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11. Juli 2014Claudia Carle
TEC21

Wo klemmt’s?

Damit die Schweiz künftig weniger Energie verbraucht, ist es entscheidend, die energetische Sanierung von Gebäuden voranzutreiben.
Doch gerade bei privaten Eigentümern, denen fast 90 % des Bestands ­gehören, sind die Rahmenbedingungen dafür eher ungünstig.

Damit die Schweiz künftig weniger Energie verbraucht, ist es entscheidend, die energetische Sanierung von Gebäuden voranzutreiben.
Doch gerade bei privaten Eigentümern, denen fast 90 % des Bestands ­gehören, sind die Rahmenbedingungen dafür eher ungünstig.

Anders als bei Neubauten, bei denen dank entsprechender Gesetze und Standards der Energieverbrauch bereits weitgehend minimiert wird, liegt bei Gebäudeerneuerungen noch grosses Potenzial brach. Welche Faktoren sind es, die Sanierungsrate und -tiefe limitieren? Und welche Anreize bestehen für Sanierungen? Diesen Fragen ging ein Forschungsprojekt des Center for Corporate Responsibility and Sustainability der Universität Zürich (CCRS) im Rahmen von Energieforschung Stadt Zürich nach.[1] Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf Privatpersonen als wichtige Eigentümergruppe.

Eine Liegenschaft energetisch zu sanieren ist mit einem komplexen Entscheidungsprozess verbunden. Die dafür nötigen Informationen zu beschaffen und auszuwerten kann für die Eigentümer sehr zeitaufwendig und mühsam sein und dadurch eine umfassende Erneuerung behindern. Angesichts der ständigen technischen Weiterentwicklung sind Bauherrschaften beispielsweise bei technischen und baufachlichen Fragen auf Experten angewiesen. Im Vorfeld einer Sanierung stellen sich aber auch rechtliche Fragen, z. B. welche Mietpreis­erhöhung danach möglich ist. Umfangreiche Sanie­rungen sind ausserdem teuer, daher sind Kenntnisse über die Finanzierungs- und Fördermöglichkeiten wichtig – angesichts des «Förderdschungels» auf Ebene von Bund, Kantonen und Gemeinde keine leichte Aufgabe.

Mangelnde Rentabilität

Energie kostet hingegen vergleichsweise wenig. Im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt haben sich die Endverbraucherausgaben für Energie in den vergangenen Jahren sogar moderat verringert bzw. sind auf einem konstant niedrigen Niveau verblieben. Entsprechend ist die finanzielle Ersparnis durch energetische Sanierungen relativ gering und die Amortisationsdauer der Investitionen hoch. Zudem kommen bei vermieteten Objekten die Kostenreduktionen den Mietern und nicht den Eigentümern zugute. Rentabel wird die Investition vor allem indirekt, etwa durch einen Gewinn an zusätzlicher Fläche, höheren Komfort und höhere Mietpreise.

Wirksame Subventionen

Für energetische Massnahmen stehen unterschiedliche Fördermöglichkeiten zur Verfügung, durch die sich die Investitionen und damit die Amortisationsdauer für die Eigentümer reduzieren. Einerseits gibt es auf Ebene des Bundes, der Kantone und der Gemeinden Förderprogramme für energetische Sanierungen. Zum anderen belohnen Banken das Erreichen energetischer Standards zum Beispiel mit niedrigeren Hypothekarzinsen.

Obwohl der Anteil solcher Fördergelder an den Gesamtkosten vergleichsweise gering ist, zeigen Stu­dien, dass die Sanierungstätigkeit privater Eigentümer mit steigenden Subventionen der öffentlichen Hand zunimmt.[2] Auch Beratungsangebote wie das Energie-Coaching wirken positiv, weil sie bei den Informations­problemen ansetzen und bei Planung und Umsetzung unterstützen (vgl. «Oft mangelt es an Wissen», S. 22).

Die mit Fördergeldern angestrebte Erhöhung der Erneuerungstätigkeit wird jedoch teilweise durch die vom Mietrecht geschützten Interessen der Mieter gebremst: Wird den Mietern im Vorfeld der Sanierung gekündigt, kann die Anfechtung der Kündigung zu Verzögerungen und Mehrkosten führen. Sind mit der ­Erneuerung Mietzinserhöhungen für die bestehenden Mieter verbunden, können sie sich dagegen zur Wehr setzen. Seit 1. 7. 2014 kann der Vermieter zudem bei bestehenden Mietverträgen die Sanierungskosten nur noch abzüglich der Fördergelder auf die Mieter überwälzen. Damit profitiert auch der Mieter von den Subventionen.

Fehlende Rückstellungen

Zentral für die Entscheidung, ob energetisch saniert wird oder nicht, ist ausserdem, inwieweit die Eigentümer finanziell vorgesorgt haben. Häufig fehlen ausreichende Rückstellungen. Ursache dafür sind im Wesentlichen die bereits angesprochenen Informa­tionslücken bzw. nicht hinreichende Eigenmittel. Hinzu kommt, dass es für private und für Stockwerk-­Eigentümer keine rechtlichen Vorschriften für sanierungsbezogene Rückstellungen gibt. Ausserdem sind die Kosten einer umfassenden Sanierung schwer zu kalkulieren. Es ­können versteckte Kosten auftreten, die zu Beginn der Planung nicht erkannt wurden.

Umfangreiche Bauvorschriften

So können zum Beispiel zusätzliche Bauauflagen und Verordnungen die Eigentümer zu zusätzlichen Investitionen zwingen und die Gesamtkosten erheblich ansteigen lassen. Dazu gehören die umfangreichen Auflagen der Gebäudeversicherung Kanton Zürich (GVZ): Wer seine Liegenschaft energetisch sanieren will, sieht sich zahlreichen Brandschutzverordnungen gegenüber, die er ohne Sanierungsmassnahmen in der Form nicht erfüllen müsste. Es können Situationen auftreten, in denen die Einhaltung von Brandschutzverordnungen teurer ist als die eigentliche energetische Sanierung. Zum Teil muss bei Gesamtsanierungen auch in den Schallschutz und in die Erdbebenertüchtigtung investiert werden.

Auch umfangreiche Bauvorschriften und Bewilligungsverfahren erschweren Gesamtsanierungen. Nur schon die Baugenehmigung, die für eine umfassende Sanierung erforderlich ist, kann auf die Eigentümer abschreckend wirken. Zudem kann eine bessere Gebäudedämmung dazu führen, dass Baulinien überschritten werden, womit neben rechtlichen Hürden auch zusätzliche Kosten verbunden sein können.

Die Eigentümerschaft von historischen Liegenschaften muss auch Denkmalschutzauflagen beachten. Zum Teil lassen sich energetische Sanierungen jedoch nicht mit dem Denkmalschutz vereinbaren.

Viele alte Eigentümer

Bei privaten Eigentümern kann auch das Alter Investitionsentscheidungen erheblich beeinflussen. Ein Grossteil der privaten Eigentümer in der Stadt Zürich ist über 50 Jahre alt. Für diese Gruppe liegt es oft nah, Sanierungsentscheidungen in die Zukunft zu verschieben und lieber ihren Nachkommen zu überlassen. Aufgrund der relativ langen Amortisationsdauer besteht kein Anreiz zu investieren. Ausserdem scheuen viele ältere Personen davor zurück, umfangreiche Baumassnahmen in Kauf zu nehmen.

Teil- versus Gesamtsanierung

Bei Sanierungen stellt sich grundsätzlich die Frage, ob lediglich einzelne Teile zu erneuern sind oder ob eine Gesamt­sanierung durchgeführt werden soll. Für eine Gesamt­sanierung sprechen die insgesamt oft niedrigeren ­Kosten und Bauzeiten. Durch eine Etappierung der Massnahmen hingegen fällt die Investition in kleineren Tranchen an, was auch steuerliche Vorteile hat. Die unterschiedliche Lebensdauer der Bauteile spricht ebenfalls häufig gegen Gesamtsanierungen. Und nicht zuletzt muss bei kleinere Baumassnahmen in der Regel nicht allen Mietern gekündigt werden.


Anmerkungen:
[01] Wiencke, A., Meins, E.: Praxisbeitrag. Energieforschung Stadt Zürich. Bericht Nr. 5, Forschungsprojekt FP-2.2.2, 2012. Download unter www.energieforschung-zuerich.ch
[02] Alberini, A. et al.: Energy Efficiency Investments in the Home: Swiss Homeowners and Expectations about Future Energy Prices, 2011.

TEC21, Fr., 2014.07.11



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2014|28-29 Energetisch sanieren

11. Juli 2014Nina Egger
Claudia Carle
TEC21

«Oft mangelt es an Wissen»

Häufig schöpfen private Bauherrschaften die Möglichkeiten für mehr ­Energieeffizienz nicht aus. Architekten sollten daher verstärkt auf die Option der Energieberatung hinweisen, von der sie auch selbst proftieren.

Häufig schöpfen private Bauherrschaften die Möglichkeiten für mehr ­Energieeffizienz nicht aus. Architekten sollten daher verstärkt auf die Option der Energieberatung hinweisen, von der sie auch selbst proftieren.

TEC21: Frau Kulemann, die Geschäftsstelle Energie-Coaching der Stadt Zürich führt bis zu 200 Beratungen pro Jahr durch. Wer nimmt dieses Angebot vor allem in Anspruch?
Christine Kulemann: Primär sind das kleinere, private Eigentümerschaften, ab und zu auch Baugenossenschaften oder Verwaltungen. Es melden sich aber auch immer mehr Architekten an.

Aus welchen Motiven kommen die Hauseigentümer zu Ihnen?
Kulemann: Bei der Anmeldung wird als häufigster Grund «Umweltbewusstsein» angegeben (vgl. Grafik S. 23). Die meisten Leute, die zu uns in die Beratung kommen, interessieren sich für die Energieproblematik, wissen auf diesem Gebiet aber selbst zu wenig und suchen daher Hilfe. Der Fall, dass bei jemandem die Heizung ausgestiegen ist und er dann spontan zum Energie-Coaching kommt, ist eher selten. Letzteres hat aber den Vorteil, dass der Eigentümer dann wirklich etwas machen muss. In den anderen Fällen führt eine Beratung ja nicht unbedingt tatsächlich zu einer energetischen Sanierung.

Was sind aus Ihrer Erfahrung die wichtigsten Faktoren, die private Hausbesitzer davon abhalten, die vorgeschlagenen Massnahmen auch umzusetzen?
Kulemann: Ein wichtiger Faktor ist die Finanzierung (vgl. Grafik S. 23). Wenn zum Beispiel bei Stockwerk-Eigentümergemeinschaften der Erneuerungsfonds gefüllt ist, wird in der Regel saniert. Fehlt das Geld, wird das Vorhaben eher verschoben. Es wäre hilfreich und sinnvoll, wenn Rücklagen für Sanierungen obligatorisch wären und keine steuerlichen Nachteile bringen würden. Derzeit werden Rücklagen bei den Steuern als Vermögen angerechnet, sodass das Ansparen zu höheren Steuerzahlungen führt.

Wenn man sich die vom Energie-Coaching begleiteten Projekte anschaut, fällt auf, dass viele etappenweise durchgeführt wurden. Hat das auch in erster Linie finanzielle Gründe?
Kulemann: Ja, oft ist das finanziell gar nicht anders möglich. Zudem hat dieses Vorgehen steuerliche Vorteile, weil man so die Sanierungskosten in mehreren Jahren abziehen kann. Das ist ein grosser Anreiz und bringt in der Regel auch mehr ein als die Fördergelder. Für die meisten Gebäude ist eine Etappierung auch deshalb sinnvoll, weil selten alle Teile gleichzeitig erneuerungsbedürftig sind. Zum anderen kann man so in der Regel im bewohnten Zustand sanieren.

Andererseits wird die Sanierung dadurch insgesamt teurer und bereitet unter Umständen an den «Nahtstellen» der einzelnen Massnahmen Probleme.
Kulemann: Ja, daher muss man vorher das Gebäude als Ganzes betrachten und alle Massnahmen planen. Ersetzt man dann in einem ersten Schritt die Fenster, weiss man schon, dass sie in einer anderen Ebene liegen werden, wenn man in fünf Jahren noch die Fassade dämmt, und wird den Anschluss entsprechend planen. Das ist sehr wichtig.

TEC21: Argumentieren Sie auch über die Amortisationsdauer solcher Energiesparmassnahmen?
Kulemann: Eher nein, weil das nicht besonders attraktiv ist. Die Amortisationsdauer liegt zum Beispiel bei einer Aussenwand etwa zwischen 25 und 30 Jahren. Wir planen aber, nächstes Jahr die Betriebsoptimierung als weiteres Angebot einzuführen. Da würden wir zum Beispiel die Regelung der Heizung sowie den Strom- und Wasserverbrauch überprüfen und optimieren. Diese Massnahme könnte in zwei bis drei Jahren amortisiert sein, weil die Betriebskosteneinsparungen ohne grössere Sanierungsmassnahmen und entsprechende Investitionen erreicht werden.

Was sind neben den finanziellen Faktoren weitere Hemmnisse für die Durchführung von energetischen Sanierungen?
Kulemann: Oft liegt es an einem Mangel an Wissen bei den Bauherrschaften: wie man vorgehen könnte, was es zu beachten gibt und was es bringt. Beispielsweise wissen viele nicht, dass bei einem ungedämmten Dach bereits die Dämmung des unbeheizten Estrichbodens eine sinnvolle Massnahme ist und damit rund 10 bis 20 % Heizenergie eingespart werden können.

Das heisst, dass die Architekten den Bauherrschaften zu wenig klar machen, welche Möglichkeiten es zur Steigerung der Energieeffizienz gäbe?
Kulemann: Ziel ist nicht, dass Architekten energetische Beratungen vollständig selber übernehmen. Das Berufsbild des Architekten ist bereits sehr umfassend, und hinzu kommt, dass für den Entwurf andere Stärken als für die Umsetzung gefragt sind. Mit den energetischen Anforderungen ist in den letzten Jahren vielmehr das neue Berufsbild «Energieberater/in Gebäude» entstanden. Dieses gilt es zu etablieren. Dafür ist wichtig, dass Architektinnen und Architekten die Eigentümerschaft darauf hinweisen, dass es Möglichkeiten für mehr Energieeffizienz gibt, und sie bei Bedarf dazu motivieren, einen Energieberater beizuziehen, ähnlich wie eine Bauphysikerin oder einen Statiker. Die Eigentümer haben in der Regel grosses Vertrauen in ihre Architekten und gehen davon aus, dass er oder sie alles weiss und macht. Das wird kaum hinterfragt, und deshalb sollten die Architekten in der Ausbildung stärker lernen, dass Entwurf und Energieeffizienz Hand in Hand gehen können.

Ist das Vertrauen in den Architekten grösser als in den Energieberater?
Kulemann: Nein, aber viele Eigentümerinnen und Eigentümer wissen nicht, dass die energetische Beratung nicht zum klassischen Berufsbild des Architekten gehört und dass es hierfür extra Fachpersonen gibt.

Vermutlich profitieren auch die Architekten selbst von einem Energie-Coaching?
Kulemann: Ja, manche bekommen dabei gratis eine Weiterbildung.

Andererseits könnte ich mir vorstellen, dass sich manche Architekten auch nicht von einem Energieberater hineinreden lassen wollen.
Kulemann: Das kommt sicher auch vor. Dann werden die Projekte vermutlich meist ohne Energieberatung umgesetzt. Wenn eine Architektin oder ein Architekt im Projekt dabei ist, ist es aus unserer Erfahrung für den Wissenstransfer von Vorteil, wenn der Energie-Coach einen technischen Hintergrund hat und sich etwa mit dem Thema Heizung gut auskennt. Dann wird die fachliche Unterstützung geschätzt.

Bei der Sanierung öffentlicher Gebäude muss in Zürich der Minergie-Standard erreicht werden, und man kann sich fragen, ob das in jedem Fall verhältnismässig ist. Welche Zielvorgaben haben Sie bei der Beratung privater Eigentümer?
Kulemann: Unser Ziel ist in erster Linie, die Gebäude auf Kurs 2000 Watt zu bringen, sprich sowohl den Energieverbrauch als auch die Treibhausgasemissionen zu senken. Dafür empfehlen wir eine gute Dämmung und vor allem die Umstellung auf erneuerbare Energien. Ziel ist nicht, auf Teufel komm raus jedes Gebäude mit 20 cm Dämmung und mehr einzupacken. Unsere Energie-Coachs versuchen, zusammen mit der Architektin oder dem Architekten eine Lösung zu finden, die sowohl energetisch als auch architektonisch gut ist.

Das Erreichen des Minergie-Standards ist kein Ziel in der Beratung?
Kulemann: Nicht mehr. Am Anfang war es so, das hat sich jedoch geändert, weil Minergie nicht bei allen Gebäuden realisierbar ist, z.B. aus Denkmalschutzgründen oder weil sich nicht in jedes Gebäude die vorgeschriebene Komfortlüftung wirtschaftlich einbauen lässt. Zudem stehen viele Eigentümerschaften einer Komfortlüftung kritisch gegenüber und sind häufig auch nicht bereit, die meist mit einer Minergie-Sanierung verbundenen Mehrkosten zu tragen.

TEC21, Fr., 2014.07.11



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TEC21 2014|28-29 Energetisch sanieren

06. Juni 2014Claudia Carle
Judit Solt
TEC21

«Den Elefanten ist das Dach egal»

Unter artgerechter Tierhaltung stellen sich Fachleute und Besucher nicht unbedingt das Gleiche vor. Der Elefantenpark möchte beiden gerecht werden: den neuen Erkenntnissen der Tierforschung und dem Wunsch der Besucher nach einem naturnahen und spannenden Lebensraum.

Unter artgerechter Tierhaltung stellen sich Fachleute und Besucher nicht unbedingt das Gleiche vor. Der Elefantenpark möchte beiden gerecht werden: den neuen Erkenntnissen der Tierforschung und dem Wunsch der Besucher nach einem naturnahen und spannenden Lebensraum.

TEC21: Herr Zingg, Zoos dienen heute nicht mehr nur dazu, Tiere zu halten und auszustellen, sondern bauen eine Umgebung nach, die ihrem natürlichen Lebensraum möglichst ähnlich ist. In unseren Breiten­graden braucht es dafür in der Regel ein Dach.
Bei dem 2003 eingeweihten Masoala-Regenwald entschied sich der Zoo Zürich für eine rein funktionale Lösung, beim Elefantenpark wurde das Dach gestaltet. War das ein Wunsch des Zoos, oder hat es sich aus dem Architekturwettbewerb ergeben?
Robert Zingg: Architekten haben es nicht einfach im Zoo. Ein Ausspruch des früheren Zoo­direktors Heini Hediger war: «Das gefährlichste Tier im Zoo ist der Architekt.» Das soll nichts anderes aussagen, als dass der Zoo der falsche Ort ist, um sich ein Denkmal zu setzen. Hier muss die Funktionalität im Vordergrund stehen. Was den Elefantenpark betrifft, wussten wir, dass das Gebäude nicht nur riesig sein würde, sondern auch von oben gut sichtbar, weil es am Hang steht. Damit ein solcher Bau mit einer Dachfläche von ca. 6000 m² den Besucher nicht erschlägt, sollte er möglichst leicht und wie eine natürliche Form wirken. Unter den 50 Wettbewerbsbeiträgen gab es dafür verschiedenste Lösungen – von Glashäusern über ganze Felslandschaften, in die das Haus integriert war, bis hin zu durchbrochenen Hüllen wie der jetzt realisierten. Das Lichtspiel unter dieser Hülle ähnelt demjenigen in einem Wald. Der Besucher soll möglichst kein Gebäude, sondern einen Lebensraum betreten. Diesem Anspruch dient die Architektur.

Die Inszenierung des natürlichen Lebensraums wird also in erster Linie für die Besucher gemacht, nicht für die Tiere?
Zingg: Ja, das Dach ist sicher ein Element, bei dem es um die Gesamtwirkung auf die Besucher geht – den Elefanten ist es egal. Heutige Besucher haben Reisen unternommen und Filme gesehen und darum eine bestimmte Vorstellung vom Lebensraum der Tiere. Eine fantasielose Umgebung mit nur ein paar Zäunen kommt einfach schlecht an – ungeachtet dessen, ob das Tier darin gut zurechtkommt oder nicht. Ein schönes Beispiel ist das Gehege des Brillenbären mit einer wunderbaren Felswand im Hintergrund. Dem Brillenbären ist es egal, aus welchem Material diese Wand ist; sie ist einfach ein Hindernis, das er nicht überwinden kann. Aber damit es für die Besucher stimmt, hat man etwas geschaffen, das natürlich wirkt. Die Besucher müssen das Gefühl haben, dass die Tiere gut gehalten werden.

Im Elefantenpark ist eine waldartige Umgebung entstanden.
Zingg: Ja, der Asiatische Elefant wäre in einem immergrünen Wald zu Hause. Das lässt sich im Zoo aber nicht 1 : 1 umsetzen, weil die Elefanten den schnell zerstören würden. Wir versuchen daher, mit Totholzbäumen einen Wald zu suggerieren. Auch die Besucher werden sich in einem waldähnlichen Bereich bewegen, wenn die Pflanzen grösser geworden sind. Zur Inszenierung gehört ausserdem die Kom­position der Blickachsen: Die Besucher schauen nie in eine grosse Menschenmenge. Auch die technischen Einrichtungen soll man möglichst nicht sehen. ­Gerade beim Elefant ist das eine spezielle Herausforderung. In einem Gehege für ein Tier, das eine Stosskraft von bis zu 15 t entwickeln kann, braucht es nun einmal massive Wände, die man dann zu kaschieren versucht. Trotzdem bauen wir nicht einfach nur Kulissen. Unsere Verantwortung liegt auch beim Tier.

Welche Anforderungen gab es denn von Seiten der Tierhaltung an den neuen Elefantenpark?
Zingg: Im Masterplan 2030 des Zoos ist schon länger festgelegt, dass es eine neue Elefantenanlage geben wird. 2007 haben wir begonnen, uns konkret Gedanken zu machen, was die Anlage leisten soll.
Ein Wunsch war ein deutlich grösseres Haus, weil die Tiere in unserem Klima etwa die Hälfte des Jahres drinnen verbringen. Wir wollen ihnen daher auch im Innenbereich etwas Interessantes bieten. Auf einer grösseren Fläche hat man mehr Optionen für viel­fältige Einrichtungen. Ein weiterer Wunsch war, den Elefantenkühen die Möglichkeit zu geben, ihre natürliche Sozialstruktur in Form von matrilinearen Gruppen zu entwickeln. Wir möchten, dass in Zukunft Mütter und Töchter zusammenbleiben und sich so Weibchenverbände bilden können.

Wieso war das in der alten Anlage nicht möglich?
Zingg: Bisher war das nie das Ziel. Früher haben wir jeweils Einzeltiere von anderen Zoos übernommen. Wenn für ein Jungtier nicht genug Platz da war, hat man es auch wieder einzeln
an ­andere Zoos abgegeben. Man hat es also aus einem sozialen Kontext herausgenommen, in einen neuen gebracht und damit sozial geschwächt. Dass man soziale Einheiten beibehalten möchte, ist eine neuere Entwicklung, die auf Erkenntnissen der modernen Tierhaltung beruht. Allerdings sind dafür spezielle Anlagen nötig: Zum einen braucht es für grössere Gruppen mehr Platz, zum anderen wird sich die Dynamik innerhalb der Gruppe anders entwickeln.

Inwiefern?
Zingg: Wenn die matrilineare Sozialstruktur richtig ausgeprägt ist, wird der Elefantenpfleger zum schwächsten Glied in der Gruppe. Um seine Sicherheit zu gewährleisten, müssen wir ihn aus dem Sozialgefüge herausnehmen und das Managementsystem ändern. In der alten Anlage hatten die Tierpfleger direkten Kontakt zu den Elefantenkühen («hands on») und die Rolle des Alphatiers inne. In der neuen Anlage gehen wir – wie bisher schon bei den Elefantenbullen – zum sogenannten geschützten Kontakt («protected contact») über, bei dem immer eine ­Barriere zwischen Tier und Pfleger besteht. Das setzt entsprechende Räume voraus, in denen die Tiere zum Beispiel für medizinische Behandlungen isoliert werden können. Zudem wird es möglicherweise mehr Auseinandersetzungen zwischen den Tieren geben, wenn der Tierpfleger nicht mehr dazwischen geht. Daher braucht es sowohl innen als auch aussen Räume, um die Tiere bei Bedarf zu separieren.

Der Elefantenbulle bleibt nach wie vor allein?
Zingg: Jungbullen kann man weiterhin im Alter von 4 bis 5 Jahren weggeben. Dann werden sie etwas schwierig im Handling und würden auch im Freiland die Herde verlassen, um sich mit anderen Jungbullen zu einer Junggesellengruppe zusammenzuschliessen. Wir werden aber in Kürze noch einen Jungbullen als Partner unserer beiden jungen Weibchen dazubekommen, um Inzucht zu vermeiden.
Der Bullenbereich liegt abseits der Besucherzonen im Hintergrund der Anlage, weil Bullen manchmal etwas unberechenbar sind und man sie daher nicht an der Front haben möchte.

Was beim neuen Elefantenpark auffällt, sind die vielen Wasserflächen und der Sand- anstelle des Betonbodens im alten Elefantenhaus.
Zingg: Der weiche Boden ist besonders für die älteren Tiere angenehmer. Die Bullen mit den grossen Stosszähnen können sich besser zum Schlafen hin­legen, und die Tiere haben allgemein weniger Nagelprobleme. Einen festen Boden, der leicht zu reinigen ist, hat es nur noch in den Managementboxen, wo die Tiere nur temporär sind.
Wasser ist ein wichtiges Element im Lebensraum der Elefanten. Daher hat es im Innen- und im Aussenbereich verschiedene Bassins, von seicht bis so tief, dass die Elefanten richtig schwimmen können.

Kommen all diese Vorgaben daher, dass man heute besser als beim Bau des alten Elefantenhauses vor 40 Jahren versteht, wie man Elefanten artgerecht hält – oder misst man dem heute einfach mehr Gewicht bei?
Zingg: Man hat in der Zwischenzeit sehr viel gelernt, zum einen im Freiland, aber auch aus der Haltung im Zoo. Man weiss heute zum Beispiel, dass Elefanten 16 bis 18 Stunden pro Tag auf Futtersuche sind. Wir haben uns daher überlegt, wie wir das Fütterungssystem für sie anspruchsvoller machen können. Es gibt etwa 40 Futterstellen in der neuen Anlage. Ein Teil davon lässt sich über eine Zeitschalt­uhr auslösen, sodass die Fütterungszeiten nicht mehr an die Präsenz der Tierpfleger gekoppelt sind. Zudem bekommen sie nicht mehr einfach einen Haufen Heu, sondern nur kleine Portionen, die sie aus den ­Futterstellen herausklauben müssen. Die Elefanten sollen längere Zeiträume mit der Futtersuche ­verbringen und ihre Geschicklichkeit nutzen.

Der Zoo versucht also, sowohl den Ansprüchen der Tiere als auch den Erwartungen der Besucher gerecht zu werden.
Zingg: Die Ansprüche der Tiere werden so «verpackt», dass eine auch für die Besucher interessante Anlage entsteht. Die ernsthaft geführten Zoos entwickeln sich in Richtung Naturschutzzentren.
Die Tiere fungieren dabei als Botschafter ihrer Art, die die Besucher emotional abholen, damit sie für Informationen zugänglich sind. Wir möchten zum Beispiel erreichen, dass die Besucher die Verbindung zwischen der Zerstörung des Lebensraums Regenwald und dem Aussterben der darin lebenden Tiergemeinschaften erkennen. Die Leute sollen realisieren, dass wir alle in diese Zerstörung involviert sind und mit unserem täglichen Konsumverhalten beeinflussen können, wie es dort weitergeht.

Hinzu kommen in letzter Zeit Projekte, mit denen der Zoo versucht, den Lebensraum in den Herkunfts­ländern der Tiere zu erhalten.
Zingg: Ja, mit allen grösseren Projekten, die wir in letzter Zeit realisiert haben, ist ein Freilandprojekt verbunden. Beim Kaeng-Krachan-Elefantenpark bringen wir uns über eine Patenorganisation im gleichnamigen Nationalpark in Thailand ein, um im Konflikt zwischen Mensch und Elefant zu vermitteln.

Worin besteht dieser Konflikt?
Zingg: Der Mensch dehnt seinen Lebensraum immer weiter aus und zerstört denjenigen der Ele­fanten. Zudem realisieren die Elefanten, dass es bei den Menschen Felder mit Pflanzen gibt, die sie selber gern verspeisen. Die Frage ist, wie man diesen Konflikt so lösen kann, dass eine Win-win-Situation für beide Seiten entsteht. Wir werden diese Probleme im Elefantenpark symbolisch darstellen, etwa mit einer Hütte, die von Elefanten halb eingedrückt ist. Auch die Lodge im thailändischen Stil dient unter anderem dazu, dieses Thema aufzugreifen. Wir wollen zeigen, wie die Leute in Thailand mit diesen Problemen umgehen und wie man sie dabei unterstützen kann.

TEC21, Fr., 2014.06.06



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2014|23 Ein Dach für Zürichs Elefanten

09. Mai 2014Claudia Carle
TEC21

Was will der Neue?

Bei der Vielzahl an Beurteilungsinstrumenten für nachhaltiges Bauen ist es schwer, den Überblick zu behalten. Trotzdem wurde mit dem Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz ein weiteres Element hinzugefügt – wird es umgesetzt wie geplant, könnte es aber mehr bewirken als andere.

Bei der Vielzahl an Beurteilungsinstrumenten für nachhaltiges Bauen ist es schwer, den Überblick zu behalten. Trotzdem wurde mit dem Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz ein weiteres Element hinzugefügt – wird es umgesetzt wie geplant, könnte es aber mehr bewirken als andere.

Für die Erarbeitung des neuen Standards Nachhaltiges Bauen Schweiz (SNBS) hat sich ein grosser Teil der Schweizer Akteure im Bereich des nachhaltigen Bauens an einen Tisch gesetzt. Gemeinsam hat man definiert, wie sich die Nachhaltigkeit eines Gebäudes bewerten lässt – eine gute Voraussetzung, um das wichtigste Ziel des Standards zu erreichen: eine breite Anwendung.

Alle bisher bestehenden internationalen und nationalen Instrumente werden entweder nur bei wenigen Gebäuden angewendet oder bewerten lediglich einzelne Aspekte der Nachhaltigkeit, sodass der Optimierungseffekt gering ist (vgl. TEC21 47/2011 «Minergie und mehr»). Der SNBS könnte durch sein niederschwelliges Angebot eine grössere Wirkung erreichen: Das Tool ist gratis verfügbar, relativ einfach und kompakt, umfasst aber alle wesentlichen Aspekte der Nachhaltigkeit (vgl. Interview S. 30). So können sich auch Planer und Bauherrschaften von kleineren Projekten mit vertretbarem finanziellem und zeitlichem Aufwand einen Überblick verschaffen, wo ihr Projekt steht und wie es sich optimieren lässt. Bis zu einem gewissen Grad geschieht das zwar bereits.

Nachhaltigkeit in ihrer ganzen Breite zu beurteilen ist jedoch anspruchsvoll. Daher haben an der Erarbeitung des SNBS Fachleute aus den Bereichen Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt mitgewirkt. Erleichtert wird seine Anwendung dadurch, dass viele bereits bestehende Instrumente und Hilfsmittel integriert wurden und die erforderlichen Berechnungen und Nachweise oft beinahe unverändert für den SNBS verwendet werden können (vgl. «SNBS nutzt Synergien» auf espazium.ch). Nur bisher fehlende und aus Schweizer Sicht wichtige Elemente wurden ergänzt, etwa die Themen Biodiversität und Landschaftszersiedlung, die Handelbarkeit einer Immobilie oder der Umgang mit dem Ort. Der Standard lässt sich sowohl bei neuen als auch bei bestehenden Gebäuden anwenden, derzeit für die Nutzungsarten Wohnen und Büro/Verwaltung.

Nach seiner Lancierung im Juni 2013 wurde eine Pilotphase gestartet. Im Lauf dieses Jahres wird entschieden, ob und wie der Standard aufgrund der gewonnenen Erfahrungen (vgl. Artikel S. 34) optimiert wird. Ab ca. Anfang 2015 soll ausserdem ergänzend ein Label erarbeitet werden (vgl. Kasten links und Artikel S. 38). Ob das sinnvoll ist, ist fraglich, denn vermutlich wären dann die Vorteile des Standards dahin und das Label ähnlich aufwendig und teuer wie andere. Wichtig für alle weiteren Entwicklungen ist zudem die Sicherung der Finanzierung. Bisher wurde sie grösstenteils vom Bundesamt für Energie (BFE) getragen. Vom Erfolg der derzeit laufenden Diskussionen zur finanziellen Zukunft wird laut Joe Luthiger, Geschäftsführer des Netzwerks Nachhaltiges Bauen, abhängen, wie viel Aufwand für die weitere Optimierung betrieben und ob der Standard weiterhin gratis angeboten werden kann.

TEC21, Fr., 2014.05.09



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2014|19 Ein neuer Standard für nachhaltiges Bauen

14. März 2014Claudia Carle
TEC21

Wärmeinseln werden noch heisser

Städte sind durch ihr wärmeres Klima und die Konzentration an Menschen und Unternehmen besonders sensibel gegenüber dem Klimawandel, der Hitze und Trockenheit noch verstärken wird. Die Anpassung daran ist ein wichtiger Aspekt künftiger Stadtentwicklung, birgt aber Konflikte.

Städte sind durch ihr wärmeres Klima und die Konzentration an Menschen und Unternehmen besonders sensibel gegenüber dem Klimawandel, der Hitze und Trockenheit noch verstärken wird. Die Anpassung daran ist ein wichtiger Aspekt künftiger Stadtentwicklung, birgt aber Konflikte.

Wer an einem Sommerabend aus dem Umland in die Stadt kommt, erlebt einen Klimawandel: Bis zu 10 °C wärmer ist es in dicht bebauten Gebieten, vor allem nachts.[1] Verantwortlich für diesen Wärmeinseleffekt sind Verkehr, Gebäude und versiegelte Flächen, die Wärme produzieren und speichern. Auch der geringere Anteil kühlender Grünflächen und die durch die Bebauung eingeschränkte Durchlüftung tragen dazu bei.

Der globale Klimawandel wird diesen Effekt noch verstärken. Die Prognosen für die Schweiz sagen ganzjährig höhere Temperaturen vorher, im Sommer ausserdem weniger Niederschläge.[2] (Zu den prognostizierten Auswirkungen im Detail vgl. Kasten S. 28).

Gleichzeitig sind Städte besonders empfindlich gegenüber klimatischen Veränderungen, da sie eine hohe Bevölkerungsdichte aufweisen; ausserdem sind dort viele Unternehmen ansässig und wichtige Gebäude und Infrastrukturanlagen wie Bahnhöfe, Versorgungs- und Bildungseinrichtungen konzentriert. Werden also die Sommer heisser und trockener, leidet eine Vielzahl an Bewohnern und Arbeitnehmern unter geringerer Leistungsfähigkeit und gesundheitlichen Beschwerden. Nehmen ausserdem wie prognostiziert Extremereignisse wie Intensivniederschläge und grosse Hochwasser zu, ist das Schadenpotenzial bei Unternehmen, Gebäuden und Infrastrukturanlagen besonders hoch.[2]

Eine Reihe von Studien hat daher in den letzten Jahren die mit dem Klimawandel verbundenen Risiken für Städte untersucht – unter anderem für Zürich und Basel – und mögliche Massnahmen zur Minderung dieser Risiken evaluiert.[1,3,4,5] Ende Oktober 2013 hat das Bundesamt für Umwelt (Bafu) ausSerdem eine Fallstudie in Auftrag gegeben, die die klimabedingten Risiken und Chancen in grossen Agglomerationen am Beispiel von Genf und Basel-Stadt monetarisieren und damit zeigen wird, wo der grösste Handlungsbedarf besteht.[6]

Gefährdete Gesundheit

Aus den bisher vorliegenden Studien kristallisiert sich die Gesundheit der Stadtbewohner als ein zentrales Thema heraus: Auf der einen Seite ermöglicht ein wärmeres Klima einen mediterranen Lebensstil, auf der anderen Seite beeinträchtigen aber höhere Temperaturen und häufigere Hitzewellen das Wohlbefinden, reduzieren die Schlafqualität und die Arbeitsproduktivität. Empfindliche Personen können auch ernsthafte gesundheitliche Probleme bekommen. Nicht umsonst war im Hitzesommer 2003 eine deutliche Zunahme der Sterberate zu beobachten. Hohe Ozonbelastungen, eine längere Pollensaison und bessere Lebensbedingungen für Krankheitsüberträger können die Gesundheit zusätzlich beeinträchtigen.

Abhilfe schafft alles, was für Kühlung sorgt: kühle Gebäude, Schattenzonen, Grün- und Wasserflächen und eine bessere Durchlüftung der Stadt.

Konflikt: Durchlüftung versus Dichte

Die Stadt Zürich hat im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie die Durchlüftung in den verschiedenen Stadtquartieren detailliert untersuchen lassen.[4]

Wie nicht anders zu erwarten, ist sie vor allem in Zentrumsgebieten wie der Innenstadt und Oerlikon ungünstig, wo die dichte Bebauung und schmale Strassenschluchten die Luftzirkulation behindern. Die ohnehin hohe Wärmebelastung durch Gebäude und versiegelte Flächen, die als Speicher wirken, sowie die Luftverschmutzung durch das hohe Verkehrsaufkommen werden dadurch verstärkt. Am naheliegendsten wäre es, von einer weiteren Verdichtung abzusehen – was aber den raumplanerischen Zielen für zentrumsnahe, gut erschlossene Gebiete diametral entgegensteht. Der Handlungsspielraum beschränkt sich somit in erster Linie auf Massnahmen zur Reduktion der Wärmelast, beispielsweise durch die Verminderung der Abwärme von Raumkühlsystemen oder durch Fassaden mit geringem Wärmeaufnahme- und speichervermögen. Zudem ist es wichtig, Grünräume zu schaffen oder zu erhalten, sei es am Boden, an Fassaden oder auf Dächern.

Wo hat es Platz für mehr Grün?

Damit sich solche kompensatorischen Massnahmen umsetzen lassen, erwägt Grün Stadt Zürich derzeit, einen Masterplan Stadtklima zu erarbeiten, wie Daniel Keller, Leiter des Fachbereichs Freiraumplanung, erläutert. Ziel des Masterplans wäre es, den Handlungsspielraum innerhalb der bestehenden Gebiets- und Siedlungsstruktur aufzuzeigen und einen Katalog guter Beispiele zur Verfügung zu stellen.

Ein weiteres Projekt von Grün Stadt Zürich wird sich vertieft mit Dach- und Fassadenbegrünungen befassen, um Gebäudeeigentümer besser beraten zu können. Laut Bettina Tschander vom Fachbereich Naturförderung wolle man anhand von Referenzprojekten und Literaturnachweisen untersuchen, wie verschieden gestaltete Begrünungen das Stadtklima beeinflussen und wie hoch dabei Aufwand und Kosten für den Unterhalt sind. Bei den Gebäuden selbst hängt es von Gebäudehöhe, -anordnung und -geometrie ab, wie sie sich auf das Stadtklima auswirken. Die Autoren der Zürcher Stadtklima-Studie empfehlen daher, bei der Planung grösserer Bebauungen deren Einfluss auf das Stadtklima zu berücksichtigen. Um diese Empfehlungen umsetzen zu können, werde man nun in einem nächsten Schritt konkretisieren, was aus stadtklimatischer Sicht geeignete Bebauungstypologien sind, erklärt Alexandra Wymann von der Umweltschutzfachstelle der Stadt Zürich.

Natürlich nimmt mit dem Klimawandel auch die Bedeutung eines angenehmen Klimas im Gebäudeinnern zu, damit es sich auch in Hitzeperioden erträglich arbeiten und wohnen lässt. Auf der anderen Seite wird der Klimawandel als positiven Effekt eine Reduktion des Heizenergiebedarfs mit sich bringen.[7]

Stadtgrün fit machen für den Klimawandel

So wichtig es ist, im Rahmen der Anpassung Grünflächen zu fördern und zu erhalten, so sehr werden diese ihrerseits durch den Klimawandel beeinträchtigt: Einerseits wird der Nutzungsdruck auf die Grünflächen zunehmen, und andererseits setzen Hitze und Trockenheit auch den Pflanzen zu. Die Stadtgärtnerei Basel hat daher bereits vor zehn Jahren angefangen, Bäume aus südlicheren Klimazonen zu testen. Generell setze man auf ein möglichst breites Sortiment an Baumarten, erklärt Stadtgärtner Emanuel Trueb. «Mit einem variantenreichen Angebot ist man gegenüber den vielfältigen klimatischen Veränderungen weniger exponiert.» Dabei tausche man auch Erfahrungen mit anderen Stadtgärtnereien in der Schweiz und in Deutschland aus. «Zum anderen versuchen wir, die Stresstoleranz der Pflanzen zu erhöhen: In der eigenen Baumschule werden die künftigen Strassenbäume unter eher kargen Bedingungen gehalten, damit sie am endgültigen Standort im städtischen Umfeld gut zurechtkommen.» Man experimentiere auch mit veränderten Zusammensetzungen des Substrats, in dem die Pflanzen in der Stadt wachsen. «Ideal sind Substrate mit angemessener Wasserspeicherfähigkeit bei gleichzeitig guter Nährstoff- und Sauerstoffverfügbarkeit», erläutert Trueb.

Neben den Stadtbäumen sind auch die Rasenflächen vom Klimawandel betroffen. Hier sucht man nach neuen Saatmischungen, die robuster gegenüber intensiver Nutzung sind und gleichzeitig weniger Wasser benötigen. Erhebliche Einsparpotenziale beim Wasserverbrauch sieht Trueb auch durch eine Optimierung der Bewässerungsmethoden. Gegenüber der momentan üblichen Methode mit Schlauchwagen und Sprengern ist eine gezielte unterirdische Bewässerung oder Tröpfchenbewässerung wesentlich sparsamer.

Wasserverteilung optimieren

Der Themenbereich Wasser ist denn auch – neben Gesundheit, Grünräumen, Stadtentwicklung und Gebäuden – ein weiterer Aspekt, mit dem sich die Städte im Zusammenhang mit dem Klimawandel auseinandersetzen müssen. Höhere Temperaturen und geringere Sommerniederschläge beeinflussen sowohl Bedarf als auch Verfügbarkeit von Trink- und Brauchwasser. Die Erfahrungen aus Jahren mit wenig Niederschlägen sowie aus dem Hitzesommer im Jahr 2003 zeigten aber, dass die verfügbare Wassermenge insgesamt kein Problem sei, sondern eher die Verteilung optimiert werden müsse, erklärt Paul Sicher vom Schweizerischen Verein des Gas- und Wasserfaches (SVGW). Der SVGW und die Kantone strebten daher eine bessere Vernetzung der einzelnen Wasserversorgungen an (vgl. TEC21 8/2012).

Es ist also ein breites Spektrum an Themen, mit dem sich Städte im Zusammenhang mit dem Klimawandel befassen müssen. Noch steht dieser Prozess ganz am Anfang. Die laufende Bafu-Studie wird noch klarer zeigen, wo die Prioritäten zu setzen sind, wobei die Gegebenheiten in jeder Stadt individuell betrachtet werden müssen. Dass die Anpassung an den Klimawandel ein langfristiges und sektorenübergreifendes Thema ist, macht die Sache nicht einfacher. Es gilt daher, entsprechende organisatorische Strukturen zu schaffen, die diese Aufgabe verfolgen und koordinieren sowie den Erfahrungsaustausch mit anderen Städten pflegen. Hinweise, wie die Anpassung an den Klimawandel konkret umgesetzt werden kann, wird auch das gerade angelaufene Pilotprogramm liefern, das das Bafu lanciert hat und zusammen mit weiteren Bundesämtern durchführt. Unter den 31 geplanten Anpassungsprojekten in Kantonen, Regionen und Gemeinden sind auch drei, die sich mit klimaangepasster Stadt- und Siedlungsentwicklung befassen.[8]


Literatur:
[01] Anpassung an die Klimaänderung in Schweizer Städten, Bafu, 2012
[02] CH2011: Swiss Climate Change Scenarios CH2011, published by C2SM, MeteoSwiss, ETH, NCCR Climate, and OcCC, Zürich 2011
[03] Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt: Bericht über die Folgen des Klimawandels im Kanton Basel-Stadt, 2011
[04] Stadt Zürich, Umwelt- und Gesundheitsschutz Zürich UGZ Umweltschutzfachstelle: Klimaanalyse Stadt Zürich (KLAZ), 2011
[05] Zürcher Kantonalbank: Klimawandel im Grossraum Zürich – Was können wir tun? 2013
[06] Mehrere im Rahmen der Nationalen Strategie zur Anpassung an den Klimawandel vom Bundesamt für Umwelt in Auftrag gegebene Fallstudien ermitteln für sechs Grossräume – Mittelland, Alpen, Voralpen, Jura, Südschweiz und grosse Agglomerationen – die Chancen und Risiken, die der Klimawandel mit sich bringt. Für jeden dieser Grossräume wird ein repräsentativer Kanton bestimmt, der im Detail analysiert wird. Die Studie für den Kanton Aargau ist bereits abgeschlossen, jene für den Kanton Uri wird demnächst fertig.
[07] Ernst Basler + Partner AG, WSL, SLF: Risiken und Chancen des Klimawandels im Kanton Aargau, Bafu, 2013
[08] Weitere Informationen zu den Projekten voraussichtlich ab Mai/Juni 2014 unter: www.bafu.admin.ch/klimaanpassung/12575/

TEC21, Fr., 2014.03.14



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TEC21 2014|11 Anpassung an den Klimawandel

27. September 2013Claudia Carle
TEC21

Spezialisten für die dritte Haut

Gebäude sind nach dem Verständnis der Baubiologie die «dritte Haut» des Menschen. Baubiologisches Bauen hat somit zum Ziel, dass sich die Nutzer in dieser Hülle möglichst wohl fühlen und gesund bleiben. Daneben bezieht es auch bauökologische Aspekte mit ein, also die Umweltbelastungen durch Bauvorhaben.

Gebäude sind nach dem Verständnis der Baubiologie die «dritte Haut» des Menschen. Baubiologisches Bauen hat somit zum Ziel, dass sich die Nutzer in dieser Hülle möglichst wohl fühlen und gesund bleiben. Daneben bezieht es auch bauökologische Aspekte mit ein, also die Umweltbelastungen durch Bauvorhaben.

Bei einem Neu- oder Umbau nach baubiologischen Kriterien stehen einerseits die Raumgestaltung und bauphysikalische Aspekte (Licht, Farbe, Temperatur, Feuchtigkeit, Akustik) im Vordergrund, andererseits die Auswahl der Materialien. Bevorzugt werden natürliche und zugleich umweltfreundliche Baustoffe wie Holz, Lehm oder Kork.[01] Ein zweiter Schwerpunkt ist das Erkennen und Vermeiden von Störfaktoren wie Schadstoffe im Innenraum (u. a. Formaldehyd, VOC, Asbest, Radon oder Schimmelpilze) und elektrische sowie magnetische Felder, deren Quellen sowohl ausserhalb als auch innerhalb des Gebäudes liegen können. Das Einsatzgebiet der Baubiologie erstreckt sich über den gesamten Planungs- und Ausführungsprozess, beginnend bei der Auswahl des Grundstücks bzw. der Platzierung des Gebäudes bis hin zur Auswahl der Materialien für den Innenausbau. Baubiologen stützen sich dabei sowohl auf wissenschaftlich abgesicherte Untersuchungsmethoden und Richtwerte als auch auf Erfahrungswissen.[02]

Als Begründer der Baubiologie gilt der deutsche Arzt Hubert Palm, der in seinem 1972 erschienenen Buch «Das gesunde Haus» erstmals den Zusammenhang zwischen Gebäuden und dem Auftreten gewisser Krankheitsbilder, in erster Linie Haut- und Atemwegserkrankungen, beschreibt. Bereits seit 1955 hatte er darauf in verschiedenen Vorträgen und Artikeln hingewiesen. Seine Beobachtungen an kranken Patienten decken sich zeitlich weitgehend mit der Einführung petrochemischer Produkte im Bauwesen, beispielsweise in Leimen oder Farben. Daraufhin entstanden Anfang der 1970er-Jahre in Deutschland erste baubiologische Vereinigungen und Pionierprojekte. 1977 wurde auch das Schweizerische Institut für Baubiologie SIB in Sullens VD gegründet. 2002 musste es aus finanziellen Gründen geschlossen werden, und ein Verein unter der Bezeichnung «Schweizerische Interessengemeinschaft Baubiologie SIB»3 übernahm seine Aufgaben. Aktuell zählt die SIB rund 800 Mitglieder und ist damit einer der grössten Baubiologievereine weltweit. Seit 2011 führt die SIB auch die Geschäftsstelle des Baustofflabels natureplus.

Während die Ausbildung zum Baubiologen in den umliegenden Ländern über Fernlehrgänge erfolgt, bietet in der Schweiz die Bildungsstelle Baubiologie4 seit 1996 einen eigenständigen Kurs mit Fachdozenten an. Die zehn Module (vgl. Kasten) mit 21 Kurstagen können berufsbegleitend in ein bis drei Jahren absolviert werden und mit dem eidgenössisch anerkannten Fachausweis als Baubiologe/Baubiologin SIB abgeschlossen werden. Die Ausbildung richtet sich an Fachleute sowohl aus dem Handwerk als auch aus der Planung.


Anmerkungen:
[01] Auflistung empfehlenswerter Materialien: www.gesundes-haus.ch → Themen von A–Z → Naturbaustoffe – Tipps
[02] Auflistung baubiologischer Richtwerte: www.gesundes-haus.ch → Themen von A–Z → Baubiologieberatung – Tipps
[03] www.baubio.ch
[04] www.bildungsstellebaubio.ch

TEC21, Fr., 2013.09.27



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2013|40 Baubiologie

27. September 2013Tina Cieslik
Claudia Carle
TEC21

«Hauptziel ist das Wohlbefinden der Bewohner»

Vor fast 40 Jahren schlossen sich in der Schweiz die ersten Baubiologen zu einem Verband zusammen, der mittlerweile 800 Mitglieder hat. Trotzdem wird bis heute nur ein Bruchteil aller Neu- und Umbauten nach baubiologischen Grundsätzen ausgeführt. Im Gespräch mit TEC21 orten drei Baubiologen unterschiedlicher Generationen unter anderem mangelndes Wissen über baubiologisches Bauen bei Architekten und Bauherrschaften als eine Ursache dafür. Sie erläutern, was man durch das Beiziehen eines Baubiologen gewinnt und welche Funktion er im Bauprozess wahrnehmen kann.

Vor fast 40 Jahren schlossen sich in der Schweiz die ersten Baubiologen zu einem Verband zusammen, der mittlerweile 800 Mitglieder hat. Trotzdem wird bis heute nur ein Bruchteil aller Neu- und Umbauten nach baubiologischen Grundsätzen ausgeführt. Im Gespräch mit TEC21 orten drei Baubiologen unterschiedlicher Generationen unter anderem mangelndes Wissen über baubiologisches Bauen bei Architekten und Bauherrschaften als eine Ursache dafür. Sie erläutern, was man durch das Beiziehen eines Baubiologen gewinnt und welche Funktion er im Bauprozess wahrnehmen kann.

TEC21: Wann werden Sie als Baubiologen in der Regel zu einem Projekt beigezogen?

Bosco Büeler (B. B.): Das ist sehr unterschiedlich. Die Bandbreite reicht von kurzen Beratungen, in denen Bauherren spezifische Fragen stellen, über eine Basisberatung zu Beginn der Planung bis hin zur Begleitung oder Planung des ganzen Projekts. Letzteres ist natürlich am umfassendsten und daher am schönsten. Neben Bauherrschaften beraten wir auch Architekten.

TEC21: Haben Baubiologen dann die Rolle eines weiteren Fachplaners?

Jörg Watter (J. W.): Baubiologen sind nach meinem Verständnis «Gesamtbetrachter», die Aspekte aus verschiedenen Fachrichtungen zu einem neuen, nachhaltigen Ganzen zusammenführen. Bei der Materialwahl können sie z. B. abschätzen, wie diese den Feuchtehaushalt, die Wärmespeicherung oder den Geruch beeinflusst, oder sie beraten bezüglich elektrobiologischer Aspekte. Das Problem der verschiedenen Fachplaner ist häufig, dass sie in ihrem Bereich zwar sehr gut sind, aber kaum disziplinenübergreifend zusammenarbeiten können, weil sie nicht die gleiche Sprache sprechen. Diese unterschiedlichen Werke zu einem zusammenzufügen und zu gewichten ist eine Qualität der Baubiologen. Das Hauptziel dabei ist das Wohlbefinden der Bewohner oder Nutzerinnen.

TEC21: Wie gehen Sie vor, wenn Sie ein Bauvorhaben von Anfang an begleiten?

J. W.: Das beginnt bei der Analyse des Grundstücks. Mit Hilfe von Sonnendiagrammen schaue ich zum Beispiel, wie man mit dem Gebäude passiv möglichst viel Sonnenenergie ernten kann bzw. wie man allenfalls Photovoltaik- oder Solarthermiemodule platzieren müsste. Natürlich schaue ich das Grundstück auch hinsichtlich der Wasseradern oder Erdverwerfungen1 an.

B. B.: Wenn ich mit Menschen zu tun habe, die das für Humbug halten, kann ich das auch problemlos akzeptieren. Dann lasse ich diese Untersuchungen einfach weg. Ich habe aber das Gefühl, dass die Leute in den vergangenen Jahren offener geworden sind gegenüber diesen Aspekten. Nathalie Frey (N. F.): Das hängt auch mit der eigenen Vorstellung vom Menschen zusammen: ob man nur an das glaubt, was man messen kann, oder daran, dass der Mensch grundsätzlich ein sensibleres Messgerät ist als alle technischen Instrumente.

TEC21: Welche Aspekte sind beim Gebäude selbst aus baubiologischer Sicht wichtig?

J. W.: In der Projektentwicklung beginne ich im Innern bei den Oberflächen, frage die Bauherrschaft, was sie in den verschiedenen Räumen am Boden bzw. an den Wänden und Decken spüren und sehen möchte. Meine Aufgabe ist es dann, die dahinterliegende Konstruktion mit den passenden Materialaufbauten zu entwickeln. Als Baubiologen arbeiten wir vorwiegend mit natürlichen, schadstofffreien und umweltfreundlichen Materialien.

N. F.: Unser Ziel ist, dass alle Sinne vom Raum genährt werden. Ob ich mich in einem Raum wohlfühle, hängt nicht nur mit der Form des Raums zusammen, sondern eben auch mit der Materialität, der Oberflächenstruktur, der Farbe, dem Lichteinfall, der Akustik und dem Raumklima. Ein weiterer Aspekt sind Störfaktoren wie Elektrosmog, die wir weitestgehend zu verhindern, zu reduzieren oder abzuschirmen versuchen (vgl. «Wohnraum für Umweltkranke» S. 25).

TEC21: Sie sprachen den Einsatz möglichst schadstofffreier Materialien an. Was bedeutet das bei einem Umbau? Welche Beurteilungskriterien ziehen Sie dafür heran?

J. W.: Bestehende Bauten werden mit Messungen vor Ort sorgfältig auf allfällige Schadstoffe überprüft und vorhandene Materialien bei Verdacht im Labor analysiert. So kann entschieden werden, was rückgebaut oder ersetzt werden muss.

TEC21: Welche Beurteilungskriterien ziehen Sie dafür heran?

J. W.: Das Problem ist, dass es für Wohnräume – anders als für den Bürobereich – nur wenige gesetzlich festgelegte Schadstoffgrenzwerte gibt, deren Einhaltung man einfordern könnte.

B. B.: Das Umweltschutzgesetz in der Schweiz geht nur bis zur Haustürschwelle. Eine entsprechende Ergänzung beim Chemikaliengesetz lag im Jahr 2000 auf dem Tisch, ist aber vom Parlament abgelehnt worden. Wir arbeiten daher mit den wissenschaftlich anerkannten Richtwerten des Standards baubiologischer Messtechnik SBM.2 Das sind hauptsächlich Erfahrungswerte aus Tausenden von Untersuchungen, aus denen man schliessen kann, ab welchen Werten bei den Bewohnern gesundheitliche Probleme auftreten können. Wobei eigentlich immer eine Kombination verschiedener Faktoren die Probleme verursacht – Schadstoffe, Elektrosmog, eine falsche Raumgestaltung und vielleicht noch persönliche Probleme. Und dann redet man manchmal über den letzten Tropfen, der das Glas zum Überlaufen bringt, und ist nicht bereit, auch über den Rest, der das Glas gefüllt hat, zu reden.

J. W.: Mit den Leuten, die auf Substanzen im Gebäude mit gesundheitlichen Beschwerden reagieren, haben vor allem die Messtechniker in unserem Verein zu tun. In meinem beruflichen Alltag als Architekt steht das nicht so im Vordergrund. Da geht es um die gesamte Nachhaltigkeitskette, zu der wir wertvolle Beiträge liefern können, beispielsweise durch den Einsatz lokaler Materialien mit niedriger grauer Energie, die Förderung der lokalen Wirtschaft oder auch soziale Aspekte. Häufig würde eine kurze Beratung durch einen Baubiologen genügen, um auf mögliche Probleme hinzuweisen. Ich verstehe nicht, warum bei Architekten so eine Hemmschwelle besteht, einen Baubiologen beizuziehen. Ebenso fehlt auch bei vielen Nutzern noch das Bewusstsein, dass nicht nur die Ernährung für unsere Gesundheit wichtig ist, sondern auch der Ort, wo wir leben. Sie könnten einfach mal einen Baubiologen fragen, wenn sie ein gesundheitliches Problem haben.

TEC21: Würden Sie sich wünschen, dass die Baubiologie in der Architekturausbildung verstärkt behandelt wird, um diese Hemmschwelle abzubauen?

J. W.: Das ist für mich zwingend. Ich bin Dozent an der Fachhochschule Chur und führe dort jetzt zum zweiten Mal die Weiterbildung Baubiologie durch. Ich stelle zu Beginn jeweils ein grosses Wissensdefizit fest, dann aber Begeisterung, wenn die Studierenden sehen, dass Baubiologie mehr ist als ein bisschen Pendeln. Ich hoffe natürlich, dass Chur nicht die einzige Schweizer Fachhochschule bleibt, die das Thema ernst nimmt. Wir sind auch daran, mit verschiedenen Fachverbänden Gespräche zu führen, damit das Thema Baubiologie in die Ausbildung von Handwerkern aufgenommen wird.

TEC21: Hat der Planer als Generalist und als derjenige, der alle Fachplaner zusammenhält, vielleicht auch deshalb Mühe damit, einen Baubiologen beizuziehen, weil dann jemand in alle Bereiche reinredet?

B. B.: Das mag sein. Darum ist es auch sehr wichtig, dass man eine gewisse Offenheit hat und nicht belehren will.

N. F.: Man muss ja auch nicht kompromisslos baubiologisch bauen, sondern kann Schwerpunkte setzen. Wir müssen offen sein, das Ganze nicht zu fundamental zu betreiben.

B. B.: Der Dogmatismus, den du ansprichst, Nathalie, hat uns in den ersten Jahren ganz viel Goodwill kaputt gemacht. Die jüngere Generation der Baubiologen aber bringt diesen Pragmatismus mit.

TEC21: Der Minergie-Eco-Standard enthält einige baubiologische Aspekte. Müssen baubiologische Kriterien noch stärker in solche Standards einfliessen?

J. W.: Ich bin sehr froh, dass es Minergie-Eco gibt. Das ist sicher ein Schritt in die richtige Richtung, aber man könnte Minergie-Eco noch weiterentwickeln. Eine Gefahr bei Minergie sehe ich, wenn diese Vorgaben ins Baugesetz aufgenommen werden. Lüftungsanlagen sind toll, wenn ich an einer lauten Strasse wohne, aber sie sind nicht an jedem Ort der richtige Weg.

B. B.: Man darf das Ziel – eine gute Luftqualität im Innenraum – nicht mit den Massnahmen zur Erreichung dieses Ziels verwechseln. Letztere müssen frei wählbar bleiben.

TEC21: Verteuert eine baubiologische Umsetzung ein Projekt?

B. B.: Nach meiner Erfahrung muss man bei einem Kleinbau mit ca. 5 % Mehrkosten rechnen.

J. W.: Da spielen zwei Aspekte eine Rolle. Vom Quadratmeterpreis her ist ein Naturbaustoff um 5 bis 10 % teurer als ein petrochemisches Produkt, wobei sich die Preise heute zum Teil immer mehr annähern. Vom Montageaufwand her gibt es praktisch keinen Unterschied.

B. B.: Das ist auch eine Frage der Menge. Bei einem Grossprojekt, das ich begleite, war der Kork dank der grossen Menge am Schluss günstiger als die aus baubiologischer Sicht nicht empfehlenswerte Steinwolle.

J. W.: Der zweite Aspekt ist die Betrachtung des gesamten Lebenszyklus, wo Themen wie graue Energie oder Renovierbarkeit ins Spiel kommen und baubiologisches Bauen besser abschneidet. Einen Massivholzboden kann ich nach 20 Jahren schleifen und wieder ölen, dann sieht der wieder perfekt aus. Laminat reisse ich nach 10 bis 15 Jahren raus.

TEC21: Welchen Anteil hat baubiologisches Bauen derzeit nach Ihrer Einschätzung?

J. W.: Ich schätze, wir sind bei 1 bis 2 %. Davon ist der grösste Teil Einfamilienhäuser oder Wohnungen (vgl. Abb. 01). Bei grösseren Gebäuden stellen wir aber seit Neuestem einen Anstieg der Nachfrage fest. Auch die öffentliche Hand greift vermehrt auf Baubiologen zurück, zum Beispiel bei Schulhausbauten (vgl. Abb. 03 – 05).

TEC21: Wo sehen Sie die künftigen Arbeitsschwerpunkte Ihres Verbands?

J. W.: Als ich vor fünf Jahren das Präsidium übernahm, hatten wir keine professionellen Strukturen. Mittlerweile haben wir immerhin die Fachstelle. Wir werden unsere Angebote weiter ausbauen, mit Verbänden zusammenarbeiten und die Qualität der Ausbildung stetig verbessern. Mir geht es darum, die Begeisterung für die Baubiologie nach aussen zu tragen und die Qualität baubiologischen Bauens zu zeigen. Wenn die Leute in den Raum kommen und sagen: «Da fühle ich mich wohl», ist das für mich ein grösseres Kompliment als jedes Label.

TEC21, Fr., 2013.09.27



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TEC21 2013|40 Baubiologie

03. Mai 2013Claudia Carle
TEC21

«Das Thema Grünräume ist sehr gut verankert»

Bei der Verdichtung des bebauten Raums geraten die Grünräume zwangsläufig unter Druck. Im Gespräch mit TEC21 erläutern Paul Bauer und Karl Stammnitz von Grün Stadt Zürich, welche Möglichkeiten es gibt, trotzdem neue Grünräume zu schaffen oder die Qualität der bestehenden für Erholung und Ökologie zu erhöhen.

Bei der Verdichtung des bebauten Raums geraten die Grünräume zwangsläufig unter Druck. Im Gespräch mit TEC21 erläutern Paul Bauer und Karl Stammnitz von Grün Stadt Zürich, welche Möglichkeiten es gibt, trotzdem neue Grünräume zu schaffen oder die Qualität der bestehenden für Erholung und Ökologie zu erhöhen.

TEC21: Wie stark sind die Grünräume in der Stadt angesichts der Verdichtungstendenz ­unter Druck?
Paul Bauer (P. B.): Grünräume geniessen eine hohe Akzeptanz in Bevölkerung und Politik. Das zeigen beispielsweise parlamentarische Vorstösse oder direkte Interventionen von ­Anwohnern und Grundeigentümern. Ein typisches Beispiel ist die vom Gemeinderat überwiesene Motion für fünf neue Parks im Entwicklungsgebiet Zürich West. Auch wenn wir ­diese Motion nur teilweise erfüllen können, sind das wichtige Motoren für das Weiterarbeiten an diesem Thema. Auch im Gemeinderat gibt es jeweils intensive Diskussionen, wenn es zum Beispiel im Rahmen von Gestaltungsplänen um den Grünraumanteil geht.
Karl Stammnitz (K. S.): Das Thema Grünräume ist auch auf der strategischen Ebene gut verankert. Beispielsweise bekennt sich der Stadtrat in der Strategie 2025 ganz klar zur ­Bedeutung der Grünräume für die Lebensqualität in der Stadt. Auch in der Räumlichen Entwicklungsstrategie (RES)[1], die in intensiver Zusammenarbeit mit den anderen planenden Ämtern der Stadt entstanden ist, geht es sehr stark um das Thema Grün und Verdichtung.
P. B.: In der RES wurde festgelegt, wie sich die einzelnen Stadtgebiete entwickeln sollen: Welche will man weitgehend im Bestand erhalten, welche verdichten, wo sind die wichtigen grossen Grün- und Erholungsräume, wo die wichtigen Vernetzungsachsen, und welches sind die Freiraumstrukturen, die das Stadtbild prägen? Man hat geschaut, wo Mankos ­liegen und wo Chancen bestehen.

TEC21: Auf welcher Grundlage wird festgelegt, welche Grünräume bestehen bleiben müssen bzw. auf welche man verzichten könnte?
P. B.: Wir haben einen qualitativen und einen quantitativen Ansatz. Auf der quantitativen Seite haben wir die wichtigsten Herausforderungen und Handlungsfelder der Zukunft aus unserer Optik in den beiden Broschüren «Freiraumversorgung der Stadt Zürich»[2] und «Grünbuch der Stadt Zürich»[3] festgelegt. Darin postulieren wir aufgrund von Erkenntnissen anderer Länder und Städte quantitative Zielwerte von 8 m² Grünraum pro Einwohner und 5 m² pro Arbeitsplatz, die in einer Gehdistanz von etwa 15 Minuten zur Verfügung stehen sollen. Berücksichtigt wurden auch Hindernisse wie stark befahrene Strassen, die die ­Zugänglichkeit erschweren. Davon ausgehend haben wir ermittelt, wie gut die einzelnen Stadtgebiete heute mit Grünräumen versorgt sind (Abb. 04). In stärker unterversorgten ­Gebieten wird man einen besonderen Fokus auf die Grünraumversorgung legen, auch wenn man nicht überall den Sollwert erreichen wird. Das andere ist die Frage der Qualität: Entspricht die Nutzung den Bedürfnissen im unmittelbaren Wohn- und Arbeitsumfeld? Ein Beispiel dafür sind Kleingärten im innerstädtischen Bereich, die zwar gut genutzt sind, aber nur von wenigen Bewohnern. Darum will Grün Stadt Zürich zumindest einen Teil davon zugänglicher machen.

TEC21: Was gibt es denn für Möglichkeiten, in den mit Grün unterversorgten Stadtgebieten trotz Verdichtungsdruck neue Grünräume zu schaffen?
K. S.: Beispielsweise den Abbau von Barrieren wie bei der Überdeckung der Autobahn im Entlisberg, die das Quartier wieder mit den angrenzenden Landschaftsräumen ­vernetzt hat. Auch die Einhausung Schwamendingen ist ein Paradebeispiel, wie man mit Lärmschutzmassnahmen einerseits stark voneinander separierte Gebiete wieder verbindet und andererseits neue Freiräume auf dem Deckel gewinnt. Eine andere Möglichkeit ist die Schaffung von öffentlichen Grünräumen auf Flächen, die vorher dem Verkehr gedient haben, etwa die Pflanzung von Bäumen entlang von Strassen und auf Plätzen wie im Rahmen der flankierenden Massnahmen für die Westumfahrung (vgl. TEC21 40/2008).
P. B.: Weitere Möglichkeiten gibt es in ehemaligen Industriegebieten, die in einem starken Transformationsprozess sind und wo wir zusammen mit den planenden Ämtern überlegen, wie das Gebiet künftig aussehen soll, beispielsweise in Zürich West, Neu-Oerlikon oder der Manegg. Dort diskutieren wir im Rahmen von Gebietsplanungen über die Nutzungsschwerpunkte, die städtebauliche Struktur, die Verkehrs- und die Freiraumversorgung. In solchen Gebieten gibt es in der Regel auch eine Sondernutzungsplanung, die den Grundeigentümern eine höhere Ausnützung zugesteht und im Gegenzug mehr Qualität einfordert. Dabei kann man auch über Grünräume verhandeln. Bezüglich der Umsetzung gibt es verschiedene denkbare Formen: sei es, dass eine private Fläche an die öffentliche Hand übergeht, wo dann eine Parkanlage oder ein Platz entsteht, wie zum Beispiel der Turbinenplatz in Zürich West oder die neuen Parks in Neu-Oerlikon, sei es, dass man mit Vereinbarungen arbeitet. Das heisst, Private stellen eine Fläche bereit, die auch öffentlich nutzbar ist, und die Stadt leistet dafür einen Beitrag für Pflege und Unterhalt. Das aktuellste Beispiel dafür ist der Patumbah-Park.
K. S.: Wir machen auch Angebote zur Zwischennutzung von Flächen, die nur auf Zeit zur Verfügung stehen, wenn ein entsprechender Wunsch aus der Bevölkerung kommt (Abb. 01–03). Gerade bei neuen Nutzungstendenzen wie dem urbanen Gärtnern kann man dabei testen, ob sie sich etablieren oder wieder verschwinden.

TEC21: Bei einem Teil der neu geschaffenen öffentlichen Parks hat man den Eindruck, dass sie kaum genutzt werden. Woran liegt das?
P. B.: In neu entwickelten Gebieten wie in Neu-Oerlikon stehen im Verhältnis zur Bevölkerungsdichte grosszügige Grünflächen zur Verfügung. Logisch, dass die Frequenz entsprechend niedriger ist. Freiräume in dicht bebauten und mit Freiraum unterversorgten Gebieten sind im Vergleich dazu stärker frequentiert (Abb. 06–07). Die Bäckeranlage ist so ein Standort.
K. S.: Ich glaube, man muss den neuen Anlagen Zeit geben zu reifen. Eine über die Jahrzehnte gewachsene Anlage strahlt einfach etwas ganz anderes aus als eine neu angelegte.

TEC21: Vielleicht würden zusätzliche Angebote, zum Beispiel ein Café, die Akzeptanz erhöhen. Gibt es Bestrebungen, die Bedürfnisse der Anwohner diesbezüglich abzuholen?
P. B.: In Neu-Oerlikon mussten wir die Parks planen, als wir noch gar nicht wussten, was ausser den Parkanlagen dort hinkommen wird. Im Oerliker Park ist das Gestaltungskonzept daher bewusst so gewählt, dass es Flächen gibt, die man gut verändern kann – die sogenannte Interventionszone. Einige Jahre nach dem Anlegen des Parks wurden die Bedürfnisse des Quartiers formuliert und in einem Mitwirkungsverfahren die gewünschte Infrastruktur weiterentwickelt mit der Schaffung von zusätzlichen Spielmöglichkeiten, Sitzangeboten und Grillstellen. Das wird sehr geschätzt.

TEC21: Wir haben jetzt vor allem über die Möglichkeiten zur Schaffung von Grünräumen im Zuge grösserer Bauvorhaben gesprochen. Welchen Spielraum haben Sie bei kleinen Einzelbauvorhaben?
K. S.: Der ist deutlich geringer. Im Gegensatz zu den grossen Arealen, wo das Planungs- und Baugesetz eine besonders gute Gesamtwirkung fordert, treffen wir uns bei den kleinen Einzelbauvorhaben bei der befriedigenden Gesamtwirkung. Da liegt also die Latte deutlich tiefer, was Gestaltung und Erscheinungsbild angeht. In den klein strukturierten Gebieten ist der Grünraum daher stärker unter Druck.

TEC21: Und welche Einflussmöglichkeiten haben Sie dort konkret?
P. B.: Wir können beispielsweise Auflagen für eine Dachbegrünung oder zum Versiegelungsgrad machen.
K. S.: Teilweise können wir ökologische Anliegen auch «im Beiboot» von gestalterischen «mitsegeln» lassen. Wenn im betreffenden Gebiet zum Beispiel Sukzessionsflächen ein ­typisches Erscheinungsbild sind, können wir diese einfordern.

TEC21: In welcher Form fliesst neben der Erholungsfunktion die Bedeutung der Grünräume für die Biodiversität in die Planung ein?
P. B.: Eine Grundlage sind Inventare wie das der kommunalen Naturschutzobjekte oder das Gartendenkmalinventar. Zum anderen gibt es strategische Instrumente mit Informationen zur Biodiversität in der Stadt, die auf Flächenuntersuchungen basieren. Sie zeigen, wo die wichtigen Hotspots der Biodiversität oder die wichtigen Vernetzungsachsen von Lebensräumen liegen (Abb. 05).
K. S.: Paradebeispiel einer solchen Vernetzungsachse ist der ganze Bahnkorridor. Dort hat man mit den SBB die Regelung getroffen, dass Eingriffe wieder ausgeglichen werden. Auch hinter dem Alleenkonzept steckt die Idee, mit linearen Pflanzungen Vernetzungen zu schaffen. Das betrifft sowohl die Kronenebene als auch den Boden, wo wir versuchen, möglichst durchgängige Baumscheiben zu etablieren.

TEC21: Kann dort, wo keine neuen Grünflächen geschaffen werden können, auch die Aufwertung der bestehenden Flächen deren Wert erhöhen?
P. B.: Eine bestehende Fläche aufzuwerten kann durchaus eine gute Reaktion sein. Man kann zum Beispiel in einer schon bestehenden öffentlichen Parkanlage intensivere Nutzungsangebote schaffen. Eine andere Möglichkeit sind Nutzungsumlagerungen wie im oben ­erwähnten Beispiel der Kleingartenareale oder die Kombination von Nutzungen. Die Sportanlage Heerenschürli (vgl. inneres Titelbild) haben wir so umgestaltet, dass sie für eine ­breitere Öffentlichkeit attraktiv und nutzbar ist und somit auch als Erholungsraum für das Quartier dient. Neben Fussball- und Baseballfeldern gibt es dort jetzt auch eine Skater­anlage sowie ein Restaurant.

TEC21: Meine Frage nach dem Nutzen von Aufwertungen kam von der Wahrnehmung her, dass viele Aussenräume grösserer Überbauungen häufig relativ monoton sind. Oft dominieren Rasenflächen neben ein paar Kirschlorbeersträuchern. Kann man durch die Schaffung vielfältigerer Strukturen auf so einer Fläche einen allfälligen Flächenverlust im Rahmen der baulichen Verdichtung wettmachen?

K. S.: Im Unterhalt von Wohnliegenschaften liegt ein riesiges Potenzial, für das den Bewirtschaftern aber manchmal der Blick fehlt, zumal sie oft keine ausgebildeten Gärtner sind (vgl. TEC21 11/2013). Wir versuchen im Moment bei den stadteigenen Wohnsiedlungen, die wir sukzessive in die Pflege übernehmen, zum Beispiel Grünflächen in weniger intensiv ­genutzten Bereichen zu extensivieren. Auf privatem Grund können wir vielfältige Strukturen zwar zum Teil auch in der Baugesuchsbearbeitung einfordern. Die öffentliche Hand hat aber wenig Einfluss darauf, wie diese Flächen dann langfristig gepflegt werden. Bei den Genossen­schaften spürt Grün Stadt Zürich eine grosse Bereitschaft, die Umgebungs­flächen sowohl für die Nutzung wie auch für die Ökologie aufzuwerten. Die Genossenschaft Gewobag in ­Albisrieden hat beispielsweise zusammen mit Landschaftsarchitekten ein langfristiges ­Entwicklungskonzept für die Bewirtschaftung ihrer Flächen erarbeitet, zu dem wir ebenfalls Anregungen liefern konnten.
P. B.: Einen grösseren Handlungsspielraum als bei bestehenden Wohnsiedlungen gibt es bei Ersatzneubauten. Dort entstehen oft wesentlich vielfältigere, durchmischte Aussen­räume, da man heute andere Vorstellungen von der Umgebungsgestaltung hat als noch vor 30 Jahren.
K. S.: Ich glaube, das ist auch eine Reaktion auf die grösser werdenden Bauvolumen, ­denen man Freiräume mit einer höheren Dichte an Strukturen entgegensetzen muss, damit die Proportionen trotzdem stimmen und gut nutzbare Aussenflächen entstehen.

TEC21: Beim Neubau der Genossenschaft «Mehr als Wohnen» wird ja ein Teil des Aussenraums als Nutzgarten gestaltet (vgl. «Sommerblumen und Stadtmenschen», S. 10). Wie ­bewerten Sie das?
K. S.: Wichtig ist aus unserer Sicht, den gesamten Nutzungsanforderungen der Bewohner zu entsprechen und einen guten Ausgleich zwischen Nutzungs-, Gestaltungs- und ökologischen Ansprüchen zu finden. Neben einem Nutzgarten braucht es also weiterhin ­Spielplätze und Platz zum Fussballspielen oder um sich abends zu treffen. Das ist beim Projekt «Mehr als Wohnen» gut gelungen. Schön ist dort auch der Übergang zum öffentlichen Andreaspark. Die vertragliche Regelung mit den Anstössern sieht vor, dass der an den Park angrenzende Teil zwar weiterhin den privaten Grundeigentümern gehört, aber durch die ­öffentliche Hand gepflegt wird und damit auch der Öffentlichkeit zur Verfügung steht. Auf diese Weise verschmelzen die privaten und öffentlichen Freiräume.
P. B.: Neue Nutzungsformen und gemeinschaftliches Gärtnern propagiert Grün Stadt­ ­Zürich im Zusammenhang mit der Einrichtung eines Kleingartenareals im Dunkelhölzli als Ersatz für jene Flächen, die beim Bau des neuen Eisstadions verloren gehen. Dies entspricht offensichtlich einem wachsenden Bedürfnis der Bevölkerung.


Anmerkungen:
[01] Stadt Zürich: Räumliche Entwicklungsstrategie des Stadtrats für die Stadt Zürich. Zürich 2010.
[02] Grün Stadt Zürich: Freiraumversorgung der Stadt Zürich. Zürich 2005.
[03] Grün Stadt Zürich: Das Grünbuch der Stadt Zürich. Zürich 2006.

TEC21, Fr., 2013.05.03



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TEC21 2013|19 Grün in der Dichte

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Presseschau 12

11. Juli 2014Claudia Carle
TEC21

Wo klemmt’s?

Damit die Schweiz künftig weniger Energie verbraucht, ist es entscheidend, die energetische Sanierung von Gebäuden voranzutreiben.
Doch gerade bei privaten Eigentümern, denen fast 90 % des Bestands ­gehören, sind die Rahmenbedingungen dafür eher ungünstig.

Damit die Schweiz künftig weniger Energie verbraucht, ist es entscheidend, die energetische Sanierung von Gebäuden voranzutreiben.
Doch gerade bei privaten Eigentümern, denen fast 90 % des Bestands ­gehören, sind die Rahmenbedingungen dafür eher ungünstig.

Anders als bei Neubauten, bei denen dank entsprechender Gesetze und Standards der Energieverbrauch bereits weitgehend minimiert wird, liegt bei Gebäudeerneuerungen noch grosses Potenzial brach. Welche Faktoren sind es, die Sanierungsrate und -tiefe limitieren? Und welche Anreize bestehen für Sanierungen? Diesen Fragen ging ein Forschungsprojekt des Center for Corporate Responsibility and Sustainability der Universität Zürich (CCRS) im Rahmen von Energieforschung Stadt Zürich nach.[1] Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf Privatpersonen als wichtige Eigentümergruppe.

Eine Liegenschaft energetisch zu sanieren ist mit einem komplexen Entscheidungsprozess verbunden. Die dafür nötigen Informationen zu beschaffen und auszuwerten kann für die Eigentümer sehr zeitaufwendig und mühsam sein und dadurch eine umfassende Erneuerung behindern. Angesichts der ständigen technischen Weiterentwicklung sind Bauherrschaften beispielsweise bei technischen und baufachlichen Fragen auf Experten angewiesen. Im Vorfeld einer Sanierung stellen sich aber auch rechtliche Fragen, z. B. welche Mietpreis­erhöhung danach möglich ist. Umfangreiche Sanie­rungen sind ausserdem teuer, daher sind Kenntnisse über die Finanzierungs- und Fördermöglichkeiten wichtig – angesichts des «Förderdschungels» auf Ebene von Bund, Kantonen und Gemeinde keine leichte Aufgabe.

Mangelnde Rentabilität

Energie kostet hingegen vergleichsweise wenig. Im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt haben sich die Endverbraucherausgaben für Energie in den vergangenen Jahren sogar moderat verringert bzw. sind auf einem konstant niedrigen Niveau verblieben. Entsprechend ist die finanzielle Ersparnis durch energetische Sanierungen relativ gering und die Amortisationsdauer der Investitionen hoch. Zudem kommen bei vermieteten Objekten die Kostenreduktionen den Mietern und nicht den Eigentümern zugute. Rentabel wird die Investition vor allem indirekt, etwa durch einen Gewinn an zusätzlicher Fläche, höheren Komfort und höhere Mietpreise.

Wirksame Subventionen

Für energetische Massnahmen stehen unterschiedliche Fördermöglichkeiten zur Verfügung, durch die sich die Investitionen und damit die Amortisationsdauer für die Eigentümer reduzieren. Einerseits gibt es auf Ebene des Bundes, der Kantone und der Gemeinden Förderprogramme für energetische Sanierungen. Zum anderen belohnen Banken das Erreichen energetischer Standards zum Beispiel mit niedrigeren Hypothekarzinsen.

Obwohl der Anteil solcher Fördergelder an den Gesamtkosten vergleichsweise gering ist, zeigen Stu­dien, dass die Sanierungstätigkeit privater Eigentümer mit steigenden Subventionen der öffentlichen Hand zunimmt.[2] Auch Beratungsangebote wie das Energie-Coaching wirken positiv, weil sie bei den Informations­problemen ansetzen und bei Planung und Umsetzung unterstützen (vgl. «Oft mangelt es an Wissen», S. 22).

Die mit Fördergeldern angestrebte Erhöhung der Erneuerungstätigkeit wird jedoch teilweise durch die vom Mietrecht geschützten Interessen der Mieter gebremst: Wird den Mietern im Vorfeld der Sanierung gekündigt, kann die Anfechtung der Kündigung zu Verzögerungen und Mehrkosten führen. Sind mit der ­Erneuerung Mietzinserhöhungen für die bestehenden Mieter verbunden, können sie sich dagegen zur Wehr setzen. Seit 1. 7. 2014 kann der Vermieter zudem bei bestehenden Mietverträgen die Sanierungskosten nur noch abzüglich der Fördergelder auf die Mieter überwälzen. Damit profitiert auch der Mieter von den Subventionen.

Fehlende Rückstellungen

Zentral für die Entscheidung, ob energetisch saniert wird oder nicht, ist ausserdem, inwieweit die Eigentümer finanziell vorgesorgt haben. Häufig fehlen ausreichende Rückstellungen. Ursache dafür sind im Wesentlichen die bereits angesprochenen Informa­tionslücken bzw. nicht hinreichende Eigenmittel. Hinzu kommt, dass es für private und für Stockwerk-­Eigentümer keine rechtlichen Vorschriften für sanierungsbezogene Rückstellungen gibt. Ausserdem sind die Kosten einer umfassenden Sanierung schwer zu kalkulieren. Es ­können versteckte Kosten auftreten, die zu Beginn der Planung nicht erkannt wurden.

Umfangreiche Bauvorschriften

So können zum Beispiel zusätzliche Bauauflagen und Verordnungen die Eigentümer zu zusätzlichen Investitionen zwingen und die Gesamtkosten erheblich ansteigen lassen. Dazu gehören die umfangreichen Auflagen der Gebäudeversicherung Kanton Zürich (GVZ): Wer seine Liegenschaft energetisch sanieren will, sieht sich zahlreichen Brandschutzverordnungen gegenüber, die er ohne Sanierungsmassnahmen in der Form nicht erfüllen müsste. Es können Situationen auftreten, in denen die Einhaltung von Brandschutzverordnungen teurer ist als die eigentliche energetische Sanierung. Zum Teil muss bei Gesamtsanierungen auch in den Schallschutz und in die Erdbebenertüchtigtung investiert werden.

Auch umfangreiche Bauvorschriften und Bewilligungsverfahren erschweren Gesamtsanierungen. Nur schon die Baugenehmigung, die für eine umfassende Sanierung erforderlich ist, kann auf die Eigentümer abschreckend wirken. Zudem kann eine bessere Gebäudedämmung dazu führen, dass Baulinien überschritten werden, womit neben rechtlichen Hürden auch zusätzliche Kosten verbunden sein können.

Die Eigentümerschaft von historischen Liegenschaften muss auch Denkmalschutzauflagen beachten. Zum Teil lassen sich energetische Sanierungen jedoch nicht mit dem Denkmalschutz vereinbaren.

Viele alte Eigentümer

Bei privaten Eigentümern kann auch das Alter Investitionsentscheidungen erheblich beeinflussen. Ein Grossteil der privaten Eigentümer in der Stadt Zürich ist über 50 Jahre alt. Für diese Gruppe liegt es oft nah, Sanierungsentscheidungen in die Zukunft zu verschieben und lieber ihren Nachkommen zu überlassen. Aufgrund der relativ langen Amortisationsdauer besteht kein Anreiz zu investieren. Ausserdem scheuen viele ältere Personen davor zurück, umfangreiche Baumassnahmen in Kauf zu nehmen.

Teil- versus Gesamtsanierung

Bei Sanierungen stellt sich grundsätzlich die Frage, ob lediglich einzelne Teile zu erneuern sind oder ob eine Gesamt­sanierung durchgeführt werden soll. Für eine Gesamt­sanierung sprechen die insgesamt oft niedrigeren ­Kosten und Bauzeiten. Durch eine Etappierung der Massnahmen hingegen fällt die Investition in kleineren Tranchen an, was auch steuerliche Vorteile hat. Die unterschiedliche Lebensdauer der Bauteile spricht ebenfalls häufig gegen Gesamtsanierungen. Und nicht zuletzt muss bei kleinere Baumassnahmen in der Regel nicht allen Mietern gekündigt werden.


Anmerkungen:
[01] Wiencke, A., Meins, E.: Praxisbeitrag. Energieforschung Stadt Zürich. Bericht Nr. 5, Forschungsprojekt FP-2.2.2, 2012. Download unter www.energieforschung-zuerich.ch
[02] Alberini, A. et al.: Energy Efficiency Investments in the Home: Swiss Homeowners and Expectations about Future Energy Prices, 2011.

TEC21, Fr., 2014.07.11



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11. Juli 2014Nina Egger
Claudia Carle
TEC21

«Oft mangelt es an Wissen»

Häufig schöpfen private Bauherrschaften die Möglichkeiten für mehr ­Energieeffizienz nicht aus. Architekten sollten daher verstärkt auf die Option der Energieberatung hinweisen, von der sie auch selbst proftieren.

Häufig schöpfen private Bauherrschaften die Möglichkeiten für mehr ­Energieeffizienz nicht aus. Architekten sollten daher verstärkt auf die Option der Energieberatung hinweisen, von der sie auch selbst proftieren.

TEC21: Frau Kulemann, die Geschäftsstelle Energie-Coaching der Stadt Zürich führt bis zu 200 Beratungen pro Jahr durch. Wer nimmt dieses Angebot vor allem in Anspruch?
Christine Kulemann: Primär sind das kleinere, private Eigentümerschaften, ab und zu auch Baugenossenschaften oder Verwaltungen. Es melden sich aber auch immer mehr Architekten an.

Aus welchen Motiven kommen die Hauseigentümer zu Ihnen?
Kulemann: Bei der Anmeldung wird als häufigster Grund «Umweltbewusstsein» angegeben (vgl. Grafik S. 23). Die meisten Leute, die zu uns in die Beratung kommen, interessieren sich für die Energieproblematik, wissen auf diesem Gebiet aber selbst zu wenig und suchen daher Hilfe. Der Fall, dass bei jemandem die Heizung ausgestiegen ist und er dann spontan zum Energie-Coaching kommt, ist eher selten. Letzteres hat aber den Vorteil, dass der Eigentümer dann wirklich etwas machen muss. In den anderen Fällen führt eine Beratung ja nicht unbedingt tatsächlich zu einer energetischen Sanierung.

Was sind aus Ihrer Erfahrung die wichtigsten Faktoren, die private Hausbesitzer davon abhalten, die vorgeschlagenen Massnahmen auch umzusetzen?
Kulemann: Ein wichtiger Faktor ist die Finanzierung (vgl. Grafik S. 23). Wenn zum Beispiel bei Stockwerk-Eigentümergemeinschaften der Erneuerungsfonds gefüllt ist, wird in der Regel saniert. Fehlt das Geld, wird das Vorhaben eher verschoben. Es wäre hilfreich und sinnvoll, wenn Rücklagen für Sanierungen obligatorisch wären und keine steuerlichen Nachteile bringen würden. Derzeit werden Rücklagen bei den Steuern als Vermögen angerechnet, sodass das Ansparen zu höheren Steuerzahlungen führt.

Wenn man sich die vom Energie-Coaching begleiteten Projekte anschaut, fällt auf, dass viele etappenweise durchgeführt wurden. Hat das auch in erster Linie finanzielle Gründe?
Kulemann: Ja, oft ist das finanziell gar nicht anders möglich. Zudem hat dieses Vorgehen steuerliche Vorteile, weil man so die Sanierungskosten in mehreren Jahren abziehen kann. Das ist ein grosser Anreiz und bringt in der Regel auch mehr ein als die Fördergelder. Für die meisten Gebäude ist eine Etappierung auch deshalb sinnvoll, weil selten alle Teile gleichzeitig erneuerungsbedürftig sind. Zum anderen kann man so in der Regel im bewohnten Zustand sanieren.

Andererseits wird die Sanierung dadurch insgesamt teurer und bereitet unter Umständen an den «Nahtstellen» der einzelnen Massnahmen Probleme.
Kulemann: Ja, daher muss man vorher das Gebäude als Ganzes betrachten und alle Massnahmen planen. Ersetzt man dann in einem ersten Schritt die Fenster, weiss man schon, dass sie in einer anderen Ebene liegen werden, wenn man in fünf Jahren noch die Fassade dämmt, und wird den Anschluss entsprechend planen. Das ist sehr wichtig.

TEC21: Argumentieren Sie auch über die Amortisationsdauer solcher Energiesparmassnahmen?
Kulemann: Eher nein, weil das nicht besonders attraktiv ist. Die Amortisationsdauer liegt zum Beispiel bei einer Aussenwand etwa zwischen 25 und 30 Jahren. Wir planen aber, nächstes Jahr die Betriebsoptimierung als weiteres Angebot einzuführen. Da würden wir zum Beispiel die Regelung der Heizung sowie den Strom- und Wasserverbrauch überprüfen und optimieren. Diese Massnahme könnte in zwei bis drei Jahren amortisiert sein, weil die Betriebskosteneinsparungen ohne grössere Sanierungsmassnahmen und entsprechende Investitionen erreicht werden.

Was sind neben den finanziellen Faktoren weitere Hemmnisse für die Durchführung von energetischen Sanierungen?
Kulemann: Oft liegt es an einem Mangel an Wissen bei den Bauherrschaften: wie man vorgehen könnte, was es zu beachten gibt und was es bringt. Beispielsweise wissen viele nicht, dass bei einem ungedämmten Dach bereits die Dämmung des unbeheizten Estrichbodens eine sinnvolle Massnahme ist und damit rund 10 bis 20 % Heizenergie eingespart werden können.

Das heisst, dass die Architekten den Bauherrschaften zu wenig klar machen, welche Möglichkeiten es zur Steigerung der Energieeffizienz gäbe?
Kulemann: Ziel ist nicht, dass Architekten energetische Beratungen vollständig selber übernehmen. Das Berufsbild des Architekten ist bereits sehr umfassend, und hinzu kommt, dass für den Entwurf andere Stärken als für die Umsetzung gefragt sind. Mit den energetischen Anforderungen ist in den letzten Jahren vielmehr das neue Berufsbild «Energieberater/in Gebäude» entstanden. Dieses gilt es zu etablieren. Dafür ist wichtig, dass Architektinnen und Architekten die Eigentümerschaft darauf hinweisen, dass es Möglichkeiten für mehr Energieeffizienz gibt, und sie bei Bedarf dazu motivieren, einen Energieberater beizuziehen, ähnlich wie eine Bauphysikerin oder einen Statiker. Die Eigentümer haben in der Regel grosses Vertrauen in ihre Architekten und gehen davon aus, dass er oder sie alles weiss und macht. Das wird kaum hinterfragt, und deshalb sollten die Architekten in der Ausbildung stärker lernen, dass Entwurf und Energieeffizienz Hand in Hand gehen können.

Ist das Vertrauen in den Architekten grösser als in den Energieberater?
Kulemann: Nein, aber viele Eigentümerinnen und Eigentümer wissen nicht, dass die energetische Beratung nicht zum klassischen Berufsbild des Architekten gehört und dass es hierfür extra Fachpersonen gibt.

Vermutlich profitieren auch die Architekten selbst von einem Energie-Coaching?
Kulemann: Ja, manche bekommen dabei gratis eine Weiterbildung.

Andererseits könnte ich mir vorstellen, dass sich manche Architekten auch nicht von einem Energieberater hineinreden lassen wollen.
Kulemann: Das kommt sicher auch vor. Dann werden die Projekte vermutlich meist ohne Energieberatung umgesetzt. Wenn eine Architektin oder ein Architekt im Projekt dabei ist, ist es aus unserer Erfahrung für den Wissenstransfer von Vorteil, wenn der Energie-Coach einen technischen Hintergrund hat und sich etwa mit dem Thema Heizung gut auskennt. Dann wird die fachliche Unterstützung geschätzt.

Bei der Sanierung öffentlicher Gebäude muss in Zürich der Minergie-Standard erreicht werden, und man kann sich fragen, ob das in jedem Fall verhältnismässig ist. Welche Zielvorgaben haben Sie bei der Beratung privater Eigentümer?
Kulemann: Unser Ziel ist in erster Linie, die Gebäude auf Kurs 2000 Watt zu bringen, sprich sowohl den Energieverbrauch als auch die Treibhausgasemissionen zu senken. Dafür empfehlen wir eine gute Dämmung und vor allem die Umstellung auf erneuerbare Energien. Ziel ist nicht, auf Teufel komm raus jedes Gebäude mit 20 cm Dämmung und mehr einzupacken. Unsere Energie-Coachs versuchen, zusammen mit der Architektin oder dem Architekten eine Lösung zu finden, die sowohl energetisch als auch architektonisch gut ist.

Das Erreichen des Minergie-Standards ist kein Ziel in der Beratung?
Kulemann: Nicht mehr. Am Anfang war es so, das hat sich jedoch geändert, weil Minergie nicht bei allen Gebäuden realisierbar ist, z.B. aus Denkmalschutzgründen oder weil sich nicht in jedes Gebäude die vorgeschriebene Komfortlüftung wirtschaftlich einbauen lässt. Zudem stehen viele Eigentümerschaften einer Komfortlüftung kritisch gegenüber und sind häufig auch nicht bereit, die meist mit einer Minergie-Sanierung verbundenen Mehrkosten zu tragen.

TEC21, Fr., 2014.07.11



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06. Juni 2014Claudia Carle
Judit Solt
TEC21

«Den Elefanten ist das Dach egal»

Unter artgerechter Tierhaltung stellen sich Fachleute und Besucher nicht unbedingt das Gleiche vor. Der Elefantenpark möchte beiden gerecht werden: den neuen Erkenntnissen der Tierforschung und dem Wunsch der Besucher nach einem naturnahen und spannenden Lebensraum.

Unter artgerechter Tierhaltung stellen sich Fachleute und Besucher nicht unbedingt das Gleiche vor. Der Elefantenpark möchte beiden gerecht werden: den neuen Erkenntnissen der Tierforschung und dem Wunsch der Besucher nach einem naturnahen und spannenden Lebensraum.

TEC21: Herr Zingg, Zoos dienen heute nicht mehr nur dazu, Tiere zu halten und auszustellen, sondern bauen eine Umgebung nach, die ihrem natürlichen Lebensraum möglichst ähnlich ist. In unseren Breiten­graden braucht es dafür in der Regel ein Dach.
Bei dem 2003 eingeweihten Masoala-Regenwald entschied sich der Zoo Zürich für eine rein funktionale Lösung, beim Elefantenpark wurde das Dach gestaltet. War das ein Wunsch des Zoos, oder hat es sich aus dem Architekturwettbewerb ergeben?
Robert Zingg: Architekten haben es nicht einfach im Zoo. Ein Ausspruch des früheren Zoo­direktors Heini Hediger war: «Das gefährlichste Tier im Zoo ist der Architekt.» Das soll nichts anderes aussagen, als dass der Zoo der falsche Ort ist, um sich ein Denkmal zu setzen. Hier muss die Funktionalität im Vordergrund stehen. Was den Elefantenpark betrifft, wussten wir, dass das Gebäude nicht nur riesig sein würde, sondern auch von oben gut sichtbar, weil es am Hang steht. Damit ein solcher Bau mit einer Dachfläche von ca. 6000 m² den Besucher nicht erschlägt, sollte er möglichst leicht und wie eine natürliche Form wirken. Unter den 50 Wettbewerbsbeiträgen gab es dafür verschiedenste Lösungen – von Glashäusern über ganze Felslandschaften, in die das Haus integriert war, bis hin zu durchbrochenen Hüllen wie der jetzt realisierten. Das Lichtspiel unter dieser Hülle ähnelt demjenigen in einem Wald. Der Besucher soll möglichst kein Gebäude, sondern einen Lebensraum betreten. Diesem Anspruch dient die Architektur.

Die Inszenierung des natürlichen Lebensraums wird also in erster Linie für die Besucher gemacht, nicht für die Tiere?
Zingg: Ja, das Dach ist sicher ein Element, bei dem es um die Gesamtwirkung auf die Besucher geht – den Elefanten ist es egal. Heutige Besucher haben Reisen unternommen und Filme gesehen und darum eine bestimmte Vorstellung vom Lebensraum der Tiere. Eine fantasielose Umgebung mit nur ein paar Zäunen kommt einfach schlecht an – ungeachtet dessen, ob das Tier darin gut zurechtkommt oder nicht. Ein schönes Beispiel ist das Gehege des Brillenbären mit einer wunderbaren Felswand im Hintergrund. Dem Brillenbären ist es egal, aus welchem Material diese Wand ist; sie ist einfach ein Hindernis, das er nicht überwinden kann. Aber damit es für die Besucher stimmt, hat man etwas geschaffen, das natürlich wirkt. Die Besucher müssen das Gefühl haben, dass die Tiere gut gehalten werden.

Im Elefantenpark ist eine waldartige Umgebung entstanden.
Zingg: Ja, der Asiatische Elefant wäre in einem immergrünen Wald zu Hause. Das lässt sich im Zoo aber nicht 1 : 1 umsetzen, weil die Elefanten den schnell zerstören würden. Wir versuchen daher, mit Totholzbäumen einen Wald zu suggerieren. Auch die Besucher werden sich in einem waldähnlichen Bereich bewegen, wenn die Pflanzen grösser geworden sind. Zur Inszenierung gehört ausserdem die Kom­position der Blickachsen: Die Besucher schauen nie in eine grosse Menschenmenge. Auch die technischen Einrichtungen soll man möglichst nicht sehen. ­Gerade beim Elefant ist das eine spezielle Herausforderung. In einem Gehege für ein Tier, das eine Stosskraft von bis zu 15 t entwickeln kann, braucht es nun einmal massive Wände, die man dann zu kaschieren versucht. Trotzdem bauen wir nicht einfach nur Kulissen. Unsere Verantwortung liegt auch beim Tier.

Welche Anforderungen gab es denn von Seiten der Tierhaltung an den neuen Elefantenpark?
Zingg: Im Masterplan 2030 des Zoos ist schon länger festgelegt, dass es eine neue Elefantenanlage geben wird. 2007 haben wir begonnen, uns konkret Gedanken zu machen, was die Anlage leisten soll.
Ein Wunsch war ein deutlich grösseres Haus, weil die Tiere in unserem Klima etwa die Hälfte des Jahres drinnen verbringen. Wir wollen ihnen daher auch im Innenbereich etwas Interessantes bieten. Auf einer grösseren Fläche hat man mehr Optionen für viel­fältige Einrichtungen. Ein weiterer Wunsch war, den Elefantenkühen die Möglichkeit zu geben, ihre natürliche Sozialstruktur in Form von matrilinearen Gruppen zu entwickeln. Wir möchten, dass in Zukunft Mütter und Töchter zusammenbleiben und sich so Weibchenverbände bilden können.

Wieso war das in der alten Anlage nicht möglich?
Zingg: Bisher war das nie das Ziel. Früher haben wir jeweils Einzeltiere von anderen Zoos übernommen. Wenn für ein Jungtier nicht genug Platz da war, hat man es auch wieder einzeln
an ­andere Zoos abgegeben. Man hat es also aus einem sozialen Kontext herausgenommen, in einen neuen gebracht und damit sozial geschwächt. Dass man soziale Einheiten beibehalten möchte, ist eine neuere Entwicklung, die auf Erkenntnissen der modernen Tierhaltung beruht. Allerdings sind dafür spezielle Anlagen nötig: Zum einen braucht es für grössere Gruppen mehr Platz, zum anderen wird sich die Dynamik innerhalb der Gruppe anders entwickeln.

Inwiefern?
Zingg: Wenn die matrilineare Sozialstruktur richtig ausgeprägt ist, wird der Elefantenpfleger zum schwächsten Glied in der Gruppe. Um seine Sicherheit zu gewährleisten, müssen wir ihn aus dem Sozialgefüge herausnehmen und das Managementsystem ändern. In der alten Anlage hatten die Tierpfleger direkten Kontakt zu den Elefantenkühen («hands on») und die Rolle des Alphatiers inne. In der neuen Anlage gehen wir – wie bisher schon bei den Elefantenbullen – zum sogenannten geschützten Kontakt («protected contact») über, bei dem immer eine ­Barriere zwischen Tier und Pfleger besteht. Das setzt entsprechende Räume voraus, in denen die Tiere zum Beispiel für medizinische Behandlungen isoliert werden können. Zudem wird es möglicherweise mehr Auseinandersetzungen zwischen den Tieren geben, wenn der Tierpfleger nicht mehr dazwischen geht. Daher braucht es sowohl innen als auch aussen Räume, um die Tiere bei Bedarf zu separieren.

Der Elefantenbulle bleibt nach wie vor allein?
Zingg: Jungbullen kann man weiterhin im Alter von 4 bis 5 Jahren weggeben. Dann werden sie etwas schwierig im Handling und würden auch im Freiland die Herde verlassen, um sich mit anderen Jungbullen zu einer Junggesellengruppe zusammenzuschliessen. Wir werden aber in Kürze noch einen Jungbullen als Partner unserer beiden jungen Weibchen dazubekommen, um Inzucht zu vermeiden.
Der Bullenbereich liegt abseits der Besucherzonen im Hintergrund der Anlage, weil Bullen manchmal etwas unberechenbar sind und man sie daher nicht an der Front haben möchte.

Was beim neuen Elefantenpark auffällt, sind die vielen Wasserflächen und der Sand- anstelle des Betonbodens im alten Elefantenhaus.
Zingg: Der weiche Boden ist besonders für die älteren Tiere angenehmer. Die Bullen mit den grossen Stosszähnen können sich besser zum Schlafen hin­legen, und die Tiere haben allgemein weniger Nagelprobleme. Einen festen Boden, der leicht zu reinigen ist, hat es nur noch in den Managementboxen, wo die Tiere nur temporär sind.
Wasser ist ein wichtiges Element im Lebensraum der Elefanten. Daher hat es im Innen- und im Aussenbereich verschiedene Bassins, von seicht bis so tief, dass die Elefanten richtig schwimmen können.

Kommen all diese Vorgaben daher, dass man heute besser als beim Bau des alten Elefantenhauses vor 40 Jahren versteht, wie man Elefanten artgerecht hält – oder misst man dem heute einfach mehr Gewicht bei?
Zingg: Man hat in der Zwischenzeit sehr viel gelernt, zum einen im Freiland, aber auch aus der Haltung im Zoo. Man weiss heute zum Beispiel, dass Elefanten 16 bis 18 Stunden pro Tag auf Futtersuche sind. Wir haben uns daher überlegt, wie wir das Fütterungssystem für sie anspruchsvoller machen können. Es gibt etwa 40 Futterstellen in der neuen Anlage. Ein Teil davon lässt sich über eine Zeitschalt­uhr auslösen, sodass die Fütterungszeiten nicht mehr an die Präsenz der Tierpfleger gekoppelt sind. Zudem bekommen sie nicht mehr einfach einen Haufen Heu, sondern nur kleine Portionen, die sie aus den ­Futterstellen herausklauben müssen. Die Elefanten sollen längere Zeiträume mit der Futtersuche ­verbringen und ihre Geschicklichkeit nutzen.

Der Zoo versucht also, sowohl den Ansprüchen der Tiere als auch den Erwartungen der Besucher gerecht zu werden.
Zingg: Die Ansprüche der Tiere werden so «verpackt», dass eine auch für die Besucher interessante Anlage entsteht. Die ernsthaft geführten Zoos entwickeln sich in Richtung Naturschutzzentren.
Die Tiere fungieren dabei als Botschafter ihrer Art, die die Besucher emotional abholen, damit sie für Informationen zugänglich sind. Wir möchten zum Beispiel erreichen, dass die Besucher die Verbindung zwischen der Zerstörung des Lebensraums Regenwald und dem Aussterben der darin lebenden Tiergemeinschaften erkennen. Die Leute sollen realisieren, dass wir alle in diese Zerstörung involviert sind und mit unserem täglichen Konsumverhalten beeinflussen können, wie es dort weitergeht.

Hinzu kommen in letzter Zeit Projekte, mit denen der Zoo versucht, den Lebensraum in den Herkunfts­ländern der Tiere zu erhalten.
Zingg: Ja, mit allen grösseren Projekten, die wir in letzter Zeit realisiert haben, ist ein Freilandprojekt verbunden. Beim Kaeng-Krachan-Elefantenpark bringen wir uns über eine Patenorganisation im gleichnamigen Nationalpark in Thailand ein, um im Konflikt zwischen Mensch und Elefant zu vermitteln.

Worin besteht dieser Konflikt?
Zingg: Der Mensch dehnt seinen Lebensraum immer weiter aus und zerstört denjenigen der Ele­fanten. Zudem realisieren die Elefanten, dass es bei den Menschen Felder mit Pflanzen gibt, die sie selber gern verspeisen. Die Frage ist, wie man diesen Konflikt so lösen kann, dass eine Win-win-Situation für beide Seiten entsteht. Wir werden diese Probleme im Elefantenpark symbolisch darstellen, etwa mit einer Hütte, die von Elefanten halb eingedrückt ist. Auch die Lodge im thailändischen Stil dient unter anderem dazu, dieses Thema aufzugreifen. Wir wollen zeigen, wie die Leute in Thailand mit diesen Problemen umgehen und wie man sie dabei unterstützen kann.

TEC21, Fr., 2014.06.06



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TEC21 2014|23 Ein Dach für Zürichs Elefanten

09. Mai 2014Claudia Carle
TEC21

Was will der Neue?

Bei der Vielzahl an Beurteilungsinstrumenten für nachhaltiges Bauen ist es schwer, den Überblick zu behalten. Trotzdem wurde mit dem Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz ein weiteres Element hinzugefügt – wird es umgesetzt wie geplant, könnte es aber mehr bewirken als andere.

Bei der Vielzahl an Beurteilungsinstrumenten für nachhaltiges Bauen ist es schwer, den Überblick zu behalten. Trotzdem wurde mit dem Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz ein weiteres Element hinzugefügt – wird es umgesetzt wie geplant, könnte es aber mehr bewirken als andere.

Für die Erarbeitung des neuen Standards Nachhaltiges Bauen Schweiz (SNBS) hat sich ein grosser Teil der Schweizer Akteure im Bereich des nachhaltigen Bauens an einen Tisch gesetzt. Gemeinsam hat man definiert, wie sich die Nachhaltigkeit eines Gebäudes bewerten lässt – eine gute Voraussetzung, um das wichtigste Ziel des Standards zu erreichen: eine breite Anwendung.

Alle bisher bestehenden internationalen und nationalen Instrumente werden entweder nur bei wenigen Gebäuden angewendet oder bewerten lediglich einzelne Aspekte der Nachhaltigkeit, sodass der Optimierungseffekt gering ist (vgl. TEC21 47/2011 «Minergie und mehr»). Der SNBS könnte durch sein niederschwelliges Angebot eine grössere Wirkung erreichen: Das Tool ist gratis verfügbar, relativ einfach und kompakt, umfasst aber alle wesentlichen Aspekte der Nachhaltigkeit (vgl. Interview S. 30). So können sich auch Planer und Bauherrschaften von kleineren Projekten mit vertretbarem finanziellem und zeitlichem Aufwand einen Überblick verschaffen, wo ihr Projekt steht und wie es sich optimieren lässt. Bis zu einem gewissen Grad geschieht das zwar bereits.

Nachhaltigkeit in ihrer ganzen Breite zu beurteilen ist jedoch anspruchsvoll. Daher haben an der Erarbeitung des SNBS Fachleute aus den Bereichen Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt mitgewirkt. Erleichtert wird seine Anwendung dadurch, dass viele bereits bestehende Instrumente und Hilfsmittel integriert wurden und die erforderlichen Berechnungen und Nachweise oft beinahe unverändert für den SNBS verwendet werden können (vgl. «SNBS nutzt Synergien» auf espazium.ch). Nur bisher fehlende und aus Schweizer Sicht wichtige Elemente wurden ergänzt, etwa die Themen Biodiversität und Landschaftszersiedlung, die Handelbarkeit einer Immobilie oder der Umgang mit dem Ort. Der Standard lässt sich sowohl bei neuen als auch bei bestehenden Gebäuden anwenden, derzeit für die Nutzungsarten Wohnen und Büro/Verwaltung.

Nach seiner Lancierung im Juni 2013 wurde eine Pilotphase gestartet. Im Lauf dieses Jahres wird entschieden, ob und wie der Standard aufgrund der gewonnenen Erfahrungen (vgl. Artikel S. 34) optimiert wird. Ab ca. Anfang 2015 soll ausserdem ergänzend ein Label erarbeitet werden (vgl. Kasten links und Artikel S. 38). Ob das sinnvoll ist, ist fraglich, denn vermutlich wären dann die Vorteile des Standards dahin und das Label ähnlich aufwendig und teuer wie andere. Wichtig für alle weiteren Entwicklungen ist zudem die Sicherung der Finanzierung. Bisher wurde sie grösstenteils vom Bundesamt für Energie (BFE) getragen. Vom Erfolg der derzeit laufenden Diskussionen zur finanziellen Zukunft wird laut Joe Luthiger, Geschäftsführer des Netzwerks Nachhaltiges Bauen, abhängen, wie viel Aufwand für die weitere Optimierung betrieben und ob der Standard weiterhin gratis angeboten werden kann.

TEC21, Fr., 2014.05.09



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TEC21 2014|19 Ein neuer Standard für nachhaltiges Bauen

14. März 2014Claudia Carle
TEC21

Wärmeinseln werden noch heisser

Städte sind durch ihr wärmeres Klima und die Konzentration an Menschen und Unternehmen besonders sensibel gegenüber dem Klimawandel, der Hitze und Trockenheit noch verstärken wird. Die Anpassung daran ist ein wichtiger Aspekt künftiger Stadtentwicklung, birgt aber Konflikte.

Städte sind durch ihr wärmeres Klima und die Konzentration an Menschen und Unternehmen besonders sensibel gegenüber dem Klimawandel, der Hitze und Trockenheit noch verstärken wird. Die Anpassung daran ist ein wichtiger Aspekt künftiger Stadtentwicklung, birgt aber Konflikte.

Wer an einem Sommerabend aus dem Umland in die Stadt kommt, erlebt einen Klimawandel: Bis zu 10 °C wärmer ist es in dicht bebauten Gebieten, vor allem nachts.[1] Verantwortlich für diesen Wärmeinseleffekt sind Verkehr, Gebäude und versiegelte Flächen, die Wärme produzieren und speichern. Auch der geringere Anteil kühlender Grünflächen und die durch die Bebauung eingeschränkte Durchlüftung tragen dazu bei.

Der globale Klimawandel wird diesen Effekt noch verstärken. Die Prognosen für die Schweiz sagen ganzjährig höhere Temperaturen vorher, im Sommer ausserdem weniger Niederschläge.[2] (Zu den prognostizierten Auswirkungen im Detail vgl. Kasten S. 28).

Gleichzeitig sind Städte besonders empfindlich gegenüber klimatischen Veränderungen, da sie eine hohe Bevölkerungsdichte aufweisen; ausserdem sind dort viele Unternehmen ansässig und wichtige Gebäude und Infrastrukturanlagen wie Bahnhöfe, Versorgungs- und Bildungseinrichtungen konzentriert. Werden also die Sommer heisser und trockener, leidet eine Vielzahl an Bewohnern und Arbeitnehmern unter geringerer Leistungsfähigkeit und gesundheitlichen Beschwerden. Nehmen ausserdem wie prognostiziert Extremereignisse wie Intensivniederschläge und grosse Hochwasser zu, ist das Schadenpotenzial bei Unternehmen, Gebäuden und Infrastrukturanlagen besonders hoch.[2]

Eine Reihe von Studien hat daher in den letzten Jahren die mit dem Klimawandel verbundenen Risiken für Städte untersucht – unter anderem für Zürich und Basel – und mögliche Massnahmen zur Minderung dieser Risiken evaluiert.[1,3,4,5] Ende Oktober 2013 hat das Bundesamt für Umwelt (Bafu) ausSerdem eine Fallstudie in Auftrag gegeben, die die klimabedingten Risiken und Chancen in grossen Agglomerationen am Beispiel von Genf und Basel-Stadt monetarisieren und damit zeigen wird, wo der grösste Handlungsbedarf besteht.[6]

Gefährdete Gesundheit

Aus den bisher vorliegenden Studien kristallisiert sich die Gesundheit der Stadtbewohner als ein zentrales Thema heraus: Auf der einen Seite ermöglicht ein wärmeres Klima einen mediterranen Lebensstil, auf der anderen Seite beeinträchtigen aber höhere Temperaturen und häufigere Hitzewellen das Wohlbefinden, reduzieren die Schlafqualität und die Arbeitsproduktivität. Empfindliche Personen können auch ernsthafte gesundheitliche Probleme bekommen. Nicht umsonst war im Hitzesommer 2003 eine deutliche Zunahme der Sterberate zu beobachten. Hohe Ozonbelastungen, eine längere Pollensaison und bessere Lebensbedingungen für Krankheitsüberträger können die Gesundheit zusätzlich beeinträchtigen.

Abhilfe schafft alles, was für Kühlung sorgt: kühle Gebäude, Schattenzonen, Grün- und Wasserflächen und eine bessere Durchlüftung der Stadt.

Konflikt: Durchlüftung versus Dichte

Die Stadt Zürich hat im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie die Durchlüftung in den verschiedenen Stadtquartieren detailliert untersuchen lassen.[4]

Wie nicht anders zu erwarten, ist sie vor allem in Zentrumsgebieten wie der Innenstadt und Oerlikon ungünstig, wo die dichte Bebauung und schmale Strassenschluchten die Luftzirkulation behindern. Die ohnehin hohe Wärmebelastung durch Gebäude und versiegelte Flächen, die als Speicher wirken, sowie die Luftverschmutzung durch das hohe Verkehrsaufkommen werden dadurch verstärkt. Am naheliegendsten wäre es, von einer weiteren Verdichtung abzusehen – was aber den raumplanerischen Zielen für zentrumsnahe, gut erschlossene Gebiete diametral entgegensteht. Der Handlungsspielraum beschränkt sich somit in erster Linie auf Massnahmen zur Reduktion der Wärmelast, beispielsweise durch die Verminderung der Abwärme von Raumkühlsystemen oder durch Fassaden mit geringem Wärmeaufnahme- und speichervermögen. Zudem ist es wichtig, Grünräume zu schaffen oder zu erhalten, sei es am Boden, an Fassaden oder auf Dächern.

Wo hat es Platz für mehr Grün?

Damit sich solche kompensatorischen Massnahmen umsetzen lassen, erwägt Grün Stadt Zürich derzeit, einen Masterplan Stadtklima zu erarbeiten, wie Daniel Keller, Leiter des Fachbereichs Freiraumplanung, erläutert. Ziel des Masterplans wäre es, den Handlungsspielraum innerhalb der bestehenden Gebiets- und Siedlungsstruktur aufzuzeigen und einen Katalog guter Beispiele zur Verfügung zu stellen.

Ein weiteres Projekt von Grün Stadt Zürich wird sich vertieft mit Dach- und Fassadenbegrünungen befassen, um Gebäudeeigentümer besser beraten zu können. Laut Bettina Tschander vom Fachbereich Naturförderung wolle man anhand von Referenzprojekten und Literaturnachweisen untersuchen, wie verschieden gestaltete Begrünungen das Stadtklima beeinflussen und wie hoch dabei Aufwand und Kosten für den Unterhalt sind. Bei den Gebäuden selbst hängt es von Gebäudehöhe, -anordnung und -geometrie ab, wie sie sich auf das Stadtklima auswirken. Die Autoren der Zürcher Stadtklima-Studie empfehlen daher, bei der Planung grösserer Bebauungen deren Einfluss auf das Stadtklima zu berücksichtigen. Um diese Empfehlungen umsetzen zu können, werde man nun in einem nächsten Schritt konkretisieren, was aus stadtklimatischer Sicht geeignete Bebauungstypologien sind, erklärt Alexandra Wymann von der Umweltschutzfachstelle der Stadt Zürich.

Natürlich nimmt mit dem Klimawandel auch die Bedeutung eines angenehmen Klimas im Gebäudeinnern zu, damit es sich auch in Hitzeperioden erträglich arbeiten und wohnen lässt. Auf der anderen Seite wird der Klimawandel als positiven Effekt eine Reduktion des Heizenergiebedarfs mit sich bringen.[7]

Stadtgrün fit machen für den Klimawandel

So wichtig es ist, im Rahmen der Anpassung Grünflächen zu fördern und zu erhalten, so sehr werden diese ihrerseits durch den Klimawandel beeinträchtigt: Einerseits wird der Nutzungsdruck auf die Grünflächen zunehmen, und andererseits setzen Hitze und Trockenheit auch den Pflanzen zu. Die Stadtgärtnerei Basel hat daher bereits vor zehn Jahren angefangen, Bäume aus südlicheren Klimazonen zu testen. Generell setze man auf ein möglichst breites Sortiment an Baumarten, erklärt Stadtgärtner Emanuel Trueb. «Mit einem variantenreichen Angebot ist man gegenüber den vielfältigen klimatischen Veränderungen weniger exponiert.» Dabei tausche man auch Erfahrungen mit anderen Stadtgärtnereien in der Schweiz und in Deutschland aus. «Zum anderen versuchen wir, die Stresstoleranz der Pflanzen zu erhöhen: In der eigenen Baumschule werden die künftigen Strassenbäume unter eher kargen Bedingungen gehalten, damit sie am endgültigen Standort im städtischen Umfeld gut zurechtkommen.» Man experimentiere auch mit veränderten Zusammensetzungen des Substrats, in dem die Pflanzen in der Stadt wachsen. «Ideal sind Substrate mit angemessener Wasserspeicherfähigkeit bei gleichzeitig guter Nährstoff- und Sauerstoffverfügbarkeit», erläutert Trueb.

Neben den Stadtbäumen sind auch die Rasenflächen vom Klimawandel betroffen. Hier sucht man nach neuen Saatmischungen, die robuster gegenüber intensiver Nutzung sind und gleichzeitig weniger Wasser benötigen. Erhebliche Einsparpotenziale beim Wasserverbrauch sieht Trueb auch durch eine Optimierung der Bewässerungsmethoden. Gegenüber der momentan üblichen Methode mit Schlauchwagen und Sprengern ist eine gezielte unterirdische Bewässerung oder Tröpfchenbewässerung wesentlich sparsamer.

Wasserverteilung optimieren

Der Themenbereich Wasser ist denn auch – neben Gesundheit, Grünräumen, Stadtentwicklung und Gebäuden – ein weiterer Aspekt, mit dem sich die Städte im Zusammenhang mit dem Klimawandel auseinandersetzen müssen. Höhere Temperaturen und geringere Sommerniederschläge beeinflussen sowohl Bedarf als auch Verfügbarkeit von Trink- und Brauchwasser. Die Erfahrungen aus Jahren mit wenig Niederschlägen sowie aus dem Hitzesommer im Jahr 2003 zeigten aber, dass die verfügbare Wassermenge insgesamt kein Problem sei, sondern eher die Verteilung optimiert werden müsse, erklärt Paul Sicher vom Schweizerischen Verein des Gas- und Wasserfaches (SVGW). Der SVGW und die Kantone strebten daher eine bessere Vernetzung der einzelnen Wasserversorgungen an (vgl. TEC21 8/2012).

Es ist also ein breites Spektrum an Themen, mit dem sich Städte im Zusammenhang mit dem Klimawandel befassen müssen. Noch steht dieser Prozess ganz am Anfang. Die laufende Bafu-Studie wird noch klarer zeigen, wo die Prioritäten zu setzen sind, wobei die Gegebenheiten in jeder Stadt individuell betrachtet werden müssen. Dass die Anpassung an den Klimawandel ein langfristiges und sektorenübergreifendes Thema ist, macht die Sache nicht einfacher. Es gilt daher, entsprechende organisatorische Strukturen zu schaffen, die diese Aufgabe verfolgen und koordinieren sowie den Erfahrungsaustausch mit anderen Städten pflegen. Hinweise, wie die Anpassung an den Klimawandel konkret umgesetzt werden kann, wird auch das gerade angelaufene Pilotprogramm liefern, das das Bafu lanciert hat und zusammen mit weiteren Bundesämtern durchführt. Unter den 31 geplanten Anpassungsprojekten in Kantonen, Regionen und Gemeinden sind auch drei, die sich mit klimaangepasster Stadt- und Siedlungsentwicklung befassen.[8]


Literatur:
[01] Anpassung an die Klimaänderung in Schweizer Städten, Bafu, 2012
[02] CH2011: Swiss Climate Change Scenarios CH2011, published by C2SM, MeteoSwiss, ETH, NCCR Climate, and OcCC, Zürich 2011
[03] Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt: Bericht über die Folgen des Klimawandels im Kanton Basel-Stadt, 2011
[04] Stadt Zürich, Umwelt- und Gesundheitsschutz Zürich UGZ Umweltschutzfachstelle: Klimaanalyse Stadt Zürich (KLAZ), 2011
[05] Zürcher Kantonalbank: Klimawandel im Grossraum Zürich – Was können wir tun? 2013
[06] Mehrere im Rahmen der Nationalen Strategie zur Anpassung an den Klimawandel vom Bundesamt für Umwelt in Auftrag gegebene Fallstudien ermitteln für sechs Grossräume – Mittelland, Alpen, Voralpen, Jura, Südschweiz und grosse Agglomerationen – die Chancen und Risiken, die der Klimawandel mit sich bringt. Für jeden dieser Grossräume wird ein repräsentativer Kanton bestimmt, der im Detail analysiert wird. Die Studie für den Kanton Aargau ist bereits abgeschlossen, jene für den Kanton Uri wird demnächst fertig.
[07] Ernst Basler + Partner AG, WSL, SLF: Risiken und Chancen des Klimawandels im Kanton Aargau, Bafu, 2013
[08] Weitere Informationen zu den Projekten voraussichtlich ab Mai/Juni 2014 unter: www.bafu.admin.ch/klimaanpassung/12575/

TEC21, Fr., 2014.03.14



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2014|11 Anpassung an den Klimawandel

27. September 2013Claudia Carle
TEC21

Spezialisten für die dritte Haut

Gebäude sind nach dem Verständnis der Baubiologie die «dritte Haut» des Menschen. Baubiologisches Bauen hat somit zum Ziel, dass sich die Nutzer in dieser Hülle möglichst wohl fühlen und gesund bleiben. Daneben bezieht es auch bauökologische Aspekte mit ein, also die Umweltbelastungen durch Bauvorhaben.

Gebäude sind nach dem Verständnis der Baubiologie die «dritte Haut» des Menschen. Baubiologisches Bauen hat somit zum Ziel, dass sich die Nutzer in dieser Hülle möglichst wohl fühlen und gesund bleiben. Daneben bezieht es auch bauökologische Aspekte mit ein, also die Umweltbelastungen durch Bauvorhaben.

Bei einem Neu- oder Umbau nach baubiologischen Kriterien stehen einerseits die Raumgestaltung und bauphysikalische Aspekte (Licht, Farbe, Temperatur, Feuchtigkeit, Akustik) im Vordergrund, andererseits die Auswahl der Materialien. Bevorzugt werden natürliche und zugleich umweltfreundliche Baustoffe wie Holz, Lehm oder Kork.[01] Ein zweiter Schwerpunkt ist das Erkennen und Vermeiden von Störfaktoren wie Schadstoffe im Innenraum (u. a. Formaldehyd, VOC, Asbest, Radon oder Schimmelpilze) und elektrische sowie magnetische Felder, deren Quellen sowohl ausserhalb als auch innerhalb des Gebäudes liegen können. Das Einsatzgebiet der Baubiologie erstreckt sich über den gesamten Planungs- und Ausführungsprozess, beginnend bei der Auswahl des Grundstücks bzw. der Platzierung des Gebäudes bis hin zur Auswahl der Materialien für den Innenausbau. Baubiologen stützen sich dabei sowohl auf wissenschaftlich abgesicherte Untersuchungsmethoden und Richtwerte als auch auf Erfahrungswissen.[02]

Als Begründer der Baubiologie gilt der deutsche Arzt Hubert Palm, der in seinem 1972 erschienenen Buch «Das gesunde Haus» erstmals den Zusammenhang zwischen Gebäuden und dem Auftreten gewisser Krankheitsbilder, in erster Linie Haut- und Atemwegserkrankungen, beschreibt. Bereits seit 1955 hatte er darauf in verschiedenen Vorträgen und Artikeln hingewiesen. Seine Beobachtungen an kranken Patienten decken sich zeitlich weitgehend mit der Einführung petrochemischer Produkte im Bauwesen, beispielsweise in Leimen oder Farben. Daraufhin entstanden Anfang der 1970er-Jahre in Deutschland erste baubiologische Vereinigungen und Pionierprojekte. 1977 wurde auch das Schweizerische Institut für Baubiologie SIB in Sullens VD gegründet. 2002 musste es aus finanziellen Gründen geschlossen werden, und ein Verein unter der Bezeichnung «Schweizerische Interessengemeinschaft Baubiologie SIB»3 übernahm seine Aufgaben. Aktuell zählt die SIB rund 800 Mitglieder und ist damit einer der grössten Baubiologievereine weltweit. Seit 2011 führt die SIB auch die Geschäftsstelle des Baustofflabels natureplus.

Während die Ausbildung zum Baubiologen in den umliegenden Ländern über Fernlehrgänge erfolgt, bietet in der Schweiz die Bildungsstelle Baubiologie4 seit 1996 einen eigenständigen Kurs mit Fachdozenten an. Die zehn Module (vgl. Kasten) mit 21 Kurstagen können berufsbegleitend in ein bis drei Jahren absolviert werden und mit dem eidgenössisch anerkannten Fachausweis als Baubiologe/Baubiologin SIB abgeschlossen werden. Die Ausbildung richtet sich an Fachleute sowohl aus dem Handwerk als auch aus der Planung.


Anmerkungen:
[01] Auflistung empfehlenswerter Materialien: www.gesundes-haus.ch → Themen von A–Z → Naturbaustoffe – Tipps
[02] Auflistung baubiologischer Richtwerte: www.gesundes-haus.ch → Themen von A–Z → Baubiologieberatung – Tipps
[03] www.baubio.ch
[04] www.bildungsstellebaubio.ch

TEC21, Fr., 2013.09.27



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2013|40 Baubiologie

27. September 2013Tina Cieslik
Claudia Carle
TEC21

«Hauptziel ist das Wohlbefinden der Bewohner»

Vor fast 40 Jahren schlossen sich in der Schweiz die ersten Baubiologen zu einem Verband zusammen, der mittlerweile 800 Mitglieder hat. Trotzdem wird bis heute nur ein Bruchteil aller Neu- und Umbauten nach baubiologischen Grundsätzen ausgeführt. Im Gespräch mit TEC21 orten drei Baubiologen unterschiedlicher Generationen unter anderem mangelndes Wissen über baubiologisches Bauen bei Architekten und Bauherrschaften als eine Ursache dafür. Sie erläutern, was man durch das Beiziehen eines Baubiologen gewinnt und welche Funktion er im Bauprozess wahrnehmen kann.

Vor fast 40 Jahren schlossen sich in der Schweiz die ersten Baubiologen zu einem Verband zusammen, der mittlerweile 800 Mitglieder hat. Trotzdem wird bis heute nur ein Bruchteil aller Neu- und Umbauten nach baubiologischen Grundsätzen ausgeführt. Im Gespräch mit TEC21 orten drei Baubiologen unterschiedlicher Generationen unter anderem mangelndes Wissen über baubiologisches Bauen bei Architekten und Bauherrschaften als eine Ursache dafür. Sie erläutern, was man durch das Beiziehen eines Baubiologen gewinnt und welche Funktion er im Bauprozess wahrnehmen kann.

TEC21: Wann werden Sie als Baubiologen in der Regel zu einem Projekt beigezogen?

Bosco Büeler (B. B.): Das ist sehr unterschiedlich. Die Bandbreite reicht von kurzen Beratungen, in denen Bauherren spezifische Fragen stellen, über eine Basisberatung zu Beginn der Planung bis hin zur Begleitung oder Planung des ganzen Projekts. Letzteres ist natürlich am umfassendsten und daher am schönsten. Neben Bauherrschaften beraten wir auch Architekten.

TEC21: Haben Baubiologen dann die Rolle eines weiteren Fachplaners?

Jörg Watter (J. W.): Baubiologen sind nach meinem Verständnis «Gesamtbetrachter», die Aspekte aus verschiedenen Fachrichtungen zu einem neuen, nachhaltigen Ganzen zusammenführen. Bei der Materialwahl können sie z. B. abschätzen, wie diese den Feuchtehaushalt, die Wärmespeicherung oder den Geruch beeinflusst, oder sie beraten bezüglich elektrobiologischer Aspekte. Das Problem der verschiedenen Fachplaner ist häufig, dass sie in ihrem Bereich zwar sehr gut sind, aber kaum disziplinenübergreifend zusammenarbeiten können, weil sie nicht die gleiche Sprache sprechen. Diese unterschiedlichen Werke zu einem zusammenzufügen und zu gewichten ist eine Qualität der Baubiologen. Das Hauptziel dabei ist das Wohlbefinden der Bewohner oder Nutzerinnen.

TEC21: Wie gehen Sie vor, wenn Sie ein Bauvorhaben von Anfang an begleiten?

J. W.: Das beginnt bei der Analyse des Grundstücks. Mit Hilfe von Sonnendiagrammen schaue ich zum Beispiel, wie man mit dem Gebäude passiv möglichst viel Sonnenenergie ernten kann bzw. wie man allenfalls Photovoltaik- oder Solarthermiemodule platzieren müsste. Natürlich schaue ich das Grundstück auch hinsichtlich der Wasseradern oder Erdverwerfungen1 an.

B. B.: Wenn ich mit Menschen zu tun habe, die das für Humbug halten, kann ich das auch problemlos akzeptieren. Dann lasse ich diese Untersuchungen einfach weg. Ich habe aber das Gefühl, dass die Leute in den vergangenen Jahren offener geworden sind gegenüber diesen Aspekten. Nathalie Frey (N. F.): Das hängt auch mit der eigenen Vorstellung vom Menschen zusammen: ob man nur an das glaubt, was man messen kann, oder daran, dass der Mensch grundsätzlich ein sensibleres Messgerät ist als alle technischen Instrumente.

TEC21: Welche Aspekte sind beim Gebäude selbst aus baubiologischer Sicht wichtig?

J. W.: In der Projektentwicklung beginne ich im Innern bei den Oberflächen, frage die Bauherrschaft, was sie in den verschiedenen Räumen am Boden bzw. an den Wänden und Decken spüren und sehen möchte. Meine Aufgabe ist es dann, die dahinterliegende Konstruktion mit den passenden Materialaufbauten zu entwickeln. Als Baubiologen arbeiten wir vorwiegend mit natürlichen, schadstofffreien und umweltfreundlichen Materialien.

N. F.: Unser Ziel ist, dass alle Sinne vom Raum genährt werden. Ob ich mich in einem Raum wohlfühle, hängt nicht nur mit der Form des Raums zusammen, sondern eben auch mit der Materialität, der Oberflächenstruktur, der Farbe, dem Lichteinfall, der Akustik und dem Raumklima. Ein weiterer Aspekt sind Störfaktoren wie Elektrosmog, die wir weitestgehend zu verhindern, zu reduzieren oder abzuschirmen versuchen (vgl. «Wohnraum für Umweltkranke» S. 25).

TEC21: Sie sprachen den Einsatz möglichst schadstofffreier Materialien an. Was bedeutet das bei einem Umbau? Welche Beurteilungskriterien ziehen Sie dafür heran?

J. W.: Bestehende Bauten werden mit Messungen vor Ort sorgfältig auf allfällige Schadstoffe überprüft und vorhandene Materialien bei Verdacht im Labor analysiert. So kann entschieden werden, was rückgebaut oder ersetzt werden muss.

TEC21: Welche Beurteilungskriterien ziehen Sie dafür heran?

J. W.: Das Problem ist, dass es für Wohnräume – anders als für den Bürobereich – nur wenige gesetzlich festgelegte Schadstoffgrenzwerte gibt, deren Einhaltung man einfordern könnte.

B. B.: Das Umweltschutzgesetz in der Schweiz geht nur bis zur Haustürschwelle. Eine entsprechende Ergänzung beim Chemikaliengesetz lag im Jahr 2000 auf dem Tisch, ist aber vom Parlament abgelehnt worden. Wir arbeiten daher mit den wissenschaftlich anerkannten Richtwerten des Standards baubiologischer Messtechnik SBM.2 Das sind hauptsächlich Erfahrungswerte aus Tausenden von Untersuchungen, aus denen man schliessen kann, ab welchen Werten bei den Bewohnern gesundheitliche Probleme auftreten können. Wobei eigentlich immer eine Kombination verschiedener Faktoren die Probleme verursacht – Schadstoffe, Elektrosmog, eine falsche Raumgestaltung und vielleicht noch persönliche Probleme. Und dann redet man manchmal über den letzten Tropfen, der das Glas zum Überlaufen bringt, und ist nicht bereit, auch über den Rest, der das Glas gefüllt hat, zu reden.

J. W.: Mit den Leuten, die auf Substanzen im Gebäude mit gesundheitlichen Beschwerden reagieren, haben vor allem die Messtechniker in unserem Verein zu tun. In meinem beruflichen Alltag als Architekt steht das nicht so im Vordergrund. Da geht es um die gesamte Nachhaltigkeitskette, zu der wir wertvolle Beiträge liefern können, beispielsweise durch den Einsatz lokaler Materialien mit niedriger grauer Energie, die Förderung der lokalen Wirtschaft oder auch soziale Aspekte. Häufig würde eine kurze Beratung durch einen Baubiologen genügen, um auf mögliche Probleme hinzuweisen. Ich verstehe nicht, warum bei Architekten so eine Hemmschwelle besteht, einen Baubiologen beizuziehen. Ebenso fehlt auch bei vielen Nutzern noch das Bewusstsein, dass nicht nur die Ernährung für unsere Gesundheit wichtig ist, sondern auch der Ort, wo wir leben. Sie könnten einfach mal einen Baubiologen fragen, wenn sie ein gesundheitliches Problem haben.

TEC21: Würden Sie sich wünschen, dass die Baubiologie in der Architekturausbildung verstärkt behandelt wird, um diese Hemmschwelle abzubauen?

J. W.: Das ist für mich zwingend. Ich bin Dozent an der Fachhochschule Chur und führe dort jetzt zum zweiten Mal die Weiterbildung Baubiologie durch. Ich stelle zu Beginn jeweils ein grosses Wissensdefizit fest, dann aber Begeisterung, wenn die Studierenden sehen, dass Baubiologie mehr ist als ein bisschen Pendeln. Ich hoffe natürlich, dass Chur nicht die einzige Schweizer Fachhochschule bleibt, die das Thema ernst nimmt. Wir sind auch daran, mit verschiedenen Fachverbänden Gespräche zu führen, damit das Thema Baubiologie in die Ausbildung von Handwerkern aufgenommen wird.

TEC21: Hat der Planer als Generalist und als derjenige, der alle Fachplaner zusammenhält, vielleicht auch deshalb Mühe damit, einen Baubiologen beizuziehen, weil dann jemand in alle Bereiche reinredet?

B. B.: Das mag sein. Darum ist es auch sehr wichtig, dass man eine gewisse Offenheit hat und nicht belehren will.

N. F.: Man muss ja auch nicht kompromisslos baubiologisch bauen, sondern kann Schwerpunkte setzen. Wir müssen offen sein, das Ganze nicht zu fundamental zu betreiben.

B. B.: Der Dogmatismus, den du ansprichst, Nathalie, hat uns in den ersten Jahren ganz viel Goodwill kaputt gemacht. Die jüngere Generation der Baubiologen aber bringt diesen Pragmatismus mit.

TEC21: Der Minergie-Eco-Standard enthält einige baubiologische Aspekte. Müssen baubiologische Kriterien noch stärker in solche Standards einfliessen?

J. W.: Ich bin sehr froh, dass es Minergie-Eco gibt. Das ist sicher ein Schritt in die richtige Richtung, aber man könnte Minergie-Eco noch weiterentwickeln. Eine Gefahr bei Minergie sehe ich, wenn diese Vorgaben ins Baugesetz aufgenommen werden. Lüftungsanlagen sind toll, wenn ich an einer lauten Strasse wohne, aber sie sind nicht an jedem Ort der richtige Weg.

B. B.: Man darf das Ziel – eine gute Luftqualität im Innenraum – nicht mit den Massnahmen zur Erreichung dieses Ziels verwechseln. Letztere müssen frei wählbar bleiben.

TEC21: Verteuert eine baubiologische Umsetzung ein Projekt?

B. B.: Nach meiner Erfahrung muss man bei einem Kleinbau mit ca. 5 % Mehrkosten rechnen.

J. W.: Da spielen zwei Aspekte eine Rolle. Vom Quadratmeterpreis her ist ein Naturbaustoff um 5 bis 10 % teurer als ein petrochemisches Produkt, wobei sich die Preise heute zum Teil immer mehr annähern. Vom Montageaufwand her gibt es praktisch keinen Unterschied.

B. B.: Das ist auch eine Frage der Menge. Bei einem Grossprojekt, das ich begleite, war der Kork dank der grossen Menge am Schluss günstiger als die aus baubiologischer Sicht nicht empfehlenswerte Steinwolle.

J. W.: Der zweite Aspekt ist die Betrachtung des gesamten Lebenszyklus, wo Themen wie graue Energie oder Renovierbarkeit ins Spiel kommen und baubiologisches Bauen besser abschneidet. Einen Massivholzboden kann ich nach 20 Jahren schleifen und wieder ölen, dann sieht der wieder perfekt aus. Laminat reisse ich nach 10 bis 15 Jahren raus.

TEC21: Welchen Anteil hat baubiologisches Bauen derzeit nach Ihrer Einschätzung?

J. W.: Ich schätze, wir sind bei 1 bis 2 %. Davon ist der grösste Teil Einfamilienhäuser oder Wohnungen (vgl. Abb. 01). Bei grösseren Gebäuden stellen wir aber seit Neuestem einen Anstieg der Nachfrage fest. Auch die öffentliche Hand greift vermehrt auf Baubiologen zurück, zum Beispiel bei Schulhausbauten (vgl. Abb. 03 – 05).

TEC21: Wo sehen Sie die künftigen Arbeitsschwerpunkte Ihres Verbands?

J. W.: Als ich vor fünf Jahren das Präsidium übernahm, hatten wir keine professionellen Strukturen. Mittlerweile haben wir immerhin die Fachstelle. Wir werden unsere Angebote weiter ausbauen, mit Verbänden zusammenarbeiten und die Qualität der Ausbildung stetig verbessern. Mir geht es darum, die Begeisterung für die Baubiologie nach aussen zu tragen und die Qualität baubiologischen Bauens zu zeigen. Wenn die Leute in den Raum kommen und sagen: «Da fühle ich mich wohl», ist das für mich ein grösseres Kompliment als jedes Label.

TEC21, Fr., 2013.09.27



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2013|40 Baubiologie

03. Mai 2013Claudia Carle
TEC21

«Das Thema Grünräume ist sehr gut verankert»

Bei der Verdichtung des bebauten Raums geraten die Grünräume zwangsläufig unter Druck. Im Gespräch mit TEC21 erläutern Paul Bauer und Karl Stammnitz von Grün Stadt Zürich, welche Möglichkeiten es gibt, trotzdem neue Grünräume zu schaffen oder die Qualität der bestehenden für Erholung und Ökologie zu erhöhen.

Bei der Verdichtung des bebauten Raums geraten die Grünräume zwangsläufig unter Druck. Im Gespräch mit TEC21 erläutern Paul Bauer und Karl Stammnitz von Grün Stadt Zürich, welche Möglichkeiten es gibt, trotzdem neue Grünräume zu schaffen oder die Qualität der bestehenden für Erholung und Ökologie zu erhöhen.

TEC21: Wie stark sind die Grünräume in der Stadt angesichts der Verdichtungstendenz ­unter Druck?
Paul Bauer (P. B.): Grünräume geniessen eine hohe Akzeptanz in Bevölkerung und Politik. Das zeigen beispielsweise parlamentarische Vorstösse oder direkte Interventionen von ­Anwohnern und Grundeigentümern. Ein typisches Beispiel ist die vom Gemeinderat überwiesene Motion für fünf neue Parks im Entwicklungsgebiet Zürich West. Auch wenn wir ­diese Motion nur teilweise erfüllen können, sind das wichtige Motoren für das Weiterarbeiten an diesem Thema. Auch im Gemeinderat gibt es jeweils intensive Diskussionen, wenn es zum Beispiel im Rahmen von Gestaltungsplänen um den Grünraumanteil geht.
Karl Stammnitz (K. S.): Das Thema Grünräume ist auch auf der strategischen Ebene gut verankert. Beispielsweise bekennt sich der Stadtrat in der Strategie 2025 ganz klar zur ­Bedeutung der Grünräume für die Lebensqualität in der Stadt. Auch in der Räumlichen Entwicklungsstrategie (RES)[1], die in intensiver Zusammenarbeit mit den anderen planenden Ämtern der Stadt entstanden ist, geht es sehr stark um das Thema Grün und Verdichtung.
P. B.: In der RES wurde festgelegt, wie sich die einzelnen Stadtgebiete entwickeln sollen: Welche will man weitgehend im Bestand erhalten, welche verdichten, wo sind die wichtigen grossen Grün- und Erholungsräume, wo die wichtigen Vernetzungsachsen, und welches sind die Freiraumstrukturen, die das Stadtbild prägen? Man hat geschaut, wo Mankos ­liegen und wo Chancen bestehen.

TEC21: Auf welcher Grundlage wird festgelegt, welche Grünräume bestehen bleiben müssen bzw. auf welche man verzichten könnte?
P. B.: Wir haben einen qualitativen und einen quantitativen Ansatz. Auf der quantitativen Seite haben wir die wichtigsten Herausforderungen und Handlungsfelder der Zukunft aus unserer Optik in den beiden Broschüren «Freiraumversorgung der Stadt Zürich»[2] und «Grünbuch der Stadt Zürich»[3] festgelegt. Darin postulieren wir aufgrund von Erkenntnissen anderer Länder und Städte quantitative Zielwerte von 8 m² Grünraum pro Einwohner und 5 m² pro Arbeitsplatz, die in einer Gehdistanz von etwa 15 Minuten zur Verfügung stehen sollen. Berücksichtigt wurden auch Hindernisse wie stark befahrene Strassen, die die ­Zugänglichkeit erschweren. Davon ausgehend haben wir ermittelt, wie gut die einzelnen Stadtgebiete heute mit Grünräumen versorgt sind (Abb. 04). In stärker unterversorgten ­Gebieten wird man einen besonderen Fokus auf die Grünraumversorgung legen, auch wenn man nicht überall den Sollwert erreichen wird. Das andere ist die Frage der Qualität: Entspricht die Nutzung den Bedürfnissen im unmittelbaren Wohn- und Arbeitsumfeld? Ein Beispiel dafür sind Kleingärten im innerstädtischen Bereich, die zwar gut genutzt sind, aber nur von wenigen Bewohnern. Darum will Grün Stadt Zürich zumindest einen Teil davon zugänglicher machen.

TEC21: Was gibt es denn für Möglichkeiten, in den mit Grün unterversorgten Stadtgebieten trotz Verdichtungsdruck neue Grünräume zu schaffen?
K. S.: Beispielsweise den Abbau von Barrieren wie bei der Überdeckung der Autobahn im Entlisberg, die das Quartier wieder mit den angrenzenden Landschaftsräumen ­vernetzt hat. Auch die Einhausung Schwamendingen ist ein Paradebeispiel, wie man mit Lärmschutzmassnahmen einerseits stark voneinander separierte Gebiete wieder verbindet und andererseits neue Freiräume auf dem Deckel gewinnt. Eine andere Möglichkeit ist die Schaffung von öffentlichen Grünräumen auf Flächen, die vorher dem Verkehr gedient haben, etwa die Pflanzung von Bäumen entlang von Strassen und auf Plätzen wie im Rahmen der flankierenden Massnahmen für die Westumfahrung (vgl. TEC21 40/2008).
P. B.: Weitere Möglichkeiten gibt es in ehemaligen Industriegebieten, die in einem starken Transformationsprozess sind und wo wir zusammen mit den planenden Ämtern überlegen, wie das Gebiet künftig aussehen soll, beispielsweise in Zürich West, Neu-Oerlikon oder der Manegg. Dort diskutieren wir im Rahmen von Gebietsplanungen über die Nutzungsschwerpunkte, die städtebauliche Struktur, die Verkehrs- und die Freiraumversorgung. In solchen Gebieten gibt es in der Regel auch eine Sondernutzungsplanung, die den Grundeigentümern eine höhere Ausnützung zugesteht und im Gegenzug mehr Qualität einfordert. Dabei kann man auch über Grünräume verhandeln. Bezüglich der Umsetzung gibt es verschiedene denkbare Formen: sei es, dass eine private Fläche an die öffentliche Hand übergeht, wo dann eine Parkanlage oder ein Platz entsteht, wie zum Beispiel der Turbinenplatz in Zürich West oder die neuen Parks in Neu-Oerlikon, sei es, dass man mit Vereinbarungen arbeitet. Das heisst, Private stellen eine Fläche bereit, die auch öffentlich nutzbar ist, und die Stadt leistet dafür einen Beitrag für Pflege und Unterhalt. Das aktuellste Beispiel dafür ist der Patumbah-Park.
K. S.: Wir machen auch Angebote zur Zwischennutzung von Flächen, die nur auf Zeit zur Verfügung stehen, wenn ein entsprechender Wunsch aus der Bevölkerung kommt (Abb. 01–03). Gerade bei neuen Nutzungstendenzen wie dem urbanen Gärtnern kann man dabei testen, ob sie sich etablieren oder wieder verschwinden.

TEC21: Bei einem Teil der neu geschaffenen öffentlichen Parks hat man den Eindruck, dass sie kaum genutzt werden. Woran liegt das?
P. B.: In neu entwickelten Gebieten wie in Neu-Oerlikon stehen im Verhältnis zur Bevölkerungsdichte grosszügige Grünflächen zur Verfügung. Logisch, dass die Frequenz entsprechend niedriger ist. Freiräume in dicht bebauten und mit Freiraum unterversorgten Gebieten sind im Vergleich dazu stärker frequentiert (Abb. 06–07). Die Bäckeranlage ist so ein Standort.
K. S.: Ich glaube, man muss den neuen Anlagen Zeit geben zu reifen. Eine über die Jahrzehnte gewachsene Anlage strahlt einfach etwas ganz anderes aus als eine neu angelegte.

TEC21: Vielleicht würden zusätzliche Angebote, zum Beispiel ein Café, die Akzeptanz erhöhen. Gibt es Bestrebungen, die Bedürfnisse der Anwohner diesbezüglich abzuholen?
P. B.: In Neu-Oerlikon mussten wir die Parks planen, als wir noch gar nicht wussten, was ausser den Parkanlagen dort hinkommen wird. Im Oerliker Park ist das Gestaltungskonzept daher bewusst so gewählt, dass es Flächen gibt, die man gut verändern kann – die sogenannte Interventionszone. Einige Jahre nach dem Anlegen des Parks wurden die Bedürfnisse des Quartiers formuliert und in einem Mitwirkungsverfahren die gewünschte Infrastruktur weiterentwickelt mit der Schaffung von zusätzlichen Spielmöglichkeiten, Sitzangeboten und Grillstellen. Das wird sehr geschätzt.

TEC21: Wir haben jetzt vor allem über die Möglichkeiten zur Schaffung von Grünräumen im Zuge grösserer Bauvorhaben gesprochen. Welchen Spielraum haben Sie bei kleinen Einzelbauvorhaben?
K. S.: Der ist deutlich geringer. Im Gegensatz zu den grossen Arealen, wo das Planungs- und Baugesetz eine besonders gute Gesamtwirkung fordert, treffen wir uns bei den kleinen Einzelbauvorhaben bei der befriedigenden Gesamtwirkung. Da liegt also die Latte deutlich tiefer, was Gestaltung und Erscheinungsbild angeht. In den klein strukturierten Gebieten ist der Grünraum daher stärker unter Druck.

TEC21: Und welche Einflussmöglichkeiten haben Sie dort konkret?
P. B.: Wir können beispielsweise Auflagen für eine Dachbegrünung oder zum Versiegelungsgrad machen.
K. S.: Teilweise können wir ökologische Anliegen auch «im Beiboot» von gestalterischen «mitsegeln» lassen. Wenn im betreffenden Gebiet zum Beispiel Sukzessionsflächen ein ­typisches Erscheinungsbild sind, können wir diese einfordern.

TEC21: In welcher Form fliesst neben der Erholungsfunktion die Bedeutung der Grünräume für die Biodiversität in die Planung ein?
P. B.: Eine Grundlage sind Inventare wie das der kommunalen Naturschutzobjekte oder das Gartendenkmalinventar. Zum anderen gibt es strategische Instrumente mit Informationen zur Biodiversität in der Stadt, die auf Flächenuntersuchungen basieren. Sie zeigen, wo die wichtigen Hotspots der Biodiversität oder die wichtigen Vernetzungsachsen von Lebensräumen liegen (Abb. 05).
K. S.: Paradebeispiel einer solchen Vernetzungsachse ist der ganze Bahnkorridor. Dort hat man mit den SBB die Regelung getroffen, dass Eingriffe wieder ausgeglichen werden. Auch hinter dem Alleenkonzept steckt die Idee, mit linearen Pflanzungen Vernetzungen zu schaffen. Das betrifft sowohl die Kronenebene als auch den Boden, wo wir versuchen, möglichst durchgängige Baumscheiben zu etablieren.

TEC21: Kann dort, wo keine neuen Grünflächen geschaffen werden können, auch die Aufwertung der bestehenden Flächen deren Wert erhöhen?
P. B.: Eine bestehende Fläche aufzuwerten kann durchaus eine gute Reaktion sein. Man kann zum Beispiel in einer schon bestehenden öffentlichen Parkanlage intensivere Nutzungsangebote schaffen. Eine andere Möglichkeit sind Nutzungsumlagerungen wie im oben ­erwähnten Beispiel der Kleingartenareale oder die Kombination von Nutzungen. Die Sportanlage Heerenschürli (vgl. inneres Titelbild) haben wir so umgestaltet, dass sie für eine ­breitere Öffentlichkeit attraktiv und nutzbar ist und somit auch als Erholungsraum für das Quartier dient. Neben Fussball- und Baseballfeldern gibt es dort jetzt auch eine Skater­anlage sowie ein Restaurant.

TEC21: Meine Frage nach dem Nutzen von Aufwertungen kam von der Wahrnehmung her, dass viele Aussenräume grösserer Überbauungen häufig relativ monoton sind. Oft dominieren Rasenflächen neben ein paar Kirschlorbeersträuchern. Kann man durch die Schaffung vielfältigerer Strukturen auf so einer Fläche einen allfälligen Flächenverlust im Rahmen der baulichen Verdichtung wettmachen?

K. S.: Im Unterhalt von Wohnliegenschaften liegt ein riesiges Potenzial, für das den Bewirtschaftern aber manchmal der Blick fehlt, zumal sie oft keine ausgebildeten Gärtner sind (vgl. TEC21 11/2013). Wir versuchen im Moment bei den stadteigenen Wohnsiedlungen, die wir sukzessive in die Pflege übernehmen, zum Beispiel Grünflächen in weniger intensiv ­genutzten Bereichen zu extensivieren. Auf privatem Grund können wir vielfältige Strukturen zwar zum Teil auch in der Baugesuchsbearbeitung einfordern. Die öffentliche Hand hat aber wenig Einfluss darauf, wie diese Flächen dann langfristig gepflegt werden. Bei den Genossen­schaften spürt Grün Stadt Zürich eine grosse Bereitschaft, die Umgebungs­flächen sowohl für die Nutzung wie auch für die Ökologie aufzuwerten. Die Genossenschaft Gewobag in ­Albisrieden hat beispielsweise zusammen mit Landschaftsarchitekten ein langfristiges ­Entwicklungskonzept für die Bewirtschaftung ihrer Flächen erarbeitet, zu dem wir ebenfalls Anregungen liefern konnten.
P. B.: Einen grösseren Handlungsspielraum als bei bestehenden Wohnsiedlungen gibt es bei Ersatzneubauten. Dort entstehen oft wesentlich vielfältigere, durchmischte Aussen­räume, da man heute andere Vorstellungen von der Umgebungsgestaltung hat als noch vor 30 Jahren.
K. S.: Ich glaube, das ist auch eine Reaktion auf die grösser werdenden Bauvolumen, ­denen man Freiräume mit einer höheren Dichte an Strukturen entgegensetzen muss, damit die Proportionen trotzdem stimmen und gut nutzbare Aussenflächen entstehen.

TEC21: Beim Neubau der Genossenschaft «Mehr als Wohnen» wird ja ein Teil des Aussenraums als Nutzgarten gestaltet (vgl. «Sommerblumen und Stadtmenschen», S. 10). Wie ­bewerten Sie das?
K. S.: Wichtig ist aus unserer Sicht, den gesamten Nutzungsanforderungen der Bewohner zu entsprechen und einen guten Ausgleich zwischen Nutzungs-, Gestaltungs- und ökologischen Ansprüchen zu finden. Neben einem Nutzgarten braucht es also weiterhin ­Spielplätze und Platz zum Fussballspielen oder um sich abends zu treffen. Das ist beim Projekt «Mehr als Wohnen» gut gelungen. Schön ist dort auch der Übergang zum öffentlichen Andreaspark. Die vertragliche Regelung mit den Anstössern sieht vor, dass der an den Park angrenzende Teil zwar weiterhin den privaten Grundeigentümern gehört, aber durch die ­öffentliche Hand gepflegt wird und damit auch der Öffentlichkeit zur Verfügung steht. Auf diese Weise verschmelzen die privaten und öffentlichen Freiräume.
P. B.: Neue Nutzungsformen und gemeinschaftliches Gärtnern propagiert Grün Stadt­ ­Zürich im Zusammenhang mit der Einrichtung eines Kleingartenareals im Dunkelhölzli als Ersatz für jene Flächen, die beim Bau des neuen Eisstadions verloren gehen. Dies entspricht offensichtlich einem wachsenden Bedürfnis der Bevölkerung.


Anmerkungen:
[01] Stadt Zürich: Räumliche Entwicklungsstrategie des Stadtrats für die Stadt Zürich. Zürich 2010.
[02] Grün Stadt Zürich: Freiraumversorgung der Stadt Zürich. Zürich 2005.
[03] Grün Stadt Zürich: Das Grünbuch der Stadt Zürich. Zürich 2006.

TEC21, Fr., 2013.05.03



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2013|19 Grün in der Dichte

02. November 2012Claudia Carle
TEC21

«Wir wollen den Pioniergeist stimulieren»

Vor 13 Jahren umrundete Bertrand Piccard zusammen mit dem Briten Brian Jones die Welt im Ballon – und verbrauchte dafür 3.7 Tonnen Propangas. Nach der Landung beschloss er, dieses Wagnis zu wiederholen, diesmal allerdings ohne den Verbrauch fossiler Brennstoffe. Für die Realisierung seines Vorhabens rief er 2004 gemeinsam mit dem Ingenieur und Piloten André Borschberg das Projekt «Solar Impulse» ins Leben. Mit einem Team verschiedenster Spezialisten konstruierten sie in Dübendorf ein rein mit Solarenergie betriebenes Flugzeug, das auch nachts fliegen kann und in dem sie 2015 die Welt umrunden wollen.

Vor 13 Jahren umrundete Bertrand Piccard zusammen mit dem Briten Brian Jones die Welt im Ballon – und verbrauchte dafür 3.7 Tonnen Propangas. Nach der Landung beschloss er, dieses Wagnis zu wiederholen, diesmal allerdings ohne den Verbrauch fossiler Brennstoffe. Für die Realisierung seines Vorhabens rief er 2004 gemeinsam mit dem Ingenieur und Piloten André Borschberg das Projekt «Solar Impulse» ins Leben. Mit einem Team verschiedenster Spezialisten konstruierten sie in Dübendorf ein rein mit Solarenergie betriebenes Flugzeug, das auch nachts fliegen kann und in dem sie 2015 die Welt umrunden wollen.

TEC21: Worin lag die grösste Herausforderung beim Bau des Solar-Impulse-Flugzeugs?
André Borschberg (A. B.): Die Herausforderung war, ein Flugzeug von der Grösse eines Airbus zu bauen, das nicht mehr wiegt als ein mittelgrosses Auto – insgesamt nur 1600 kg. Es musste also im Verhältnis zur Grösse fünfmal leichter sein als ein Segelflugzeug. Unsere Aufgabe bestand folglich darin, ein anderes Design und andere Materialien zu finden, als sie bei Segelflugzeugen oder anderen sehr leichten Flugzeugen verwendet werden. Ausserdem benötigte das Flugzeug eine sehr grosse Flügelspannweite, um die aerodynamische Effizienz zu optimieren, also das Verhältnis von Auftrieb zu Widerstand. Wichtig ist, eine möglichst kleine Sinkgeschwindigkeit zu erreichen.[1] Bei einem Flugzeug mit grosser Flügelspannweite müssen die Flügel natürlich eine hohe Steifigkeit aufweisen.

TEC21: Welche technischen Neuentwicklungen stecken in Ihrem Solar-Impulse-Flugzeug?
A. B.: Die Entwicklung eines neuen Batterietyps oder einer neuen Solarzelle dauert mindestens 10 bis 15 Jahre und kostet enorm viel. Unser Ziel war daher eher, bestehende Technologien zu nutzen, sie anzupassen und zu verbessern, statt neue zu entwickeln.

TEC21: Können Sie ein Beispiel nennen?
A. B.: Wir haben z. B. das Gewebe – einen speziellen Polyurethanschaum – verbessert, aus dem das Cockpit und die Motorgondel bestehen. Es gibt der Gondel die Form und sorgt für die Wärmeisolation, um die Temperatur der Batterien in der Gondel auf dem optimalen Niveau zwischen 20 bis 50 °C zu halten und dafür keine Energie einsetzen zu müssen. Teilweise haben wir auch andere Materialien als üblich eingesetzt, z. B. Kunststoff statt Metall für Schrauben, Scharniere oder Elektronikgehäuse.

TEC21: Lassen sich diese Weiterentwicklungen auch in anderen Bereichen als dem Flugzeugbau nutzen?
A. B.: Es ist uns zum Beispiel zusammen mit zwei unserer Partnerfirmen gelungen, die Batterien durch Verbesserung des Elektrolyten und den Einsatz von Carbon-Nanotubes in den Elektroden leichter zu machen. Diese Batterien können nun auch für Autos oder andere Anwendungen genutzt werden. Wir haben ungefähr 80 Partner und Zulieferer, von denen gerade einmal zwei aus der Luftfahrt kommen. Die anderen sind daran interessiert, Technologien für ihre Märkte und ihre Kunden ausserhalb der Luftfahrt zu entwickeln, beispielsweise hocheffiziente Motoren oder leichtere Solarzellen. Selbst Entwicklungen, die Solar Impulse letztlich nicht anwenden konnte, nutzen die Firmen teilweise als Produkte für andere Märkte.

TEC21: Was für Solarzellen verwenden Sie?
A. B.: Wir haben das Optimum zwischen Effizienz und Gewicht gesucht und verwenden monokristalline Siliziumzellen. Sie weisen einen Wirkungsgrad von 22 bis 23 % auf, sind sehr dünn (rund 150 μm), sehr leicht und ziemlich biegsam.

TEC21: Müssen Sie die Flugrichtung nach dem Sonnenstand ausrichten, damit die Solarzellen optimal von der Sonne beschienen werden?
A. B.: Nur im Notfall, wenn die Energieversorgung ungenügend sein sollte, zum Beispiel wenn wir während der Nacht wegen Gegenwind mehr Energie als üblich verbraucht haben und die Batterien am frühen Morgen fast leer sind. Dann würden wir von der Sonne wegfliegen, damit der Winkel der Solarzellen zur Sonnenstrahlung besser ist.

TEC21: Können Sie auch bei wolkigem Wetter oder an Wintertagen fliegen? Reicht dann die Leistung der Solarzellen sowohl für den Flug als auch für die Speisung der Batterien aus?
A. B.: Wenn man nur während des Tages fliegen möchte, ist das kein Problem. Bei bedecktem Himmel gelangen immer noch mindestens 40 % der Sonnenstrahlung durch die Wolken. Damit können wir problemlos fliegen. Wenn wir aber Tag und Nacht fliegen möchten, brauchen wir optimale Wetterbedingungen oder müssen über den Wolken fliegen können, denn da benötigen wir die maximale Leistungsfähigkeit der Solarzellen. Wenn das einfacher wäre, hätten es andere schon gemacht.

TEC21: Als Pilot sind Sie im Cockpit extremen Bedingungen ausgesetzt, weil es aus Gewichtsgründen nicht wärmegedämmt ist und über keinen Druckausgleich verfügt. Sie haben einzig einen Schutzanzug und eine Sauerstoffmaske. Wie fühlen Sie sich als Pilot bei einem Flug bei – 20 °C und dem niedrigen Luftdruck in knapp 9000 Metern Höhe?
A. B.: Das ist eine Sache der Gewöhnung und des Trainings. Aber trotzdem merkt man, dass man als Mensch da oben nicht in seiner natürlichen Umgebung ist, daher sehr empfindlich ist und sehr vorsichtig sein muss. Schon kleine Probleme oder Fehler könnten fatal sein. Einmal habe ich zum Beispiel weniger Kleidung angezogen, weil geplant war, dass ich die meiste Zeit in niedriger Höhe über die Sahara fliege. Schliesslich musste ich dann doch länger in grösserer Höhe bleiben bei Temperaturen von –40° und –20 °C im Cockpit. Ich habe sehr gefroren und konnte nichts dagegen tun als möglichst schnell hinunterzufliegen. In 8700 m Höhe kann man ohne Sauerstoffzufuhr auch nach ein bis zwei Minuten schon bewusstlos werden, daher wird die Sauerstoffkonzentration im Blut laufend überwacht

TEC21: Bei der Weltumrundung wollen Sie bis zu fünf Tage und Nächte am Stück fliegen. Sie haben aber keinen Kopiloten, mit dem Sie sich abwechseln können, und im jetzigen ersten Solar-Impulse-Flugzeug auch keinen Autopiloten. Wie funktioniert das mit dem Schlafen?
A. B.: Im zweiten Solar-Impulse-Flugzeug wird es einen Autopiloten geben. Ich habe das gerade für einen 72-Stunden-Flug im Flugsimulator getestet. Dabei habe ich mich etwa zehnmal pro 24 Stunden je 20 Minuten ausgeruht, also insgesamt drei Stunden. Aus Sicherheitsgründen geht das aber nur, wenn man über Meer fliegt.

TEC21: Und in der Zeit würde der Autopilot übernehmen?
A. B.: Ja, und auch ein spezielles elektronisches Gerät, das wie ein virtueller Kopilot überwacht, was das Flugzeug macht, und den Piloten weckt, wenn es ein Problem gibt. Ausserdem bin ich die ganze Zeit über via Satellitentelefon mit dem Kontrollzentrum in Payerne in Verbindung, das auch Flugzeugdaten wie Position, Geschwindigkeit, Energierproduktion, Ladezustand der Batterien etc. erhält. Dort können sie mich ausserdem über eine Kamera sehen.

TEC21: Das klingt nicht sehr erholsam.
A. B.: Wir haben zusammen mit Forschern und Medizinern überprüft, ob ich bei diesem Schlafverhalten die erforderlichen Fähigkeiten behalte. Die Ergebnisse waren sehr positiv. Für mich ist das eine gute Strategie, die ich mehrfach geübt habe. Für eine andere Person müsste man das aber vielleicht anders lösen.

TEC21: Ist die Steuerung eines so leichten Flugzeugs anspruchsvoller als die anderer Flugzeuge?
A. B.: Wenn die Luft ruhig ist, ist das Flugzeug sehr einfach zu fliegen. Dann können Sie es mit zwei Fingern kontrollieren. Aber wenn es böig ist, braucht es viel Kraft und Aufmerksamkeit. Die Arbeit, die man dann als Pilot leisten muss, ist viel anspruchsvoller als bei einem normalen Motorflugzeug oder auch einem Segelflugzeug. Problematisch sind vor allem Turbulenzen über den Bergen oder eine starke Thermik. Deshalb starten und landen wir normalerweise früh am Morgen oder nach Mitternacht und meiden Gebiete mit starken Turbulenzen.

TEC21: Sie sind dabei, das zweite Solar-Impulse-Flugzeug zu bauen. Wie wird es sich vom ersten unterscheiden?
A. B.: Äusserlich nicht stark. Lediglich die Flügelspannweite wird mit 70 m noch etwas grösser sein. Aber alle Komponenten und Materialien wurden nochmals verbessert, beispielsweise die Motoren, die Batterien, die Solarzellen. Die Leistung des Flugzeugs wird daher noch besser sein. Auch das Cockpit wurde für lange Flüge angepasst: Für Flüge von bis zu fünf Tagen und Nächten braucht man ein grösseres Cockpit, damit man sich etwas bewegen kann.

TEC21: Welche weiteren Schritte planen Sie bis zur Weltumrundung?
A. B.: Nächstes Jahr möchten wir mit dem ersten Solar-Impulse-Flugzeug in den USA von Los Angeles nach New York fliegen. Ende 2013 soll dann das zweite Flugzeug fertig sein, mit dem wir 2014 Testflüge machen werden. 2015 wäre dann die Weltumrundung.

TEC21: Solar Impulse übermittelt eine Botschaft. Welche Wirkung erhoffen Sie sich davon?
A. B.: Zum einen möchten wir den Pioniergeist stimulieren, denn das ist es, was wir in der Gesellschaft jetzt brauchen, um aus der Rezession zu kommen. Die Leute haben Angst vor Veränderungen. Wir von Solar Impulse wollen zeigen, dass man Dinge anders tun kann als die ganzen Jahre zuvor. Zum zweiten möchten wir das Potenzial bestehender Technologien zeigen. Durch die intelligente Nutzung dieser Technologien können wir unter Beibehaltung unserer Lebensqualität viel Energie einsparen. Die einfachste Variante ist die Wärmedämmung von Gebäuden. Ein weiteres Ziel ist natürlich, das Potenzial erneuerbarer Energien zu demonstrieren.

TEC21: Es geht Ihnen also mehr um eine generelle Botschaft und gar nicht so sehr darum, das Fliegen mit Solarenergie zu propagieren?
A. B.: Das ist absolut richtig. Wir glauben, dass es bei Flugzeugen viel schwieriger ist und entsprechend länger dauern wird, das Erdöl zu ersetzen, weil dort das Gewicht eine wesentliche Rolle spielt. Man sollte lieber zuerst aufhören, Gebäude mit Öl zu heizen, und sich das Erdöl für die Zwecke aufsparen, wo es schwierig zu ersetzen ist.


Anmerkung:
[01] Die Sinkgeschwindigkeit ist die vertikale Geschwindigkeit, wenn keine Maschine läuft.

Literatur:
Solar Impulse HB-SIA, Editions Favre SA, Lausanne 2010. Mit der Sonne um die Welt. Ein Film von Henri de Gerlache, Gedeon Programme 2011.

TEC21, Fr., 2012.11.02



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2012|45 Solarstrom im Aufwind

15. Juni 2012Claudia Carle
TEC21

Viele Schritte zum Klimaziel

Der Klimaschutz ist im Rahmen des Leitthemas «Stadt im Klimawandel» ein wesentlicher Pfeiler der IBA Hamburg. Zunächst wurde mit einer Studie ausgelotet, ob und bis wann sich Strom- und Wärmebedarf des Stadtteils Wilhelmsburg erneuerbar decken lassen. Dem ehrgeizigen Ziel nähert man sich nun mit einer Vielzahl von Projekten. Zu den auffälligsten gehören zwei «Unorte» aus der Vergangenheit – ein Flakturm und eine Deponie –, die neben der Produktion erneuerbarer Energie neu auch als Erholungsraum und Mahnmal dienen. Ergänzend zum Klimaschutz erprobt die IBA im vom Wasser geprägten Stadtteil auch Möglichkeiten der Anpassung an den Klimawandel.

Der Klimaschutz ist im Rahmen des Leitthemas «Stadt im Klimawandel» ein wesentlicher Pfeiler der IBA Hamburg. Zunächst wurde mit einer Studie ausgelotet, ob und bis wann sich Strom- und Wärmebedarf des Stadtteils Wilhelmsburg erneuerbar decken lassen. Dem ehrgeizigen Ziel nähert man sich nun mit einer Vielzahl von Projekten. Zu den auffälligsten gehören zwei «Unorte» aus der Vergangenheit – ein Flakturm und eine Deponie –, die neben der Produktion erneuerbarer Energie neu auch als Erholungsraum und Mahnmal dienen. Ergänzend zum Klimaschutz erprobt die IBA im vom Wasser geprägten Stadtteil auch Möglichkeiten der Anpassung an den Klimawandel.

Städten kommt eine zentrale Rolle beim Kampf gegen den Klimawandel zu: Obwohl sie nur 2 % der globalen Landfläche einnehmen, beherbergen sie mehr als die Hälfte der Weltbe­völkerung und sind für rund 70 % der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich.[1] Entsprechendes Gewicht hat der Klimaschutz daher im Rahmen der IBA Hamburg. Im «Klimaschutzkonzept Erneuerbares Wilhelmsburg» wurde zunächst untersucht, ob und unter welchen Rahmenbedingungen sich der Energiebedarf im IBA-Gebiet aus erneuerbaren Quellen decken lässt.[2] In die Berechnung des künftigen Wärme- und Strombedarfs floss eine ganze Palette von Parametern ein: Prognosen der Bevölkerungsentwicklung, Neubaupotenziale, mögliche Instandsetzungsraten und -tiefen. Welcher Anteil davon sich regenerativ decken lässt, wurde anhand von verschiedenen Optionen für die Nutzung erneuerbarer Energien eruiert. Das Konzept zeigt, dass unter Annahme eines sogenannten «Exzellenzszenarios», das von einer Erhöhung der derzeitigen Sanierungsraten in einzelnen Gebäudesegmenten sowie einer konsequenten Förderung erneuerbarer Energieerzeugung ausgeht, sich bereits 2025 der Strombedarf von Wilhelmsburg vollständig erneuerbar decken lässt; bis 2050 wäre dies auch für 85 % des Wärmebedarfs der Fall. Nicht enthalten ist darin allerdings der Beitrag des Verkehrs, der Industrie sowie von Konsum und Lebensstil.

Der Weg zur Umsetzung des Exzellenzszenarios ist ein Weg der vielen kleinen und grösseren Schritte, der im Rahmen der weitgehend bestehenden Gebäude und Strukturen die Möglichkeiten zur Reduktion des Energiebedarfs und zur Produktion erneuerbarer Energie ausschöpft.

Bei grossen Projekten wie der Instandsetzung des Weltquartiers oder dem Neubau der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt (vgl. «Den Hinterhof aufmöbeln», S. 18) sorgen Qualitätsvereinbarungen zwischen IBA und Bauherrschaft dafür, dass die Vorgaben der Energieeinsparverordnung von 2009 um mindestens 30 % unterschritten werden. Um auch Besitzer kleiner Häuser zur energetischen Sanierung ihrer Gebäude zu motivieren, wurde die IBA-Kampagne «Prima-Klima-Anlage» geschaffen, die neben fachlicher Beratung finanzielle Unterstützung anbietet.

Vom Kriegsrelikt zum Energiebunker

Eines der grösseren Projekte zum Ausbau erneuerbarer Energien, das zudem bei einem Rundgang durch das Quartier sofort ins Auge fällt, ist der sogenannte Energiebunker (Abb. 1, 2, vgl. Lageplan S. 19 und TEC21-Dossier «Bauen für die 2000-Watt-Gesellschaft», März 2010). Dieser trutzige, 42 m hohe ehemalige Flakturm aus dem Zweiten Weltkrieg ragt als Fremdkörper aus dem Quartier heraus.

Errichtet wurde er 1943. Neben den auf dem Dach installierten Flugabwehrgeschützen diente er auch als Luftschutzbunker. 1947 wurde das Innere des Gebäudes durch die britische Armee gesprengt, um es unbenutzbar zu machen. Fast unzerstört erhalten geblieben ist jedoch die zwei bis vier Meter dicke äussere Hülle aus Stahlbeton. Nun erhält das mittlerweile denkmalwürdige Gebäude eine neue Funktion. Dafür mussten zuerst durch eine neue Öffnung in der Fassade 25 000 t Schutt ausgeräumt und das durch die Sprengung beschädigte Tragwerk wiederhergestellt werden (vgl. inneres Titelbild S. 17). Ausserdem werden die durch Korrosion beschädigten Betonoberflächen erneuert. Zeitgleich beginnt derzeit der städtische Energieversorger Hamburg Energie mit der Umwandlung zum Energiebunker. Dazu gehören thermische Solarkollektoren auf dem Dach und eine Fotovoltaikanlage an der Südfassade mit einer Fläche von insgesamt knapp 3000 m². Im Inneren werden ein Blockheizkraftwerk Strom und Wärme aus Biogas und ein Heizkessel Wärme aus Holzschnitzeln produzieren.

Ein 2000 m³ grosser Wasserspeicher dient zur Zwischenspeicherung von Wärme, um Produktions- und Verbrauchsspitzen im ­Tagesverlauf auszugleichen. Gleichzeitig kann dadurch die Betriebszeit des Blockheizkraftwerks erhöht und somit auch mehr Strom erzeugt werden. In einem weiteren Ausbauschritt soll zusätzlich die Abwärme eines nahe gelegenen Industriebetriebes eingespeist werden.
Der Energiebunker wird zunächst das benachbarte «Weltquartier» mit über 800 Wohnungen (vgl. «Den Hinterhof aufmöbeln», S. 18) mit Wärme versorgen. Der Strom wird in das Hamburger Verteilnetz eingespeist. Mittelfristig soll der Energiebunker fast 3000 MWh Strom und ca. 22 500 MWh Wärme aus erneuerbaren Quellen erzeugen. Damit können etwa 1000 Haushalte mit Strom und 3000 Haushalte des nördlichen Reiherstiegquartiers mit ­Wärme versorgt werden. Als eines der am dichtesten bebauten Gebiete von Wilhelmsburg ist es prädestiniert für eine solche Lösung.

Neben seiner neuen Funktion als Leuchtturm der erneuerbaren Energieversorgung von Wilhelmsburg soll der Bunker aber auch weiterhin Mahnmal bleiben. Daher werden in einem der Gefechtstürme eine Ausstellung zu dessen Geschichte sowie ein Café eingerichtet werden. Öffentlich zugänglich wird auch eine um die Gefechtstürme herum führende Aussen­terrasse in rund 30 m Höhe. Von dort fällt der Blick auf den Energieberg Georgswerder (vgl. TEC21-Dossier «Bauen für die 2000-Watt-Gesellschaft», März 2010).

Dieser ist mit knapp 40 Metern nicht nur ähnlich hoch wie der Energiebunker, sondern vollzieht im Moment auch einen ähnlichen Funktions- und Imagewechsel.

Von der Altlast zum Energieberg

Bis 1979 wurden auf dem 45 ha grossen Areal Hausmüll, giftige Industrieabfälle wie Lacke und Farben sowie Rückstände aus der Produktion von Pflanzenschutzmitteln deponiert. Als wenige Jahre nach Schliessung der Deponie hochgiftiges Dioxin austrat und in Grund- und Oberflächengewässer gelangte, musste die Deponie zwischen 1984 und 1995 aufwendig gesichert werden: Die Oberfläche wurde mit Kunststoffbahnen abgedichtet, damit kein Niederschlagswasser mehr in den Deponiekörper eindringt. Grund- und Sickerwasser aus der Deponie werden an der Basis gesammelt und gereinigt. Das Deponiegas, das einen hohen Methananteil aufweist, wird über ein Drainagesystem gesammelt und an die benachbarte Kupferhütte geliefert. Bereits damals wurden auch vier Windkraftanlagen aufgestellt. Die IBA verfolgt nun zwei Ziele bei der Entwicklung des Areals: Zum einen wird die Erzeugung er­neuerbarer Energie ausgebaut, zum anderen wird das bisher streng abgeschottete Gelände schrittweise wieder für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht und ins Quartier integriert.

Zum Ausbau der Energieerzeugung wurden drei der bestehenden kleineren Windkraftanlagen Anfang Dezember 2011 durch eine grössere Anlage (3400 kWp) ersetzt. Die vierte kleine Anlage mit 1500 kWp blieb bestehen (Abb. 3). Für den Bau des Fundaments der neuen ­Anlage wurde die Kunststoffdichtungsbahn geöffnet und ein 6 m tiefes Loch mit 23 m Durchmesser ausgehoben. Nach dem Bau eines flachen, auf dem Müllberg schwimmenden ­Betonfundamentes, wurde die Dichtungsbahn sorgfältig daran angeschlossen. Das Gewicht des neuen Fundamentes samt Auffüllung aus Glasgranulat durfte dabei des Gewicht des entnommenen Mülls nicht übersteigen.

Zweites neues Element ist eine rund 10 000 m² grosse Fotovoltaikanlage am Südhang der Deponie mit einer Leistung von 700 kWp. Wind- und PV-Anlagen werden insgesamt ungefähr 4000 Haushalte mit Strom versorgen. Eine Wärmepumpe nutzt ausserdem die Wärme des gereinigten Grundwassers für die Beheizung des Betriebs- und Informationsgebäudes. Aus dem Rasenschnitt von der Deponieoberfläche lässt sich Biogas gewinnen.

Für die Umgestaltung der Deponie zu einem Ausflugsziel wurde im Rahmen der IBA ein landschaftsarchitektonischer Wettbewerb ausgelobt. Das Siegerprojekt der Landschaftsarchitekten Häfner/Jiménez aus Berlin mit Konermann Siegmund Architekten aus Hamburg, ein auf Stelzen angeordneter Rundweg um den Gipfel, wird derzeit gebaut. Der Weg wird nachts beleuchtet und soll zum weithin sichtbaren neuen Wahrzeichen werden. Entlang des Rundweges informieren verschiedene Stationen über die Deponie und ihre Sanierung, über regenerative Energienutzung und Recyclingprozesse. Auch ein neu errichtetes Informationszentrum, das bereits letztes Jahr eingeweiht wurde, greift diese Themen auf und entspricht damit einem starken Wunsch aus dem Quartier, dass hier kein Landschaftsidyll entstehen solle, sondern die Geschichte der Deponie präsent bleiben müsse. Direkt an das Informationszentrum schliesst auch eine Halle an, in der Grund- und Sickerwasser kontrolliert und gereinigt werden. Die Besucher können einen Blick auf die aufwendige Technik werfen, die es noch über Jahrzehnte zur Sicherung der Deponie braucht. Auch wenn die gesamte Deponie ab nächstem Jahr bis auf wenige Bereiche zumindest tagsüber für die Öffentlichkeit zugänglich sein wird, bleibt sie ein Ort, der die Auswirkungen menschlichen Handelns dokumentiert, aber gleichzeitig eine Möglichkeit aufzeigt, belastete Standorte wieder zu integrieren und nutzbar zu machen, selbst wenn aus Kostengründen keine Beseitigung der Problemstoffe machbar ist.

Energieverbund Wilhelmsburg Mitte

Deutlich unscheinbarer als Energiebunker und Energieberg kommt ein weiterer Beitrag zur erneuerbaren Energieversorgung von Wilhelmsburg daher – der Energieverbund Wilhelmsburg Mitte. Er wird die derzeit dort entstehenden Neubauten mit ingesamt 140 000 m² Bruttogeschossfläche, die alle mindestens dem Standard «EnEV 2007 –50 %»[3] entsprechen, vernetzen, in einem späteren Ausbauschritt auch Bestandsbauten.

Aus den solarthermischen Anlagen der einzelnen Gebäude bzw. einer Bioreaktorfassade (vgl. S. 25, Abb. 12) wird dezentral Wärme in dieses Netz eingespeist. Eine Energiezentrale mit Blockheizkraftwerk (BHKW) und Spitzenlastkessel sichert den Betrieb bei geringer Einspeisung oder hohem Bedarf ab. Durch den Zusammenschluss so verschiedener Wärme­nutzer wie Wohn- und Bürogebäuden, Hotels und Schulungszentren, Schwimm- und Sporthallen mit ganz unterschiedlichen Wärmebedarfsprofilen kommt es zu einer Verstetigung der Nachfrage. Das hat den Vorteil, dass der Anteil der Solarthermie höher liegen kann als bei einer Einzelversorgung der jeweiligen Gebäude. Im Gegenzug kann die Anlageleistung des Spitzenlastkessels geringer dimensioniert werden.

Projekt für Tiefengeothermie-kraftwerk

Neben dem Ausbau der Energieerzeugung aus Wind und Sonne ist auf der Elbinsel auch ein Tiefengeothermie-Kraftwerk geplant, das ca.130 °C warmes Thermalwasser aus Sandsteinschichten in 3500 m Tiefe zur Wärmeversorgung und evtl. auch zur Stromerzeugung nutzen soll. Dafür wurde 2010 der Untergrund mittels Reflexionsseismik genauer untersucht. Dabei senden Vibratorfahrzeuge Schallwellen aus, die von den Gesteinsschichten reflektiert und durch Messgeräte an der Oberfläche aufgezeichnet werden. Daraus lassen sich Rückschlüsse auf Lage, Mächtigkeit und Eigenschaften der Schichten im Untergrund ziehen. Die Ergebnisse waren positiv: «Die Hauptförderschicht ist gross genug, dass sie in 3500 Meter Tiefe ausreichend förderfähiges Tiefenwasser birgt», gab IBA-Geschäftsführer Uli Hellweg bekannt. Die Trägergesellschaft GTW Geothermie Wilhelmsburg GmbH, zu der auch die
IBA Hamburg gehört, geht von einer möglichen Leistung von 7 bis 14 MW aus. Damit könnten bis zu 3000 Haushalte versorgt werden. Bis zum Sommer 2012 prüft die GTW nun, ob die Energiegewinnung aus Tiefengeothermie in Wilhelmsburg auch realisierbar ist. Der nächste Schritt wäre dann eine erste Tiefenbohrung.

Anpassung an den Klimawandel

Ergänzend zum Klimaschutzkonzept, das einen Beitrag zur Minimierung des Klimawandels leisten soll, beschäftigt sich die IBA auch mit der Anpassung an den Klimawandel. Von ihrer Geschichte her seien die Elbinseln für dieses Thema prädestiniert, sagt Uli Hellweg. Denn seit je mussten Grund und Boden dem Wasser abgerungen und davor geschützt werden. Mit dem Anstieg des Meeresspiegels und damit auch des Wasserstandes der Elbe wird sich dieses Problem verschärfen. Die Strategie, die man heute auch in der Schweiz verfolgt, ist aber nicht mehr der absolute Schutz vor dem Wasser, sondern mehr Raum für das Wasser und ein Nebeneinander von Hochwasserschutz und anderen Funktionen (vgl. TEC21 10/2012). Drei IBA-Projekte zeigen dies exemplarisch. Da ist zum einen das Projekt des Tideparks Kreetsand im Osten von Wilhelmsburg. Das bereits rückgedeichte, 30 ha grosse Gebiet wird voraussichtlich noch dieses Jahr tiefer gelegt, sodass es als Überflutungsraum für die Gezeiten zur Verfügung steht. Auf diese Weise lässt sich der Wasserstand bei Flut senken und die Hochwassergefahr reduzieren. Das im Wechsel der Gezeiten mal trockene, mal überflutete Gebiet soll gleichzeitig als Erholungsgebiet dienen (Abb. 4).

Nicht nur am Rand der Insel drückt bei besonders hoher Flut das Wasser gegen die Deiche, sondern auch das Grundwasser steigt dann und überflutet tief liegende Bereiche im Innern der Insel. «Bisher versucht man das über Pumpwerke in den Griff zu bekommen, was aber absurd ist, weil dann beim ohnehin grössten Druck auf die Deiche noch mehr Wasser nach aussen gepumpt wird», erläutert Uli Hellweg. Stattdessen wolle man nun vermehrt Reten­tionsflächen schaffen. Die «Klimahäuser Haulander Weg» werden auf Stelzen und mit erhöhten Zugangsstegen in einer solchen Retentionsfläche gebaut (Abb. 5).

Ein anderes mögliches Konzept für den Umgang mit wechselnden Wasserständen illustriert das IBA-Dock, die auf der Elbe schwimmende Zentrale der IBA (vgl. Titelbild). Das drei­stöckige Gebäude mit Büro- und Ausstellungsräumen wurde auf einem 50 × 26 m grossen Stahlbetonponton ­errichtet und hebt und senkt sich jeweils mit der Tide um rund 3.5 m. Nach dem Ende der IBA kann das Dock an einen neuen Ort transportiert werden. Damit auch niedrige Brücken passierbar werden, lassen sich die Aufbauten in Modulbauweise abbauen.

Über das Ende der IBA hinaus

Die Projekte, welche die IBA innerhalb des Themenbereichs «Stadt im Klimawandel» angestossen hat, sind vor allem durch ihre Vielzahl, die kreative Nutzung schwieriger Orte und Vorreiterprojekte wie das Geothermiekraftwerk beeindruckend. Sie zeichnen sich auch ­dadurch aus, dass neben den Klimazielen immer auch die Erhöhung der Lebensqualität im Quartier mitgedacht wurde. Neben den städtebaulichen Projekten werden daher auch sie dafür sorgen, dass sich das Image von Wilhelmsburg wandelt. Es bleibt zu hoffen, dass mit dem Abschluss der IBA Ende 2013 dieser Elan nicht versandet, aufgegleiste Projekte wie das Geothermiekraftwerk tatsächlich realisiert und neue initiiert werden, auch in von der IBA nur am Rande bearbeiteten Bereichen wie dem Verkehr. Denn mit den im Rahmen der IBA bis 2013 realisierten Projekten werden in Wilhelmsburg nur 14 % des Wärmebedarfs und 54 % des Stromes selbst und erneuerbar erzeugt werden. Bis zur Erreichung der Ziele aus dem Exzellenzszenario – vollständig erneuerbare Deckung des Strombedarfs bis 2025, 85 % erneuerbare Deckung des Wärmebedarfs bis 2050 – ist es also noch ein weiter Weg.


Anmerkungen:
[01] UN-HABITAT: Cities and Climate Change. Global
Report on Human Settlements, 2011
[02] Internationale Bauausstellung IBA Hamburg
GmbH (Hrsg.): Energieatlas – Zukunftskonzept
Erneuerbares Wilhelmsburg. Jovis Verlag, Berlin,
2010
[03] Der Neubaustandard nach der Energieeinsparverordnung
von 2007 wird um 50 % unterschritten

TEC21, Fr., 2012.06.15



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2012|25 IBA Hamburg

08. Juni 2012Claudia Carle
TEC21

In der Welt der Zwerge

Mit der Entwicklung des Rastertunnelmikroskops vor 30 Jahren wurde es möglich, kleinste Partikel bis hin zu den «Bausteinen» der Materie, den Atomen und Molekülen, sichtbar zu machen und gezielt zu manipulieren – eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung der Nanotechnologie. Diese macht sich die besonderen Eigenschaften kleinster Partikel zunutze, die völlig andere sein können als bei grösseren Partikeln des gleichen Materials. Das eröffnet zahlreiche neue Möglichkeiten für verschiedenste Anwendungsgebiete.

Mit der Entwicklung des Rastertunnelmikroskops vor 30 Jahren wurde es möglich, kleinste Partikel bis hin zu den «Bausteinen» der Materie, den Atomen und Molekülen, sichtbar zu machen und gezielt zu manipulieren – eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung der Nanotechnologie. Diese macht sich die besonderen Eigenschaften kleinster Partikel zunutze, die völlig andere sein können als bei grösseren Partikeln des gleichen Materials. Das eröffnet zahlreiche neue Möglichkeiten für verschiedenste Anwendungsgebiete.

Die Vorsilbe «nano» wurde vom altgriechischen Wort für Zwerg (nanos) abgeleitet und bezeichnet den milliardsten Teil einer Masseinheit. Ein Nanometer (nm) sind also 10–9 m. Dies ist der Grössenbereich von Atomen und Molekülen. Drei Goldatome ergeben beispielsweise zusammen eine Länge von 1nm. Auch Viren haben Grössen von 10 bis mehreren 100nm. Ein menschliches Haar hingegen weist einen Durchmesser von etwa 75000nm auf. Nanopartikel entstehen sowohl durch natürliche Prozesse – beispielsweise bei Vulkanausbrüchen oder Waldbränden – als auch durch menschliche Aktivitäten wie das Schleifen von Oberflächen oder durch Verbrennungsprozesse, sei das in der Industrie, im Verkehr oder beim Rauchen einer Zigarette. Während Nanopartikel dort als Nebenprodukt anfallen, werden in der Nanotechnologie gezielt Nanopartikel hergestellt.

Meilensteine der Nanotechnologie

Als theoretischer Vordenker der Nanotechnologie gilt der US-amerikanische Physiker und Nobelpreisträger Richard Feynman. In seinem berühmt gewordenen Vortrag «There’s plenty of room at the bottom», den er 1959 am California Institute of Technology hielt, entwarf er die Vision, auf der Nanoebene einzelne Atome und Moleküle zu kontrollieren und zu manipulieren: «In meinen Augen sprechen die Prinzipien der Physik nicht gegen die Möglichkeit, Dinge Atom für Atom zu manipulieren», so Feynman. Die technischen Mittel dazu standen jedoch erst über 20 Jahre später zur Verfügung: Mit dem 1981 vom Schweizer Heinrich Rohrer und dem Deutschen Gerd Binning am IBM-Forschungszentrum in Rüschlikon ZH entwickelten Rastertunnelmikroskop liessen sich Atome und Moleküle überhaupt erst sichtbar machen, denn optische Mikroskope reichen nur bis zu einer Auflösung von etwa 250nm. Für diese Erfindung erhielten Rohrer und Binning 1986 den Nobelpreis für Physik. Mithilfe eines solchen Rastertunnelmikroskops gelang es dem US-amerikanischen Forscher Don Eigler 1989 erstmals, die Positionierung von Atomen gezielt zu manipulieren: Er setzte aus 35 Xenonatomen das Logo von IBM zusammen (Abb. 3). Mit der Nanotechnologie können also gezielt nanoskalige Strukturen hergestellt oder verändert werden. Man unterscheidet hierbei zwei verschiedene Vorgehensweisen: beim Top-down-Verfahren werden grössere Objekte sukzessive verkleinert bis zur Erreichung von nanoskaligen Strukturen. Beim Bottom-up-Verfahren werden einzelne Atome oder Moleküle gezielt so angeordnet, dass die gewünschten Eigenschaften entstehen.

Neue Eigenschaften

Interessant sind Nanopartikel deshalb, weil Materialien als Nanopartikel ganz andere Eigenschaften aufweisen können als grössere Partikel des gleichen Materials (vgl. Kasten). So ist beispielsweise Kohlenstoff in Form von Grafit sehr weich, in Form von Kohlenstoff-Nanoröhrchen (Abb. 4) hingegen härter als Stahl und gleichzeitig sehr leicht. Auch elektrische, thermische und optische Eigenschaften können sich im Nanobereich verändern. So erscheinen grössere Partikel von Titandioxid weiss und werden breit eingesetzt als weisser Farbstoff. Nanopartikel von Titandioxid hingegen sind transparent im Bereich des sichtbaren Lichts, reflektieren aber UV-Strahlung. Diesen Effekt macht man sich in Sonnencremes zunutze. Ein ähnliches Phänomen kannten schon die mittelalterlichen Glasmacher: Durch das Einbrennen von feinsten Goldpartikeln produzierten sie das sogenannte Goldrubinglas, das intensiv rot ist und auch nach Jahrhunderten nichts an Leuchtkraft einbüsst (Abb. 2).

Die Nanotechnologie nutzt diese veränderten Eigenschaften und beschäftigt sich dabei mit Materialien, deren Teilchengrösse oder Oberflächenstruktur in mindestens einer Dimension eine Grösse zwischen 1 und 100nm aufweist (Abb. 1). Typisch für die Nanotechnologie ist auch ihr interdisziplinärer Charakter im Bereich von Chemie, Physik und Biologie. Schon heute sind in vielen Anwendungsgebieten Nanomaterialien im Einsatz. Die bekanntesten sind die bereits erwähnten Titandioxid-Nanopartikel als UV-Schutz in Sonnencremes und Kosmetika oder Nanosilber in Textilien zur Verhinderung von Schweissgeruch. Nanopartikel finden sich aber auch in Lebensmitteln, Tennisschlägern, Velorahmen und nicht zuletzt auch in zahlreichen Baumaterialien (vgl. «Nanoprodukte für den Bau», S. 18). Ideengeber für neue Entwicklungen sind teilweise auch natürliche Vorbilder. So dienen die Oberflächenstrukturen von Lotusblättern als Vorbild für wasser- und schmutzabweisende Beschichtungen. Die Strukturen an den Füssen der Geckos, die auch auf glatten Oberflächen klettern können, stehen Pate bei der Entwicklung neuer Kleber. Die Erwartungen, die in Nanomaterialien gesetzt werden, sind auch hinsichtlich ihrer Umweltfreundlichkeit gross. Allerdings gibt es bisher nur für wenige Nanomaterialien umfassende Ökobilanzen, mit denen sich die erhofften Einsparungen an Energie und Ressourcen belegen liessen.[1] Die wenigen Ökobilanzen, die es gibt, zeichnen ein zwiespältiges Bild. So gibt es durchaus Nanomaterialien, die umweltfreundlicher sind als ein vergleichbares konventionelles Material. Bei einigen Nanomaterialien benötigt aber zum Beispiel der Herstellungsprozess so viel Energie, Wasser und umweltproblematische Chemikalien, dass die Bilanz zu ihren Ungunsten ausfällt.


Anmerkung:
[01] S. Gressler, M. Nentwich: Nano und Umwelt – Teil I: Entlastungspotenziale und Nachhaltigkeitseffekte. Inst. für Technikfolgen-Abschätzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 2011

TEC21, Fr., 2012.06.08



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2012|24 Nanotechnologie

16. März 2012Claudia Carle
Ruedi Weidmann
TEC21

«Nachhaltig planen heisst: zusammen suchen»

Wer definiert soziale Nachhaltigkeit? Matthias Drilling ist einer der wenigen Sozialwissenschaftler, die sich Gedanken zur nachhaltigen Entwicklung machen. Die Analysen und Forderungen des Geografen, Ökonomen und Raumplaners sind unbequem und erhellend.

Wer definiert soziale Nachhaltigkeit? Matthias Drilling ist einer der wenigen Sozialwissenschaftler, die sich Gedanken zur nachhaltigen Entwicklung machen. Die Analysen und Forderungen des Geografen, Ökonomen und Raumplaners sind unbequem und erhellend.

TEC21: Wie erleben Sie die Diskussion um Nachhaltigkeit, was die soziale Dimension betrifft?
Matthias Drilling: Der Diskurs über eine nachhaltige Entwicklung wird heute praktisch auf Energie- und Umweltziele reduziert. Wenn Fragen nach sozialer Nachhaltigkeit gestellt werden, werden sie meist nur im Dienst ökologischer Zielsetzungen gesehen. Interessant ist, dass wir früher viel mehr darüber wussten, was soziale Nachhaltigkeit ist. Doch dieses Wissen hat bisher kaum Eingang in den Nachhaltigkeitsdiskurs gefunden. Was von den 1960er- bis in die 1980er-Jahre international geforscht und publiziert wurde über sozialen Wohnungsbau, über Konzepte von Nachbarschaft oder Gemeinschaft, über Verdichtung und soziale Integration, über das Entwickeln von Siedlungen mit der Bevölkerung zusammen – all das ist völlig vergessen gegangen.

TEC21: Wie kam es zu diesem Gedächtnisverlust unserer Gesellschaft?
M.D.: Das in den Sozialwissenschaften aufgebaute Wissen wurde nicht in die Umweltwissenschaften und das Ingenieurwesen transferiert, die heute den Diskurs über Nachhaltigkeit führen. Das hat auch damit zu tun, dass die Sozialwissenschaftler den Nachhaltigkeitsdiskurs nicht ernst genommen haben, da sie ihn für rein umsetzungsorientiert und damit uninteressant hielten. Deshalb tendiert der Diskurs heute zu einer mechanistischen Sicht eines Dreisäulenprinzips: Man nehme etwas mehr Massnahmen aus dieser Säule, dafür etwas weniger aus jener … Abgesehen davon, dass das kein geeignetes Verständnis von Nachhaltigkeit ist, sind wir Sozialwissenschaftler avers gegen die Forderung nach Messbarkeit von Massnahmen. Die wenigen Sozialwissenschaftler, die sich auf den Diskurs einliessen, standen ihm kritisch gegenüber und sahen ihn nicht als Chance, um Wissen und Forderungen der Sozialwissenschaften einzubringen. So ist das Soziale eine Art Erfüllungsgehilfin der Ökologie geworden. Gesellschaftsrelevante Fragen nachhaltiger Entwicklung wurden dem Städtebau überlassen, für den in der Schweiz die Architekturschaffenden zuständig sind, und diese denken enorm objekt- und umsetzungsorientiert. Erst jetzt merken wir Sozialwissenschaftler, welche Chance wir da versäumt haben.

TEC21: Wie lässt sich soziale Nachhaltigkeit heute definieren?
M.D.: Auf globaler Ebene laufen die Vorschläge meistens auf grosse Forderungen wie eine gerechte Verteilung von Lebenschancen hinaus. Im nationalen Massstab wird es schon komplizierter: Da wird zum Beispiel von ‹sozial gerechter Wohnraumversorgung› gesprochen. Auf lokaler Ebene stellt sich die Frage nach dem Geltungsbereich: Beziehen wir uns auf eine Gemeinde, ein Quartier, eine Siedlung oder ein Gebäude? Hier kommen zahlreiche Aspekte ins Spiel: Beteiligung, Nutzungsorientierung, soziale Durchmischung usw. Die SIA-Empfehlung 112/1 ‹Nachhaltiges Bauen – Hochbau› ist ein gutes Beispiel für ein lokales und prozessorientiertes Verständnis in Bezug auf ein Gebäude.

Ich meine, dass wir ‹soziale Nachhaltigkeit› heute im Vokabular des Nachhaltigkeitsdiskurses definieren müssen, damit sie darin Eingang finden kann. Ein fundamentales Kriterium ist etwa, dass wir es immer mit Prozessen zu tun haben. Man kann also nicht sagen, etwas ist sozial nachhaltig, sondern etwas wird sozial nachhaltig, beispielsweise: Wie erreichen wir, dass sich in einer Siedlung eine soziale Durchmischung entwickelt? Dieses Konzept ist anschlussfähig an prozessuale Sichtweisen in der Ökologie. Man kann dabei die Bevölkerung als Ressource bezeichnen. Nachhaltig mit der Ressource Bevölkerung umzugehen heisst, sich bei Planungen und Bauprojekten reflektiert mit Fragen auseinanderzusetzen wie: Wie viel der Ressource Bevölkerung nutze ich – z. B. in Mitwirkungsverfahren oder indem ich die Entstehung einer Nachbarschaft fördere – und wie viel ‹verbrauche› ich, das heisst, wie viele soziale Netze zerstöre ich durch das Verdrängen von Bewohnern? Es geht immer um die Fragen: Für wen baue ich? Und wie interagiert das Projekt mit dem sozialen Kontext?

Soziale Nachhaltigkeit zielt letztlich auch auf soziale Kohäsion: Zusammenhalt in der Gesellschaft, in der Gemeinde, im Quartier, im Haus. Eine sozial nachhaltige Gemeinde kann unterschiedlichste Ansprüche der Bevölkerung befriedigen, seien es die von alten oder jungen Menschen, Neuzugezogenen oder Alteingesessenen, In- oder Ausländern usw. Denn unser Konzept von Gesellschaft beruht darauf, dass heterogene Bevölkerungsteile miteinander in Kontakt stehen, in Konflikte geraten und kreativ damit umgehen – daraus entsteht Innovation. Dagegen wird ein Quartier, in dem nur Menschen aus einer einzigen Bevölkerungsgruppe leben, nicht sozial nachhaltig. Das Extrembeispiel ist die ‹gated community›: eine homogene Bevölkerung ohne Austausch mit anderen Teilen der Gesellschaft, abgetrennt durch einen Zaun und geschützt von Security-Personal. Gemeinden und Investoren sollten sich überlegen, was ihr Projekt zur Kohäsion der Gesellschaft beiträgt.

TEC21: Die Verbreitung der Nachhaltigkeitsidee funktionierte bisher erfolgreich über Labels und Tools. Heute wird daran gearbeitet, sie für ganze Quartiere operabel zu machen. Wie beurteilen sie solche Instrumente?
M.D.: Wir haben bestehende Indikatorensysteme analysiert.[1] Es hat sich gezeigt, dass die soziale Nachhaltigkeit immer zu unpräzise formuliert ist. Da stehen zwar oft Begriffe wie ‹ soziale Integration›, ‹Nahversorgung›, ‹Berücksichtigung von Genderaspekten› oder ‹Mitbestimmung›, aber es wird nicht definiert, wie sie in die Praxis einfliessen sollen.

TEC21: Liessen sich solche sozialen Indikatoren nicht durch messbare Richtwerte operabel machen? Sie sagten, dass Sozialwissenschaftler die Forderung nach Messbarkeit sozialer Massnahmen nicht schätzen …
M.D.: Das ist ja eben der Punkt! Soziale Nachhaltigkeit beruht auf Prozessen und auf Interaktion in diesen Prozessen – auf Verhandlung. Wird irgendwo eine grosse Siedlung geplant, dann wird es erst sozial nachhaltig, wenn das ganz Quartier daran Anteil nimmt und sich zum Beispiel überlegt, wer dort wohnen soll. Vielleicht stellt die Bevölkerung dann fest, dass der Investor nicht das baut, was für das Quartier nützlich wäre. Aus Unzufriedenheit über die Mainstreamproduktion entstehen dann neue Wohnmodelle.

TEC21: Sie plädieren also dafür, Bedürfnisse und Kreativität der Bevölkerung einzubeziehen?
M.D.: Ja. Es gibt Möglichkeiten, das zu fördern. Bei der Stadterweiterung Rieselfeld in Freiburg i. B. entschied sich die Stadtverwaltung, die Bauparzellen statt wie üblich auf Grossinvestoren zuzuschneiden nur 30 × 30 m gross einzuteilen. So konnten auch kleine Bauherrschaften, darunter auch Genossenschaften und die heute bekannten Baugruppen zum Zug kommen. Solche früh ansetzenden Methoden führten zu einer grösseren und vielfältigeren Beteiligung an der Übernahme von Verantwortung und damit zu mehr sozialer Nachhaltigkeit.

TEC21: Müssten also Nachhaltigkeitstools um soziale Indikatoren ergänzt werden, nicht in Form messbarer Werte, sondern indem partizipative Verfahren verlangt oder belohnt werden?
M.D.: Ja, aber ich würde noch etwas weitergehen; soziale Nachhaltigkeit mit Beteiligung gleichzusetzen, greift zu kurz. Ich verweise nochmals auf die SIA-Empfehlung 112/1, die diesbezüglich weitaus mehr Innovationen enthält. Diese Empfehlung könnte man zu einer Norm machen. Normen bewirken viel. Das Bundesamt für Energie erarbeitet gerade einen nationalen Standard zur Nachhaltigkeit. Bei den Unterlagen dazu war ein Verzeichnis bestehender Normen. Da fällt auf, dass die meisten Normen und Ausführungsbestimmungen der Ökologie gelten – und nahezu keine dem Sozialen. Man darf nun aber nicht erwarten, dass wir schon mit der gleichen Präzision aufwarten können wie über zwanzig Jahre Umweltforschung – ein Schicksal, das die soziale übrigens mit der ökonomischen Nachhaltigkeit teilt.

TEC21: Die Bundesämter für Energie und für Raumentwicklung haben mit der Stadt Lausanne und dem Kanton Waadt das Planungs- und Controllinginstrument ‹Nachhaltige Quartiere by Sméo› geschaffen (vgl. S. 10). Wie beurteilen Sie dieses Instrument?
M.D.: Sméo spricht soziale Kriterien zwar an, aber das Tool wendet sich an Investoren. Auf SIA 112/1 wird Bezug genommen, aber sie wird auf die Idee des Lebenszyklus reduziert. Ein wenig wird simuliert, dass das Soziale dann schon irgendwie mit dabei sei. Was ich meinte, geht über Sméo hinaus. Verhandlung findet am runden Tisch und in partizipativen Verfahren statt. Das heisst nicht, dass man für jeden Bau die halbe Stadt einladen muss. Je nach Projekt reicht auch ein Nutzervertreter. Hilfreich wären in dem Zusammenhang auch stärker für soziale Fragen sensibilisierte Fachplaner. Wichtig ist, wie gut die Gemeinden im Rahmen von Planungs- oder Baubewilligungsverfahren ihre Steuerungsmöglichkeiten in Sachen sozialer Nachhaltigkeit wahrnehmen: wen sie fragen und wonach sie fragen. Der Perimeter wird hier meist eng gezogen: Man begrüsst die Einspracheberechtigten und fragt vielleicht noch dort, wo der grösste Widerstand vermutet wird, aber alle anderen tauchen nicht auf.

TEC21: Aber gerade die neuen Quartiertools fassen die Perimeter relativ weit.
M.D.: Das ist richtig. Aber sie definieren nicht, was Gegenstand von Verhandlungen mit der Bevölkerung sein soll. Solche Tools sind schon nützlich. Nur erheben sie einen generellen Anspruch, den sie nicht einlösen können. Am Ende nutzt ein angekreuztes Kästchen nur beschränkt. Ein Beispiel: Beim Masterplan Aarburg-Nord haben wir mit dem Gemeinderat, Orts-, Verkehrsplanungs- und Architekturbüros zusammengearbeitet. Auslöser war der wachsende Verkehr auf der Oltenerstrasse. Eine Steuerung durch Ampeln wurde diskutiert, doch stellte man fest, dass dies die Lebensqualität im Quartier nicht wirklich steigern würde. Wir machten dann eine Sozialraumanalyse. Wir erkannten, dass nicht die Teilung des Quartiers durch Oltenerstrasse und Bahngleise das eigentliche Problem war, sondern seine Teilung in ein ‹Problemquartier› an der Strasse und ein ‹Mittelstandsgebiet› parallel dazu. Deshalb schlugen wir vor, bei der Quartierentwicklung nicht nur die Oltenerstrasse zu beachten, sondern die Quartierstrasse, die parallel dazu als unsichtbare Barriere die problematischen und die privilegierten Quartierteile trennt, zur Begegnungsachse für die Bevölkerungsteile zu entwickeln.

Das Beispiel zeigt, dass die frühe Berücksichtigung sozialer Fragen, von Bedürfnissen der Bevölkerung und Fragen der Lebensqualität zu ganz anderen Massnahmen führen kann als anfänglich geplant. Dazu gehört etwa auch, dass man nicht nur den Lebenszyklus eines Baus, sondern auch den seiner Bewohner betrachtet. So hat man zum Beispiel in Freiburg i. B. auf Wunsch der älter gewordenen Bewohner bei der Energiesanierung eines Hochhauses gleichzeitig auch die Wohnungen verkleinert. Statt 90 gibt es jetzt 139 Wohnungen. Dadurch blieben die Mieten trotz Umbau zum Passivenergie-Hochhaus fast gleich hoch, und die meisten früheren Bewohner konnten wieder ins Haus zurückkehren. Sie sehen also: Wenn wir auf soziale Nachhaltigkeit setzen, müssen wir Verhandlungen möglich machen, wo sich Problemdefinitionen verschieben und unerwartete Lösungen entstehen können. Daran beteiligen können sich Planungsfachleute, Sozialplaner, Behörden, Arbeitsgruppen in der Bevölkerung mit Workshops, Ergebniskonferenzen usw. Wichtig ist, dass mehr hineingetragen werden kann, als die Tools an Kriterien vorgeben, denn wirklich nachhaltige Lösungen müssen aus lokalen Bedingungen, Bedürfnissen und Möglichkeiten entwickelt werden.

TEC21: Nachhaltigkeit kann man also nicht planen, sondern nur zusammen suchen?
M.D.: Das ist doch Planung, zunächst einmal! Planen heisst zusammen suchen.

TEC21: Was bedeutet das für die Disziplin Städtebau?
M.D.: Der Städtebau nimmt oft soziale Themen auf und drückt sie in einem städtebaulichen Begriff aus, der dann kaum mehr sozialwissenschaftlich reflektiert wird. Zum Beispiel ‹Verdichtung›: Darüber diskutieren die Sozialwissenschaften seit über hundert Jahren. Übersetzt in deren Sprache heisst das ‹Nachbarschaft›. In den 1970er-Jahren wurden Nachbarschaften typologisiert und Zusammenhänge mit Bebauungsformen erforscht. Man hat unterschieden zwischen anomischen Nachbarschaften, wo sich die Leute kaum kennen, Stepping- Stone-Nachbarschaften, wo man sich bei Bedarf aushilft, und integrativen Nachbarschaften, deren Bewohner im Alltag viel zusammen machen. Unter dem Aspekt sozialer Nachhaltigkeit wäre es nun intelligent, zu überlegen, was integrative Nachbarschaften fördert. Wenn es uns gelingt, gute Modelle von Nachbarschaften zu entwerfen, dann wird die negativ konnotierte Dichte sekundär. Statt über Ausnützungsziffern sollte man darüber sprechen, welche zusätzlichen Dienstleistungen und Qualitäten dank höherer Dichte erst möglich werden. Dann kommt man auch auf die Idee, dass nicht immer das ganze Erdgeschoss an einen Supermarkt vermietet werden muss. Am besten ist ein Mix: Läden, Kleingewerbe, Cafés, Bibliotheken, Spielgruppen, Gemeinschaftsräume, auch Gemeinschaftsgärten usw. Letztlich geht es darum, die Häufigkeit und Intensität von Begegnungen zu fördern.

TEC21: Dafür verwenden Sie den Begriff ‹soziales Kapital›, der vom französischen Soziologen Pierre Bourdieu geprägt wurde …
M.D.: Das soziale Kapital, gerne ‹Kitt› unserer Gesellschaft genannt, bezeichnet die Qualität von Beziehungen. Man unterscheidet zwischen verbindendem und überbrückendem sozialem Kapital. Ersteres schaffen Leute mit gleichen Interessen, die sich in Vereinen treffen. Das können wir ziemlich gut und tun es freiwillig. Das Herausfordernde ist das überbrückende soziale Kapital. Es entsteht, wenn Leute, die sich in Einkommen, Alter, sozialem Status, Herkunft, Kultur, Ethnie, Religion usw. unterscheiden, miteinander in Kontakt treten. Das ist seltener und schwierig zu fördern, aber wertvoll für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Soziales Kapital zu mehren, ist das Ziel von sozial nachhaltigen Massnahmen – vorhandenes soziales Kapital zu nutzen, ist der Weg dorthin. Bauten können soziales Kapital zerstören, etwa wenn Leute durch preissteigernde Renovationen aus ihrer Nachbarschaft vertrieben und damit Netzwerke auseinandergerissen werden. Architekturprojekte können aber auch zur Bildung von sozialem Kapital beitragen. Ein aktuelles Beispiel sind die Mehrgenerationenhäuser. Unverständlich finde ich, wenn solche Innovationen nur als Spielereien oder Nischenprodukte gesehen werden. Für Investoren würde es sich durchaus lohnen, systematisch in soziales Kapital zu investieren. Gewinne wären mehr Identifikation der Bewohner, weniger Fluktuation, mehr Verantwortung für die Umgebung, weniger Unterhaltsarbeiten usw. Und es würden höhere bauliche Dichten akzeptiert. Alternative Wohn-, Bewirtschaftungs- und Investorenmodelle sind vielversprechende Innovationen, der heutige Mainstream dagegen ist nicht zukunftsfähig. Hier frage ich mich, warum es von Bund und Kantonen, die ja viele Fördergelder für Energieeffizienz und erneuerbare Energien zahlen, nicht auch ein Förderprogramm für soziale Nachhaltigkeit gibt.

TEC21: Ist denn wirklich ein solcher Aufwand im Sozialen nötig, um etwa die 2000-Watt-Gesellschaft zu erreichen? Geht das nicht einfacher über verbesserte Technik und finanzielle Steuerungsmechanismen, etwa eine CO2-Abgabe?
M.D.: Es braucht ein richtiges Portfolio. Wenn wir an den Freizeitverkehr und die Flugreisen denken, ist doch deutlich, dass wir auch auf Lebensstile Einfluss nehmen müssen. Welchen Sinn hat es, im CO2-freien Haus auf der Couch zu sitzen und Pläne für den nächsten Last-Minute-Flug-Urlaub zu schmieden? Also müssen wir Anreize für weniger energieintensive Lebensstile schaffen, z. B. indem wir die Lebensqualität unserer Quartiere so stark erhöhen, dass wir nicht x-mal im Jahr wegfliegen wollen.


Anmerkung:
[01] M. Drilling, D. Blumer: Die soziale Dimension nachhaltiger Quartiere und Wohnsiedlungen. Zwischenbericht zu Händen des Bundesamtes für Wohnungswesen. Hochschule für Soziale Arbeit, FH Nordwestschweiz. Olten/Basel 2009

TEC21, Fr., 2012.03.16



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07. Oktober 2011Claudia Carle
Daniela Dietsche
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«Das Okavango-Delta ist ein Schatz für die Welt»

Das Okavango-Delta in Botswana ist eines der grössten und tierreichsten Feuchtgebiete Afrikas. Die zunehmenden Wasserentnahmen für die Bewässerung von Landwirtschaftsflächen am Oberlauf in Angola und Namibia bedrohen aber seine Existenz. Wolfgang Kinzelbach, Professor für Hydromechanik an der ETH Zürich, forscht seit zehn Jahren im Okavango-Delta. TEC 21 sprach mit ihm über die Ursachen des Konflikts, der exemplarisch ist für die sich weltweit verschärfende Konkurrenz um Wasser.

Das Okavango-Delta in Botswana ist eines der grössten und tierreichsten Feuchtgebiete Afrikas. Die zunehmenden Wasserentnahmen für die Bewässerung von Landwirtschaftsflächen am Oberlauf in Angola und Namibia bedrohen aber seine Existenz. Wolfgang Kinzelbach, Professor für Hydromechanik an der ETH Zürich, forscht seit zehn Jahren im Okavango-Delta. TEC 21 sprach mit ihm über die Ursachen des Konflikts, der exemplarisch ist für die sich weltweit verschärfende Konkurrenz um Wasser.

Das Okavango-Delta im Nordwesten Botswanas ist ein Binnendelta mit einer Fläche von mehr als 15 000 km2. Gespeist wird es aus dem Okavango, der im Hochland von Angola entspringt und durch Namibia nach Botswana fliesst (Abb. 3, 4). Nach dem Durchlaufen des sogenannten Pfannenstiels trifft der Fluss auf eine flache, mit Sedimenten verfüllte Grabenstruktur, die eine südliche Fortsetzung des Afrikanischen Grabenbruchs (Rift Valley) ist (Abb. 2). Wegen des geringen Gefälles fächert er sich in unzählige Arme auf. Das Wasser im Delta verdunstet zum grössten Teil, sei es über die Wasserfläche oder nach Versickerung über die Pflanzen (Transpiration). Nur ein geringer Anteil fliesst durch den Thamalakane bei Maun ab. Dank dem ganzjährig Wasser führenden Zufluss ist das Innere des Deltas ein permanenter Sumpf, der nach der Regenzeit wegen der jährlichen Flutwelle des Okavango gewaltig anwächst (Abb. 5). Diese Welle braucht für die letzten 300 km im flachen Gelände von Mohembo bis Maun rund vier Monate. Deshalb reicht die Wasserverfügbarkeit im temporären Sumpf des Deltas bis weit in die Trockenzeit hinein und wird dadurch zum Anziehungspunkt für viele Tierarten. Entsprechend attraktiv ist das Gebiet für Touristen.

Die Landschaft des Deltas ist einem steten Wandel unterworfen. Einen grossen Anteil daran haben die Tiere, allen voran die Termiten. Im Windschatten ihrer Bauten lagern sich Staub und Laub ab. Daraus entstehen Inseln, auf denen Pflanzen wachsen können. Diese Inseln sind eine Art «Müllhalde» für das beim Verdunsten des Wassers anfallende Salz: Die Pflanzen auf den Inseln nehmen Wasser auf und verdunsten es, wobei sich das im Süsswasser in geringer Konzentration enthaltene Salz lokal ansammelt. Wird die Salzakkumulation zu gross, sterben die Pflanzen ab und wachsen am Rand der Salzinseln weiter. Dank diesem Mechanismus bleibt der Salzgehalt in den übrigen Bereichen des Deltas erstaunlich gering (Abb. 8).

TEC21: Herr Kinzelbach, was fasziniert Sie am Okavango-Delta?

Wolfgang Kinzelbach: Wer einmal das Okavango-Delta besucht hat, möchte immer wieder hin. Das Gebiet ist zwar nicht so spektakulär wie beispielsweise die Serengeti mit den grossen Tierherden, aber es gibt extrem viele interessante Prozesse zu beobachten. Ein Beispiel: Die kleinen Unterschiede in der Topografie führen zu einer faszinierenden Dynamik. Alte Kanäle füllen sich mit Sedimenten und lassen das Wasser neue Wege suchen. Durch Torfbrände bricht das Gelände teilweise ein, und neue Gräben entstehen. Elefanten werfen Bäume um, wodurch Kanäle verstopft werden und austrocknen. Flusspferde arbeiten sich wie Dampfwalzen durch Papyrus und Schilf und schaffen so neue Kanäle. Alle diese Phänomene führen dazu, dass jedes Jahr mit der Flut eine neue Wasserlandschaft entsteht.

TEC21: Wie schätzen Sie die globale Bedeutung des Deltas ein?

W. K.: Das Okavango-Delta ist ein Schatz für die Welt. Es ist eines der weltweit wichtigen Feuchtgebiete. Wir haben seit 1900 die Hälfte der Feuchtgebietsfläche auf der Erde verloren, entweder durch den Verlust der Fläche oder des Wassers an die Landwirtschaft. Und es werden aufgrund des Bevölkerungsdrucks und des Drucks auf die Nahrungserzeugung immer noch viele Feuchtgebiete zerstört. Die Ramsar-Konvention1 versucht den Trend zu stoppen, um die Artenvielfalt dieser Gebiete zu schützen. Das Okavango-Delta ist das grösste der Gebiete, die unter dem Schutz der Konvention stehen.

TEC21: Und trotzdem ist es gefährdet. Können Sie erläutern, worin diese Gefährdung im Einzelnen besteht?

W. K.: Das Delta liegt in Botswana. Wie viel Wasser das Delta erreicht, entscheiden aber die Anlieger des Oberstroms in Angola und Namibia. Dort reicht der traditionelle afrikanische Landbau2 wegen der wachsenden Bevölkerung nicht mehr aus, um genügend Nahrung zu produzieren. Hinzu kommt, dass sich Angola nach dem Kriegsende nun wirtschaftlich zu entwickeln beginnt und unabhängig werden möchte von Nahrungsimporten. Daher will man viel mehr Wasser als bisher für die Landwirtschaft aus dem Okavango entnehmen. Die Ausdehnung der Landwirtschaft könnte auch die Wasserqualität im Zufluss vermindern. Das Wasser im Okavango ist heute nährstoffarm (oligotroph). Wird Dünger ausgewaschen, könnte dies zu einer Eutrophierung des Deltas führen.

TEC21: Wie gut bekannt waren die hydrologischen und wasserwirtschaftlichen Verhältnisse in der Region, als Sie mit Ihrem Forschungsprojekt begannen?

W. K.: Viele der Phänomene waren bereits gut erforscht, vor allem durch eine Forschungsgruppe an der University of the Witwatersrand in Südafrika und das Okavango Research Institute der University of Botswana. Wir als Ingenieure versuchen, diese qualitativ bekannten Vorgänge mit Zahlen zu belegen. Wir haben zum Beispiel ein Modell entwickelt, um zu zeigen, wie sich das Delta aufgrund einer Wasserentnahme im Oberstrom verändern würde.

TEC21: Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?

W. K.: Wir haben ermittelt, dass man etwa 58 m³ Wasser pro Sekunde bräuchte, um das gesamte bewässerungswürdige Land in Angola zu bewässern.3 Das ist mehr als die Hälfte der rund 100 m³/s, die der Okavango heute in der Trockenzeit führt. Unsere Modellierungen ergeben, dass man höchstens 15 bis 20 m³/s entnehmen sollte, um das Delta nicht irreversibel zu stören. Sonst werden die regelmässig überfluteten Flächen stark abnehmen, und an den Stellen, die nicht mehr jährlich überflutet werden, wird das für die Tiere wichtige Grasland von Bäumen verdrängt (Abb. 6).

TEC21: Gibt es neben der Wasserentnahme im Zufluss und der Eutrophierung noch weitere Gefährdungen für das Delta?

W. K.: Ja, im Oberstrom sind Staudämme zur Stromerzeugung geplant. Unsere Berechnungen zeigen aber, dass sie zu klein sind, um sich stark auszuwirken. Das Wasser wird nicht wie bei der Bewässerung dem Fluss entnommen, sondern fliesst nur verzögert ab, was lediglich die Abflussspitzen dämpfen wird. Problematischer ist, dass die Dämme das Sediment im Oberstrom zurückhalten. Wenn weniger Sediment in den Unterlauf gelangt, wird sich das Delta tiefer eingraben. Dies würde eine Verringerung der Dynamik im jährlichen Wandel bedeuten.

TEC21: Lässt sich abschätzen, wie sich die Klimaveränderung auf das Delta auswirken wird?

W. K.: Wir wissen heute noch zu wenig, um sichere Aussagen zu machen. Das Delta liegt nahe der innertropischen Konvergenzzone4, deren Ausdehnung nach Süden die Klimamodelle nicht gut vorhersagen können. Die Modellprognosen für die Temperatur sind recht einheitlich, beim Niederschlag hingegen, ergeben 12 Modelle 12 unterschiedliche Prognosen. 10 von 12 Modellen sagen voraus, dass es trockener wird. In diesem Fall wäre der Einfluss des Klimas vergleichbar mit dem durch die befürchtete Wasserentnahme für die Landwirtschaft. Die grösste Gefahr für das Delta ist, dass beides eintrifft.

TEC21: Zumindest die Wasserentnahmen liessen sich vermeiden oder reduzieren. Gibt es Bestrebungen zu einem Interessenausgleich zwischen Ober- und Unterliegern?

W. K.: Angola, Namibia und Botswana haben sich in der Okavango River Commission, der Okacom, zusammengeschlossen, um eine Lösung zu finden. Zurzeit werden umfassende Bestandesaufnahmen des Einzugsgebiets gemacht und Daten zur Landnutzung, zur Bevölkerungsentwicklung und zu den Zuflüssen erhoben. Unsere Forschungsergebnisse werden in die Diskussionen der Kommission einfliessen. Die Verantwortlichen werden sich zuerst über die allgemeine Entwicklung der Region einigen müssen. Anschliessend wird es leichter sein, über konkrete Zahlen zur maximal erlaubten Wasserentnahme zu verhandeln.

TEC21: Welche Lösungsmöglichkeiten sehen Sie für diesen Konflikt?

W. K.: Ich habe nachgerechnet, ob Botswana nicht einen Teil des Einkommens aus dem Tourismus an Angola abgeben könnte, damit dieses einen genügend grossen Zufluss nach Botswana garantiert. Denkbar wäre auch, dass Botswana wassersparende Bewässerungssysteme in Angola subventioniert. Aber die Gewinne, die Angola mit einem Ausbau der Landwirtschaft erzielen kann, sind so gross, dass die Einkünfte aus dem Tourismus in Botswana dies nicht aufwiegen können. Relativ neu ist die Idee, die Region mit dem grenzüberschreitenden Projekt ‹Kavango-Zambesi Transfrontier Conservation Area›5 für den Tourismus zu entwickeln. Das Potenzial ist vorhanden, denn es gibt noch eine ganze Reihe anderer Naturreservate. Man müsste beispielsweise die Verkehrsverbindungen verbessern, um sie für Touristen attraktiv zu machen. Wenn jedes Land vom Tourismus profitiert, ist vielleicht das Interesse grösser, das Delta zu erhalten.

TEC21: Die Touristen im Okavango-Delta kommen grösstenteils aus Europa und den USA. Müssten nicht auch die industrialisierten Länder einen Beitrag zur Erhaltung des Deltas leisten? W. K.: Will man die Natur dort für die Weltgemeinschaft erhalten, dann müssen internationale Gelder fliessen. Für den einfachen Botswaner wäre es interessanter, das gesamte Land in Weidefläche für Rinder umzuwandeln. Man muss die ökologischen Dienstleistungen, die im Okavango-Delta erbracht werden, bewerten und mit Ausgleichszahlungen belohnen. Es geht dabei um die Erhaltung eines Weltnaturerbes und einen gleichberechtigten Interessenausgleich. Das ist nicht zu verwechseln mit Entwicklungshilfe. Das Delta zu erhalten, sodass die nächsten Generationen dieses faszinierende Feuchtgebiet noch sehen können, ist wichtig. Die Weltbevölkerung wird bis 2050 auf neun Milliarden ansteigen. Da bleibt wenig Platz für die Natur

TEC21: Der Konflikt zwischen genug Wasser für die Menschen und genug Wasser für die Natur wird sich also verstärken. Wie lässt sich dieser entschärfen?

W. K.: Da die landwirtschaftliche Bewässerung den Grossteil des menschlichen Wasserverbrauchs ausmacht, muss man versuchen, die gleiche Menge Nahrung mit weniger Wasser zu erzeugen. Dazu gibt es zwei Möglichkeiten: eine wassersparende Bewässerung und einen effizienteren Umgang mit der Nahrung. In Indien gehen zum Beispiel 30 % der Nahrungsmittel direkt nach der Ernte verloren. Sie werden durch Pilze vernichtet oder von Mäusen gefressen, da sie nicht korrekt gelagert sind. Bei uns landen 25 % des verkauften Brots in der Mülltonne. In den Supermärkten werden 20 % der Nahrungsmittel weggeworfen, ohne dass die Packung aufgemacht wurde. Offenbar sind Nahrungsmittel zu billig. Es spielt auch eine Rolle, was wir essen. Rund 37 % des Getreides weltweit werden zur Fleischproduktion an Tiere verfüttert. Würde man dieses Getreide direkt essen, könnten damit mehr Menschen ernährt werden.

TEC21: Könnte auch der Einsatz landwirtschaftlicher Kulturen, die weniger Wasser benötigen, zum Wassersparen beitragen?

W. K.: Es gibt Versuche, Pflanzen durch andere Sorten oder Arten zu ersetzen, die denselben Zweck erfüllen. Baumwolle verdunstet zum Beispiel sehr viel Wasser, eine genmanipulierte Sorte jedoch nur die Hälfte. Natürlich gibt es Kritiker, aber grundsätzlich sind solche Dinge möglich.

TEC21: Ein Konkurrent bei der Verteilung ums Wasser sind ja auch Biotreibstoffe aus Kulturpflanzen. W. K.: Bis 2050 10 % des weltweiten Treibstoffverbrauchs durch Agrotreibstoffe zu ersetzen, wäre katastrophal. Die Wassermenge, die heute für die Landwirtschaft gebraucht wird, würde um ein Drittel steigen. Wie soll das gehen? Auf jeden Fall werden Nahrungsmittel teurer, was für uns zu ertragen ist, für die Entwicklungsländer aber einer Katastrophe gleichkommt. Gelingt es, Biotreibstoff aus Holz oder Öl aus Algen wirtschaftlich herzustellen, ist das in Ordnung. Solange Treibstoff aber aus Raps, Palmen und anderen Kulturpflanzen in Konkurrenz zur Nahrung hergestellt wird, ist dies hinsichtlich der Wasser- und Landressourcen unsinnig.

TEC21: Zum Schluss würden wir gern noch einen Blick in die Schweiz werfen: Bekommt die Natur bei uns genügend Wasser?

W. K.: Bei uns hat der Konflikt um das Wasser zwischen Mensch und Natur viel früher stattgefunden. Uns geht es jetzt besser, und wir haben keinen Bevölkerungsdruck mehr, deshalb haben wir heute das Privileg, darüber nachzudenken. Wir renaturieren zum Beispiel Flüsse oder versuchen, Feuchtgebiete wiederherzustellen. Wir können es uns leisten, der Natur etwas zurückzugeben. In der Dritten Welt wird es noch lange dauern, bis dieser Punkt erreicht ist. Prognosen gehen davon aus, dass 2050 das Maximum der Bevölkerungsentwicklung erreicht ist. Wenn man da optimistisch bleiben will, muss man weit in die Zukunft schauen, bis der Konflikt zwischen Mensch und Natur wieder entschärft werden kann.

TEC21, Fr., 2011.10.07



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Massgeschneidertes Lehmhaus

Von 2007 bis 2009 realisierten die Bieler spaceshop Architekten im solothurnischen Deitingen ein besonderes Einfamilienhaus. Der Bau dient als Experimentierfeld: Abwasserentsorgung und Energieerzeugung funktionieren nahezu autark, die Mehrheit der Baumaterialien – Lehm, Stroh, Bruchsteine und Holz – stammt aus einem Umkreis von maximal 10 km und wurde unveredelt weiterverwendet.

Von 2007 bis 2009 realisierten die Bieler spaceshop Architekten im solothurnischen Deitingen ein besonderes Einfamilienhaus. Der Bau dient als Experimentierfeld: Abwasserentsorgung und Energieerzeugung funktionieren nahezu autark, die Mehrheit der Baumaterialien – Lehm, Stroh, Bruchsteine und Holz – stammt aus einem Umkreis von maximal 10 km und wurde unveredelt weiterverwendet.

Die Anfänge des Projektes reichen bis ins Jahr 2004 zurück. Damals, nach dem Auszug seiner Kinder, konkretisierte Bauherr Ueli Flury seinen Wunsch nach weniger Wohnfläche. Als Baugrund bot sich der Garten seines damaligen Wohnhauses an, eines ehemaligen Bauernhauses mit angebauter Gärtnerei in der Dorfkernzone. Die Ausnützungsziffer des Grundstücks war noch nicht erreicht. Wichtiger als das eigentliche Gebäude war dem Bauherrn aber zunächst das bauökologische Konzept. Als Gärtner daran gewöhnt, mit den vorhandenen Ressourcen zu arbeiten und in möglichst geschlossenen Kreisläufen zu denken, wollte er diese Philosophie in den Bau einfliessen lassen. Gemeinsam mit dem befreundeten Landschaftsarchitekten Hans Klötzli und dem Bauökologen Ryszard Gorajek vom Berner Atelier für Architektur und Bauökologie AAB entwickelte er daher Lösungen für ein autark funktionierendes Gebäude mit einem möglichst geringen Aufwand an grauer Energie.

Neben den Baumaterialien umfasste der Ansatz auch Energieerzeugung und Abwasserentsorgung. Rasch wurde klar, dass der Aufwand relativ hoch ist und für einen Einpersonenhaushalt wenig Sinn ergibt. Man entschied sich daher, den Neubau in Bezug auf Fläche und Kapazität der technischen Infrastruktur für vier Personen zu konzipieren. Um die sorgfältige bauökologische Planung durch eine angemessene architektonische Qualität zu ergänzen, lud Bauherr Flury im Jahr 2006 vier Büros zu einem Studienauftrag ein, den die Bieler spaceshop Architekten für sich entschieden.

Bewegung durch Aussen- und Innenraum

Das Siegerprojekt beruht auf der Idee einer «promenade architecturale», auf der man sich zunächst von der Strasse aus entlang einer bestehenden Palisade in den hinteren Bereich des Gartens und ins Haus und anschliessend durch die seitlich gestaffelten Räume wieder in den Garten bewegt. Dieser Ablauf inszeniert unterschiedliche Ein- und Ausblicke in bzw. auf Haus und Grundstück und überspielt auch die geringe Grundfläche des pavillonartigen Baus, der nur drei Räume umfasst. Die beiden L-förmigen Lehmwände, die nahtlos vom Innen- in den Aussenraum übergehen, verweben die beiden Sphären nicht nur räumlich, sondern auch konstruktiv (Abb. 6). Wegen des hohen Grundwasserspiegels steht das Haus auf einem Sockel, was die Idee der «promenade» aufgrund der unterschiedlichen Bodenniveaus verstärkt. Betreten wird das Gebäude im zentralen Wohn-/Essbereich, der auch die Küche beherbergt und im Osten vom privaten Schlaf-/Badbereich sowie im Westen von einem Gartenzimmer flankiert wird. Das wesentliche Element der Küche ist der Stückholzherd, der sowohl zum Kochen als auch zum Heizen und zur Warmwassererzeugung dient. Er erwärmt das Wasser in einem Boiler und einem Wasserspeicher im Keller, von wo es an die Heizkörper in den Räumen abgegeben wird. Die dafür pro Jahr erforderlichen rund 10 Ster Holz stammen aus dem dorfeigenen Wald und werden vom Hausherrn zugeschnitten. Der relativ hohe Verbrauch ergibt sich aus dem Bedarf für die Warmwassererzeugung sowie aus den aufgrund des geringen Strohanteils eher mässigen Dämmwerten der Lehmwände.

Das Material gibt den Takt an

Nachdem das Raumprogramm und dessen konstruktive Umsetzung im Sommer 2007 feststanden, wurden zunächst die Strohballen für die Dämmung von Dach und Boden erworben: Die Landwirte verwenden unterschiedliche Maschinen für die Strohballenproduktion, dementsprechend unterscheiden sich deren Masse. Die Grösse der Strohballen bildete so das Ausgangsmodul für die gesamte Konstruktion. Auch das Fichtenholz aus dem Deitinger Burgerwald brauchte seine Zeit: Dem Mondkalender entsprechend wurde es Ende Oktober 2007 geschlagen. Um den Holzabfall so gering wie möglich zu halten, beschränkte man sich zudem auf die Normmasse für Holzbalken.

Der Bauherr wünschte sich bereits zu Beginn ein Lehmhaus. Neben der hohen Wärmespeicherfähigkeit des Materials sprach auch das angenehme Raumklima in Lehmhäusern mit einer relativ hohen, konstanten Luftfeuchtigkeit für diese Wahl. Lehm absorbiert zudem Gerüche – was sich bei der Nutzung der Wohnküche ohne Dunstabzug bereits als grosser Vorteil erwiesen hat. Die monolithischen Lehmwände sind auch visuell das dominierende Material des Baus. Sie sind in Lehmwellerbau-Technik errichtet, einer Massivlehmkonstruktion, die bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem in Ostdeutschland bei landwirtschaftlichen Ökonomiegebäuden zum Einsatz kam.[1] Dafür werden Stroh und Lehm in einem Mischungsverhältnis von ca. 25 kg Stroh auf 1 m³ Lehm gemischt, ohne Schalung mit einer Mistgabel zu einer Wand von bis zu 80 cm Höhe aufgeschichtet und anschliessend mit einem scharfen Spaten abgestochen (Abb. 3). Die Dicke der Wände von 80 cm ergab sich aus dem zu erreichenden Dämmwert – im Gegensatz zum zunächst favorisierten Stampflehm konnten mit dieser Technik die kantonalen Richtwerte eingehalten werden (s. Kasten S. 33). Das Stroh bietet zudem einen Witterungsschutz: Durch das Abstechen des Lehms sind die Halme von oben nach unten gerichtet, sodass Niederschläge ablaufen können und der dahinter liegende Lehm geschützt ist. Das Haus in Deitingen besteht aus vier horizontalen Schichten, die um das ganze Gebäude laufen. Konstruktiv geschützt werden die Lehmwände zudem durch bis zu 1.50 m grosse Dachüberstände. Das Dach und der Boden bestehen aus einer aufgedoppelten Balkenlage, in deren Zwischenräume die Strohballen als Dämmung gepresst wurden (Abb. 7). Die Dachhaut aus synthetischem Kautschuk ist mit einem Ziegelschrotsubstrat bedeckt und begrünt. Abgetragen werden die Dachlasten über in die Lehmwand eingelassene Holzstützen. Dieses Tragwerk ermöglichte zum einen den Bau eines Daches zum Schutz der Lehmwände während der Herstellung (Abb. 2). Zum anderen konnte so auf das Schwinden des Lehms reagiert werden: Während Fenster und Türen fest in die Holzkonstruktion montiert waren, konnten sich die Wände während des Trocknens innerhalb der Konstruktion bewegen, das Schwindmass betrug dabei etwa 10 cm. Ein weiteres lokales Baumaterial findet sich im Keller: Über Jahre vom Bauherrn gesammelte ehemalige Grab- und Brückensteine bilden die Kellermauern und den Sockel des Hauses. Um die graue Energie minimal zu halten, sind sie unbearbeitet mit Lagerfugen aus Trasskalkmörtel vermauert – ein reines Trockenmauerwerk im Keller akzeptierte der Tragwerksplaner nicht. Der Kellerboden besteht aus verdichtetem Mergel. Neben seiner Funktion als Lagerraum für Wein, Obst und Gemüse dient der Keller auch als Standort der Gebäudetechnik (Kompost-WC, Warmwasserboiler).

Graue Energie

Die Mehrheit der Baumaterialien stammt aus einem Umkreis von maximal 10 km und wurde roh belassen, um den energetischen Aufwand für Herstellung und Transport möglichst tief zu halten. Ausnahmen bilden die Flachdachabdichtung aus synthetischem Kautschuk, das Dachrandblech aus verzinntem Kupfer und die Doppelisolierverglasung. Auf Klebstoffe, Beschichtungen und Oberflächenbehandlungen wurde zugunsten eines gesunden Innenraumklimas verzichtet.

Die Bilanz der grauen Energie des Gebäudes, in die auch Lastwagentransporte und Maschineneinsätze eingerechnet wurden, ergibt mit 17.4 kWh/m2a einen Wert, der deutlich unter dem Zielwert des SIA-Effizienzpfades von 30 kWh/m2a liegt – dies trotz Eingeschossigkeit und relativ hohem Kelleranteil. Nicht eingerechnet ist in diesen Wert allerdings der Energieaufwand für die Trocknung der massiven Lehmwände mit Ölheizungen. Dieser war fast fünf Mal so hoch wie die graue Energie der Wände selbst (ohne Holzständer gerechnet), hätte aber mit einer besseren Zeitplanung vermieden werden können. Durch wetterbedingte Verzögerungen beim Bau der Lehmwände blieb vor dem gewünschten Bezugstermin nicht mehr genug Zeit für eine natürliche Austrocknung des Lehms.

Geschlossene, lokale Kreisläufe

Neben der Minimierung der grauen Energie lag den Planern vor allem der Gedanke der Autarkie des Gebäudes am Herzen. Die Umsetzung einer autarken Energieversorgung stellte sich in der Praxis jedoch als schwierig heraus. Da sich das Haus in einem Grundwasserschutzgebiet befindet, schied die Nutzung von Grundwasserwärme von vornherein aus. Geringes Windaufkommen und eine relativ hohe Bebauungsdichte sprachen gegen die Nutzung von Windenergie. In Erwägung gezogen wurde hingegen eine Biogasanlage, in der man die beim WC anfallenden Fäkalien sowie Feststoffe aus der Kläranlage hätte vergären und daraus Energie erzeugen können. Kleine, für einen Einzelhaushalt geeignete Biogasanlagen gibt es allerdings nur in Einzelanfertigung. Sie sind zudem unterhaltsintensiv. Daher verwarf das Planungsteam diese Option. Als weitere Variante für die Energieversorgung prüfte man die Nutzung von Wasserkraft. Der an der Grundstücksgrenze verlaufende Bach hat zwar ein geringes Gefälle, aber einen relativ hohen konstanten Abfluss, mit dem man ein Wasserrad hätte antreiben können. Diese Idee scheiterte jedoch an Bedenken des Fischereiverbandes.

Deshalb entschied man sich schliesslich für eine Fotovoltaikanlage auf dem Dach des benachbarten Bauernhauses. Für eine autarke Energieversorgung hätte es eine Batterie gebraucht, die aber teuer und energieintensiv in der Herstellung ist. Der produzierte Strom wird daher komplett ins öffentliche Stromnetz eingespeist. Dafür bezieht der Bauherr wiederum Ökostrom aus dem Netz, dank energieeffizienten Geräten und einem Leben ohne Fernseher und PC aber nur ein Viertel der von der Fotovoltaikanlage produzierten Menge. Der überschüssige Strom kompensiert rechnerisch mit der Zeit die im Gebäude steckende graue Energie (siehe Kasten S. 33).

Autark ist das Gebäude hingegen beim Wasserkreislauf. Das Grundstück verfügt über eine eigene Quelle, die den Bauherrn mit Wasser in Trinkwasserqualität versorgt. Das Grauwasser, also das Abwasser aus Küche, Waschbecken und Badewanne, wird in einer Pflanzenkläranlage neben dem Gebäude gereinigt und dann als Giesswasser in der benachbarten Gärtnerei verwendet (Abb. 9). Da die 2 m lange und 8 m breite, mit Schilf bewachsene Kläranlage nicht wie sonst üblich im Boden versenkt werden konnte, um ein genügend grosses Gefälle zur Gärtnerei hin zu erhalten, trennt sie den Eingangsbereich nun optisch vom Garten. Das gereinigte Wasser erreicht gemäss Messung des Kantons Trinkwasserqualität. Trotzdem hätte man es wegen der Ausweisung des Grundstückes als Grundwasserschutzgebiet nicht im Garten versickern lassen dürfen. Nur die Synergie mit der Gärtnerei ermöglichte also den autarken Wasserkreislauf.

Das WC funktioniert ebenfalls ohne Anschluss an die öffentliche Kanalisation. Die Fäkalien werden in einem Kompostbehälter im Keller gesammelt. Die Zugabe von Holzschnitzeln verbessert das Stickstoff-Kohlenstoff-Verhältnis des Komposts. Das anfallende Abwasser verdunstet grösstenteils, der Rest muss alle zwei bis drei Wochen abgelassen werden und wird vom Bauherrn zur Düngung des Gartens verwendet. Der Kompostbehälter muss nur rund zweimal pro Jahr geleert werden. Das vorkompostierte Material wird in einem Silo weiterkompostiert und kann schliesslich als Gartenerde verwendet werden.

Verantwortung für den gesamten Lebenszyklus übernehmen

Da dort, wo ein Kanalisationsnetz besteht, der Anschluss von Gebäuden an dieses Netz Pflicht ist, waren der autarke Abwasser- und WC-Kreislauf nur dank einer Ausnahmebewilligung der Behörden möglich. Wäre der Anschluss an die Kanalisation nicht die einfachere und möglicherweise auch aus Sicht der grauen Energie günstigere Lösung gewesen? Einen genauen Vergleich der grauen Energie habe man nicht gemacht, erklärt Gorajek. «Vielleicht ist es mitten im Ort schon weniger sinnvoll, autark zu agieren, als beispielsweise auf einer Alp. Es ging uns bei diesem Projekt aber vor allem um die Eigenverantwortung für das gesamte Haus und alles, was dadurch an Abfällen entsteht.» Statt das Abwasser in der Kanalisation zu entsorgen und Reinigung und Bau der entsprechenden Infrastruktur anderen zu überlassen, übernehme man das selbst. «Und am Ende seiner Lebensdauer kann man das Haus mit gutem Gewissen verlassen und weiss, dass es dem Erdboden gleich wird, wenn es zusammenbricht.»


Literatur:
[01] Christoph Ziegert: Lehmwellerbau. Konstruktion, Schäden und Sanierung. Fraunhofer IRB Verlag, Stuttgart, 2003

TEC21, Fr., 2011.05.13



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TEC21 2011|19-20 Ortsverbunden

25. März 2011Claudia Carle
TEC21

Raum für Nase und Co.

Die Bewilligung des neuen Kraftwerks Rheinfelden verpflichtet die Betreiber zu einer ganzen Reihe von ökologischen Ausgleichsmassnahmen als Kompensation für die damit verbundenen Eingriffe in Natur und Landschaft. Die wichtigste und in dieser Grösse einmalige ist der Bau eines naturnahen Umgehungsgewässers im Bereich des alten Oberwasserkanals, das ursprünglich im Rhein heimischen Fischen Laichgründe und Lebensraum bieten wird.

Die Bewilligung des neuen Kraftwerks Rheinfelden verpflichtet die Betreiber zu einer ganzen Reihe von ökologischen Ausgleichsmassnahmen als Kompensation für die damit verbundenen Eingriffe in Natur und Landschaft. Die wichtigste und in dieser Grösse einmalige ist der Bau eines naturnahen Umgehungsgewässers im Bereich des alten Oberwasserkanals, das ursprünglich im Rhein heimischen Fischen Laichgründe und Lebensraum bieten wird.

Das Kraftwerk Rheinfelden ist eines von elf Flusskraftwerken, die sich am Hochrhein zwischen Bodensee und Basel aneinanderreihen. Sie haben den einst wild strömenden Fluss in eine Kette von träge dahinfliessenden Stauabschnitten verwandelt. Die ehemals im Hochrhein lebenden, strömungsliebenden Fischarten wie Barbe, Nase oder Äsche (Abb. 1) sind entsprechend stark zurückgegangen. Diesen auch Kieslaicher genannten Arten fehlen flache Kiesufer, lockere, bei Hochwasser immer wieder umgelagerte Kiesbänke und Stromschnellen als Laichgründe bzw. Lebensraum der Jungfische. Auch die über lange Distanzen wandernden Arten wie Lachs oder Meerforelle sind verschwunden, weil sie Staustufen ohne Fischtreppen – von denen es vor allem im Oberrhein zwischen Basel und Strassburg noch einige gibt – nicht überwinden können. Mit dem Bau eines naturnahen Umgehungsgewässers wird ein kleines Stück des verloren gegangenen Lebensraumes wiederhergestellt. Es soll in erster Linie der Fortpflanzung der Kieslaicher dienen, aber auch die Wanderung von Fischen ermöglichen.

Vorversuche am hydraulischen Mo dell

Ein Umgehungsgewässer in dieser Grössenordnung sei noch nirgends realisiert worden, erläutert Paul Lehmann vom mit der Planung beauftragten deutschen Ingenieurbüro Dr. Rolf- Jürgen Gebler. Daher habe man zunächst nach natürlichen Gewässern gesucht, die als Vorbild dienen konnten. Fündig wurde man beim oberen Abschnitt des sogenannten Restrheins zwischen Märkt und Breisach in Baden-Württemberg, wo Barben und Nasen laichen. Die von den Fischen genutzten Strukturen wie beispielsweise Stromschnellen wurden vor Ort detailliert analysiert und dann in einem hydraulischen Modell im Massstab 1: 22 an der Universität Karlsruhe nachgebaut, damit im Detail untersucht werden konnte, mit welcher Gestaltung man die diversen Anforderungen am besten erfüllt (Abb. 4). Die Erkenntnisse aus den Modellversuchen flossen dann zunächst in die Planung von drei kleineren naturnahen Umgehungsgewässern an Aare (Kraftwerke Ruppoldingen [Abb. 2 und 5] und Rupperswil- Auenstein) und Hochrhein (Kraftwerk Albbruck-Dogern) ein, bevor das Umgehungsgewässer in Rheinfelden in Angriff genommen wurde. Dieses wird derzeit am rechten Rheinufer im Bereich des Oberwasserkanals des alten Kraftwerks gebaut.

Ab flussregelung im Einlaufbereich

Der Einlaufbereich des Umgehungsgewässers wird rund 200 m oberhalb der Wehranlage des neuen Kraftwerks beginnen und durch aufgeschüttete Inseln in drei Arme unterteilt (vgl. Übersichtsplan S. 26 / 27). Zwei davon führen zu einem ungeregelten Einlauf, der von einer Doppelreihe Blocksteinen gebildet wird. Der dritte Arm mündet in einen mit zwei Schützen regelbaren Einlauf. Im Normalfall sollen 10 bis 16 m³/s in das Umgehungsgewässer gelangen. Die Abflussdynamik orientiert sich dabei nicht am Rhein, sondern an Zuflüssen, die eine ähnliche Grössenordnung wie das Umgehungsgewässer aufweisen, da dies den Ansprüchen der Kieslaicher an ihren Laichplatz besser entspricht. Ausserhalb der Laichzeit sind auch zeitweise höhere Abflüsse von bis zu 35 m³/s vorgesehen, um Ablagerungen von Feinpartikeln in der Flusssohle wegzuspülen und den Porenraum wieder durchlässiger zu machen. Denn im künstlich angelegten Umgehungsgewässer wird das Sohlmaterial nicht wie bei natürlichen Flüssen von Zeit zu Zeit umgelagert. Wie der Einlaufbereich gestaltet sein muss, damit der Minimalabfluss von 10 m³/s nicht unterschritten wird und der Maximalabfluss von 35 m³/s erreicht werden kann, wurde am hydraulischen Modell untersucht und wird dann nach der Umsetzung in die Praxis in einem Probebetrieb verifiziert bzw. eingeregelt. Mit einem Gefälle von 0.8 % hat das Umgehungsgewässer den Charakter eines Gebirgsflusses.

Leitströmung weist den Fischen den Weg

Das eigentliche Umgehungsgewässer beginnt unterhalb der Wehrbrücke des neuen Kraftwerks und mündet im Bereich des alten Maschinenhauses in den Rhein. Den Übergang bildet dort eine in das Rheinbett hineinreichende Halbinsel mit einer Blocksteinrampe. Diese sogenannte Sohlengleite mit einem Gefälle von 1:30 wird in aufgelöster Riegelbauweise gestaltet. Je nach Wasserstand des Rheins wird hier ein Höhenunterschied von bis zu 3 m überwunden. Dadurch wird gewährleistet, dass auch bei hohen Abflüssen im Rhein die Laichgebiete des Umgehungsgewässers nicht eingestaut werden. Eine Rinne in der Mitte der Sohlengleite lässt eine Leitströmung entstehen, die den Fischen den Weg zum Umgehungsgewässer weist. Je weiter sie in den Hauptstrom hineinreicht, desto mehr flussaufwärts ziehende Fische werden erreicht. Daher hat man die Gestaltung zuvor am hydraulischen Modell in Karlsruhe optimiert. Trotzdem wird die Leitströmung nicht über die gesamte Rheinbreite reichen. Für die an der Mündung des Umgehungsgewässers vorbeiziehenden Fische wurden daher zwei weitere Fischpässe – ein Raugerinne-Beckenpass am Stauwehr und ein Schlitzpass am neuen Maschinenhaus – gebaut.

Vielfältige Strukturen für Laich und Jungfische

Das Umgehungsgewässer, das ca. 900 m lang und 50 m breit ist, wird mit vielfältigen Sohl-, Ufer- und Strömungsstrukturen gestaltet, um die Ansprüche der verschiedenen Fischarten an ihre Laichgewässer und die wiederum anderen Ansprüche der Jungfische zu erfüllen. Für Laich und Jungfische strömungsliebender Fische sind in den ersten Wochen flache Ufer, flach abfallende Kiesbänke und kleine Buchten mit geringer Strömung die besten Lebensräume. Mit zunehmendem Alter und zunehmender Körpergrösse suchen sie tiefere und schneller fliessende Bereiche auf. Entsprechend wurde die Flusssohle als Abfolge von kiesigen Stromschnellen, ruhigeren Tiefwasserzonen, überströmten Kiesbänken und Kiesinseln gestaltet. Zwischen diesen Strukturen schlängelt sich ein durchgehender, mindestens 80 cm tiefer Gewässerlauf hindurch, der Ober- und Unterwasser für wandernde Fische und auch alle anderen Wasserlebewesen miteinander verbinden wird. Auf der in Fliessrichtung linken Seite bleibt die alte Kanalmauer als Grenze zum Hauptstrom bestehen, wird aber teilweise in der Höhe abgetragen, sodass sie 50 cm über den Wasserspiegel des Umgehungsgewässers ragen wird. Sie wird auf beiden Seiten angeschüttet, um auf der Seite des Umgehungsgewässers flache Kiesufer zu schaffen, die der natürlichen Sukzession überlassen werden. Zum Hauptstrom hin, wo sich die Reste des sogenannten Gwilds, einer biologisch wertvollen Felslandschaft (vgl. «Potenzial besser nutzen», S. 24), befinden, wird die Aufschüttung naturnah gestaltet. Für sämtliche Aufschüttungen im Sohl- und Uferbereich wird das bei der Eintiefung des Rheins unterhalb des Wehrs ausgebrochene Material verwendet (vgl. Luftaufnahme, Seite 19 unten).

Pavillon statt Uferzug ang für Besucher

Am rechten Ufer werden sich steile mit flachen Böschungsbereichen und mit Ufereinbuchtungen als Stillwasserbereiche abwechseln. Entlang des Ufers wird ein abgestufter Gehölzsaum mit Auenwaldcharakter entstehen. Die Bepflanzung soll gleichzeitig die Zugänglichkeit für Erholungsuchende und Besucher erschweren. Für diese wird stattdessen ein Rad- und Fussweg in der Uferböschung angelegt sowie im mittleren Abschnitt ein Aussichtspavillon eingerichtet, von dem aus sich das Umgehungsgewässer überblicken lässt. Ausserdem werden dort Schautafeln über das naturnahe Umgehungsgewässer, die Geschichte des Kraftwerks Rheinfelden und die Wasserkraftnutzung allgemein informieren. Im Frühjahr 2012 soll das rund 4 Mio. Euro teure Projekt fertiggestellt sein. Ein Monitoringkonzept sieht vor, die Funktionsfähigkeit des Umgehungsgewässers und die Entwicklung von Flora und Fauna während zwölf Jahren zu überwachen. «Beim vor zehn Jahren fertiggestellten Umgehungsgewässer beim Kraftwerk Ruppoldingen haben sich die strömungsliebenden Fische schon kurz nach der Inbetriebnahme eingestellt», berichtet Lehmann. Da dieser Gruppe eine Indikatorfunktion für die Naturnähe eines Flusses zukommt, zeigt deren Anwesenheit auch eine allgemeine Verbesserung des Lebensraumes für die Flora und Fauna des Flusses an.

TEC21, Fr., 2011.03.25



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TEC21 2011|13 Kraftwerk Rheinfelden

26. Februar 2010Claudia Carle
TEC21

Klein, grün, Hoffnungsträger

Energieversorger und Ölkonzerne interessieren sich seit einigen Jahren vermehrt für Algen. Der Grund: Algen sind hocheffiziente und gleichzeitig sehr genügsame Produzenten von Biomasse, aus der Biotreibstoffe gewonnen werden können. Gleichzeitig binden sie bei ihrem Wachstum das Treibhausgas CO2. Noch ist die Technologie aber im Forschungsstadium, und es ist schwer abschätzbar, welchen Beitrag sie dereinst zur Senkung der CO2-Emissionen und zum Ersatz fossiler Treibstoffe leisten könnte.

Energieversorger und Ölkonzerne interessieren sich seit einigen Jahren vermehrt für Algen. Der Grund: Algen sind hocheffiziente und gleichzeitig sehr genügsame Produzenten von Biomasse, aus der Biotreibstoffe gewonnen werden können. Gleichzeitig binden sie bei ihrem Wachstum das Treibhausgas CO2. Noch ist die Technologie aber im Forschungsstadium, und es ist schwer abschätzbar, welchen Beitrag sie dereinst zur Senkung der CO2-Emissionen und zum Ersatz fossiler Treibstoffe leisten könnte.

Algen sind die ältesten Pflanzen unseres Planeten. Für ihr Wachstum benötigen sie Sonnenlicht, CO2, Wasser und Nährstoffe und produzieren daraus mittels Fotosynthese Sauerstoff und Biomasse. Von der auf über 400 000 Arten geschätzten Vielfalt an Algen, die von einoder mehrzelligen Mikroalgen bis hin zu baumgrossen Makroalgen reicht, wird bisher nur ein Bruchteil industriell genutzt. Eingesetzt werden Algen zum Beispiel zur Gewinnung von pharmazeutischen Wirkstoffen, von Nahrungsergänzungsmitteln, für Kosmetika, aber auch als Futter- und Düngemittel. Ins Rampenlicht gerückt sind Algen in letzter Zeit vor allem, weil sie das Treibhausgas CO2 binden und sich aus ölbildenden Algenarten Biodiesel gewinnen lässt. Während die bisher gebräuchlichen Biotreibstoffe unter anderem wegen der Flächenkonkurrenz zur Nahrungsmittelproduktion kritisiert werden, sind Algen sehr genügsam: Sie können auf landwirtschaftlich nicht nutzbaren Flächen kultiviert werden, gedeihen auch in Salz- oder Abwasser und produzieren zudem mehr Biomasse und binden mehr CO2 als landwirtschaftliche Kulturen oder Wälder.

Die Idee zur Herstellung von Biotreibstoff aus Algen ist nicht neu. Schon 1978 wurden in den USA im Rahmen eines Förderprogramms des Energieministeriums Mikroalgen als erneuerbare Energiequelle für die Biodiesel-Produktion untersucht. Nach Abschluss des Programms 1996 kam man zum Schluss, dass die Nutzung von Algen aufgrund niedriger Rohölpreise und aufwendiger Verfahren zur Kultivierung und Ölextraktion aus der Algenbiomasse nicht rentabel sei. Steigende Ölpreise haben nun aber das Interesse an dieser Technologie wieder geweckt und lassen Gelder in zahlreiche Forschungs- und Entwicklungsprojekte fliessen. So gab Mitte letzten Jahres beispielsweise der Ölkonzern Exxon Mobil bekannt, dass er 600 Mio. Dollar in die Erforschung und Entwicklung von Biotreibstoffen aus Algen investieren wird. Der zunehmende politische Druck zur Reduktion von Treibhausgasen macht Algenkulturen auch für Kraftwerkbetreiber interessant. So gibt es in Deutschland eine ganze Reihe von Pilotprojekten, bei denen Energieversorger mit Forschungsgruppen zusammenarbeiten.

Algendiesel: Energieaufwendig und teuer

Während man in den USA und in Asien Algen vor allem in offenen Becken züchtet, begann man in Deutschland mit der Entwicklung geschlossener Systeme. Diese Fotobioreaktoren in Form von Röhren (Abb. 1), Schläuchen oder flachen Platten (Abb. 2) aus Glas oder transparentem Kunststoff haben den Vorteil, dass sie aufgrund der grösseren Oberfläche eine deutlich höhere Produktivität aufweisen als offene Becken. Zudem sind die Wachstumsbedingungen besser kontrollierbar. Dafür sind neben den Investitions- auch die Betriebskosten wesentlich höher: Die Algensuppe in den Reaktoren muss mit Dünger und CO2 versorgt und durchmischt und der Sauerstoff muss abgeführt werden. Auch die Ernte der Algen ist aufwendig, da die verwendeten Mikroalgen so klein sind, dass sie nicht sedimentieren und daher herausgefiltert oder zentrifugiert und anschliessend getrocknet werden müssen. Zudem ist die Ausbeute sehr gering – zwischen 0.5 und 3 g Algentrockensubstanz pro Liter.

Für die Gewinnung des Algenöls ist ein weiterer Verfahrensschritt notwendig, der aber noch im Forschungsstadium ist. Das Öl kann z.B. durch Abpressen oder durch chemische Extraktion gewonnen werden. Erschwerend kommt bei der Ölproduktion mit Algen hinzu, dass optimale Wachstumsbedingungen zwar zu grossen Mengen an Algenbiomasse führen, allerdings mit geringen Ölgehalten. Denn Öl bilden die Algen als Speichermedium, wenn Stressbedingungen wie Nährstoff- oder Lichtmangel das Zellenwachstum begrenzen. Theoretisch mögliche Ölgehalte von bis zu 70 % sind daher bei schnellem Algenwachstum nicht erreichbar.

Eine aktuelle Ökobilanz-Studie[1] kommt zum Schluss, dass der Energieaufwand zur Herstellung in der Regel grösser ist als der Energieinhalt des produzierten Treibstoffs. Nur unter Annahme optimaler Bedingungen liegen sie etwa in der gleichen Grössenordnung. Das Hauptproblem liege aber bei den derzeit viel zu hohen Kosten für die Herstellung der Algentreibstoffe, meint Rainer Zah von der Empa, der im Rahmen einer Studie zu Biotreibstoffen[2] auch die zukünftige Bedeutung von Algen analysiert. Er schätze daher das Potenzial von Algentreibstoffen in den nächsten 20 Jahren als klein ein.

Ute Ackermann vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) hält den Anspruch, zum jetzigen Zeitpunkt die Effizienz von Algen zur Treibstoffherstellung zu beurteilen, für verfrüht. Auch die Entwicklung von herkömmlichen Kraftstoffen auf Rohölbasis habe Jahrzehnte in Anspruch genommen. In der Forschung gehe es im Moment vor allem darum, die Algenreaktoren so weiterzuentwickeln, dass möglichst effizient grosse Mengen an Algenbiomasse produziert werden können. Am KIT untersucht man zum Beispiel die Lichtintensitäten im Reaktor, um die Lichtversorgung der Algen optimieren zu können. Die Optimierung der Produktion auf das gewünschte Endprodukt hin – beispielsweise das Algenöl – sei erst der zweite Schritt, den es anzugehen gelte. Im Moment gelinge der Markteintritt mit der Algenkultivierung nur bei einer Kaskadennutzung, betont Ackermann. Das heisst, man produziert primär hochpreisige Wirkstoffe beispielsweise für die Pharma-, Kosmetik- oder Nahrungsmittelindustrie und kann die übrigbleibende Algenbiomasse energetisch nutzen. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten: Mittelfristig könnte dies laut Ackermann über die Produktion von Biodiesel geschehen. Einfacher sei momentan die Vergärung der Algen in einer Biogasanlage. Der Kohlenhydratanteil der Biomasse kann aber auch zu Ethanol umgesetzt werden.

Bei der Nutzung von Algen zur Bindung von CO2 ist man noch weiter von einem signifikanten Beitrag entfernt als bei den Algentreibstoffen. Da Algen mit hohen CO2-Konzentrationen besser wachsen, lassen sich CO2-Emissionen aus Verbrennungsprozessen, beispielsweise von Kohlekraftwerken, nutzen. Die CO2-Mengen, die von den derzeitigen Algenreaktoren gebunden werden können, sind allerdings relativ gering. Eine der wenigen kommerziellen Anlagen zur Algenkultivierung in Reaktoren, die es bisher gibt, liegt im deutschen Ort Klötze (Sachsen- Anhalt). Sie ist 1.2 ha gross und kann laut eigenen Angaben unter optimalen Bedingungen 130 t CO2 pro Jahr binden. Deutsche Kohlekraftwerke emittieren demgegenüber je nach Grösse zwischen 2 und 27 Mio. t CO2 pro Jahr. Um die gesamten Emissionen eines solchen Kraftwerks zu binden, müsste man also riesige Flächen mit Algenreaktoren bestücken.


Anmerkungen:
[01] L. Lardon et al.: Life-Cycle Assessment of Biodiesel Production from Microalgae. Environmental Science & Technology Vol. 43, No. 17, 2009
[02] R. Zah, C.R. Binder, S. Bringezu et al.: TA-SWISS report «Future Perspectives of 2nd Generation Biofuels», erscheint ca. Juni 2010

TEC21, Fr., 2010.02.26



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TEC21 2010|09 Vertikalgrün

«Wir müssen die soziale Kreativität mehr nutzen»

Von der drohenden Klimaveränderung wissen wir alle. Trotzdem ergreifen wir nur sehr zögerlich Gegenmassnahmen. Von Heinz Gutscher, Sozialpsychologe und Professor am Psychologischen Institut der Universität Zürich, wollten wir wissen, warum das so ist und wie sich Verhaltensänderungen beschleunigen lassen.

Von der drohenden Klimaveränderung wissen wir alle. Trotzdem ergreifen wir nur sehr zögerlich Gegenmassnahmen. Von Heinz Gutscher, Sozialpsychologe und Professor am Psychologischen Institut der Universität Zürich, wollten wir wissen, warum das so ist und wie sich Verhaltensänderungen beschleunigen lassen.

TEC21: Obwohl wir wissen, wie sich unser Verhalten auf das Klima und die gesamte Umwelt auswirkt, handeln wir in vielen Bereichen noch nicht umweltverträglich. Wie ist das zu erklären?
Heinz Gutscher: Man staunt oft, wie wenig die Leute tatsächlich wissen. Aber selbst wenn sie das Wissen haben, heisst das nicht automatisch, dass sie es auch anwenden. Es kommt darauf an, wie sie die von der Wissenschaft vorausgesagten Konsequenzen bewerten. Erst wenn diese positive oder negative Emotionen auslösen, ergibt sich daraus die Motivation, etwas ändern zu wollen. Es ist beispielsweise zu befürchten, dass bis 2050 viele Inselstaaten im Meer versinken, aber diese Inseln sind einfach zu weit weg. Auch die schmelzenden Gletscher in der Schweiz bewegen uns nicht wirklich alle. Wir leben in einer privilegierten Ecke der Erde und werden die Auswirkungen der Klimaveränderung anders, später und auch indirekter zu spüren bekommen.

TEC21: Sie meinen, dass die Klimaveränderung die Menschen emotional zu wenig bewegt, um sie zum Handeln zu motivieren?
Heinz Gutscher: Ja. Ausserdem gehört der Klimaschutz nicht zu den menschlichen Grundmotiven. Die Evolution drängte uns primär, zu überleben und einen gewissen Grad an Sicherheit und Komfort zu erreichen. Beim Abschätzen der Bedrohlichkeit des Klimawandels versagt unsere Intuition, kurz: Die Klimaveränderungen verbinden wir noch zu wenig mit realen Bedrohungsszenarien.

TEC21: Das Auftauen der Permafrostzonen in den Alpen ist aber eine Bedrohung, die sich direkt vor unserer Haustür abzeichnet.
Heinz Gutscher: Die Bedrohung ist in diesem Fall konkret, zumindest für die Menschen in den betroffenen Regionen. Aber ich habe grosse Zweifel, ob das uns alle in unserem Alltag wirklich bewegt. Viele Risiken sind immer noch relativ abstrakt, da sie uns nur von der Wissenschaft vermittelt werden, das heisst von Leuten, die sich ab und zu auch widersprechen, die extreme und weniger extreme Szenarien vorhersagen. Hier gibt es die Tendenz zu sagen: ‹Da warten wir mal, bis die sich geeinigt haben.›

TEC21: Distanziert man sich vielleicht auch von diesen Fakten, weil es fast immer Negativmeldungen über Bedrohungen und Risiken sind, die man irgendwann nicht mehr hören möchte? Wären Positivbotschaften nicht die bessere Wahl?
Heinz Gutscher: Ich denke, es braucht beides. Auf glaubwürdige Art Angst zu machen, ist ein sehr wirksames ‹Instrument›, wenn eine zumutbare und realisierbare Gegenmassnahme verfügbar ist. Wir sind von unseren Anlagen her höchst effiziente ‹Gefahrenvermeidungswesen›. Daher achten wir mehr auf Negativ- als auf Positivmeldungen. Wir haben eine klare Asymmetrie in der Verarbeitung. Aber natürlich sind auch Erfolgsmeldungen wichtig, um den Leuten Hoffnung zu machen, dass Verhaltensänderung etwas bringt. Beim Klimaschutz halte ich das allerdings für problematisch. Gewisse negative Auswirkungen wird es trotz allen Bemühungen geben – wenn auch wohl in einem geringeren Ausmass als ohne Gegenmassnahmen.

TEC21: Steht uns bei Veränderungen nicht oft auch die Gewohnheit im Weg?
Heinz Gutscher: Ja, Menschen sind Status-quo-Geschöpfe. Routine entlastet vom Nachdenken. Wenn man etwas ändert, muss man auf neue Gefahren achten. Damit man Lust hat, etwas Neues auszuprobieren, braucht es finanzielle und zeitliche Ressourcen. Auch Ereignisse wie die Eröffnung der Zürcher Westumfahrung oder die Sperrung eines Tunnels können Anlass sein, Gewohnheiten zu ändern.

TEC21: Kann man nicht auch unabhängig von so einem Ereignis die Menschen davon überzeugen, in ihrem Alltag etwas zu verändern?
Heinz Gutscher: Die Psychologie, die Soziologie, die Politologie und auch die Ökonomie kennen verschiedene Techniken zur Verhaltensänderung. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang z.B. das Sichtbarmachen von ‹Pionieren›, die bereits angefangen haben zu handeln. Ich sehe eine grosse Chance darin, deren Handeln stärker ins Licht zu rücken, denn Menschen orientieren sich daran, was andere machen. Dafür müssen sie gar nicht alles verstehen. Ich könnte mir auch vorstellen, das aktiv zu nutzen – der Nachbar als sozialer Multiplikator. Über Zeitungsinserate könnte man z.B. Leute suchen, die bereit sind, von Haus zu Haus zu gehen und über die Erfahrungen mit ihrer Solaranlage zu sprechen. Direkte menschliche Kommunikation hat grosse Vorteile: Sie ist bis zu einem gewissen Grad selbstheilend. Wenn die Leute geschickt genug sind oder gut ausgebildet, merken sie, wenn sie eine Person anders behandeln oder Dinge nochmals erklären müssen. Das kann ein gedruckter Flyer nicht.

TEC21: Nehmen wir an, jemand ist zu der Überzeugung gelangt, dass er sich umweltfreundlicher verhalten möchte. Das heisst ja noch nicht, dass er dann auch wirklich so handelt.
Heinz Gutscher: Oft sind es äussere Faktoren, die dem umweltfreundlichen Verhalten entgegenwirken. Diese Schwierigkeiten des Verhaltens muss man unbedingt berücksichtigen. Das ‹Wollen› ist das eine, es geht aber auch um das ‹Können› – kann ich mich überhaupt nachhaltig verhalten? Wenn eine Person zum Beispiel auf das Auto verzichten möchte, aber keinen ÖV-Anschluss in der Nähe hat, ist die Verhaltensschwierigkeit extrem. Es braucht entsprechende strukturelle Grundbedingungen – die Infrastruktur oder die Dienstleistungen, die es mir ermöglichen, mich entsprechend zu verhalten, oder die umgekehrt umweltschädigendes Verhalten verhindern. Fehlen beispielsweise Parkplätze in der Innenstadt, wird eher auf das Auto verzichtet. Ich muss auch die ökonomischen Mittel und die zeitlichen Ressourcen dafür haben. Aber selbst wenn man sich umweltfreundlich verhalten will und auch die Möglichkeit dazu hat, muss man es im entscheidenden Moment auch tatsächlich tun. Dafür gibt es heute schon verschiedene technische Hilfsmittel, die uns in der entsprechenden Situation darauf aufmerksam machen, dass wir etwas tun könnten.

TEC21: Können Sie ein Beispiel nennen?
Heinz Gutscher: Ja, es gibt Versuche mit Feedbackanzeigen, die – in der Wohnung angebracht – ihre Farbe ändern, je nachdem, ob momentan viel oder wenig elektrische Energie gebraucht wird.[1] Es hat sich gezeigt, dass diese Form von Feedback Vorteile gegenüber einem digitalen Display mit Zahlen hat, weil es schneller und intuitiver zu verarbeiten ist. Es gibt auch Untersuchungen mit Robotern, die zum Benutzer sprechen. Auch ein solches ‹soziales› Feedback ist wirksamer als die Kommunikation reiner Fakten in Zahlenform. Es ist quasi eine Missbilligung aus der sozialen Umgebung.

TEC21: Wenn ich umgekehrt aber das Gefühl habe, ich sei der Einzige, der sich umweltgerecht verhält, erzeugt das unter Umständen Frustration, weil der einzelne Beitrag eigentlich nichts bringt. Wie kann man dem entgegenwirken?
Heinz Gutscher: Wir müssen versuchen, für die Einzelnen die kleinen Beiträge aller anderen zu addieren und (mindestens virtuell) sichtbar zu machen. Um den Leuten das Gefühl zu geben, dass sie nicht allein sind, gibt es heute tolle IT-Möglichkeiten. Denkbar wäre eine Art Nachhaltigkeits-Facebook, wodurch ich merke, dass es noch viele andere Leute gibt, die sich nachhaltig verhalten, und wo ich auch Tipps bekomme. Es gibt auch die Möglichkeit, sogenannte ‹Alle-oder-niemand-Verträge› zu schliessen. Man sagt beispielsweise, unser Ziel ist, die Schadstoffbelastung in der Stadt um so und so viel Prozent zu senken. Um das zu erreichen, braucht es 20 000 Beiträge, das heisst 20 000 Leute, die mit ihrer Unterschrift bezeugen, das versprochene Verhalten, etwa im Verkehrsbereich, auszuführen, wenn alle diese Beiträge zusammenkommen. Der Vorteil davon ist: Wenn es gelingt, wird ein messbarer Effekt erreicht. Wichtig ist der Grundbefund: Menschen sind bedingt kooperativ. Es ist nicht so, dass wir nur über das Geld gesteuert werden, wir investieren auch etwas für eine Idee. Wenn andere mitmachen, machen wir tendenziell auch mit. Das sind wichtige Befunde, die über die klassische Ökonomie hinausgehen und ein Stück weit optimistisch stimmen. Fairness oder Gerechtigkeit sind bei vielen ebenfalls soziale Grundmotivationen.

TEC21: Welche Bedeutung haben Vorschriften als ein Instrument, Umweltverhalten zu steuern?
Heinz Gutscher: Vorschriften haben eine wichtige Funktion. Wir finden für jede neue soziale Idee Leute, die sie schon umsetzen oder die bereit sind, das unter günstigen Umständen zu tun. Diese Pioniere machen meist zwischen 10 und 20 Prozent aus. Die Mehrzahl der Menschen kann zum Nachfolgen animiert werden. Aber die letzten ca. 15 Prozent, die es nicht kümmert, was jemand anderes macht, und die sich nichts überlegen, können wir nur über Vorschriften und Gesetze mitnehmen.

TEC21: Konzentriert man sich heute zu sehr darauf, Wissen zu generieren oder sich Effizienztechniken zu überlegen, und vernachlässigt darüber die Forschung zu den Bestimmungsfaktoren menschlichen Verhaltens – also wie bringt man die Leute dazu, nachhaltiger zu werden?
Heinz Gutscher: Da gibt es tatsächlich ein Missverhältnis. In den USA fl iessen 97 Prozent der Mittel für die Klimaforschung in die Naturwissenschaften und nur 3 Prozent in die Sozialwissenschaften. Die genauen Zahlen für die Schweiz kenne ich nicht. Die Natur- und die Sozialwissenschaften sind aber nicht die Einzigen, die wichtige Beiträge liefern müssen. Eine witzige Art, auf das Gemeingutdilemma aufmerksam zu machen, war zum Beispiel ein Plakat während unserer Anti-Stau-Kampagne beim Ausbau des Baregg-Tunnels: ‹Ich stehe im Stau, weil die anderen nicht Zug fahren.› Das zeigt, dass es auch die Kreativen braucht. Es braucht alle – die ganz junge Generation, die Künstler, die Freaks. Und ich hoffe, dass auch die Politik gewisse Fantasien entwickeln wird. Wir müssen unsere soziale Kreativität stärker nutzen, um Veränderungen zu beschleunigen.


Anmerkungen:
[1] Die Ergebnisse dieser Studie von Cees Midden, TU Eindhoven, werden im Rahmen der 8th Biennial Conference on Environmental Psychology vom 6. bis 9. September 2009 in Zürich vorgestellt. www.sozpsy.uzh.ch/conference.html
[2] Quelle: Volker Linneweber: Umweltpsychologie – Ansatz und Anliegen, www.umweltpsychologie.de

TEC21, Fr., 2009.05.29



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2009|22 Vom Wissen zum Handeln

13. März 2009Claudia Carle
TEC21

Artenvielfalt erwünscht

Städte werden oft als das Gegenteil von Natur wahrgenommen. Dabei weisen städtische Grünräume eine erstaunlich hohe Vielfalt an Tierarten auf, wie ein interdisziplinäres Forschungsprojekt in drei Schweizer Städten zeigte. Es untersuchte, von welchen Faktoren die Artenvielfalt in den sehr unterschiedlichen städtischen Grünräumen abhängt. Ausserdem wollte man wissen, ob sich eine grosse Artenvielfalt auch mit den Wünschen der Bewohner an ihre grüne Umgebung deckt.

Städte werden oft als das Gegenteil von Natur wahrgenommen. Dabei weisen städtische Grünräume eine erstaunlich hohe Vielfalt an Tierarten auf, wie ein interdisziplinäres Forschungsprojekt in drei Schweizer Städten zeigte. Es untersuchte, von welchen Faktoren die Artenvielfalt in den sehr unterschiedlichen städtischen Grünräumen abhängt. Ausserdem wollte man wissen, ob sich eine grosse Artenvielfalt auch mit den Wünschen der Bewohner an ihre grüne Umgebung deckt.

Natur in der Stadt hat viele Gesichter: Sie reicht von exakt geschnittenen Rasenflächen bis zu wild wucherndem Grün auf ungenutzten Bahnarealen, von Einzelbäumen am Strassenrand bis zu grossflächigen Parks, von der neu gestalten Grünanlage bis zu uralten Villengärten. Teilweise nehmen wir diese Flächen mehr als grüne Dekoration denn als Lebensräume für Pflanzen und Tiere wahr. Aber auch diese vom Menschen oft stark beeinflussten Orte dienen einer erstaunlich vielfältigen Artengemeinschaft als Lebensraum. «Wir waren überrascht, wie viele Arten selbst an unattraktiven Standorten in der Stadt leben», sagt Fabio Bontadina von der Zürcher Arbeitsgemeinschaft SWILD. Zusammen mit Projektpartnern von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL), den Universitäten Bern und Zürich sowie dem Planungsbüro Studi Associati SA aus Lugano untersuchte er im Rahmen des Forschungsprojektes «BiodiverCity»[1] die Artenvielfalt in städtischen Grünräumen und die Erwartungen der Bevölkerung an diese Räume. Beantwortet werden sollte dabei die Frage, wie aus Sicht der Bevölkerung bzw. unter dem Aspekt der Artenvielfalt der optimale Grünraum aussieht und ob sich diese Ansprüche zur Deckung bringen lassen.

Erhebung von Artenzahlen und Eigenschaften der Grünräume

Um die Artenvielfalt und die massgeblichen Einflussfaktoren zu bestimmen, wurden in den Städten Lugano, Luzern und Zürich die Artenzahlen von Vögeln, Fledermäusen sowie Insekten und Spinnen erhoben. Dafür wurden in jeder der drei Städte 32 Unter suchungspunkte festgelegt. Innerhalb eines Radius von 50 Metern um diese Punkte wurden mögliche Einflussfaktoren für die Artenzahlen erfasst: der Versiegelungsgrad, das Alter des Grünraumes und die Häufi gkeit der Rasenschnitte als Mass für die Bewirtschaftungsintensität. Um ein Mass für die Vielfältigkeit innerhalb der Untersuchungsflächen zu erhalten, wurde auch erhoben, aus welchen verschiedenen Lebensraumtypen wie Wiesen, Bäumen oder Sträuchern sie sich zusammensetzen und wie diese räumlich angeordnet sind, das heisst, ob es sich um jeweils grosse Flächen oder ein kleinteiliges Mosaik handelt.

«Die Artenvielfalt, die wir an einem bestimmten Punkt vorfi nden, wird auch durch die Eigenschaften der Umgebung bestimmt», erläutert Thomas Sattler von der WSL. «Je isolierter und je schwerer zugänglich ein Grünraum ist, desto weniger Arten können von benachbarten Grünflächen einwandern bzw. desto grösser ist die Gefahr, dass eingewanderte Arten wieder aussterben.» Dieser Effekt ist unterschiedlich stark, je nachdem wie mobil eine Art ist. Für flugunfähige Insekten ist die Umgebung in einem viel kleineren Radius relevant als für Vögel oder Fledermäuse.

Um den Einfluss der Grünraumeigenschaften auf die Artenzahlen berechnen zu können, wurden die Untersuchungspunkte so ausgewählt, dass sie eine möglichst grosse Bandbreite erfassen: von ganz neu angelegten Grünarealen bis zu über 150 Jahre alten, von nahezu unversiegelten Flächen bis hin zu Bereichen mit 92 % Versiegelungsgrad und von Gelände, das nicht bewirtschaftet wird, bis hin zu alle zehn Tage gemähten Rasenflächen.

Überraschend hohe Artenvielfalt

Trotz dieser grossen Bandbreite sind die Artenzahlen relativ homogen. Zum einen fanden die Forschenden in allen drei Städten durchschnittlich etwa gleich viele Arten pro Standort (Abb. 3). Ausserdem unterscheiden sich die Artenzahlen zwischen den artenärmsten und den artenreichsten Standorten weniger stark als von den Forschern erwartet. Insgesamt beherbergen alle drei Städte eine «überraschend hohe Artenvielfalt», schreiben die Forscher. Bei den Insekten und Spinnen liegt sie beispielsweise in der gleichen Grössenordnung wie in Landwirtschafts- und Waldgebieten (Abb. 5). Es wurden auch mehrere Arten gefunden, die bisher in der Schweiz noch nie beobachtet wurden. Grösstenteils sind dies mediterrane Arten, denen Städte als Wärmeinseln das Überleben auch ausserhalb ihres angestammten Verbreitungsgebietes ermöglichen.

Gestaltung einer Grünfläche entscheidend für Artenvielfalt

Wenig überraschend ist hingegen, in welchen Grünräumen die höchsten Artenzahlen vorkommen (Abb. 4): Je älter eine Grünfläche ist und je mehr Strukturvielfalt sie aufweist, desto mehr Insekten- und Spinnenarten leben dort. Je stärker versiegelt hingegen eine Fläche ist und je häufi ger sie bewirtschaftet wird, umso weniger Insekten und Spinnenarten fühlen sich dort wohl. Für Vögel ist vor allem die Strukturvielfalt und hier besonders die Anzahl an Bäumen entscheidend: Je mehr Bäume, desto mehr Vogelarten, wobei eine Mischung aus Laub- und Nadelbäumen optimal ist. Für die Fledermäuse werden die Auswertungen erst im Herbst 2009 abgeschlossen.

Die Botschaft der Biologen lautet also, dass die wichtigsten Entscheidungen für die Artenvielfalt eines Grünraumes bei dessen Gestaltung getroffen werden: über den Versiegelungsgrad, die Vielfalt an Strukturen und die Anzahl an Bäumen. «Das sollten Grünraumplaner neben den ästhetischen Kriterien mit berücksichtigen», wünscht sich Fabio Bontadina. Ist die Gestaltung einmal festgelegt, hat aber auch die Bewirtschaftungsintensität einen grossen Einfluss. «Auch in eher stark versiegelten Flächen kann bei extensiver Bewirtschaftung die Artenvielfalt relativ hoch sein», heisst es im Ergebnisbericht von BiodiverCity.

Grün ist wichtig für städtische Lebensqualität

Aber wünschen sich die Stadtbewohner überhaupt artenreiche Grünräume? Oder haben sie ganz andere Prioritäten? Und welche Bedeutung hat das städtische Grün für ihre Lebensqualität? Diesen Fragen ging man im sozialwissenschaftlichen Teil des Forschungsprojekts nach. Dafür wurden 7000 Fragebogen an einen repräsentativen Querschnitt der Schweizer Bevölkerung verschickt. Befragt wurden somit nicht nur Stadt-, sondern auch Bewohner nichtstädtischer Gebiete. Der Rücklauf an Fragebogen war mit 26% erstaunlich hoch. «Es zeigte sich sehr deutlich, dass Grünräume ein wichtiger Teil der Lebensqualität sind», erklärt Robert Home von der WSL. Dabei messen Stadtbewohner den Grünräumen eine grössere Bedeutung zu als die Landbewohner. Insgesamt schätzen Stadtbewohner ihre Lebensqualität niedriger ein als Landbewohner. «Das zeigt, dass Natur in der Stadt von spezieller Bedeutung ist, weil sie einen Kontrast zum gebauten Umfeld bildet», so Robert Home. «Offensichtlich scheint bei den Städtern das Gefühl eines Mangels die Wichtigkeit von Grünräumen zu erhöhen.» Von dieser These sei man zwar immer ausgegangen, wissenschaftliche Belege habe es dafür aber bisher nicht gegeben.

Naturnah, aber gepflegt

Wie diese Grünräume aus Sicht der Bevölkerung konkret aussehen sollen, wurde neben dem Fragebogen auch mit computergenerierten Fotos untersucht, die einen städtischen Grünraum in verschiedenen Gestaltungsvarianten zeigen (Abb. 6 bis 9). Bevorzugt wurden von den Befragten jene Varianten, die relativ komplexe, also abwechslungs- und strukturreiche Grünräume zeigen. «Es wurden viel komplexere Grünräume bevorzugt, als wir erwartet hatten», so Robert Home. Nach Wildwuchs darf es aber trotzdem nicht aussehen: Die Befragung zeigte, dass die Grünflächen zwar naturnah sein dürfen, aber gleichzeitig gepflegt aussehen müssen. «In der Praxis könnte das zum Beispiel bedeuten, dass man der Begehbarkeit zuliebe Wiesenflächen nur am Rand schneidet und in der Mitte das Gras stehen lässt (bei Spielwiesen umgekehrt). Die Übergangsbereiche zwischen geschnittenen und ungeschnittenen Bereichen können auch ökologisch wertvoll sein. Zusätzlich könnte man auf Schildern erläutern, warum das Areal so gestaltet wurde.»

Angebote für verschiedene Nutzer

Die Auswertung zeigte auch, dass die Bevölkerung Natur nicht nur um der Natur willen möchte, sondern die Grünräume zugänglich und nutzbar sein sollen – auch für diejenigen, die sie real gar nicht nutzen. Das heisst, dass sie in relativ kurzer Zeit erreichbar sein müssen und Möglichkeiten für verschiedene Nutzerinteressen anbieten sollten, beispielsweise Wege, Bänke und Spielmöglichkeiten. Zum Wunsch nach Zugänglichkeit gehört auch, dass man sich in den Grünanlagen sicher fühlen muss. Hier ortet Fabio Bontadina eine mögliche Schwäche des Forschungsprojektes. Die Fotomontagen zeigen die Grünräume an einem hellen, sonnigen Tag. «Wir haben uns gefragt, ob die Leute bei der Betrachtung der Bilder immer alle Konsequenzen bedacht haben. Würden sie in einer Nachtsituation immer noch die strukturreichen Grünräume bevorzugen, wenn Bäume und Sträucher die Sicht einschränken? Oder wie sieht es aus, wenn sich der unbefestigte Weg an einem Regentag in Matsch verwandelt?» Vom Umfang des Forschungsprojektes her waren hier aber Grenzen gesetzt.

Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit?

Vergleicht man die in der Untersuchung geäusserten Wünsche der Bevölkerung mit den Anforderungen an möglichst artenreiche Grünräume, dann decken sich beide Ansprüche zu einem überraschend grossen Teil. «Sind Grünräume so gestaltet, wie sie sich die Bevölkerung gemäss unseren Untersuchungen wünscht, ist man vom Optimum aus Sicht der Biodiversität gar nicht so weit weg», meint Fabio Bontadina. In einem Nachfolgeprojekt soll untersucht werden, ob die Stadtbewohner eine naturnahe Gestaltung von Grünanlagen noch stärker unterstützen, wenn dadurch bestimmte Tierarten neuen Lebensraum erhalten. Erste Analysen haben gezeigt, dass beispielsweise der Buntspecht sowohl ein Indikator für eine hohe Biodiversität im Siedlungsgebiet ist als auch bei der Bevölkerung sehr beliebt ist. Die Forscher stellen sich vor, dass solche Sympathieträger als Botschafter für naturnahe Aufwertungen dienen und damit mehr Natur im Siedlungsraum ermöglichen könnten. «Wenn man sich andererseits anschaut, wie Grünräume heute tatsächlich gestaltet sind, hat man den Eindruck, dass die Planer die Bedürfnisse der Bevölkerung falsch einschätzen», so Bontadina. Man wolle daher in einem Nachfolgeprojekt die gleiche Befragung mit Grünraumplanern durchführen, um hier mögliche Unterschiede zwischen den Wünschen der Bevölkerung und der Einschätzung durch Experten aufzudecken. Damit die Ergebnisse des Forschungsprojektes Eingang in die Praxis finden, ist ausserdem geplant, konkrete Empfehlungen für Grünraumplanung und -bewirtschaftung zu erarbeiten, mit denen die Biodiversität städtischer Grünräume erhöht werden kann.

Anmerkung:
[1] Das Projekt «BiodiverCity» ist Teil des Nationalen Forschungsprogramms NFP 54 «Nachhaltige Siedlungs- und Infrastrukturentwicklung» und wurde von folgenden Personen durchgeführt: Marco Moretti (WSL, Projektleiter), Nicole Bauer (WSL), Fabio Bontadina (Uni BE, SWILD), Paolo Della Bruna, (Studi Associati SA), Peter Duelli (WSL), Sandra Gloor (SWILD), Robert Home (Uni ZH, WSL), Marcel Hunziker (WSL), Martin Obrist (WSL), Thomas Sattler (Uni BE, WSL), Simone Fontana (WSL, Uni BS); www.nfp54.ch; www.biodivercity.ch

TEC21, Fr., 2009.03.13



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2009|11 Natur in der Stadt

03. November 2008Claudia Carle
Ruedi Weidmann
TEC21

«angemessen eingreifen»

Mehrfach haben Parlamente Baubehörden aufgefordert, nachhaltiges Bauen energischer zu fördern und Projekte für energetische Sanierungen und Solaranlagen...

Mehrfach haben Parlamente Baubehörden aufgefordert, nachhaltiges Bauen energischer zu fördern und Projekte für energetische Sanierungen und Solaranlagen...

Mehrfach haben Parlamente Baubehörden aufgefordert, nachhaltiges Bauen energischer zu fördern und Projekte für energetische Sanierungen und Solaranlagen häufi ger zu bewilligen. Doch bestehende Bauten sind eine kulturelle Ressource, die so nachhaltig bewirtschaft et werden sollte wie Energie. Mit seiner Fachstelle für nachhaltiges Bauen gehört das Stadtzürcher Amt für Hochbauten zu den Pionieren des ökologischen Bauens in der Schweiz. Viele seiner Projekte verbinden Energieeffi zienz und einen schonenden Umgang mit der Bausubstanz. TEC21 hat Vertreterinnen und Vertreter des Amts sowie die Leitung der städtischen Denkmalpflege und eine private Architektin gebeten, das Dilemma und Lösungswege anhand zweier Umbauprojekte zu erörtern.

TEC21: Energetische Sanierungen bestehender Bauten tragen viel zum Klimaschutz bei. Diese Erkenntnis hat sich endlich durchgesetzt. Die Kehrseite der Medaille ist allerdings, dass unser baukulturelles Erbe allmählich unter einer dicken Isolationsschicht und unter Solarpanels verschwindet. Die Denkmalpflege scheint zunehmend unter Druck zu geraten, hier mehr Spielraum zu gewähren. Wie erleben Sie die Entwicklung?
Peter Ess: Es geht letztlich um eine gesellschaftliche Frage: Wollen wir uns leisten, in Schönheit unterzugehen, oder wollen wir versuchen, das Energiethema in den Griff zu bekommen, zum Beispiel die schönen Dächer vergessen und in einem verzweifelten Befreiungsschlag überall Solaranlagen installieren – das sind die radikalen Standpunkte, die sich gegenüberstehen. Das Gewicht liegt momentan noch relativ stark auf der formalästhetischen Seite der Architektur. Wenn aber der politische Druck wächst, könnte er noch weiter in Richtung grosszügige Handhabung energetischer Massnahmen gehen. Marburg beispielsweise hat den Schieber ganz auf die andere Seite geschoben: Dort muss jetzt auf alle geeigneten Dächer eine Solaranlage kommen.

Die Stadtzürcher Baubehörden engagieren sich seit Langem für Nachhaltigkeit. In letzter Zeit ist das Thema Nachhaltigkeit aber auf der politischen Agenda so weit nach oben gerückt, dass die Politik angefangen hat, uns zu überholen: Sie ist zu einer sorgfältigen Güterabwägung gar nicht mehr bereit, sondern verlangt von uns, das Kind mit dem Bad auszuschütten. Bei Neubauten ist es einfach: Man kann die Anforderungen defi nieren und das Gebäude darauf hin entwickeln. Aber zwei Drittel unserer Bauaufgaben betreffen die Erneuerung bestehender Substanz. Hier kann man auch den grössten Effekt hinsichtlich Nachhaltigkeit erzielen. Doch braucht es hier eine Güterabwägung. Die Grundhaltung des Amts für Hochbauten dazu stammt von 1997, sie umfasst drei Punkte: – Mit einer Summe kleiner Eingriffe können baukünstlerisch wertvolle Gebäude Zug um Zug ruiniert werden. – Bei jedem Eingriff in bestehende Substanz sind daher gleichermassen die Herkunft und der Zeitgeist wie auch die Zukunftsperspektive der Baute zu klären. – Entscheide über Eingriffe erfolgen in Abwägung der Nutzungsanforderungen, der denkmalpflegerischen, architektonisch-städtebaulichen und ökologischen Anliegen sowie der Angemessenheit der Kosten.

Die politische Diskussion wird immer in Kurven verlaufen. Die Verwaltung hingegen muss auf Konstanz und Sorgfalt achten und diese Themen unabhängig von Schwankungen im politischen Tagesgeschäft in ein Gleichgewicht bringen. Hier müssen wir eine gewisse Behäbigkeit pflegen und auf dem Weg der Güterabwägung weitergehen. Dabei muss man davon ausgehen, dass nicht jeder sein Partikularinteresse maximieren kann. Zusammen müssen wir die Schnittmenge für eine vernünftige Lösung suchen.

Harte Zahlen gegen weiche Faktoren

Jan Capol: Die Entwicklung in Sachen Umweltschutz, dass Gebäude auf eine 2000-Watt- Gesellschaft ausgerichtet werden, fi nde ich uneingeschränkt positiv. Wir verstehen Denkmalpflege auch als eine Art Umweltschutz und ziehen mit der Fachstelle Nachhaltiges Bauen am gleichen Strick. Ich sehe aber eine Schwierigkeit darin, dass die ökologische Nachhaltigkeit messbar ist und in exakten Zahlen ausgedrückt werden kann, während bei der kulturellen Nachhaltigkeit anders argumentiert werden muss. Wenn Heinrich Gugerli sagt: ‹Jetzt sind wir bei 200 Megajoules pro Quadratmeter›, hat er gewonnen, da kann ich noch so lang über die kulturhistorische Bedeutung referieren. Die Herausforderung ist, die beiden Argumentationsweisen miteinander zu verbinden.
Heinrich Gugerli: Das stimmt. Vielleicht muss man das als Chance wahrnehmen und den Diskurs fördern. Wenn man an Minergie oder an die 2000-Watt-Gesellschaft denkt, sind die eindeutigen Zahlen der Energiefachleute allerdings auch nur eine Krücke. Es geht ja nicht nur um Megajoules, sondern um ein breites Spektrum von Nachhaltigkeitszielen gemäss der SIA-Empfehlung 112/1 und entsprechender Massnahmen. Auch wir glauben nicht, dass man das einfach nach Zahlenwerten entscheiden kann.
Sibylle Bucher: Vielleicht müsste die Denkmalpflege auch exakte Werte definieren?
Urs Baur: Die Denkmalpflege des Kantons Solothurn hat vor Jahren versucht, ein Zahlensystem einzuführen, um die Schutzwürdigkeit von Objekten nachzuweisen. Sie ist kläglich gescheitert. Ein Problem ist aber tatsächlich, dass keine Denkmalpflege-Normen existieren. Als Folge davon einigen wir uns zwar in der Güterabwägung, danach kommen aber andere Anliegen ins Spiel, die sich auf unverrückbare Normen beziehen können – zum Beispiel braucht ein Schulzimmer 500 Lux.
Peter Ess: Ich finde, es wäre ein fataler Irrtum, wenn man versuchen würde, qualitative Werthaltungen zu quantifizieren und dann meint, man bekäme einen objektiven Wert. Eine Werthaltung bleibt eine Werthaltung. Ein zweiter fataler Irrtum scheint mir, zu meinen, mit Verordnungen und Rechtsmitteln habe man eine bessere Position. Ich bin zutiefst überzeugt, dass es um den gesellschaftlichen Stellenwert einzelner Themen geht: Wie wichtig ist uns Heimat im Sinn von Ortsbild und Originalsubstanz?
Sibylle Bucher: Es geht ja eigentlich eher um den Umgang mit diesen Normen. Wir Architekturschaffenden können versuchen, die verschiedenen Interessen möglichst geschickt miteinander zu kombinieren.
Jan Capol: Immerhin haben wir im Amt für Städtebau zusammen mit Leuten aus allen interessierten Departementen einen für Bauherrschaften nachvollziehbaren Leitfaden für den Umgang mit der Dachlandschaft erarbeitet. Den Anstoss dazu gaben Gesuche für Sonnenkollektoren und Fotovoltaikanlagen auf Dächern. Die Erarbeitung des Leitfadens war nicht ganz konfliktfrei, und man ist sich noch nicht einig. Darum ist der Leitfaden jetzt in einem Evaluationsverfahren.
Heinrich Gugerli: Wir haben gestritten, aber das war eigentlich gut.
TEC21: Die Denkmalpflege scheint in diesem Konflikt momentan eher in der Defensive zu sein?
Jan Capol: Nein, das ist nicht so. Dass die Denkmalpflege etwas verhindere, ist europaweit ihr Ruf, er gehörte schon immer zu ihr. Nach dem 11. 9. 2001 war Sparen angesagt, und es gab eine schriftliche Anfrage, ob man die Denkmalpflege in Zürich einstellen könne, sie verbrauche zu viel Geld. Da konnten wir antworten: Das Geld, das wir verbrauchen, entspricht kaum der Portokasse der Stadt – und der Bauherren übrigens auch. Nicht einmal zehn Prozent der Gebäude der Stadt Zürich sind im Inventar, dort reden wir mit. Schaut man, wie viele Solaranlagen wir abgelehnt haben, ist das ein sehr kleiner Teil.

Städtebauliche Gesamtwirkung

TEC21: Unsere anfänglich formulierte Sorge bezieht sich nicht unbedingt auf die geschützten Bauten, sondern vor allem auch auf die rund 90 % der Bauten, die nicht geschützt sind.
Peter Ess: Die oben erwähnten drei Punkte unserer Grundhaltung gelten ganz besonders für diese Bauten. Wir pflegen die Bausubstanz nicht, weil und wenn es die Denkmalpflege von uns verlangt, sondern weil wir uns als Architektinnen und Architekten eigenständige Überlegungen zu einem Gebäude und seinem Kontext machen. Das gehört zu unserer Kultur.
Heinrich Gugerli: Bei den Minergie-Sanierungen der Wohnsiedlungen Heumatt und Heuried aus den 1970er-Jahren haben wir der Gestaltung hohe Priorität beigemessen. Im Heuried wurde ein Studienauftrag für die Neugestaltung der Fassade veranstaltet, und auch im Gesamtleistungswettbewerb für die Heumatt war die Gestaltung ein wichtiger Teil. Wenn man die Gebäude schon einpackt, muss man ihnen auch ein neues Gesicht geben.
Peter Ess: In den Kern- und Quartiererhaltungszonen redet die Denkmalpflege allerdings auch mit. Sie hat viel mehr steuernde Wirkung als nur in den paar Prozent geschützter und unbestrittener Schutzobjekte.
Jan Capol: Ja, das stimmt. Aus städtebaulicher Sicht ist das ein Glück. Allerdings beraten wir hier die Bauherren lediglich, wie sie die vom kantonalen Planungs- und Baugesetz geforderte ‹gute Gesamtwirkung› erreichen können. Das ist etwas anderes als bei den Schutzobjekten, wo wir Auflagen machen; da unterscheiden wir unsere Rollen klar. Ich schlage aber vor, nicht von einem Konflikt zwischen Energiesanierung und Denkmalpflege zu sprechen, sondern zwischen Energiesanierung und Städtebau. Denn die weniger als 10 % inventarisierter Objekte sind ein kleiner Teil. In den Quartieren aus der Nachkriegszeit, wo jetzt die grossen Sanierungen anstehen, gibt es davon fast keine. Es geht also vor allem um städtebauliche Anliegen.
Peter Ess: Und hier stellt sich die Frage, wie ‹gute Gesamtwirkung› definiert wird. Der Ehrgeiz, die Architektur auf höchstem Niveau zu erhalten, ist in Zürich enorm gross. Ich finde, dass die Spielräume in Situationen, die mit Denkmalpflege im engeren Sinn nichts zu tun haben, etwas gar eng sind. Wenn die Nachhaltigkeit jetzt einen höheren Stellenwert hat, müsste man vielleicht etwas kulanter sein.

Kompromisse oder klare Entscheidung?

TEC21: Besteht in der Güterabwägung wirklich ein harter Gegensatz zwischen Ökologie und Städtebau? Lässt sich nicht, wenn man früh genug zusammen eine Lösung sucht, beides widerspruchsfrei verbinden?
Jan Capol: Es gibt Fälle, wo wir uns einigen, Kompromisse schliessen und beide Seiten mit der Lösung zufrieden sind. Aber es gibt auch Fälle, wo man sich entscheiden muss. Heinrich Gugerli: Es gehört zum Wesen der Nachhaltigkeit, dass man nicht alle Aspekte erfüllen kann, sondern Zielkonflikte entscheiden muss. Wichtig finde ich, dass diese Konflikte frühzeitig auf den Tisch kommen. Aber nicht immer ist Zufriedenheit in allen Bereichen erreichbar.
Ueli Lindt: Bei Bauten, die ein eindeutiges Primat haben, sei es im Hinblick auf ihre historische Bedeutung oder im Hinblick auf ein Energiesparpotenzial, ist es einfacher. Da lässt sich ein Konzept machen, das eine eindeutige Richtung definiert. Schwierig wird es, wenn diese Frage unentschieden ist. Ich bin deshalb nicht so sicher, ob der Kompromiss immer die beste Lösung ist, oder ob er nicht unter Umständen faul ist, sodass am Schluss weder die Denkmalpflege noch die Energiefachleute befriedigt sind.
Peter Ess: Man darf den Kompromiss nicht negativ besetzen. Unser ganzes Staatswesen beruht auf diesem Prozess, und wir sind bisher nicht so schlecht gefahren damit. Bauen ist grundsätzlich nie widerspruchsfrei. Es gilt immer zu klären, welche Anliegen wie weit und mit welchem Aufwand zu erfüllen sind.
Sandra Zacher: Und die Güterabwägung findet ja nicht nur zwischen Energieverbrauch und historischem Wert statt. Es kommen noch viele weitere Ansprüche hinzu.
Urs Baur: Wichtig für eine befriedigende Güterabwägung ist es jedenfalls, dass der denkmalpflegerische Wert und der Schutzumfang ganz am Anfang geklärt werden. Dass während der Planung – oder gar auf der Baustelle – keine Grundsatzdiskussionen mehr geführt werden müssen.

Kleinere Eingriffe bei flexiblerer Nutzung

Sibylle Bucher: Im Grund haben doch Denkmalpflege und Nachhaltigkeit auch gemeinsame Interessen: Je weniger man baut, umso nachhaltiger. Vielleicht müsste man sich mehr darauf zurückbesinnen. Jedes Gebäude hat ein Wesen, eine Struktur und ein Potenzial. Wenn man Ernst machen will mit der gesamtheitlichen Betrachtung, müsste man vermehrt eine Idee entwickeln, die zum spezifischen Gebäude passt. Das hier diskutierte Problem entsteht vor allem, wenn man eine Nutzung über das Gebäude stülpt, das man eigentlich am liebsten neu bauen möchte, und dann radikal saniert, sodass vom ursprünglichen Geist viel verloren geht.
Peter Ess: Dieser Wunsch ist in unseren drei Punkten enthalten. Wir klären immer ab, was ein Gebäude hergeben kann. Jeder Eingriff, den man nicht machen muss, ist eine gute Massnahme. Das gehört zu unserem Denken. Wenn wir die ursprüngliche Substanz eines Gebäudes weitestgehend respektieren können, indem wir einen Nutzer suchen, der zum Gebäude passt, erreichen wir drei Dinge: Wir haben den kleinstmöglichen Substanzverlust – das ist im Interesse der Denkmalpflege –, den grösstmöglichen Nutzen für die künftigen Nutzer und die kleinstmögliche Investition.
Sandra Zacher: Das heisst, man sollte an allen Rahmenbedingungen schrauben können, auch bei der Nutzung.
Ueli Lindt: Im Spannungfeld zwischen Städtebau und Ökologie ist der Nutzer einer der wichtigsten Akteure. Beim Schulhaus Milchbuck etwa forderte das Schulamt, dass Wände verschoben werden, um die Schulzimmer zu vergrössern.
Sibylle Bucher: Ja, hier haben die städtische Immobilienbewirtschaftung als Bestellerin, das Amt für Hochbauten und die Denkmalpflege aufgrund der Anforderungen des Schulamts einen Kompromiss ausgehandelt. Als wir als Architekturbüro hinzukamen, stand dieser Kompromiss bereits fest. Doch als wir vorschlugen, weniger in die Substanz einzugreifen, stellten wir fest, dass die Unsicherheit, wie mit dem Gebäude umgegangen werden soll, nach wie vor gross war – beispielsweise wünschte sich die Lehrerschaft eigentlich ein neues Gebäude. Aufgrund dieser Uneinigkeit entstanden in der weiteren Bearbeitung oft Konflikte über Details. Zum Beispiel war viel zu lange unklar, ob die Fenster erhalten oder ersetzt werden mussten und welches Material zum Einsatz kommen durfte. In so einer Situation wäre eine Task-Force hilfreich, die gemeinsam entscheiden kann. Ueli Lindt: Es ist eigentlich die Kernaufgabe des Amts für Hochbauten, alle Projektbeteiligten vor Beginn der Projektierung auf eine gemeinsame Zielvorstellung zu fokussieren, die sie mit Begeisterung tragen. Das klappt manchmal sehr gut und manchmal weniger gut. Je komplexer ein Projekt ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Partei später von der gemeinsamen Zielformulierung wieder abdriftet.
Sibylle Bucher: Ich wünschte mir, dass dabei ein Handbuch, eine Art ‹Bibel›, ausgearbeitet würde, die die angemessenen Lösungen für diesen spezifi schen Bau für alle verbindlich festlegt.
Ueli Lindt: Solche ‹Bibeln› erarbeiten wir tatsächlich im Rahmen der gemeinsamen Zielformulierung. Sie können viele Konflikte ausschliessen oder zumindest offenlegen. Beim Schulhaus Milchbuck gab es aber leider nur eine schmale Machbarkeitsstudie.
Heinrich Gugerli: Manchmal sind den Beteiligten auch einfach nicht alle Konsequenzen bewusst, die ein bestimmter Entscheid haben wird. Vermutlich war beim Milchbuck- Schulhaus nicht allen klar, dass man die Decken so stark verstärken bzw. sie ersetzen muss, wenn die Wände verschoben werden. Auf der Baustelle sah man dann, dass der Eingriff schon fast erschreckend tief war.
Sibylle Bucher: Nachdem die Vergrösserung der Schulzimmer einmal beschlossen war, sehe ich es als Beitrag an die Nachhaltigkeit, die Decken so zu verstärken, dass die Nutzbarkeit stark erhöht wird. Bei künftigen Umnutzungen können nun ohne grosse Eingriffe auch Wände verschoben werden.
Peter Ess: Es ist aber genau diese Eingriffstiefe, die ich kritisieren möchte! Es gibt einen Fetischismus der Raumoptimierung, der versucht, den hintersten Quadratmeter noch optimal zu nutzen. Damit ruiniert man viel Substanz. Man hätte dieses Schulhaus auch mit einer Klasse weniger belegen und einen Teil der alten Klassenzimmer als – etwas zu gros se – Gruppenräume nutzen können. Statt Wände um einzelne Meter zu verschieben, um exakt die rationellste oder eine bestimmte Normraumgrösse zu treffen, wäre es in bestehenden Bauten oft sinnvoller, sich etwas mehr Raum zu leisten als nötig. Das würde Geld sparen, denkmalschutzwürdige Substanz schonen und die Stoffflüsse klein halten. Hier liegt ein ganz wichtiges Potenzial für einen schonenden Umgang mit Gebäuden. Viele Nutzer und Bauherren stützen sich noch zu einseitig auf die reine Optimierung des genutzten Raums pro investierten Franken. Wir müssen den Bestellern und Nutzern immer wieder sagen: Ihr müsst euch mit eurem Betriebskonzept im Potenzial dieses Gebäudes bewegen, sonst wird die Umnutzung zu aufwendig. Das ist eine permanente Auseinandersetzung.
Sibylle Bucher: Sie wäre einfacher, wenn alle Beteiligten Spezialisten im Umgang mit historischem Baubestand einsetzen könnten. Es würde sich lohnen, dieses Spezialwissen stärker aufzubauen, denn mehr als die Hälfte des Bauvolumens ist heute Umbau, und der Anteil wird noch stark wachsen.
Urs Baur: Eigentlich müsste man das Potenzial eines Gebäudes viel freier abklären können: Was für eine Nutzung ist hier möglich, und was kann das Gebäude nicht erfüllen? Peter Ess: Die städtische Immobilienbewirtschaftung hat diesen Auftrag schon. Aber beim Schulhaus Milchbuck waren diese Raumoptimierungen für sie strategisch wichtig, und sie hat sich damit beim Stadtrat durchgesetzt. Es war ein qualifizierter politischer Entscheid für die grosse Eingriffstiefe.
TEC21: Wären die scheinbar widersprüchlichen Anliegen von Ökologie und Städtebau einfacher unter einen Hut zu bringen, wenn man bei den Vorstellungen über die Nutzung flexibler wäre? Alle: Ja, sicher.
Peter Ess: Hier liegt für uns ein Schlüssel zu wirklich nachhaltigen Umnutzungen. Ich glaube, darüber besteht an diesem Tisch ein Konsens.
Sandra Zacher: Leider werden Betriebskonzepte meist entworfen, bevor aus der baulichen und denkmalpflegerischen Analyse eine bestimmte Haltung gegenüber dem umzubauenden Gebäude erarbeitet worden ist. So entstehen Wünsche, für die sich das Gebäude gar nicht eignet.
Heinrich Gugerli: Beim Amtshaus Parkring gelang es, das bewusst zu machen. Hier wurde die originale kleinteilige Raumstruktur mit Einzelbüros erhalten und von den Nutzenden des Schul- und Sportdepartements akzeptiert, obwohl urprünglich Grossraumbüros geplant waren.

Labels und graue Energie

Sibylle Bucher: Substanz erhalten ist nachhaltig und vernünftig: Um mehr Respekt vor dem Bestehenden zu gewinnen, wäre es vielleicht wünschbar, einen Malus einzuführen für abgebrochene Anteile. Oder anders herum: Ich habe mir auch schon gewünscht, dass das Baumaterial viel teurer würde, damit wir eine ökologische Kostenwahrheit beim Material hätten und bestehende Teile eher weiterverwenden würden.
TEC21: Was können hier die Energie-Labels beitragen?
Peter Ess: Die Labels waren wichtig, damit ökologisches Bauen breite politische Akzeptanz fand. In der Praxis muss aber bei jedem Bauprojekt mit gesundem Menschenverstand der Ertrag am Aufwand gemessen werden. Zum Aufwand gehört auch der Verlust an vorhandener Bausubstanz. Für jedes Anliegen den Punkt zu suchen, wo sich noch mehr Aufwand nicht mehr lohnt – das ist der nötige Optimierungsprozess.
Heinrich Gugerli: Die Labels sind für uns ein Behelf, um zu Benchmarks zu kommen und vergleichen zu können. Aber die letzte Kommastelle ist am Ende nicht entscheidend. Wenn es um die Eingriffstiefe geht, muss man über die graue Energie reden, über den Energieaufwand zur Produktion des neu verwendeten Baumaterials und zur Entsorgung des Abbruchmaterials. Die Labels Minergie und Minergie-P berücksichtigen die graue Energie nicht. Erreicht ein renoviertes Gebäude die geforderte Energiebilanz, wird es mit dem Label ausgezeichnet, egal welcher bauliche Aufwand dafür betrieben wurde. Nur beim Label Minergie eco fliesst die graue Energie mit ein. Minergie eco gibt es jedoch erst für Neubauten, noch nicht für Sanierungen – das Problem ist die Berechnung der grauen Energie. Bereits liegen die Resultate eines Forschungsprojekts zu einem Nachweisverfahren für Minergie-eco-Modernisierungen vor, sodass in ein bis zwei Jahren das Minergie-eco-Label für Sanierungen eingeführt werden könnte.
Ueli Lindt: Neben den Labels gibt es auch andere Werkzeuge wie den Energieeffi zienzpfad des SIA, der die graue Energie und auch die Mobilität mit berücksichtigt.
Heinrich Gugerli: Das Verfahren zur Ermittlung der Grauen Energie wird demnächst in Form des SIA-Merkblattes 2032 veröffentlicht, an dessen Entwicklung die Stadt Zürich sich aktiv beteiligte. (Siehe TEC21 H. 8/2008)
TEC21: Damit würde Sibylle Buchers Wunsch nach Materialkostenwahrheit ein Stück weit erfüllt, und auch das Anliegen von Peter Ess, verhältnismässige Eingriffstiefen zu wählen, dürfte mit diesem Instrument einfacher werden.
Jan Capol: Von Ökologen wie Ökonomen höre ich aber immer, ein Haus abzubrechen und neu zu bauen, brauche zwar viel Energie, spiele aber gemessen am gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes fast keine Rolle. Relevant sei der Energieverbrauch in der Betriebsphase. Wenn das stimmt, dann geht es – trotz Berücksichtigung der Grauen Energie – eben doch um Werthaltungen: um die politische Frage, auf welche baulichen Zeugen die Gesellschaft verzichten und welche sie erhalten will – auch wenn sie vom Gesamtenergieverbrauch her suboptimal sind.
Heinrich Gugerli: Auch aus rein energetischer Sicht braucht es ein Abwägen. Beide Strategien können sinnvoll sein, wenn sie sorgfältig durchdacht sind: Ersatzneubauten brauchen viel mehr Graue Energie, dafür reduzieren sie Betriebsenergie. Bei Sanierungen ist es umgekehrt, wobei hier je nach Eingriff eine grosse Bandbreite von Möglichkeiten besteht, die es auszuloten gilt.
Jan Capol: Ich bin froh, das zu hören!
Ueli Lindt: Überlegungen zu den Lebenzykluskosten haben bei Sanierungen in letzter Zeit immer mehr Bedeutung gewonnen. Wir überlegen uns vor einem Eingriff, für welchen Zeitraum er nützlich sein soll und was danach mit dem Objekt passiert. So können wir nicht nur die Bauinvestition optimieren, sondern die Lebenszykluskosten. Über die Endlichkeit von Bauten zu philosophieren, ist aber eine Schwierigkeit in der Diskussion mit der Denkmalpflege.
Peter Ess: Bei der grossen Masse im Wohnungsbau gibt es einen Punkt, wo ein Ersatz vernünftig wird – im Sinn einer volkswirtschaftlich verantwortlichen Pflege des Bestandes. Man muss in jedem Fall sorgfältig und in langfristiger Sicht abklären, ob ein Ersatzneubau oder eine Sanierung nachhaltiger ist.
Jan Capol: Einverstanden. Allerdings müssen bestimmte Bauten, die der Gesellschaft als Zeugen ihrer Geschichte dienen, immer erhalten bleiben.
TEC21: Was kann man tun, um das von Politik und Medien inszenierte Gegeneinander von Ökologie und Denkmalpflege zu überwinden und bewusst zu machen, dass beides Aspekte einer nachhaltigen Entwicklung sind?
Sibylle Bucher: Vielleicht sollte man aktiver gemeinsame Interessen von Denkmalpflege, Nachhaltigkeit und Ökonomie hervorheben, zusammen Arbeitsgrundlagen erarbeiten und die positiven Beiträge herausstreichen, damit die verschiedenen Anliegen weniger gegeneinander ausgespielt werden und nicht der einen Seite die Rolle eines Verhinderers zugeschoben wird. Für eine aktivere Zusammenarbeit sähe ich durchaus noch Potenzial.

TEC21, Mo., 2008.11.03



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tec21 2008|45 Ökologie und Baukultur

28. Januar 2008Claudia Carle
Daniela Dietsche
TEC21

Ökologische Gesamtschau

Bauen ist immer auch ein Eingriff in die ökologischen und ästhetischen Charakteristika der Landschaft. Damit dieser Aspekt neben den technischen und funktionalen Anforderungen an ein Bauwerk nicht auf der Strecke bleibt, wurde das Instrument der Landschaftspfl egerischen Begleitplanung geschaffen. Ein Gespräch mit Joachim Kleiner, Professor für Landschaftsgestaltung an der Hochschule für Technik in Rapperswil.

Bauen ist immer auch ein Eingriff in die ökologischen und ästhetischen Charakteristika der Landschaft. Damit dieser Aspekt neben den technischen und funktionalen Anforderungen an ein Bauwerk nicht auf der Strecke bleibt, wurde das Instrument der Landschaftspfl egerischen Begleitplanung geschaffen. Ein Gespräch mit Joachim Kleiner, Professor für Landschaftsgestaltung an der Hochschule für Technik in Rapperswil.

TEC21: Könnten Sie erläutern, was die Aufgabe der Landschaftspfl egerischen Begleitplanung (LBP) ist?

Joachim Kleiner: Die LBP versteht sich als begleitender Beitrag zu einem Bauprojekt, sei es aus dem Hoch- oder dem Tiefbau, und behandelt die Themen Natur und Landschaft. Mit der LBP versucht man, eine ökologische und ästhetische Gesamtschau und Optimierung des Projekts zu erreichen. Idealerweise begleitet sie dieses durch alle Projektierungs- und Bauphasen. Das Wesentliche ist der frühe Beizug des Landschaftsplaners, damit man rechtzeitig die richtigen Entscheidungen fällen kann. Es gibt viele Beispiele von Strassenplanungen mit langer Projektierungsgeschichte, bei denen die gewählte Linienführung zur Zerschneidung von Lebensräumen führte und daher später teure Wildbrücken erstellt wurden. Hätte man im Rahmen einer LBP die Landschaft als Ganzes betrachtet, hätte man vielleicht eine Linienführung gefunden, bei der keine Wildbrücke nötig gewesen wäre.

TEC21: Im Zusammenhang mit Bauprojekten existieren im Bereich Umwelt und Ökologie viele verschiedene Begriffe. Wie kann die LBP gegenüber anderen Instrumenten, zum Beispiel der Umweltbaubegleitung (UBB) oder der Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP), abgegrenzt werden?

Joachim Kleiner: Die Frage zeigt ganz gut, wo das Problem liegt: Die verschiedenen Instrumente und deren Bezeichnungen führen auch bei vielen Fachleuten oder Auftraggebern zu Verwirrung. Ein wesentlicher Unterschied ist, dass man mit der LBP versucht, schon bei der Variantendiskussion oder der Standortwahl in die Planung einzusteigen, während sich beispielsweise die UBB auf den eigentlichen Bauprozess konzentriert. Ein weiterer Unterschied ist, dass die LBP inhaltlich schmäler ist. Sie beschäftigt sich mit Natur und Landschaft, die eine qualitative Diskussion erfordern. Bei der UBB geht es dagegen um quantifi zierbare Aspekte wie Erschütterungen, Lärm, Staub et cetera und um das Einhalten der entsprechenden Grenzwerte. Die UVP betrachtet ebenfalls die gesamte Breite der Umweltaspekte. Sie ist aber in erster Linie eine Bewertung dessen, was projektiert wurde, und macht gegebenenfalls Aufl agen. Die UVP ist ab einer bestimmten Projektgrösse vom Umweltschutzgesetz vorgeschrieben. Grundsätzlich müssen sich aber auch kleinere Projekte nach denselben gesetzlichen Vorschriften richten wie UVP-pfl ichtige Projekte. Die LBP ist wie die Umweltbaubegleitung oder die ökologische Baubegleitung nicht gesetzlich verankert. Alle diese Instrumente haben bisher keinen normativen Charakter. Darinunterscheidet sich die Schweiz von Deutschland, wo die LBP – zumindest bei Strassenprojekten – gesetzlich vorgeschrieben ist.

TEC21: Wie lange gibt es die LBP in der Schweiz schon?

Joachim Kleiner: Dieser Begriff kommt aus Deutschland und wurde mit einer SIA-Dokumentation1 aus dem Jahr 2001 in der Schweiz eingeführt. Aber trotz des gleichen Begriffs ist die LBP in der Schweiz und in Deutschland inhaltlich nicht dasselbe. Wir legen Wert darauf, dass sich die LBP für sämtliche Landschaftseingriffe eignet, während sie in Deutschland nur beim Bau von Verkehrswegen angewendet wird.

TEC21: Wer entscheidet, ob eine LBP durchgeführt wird?

Joachim Kleiner: Die Verantwortung dafür liegt beim Auftraggeber. Bisher wird die LBP erst vereinzelt angewandt. Das liegt sicher auch an den vielen verschiedenen Instrumenten. Sie behindern sich gegenseitig, obwohl sie mit verschiedenen Schwerpunkten dasselbe Ziel verfolgen. Im Grossteil der Fälle, in denen heute LBP durchgeführt werden, sind Kantone, Gemeinden oder der Bund die Auftraggeber. Einige Deutschschweizer Kantone – vor allem der Kanton Aargau, aber auch Solothurn und Zürich– verlangen heute eine LBP. Oft fordert sie auch das Bundesamt für Umwelt.

TEC21: Bei welchem Anteil an Bauprojekten wird heute eine LBP durchgeführt? Joachim Kleiner: Das ist eine interessante Frage, aber da müsste man zuerst eine Recherche machen. Meines Wissens ist der Anteil bei Strassenbauprojekten im Kanton Aargau sehr hoch, in Zürich, Solothurn und Bern immerhin wahrnehmbar.

TEC21: Kommen wir nochmals zurück zu den Aufgaben der LBP. Sie sagten, es gehe um Natur und Landschaft, um eine ökologische und ästhetische Gesamtschau des Projekts.

Joachim Kleiner: Ja, Zielsetzung ist eine gesamtheitliche Betrachtung der Landschaft. Dazu gehört das Lesen und Begreifen der Ausgangslandschaft und von deren Charakteristika. Diese Charakteristika können ökologische oder gestaltgebende sein. Es geht dabei sowohl um Fauna und Flora als auch um die Sicht des Menschen, der die Landschaft wahrnimmt. Wenn dies geschehen ist, überlegt man sich, wie die Landschaft nach dem Eingriff aussieht.

TEC21: Und Ziel der LBP ist es dann, dass das neue Bauwerk diese Landschaft möglichst wenig verändert?

Joachim Kleiner: Oft ist es so, dass man einen möglichst unauffälligen Eingriff möchte. Das ist wie bei einer Tiefgarage, einem Tunnel oder einer Überdeckung – aus den Augen, aus dem Sinn. Wir können es uns fi nanziell leisten. Es gibt aber auch Eingriffe, die nicht unauffällig gestaltet werden können, diese müssen dann gut gemacht werden. Die Sunibergbrücke bei Klosters beispielsweise ist überhaupt nicht unauffällig, aber sie ist gut. Und sie tut der Landschaft gut. Der integrative Ansatz mag an vielen Orten richtig sein. Man legt zum Beispiel die Strasse etwas tiefer, damit die Ebene nicht zerschnitten wird. Aber an manchen Orten müssen wir die Strassen auch zeigen und mit dem Eingriff eine neue Landschaft entwickeln. In diesen Fällen ist gestalterische Kreativität gefragt. Unauffälligkeit führt nicht immer zur besten Lösung.

TEC21: Welchen Anteil der Kosten verursacht die LBP an den Gesamtbaukosten?

Joachim Kleiner: Grundsätzlich entstehen die Kosten nicht durch die LBP, von den Planungskosten einmal abgesehen. Die Kosten entstehen durch die gesetzlichen Auflagen.Das Umweltschutzgesetz und das Natur- und Heimatschutzgesetz schreiben vor, dass bei einem Eingriff für Ersatz oder Ausgleich ökologisch wertvoller Landschaftselemente gesorgt werden muss. Meiner Meinung nach sparen wir durch den frühzeitigen Einbezug der LBP Kosten: Flick- oder Reparaturlösungen sind immer teurer.

TEC21: Nach aussen entsteht oft der Eindruck, dass nur wegen einer Käferkolonie oder ein paar Feldhasen teure Lösungen in Kauf genommen werden müssen.

Joachim Kleiner: Das ist richtig, der Eindruck entsteht und wird leider zu wenig korrigiert. Wir reden hier von marginalen Beträgen, die durch diese Ersatz- und Ausgleichsmassnahmen entstehen. Wenn ein neuer Amphibienstandort 100000 Franken kostet, ist das für eine Autobahn nicht viel. So viel kostet auch eine grosse Verkehrstafel. Wir bewegen uns da im Bereich des Kunstprozents. Es geht um die ethische Frage, wie viel uns Natur und Landschaft wert sind. Abgesehen davon hat das wie gesagt nichts mit LBP zu tun, sondern mit den gesetzlichen Vorschriften.

TEC21: Wo endet die LBP zeitlich? Und wie wird die langfristige Pfl ege fi nanziert?

Joachim Kleiner: Für Umgebungsarbeiten dauert die sogenannte Anwuchspfl ege zwei Jahre. In der Dokumentation gehen wir weiter als die normalen Garantiephasen: Wir sind der Meinung, dass es eine Erfolgskontrolle braucht. Hier gibt es ein Problem im System. Wenn ein Kanton eine Strasse baut, dann hat er ein Bauprojekt mit einer Finanzierung für die Realisierungszeit mit anschliessender Garantiezeit. Irgendwann wird die Rechnung abgeschlossen – dann ist die Landschaft aber noch nicht fertig. Also ist es ganz wichtig, sogenannte Pfl egekonzepte zu entwickeln, die an den Betreiber übergehen. Wenn man das Verursacherprinzip zu Ende denkt und das Problem korrekt lösen möchte, müsste man für die Finanzierung Geld auf die Seite legen. Bisher war so viel Geld vorhanden, dass sich immer eine öffentliche Kasse gefunden hat, um später anfallende Kosten zu decken. Mit der zunehmenden Kostenwahrheit, die bei der öffentlichen Hand gefordert ist, und mit diesen ganzen Spardiskussionen wird das ein Problem. Seit 20 Jahren werden Ausgleichs- und Ersatzmassnahmen gefordert, da kommen Flächen zusammen, die etwas kosten.

TEC21: Wo sehen Sie zukünftigen Verbesserungsbedarf bei der LBP?

Joachim Kleiner: Das habe ich mich auch gefragt. Wir haben die Dokumentation geschrieben, und teilweise funktioniert das Instrument LBP jetzt. Aber eigentlich müsste man für einen grösseren Bekanntheitsgrad sorgen. Die LBP ist, im Vergleich zu Städtebau und Architektur, noch nicht zur Kultur geworden. Die Schweiz hat eine Kultur des Wettbewerbs entwickelt und damit eine gute Architekturqualität bekommen. Viele wichtige Bauten werden heute mit einem Wettbewerb gelöst. Bei der Landschaft ist das noch nicht so. Ich kann mir vorstellen, dass man bei grossen Projekten in eine ähnliche Richtung gehen muss. Meine Hoffnung ist, dass sich eine neue Kultur entwickelt, die die LBP als selbstverständlich ansieht. Die SBB haben etliche Brückenwettbewerbe für Teams bestehend aus Landschaftsarchitekten und Bauingenieuren ausgeschrieben. Ich fi nde, das ist ein guter Ansatz. Die Infrastruktur in der Schweiz wird weiter ausgebaut. Es wird darum gehen, die Landschaft attraktiv zu erhalten. Die Landschaft ist ein Standortfaktor, nicht nur für den Tourismus, sondern für die Lebensqualität grundsätzlich. Landschaftseingriffe können vieles kaputt machen, wenn sie nicht gut gemacht werden.

[ Joachim Kleiner, Professor für Landschaftsgestaltung, Hochschule für Technik in Rapperswil. Interview: Claudia Carle, Daniela Dietsche ]

TEC21, Mo., 2008.01.28



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tec21 2008|05 Instrument LBP

Sondermülldeponie Kölliken

Mehr als 20 Jahre nach ihrer Schliessung soll im November dieses Jahres der Rückbau der Sondermülldeponie Kölliken, der grössten Altlast der Schweiz, beginnen. Bis Ende 2012 werden rund 550 000 Tonnen Abfälle sowie verunreinigter Untergrund abgetragen und entsorgt. Der Aufwand, um dabei jegliche Emissionen in die Umwelt zu vermeiden, ist enorm.

Mehr als 20 Jahre nach ihrer Schliessung soll im November dieses Jahres der Rückbau der Sondermülldeponie Kölliken, der grössten Altlast der Schweiz, beginnen. Bis Ende 2012 werden rund 550 000 Tonnen Abfälle sowie verunreinigter Untergrund abgetragen und entsorgt. Der Aufwand, um dabei jegliche Emissionen in die Umwelt zu vermeiden, ist enorm.

Als die Sondermülldeponie im aargauischen Kölliken (SMDK) 1978 eröffnet wurde, galt sie als eine Pionierleistung für den Umweltschutz. Denn mit der Möglichkeit für eine geordnete Ablagerung umweltschädlicher und giftiger Abfälle aus Industrie und Gewerbe sollte die wilde und illegale Entsorgung eingedämmt werden. Doch schon 1985 – die Deponie war gerade erst zu zwei Dritteln gefüllt – verfügte der Gemeinderat Kölliken nach anhaltenden Protesten der Anwohner wegen Geruchs- und Staubbelastungen die Schliessung der Deponie. Erst danach stellte sich heraus, dass ausserdem schadstoffbelastetes Sickerwasser aus der Deponie permanent in den Untergrund vordringt und damit den nur 30 m im Abstrom der Deponie liegenden Grundwasserleiter, die so genannte Kölliker Rinne, gefährdet (Bild 3). Das einstige Vorzeigeprojekt entpuppte sich als grösste Altlast der Schweiz, wurde zum Medienskandal und zum Politikum.

Fehlende Erfahrungen mit Deponien

250 000 m³ Sonderabfälle aus der Schweiz, Deutschland und Italien waren in der ehemaligen Tongrube ohne jegliche Basisabdichtung direkt auf dem Molassegestein abgelagert worden. Als einzige Schutzmassnahme gegenüber dem Untergrund wurde ein rudimentäres Drainagesystem in die Deponiesohle eingebaut (Bild 1). Es gab auch kein Gasfassungssystem, sodass die beim biologischen Abbau der Abfälle entstehenden Gase ungehindert entweichen konnten. Dies entsprach dem damaligen Stand der Technik, als man noch kaum Erfahrungen mit dem Bau von Deponien hatte. In der Deponie wurden die verschiedensten Sonderabfälle durcheinander abgelagert, beispielsweise schwermetallhaltige Galvanikschlämme, Salzschlacke aus dem Aluminium-Recyc­ling, ölverschmutztes Aushubmaterial und Produktionsrückstände der chemischen Industrie. Die problematischsten Abfälle in Kölliken sind leichtlösliche Salze und chlorierte Kohlenwasserstoffe, die über Sickerwasser bzw. Ausgasung in die Umwelt gelangen.
In den letzten Jahren setzte das Konsortium Sondermülldeponie Kölliken, an dem die Kantone Aargau und Zürich mit je 412⁄3% sowie die Stadt Zürich und die Basler Chemiegruppe mit je
81⁄3% beteiligt sind, alles daran, vom Buhmann wieder zum Musterknaben zu werden. In den kommenden Jahren wird die Deponie rückgebaut, sodass in knapp zehn Jahren ein völlig unbe­­-las­tetes Areal für eine neue Nutzung zur Verfügung stehen wird.

Nachträgliche Sicherungsmassnahmen

Diskutiert hatte man den Rückbau der Deponie zwar schon seit Jahren, lange galt er jedoch als technisch und finanziell nicht machbar. Stattdessen arbeitete man in den Jahren nach der Schliessung der Deponie an nachträglichen Sicherungsmassnahmen. Im Vordergrund stand dabei einerseits die Fassung der Deponiegase, unter deren Gestank die Anwohner litten. Dafür wurden über den gesamten Deponiekörper verteilt Rammsonden installiert. Die gesammelten Gase werden seitdem in zwei Hochtemperaturöfen bei 900°C verbrannt.

Der zweite Schwerpunkt bei der Sicherung der Deponie lag auf hydraulischen Massnahmen, um das verschmutzte Sickerwasser in den Griff zu bekommen (Bild 4). So wurde die Deponieoberfläche abgedeckt, um das Eindringen von Niederschlagswasser zu unterbinden. Ausserdem wurde eine Hang-Drainage auf der Nordseite oberhalb der Deponie gebaut (Abschirmung Nord), mit der aus den oberen Bodenschichten in die Deponie fliessendes Wasser in den Vorfluter abgeleitet werden kann. Eine weitere hydraulische Abschirmung im Abstrom der Deponie (Abschirmung Süd) fasst einen grossen Teil des trotzdem noch anfallenden Sickerwassers. Sie besteht aus 130 vertikalen Drainagebohrungen im Abstand von 4 m, welche die Deponie auf der Südseite u-förmig umfassen. Im Fussbereich der Brunnenreihe verläuft ein rund 600 m langer, begehbarer Werkstollen (Bild 2), in dem das gefasste Wasser über ein Rohrsystem zur Deponie-eigenen Kläranlage geleitet wird.
Wie wirksam diese Massnahmen sind, wird mit mehr als 200 Piezometern (Beobachtungsrohren) im Umfeld der Deponie überprüft. In den Piezometern werden gewisse Leitparameter für die Wasserqualität permanent überwacht. Ausserdem werden regelmässig Proben für umfassende Analysen im Labor entnommen. Gemäss den Messergebnissen scheinen momentan keine Schadstoffe mehr aus der Deponie auszutreten. Im Gegenteil sind die Verschmutzungswerte im Umfeld der Deponie seit Inbetriebnahme der Abschirmung Süd deutlich zurückgegangen. Für den Fall, dass trotzdem der Durchbruch von verschmutztem Sickerwasser bis in den Grundwasserleiter der Kölliker Rinne festgestellt werden sollte, wurde eine Interventionsmöglichkeit geschaffen: In der Kölliker Rinne wurden quer zur Strömungsrichtung 14 Pumpbrunnen als hydraulische Bar­riere eingebaut. Damit könnte verunreinigtes Grundwasser komplett abgepumpt werden, sodass keine Gefahr für das 4 km stromabwärts gewonnene Trinkwasser besteht.

Planung der Gesamtsanierung

So gesichert hätte man die Deponie im Grunde die nächsten Jahrzehnte oder Jahrhunderte weiterbestehen lassen können. Allerdings hätte man damit auch das nach wie vor bestehende Risiko für Schadstoffaustritte in die Umwelt an künftige Generationen vererbt sowie die Verpflichtung, die technisch und finanziell aufwändigen Sicherungsmassnahmen permanent weiter zu betreiben. Dies lässt die seit 1998 gültige Altlastenverordnung des Bundes jedoch nicht mehr zu. Das Konsortium der SMDK suchte daher 1999 mit einem international ausgeschriebenen Ideenwettbewerb nach Möglichkeiten für eine komplette Sanierung der Deponie. Die besten Ideen aus vier ausgewählten Studien führte die österreichische Ingenieurgemeinschaft ASA Inerta / GUT bis Ende 2001 in einem Vorprojekt zusammen. Es zeigt, dass der Rückbau mittlerweile technisch möglich und die ordnungsgemässe Entsorgung der ausgehobenen Inhaltsstoffe realisierbar ist. Daraufhin wurde der Ingenieurgemeinschaft URS, Deutschland / Basler & Hofmann, Zürich, der Auftrag für die Erarbeitung eines Sanierungs- und Bauprojektes erteilt. Im Juni 2003 erliess die Abteilung Umwelt des Kantons Aargau die Sanierungsverfügung. Ziel ist es, alle abgelagerten Abfälle vollständig auszuräumen und zusätzlich den Untergrund der Deponie so weit abzubauen, dass von ihm keine wesentlichen Schadstoffemissionen mehr ausgehen können. Im Juli 2004 wurde die Baubewilligung erteilt und im März 2005 mit den Bauarbeiten begonnen.

Umfassender Schutz von Mensch und Umwelt

Die Sicherheitsvorkehrungen, um bei diesem Projekt in bewohntem Gebiet (Bild 8) die Belas­tungen der Anwohner mit Gestank, Staub und Lärm zu minimieren, sind enorm. Das gesamte Deponieareal wird mit drei Hallen überdacht (s. Kasten S. 18 und Bild 9): der Abbauhalle, der Manipulationshalle und der Lagerhalle. Die Lagerhalle kommt im östlichen, nicht mit Abfall verfüllten Teil des Deponiegeländes zu stehen. Im Untergeschoss befindet sich der Wasserkeller mit verschiedenen Becken. Ein Regenrückhaltebecken sorgt dafür, dass der Dachabfluss von den Hallendächern dosiert in den Vorfluter abgegeben wird. Ein weiteres Becken beinhaltet einen Vorrat an Löschwasser für den Brandfall, das nach Gebrauch in einem dritten Becken aufgefangen und der Kläranlage zugeführt werden kann. In der Lagerhalle kann die Abbaumenge von mehreren Tagen in Spezialcontainern verpackt für den Abtransport zwischengelagert werden (Bild 12).

Im Anschluss an die Lagerhalle wird die Manipulationshalle errichtet. Da sie bereits im verfüllten Teil der Deponie steht, wird sie in einer ersten Phase als Abbauhalle genutzt und erst nach Ausräumen der Sonderabfälle zur eigentlichen Manipulationshalle umgebaut.
Die grösste Halle ist die Abbauhalle, die sich an die Manipulationshalle anschliesst. Hier wird im November dieses Jahres mit dem Rückbau begonnen.

In allen Bereichen, in denen die Sonderabfälle offen liegen, den so genannten Schwarzbereichen, sorgen umfangreiche Schutzmassnahmen dafür, dass weder die Beschäftigten in Kontakt mit den Schadstoffen kommen noch Schadstoffe in die Umwelt entweichen können. In den luft- und staubdichten sowie lärmgedämmten Hallen herrscht ein permanenter Unterdruck. Zugänglich sind sie nur über Unterdruckschleusen. Die Beschäftigten arbeiten mit Schutzkleidung und Atemschutzgeräten bzw. die Geräteführer in luft- und staubdichten Fahrerkabinen mit eigener Atemluftversorgung. Die Abluft aus den Schwarzbereichen wird abgesaugt und in einer dreistufigen Abluftreinigungsanlage – bestehend aus Partikelfilter und zwei Aktivkohlefiltern – gereinigt. Auch die Abluft aus den Weissbereichen, also den Bereichen, wo der Sondermüll bereits geruchsdicht verpackt ist, wird einstufig über einen Aktivkohlefilter geleitet. Sämtliches Schmutzwasser, das in der Deponie anfällt, wird weiterhin in der Deponie-eigenen Kläranlage gereinigt.

Ablauf des Rückbaus

Um die gesamte Deponie rückzubauen, müssen schätzungsweise 545 000t Material ausgehoben werden. Davon sind 375 000t Sondermüll, 75 000t verunreinigtes Material von der Deponiesohle und 95 000t von der Oberflächenabdichtung. Vorgesehen ist, pro Tag 500t des in Fässern, Säcken sowie lose eingelagerten Sondermülls lagenweise von oben nach unten abzutragen (Bild 10). Die Deponiesohle soll bis durchschnittlich 1 m Tiefe ausgehoben werden. Gearbeitet wird dabei mit Baggern mit angehängten Tieflöffeln, Fassgreifern, Big-Bag-Greifern, Gabeln und Ladeschaufeln. Loses Material wird über Förderbänder in die Manipulationshalle transportiert und dort nach Augenschein zu Chargen mit gleichartigem Material zusammengefasst. Geborgene Fässer und Säcke werden in Transportwannen gestellt, auf eine horizontale Förderanlage gehoben und ebenfalls in die Manipulationshalle transportiert. Hier werden alle Chargen mit Robotergeräten beprobt und im Labor analysiert. Entsprechend den Analyseergebnissen werden die Abfälle dann geeignet verpackt und beschriftet und einem der Entsorgungswege zugewiesen (Bild 11).

Ein grosser Teil des Deponiematerials wird dabei mit der Bahn zu den Entsorgungseinrichtungen im In- und Ausland transportiert. Dafür erhält die Deponie einen eigenen Bahnanschluss. Da dieser aber erst nach Abschluss des Rückbaus im Bereich der Manipulationshalle gebaut werden kann, wird das Deponiegut in der ersten Sanierungsphase mit LKW abtransportiert.

Entsorgung

Ein Teil des ausgehobenen Materials kann rezykliert werden, beispielsweise in der Bodenwaschanlage ESAR in Rümlang, in Anlagen für Schlackenrecycling und in thermischen Bodenbehandlungsanlagen. Der Rest wird in Sondermüll- oder Kehrichtverbrennungsanlagen verbrannt bzw. in Rest- und Inertstoffdeponien sowie in Untertagedeponien eingelagert. Welche Anteile wie und wo entsorgt werden, lässt sich bisher nur grob abschätzen, da die Abfälle bei der Ablagerung nur ungenau dokumentiert wurden und zwischenzeitlich auch Querkontaminationen durch das in die Deponie eindringende Wasser stattgefunden haben. Ganz anders nun beim Rückbau: Der Weg der Abfälle wird von der Abbaustelle über die Analyse bis zur Entsorgung minutiös in einem Deponiemanagementsystem erfasst.

Genau überwacht werden während der Sanierung auch alle möglichen Emissionen in die Umwelt. So wird das Grundwasser mittels des bestehenden Messstellennetzes beobachtet. Die Abluft und die Luftqualität im Nahbereich der Deponie werden permanent kontrolliert, Erschütterungen und Lärm bei Bedarf gemessen sowie Böden und Pflanzen im Einzugsgebiet der Deponie beobachtet.
Ist die Deponie Ende 2012 fertig geräumt, wird mit einer Rasterbeprobung überprüft, ob wirklich alle Schadstoffe beseitigt wurden. Anschliessend werden die Hallen demontiert und das ehemalige Deponiegelände mit einer 50cm mächtigen Bodenschicht vorläufig rekultiviert. Die endgültige Auffüllung und Rekultivierung erfolgt erst nach einer Überwachungsphase von 3 bis 5 Jahren, in der man vor allem beobachtet, ob noch Schadstoffe ins Grundwasser gelangen.

Kosten

Die Gesamtsanierung der Deponie in Kölliken lässt sich das Konsortium einiges kosten: schätzungsweise 445Mio.Franken. Auf zusätzliche 140Mio.Franken belaufen sich die Kosten, die seit
der Schliessung für den Betrieb und den Bau der Sicherungsmassnahmen angefallen sind.

Daneben nehmen sich die Einnahmen während der Betriebszeit der Deponie fast schon lächerlich aus: 50 bis 70Franken kostete die Entsorgung eines Kubikmeters Abfall. Bei 250 000 m³ eingelagertem Sondermüll macht das rund 15Mio.Franken, von denen nach Schliessung der Deponie noch knapp 2Mio. als Rückstellungen zur Verfügung standen.

TEC21, Mo., 2007.02.26



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tec21 2007|09 Belastendes Erbe

08. April 2006Claudia Carle
TEC21

Radon - Gefahr aus dem Untergrund

Radon ist der gefährlichste Krebserreger im Wohnbereich, der in der Schweiz jährlich für 240 Todesfälle verantwortlich ist. Das natürlich vorkommende Gas dringt über undichte Stellen in Gebäude ein und reichert sich dort an. Oft genügen aber relativ einfache und kostengünstige Massnahmen, um diese Gefahr bei Neubauten oder Sanierungen zu bannen.

Radon ist der gefährlichste Krebserreger im Wohnbereich, der in der Schweiz jährlich für 240 Todesfälle verantwortlich ist. Das natürlich vorkommende Gas dringt über undichte Stellen in Gebäude ein und reichert sich dort an. Oft genügen aber relativ einfache und kostengünstige Massnahmen, um diese Gefahr bei Neubauten oder Sanierungen zu bannen.

Bei gesundheitsschädlichen Stoffen in Innenräumen denken die meisten Menschen zuerst an Asbest, Formaldehyd oder Lösungsmittel, die über Baustoffe und die Inneneinrichtung in die Raumluft gelangen. Viel weniger bekannt ist, dass das natürlich vorkommende Gas Radon ein weitaus grösseres Gesundheitsrisiko darstellt. Erhöhte Radonkonzentrationen in Innenräumen sind nach dem Rauchen die häufigste Ursache für Lungenkrebs in der Schweiz.
Das unsichtbare und geruchlose Edelgas Radon entsteht beim Zerfall von Uran im Erdreich. In der Aussenluft tritt es nur in geringen Konzentrationen auf. Problematisch wird es erst, wenn es in Gebäude eindringt und sich dort anreichert.

Für die gesundheitlichen Auswirkungen ist aber nicht das Radon selbst verantwortlich, sondern seine radioaktiven Zerfallsprodukte Blei, Wismut und Polonium. Sie lagern sich an feinste Staubteilchen an und können so über die Atemluft in die Lunge gelangen. Dort bestrahlen sie das Lungengewebe und können dadurch bösartige Tumore auslösen.

Pionierrolle der Schweiz

Im Wissen um diese Gesundheitsgefährdung durch Radon hat die Schweiz bereits 1994 in der Verordnung zum Strahlenschutzgesetz Richt- und Grenzwerte für Radon in Gebäuden festgelegt. „Die Schweiz hat hier eine Pionierrolle eingenommen“, erklärt Sándor Horváth vom Bundesamt für Gesundheit (BAG). Denn in der EU diskutiere man erst jetzt die Einführung von Grenz- und Richtwerten für Radon. Die Schweizer Verordnung schreibt vor, dass Gebäude zu sanieren sind, wenn in einem Wohnraum die mittlere jährliche Radonkonzentration den Grenzwert von 1000Bq/m3 (1 Becquerel = 1 Atomzerfall/Sekunde) überschreitet. Für Neu- und Umbauten gilt der strengere Richtwert von 400Bq/m3. Das Risiko, an radonbedingtem Lungenkrebs zu erkranken, steigt pro 100Bq/m3 um 16% an.

Wie gross die Gefahr erhöhter Radonkonzentrationen im Gebäude ist, hängt zum einen von der Beschaffenheit des Untergrundes ab und zum anderen vom Gebäude selbst. Je höher die Radonkonzentration im Untergrund und je durchlässiger der Untergrund, desto mehr Radon kann an die Oberfläche gelangen. In das Innere von Gebäuden kann das Gas über undichte Stellen in der Gebäudehülle eindringen, begünstigt durch Luftdruckdifferenzen.
Das BAG hat nach Inkrafttreten der Strahlenschutzverordnung in allen Kantonen und Gemeinden Radonmessungen durchführen lassen. Sie zeigen, dass die Häufigkeit erhöhter Radonkonzentrationen in Gebäuden in der Schweiz regional sehr verschieden ist. Hoch ist das Radonrisiko vor allem im Tessin, in Graubünden und im westlichen Jura (Bild 1). Aber auch ausserhalb dieser so genannten „Radongebiete“ können in einzelnen Gebäuden hohe Radonwerte auftreten.

Einfach messbar

Ob in einem Gebäude eine erhöhte Radonbelastung zu erwarten ist oder nicht, lässt sich aber nicht vorhersagen, da die Beschaffenheit des Untergrundes kleinräumig stark variieren kann und neben der Bauweise des Gebäudes auch andere Faktoren wie z.B. das Bewohnerverhalten eine Rolle spielen. Gewissheit bringen daher nur Messungen. So genannte Radon-Dosimeter, die in Form und Grösse an Pillendöschen erinnern, können von den Bewohnern während dreier Monate in den zu messenden Räumen aufgestellt und anschliessend zur Auswertung eingeschickt werden (Bild 2). Die Kosten für eine Messung sind mit 60 Franken sehr niedrig. Da die radonhaltige Luft von unten her ins Gebäude dringt und sich durch das Vermischen mit Frischluft zu den oberen Geschossen hin immer weiter verdünnt, sind die Radonkonzentrationen in den unteren Geschossen am höchsten. Gemessen wird daher in der Regel im Keller und in den untersten bewohnten Räumen. Gemäss Schätzungen des BAG wird in der Schweiz in rund 30000 Gebäuden der Radonrichtwert überschritten und in rund 5000 Gebäuden sogar der Grenzwert.

Umnutzung als günstigste Sanierung

Das BAG hat sich zum Ziel gesetzt, alle Schweizer Wohngebäude mit Grenzwertüberschreitungen bis zum Jahr 2014 zu sanieren. Dass dies oft schon mit einfachen und kostengünstigen Methoden möglich ist, demonstrierte das BAG kürzlich anhand von drei erfolgreichen Sanierungsfällen im Kanton Graubünden. „Die günstigste Sanierung ist die Umnutzung von radonbelasteten Räumen“, erläuterte Georges-André Roserens vom BAG. Denn werden Räume im Untergeschoss als Keller- oder Lagerräume genutzt, sind erhöhte Radonwerte weitaus weniger problematisch als bei einer Nutzung als Wohnraum. Sind die Radonwerte im Keller jedoch sehr hoch und die Decken zu den Obergeschossen durchlässig, gelangt das Radon durch den Kamineffekt auch in die oberen Geschosse. Diesen Effekt stellte man bei einem privaten Wohnhaus in Rueun GR fest. In dessen Keller mit teils betoniertem, teils nur gepflastertem Boden wurden Radonwerte von 2400Bq/m3 gemessen. In den Wohnräumen darüber waren die Radonkonzentrationen mit bis zu 1000Bq/m3 zwar geringer, lagen aber immer noch in der Nähe des Grenzwertes. Abhilfe schaffte der Einbau eines Ventilators in die Aussentür des Kellerraumes (Bilder 4 und 5). Er erzeugt einen Unterdruck im Kellerraum, sodass die aus dem Boden strömende radonhaltige Luft nach aussen entweicht und nicht mehr in die Wohnräume gelangt. Zwar strömt durch den Unterdruck wahrscheinlich mehr radonhaltige Luft aus dem Boden nach als zuvor, was aber in dem nicht bewohnten Raum keine Rolle spielt. Die Kosten für diese Sanierung sind mit wenigen hundert Franken für Anschaffung und Einbau des Ventilators sehr niedrig und bringen trotzdem den gewünschten Effekt: Die Radonkonzentration in den Wohnräumen ist nun auf rund 100Bq/m3 gesunken.

Lüftung erzeugt Überdruck

Ebenfalls mit Hilfe einer Lüftung konnte ein Kindergarten in der Bündner Gemeinde Haldenstein saniert werden. Die Räume des Kindergartens liegen im Erdgeschoss eines nicht unterkellerten Gebäudes (Bild 6 ). Im Rahmen einer Radonmesskampagne fand man hier deutlich über dem Grenzwert liegende Werte von bis zu 2600Bq/m3. Die daraufhin installierte Lüftung saugt von aussen Frischluft an (Bild 7). Im Winter wird diese zum Vorwärmen über ein Heizregister geleitet (Bilder 8 und 9). Das Heizregister ist am Heizkessel angeschlossen, wodurch die Betriebskosten gering sind. Im Gegensatz zum oben erwähnten Kellerraum ist die Lüftung so eingestellt, dass sie in den Innenräumen einen leichten Überdruck erzeugt. Dadurch verändert sich das Druckgefälle zwischen Unterboden und Innenräumen, sodass weniger radonhaltige Luft einströmt. Als weitere Massnahme wurden die in einigen Räumen existierenden Bodenabläufe, die für die frühere Nutzung als Werkstatt benötigt worden waren, abgedichtet. Die Radonmessungen nach der Sanierung zeigten mit Werten von durchschnittlich 50Bq/m3, dass diese Massnahmen mit einem Kostenaufwand von ca. 12000 Franken ausreichen, um das Problem zu lösen. Während der Ferien wird die Lüftung abgeschaltet, worauf die Radonwerte wieder ansteigen. Einige Tage vor Ferienende wird sie jeweils wieder in Betrieb genommen.

Nicht jede Massnahme führt sofort zum Erfolg

Eine deutlich aufwändigere Radonsanierung wurde in einem Wohnhaus in der Bündner Gemeinde Trin durchgeführt (Bild 10). Aufmerksam geworden durch einen Zeitungsartikel, haben die Bewohner bereits vor einigen Jahren die Radonwerte in ihrem Haus gemessen. In den beiden Räumen im Erdgeschoss, die als Musik- bzw. Werkraum genutzt werden, wurden dabei Radonwerte bis zu 700Bq/m3 festgestellt. Somit war zwar der Richtwert, aber nicht der Grenzwert überschritten und eine Sanierung deshalb nicht zwingend. Die Bewohner entschlossen sich aber trotzdem, Abhilfe zu schaffen. Dafür bauten sie in einer ersten Phase eine Lüftungsanlage mit Heizregister ein (Bilder 11 und 12). Diese brachte aber nicht den gewünschten Effekt, da nun teilweise sogar höhere Radonwerte als zuvor in den betroffenen Räumen gemessen wurden. Der Grund dafür war die nicht fachgerecht ausgeführte Lüftung. Um das Nachströmen von radonhaltiger Luft über den Boden (ein direkt über dem Naturboden verlegter, luftdurchlässiger Holzboden) zu verhindern, hätte die Lüftung einen leichten Überdruck in den Räumen erzeugen müssen. Als einige Zeit später ohnehin eine Sanierung der beiden Räume anstand, da der Holzboden erneuert und eine bessere Wärmedämmung eingebaut werden sollte, wurde dieser Fehler korrigiert. Der Architekt Markus Casanova aus Ilanz erweiterte die Lüftungsanlage mit einem Steuerungssystem, das den Luftrücklauf blockiert und dadurch den erforderlichen Überdruck im Raum erzeugt.

Drainagesystem führt radonhaltige Luft ab

Im Rahmen der Sanierung des Bodens wurde die Gelegenheit genutzt, um weitere Massnahmen zum Schutz vor Radon zu treffen. Zunächst wurde auf dem Naturboden ein Röhrensystem verlegt (Drainagerohre mit perforierter Unterseite), das einen grossen Teil der aus dem Boden strömenden radonhaltigen Luft nach aussen abführt (Bild 13). Gegebenenfalls könnte dieses Drainagesystem noch mit einem Ventilator kombiniert werden. „Wichtig ist, dass sich die Ausblasöffnung ins Freie mindestens 2 m von Fenstern und Türen entfernt befindet, damit die radonbelastete Luft nicht wieder in die Räume gelangen kann“, erläutert BAG-Fachmann Roserens. Zusätzlich wurde über dem Röhrensystem eine Betonplatte eingebaut. Zwar schützt eine Betonplatte vor Radon, aber über die Natursteinmauern könnte das Gas trotzdem noch in die Räume aufsteigen. Daher wurde als dritte Massnahme auf der Betonplatte vollflächig eine Kunststoffdichtungsfolie verlegt und an den Wänden hochgezogen. Erst darüber wurde dann wieder ein Holzboden eingebaut, um die Akustik des Raumes möglichst unverändert zu erhalten. Die Kombination all dieser Massnahmen senkt nun die Radongaskonzentration in den Räumen bei Betrieb der Lüftung auf 100Bq/m3. Der finanzielle Mehraufwand für die Radonsanierung hielt sich mit rund 15000 Franken trotzdem noch im Rahmen, da sie mit der ohnehin durchgeführten Sanierung kombiniert wurde.
Man habe mit diesen Beispielen zeigen wollen, dass zwar die Radonproblematik in jedem Gebäude etwas anders gelagert sei - in Abhängigkeit von Boden, Bauart, Bewohnerverhalten etc. -, „aber für jedes Gebäude gibt es eine passende Lösung, um die Radonkonzentrationen in den Räumen auf ein unbedenkliches Niveau zu senken“, sagte Roserens.

Radonprävention bei Neubauten

Auch bei Neubauten ist der Bauherr verpflichtet, Schutzmassnahmen gegen Radon zu treffen. Entsprechende Vorschriften werden nach und nach in immer mehr kantonale und kommunale Baugesetze integriert. Damit hofft man, den Bestimmungen des Strahlenschutzgesetzes mehr Beachtung zu verschaffen. In einigen Kantonen und Gemeinden mit hohem Radonrisiko werden mit dem Baugesuch bereits entsprechende Formulare abgegeben, mit denen sich die Bauherrschaft verpflichten muss, die erforderlichen Massnahmen zum Schutz gegen Radon zu ergreifen.
Während die Sanierung von radonbelasteten Gebäuden aber mitunter aufwändig und schwierig sein kann, weil teilweise nicht jede Massnahme sofort zum Erfolg führt, ist die Radonprävention bei Neubauten wesentlich unproblematischer, weniger aufwändig und kalkulierbarer. Eine wichtige Rolle spielt die Berücksichtigung des Radonschutzes bereits in der Planungsphase. Hier fallen viele Entscheidungen, die das Radonproblem massgeblich entschärfen oder lösen können. Dazu gehören z.B. der Verzicht auf Wohnräume im Untergeschoss, die Vermeidung von offenen Verbindungen zwischen Unter- und Erdgeschoss, die Planung einer durchgehenden Dämm- und Dichtungsschicht sowie die Konzeption der Leitungsführungen (günstig sind möglichst wenig Durchdringungen der Aussenhülle, besonders des Bodens).

Vorsicht bei energieeffizienten Bauweisen

„Auch bei energieeffizienten Gebäuden sind ein paar Punkte zu beachten, damit sie nicht zu einem Radonproblem im Gebäude führen“, erläutert Roserens. So ist es beispielsweise wichtig, dass die Komfortlüftung richtig konzipiert wird. Zum einen darf die Luft nicht zu nah über dem Boden angesaugt werden. Zum anderen muss sie so eingestellt sein, dass in den Räumen ein leichter Überdruck erzeugt wird. Damit wird verhindert, dass radonhaltige Luft ins Gebäude einströmt. Erdregister müssen möglichst luftdicht sein, damit im Boden keine belastete Luft eindringen kann. Erdsonden sollten aus Gründen des Radonschutzes nicht direkt unter dem Haus angeordnet sein, sondern daneben. Wichtig ist auch eine gute Abdichtung des Übergangs in das Gebäude.

Gerade bei Neubauten bedeutet also Radonschutz in der Regel keinen grossen Zusatzaufwand. Es geht nur darum, vorausschauend zu planen bzw. Baumassnahmen, die ohnehin erforderlich sind - beispielsweise den Wärmeschutz -, sorgfältig auszuführen.

TEC21, Sa., 2006.04.08



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