräuter, Blumen und das Giessen teilen – ein starkes Bild, kommunikationsfördernd und lustig anzusehen (Abb. oben).

Gärten der Ungeduld

Einige Beiträge legen den Fokus auf ein genuines Thema der Gartengestaltung: den ewigen Zirkel von Werden und Vergehen. Das kollidiert aber mit der Vorgabe «13 Juni bis 11. Oktober». Die aus lebenden Weidenzweigen geflochtenen, mit Erde gefüllten und daher wachsenden Körbe in der Rue de la Mercerie (Abb. S. 26, unten rechts) haben immerhin bis im Oktober Zeit zu zeigen, was in ihnen steckt. Wie aber soll das Publikum erfahren, ob die Tannzapfen, die es im Parc de Montbenon in ein Wiesencarré werfen darf (Abb. S. 25, 2. von oben), je versamen werden? An der Promenade Schnetzler dringen aus einem Gefäss in der Mitte des Rasens Regenwürmer in den Boden vor und lockern ihn auf. In der Folge verändert sich die Zusammensetzung der Pflanzenarten. Weil das aber Jahre dauert, haben die Stadtgärtner die neuen Arten gleich schon gesetzt. Dadurch bleibt der Prozess beim Projekt «Unsichtbare Gärtner» (gemeint sind die Regenwürmer) leider ebenso unsichtbar wie die Regenwürmer selbst. Projekten, die auf das Beobachten langer Zyklen setzen, fehlt in diesem Rahmen schlicht die Zeit, um überzeugend zu wirken.

So schwankt Lausanne Jardins 2014 merkwürdig unentschieden zwischen temporären Installationen – die besten funktionieren als Ideengeber, sind aber eben Installationen, keine Gärten – und «Landungen» von Gärten, die missglücken, weil der Sommer zu kurz ist, um zu sehen, ob die Pflanzen versamen und Wurzeln schlagen, und damit unbeantwortet bleibt, ob die Idee funktioniert.

Schöne Gesten, kluge Eingriffe

Mehrere Projekte zielen auf rein ästhetische Wirkung, sind eher Kunstwerke als Gärten. Je nach Geschmack wird man sie schön oder kitschig finden. Dazu gehören Sukkulenten in Gläsern (Abb. S. 26 unten links) in einer Wiese im Parc de l’Hermitage, ein Alpinum auf Stelzen auf der Place du Tunnel und eine miniaturisierte Genferseelandschaft aus Marmor und Flechten, die Evelyne Darcy und Olivier Sévère in der Kathedrale aufgebaut haben (Abb. S. 26 unten Mitte).

Einige Projekte aber sind schöne Gesten und gleichzeitig kluge Beiträge. Sie allein schon lohnen den Besuch. Wie die Autoren von «Botanic Box» die Aufgabe mobiler Garten umsetzen, ist fast banal, funktioniert aber besser als manch konzeptlastigerer Zugang: Ein kurzer Frachtcontainer ist aussen rot bemalt, oben offen, darin wuchern subtropische Pflanzen (Abb. S. 22). Ein schmaler Pfad führt hinein, verspiegelte Wände vergrössern das in der gemässigten Zone gelandete Stück Dschungel. Der rote Container mit den grünen Palmen ist gewiss nicht sehr innovativ, aber ein starkes Zeichen – und im Unterschied zu den meisten anderen Projekten tatsächlich transportabel. Er liesse sich überall als Café, Pausenecke oder Gärtchen einsetzen.

Der Beitrag «Outbreak» (Abb. S. 26 oben) von FHV architectes und Adrien Zwingli bezieht wie kein anderer Architektur und Lage mit ein: Aus allen Öffnungen eines zierlichen klassizistischen Säulenportikus an der Rue Neuve quillt Rasen. Der fast gewalttätige Ausbruch von Fruchtbarkeit rückt den Brunnen davor, den die Gewohnheit längst zur Unsichtbarkeit verdammt hat, jäh ins Bewusstsein zurück. Die Brunnenfigur bietet Fische aus ihrem Korb an, doch die eiligen Passanten tragen volle Einkaufstaschen und haben keine Hand frei für die Gaben der Natur.

Überzeugend ist ein stiller, unprätentiöser Beitrag von Thilo Folkerts, Marie Alléaumet und Nathanaelle Baës-Cantillon. Ihre sanfte Intervention stärkt ein Kleinod, das auch viele Einheimische übersehen. Im Schatten einiger Bäume neben dem viel befahrenen Pont Chauderon liegt der sandige Spielplatz des Pétanque-Klubs Boule d’Or Lausannois. In Blumentöpfen kommen Spargel, Pfefferminze, Salbei, Anis und Wermut auf das Terrain, zarte Pflanzen, die charakteristische angenehme Gerüche verbreiten. Die Autoren haben Stahlrohre in den Grüntönen dieser fünf Pflanzenarten gestrichen und daraus einige schlichte Geländer und Zuschauerbänke gebaut. Das tönt simpel, wirkt aber sympathisch, macht den Ort bewusst, ohne ihn zu stören – und darf bleiben (Abb. S. 25, 3. von oben).

Brauchen wir mobile Gärten?

Der Parcours ist abwechslungsreich. Doch in seinem Verlauf drängt sich immer mehr die Frage auf: Sind mobile Gärten wirklich das, was Städte heute brauchen – vor allem, wenn unter Stadt nicht die Altstadt, sondern die suburbane Region als realer Lebensraum der Mehrheit verstanden wird? Mangelt es dort nicht gerade am Gegenteil, an Verwurzelung, stabiler Identität, an festen Orten – Ort verstanden als Gegenstück zum Weg, der mit räumlichen Qualitäten und Sinneseindrücken zum Bleiben verführt? Bleiben können, Zeit vergehen lassen, ist Voraussetzung dafür, dass Pflanzen gedeihen und soziale Beziehungen entstehen können. Die Strasse, als Transitraum, hält Begegnungen bereit, der Ort, als Lebensraum, lässt Bindungen wachsen. Menschen brauchen beides. Doch ist es nicht gerade die Stärke des Gartens, Ort sein zu können?

Eine kluge Antwort hält «Place de parcs» bereit. Das Projekt von Yves Fidalgo, Cédric Decroux, Catherine Cotting und Yann Mingard gibt sich zunächst sehr mobil: Auf vier Parkplätzen in der Avenue Vinet parken hintereinander vier Plattformen, darauf vier verschiedene Gärten. Der zweite Blick zeigt, dass es Ausschnitte aus Parks in Zürich, Basel, Bern und Genf sind. Auf Plakatwänden an der Stützmauer dahinter zeigen Fotografien die Ursprungsorte (vgl. Titelbild). Nicht mobile Gärten sind also hier gelandet, sondern Schollen aus dauerhaften Gärten wurden herausoperiert und in einem Transitraum platziert – als Gruss von festen Orten.

Immerhin könnten transportierbare und einfach zu installierende Gartenformen ja nützlich sein zur raschen Verbesserung der Lebensqualität in Gebieten mit Bedarf.

Die Beiträge sollten Prototypen sein, die irgendwo eingesetzt werden können, und tatsächlich würden einige anderswo sogar besser funktionieren. Denn das topografisch lebendige, gepflegte Lausanner Stadtzentrum ist dermassen reich an Architektur, aussergewöhnlichen stadträumlichen Situationen und eben auch an Gärten, dass manche «Landung» hier schlicht überflüssig wirkt.

Warum die Wahl auf den Stadtkern fiel, wird nirgends begründet. Man habe wieder zu den Ursprüngen von Lausanne Jardins zurückkehren wollen, geben die Kuratoren im Programmheft lediglich an. Warum, sagen sie nicht, und es erschliesst sich auch auf dem Rundgang nicht. Auf das Definieren eines spezifischen Effekts oder gar Nutzens der Ausgabe 2014 scheint generell nicht allzu viel Energie verwendet worden zu sein. Diesen Eindruck verstärken die Kuratoren noch, wenn sie erzählen, sie hätten die Standorte mittels Ausstreuen von Samen auf einem Stadtplan bestimmt – als poetische Geste. Natürlich, Poesie verweigert sich dem Nützlichkeitsdenken, aber Ziellosigkeit ist deswegen nicht automatisch auch poetisch. Etlichen Projekten fehlt es schlicht an Relevanz. Nach den früheren Auflagen, besonders denjenigen von 2004 den Bahngleisen entlang bis nach Renens und 2009 entlang der U-Bahnstrecke M2, wirkt diese Ortswahl deshalb als wenig inspirierender Rückschritt.

Bruchlandung vermeiden

Die Kuratoren schreiben im Konzept, es gehe um die Erfindung von neuen Arten der pflanzlichen Installation. Doch stünden heute nicht andere Fragen im Vordergrund? Neue Organisationsformen für das gemeinschaftliche Bewirtschaften öffentlicher Parks, wie es etwa die Stadt Paris fördert? Das integrative Potenzial von Gemeinschaftsgärten, die weltweit boomen (und laufend neue Arten von pflanzlichen Installationen hervorbringen und gleich auch einem realistischen Praxistest unterwerfen)? Die Frage, wie Erholung und Artenvielfalt in Grünräumen vereinbar sind (TEC21 19/2013, S. 16–20)? Möglichkeiten zur Relokalisierung der Lebensmittelproduktion und neue Formen urbaner Landwirtschaft (denen sich gerade die Architekturbiennale Rotterdam widmet)? Oder die Frage, wie sich im öffentlichen Raum von sub- und periurbanen Zonen lokale Identität und Interaktionen fördern lassen?

Lausanne Jardins ist eine wunderbare Erfindung. Der Ansatz, den ideologisch konstruierten Gegensatz zwischen Grau und Grün zu überwinden und neue Symbiosen von Stadt und Garten zu suchen, war 1997 pionierhaft und ist heute aktueller denn je. Die Stadt Lausanne sollte die Tradition unbedingt fortführen und künftig besser vermarkten, besonders auch im deutschen Sprachraum. Doch muss ihr neues Leben eingehaucht werden. Sonst wird sie von der spriessenden Buntheit der Urban-Gardening-Bewegung in den Schatten gestellt. Lausanne Jardins braucht die brennenden Fragen der Zeit und ein Einsatzgebiet, wo die Schau Wirkung entfalten kann, dann brauchen auch wir Lausanne Jardins. Im grandiosen suburbanen Chaos im Westen von Lausanne warten Tausende sinnlose Restflächen auf Ideen, was mit ihnen anzufangen wäre. Dort läge ein überaus dankbares Feld für die nächste Ausgabe.

Trotzdem lohnt sich der Besuch von Lausanne Jardins 2014, und dieses Jahr besonders, wenn man ihn mit einem Abstecher zur Ausstellung «Genève, villes et champs» verbindet (vgl. S. 27).

TEC21, Fr., 2014.08.08



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2014|32-33 Städte, Gärten und Felder

27. Juni 2014Ruedi Weidmann
TEC21

Lebensraum­generator

Der genossenschaftliche Wohn- und Gewerbebau Kalkbreite in Zürich demonstriert, welches Potenzial für das nachhaltige Bauen im Mix aus Wohnen, Arbeiten und Gemeinschaft liegt. Seine Lebensqualität teilt er mit dem Quartier.

Der genossenschaftliche Wohn- und Gewerbebau Kalkbreite in Zürich demonstriert, welches Potenzial für das nachhaltige Bauen im Mix aus Wohnen, Arbeiten und Gemeinschaft liegt. Seine Lebensqualität teilt er mit dem Quartier.

Das Areal war eine schwarze Perle: 6350 m² städtischer Boden im dichten Zürcher Quartier Aussersihl, auf dem nur nachts ein paar blaue Züritrams schliefen. Kein Wunder, weckte dies bei Zürichs notorischem Mangel an günstigen Wohnungen schon vor Jahrzehnten den Wunsch nach einer Wohnüberbauung. Doch die Rahmenbedingungen waren komplex. Das Dreieck liegt in der Gabelung von Badener- und Kalkbreitestrasse, zwei lauten Strassen mit Tram- und Buslinien, und nach Süden hin am Seebahngraben, in dem die SBB-Linie Zürich–Thalwil verläuft. Dies dämpfte den Enthusiasmus der Stadtbehörden. Es zeigte sich auch, dass die Verkehrsbetriebe (VBZ) auf den Abstellplatz im Stadtzentrum angewiesen waren. Eine Wohnsiedlung musste also mit einer Trameinstellhalle kombiniert werden. Eine Motion im Gemeindeparlament verlangte 2003 von der Stadtregierung, Grundlagen für kommunale, allenfalls genossenschaftliche Wohn- und Gewerbebauten zu erarbeiten.

Urbanes Graswurzelprojekt Doch wer sollte das Projekt realisieren? In Zürich begann man zu merken, dass eine Wohnsiedlung Läden und Restaurants braucht, wenn ein Stück Stadt und nicht ein monofunktionaler Pendlerpol entstehen soll. Damit wurde das Vorhaben definitiv so komplex, dass es jede traditionelle Genossenschaft überfordert hätte. Doch da kam Hilfe aus dem Quartier. Bewohnerinnen und Bewohner gründeten im Frühling 2006 den Verein Kalkbreite mit dem Ziel, das Areal zu übernehmen. Laien und Profis aus verschiedenen Berufen entwickelten in öffentlichen Debatten eine starke Vision für eine zeitgemässe Überbauung. Mit dabei waren Leute aus den Genossenschaften Dreieck und Karthago, die Erfahrungen mit innovativen Wohnformen und aus einem erfolgreichen Stadtreparaturprojekt mitbrachten (TEC21 6/2006, S. 11–14). Die Gruppe wollte einen Baustein für eine sozial und ökologisch nachhaltige Stadt entwickeln und dem Baugeschehen insgesamt Impulse verleihen. Sie beschränkte sich nicht auf technische Lösungen, sondern suchte möglichst konsequent nach dem Potenzial, das in gemeinsam genutzten Räumen, neuen Wohnformen und der innovativen Kombination von Nutzungen steckt. Nicht allein die neue Siedlung sollte davon profitieren, sondern das Quartier als Ganzes.

So konkretisierte sich die Vision von einem integralen Lebensraum, einem Stück Stadt mit hoher Lebensqualität, das nicht von vornherein auf eine komplementäre Ergänzung durch andere Quartiere und weit entfernte Landschaften angewiesen ist. Dieses Programm führte weg von der überholten Idee der «Wohnbaugenossenschaft» hin zur Wohn- und Gewerbegenossenschaft. Weil eine Genossenschaft keinen finanziellen Gewinn abwerfen muss, kann sie eine grosse funktionale und soziale Komplexität organisieren und verwalten. Der Verein forderte keck die Abgabe im Baurecht an eine Genossenschaft, da die Aufgabe für die Stadtverwaltung zu anspruchsvoll sei.

Die Stadt liess sich das gefallen und schrieb das Gelände im Herbst 2006 im Baurecht aus, behielt sich aber vor, selbst zu bauen, falls der Baurechtnehmer an der Aufgabe scheitern sollte. Der Verein Kalkbreite gab sich die Form einer Genossenschaft und erhielt ein Jahr später das Areal zugesprochen. Es war eine mutige Entscheidung der Stadtregierung, das Gelände einer Genossenschaft anzuvertrauen, die noch kein Projekt realisiert hatte.

Gemeinsam zum Wettbewerbsprogramm

Das ehemalige Wirtshaus «Rosengarten» an der prominentesten Ecke wurde Geschäftssitz der Genossenschaft. Zu ihrer breiten Vernetzung lancierte sie ein Veranstaltungsprogramm, das im Quartier rasch be-liebt wurde und bis heute andauert. Die «Intendanz Rosengarten» organisiert seither allerhand Veranstaltungen, die das Leben in der Stadt thematisieren und es zugleich bereichern.

Die Vorgaben und das Raumprogramm für den 2009 durchgeführten offenen Projektwettbewerb erarbeitete die Genossenschaft in Workshops mit interessierten Genossenschaftsmitgliedern und in Abstimmung mit den VBZ sowie dem städtischen Amt für Hochbauten. Die Anforderungen an die Architekturschaffenden waren höher als üblich. Um alle zu erfüllen, waren Erfindungen nötig. Es galt, Wohnungsgrössen für Haushalte von einer bis zu fünfzig Personen zu planen und höchste energetische und ökologische Ziele zu erreichen. Die Lärmbelastung war auf allen Seiten hoch, die Stützenstellung der Tramabstellhalle musste berücksichtigt werden, auf ihrem Deckel sollte ein öffentlicher Raum entstehen. Und nicht zuletzt war ein passendes Gesicht für die umtriebige junge Genossenschaft gesucht. Das Zürcher Architekturbüro Müller Sigrist gewann die Konkurrenz im Team mit Dr. Lüchinger Meyer Bauingenieure, Zürich (TEC21 25/2009, S. 8–9). Die Landschaftsarchitektur stammt von der Freiraumarchitekten GmbH aus Luzern. Unterdessen begannen die VBZ als zweite Bauherrin mit der Vorarbeit für die Tramhalle, die als erste Etappe mit Baubeginn 2009 zu realisieren war.

Kosten, Finanzierung und Termine

Die Projektierung des Baus samt Trameinstellhalle kostete 6 Mio. Franken. 2 Mio. schoss die Stadt aus dem von ihr nur teilweise beanspruchten Projektierungskredit vor, 2 Mio. brachte die Genossenschaft über private Darlehen und Anteilscheine auf, die zu einem guten Teil von anderen Genossenschaften gezeichnet wurden, 2 Mio. steuerte eine Bank bei. Der Voranschlag sah Anlagekosten von 63.7 Mio. Franken vor (BKP 1–9). Die Landkosten entsprechen den von der Stadt geleisteten Vorinvestitionen und werden mit dem Baurechtszins abgegolten. Die Finanzierung konnte definitiv gesichert werden, nachdem der Gemeinderat 2011 dem Baukredit für die Tramhalle zugestimmt hatte und das Baurecht im Grundbuch eingetragen war.

Die Genossenschaftsmitglieder konnten sich auch an der Weiterentwicklung des Bauprojekts periodisch beteiligen. Dadurch flossen weitere Vorschläge und Ideen ein, und die Pläne wurden dem kritischen Blick potenzieller Nutzerinnen und Nutzer ausgesetzt. So identifizierten sie sich stärker mit dem Ort und engagierten sich mehr für das Vorhaben. Als erstes Teilprojekt erneuerten die VBZ Ende 2010 die Gleisanlage. Die Bauarbeiten am Gebäude begannen im Januar 2012.

Wohnen – Arbeiten 240 : 150 Der Neubau ist eine Art Hofrandbebauung; der Hof liegt auf dem Dach der Tramhalle. Der Baukörper mit seiner einprägsamen polygonalen Form nimmt ebenso selbstbewusst wie selbstverständlich seinen Platz im Stadtraum ein. Auf der Nordseite ist er achtstöckig, er überbrückt die Ein- und Ausfahrten für die Trams und sinkt auf der Südseite bis fast auf die Höhe des Hofs ab. So scheint die Sonne in den 2500 m² grossen Hof. Er ist von der Strasse her über eine breite, durch das Haus hindurchführende Treppe erschlossen und dient als öffentlicher Erholungsraum. Ab dem zweiten OG auf Ebene des Hofs und in den darüberliegenden bis zu vier Geschossen sind die 97 Wohneinheiten in 55 Wohnungen für 240 Personen untergebracht, in den unteren beiden Stockwerken entlang der Badener- und Kalkbreitestrasse die 25 Gewerbebetriebe und Büros mit rund 150 Arbeitsplätzen.

Günstige Mieten, ein breites Angebot an WG-, Familien-, Paar- und Singlewohnungen, eine sorgfältige Vermietung und die Zusammenarbeit mit der Stiftung Domicil, die günstige Wohnungen an Leute mit kleinem Budget vermittelt, fördern eine breite soziale und altersmässige Durchmischung. Kleinwohnungen sind zu Clustern mit grossem Gemeinschaftsraum und Küche gruppiert, ein Grosshaushalt mit etwa 20 Wohnungen und 50 Personen unterhält eine Grossküche samt Speisesaal und Köchin. Über das Gebäude verteilt gibt es ausserdem «Jokerräume»: Einzelzimmer, die zu einer Wohnung hinzugemietet werden können.

Kleine und mittelgrosse Läden, dazu Gastrobetriebe beleben das Erdgeschoss entlang der Strassen und an der Treppe zum Hof. Sie machen die Ecke zu einem neuen Zentrum im Quartier. Die Neugass Kino-AG eröffnet das Kino Houdini mit fünf kleinen Sälen und einer Bar, gleich daneben liegen ein Gemüseladen und das grosse Café Bebek, dazu die Pension Kalkbreite mit elf Gästezimmern, zwei weitere Bars, ein Blumenladen und diverse Boutiquen. Eine Kinderkrippe, eine Hausarztpraxis und das Geburtshaus Delphys runden das Angebot ab. Im ersten und im zweiten Obergeschoss haben sich nebst kleineren Dienstleistern die Alternative Bank und Greenpeace Schweiz eingemietet.

Rue intérieure als verbindendes Element

Die im Wettbewerbsprogramm formulierte Aufgabe, die diversen Wohnformen und das vielseitige Raumprogramm miteinander zu verknüpfen, lösten Müller Sigrist mit einer inneren Erschliessungskaskade, die sich als Rue intérieure durch das gesamte Haus zieht. Sie beginnt in der Eingangshalle am Hof, verbindet auf verschiedenen Geschossen Kleinwohnungscluster mit Gemeinschaftsräumen und führt auf die gemeinschaftlichen Terrassen. Diese sind über Freitreppen miteinander verbunden, sodass ein Rundlauf durch und über die ganze Siedlung und rund um den Hof entsteht.

33 Quadratmeter sind genug, wenn ...

Die Genossenschaft Kalkbreite versteht Nachhaltigkeit als zwingenden Bestandteil aller Phasen von der Planung über den Bau bis zum Betrieb. Für alle drei Phasen hat sie einen Katalog mit Zielen in den Bereichen Ökonomie, Ökologie und Soziales erarbeitet, die zusammen mit den Planungsprofis und den Mieterinnen und Mietern umgesetzt werden. Im Unterschied zu den meisten Bauten mit Energielabel wird das Resultat hier auch tatsächlich gemessen, und das externe Monitoring empfiehlt bei Bedarf korrigierende Massnahmen.

Beim Flächenverbrauch pro Kopf zu sparen ist wohl der effektivste Beitrag, den der Bausektor an eine nachhaltige Entwicklung leisten kann. An der Kalkbreite nutzt eine Person inklusive der 300 m² nicht zumietbarer Gemeinschaftsräume durchschnittlich 33 m² Wohnfläche (Schweiz: ca. 50 m², Zürich: ca. 40 m²). Dank den vielen Gemeinschaftsräumen ist dies ohne Verzicht auf Lebensqualität möglich. Gästezimmer, Büroarbeitsplätze, Schulungs- und Sitzungsräume, die Eingangshalle mit Caféteria, ein Waschsalon und eine Pension entlasten die Wohnungen von nur sporadisch anfallenden Nutzungen. Ausserdem ist der Anteil von Wohnungen hoch, die von mehreren Personen bewohnt werden.

Der Standard Minergie-P-Eco galt als minimaler Zielwert. Die Vorgaben werden vor allem durch den gut gedämmten Gebäudekörper und die geringe Eigenverschattung erreicht. Die wenige Wärme, die zugeführt werden muss, holt eine Wärmepumpe aus dem Grundwasser. Vier nachgeschaltete Wärmepumpen erzeugen das warme Brauchwasser; dabei hilft auch die Abwärme der gewerblichen Kühlanlage und vom Gemeinschaftstiefkühler. Eine Photovoltaikanlage liefert einen grossen Teil des von der Wärmepumpe und den Lüftungsanlagen verbrauchten Stroms. Das gesamte Gebäude verfügt über Komfortlüftung mit Wärmerückgewinnung. Das Regenwasser wird für die Bewässerung der Dachterrassen gesammelt, der Rest versickert unter dem Gebäude. LED-Leuchten, Bestgeräte, Wasserspararmaturen und ein zentraler «Strom aus»-Schalter minimieren den Wasser- und Stromverbrauch in allen Räumen. Die Genossenschaft hat die baulichen Voraussetzungen für die 2000-Watt-Gesellschaft geschaffen, motiviert die Mieterinnen und Mieter aber auch zu einem schonenden Umgang mit Ressourcen. Die Kalkbreite ist eine autofreie Siedlung. Wer hier wohnen möchte, muss auf ein eigenes Auto verzichten, wer hier arbeitet, kommt ohne. Mit dem Tram im Haus und an dieser zentralen Lage lag das nah. Statt einer Tiefgarage gibt es ebenerdige Garagen für über 300 Velos.

Grünes Wohnzimmer fürs Quartier

Die Aussenflächen auf den Dächern, im Hof und auf den Trottoirs sind zentral für die integrativen Ziele des Projekts. Geht es nach dem Wunsch der Genossenschaft, soll die Terrasse über der Tramhalle im Sommer zum Wohnzimmer des an Freiflächen armen Quartiers werden. Die halböffentlichen Dachterrassen dienen den Bewohnerinnen und Bewohnern, die sie mitgestalten und pflegen. Schon in der Planungsphase legte die Genossenschaft einen temporären Garten an, der zum Labor des gemeinschaftlichen Gärtnerns wurde. Eine Mehrheit der Genossenschaftsmitglieder wünschte sich in einer Umfrage, auch künftig gemeinsam gärtnern zu können. Eine Terrasse wird darum zum Urban-Gardening-Areal mit Hochbeeten.

Service-Wohnen trotz günstigen Mieten

Die wichtigste Voraussetzung für eine soziale Durchmischung und eine sozial nachhaltige Integration ins Quartier sind günstige Mieten. Eine 100-m2-Wohnung kostet rund 2000 Fr./Monat netto, der Grundpreis für Büros und Ateliers inklusive technischen Grundausbaus liegt zwischen 250 und 300 Fr./m2 im Jahr. Für einen Neubau in der Zürcher Kernstadt ist das ausserordentlich günstig. Wer an der Kalkbreite einziehen will, muss Anteilscheine zum Preis von 260 Fr./m2 kaufen. Das macht pro Person zwischen 6000 und 11 000 Franken. Dank einem Solidaritätsfonds kann dieser Beitrag aufgeschoben oder verkleinert werden.

Trotz tiefen Mieten – wer an der Kalkbreite wohnt oder arbeitet, kann Serviceleistungen in Anspruch nehmen, wie sie bisher nur weit teurere Residenzen anbieten: In der am Innenhof gelegenen, grosszügigen Eingangshalle für die Bewohnerinnen und Bewohner befindet sich die Réception. Der Desk ist ganztags besetzt; die «Deskjockeys» kümmern sich um Betrieb und Unterhalt des Gebäudes, betreuen das Reservationssystem für Gästezimmer und Arbeitsplätze und bieten daneben Hilfen im Alltag an.

Die Mitbestimmung dauert an. Acht Arbeitsgruppen haben Regeln für den Betrieb und Nutzungskonzepte für die Gemeinschaftsräume erarbeitet. Dabei entstanden der «Gemeinrat», die monatliche Mieter- und Mieterinnenversammlung, sowie das «Gemeinwerk» zur Koordination der freiwilligen Aktivitäten.

Aus dem Mix an günstigen Wohnungen, Gemeinschaftsräumen, kulturellen Angeboten, sozialen Einrichtungen, Läden und Restaurants resultieren ein höchst urbaner Ort und eine hohe Lebensqualität, von der nicht nur wenige Mitglieder, sondern das Quartier und die Stadt Zürich profitieren. Diese erhält damit einen grossen Gemeinnutzen für den günstigen Baurechtszins, den sie der Genossenschaft gewährt.

Ohne GU flexibel bis zur Bauabnahme

Die Genossenschaft arbeitet ebenso visionär wie professionell. Für die Mitwirkung schuf sie in allen Phasen geeignete, effiziente Strukturen. Beeindruckend ist, dass sie das Projekt zusammen mit dem Architekturbüro Müller Sigrist ohne Generalunternehmen durchzog und selber eine zweiköpfige professionelle Projektleitung stellte. Dadurch wahrte sie sich viel Flexibilität während der Ausführung und konnte noch spät neue Materialien wählen, wie das massive Eichenholz in den Küchen, oder auf Wünsche der Mieter eingehen und Wohnungen zusammenlegen. Der Endausbau ist dem Zeitplan zurzeit einen Monat voraus, die Kosten werden vermutlich rund 1 Mio. Franken unter dem Budget bleiben. Die Wohnungen, Läden und Büros werden seit April etappenweise bezogen; am 22. und 23. August steigt das Eröffnungsfest.

TEC21, Fr., 2014.06.27



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2014|26-27 Kalkbreite: Ein Stück Stadt in Zürich

27. Dezember 2013Ruedi Weidmann
TEC21

«Gemeinden haben viel Gestaltungsspielraum»

Die Revision des Raumplanungsgesetzes, die das Volk im März 2013 beschlossen hat, bedeutet für die meisten Schweizer Gemeinden, dass sie kein Bauland mehr einzonen können und künftig nach innen wachsen müssen. Planen und Bauen im Bestand ist komplizierter als auf der Wiese und verlangt kleinen Gemeinden viel ab. Die Vereinigung für Landesplanung (VLP-ASPAN) unterstützt sie mit dem Beratungsprogramm «Dialog ­Siedlung». Direktor Lukas Bühlmann erzählt, was er in den Dörfern erlebt.

Die Revision des Raumplanungsgesetzes, die das Volk im März 2013 beschlossen hat, bedeutet für die meisten Schweizer Gemeinden, dass sie kein Bauland mehr einzonen können und künftig nach innen wachsen müssen. Planen und Bauen im Bestand ist komplizierter als auf der Wiese und verlangt kleinen Gemeinden viel ab. Die Vereinigung für Landesplanung (VLP-ASPAN) unterstützt sie mit dem Beratungsprogramm «Dialog ­Siedlung». Direktor Lukas Bühlmann erzählt, was er in den Dörfern erlebt.

TEC21: Die VLP bietet ihr Beratungsprogramm «Dialog Siedlung» Gemeinden an, die ­Fragen im Bereich der Ortsplanung haben. Wie helfen Sie den Gemeinden?
Lukas Bühlmann: Zuerst gehen wir auf Ortsbesichtigung mit einem Gemeinderat, dem Bauverwalter oder einer Behördendelegation. Wir lassen uns die Probleme erläutern, schauen aber auch nach links und rechts und stellen Fragen. Dann schreiben wir einen ­Bericht mit einer Einschätzung der Lage und schlagen der Gemeinde nächste Schritte vor. Diese bieten wir nicht selber an, sondern empfehlen dafür private Büros oder Hochschul­institute. Je nach Ausgangslage und Problemstellung schlagen wir eine Machbarkeitsstudie, einen Studienauftrag oder eine Testplanung mit zwei bis drei Planungsbüros vor. Oder als günstigere Variante ein Projekt mit Studierenden.

TEC21: Warum war in ländlichen Gemeinden Verdichten bisher kein Thema?
L. B.: Weil sie einfach neues Bauland einzonen konnten, wenn jemand bauen wollte. Das ist viel einfacher als Bauen im Bestand. Doch das ist nun vorbei. Das Volk hat im März der Revision des Raumplanungsgesetzes zugestimmt (vgl. Kasten). Nun merken die Gemeinden, dass sie nicht mehr um die Innenentwicklung herumkommen. Kleine und mittlere Gemeinden – mit nebenamtlichen Gemeinderäten und minimalen Verwaltungen – sind damit rasch überfordert. Darum bieten wir die Beratung an.

TEC21: Sie sprechen von Innenentwicklung, nicht von Verdichten. Mit Absicht?
L. B.: Ja. Verdichten, im Sinn von dichter und höher bauen, ist nur ein Teil der Siedlungs­entwicklung nach innen. Zu dieser gehören auch Massnahmen, die das Bauvolumen nicht vergrössern, sondern bestehende Bauten besser und vielfältiger nutzen.
«Innenentwicklung» ist im ländlichen Raum auch weniger ein Reizwort als «Verdichten».

TEC21: Wie kommt das verschärfte Raumplanungsgesetz in den Gemeinden an?
L. B.: Unterschiedlich. Einige treten sogar aus der VLP-ASPAN aus mit der frustrierten ­Begründung, sie könnten nun nicht mehr planen, der Kanton schreibe ja jetzt alles vor. Viele merken aber, dass sie beträchtliche Gestaltungsspielräume haben. Natürlich ist es für die Gemeinden eine enorme Aufgabe, Lösungen für strukturelle Probleme zu ­ent­wickeln – ich beobachte aber oft, dass sie mit der Zeit Freude daran bekommen.
Die ­Siedlungsentwicklung gehört zu den ureigenen Kernaufgaben der Gemeinden.
Sie sind nun gefordert, etwas aus dem Bestehenden zu machen – wie sie das tun, können sie selber am besten bestimmen.

TEC21: Welche neuen Fragen kommen auf die Gemeinden zu?
L. B.: Die Anliegen, mit denen sich die Gemeinden an uns wenden, sind vielfältig, doch ­drehen sie sich um ähnliche strukturelle Probleme. Meist werden diese zuerst im Orts­zentrum bewusst, oft an einzelnen Problemliegenschaften: Soll die Gemeinde eine ­Wirtschaft am Dorfplatz kaufen, für die sich kein Pächter mehr findet? Bei der Begehung merken wir dann, dass man die Frage in einem grösseren Rahmen betrachten muss: Der ganze Ortsteil hat Probleme, Läden ziehen weg, Durchgangsverkehr macht das Wohnen unattraktiv, Wohn- und Ökonomiegebäude stehen leer usw. Aus der Distanz können wir eine gesamtheitliche Sicht einbringen, Potenziale für mögliche Entwicklungen erkennen und zeigen, wie andere Gemeinden mit ähnlichen Situationen umgehen.

TEC21: Wo brennt es mehr, in den Agglomerationen oder in Randgebieten?
L. B.: Überall. In boomenden Agglomerationsgemeinden ist zwar die Ausgangslage eine ganz andere als in schrumpfenden Berggemeinden. Aber die Aufgabe einer nachhaltigen Siedlungsentwicklung ist für alle eine enorme Herausforderung.

TEC21: Planen im Bestand ist gewiss komplex, vor allem, wenn noch Auflagen vom Ortsbild- und Denkmalschutz hinzukommen. Doch dünkt einen oft, dass Gemeinden das ­Potenzial ihres Bestands nicht erkennen: Wertvolle Altbauten, Gärten, Plätze oder Bach­ufer bleiben ungenutzt oder werden gar beseitigt.
L. B.: Ja, das stimmt leider. Ich glaube, das ist die Folge einer Überforderung. Die Gemeinden sind ja nicht nur in der Raumplanung, sondern auch bei der Bildung, im Sozialwesen laufend stärker gefordert; gleichzeitig steht weniger Geld zur Verfügung.
Das kann Frust erzeugen. Aber ich treffe auch erfreuliche Situationen an und staune, wie stark sich manche Gemeindebehörden engagieren.

TEC21: Lähmend für die Innenentwicklung ist das Horten von Bauland: Eigentümer von ­eingezontem Land bebauen es nicht, weil sie hoffen, später mehr Geld dafür zu erhalten.
L. B.: Viele Gemeinden konnten Bauwilligen deswegen kein Land anbieten und zonten darum neues ein. Das revidierte RPG weist nun die Kantone an, rechtliche Massnahmen gegen die Baulandhortung vorzusehen, etwa ein Kaufrecht der Gemeinde nach zehn Jahren,
wie es Obwalden kennt. So entsteht eine Baupflicht. Appenzell Ausserhoden kann solche Flächen wieder auszonen; deshalb kommen solche Parzellen dort heute auf den Markt.
Ein Problem sind auch unternutzte Grundstücke: leere Scheunen oder einstöckige Gewerbehallen an gut erschlossenen Lagen, wo eigentlich Wohnungen und Läden sinnvoll wären.
Im Entwurf für ein neues Planungs- und Baugesetz im Kanton St. Gallen schlägt die Regierung vor, dass die Gemeinden über solche Parzellen Entwicklungszonen mit einem kommunalen Enteignungsrecht verhängen können. Nur schon, dass solche Verfahren möglich sind, bringt Bewegung in den Grundstückmarkt.
Was auch nützt, sind Gespräche. Die Luzerner Gemeinde Ruswil hat den pensionierten ­Verwalter der Regionalbank als «Kümmerer» angestellt. Als Respektsperson, die die lokalen Verhältnisse gut kennt, führt er Gespräche, versucht zu überzeugen und Gelegenheiten wahrzunehmen. Das ist unbefangener, als wenn der Gemeindepräsident auftaucht, und günstiger, als wenn es der Ortsplaner macht.

TEC21: Wo liegen weitere Möglichkeiten für die Innenentwicklung ausser im Füllen von Baulücken und im Ersetzen von leer stehenden Bauten?
L. B.: Im Umnutzen von nicht mehr genutzten Ökonomiegebäuden und in Umzonungen: Viele ländliche Gemeinden haben zu grosse Industrie- und Gewerbezonen. Auch Aufzonen kann sinnvoll sein.
Wir hören zwar oft: «Verdichten ist etwas für die Stadt, wir sind hier
ein Dorf.» Doch auch in ländlichen Gemeinden gibt es Potenzial für Aufzonungen, etwa um die Bahnstation herum. Man muss allerdings behutsam vorgehen! Gute Beispiele für sorgfältige Anbauten und Aufstockungen sind da sehr wertvoll.

TEC21: Ein zentrales Problem ist sicher, dass in kleinen Gemeinden das Wissen fehlt, wie man solche Planungsverfahren aufgleist und steuert. Dieses Wissen kann man einkaufen – oder ist das für die Gemeinden zu teuer?
L. B.: Ja, die Kosten sind ein grosses Problem. Wenn Gemeindevertreter hören, was eine Testplanung oder ein Studienauftrag kostet, verwerfen sie oft die Hände. Selbst wenn der Gemeinderat vom Nutzen überzeugt ist, kann der Kredit in der Gemeindeversammlung scheitern. Dabei geht es um niedrige sechstellige Beträge – wenig Geld, verglichen mit dem, was eine Gemeinde für die Erschliessung von neu eingezontem Land ausgibt.
Aber das Resultat eines Studienauftrags ist eben nicht vorhersehbar, und danach folgen noch weitere Planungsschritte. Wir merken, dass wir die Gemeinden hier etwas länger ­begleiten und besser mit Argumenten versorgen müssen. Eine andere Möglichkeit ist, das ­Projekt als Modellvorhaben des Bundes anzumelden oder Finanzierungshilfen beim Kanton, bei Patengemeinden oder Stiftungen zu organisieren. Qualität kostet eben, aber eine gute Planung lohnt sich später x-fach. Letztlich kommt man nicht um Studienaufträge herum, trotzdem suchen wir nun nach günstigeren Verfahren, die wir kleinen Gemeinden anbieten können.

TEC21: Was könnte das sein?
L. B.: Gut moderierte eintägige Workshops etwa können schon viel leisten: die entschei­denden Akteure für Probleme sensibilisieren, verschiedene Sichtweisen eines Problems ­erfassen, Gründe für Blockaden aufspüren und auch bereits mögliche Lösungswege ­andenken. Natürlich entsteht so noch kein Projekt, aber man kann einen Prozess lancieren und auf der wichtigen Ebene der Kommunikation schon erstaunlich viel erreichen.

TEC21: Der Erfolg solcher Entwicklungsprozesse hängt wohl gerade in kleinen Gemeinden davon ab, ob die Bevölkerung dahintersteht. Das bedeutet, dass partizipative Elemente ­nötig sind – eine weitere Überforderung? Was raten Sie Gemeinden bei diesem Thema?
L. B.: Es gibt ein paar allgemeine Regeln: Die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt für die Information der Bevölkerung ist zentral, man darf nicht zu hohe Erwartungen wecken, ­usw. – aber ein allgemeingültiges Rezept gibt es nicht. Es kommt auf die Art des Projekts, die Grösse des Perimeters und die Vorgeschichte eines Orts an: Wo schon mehrere ­Anläufe in Konflikten geendet haben, muss man umsichtiger vorgehen als an einer Stelle, wo alle sich einig sind, dass etwas geschehen muss.
Mich überzeugt nach wie vor die Vorgehensweise in unserem Programm «Netzwerk Altstadt», das wir schon länger für Gemeinden mit einer Altstadt anbieten (vgl. Kasten).
Dort beginnen wir – noch ohne die Bevölkerung – mit einer «Stadtanalyse»: einer ersten groben Einschätzung des Bestands, der laufenden Veränderungen und von vorhandenem Potenzial. Dann erarbeiten wir – nun zusammen mit wichtigen Akteuren, vor allem dem ­Gewerbe – eine Nutzungsstrategie. Sie zeigt mögliche Entwicklungen auf und diskutiert mögliche Massnahmen. Diese Strategie besprechen wir dann mit der Bevölkerung. Anschliessend richten wir «Gassenclubs» ein: Die Eigentümer aus einer Gasse setzen sich an einen Tisch und diskutieren mit uns ihre Probleme, Wünsche, Bedenken und Möglich­keiten – ganz offen, denn nun ist bewusst niemand von der Gemeinde anwesend. So spüren wir, was wirklich nötig und möglich ist, und es entstehen neue Ideen. In Delsberg ist das beispielsweise ausgezeichnet gelungen. Diese Erfahrungen mit partizipativen Prozessen aus dem «Netzwerk Altstadt» übertragen wir nun ins Programm «Dialog Siedlung». Denn das Vorgehen kann durchaus auch in Land- und Agglomerationsgemeinden funktionieren.

TEC21: Sind solche Methoden nicht extrem anfällig? Kann da nicht ein einziger Besitzer, der sich querstellt, den Prozess zu blockieren?
L. B.: Jedem Planungsprozess drohen Blockaden, beispielsweise durch Rekurse. Der Erfolg ist immer eine Frage von erfolgreicher Kommunikation. Der Einbezug aller Stakeholder scheint zunächst aufwendig, und natürlich muss man dann auch mit Leuten diskutieren, die zunächst partout nichts ändern wollen. Aber mich überzeugen die Erfolge, die wir damit erzielen.

TEC21: Design und Moderation von partizipativen Prozessen und eine gute Öffentlichkeitsarbeit brauchen Erfahrung. Wenn sie nicht vorhanden ist, braucht eine Gemeinde Unter­stützung: Entsteht hier ein neuer Beruf?
L. B.: Ja, tatsächlich, das kann ich mir vorstellen. Solche Projektbegleitungen sind zunehmend gefragt. Das muss kein Planer sein, es kann auch eine Kommunkationsspezialistin oder eine Fachperson mit Erfahrung in soziokultureller Entwicklung und Kenntnis der raumplanerischen Instrumentarien sein.

TEC21: Wäre es eine Aufgabe der Kantone, die Gemeinden hier zu unterstützen?
L. B.: Ja. Die Kantone würden nämlich entlastet, wenn alle Gemeinden in der Lage wären, selbstständig eine nachhaltige Siedlungsentwicklung zu planen. Einige Kantone unterstützen die Gemeinden bereits fachlich, etwa der Kanton Aargau, der dafür vor einigen Jahren ein Team eingerichtet hat. Finanzielle Hilfe vom Kanton für eine Prozessbegleitung können Gemeinden jedoch nicht erwarten. Es wäre aber grundsätzlich zu überlegen.

TEC21: Für die Gemeinden ist die Situation belastend – Sie sehen sie als Chance?
L. B.: Ja, die Entwicklung macht mir viel Freude! In der Kommunalplanung wird eine ganz neue Dimension erkennbar. Ich bin zuversichtlich, dass sich bald in vielen Gemeinden etwas bewegt. Es sind ja nicht nur Bund und Kantone und das RPG, die eine nachhaltige Entwicklung fordern. Es ist auch die Bevölkerung, die begriffen hat, dass wir das Siedlungsgebiet nicht mehr ausdehnen dürfen. Heute wehren sich auch die Bauern für das Kulturland. Und immer mehr Leute, alte und junge, in der Stadt oder im Dorf, möchten wieder in einem lebendigen Ortskern wohnen, nah beim Geschehen, bei den Dingen des täglichen Bedarfs und den öffentlichen Verkehrsmitteln. Es besteht also auch ein Wunsch nach Innen­entwicklung. So entstehen neue Koalitionen. Die Siedlungsqualität erhält einen ­grösseren Stellenwert. Was hier gerade geschieht, ist mehr als eine Trendwende beim Bodenverbrauch: ­Ich sehe, dass sich ein Paradigmenwechsel in der Siedlungsentwicklung abzeichnet.
Damit er wirklich stattfindet, muss die Aufbruchstimmung, die in einem Teil der Gemeinden schon herrscht, sich auf andere übertragen und möglichst lang anhalten.

TEC21: Steckt darin nicht ein gehöriger Schuss Wunschdenken?
L. B.: Zugegeben: Zu uns kommen nur Gemeinden, die etwas tun wollen. Das prägt meine Wahrnehmung. Die Kantonsplaner sind da sicher skeptischer, da sie sich auch mit allen anderen Gemeinden auseinandersetzen müssen. Natürlich ist der Paradigmenwechsel erst in einigen Pioniergemeinden deutlich sichtbar – die ja dann den Wakkerpreis erhalten. Viele Gemeinden lassen die Ortsentwicklung immer noch schlittern, andere sind erst am Anfang.

TEC21: Was sind Erfolgsfaktoren für die Innenentwicklung?
L. B.: Sich nicht zu viel vornehmen, behutsam vorgehen, gut informieren, die Bevölkerung einbeziehen. Wenn die Bevölkerung nur hört, dass etwas im Tun ist und dass es Geld ­kostet, aber nichts Genaues weiss und sich nicht äussern kann, dann ist die Gefahr des Scheiterns gross. Lang bevor gebaut wird, braucht es sichtbare Meilensteine gegen die ­Ungeduld: Veranstaltungen, eine Ausstellung, ein Fest, öffentliche Zwischennutzungen … Hilfreich sind auch gute Beispiele. Ganz wichtig ist eine Schlüsselperson, die sich des ­Prozesses annimmt, idealerweise eine Gemeinderätin oder der Bauverwalter, eventuell eine Bürgergruppe oder ein Investor mit Sinn für den Gemeinnutzen. Es braucht eine engagierte Projektleitung.
Die geeigneten Planungsinstrumente müssen gefunden und ein Netzwerk für fachliche, ­ideelle und finanzielle Unterstützung aufgebaut werden.
Wir empfehlen auch dringend eine aktive Bodenpolitik: Dass die Gemeinde in den Besitz von Land kommt, ist ein Schlüsselelement der Innenentwicklung. Es schafft vor allem ­Spielraum: Gute Projekte können dann mit einem Landabtausch ermöglicht werden. Die ­Gemeinde kann ihr Land danach wieder verkaufen, aber vorher dafür sorgen, dass darauf ein gutes Projekt entsteht, in das die Interessen der Dorfgemeinschaft einfliessen. Noch besser kann sie ein Projekt steuern, wenn sie das Land im Baurecht abgibt.

TEC21: Man sieht heute Bauten, die Postulate der Innenentwicklung erfüllen. Doch oft fehlt die architektonische Qualität. Was können Sie in dieser Hinsicht ausrichten?
L. B.: Um diesen Aspekt wird man sich künftig stärker kümmern müssen. Denn nur ein schönes Dorf ist ein nachhaltiges Dorf. Wir weisen die Gemeinden darauf hin, dass gute Architekur allen nützt, und empfehlen Architekturwettbewerbe. Einige Gemeinden erlassen Gestaltungsregeln für bestimmte Bauzonen oder verlangen von den Grundeigentümern vor Einzonungen Überbauungsstudien, die in der Gemeinde diskutiert werden. Der Kanton Luzern hat dazu eine Arbeitshilfe geschaffen. Der Kanton Graubünden bietet Bauherrschaften und Gemeinden Beratung in Gestaltungsfragen an.
Gemeinden wie Disentis oder Fläsch haben die Elemente der traditionellen Bauweise analysieren lassen und daraus ­Regeln für die ­bauliche Weiterentwicklung abgeleitet. Dort wissen Investoren, dass die Gemeinde sie unterstützt, dass aber über die Qualität der Gestaltung diskutiert wird. Da ab jetzt im Bestand gebaut wird, werden sich ästhetische Fragen häufiger und schärfer stellen.

TEC21, Fr., 2013.12.27



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2014|01-02 Dörfer verdichten

18. Oktober 2013Ruedi Weidmann
TEC21

Genfs Richtplan 2030: Ende der Zonenplanung

Genfs Kantonsparlament hat den neuen kantonalen Richtplan genehmigt. Er ist von historischer Bedeutung, denn er verlässt das überholte Prinzip, die Stadt in Wohn-, Industrie- und Dienstleistungszonen aufzuteilen. ­Künftig soll der Raum im Kanton Genf entweder Stadt oder Land sein: entweder dicht bebaut und funktional gemischt oder unbebaut und naturnah. Die bestehende Bebauung wird radikal verdichtet. Die grosse Frage aber ist: Wer soll das alles bauen?

Genfs Kantonsparlament hat den neuen kantonalen Richtplan genehmigt. Er ist von historischer Bedeutung, denn er verlässt das überholte Prinzip, die Stadt in Wohn-, Industrie- und Dienstleistungszonen aufzuteilen. ­Künftig soll der Raum im Kanton Genf entweder Stadt oder Land sein: entweder dicht bebaut und funktional gemischt oder unbebaut und naturnah. Die bestehende Bebauung wird radikal verdichtet. Die grosse Frage aber ist: Wer soll das alles bauen?

Im Kanton Genf waren Verkehrs- und Stadtentwicklung und der Wohnungsbau in den letzten Jahrzehnten politisch weitgehend blockiert. Alle Projekte scheiterten an der Urne. Daraus resultierten Versäumnisse: Die 1.5-Millionen-Metropole hat bis heute keine S-Bahn, dafür einen katastrophal hohen Anteil der Autos am Gesamtverkehr, tägliche Staus, Luft- und Lärmwerte im Alarmbereich. Die Agglomeration ist rasch gewachsen, jedoch nur in Frankreich, da in Genf kaum Wohnungen gebaut wurden. Ein Grund dafür liegt in der kantonalen Politik, die stark auf soziale Gerechtigkeit ausgerichtet ist. Das ist aus Sicht einer nachhaltigen Entwicklung zwar positiv, doch bremsen etliche Gesetze Investitionen in den Wohnungsbau. Das Resultat: grosse Wohnungsnot in Genf, Abwanderung über die Grenze und noch mehr Pendlerverkehr (TEC21 36/2011).

Raumplanung über die Landesgrenzen

Nach einem langen Vernehmlassungsverfahren und etlichen Modifikationen hat nun aber das Kantonsparlament am 20. September den neuen kantonalen Richtplan 2030 angenommen. Er basiert auf den Hauptthemen Stadtentwicklung, Verkehr und Landschaftsraum. Neu und ausserordentlich an diesem Plan ist zunächst, dass er das Genfer Agglomerationsprogramm konkretisiert, das neben dem Kanton Genf auch den Waadtländer Bezirk Nyon und Teile der französischen Departemente Ain und Haute-Savoie umfasst. Somit beschreibt der Richtplan die künftige Entwicklung Genfs auf überkantonaler, ja internationaler Ebene.

50 000 Wohnungen in 17 Jahren

Im Bereich Stadtentwicklung sieht der Richtplan den Bau von 50 000 neuen Wohnungen bis 2030 vor. Zur Erinnerung: Das boomende Zürich realisierte im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts «10 000 Wohnungen in 10 Jahren». Bemerkenswert ist auch, wo und wie dieses Wachstum stattfinden soll: Das dichte, multifunktionale Stadtzentrum Genfs dient als Vorlage für die Stärkung von Subzentren und die Nachverdichtung bestehender Quartiere entlang von Achsen des öffentlichen Verkehrs. Ziel ist eine Stadt der kurzen Wege, in der man sich zu Fuss, mit dem Velo und in öffentlichen Verkehrsmitteln zwischen Wohnung, Arbeitsplatz, Einkaufsläden und Erholungsorten bewegen kann. Im Richtplan sind dafür zehn prioritäre Entwicklungszonen bestimmt worden, die «Grand Projets» (vgl. Kasten).

Stadt oder Land

Ziel ist auch eine Stadt, die bis an ihre Ränder so dicht und lebendig bleibt wie in ihrem Zentrum, aber von naturnahen und landwirtschaftlichen Grünzügen umgeben und durchdrungen ist. Denn zwischen den dichten Stadtteilen liegt ein Netz von öffentlichen Grünräumen, die bis in die Kernstadt führen. Der ländliche Raum wird nicht mehr als Reserve für die Siedlungsentwicklung betrachtet, sondern als Raum für die stadtnahe Lebensmittelproduktion und für Projekte zur Vernetzung der natürlichen Lebensräume (vgl. S. 32). öffentlicher nahVerkehr Im Bereich Verkehr sieht der Richtplan endlich ein ausreichendes Regionalverkehrsnetz vor. Kernstück ist die S-Bahnlinie CEVA, die seit 2011 im Bau ist (Tec21 36/2011). Rund um ihre von Jean Nouvel entworfenen Stationen soll die Bebauung nachverdichtet werden. Der Richtplan stärkt auch die Renaissance des Genfer Trams, das vor 60 Jahren fast ganz abgeschafft wurde. Das heute wieder existierende Netz soll mit Linien nach Bernex und über die Landesgrenzen nach St. Julien, Ferney-Voltaire und Annemasse ergänzt werden.

Anfang vom Ende der Zonenplanung

Die Verdichtung geschieht zum einen auf einigen neu eingezonten Flächen, vor allem aber in bestehenden Industrie- und Einfamilienhausgebieten, von denen viele für mehr Ausnützung und gemischte Nutzung geöffnet werden. Ein Beispiel ist das auch im internationalen Vergleich herausragende Projekt zur Umwandlung des Industriegebiets Praille-Acacias-Vernets (PAV) in ein Zentrumsgebiet (Tec21 36/2011). Auch wenn der Zonenplan erhalten bleibt, läutet der neue Genfer Richtplan damit das Ende der klassischen Zonenplanung ein. Er überwindet das überholte Konzept der Aufteilung in Wohn-, Industrie- und Dienstleistungszonen. Die nachhaltige Stadt bietet alles im Quartier und produziert keinen Zwangspendelverkehr. Das ist ein historischer Schritt hin zu nachhaltigen Siedlungsmustern.

Wenig politischer Widerstand

Auf dieser planerischen und konzeptionellen Ebene überholt der Kanton Genf alles, was bisher in der Deutschschweiz in Sachen nachhaltiger Raumplanung gelaufen ist, um Längen. Der politische Widerstand war diesmal, zum Erstaunen aller Beteiligten, nicht unüberwindbar. Gegen das Aufzonen der Einfamilienhausgebiete gab es einigen Protest, doch scheinen das Genfer Stimmvolk und die wichtigsten Parteien und Verbände eingesehen zu haben, dass es einfach nicht weitergehen konnte wie bisher. Auch der Gewerkschaftsbund und der ebenso mächtige Mieterverband unterstützen den Aufbruch, nachdem sie teilweise höhere Anteile für den gemeinnützigen Wohnungsbau aushandeln konnten.

Und wer BAUT das alles?

Das grösste Hindernis liegt für einmal nicht in der Politik, sondern in der Macht der Gewohnheit. Die Frage ist nämlich, wer das alles bauen soll. Private und institutionelle Anleger werden in Genf durch Gesetze gebremst, die für soziale Gerechtigkeit im Wohnungsmarkt sorgen sollen, diesen jedoch kompliziert und unlukrativ gemacht haben. Non-Profit-Investoren wie Genossenschaften, Stiftungen oder die Gemeinden sind in den vergangenen Jahren auch nicht durch Initiative aufgefallen. Hier gäbe es Anregungen ennet dem Röstigraben – der für junge Genferinnen und Genfer übrigens kaum mehr von Bedeutung ist. Die jahrzehntelange Blockade in der Stadtentwicklung hat eine Planermentalität gefördert, die alles berücksichtigen will und sich nicht traut, Fehler zu machen. Deshalb wurden in Genf in den letzten Jahren in umfassenden Überlegungen und beeindruckenden Diskussionen zahllose kluge Studien, überzeugende Konzepte, wunderbare Pläne und schöne Publikationen erarbeitet – jedoch kaum Bauten realisiert, an denen die Ideen endlich sichtbar würden und überprüft werden könnten. Das Savoir-faire, der Mut zum Versuch scheint verloren gegangen zu sein. Beschleicht einen in der Deutschschweiz in neuen Quartieren nicht selten das Gefühl, etwas mehr konzeptionelle Überlegungen wären der Nachhaltigkeit und der Lebensqualität zuträglich gewesen, so packt einen in Genfs epischer Debatte pure Ungeduld: Baut doch endlich! Dann kann man die ersten Bauten evaluieren und die Konzepte und Verfahren aufgrund erster konkreter Erfahrungen justieren (vgl. S. 24). Nur in realen Projekten können Architekturschaffende adäquate Formen für die neuen Ansprüche finden – etwa im Wohnungbau, wo die Genfer Büros mangels Gelegenheit offensichtlich aus der Übung gekommen sind (vgl. S. 28).

TEC21, Fr., 2013.10.18



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2013|43 Genf plant die Zukunft

30. August 2013Ruedi Weidmann
Andreas Hofer
TEC21

Grandhotel – Dichte und Lebensqualität

Viele Qualitäten, die heute Ziel von nachhaltigen Überbauungen sein müssen, finden sich im Grandhotel: Es ist kompakt, dicht, vereint Wohnen und Arbeiten, ist sozial durchmischt und darauf getrimmt, mit seinen ­Räumen und Dienstleistungen hohe Lebensqualität zu schaffen. Kann das Grandhotel der Siedlungsplanung als Inspirationsquelle dienen? Die Artikel in diesem Heft gehen dieser Frage am Beispiel des Hotels Waldhaus Sils nach. Die vielleicht wichtigste Antwort: Nicht immer führt Sparsamkeit zu mehr Nachhaltigkeit, denn die Schönheit von gemeinsam genutzten Räumen ist vermutlich Voraussetzung für eine nachhaltige Lebensweise.

Viele Qualitäten, die heute Ziel von nachhaltigen Überbauungen sein müssen, finden sich im Grandhotel: Es ist kompakt, dicht, vereint Wohnen und Arbeiten, ist sozial durchmischt und darauf getrimmt, mit seinen ­Räumen und Dienstleistungen hohe Lebensqualität zu schaffen. Kann das Grandhotel der Siedlungsplanung als Inspirationsquelle dienen? Die Artikel in diesem Heft gehen dieser Frage am Beispiel des Hotels Waldhaus Sils nach. Die vielleicht wichtigste Antwort: Nicht immer führt Sparsamkeit zu mehr Nachhaltigkeit, denn die Schönheit von gemeinsam genutzten Räumen ist vermutlich Voraussetzung für eine nachhaltige Lebensweise.

Viele Qualitäten, die heute Ziel von nachhaltigen Überbauungen sein müssen, finden sich im Grandhotel: Es ist kompakt, dicht, vereint Wohnen und Arbeiten, ist sozial durchmischt und darauf getrimmt, mit seinen ­Räumen und Dienstleistungen hohe Lebensqualität zu schaffen. Kann das Grandhotel der Siedlungsplanung als Inspirationsquelle dienen? Die Artikel in diesem Heft gehen dieser Frage am Beispiel des Hotels Waldhaus Sils nach. Die vielleicht wichtigste Antwort: Nicht immer führt Sparsamkeit zu mehr Nachhaltigkeit, denn die Schönheit von gemeinsam genutzten Räumen ist vermutlich Voraussetzung für eine nachhaltige Lebensweise.

Die Schweiz wächst, und dieses Wachstum findet heute auch wieder in den Städten statt. Es entstehen Grosssiedlungen, eigentliche Stadterweiterungen, die in ihrer Dimension mit den Projekten der 1960er- und 1970er-Jahre vergleichbar sind. Waren diese Höhe- und Endpunkt der funktionalistischen Konzepte aus den 1920er-Jahren, so ist man sich heute einig in der Kritik am monofunktionalen Siedlungsbau, an den im Abstandsgrün stehenden, infrastrukturell unterversorgten Wohnblocks, die oft schlecht an die öffentlichen Verkehrsnetze angebunden sind. Heute geht es um Verdichtung, urbane Qualitäten und Vielfalt.

Was ist eine nachhaltige Siedlung?

An guten Lagen versuchen Investoren Zentralität neu zu schaffen, indem sie Stadtteile mit einer eigenen Nachfrage und hoher Attraktivität für die weitere Nachbarschaft entwickeln. Diese urbanen Implantate bedienen sich häufig bei Bildern aus dem 19. Jahrhundert, und ihre Vermarktung spielt mit Assoziationen der dichten europäischen Stadt. Beispiele sind die an S-Bahnstationen im Grossraum Zürich liegenden Quartiere im Limmatfeld in Dietikon, das im Rahmen eines Gestaltungsplans von Hans Kollhoff mit dem Slogan «Unsere kleine Stadt» wirbt, und das Richti-Areal in Wallisellen, dem Vittorio Magnago Lampugnani ein gründerzeitliches Gepräge mit Blockrandbebauung, Innenhöfen, Plätzen und Arkaden verliehen hat. Als Vorbilder für eine weitere nachhaltige Entwicklung sind diese Grossüberbauungen aber nicht geeignet. Denn eine Massstabsebene kleiner und an weniger prominenten Standorten fehlen dieser Strategie Masse und Überzeugungskraft. Die Einkaufs- und Freizeitlandschaften an den Autobahnkreuzen saugen die Kaufkraft aus Quartieren und Ortschaften, und die Produktion ist – bestenfalls – in Gewerbegebiete ausgelagert. Für eine urbane Vielfalt in den neuen Bebauungen fehlen deshalb die Nutzungen; es entstehen Siedlungen mit Wohnungen bis ins Erdgeschoss, deren private Vorzonen an Freiräume grenzen, die keine wirklichen Plätze sind. Der Versuch, mit guter Architektur und hochwertiger Materialisierung Identität zu schaffen, bleibt an der Oberfläche. Die mittlerweile hohen Dichten in diesen behaupteten «Zentrumsgebieten» und «Stadtentwicklungsschwerpunkten» führen nicht zu urbaner Lebendigkeit, sondern einzig zu Beengtheit.

Anreicherung durch soziale Funktionen

Wenn die Siedlung als Ort für nachhaltige Lebensstile mit hoher Lebensqualität tauglich werden soll, muss sie neu erfunden und angereichert werden. Material dafür bieten der demografische Wandel und die komplexeren Lebensentwürfe. Kollektive Organisation der Kinderbetreuung, neue Formen von Heim- und Teilzeitarbeit, Unterstützung bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit, Wellness, Sport und Erholung, Geselligkeit und Mitbestimmung, Mitarbeit bei der lokalen Nahrungsproduktion und -versorgung: All diese Bedürfnisse brauchen Räume und können Erdgeschosse zu verschiedenen Tageszeiten beleben. Die damit verbundene Kultur der Nähe und gegenseitigen Hilfe kann die Gemeinschaft gegenüber einer immer prekäreren Lohn- und Geldwirtschaft robuster machen. Vielleicht gelänge mit dieser Relokalisierung sozialer Funktionen im Wohnkontext auch eine Trendwende bei der Mobilität.

Keine historischen Vorbilder

Für diese neuen planerischen Aufgaben taugen als Referenz weder Rückgriffe auf dörfliche Strukturen noch der Fundus der Wohnutopien frühsozialistischer Gemeinschaften. So eindrücklich etwa die soeben als nationales Monument renovierte Familistère in Guise[1] einen verantwortungsvollen Kapitalismus als Alternative im 19. Jahrhundert dokumentiert – solche historischen Beispiele leiten das Wohnen von ökonomischen Zwangsgemeinschaften ab. Ihnen fehlt die luftige Freiwilligkeit einer reichen, postindustriellen Gesellschaft. Eine Reihe von genossenschaftlichen Projekten im Grossraum Zürich erprobt zurzeit das Potenzial dieser sozialen Funktionen für den Siedlungsbau. Diese Pionierprojekte sind äusserst ambitioniert und stellen sich breit den gesellschaftlichen Herausforderungen, sie können aber leicht als Einzelfälle und «gated communities» für Gutmenschen kritisiert werden. Deshalb haben wir in der Baugeschichte nach Beispielen für die Kraft von dichten, integrierten, hybriden Gebäuden gesucht. Fündig geworden sind wir bei bei der Luxushotellerie, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts in den Schweizer Alpen entwickelte.

Das Grandhotel als Inspiration

Gerade in ihrer Künstlichkeit, ihrem Exotismus sind die Grandhotels umfassende Organismen. Hier leistete sich zum ersten Mal eine erfolgreiche bürgerliche Gesellschaft einen voll ausgestatteten Raum jenseits der alltäglichen Arbeits- und Familienzwänge und ausserhalb der Stadt. Das Grandhotel ist kompakt gebaut, dicht belegt, vereint Wohnen und Arbeiten unter einem Dach, ist sozial durchmischt (Gäste und Angestellte) und darauf getrimmt, durch hoch verdichtete Dienstleistungen Lebensqualität zu produzieren – Charaktereigenschaften, die in ihrer Kombination in dichten, nachhaltigen Siedlungen und Quartieren hochwillkommen sind (TEC21 9/2013, S. 18). Viele der in diesem Kontext entwickelten Qualitäten, Infrastrukturen und Dienstleistungen, nicht zuletzt das damit verbundene Wissen über die «Herstellung» von Lebensqualität, scheinen uns aufschlussreich und anregend für die aktuelle Debatte um Stadt- und Raumentwicklung, Nachhaltigkeit und Suffizienz. Wohl wissend, dass das ökonomische Modell eines Hotels nicht dem einer Wohnsiedlung entspricht, wollten wir herausfinden, ob und in welcher Hinsicht das Grandhotel als Inspirationsquelle für die Siedlungsplanung dienen kann. Deshalb haben wir die Leitung des Hotels Waldhaus in Sils angefragt, ob sie bereit wäre, mit uns zusammen ihr Haus daraufhin zu durchleuchten und diese Frage zu erörtern. Das Resultat dieser Recherche umfasst auf den folgenden Seiten eine Beschreibung der Räume und der Dienstleistungen dieses Fünfsternehauses im Oberengadin und das Protokoll eines Rundgangs und eines langen Gesprächs mit dem Hoteldirektor.


Anmerkung:
[01] www.familistere.com

TEC21, Fr., 2013.08.30



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TEC21 2013|36 Inspiration Grandhotel

30. August 2013Ruedi Weidmann
TEC21

Hotel Waldhaus Sils: Räume, Service und Stil

Im Gegensatz zu vielen anderen Grandhotels wurde das Waldhaus Sils nie durch grobe Umbauten verändert. Noch immer führt die Gründerfamilie das 1908 eröffnete Haus. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht das Prinzip der Pflege – von Gästen und Personal, von Architektur und Mobiliar, von Dienstleistungen und Räumen, von Tradition und sanfter Erneuerung.

Im Gegensatz zu vielen anderen Grandhotels wurde das Waldhaus Sils nie durch grobe Umbauten verändert. Noch immer führt die Gründerfamilie das 1908 eröffnete Haus. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht das Prinzip der Pflege – von Gästen und Personal, von Architektur und Mobiliar, von Dienstleistungen und Räumen, von Tradition und sanfter Erneuerung.

Josef und Amalie Giger-Nigg hatten in Bad Ragaz, St. Moritz und im Ausland erfolgreich grosse Hotels geleitet, als sie sich entschlossen, ein eigenes Haus zu eröffnen. Der Aufschwung des Oberengadins zur Feriendestination für die Reichen Europas war seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Gang und beschleunigte sich mit der Erschliessung durch Strasse und Bahn. Das Paar wählte den Ort sorgfältig: Sein Waldhaus steht über dem Dorf Sils-Maria auf einem Felssporn, der am Ausgang des Fextals in die Ebene zwischen Silser- und Silvaplanersee vorstösst und Aussicht nach allen Richtungen bietet.

Ein Stück Stadt im Bergwald

Der mächtige Bau entstand 1906–1908 nach Plänen des jungen, aber bereits erfolgreichen Architekten Karl Koller. Das kompakte Volumen wächst mit mehreren Untergeschossen aus dem steilen Fels. Auf dem Eingangsniveau, Saaletage genannt, reihen sich die Empfangs- und Gasträume in schönen Enfiladen aneinander; mehrere Sichtachsen eröffnen Blicke quer durch die Säle in die baumbestandene Landschaft hinaus und lassen Sonnenlicht bis tief in die Räume dringen. Ein grosses Treppenhaus steigt aus der Eingangshalle in die vier Obergeschosse, auf denen an breiten Gängen 140 Zimmer liegen. Die Implantation eines mondänen Wohnkomplexes in ein alpines Bergdorf samt allen Annehmlichkeiten, die sonst nur die Stadt bot, verlangte eine umfangreiche Infrastruktur: Ein kleines Kraftwerk mit Dieselmotoren erzeugte eigenen Strom, eine Grossküche mit diversen Lagerräumen versorgte die Gäste, ebenso Bäckerei und Wäscherei. Dazu gab es eine Kapelle, ein Hausorchester, einen Coiffeursalon, eine Floristin usw. Die vielen Angestellten wohnten unter dem Dach und in den Halbgeschossen unter und über der Saaletage.

Den Gästen standen zahlreiche Gemeinschaftsräume zur Verfügung, allen voran die grosse Hotelhalle, dazu zwei Speisesäle, ein Restaurant, eine Bar, eine Bibliothek und weitere Aufenthaltsräume, eine Gartenterrasse im Wald und ein eigenes Schiff samt Kapitän, mit dem die Gäste Ausflüge auf dem Silsersee unternehmen konnten. In der Hochsaison lebten in diesem Stück Stadt mitten im Bergwald über 400 Gäste und Angestellte – damals doppelt so viele Menschen wie in Sils-Maria und im nahen Sils-Baselgia zusammen.

Das Hotel erlebte nach seiner Eröffnung einige erfolgreiche Jahre, durchlitt dann mit dem Zusammenbruch des Tourismus im Ersten Weltkrieg seine erste schwere Krise und folgte in den folgenden Jahrzehnten dem Auf und Ab des Luxustourismus im Engadin und den wirtschaftlichen Konjunkturen und sozialen Moden des 20. Jahrhunderts. Es blieb immer in Familienbesitz. Seit 2010 wird es von Claudio und Patrick Dietrich in fünfter und ihrem Onkel Urs Kienberger in vierter Generation geführt. In der Hochsaison hat es 290 Gäste, etwa 70 davon sind Kinder, und über 150 Angestellte.

Die starke Bindung an die Betreiber- und Besitzerfamilie prägt Charakter, Ökonomie und Entwicklungsstrategie. Das Waldhaus versteht sich als temporäre Heimat, Gasthaus und dauerhaftes Projekt. Überschüsse in guten Jahren werden in die Werterhaltung, die Anpassung an neue Bedürfnisse und die zurückhaltende Erweiterung der Infrastruktur investiert.

Tradition, Erneuerung und räumliche Vielfalt

In den letzten Jahren hat das Architekturbüro Miller & Maranta den Eingang und einen Teil der Aufenthaltsräume neu organisiert und gestaltet (TEC21 13/2009, S. 22). Dabei wurden dem Dolomit unter dem Haus drei Konferenzzimmer abgerungen. Das Haus ist äusserst kompakt gebaut und soll auch kompakt bleiben. Beim jüngsten Eingriff 2012 schufen die Architekten durch Demontage, Drehung um 90 Grad und Wiedereinbau des kleinen À-la-carte-Restaurants Platz für ein ovales Fumoir mit Cheminée. Grosser Respekt vor dem Bestand und viel Gespür für ein Weiterbauen im Geist des Hauses leitet diese Umbauten. 2005 wurde es als historisches Hotel des Jahres ausgezeichnet.

Der Architekt Armando Ruinelli aus Soglio erneuert fast jährlich einige Zimmer. Der hohe Installationsgrad eines Hotels führt zu einer «vertikalen Baustrategie»: Über alle Geschosse hinweg werden jeweils einige nebeneinander liegende Zimmer erneuert. Somit wechseln sich die Epochen horizontal ab; neu gestaltete Zimmer liegen neben solchen aus den 1920er-Jahren mit historischem Mobiliar. Alle haben mittlerweile ein eigenes Bad. Dafür mussten einige kleine Zimmer zusammengelegt werden. Dank Ausbauten im Dach und der Auslagerung von Personalzimmern in Neubauten mit 29 Wohnungen blieb aber das Raumangebot für Gäste und Personal erhalten. Im Hotelgebäude sind 48 Personalzimmer verblieben. Die Betreiber wirtschaften mit unterschiedlichsten Raumgrössen, Bettformaten und Ausstattungen und nehmen es auf sich, dem Gast, der «das gleiche Zimmer wie letztes Jahr» wünscht, Varianten zu erklären, falls sein Lieblingszimmer schon belegt ist. Der Anspruch, jeden Gast persönlich zu begrüssen und zu betreuen, begrenzt die Grösse des Betriebs auf sein heutiges Mass. Die Besitzerfamilie empfindet den behutsamen Umgang mit dem denkmalgeschützten Bestand nicht als lästige Pflicht, sondern als permanente Pflege und Ergänzung einer reichen Geschichte, durch die der Charakter des Hotels erhalten bleibt.

Wohnen und Arbeiten

Diese respektvolle, aber nie erstarrte Haltung zeigt sich auch in der Gestaltung des Hotelalltags. Der Stil des Hauses ist traditionsbewusst, nicht nur was die bauliche Substanz, sondern auch was die angebotenen Dienstleistungen betrifft. Das feine, öffentlich zugängliche Kulturprogramm mit Schwerpunkten in Musik, Literatur und Theater ist das Markenzeichen des Waldhauses und zieht ein internationales kulturinteressiertes Publikum an.

Ein grosser Teil davon sind Stammgäste. Unter ihnen wie unter den Angestellten gibt es etliche, die schon in zweiter und dritter Generation hier Ferien machen oder arbeiten.

Die Stimmung im Haus ist entspannt, der Umgang unter den Gästen und mit dem Personal ausgesprochen herzlich. Man kommt ungezwungen ins Gespräch, es ist ein Ort, wo man Bekanntschaften macht.

Das Waldhaus Sils bietet die üblichen Dienstleistungen eines Fünfsternehotels: eine gepflegte Küche mit grossem Weinkeller, warmes Essen und Zimmerservice rund um die Uhr, tagsüber Bedienung in allen Gasträumen, Limousinenservice zum Bahnhof St. Moritz und zum Flugplatz Samedan usw. Die ursprünglichen Gemeinschaftsräume existieren im Waldhaus alle noch, während sie in Grandhotels, die heute im Besitz von Investitionsgesellschaften sind, Labelshops Platz gemacht haben. Vergleichsweise bescheiden ist das Wellnessangebot. Das von Otto Glaus und Robert Obrist 1970 in den felsigen Lärchenwald eingepasste Hallenbad hat heute bereits Denkmalwert und wird auch in diesem Sinne gepflegt. Dafür spielt im Waldhaus nach wie vor täglich das Hausorchester – nachmittags klassisch in der Halle oder im Garten, abends Jazz in der Bar.

TEC21, Fr., 2013.08.30



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TEC21 2013|36 Inspiration Grandhotel

22. Februar 2013Ruedi Weidmann
TEC21

Vierfach verdichten

Um die Landschaft zu schonen, Energie zu sparen und die Mobilität zu begren zen, müssen unsere Siedlungen dichter werden. Das löst Widerstand, dabei kann Verdichten die Lebensqualität steigern. Die Frage ist nur: wie? Als Auftakt zur TEC21Heftserie «Dichte» versammelt dieser Beitrag Erkenntnisse aus verschiedenen Disziplinen. Er liefert keine Rezepte, sondern will bisher vernachlässigte Aspekte des Verdichtens in die Dis kussion einbringen. Dazu stellt er eine These auf: Verdichten ist nur nachhaltig und mehrheitsfähig, wenn es vierfach geschieht – baulich, funktional, sozial und historisch.

Um die Landschaft zu schonen, Energie zu sparen und die Mobilität zu begren zen, müssen unsere Siedlungen dichter werden. Das löst Widerstand, dabei kann Verdichten die Lebensqualität steigern. Die Frage ist nur: wie? Als Auftakt zur TEC21Heftserie «Dichte» versammelt dieser Beitrag Erkenntnisse aus verschiedenen Disziplinen. Er liefert keine Rezepte, sondern will bisher vernachlässigte Aspekte des Verdichtens in die Dis kussion einbringen. Dazu stellt er eine These auf: Verdichten ist nur nachhaltig und mehrheitsfähig, wenn es vierfach geschieht – baulich, funktional, sozial und historisch.

Dass wir dichter bauen müssen, ist in Planerkreisen heute unbestritten. Auch die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger haben gezeigt, dass sie gewillt sind, die Zersiedelung zu stoppen. Doch niemand ist derzeit in der Lage, aus den vielen Aspekten einer nachhaltigen Siedlungsentwicklung die Vision eines dichten, nachhaltigen Quartiers zusammenzufügen, eine Vision, die bauliche, ökologische, technische und soziale Themen verbindet und wirtschaftliche Überlegungen und politische Schwierigkeiten berücksichtigt. Wie werden solche Quartiere aussehen? Wie wird man dort leben? Was ist ein 2000-W-1t-CO2-pro-Kopf-und-Jahr-Lebensstil?

Mehr bauliche Dichte hätte viele Vorteile: Sie würde helfen, die Zersiedelung zu bremsen, Energie zu sparen, Verkehr zu reduzieren, Infrastruktur und öffentliche Verkehrsmittel besser auszulasten und noch mehr.[1] Doch ein Bonmot in Planer und Politikerkreisen besagt, alle Verdichtungsprojekte hätten einen Feind: den Nachbarn – und den fürchten alle. In Diskus sionen unter Befürwortern baulicher Dichte herrscht Ratlosigkeit, wie dem befürchteten Wider stand begegnet werden könnte. Und zuweilen scheint auch auf, wie tief die städtebaulichen Dogmen der Moderne, das Auflockern der Besiedlung und das Trennen der Funktionen, in Fleisch und Blut übergegangen sind. So verkünden heute alle fast unsono: «Verdichten ohne Verlust an Lebensqualität.» Warum nicht: «Mehr Lebensqualität dank Verdichten»? Wieso sollen wir die Energie und Umweltkrise nicht dazu nutzen, besser weiterzuleben als bisher? Und so ist es bis jetzt – nebst gesetzlichen Einschränkungen, veralteten Denk weisen und offenen Fragen – vor allem fehlender Mut, der Projekte verhindert, die wirklich dicht genug wären, um wirkungsvoll im Sinn der Nachhaltigkeit zu sein.

Die Bauwirtschaft hingegen weiss, wie sie die Gunst der Stunde nutzen will: «Zur nachhaltigen Umgestaltung des Gebäudeparks Schweiz ist der vermehrte Abbruch und Neubau von Immobilien erforderlich», behauptet der Verein Greenbuilding. Das steht im Widerspruch zu einem nachhaltigen Umgang mit Ressourcen, grauer Energie und kulturellem Erbe. Trotzdem gibt es im Namen der Energiewende vorläufig viel politischen Support für diese grobe Ersatzstrategie.[2] Eine nachhaltige Siedlungsentwicklung verlangt jedoch nach differenzierteren Konzepten.

Um nachhaltige Lebensstile zu entwickeln, werden wir viele Dinge und Tätigkeiten wieder mischen müssen, die im 20. Jahrhundert voneinander getrennt wurden. Man versprach sich davon bessere Lebensbedingungen und Rationalisierungen. Doch heute merken wir, die Art und Weise, wie wir unser Leben organisiert haben, hat viele Irrationalitäten und ­ungewollte negative Folgen für die Gesellschaft und die Umwelt hervorgebracht: Verkehr produziert, Energie, Ressourcen und Landschaft verbraucht, die Artenvielfalt dezimiert und immense Infrastruktur, Sozial und Gesundheitskosten generiert. Wir brauchen wieder Siedlungsmuster mit kurzen Wegen: Was wir im Alltag benötigen, muss zu Fuss erreichbar sein.

Bisher realisierte Beispiele für verdichtetes Bauen, oft Neuüberbauungen von Industrie­ brachen oder Ersatzneubauten von Genossenschaftssiedlungen oder von Villen, bringen zwar energieeffizientere Gebäude und mehr Wohn oder Arbeitsraum, reproduzieren jedoch meist die (zonenkonforme) monofunktionale Nutzung und damit für weitere Jahrzehnte die irrationale Stadtstruktur des 20. Jahrhunderts. Zu kürzeren Wegen tragen sie nichts bei.

Vierfach verdichten

In einem Schweizer Durchschnittsquartier oder dorf mit den Qualitäten, die es heute hat, die Zahl der Wohnungen, der Menschen und der Autos zu verdoppeln – das reizt die ­Bewohner selbstverständlich nicht. Was hätten sie davon? Deshalb müssen Ortschaften und Quartiere nach dem Verdichten mehr Lebensqualität bieten als heute. Wer verdichten will, muss von dem erzählen, was dank höherer Dichte möglich wird: Sie bringt mehr Menschen und damit mehr Nachfrage ins Quartier und ermöglicht dadurch mehr Versorgungs, Kultur und Freizeitangebote. Dieser einfache ökonomische Zusammenhang zwischen Dichte und Nutzungsvielfalt lässt sich auf einem Spaziergang durch die nächstgelegene Stadt überprüfen. Dörfer und Quartiere, in denen es dank mehr Einwohnern wieder eine Post, Läden und Cafés gibt – das wäre ein Gewinn. Grössere Nutzungsvielfalt hebt die Lebensqualität. Auch weil sie den Verkehr reduziert, indem sie die Wege verkürzt. Verdichten heisst also, nicht nur über Gebäudehöhen und formen nachzudenken, sondern öffentlich über Nutzungen zu diskutieren: über ihre Art und ihre Mischung, ihre Anteile und ihre Verteilung. Sinnvollerweise auf Dorf und Quartierebene, aber auch bei jedem Bauprojekt.

Doch es braucht noch mehr. Es kann ja nicht sein, dass wir das Leben nur noch aushalten, wenn wir pro Person 50 m² Wohnfläche belegen und jedes Wochenende in die Berge fahren. Warum sollen die verdichteten Quartiere nicht so schön werden wie unsere Ferienziele?

Hier tut eine Trendumkehr Not: Die Wohnung sollte nicht mehr als dauernd wachsendes ­privates Reich die strukturellen, ästhetischen und emotionalen Defizite unserer Siedlungen kompensieren müssen. Würden unsere Häuser, Quartiere, Dörfer und Städte ein reiches Angebot an angenehmen Räumen für Arbeit und Freizeit, Einkauf und Erholung bieten und unsere Strassen und Plätze eine hohe Aufenthaltsqualität, dürfte die Wohnung als privater Rückzugsort wieder kleiner werden. Das wäre ein substanzieller Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung.

Folgende These soll das Spektrum der Faktoren erweitern, die in der Diskussion um das Verdichten eine Rolle spielen sollten: Verdichten (in einem Mass, wie es nötig ist, um eine nachhaltige Siedlungsstruktur zu erreichen) ist politisch nur möglich, wenn es gleichzeitig vierfach geschieht – baulich, funktional, sozial und historisch.

1. Baulich verdichten

Bauliches Verdichten allein bringt nichts ausser Widerstand der Nachbarn und eine Perpetuierung oder gar Akzentuierung der strukturellen Probleme unserer heutigen Ortschaften. Nachhaltige Häuser müssen nicht nur Platz und Energie sparen, sondern einen gesamthaft nachhaltigen Lebens, Wohn und Arbeitsstil ermöglichen. Das würde bedeuten, dass Arbeiten und Wohnen, Einkaufen und Erholen wieder zusammenrücken (damit Verkehr vermieden wird), die Generationen wieder Nachbarn werden (damit die Pflegekosten nicht weiter steigen) und die verschiedenen Bevölkerungssegmente wieder näher beisammen leben (damit sie sich nicht weiter voneinander entfremden). Das Trennen ist vorbei. Die Ortsplanung mittels Zonen mit verschiedenen Funktionen ist nicht mehr zeitgemäss. In dieser Hinsicht dürfte es sich lohnen, nach Genf zu schauen, das bis 2030 um 100.000 Einwohner und 50.000 Arbeitsplätze wachsen will und 50.000 neue Wohnungen plant. Der kantonale «Richtplan 2030», den die Kantonsregierung dieser Tage dem Parlament vorlegt, sieht dazu 12 Grossprojekte und 16 strategische Entwicklungsprojekte vor. Sie liegen in locker überbauten Gebieten oder neu eingezontem Land, jedoch alle an neuen ÖVLinien. Die Nutzung ist gemischt und die Dichte hoch (Ausnützungsziffern bis 3, teilweise höher). Der Wohnanteil schwankt um 80%, wobei 25% der Wohnungen gemeinnützig und weitere 25% subventioniert sein müssen. Im Prinzip wird so die Qualität der dichten, funktional und sozial vielfältigen Genfer Innenstadt kopiert. Der Richtplan fördert aber das Verdichten und die funktionale und soziale Durchmischung auch in den bestehenden Stadt und Vorstadtquartieren; dort werden Ausnutzungsziffern von 1.5 bis 3 in zentralen, gut vom ÖV erschlossenen Gebieten und 1 bis 1.5 in allen übrigen stadtnahen Quartieren angestrebt.3 Gleichzeitig erhalten der Schutz von Kulturland und Naturräumen und der Denkmalschutz mehr Gewicht. Damit ist der neue Genfer Richtplan ein historischer Schritt zur Überwindung der Ortsplanung mittels monofunktionaler Zonen.[4] Für die Häuser heisst das: Dem Hybrid gehört die Zukunft – unten Läden und Restaurants, Veranstaltungsorte und Märkte, darüber Schulen, Amtstellen und Büros, oben und hinten hinaus Wohnungen, auf den Dächern Gärten und Solaranlagen. Damit all diese Funktionen überleben können, braucht es Ausnützungsziffern von 2.5 bis 4. Die dichteste in Zürich geplante Siedlung mit gemischter Nutzung, ein Neubau der Genossenschaft Kalkbreite, hat eine Ausnützungsziffer von 2.8, andere Siedlungsprojekte liegen zwischen 1.1 und 2.6.[5] An der Europaallee, dem neuen Stadtteil am Hauptbahnhof, erlaubt der Gestaltungsplan eine Ausnützung von etwa 4.1, doch ist der Wohnanteil dort minimal.[6]

Wie müssen Häuser und der Raum dazwischen gestaltet sein, damit wir solche Dichten nicht nur aushalten, sondern angenehm finden? Damit wir uns in der Dichte erholen können, ohne sie verlassen zu müssen? Wo kommt welche Nutzung hin? Wie gestalten wir die überquellende Markthalle, den stillen Dachgarten, die ruhige Wohnung? Was ist ein angemessener architektonischer Ausdruck für den Hybrid? Die Frage der Gestaltung betrifft auch die Aussenräume, denn die Aufenthaltsqualität auf Strassen, Höfen und Plätzen, in privaten und öffentlichen Grünräumen wird umso wichtiger, je dichter das Siedlungsmuster ist.

2. Funktional verdichten

Funktional verdichten meint: die Vielfalt der Funktionen im Haus, in der Strasse, im Quartier fördern und innovativ kombinieren. Als Resultat winken grössere kulturelle und soziale Abwechslung, mehr Dienstleistungen, kurze Wege, weniger Verkehr, mehr Lebensqualität. Doch nicht in jedem Haus trägt sich ein kommerzielles Erdgeschoss. Gefragt wäre hier mehr mikroökonomisches Wissen über den Zusammenhang von Stadtgestalt und Überlebensbedingungen für Kleinbetriebe.

Vor allem aber liegt in der innovativen (Re)Kombination von Funktionen, die im 20. Jahrhundert getrennt wurden, eine neue Art von Effizienz brach. Das zeigen erste, noch vorsichtige Versuche, etwa in der Zürcher Genossenschaft Dreieck[5]: Möglichkeiten sind das Verbinden zweier Branchen in Läden wie «Buch & Wein», ServicePublicAngebote durch Gewerbe betreiber oder fallspezifische Kombinationen eines kommerziellen Geschäfts mit einer gemeinnützigen Dienstleistung. So lässt sich beispielsweise die Poststelle in einer Gemeinde halten, wenn sie in die Apotheke integriert wird, oder ein Café kann überleben, wenn der Wirt auch für das Altersheim kochen und so mangelnden Umsatz mit dem Lohn von der Gemeinde wettmachen kann.

Wir können auch Berufe wieder einführen, die wir einst einer vermeintlich fortschrittlichen Technik geopfert haben. Ein Portier beispielsweise bietet einer Siedlung mehr als eine ­Gegensprechanlage, nämlich vielfältige Dienstleistungen von der Türkontrolle über das Postverteilen, Blumengiessen und Reparaturen bis zum Kinderhüten. Und vielleicht teilt sich eine Gruppe von Pensionierten den Portierjob und entwickelt dabei weitere nachhaltige Dienstleistungen, einen Mittagstisch für Kinder oder eine Kleiderflickwerkstatt? Dass das funktionieren kann, zeigen heute immer mehr Alterswohnprojekte, Mehrgenerationenhäuser und der Boom beim ServiceWohnen.

Noch weiter gehen gegenwärtig innovative Genossenschaften wie Kraftwerk[1], «Mehr als Wohnen» und Kalkbreite in Zürich mit ihren grossen hybriden Bauprojekten.[8] «Wohnen wie im Hotel» ist das Stichwort: Die grosse Dichte bringt genug Leute zusammen, damit zahl reiche Dienstleistungen wie ein Kochteam und Annehmlichkeiten wie ein Wellnessbereich und somit höchste Lebensqualität auch für Leute mit schmalem Budget finanzierbar werden.

Es wäre nun nahe liegend zu überlegen, ob solche Dienstleistungen nicht auch eine Sub­sistenzstrategie wären. Ein Portier kann ja auch, wenn sich ein heisser Tag ankündigt, über die Laubengänge gehen und die Klappläden auf der Südseite schliessen. Das spart viele Elektromotoren. Kreative Kombinationen von Lowtech mit sozialen Tätigkeiten eröffnen im Siedlungsbau neue Möglichkeiten, wie nachhaltige Bilanzen auch anders als durch die bekannten Labels erreicht werden können. In einer nachhaltigen Siedlung wird möglicherweise vieles wieder von Menschen statt von Apparaten gemacht. Wichtig ist, dass Dienstleistungen, die in einer Siedlung oder Gemeinde erwünscht, aber nicht per se rentabel sind, aus verschiedenen Kassen finanziert werden können, wenn man sie geschickt kombiniert. Hier liegt ein noch nicht abschätzbares, enormes Potenzial für eine neue Art von gesellschaftlicher Effizienz und für funktionale Vielfalt. Natürlich bedingen alle diese Kombinationen mehr Aufwand und Sorgfalt bei der Erstvermietung und der Verwaltung. Erste Immobilienverwaltungen setzen aber bereits erfolgreich auf diese Strategie.[9]

3. Sozial verdichten

Nicht jede bauliche ist auch eine soziale Verdichtung. Wenn das zusätzliche Bauvolumen durch grösseren Wohnflächenkonsum pro Kopf «aufgefressen» wird, hat es keinen positiven Effekt auf das Quartierleben. Generell ist zu bedenken, dass die Mieten in dichteren Neubauten und aufgestockten Altbauten stets höher sind als im Altbestand, selbst bei gemeinnützigen Projekten. Wird Verdichten ohne soziale Auflagen möglich, treibt es Mieten und Bodenpreise in die Höhe. Das verdrängt bisherige Nutzer und Bewohner – häufig ältere Leute und Gewerbe – aus zentralen Lagen und fördert so die politisch wie volkswirtschaftlich unerwünschte soziale Segregation und die weitere Zersiedelung an den Rändern der Agglomerationen.

Bestehende soziale Netze, etwa funktionierende Nachbarschaften, sind vermutlich etwas vom Nachhaltigsten, was es überhaupt gibt. Wir sollten ihnen Sorge tragen und sie ­stärken, wo immer es geht (vgl. «Babel – Ein Quartier gestaltet seine Zukunft»). Werden sie auseinandergerissen und müssen sie durch Institutionen ersetzt werden – etwa Nachbarschaftshilfe durch Pflegeheime, soziale Kontrolle durch Polizei –, können enorme Kosten anfallen: im Verkehr, beim Sozialamt, im Gesundheitswesen, bei der Sicherheit und Prä vention, bei der sozialen Integration usw.

Damit solche Reboundeffekte vermieden werden, sollten Verdichtungsstrategien ganzheitlich und interdisziplinär evaluiert werden. Aus volkswirtschaftlicher Perspektive braucht das Verdichten flankierende Massnahmen: den Erhalt billiger Wohn und Gewerberäume und einen Anteil günstiger Neubauten. Das liesse sich über Auflagen für Bauprojekte, durch Landkäufe der Gemeinden, gemeinnützige Bauträger oder kommunale Einrichtungen erreichen. Teure und bezahlbare Wohnungen kann man bauen, billige gibt es aber nur in Altbauten. Diese sind deshalb wertvolle Bausteine für nachhaltige Quartiere.

Verdichten kann aber auch eine Chance zur Stärkung sozialer Netze sein, wenn bei der ­Planung darauf geachtet wird, dass sich soziale Schichten, Berufe und Generationen wieder besser mischen können. Natürlich steckt in dicht bewohnten Siedlungen Konfliktpotenzial, etwa im Lärm der Nachbarn, was beim architektonischen Entwurf und bei der Organisation des Siedlungslebens berücksichtigt werden muss. Dichte Siedlungen mit einem vielfältigen Wohnungs und Dienstleistungsangebot und flexibel verfügbaren Räumen erleichtern aber auch gemeinsame Aktivitäten, Nachbarschaftshilfe, Entlastungen für Familien, das Betreuen alter und kranker Menschen, die Integration von Migranten und Alleinstehenden und die Aufrechterhaltung von sozialer Kontrolle im öffentlichen Raum. Sie tragen so zum gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt bei.

4. Historisch verdichten

Verdichten bringt Ersatzneubauten und neue Menschen in die Quartiere. Beides bedroht die lokale Identität, die Identifiktion der Bewohnerinnen und Bewohner mit ihrem Quartier – ihr Heimatgefühl. Dagegen wehren sie sich zurecht. Als politische Vorbedingung für das Verdichten muss deshalb wohl ein wesentlicher Teil des Vertrauten erhalten bleiben. Es darf nicht passieren, dass die verdichteten Quartiere überall gleich aussehen. Sie müssen Heimat bleiben und brauchen Einzigartigkeit, sonst werden sie zu Unorten.

Häuser und Stadtteile haben eine umso stärkere Identität, je mehr Menschen Erinnerungen damit verbinden. Das heisst, dass Identität Zeit braucht, um zu wachsen. Alte Bauten, Plätze und Winkel besitzen sie schon, sie ist ein Kapital, das leicht übersehen wird und lange Zeit braucht, um nachzuwachsen. Wir sollten es erhalten und pflegen. So kann ein Patchwork aus vertrauten alten und dichten neuen Bauten entstehen.

Für historisches Verdichten spricht auch die nachhaltige Ressourcenbewirtschaftung. «Wir werfen heute noch zu viele ganze Bauwerke fort», sagt Ingenieur und EPFLProfessor Eugen Brühwiler. Und Paul Lüchinger, Projektleiter der neuen SIANorm 269 «Erhaltung von Tragwerken», meint: «Die Erhaltung ist einer der wirksamsten Beiträge des Baubereichs an die Nachhaltigkeit.»[10] Das widerspricht der Forderung der Bauwirtschaft nach genereller Förderung von Ersatzneubauten. Da wir nicht nur Energie und Landschaft, sondern auch die Ressourcen und das Kulturerbe schonen müssen, wird Bauen in Zukunft wohl vor allem heissen: umnutzen, umbauen, renovieren, restaurieren, ergänzen, aufstocken.[11] Die SIANorm 269 bietet hierfür die technische Handhabe. Die Bauwirtschaft wird deshalb nicht weniger zu tun haben, jedoch ihr Knowhow stärker auf Umbauten ausrichten müssen, bei denen sich neue Aufgaben mit hoher Wertschöpfung auftun und neue, auf das Instandsetzen und Umnutzen von Materialien und Bauteilen spezialisierte Berufe entstehen werden.

Das betrifft auch die Denkmalpflege. Unser Kulturerbe möglichst intakt den nächsten Generationen weiterzugeben gehört auch zur Nachhaltigkeit. Und zwar nicht einfach, weil es schön ist: Analog zur Artenvielfalt müssen wir lernen, die Baugeschichte als Genpool kon struktiven Wissens zu begreifen; als Reservoir von Bautechniken, Formen und Nutzungs weisen, die zu Zeiten entwickelt wurden, als die Ressoucen ebenfalls knapp waren und es weder Strom noch Erdöl gab. Auf diesen Wissensschatz an einfachen, ressourcenschonenden Bautechniken aus der präfossilen Epoche können wir beim Bauen im postfossilen Zeit alter zurückgreifen. Ein Beispiel dafür ist die wiederentdeckte Kellerlüftung in den Zürcher Baumeisterhäusern aus dem 19. Jahrhundert, die ohne Energieverbrauch allein durch das Gewicht kalter Luft funktioniert.[12]

Historisch verdichten[13] meint also, einen wesentlichen Anteil der Bauten und der gestalteten Aussenräume aus früheren Epochen zu erhalten, umzunutzen und allenfalls zu erweitern – wegen der günstigen Mieten, ihrer identitätsstiftenden Funktion, der darin gespeicherten grauen Energie und als Schaulager von ressourcensparenden Bautechniken. Wie viel soll stehen bleiben? Wer bestimmt, was bleiben darf? Woran hängen die Erinnerungen? Brauchen wir Inventare der lokalen Identitätsecken?

Fragen Aus all dem ergeben sich viele Fragen. Es ist klar, dass ein solches Programm für eine einzelne Disziplin zu komplex ist und auch nicht verordnet werden kann. Es muss interdisziplinär und im öffentlichen Dialog erarbeitet und zusammen mit der Bevölkerung konkretisiert und umgesetzt werden. Ebenso klar scheint uns, dass eine inhaltlich breitere Diskussion als bisher über die Definition von Wohlstand und von Lebensqualität in unseren Ortschaften nötig ist, über die Ziele und das Mass des Verdichtens und darüber, welche Teile unserer gebauten Umgebung wir behalten wollen. Als Diskussionsgrundlage wären konkretere Bilder und Beschreibungen der möglichen Zukunft hilfreich, dazu Inputs der Sozialwissenschaften und der Regionalökonomie. Ziel der Diskussion sollten Verdichtungsstrategien mit einer Art Gesamtnachhaltigkeitsbilanz sein und natürlich gebaute Beispiele, die man besuchen kann – damit Dichte nicht mehr Angst macht, sondern das dichte 2000WattQuartier ein Ort wird, wo wir gern leben möchten. Welcher Weg führt in eine nachhaltige Dichte? Soll das ganze Siedlungsgebiet aufgezont und für alle Nutzungen geöffnet werden? Oder muss das kontrolliert geschehen? Wie stark sollen wir aufzonen? Wer wählt die Teile aus, die wir davon ausnehmen wollen? Wie kann der Umbau gemeindeübergreifend koordiniert werden? Brauchen Kernstädte, Agglomera tionsgemeinden und Dörfer auf dem Land verschiedene Strategien? Und wie kommen wir zur gestalterischen Qualität, die nötig ist, damit die Dichte angenehm sein wird? Oder sollen wir die Zonenpläne lassen, wie sie sind, und arealweise mit Sonderbauvorschriften und Ausnützungsboni operieren, die an Auflagen geknüpft werden? Es dürfte dann massiv verdichten, wer viele Nutzungen, soziale Vielfalt, partizipative Verfahren und den Erhalt von Altbauten garantiert und die Bebauung in Wettbewerbsverfahren entwickelt. Was tun wir mit Baugesetzen, die Dichte verhindern? Sollen wir sie abschaffen, lockern oder ebenfalls als Pfand für hohe Qualität einsetzen?

Ingenieurwesen und Architektur in der Dichte

Höhere Dichten werfen auch technische Fragen auf: Reichen die Verkehrswege, Werk­leitungen und Kläranlagen noch aus? Das Bauen im Bestand braucht teilweise andere Baumethoden, schonendere und emissionsärmere, und neue Geräte. In dichten Ortschaften wird öfter und in engeren Verhältnissen gebaut, auch häufiger in die Höhe und in die Tiefe. Das heisst, dass Tragwerk und Erschliessung, Versorgung und Entsorgung der Bauten komplexer werden. Damit werden Ingenieurleistungen wichtiger.

Das Architekturschaffen hat sich im vergangenen Jahrzehnt stark mit Wohnungsgrundrissen beschäftigt. Das war nötig, um mit grossen Bautiefen umgehen zu lernen und die 3 und 4-Zimmer-Wohnung zu überwinden. Wird es sich nun vermehrt dem Umgang mit Dichte widmen? Dem Anordnen vielfältiger Funktionen in dichten Häusern und Quartieren? Wie seit je wird die Architektur eine Gestaltung finden müssen für die praktische Nutzung und die symbolische Bedeutung der wichtigen Orte. In einem nachhaltigen Quartier werden das vermutlich wieder vermehrt die Stellen sein, wo soziale Interaktion stattfindet, wo Wohnung und Haus, Haus und Stadt ineinandergreifen: Erdgeschosse, Eingänge, Durchgänge, Hallen, Gemeinschaftsräume, Höfe, gemeinsame Gärten und Terrassen, öffentliche wie kommerzielle Orte des Kollektiven. Häuser für nachhaltige Lebensstile werden wohl eher durchlässig als kompakt sein, die Räume eher verbunden als abgeschottet.

Architektur und Ingenieurbüros werden noch mehr Umnutzungskompetenzen brauchen, auch mit Wissen aus der Geschichte, dazu aber auch die soziale und kulturelle Kompetenz, sich neue Nutzungsweisen und ungewohnte Nutzungskombinationen vorstellen zu können und sie den Bauherrschaften vorzuschlagen. Die Ausbildung wird wohl noch mehr Interesse an der Sicht anderer Disziplinen wecken müssen und das Bewusstsein für den Gewinn bei interdisziplinärer Zusammenarbeit.

Das Programm des Verdichtens hält jedoch auch mehr als genug genuin architektonische Aufgaben bereit: Je dichter die Siedlung, umso wichtiger und kniffliger wird ein kompetentes Anordnen und Gestalten aller Räume vom Schlafzimmer bis zum Stadtraum. Hingegen wäre zu überlegen, ob das Ausarbeiten von Wettbewerbsprogrammen künftig nicht konsequent interdiszplinären Teams überantwortet werden sollte. Denn das beste Architekturbüro kann nicht mehr viel ausrichten, wenn bereits in den Vorgaben funktionale, soziale oder konservatorische Fragestellungen vergessen gegangen sind.

Siedlungsentwicklung wird in der Architektur oft noch zu stark als formale Aufgabe betrachtet und von einer einzigen Aufgabe, vom Wohnen oder von sogenannten Leuchtturm projekten oder bestenfalls vom Stadtraum her gedacht und noch zu wenig vom konkreten, vielfältigen, komplexen Alltag der Bewohner aus. Wie auch immer eine nach haltige Siedlungsweise dereinst aussehen wird, sie kann wohl weniger denn je nur als bauliche Form oder als technisches Netz von Verkehrs und Leitungssträngen konzipiert werden, sondern wird vielmehr in gemeinsamer Entwicklung von gebauter Form, verwendeten Techniken und neuen Organisationsformen des sozialen Lebens gefunden werden müssen.


Anmerkungen:
[01] Schön beschreibt die Vorteile dichter Bauweise Vittorio M. Lampugnani in «Die Architektur der städtischen Dichte» in: Städtische Dichte, hrsg. von V. M. Lampugnani u. a. Zürich 2007, S. 11–18.
[02] Der Nationalrat hat 2012 eine Motion von FDPNationalrat Filippo Leutenegger gutgeheissen, die beim Ersatz von Gebäuden mit schlechtem Energiestandard Ausnahmen von der Zonenordnung fordert. Diese «Abwrackprämie» für Häuser läuft den Zielen der Raumplanung zuwider und benachteiligt die Eigentümer energiesparender Bauten.
[03] Plan directeur cantonal Genève 2030 (Mai 2011), S. 61–68.
[04] Vgl. TEC21 36/2011, Tracés 1516/2011 sowie «Genf handelt», Beilage zu Hochparterre 11/2011.
[05] Marcel Meili, Markus Peter Architekten AG: Freilager ABCD, Zürich 2012, S. 8–9.
[06] Angaben aus www.europaallee.ch.
[07] Zum Dreieck vgl. TEC21 6/2006, S. 11–14.
[08] Informationen zu Kraftwerk1: TEC21 42/2001, zur Kalkbreite: TEC21 25/2009, S. 8–9, zu «Mehr als Wohnen»: TEC21 26/2009, S. 8–9.
[09] Bekannt geworden ist die Fischer AG Immo bilienmanagement in Zürich, www.fischer97.ch.
[10] Beide Zitate aus: «Bauwerke lassen sich ertüchtigen» in: TEC21 24/2011, S. 33.
[11] TEC21 56/2011.
[12] TEC21 4243/2011, S. 22–28.
[13] Idee und Begriff des historischen Verdichtens verdanke ich dem Vortrag «1 m² 0815/s» von Marc Angélil, gehalten an der Schlusstagung zum NFP 54 am 8.6.2011 in Renens.

Ausnützungsziffer
Die Ausnützungsziffer bezeichnet das Verhältnis der Bruttogeschossfläche eines Gebäudes zur Parzellenfläche. Die Bruttogeschossfläche ist die Summe aller ober und unterirdischen Geschossflächen einschliesslich Mauer und Wandquerschnitten. Bei einer zur Hälfte zweistöckig und ohne Keller bebauten Parzelle ist demnach die Ausnützungsziffer 1.

Dichten am Beispiel Zürichs
Die Bebauungsdichte in den Siedlungsgebieten der Schweiz hat in den vergangenen Jahrzehnten nicht etwa zu, sondern laufend abgenommen. Zahlen dazu sind nicht einfach greif und vergleichbar. Für die Stadt Zürich lassen sich aus den im Statistischen Jahrbuch 2012 ausgewiesenen Bruttogeschossflächen und den von Gebäuden und Umschwung besetzten Flächen folgende durchschnittlichen Ausnützungsziffern der Gebäude berechnen:
Ganze Stadt: 1.38
CityQuartier: 4.5 (Bahnhofstrasse)
RathausQuartier: 3.9 (Altstadt)
Aussersihl: 2.3 (Arbeiterquartier, Blockrandbebauung)
Kreis 6: 1.5 (bürgerliche Mehrfamilienhäuser und Gartenstadt)
Kreis 7: 1.0 (Zürichberg, bürgerliche Mehrfamilienhäuser und Villen)
Kreis 12: 0.9 (Schwamendingen, Wohnsiedlungen der Nachkriegszeit)

Massvoll oder effektiv?
Um Ängsten in der Bevölkerung zu begegnen, wird heute oft «massvolles» Verdichten angestrebt. Doch möglicherweise sind gerade dabei die Reboundeffekte am grössten. Damit Effekte im Sinn einer nachhaltigen Siedlungsentwicklung entstehen und bauliches Verdichten auch soziale und funktionale Dichte bewirkt, muss es vermutlich deutlich sein.
Die Metron AG zeigt in ihrer Publikation «7 Tools zur Innenentwicklung: die Metron Dichtebox» (Themenheft 27, Nov. 2011), dass die Gewinne des Verdichtens in ein bis zweistöckigen Wohnzonen am grössten sind, weil die Bewohnerzahl nicht linear mit der Stockwerkzahl zunimmt, sondern in dreistöckigen Zonen zwei bis dreimal so viele Menschen leben wie in zweistöckigen. Hingegen schafft die Aufzonung eines fünfstöckigen Quartiers um eine Etage nur 20% mehr Raum. Und weil das Aufstocken die Mieten verteuert, würde ein Teil der Bewohnerschaft durch kaufkräftigere Schichten ersetzt, die das zusätzliche Bau volumen mit grösserem Flächenkonsum kompensieren. Die höhere bauliche Dichte trüge hier also nichts zu einer höheren sozialen und funktionalen Dichte bei, sondern würde nur die soziale Segregation fördern. Verdichtungspotenzial besteht deshalb weniger in Ortszentren, die bereits dicht und vielfältig sind, sondern vor allem in den ausufernden monofunktionalen Gewerbe und Einfamilienhauszonen an den Ortsrändern.

TEC21, Fr., 2013.02.22



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TEC21 2013|09 Vierfach verdichten

16. November 2012Ruedi Weidmann
TEC21

Aus Chaos geboren

Der Lausanner Westen ist ein Paradebeispiel ungeplanter Suburbanisierung. Acht Gemeinden sind jedoch entschlossen, zusammen ihre Zukunft in den Qualitäten der europäischen Stadt zu suchen. Was bisher fehlte, soll nun geschaffen werden: öffentlicher Raum und sanfte Mobilität, Nutzungsvielfalt und öffentlicher Verkehr – eine neue Stadt im Westen von Lausanne.

Der Lausanner Westen ist ein Paradebeispiel ungeplanter Suburbanisierung. Acht Gemeinden sind jedoch entschlossen, zusammen ihre Zukunft in den Qualitäten der europäischen Stadt zu suchen. Was bisher fehlte, soll nun geschaffen werden: öffentlicher Raum und sanfte Mobilität, Nutzungsvielfalt und öffentlicher Verkehr – eine neue Stadt im Westen von Lausanne.

In und um Lausanne sind die Standorte klar verteilt: Im Osten Villen und stille Gärten, hier verstreicht die Zeit langsam. Im Westen dagegen Lärm und Dynamik: Fabrikareale und Arbeiterquartiere, Güterbahnhöfe und Autobahnen, Verteilzentren und Hochschulen, Einfamilienhäuser und Lagerhallen, Einkaufszentren und Tankstellen, Parkplätze, Garagen und Wohnblöcke bilden ein gewaltiges Durcheinander. Das Gebiet umfasst die westlichen Quartiere der Stadt Lausanne und die acht Gemeinden Renens, Prilly, Ecublens, Bussigny, Chavannes-près-Renens, Crissier, Saint-Sulpice, Villars-Sainte-Croix. Auf der sanft gegen den See abfallenden Geländeschulter wurde 1877 der Güterbahnhof Renens angelegt. In der Folge wurden zwischen den Bauerndörfern Fabriken errichtet – allmählich entstand der heutige Flickenteppich.

Mit dem Bau der Autobahn 1964 zogen weitere Industrieunternehmen und 1970 die beiden Hochschulen aus der Enge der Stadt Lausanne hierher. In den 1990er-Jahren begann die Industrie zu serbeln und ins Ausland abzuwandern, dafür schossen nun Einkaufs- und Logistikzentren aus dem Boden. Mit 65 000 Einwohnern und 46 000 Arbeitsplätzen wäre Lausanne West die zweitgrösste Stadt in der Waadt – aber es ist eben keine Stadt. Die Gegend ist stark fragmentiert, ohne Zentrum, zu Fuss kaum zu bewältigen, fast ohne öffentlichen Verkehr und ohne öffentlichen Raum, der diesen Namen verdiente – ein typisches Agglomerationschaos. Doch die acht Gemeinden unterscheiden sich stark. So ist etwa das am Seeufer gelegene St-Sulpice wohlhabend, Renens dagegen ist arm und hat einen Ausländeranteil von über 50 %.

Stopp dem Wildwuchs

Seit 1991 führt eine Metrolinie vom Lausanner Stadtzentrum über Uni und EPFL zum Bahnhof Renens. Trotzdem fuhren im Jahr 2000 in den acht Gemeinden zwischen 67 und 94 % der Pendler mit dem Auto zur Arbeit. In jenem Jahr waren die Luftqualität so besorgniserregend, die Verkehrsüberlastung und die räumliche Desorganisation so unhaltbar geworden, dass die Kantonsregierung für Vorhaben wie Einkaufszentren und Einfamilienhauszonen, die viel Verkehr verursachen, einen Baustopp verhängte. Ein ausserordentlich hartes Vorgehen, das aber den Weg zur Zusammenarbeit ebnen sollte: Den Gemeinden wurde eine Vereinbarung vorgeschlagen, wonach sie ihre weitere Entwicklung unter der Leitung des Kantons gemeinsam koordinieren sollten.

Zunächst ging es aber darum, die vom industriellen Niedergang verursachte Mutlosigkeit zu überwinden und bewusst zu machen, über welche Trümpfe das Gebiet verfügt: eine wunderbare Lage über dem Genfersee mit Blick in die Alpen, gute Erschliessung durch Bahn und Autobahn, intakte Ortskerne, zwei Hochschulen, Baulandreserven und Verdichtungspotenzial auf Industriebrachen. Doch wegen der planlosen Überbauung war die Gegend zu unattraktiv geworden, um dieses Potenzial nutzen zu können. Nach vielen Diskussionen, vor allem mit den Gemeindepräsidenten, setzte sich die Einsicht durch, dass eine überkommunale Planung wünschenswert sei.

Überkommunale Planung

Instrument dazu ist das Schéma directeur de l’Ouest lausannois (SDOL), ein Masterplan für das ganze Gebiet, der 2003/2004 von den Gemeinden, der Stadt Lausanne und vom Kanton unterzeichnet wurde und Bestandteil des Agglomerationsprogramms Lausanne-Morges und des kantonalen Richtplans ist. Der SDOL basiert auf der Raumplanungsstudie eines interdisziplinären Teams unter der Leitung des Stadtplaners Pierre Feddersen. Dieses schlug ein prinzipielles Schema für die raumplanerische Gestaltung vor und schuf ein dreidimensionales Modell, die bis heute als Referenzen dienen.[1] Feddersen setzte viel Vertrauen in die Zusammenarbeit der Gemeinden und machte daraus eine Methode: Die vier territorialen und drei thematischen «Baustellen» sind gemeindeübergreifend angelegt. Aus dem Nebenund Gegeneinander der Dörfer soll Stadt werden, Verantwortungsgefühl für das Ganze soll kommunale Partikularinteressen ablösen (vgl. S. 24).

Der SDOL strebt eine rationelle Nutzung des Baulands an. Er krempelt Lausanne West aber nicht komplett um, sondern stützt sich auf vorhandene Infrastruktur und Siedlungskerne ab, nutzt vorhandene Situationen und Ressourcen. Die neue Stadt soll eine starke Identität bekommen, zugleich sollen Autonomie und Charakter der Gemeinden erhalten bleiben. Nebst den sieben «Baustellen» ist der SDOL richtungsweisend für den Ausbau von Bahnhöfen, S-Bahn-Stationen, Bus- und Tramlinien, die Aufwertung öffentlicher Räume und die Erhaltung des industriellen Erbes. Ausserdem legt er Bedingungen für Bauvorhaben bezüglich Dichte und funktionaler Durchmischung fest.

Organisation und Werkzeuge

2003 wurde das Büro des SDOL eingerichtet. Unter der Leitung von Ariane Widmer koordiniert es mit vier Vollzeitstellen die Planungen. Es erarbeitet selbst keine Projekte, sondern beauftragt spezialisierte Firmen mit Studien und wertet die Ergebnisse aus. Die Leitung eines Planungsvorhabens liegt stets bei einer Gemeindeverwaltung. Daneben gibt es zwei koordinierende Gremien: Die «Pilotgruppe» besteht aus den Gemeindepräsidenten, zwei Regierungsräten und den Leitern der involvierten kantonalen Ämter; sie trifft alle Entscheide und trägt die politische Verantwortung. Im «Stab für die technische Leitung» treffen sich monatlich die Leiter der zuständigen Gemeindeämter und Vertreter der kantonalen Departemente, sie betreuen die einzelnen Studien, evaluieren alle wichtigen Bauprojekte im Gebiet (vgl. Kasten unten) und bereiten die Entscheide der Pilotgruppe vor.

Als Planungswerkzeuge dienen Expertenberichte, Wettbewerbe und Teststudien. Letztere erweisen sich bei komplexen Aufgaben als besonders fruchtbar: Resultate mehrerer interdisziplinärer Teams werden öffentlich verglichen und diskutiert; Fachleute und Bevölkerung erarbeiten so gemeinsam eine Vision. Jeder Eingriff verlangt nach einer sensiblen Bestandsaufnahme, muss auf einer strategischen Vision basieren und braucht Zeit für Verhandlungen, damit Gelegenheiten genutzt und Partnerschaften geschaffen werden können. Zentrales Anliegen aller Massnahmen ist die Qualität des öffentlichen Raums (vgl. S. 22).

Mit öffentlichen Räumen Bruchstücke verbinden

Der Lausanner Westen besteht aus untereinander nicht verbundenen Teilstücken – eine Folge grosser Bahn- und Strassenbauten, aber auch von vielen ohne Blick auf das Gesamte errichteten Einzelgebäuden. Die für den Transitverkehr ausgelegten Strassen führen strahlenförmig von Lausanne weg und trennen die Agglomerationsteile, statt sie zu verbinden. Da sie nur für Autos konzipiert sind, eignen sie sich für die heutigen Bedürfnisse nicht. Heute wird jedes Bauvorhaben als Chance gesehen, Räume zu schaffen, mit denen sich die Bevölkerung identifizieren kann. Öffentliche Räume – Plätze, Parks, Wege, Brücken, Strassen und Vorgärten – schaffen Durchlässigkeit und verknüpfen, was zusammengehört, wenn eine Siedlung eine hohe Lebensqualität aufweisen soll. Die grosse Aufgabe besteht also darin, eine Stadt mit urbanen Qualitäten zu schaffen. Im suburbanen Kontext heisst das: den Autoverkehr reduzieren und kanalisieren, den öffentlichen Verkehr fördern, Wege für die sanfte Mobilität öffnen, öffentliche Räume schaffen, die Bebauung verdichten, die Funktionen sinnvoll mischen und die Zersiedelung stoppen. Dabei helfen Bundesgelder aus dem Agglomerationsprogramm.

Die neue Stadt, die in den nächsten zehn Jahren etwa 30 000 neue Einwohner aufnehmen soll, wächst nicht vom historischen Zentrum Lausanne aus, sondern soll im Westen geboren werden und ihre Gestalt aus eigenen Qualitäten entwickeln. Die Studienphase ist abgeschlossen. Die Ausgaben von Gemeinden, Kanton und Bund werden auf mehrere hundert Millionen Franken geschätzt; dazu dürften private Investitionen von mehreren Milliarden kommen.

Sieben Baustellen – viele Projekte

Der SDOL hat sieben sogenannte «Baustellen» festgelegt. Vier davon sind strategische Teilgebiete (Karte S. 17), drei weitere betreffen übergreifende Aufgaben im gesamten Planungsgebiet. Jede Baustelle ist in Teilgebiete unterteilt, die Gegenstand spezifischer Analysen sind, und enthält zahlreiche, unterschiedlich weit gediehene Projekte – insgesamt sind es bisher rund 70, viele weitere werden aber in den nächsten Jahren hinzukommen. Die wichtigsten Baustellen und Projekte werden auf den folgenden Seiten vorgestellt.[2]


Anmerkungen:
[01] Schéma directeur de l’Ouest lausannois, verfasst von Feddersen & Klostermann, Plarel S.A., CEAT, Transitec, Metron, Joël Christin, Renens 2003. Bezug beim SDOL-Büro, www.ouest-lausannois.ch
[02) Weitere Informationen finden sich im Buch «Im Westen die Zukunft» (vgl. S. 11), in der Ausstellung «Pièces à Conviction» (vgl. S. 38) und auf der Internetseite des SDOL: www.ouest-lausannois.ch

TEC21, Fr., 2012.11.16



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TEC21 2012|47 Vorbild Lausanne West

18. Mai 2012Ruedi Weidmann
TEC21

Geschichte und Zukunft der Rennbahn Oerlikon

Um einen Sommerabend auf der offenen Rennbahn Oerlikon zu geniessen, muss man nicht Radsportfan sein. Das imposante Betonoval ist ein einmaliger architektonischer Raum und bietet ein ästhetisches Erlebnis. Diesen Sommer feiert die Rennbahn ihr 100-jähriges Bestehen. Namhafte Fachleute sehen in dem Bau ein Denkmal der Ingenieurbaukunst, der Sozial-, der Sport- und der Stadtgeschichte. Er hätte ein grosses soziales und symbolisches Potenzial. Doch er ist bedroht. Die Stadt Zürich als Besitzerin betrachtet das Areal bisher vor allem als Baulandreserve.

Um einen Sommerabend auf der offenen Rennbahn Oerlikon zu geniessen, muss man nicht Radsportfan sein. Das imposante Betonoval ist ein einmaliger architektonischer Raum und bietet ein ästhetisches Erlebnis. Diesen Sommer feiert die Rennbahn ihr 100-jähriges Bestehen. Namhafte Fachleute sehen in dem Bau ein Denkmal der Ingenieurbaukunst, der Sozial-, der Sport- und der Stadtgeschichte. Er hätte ein grosses soziales und symbolisches Potenzial. Doch er ist bedroht. Die Stadt Zürich als Besitzerin betrachtet das Areal bisher vor allem als Baulandreserve.

Die 1912 erbaute offene Rennbahn Oerlikon ist nach der Skeletonbahn (1885) und der Bobbahn (1904) in St. Moritz die älteste Sportanlage der Schweiz. Sie war eine der ersten Radrennbahnen aus Stahlbeton und gehört zu den frühen Beispielen unverkleideter Betonbauten. Die von aussen heute unscheinbare Anlage besteht aus einer 333.33 m langen und 9 m breiten Bahn aus Beton mit Steilwandkurven von bis zu 93% Neigung sowie Fahrerkabinen und Zuschauertribünen aus verschiedenen Bauphasen. Diese boten einst 11500 Zuschauern Platz, heute noch etwa 3000.[1] Bei trockenem Wetter trainieren von Mai bis September täglich Profis, Amateure und der Nachwuchs auf der Bahn, und jeden Dienstagabend finden Rennen statt. Bei den Fahrerinnen und Fahrern sind sie beliebt, auch amtierende Weltmeister und ausländische Profis nehmen teil.

Herzblut, Bier und Beton

Seit die Interessengemeinschaft Offene Rennbahn (Igor), ein Verein von Radsportfreunden, die Rennbahn unentgeltlich mit viel Herzblut betreibt, ist der Publikumsaufmarsch an den Dienstagabendrennen wieder grösser geworden – auch wenn er nicht an die Blütezeit der Bahnrennen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der Sechstagerennen in der Nachkriegszeit anknüpfen kann. Ein Abendrennen in Oerlikon (vgl. Kasten S. 18) ist ein eher meditatives Sportereignis: Angenehm füllt das Sirren der vorbeiziehenden Rennvelos die Gesprächspausen, die entstehen, wenn die Besucher auf den sonnenwarmen Betonstufen in ihre Bratwurst beissen oder ihren Schnauz ins Bier tauchen. Das Publikum ist eine Mischung aus Vorstadtgewerblern, szenigen Kulturschaffenden, alten Arbeitern, jungen Familien und Sporttreibenden, die friedlich einen Sommerabend geniessen. Im Betonoval, einem eigentümlichen, weiten, aber geschlossenen architektonischen Raum, löst das Flutlicht langsam die Abendsonne ab, während die Fahrer auf ihren Ehrenrunden zur immer gleichen Marschmusik aus den scherbelnden Lautsprechern ihr Siegerbouquet schwenken, das vom immer gleichen Blumenladen gespendet wird – kurz: Es ist ein Stück Heimat.

Letzte offene Rennbahn der Schweiz

Die Rennbahn Oerlikon hat aber auch grosse sportliche Bedeutung. Sie war und ist eine Talentschmiede. Elf Weltmeister hat sie hervorgebracht, darunter Hugo Koblet, Ferdy Kübler, Urs Freuler, Bruno Risi und den im benachbarten Seebach aufgewachsenen amtierenden Weltmeister Franco Marvulli. Acht Weltmeisterschaften fanden hier statt – mehr kann nur Paris verzeichnen. Doch dessen legendäres Vélodrome d’Hiver wurde, wie viele andere Radrennbahnen, abgebrochen. Hierzulande sind in den letzten Jahren zwei legendäre Bahnen verschwunden: 2001 die Holzbahn im Zürcher Hallenstadion und 2011 das offene Vélodrome in Lausanne (vgl. Kasten S. 14). Damit existieren in der Schweiz neben der offenen Rennbahn Oerlikon noch zwei Hallenbahnen: das von September bis Mai geöffnete «Vél d’hiv» im Sportzentrum Queue d’Arve in Genf mit einer 166.66 m langen Holzbahn und die 200-m-Holzbahn des Centre Mondial[2] in Aigle VS. Die Rennbahn Oerlikon ist die einzige, auf der regelmässig Rennen stattfinden, und die einzige, die meisterschaftstauglich ist und die sich für Steherrennen eignet. Bei dieser traditionellen, spektakulären Disziplin fahren die Fahrer im Windschatten schwerer Motorräder mit Tempi von bis zu 100km/h. Die Bahnen sind für den Radsport wichtig. Sie dienen dem Training und dem Aufbau des Nachwuchses auf Bahn und Strasse. Deshalb figuriert die Rennbahn Oerlikon im Bundesinventar der Sportanlagen von nationaler Bedeutung. Anfang 2013 soll in Grenchen das Vélodrome Suisse eröffnet werden. Das neue Radsport-Leistungszentrum mit einer gedeckten 250-m-Holzbahn wird aber laut dem Radsportverband Swiss Cycling die Rennbahn Oerlikon nicht ersetzen können. Auch mit Grenchen werde es noch zu wenig Radbahnen geben, vor allem in der Ost- und Zentralschweiz.

Erfolge, Krisen und bedrohte Existenz

Die Rennbahn Oerlikon entstand als Ersatz für die 1892 erstellte Radrennbahn in der Zürcher Hardau. Lokale Promotoren gründeten die Sportplatzgesellschaft Oerlikon und fanden nordöstlich des Zürcher Industrievororts einen Bauplatz, wo in fünf Monaten der pionierhafte Stahlbetonbau errichtet wurde (vgl. S. 19 und S. 23). Am 25. August 1912 fand das Eröffnungsrennen statt. Die neue Rennbahn stand vorerst ganz allein im Riedland. Ihre Projektierung löste das Quartierplanverfahren aus, und sie wurde zum Kernbau des Sport- und Messequartiers, das sich in der Folge entlang der Wallisellenstrasse entwickelte. Neben den Maschinen- und Waffenfabriken war sie es, die in den folgenden Jahrzehnten den Namen Oerlikon auf der ganzen Welt bekannt machte. Nach einer Durststrecke im Ersten Weltkrieg liessen in den 1920er-Jahren jedes Wochenende 10000 bis 15000 Zuschauer die Kassen klingeln, die Besitzerin konnte eine Dividende von 10% auszahlen.

Später schwankte der kommerzielle Erfolg. Wechselnde Besitzer versuchten ihr Glück, darunter Grundstückshändler, die am Bauland interessiert waren. Im Zweiten Weltkrieg drohte zum ersten Mal der Abbruch der Bahn. 1951 kaufte sie die Stadt Zürich – als strategische Baulandreserve. Seither folgen sich die Ideen für eine Überbauung, für eine Erweiterung der Züspa-Messehallen oder 1971 im Zusammenhang mit Plänen für olympische Winterspiele und den Bau einer U-Bahn. 1970 schrieb die Stadt einen Ideenwettbewerb für ein Kongresszentrum auf dem Areal aus. «Dieses ist zwar heute noch durch die offene Rennbahn an empfindlichster Stelle blockiert, doch kann der Abbruch dieser Anlage als sicher angenommen werden», hiess es in der Auslobung.[3] Es gab auch Ideen für ein Parkhaus und ein Hallenbad, in jüngster Zeit für ein Eishockeystadion. Konkret wurde es nie. Das städtische Stimmvolk hat mehrfach Projekte abgelehnt und so dem Fortbestand der Bahn den Vorzug gegeben.

Die Stadtregierung hingegen tat sich schwer damit. Nur wenige Stadtratsmitglieder bekundeten Sympathie für diesen Ort – Sozialdemokraten waren merkwürdigerweise nie darunter, obwohl doch Radfahren ein Arbeitersport, die Rennbahn ein Arbeitertreffpunkt und das 1934 eingemeindete Zürich Nord damals ein linkes Wählerreservoir war. Die Hallenstadion AG sorgte nun für den Betrieb der Bahn. Die der Witterung ausgesetzte Betonkonstruktion wurde mehrfach instand gesetzt. Am potenziellen Abbruchobjekt wurde aber jeweils nur das Nötigste gemacht, der historische Wert des Baus wurde dabei nicht berücksichtigt.

Ab 1971 betrieb eine Gruppe von freiwilligen Enthusiasten um den ehemaligen Radprofi Hans Maag die Rennbahn. Ihr Erfolg brachte die Stadt dazu, die Fahrbahn zu erneuern (vgl. S. 19). 1986 nahm die Stadt die Rennbahn in ihr Inventar der kunst- und kulturhistorischen Schutzobjekte von kommunaler Bedeutung auf, als «hervorragendes Beispiel eines frühen Betonbaus» und «wichtigen Zeugen zürcherischer Sportarchitektur», der «zum internationalen Ruf Oerlikons beitrug»[4]. Doch 1990 entliess sie sie wieder daraus mit der Begründung, wichtige Bauteile seien irreparabel und abbruchreif, und ohne diese sei der Bau nicht mehr schutzwürdig.[5] Die Stadt liess darauf (als einzigen Teil) die Südkurventribüne entfernen. Laut Martina Vogel, Sprecherin des Hochbaudepartements, ist die Haltung der Stadt noch immer dieselbe: Das Engagement der Igor ist willkommen – ihr Vertrag soll bis 2014 verlängert werden –, aber die Stadt will keine grösseren Investitionen in die Bahn mehr tätigen.[6] Bei der letzten Zonenplanrevision wurde das 20000 m² grosse Areal der fünfgeschossigen Wohnzone W5 (kein Wohnanteil) zugeteilt. Deshalb wird sein Wert heute auf rund 50 Mio. Fr. geschätzt.[7] Das Sportamt bezahlt der Eigentümerin der offenen Rennbahn, der städtischen Immobilien-Bewirtschaftung (Immo), eine Jahresmiete von 140000 Fr. Die Igor als Untermieterin zahlt dem Sportamt eine Miete von 30000 Fr. pro Saison. Bei der Immo fallen zudem jährliche Unterhaltskosten von 50000 bis 100000 Fr. an. Dieser selbst gemachte Verwertungsdruck könnte mit einer Rückzonung in die Freihaltezone Typ C, in der die übrigen Zürcher Sportanlagen liegen, rückgängig gemacht werden. Damit wäre die Zukunft der Rennbahn als Sportanlage gesichert, ihr Betrieb und Unterhalt wieder planbar.

Kultpotenzial

Die Rennbahn Oerlikon liegt zwar dank der Igor nicht im Dornröschenschlaf, aber ihr Potenzial wird heute nicht annähernd genutzt. Das Bauwerk hat, denkmalgerecht restauriert, Kultpotenzial. Die Anlage würde sich für eine intensivere breitensportliche Nutzung eignen. In Zürich fehlen Einrichtungen für Radsportarten, die nicht auf der Strasse betrieben werden können – neben den Bahndisziplinen sind das Parcours für Velotrial, Pumptracks für Mountainbikes, Radballfelder usw. – sowie Inlinebahnen für Skatingdisziplinen. Sie könnten hier gut Platz finden.

Als Ort mit einer starken Identität im Zentrum eines dynamischen Stadtteils bietet sich die Rennbahn Oerlikon aber auch für Nutzungen im Bereich Soziokultur an. Schon jetzt ist ihre soziale Bedeutung als Treffpunkt gross. Die Funktion als Sport- und Quartierzentrum liesse sich aber intensivieren – warum nicht im thematischen Zusammenhang mit dem Velofahren? Die Stadt Zürich wird früher oder später eine breite Kampagne zur Förderung des Veloverkehrs lancieren müssen, denn dessen Anteil am Stadtzürcher Gesamtverkehr ist im Vergleich zu anderen Schweizer Städten viel zu tief. Die frisch renovierte Rennbahn würde einen praktisch wie symbolisch hervorragenden Ort für Kurse und Veranstaltungen für Kinder und Erwachsene abgeben. Die kulinarische Dienstleistung des heutigen «Rennbahnstüblis» mit seiner Gartenwirtschaft könnte so ebenfalls auf die ganze Woche ausgedehnt werden.

Bauliche Verdichtung möglich

Auch wenn das historische Bauwerk erhalten bleibt, ist eine dichtere Bebauung des Areals möglich. 1912 beschrieb der Oerliker Gemeindeingenieur Johann M. Scheifele in dieser Zeitschrift die Planung und den Bau der Rennbahn. Er hatte dafür den Quartierplan entworfen und den Verlauf der Strassen bestimmt, die erst viel später gebaut wurden. Weitsichtig hat er dabei «die Disposition so gewählt, dass beim seinerzeitigen Ausbau des Bebauungsplanes, die Sportplatzanlage längs der Verkehrsstrassen durch Häusergruppen zugebaut werden kann, sodass die nicht zu vermeidende, unschöne Form der Rennbahnkonstruktion verdeckt wird[8].»Dieses Angebot ist bis heute nicht genutzt worden. Eine Nutzungsstudie und allenfalls ein Ideenwettbewerb könnten einen Nutzungsmix suchen und eine geeignete bauliche Verdichtung vorschlagen, die den Radsport nicht einschränken, der Quartier- und Stadtbevölkerung dienen und sich mit einem denkmalgerechten Erhalt des Baus vertragen. Die Stadt Zürich, die bereits zu viele Zeugen ihrer industriellen Vergangenheit geopfert hat, käme so zu einem weitherum einmaligen, mit Geschichte aufgeladenen Ort. Ingenieur Scheifele schloss seinen Artikel 1912 mit einem Wunsch, der offensichtlich 100 Jahre lang gewirkt hat und hiermit an gleicher Stelle erneuert sei: «Möge ein guter Stern über dem Betrieb der Sportplatzanlage walten, damit auch diejenigen, die grosse finanzielle und geistige Opfer nicht gescheut haben, die wohlverdiente Anerkennung finden.»[9]


Anmerkungen:
[01] Die Angaben zur Geschichte des Bahnsports stammen, wo nicht anders angegeben, aus: Rennbahn Oerlikon, Zürich 2012
[02] TEC21 40/2003, S. 6–12
[03] «Überbauung Wallisellenstrasse in Zürich-Oerlikon» in: Schweiz. Bauzeitung 33/1970, S. 751
[04] Stadtratsprotokoll 24.1.1990, Geschäft Nr. 29
[05] ebd.
[06] Vgl. auch Sportstättenstrategie der Stadt Zürich, Strategiebericht zum Sportstättenbau der Jahre 2010 bis 2014, Stadtratsbeschluss vom 30.9.3009
[07] Angaben zu den Finanzen von Patrick Pons, Sprecher des Schul- und Sportdepartements
[08] M. Scheifele: «Die Radrennbahn von Zürich-Oerlikon» in: Schweiz. Bauzeitung 1912, 2. Bd., S. 305.
[09] ebd., S. 336

TEC21, Fr., 2012.05.18



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TEC21 2012|21 Die Rennbahn retten

16. März 2012Claudia Carle
Ruedi Weidmann
TEC21

«Nachhaltig planen heisst: zusammen suchen»

Wer definiert soziale Nachhaltigkeit? Matthias Drilling ist einer der wenigen Sozialwissenschaftler, die sich Gedanken zur nachhaltigen Entwicklung machen. Die Analysen und Forderungen des Geografen, Ökonomen und Raumplaners sind unbequem und erhellend.

Wer definiert soziale Nachhaltigkeit? Matthias Drilling ist einer der wenigen Sozialwissenschaftler, die sich Gedanken zur nachhaltigen Entwicklung machen. Die Analysen und Forderungen des Geografen, Ökonomen und Raumplaners sind unbequem und erhellend.

TEC21: Wie erleben Sie die Diskussion um Nachhaltigkeit, was die soziale Dimension betrifft?
Matthias Drilling: Der Diskurs über eine nachhaltige Entwicklung wird heute praktisch auf Energie- und Umweltziele reduziert. Wenn Fragen nach sozialer Nachhaltigkeit gestellt werden, werden sie meist nur im Dienst ökologischer Zielsetzungen gesehen. Interessant ist, dass wir früher viel mehr darüber wussten, was soziale Nachhaltigkeit ist. Doch dieses Wissen hat bisher kaum Eingang in den Nachhaltigkeitsdiskurs gefunden. Was von den 1960er- bis in die 1980er-Jahre international geforscht und publiziert wurde über sozialen Wohnungsbau, über Konzepte von Nachbarschaft oder Gemeinschaft, über Verdichtung und soziale Integration, über das Entwickeln von Siedlungen mit der Bevölkerung zusammen – all das ist völlig vergessen gegangen.

TEC21: Wie kam es zu diesem Gedächtnisverlust unserer Gesellschaft?
M.D.: Das in den Sozialwissenschaften aufgebaute Wissen wurde nicht in die Umweltwissenschaften und das Ingenieurwesen transferiert, die heute den Diskurs über Nachhaltigkeit führen. Das hat auch damit zu tun, dass die Sozialwissenschaftler den Nachhaltigkeitsdiskurs nicht ernst genommen haben, da sie ihn für rein umsetzungsorientiert und damit uninteressant hielten. Deshalb tendiert der Diskurs heute zu einer mechanistischen Sicht eines Dreisäulenprinzips: Man nehme etwas mehr Massnahmen aus dieser Säule, dafür etwas weniger aus jener … Abgesehen davon, dass das kein geeignetes Verständnis von Nachhaltigkeit ist, sind wir Sozialwissenschaftler avers gegen die Forderung nach Messbarkeit von Massnahmen. Die wenigen Sozialwissenschaftler, die sich auf den Diskurs einliessen, standen ihm kritisch gegenüber und sahen ihn nicht als Chance, um Wissen und Forderungen der Sozialwissenschaften einzubringen. So ist das Soziale eine Art Erfüllungsgehilfin der Ökologie geworden. Gesellschaftsrelevante Fragen nachhaltiger Entwicklung wurden dem Städtebau überlassen, für den in der Schweiz die Architekturschaffenden zuständig sind, und diese denken enorm objekt- und umsetzungsorientiert. Erst jetzt merken wir Sozialwissenschaftler, welche Chance wir da versäumt haben.

TEC21: Wie lässt sich soziale Nachhaltigkeit heute definieren?
M.D.: Auf globaler Ebene laufen die Vorschläge meistens auf grosse Forderungen wie eine gerechte Verteilung von Lebenschancen hinaus. Im nationalen Massstab wird es schon komplizierter: Da wird zum Beispiel von ‹sozial gerechter Wohnraumversorgung› gesprochen. Auf lokaler Ebene stellt sich die Frage nach dem Geltungsbereich: Beziehen wir uns auf eine Gemeinde, ein Quartier, eine Siedlung oder ein Gebäude? Hier kommen zahlreiche Aspekte ins Spiel: Beteiligung, Nutzungsorientierung, soziale Durchmischung usw. Die SIA-Empfehlung 112/1 ‹Nachhaltiges Bauen – Hochbau› ist ein gutes Beispiel für ein lokales und prozessorientiertes Verständnis in Bezug auf ein Gebäude.

Ich meine, dass wir ‹soziale Nachhaltigkeit› heute im Vokabular des Nachhaltigkeitsdiskurses definieren müssen, damit sie darin Eingang finden kann. Ein fundamentales Kriterium ist etwa, dass wir es immer mit Prozessen zu tun haben. Man kann also nicht sagen, etwas ist sozial nachhaltig, sondern etwas wird sozial nachhaltig, beispielsweise: Wie erreichen wir, dass sich in einer Siedlung eine soziale Durchmischung entwickelt? Dieses Konzept ist anschlussfähig an prozessuale Sichtweisen in der Ökologie. Man kann dabei die Bevölkerung als Ressource bezeichnen. Nachhaltig mit der Ressource Bevölkerung umzugehen heisst, sich bei Planungen und Bauprojekten reflektiert mit Fragen auseinanderzusetzen wie: Wie viel der Ressource Bevölkerung nutze ich – z. B. in Mitwirkungsverfahren oder indem ich die Entstehung einer Nachbarschaft fördere – und wie viel ‹verbrauche› ich, das heisst, wie viele soziale Netze zerstöre ich durch das Verdrängen von Bewohnern? Es geht immer um die Fragen: Für wen baue ich? Und wie interagiert das Projekt mit dem sozialen Kontext?

Soziale Nachhaltigkeit zielt letztlich auch auf soziale Kohäsion: Zusammenhalt in der Gesellschaft, in der Gemeinde, im Quartier, im Haus. Eine sozial nachhaltige Gemeinde kann unterschiedlichste Ansprüche der Bevölkerung befriedigen, seien es die von alten oder jungen Menschen, Neuzugezogenen oder Alteingesessenen, In- oder Ausländern usw. Denn unser Konzept von Gesellschaft beruht darauf, dass heterogene Bevölkerungsteile miteinander in Kontakt stehen, in Konflikte geraten und kreativ damit umgehen – daraus entsteht Innovation. Dagegen wird ein Quartier, in dem nur Menschen aus einer einzigen Bevölkerungsgruppe leben, nicht sozial nachhaltig. Das Extrembeispiel ist die ‹gated community›: eine homogene Bevölkerung ohne Austausch mit anderen Teilen der Gesellschaft, abgetrennt durch einen Zaun und geschützt von Security-Personal. Gemeinden und Investoren sollten sich überlegen, was ihr Projekt zur Kohäsion der Gesellschaft beiträgt.

TEC21: Die Verbreitung der Nachhaltigkeitsidee funktionierte bisher erfolgreich über Labels und Tools. Heute wird daran gearbeitet, sie für ganze Quartiere operabel zu machen. Wie beurteilen sie solche Instrumente?
M.D.: Wir haben bestehende Indikatorensysteme analysiert.[1] Es hat sich gezeigt, dass die soziale Nachhaltigkeit immer zu unpräzise formuliert ist. Da stehen zwar oft Begriffe wie ‹ soziale Integration›, ‹Nahversorgung›, ‹Berücksichtigung von Genderaspekten› oder ‹Mitbestimmung›, aber es wird nicht definiert, wie sie in die Praxis einfliessen sollen.

TEC21: Liessen sich solche sozialen Indikatoren nicht durch messbare Richtwerte operabel machen? Sie sagten, dass Sozialwissenschaftler die Forderung nach Messbarkeit sozialer Massnahmen nicht schätzen …
M.D.: Das ist ja eben der Punkt! Soziale Nachhaltigkeit beruht auf Prozessen und auf Interaktion in diesen Prozessen – auf Verhandlung. Wird irgendwo eine grosse Siedlung geplant, dann wird es erst sozial nachhaltig, wenn das ganz Quartier daran Anteil nimmt und sich zum Beispiel überlegt, wer dort wohnen soll. Vielleicht stellt die Bevölkerung dann fest, dass der Investor nicht das baut, was für das Quartier nützlich wäre. Aus Unzufriedenheit über die Mainstreamproduktion entstehen dann neue Wohnmodelle.

TEC21: Sie plädieren also dafür, Bedürfnisse und Kreativität der Bevölkerung einzubeziehen?
M.D.: Ja. Es gibt Möglichkeiten, das zu fördern. Bei der Stadterweiterung Rieselfeld in Freiburg i. B. entschied sich die Stadtverwaltung, die Bauparzellen statt wie üblich auf Grossinvestoren zuzuschneiden nur 30 × 30 m gross einzuteilen. So konnten auch kleine Bauherrschaften, darunter auch Genossenschaften und die heute bekannten Baugruppen zum Zug kommen. Solche früh ansetzenden Methoden führten zu einer grösseren und vielfältigeren Beteiligung an der Übernahme von Verantwortung und damit zu mehr sozialer Nachhaltigkeit.

TEC21: Müssten also Nachhaltigkeitstools um soziale Indikatoren ergänzt werden, nicht in Form messbarer Werte, sondern indem partizipative Verfahren verlangt oder belohnt werden?
M.D.: Ja, aber ich würde noch etwas weitergehen; soziale Nachhaltigkeit mit Beteiligung gleichzusetzen, greift zu kurz. Ich verweise nochmals auf die SIA-Empfehlung 112/1, die diesbezüglich weitaus mehr Innovationen enthält. Diese Empfehlung könnte man zu einer Norm machen. Normen bewirken viel. Das Bundesamt für Energie erarbeitet gerade einen nationalen Standard zur Nachhaltigkeit. Bei den Unterlagen dazu war ein Verzeichnis bestehender Normen. Da fällt auf, dass die meisten Normen und Ausführungsbestimmungen der Ökologie gelten – und nahezu keine dem Sozialen. Man darf nun aber nicht erwarten, dass wir schon mit der gleichen Präzision aufwarten können wie über zwanzig Jahre Umweltforschung – ein Schicksal, das die soziale übrigens mit der ökonomischen Nachhaltigkeit teilt.

TEC21: Die Bundesämter für Energie und für Raumentwicklung haben mit der Stadt Lausanne und dem Kanton Waadt das Planungs- und Controllinginstrument ‹Nachhaltige Quartiere by Sméo› geschaffen (vgl. S. 10). Wie beurteilen Sie dieses Instrument?
M.D.: Sméo spricht soziale Kriterien zwar an, aber das Tool wendet sich an Investoren. Auf SIA 112/1 wird Bezug genommen, aber sie wird auf die Idee des Lebenszyklus reduziert. Ein wenig wird simuliert, dass das Soziale dann schon irgendwie mit dabei sei. Was ich meinte, geht über Sméo hinaus. Verhandlung findet am runden Tisch und in partizipativen Verfahren statt. Das heisst nicht, dass man für jeden Bau die halbe Stadt einladen muss. Je nach Projekt reicht auch ein Nutzervertreter. Hilfreich wären in dem Zusammenhang auch stärker für soziale Fragen sensibilisierte Fachplaner. Wichtig ist, wie gut die Gemeinden im Rahmen von Planungs- oder Baubewilligungsverfahren ihre Steuerungsmöglichkeiten in Sachen sozialer Nachhaltigkeit wahrnehmen: wen sie fragen und wonach sie fragen. Der Perimeter wird hier meist eng gezogen: Man begrüsst die Einspracheberechtigten und fragt vielleicht noch dort, wo der grösste Widerstand vermutet wird, aber alle anderen tauchen nicht auf.

TEC21: Aber gerade die neuen Quartiertools fassen die Perimeter relativ weit.
M.D.: Das ist richtig. Aber sie definieren nicht, was Gegenstand von Verhandlungen mit der Bevölkerung sein soll. Solche Tools sind schon nützlich. Nur erheben sie einen generellen Anspruch, den sie nicht einlösen können. Am Ende nutzt ein angekreuztes Kästchen nur beschränkt. Ein Beispiel: Beim Masterplan Aarburg-Nord haben wir mit dem Gemeinderat, Orts-, Verkehrsplanungs- und Architekturbüros zusammengearbeitet. Auslöser war der wachsende Verkehr auf der Oltenerstrasse. Eine Steuerung durch Ampeln wurde diskutiert, doch stellte man fest, dass dies die Lebensqualität im Quartier nicht wirklich steigern würde. Wir machten dann eine Sozialraumanalyse. Wir erkannten, dass nicht die Teilung des Quartiers durch Oltenerstrasse und Bahngleise das eigentliche Problem war, sondern seine Teilung in ein ‹Problemquartier› an der Strasse und ein ‹Mittelstandsgebiet› parallel dazu. Deshalb schlugen wir vor, bei der Quartierentwicklung nicht nur die Oltenerstrasse zu beachten, sondern die Quartierstrasse, die parallel dazu als unsichtbare Barriere die problematischen und die privilegierten Quartierteile trennt, zur Begegnungsachse für die Bevölkerungsteile zu entwickeln.

Das Beispiel zeigt, dass die frühe Berücksichtigung sozialer Fragen, von Bedürfnissen der Bevölkerung und Fragen der Lebensqualität zu ganz anderen Massnahmen führen kann als anfänglich geplant. Dazu gehört etwa auch, dass man nicht nur den Lebenszyklus eines Baus, sondern auch den seiner Bewohner betrachtet. So hat man zum Beispiel in Freiburg i. B. auf Wunsch der älter gewordenen Bewohner bei der Energiesanierung eines Hochhauses gleichzeitig auch die Wohnungen verkleinert. Statt 90 gibt es jetzt 139 Wohnungen. Dadurch blieben die Mieten trotz Umbau zum Passivenergie-Hochhaus fast gleich hoch, und die meisten früheren Bewohner konnten wieder ins Haus zurückkehren. Sie sehen also: Wenn wir auf soziale Nachhaltigkeit setzen, müssen wir Verhandlungen möglich machen, wo sich Problemdefinitionen verschieben und unerwartete Lösungen entstehen können. Daran beteiligen können sich Planungsfachleute, Sozialplaner, Behörden, Arbeitsgruppen in der Bevölkerung mit Workshops, Ergebniskonferenzen usw. Wichtig ist, dass mehr hineingetragen werden kann, als die Tools an Kriterien vorgeben, denn wirklich nachhaltige Lösungen müssen aus lokalen Bedingungen, Bedürfnissen und Möglichkeiten entwickelt werden.

TEC21: Nachhaltigkeit kann man also nicht planen, sondern nur zusammen suchen?
M.D.: Das ist doch Planung, zunächst einmal! Planen heisst zusammen suchen.

TEC21: Was bedeutet das für die Disziplin Städtebau?
M.D.: Der Städtebau nimmt oft soziale Themen auf und drückt sie in einem städtebaulichen Begriff aus, der dann kaum mehr sozialwissenschaftlich reflektiert wird. Zum Beispiel ‹Verdichtung›: Darüber diskutieren die Sozialwissenschaften seit über hundert Jahren. Übersetzt in deren Sprache heisst das ‹Nachbarschaft›. In den 1970er-Jahren wurden Nachbarschaften typologisiert und Zusammenhänge mit Bebauungsformen erforscht. Man hat unterschieden zwischen anomischen Nachbarschaften, wo sich die Leute kaum kennen, Stepping- Stone-Nachbarschaften, wo man sich bei Bedarf aushilft, und integrativen Nachbarschaften, deren Bewohner im Alltag viel zusammen machen. Unter dem Aspekt sozialer Nachhaltigkeit wäre es nun intelligent, zu überlegen, was integrative Nachbarschaften fördert. Wenn es uns gelingt, gute Modelle von Nachbarschaften zu entwerfen, dann wird die negativ konnotierte Dichte sekundär. Statt über Ausnützungsziffern sollte man darüber sprechen, welche zusätzlichen Dienstleistungen und Qualitäten dank höherer Dichte erst möglich werden. Dann kommt man auch auf die Idee, dass nicht immer das ganze Erdgeschoss an einen Supermarkt vermietet werden muss. Am besten ist ein Mix: Läden, Kleingewerbe, Cafés, Bibliotheken, Spielgruppen, Gemeinschaftsräume, auch Gemeinschaftsgärten usw. Letztlich geht es darum, die Häufigkeit und Intensität von Begegnungen zu fördern.

TEC21: Dafür verwenden Sie den Begriff ‹soziales Kapital›, der vom französischen Soziologen Pierre Bourdieu geprägt wurde …
M.D.: Das soziale Kapital, gerne ‹Kitt› unserer Gesellschaft genannt, bezeichnet die Qualität von Beziehungen. Man unterscheidet zwischen verbindendem und überbrückendem sozialem Kapital. Ersteres schaffen Leute mit gleichen Interessen, die sich in Vereinen treffen. Das können wir ziemlich gut und tun es freiwillig. Das Herausfordernde ist das überbrückende soziale Kapital. Es entsteht, wenn Leute, die sich in Einkommen, Alter, sozialem Status, Herkunft, Kultur, Ethnie, Religion usw. unterscheiden, miteinander in Kontakt treten. Das ist seltener und schwierig zu fördern, aber wertvoll für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Soziales Kapital zu mehren, ist das Ziel von sozial nachhaltigen Massnahmen – vorhandenes soziales Kapital zu nutzen, ist der Weg dorthin. Bauten können soziales Kapital zerstören, etwa wenn Leute durch preissteigernde Renovationen aus ihrer Nachbarschaft vertrieben und damit Netzwerke auseinandergerissen werden. Architekturprojekte können aber auch zur Bildung von sozialem Kapital beitragen. Ein aktuelles Beispiel sind die Mehrgenerationenhäuser. Unverständlich finde ich, wenn solche Innovationen nur als Spielereien oder Nischenprodukte gesehen werden. Für Investoren würde es sich durchaus lohnen, systematisch in soziales Kapital zu investieren. Gewinne wären mehr Identifikation der Bewohner, weniger Fluktuation, mehr Verantwortung für die Umgebung, weniger Unterhaltsarbeiten usw. Und es würden höhere bauliche Dichten akzeptiert. Alternative Wohn-, Bewirtschaftungs- und Investorenmodelle sind vielversprechende Innovationen, der heutige Mainstream dagegen ist nicht zukunftsfähig. Hier frage ich mich, warum es von Bund und Kantonen, die ja viele Fördergelder für Energieeffizienz und erneuerbare Energien zahlen, nicht auch ein Förderprogramm für soziale Nachhaltigkeit gibt.

TEC21: Ist denn wirklich ein solcher Aufwand im Sozialen nötig, um etwa die 2000-Watt-Gesellschaft zu erreichen? Geht das nicht einfacher über verbesserte Technik und finanzielle Steuerungsmechanismen, etwa eine CO2-Abgabe?
M.D.: Es braucht ein richtiges Portfolio. Wenn wir an den Freizeitverkehr und die Flugreisen denken, ist doch deutlich, dass wir auch auf Lebensstile Einfluss nehmen müssen. Welchen Sinn hat es, im CO2-freien Haus auf der Couch zu sitzen und Pläne für den nächsten Last-Minute-Flug-Urlaub zu schmieden? Also müssen wir Anreize für weniger energieintensive Lebensstile schaffen, z. B. indem wir die Lebensqualität unserer Quartiere so stark erhöhen, dass wir nicht x-mal im Jahr wegfliegen wollen.


Anmerkung:
[01] M. Drilling, D. Blumer: Die soziale Dimension nachhaltiger Quartiere und Wohnsiedlungen. Zwischenbericht zu Händen des Bundesamtes für Wohnungswesen. Hochschule für Soziale Arbeit, FH Nordwestschweiz. Olten/Basel 2009

TEC21, Fr., 2012.03.16



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TEC21 2012|12 Nachhaltige Quartiere

21. Oktober 2011Ruedi Weidmann
Nathalie Cajacob
TEC21

Zürcher Baumeisterhäuser

Der Abbruch eines legendären Haushaltwarengeschäfts bewegte das Amt für Städtebau der Stadt Zürich dazu, sich mit den «Baumeisterhäusern» zu beschäftigen, die nach und nach aus dem Stadtbild verschwinden. Die einfachen Bauten entstanden während des Verstädterungsprozesses im 19. Jahrhundert und überzeugen mit solider Bausubstanz, einfacher Technik, praktischen Grundrissen, gemischten Nutzungen und Beiträgen an lebendige Stadträume – also mit Merkmalen des nachhaltigen Bauens.

Der Abbruch eines legendären Haushaltwarengeschäfts bewegte das Amt für Städtebau der Stadt Zürich dazu, sich mit den «Baumeisterhäusern» zu beschäftigen, die nach und nach aus dem Stadtbild verschwinden. Die einfachen Bauten entstanden während des Verstädterungsprozesses im 19. Jahrhundert und überzeugen mit solider Bausubstanz, einfacher Technik, praktischen Grundrissen, gemischten Nutzungen und Beiträgen an lebendige Stadträume – also mit Merkmalen des nachhaltigen Bauens.

Es kommt selten vor, dass eine neue Denkmalgattung entdeckt wird. Dem Amt für Städtebau der Stadt Zürich ist nun ebendies gelungen. Der Abbruch des Haushaltwarengeschäfts Schmuklerski an der Badenerstrasse gab 2006 den Anstoss zu einer eingehenden Untersuchung der Zürcher «Baumeisterhäuser». In Zusammenarbeit mit dem Institut für Denkmalpflege und Bauforschung der ETH Zürich wurde die Bedeutung dieser Bauten aus verschiedenen Perspektiven analysiert. Resultat ist eine reich bebilderte und gut gestaltete Publikation, die in sieben kurzen Beiträgen einen bisher übersehenen Bautyp für die Architekturgeschichte erschliesst und dabei in vorbildlicher Weise nicht nur seine baugeschichtlichen, sondern auch seine soziokulturellen Qualitäten und sein Potenzial für die weitere Stadtentwicklung beleuchtet. Die Untersuchungsresultate werden bis zum 18. November auch in einer Ausstellung im Baugeschichtlichen Archiv präsentiert (vgl. Kasten).

Entstehung im politischen Umbruch

Die einfachen Wohn- und Handwerkerhäuser entstanden ab 1831 zu Hunderten in den nun entstehenden Vorstädten und im Gebiet der 1833/34 abgetragenen Stadtbefestigung.[1] Die Bezeichnung Baumeisterhäuser hat sich im Amt für Städtebau etabliert, da die Häuser nicht von akademisch ausgebildeten Architekten, sondern von Baumeistern mit handwerklichen Wurzeln entworfen und gebaut wurden. Die frei stehenden Bauten mit rechteckigem Grundriss weisen über einem meist gewerblich genutzten Erdgeschoss ein bis drei Stockwerke mit je einer Mietwohnung auf. Stilistisch orientierten sich ihre Erbauer am Klassizismus der vornehmen Zürcher Architektur, den sie mit bescheidenen Mitteln übernahmen. Dieser reduzierte Klassizismus ist auch schon als Biedermeierarchitektur bezeichnet worden.[2] Eine typologische Wurzel sind die Kosthäuser, die Fabrikanten seit dem frühen 19. Jahrhundert als Arbeiterunterkünfte errichteten.

Die 1830er-Jahre brachten der Stadt Zürich grosse Umbrüche. Die liberale Kantonsverfassung von 1831 garantierte die bürgerlichen Freiheiten. Zwei davon, die Niederlassungsfreiheit und die Handels- und Gewerbefreiheit, hatten Folgen für die Siedlungsentwicklung: Von nun an durfte sich jeder Kantonsbürger in jeder Gemeinde des Kantons niederlassen und irgendein Gewerbe eröffnen. Das löste eine Zuwanderung in die Städte und einen anhaltenden Bauboom aus. Das Ende der Zunftmonopole bedeutete auch eine Liberalisierung des Bausektors. Nach dem Abbruch der ausgedehnten Anlagen der Zürcher Stadtbefestigung wurde ein Grossteil des Bodens an Private verkauft; der Grundstückshandel entwickelte sich. Nebst grossbürgerlichen Wohnsitzen wurden auf dem neuen Baugrund viele Baumeisterhäuser gebaut. Sie boten in die Stadt ziehenden Arbeiter- und Handwerkerfamilien Unterkunft. Baumeisterhäuser entstanden auch um die stadtnahen Siedlungskerne beim Kreuzplatz, auf der Platte oder in Aussersihl, entlang der Ausfallstrassen und in den umliegenden Gemeinden Riesbach, Hottingen, Unter- und Oberstrass, Wiedikon, Wollishofen und Wipkingen, die 1893 eingemeindet wurden. Ähnliche Häuser findet man auch in Ortschaften in Zürichs Umgebung, die im 19. Jahrhundert stark wuchsen, in Uster etwa oder in den Seegemeinden. Doch nicht überall kommen sie vor. In Basel beispielsweise setzten sich bereits ab 1851 der Staat und gemeinnützige Gesellschaften für den Bau von Arbeitersiedlungen ein, weshalb der Anreiz zum spekulativen Wohnungsbau geringer war.

Kleine Bauherren, gemischte Bewohnerschaft

Die Bauherren waren vorwiegend Handwerkermeister, Gewerbetreibende oder Wirte. Solange der Zustrom vom Land anhielt, war der Bau von Mietshäusern für diese kleinen Investoren ein sicheres Geschäft. Es kam zwar vor, dass Handwerker ein Wohnhaus mit Werkstatt für sich selber bauen liessen, viele Neubauten wurden jedoch schon im folgenden Jahr veräussert – ihre Bauherren spekulierten auf einen baldigen gewinnbringenden Verkauf. Einen Teil des Erlöses investierten sie nicht selten in den Bau des nächsten Hauses.

Die Baumeisterhäuser reagierten auf das neue Bedürfnis nach separat mietbaren Wohneinheiten für Familien aus Mittelstand und Unterschicht. Die Bewohnerschaft war oft gemischt. Sie umfasste etwa einen Handwerker, der sein Geschäft im Erdgeschoss betrieb und mit seiner Familie im ersten Stock wohnte, und in den übrigen Wohnungen Handwerker, Kleingewerbler, niedrige Angestellte oder Facharbeiter mit ihren Familien und Untermietern.[3]

Anfgang und Ende eines Hybridhaustyps

Das «Gassengesetz» von 1834 regelte die Bebauung der neuen Wohngebiete. Es schrieb unter anderem Strassenbreite (12 m für Haupt-, 9 m für Nebenstrassen), maximale Gebäudehöhe (21 m) und Mindestabstand zur Nachbarparzelle (1.8 m) vor. Das ermöglichte eine relative hohe Ausnutzung des Bodens. 1863 beschloss der Regierungsrat, mit einem neuen Baugesetz «Übelstände zu beseitigen, die aus der jahrelangen planlosen baulichen Entwicklung der Stadt hervorgegangen» waren. Die Grenzabstände wurden grösser, dafür durften Gebäude aber neu auch direkt auf die Grundstücksgrenze gesetzt werden, wenn sie mit einer Brandmauer versehen waren. Das erlaubte eine höhere Ausnutzung und förderte den Bau von Doppelwohnhäusern oder das Aneinanderreihen mehrerer Häuser in einer Blockrandbebauung.

Steht am Anfang der Baumeisterhäuser die Kantonsverfassung von 1831, so ist es das mit der ersten Eingemeindung 1893 in Kraft tretende kantonale «Baugesetz für Ortschaften mit städtischen Verhältnissen», das das Ende der Baugattung besiegelt. Nun durfte ohne gültigen Quartierplan nicht mehr gebaut werden, was dem ungeregelten Erstellen einzelner Häuser ein Ende setzte.[4] Die grossflächige Erschliessung durch das kommunale Strassennetz förderte grössere, einheitliche Überbauungen durch Terraingesellschaften und andere potente Investoren. Schon das kantonale Baugesetz von 1863, vor allem aber das von 1893 schrieben grössere Abstände für die offene Bebauung vor und erleichterten andererseits in Geschäfts- und Industriequartieren das Zusammenbauen. Das förderte eine klare Aufteilung der Stadt in dichte Gebiete mit Blockrandbebauung und in locker bebaute und durchgrünte bürgerliche Wohnquartiere. In Letzteren wurden gewerbliche Nutzungen immer öfter verboten. Das Stadtgebiet wurde damit funktional, typologisch und sozial aufgeteilt. Für das Baumeisterhaus mit seiner gemischten Nutzung und seiner gemischten Bewohnerschaft blieb da kein Platz mehr. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts kam es zu Ersatzneubauten durch dichtere Blockrandbebauung.

Innen flexibel, aussen offen zur Stadt

Durch ihre quasiserielle Herstellung, das Ausnutzen der baugesetzlich erlaubten Spielräume und wegen des Fehlens von individuellen, repräsentativen Ansprüchen sind sich die Baumeisterhäuser typologisch alle recht ähnlich. Varianten bestehen bei der Grösse, den Anbauten und beim Innenausbau. Im Erdgeschoss befanden sich oft Gewerberäume, Läden oder Gaststätten. Seitlich oder rückwärtig angebaute Werkstätten und Lager sind ein weiteres häufiges Kennzeichen. Die Geschosswohnungen zeichnen sich durch eine kluge Raumaufteilung aus. Sie verfügen über einen rechteckigen Grundriss und regelmässig befensterte Fassaden. Die Zimmer sind meist von gleicher Grösse und daher flexibel verwendbar. Häufig ist ein Zimmer direkt vom Treppenhaus her zugänglich, was die Aufnahme von Untermietern vereinfachte. Die Wohnräume sind nicht riesig, aber gut proportioniert, nicht lichtdurchflutet, aber hell dank Fenstern auf allen vier Seiten.

Auffällig sind die grossen städtebaulichen Qualitäten: Die frei stehenden Häuser erlauben Durchblicke, mit ihren Anbauten schaffen sie vielfältig nutzbare Zwischenräume. Bis heute findet man darin gewerbliche Nutzungen, die für die Quartiere identitätsbildend sind. Viele Erdgeschosse sind auf die Strasse und die Passanten orientiert und wirken einladend. Die enge Nachbarschaft der Bauten und die Vielfalt der rückwärtigen Zwischenräume, die oft weder ganz privat noch ganz öffentlich sind, bereichern die Stadtstruktur. Damit sind Baumeisterhäuser – vor allem im Ensemble – eine urbane Typologie, die wertvolle räumliche und soziale Beiträge an einen lebendigen öffentlichen Stadtraum leistet.

Handwerk und Industrie

Die Materialien zeugen von der traditionellen Handwerkskunst des 19. Jahrhunderts und von den Anfängen der Bauteilindustrie. Sie sind von so hoher Qualität, dass sie anderthalb Jahrhunderte oft gut überdauert haben. Die Wände der Wohnräume bedeckten halb- oder deckenhohe Holztäfelungen, Tapeten und Einbauschränke. Küchen- und Korridorböden wurden mit industriell hergestellten, bunt gemusterten Zementfliesen belegt (vgl. äusseres Titelbild). In den Zimmern waren breite Holzdielen oder Eichenparkett im Fischgräten- oder Kassettenmuster verlegt. An den Decken fanden sich Stuckmotive aus Katalogen. Zimmerund Wohnungstüren waren mit geätzten Glasscheiben gefüllt. Die Ausstellung im Baugeschichtlichen Archiv Zürich zeigt solche Originalbauteile; sie stammen aus Häusern an der Seefeldstrasse, die letztes Jahr abgebrochen wurden, und aus dem Bauteillager der kantonalen Denkmalpflege.

Die Häuser waren anfänglich dicht bewohnt, meist gab es mehr Menschen als Zimmer. Der Ausbaustandard war schlicht: Wasser vom Brunnen, Plumpsklo auf dem Treppenabsatz, Zimmeröfen zum Heizen, Einfachverglasung mit Vorfenstern, die im Sommer durch Klappläden ersetzt wurden. Kanalisationsleitungen, fliessend Wasser und Gas wurden erst ab etwa 1870 verlegt, Strom um 1900.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurden im Baugewerbe noch traditionelle Konstruktionstechniken angewandt. Der Bauprozess war kaum mechanisiert. Baumeister und Handwerker errichteten die Häuser mit einfachen Techniken und traditionellen Baumaterialien von Hand. Ab der Jahrhundertmitte entstanden jedoch Fabriken, die Baumaterialien herstellten und diese mittels Katalogen und per Eisenbahn vertrieben. Auch in Zürich boten erste Grossziegeleien, Ofen- und Fensterfabriken sowie Produzenten von Sanitärteilen Produkte an, die zunehmend standardisiert und maschinell hergestellt waren. Solche Bauteile wurden in den Baumeisterhäusern verwendet. Sie sind von guter Qualität. Wenn sie gepflegt worden sind, erfüllen sie ihre Aufgaben auch nach 150 Jahren noch und verleihen den Räumen einen spezifischen, handwerklich-frühindustriellen Charme.

Ein Beispiel für die einfachen Techniken ist eine Kellerlüftung, die in mehreren Baumeisterhäusern anzutreffen ist: Eine Kelleröffnung ist aussen vergittert, das Fenster ist innen angeschlagen. Zwischen Gitter und Fenster führt ein in der Mauer eingelassener Kanal senkrecht bis zu einer Öffnung über dem Kellerboden. Durch diesen Kanal fällt nachts und im Winter immer etwas kalte und deshalb trockene Luft in den Keller, dort erwärmt sie sich auf die Temperatur der Mauern und des sie umgebenden Erdreichs und nimmt dabei Feuchtigkeit auf. Wo das simple System nie verschlossen wurde, sind die Keller bis heute trocken.

Baumeisterhäuser im Nachhaltigkeitstest

Wie nachhaltig ist der Erhalt eines Baumeisterhauses? Um dies zu prüfen, liess das Amt für Städtebau die Immobilienberatungsfirma Wüest & Partner ein kaum umgebautes und ein denkmalgerecht erneuertes Haus auf ihre Nachhaltigkeit hin überprüfen (Abb. 7 8). Beide schnitten überdurchschnittlich gut ab. Nur bei den Merkmalen «Konstruktion, Materialien, Technik» und «Energie, Ökologie, Wasser» wies das unrenovierte Haus deutliche Schwächen auf. Am renovierten Haus zeigte sich aber, dass diese Mängel bereits mit einer zurückhaltenden Erneuerung behoben werden können. Das gute Ergebnis rührt daher, dass die Merkmale der Baumeisterarchitektur weitgehend heutigen Nachhaltigkeitskriterien entsprechen: Sie befinden sich an zentralen Lagen mit guter Infrastruktur, und dank flexiblem Grundriss und guter Bausubstanz haben sie eine zukunftstaugliche Grundstruktur, die ohne tiefe Eingriffe auf heutige Standards gebracht werden kann.

Gattung unter Druck

Die Zürcher Baumeisterhäuser sind in Gefahr. Ein grosser Teil ist schon verschwunden, gerade in den letzten Jahren wurden viele durch Neubauten ersetzt. Immerhin noch etwa 600 finden sich auf Stadtgebiet (vgl. Abb. 5). Wegen der verschärften Energieanforderungen sind viele sanierungsbedürftig. Sie liegen meist in Zonen, die eine höhere bauliche Dichte erlauben. Deshalb lastet auf ihnen ein grosser Erneuerungsdruck. Wie will die städtische Denkmalpflege darauf reagieren? Laut deren Leiterin, Karin Dangel, steht die Strategie noch nicht fest. Aus denkmalpflegerischer Sicht wäre eine Ergänzung des Inventars der schützenswerten Bauten wünschbar. Die Denkmalpflege habe den Auftrag, das Inventar periodisch zu überprüfen und bei neuen Erkenntnissen Ergänzungen vorzunehmen. Der Umgang mit den Baumeisterhäusern müsse jedoch mit der laufenden Revision der Bau- und Zonenordnung koordiniert werden. Diese Aussage deutet darauf hin, dass sich der heute schon bestehende Zielkonflikt zwischen der nötigen Verdichtung nach Innen und dem Erhalt von Bauzeugen bald noch verschärfen dürfte.

Reservoir für die Zukunft

Gerade am Fall der Baumeisterhäuser lässt sich aber gut argumentieren, dass der Erhalt von Bauzeugen nicht nur aus kompensatorischen Gründen wichtig ist. Ensembles von Baumeisterhäusern sind mehr als nur idyllische Oasen der Ruhe in der Hektik der Stadtentwicklung. Als multifunktionale Bauten für eine sozial durchmischte Bewohnerschaft mit starken Beiträgen an die räumliche Qualität der städtischen Umgebung stellen sie geradezu ein Lehrmittel für verdichtetes Bauen dar. Niemand kann heute behaupten, zu wissen, wie Häuser und Quartiere künftig gestaltet werden müssen, damit eine höhere Dichte Akzeptanz findet. Da ist es gut, im Genpool der historischen Artenvielfalt Beispiele zu finden, an denen sich bewährte Qualitäten untersuchen lassen, die dann für heutige Bauaufgaben übersetzt werden können. Die Baumeisterhäuser bilden ein Reservoir an städtebaulichen Prinzipien und an einfachen Materialien und Bautechniken, die sich 150 Jahre lang bewährt haben – notabene schon, als es noch kein Erdöl gab und die Ressourcen ebenfalls knapp waren. Sie können damit als Pool bewährter kultureller Praktiken für das Bauen im postfossilen Zeitalter dienen. Damit weisen sie nicht nur auf die Stadt von einst, wie Stadtrat André Odermatt im Vorwort der Publikation schreibt, sondern können auch Inputs für deren Zukunft liefern.

Deshalb gehören sie ins Portfolio der Denkmalpflege, wie Patrick Gmür, Direktor des Amts für Städtebau, in der Einleitung schreibt: «Den bisher verkannten Häusern, die immer mehr unter Erneuerungsdruck stehen, gebührt mehr Anerkennung.» Schützenswert scheinen vor allem Ensembles aus mehreren Baumeisterhäusern, da so sichtbar bleibt, dass sie von einer Etappe der Stadterweiterung zeugen und da ihre aussenräumlichen Qualitäten in der Gruppe besonders gut spürbar sind – was nicht heisst, dass gut erhaltene Einzelbauten nicht auch schutzwürdig sein können.


Anmerkungen:
[01] Angaben zur Typologie des Baumeisterhauses beruhen, wo nicht anders angegeben, auf der erwähnten Publikation
[02] Hanspeter Rebsamen: Carl Ferdinand von Ehrenberg, 1806–1841. Der Gründer des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins und sein Wohnhaus in Zürich, in: Unsere Kunstdenkmäler 1/1963, S. 13
[03] Vgl. dazu auch Hans-Peter Bärtschi: Industrialisierung, Eisenbahnschlachten und Städtebau – die Entwicklung des Zürcher Industrie- und Arbeiterstadtteils Aussersihl. Basel, 1983, S. 263 f.
[04] Daniel Kurz: Die Disziplinierung der Stadt. Moderner Städtebau in Zürich 1900 bis 1940. Zürich, 2008, S. 42

TEC21, Fr., 2011.10.21



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2011|42-43 Holzstil und Biedermeier

21. Oktober 2011Ruedi Weidmann
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Roldie Eisenbahn und der Schweizer Holzstil

Der Schweizer Holzstil kam im 19. Jahrhundert in Mode. Nach 1900 war die «Laubsäge-Architektur» verpönt. Heute ist sie bei historischen Hotels wieder beliebt. Bisher kaum untersucht wurden die engen Bezüge zwischen dem Bau der Eisenbahnen und der Verbreitung dieses merkwürdigen Stils, der internationalen Kulturaustausch und industrielle Vorfertigung mit traditioneller Ikonografie und patriotischen Gefühlen verband.

Der Schweizer Holzstil kam im 19. Jahrhundert in Mode. Nach 1900 war die «Laubsäge-Architektur» verpönt. Heute ist sie bei historischen Hotels wieder beliebt. Bisher kaum untersucht wurden die engen Bezüge zwischen dem Bau der Eisenbahnen und der Verbreitung dieses merkwürdigen Stils, der internationalen Kulturaustausch und industrielle Vorfertigung mit traditioneller Ikonografie und patriotischen Gefühlen verband.

Der Schweizer Holzstil hat viele Namen: Schweizerstil, Schweizerhausstil, Schweizerhäuschenstil, Chaletstil, Laubsäge(li)-Architektur usw. Er kommt nicht nur in der ganzen Schweiz vor, sondern auch im Ausland, vor allem in Skandinavien und Osteuropa. Seine Wurzeln liegen in der Mythologisierung des einfachen Lebens der Schweizer Bergbauern in der Romantik des 18. Jahrhunderts durch Denker wie Jean-Jacques Rousseau oder Architekten wie Eugène Viollet-le-Duc. Entwickelt wurde der Stil von akademischen Architekten in Deutschland, Frankreich und England. Sie bauten die ersten «Chalets suisses» oder «Schweizerhäuser» im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert in den Parks europäischer Fürsten und Könige, so etwa Karl Friedrich Schinkel in den 1830er-Jahren in Potsdam.[1]

Internationales akademisches Konstrukt

Der Schweizer Holzstil ist ein internationaler Stil ohne Regionalismen und gehört zum Historismus (im Unterschied zu dem um 1900 aufkommmenden Heimatstil, der zur nachhistoristischen Reformarchitektur gehört und mit Vorliebe Regionalismen aufnimmt[2]). Er basiert zwar auf dem Studium von Berner Oberländer und Waadtländer Holzhäusern, doch wurden deren Formen weitgehend abgewandelt und mit dem Klassizismus verschmolzen.[3] Architektur- lehr- und Musterbücher, die in den 1820er-Jahren aufkamen und zur Verbreitung des Stils beitrugen, zeigten eine wachsende Fülle an Formen.

Von den europäischen Akademien und Fürstenhöfen gelangte der Stil seit den 1830er- Jahren auch in die Schweiz und wurde zunächst für Villen und vor allem am Genfersee verwendet. Als um 1854 der Eisenbahnbau einsetzte, entwarfen die Architekten der Bahngesellschaften viele Bahnbauten im Schweizer Holzstil, und um 1860 wurde er in allen Landesgegenden für Hotelbauten beliebt. Bei der Datierung, der Verbreitung und einer möglichen Periodisierung besteht in der spärlichen Literatur jedoch viel Unsicherheit. Der Schweizer Holzstil zeichnet sich in der Regel durch klassizistische Gliederung und Proportionierung der Baukörper, feingliedrige Holzkonstruktionen und reiches Holzdekor aus. Letzteres orientiert sich an alpin-bäuerlichen und an klassischen Vorlagen. Es ist nicht wie in der traditionellen Holzarchitektur aus konstruktiven Bauteilen herausgearbeitet, sondern besteht aus ausgesägten Brettern, die an die Konstruktion genagelt oder geleimt wurden. Konstruktion und Dekor wurden nach standardisierten Mustern und Massen vorgefertigt und vor Ort nur noch montiert. Einige «Chalet-Fabriken» stellten Dekor und ganze Häuser industriell her und vertrieben sie über Kataloge. Man trifft aber auch auf gemauerte Häuser oder Fachwerkbauten mit Holzstildekor, die dann als spätklassizistischer Historismus mit hölzernem Zierwerk bezeichnet werden können.

Die Rolle der Eisenbahn

Während die Bedeutung der Hotelarchitektur und der Chalet-Fabriken bei der Verbreitung des Schweizer Holzstils schon verschiedentlich gewürdigt wurde[4], scheint die wichtige Rolle, die die Eisenbahn spielte, bisher übersehen worden zu sein. Dass es Bahnhöfe und Güterschuppen im Schweizer Holzstil gab, wird in der Literatur erwähnt, doch der Zusammenhang zwischen dem Bahnbau und der landesweiten Verbreitung des Holzstils ist bisher nicht untersucht worden. Dabei sind die Bezüge vielfältig, und es läge viel schönes Material bereit.

Eine nationale Architektur für die Bahnen

Der Bau der Eisenbahnen setzte in der Schweiz verspätet ein. Ab 1854 begannen jedoch zahlreiche Bahngesellschaften in heute kaum mehr vorstellbarem Tempo und in wildem Konkurrenzkampf Strecken zu bauen. Neben Ingenieuren für den Trasseebau stellten sie auch Architekten an, die sich um die nötigen Hochbauten kümmern mussten. Oft wurden sie aus Deutschland geholt, wo sie bereits Erfahrungen im Bahnbau gesammelt hatten.

Bei der Planung der ersten Bahnhöfe stellte sich den Bahngesellschaften und ihren Architekten die Frage, welcher Baustil für diese neue Art von Gebäuden angemessen war. «Der Baustil soll einfach und bescheiden, aber solid, anständig und des Gegenstandes würdig, überall sparsam, aber nirgends ärmlich sein», empfahl 1843 Friedrich Eisenlohr, Architekt der Grossherzoglich Badischen Eisenbahn, die in der Schweiz stark beachtet wurde.[5]

Dieses Konzept kam den Bahngesellschaften, die immer in Geldnot waren, entgegen. Im jungen Bundesstaat stellte sich aber auch die Frage nach einer nationalen Architektur.[6] Die Bahngesellschaften profitierten unmittelbar davon, dass mit der Staatsgründung von 1848 aus dem Konglomerat der vorher faktisch unabhängigen Kantone ein Bundesstaat wurde.

Vier Jahre nach der Staatsgründung erliess das Bundesparlament das Eisenbahngesetz. Es übertrug die Konzessionshoheit zwar den einzelnen Kantonen, doch legte es für die Konzessionserteilung landesweit geltende Regeln fest und schuf damit die Voraussetzung für einen zügigen Ausbau des Bahnnetzes. Die Bahngesellschaften wollten diese existenzielle Verbundenheit mit dem nationalen Gedanken, aber auch ihre überregionalen territorialen Ansprüche in ihren Bauten ausdrücken. Sie suchten dafür eine landesweit gültige, nationale Architektur, die bis dahin nicht existiert hatte. Johann Georg Müller, Architekt der Zürich-Bodensee- Bahn, schrieb dazu: «Eine jede Bahnlinie sollte in ihren Gebäulichkeiten einen veredelten Ausdruck der im Lande üblichen Bauweise enthalten, deshalb war es vor allem mein Bestreben, den verschiedenen Compositionen in ihrem Äusseren einen nationalen Charakter zu verleihen. So wird neben der Befriedigung der praktischen Bedürfnisse – die allerdings stets zuerst im Auge behalten wurden – auch vorteilhaft auf die Wiederbelebung einer nationalen Bauweise im Volke hingewirkt.»[7] Dafür bot sich der Schweizer Holzstil an.

Normierte Holzstilbahnhöfe

Um schneller vorwärtszukommen, entwarfen die Bahnarchitekten Normpläne, die als Vorlagen für Zwischenstationen und Nebengebäude immer wieder verwendet wurden. So schufen etwa der Architekt Ludwig Rudolf Maring aus Basel und der deutsche Ingenieur Friedrich Wilhelm Pressel 1854 zusammen für das gesamte Streckennetz der Schweizerischen Centralbahn (SCB) «Normalpläne» – im Schweizer Holzstil (Abb. 4). Sie entwarfen Hochbauten für drei Klassen von Bahnhöfen, unterschieden nach Grösse, Zahl und Gestaltung der Gebäude, die je nach Bedeutung einer Station ausgeführt wurden. Die Standardisierung ermöglichte Zeitgewinn und Kosteneinsparungen durch die Vorproduktion normierter Bauteile und durch routinierte Abläufe bei der Montage, diente aber auch der Betriebssicherheit: Bahnbeamte fanden sich so auf allen Stationen zurecht. Nur an wichtigen Stationen wurden spezielle Bauten entworfen und die Pläne den lokalen Behörden vorgelegt. Diese grösseren Aufnahmegebäude der ersten Generation wurden meist in einem sachlichen Spätklassizismus errichtet, der für die republikanischen Tugenden der Zweckmässigkeit und der Einfachheit stand.[8]

Praktisch alle Schweizer Bahngesellschaften verwendeten den Schweizer Holzstil für kleine und mittelgrosse Aufnahmegebäude und noch häufiger für Güterschuppen, Remisen und kleine Nebengebäude wie Aborte oder Wärterbuden. Er eignete sich nicht zuletzt, weil seine leichten Holzkonstruktionen günstig waren, rasch gebaut und bei Bedarf auch gut demontiert, transportiert und erneut aufgebaut werden konnten. Wie Maring für die SCB schufen die Architekten Jakob Friedrich Wanner für die Nordostbahn, Conrad Bär für die Schweizerische Nationalbahn und die Tösstalbahn sowie Johann Jenzer für die Bernischen Staatsbahnen solche Normpläne und verwendeten den Schweizer Holzstil. Dasselbe galt für die Bahngesellschaften in der französischen Schweiz. Viele dieser Bauten wurden später durch grössere ersetzt oder mussten Erweiterungen der Gleisanlagen weichen. Bis heute überlebt haben am ehesten die Güterschuppen. Bahnhofgebäude nach Marings Plänen existieren noch an den einstigen SCB-Linien Basel–Olten (vor allem an der alten Hauensteinlinie[9]), Olten–Luzern, Olten–Bern und Bern–Thun. In Urtenen-Schönbühl BE an der alten Linie Olten–Bern hat die Gemeinde Marings Aufnahmegebäude von 1865 (eine Variante des Typs zweiter Klasse mit angebautem Güterschuppen) samt einer Remise von 1873 und einem Dienstgebäude von 1895 gekauft und mithilfe der SBB-Fachstelle für Denkmalschutzfragen sorgfältig restaurieren lassen. Dabei wurden sogar verloren gegangene Verzierungen rekonstruiert (Abb. 7, 8).[10] Ein Glücksfall ist auch die wiedergefundene Perronhalle von Marings erstem Basler Bahnhof (Abb. 1–3).

Nachahmer am Bahnhofplatz

Als modernster Bau im Ort und neuer Pol der Siedlungsentwicklung hatte der Bahnhof Vorbildwirkung. Die vielen Bahnhöfe im Schweizer Holzstil fanden bald Nachahmer, oft in Bahnhofsnähe oder durch Bauherrschaften, die mit der Bahn oder dem nun wachsenden Reiseverkehr zu tun hatten. Der Schweizer Holzstil wurde rasch beliebt, besonders für Gastwirtschaften am Bahnhofplatz, aber auch für Hotels, Gewerbebauten, Einfamilienhäuser und Kleinbauten. In den Jahren nach der Staatsgründung war Nationalismus die Gesinnung der Stunde, im Schweizer Holzstil konnte er sich ausdrücken. Durch den häufigen Einsatz in allen Landesteilen trugen die Bahngesellschaften dazu bei, den Stil schweizweit zu verbreiten.

Sie bauten vereinzelt auch Wohnhäuser für ihre Angestellten oder unterstützten diese bei Bauvorhaben mit Baukrediten, der Abgabe von Bauland und Plänen aus dem Baubüro der Bahn – auch im Schweizer Holzstil. Wenn auf den Bahnhöfen neue Hochbauten nötig wurden, griffen sie bis zur Jahrhundertwende auf die Normalien der 1850er-Jahre zurück, und auch nach der Verstaatlichung der Bahnen erstellten die SBB von 1902 bis zum Ersten Weltkrieg noch neue Nebengebäude im Schweizer Holzstil (vgl. Abb. 6 und inneres Titelbild).

Verdammt und wiederentdeckt

Der Schweizer Holzstil war keine kurze Mode, sondern von etwa 1830 bis 1914 ein valabler Baustil für mannigfache, namentlich moderne Bauaufgaben wie Bahnbauten, Hotels und Einfamilienhäuser. Um 1900 begann eine Kampagne, die bald vom 1905 gegründeten Heimatschutz getragen wurde, die den Schweizer Holzstil als unschweizerisch und industriell verfemte und stattdessen den Heimatstil propagierte. Auch den Verfechtern der architektonischen Moderne ab den 1920er-Jahren galt die «Laubsägeli-Architektur» oder «Zimmermannsgotik » als dekorativ überladen, unecht und verlogen, und sie führten die Kampagne des Heimatschutzes bis nach dem Zweiten Weltkrieg fort. Die Ablehnung war derart tief, dass bis in die 1970er-Jahre zahlreiche Grandhotels – zum Teil mit staatlicher Hilfe – abgebrochen oder purifiziert wurden.[11] Diese «Verfolgung» wirkt bis heute nach. Noch immer ist das Verständnis für den Wert von Bauten im Schweizer Holzstil nicht überall vorhanden.

Pionierarbeit geleistet haben die Autorinnen und Autoren des Insa[12], die deren Bedeutung erkannt haben. Im Bereich der Hotelarchitektur haben einige Publikationen und die Icomos- Initiative «Historisches Hotel des Jahres» zur Rehabilitierung und zur Rettung verbliebener Häuser beigetragen. Die SBB haben die Bedeutung ihrer Bauten im Schweizer Holzstil erkannt und versucht, wo es geht, die Landstationen und die Laubsägeli-Güterschuppen zu erhalten und für Läden oder Velostationen zu nutzen. Bei der öffentlichen Denkmalpflege ist der Wert des Schweizer Holzstils heute theoretisch wohl unbestritten. Doch ist diese Wertschätzung offensichtlich noch nicht bis in alle Gemeinden gedrungen.

Gefährdete Bahnhofrestaurants

Während Kleinbauten im Schweizer Holzstil wie Kioske meist längst verschwunden sind (Abb. 13, S. 28) und Hotels und einzelne Gewerbebauten per Zufall überlebt haben, sind vor allem Einfamilienhäuser und bahnhofnahe Gasthäuser erhalten geblieben. Hier trifft man jedoch auf unterschiedliche Zustände. So ist etwa das 1863 erbaute ehemalige Restaurant «Helvetia» an der Zuchwilerstrasse 40 in Solothurn (Abb. 9) zwar im Insa (Bd. 9, S. 207) und in den Kunstdenkmälern der Schweiz (Bd. 113, S. 278) verzeichnet, es wird aber gegenwärtig ohne Baueingabe und damit ohne Wissen der Denkmalpflege renoviert.

In Horgen ZH demonstriert am Bahnhof Horgen-Oberdorf das gut unterhaltene ehemalige Restaurant Bahnhof als «Chalet India», dass sich der Schweizer Holzstil auch als Kulisse für asiatische Gastrokultur eignet. Die kantonale Denkmalpflege hat 1980 die Renovation des Gebäudes unterstützt, seither ist es geschützt (Abb. 13). Bei der Station Sihlbrugg am anderen Ende des Zimmerbergtunnels steht hingegen das Restaurant Waldhaus von 1897 seit Jahren leer und verfällt (Abb. 14). Es ist ein Bau von Jacques Gros, Erbauer des Grand Hotel Dolder in Zürich und einer der bekanntesten und erfolgreichsten Vertreter des Schweizer Holzstils.

Forschungsdesiderate

Solche Verluste müssten nicht sein. Wenn bei Bauten im Schweizer Holzstil konkrete Bezüge zu einem Bahnhof oder einer Bahngesellschaft feststellbar sind, können sie innerhalb einer Gemeinde als Ensemble betrachtet werden, auch wenn sie nicht nebeneinander stehen. Dann sind sie, abgesehen von ihrer architektonischen Qualität, sozial- und wirtschaftshistorische Zeugen für die Rolle, die einige wenige, aber wirkungsmächtige private Bahngesellschaften für die Architekturgeschichte der Schweiz spielten. Eine vertiefte Untersuchung der Verbindung von Bahnbau und Schweizer Holzstil könnte dessen Einschätzung erneut verändern.

Die Kunsthistorikerin Dorothee Huber bezeichnet ihn als damals «gleicherweise traditionsverbundene wie zeitgemässe Stilform».[13] Die Bauherren dieser Häuser waren nicht etwa heimattümelnd rückwärtsgewandte Menschen, sondern im Gegenteil Leute, die sich von der technischen Entwicklung gesellschaftlichen Fortschritt versprachen. Der Schweizer Holzstil steht damit für eine spezifische Verbindung von Industrie und Tradition, von Technik und Natur, von internationalem Kulturaustausch und Patriotismus bzw. Nationalismus im Denken des 19. Jahrhunderts. Im Grunde fehlt ein Grundlagenwerk über den Schweizer Holzstil in der Art, wie es Elisabeth Stürzel-Crettaz für den Heimatstil geschaffen hat.[14] Es müsste die ideologische Mischung im Denken der Entwerfer und der Besteller dieser Bauten untersuchen, die konkreten Bezüge zwischen dem Bahnbau und dem Bau von Holzstilbauten erfassen, die Mechanismen der Ausbreitung aufzeigen, den Zusammenhang zwischen der Möglichkeit des Bahntransports und der Industrialisierung im Bauwesen berücksichtigen, eine genauere Periodisierung versuchen – und natürlich ein Objektinventar anlegen.


Anmerkungen:
[01] Roland Flückiger-Seiler: Hotelpaläste zwischen Traum und Wirklichkeit. Schweizer Tourismus und Hotelbau 1830–1920. Baden, 2003, v. a. S. 22
[02] Elisabeth Stürzel-Crettaz: Heimatstil – Reformarchitektur in der Schweiz 1896–1914. Frauenfeld, 2005, S. 30–40
[03] Eugen Huwyler: «Klischees und Ideologien – Vom alpinen Blockbau zum ‹chalet suisse›» in: Heimatschutz 1/2004, S. 8–10
[04] Wie Anm. 1, S. 21–23, sowie: Heinrich Christoph Affolter: Die Bauernhäuser des Kantons Bern: Das höhere Mittelland. Bern, 2001, S. 409–411
[05] Zitiert nach Werner Stutz: Bahnhöfe der Schweiz. Zürich, 1983, S. 63
[06] Dorothee Huber: «Das Bauwerk in der Landschaft» in: Die obere Hauensteinlinie –Bahnbauten seit 1853. Zürich, 2009, S. 9–16
[07] Wie Anm. 5, S. 62
[08] Wie Anm. 6
[09] Die obere Hauensteinlinie – Bahnbauten seit 1853. Zürich, 2009
[10] Denkmalpflege des Kantons Bern: Berichte 1979–2004, Gemeinden J–Z. Zürich, 2011, S. 183–186
[11] Wie Anm. 1, S. 24–27
[12] Insa: Inventar der neueren Schweizer Architektur 1850–1920. Hrsg. von der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte GSK. Bern, 1982–2004
[13] Wie Anm. 6, S. 12
[14] Wie Anm. 2
[15] Michael Hanak: «Stadtentwicklung um den Bahnhof Aarau» in: Michael Hanak, Hannes Henz, Ruedi Weidmann: Bahnhof Aarau – Chronik eines Baudenkmals. Zürich, 2011, S. 61–93
[16] Michael Hanak, Hannes Henz, Ruedi Weidmann: Bahnhof Aarau – Chronik eines Baudenkmals. Zürich, 2011

TEC21, Fr., 2011.10.21



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02. September 2011Ruedi Weidmann
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Vor dem grossen Umbau

Genf wächst seit Jahren stark, aber planerisch war es lange blockiert. Der öffentliche Verkehr wurde kaum ausgebaut, Wohnungen entstanden vor allem in den französischen Vororten. Doch nun erwacht der Kanton. Eine S-Bahn und neue Tramlinien entstehen. Entlang diesen neuen ÖV-Achsen sollen durch gezieltes Einzonen und das Verdichten von Industriegebieten neue Stadtteile entstehen. Zum Beispiel in Praille - Acacias - vernets, einem der grössten Entwicklungsgebiete in Europa.

Genf wächst seit Jahren stark, aber planerisch war es lange blockiert. Der öffentliche Verkehr wurde kaum ausgebaut, Wohnungen entstanden vor allem in den französischen Vororten. Doch nun erwacht der Kanton. Eine S-Bahn und neue Tramlinien entstehen. Entlang diesen neuen ÖV-Achsen sollen durch gezieltes Einzonen und das Verdichten von Industriegebieten neue Stadtteile entstehen. Zum Beispiel in Praille - Acacias - vernets, einem der grössten Entwicklungsgebiete in Europa.

«Ich fürchte nur, dass es uns bereits zum Charakter geworden ist, Projekte nicht zu verwirklichen. » Dieser Satz fällt so oder ähnlich fast in allen Gesprächen mit Leuten, die mit der Zukunft von Stadt und Kanton Genf beschäftigt sind. Die tiefe Skepsis wurzelt in der jüngeren Geschichte: Mindestens drei Jahrzehnte lang litt die Stadtrepublik unter einer fast völligen Blockade der Stadtentwicklungspolitik. Projekte zur Linderung der notorischen Wohnungsnot, zur Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur oder zur Raumentwicklung wurden von den Parteien und vom Souverän konstant verworfen.

Für Besucher aus der Deutschschweiz ist Genf eine fremde Welt: Ein Heer von Beamten wacht über die Einhaltung hunderter von Regeln, die der liberale Nordosten nicht kennt. Drei Beispiele: Mieten dürfen nur bei Mieterwechseln angepasst werden, die Art der Erdgeschossnutzung darf nicht verändert werden, und um die Stadt zieht sich eine grosse Agrarzone, die seit den frühen 1960er-Jahren vor Bebauung geschützt ist. All das ist sehr angenehm für die, die schon hier sind: Sie wohnen günstig, geniessen eine schweizweit einmalige Dichte an Restaurants und Läden und sind schnell im Grünen. Aber es ist unmöglich für alle, die gerne nach Genf ziehen würden. Denn unter diesen Umständen wurde nie eine Wohnung frei, und neue wurden zu wenig gebaut. Die Genferinnen und Genfer hatten sich bequem eingerichtet in ihrer schönen, dichten Stadt und liessen es lange dabei bewenden.

Genf ist aber äusserst attraktiv. Die internationalen Organisationen, das Forschungszentrum Cern, die guten Hochschulen und die schöne Lage ziehen Menschen und wirtschaftliche Aktivitäten an. In den letzten Jahren ist Genf, von der Öffentlichkeit lange kaum bemerkt, zum wichtigsten Rohstoffhandelsplatz der Welt geworden.[1] Die Agglomeration ist kräftig auf fast 900 000 Einwohner angewachsen – allerdings vor allem in Frankreich. Dort gibt es Bauland und Wohnungen, aber keine urbane Dichte, kein Tram und keine S-Bahn. Die Folge: Fast eine halbe Million Personen und 350 000 Autos überqueren täglich die Kantonsgrenzen. Der Anteil des öffentlichen Verkehrs in der Agglomeration ist mit 12 % katastrophal tief (Abb. 1), Lärm- und Schadstoffwerte sind entsprechend hoch und Staus an der Tagesordnung. Seit einiger Zeit ziehen auch junge Genfer Familien nach Frankreich, weil sie in ihrer Stadt keine Wohnung mehr finden. Damit aber drohen die traditionell regierenden Parteien ihre Wählerbasis zu verlieren. Vielleicht hat gerade diese Sorge, zusammen mit der wachsenden Verkehrs misere, der Wohnungsnot und dem Nachdrängen einer wohl weniger auf das Lokale fixierten, weltoffeneren Generation endlich zu einem Umdenken geführt.

Genf erwacht

Genf erwacht – und wie! Noch ist alles Projekt, doch die Pläne klingen vielversprechend, und die Zahlen, die genannt werden, können einen schwindlig machen: Bis in 20 Jahren sollen 200 000 Einwohner und 100 000 Arbeitsplätze hinzukommen, die Hälfte davon im Kanton Genf, wo 50 000 neue Wohnungen gebaut werden sollen – das wären 2500 pro Jahr. Dieses Wachstum soll aber nicht in ein planloses Ausufern der Stadt münden, sondern landschaftsschonend, umwelt- und sozialverträglich ablaufen. Gefördert durch das Agglomerationsprogramm sind im «Bassin franco-valdo-genevois» grenzüberschreitende Gespräche in Gang gekommen: Auf verschiedenen Ebenen koordinieren seither Vertreter der Kantone Genf und Waadt und der französischen Departemente Ain und Haute-Savoie die Planung der Siedlungs- und Verkehrsentwicklung. Resultate davon sind der grenzüberschreitende Verkehrsverbund, neue Buslinien und das Konzept der S-Bahn. Mit dem Bau von deren Herzstück, der Ceva, der in wenigen Wochen beginnen soll (vgl. «Genfs Hauptschlagader», S. 27), wird Genf ein zeitgemässes ÖV-Netz erhalten – und gleichzeitig sein ältestes Blockadetrauma überwinden, denn das Projekt wird seit 1850 diskutiert. Trotz wiederholten Anläufen blieb es Stückwerk; 1888 und 1949 wurden Teilstrecken eröffnet.[2] Seit 1995 baut Genf auch das Tramnetz wieder aus. Vier Linien sollen bis nach Frankreich verlängert werden. 2010 wurde das Agglomerationsprogramm im kantonalen Richtplan verankert. Die Siedlungsentwicklung wird darin – und noch stärker in der laufenden Richtplanrevision – auf die neuen ÖV-Achsen ausgerichtet.[3] Als «axes forts» greifen diese wie Finger einer Hand aus und verschränken sich mit Grünzügen, die bis in die Kernstadt hineinreichen (Abb. 3). Entlang den «axes forts» soll die Bebauung verdichtet werden. An deren Enden werden etwa 4 % der Landwirtschaftszone eingezont. Hier sollen neue Quartiere von der Dichte und mit dem Nutzungsmix der Innenstadt entstehen. Entsprechende Ideen- und Projektwettbewerbe sind in Vorbereitung.[4] Diese Abstimmung von Siedlungsentwicklung und Verkehr entspricht den Anforderungen des Bundes an die Agglomerationsprogramme. Genf hat deshalb seit 2008 für den Bau der Ceva und den Ausbau des Trams 900 Mio. Fr. erhalten.

Ceva-Stationen als dichte Zentren

Abgesehen von den Schlafgemeinden in Frankreich bietet Genf eine gute Ausgangslage für eine Stadt der kurzen Strecken. Das eigentliche Stadtgebiet ist das dichteste der Schweiz, und die Bevölkerung schätzt dies als urbane Qualität. Doch auch die Kernstadt birgt noch Verdichungspotenzial, etwa an vier der fünf neuen Ceva-Stationen. Kanton und SBB wollen diese zu intermodalen Umsteigeplattformen ausbauen und arbeiten bei der Planung eng zusammen. Sie legen dabei viel Wert auf Benutzerfreundlichkeit: Möglichst einfach und angenehm soll von der S-Bahn auf Tram, Bus, Velo und Fusswege ge wechselt werden können. Für die Gestaltung der öffentlichen Räume an den Ceva- Stationen hat der Kanton einen Wettbewerb ausgeschrieben (TEC21 23/2011, S. 12).

Um die Stationen herum sollen dichte, gemischte Bebauungen mit hohem Wohnanteil entstehen. Mittels Studienaufträgen wurden Masterpläne entwickelt, daraufhin die Quartierpläne erneuert, für die Bauten sind Projektwettbewerbe vorgesehen. So an den Bahnhöfen Chêne- Bourg und Eaux-Vives, wo durch die unterirdische Führung der Ceva die 1887 angelegten Gleisfelder und Güterareale frei werden. In Chêne-Bourg sind 230 bis 330 Wohnungen und 10 000 m² Dienstleistungen geplant (Abb. 5–6); in Eaux-Vives, wo auch die Stadt beteiligt ist, sollen von 2015 bis 2018 etwa 250 Wohnungen, Läden, Büros, Sport- und Freizeiteinrichtungen sowie die neue Comédie de Genève gebaut werden (Abb. 7, 9).

Ein Schlüsselprojekt für die neue Ära ist das Vorhaben an der Station Lancy-Pont-Rouge. Es gehört zum Entwicklungsgebiet Praille - Acacias - Vernets (PAV) und wird dessen Umstrukturierung einleiten (vgl. «Ein zweites Stadtzentrum», S. 22). Die Société de valorisation Lancy- Pont Rouge (SOVALP), bestehend aus SBB und Kanton, plant hier eine gemischte Überbauung mit über 180 000 m² Bruttogeschossfläche: 8 Geschäftsbauten mit bis zu 16 Etagen und mehrere Wohnhöfe, 4600 Arbeitsplätze, 550 Wohnungen, Läden, Restaurants, ein Hotel, öffentliche Einrichtungen und eine Schule. Ein Bahnhofplatz und weitere öffentliche Räume sollen die S-Bahn-Station mit ihrer Umgebung verbinden (Abb. 10–11). Denn das SOVALPProjekt ist nur ein kleiner Teil eines viel grösseren Entwicklungsgebiets. – Dies ist der zweite Satz, den man in Genf gegenwärtig ständig hört: Alle Projekte sind immer nur Teil eines noch grösseren. So wie die Ceva nur ein Teil der S-Bahn ist und diese nur ein Element im geplanten ÖV-Netz mit Trams und Hochleistungsbussen, so ist das SOVALP-Projekt nur ein Teil des Entwicklungsgebiets PAV und dieses wiederum nur ein Element in umfassenden Plänen zur Verdichtung und Erweiterung des Genfer Siedlungsgebiets.


Anmerkungen:
[01] Martin Gollmer: «Genf – Stadt des Rohstoffhandels», Finanz und Wirtschaft 2.4.2011, S. 22 f.; Daniel P. Bernet: «Genf wächst zum Mekka des globalen Rohstoffhandels», NZZ am Sonntag, 24.1.2010.
[02] www.ceva.ch>Ceva dans le temps
[03] http://etat.geneve.ch/dt/amenagement > Plan directeur cantonal
[04] http://etat.geneve.ch/dt/amenagement > Grands Projets

TEC21, Fr., 2011.09.02



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02. September 2011Ruedi Weidmann
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Ein zweites Stadtzentrum

Das Industriegebiet Praille - Acacias - Vernets (PAV) ist eines der grössten Stadtentwicklungsprojekte Europas. Unmittelbar südlich der Innenstadt gelegen, soll es in den nächsten Jahren zu einem dichten, gemischten Stadtteil für die 2000-Watt-Gesellschaft ausgebaut werden.

Das Industriegebiet Praille - Acacias - Vernets (PAV) ist eines der grössten Stadtentwicklungsprojekte Europas. Unmittelbar südlich der Innenstadt gelegen, soll es in den nächsten Jahren zu einem dichten, gemischten Stadtteil für die 2000-Watt-Gesellschaft ausgebaut werden.

Auf der Ebene südlich der Arve zwischen Genf, Carouge und Lancy befanden sich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts einzelne Fabriken, Werkstätten und Schrebergärten. In den 1930er-Jahren wurden die Flüsschen Aire und Drize eingedolt, 1950 bis 1960 entstand der Güterbahnhof, ab 1960 liess der Kanton die Ebene mit einem Raster von Industriegleisen und Stichstrassen erschliessen und die Flächen im Baurecht an Lager- und Transportfirmen vergeben.[1] Das 230 ha grosse Gebiet liegt nur 2 bis 3 km vom Genfer Stadtzentrum entfernt in den Gemeindegebieten von Genf, Carouge und Lancy und ist zu 82 % im Besitz der öffentlichen Hand (Abb. 2). Es ist keine Brache, sondern wird von 1800 Betrieben mit fast 20 000 Angestellten genutzt, und es gibt rund 3000 Wohnungen. Mit seinen meist flachen Gebäuden und grossen Verkehrsflächen birgt es dennoch ein enormes Potenzial für die Stadtentwicklung.

Nach nur sechs Jahren Planung (vgl. Kasten zur Projektgeschichte) konnte das Gebiet dieses Jahr von der Industrie- in eine gemischte Zone umgezont werden, die deutlich mehr Ausnutzung erlaubt und so Anreiz für neue Nutzungen und dichtere Bauten schafft. Das PAV hat im Kantonalen Baudepartement seit 2008 eine eigene Direktion (DGPAV, heute DPAV). Die kleine, multidisziplinäre, junge und motivierte Gruppe ist für die Koordination zwischen den vielen involvierten kantonalen und kommunalen Amtsstellen sowie den betroffenen öffentlichen und privaten Betrieben verantwortlich. Von einem internationalen Expertenkollegium begleitet, treibt sie die Planung voran und entwickelt eine rege Informationstätigkeit.[2] Angestrebt wird nicht etwa eine Tabula-rasa-Strategie – das wäre wegen der laufenden Baurechtsverträge gar nicht möglich, und manche der vorhandenen Nutzungen sind auch durchaus weiterhin erwünscht. Vielmehr soll sich der Bestand nach und nach verdichten.

Ein neues Stadtzentrum

In dieser Innenstadterweiterung soll eine nachhaltige und verkehrsarme Lebensweise im Sinn der 2000-Watt-Gesellschaft möglich sein. Die detaillierten Rahmenbedingungen werden gegenwärtig in Studien, Studienaufträgen, Wettbewerben und partizipativen Workshops erarbeitet. Sie beschäftigen sich mit einzelnen Teilgebieten oder Sachfragen wie der Qualität des öffentlichen Raums oder der Entwicklung multifunktionaler Bautypologien und konkretisieren laufend den Masterplan von 2007 (Abb. 3). Die Grundprinzipien stehen aber fest: Bis in 20 Jahren soll das Gebiet 25 000 Bewohner und 25 000 Arbeitsplätze zählen und von der Dichte, dem Nutzungsmix und der Sozialstruktur her der heutigen Innenstadt entsprechen. Um das Verhältnis «1 Einwohner / 1 Arbeitsplatz» zu erreichen, ist bei den Neubauten, bezogen auf den ganzen PAV-Perimeter, ein Wohnanteil von 80 % nötig. Das ergibt rund 10 000 neue Wohnungen und ebenso viele neue Arbeitsplätze. Um Verkehr zu vermeiden, sollen Wohnen und Arbeiten, Einkaufen und Erholen wieder näher zusammenrücken, wenn möglich in Fuss- oder Velodistanz. Es werden Ausnützungsziffern von 2 bis 4 angestrebt, im zentralen Gebiet «Etoile» mit Hochhäusern und deutlich höherem Büroanteil soll sie gar 5 [5] betragen. Das sind Dichten, die im gesamten 20. Jahrhundert in der Schweiz als unvereinbar mit Lebensqualität galten. Es sind durchweg gemischte Überbauungen vorgesehen. Als mögliche Typologie der Bebauung wurde ein Turm entwickelt, der Wohnungen und Büros enthält, mit einem mehrstöckigen Sockelbau, in dem sich Dienstleistungen befinden, und einem von Läden und Restaurants genutzten Erdgeschoss. Je nach Ort, Parzellenform und im Zusammenspiel mit bestehenden Bauten können auch ganz neue Typologien entstehen, die mit ungewöhnlichen funktionalen Mischungen experimentieren. Der neue Stadtteil soll keinesfalls Gutbetuchten vorbehalten sein. Auf öffentlichem Grund wird deshalb ein Drittel der Wohnungen subventioniert sein, ein Drittel gemeinnützig und ein Drittel freitragend.

Das Gebiet wird künftig von den Ceva-Stationen Lancy-Pont-Rouge und Carouge-Bachet, drei Tramlinien und einem engen Netz von Velo- und Fusswegen mit neuen Passerellen über die Arve und die Bahn erschlossen. Es wurde in sieben Quartiere mit je eigenem Charakter unterteilt. Zwei grüne Achsen durchziehen es und verbinden es mit den regionalen Grünzügen entlang der Arve und auf der Moräne von Lancy. In diesem grünen Kreuz fliessen der Langsamverkehr und die renaturierten Flüsschen Drize und Aire, daran angedockt liegen Plätze, Parks und Gärten, Schulen, Kultureinrichtungen und Sportanlagen. Ergänzend dazu soll eine zweite Abfolge öffentlicher Räume das Quartier strukturieren. Dieser sogenannte «Ring» verbindet den Park «Bois de la Bâtie» im Norden mit dem Fussballstadion im Sü - den. Viel Gewicht wird der Lebensqualität im öffentlichen Raum beigemessen. Für dessen sorgfältige und benutzerfreundliche Gestaltung sind Projektwettbewerbe vorgesehen. Besonders platzintensive und lärmige Betriebe erhalten Unterstützung bei der Umsiedlung in andere Gewerbezonen. Bleiben können unter anderem rund zehn Recyclingfirmen, die man aber an einem Ort konzentrieren möchte. Für die Bauzeit soll ein Recyclinghof eingerichtet werden, denn rund 30 % des Abbruch- und Aushubmaterials soll vor Ort wieder Verwendung finden. Die Gleisanschlüsse will man zur Reduktion von Lastwagenfahrten nutzen, sie sollen aber modernisiert und zu einer Logistikplattform konzentriert werden.

Planungsablauf und erste Projekte

Bis 2013 muss der Quartierrichtplan erarbeitet sein, bis spätestens 2015 die sieben Quartierpläne. Um aus den kommenden Veränderungsschritten laufend Lehren für die weitere Entwicklung ziehen zu können, hat die DPAV diese Pläne als dynamische Instrumente ausgebildet. Sie geben kein starres Bild vor, sondern vielmehr eine starke Vision der strukturierenden Elemente, etwa die Qualität der öffentlichen Räume, an der sich einzelne Projekte jeweils orientieren sollen. Die Inkraftsetzung des Masterplans 2007 hat bereits etliche private Projekte ausgelöst. Diese werden gegenwärtig an die neuen Vorgaben angepasst. Erste Bauprojekte können bereits vor 2015 starten, Bedingung ist ein Projektwettbewerb nach SIA-Norm. Generell soll in Genf die Wettbewerbskultur gefördert werden, vor allem im Wohnungsbau, wo die Romandie in den letzten Jahren kaum Innovatives hervorgebracht hat.[6] In diesem Zusammenhang wird auch eine Debatte über die einschränkenden Bestimmungen im gemeinnützigen Wohnungsbau nötig sein.

Lernschritte über den Röstigraben

Noch ist von alldem nichts zu sehen, und noch begegnet man allenthalben der eingangs zitierten Skepsis. Doch die Zeichen dafür, dass der Wind gedreht hat bzw. die lange Flaute vorüber ist, sind deutlich. Seit einiger Zeit stimmt das Volk allen Vorlagen zur Raumentwicklung zu, dieses Jahr etwa einer Einzonung im lange heiligen Grüngürtel. Der Kantonsrat hat die Umzonung des PAV ohne Gegenstimme beschlossen. Und ganz offensichtlich ist eine neue Generation von weltoffenen Planerinnen und Planern am Werk, die die Stadtentwicklung in der Deutschschweiz kritisch verfolgt und genau besichtigt haben, nun aber deutlich weiter gehen wollen. So gesehen, erweist sich die Flaute als Chance für einen Lernschritt. Genfs Erwachen wird deshalb der ganzen Schweiz guttun. Selbst wenn einige der vielen Projekte noch nach alter Genfer Manier im Sand verlaufen sollten, wird es sich in nächster Zeit lohnen, über den Röstigraben zu schauen, um sich über ausgeschriebene Wettbewerbe zu informieren und um von den Erfahrungen zu profitieren, die man in den Genfer Entwicklungsgebieten machen wird.


Anmerkungen:
[01] Ausgeführt von der zu diesem Zweck gegründeten Fondation des terrains industriels Praille et Acacias (Fipa), heute Fondation pour les terrains industriels de Genève (FTI)
[02] «Le PAV s’expose» Nr. 1, Januar 2011 sowie: www.ge.ch/pav
[03] Tracés 20/2005, S. 6–16
[04] www.enf.ch > projekte > städtebau > Masterplan PAV
[05] «La ville en Arve»
[06] Vgl. auch Mike Guyer: «2e Distinction romande d‘architecture», Tracés 18/2010, S. 26 (www.baugedaechtnis.ethz.ch)

TEC21, Fr., 2011.09.02



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14. April 2011Ruedi Weidmann
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Diversité d’Habitation

Der Wohnungsbau erlebt in Frankreich derzeit eine Blüte. Er ist zum architektonischen Experimentierfeld für den ökologischen und den sozialen Stadtumbau...

Der Wohnungsbau erlebt in Frankreich derzeit eine Blüte. Er ist zum architektonischen Experimentierfeld für den ökologischen und den sozialen Stadtumbau...

Der Wohnungsbau erlebt in Frankreich derzeit eine Blüte. Er ist zum architektonischen Experimentierfeld für den ökologischen und den sozialen Stadtumbau geworden. Eine kürzlich präsentierte und eine laufende Ausstellung in Paris geben einen Überblick über aktuelle Aufgaben und Umsetzungen.

Unter dem Titel «Habiter 10.09/09.10» zeigte das städtische Architekturforum Pavillon de l’Arsenal letztes Jahr die Resultate aus 40 Architekturwettbewerben für Wohnbauprojekte in Paris: die Modelle der 40 Sieger, dazu Pläne von 170 Eingaben. Ein Teil der Vorhaben ist über das ganze Stadtgebiet verteilt, die meisten liegen aber in Entwicklungsgebieten im Norden und Osten entlang des Boulevard périphérique. Dieser Autobahnring, der seit einem halben Jahrhundert Paris und seine Vororte trennt, wird an mehreren Stellen überdeckt, es entstehen Parks und damit neue Wohnlagen. Bisher von Verkehrsinfrastruktur dominiertes Niemandsland wird als Stadtraum gestaltet und mit einer Tram-Ringlinie erschlossen, Lagerhäuser weichen Wohnbauten. Paris mit seinen 2 Mio. Einwohnern und seine Vororte mit rund 12 Mio. sollen endlich zusammenwachsen.

Dagegen präsentiert die Ausstellung «Vers de nouveaux logements sociaux» in der Cité de l’architecture im Palais de Chaillot 16 besonders innovative Wohnbauprojekte aus ganz Frankreich in Modell, Bild und Text und dazu weitere 60 in einem Plakatpanorama.[1] Diese Ausstellung dauert noch bis zum 17. Juni 2011.

Wohnbau als ArchitekturLabor

Um die präsentierten Projekte zu beurteilen, hilft es, sich die Bedeutung des sozialen Wohnungsbaus in Frankreich zu vergegenwärtigen: Mehr als 11 Mio. Menschen leben in rund 4.5 Mio. Sozialwohnungen. Die Hälfte der Bauten ist von 1963 bis 1977 entstanden. Das nationale Klimaschutzprogramm verlangt, dass bis zum Jahr 2020 800 000 Wohnungen heutigen Umweltnormen angepasst werden. Ein im Jahr 2000 erlassenes Gesetz legt den Anteil der Sozialwohnungen in allen Gemeinden auf mindestens 20 % fest.[2] Weil diese Quote längst nicht überall erreicht wird, finanzierte der Staat von 2006 bis 2009 den Bau von 360 000 zusätzlichen Wohnungen. Schon damals standen über eine Million Menschen auf Wartelisten für eine Sozialwohnung; als Folge der Wirtschaftskrise ist die Nachfrage seither noch gestiegen. In grösseren Städten sind Normalverdiener mit Kindern darauf angewiesen. Private Bauinvestitionen gingen zurück, dafür investieren Staat und Gemeinden zur Stützung der Bauwirtschaft verstärkt in den Wohnungsbau.

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Das bedeutet, dass heute in Frankreich laufend tausende von Wohnbauprojekten geplant und gebaut werden. Für die Architekturschaffenden gilt es, Umweltfreundlichkeit, nachhaltige Stadtentwicklung und gesellschaftlichen Wandel in Architektur zu übersetzen. Aus all diesen Gründen erlebt der Sozialwohnungsbau eine Blüte und dient, wie Cité-Präsident François de Mazières im Vorwort des Ausstellungskatalogs schreibt, einmal mehr als Labor der Architekturentwicklung.[3] Vor diesem Hintergrund kommt der Prämierung guter Projekte und der öffentlichen Diskussion ihrer Stärken und Schwächen enorme Bedeutung zu. Lässt sich dabei auch aus Schweizer Sicht etwas lernen?

Grundrisse und Städtebau

Alle gezeigten Projekte zeugen vom Bestreben, den sozialen Anspruch mit architektonischer Qualität zu verbinden, umweltbewusst zu bauen und veränderten Familienformen und Lebensstilen Rechnung zu tragen. Die Themen und Entwicklungsschritte der letzten Jahre sind die gleichen wie hierzulande, nur teilweise anders gewichtet und zeitlich etwas verschoben. Sehr verschieden sind aber die Rahmenbedingungen durch Gesetze und Baunormen. Überregulierung schränkt die Spielräume stark ein, vor allem bei den Wohnflächen (vgl. Kasten S. 22). Im Vergleich mit Schweizer Wohnungen wirken deshalb fast alle Grundrisse unpraktisch und beengend. Umso mehr Gewicht wird auf die äussere Form und einen spektakulären städtbaulichen Auftritt gelegt. Hier ist die formale Vielfalt und Lebendigkeit beeindruckend. Etliche Projekte wirken zwar effekthascherisch, aber es gibt auch Gegenbeispiele wie die Überbauung Quatuor an der Porte d’Auteuil. Anne Démians, Rudy Ricciotti, Francis Soler und LIN bauen hier je ein Mehrfamilienhaus. Weil alle vom gleichen Betonskelett ausgehen, entsteht ein wohltuend ruhiger Gesamteindruck (Abb. 1).

Ökologisch = grün = Bäume

Im Bereich des umweltfreundlichen Bauens, wo sich in Frankreich lange nichts bewegt hat, ist gegenüber der Schweiz ein Rückstand von zwei, drei Jahrzehnten aufzuholen. Wie in der Schweiz bis noch vor wenigen Jahren wird «umweltfreundlich» mit «grün» assoziiert und oft wörtlich umgesetzt. So sind viele Bäume und Büsche auf Dächern und Terrassen zu sehen und ostentative Holzelemente an Fassaden (Abb. 2– 6). Solche Gestaltung zeugt von einer intensiven Suche nach architektonischer Umsetzung des Nachhaltigkeitsgebots und reagiert wohl auch auf entsprechende Wünsche von Politik, Wohnbaugesellschaften und Publikum.

Mixité und Renaissance des Balkons

Das grosse städtbauliche Thema der 1990er-Jahre in Paris, die Stadtreparatur, ist weiterhin aktuell. Für das Bauen auf komplexen Parzellen im historischen Kontext gibt es einige schöne Beispiele. Neu daran ist die funktionale Mischung (Mixité): Eine öffentliche Erdgeschossnutzung hat sich durchgesetzt und bereits fest etabliert – aus ökologischen Überlegungen (Mischung von Wohnen und Arbeiten, um Pendlerverkehr zu vermeiden) wie auch aus gesellschaftlichen (lebendige und sozial durchmischte Quartiere) (Abb. 7– 8). Auch bei der Gestaltung der Fassaden in den Obergeschossen wird der Bezug vom Haus zur städtischen Umgebung thematisiert, in einigen Projekten auch durch eine komplex aufgebrochene Kubatur (Abb. 9). Der Balkon erfährt eine Renaissance: Fast bei allen Projekten sind die Fassaden raumhaltig geworden und öffnen sich auf vielfältige Arten gegen Stadt und Strasse. Grosse Terrassen und Wintergärten sollen im Zeichen verdichteten Bauens Einfamilienhaus-Qualitäten ins Mehrfamilienhaus bringen. Dieser Gedanke findet manchmal einen übertriebenen formalen Ausdruck (Abb. 10, 12). Doch zeigen solche Beiträge, dass sich ihre Verfasser nicht nur mit der Frage nach der zeitgemässen Sozialwohnung beschäftigen, sondern den Wohnungsbau als vielschichtigen Beitrag zu einer wieder ganzheitlicheren Stadtentwicklung begreifen.

Einige Projekte kommen gewissermassen von der anderen Seite: Sie fassen Einfamilienhäuser zu Anlagen zusammen, die mehr Qualitäten bieten als das übliche banale Nebeneinander. Freilich kann auch diese Idee allzu wörtlich umgesetzt werden (Abb. 13). Bei Projekten ohne Läden oder Café bleibt der Bezug Erdgeschoss / Strasse allerdings ungelöst. Auf das Pro- blem der Erdgeschosswohnung hat man oft keine bessere Antwort als das bekannte Gitter zwischen Trottoir und Haustür, das die formal-symbolische Öffnung der Fassade darüber ebenso konterkariert wie den plakativ kommunikativen Projektnamen (Abb. 6, 9, 11, 14). Alles in allem ist ein emsiges Suchen nach architektonischen Antworten auf heutige Bedürfnisse und Herausforderungen festzustellen und eine erfreuliche Vielfalt an ausprobierten Richtungen. Es ist zu hoffen, dass möglichst viel davon in die Massenproduktion einfliessen kann. Dazu aber müssen dringend die Baugesetze, Normen und Subventionsregeln vereinfacht werden.

Und umbauen?

Angesichts des enormen Sanierungsbedarfs beim Bestand erstaunt, dass in den beiden Ausstellungen nur ein einziges Projekt vorgestellt wird, das sich dem Umbau moderner Wohnbauten widmet. Dieses hat es allerdings in sich: Lacaton & Vassal haben zusammen mit Frédéric Druot einen Weg gefunden, wie bei Sanierungen die restriktiven Flächennormen umgangen und bestehende Wohnungen mit relativ wenig Geld massiv vergrössert, energetisch saniert und in der Wohnqualität aufgewertet werden können. Ihr Ansatz könnte dem Umgang mit dem umfangreichen und problembeladenen Erbe der Moderne auch über Frankreich hinaus einen Impuls geben. Bei der Renovation der Tour Bois le Prêtre in Paris wird das Prinzip zum ersten Mal in die Tat umgesetzt (vgl. «Umbauen statt Sprengen», S. 26).

TEC21, Do., 2011.04.14



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14. April 2011Ruedi Weidmann
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Umbauen statt sprengen

Moderne Grosssiedlungen sollten nicht ersetzt, sondern verbessert werden, fordern Frédéric Druot, Anne Lacaton und Philippe Vassal in einer Studie. Am Hochhaus Bois le Prêtre in Paris zeigen sie, wie es geht. Unter Umgehung einiger Normen entsteht für halb so viel Geld mehr Lebensqualität.

Moderne Grosssiedlungen sollten nicht ersetzt, sondern verbessert werden, fordern Frédéric Druot, Anne Lacaton und Philippe Vassal in einer Studie. Am Hochhaus Bois le Prêtre in Paris zeigen sie, wie es geht. Unter Umgehung einiger Normen entsteht für halb so viel Geld mehr Lebensqualität.

Unter den Baustellen in Paris ragt eine besonders heraus – nicht weil sie spektakulär wäre, im Gegenteil: Das eingerüstete Wohnhochhaus am Boulevard péripherique ganz im Nordwesten ist leicht zu übersehen. Doch die Sanierung der Tour Bois le Prêtre durch Druot, Lacaton & Vassal gehört im Moment zu den am aufmerksamsten beobachteten Bauprojekten in Frankreich. Denn der Eingriff könnte den Umgang mit den Wohnsiedlungen aus der Nachkriegszeit in Frankreich und darüber hinaus verändern.

Studie gegen den Ersatzneubau

Der Reparaturbedarf im sozialen Wohnungsbau in Frankreich ist riesig (vgl. auch «Diversité d’habitation», S. 22). Die vielen Siedlungen aus der Nachkriegszeit haben grosse ökologische und soziale Defizite. Seit 1990 besteht ein staatliches Programm zum Teilabbruch; 2007 wurden 6 Mrd. Euro für die Aufwertung von Grosssiedlungen gesprochen, unter anderem für den Abbruch und Ersatzneubau von 250 000 Wohnungen. Vor allem das schlechte Image der Grands Ensembles soll verschwinden.
Im Auftrag des Kulturministeriums haben Frédéric Druot, Anne Lacaton und Philippe Vassal dazu die Studie «Plus»[1] erarbeitet. Darin sprechen sie sich wegen der Wohnungsnot, der hohen Kosten, der Verschwendung grauer Energie und aus Respekt für die Bewohner vehement gegen Abbrüche aus. Man müsse die Wohnungen verbessern, nicht die städtebauliche Grossform der Siedlungen ändern. Mit den 167 000 Euro, die das Programm für Abbruch und Neubau einer Wohnung vorsehe, könnten zwei Wohnungen saniert und aufgewertet werden. In den Grosssiedlungen liessen sich mit wenigen Massnahmen grössere Wohnungen, neue Wohntypologien sowie Serviceeinrichtungen realisieren und die durchaus vorhandenen Qualitäten – Aussicht, Grünräume, frei nutzbare Raumreserven – weiterentwickeln.
Die Studie zeigt auf, wie sich die rigiden Flächennormen des Sozialwohnungsbaus mit dem Anbau grosser Wintergärten aushebeln lassen, da diese nicht als Wohnfläche zählen. Das machte Furore, denn der Vorschlag stammte von Architekten, die mit ihrem Beitrag zur Cité Manifeste in Mülhausen bereits bewiesen hatten, dass Sozialwohnungen dank Wintergärten gross, schön und günstig sein konnten (vgl. TEC21 6/2005). Lacaton & Vassal, die 2001 mit dem Umbau des Palais de Tokyo in Paris erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurden, sind spätestens mit dem Bau der Architekturhochschule in Nantes und der Verleihung des Grand Prix National d’Architecture 2008 im Kreis der Erlauchten angekommen. Als Jean Nouvel 2009 – auf einen Aufruf des Staatspräsidenten hin – seine Vision eines nachhaltigen Grossparis veröffentlichte, liess er Lacaton & Vassal das Kapitel zum Wohnungsbau schreiben und ihre Umbauidee illustrieren – der weitaus konkreteste Beitrag in dem pathetischschönen Wälzer.[2] Mit der Tour Bois le Prêtre setzen sie die Idee nun erstmals in die Tat um.

Gross, hell und günstig

Das 17-stöckige Wohnhochhaus Bois le Prêtre gehört der Wohnungsbaugesellschaft der Stadt Paris. Es wurde 1958–1961 von Raymond Lopez erbaut und war einmal eine Ikone der Moderne (Abb. 1–8). Um 1990 erhielt es eine Aussendämmung, Eternitplatten und Kunststofffenster verpasst. 2005 gewannen Lacaton & Vassal mit folgendem Konzept einen eingeladenen Wettbewerb zum Umbau: Die Fassaden der Längsseiten werden durch Glasschiebetüren ersetzt. Davor wird ein selbsttragendes Stahlgerüst mit Betondecken aufgestellt, es enthält 2 m tiefe Wintergärten und einen 1 m tiefen Balkon, getrennt durch verschiebbare Sonnenschutzpaneele aus Polykarbonat. Das Gestell aus vorfabrizierten und Serienprodukten wird in wenigen Monaten aufgebaut; die Wohnungen bleiben dabei bewohnt.
Die neue Raumschicht halbiert den Heizaufwand, vergrössert die Wohnungen um über 50 %, lässt Licht hinein und gewährt mehr Aussicht. Einfache Thermovorhänge aus Alufolie, Schurwolle und Stoff dienen nachts als zusätzliche Isolation. An den Schmalseiten entstehen neue Zimmer und neue Lifte, damit alle Split-Levels rollstuhlgängig werden. Einige Wohnungen werden vergrössert, andere verkleinert. Die Neueinteilung wurde in Workshops mit den Bewohnerinnen und Bewohnern nach deren Bedürfnissen geplant. Denn sozial wirklich nachhaltige Projekte sind für Lacaton & Vassal nur möglich, wenn die Nutzenden weitgehend mitplanen können. Im Erdgeschoss entstehen nun verglaste Räume für Concierge, Kindergarten, Mietertreff, Sprachkurse und Aufgabenhilfe. Alle Massnahmen stärken vorhandene Qualitäten des Bauwerks, die sorgfältig und mithilfe der Bewohner analysiert wurden. Die Renovation kommt gut voran und wird im Sommer 2011 fertig sein. Funktioniert das Prinzip wie gewünscht und zu den vorgesehenen Kosten, dann könnte es schon bald Verbreitung finden. Manche «Problemsiedlung» in der Banlieue könnte durch diese Umbaumethode auch für den Mittelstand attraktiv werden. Das würde helfen, die soziale Durchmischung in Frankreichs Agglomerationen zu verbessern.

Légèreté, Liberté, Gnérosité

Am Anfang der Karriere von Lacaton & Vassal steht eine Art büroeigene Urhütte: das Haus Latapie von 1993 in Floirac bei Bordeaux. Alle späteren Projekte basieren auf Prinzipien, die bei diesem einfachen Einfamilienhaus mit riesigem Wintergarten erstmals ausprobiert wurden (Abb. 9–12). Im Zentrum steht die Lebensqualität der Nutzer. Für Lacaton & Vassal heisst das in erster Linie viel Raum für wenig Geld. Sie erreichen dies durch einen pragmatischen und witzigen Umgang mit gesetzlichen Rahmenbedingungen und eine innovative Nutzung vorhandener Materialien und Qualitäten. Die selbstgewährte Freiheit beim Einsatz günstiger Materialien resultiert in einer Ästhetik der Leichtigkeit und in grosszügigen, offenen, wenig definierten Räumen, die den Nutzern viel Freiheit für die individuelle Aneignung und (Um-)Nutzung lassen. Auch Energiesparen soll mehr Lebensqualität bringen. Eine zweite Isolationsschicht etwa wird dann sinnvoll, wenn sie so tief ist, dass man sie als Wintergarten bewohnen kann. Rein technische Lösungen interessieren Lacaton & Vassal nicht.

Normen sprengen, Stadt verdichten

Lacaton & Vassal brechen viele Konventionen. Vor allem aber lehnen sie Normen und Reglemente ab, wenn diese Baustandards reproduzieren, die für heutige und zukunftsfähige Lebensstile ungeeignet sind – weil sie Flächen monofunktional definieren, zu uniformen Grundrissen führen oder Komfort technisch statt räumlich und sozial definieren. Ihre Forderung nach mehr Wohnfläche muss vor dem Hintergrund der realen Verhältnisse in Frankreich verstanden werden. Einen Widerspruch zum verdichteten Bauen sehen sie darin nicht, vielmehr eine Bedingung dafür: «Wir müssen Wohnformen schaffen, die Dichte, Nähe, Qualität, Luxus und Genuss fördern. Es geht darum, neue Wohnverhältnisse zu schaffen, die bei den Bewohnern die Idee und die Lust wecken, zusammen in einer dichteren Stadt zu wohnen, indem wir das Bedürfnis nach Individualität und Privatheit berücksichtigen, das sich oft im Wunsch nach einem eigenen Haus äussert», sagte Anne Lacaton am Nationalen Wohnbaukongress 2007 in Zürich. Hier liegt die eminente städtebauliche Bedeutung des Projekts Bois le Prêtre: Wer in einer schönen Wohnung lebt, Haus und Gemeinschaftsräume gemeinsam mit den Nachbarn plant und betreibt und dies als positive Erfahrung erlebt, ist wohl eher bereit, eine höhere Dichte im Quartier zu akzeptieren. Lacaton & Vassal entwickeln das Prinzip dahin gehend weiter. In der Siedlung La Chesnaie in St-Nazaire wird das Renovationskonzept von Bois le Prêtre mit neuen Anbauten kombiniert (Abb. 13–15). In einem unrealisierten Projekt bei Poitiers schlagen sie zweistöckige Wintergärten vor und transportieren damit Einfamilienhausqualitäten in ein Hochhaus (Abb. 16–18). Damit zeigen Lacaton & Vassal günstige und einfache Wege zur Sanierung von Wohnbauten der Nachkriegszeit auf, die für viele Wohnbauträger – vielleicht sogar weltweit – gangbar sein dürften.

TEC21, Do., 2011.04.14



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14. Januar 2011Ruedi Weidmann
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Afrikanische Lektionen

Francis Kéré stammt aus Burkina Faso und hat in Berlin Architektur studiert. Seine Schulen in Afrika – aus Lehm, Steinen und Wellblech – finden weltweit Beachtung. Denn Kéré macht vor, was Architektur leisten kann und wie Entwicklungszusammenarbeit funktionieren würde.

Francis Kéré stammt aus Burkina Faso und hat in Berlin Architektur studiert. Seine Schulen in Afrika – aus Lehm, Steinen und Wellblech – finden weltweit Beachtung. Denn Kéré macht vor, was Architektur leisten kann und wie Entwicklungszusammenarbeit funktionieren würde.

In Gando leben etwa 2500 Menschen. Ihre stroh- und blechgedeckten Lehmhütten stehen in kleinen Gruppen in der staubigen Landschaft, die von vereinzelten Bäumen, Felshügeln und Wegspuren unterbrochen wird und die nur in den drei Regenmonaten grün wird. Das Dorf 130 km südöstlich von Burkina Fasos Hauptstadt Ouagadougou hat keine Strom- und Wasserversorgung; die Analphabetenrate liegt noch über dem Landesdurchschnitt von 80 %. Die Menschen hier sind Subsistenzbauern: Sie verzehren, was sie anbauen – in schlechten Jahren schon bevor die neuen Früchte reif sind. In solchen Jahren sterben mehr Leute als sonst. Burkina Faso gehört zu den ärmsten Ländern der Welt.

In Gando wurde 1965 Diébédo Francis Kéré geboren. Er war das erste Kind aus dem Dorf, das eine Schule besuchen durfte. Sein Vater, der Häuptling von Gando, wollte, dass sein ältester Sohn die Briefe der Regierung lesen konnte. Francis musste seine Familie verlassen und kam in ein Internat. Er wurde Schreiner und erhielt 1985 ein Stipendium der Carl Duisberg Gesellschaft für eine Ausbildung zum Entwicklungshelfer in Deutschland. Danach holte er das Abitur nach und schrieb sich 1995 an der Technischen Universität in Berlin ein. 2004 schloss er sein Architekturstudium ab und gründete in Berlin ein eigenes Büro. Im vergangenen November hat Francis Kéré in Mendrisio aus der Hand von Mario Botta den Swiss Architectural Award 2010 erhalten, den von der Banca della Svizzera Italiana gesponserten, mit 100 000 Franken höchstdotierten Architekturpreis der Schweiz. Geehrt wurde Kéré damit für das Schulhaus, das er in seinem Dorf Gando gebaut hat. Aber auch seine weiteren Bauten und Projekte überzeugen architektonisch, technisch und sozial. «Kéré hat uns eine Lektion erteilt», sagte Jury-Präsident Botta, «seine Architektur aus einfachen Elementen ist von hoher Qualität und besinnt sich auf ihren eigentlichen Sinn, den Schutz des Menschen».[1]

Material, Konstruktion, Tradition

Als Kéré in sein Dorf zurückkehrte und sagte: «Leute, wir bauen eine Schule!», war der Jubel gross – doch ebenso die Enttäuschung, als er sagte: «…aus Lehm, wie unsere alten Wohnhäuser! » – «Jetzt ist Francis durchgedreht», sagten sie traurig. «Eine Schule ist doch etwas Modernes, etwas Französisches, etwas Europäisches – also aus Beton! Sie muss lange halten, nicht wie unsere Hütten, die in jeder Regenzeit weich werden!»[2] Diese Meinung, Fortschritt komme einzig aus Europa und sei deshalb nur mit europäischen Materialien und Techniken zu erreichen, ist in Afrika weitverbreitet. Das Minderwertigkeitsgefühl gegenüber den ehemaligen Kolonialherren, erklärt Francis Kéré im Gespräch, wirke noch immer nach, bei den Eliten wie in der breiten Bevölkerung. Er aber ist überzeugt, das sich Afrika die energieintensiven, Ressourcen verbrauchenden Techniken aus Europa weder finanziell noch ökologisch leisten kann. Deshalb untersuchte er traditionelle Bautechniken in heissen Ländern. Er wollte eine an das Klima von Burkina Faso angepasste Bautechnik finden, die ohne Strom funktioniert und die Schwächen der traditionellen Bauweise überwinden kann. Traditionell bestehen Bauten in Burkina Faso aus Stampflehm und Strohdach, womit zwar eine gewisse Durchlüftung erreicht wird, jedoch nur kurze Spannweiten möglich sind. (Auch Bauholz ist knapp.) In der Regenzeit leidet der Lehm, oft müssen die Häuser danach neu gebaut werden. Davor schützt zwar ein Blechdach, wie es heute oft verwendet wird, doch darunter wird es in der übrigen Zeit, wenn die Nordwinde aus der Sahara über die Savanne ziehen, enorm heiss und stickig. Für die Schule in Gando war also eine klimataugliche, dauerhafte und sehr günstige Bauweise gesucht. Wegen der letzten Forderung kam nur lokal vorhandenes Material infrage, zudem mussten die Männer, Frauen und Kinder aus dem Dorf in der Lage sein, das Gebäude selber zu bauen, von Hand, mit einfachem Werkzeug und vorhandenem Wissen. «Die aktive Beteiligung der Bevölkerung ist das Wichtigste», sagt Kéré. «Sie fördert das Verständnis für die Bautechnik und für die Funktion des Gebäudes, was die Bedingung dafür ist, dass es später unterhalten wird.» Ausserdem gibt das den Leuten Arbeit und ermöglicht eine praktische Ausbildung: Die Bautechnik kann für andere Häuser nachgeahmt werden. Die Zusammenarbeit geht aber noch weiter: Nur zusammen mit den Leuten konnte Kéré überhaupt eine Form für die Gebäude finden, die alle Bedingungen erfüllt und sozial anschlussfähig ist. Mithilfe des Vereins «Schulbausteine für Gando», den Kéré noch während des Studiums gründete, wurde der Bau der Schule möglich.

Eine Schule und ihre Erweiterungen

Ein Jahr lang brachten die Kinder von Gando jeden Morgen einen Stein zum Bauplatz. Daraus entstand das Fundament für das neue Schulhaus. Für die Mauern und das Unterdach wurden mit einer Handpresse Lehmbausteine hergestellt. Für eine grössere Dauerhaftigkeit enthalten diese neben rund 60 % Lehm und 30 % Sand auch 8 –10 % Zement. Das Mauerwerk aus ungebrannten Lehmbausteinen isoliert gut gegen die Hitze. Die Böden bestehen aus Stampflehm. Über alle Schulzimmer und offenen Zwischenräume spannt sich ein Flügel aus Armierungseisen und Wellblech. Er spendet Schatten und schützt die Mauern vor Schlagregen; dank seiner speziellen Form produziert der Wind einen Sog, der in den Räumen darunter zu einem ständigen, angenehmen Luftzug führt. Beim guten Klima in den Schulzimmern ist Lernen weitaus besser möglich als in der alten Schule, in der es zu heiss war – und die irgendwann einstürzte, obwohl sie aus Beton war.

Kérés Wohnhäuser für die Lehrer in Gando werden nach demselben Prinzip gekühlt. Die Dorfbewohner nennen sie «Kühlschränke» – das höchste Lob für ein Haus in Burkina Faso. Die Lehrerhäuser helfen, gute Lehrkräfte im Dorf zu halten, die sonst den höheren Lebensstandard in der Stadt dem einfachen Dorfleben vorziehen.

Entwicklungszusammenarbeit

Zu Gandos neuer Schule gehört noch mehr: die ersten Latrinen im Dorf etwa oder der Sportplatz und der Gemüsegarten. «In Afrika bin ich eigentlich nicht Architekt, sondern Entwicklungshelfer », sagt Kéré. Er meint damit, dass er hier mehr tut als Häuser bauen. «Die beste und vielleicht die einzige Erfolg versprechende Entwicklungshilfe ist Bildung für alle. Deshalb habe ich eine Schule gebaut, und deshalb hänge ich alle neuen Dinge, die ich nach Gando bringe, an die Schule an. So werden sie für die Kinder selbstverständlich, und sie bringen sie nach Hause in ihre Familien.» Ein Beispiel dafür ist der Schulgarten, in dem die Kinder Kenntnisse im Gemüseanbau erwerben. Zwar wollen heute alle Kinder in Gando «Architekt wie Francis» werden, doch das wird nicht gehen. «Subsistenzwirtschaft wird auch in Zukunft die Basis von Burkina Fasos Volkswirtschaft bleiben. Doch die Produktivität sollte so weit gesteigert werden, dass eine Missernte nicht gleich Hunger bedeutet. Ein Ziel muss deshalb sein, einfache Möglichkeiten zur Verarbeitung von Agrarprodukten aufzubauen, die heute gänzlich fehlen. Dazu braucht es keinesfalls Kunstdünger und genmanipuliertes Saatgut, wohl aber bessere Kenntnisse über Agronomie und Gemüseanbau sowie einige ganz einfache Werkzeuge und Maschinen.»

Die Schule macht Schule

Die Schule von Gando ist eine Erfolgsgeschichte. Weil sie immer mehr Kinder aus den Nachbardörfern anzog, bauten Kéré und die Dorfbewohner einen zweiten Flügel mit vier weiteren Schulzimmern. Gegenwärtig ist die Bibliothek im Bau. Die Landesregierung unterstützt die Schule mit der Entsendung von fähigem Lehrpersonal und hat soeben beschlossen, dass Gando ein Gymnasium erhalten soll; Francis Kéré soll es bauen. Dieser tüftelt unterdessen an einer Zisterne aus unterirdischen Tongefässen und plant ein Gemeinschaftszentrum für die Frauen. Damit diese sich weiterbilden und Werkzeug zur Verarbeitung ihrer Produkte anschaffen können, hat er auch ein System zur Gewährung von Mikrokrediten aufgebaut. Mittlerweile beschäftigt Kéré in Burkina Faso 40 Männer dauernd mit Bauarbeiten. Im Kampf gegen die Ausbreitung der Wüste hat er ein neues Ritual eingeführt: Die Eltern in Gando pflanzen heute für jedes Kind, das auf die Welt kommt, einen Baum. Wenn das Kind zehn Jahre alt wird, muss es am Tag des neu erfundenen Baumfestes dessen Pflege übernehmen. 2010 haben die ersten Kinder aus Gandos neuer Schule die Matur bestanden. Im Dorf sind, wie erhofft, Kopien von Kérés Gebäuden aufgetaucht – nicht so präzis, aber nach denselben Prinzipien gebaut. Das Modell Gando findet internationale Anerkennung, so in Indien, Spanien, Frankreich und den USA, seit kurzem auch in der Schweiz und in Deutschland, wo Kérés Lehmbau-Idee anfänglich belächelt wurde. Beachtung findet Gando aber erfreulicherweise auch in der Region; auch afrikanische Architekten besichtigen heute die Schule.

Wissenstransfer Nord–Süd …

TU-Berlin-Absolvent Kéré bringt technologisches Wissen von Europa nach Afrika, doch lässt sich dieses nicht direkt anwenden. «Ich muss für alles eine Übersetzung suchen. Die Technologie braucht eine soziokulturelle, ökologische und ökonomische Adaption.» Damit sie unter lokalen Bedingungen funktioniert, muss sie sehr viel billiger, klimatauglich und selbstbaufähig werden. «Und Zeit! Zeit muss ich mitbringen, wenn ich nach Afrika gehe. Sonst funktioniert es nicht.» Wenn er nach Gando komme, müsse er «von 180 auf null» kommen, zunächst einmal gar nichts tun, nur dort sein. Erst dann könne er anfangen – und zwar ein Gespräch. Entwicklungsprojekte funktionierten nur über echte Partizipation, meint Kéré. Das bedeute, mit den Leuten vor Ort zu reden, zuzuhöhren und dann das Projekt zusammen zu entwickeln. So können sich die Leute damit identifizieren, das Know-how für den Unterhalt erwerben und schliesslich die Verantwortung übernehmen.

Hat Kéré in Gando auch Fehler gemacht? «Ja, viele! Aber es sind eigentlich nicht Fehler, sondern Tests: Ich muss ausprobieren, was für die Leute im Dorf funktioniert und was nicht.» Francis ist einer von ihnen – das ist ein entscheidender Grund für das Gelingen. Denn seine Vorschläge werden sofort kritisiert, wenn sie nicht brauchbar sind. Bei Fremden ziemt sich dies nicht, da sie als Gäste gelten. Deshalb gibt es gegen verfehlte Entwicklungsprojekte jahrelang keine Einwände – sie werden einfach aufgegeben, wenn die Helfer wieder gehen. Bei einem aus dem Dorf ist das anders; da kann man sagen: «Francis, spinnst du? Das geht doch hier nicht, das weisst du doch!» Dann sucht Kéré mit seinen Leuten nach einem Weg, der funktionieren kann.

… Wissenstransfer Süd–Nord

Kéré sieht aber auch in Afrika ein Reservoir von Wissen, das im Norden nützlich sein könnte. Es sind vor allem Charaktereigenschaften, die er aufzählt: Ruhe, aber auch die Fähigkeit zur Begeisterung und Identifikation mit einer Sache, die Bereitschaft, die Dinge selber in die Hand zu nehmen und (in einer Kultur ohne Papiere, Baunormen und Vertragssicherheiten) Eigenverantwortung zu übernehmen. Und schliesslich, meint er, könnte das gemeinschaftliche Entwickeln von lokal und sozial angepassten Projekten aus lokalen Materialien auch in hochentwickelten Ländern mit Gewinn für die Bevölkerung und die Umwelt praktiziert werden. Kéré, der seit 2004 an der TU Berlin auch unterrichtet, glaubt, dass sein eigener Lebensweg das richtige Modell zu einer besseren Entwicklung in Afrika wäre: Allen Kindern in Entwicklungsländern den Schulbesuch ermöglichen und einige von ihnen im Norden ausbilden, allerdings ohne Bedingungen zu stellen, was sie mit dem erworbenen Wissen tun sollen. Die meisten, ist Kéré überzeugt, würden sich für die Gemeinschaft, aus der sie kommen, einsetzen, so wie er. Aber es müssten Kinder armer Leute sein, denn die Kinder reicher Afrikaner kennen die Armut und die Bedürfnisse einfacher Leute nicht.

Projekte Weltweit

Das Büro von Francis Kéré plant und baut auch weitere Projekte. Nicht alle haben mit Entwicklungshilfe zu tun. Doch Kérés Grundanliegen – ressourcenschonende Technik und lokale Materialien – kommen immer zum Tragen. In Dano in Burkina Faso ist 2007 nach den gleichen Prinzipien wie in Gando eine Sekundarschule entstanden. Kérés Entwürfe für ein Bürohaus in Ouagadougou und sein Wettbewerbsbeitrag für ein internationales Konferenzzentrum südlich der Hauptstadt sehen die Verwendung von lokalen Materialien wie Laterit und eine natürliche Klimatisierung vor. Für die neu erstellten Gebäude im Nationalpark in Malis Hauptstadt Bamako (Restaurant, Sportzentrum und Eingangsgebäude) hat Kéré aus einem lokalen Stein eine neue Fassadenbauweise entwickelt. Ebenfalls 2010 eröffnet wurde sein Besucherzentrum bei der 2006 vom Aga Khan Trust restaurierten Grossen Moschee von Mopti in Mali, das ein Museum für Lehmarchitektur enthält. Ein Mädcheninternat in Indien wurde von einer lokalen Bauleitung nach modifizierten Plänen erstellt; ein Projekt für eine Mädchenschule in Jemen ist hingegen wegen der politischen Instabilität des Landes eingeschlafen. In Dapaong im Norden von Togo ist gegenwärtig unter der Ägide der deutsch-afrikanischen Zusammenarbeit ein Ausbildungszentrum für verschiedene Berufe im Bau. Künstlerateliers und Ausstellungsräume sind Kérés Beitrag an die geplante Umwandlung eines Industrieareals im Fischereihafen von Zhou Shan in China. Auch in der Schweiz wird bald ein Werk von Francis Kéré zu sehen sein: Er wurde – neben Shigeru Ban und Gringo Cardia – auserkoren, für das Museum des Roten Kreuzes in Genf einen Teil der permanenten Ausstellung neu zu gestalten.

Ein Theater als Dorfkern

Kérés aussergewöhnlichstes Projekt ist aber das «Operndorf Remdoogo», dessen Bau vor einem Jahr in Laongo, nördlich von Ouagadougou, begonnen hat. Die erste Idee dazu hatte der letztes Jahr verstorbene deutsche Theaterregisseur Christoph Schlingensief. Eine Musikund Theaterbühne soll Kernzelle einer Entwicklung sein, die viele Parallelen mit derjenigen in Gando aufweist, aber zusätzlich den regionalen und internationalen Kulturausstausch fördern will. Im Zentrum steht die Bühne. In Burkina Faso, wo nur wenige schreiben und lesen können und Bücher rar sind, wo aber fast alle musizieren und tanzen, wo Afrikas wichtigstes Theatertreffen stattfindet und Wissen über das gesprochene Wort tradiert wird, schliesst diese Idee an eine lebendige Kultur an.

Um die Bühne herum entstehen bis 2012 eine Primarschule mit Räumen für Film-, Kunstund Musikklassen, eine Werkstatt, eine Kantine, Büros und Lagerräume, dazu Wohnhäuser für Gäste, Angestellte und Schüler, ein Café und ein Gesundheitszentrum. Darum herum kann in der Savanne ein Dorf wachsen. Alle Funktionen dienen sowohl Gästen aus dem In- und Ausland als auch der lokalen Bevölkerung. Alle Teile des Operndorfs sollen klein beginnen und dann wachsen. Auch die Schule. Sie wird als Erstes gebaut und soll einmal 500 Schülerinnen und Schülern das ABC, das Einmaleins und erste Fertigkeiten zur künstlerischen Ausdrucksfähigkeit vermitteln.


Anmerkungen:
[01] Mario Botta in der Sendung Kulturplatz im Schweizer Fernsehen, 24.11.2010
[02] Alle Zitate stammen aus einem Gespräch, das der Autor am 22.11.2010 mit Francis Kéré führte

TEC21, Fr., 2011.01.14



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21. Mai 2010Lukas Denzler
Ruedi Weidmann
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«Ein Amt für Raumentwicklung und Baukultur»

Wilhelm Natrup, der neue Zürcher Kantonsplaner, äussert sich im Gespräch zu den Herausforderungen der Raumentwicklung. Er ist überzeugt, dass ein Diskurs über die räumliche Entwicklung notwendig ist, und möchte Planungsregionen und Gemeinden vermehrt bei der Gebietsentwicklung unterstützen.

Wilhelm Natrup, der neue Zürcher Kantonsplaner, äussert sich im Gespräch zu den Herausforderungen der Raumentwicklung. Er ist überzeugt, dass ein Diskurs über die räumliche Entwicklung notwendig ist, und möchte Planungsregionen und Gemeinden vermehrt bei der Gebietsentwicklung unterstützen.

TEC21: Die Probleme und Herausforderungen der Raumplanung sind bekannt. Wie gross ist der Spielraum der Raumplanung? Kann sie Akzente setzen?

Wilhelm Natrup: Grundsätzlich bin ich überzeugt, dass man mit Raumplanung Akzente setzen kann und auch setzen muss. Raumplanung ist zwar auch eine administrative und verwaltungstechnische Angelegenheit, insbesondere beim Vollzug von Gesetzen und der Genehmigung von Plänen. Viel wichtiger aber ist, dass wir mit der Raumplanung Themen anpacken, die für die räumliche Entwicklung wichtig sind, und darüber diskutieren.

TEC21: Gibt es angesichts der übergeordneten Trends wie Globalisierung, Mobilität und Freizeit überhaupt gestalterische Freiräume?

WN: Ja, ich sehe Freiräume für Gestaltung. Wir müssen aber Raumplanung wieder offensiv denken. Und wir müssen aktiv auf andere Ämter und Direktionen zugehen, die mit ihrem Handeln grosse Auswirkungen auf die Raumentwicklung haben. Unsere Aufgabe als das für die Raumordnung zuständige Amt ist es, die Vorstellung der Gesamtentwicklung einzubringen, das themenübergreifende Denken zu fördern, Kooperationen innerhalb der kantonalen Verwaltung herbeizuführen und integrierte Konzepte zu entwickeln.

TEC21: Die Bevölkerung in der Region Zürich ist in den letzten 20 Jahren stark gewachsen, und dieser Trend dürfte sich fortsetzen. Wie soll und kann man damit umgehen?

WN: Die demografische Entwicklung ist tatsächlich einer der wichtigsten Treiber. Wir werden gemäss Prognosen in den nächsten 20 Jahren im Kanton Zürich noch einmal bis zu 200 000 Einwohner mit dazugehörenden Arbeitsplätzen und Infrastruktur unterbringen müssen – das entspricht zwei Mal der Stadt Winterthur. Und das alles unter der Prämisse, dass wir das Siedlungsgebiet nicht mehr ausdehnen wollen. Wir müssen deshalb mit den Gemeinden über die Akzeptanz von Dichte diskutieren. Wir müssen aufzeigen, wie und wo eine Siedlungsentwicklung nach innen erfolgen kann.

TEC21: Weshalb ist es bisher nicht gelungen, eine griffige Raumplanung umzusetzen?

WN: Wenn man sagt, die Raumplanung habe versagt, so ist es meistens den Fachleuten nicht gelungen, die Politik von bestimmten Leitbildern und Entwicklungen zu überzeugen. Einzelentscheidungen auf den einzelnen Planungsebenen sollten nicht nur aus einer kurzfristigen lokalen Optik erfolgen, sondern immer auch aus einer Gesamtbetrachtung. In diesem Spannungsfeld wird die Raumplanung immer stecken. Es wird immer Einzelentscheidungen geben, die die gesamten Linien nicht im Fokus haben. Aber die Richtung der wesentlichen Entscheidungen, die muss einfach stimmen.

TEC21: Was muss sich ändern, damit wir in der Raumplanung vorwärtskommen?

WN: Wir müssen davon wegkommen, dass Raumplanung der Zusammenzug von 171 Ortsentwicklungen ist – so viele Gemeinden haben wir im Kanton Zürich. Die Gemeinden müssen aufhören, nur in ihrem Gemeindegebiet zu denken. Es braucht eine regionale Abstimmung. Ich befürworte die Gemeindeautonomie grundsätzlich, auch dass der Souverän auf Gemeindeebene über bestimmte Fragen mitentscheidet. Aber es dürfen keine kommunalen Entscheide gefällt werden, die den übergeordneten Interessen widersprechen. Im Kanton Zürich haben wir 11 Planungsregionen. Ich halte das für eine sehr gute Ebene zwischen dem Kanton und den Gemeinden. Alle Gemeinden sind in den Planungsgruppen vertreten, und deren Aufgabe ist es, eine überkommunale Sichtweise einzunehmen. Wenn dies gelingt, wenn die dort formulierten Entwicklungsvorstellungen nicht von Kirchturmdenken geprägt sind, dann haben wir einen grossen Sprung gemacht. Es muss ein Wechselspiel sein, das dem Subsidiaritätsprinzip Rechnung trägt: Der Kanton legt bestimmte Vorgaben fest, und die Regionen und Gemeinden können und sollen die vorhandenen Spielräume nutzen.

TEC21: Die Gemeinden sehen in neuen Ansiedlungen auf ihrem Gebiet Entwicklungschancen und tendieren deshalb dazu, im eigenen Interesse zu handeln. Auch dadurch erhoffte Steuereinnahmen spielen eine wichtige Rolle. Könnte ein sogenanntes regionales Siedlungsflächenmanagement, bei dem die regionale Sichtweise im Zentrum steht, weiterhelfen?

WN: Dieses Thema betrifft nicht nur die Raumplanung, sondern auch den Finanzausgleich. Unter Berücksichtigung des Finanzausgleichs lohnten sich für bestimmte Gemeinden, wenn sie ehrlich wären, Ansiedlungen eigentlich gar nicht. Wachstum galt bisher als Erfolgsausweis für Politiker, doch das stimmt gar nicht immer. Oft ergeben sich Sprungkosten – ganz offensichtlich ist das etwa, wenn ein neues Schulhaus gebaut werden muss. Für andere Gemeinden wiederum lohnt es sich zu wachsen. An zwei konkreten Beispielen versuchen wir zurzeit auszuloten, welche Chancen regionale Arbeitsplatzgebiete mit Gewerbe und Industrie bieten würden. Diese wären verkehrstechnisch ideal gelegen und würden die Dörfer kaum belasten. Dieser Prozess läuft zusammen mit dem Amt für Gemeinden. Für uns ist das ein Musterfall. Innerhalb der Region muss eine Aufgabenteilung stattfinden, wobei Vorteile und Lasten gleichmässig verteilt werden müssen.

TEC21: Die Standortgemeinden müssten von den Steuererträgen aus den Arbeitsplatzgebieten einen Teil an die anderen Gemeinden abgeben. Wäre so etwas denkbar?

WN: Ja, das könnte mit einer Vereinbarung zwischen den beteiligten Gemeinden geregelt werden.

TEC21: Welche Weichen werden in der Raumplanung derzeit auf Bundesebene gestellt?

WN: Auf Bundesebene läuft vor dem Hintergrund der Landschaftsinitiative die Revision des Raumplanungsgesetzes (RPG), und schon seit einiger Zeit ist man daran, das Raumkonzept Schweiz zu erarbeiten. Beim Raumkonzept wird entscheidend sein, dass dieses für sämtliche Akteure einen verbindlichen Charakter hat. Das müsste vor allem bedeuten, dass sich alle raumrelevanten Bundesämter hinter das Raumkonzept stellen, sonst bleibt es Makulatur.

TEC21: Weshalb ist der Vorschlag für ein neues Raumentwicklungsgesetz (REG) 2008/09 derart klar gescheitert? Offenbar wollen die Kantone keine Kompetenzen abgeben.

WN: Das ist schon so. Gemäss Bundesverfassung ist Raumplanung primär Aufgabe der Kantone. Das wurde beim Entwurf zum REG wohl zu wenig berücksichtigt. Man kann diese Aufgabenteilung natürlich infrage stellen, aber dann müsste man das auf Verfassungsebene ändern.

TEC21: Sind die Kompetenzen in der Raumplanung heute noch richtig verteilt? Ist die Aufgabenteilung zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden angesichts der aktuellen Herausforderungen noch zukunftsfähig?

WN: Die Frage ist, wie man das lebt. Ich finde schon, dass in der heutigen Zeit die Kantonsgrenzen etwas eng gezogen sind. Eigentlich wären die funktionalen Räume die richtige Ebene, also etwa der Metropolitanraum Zürich. Da hat nun auch bereits eine Zusammenarbeit angefangen. Es wäre eine neue Qualität, wenn wir in diesen Räumen gemeinsame Konzepte und Strategien entwickeln könnten. Das muss nicht der Bund übernehmen, das würde nicht zum Staatsverständnis der Schweiz passen. Zweifellos aber brauchen wir eine Stärkung der interkantonalen Zusammenarbeit in Raumentwicklungsfragen. Das ist übrigens ein Planungsverständnis, das ich sehr schätze: Dass wir hier starke Kantone mit einer hohen Identität haben, die aber immer in der Lage waren, sich zusammenzuraufen und gemeinsame Interessen zu formulieren. An diese Tradition müssen wir wieder stärker anknüpfen. Das gilt sinngemäss auch für die Ebene der Regionen und Gemeinden.

TEC21: Wenn aber die Zusammenarbeit unter den Kantonen doch nicht wie erwünscht erfolgt, wäre das dann der Zeitpunkt, wo der Bund mehr Kompetenzen bekommen sollte?

WN: Ja, und zwar einfach deshalb, weil wir derart starke funktionale Verflechtungen und Abhängigkeiten in der Entwicklung haben, dass wir an Standortqualität verlieren würden, wenn wir unkoordiniert aneinander vorbeiarbeiten würden. Wir können gar nicht mehr nur innerhalb unserer Grenzen operieren, ohne uns abzustimmen. Das haben eigentlich alle erkannt. Manchmal lernt man in der Raumplanung auch durch Fehler. Es muss immer wieder mal ein ‹Galmiz› geben.

TEC21: Der Fall ‹Galmiz› hat aufgerüttelt?

WN: Ja, das hat bei vielen etwas ausgelöst. Es stellte sich die Frage, ob es richtig ist, dass eine so wichtige Frage durch eine Gemeinde in Zusammenspiel mit einem Kanton entschieden wird. Das hätte Auswirkungen auf ein viel grösseres Gebiet gehabt. So etwas wie ‹Galmiz› betrifft zweifellos auch die Nachbarkantone.

TEC21: Die Richtpläne spielen auf kantonaler Ebene und ganz allgemein in der Schweizer Raumplanung eine zentrale Rolle. Bisweilen hört man den Vorwurf, der Bund sei bei der Genehmigung der kantonalen Richtpläne zu wenig streng.

WN: Ich würde an einem anderen Punkt ansetzen. Wenn der Bund nicht klar sagt, was er will, ist es auch schwierig zu entscheiden, was genehmigt wird und was nicht. Es wäre deshalb wünschenswert, wenn der Bund im Diskurs mit den Kantonen bezüglich der Mindestinhalte der Richtpläne und der Nachweise – etwa über ausgeschiedene Bauzonen oder die Verkehrsplanung in den Agglomerationen – Ziele formulieren und klare Vorgaben machen würde. Damit wäre auch sichergestellt, dass alle Kantone gleich beurteilt werden. Im Gegenvorschlag zur Landschaftsinitiative, also in der jetzt vorgeschlagenen RPGRevision, steht einiges drin, das in die richtige Richtung geht. Klare Zielvorgaben wären insbesondere hilfreich in Kantonen, wo Raumplanung politisch einen schweren Stand hat.

TEC21: Ein heisses Eisen sind die Reserven der Bauzonen, die in einigen Kantonen völlig überdimensioniert sind und oft auch am falschen Ort liegen. Wie steht es diesbezüglich im Kanton Zürich?

WN: Vor 30 Jahren hatten wir im Kanton wesentlich mehr Siedlungsgebiet ausgewiesen als heute. Mit jeder Richtplanrevision wurde es sukzessive zurückgefahren. Dafür braucht es aber klare Zielvorgaben und einen politischen Willen. In einem Kanton, wo die Landschaft unter Druck steht, ist das natürlich einfacher als in sehr ländlich geprägten Kantonen. Grundsätzlich wollen wir, dass die inneren Potenziale genutzt werden. Das gilt für urbane Gebiete wie für den ländlichen Raum. Gerade in den Dörfern gibt es grosse innere Potenziale; ich denke da an leer stehende Bauten, Ökonomiegebäude und Dachstöcke. Das soll genutzt werden, bevor die Dörfer über Quartierpläne erweitert werden. Hierzu bieten wir den Gemeinden auch Hilfestellung. Bei geschützten Ortsbildern gibt es auch materielle Unterstützung. Wir müssen an der Wertschätzung der Dörfer arbeiten.

TEC21: Müssen wir bei dieser Umnutzung grosszügiger sein? Und ergeben sich da nicht eine ganze Reihe von Konfliktfeldern, beispielsweise mit der Denkmalpflege?

WN: Ja, wir müssen grosszügiger sein, um die Interessen unter einen Hut zu bringen. Die Denkmalpflege ist übrigens Teil des Amtes für Raumordnung und Vermessung. Ich sage deshalb immer: Unser Amt macht Raumentwicklung und Baukultur. Wenn wir im bestehenden Siedlungsgebiet arbeiten wollen, dann müssen wir für den jeweiligen Standort im Diskurs mit den Gemeinden, den Betroffenen, der Bevölkerung konkrete Lösungen finden. Wir werden künftig viel stärker projektorientiert arbeiten. Ganz wichtig ist mir dabei die Qualität. Die Qualität der Planung muss unbedingt gesteigert werden. Das geht natürlich nicht von heute auf morgen. Wir vom Kanton wollen ein verlässlicher Partner sein, indem wir klar sagen, was für uns gute Baukultur heisst. Deshalb sind wir daran, Leitlinien zu erarbeiten, damit die Gemeinden auch wissen, was unsere Erwartungen an Quartier- und Gestaltungspläne sind.

TEC21: Können Sie uns ein Beispiel nennen, wo die Zusammenarbeit heute schon spielt?

WN: In Wädenswil wurde ein Projekt für ein 50 m hohes Hochhaus am Gerbeplatz beim Bahnhof ausgearbeitet. Weil der Standort im Perimeter des geschützten Ortsbildes lag, musste die Kantonale Natur- und Heimatschutzkommission dazu Stellung nehmen – und diese beurteilte das Projekt als nicht ortsbildverträglich. Vom See her gesehen, hätte das Hochhaus die Kirche als markantes Gebäude verdeckt. Ich bin aber durchaus der Meinung, dass das Zentrum von Wädenswil verdichtet werden soll. Zusammen mit der Gemeinde führen wir deshalb jetzt ein gemeinsames Studienverfahren durch, das am Beispiel des Wädenswiler Stadtzentrums aufzeigen soll, wie sich die gewünschte städtebauliche Dichte ortsbildverträglich erreichen lässt.

TEC21: Im Kanton Zürich läuft zurzeit die Gesamtüberprüfung des kantonalen Richtplans. Nach welchen Grundsätzen wird dabei vorgegangen?

WN: Massgebend ist das kantonale Raumkonzept mit den Leitlinien für die Raumentwicklung in den entsprechenden Handlungsräumen, festgehalten im Raumplanungsbericht vom August 2009. Ich habe das von meinem Vorgänger übernommen, aber nach meinem Verständnis geht es in die richtige Richtung. Wir haben ein kommunizierbares Bild, das im Grundsatz auf hohe Akzeptanz in allen Regionen gestossen ist. Auch im Parlament ist es positiv aufgenommen worden. Wir haben fünf Handlungsräume definiert und für diese nachvollziehbare und stimmige Ziele deklariert. Das ist weitgehend unbestritten. Es wird aber immer schwieriger, je tiefer wir auf den Stufen hinunter in die einzelnen Gemeinden und zu konkreten Projekten kommen. Da müssen wir noch viel Überzeugungs- und Aufklärungsarbeit leisten.

TEC21: Voraussichtlich 2011 kommt der Richtplan in den Kantonsrat. Über welche Themen wird gestritten werden?

WN: Im Einzelfall über Erweiterungen des Siedlungsgebiets. Die Politiker werden sich für ihre Gemeinden und Regionen einsetzen. Unsere Aufgabe wird es sein, den Konsens – insbesondere über die Konzentration der Siedlungsentwicklung – nicht auseinanderbrechen zu lassen. Ein weiteres Thema wird die Landschaft sein. Ich habe den Eindruck, dass das Bewusstsein für die Gefährdung der Landschaft in der Bevölkerung zugenommen hat. Und da haben wir ja wirklich auch etwas zu verlieren. Die Qualität im Kanton Zürich besteht in meinen Augen im Zusammenspiel zwischen verschiedenen Siedlungsstrukturen und hoch attraktiven Landschaftsräumen. Die Nähe von Wohnen, Arbeit, Naherholung und Kultur ist ein entscheidender Vorteil im Standortwettbewerb.

TEC21: Welche Rolle spielt der Dialog mit der Bevölkerung?

WN: Ich bin überzeugt, dass wir einen Diskurs über die räumliche Entwicklung im Kanton brauchen und nicht nur eine Debatte im Kantonsrat. Ich spüre ein grosses Bedürfnis in Politik und Gesellschaft, wieder einmal über die Zukunft des Raums und die Zukunft von Zürich zu diskutieren, gerade auch vor dem Hintergrund der Überprüfung des Richtplans. Diese Chance möchte ich nutzen. Letztlich ist es aber der Kantonsrat, der über den Richtplan entscheidet. Dadurch erhält dieser auch eine hohe politische Legitimation.

TEC21: Gibt es Disziplinen und Stimmen, die gegenwärtig in diesem Dialog fehlen?

WN: Im meinen Augen fehlen insbesondere gesellschaftliche und soziale Themen. Das wird immer wieder mal angetippt, aber eine eigentliche Auseinandersetzung – etwa mit dem demografischen Wandel – findet nicht statt. Wie gehen wir zum Beispiel mit dem Thema Alter um? Wir sind in der Planung sehr technisch orientiert. Das Ästhetische spielt auch eine wichtige Rolle, das zeigen die Debatten über städtebauliche Fragen. Die Sozialwissenschaften hingegen sind in der Planung unterbelichtet.

TEC21, Fr., 2010.05.21



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2010|21 Planungskulturwandel

28. August 2009Ruedi Weidmann
TEC21

Von der Verkehrsader zum Lebensraum

Winterthur wächst und damit auch der Verkehr. Das erhoffte Geld vom Bund für neue Strassen bleibt aus. Nun setzen die Behörden auf Gestaltung und Bewirtschaft ung des Strassenraums: Was nicht vermehrt werden kann, muss besser genutzt werden. Winterthur entdeckt damit die Strasse als Lebensraum. Das Potenzial ist gross, denn Fussgängerperspektive und Aufenthaltsqualität wurden bisher eher vernachlässigt.

Winterthur wächst und damit auch der Verkehr. Das erhoffte Geld vom Bund für neue Strassen bleibt aus. Nun setzen die Behörden auf Gestaltung und Bewirtschaft ung des Strassenraums: Was nicht vermehrt werden kann, muss besser genutzt werden. Winterthur entdeckt damit die Strasse als Lebensraum. Das Potenzial ist gross, denn Fussgängerperspektive und Aufenthaltsqualität wurden bisher eher vernachlässigt.

Dank einem ¾-Autobahnring mit fünf Anschlüssen und einem vierschenkligen S-Bahn-Netz mit zehn Stationen auf Stadtboden hat Winterthur hervorragende Voraussetzungen, um seinen Verkehr zu bewältigen. Mit 25 % aller Fahrten ist Winterthur auch die Velostadt der Schweiz. Eher schwach ist aber der öffentliche Verkehr, da es nur Busse und kein Tram gibt, und erstaunlich schlecht funktioniert Winterthur heute als Fussgängerstadt. Dabei wäre es mit seiner überschaubaren Grösse, seinen Grünanlagen und Altstadtplätzen dazu prädestiniert. Winterthur wurde im 19. und 20. Jahrhundert bewusst als Gartenstadt entwickelt. Die Überbauung ist durchgrünt und locker, das Siedlungsgebiet gross. Der Preis dafür sind lange Ausfallachsen, die sternförmig durch alle Aussenquartiere führen. Sie sind bis heute als traditionelle Verkehrsadern gestaltet und zerschneiden die Quartiere als Verkehrsschneisen. Die Verkehrsknoten, in denen sie sich treffen, sind oft ohne Aufenthaltsqualität. Das macht das Zufussgehen mühsam.

Die neuen Wohnungen und Arbeitsplätze in den Entwicklungsgebieten generieren zusätzlichen Verkehr. Die Knoten stossen an ihre Kapazitätsgrenze. Gleichzeitig schrumpfen die Finanzhilfen für Verkehrsbauten aus Bern: Die lange gewünschte Südostumfahrung ist im Rahmen der Engpassbeseitigung Nationalstrassennetz in der Priorität zurückgestuft und auf frühestens 2035 verschoben worden – ins Jenseits jeder Verkehrsplanung. Der Strassenraum vermehrt sich also nicht mehr. Doch in der jungen Grossstadt steigen die Ansprüche an ihn: Neben dem Verkehr soll er vermehrt auch für Events und kommerzielle Nutzungen dienen und in der Mittagspause und am Feierabend Aufenthaltsqualität bieten. Das alles zwingt zu verkehrspolitischem Umdenken.

Strassenraum bewirtschaften

Peter Baki, Leiter der Raum- und Verkehrsplanung im Amt für Städtebau (AfS), glaubt, eine rein verkehrstechnisch-funktionale Sicht auf die Strasse sei heute nicht mehr sinnvoll. Nur durch die kombinierte Planung von Verkehr und Siedlung, wie sie das Agglomerationsprogramm[1] des Bundes verlangt, und durch aktives Bewirtschaften des vorhandenen Strassenraums könnten Verkehrsprobleme erfolgversprechend angegangen werden. Aktiv bewirtschaften meint, den Strassenraum so zu gestalten, dass er für alle Ansprüche taugt, und ihn räumlich und zeitlich für verschiedene Nutzungen aufzuteilen. An die Stelle starrer, landesweit gültiger Verkehrsregeln treten dabei lokale Nutzungsregelungen, die mit allen Interessengruppen ausgehandelt werden. Diese lokalspezifischen Arrangements werden durch allgemeine PR-Kampagnen flankiert («Erlaubt ist, was nicht stört»). Plätze, die heute reine Verkehrsknoten sind, sollen Aufenthaltsqualität erhalten, und die Hauptstrassen müssen für Querungen durchlässiger werden. Das übergeordnete Verkehrsnetz muss sich städtischen Bedürfnissen anpassen.Heisst das, dass die Strassen gar nicht voll sind und nur ihre Nutzung einseitig und schlecht organisiert ist? Michael Hauser, Stadtbaumeister und Leiter des AfS, meint, das könne man so sagen. Winterthur müsse noch mehr Anreize zum Umsteigen schaffen, den öV und das Zufussgehen attraktiver machen. Dazu gehört die geplante Umstellung des Busnetzes von Radial- auf Durchmesserlinien; aber auch bei der S-Bahn sieht er ungenutztes Potenzial für den innerstädtischen Verkehr. Doch auch mit einer integrierten Raumnutzungsstrategie könne die Mobilität nicht grenzenlos ausgedehnt werden: «Wir müssen Mobilität wieder als Reisen schätzen und geniessen lernen, besonders in der Freizeit, als etwas, das nicht uneingeschränkt zur Verfügung steht.»

Interessen sammlen, Strassenraum entwerfen

Doch vorläufig hat sich das AfS daran gemacht, das Potenzial auf Winterthurs Strassen zu finden und zu nutzen. Wenn das Tiefbauamt den Reparaturbedarf einer Strasse meldet, werden möglichst früh und gezielt alle Nutzerinnen und Nutzer angegangen. Die Raum- und Verkehrsplanung im AfS lädt die Interessenvertreter zu einem Lokaltermin: das Tiefbauamt, die Verkehrssteuerung der Stadtpolizei, den Stadtbus sowie, je nach Fall, Feuerwehr, Denkmalpflege, Stadtgestaltung oder Gartenbauamt. Gemeinsam werden alle Wünsche und Hinweise auf Schwachstellen in einer Skizze eingetragen. Die Anliegen im Quartier und bei der Velolobby sind im Allgemeinen bekannt und werden ebenfalls aufgenommen. Dabei wird die Strasse nicht nur funktional, sondern auch ästhetisch betrachtet. Denn normalerweise haben Hunderte Änderungen die ursprüngliche Form verwischt, etwa Bus-Haltebuchten, Vor- und Rücksprünge im Trottoir oder zufällige Materialwechsel. Sie sollen wenn möglich rückgängig gemacht werden, damit der Gesamtzusammenhang einer Strasse oder eines Platzes wieder sichtbar wird (Abb. 1). Das Vorgehen entspricht einer Projektentwicklung bei komplexen Hochbauten: Die Anforderungen von allen Beteiligten und Betroffenen werden eingeholt und ins Projekt integriert.[2] Bisher lief die Versuchsphase, doch dieser Tage ist im AfS eine neue Stelle für die «Projektentwicklung Strassenraum» besetzt worden.

Noch mehr Planungsaufwand?

Das Echo aus der Verwaltung ist positiv. Betriebliche Anforderungen können früher eingespeist werden, und das Tiefbauamt ist froh um breit abgestützte Projekte. Vorbehalte gibt es vereinzelt gegen den zusätzlichen Aufwand, und diskutiert wird, wie weit die Gestaltung gehen soll. In der Tat kann man sich fragen, ob es sinnvoll ist, auch noch für Quartierstrassen Wettbewerbe zu veranstalten, und bei der Vorstellung, nun werde auch noch der letzte Winkel in der Stadt durchgestylt, kann einem bange werden. Doch Peter Baki winkt ab: Das AfS müsse eben beweisen, dass der Aufwand unter dem Strich eher kleiner werde. Weil alle Interessen früh in die Planung aufgenommen werden, entfallen spätere Projektänderungen oder gar bauliche Nachbesserungen aufgrund von Interventionen anderer Ämter oder Opposition aus dem Quartier. Der Planungsaufwand sei meist klein und könne im AfS geleistet werden. Wenn bei grösseren Projekten die Vergabe von Gestaltungsaufträgen nötig wird, will man mit Studienaufträgen und einem Planerwahlverfahren arbeiten, das die Anforderungen des Vergaberechts erfüllt, aber schlanker ist als Wettbewerbe.[3] Die Baukosten dürfen nicht höher ausfallen, da es sich um gebundene Kosten handelt.

Entwurfsgebiet Strassenraum

Michael Hauser dämpft solche Befürchtungen weiter: «Fürchten müsste man sich vor einer Übermöblierung des öffentlichen Raums, aber darum geht es uns nicht. Wir reden nicht einem forcierten Gestaltungswillen das Wort, sondern es geht lediglich um eine klare Linienführung von Strassen- und Trottoirrändern, Verkehrsinseln, Baumreihen usw., also um die geometrische Figur der Strasse. Strassenraum, der im Sinn von Lucius Burckhards Wort ‹Design ist unsichtbar›[4] gestaltet ist, sollte für alle, die ihn benützen, brauchbarer sein. So wird der vorhandene Raum effizienter genutzt, die Aufenthaltsqualität steigt, und nicht zuletzt pflegen wir den Stadtraum als baukulturelles Erbe.» Man wolle im Übrigen auch keinen Massnahmenkatalog im Sinn eines Winterthurer Strassenbaurepertoirs erstellen, sondern im Dialog lokal angemessene Lösungen entwickeln. Dabei helfen Best-Practice- Beispiele aus andern Orten. Vor allem aber gehe es darum, im rechten Moment hinzuhören, alle vorhandenen Ideen und Bestrebungen zu sammeln und gesamthaft anzuschauen. Damit rückt der Strassenraum wieder als Entwurfsgebiet ins Bewusstsein. Vielleicht werde es künftig sogar möglich, auch die Baulinien in diese Betrachtungsweise mit einzubeziehen. Vor dem Autozeitalter gehörten die Planung von Strassenraum und Bebauung zusammen. Erst die einseitige Ausrichtung der Stadtplanung auf den Verkehr ordnete sie verschiedenen Berufen und Ämtern zu. Heute kann diese Trennung vielleicht mit Gewinn rückgängig gemacht werden und einer ganzheitlichen Betrachtung des Stadtraums weichen.

Vier Beispiele

In der Regel muss sich diese Herangehensweise bei der einfachen Erneuerung einer Quartierstrasse bewähren. Im Folgenden werden aber vier grosse Projekte vorgestellt, die in den nächsten Jahren in Winterthur öffentlichen Raum schaffen oder aufwerten sollen. Zwei sind schon länger in Planung, zwei stecken noch in den Anfängen. Sie zeigen, wie komplex die Aufgabe, die sich das AfS vorgenommen hat, in der Praxis sein kann, da sie Sichtweisen und Disziplinen vereint, die sonst getrennt oder nacheinander zum Zug kommen.

Das Zentrum: Masterplan Stadtraum Bahnhof So angenehm es sich in Winterthurs Altstadt und Grünanlagen spazieren lässt – der Eintritt in die Stadt vom Bahnhof her ist für Fussgänger nicht attraktiv. Die Verkehrsführung im pulsierenden Herzen der Stadt ist unübersichtlich, und der Busverkehr stösst (so, wie er heute organisiert ist) an Kapazitätsgrenzen. Er muss aber ausgebaut werden, denn er soll gemäss städischen Verkehrsleitsätzen zusammen mit dem Langsamverkehr einen grossen Teil des erwarteten Verkehrszuwachses übernehmen. In den nächsten Jahren wird deshalb das Gebiet um den Bahnhof betrieblich und städtebaulich aufgewertet. Es soll zu einer offenen Begegnungszone werden und Altstadt, Sulzerareal, Neuwiesenquartier und Archareal besser verbinden. Ein Masterplan der Metron AG koordiniert öffentliche und private Bauvorhaben. Im Mai hat das Stimmvolk einen Rahmenkredit angenommen und damit die Ausgabenkompetenz für die Teilprojekte dem Stadtparlament übergeben. Als Kernstück gilt das Projekt Gleisquerung Stadtmitte bei der Unterführung Zürcherstrasse. Es vernetzt Bahnhofplatz, Sulzerareal, Archareal und Rudolfstrasse mit einem angenehmen Wegnetz für den Fuss- und Veloverkehr. Als 1. Etappe wird gegenwärtig der Bahnmeisterweg aufgefüllt, so entsteht ein neuer Platz am Kopf des Sulzerareals. In der 2. Etappe ab 2012 wird die Rudolfstrasse angehoben und über die Zürcherstrasse geführt, damit wird ein grosszügiger Platz zwischen Bahnhof, Neuwiesenzentrum und Sulzerareal geschaffen. Der Bahnhofplatz soll bei stetig steigenden Frequenzen ein sicheres Nebeneinander von Fussverkehr, Velos, Taxi, Auto- und Busverkehr gewährleisten und zur Visitenkarte der Stadt werden. Der Nordteil ist bereits erneuert; für den Südteil hat die Stadt einen Projektwettbewerb ausgeschrieben. Das Siegerprojekt von Stutz-Bolt-Partner sieht ein zentrales Dachelement als Witterungsschutz für Passantinnen und Buspassagiere vor. Im Gebiet Rudolfstrasse / Neuwiesenquartier sollen bauliche, verkehrsbetriebliche und gestalterische Massnahmen dafür sorgen, dass das Gebiet nicht mehr als Bahnhofrück seite wahrgenommen wird. Die Rudolfstrasse wird beruhigt und erhält mehr Stadtraumqualität. Die südliche Rampe aufs Parkdeck über dem Bahnhof wird durch eine doppelstöckige Auf-/ Abfahrtsrampe im Norden ersetzt.

Die heutige Personenunterführung Nord kann die Passantenströme zu Stosszeiten kaum mehr schlucken. Eine Projektstudie von SBB und Stadt sieht einen breiteren und behindertengerechten Durchgang vor. Mit der Veloquerung Nord soll zwischen Zürcherstrasse und Wülflingerstrasse eine dritte Querungsmöglichkeit für Velos unter den Geleisen hindurch entstehen.

Drei private Vorhaben ergänzen diese Massnahmen: Das Kesselhaus steht als markanter Stirnbau des Sulzerareals und Symbol vergangener Industriezeiten unter Denkmalschutz. Die Turinova AG, ein UBS-Immobilienfonds, baut es zu einem Unterhaltungscenter mit Multiplexkino, Restaurants und Läden um. Nördlich des Bahnhofgebäudes erstellt SBB Immobilien das 160 m lange, fünfgeschossige Bürohaus «Stellwerk RailCity» mit Läden im Erdgeschoss und einer bedienten Velostation mit rund 800 Plätzen im Keller. Es wird nächstes Jahr eröffnet. Auf dem Archareal südlich des Bahnhofplatzes plant der GU Halter AG den Gebäudekomplex «Archhöfe» mit Businesshotel, Läden und Wohnungen.

Die Einfallachse: Testplanung Zürcherstrasse Die Zürcherstrasse zerschneidet das Quartier Töss. Die meistgenutzte Ausfallstrasse der Stadt soll wieder als grösster zusammenhängender Freiraum im Quartier wahrgenommen und genutzt werden. Leichtere Überquerbarkeit und bessere Bedingungen für Bus-, Velound Fussverkehr sowie für das Wohnen und Einkaufen sollen die Lebensqualität im Arbeiterquartier verbessern. In einer Testplanung legten fünf Teams Ideen zu Städtebau, Architektur, Freiraumgestaltung und Verkehr vor, drei konnten darauf ihr Verkehrskonzept vertiefen. Mischverkehr, der das Queren zu Fuss überall zuliesse, ist wegen des regen Busverkehrs nicht möglich. In die Testplanung flossen Resultate aus einem breiten Mitwirkungsverfahren im Quartier Töss ein.

Das zur Realisierung empfohlene Projekt des Teams Zweibrücken / Dürig / Topotek1 schlägt einen für die Schweiz neuen Strassenquerschnitt vor: in der Mitte eine zweispurige Platanenallee für den Privatverkehr, seitlich davon je eine Busspur und ein Velostreifen, dann je nach Gebäudevorzonen 3 bis 5 m breite Fussgängerzonen.[5] Die MIV-Kapazität bleibt gleich, trotzdem bringt die neue Gestaltung Verbesserungen: Die konsequente Trennung von MIV, öV und Langsamverkehr erhöht die Fahrplansicherheit für den Bus und gibt den Velos mehr Sicherheit. Die Allee macht den Raum angenehmer, die Querungswege werden kürzer, die dem Quartier zugeordnete Fläche reicht optisch bis zur Baumreihe und wird somit markant grösser. Die Stadt möchte den Umbau ab 2012 zügig angehen.

Der Park: Testplanung Stadtgarten Im Stadtgarten geht es um die Koordination verschiedener Nutzergruppen und um stadträumliche Reparatur. Der Park liegt einen Katzensprung vom Bahnhof entfernt zwischen Altstadt und Geschäftsviertel und ist intensiv genutzt. Er enthält das Museum Oskar Reinhardt, das Schulhaus Altstadt, einen Spielplatz und ein Sommertheater. Zwischen verschiedenen Nutzergruppen gibt es Konflikte, etwa wenn der Lärm von einem Polit-Fest der autonomen Szene eine Aufführung im Open-Air-Theater beeinträchtigt, wenn sich Angestellte und Schüler beim Mittagslunch von streitenden Alkoholikern gestört fühlen, wenn Hunde über den Spielplatz rennen oder ein fliegender Fussball unsanft das kontemplative Studium einer Rosenblüte beendet. Der Park krankt ausserdem an einer Planungssünde aus den 1980er-Jahren: Er endet beim Warenhaus Manor auf einem unschönen, von Fastfood-Mobilen überstellten Tiefgaragendeckel. Die Garageneinfahrt und ein darauf gestellter Musikpavillon verunklären eine historische städtebauliche Situation: den Verlauf der Merkurstrasse, einst Anfang der vom Bahnbau unterbrochenen Schaffhauserstrasse. Die Stadt hat eine Testplanung mit drei Teams durchgeführt. Alle schlagen eine klarere Gliederung der verschiedenen Nutzungen und eine städtebauliche Verdeutlichung der Parkränder vor. Zurzeit wird ein Synthesebericht erarbeitet, der Massnahmen für die schrittweise Umsetzung in den nächsten Jahren definieren soll.

Das Subzentrum: Studien Bahnhof Grüze Der Bahnhof Grüze hat wie fast alle S-Bahn-Stationen auf Stadtboden noch Kapazität für höhere Frequenzen und beträchtliches Potenzial für die Stadtenwicklung. Das Gebiet ist heute eine reizvolle Gegend für Stadtrandromantiker und Kuriositätenjägerinnen: Zwischen KVA und überwachsenen Gütergleisen liegen leere Schotterplätze, von Pionierpflanzen durchwachsene Baumateriallager und vereinzelte Wohnidyllen in alten Werkstätten. Eine Motion im Gemeinderat betreffend Ersatz der hier noch existierenden Bahnschranken durch Unterführungen nahm das AfS zum Anlass, eine Verkehrsstudie für ganz Oberwinterthur[6] und eine städtebauliche Studie zur Bahnhofsumgebung[7] in Auftrag zu geben. Denn der Bahnhof Grüze liegt zwischen dem Entwicklungsgebiet Neuhegi (vgl. S. 18ff.) und dem Industriegebiet Grüzefeld, das früher oder später auch umgenutzt werden dürfte. Die Wohnungen und Arbeitsplätze, die hier entstehen, werden mit Buslinien und Langsamverkehr an den Bahnhof Grüze angebunden.

Weil sie hier früh genug dran ist, bietet sich der Stadt die Chance, Verkehrserschliessung, öffentlichen Raum und Bebauung zusammen zu entwickeln. Die Studien sollten deshalb die künftigen Verkehrsströme abschätzen, aber auch untersuchen, wie der öffentliche Raum an den Zugängen zum Bahnhof entwickelt und die Bebauung unmittelbar am Bahnhof verdichtet werden kann (gemäss einer Empfehlung von Kees Christiaanse[8]). Die Studien empfehlen eine neue Unterführung für Bus-, Velo- und Fussverkehr und einen neuen Bahnhofplatz nördlich der Gleise. Am Bahnhofplatz könnte ein Hochhaus entstehen als Pendant zum Hochhausprojekt am Eingang zur Sulzer-Allee. Damit würden eine in Bahnhofsnähe sinnvolle bauliche Verdichtung und eine Belebung der Freiräume durch öffentliche Nutzungen in den Erdgeschossen möglich. Mittel zur Umsetzung werden ein internationaler Studienauftrag und ein Gestaltungsplan für den Bahnhofplatz und die beiden Hochhäuser sein. Zurzeit laufen erste Gespräche mit dem Kanton und dem Zürcher Verkehrsverbund über die Verkehrserschliessung. Die Stadt erwägt, über einen strategischen Landtausch als Grundbesitzerin in das Projekt einzusteigen, um mehr Verantwortung für diesen wichtigen Ort übernehmen zu können.


Anmerkungen:
[01] Kurzübersicht Agglomerationsprogramm (PDF), www.are.admin.ch/themen/agglomeration/00626
[02] Verena Rothenbühler: Von der Verwaltung zum Management, in: Bauen für Zürich – Das Amt für Hochbauten 1997–2007. Zürich 2008, S. 237–251
[03] Jeremy Hoskyn, Ursula Müller: Qualität dank Wettbewerb, in: Bauen für Zürich – Das Amt für Hochbauten 1997–2007. Zürich 2008, S. 267–291, v. a. S. 273
[04] Lucius Burckhardt: Design ist unsichtbar. Ostfildern 1995
[05] Planpartner AG: Winterthur-Töss, Testplanung Zürcherstrasse, Bericht des Begleitgremiums zu den Vertiefungsstudien Verkehr, 3. Juni 2009
[06] Ernst Winkler + Partner Zürich AG, Effretikon: Entwicklungsgebiet Oberwinterthur und Grüzefeld, Verkehrskonzept, 13. Januar 2009
[07] Pool Architekten, Zürich: Studie Bahnhof Grüze Winterthur, 25. November 2008
[08] Stadtentwicklung Winterthur: Entwicklungsstrategie Oberwinterthur, Juni 2007

TEC21, Fr., 2009.08.28



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2009|35 Grossstadt Winterthur

03. April 2009Ruedi Weidmann
TEC21

Kinderstimmen in der Stadtplanung

Viele Städte wollen die Abwanderung junger Familien in die Agglomeration stoppen. Dazu müssen sie kinderfreundlicher werden. In Basel versucht die Fachstelle Stadtteilentwicklung die Erfahrungen und Vorschläge von Kindern in die Quartierplanung und -entwicklung aufzunehmen. Das Kinderbüro Basel hilft dabei, Kinderwünsche zu erfassen und so aufzubereiten, dass sie in die Planung einfliessen können. Zwei Beispiele – ein neuer Gestaltungsvorschlag für Begegnungszonen in Riehen und die Kartierung des Basler St.-Johann- Quartiers aus Kindersicht – illustrieren, wie das funktionieren kann.

Viele Städte wollen die Abwanderung junger Familien in die Agglomeration stoppen. Dazu müssen sie kinderfreundlicher werden. In Basel versucht die Fachstelle Stadtteilentwicklung die Erfahrungen und Vorschläge von Kindern in die Quartierplanung und -entwicklung aufzunehmen. Das Kinderbüro Basel hilft dabei, Kinderwünsche zu erfassen und so aufzubereiten, dass sie in die Planung einfliessen können. Zwei Beispiele – ein neuer Gestaltungsvorschlag für Begegnungszonen in Riehen und die Kartierung des Basler St.-Johann- Quartiers aus Kindersicht – illustrieren, wie das funktionieren kann.

Ein ehemaliger Laden in der Innenstadt dient dem vierköpfigen Team des Kinderbüros Basel als Basis für seine vielfältigen Aktivitäten. Die Anlaufstelle steht Kindern jeden Nachmittag für Fragen, Wünsche und Ideen zur Verfügung, ebenso Erwachsenen, Behörden und Institutionen, die Anliegen zu Kinderthemen haben.1 Seit 2000 sensibilisiert der von der Christoph-Merian-Stiftung und der Bürgergemeinde Basel getragene Verein die Öffentlichkeit für Bedürfnisse und Rechte der Kinder und setzt sich für die Mitwirkung von Kindern in den Lebensbereichen Schule, Wohnumfeld, Verkehr und Stadtentwicklung ein. Die wichtigsten Ziele sind die Beachtung der Kinderrechte und die Schaffung und Erhaltung von kindergerechten Lebensräumen.

Kinder als Experten

In der Kinderversammlung bestimmen Kinder im Alter von 7 bis etwa 13 Jahren mit, welchen Themen sich das Kinderbüro widmen soll. Sie ist ein Element des Programms «KinderMit- Wirkung», in dem die Kinder mit Unterstützung des Kinderbüros eigene Projekte entwickeln und durchführen können. Die Themen sind Verkehr, Umwelt, Schule oder Kinderrechte. Diese Projekte sollen das städtische Lebensumfeld für Kinder in Basel ganz konkret verbessern. So kümmert sich eine Gruppe um das Einrichten von persönlichen Spinden in den Schulhäusern, andere verfolgen eher kulturelle Ziele, wie beispielsweise Kochkurse oder die Einrichtung eines Kindermuseums. Das Kinderbüro organisiert dabei die Zusammenarbeit mit Fachleuten und mit den zuständigen Verwaltungsstellen und Regierungsmitgliedern. Dieser Ansatz geht davon aus, dass Kinder da, wo es ihre Lebenswelt betrifft, interessiert und engagiert sind und als Experten in eigener Sache ernst genommen werden sollen. Durch ihr Mitwirken lernen sie die Gesetze des Zusammenlebens kennen und entwickeln eine positive Beziehung zu ihrem Wohn- und Lebensumfeld. Sie erleben, dass ihre Erfahrung gefragt ist, dass ihre Stimme zählt und dass mit Analysieren, Denken, Diskutieren und gemeinsamem Handeln die Welt verändert werden kann – sie erleben also Demokratie. Damit Kinder als Experten zu Wort kommen und gehört werden, entwickelt und propagiert das Kinderbüro Planungsverfahren, bei denen Kinder mitwirken können.

Verkehr aus Kindersicht

Einen Schwerpunkt bildet das Thema Sicherheit im Strassenverkehr. Immer wieder bringen Kinder die Einschränkungen in ihrem Alltag durch die Gefahren und den Platzbedarf des Autoverkehrs aufs Tapet und lancieren entsprechende Projekte. So sind etwa zwei Filme über Kinder im Verkehr entstanden. Die konsequent auf der Augenhöhe von Kindern geführte Kamera ermöglicht Erwachsenen, Verkehrssituationen aus der Perspektive von Kindern wahrzunehmen und Gefahren so zu erkennen. Bei solchen Projekten gesammelte Anregungen werden an «Kindergipfelitreffen» den zuständigen Entscheidungsträgern aus Politik und Verwaltung vermittelt und ans Herz gelegt.

Lebensraum Quartierstrasse

Für kleine Kinder ist vor allem das unmittelbare Wohnumfeld wichtig: der Innenhof und die Strasse, an der sie aufwachsen. Viele Eltern lassen ihre Kinder nicht mehr vor dem Haus spielen. Im Nationalen Forschungsprogramm «Stadt und Verkehr» (NFP 25) wurde die Bedeutung des Wohnumfeldes für die kindliche Entwicklung in einer Langzeitstudie untersucht und ein direkter Zusammenhang nachgewiesen2: Das Kind wird in seiner Entwicklung behindert, wenn es in einem Wohnumfeld lebt, in dem dichtes Verkehrsaufkommen und hohe Fahrgeschwindigkeit auf der Quartierstrasse keine anderen Aktivitäten neben dem Verkehr zulassen. Kinder, die ihre Wohnung nicht unbegleitet verlassen dürfen, können ihren Bewegungsdrang nicht genügend ausleben. Sie haben seltener Kontakte zu Gleichaltrigen, werden später selbstständig und brauchen mehr Betreuung.

Kinder haben das starke Bedürfnis, unmittelbar vor ihrer Haustür zu spielen. Kann die Strasse vielfältig genutzt werden, bewegen sich Kinder früher ohne Begleitung, knüpfen Kontakte, erwerben im Spiel mit anderen motorische und soziale Kompetenzen, entwickeln Fantasie und Kreativität und sind allgemein innovativer, selbstständiger und zufriedener. Die Ausdehnung des Bewegungsradius ausserhalb der Wohnung entlastet den Familienalltag. Die Kontakte unter den Eltern nehmen ebenfalls zu. Bei Kindern und Erwachsenen verstärkt die Zufriedenheit mit der Wohnsituation die Identifikation mit dem Wohnort und das Verantwortungsbewusstsein für das Wohnumfeld. Das wirkt sich auch auf kinderlose Nachbarn aus, sie fühlen sich sicherer im Verkehr wie im sozialen Umfeld.

Je dichter die Städte werden, umso wichtiger wird deshalb, dass Quartierstrassen wieder Lebensräume werden. Das Strassenverkehrsrecht sieht dafür die Begegnungszone vor (vgl. Kasten nächste Seite). Diese macht wieder möglich, was einst selbstverständlich war: Die Strasse wird von den Menschen, die daran wohnen, für Gespräche, Spiele, Hausarbeiten oder Spaziergänge genutzt. Der Wunsch nach mehr Begegnungsflächen wurde auch in der Werkstadt Basel laut, welche die Regierung ins Leben rief, um unter Mitwirkung von Bevölkerung, Verbänden und Gewerbe die Attraktivität der Stadt zu erhöhen. Bei der Umsetzung im Aktionsprogramm Stadtentwicklung wurde dieser Wunsch aufgenommen: Das Bau- und Verkehrsdepartement hat in jedem Quartier zwei bis drei Begegnungszonen eingerichtet, nachdem die Anwohnenden zugestimmt hatten. Während der entsprechenden Umfragen organisierte das Kinderbüro Beispieltage, um die Vorteile der Begegnungszone zu demonstrieren.

Möbeltipss für Begegnungszonen

Drei weisse Streifen über die Fahrbahn und eine Stele mit Signaltafel und Guckloch markieren in Basel die Einfahrt in eine Begegnungszone (vgl. TEC21 41/2007, S. 16). Dazu gibt es eine Standardmöblierung aus Sitzgelegenheiten und Pflanztrögen, welche die Anwohnenden selber bepflanzen und unterhalten müssen. Offenbar macht dieses Möbelsortiment aber weder Kinder noch Gemeinden glücklich.

Am Kindermitwirkungstag vom 20. November 2007 trafen sich im Basler Rathaus 130 Kinder, um aus eigenen Ideen und Wünschen zehn auszuwählen, die sie zu konkreten Projekten weiterentwickeln wollten. Eines der ausgewählten Projekte hiess «Mehr und bessere Spielstrassen». Da fast nur Kinder aus Riehen mitwirkten, nahm das Kinderbüro Kontakt mit der Nachbargemeinde auf. Riehen war mit seinen bestehenden Begegnungszonen nicht zufrieden und wollte sein Begegnungszonenkonzept überarbeiten. Der Zuständige für Verkehrsfragen war gern bereit, Ideen der Kinder entgegenzunehmen. Das Kinderbüro organisierte zusammen mit groenland.basel, einem Büro für visuelle Gestaltung, eine Planungswerkstatt: Im Juni 2008 entwickelten 21 Kinder an Modellen ideale Begegnungszonen. Laut Matthias Schnegg von groenland.basel muss man Kindern möglichst wenige Vorgaben machen, damit sie nicht die Ideen von Erwachsenen nachbauen. Dafür sollten sie aber möglichst vielfältiges Baumaterial zur Verfügung haben. Die Arbeitsgruppen müssen klein und intensiv betreut sein, damit alle Kinder zum Zug kommen und möglichst viele Ideen Gestalt annehmenRund hundert Ideen steckten in den zehn Modellen, welche die Kinder schliesslich der Gemeindebehörde und den Medien präsentierten: Klettergerüste aller Art, Gewässer vom Schwimmbad bis zum Wasserfall, Tore über die Strasse, aufgemalte Spielfelder, Rutschen, eine Stabhochsprunganlage, ein Trampolin, weiche Beläge und Kissen, Schaukeln, Sitzecken und viele Bäume.

Ein Gestaltungsvorschlag für Riehen

Die Gestalter von groenland.basel analysierten die Modelle, listeten die Ideen auf, unterschieden Machbares von Unmöglichem und identifizierten Themen, die sich – vielleicht etwas anders als vorgeschlagen – umsetzen liessen. Daraus entwickelten sie einfache Elemente in organischen Dreieckformen, die ans Trottoir angedockt werden und die Fahrbahn in eine mäandrierende Flussform verwandeln. Harte Elemente aus Beton wechseln mit weichen Kissen mit Tartanbezug und weichem Futter ab. Die Gestaltung ist nirgends höher als 40 cm. An bestehende Hauswände und Mauern montierte Haken laden aber zum temporären Aufspannen von Seilen, Girlanden, Zeltblachen oder Hängematten ein. An Anfang und Ende der Begegnungszone wird ein Flachrelief aus Markierungsfarbe auf den Belag aufgebracht, das an gefallenes Laub erinnert. Im Inneren wechselt die Oberfläche zwischen hart und weich; Beläge von Anrainerliegenschaften dürfen in die Strasse hinaus verlängert werden, um die Fahrbahngrenzen weiter aufzulösen.

Trotz ihrer Zurückhaltung kann diese Gestaltung etliche Wünsche der Kinder erfüllen. Die harten Elemente können als Sitzgelegenheiten oder Raumteiler genutzt und mit Kies gefüllt werden, die weichen Elemente dienen allen möglichen Spielzwecken, unter anderem – abseits von Trottoir und Fahrbahn – als Becken für Regenwasserpfützen, die im Winter zu Eisflächen gefrieren dürfen. Das Konzept wurde den Kindern noch einmal präsentiert, um ihnen zu zeigen, dass ihr Engagement etwas bewirkt. Nach einer ersten Enttäuschung über das Fehlen grosser Installationen zeigten sie sich erfreut darüber, wie viele ihrer Ideen aufgenommen worden waren. Auf einer Kritik jedoch beharrten sie: Dass statt der knalligen Farbigkeit ihrer Modelle eine einzige Farbe alle Elemente prägen soll, fanden sie klar ungenügend.Das neue Konzept ist für Begegnungszonen vorgesehen, die vornehmlich zum Spielen genutzt werden, nicht für solche im Zentrum mit Läden und intensivem Mischverkehr. Es kommt in diesen Tagen vor den Gemeinderat. Stimmt dieser zu, sollen vorerst eine bestehende Begegnungszone angepasst und eine neue eingerichtet und dann evaluiert werden.

Kinder evaluieren St.Johann-Quartier

Komplexer ist das Projekt «Jo! St. Johann», das seit 2006 vom Kinderbüro und der Fachstelle Stadtteilentwicklung im Präsidialdepartement geleitet wird: Kinder sollen im laufenden Stadtentwicklungsprozess im St.-Johann-Quartier mithelfen, die Lebensqualität für Kinder und Familien zu steigern. Im zwischen 1870 und 1930 entstandenen, von Industrie und Verkehr geprägten Arbeiterquartier auf der linken Rheinseite nördlich der Altstadt wohnen rund 18 000 Menschen, über 40 Prozent davon Ausländer.

Von den Kindern waren hier weniger konkrete Gestaltungsideen erwünscht als vielmehr eine Analyse von Stärken und Schwächen des Quartiers aus ihrer Sicht: eine Kartierung von beliebten und ungeliebten Orten und Wegen, die Art ihrer Nutzung durch Kinder und deren Gründe, sie aufzusuchen oder zu meiden. Ein zweites Ziel des Projekts «Jo! St. Johann» ist es, Planungsfachleute und Verwaltungsstellen, die über eine Begleitgruppe eingebunden wurden, für die Anliegen und die spezielle Perspektive von Kindern zu sensibilisieren.

Mit Kinderaugen sehen: Hilfsmittel und Methoden

Damit die Erfahrung der Kinder erfasst und in brauchbare Vorgaben für die Verwaltungsarbeit und die Quartierentwicklung umgemünzt werden kann, ist ein mehrstufiges Verfahren nötig. In einem ersten Schritt wurden Kinder mit altersgerechten Methoden befragt: Gruppen von drei bis fünf Kindern im Alter von 6 bis 13 Jahren unternahmen 27 Streifzüge durch das Quartier. Eine erwachsene Person protokollierte ihre Aussagen zu den Orten, die sie aufsuchten. Die Kinder fotografierten. Diese qualitative Erfassung wurde durch eine zweite, quantitative ergänzt: 503 Schulkinder füllten einen Fragebogen aus und erstellten Mental Maps, indem sie auf einer Stadtplanvorlage ihre persönlichen Wege und Nutzungsarten einzeichneten. Die Daten wurden mehrfach ausgewertet, unter anderem vom Institut Kinder- und Jugendhilfe der Fachhochschule Nordwestschweiz.2 Es wurden Risiko-Orte, positive Referenz-Orte und Orte mit Potenzial unterschieden und besonders relevante Themen kartiert, etwa Spiel und Sport, Naturerlebnis, Sozialkontakte, Nutzungskonflikte, verkehrssichere und vernetzte Aufenthaltsorte, Orientierungs- und Identifikationspunkte, Sauberkeit und Sicherheit.

Toll, da ist ein Loch im Zaun!

Diese Beleuchtung «von unten» ermöglichte eine integrale Betrachtung des Lebensraums der Kinder. Sie machte einerseits bewusst, wie stark bereits bekannte Gefahrenstellen und verkehrsreiche Strassen die Bewegungen der Kinder einschränken. Zwar stehen ihnen vielseitige Freizeitinstitutionen und Grünräume mit Spielmöglichkeiten zur Verfügung. Oft verhindern aber stark befahrene Strassen und unübersichtliche Kreuzungen, dass sie sie allein aufsuchen können. Kinder zu ihren Freizeitaktivitäten begleiten zu müssen, bedeutet aber für Familien eine starke Einschränkung der Lebensqualität. Damit Parks, Spielplätze und Freizeiteinrichtungen von möglichst vielen Kindern genutzt werden können, sollten sie mit einem Netz von verkehrsarmen Wegen erschlossen sein. Die Aktion förderte aber auch Überraschendes zutage: etwa, wie intensiv sich die Kinder im ganzen Quartier bewegen, wie gern sie es haben und wie gross die Bedeutung ist, die sie geschätzten Orten zuschreiben. Sichtbar wurde auch, dass gewisse private Innenhöfe von Kindern aus dem ganzen Quartier frequentiert werden und wie wichtig informelle Spielorte sind: eine gedeckte Anlieferungsrampe, die Mäuerchen um die Vorgärten oder Niveau- Unterschiede aller Art (Treppen, Mauern, Rampen, Böschungen). Beliebt sind auch kräftige Farben (Blumen und Graffiti), Verstecke, Brunnen und Wasserstellen, Sand, eine Bäckerei, Kleintiere, Schnecken und Spinnen.

Die Kinder wiesen auch auf Stellen, wo sie sich unwohl fühlen oder vom Verkehr überfordert sind, und formulierten präzise Anliegen. So fordern sie die in Tempo-30-Zonen aufgehobenen Fussgängerstreifen zurück und wünschen sich eine häufigere Strassenreinigung.

Leitsätze für eine kinderfreundliche Stadt

Sebastian Olloz von der Fachstelle Stadtteilentwicklung würde künftig noch mehr auf qualitative Erhebungsmethoden setzen: Die Streifzüge seien kindergerechter und ergiebiger als Fragebogen, ihre Resultate überraschender, konkreter und brauchbarer. Einige von den Kindern bezeichnete Gefahrenstellen konnten zusammen mit den zuständigen Stellen sofort verbessert werden, etwa mit längeren Grünphasen für Fussgänger oder besserer Beleuchtung. Andere Anliegen sollen mittel- und langfristig in Bauprojekte einfliessen. Daneben verarbeitet die Fachstelle Stadtteilentwicklung die Erkenntnisse aus dem Projekt unter dem Arbeitstitel «Auf Augenhöhe 1.20 m» zu einem Arbeitsinstrument. Dieses soll Leitsätze, einen Fragenkatalog, Good-Practice-Beispiele und Stolpersteine für eine kinderfreundliche Stadtentwicklung beinhalten. Es soll noch in diesem Jahr fertig werden und danach im ganzen Stadtgebiet ämterübergreifend zum Einsatz kommen. Denn Kinderfreundlichkeit – das zeigte auch das Projekt «Jo! St. Johann» – ist nicht eine Frage der Stadtplanung allein, sondern eine departementsübergreifende Aufgabe von der Stadtanalyse über Planung, Gestaltung und Bau bis zum Betrieb von Bauten und Anlagen. Das Arbeitsinstrument der Fachstelle Stadtteilentwicklung soll deshalb Fachpersonen aus Verwaltung und Privatwirtschaft einen Perspektivenwechsel auf die Augenhöhe von Kindern ermöglichen. So können Bedürfnisse und Anliegen der Kinder besser erkannt werden und in die Gestaltung ihres Lebensraums einfliessen. Denn vernetzte, anregungsreiche und natürliche, veränderbare und abwechslungsreiche Aufenthaltsbereiche sind wichtig für eine gesunde Entwicklung der Kinder.

Ob nun das Riehener Begegnungszonenkonzept restlos überzeugt oder nicht, und unabhängig davon, wie viele Kinderwünsche im St.-Johann-Quartier wirklich umgesetzt werden – dass Amtsstellen und Planungsfachleute Kinder ernst nehmen und in ihrer Arbeit den Perspektivenwechsel auf 1.20 m berücksichtigen, betrachtet das Kinderbüro Basel als grossen Gewinn und schönes Resultat seiner bisherigen Anstrengungen.

TEC21, Fr., 2009.04.03



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tec21 2009|14-15 Luege, lose, plane

12. Februar 2009Ruedi Weidmann
TEC21

Aufbruch im Veloverkehr?

Seit 30 Jahren fördern Schweizer Gemeinden das Velofahren – mit insgesamt mässigem Erfolg. Doch nun könnte das Velo definitiv entdeckt werden, denn in den Agglomerationen stossen die Verkehrssysteme an Kapazitätsgrenzen. Der Bund hat das grosse Entlastungspotenzial im Veloverkehr erkannt: Seine Agglomerations- und Klimapolitik, die Rezession und steigende Energiepreise könnten Kantone und Gemeinden dazu bringen, die an sich bekannten Velofördermassnahmen ernsthaft umzusetzen. Wie sähe eine Förderung aus, die konsequent die Vorteile des Velos nutzt und seine Nachteile mildert?

Seit 30 Jahren fördern Schweizer Gemeinden das Velofahren – mit insgesamt mässigem Erfolg. Doch nun könnte das Velo definitiv entdeckt werden, denn in den Agglomerationen stossen die Verkehrssysteme an Kapazitätsgrenzen. Der Bund hat das grosse Entlastungspotenzial im Veloverkehr erkannt: Seine Agglomerations- und Klimapolitik, die Rezession und steigende Energiepreise könnten Kantone und Gemeinden dazu bringen, die an sich bekannten Velofördermassnahmen ernsthaft umzusetzen. Wie sähe eine Förderung aus, die konsequent die Vorteile des Velos nutzt und seine Nachteile mildert?

Velofahren braucht fünf Mal weniger Energie als Gehen und rund 100 Mal weniger als Autofahren. Trotz dieser technischen Genialität und weiteren Vorteilen haben Kantone und Gemeinden, mit wenigen Ausnahmen, das Velo als Nahverkehrsmittel bisher kaum ernst genommen. Sie haben auf den öffentlichen Verkehr (ÖV) gesetzt. Doch nun beginnt dieser am eigenen Erfolg zu leiden. Zum Stau auf den Strassen kommen immer häufiger überfüllte Züge, S-Bahnen, Trams und Busse hinzu – und der Verkehr soll weiter zunehmen. Etwa die Hälfte der Wege, die in den Agglomerationen mit ÖV oder Auto zurückgelegt werden, würden mit dem Velo weniger als zwanzig Minuten dauern. Ein konsequent geförderter Veloverkehr könnte den motorisierten Individualverkehr (MIV) und den ÖV im Alltag wie in der Freizeit entlasten. Investitionen in den Veloverkehr sind volkswirtschaftlich deutlich effizienter als beim MIV und beim ÖV:[1] Velofahren braucht 10 bis 20 Mal weniger Verkehrsfl äche als der MIV, schont die Umwelt und trägt dank der Bewegung zur Gesundheit bei. Im Zeichen von Rezession, Klimaerwärmung, mittelfristig steigenden Energiepreisen und zunehmender Überlastung des ÖV dürften diese Vorteile an Bedeutung gewinnen. Umso mehr, wenn der Bund wie angekündigt weitere externe Kosten des MIV über eine CO2-Abgabe und eine höhere Mineralölsteuer internalisieren und zusätzliche ÖV-Infrastruktur über höhere Billettpreise finanzieren wird.

Potenzial und reale Trends

Eine Studie des Nationalen Forschungsprogramms 412 schätzt, dass der Langsamverkehr bis zu 50 % aller MIV-Fahrten in städtischen Gebieten ersetzen könnte (Velofahrten 100 %, Etappen zu Fuss 40 %, ÖV-Fahrten 30 %, MIV – 50 %). Grossstädte in Holland und Nordrhein- Westfalen haben solche Zahlen erreicht und den Veloanteil an allen innerstädtischen Fahrten auf 30 bis 40 % gesteigert. In der Schweiz erreicht Winterthur immerhin 25 %. Eine andere Schätzung sieht ein Verlagerungspotenzial für 6–15 % aller landesweiten MIV-Fahrten.3 Zum realen Veloverkehr ist die statistische Datenbasis dünn – hierzulande ein Indiz dafür, dass ein Gebiet von der Politik nicht ernst genommen wird. Zahlen gibt es nur aus einigen Städten. Das Bundesamt für Strassen (Astra) hat ein Konzept für den Aufbau einer schweizerischen Langsamverkehrsstatistik erarbeiten lassen, die den Langsamverkehr in einer mit dem MIV und dem ÖV vergleichbaren Weise erfassen würde.[4] Der Veloverkehr hat in den letzten Jahrzehnten langsam zugenommen, doch es gibt Anzeichen dafür, dass der Veloanteil am Langsamverkehr nun stagniert.[5] Vor allem die Zahl velofahrender Kinder und Jugendlicher hat in den letzten zehn Jahren deutlich abgenommen.[6] Für den Veloverkehr ist das verheerend, denn wer nicht als Kind Velo fahren lernt, wird später kaum noch damit beginnen.

Neue Bundespolitik

Der Bund hat die Bedeutung des Veloverkehrs erkannt. Er will ihn zusammen mit dem Fussverkehr im Interesse einer zukunftsfähigen Verkehrsinfrastruktur als gleichwertige dritte Säule des Personenverkehrs neben MIV und ÖV etablieren.[7] Seine Unterstützung von Verkehrsinfrastrukturprojekten der Agglomerationen bis 2018 mit 6 Mrd. Franken aus der Mineralölsteuer gewährt er aufgrund von Agglomerationsprogrammen, die unter anderem konkrete Ziele und Fördermassnahmen für den Fuss- und Veloverkehr enthalten müssen.[8] Die Neuausrichtung der Bundespolitik dürfte Signalwirkung auf Kantone und Gemeinden haben. Studiert man die 30 vom Bund unterstützten Agglomerationsprogramme aus Sicht des Langsamverkehrs, zeigt sich ein insgesamt zufriedenstellendes Bild. 2011–18 sollen 618 Mio. Franken in Massnahmen zur Förderung des Langsamverkehrs investiert werden, ein guter Teil davon kommt dem Veloverkehr zugute, meist einer Vielzahl von einzelnen kleinen Verbesserungen. Hinzu kommen Veloparkings bei Bahnhöfen für über 50 Mio. Franken.[9] Die Gelder für 2011–14 sollen im Herbst 2009 freigegeben werden.

Lücken und Uneinheitlichkeit

Manche Gemeinde hat schon bisher viel Geld in Velowege gesteckt. Zürich beispielsweise richtet seit über 30 Jahren Velostreifen ein, wo es rasch und einfach möglich ist.[10] Es konnte so den Veloanteil zunächst verdreifachen, doch heute stagniert er bei tiefen 6 % der Wege.[11] Nun zeigt sich die Krux dieser pragmatischen Strategie: Lücken im Veloverkehrsnetz wirken überproportional abschreckend. Der Arbeits- oder Schulweg ist eben nur so sicher wie seine gefährlichste Stelle. Die pragmatische Strategie ist ausgeschöpft und muss von einer konsequenten Veloförderung abgelöst werden, die alle Lücken, Gefahrenstellen und Umwege im Veloroutennetz beseitigt.[12] Ist dies erreicht, wird ein Quantensprung im Modalsplit möglich; dann werden alle bisher investierten Gelder fruchtbar werden.

Ein Problem ist die Uneinheitlichkeit der Infrastruktur. Die Unterschiede zwischen den Kantonen und Gemeinden sind nicht nur gross, was die bisherige Veloförderung betrifft, sondern auch bei der Gestaltung im Detail. Eine Velotour durch die Schweiz entpuppt sich als abwechslungsreiches Kennenlernen von Dutzenden von möglichen Verkehrslösungen. Das Patchwork setzt sich im Ortsinnern fort. So beklagt etwa die IG Velo Zürich, dass auf der 1.6 km langen Fahrt zwischen Helvetiaplatz und Zentralbibliothek in Zürich das Verkehrsregime für Velos 13 Mal wechsle.[13] Neben einzelnen VSS-Normen besteht keine kohärente Sammlung von Vollzugshilfen zu Planung, Bau und Betrieb von Infrastrukturanlagen des Veloverkehrs. Veloverkehrsnetze mit Lücken bleiben Flickwerke, die weder Auto- noch potenzielle Velofahrende als Verkehrssystem erkennen können. Hier braucht es einheitliche Definitionen und eine nationale Normierung. Die Velokonferenz Schweiz und das Astra wollen deshalb gemeinsam eine Sammlung von Vollzugshilfen erarbeiten.[14] Noch fehlende VSS-Normen zu Knoten und Querungen müssen zügig erstellt werden.

Bei den gesetzlichen Rahmenbedingungen ist der Kanton Bern Vorbild: Er schreibt im Richtplan Veloverkehr vor, dass bei Strassenprojekten 10–20 % der Mittel für den Langsamverkehr eingesetzt werden müssen, und unterstützt die Gemeinden bei den Kosten.[15]

Stärken fördern

Konsequente Velopolitik muss die Stärken des Velos fördern und seine Schwächen mildern: – Innerorts und im Flachen hat das Velo eine höhere Tür-zu-Tür-Geschwindigkeit als MIV und ÖV. Dieser Vorteil im Alltagsverkehr muss einerseits durch ein Netz von direkten, lückenlosen, schnellen und sicheren Velorouten gestärkt werden, bestehend aus Velostreifen auf allen Hauptachsen, die an Knoten nicht unterbrochen werden und keine Konfliktstellen mit Fussgängern aufweisen.[16] Andererseits braucht es genügend Kurzzeit- und gedeckte Langzeit-Abstellplätze möglichst nah am Eingang aller öffentlichen und privaten Gebäude und ÖV-Stationen. Die kantonalen Baugesetze müssten für alle Wohn- und Geschäftshäuser genügend Veloabstellplätze – oder noch besser: Veloräume im Erdgeschoss – festschreiben. 17 Auch in diesem Punkt liegt der Kanton Bern mit seiner Bauverordnung vorne. Gemeinsame Veloräume mit Aufenthaltsqualität als Werkstatt und Garderobe wären eine sinnvolle Nutzung für das Erdgeschoss städtischer Wohnhäuser.

– Der Velo-Freizeitverkehr hat ebenfalls noch Potenzial und kann neue Tourismusimpulse setzen. Er braucht ein zweites, interkommunales Netz, das vor allem sicher sein muss.– Die maximale individuelle Bewegungsfreiheit im Siedlungsgefüge ist eine grosse Stärke des Velos. Sie wird durch flächendeckende Velotauglichkeit aller Strassen und Wege gestützt. Hier bewegen sich auch langsamere, mehr auf Sicherheit bedachte Velofahrende. – Die Kosten liegen, inklusive regen- und wintertauglicher Kleidung, bei wenigen hundert Franken pro Jahr. Sie sinken noch, wenn gedeckte Abstellplätze das Velo vor der Witterung schützen. Die Vorteile des Velofahrens geniesst eher, wer sich ein Velo von hoher Qualität leistet. – Die physische Bewegung des Systems Mensch–Velo kann Freude vermitteln. Voraussetzung dazu ist gutes Beherrschen des Geräts. Kurse könnten die Fahrtechnik verbessern, den Spass fördern und die Hemmschwelle für Umsteigewillige senken.

...und Schwächen mildern

Die Schwächen des Velos müssen mit spezifischen Massnahmen gemildert werden: – Velofahren ist gefährlicher als Zufussgehen. Nach den Regeln des Astra eingerichtete Velowegnetze würden hier aber bereits einen beträchtlichen Fortschritt bringen. – Auf langen Strecken und bergauf ist das Velo langsam. Kommunale Behörden versprechen seit 30 Jahren Lösungen durch den intermodalen Kombiverkehr. Doch je voller Trams und Busse werden, umso unwahrscheinlicher wird dieser Weg (vgl. Artikel S. 28). Er funktioniert nur, wo ÖV-Kapazitäten unternutzt sind. In den Agglomerationen ist deshalb die Lösung für Strecken über 10 km Länge eher im Aufbau der «Bike & Rail»-Kultur zu suchen (vgl. Artikel S. 23). Hilfe am Berg verspricht hingegen der Velolift (vgl. Artikel S. 30). – Velofahrende sind dem Wetter ausgesetzt. Durch Fortschritte der Outdoor-Bekleidungsindustrie sind die Unannehmlichkeiten heute fast passé. Es gibt kein schlechtes Velowetter mit Ausnahme von Glatteis. Schneeräumung auf Velostreifen sollte allerdings Pflicht werden. – Das Velo ist kein Statussymbol wie das Auto. Das ist ein veritabler Knackpunkt und eine interessante PR-Aufgabe. Massnahmen, die das Velofahren umständlich machen oder die Hemmschwelle für potenzielle Umsteiger zusätzlich erhöhen, wie die vom Bundesrat in Betracht gezogene Helmtragpflicht, sind hinderlich.

– Velos können relativ leicht gestohlen werden. Mit einem Zusatz zur Hausratversicherung für Diebstahl auswärts lässt sich das Velo für eine einstellige Frankensumme pro Jahr zum Neuwert versichern. Es wäre einmal zu prüfen, ob dieser Zusatz in die obligatorische Velo- Haftpflichtversicherung integriert werden könnte, was die Kosten auf einige Rappen senken und diese Sorge aus der Welt schaffen dürfte.

Daneben existieren hartnäckige Vorurteile: Dass Velofahren anstrengend sei oder dass man im Winter friere. Dabei empfindet der Körper täglich erbrachte Leistungen nicht als anstrengend, und frieren tut, wer sich nicht bewegt, also ÖV-Benutzer beim Warten.

Veloförderung als Querschnittaufgabe

So wichtig bauliche Massnahmen auch weiterhin sein werden, sie reichen allein nicht mehr aus. Veloförderung darf nicht mehr die Aufgabe von isolierten und im Vergleich mit MIV und ÖV massiv unterdotierten Fachstellen sein, sondern muss zu einer Querschnittaufgabe werden, die in allen Ämtern, die mit Mobilität zu tun haben, den gleichen Stellenwert hat. Es braucht auch mehr Massnahmen in den Bereichen Evaluation und Monitoring, Politiksteuerung, Ausbildung, Öffentlichkeitsarbeit, Imageförderung und Akzeptanzsteigerung.

Investitionen in die Zukunft

Am wirksamsten ist Veloförderung bei den Kindern. Damit möglichst viele Velo fahren lernen, sind Tempo-30- und Begegnungszonen vor der Haustür nötig. Die Schule sollte Velofahren auf dem Schulweg ab dem Kindergartenalter aktiv fördern[19] und als Schulsport anbieten. Schliesslich ist die geniale Erfindung selber noch verbesserungsfähig. Mit vergleichsweise wenig Forschungsförderung wären spürbare Verbesserungen bei Gewicht, Mechanik, Unterhaltsbedarf, Licht, Zulademöglichkeit und nicht zuletzt beim Design zu erzielen.


Anmerkungen
[1] Astra (Bundesamt für Strassen): Effizienz von öffentlichen Investitionen in den Langsamverkehr. Bern 2003
[2] Netzwerk Langsamverkehr: Die Zukunft gehört dem Fussgänger- und Veloverkehr. Bericht A9 NFP 41, Bern 1999
[3] Astra: CO2-Potenzial des Langsamverkehrs. Bern 2005
[4] Astra: Konzept Langsamverkehrsstatistik. Bern 2005
[5] Macht der Veloboom Pause? Tiefbauamt der Stadt Zürich, Infoblätter Verkehrsplanung 1/2008
[6] Astra: Mobilität von Kindern und Jugendlichen. Materialien Langsamverkehr Nr. 115, Bern 2008
[7] Astra: Leitbild Langsamverkehr, Entwurf
[8] Astra: Der Langsamverkehr in den Agglomerationsprogrammen. Materialien Langsamverkehr Nr. 112
[9] ARE (Bundesamt für Raumentwicklung): Prüfberichte des Bundes zu den Agglomerationsprogrammen. Bern 2008
[10] Pete M. nssen: 30 Jahre Veloförderung in der Stadt Zürich, 1975 bis 2005. Hg. Stadt Zürich, Tiefbau- und Entsorgungsdepartement, Zürich 2006; Tiefbauamt der Stadt Zürich: Mobilitätsstrategien der Stadt Zürich, Teilstrategie Veloverkehr. Zürich 2004
[11] Tiefbauamt der Stadt Zürich: Mobilitätsstrategie der Stadt Zürich, Teilstrategie Veloverkehr, Standbericht 2007; Tiefbauamt der Stadt Zürich: Macht der Veloboom Pause? Infoblätter Verkehrsplanung 1/2008
[12] Tiefbauamt der Stadt Zürich: BYPAD, Audit der Velopolitik der Stadt Zürich, Audit-Bericht und Qualitätsplan. Zürich 2008
[13] IG Velo Zürich, Positionspapier Innenstadt
[14] Christof Bähler: Handbuch «Infrastruktur Veloverkehr» – Werkstattbericht, Vortrag (PDF unter www.velokonferenz.ch/referate)
15 Tiefbauamt des Kantons Bern: Kantonaler Richtplan Veloverkehr
16] Astra: Der Langsamverkehr in den Agglomerationsprogrammen, Materialien Langsamverkehr Nr. 112; Christof Bähler: «Veloführung» in: TEC21 19/2007, S. 19–22; Astra, Stadt Langenthal: Problemstellenkataster Langsamverkehr, Erfahrungsbericht am Beispiel Langenthal, Bern 2005; Schweizerische Velo-Konferenz, Schweizerischer Verkehrssicherheitsrat: Velos auf Trottoirs, Zürich und Bern 2005
[17] Astra: Veloparkierung: Empfehlungen zu Planung, Realisierung und Betrieb, Handbuch, Vollzugshilfe Langsamverkehr Nr. 7, Bern 2008
18] Astra: Planung von Velorouten, Handbuch, Vollzugshilfe Langsamverkehr Nr. 5
[19] Tiefbauamt der Stadt Zürich: BYPAD, Audit der Velopolitik der Stadt Zürich, Audit-Bericht und Qualitätsplan, Zürich 2008

TEC21, Do., 2009.02.12



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2009|06 Veloverkehr fördern

03. November 2008Claudia Carle
Ruedi Weidmann
TEC21

«angemessen eingreifen»

Mehrfach haben Parlamente Baubehörden aufgefordert, nachhaltiges Bauen energischer zu fördern und Projekte für energetische Sanierungen und Solaranlagen...

Mehrfach haben Parlamente Baubehörden aufgefordert, nachhaltiges Bauen energischer zu fördern und Projekte für energetische Sanierungen und Solaranlagen...

Mehrfach haben Parlamente Baubehörden aufgefordert, nachhaltiges Bauen energischer zu fördern und Projekte für energetische Sanierungen und Solaranlagen häufi ger zu bewilligen. Doch bestehende Bauten sind eine kulturelle Ressource, die so nachhaltig bewirtschaft et werden sollte wie Energie. Mit seiner Fachstelle für nachhaltiges Bauen gehört das Stadtzürcher Amt für Hochbauten zu den Pionieren des ökologischen Bauens in der Schweiz. Viele seiner Projekte verbinden Energieeffi zienz und einen schonenden Umgang mit der Bausubstanz. TEC21 hat Vertreterinnen und Vertreter des Amts sowie die Leitung der städtischen Denkmalpflege und eine private Architektin gebeten, das Dilemma und Lösungswege anhand zweier Umbauprojekte zu erörtern.

TEC21: Energetische Sanierungen bestehender Bauten tragen viel zum Klimaschutz bei. Diese Erkenntnis hat sich endlich durchgesetzt. Die Kehrseite der Medaille ist allerdings, dass unser baukulturelles Erbe allmählich unter einer dicken Isolationsschicht und unter Solarpanels verschwindet. Die Denkmalpflege scheint zunehmend unter Druck zu geraten, hier mehr Spielraum zu gewähren. Wie erleben Sie die Entwicklung?
Peter Ess: Es geht letztlich um eine gesellschaftliche Frage: Wollen wir uns leisten, in Schönheit unterzugehen, oder wollen wir versuchen, das Energiethema in den Griff zu bekommen, zum Beispiel die schönen Dächer vergessen und in einem verzweifelten Befreiungsschlag überall Solaranlagen installieren – das sind die radikalen Standpunkte, die sich gegenüberstehen. Das Gewicht liegt momentan noch relativ stark auf der formalästhetischen Seite der Architektur. Wenn aber der politische Druck wächst, könnte er noch weiter in Richtung grosszügige Handhabung energetischer Massnahmen gehen. Marburg beispielsweise hat den Schieber ganz auf die andere Seite geschoben: Dort muss jetzt auf alle geeigneten Dächer eine Solaranlage kommen.

Die Stadtzürcher Baubehörden engagieren sich seit Langem für Nachhaltigkeit. In letzter Zeit ist das Thema Nachhaltigkeit aber auf der politischen Agenda so weit nach oben gerückt, dass die Politik angefangen hat, uns zu überholen: Sie ist zu einer sorgfältigen Güterabwägung gar nicht mehr bereit, sondern verlangt von uns, das Kind mit dem Bad auszuschütten. Bei Neubauten ist es einfach: Man kann die Anforderungen defi nieren und das Gebäude darauf hin entwickeln. Aber zwei Drittel unserer Bauaufgaben betreffen die Erneuerung bestehender Substanz. Hier kann man auch den grössten Effekt hinsichtlich Nachhaltigkeit erzielen. Doch braucht es hier eine Güterabwägung. Die Grundhaltung des Amts für Hochbauten dazu stammt von 1997, sie umfasst drei Punkte: – Mit einer Summe kleiner Eingriffe können baukünstlerisch wertvolle Gebäude Zug um Zug ruiniert werden. – Bei jedem Eingriff in bestehende Substanz sind daher gleichermassen die Herkunft und der Zeitgeist wie auch die Zukunftsperspektive der Baute zu klären. – Entscheide über Eingriffe erfolgen in Abwägung der Nutzungsanforderungen, der denkmalpflegerischen, architektonisch-städtebaulichen und ökologischen Anliegen sowie der Angemessenheit der Kosten.

Die politische Diskussion wird immer in Kurven verlaufen. Die Verwaltung hingegen muss auf Konstanz und Sorgfalt achten und diese Themen unabhängig von Schwankungen im politischen Tagesgeschäft in ein Gleichgewicht bringen. Hier müssen wir eine gewisse Behäbigkeit pflegen und auf dem Weg der Güterabwägung weitergehen. Dabei muss man davon ausgehen, dass nicht jeder sein Partikularinteresse maximieren kann. Zusammen müssen wir die Schnittmenge für eine vernünftige Lösung suchen.

Harte Zahlen gegen weiche Faktoren

Jan Capol: Die Entwicklung in Sachen Umweltschutz, dass Gebäude auf eine 2000-Watt- Gesellschaft ausgerichtet werden, fi nde ich uneingeschränkt positiv. Wir verstehen Denkmalpflege auch als eine Art Umweltschutz und ziehen mit der Fachstelle Nachhaltiges Bauen am gleichen Strick. Ich sehe aber eine Schwierigkeit darin, dass die ökologische Nachhaltigkeit messbar ist und in exakten Zahlen ausgedrückt werden kann, während bei der kulturellen Nachhaltigkeit anders argumentiert werden muss. Wenn Heinrich Gugerli sagt: ‹Jetzt sind wir bei 200 Megajoules pro Quadratmeter›, hat er gewonnen, da kann ich noch so lang über die kulturhistorische Bedeutung referieren. Die Herausforderung ist, die beiden Argumentationsweisen miteinander zu verbinden.
Heinrich Gugerli: Das stimmt. Vielleicht muss man das als Chance wahrnehmen und den Diskurs fördern. Wenn man an Minergie oder an die 2000-Watt-Gesellschaft denkt, sind die eindeutigen Zahlen der Energiefachleute allerdings auch nur eine Krücke. Es geht ja nicht nur um Megajoules, sondern um ein breites Spektrum von Nachhaltigkeitszielen gemäss der SIA-Empfehlung 112/1 und entsprechender Massnahmen. Auch wir glauben nicht, dass man das einfach nach Zahlenwerten entscheiden kann.
Sibylle Bucher: Vielleicht müsste die Denkmalpflege auch exakte Werte definieren?
Urs Baur: Die Denkmalpflege des Kantons Solothurn hat vor Jahren versucht, ein Zahlensystem einzuführen, um die Schutzwürdigkeit von Objekten nachzuweisen. Sie ist kläglich gescheitert. Ein Problem ist aber tatsächlich, dass keine Denkmalpflege-Normen existieren. Als Folge davon einigen wir uns zwar in der Güterabwägung, danach kommen aber andere Anliegen ins Spiel, die sich auf unverrückbare Normen beziehen können – zum Beispiel braucht ein Schulzimmer 500 Lux.
Peter Ess: Ich finde, es wäre ein fataler Irrtum, wenn man versuchen würde, qualitative Werthaltungen zu quantifizieren und dann meint, man bekäme einen objektiven Wert. Eine Werthaltung bleibt eine Werthaltung. Ein zweiter fataler Irrtum scheint mir, zu meinen, mit Verordnungen und Rechtsmitteln habe man eine bessere Position. Ich bin zutiefst überzeugt, dass es um den gesellschaftlichen Stellenwert einzelner Themen geht: Wie wichtig ist uns Heimat im Sinn von Ortsbild und Originalsubstanz?
Sibylle Bucher: Es geht ja eigentlich eher um den Umgang mit diesen Normen. Wir Architekturschaffenden können versuchen, die verschiedenen Interessen möglichst geschickt miteinander zu kombinieren.
Jan Capol: Immerhin haben wir im Amt für Städtebau zusammen mit Leuten aus allen interessierten Departementen einen für Bauherrschaften nachvollziehbaren Leitfaden für den Umgang mit der Dachlandschaft erarbeitet. Den Anstoss dazu gaben Gesuche für Sonnenkollektoren und Fotovoltaikanlagen auf Dächern. Die Erarbeitung des Leitfadens war nicht ganz konfliktfrei, und man ist sich noch nicht einig. Darum ist der Leitfaden jetzt in einem Evaluationsverfahren.
Heinrich Gugerli: Wir haben gestritten, aber das war eigentlich gut.
TEC21: Die Denkmalpflege scheint in diesem Konflikt momentan eher in der Defensive zu sein?
Jan Capol: Nein, das ist nicht so. Dass die Denkmalpflege etwas verhindere, ist europaweit ihr Ruf, er gehörte schon immer zu ihr. Nach dem 11. 9. 2001 war Sparen angesagt, und es gab eine schriftliche Anfrage, ob man die Denkmalpflege in Zürich einstellen könne, sie verbrauche zu viel Geld. Da konnten wir antworten: Das Geld, das wir verbrauchen, entspricht kaum der Portokasse der Stadt – und der Bauherren übrigens auch. Nicht einmal zehn Prozent der Gebäude der Stadt Zürich sind im Inventar, dort reden wir mit. Schaut man, wie viele Solaranlagen wir abgelehnt haben, ist das ein sehr kleiner Teil.

Städtebauliche Gesamtwirkung

TEC21: Unsere anfänglich formulierte Sorge bezieht sich nicht unbedingt auf die geschützten Bauten, sondern vor allem auch auf die rund 90 % der Bauten, die nicht geschützt sind.
Peter Ess: Die oben erwähnten drei Punkte unserer Grundhaltung gelten ganz besonders für diese Bauten. Wir pflegen die Bausubstanz nicht, weil und wenn es die Denkmalpflege von uns verlangt, sondern weil wir uns als Architektinnen und Architekten eigenständige Überlegungen zu einem Gebäude und seinem Kontext machen. Das gehört zu unserer Kultur.
Heinrich Gugerli: Bei den Minergie-Sanierungen der Wohnsiedlungen Heumatt und Heuried aus den 1970er-Jahren haben wir der Gestaltung hohe Priorität beigemessen. Im Heuried wurde ein Studienauftrag für die Neugestaltung der Fassade veranstaltet, und auch im Gesamtleistungswettbewerb für die Heumatt war die Gestaltung ein wichtiger Teil. Wenn man die Gebäude schon einpackt, muss man ihnen auch ein neues Gesicht geben.
Peter Ess: In den Kern- und Quartiererhaltungszonen redet die Denkmalpflege allerdings auch mit. Sie hat viel mehr steuernde Wirkung als nur in den paar Prozent geschützter und unbestrittener Schutzobjekte.
Jan Capol: Ja, das stimmt. Aus städtebaulicher Sicht ist das ein Glück. Allerdings beraten wir hier die Bauherren lediglich, wie sie die vom kantonalen Planungs- und Baugesetz geforderte ‹gute Gesamtwirkung› erreichen können. Das ist etwas anderes als bei den Schutzobjekten, wo wir Auflagen machen; da unterscheiden wir unsere Rollen klar. Ich schlage aber vor, nicht von einem Konflikt zwischen Energiesanierung und Denkmalpflege zu sprechen, sondern zwischen Energiesanierung und Städtebau. Denn die weniger als 10 % inventarisierter Objekte sind ein kleiner Teil. In den Quartieren aus der Nachkriegszeit, wo jetzt die grossen Sanierungen anstehen, gibt es davon fast keine. Es geht also vor allem um städtebauliche Anliegen.
Peter Ess: Und hier stellt sich die Frage, wie ‹gute Gesamtwirkung› definiert wird. Der Ehrgeiz, die Architektur auf höchstem Niveau zu erhalten, ist in Zürich enorm gross. Ich finde, dass die Spielräume in Situationen, die mit Denkmalpflege im engeren Sinn nichts zu tun haben, etwas gar eng sind. Wenn die Nachhaltigkeit jetzt einen höheren Stellenwert hat, müsste man vielleicht etwas kulanter sein.

Kompromisse oder klare Entscheidung?

TEC21: Besteht in der Güterabwägung wirklich ein harter Gegensatz zwischen Ökologie und Städtebau? Lässt sich nicht, wenn man früh genug zusammen eine Lösung sucht, beides widerspruchsfrei verbinden?
Jan Capol: Es gibt Fälle, wo wir uns einigen, Kompromisse schliessen und beide Seiten mit der Lösung zufrieden sind. Aber es gibt auch Fälle, wo man sich entscheiden muss. Heinrich Gugerli: Es gehört zum Wesen der Nachhaltigkeit, dass man nicht alle Aspekte erfüllen kann, sondern Zielkonflikte entscheiden muss. Wichtig finde ich, dass diese Konflikte frühzeitig auf den Tisch kommen. Aber nicht immer ist Zufriedenheit in allen Bereichen erreichbar.
Ueli Lindt: Bei Bauten, die ein eindeutiges Primat haben, sei es im Hinblick auf ihre historische Bedeutung oder im Hinblick auf ein Energiesparpotenzial, ist es einfacher. Da lässt sich ein Konzept machen, das eine eindeutige Richtung definiert. Schwierig wird es, wenn diese Frage unentschieden ist. Ich bin deshalb nicht so sicher, ob der Kompromiss immer die beste Lösung ist, oder ob er nicht unter Umständen faul ist, sodass am Schluss weder die Denkmalpflege noch die Energiefachleute befriedigt sind.
Peter Ess: Man darf den Kompromiss nicht negativ besetzen. Unser ganzes Staatswesen beruht auf diesem Prozess, und wir sind bisher nicht so schlecht gefahren damit. Bauen ist grundsätzlich nie widerspruchsfrei. Es gilt immer zu klären, welche Anliegen wie weit und mit welchem Aufwand zu erfüllen sind.
Sandra Zacher: Und die Güterabwägung findet ja nicht nur zwischen Energieverbrauch und historischem Wert statt. Es kommen noch viele weitere Ansprüche hinzu.
Urs Baur: Wichtig für eine befriedigende Güterabwägung ist es jedenfalls, dass der denkmalpflegerische Wert und der Schutzumfang ganz am Anfang geklärt werden. Dass während der Planung – oder gar auf der Baustelle – keine Grundsatzdiskussionen mehr geführt werden müssen.

Kleinere Eingriffe bei flexiblerer Nutzung

Sibylle Bucher: Im Grund haben doch Denkmalpflege und Nachhaltigkeit auch gemeinsame Interessen: Je weniger man baut, umso nachhaltiger. Vielleicht müsste man sich mehr darauf zurückbesinnen. Jedes Gebäude hat ein Wesen, eine Struktur und ein Potenzial. Wenn man Ernst machen will mit der gesamtheitlichen Betrachtung, müsste man vermehrt eine Idee entwickeln, die zum spezifischen Gebäude passt. Das hier diskutierte Problem entsteht vor allem, wenn man eine Nutzung über das Gebäude stülpt, das man eigentlich am liebsten neu bauen möchte, und dann radikal saniert, sodass vom ursprünglichen Geist viel verloren geht.
Peter Ess: Dieser Wunsch ist in unseren drei Punkten enthalten. Wir klären immer ab, was ein Gebäude hergeben kann. Jeder Eingriff, den man nicht machen muss, ist eine gute Massnahme. Das gehört zu unserem Denken. Wenn wir die ursprüngliche Substanz eines Gebäudes weitestgehend respektieren können, indem wir einen Nutzer suchen, der zum Gebäude passt, erreichen wir drei Dinge: Wir haben den kleinstmöglichen Substanzverlust – das ist im Interesse der Denkmalpflege –, den grösstmöglichen Nutzen für die künftigen Nutzer und die kleinstmögliche Investition.
Sandra Zacher: Das heisst, man sollte an allen Rahmenbedingungen schrauben können, auch bei der Nutzung.
Ueli Lindt: Im Spannungfeld zwischen Städtebau und Ökologie ist der Nutzer einer der wichtigsten Akteure. Beim Schulhaus Milchbuck etwa forderte das Schulamt, dass Wände verschoben werden, um die Schulzimmer zu vergrössern.
Sibylle Bucher: Ja, hier haben die städtische Immobilienbewirtschaftung als Bestellerin, das Amt für Hochbauten und die Denkmalpflege aufgrund der Anforderungen des Schulamts einen Kompromiss ausgehandelt. Als wir als Architekturbüro hinzukamen, stand dieser Kompromiss bereits fest. Doch als wir vorschlugen, weniger in die Substanz einzugreifen, stellten wir fest, dass die Unsicherheit, wie mit dem Gebäude umgegangen werden soll, nach wie vor gross war – beispielsweise wünschte sich die Lehrerschaft eigentlich ein neues Gebäude. Aufgrund dieser Uneinigkeit entstanden in der weiteren Bearbeitung oft Konflikte über Details. Zum Beispiel war viel zu lange unklar, ob die Fenster erhalten oder ersetzt werden mussten und welches Material zum Einsatz kommen durfte. In so einer Situation wäre eine Task-Force hilfreich, die gemeinsam entscheiden kann. Ueli Lindt: Es ist eigentlich die Kernaufgabe des Amts für Hochbauten, alle Projektbeteiligten vor Beginn der Projektierung auf eine gemeinsame Zielvorstellung zu fokussieren, die sie mit Begeisterung tragen. Das klappt manchmal sehr gut und manchmal weniger gut. Je komplexer ein Projekt ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Partei später von der gemeinsamen Zielformulierung wieder abdriftet.
Sibylle Bucher: Ich wünschte mir, dass dabei ein Handbuch, eine Art ‹Bibel›, ausgearbeitet würde, die die angemessenen Lösungen für diesen spezifi schen Bau für alle verbindlich festlegt.
Ueli Lindt: Solche ‹Bibeln› erarbeiten wir tatsächlich im Rahmen der gemeinsamen Zielformulierung. Sie können viele Konflikte ausschliessen oder zumindest offenlegen. Beim Schulhaus Milchbuck gab es aber leider nur eine schmale Machbarkeitsstudie.
Heinrich Gugerli: Manchmal sind den Beteiligten auch einfach nicht alle Konsequenzen bewusst, die ein bestimmter Entscheid haben wird. Vermutlich war beim Milchbuck- Schulhaus nicht allen klar, dass man die Decken so stark verstärken bzw. sie ersetzen muss, wenn die Wände verschoben werden. Auf der Baustelle sah man dann, dass der Eingriff schon fast erschreckend tief war.
Sibylle Bucher: Nachdem die Vergrösserung der Schulzimmer einmal beschlossen war, sehe ich es als Beitrag an die Nachhaltigkeit, die Decken so zu verstärken, dass die Nutzbarkeit stark erhöht wird. Bei künftigen Umnutzungen können nun ohne grosse Eingriffe auch Wände verschoben werden.
Peter Ess: Es ist aber genau diese Eingriffstiefe, die ich kritisieren möchte! Es gibt einen Fetischismus der Raumoptimierung, der versucht, den hintersten Quadratmeter noch optimal zu nutzen. Damit ruiniert man viel Substanz. Man hätte dieses Schulhaus auch mit einer Klasse weniger belegen und einen Teil der alten Klassenzimmer als – etwas zu gros se – Gruppenräume nutzen können. Statt Wände um einzelne Meter zu verschieben, um exakt die rationellste oder eine bestimmte Normraumgrösse zu treffen, wäre es in bestehenden Bauten oft sinnvoller, sich etwas mehr Raum zu leisten als nötig. Das würde Geld sparen, denkmalschutzwürdige Substanz schonen und die Stoffflüsse klein halten. Hier liegt ein ganz wichtiges Potenzial für einen schonenden Umgang mit Gebäuden. Viele Nutzer und Bauherren stützen sich noch zu einseitig auf die reine Optimierung des genutzten Raums pro investierten Franken. Wir müssen den Bestellern und Nutzern immer wieder sagen: Ihr müsst euch mit eurem Betriebskonzept im Potenzial dieses Gebäudes bewegen, sonst wird die Umnutzung zu aufwendig. Das ist eine permanente Auseinandersetzung.
Sibylle Bucher: Sie wäre einfacher, wenn alle Beteiligten Spezialisten im Umgang mit historischem Baubestand einsetzen könnten. Es würde sich lohnen, dieses Spezialwissen stärker aufzubauen, denn mehr als die Hälfte des Bauvolumens ist heute Umbau, und der Anteil wird noch stark wachsen.
Urs Baur: Eigentlich müsste man das Potenzial eines Gebäudes viel freier abklären können: Was für eine Nutzung ist hier möglich, und was kann das Gebäude nicht erfüllen? Peter Ess: Die städtische Immobilienbewirtschaftung hat diesen Auftrag schon. Aber beim Schulhaus Milchbuck waren diese Raumoptimierungen für sie strategisch wichtig, und sie hat sich damit beim Stadtrat durchgesetzt. Es war ein qualifizierter politischer Entscheid für die grosse Eingriffstiefe.
TEC21: Wären die scheinbar widersprüchlichen Anliegen von Ökologie und Städtebau einfacher unter einen Hut zu bringen, wenn man bei den Vorstellungen über die Nutzung flexibler wäre? Alle: Ja, sicher.
Peter Ess: Hier liegt für uns ein Schlüssel zu wirklich nachhaltigen Umnutzungen. Ich glaube, darüber besteht an diesem Tisch ein Konsens.
Sandra Zacher: Leider werden Betriebskonzepte meist entworfen, bevor aus der baulichen und denkmalpflegerischen Analyse eine bestimmte Haltung gegenüber dem umzubauenden Gebäude erarbeitet worden ist. So entstehen Wünsche, für die sich das Gebäude gar nicht eignet.
Heinrich Gugerli: Beim Amtshaus Parkring gelang es, das bewusst zu machen. Hier wurde die originale kleinteilige Raumstruktur mit Einzelbüros erhalten und von den Nutzenden des Schul- und Sportdepartements akzeptiert, obwohl urprünglich Grossraumbüros geplant waren.

Labels und graue Energie

Sibylle Bucher: Substanz erhalten ist nachhaltig und vernünftig: Um mehr Respekt vor dem Bestehenden zu gewinnen, wäre es vielleicht wünschbar, einen Malus einzuführen für abgebrochene Anteile. Oder anders herum: Ich habe mir auch schon gewünscht, dass das Baumaterial viel teurer würde, damit wir eine ökologische Kostenwahrheit beim Material hätten und bestehende Teile eher weiterverwenden würden.
TEC21: Was können hier die Energie-Labels beitragen?
Peter Ess: Die Labels waren wichtig, damit ökologisches Bauen breite politische Akzeptanz fand. In der Praxis muss aber bei jedem Bauprojekt mit gesundem Menschenverstand der Ertrag am Aufwand gemessen werden. Zum Aufwand gehört auch der Verlust an vorhandener Bausubstanz. Für jedes Anliegen den Punkt zu suchen, wo sich noch mehr Aufwand nicht mehr lohnt – das ist der nötige Optimierungsprozess.
Heinrich Gugerli: Die Labels sind für uns ein Behelf, um zu Benchmarks zu kommen und vergleichen zu können. Aber die letzte Kommastelle ist am Ende nicht entscheidend. Wenn es um die Eingriffstiefe geht, muss man über die graue Energie reden, über den Energieaufwand zur Produktion des neu verwendeten Baumaterials und zur Entsorgung des Abbruchmaterials. Die Labels Minergie und Minergie-P berücksichtigen die graue Energie nicht. Erreicht ein renoviertes Gebäude die geforderte Energiebilanz, wird es mit dem Label ausgezeichnet, egal welcher bauliche Aufwand dafür betrieben wurde. Nur beim Label Minergie eco fliesst die graue Energie mit ein. Minergie eco gibt es jedoch erst für Neubauten, noch nicht für Sanierungen – das Problem ist die Berechnung der grauen Energie. Bereits liegen die Resultate eines Forschungsprojekts zu einem Nachweisverfahren für Minergie-eco-Modernisierungen vor, sodass in ein bis zwei Jahren das Minergie-eco-Label für Sanierungen eingeführt werden könnte.
Ueli Lindt: Neben den Labels gibt es auch andere Werkzeuge wie den Energieeffi zienzpfad des SIA, der die graue Energie und auch die Mobilität mit berücksichtigt.
Heinrich Gugerli: Das Verfahren zur Ermittlung der Grauen Energie wird demnächst in Form des SIA-Merkblattes 2032 veröffentlicht, an dessen Entwicklung die Stadt Zürich sich aktiv beteiligte. (Siehe TEC21 H. 8/2008)
TEC21: Damit würde Sibylle Buchers Wunsch nach Materialkostenwahrheit ein Stück weit erfüllt, und auch das Anliegen von Peter Ess, verhältnismässige Eingriffstiefen zu wählen, dürfte mit diesem Instrument einfacher werden.
Jan Capol: Von Ökologen wie Ökonomen höre ich aber immer, ein Haus abzubrechen und neu zu bauen, brauche zwar viel Energie, spiele aber gemessen am gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes fast keine Rolle. Relevant sei der Energieverbrauch in der Betriebsphase. Wenn das stimmt, dann geht es – trotz Berücksichtigung der Grauen Energie – eben doch um Werthaltungen: um die politische Frage, auf welche baulichen Zeugen die Gesellschaft verzichten und welche sie erhalten will – auch wenn sie vom Gesamtenergieverbrauch her suboptimal sind.
Heinrich Gugerli: Auch aus rein energetischer Sicht braucht es ein Abwägen. Beide Strategien können sinnvoll sein, wenn sie sorgfältig durchdacht sind: Ersatzneubauten brauchen viel mehr Graue Energie, dafür reduzieren sie Betriebsenergie. Bei Sanierungen ist es umgekehrt, wobei hier je nach Eingriff eine grosse Bandbreite von Möglichkeiten besteht, die es auszuloten gilt.
Jan Capol: Ich bin froh, das zu hören!
Ueli Lindt: Überlegungen zu den Lebenzykluskosten haben bei Sanierungen in letzter Zeit immer mehr Bedeutung gewonnen. Wir überlegen uns vor einem Eingriff, für welchen Zeitraum er nützlich sein soll und was danach mit dem Objekt passiert. So können wir nicht nur die Bauinvestition optimieren, sondern die Lebenszykluskosten. Über die Endlichkeit von Bauten zu philosophieren, ist aber eine Schwierigkeit in der Diskussion mit der Denkmalpflege.
Peter Ess: Bei der grossen Masse im Wohnungsbau gibt es einen Punkt, wo ein Ersatz vernünftig wird – im Sinn einer volkswirtschaftlich verantwortlichen Pflege des Bestandes. Man muss in jedem Fall sorgfältig und in langfristiger Sicht abklären, ob ein Ersatzneubau oder eine Sanierung nachhaltiger ist.
Jan Capol: Einverstanden. Allerdings müssen bestimmte Bauten, die der Gesellschaft als Zeugen ihrer Geschichte dienen, immer erhalten bleiben.
TEC21: Was kann man tun, um das von Politik und Medien inszenierte Gegeneinander von Ökologie und Denkmalpflege zu überwinden und bewusst zu machen, dass beides Aspekte einer nachhaltigen Entwicklung sind?
Sibylle Bucher: Vielleicht sollte man aktiver gemeinsame Interessen von Denkmalpflege, Nachhaltigkeit und Ökonomie hervorheben, zusammen Arbeitsgrundlagen erarbeiten und die positiven Beiträge herausstreichen, damit die verschiedenen Anliegen weniger gegeneinander ausgespielt werden und nicht der einen Seite die Rolle eines Verhinderers zugeschoben wird. Für eine aktivere Zusammenarbeit sähe ich durchaus noch Potenzial.

TEC21, Mo., 2008.11.03



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2008|45 Ökologie und Baukultur

13. Mai 2008Ruedi Weidmann
TEC21

Max Vogt, SBB-Architekt

Wer in der Ostschweiz Zug fährt, kennt seine skulpturalen Bauten aus rohem Beton: das Zentralstellwerk Zürich, die Bahnhöfe im Limmattal, an den Zürichseeufern und bis hinauf nach Landquart und an den Bodensee.

Wer in der Ostschweiz Zug fährt, kennt seine skulpturalen Bauten aus rohem Beton: das Zentralstellwerk Zürich, die Bahnhöfe im Limmattal, an den Zürichseeufern und bis hinauf nach Landquart und an den Bodensee.

Max Vogt prägte von 1957 bis 1989 als SBB-Architekt die Bahnarchitektur im damaligen SBB-Kreis III und das Corporate Design der SBB. Wie viele Bauten er realisiert hat, weiss niemand. Die wichtigsten davon sind hervorragende Zeugen der «Nachkriegsmoderne» und Denkmäler der Schweizer Baukultur im 20. Jahrhundert. Doch sie sind in Gefahr – weil die Bahn in Bewegung ist. Max Vogt wirkte von 1957 bis 1989 in der Sektion Hochbau der SBB-Kreisdirektion III in Zürich als leitender Architekt, ab 1974 als Sektionschef. Zuvor hatte er 1945–49 an der ETH Zürich bei Friedrich Hess, William Dunkel und Hans Hofmann studiert und danach bei Robert Winkler in Zürich und bei Walter Belart und Hermann Frey in Olten gearbeitet. 1957 meldete er sich auf ein Stelleninserat der SBB.

Mit rund zwanzig Angestellten funktionierte die Sektion Hochbau wie ein Architekturbüro. Sie realisierte rund vierzig Projekte pro Jahr. Als Vogt seine Arbeit aufnahm, hatten die SBB seit Jahren keine architektonisch richtungsweisenden Bauten mehr erstellt. Die Architektur orientierte sich an Konventionen, die schon lange nicht mehr reflektiert worden waren. Seit Mitte der 1920er-Jahre hatten die SBB kaum gebaut, ja nicht einmal die zur Substanzerhaltung ihrer Anlagen nötigen Investitionen getätigt. Das Geld floss vor allem in die Elektrifizierung. Nach dem Krieg bestand deshalb grosser Erneuerungsbedarf; gleichzeitig verdoppelte sich von 1945 bis 1965 der Bahnverkehr. Doch erst zwischen 1955 und 1965 verdreifachten die SBB die Investitionen, nachdem der Bundesrat die gesetzliche Investitionsbeschränkung gelockert hatte. Nun wurden Knotenpunkte erweitert, neue Grenzrangierbahnhöfe erstellt, zahlreiche Strecken auf durchgehende Doppelspur ausgebaut und die Bahnhöfe entsprechend angepasst; neue Stellwerke erhöhten Kapazität und Sicherheit. Die Bauprojekte der Sektion Hochbau waren meist Teil dieser grösseren Programme; Max Vogt übernahm als leitender Architekt sämtliche Neubauten.

Spielräume und Systemzwänge

Bahnbauten waren gewissermassen «exterritorial»: Soweit sie dem Betrieb und der Sicherheit des Bahnverkehrs dienten, galten kommunale Zonenpläne und Bauvorschriften auf Bahnarealen nicht. Nur Bauten oder Bauteile, die nicht Betrieb und Sicherheit dienten, etwa Wohnungen, blieben den Baugesetzen unterworfen und benötigten eine Baubewilligung der Gemeinde. Diese Freiheit des SBB-Architekten wurde allerdings durch technische und bürokratische Zwänge des Grosssystems Bahn eingeschränkt. Die SBB machten zwar keine Stilvorgaben, doch aus Sicherheitsgründen war das Bauen am Gleis reglementiert. Das betraf etwa äussere Abstände, aber auch Innenräume: Die Angestellten eines Bahnhofs verfügten über festgelegte Instrumente, die an vorgeschriebenen Plätzen standen. Sogar die Schubladeneinteilung der Pulte und Schalterkorpusse war normiert, damit «Ambulante» (Ablöser) oder im Notfall einspringende Beamte sich sofort zurechtfanden und die Arbeit aufnehmen konnten. Im Prinzip galt eine gewisse Normierung auch für die Wohnungen. Das Karrieremodell der SBB sah vor, dass die Beamten oft versetzt wurden. Weil ihr Hausrat in jede Dienstwohnung passen musste, durften diese keine ungewöhnlichen Grundrisse aufweisen.

Max Vogts Vorstellung von Architektur gab während seiner gesamten Zeit beiden SBB Anlass zu Konflikten. In seiner Auffassung bildeten Gebäude, Vorplatz, Unterführung, Perronaufbauten, Perrondächer und Beleuchtung eine gestalterische Einheit. Doch eine solche Gestaltung stand quer zur Verwaltungsstruktur der SBB. Die Bauabteilung des SBB Kreises III umfasste neben Vogts Sektion Hochbau sechs weitere Sektionen. Für Planung und Bau der Perrondächer war die Sektion Brückenbau zuständig, für Unterführungen die Sektion Tiefbau, für die Beleuchtung der Gebäude die Sektion Niederspannung und Fernmeldewesen. Die Sektion Fahrleitung platzierte die Fahrleitungsjoche. Die Gestaltung der Aussenräume geschah in Zusammenarbeit mit dem Sachbearbeiter für Strassenverkehrsfragen in der Betriebsabteilung. Die unterschiedlichen Prioritäten der Sektionen waren schwer unter einen Hut zu bringen. Die Kompetenzbereiche waren klar definiert. Eine übergeordnete Rolle des Architekten war nicht vorgesehen. Mit seinen Gesamtentwürfen frass Vogt auf allen Seiten über den Zaun. Das löste Widerstand aus, Vogt galt als Enfant terrible der Bauabteilung. Doch sein Vorgesetzter, Sektionschef Max Fehr, half ihm, seine Bauten zu realisieren. Ohne diese Unterstützung wäre Vogts Schaffen beiden SBB wohl nie fruchtbar geworden. Aber auch von Vogt selbst war viel Überzeugungsarbeit gefragt und manchmal eine gute Portion Sturheit.

Vogt nahm unterschiedlich stark Einfluss auf die Projekte; nicht alle interessierten ihn gleichermassen. Er verteilte die Aufgaben unten den Angestellten, je nachdem, was er ihnen zutraute. Bei weit entfernten Stationen betraute er oft lokale Privatarchitekten mit der Ausführung und machte nur das Vorprojekt selber. Wegen dieser Entwurfspraxis ist Vogts Handschrift an den Bauten der Sektion Hochbau unterschiedlich deutlich, und sein Werk wird deshalb wohl nie eindeutig eingegrenzt werden können. Immerhin ist seine Autorschaft in zahlreichen Fällen belegt. In seinem vor allem in den 1960er- und 70er-Jahren entstandenen Werk finden sich Aufnahme- und Nebengebäude, Güterschuppen und Wohnungen, Stellwerke, Lokremisen, Unterwerke und viele Kleinbauten – die meisten aus Beton, aber auch Hallen aus Stahl und Landbahnhöfe aus Backstein und Holz.

Ölkrise, Denkmalschutz und die Neuerfindung der Bahn

1974 wurde Vogt zum Sektionschef befördert. Danach fand er nur noch selten Zeit zum Entwerfen und musste das Ausführen anderen überlassen; er beschränkte sich auf Vorprojekte und Bauten, die ihm besonders wichtig waren. Gleichzeitig veränderten gesellschaftliche Umbrüche die Rahmenbedingungen für die Sektion Hochbau. Ölkrise und Rezession knickten die Wachstumseuphorie der Hochkonjunktur; auch die Einnahmen der SBB sanken. Das plötzliche Bewusstsein von der Endlichkeit der Ressourcen, der Zerstörung der Natur und der Unwirtlichkeit der Städte zerbrach Gewissheiten, löste politische Unsicherheit und Identitätskrisen aus, verschob Wahrnehmungen, Weltbilder und Werte.

Für die Bahn wurde die Krise zur Chance; sie erfand sich quasi neu. In Zürich entstand das erste S-Bahn-Netz der Schweiz. Max Vogt musste vor allem koordinierende Aufgaben in grossen Projekten übernehmen: Unter seiner Leitung wurde 1976–1980 in Zürich das Aufnahmegebäude von Jakob Friedrich Wanner von 1871 restauriert. Die Bahnhöfe wurden komplexer. Der Flughafen Kloten wurde unterirdisch ans Bahnnetz angeschlossen, im Hauptbahnhof Zürich musste der unterirdische S-Bahnhof Museumsstrasse integriert werden. Bei rasch wachsenden Pendlerzahlen wurde die Kommerzialisierung der Bahnhöfe zum Programm; der «Knoten Zürich» wurde durch verschiedene Privatarchitekten zu einem Shopping- und Dienstleistungszentrum ausgebaut. Vogt musste eine ganzheitliche Gestaltung sicherstellen. Seine Sektion Hochbau organisierte nun vermehrt Wettbewerbe, etwa jenen für den Bahnhof Zürich Stadelhofen, der zum Neubau durch Santiago Calatrava führte. 1989 wurde Max Vogt pensioniert. Er war der letzte bauende SBB-Architekt. Seit 1996 unterliegen die SBB den Vorschriften über das öffentliche Beschaffungswesen und müssen Architekturaufträge ausschreiben.

Poetischer Funktionalismus?

Vogts Werk lässt sich in drei Phasen einteilen: Auf einige frühe, eher feingliedrige Kompositionen wie den Bahnhof Effretikon und das Ablaufstellwerk Buchs SG, in denen jedoch alle späteren Qualitäten bereits angelegt sind, folgt die «Reifeperiode» mit ausdrucksstarken, schweren Betonskulpturen wie dem Zentralstellwerk Zürich, den Bahnhöfen Killwangen- Spreitenbach, Altstetten und zahlreichen Bahnhöfen an den beiden Zürichseelinien. Die Bauten nach 1974 sodann können nur noch teilweise an diese Qualitäten anschliessen, etwa die rund dreissig Gebäude im Rangierbahnhof Limmattal oder der Bahnhof Schwerzenbach. Nun häufen sich Verunklärungen in Formensprache und Materialisierung, die Konstruktionen werden sichtbarer, die Körper lösen sich teilweise auf. Dies betrifft allerdings vor allem die Ausführung, die Vogt nun abgeben musste, und nicht die Funktionalität und Klarheit der räumlichen Organisation auf der Ebene der Vorprojekte, die er weiterhin selber machte. Vorsicht ist bei dieser vorläufigen Einschätzung angebracht, weil zahllose nachträgliche Veränderungen, die oft wenige Jahre nach Fertigstellung einsetzten und deshalb nicht immer sofort als solche erkennbar sind, viele Bauten beeinträchtigen.

Vogts Architektur hat ihre Wurzeln in der modernen Architektur der 1920er- und 30er-Jahre und im Werk Le Corbusiers nach 1945. Vogts Bauten sind Kompositionen aus reduzierten, ineinandergeschobenen Körpern. Die Volumen sind möglichst rein. Die rohen Formen sind vom rechten Winkel dominiert, ohne Details, spröd und rau. Die Wände sind fugenlos, die Konturen hart, die Kanten scharf, ohne Kanthölzer betoniert. Die Fassaden wirken sehr grafisch, vor allem durch die scharfen Schatten tiefer Einschnitte, Vor- und Rücksprünge. Die von Vogt selber ausgeführten Betonbauten sind ausnahmslos monolithisch betoniert. Eine gewisse Verwandtschaft zum britischen «New Brutalism» um 1960 besteht in der Verwendung des rohen Betons, nicht aber in Bezug auf die Transparenz der Konstruktion: Vogt integrierte die Tragstrukturen in die Baukörper.

Aus der Ferne wirken die Betonbahnhöfe hermetisch, undurchdringlich, erinnern an Felsen oder gar Bunker. Doch betritt man sie, überrascht ihre überdurchschnittliche Funktionalität. Eingang, Schalter oder Toiletten findet man auf Anhieb. Es ist hell, wo es Licht braucht, offen, wo man passieren muss, weit, wo Platz gefragt ist. Für Vogt musste ein Bahnhof funktionieren wie ein Uhrwerk. Die einfachen, sauberen Entwürfe sind bis ins Detail durchgezogen; es gibt keinen Sicherungskasten, keinen Blechdeckel, der nicht Teil der Komposition wäre. Vogt entwarf Brunnen und Pflanzentröge aus Beton, Möbel und Leuchten. Es waren immer etwa dieselben, sehr einfachen Formen.

So funktional die Räume sind, ihr Ausdruck erschöpft sich keineswegs im Rationalen. Immer schwingt noch anderes mit – raffinierte Raumverschränkungen, vielfältige Lichteinfälle, überraschende Formen, formale Spannung, ein witziges Spiel mit Mass und Masse. Eine Klassifizierung Vogts als Funktionalist würde die Bedeutung des freien Gestaltens, die skulpturalen Qualitäten und damit gerade das Spezielle an seiner Architektur ausser Acht lassen. Ein angenehmes Raumgefühl rechnete er zu den Bedürfnissen, welche die Bauten zu erfüllen hatten. Für die Wirkung der Räume, ihre Proportionen und Verhältnisse zueinander sowie die Wirkung des Lichts auf das Wohlbefinden der Benutzer galten alte Regeln. Zum Beispiel die, dass man ein Gebäude lieber betritt, wenn auf eine kleine Vorhalle ein grösserer Raum folgt und wenn keine Säule oder Wand im Weg steht. So führen seine Eingänge oft auf ein Fenster zu.

Die Bauten weisen keine durchgehenden Raster auf; Ordnungen bleiben lokal, auf ein Fensterband oder eine Stützenreihe beschränkt. Das Platzieren von Fenstern oder die Einteilung von Stahl-Glas-Fassaden an Schalter- und Wartehallen geschah in freier Gestaltung. Wichtiges Hilfsmittel war der Goldene Schnitt. Doch vieles, was nach freier Gestaltung aussieht, ist bei Vogt noch von einer Funktion abgeleitet. Ein schmales, hochrechteckiges Fenster ist nicht einfach ein formales Element zur Fassadengestaltung, sondern funktional begründet durch ein bestimmtes Licht, das es im Innenraum bewirken muss. Wohn-, Schlafoder Durchgangsräume erhielten deshalb verschiedene Fenster. Vogt gelang es, diesen Nutzen im Inneren mit der angestrebten starken Wirkung gegen aussen zu verbinden.

An Vogts Bahnhöfen war vieles neu – neben Formen und Material auch die Typologie. Die Kompaktheit alter Landbahnhöfe ist aufgelöst, die Funktionen nach Betriebsabläufen, Lärmschutz, Besonnung und örtlichen Bedingungen gegliedert, zum ersten Mal beim Bahnhof Effretikon von 1961. Hier ist der Wohntrakt um 90 Grad vom Bahnlärm weg- und der Sonne zugedreht. Er schwebt aufgeständert über Aufnahme- und Nebengebäude, zwischen denen so eine vier Meter hohe Halle mit gedeckter Vorfahrt entsteht. Die Dachterrassen der Maisonettewohnungen mit Sicht in die Alpen und ein begrüntes Atrium für die Aufenthaltsräume des Personals waren für die SBB revolutionär.

Gesten am Gleis

Zum Entwurfsprozess gehörte für Vogt auch das Ordnen von Funktionen der Umgebung. Abgesehen von der Organisation des Verkehrs betraf das auch ästhetische, städtebauliche Bedürfnisse. Vogt sagt dazu: «Die Strassenseite ist ein räumlich gefasster Platz, die Gleisseite ein linearer Raum ohne sichtbare Enden. Dazwischen steht der Bahnhof – man muss ihn anbinden! Er darf nicht davonfahren! Man muss ihn am Ort, im gefassten städtischen Raum verankern. Wenn es keinen festen Ort gibt, muss man einen schaffen, an dem der Bahnhof verankert ist, damit er an der Gleislinie ein Zeichen, einen Haltepunkt markieren kann.»2 Diese Geste, den Haltepunkt zu markieren, machen Vogts Bahnhöfe auf verschiedene Arten: mit einem Querbau (Effretikon, Buchs SG), einem Tor als Ortseingang (Oberrieden), einer Erhöhung in der Dachkante (Dietlikon) oder einem Kamin als Vertikalakzent (Seebach). Auf der Gleisseite betonen die Bauten die Linearität des Raums. Die Vordachkante von Aufnahmegebäude, Nebengebäude und Güterschuppen bildet eine einzige dynamische Linie mit vertikalen Versätzen, die auf Passagen, Eingänge und Tore weisen.

Vogts Bauten halten stand: im wörtlichen Sinn der starken Beanspruchung durch Bahnbetrieb und Publikum und im übertragenen Sinn dem Zug des linearen Raums oder dem Tempo des vorbeifahrenden Betrachters. Vogt baute seine Bahnhöfe im Hinblick auf die perspektivische Sicht der Passagiere. Für die beabsichtigte Wirkung rechnete er mit den stürzenden Vertikalen und den sich in den Fluchtpunkten treffenden Horizontalen. Ein Bahnhof war für ihn eine durch extreme Perspektiven geprägte, durch Gleise und Fahrleitungen linierte Landschaft. In sie hinein komponierte er seine Volumen, Körper, Skulpturen.

Beton und andere Materialien

Vogt schätzte die plastische Formbarkeit von Beton. Beton war robust und alterte besser als andere Materialien, was bei der grossen mechanischen Beanspruchung durch Publikum und Bahnbetrieb wesentlich war. Schwer Bauen war sinnvoll am Gleis, die Masse minimierte die Erschütterungen durch Loks und Züge, und es passte thematisch zur Bahn mit ihren schweren Lokomotiven, ihren Stützmauern und Brücken aus Beton. Die Eigenschaften von Vogts Architektur – schwer, kraftvoll, robust und gleichzeitig präzis – sind auch die Eigenschaften der Bahn. Seine Bauten können deshalb als «typisch Bahn» gelesen werden und bilden dank ihrem einheitlichen Charakter und ihrer weiten Verbreitung einen Teil des Corporate Designs der SBB.

Ein Ensemble dieser Betonarchitektur entstand rund um das Gleisfeld im Zürcher Hauptbahnhof mit Zentralstellwerk, Betriebsleitzentrale Langstrasse, Stellwerk Nord, TEE-Halle und Wohnhochhaus beim Depot G. Zahlreiche Betonbauten finden sich auch unter den rund dreissig Hochbauten des 1967–1981 erstellten Rangierbahnhofs Limmattal. Zu diesem grössten Ensemble von Vogt-Bauten gehören ein Hauptdienstgebäude mit Büros, Personalräumen, Kantine, Werkstätten und Magazinen, zwei grosse Stellwerke, zwei Einfamilienhäuser mit Dienstwohnungen, eine Wagenreparaturwerkstätte, ein Lokdepot, Güterumschlaghallen, diverse Dienstgebäude und Kleinbauten. Sie sind noch vergleichsweise nahe am Originalzustand.

Beton war aber nicht das einzige Baumaterial, das Vogt auf bemerkenswerte Art einsetzte. Stahlbauten zeigen dieselben entwerferischen Qualitäten. Vor allem frühe Bauten spielen mit starken Materialkontrasten. In ländlichen Gegenden nahm Vogt Rücksicht auf die Umgebung, etwa in Mörschwil oder beim Bahnhof Dietlikon, wo ein Satteldach aus Eternitschiefer über Giebelfeldern aus Lärchenholz und Sichtbacksteinmauern liegt.

Zur Bedeutng von Max Vogts Architektur

Die wichtigsten Bauten von Max Vogt sind Denkmäler der Schweizer Baukultur im 20. Jahrhundert. Sie sind hervorragende Zeugen der «Nachkriegsmoderne», einer unbeschwerten, ungebrochen fortschrittsgläubigen Baukultur während der Hochkonjunktur zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der Ölkrise. In jener Zeit gab es noch kaum Diskussionen um Baukosten oder umweltfreundliches Bauen – und damit mehr Freiheit für die Architekturschaffenden. Seither ist diese Art zu bauen unmöglich geworden. Zahlreiche Auflagen für die Umweltverträglichkeit und eine kritischere Öffentlichkeit haben die Bauplanung komplizierter gemacht. Heute ist der Entwurfsansatz der meisten Architekturschaffenden geprägt von der Suche nach spezifischen Lösungen für jede Bauaufgabe und jeden Ort, nach neuen Formen und Materialien. Max Vogt hingegen hatte ein festes Vokabular, das ihm richtig schien. Auch von dieser vergangenen Kultur fragloser Selbstsicherheit zeugen seine Bauten.

Vogts Arbeitsbeginn beiden SBB fällt mit einem Umbruch in der Schweizer Architekturszene zusammen. In der politisch und militärisch isolierten Schweiz hatten sich die Architekturschaffenden jahrelang auf einen eigenen Weg konzentriert. Vom Krieg verschont und nicht durch ein totalitäres Regime eingeschränkt, konnten sie die moderne Architektur kontinuierlich weiterentwickeln. Nach 1945 fand die Schweizer Architektur in Europa starke Beachtung. Zehn Jahre später wandte sie sich wieder dem Geschehen im Ausland zu.3 Zwischen 1955 und 1960 fand an der Architekturabteilung der ETH Zürich ein Generationenwechsel statt, der zu dieser Öffnung beitrug: Mit Hans Hofmann, Friedrich Hess und William Dunkel (1959) trat die Generation ab, die die gemässigte moderne Architektur der Landi-Schweiz etabliert hatte. Alfred Roth, Albert Heinrich Steiner, Charles-Edouard Geisendorf, Werner M. Moser, Rino Tami und Jacques Schader nahmen ihre Lehrtätigkeit auf. Gleichzeitig begann eine junge Architektengeneration zu bauen, die sich stark am internationalen Architekturschaffen orientierte, insbesondere an den Vorbildern Le Corbusier, Ludwig Mies van der Rohe, Frank Lloyd Wright und Alvar Aalto. Jean Tschumi in Lausanne, das Atelier 5 in Bern, die «Solothurner Schule» am Jurasüdfuss und zahlreiche weitere Architekten schufen die ersten Bauten der sogenannten Nachkriegsmoderne. Vogts Werk, so eigenständig es ist und so unabhängig es entstand, ist Teil dieser Bewegung und war ein wichtiger Beitrag zur kulturellen Öffnung der Schweiz in der Nachkriegszeit.

Zustand und Zukunft der Bauten

Vogts Werk ist durch die fortlaufende Entwicklung der Bahn gefährdet. Wegen der beschriebenen Arbeitsteilung in der Sektion Hochbau sind nicht alle Bauten gleich wertvoll. Doch je mehr vom Gesamtwerk erhalten bleibt, umso grösser bleiben sein Wert und seine Wirkung als Corporate Design der SBB. Einige Bauten wurden in den letzten Jahren sorgfältig renoviert, so die Aufnahmegebäude in Effretikon, Killwangen-Spreitenbach und Altstetten. Der Bahnhof Altstetten ist bisher als einziges Gebäude Vogts in einem Denkmalinventar aufgeführt; unter Schutz steht keines. Viele wurden weniger rücksichtsvoll umgebaut. Denn nach Ablauf der zweijährigen Garantiefrist gingen alle Hochbauten in die Verantwortung der Sektion Bahndienst über, viele wurden vom Bahndienst oder von anderen Architekten umgebaut. Ein Problem ist, dass Vogt in seinen funktional ausgeklügelten Monolithen die damalige Nutzung buchstäblich in Beton gegossen hat. Er hat dabei das Tempo des gesellschaftlichen Wandels unterschätzt. Die Anforderungen an Bahnhöfe haben sich massiv verändert.

Doppelstockzüge benötigen mehr Platz, die Passagiere brauchen Rampen und Lifte, die Bauten eine bessere Isolation. Vor allem aber braucht ein Bahnhof heute kommerzielle Flächen. Die Fernsteuerung der Anlagen hat zwar Betriebsräume überflüssig gemacht, doch sind diese für Läden eher zu klein und zu niedrig. Vogts Solitäre sind nicht für modulare Erweiterungen gedacht. Bei Umbauten müssen tragende Wände durchbrochen, Anbauten erstellt und umlaufende Vordächer abgeschnitten werden, was die sorgfältigen Kompositionen beeinträchtigt.

Ein kritischer Punkt ist das Altern des Betons. Am Bahnhof Altstetten wurde Ende der 1990er- Jahre eine Betonsanierung vorgenommen. Eine versiegelnde Lasur verleiht dem Beton seither einen speckigen Glanz, der dem Bau seine raue, felsige Wirkung und damit einen Teil seiner Eigentümlichkeit und Kraft nimmt. Das zeigt der Vergleich mit Vogts originalen Perrondächern. Noch weiter vom Original entfernen sich die vielen nachträglichen Verkleidungen, sei es mit Aluminium wie bei der Betriebsleitzentrale Langstrasse in Zürich, Holz wie beim Bahnhof Herrliberg-Feldmeilen, Holzzementplatten wie in Seebach, Eternitschindeln am Personalwohnhaus in Ziegelbrücke oder Blech an zahlreichen Bauten. Solche Eingriffe verwischen den monolithischen Charakter der Architektur, die über die Hausecken hinweg aufgebaute formale Spannung und die gewollten Materialkontraste – glücklicherweise sind sie oft reversibel.

Max Vogt hat als hervorragender Architekt und mit zäher Beharrlichkeit gezeigt, welche kulturelle Leistung im Rahmen eines staatlichen Regiebetriebs möglich war. Sein Werk hat das Erscheinungsbild der SBB wesentlich geprägt und ist ein wichtiger Beitrag zur schweizerischen Architektur im 20. Jahrhundert. Sein Stil wurde von Architekten in den Kreisen I und II aufgenommen und hat so das Erscheinungsbild der SBB auch in der West- und Zentralschweiz beeinflusst. Mit ihrer zeitlosen Modernität und ihren dem Wesen des Bahnverkehrs verwandten Qualitäten hat diese Architektur – bewusst gepflegt – auch weiterhin ein grosses Potenzial, die Corporate Identity der SBB zu stärken – und der bahnfahrenden Bevölkerung ein Stück Heimat zu sein.

TEC21, Di., 2008.05.13



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tec21 2008|20 Umsteigen

12. November 2007Ruedi Weidmann
TEC21

Gemeinschaftshäuser in Zürich

Der gemeinnützige Wohnungsbau in Zürich feierte dieses Jahr seinen
100. Geburtstag. Er half im 20. Jahrhundert, das bürgerliche Projekt der individuellen Emanzipation bis in die städtischen Unterschichten zu tragen. Der Weg führte über die Trennung von Arbeiten und Wohnen und von öffentlicher und privater Sphäre. Doch diese Trennung ist ökologisch und sozial nicht nachhaltig und muss nun ihrerseits überwunden werden. Nachhaltigere Lebensformen zu suchen könnte die neue Aufgabe des gemeinnützigen Wohnungsbaus werden.

Der gemeinnützige Wohnungsbau in Zürich feierte dieses Jahr seinen
100. Geburtstag. Er half im 20. Jahrhundert, das bürgerliche Projekt der individuellen Emanzipation bis in die städtischen Unterschichten zu tragen. Der Weg führte über die Trennung von Arbeiten und Wohnen und von öffentlicher und privater Sphäre. Doch diese Trennung ist ökologisch und sozial nicht nachhaltig und muss nun ihrerseits überwunden werden. Nachhaltigere Lebensformen zu suchen könnte die neue Aufgabe des gemeinnützigen Wohnungsbaus werden.

Die Entwicklung des Wohnens in den westlichen Industrieländern im 20. Jahrhundert lässt sich als Teil eines Emanzipationsprozesses beschreiben, als schrittweise Befreiung der Einzelnen aus ökonomischen und sozialen Zwangsgemeinschaften: aus dörflichen Sozialstrukturen und Klientelismus, aus der gewerblichen oder bäuerlichen Grossfamilie, aus patriarchal geführten Industrieunternehmen.1 Das Ideal der bürgerlichen Gesellschaft – das unabhängige, freie, selbstständige Individuum als Subjekt der Demokratie – wurde für immer breitere Schichten erreichbar. Lohnarbeit und Privatsphäre wurden dabei rechtlich, aber auch geografisch immer klarer voneinander getrennt. Bei diesem städtebaulichen Prozess half der gemeinnützige Wohnungsbau mit, und er machte bürgerliche Lebensstandards für Arbeiterschichten zugänglich.

Dieser Emanzipationsprozess verlief in der Schweiz erfolgreich. Doch hat er bis heute nicht alle gleichermassen erfasst. Vor allem die Frauen profitieren bis heute ungenügend; nach wie vor leisten sie viel mehr unbezahlte Arbeit in einer sozialen Abhängigkeitsstruktur, der Familie. Auch baulich ist der Prozess keineswegs abgeschlossen: Die Individualisierung schreitet fort. Mittlerweile besteht über die Hälfte der Haushalte in Zürich aus einer Person. Die Wohnung wird immer grösser; was man zum Leben braucht – Waren, praktische Dienstleistungen, Vergnügen, körperliche Erleichterung und emotionale Hilfe –, kann man auf dem freien Markt kaufen. Doch nicht alle haben das nötige Geld für diesen Lebensstil. Ein Teil der Alleinlebenden sind beruflich und sozial desintegrierte Menschen mit überdurchschnittlichem Sterblichkeitsrisiko – Individualismus wird irgendwann exklusiv.
Der Soziologe François Höpflinger warnt allerdings davor, Einpersonenhaushalte mit Vereinsamung und sozialer Isolation gleichzusetzen. Ein Merkmal vieler Alleinlebender sei
gerade ihre hohe und vielfältige soziale Integration. Im Jahr 2000 beurteilten 59% der Schweizer StimmbürgerInnen Alleinleben als positiv. Der individuelle, emanzipierte Lebensstil ist eine kulturelle Leistung, eine Errungenschaft unserer kapitalistisch-demokratischen Kultur. Er wurde im 20. Jahrhundert möglich dank einer erhöhten Produktivität, wachsendem Wohlstand – und auf der Basis eines massiv gesteigerten Ressourcenverbrauchs pro Kopf.
Die Auftrennung des Lebens in unterschiedliche Sphären und die Professionalisierung und Ökonomisierung (finanzielle Abgeltung) von immer mehr Tätigkeiten war effizient im Hinblick auf Produktivität und Bruttosozialprodukt, nicht aber im ökologischen Sinn. Die Idee, Funktionen wie Arbeiten und Wohnen räumlich zu trennen und die einzelnen Orte für ihren Zweck zu optimieren, schuf «monokulturelle» Stadtteile, Schlafstädte, Büro-Einöden, Altersheime, Shoppingcenter. Das Pendeln dazwischen verbraucht Geld, Zeit, Boden und Energie und verursacht Umweltschäden. Die Trennung der Generationen hat hohe soziale Folgekosten, etwa die Gesundheitskosten, die entstehen, weil die Pflege früher einsetzen muss, wenn Alte und Junge nicht mehr zusammenleben. Anderseits bleiben die Arbeitskraft und Kreativität der Alten ungenutzt. Vielen Kindern fehlen die Grosseltern und vielen älteren Menschen die Enkel, wie die Zürcher Sozialamtsvorsteherin Monika Stocker neulich betonte. Sind die Alleinlebenden glücklich? Oder werden vereinsamende Singles in ineffi­zienten Einpersonenhaushalten zu einem Problem unserer Gesellschaft?

Den Preis für unsere Freiheit kann sich die Welt nicht mehr leisten, weil die Ressourcen schwinden. Vor allem, wenn die Befreiung des Individuums weltweit stattfinden soll, kann unser Modell nicht wegweisend sein. Gesucht ist eine effizientere, ökologischere und sozial nachhaltigere Siedlungsweise. Sie müsste Wohnen, bezahlte und gemeinnützige Arbeit, Konsum und Freizeit sinnvoll organisieren und so einige der grossen Trennungen des 20. Jahrhunderts rückgängig machen, ohne die gewonnene individuelle Freiheit einzuschränken. Wie könnten Siedlungen von morgen aussehen, die den Bedürfnissen nach individueller Unabhängigkeit, nach weiterer Rationalisierung der Haushaltführung und nach Integration und emotionalem Rückhalt in der Gemeinschaft gerecht werden?

Bürgerliche Standards

Vor 100 Jahren ging es im gemeinnützigen Wohnungsbau um solidarische Selbsthilfe und um die Integration der ArbeiterInnen in die bürgerliche Gesellschaft. Die hygienischen und sozialen Standards, aber ebenso das Pflichtbewusstsein des bürgerlichen Lebens sollten auch die breiten Schichten erfassen. Das bedingte eine Disziplinierung der Lebensformen. Wer das Gleiche wollte, musste sich auch an die gleichen Regeln halten. Die Art, wie das Gemeinschaftsleben organisiert wurde, ist deshalb aus heutiger Sicht mit viel Konformitätsdruck verbunden. Die Hausordnungen waren rigid, die sozialen Hierarchien in Genossenschaft und Siedlung deutlich, auch wenn Gleichheit und Solidarität grossgeschrieben wurden. Es herrschten autoritäre Umgangsformen und Gesinnungskontrolle.

Koloniekommissionen und Siedlungsvereine organisierten das soziale Leben. Dazu gehörten gemeinsames Vorlesen und Radiohören im Kolonielokal (in linken Genossenschaften auch politische Schulung), Feste, gemeinsame Ausflüge und jährliche Arbeiten wie Fensterläden waschen. Gemeinschaftsgefühl entstand auch durch die Gleichberechtigung (das Wahl- und Stimmrecht in der Generalversammlung) und die soziale und ideologische Nähe der BewohnerInnenschaft, die das Zusammenleben und nachbarschaftliche Hilfe erleichterte. Fast alle hatten Kinder, die den Kontakt zwischen den Familien schufen. Doch kollektive Wohnformen, etwa gemeinsames Essen, gab es keine. Es war ja neben der Bekämpfung der Wohnungsnot gerade das Ziel des gemeinnützigen Wohnungsbaus, dass die Kleinfamilie als wichtigste Institution der bürgerlichen Gesellschaft in der eigenen Wohnung leben und die Wohngemeinschaft mit Kostgängern und Untermietern hinter sich lassen konnte. Die Förderbestimmungen für den gemeinnützigen Wohnungsbau liessen nur Familienwohnungen zu. Die Architektur und die städtebauliche Anlage der Siedlungen waren – ob Blockrandbebauung oder Reihenhäuser – meist sehr uniform. Sie demonstrierten die Ideen der Gleichheit und der Disziplinierung.

Historische Wohnexperimente

Experimente mit mehr gemeinschaftlichem Leben gab es, doch es waren wenige. 1916 baute eine Handwerkergenossenschaft auf Initiative eines gewissen Oskar Schwank das «Amerikanerhaus» an der Idastrasse. In der Tradition des Wohnbauprojekts «Familistère» des Frühsozialisten Godin in Frankreich plante Schwank ein Einküchenhaus ohne Küchen in den Wohnungen. Die Leute sollten zusammen im Speisesaal im Erdgeschoss essen. Die Wohnungen waren sehr klein, dafür waren die Laubengänge rund um den Innenhof breit genug für Tische. Doch Schwanks Kompagnons scheuten das Experiment, befreiten sich vom Gründer, bauten Küchen ein und verpachteten Saal und «Centralküche» als Restaurant («Ämtlerhalle», heute «Pizzeria Michelangelo»). Trotzdem gab es im Amerikanerhaus mehr gemeinschaftliches Leben als anderswo. Viele Familien trafen sich abends in der «Ämtlerhalle» oder tafelten und musizierten nicht selten auf den Laubengängen.
1927 bauten drei Frauen-Baugenossenschaften mit der Architektin Lux Guyer für alleinstehende berufstätige Frauen, die auf dem freien Markt keine Wohnung fanden, die Siedlung Lettenhof in Wipkingen: vier Häuser mit rund 50 Wohnungen, Gemeinschaftsbad, Gemeinschaftsküche und einem alkoholfreien Restaurant. Eine Hauswartin erledigte allerlei Aufträge für die Mieterinnen. 1928 und 1950 entstanden weitere Häuser. Der Lettenhof existiert bis heute, allerdings ohne Restaurant. In bürgerlichen Stadtteilen entstanden
einige Apartmenthäuser, so 1929 das «Bellerive» am Utoquai mit Hotel, Autogarage und Tennishallen, oder 1934 gegenüber das «Frascati» mit Restaurant und Dienstbotenzimmern. Hier ging es jedoch nicht um Gemeinschaft, sondern um die Entlastung gut verdienender Singles durch Auslagerung von Hausarbeit und deren Ökonomisierung als bezahlte Dienstleistung.

Lockerungen nach dem Krieg

In den 1930er-Jahren entdeckte die Schweiz in Abgrenzung zum totalitären Nationalsozialismus die Vielfalt als das typisch Schweizerische. Nach dem Krieg drehten sich die theoretischen Diskussionen im Städtebau um die Frage, wo der schweizerische Mittelweg liege zwischen dem sowjetischen «Kollektivismus» und dem als zu wenig solidarisch empfundenen «American Way of Life». Die strengen Häuserzeilen lockerten sich allmählich auf; die Stadt Zürich förderte die «gemischte Bauweise». Stadtbaumeister Albert Heinrich Steiner baute 1950–55 die Siedlung «Heiligfeld III» mit den ersten Wohnhochhäusern. Sie war für eine vielfältigere Gesellschaft gedacht als die strenge Architektur der Zwischenkriegszeit.
Intellektuelle Vorreiter – mit dem nötigen Portemonnaie – waren schon weiter: Max Frisch baute ein Ferienhaus im Tessin, mietete eine Wohnung im neuen Hochhaus Lochergut (1966) und dann eine in New York. Schon 1953 hatte er in seinem Hörspiel «Cum grano salis» verkündet, er brauche die Nachbarschaft nicht mehr, er lese seine Freunde lieber selber aus. «... der Mieter-Nachbar ist eine zufällig-erzwungene Nachbarschaft, oft eine sehr flüchtige Nachbarschaft, und meistens wäre es kein menschlicher Verlust, wenn ich diesem Nachbarn nicht in die Küche oder die Loggia sähe. Die Nachbarschaften, die ich brauche, sind die geistig-menschlichen, nicht die Wohn-Nachbarschaften.» «... eine Schnellbahn, die ich von meinem Hochhaus in wenigen Minuten erreiche, wäre mir wichtiger ...»

Revival der Nachbarschaft

Ein Teil der Generation, die in den Siedlungen aufgewachsen war, floh nun aus deren so­zialer Enge. Der Lebensstandard war selbstverständlich geworden, sein Preis, die rigide soziale Kontrolle, wurde als kleinbürgerlich und spiessig empfunden. In den 1970er- und 1980er-Jahren kam es zu einer Gegenbewegung vom Stadtrand zurück in die Kernstadt. Kleine und grosse Wohngemeinschaften erprobten in Abbruchliegenschaften und besetzten Häusern kollektive Wohnformen als Gegenmodelle zum individualisierten, in der Agglomeration verstreuten Familienglück. Die Szene prägte gewisse Quartiere, organisierte Strassenfeste, erkämpfte Wohnstrassen und läutete eine Revival der Wohn-Nachbarschaft ein – urbaner, freier, mit weniger Konformitätsdruck. Aus Hausbesetzungen entstanden neue Einhaus-Genossenschaften, einige schlossen sich ab 1981 in der «Wogeno», einer Genossenschaft selbstverwalteter Hausvereine, zusammen. Sie entwickelten auch neue Architekturen für den gemeinnützigen Wohnungsbau. Der Neubau der «Wogeno» an der Helmutstrasse (aber auch der Brahmshof des evangelischen Frauenbundes) mischten 1991 Wohnen und Arbeiten (Büros, soziale Dienste, Café), und sie durchbrachen mit halböffentlichen Räumen zum ersten Mal wieder die Trennung von öffentlich und privat: Die Laubengänge zu den Wohnungen sind zugleich Terrassen, die man mit den Nachbarn teilen kann. Die grösste Neugründung, die Genossenschaft Dreieck, rang der Stadt 1995 einen ganzen Häuserblock ab und entwickelte ihn zu einem durchmischten Quartierteil (vgl. Tec21 Nr. 6/2006). Das wirkte auf die Genossenschaftsbewegung in der Stadt als Verjüngungskur. Die traditionellen Genossenschaften, die den Gemeinschaftsgedanken schon fast vergessen und seit den 1960er-Jahren keine Gemeinschaftsräume mehr gebaut hatten, nehmen heute, da sie ihre Liegenschaften erneuern müssen, Impulse der jungen auf.

Junge Genossenschaften experimentieren

Einige Pioniere suchen derweil weiter nach der «guten Mischung» aus Unabhängigkeit und Gemeinschaft. In der Genossenschaft «Karthago» leben seit zehn Jahren über 50 Leute in einem Grosshaushalt in einem ehemaligen Bürohaus an der Zentralstrasse, ein Drittel davon sind Kinder. Ein angestellter Koch kocht in der Gemeinschaftsküche fünf Mal pro Woche das Abendessen für alle. Die Warteliste interessierter Mieter ist lang, das Angebot ist attraktiv für alleinerziehende Eltern, für ausländische SpezialistInnen, meist aus dem Finanzdienstleistungssektor, die für ein Projekt nach Zürich kommen, und für Leute in Umbruchsituationen, die sich in der Gemeinschaft neu orientieren können.
Das 2001 bezogene «Kraftwerk1» bietet Wohnraum für rund 240 BewohnerInnen und 90 Arbeitsplätze, Restaurant, Laden, Coiffeur, Krippe, Kindergarten, Waschsalon, Gästezimmer, Werkstatt, Bar und Gemeinschaftsraum auf der Dachterrasse. Gemeinschaft wird in einigen Gross-WG gelebt, in verschiedenen Kommissionen, an der Generalversammlung und in einem Lebensmittelladen, der ungeplant entstand und seit Jahren funktioniert, obwohl er auf Gratisarbeit basiert. Im «Kraftwerk1» kann man ohne weiteres einen zwanglosen Lebensstil führen, das Mass an gemeinschaftlichem Engagement ist frei wählbar.
2007 wurde das kommerzielle Projekt «James» in Altstetten eröffnet. Es enthält 1½- bis 6½-Zimmer-Wohnungen. In der Portierloge sitzt «James» (eine Firma) und bietet Dienstleistungen an. Klassische Conciergedienste wie Post- und E-Shopping-Lieferungen empfangen sind im Mietpreis inbegriffen; individuelle Aufträge wie Auto waschen, Kleider reinigen oder Katze füttern müssen bezahlt werden. Die BewohnerInnen können untereinander über ein Intranet gratis kommunizieren. Ob dies gemeinschaftliche Aktivitäten fördert und der Portier mehr ist als eine Werbeaktion, wird sich zeigen. Eingezogen sind fast nur junge Singles und Paare ohne Kinder.

Ineffizienz

Das Bedürfnis nach Unabhängigkeit und individueller Lebensgestaltung ist seit Frischs Statement noch einmal enorm gewachsen. Die Kultivierung des Privaten geht weiter. Heute dient die Wohnung als Refugium und stabile Basis der eigenen Identität. Sie wird immer teurer und aufwändiger im Unterhalt. Dass pro Person eine Waschmaschine, Geschirrwaschmaschine, Espressomaschine usw. nötig sind, ist höchst ineffizient. Und allein Kochen, Putzen, Waschen, Kinder organisieren, Essen, Kranksein und alle Bedürfnisse nach Kontakt, Hilfe und emotionalem Rückhalt ausser Haus abdecken zu müssen, ist anstrengend. Wächst das Bedürfnis nach kollektiven Wohnformen? Welche Art Kontakt und welchen Grad an Verbindlichkeit wünschen sich und ertragen die Leute heute?

Alterswohnen als Trendsetter

Was gemeinschaftliche Wohnformen anbelangt, tut sich im Bereich Alterswohnen im Moment am meisten – wohl weil hier die Nachteile des Alleinwohnens offensichtlicher sind und weil die Leute, die heute alt werden, sich nicht mehr vorstellen können, in ein konventionelles Altersheim zu ziehen. Zahlreiche Stiftungen und Vereine fördern Wohnprojekte für Alte, und es mehren sich Alters-WG oder -hausgemeinschaften. Ehepaare ziehen nach dem Ausfliegen der Kinder aus dem Einfamilienhaus zurück in die Stadt, wo Läden, Verkehr, Kultur, Dienstleistungen und jüngere Leute in der Nähe sind. Auch kommunale Altersheime und private Seniorenresidenzen werden heute an zentralen Plätzen gebaut und bieten im Erdgeschoss Restaurants, Cafés, Coiffeur und Pflegedienste an. In Zürich Affoltern wird die städtische Stiftung für Alterswohnungen 2009–11 eine Siedlung bauen, die 93 Alterswohnungen mit einer Kinderkrippe und einem Eltern-Kind-Zentrum kombiniert. Die Mischung hat sich auch andernorts schon bewährt (vgl. Tec21 17–18/2006).
Andere Initiativen setzen darauf, die Hilfe zu Hause auszubauen und mit Quartier-Servicezentren zu ergänzen, damit alte Leute möglichst lange in der eigenen Wohnung bleiben können. Das geht leichter in durchmischten Siedlungen. In Zürich verfolgt die Familienheim-Genossenschaft (FGZ) in ihren Siedlungen am Friesenberg konsequent diesen Ansatz. Die Altersbetreuung der FGZ (3.4 Stellen bei ca. 2200 Wohnungen) hilft beim Einkaufen und bei kleineren Problemen im Haushalt. 2001 wurde ein Alterstreffpunkt eingerichtet, der Waschsalon und Beratungsstelle in einem ist. Daneben unterstützt die FGZ eine Krankenstation, Mittagstische, Krippen, Gemeinwesenarbeit im Quartier, und 150 ihrer Mitglieder betreuen gemeinsam elf Kompostanlagen. Die Allgemeine Baugenossenschaft Zürich (ABZ) baut in der Siedlung Ruggächer ein Gemeinschaftshaus für Einzelpersonen und Paare ab 55 mit altersgerechten Wohnungen und Fitnessraum, Pflegebad, Spitex-Zimmer und öffentlichem Café.

Schwung für alle nutzen

Peter Schmid, Präsident der ABZ und der Zürcher Sektion des Verbands für Wohnungs­wesen, will nun diesen Schwung über das Wohnen im Alter hinaustragen und für alle Generationen nutzen. Im Hinblick auf die Erneuerung eines grossen Teils ihrer Häuser hat die ABZ eine intensive Zielgruppendiskussion geführt. Nun setzt sie sich soziale Nachhaltigkeit durch mehr gemeinschaftliche Wohnformen in allen Lebensphasen zum Ziel. Als eines der nächsten Projekte wünscht sich Schmid ein Haus, in das Leute aller Lebensalter und Berufe einziehen, die sich verpflichten, zum Gemeinschaftsleben beizutragen. Den Renova­tionsbedarf vieler Siedlungen sieht Schmid als Chance zur Erneuerung der Genossenschaftsidee: Mit der Förderung von gemeinschaftlichem Leben und der Stärkung der Nachbarschaften könne sie soziales Kapital schaffen und damit zu einer nachhaltigeren Gesellschaft beitragen. Vieles deutet darauf hin, dass in nächster Zeit der sozialen Nachhaltigkeit mehr Aufmerksamkeit zuteilwerden wird – denn der Weg zur ökologischen könnte über sie führen. Gesucht sind zeitgemässe gemeinschaftliche Lebensformen – und die architektonischen Formen dafür. Der gemeinnützige Wohnungsbau eignet sich dank seiner baulichen und politischen Struktur als Labor für diese Suche, und er könnte darin seine neue historische Aufgabe finden.

TEC21, Mo., 2007.11.12



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2007|46 Siedlungsplanung

24. Februar 2006Ruedi Weidmann
TEC21

Beobachten, wie Schlieren baut

In Schlieren hat eine fotografische Langzeitbeobachtung begonnen. Das Forschungsprojekt der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich soll systematisch registrieren, wie sich die Agglomerationsgemeinde im erwarteten Entwicklungsschub in den nächsten 15 Jahren verändert. Die Arbeit kann im Internet verfolgt werden.

In Schlieren hat eine fotografische Langzeitbeobachtung begonnen. Das Forschungsprojekt der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich soll systematisch registrieren, wie sich die Agglomerationsgemeinde im erwarteten Entwicklungsschub in den nächsten 15 Jahren verändert. Die Arbeit kann im Internet verfolgt werden.

Wer in Schlieren, der westlichen Nachbargemeinde von Zürich, aus dem Bus steigt, findet sich in einem äusserst merkwürdigen Ortszentrum wieder. 13000 Leute sollen hier leben. Aber wo? Eine öde Wiese wird von einem Strassenring umrundet, einige Kleinbauten stehen wie vergessen im Verkehrslärm zwischen Abzweigespuren und Strassenstummeln. Die wohnlichen Teile Schlierens liegen hinter Lärmschutzwänden und Industriearealen versteckt.

Verkehrswunden heilen

Mit dem Eisenbahnbau entstand neben dem Bauerndorf die Metallarbeiterstadt Schlieren. Auf beiden Seiten der Gleise wuchsen Industriequartiere und trennten die Wohnquartiere im Norden und im Süden voneinander. Als 1970 die Achse Zürcher-/Badenerstrasse auf vier Autospuren verbreitert wurde und der Verkehr auch auf der Bernstrasse zunahm, wurde die Stadt noch stärker in mehrere Teile zerschnitten. Die Industriegebiete wurden nie ganz überbaut. Ab den 1980er-Jahren verödeten weitere Teile davon, in anderen ersetzten allmählich Bürobauten, Lagerhallen und Auto-Occasionshändler die Fabriken. Es entstand ein löchriger Flickenteppich, für Fussgänger beschwerlich, städtebaulich disparat und sozial zunehmend segregiert. In den Medien wird Schlieren heute als einer der hässlichsten Orte im Land gehandelt.
Doch Schlieren hat durchaus Trümpfe: seine intakten Wohnquartiere, attraktive Naherholungsgebiete - und viel Bauland an zentralen Lagen. Der Stadtrat will sie endlich ausspielen. 2004 liess er ein Stadtentwicklungsleitbild erarbeiten (vgl. Plan S.8-9). Auf dieser Grundlage lobte er 2005 einen Wettbewerb zur Umgestaltung des Zentrums aus, den das Planungsteam weberbrunner architekten, Zürich, Kuhn Truninger, Zürich, und asa, Uster, gewannen (tec21 9/2005). Der auf den ersten Blick unspektakuläre Vorschlag eröffnet mit einer Verlegung der Hauptverkehrsachse in der schwierigen Situation viel Potenzial. Diese Zentrumsplanung wird derzeit konkretisiert. Daneben bearbeitet die Abteilung Bau und Planung der Stadtverwaltung, ebenfalls auf der Basis des Stadtentwicklungsleitbilds, über ein Dutzend grössere Bauprojekte, Planungen und Arealentwicklungen mit Zeithorizonten zwischen 0 und 15 Jahren (vgl. Plan S.8). Zusammen machen sie laut Stadtingenieur Manuel Peer rund ein Viertel der gesamten Bauzone aus. Schlieren steht vor einem Entwicklungsschub. Geht es nach dem Willen der Behörden, wird in den nächsten 15 Jahren im Zentrum eine dichte Wohn- und Arbeitsstadt mit Wohnanteilen über 60% entstehen. Die Verkehrsführung soll umgekrempelt werden (vgl. Artikel S.17), und auf den Industriebrachen im Westen, Norden und Osten sind gemischte Überbauungen mit ebenfalls hohen Wohnanteilen in Planung. Arbeits-, Wohn- und Lebensqualität sollen sich verbessern und damit auch das Image der Stadt.

Die Veränderung des Raums festhalten

Das fotografische Forschungsprojekt der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich wird in den nächsten 15 Jahren genau beobachten, wie sich diese Projekte und die Massnahmen im Stadtentwicklungskonzept auf den Lebensraum auswirken. Dabei fokussiert es auf den öffentlichen Raum und seine Veränderung. Es soll so aufzeigen, wie sich räumliche Entwicklungen in Agglomerationsgebieten abspielen und inwiefern sie durch Planung gesteuert werden können.
Ulrich Görlich und Meret Wandeler, die das Projekt initiiert haben, wollen damit Methoden zum Einsatz der Fotografie als Wahrnehmungs- und Analyseinstrument für die Raumbeobachtung entwickeln, die auch an anderen Orten benutzt werden können. Den Planern soll das Projekt als Monitoring ihrer Arbeit dienen und Material zur Weiterentwicklung des Instruments Stadtentwicklungskonzept liefern. Schlieren mit seinem für die Agglomeration typischen heterogenen öffentlichen Raum eignet sich als Labor. Die Gemeinde erhält mit den Bildern ein anschauliches Mittel zur Erläuterung der Planungsanliegen an Bevölkerung und Wirtschaft. Als fotografische Ortsgeschichte wird die Dokumentation auch zur Geschichtsschreibung der Alltagskultur in der Agglomeration beitragen. Für ihr eigenes Fach wollen die Fotografen ästhetische und technische Strategien zur Beobachtung räumlicher Prozesse prüfen und möglicherweise auch zur Weiterentwicklung der zeitgenössischen Stadt- und Landschaftsfotografie beitragen.

Sinnlicher Zugang zu Planung

Erstaunlich: Aus den Diskursen über Siedlungsentwicklung ist der Begriff «Bild» nicht wegzudenken, und bei der Vermarktung von Bauland und Immobilien spielen Bilder eine zentrale Rolle. Doch zur Beobachtung und Analyse räumlicher Prozesse werden Bilder in der Schweiz kaum gezielt eingesetzt. Dabei können Fotoserien Entwicklungen sehr einfach darstellen. Das Medium mit seinem spezifischen Realitätsbezug erlaubt es, die im Alltag kaum wahrnehmbare Siedlungsentwicklung, die sich aus mehreren Prozessen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten zusammensetzt, sinnlich erfahrbar zu machen. Es ermöglicht insbesondere die Darstellung ästhetischer Aspekte, die für das Wahrnehmen und Erleben des Raums, für den emotionalen Bezug zu einem Ort, essenziell sind, aber mit den üblichen Darstellungsformen der Planung (Pläne, Daten, Statistiken) nicht vermittelt werden können. Damit soll das Projekt auch helfen, eine breitere Öffentlichkeit für die Anliegen von Stadtplanung und Agglomerationspolitik zu sensibilisieren.

Die fotografische Methode

In der soeben abgeschlossenen ersten Phase des Projekts wurde anhand der ersten Aufnahmenserie die Methode entwickelt. Damit das Projekt von wechselnden Fotografen durchgeführt werden kann, wurde genau festgelegt, wie fotografiert wird. Ausgehend vom heutigen Zustand und den Themen und Zielen des Stadtentwicklungskonzepts wurden zunächst die Gebiete festgelegt, die beobachtet werden sollen. Abgedeckt werden alle wichtigen Entwicklungsgebiete sowie die Vielfalt der Situationen: zentrumsnahe und periphere Areale, leere und noch genutzte Baugebiete, öffentliche Räume, die aufgewertet werden sollen, aber auch intakte Quartiere ohne Projekte, in denen möglicherweise Auswirkungen der kommenden Entwicklung zu beobachten sein werden. Je nach Entwicklungstempo werden die Orte alle zwei oder alle fünf Jahre wieder fotografiert.

Übersichten

Es werden zwei Arten von Aufnahmen gemacht: Übersichten und Detailbilder. Sie entsprechen zwei verschiedenen Sichtweisen. Die Übersichten werden immer vom gleichen, genau vermessenen Standort aus aufgenommen, und zwar waagrecht, vom Stativ auf Augenhöhe (1.70 m), mit einem Weitwinkelobjektiv und bei gleichmässigem Licht (keine Sonne). Der
Standort muss im Bild nachvollziehbar sein und sich auf öffentlichem Grund befinden. Die Übersichten erfassen die ausgewählten Gebiete aus verschiedenen Richtungen; insgesamt sind es rund 60.
Die Übersichten zeigen Ensembles aus Gebäuden, Strassen und Freiräumen. Auf den ersten Blick wirken sie leer. Sie schauen von Arealgrenzen oder Platzrändern her in den weiten, tiefen Raum, in dem Veränderungen erwartet werden. An den Bildrändern werden Dinge angeschnitten: Arealgrenzen, Randsteine, Rabatten, Gartenmauern oder Hausecken. Sie deuten die Fortsetzung des abgebildeten Raums ausserhalb des Bildes an und enthalten kleine Zeichen, die wesentliche Informationen über den Kontext, die Nutzung und den Zustand eines Ortes liefern. Die Auflösung der Bilder ist mit 8 Mio. Pixel so hoch, dass diese Details deutlich sichtbar sind. Alle zwei oder fünf Jahre werden die Übersichten genau gleich wieder aufgenommen. Mit fortschreitender Bautätigkeit werden sich Teile der Bildausschnitte verändern; die entstehende Sequenz wird die Entwicklung zeigen.

Detailfotos

Die Detailfotos hingegen werden bei sonnigem Wetter mit einer dem Normalobjektiv entsprechenden Brennweite aus der Hand geschossen und haben einen Gegenstand im Zentrum: ein Gebäude, einen Hauseingang, eine Baumaschine, eine Gartenwirtschaft usw. Innerhalb der Areale, die von den Übersichten grossräumig überblickt werden, fokussieren die Detailfotos auf typische Elemente, Orte, Artefakte und Materialien, die für den Charakter und die
Stimmung eines Gebiets bestimmend sind und exemplarisch für die Art seiner Gestaltung. Rund 90 Detailfotos wurden in der ersten Runde gemacht. Sie werden ebenfalls nach zwei oder fünf Jahren wiederholt, jedoch nicht an den exakt gleichen Stellen. Detailfotos werden nicht nur gebietsweise, sondern auch themenbezogen aufgenommen. Diese Serien zeigen beispielsweise Hauseingänge oder Schaufenster in der ganzen Stadt und werden so einmal eine Gesamtentwicklung aufzeigen können.
Zentral für das Projekt ist die Frage, welche räumlichen Veränderungen bewusst wahrgenommen werden und welche sich unterhalb der Wahrnehmungsgrenze abspielen. Die Langzeitbeobachtung stellt prägnante Veränderungen und massive Eingriffe den kleinen, langsamen und kontinuierlichen Veränderungen gegenüber. Sie will so unterschiedliche Tempi verschiedener Prozesse sichtbar machen und zeigen, wie stark auch kleinere Eingriffe den Charakter und die Atmosphäre von Lebensräumen verändern.

Keine Menschen, aber Lebensspuren

Menschen sind auf den Bildern nicht zu sehen. Das scheint im Widerspruch zur Absicht zu stehen, Anknüpfungspunkte für emotionale Bezüge zur Stadt zu erfassen. Doch die Projektentwickler begründen den Entscheid überzeugend: Sobald ein Mensch auf einem Bild ist, lesen wir es als Ausschnitt aus einer Geschichte und interpretieren den Raum in Abhängigkeit von der Figur: Ein frierender Bettler macht eine Gegend kalt und abweisend, ein tanzendes Kind macht sie zum friedlichen Garten. Ein Vergleich der abgebildeten Räume würde so unmöglich.
Hingegen sind die Bilder voller Lebensspuren; die Menschen sind in Zeichen sichtbar. So erlauben etwa die Details in einem Zeitschriftenaushang, auf häufige Nationalitäten und die Altersstruktur des Publikums zu schliessen. Der fotografische Blick konzentriert sich auf die Gestaltung. Er fragt: Wie richten sich die Menschen ein? Wenn in einigen Jahren Sequenzen vorliegen, die den Wandel dokumentieren, dann wird die Lebendigkeit der Räume selber sichtbar werden, die im Alltag unsichtbar ist, weil wir uns jeweils zu schnell an Neuerungen gewöhnen.

Öffentliche Datenbank

Die Fotos werden fortlaufend in einer Bilddatenbank abgelegt, die ab Ende April 2006 über das Internet öffentlich zugänglich sein wird. Zu jedem Bild wird eine genaue Beschreibung verfasst, die den Bestand, die involvierten Akteure und die erwartete Entwicklung umfasst. Die Bilder können nach Gebiet oder nach Thema oder über den Stadtplan aufgerufen werden.
Alle fünf Jahre erfolgt eine Zwischenauswertung aus fotografischer und raumplanerischer Perspektive. 2020 wird die Datenbank rund 800 Bilder umfassen. Nach Abschluss des Projekts sind eine Publikation und eine Ausstellung geplant. Das Schlieremer Bauamt überlegt sich, wie es die Bilder schon vorher für die öffentliche Diskussion der Planung oder etwa auch als Postkarten nutzen könnte.
Ein neuer Blick auf die Agglomeration?
Alles in allem ist die Sichtweise in beiden Bildkategorien nüchtern, neutral und vor allem genau. Das Konzept zwingt zu einer systematischen, möglichst objektivierten Sichtweise. Der Gefahr des subjektiven Blicks beim Fotografieren wird mit den genauen Regeln begegnet, nach denen die Aufnahmen wiederholt werden müssen. Kriterium für die Sujet-Auswahl ist nicht die ästhetische Qualität eines Ortes, sondern sein bauliches Veränderungspotenzial. Das Vorgehen generiert Bilder, die sich - für die Fotografin und den Fotografen überraschend deutlich - von denen unterscheiden, die sie sich bisher von der Agglomeration machten. Frappierend ist beispielsweise, wie die Systematik der Aufnahmen den Charakter der Gebiete verdeutlicht. Jedes Quartier scheint seine eigenen Gestaltungsprinzipien zu kennen. In der umgenutzten ehemaligen Waggonsfabrik gestalten Gewerbebetriebe ihre Aussenräume offensichtlich bewusst für Betrachter, also ihre Kunden (Bilder 11-18). Die spezifischen ästhetischen Merkmale unterscheiden das Areal klar von Schlieren West, wo man sich nicht um ästhetische Kundenwünsche schert - aber durchaus auch gestaltet (Bilder 3-10). Deutlich sichtbar wird auch, was Biologen schon lange wissen, nämlich dass Brachen alles andere als leer sind. Neben Pionierpflanzen und Tieren siedeln hier auch vielfältige Zwischennutzungen.

Was zeigen die Bilder?

Wer wird die Fotos dereinst brauchen? Das scheint heute durchaus offen. Die Stadtplaner wollen sie als Spiegel ihrer Arbeit nutzen und an ihnen in 15 Jahren ihr Stadtentwicklungskonzept überprüfen. Schon jetzt bewirken sie beim Planer Peter Wolf einen Lernprozess: Beim Verfassen der Bildbeschreibungen müsse er genauer als sonst überlegen, was die vorgeschlagenen Massnahmen an den fotografierten Orten konkret bewirken und wann welche Entwicklung möglich sein werde. Auch bei Stadtingenieur Manuel Peer schärfen die Bilder den Blick; spannend werde es ab der zweiten Runde, wenn erste Veränderungen sichtbar werden und man sich und dem Volk Rechenschaft ablegen könne. Gut möglich, dass die Fülle an Informationen auf den Bildern auch Auswertungen zulässt, an die heute noch gar niemand denkt.
Ein Effekt der Bilder könnte auch sein, bewusst zu machen, dass sich in Schlieren während des jahrelangen Stillstands auf gewissen Arealen durchaus starke lokale Identitäten entwickelt haben. Vergleicht man die Bilder von improvisierten Gartenwirtschaften und vom Sommerflieder auf den Industriebrachen mit der blechernen Ästhetik in der bereits umgenutzten Waggonsfabrik, wird deutlich, dass die Entwicklung nicht auf leerer Fläche stattfindet, sondern ihren Preis haben wird. Auf den Bildern werden in den nächsten 15 Jahren alle sehen können, wie weit die Stadtplanung greift, was gewonnen wird, aber auch, was in der Euphorie verloren geht.

TEC21, Fr., 2006.02.24



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tec21 2006|09 Schlieren beobachten

16. Dezember 2005Ruedi Weidmann
TEC21

Neuer Kirchturm für Bonstetten

Die katholische Kirche Sankt Mauritius in Bonstetten ZH ist seit mehr als vierzig Jahren im ehemaligen Restaurant «Bahnhof» untergebracht. Nicht selten...

Die katholische Kirche Sankt Mauritius in Bonstetten ZH ist seit mehr als vierzig Jahren im ehemaligen Restaurant «Bahnhof» untergebracht. Nicht selten...

Die katholische Kirche Sankt Mauritius in Bonstetten ZH ist seit mehr als vierzig Jahren im ehemaligen Restaurant «Bahnhof» untergebracht. Nicht selten fanden auswärtige Besucher die Kirche nicht, obwohl sie gleich gegenüber dem Bahnhof steht, denn weder Turm noch Glocken noch Kirchenfenster verrieten, dass der profane Bau sakrales Innenleben birgt. Schon lange wünschte sich deshalb die Gemeinde einen Glockenturm. Als ein Mitglied nun der Kirchgemeinde Glocken stiftete, war das endlich der Anlass für den Bau. Der Zürcher Architekt Thomas Twerenbold, der an der Renovation der katholischen Kirche St.Theresia in Zürich beteiligt war, wurde mit der Planung beauftragt. Diesen Sommer wurde gebaut, Glockenaufzug war im September, und am 6. November wurde der Turm vom Zürcher Weihbischof Peter Henrici eingeweiht.

Liturgisches Leuchten

Der Turm ist als Campanile vom Gebäude abgesetzt. Die allseitig verglaste schlichte Stahlkonstruktion passt sich in Form und Höhe (16 m) in die Bahnhofsumgebung ein: Bescheiden, aber geschickt läutet der neue Turm eine Aufwertung des bisher vernachlässigten öffentlichen Raums ein, der einst vielleicht doch noch ein richtiger Bahnhofs- oder eben Kirchenvorplatz werden könnte.

Der Turm besteht aus vier gleich grossen Kuben. Alle Teile sind verschraubt, sodass er rasch aufgestellt und demontiert werden kann. Die unteren drei Würfel sind mit satinierten Gläsern verkleidet. Je nach Tageszeit und Witterung vermittelt das Glas ganz unterschiedliche Eindrücke: bei Nebel und Feuchte opak, stumpf und weich, in der Mittagssonne hart und klar, bei Sonnenuntergang transluzent, leuchtend.

Der gläserne Glockenturm ersetzt so der profanen Kirche auch die fehlenden Kirchenfenster, erst recht nachts, wenn er von innen farbig beleuchtet wird. Mit LED-Leuchten lassen sich verschiedene Lichtstimmungen in den liturgischen Farben erzeugen: Grün als liturgische «Alltagsfarbe», Violett in der Fasten- und Adventszeit und bei Begräbnissen, Rot an Festtagen und Weiss/Gold an den Hochfesten Weihnachten und Ostern.

Gedämpftes Läuten

Der oberste Würfel, der Glockenstuhl, ist mit Klarglas verkleidet, eine Vitrine, in der der Hauptzweck des Baus, das Läuten, als Schauspiel dargeboten wird. Vier Kreuze aus messingfarben eloxiertem Aluminium, deren Proportionen die Masse der Glasfassade aufnehmen, halten die gläserne Turmstube zusammen. Über Öffnungen im Rahmen lässt sich die Lautstärke regulieren. Der Ton der sieben Glocken ist mit de-nen der reformierten Kirchen in Bonstetten und Wettswil abgestimmt. Auch ein Glockenspiel mit verschiedenen Melodien ist möglich.

TEC21, Fr., 2005.12.16



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