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17. September 2011Friedrich Achleitner
Spectrum

Das Leben zu verbessern

Anfang dieser Woche, am 12. September, ist Wolfgang Windbrechtinger im 89. Lebensjahr gestorben. Mit ihm verliert Österreich einen stillen, gesellschaftlich...

Anfang dieser Woche, am 12. September, ist Wolfgang Windbrechtinger im 89. Lebensjahr gestorben. Mit ihm verliert Österreich einen stillen, gesellschaftlich...

Anfang dieser Woche, am 12. September, ist Wolfgang Windbrechtinger im 89. Lebensjahr gestorben. Mit ihm verliert Österreich einen stillen, gesellschaftlich verantwortungsbewussten Architekten der „Kriegsgeneration“, die sich mit besonderem Engagement der Neudefinition einer sozialen Architektur widmete. Das Werk von Traudl und Wolfgang Windbrechtinger entstand in einer lebenslangen Partnerschaft. Ausgebildet in Graz, entwickelten sie ab 1956 in Wien, in der Steiermark und in Niederösterreich, in freundschaftlicher Beziehung zu Roland Rainer, eine gesellschaftlich engagierte Architektur, die sich als gründliche Verbesserung aller Lebensbedingungen verstand.

Ihre erste Arbeit, das Volksheim Kapfenberg (1957), wurde, mit drei weiteren Bauten aus Österreich, in den europäischen Architekturführer von Kidder Smith aufgenommen. Es folgten die Hallen-Kindergärten von Böhlerwerk, Amstetten, Obergrafendorf, Reihenhaussiedlungen, der „Volksheurige Bellevue“, das Einkaufszentrum Hietzing, in Wirklichkeit das Bezirkszentrum von Hietzing (künstlerische Zusammenarbeit mit Maria Bilger). Erste Haussanierungen in der Schönlatern- und Sonnenfelsgasse (innere Stadterneuerung), Freilegung der Virgilkapelle (Stephansplatz) und Mitplanung der ersten Fußgängerzone Wiens.

Die „Windbrechtingers“ waren Mitbegründer der Österreichischen Gesellschaft für Architektur (1965) und schufen unter anderem mit Viktor Hufnagl die impulsgebende Ausstellung „Neue städtische Wohnformen“ (1967). Windbrechtinger war einer der liebenswürdigsten Kollegen der Wiener Architektenschaft.

Spectrum, Sa., 2011.09.17

25. Juni 2005Friedrich Achleitner
Spectrum

Was heißt schon „Welt“?

Soll man jenen, die mit dem Schutz des Bestehenden befasst sind, auch die Zukunft überlassen? Schlagwort Weltkulturerbe: eine Attacke.

Soll man jenen, die mit dem Schutz des Bestehenden befasst sind, auch die Zukunft überlassen? Schlagwort Weltkulturerbe: eine Attacke.

Bekanntlich sind gute Absichten nicht unbedingt das Gute selbst. Deshalb möchte ich am Beginn meiner Bemerkungen und Fragen ausdrücklich feststellen, dass es hier nicht um eine Kritik an den Zielen von Unesco geht, sondern um die Artikulation eines Unbehagens im Zusammenhang mit dem Konstrukt Weltkulturerbe.

Es geht auch nicht um die Infragestellung des weltweiten Schutzes von kulturellem Erbe, sondern um die Ausdehnung dieses Schutzes etwa auf „lebendes Erbe“, wo sich also der „Schutz“ in eine Verhinderung entstehenden, künftigen Erbes verwandeln kann. Oder anders ausgedrückt: Sollte man jenen, die mit dem Schutz des Bestehenden befasst sind, auch die Zukunft überlassen? Die Zukunft kann keine Extrapolation aus dem Bestehenden sein, wenn sie sich nicht als Farce in das Bestehende einschmuggeln soll.

1. Was heißt „Welt“?

Der Begriff ist wohl im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Konkurrenz der aufstrebenden Nationalstaaten populär geworden: Weltausstellungen, Welthandel, Weltherrschaft (später: Weltkrieg), Weltuntergang. Und nicht zuletzt auch im Sport: Weltmeister. Welt ist auch ein enzyklopädischer Begriff, der in jeder Hinsicht Totalität anstrebt, mit eingeschlossen Hierarchien, Ordnungen, Wertungen, von Anfang an eurozentriert, was sonst. In einem kulturellen Kontext also Welt in den Mund zu nehmen ist nicht nur eine Anmaßung, sondern setzt sich dem Verdacht auf Blindheit oder Naivität aus.

2. Interessen und Interessenkollisionen

Weltkulturerbe ist kein Wert an sich, keiner, den die Länder (Staaten) a priori anerkennen - und wenn, dann unter sehr unterschiedlichen Bedingungen. Weltkulturerbe ist ein Prädikat, das zuerkannt wird. Damit werden die Verwalter dieses Weltkulturerbes zunehmend zu einem Verhalten genötigt, das sich diesen unterschiedlichen Interessen anpasst. Aber welche Interessen sind es dann wirklich? Welche Gründe gibt es, um für dieses Prädikat anzusuchen? In dieser Frage steckt der Wurm. Es geht nicht um den Glanz und die Verpflichtung, dokumentiertes und ausgezeichnetes Kulturgut zu erhalten - kein Land weiß mehr, wie es die Mittel für die Erhaltung seiner Kulturgüter aufbringen soll -, sondern es geht um einen handfesten Rollenwechsel, von einer idealen auf eine reale Ebene, es geht um Wirtschaft, Werbung und Tourismus. Das ist nicht unehrenhaft, aber es stellt die Sache auf den Kopf. Und der Teufelskreis schließt sich, wenn man sich aus dem Effekt der Auszeichnung die ökonomische Basis für die Erhaltung verspricht.

Damit verbunden ist ein neoliberalistisches Denken: Die Staaten, Städte und Gemeinden wollen eigentlich dieses Erbe loswerden, das Weltkulturerbe wird zunehmend in eine ökonomische „Selbstständigkeit“ entlassen (siehe Schönbrunn). Es soll also, wenn es überleben will, selbst für sich arbeiten. Und gerade dieser Rollenwechsel bedeutet eine Entfremdung, die auf lange Sicht zur Zerstörung führen muss.

3. Theorie und Praxis

Die vorläufige Liste des „Erbes der Welt“ umfasst bisher (nach Manfred Wehdorn) 754 Denkmäler von 128 Staaten. Auf einer „Warteliste“ stehen 1325. Und das Interesse, der Druck wird immer größer. Wie man erfährt, sollen in Zukunft nur rund 30 Objekte pro Jahr in die Welterbeliste aufgenommen werden. Was bedeutet das?

Der Zugang zu dieser Liste ist also praktisch auf ein halbes Jahrhundert blockiert. Da es dabei, wie gesagt, um handfeste wirtschaftliche Interessen geht, kann man sich ungefähr ausmalen, was hier für politische und ökonomische Lobbys in Bewegung gesetzt werden. Das Entscheidungsgremium besteht aus etwas mehr als 20 Personen, die, wie man versichert, Funktionäre der Unesco und keine Fachleute sind. Auch das noch.

4. Ein paradoxer Zustand

Einerseits wird versichert, dass es sich bei der Weltkulturerbe-Kommission um ein beratendes Organ ohne Entscheidungskompetenz handelt (also ein in Wirklichkeit zahnloses Instrument), andererseits wird das Auftreten dieser Scheininstitution medial so aufgewertet, dass jede Stadtregierung zittert, wenn dieses oberste Weltkulturorgan mit der Drohung auftritt, das Prädikat Weltkulturerbe (bei entsprechendem Missverhalten) wieder abzuerkennen (Schauplatz: Wien Mitte). Nun könnte man zynisch anmerken, ein Instrument für Drohgebärden kann in manchen Fällen ganz nützlich sein, aber ich fürchte, das wird sich herumsprechen.

5. Aufwertung ist gleich Abwertung

In dem nützlichen „Stadtführer durch das Weltkulturerbe der Unesco Wien“ ist dem Grafiker ein Lapsus passiert. In der Luftaufnahme Wiens ist die Kernzone rot eingerandet und dunkelgrau „hinterlegt“, die Pufferzone blau eingerandet und hellgrau unterlegt, während die nicht tangierten Stadtteile in voller Schärfe erscheinen. Auf den ersten Blick bekommt man einen Schreck, man glaubt, in Wien hat eine Bombe eingeschlagen: Die Kernzone ist ausradiert, die Pufferzone zeigt noch spärliches Leben. Botschaft: Wenn die Bombe Weltkulturerbe eine lebendige Stadt trifft, sieht es später einmal so aus.

Das ist natürlich eine maßlos übertriebene und zynische Bemerkung. Das Bild wollte gerade das Gegenteil vermitteln. Aber dann wäre der Kern übrig geblieben und die Stadt wäre verschwunden. Also doch eine Botschaft? Diese liegt im Hervorheben! Wenn man etwas hervorhebt, wird mit dieser Auszeichnung etwas anderes abgewertet. So werden Teile der Wiener Bezirke von drei bis neun zu einer „Pufferzone“ degradiert. Zonen, die man aber für ihre Lebensqualität weltweit „feiern“ müsste. Und das andere Wien ist überhaupt kein Thema mehr.

Diese Problematik überträgt sich beim Konstrukt Weltkulturerbe auf die ganze „Welt“. Wenn man die zahnlosen Instrumente der Bewertung bedenkt, kann das nur in einem Desaster enden. Die Konsequenz daraus wäre, den ganzen Globus zum Weltkulturerbe zu erklären und die ganze einseitige, überbetont kunsthistorisch-ästhetische Betrachtung aus der Welt zu schaffen.

Aber die Unesco kümmert sich doch auch schon um die Natur? Eben, man muss sich um alles kümmern, wenn man das Besondere erhalten will. Denn dass beim Absterben des Erdballs das Weltkulturerbe übrig bleibt, wird ja niemand ernsthaft annehmen.

6. Definitionskompetenz, Definitionsmacht?

Während die auf wackeligen Beinen stehende, kritisch zu hinterfragende und nur durch Schein legitimierte Definitionskompetenz sich langsam in eine Definitionsmacht verwandelt und zu einer Art „ästhetischer Weltregierung“ mutiert, führen die daraus resultierenden Maßnahmen in ein unüberschaubares Desaster. Die neoliberalen Strategien der „Verwertung“ sind in Wirklichkeit auf Jahrzehnte angelegte Zerstörungsstrategien. Man kann auf dieses Problem nur mit Nachdruck hinweisen. Eine Studie „Was nützt das Weltkulturerbe - und was richtet es an?“ wäre dringend zu empfehlen.

Jede Verleihung des Prädikats Weltkulturerbe trägt ein ökonomisches Versprechen in sich und weckt Begierden und Hoffnungen bei anderen. Die Ernennung zum Weltkulturerbe rückt ein Objekt, eine Stadt oder eine Landschaft im weltumspannenden Wertenetz in zentrale Positionen, macht sie (was man ja will) zu begehrten touristischen Zielen, man schafft also die Garantie, dass Millionen von Menschen dieses Erbe zertrampeln, und was nicht von den Menschen selbst angerichtet wird, schaffen Erschließung und Infrastruktur, Neben- und Versorgungseinrichtungen. Es wären also, wollte man wertvollstes Kulturerbe wirklich schützen, Gegenstrategien angesagt: Verheimlichung, Streichung aus den touristischen Verteilernetzen, generelle Sperrung, selektive Zugänglichkeit (etwa nur für Studienzwecke) und vieles mehr. Es stellt sich die Frage, ob Strategien, die auf Konkurrenz und Gewinn aufbauen, dies jemals leisten können. Sicher nicht.

Wenn man schon vom Schutz kulturellen Erbes spricht, müsste man auch viele andere Aspekte bedenken, etwa die der symbolischen Verwundbarkeit von Staaten, Kulturen, Religionen. Welche Rolle spielen „Bestenlisten“ in einem solchen Kontext, oder welche könnten sie spielen? War es ein Zufall, dass im letzten Jugoslawien-Krieg die Generäle bevorzugt ihre Kanonen auf jene Objekte richteten, an denen die blauweißen Schilder der Unesco angebracht waren? Was bedeutet in einem solchen Kontext Schutz wirklich? Von den Horrorbildern aus den irakischen Museen gar nicht zu reden.

Mir scheint, das Wettrennen um das Prädikat Weltkulturerbe ist nicht nur ein törichtes, sondern letztlich auch ein gefährliches Spiel. Weltweite Aufmerksamkeit ist keine Garantie für Sicherheit, eher eine für die langsame Zerstörung. Die Millionen schwitzender Menschen, die durch Schönbrunn geschleust werden - und die zu 95 Prozent nicht einmal wissen, warum - sind weder kulturell noch ökonomisch argumentierbar. Sicherheit oder eine Art Trost läge in einer totalen Inflation von Weltkulturerbe, dass alle Artefakte wieder in eine relative Bedeutungslosigkeit zurücksinken.

So wie man den Museen erlauben sollte, sich Bordelle oder Spielcasinos zu halten, statt sie selbst auf den Strich zu schicken, so sollte man auch für die Erhaltung des „Weltkulturerbes“ andere Finanzierungsstrategien als jene peinliche „Weltmeisterschaft“ entwickeln, die sich als Instrument der Selbstzerstörung erweisen wird. Wenn der Begriff Welt in diesem Zusammenhang einen Sinn hat, dann jenen, dass diese Welt für ihr Erbe zu sorgen hätte, und zwar ohne dieses auf den Weltmarkt zu werfen.

Dazu wären aber andere Institutionen aufgerufen als Vereine von Kunsthistorikern und Denkmalpflegern. Und man sollte den Begriff des Erbes auf die toten Zeugen der Weltkulturen beschränken und alles aus dem Spiel lassen, das noch künftiges Weltkulturerbe produziert.

Spectrum, Sa., 2005.06.25

15. März 2005Friedrich Achleitner
zuschnitt

Mischung, Mischbau, Mischkulanz ..?

Wenn man über Mischung nachdenkt, kommt man zwangsläufig zum Begriff der Reinheit, und damit betritt man philosophischen, wenn nicht gar ideologischen...

Wenn man über Mischung nachdenkt, kommt man zwangsläufig zum Begriff der Reinheit, und damit betritt man philosophischen, wenn nicht gar ideologischen...

Wenn man über Mischung nachdenkt, kommt man zwangsläufig zum Begriff der Reinheit, und damit betritt man philosophischen, wenn nicht gar ideologischen Boden. Ich vermute, Reinheit ist, abgesehen vom bayerischen Reinheitsgebot beim Bier, eine Entdeckung der Moderne, also des neunzehnten Jahrhunderts.

Klassifizierungen, Unterscheidungen, Beschreibungen von Merkmalen, ob in der Zoologie oder in der Architektur, verleiten zur Reinheit. Die Moderne hat in ihrem wissenschaftlichen Radikalismus vermutlich nicht nur die Reinheit entdeckt, sondern sie auch zum Prinzip, zu einem ihrer Gesetze erhoben: Die Reinheit der Nationen, der Rassen, der Ethnien und Religionen und, natürlich auch, der Verwendung von Materialien. So führten die großen Entdeckungen des neunzehnten Jahrhunderts (nicht nur jene von Gregor Mendel) in die Katastrophen des zwanzigsten. Der ordnende Geist kennt keinen Spaß, ist auf Grund seiner schlichten Regelhaftigkeit immer intolerant, ausschließend, solchermaßen erkannte Ordnungsprinzipien sind eine todernste Angelegenheit. Und die Utopien der Reinheit sind heute noch virulent, gerade bei »hoffnungslos« vermischten Völkern, und Jugoslawien, so ist zu befürchten, wird nicht das letzte Beispiel gewesen sein. Man könnte also auch die Reinheit als den großen, katastrophalen Irrtum der Moderne bezeichnen.

Mischen hat mit Vermischen zu tun, und dem Mischling ist nach den Gesetzen der Reinheit nicht zu trauen. Warum? Er kann sich einfach nicht für die eine oder andere Reinheit entscheiden, er bleibt damit allen Reinheiten suspekt. Die Reinheit als absolute Qualität. Nur: Reiner Blödsinn ist auch rein.

In ästhetischen Bereichen, etwa in der Architektur, geht es zwar nicht so blutrünstig zu, aber nicht minder streng. Der »Sündenfall« begann vermutlich mit der Entdeckung der sogenannten anonymen Architektur, ein Widerspruch in sich selbst. Man entdeckte die Regeln des Bauens in Holz, Stein oder Lehm und vermutete (hinter der Armut) paradiesische Zustände. Die berühmte Not, die für den Ästheten zur Tugend wird. Der Zwang, nur in einem Material bauen zu müssen, provoziert handwerkliche Fähigkeiten, Erfindungskraft, ja Listen und Tricks. Die slowakischen Artikularkirchen, die Dörfer im rumänischen Karpatenbogen oder die norwegischen Stabkirchen (gar nicht zu reden von den japanischen Holzbauten) bringen den ästhetischen Blick zum Glänzen. Doch die Materialreinheit ist auch bei den klassischen Holzbauten ein visionäres Konstrukt: Es gibt auch bei ihnen Stein, Beton, Glas, Papier und Metall, und vor allem die Farbe. Zumindest gilt dies für bewohnbare Architektur.

Es ist ja nicht zu leugnen, dass Bauten in einem Material gerade vor dem Hintergrund der Fülle, der Opulenz oder Überstrapazierung und Vergeudung, ein wiederkehrender Traum des Architekten bleiben werden. Auch das Weglassen, das Ausreizen eines Baustoffs, seine sinnstiftende Allgegenwart ist oder kann eine hohe Kunst sein. Aber Venedig wird deshalb nicht untergehen. Und man kann darüber streiten, ob die Kombination verschiedenster Materialien nicht die noch »höhere«, weil komplexere Kunst ist, als die eindimensionale, unduldsame, in ihrer Selbstgerechtigkeit eines Werkstoffs. Man könnte auch behaupten, wenn sich die Einheit eines Materials an einem baulichen Thema »abarbeitet«, so entsteht eine Art von Harmonie, die ihren ästhetischen Seelenfrieden in sich selbst findet, im Glanz einer perfekten Dinglichkeit, die von nichts bedroht erscheint. Bei der Mischung von Materialien treten nicht nur technische, technologische (handwerkliche) Konflikte auf, sondern vor allem kulturelle. Jedes Material hat seine Geschichte, ist vielfältig »belastet«, ja kann zeitweise tabuisiert sein (etwa der römische Travertin oder die Solnhoferplatten nach 1945), so dass jede Mischung a priori Konflikt bedeutet. Gottfried Semper sah in der Form die Überwindung des Stofflichen, was auch den Stoffwechseltheorien neue Spielwiesen eröffnete. Damit wäre die Diskussion in der ihn überholenden Moderne eigentlich selbst schon überholt gewesen.

So gesehen war der Streit um die Materialgerechtigkeit im zwanzigsten Jahrhundert ein Rückfall, um nicht zu sagen ein Holzweg. Damit fiel ein ganzes Jahrhundert auf die Nase. Das Material will (das ist eine strafbare Behauptung), um all sein Können zu zeigen, zu entfalten, überlistet, betrogen, überfordert werden. Wo bleibt da die Gerechtigkeit, wenn plötzlich Holz wie Stein, Lack wie Marmor oder Kunststoff wie Holz erscheinen will? Wer hätte das gedacht: die ganze Materialgerechtigkeit eine Trickkiste?

Es gibt offenbar in unserer mitteleuropäischen Baugeschichte eine Kontinuität und das ist die lineare Koexistenz der Abwechslung: Auf die katholische Üppigkeit folgt protestantischer Purismus, auf Gegenreformationen der Materialien die Doktrin ihrer vernünftigen und sparsamen Verwendung, auf Fülle und Opulenz Sparsamkeit und Reduktion. Flut und Ebbe haben ihre kosmische Konstanz im Wechsel. Sag mir keiner, die Wahrheit liegt diesmal in der Mitte. Das sicher nicht.

zuschnitt, Di., 2005.03.15



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27. Mai 2004Friedrich Achleitner
Der Standard

Ein Brauhaus wird zum Schauarchiv

Die architektonische Szene hat sich in Tirol in den letzten zehn Jahren radikal verändert, nicht zuletzt durch die intelligente und hartnäckige Arbeit...

Die architektonische Szene hat sich in Tirol in den letzten zehn Jahren radikal verändert, nicht zuletzt durch die intelligente und hartnäckige Arbeit...

Die architektonische Szene hat sich in Tirol in den letzten zehn Jahren radikal verändert, nicht zuletzt durch die intelligente und hartnäckige Arbeit des Architekturforums Tirol: Ausstellungen, Vorträge, Publikationen, Führungen zu Baustellen und beispielhaften Bauten, Betreuung von Gästen und ständige Präsenz in Sachen Architektur.

Nicht nur durch die „Bergisel-Schanze“ von Zaha Hadid hat Innsbruck ein neues Wahrzeichen bekommen. Mit der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät Sowi der Architekten Henke und Schreieck wurde ein neuer vitaler Stadtraum geschaffen, der Bahnhof mausert sich zum attraktiven Entree in die Stadt.

Banken, Buchläden, Rathaus, Stadthäuser, Wohnanlagen, ja eine Krankenhauserweiterung und ein Umspannwerk der Stadtwerke zeigen Profil und reden im baukulturellen Angebot der Stadt mit.

Nicht anders auf dem Land: Hier wird die MPreis-Kette schon mehr mit Architekturpreisen als mit Lebensmitteln assoziiert. Es gibt Sport- und Ortszentren, Hotels und Kindergärten, die die Quälereien mit dem regionalen Baukitsch vergessen machen.

Sogar dem größten Tiroler Architekten des 20. Jahrhunderts, Lois Welzenbacher, wird im letzten Moment der verdiente Respekt erwiesen: Das Parkhotel in Hall in Tirol (ehemals Turmhotel Seeber) ist nicht nur vorbildlich revitalisiert, sondern hat mit respektvoller formaler Distanz einen kontrapunktischen Zwilling bekommen.

Architekturspeicher

Die interessanteste Baustelle ist in diesem Zusammenhang der Umbau eines weiteren Welzenbacher-Baus, das Sudhaus vom ehemaligen Adambräu in der Nähe des Bahnhofs.

Welzenbacher hatte eigentlich nur für den markanten technischen Turmbau eine visuell prägnante Hülle geschaffen, die sich im Stadtraum auf einem hohen architektonischen Niveau behauptet.

Der obere Teil des Baus war der Speicherung (Silos für Weizen, Malz etc.) und der Beförderung vorbehalten, während sich im unteren das Sudhaus mit riesigen Kupferkesseln befand. Hier wurde großzügig Einblick in den Brauprozess gewährt - saubere Produktion als Werbung.

Die Adaptierung des Gebäudes als Archiv der Architekturfakultät Innsbruck und als Sitz des Architekturforums Tirol transformiert den Baugedanken in einer eindrucksvollen Weise: In den oberen Teil des Baus kommt das Archiv, also die Sammlung des architektonischen Wissens (die Silos mutieren tatsächlich zu Archivräumen), im unteren Teil - in einer offenen, großzügigen, in versetzten Ebenen organisierten Raumgruppe - geschieht dessen Vermittlung und Ankoppelung an das Kulturleben der Stadt.

Der Standard, Do., 2004.05.27



verknüpfte Bauwerke
Adambräu – Umbau Sudhaus

11. Dezember 2002Friedrich Achleitner
ORF.at

Einfachheit, oder?

Die Einfachheit ist alles andere als einfach.

Die Einfachheit ist alles andere als einfach.

Spätestens seit dem 19. Jahrhundert ist sie Antwort auf eine Vielfalt, die in der kulturellen Dynamik der immer mehr wuchernden ästhetischen Produktion der modernen Gesellschaft entsteht.

Einfachheit ist Konzentration, Fokussierung, Auswahl und Ausschluss, Klärung, Übersicht, ja Konzentration, Opposition und Verdichtung. Das Einfache ist nicht mehr das Selbstverständliche, Einfältige, Gottgegebene. Wie wäre es sonst anders zu erklären, dass die Einfachheiten immer wieder als große Anstrengungen auftreten, ja oft mit dem Anspruch einer neuen Weltsicht. Das Einfache ist aber auch mit puritanisch-moralistischen Strömungen verwandt, nicht selten mit einem religiös-messianischen Charakter, humorlos und ausschweifend asketisch, aber diese Varianten gedeihen hierzulande ohnehin schlecht.


Zwischen Sinnlichkeit und Nüchternheit

Aber die Spannungen zwischen barock-expressiver Sinnlichkeit und protestantischer Nüchternheit bestehen in der österreichischen Architektur weiter, auch wenn die Lager schon längst geräumt sind.

Und ob die programmatische Einfachheit einiger jüngerer Grazer Architekten eine existentielle Reaktion auf die „Heroen“ der sogenannten „Grazer Schule“ ist, sei dahingestellt, denn auch Graz ist kein geschlossener und versiegelter Kulturraum, so dass es sich dabei nur um regionale Konflikte handeln könnte.


Unangestrengte Selbstverständlichkeit

Wie immer, das Bundesoberstufenrealgymnasium gehört zu den Bauten mit einer zunächst „einfachen“, klaren Erscheinungsform, wobei aber die ästhetische Stringenz nicht zelebriert wird, sondern eine fast beiläufige unangestrengte Selbstverständlichkeit signalisiert.
Hans Gangoly hat schon bei anderen Bauten bewiesen (Atelierhaus in Stoob, Stadtmühle Graz, Wohnhaus Defreggergasse Graz oder bei Einfamilienhäusern), dass er in einer scheinbar pragmatischen (in Wirklichkeit inhaltlich präzisen und schlüssigen) Weise auf landschaftliche Situationen oder einen Baubestand zu reagieren vermag.

Die Schule steht in einem ehemaligen Industriegebiet mit großen Hallen - auch der ältere und neu vordringende Wohnbau zeigt Massen - ein Gebiet, das sich in einer strukturellen Veränderung befindet. In diese Situation ist ein schlichter, gestreckter, viergeschossiger Block (70 Meter lang, 20 Meter breit) gesetzt. Über dem erhöhten, verglasten Eingangsgeschoss (das Erdgeschoss liegt darunter) zwei „schwebende“ Klassengeschosse.


Raumkontinuum

Der Block teilt das leicht abgesenkte Grundstück in zwei sehr unterschiedliche Freiflächen. Die westliche, etwas nach Süden gedrehte, ruhige und besonnte (etwa ein Drittel große) ist ein behutsam gestalteter Grünraum, die (nord-)östliche, parallel zur Wagner-Biro-Straße liegende, mehr dem Lärm ausgesetzte und etwa doppelt so große, ist mit Turnhallen und Turnplätzen, und einer gedeckten Rampe mit Fahrradstellplätzen zu einem interessanten Raumkontinuum vernetzt.

Der Zugang, auf der Stirnseite im Norden, eröffnet das Thema der räumlichen Schichtung: Man betritt einen ansteigenden etwa quadratischen Platz, der direkt in den großzügigen gedeckten Eingangsbereich führt. Ein ebenerdiger, querliegender Verwaltungstrakt begrenzt rechts den Parkplatz und den dahinter liegenden, abgeschirmten Grünraum, gegenüber führt die Rampe ins Erdgeschoß und zu den Sportanlagen.


Ambivalenz und Mehrdeutigkeit

Das erste Obergeschoss, von der Straße aus auf halber Höhe, ist also die Zone mit den halböffentlichen Einrichtungen der Schule (Bibliothek, Mehrzwecksaal, Musikräume etc.) und komplett verglast. Diese Maßnahme macht nicht nur die Funktionen mit einem Blick sichtbar, sondern stellt auch einen großzügigen Bezug zum Außenraum her.

Erst innen entdeckt man die betonte Topografie des westlichen Grünraums und im Osten die Schichtung der Freiräume. Die Eingangsebene selbst hat urbanen Charakter, die Raumgruppen definieren sich als geschlossene und unabhängige Volumen, der „geflutete“ Raum dazwischen hat Enge und Weiten, Nischen und Aussichtsplätze, Offenes und Geborgenes.


Räumlicher Impuls

Das scheinbar simple Konzept der Positionierung eines schlichten Blocks auf einem trapezförmigen Grundstück in einer eher belanglosen städtebaulichen Situation, entpuppt sich als ein vielfältiger räumlicher Impuls sowohl in der Horizontalen als auch in der Vertikalen.

Die radikale sandwichartige Schichtung wird zum Impuls für den ganzen Umraum, der in seiner scheinbaren funktionalen Fixierung überall Offenheit, Ambivalenz und Mehrdeutigkeit zeigt. Der Block erscheint trotz des verglasten Geschosses geschlossen.


Die Umsetzung

Dies wird einerseits durch die bündig liegende Verglasung erreicht, andererseits aber durch die das Volumen betonende Aluminiumhaut, die tiefen Fensterleibungen, die liegenden raum-(klassen-)bezogenen Fenster. Sowohl die Teilung der Aluplatten als auch die Fensterteilungen sind unabhängig von der dahinter liegenden Skelettstruktur.

Der außen liegende Sonnenschutz ist ein weiteres Element der Betonung des Fassadenreliefs, bzw. der visuellen Präsenz der „Haut“. So verkehrt sich die „Primärerscheinung“ des scheinbar so einfachen Konzepts in einen oszillierenden Detailreichtum voller ästhetischer Überraschungen. Innen ist es ähnlich. Allein die als Schränke ausgebildeten Gangwände der Klassen mit Oberlicht und unterschiedlichen Nischen, die den Gang zu Raum aufwerten, gehen spielerisch mit dem stringenten Skelett um, das in den beiden Klassengeschossen nur mehr durch runde Stützen sichtbar wird, die ihre Regelmäßigkeit im System fast kokett als Zufall erscheinen lassen.


Gangolys Prinzip

Vielleicht ist es das vorherrschende architektonische Prinzip der Bauten von Hans Gangoly, dass sie in den primären Entscheidungen großzügige Strukturen, Flächen, Öffnungen, Böden, Wände und Decken anbieten, sozusagen als Grundgarantie für zu erwartende Nutzungen, die aber dann auf einer zweiten Ebene der Eingriffe „aufgeladen“, konterkariert, freigespielt und relativiert werden, so dass das, was man als allzu rationalistisch denunzieren könnte, sich als reiche, vielfältige, ja sinnliche Architektur erweist.


[Den Originalbeitrag von Friedrich Achleitner finden Sie in architektur aktuell, Österreichs größter Architekturzeitschrift.]

ORF.at, Mi., 2002.12.11



verknüpfte Bauwerke
BORG Dreierschützengasse, Graz

09. November 2002Friedrich Achleitner
Der Standard

Der missverstandene Unversöhnliche

Teil 28 der Serie: Adolf Loos war nicht nur Architekt, sondern auch ein genialer „Sprachmensch“

Teil 28 der Serie: Adolf Loos war nicht nur Architekt, sondern auch ein genialer „Sprachmensch“

Adolf Loos, der wortgewaltige Verkünder, Kritiker und Moralist, Satiriker, Verehrer der Brüder Grimm, Freund Karl Kraus' und Peter Altenbergs, Förderer von Oskar Kokoschka und Kämpfer für den Neutöner Schönberg, Kitschsammler, Reformer von Bekleidung und Küche, siedlerbewegter Bonvivant und Antikunstgewerbler etc. etc. ist wahrscheinlich dafür mitverantwortlich, dass heute oft mehr gelesen wird, was Architekten schrieben, statt bei ihren Bauten nachzuschauen. Loos zu lesen ist immer ein Vergnügen, obwohl man sich weniger um seine „Wahrheiten“ kümmern sollte als um die Art, über Stadt, Kultur, Gesellschaft, Kunst und Architektur nachzudenken. Etwa sein Aufsatz Der Sattlermeister ist nicht nur eine Satire von Nestroyschem Format, sondern auch ein faszinierendes Modell für die Darstellung kultureller Probleme.

1870 in Brünn als Sohn eines Steinmetzen geboren und neben (oder in?) der Werkstatt seines Vaters aufgewachsen, gehörte zwar der Generation der Erben der Gründergeneration an, aber er verfügte nicht wie viele seiner Zeitgenossen der Wiener Gesellschaft (etwa Karl Kraus) über ein Vermögen, das er nach seinem Gutdünken ausgeben oder verbrauchen konnte. Im Gegenteil, er wurde nach einem Konflikt mit seiner Mutter (er war Halbwaise) praktisch enterbt und ging so als 23-Jähriger zu einem Onkel nach Amerika, um sich dort drei Jahre lang mit allen möglichen Beschäftigungen (vom Tellerwäscher und Komparsen bis zum Journalisten) durchzuschlagen.

Mehr als die Bauten der im Zenit stehenden „Schule von Chicago“ beeindruckte ihn offenbar die amerikanische Kultur - europäisch ausgedrückt, der Standard der Zivilisation - sodass er nach seiner Rückkehr nach Österreich in Wien eine Art fundamentaler Kulturkritik auf breitester Basis eröffnete. Er kritisierte nicht nur das damals neu aufblühende Kunstgewerbe, sondern auch die Tischsitten, die Wiener Küche, das Schuhwerk, die Bekleidung und vor allem das Vordringen der Kunst in den Alltag einer Großstadt. In Wien wurde er schockartig mit einer „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ konfrontiert, die kulturellen Zustände der Klassen und Stände trennten nach seiner Anschauung oft Jahrhunderte, sodass er sich bald genötigt sah, DAS ANDERE. Ein Blatt zur Einführung abendländischer Kultur in Österreich (1903) herauszugeben, das allerdings nur zwei Ausgaben erlebte. Er wandte sich vor allem gegen die oberflächliche Ästhetisierung des Lebens, die ihm in allen Bereichen die „Wiener Secession“, später die „Wiener Werkstätte“ und der „Werkbund“ zu verkörpern schien. Maßstab war ihm einerseits das zum Teil von diesen Strömungen unberührte oder gefährdete Handwerk, andererseits aber auch der vorurteilslose Gebrauch der Güter des Fortschritts im amerikanischen Alltag.

Karl Kraus eröffnete zu dieser Zeit seinen „Feldzug“ gegen den Missbrauch der Sprache durch den Journalismus mit einer ähnlich moralisierenden Position und vor allem mit einer unerbittlichen und unnachahmlichen satirischen Schärfe. Karl Kraus war auch gerade dabei, den Großmeister des Wiener Volkstheaters, den abgründigen satirischen Dialektiker der Metternich-Ära, Johann Nepomuk Nestroy, wiederzuentdecken, sodass Adolf Loos, auch von seinen Anlagen her ein genialer Sprachmensch, sicher in diesem Milieu die Instrumente für seinen privaten, aber öffentlich geführten Kulturkampf finden konnte.

Dass Adolf Loos nicht nur ein anerkannter, wenn auch sehr umstrittener Architekt, sondern eine zentrale Figur des Wiener Kulturlebens war, beweisen die Absender der zahlreichen Grußadressen zu seinem 60. Geburtstag mehr als ein langer Beschreibungsversuch seiner gesellschaftlichen Position: Neben den wenigen Architekten Josef Frank, Bohuslav Markalous, Jacobus Johannes Pieter Oud, Gustav Adolf Platz und Bruno Taut findet man vor allem aus Literatur, Musik und Kunst die Namen Hermann Bahr, Anna Bahr-Mildenburg, Alban Berg, Max Brod, Max Eisler, Ludwig Ficker, Gustav Glück, Johannes Itten, Julius Klinger, Karl Kraus, Else Lasker-Schüler, Mechthilde Lichnowsky, Maurice Maeterlinck, Karin Michaelis, Alfred Polgar, Ezra Pound, Marcel Ray, Richard von Schaukal, Robert Scheu, Helene Scheu-Riesz, Arnold Schönberg, Rudolf Serkin, Otto Stoessl, Max Thun-Hohenstein, Tristan Tzara, Anton Webern und Stefan Zweig.

Wer Adolf Loos gelesen hat und von seinen Aufsätzen immer wieder in einen gebannten Zwiespalt von Bewunderung und Irritation versetzt wird, trägt zumindest die Erinnerung an erbarmungslose Satiren, ja an einen unversöhnlichen Sarkasmus, aber auch an Verkündungspathos und wenig Selbstironie mit sich, sodass sein architektonisches Werk scheinbar in den Hintergrund tritt. Und wenn sein legendäres Haus am Michaelerplatz nicht in einer faktischen Opposition zur Neuen Hofburg errichtet worden wäre, hätte er vermutlich gar nicht so viel darüber geschrieben, als ihm von der empörten Öffentlichkeit abgenötigt wurde.

Adolf Loos, der nie behauptet hat, dass Ornament Verbrechen sei (man sehe sich seine Arbeiten an), ist vielleicht der missverstandenste Architekt der Wiener Architektur. Geschieht ihm schon recht, könnte man wienerisch höhnen, warum hat er so viel geschrieben. Sogar sein Hauptwerk, das „Looshaus“ am Michaelerplatz, ist vielleicht gar nicht sein Hauptwerk und sollte nicht nur im Kontext des „Fortschritts der Moderne“ gelesen werden. Es ist in erster Linie ein gewichtiger Kommentar zur Wiener Kultur der Jahrhundertwende, ein Monument des Schweigens und Andeutens, der verschlüsselten Botschaften, ein Dialog mit der Geschichte der Stadt, politisch und kulturell, soweit man beides trennen kann. Adolf Loos' architektonisches Vermächtnis bleibt vermutlich der Raumplan, ein Thema der Raumkunst, das er in das Bewusstsein des 20. Jahrhundert hineingetragen hat. Ein archaisches Thema, schon in Knossos oder beim Erechteion hoch entwickelt, das zu seiner Zeit einen gewaltigen Fortschritt in der räumlichen Organisation des modernen Hauses darstellte und das über die Werkbundsiedlung ein Thema im engagierteren Wiener Wohnbau geblieben ist. Oder sein zu seiner Lebensführung konträr stehendes soziales Engagement in der Siedlerbewegung mit dem Ziel, über ein extrem ökonomisches Raumdenken dem Arbeiter den Luxus bürgerlichen Wohnens zugänglich zu machen. Oder die Rolle des Architekten als praktischer Berater, Architektur als Dienstleistung; das klingt eigentlich alles sehr heutig. Vorausgesetzt, man versteht nicht alles, was Bauen ist, ja was gebaut wird, als Architektur.

Adolf Loos hat bis zu seinem Tode 1933 von der Tschechoslowakischen Republik eine Ehrenpension erhalten. Sein Haus Müller in Prag ist vorbildlich restauriert und zugänglich. So wie es die österreichische Zweite Republik nicht schaffte, das Wittgensteinhaus zu erwerben, wurde auch das Haus des Tristan Tzara in Paris für unsere Diplomatie als ungeeignet erklärt. Das Wiener Looshaus ist sensibel renoviert und in einem guten Zustand, schade dass der Schriftzug auf der Stirnseite nicht mehr auf die Erbauer, sondern auf die heutigen Eigentümer verweist. Und der geradezu spießige Blumenschmuck ist ein Treppenwitz der Geschichte: Die magistratische Auflage, dass in den verordneten Blumenkistln auch Blumen sein sollen, wurde von Goldman & Salatsch in Solidarität mit dem Autor und mit Architekturverständnis nobel ignoriert, dann vergessen. Jetzt wird die amtliche Verschandelung des Hauses brav befolgt. Wagrein triumphiert. Und Adolf Loos sorgt immer noch für Missverständnisse. []

Friedrich Achleitner ist Architekturtheoretiker, Autor und Mitglied der legendären Wiener Gruppe.

Der Standard, Sa., 2002.11.09

27. November 2000Friedrich Achleitner
ORF.at

Zum Werk von Josef Lackner (1931-2000)

Friedrich Achleitner über den Tiroler Architekten Josef Lackner.

Friedrich Achleitner über den Tiroler Architekten Josef Lackner.

Wahrscheinlich wird man erst mit einiger Zeitdistanz das Vakuum wahrnehmen, das Josef Lackner durch seinen Tod hinterlassen hat. Jo, wie ihn seine Freunde nannten, hatte eine merkwürdige Präsenz: Auch wenn es öfters still um ihn geworden war - „Durststrecken“ sind in seiner Biographie genug zu entdecken - war er in Tirol als eine Art „Über-Ich“ für die Architekten vorhanden, nicht nur durch die Maßstäbe, die er durch seine Bauten gesetzt hat, sondern auch durch seine Wortmeldungen, meist nicht zur Freude der Betroffenen, denn seine Kritik traf den Nagel immer auf den Kopf, wenn auch häufig der Hammer für den Nagel viel zu groß war.

Seine originellen Gedanken, oft wie Querschläger die Szene aufschreckend, konnte man ablehnen, aber ihrer Wirkung konnte man sich nicht entziehen. Er besaß die entwaffnende Logik eines geradlinigen Denkers, erst ihre raffinierte verbale Verpackung verriet feinere und komplexere Strukturen dahinter.


Wiener Schule

Josef Lackner hat mit Johannes Spalt, Johann Georg Gsteu, Friedrich Kurrent, Wilhelm Holzbauer, Otto Leitner, Gustav Peichl und anderen bei Clemens Holzmeister studiert. Soweit sich Holzmeister als Tiroler inszenierte, war dies nicht gerade Lackners Art. Das Prinzip der kulturalen Einkleidung war ihm fremd, da hielt er es schon mehr mit dem kontroversiellen Einzelgängertum Lois Welzenbachers.

Lackner hat sich nie mit seinem Lebensraum versöhnt, schon gar nicht in Sachen Architektur. Er ging zwar nach einer längeren „Wanderschaft“ in Deutschland nach Tirol zurück, er suchte aber keine Wurzeln, weder die seinen noch andere. Wenn Lackner etwas in seinem Werk inszenierte, dann war es seine Autonomie, überspitzt, die Rolle des eigensinnigen Erfinders.


Schlagfertiger Querkopf

Seine Schlagfertigkeit in Wort und Entwurf, nicht ganz frei von despotischen Untergriffen, war manchmal auch im engsten Freundeskreis gefürchtet oder zeigte Wirkung.

Als Beleg eine Anekdote aus den späten 1950er Jahren: Nach den Sommerseminaren von Konrad Wachsmann in Salzburg war es unter seinen Jüngern selbstverständlich, bei jedem Entwurf oder Bau nach dem Modul zu fragen, da die modulare Ordnung in der rationalen Moderne als ein Grundkriterium angesehen wurde. Johann Georg Gsteu fragte also Lackner bei der Kirche von Neu-Arzl streng nach dem verwendeten Modul. Die lakonische Antwort Lackners: Ein Zentimeter.


Einzelkämpfer

Josef Lackner war und blieb ein Einzelkämpfer. Dies könnte man aus dem „Gestein der Tiroler Bergwelt“, dem „alten freien Bauerntum der Region“ oder vielen anderen Faktoren alpiner Mythen erklären oder eben nicht. Wenn ich mich richtig erinnere, hat Jo, im Gegensatz zu anderen Holzmeister-Schülern, immer alleine gearbeitet. Dies ist eher aus der Tiroler Situation der 1950er und 1960er Jahre, mehr, ja vielleicht ausschließlich, aber aus seinem Architekturbegriff zu verstehen, der genaugenommen keine Alternativen zuließ.

Lackners Architektur spielt sich im Spannungsfeld von Definition der Bauaufgabe, typologischer Erfindung und Konstruktion ab. Der Raum ist das Ergebnis dieses Spannungsfeldes oder dessen konstituierendes Element. Oft ist die Konstruktion die typologische Erfindung, manchmal erzeugt der Typus einen konstruktiven Gedanken. Das Topologische kommt oft spät oder gar nicht ins Spiel. Auch nicht die Landschaft als Kulturbegriff. Lackners Architektur scheint keinen Kontakt zur Geschichte aufzunehmen. Aber da muss man schon vorsichtig sein. Denn natürlich ist jede noch so betont unabhängige Definition von Gegenwart auch eine bestimmte Form historischen Verhaltens.


Kein Zeitgeist-Architekt

Lackners Architekturbegriff wurde in den 1960er Jahren positioniert. Die Postmoderne der 1970er Jahre hat ihn nicht irritiert, genauso wenig die ganze narrative und semantische Dimension von Architektur und Architekturgeschichte. Lackners Architektur signalisiert nicht nur Autonomie, sondern auch Unabhängigkeit vom Zeitgeist, obwohl seine Architektur unter der Flagge einer zeitgebundenen Moderne gestartet wurde.

Nach rund fünfzigjähriger Entwurfs- und Bautätigkeit ist es nicht so schwer, „abschließende“ Aussagen zu machen. Obwohl man auch da vorsichtig sein sollte, denn Lackner bleibt immer für eine Überraschung gut. Und die Forschungen über sein Werk werden neben einem scheinbar unbeirrbaren geraden Weg viele verschlungene und vielleicht auch irgendwo versiegende Nebenpfade entdecken. Denn Josef Lackner war ein permanent suchender, wenn nicht grübelnder Geist.


[Die Originalfassung dieses Textes erschien in architektur aktuell. Österreichs größte Architekturzeitschrift von internationalem Rang präsentiert zehnmal jährlich die wichtigsten neuen Bauten sowie Interviews und Essays von renommierten Kritikern.]

ORF.at, Mo., 2000.11.27

12. Juni 1999Friedrich Achleitner
Spectrum

Vom Grundriß bis zum Fenster

Wie ein großes Atelier hat man sich das Wiener Bauamt der Zwischen- und der Nachkriegszeit vorzustellen. Aus dem Kollektiv der „beamteten“ Architekten ragt einer heraus, dem das „Architektur Zentrum Wien“ jetzt eine Ausstellung widmet: Erich Leischner.

Wie ein großes Atelier hat man sich das Wiener Bauamt der Zwischen- und der Nachkriegszeit vorzustellen. Aus dem Kollektiv der „beamteten“ Architekten ragt einer heraus, dem das „Architektur Zentrum Wien“ jetzt eine Ausstellung widmet: Erich Leischner.

Der Versuch, die Wiener „beamtete Architektur“ in ihrem eigenen Kontext zu beschreiben, ist generell noch nicht unternommen worden. Man muß gar nicht auf so prominente Beispiele wie den Biedermeierarchitekten und k. k. Hofbaurat Paul Wilhelm Eduard Sprenger (1798 bis 1854) zurückgreifen, um behaupten zu können, daß beamtete Architekten oft sehr wesentlich in die Architekturentwicklung dieser Stadt eingegriffen haben.

Die Rolle des Architekten ist eine Geschichte der Emanzipation aus feudalen Abhängigkeiten, die mit der Entwicklung des Bürgertums parallel verlief und in der später auch die Verwaltungsapparate des Staates und der Kommunen eine große Rolle spielten. Die beiden Weltkriege beschleunigten diese Entwicklung: nach 1918 in Wien durch das Bauprogramm der sozialdemokratischen Stadtverwaltung und nach 1945 durch die generellen Probleme des Wiederaufbaus einer teilweise sehr zerstörten Stadt. Diese beiden expandierenden Bauphasen hätten bei weitem das Planungspotential der Ämter überfordert, sodaß sich schon aus dieser Situation heraus eine „Partnerschaft“ mit den freien Architekten ergab.

Damit wurde aber der „beamtete Architekt“in zunehmendem Maße auch zum „Bauherrn“ für den „freien“ Architekten. Dieses Verhältnis mußte vor allem in Zeiten wirtschaftlicher Not (Arbeitslosigkeit) zu Spannungen führen, da schließlich Vertreter ein und desselben Berufes in zwei diametral entgegengesetzten gesellschaftlichen aufeinandertrafen. Das führte teilweise sogar zu einer emotionalen Abqualifikation des beamteten Architekten. Noch in den frühen fünfziger Jahren war jemand an der Akademie „gezeichnet“, wenn bekannt wurde, daß dieser in den Beamtenstand abwanderte. Die ökonomische Sicherheit zu suchen war nach einem ungeschriebenen Kodex der Jungarchitekten eine Art Aufgabe der „schöpferischen Freiheit“, also eine Rückwanderung in alte Abhängigkeiten und damit ein „Verrat“ an der Architektur.

Man hatte also damals schon vergessen, daß die großen Architekturleistungen der Vergangenheit nur in solchen Abhängigkeiten entstanden sind, in Verhältnissen allerdings, die mit den modernen Baubürokratien nicht vergleichbar waren. Umgekehrt pasß heute in dieses Bild die Verwunderung über die Tatsache, daß es einmal im republikanischen Österreich Baubeamte gab, deren Entwurfsleistungen sich durchwegs mit denen freier Architekten messen konnten.

Diese Skizze stützt sich vorwiegend auf die erfaßten Bauten der Bezirke eins bis 18, die den bekannten Architekten des Stadtbauamtes zuzuschreiben sind. Ein Gros dieser Bauten ist anonym geblieben, und es sind dies nicht die hervorragenden. Hinter der Mitteilung „Planung: Wiener Stadtbauamt“ verbergen sich natürlich Persönlichkeiten die ausgeforscht werden können. Man muß aber mit „Verfassern“ vorsichtig sein, da nicht unbedingt jener, der den Plan gezeichnet hat (im doppelten Sinne des Wortes), auch der Verfasser sein mußte. Hervorragende Zeichner wie Erich F. Leischner sind auf Grund ihrer Fähigkeiten zu verschiedenen Projekten herangezogen worden, und man kann sich die damalige Magistratsabteilung 22 auch als großes Atelier vorstellen, in dem die unterschiedlichen Projekte diskutiert wurden und jedes mehrere Väter haben konnte.

Wenn man sich die Gruppe der namentlich mit bestimmten Bauten in Beziehung stehenden Architekten genauer ansieht, fällt zunächst auf, daß es einerseits eine Spezialisierung in der MA 22 gab –Geschoßwohnbau, Folgeeinrichtungen und Siedlungsbau et cetera – und in jeder Gruppe so etwas wie eine repräsentative Figur wirkte. Die Wohnbauer Engelbert Mang, Gottlieb Michal, Konstantin Peller, Wilhelm Peterle, Karl Schmalhofer und Franz Wiesmann waren sichtbar, nach dem Bauvolumen gemessen, von Karl Ehn dominiert, obwohl sich andererseits die Arbeiten untereinander und auch von Ehn stark unterscheiden.

Es gibt aber keine Arbeiten der Beamtenschaft, die architektonisch so stark waren (auch nicht der legendäre Karl-MarxHof), daß man annehmen müßte, sie hätten die Entwürfe der freischaffenden Architekten richtunggebend beeinflußt. Dieser „stabilisierende“ und vielfach auch als Knebelung empfundene Einfluß bestand eher in Richtung eines verbindlichen Regelwerks oder der Normung von Elementen, vom Grundriß bis zum Fenster.

Die kleine Fraktion der Siedlungsbauer besteht eigentlich (von den veröffentlichten Namen) nur aus Karl Schartelmüller, Hugo Mayer und Heinrich Schlöss.

Bleiben noch der „Bauinspektor“ Josef Bittner (später Leiter der Architekturabteilung), der mit frühen Planungen für die Stadtgartendirektion und Bauten für die städtischen Gas- und Elektrizitätswerke hervortrat, bevor er eine Art PR-Funktion für die Bautätigkeit der Stadt übernahm und zahlreiche Schriften verfaßte; oder Max Fiebiger, Stadtbaudirektor, der sich noch vor dem Ersten Weltkrieg als Bauleiter (unter Friedrich Jäckel) seine ersten Verdienste erwarb.

Unter all den mehr oder weniger ausgewiesenen Spezialisten ist aber Erich F. Leischner der Spezialist in verschiedensten Bereichen, also eigentlich ein gestaltender Generalist. Interessant ist die Unbekümmertheit, das Vertrauen auf die Fülle seiner gestalterischen Mittel und die (zumindest scheinbare) Sicherheit, wie das jeweilige „Vokabular“ einzusetzen ist. Leischner scheint einen sicheren und auch vermittelbaren Sinn für architektonische Mitteilungen besessen zu haben. Seine Wasserbehälter, die er praktisch noch als Student entworfen hat, erinnern an die Topoi Schloß, Villa, Wasserschloß und Quellheiligtum, sind Überformungen landschaftlich ausgezeichneter Punkte, seine Kinderfreibäder haben die Leichtigkeit temporärer Bauten, eine spielerische Durchlässigkeit mit großen Schattenzonen, seine Wohnbauten gehen den Weg von einem am tschechischen Kubismus anstreifenden pompösen Expressionismus bis zu sachlicher Schlichtheit, die aber nicht auf die strukturelle Kraft geputzter Ziegelmauern vergißt oder im Städtebaulichen eine an Camillo Sitte erinnernde Sensibilität für den Ort entwickelt.

Das Umspannwerk Süd in seiner klassischen Strenge könnte auch ein Wagner-Schüler entworfen haben, während der Kindergarten vom Sandleitenhof die Julius Tandlerschen Träume einer heilen, bürgerlichen Welt für Kinder realisiert. Die Bauten von Leischner wirken alle nicht vorgedacht. Sie reagieren mit großem Talent und Geschick auf reale Aufgaben. Man hat nicht den Eindruck, daß Leischner ein großer Anreger (vielleicht für seine Kollegen in der MA 22), aber sicher ein Vermittler, Transformierer und Anwender war, der auch gute Antennen für den Zeitgeist besaß.

Da es bis heute immer wieder Versuche gibt, für die Bauleistungen der Stadt Wien in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren eine Art theoretischen Überbau zu konstruieren, die alle natürlich einzelne Aspekte beleuchten und vielleicht auch klären, sei jedoch daran erinnert, daß heute die Entwurfspraxis dieser Architektengeneration völlig vergessen wird. Jan Tabor sieht das vermutlich richtig, wenn er in der Entwurfsabteilung des Bauamtes jenen Ort vermutet, an dem die direkte politische Einflußnahme auf das Baugeschehen war. Denn diese Entwürfe entstanden unter Zeitdruck, aus politischem Prestigedenken, sozialen Programmen, entlang bau- und produktionstechnischen, ökonomischen, gestalterischen und ästhetischen Zwängen und Ressourcen.

Es ging also um konkrete Bauaufgaben, die im entwerferischen Alltag bewältigt werden mußten. Der gigantische Umfang und die Vielfalt der Bauaufgaben ließ den Planern keine Zeit zu theoretischen Konzepten, auch wenn sie die Fähigkeit dazu gehabt hätten, was allerdings zu bezweifeln ist. So ist es auch kein Zufall, daß diese „konzeptuellen Störungen“ von außen und von unterbeschäftigten Privatarchitekten kamen, die, etwa wie Adolf Loos, prinzipielle Denkansätze entwickelten oder, wie Josef Frank, aus einer distanzierten, werkbündischen Position einen kritischen Rahmen konstruieren konnten. Die Architektur der im Bauamt tätigen Architekten ist damit viel eher als ein kollektives Phänomen zu betrachten, das sich auf Grund der Fähigkeiten dieser Architekten unterschiedlich ausdrückte und das einen Weg der Klärung der Mittel von den Jahren 1923 bis 1933 durchschritt, aber auch in kurzer Zeit einen beträchtlichen Erfahrungsschatz ansammelte.

So könnte man diese Architektur als ideale und komplette Widerspiegelung aller Probleme und Sorgen, aller Fähigkeiten und Mängel, aller Wunschbilder und Träume der Zeit bezeichnen. Das ist auch der Grund dafür, daß der „Gemeindebau“ (abgesehen von bürgerlicher Kritik) immer akzeptiert war, daß seine Fassaden keine ästhetischen Diskussionen auslösten, daß sie ein eindrucksvolles Bild von sozialem Fortschritt und seinen Ritualen vermitteln konnten, weil sie auf allen Ebenen ein befriedigendes Bild vom sozialen Aufbruch und Fortschritt liefern konnten.

[ Die Ausstellung „Amt Macht Stadt – Erich Leischner und das Wiener Stadtbauamt“ist vom 16. Juni bis zum 2. August im „Architektur Zentrum Wien“ (Wien VII, Museumsplatz 1) zu sehen (täglich von 10 bis 19 Uhr). Friedrich Achleitners Beitrag erscheint, in erweiterter Form, demnächst in dem Band „Erich Leischner und das Wiener Stadtbauamt“ (Pustet Verlag, Salzburg). ]

Spectrum, Sa., 1999.06.12

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Artikel 12

22. Mai 2015Peter Grubmüller
OÖNachrichten

Architektur als Brotberuf, Literatur zur Erholung

Der bedeutende Architekturkritiker und Sprachkünstler Friedrich Achleitner wird am Samstag 85.

Der bedeutende Architekturkritiker und Sprachkünstler Friedrich Achleitner wird am Samstag 85.

Gespräche mit Friedrich Achleitner sind immer zu kurz. Er ist ein Universalgescheiter, dessen Klugheit in einfachen, geschliffenen Sätzen den Nebel akademischer Analysen aufklart. Mit seiner mehrbändigen Dokumentation „Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert“ hat er ein einzigartiges Nachschlagwerk heimischer Baugeschichte geschrieben. Als Mitbegründer der „Wiener Gruppe“ (1957) zettelte er zusammen mit H. C. Artmann Gerhard Rühm, Oswald Wiener und Konrad Bayer eine sprach-experimentelle Revolution an. „Zumindest dachten wir ,dass die Konkrete Kunst auch in der Poesie anwendbar ist. Wahrscheinlich haben wir uns geirrt“, sagte Achleitner im OÖN-Gespräch anlässlich der Mostdipf-Verleihung 2011. Am Samstag wird Friedrich Achleitner 85 Jahre alt.

Ein Jahr lang kämpfte Achleitner zuletzt gegen eine Viruserkrankung. Das Gehen fiel ihm schwer, er vergaß Namen, er konnte nicht mehr lesen und schreiben. Jetzt hat er sich erholt, trotzdem – so sagt er – könnte sein jüngstes Buch „wortgesindel“ (Verlag Zsonlay), in dem er sein 60-jähriges Maturatreffen beschreibt, sein letztes gewesen sein. Aber sicher sei das nicht.
Flucht nach Wien

Achleitner wurde 1930 in Schalchen im Innviertel geboren. Er spürte bald, dass er weg wollte aus dieser Umgebung: „Ich erinnere mich, dass wir im Krieg bei Luftangriffen die Fenster verdunkeln mussten und mit neun Jahren hab’ ich zu meinem siebenjährigen Bruder gesagt: ,Du verdunkelst, dir gehört die Bude!‘.“ Nach der Gewerbeschule in Salzburg flüchtete er zum Architekturstudium nach Wien. Gebaut hat er dennoch nichts, „weil ich dafür zu weich war“. Der notwendigen Härte gegenüber Bauherrn und sich selbst („weil die Handwerker schon um sechs Uhr anrufen“) fühlte er sich nicht gewachsen. In den späten 50er-Jahren überlegte er, für immer in Finnland, diesem Wunderland der Architektur, zu bleiben. „Damals erschien unser Dialektband ,hosn rosn baa‘. Rühm rief mich an, dass ich kommen muss, weil es jetzt losgeht. Aber es ist eh nix losgegangen.“ Was die „Wiener Gruppe“ damals an Sprachkunst und Montagetechniken ausgeheckt hatte, sickerte bald in die Werbung ein. „Akutelle Fernsehspots“, sagt Achleitner, „sind unsere damaligen Ideen mit der Technologie von heute“.

Architektur sei stets sein Brotberuf gewesen, Literatur seine Erholung. Früh versuchte er, als Literat zu leben, „aber das war mit Konkreter Poesie nie möglich. Damals meldete sich die Abendzeitung mit dem Angebot, Architektur-Kritiken zu schreiben, damit war das Radl in Bewegung.“

Bis 1998 hatte Achleitner den Lehrstuhl für „Geschichte und Theorie der Architektur“ an der Wiener Universität für angewandte Kunst inne, 2009 wurde er siebentes Ehrenmitglied der Wiener Secession, 2010 Ehrendoktor der Linzer Kunstuni, 2011 erhielt er den Watzlawik-Ehrenring. Nicht als Architekturpapst oder Sprachkünstler möchte er beschrieben sein, sondern als jemand, „der Mauern des Unverständnisses niederreißen will“. Alle drei Beschreibungen stimmen.

20. November 2014Irene Gunnesch
OÖNachrichten

Friedrich Achleitner: Der vielseitig Umtriebige

„An und für sich bin ich ja ritualgeschädigt!“ sagte der aus dem oberösterreichischen Schalchen stammende Architekturtheoretiker und Schriftsteller Friedrich Achleitner (84) im Gespräch mit den OÖNachrichten.

„An und für sich bin ich ja ritualgeschädigt!“ sagte der aus dem oberösterreichischen Schalchen stammende Architekturtheoretiker und Schriftsteller Friedrich Achleitner (84) im Gespräch mit den OÖNachrichten.

„Aber man ist ja auch wieder eitel, es gefällt einem ja doch!“. Also darf man davon ausgehen, dass der Mostdipf-2011-Preisträger sich morgen freuen wird: Da wird ihm nämlich Kulturminister Josef Ostermayer das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse überreichen.

Friedrich Achleitner wurde am 23. Mai 1930 in eine Landwirts-/Müllersfamilie hineingeboren. Es sei eine „Flucht“ vor der ländlichen Umgebung gewesen, dass er zum Studium nach Wien gezogen war, im Innviertel habe ihn die „totale Kontrolle“ gestört: „Abgesehen vom Heiligen Abend ist jeden Tag wer anderer da gestanden!“ Und so studierte er von 1950 bis 1953 Architektur an der Akademie der bildenden Künste, studierte auch Bühnenbild, machte sein Diplom bei Holzmeister und wurde um 1958 freier Schriftsteller.

Der vielseitig Umtriebige zählt neben Konrad Bayer, H.C. Artmann, Gerhard Rühm und Oswald Wiener zur „wiener gruppe“, die mit Sprachexperimenten in den 1960ern Literaturgeschichte geschrieben hat. Achleitner blieb dabei dem Innviertler Dialekt treu: „Ich hab immer behauptet, im Innviertlerischen gibt es keinen einzigen vernünftigen Satz. Mit dieser Sprache werden Menschen überredet statt überzeugt. Das fällt einem aber erst auf, wenn man vom Innviertel weg ist.“ Geschichte schrieb Achleitner auch mit seiner Bestandsaufnahme „Zur Österreichischen Architektur im 20. Jahrhundert“. Morgen wird dem vielfach Preisbedachten mit dem Ehrenkreuz eine weitere Auszeichnung verliehen. Und zum Thema Auszeichnungen hat der Schalchener ein Bonmot von Billy Wilder parat: „Hämorrhoiden und Orden kriegen nur alte Arschlöcher!“ Achleitner: „Bitte schreiben S’ das nicht, sonst könnt man glauben, ich sei ein Arschloch. Nein - passt, schreiben Sie es ruhig!“

22. Mai 2010Franziska Leeb
Spectrum

„Ich war einfach goschert“

Friedrich Achleitner über Sinn und Unsinn der Kritik und seine Arbeit für die „Presse“, über das konservative Wien und das Interessante am Mittelmäßigen. Ein Gespräch zu seinem 80. Geburtstag.

Friedrich Achleitner über Sinn und Unsinn der Kritik und seine Arbeit für die „Presse“, über das konservative Wien und das Interessante am Mittelmäßigen. Ein Gespräch zu seinem 80. Geburtstag.

Herr Achleitner, in Ihrem Architekturführer vorzukommen ist für Architekten sehr wichtig, weil quasi nicht existiert, was nicht drinsteht.

Das ist ja das Furchtbare! Wenn das Bundesdenkmalamt etwas im „Achleitner“ findet, sagt man „Vorsicht!“, und wenn nicht, dann nicht.
Das ist Unsinn. Mir geht es nicht darum, eine Liste wertvoller Sachen zu erstellen. Ich wollte immer zu bestimmten Problemen hinführen.

Gab es konkrete Erfolgserlebnisse?

Kaum. Punktuell merkt man, dass es nicht ganz umsonst ist. Die Textilschule in Dornbirn ist nur nicht abgerissen worden, weil in meinem Architekturführer fünf Zeilen enthalten waren. Meine erste Kritik in den „Bausünden“ in der „Abend-Zeitung“ war über diese grausliche Einzäunung, diese Werbefläche, am Stephansdom. Das wird jetzt nach 50 Jahren gemacht.

Die Literatur sei ein Vergnügen, die Architekturschreiberei Knochenarbeit, haben Sie einmal gesagt. Was war am mühsamsten?

Das Damosklesschwert, jeden Donnerstag etwas liefern zu müssen, damit es am Samstag in der Zeitung steht. Nach den zehn Jahren „Presse“ war ich total ausgepowert. Ich habe das von 1962 bis 1972 gemacht. Wöchentlich, oft auch zweimal die Woche.

Gab es Zurufe und Begehrlichkeiten?

Nein. Chefredakteur Otto Schulmeister war großzügig und musste sich viel anhören, weil sich damalige Platzhirsche ständig beschwert haben. Der Innsbrucker Bürgermeister hat alle Inserate gecancelt, weil ich kritisch über das Olympische Dorf geschrieben habe.

Sie sind aber der Architekturkritiker mit der besten Nachrede. Woher kommt das?

Ich glaube, das liegt nicht an den Kritiken, sondern daran, dass ich jahrelang in den Bundesländern herumgekrebst bin. Wenn in der Beilage der „Presse“ eine ganze Seite erschienen ist, dann war das was. In Wien ist es ja so: Wenn man einen kritisiert, hat man hundert Freunde. Wenn man einen lobt, hundert Feinde. Kritik ist leichter möglich, wenn man nichts weiß.

Unfundiert war Ihre Kritik ja nicht.

Ich trau mir heute nicht zu sagen, dass sie fundiert war. Ich war einfach goschert. Jetzt ist für mich persönlich Kritik überhaupt nicht mehr möglich.

Warum?

Solang ich Architekturkritik gemacht habe, war ich anders fokussiert. Nicht dass man Fehler sucht, aber man schaut kritisch, was falsch war. Sobald man einen Architekturführer macht, schaut man, was positiv ist, was man auswählen und in einem Kontext erwähnen kann. Das ist eine andere Blickweise.

Erwarten Architekten nicht automatisch eine affirmative Berichterstattung?

Mitte der 60er-Jahre hat Ferdinand Kitt in der Zentralvereinigung der Architekten eine Aktion gestartet, damit mehr über Architektur publiziert wird. Was geschrieben wird, hat er gesagt, ist wurscht, Hauptsache viel. Dann kam die Zeit, wo das Interessante und die Personen im Vordergrund standen. Vorher war die Diskussion eher thematisch orientiert. Es gab eine U-Bahn-Diskussion oder Kirchenbauaustellungen. Dann kamen Architekten wie Zünd-Up, Haus-Rucker-Co, Coop Himmelb(l)au, deren Namen ja fast Werbeslogans waren. Da begann es, dass mit der Architektur um Aufmerksamkeit gerungen wurde.

Hat sich mit dem Bauen auch das Schreiben darüber verändert?

Ein Teil der Architekturschreiber ist immer noch am Bauen dran. Aber es gibt viele Wellenreiter, die theoretisch herumspielen, was ja gerade modern ist, und die sich nichts mehr anschauen. Das habe ich nie verstanden. Aber die, die sich die Mühe machen, die Leute zu kontaktieren und sich Bauten anzuschauen, die sind natürlich im gleichen Boot. Was mir gefällt, ist: dass man an der Kunst-Uni Linz Projekte in Entwicklungsländern macht, wieder viel auf Baustellen arbeitet.

Diese Welle der großen Blasen hat ja im Wiener Stadtbild nicht so gegriffen.

Wien ist ein konservatives Pflaster. Hier hat auch die Postmoderne fast nichts angerichtet. Die großen Knüller gibt es halt nicht.

Sollte die eine Weltstadt nicht auch haben?

Ein paar schaden sicher nicht. Wenn zum Beispiel auf die Platte noch ein paar vernünftige Kulturbauten hinkommen würden! Das hätte schon die Grammatik einer Stadt. Ich habe dort einen neuen Stadtbegriff gelernt. Es gibt Punkte, wo man sich wie am Michigansee fühlt. Dann die vielen kleinen Einheiten und Siedlungen, die einen eigenen Charakter haben. Es gibt den fatalen Terminus, den Wolf Prix so gerne verwendet, die „Mittelmäßigkeit“. Die halte ich für interessanter als das Außergewöhnliche, weil damit eine andere Erfahrungswelt verbunden ist und auch Konventionen Bestätigungen für Qualität sind. Man darf nicht glauben, dass die Architekten, die in einer Stadt leben und sie gut kennen, die besten Entwürfe für die Stadt liefern. Das sind meistens die, die von außen kommen und andere Qualitäten erkennen.

In Wien bauen aktuell verhältnismäßig wenige Architekten von außen.

Man muss auch sagen, diese heutige Generation der Superstars ist eine, die goldene Eier ablegt und mit den Städten keinen Kontakt aufnimmt. Frank Gehry sagte allen Ernstes, Prag sei eine heitere Stadt. Was hat der gesehen? Es gibt keine finsterere Stadt als Prag. Das gab es schon früher. Fischer von Erlach hat sich bei seinem Festsaal im Stift Herzogenburg einen Schmarrn darum gekümmert, was Prandtauer rundherum gemacht hat.

Auf Architekten Ihres Alters reagieren manche jüngeren Architekten allergisch. Sie hingegen genießen in allen Generationen Respekt.

Das hat vielleicht damit zu tun, dass ich das Glück habe, mir eine Arbeit angefangen zu haben, die so lange braucht. Dadurch kenne ich drei Generationen von Architekten. Wenn ich etwas sehr Persönliches sagen darf: Ich mag die Leute. Sie üben einen Selbstausbeuterberuf aus und werden nie zu ihrem Wert gehandelt. Auf Wienerisch gesagt ist es wirklich eine Scheißhackn. Es ist ganz selten, dass die Architekten genannt werden. Wenn es geglückt ist, dann tun die Bauherren, als hätten sie es selbst entworfen.

29. November 2008Ute Woltron
Der Standard

Der Maßstab

Architekturkritiker Friedrich Achleitner wird Ehrenmitglied der Wiener Secession

Architekturkritiker Friedrich Achleitner wird Ehrenmitglied der Wiener Secession

Lediglich sechs Ehrenmitglieder hat die KünstlerInnenvereinigung Wiener Secession im Laufe ihrer Geschichte in ihre Mitte gebeten, das siebente wird am Dienstag aufgenommen: Friedrich Achleitner - Architekt, Schriftsteller, Lehrer und Gründervater der österreichischen Architekturkritik.

Diese Ehrung wird jenem zuteil, der sich „außergewöhnliche Verdienste für die Kultur der Gegenwart“ erworben hat. Achleitner wurde - für die streitbaren Secessionsmitglieder ungewöhnlich - einstimmig auserkoren. Abseits aller Institutionen ist diese kompakte Persönlichkeit des heimischen Kunst- und Kulturbetriebs mit bewundernswerter Beharrlichkeit ihren Weg gegangen. Sehr oft ganz allein.

Doch was heißt hier Kulturbetrieb. Achleitner war nie nur ein Rädchen in einem bestimmten Getriebe. Er war sich selbst stets Maschine und Antrieb genug, um durch Widerstände durchzuackern, bis dato nichtgepflügte Felder urbar zu machen.

Ohne Friedrich Achleitner hätten viele wichtige öffentliche Debatten um Architektur und die dazugehörige Kultur in diesem Land nicht stattgefunden. Ohne ihn hätte die Wiener Gruppe in den 50erJahren eine bedeutende Dimension weniger gehabt. Ohne den Mann mit der Corbusierbrille gäbe es kein Archiv der österreichischen Architektur des 20. Jahrhunderts.

Kurzum: Achleitner hat im Laufe seines langen produktiven Lebens ein vielschichtiges Werk produziert, von der Literatur über die Lehre bis hin zu einem der wichtigsten Güter einer für Soziales sowie Kulturelles aufgeschlossenen Gesellschaft: verständlich zu machen, was ge- und belebte Architektur für die Menschen leisten kann.

1930 geboren, in Oberösterreich aufgewachsen, besuchte er die Hochbaugewerbeschule in Salzburg. Eigentlich wollte er Maler werden, hatte schon als Bub auf dem Fahrradpackelträger immer den Skizzenblock mit, weil er gerne Bauernhäuser skizzierte. Doch es hieß: „Werd Baumasta, kannst aa zeichnen!“

Gemeinsam mit den Schulkollegen Wilhelm Holzbauer, Hans Puchhammer, Friedrich Kurrent und Johann Gsteu haute er 1950 endlich nach Wien ab und studierte bei Clemens Holzmeister Architektur.

Schreiben wurde ihm schließlich wichtiger als Zeichnen. Gemeinsam mit H. C. Artmann, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Oswald Wiener gründete er die Wiener Gruppe und mischte die miefige Wiener Szene der 50er Jahre auf.

Nebenbei begann er über Architektur zu schreiben. Erst unter Pseudonym in der Abendzeitung, bald schon in der Presse. Seine Kritiken und literarischen Abhandlungen über Architektur sind Legende. 1985 bekam er den Staatspreis für Kulturpublizistik. In seiner Rede sagte er, was heute noch gilt: „Architektur entstand überall dort, wo sich Einzelne gegen den Trott oder die Ignoranz ihrer Organisation durchsetzen konnten, meist in dem Bewusstsein oder der Gewissheit, damit ein persönliches Risiko einzugehen.“

Er selbst gilt dafür als eines der erfreulichsten Beispiele. Das klare Wasser, das er predigte, das hat er selbst immer getrunken.

23. Mai 2005Ute Woltron
Der Standard

Exoberösterreichischer Architekturliteratenjubilar

Angeblich ist Friedrich Achleitner vor sieben Jahren in Pension gegangen, den Ruhestand hat er aber, wie DER STANDARD damals bereits erahnte, nie wirklich...

Angeblich ist Friedrich Achleitner vor sieben Jahren in Pension gegangen, den Ruhestand hat er aber, wie DER STANDARD damals bereits erahnte, nie wirklich...

Angeblich ist Friedrich Achleitner vor sieben Jahren in Pension gegangen, den Ruhestand hat er aber, wie DER STANDARD damals bereits erahnte, nie wirklich angetreten: zum Glück.

Heute, Montag, feiert der überzeugte Exoberösterreicher, der 1930 in Schalchen zur Welt kam und die erste Möglichkeit zur Flucht nach Wien ergriff, den 75. Geburtstag. Gefeiert wurde das bereits am Freitag im Architekturzentrum Wien, das Achleitners umfassendes Archiv der österreichischen Architektur im 20. Jahrhundert (mit mehr als 20.000 erfassten Objekten) horten darf. Eingeladen hatte der Zsolnay-Verlag, der Achleitners publizistische-literarische Arbeiten verwaltet.

Achleitner blieb auch nach seiner vermeintlichen Pensionierung eine Institution, und obwohl sich der Gründervater der heimischen Architekturkritik nicht mehr so oft zu den Themen der Baukunst äußert wie früher einmal, beglückte er die Szene der Lesenden zum Beispiel im Jahr 2000 mit seinen einschlafgeschichten.

Er könne eigentlich keine Geschichten erzählen, meinte er damals in einem Interview für die Literaturzeitschrift Wespennest - naja, selbst Friedrich Achleitner darf gelegentlich irren. Mit den einschlafgeschichten - gelungenen, fein-frechen Hirn- und Fingerübungen - setzte er den Aktionismus der Wiener Gruppe, deren Gründungsmitglied er war, in einer neuen Zeit literarisch raffiniert fort.

Holzmeister-Schüler

Achleitner, der gelernte Architekt und Holzmeister-Schüler, schrieb damals in den späten 50er-Jahren Dialektgedichte. Wenig später begann er in der Tageszeitung Die Presse die Architekturkritik neu zu definieren, und um 1965 nahm er seine rastlosen Durchwanderungen der österreichischen Architekturlandschaften auf, er analysierte Städte, Dörfer, Häuser sonder Zahl - und studierte nebenbei in so gut wie allen Konditoreien des Landes die unterschiedlichen Qualitäten der Cremeschnitten, für die er eine gewisse Schwäche hegt.

Bis 1998 lehrte er an der Wiener Universität für angewandte Kunst Geschichte und Theorie der Architektur. Seit er pensioniert ist, hat er wieder mehr Zeit für die Arbeit: Erwartet wird jetzt sein Architekturführer für Wien.

21. Mai 2005Spectrum

Schöne Lage!

Mit Artmann, Bayer, Rühm war er Mitglied der Wiener Gruppe. Für die „Presse“ erfand er in den Sechzigern die Architekturkritik neu. Am 23. Mai wird er 75: Friedrich Achleitner, Dichter, gelernter Architekt, Architektur-Enzyklopädist. Ein Geburtstagsständchen zu zehn Stimmen.

Mit Artmann, Bayer, Rühm war er Mitglied der Wiener Gruppe. Für die „Presse“ erfand er in den Sechzigern die Architekturkritik neu. Am 23. Mai wird er 75: Friedrich Achleitner, Dichter, gelernter Architekt, Architektur-Enzyklopädist. Ein Geburtstagsständchen zu zehn Stimmen.

[Arrangiert von Wolfgang Freitag]

WILHELM HOLZBAUER
Architekt aus Salzburg, Jahrgang 1930.

Herbst 1945. Der Unterricht in der „Gewerbeschule“ in Salzburg ist nicht mehr von Fliegeralarm und „Stollengehen“ unterbrochen. Einer kommt vom Land, einer von der Vorstadt, Bauernkind und Arbeiterkind. Sie treffen sich, erkunden sich, sprechen über Rilke, Nietzsche und Ernst Jünger. Beide sind immer öfter zusammen, entdecken die Musik, das Mozarteum, Edwin Fischer, Clara Haskil, der ständige Dirigent des Orchesters war Meinhard von Zallinger. In der Klasse die beiden in einer Reihe mit Gsteu und Puchhammer. Die Matura. Es ist inzwischen 1949. Auch den weiteren Weg gehen die beiden zusammen. Wien, die Holzmeister-Schule! Doch zuerst muss ein Jahr Geld verdient werden, der eine in einem Architekturbüro, der andere auf der Baustelle (man kann raten, wer wo). Wien, die Aufnahmsprüfung, das gemeinsame Zimmer in der „Russenzone“ (es war dort am billigsten). Zwei Betten, links und rechts, in der Mitte ein Tisch.

Das Diplom: Jetzt beginnen sich die Wege auseinander zu bewegen, graduell, langsam. Zuerst noch für beide in der Architektur: du Fritz mit Hannes Gsteu, ich mit Kurrent und Spalt (am Anfang der Arbeitsgruppe 4 noch mit Leitner):

Aus dieser Zeit habe ich ein kleines, rotes, ledergebundenes Büchlein, das du mir zum Geburtstag geschenkt hast mit deinen Gedichten, auf dünnem Papier, von dir mit deiner alten Schreibmaschine geschrieben. In der Widmung meintest du, das „Dichten“ sei leichter als das „Binden“.

Um diese Zeit begann auch deine erst einmal durchaus radikal gemeinte Loslösung von der Architektur, weg mit allen Architekturbüchern. Ich ging nach Amerika.

Es hat dich dann doch wieder zur Architektur zurückgeführt. Unsere Wege haben sich getrennt und doch immer wieder zusammengeführt und kulminierten in den gemeinsamen Jahren an der „Angewandten“.

Und jetzt bist du 75! Ein halbes Jahr früher als ich! Deine „kleineren“ Arbeiten und Experimente in der Sprache sind nicht klein, sie werden ihren Platz in der österreichischen Literaturgeschichte behalten. Aber dein Hauptwerk, die „Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert“, wird das einmalige Standardwerk über Generationen hinaus bleiben, einmalig auch darin, dass es weltweit wahrscheinlich nichts Vergleichbares gibt, das die gesamten Werke der Architektur von einiger Qualität in einem Land und einem Jahrhundert katalogisiert und mit eigenen Texten analysiert.

Möge dir die Zeit und die Kraft gegeben sein, jene Bände, deren Erscheinen schon länger zurückliegt, noch zu überarbeiten und das Jahrhundert zu vervollständigen.

FRANZOBEL
Dichter aus Vöcklabruck, Jahrgang 1967.

Ein Achleitner gehört nicht in den Kühlschrank, ein Achleitner wird erst nach dem Ablaufdatum gut. Manche legen ihn aufs Fensterbrett, andere auf die Heizung und warten, bis er patzig wird, zerrinnt. Ein Achleitner muss zerlaufen und in seinem Papierl picken, stinken muss er, zumindest, wenn er Käse ist.

Friedrich Achleitner aber ist kein Käse und macht auch keinen Käse, Friedrich Achleitner hat mit Käse nichts zu tun. Aber heißt er überhaupt Achleitner? Je mehr man das zerdenkt, desto unsicherer wird man, ob er nicht doch Archleitner, Achtleitner oder gar Achtleitern heißt. Denn was wollte das sein, eine Ach-Leiten?

Passen zu diesem Innviertler Genie, zu diesem ewigen Schalchen und Architektur-Enzyklopädisten, nicht acht Leute, acht Leitern oder auch acht Schätze sehr viel besser als alle Achs und Wehs? Oder ist das schon wieder Käse? Falls ja, lässt sich mit ein paar Plotteggs ein wunderbarer Kuchen daraus machen, der zumindest jenseits des Inns als Achleitner Käsekuchen populär werden kann. Hier aber reicht er uns als wunderbarer Fritz und Achi (auch mit R).

HANS HOLLEIN
Architekt aus Wien, Jahrgang 1934.

Ende der Fünfzigerjahre ließ sich Achi - nach einer kurzen Pause als Architekt - den Schädel kahl rasieren, kaufte sich einen Strohhut und erklärte, sich ab nun nur mehr der Literatur zu widmen. „Man muss sich entscheiden“, sagte er, „Architektur oder Literatur - beides zusammen geht nicht.“

In weiterer Folge gelang es ihm jedoch, einen symbiotischen „Cross-over“ zwischen diesen Aktionsfeldern zu finden, und er erlangte in beiden Bedeutung und Wichtigkeit - mit einem kreativen, produktiven und analytischen Werk, das Wesentliches zur Kultur Österreichs beitrug.

HERMANN BEIL
Dramaturg aus Wien, Jahrgang 1941.

In Berlin, in Tübingen oder anderswo Friedrich Achleitners „einschlafgeschichten“ lesend, zusammen mit Vera Sturm oder allein, erleb' ich stets aufs Neue, wie für den Zuhörer, aber auch für mich als Leser, eine imaginäre Topografie des Gehirns entsteht, wie der Autor uns in ein fantastisches Labyrinth der Gedankengänge schickt - oder mit uns wie ein Akrobat auf das Drahtseil steigt und alle nur denkbaren Gedankenkapriolen vollführt. Die „einschlafgeschichten“, die vielmehr inspirierende Aufweckgeschichten sind, malen in ihrer lakonischen Gelassenheit, mit ihrem feinen Humor, mit ihrer verblüffenden Freiheit der Wortspiele einerseits Miniaturen zu einem tatsächlich bizarren Kosmos aus, andererseits lehren sie uns unversehens Genauigkeit für das winzigste Detail. Ein einziger Satz - und alles ist gesagt. Ein einziges Wort - und wir erschrecken erfreut, weil wir alles wissen. Zumindest für einen herrlich endlosen Augen-Blick.

MARGHERITA SPILUTTINI
Architekturfotografin aus Schwarzach, Jahrgang 1947.

Der Fritz Achleitner ist nicht nur ein vertrauter Freund und Nachbar, sondern auch mein wichtigster Architekturlehrer. Das hat schon Anfang der Achtzigerjahre begonnen, als ich seine Filme, die er von seinen Reisen für den Architekturführer mitgebracht hatte, entwickelt und vergrößert habe, was ein beginnendes Einschleifen meiner Wahrnehmungsorgane auf architektonische Wirklichkeiten ausgelöst hat. Die weitere Fritzsche Ausbildung erfolgte bei ausgedehnten gemeinsamen Reisen und den an- und aufregenden Diskussionen im Freundeskreis, die im fabelhaft gastfreundlichen Ambiente der Achleitners stattgefunden haben.

Und was ich auch an ihm bewundere, ist seine Konsequenz selbst dort, wo es sich um seine seit Jahren sorgfältig gepflegte Mockerie über die prächtigen Dekorationen der Stadtgartendirektion im Wiener Stadtpark (ein „von einem beamteten Architekten mit einiger Einfühlung errichtetes Amtsgebäude“, F. A.) handelt.

GÜNTHER DOMENIG
Architekt aus Klagenfurt, Jahrgang 1934.

Friedrich Achleitner stellt in seiner Persönlichkeit für mich eine Einheit von Architektur, Architekturtheorie und Gesamtwissen dar.

Er ist wichtig für Architekten und den Umraum.

FRIEDERIKE MAYRÖCKER
Dichterin aus Wien, Jahrgang 1924.

Ich erinnere mich, dass ein Foto an einer Wand meiner Wohnung hängt, das Friedrich Achleitner (wir nannten ihn „achi“) und mich in den Fünfzigerjahren abbildet. Wir sitzen im Café Hawelka, hinter uns eine Blumentapete. Ich halte eine schneeweisze Wolke in meiner rechten Hand, eine Zigarette in meiner linken. Er stützt seine Wange mit der rechten Hand ab und lächelt während des Lesens: sein volles dunkles Haar. Wir sitzen nebeneinander, beide lesend.

Ich nehme das gerahmte Foto von der Wand, es ist staubbedeckt, und lege es neben die Schreibmaschine, es ist viele Jahre, Jahrzehnte alt, wir waren beide jung. Vermutlich lese ich in einem Manuskript von ihm, er in einem Manuskript von mir. Er schrieb Dialektgedichte, wie wir damals alle es taten.

Die Wurzel dieses Dichters kann kein fester Punkt, sondern musz ein Punkt der Ausstrahlung sein, so dehnen sich die Worte auf der Haut aus.

(Auf die Rückseite des Bildes hatte ich damals eine Widmung für Ernst Jandl geschrieben - nach seinem Tod kam es an mich zurück.)

OTTO KAPFINGER
Architekturtheoretiker aus St. Pölten, Jahrgang 1949.

Seine kürzlich erschienenen Bücher „einschlafgeschichten“ und „wiener linien“ machen es wieder deutlich: Friedrich Achleitner ist primär ein Schriftsteller, ein Poet mit besonderer Begabung, Situationen des Alltags zu sehen und zu reflektieren - in einer Prosa, welche die Abgründe und Hintergründe des durch Sprache geformten Bewusstseins und Handelns mit und gegen alle Regeln konventioneller Sprachkunst zu spiegeln vermag. Es war für die österreichische Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts ein glücklicher Zufall, dass dieser äußerlich so harmlos wirkende, mit Augen, Ohren und Hirn aber hellwache, jede Szenerie messerscharf registrierende Beobachter sein Talent für einige Jahrzehnte an die Architekturpublizistik „vergeudete“ - zuerst als Architekturkritiker, dann als enzyklopädischer Forscher und Lehrer. Es gäbe vielleicht auch ohne Achleitner eine irgendwie achtbare Reflexion der modernen Baukunst in Österreich. Aber nur er war imstande, die komplexen Inhalte und Fragen von Architektur und Planung so „zur Sprache zu bringen“, dass es eben nicht bloß fachlich-akademische Rede blieb.

Sein Vorbild, auch seine Skepsis gegen jeden ideologisierenden Systemzwang, war und ist unendlich wertvoll. So sind etwa seine Bände zum modernen Bauen in Österreich nicht nur eine einzigartige wissenschaftliche, sondern eine ebenso singuläre literarische Leistung. Und das hob diese Dokumentationen über die Beschränktheit des Wissenschaftlichen hinaus, machte sie zu einem international beachteten und gültigen OEuvre. Als „Alterswerk“ hat Achleitner sich nun von der Beschreibung des gebauten Rahmenwerks wieder freigespielt und seziert mit kreativem Witz und analytischer Ironie die Szenen des Lebens selbst.

Auf vielen Exkursionen und in vielen Jurys hatte ich die Gelegenheit, Fritz Achleitner bei der Besichtigung von Bauten zu begleiten. Stets war die Kamera dabei, und jeder lohnende Standpunkt wurde von ihm blitzschnell aufgespürt und ausgenützt. Wenn er am Ausgang dann zur Bauherrschaft, zum Hausherrn oder zur Hausfrau sagte: „Gratuliere! Sie haben hier ja eine schöne Lage und eine wunderbare Aussicht!“, dann wusste ich bald, was eigentlich gemeint war: Er wollte sich von den Leuten in aller Freundlichkeit verabschieden, aber das Haus hatte ihm überhaupt nicht gefallen. So wurde das Kürzel „schöne Lage“ für alle aus Achleitners Umkreis - Schüler, Mitarbeiter, Freunde - zu einem geflügelten Wort, zum Synonym für eine vergebene Chance, für eine oft durchaus bemühte, doch eindeutig misslungene Architektur.

Architekten, Jahrgang 1959, 1963. Friedrich Achleitner oder: Wie die österreichische Architektur zur Sprache kam.

F. A. schreibt kritisch, poetisch, leidenschaftlich, uns anspornend, tiefsinnig, erfahren, famos, intelligent, scharfsinnig, genussvoll, anders, kompetent, ausdauernd, menschlich, konsequent, persönlich, niveauvoll, pointiert über Architektur und das Leben darum herum.

Wir wünschen uns weiterhin mehr davon . . .

„Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert“, Band III/1 (Wien, 1. bis 12. Bezirk), 348 S., Ln., € 14,40; Band III/2
(Wien, 13. bis 18. Bezirk), 256 S., Ln., € 14,90 (beide Residenz Verlag, Salzburg)

„Wiener Architektur - Zwischen typologischem Fatalismus und semantischem Schlamassel“, 236 S., geb., € 29,90 (Böhlau Verlag, Wien)

„Die rückwärtsgewandte Utopie: Motor des Fortschritts in der Wiener Architektur?“, 64 S., geb., € 7,90 (Picus Verlag, Wien)

„Region, ein Konstrukt? Regionalismus, eine Pleite?“, 194 S., geb., € 34,50 (Birkhäuser Verlag, Basel)

„einschlafgeschichten“, 104 S., geb., € 13,30 (Zsolnay Verlag, Wien)

„wiener linien“, 104 S., geb., € 15,40 (Zsolnay Verlag, Wien)

„Die Plotteggs kommen - Ein Bericht“, 48 S., Ln., € 10,50 (Sonderzahl Verlag, Wien)

Mit H. C. Artmann und Günter Brus: „Von A bis Zett - Zehn Alphabete“, 40 S., geb., € 10,90 (Residenz Verlag, Salzburg)

17. Mai 2000Klaus Nüchtern
Jan Tabor
Falter

Wien darf Chicago werden

Der Architekturkritiker und Schriftsteller Friedrich Achleitner feiert seinen 70. Geburtstag. Der „Falter“ sprach mit ihm über sein legendäres Architekturarchiv, über Wiener Architekten, Wiener Gruppen und Wien im Allgemeinen.

Der Architekturkritiker und Schriftsteller Friedrich Achleitner feiert seinen 70. Geburtstag. Der „Falter“ sprach mit ihm über sein legendäres Architekturarchiv, über Wiener Architekten, Wiener Gruppen und Wien im Allgemeinen.

Seine Architektenkarriere hat der am 23.5.1930 im oberösterreichischen Schalchen geborene Friedrich Achleitner bald wieder aufgegeben. Geblieben ist ihm allein die schwarzrunde Architektenbrille.

Anstatt selber zu bauen, wandte sich der Schüler von Clemens Holzmeister der Literatur und der Architekturkritik zu. In beiden Sparten wurde Achleitner berühmt: In der Literatur für seine Mitgliedschaft in der Wiener Gruppe und ein schmales, aber viel beachtetes Îuvre (u.a. die Dialektgedichte, die er mit H.C. Artmann und Gerhard Rühm für „hosn rosn baa“ verfasste, oder den „Quadratroman“); in der Architekturkritik für seine ausufernde Bestandsaufnahme österreichischer Architektur des 20. Jahrhunderts, an der Achleitner seit 1965 arbeitet.

Falter: Bedeutet die Präsentation Ihres legendären Archivs das Ende oder den Beginn des Mythos Achleitner?

Friedrich Achleitner: Der Mythos ist doch ein biologisches Phänomen: Je älter einer wird, umso mehr wächst er einem zu. In Wirklichkeit besteht dann der Mythos in 25.000 Karteikarten, den entsprechenden Dias und Fotos ...

Haben Sie je nachgerechnet, wie viele Kilometer in dem Archiv stecken?

Wie viele hunderttausend Kilometer das waren, weiß ich nicht. Vier oder fünf Autos halt.

Wann haben Sie begonnen?

1965. Der Plan war, in drei Jahren einen Architekturführer für ganz Österreich zu haben.

Aber Sie sind noch immer in Verzug.

Ja. Inzwischen lebt der erste Verleger nicht mehr, und der zweite ist gekündigt worden.

Was fehlt?

Noch zwei Bände: der dritte Wien-Band und Niederösterreich.

Und für wann sind die zu erwarten?

Optimistisch beantwortet: in zwei Jahren der Wien-Band.

Das sagen Sie immer - seit ich Sie kenne. Mittlerweile sind es 20 geworden.

Na ja, so ist es. Aber ich kann jetzt in der Pension arbeiten wie noch nie.

Sie sind wahrscheinlich der Österreicher, der dieses Land am meisten befahren und begangen hat.

Als Taxler könnte ich schon überall arbeiten.

Sie müssen ja eine nomadische Existenz führen.

Nein. Das ist eben der Mythos. Es hat sich bei mir auf die Wochenenden - Wien und Umgebung - und auf die Ferien konzentriert, in denen ich dann halt wochenlang herumgefahren bin.

Das heißt, dass Sie auch keinen Urlaub gehabt haben.

Nein, Urlaub habe ich das erste Mal mit 50 gemacht, und da ist es mir derartig elendig gegangen - eine Schreckensvorstellung.

Warum haben Sie eigentlich Ihre Architektenkarriere nicht fortgesetzt?

Ich habe gemerkt, dass ich nicht das Zeug für einen guten Architekten habe. Dabei ging es weniger ums Entwerfen als ums Durchstehen. Wenn ein Handwerker einen Blödsinn macht, tut er mir leid, und ich kann ihm nicht sagen: „Mach das noch einmal.“ Das ist keine Koketterie, das kann ich nicht. Dazu kam, dass mich das Schreiben immer mehr interessiert hat. Ab 1953/54 sind die Freunde der Wiener Gruppe aufgetaucht, und ich wollte weg von der Architektur.

Und die Architekturkritik?

War ein reiner Brotberuf. Ich habe damals konkrete Poesie gemacht und vier Jahre lang keinen Schilling damit verdient.

Wovon haben Sie dann gelebt?

Ich habe bei Architekten gezeichnet. Beim Kattus zum Beispiel. Den kennt heute niemand mehr, aber das war ein sehr gebildeter Architekt, der mir immer Honorarschecks von der Postsparkassa ausgestellt hat, damit ich mir beim Einlösen die Postsparkassa von Otto Wagner ansehe. Damals habe ich ja keine Ahnung gehabt.

Wie sind Sie zur Architekturkritik gekommen?

Die (Schriftstellerin, Red.) Dorothea Zeemann hat damals (Ende der Fünfziger-, Anfang der Sechzigerjahre, Red.) in der Abendzeitung gearbeitet. Das war ein mieses Boulevardblatt, wo alle unter Pseudonym geschrieben haben, die Dora manchmal auch über Architektur. Und da hat sie immer mich konsultiert, bis sie dann einmal gemeint hat: „Geh, schreib doch du des.“ Also hat sie eingefädelt, dass es in der Abendzeitung Architekturkritik gibt. Umgefähr ein Jahr lang habe ich damals über die „Bausünden“ geschrieben. Das letzte Thema war der Abbruch der Renaissance-Häuser in der Sterngasse. Da habe ich auf der Kulturseite gegen den Abbruch geschrieben, und der Lokalredakteur hat auf der Lokalseite dafür geschrieben. Als ich draufgekommen bin, dass der eine Wohnung dort kriegen sollte, habe ich gekündigt. Ein paar Monate drauf habe ich das dann bei der Presse fortgesetzt.

Und was kam danach?

ch habe 1972 ein Stipendium für Berlin bekommen. Das war wirklich meine Lebensrettung: Ich war völlig ausgeschrieben. In Berlin habe ich ein Jahr lang eigentlich nix gemacht, außer mit dem Gerhard Rühm „Fang den Hut“ gespielt.

Im Interview mit dem „Wespennest“* war's noch „Mensch ärgere Dich nicht“.

Nein, ich glaube es war „Fang den Hut“.

Wie war es eigentlich, unter Otto Schulmeister in der „Presse“ zu schreiben?

Jedes Mal, wenn ich mit Architekten einen Wickel gehabt habe, haben die direkt beim Herausgeber Wolf in der Maur interveniert, was dann auf den Schulmeister niedergegangen ist. Er hat das aber ausgehalten, und ich habe mit ihm in den zehn Jahren nur ein Gespräch gehabt - das Vorstellungsgespräch.

Waren die Großarchitekten mächtiger als heute?

Das glaube ich nicht.

Diese Art von Intervention scheint wirklich vergangen zu sein.

Ich möchte nicht wissen, wie das ist, wenn man den Peichl angreift. Das erscheint dann gar nicht.

Warum haben die Architekten so empfindlich reagiert?

Es ist viel Geld im Spiel, und die Architekten waren es einfach nicht gewohnt, dass sie in den Medien kritisiert werden.

Hat sich die Architekturkritik verändert?

In dem Sinne, dass man hart auf etwas losgeht, gibt es sie nur mehr sehr selten. Ich mache es ja auch nicht mehr. Ich war aber immer schon gegen das Abkanzeln. Der begleitende Kommentar wäre eigentlich meine Idealvorstellung.

Braucht die Architektur keinen kritischen Diskurs mehr?

Doch, aber ich denke, dass die Architektur in den letzten Jahren viel schwieriger geworden ist. All dieses technologische Zeug! Es ist ein wahnsinnig hartes Gewerbe geworden, und das macht auch die Kritik so schwierig.

Sind nicht mitunter stadtplanerische Kriterien wichtiger als rein architektonische?

Ja, aber ich habe das eigentlich nie gemacht. Das muss man auch studiert haben.

Wie stehen Sie zu Roland Rainer?

Muss das sein?

Wir gehen einfach sämtliche Jubilare durch. Arnulf Rainer kommt auch noch dran.

Ich bin bei Rainer in einem Zwiespalt. Natürlich schätze ich sein Werk - keine Frage. Was mich immer gestört hat und weswegen wir auch ein etwas gespanntes Verhältnis zueinander haben, ist sein fast doktrinäres Behaupten von Wahrheiten. Das hat sicher mit der Tradition der Moderne zu tun, deren wissenschaftliche und sonstige Ordnungskonzepte zu den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts geführt haben.

Aber Rainer ist mit dem hybriden Pathos der Moderne ja nun wirklich nicht zu identifizieren.

Darum möchte ich ja eigentlich nichts zu ihm sagen, weil es dann immer falsch wird.

Wie ist es dann mit Arnulf Rainer? Den wollten Sie doch ursprünglich für die von Ihnen und Johann Georg Gsteu umgebaute Rosenkranz-Kirche in Hetzendorf haben.

Ja. Dieser frühe Rainer war für mich schon verdammt stark. Man muss halt auch sagen, dass die Alternative der Ernst Fuchs war.

Ist diese Alternative im Prinzip nicht geblieben?

Insofern nicht, als sich über den Fuchs heute niemand mehr aufregt. Damals aber sind denen die „obszönen“ Christusbilder unglaublich auf den Geist gegangen.

Wie war das damals überhaupt? Sie haben einmal gesagt, dass Sie von Hunderten Revoluzzern umgeben waren, die dann später alle Professoren geworden sind.

Etwas verkürzt. Es waren halt alle irrsinnig ausgehungert nach Informationen und Neuem. Keiner hat ein Geld gehabt, jeder hat etwas gewollt, alle haben gearbeitet ...

Gearbeitet wurde auch?

Schon. Aber natürlich ist auch irrsinnig viel herumgesessen worden, und immer ist irgendwo etwas zum Trinken gestanden, und wenns der billige Usia-Fusel war, der die grauslichsten Rausch-Leichen hervorgebracht hat. Man hat immer gewusst, wo abends was los ist. Die Leute haben sich meistens in Ateliers, in Wohnungen oder in Beisln getroffen.

Zu Hause ist man nicht geblieben?

Die Unterkünfte, die man als zugereister Student gehabt hat, kann man sich heute ja nicht mehr vorstellen. Das waren so genannte möblierte Zimmer - ungeheizt. In meinem Zimmer waren zum Beispiel alle Möbel eingepackt, und das Einzige, was ich benutzen durfte, waren das Bett und das Nachtkastl. Arbeiten konnte man daheim nicht.

Also haben Sie im Cafe gearbeitet.

Nein, an der Akademie. Gsteu und ich haben nur deswegen noch vier Semester Bühnenbild studiert, damit wir die warme Stube nicht verlassen müssen.

Die Cliquen, die es damals gab, waren die nicht sehr hierarchisch aufgebaut? Die Wiener Gruppe hat doch eine ziemliche Ausgrenzungsfreudigkeit an den Tag gelegt.

Das waren Reinigungsrituale. Damals ist ja auch das schreckliche Wort „kompromisslos“ sehr oft gebraucht worden. Uns hat zum Beispiel gestört, dass Konrad Bayer mit einem sagenhaft schlechten Maler befreundet war, von dem er sich malen hat lassen. Für uns war das eine Schändung unserer lauteren Haltung, und wir haben das eine Nacht lang diskutiert. Das muss man sich mal vorstellen!

Aber in der Wiener Gruppe dürften Sie entschieden der Gemütlichste gewesen sein.

Weil ich gespalten war. Architekten müssen ja positiv sein. Diese ganze Phase von Bayer und Ossi Wiener, in der sie sich mit Selbstzerstörung und Selbstmord beschäftigt haben, hat mich nie interessiert. Auch der ganze Existenzialismus ist an mir vorbeigegangen. Ich bin vom Land gekommen, war ein bäuerlicher Mensch und wollte etwas Gscheites studieren, schöne Sachen machen.

Frauen haben es mit Männerbünden wie der Wiener Gruppe wohl auch nicht ganz leicht gehabt?

Das war sehr unterschiedlich. Von Feminismus war tatsächlich keine Rede. Es stimmt allerdings sicher nicht, dass die Frauen, die künstlerisch gearbeitet haben, ausgegrenzt worden wären.

Elfriede Gerstl jedenfalls hat schon gewusst, dass sie respektvoll Abstand zu halten hatte.

Das ist ein Wiener Phänomen, und jeder von uns, der von außen gekommen ist, hat darunter auch gelitten. Deswegen habe ich auch einmal per Hetz gesagt, dass ich nur in die Wiener Gruppe gekommen bin, weil ich einen Roller gehabt habe und den bsoffenen H.C. heimgeführt habe. In Wien gibt es schon diese Zirkel, wo das Hineinkommen und das Zulassen ein Ritual darstellt. Das hats beim P.E.N.-Club aber genauso gegeben. Der alte ... Wie hat der Herrenreiter geheißen?

Lernet-Holenia.

Genau. Der hat über uns immer gesagt: „Nur ned zulassn.“

Harry Glück hat einmal gemeint, dass Sie nur über Ihre Freunde schreiben würden, worauf Sie gesagt haben sollen, Sie könnten nichts dafür, dass Ihre Freunde so gut seien.

Nein, ich habe ihm gesagt, dass es für mich wahnsinnig wäre, mit schlechten Architekten befreundet zu sein. Ich habe ja trotzdem ein paar Freunde, die schlechte Architekten sind, die haben sich halt damit abgefunden, dass sie nicht vorkommen.

Wie würden Sie heute Harry Glück einschätzen?

Er hat insofern seine Verdienste, als er ein typologisches Modell entwickelt und realisiert hat. Aber die so genannte „Wohnzufriedenheit“ ist etwas, womit man überhaupt nicht argumentieren kann. Jeder Mensch, der unter der Brücke geschlafen hat, ist zufrieden, wenn er ein 3-mal-3-Meter-Zimmerl kriegt, und jeder Mensch, der sich verschuldet, ist mit einer Wohnung vom Glück zufrieden, weil er seine Situation nicht mehr verändern kann. Der Krankl (Hans Krankl war eine Zeit lang der berühmteste Bewohner des von Glück errichteten Wohnparks Alterlaa, Red.) kauft sich dann eben die Villa und ist dann wieder zufrieden.

Wie würden Sie die Entwicklung in Wien generell einschätzen?

Es ist ein Gemeinplatz, aber ich halte Wien schon für eine sehr lebensfreundliche Stadt - in jeder Hinsicht.

Und wenn Sie woanders leben müssten?

Da kommen schon noch ein paar Städte in Frage: Berlin, Barcelona - in Italien kann man fast in jeder Stadt wohnen, in Turin zum Beispiel. Es sollte aber eigentlich eine Großstadt sein.

Welche Städte wären mit Wien am ehesten vergleichbar?

Da würde ich komischerweise doch Berlin sagen.

Wird nicht das gemütliche Wien dem hektischen Berlin immer gegenübergestellt?

Das ist ganz falsch! Da halte ich Budapest für viel hektischer. Die Berliner sind langsam, sentimental, schlampig, goschert, tan Schmäh führen ... Das hängt wohl auch damit zusammen, dass es in Berlin seit Generationen Zuzug von Polen und Schlesiern gibt. Obwohl Berlin westlich von Wien liegt, ist Berlin stadträumlich eher eine östliche Stadt.

Was sind denn Ihre Lieblingsplätze in Wien?

Obwohl ich fast jede Ecke kenne, bin ich immer wieder über die Vielfalt erstaunt. Es gibt auch absolute Nicht-Orte, die auch ihren Reiz haben: Das ganze Katastrophenviertel hinter der Angewandten. Da ist man plötzlich in Chicago - im positiven Sinne. Oder gegenüber vom Gänsehäufel - da gibts ein ganz klasses Wirtshaus mit zwei Terrassen runter zum Wasser. Da sitzt man dann und sieht nur Aulandschaft, und dahinter stehen die Hochhäuser von der Kagraner Straße. Es ist wie am Michigan-See.

Also darf Wien ruhig Chicago werden?

Kann man nur hoffen.

* Friedrich Achleitner: Siebzig. Erich Klein im Gespräch mit F.A. In: Wespennest Nr. 118 (Frühjahr 2000).

19. Mai 1990Otto Kapfinger
Die Presse

Sinnliche Nähe

Achleitner: Handwerker vom First zum Keller

Achleitner: Handwerker vom First zum Keller

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Presseschau 12

17. September 2011Friedrich Achleitner
Spectrum

Das Leben zu verbessern

Anfang dieser Woche, am 12. September, ist Wolfgang Windbrechtinger im 89. Lebensjahr gestorben. Mit ihm verliert Österreich einen stillen, gesellschaftlich...

Anfang dieser Woche, am 12. September, ist Wolfgang Windbrechtinger im 89. Lebensjahr gestorben. Mit ihm verliert Österreich einen stillen, gesellschaftlich...

Anfang dieser Woche, am 12. September, ist Wolfgang Windbrechtinger im 89. Lebensjahr gestorben. Mit ihm verliert Österreich einen stillen, gesellschaftlich verantwortungsbewussten Architekten der „Kriegsgeneration“, die sich mit besonderem Engagement der Neudefinition einer sozialen Architektur widmete. Das Werk von Traudl und Wolfgang Windbrechtinger entstand in einer lebenslangen Partnerschaft. Ausgebildet in Graz, entwickelten sie ab 1956 in Wien, in der Steiermark und in Niederösterreich, in freundschaftlicher Beziehung zu Roland Rainer, eine gesellschaftlich engagierte Architektur, die sich als gründliche Verbesserung aller Lebensbedingungen verstand.

Ihre erste Arbeit, das Volksheim Kapfenberg (1957), wurde, mit drei weiteren Bauten aus Österreich, in den europäischen Architekturführer von Kidder Smith aufgenommen. Es folgten die Hallen-Kindergärten von Böhlerwerk, Amstetten, Obergrafendorf, Reihenhaussiedlungen, der „Volksheurige Bellevue“, das Einkaufszentrum Hietzing, in Wirklichkeit das Bezirkszentrum von Hietzing (künstlerische Zusammenarbeit mit Maria Bilger). Erste Haussanierungen in der Schönlatern- und Sonnenfelsgasse (innere Stadterneuerung), Freilegung der Virgilkapelle (Stephansplatz) und Mitplanung der ersten Fußgängerzone Wiens.

Die „Windbrechtingers“ waren Mitbegründer der Österreichischen Gesellschaft für Architektur (1965) und schufen unter anderem mit Viktor Hufnagl die impulsgebende Ausstellung „Neue städtische Wohnformen“ (1967). Windbrechtinger war einer der liebenswürdigsten Kollegen der Wiener Architektenschaft.

Spectrum, Sa., 2011.09.17

25. Juni 2005Friedrich Achleitner
Spectrum

Was heißt schon „Welt“?

Soll man jenen, die mit dem Schutz des Bestehenden befasst sind, auch die Zukunft überlassen? Schlagwort Weltkulturerbe: eine Attacke.

Soll man jenen, die mit dem Schutz des Bestehenden befasst sind, auch die Zukunft überlassen? Schlagwort Weltkulturerbe: eine Attacke.

Bekanntlich sind gute Absichten nicht unbedingt das Gute selbst. Deshalb möchte ich am Beginn meiner Bemerkungen und Fragen ausdrücklich feststellen, dass es hier nicht um eine Kritik an den Zielen von Unesco geht, sondern um die Artikulation eines Unbehagens im Zusammenhang mit dem Konstrukt Weltkulturerbe.

Es geht auch nicht um die Infragestellung des weltweiten Schutzes von kulturellem Erbe, sondern um die Ausdehnung dieses Schutzes etwa auf „lebendes Erbe“, wo sich also der „Schutz“ in eine Verhinderung entstehenden, künftigen Erbes verwandeln kann. Oder anders ausgedrückt: Sollte man jenen, die mit dem Schutz des Bestehenden befasst sind, auch die Zukunft überlassen? Die Zukunft kann keine Extrapolation aus dem Bestehenden sein, wenn sie sich nicht als Farce in das Bestehende einschmuggeln soll.

1. Was heißt „Welt“?

Der Begriff ist wohl im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Konkurrenz der aufstrebenden Nationalstaaten populär geworden: Weltausstellungen, Welthandel, Weltherrschaft (später: Weltkrieg), Weltuntergang. Und nicht zuletzt auch im Sport: Weltmeister. Welt ist auch ein enzyklopädischer Begriff, der in jeder Hinsicht Totalität anstrebt, mit eingeschlossen Hierarchien, Ordnungen, Wertungen, von Anfang an eurozentriert, was sonst. In einem kulturellen Kontext also Welt in den Mund zu nehmen ist nicht nur eine Anmaßung, sondern setzt sich dem Verdacht auf Blindheit oder Naivität aus.

2. Interessen und Interessenkollisionen

Weltkulturerbe ist kein Wert an sich, keiner, den die Länder (Staaten) a priori anerkennen - und wenn, dann unter sehr unterschiedlichen Bedingungen. Weltkulturerbe ist ein Prädikat, das zuerkannt wird. Damit werden die Verwalter dieses Weltkulturerbes zunehmend zu einem Verhalten genötigt, das sich diesen unterschiedlichen Interessen anpasst. Aber welche Interessen sind es dann wirklich? Welche Gründe gibt es, um für dieses Prädikat anzusuchen? In dieser Frage steckt der Wurm. Es geht nicht um den Glanz und die Verpflichtung, dokumentiertes und ausgezeichnetes Kulturgut zu erhalten - kein Land weiß mehr, wie es die Mittel für die Erhaltung seiner Kulturgüter aufbringen soll -, sondern es geht um einen handfesten Rollenwechsel, von einer idealen auf eine reale Ebene, es geht um Wirtschaft, Werbung und Tourismus. Das ist nicht unehrenhaft, aber es stellt die Sache auf den Kopf. Und der Teufelskreis schließt sich, wenn man sich aus dem Effekt der Auszeichnung die ökonomische Basis für die Erhaltung verspricht.

Damit verbunden ist ein neoliberalistisches Denken: Die Staaten, Städte und Gemeinden wollen eigentlich dieses Erbe loswerden, das Weltkulturerbe wird zunehmend in eine ökonomische „Selbstständigkeit“ entlassen (siehe Schönbrunn). Es soll also, wenn es überleben will, selbst für sich arbeiten. Und gerade dieser Rollenwechsel bedeutet eine Entfremdung, die auf lange Sicht zur Zerstörung führen muss.

3. Theorie und Praxis

Die vorläufige Liste des „Erbes der Welt“ umfasst bisher (nach Manfred Wehdorn) 754 Denkmäler von 128 Staaten. Auf einer „Warteliste“ stehen 1325. Und das Interesse, der Druck wird immer größer. Wie man erfährt, sollen in Zukunft nur rund 30 Objekte pro Jahr in die Welterbeliste aufgenommen werden. Was bedeutet das?

Der Zugang zu dieser Liste ist also praktisch auf ein halbes Jahrhundert blockiert. Da es dabei, wie gesagt, um handfeste wirtschaftliche Interessen geht, kann man sich ungefähr ausmalen, was hier für politische und ökonomische Lobbys in Bewegung gesetzt werden. Das Entscheidungsgremium besteht aus etwas mehr als 20 Personen, die, wie man versichert, Funktionäre der Unesco und keine Fachleute sind. Auch das noch.

4. Ein paradoxer Zustand

Einerseits wird versichert, dass es sich bei der Weltkulturerbe-Kommission um ein beratendes Organ ohne Entscheidungskompetenz handelt (also ein in Wirklichkeit zahnloses Instrument), andererseits wird das Auftreten dieser Scheininstitution medial so aufgewertet, dass jede Stadtregierung zittert, wenn dieses oberste Weltkulturorgan mit der Drohung auftritt, das Prädikat Weltkulturerbe (bei entsprechendem Missverhalten) wieder abzuerkennen (Schauplatz: Wien Mitte). Nun könnte man zynisch anmerken, ein Instrument für Drohgebärden kann in manchen Fällen ganz nützlich sein, aber ich fürchte, das wird sich herumsprechen.

5. Aufwertung ist gleich Abwertung

In dem nützlichen „Stadtführer durch das Weltkulturerbe der Unesco Wien“ ist dem Grafiker ein Lapsus passiert. In der Luftaufnahme Wiens ist die Kernzone rot eingerandet und dunkelgrau „hinterlegt“, die Pufferzone blau eingerandet und hellgrau unterlegt, während die nicht tangierten Stadtteile in voller Schärfe erscheinen. Auf den ersten Blick bekommt man einen Schreck, man glaubt, in Wien hat eine Bombe eingeschlagen: Die Kernzone ist ausradiert, die Pufferzone zeigt noch spärliches Leben. Botschaft: Wenn die Bombe Weltkulturerbe eine lebendige Stadt trifft, sieht es später einmal so aus.

Das ist natürlich eine maßlos übertriebene und zynische Bemerkung. Das Bild wollte gerade das Gegenteil vermitteln. Aber dann wäre der Kern übrig geblieben und die Stadt wäre verschwunden. Also doch eine Botschaft? Diese liegt im Hervorheben! Wenn man etwas hervorhebt, wird mit dieser Auszeichnung etwas anderes abgewertet. So werden Teile der Wiener Bezirke von drei bis neun zu einer „Pufferzone“ degradiert. Zonen, die man aber für ihre Lebensqualität weltweit „feiern“ müsste. Und das andere Wien ist überhaupt kein Thema mehr.

Diese Problematik überträgt sich beim Konstrukt Weltkulturerbe auf die ganze „Welt“. Wenn man die zahnlosen Instrumente der Bewertung bedenkt, kann das nur in einem Desaster enden. Die Konsequenz daraus wäre, den ganzen Globus zum Weltkulturerbe zu erklären und die ganze einseitige, überbetont kunsthistorisch-ästhetische Betrachtung aus der Welt zu schaffen.

Aber die Unesco kümmert sich doch auch schon um die Natur? Eben, man muss sich um alles kümmern, wenn man das Besondere erhalten will. Denn dass beim Absterben des Erdballs das Weltkulturerbe übrig bleibt, wird ja niemand ernsthaft annehmen.

6. Definitionskompetenz, Definitionsmacht?

Während die auf wackeligen Beinen stehende, kritisch zu hinterfragende und nur durch Schein legitimierte Definitionskompetenz sich langsam in eine Definitionsmacht verwandelt und zu einer Art „ästhetischer Weltregierung“ mutiert, führen die daraus resultierenden Maßnahmen in ein unüberschaubares Desaster. Die neoliberalen Strategien der „Verwertung“ sind in Wirklichkeit auf Jahrzehnte angelegte Zerstörungsstrategien. Man kann auf dieses Problem nur mit Nachdruck hinweisen. Eine Studie „Was nützt das Weltkulturerbe - und was richtet es an?“ wäre dringend zu empfehlen.

Jede Verleihung des Prädikats Weltkulturerbe trägt ein ökonomisches Versprechen in sich und weckt Begierden und Hoffnungen bei anderen. Die Ernennung zum Weltkulturerbe rückt ein Objekt, eine Stadt oder eine Landschaft im weltumspannenden Wertenetz in zentrale Positionen, macht sie (was man ja will) zu begehrten touristischen Zielen, man schafft also die Garantie, dass Millionen von Menschen dieses Erbe zertrampeln, und was nicht von den Menschen selbst angerichtet wird, schaffen Erschließung und Infrastruktur, Neben- und Versorgungseinrichtungen. Es wären also, wollte man wertvollstes Kulturerbe wirklich schützen, Gegenstrategien angesagt: Verheimlichung, Streichung aus den touristischen Verteilernetzen, generelle Sperrung, selektive Zugänglichkeit (etwa nur für Studienzwecke) und vieles mehr. Es stellt sich die Frage, ob Strategien, die auf Konkurrenz und Gewinn aufbauen, dies jemals leisten können. Sicher nicht.

Wenn man schon vom Schutz kulturellen Erbes spricht, müsste man auch viele andere Aspekte bedenken, etwa die der symbolischen Verwundbarkeit von Staaten, Kulturen, Religionen. Welche Rolle spielen „Bestenlisten“ in einem solchen Kontext, oder welche könnten sie spielen? War es ein Zufall, dass im letzten Jugoslawien-Krieg die Generäle bevorzugt ihre Kanonen auf jene Objekte richteten, an denen die blauweißen Schilder der Unesco angebracht waren? Was bedeutet in einem solchen Kontext Schutz wirklich? Von den Horrorbildern aus den irakischen Museen gar nicht zu reden.

Mir scheint, das Wettrennen um das Prädikat Weltkulturerbe ist nicht nur ein törichtes, sondern letztlich auch ein gefährliches Spiel. Weltweite Aufmerksamkeit ist keine Garantie für Sicherheit, eher eine für die langsame Zerstörung. Die Millionen schwitzender Menschen, die durch Schönbrunn geschleust werden - und die zu 95 Prozent nicht einmal wissen, warum - sind weder kulturell noch ökonomisch argumentierbar. Sicherheit oder eine Art Trost läge in einer totalen Inflation von Weltkulturerbe, dass alle Artefakte wieder in eine relative Bedeutungslosigkeit zurücksinken.

So wie man den Museen erlauben sollte, sich Bordelle oder Spielcasinos zu halten, statt sie selbst auf den Strich zu schicken, so sollte man auch für die Erhaltung des „Weltkulturerbes“ andere Finanzierungsstrategien als jene peinliche „Weltmeisterschaft“ entwickeln, die sich als Instrument der Selbstzerstörung erweisen wird. Wenn der Begriff Welt in diesem Zusammenhang einen Sinn hat, dann jenen, dass diese Welt für ihr Erbe zu sorgen hätte, und zwar ohne dieses auf den Weltmarkt zu werfen.

Dazu wären aber andere Institutionen aufgerufen als Vereine von Kunsthistorikern und Denkmalpflegern. Und man sollte den Begriff des Erbes auf die toten Zeugen der Weltkulturen beschränken und alles aus dem Spiel lassen, das noch künftiges Weltkulturerbe produziert.

Spectrum, Sa., 2005.06.25

15. März 2005Friedrich Achleitner
zuschnitt

Mischung, Mischbau, Mischkulanz ..?

Wenn man über Mischung nachdenkt, kommt man zwangsläufig zum Begriff der Reinheit, und damit betritt man philosophischen, wenn nicht gar ideologischen...

Wenn man über Mischung nachdenkt, kommt man zwangsläufig zum Begriff der Reinheit, und damit betritt man philosophischen, wenn nicht gar ideologischen...

Wenn man über Mischung nachdenkt, kommt man zwangsläufig zum Begriff der Reinheit, und damit betritt man philosophischen, wenn nicht gar ideologischen Boden. Ich vermute, Reinheit ist, abgesehen vom bayerischen Reinheitsgebot beim Bier, eine Entdeckung der Moderne, also des neunzehnten Jahrhunderts.

Klassifizierungen, Unterscheidungen, Beschreibungen von Merkmalen, ob in der Zoologie oder in der Architektur, verleiten zur Reinheit. Die Moderne hat in ihrem wissenschaftlichen Radikalismus vermutlich nicht nur die Reinheit entdeckt, sondern sie auch zum Prinzip, zu einem ihrer Gesetze erhoben: Die Reinheit der Nationen, der Rassen, der Ethnien und Religionen und, natürlich auch, der Verwendung von Materialien. So führten die großen Entdeckungen des neunzehnten Jahrhunderts (nicht nur jene von Gregor Mendel) in die Katastrophen des zwanzigsten. Der ordnende Geist kennt keinen Spaß, ist auf Grund seiner schlichten Regelhaftigkeit immer intolerant, ausschließend, solchermaßen erkannte Ordnungsprinzipien sind eine todernste Angelegenheit. Und die Utopien der Reinheit sind heute noch virulent, gerade bei »hoffnungslos« vermischten Völkern, und Jugoslawien, so ist zu befürchten, wird nicht das letzte Beispiel gewesen sein. Man könnte also auch die Reinheit als den großen, katastrophalen Irrtum der Moderne bezeichnen.

Mischen hat mit Vermischen zu tun, und dem Mischling ist nach den Gesetzen der Reinheit nicht zu trauen. Warum? Er kann sich einfach nicht für die eine oder andere Reinheit entscheiden, er bleibt damit allen Reinheiten suspekt. Die Reinheit als absolute Qualität. Nur: Reiner Blödsinn ist auch rein.

In ästhetischen Bereichen, etwa in der Architektur, geht es zwar nicht so blutrünstig zu, aber nicht minder streng. Der »Sündenfall« begann vermutlich mit der Entdeckung der sogenannten anonymen Architektur, ein Widerspruch in sich selbst. Man entdeckte die Regeln des Bauens in Holz, Stein oder Lehm und vermutete (hinter der Armut) paradiesische Zustände. Die berühmte Not, die für den Ästheten zur Tugend wird. Der Zwang, nur in einem Material bauen zu müssen, provoziert handwerkliche Fähigkeiten, Erfindungskraft, ja Listen und Tricks. Die slowakischen Artikularkirchen, die Dörfer im rumänischen Karpatenbogen oder die norwegischen Stabkirchen (gar nicht zu reden von den japanischen Holzbauten) bringen den ästhetischen Blick zum Glänzen. Doch die Materialreinheit ist auch bei den klassischen Holzbauten ein visionäres Konstrukt: Es gibt auch bei ihnen Stein, Beton, Glas, Papier und Metall, und vor allem die Farbe. Zumindest gilt dies für bewohnbare Architektur.

Es ist ja nicht zu leugnen, dass Bauten in einem Material gerade vor dem Hintergrund der Fülle, der Opulenz oder Überstrapazierung und Vergeudung, ein wiederkehrender Traum des Architekten bleiben werden. Auch das Weglassen, das Ausreizen eines Baustoffs, seine sinnstiftende Allgegenwart ist oder kann eine hohe Kunst sein. Aber Venedig wird deshalb nicht untergehen. Und man kann darüber streiten, ob die Kombination verschiedenster Materialien nicht die noch »höhere«, weil komplexere Kunst ist, als die eindimensionale, unduldsame, in ihrer Selbstgerechtigkeit eines Werkstoffs. Man könnte auch behaupten, wenn sich die Einheit eines Materials an einem baulichen Thema »abarbeitet«, so entsteht eine Art von Harmonie, die ihren ästhetischen Seelenfrieden in sich selbst findet, im Glanz einer perfekten Dinglichkeit, die von nichts bedroht erscheint. Bei der Mischung von Materialien treten nicht nur technische, technologische (handwerkliche) Konflikte auf, sondern vor allem kulturelle. Jedes Material hat seine Geschichte, ist vielfältig »belastet«, ja kann zeitweise tabuisiert sein (etwa der römische Travertin oder die Solnhoferplatten nach 1945), so dass jede Mischung a priori Konflikt bedeutet. Gottfried Semper sah in der Form die Überwindung des Stofflichen, was auch den Stoffwechseltheorien neue Spielwiesen eröffnete. Damit wäre die Diskussion in der ihn überholenden Moderne eigentlich selbst schon überholt gewesen.

So gesehen war der Streit um die Materialgerechtigkeit im zwanzigsten Jahrhundert ein Rückfall, um nicht zu sagen ein Holzweg. Damit fiel ein ganzes Jahrhundert auf die Nase. Das Material will (das ist eine strafbare Behauptung), um all sein Können zu zeigen, zu entfalten, überlistet, betrogen, überfordert werden. Wo bleibt da die Gerechtigkeit, wenn plötzlich Holz wie Stein, Lack wie Marmor oder Kunststoff wie Holz erscheinen will? Wer hätte das gedacht: die ganze Materialgerechtigkeit eine Trickkiste?

Es gibt offenbar in unserer mitteleuropäischen Baugeschichte eine Kontinuität und das ist die lineare Koexistenz der Abwechslung: Auf die katholische Üppigkeit folgt protestantischer Purismus, auf Gegenreformationen der Materialien die Doktrin ihrer vernünftigen und sparsamen Verwendung, auf Fülle und Opulenz Sparsamkeit und Reduktion. Flut und Ebbe haben ihre kosmische Konstanz im Wechsel. Sag mir keiner, die Wahrheit liegt diesmal in der Mitte. Das sicher nicht.

zuschnitt, Di., 2005.03.15



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27. Mai 2004Friedrich Achleitner
Der Standard

Ein Brauhaus wird zum Schauarchiv

Die architektonische Szene hat sich in Tirol in den letzten zehn Jahren radikal verändert, nicht zuletzt durch die intelligente und hartnäckige Arbeit...

Die architektonische Szene hat sich in Tirol in den letzten zehn Jahren radikal verändert, nicht zuletzt durch die intelligente und hartnäckige Arbeit...

Die architektonische Szene hat sich in Tirol in den letzten zehn Jahren radikal verändert, nicht zuletzt durch die intelligente und hartnäckige Arbeit des Architekturforums Tirol: Ausstellungen, Vorträge, Publikationen, Führungen zu Baustellen und beispielhaften Bauten, Betreuung von Gästen und ständige Präsenz in Sachen Architektur.

Nicht nur durch die „Bergisel-Schanze“ von Zaha Hadid hat Innsbruck ein neues Wahrzeichen bekommen. Mit der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät Sowi der Architekten Henke und Schreieck wurde ein neuer vitaler Stadtraum geschaffen, der Bahnhof mausert sich zum attraktiven Entree in die Stadt.

Banken, Buchläden, Rathaus, Stadthäuser, Wohnanlagen, ja eine Krankenhauserweiterung und ein Umspannwerk der Stadtwerke zeigen Profil und reden im baukulturellen Angebot der Stadt mit.

Nicht anders auf dem Land: Hier wird die MPreis-Kette schon mehr mit Architekturpreisen als mit Lebensmitteln assoziiert. Es gibt Sport- und Ortszentren, Hotels und Kindergärten, die die Quälereien mit dem regionalen Baukitsch vergessen machen.

Sogar dem größten Tiroler Architekten des 20. Jahrhunderts, Lois Welzenbacher, wird im letzten Moment der verdiente Respekt erwiesen: Das Parkhotel in Hall in Tirol (ehemals Turmhotel Seeber) ist nicht nur vorbildlich revitalisiert, sondern hat mit respektvoller formaler Distanz einen kontrapunktischen Zwilling bekommen.

Architekturspeicher

Die interessanteste Baustelle ist in diesem Zusammenhang der Umbau eines weiteren Welzenbacher-Baus, das Sudhaus vom ehemaligen Adambräu in der Nähe des Bahnhofs.

Welzenbacher hatte eigentlich nur für den markanten technischen Turmbau eine visuell prägnante Hülle geschaffen, die sich im Stadtraum auf einem hohen architektonischen Niveau behauptet.

Der obere Teil des Baus war der Speicherung (Silos für Weizen, Malz etc.) und der Beförderung vorbehalten, während sich im unteren das Sudhaus mit riesigen Kupferkesseln befand. Hier wurde großzügig Einblick in den Brauprozess gewährt - saubere Produktion als Werbung.

Die Adaptierung des Gebäudes als Archiv der Architekturfakultät Innsbruck und als Sitz des Architekturforums Tirol transformiert den Baugedanken in einer eindrucksvollen Weise: In den oberen Teil des Baus kommt das Archiv, also die Sammlung des architektonischen Wissens (die Silos mutieren tatsächlich zu Archivräumen), im unteren Teil - in einer offenen, großzügigen, in versetzten Ebenen organisierten Raumgruppe - geschieht dessen Vermittlung und Ankoppelung an das Kulturleben der Stadt.

Der Standard, Do., 2004.05.27



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Adambräu – Umbau Sudhaus

11. Dezember 2002Friedrich Achleitner
ORF.at

Einfachheit, oder?

Die Einfachheit ist alles andere als einfach.

Die Einfachheit ist alles andere als einfach.

Spätestens seit dem 19. Jahrhundert ist sie Antwort auf eine Vielfalt, die in der kulturellen Dynamik der immer mehr wuchernden ästhetischen Produktion der modernen Gesellschaft entsteht.

Einfachheit ist Konzentration, Fokussierung, Auswahl und Ausschluss, Klärung, Übersicht, ja Konzentration, Opposition und Verdichtung. Das Einfache ist nicht mehr das Selbstverständliche, Einfältige, Gottgegebene. Wie wäre es sonst anders zu erklären, dass die Einfachheiten immer wieder als große Anstrengungen auftreten, ja oft mit dem Anspruch einer neuen Weltsicht. Das Einfache ist aber auch mit puritanisch-moralistischen Strömungen verwandt, nicht selten mit einem religiös-messianischen Charakter, humorlos und ausschweifend asketisch, aber diese Varianten gedeihen hierzulande ohnehin schlecht.


Zwischen Sinnlichkeit und Nüchternheit

Aber die Spannungen zwischen barock-expressiver Sinnlichkeit und protestantischer Nüchternheit bestehen in der österreichischen Architektur weiter, auch wenn die Lager schon längst geräumt sind.

Und ob die programmatische Einfachheit einiger jüngerer Grazer Architekten eine existentielle Reaktion auf die „Heroen“ der sogenannten „Grazer Schule“ ist, sei dahingestellt, denn auch Graz ist kein geschlossener und versiegelter Kulturraum, so dass es sich dabei nur um regionale Konflikte handeln könnte.


Unangestrengte Selbstverständlichkeit

Wie immer, das Bundesoberstufenrealgymnasium gehört zu den Bauten mit einer zunächst „einfachen“, klaren Erscheinungsform, wobei aber die ästhetische Stringenz nicht zelebriert wird, sondern eine fast beiläufige unangestrengte Selbstverständlichkeit signalisiert.
Hans Gangoly hat schon bei anderen Bauten bewiesen (Atelierhaus in Stoob, Stadtmühle Graz, Wohnhaus Defreggergasse Graz oder bei Einfamilienhäusern), dass er in einer scheinbar pragmatischen (in Wirklichkeit inhaltlich präzisen und schlüssigen) Weise auf landschaftliche Situationen oder einen Baubestand zu reagieren vermag.

Die Schule steht in einem ehemaligen Industriegebiet mit großen Hallen - auch der ältere und neu vordringende Wohnbau zeigt Massen - ein Gebiet, das sich in einer strukturellen Veränderung befindet. In diese Situation ist ein schlichter, gestreckter, viergeschossiger Block (70 Meter lang, 20 Meter breit) gesetzt. Über dem erhöhten, verglasten Eingangsgeschoss (das Erdgeschoss liegt darunter) zwei „schwebende“ Klassengeschosse.


Raumkontinuum

Der Block teilt das leicht abgesenkte Grundstück in zwei sehr unterschiedliche Freiflächen. Die westliche, etwas nach Süden gedrehte, ruhige und besonnte (etwa ein Drittel große) ist ein behutsam gestalteter Grünraum, die (nord-)östliche, parallel zur Wagner-Biro-Straße liegende, mehr dem Lärm ausgesetzte und etwa doppelt so große, ist mit Turnhallen und Turnplätzen, und einer gedeckten Rampe mit Fahrradstellplätzen zu einem interessanten Raumkontinuum vernetzt.

Der Zugang, auf der Stirnseite im Norden, eröffnet das Thema der räumlichen Schichtung: Man betritt einen ansteigenden etwa quadratischen Platz, der direkt in den großzügigen gedeckten Eingangsbereich führt. Ein ebenerdiger, querliegender Verwaltungstrakt begrenzt rechts den Parkplatz und den dahinter liegenden, abgeschirmten Grünraum, gegenüber führt die Rampe ins Erdgeschoß und zu den Sportanlagen.


Ambivalenz und Mehrdeutigkeit

Das erste Obergeschoss, von der Straße aus auf halber Höhe, ist also die Zone mit den halböffentlichen Einrichtungen der Schule (Bibliothek, Mehrzwecksaal, Musikräume etc.) und komplett verglast. Diese Maßnahme macht nicht nur die Funktionen mit einem Blick sichtbar, sondern stellt auch einen großzügigen Bezug zum Außenraum her.

Erst innen entdeckt man die betonte Topografie des westlichen Grünraums und im Osten die Schichtung der Freiräume. Die Eingangsebene selbst hat urbanen Charakter, die Raumgruppen definieren sich als geschlossene und unabhängige Volumen, der „geflutete“ Raum dazwischen hat Enge und Weiten, Nischen und Aussichtsplätze, Offenes und Geborgenes.


Räumlicher Impuls

Das scheinbar simple Konzept der Positionierung eines schlichten Blocks auf einem trapezförmigen Grundstück in einer eher belanglosen städtebaulichen Situation, entpuppt sich als ein vielfältiger räumlicher Impuls sowohl in der Horizontalen als auch in der Vertikalen.

Die radikale sandwichartige Schichtung wird zum Impuls für den ganzen Umraum, der in seiner scheinbaren funktionalen Fixierung überall Offenheit, Ambivalenz und Mehrdeutigkeit zeigt. Der Block erscheint trotz des verglasten Geschosses geschlossen.


Die Umsetzung

Dies wird einerseits durch die bündig liegende Verglasung erreicht, andererseits aber durch die das Volumen betonende Aluminiumhaut, die tiefen Fensterleibungen, die liegenden raum-(klassen-)bezogenen Fenster. Sowohl die Teilung der Aluplatten als auch die Fensterteilungen sind unabhängig von der dahinter liegenden Skelettstruktur.

Der außen liegende Sonnenschutz ist ein weiteres Element der Betonung des Fassadenreliefs, bzw. der visuellen Präsenz der „Haut“. So verkehrt sich die „Primärerscheinung“ des scheinbar so einfachen Konzepts in einen oszillierenden Detailreichtum voller ästhetischer Überraschungen. Innen ist es ähnlich. Allein die als Schränke ausgebildeten Gangwände der Klassen mit Oberlicht und unterschiedlichen Nischen, die den Gang zu Raum aufwerten, gehen spielerisch mit dem stringenten Skelett um, das in den beiden Klassengeschossen nur mehr durch runde Stützen sichtbar wird, die ihre Regelmäßigkeit im System fast kokett als Zufall erscheinen lassen.


Gangolys Prinzip

Vielleicht ist es das vorherrschende architektonische Prinzip der Bauten von Hans Gangoly, dass sie in den primären Entscheidungen großzügige Strukturen, Flächen, Öffnungen, Böden, Wände und Decken anbieten, sozusagen als Grundgarantie für zu erwartende Nutzungen, die aber dann auf einer zweiten Ebene der Eingriffe „aufgeladen“, konterkariert, freigespielt und relativiert werden, so dass das, was man als allzu rationalistisch denunzieren könnte, sich als reiche, vielfältige, ja sinnliche Architektur erweist.


[Den Originalbeitrag von Friedrich Achleitner finden Sie in architektur aktuell, Österreichs größter Architekturzeitschrift.]

ORF.at, Mi., 2002.12.11



verknüpfte Bauwerke
BORG Dreierschützengasse, Graz

09. November 2002Friedrich Achleitner
Der Standard

Der missverstandene Unversöhnliche

Teil 28 der Serie: Adolf Loos war nicht nur Architekt, sondern auch ein genialer „Sprachmensch“

Teil 28 der Serie: Adolf Loos war nicht nur Architekt, sondern auch ein genialer „Sprachmensch“

Adolf Loos, der wortgewaltige Verkünder, Kritiker und Moralist, Satiriker, Verehrer der Brüder Grimm, Freund Karl Kraus' und Peter Altenbergs, Förderer von Oskar Kokoschka und Kämpfer für den Neutöner Schönberg, Kitschsammler, Reformer von Bekleidung und Küche, siedlerbewegter Bonvivant und Antikunstgewerbler etc. etc. ist wahrscheinlich dafür mitverantwortlich, dass heute oft mehr gelesen wird, was Architekten schrieben, statt bei ihren Bauten nachzuschauen. Loos zu lesen ist immer ein Vergnügen, obwohl man sich weniger um seine „Wahrheiten“ kümmern sollte als um die Art, über Stadt, Kultur, Gesellschaft, Kunst und Architektur nachzudenken. Etwa sein Aufsatz Der Sattlermeister ist nicht nur eine Satire von Nestroyschem Format, sondern auch ein faszinierendes Modell für die Darstellung kultureller Probleme.

1870 in Brünn als Sohn eines Steinmetzen geboren und neben (oder in?) der Werkstatt seines Vaters aufgewachsen, gehörte zwar der Generation der Erben der Gründergeneration an, aber er verfügte nicht wie viele seiner Zeitgenossen der Wiener Gesellschaft (etwa Karl Kraus) über ein Vermögen, das er nach seinem Gutdünken ausgeben oder verbrauchen konnte. Im Gegenteil, er wurde nach einem Konflikt mit seiner Mutter (er war Halbwaise) praktisch enterbt und ging so als 23-Jähriger zu einem Onkel nach Amerika, um sich dort drei Jahre lang mit allen möglichen Beschäftigungen (vom Tellerwäscher und Komparsen bis zum Journalisten) durchzuschlagen.

Mehr als die Bauten der im Zenit stehenden „Schule von Chicago“ beeindruckte ihn offenbar die amerikanische Kultur - europäisch ausgedrückt, der Standard der Zivilisation - sodass er nach seiner Rückkehr nach Österreich in Wien eine Art fundamentaler Kulturkritik auf breitester Basis eröffnete. Er kritisierte nicht nur das damals neu aufblühende Kunstgewerbe, sondern auch die Tischsitten, die Wiener Küche, das Schuhwerk, die Bekleidung und vor allem das Vordringen der Kunst in den Alltag einer Großstadt. In Wien wurde er schockartig mit einer „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ konfrontiert, die kulturellen Zustände der Klassen und Stände trennten nach seiner Anschauung oft Jahrhunderte, sodass er sich bald genötigt sah, DAS ANDERE. Ein Blatt zur Einführung abendländischer Kultur in Österreich (1903) herauszugeben, das allerdings nur zwei Ausgaben erlebte. Er wandte sich vor allem gegen die oberflächliche Ästhetisierung des Lebens, die ihm in allen Bereichen die „Wiener Secession“, später die „Wiener Werkstätte“ und der „Werkbund“ zu verkörpern schien. Maßstab war ihm einerseits das zum Teil von diesen Strömungen unberührte oder gefährdete Handwerk, andererseits aber auch der vorurteilslose Gebrauch der Güter des Fortschritts im amerikanischen Alltag.

Karl Kraus eröffnete zu dieser Zeit seinen „Feldzug“ gegen den Missbrauch der Sprache durch den Journalismus mit einer ähnlich moralisierenden Position und vor allem mit einer unerbittlichen und unnachahmlichen satirischen Schärfe. Karl Kraus war auch gerade dabei, den Großmeister des Wiener Volkstheaters, den abgründigen satirischen Dialektiker der Metternich-Ära, Johann Nepomuk Nestroy, wiederzuentdecken, sodass Adolf Loos, auch von seinen Anlagen her ein genialer Sprachmensch, sicher in diesem Milieu die Instrumente für seinen privaten, aber öffentlich geführten Kulturkampf finden konnte.

Dass Adolf Loos nicht nur ein anerkannter, wenn auch sehr umstrittener Architekt, sondern eine zentrale Figur des Wiener Kulturlebens war, beweisen die Absender der zahlreichen Grußadressen zu seinem 60. Geburtstag mehr als ein langer Beschreibungsversuch seiner gesellschaftlichen Position: Neben den wenigen Architekten Josef Frank, Bohuslav Markalous, Jacobus Johannes Pieter Oud, Gustav Adolf Platz und Bruno Taut findet man vor allem aus Literatur, Musik und Kunst die Namen Hermann Bahr, Anna Bahr-Mildenburg, Alban Berg, Max Brod, Max Eisler, Ludwig Ficker, Gustav Glück, Johannes Itten, Julius Klinger, Karl Kraus, Else Lasker-Schüler, Mechthilde Lichnowsky, Maurice Maeterlinck, Karin Michaelis, Alfred Polgar, Ezra Pound, Marcel Ray, Richard von Schaukal, Robert Scheu, Helene Scheu-Riesz, Arnold Schönberg, Rudolf Serkin, Otto Stoessl, Max Thun-Hohenstein, Tristan Tzara, Anton Webern und Stefan Zweig.

Wer Adolf Loos gelesen hat und von seinen Aufsätzen immer wieder in einen gebannten Zwiespalt von Bewunderung und Irritation versetzt wird, trägt zumindest die Erinnerung an erbarmungslose Satiren, ja an einen unversöhnlichen Sarkasmus, aber auch an Verkündungspathos und wenig Selbstironie mit sich, sodass sein architektonisches Werk scheinbar in den Hintergrund tritt. Und wenn sein legendäres Haus am Michaelerplatz nicht in einer faktischen Opposition zur Neuen Hofburg errichtet worden wäre, hätte er vermutlich gar nicht so viel darüber geschrieben, als ihm von der empörten Öffentlichkeit abgenötigt wurde.

Adolf Loos, der nie behauptet hat, dass Ornament Verbrechen sei (man sehe sich seine Arbeiten an), ist vielleicht der missverstandenste Architekt der Wiener Architektur. Geschieht ihm schon recht, könnte man wienerisch höhnen, warum hat er so viel geschrieben. Sogar sein Hauptwerk, das „Looshaus“ am Michaelerplatz, ist vielleicht gar nicht sein Hauptwerk und sollte nicht nur im Kontext des „Fortschritts der Moderne“ gelesen werden. Es ist in erster Linie ein gewichtiger Kommentar zur Wiener Kultur der Jahrhundertwende, ein Monument des Schweigens und Andeutens, der verschlüsselten Botschaften, ein Dialog mit der Geschichte der Stadt, politisch und kulturell, soweit man beides trennen kann. Adolf Loos' architektonisches Vermächtnis bleibt vermutlich der Raumplan, ein Thema der Raumkunst, das er in das Bewusstsein des 20. Jahrhundert hineingetragen hat. Ein archaisches Thema, schon in Knossos oder beim Erechteion hoch entwickelt, das zu seiner Zeit einen gewaltigen Fortschritt in der räumlichen Organisation des modernen Hauses darstellte und das über die Werkbundsiedlung ein Thema im engagierteren Wiener Wohnbau geblieben ist. Oder sein zu seiner Lebensführung konträr stehendes soziales Engagement in der Siedlerbewegung mit dem Ziel, über ein extrem ökonomisches Raumdenken dem Arbeiter den Luxus bürgerlichen Wohnens zugänglich zu machen. Oder die Rolle des Architekten als praktischer Berater, Architektur als Dienstleistung; das klingt eigentlich alles sehr heutig. Vorausgesetzt, man versteht nicht alles, was Bauen ist, ja was gebaut wird, als Architektur.

Adolf Loos hat bis zu seinem Tode 1933 von der Tschechoslowakischen Republik eine Ehrenpension erhalten. Sein Haus Müller in Prag ist vorbildlich restauriert und zugänglich. So wie es die österreichische Zweite Republik nicht schaffte, das Wittgensteinhaus zu erwerben, wurde auch das Haus des Tristan Tzara in Paris für unsere Diplomatie als ungeeignet erklärt. Das Wiener Looshaus ist sensibel renoviert und in einem guten Zustand, schade dass der Schriftzug auf der Stirnseite nicht mehr auf die Erbauer, sondern auf die heutigen Eigentümer verweist. Und der geradezu spießige Blumenschmuck ist ein Treppenwitz der Geschichte: Die magistratische Auflage, dass in den verordneten Blumenkistln auch Blumen sein sollen, wurde von Goldman & Salatsch in Solidarität mit dem Autor und mit Architekturverständnis nobel ignoriert, dann vergessen. Jetzt wird die amtliche Verschandelung des Hauses brav befolgt. Wagrein triumphiert. Und Adolf Loos sorgt immer noch für Missverständnisse. []

Friedrich Achleitner ist Architekturtheoretiker, Autor und Mitglied der legendären Wiener Gruppe.

Der Standard, Sa., 2002.11.09

27. November 2000Friedrich Achleitner
ORF.at

Zum Werk von Josef Lackner (1931-2000)

Friedrich Achleitner über den Tiroler Architekten Josef Lackner.

Friedrich Achleitner über den Tiroler Architekten Josef Lackner.

Wahrscheinlich wird man erst mit einiger Zeitdistanz das Vakuum wahrnehmen, das Josef Lackner durch seinen Tod hinterlassen hat. Jo, wie ihn seine Freunde nannten, hatte eine merkwürdige Präsenz: Auch wenn es öfters still um ihn geworden war - „Durststrecken“ sind in seiner Biographie genug zu entdecken - war er in Tirol als eine Art „Über-Ich“ für die Architekten vorhanden, nicht nur durch die Maßstäbe, die er durch seine Bauten gesetzt hat, sondern auch durch seine Wortmeldungen, meist nicht zur Freude der Betroffenen, denn seine Kritik traf den Nagel immer auf den Kopf, wenn auch häufig der Hammer für den Nagel viel zu groß war.

Seine originellen Gedanken, oft wie Querschläger die Szene aufschreckend, konnte man ablehnen, aber ihrer Wirkung konnte man sich nicht entziehen. Er besaß die entwaffnende Logik eines geradlinigen Denkers, erst ihre raffinierte verbale Verpackung verriet feinere und komplexere Strukturen dahinter.


Wiener Schule

Josef Lackner hat mit Johannes Spalt, Johann Georg Gsteu, Friedrich Kurrent, Wilhelm Holzbauer, Otto Leitner, Gustav Peichl und anderen bei Clemens Holzmeister studiert. Soweit sich Holzmeister als Tiroler inszenierte, war dies nicht gerade Lackners Art. Das Prinzip der kulturalen Einkleidung war ihm fremd, da hielt er es schon mehr mit dem kontroversiellen Einzelgängertum Lois Welzenbachers.

Lackner hat sich nie mit seinem Lebensraum versöhnt, schon gar nicht in Sachen Architektur. Er ging zwar nach einer längeren „Wanderschaft“ in Deutschland nach Tirol zurück, er suchte aber keine Wurzeln, weder die seinen noch andere. Wenn Lackner etwas in seinem Werk inszenierte, dann war es seine Autonomie, überspitzt, die Rolle des eigensinnigen Erfinders.


Schlagfertiger Querkopf

Seine Schlagfertigkeit in Wort und Entwurf, nicht ganz frei von despotischen Untergriffen, war manchmal auch im engsten Freundeskreis gefürchtet oder zeigte Wirkung.

Als Beleg eine Anekdote aus den späten 1950er Jahren: Nach den Sommerseminaren von Konrad Wachsmann in Salzburg war es unter seinen Jüngern selbstverständlich, bei jedem Entwurf oder Bau nach dem Modul zu fragen, da die modulare Ordnung in der rationalen Moderne als ein Grundkriterium angesehen wurde. Johann Georg Gsteu fragte also Lackner bei der Kirche von Neu-Arzl streng nach dem verwendeten Modul. Die lakonische Antwort Lackners: Ein Zentimeter.


Einzelkämpfer

Josef Lackner war und blieb ein Einzelkämpfer. Dies könnte man aus dem „Gestein der Tiroler Bergwelt“, dem „alten freien Bauerntum der Region“ oder vielen anderen Faktoren alpiner Mythen erklären oder eben nicht. Wenn ich mich richtig erinnere, hat Jo, im Gegensatz zu anderen Holzmeister-Schülern, immer alleine gearbeitet. Dies ist eher aus der Tiroler Situation der 1950er und 1960er Jahre, mehr, ja vielleicht ausschließlich, aber aus seinem Architekturbegriff zu verstehen, der genaugenommen keine Alternativen zuließ.

Lackners Architektur spielt sich im Spannungsfeld von Definition der Bauaufgabe, typologischer Erfindung und Konstruktion ab. Der Raum ist das Ergebnis dieses Spannungsfeldes oder dessen konstituierendes Element. Oft ist die Konstruktion die typologische Erfindung, manchmal erzeugt der Typus einen konstruktiven Gedanken. Das Topologische kommt oft spät oder gar nicht ins Spiel. Auch nicht die Landschaft als Kulturbegriff. Lackners Architektur scheint keinen Kontakt zur Geschichte aufzunehmen. Aber da muss man schon vorsichtig sein. Denn natürlich ist jede noch so betont unabhängige Definition von Gegenwart auch eine bestimmte Form historischen Verhaltens.


Kein Zeitgeist-Architekt

Lackners Architekturbegriff wurde in den 1960er Jahren positioniert. Die Postmoderne der 1970er Jahre hat ihn nicht irritiert, genauso wenig die ganze narrative und semantische Dimension von Architektur und Architekturgeschichte. Lackners Architektur signalisiert nicht nur Autonomie, sondern auch Unabhängigkeit vom Zeitgeist, obwohl seine Architektur unter der Flagge einer zeitgebundenen Moderne gestartet wurde.

Nach rund fünfzigjähriger Entwurfs- und Bautätigkeit ist es nicht so schwer, „abschließende“ Aussagen zu machen. Obwohl man auch da vorsichtig sein sollte, denn Lackner bleibt immer für eine Überraschung gut. Und die Forschungen über sein Werk werden neben einem scheinbar unbeirrbaren geraden Weg viele verschlungene und vielleicht auch irgendwo versiegende Nebenpfade entdecken. Denn Josef Lackner war ein permanent suchender, wenn nicht grübelnder Geist.


[Die Originalfassung dieses Textes erschien in architektur aktuell. Österreichs größte Architekturzeitschrift von internationalem Rang präsentiert zehnmal jährlich die wichtigsten neuen Bauten sowie Interviews und Essays von renommierten Kritikern.]

ORF.at, Mo., 2000.11.27

12. Juni 1999Friedrich Achleitner
Spectrum

Vom Grundriß bis zum Fenster

Wie ein großes Atelier hat man sich das Wiener Bauamt der Zwischen- und der Nachkriegszeit vorzustellen. Aus dem Kollektiv der „beamteten“ Architekten ragt einer heraus, dem das „Architektur Zentrum Wien“ jetzt eine Ausstellung widmet: Erich Leischner.

Wie ein großes Atelier hat man sich das Wiener Bauamt der Zwischen- und der Nachkriegszeit vorzustellen. Aus dem Kollektiv der „beamteten“ Architekten ragt einer heraus, dem das „Architektur Zentrum Wien“ jetzt eine Ausstellung widmet: Erich Leischner.

Der Versuch, die Wiener „beamtete Architektur“ in ihrem eigenen Kontext zu beschreiben, ist generell noch nicht unternommen worden. Man muß gar nicht auf so prominente Beispiele wie den Biedermeierarchitekten und k. k. Hofbaurat Paul Wilhelm Eduard Sprenger (1798 bis 1854) zurückgreifen, um behaupten zu können, daß beamtete Architekten oft sehr wesentlich in die Architekturentwicklung dieser Stadt eingegriffen haben.

Die Rolle des Architekten ist eine Geschichte der Emanzipation aus feudalen Abhängigkeiten, die mit der Entwicklung des Bürgertums parallel verlief und in der später auch die Verwaltungsapparate des Staates und der Kommunen eine große Rolle spielten. Die beiden Weltkriege beschleunigten diese Entwicklung: nach 1918 in Wien durch das Bauprogramm der sozialdemokratischen Stadtverwaltung und nach 1945 durch die generellen Probleme des Wiederaufbaus einer teilweise sehr zerstörten Stadt. Diese beiden expandierenden Bauphasen hätten bei weitem das Planungspotential der Ämter überfordert, sodaß sich schon aus dieser Situation heraus eine „Partnerschaft“ mit den freien Architekten ergab.

Damit wurde aber der „beamtete Architekt“in zunehmendem Maße auch zum „Bauherrn“ für den „freien“ Architekten. Dieses Verhältnis mußte vor allem in Zeiten wirtschaftlicher Not (Arbeitslosigkeit) zu Spannungen führen, da schließlich Vertreter ein und desselben Berufes in zwei diametral entgegengesetzten gesellschaftlichen aufeinandertrafen. Das führte teilweise sogar zu einer emotionalen Abqualifikation des beamteten Architekten. Noch in den frühen fünfziger Jahren war jemand an der Akademie „gezeichnet“, wenn bekannt wurde, daß dieser in den Beamtenstand abwanderte. Die ökonomische Sicherheit zu suchen war nach einem ungeschriebenen Kodex der Jungarchitekten eine Art Aufgabe der „schöpferischen Freiheit“, also eine Rückwanderung in alte Abhängigkeiten und damit ein „Verrat“ an der Architektur.

Man hatte also damals schon vergessen, daß die großen Architekturleistungen der Vergangenheit nur in solchen Abhängigkeiten entstanden sind, in Verhältnissen allerdings, die mit den modernen Baubürokratien nicht vergleichbar waren. Umgekehrt pasß heute in dieses Bild die Verwunderung über die Tatsache, daß es einmal im republikanischen Österreich Baubeamte gab, deren Entwurfsleistungen sich durchwegs mit denen freier Architekten messen konnten.

Diese Skizze stützt sich vorwiegend auf die erfaßten Bauten der Bezirke eins bis 18, die den bekannten Architekten des Stadtbauamtes zuzuschreiben sind. Ein Gros dieser Bauten ist anonym geblieben, und es sind dies nicht die hervorragenden. Hinter der Mitteilung „Planung: Wiener Stadtbauamt“ verbergen sich natürlich Persönlichkeiten die ausgeforscht werden können. Man muß aber mit „Verfassern“ vorsichtig sein, da nicht unbedingt jener, der den Plan gezeichnet hat (im doppelten Sinne des Wortes), auch der Verfasser sein mußte. Hervorragende Zeichner wie Erich F. Leischner sind auf Grund ihrer Fähigkeiten zu verschiedenen Projekten herangezogen worden, und man kann sich die damalige Magistratsabteilung 22 auch als großes Atelier vorstellen, in dem die unterschiedlichen Projekte diskutiert wurden und jedes mehrere Väter haben konnte.

Wenn man sich die Gruppe der namentlich mit bestimmten Bauten in Beziehung stehenden Architekten genauer ansieht, fällt zunächst auf, daß es einerseits eine Spezialisierung in der MA 22 gab –Geschoßwohnbau, Folgeeinrichtungen und Siedlungsbau et cetera – und in jeder Gruppe so etwas wie eine repräsentative Figur wirkte. Die Wohnbauer Engelbert Mang, Gottlieb Michal, Konstantin Peller, Wilhelm Peterle, Karl Schmalhofer und Franz Wiesmann waren sichtbar, nach dem Bauvolumen gemessen, von Karl Ehn dominiert, obwohl sich andererseits die Arbeiten untereinander und auch von Ehn stark unterscheiden.

Es gibt aber keine Arbeiten der Beamtenschaft, die architektonisch so stark waren (auch nicht der legendäre Karl-MarxHof), daß man annehmen müßte, sie hätten die Entwürfe der freischaffenden Architekten richtunggebend beeinflußt. Dieser „stabilisierende“ und vielfach auch als Knebelung empfundene Einfluß bestand eher in Richtung eines verbindlichen Regelwerks oder der Normung von Elementen, vom Grundriß bis zum Fenster.

Die kleine Fraktion der Siedlungsbauer besteht eigentlich (von den veröffentlichten Namen) nur aus Karl Schartelmüller, Hugo Mayer und Heinrich Schlöss.

Bleiben noch der „Bauinspektor“ Josef Bittner (später Leiter der Architekturabteilung), der mit frühen Planungen für die Stadtgartendirektion und Bauten für die städtischen Gas- und Elektrizitätswerke hervortrat, bevor er eine Art PR-Funktion für die Bautätigkeit der Stadt übernahm und zahlreiche Schriften verfaßte; oder Max Fiebiger, Stadtbaudirektor, der sich noch vor dem Ersten Weltkrieg als Bauleiter (unter Friedrich Jäckel) seine ersten Verdienste erwarb.

Unter all den mehr oder weniger ausgewiesenen Spezialisten ist aber Erich F. Leischner der Spezialist in verschiedensten Bereichen, also eigentlich ein gestaltender Generalist. Interessant ist die Unbekümmertheit, das Vertrauen auf die Fülle seiner gestalterischen Mittel und die (zumindest scheinbare) Sicherheit, wie das jeweilige „Vokabular“ einzusetzen ist. Leischner scheint einen sicheren und auch vermittelbaren Sinn für architektonische Mitteilungen besessen zu haben. Seine Wasserbehälter, die er praktisch noch als Student entworfen hat, erinnern an die Topoi Schloß, Villa, Wasserschloß und Quellheiligtum, sind Überformungen landschaftlich ausgezeichneter Punkte, seine Kinderfreibäder haben die Leichtigkeit temporärer Bauten, eine spielerische Durchlässigkeit mit großen Schattenzonen, seine Wohnbauten gehen den Weg von einem am tschechischen Kubismus anstreifenden pompösen Expressionismus bis zu sachlicher Schlichtheit, die aber nicht auf die strukturelle Kraft geputzter Ziegelmauern vergißt oder im Städtebaulichen eine an Camillo Sitte erinnernde Sensibilität für den Ort entwickelt.

Das Umspannwerk Süd in seiner klassischen Strenge könnte auch ein Wagner-Schüler entworfen haben, während der Kindergarten vom Sandleitenhof die Julius Tandlerschen Träume einer heilen, bürgerlichen Welt für Kinder realisiert. Die Bauten von Leischner wirken alle nicht vorgedacht. Sie reagieren mit großem Talent und Geschick auf reale Aufgaben. Man hat nicht den Eindruck, daß Leischner ein großer Anreger (vielleicht für seine Kollegen in der MA 22), aber sicher ein Vermittler, Transformierer und Anwender war, der auch gute Antennen für den Zeitgeist besaß.

Da es bis heute immer wieder Versuche gibt, für die Bauleistungen der Stadt Wien in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren eine Art theoretischen Überbau zu konstruieren, die alle natürlich einzelne Aspekte beleuchten und vielleicht auch klären, sei jedoch daran erinnert, daß heute die Entwurfspraxis dieser Architektengeneration völlig vergessen wird. Jan Tabor sieht das vermutlich richtig, wenn er in der Entwurfsabteilung des Bauamtes jenen Ort vermutet, an dem die direkte politische Einflußnahme auf das Baugeschehen war. Denn diese Entwürfe entstanden unter Zeitdruck, aus politischem Prestigedenken, sozialen Programmen, entlang bau- und produktionstechnischen, ökonomischen, gestalterischen und ästhetischen Zwängen und Ressourcen.

Es ging also um konkrete Bauaufgaben, die im entwerferischen Alltag bewältigt werden mußten. Der gigantische Umfang und die Vielfalt der Bauaufgaben ließ den Planern keine Zeit zu theoretischen Konzepten, auch wenn sie die Fähigkeit dazu gehabt hätten, was allerdings zu bezweifeln ist. So ist es auch kein Zufall, daß diese „konzeptuellen Störungen“ von außen und von unterbeschäftigten Privatarchitekten kamen, die, etwa wie Adolf Loos, prinzipielle Denkansätze entwickelten oder, wie Josef Frank, aus einer distanzierten, werkbündischen Position einen kritischen Rahmen konstruieren konnten. Die Architektur der im Bauamt tätigen Architekten ist damit viel eher als ein kollektives Phänomen zu betrachten, das sich auf Grund der Fähigkeiten dieser Architekten unterschiedlich ausdrückte und das einen Weg der Klärung der Mittel von den Jahren 1923 bis 1933 durchschritt, aber auch in kurzer Zeit einen beträchtlichen Erfahrungsschatz ansammelte.

So könnte man diese Architektur als ideale und komplette Widerspiegelung aller Probleme und Sorgen, aller Fähigkeiten und Mängel, aller Wunschbilder und Träume der Zeit bezeichnen. Das ist auch der Grund dafür, daß der „Gemeindebau“ (abgesehen von bürgerlicher Kritik) immer akzeptiert war, daß seine Fassaden keine ästhetischen Diskussionen auslösten, daß sie ein eindrucksvolles Bild von sozialem Fortschritt und seinen Ritualen vermitteln konnten, weil sie auf allen Ebenen ein befriedigendes Bild vom sozialen Aufbruch und Fortschritt liefern konnten.

[ Die Ausstellung „Amt Macht Stadt – Erich Leischner und das Wiener Stadtbauamt“ist vom 16. Juni bis zum 2. August im „Architektur Zentrum Wien“ (Wien VII, Museumsplatz 1) zu sehen (täglich von 10 bis 19 Uhr). Friedrich Achleitners Beitrag erscheint, in erweiterter Form, demnächst in dem Band „Erich Leischner und das Wiener Stadtbauamt“ (Pustet Verlag, Salzburg). ]

Spectrum, Sa., 1999.06.12

01. Oktober 1995Friedrich Achleitner
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Der „Aufbau“ und die Aufbrüche

1945-1975

1945-1975

Vermutlich ist heute der schlechteste Moment, um über diesen Zeitraum zu schreiben: Einerseits sind diese Jahrzehnte mit ihren architektonischen Fragen aus unserem Gesichtsfeld verschwunden, andererseits sind sie durch eine historische Aufarbeitung noch nicht neu in unser Bewußtsein getreten. Der Verfasser dieses Aufsatzes kommt in die paradoxe Rolle, selbst Subjekt und Objekt dieser „Geschichte“ zu sein, Interpret und „Zeitzeuge“ in einem.

Natürlich haben die fünfziger und sechziger Jahre heute eine Zeitdistanz, die selbst traditionellen Architekturforschern als genügend erscheint, um objektivierte Aussagen machen zu können, was natürlich einen älteren Referenten nicht von dem Versuch befreit, zunächst die eigenen Urteile und Vorurteile zu korrigieren.

Drei Dezennien

Man geht kein großes Risiko ein, wenn man behauptet, daß der Zeitraum von drei Dezennien als Beobachtungsfeld sehr willkürlich erscheint. Das erste Jahrzehnt kann zwar eine gewisse immanente Logik beanspruchen – schließlich erhielt 1955 Österreich den Staatsvertrag und damit seine Unabhängigkeit – aber auch mit diesem Datum ist es nicht viel anders als mit der „Stunde Null“ von 1945, die es nie gab, weil allein die personalen Kontinuitäten so stark waren, daß man architektonisch nur von einem gleitenden Übergang von einem Zustand in einen anderen sprechen kann.

Eine viel stärkere Zäsur, eine Art architektonischen Klimawechsel zeigte da schon das Jahr 1958, was noch zu belegen sein wird. Eine andere „Schwelle“ waren sicher die Jahre 1962/63, einerseits durch die Entwicklung im Kirchenbau, andererseits durch das Signal der Hollein-Pichler-Ausstellung in der „Galerie nächst St. Stephan“ und der damit endgültig eröffneten Funktionalismuskritik. Es hat keinen Zweck noch weitere Schwellen zu suchen, sie liegen je nach Bereich, ob Kirchen- oder Schulbau, ob sozialer Wohn- oder Industriebau, anders. Eine wirkliche Zäsur bildete sicher noch das Jahr 1973 mit der sogenannten „Ölkrise“, zusammen mit den Auswirkungen der Studentenrevolte kann man allgemein von einem größeren Bewußtseinswandel sprechen, der sich auch auf die Architektur, auf den Städtebau, sowie auf die Architektur-und Stadtforschung stark ausgewirkt hat.

Aber da wir es einmal gewohnt sind in Dezennien zu denken und die Jahre nach ihnen bezeichnen, halte ich mich an dieses Schema, auch mit diesem aussichtslosen Versuch einer Beschreibung.

Die späten vierziger Jahre oder: Eine Architektur der Symbole

Die frühen baulichen Entwicklungen der Ersten Republik sind am Beispiel von Wien am besten zu beschreiben. Wien hatte durch die Bombenschäden und die totale Vernachlässigung des Wohnbaus während des „Dritten Reiches“ einen quantitaviv hohen Bedarf an Wohnungen. Der Wiederaufbau konnte aber nur an den sichtbaren Symbolen der neuen (alten) österreichischen Identität demonstrativ vorgeführt werden, also an der Rekonstruktion der zerstörten politischen und kulturellen Objekte, allen voran Parlament, Burgtheater und Oper. Dabei ist ein kleiner psychologischer Nebeneffekt nicht uninteressant: Das zerstörte Abgeordnetenhaus wurde im Geiste einer zeitgemäßen, wenn nicht fortschrittlichen Architektur (Fellerer/Wörle) aufgebaut, während man die kulturellen Ikonen „Burg“ und „Oper“ (von uns Studenten heftigst kritisiert) in einem moderaten bis selbstverleugnerischen Eklektizismus rekonstruierte, obwohl die damit verbundenen Umbaumaßnahmen (etwa im Zusammenhang mit der Bühnentechnik) hier viel fortschrittlichere Lösungen erlaubt, ja verlangt hätten.

Neben den Staats- und Kulturbauten gab es natürlich innerhalb der Kommunen auch andere Anlässe, Symbole eines neuen, zukunftsorientierten Lebens zu schaffen, wie etwa in Wien das Freibad Gänsehäufel (Fellerer/Wörle) auf einer Insel der Alten Donau oder die Wiener Stadthalle von Roland Rainer. Was bei diesen Bauten die punktuelle Qualität ausmachte, das mußte im Wohnbau die Quantität sein. Das Wiener „Schnellbauprogramm“, eine von Franz Schuster entwickelte, leicht kombinierbare Typologie von später zusammenlegbaren Wohnungen, abgehandelt in einem ebenso adaptierbaren wie variablen städtebaulichen System, schuf, neben dem tatsächlichen Wiederaufbau der Baulückenfüllung, die Möglichkeit rascher Wohnungsbeschaffung.

Zur architektonischen Situation

Die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg studierende Generation hat es nicht verstanden, daß die Väter- und Lehrergeneration nach der Befreiung Österreichs nicht sofort wieder jene „Entwicklunglinien der Moderne“ aufgenommen hat, die sie scheinbar durch Hitler verlassen mußte. Im Gegenteil, auch jene Architekten, wie etwa Lois Welzenbacher oder, weniger bekannt, Hans Steineder, aber auch die im Lande verbliebenen Vertreter der „Wiener Schule“ (Max Fellerer, Eugen Wörle, Oswald Haerdtl, Franz Schuster u.v.a.) haben nicht nur die Fäden nicht wieder oder nur zaghaft aufgenommen, sondern in einer für uns unverständlichen Art über die Entwicklungen in den dreißiger und vierziger Jahren geschwiegen. Noch mehr: Ihre Architektur blieb jener moderaten Moderne verpflichtet, für die inzwischen die Schweiz und Schweden vorbildlich geworden sind. Heute weiß man natürlich, daß dieser geistige Anschluß an eine internationale Moderne gar nicht das Thema dieser Generation sein konnte, da sie ja schon selbst auf den unterschiedlichsten Ebenen die Demontage der Moderne eingeleitet hatte, dabei aber von zwei „Avantgarden“ (von Hitler und Stalin) politisch überrollt wurde. In Österreich war diese Entwicklung bereits durch den Ständestaat beschleunigt worden, der kulturpolitisch extrem österreichbezogen, zwischen Moderne und faschistischer Selbstdarstellung laviert hatte. Da die Architektur des Nationalsozialismus auf verschiedenen Ebenen die Erfahrungen der Heimatschutzbewegungen verwertete, konnte sie auch nach dem Zweiten Weltkrieg (gerade im Wohn- und Siedlungsbau), nur gering modifiziert, fortgeführt werden.

Außerdem hatte die Regierung des neuen Österreich ein zwiespältiges Verhältnis zu den Emigranten und Vertriebenen, das heißt, statt sich die unbequemen Kritiker der jüngsten Vergangenheit ins Land zurückzuholen, zog man es vor, sich mit den „Belasteten“ (den ehemaligen Nationalsozialisten) zu arrangieren und den Wiederaufbau in einer konfliktfreien Melange von ambivalenten architektonischen Haltungen zu beginnen. Natürlich muß man auch zugestehen, daß die verarmte, zerbombte, hungernde und frierende Nachkriegsgesellschaft zunächst andere Sorgen hatte, als architektonische Glaubenskriege zu führen und für künstlerische Ambitionen wenig Verständnis herrschte. Das heißt mit anderen Worten, die Hauptkriterien für das Bauen waren Wirtschaftlichkeit und Schnelligkeit und zum Zuge kamen jene Architekten, die diese Qualitäten anzubieten vermochten.

Umso höher ist das Engagement jener Architekten anzusetzen, die vom ersten Tag an versuchten, den Wiederaufbau in eine Entwicklungsperspektive zu stellen, wie etwa Roland Rainer, der mit seinen Büchern „Städtebauliche Prosa“ und „Ebenerdiges Wohnen“ der Wohn- und Städtebaudiskussion erste Impulse gab. Hier wäre auch die Rolle der vom Wiener Stadtbauamt herausgegebenen Zeitschrift „Der Aufbau“ neu zu bewerten, es würde sich dabei zeigen, daß von Anfang an (unter dem Chefredakteur Rudolf J. Böck) verschiedene Fragen des Wiederaufbaus und der Stadtplanung auf einem hohen Niveau diskutiert wurden, aber den Planern und Architekten die Realität des schnellen Wiederaufbaus buchstäblich davonlief.

Architekturschulen

Die Technische Hochschule galt in den fünfziger Jahren mit den Lehrern Erich Boltenstern, Friedrich Engelhart, Karl Kupsky, Hans Pfann oder Siegfried Theiss als ein konservatives Institut, die Akademie am Stubenring (frühere „Reichshochschule“) war zwar mit renommierten Lehrern wie Max Fellerer, Oswald Haerdtl, Otto Niedermoser oder Franz Schuster besetzt, hatte aber merkwürdigerweise keinen „namhaften“ Ausstoß von Schülern. Lediglich am Schillerplatz (Akademie der bildenden Künste) entstand in der Polarität der Meisterschulen von Clemens Holzmeister und Lois Welzenbacher so etwas wie eine Talentschmiede, deren Absolventen das Baugeschehen von den sechziger Jahren bis heute entscheidend beeinflussen sollten. Allein die „Arbeitsgruppe 4“ (Wilhelm Holzbauer, Friedrich Kurrent, Johannes Spalt) und die weiteren Holzmeister-Schüler Johann Georg Gsteu, Josef Lackner, Gustav Peichl, Hans Hollein und Anton Schweighofer, um nur die bekanntesten zu nennen, und der Welzenbacherschüler Ottokar Uhl, gehören zu den Schrittmachern der in den fünfziger Jahren sich entwickelnden neuen österreichischen Architektur. Es war vielleicht kein Zufall, daß ausgerechnet an der Technischen Hochschule unter den Fittichen Karl Schwanzers – der auch durch seine spätere Besetzungspolitik eine radikale Erneuerung des „Lehrkörpers“ einleitete – Günther Feuerstein sein „Clubseminar“ entwickeln konnte, das zum Sammelbecken und Treibhaus der meisten revolutionären Tendenzen der Studenten der sechziger Jahre wurde. Eine ähnliche Entwicklung kam in den Zeichensälen der Technischen Hochschule in Graz in Gang, natürlich unter anderen Bedingungen, vor allem mit einem anderen kulturellen Umfeld.

Schwerpunkte der frühen Entwicklungen

Es ist ganz interessant, sich der Schwerpunkte zu erinnern, in denen impulsartig die Entwicklungen stattgefunden haben. Obwohl im kommunalen Wohnungsbau der Stadt Wien zweifellos (gerade durch das Schnellbauprogramm des Franz Schuster und seinem an der Gartenstadtbewegung geschulten Städtebau) Eindrucksvolles geleistet wurde, konnte zu dieser Zeit kein architektonischer Fortschritt registriert werden. Diese Wohnanlagen – wie etwa in der Siemensstraße – werden erst heute, natürlich auch mit ihrer inzwischen entwickelten Vegetation, als Gesamtleistung positiv beurteilt.

Die eigentliche architektonische Diskussion fand merkwürdigerweise zunächst im Kirchenbau statt, ausgelöst durch eine sehr kleine Gruppe reformfreudiger „Neuländer“ wie Msgr. Otto Mauer oder Josef Ernst Mayer oder dem damaligen Jesuitenpater Dr. Herbert Muck und dem Herausgeber der „Christlichen Kunstblätter“ Dr. Günther Rombold. Besonders motiviert durch Clemens Holzmeister wurde diese Diskussion vor allem im Umfeld der „Arbeitsgruppe 4“ (neben dem „Einzelgänger“ Ottokar Uhl) geführt, die auch durch ihren Lehrer zum Bauauftrag der Kirche in Parsch/Salzburg kam. Die Aktivitäten hatten in der „Galerie nächst St. Stephan“ ihr geistiges Zentrum, wobei es Otto Mauer vor allem um ein neues Verhältnis der Kirche zur modernen Kunst ging. Dieses punktuelle kirchliche Interesse an der Kunst zeichnete eine so große Liberalität aus, daß es in der Folge (bis zum Beginn der siebziger Jahre) kaum eine architektonische Tendenz gab, die nicht in der Kirche baulich verwirklicht worden wäre. Das ästhetische Spannungsfeld reichte von Rudolf Schwarz bis zur „Arbeitsgruppe 4“, von Josef Lackner bis zu Johann Georg Gsteu und Ottokar Uhl, von Ferdinand Schuster bis zu Günther Domenig und Eilfried Huth. Beherrscht wurde der Kirchenbau trotzdem von den traditionalistischen Tendenzen, in denen Clemens Holzmeister oder Robert Kramreiter zur „Avantgarde“ zählten.

1958

Das Jahr 1958 vereint tatsächlich eine Summe von Ereignissen, die in verschiedenen Bereichen des Bauens einen Umschwung ankündigten. Neben der Fertigstellung der Wiener Stadthalle, dem Bau des Böhler-Hauses und der Berufung Roland Rainers zum Wiener Stadtplaner (und zwei Jahre vorher als Nachfolger Lois Welzenbachers an der Akademie am Schillerplatz), entsteht in Brüssel der Österreich-Pavillon von Karl Schwanzer (später Museum des 20. Jahrhunderts), das Wirtschaftsförderungsinstitut (WIFI) in Linz (Hiesmayr/Aigner) und – neben der bereits erwähnten kirchlichen Szene – beginnt sich auch schon von seiten der Künstler (Hundertwasser „Verschimmelungsmanifest“) das erste »Unbehagen am Bauwirtschafts-Funktionalismus« zu artikulieren. Auch Günther Feuersteins „Thesen zu einer inzidenten Architektur“ eröffnen den Reigen der Manifeste.

So gesehen, beginnen die sechziger Jahre tatsächlich mit einer Reihe von „Versprechungen“, die auch später in unterschiedlichen Formen eingelöst wurden. Von größerer Bedeutung ist noch, daß 1958 die Salzburger Seminare Konrad Wachsmanns an der Sommerakademie ihren Höhepunkt erreichen. Ihre Wirkung ist wiederum gerade auf die Holzmeisterschüler besonders groß, für die durch den rationalen, konstruktivistischen Ansatz der Wachsmannschen Thesen eine besondere Dialektik der Auseinandersetzung mit dem „Holzmeisterschen Erbe“ eingeleitet wurde. Vielleicht war es gerade das Spannungsfeld, das sich zwischen dem barocken Über-Ich Holzmeister und dem strukturalistischen Träumer Wachsmann aufbaute, daß diese erste Nachkriegsgeneration noch in der unmittelbaren Veränderung der baulichen Welt genug utopisches Potential vorfand, also es nicht notwendig hatte – wie die darauffolgende Generation – noch radikalere Ansätze zu suchen. Außerdem hatte (übrigens auch ermuntert durch Wachsmann) die Aufarbeitung der Geschichte der eigenen Moderne begonnen, der es an „rückwärtsgewandten Utopien“ ohnehin nicht fehlte.

Der Aufbruch der sechziger Jahre

Stark vereinfacht ausgedrückt, hat sich der „Aufbruch“ in den frühen sechziger Jahren auf drei Entwicklungsschienen oder in drei kulturellen Grundhaltungen abgespielt. Die erste Position war die der sogenannten „klassischen Moderne“, also eine konstruktiv und funktional dominierte, positivistische und puristische Grundhaltung, die einen Dialog mit der Geschichte prinzipiell ausschloß und die vordergründig problemorientiert argumentierte. Zu dieser Gruppe von Architekten könnte man heute Roland Rainer, Karl Schwanzer, Ernst Hiesmayr, Wolfgang und Traude Windbrechtinger oder in Graz Ferdinand Schuster zählen. Historische Berührungen gestattete sich hierbei natürlich vor allem Rainer, aber, wenn man so will, ausschließlich auf einer typologischen Ebene der anonymen Architektur, also für eine Durchsetzungs- oder Legitimationsstrategie des verdichteten Flachbaus.

Die zweite Position war die eines erweiterten, ganzheitlichen Architekturbegriffs, der einerseits die Geschichte der Moderne (Auseinandersetzung mit Otto Wagner, Josef Hoffmann, Adolf Loos, Joz?e Plec?nik, Josef Frank etc.) aufzuarbeiten versuchte und Kontakte zu Rudolf Schwarz, Egon Eiermann, Konrad Wachsmann etc., aber auch eine kritische Auseinandersetzung mit den dominierenden Architekturschulen (etwa jener des Mies van der Rohe) suchte. Die Bauten der „Arbeitsgruppe 4“, wie die Seelsorgeanlage von Steyr/Ennsleiten (mit Gsteu) oder das Kolleg St. Josef in Salzburg, sind gute Beispiele für diesen real erweiterten Architekturbegriff.

Die dritte Position wurde, wie schon erwähnt, von Hans Hollein und Walter Pichler bezogen – hier gibt es auch die ersten Beziehungen zu Graz (Raimund Abraham, Friedrich St. Florian) –; sie urgierte einen totalen Architekturbegriff, der vor allem alte positivistische Feindbilder wie das Symbol, das Ritual und den Mythos wieder „inthronisierte“. Natürlich sind die kommenden,vor allem studentischen Aufbrüche nicht unter dieser Positionierung zu subsummieren, obwohl sie alle die Kritik an den bestehenden Verhältnissen (auch an den sich selbst kritisch verstehenden Gruppen) teilen und einen bewußt unkontrolliert ausgreifenden, ja sich auflösenden Architekturbegriff anstreben. Wer Günther Feuersteins Aufzählung „Was uns bewegte“ heute liest, findet ein komplettes Kompendium jener Fortschritt signalisierenden Elemente, die es im Bereich der Kunst, der Alltagskultur, der Politik, der Wissenschaft und Technik, der Psychologie und Soziologie gab. Angedockt an das psychologisierende Moment des Wiener Aktionismus wurde hier ein unbegrenztes Gebiet der Wirkungs- und Wahrnehmungsforschung eröffnet, dessen Ergebnisse in den Bauten der achtziger und neunziger Jahre zu finden sind.

Auch in Graz ist, wenn man so will, eine realistische und eine utopische (fundamentalistische) Polarisierung zu sehen, die sich beide gegen einen Rettungsversuch der „Tradition der Moderne“ durch Ferdinand Schuster wandten. Schuster versuchte redlich durch ein Verarbeiten der neueren Architekturtheorie (vor allem aus den Bereichen der Semiotik, Soziologie und Politikwissenschaft) eine aktuelle Architekturlehre zu entwickeln, wurde aber vom vitalen Schub der frühen „Grazer Schule“ überrollt. Da diese Entwicklungen ohnehin in anderen Zusammenhängen dargestellt werden, sei hier nur darauf hingewiesen, daß sich die „Realos“ zunächst heftig aus der Schweiz (Walter Förderer, Peter Steiger, Christian Hunziker etc.) beinflussen ließen. Das erste bauliche Ergebnis dieses Kontaktes war die Pädagogische Akademie von Eggenberg (Günther Domenig und Eilfried Huth), aber vermutlich kamen auch für die spätere Beschäftigung von Eilfried Huth und anderen mit den Problemen der Partizipation Impulse von Hunziker.

Ein anderes Thema der sechziger Jahre ist die Entwicklung des neuen Bauens in Vorarlberg, wo die Doktrin der Rainer-Schule jene Bedingungen vorfand, die zu einer eindrucksvollen Entwicklung führten. Aus der Gegenkultur der „Randspiele“ in der sich in den „Wälder-Tagen“ die aufmuckenden Dichter, Literaten, Musiker, Künstler, Lehrer und Architekten versammelten, rekrutierte sich jene Klientel, die für ein neues, offenes und billiges Bauen zu haben war und dann schließlich zu jenem Multiplikationsfaktor wurde, der die ganze Baukultur des Landes veränderte.

Nach den Kirchen – Banken, Geschäfte und Wirtshäuser

Zumindest seit der Jahrhundertwende gehört in Wien der Umbau und die Einrichtung von Geschäften und Lokalen zur Spielwiese und zum Experimentierfeld junger Talente und es gibt kaum eine Architektenkarriere, die an dieser architektonischen Kleinkunst vorbeiführte. Für die sechziger und siebziger Jahre sind Namen wie Retti oder Schullin Symbole dieser Szene. Trotzdem war es für die Wiener Architektur ein besonderer Augenblick, als sich die „Z“ (ehemalige Zentralsparkasse der Gemeinde Wien) mit dem Engagement ihres Generaldirektors Dr. Karl Vak insofern der neuen Architektur zuwandte, als sie systematisch begann, mit den Spitzen der jüngeren Avantgarde ihre Zweigstellen einzurichten. Zwar kam der erste Versuch mit Hans Hollein nicht zur Ausführung, aber es folgte dann doch die Reihe mit Friedrich Kurrent und Johannes Spalt, Johann Georg Gsteu, Wilhelm Holzbauer, Hans Puchhammer und Gunther Wawrik, Günther Domenig und vielen anderen.

Wesentlich war, daß dabei keine Corporate Identity angestrebt wurde, sondern eben die unabhängige Qualität der Architektur als Werbeträger. Auch die private Szene boomte, da einerseits die Wiener Innenstadt in eine radikale Umbauphase eintrat, andererseits auch trägere Institutionen (wie etwa das Österreichische Verkehrsbüro) plötzlich bei Hans Hollein architektonischen Bedarf anmeldeten. Daraus entstand jene architektonische Kleinkunstszene, die in ihrer dynamischen Entwicklung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Es wäre ohne Schwierigkeiten möglich, die Wiener Architekturgeschichte der letzten vierzig Jahre allein an Hand dieser Bautätigkeit zu schreiben. Gerade die Dichte der historisch angereicherten Wiener Baukultur provozierte immer neue Ansätze oder anders gesagt, die ästhetische Zeitmaschine erforderte immer größere Anstrengungen um sie in Gang zu halten.

Wohnbau

Zumindest machen die sechziger Jahre den Eindruck, als wäre das Thema Wohnbau in Wien komplett ausgetrocknet. Die noch von Franz Schuster angestrebten fast biedermeierlichen Idyllen waren von stringenteren, sicher großzügigeren, aber auch schematischeren Überbauungen verdrängt worden. Die Konzepte Rainers, die noch um Maßstäblichkeit bemüht waren, wurden unsensibel, aber ökonomisch erfolgreich aufgestockt. Die Anwendung der Plattenbauweise (Camus-System) mit eigens entwickelten Grundrißtypen trug das ihre zum architektonischen Schematismus bei. Fehler – die jedoch außerhalb der Finanzierung des Wohnbaus lagen – wie etwa der Mangel an Folgeeinrichtungen (Jugend, Kultur, Verkehr etc.) trugen dazu bei, daß sich diese Quartiere schnell zu sozialen Problemzonen entwickelten. Heute ist Beruhigung eingetreten und es wird auch zu einer Neubewertung dieses Wohn-und Städtebaus kommen.

Auf diesem Hintergrund, inklusive der Kritik daran, wurde im Sinne des Fortschrittsdenkens der sechziger Jahre von Großbüros (etwa von Harry Glück) eine erfolgreiche konsum- und lifestyleorientierte Wohntypologie entwickelt, die in der Stringenz der Erfüllung „elementarer Wohnbedürfnisse“ und genormter Zufriedenheit – was immer das sei – zu ebenso plakativen wie angezweifelten Lösungsangeboten führte.

So avancierte der Wohnbau in den späten sechziger Jahren zum Hauptthema und somit war es auch kein Zufall, daß die Österreichische Gesellschaft für Architektur (bald nach ihrer Gründung) mit der Ausstellung „Neue städtische Wohnformen“ eine schon lange anstehende Diskussion eröffnete. Die Reaktion kam zunächst nicht von der Stadt Wien, was zu erwarten gewesen wäre, sondern vom „Bund“: Das damals noch existierende Bautenministerium schrieb im Rahmen der Wohnbauforschung die Wettbewerbsserie „Wohnen morgen“ aus, die zumindest in Wien und in Niederösterreich (Wilhelm Holzbauer und Ottokar Uhl) zu einem essentiellen Qualitätssprung führte. Die Wiener Diskussion um neue Wohnmodelle war teilweise an die beginnende Diskussion um die „alten Wohnmodelle“ des Wiener Gemeindebaus gekoppelt (Kapfinger/Krischanitz: „Wiener Typen“), wurde also in den neuen Aufbruch der siebziger Jahre hineingetragen.

Der zweite Aufbruch

Vermutlich war es kein Zufall, daß nach der Mitte der sechziger Jahre eine Art zweiter Aufbruch begann, signalisiert durch die ersten Auslandserfolge (Hollein: Reynolds-Preis; Holzbauer: Wettbewerb Rathaus Amsterdam; Schwanzer: BMW-München etc.), charakterisiert aber auch durch einige exemplarische Entwürfe und Bauten, wie etwa das Juridicum von Ernst Hiesmayr, das Tagungsheim St. Virgil von Wilhelm Holzbauer, die ORF-Landesstudios von Gustav Peichl, die Stadt des Kindes von Anton Schweighofer oder das Sanierungsprojekt von Badgastein von Gerhard Garstenauer. Allen diesen und noch einigen anderen Projekten gemeinsam war ein gewisses Vertrauen auf die Mittel eines konstruktiven Funktionalismus, an die soziale oder technische Innovation, mit eingeschlossen eine plakative Zeichenhaftigkeit, die gewissermaßen die Inhalte von Fortschritt auch ausstellte. Natürlich lagen zwischen dem „Manierismus“ eines Holzbauer oder der funktionalistischen und konstruktivistischen Semantik eines Peichl oder Garstenauer schon „Welten“, wenn auch die Blickrichtung vielleicht die gleiche war.

Ein eigenes Thema dieses Jahrzehnts wäre noch die beginnende Aufarbeitung der Architekturgeschichte der Moderne, das langsame Eindringen dieser Themen in heimische Verlage (Otto Wagner, Lois Welzenbacher etwa beim Residenz Verlag), das Erscheinen der ersten Architekturführer von Wien (Uhl, Feuerstein) und vor allem auch die Ausstellungstätigkeit von Kurrent und Spalt sowie die zunehmende Diskussion um Architekturfragen in der Fach- und Tagespresse.

Mit der sogenannten „Ölkrise“ von 1973 wurde dieser Höhenflug ziemlich radikal unterbrochen, nicht nur die über ein Jahrzehnt alte Kritik des Funktionalismus zeigte Wirkung, auch die Studentenrevolte und die aufkeimende Diskussion um die Postmoderne. Es war an der Zeit, daß der Architekturbegriff erneut unter die Lupe genommen wurde, was ja schließlich, vor allem in Wien, Graz, Salzburg und Vorarlberg mit sehr verschiedenen Ansätzen und relativ fruchtbringend geschah.

newroom, So., 1995.10.01

Profil

1950-53 Studium der Architektur und Diplom an der Meisterschule Clemens Holzmeister an der Akademie der bildenden Künste in Wien, ab 1953 arbeitete A. als freischaffender Architekt in Arbeitsgemeinschaft mit Johann Georg Gsteu. Wichtigste Arbeit dieser Zeit ist die Modernisierung der Rosenkranz-Kirche in Wien.

1958 beendet A. seine Tätigkeit als Architekt und wird freier Schriftsteller. Als Mitglied der legendären „wiener gruppe“ (Konrad Bayer, Gerhard Rühm, Oswald Wiener) schreibt er Dialektgedichte und konkrete Poesie und wirkt an Aufführungen des „literarischen cabarets“ mit. 1961 beginnt A. zunächst bei der „Abendzeitung“ und ab 1962 bei der Tageszeitung „Die Presse“ als Architekturkritiker. Bis 1972 begründen die regelmäßigen Architekturkritiken von A. eine neue Qualität der Reflexion der Architektur in Österreich. 1963-83 folgt die Lehrtätigkeit an der Akademie der bildenden Künste Wien über „Geschichte der Baukonstruktion“. Ab 1983 wird A Vorstand der Lehrkanzel für „Geschichte und Theorie der Architektur“ an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien.

Seit 1965 arbeitet A. an einem „Führer zur Österreichischen Architektur im 20. Jahrhundert“, der seit 1980 in Einzelbänden erscheint. Diese weltweit einzigartige Arbeit ist das Ergebnis konsequenter Primärforschung, beruhend auf der Auswertung sämtlicher vorhandener archivalischer Quellen, der persönlichen authentischen Besichtigung aller Bauten, und deren sprachlich architekturkritischen Bewertung. Hier gelingt A. eine einzigartige Verbindung von historischer Kompetenz und sprachlicher Analyse, die Verbindung von Architektur und Literatur auf höchstem Niveau. A erhielt für seine Arbeit zahlreiche Preise und Auszeichnungen.

Publikationen

1959 hosn rosn baa, Dialektgedichte mit H.C.Artmann und Gerhard Rühm, Wien
1960 schwer schwarz, konkrete poesie, eugen gomringer press, Frauenfeld
1967 die wiener gruppe, Herg. von Gerhard Rühm, mit H.C.Artmann, Konrad Bayer, Gerhard Rühm, Oswal Wiener, Hamburg
1968 Lois Welzenbacher. Monographie, mit Ottokar Uhl, Salzburg.
1970 prosa, konstellationen, montagen, dialektgedichte, studien, Hamburg
1973 quadratroman, Darmstadt
1975 WOHNEN ETCETERA, München
1977 Die WARE Landschaft, (Hrsg.), Salzburg
1980 friedrich achleitner + gerhard rühm. super rekord 50 + 50, Linz
1986 Nieder mit Fischer von Erlach, (Architekturkritik) Salzburg
1987 Aufforderung zum Vertrauen, (Architekturkritik) Salzburg
1991 KAAS (Dialektgedichte), Salzburg
1994 Die rückwärtsgewandte Utopie: Motor des Fortschritts in der Wiener Architektur, Wien
1995 Die Plotteggs kommen, Wien
1995 quadratroman, Neuauflage Salzburg
1996 Wiener Architektur, Wien
1997 Die Plotteggs kommen. Ein Bericht. Sonderzahl, Wien
1997 Region, ein Konstrukt? Regionalismus, eine Pleite? Birkhäuser, Basel, Boston und Berlin
2003 einschlafgeschichten. Zsolnay, Wien
2004 wiener linien. Zsolnay, Wien
2006 und oder oder und. Zsolnay, Wien
2009 der springende punkt. Zsolnay, Wien

1980 Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert. Band I: Oberösterreich, Salzburg, Tirol, Vorarlberg
1983 Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert. Band II. Kärnten, Steiermark, Burgenland
1990 Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert. Band III/1: Wien, 1.–12. Bezirk
1995 Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert. Band III/2: Wien, 13.–18. Bezirk
2010 Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert. Band III/3: Wien, 19.–23. Bezirk

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