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Genial oder banal?

Das neue Schulhaus Leutschenbach spaltet die Architekturkritiker. Sechs kontroverse Meinungen zum Bau von Christian Kerez.

Das neue Schulhaus Leutschenbach spaltet die Architekturkritiker. Sechs kontroverse Meinungen zum Bau von Christian Kerez.

Es ist das zweitgrösste Schulhaus der Stadt Zürich und von der Kindergärtlerin bis zum Sekschüler gehen hier alle ein und aus. Der Bau dauerte ein Jahr länger als vorgesehen. Die Erscheinung ist für ein Schulhaus so ungewöhnlich, dass sie polarisieren muss. Seit August ist das Schulhaus Leutschenbach nun in Betrieb und Hochparterres Redaktorinnen und Redaktoren besichtigten es mit dem Architekten Christian Kerez.

Die Heiligsprechung des Banalen

Ivo Bösch: Die Jury traute dem Entwurf von Christian Kerez nicht zu, dass er baubar ist. Im Wettbewerb aus dem Jahr 2003 liess sie zwei Projekte überarbeiten. Zwar gefielen damals die Zonen zwischen den Schulzimmern. Doch dieser Bereich war Fluchtweg, also nicht nutzbar. Erst nach der Überarbeitung schlug Kerez die Fluchtbalkone vor. Der Feuerpolizist entwarf also beträchtlich mit. Eine Turnhalle auf dem Dach, eine Doppeltreppe, aneinander gereihte, hohe Schulzimmer und eine stützenfreie Fassade im Erdgeschoss: Mehr steckt nicht im Entwurf. Der Kern des Projekts ist die Konstruktion.

Das Haus steht nur auf sechs Dreifachstützen. Für den Handstand auf dem kleinen Finger scheute der Architekt keine Kosten. Doch bestimmte der Bauingenieur, wo welche Querschnitte welche Lasten tragen. Was Kerez mit dem kompakten Entwurf gewinnt, verliert er mit dieser Konstruktion. Obwohl beim Ausbau gespart wurde und obwohl es die zweitgrösste Schule der Stadt Zürich ist, ist der Bau im Kubikmetervergleich (BKP 1– 9: CHF 1108.–/m3, Stand August 2009) eines der teuersten Schulhäuser. Schon die Jury schrieb nach der ersten Stufe: «Die durch die kompakte Gebäudeform gegebene Ausgangslage für eine günstige Ökonomie wird durch zu erwartende erhöhte konstruktive Aufwendungen gemindert.» Dass diese Aufwendungen so gross werden und der Ausbau so leiden musste, konnte sie nicht voraussehen: Wände aus Industrieglas, in den Schulgeschossen Kunststeinplatten am Boden, sichtbare PE-Abwasserleitungen. Alles wirkt banal, Kerez würde es reduziert nennen. Glück für ihn, dass das Schulhaus in Schwamendingen steht und die Stadt endlich ein Signal für die Quartierentwicklung neben der Kehrichtverbrennungsanlage setzen musste.

Alles schrumpft

Roderick Hönig: 1994 stellte Pipilotti Rist im Kunstmuseum St. Gallen zwei überdimensionale Fernsehsessel neben eine meterhohe Stehlampe. Wer versuchte, die gigantischen, kaum handhabbaren Möbel zu besteigen, lernte physisch seine Lektion in Raumwahrnehmung. Die drei ungewöhnlich hohen Klassenzimmergeschosse erinnern an Rists Installation. Nur ists im Schulhaus Leutschenbach umgekehrt: Die Räume sind überdurchschnittlich hoch — satte 3,6 Meter, das Minimum schreibt 3 Meter vor. Die Überhöhe verleiht weiten Atem und Grosszügigkeit und lässt, wie in Rists Arbeit, Schülerin und Lehrer auf Kindergrösse «schrumpfen ». Die Architektur stellt so die Machtverhältnisse im Schulhaus in Frage, sie demokratisiert Subjekt und Objekt. Kerez sichert mit seinen überhohen Klassenzimmern und Pausenhallen aber auch die Souveränität seines Werks. Die Überhöhe sorgt dafür, dass Möblierung und Raum kaum in ein Verhältnis treten und dass man nicht plötzlich vor lauter Schulmöbel und farbigem Kinderleben Kerez’ «architecture brut» nicht mehr sieht. Elegant ist, dass der eitle Wunsch nach Wahrung der Reinheit der eigenen Architektur nicht auf Kosten der Nutzer geht — im Gegenteil: Die überdurchschnittliche Raumhöhe ist die Attraktion und Qualität des Schulhauses. Der Luxus, bezahlt auf Kosten des Ausbaus.

Die Paulista-Schule

Axel Simon: Wo ist da die Angemessenheit? Und was ist mit den hohen Kosten? Spätere Erweiterungsmöglichkeiten? Es gibt Bauwerke, an denen perlen solche Fragen ab. Radikalität imprägniert sie zum Manifest. In Leutschenbach steht man vor einem solchen, schaut einfach nur, blöd vor Staunen. Hier liegt Zürich nicht in der Schweiz, sondern am Rande São Paulos. Sicher, Kerez’ Konstruktionen sind komplizierter als diejenigen von Artigas, Bo Bardi oder Mendes da Rocha, die hiesigen Anforderungen sind es sowieso. Die räumliche Idee jedoch ist ähnlich: eine weite Landschaft rundum, die sich im Inneren widerspiegelt, sowie ein Raum, der mit zunehmender Schwere des Hauses an Leichtigkeit gewinnt. Die eidgenössische Komplexität der scheinbar einfachen Struktur überspielt der Architekt, indem er sich jede Oberflächengüte versagt. Der sichtbaren Stapelung der Etagen entsprechen der sichtbar gegossene Beton, der sichtbar geschweisste Stahl, das sichtbar gefügte Gussglas. Die Rohheit des Materials und der immense Raum machen aus der Schule eine Werkstatt, einen Ort, an dem man ohne die Bürde des Perfekten schaffen, sich ausbreiten, auf dem Trottinette durchjagen kann. Keine gebeugten Rücken, keine Schulkrüppel! Diese Forderung, die der spätere Bauhausdirektor Hannes Meyer 1926 seinem konstruktivistischen Petersschul-Entwurf beilegte, könnte auch auf den Leutschenbacher Beton gesprüht stehen — als Kunst am Bau versteht sich.

Ein starkes Stück

Werner Huber: Wie ein Equilibrist steht das Schulhaus auf der Wiese am Rand von Leutschenbach, scheint unter Hochspannung zu sein. Es berührt den Boden kaum, die Tragstruktur balanciert die Lasten der aufeinandergetürmten Nutzungen ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Die gleiche Spannung ist im Innern zu spüren, auch wenn die Fachwerkträger nicht immer zu sehen sind und es nicht auf Anhieb klar ist, wie die Statik überhaupt funktioniert. Kräfte werden über Umwege spazieren geführt, bevor sie den Boden erreichen. Es wäre einfacher gegangen. Ein paar Stützen hier und da diskret platziert — wer würde den Unterschied schon sehen? Kaum jemand, doch spüren würde man ihn bestimmt.

Der Architekt ist seinen Weg konsequent gegangen und hat alles seinem Konzept untergeordnet. Das ist seine grosse Leistung. Die Betonoberflächen sind nicht perfekt, der Ausbau ist karg, konstruktive Ausnahmen gibt es zuhauf. An irgendeinem anderen Bau würde man das beklagen, hier ist das sekundär. Kerez hat die richtigen Prioritäten gesetzt. Nur im Erdgeschoss musste das Konzept vor der Nutzung zurücktreten — und prompt ist
es daneben geraten: Nie und nimmer dürfte es verglast sein.

Republikanisch geschärft

Benedikt Loderer: Zwei Gründe, warum ich das Schulhaus Leutschenbach gut finde: Es ist republikanisch und es ist geschärft. In Schwamendingen leben viele jener Leute, denen man eine bildungsferne Herkunft nachsagt und die ihre Kinder nicht vor allem zum Lernen anstacheln. Für sie baute die Stadt Zürich ein republikanisches Schulhaus. Es ist ein Versprechen. Nie, sagt die Stadt, werden wir vom Prinzip der allgemeinen und obligatorischen Volksschule abweichen. Wir wollen weder Kloster-, noch Koran- oder Eliteschulen. Vor der Schule ist jedes Kind gleich und wir geben keines auf. Wir bilden sie zu Zürchern. Wir bauen Integrationsschulen. Dort, wo die Kinder am schwierigsten sind, machen wir nicht weniger, sondern mehr. Wir sparen nicht an den Bedürftigen. Gut genug gibt es nicht, wo es ein Mehr braucht. Das Schulhaus repräsentiert den Bildungsanspruch der Stadt. Dieses republikanische Schul- und Selbstverständnis strahlt das neue Schulhaus aus. Das Konzept ist einfach: Kerez stapelt. Er setzt die Nutzungen nicht neben-, sondern schichtet sie übereinander. Den Rest des Grundstücks lässt er frei. Das Konzept überzeugte im Wettbewerb, doch dann begann die Arbeit. Es nahm die Hürden der Feuerpolizei, bewältigte das gerade geltende pädagogische Programm, überwand die Schwierigkeiten seiner eigenen Statik, besiegte den Kostendruck, kurz, es wurde verwirklicht.

Selbstverständlich sieht es heute anders aus als im Wettbewerb — aber nicht verwässert, sondern geschärft. Kerez ist einer der wenigen Architekten, die Konzessionen machen können, ohne Schaden an ihrem architektonischen Konzept zu nehmen. Er ist nicht stur, er ist nur konsequent. Er weiss: Wer alles verteidigt, verteidigt nichts. Und er weiss, was er aufgeben kann, um das zu behalten, was er unbedingt haben will. Selektives Wichtignehmen heisst diese Schärfungskunst. Kerez ist ein Meister darin.

Die Konsequenzen der Konsequenz

Rahel Marti: Christian Kerez will konsequente Architektur schaffen. Er kämpft für die Reinheit der einen, einfachen Idee. Offenbar gelang es ihm, die Beteiligten für diese heroische Haltung zu gewinnen. Kerez stapelt, der Park soll frei bleiben. Er baut Glaswände, dazwischen soll Raum zum Lernen entstehen. Er will ein klares und rohes Schulhaus, in dem sich Schülerinnen und Lehrer entfalten. Paradoxerweise braucht es dafür ein komplexes Tragwerk und Bauarbeiten, die ein Jahr länger dauerten als geplant. Was aussieht wie eine strukturalistische Höchstleistung, ist eine Reihung von Ausnahmen und Kompromissen. Um etwa den Park ins Haus fliessen zu lassen — und dies bildlich, denn in der Tat gibt es ja eine Glasfassade —, ist das Gebäude an einer komplexen Fachwerkkonstruktion aufgehängt. Um die Reinheit dieser statischen Idee zu belassen, nimmt der Architekt verschiedenste Fachwerkdimensionen und damit verschiedenste Deckenfelder in Kauf, was zu zahllosen konstruktiven Anpassungen führt. Um den freien Grundriss in den Treppenhallen zu ermöglichen, sind breite, umlaufende Fluchtbalkone nötig. Damit hier keine Kinder herumrennen, werden sich Lehrerinnen und Lehrer Regeln ausdenken müssen. Um die Transluzenz des Industrieglases nicht zu stören, sind an den Wänden der Schulzimmer und der Turngarderoben nicht metallene Kleiderhaken montiert, sondern kleine, ab - bruchgefährdete Plastikhaken aufgeklebt. Die Konsequenz reicht soweit, dass Kerez auch Massnahmen durchsetzt, die mit pädagogischen Zielen nichts mehr zu tun haben. Etwa, dass keine Leuchten, dass nichts von den hohen Decken hängen darf, was aufwändige Betoneinlegearbeiten erforderte. Man wird sehen, denn nun muss sich das aussergewöhnliche Schulhaus bewähren. Sonst war die reine Idee architektonischer Selbstzweck und der Preis dafür hoch.

hochparterre, Mo., 2009.10.12



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11. August 2009Benedikt Loderer
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Uplifting the Costumer...

... oder das gesunde Glück
Die Devise einer Fastfoodkette passt hervorragend auch für die Therme in Bad Ragaz: Der Badegast wird feierlich auf ein höheres Niveau gehoben.

... oder das gesunde Glück
Die Devise einer Fastfoodkette passt hervorragend auch für die Therme in Bad Ragaz: Der Badegast wird feierlich auf ein höheres Niveau gehoben.

Nicht Hallenbad, Therme heisst das Gebäude. Der griechische Wortstamm veredelt das Warmbad. Die Aufgabe der Architekten war es, ein zeitgemässes Bad an das vorhandene Schlosskonglomerat anzufügen. Es galt, die Tonart zu treffen, sie ist im Grand Resort maestoso. Doch ist der König im Bade nackt, was ihn zum gewöhnlichen Menschen macht. Die zufällige Versammlung von kaum bekleideten Menschen hat eine gleichmacherische Wirkung. Dass die Therme allgemein zugänglich ist, somit zum Hallenbad der Region wird, unterstützt diese Tendenz.

Organisation des Orts

Wie findet man die Balance zwischen dem aristokratischen Anspruch und der republikanischen Freizügigkeit? Das war die Aufgabe der Architekten. Es geht dabei um Stimmung, der reibungslose Ablauf aller Funktionen wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Es gab einen zweistufigen eingeladenen Wettbewerb. Im ersten Durchgang musste das Resort neu organisiert werden. Wo sollte ein neues Fünfsternhotel ins Konglomerat eingefügt werden, wie ist das medizinische Zentrum zu erweitern und wohin mit der öffentlichen Therme? In der zweiten Runde gings um das Hotel und das Bad. Das Hotel gewannen Hilmer & Sattler mit Albrecht Architekten aus München, die Therme Smolenicky & Partner aus Zürich.
Ach wie kitschig! Dachte ich, als ich die ersten Bilder sah. Beim Besichtigen hingegen sagte ich mir: Wie diszipliniert doch alles ist.

Die Therme überraschte mich. Sie sitzt eingeklemmt zwischen dem alten Aussenbad von Glaus und dem neuen Hotelturm, ihr Grundriss verrät die mühevolle Einpassung ins Ensemble. Doch davon spürt man nichts, denn das architektonische Thema heisst «Heiligendamm im Park». Dieser Ostseekurort mit seinen weissen Holzhäusern hat Smolenicky angeregt. Das Hellgrün des Rasens, das Weiss des Hauses und das Dunkelgrün des Waldhangs im Hintergrund, das sind die drei Farbtöne, die hier zusammenklingen. Man meint, den Ostseewind zu spüren.

Monumental heisst gross

Die Ankunft ist sorgfältig inszeniert. Von der Kantonsstrasse zweigt rechtwinklig ein Erschliessungsweg ab, den beherrscht mit den drei grossen stehenden Ovalen als Blickpunkt ein ungewöhnliches, weisses Bauwerk. Ein Signal: Hier ist es. Weiss, da das Gebilde an der Nordseite steht, es soll ein Lichtkörper sein, leuchtend. Beim Näherkommen erkennt man die vorgesetzte Laube. Sie ist ein Empfangsbauwerk. Zwölf Meter hoch. Smolenicky redet, ohne zu zögern, von «monumental». Ein Wort, das lange tabu war, Unterdrückungsarchitektur, Diktatorenmacht verkörpernd. Wie fühlten sich doch Haefeli Moser Steiger 1939 bestätigt, wenn man ihrem Kongresshaus attestierte, trotz der Grösse jede Monumentalität vermieden zu haben! Smolenicky ist unbefangen und nimmt Monumentalität als blossen Massstab. Da die übrigen Bauten der Grands Hotels Reunis ebenfalls monumental sind, so muss es auch die Therme sein. Monumental heisst gross, vielleicht auch bedeutend, woran es erinnert, das fragt Smolenicky nicht. Er sieht sich um und entdeckt den Massstab des Resorts und führt ihn weiter.

«Es geht nicht um die Moral», sagt Smolenicky, «sondern darum, ob es Sinn macht.» Die geistige Landesverteidigung, die die Monumentalität als grundsätzlich unschweizerisch verurteilte, kümmert ihn nicht. Er kennt das nicht einmal. Ich halte das für eine befreiende Erleichterung.

Architektur ist etwas zum Anfassen. Die Finger merken: Holz. Was das Auge vermutete, bestätigt der Zugriff. Die Therme ist eine Holzkonstruktion, genauer ein Holzelementbau. Doch ist das Holz nicht hölzig und naturtrüb, es ist weiss und makellos. Die waagrechte Lattung wird zur Linierung, die Profile sind für den Schatten da, nicht für die Verstärkung. Kurz: Das Holz wird entmaterialisiert. Man riecht es nicht mehr. Smolenicky sägt und nagelt nicht, er zeichnet und formt. Holz ist zu einer zwar zusammengesetzten, aber doch einheitlichen plastischen Masse geworden. Die weisse Farbe (Verkehrsweiss), es gibt innen und aussen keine andere, entholzt das Holz und macht das Innen gleichwertig mit dem Aussen. Es ist kein Naturprodukt mehr, sondern ein exakt formbarer neutraler Baustoff. Materialgerechtigkeit? Smolenicky zuckt mit den Schultern. Endlich können die Reizworte «echt» und «ehrlich» entsorgt werden.

Steht man in der monumentalen Laube, die der Architekt Quellenhalle nennt, wird sie zum Balkon. Der Blick geht über den Park zur gegenüberliegenden Bergkette, Falknis heisst der höchste Gipfel. Die Bäume sind alt, die Rasenflächen makellos. Es muss einen grossen Atem haben, das Ende darf nicht sichtbar sein. Erst dann wird ein Garten zum Park. Man muss die Dominanz des Parks erhalten, ist Smolenicky überzeugt.

Die Kathedrale des Wohlfühlens

Von der Laube kommt man in die Vorhalle mit Restaurant, Laden und Empfangstheke. Endlich ist ein Vorraum hoch genug. Wohl an die acht Meter. Und was wir aus der Palastarchitektur schon wissen, bestätigt sich hier: Höhe ist Luxus. Wer sich an die Nutzschichten gewöhnt hat, merkt hier, dass unsere vollgestopften Häuser keinen Atem haben. Hier kommt man aus dem gepressten Leben ins Freie, es gibt genügend Atem- und Sehraum.

Das grosse Bad ist eine Kathedrale des Wohlfühlens. Das Kirchenwort ist bewusst gewählt, denn wie in einer dreischiffigen Hallenkirche wechselt der Raumeindruck vom übersichtlichen Längsraum zum diagonalen Waldeindruck. Steht man in der Schiffsmitte und blickt geradeaus, so bildet die Pfeilerfolge eine straffe, aufgereihte Ordnung. Vorne schliesst das grosse Oval den Raum, wie das grosse Bild über dem Hauptaltar, das ein Stück Landschaft zeigt. So wirkt die geordnete Längssicht, der rechtwinklige Überblick. In der Diagonalen hingegen überschneiden sich die Pfeiler, die Reihe löst sich auf, es entsteht eine an den Wald erinnernde Unübersichtlichkeit. Es ist der aus den Kirchen bekannte Effekt des schrägen Blicks aus dem Seitenschiff. Der Vergleich mit einer Kirche ist naheliegend, weil der Raum durchaus feierlich sein will. Das ist seine aristokratische Art. Die republikanische Antwort geben die Wasserbecken und die Leute darin. Sie benehmen sich ganz unbeschwert.

Vornehm ist senkrecht

Doch warum das stehende Oval? Stehend, weil das stehende Format aristokratisch wirkt, vor allem wenn es keine Brüstung hat und optisch den Boden berührt. Ein Bandfenster, das nicht raumhoch ist, liegt und kann darum nie vornehm wirken. Das Oval? Man stelle sich die Fenster als stehende Rechtecke vor. Der Raum wird banalisiert, erst das Oval macht ihn besonders. Die Pfeiler nehmen den Schwung des Ovals auf. Auch hier genügt es, sie sich gerade zu denken, um den Gewinn an Feierlichkeit abzuschätzen.

Ein Blick auf den Grundriss macht klar, wie diszipliniert das Gebäude ist. Ein Raster von 600 x 496 Zentimeter regiert den Plan, die Elementbauweise diktiert seine Regeln. Der Raster wurde zuerst über das ganze Gelände gelegt, dann nagte das Aussenbecken, ein Überbleibsel des abgerissenen Bads von Otto Glaus, einzelne Quadrate heraus. An die Nachbarsgebäude schliesst der Grundriss mit Abtreppung des Rasters an. Ein pragmatisches Verfahren. Überhaupt ist die Therme keineswegs verspielt, kein Dekor, eine Farbe, keine Designspielerei. Wie in einer protestantischen Kirche kommt die Feierlichkeit aus der Raumhöhe und vom Licht. Eine Zornsbemerkung zum Aussenbecken noch: Warum sprengt niemand den Dekorfelsen in der Mitte? Früher war er sentimental, jetzt ist er nur noch lächerlich. Holz erwartet man nicht in einem Bad. Andere Konstruktionen wie Beton, sind auch geprüft worden. Doch hat Holz für den Architekten Vorteile. Die Decklatte zum Beispiel, die eine Fuge elegant und grafisch prägnant abschliesst. Bei Betonelementen bleibt sie offen und die Toleranzen werden sichtbar. Dazu kommt, dass die Bauzeit kurz war, 15 Monate, von März 2008 bis Juni 2009. Holz ist rasch montiert und nicht allzu schwer im Transport. Ach und die Luft? Im Bad ist sie trockener als draussen, nur 35 Prozent Feuchtigkeit, weil der Luftwechsel so hoch ist.

Auch Fünfsternebauherren wollen sparen. Darum musste vom Vorgängerbau das Untergeschoss übernommen werden. Ein Kellergeschoss, das heute mit Badetechnik vollgestopft ist. Die Maschinerie braucht viel Platz. Täglich wird ein Drittel des Badewassers ersetzt. Unter dem Walmdach sitzt die Lüftung. Die Therme zeigt nirgends ihre Gedärme, die Technik ist nur die stumme und unsichtbare Dienerin.

Der Luxus ist sanitär

Nach der Therme noch einige Sätze zum neuen Hotel. Spa Suites von Hilmer & Sattler nennt man den Turm, eine Erweiterung des Hotels Quellenhof. Der Pressemensch wird durch die Räume geführt, namentlich durch die 440 Quadratmeter grosse Penthouse-Suite auf dem Dach, und er stellt fest: den Unterschied zwischen Normalsterblich und Luxus machen die Badezimmer. Unter zwanzig Quadratmeter gibt es keine und ohne frei stehende Wanne muss der Hotelier sich schämen. Die Menschen der Luxusklasse scheinen im Badezimmer zu residieren. Dass ein heutiges Badezimmer voll motorisiert ist, versteht sich von selbst. Für fünf Sterne aufwärts gilt ohnehin der Grundsatz: Nur schlafen muss man noch selbst. Die Inneneinrichtung ist enttäuschend anonym, es herrscht eine teure Wohlanständigkeit, die vor lauter Dezenz trotz Marmor und Naturholz gesichtslos wirkt. Was ich beim Besuch des Dolder Grand in Zürich schon festgestellte siehe HP 5 / 08, wiederholt sich in Bad Ragaz: «Hier herrscht der anonyme Stil. Nur nicht zu laut, war der leise Befehl an die Ausstatter. Es ist das Genie der Lieferanten, das hier am Werk ist.» Leider ist der Turm zu niedrig und darum zu massig. Das richtig gedachte Gelenk im Ensemble ist zu bescheiden und ordnet darum die Schlossanlage nicht neu. Der Turm wirkt etwas verlegen, er will nicht auffallen. Auch der Geldadel hat zuweilen Angst vor dem eigenen Mut.

Baden ist nicht baden

Das Dorf Ragaz machte 1936 einen Namenssprung und heisst seither Bad Ragaz. Der Aufstieg vom Dorf zum Kurort wurde offiziell, rund 100 Jahre nach dem Start. Trotzdem gibts heute noch zwei Ragaz: Zuerst das ehemalige Bauerndorf, das sich für den Tourismus schmuck gemacht hat, und dann das Grand Resort, wo die Betuchten unter sich sind. Dorfgasse und Park sind die beiden Bilder dafür.

Das Grand Resort, so nennt sich die Kuranlage seit diesem Jahr, ist ein Import. Das Palasthotel ist nicht im Alpenrheintal heimisch, es wurde eingepflanzt. So wie das in St. Moritz, Gstaad oder auf dem Bürgenstock geschah. Das Stadtpalais für den Geldadel, genannt Grand Hôtel, ist das gesellschaftliche und architektonische Muster, dem sich das Hallenbad, pardon, die Tamina Therme unterordnen muss. Es ist das vorläufig letzte Glied einer langen architektonischen Kette, die aus gediegenem Handelsgold besteht. Baden ist nicht baden. Das warme Wasser ist zwar noch das gleiche, sein Gebrauch hat sich hingegen in den 170 Jahren Baden in Ragaz stark verändert. Lange Zeit gings ums Gesundwerden oder wenigstens um Erleichterung. Es kamen Kranke zuerst nach Bad Pfäfers zuhinterst in der Taminaschlucht und später nach Ragaz. Die Einzelwanne, worin die Kranke liegt und dampft, ist das wichtigste Behandlungsinstrument. Die Patienten leiden und zeigen ihre Gebresten nicht.

Später wird das Baden zur Kur. Die Damen und Herren erleben Sommerfrische. Das Bad wird zur dekorierten Halle, antikisch wie das Helenabad, das Wasser murmelt Latein. Im grossen Schrankkoffer haben die Gäste den Frack und das Ballkleid mitgebracht. Nicht nur Heilung, sondern auch Erholung sucht man im Quellenhof und dem Helenabad. Golf und Spaziergänge helfen dabei. Die Kassenpatienten, die sich den Quellenhof nicht leisten konnten, fanden in den minderbesternten Hotels des Dorfs Platz. Für sie gab es das Kapellenbad. Später wurde die Klinik Valens ausgebaut, die Kranken gingen dorthin, die Sommergäste blieben.

Später bricht der Sport ein. Das Baden wird zum Schwimmen, Gesundheit durch Bewegung, Radfahren wird zur Tugend. Das wühlt das Bad auf, es wird laut und hektisch. Die Kinder kreischen. Der Höhepunkt dieser Entwicklung heisst Plauschbad. Das Alpamare in Pfäffikon hat es vorgemacht. Auch in Bad Ragaz forderte der Sport sein Recht. Das Hallenbad von 1964 mit dem späteren Aussenbecken von Otto Glaus war durchaus auch Ort der Ertüchtigung und der bescheidenen Plauschelemente. Zum ausgewachsenen Plauschbad kam es nie, dafür ist Bad Ragaz zu aristokratisch. Man pflegt eine Erbschaft. Sie muss noch für mehrere Generationen reichen.

Das Ensemble

Immerhin, das Erlebnisbad hielt Einzug. Dem neuen Gast, «Menschen ab 45, die ihre Karriereziele erreicht, keine finanziellen Sorgen sowie die Kinder aus dem Haus haben und etwas für sich tun möchten», wie Hoteldirektor Hans Geiger Hochparterre erklärte siehe HP 10 / 93, dem muss mehr als Baden geboten werden. Eine künstliche Taminaschlucht ergänzt durch ein «Fitness-, Health- und Beauty Center» sorgt mit Wasserfall und Kneippbecken fürs Gesundbleiben. Heute geht nach Bad Ragaz, wer die Werterhaltungsarbeiten am Körpergebäude vornehmen lassen will. Nicht Kranke werden gesund, sondern Fette fit. Im Jargon neuer Munterkeit: «Der Gast ist den ganzen Tag aktiv, entweder präventiv oder therapeutisch.» Die Therme ist ein neue Mitspielerin im Ensemble Bad Ragaz. Gegeben wird immer dasselbe Stück: «Uplifting the Customer oder das gesunde Glück.» Autor ist der Wohlstand, der hier als Anstand auftritt, standesgemäss also. Neben den Hauptfiguren der grossen Hotels siehe Text «Das grosse Konglomerat» und den Dienerinnen Medizinalzentrum oder dem Hausknecht Golf gibt es auch den leicht anrüchigen Onkel Casino. Die Therme übernimmt eine besondere Rolle: Sie spielt den Leutpriester. Er predigt in einer Wasserkirche.

Die Grand Resort Bad Ragaz AG

«Wir sind das führende Wellbeing & Medical Health Resort in Europa», steht im Geschäftsbericht. «Das Flaggschiff unserer Tourismuswirtschaft» nannte es der Volkswirtschaftsdirektor des Kantons St. Gal-len Josef Keller. In der Gemeinde Bad Ragaz leben knapp 5000 Menschen, es gibt dort 560 Einfamilien- und 289 Mehrfamilienhäuser. Man versteht sich als Kurort und betont: Das Klima ist nebelfrei. Nach Zürich braucht es eine Autostunde, nach München und Mailand drei. Arbeitsplätze gibts in Bad Ragaz auch, unter anderen 720 im Resort und 380 in der Klinik Valens, die dem Resort angeschlossen ist. Das Resort ist der wichtigste Arbeitgeber im Sarganserland. «Der Stammtisch kann froh sein», sagte der Präsident des Verwaltungsrates Willy Kissling der «Südostschweiz» als Antwort auf den Vorwurf, das Resort sei zu wenig volkstümlich, «wir haben in den letzten zwölf Jahren die Anzahl der Mitarbeiter verdoppelt.»

Im Jahr 2008 erzielte die Grand Resort Bad Ragaz AG einen Umsatz von 80,5 Millionen Franken und einen Cashflow von rund 20 Millionen. In diesem Jahr war das Jahresergebnis negativ, minus 10,4 Millionen, doch ist dies ein Sonderjahr, da die Tamina Therme und das Hotel Hof Ragaz wegen Bauarbeiten geschlossen waren.
Mit den Ausfallkosten und Zinsen hat die Gruppe rund 230 Millionen investiert, 160 davon sind reine Baukosten. Das machte eine Kapitalerhöhung von 40 Millionen nötig, an der sich der Hauptaktionär Thomas Schmidheiny, der rund 70 Prozent der Aktien hält, mit 70 Prozent beteiligte.
Die durchschnittliche Auslastung beträgt 81,9 Prozent, viele Hoteliers in der Schweiz wären auch mit weniger zufrieden. 45 Prozent der Gäste kommen aus der Schweiz, 30 Prozent aus Deutschland, mehr möchte man aus England, dem mittleren Osten und Russland anlocken.
Was früher Grand Hotel hiess, heisst nun Grand Resort. Der Namenssprung bringt den Ehrgeiz zum Vorschein, der die Eigentümer und das Management beseelt: Sie wollen neue Massstäbe setzen, in Europa die besten sein. Architektonisch tut dies die Therme, es wird ein Wallfahrtsort für Architekten werden. Mindestens einmal muss man dort gewesen sein. Die übrigen Um- und Neubauten hingegen bleiben auf dem gehobenen Niveau. Brav und teuer, zurückhaltend und edel, architektonisch hingegen uninteressant.

Das grosse Konglomerat

Für den besseren Überblick zerlegen wir das Grand Resort Bad Ragaz in seine Bausteine. Der Kern besteht aus zwei Fünfsternehotels, dem Hotel Hof Ragaz und dem Hotel Quellenhof, dem die Spa Suiten im neuen Turm angegliedert sind. Zusammen verfügen sie über 181 Suiten und 108 Zimmer. Zu den Spa Suiten gehört auch die legendäre Penthouse Suite mit 400 m² Wohnfläche, die pro Nacht 12 000 Franken kostet. Aber es sind auch Zimmer ab 380 Franken zu haben. Der Durchschnittspreis liegt bei 434 Franken pro Nacht. Beim Quellenhof und beim Turm waren Hilmer & Sattler aus München die Architekten, den Hof Ragaz baute Jon Ritter aus Chur um. Für die gesamte Innenarchitektur war Claudio Carbone zuständig.

Acht Restaurants: von den 17 Gault-Millau-Punkten der Äbtestube über Japan, Mittelmeer, Thai bis zur Zollstube mit «regionalen und Schweizer Spezialitäten». Sechs Bars, zwei davon mit einem Barpianisten.

Für die Hotelgäste ist der Club to B. reserviert. In dieser inzwischen auf fast 13 000 Quadratmeter angewachsenen Wellbeing-Welt findet der Gast selbstverständlich ein Massageangebot, eine Sauna, dazu das Helena- und das Sport-bad, selbst ein privates Spa ist zu mieten und im Fitness- und Kosmetikstudio kann man gesund und schön werden.

Zum Resort gehört auch das Medical Health Center, wo sich auch Sportler behandeln lassen, denn seit 2004 ist hier das Swiss Olympic Medical Center zu Hause. Auch ambulante Patienten von ausserhalb sind willkommen. Rund 70 Mitarbeitende, davon 9 Fachärzte, 7 Konsiliarärzte und 29 Therapeuten, bieten ihre Dienste an.
Der Kursaal, der zum Kongresszentrum um- und ausgebaut wurde, steht der Geschäftswelt zur Verfügung, kann aber auch für private Anlässe gemietet werden. Den Umbau besorgte Bänziger Architektur in Berneck.

Als einziges Hotel in der Schweiz verfügt das Resort über einen eigenen Golfplatz mit einem 9- und einem 18-Lochkurs, inklusive Driving Range.

Im Casino wird Roulette, Black Jack, Stud Poker und Texas Hold’em gespielt, doch die 136 Slot-Maschinen zeigen, wovon das Casino lebt: vom einsamen Einzelnen und seiner Liebe zur Drehwalze.
Schliesslich noch die Tamina Therme, die hier beschrieben wurde. Sie verfügt über ein eigenes Sauna- und Wellnessangebot. Das Bad ist öffentlich, der Eintritt kostet 26 Franken. Die Einheimischen erhalten Rabatt und zahlen 8.50 Franken weniger. Dazu kommen noch eigene Tennisplätze, eine Minigolfanlage, ein kleines Kino mit einer Filmbibliothek, Boutiquen der noblen Art und Mercedes-Limousinen für die Gäste.

hochparterre, Di., 2009.08.11



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08. Dezember 2008Benedikt Loderer
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Das gedachte Haus

«Der Bau ist konzeptionell, nicht funktional», sagt Valerio Olgiati zum Nationalparkzentrum.

«Der Bau ist konzeptionell, nicht funktional», sagt Valerio Olgiati zum Nationalparkzentrum.

Herr Olgiati, herzliche Gratulation zum Goldenen Hasen für das Informationszentrum des Schweizerischen Nationalparks in Zernez siehe HP 6-7 / 08. Sind Sie zufrieden damit?
Ja, mit beidem, dem Hasen und dem Bau. Im Wettbewerb war die Grundrissfigur noch komplizierter, jetzt ist sie straff und symmetrisch. Ist es ein Grundrisskonzept? Nein, es ist auch ein Volumen- und Schnittkonzept. Beim Wettbewerb gab es ein grösseres und ein kleineres Quadrat und in der Mitte eine Wendeltreppe. Damals war es ein Sackgassenmuseum. Grundsätzlich muss man sich bei einem Museum überlegen: Sackgasse oder Rundgang? Heute ist es ein Rundgangmuseum, man endet dort, wo man begonnen hat. Es sind zwei gleiche Quadrate oder besser Würfel, die sich übereck berühren. Ich wollte ein Gebäude bauen, dass so unkontextuell und so wenig funktional wie möglich ist, ein Haus, das so nah wie möglich an eine absolute Architekturidee herankommt. Sobald es nach Funktionen riecht, ist es vorbei. Hat man ein grosses und ein kleines Quadrat, dann kann das nur aus funktionalen Gründen so sein, zwei gleiche hingegen haben nichts mit Funktionen zu tun.

Könnte man das Museum auch für einen andern Zweck gebrauchen? Man könnte es bewohnen, als Lagerhaus gebrauchen oder als Kirche?

Stimmt, es hat etwas Sakrales. Doch was mich mehr interessiert: Wie weit können Sie beim Entwerfen die Wirkung abschätzen, die Irritation der Drehung zum Beispiel? Das Modell und die Pläne waren schon in Ausstellungen zu sehen, für die Betrachter war das Projekt offenbar nicht zu lesen, erst im Bau selbst haben die Leute erfahren wie es ist. Nun aber die Wirkung: Von aussen hat man zwei Volumen, zwei kann man sich gut merken. Wären es drei, sähe es schon nach einer Komposition aus. Jetzt sind da 24 gleiche Löcher und 3 Geschosse. Das ist es, was man von aussen sieht. Man hat einen vollständigen Überblick, doch wenn man hineinkommt, verliert man sich in einem Labyrinth, die Raumsituation wiederholt sich und bald weiss man nicht mehr, wo man ist. Man bringt das, was man von aussen sah und das Innere nicht zur Deckung. Dass es so funktioniert, habe ich schon gehofft, aber es war doch ein Risiko dabei.

Im Wettbewerb stand das Gebäude noch neben dem Schloss, jetzt steht es als Solitär auf der andern Strassenseite. War der ursprüngliche Standort nicht besser?

Es wäre vor allem für den Nationalpark besser, denn dann wäre Verwaltung und Informationszentrum beieinander. Einen Moment, kommt da nicht trotzdem der Kontext ins Spiel, das Schloss als ausgezeichneter Ort? Nur im Gebrauch, sozusagen funktional angebunden, und das Haus selbst hätte mehr Platz gehabt, wäre freier gestanden als heute neben der Schule. Ich sage ja nicht, dass das Zentrum ohne Kontext dasteht, ich sage nur, dass die Entwurfsidee grundsätzlich nicht aus dem Kontext entwickelt ist. Heute ist, vor allem in der deutschen Schweiz, die Herleitung aus dem Kontext, die Lektüre des Ortes geradezu eine moralische Verpflichtung. Selbstverständlich gibt es den Kontext, natürlich ist der Bau an das Dorf angeschlossen und ist der Eingang auf der richtigen Seite, die Idee des Gebäudes hingegen ist absolut unkonzeptionell. Man könnte es auch anderswo aufstellen, solange das Terrain flach ist.

Die Decken und Wände sind aus Dämmbeton, wie kamen Sie auf dieses Material?

Durch den Ingenieur Patrick Gartmann, mit dem ich oft zusammenarbeite. Das Wettbewerbsprojekt war noch verputzt. Während der Planungsphase ist der Dämmbeton verbessert worden und heute ist das Gebäude ein Monolith, es gibt zwar Arbeits-, aber keine Dilatationsfugen. Ging es auch um Schwere und Massivität? Dass es eine Schalenkonstruktion ist, das ist mir wichtig, dass die Mauer so dick ist, ist mir egal. Würde das Haus auf 2000 Metern über Meer stehen, wäre die Wand wohl noch zehn Zentimeter dicker, das hätte ich nicht gemacht. Dann würde die Dicke der Mauer wichtig. Jetzt ist es noch eine normale Mauer, heute sind alle so dick. Man versucht immer wieder, mir den Bergler anzudichten, einer der archaisch baut. Wenn Archaik, dann jene der alten Hochkulturen, nicht die rurale.

Wie steht es mit der Schichtung der Geschosse, was ist mit diesen kleinen Vorsprüngen der oberen Geschosse?

Das ist eine tektonische Betonung, die verhindert, dass das Gebäude als volle Box gelesen wird. Die Schichtung der drei Geschosse zeigt, dass es sich wirklich um einen Hohlkörper handelt. Im Grundriss ist ein Stern eingeschrieben, den man nicht sieht, der aber für mich entscheidend ist. Der Bau hat einen absoluten Anspruch, hat auch eine metaphysische Ader. Mir ist die Kombination des Kopf- und des Bauchmässigen und das Dazwischen, das Metaphysische sehr wichtig. Ich will schliesslich keine Neanderthaler-Architektur machen. Beim Gelben Haus zum Beispiel haben viele Leute behauptet, das komme so geerdet daher, aber ich kann mir nichts Ungeerdeteres vorstellen als diese widersprüchliche Konstruktion, die einem fast im Kopf krank macht.

Es geht also um ein intellektuelles Konzept?

Ja, das Gebäude ist vor allem ein verstandesmäs-siges Konzept, weniger ein emotionales.Was ist mit dem Stichwort sinnliche Architektur? Selbstverständlich gefällt es mir, wenn der Bau gefällt. Auch mir gefallen Häuser aus dem Bauch heraus. Doch das Sinnliche steht nicht im Vordergrund.

Das Haus ist karg, einzig die Bronzefenster sind reich und wertvoll. Warum das?

Die Reduktion ist keine moralische Haltung, also gibt es auch keine moralische Einschränkung, was das Material angeht. Der Beton hat einen ärmlichen Charakter, doch zusammen mit der Bronze gewinnt er eine veredelte Anmutung, beinahe wie Naturstein, zum Beispiel Tuffstein.

Die Ausstellung ist doch recht chaotisch, was sagt der Architekt dazu?

Zum Inhalt und zum Ausdruck der Ausstellung sage ich nichts. Beim Wettbewerb war das Ausstellungsprogramm keineswegs klar, einzig, dass es kein Kunsthaus ist und dass vor allem Objekte gezeigt werden. Als Architekt kann man ein Ober-, ein Seiten- oder Kunstlichtmuseum bauen. Ich hielt ein Seitenlichtmuseum mit natürlichem Licht an diesem schönen Ort für richtig. Das war die Grundlage während der Planungszeit. Wir dachten, die Objekte stünden in der Raummitte und der Rundgang gehe den Wänden entlang. Die Storen wären offen, der Ausblick in die Landschaft vorhanden. Nun haben die Betreiber aus dem Seitenlicht- ein Kunstlichtmuseum gemacht. Die Objekte sitzen in den Ecken, was Verdunkelung und massive Kunstlichtbeleuchtung erfordert. Ein krasser Denkfehler der Betreiber. Die Landschaft, die eigentliche Grundlage des Nationalparks, ist total ausgeblendet.

Der Ausblick in die Landschaft war also immer ein Teil des Konzepts?

Der Besucher kommt von der Treppe in einen Raum mit vier gleichen Fenstern in jede der vier Himmelsrichtungen. Dann geht er, oder sie, durch die Stockwerke und sieht immer dieselbe Landschaft. Doch wenn man wieder am Ausgangspunkt ankommt, weiss man nicht, wo man gewesen ist. Das führt auch dazu, dass das Gebäude grösser erscheint, als es ist. Was man nicht erfassen kann, macht man grös-ser, nicht kleiner.

Welche Bedeutung hat dieses Gebäude in der Entwicklung des Architekten Valerio Olgiati?

In meinem Bestreben nach einer konzeptionellen Architektur ist es mein radikalster Bau. Er ist konzeptuell, nicht funktional. Er ist auch nicht phänomenologisch vom Material her bestimmt, obwohl ich weiss, dass Materialkombinationen ihre Wirkung haben. Das ist auch meine Auslegung der Poesie der Architektur. Doch prinzipiell ist es ein gedachtes Haus.

Ist das Zentrum in Zernez ein Findling oder ein Fremdling?

Ein Findling wäre etwas aus der Natur Geborenes, das ist es nicht. Es ist aus dem Hirn geboren, darum ein Fremdling.

hochparterre, Mo., 2008.12.08



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24. November 2008Benedikt Loderer
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Die Pest, der Frass, der Brei

Nach zwanzig Jahren Wutschreiben gegen die Zersiedelung und das Hüsli: Eine Gewissenserforschung des Stadtwanderers.

Nach zwanzig Jahren Wutschreiben gegen die Zersiedelung und das Hüsli: Eine Gewissenserforschung des Stadtwanderers.

Wenn man die Wahrheit zu oft wiederholt, wird sie nicht wahrer, sondern langweilig. Seit 1988 schrieb ich die Wahrheit über die Hüslipest, den Landfrass und den Häuserbrei. Mit welcher Wirkung? Meinesgleichen waren meiner Meinung, der Rest der Menschheit hat sich einen feuchten Dreck darum gekümmert. Zeit, mich endlich zu fragen: Ist meine Wahrheit falsch? Sind Pest, Frass und Brei ein Segen?

Sie sind es selbstverständlich und ohne Wenn und Aber, denn sie sind die Wirkung einer einfachen Tatsache: Der Konsument ist das Subjekt der Geschichte. Als ich das endlich eingesehen hatte, löste sich mein Krampf und ich konnte heiter die Tatsachen in einem milden Licht betrachten. Pest ist Stärke, Frass ist Wohlstand und Brei ist Eigentum. Man muss nur die Wahrheit vom Kopf auf die Füsse stellen und alles erklärt sich widerspruchslos. Der Konsum bestimmt das Sein, nicht umgekehrt.
Ich muss den Konsumenten endlich ernst nehmen, er ist das Volk. Sein Wille geschieht und der heisst «mehr». Mehr Wohnraum, mehr Gartenland, mehr Agglomeration. Durch den Konsum entstehen die Gewerbezonen, die Shoppingcenters und die dazugehörigen Strassen. Der Konsument verbündet sich mit dem Nachbarkonsumenten und zusammen bilden sie die FdP, die Fédération des Profiteurs. Es genügt aufzuzählen, wer alles vom Hüsli profitiert hat. Der Bauer strich den Profit ein, als aus Kultur- Bauland wurde. Der Notar verrechnete die Handänderung, der Baumeister war nicht billig, aber preiswert, die Handwerker wurden bezahlt, die Hypotheken verzinst. Der Steuerfuss ist tiefer, die Schulen voller Eingeborener, die Kirche im Dorf. Die Hüslimenschen, die vorher Blockbewohner waren, leben besser, geachteter, sicherer. Vom Rübenacker zum Vorzeigerasen läuft die Wertschöpfungskette und alle Mitglieder der FdP haben etwas davon gehabt. Was lerne ich daraus? Der Hüslimensch hat recht. Seine Rechnung geht auf. Es gibt ein richtiges Leben im falschen. Die Hüslipest stärkt, sie verleiht Prestige. Der Landfrass lohnt sich, er schafft Platz. Der Häuserbrei nährt, er mästet den Besitz.

Konsum frisst Land

Wer gegen die Zersiedelung kämpft, kann das nur wider besseres Wissen tun. Schlimmer noch: Er will dem Konsumenten etwas wegnehmen, denn der Verzicht ist Raub. Jeder mögliche Konsum muss sich verwirklichen, das ist der Motor des Konsums. Das Zauberwort «mehr» ist der herrschsüchtigste Tyrann, der je regiert hat. Mensch und Konsument sind eins. Nur wer konsumiert, soll Brot essen. Die Zersiedelung ist kein Übel, sondern das Wesen des Konsums. Selbstverständlich sind alle Konsumenten gegen die Zersiedlung, grundsätzlich und unbedingt. Doch nur, wenn der Konsum dabei trotzdem wächst. Das ist kein Widerspruch. Es ist folgerichtig und wahr, denn die Landschaft ist ebenfalls ein Konsumgut, auch sie kann man in die Wertschöpfung einspannen und konsumieren. Was man nicht konsumieren kann, ist wertlos.
So sitze ich denn nach zwanzig Jahren Wutschreiben da und bin ernüchtert. Ich muss gestehen, ich hielt die Landschaft, meine Schönschweiz, für ein unbezahlbares Gut. Obwohl ich dem Identitätsgeschwätz tief misstraute, war ich überzeugt: Diese Landschaften sind einmalig und schützenswert, sie sind ein Teil meiner selbst und dürfen nicht geopfert werden. Heute weiss ich, was das bedeutet: sie den Konsumenten wegnehmen. Dafür werden sie sich rächen. Eines bringt die Fédération des Profiteurs zur Weissglut: Wenn sie etwas bezahlen kann und es nicht kriegt. Demokratie ist, wenn man das Geld hat und der Rechtsstaat garantiert den Konsum.

In den Folgeschäden eingerichtet

Ich will mich nicht darauf verlassen, dass uns einmal das Geld ausgehen könnte, was das einzige Mittel wäre, den Konsum zu bremsen. Die Schatztruhen sind voll, die Erbschaften türmen sich, die Vermögen werden importiert. Wenns keinen Massenkonsum mehr gibt, umso besser, dann gibts Manövrierraum für Edelkonsum. Der Konsum kennt grundsätzlich keine Grenzen, solange er bezahlbar bleibt. Diese Tatsachen lassen nur einen Schluss zu: Der Konsument will die Zersiedelung, die er schafft. Sie ist sein natürliches Verbreitungsgebiet, dort fühlt er sich wohl und pflanzt sich fort. Wohl macht er zuweilen abschätzige Bemerkungen über sein Habitat, wohl beschwört er an Sonntagen die Schönheit der Landschaft, doch das sind Lippenbekenntnisse. Der Konsument will konsumieren, das ist sein Lebenszweck, mehr verlangt er nicht. Den Konsum aber fordert er ohne jede Einschränkung. Die Folgeschäden sind ihm egal, ja, er hat sich darin längst bequem eingerichtet. Die Agglomeration ist gesund und hat eine hohe Lebensqualität. Noch Fragen?

Alles hat seine Ordnung

Darum muss man diese beiden Bilder, das berühmte Vorher-Nachher, nicht mit Entsetzen betrachten, noch weniger mit moralischer Verachtung strafen. Es wird ein natürlicher Vorgang abgebildet: Man sieht den Konsum an der Arbeit. Nur wer bereit ist, seinen Konsum einzuschränken, darf dieses Bildpaar schrecklich finden oder gar zerstörerisch. Die andern Konsumenten, wie ich einer bin, sollten diesen Fort-Schritt mit Andacht betrachten, weg vom Acker, hin zum Einkaufszentrum. Sie zeigen, was unser Konsum zu leisten vermag. Das sind keine Schreck-, sondern Trostbilder. Hier geschieht der Aufstieg: Der Mensch wird Konsument.
Es ist nicht wahr, dass da keine Ordnung sei. Das ist ein ästhetisches Vorurteil. Alles gehorcht der Bau- und Zonenordnung, alles ist dem Raumplanungsgesetz untertan. Die private Willkür ist öffentlich gebändigt, die Infrastruktur gebaut, das Eigentum ist gewährleistet. Hier von Chaos zu reden, ist böswillig. Pest, Frass und Brei sind gebautes Abbild unserer Gesellschaft. Das ist die Ordnung, die wir uns selbst gegeben haben, sie ist demokratisch legitimiert. Wem sie nicht passt, ist ein Feind des Volkes, wie jeder, der den Konsum einschränken will.
Trotzdem werde ich die Landschaftsinitiative unterstützen.

hochparterre, Mo., 2008.11.24



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15. September 2008Benedikt Loderer
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Vorwärts ins 19. Jahrhundert

Für die Architekten der strengen Observanz ist es klar: der Historismus ist tabu. Architektur ist Avantgarde oder sie ist nicht. Hans Kollhoff ist da anderer Ansicht, er baut eine persönliche Art von Klassizismus. Darf man das? Man darf, wenn man es kann. Es ist Zeit, das 19. Jahrhundert neu zu sehen.

Für die Architekten der strengen Observanz ist es klar: der Historismus ist tabu. Architektur ist Avantgarde oder sie ist nicht. Hans Kollhoff ist da anderer Ansicht, er baut eine persönliche Art von Klassizismus. Darf man das? Man darf, wenn man es kann. Es ist Zeit, das 19. Jahrhundert neu zu sehen.

An der Tourismusküste Luzerns steht ein neuer Palast. Tivoli sein Name, ererbt vom Hotel, das früher auf diesem Grundstück stand. Man muss zweimal hinsehen, bis man merkt: Aha, ein Neubau. Denn der Bautyp Grand Hôtel ist hier - hundert Jahre nach seinem Ausstreben - wieder neu gepflanzt worden. Er hatte nur im Gewächshaus der Architekturgeschichte überlebt. Doch wo, wenn nicht unter seinesgleichen kann er anwachsen und Früchte tragen? Die grossen Hotelpaläste aus dem Fin de Siècle jedenfalls haben den Neuzuzüger weit selbstverständlicher empfangen als die Architekten der strengen Observanz. Für sie war die klassizistische Formensprache Vergangenheit, jede Neubelebung eine Lebenslüge. Doch die städtebauliche Begründung für das Grand Hôtel ist einfach: Der Kette der grossen Hotelkästen an der Tourismiusfront Luzerns wurde ein neues Glied angefügt.
Zwar kommt der Neubau hundert Jahre zu spät, aber er stellt sich bescheiden ans Ende der historischen Reihe von der er allerdings behauptet: auch ich gehöre dazu.

Das ist auf den ersten Blick auch offensichtlich, man erkennt dieses Gebäude sofort als Grand Hôtel vom Dampfschiff aus zum Beispiel. Erst beim genaueren Hinsehen zweifelt man. Es fehlt der Empfang. Wo wir eine Vorfahrt und ein Portal erwarten, ist nur ein schmaler Schlitz in der Pergola, der Eingang dahinter ist von der Strasse kaum zu sehen. Sichtbar hingegen ist eben diese Pergola, von Schinkels Schloss Glienicke bei Potsdam inspiriert, sie ist Glasschrank und -schranke zwischen der verkehrsreichen Seestrasse und dem Gebäude. Diese Pergola privatisiert das Vorgelände. Sie grenzt aus und ab und macht deutlich: das ist kein öffentliches Gebäude.

Der strenge Takt der Fassade erinnert als nächstes an ein Sanatorium. Die tiefen Balkone wären für die Liegekur durchaus geeignet, doch ist nicht die Tuberkulose hierzulande provisorisch ausgerottet? Das Konvikt einer religiösen Schule? Da fehlt die Kirche nebenan. Kurz, das Grand Hôtel, das Sanatorium und das Konvikt sind nur die nahen Verwandten dieses Gebäudes, das einen kaum vorhanden Bautyp in die Schweiz importiert, den städtischen Wohnpalast, den Wiener Ringstrassentyp des 19. Jahrhunderts, oder wie die Entlüftungsrohre auf den Dächern glauben machen, an den Boulevard Sébastopol in Paris.
Die Seefassade bestimmt die Wahrnehmung. Dass es sich nicht um einen Riegel parallel zum See handelt, sondern um einen Winkelbau findet nur heraus, wer es wissen will. Das, was Jahrhunderte lang selbstverständlich war, die Hierarchie des Äusseren, wird hier nochmals vorgeführt: Haupt-, Seiten und Hoffassaden. Warum ist es richtig, einem Gebäude rundherum dieselbe Gestalt zu geben? Die Antwort auf die Umgebung jedenfalls ist es nicht.

Grossbürgerlicher Zuschnitt

Im Innern hat der Wohnpalast hat zwei deutlich verschiedene Bestandteile: die Vorzeige- und die Privaträume. Zu den Vorzeigeräumen gehören die Gärten, die Eingangshallen, die Treppenhäuser und die Korridore, der Weinkeller und die Badehalle. Hier setzt Kollhoff seine Architektur durch, seine steife Spätklassik, die repräsentative Räume schaffen will. Kollhoff verwendet dafür unter anderen das ausgelaugteste Element der Klassik die Säule. Wer es nicht wissentlich abwehrt, ist einmal mehr überrascht, wie unvermittelt die Weihe uns anweht, wie viel Hoheit eine Säulenreihe ausdrückt, selbst wenn sie Vignolas Regeln kühl missachtet. Das wir in der Empfangshalle deutlich, ein Raum, der im Erdgeschoss die Eingangsachse mit eine Querstellung beendet. Durch die Fenster blickt, wer in den Ledersesslen sitzt, auf eine wasserüberspülte Grotte, une follie, die den Hang und den Hof abdeckt. Niemand ist zugegen. Die Bewohner fahren in die Tiefgarage und darauf mit dem Lift zu ihrer Wohnungstür. Die Halle, ja alle Vorzeigeräume, dienen dem Standing, eine dem architektonischen Jakobiner unerträglich amoralische Situation.

In den Korridoren teilen Friese aus Nussbaumholz Wandfelder ab, die Böden sind mit Marmor und Granit mit perfektem geometrischem Muster durchgestaltet, die Schreinerarbeiten von bester Qualität. Allein die Handläufe sind Kabinettsstücke. Kollhoff ist ein diziplinierter Architekt. Nichts ist zufällig, kein Bodenmuster, kein Wandfries, kein Deckenfeld, das die strengen Regeln der angewandten Geometrie verletzt. Es gibt eine weite Auslegung der klassizistischen Bildungsgesetze, aber ein enges Einhalten der Detailrichtigkeit. Man spürt den Form- und Durchsetzwillen. Nichts ist Zufall hier. Diese Vorzeigeräume vermitteln dem Besucher den Eindruck, hier wohnen Grossbüger. In ihrem Besonderssein werden umgekehrt die Bewohner bestärkt: sie haben Klasse, man sieht es ja.

Das Bad, genauer, die Therme, fasst die Ansprüche des Architekten und der Bewohner zusammen. Die gestalterische Konsequenz schafft einen noblen Raum, eine Schwimmbasilika. Wer hier Werterhaltung seiner Körpergebäudes betreibt, ist unter Seinesgleichen. Formale Disziplin und gesellschaftliche Exklusivität treffen sich.

Wieviele wollen sie setzen? fragte der Architekt der Gründerzeit als erstes seine Kunden und entwickelte aus der Platzzahl des Esszimmers die Grösse der Wohnung, Mädchenkammer inklusive. Auch heute verlangen die begüterten Kunden zuerst und vor allem viel Wohnfläche. Wo genügend Platz ist, sind die vernünftigen Grundrisse nicht weit. Sie stammen nicht aus dem 19. Jahrhundert, sondern aus dem unsern und gehorchen den Gesetzen der Baumeistervernunft. Die Entlüftungs und Steigschächte diktieren die Standorte der Sanitärgruppen, die Varianz der Wohnungen ist kleiner als vermutet, doch gross genug die privaten Wünsche zu erfüllen. Kollhof bietet denn auch für dieselbe Wohnung einmal einen klassischen und einmal einen modernen Ausbau an. Immer aber gibt es eine deutliche Trennung von Tag- und Nachtteil, zusammenfassend: bürgerlich sind alle Wohnungen. Den Rest besorgt der Geschmack oder die Willkür der Eigentümer. Die privaten Räume überlässt Kollhoff ihnen. Sie bleiben privat, also kein Wort mehr darüber.

Die Wohnungen sind sehr teuer, die Seesicht kostet. Von der Zweieinhalbzimmerwohnung für 550 000 Franken bis zur Attika für 3,9 Millionen. Wie beim Wohnpalast des Fin de Siècle gelten auch hier die Spielregeln der Spekulation, pardon, des Return of Investment. Das Unternehmen Tivoli ist Immobiliengeschäft, ein Entwicklungsprojekt für die einen, eine Geldanlage für die andern. Darüber zu lamentieren, ist in der heutigen politischen Lage leere Gesinnungsprotzerei.

Historismus ist erlaubt

In diese Wohnungen sind bildungsbürgerliche Erinnerungen eingewoben. Die Leute von Familie aus Fontanes Romanen oder Senator Buddenbrock wohnten so und die Pariser Grossbürger Balzacs stellen wir uns vor. Heute bewundern wir, was davon übrig geblieben ist. In England ist immer noch die zeitgenössische Fortsetzung des Historismus die Regel und die Moderne die Ausnahme. Hierzulande hingegen gibt es einen Rechtfertigungsdruck: Man kann doch nicht das heutige Leben in die Formen von gestern pressen!

Käme diese Immobilienunternehmung im Gewande der modern-modischen Ratlosigkeit daher, sie würde von den Hütern der Architekturmoral nur verachtet. Zieht aber Kollhoffs Wohnpalast ein historisches Gewand an, empören sie sich über die Lebenslüge. Wenns Lügen gibt, so muss es auch Wahrheit geben, nur wo ist sie? Hier werden nicht bloss Quadratmeter mit Blick auf See und Berge verkauft, hier geht’s um Exklusivität. Da zeigt sich, dass Lüge ein moralisches Urteil ist, kein ästhetisches. Das nämlich würde fragen: ist denn Kollhoffs Palast nach den Regeln der Klassik auch gut gemacht? Er ist es.

Anders herum: das moralische Verbot der „Stilarchitektur“ ist reine Ideologie. Wer sich Stilarchitektur kauft, ist nicht ehrlich, stellt sich dem modernen Leben nicht, regrediert in eine nie stattgefundene Vergangenheit. Dazu kommt: Geld korrumpiert, Kollhoffs Wohnpalast ist der Beweis dafür.

Doch halt, wir sollten das 19. Jahrhundert neu besichtigen, es gibt dort viel zu entdecken. Seine Wiederanerkennung ist überfällig, schlimmer noch: Historismus ist erlaubt. Man muss es nur können. Kollhoff stellt eine peinliche Frage: ist es wahr, dass diese grossbürgerlichen Wohnungen mit ihren Vorzeige- und Privaträumen ausserordentliche Wohnqualitäten hatten ja oder nein? Ja, antwortet die intellektuelle Redlichkeit. Also, spricht Kollhoff, werde ich dort wieder anknüpfen. Mehr ist’s nicht, aber auch nicht weniger. Wohnkultur ist das Stichwort. Sie spricht heute verschiedene Sprachen. Kollhoff redet altfränkisch, doch wird er verstanden.

hochparterre, Mo., 2008.09.15



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18. Juni 2008Benedikt Loderer
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Drachengrat im Sparrenzelt

Was ist ein Zeughaus? Eine Mauerschale, in die Balkenlagen auf Holzpfosten eingestellt sind, und ein fachgeneigtes Sparrendach darüber. Ungedämmt und unbeheizt;...

Was ist ein Zeughaus? Eine Mauerschale, in die Balkenlagen auf Holzpfosten eingestellt sind, und ein fachgeneigtes Sparrendach darüber. Ungedämmt und unbeheizt;...

Was ist ein Zeughaus? Eine Mauerschale, in die Balkenlagen auf Holzpfosten eingestellt sind, und ein fachgeneigtes Sparrendach darüber. Ungedämmt und unbeheizt; ein stattlicher Schuppen von 1904. Von dieser Primitivstufe der Baukonstruktion wurde das leere Zeughaus 2 in Rapperswil-Jona auf die Hochebene Museum gehoben. Die Temperaturschwankungen sollten sich an die von der Versicherung geforderten Grenzen halten, die Sicherheit ist zu gewährleisten, das Licht muss in die grosse Bautiefe hineinfinden. Mit wenig Geld selbstverständlich, obwohl das Gebäude an die hundert Meter lang ist.

Damit ist die Frage nach dem Veredelungsgrad gestellt. Wie roh und rau darf ein Museum sein, wie sehr darf seine Zeughausvergangenheit sichtbar bleiben? Anders herum: Wo investiert man das knappe Geld? Isa Stürm und Urs Wolf, die Architekten, haben sich zur Konzentration entschlossen. Sie schlitzten das Dach auf, genauer, sie setzen dem Mittelteil einen Drachengrat auf. Wie der Rücken eines Untiers schlängelt er sich in einem s-förmigen Doppelbogen des neuen Dachaufbaus über die ganze Länge des Gebäudes. Der Grat steigt, senkt sich in der Mitte und schwillt noch einmal an. Die beiden Bewegungen von auf und ab und von hin und her überlagern sich, dem strengen Achsentakt der Fenster und Tore wurde ein riesiger, organischer Hut aufgesetzt.

Im Innern ist der Drachenkamm ein schwiefwinkliges Sparrenzelt mit eingelassenen Kunststoffbändern, die für Tageslicht sorgen. Es gibt verschiedene Helligkeiten in den Ausstellungsräumen, die Mittelzone kriegt mehr Tageslicht als die Seitenkabinette. Die weiten Durchblicke längs durch den Raum geben dem Museum einen grossen Atem, man fühlt sich auf einem Kunstspaziergang. Die Spannung zwischen dem militärischen Nutzdenken, das das Schrittmass der Pfosten befielt, und dem beschwingten Spiel der freien Form, das dem Einfall der Architekten gehorcht: Das macht aus dem Zeughaus das Museum.

Nur noch die grosse Treppe vom Eingang in den ersten Stock ist ein Eingriff in die Ständerkonstruktion. Sonst wird das Zeughaus möglichst wenig angetastet. Die Böden im Erdgeschoss wurden geflickt, im oberen ein Zementboden eingebracht, die Pfosten und Balkenlagen nur weiss gestrichen. Die Einbauten sind mit weissen Gipswänden eigentlich hineingestellte Möbel – es herrscht eine Hausvatervernunft, die sagt: Alles, was noch brauchbar ist, bleibt. Einzig in den Sanitärräumen haben die Architekten sich einen aufwendigen Minimalismus geleistet: WCs wie aus dem Comic ‹As Found›. Trotz der Kargheit hat das Kunst(Zeug)Haus etwas Feierliches, vielleicht ist das gemeint, wenn man von heiliger Nüchternheit spricht.

hochparterre, Mi., 2008.06.18



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19. Mai 2008Benedikt Loderer
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The Dollar Grand

Fürst Schwarzenbach lässt bauen. In diesem Satz ist alles enthalten. The Dolder Grand, das Fünfsternehotel am Zürichberg, leuchtet. Der Rest ist Hofberichterstattung, wovon in letzter Zeit genügend zu lesen war. Was unumgänglich ist, denn um eine fürstliche Residenz geht es ja.

Fürst Schwarzenbach lässt bauen. In diesem Satz ist alles enthalten. The Dolder Grand, das Fünfsternehotel am Zürichberg, leuchtet. Der Rest ist Hofberichterstattung, wovon in letzter Zeit genügend zu lesen war. Was unumgänglich ist, denn um eine fürstliche Residenz geht es ja.

Wie wohnt der Geldadel, wenn er nicht zu Hause ist, fragen sich die Subjekte des Kapitals. Und an drei Besuchstagen konnten sie das Schloss besichtigen. Staunend streunten sie durch die Räume und ihr Schauen galt ‹dem Echten›. Für einmal sind sie nicht in den Ferien und besichtigen geschichtsvergessen die vergangene fürstliche Pracht. Diesmal ist alles wahr, weil es Betrieb ist. Der Adel, der hier wohnt, herrscht, ist nicht vergangen. Am Zürichberg haben die Majestäten noch nicht abgedankt und hinterliessen bloss ihren einstigen Glanz. Die Aura des unbeschränkten Geldes weht durch das Hotel, kein Subjekt kann sich dem entziehen. Es ist nicht der Futterneid, der die Subjekte staunen macht, es ist die Neugier. Sie starren auf die allgemeine Gediegenheit und können sich kaum vorstellen, warum das alles so teuer ist. Doch dass es so viel kostet, das ist der Kern des Dolder Grand. Weil es so teuer ist, ist es ‹grand›.

Vom ‹Curhaus› zur Residenz von 1899 bis 2008, in diesem gut gefüllten Jahrhundert hat das Dolder eine ansehliche Karriere gemacht: von der Sommerfrische zu einem der ‹Leading Hotels of the World›. Es war «der Weg zurück in die Zukunft», wie zu hören war. Alle Bauten, die nach 1899 angefügt wurden, sind abgerissen worden, geblieben ist die ausgekernte Fassade des Kurhauses und darin, wie Überbleibsel, sechs Zimmer, die wie neu ausgestattete Schatzkästlein an Ort und Stelle erhalten blieben. Dazu kommen die rekonstruierte Eingangshalle und die wieder entdeckten Deckenmalereien im oberen Restaurant und in der Lobby. Zusammenfassend: Das Dolder Grand ist ein Neubau. Doch niemand von den Subjekten sieht das und keiner vom Geldadel will es wissen. Alle sehen sie das erweiterte und erneuerte Märchenschloss und alle wollen sie an die Geschichte von der ungebrochenen Tradition glauben. Sie allein ist es, die The Dolder Grand von den noch feudaleren Hotelpalästen in allen Dubais der Welt unterscheidet. ‹History sells›, doch wahre Echtheit muss nicht deklariert werden. Das ist auch nicht nötig, denn was wirkt, wird wahr. Weil das Dolder Grand so traditionell ist, ist es ‹grand›.

Das Teure ist gesichtslos

Das Märchenschloss, das, bevor es geadelt wurde, ein gigantisches Chalet war, beherrscht die Anlage, obwohl es weit kleiner ist als der Doppelbogen der Neubauten, die es von hinten umarmen. Warum? Weil der Architekt Norman Foster die Symmetrie fortsetzt. Er übernimmt das Bildungsgesetz, das Jacques Gros 1899 aufgestellt hatte. Die zentrale Achse wird bergseitig, wie früher mit dem Speisesaal, nun mit dem neuen Ballsaal abgeschlossen. Die beiden Zimmerflügel wiederholen die Grundfigur, die Gros schon vorgegeben hatte. Der Eingang ist wieder vorne, wo ihn die Symmetrie haben will. Damit wird das Märchenschloss neu gerahmt und betont. Es steht im Vordergrund und spielt die Hauptrolle. Sein Turm bleibt der Dreh- und Angelpunkt des Ganzen, er verkörpert pars pro toto das Dolder Grand. Die Turmspitze wird zur erinnerbaren Abkürzung des Hotels. Weil das Dolder Grand einen Geschichten erzählenden Turm hat, ist es ‹grand›.

Doch das Märchenschloss ist eine gigantische Dienstleistungsmaschine, die vor allem unterirdisch funktioniert. Die atemberaubenden Bilder der Baugrube sind schon vergessen. Wer erinnert sich noch an den riesigen Krater, in dem in der Mitte auf Unterfangungsmauern das ausgeweidete Kurhaus wie eine Hochzeitstorte stand? (HP 6/7 06). Trotzdem: Die Bauingenieure sind die ungenannten Helden dieser Baustelle. Im von ihnen geschaffenen Kellerbauch steckt alles, was die Maschine am Laufen hält. Es gibt zwei Hotelerzählungen, die sich ergänzen: die am Licht und die künstlich beleuchtete. Die aseptisch-korrekten Traditionsräume erzählen die offizielle, die neon-beleuchteten Gänge die Wirkungsgeschichte des Hotels. Weil das Dolder Grand einen so riesigen Bauch hat, ist es ‹grand›.

«Wie wars?», werden die Subjekte nach dem Besuch gefragt. Sie beschreiben Einzelheiten: die historischen Armaturen, Aladins Wunderlampen im Ballsaal, die ruppigen Kalksteinwände im Badeland sind aufgefallen. Warum keine Zusammenhänge? Weil alles so gedämpft, zurückgenommen, ununterscheidbar ist. Man hat das Gefühl, das Haus wolle nicht erkannt werden. Hier herrscht der anonyme Stil. Nur nicht zu laut, war der leise Befehl an die Ausstatter. Es ist das Genie der Lieferanten, das hier am Werk ist. Diese Leute wissen, was der Gast will, vom Hoteldirektor bis zum Interior Designer. Er will Exklusivität. Warum aber endet diese im anonymen Stil, in jener Unverbindlichkeit, die das Exklusive zum Allerweltsluxus macht? Das Teure ist hier gesichtslos. Der Geldadel schätzt eine konfliktfreie Moderne, alles ist edel-schlicht, nichts ist erinnerbar. Es ist der Geschmack, den man einkauft. Der Gast will es so, ihm zu dienen, ist des Hotels erste Pflicht. Ein ebenso überzeugender Grund, wie wenn die Fernsehdirektorin sagt: Der Zuschauer will es so. Weil das Dolder Grand von anonymem Stil ist, ist es ‹grand›.

Die Spielregeln der Preisliste

Immerhin, dort wo die Konvention noch ungefestigt ist, sind Überraschungen möglich. Im Badeland, pardon, Spa, gibt es den Canyon. Der sich verengende Schlitz zwischen Alt- und Neubau wird als Oberlicht in Szene gesetzt. Das allein wäre bloss praktisch, doch die Bewegung wird in einer Spirale weitergeführt, die im Meditationsraum und in den innersten Tiefen des Gebäudes endet. In der Gegenrichtung öffnet sich ein Trichter zum Schwimmbad und zur Landschaft. Aus dem Vorwärtsschreiten wird ein Fliegen. Leider ist diese Schnecke die einzige räumliche Erfindung im ganzen Komplex. Der Ballsaal ist zwar mit Gold dekoriert, wirkt aber trotzdem seltsam klein, die Kuppel allein hat etwas Herrschaftliches. Doch hier kann der Fürst keinen Hofball geben, Fund Raising Dinners aber wohl. Bei dieser Überlegung angekommen wird klar: Fürst Schwarzenbach residiert nicht hier und auch der Geldadel ist nur auf der Durchreise. Die Aura platzt. Die Subjekte des Kapitals staunen ins Leere. Da ist nichts Heiliges, da strahlt keine Dynastie. Ernüchterung auf den Gesichtern, alles funktioniert wie gewohnt, die Spielregeln gehorchen der Preisliste. Das Hotel ist leider kein Kraftort, sondern ein gehobenes Dienstleistungsunternehmen. Weil das Dolder Grand so kapitalistisch ist, ist es ‹grand›.

Entschädigt, nein belohnt, werden die Gäste und die Subjekte mit der Aussicht auf See und Alpen. Das Hotel steht auf einem Balkon und ist selbst einer. Mit oder ohne Aussicht, das ist das Plus und Minus dieses Hotels. Dieser Rechnung gehorchte schon Jacques Gros, Foster hat kräftig und geschickt dazu addiert. Auf jeden Fall gilt: Weil das Dolder Grand diese Aussicht hat, ist es ‹grand›.

hochparterre, Mo., 2008.05.19



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08. April 2008Benedikt Loderer
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Der zweite Leitbau Liechtensteins

Das Fürstentum Liechtenstein hatte bisher nur einen Leitbau, das Schloss. Nun gibt es einen zweiten, den Landtag, das ‹Hohe Haus›. Hansjörg Göritz, sein Architekt, baute für das Parlament eine profane Kirche. Skeptisch fuhr der Stadtwanderer hin, überzeugt kehrte er zurück.

Das Fürstentum Liechtenstein hatte bisher nur einen Leitbau, das Schloss. Nun gibt es einen zweiten, den Landtag, das ‹Hohe Haus›. Hansjörg Göritz, sein Architekt, baute für das Parlament eine profane Kirche. Skeptisch fuhr der Stadtwanderer hin, überzeugt kehrte er zurück.

Ich habs kommen sehen. Im ‹Architekturführer Liechtenstein›, 2002 bei Niggli erschienen, schrieb ich: «Nicht Snozzis antikisierender Demokratietempel, sondern ein nicht minder anspruchsvoller Zeltbau soll den Landtag aufnehmen. Ein eingefriedeter Platz setzt das Parlamentsgebäude vom Tagesbetrieb ab. Das Bauprogramm ist zweigeteilt: erstens ein dem Hangschwung folgendes Verwaltungsgebäude mit grosszügiger Dachterrasse und zweites, traufständig und als Einzelbau dastehend, das spitze Dach mit dem Sitzungssaal des Parlaments darunter. Innen und aussen ist dieses Zelt mit Sichtbacksteinen verkleidet und erhält sein Licht durch einen Beleuchtungsschlitz im Giebel. Das Parlament wird in einer profanen Kirche tagen.» Es ist nun Zeit, die eigenen Voraussagen zu überprüfen. Skeptisch fuhr ich nach Vaduz.

Identitätsstiftend

Im Februar zog Liechtensteins Bevölkerung, darunter ich, in einer langen Prozession durch die Räume und nahm den Neubau in Besitz. Irgendwie schien sich auf den Gesichtern Befriedigung zu spiegeln: Ja, so sind wir im Ländle. Ordentlich, fehlerfrei, einzigartig. Um es gleich zu Beginn festzuhalten: Die architektonische Geographie im Lande hat einen neuen, zweiten Schwerpunkt. Neben dem Schloss, das über Vaduz allen drohend im Nacken sitzt, ist nun zu seinen Füssen ein demokratischer Merkort entstanden. Der liechtensteinische Landtag schafft es, die eigentümliche doppelte Souveränität des Fürstentums sichtbar zu machen: Der Fürst da oben – das Volk da unten. Das Landtagsgebäude stellt die zweite Gewalt im Lande dar, gehört zur Identität des Kleinstaats, ja stellt sie dar. Hierzulande gibt es nun zwei Leitbauten: das Schloss und das Landtagsgebäude. Identitätsstiftung, war das nicht die ursprüngliche Aufgabe der Architektur? Hier ist sie gelungen. Gewiss ist auch das Kunstmuseum ein bedeutendes Gebäude, ein Leitbau aber ist es nicht, es erscheint nicht auf den Postkarten.

Fortsetzung

Der Text im Architekturführer liefert den roten Faden dieser Besprechung. «Snozzis antikisierender Demokratietempel» zuerst. Das Projekt von Luigi Snozzi ging im Frühling 1993 in einer Volksabstimmung unter. Die kulturbewussten zeigten mit dem Finger auf die Treuhänder- und Krämerseelen, die einen grossen Wurf verhinderten. Heute entdeckt man aber, wie viel von Snozzis Projekt trotzdem verwirklicht wurde. Das Landesmuseum (HP 5/04), das ‹Lange Haus›, das im Bau befindliche Archivgebäude, sie alle folgen dem von Snozzi vorgegebenen Schwung entlang dem Hangfuss. Auch das Landtagsgebäude nimmt Snozzis Vorgaben von 1987 auf. Nur das Projekt von Hansjörg Göritz setzte 2000 im zweiten Wettbewerb vor eine Schicht am Hang einen damit verbundenen Baukörper. Das Kennwort hiess ‹Fortsetzung› und war für Göritz Programm. Alle anderen Architekten schlugen Solitäre vor. Snozzis Geist schwebt über dem Städtle. Aus dem Demokratietempel allerdings ist die profane Kirche geworden. Nicht mehr in der Toga der römischen Hoheit, sondern im Gewand «einer nüchternen Klarheit, geboren
aus protestantisch-calvinistischem Realismus», so Göritz, kommt der Neubau daher. Es ist der Schritt vom Mittelmeer zum alemannischen Kulturraum. Der Landtag ist auf seiner Kulturhöhe angekommen.

Scharnier

Es folgt der «eingefriedete Platz» abseits vom Tagesbetrieb. Hier irrte der Stadtwanderer in seiner Vorschau. Abseits ist hier nichts, denn hier ist der Empfangsort von Vaduz. Der grosszügige, gepflästerte Peter Kaiser-Platz müsste eigentlich ‹Liechtensteiner Mitte› heissen, denn er bildet das Gefäss für die Repräsentation der zweiten Staatsgewalt. Hier öffnet sich der Trichter, der die Leute sammelt und zur Hauptgasse führt. Dort, wo die Gasse sich schliesst – oder öffnet, wenn man in der Gegenrichtung geht –, dort steht das neue Landtagsgebäude als Auftakt oder als Abschluss. So ist es je nach Richtung der beherrschende Bau des Platzes oder das letzte Haus in der Gassenzeile. Diese städtebauliche Setzung ist die entscheidende Korrektur an Snozzis Konzept. Der Neubau steht mit knappem Abstand neben dem Verweserhaus und nicht mehr zu nah neben dem Regierungsgebäude. Dort steht heute ein neu gepflanzter Symbolbaum, eine Eiche. Die Traufe des ‹Hohen Hauses› liegt gassenparallel, was die Zugehörigkeit zur Zeile unterstreicht. Die hohe, dem Platz zugewandte Giebelwand setzt den Schwerpunkt des Ensembles. Das ‹Hohe Haus› markiert das Scharnier zwischen Gasse und Platz, hier ändert sich die Gschwindigkeit, vom Gehen kommt man ins Schlendern. Das Verwaltungsgebäude, nun das ‹Lange Haus›, hingegen ist Raumgrenze und Platzhintergrund. Das Regierungsgebäude steht weiterhin frei, wie von seinem Architekten Gustav von Neumann 1905 geplant.

Perfektion

Das «Bauprogramm ist zweigeteilt», schrieb ich im Architekturführer.
Das ‹Hohe Haus› folgt dem Typ des Rathauses einer Reichsstadt: Eine Pfeilerhalle trägt den Ratssaal im ersten Obergeschoss, der mit einem mächtigen Dach abgeschlossen ist. Im ‹Langen Haus› sind die Sitzungsräume der Parlamentsfraktionen, die Bibliothek, die Büros und die nötigen Nebenräume. Eine vernünftige Aufteilung zwischen Vorbereiten und Tagen. Einzig der Ratskeller fehlt, statt der Trinkstube ist da die Tiefgarage. Das spitze Dach braucht keine Erklärung, es ist fremdartig selbstverständlich. Das Eigenschaftswort «archaisch» wetterleuchtete durch die Presse, doch ist diese «zeitlose Urform» (Göritz) keineswegs urtümlich, sondern elementar. Gemeint ist: zurückgeführt auf die geometrischen Hauptfiguren, allen voran das Dreieck. Die reine Form ist das Ziel, gereinigte Form das Ergebnis. So nah wie möglich an die «platonische Figur» will Göritz kommen, dies, wie er sagt, mit «unbedingter Härte». Das setzt er um mit einem einzigen Element, dem Klinkerstein. Backsteinsticken ist hier mit Uhrenmacherei verbunden, ich habe noch keinen Bau gesehen, der so rücksichtslos bis auf drei Stellen hinter dem Komma durchdetailliert wurde. Um die sprichwörtlich schweizerische Perfektion zu besichtigen, muss man seit Februar 2008 nach Liechtenstein reisen.

Zisterziensisch

«Innen und aussen mit Sichtbackstein verkleidet», kündigte der Architekturführer den Bau an. Verkleidet ist ein zu weites Sammelwort. Die insgesamt 684 900 Kelesto-Klinker der Ziegelei Keller in Pfungen (ZH) führen in ihrer goldgelben Farbe jura hell die Vielfalt des Immer-Gleichen vor. Sie sind auf dem Platz ein gestreifter Teppich, beim märkischen Verband der Stützmauern ein währschaftes Mauerwerk, bei den vorgefertigten Tafeln des Dachs ein mechanisches Muster, im Innern des Parlamentssaals ein textiler Wandbehang, auf den Treppenstufen ein irritierendes Fremdmaterial, bei den Pfeilern der Eingangshalle eine senkrechte Verkleidung, bei den Stützen des ‹Langen Hauses› Goldschmiedearbeit. Immer gelten die unerbittlichen Regeln des Steinmasses, ziegelgerecht selbst dann, wenn die Fugen doppelt so hoch und breit sind wie üblich. Vor meinem Besuch dachte ich: Was soll die Backsteinorgie? Ist das nicht Architektenwahn? In Vaduz antwortete ich mir: Göritz liefert das Stichwort «zisterziensisch». Wie die Mönche aus dem einen, am Ort gefundenen Material ihre Klöster bauten, so hat auch er nur aus Klinker seine Curia gebaut. Auch sein Anspruch ist überzeitlich, über das Fürstentum Liechtenstein hinaus, dem das Haus derzeit dient. Elementar ist das Gegenteil der Mode. Allerdings weiss auch Göritz: Das ist der Stand der Konstruktion zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Schärfung der Form ist mit hohem Aufwand erkauft. Wer keinen Blechabschluss am Dachrand duldet, muss mit konstruktiver Erfindungskraft dem Dachwasser Herr werden.

Hoheit

«Das Parlament des Fürstentum Liechtenstein wird in einer profanen Kirche tagen», so die Prophezeiung im Architekturführer. Eigentlich geht es nur um den Parlamentssaal, ist er gelungen, so gelang (fast) alles. Es gelang. Das Bild der profanen Kirche stimmt, es ist ein Raum von nüchterner Feierlichkeit, dem die steile Zeltform die bürgerliche Weihe gibt. Der Raumüberfluss zeichnet aus, die Höhe schafft Hoheit. Ein kreisrunder Tischring, an dem die Abgeordneten und die Regierung von gleich zu gleich sich gegenseitig in die Augen schauen, steht im leeren Raum. Darüber hängt ein zweiter Ring mit der Beleuchtung. Wie die Lampen in der Moschee grenzt der Leuchtring die Schicht des Handelns nach oben ab. Das Licht dringt durch ein dreiseitiges Bandfester ein, der Lichtschlitz im Giebel dient hauptsächlich der Ausleuchtung des Klinkerzelts. Es ist hell im Landtag, kein raunendes Düster, debattiert und legiferiert wird bei Licht. Ein Parlament braucht ein Gefäss, das Würde ausstrahlt, das ans Gemeinwohl mahnt. Der liechtensteinische Landtag wird nicht besser arbeiten als zuvor, aber würdiger sicher. Die Zuschauerbänke treten in den Hintergrund, eine Zutat an der einen Querwand. Dort klebt auch die Übersetzerkabine, ein Fremdkörper, der dem Wunsch nach Kongressen und Konferenzen geschuldet ist. Doch einen Würderaum soll man nicht auch noch als Tourismushilfe benützen. Die Kabine ist ein Störfaktor in der profanen Kirche. Die erheblichen Anstrengungen, die Raumakustik zu steuern, sind unsichtbar, wie alle Haustechnik ein verborgenes Wirken ist. Auch die künstlerische Intervention Sabine Laidigs ist sehr zurückhaltend. 64 Farbmuster sind passgenau auf die Ziegel geklebt, es entstand ein Gespinst von Farbpunkten. Das dahinter steckende Bildungsgesetz mögen die Abgeordneten während den langwierigen Debatten zu ergründen versuchen.

Nachtrag

Vier Nachträge sind noch nötig. Zum einen herrscht der Winkel. Der zwischen der Bau- und der Hanglinie. Ein Verwaltungsakt zog die Baulinie vom Verweserhaus zum Regierungsgebäude. Hansjörg Göritz hat sein ‹Hohes Haus› darauf gestellt. Die Hanglinie hingegen ist die bewusste Setzung des Architekten. Der Schnitt der beiden ergibt einen schiefen Winkel, der den Raster regiert, der den ganzen Komplex beherrscht. Jede Stütze, jeder Bodenbelag, jede Decke gehorcht diesem Winkel. Das führt in der unerbittlichen Folgerichtigkeit der selbst gesetzten Regel, zum Beispiel zu schräg abgeschnittenen Spezialklinkern bei den Treppenstufen, zu im Grundriss rhombischen Fassadenstützen oder Raumzuschnitten. Es folgt die «grosszügige Dachterrasse», die ich zwar schon 2002 entdeckte, aber die Umkehrung des Blicks hab ich damals nicht bemerkt. Während das ‹Lange Haus› mit seinen drei Geschossen auf den Platz schaut, richtet sich die Dachterrasse gegen den Berg aus. Die hohe Mauer, die statt einer Brüstung die Terrasse gegen den Platz abschliesst, hat zwei Wirkungen. Sie kehrt erstens den Blick um, aber sie erhöht zweitens auch das Gebäude um ein zusätzliches Geschoss und gibt ihm einen oberen Abschluss, fast wie ein klassisches Dachgesims. Wer auf der Dachterrasse wandelt, entdeckt den Hinterhof. Das ‹Lange Haus›, zweiseitig belichtet, steht mit Respektabstand vor der riesigen, bewundernswert perfekt betonierten Hangmauer, die mit den Spannköpfen der Anker wie mit Schmucknarben besetzt ist. Im Hinterhof stehen die Sichtbetontürme der ausgelagerten bedienenden Räume wie Lift, Sanitäranlagen und Lüftung. Ein Architekturgarten mit den versammelten Volumen im Licht. Schliesslich noch das Licht, genauer die Schwärze der Schlagschatten und die Helle der Lichtstreifen, die Leuchtkraft der Dinge und die Liebkosungen des Streiflichts. Mit gehöriger Skepsis bin ich nach Vaduz gereist, mit hoher Achtung kam ich wieder.

hochparterre, Di., 2008.04.08



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Publikationen

Artikel 12

31. März 2010Adi Kälin
Neue Zürcher Zeitung

Sätze gegen den Lauf der Dinge

Der Stadtwanderer wird pensioniert und verabschiedet sich von seinem treuen Publikum mit Vortrag und Ausstellung an der ETH Hönggerberg, die noch einmal den ganzen Benedikt Loderer zeigen.

Der Stadtwanderer wird pensioniert und verabschiedet sich von seinem treuen Publikum mit Vortrag und Ausstellung an der ETH Hönggerberg, die noch einmal den ganzen Benedikt Loderer zeigen.

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Presseschau 12

Genial oder banal?

Das neue Schulhaus Leutschenbach spaltet die Architekturkritiker. Sechs kontroverse Meinungen zum Bau von Christian Kerez.

Das neue Schulhaus Leutschenbach spaltet die Architekturkritiker. Sechs kontroverse Meinungen zum Bau von Christian Kerez.

Es ist das zweitgrösste Schulhaus der Stadt Zürich und von der Kindergärtlerin bis zum Sekschüler gehen hier alle ein und aus. Der Bau dauerte ein Jahr länger als vorgesehen. Die Erscheinung ist für ein Schulhaus so ungewöhnlich, dass sie polarisieren muss. Seit August ist das Schulhaus Leutschenbach nun in Betrieb und Hochparterres Redaktorinnen und Redaktoren besichtigten es mit dem Architekten Christian Kerez.

Die Heiligsprechung des Banalen

Ivo Bösch: Die Jury traute dem Entwurf von Christian Kerez nicht zu, dass er baubar ist. Im Wettbewerb aus dem Jahr 2003 liess sie zwei Projekte überarbeiten. Zwar gefielen damals die Zonen zwischen den Schulzimmern. Doch dieser Bereich war Fluchtweg, also nicht nutzbar. Erst nach der Überarbeitung schlug Kerez die Fluchtbalkone vor. Der Feuerpolizist entwarf also beträchtlich mit. Eine Turnhalle auf dem Dach, eine Doppeltreppe, aneinander gereihte, hohe Schulzimmer und eine stützenfreie Fassade im Erdgeschoss: Mehr steckt nicht im Entwurf. Der Kern des Projekts ist die Konstruktion.

Das Haus steht nur auf sechs Dreifachstützen. Für den Handstand auf dem kleinen Finger scheute der Architekt keine Kosten. Doch bestimmte der Bauingenieur, wo welche Querschnitte welche Lasten tragen. Was Kerez mit dem kompakten Entwurf gewinnt, verliert er mit dieser Konstruktion. Obwohl beim Ausbau gespart wurde und obwohl es die zweitgrösste Schule der Stadt Zürich ist, ist der Bau im Kubikmetervergleich (BKP 1– 9: CHF 1108.–/m3, Stand August 2009) eines der teuersten Schulhäuser. Schon die Jury schrieb nach der ersten Stufe: «Die durch die kompakte Gebäudeform gegebene Ausgangslage für eine günstige Ökonomie wird durch zu erwartende erhöhte konstruktive Aufwendungen gemindert.» Dass diese Aufwendungen so gross werden und der Ausbau so leiden musste, konnte sie nicht voraussehen: Wände aus Industrieglas, in den Schulgeschossen Kunststeinplatten am Boden, sichtbare PE-Abwasserleitungen. Alles wirkt banal, Kerez würde es reduziert nennen. Glück für ihn, dass das Schulhaus in Schwamendingen steht und die Stadt endlich ein Signal für die Quartierentwicklung neben der Kehrichtverbrennungsanlage setzen musste.

Alles schrumpft

Roderick Hönig: 1994 stellte Pipilotti Rist im Kunstmuseum St. Gallen zwei überdimensionale Fernsehsessel neben eine meterhohe Stehlampe. Wer versuchte, die gigantischen, kaum handhabbaren Möbel zu besteigen, lernte physisch seine Lektion in Raumwahrnehmung. Die drei ungewöhnlich hohen Klassenzimmergeschosse erinnern an Rists Installation. Nur ists im Schulhaus Leutschenbach umgekehrt: Die Räume sind überdurchschnittlich hoch — satte 3,6 Meter, das Minimum schreibt 3 Meter vor. Die Überhöhe verleiht weiten Atem und Grosszügigkeit und lässt, wie in Rists Arbeit, Schülerin und Lehrer auf Kindergrösse «schrumpfen ». Die Architektur stellt so die Machtverhältnisse im Schulhaus in Frage, sie demokratisiert Subjekt und Objekt. Kerez sichert mit seinen überhohen Klassenzimmern und Pausenhallen aber auch die Souveränität seines Werks. Die Überhöhe sorgt dafür, dass Möblierung und Raum kaum in ein Verhältnis treten und dass man nicht plötzlich vor lauter Schulmöbel und farbigem Kinderleben Kerez’ «architecture brut» nicht mehr sieht. Elegant ist, dass der eitle Wunsch nach Wahrung der Reinheit der eigenen Architektur nicht auf Kosten der Nutzer geht — im Gegenteil: Die überdurchschnittliche Raumhöhe ist die Attraktion und Qualität des Schulhauses. Der Luxus, bezahlt auf Kosten des Ausbaus.

Die Paulista-Schule

Axel Simon: Wo ist da die Angemessenheit? Und was ist mit den hohen Kosten? Spätere Erweiterungsmöglichkeiten? Es gibt Bauwerke, an denen perlen solche Fragen ab. Radikalität imprägniert sie zum Manifest. In Leutschenbach steht man vor einem solchen, schaut einfach nur, blöd vor Staunen. Hier liegt Zürich nicht in der Schweiz, sondern am Rande São Paulos. Sicher, Kerez’ Konstruktionen sind komplizierter als diejenigen von Artigas, Bo Bardi oder Mendes da Rocha, die hiesigen Anforderungen sind es sowieso. Die räumliche Idee jedoch ist ähnlich: eine weite Landschaft rundum, die sich im Inneren widerspiegelt, sowie ein Raum, der mit zunehmender Schwere des Hauses an Leichtigkeit gewinnt. Die eidgenössische Komplexität der scheinbar einfachen Struktur überspielt der Architekt, indem er sich jede Oberflächengüte versagt. Der sichtbaren Stapelung der Etagen entsprechen der sichtbar gegossene Beton, der sichtbar geschweisste Stahl, das sichtbar gefügte Gussglas. Die Rohheit des Materials und der immense Raum machen aus der Schule eine Werkstatt, einen Ort, an dem man ohne die Bürde des Perfekten schaffen, sich ausbreiten, auf dem Trottinette durchjagen kann. Keine gebeugten Rücken, keine Schulkrüppel! Diese Forderung, die der spätere Bauhausdirektor Hannes Meyer 1926 seinem konstruktivistischen Petersschul-Entwurf beilegte, könnte auch auf den Leutschenbacher Beton gesprüht stehen — als Kunst am Bau versteht sich.

Ein starkes Stück

Werner Huber: Wie ein Equilibrist steht das Schulhaus auf der Wiese am Rand von Leutschenbach, scheint unter Hochspannung zu sein. Es berührt den Boden kaum, die Tragstruktur balanciert die Lasten der aufeinandergetürmten Nutzungen ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Die gleiche Spannung ist im Innern zu spüren, auch wenn die Fachwerkträger nicht immer zu sehen sind und es nicht auf Anhieb klar ist, wie die Statik überhaupt funktioniert. Kräfte werden über Umwege spazieren geführt, bevor sie den Boden erreichen. Es wäre einfacher gegangen. Ein paar Stützen hier und da diskret platziert — wer würde den Unterschied schon sehen? Kaum jemand, doch spüren würde man ihn bestimmt.

Der Architekt ist seinen Weg konsequent gegangen und hat alles seinem Konzept untergeordnet. Das ist seine grosse Leistung. Die Betonoberflächen sind nicht perfekt, der Ausbau ist karg, konstruktive Ausnahmen gibt es zuhauf. An irgendeinem anderen Bau würde man das beklagen, hier ist das sekundär. Kerez hat die richtigen Prioritäten gesetzt. Nur im Erdgeschoss musste das Konzept vor der Nutzung zurücktreten — und prompt ist
es daneben geraten: Nie und nimmer dürfte es verglast sein.

Republikanisch geschärft

Benedikt Loderer: Zwei Gründe, warum ich das Schulhaus Leutschenbach gut finde: Es ist republikanisch und es ist geschärft. In Schwamendingen leben viele jener Leute, denen man eine bildungsferne Herkunft nachsagt und die ihre Kinder nicht vor allem zum Lernen anstacheln. Für sie baute die Stadt Zürich ein republikanisches Schulhaus. Es ist ein Versprechen. Nie, sagt die Stadt, werden wir vom Prinzip der allgemeinen und obligatorischen Volksschule abweichen. Wir wollen weder Kloster-, noch Koran- oder Eliteschulen. Vor der Schule ist jedes Kind gleich und wir geben keines auf. Wir bilden sie zu Zürchern. Wir bauen Integrationsschulen. Dort, wo die Kinder am schwierigsten sind, machen wir nicht weniger, sondern mehr. Wir sparen nicht an den Bedürftigen. Gut genug gibt es nicht, wo es ein Mehr braucht. Das Schulhaus repräsentiert den Bildungsanspruch der Stadt. Dieses republikanische Schul- und Selbstverständnis strahlt das neue Schulhaus aus. Das Konzept ist einfach: Kerez stapelt. Er setzt die Nutzungen nicht neben-, sondern schichtet sie übereinander. Den Rest des Grundstücks lässt er frei. Das Konzept überzeugte im Wettbewerb, doch dann begann die Arbeit. Es nahm die Hürden der Feuerpolizei, bewältigte das gerade geltende pädagogische Programm, überwand die Schwierigkeiten seiner eigenen Statik, besiegte den Kostendruck, kurz, es wurde verwirklicht.

Selbstverständlich sieht es heute anders aus als im Wettbewerb — aber nicht verwässert, sondern geschärft. Kerez ist einer der wenigen Architekten, die Konzessionen machen können, ohne Schaden an ihrem architektonischen Konzept zu nehmen. Er ist nicht stur, er ist nur konsequent. Er weiss: Wer alles verteidigt, verteidigt nichts. Und er weiss, was er aufgeben kann, um das zu behalten, was er unbedingt haben will. Selektives Wichtignehmen heisst diese Schärfungskunst. Kerez ist ein Meister darin.

Die Konsequenzen der Konsequenz

Rahel Marti: Christian Kerez will konsequente Architektur schaffen. Er kämpft für die Reinheit der einen, einfachen Idee. Offenbar gelang es ihm, die Beteiligten für diese heroische Haltung zu gewinnen. Kerez stapelt, der Park soll frei bleiben. Er baut Glaswände, dazwischen soll Raum zum Lernen entstehen. Er will ein klares und rohes Schulhaus, in dem sich Schülerinnen und Lehrer entfalten. Paradoxerweise braucht es dafür ein komplexes Tragwerk und Bauarbeiten, die ein Jahr länger dauerten als geplant. Was aussieht wie eine strukturalistische Höchstleistung, ist eine Reihung von Ausnahmen und Kompromissen. Um etwa den Park ins Haus fliessen zu lassen — und dies bildlich, denn in der Tat gibt es ja eine Glasfassade —, ist das Gebäude an einer komplexen Fachwerkkonstruktion aufgehängt. Um die Reinheit dieser statischen Idee zu belassen, nimmt der Architekt verschiedenste Fachwerkdimensionen und damit verschiedenste Deckenfelder in Kauf, was zu zahllosen konstruktiven Anpassungen führt. Um den freien Grundriss in den Treppenhallen zu ermöglichen, sind breite, umlaufende Fluchtbalkone nötig. Damit hier keine Kinder herumrennen, werden sich Lehrerinnen und Lehrer Regeln ausdenken müssen. Um die Transluzenz des Industrieglases nicht zu stören, sind an den Wänden der Schulzimmer und der Turngarderoben nicht metallene Kleiderhaken montiert, sondern kleine, ab - bruchgefährdete Plastikhaken aufgeklebt. Die Konsequenz reicht soweit, dass Kerez auch Massnahmen durchsetzt, die mit pädagogischen Zielen nichts mehr zu tun haben. Etwa, dass keine Leuchten, dass nichts von den hohen Decken hängen darf, was aufwändige Betoneinlegearbeiten erforderte. Man wird sehen, denn nun muss sich das aussergewöhnliche Schulhaus bewähren. Sonst war die reine Idee architektonischer Selbstzweck und der Preis dafür hoch.

hochparterre, Mo., 2009.10.12



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hochparterre 2009-10

11. August 2009Benedikt Loderer
hochparterre

Uplifting the Costumer...

... oder das gesunde Glück
Die Devise einer Fastfoodkette passt hervorragend auch für die Therme in Bad Ragaz: Der Badegast wird feierlich auf ein höheres Niveau gehoben.

... oder das gesunde Glück
Die Devise einer Fastfoodkette passt hervorragend auch für die Therme in Bad Ragaz: Der Badegast wird feierlich auf ein höheres Niveau gehoben.

Nicht Hallenbad, Therme heisst das Gebäude. Der griechische Wortstamm veredelt das Warmbad. Die Aufgabe der Architekten war es, ein zeitgemässes Bad an das vorhandene Schlosskonglomerat anzufügen. Es galt, die Tonart zu treffen, sie ist im Grand Resort maestoso. Doch ist der König im Bade nackt, was ihn zum gewöhnlichen Menschen macht. Die zufällige Versammlung von kaum bekleideten Menschen hat eine gleichmacherische Wirkung. Dass die Therme allgemein zugänglich ist, somit zum Hallenbad der Region wird, unterstützt diese Tendenz.

Organisation des Orts

Wie findet man die Balance zwischen dem aristokratischen Anspruch und der republikanischen Freizügigkeit? Das war die Aufgabe der Architekten. Es geht dabei um Stimmung, der reibungslose Ablauf aller Funktionen wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Es gab einen zweistufigen eingeladenen Wettbewerb. Im ersten Durchgang musste das Resort neu organisiert werden. Wo sollte ein neues Fünfsternhotel ins Konglomerat eingefügt werden, wie ist das medizinische Zentrum zu erweitern und wohin mit der öffentlichen Therme? In der zweiten Runde gings um das Hotel und das Bad. Das Hotel gewannen Hilmer & Sattler mit Albrecht Architekten aus München, die Therme Smolenicky & Partner aus Zürich.
Ach wie kitschig! Dachte ich, als ich die ersten Bilder sah. Beim Besichtigen hingegen sagte ich mir: Wie diszipliniert doch alles ist.

Die Therme überraschte mich. Sie sitzt eingeklemmt zwischen dem alten Aussenbad von Glaus und dem neuen Hotelturm, ihr Grundriss verrät die mühevolle Einpassung ins Ensemble. Doch davon spürt man nichts, denn das architektonische Thema heisst «Heiligendamm im Park». Dieser Ostseekurort mit seinen weissen Holzhäusern hat Smolenicky angeregt. Das Hellgrün des Rasens, das Weiss des Hauses und das Dunkelgrün des Waldhangs im Hintergrund, das sind die drei Farbtöne, die hier zusammenklingen. Man meint, den Ostseewind zu spüren.

Monumental heisst gross

Die Ankunft ist sorgfältig inszeniert. Von der Kantonsstrasse zweigt rechtwinklig ein Erschliessungsweg ab, den beherrscht mit den drei grossen stehenden Ovalen als Blickpunkt ein ungewöhnliches, weisses Bauwerk. Ein Signal: Hier ist es. Weiss, da das Gebilde an der Nordseite steht, es soll ein Lichtkörper sein, leuchtend. Beim Näherkommen erkennt man die vorgesetzte Laube. Sie ist ein Empfangsbauwerk. Zwölf Meter hoch. Smolenicky redet, ohne zu zögern, von «monumental». Ein Wort, das lange tabu war, Unterdrückungsarchitektur, Diktatorenmacht verkörpernd. Wie fühlten sich doch Haefeli Moser Steiger 1939 bestätigt, wenn man ihrem Kongresshaus attestierte, trotz der Grösse jede Monumentalität vermieden zu haben! Smolenicky ist unbefangen und nimmt Monumentalität als blossen Massstab. Da die übrigen Bauten der Grands Hotels Reunis ebenfalls monumental sind, so muss es auch die Therme sein. Monumental heisst gross, vielleicht auch bedeutend, woran es erinnert, das fragt Smolenicky nicht. Er sieht sich um und entdeckt den Massstab des Resorts und führt ihn weiter.

«Es geht nicht um die Moral», sagt Smolenicky, «sondern darum, ob es Sinn macht.» Die geistige Landesverteidigung, die die Monumentalität als grundsätzlich unschweizerisch verurteilte, kümmert ihn nicht. Er kennt das nicht einmal. Ich halte das für eine befreiende Erleichterung.

Architektur ist etwas zum Anfassen. Die Finger merken: Holz. Was das Auge vermutete, bestätigt der Zugriff. Die Therme ist eine Holzkonstruktion, genauer ein Holzelementbau. Doch ist das Holz nicht hölzig und naturtrüb, es ist weiss und makellos. Die waagrechte Lattung wird zur Linierung, die Profile sind für den Schatten da, nicht für die Verstärkung. Kurz: Das Holz wird entmaterialisiert. Man riecht es nicht mehr. Smolenicky sägt und nagelt nicht, er zeichnet und formt. Holz ist zu einer zwar zusammengesetzten, aber doch einheitlichen plastischen Masse geworden. Die weisse Farbe (Verkehrsweiss), es gibt innen und aussen keine andere, entholzt das Holz und macht das Innen gleichwertig mit dem Aussen. Es ist kein Naturprodukt mehr, sondern ein exakt formbarer neutraler Baustoff. Materialgerechtigkeit? Smolenicky zuckt mit den Schultern. Endlich können die Reizworte «echt» und «ehrlich» entsorgt werden.

Steht man in der monumentalen Laube, die der Architekt Quellenhalle nennt, wird sie zum Balkon. Der Blick geht über den Park zur gegenüberliegenden Bergkette, Falknis heisst der höchste Gipfel. Die Bäume sind alt, die Rasenflächen makellos. Es muss einen grossen Atem haben, das Ende darf nicht sichtbar sein. Erst dann wird ein Garten zum Park. Man muss die Dominanz des Parks erhalten, ist Smolenicky überzeugt.

Die Kathedrale des Wohlfühlens

Von der Laube kommt man in die Vorhalle mit Restaurant, Laden und Empfangstheke. Endlich ist ein Vorraum hoch genug. Wohl an die acht Meter. Und was wir aus der Palastarchitektur schon wissen, bestätigt sich hier: Höhe ist Luxus. Wer sich an die Nutzschichten gewöhnt hat, merkt hier, dass unsere vollgestopften Häuser keinen Atem haben. Hier kommt man aus dem gepressten Leben ins Freie, es gibt genügend Atem- und Sehraum.

Das grosse Bad ist eine Kathedrale des Wohlfühlens. Das Kirchenwort ist bewusst gewählt, denn wie in einer dreischiffigen Hallenkirche wechselt der Raumeindruck vom übersichtlichen Längsraum zum diagonalen Waldeindruck. Steht man in der Schiffsmitte und blickt geradeaus, so bildet die Pfeilerfolge eine straffe, aufgereihte Ordnung. Vorne schliesst das grosse Oval den Raum, wie das grosse Bild über dem Hauptaltar, das ein Stück Landschaft zeigt. So wirkt die geordnete Längssicht, der rechtwinklige Überblick. In der Diagonalen hingegen überschneiden sich die Pfeiler, die Reihe löst sich auf, es entsteht eine an den Wald erinnernde Unübersichtlichkeit. Es ist der aus den Kirchen bekannte Effekt des schrägen Blicks aus dem Seitenschiff. Der Vergleich mit einer Kirche ist naheliegend, weil der Raum durchaus feierlich sein will. Das ist seine aristokratische Art. Die republikanische Antwort geben die Wasserbecken und die Leute darin. Sie benehmen sich ganz unbeschwert.

Vornehm ist senkrecht

Doch warum das stehende Oval? Stehend, weil das stehende Format aristokratisch wirkt, vor allem wenn es keine Brüstung hat und optisch den Boden berührt. Ein Bandfenster, das nicht raumhoch ist, liegt und kann darum nie vornehm wirken. Das Oval? Man stelle sich die Fenster als stehende Rechtecke vor. Der Raum wird banalisiert, erst das Oval macht ihn besonders. Die Pfeiler nehmen den Schwung des Ovals auf. Auch hier genügt es, sie sich gerade zu denken, um den Gewinn an Feierlichkeit abzuschätzen.

Ein Blick auf den Grundriss macht klar, wie diszipliniert das Gebäude ist. Ein Raster von 600 x 496 Zentimeter regiert den Plan, die Elementbauweise diktiert seine Regeln. Der Raster wurde zuerst über das ganze Gelände gelegt, dann nagte das Aussenbecken, ein Überbleibsel des abgerissenen Bads von Otto Glaus, einzelne Quadrate heraus. An die Nachbarsgebäude schliesst der Grundriss mit Abtreppung des Rasters an. Ein pragmatisches Verfahren. Überhaupt ist die Therme keineswegs verspielt, kein Dekor, eine Farbe, keine Designspielerei. Wie in einer protestantischen Kirche kommt die Feierlichkeit aus der Raumhöhe und vom Licht. Eine Zornsbemerkung zum Aussenbecken noch: Warum sprengt niemand den Dekorfelsen in der Mitte? Früher war er sentimental, jetzt ist er nur noch lächerlich. Holz erwartet man nicht in einem Bad. Andere Konstruktionen wie Beton, sind auch geprüft worden. Doch hat Holz für den Architekten Vorteile. Die Decklatte zum Beispiel, die eine Fuge elegant und grafisch prägnant abschliesst. Bei Betonelementen bleibt sie offen und die Toleranzen werden sichtbar. Dazu kommt, dass die Bauzeit kurz war, 15 Monate, von März 2008 bis Juni 2009. Holz ist rasch montiert und nicht allzu schwer im Transport. Ach und die Luft? Im Bad ist sie trockener als draussen, nur 35 Prozent Feuchtigkeit, weil der Luftwechsel so hoch ist.

Auch Fünfsternebauherren wollen sparen. Darum musste vom Vorgängerbau das Untergeschoss übernommen werden. Ein Kellergeschoss, das heute mit Badetechnik vollgestopft ist. Die Maschinerie braucht viel Platz. Täglich wird ein Drittel des Badewassers ersetzt. Unter dem Walmdach sitzt die Lüftung. Die Therme zeigt nirgends ihre Gedärme, die Technik ist nur die stumme und unsichtbare Dienerin.

Der Luxus ist sanitär

Nach der Therme noch einige Sätze zum neuen Hotel. Spa Suites von Hilmer & Sattler nennt man den Turm, eine Erweiterung des Hotels Quellenhof. Der Pressemensch wird durch die Räume geführt, namentlich durch die 440 Quadratmeter grosse Penthouse-Suite auf dem Dach, und er stellt fest: den Unterschied zwischen Normalsterblich und Luxus machen die Badezimmer. Unter zwanzig Quadratmeter gibt es keine und ohne frei stehende Wanne muss der Hotelier sich schämen. Die Menschen der Luxusklasse scheinen im Badezimmer zu residieren. Dass ein heutiges Badezimmer voll motorisiert ist, versteht sich von selbst. Für fünf Sterne aufwärts gilt ohnehin der Grundsatz: Nur schlafen muss man noch selbst. Die Inneneinrichtung ist enttäuschend anonym, es herrscht eine teure Wohlanständigkeit, die vor lauter Dezenz trotz Marmor und Naturholz gesichtslos wirkt. Was ich beim Besuch des Dolder Grand in Zürich schon festgestellte siehe HP 5 / 08, wiederholt sich in Bad Ragaz: «Hier herrscht der anonyme Stil. Nur nicht zu laut, war der leise Befehl an die Ausstatter. Es ist das Genie der Lieferanten, das hier am Werk ist.» Leider ist der Turm zu niedrig und darum zu massig. Das richtig gedachte Gelenk im Ensemble ist zu bescheiden und ordnet darum die Schlossanlage nicht neu. Der Turm wirkt etwas verlegen, er will nicht auffallen. Auch der Geldadel hat zuweilen Angst vor dem eigenen Mut.

Baden ist nicht baden

Das Dorf Ragaz machte 1936 einen Namenssprung und heisst seither Bad Ragaz. Der Aufstieg vom Dorf zum Kurort wurde offiziell, rund 100 Jahre nach dem Start. Trotzdem gibts heute noch zwei Ragaz: Zuerst das ehemalige Bauerndorf, das sich für den Tourismus schmuck gemacht hat, und dann das Grand Resort, wo die Betuchten unter sich sind. Dorfgasse und Park sind die beiden Bilder dafür.

Das Grand Resort, so nennt sich die Kuranlage seit diesem Jahr, ist ein Import. Das Palasthotel ist nicht im Alpenrheintal heimisch, es wurde eingepflanzt. So wie das in St. Moritz, Gstaad oder auf dem Bürgenstock geschah. Das Stadtpalais für den Geldadel, genannt Grand Hôtel, ist das gesellschaftliche und architektonische Muster, dem sich das Hallenbad, pardon, die Tamina Therme unterordnen muss. Es ist das vorläufig letzte Glied einer langen architektonischen Kette, die aus gediegenem Handelsgold besteht. Baden ist nicht baden. Das warme Wasser ist zwar noch das gleiche, sein Gebrauch hat sich hingegen in den 170 Jahren Baden in Ragaz stark verändert. Lange Zeit gings ums Gesundwerden oder wenigstens um Erleichterung. Es kamen Kranke zuerst nach Bad Pfäfers zuhinterst in der Taminaschlucht und später nach Ragaz. Die Einzelwanne, worin die Kranke liegt und dampft, ist das wichtigste Behandlungsinstrument. Die Patienten leiden und zeigen ihre Gebresten nicht.

Später wird das Baden zur Kur. Die Damen und Herren erleben Sommerfrische. Das Bad wird zur dekorierten Halle, antikisch wie das Helenabad, das Wasser murmelt Latein. Im grossen Schrankkoffer haben die Gäste den Frack und das Ballkleid mitgebracht. Nicht nur Heilung, sondern auch Erholung sucht man im Quellenhof und dem Helenabad. Golf und Spaziergänge helfen dabei. Die Kassenpatienten, die sich den Quellenhof nicht leisten konnten, fanden in den minderbesternten Hotels des Dorfs Platz. Für sie gab es das Kapellenbad. Später wurde die Klinik Valens ausgebaut, die Kranken gingen dorthin, die Sommergäste blieben.

Später bricht der Sport ein. Das Baden wird zum Schwimmen, Gesundheit durch Bewegung, Radfahren wird zur Tugend. Das wühlt das Bad auf, es wird laut und hektisch. Die Kinder kreischen. Der Höhepunkt dieser Entwicklung heisst Plauschbad. Das Alpamare in Pfäffikon hat es vorgemacht. Auch in Bad Ragaz forderte der Sport sein Recht. Das Hallenbad von 1964 mit dem späteren Aussenbecken von Otto Glaus war durchaus auch Ort der Ertüchtigung und der bescheidenen Plauschelemente. Zum ausgewachsenen Plauschbad kam es nie, dafür ist Bad Ragaz zu aristokratisch. Man pflegt eine Erbschaft. Sie muss noch für mehrere Generationen reichen.

Das Ensemble

Immerhin, das Erlebnisbad hielt Einzug. Dem neuen Gast, «Menschen ab 45, die ihre Karriereziele erreicht, keine finanziellen Sorgen sowie die Kinder aus dem Haus haben und etwas für sich tun möchten», wie Hoteldirektor Hans Geiger Hochparterre erklärte siehe HP 10 / 93, dem muss mehr als Baden geboten werden. Eine künstliche Taminaschlucht ergänzt durch ein «Fitness-, Health- und Beauty Center» sorgt mit Wasserfall und Kneippbecken fürs Gesundbleiben. Heute geht nach Bad Ragaz, wer die Werterhaltungsarbeiten am Körpergebäude vornehmen lassen will. Nicht Kranke werden gesund, sondern Fette fit. Im Jargon neuer Munterkeit: «Der Gast ist den ganzen Tag aktiv, entweder präventiv oder therapeutisch.» Die Therme ist ein neue Mitspielerin im Ensemble Bad Ragaz. Gegeben wird immer dasselbe Stück: «Uplifting the Customer oder das gesunde Glück.» Autor ist der Wohlstand, der hier als Anstand auftritt, standesgemäss also. Neben den Hauptfiguren der grossen Hotels siehe Text «Das grosse Konglomerat» und den Dienerinnen Medizinalzentrum oder dem Hausknecht Golf gibt es auch den leicht anrüchigen Onkel Casino. Die Therme übernimmt eine besondere Rolle: Sie spielt den Leutpriester. Er predigt in einer Wasserkirche.

Die Grand Resort Bad Ragaz AG

«Wir sind das führende Wellbeing & Medical Health Resort in Europa», steht im Geschäftsbericht. «Das Flaggschiff unserer Tourismuswirtschaft» nannte es der Volkswirtschaftsdirektor des Kantons St. Gal-len Josef Keller. In der Gemeinde Bad Ragaz leben knapp 5000 Menschen, es gibt dort 560 Einfamilien- und 289 Mehrfamilienhäuser. Man versteht sich als Kurort und betont: Das Klima ist nebelfrei. Nach Zürich braucht es eine Autostunde, nach München und Mailand drei. Arbeitsplätze gibts in Bad Ragaz auch, unter anderen 720 im Resort und 380 in der Klinik Valens, die dem Resort angeschlossen ist. Das Resort ist der wichtigste Arbeitgeber im Sarganserland. «Der Stammtisch kann froh sein», sagte der Präsident des Verwaltungsrates Willy Kissling der «Südostschweiz» als Antwort auf den Vorwurf, das Resort sei zu wenig volkstümlich, «wir haben in den letzten zwölf Jahren die Anzahl der Mitarbeiter verdoppelt.»

Im Jahr 2008 erzielte die Grand Resort Bad Ragaz AG einen Umsatz von 80,5 Millionen Franken und einen Cashflow von rund 20 Millionen. In diesem Jahr war das Jahresergebnis negativ, minus 10,4 Millionen, doch ist dies ein Sonderjahr, da die Tamina Therme und das Hotel Hof Ragaz wegen Bauarbeiten geschlossen waren.
Mit den Ausfallkosten und Zinsen hat die Gruppe rund 230 Millionen investiert, 160 davon sind reine Baukosten. Das machte eine Kapitalerhöhung von 40 Millionen nötig, an der sich der Hauptaktionär Thomas Schmidheiny, der rund 70 Prozent der Aktien hält, mit 70 Prozent beteiligte.
Die durchschnittliche Auslastung beträgt 81,9 Prozent, viele Hoteliers in der Schweiz wären auch mit weniger zufrieden. 45 Prozent der Gäste kommen aus der Schweiz, 30 Prozent aus Deutschland, mehr möchte man aus England, dem mittleren Osten und Russland anlocken.
Was früher Grand Hotel hiess, heisst nun Grand Resort. Der Namenssprung bringt den Ehrgeiz zum Vorschein, der die Eigentümer und das Management beseelt: Sie wollen neue Massstäbe setzen, in Europa die besten sein. Architektonisch tut dies die Therme, es wird ein Wallfahrtsort für Architekten werden. Mindestens einmal muss man dort gewesen sein. Die übrigen Um- und Neubauten hingegen bleiben auf dem gehobenen Niveau. Brav und teuer, zurückhaltend und edel, architektonisch hingegen uninteressant.

Das grosse Konglomerat

Für den besseren Überblick zerlegen wir das Grand Resort Bad Ragaz in seine Bausteine. Der Kern besteht aus zwei Fünfsternehotels, dem Hotel Hof Ragaz und dem Hotel Quellenhof, dem die Spa Suiten im neuen Turm angegliedert sind. Zusammen verfügen sie über 181 Suiten und 108 Zimmer. Zu den Spa Suiten gehört auch die legendäre Penthouse Suite mit 400 m² Wohnfläche, die pro Nacht 12 000 Franken kostet. Aber es sind auch Zimmer ab 380 Franken zu haben. Der Durchschnittspreis liegt bei 434 Franken pro Nacht. Beim Quellenhof und beim Turm waren Hilmer & Sattler aus München die Architekten, den Hof Ragaz baute Jon Ritter aus Chur um. Für die gesamte Innenarchitektur war Claudio Carbone zuständig.

Acht Restaurants: von den 17 Gault-Millau-Punkten der Äbtestube über Japan, Mittelmeer, Thai bis zur Zollstube mit «regionalen und Schweizer Spezialitäten». Sechs Bars, zwei davon mit einem Barpianisten.

Für die Hotelgäste ist der Club to B. reserviert. In dieser inzwischen auf fast 13 000 Quadratmeter angewachsenen Wellbeing-Welt findet der Gast selbstverständlich ein Massageangebot, eine Sauna, dazu das Helena- und das Sport-bad, selbst ein privates Spa ist zu mieten und im Fitness- und Kosmetikstudio kann man gesund und schön werden.

Zum Resort gehört auch das Medical Health Center, wo sich auch Sportler behandeln lassen, denn seit 2004 ist hier das Swiss Olympic Medical Center zu Hause. Auch ambulante Patienten von ausserhalb sind willkommen. Rund 70 Mitarbeitende, davon 9 Fachärzte, 7 Konsiliarärzte und 29 Therapeuten, bieten ihre Dienste an.
Der Kursaal, der zum Kongresszentrum um- und ausgebaut wurde, steht der Geschäftswelt zur Verfügung, kann aber auch für private Anlässe gemietet werden. Den Umbau besorgte Bänziger Architektur in Berneck.

Als einziges Hotel in der Schweiz verfügt das Resort über einen eigenen Golfplatz mit einem 9- und einem 18-Lochkurs, inklusive Driving Range.

Im Casino wird Roulette, Black Jack, Stud Poker und Texas Hold’em gespielt, doch die 136 Slot-Maschinen zeigen, wovon das Casino lebt: vom einsamen Einzelnen und seiner Liebe zur Drehwalze.
Schliesslich noch die Tamina Therme, die hier beschrieben wurde. Sie verfügt über ein eigenes Sauna- und Wellnessangebot. Das Bad ist öffentlich, der Eintritt kostet 26 Franken. Die Einheimischen erhalten Rabatt und zahlen 8.50 Franken weniger. Dazu kommen noch eigene Tennisplätze, eine Minigolfanlage, ein kleines Kino mit einer Filmbibliothek, Boutiquen der noblen Art und Mercedes-Limousinen für die Gäste.

hochparterre, Di., 2009.08.11



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08. Dezember 2008Benedikt Loderer
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Das gedachte Haus

«Der Bau ist konzeptionell, nicht funktional», sagt Valerio Olgiati zum Nationalparkzentrum.

«Der Bau ist konzeptionell, nicht funktional», sagt Valerio Olgiati zum Nationalparkzentrum.

Herr Olgiati, herzliche Gratulation zum Goldenen Hasen für das Informationszentrum des Schweizerischen Nationalparks in Zernez siehe HP 6-7 / 08. Sind Sie zufrieden damit?
Ja, mit beidem, dem Hasen und dem Bau. Im Wettbewerb war die Grundrissfigur noch komplizierter, jetzt ist sie straff und symmetrisch. Ist es ein Grundrisskonzept? Nein, es ist auch ein Volumen- und Schnittkonzept. Beim Wettbewerb gab es ein grösseres und ein kleineres Quadrat und in der Mitte eine Wendeltreppe. Damals war es ein Sackgassenmuseum. Grundsätzlich muss man sich bei einem Museum überlegen: Sackgasse oder Rundgang? Heute ist es ein Rundgangmuseum, man endet dort, wo man begonnen hat. Es sind zwei gleiche Quadrate oder besser Würfel, die sich übereck berühren. Ich wollte ein Gebäude bauen, dass so unkontextuell und so wenig funktional wie möglich ist, ein Haus, das so nah wie möglich an eine absolute Architekturidee herankommt. Sobald es nach Funktionen riecht, ist es vorbei. Hat man ein grosses und ein kleines Quadrat, dann kann das nur aus funktionalen Gründen so sein, zwei gleiche hingegen haben nichts mit Funktionen zu tun.

Könnte man das Museum auch für einen andern Zweck gebrauchen? Man könnte es bewohnen, als Lagerhaus gebrauchen oder als Kirche?

Stimmt, es hat etwas Sakrales. Doch was mich mehr interessiert: Wie weit können Sie beim Entwerfen die Wirkung abschätzen, die Irritation der Drehung zum Beispiel? Das Modell und die Pläne waren schon in Ausstellungen zu sehen, für die Betrachter war das Projekt offenbar nicht zu lesen, erst im Bau selbst haben die Leute erfahren wie es ist. Nun aber die Wirkung: Von aussen hat man zwei Volumen, zwei kann man sich gut merken. Wären es drei, sähe es schon nach einer Komposition aus. Jetzt sind da 24 gleiche Löcher und 3 Geschosse. Das ist es, was man von aussen sieht. Man hat einen vollständigen Überblick, doch wenn man hineinkommt, verliert man sich in einem Labyrinth, die Raumsituation wiederholt sich und bald weiss man nicht mehr, wo man ist. Man bringt das, was man von aussen sah und das Innere nicht zur Deckung. Dass es so funktioniert, habe ich schon gehofft, aber es war doch ein Risiko dabei.

Im Wettbewerb stand das Gebäude noch neben dem Schloss, jetzt steht es als Solitär auf der andern Strassenseite. War der ursprüngliche Standort nicht besser?

Es wäre vor allem für den Nationalpark besser, denn dann wäre Verwaltung und Informationszentrum beieinander. Einen Moment, kommt da nicht trotzdem der Kontext ins Spiel, das Schloss als ausgezeichneter Ort? Nur im Gebrauch, sozusagen funktional angebunden, und das Haus selbst hätte mehr Platz gehabt, wäre freier gestanden als heute neben der Schule. Ich sage ja nicht, dass das Zentrum ohne Kontext dasteht, ich sage nur, dass die Entwurfsidee grundsätzlich nicht aus dem Kontext entwickelt ist. Heute ist, vor allem in der deutschen Schweiz, die Herleitung aus dem Kontext, die Lektüre des Ortes geradezu eine moralische Verpflichtung. Selbstverständlich gibt es den Kontext, natürlich ist der Bau an das Dorf angeschlossen und ist der Eingang auf der richtigen Seite, die Idee des Gebäudes hingegen ist absolut unkonzeptionell. Man könnte es auch anderswo aufstellen, solange das Terrain flach ist.

Die Decken und Wände sind aus Dämmbeton, wie kamen Sie auf dieses Material?

Durch den Ingenieur Patrick Gartmann, mit dem ich oft zusammenarbeite. Das Wettbewerbsprojekt war noch verputzt. Während der Planungsphase ist der Dämmbeton verbessert worden und heute ist das Gebäude ein Monolith, es gibt zwar Arbeits-, aber keine Dilatationsfugen. Ging es auch um Schwere und Massivität? Dass es eine Schalenkonstruktion ist, das ist mir wichtig, dass die Mauer so dick ist, ist mir egal. Würde das Haus auf 2000 Metern über Meer stehen, wäre die Wand wohl noch zehn Zentimeter dicker, das hätte ich nicht gemacht. Dann würde die Dicke der Mauer wichtig. Jetzt ist es noch eine normale Mauer, heute sind alle so dick. Man versucht immer wieder, mir den Bergler anzudichten, einer der archaisch baut. Wenn Archaik, dann jene der alten Hochkulturen, nicht die rurale.

Wie steht es mit der Schichtung der Geschosse, was ist mit diesen kleinen Vorsprüngen der oberen Geschosse?

Das ist eine tektonische Betonung, die verhindert, dass das Gebäude als volle Box gelesen wird. Die Schichtung der drei Geschosse zeigt, dass es sich wirklich um einen Hohlkörper handelt. Im Grundriss ist ein Stern eingeschrieben, den man nicht sieht, der aber für mich entscheidend ist. Der Bau hat einen absoluten Anspruch, hat auch eine metaphysische Ader. Mir ist die Kombination des Kopf- und des Bauchmässigen und das Dazwischen, das Metaphysische sehr wichtig. Ich will schliesslich keine Neanderthaler-Architektur machen. Beim Gelben Haus zum Beispiel haben viele Leute behauptet, das komme so geerdet daher, aber ich kann mir nichts Ungeerdeteres vorstellen als diese widersprüchliche Konstruktion, die einem fast im Kopf krank macht.

Es geht also um ein intellektuelles Konzept?

Ja, das Gebäude ist vor allem ein verstandesmäs-siges Konzept, weniger ein emotionales.Was ist mit dem Stichwort sinnliche Architektur? Selbstverständlich gefällt es mir, wenn der Bau gefällt. Auch mir gefallen Häuser aus dem Bauch heraus. Doch das Sinnliche steht nicht im Vordergrund.

Das Haus ist karg, einzig die Bronzefenster sind reich und wertvoll. Warum das?

Die Reduktion ist keine moralische Haltung, also gibt es auch keine moralische Einschränkung, was das Material angeht. Der Beton hat einen ärmlichen Charakter, doch zusammen mit der Bronze gewinnt er eine veredelte Anmutung, beinahe wie Naturstein, zum Beispiel Tuffstein.

Die Ausstellung ist doch recht chaotisch, was sagt der Architekt dazu?

Zum Inhalt und zum Ausdruck der Ausstellung sage ich nichts. Beim Wettbewerb war das Ausstellungsprogramm keineswegs klar, einzig, dass es kein Kunsthaus ist und dass vor allem Objekte gezeigt werden. Als Architekt kann man ein Ober-, ein Seiten- oder Kunstlichtmuseum bauen. Ich hielt ein Seitenlichtmuseum mit natürlichem Licht an diesem schönen Ort für richtig. Das war die Grundlage während der Planungszeit. Wir dachten, die Objekte stünden in der Raummitte und der Rundgang gehe den Wänden entlang. Die Storen wären offen, der Ausblick in die Landschaft vorhanden. Nun haben die Betreiber aus dem Seitenlicht- ein Kunstlichtmuseum gemacht. Die Objekte sitzen in den Ecken, was Verdunkelung und massive Kunstlichtbeleuchtung erfordert. Ein krasser Denkfehler der Betreiber. Die Landschaft, die eigentliche Grundlage des Nationalparks, ist total ausgeblendet.

Der Ausblick in die Landschaft war also immer ein Teil des Konzepts?

Der Besucher kommt von der Treppe in einen Raum mit vier gleichen Fenstern in jede der vier Himmelsrichtungen. Dann geht er, oder sie, durch die Stockwerke und sieht immer dieselbe Landschaft. Doch wenn man wieder am Ausgangspunkt ankommt, weiss man nicht, wo man gewesen ist. Das führt auch dazu, dass das Gebäude grösser erscheint, als es ist. Was man nicht erfassen kann, macht man grös-ser, nicht kleiner.

Welche Bedeutung hat dieses Gebäude in der Entwicklung des Architekten Valerio Olgiati?

In meinem Bestreben nach einer konzeptionellen Architektur ist es mein radikalster Bau. Er ist konzeptuell, nicht funktional. Er ist auch nicht phänomenologisch vom Material her bestimmt, obwohl ich weiss, dass Materialkombinationen ihre Wirkung haben. Das ist auch meine Auslegung der Poesie der Architektur. Doch prinzipiell ist es ein gedachtes Haus.

Ist das Zentrum in Zernez ein Findling oder ein Fremdling?

Ein Findling wäre etwas aus der Natur Geborenes, das ist es nicht. Es ist aus dem Hirn geboren, darum ein Fremdling.

hochparterre, Mo., 2008.12.08



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24. November 2008Benedikt Loderer
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Die Pest, der Frass, der Brei

Nach zwanzig Jahren Wutschreiben gegen die Zersiedelung und das Hüsli: Eine Gewissenserforschung des Stadtwanderers.

Nach zwanzig Jahren Wutschreiben gegen die Zersiedelung und das Hüsli: Eine Gewissenserforschung des Stadtwanderers.

Wenn man die Wahrheit zu oft wiederholt, wird sie nicht wahrer, sondern langweilig. Seit 1988 schrieb ich die Wahrheit über die Hüslipest, den Landfrass und den Häuserbrei. Mit welcher Wirkung? Meinesgleichen waren meiner Meinung, der Rest der Menschheit hat sich einen feuchten Dreck darum gekümmert. Zeit, mich endlich zu fragen: Ist meine Wahrheit falsch? Sind Pest, Frass und Brei ein Segen?

Sie sind es selbstverständlich und ohne Wenn und Aber, denn sie sind die Wirkung einer einfachen Tatsache: Der Konsument ist das Subjekt der Geschichte. Als ich das endlich eingesehen hatte, löste sich mein Krampf und ich konnte heiter die Tatsachen in einem milden Licht betrachten. Pest ist Stärke, Frass ist Wohlstand und Brei ist Eigentum. Man muss nur die Wahrheit vom Kopf auf die Füsse stellen und alles erklärt sich widerspruchslos. Der Konsum bestimmt das Sein, nicht umgekehrt.
Ich muss den Konsumenten endlich ernst nehmen, er ist das Volk. Sein Wille geschieht und der heisst «mehr». Mehr Wohnraum, mehr Gartenland, mehr Agglomeration. Durch den Konsum entstehen die Gewerbezonen, die Shoppingcenters und die dazugehörigen Strassen. Der Konsument verbündet sich mit dem Nachbarkonsumenten und zusammen bilden sie die FdP, die Fédération des Profiteurs. Es genügt aufzuzählen, wer alles vom Hüsli profitiert hat. Der Bauer strich den Profit ein, als aus Kultur- Bauland wurde. Der Notar verrechnete die Handänderung, der Baumeister war nicht billig, aber preiswert, die Handwerker wurden bezahlt, die Hypotheken verzinst. Der Steuerfuss ist tiefer, die Schulen voller Eingeborener, die Kirche im Dorf. Die Hüslimenschen, die vorher Blockbewohner waren, leben besser, geachteter, sicherer. Vom Rübenacker zum Vorzeigerasen läuft die Wertschöpfungskette und alle Mitglieder der FdP haben etwas davon gehabt. Was lerne ich daraus? Der Hüslimensch hat recht. Seine Rechnung geht auf. Es gibt ein richtiges Leben im falschen. Die Hüslipest stärkt, sie verleiht Prestige. Der Landfrass lohnt sich, er schafft Platz. Der Häuserbrei nährt, er mästet den Besitz.

Konsum frisst Land

Wer gegen die Zersiedelung kämpft, kann das nur wider besseres Wissen tun. Schlimmer noch: Er will dem Konsumenten etwas wegnehmen, denn der Verzicht ist Raub. Jeder mögliche Konsum muss sich verwirklichen, das ist der Motor des Konsums. Das Zauberwort «mehr» ist der herrschsüchtigste Tyrann, der je regiert hat. Mensch und Konsument sind eins. Nur wer konsumiert, soll Brot essen. Die Zersiedelung ist kein Übel, sondern das Wesen des Konsums. Selbstverständlich sind alle Konsumenten gegen die Zersiedlung, grundsätzlich und unbedingt. Doch nur, wenn der Konsum dabei trotzdem wächst. Das ist kein Widerspruch. Es ist folgerichtig und wahr, denn die Landschaft ist ebenfalls ein Konsumgut, auch sie kann man in die Wertschöpfung einspannen und konsumieren. Was man nicht konsumieren kann, ist wertlos.
So sitze ich denn nach zwanzig Jahren Wutschreiben da und bin ernüchtert. Ich muss gestehen, ich hielt die Landschaft, meine Schönschweiz, für ein unbezahlbares Gut. Obwohl ich dem Identitätsgeschwätz tief misstraute, war ich überzeugt: Diese Landschaften sind einmalig und schützenswert, sie sind ein Teil meiner selbst und dürfen nicht geopfert werden. Heute weiss ich, was das bedeutet: sie den Konsumenten wegnehmen. Dafür werden sie sich rächen. Eines bringt die Fédération des Profiteurs zur Weissglut: Wenn sie etwas bezahlen kann und es nicht kriegt. Demokratie ist, wenn man das Geld hat und der Rechtsstaat garantiert den Konsum.

In den Folgeschäden eingerichtet

Ich will mich nicht darauf verlassen, dass uns einmal das Geld ausgehen könnte, was das einzige Mittel wäre, den Konsum zu bremsen. Die Schatztruhen sind voll, die Erbschaften türmen sich, die Vermögen werden importiert. Wenns keinen Massenkonsum mehr gibt, umso besser, dann gibts Manövrierraum für Edelkonsum. Der Konsum kennt grundsätzlich keine Grenzen, solange er bezahlbar bleibt. Diese Tatsachen lassen nur einen Schluss zu: Der Konsument will die Zersiedelung, die er schafft. Sie ist sein natürliches Verbreitungsgebiet, dort fühlt er sich wohl und pflanzt sich fort. Wohl macht er zuweilen abschätzige Bemerkungen über sein Habitat, wohl beschwört er an Sonntagen die Schönheit der Landschaft, doch das sind Lippenbekenntnisse. Der Konsument will konsumieren, das ist sein Lebenszweck, mehr verlangt er nicht. Den Konsum aber fordert er ohne jede Einschränkung. Die Folgeschäden sind ihm egal, ja, er hat sich darin längst bequem eingerichtet. Die Agglomeration ist gesund und hat eine hohe Lebensqualität. Noch Fragen?

Alles hat seine Ordnung

Darum muss man diese beiden Bilder, das berühmte Vorher-Nachher, nicht mit Entsetzen betrachten, noch weniger mit moralischer Verachtung strafen. Es wird ein natürlicher Vorgang abgebildet: Man sieht den Konsum an der Arbeit. Nur wer bereit ist, seinen Konsum einzuschränken, darf dieses Bildpaar schrecklich finden oder gar zerstörerisch. Die andern Konsumenten, wie ich einer bin, sollten diesen Fort-Schritt mit Andacht betrachten, weg vom Acker, hin zum Einkaufszentrum. Sie zeigen, was unser Konsum zu leisten vermag. Das sind keine Schreck-, sondern Trostbilder. Hier geschieht der Aufstieg: Der Mensch wird Konsument.
Es ist nicht wahr, dass da keine Ordnung sei. Das ist ein ästhetisches Vorurteil. Alles gehorcht der Bau- und Zonenordnung, alles ist dem Raumplanungsgesetz untertan. Die private Willkür ist öffentlich gebändigt, die Infrastruktur gebaut, das Eigentum ist gewährleistet. Hier von Chaos zu reden, ist böswillig. Pest, Frass und Brei sind gebautes Abbild unserer Gesellschaft. Das ist die Ordnung, die wir uns selbst gegeben haben, sie ist demokratisch legitimiert. Wem sie nicht passt, ist ein Feind des Volkes, wie jeder, der den Konsum einschränken will.
Trotzdem werde ich die Landschaftsinitiative unterstützen.

hochparterre, Mo., 2008.11.24



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15. September 2008Benedikt Loderer
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Vorwärts ins 19. Jahrhundert

Für die Architekten der strengen Observanz ist es klar: der Historismus ist tabu. Architektur ist Avantgarde oder sie ist nicht. Hans Kollhoff ist da anderer Ansicht, er baut eine persönliche Art von Klassizismus. Darf man das? Man darf, wenn man es kann. Es ist Zeit, das 19. Jahrhundert neu zu sehen.

Für die Architekten der strengen Observanz ist es klar: der Historismus ist tabu. Architektur ist Avantgarde oder sie ist nicht. Hans Kollhoff ist da anderer Ansicht, er baut eine persönliche Art von Klassizismus. Darf man das? Man darf, wenn man es kann. Es ist Zeit, das 19. Jahrhundert neu zu sehen.

An der Tourismusküste Luzerns steht ein neuer Palast. Tivoli sein Name, ererbt vom Hotel, das früher auf diesem Grundstück stand. Man muss zweimal hinsehen, bis man merkt: Aha, ein Neubau. Denn der Bautyp Grand Hôtel ist hier - hundert Jahre nach seinem Ausstreben - wieder neu gepflanzt worden. Er hatte nur im Gewächshaus der Architekturgeschichte überlebt. Doch wo, wenn nicht unter seinesgleichen kann er anwachsen und Früchte tragen? Die grossen Hotelpaläste aus dem Fin de Siècle jedenfalls haben den Neuzuzüger weit selbstverständlicher empfangen als die Architekten der strengen Observanz. Für sie war die klassizistische Formensprache Vergangenheit, jede Neubelebung eine Lebenslüge. Doch die städtebauliche Begründung für das Grand Hôtel ist einfach: Der Kette der grossen Hotelkästen an der Tourismiusfront Luzerns wurde ein neues Glied angefügt.
Zwar kommt der Neubau hundert Jahre zu spät, aber er stellt sich bescheiden ans Ende der historischen Reihe von der er allerdings behauptet: auch ich gehöre dazu.

Das ist auf den ersten Blick auch offensichtlich, man erkennt dieses Gebäude sofort als Grand Hôtel vom Dampfschiff aus zum Beispiel. Erst beim genaueren Hinsehen zweifelt man. Es fehlt der Empfang. Wo wir eine Vorfahrt und ein Portal erwarten, ist nur ein schmaler Schlitz in der Pergola, der Eingang dahinter ist von der Strasse kaum zu sehen. Sichtbar hingegen ist eben diese Pergola, von Schinkels Schloss Glienicke bei Potsdam inspiriert, sie ist Glasschrank und -schranke zwischen der verkehrsreichen Seestrasse und dem Gebäude. Diese Pergola privatisiert das Vorgelände. Sie grenzt aus und ab und macht deutlich: das ist kein öffentliches Gebäude.

Der strenge Takt der Fassade erinnert als nächstes an ein Sanatorium. Die tiefen Balkone wären für die Liegekur durchaus geeignet, doch ist nicht die Tuberkulose hierzulande provisorisch ausgerottet? Das Konvikt einer religiösen Schule? Da fehlt die Kirche nebenan. Kurz, das Grand Hôtel, das Sanatorium und das Konvikt sind nur die nahen Verwandten dieses Gebäudes, das einen kaum vorhanden Bautyp in die Schweiz importiert, den städtischen Wohnpalast, den Wiener Ringstrassentyp des 19. Jahrhunderts, oder wie die Entlüftungsrohre auf den Dächern glauben machen, an den Boulevard Sébastopol in Paris.
Die Seefassade bestimmt die Wahrnehmung. Dass es sich nicht um einen Riegel parallel zum See handelt, sondern um einen Winkelbau findet nur heraus, wer es wissen will. Das, was Jahrhunderte lang selbstverständlich war, die Hierarchie des Äusseren, wird hier nochmals vorgeführt: Haupt-, Seiten und Hoffassaden. Warum ist es richtig, einem Gebäude rundherum dieselbe Gestalt zu geben? Die Antwort auf die Umgebung jedenfalls ist es nicht.

Grossbürgerlicher Zuschnitt

Im Innern hat der Wohnpalast hat zwei deutlich verschiedene Bestandteile: die Vorzeige- und die Privaträume. Zu den Vorzeigeräumen gehören die Gärten, die Eingangshallen, die Treppenhäuser und die Korridore, der Weinkeller und die Badehalle. Hier setzt Kollhoff seine Architektur durch, seine steife Spätklassik, die repräsentative Räume schaffen will. Kollhoff verwendet dafür unter anderen das ausgelaugteste Element der Klassik die Säule. Wer es nicht wissentlich abwehrt, ist einmal mehr überrascht, wie unvermittelt die Weihe uns anweht, wie viel Hoheit eine Säulenreihe ausdrückt, selbst wenn sie Vignolas Regeln kühl missachtet. Das wir in der Empfangshalle deutlich, ein Raum, der im Erdgeschoss die Eingangsachse mit eine Querstellung beendet. Durch die Fenster blickt, wer in den Ledersesslen sitzt, auf eine wasserüberspülte Grotte, une follie, die den Hang und den Hof abdeckt. Niemand ist zugegen. Die Bewohner fahren in die Tiefgarage und darauf mit dem Lift zu ihrer Wohnungstür. Die Halle, ja alle Vorzeigeräume, dienen dem Standing, eine dem architektonischen Jakobiner unerträglich amoralische Situation.

In den Korridoren teilen Friese aus Nussbaumholz Wandfelder ab, die Böden sind mit Marmor und Granit mit perfektem geometrischem Muster durchgestaltet, die Schreinerarbeiten von bester Qualität. Allein die Handläufe sind Kabinettsstücke. Kollhoff ist ein diziplinierter Architekt. Nichts ist zufällig, kein Bodenmuster, kein Wandfries, kein Deckenfeld, das die strengen Regeln der angewandten Geometrie verletzt. Es gibt eine weite Auslegung der klassizistischen Bildungsgesetze, aber ein enges Einhalten der Detailrichtigkeit. Man spürt den Form- und Durchsetzwillen. Nichts ist Zufall hier. Diese Vorzeigeräume vermitteln dem Besucher den Eindruck, hier wohnen Grossbüger. In ihrem Besonderssein werden umgekehrt die Bewohner bestärkt: sie haben Klasse, man sieht es ja.

Das Bad, genauer, die Therme, fasst die Ansprüche des Architekten und der Bewohner zusammen. Die gestalterische Konsequenz schafft einen noblen Raum, eine Schwimmbasilika. Wer hier Werterhaltung seiner Körpergebäudes betreibt, ist unter Seinesgleichen. Formale Disziplin und gesellschaftliche Exklusivität treffen sich.

Wieviele wollen sie setzen? fragte der Architekt der Gründerzeit als erstes seine Kunden und entwickelte aus der Platzzahl des Esszimmers die Grösse der Wohnung, Mädchenkammer inklusive. Auch heute verlangen die begüterten Kunden zuerst und vor allem viel Wohnfläche. Wo genügend Platz ist, sind die vernünftigen Grundrisse nicht weit. Sie stammen nicht aus dem 19. Jahrhundert, sondern aus dem unsern und gehorchen den Gesetzen der Baumeistervernunft. Die Entlüftungs und Steigschächte diktieren die Standorte der Sanitärgruppen, die Varianz der Wohnungen ist kleiner als vermutet, doch gross genug die privaten Wünsche zu erfüllen. Kollhof bietet denn auch für dieselbe Wohnung einmal einen klassischen und einmal einen modernen Ausbau an. Immer aber gibt es eine deutliche Trennung von Tag- und Nachtteil, zusammenfassend: bürgerlich sind alle Wohnungen. Den Rest besorgt der Geschmack oder die Willkür der Eigentümer. Die privaten Räume überlässt Kollhoff ihnen. Sie bleiben privat, also kein Wort mehr darüber.

Die Wohnungen sind sehr teuer, die Seesicht kostet. Von der Zweieinhalbzimmerwohnung für 550 000 Franken bis zur Attika für 3,9 Millionen. Wie beim Wohnpalast des Fin de Siècle gelten auch hier die Spielregeln der Spekulation, pardon, des Return of Investment. Das Unternehmen Tivoli ist Immobiliengeschäft, ein Entwicklungsprojekt für die einen, eine Geldanlage für die andern. Darüber zu lamentieren, ist in der heutigen politischen Lage leere Gesinnungsprotzerei.

Historismus ist erlaubt

In diese Wohnungen sind bildungsbürgerliche Erinnerungen eingewoben. Die Leute von Familie aus Fontanes Romanen oder Senator Buddenbrock wohnten so und die Pariser Grossbürger Balzacs stellen wir uns vor. Heute bewundern wir, was davon übrig geblieben ist. In England ist immer noch die zeitgenössische Fortsetzung des Historismus die Regel und die Moderne die Ausnahme. Hierzulande hingegen gibt es einen Rechtfertigungsdruck: Man kann doch nicht das heutige Leben in die Formen von gestern pressen!

Käme diese Immobilienunternehmung im Gewande der modern-modischen Ratlosigkeit daher, sie würde von den Hütern der Architekturmoral nur verachtet. Zieht aber Kollhoffs Wohnpalast ein historisches Gewand an, empören sie sich über die Lebenslüge. Wenns Lügen gibt, so muss es auch Wahrheit geben, nur wo ist sie? Hier werden nicht bloss Quadratmeter mit Blick auf See und Berge verkauft, hier geht’s um Exklusivität. Da zeigt sich, dass Lüge ein moralisches Urteil ist, kein ästhetisches. Das nämlich würde fragen: ist denn Kollhoffs Palast nach den Regeln der Klassik auch gut gemacht? Er ist es.

Anders herum: das moralische Verbot der „Stilarchitektur“ ist reine Ideologie. Wer sich Stilarchitektur kauft, ist nicht ehrlich, stellt sich dem modernen Leben nicht, regrediert in eine nie stattgefundene Vergangenheit. Dazu kommt: Geld korrumpiert, Kollhoffs Wohnpalast ist der Beweis dafür.

Doch halt, wir sollten das 19. Jahrhundert neu besichtigen, es gibt dort viel zu entdecken. Seine Wiederanerkennung ist überfällig, schlimmer noch: Historismus ist erlaubt. Man muss es nur können. Kollhoff stellt eine peinliche Frage: ist es wahr, dass diese grossbürgerlichen Wohnungen mit ihren Vorzeige- und Privaträumen ausserordentliche Wohnqualitäten hatten ja oder nein? Ja, antwortet die intellektuelle Redlichkeit. Also, spricht Kollhoff, werde ich dort wieder anknüpfen. Mehr ist’s nicht, aber auch nicht weniger. Wohnkultur ist das Stichwort. Sie spricht heute verschiedene Sprachen. Kollhoff redet altfränkisch, doch wird er verstanden.

hochparterre, Mo., 2008.09.15



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18. Juni 2008Benedikt Loderer
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Drachengrat im Sparrenzelt

Was ist ein Zeughaus? Eine Mauerschale, in die Balkenlagen auf Holzpfosten eingestellt sind, und ein fachgeneigtes Sparrendach darüber. Ungedämmt und unbeheizt;...

Was ist ein Zeughaus? Eine Mauerschale, in die Balkenlagen auf Holzpfosten eingestellt sind, und ein fachgeneigtes Sparrendach darüber. Ungedämmt und unbeheizt;...

Was ist ein Zeughaus? Eine Mauerschale, in die Balkenlagen auf Holzpfosten eingestellt sind, und ein fachgeneigtes Sparrendach darüber. Ungedämmt und unbeheizt; ein stattlicher Schuppen von 1904. Von dieser Primitivstufe der Baukonstruktion wurde das leere Zeughaus 2 in Rapperswil-Jona auf die Hochebene Museum gehoben. Die Temperaturschwankungen sollten sich an die von der Versicherung geforderten Grenzen halten, die Sicherheit ist zu gewährleisten, das Licht muss in die grosse Bautiefe hineinfinden. Mit wenig Geld selbstverständlich, obwohl das Gebäude an die hundert Meter lang ist.

Damit ist die Frage nach dem Veredelungsgrad gestellt. Wie roh und rau darf ein Museum sein, wie sehr darf seine Zeughausvergangenheit sichtbar bleiben? Anders herum: Wo investiert man das knappe Geld? Isa Stürm und Urs Wolf, die Architekten, haben sich zur Konzentration entschlossen. Sie schlitzten das Dach auf, genauer, sie setzen dem Mittelteil einen Drachengrat auf. Wie der Rücken eines Untiers schlängelt er sich in einem s-förmigen Doppelbogen des neuen Dachaufbaus über die ganze Länge des Gebäudes. Der Grat steigt, senkt sich in der Mitte und schwillt noch einmal an. Die beiden Bewegungen von auf und ab und von hin und her überlagern sich, dem strengen Achsentakt der Fenster und Tore wurde ein riesiger, organischer Hut aufgesetzt.

Im Innern ist der Drachenkamm ein schwiefwinkliges Sparrenzelt mit eingelassenen Kunststoffbändern, die für Tageslicht sorgen. Es gibt verschiedene Helligkeiten in den Ausstellungsräumen, die Mittelzone kriegt mehr Tageslicht als die Seitenkabinette. Die weiten Durchblicke längs durch den Raum geben dem Museum einen grossen Atem, man fühlt sich auf einem Kunstspaziergang. Die Spannung zwischen dem militärischen Nutzdenken, das das Schrittmass der Pfosten befielt, und dem beschwingten Spiel der freien Form, das dem Einfall der Architekten gehorcht: Das macht aus dem Zeughaus das Museum.

Nur noch die grosse Treppe vom Eingang in den ersten Stock ist ein Eingriff in die Ständerkonstruktion. Sonst wird das Zeughaus möglichst wenig angetastet. Die Böden im Erdgeschoss wurden geflickt, im oberen ein Zementboden eingebracht, die Pfosten und Balkenlagen nur weiss gestrichen. Die Einbauten sind mit weissen Gipswänden eigentlich hineingestellte Möbel – es herrscht eine Hausvatervernunft, die sagt: Alles, was noch brauchbar ist, bleibt. Einzig in den Sanitärräumen haben die Architekten sich einen aufwendigen Minimalismus geleistet: WCs wie aus dem Comic ‹As Found›. Trotz der Kargheit hat das Kunst(Zeug)Haus etwas Feierliches, vielleicht ist das gemeint, wenn man von heiliger Nüchternheit spricht.

hochparterre, Mi., 2008.06.18



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19. Mai 2008Benedikt Loderer
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The Dollar Grand

Fürst Schwarzenbach lässt bauen. In diesem Satz ist alles enthalten. The Dolder Grand, das Fünfsternehotel am Zürichberg, leuchtet. Der Rest ist Hofberichterstattung, wovon in letzter Zeit genügend zu lesen war. Was unumgänglich ist, denn um eine fürstliche Residenz geht es ja.

Fürst Schwarzenbach lässt bauen. In diesem Satz ist alles enthalten. The Dolder Grand, das Fünfsternehotel am Zürichberg, leuchtet. Der Rest ist Hofberichterstattung, wovon in letzter Zeit genügend zu lesen war. Was unumgänglich ist, denn um eine fürstliche Residenz geht es ja.

Wie wohnt der Geldadel, wenn er nicht zu Hause ist, fragen sich die Subjekte des Kapitals. Und an drei Besuchstagen konnten sie das Schloss besichtigen. Staunend streunten sie durch die Räume und ihr Schauen galt ‹dem Echten›. Für einmal sind sie nicht in den Ferien und besichtigen geschichtsvergessen die vergangene fürstliche Pracht. Diesmal ist alles wahr, weil es Betrieb ist. Der Adel, der hier wohnt, herrscht, ist nicht vergangen. Am Zürichberg haben die Majestäten noch nicht abgedankt und hinterliessen bloss ihren einstigen Glanz. Die Aura des unbeschränkten Geldes weht durch das Hotel, kein Subjekt kann sich dem entziehen. Es ist nicht der Futterneid, der die Subjekte staunen macht, es ist die Neugier. Sie starren auf die allgemeine Gediegenheit und können sich kaum vorstellen, warum das alles so teuer ist. Doch dass es so viel kostet, das ist der Kern des Dolder Grand. Weil es so teuer ist, ist es ‹grand›.

Vom ‹Curhaus› zur Residenz von 1899 bis 2008, in diesem gut gefüllten Jahrhundert hat das Dolder eine ansehliche Karriere gemacht: von der Sommerfrische zu einem der ‹Leading Hotels of the World›. Es war «der Weg zurück in die Zukunft», wie zu hören war. Alle Bauten, die nach 1899 angefügt wurden, sind abgerissen worden, geblieben ist die ausgekernte Fassade des Kurhauses und darin, wie Überbleibsel, sechs Zimmer, die wie neu ausgestattete Schatzkästlein an Ort und Stelle erhalten blieben. Dazu kommen die rekonstruierte Eingangshalle und die wieder entdeckten Deckenmalereien im oberen Restaurant und in der Lobby. Zusammenfassend: Das Dolder Grand ist ein Neubau. Doch niemand von den Subjekten sieht das und keiner vom Geldadel will es wissen. Alle sehen sie das erweiterte und erneuerte Märchenschloss und alle wollen sie an die Geschichte von der ungebrochenen Tradition glauben. Sie allein ist es, die The Dolder Grand von den noch feudaleren Hotelpalästen in allen Dubais der Welt unterscheidet. ‹History sells›, doch wahre Echtheit muss nicht deklariert werden. Das ist auch nicht nötig, denn was wirkt, wird wahr. Weil das Dolder Grand so traditionell ist, ist es ‹grand›.

Das Teure ist gesichtslos

Das Märchenschloss, das, bevor es geadelt wurde, ein gigantisches Chalet war, beherrscht die Anlage, obwohl es weit kleiner ist als der Doppelbogen der Neubauten, die es von hinten umarmen. Warum? Weil der Architekt Norman Foster die Symmetrie fortsetzt. Er übernimmt das Bildungsgesetz, das Jacques Gros 1899 aufgestellt hatte. Die zentrale Achse wird bergseitig, wie früher mit dem Speisesaal, nun mit dem neuen Ballsaal abgeschlossen. Die beiden Zimmerflügel wiederholen die Grundfigur, die Gros schon vorgegeben hatte. Der Eingang ist wieder vorne, wo ihn die Symmetrie haben will. Damit wird das Märchenschloss neu gerahmt und betont. Es steht im Vordergrund und spielt die Hauptrolle. Sein Turm bleibt der Dreh- und Angelpunkt des Ganzen, er verkörpert pars pro toto das Dolder Grand. Die Turmspitze wird zur erinnerbaren Abkürzung des Hotels. Weil das Dolder Grand einen Geschichten erzählenden Turm hat, ist es ‹grand›.

Doch das Märchenschloss ist eine gigantische Dienstleistungsmaschine, die vor allem unterirdisch funktioniert. Die atemberaubenden Bilder der Baugrube sind schon vergessen. Wer erinnert sich noch an den riesigen Krater, in dem in der Mitte auf Unterfangungsmauern das ausgeweidete Kurhaus wie eine Hochzeitstorte stand? (HP 6/7 06). Trotzdem: Die Bauingenieure sind die ungenannten Helden dieser Baustelle. Im von ihnen geschaffenen Kellerbauch steckt alles, was die Maschine am Laufen hält. Es gibt zwei Hotelerzählungen, die sich ergänzen: die am Licht und die künstlich beleuchtete. Die aseptisch-korrekten Traditionsräume erzählen die offizielle, die neon-beleuchteten Gänge die Wirkungsgeschichte des Hotels. Weil das Dolder Grand einen so riesigen Bauch hat, ist es ‹grand›.

«Wie wars?», werden die Subjekte nach dem Besuch gefragt. Sie beschreiben Einzelheiten: die historischen Armaturen, Aladins Wunderlampen im Ballsaal, die ruppigen Kalksteinwände im Badeland sind aufgefallen. Warum keine Zusammenhänge? Weil alles so gedämpft, zurückgenommen, ununterscheidbar ist. Man hat das Gefühl, das Haus wolle nicht erkannt werden. Hier herrscht der anonyme Stil. Nur nicht zu laut, war der leise Befehl an die Ausstatter. Es ist das Genie der Lieferanten, das hier am Werk ist. Diese Leute wissen, was der Gast will, vom Hoteldirektor bis zum Interior Designer. Er will Exklusivität. Warum aber endet diese im anonymen Stil, in jener Unverbindlichkeit, die das Exklusive zum Allerweltsluxus macht? Das Teure ist hier gesichtslos. Der Geldadel schätzt eine konfliktfreie Moderne, alles ist edel-schlicht, nichts ist erinnerbar. Es ist der Geschmack, den man einkauft. Der Gast will es so, ihm zu dienen, ist des Hotels erste Pflicht. Ein ebenso überzeugender Grund, wie wenn die Fernsehdirektorin sagt: Der Zuschauer will es so. Weil das Dolder Grand von anonymem Stil ist, ist es ‹grand›.

Die Spielregeln der Preisliste

Immerhin, dort wo die Konvention noch ungefestigt ist, sind Überraschungen möglich. Im Badeland, pardon, Spa, gibt es den Canyon. Der sich verengende Schlitz zwischen Alt- und Neubau wird als Oberlicht in Szene gesetzt. Das allein wäre bloss praktisch, doch die Bewegung wird in einer Spirale weitergeführt, die im Meditationsraum und in den innersten Tiefen des Gebäudes endet. In der Gegenrichtung öffnet sich ein Trichter zum Schwimmbad und zur Landschaft. Aus dem Vorwärtsschreiten wird ein Fliegen. Leider ist diese Schnecke die einzige räumliche Erfindung im ganzen Komplex. Der Ballsaal ist zwar mit Gold dekoriert, wirkt aber trotzdem seltsam klein, die Kuppel allein hat etwas Herrschaftliches. Doch hier kann der Fürst keinen Hofball geben, Fund Raising Dinners aber wohl. Bei dieser Überlegung angekommen wird klar: Fürst Schwarzenbach residiert nicht hier und auch der Geldadel ist nur auf der Durchreise. Die Aura platzt. Die Subjekte des Kapitals staunen ins Leere. Da ist nichts Heiliges, da strahlt keine Dynastie. Ernüchterung auf den Gesichtern, alles funktioniert wie gewohnt, die Spielregeln gehorchen der Preisliste. Das Hotel ist leider kein Kraftort, sondern ein gehobenes Dienstleistungsunternehmen. Weil das Dolder Grand so kapitalistisch ist, ist es ‹grand›.

Entschädigt, nein belohnt, werden die Gäste und die Subjekte mit der Aussicht auf See und Alpen. Das Hotel steht auf einem Balkon und ist selbst einer. Mit oder ohne Aussicht, das ist das Plus und Minus dieses Hotels. Dieser Rechnung gehorchte schon Jacques Gros, Foster hat kräftig und geschickt dazu addiert. Auf jeden Fall gilt: Weil das Dolder Grand diese Aussicht hat, ist es ‹grand›.

hochparterre, Mo., 2008.05.19



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08. April 2008Benedikt Loderer
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Der zweite Leitbau Liechtensteins

Das Fürstentum Liechtenstein hatte bisher nur einen Leitbau, das Schloss. Nun gibt es einen zweiten, den Landtag, das ‹Hohe Haus›. Hansjörg Göritz, sein Architekt, baute für das Parlament eine profane Kirche. Skeptisch fuhr der Stadtwanderer hin, überzeugt kehrte er zurück.

Das Fürstentum Liechtenstein hatte bisher nur einen Leitbau, das Schloss. Nun gibt es einen zweiten, den Landtag, das ‹Hohe Haus›. Hansjörg Göritz, sein Architekt, baute für das Parlament eine profane Kirche. Skeptisch fuhr der Stadtwanderer hin, überzeugt kehrte er zurück.

Ich habs kommen sehen. Im ‹Architekturführer Liechtenstein›, 2002 bei Niggli erschienen, schrieb ich: «Nicht Snozzis antikisierender Demokratietempel, sondern ein nicht minder anspruchsvoller Zeltbau soll den Landtag aufnehmen. Ein eingefriedeter Platz setzt das Parlamentsgebäude vom Tagesbetrieb ab. Das Bauprogramm ist zweigeteilt: erstens ein dem Hangschwung folgendes Verwaltungsgebäude mit grosszügiger Dachterrasse und zweites, traufständig und als Einzelbau dastehend, das spitze Dach mit dem Sitzungssaal des Parlaments darunter. Innen und aussen ist dieses Zelt mit Sichtbacksteinen verkleidet und erhält sein Licht durch einen Beleuchtungsschlitz im Giebel. Das Parlament wird in einer profanen Kirche tagen.» Es ist nun Zeit, die eigenen Voraussagen zu überprüfen. Skeptisch fuhr ich nach Vaduz.

Identitätsstiftend

Im Februar zog Liechtensteins Bevölkerung, darunter ich, in einer langen Prozession durch die Räume und nahm den Neubau in Besitz. Irgendwie schien sich auf den Gesichtern Befriedigung zu spiegeln: Ja, so sind wir im Ländle. Ordentlich, fehlerfrei, einzigartig. Um es gleich zu Beginn festzuhalten: Die architektonische Geographie im Lande hat einen neuen, zweiten Schwerpunkt. Neben dem Schloss, das über Vaduz allen drohend im Nacken sitzt, ist nun zu seinen Füssen ein demokratischer Merkort entstanden. Der liechtensteinische Landtag schafft es, die eigentümliche doppelte Souveränität des Fürstentums sichtbar zu machen: Der Fürst da oben – das Volk da unten. Das Landtagsgebäude stellt die zweite Gewalt im Lande dar, gehört zur Identität des Kleinstaats, ja stellt sie dar. Hierzulande gibt es nun zwei Leitbauten: das Schloss und das Landtagsgebäude. Identitätsstiftung, war das nicht die ursprüngliche Aufgabe der Architektur? Hier ist sie gelungen. Gewiss ist auch das Kunstmuseum ein bedeutendes Gebäude, ein Leitbau aber ist es nicht, es erscheint nicht auf den Postkarten.

Fortsetzung

Der Text im Architekturführer liefert den roten Faden dieser Besprechung. «Snozzis antikisierender Demokratietempel» zuerst. Das Projekt von Luigi Snozzi ging im Frühling 1993 in einer Volksabstimmung unter. Die kulturbewussten zeigten mit dem Finger auf die Treuhänder- und Krämerseelen, die einen grossen Wurf verhinderten. Heute entdeckt man aber, wie viel von Snozzis Projekt trotzdem verwirklicht wurde. Das Landesmuseum (HP 5/04), das ‹Lange Haus›, das im Bau befindliche Archivgebäude, sie alle folgen dem von Snozzi vorgegebenen Schwung entlang dem Hangfuss. Auch das Landtagsgebäude nimmt Snozzis Vorgaben von 1987 auf. Nur das Projekt von Hansjörg Göritz setzte 2000 im zweiten Wettbewerb vor eine Schicht am Hang einen damit verbundenen Baukörper. Das Kennwort hiess ‹Fortsetzung› und war für Göritz Programm. Alle anderen Architekten schlugen Solitäre vor. Snozzis Geist schwebt über dem Städtle. Aus dem Demokratietempel allerdings ist die profane Kirche geworden. Nicht mehr in der Toga der römischen Hoheit, sondern im Gewand «einer nüchternen Klarheit, geboren
aus protestantisch-calvinistischem Realismus», so Göritz, kommt der Neubau daher. Es ist der Schritt vom Mittelmeer zum alemannischen Kulturraum. Der Landtag ist auf seiner Kulturhöhe angekommen.

Scharnier

Es folgt der «eingefriedete Platz» abseits vom Tagesbetrieb. Hier irrte der Stadtwanderer in seiner Vorschau. Abseits ist hier nichts, denn hier ist der Empfangsort von Vaduz. Der grosszügige, gepflästerte Peter Kaiser-Platz müsste eigentlich ‹Liechtensteiner Mitte› heissen, denn er bildet das Gefäss für die Repräsentation der zweiten Staatsgewalt. Hier öffnet sich der Trichter, der die Leute sammelt und zur Hauptgasse führt. Dort, wo die Gasse sich schliesst – oder öffnet, wenn man in der Gegenrichtung geht –, dort steht das neue Landtagsgebäude als Auftakt oder als Abschluss. So ist es je nach Richtung der beherrschende Bau des Platzes oder das letzte Haus in der Gassenzeile. Diese städtebauliche Setzung ist die entscheidende Korrektur an Snozzis Konzept. Der Neubau steht mit knappem Abstand neben dem Verweserhaus und nicht mehr zu nah neben dem Regierungsgebäude. Dort steht heute ein neu gepflanzter Symbolbaum, eine Eiche. Die Traufe des ‹Hohen Hauses› liegt gassenparallel, was die Zugehörigkeit zur Zeile unterstreicht. Die hohe, dem Platz zugewandte Giebelwand setzt den Schwerpunkt des Ensembles. Das ‹Hohe Haus› markiert das Scharnier zwischen Gasse und Platz, hier ändert sich die Gschwindigkeit, vom Gehen kommt man ins Schlendern. Das Verwaltungsgebäude, nun das ‹Lange Haus›, hingegen ist Raumgrenze und Platzhintergrund. Das Regierungsgebäude steht weiterhin frei, wie von seinem Architekten Gustav von Neumann 1905 geplant.

Perfektion

Das «Bauprogramm ist zweigeteilt», schrieb ich im Architekturführer.
Das ‹Hohe Haus› folgt dem Typ des Rathauses einer Reichsstadt: Eine Pfeilerhalle trägt den Ratssaal im ersten Obergeschoss, der mit einem mächtigen Dach abgeschlossen ist. Im ‹Langen Haus› sind die Sitzungsräume der Parlamentsfraktionen, die Bibliothek, die Büros und die nötigen Nebenräume. Eine vernünftige Aufteilung zwischen Vorbereiten und Tagen. Einzig der Ratskeller fehlt, statt der Trinkstube ist da die Tiefgarage. Das spitze Dach braucht keine Erklärung, es ist fremdartig selbstverständlich. Das Eigenschaftswort «archaisch» wetterleuchtete durch die Presse, doch ist diese «zeitlose Urform» (Göritz) keineswegs urtümlich, sondern elementar. Gemeint ist: zurückgeführt auf die geometrischen Hauptfiguren, allen voran das Dreieck. Die reine Form ist das Ziel, gereinigte Form das Ergebnis. So nah wie möglich an die «platonische Figur» will Göritz kommen, dies, wie er sagt, mit «unbedingter Härte». Das setzt er um mit einem einzigen Element, dem Klinkerstein. Backsteinsticken ist hier mit Uhrenmacherei verbunden, ich habe noch keinen Bau gesehen, der so rücksichtslos bis auf drei Stellen hinter dem Komma durchdetailliert wurde. Um die sprichwörtlich schweizerische Perfektion zu besichtigen, muss man seit Februar 2008 nach Liechtenstein reisen.

Zisterziensisch

«Innen und aussen mit Sichtbackstein verkleidet», kündigte der Architekturführer den Bau an. Verkleidet ist ein zu weites Sammelwort. Die insgesamt 684 900 Kelesto-Klinker der Ziegelei Keller in Pfungen (ZH) führen in ihrer goldgelben Farbe jura hell die Vielfalt des Immer-Gleichen vor. Sie sind auf dem Platz ein gestreifter Teppich, beim märkischen Verband der Stützmauern ein währschaftes Mauerwerk, bei den vorgefertigten Tafeln des Dachs ein mechanisches Muster, im Innern des Parlamentssaals ein textiler Wandbehang, auf den Treppenstufen ein irritierendes Fremdmaterial, bei den Pfeilern der Eingangshalle eine senkrechte Verkleidung, bei den Stützen des ‹Langen Hauses› Goldschmiedearbeit. Immer gelten die unerbittlichen Regeln des Steinmasses, ziegelgerecht selbst dann, wenn die Fugen doppelt so hoch und breit sind wie üblich. Vor meinem Besuch dachte ich: Was soll die Backsteinorgie? Ist das nicht Architektenwahn? In Vaduz antwortete ich mir: Göritz liefert das Stichwort «zisterziensisch». Wie die Mönche aus dem einen, am Ort gefundenen Material ihre Klöster bauten, so hat auch er nur aus Klinker seine Curia gebaut. Auch sein Anspruch ist überzeitlich, über das Fürstentum Liechtenstein hinaus, dem das Haus derzeit dient. Elementar ist das Gegenteil der Mode. Allerdings weiss auch Göritz: Das ist der Stand der Konstruktion zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Schärfung der Form ist mit hohem Aufwand erkauft. Wer keinen Blechabschluss am Dachrand duldet, muss mit konstruktiver Erfindungskraft dem Dachwasser Herr werden.

Hoheit

«Das Parlament des Fürstentum Liechtenstein wird in einer profanen Kirche tagen», so die Prophezeiung im Architekturführer. Eigentlich geht es nur um den Parlamentssaal, ist er gelungen, so gelang (fast) alles. Es gelang. Das Bild der profanen Kirche stimmt, es ist ein Raum von nüchterner Feierlichkeit, dem die steile Zeltform die bürgerliche Weihe gibt. Der Raumüberfluss zeichnet aus, die Höhe schafft Hoheit. Ein kreisrunder Tischring, an dem die Abgeordneten und die Regierung von gleich zu gleich sich gegenseitig in die Augen schauen, steht im leeren Raum. Darüber hängt ein zweiter Ring mit der Beleuchtung. Wie die Lampen in der Moschee grenzt der Leuchtring die Schicht des Handelns nach oben ab. Das Licht dringt durch ein dreiseitiges Bandfester ein, der Lichtschlitz im Giebel dient hauptsächlich der Ausleuchtung des Klinkerzelts. Es ist hell im Landtag, kein raunendes Düster, debattiert und legiferiert wird bei Licht. Ein Parlament braucht ein Gefäss, das Würde ausstrahlt, das ans Gemeinwohl mahnt. Der liechtensteinische Landtag wird nicht besser arbeiten als zuvor, aber würdiger sicher. Die Zuschauerbänke treten in den Hintergrund, eine Zutat an der einen Querwand. Dort klebt auch die Übersetzerkabine, ein Fremdkörper, der dem Wunsch nach Kongressen und Konferenzen geschuldet ist. Doch einen Würderaum soll man nicht auch noch als Tourismushilfe benützen. Die Kabine ist ein Störfaktor in der profanen Kirche. Die erheblichen Anstrengungen, die Raumakustik zu steuern, sind unsichtbar, wie alle Haustechnik ein verborgenes Wirken ist. Auch die künstlerische Intervention Sabine Laidigs ist sehr zurückhaltend. 64 Farbmuster sind passgenau auf die Ziegel geklebt, es entstand ein Gespinst von Farbpunkten. Das dahinter steckende Bildungsgesetz mögen die Abgeordneten während den langwierigen Debatten zu ergründen versuchen.

Nachtrag

Vier Nachträge sind noch nötig. Zum einen herrscht der Winkel. Der zwischen der Bau- und der Hanglinie. Ein Verwaltungsakt zog die Baulinie vom Verweserhaus zum Regierungsgebäude. Hansjörg Göritz hat sein ‹Hohes Haus› darauf gestellt. Die Hanglinie hingegen ist die bewusste Setzung des Architekten. Der Schnitt der beiden ergibt einen schiefen Winkel, der den Raster regiert, der den ganzen Komplex beherrscht. Jede Stütze, jeder Bodenbelag, jede Decke gehorcht diesem Winkel. Das führt in der unerbittlichen Folgerichtigkeit der selbst gesetzten Regel, zum Beispiel zu schräg abgeschnittenen Spezialklinkern bei den Treppenstufen, zu im Grundriss rhombischen Fassadenstützen oder Raumzuschnitten. Es folgt die «grosszügige Dachterrasse», die ich zwar schon 2002 entdeckte, aber die Umkehrung des Blicks hab ich damals nicht bemerkt. Während das ‹Lange Haus› mit seinen drei Geschossen auf den Platz schaut, richtet sich die Dachterrasse gegen den Berg aus. Die hohe Mauer, die statt einer Brüstung die Terrasse gegen den Platz abschliesst, hat zwei Wirkungen. Sie kehrt erstens den Blick um, aber sie erhöht zweitens auch das Gebäude um ein zusätzliches Geschoss und gibt ihm einen oberen Abschluss, fast wie ein klassisches Dachgesims. Wer auf der Dachterrasse wandelt, entdeckt den Hinterhof. Das ‹Lange Haus›, zweiseitig belichtet, steht mit Respektabstand vor der riesigen, bewundernswert perfekt betonierten Hangmauer, die mit den Spannköpfen der Anker wie mit Schmucknarben besetzt ist. Im Hinterhof stehen die Sichtbetontürme der ausgelagerten bedienenden Räume wie Lift, Sanitäranlagen und Lüftung. Ein Architekturgarten mit den versammelten Volumen im Licht. Schliesslich noch das Licht, genauer die Schwärze der Schlagschatten und die Helle der Lichtstreifen, die Leuchtkraft der Dinge und die Liebkosungen des Streiflichts. Mit gehöriger Skepsis bin ich nach Vaduz gereist, mit hoher Achtung kam ich wieder.

hochparterre, Di., 2008.04.08



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02. Oktober 2007Benedikt Loderer
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Genf erwacht

Von der Deutschschweiz kaum beachtet, entsteht in Genf ein neues Stück Stadt, grösser als Zürich West. Genf hat zwei Ziele: seine Stellung als die internationale Stadt der Schweiz ausbauen und sein Wohnungsdefizit mildern. Der Masterplan ‹Praille-Acacias-Vernet› ist in Kraft.

Von der Deutschschweiz kaum beachtet, entsteht in Genf ein neues Stück Stadt, grösser als Zürich West. Genf hat zwei Ziele: seine Stellung als die internationale Stadt der Schweiz ausbauen und sein Wohnungsdefizit mildern. Der Masterplan ‹Praille-Acacias-Vernet› ist in Kraft.

Bis vor Kurzem war Genf blockiert. Der strenge Mieterschutz machte die Investoren kopfscheu, gebaut wurde wenig. Genauer, der Wohnungsbau fand vor allem jenseits der Grenze, in Frankreich, statt. Mit den entsprechenden Verlusten an Steuerkraft und den dazugehörenden Pendlerströmen, die überwiegend mit dem Auto bewältigt werden. Die Genfer Kantonsregierung hat diesem Zustand abgeschworen. Sie gelobte sie im Serment de St- Pierre: «Man muss jene, die durch ihre Arbeit oder ihre Investitionen unseren Reichtum schaffen, für Genf erhalten. Im Wohnungsbau will die Regierung jene Projekte fördern, die rasch realisierbar sind.» Im Vordergrund steht das riesige Gebiet ‹Praille-Acacias-Vernet›.

Den Anstoss gab der BSA

Im Südwesten der Stadt liegt dieses Industrie- und Gewerbeareal, 230 Hektaren gross, was rund 2,15 Millionen Quadratmeter Bruttogeschossfläche zulässt. Über die Fondation pour les Terrains Industriels de Genève (FTI) und aus direktem Eigentum verfügt der Kanton über rund 85 Prozent der Arealfläche. Das städtebauliche Muster ist von der Eisenbahn geprägt, die mit einem grossen Bogen die Lagerhäuser bedient. Die drei Gemeinden Carouge, Lancy und Genf teilen sich das Gebiet. Das Gelände ist im Umbruch. In jüngster Zeit sind im Süden das neue Stadion ‹La Praille› und ein Einkaufszentrum entstanden, im Zent-rum ist die Überbauung ‹Sovalp› im Entstehen und die Bank Pictet hat hier ihren neuen Verwaltungsbau errichtet (HP 9/07). Die Kaserne von Les Vernets sucht eine neue Nutzung, die neue Bahnlinie Cornavain, Eaux-Vives-Anne-masse (Ceva) wird mit zwei Stationen das Gebiet zusätzlich erschliessen. Ihre Finanzierung aus dem Agglomerationsfonds des Bundes ist schon zugesichert.

Die Ortsgruppe Genf des BSA war zuerst. Sie organisierte 2005 einen Wettbewerb, der die richtigen Fragen stellte. Es war ein Geschenk an die Stadt Genf. Der Kantonsregierung gingen die Augen auf. Sie reagierte mit einer Diagnose. Zusammen mit den Vertretern der Landeigentümer und der Wirtschaft, unterstützt von Experten, entstand eine Strategie zur Umnutzung des Areals. Im Juli 2006 startete eine Parallelprojektierung mit acht Planerteams. Gefordert waren: Verdichtung, Identitätsbil-dung, Grünräume, kurz, Städtebau durch Umnutzung. Ernst Niklaus Fausch aus Zürich schwangen obenaus.

Der nächste Schritt war ein Masterplan. Die Zürcher Planer zeigten ihren Genfer Kollegen Neu-Oerlikon und Zürich West, Planungen, die die Kollegen aus der Romandie beeindruckten. Diese wunderten sich über die intensive Zusammenarbeit der Verkehrsleute, Stadtplaner, Naturschützer, Politiker, Grundeigentümer und Wirtschaftsvertreter. In Genf entstanden in Anlehnung an die Zürcher Konsenspla-nung drei Workshops mit bis zu 50 Teilnehmern. Die Anliegen der drei Gemeinden waren klar: mehr Wohnungen. Schon im Mai 2007 wurde der Masterplan vom Regierungsrat genehmigt. Man spürt, der Kantonsregierung ist es ernst, es pressiert. Der Druck kommt von aussen, in Genf herrscht Büro- und Wohnungsnot. Die Investoren stehen Schlange, Goldgräberstimmung ist ausgebrochen.

Neun Hochhäuser

Auf dem Gelände befinden sich heute bereits rund 20 000 Arbeitsplätze und 3000 Wohnungen. Ernst Niklaus Fausch gehen vom Bestand aus, mit deutschschweizer Pragmatismus bauen sie weiter, nicht Visionen, wie sie ihre Kollegen aus der Romandie vorschlugen. Das Siedlungsmuster ergänzen sie, sie pflügen nichts um. Der Masterplan ist in vier Abschnitte unterteilt: ‹Acacias / Vernets› im Norden, ‹Carouge› in der Mitte und ‹Praille› im Süden. Bei der S-Bahn--station Lancy Pont Rouge entsteht der ‹Pôle économique d’exellence›, das Geschäftszentrum, genannt Place de l’Etoile, mit neun Hochhäusern, von denen das höchste 175 Meter werden soll. Dieser Höhenrekord ist das Ein-zige, was bisher in der Deutschschweiz zur Kenntnis genommen wurde. Aber hier entsteht mehr: das Zentrum eines neuen Stadtteils. Hier will das internationale Genf wachsen und sich darstellen. Der bereits vorhandene hohe Anteil an Gewerbenutzungen hingegen ist regional ausge-richtet. Die Wohnungen, die vor allem an den Rändern liegen und sich mit den bestehenden Quartieren verzahnen, sollen den lokalen Wohnungsmarkt entlasten. Die Ausnützungsziffer übers Ganze ist hoch: 2,5. Darum sind in den Hochhäusern auch Wohnungen vorgesehen.

Der Masterplan muss flexibel sein. Die Nutzungsfestlegung ist recht vage umschrieben: ‹Activités› für Gewerbe, ‹Equipement public› für Sport- und Schulbauten, ‹Mixte (dominante logement)›, wo man Wohnungen bauen will, und ‹Mixte (dominante activités)›, wo Büros entstehen sollen. Die Erdgeschosse gehören den öffentlichen Nutzungen und dem Gewerbe. 40 000 Arbeitsplätze und 9000 Wohnun-gen sollen hier entstehen. Besondere Sorgfalt schenkten die Planer den öffentlichen Räumen, ob grün oder städtisch. Den Gleisen entlang ist ein Grüngürtel geplant, im Innern des Geländes verschiedene ‹Pocket Parks› und ein grünes Band, das dem Rückgrat der Gleise folgt, die schritt-weise verschwinden werden.

Wie funktioniert die Qualitätskontrolle?

Der Masterplan ist in Kraft, die Ziele sind festgelegt. Eine durch-mischte, lebendige Stadt soll es werden, selbstverständlich mit hoher architektonischer Qualität und vor-bildlichem Städtebau. Doch wer sorgt bei der Umsetzung fürs Einhalten der Versprechen? Geplant ist ein Lenkungsgremium, das speziell für dieses Areal zuständig ist und für Qualität sorgen soll, aber auch auf die sich verändernden Anforderungen mit abwägender Vernunft reagieren kann. Dabei kommt den zehn Schlüsselprojekten eine entscheidende Bedeutung zu. Die Planer haben für jedes ein Ziel gesetzt und Empfehlungen abgegeben, wie es zu erreichen ist. Vier davon zeigen, was gemeint ist.

Genf erwacht. Mit dem Masterplan ‹Praille Acacias Vernets› steht der Stadtumbau erst am Anfang. Es ist eine Entwicklung, die Hochparterre noch weiter verfolgen wird.

hochparterre, Di., 2007.10.02



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23. Januar 2007Benedikt Loderer
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Eleganz, Symmetrie und Ornament

Mit kühler Eleganz empfängt das Visitor Center den Besucher. ‹Weltläufig› ist das Zauberwort, das die Atmosphäre beschreibt. Hell ist es hier und heiter,...

Mit kühler Eleganz empfängt das Visitor Center den Besucher. ‹Weltläufig› ist das Zauberwort, das die Atmosphäre beschreibt. Hell ist es hier und heiter,...

Mit kühler Eleganz empfängt das Visitor Center den Besucher. ‹Weltläufig› ist das Zauberwort, das die Atmosphäre beschreibt. Hell ist es hier und heiter, marmorweiss und eibenhölzig. Der Konzern präsentiert sich mit grossem Atem, genauer: mit einer Halle. Noch genauer: mit einer Folge von Hallen. Der Besucher wird durch einen Wechsel von Raumverdichtung und Raumerweiterung geführt. Das Erdgeschoss ist keine Schicht, es ist eine Raumskulptur. Der Weg: Mit Jenny Holzers Leuchtschrift neutralisiert Märkli die hohe Arkade, die Lampungnanis Masterplan vorschreibt. Sie wirkt nicht länger zweigeschossig und gehört nun zum Haus, nicht mehr zum Platz. Durch den Windfang gelangt man in die erste Halle, überraschend quergestellt, obwohl der Blick und die Bewegung in die Tiefe gehen. Die Höhe und die Grösse des Raums werden bewusst inszeniert, der Besucher spürt: Hier bin ich richtig. Es folgt eine eingeschossige Durchgangszone vor den Aufzügen, deren Decken die Raumverdichtung wie Deckel auf einem Gefäss verstärken. Dann öffnet sich der Lichthof, der durch alle Geschosse in die Höhe strebt und in einer Laterne endet. Man steht unter der Kuppel und ist angekommen. Beim Umhergehen setzt man sich den Grundriss im Kopf zusammen und ist von der doppelten Symmetrie überrascht, rechts und links scheinen gespiegelt, ebenso vorn und hinten. Erst die Pläne machen die Abweichungen deutlich, die Raffinesse des feinen Anpassens an die Spielregeln des Masterplans und an das Baufeld.

Aber trotzdem: Ist es ein klassizistischer Grundriss, mehr noch Bau? Märkli ein Nachfolger Durands? Auf jeden Fall fürchtet er sich nicht vor der Symmetrie, doch er behandelt sie wie mit der linken Hand, sie spielt den alles zusammenhaltenden Bass, während die rechte das Ornament zeichnet. Denn die Rautengitter an der Fassade, die Kassettierung der Decken und vor allem die Handläufe der Treppen sind Ornamente, Schmuck als sich wiederholende Form. Schmuck auch die Ausstattung der Sanitärräume und die tiefblaue Farbe des Teppichs in den Bürogeschossen. Das diskrete Ornament im strengen Baukörper sorgt für die Behaglichkeit, welche die Räume ausstrahlen. Der Weltkonzern will nicht beeindrucken, er will empfangen. Fürstlich, doch nicht steif, die Krawatte ist selbstverständlich, doch nicht obligatorisch. Die kühle Eleganz wirkt nie kalt.

[ Schweizerisches Architekturmuseum (Hg.): Novartis Campus – Fabrikstrasse 6 / Peter Märkli. Christoph Merian Verlag, Basel 2006, d/e, CHF 49.– ]

hochparterre, Di., 2007.01.23



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07. Dezember 2006Benedikt Loderer
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Wohnung für die Existenzvielfalt

Zwei Themen geht die Überbauung ‹Lokomotive› Winterthur von Knapkiewicz & Fickert auf den Grund: dem industriellen Ausdruck und der Wohnung für die Existenzvielfalt. Die Härte und Direktheit der Baukörper erinnert an die Fabrik. Die Wohnungen mit ihren ungewohnten Grundrissen sind eine Antwort auf die demografischen Tatsachen.

Zwei Themen geht die Überbauung ‹Lokomotive› Winterthur von Knapkiewicz & Fickert auf den Grund: dem industriellen Ausdruck und der Wohnung für die Existenzvielfalt. Die Härte und Direktheit der Baukörper erinnert an die Fabrik. Die Wohnungen mit ihren ungewohnten Grundrissen sind eine Antwort auf die demografischen Tatsachen.

Man muss zweimal hinschauen um herauszufinden, was neu und was alt ist. Die Schweizerische Lokomotivenfabrik neben dem Sulzer Stammareal in Winterthur, die es längst nicht mehr gibt, lebt hier tapfer weiter. Sie hat sich in Wohnungsbau verwandelt, aber die Direktheit und die Härte der Industrie sind geblieben, genauer, anders geschaffen worden. Das neue Ensemble macht den Eindruck, es sei seit den Fünfzigerjahren in verschiedenen Etappen entstanden. Die vier parallelen Hauszeilen haben nur eine Strassenfassade, diejenige an der Agnesstrasse; sie ist aus Sichtbackstein. Hier präsentiert sich der Stolz einer prosperierenden Fabrik und dieses Gebäude ist auch eine der Schauseiten des geschlossenen Industrieareals. Die drei weiteren Zeilen liegen nicht an Strassen, sondern an aus dem Fabrikareal ausgegrenzten Zwischenräumen. Man geht herum und ist etwas eingeschüchtert, Winterthur, die Arbeiterstadt, wird hier als Stimmung nochmals lebendig. Ist es eine kritische Rekonstruktion? Ein Wiederaufbau ist es jedenfalls nicht. Nur die Halle ist im Kern alte Bausubstanz, mit neuem Dach allerdings. Die übrigen Gebäude sind neu, genauer, neualt.

Die Bauten sind in verschiedenen Etappen hingestellt, wie vom Baubüro der Lokomotivenfabrik entworfen. Wie wenn man sie damals pragmatisch in eine freie Ecke des Fabrikareals gestellt hätte. Damals hätte man Wohnraum für die Fremdarbeiter gebraucht. Die Fabrikstimmung liegt in den kargen Zwischenräumen, den Fassaden mit den hellen Putzstreifen, den langen, parallelen Zeilen. Ein Ensemble, das sei nicht verschwiegen, das eine gewisse Beklemmung auslöst, allerdings nur bei denen, die die Fabrik von früher als unwirtlichen Ort kennen lernten.

Diese sorgfältige Weitererzählung der Fabrikgeschichte stützt sich auf die heutige industrielle Umgebung. Was aber geschieht, wenn die Industriebauten in der Umgebung durch Fachmärkte oder Technopärke ersetzt werden? Wenn die nächsten Architekten in Blech, Glas und Tagesmode weiterbauen? Die Wohnbauten von 2006 werden als Erinnerung an die Industrie von 1950 wie eine Insel dastehen, ein Denkmal aus zweiter Hand. Die 120 Wohnungen allerdings stammen nicht aus den Fünfzigerjahren, sondern sind von heutiger Grosszügigkeit. Von der Zweieinhalb- bis zur Sechseinhalbzimmerwohnung ist vieles zu haben, genauer, ist zum grössten Teil schon vermietet. Es gibt Wohnungen mit Dachterrassen, aber auch solche mit Vorgärten, es gibt Geschosswohnungen und Maisonettes. Für die Liebhaber der Grundrisskunde ist bemerkenswert, dass je nach Zeile mit sehr kleinen, aber auch mit sehr grossen Bautiefen operiert wurde. Alle Grundrisse können auf der Website studiert werden. Zwei Wohnungen seien stellvertretend hier besprochen. Die Maisonette im Haus Agnesstrasse 8 (der Sichtbacksteinbau) und die Hallenwohnung Agnesstrasse 12b mit dem tiefsten Grundriss.
Die Maisonette blickt auf der einen Seite in die Halle, auf der anderen zur Quartierstrasse. Man betritt sie von der Halle aus über eine Treppe durch einen leuchtend grünen ‹Eingangsschrank›. Der Weg macht eine Wendung und man steht im doppelhohen Raum der Galerie. Die Öffnung ist bescheiden, die Wirkung gross. Die Maisonette, wie ein Häuschen, überrascht durch die Grosszügigkeit, die trotz dem knapp geschnittenen Grundriss darin herrscht. Die Höhe der Zweigeschossigkeit macht aus einem simplen Reihenhaus ein Raumerlebnis.

Eigentlich ist die Hallenwohnung nicht zu vermieten, wie jeder Immobilienfachmann weiss. An diese übergrosse Halle sind zwei gefangene Zimmer angeschlossen! Eine vernünftige Tag-Nachtzonierung gibt es nicht, was helfen da die Doppltüren? Zugegeben, es gibt eine geräumige Loggia und eine (fast) abgeschlossene Küche. Schon wieder ein Architektengrundriss, schnaubt der Immofachmann. Wer noch Beispiele sucht, die das Ende der Familienideologie im Wohnungsbau beweisen, dann findet er sie hier. Die Hallenwohnung ist nicht länger nach dem Abzählvers ‹Mami, Papi und drü Chnöpf› entworfen, obwohl sie auch dafür geeignet wäre. Es sind nicht Arbeiterfamilien, die hier einziehen, sondern die Konkubinats-, Rumpf- und Neukombinationshaushalte; Seniorenrückzugsgebiet und Arbeitsplatz-zu-Hause-Gebiet sind hier. Wohnungen für die Existenzvielfalt. Knapkiewicz & Fickert liefern die passenden Grundrisse. Dass die neuen den alten gleichen, jenen der bürgerlichen Wohnungen um 1900, ist kein Zufall. Deren Qualitäten hat man oft beschworen, jetzt ist es Zeit geworden, die Lehren daraus zu ziehen.

Für die Bauherrschaft war die Überbauung Lokomotive Winterthur ein Wagnis. Die industrielle Härte ist nicht ein Anliegen der Investoren; gegen die Fülle der Grundrisse und deren ungewohnter Zuschnitt sind sie normalerweise skeptisch. Hier sprang ein Investor über seinen Schatten: Risiko kann auch mit ‹die Möglichkeit, intelligent zu sein›, übersetzt werden. Denn die Lage in Winterthur ist nicht besonders attraktiv. Das Ungewöhnliche ist auch eine Antwort darauf. Das Neue entsteht im Problemgebiet, nicht an der Goldküste.

hochparterre, Do., 2006.12.07



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07. August 2006Benedikt Loderer
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Athene in Einsiedeln

Im Juni wurde die Bibliothek der Stiftung Werner Oechslin in Einsiedeln eingeweiht. In diesem profanen Sakralraum greifen Architektur, Bücher und Programm ineinander und bilden ein Kunstwerk. In den Tempel der Obsessionen des Werner Oechslin tritt man mit frommem Schauder ein.

Im Juni wurde die Bibliothek der Stiftung Werner Oechslin in Einsiedeln eingeweiht. In diesem profanen Sakralraum greifen Architektur, Bücher und Programm ineinander und bilden ein Kunstwerk. In den Tempel der Obsessionen des Werner Oechslin tritt man mit frommem Schauder ein.

Die Schale zuerst. Mario Botta hat eine Auster gebaut. Sie steht auf dem Jakobsweg. Der Baugedanke ist darum der Weg durch das Grundstück und das Gebäude, von einer Mauer unterstrichen, die sich im Garten fortsetzt. Doch Mario Botta möge mir verzeihen, dass sein Beitrag zur Bibliothek Werner Oechslins hier nicht gebührend gewürdigt wird. Wer wird schon eine Auster nach ihrer Schale beurteilen? Botta nimmt klug das Gelände auf, dramatisiert die Aussicht, weiss eine intelligente Antwort auf den schmalen Streifen Bauland, beeindruckt mit Archaik, empfängt die Besucher mit einer monumentalen Geste, kurz, ein Botta. Im Innern der Pilgermuschel erst zeigt sich ihr wahres Wesen: der profane Sakralraum. Er ist aus drei ineinander verwobenen Leitmaterialien gebaut: aus Holz, aus Papier und aus Phosphor. Prosaischer ausgedrückt: aus Gestellen, Büchern und Hirnschmalz konstruierte sich Oechslin sein Geistesgebäude.

Die Gestelle und die Bücher

Das Vorbild ist die barocke Klosterbibliothek, der Stiftsschüler hat sie schon als Bub in sich aufgesogen. Er hat diesen Bautyp über Jahre in sich getragen und hat in immer anderen Bibliotheken die Sehnsucht danach genährt. Die geistige Schwangerschaft dauerte mehr als ein halbes Jahrhundert. Dann ist aus Oechslins Kopf die Athene von Einsiedeln entsprungen. Darum ist der grosse Bücherfestsaal eine Barockkapelle ohne Altar. Wer darüber den Kopf schüttelt oder mit den Schultern zuckt, dem fehlt das Wurzelgefühl. Wer so tief in der humanistischen Erde steckt, der wird von ihr geformt. Werner Oechslin ist barock aufgewachsen, ist durch seine Auseinandersetzung mit dem Barock noch barocker geworden, sein Ebenbild, die Bibliothek, kann daher nur barocke Formen haben.

Die Bücher sind in ihrer aufgereihten Kostbarkeit die Wonne des Optohaptikers, des Bibliophilen, der das Buch als Objekt der Begierde betrachten, berühren, beriechen und besitzen muss. Er liest nicht nur, ihm gehts um sinnlichen Genuss. Die Bibliothek ist sein Lustgarten und sein Fechtboden. Hier trainiert er Kopf, Herz und Bauch. Nachdem er sich vom Staunen erholt hat, fragt sich der Besucher: Wie sind die Bücher aufgestellt? Nach ihrer geistigen Verwandtschaft. Um den Kern der Architekturtheorie legen sich die Astronomie, Mathematik, Theologie, Philosophie. Man nimmt das erste Buch und findet in seinem Nachbarn eine Ergänzung, eine Vertiefung als Gegenüber, eine Weiterführung im Geschoss darüber. Die Aufstellung lädt zu Entdeckungsfahrten ein, man geht von Buch zu Buch und bleibt im Irrgarten des Wissens gefangen, bis man sich wieder auf den geraden Suchweg zurückbefiehlt. Die Aufstellung der Bücher ist die Abbildung der oechslinschen Weltordnung, seines persönlichen Universums.

Der Hirnschmalz

„Ich kann dir sagen, ich habe die Empfindung gehabt, in das Innere eines Schädels eingedrungen zu sein“, sagt General Stumm von Bordwehr über seinen Besuch in der Hofbibliothek (Robert Musil: Mann ohne Eigenschaften). So gings auch mir. Oechslin baute seine Erinnerung nach, doch sein Leben ist nur eines im Strom der Geisteswissenschaften. Er spürt, dass er auf den Schultern der Propheten steht. Bildung ist lebendige Erinnerung und die Bibliothek ist ihr Gefäss. Er fragt: Welches Wissen wird wieder in den Kreislauf der Bildung zurückgespiesen? Nur dieses ist lebendige Information. Die Wurzeln reichen tief. Das zeigt sich im ikonografischen Programm.

Der Professor lehrt an den Wänden und unterrichtet an der Decke. Die lateinischen und griechischen Inschriften, die Bilder und Statuen, sie alle verkünden eine verschlüsselte Mitteilung. Wer sie entziffert, nimmt zwei Botschaften mit. Erstens, Bildung ist nötig und zweitens braucht es dazu die urteilende Auswahl. Nicht die Wissensspeicher des Computers, sondern die Ablagerungen der durchgelesenen Nächte, der Reisen, der Museen, der Bilder, des Stadtwanderns: Die Beschäftigung mit dem Original macht die Bildung aus. Dazu braucht es das Urteil, die Auswahl und das jahrelange Wachsen der Übersicht. Nicht alles ist gleichwertig, die Waschpfanne der Wirkungsgeschichte misst das geistige Gewicht. Werner Oechslin tauchte sie in den Bücherfluss, das Gold der Geisteshefe blieb zurück, denn das Wirkliche ist das Wirkende.

Ich stand mit Ehrfurcht und Andacht in der Bibliothek. Mit einem Stockzahnlächeln auch. Ich war eingeschüchtert im Tempel der Obsessionen des Werner Oechslin. Beeindruckt von der Hartnäckigkeit, dem zähen, wilden Sammlerfleiss, der leidenschaftlichen Bücherliebe, dem Aufschichten des Bildungsgebirges und dem weltläufigen Auslegen von Bedeutung, kurz, dem überwältigenden dreifachen Ineinander von Raum, Buch und Programm. Da verbeugte ich mich vor der Passion des Werner Oechslin, seiner Leidensgeschichte und seiner Leidenschaft. ‹Il faut le faire.› Doch tauchte ich wieder ins kritische Bewusstsein auf und musste schmunzeln über das Kauzige und Bauernschlaue, das ebenso in Oechslin steckt. Die augenzwinkernde Mischung von Kirchenernst und Theatergeist, die in seiner Inszenierung steckt. Der Kunstgeschichtsprofessor ist auch ein philosophischer Bauer. Er hat noch etwas vom Klosterbuben bewahrt, der in der Stiftsbibliothek Bücher schleppte. Er spielt immer noch gerne.

hochparterre, Mo., 2006.08.07



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12. Mai 2006Benedikt Loderer
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Den Balkon neu erfinden

Das in der üblichen Juryprosa ausgedrückte Lob stellte im November 2000 fest: «Gelungen ist den Verfassern die Übertragung von Patios auf den Geschosswohnungsbau...

Das in der üblichen Juryprosa ausgedrückte Lob stellte im November 2000 fest: «Gelungen ist den Verfassern die Übertragung von Patios auf den Geschosswohnungsbau...

Das in der üblichen Juryprosa ausgedrückte Lob stellte im November 2000 fest: «Gelungen ist den Verfassern die Übertragung von Patios auf den Geschosswohnungsbau mit konventionell, aber sorgfältig organisierten Wohnungen.» Zwei Dinge sind also betrachtenswert: Die Aussenräume und der Wohnungsgrundriss.

Hier geht es um Mietwohnungsbau, um das Zürcher Programm 10000 Wohnungen in 10 Jahren, sprich um einen Beitrag an die Verbesserung des Steuersubstrats. Darum tönt Patio zwar gut, doch Balkon ist genauer. Man ist Zeuge der Erfindung des Wohnungsgrundrisses aus dem Geiste des Balkons. Was braucht es, fragten sich zu Beginn die Architekten. Sie haben auf einem leeren Parkplatz Balkon gespielt und abgemessen. Sie sind auf rund 24 m² Nutzfläche gekommen. Der brauchbare Balkon erfordert eine genügende Tiefe (3,80 m), was zu einer übermässigen Beschattung der dahinter liegenden Räume führt. Allerdings: Setzt man nur vor jedes zweite Geschoss einen Balkon ein, so ist genug Licht da. Das führte zur Versetzung in der Fassade. Die Folge: Der Balkon wird in zwei Zonen geteilt, in eine eingeschossige geschützte Nische und in eine zweigeschossige Halle mit Aussichtsrahmen. Betrachtet man den Wohnungsbau der letzten dreissig Jahre, so ist eine Entwicklung überdeutlich: Der private Aussenraum wuchs ständig und gewann markant an Bedeutung. Dieser neue Balkontyp ist eine echte Erfindung, die diese Entwicklung qualitativ einen markanten Schritt weiterbringt: Der Balkon wird zum doppelhohen Aussenzimmer.

Der Grundriss leitet sich davon ab. Grosse Haustiefen sind ökonomisch, Schottenwände ebenso, immer gleiche Küchen helfen sparen, die Sanitäranlagen liegen an den Schotten, die Geschäftsbedingungen sind bekannt und können nicht umgestossen werden. Entstanden sind «konventionelle, aber sorgfältig organisierte Wohnungen». Konventionell ist die Trennung in eine Tag- und eine Nachtzone, sind die vier Schichten, die hintereinander liegen: Balkon-, Wohn-, Service- und Zimmerschicht. Sieht man genau hin, kommt man der Raffinesse auf die Spur. Überraschenderweise liegt der Wohnraum längs zur Fassade, er ist ganze drei Zimmerbreiten lang. Das führt zu einer Viereinhalbzimmer-Wohnung mit 115 m² bei einer Gebäudetiefe von 13 Metern (CHF 2400.–/Monat). Derselbe Schottenabstand erlaubt aber auch eine Fünfeinhalbzimmer-Wohnung mit 135 m² (CHF 2720.–/Monat). Zwei Zimmer werden ausgestülpt und vor die Fassade gesetzt, was eine Bautiefe von 16 Metern ergibt. Bei den beiden anderen Zimmern führt das zu einem Winkelgrundriss, der auf dem Papier zum Räuspern Anlass gibt, beim Besuch aber überzeugt, denn die Räume sind gross genug (15,3 m²). Eine Folge dieser Ausstülpung ist die Breite des Querkorridors von 2,12 Meter, was in der kleinern der Wohnungen Doppeltüren ergibt. Wohnungsbau ist meist Krämerarbeit, doch hier waren für einmal Grosskaufleute am Werk.

hochparterre, Fr., 2006.05.12



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22. Januar 2006Benedikt Loderer
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Chiasso erwacht

Chiasso wird neu erfunden. Der übel beleumdete Grenzort ist zur exklusiven Adresse für die oberitalienischen Kulturmenschen geworden. Denn in Chiasso entstand eine kleine Kulturinsel mit Kino / Theater, Kunsthalle, Stadtsaal und Platz. Das m.a.x. Museo ist der Kern des neuen Kraftorts. Man staunt beim Besuch in der Agglomeration Mailand.

Chiasso wird neu erfunden. Der übel beleumdete Grenzort ist zur exklusiven Adresse für die oberitalienischen Kulturmenschen geworden. Denn in Chiasso entstand eine kleine Kulturinsel mit Kino / Theater, Kunsthalle, Stadtsaal und Platz. Das m.a.x. Museo ist der Kern des neuen Kraftorts. Man staunt beim Besuch in der Agglomeration Mailand.

Was reimt sich auf Chiasso? Grenzbahnhof, Schwarzgeld, il posto piu brutto del Ticino? Wer nach Chias-so fährt, bringt stabile Vorurteile mit. Die geraten aber ins Wanken, wenn man auf dem Corso San Gottardo steht, dem Rückgrat der Stadt. Der einst unerträgliche Durchgangsverkehr hat einer Fussgängerzone Platz gemacht. Chiasso schöpft Atem. Der Taumel des zwielichtigen Finanzplatzes ist vorüber, Ernüchterung trat ein, Chiasso erwachte und begann mit der ‹Neugründung der Stadt›, wie dem ihr Sindaco Claudio Moro sagte. Man spürt einen Willen, hier wieder leben zu wollen.

Die Kulturinsel

Ein wichtiger Bestandteil dieser Erneuerung ist Chiassos neu geschaffene Kulturinsel. Etwas abseits der Hauptachse steht seit 1936 das Cinema Teatro, ein wohl erhaltener Art-déco-Bau aus dem Jahr 1936 des Architekten Americo Marazzi. (Mit Dachaufbauten allerdings vor kurzem lieblos erweitert.) Seine dem Corso San Gottardo zugewandte Rückwand ziert ein riesiges Wandbild des Malers Carlo Basilico, ein Bilddenkmal. Dem Teatro gegenüber stand eine verwahrloste, verlassene Garage in einem Stück Niemandsland. Mit diesem Grundstück beginnt die Geschichte der Kulturinsel und des m.a.x. Museo, genauer, mit seiner Entdeckung durch die Architekten Durisch + Nolli.

Die Witwe des 1992 verstorbenen Grafikers Max Huber, Aoi Huber Kono, gründete eine Stiftung, die das Werk ihres Mannes und ihres Vaters, dem japanischen Grafiker Takashi Kono, zugänglich machen sollte. Sie entschloss sich, einen kulturellen Kraftort zu bauen, das m.a.x. Museo. ‹m› steht für Museum, Max Huber und Multimedia; ‹a› für Art, Avantgarde und Architektur; ‹x› ist die Unbekannte, die darauf hinweist, dass das Museum allen Kunstgattungen offen stehen soll und dies besonders für junge Künstler. Pia Durisch und Giancarlo Nolli wurden mit dem Projekt beauftragt. Sie mussten sich nicht bloss überlegen wie, sondern auch wo. Da fanden sie das Niemandsland der Garage, sie brachten die Stadt dazu, es zur Verfügung zu stellen. Doch sahen sie sich den Ort genauer an. Hinter der Garage stand ein leerer Hangar in einem dreieckigen Grundstück, der verdächtig nach Abbruch roch. Doch sahen Durisch + Nolli die Chance: der Museumsbau ist nicht ein Einzelobjekt, sondern der Kern einer Kulturinsel. Das Museum stellten sie als schmalen Riegel an die Strasse, den Hangar bauten sie zu einem ‹Spazio Officina›, einem Stadtsaal um, setzten gegen die anschliessende Schule einen Portikus als Abschluss, gestalteten die Umgebung als städtischen Platz mit einem Brunnen und gewannen damit die Kulturinsel. Sie hat heute vier Bestandteile: Kunsthalle, Kino / Theater, Stadtsaal und Platz. Geplant ist noch eine Tanzschule, die die Kalifornierin Carolyn Carlson in einer am Platz liegenden Fabrik einrichten will. Das kulturelle Programm Chiassos lockt unterdessen auch Besucher aus dem nahen Mailand an.

Schrein und Laterne

Das Museum ist eine karges Schatzhaus, eine weiss leuch-tende Laterne nachts, ein geheimnisvoller Schrein tags-über. Das Bauprogramm ist einfach: Im Obergeschoss drei Ausstellungssäle, im hochliegenden Erdgeschoss Vorplatz, Eingangszone mit Kasse, Caffetteria und Shop, im Unterge-schoss Lager, und zwei Ausstellungsräume. Erst im Längs-schnitt wird die statische Raffinesse klar: Die Auskragung über dem Vorplatz wiederholt sich am gegenüberliegenden Gebäudeende, was dort einen zweigeschossigen Saal im Untergeschoss ermöglicht. Zur Raffinesse gehört auch die seitliche Versetzung der Treppenläufe und der Lichthof im Obergeschoss. Die volle Höhe des an sich kleinen Gebäudes wird dem Besucher beim Treppensteigen deutlich gemacht. Ebenso gehören die präzis gesetzten Höhensprünge des Vorplatzes dazu.

Die Ausstellungsräume sind überall durch Bandfenster mit hohem Seitenlicht belichtet. Oben nur an den Längswänden, im doppelhohen Saal des Untergeschosses dreiseitig. Alle diese Glasbänder sind geätzt, das Licht wirkt, wie wenn man in ein Luftbecken eingetaucht wäre, man schwimmt durch die Räume. Es gibt nur an zwei Orten gewählt inszenierte Klarsicht: beim Innenhof des Oberge-schosses und die Aussicht aus dem Foyer auf das Cinema Teatro. Das Museum hüllt sich in einen Mantel aus Pro-filglas, der im Obergeschoss sechzig Zentimeter vor der tragenden Wand steht. Der Zwischenraum ist eine Vitrine in Gebäudegrösse. Sie ist zugänglich und kann als verfremdetes Schaufenster für die Ausstellungen benützt werden.Das knappe Gebäude ist, was es ist, Details sind selten. Es regiert die heilige Nüchternheit der sparsamen Verwendung der Mittel, der architektonischen und der finan-ziellen. Die Tragstruktur entspricht der Raumstruktur, Ver-kleidungen und ‹Innenausbau› gibt es keinen. Das Museum lebt vom Licht, dem innern und dem äussern. Innen das introvertierte milde Licht, das zur Kontemplation einlädt, aussen die Ausstrahlung der Laterne und des weissen Schreins. Wir müssen Chiasso neu zur Kenntnis nehmen, hier ist ein neuer Kraftort entstanden.

hochparterre, So., 2006.01.22



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11. Dezember 2005Benedikt Loderer
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Das barocke Verfahren

Hase in Bronze. Dieser Hasenpreis geht nach Zuchwil bei Solothurn, wo er, der von Natur aus ein Animist ist, trotzdem zur Kirche geht, in die neuapostolische. Er ist beeindruckt von diesem Aufsehen erregenden Bau der smarch Architekten aus Bern. Er spürt, dass es auch heute noch standfeste Glaubensgebäude gibt.

Hase in Bronze. Dieser Hasenpreis geht nach Zuchwil bei Solothurn, wo er, der von Natur aus ein Animist ist, trotzdem zur Kirche geht, in die neuapostolische. Er ist beeindruckt von diesem Aufsehen erregenden Bau der smarch Architekten aus Bern. Er spürt, dass es auch heute noch standfeste Glaubensgebäude gibt.

Ein seltsames Gebilde steht hinter dem Bahnhof von Solothurn an der Durchgangsstrasse. Ein Gebäudebeutel? Eine Betonzange? Eine liegende Langhalsflasche? Nein, eine neuapostolische Kirche. Ihre fliessenden, gerundeten Formen erinnern an einen Bau aus den frühen Siebzigerjahren, als die Formerfindung der späten Moderne auf ihrem Höhepunkt stand. Das auffällige Gebilde steht in der mittelländischen Agglomeration auf einem Zufallsgrundstück, das auch für ein Wohnhaus noch Platz hat. Nähert man sich von Westen, taucht die Eingangsfront mit ihrem waagrechten, hell gefassten, schwebenden Recht-eckschlitz in der Strassenachse auf, von der andern Seite sieht dies der Besucher erst im letzten Augenblick. Doch eigentlich fehlt nur der Glockenturm und das Kreuz und man würde das Aussergewöhnliche, weil es so sonderbar ist, sofort als Kirche lesen.

Wegkirche

Eine Wegkirche, so wie bei Rudolf Schwarz (auch ein Gläubiger). Draussen beginnt der Weg auf dem ausgreifenden, kirchenbreiten Vorplatz, der sich wie ein erstarrter, breiter Betonstrom vom Eingang her leicht absteigend gegen die Ankommenden wälzt. Noch hat man das Gefühl, man gehe auf einen Ausstellungsraum zu, dann betritt man das dreiseitig raumhoch verglaste Foyer. Ein kühler Ort, wo man begrüsst, herumsteht und schwatzt. Doch man ist erst darunter, noch nicht drin, denn der auskragende Schwung des Vordachs (des Flaschenhalses?) fährt mit wuchtiger Eleganz über die Köpfe hinweg und stoppt mit einem schmalen, liegenden Fenster, das aber am Foyer keinen Anteil hat. Das Foyer ist auf seiner vierten Seite ausgerundet, die senkrechte Wand löst auf und geht mit einer Kurve vom Boden in die Decke über. Hier macht der Weg eine Pause und endet an einem schwungvollen Betonfels. Aber nur kurz, denn in der Gebäudeachse liegt der Durchlass zum Kirchenraum, eine Verengung und Kanalisierung. Die Stimmung ändert sich vom Profanen zum Sakralen, niemand schwatzt mehr. Im Zugangskanal wird es dämmrig, aber die Altarwand, auf die man geradeaus blickt, leuchtet als helles Band dem Besucher entgegen. Davor steht der blockhafte, hinterleuchtete Altar. Wie schon im Foyer geht der Boden in sanftem Schwung in die Altarwand über und sie verschwindet hinter der Deckenkante. Denn von oben senkt sich die Decke dem Altar entgegen und zwischen Wand und Decke bleibt ein Abstand, in dem auf die ganze Raumbreite ein unsichtbares Oberlicht sitzt. Die Altarwand wird mit Streiflicht aus einer verborgenen Quelle belichtet, ein altes barockes Verfahren.

Das Kircheninnere ist ein abgeschlossener Bezirk, ohne Bezug nach aussen. Die neuapostolische Gemeinde ist in einem Gefäss versammelt, auf den Altar gerichtet, hier hat der Weg sein Ziel. Blickt man zurück, so schimmert das Frontfenster bläulich hinter der ansteigenden Bankbestuhlung. Hier geht es um die Verengung des Raums, das Zusammenpressen zur schmalen Schicht, nicht um Be-leuchtung. Der Raum lebt von zwei Dingen: der Lichtführung und dem Ineinanderschwung von Decke und Boden.

Das Glaubensgebäude

Dieselbe Ablesbarkeit gibt es auch an den Längsfassaden, auf denen das Bildungsgesetz des Kirchenraums nachgezeichnet
ist. Helle Bänder ziehen den Verlauf von Decke und Boden nach und fassen Binnenfelder von dunklem Waschbeton ein. Die Untersichten und das Dach hingegen bleiben Sichbetonflächen. Der auskragende Kirchenraum wird von einer gespreizten, v-förmigen Stütze über Grund gehalten, ein die Kurven als Motiv wiederholendes Betonband. Das Programm ist das einer Dorfkirche. Ein grosser Raum für den Gottesdienst, eine Sakristei (genauer Ältestenzimmer), ein Kinderhort und ein Foyer im oberen Geschoss, Unterrichtsräume, Blumenzimmer und Keller mit Infrastruktur im unteren.

Es handelt sich also um eine traditionelle Kirche, streng symmetrisch, klar gerichtet, funktionell eindeutig. Keine Mehrzweckveranstaltung, nur eine Kirche. Sie ist zeitgenössisch, doch ist sie das Gefäss unerschütterlicher Gewissheiten. Es steckt eine spürbare Kraft in diesem Kirchenbau: Man glaubt, dass die Neuapostolen glauben.

Kommentar der Jury:
Am Anfang war die Geste zweier ineinander greifender Hände. Smarch Architekten haben aus diesem Bild und einem beschränkten Budget einen Aufsehen erregenden Bau gemacht, der im Innern die Ruhe und Kontemplation bietet, die einem Sakralbau gebührt. Der Kirchenraum wirkt geborgen und in sich gekehrt, verfügt aber dank der raffinieren Lichtführung dennoch über dramaturgische Spannung. Die Jury lobt, wie konsequent Statik, Materialisierung, Lichtführung und räumlicher Ablauf aus dem anfänglichen Bild entwickelt sind und ihm auch gebaut noch entsprechen. Aussen wie innen ist dieses formale und räumliche Experiment gelungen; die Kirche ist in
ihrer durchmischten Umgebung an der Durchgangsstrasse eine Attraktion – was durchwegs positiv gemeint ist. Die Jury vergibt diesem Bau deshalb den bronzenen Hasen – auch, weil solch mutige Expressivität in der Schweiz so gut wie alleine da steht.

hochparterre, So., 2005.12.11



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16. Oktober 2005Benedikt Loderer
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Polisportiv heisst nur Fussball spielen

Meili Peter Architekten haben eine Zwischenbilanz gezogen. Ihr Projekt für ein Fussballstadion im Hardturm in Zürich ist zwar bewilligt, aber noch nicht gebaut. Fertig ist aber ein Buch über das Stadion. Eine gute Gelegenheit nachzufragen: Wie lief die Geschichte?

Meili Peter Architekten haben eine Zwischenbilanz gezogen. Ihr Projekt für ein Fussballstadion im Hardturm in Zürich ist zwar bewilligt, aber noch nicht gebaut. Fertig ist aber ein Buch über das Stadion. Eine gute Gelegenheit nachzufragen: Wie lief die Geschichte?

In den Achtzigerjahren schien alles noch klar: Der Fussball Club Zürich (FCZ) spielte im Stadion Letzigrund im Kreis 4, der Stadtrivale Grasshoppers Club (GC) im Stadion Hardturm auf der anderen Seite der Gleise im Kreis 5. Der Letzigrund gehörte der Stadt Zürich, der Hardturm war eine Privatliegenschaft der Albers-Gruppe. Der Letzi ist mythischer Grund, weil hier jährlich das berühmte Leichtathletik-Meeting der Weltrekorde stattfindet, der Hardturm ist ein Stadion wie ein anderes. Alt und renovationsbedürftig waren sie beide.

Der Bund, angeführt vom Sportminister Adolf Ogi, erfand das Nationale Sportanlagenkonzept, das den mythischen Letzigrund subventionswürdig machte. Doch Bundesgeld gab es nur für Stadien mit mindestens 25 000 Plätzen, der mürbe gewordene Letzigrund musste also saniert und erweitert werden. Wie so vieles in diesem Land, war es die Subventionshoffnung, die die Dinge in Bewegung setzte.

Polisportiv

Das Amt für Hochbauten der Stadt Zürich prüfte anfangs 1997, wägte ab und kam zur Lösung Abriss und Neubau. Damit aber war der Standort nicht mehr zwingend. Wo könnte ein neues Stadion auch noch gebaut werden? Gleichzeitig überlegte sich die Albers-Gruppe ihrerseits einen Ausbau des Stadions Hardturm auf 25 000 Zuschauer, den sie mit kräftiger Unterstützung der Credit Suisse privat finanzieren wollte. Es war eine nahe liegende Idee des Stadtrats, die beiden Projekte unter einen Hut zu bringen, ein polisportives Stadion für beide Fussballclubs zu planen, GC, FCZ und Leichtathletik im gleichen Kessel. Die Stadt prüfte 19 Standorte, übrig blieben drei: Leutschenbach im Norden der Stadt, Letzigrund und Hardturm. Die erst zögernde Albers-Gruppe liess sich im Herbst 1998 überzeugen und spannte mit der Stadt zusammen. Unter der Führung der Stadt sollte das Stadion Hardturm durch einen polisportiven Neubau ersetzt werden. Das Kreis-5-Fieber entschied die Standortwahl. Das neue Stadion sollte ein wichtiger Beitrag zum Ausbau des aufstrebenden Trendquartiers Zürich West werden. Darüber hinaus fliessen die Steuereinnahmen aus den Mantelnutzungen in die Stadt-kasse und nicht wie beim letzten Mitkonkurrenten Leutschenbach in die der Gemeinde Opfikon. Das knappe Grundstück, der hohe Grundwasserspiegel, die Erschliessung, die Nachbarn, viele der späteren Probleme hat man sich mit dem Standort aufgeladen.

Die Vorrunde

Die Stadtkasse war leer. Doch mit PPP (Public Privat Partnership) ist das kein Hindernis. Die PPP der Stadt und der Albers-Grupped beziehungsweise ihre Hardturm AG, an der auch die Credit Suisse mit vierzig Prozent beteiligt war, sollte es richten. Beide Partner scheuten das Risiko und suchten zuerst einen Developer. Neben Stadion und Mantelnutzungen waren nun auch ein Stadtquartier zu planen. Im Frühjahr 1999 wurden vier ausländische Entwicklungsteams zum Developer-Wettbewerb eingeladen, den die holländische Multi Developement Corporation (MDC) gewann. Sie hatte mit OMA zusammengespannt. Man rechnete mit einem Investitionsvolumen von einer Milliarde Franken. Leider hatte das Konzept einen grundsätzlichen Fehler: Die Leichtathletikbahn fehlte. Das polisportive Stadion war nur ein monofunktionales Fussballstadion. Noch störte das niemanden, die Holländer würden das korrigieren. Doch die Wetterlage verdüsterte sich. Die MCD-Leute drängten OMA aus dem Projekt, kannten die schweizerischen Eigenheiten zuwenig und liessen nicht mit sich reden. Die Zerrüttung nahm ihren Lauf, die Scheidung von Stadt und MDC erfolgte im März 2000. Nach knapp einem Jahr war der Traum vom Developer geplatzt. Die Stadt hatte etwas gelernt: Wer das Risiko andern übertragen will, ist nicht mehr Herr der Sache. Eine alte Weisheit allerdings. Der Developer-Wettbewerb war die Vorrunde. Sie endete ohne Sieger und mit einer Niederlage der Stadt, die in der PPP die Führungsrolle übernommen hatte.

Hauptrunde

Doch verlor die Stadt den Mut nicht und startete sofort in die Hauptrunde. Diesmal übernahmen Stadt, die Albers-Gruppe und Credit Suisse das Risiko selbst. Sie organisierten im Sommer 2000 ein zweistufiges Konkurrenzverfahren. Aus 19 Bewerbern wählten sie zehn Teams aus, zu denen neben den Architekten und Ingenieuren auch ein Generalunternehmer gehörte. Denn in der ersten Stufe mussten die Kosten auf fünf Prozent Genauigkeit und in der zweiten mit einem verbindlichen Preis offeriert werden. Ein polisportives Stadion mit 25.000 gedeckten Sitzplätzen, Mantelnutzung von 85.000 Quadratmeter Bruttogeschossfläche, plus generelle Vorschläge für ein Stadtquartier, inklusive Nachdenken über den Verkehr und die Freiräume: Das Programm war riesig. Doch nur ein Programmpunkt interessierte wirklich: Die Tribünen, genauer, wie verschiebt man sie? Anders herum: Wie bringt man die Aschenbahn zum Verschwinden? Denn es gilt als unumstösslicher Glaubenssatz der Fussballkunst, dass das Publikum nie durch die Aschenbahn vom Spielfeld getrennt werden darf. Hexenkessel heisst das Stichwort.

Zwei Projekte wurden zur Weiterbearbeitung ausgewählt: das von Dudler / Sawade und das von Meili Peter. Dudler /Sawade verschoben nur die Quertribünen, Meili Peter hingegen alle vier. Der Kostenrahmen war mit 300 Millionen festgelegt worden, Meili Peter schossen mit 800 Millionen weit darüber hinaus. Trotzdem überzeugte dieses Projekt die Jury am meisten, denn trotz der hohen Kosten war das Wertschöpfungspotenzial vorhanden, das die Architekten in einer zweiten Stufe hätten nachweisen sollen.

Dazu kam es nicht mehr, genauer, ganz anders. Mit den Ergebnissen der ersten Stufe änderten sich die Spielregeln radikal. Polisportiv ist, wenn man nur Fussball spielt. Die Credit Suisse und die Albers-Gruppe beschlossen, ein reines Fussballstadion zu bauen, privat finanziert, ohne Federführung, aber mit Unterstützung der Stadt, die nun plötzlich wieder den Letzigrund sanieren oder ersetzen musste. Doch das ist eine andere Geschichte. Wieder hiess es: Zurück auf Feld eins. Die Hauptrunde endete mit einem Spielabbruch und einer Niederlage der Stadt.

Finalspiel

Nun übernahm die Credit Suisse die Führung. Das Programm wurde abgespeckt und im September 2001 begann die Zweite Stufe des Gesamtleistungswettbewerbs, das Finalspiel. Während Dudler / Sawade ihr Konzept übernehmen konnten, begannen Meili Peter von vorn. Im März 2001 präsentierte die Bauherrschaft das Fünfeck von Meili Peter. Ein Jahr nach dem Debakel der Hauptrunde standen endlich die Sieger des Ausscheidungsmarathons fest. Das Stadion ist ein Wurf. Auf einem dem Grundstück eingepassten fünfeckigen Sockel mit Shoppingcenter und Parkgarage sitzt leicht verdreht die Krone des ebenfalls fünfeckigen Stadions. Die Form ist ein intelligentes Eingehen auf die Zwänge des engen Grundstücks, der internationalen Vorschriften über Fussballfelder und den Anforderungen der Mantelnutzung. Das Stadionprojekt macht die Massstabsverschiebung deutlich, die in Zürich stattgefunden hat. Neben der riesigen Stadtkrone stehen die putzigen Bernoulli-Häuser aus den Zwanzigerjahren. Der Grössenunterschied zeigt, wie fett die Stadt geworden ist.

Energieverschwendung

Blickt man auf die drei Wettbewerbe zurück, so drängen sich vier Festellungen auf: Erstens will es immer noch nicht recht einleuchten, warum zwei Stadien für Zürich wirklich nötig sind, vor allem wenn FCZ und GC auf demselben Platz spielen. Das polisportive Stadion ist möglich, Meili Peter haben eine Lösung gezeigt. Mit dem frei gewordenen Letzigrund hätte man die Defizite des umliegenden Quartiers lindern können. Zweitens haben alle diese Wettbewerbe einen erheblichen Selbstbetrugsanteil.

Man verlangt verbindliche Kosten von Projekten, die noch lange nicht weit genug definiert sind, dass das seriös möglich wäre. Die Änderungen sind programmiert, kein Gebäude von dieser Grösse entspricht am Schluss dem Wettbewerbsprojekt. Der Gesamtleistungswettbewerb ist für diese Aufgabe schlicht ungeeignet.

Was sich nicht endgültig definieren lässt, lässt sich nicht endgültig berechnen. Eine Bauherrschaft, die sich an solche Grossprojekte wagt, kann nicht mit einer Versicherungsmentalität operieren. Darüber hinaus frisst der Gesamtleistungswettbewerb drittens zu viel Energie. Die zweite Stufe kostete das siegreiche Team rund eine Million, 300.000 Franken war die Entschädigung. Die Teams machen das freiwillig, gewiss, doch störend ist, dass die Arbeit sinnlos ist, da sie weder zur Beurteilung der Projekte entscheidend sind, noch zu einer Preissicherheit führen. Viertens schliesslich darf es nicht sein, dass die Investoren als mitbewegte Beobachter dem Prozess zusehen und sich am Schluss an ihr Engagement des Anfangs nicht mehr erinnern. Wer innerlich entschlossen ist ein reines Fussballstadion zu bauen, soll keine Lippenbekenntnisse zum polisportiven abgeben. Anders herum: Mit dem Wettbewerb findet man ein Projekt, nicht die Zielsetzung. Zu Alternativen gibt es einfachere Wege.

Keine EM-Spiele ohne Zürich!

Das Projekt war gefunden. Der Weg zur Verwirklichung ist noch lang. Als erstes ordneten die Albers-Gruppe und die Credit Suisse ihren Bestand. Credit Suisse übernimmt die Hardturm AG zu hundert Prozent und somit alleine das Kommando über das Stadion. Die Albers-Gruppe konzentriert sich auf das angrenzende, neue Stadtquartier.

Im Dezember 2002 erhielten die Schweiz und Österreich gemeinsam den Zuschlag für die Europameisterschaften im Jahr 2008, damit musste das Stadion im Herbst 2006 fertig sein, wenn in Zürich EM-Spiele stattfinden sollten (vom Letzigrund sprach damals niemand). In Zürich brach mit voller Macht die EM-Hysterie aus, die Ehre und die Konkurrenzfähigkeit der Stadt war in Gefahr. Keine EM-Spiele ohne Zürich! war der Schlachtruf. Es ist jedoch daran zu erinnern, dass a) das Stadion nie für die EM geplant war und dass b) die Bauherrschaft von Anfang an wusste, dass ein Rekurs gegen den Gestaltungsplan, der bis zum Bundesgericht durchgezogen wird, mindestens zwei Jahre bis zum endgültigen Entscheid benötigt. Anders herum: Ohne EM-Hysterie hätte jedermann den gemächlichen Lauf der Dinge selbstverständlich gefunden.

Pause

Die EM wirkte als Brandbeschleuniger, 2008 stand in Flammenschrift an der Wand. Die Stadt hat mit einem beispiellosen Kraftakt die EM in Zürich doch noch möglich gemacht, allerdings im Letzigrund. Am Hardturm hingegen gings harzig weiter. Zwar stimmte das Volk im September 2003 dem Gestaltungsplan zu, doch die Einsprachen waren damit nicht erledigt. Die hartnäckigsten Stadiongegner waren der Verkehrsclub der Schweiz VCS und die zwei Anwohnergruppen. Ihre Rekurse richteten sich nicht gegen das Stadion, sondern die Mantelnutzungen, genauer, das Shopping Center und den Mehrverkehr. Regierungsrat, Verwaltungsgericht, Bundesgericht, vom Oktober 2003 bis Dezember 2004, ein Jahr nur brauchte der Rechtsweg, das ist ein Jahr weniger als erwartet. Doch zu spät wars für das Stadion Hardturm trotzdem. Das Ziel Europameisterschaft wurde aber erst im Juli 2005 endgültig aufgegeben. Der Gestaltungsplan trat im Januar 2005 in Kraft, die Baubewilligung lag im Mai 2005 vor.

Was ist der Stand der Dinge im September 2005? Die Planung wurde auf den ‹Stand 9› gebracht und dann kam die Pause. Genauer, das Warten auf die Gerichtsentscheide. Die Einsprachen gegen die Baubewilligung müssen behandelt werden. Man rechnet bis September 2007. Dann kommt die Stunde der Wahrheit. Credit Suisse wird vor dem Point of no Return stehen: bauen ja oder nein. Immer hat die Bank klar gemacht, dass eine Bruttorendite von 6,5 Prozent herausschauen müsse, sonst wird nicht gebaut.

Allerdings wird sie noch andere Faktoren in ihrer Rechnung berücksichtigen müssen. Wie hoch ist der Imageschaden? Was geschieht mit den rund 40 Millionen Franken, die die Bank bereits investierte? Was ist mit dem gültigen Gestaltungsplan? Ohne Stadion müsste die Planung wieder von vorn beginnen und ein neuer Gestaltungsplan mit einem Shopping Center zum Beispiel wäre kaum durch eine Volksabstimmung zu bringen. Der Landanteil der Stadt, der für den Bau des Stadions bestimmt war, fiele wieder an die Stadt zurück, was die Überbauung des Restgrundstücks erschweren würde. Doch das Stadion muss gebaut werden. Nicht wegen der Rendite, sondern wegen der Architektur. Es setzt den Merkpunkt für den Beginn des 21. Jahrhunderts in Zürich.

hochparterre, So., 2005.10.16



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07. August 2005Benedikt Loderer
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Ehe von Seele und Präzision

Das Zentrum Paul Klee in Bern hat am 20.Juni seine Pforten geöffnet. Das organisatorische Kalkül verband sich mit der Willkür der Formerfindung. Renzo Piano hat das zeitgenössische Museum neu entwickelt. Das Zentrum Paul Klee ist kein Kunsttempel, sondern ein Freizeitgerät.

Das Zentrum Paul Klee in Bern hat am 20.Juni seine Pforten geöffnet. Das organisatorische Kalkül verband sich mit der Willkür der Formerfindung. Renzo Piano hat das zeitgenössische Museum neu entwickelt. Das Zentrum Paul Klee ist kein Kunsttempel, sondern ein Freizeitgerät.

Als 1977 das Centre Pompidou in Paris eröffnet wurde, war es die vom Publikum bejubelte, von den Architekten misstrauisch bewunderte ‹Sensation des Jahrzehnts›. Beim Zentrum Paul Klee ist die Stimmung ähnlich, den Leuten gefällts, die Architekten zucken die Schultern. In beiden Fällen erfand Renzo Piano das Museum neu, beide Male baute er eine funktionalistische Maschine für die Bewältigung der Besuchermassen und machte aus ihr trotzdem ein weitwirkendes Architekturzeichen. Organisatorisches Kalkül verbindet Piano mit der grossen Geste. In Bern begann es damit, dass Piano durchsetzte, statt auf dem kleinen Stück Land, das Maurice E.Müller vorgesehen hatte, auf dem grossen städtischen daneben zu bauen. Piano veränderte vom Start weg den Massstab ins Grosse, statt ein Gebäude baute er Landschaft. Er brauchte Platz für die drei Wellen. Sie werden, einmal eingewachsen, wie vom Aaregletscher geformt wirken. Selbstverständlich sind sie nicht mit der Aufgabe Museum zu begründen. Sie sind eine willkürliche Formerfindung: Piano wollte Hügel bauen. Er hat uns alle überzeugt, geben wirs doch zu: Sie sind hinreissend.

Was ist das Problem eines heutigen Museums? Sein Erfolg. Bewahren, Forschen, Zeigen soll das Museum, doch erst die Besuchermassen sind heute seine gesellschaftliche Rechtfertigung. Das Zentrum Paul Klee ist keine Insel des stillen Schauens, sondern einer der Motoren der Kulturindustrie. Piano verdrängt das nicht, er organisiert diese Maschine. Er wendet das alte Rezept der Schichtung an. Das Haus hat nur eine Fassade, damit ist das Vorn und Hinten festgelegt. Horizontale Erschliessung, Publikumsräume, Aktivitäten ZPK, rückwärtige Erschliessung sind die Nutzungsschichten von vorn nach hinten. Damit trennt Piano den gehobenen Jahrmarkt der Museumsstrasse von der stillen Betrachtung der Kunst. In der Museumsstrasse ist die Konsumation zu Hause, im Ausstellungssaal die Kontemplation. Dazwischen liegt eine Schwelle, das ist der Ort, wo man die Schuhe auszieht. Kurz, die Organisation der Nutzungen ist vernünftig, die Erschliessung funktioniert. Betrachtet man die Grundrisse, sieht man: Es war ein Funktionalist am Werk. Die disziplinierte Ordnung der Grundrisse wird allerdings vom Pathos des Wellenschwungs überlagert. Das ist das offene Geheimnis des Entwurfs. Das Pathos seinerseits ist von konstruktiver Raffinesse. Man muss sich die Dreiwellenfront senkrecht und geradlinig vorstellen, um zu ermessen, wie die Neigung und die Krümmung aus einer starren Silhouette eine lebendige Bewegung machen. Piano hat die Möglichkeiten, die Computer-Architekten bieten, ausgeschöpft: Er erreicht den Spitzenstand der Konstruktionskunst, was an der Fassade allerdings zu viel Formaufwand und Herzeigen führt.

Der zweideutige Raum

Entscheidend aber ist das Allerheiligste, der Ausstellungssaal. Der sah während der Bauarbeiten wie ein Hangar aus und man fragte sich angstvoll, was aus Klee darin werden soll. Gebetsmühlenartig wurde das Argument wiederholt, die kleinen Formate Klees bedürften der Intimität und passten nicht in eine Halle. Piano foutierte sich darum. Die Hügel sind wichtiger als das Murren der Kollegen. Ist es ein Einraum oder ist es eine Folge von Kabinetten? «Der Raum ist zweideutig, jedoch in der Kunst ist Zweideutigkeit keine schlechte Sache, weil sie auch Vieldeutigkeit bedeutet», betonte Piano im letzten Hochparterre. Er hängte Wandscheiben an der Wölbung auf, sie grenzen aus dem grossen Saal Raumabschnitte aus. Darüber spannte er Textildecken auf, an Rahmen befestigte halbtransparente Stoffbahnen. Pianos Saal ist ambivalent, einmal befindet man sich in einer Halle, dann in einem Zimmer. Renzo Piano wollte einen schwebenden Raum schaffen, er muss damit einen zwischen Einraum und Raumfolge oszillierenden gemeint haben. Genau das hat er erreicht. Die Architekten schütteln den Kopf, die Leute jedoch betrachten die Bilder, denn eines ist eindeutig: Klees Bilder bewahren ihre Aura, es gibt keinen Zusammenhang zwischen den Formaten der Kunstwerke und der Grösse des Saals. Es herrscht reines Kunstlicht, die Empfindlichkeit der Bilder erforderte das. Es gibt keinen Austausch zwischen dem Draussen und Drinnen, man sitzt im regelmässig ausgeleuchteten Hügelbauch. Trotz der geringen Lichtstärke herrscht eine heitere Feierlichkeit. Ein Betsaal, keine Kirche, profan, nicht heilig. Nebenbei bemerkt: Der Raum ist flexibel und neutral, wie es dem Kurator dient, das Gegenteil des Saals im Kunsthaus Graz (HP 11/03).

Was aber ist neu an diesem Museum? Es ist ein Mehrzwecksaal der Künste. Für Konzerte oder Filme gibt es ein Auditorium, für Konferenzen ein Forum mit Seminarräumen, für die Forschung Platz, für die Kinder Kunsterziehung, für das Museum Werkstätten, bewusst wurde das Museum zum Zentrum erweitert. Ein Blick auf die Grundrisse zeigt: Die eigentliche Ausstellung beansprucht weniger als einen Drittel aller Flächen. Die Museumsstrasse wurde zum wichtigsten Raum, dem auch der grösste architektonische Aufwand geschenkt wurde. Wie beim Pompidou die aussenfahrenden Rolltreppen, ist auch im Zentrum Paul Klee die Publikumserschliessung das Rückgrat der Anlage. Das neue Museum ist kein Kunsttempel, es ist ein Freizeitgerät.

hochparterre, So., 2005.08.07



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07. August 2005Benedikt Loderer
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Was ist eine Stadtsiedlung?

Auf dem sanft gegen Süden abfallenden Areal von 41000m² in Zürich-Wiedikon befand sich der Werkhof der Baufirma Hatt-Haller. Leuppi&Schafroth Architekten...

Auf dem sanft gegen Süden abfallenden Areal von 41000m² in Zürich-Wiedikon befand sich der Werkhof der Baufirma Hatt-Haller. Leuppi&Schafroth Architekten...

Auf dem sanft gegen Süden abfallenden Areal von 41000m² in Zürich-Wiedikon befand sich der Werkhof der Baufirma Hatt-Haller. Leuppi&Schafroth Architekten gewannen den eingeladenen Wettbewerb mit einem Projekt, das das städtisches Wohnen neu zu definieren versucht. Sie schufen einen Zeilenbau, der keiner mehr ist. Vier Hausreihen mit vier bis sechs Geschossen stehen mit gleichmässigen Abständen im parkartigen Gelände. Erst auf den zweiten Blick wird man gewahr, dass der eine Zwischenraum eher einer Allee ähnelt, der nächste eher einem Garten. Die Autos werden gleich an der Arealgrenze in Räumen unter dem Boden versorgt. Die Stadt im Park, wie sie Le Corbusier propagierte, fand hier eine späte und neue Variante.

Was auf dem Modell und den Plänen unentschieden aussah, kein klares Vorn und Hinten ablesen liess, ist in der Wirklichkeit kein Problem. Der grosse Zwischenraum von Haus zu Haus wird nicht als Strasse oder Garten erlebt, sondern als eine begrünte Zone. Die Häuser haben keine eindeutige Eingangsseite, man kann sie sowohl von ‹vorn› wie von ‹hinten› betreten. Es entstehen seltsam unbestimmte Räume. Das liegt am Ort. Am Fusse des Uetlibergs in einer Vorstadtgegend eine ‹Stadtsiedlung› bauen, ergibt aus Investorensicht immer mehr Siedlung als Stadt. Zwar wäre eine Ausnützung von 1,6 erlaubt, doch musste man sich auf 1,25 beschränken. Mehr wäre der Wohnqualität abträglich gewesen. Die richtige Dichte ist die Vermietbare. Man spürt die Einflüsse der Verkäufer an jeder Ecke und trotzdem beeindruckt die Stadtsiedlung durch ihre Grösse: In drei Etappen werden 364 Wohnungen entstehen.

Die Grundrisse sind ein Lehrblätz im Fach tiefe Grundrisse. Bei 18 Metern führten die Architekten ein Atrium ein. Es wird spannend sein zu beobachten, wie die Bewohner mit den Problemen Einsichtmöglichkeit und Lärm umgehen werden. Am Besuchstag zeigten die Architekten eine Wohnung, in der man nicht um das Atrium herumgehen konnte, wie sie es sich vorgestellt hatten. Ein Badezimmer blockiert den Rundweg, da dies die Investoren besser fanden. Die Balkone sind zwar vom Zuschnitt her brauchbar, aber doch gar exponiert. Die west-ostorientierten Grundrisse sind grosszügig, auf urbane Aufsteiger zugeschnitten.

Die Wiediker Stadtsiedlung stellt (ohne Absicht?) ein wichtiges Problem zur Diskussion: den Umgang der Stadt. Welche Vorstellung leitete die Architekten? Sie bauten ein Stück Zwischenstadt, die heutige Form der Besiedlung in der Agglomeration. Das mulmige Gefühl des Berichterstatters teilen die Bewoh-nerinnen und Bewohner nicht. Sie kriegen grosszügige Wohnungen in einer angenehmen Umgebung.

hochparterre, So., 2005.08.07



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16. Juni 2005Benedikt Loderer
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Paul Klee im schwebenden Raum

Das Zentrum Paul Klee in Bern ist eröffnet. Sein Architekt, Renzo Piano, spricht über die Stimmung im Saal, über die Akustik im Auditorium und über die Farben. Er zeigt Zusammenhänge zwischen Paul Klee und Pierre Boulez und lobt Maurice E. Müller und Maurizio Pollini.

Das Zentrum Paul Klee in Bern ist eröffnet. Sein Architekt, Renzo Piano, spricht über die Stimmung im Saal, über die Akustik im Auditorium und über die Farben. Er zeigt Zusammenhänge zwischen Paul Klee und Pierre Boulez und lobt Maurice E. Müller und Maurizio Pollini.

Welche Stimmung schufen Sie im grossen Ausstellungsraum?
Es ist immer ein magischer Augenblick, wenn eine Idee auf dem Bauplatz Wirklichkeit wird. Es ist der Moment der Metamorphose. Fünf Jahre lang zeichnet man in unserem Beruf, macht Modelle und dann kommt der Augenblick, in dem dies alles Realität wird. Der Musiker spielt und der Ton ist gegenwärtig, der Bildhauer sieht unmittelbar sein Werk, der Architekt aber sieht nicht seinen Bau, er hat während vier, fünf Jahren nur ein Versprechen vor sich. Darum ist der Augenblick der Metamorphose so wichtig, wie der Schmetterling, der sich von der Puppe zum Imago verwandelt. Doch zur Stimmung, sie ist abstrakt und schwebend, was mir für ein Museum angemessen scheint, denn das Museum ist ein Ort ausserhalb der Zeit. Jedes Museum schafft die Dauer.

Die Museen der letzten Jahrzehnte waren entweder Architektur für Architekten oder demütige Dienerinnen der Kunst. Zu welcher Art gehört das Zentrum Paul Klee?
Es ist Unsinn zu behaupten, ein Museum müsse völlig neutral sein. Ebenso unsinnig ist es, wenn das Kunstwerk Museum seinen Inhalt erdrückt. Wir versuchten, in Bern einen heiteren und grosszügigen Raum zu schaffen. Nie habe ich daran geglaubt, dass kleine Kunstwerke auch kleine Räume brauchen. Klein war nur das Fenster, durch das Klee die Welt betrachtete, seine Welt hingegen war weit. Wir wollten einen schwebenden Raum, doch ist er festgelegt, geformt. Für die Besucher ist der Raum gegenwärtig.

Handelt es sich eigentlich um einen einzigen Raum oder um eine Raumfolge?
Der Raum ist zweideutig, doch ist in der Kunst die Zweideutigkeit keine schlechte Sache, weil sie auch Vieldeutigkeit bedeutet. Es ist gleichzeitig ein grosser Raum und ein Mikrosystem. Wenn man hineinkommt, spürt man den ganzen Raum, beginnt man aber die Bilder zu betrachten, konzentriert man sich und befindet sich in einer viel kleineren Welt, ohne das Ganze vergessen zu haben. In der Mitte ist eine Gasse, die etwas breiter ist und den Überblick freigibt. Seitlich sind über den Bildern Stoffbahnen gespannt, die wir Velum nennen. Sie grenzen eine intimere Zone ein. Beides geschieht gleichzeitig, wie Kosmos und Mikrokosmos. Ich will nicht theoretisieren, denn ich bin kein Theoretiker, aber in Paul Klees Werk hat es auch beides, Kosmos und Mikrokosmos. Das Spiel von Gross und Klein schafft diese schwebende Stimmung.

Also wie in einer Kirche mit ihren Mittel- und ihren Nebenschiffen?
Wenn Sie unbedingt eine Analogie suchen, haben Sie recht. Es ist aber auch wie in einem italienischen Palast, wo um den grossen Saal die kleineren Zimmer angeordnet sind. Der Raum in Bern ist aus der Menil Collection hervorgegangen. Reyner Banham hat geschrieben, dort sei ein wohltemperierter Raum entstanden. Architektur macht man nicht bloss mit Mauern und Decken, sondern ebenso mit der Stimmung, mit den immateriellen Elementen des Raums wie Licht, Transparenz, Tönen, Farben, Oberflächen. Die Menil Collection war bereits ein Projekt, das dies berücksichtigte. Banham schrieb: «Piano brings back magic to rationalism.» Darauf war ich sehr stolz.
Woraus besteht der Raum in Bern? Ein Boden, vier Wände und der Bogen der Decke, mehr nicht. Das sind die einzigen harten Elemente, der Rest ist schwebend, eigentlich nur Luft. Alles ist weiss. Warum? Weiss ist die Farbe des Traums. Es ist kein Zufall, dass Fellinis Filme weiss sind. Kurz, es gibt einen Zusammenhang zwischen der Menil Collection und dem Zentrum Paul Klee.

Reden wir auch vom Musiksaal.
Ja, reden wir von der Musik. Sie ist die andere Seite Paul Klees. Er starb und wusste nicht, ob er eher Musiker oder Maler war. Pierre Boulez, der Klee immer schätzte, hat sich einen Buchtitel bei ihm ausgeliehen. ‹Au pays fertile› …

... das Fruchtland ...
… ja, aber Boulez hat die Idee immer verachtet, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen der Musik und der Architektur gebe–was ich auch für einen Unsinn halte. Die Welt ist voller Dummköpfe, die behaupten, es gebe einen Zusammenhang zwischen Musik, Malerei und Architektur. Ich habe immer wieder richtig stellen müssen: Nein, dieses Gebäude ist kein Bild Klees, weil Klee ist Klee und Malerei, wir aber machen Architektur. Boulez hat Klee genau studiert und er hat die Poesie Klees erforscht, das heisst, die Inspiration, welche dahinter liegt. Er fand viele verbindende Elemente zwischen der Musik und Klees Malerei. Aber nicht der gleiche Rhythmus in beiden oder andere direkte Zusammenhänge, nein, es geht um künstlerische Inspiration. Die Musik ist überall mit der Berner Geschichte verbunden. Der erste, der mich wegen dem Klee-Museum anrief, war der Pianist Maurizio Pollini. Maurice Müller hat ihn operiert und ihm das Leben gerettet. Martha Müller liebt sie, Klee spielte sie, sie liegt auch mir am Herzen. Darum war es nahe liegend, das schon bei Beginn des Projekts ein Auditorium dazukam. – Ein Auditorium ist kein Monument, es ist ein Instrument für die Musikliebhaber. Der Konzertsaal ist keine Bonbonniere, es ist ein Musikinstrument, eine kleine Musikmaschine, ein Hörinstrument. Darum mag ich den Gedanken, dass in diesem Saal nicht nur Klee gefeiert wird, sondern von diesem Auditorium auch eine musikalische Ausstrahlung ausgeht.

Doch wie wird die Stimmung darin sein?
In einem Konzertsaal heisst Stimmung zuerst einmal Akustik. Davon hängt alles ab, nicht von den Farben und Formen. Fragen Sie bei einer Stradivari nach der Form? Nein, eine Geige beurteilen sie nach dem Ton. Haben Sie je etwas Kruderes gesehen als die Trompete? Doch wenn sie tönt… Das Auditorium hat keine parallelen Wände, damit sich der Ton richtig ausbreiten kann. In eine Betonschachtel stellten wir eine bewegliche Tribüne. Doch der Saal muss hoch sein, sonst lebt der Ton nicht.

Trotzdem, Sie sind der Architekt und müssen über Form und Farbe entscheiden.
Selbstverständlich, darum haben wir entschieden, dass die Wände aus Beton sind, weil er die Masse der Schale betont. Wir haben ihn nicht glatt gemacht, sondern mit Rillen und gestockten Gräten, damit die Akustik stimmt. Die Stühle und die Schall-Lenkpanele sind rot. Rot ist die Farbe der Institutionen. Das Rot und der Samt erinnern uns an die Musik und an die Säle, die in unserer Erinnerung gefangen sind. Das heilige Rot trifft auf den profanen Beton.

Das Heilige und das Profane ist Ihr Stichwort, wie ist es beim Ausstellungssaal?
Nun, der ist heilig. Man muss den Mut dazu haben. Profan ist die Museumsstrasse, wo Sie auf Lärm, Kinder und Alltag treffen, allerdings bereits gemildert. Doch sobald Sie den Saal betreten, sind Sie anderswo. Sie befinden sich ausserhalb jeglicher Zeit.

Es gibt also einen Unterschied zwischen der Museumsstrasse und dem Saal?
Es gibt eine Schwelle. Aus Sicherheits- und Klimagründen ist sie massiv, aber es ist auch eine psychologische Schwelle. Sie verlassen eine aktive Welt und treten in die der Kontemplation ein. Es ist als ob Sie Ihre Schuhe auszögen. Wenn Sie ein Bild betrachten, ist das eine Sache zwischen Ihnen und dem Kunstwerk. Darum hasse ich auch die Leute, die mir ein Bild erklären wollen. Die Stille ist die beste Sprache, um mit einem Kunstwerk zu reden. Es gibt drei Geschwindigkeiten: Draussen auf der Autobahn fahren sie im fünften Gang, in der Museumsstrasse vielleicht im zweiten, im Saal aber nur im ersten.
Auch das Licht ändert sich. Zuerst dachten wir an eine natürliche Belichtung. Doch die Bilder Klees ertragen nicht mehr als 50 Lux. Das Tageslicht hat 50000, man musste also das Licht abtöten. Darum haben wir schliesslich begriffen, dass wir einen Kunstlichtsaal bauen mussten.

Es wird also dunkel sein – gerade so wie in einer gotische Kirche?
Überhaupt nicht. Das Auge passt sich an. Nach dreissig Sekunden sehen Sie vollkommen klar. Das ist wie beim Lärm. In einer lauten Umgebung hören sie die leisen Töne nicht, in einer ruhigen aber wohl. Es ist wie immer eine Mischung zwischen Wissenschaft und Kunst. Auf der einen Seite reden wir vom Heiligen, Zeitlosen, Immateriellen, auf der anderen von Dezibel und Lux. Der Architekt ist teils Künstler, teils Techniker, eine eigentümliche Mixtur also, die mich immer amüsierte. Von einem gewissen Alter an fragen Sie sich nicht mehr, wer Sie sind. Sie machen keinen Unterschied mehr und vermischen die beiden Identitäten.

Zum Schluss: Was war die grösste Schwierigkeit bei diesem Projekt?
Zuerst muss ich sagen, dass wir sehr angenehme Kunden hatten, sei es Maurice Müller, sei es die Stiftung, aber auch Stadt und Kanton Bern. Wir haben die Abstimmung mit 87 Prozent Ja-Stimmen gewonnen, unglaublich! In Bern wurden wir wirklich verwöhnt. Damit es gelingt, braucht jedes Projekt einen unentbehrlichen Grundstoff, die Leidenschaft. Die war in Bern vorhanden. Selbstverständlich war die praktische Umsetzung kompliziert und schwierig. Nehmen sie nur die Geometrie! Man muss schon etwas verrückt sein, eine so komplizierte Form zu wählen. Aber hätten wir das stur gradlinig gemacht, die Magie der Kurve, die sich durch den Raum bewegt, wäre verloren gewesen. Die grösste Schwierigkeit aber war vielleicht die leise Angst vor der Grösse des Traums.

Und was war die grösste Freude beim Bau des Zentrums Paul Klee?
Freude machte mir viel. Es tönt vielleicht etwas romantisch aber trotzdem: Ich habe einen fünfjährigen Sohn, der mit dem Projekt gross geworden ist. Er kam immer mit auf den Bauplatz. Ich habe immer meine Bauten mit meinen Kindern verglichen. Meine Tochter wurde 1962 mit dem Centre Pompidou geboren, auch sie kam immer auf den Bauplatz mit. Man sagt, man messe an seinen Kindern, wie die Zeit vergeht, für mich waren sie auch noch der Massstab der Projekte, die wir bauen konnten. Die grösste Freude? Es war ein Projekt, das in Freundschaft und mit Leidenschaft verwirklicht wurde. Unterdessen sind Maurice Müller und ich Freunde geworden. Das ist immer so. Wenn sie ein Geschäftsmann sind, dann haben Sie Kunden, sind Sie aber Architekt, dann haben Sie Freunde, ‹des compagnons d’aventure›.

[ Eröffnungswochen: Das Zentrum Paul Klee wird am 20. Juni offiziell eröffnet. In den Eröffnungswochen bis zum 3. Juli hat das Zentrum ein umfangreiches Sonderprogramm organisiert, das Vorträge, Führungen und zahlreiche Konzerte bietet. ]

hochparterre, Do., 2005.06.16



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16. Juni 2005Benedikt Loderer
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Einfallsreicher Wohnbaukasten

Was ist das Gegenteil einer Familienwohnung? Die individuelle Stadtwohnung, wie sie Meili, Peter und Diener & Diener für das
Coop-Areal in Zürich West erfanden. Eine Lektion im Fach Grundrisskunde. Der Markt wirkt. Der Wohnanteil liegt mit 65 Prozent weit über dem Gestaltungsplan.

Was ist das Gegenteil einer Familienwohnung? Die individuelle Stadtwohnung, wie sie Meili, Peter und Diener & Diener für das
Coop-Areal in Zürich West erfanden. Eine Lektion im Fach Grundrisskunde. Der Markt wirkt. Der Wohnanteil liegt mit 65 Prozent weit über dem Gestaltungsplan.

‹Mehr Wohnungen für Zürich West› war die Forderung auf dem Titel des Hochparterre-Sonderhefts vom März 2004. Der Markt hat uns erhört, genauer: Die Marazzi Generalunternehmung AG aus Bern hat die Lektion von Limmat West (HP 1/2 2000) gelernt: Es gibt keinen Wohnungsmarkt, es gibt nur Teilmärkte. Man muss sich erst überlegen, wer die Leute sind, die auf dem Coop-Areal wohnen möchten, um herauszufinden, welche Art von Wohnungen man ihnen anbieten muss. Es sind Doppelverdiener, Rückkehrer aus der Agglomeration, gehobene Wohngemeinschaften oder zusammenfassend: urbane Leute, die sich Wohnungen zwischen 2500 und 3500 Franken leisten.

Für so viel Geld muss man auch etwas bieten. «Die Wohnungen werden einmalig», versprach Bruno Marazzi an der Präsentation. Das Einmalige beginnt mit einer Millioneninvestition in die Planung und zwei Jahren Arbeit. Billiger kriegt man es nicht, wenn man das Bessere will. Man muss auch einmalige Architekten beauftragen, diesmal Meili, Peter und Diener&Diener. Was aber ist am Projekt einmalig? Allem voran der Wohnanteil von 65 Prozent–der Gestaltungsplan verlangt, je nach Baufeld, nur zwischen 0 und 50 Prozent.

Marazzi setzt aufs Wohnen, für Zürich West ist das ein entscheidender Schritt in die richtige Richtung. Es sind nicht weniger als 623 Wohnungen geplant. Die Architekten verstehen die Coop-Areale als eine Verlängerung der Kernstadt nach Westen, sie wollen Stadt bauen, nicht Vorstadt. Sie schlagen sechs Baukörper vor, die harte, städtische Plätze einfassen, nicht ein Abstandsgrün begrenzen. Ihre Form ist nicht Willkür, sondern sorgt für geschlossene Stadträume, die sich voneinander unterscheiden. Im Vergleich zum Gestaltungsplan ist die Gebäudetiefe gewachsen, doch sind es statt acht nur noch sechs Gebäude, wodurch die Freiflächen grösser werden.

Kaum eine Wohnung gleicht der andern

Zwar ist jedes der sechs Häuser anders, doch gehor-chen die Wohnungen alle denselben Spielregeln. Sie nehmen endgültig Abschied vom Phantom der Familienwohnung, sie rechnen nicht mehr mit Mami, Papi und zwei ‹Chnöpf›. Die individualisierte Stadtwohnung für zwei bis drei erwachsene Urbaniten hat folgende Bestandteile:
Einen grossen Wohnbereich mit offener Küche, der womöglich von Fassade zu Fassade reicht. Sein Grundriss ist kein Rechteck, sondern ein geknicktes, oft mit nicht parallelen Wänden begrenztes Wohnfeld, das grundsätzlich auch die interne Erschliessung übernimmt. Eine Loggia als Aussenraum, gross genug für eine Tafel, nicht bloss für ein Tischlein. Ein offenes Zimmer, das heisst ein Raum, der vom Wohnbereich durch eine Schiebewand abgetrennt wird. Eines oder mehrere stille Zimmer, die – wie in einem Hotel – mit einer Sanitärzelle ausgerüstet sind und den Rückzug erlauben. Ausserdem Nasszellen und Küchenmöbel sowie die externe Wohnungserschliessung

Mit diesen Elementen spielen die Architekten alle nur denkbaren Möglichkeiten virtuos durch. Die Trennung in eine Tag- und eine Nachtzone ist aufgehoben. Die Grundrisse bewältigen auch Bautiefen von 40 Metern. Einkerbungen und Höfe in den Baukörpern sorgen für genügend Licht, doch nehmen die Erfinder – denn Erfindungen sind es – in Kauf, dass es in der Wohnung nicht überall ‹hell› ist. Sie streben eine Öffnung zum Licht an, nicht Ausleuchtung.

Innerhalb der gesetzten Regeln ist kaum eine der 623 Wohnungen gleich wie eine andere, doch gelten auch hier die Regeln der vernünftigen Statik. Es versteht sich von selbst, dass die Wohnflächen gross sind, genauer: Sie stellen einen weiteren Schritt zu mehr Wohnfläche dar. Das Gegenteil des Wohnungsbewertungssystems (WBS) des Bundes ist die individualisierte Stadtwohnung.

hochparterre, Do., 2005.06.16



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15. Dezember 2003Benedikt Loderer
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Holz trivialfilosofisch oder die zehn Weisen der Holzbewegung

Der Trivialfilosof erkennt in der Bewegung des Holzes viel Wahres und Tiefes. Einem alten Brauch folgend wird die Geistesbeute hier in zehn starken Sätzen vorgestellt.

Der Trivialfilosof erkennt in der Bewegung des Holzes viel Wahres und Tiefes. Einem alten Brauch folgend wird die Geistesbeute hier in zehn starken Sätzen vorgestellt.

I. Holz leidet
Holz, wenn es dem Menschen dient, ist der Endzustand seiner abgewürgten Aufwärtsbewegung. Wer den Baum fällt, beendet sein Wachstum, friert seine Entfaltung ein. Die Jahrringzähler sind die Chronisten des Baumlebens, das mit einem Mord endet. Ob gevierteilt, gespalten, zersägt, das Holz lässt sich seine Eigenbewegung durch keine Folter unterdrücken. Es leidet, doch es wehrt sich. Es schwillt und schwindet. Es muckt auf und wirft sich. Das verarbeitete Holz erinnert sich an sein Baumleben.
Darum muss es noch schlimmere Qual erdulden, denn der Mensch will ihm keine Eigenbewegung gestatten. Es wird zerrieben, gekocht, verleimt und gepresst. Erst als Holzwerkstoff ist es endlich tot und regt sich nicht mehr. Der Trivialfilosof erkennt: Ja, es gibt ein Leben nach dem Tode. Aber ewig ist es trotzdem nicht.

II. Holz widersteht.
Die nützlichste Bewegung des Holzes ist die Antibewegung. Holz wird besonders geschätzt, wenn es bleibt, wo es ist: im labilen Gleichgewicht. Die Wagen erschüttern die Brücke, doch die bewegt sie nicht. Der Flügel drückt auf die Balkenlage, doch sie gibt nicht nach. Der Schnee belastet das Dach, doch das wankt keinen Zoll. Stabilität ist alles, Bewegung ist nichts. Holz, das sich bewegt, ist schon verdächtig. Der Trivialfilosof erkennt: Die wichtigste Bewegung ist das Verharren.

III. Holz schwingt
Die widerspruchvollste Bewegung des Holzes ist die unsichtbare. Ein schnelles Zittern am Ort, das man Schwingung nennt. Man sieht sie nur mit den Ohren, denn sie bildet den Ton des Musikinstruments. Die Geige schluchzt, die Oboe näselt, der Kontrabass ergrimmt, aller Wohlklang strömt unsichtbar. Der Trivialfilosof erkennt: Kunst ist ein leises Zittern.

IV. Holz dreht
Das Mühlrad saust und ist trotzdem auf seine Welle aufgespießt. Das Spinnrad surrt und kommt nicht voran. Das Windrad stöhnt und bleibt, wo es ist. Das Holz dreht sich in rasendem Stillstand. Nicht alles, was sich bewegt, geht auch vorwärts. Der Trivialfilosof erkennt den tiefen Widerspruch: Drehen ist Stehenbleiben.

V. Holz befriedigt
Das Schaukelpferd stillt den Bewegungsdrang.
Der Hampelmann reckt seine Glieder zu des Kindes Entzücken. Die Watschelente wackelt freudestiftend. Die Ratsche dreht und lärmt. Die Bewegung geht ins Leere, doch sie findet ihren Sinn in sich selbst. Das Holz befriedigt motorisch. Der Trivialfilosof erkennt: Je nutzloser die Bewegung, desto sinnvoller wird sie.

VI. Holz geht
Das Holzbein marschiert. Das Wagenrad fährt.
Die Holzschuhe klappern fort. Das Skateboard saust. Der Spazierstock schreitet aus. Der Mensch benützt das Holz als Fortbewegungsinstrument. Holz kommt voran. Doch gilt das als selbstverständlich und keiner fragt, warum. Der Trivialfilosof erkennt: Der Mensch ist holzvergessen.

VII. Holz produziert
Der Bleistift zieht krause Linien und schafft damit den Brief. Der Pinsel fährt über die Leinwand und erzeugt das Bild. Das Zündholz setzt sich mit zuckender Bewegung in Brand und gibt durch Selbstmord dem Raucher Feuer. Das Holz bewegt sich als Werkzeug, geführt von Menschenhand. Der Trivialfilosof erkennt: Holz wird instrumentalisiert.

VIII. Holz fliegt
Nach dem Prügel und der Keule erfand der Mensch den Pfeil und den Speer. Der Nahkampf wurde durch Fernwirkung ersetzt. Fortschritt ist, wenn man außerhalb der Gefahrenzone bleibt. Die Entwicklung endet mit dem Bumerang. Er kehrt zurück, wenn er nicht trifft. Der Trivialfilosof erkennt: Sobald Holz fliegt, tötet es.

IX. Holz reist
Der Samenflug überwindet große Distanzen.
Der Mensch verpflanzt, importiert Samen und Bäume. Der botanische Garten ist das Asylantenheim des Holzes. Das Treibholz schwimmt ans fremde Ufer. Das Holz ist unterwegs und kennt keine politischen Grenzen. Nur das Klima kann es stoppen. Nur die Natur setzt Grenzen, nicht die Politik. Der Trivialfilosof erkennt: Holz ist der Stoff, aus dem die Freiheit geschnitzt ist.

X. Holz schrumpft
Wer es verbrennt, sieht, wie das Holz schrumpft. Seine Masse schmilzt, seine Widerstandskraft verraucht. Aus Masse wird Asche. Der Trivialfilosof erkennt: Der innere Wert des Holzes sind Wärme und Krümel.

zuschnitt, Mo., 2003.12.15



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19. September 2000Benedikt Loderer
TagesAnzeiger

Die subversive Manufaktur zweier Wiener

Drei Dinge sind eigentümlich am Schiffbau: der neue Beruf des Industrie- quartiers, die grosse Manufaktur und die subversive Klassik.

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