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Texte

14. Oktober 2014Sonja Hildebrand
Neue Zürcher Zeitung

Nachdenken über Architektur

Der geniale Architekt Gottfried Semper hat neben seinen Bauten in Dresden, Zürich, Winterthur und Wien ein riesiges theoretisches Werk geschaffen. Dieses ist nun in einem exzellenten Reprint greifbar.

Der geniale Architekt Gottfried Semper hat neben seinen Bauten in Dresden, Zürich, Winterthur und Wien ein riesiges theoretisches Werk geschaffen. Dieses ist nun in einem exzellenten Reprint greifbar.

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10. August 2010Sonja Hildebrand
Neue Zürcher Zeitung

Mit Künstlern bauen

Die Avantgarde der modernen Architektur forderte den Kunstverzicht. Doch schon der Zürcher Meisterarchitekt Karl Moser (1860–1936) setzte sich über die programmatische Forderung hinweg. Nach seinem Vorbild spannen heute Architekten häufig mit Künstlern zusammen.

Die Avantgarde der modernen Architektur forderte den Kunstverzicht. Doch schon der Zürcher Meisterarchitekt Karl Moser (1860–1936) setzte sich über die programmatische Forderung hinweg. Nach seinem Vorbild spannen heute Architekten häufig mit Künstlern zusammen.

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24. Februar 2009Sonja Hildebrand
Neue Zürcher Zeitung

Bedrohtes Hauptwerk der Nachkriegsmoderne

Blumberg ist ein kleiner Ort im Südschwarzwald. In Architektenkreisen steht sein Name für die Taschentuchweberei, die Egon Eiermann dort 1951 errichtete. Vor wenigen Monaten wurde die mit Wellasbestzementplatten verkleidete Fabrikationshalle zum Abbruch freigegeben.

Blumberg ist ein kleiner Ort im Südschwarzwald. In Architektenkreisen steht sein Name für die Taschentuchweberei, die Egon Eiermann dort 1951 errichtete. Vor wenigen Monaten wurde die mit Wellasbestzementplatten verkleidete Fabrikationshalle zum Abbruch freigegeben.

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04. Juli 2008Sonja Hildebrand
Neue Zürcher Zeitung

Auf Wiedersehen am Heimplatz

Im Juni 1958 erhielt das Kunsthaus Zürich mit dem Bührle-Saal seinen bis heute markantesten Erweiterungsbau. Als neutrale Raumhülle für Wechselausstellungen bildet er ein Erfolgsmodell. Die Entstehungsgeschichte des von Hans und Kurt Pfister entworfenen Gebäudes war von jahrelangen Auseinandersetzungen um die architektonische und städtebauliche Gestaltung begleitet.

Im Juni 1958 erhielt das Kunsthaus Zürich mit dem Bührle-Saal seinen bis heute markantesten Erweiterungsbau. Als neutrale Raumhülle für Wechselausstellungen bildet er ein Erfolgsmodell. Die Entstehungsgeschichte des von Hans und Kurt Pfister entworfenen Gebäudes war von jahrelangen Auseinandersetzungen um die architektonische und städtebauliche Gestaltung begleitet.

Das Kunsthaus steht von jeher in einem städtebaulichen Brennpunkt von Zürich. Es markiert den südwestlichen Ausgang der Altstadt; vor allem aber war und ist es das wichtigste und repräsentativste öffentliche Gebäude am Heimplatz. Mit dem Kunsthaus und dem Schauspielhaus am West- und Südrand sowie dem Konservatorium, der Kantonsschule, der Universität und der ETH in der näheren Umgebung war der Platz für Alfred Roth «das eigentliche kulturelle Zentrum der Stadt». Heute bildet er einen Hauptabschnitt der «Bildungs- und Kulturmeile» entlang der Rämistrasse, dem derzeit wichtigsten kulturellen Ausbauprojekt in Zürich.

Riegel- oder Torbau?

Als Karl Moser ab 1904 das Kunsthaus Zürich plante, musste er sich mit einem vergleichsweise eng begrenzten Bauplatz begnügen. Der 1910 eröffnete Museumsbau bestand aus dem dreistöckigen Kubus des Sammlungsgebäudes mit dem Haupteingang und dem in Richtung Rämistrasse anschliessenden zweigeschossigen Ausstellungstrakt. Eine weitere Ausdehnung in Richtung Norden und Niederdorf war nicht möglich, da Moser auf die geplante Verlängerung der Kantonsschulstrasse Rücksicht nehmen musste. Das Teilstück sollte etwa auf der Höhe des Bührle-Saals verlaufen und den Heimplatz mit dem südlichen Abschnitt des Hirschengrabens verbinden. Erst Anfang der vierziger Jahre konnte der damalige Kunsthausdirektor Wilhelm Wartmann endlich die «Kunstinsel» ausrufen. Nun stand das gesamte Areal zwischen Rämistrasse und Hirschengraben zur Verfügung. Damit war der Weg für die Erweiterung frei; es war aber auch der Beginn eines Streits, der die lange Planungs- und Baugeschichte des Grossen Ausstellungssaals prägte.

Kernpunkt der Auseinandersetzungen war die städtebauliche Funktion des Kunsthaus-Komplexes in Bezug auf das historische Zentrum. Für Karl Moser, der seit 1919 Erweiterungsprojekte entworfen hatte, war das Museum Teil eines Tores zur Altstadt. Anders sah es Hans Hofmann, der 1942 im Auftrag der Zürcher Kunstgesellschaft den Perimeter des Erweiterungsprojekts klärte. Er ignorierte in seiner städtebaulichen Studie eine mögliche Torsituation und liess den Bauplatz winkelförmig bis zum Heimplatz vorstossen. Eine solche Lösung entsprach durchaus den Wünschen seiner Auftraggeberin, nicht zuletzt mit Blick auf den im Eck zwischen Alt- und Erweiterungsbau entstehenden Museums-Vorplatz. Als «gänzlich unerwünschte Abriegelung» zwischen Heimplatz und Altstadt wurde das Projekt dagegen sofort in der NZZ und andernorts abgelehnt. Diese Kritik verstummte so schnell nicht mehr und zog unter anderem eine «Kunsthausmotion» und so harsche Proteste aus Architektenkreisen nach sich, dass am Ende sogar eine Schlichtungsaktion des Bundes Schweizer Architekten nötig war.

Der Bau der Brüder Pfister

Im Fokus der jahrelangen Auseinandersetzungen standen die jungen Brüder Hans und Kurt Pfister. Sie waren die Gewinner des 1943/44 veranstalteten Wettbewerbs für den Erweiterungsbau und hatten tatsächlich den von manchen befürchteten massiven Riegel entworfen. Am Ende der sich über 14 Jahre erstreckenden Planungs- und Bauzeit war das ursprüngliche Projekt mehrfach umgearbeitet. Die letzten Korrekturen nahmen die Architekten noch während der Ausführung des im Herbst 1954 begonnenen Baus vor.

Das Ergebnis war ein formal, funktional und städtebaulich erheblich – und durchaus vorteilhaft – verändertes Gebäude. Indem die Gebrüder Pfister das Gebäude auf mächtige Stützen stellten und unter diesen zwei gläserne Kuben mit dem Kunsthausrestaurant und dem Vortragssaal schoben, wurde der Erweiterungsbau optisch durchlässig. Eine Fussgängerpassage führt unter ihm hindurch, in Fortsetzung der von der Altstadt herkommenden Krautgartengasse. Am Heimplatz bildet der schwebende Balken eine gelungene Zäsur des vorbeiführenden Strassenzugs. Ein Gewinn für das urbane Leben ist der Aussenraum vor dem Bührle-Saal, der seine Fortsetzung in dem offenen Skulpturenhof zwischen den beiden Verbindungstrakten zum Moser-Bau findet.

Die gravierendste Umplanung in funktionaler Hinsicht erfuhr der Erweiterungsbau im Obergeschoss. War dort zunächst zusätzlicher Platz für die hauseigene Sammlung verlangt, erkannte man Anfang der fünfziger Jahre einen neuen Trend. «Wechselausstellungen haben in letzter Zeit ungeahnten Aufschwung genommen», heisst es in der Abstimmungsbroschüre von 1954. Und auf öffentlichkeitswirksame Wechselausstellungen setzte nun auch das Kunsthaus, diesen Teil seiner seit je doppelten Funktion als Museum und als Kunsthalle betonend. Die ursprünglich geplante Saal- und Kabinettfolge wurde zugunsten des Novums eines einzigen, 18 Meter breiten und 70 Meter langen, flexibel unterteilbaren Oberlichtsaals aufgegeben. Auch stilistisch ging man mit der Zeit. Der aufgeständerte Saalbau mit seiner Verkleidung aus gerippten Betonplatten, mit Bandfenstern an den Langseiten und dem zurückgesetzten Glasdach zeigt nur noch eine entfernte Verwandtschaft zu dem optisch viel kompakteren und schwereren Wettbewerbsprojekt.

Ein privater Donator

Die Türen zur Finanzierung des Grossen Ausstellungssaals hatte Emil G. Bührle aufgestossen. Seit 1936 Alleininhaber der Maschinen- und Rüstungsfabrik Oerlikon-Bührle, prominentes Mitglied der Zürcher Kunstgesellschaft und passionierter Sammler insbesondere von Werken des französischen Impressionismus und der klassischen Moderne, hatte er gleich zu Beginn der Planung die entscheidende Unterstützung zugesagt. Am Ende übernahm er die gesamten Baukosten von 7,5 Millionen Franken, 2 Millionen mehr als noch 1953 nach einer Redimensionierung des Projekts angenommen. Dementsprechend hoch gelobt wurde der «private Donator». Als «nachsichtig und konsequent» charakterisierte ihn rückblickend Zürichs Stadtpräsident Emil Landolt anlässlich der Einweihung des Grossen Ausstellungssaals, der im allgemeinen Sprachgebrauch den Namen seines Stifters trägt. Bührle selbst war schon 1956 verstorben und erlebte die Einweihung und die Eröffnungsausstellung, die einen Überblick über seine Sammlung bot, nicht mehr.

In der Ausstellungspraxis hat sich der Bührle-Saal mit seinen nahezu raumhohen, verschiebbaren Wandelementen, den Benedikt Huber 1959 in der Architekturzeitschrift «Werk» als architektonischen Un-Raum kritisiert hatte, offenbar bestens bewährt. Das Wettbewerbsprogramm für den derzeit geplanten Erweiterungsbau des Kunsthauses auf dem Kantonsschulareal beschreibt den dort geforderten zusätzlichen Raum für Wechselausstellungen als «kleinere Ausgabe» des Bührle-Saals. Mit diesem Erweiterungsbau soll zudem nun auch die Sammlung Bührles an das Kunsthaus gebunden werden: Für die 1960 in eine Stiftung übergeführten Teile ist ein eigener grosser Bereich vorgesehen. Der Abschiedsgruss von Emil Bührle nach seinem Vortrag über das «Werden meiner Sammlung» von 1954 gilt also wieder neu: «Auf Wiedersehen am Heimplatz».

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2008.07.04

24. August 2007Sonja Hildebrand
Neue Zürcher Zeitung

Spross einer Künstlerfamilie mit Sinn für das Rationelle

Es beeindruckt, wenn ein Mensch hundert Jahre alt wird. Es tut dies umso mehr, wenn die Person Teil der nationalen Geschichte geworden ist und zudem mit wachem Geist darüber Auskunft geben kann. Ein solches Faszinosum ist Bruno Giacometti, der heute in Zollikon bei guter Gesundheit seinen 100. Geburtstag feiert.

Es beeindruckt, wenn ein Mensch hundert Jahre alt wird. Es tut dies umso mehr, wenn die Person Teil der nationalen Geschichte geworden ist und zudem mit wachem Geist darüber Auskunft geben kann. Ein solches Faszinosum ist Bruno Giacometti, der heute in Zollikon bei guter Gesundheit seinen 100. Geburtstag feiert.

Bruno Giacomettis schönster Bau steht in Venedig. Der 1952 eingeweihte Schweizer Biennale-Pavillon ist ein Kabinettstück heiter-eleganter Ausstellungsarchitektur. Von aussen präsentiert sich das kleine Gebäude als frei komponierte Gruppe teils offener, teils überdeckter Hofräume. Der Dialog zwischen innen und aussen entfaltet sich besonders eindrücklich im tonnengewölbten Skulpturensaal und dem vorgelagerten Gartenhof, zu dem sich der Saal auf ganzer Höhe öffnet. Keine Fensterwand, sondern nur ein quer vor dem Ausstellungsraum verlaufender gedeckter Weg vermittelt ins Freie. Ein in den Skulpturenhof integrierter Baum bildet das Bindeglied zum alten Baumbestand der Giardini. Architektur, Kunst, Mensch und Natur erscheinen im Sinne einer «humanen» Moderne in Einklang gebracht.

Künstlerfamilie

Architektur und Kunst sind die beiden grossen Themen im Leben von Bruno Giacometti, dem hauptsächlich in Zürich und Graubünden tätigen Architekten, der am 24. August 1907 in die berühmteste Schweizer Künstlerfamilie des 20. Jahrhunderts hineingeboren wurde. Der Vater Giovanni Giacometti stand damals am Beginn einer internationalen Karriere als Maler. Nach Studienjahren im Ausland war er in seine Heimat zurückgekommen, das abgeschiedene und zugleich weltoffene Auswanderer- und Heimkehrertal Bergell. Dorthin reisten auch die Freunde des Vaters. So Cuno Amiet, der Taufpate von Brunos ältestem Bruder Alberto, oder Ferdinand Hodler, der Brunos Patenonkel wurde.

Vor diesem Hintergrund erscheint Bruno Giacometti mit seinem Interesse für Technik geradezu als Ausbrecher aus der Familientradition. An der ETH Zürich schrieb er sich 1926 zunächst für ein Ingenieurstudium ein. Doch das Berufsziel Schiffsingenieur stellte sich bald als schwer erreichbar heraus. Den Wechsel zur Architektur bewirkte ein Freund, der Giacometti mit dem Unterricht von Karl Moser, dem «Vater der Schweizer Moderne», bekannt machte. Durch Moser habe er gelernt, so Giacometti, dass Architektur mehr ist als das Entwerfen von Fassaden. Das Diplom machte Giacometti 1930 bei Otto Rudolf Salvisberg, Mosers Nachfolger an der Hochschule.

Grosse Projekte

In der schwierigen Zeit der Weltwirtschaftskrise fand Giacometti 1930 eine Anstellung im Architekturbüro von Karl Egender. Er blieb fast ein Jahrzehnt. Am Ende betraute Egender ihn mit grossen und wichtigen Bauaufträgen wie dem Zürcher Hallenstadion.

Auf der Landesausstellung 1939 war Giacometti im Büro unter anderem für die Modeabteilung verantwortlich. Die von Alberto Giacomettis Biografen James Lord berichtete berühmte Anekdote, dass der Bildhauer eines Tages statt – wie erwartet – eine Skulptur mit Bahn und Lastwagen anzuliefern, eine Schachtel mit einem winzigen Gipsfigürchen aus seiner Tasche zog, hat ihren Schauplatz auf dieser Baustelle am Zürichsee. Bruno Giacometti hatte seinen Bruder ins Spiel gebracht, als es darum ging, eine Skulptur für das Atrium des Modepavillons zu finden.

Nach einem Wettbewerbserfolg machte sich Giacometti 1940 zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt selbständig. Bis Kriegsende verbrachte er insgesamt fast drei Jahre im Militärdienst. Verlorene Jahre, sagt er heute. Das einzige in dieser Zeit realisierte kleine Wohnhaus für einen Cousin entstand in Chur. Um die Baukosten niedrig zu halten, fuhr Giacometti von Zürich mit dem Fahrrad dorthin.

Architekt in Zürich und im Bergell

In den mageren Nachkriegsjahren halfen mitunter befreundete Kollegen wie Rudolf Steiger und Hermann Fietz, die Giacometti für Bauprojekte hinzuzogen. Den Auftrag zum Umbau des Restaurants Roxy, das zum 1930–32 nach Plänen von Steiger, Carl Hubacher und Flora Steiger-Crawford errichteten Zett-Haus gehörte, erhielt Giacometti 1946 ohne Zutun der Architektenkollegen. Teile der von ihm entworfenen Ausstattung, vor allem die karnivorenförmigen Tischlampen, scheinen geradewegs dem surrealistischen Kunstkosmos zu entstammen. Doch den sich einstellenden Verdacht innerfamiliärer Diskussionen bestätigt Bruno Giacometti nicht: Seine Brüder Alberto und Diego hätten sich nicht für Architektur interessiert.

Mit der Bautätigkeit der 1953 gegründeten Bergeller Kraftwerke und der durch diese zu Wohlstand gelangten Gemeinden wurde Giacometti zu einer Art Hausarchitekt seines Heimattals. Aufträge im Engadin und Puschlav folgten. Die Wohnsiedlungen, Postgebäude, Schul- und Gemeindehäuser sind Beispiele einer modernen Architektur, die über das Material, aber auch durch typologische Referenzen regionale Bezüge schafft – in der Haltung dabei ungleich bescheidener als Rudolf Olgiati, der zweite Hauptvertreter eines modernen Regionalismus in Graubünden.

Ein analoges Anknüpfen an örtliche Gepflogenheiten war im urbanen Zürich kein Thema. Sehr wohl aber die Einbettung der Gebäude in den Stadt- oder Landschaftsraum. Davon zeugen unter anderem das 1962 fertig gestellte Stadthaus Uster und die Schweizerische Epilepsie-Klinik (1962-75) am Zürcher Stadtrand.

Kunstvermittler und Mäzen

Nachdem sein Vater 1933 gestorben war, kümmerte sich Bruno Giacometti um den Nachlass. Damit begann ein mäzenatisch geprägtes Engagement, das sich seit dem Tod Alberto Giacomettis 1966 auch auf das Werk des Bruders erstreckt. Dem Kunsthaus Zürich ist Giacometti seit den fünfziger Jahren eng verbunden. Jahrelang war er Mitglied, später auch Präsident der Ausstellungskommission und für die Gestaltung vieler Ausstellungen mitverantwortlich. Den Schweizer Kunstskandal um den Ankauf der Giacometti-Sammlung, der 1965 mit der Gründung der Giacometti-Stiftung endete, hat er hautnah miterlebt. Zuletzt erhielt er zusammen mit seiner Frau Odette 2006 die Heinrich-Wölfflin-Medaille der Stadt Zürich als Anerkennung für die Schenkung von Bronzeplastiken und 75 Originalgipsen aus dem Nachlass der Witwe Alberto Giacomettis.

Bei aller «grossen Kunstgeschichte» ist die Architektur Bruno Giacometti bis heute wichtig geblieben. Für deren Zukunft wünscht er sich, dass sie den Menschen und dessen Lebensraum wieder unangefochten ins Zentrum stellt.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2007.08.24

28. März 2006Sonja Hildebrand
Neue Zürcher Zeitung

Architektur der Macht

Das Architekturmuseum in der neuen Pinakothek München zeigt derzeit eine Ausstellung über den Nationalsozialismus in München, die sich durch klare Stellungnahmen auszeichnet. Dabei setzt sie auf eine betont rationale, nüchterne Präsentation des Themas.

Das Architekturmuseum in der neuen Pinakothek München zeigt derzeit eine Ausstellung über den Nationalsozialismus in München, die sich durch klare Stellungnahmen auszeichnet. Dabei setzt sie auf eine betont rationale, nüchterne Präsentation des Themas.

Auf der historischen Landkarte des Nationalsozialismus ist München ein wichtiger Ort. In München entwickelte sich die NSDAP mit Adolf Hitler an der Spitze von der rechtsextremen Splitterpartei zur einflussreichen Massenpartei, dort wurden SA und SS gegründet. Der Jahrestag des als «Marsch auf die Feldherrnhalle» gefeierten nationalsozialistischen Putschversuchs vom 9. November 1923 stand ab 1933 im Zentrum des nationalsozialistischen Blut- und Märtyrerkults. Der Gedächtnismarsch endete 1935 an den beiden neu errichteten «Ehrentempeln» am Königsplatz, in denen die Sarkophage der 15 «Blutzeugen» von 1923 aufgestellt waren. Die Ehrentempel gehörten zu einem monumentalen Forum der NS-Bürokratie und des Kults, zu dem der Königsplatz und dessen Umgebung 1933-1937 ausgebaut wurden. An der Ostseite des Platzes, der 1936 einen für Massenaufmärsche tauglichen Belag aus Granitplatten erhielt, entstanden der «Verwaltungsbau der NSDAP» und der «Führerbau», in dem 1938 das Münchner Abkommen unterzeichnet wurde. Um an den erforderlichen Bauplatz zu gelangen, zwangen die Nazis den jüdischen Mathematiker, Kunstsammler und Schwiegervater Thomas Manns, Alfred Pringsheim, schon 1933 zum Verkauf seines Palais. Die von Paul Ludwig Troost entworfenen Neubauten wurden, wie auch dessen «Haus der Deutschen Kunst» an der Prinzregentenstrasse, für die NS- Repräsentationsarchitektur stilbildend.

Orte der Täter und der Opfer

In der Ausstellung, die Winfried Nerdinger vom Architekturmuseum der TU München zusammen mit dem Münchner Stadtarchiv für die Räume in der Pinakothek der Moderne erarbeitet hat und die sich als Beitrag zum 2002 beschlossenen Münchner NS-Dokumentationszentrum versteht, werden diese und zahlreiche weitere Orte der «Täter, Opfer und Zuschauer» (Raul Hilberg) mit Fotos und informativen Texten dokumentiert. In den insgesamt acht Sektionen geht es nicht nur um die Orte des Aufstiegs und der Selbstdarstellung der NSDAP in der «Hauptstadt der Bewegung». Gleiches Gewicht wird zu Recht auf die Durchdringung und Verflechtung aller Bereiche der Gesellschaft, von Behörden und Verwaltungen, von Wirtschaft und Industrie mit dem Nationalsozialismus gelegt.

Eine eigene Sektion bilden «Orte des Widerstands» wie das Atelier des Bildhauers Manfred Eickemeyer in der Nachbarschaft der Universität, in dem sich die Mitglieder der Weissen Rose trafen. Jede Sektion wird von einer Karte eingeleitet, in der die einzeln erläuterten sowie weitere themenrelevante Orte eingetragen sind. Besonders eindrücklich sind die Karten der Sektionen «Entrechtung und Verfolgung» sowie «Zwangsarbeit und Lagersystem». Die dichte Streuung der über 400 Zwangsarbeiter- und Kriegsgefangenenlager sowie der 39 Aussenlager des KZ Dachau im Münchner Stadtgebiet macht schon rein quantitativ deutlich, wie präsent die NS-Opfer im alltäglichen Bild der Stadt waren.

Die bis heute wirksame Brisanz des Ausstellungsthemas liegt vor allem im Umgang mit den Orten des Nationalsozialismus nach 1945 begründet. Er lässt sich weitgehend als eine Geschichte des Verschweigens und Verdrängens beschreiben. In der Ausstellung ist die Münchner Episode der Aktion «Stolpersteine» von Gunter Demnig als jüngster einer langen Reihe von beschämenden Fällen dokumentiert. Der Kölner Künstler verlegt seit 1992 vor dem letzten Wohnort von NS-Opfern Pflastersteine, die Plaketten mit deren Namen, Geburts-, Deportations- und Todesdatum tragen, und wurde dafür unter anderem 2005 mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland geehrt. In München dagegen befürchteten die Stadt und die Präsidentin der Israelitischen Gemeinde eine «Inflationierung» des Gedenkens. Nach einem Beschluss des Stadtrats vom 16. Juni 2004 wurden die beiden bis dahin in München verlegten «Stolpersteine» noch am selben Tag herausgebrochen und auf den Israelitischen Friedhof gebracht.

Verräumlichung der Geschichte

In der Sache wird in der Ausstellung eine deutliche Sprache gesprochen. Die Klarheit ist eine Klarheit der Texte und der Übersichtskarten, die quantitative und strukturelle Zusammenhänge sichtbar machen. Konkretheit wird nicht über Originalexponate erreicht. Auf solche heute in Ausstellungen zur NS-Geschichte übliche Angebote zur emotionalen Einfühlung wurde bewusst verzichtet. Konkret sind die gezeigten Orte und Bauten, die als Träger von Erinnerung verstanden und benutzt werden. Eine solche Verräumlichung der Geschichte - auch eine Folge des «spacial turn» in den Geisteswissenschaften - eröffnet eine andere Möglichkeit des Erlebens von Geschichte: Der Ortskundige findet auf den Ausstellungstafeln oder in der «fotografischen Spurensuche» von Martin Vaché, einer nach Stadtteilen gegliederten Fotodokumentation zu den Relikten der NS-Zeit, ihm bekannte Gebäude und Plätze wieder. Und wer München weniger gut kennt, kann sich mit Hilfe des als Stadtführer konzipierten Katalogs auf den Weg machen. Die Ausstellung entlässt die Besucher nach vollendetem Parcours nicht einfach wieder ins Alltagsleben. Vielmehr fordert und fördert sie eine intensive, geistig aktive Rezeption, die über den Tag hinaus wirkt.

[ Bis 28. Mai im Architekturmuseum der TU in der Pinakothek der Moderne. Katalog: Ort und Erinnerung. Nationalsozialismus in München. Hrsg. Winfried Nerdinger. Verlag Anton Pustet, Salzburg 2006. 226 S., Fr. 51.- (Euro 24.- in der Ausstellung). ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2006.03.28

03. Februar 2005Sonja Hildebrand
Neue Zürcher Zeitung

Architekt zwischen Tradition und Moderne

Die Architekturgeschichte der ehemaligen DDR ist über weite Strecken eine Geschichte ohne Namen. Von dieser Regel gibt es nur eine grosse Ausnahme: Hermann Henselmann (1905-1995). Er war so etwas wie der «Stararchitekt» der Deutschen Demokratischen Republik. Heute vor 100 Jahren wurde er in Rossla in Sachsen-Anhalt geboren.

Die Architekturgeschichte der ehemaligen DDR ist über weite Strecken eine Geschichte ohne Namen. Von dieser Regel gibt es nur eine grosse Ausnahme: Hermann Henselmann (1905-1995). Er war so etwas wie der «Stararchitekt» der Deutschen Demokratischen Republik. Heute vor 100 Jahren wurde er in Rossla in Sachsen-Anhalt geboren.

Am Ende seines Lebens erfuhr Hermann Henselmann Anerkennung aus Ost und West. In Ostberlin hatte der charismatische Schöpfer des neuen Gesichts der Hauptstadt der DDR schon seit den fünfziger Jahren eine für ostdeutsche Verhältnisse hohe Popularität genossen. Den «Durchbruch» im Westen brachte die postmoderne Begeisterung für die Stalinallee, die «Erste Strasse des Sozialismus» mit ihren formalen Anleihen bei Karl Friedrich Schinkel und anderen Heroen der Berliner Architekturgeschichte. Die an Stars gewöhnte westliche Welt störte es nicht, Henselmanns Namen mit dem ganzen Prachtboulevard zu verbinden, obwohl der am 3. Februar 1905 in Rossla in Sachsen-Anhalt geborene Architekt strenggenommen nur für die beiden Torplätze verantwortlich zeichnete.

Ein schillerndes Werk

Einer der Letzten im Kreis der westlichen Henselmann-Bewunderer war der vor wenigen Tagen verstorbene Philip Johnson, der mit dem deutschen Kollegen bei einem Berlin-Besuch kurz vor dessen 90. Geburtstag Freundschaft geschlossen hatte. Beide verband nicht nur persönliche Sympathie, sondern auch ein ähnlich schillerndes Werk. Doch anders als beim amerikanischen Freigeist war Henselmanns Wandelbarkeit immer wieder auch mit politischen Massgaben verbunden gewesen, was ihm entsprechende Vorwürfe eingetragen hat.

Am Anfang von Henselmanns beruflicher Tätigkeit steht ein in seinen äusseren Bedingungen für den «verhinderten Weltbürger» symptomatischer Bau. 1930 überliess der ungarische Filmarchitekt Alexander Ferenzy seinem jungen Mitarbeiter den Auftrag für die Villa Kenwin, welche der englische Drehbuchautor Kenneth MacPherson und dessen Ehefrau, die Psychoanalytikerin und Schriftstellerin Winifred Bryher, bei Montreux als Treffpunkt der internationalen Kunstavantgarde errichten wollten. Henselmann, der nach einer Tischlerlehre von 1923 bis 1926 an der Berliner Kunstgewerbeschule Architektur und Raumgestaltung studiert hatte, konzipierte eine Villa im Stil Le Corbusiers. Die ETH widmete dem kleinen Meisterwerk nach dessen Restaurierung 1989 eine Ausstellung, die Henselmann an der Seite von Alfred Roth besichtigten konnte.

Was auf die 1933 vollendete Villa am Genfersee folgte, war eine für Deutschland typische Geschichte: Henselmann bekam mit seiner modernen Architektur Probleme, fand aber ein Auskommen im Dienst des Landwirtschaftsministeriums sowie in Büros verschiedener Industriearchitekten. Seine eigentliche Karriere begann 1945. Unmittelbar nach Kriegsende beteiligte sich Henselmann in Gotha an der Gründung eines antifaschistischen Komitees und wurde bald darauf Kreisbaurat. Schon im Juli 1945 ging er als Direktor der Hochschule für Baukunst und Bildende Künste nach Weimar. Die dort angestrebte Verbindung von Bauhaus-Tradition und Kommunismus stand auch nach seinem Wechsel 1949 an das damals von Hans Scharoun geleitete Berliner Institut für Bauwesen auf dem Programm.

Den Wendepunkt brachte 1950 das «Hochhaus an der Weberwiese». Das Gebäude war von der Staatsregierung als Prototyp für die Stalinallee gedacht, die den gebauten Triumph des «sozialistischen Realismus» über den «Formalismus» der westlichen Welt bilden sollte. Dementsprechend unter Beschuss geriet Henselmann für seinen zunächst präsentierten modernen Entwurf. Doch dann legte er innerhalb weniger Tage ein neues Projekt vor, das die geforderte Anbindung an die nationale Bautradition bot. «Bruder Leichtfuss» (wie ihn «Das Neue Deutschland» nannte) hatte wieder Fuss gefasst, wurde geistiger Vater der ab 1951 entstehenden Stalinallee, Direktor des Instituts für Theorie und Geschichte der Architektur an der Deutschen Bauakademie und 1953 Chefarchitekt von Berlin.

Vorboten des Wandels

Die «Läuterung» von 1950 blieb nicht die letzte Kehrtwendung Henselmanns. Die Rückkehr zur Moderne Ende der fünfziger Jahre mit den Entwürfen für den zweiten Bauabschnitt der Stalinallee und für einen sich 300 Meter in die Höhe schwingenden Fernsehturm als neues Wahrzeichen von Berlin waren indessen weniger Nachvollzug als Vorboten einer sich wandelnden staatlichen Baupolitik. Den gebauten Anschluss an die internationale Moderne brachte das zwischen 1961 und 1964 ausgeführte «Haus des Lehrers» am Alexanderplatz. Wenige Jahre nach Mies van der Rohes Seagram Building erhielt damit auch die DDR ihren ersten Stahlskelettbau mit Vorhangfassade. Die sozialistische Botschaft an das Volk transportierte ein geschosshohes Wandbild, das sich wie eine Bauchbinde um das Gebäude legt. Auf urbanistischem Gebiet konnte Henselmann seine neuen, an der internationalen Moderne orientierten Vorstellungen mit den «Wohnkurven» am Leninplatz (1968-70) zumindest teilweise verwirklichen.

Die letzten grossen Projekte Henselmanns boten gleichsam eine dialektische Synthese aus «realistischer» Architektur und moderner Tradition. Dies gilt vor allem für die Bildzeichen- Architektur des 1974 fertiggestellten Leipziger Universitätshochhauses in Gestalt eines aufgeschlagenen Buches und das Projekt gebliebene Haus der Wissenschaften, das wie ein gestrandetes Segelschiff am Rostocker Warnow-Ufer liegen sollte. «Ich habe vor, mich im Alter von hundert Jahren aus dem Berufsleben nach Rom zurückzuziehen. Willst Du nicht mitkommen?» Henselmann konnte auf Philip Johnsons Vorschlag in seiner Festschrift zum 90. Geburtstag nicht mehr reagieren. Er starb am 19. Januar 1995, wenige Tage bevor ihm das Buch offiziell überreicht werden sollte.

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2005.02.03

25. September 2004Sonja Hildebrand
Neue Zürcher Zeitung

Eine deutsche Architektenkarriere

Egon Eiermann, dessen Geburtstag sich am 29. September zum hundertsten Mal jährt, dominierte als Architekt und Professor zwei Jahrzehnte lang das bundesdeutsche Baugeschehen. Sein seit Ende der zwanziger Jahre entstandenes Werk galt und gilt als Ausweis einer «Kontinuität der Moderne» vor und nach dem Zweiten Weltkrieg.

Egon Eiermann, dessen Geburtstag sich am 29. September zum hundertsten Mal jährt, dominierte als Architekt und Professor zwei Jahrzehnte lang das bundesdeutsche Baugeschehen. Sein seit Ende der zwanziger Jahre entstandenes Werk galt und gilt als Ausweis einer «Kontinuität der Moderne» vor und nach dem Zweiten Weltkrieg.

Egon Eiermann, 1904 bei Potsdam geboren, gehört zur zweiten Generation der Moderne. Vielleicht war es dieser Umstand, der es ihm erlaubte, schon als junger Mann einen differenzierten Blick auf die moderne Architektur zu entwickeln. Als er Ende der zwanziger Jahre seine Berufspraxis begann, hatte das Neue Bauen jedenfalls in Publizisten wie Adolf Behne oder Peter Meyer auch in den eigenen Reihen seine kritischen Begleiter gefunden. Für Eiermann wurde Hans Poelzig prägend. Sein Lehrer an der Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg hatte sich stets eine eigenständige Position zwischen den Lagern der «Konservativen» und «Modernen» bewahrt.

Moderne Grundhaltung

Ganz zeittypisch vertrat Eiermann damals seine Position nicht als Einzelkämpfer, sondern gründete 1926 zusammen mit Kommilitonen die «Gruppe junger Architekten», deren Publizist Julius Posener war. Was man nicht wollte, war eine plakative Modernität um ihrer selbst willen, eine unreflektierte, nur modische Verwendung moderner Signete. Von der Integration fachfremder Wissenschaften wie der Soziologie oder der Hygiene in den Entwurfsprozess hielt man ebenfalls wenig: «Wir waren der Meinung, dass der Architekt in erster Linie die Bedingungen des Bauens kennen muss: des (handwerklichen) Bau- Vorgangs sowie der Umwelt und der Nutzung.»

Eiermann begann 1928 als angestellter Architekt. Doch weder im Hamburger Baubüro der Karstadt AG noch bei den Berliner Elektrizitätswerken hielt es ihn lang. Schon 1930 machte er sich in Berlin selbständig; bis 1934 teilte er das Büro mit seinem Studienfreund Fritz Jaenecke. Eiermanns Erstling, das Umspannwerk Berlin- Steglitz, fand unter anderem 1931 in Heinz Johannes' Führer zum «Neuen Bauen in Berlin» Aufnahme. Vom Bauhaus schickte Mies van der Rohe seine Studentinnen und Studenten 1932 beim nahe gelegenen Haus Hesse vorbei, Eiermanns und Jaeneckes frühem Kabinettstück im Süden Berlins. Noch 1934 wurde dieser eingeschossige Flachdachbau mit der im Prüssverband gemauerten Sichtziegelfassade und einer Vielzahl an räumlichen Bezügen in der Fachpresse als beispielhafte «Verwirklichung eines zeitgemässen geistigen und materiellen Wesensgehaltes» gelobt, in dessen Mittelpunkt der Mensch stehe. Mit wenigen Ausnahmen zeigen alle Bauten Eiermanns dieser Jahre eine moderne Grundhaltung ohne Zug ins Extreme, die ihm nach der nationalsozialistischen Machtübernahme das Weiterbauen erleichterte.

Bauen im dritten Reich

In der Literatur wird Eiermanns Berliner Zeit bis 1945 zwar oft marginalisiert; für sein Selbstverständnis und seine öffentliche Wahrnehmung vor und unmittelbar nach 1945 besass sie indessen ein nicht zu unterschätzendes Gewicht. Gerade in diesen Jahren manifestierte sich Eiermanns Arbeitsethos besonders deutlich. Sein Freund, Berliner Mitarbeiter und Karlsruher Kollege Rudolf Büchner hat es so beschrieben: «Mensch und Architekt Egon Eiermann? Beides lässt sich gerade bei ihm nicht trennen. Der Mensch war immer zugleich Architekt, und zwar mit Leidenschaft und Besessenheit und stets mit kontrollierender Strenge sich selbst gegenüber.» Der (gute) Mensch definierte sich über die (gute) Arbeit. Dass die Mitmenschen de facto dabei aus dem Fokus geraten konnten, lag auch an der Logik des diktatorischen nationalsozialistischen Systems und des Krieges. Seine Mitarbeiter ermahnte Eiermann noch im Februar 1945 zum rechtzeitigen Arbeitsbeginn: «Jetzt aber ist der Zeitpunkt gekommen, wo ich mich von jedem trennen werde, bei dem private Neigungen und Wünsche den Beweis erbringen, dass er diese für wichtiger hält als die Arbeit im Büro.»

Die Einfamilienhäuser, die bis 1942 in Berlin und dessen Umland entstanden, zeigten trotz nunmehr (flach) geneigten Dächern eine klare Kubatur der oft asymmetrisch ausgebildeten Baukörper, betont flächige Fassaden und eine enge Verzahnung mit der umgebenden Natur. Während Eiermann in der äusseren Erscheinung seiner Bauten explizit landschaftsgebundene oder gar historisierende Formen vermied, forcierte er im Innern mitunter ein rustikales Erscheinungsbild. Öffentliche Anbiederung an den verordneten Zeitgeschmack war das nicht.

Das grösste Potenzial für die Zukunft schuf sich Eiermann mit den Industriebauten, deren Planung ab 1936 zunehmend seinen Büroalltag bestimmte. Dass er auf diesem Feld reüssieren konnte, lag teils an der nationalsozialistischen Rüstungs- und Wirtschaftspolitik, teils an den gestalterischen Möglichkeiten, die die Diktatur dort erlaubte. Die von den Industriearchitekten nach 1945 für sich in Anspruch genommene politikfreie «Nische Industriebau» hat es dagegen bekanntlich nicht gegeben. Auch Eiermanns formal und funktional konsequent modern gestaltete Fabrikgebäude wie der 1939 entstandene Stahlbetonskelettbau der «Total»-Werke in Apolda mit seinem markanten Dachgarten wurden bis in die Kriegsjahre hinein öffentlich wahrgenommen.

Eiermann war kein Freund der offiziellen Repräsentationsarchitektur; sein Verriss der Beiträge zum Dessauer Theaterwettbewerb von 1935 ist berühmt. Das bedeutete aber nicht, dass er grundsätzlich keine öffentlichen Aufträge annahm. Seine politisch brisanteste Arbeit ist die Gestaltung der «Leistungsschau» der staatlichen Propagandaausstellung «Gebt mir vier Jahre Zeit!», die 1937 auf dem Berliner Messegelände gezeigt wurde. Den Auftrag hatte Eiermann Ende 1936 nach einem eingeladenen Wettbewerb vom Propagandaministerium erhalten. - Dank seinem Einstieg in den Industriebau blieb Eiermann auch in den Kriegsjahren gut beschäftigt. Bei Kriegsende leitete er Baustellen im gesamten Reich einschliesslich der annektierten Ostgebiete. Die Bandbreite seiner Projekte reichte von Behelfsunterkünften bis zur Planung einer ganzen Stadt mit Flugfeld und ausgedehntem Industriequartier im Auftrag des Reichsluftfahrtministeriums.

Von Berlin nach Karlsruhe

Als Eiermanns Berliner Zeit im April 1945 mit der Flucht nach Buchen im Odenwald, der Heimatstadt seines Vaters, endete, war er ein bekannter Architekt. Die funktionelle und propagandistische Einbindung einiger seiner Arbeiten in die nationalsozialistische Politik und Kriegswirtschaft blieb in der Regel ausgeblendet. Dies dürfte umso leichter gefallen sein, als Eiermann - anders etwa als Peter Behrens - keine öffentlichen Prachtbauten entworfen hatte. Das sichtbarste Zeichen von Eiermanns deutschlandweiter Anerkennung war die schnelle akademische Karriere, die sich gleich nach Kriegsende mit Angeboten aus Weimar, Berlin, Darmstadt, Hannover und Karlsruhe anbahnte. Im April 1947 wurde Eiermann als «Persönlichkeit grösster praktischer Bauerfahrung auf dem Gebiete der modernen Baumethoden, zugleich aber regster geistiger Lebendigkeit und Verknüpfung mit allen andern kulturellen Strömungen unserer Zeit» nach Karlsruhe berufen. Dorthin verlegte er 1948 auch sein Büro, das er bis 1965 gemeinsam mit seinem Berliner Mitarbeiter Robert Hilgers betrieb. Eiermann blieb bis in die sechziger Jahre hinein die dominierende Persönlichkeit der Architekturfakultät. Dank ihm wurde Karlsruhe zum Zentrum der modernen Architekturlehre in Deutschland. Seine Schüler sind zahlreich. Einer der heute berühmtesten, Oswald Mathias Ungers, erwarb schon 1950 das Diplom; danach ging er eigene Wege.

Was moderne Architektur nach dem politischen Neuanfang sein und leisten sollte, hat Eiermann, der eigentlich die Praxis der theoretischen Grundlegung vorzog, in den Jahren um 1950 mehrfach bekundet: als Teilnehmer der Darmstädter Gespräche, als Mitarbeiter der damals renommiertesten deutschen Architekturzeitschrift «Baukunst und Werkform» oder auch in Provinzblättern, wo er über den «Wiederaufbau auf dem Lande», die Notwendigkeit einer Bodenreform oder die Schweizer Wanderausstellung «USA baut» schrieb. Eiermann verstand sich als Garant der «Kontinuität der Moderne», einer Moderne, die jetzt auch für Humanität, Völkerverbindung, Freiheit und Demokratie stand.

Bis Anfang der fünfziger Jahre blieb die Industriearchitektur Eiermanns wichtigste Domäne. 1951 wurde mit der Taschentuchweberei in Blumberg im Südschwarzwald einer seiner konstruktiv und in der architektonischen Gestaltung innovativsten Bauten fertig gestellt. Mit Blumberg und anderen Bauten dieser Jahre trug Eiermann massgeblich zum Anschluss der jungen Bundesrepublik an die internationale Moderne bei. Erstmals blickte das Ausland wieder wohlwollend auf Deutschland. Die Schweizer Architekturzeitschrift «Werk» rechnete die Blumberger Fabrik 1952 «zum Besten, was Westdeutschland seit dem Kriege an Bauten hervorgebracht hat». Heute zählt das frühe Lob indessen nicht mehr viel: Die hervorragend proportionierte Halle mit der Wellasbestzement-Fassade steht seit 1995 leer und ist in ihrem Bestand akut gefährdet.

Meister der Stahlarchitektur

Mit der «Wirtschaftswunderzeit» wurde der Verwaltungs- und Geschäftshausbau zu Eiermanns täglichem Brot. Die Führung auf diesem Gebiet musste er sich in Deutschland nur mit Paul Schneider-Esleben teilen. Eiermann, dem architektonische Ordnung und die «knappe Form» als Äusserungen von Bescheidenheit und Rücksichtnahme galten, entwickelte sich zum Meister der an Mies van der Rohe geschulten Stahlarchitektur. Dem «formlosen Beton» und den plastisch-expressiven «Experimenten» Le Corbusiers oder Hans Scharouns setzte Eiermann Formstrenge und die Visualisierung der betont schlanken Konstruktionen entgegen.

Zu seinen Markenzeichen wurde die beim Warenhaus Merkur in Reutlingen 1952/53 erstmals realisierte zweite Fassadenschicht aus Umgängen, Gestängen und Sonnenschutzvorrichtungen, die auch grosse Bauten leicht und elegant erscheinen lässt. Mit Eiermanns Namen sind aber auch die uniformen Fassadenschürzen aus keramischen Wabenelementen verbunden, die zum ungeliebten Signet der Horten-Kaufhäuser wurden. Aus Eiermanns Büro stammen letztlich nur zwei der später zahlreich wiederholten «HortenWaben»: das Warenhaus Horten in Heidelberg (1958-62) und sein Stuttgarter Gegenstück (1951-60), für dessen Bau Eiermann den Abriss von Erich Mendelsohns Inkunabel der modernen Kaufhausarchitektur, des 1928 eröffneten Schocken-Kaufhauses, hinnahm.

Umgang mit dem Baubestand

Was Eiermann bei Mendelsohn Überwindung gekostet hatte, fiel ihm bei einem Monument des Kaiserreichs nicht schwer: Die Ruine der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche gab er in seinen Wettbewerbsentwürfen von 1956/57 mit voller Überzeugung zum Abriss frei. Doch wo der Geldwert keine Rolle spielte, konnte der Symbolwert seine ganze Kraft entfalten. Während die Kritik in Stuttgart ins Leere gelaufen war, führte sie in Berlin zu einer Korrektur der Bauaufgabe. Infolge der öffentlichen Proteststürme schrieb der Bauherr schliesslich den Erhalt der Turmruine vor. Um diese herum gruppierte Eiermann die vier Einzelbauten von Kirche, Sakristei, Kapelle und neuem Turm auf gemeinsamem Podest zu einem sorgfältig austarierten Ensemble, das nicht nur dem westlichen Zentrum einen Fixpunkt gab, sondern auch der Stadt ein neues Wahrzeichen. Einen eigenen Ausdruck entfalteten die aus wabenartigen Betonelementen aufgebauten Aussenwände der Kirche. Während die Wabenfassaden der Kaufhäuser die Aufgabe hatten, die ungestalteten Aussenwände zu kaschieren, sind sie bei der Gedächtniskirche wie auch bei Eiermanns kleinem Meisterwerk der Matthäuskirche in Pforzheim (1952-56) als diaphane Wände zwischen die sichtbare Skelettkonstruktion gespannt. In den fünfziger und sechziger Jahren umfasste Eiermanns Planungsradius das gesamte Bundesgebiet. Darüber hinaus gelangte er zwar kaum je, sein Renommee aber überstrahlte die Landesgrenzen weit. Dies verdankte er nicht zuletzt jenen Projekten, die er als Architekt der Bundesrepublik verwirklichen konnte - allen voran der zusammen mit Sep Ruf ausgeführten Pavillongruppe auf der Weltausstellung in Brüssel und dem 1958-64 realisierten Kanzleigebäude der Deutschen Botschaft in Washington.

Die über dunklen Sockeln gleichsam schwebenden gläsernen Würfel in Brüssel wurden zum Symbol des demokratischen Deutschland, das sich 1958 erstmals wieder im Kreis der «freien Welt» präsentieren durfte. Als «demokratische Architektur» verstand Eiermann auch das mit mehreren amerikanischen Preisen ausgezeichnete Washingtoner Botschaftsgebäude, dessen langgestreckter Baukörper sich wie ein Hochseedampfer in das abfallende Terrain schiebt. Was Eiermann als Gegenbild zur «alten machtverkündenden Vertikalströmung» verstand, stellte Ungers dreissig Jahre später wieder in Frage: Er gestaltete die benachbarte, 1995 eingeweihte Botschafterresidenz als klassizistische «Säulenbotschaft».

Eiermann blieb auch in den Jahren des boomenden Betonbaus ein Meister der Stahlarchitektur. Die Bauten seiner letzten Lebensjahre waren bereits in ihrer Entstehungszeit Klassiker. So erscheint es nur folgerichtig, dass er noch kurz vor seinem Tod als Nachfolger Mies van der Rohes in den Orden Pour le Mérite gewählt wurde. Dass sich Klassik immer auch mit Innovation und geradezu spielerischer Leichtigkeit verbinden konnte, führte Eiermann zuletzt mit den erst postum fertig gestellten Olivetti-Türmen vor. Sie gehören immer noch zum Besten, was das in letzter Zeit nicht sehr Eiermann-freundliche Frankfurt - man erinnere sich an den Abriss von Eiermanns Hochtief-Gebäude im letzten Jahr (NZZ 12. 9. 03) - den an Architektur Interessierten zu bieten hat.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2004.09.25



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Presseschau 12

14. Oktober 2014Sonja Hildebrand
Neue Zürcher Zeitung

Nachdenken über Architektur

Der geniale Architekt Gottfried Semper hat neben seinen Bauten in Dresden, Zürich, Winterthur und Wien ein riesiges theoretisches Werk geschaffen. Dieses ist nun in einem exzellenten Reprint greifbar.

Der geniale Architekt Gottfried Semper hat neben seinen Bauten in Dresden, Zürich, Winterthur und Wien ein riesiges theoretisches Werk geschaffen. Dieses ist nun in einem exzellenten Reprint greifbar.

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10. August 2010Sonja Hildebrand
Neue Zürcher Zeitung

Mit Künstlern bauen

Die Avantgarde der modernen Architektur forderte den Kunstverzicht. Doch schon der Zürcher Meisterarchitekt Karl Moser (1860–1936) setzte sich über die programmatische Forderung hinweg. Nach seinem Vorbild spannen heute Architekten häufig mit Künstlern zusammen.

Die Avantgarde der modernen Architektur forderte den Kunstverzicht. Doch schon der Zürcher Meisterarchitekt Karl Moser (1860–1936) setzte sich über die programmatische Forderung hinweg. Nach seinem Vorbild spannen heute Architekten häufig mit Künstlern zusammen.

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24. Februar 2009Sonja Hildebrand
Neue Zürcher Zeitung

Bedrohtes Hauptwerk der Nachkriegsmoderne

Blumberg ist ein kleiner Ort im Südschwarzwald. In Architektenkreisen steht sein Name für die Taschentuchweberei, die Egon Eiermann dort 1951 errichtete. Vor wenigen Monaten wurde die mit Wellasbestzementplatten verkleidete Fabrikationshalle zum Abbruch freigegeben.

Blumberg ist ein kleiner Ort im Südschwarzwald. In Architektenkreisen steht sein Name für die Taschentuchweberei, die Egon Eiermann dort 1951 errichtete. Vor wenigen Monaten wurde die mit Wellasbestzementplatten verkleidete Fabrikationshalle zum Abbruch freigegeben.

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04. Juli 2008Sonja Hildebrand
Neue Zürcher Zeitung

Auf Wiedersehen am Heimplatz

Im Juni 1958 erhielt das Kunsthaus Zürich mit dem Bührle-Saal seinen bis heute markantesten Erweiterungsbau. Als neutrale Raumhülle für Wechselausstellungen bildet er ein Erfolgsmodell. Die Entstehungsgeschichte des von Hans und Kurt Pfister entworfenen Gebäudes war von jahrelangen Auseinandersetzungen um die architektonische und städtebauliche Gestaltung begleitet.

Im Juni 1958 erhielt das Kunsthaus Zürich mit dem Bührle-Saal seinen bis heute markantesten Erweiterungsbau. Als neutrale Raumhülle für Wechselausstellungen bildet er ein Erfolgsmodell. Die Entstehungsgeschichte des von Hans und Kurt Pfister entworfenen Gebäudes war von jahrelangen Auseinandersetzungen um die architektonische und städtebauliche Gestaltung begleitet.

Das Kunsthaus steht von jeher in einem städtebaulichen Brennpunkt von Zürich. Es markiert den südwestlichen Ausgang der Altstadt; vor allem aber war und ist es das wichtigste und repräsentativste öffentliche Gebäude am Heimplatz. Mit dem Kunsthaus und dem Schauspielhaus am West- und Südrand sowie dem Konservatorium, der Kantonsschule, der Universität und der ETH in der näheren Umgebung war der Platz für Alfred Roth «das eigentliche kulturelle Zentrum der Stadt». Heute bildet er einen Hauptabschnitt der «Bildungs- und Kulturmeile» entlang der Rämistrasse, dem derzeit wichtigsten kulturellen Ausbauprojekt in Zürich.

Riegel- oder Torbau?

Als Karl Moser ab 1904 das Kunsthaus Zürich plante, musste er sich mit einem vergleichsweise eng begrenzten Bauplatz begnügen. Der 1910 eröffnete Museumsbau bestand aus dem dreistöckigen Kubus des Sammlungsgebäudes mit dem Haupteingang und dem in Richtung Rämistrasse anschliessenden zweigeschossigen Ausstellungstrakt. Eine weitere Ausdehnung in Richtung Norden und Niederdorf war nicht möglich, da Moser auf die geplante Verlängerung der Kantonsschulstrasse Rücksicht nehmen musste. Das Teilstück sollte etwa auf der Höhe des Bührle-Saals verlaufen und den Heimplatz mit dem südlichen Abschnitt des Hirschengrabens verbinden. Erst Anfang der vierziger Jahre konnte der damalige Kunsthausdirektor Wilhelm Wartmann endlich die «Kunstinsel» ausrufen. Nun stand das gesamte Areal zwischen Rämistrasse und Hirschengraben zur Verfügung. Damit war der Weg für die Erweiterung frei; es war aber auch der Beginn eines Streits, der die lange Planungs- und Baugeschichte des Grossen Ausstellungssaals prägte.

Kernpunkt der Auseinandersetzungen war die städtebauliche Funktion des Kunsthaus-Komplexes in Bezug auf das historische Zentrum. Für Karl Moser, der seit 1919 Erweiterungsprojekte entworfen hatte, war das Museum Teil eines Tores zur Altstadt. Anders sah es Hans Hofmann, der 1942 im Auftrag der Zürcher Kunstgesellschaft den Perimeter des Erweiterungsprojekts klärte. Er ignorierte in seiner städtebaulichen Studie eine mögliche Torsituation und liess den Bauplatz winkelförmig bis zum Heimplatz vorstossen. Eine solche Lösung entsprach durchaus den Wünschen seiner Auftraggeberin, nicht zuletzt mit Blick auf den im Eck zwischen Alt- und Erweiterungsbau entstehenden Museums-Vorplatz. Als «gänzlich unerwünschte Abriegelung» zwischen Heimplatz und Altstadt wurde das Projekt dagegen sofort in der NZZ und andernorts abgelehnt. Diese Kritik verstummte so schnell nicht mehr und zog unter anderem eine «Kunsthausmotion» und so harsche Proteste aus Architektenkreisen nach sich, dass am Ende sogar eine Schlichtungsaktion des Bundes Schweizer Architekten nötig war.

Der Bau der Brüder Pfister

Im Fokus der jahrelangen Auseinandersetzungen standen die jungen Brüder Hans und Kurt Pfister. Sie waren die Gewinner des 1943/44 veranstalteten Wettbewerbs für den Erweiterungsbau und hatten tatsächlich den von manchen befürchteten massiven Riegel entworfen. Am Ende der sich über 14 Jahre erstreckenden Planungs- und Bauzeit war das ursprüngliche Projekt mehrfach umgearbeitet. Die letzten Korrekturen nahmen die Architekten noch während der Ausführung des im Herbst 1954 begonnenen Baus vor.

Das Ergebnis war ein formal, funktional und städtebaulich erheblich – und durchaus vorteilhaft – verändertes Gebäude. Indem die Gebrüder Pfister das Gebäude auf mächtige Stützen stellten und unter diesen zwei gläserne Kuben mit dem Kunsthausrestaurant und dem Vortragssaal schoben, wurde der Erweiterungsbau optisch durchlässig. Eine Fussgängerpassage führt unter ihm hindurch, in Fortsetzung der von der Altstadt herkommenden Krautgartengasse. Am Heimplatz bildet der schwebende Balken eine gelungene Zäsur des vorbeiführenden Strassenzugs. Ein Gewinn für das urbane Leben ist der Aussenraum vor dem Bührle-Saal, der seine Fortsetzung in dem offenen Skulpturenhof zwischen den beiden Verbindungstrakten zum Moser-Bau findet.

Die gravierendste Umplanung in funktionaler Hinsicht erfuhr der Erweiterungsbau im Obergeschoss. War dort zunächst zusätzlicher Platz für die hauseigene Sammlung verlangt, erkannte man Anfang der fünfziger Jahre einen neuen Trend. «Wechselausstellungen haben in letzter Zeit ungeahnten Aufschwung genommen», heisst es in der Abstimmungsbroschüre von 1954. Und auf öffentlichkeitswirksame Wechselausstellungen setzte nun auch das Kunsthaus, diesen Teil seiner seit je doppelten Funktion als Museum und als Kunsthalle betonend. Die ursprünglich geplante Saal- und Kabinettfolge wurde zugunsten des Novums eines einzigen, 18 Meter breiten und 70 Meter langen, flexibel unterteilbaren Oberlichtsaals aufgegeben. Auch stilistisch ging man mit der Zeit. Der aufgeständerte Saalbau mit seiner Verkleidung aus gerippten Betonplatten, mit Bandfenstern an den Langseiten und dem zurückgesetzten Glasdach zeigt nur noch eine entfernte Verwandtschaft zu dem optisch viel kompakteren und schwereren Wettbewerbsprojekt.

Ein privater Donator

Die Türen zur Finanzierung des Grossen Ausstellungssaals hatte Emil G. Bührle aufgestossen. Seit 1936 Alleininhaber der Maschinen- und Rüstungsfabrik Oerlikon-Bührle, prominentes Mitglied der Zürcher Kunstgesellschaft und passionierter Sammler insbesondere von Werken des französischen Impressionismus und der klassischen Moderne, hatte er gleich zu Beginn der Planung die entscheidende Unterstützung zugesagt. Am Ende übernahm er die gesamten Baukosten von 7,5 Millionen Franken, 2 Millionen mehr als noch 1953 nach einer Redimensionierung des Projekts angenommen. Dementsprechend hoch gelobt wurde der «private Donator». Als «nachsichtig und konsequent» charakterisierte ihn rückblickend Zürichs Stadtpräsident Emil Landolt anlässlich der Einweihung des Grossen Ausstellungssaals, der im allgemeinen Sprachgebrauch den Namen seines Stifters trägt. Bührle selbst war schon 1956 verstorben und erlebte die Einweihung und die Eröffnungsausstellung, die einen Überblick über seine Sammlung bot, nicht mehr.

In der Ausstellungspraxis hat sich der Bührle-Saal mit seinen nahezu raumhohen, verschiebbaren Wandelementen, den Benedikt Huber 1959 in der Architekturzeitschrift «Werk» als architektonischen Un-Raum kritisiert hatte, offenbar bestens bewährt. Das Wettbewerbsprogramm für den derzeit geplanten Erweiterungsbau des Kunsthauses auf dem Kantonsschulareal beschreibt den dort geforderten zusätzlichen Raum für Wechselausstellungen als «kleinere Ausgabe» des Bührle-Saals. Mit diesem Erweiterungsbau soll zudem nun auch die Sammlung Bührles an das Kunsthaus gebunden werden: Für die 1960 in eine Stiftung übergeführten Teile ist ein eigener grosser Bereich vorgesehen. Der Abschiedsgruss von Emil Bührle nach seinem Vortrag über das «Werden meiner Sammlung» von 1954 gilt also wieder neu: «Auf Wiedersehen am Heimplatz».

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2008.07.04

24. August 2007Sonja Hildebrand
Neue Zürcher Zeitung

Spross einer Künstlerfamilie mit Sinn für das Rationelle

Es beeindruckt, wenn ein Mensch hundert Jahre alt wird. Es tut dies umso mehr, wenn die Person Teil der nationalen Geschichte geworden ist und zudem mit wachem Geist darüber Auskunft geben kann. Ein solches Faszinosum ist Bruno Giacometti, der heute in Zollikon bei guter Gesundheit seinen 100. Geburtstag feiert.

Es beeindruckt, wenn ein Mensch hundert Jahre alt wird. Es tut dies umso mehr, wenn die Person Teil der nationalen Geschichte geworden ist und zudem mit wachem Geist darüber Auskunft geben kann. Ein solches Faszinosum ist Bruno Giacometti, der heute in Zollikon bei guter Gesundheit seinen 100. Geburtstag feiert.

Bruno Giacomettis schönster Bau steht in Venedig. Der 1952 eingeweihte Schweizer Biennale-Pavillon ist ein Kabinettstück heiter-eleganter Ausstellungsarchitektur. Von aussen präsentiert sich das kleine Gebäude als frei komponierte Gruppe teils offener, teils überdeckter Hofräume. Der Dialog zwischen innen und aussen entfaltet sich besonders eindrücklich im tonnengewölbten Skulpturensaal und dem vorgelagerten Gartenhof, zu dem sich der Saal auf ganzer Höhe öffnet. Keine Fensterwand, sondern nur ein quer vor dem Ausstellungsraum verlaufender gedeckter Weg vermittelt ins Freie. Ein in den Skulpturenhof integrierter Baum bildet das Bindeglied zum alten Baumbestand der Giardini. Architektur, Kunst, Mensch und Natur erscheinen im Sinne einer «humanen» Moderne in Einklang gebracht.

Künstlerfamilie

Architektur und Kunst sind die beiden grossen Themen im Leben von Bruno Giacometti, dem hauptsächlich in Zürich und Graubünden tätigen Architekten, der am 24. August 1907 in die berühmteste Schweizer Künstlerfamilie des 20. Jahrhunderts hineingeboren wurde. Der Vater Giovanni Giacometti stand damals am Beginn einer internationalen Karriere als Maler. Nach Studienjahren im Ausland war er in seine Heimat zurückgekommen, das abgeschiedene und zugleich weltoffene Auswanderer- und Heimkehrertal Bergell. Dorthin reisten auch die Freunde des Vaters. So Cuno Amiet, der Taufpate von Brunos ältestem Bruder Alberto, oder Ferdinand Hodler, der Brunos Patenonkel wurde.

Vor diesem Hintergrund erscheint Bruno Giacometti mit seinem Interesse für Technik geradezu als Ausbrecher aus der Familientradition. An der ETH Zürich schrieb er sich 1926 zunächst für ein Ingenieurstudium ein. Doch das Berufsziel Schiffsingenieur stellte sich bald als schwer erreichbar heraus. Den Wechsel zur Architektur bewirkte ein Freund, der Giacometti mit dem Unterricht von Karl Moser, dem «Vater der Schweizer Moderne», bekannt machte. Durch Moser habe er gelernt, so Giacometti, dass Architektur mehr ist als das Entwerfen von Fassaden. Das Diplom machte Giacometti 1930 bei Otto Rudolf Salvisberg, Mosers Nachfolger an der Hochschule.

Grosse Projekte

In der schwierigen Zeit der Weltwirtschaftskrise fand Giacometti 1930 eine Anstellung im Architekturbüro von Karl Egender. Er blieb fast ein Jahrzehnt. Am Ende betraute Egender ihn mit grossen und wichtigen Bauaufträgen wie dem Zürcher Hallenstadion.

Auf der Landesausstellung 1939 war Giacometti im Büro unter anderem für die Modeabteilung verantwortlich. Die von Alberto Giacomettis Biografen James Lord berichtete berühmte Anekdote, dass der Bildhauer eines Tages statt – wie erwartet – eine Skulptur mit Bahn und Lastwagen anzuliefern, eine Schachtel mit einem winzigen Gipsfigürchen aus seiner Tasche zog, hat ihren Schauplatz auf dieser Baustelle am Zürichsee. Bruno Giacometti hatte seinen Bruder ins Spiel gebracht, als es darum ging, eine Skulptur für das Atrium des Modepavillons zu finden.

Nach einem Wettbewerbserfolg machte sich Giacometti 1940 zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt selbständig. Bis Kriegsende verbrachte er insgesamt fast drei Jahre im Militärdienst. Verlorene Jahre, sagt er heute. Das einzige in dieser Zeit realisierte kleine Wohnhaus für einen Cousin entstand in Chur. Um die Baukosten niedrig zu halten, fuhr Giacometti von Zürich mit dem Fahrrad dorthin.

Architekt in Zürich und im Bergell

In den mageren Nachkriegsjahren halfen mitunter befreundete Kollegen wie Rudolf Steiger und Hermann Fietz, die Giacometti für Bauprojekte hinzuzogen. Den Auftrag zum Umbau des Restaurants Roxy, das zum 1930–32 nach Plänen von Steiger, Carl Hubacher und Flora Steiger-Crawford errichteten Zett-Haus gehörte, erhielt Giacometti 1946 ohne Zutun der Architektenkollegen. Teile der von ihm entworfenen Ausstattung, vor allem die karnivorenförmigen Tischlampen, scheinen geradewegs dem surrealistischen Kunstkosmos zu entstammen. Doch den sich einstellenden Verdacht innerfamiliärer Diskussionen bestätigt Bruno Giacometti nicht: Seine Brüder Alberto und Diego hätten sich nicht für Architektur interessiert.

Mit der Bautätigkeit der 1953 gegründeten Bergeller Kraftwerke und der durch diese zu Wohlstand gelangten Gemeinden wurde Giacometti zu einer Art Hausarchitekt seines Heimattals. Aufträge im Engadin und Puschlav folgten. Die Wohnsiedlungen, Postgebäude, Schul- und Gemeindehäuser sind Beispiele einer modernen Architektur, die über das Material, aber auch durch typologische Referenzen regionale Bezüge schafft – in der Haltung dabei ungleich bescheidener als Rudolf Olgiati, der zweite Hauptvertreter eines modernen Regionalismus in Graubünden.

Ein analoges Anknüpfen an örtliche Gepflogenheiten war im urbanen Zürich kein Thema. Sehr wohl aber die Einbettung der Gebäude in den Stadt- oder Landschaftsraum. Davon zeugen unter anderem das 1962 fertig gestellte Stadthaus Uster und die Schweizerische Epilepsie-Klinik (1962-75) am Zürcher Stadtrand.

Kunstvermittler und Mäzen

Nachdem sein Vater 1933 gestorben war, kümmerte sich Bruno Giacometti um den Nachlass. Damit begann ein mäzenatisch geprägtes Engagement, das sich seit dem Tod Alberto Giacomettis 1966 auch auf das Werk des Bruders erstreckt. Dem Kunsthaus Zürich ist Giacometti seit den fünfziger Jahren eng verbunden. Jahrelang war er Mitglied, später auch Präsident der Ausstellungskommission und für die Gestaltung vieler Ausstellungen mitverantwortlich. Den Schweizer Kunstskandal um den Ankauf der Giacometti-Sammlung, der 1965 mit der Gründung der Giacometti-Stiftung endete, hat er hautnah miterlebt. Zuletzt erhielt er zusammen mit seiner Frau Odette 2006 die Heinrich-Wölfflin-Medaille der Stadt Zürich als Anerkennung für die Schenkung von Bronzeplastiken und 75 Originalgipsen aus dem Nachlass der Witwe Alberto Giacomettis.

Bei aller «grossen Kunstgeschichte» ist die Architektur Bruno Giacometti bis heute wichtig geblieben. Für deren Zukunft wünscht er sich, dass sie den Menschen und dessen Lebensraum wieder unangefochten ins Zentrum stellt.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2007.08.24

28. März 2006Sonja Hildebrand
Neue Zürcher Zeitung

Architektur der Macht

Das Architekturmuseum in der neuen Pinakothek München zeigt derzeit eine Ausstellung über den Nationalsozialismus in München, die sich durch klare Stellungnahmen auszeichnet. Dabei setzt sie auf eine betont rationale, nüchterne Präsentation des Themas.

Das Architekturmuseum in der neuen Pinakothek München zeigt derzeit eine Ausstellung über den Nationalsozialismus in München, die sich durch klare Stellungnahmen auszeichnet. Dabei setzt sie auf eine betont rationale, nüchterne Präsentation des Themas.

Auf der historischen Landkarte des Nationalsozialismus ist München ein wichtiger Ort. In München entwickelte sich die NSDAP mit Adolf Hitler an der Spitze von der rechtsextremen Splitterpartei zur einflussreichen Massenpartei, dort wurden SA und SS gegründet. Der Jahrestag des als «Marsch auf die Feldherrnhalle» gefeierten nationalsozialistischen Putschversuchs vom 9. November 1923 stand ab 1933 im Zentrum des nationalsozialistischen Blut- und Märtyrerkults. Der Gedächtnismarsch endete 1935 an den beiden neu errichteten «Ehrentempeln» am Königsplatz, in denen die Sarkophage der 15 «Blutzeugen» von 1923 aufgestellt waren. Die Ehrentempel gehörten zu einem monumentalen Forum der NS-Bürokratie und des Kults, zu dem der Königsplatz und dessen Umgebung 1933-1937 ausgebaut wurden. An der Ostseite des Platzes, der 1936 einen für Massenaufmärsche tauglichen Belag aus Granitplatten erhielt, entstanden der «Verwaltungsbau der NSDAP» und der «Führerbau», in dem 1938 das Münchner Abkommen unterzeichnet wurde. Um an den erforderlichen Bauplatz zu gelangen, zwangen die Nazis den jüdischen Mathematiker, Kunstsammler und Schwiegervater Thomas Manns, Alfred Pringsheim, schon 1933 zum Verkauf seines Palais. Die von Paul Ludwig Troost entworfenen Neubauten wurden, wie auch dessen «Haus der Deutschen Kunst» an der Prinzregentenstrasse, für die NS- Repräsentationsarchitektur stilbildend.

Orte der Täter und der Opfer

In der Ausstellung, die Winfried Nerdinger vom Architekturmuseum der TU München zusammen mit dem Münchner Stadtarchiv für die Räume in der Pinakothek der Moderne erarbeitet hat und die sich als Beitrag zum 2002 beschlossenen Münchner NS-Dokumentationszentrum versteht, werden diese und zahlreiche weitere Orte der «Täter, Opfer und Zuschauer» (Raul Hilberg) mit Fotos und informativen Texten dokumentiert. In den insgesamt acht Sektionen geht es nicht nur um die Orte des Aufstiegs und der Selbstdarstellung der NSDAP in der «Hauptstadt der Bewegung». Gleiches Gewicht wird zu Recht auf die Durchdringung und Verflechtung aller Bereiche der Gesellschaft, von Behörden und Verwaltungen, von Wirtschaft und Industrie mit dem Nationalsozialismus gelegt.

Eine eigene Sektion bilden «Orte des Widerstands» wie das Atelier des Bildhauers Manfred Eickemeyer in der Nachbarschaft der Universität, in dem sich die Mitglieder der Weissen Rose trafen. Jede Sektion wird von einer Karte eingeleitet, in der die einzeln erläuterten sowie weitere themenrelevante Orte eingetragen sind. Besonders eindrücklich sind die Karten der Sektionen «Entrechtung und Verfolgung» sowie «Zwangsarbeit und Lagersystem». Die dichte Streuung der über 400 Zwangsarbeiter- und Kriegsgefangenenlager sowie der 39 Aussenlager des KZ Dachau im Münchner Stadtgebiet macht schon rein quantitativ deutlich, wie präsent die NS-Opfer im alltäglichen Bild der Stadt waren.

Die bis heute wirksame Brisanz des Ausstellungsthemas liegt vor allem im Umgang mit den Orten des Nationalsozialismus nach 1945 begründet. Er lässt sich weitgehend als eine Geschichte des Verschweigens und Verdrängens beschreiben. In der Ausstellung ist die Münchner Episode der Aktion «Stolpersteine» von Gunter Demnig als jüngster einer langen Reihe von beschämenden Fällen dokumentiert. Der Kölner Künstler verlegt seit 1992 vor dem letzten Wohnort von NS-Opfern Pflastersteine, die Plaketten mit deren Namen, Geburts-, Deportations- und Todesdatum tragen, und wurde dafür unter anderem 2005 mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland geehrt. In München dagegen befürchteten die Stadt und die Präsidentin der Israelitischen Gemeinde eine «Inflationierung» des Gedenkens. Nach einem Beschluss des Stadtrats vom 16. Juni 2004 wurden die beiden bis dahin in München verlegten «Stolpersteine» noch am selben Tag herausgebrochen und auf den Israelitischen Friedhof gebracht.

Verräumlichung der Geschichte

In der Sache wird in der Ausstellung eine deutliche Sprache gesprochen. Die Klarheit ist eine Klarheit der Texte und der Übersichtskarten, die quantitative und strukturelle Zusammenhänge sichtbar machen. Konkretheit wird nicht über Originalexponate erreicht. Auf solche heute in Ausstellungen zur NS-Geschichte übliche Angebote zur emotionalen Einfühlung wurde bewusst verzichtet. Konkret sind die gezeigten Orte und Bauten, die als Träger von Erinnerung verstanden und benutzt werden. Eine solche Verräumlichung der Geschichte - auch eine Folge des «spacial turn» in den Geisteswissenschaften - eröffnet eine andere Möglichkeit des Erlebens von Geschichte: Der Ortskundige findet auf den Ausstellungstafeln oder in der «fotografischen Spurensuche» von Martin Vaché, einer nach Stadtteilen gegliederten Fotodokumentation zu den Relikten der NS-Zeit, ihm bekannte Gebäude und Plätze wieder. Und wer München weniger gut kennt, kann sich mit Hilfe des als Stadtführer konzipierten Katalogs auf den Weg machen. Die Ausstellung entlässt die Besucher nach vollendetem Parcours nicht einfach wieder ins Alltagsleben. Vielmehr fordert und fördert sie eine intensive, geistig aktive Rezeption, die über den Tag hinaus wirkt.

[ Bis 28. Mai im Architekturmuseum der TU in der Pinakothek der Moderne. Katalog: Ort und Erinnerung. Nationalsozialismus in München. Hrsg. Winfried Nerdinger. Verlag Anton Pustet, Salzburg 2006. 226 S., Fr. 51.- (Euro 24.- in der Ausstellung). ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2006.03.28

03. Februar 2005Sonja Hildebrand
Neue Zürcher Zeitung

Architekt zwischen Tradition und Moderne

Die Architekturgeschichte der ehemaligen DDR ist über weite Strecken eine Geschichte ohne Namen. Von dieser Regel gibt es nur eine grosse Ausnahme: Hermann Henselmann (1905-1995). Er war so etwas wie der «Stararchitekt» der Deutschen Demokratischen Republik. Heute vor 100 Jahren wurde er in Rossla in Sachsen-Anhalt geboren.

Die Architekturgeschichte der ehemaligen DDR ist über weite Strecken eine Geschichte ohne Namen. Von dieser Regel gibt es nur eine grosse Ausnahme: Hermann Henselmann (1905-1995). Er war so etwas wie der «Stararchitekt» der Deutschen Demokratischen Republik. Heute vor 100 Jahren wurde er in Rossla in Sachsen-Anhalt geboren.

Am Ende seines Lebens erfuhr Hermann Henselmann Anerkennung aus Ost und West. In Ostberlin hatte der charismatische Schöpfer des neuen Gesichts der Hauptstadt der DDR schon seit den fünfziger Jahren eine für ostdeutsche Verhältnisse hohe Popularität genossen. Den «Durchbruch» im Westen brachte die postmoderne Begeisterung für die Stalinallee, die «Erste Strasse des Sozialismus» mit ihren formalen Anleihen bei Karl Friedrich Schinkel und anderen Heroen der Berliner Architekturgeschichte. Die an Stars gewöhnte westliche Welt störte es nicht, Henselmanns Namen mit dem ganzen Prachtboulevard zu verbinden, obwohl der am 3. Februar 1905 in Rossla in Sachsen-Anhalt geborene Architekt strenggenommen nur für die beiden Torplätze verantwortlich zeichnete.

Ein schillerndes Werk

Einer der Letzten im Kreis der westlichen Henselmann-Bewunderer war der vor wenigen Tagen verstorbene Philip Johnson, der mit dem deutschen Kollegen bei einem Berlin-Besuch kurz vor dessen 90. Geburtstag Freundschaft geschlossen hatte. Beide verband nicht nur persönliche Sympathie, sondern auch ein ähnlich schillerndes Werk. Doch anders als beim amerikanischen Freigeist war Henselmanns Wandelbarkeit immer wieder auch mit politischen Massgaben verbunden gewesen, was ihm entsprechende Vorwürfe eingetragen hat.

Am Anfang von Henselmanns beruflicher Tätigkeit steht ein in seinen äusseren Bedingungen für den «verhinderten Weltbürger» symptomatischer Bau. 1930 überliess der ungarische Filmarchitekt Alexander Ferenzy seinem jungen Mitarbeiter den Auftrag für die Villa Kenwin, welche der englische Drehbuchautor Kenneth MacPherson und dessen Ehefrau, die Psychoanalytikerin und Schriftstellerin Winifred Bryher, bei Montreux als Treffpunkt der internationalen Kunstavantgarde errichten wollten. Henselmann, der nach einer Tischlerlehre von 1923 bis 1926 an der Berliner Kunstgewerbeschule Architektur und Raumgestaltung studiert hatte, konzipierte eine Villa im Stil Le Corbusiers. Die ETH widmete dem kleinen Meisterwerk nach dessen Restaurierung 1989 eine Ausstellung, die Henselmann an der Seite von Alfred Roth besichtigten konnte.

Was auf die 1933 vollendete Villa am Genfersee folgte, war eine für Deutschland typische Geschichte: Henselmann bekam mit seiner modernen Architektur Probleme, fand aber ein Auskommen im Dienst des Landwirtschaftsministeriums sowie in Büros verschiedener Industriearchitekten. Seine eigentliche Karriere begann 1945. Unmittelbar nach Kriegsende beteiligte sich Henselmann in Gotha an der Gründung eines antifaschistischen Komitees und wurde bald darauf Kreisbaurat. Schon im Juli 1945 ging er als Direktor der Hochschule für Baukunst und Bildende Künste nach Weimar. Die dort angestrebte Verbindung von Bauhaus-Tradition und Kommunismus stand auch nach seinem Wechsel 1949 an das damals von Hans Scharoun geleitete Berliner Institut für Bauwesen auf dem Programm.

Den Wendepunkt brachte 1950 das «Hochhaus an der Weberwiese». Das Gebäude war von der Staatsregierung als Prototyp für die Stalinallee gedacht, die den gebauten Triumph des «sozialistischen Realismus» über den «Formalismus» der westlichen Welt bilden sollte. Dementsprechend unter Beschuss geriet Henselmann für seinen zunächst präsentierten modernen Entwurf. Doch dann legte er innerhalb weniger Tage ein neues Projekt vor, das die geforderte Anbindung an die nationale Bautradition bot. «Bruder Leichtfuss» (wie ihn «Das Neue Deutschland» nannte) hatte wieder Fuss gefasst, wurde geistiger Vater der ab 1951 entstehenden Stalinallee, Direktor des Instituts für Theorie und Geschichte der Architektur an der Deutschen Bauakademie und 1953 Chefarchitekt von Berlin.

Vorboten des Wandels

Die «Läuterung» von 1950 blieb nicht die letzte Kehrtwendung Henselmanns. Die Rückkehr zur Moderne Ende der fünfziger Jahre mit den Entwürfen für den zweiten Bauabschnitt der Stalinallee und für einen sich 300 Meter in die Höhe schwingenden Fernsehturm als neues Wahrzeichen von Berlin waren indessen weniger Nachvollzug als Vorboten einer sich wandelnden staatlichen Baupolitik. Den gebauten Anschluss an die internationale Moderne brachte das zwischen 1961 und 1964 ausgeführte «Haus des Lehrers» am Alexanderplatz. Wenige Jahre nach Mies van der Rohes Seagram Building erhielt damit auch die DDR ihren ersten Stahlskelettbau mit Vorhangfassade. Die sozialistische Botschaft an das Volk transportierte ein geschosshohes Wandbild, das sich wie eine Bauchbinde um das Gebäude legt. Auf urbanistischem Gebiet konnte Henselmann seine neuen, an der internationalen Moderne orientierten Vorstellungen mit den «Wohnkurven» am Leninplatz (1968-70) zumindest teilweise verwirklichen.

Die letzten grossen Projekte Henselmanns boten gleichsam eine dialektische Synthese aus «realistischer» Architektur und moderner Tradition. Dies gilt vor allem für die Bildzeichen- Architektur des 1974 fertiggestellten Leipziger Universitätshochhauses in Gestalt eines aufgeschlagenen Buches und das Projekt gebliebene Haus der Wissenschaften, das wie ein gestrandetes Segelschiff am Rostocker Warnow-Ufer liegen sollte. «Ich habe vor, mich im Alter von hundert Jahren aus dem Berufsleben nach Rom zurückzuziehen. Willst Du nicht mitkommen?» Henselmann konnte auf Philip Johnsons Vorschlag in seiner Festschrift zum 90. Geburtstag nicht mehr reagieren. Er starb am 19. Januar 1995, wenige Tage bevor ihm das Buch offiziell überreicht werden sollte.

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2005.02.03

25. September 2004Sonja Hildebrand
Neue Zürcher Zeitung

Eine deutsche Architektenkarriere

Egon Eiermann, dessen Geburtstag sich am 29. September zum hundertsten Mal jährt, dominierte als Architekt und Professor zwei Jahrzehnte lang das bundesdeutsche Baugeschehen. Sein seit Ende der zwanziger Jahre entstandenes Werk galt und gilt als Ausweis einer «Kontinuität der Moderne» vor und nach dem Zweiten Weltkrieg.

Egon Eiermann, dessen Geburtstag sich am 29. September zum hundertsten Mal jährt, dominierte als Architekt und Professor zwei Jahrzehnte lang das bundesdeutsche Baugeschehen. Sein seit Ende der zwanziger Jahre entstandenes Werk galt und gilt als Ausweis einer «Kontinuität der Moderne» vor und nach dem Zweiten Weltkrieg.

Egon Eiermann, 1904 bei Potsdam geboren, gehört zur zweiten Generation der Moderne. Vielleicht war es dieser Umstand, der es ihm erlaubte, schon als junger Mann einen differenzierten Blick auf die moderne Architektur zu entwickeln. Als er Ende der zwanziger Jahre seine Berufspraxis begann, hatte das Neue Bauen jedenfalls in Publizisten wie Adolf Behne oder Peter Meyer auch in den eigenen Reihen seine kritischen Begleiter gefunden. Für Eiermann wurde Hans Poelzig prägend. Sein Lehrer an der Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg hatte sich stets eine eigenständige Position zwischen den Lagern der «Konservativen» und «Modernen» bewahrt.

Moderne Grundhaltung

Ganz zeittypisch vertrat Eiermann damals seine Position nicht als Einzelkämpfer, sondern gründete 1926 zusammen mit Kommilitonen die «Gruppe junger Architekten», deren Publizist Julius Posener war. Was man nicht wollte, war eine plakative Modernität um ihrer selbst willen, eine unreflektierte, nur modische Verwendung moderner Signete. Von der Integration fachfremder Wissenschaften wie der Soziologie oder der Hygiene in den Entwurfsprozess hielt man ebenfalls wenig: «Wir waren der Meinung, dass der Architekt in erster Linie die Bedingungen des Bauens kennen muss: des (handwerklichen) Bau- Vorgangs sowie der Umwelt und der Nutzung.»

Eiermann begann 1928 als angestellter Architekt. Doch weder im Hamburger Baubüro der Karstadt AG noch bei den Berliner Elektrizitätswerken hielt es ihn lang. Schon 1930 machte er sich in Berlin selbständig; bis 1934 teilte er das Büro mit seinem Studienfreund Fritz Jaenecke. Eiermanns Erstling, das Umspannwerk Berlin- Steglitz, fand unter anderem 1931 in Heinz Johannes' Führer zum «Neuen Bauen in Berlin» Aufnahme. Vom Bauhaus schickte Mies van der Rohe seine Studentinnen und Studenten 1932 beim nahe gelegenen Haus Hesse vorbei, Eiermanns und Jaeneckes frühem Kabinettstück im Süden Berlins. Noch 1934 wurde dieser eingeschossige Flachdachbau mit der im Prüssverband gemauerten Sichtziegelfassade und einer Vielzahl an räumlichen Bezügen in der Fachpresse als beispielhafte «Verwirklichung eines zeitgemässen geistigen und materiellen Wesensgehaltes» gelobt, in dessen Mittelpunkt der Mensch stehe. Mit wenigen Ausnahmen zeigen alle Bauten Eiermanns dieser Jahre eine moderne Grundhaltung ohne Zug ins Extreme, die ihm nach der nationalsozialistischen Machtübernahme das Weiterbauen erleichterte.

Bauen im dritten Reich

In der Literatur wird Eiermanns Berliner Zeit bis 1945 zwar oft marginalisiert; für sein Selbstverständnis und seine öffentliche Wahrnehmung vor und unmittelbar nach 1945 besass sie indessen ein nicht zu unterschätzendes Gewicht. Gerade in diesen Jahren manifestierte sich Eiermanns Arbeitsethos besonders deutlich. Sein Freund, Berliner Mitarbeiter und Karlsruher Kollege Rudolf Büchner hat es so beschrieben: «Mensch und Architekt Egon Eiermann? Beides lässt sich gerade bei ihm nicht trennen. Der Mensch war immer zugleich Architekt, und zwar mit Leidenschaft und Besessenheit und stets mit kontrollierender Strenge sich selbst gegenüber.» Der (gute) Mensch definierte sich über die (gute) Arbeit. Dass die Mitmenschen de facto dabei aus dem Fokus geraten konnten, lag auch an der Logik des diktatorischen nationalsozialistischen Systems und des Krieges. Seine Mitarbeiter ermahnte Eiermann noch im Februar 1945 zum rechtzeitigen Arbeitsbeginn: «Jetzt aber ist der Zeitpunkt gekommen, wo ich mich von jedem trennen werde, bei dem private Neigungen und Wünsche den Beweis erbringen, dass er diese für wichtiger hält als die Arbeit im Büro.»

Die Einfamilienhäuser, die bis 1942 in Berlin und dessen Umland entstanden, zeigten trotz nunmehr (flach) geneigten Dächern eine klare Kubatur der oft asymmetrisch ausgebildeten Baukörper, betont flächige Fassaden und eine enge Verzahnung mit der umgebenden Natur. Während Eiermann in der äusseren Erscheinung seiner Bauten explizit landschaftsgebundene oder gar historisierende Formen vermied, forcierte er im Innern mitunter ein rustikales Erscheinungsbild. Öffentliche Anbiederung an den verordneten Zeitgeschmack war das nicht.

Das grösste Potenzial für die Zukunft schuf sich Eiermann mit den Industriebauten, deren Planung ab 1936 zunehmend seinen Büroalltag bestimmte. Dass er auf diesem Feld reüssieren konnte, lag teils an der nationalsozialistischen Rüstungs- und Wirtschaftspolitik, teils an den gestalterischen Möglichkeiten, die die Diktatur dort erlaubte. Die von den Industriearchitekten nach 1945 für sich in Anspruch genommene politikfreie «Nische Industriebau» hat es dagegen bekanntlich nicht gegeben. Auch Eiermanns formal und funktional konsequent modern gestaltete Fabrikgebäude wie der 1939 entstandene Stahlbetonskelettbau der «Total»-Werke in Apolda mit seinem markanten Dachgarten wurden bis in die Kriegsjahre hinein öffentlich wahrgenommen.

Eiermann war kein Freund der offiziellen Repräsentationsarchitektur; sein Verriss der Beiträge zum Dessauer Theaterwettbewerb von 1935 ist berühmt. Das bedeutete aber nicht, dass er grundsätzlich keine öffentlichen Aufträge annahm. Seine politisch brisanteste Arbeit ist die Gestaltung der «Leistungsschau» der staatlichen Propagandaausstellung «Gebt mir vier Jahre Zeit!», die 1937 auf dem Berliner Messegelände gezeigt wurde. Den Auftrag hatte Eiermann Ende 1936 nach einem eingeladenen Wettbewerb vom Propagandaministerium erhalten. - Dank seinem Einstieg in den Industriebau blieb Eiermann auch in den Kriegsjahren gut beschäftigt. Bei Kriegsende leitete er Baustellen im gesamten Reich einschliesslich der annektierten Ostgebiete. Die Bandbreite seiner Projekte reichte von Behelfsunterkünften bis zur Planung einer ganzen Stadt mit Flugfeld und ausgedehntem Industriequartier im Auftrag des Reichsluftfahrtministeriums.

Von Berlin nach Karlsruhe

Als Eiermanns Berliner Zeit im April 1945 mit der Flucht nach Buchen im Odenwald, der Heimatstadt seines Vaters, endete, war er ein bekannter Architekt. Die funktionelle und propagandistische Einbindung einiger seiner Arbeiten in die nationalsozialistische Politik und Kriegswirtschaft blieb in der Regel ausgeblendet. Dies dürfte umso leichter gefallen sein, als Eiermann - anders etwa als Peter Behrens - keine öffentlichen Prachtbauten entworfen hatte. Das sichtbarste Zeichen von Eiermanns deutschlandweiter Anerkennung war die schnelle akademische Karriere, die sich gleich nach Kriegsende mit Angeboten aus Weimar, Berlin, Darmstadt, Hannover und Karlsruhe anbahnte. Im April 1947 wurde Eiermann als «Persönlichkeit grösster praktischer Bauerfahrung auf dem Gebiete der modernen Baumethoden, zugleich aber regster geistiger Lebendigkeit und Verknüpfung mit allen andern kulturellen Strömungen unserer Zeit» nach Karlsruhe berufen. Dorthin verlegte er 1948 auch sein Büro, das er bis 1965 gemeinsam mit seinem Berliner Mitarbeiter Robert Hilgers betrieb. Eiermann blieb bis in die sechziger Jahre hinein die dominierende Persönlichkeit der Architekturfakultät. Dank ihm wurde Karlsruhe zum Zentrum der modernen Architekturlehre in Deutschland. Seine Schüler sind zahlreich. Einer der heute berühmtesten, Oswald Mathias Ungers, erwarb schon 1950 das Diplom; danach ging er eigene Wege.

Was moderne Architektur nach dem politischen Neuanfang sein und leisten sollte, hat Eiermann, der eigentlich die Praxis der theoretischen Grundlegung vorzog, in den Jahren um 1950 mehrfach bekundet: als Teilnehmer der Darmstädter Gespräche, als Mitarbeiter der damals renommiertesten deutschen Architekturzeitschrift «Baukunst und Werkform» oder auch in Provinzblättern, wo er über den «Wiederaufbau auf dem Lande», die Notwendigkeit einer Bodenreform oder die Schweizer Wanderausstellung «USA baut» schrieb. Eiermann verstand sich als Garant der «Kontinuität der Moderne», einer Moderne, die jetzt auch für Humanität, Völkerverbindung, Freiheit und Demokratie stand.

Bis Anfang der fünfziger Jahre blieb die Industriearchitektur Eiermanns wichtigste Domäne. 1951 wurde mit der Taschentuchweberei in Blumberg im Südschwarzwald einer seiner konstruktiv und in der architektonischen Gestaltung innovativsten Bauten fertig gestellt. Mit Blumberg und anderen Bauten dieser Jahre trug Eiermann massgeblich zum Anschluss der jungen Bundesrepublik an die internationale Moderne bei. Erstmals blickte das Ausland wieder wohlwollend auf Deutschland. Die Schweizer Architekturzeitschrift «Werk» rechnete die Blumberger Fabrik 1952 «zum Besten, was Westdeutschland seit dem Kriege an Bauten hervorgebracht hat». Heute zählt das frühe Lob indessen nicht mehr viel: Die hervorragend proportionierte Halle mit der Wellasbestzement-Fassade steht seit 1995 leer und ist in ihrem Bestand akut gefährdet.

Meister der Stahlarchitektur

Mit der «Wirtschaftswunderzeit» wurde der Verwaltungs- und Geschäftshausbau zu Eiermanns täglichem Brot. Die Führung auf diesem Gebiet musste er sich in Deutschland nur mit Paul Schneider-Esleben teilen. Eiermann, dem architektonische Ordnung und die «knappe Form» als Äusserungen von Bescheidenheit und Rücksichtnahme galten, entwickelte sich zum Meister der an Mies van der Rohe geschulten Stahlarchitektur. Dem «formlosen Beton» und den plastisch-expressiven «Experimenten» Le Corbusiers oder Hans Scharouns setzte Eiermann Formstrenge und die Visualisierung der betont schlanken Konstruktionen entgegen.

Zu seinen Markenzeichen wurde die beim Warenhaus Merkur in Reutlingen 1952/53 erstmals realisierte zweite Fassadenschicht aus Umgängen, Gestängen und Sonnenschutzvorrichtungen, die auch grosse Bauten leicht und elegant erscheinen lässt. Mit Eiermanns Namen sind aber auch die uniformen Fassadenschürzen aus keramischen Wabenelementen verbunden, die zum ungeliebten Signet der Horten-Kaufhäuser wurden. Aus Eiermanns Büro stammen letztlich nur zwei der später zahlreich wiederholten «HortenWaben»: das Warenhaus Horten in Heidelberg (1958-62) und sein Stuttgarter Gegenstück (1951-60), für dessen Bau Eiermann den Abriss von Erich Mendelsohns Inkunabel der modernen Kaufhausarchitektur, des 1928 eröffneten Schocken-Kaufhauses, hinnahm.

Umgang mit dem Baubestand

Was Eiermann bei Mendelsohn Überwindung gekostet hatte, fiel ihm bei einem Monument des Kaiserreichs nicht schwer: Die Ruine der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche gab er in seinen Wettbewerbsentwürfen von 1956/57 mit voller Überzeugung zum Abriss frei. Doch wo der Geldwert keine Rolle spielte, konnte der Symbolwert seine ganze Kraft entfalten. Während die Kritik in Stuttgart ins Leere gelaufen war, führte sie in Berlin zu einer Korrektur der Bauaufgabe. Infolge der öffentlichen Proteststürme schrieb der Bauherr schliesslich den Erhalt der Turmruine vor. Um diese herum gruppierte Eiermann die vier Einzelbauten von Kirche, Sakristei, Kapelle und neuem Turm auf gemeinsamem Podest zu einem sorgfältig austarierten Ensemble, das nicht nur dem westlichen Zentrum einen Fixpunkt gab, sondern auch der Stadt ein neues Wahrzeichen. Einen eigenen Ausdruck entfalteten die aus wabenartigen Betonelementen aufgebauten Aussenwände der Kirche. Während die Wabenfassaden der Kaufhäuser die Aufgabe hatten, die ungestalteten Aussenwände zu kaschieren, sind sie bei der Gedächtniskirche wie auch bei Eiermanns kleinem Meisterwerk der Matthäuskirche in Pforzheim (1952-56) als diaphane Wände zwischen die sichtbare Skelettkonstruktion gespannt. In den fünfziger und sechziger Jahren umfasste Eiermanns Planungsradius das gesamte Bundesgebiet. Darüber hinaus gelangte er zwar kaum je, sein Renommee aber überstrahlte die Landesgrenzen weit. Dies verdankte er nicht zuletzt jenen Projekten, die er als Architekt der Bundesrepublik verwirklichen konnte - allen voran der zusammen mit Sep Ruf ausgeführten Pavillongruppe auf der Weltausstellung in Brüssel und dem 1958-64 realisierten Kanzleigebäude der Deutschen Botschaft in Washington.

Die über dunklen Sockeln gleichsam schwebenden gläsernen Würfel in Brüssel wurden zum Symbol des demokratischen Deutschland, das sich 1958 erstmals wieder im Kreis der «freien Welt» präsentieren durfte. Als «demokratische Architektur» verstand Eiermann auch das mit mehreren amerikanischen Preisen ausgezeichnete Washingtoner Botschaftsgebäude, dessen langgestreckter Baukörper sich wie ein Hochseedampfer in das abfallende Terrain schiebt. Was Eiermann als Gegenbild zur «alten machtverkündenden Vertikalströmung» verstand, stellte Ungers dreissig Jahre später wieder in Frage: Er gestaltete die benachbarte, 1995 eingeweihte Botschafterresidenz als klassizistische «Säulenbotschaft».

Eiermann blieb auch in den Jahren des boomenden Betonbaus ein Meister der Stahlarchitektur. Die Bauten seiner letzten Lebensjahre waren bereits in ihrer Entstehungszeit Klassiker. So erscheint es nur folgerichtig, dass er noch kurz vor seinem Tod als Nachfolger Mies van der Rohes in den Orden Pour le Mérite gewählt wurde. Dass sich Klassik immer auch mit Innovation und geradezu spielerischer Leichtigkeit verbinden konnte, führte Eiermann zuletzt mit den erst postum fertig gestellten Olivetti-Türmen vor. Sie gehören immer noch zum Besten, was das in letzter Zeit nicht sehr Eiermann-freundliche Frankfurt - man erinnere sich an den Abriss von Eiermanns Hochtief-Gebäude im letzten Jahr (NZZ 12. 9. 03) - den an Architektur Interessierten zu bieten hat.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2004.09.25



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