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16. September 2011Katinka Corts-Münzner
TEC21

Welt aus Rampen

Im Zürcher Balgristquartier haben Darlington Meier Architekten ein Erweiterungsgebäude für das bestehende Wohn- und Pflegeheim der Mathilde- Escher-Stiftung gebaut. Im Altbau und im villenartigen Neubau leben und arbeiten insgesamt 46 behinderte Jugendliche und junge Erwachsene in einer wohnlichen Atmosphäre.

Im Zürcher Balgristquartier haben Darlington Meier Architekten ein Erweiterungsgebäude für das bestehende Wohn- und Pflegeheim der Mathilde- Escher-Stiftung gebaut. Im Altbau und im villenartigen Neubau leben und arbeiten insgesamt 46 behinderte Jugendliche und junge Erwachsene in einer wohnlichen Atmosphäre.

Seit 1911 befindet sich das Mathilde-Escher-Heim (MEH) in einer Villa an der Leggstrasse im Balgristquartier, unterhalb des Spitals. Mit der Zeit wurde das Heim zum modernen Schul- und Ausbildungsheim für normal- und schwächerbegabte Kinder und Jugendliche mit Muskelerkrankungen. Heute ist es darauf spezialisiert und gehört zu den weltweit führenden Institutionen bei der Betreuung von Duchenne-Betroffenen[1]. Dank grossen Fortschritten bei der Betreuung und Versorgung der Erkrankten wird mittlerweile eine durchschnittliche Lebenserwartung von 30 bis 35 Jahren erreicht. Das hat auch zur Folge, dass die Mathilde- Escher-Stiftung, die das Heim bereits in den Jahren 1988 bis 1990 saniert und erweitert hatte, 2006 erneut zu einem Architekturwettbewerb einlud und um Erweiterungsvarianten auf dem Areal bat. Der Neubau sollte zwei Wohngruppen und zehn Wohnstudios sowie Gemeinschafts- und Beschäftigungsräume, einen Mehrzweckraum und Büros für die Verwaltung aufnehmen. Darlington Meier Architekten aus Zürich schlugen in ihrem Siegerentwurf einen städtebaulich autarken, villenähnlichen Neubau vor, der mit dem Altbau eine funktionale Einheit bildet.

Zwei Villen im Park

Auf dem grossen Gelände des MEH befindet sich die alte Villa auf dem nördlichen Teil des Areals, im Süden der Anlage konnte der Neubau so eingefügt werden, dass ein grosser Teil des bestehenden Parks erhalten blieb und eine freie Sicht in die Landschaft möglich ist.

Vogt Landschaftsarchitekten gestalteten den Garten mit Terrassen, sodass die unterschiedlich hoch gelegenen Eingangsbereiche der beiden Gebäude auch im Aussenbereich rollstuhlgängig verbunden sind. Der Neubau nimmt das Thema der bestehenden Villa auf und lehnt sich in Grösse und Farbigkeit an sie an. Er beherbergt neben den öffentlichen Funktionen wie Administration und Beschäftigungsstätte im Erdgeschoss Wohnräume und Gemeinschaftsbereiche in den zwei Obergeschossen. Im Dachgeschoss befindet sich die Mehrzweckhalle, in der auch Rollstuhl-Unihockey gespielt wird.

Der halböffentliche Eingangsbereich im Südwesten empfängt sowohl die Bewohnerinnen und Bewohner des MEH als auch Tagesklienten. Das grosszügige und tiefe Foyer wird über Glasbausteine in der Decke – der Boden des darüberliegenden Innenhofs – natürlich beleuchtet. Neben Verwaltungsräumen, Garderoben, Wäscherei und Sanitäranlagen befindet sich hier auch die «Pixelwerkstatt», in der die Bewohner am Computer arbeiten und spielen können. Diese unterste Gebäudeebene ist über eine Rampe mit dem Niveau des Altbaus verbunden. Obwohl das Haus sehr kompakt gebaut ist, konnte dieser zum Garten verglaste Gang zwischen den Wohnvillen luftig und grosszügig gestaltet werden. Die Bewohnerinnen und Bewohner können sowohl diesen witterungsgeschützten Bereich als auch den davorgelegenen asphaltierten Platz für Treffen und gemeinsame Aktivitäten nutzen. Im Altbau sind die Zimmer der älteren Bewohner untergebracht, die Wohnräume der Jugendlichen befinden sich in den zwei oberen Etagen des Neubaus.

Wohnen abseits des Spitals

In den Wohngeschossen gruppieren sich die einzelnen Zimmer um den als privateren Eingang fungierenden offenen Innenhof und sind nach Südosten und Südwesten ausgerichtet. Die angrenzenden Aufenthaltsflächen in den Gängen wirken dank dem einfallenden Tageslicht trotz grosser Gebäudetiefe hell und freundlich. In jedem Zimmer gibt es ein auf die Behinderung abgestimmtes Bad mit Dusche. Grosse Fenster mit niedriger Brüstung ermöglichen den rollstuhlfahrenden Bewohnerinnen und Bewohnern Ausblicke zur Stadt und zum See. Um die Pflege zu erleichtern und den Raum dennoch nicht ständig wie eine Krankenstation aussehen zu lassen, wurden die Schienen für eine eventuell notwendige Hebeanlage bereits in die Schalung eingelassen. Diese werden sonst – ob bereits gebraucht oder nicht – unter die Decke gehängt. Im Gebäudekern sind Aufzug, Personaltreppenhaus und das Pflegebad untergebracht, zudem gibt es ein «Schnupperzimmer» für zukünftige Bewohner.

Im davorliegenden Gemeinschaftsraum mit Terrasse gibt es eine Tee- und Aufwärmküche, grosse Tische mit Stühlen und eine Sofaecke. Die wenigen festen Einbauten sowie die für Therapiezwecke teilweise mobil gestaltete Küche lassen viel Bewegungsraum für die circa zwanzig Bewohnerinnen und Bewohner, die den Raum nutzen. «Erkennbares Entwurfsthema sollte die Wohnlichkeit und nicht die Behindertengängigkeit sein», sagt Mark Darlington. Das Gebäude sollte vielmehr genau auf die Bedürfnisse der heutigen Bewohner abgestimmt sein und dennoch spätere Veränderungen ermöglichen. Die vier Eckzimmer sind deshalb so konzipiert, dass sie auch zu Studios mit eigener Küche umgebaut werden könnten, falls selbstständige Menschen hier wohnen. Im Dachgeschoss, das sich nach Südwesten und zum Zürichsee hin orientiert, befindet sich ein stützenfreier Mehrzweckraum, der für heiminterne Veranstaltungen und als Sporthalle genutzt wird.

Eine Erschliessungsrampe führt bis ins oberste Geschoss, bei Bedarf sind die Räume auch über einen Aufzug erreichbar. Da sich die Bewohnerinnen und Bewohner im Haus mit Elektrorollstühlen bewegen, konnte die Rampe in Absprache mit der Behindertenkommission und zugunsten eines kompakteren Volumens mit 12 % steiler gebaut werden, als es für Handrollstühle erlaubt wäre (6 %). Durch einen breiten Schlitz im Dach wird die Rampe über alle Geschosse vom Tageslicht erhellt. Im Dachgeschoss bietet sie hohe Aufenthaltsqualität, denn von hier aus öffnet sich ein weiter Blick in die Umgebung, und die Bewohner können die grossen Rampenflächen als Treffpunkt nutzen.

Materialien für die Wohnlichkeit

Normalerweise werden Räume wohnlich, wenn sie möbliert werden. Im Mathilde-Escher- Heim, in dem es nur wenige, eingebaute Möbel gibt, schaffen jedoch die eingesetzten Materialien diese Wohnlichkeit. Die ständige Befahrung mit Rollstühlen beansprucht das Haus und die darin verbauten Materialien stark, weshalb robuste Baustoffe, die auch Kollisionen, Kratzer und Gummispuren aushalten und überarbeitet oder gar gestrichen werden können, Verwendung fanden. Als Hauptbaumaterial für das Gebäude wählten die Architekten unverputzten, gelblichen Kalksandsteinbeton, der mit seinen gestockten Leibungsflächen warm und freundlich wirkt. Auch in den Böden findet sich der helle Kalksandstein als Zuschlagstoff für die Hartbeton-Terrazzo-Mischung wieder. Als farblicher Kontrast zum hellen und marmorierten Sichtbeton kamen drei Holzarten zum Einsatz: für alle Türen und Schreinerarbeiten das stark gezeichnete Holz der Braunkernesche als Furnier und für die Tür- und Fensterrahmen als konstruktives Massivholz feiner gemaserte und leicht grau lasierte Lärche und Eiche. Die Geländer im Gebäude und die Postfächer im Gangbereich wurden in ihrer Dimension von vornherein fest eingeplant, da später in den Erschliessungsräumen keine zusätzlichen Einbauten gemacht werden sollten. Um den Nutzern zusätzlichen Bewegungsraum zu garantieren, sind die ebenfalls mit Braunkerneschenfurnier belegten Postfächer bündig in die Wand eingelassen.

Die meisten Heim- und Krankenbauten sehen wie Spitäler aus und lassen Bewohnerinnen und Bewohnern die Krankheit stets recht bewusst sein. Darlington Meier Architekten wollten im MEH einen angenehmen Lebensraum schaffen, in dem bei Bedarf ohne grössere Umbauten alle Annehmlichkeiten einer Krankenpflegestation zur Verfügung gestellt werden können.

«Die Architektur sollte es schaffen, vor der Spitalrealität dem Bedürfnis der Bewohner nach schönem Wohnraum gerecht zu werden», so Darlington. In den drei Jahren Planungs- und Bauzeit habe das Architektenteam einen unkomplizierten Umgang mit den Bewohnern gelernt. «Die Jugendlichen, die hier leben, haben zwar eine schwere Krankheit, sind aber Teenager wie alle anderen.»


Anmerkungen:
[01] Heute sind mehr als dreissig degenerative Muskelerkrankungen bekannt. Die meist symmetrisch ausgebildeten Muskelschwächen, zu denen auch die Muskeldystrophie Typ Duchenne gehört, unterscheiden sich hinsichtlich der beginnenden Körperregion, des Erkrankungsalters und des Verlaufs. Zwar können die Symptome der Krankheit behandelt werden, diese ist jedoch nicht heilbar und verläuft letztlich tödlich. Das Mathilde-Escher-Heim zählt zu den weltweit führenden, auf Menschen mit Muskeldystrophie Typ Duchenne spezialisierten Institutionen. Weitere Informationen: www.muskelkrank.ch
[02] alle Zitate aus: Conrad Ferdinand Meyer: Mathilde Escher (1808–1875), ein Portrait. Sonderdruck aus Zürcher Taschenbuch für 1883
[03] Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege. Band 1908

TEC21, Fr., 2011.09.16



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2011|38 Special needs

03. Juni 2011Katinka Corts-Münzner
TEC21

«Der Einsatz der Farbe verändert sich»

Vom 7. bis 10. Juni findet an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) der internationale Kongress «Interaction of Colour & Light in the Arts and Sciences » der Association Internationale de la Couleur (AIC ) statt. TEC 21 sprach mit der Kunst- und Architekturhistorikerin Verena Schindler über die Verbindung von Licht und Farbe und über nationale Schwerpunkte in der Forschung.

Vom 7. bis 10. Juni findet an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) der internationale Kongress «Interaction of Colour & Light in the Arts and Sciences » der Association Internationale de la Couleur (AIC ) statt. TEC 21 sprach mit der Kunst- und Architekturhistorikerin Verena Schindler über die Verbindung von Licht und Farbe und über nationale Schwerpunkte in der Forschung.

TEC21: Frau Schindler, Sie sind für die Ausrichtung des diesjährigen Midterm Meetings der AIC in Zürich verantwortlich und haben auf Ihre Ausschreibung hin über 300 Beiträge aus mehr als 40 Ländern erhalten. Gibt es in der Ausrichtung der Forschung grosse nationale Unterschiede?

Verena M. Schindler: Die thematische Ausrichtung der Beiträge hängt sehr von den Interessen der nationalen Farbvereinigungen ab. Manche arbeiten verstärkt in der Optik wie in Italien und Spanien, andere in der Architektur und Gestaltung wie in Chile oder Portugal. Manche sind mehrheitlich universitär geprägt, procolore in der Schweiz hingegen hat ein sehr breites Mitgliederspektrum. Als ich das Vortragsprogramm zusammenstellte, sortierte ich die Beiträge zunächst nach Themen – unbeabsichtigt gerieten Forschungsbeiträge aus Japan in eine Session, die aus Deutschland und den USA in eine andere. Japaner forschen besonders intensiv im Bereich der Computertechnologie. In Korea und Taiwan sind hauptsächlich psychologische Faktoren ein Schwerpunkt, beispielsweise wie Menschen auf Bilder im Internet reagieren. Es gibt also definitiv nationale Schwerpunkte, doch ist es eine der Bedingungen, dass eine nationale Vereinigung interdisziplinär ausgerichtet sein muss. In Taiwan, wo 2012 der nächste Kongress stattfindet, liegt der Fokus auf Umweltthemen: wie wir auf unsere Umwelt reagieren und wie wir sie gestalten, damit wir zufrieden sind und in Harmonie leben können.

TEC21: Seit der Gründung 1967 sind viele Länder mit ihren Farbvereinigungen der AIC beigetreten. Sehen Sie heute alle Kontinente gut vertreten?

V. M. S.: Es gibt immer noch ein Übergewicht von Europa, Nordamerika und Asien in der AIC. Südafrika – als einziges afrikanisches Land – hat 2006 eine spannende Farbkonferenz organisiert, die Farbvereinigung existiert aber nicht mehr. Das heisst allerdings nicht, dass es dort keine Farbforschung gibt. Neu haben wir Chile und Mexiko gewinnen können. Gern würden wir das forschungsstarke Russland als Mitglied haben, und auch Indien wäre mit seiner Farb- und Textilindustrie ein interessanter Partner. Oft liegt es an der Politik und an den gesellschaftlichen Strukturen, wenn keine Vereinigung zustande kommt. Es ist aber auch nicht immer einfach, eine Vereinigung aufzubauen, weil die Mitglieder – entsprechend dem AIC-Prinzip der Interregionalität und der Interdisziplinarität – aus verschiedenen Städten kommen und zudem in unterschiedlichen Gebieten forschen müssen. Wenn es in grossen Ländern mehrere Gruppen gibt, die unterschiedliche Fachbereiche abdecken, schliessen sich diese meist zu einer Dachorganisation zusammen. In Deutschland gibt es beispielsweise eine technisch (Deutsche farbwissenschaftliche Gesellschaft e.V.) und eine gestalterisch (Deutsches Farbenzentrum) ausgerichtete Gruppe, die Dachorganisation Deutscher Verband Farbe ist Repräsentant bei der AIC. Mit dem Beitritt von Taiwan zur AIC hatten wir lange Zeit grosse Probleme, weil Taiwan von China als chinesische Region betrachtet wird. Seit 2001 gibt es dort eine sehr aktive Farb- vereinigung, die Mitglied der AIC werden wollte. China weigerte sich mit dem Hinweis auf die Statuten, nach denen es pro Land nur eine AIC-Vertreterin geben darf. Also änderten wir letztes Jahr die Statuten so, dass auch regionale Gruppierungen zulässig sind, wenn keine Einigung erzielt werden kann. Taiwan ist bislang unser jüngstes Mitglied.

TEC21: Bei Lichtfachplanern gibt es unterschiedliche Meinungen, welcher Ausbildungsweg der richtige sei. Gibt es für Farbfachleute Ihrer Meinung nach eine ideale Ausbildung?

V. M. S.: Was Farbe betrifft, gibt es kaum Möglichkeiten für eine spezielle Ausbildung – vielleicht am ehesten noch am Haus der Farbe in Zürich, im Ausland ist mir nichts bekannt. Viele Leute, die ich kenne, die im Farbbereich arbeiten, haben Kunst studiert. Natürlich haben auch Architektinnen und Architekten ein Farbgefühl. Aber die Farbausbildung ist in den Architekturschulen kein Schwerpunkt, und mir scheint, dass Architekten mit Farbfragen oft überfordert sind. Spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts weiss man, dass man Farbigkeit und die Gesetze der Farbkombinationen bis zu einem gewissen Punkt auch erlernen kann. Ein ausgeprägtes visuelles Empfinden bleibt eine wichtige Voraussetzung.

TEC21: Farbe kommt heute in der Architektur nicht nur als Körperfarbe, sondern immer mehr als Lichtfarbe zum Einsatz. Ist diese Inszenierung der Gebäude und Anlagen eine Bereicherung?

V. M. S.: Weltweit sehen wir eine Zunahme an Lichtinstallationen und Fassadenbespielungen. Mir geht das häufig zu weit. Eine der ersten Installationen mit farbigem Licht habe ich 2001 in Schanghai erlebt, da wurde die Unterseite einer Brücke blau beleuchtet. Die Chinesen, mit denen ich unterwegs war, fanden das schön, ich empfand es als sehr grell. Doch nicht nur Farbe und Helligkeit werden unterschiedlich wahrgenommen, der Einsatz der Farbe verändert sich auch über die Jahre. Zur Weihnachtszeit erstrahlt Paris heute in Blau und Weiss, früher waren die Weihnachtsfarben Rot und Gelb. Das sind interessante Entwicklungen in der Symbolik – wir gestalten unsere Umwelt, was wiederum unsere Wahrnehmung verändert. Als in Japan infolge des Fukushima-Unglücks zeitweise die Stromversorgung ausgesetzt wurde, blieben von den sonst flimmernden, farbigen Bildschirmen nur noch die technischen «Skelette» übrig – ganze Strassenzüge wirkten damit tot. Grosse Fassaden mit Leuchtwerbung sind der Tod des städtischen Raumes – die Gebäude verschwinden, und für Soziales bleibt kein Platz mehr, weil die Technik so stark und überwältigend ist.

TEC21: Wobei das wiederum mit einer von Nation zu Nation unterschiedlichen Wahrnehmung von Licht und Farbe zu tun hat. In Europa gibt es weit weniger Exzesse im Umgang mit Beleuchtung als in Asien oder vielleicht in Amerika.

V. M. S.: Ja, immer mehr Städte werden sich bewusst, was eine gute Beleuchtung leisten kann. Wurde in Zürich früher scheinbar wahllos beleuchtet, sind es heute nur noch wenige, für das Stadtbild wichtige Bauten, die inszeniert werden. Auch in Frankreich findet dieser Wandel statt: Die Notre-Dame in Paris wurde lange Zeit einfach mit gelbem Licht angestrahlt, 2002 jedoch realisierte Roger Narboni ein neues Beleuchtungskonzept, sodass die Struktur der Fassaden im kühleren und punktuell eingesetzten Licht nun viel besser zur Geltung kommt. Auch bei zeitgenössischen Bauten wird der Beleuchtung heute mehr Beachtung geschenkt. Yann Kersalés[2] Lichtinstallation am Musée du Quai Branly (Jean Nouvel, 2006) während der «Nuit Blanche» 2006 veränderte die Wirkung des Gebäudes sehr stark ( Abb. 1 – 2). Tagsüber sah man das Gebäude, das ganz in warmen Rot-, Ocker- und Brauntönen gehalten ist. Nachts hingegen wurde blaues und violettes Licht über Plexiglasstäbe an die Unterseite des Gebäudes projiziert – es entstand der Eindruck einer unterirdischen Wassergrotte. Ein anderes Beispiel dafür, was Licht bewirken kann, sind die Docks en Seine in Paris ( Jakob Macfarlane, 2008), die die Cité de la Mode et du Design beherbergen. Die Betonstruktur der ehemaligen Lagerhäuser blieb erhalten, sie wurde mit einer grünen, schlangenförmigen Metallstruktur überzogen. Seit Kersalés Beleuchtung integriert ist, leuchtet dieses Gebäude wie ein grünes Glühwürmchen über der Seine (Abb. 3), mit magischer Anziehungskraft.

TEC21: Worin sehen Sie die Hauptforschungsaufgaben der nächsten Jahre bezüglich Farbe und Licht?

V. M. S.: Auf der technischen und optischen Seite wird das Sehen im Alter ein grosses Thema sein. Es gibt immer mehr ältere Menschen, und es ist wichtig, auf das veränderte Farbsehen im Alter zu reagieren. Welche Farben muss man benutzen, damit Schilder auch für die Älteren erkennbar sind? Welche Farben sollten Architektinnen und Architekten nutzen, damit sich Menschen in Wohnungen, Altersheimen und Spitälern zurechtfinden und nicht die Orientierung verlieren? Diese Forschung ist auch im Computerbereich sehr intensiv: Welche Farben müssen Schriften und deren Hintergrund haben, damit auch ältere Leute am Computer lesen können? Oder im Allgemeinen: Wie kann man die Bildqualität verbessern? Ein weiteres wichtiges Thema wird die Ökologie sein. Man weiss, dass viele früher häufig verwendete Anstrichfarben giftig waren, und entwickelt heute solche, die besser für unsere Wohn- und Arbeitsräume geeignet sind. Dieses ökologische Denken betrifft selbstverständlich auch die Farbexperten in der Industrie. Schöne leuchtende Farben, wie das Cadmiumgelb, sind bei uns für industrielle Anwendungen verboten, und Chromgelb, ein Bleichromat, ist giftig und soll krebserregend sein. Nicht zuletzt werden Licht und Farbe einen immer grösseren Stellenwert im Städtebau erhalten. Die Bevölkerung wächst ständig, und wir leben immer enger beisammen. In allen Städten gibt es Quartiere, die ohne Beachtung von Vegetation und Farben errichtet wurden. Heute ist es ein Bedürfnis, eine Umwelt zu gestalten, in der man sich wohlfühlt. Farbe ist dabei ein wichtiges Element, aber auch Tag- und Nachtbeleuchtung gehören dazu. Projekte für neue oder zu sanierende Quartiere müssen zukünftig wohl verstärkt von interdisziplinären Teams aus Architektinnen, Landschaftsarchitekten, Farbgestalterinnen und Lichtexperten etc. bearbeitet werden, damit alle für die späteren Bewohnerinnen und Bewohner wichtigen Aspekte bei der Planung und Realisierung einbezogen werden.


Anmerkungen:
[01] Armelle Lavalou, Jean-Paul Robert: Le Musée du Quai Branly. Groupe Moniteur, département Architecture / Musée du Quai Branly, Paris, 2006. ISBN 2-281-19317-9
[02] Yann Kersalé (*1955) schloss sein Studium 1978 an der School of Fine Arts in Quimper mit dem Diplôme National Supérieur d’Expression Plastique ab. Als Lichtkünstler hat Kersalé seitdem hunderte Projekte – ob nun temporär, bei Lichtfestivals oder dauerhaft – realisiert. Bekannte Lichtkunstarbeiten entwickelte er unter anderem für Helmut Jahn (Sony-Center, Berlin; Flughäfen Bangkok und Chicago), Jean Nouvel (Opernhaus, Lyon; Quai-Branly-Museum, Paris; Torre Agbar, Barcelona) und Coop Himmelblau (Arte Plage, Biel)
[03] Jean-Paul Curnier, Henri-Pierre Jeudy, Monique Sicard: Yann Kersalé. Editions Norma, Paris, 2003. ISBN 2-909283-82-8

Literatur:
Werner Spillmann, Verena M. Schindler, Stefanie Wettstein, Isabel Haupt: Farb-Systeme 1611–2007. Schwabe-Verlag, 2. Auflage, Mai 2010. ISBN-10 9783796525179

TEC21, Fr., 2011.06.03



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2011|23 Licht trifft Farbe

04. März 2011Katinka Corts-Münzner
TEC21

«Storybook für das Licht»

Die LED -Lichttechnik und deren dynamische Steuerungsmöglichkeiten machen derzeit immense Fortschritte. Die scheinbare Reife des Produkts verleitet Bauherrschaften dazu, dieses in ihren Projekten einsetzen zu wollen. Das bringt Architektinnen und Architekten in die Verlegenheit, mit einem neuen Medium zu arbeiten, zu dem es kaum Erfahrungswerte gibt. Ein Lichtplaner, der die Planungs- und die Bauseite kennt, kann in dieser Situation als Übersetzer fungieren.

Die LED -Lichttechnik und deren dynamische Steuerungsmöglichkeiten machen derzeit immense Fortschritte. Die scheinbare Reife des Produkts verleitet Bauherrschaften dazu, dieses in ihren Projekten einsetzen zu wollen. Das bringt Architektinnen und Architekten in die Verlegenheit, mit einem neuen Medium zu arbeiten, zu dem es kaum Erfahrungswerte gibt. Ein Lichtplaner, der die Planungs- und die Bauseite kennt, kann in dieser Situation als Übersetzer fungieren.

TEC21: Herr Moggio, Sie haben nach Ihrer Ausbildung zum Elektroplaner Architektur studiert. Heute leiten Sie bei Ernst Basler Partner die Abteilung Lichtarchitektur und arbeiten dort an repräsentativen Beleuchtungsprojekten. Wieso haben Sie sich auf Licht fokussiert?

Walter Moggio: Ich habe das Studium wegen des Lichts gemacht mit dem Ziel, mich
später mit der Architektur des Lichts zu befassen – als Lichtarchitekt. Ich wollte die Architektursprache erlernen, Farben und Proportionen verstehen und gute Architektur erkennen können, um sie mit Licht zu unterstützen. Die Ausbildung kommt mir heute sehr zugute, denn ich kann auf Plänen schnell Räume erfassen und dem Architekten oder der Architektin vermitteln, dass ich die Absicht dahinter und das architektonische Konzept verstanden habe. Als Lichtarchitekt verstehe ich mich als Dolmetscher zwischen Elektroingenieuren und Architekten.

TEC21: Die Lichtplanung erhält immer mehr Gewicht in der Architektur, sodass spezialisiertes Fachwissen notwendig ist. Dabei kommen die Lichtspezialisten aus ganz verschiedenen Berufsgattungen. Prägt der fachliche Hintergrund das gestaltete Licht?

W. M.: Auf jeden Fall. Es ist jedoch die Frage, ob diese Vielfalt eine Chance oder ein Fluch ist. In den letzten Jahren sind viele neu in den jungen Beruf der Lichtplanung eingestiegen, vielleicht, weil er spannend scheint und en vogue ist. Vom LED-Hersteller und Elektriker über die Einrichterin, den Messebauer bis zur Szenografin: Alle nennen sich Lichtplaner, -designer oder -gestalter. Die Erfahrung zeigt, dass ein Lichtarchitekt u.a. ein breites Schnittstellenwissen und vor allem eine fundierte Gestaltungskompetenz mitbringen muss. Zudem ist nebst dem Umgang mit Kunstlicht auch ein grosses Wissen zum Tageslicht gefragt. Wer überlegt und mit einer gewissen Verantwortung an eine Beleuchtungsaufgabe herangeht, merkt schnell, dass sich Lichtarchitekturwissen wie Wein verhält: Es reift mit der Zeit. Ich habe schon viel Erfahrung mit farbigem Licht und grossen Respekt vor diesem Thema. Der Weg zur bunten Lichtfarbe sollte erst dann beschritten werden, wenn man das unbunte Licht sowie Lichtrichtung und -art versteht und anzuwenden weiss.

TEC21: Kann nicht gerade eine gewisse Unerfahrenheit – oder auch Vorbehaltlosigkeit – kreative Ideen und neue, ungewöhnliche Konzepte unterstützen?

W. M.: Wenn man ganz unbelastet Konzepte entwickelt, entstehen womöglich sehr kreative
Ansätze. Viele Planerteams präsentieren Zauberkonzepte in Form von 3-D-Visualisierungen, die aber so nicht oder nur mit viel Aufwand umgesetzt werden können. Menschen glauben an diese meist effekthascherischen virtuellen Bilder, die grosse Erwartungen bei Auftraggebern wecken. Vergleicht man die Visualisierung mit der Realität, zeigt sich gerade in der Lichtstimmung meist ein anderes Bild. Die Verantwortung muss darin liegen, ein Bild zu generieren, das auch der Realität entspricht.

TEC21: Wie nähern Sie sich Projekten an?

W. M.: Erfolgsversprechend ist, wenn Architektinnen und Architekten mit ihrer Geschichte zum Gebäude zu mir kommen. Während sie mir die von ihnen erdachten Räume inhaltlich und atmosphärisch beschreiben, übersetze ich die Geschichte in Lichträume und erarbeite das Storybook für das Licht. Und das hat nichts mit Leuchten, Lichtmenge, mit Berechnung oder Farbe zu tun, sondern schöpft nur aus den bisherigen Erfahrungen und der kritischen Auseinandersetzung mit den eigenen Arbeiten. Wir klären dann die Frage, ob Licht zum Sehen, Hinsehen oder Ansehen geschaffen werden soll. Das Licht zum Sehen ermöglicht die Nutzung des Raumes, das Licht zum Hinsehen hebt Objekte oder Raumteile hervor, und das Licht zum Ansehen steht ohne einen quantitativen Anspruch selbst im Zentrum der Betrachtung – wie früher eine Kerze oder heute ein farbiger LED-Punkt. Wir müssen überlegen, ob das Licht körperhaft in Form auffälliger Leuchten oder immateriell und indirekt eingebracht werden soll. Für die Bearbeitung eines Projekts ist es auch wichtig zu klären, ob Licht den Blick lenken darf oder soll. Das geschieht beim Einsatz von bewegtem und auch farbigem Licht. Wenn es zudem noch hohe Helligkeitskontraste oder einen hohen Farbsättigungsgrad aufweist, fällt es noch mehr ins Blickfeld.

TEC21: Heisst das, dass Sie in Ihren Projekten selten mit bunten Lichtfarben arbeiten?

W. M.: Ich nutze zunächst einmal das unbunte Licht und versuche, die Anzahl an Weisstönen auszuschöpfen. Ein sehr wichtiges Kriterium für die Wahl der Beleuchtung ist, wie die Haut oder die Oberfläche im jeweiligen Licht wahrgenommen wird. Grün zum Beispiel gilt in der Farblehre als beruhigend, aber grünes Licht lässt menschliche Haut grau und ungesund erscheinen. Sobald man farbiges Licht oder farbige Oberflächen einplant, muss man sich bewusst sein, welche Wirkungen es auf Mensch und Umgebung haben wird. Mit dem Einzug von farbigem LED und medialen Fassaden im Aussenbereich wird zunehmend auch der urbane Raum (zu) farbig. Auch hier sollte eigentlich weniger mehr sein. Farbe muss den Entwurf oder die Nutzung unterstützen, zum reinen Selbstzweck darf man sie nicht in die Hand nehmen. Ich entscheide mich wegen der emotionalen Prägung des Lichtes im Zweifelsfall eher gegen Farbe und arbeite mit abgestimmten Weisstönen.

TEC21: Wobei da doch erschwerend hinzukommt, dass Farbe und Licht von jedem Einzelnen anders wahrgenommen werden.

W. M.: Das ist wahr. Eine Tapasbar in Spanien mag trotz einer nüchternen tageslichtweissen Beleuchtung gemütlich erscheinen, weil es draussen warm ist. In den nordischen Ländern hingegen findet man kaum Kaltweisslicht, weil dort in den Innenräumen Wärme gesucht wird. Wir Mitteleuropäer finden meist warm- und neutralweisses Licht besser als kaltweisses. Sozusagen ein Mechanismus unseres Körpers als Kompensation des hiesigen Klimas. Man muss überhaupt wissen, was mit unbunten und bunten Farben assoziiert wird. In vielen früheren Kulturen wurden Licht und Farbe zur Heilung von Krankheiten eingesetzt.[1] Farben oder Lichtniveaus können körperlich etwas bewirken und Emotionen wecken – so wie das Abendrot oder wie die blaue Stunde kurz nach dem Sonnenuntergang und vor dem Sonnenaufgang. Blaues Licht zum Beispiel wurde früher mit Ferne und Unendlichkeit verbunden, dann weckte es lange Zeit negative Assoziationen, weil es als ‹Drögelerlicht› galt. Unter blauem Licht sind Venen nicht sichtbar, deshalb waren lange Zeit viele Unterführungen und gedeckte Unterstände blau beleuchtet, um das Drogenmilieu zu vertreiben. Heute wird es wieder gern zur Beleuchtung eingesetzt, was zeigt, dass sich Assoziationen zu Farben wandeln.

TEC21: Sie unterrichten an der Hochschule Luzern (HSLU) das Fach Tages- und Kunstlicht. Wie behandeln Sie das Thema Lichtfarbe?

W. M.: Farbe, Lichtart und Lichtrichtung sowie Sehkomfort werden in der Klaviatur der quantitativen Lichtplanung berücksichtigt und finden einen Platz in der Lehre. Im Unterricht werden Grundlagenwissen und technisches Verständnis für qualitative Lichtplanung vermittelt. Bei Licht-Farb-Projekten muss zum Beispiel immer zwischen Körperfarben, die angestrahlt werden, und farbigem Licht unterschieden werden. Die Lichtfarbe wird beim Mischen immer heller (additive Farbmischung) und nicht, wie Körperfarben, dunkler (subtraktive Farbmischung) (Abb. 3). Wer gleichzeitig mit Körper- und Lichtfarben arbeiten möchte, sollte diese Körperfarben mit neutralweissem oder dem gleichfarbigen Licht anstrahlen. Auch das Wissen und die Möglichkeiten verschiedener Leuchtmittel ist wichtig. LED ist Teil des Grundlagenwissens und wird in der Anwendung diskutiert.

TEC21: LED bieten viele neue Möglichkeiten. Beeinflussen diese Ihre Entscheidung, mit welchem Licht Sie arbeiten möchten?

W. M.: Es ist nicht so, dass LED meine 15 Jahre Konzepterfahrung auf einmal neu schreiben. Meine Euphorie hält sich bis heute in Grenzen, da die visuelle Wahrnehmung des Menschen und die integralen lichttechnischen Werte in dieser Diskussion vernachlässigt werden. Der grosse LED-Enthusiasmus darf uns aber nicht zu sehr von der eigentlichen Lichtverantwortung ablenken. LED sind interessante und zukunftsweisende Lichtquellen, aber ich ordne sie zu den restlichen. Sie erzeugen unvergleichbar schöne, gesättigte Farben, und ich nutze sie für Aufgaben, bei denen mir ihr Einsatz sinnvoll erscheint – also wenn Farbe, Kompaktheit oder kleine, brillante Licht-Portionierung gefragt sind. Bisher verwende ich LED eher für Lichtkunst und als dekoratives Licht. Aufgrund ihrer mittleren Lichtausbeute und unzureichender Leuchtenfamilien können keine anspruchsvollen Lichtprojekte damit behandelt werden.
LED hat nach wie vor lichttechnische Lücken u.a. im Sehkomfortbereich und in der Farbkonstanz, abgesehen vom 3- bis 4fachen Anschaffungspreis für qualitativ hochwertige Produkte. Einzig die Lebensdauer ist interessant, sofern die theoretischen Vorhersagen zutreffen. Das Glühlampenverbot hätte zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können, denn so werden LED und Energiesparlampen als scheinbar nachhaltige Alternative angepriesen. Für die Industrie ist das lukrativ, denn die Hersteller verdienen an einem solchen Leuchtmittel das 10- bis 20fache gegenüber einer Glühlampe. Wenn man jeden Tag von diesem Produkt hört, bekommt man irgendwann ein schlechtes Gewissen, ein Energieverschwender zu sein. Und es ist zudem ein gutes Marketingtool, wenn man von sich behaupten kann, das ganze Geschäft nur mit LED ausgerüstet zu haben.
Viele Projekte, die ich sehe, bringen Menschen zum Staunen, auch wenn sie nicht nachhaltig sind. Darauf bin ich aber nicht aus, sondern auf etwas, das langfristig Freude macht. Eine Lichtlösung muss nicht billig sein, aber ich möchte nachhaltig günstige Konzepte machen.
In der professionellen Lichtplanung ist der LED-Einsatz nach wie vor eine Kompromisslösung – und das Potenzial des Leuchtmittels ist noch lange nicht ausgeschöpft.

TEC21: Aber ist es nicht so, dass Architektinnen und Architekten heute immer mehr mit Bauherrschaften konfrontiert sind, die fortschrittlich sein wollen und ganz selbstverständlich vom Einsatz von LED-Leuchten oder Lichtfarbkonzepten ausgehen?

W. M.: Das kann ich mir gut vorstellen. Jedoch spielen die momentan noch sehr hohen Anschaffungskosten den Architekten in die Hände. LED amortisieren sich mit den aktuellen Strompreisen nicht in einer Umbaugeneration. Zudem definiert der Investor bekanntlich die günstige Nachhaltigkeit anders als der zukünftige Betreiber. Ich bin davon überzeugt, dass man heute wenige lichtsensible Aufgaben mit LED lösen kann. Der Weg zum farbigen Licht ist jedoch mit dem Einzug der LED wesentlich einfacher geworden.

TEC21: Was empfehlen Sie Planenden für den Umgang mit den neuen Beleuchtungs- und
Steuerungsmöglichkeiten und mit den Beleuchtungswünschen der Bauherrschaften?

W. M.: Zunächst einmal eine überlegte Annäherung an das Thema, jenseits von Extremen. In den 1970er-Jahren schien es nicht möglich, dass ein Innenraum nicht bunt war. Es folgte eine Sättigung, gefolgt von einer Farbabstinenz bis Mitte der 1980er-Jahre – die Gestalterinnen und Gestalter schienen nur noch Schwarz- und Weisstöne und keine farbigen mehr anrühren zu wollen. In den letzten Jahren wurden entweder Erdfarben der Le-Corbusier-Palette oder Interieurs wie zu Zeiten der 1970er-Jahre wieder beliebt. Im Gegenzug wuchs aber auch bei Bauherrschaften der Wunsch nach farbigem Licht im Raum.
Lichtplaner kommen leider oft erst sehr spät zum Planungsteam, obwohl gerade das Tageslicht mit Öffnungen, Geometrien und Ausrichtung zu tun hat – entscheidende Punkte bei einem Entwurf. Bevor das Kunstlichtkonzept erarbeitet wird, muss die Nutzung des kostenlosen Tageslichts optimiert werden. Schon im Wettbewerbsstadium wird definiert, wo und wie viel Tageslicht in das Gebäude eingetragen wird und wie man sich davor schützen will.
Je weiter die Planung voranschreitet, desto kleiner wird der mögliche Einfluss. Wenn frühzeitig gemeinsam, begleitend, überlegt und geplant wird, kann ein echter Mehrwert für das Objekt geschaffen werden. Das vorsichtige Herantasten an Körperfarben (Abb. 3) kann sonst mit einem relativ grobmotorischen Griff zu farbigem Licht schnell zerstört werden.

TEC21, Fr., 2011.03.04



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2011|10 Licht und Farbe

20. März 2009Katinka Corts-Münzner
TEC21

Funkelndes Bijou

Eine scheinbar gewachsene Betonskulptur, umhüllt von Eisblumenglas und durchwirkt von farbigem Licht – das ist das neue Veranstaltungsgebäude, das «Nordwesthaus», im Rohner Hafen im österreichischen Fussach. Die Zwischenräume der Fassade werden von 125 LED-Leuchten mit Spezialoptik beleuchtet, und diese werden so gesteuert, dass das Gebäude fast in Bewegung zu sein scheint.

Eine scheinbar gewachsene Betonskulptur, umhüllt von Eisblumenglas und durchwirkt von farbigem Licht – das ist das neue Veranstaltungsgebäude, das «Nordwesthaus», im Rohner Hafen im österreichischen Fussach. Die Zwischenräume der Fassade werden von 125 LED-Leuchten mit Spezialoptik beleuchtet, und diese werden so gesteuert, dass das Gebäude fast in Bewegung zu sein scheint.

Das Gelände des heutigen Rohner Hafens bei Fussach war bis vor ein paar Jahren ein Kieswerk. Als dieses geschlossen wurde, entwickelte die Besitzerin des Geländes gemeinsam mit dem Architekturbüro Baumschlager Eberle ein Projekt für eine kleine Marina. Zunächst bauten die Architekten 1999 das Gebäude der Hafenverwaltung am Eingang des Geländes, ein kleines architektonisches Highlight. Als Ergänzung dazu sollte noch ein weiteres Gebäude entstehen, das für Veranstaltungen genutzt werden kann. Als Standort für den Neubau mit Veranstaltungsraum wurde die nordwestliche Ecke des 16 000 m² grossen Grundstücks gewählt: bei den Booten mit den hohen Segelmasten, in der Nähe der schilfumstandenen Hafeneinfahrt und in Sichtweite des Verwaltungsgebäudes (Abb. 05). Schon zu Beginn der Planung sollte das «Nordwesthaus» im Wasser gegründet werden, so konnte auch eine Bootsgarage darin Platz finden. Das 2008 fertiggestellte «Nordwesthaus» soll in angemessener Distanz ein attraktives Gegenüber, eine Art Gegenpol, sein. Gleichzeitig fassen beide Gebäude den relativ grossen Platz, der im Winter als Bootsparkplatz dient und auf dem sich im Sommer die Liegeplatzmieter und die Gäste treffen können. Bereits das Verwaltungsgebäude zog Architekturtouristen an, denn es ist eine Landmarke im Grünen am Bodensee in der Nähe von Bregenz. Mit dem Neubau schräg gegenüber haben die Architekten eine weitere Pilgerstätte geschaffen.

Zarte Betonhülle und Eisblumenglas

Vom Verwaltungsgebäude sind es nur ein paar Schritte zum «Nordwesthaus». Und doch liegen Welten und eine sicht- und spürbare technische Entwicklung zwischen den Bauten. Die Betonwände des Neubaus wurden im Entwurf gemeinsam mit den Ingenieuren von Mader & Flatz aus Bregenz so weit reduziert, dass sie Stämmen mit Ästen ähneln und Erinnerungen an Toyo Itos Tod’s-Gebäude in Tokio wecken.

Bei dem am Bodensee üblichen Wasserstand ( 396.00 m = lokales Null) ragt der Neubau etwa 13 m aus dem Wasser, unter dem Wasserspiegel reicht das Gebäude bis 2 m an den Seeboden. Der Unterbau wurde unter den Wasserspiegel verlängert, damit die «Garage» für Boote erreichbar ist. Der Betonkörper steht auf etwa 15 m langen Ortbeton-Bohrpfählen und widersteht Wasserdruck und Auftrieb. Von der Oberkante der Erdgeschossbodenplatte wächst ein Betongeflecht in biomorpher Form nach oben bis unter die Betondecke, welche die Basis für das Flachdach bildet. Als Bewehrung wählten die Ingenieure relativ dünne Betonstähle, die vor Ort zu Armierungskörben verarbeitet und in die Schalung «hineingedrückt » werden konnten. Anordnung und Menge der Betonstützen entsprechen einer Synergie aus den optischen Wünschen der Architekten und den statischen Vorgaben des Ingenieurs, so Mader. Die Analyse der Rohbaustruktur erfolgte anschliessend mit einfachen Ersatzquerschnitten. Die Lastannahmen umfassten den Bereich von Eigenlasten, Auflasten, Nutzlasten, Schnee, Wind, Wasserdruck und Erdbeben. Aus diesen Daten entwickelten die Ingenieure wiederum einige wenige Regelquerschnitte, in denen die Anordnung von Bewehrung und Leitungsführung vereinheitlicht wurden. Über die gesamte Höhe des Stahlbetongeästes wurde die Schalung vor Ort in vier Abschnitten gesetzt. Mit wenigen gekrümmten Schalungs elementen konnten alle Aussparungen der Etappen in den Wänden geformt werden. Im Anschluss wurden die Wände sorgfältig gegossen, die Schalungen nach der Trocknung entfernt, gesäubert und neu kombiniert für die anders geformten Aussparungen der weiteren Abschnitte verwendet.

Der Neubau wirkt filigran, scheint fast zerbrechlich. Diesen Eindruck verstärkt zudem das Glas, das ihn umhüllt und das an Eisblumen erinnert (Abb. 06 – 08). Diese spezielle Oberflächenbearbeitung, vom Hersteller «Ice-H» genannt, ist bei allen Gläsern mit einer Stärke ab 3 mm möglich. Auf das Glas wird eine Flüssigkeit aufgebracht, die sich beim Aushärten zusammenzieht und dabei kleinste Teile aus der Glasoberfläche bricht. Das entstandene Dekor im Glas ist somit kein wiederkehrendes Muster, sondern an jeder Stelle einmalig – ähnlich dem Craquelé bei Ölgemälden oder den Haarrissen in den Raku-Keramiken. Diese Bearbeitungsform ist schon seit mehreren Hundert Jahren bekannt und wurde ursprünglich zur Verzierung von Schmuck- und Glasteilen, später auch für Innendekor verwendet. Die Architekten entschieden sich für diese Glasoberfläche, weil sie für das Gebäude eine transparente Hülle wollten, die nicht aus Mattglas besteht und durch die die «Betonbäume» noch erkennbar sein sollten.

Schlichter Innenraum im Farbspiel

Über eine kleine landseitige Brücke gelangt man durch ein überhohes Tor in das Veranstaltungsgebäude und in einen kleinen Vorraum auf Erdgeschossniveau (Abb. 09). Zur tiefer liegenden Bootsgarage führen Betonstufen, die je nach Jahreszeit und Wasserstand überspült werden. Der Bootsplatz kann zum Beispiel bei Veranstaltungen genutzt werden. Geht man nach oben, findet man sich im Hauptraum, dem Veranstaltungsbereich, wieder. Hier gibt es neben dem Treppenaufgang eine schmale Cateringküche, die nur bei Bedarf geöffnet wird und sonst als eleganter Edelstahlriegel dezent im Raum steht. Der Raum wird nicht beheizt und kann im Sommer von jedermann für Seminare, Workshops und Apéros für bis zu 100 Leute gemietet werden. Je nach Veranstaltung können Holztische und -bänke in Reihe, übereck oder frei arrangiert werden. Der Hingucker im Raum ist, wie von aussen auch, die Betonhülle mit ihren Zwischenräumen, die nur bei abendlichen Veranstaltungen von farbigen LED beleuchtet werden. Eine ständige Beleuchtung in den Abendstunden ist nicht vorgesehen, da sich der Hafen im Naturschutzgebiet Rheindelta befindet.

Für die Allgemeinbeleuchtung wurden 30 Downlights in die rohe Betondecke eingebaut. 125 LED-Leuchten sorgen für eine effektvolle Akzentuierung in der Fassade. Damit die Leuchten von den Besucherinnen und Besuchern möglichst nicht gesehen werden, wurden sie in die Laibungen, sozusagen in die Astgabeln, eingelassen (Abb. 16). Sämtliche benötigten Leerrohre für die Kabelführung befinden sich zwischen der Bewehrung im Beton, in den Decken sowie in den «Ästen» und «Stämmen». Damit die Strahler (Abb. 15) nur die Astgabeln beleuchten und kein Streulicht in den Raum abgeben, wurde auf die Leuchte eine extrem asymmetrische Sekundäroptik mit einer Linse gesetzt.[1] Diese erlaubt eine weite Abstrahlung in die Laibung, lässt das Licht quer dazu, aber nur sehr eng in den Raum, sodass keine Blendung entsteht. So wird auch das Licht der wenigen Strahler, die direkt in die Bodenplatte eingesetzt wurden, nicht als unangenehm empfunden. Jede Leuchte ist mit je vier Highpower-LED in Rot, Grün und Blau (RGB) ausgestattet und kann direkt über eine DMX-Steuerung angesprochen werden.[2] Die zwölf Lichtpunkte sind nicht symmetrisch gesetzt, sondern so, dass die Abstände der drei Farben immer so gering wie möglich gehalten sind und damit die bis zu 9 m hohen Hohlräume möglichst gleichmässig ausgeleuchtet werden. Zu Beginn der Planung waren noch RGB-W-Leuchten angedacht, pro Farbe drei LED. Die weissen LED wurden dann aber zugunsten des Lumenoutputs der farbigen LED weggelassen, und es wurden jeweils vier LED eingesetzt. Reines Weiss gibt es als Beleuchtung damit nicht, für die Fassade wird via DMX ein Weiss aus den Farben gemischt. Mithilfe der eingesetzten Steuerungssoftware werden die Farben Rot und Grün, die ein stärkeres Lumenoutput haben als Blau, heruntergeregelt und Blau zu 100 % eingeschaltet. Dabei nutzt man den Effekt, dass das menschliche Auge sehr träge ist und das Gehirn einen etwaigen Farbstich korrigiert. Die Lichtplaner programmierten einige Lichtszenarien, vom kühlen Weiss über wallende grün-türkise Farbverläufe, die an Schilf im Wasser erinnern sollen, bis hin zum «Feuer», bei dem das Gebäude mehr und mehr in den gelben und roten Lichtflammen aufgeht (Abb. 12).

Die Frage nach dem Geld

Man darf sie stellen. Die Antwort ist allerdings ernüchternd. «Keiner hat was an dem Bau verdient, es wurde viel Neues ausprobiert, und daher ist das Projekt nicht mit anderen zu vergleichen», so Maria Rohner, die Bauherrin. Architekten, Ingenieure und Lichtplaner halten sich bedeckt, stimmen aber gern mit ein und ergänzen: «Es war eine spannende Zusammenarbeit, und alle Baubeteiligten haben viel Herzblut in das Projekt gesteckt», sagt Ledon- Projektleiter Bernd Clauss. Als die Architekten der Bauherrschaft ihr Projekt vorstellten, war diese begeistert, das Budget allerdings weit überschritten. In der Zumtobel-Gruppe, zu der auch Ledon gehört, fand sie einen Partner, der einen Grossteil der Beleuchtungskosten übernahm. Den Bau nutzt Ledon dafür als überdimensionales Werbeschild für das eigene Marketing. «Für uns ist das ein tolles Vorzeigeprojekt direkt vor unserer Haustür», so Clauss. Das Resultat ist ein Bau, in und an dem tatsächlich viel Neues zu finden ist. Einige der im Gebäude eingesetzten Produkte – wie beispielsweise die Betonschalung, das Eisblumenglas und besonders die LED-Leuchten – sollen in den nächsten Jahren weiterentwickelt werden. Nicht nur der räumlichen Nähe der am Bau Beteiligten – alle im Umkreis von maximal 30 km –, sondern wohl auch der Freude am Experimentieren mit Form und Farbe ist es geschuldet, dass Auftraggeber und -nehmende dieses Projekt mit Lust und Engagement umgesetzt haben. Mit dem «Nordwesthaus» ist sicherlich eine neue Landmarke für Architekturtouristen entstanden. Und wenn es der Zufall so will, sehen diese es auch vor dem Nachthimmel funkeln.


Anmerkungen:
[1] Die Technologie der Linse gibt es nach Auskunft von Ledon schon lange, aber die gesamte Leuchte (inklusive Platine und Anordnung der LED) wurde für das Projekt neu entwickelt
[2] DMX ist ein Protokollstandard für eine Niedervolt-Steuerung in der Theatertechnik. Im Gegensatz zu DALI sendet DMX ständig Informationen und ermöglicht sehr schnelle Eff ekte und Farbwechsel

TEC21, Fr., 2009.03.20



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30. Januar 2009Katinka Corts-Münzner
TEC21

Draussen in der Halle

In der weltweit ersten Simulationshalle für Helikopter in Gaissach bei Bad Tölz (D) können Rettungskräfte wetterunabhängig Berg- und Lufteinsätze trainieren. Das bedeutet: weniger CO2-Emission der Helikopter, weniger Lärm und mehr Sicherheit.

In der weltweit ersten Simulationshalle für Helikopter in Gaissach bei Bad Tölz (D) können Rettungskräfte wetterunabhängig Berg- und Lufteinsätze trainieren. Das bedeutet: weniger CO2-Emission der Helikopter, weniger Lärm und mehr Sicherheit.

Für Rettungseinsätze an schwer erreichbaren Orten muss das Team gut eingespielt und trainiert sein. Bislang führte die bayrische Bergwacht die etwa 100 dafür notwendigen Trainingstage im Freien durch. Bei diesen teuren Übungsstunden gab es jedoch immer wieder Probleme: Der Helikopter wurde zum Notfalleinsatz abgerufen, oder die Wetterbedingungen verhinderten die Durchführung einer Übung, sodass die ehrenamtlichen Retter abreisen mussten, ohne zum «Einsatz» gekommen zu sein. Eine weitere Einschränkung stellt die kontingentierte Flugzeit der Maschinen und der Piloten dar. Da die Helikopter etwa alle 2.5 Stunden nachgetankt werden müssen, wurden die Übungen dauernd unterbrochen. Auch der benötigte Treibstoff war ein Entscheidungsfaktor: Die Helikopter verbrauchen im Freien durchschnittlich 350 Liter Kerosin pro Trainingsflugstunde, und das bei einem Trainingsvolumen von 3300 Flugstunden pro Jahr. Die Bergwacht strebte daher die Simulation der Helikopterflüge in einer Hallenanlage an, um die Ausbildungs- und Trainingsstruktur zu verbessern.

Weltweit erste Flughalle für Simulationshelikopter

Als Bauort wurde ein Grundstück in Gaissach bei Bad Tölz gewählt, das nahe an den Bergen liegt und dank der Infrastruktur gut erreichbar ist. Mit dem Projekt wurden die Münchner Architekten Herzog Partner betraut. In Zusammenarbeit mit der Bergwacht entwickelten sie ein Gebäude, das für Schulungs- und Trainingszwecke der Bergwacht genutzt werden kann, in dem aber auch Einsatzgruppen anderer Rettungsorganisationen wie Wasserwacht, Feuerwehr und Polizei realitätsnah trainieren können. Dazu stehen ein stationärer sowie ein beweglicher Simulationshelikopter zur Verfügung. Der steuerbare Helikopter ohne Rotorblätter läuft an einer Krananlage, der stationäre für das Grundtraining an der Helikopterzelle befindet sich auf einem Übungsturm.

Training in der Halle

In den Übungen an der beweglichen Zelle können sich Rettungsleute abseilen, Opfer werden mit der Winde geborgen, und am Boden lassen sich verschiedene Situationen trainieren. Der Parcours auf dem Boden soll in den nächsten Jahren erweitert werden. Die Übungen in der Helikopterzelle wirken sehr realitätsnah, da die Zellen an der Aufhängung «frei» durch die Halle gesteuert werden können. In der Halle befinden sich in etwa 16 m Höhe entlang der Längsseite Kranbahnträger, die ihre Lasten über Konsolen an die Stützenfachwerke abgeben. Sie wurden für den Betrieb von bis zu drei Portalkrananlagen mit einem Gewicht von je 28 t ausgelegt. Die Kranbrücken sind das Rückgrat der Anlage, haben jeweils eine Spannweite von 25 m und bewegen sich in Längsrichtung durch die Halle. Sie werden über frequenzgeregelte Antriebe bewegt und können daher stufenlos in ihrer Geschwindigkeit gesteuert werden. Auf den Brücken läuft in Hallenquerrichtung die Krankatze mit Hubwerk und Drehvorrichtung. Um die Lärmentwicklung durch die Bewegungen der Kranbrücken auf den Kranbahnträgern zu minimieren und um die Kranbahnschienen feinjustieren zu können, wurden diese Schienen auf Elastomeren gelagert verschraubt.

In der Helikopterzelle stehen zur Steuerung nachgebaute Originalinstrumente zur Verfügung. Es können Höhe, Fahrtrichtung und -geschwindigkeit sowie Schräglage gesteuert werden. Sensoren liefern Informationen zur Bewegung an ein Datenmodell der Anlage, und diese setzt die Bewegungsanforderungen nur dann um, wenn dadurch keine Kollision mit den anderen Anlagen entsteht. Nach den ersten Betriebsmonaten wird die Anlage mit höherer Geschwindigkeit betrieben, auch die Freiheitsgrade für die Helikopter werden schrittweise gesteigert. Sämtliche Komponenten der Kranbrücken und der Aufhängungen verfügen über die erforderlichen Leistungsreserven. Tragende Teile haben mindestens doppelte Festigkeitswerte, und sicherheitsrelevante mechanische Bauteile wie die Bremsanlage sind doppelt vorhanden.

Um die reale Stresssituation nachzustellen, wurde die Anlage mit weiteren Besonderheiten ausgestattet. Zum Beispiel kann der Abwind, der durch die Rotorblätter erzeugt wird, simuliert werden. In den Bereichen, in denen sich die Einsatzkräfte während der Übung aufhalten, sollen möglichst hohe Windgeschwindigkeiten herrschen. Oberhalb der Helikopterzelle wurden Windgeneratoren angebracht, von denen jeder bei 7.5 KW Leistungsaufnahme ein Strömungsvolumen von 72 000 m³/h bei einer Strömungsgeschwindigkeit von etwa 60 km/h im Dauerbetrieb liefert. Zudem können über eine Lautsprecheranlage oder die Kopfhörer der Einsatzkräfte Rotoren- und Turbinengeräusche so eingespielt werden, wie es die jeweilige Trainingsaufgabe und Situation erfordert. Auch Blendungen entstehen beim Übungseinsatz ähnlich wie in der Realität, da die transparenten Wände das Sonnenlicht ungehindert durchlassen. Zusätzlich werden Stroboskopblitzer eingesetzt, die in Intensität und Frequenz geregelt werden können, um flackerndes Licht zu simulieren. Diese optische Störung entspricht in etwa dem Lichteffekt, der entsteht, wenn Sonne zwischen den Rotorblättern auf die Unfallstelle scheint. Die komplette Halle ist nicht beheizt, nur die Helikopterzellen, der Kontrollraum und die Basislager können temperiert werden. Die Anlage wird in den Wintermonaten schwere und warme Kleidung sowie Handschuhe erforderlich und damit das Training realitätsnaher machen.

Tragwerk und Fassade

Das Hallentragwerk ist wegen der Gebäudehöhe von fast 20 m hohen Windkräften ausgesetzt. Zusätzliche besondere Lastfälle für die Konstruktion entstehen durch die Bewegung der Helikopter entlang der Kranbahnen. Fünf räumliche, in ihrem Querschnitt dreieckige Fachwerkträger sind die Haupttragelemente der Stahlkonstruktion, Fassade und Dach lasten auf dem Zweigelenkrahmen. Die Stirnseiten der Halle bestehen jeweils aus zwei Ebenen, die biegesteif miteinander verbunden wurden. So entstand für Windlasten eine Tragwirkung als Vierendeelträger. In der Mitte der Längs- und der Stirnseiten der Fassade wurden horizontale Festpunkte gewählt, die die horizontalen Lasten an den Massivbau abgeben. Alle anderen Auflagerpunkte wurden in Längsrichtung der umlaufenden Wände verschiebbar gelagert, sodass horizontale Bewegungen des Tragwerks infolge Temperatureinwirkungen möglich sind.

Da die Bergwacht im Gebäude unter realitätsnahen Klimabedingungen trainieren wollte, wurde für die Fassade nur eine hochtransparente Folienkonstruktion verwendet. Diese dient als Wetterhaut, aber kaum als thermische Trennung. Die 0.3 mm starke transparente Folie wird in einem Stahlrahmen gehalten und durch Bögen nach aussen ausgelenkt, wodurch sie ihre geometrisch notwendige Steifigkeit erhält (s. Kasten S. 22).

Ausbau in den nächsten Jahren

Seit 2008 läuft der Trainingsbetrieb, und die Anlage erfüllt nach Angaben der Betreiber deren Erwartungen. Für den weiteren Ausbau des Trainingsparcours sind in einem weiteren Bauabschnitt ein Wasserbecken mit Wellen- und Strömungsanlage und eine alpine Fels- und Hügellandschaft mit Wasserrutsche für Übungen der Canyoning-Rettungsgruppen geplant. In die Felslandschaft sollen kurze Höhlengänge integriert werden. Auch ein kleines Haus soll in der künstlichen Landschaft stehen, an diesem können dann Rettungen über Dach, Balkon und Fenster trainiert werden. In einem weiteren Ausbauschritt soll der Parcours um eine Liftanlage mit Sesselliften und Kleinkabinen, einen Strommast und einen Baukran für Bergungsübungen erweitert werden.

TEC21, Fr., 2009.01.30



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31. März 2008Katinka Corts-Münzner
TEC21

Ungehindert spielen

Im Heilpädagogischen Zentrum in Hagendorn wurde 2006 ein grosser Spielplatz errichtet, der auf die speziellen Bedürfnisse körperlich und geistig behinderter Kinder zugeschnitten ist. Das Ziel der Planer war, einen Spielraum für alle Kinder zu schaffen – ganz egal für welches Alter und für welchen Grad der Behinderung.

Im Heilpädagogischen Zentrum in Hagendorn wurde 2006 ein grosser Spielplatz errichtet, der auf die speziellen Bedürfnisse körperlich und geistig behinderter Kinder zugeschnitten ist. Das Ziel der Planer war, einen Spielraum für alle Kinder zu schaffen – ganz egal für welches Alter und für welchen Grad der Behinderung.

Heilpädagogen und Lehrer wissen, dass die Bewegung im dreidimensionalen Raum auch die Bereiche im Gehirn schult, die für das Lernen extrem wichtig sind.1 Diese Erkenntnisse sollten auch in das Neubaukonzept für den Spielplatz in Hagendorn mit einfl iessen. Das Heilpädagogische Zentrum Hagendorn (HZH) liegt etwas abseits der Kantonsstrasse nach Cham und Zug, inmitten von Landwirtschaftsfl ächen und in der Nähe eines Wäldchens. Zur Anlage gehören ein Schulhaus, ein Mehrzweckbau mit Turnhalle und drei Internatsgebäude. Dazwischen gibt es einen Pausenplatz, unterhalb der Wohngebäude liegt eine grosse Grünanlage, in der sich der neue Spielplatz befi ndet (Bild 7). In der Ganztagsschule leben und lernen Kinder aus dem Kanton Zug und angrenzenden Kantonen. Sie haben sehr unterschiedliche Behinderungen, was eine einheitliche Lösung bei der Neuplanung des Spielplatzes unmöglich machte. Manche Kinder können zum Beispiel zwei Sprachen sprechen, sind aber in der Motorik gestört und brauchen Hilfe beim Essen. Andere sind körperlich nicht behindert, sind aber im frühpubertären Alter noch auf dem geistigen Niveau eines Kleinkindes.

Der Spielplatz als Lehrraum

Im Sommer 2004 stellte das HZH sein Unterrichtskonzept um. Die Kleinklassen wurden auf vier Lerngruppen mit je 12–16 SchülerInnen verteilt. Jeweils drei bis vier Pädagogen be - treuen die Gruppen über den ganzen Tag. Seit der Umstellung des Unterrichtskonzeptes werden auch die Pausen als Unterrichtszeiten angesehen, in denen zum Beispiel die Sen - sorik geschult wird. Der neue Aussenraum sollte demnach nicht nur Spielplatz, sondern auch Lernraum sein. Die Betreuenden konnten so die Pausen frei gestalten und deren Län - gen selbst festlegen, sie sollten die Kinder aber in dieser Zeit in eine Umgebung führen, in der ihre Aktivität angeregt wird. Auf dem Spielplatz sollen den Kindern Aufgaben gestellt werden, die sie dort lösen. Da die Kinder, die im Internat leben, den Spielplatz auch nach dem Unterricht nutzen, sollte er leicht verständlich und ohne Betreuer nutzbar sein. Bei der Erarbeitung des neuen Spielplatzkonzeptes wurden die Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Heilpädagogen befragt, wie den Bedürfnissen der Schüler auf dem Spielplatz entsprochen werden könnte. Die Spielsachen sollten nach ihrer Auskunft selbsterklärend sein und keine grosse Anleitung durch die Betreuer bedingen. Zur Vorbereitung des Projektes sollten die Betreuenden die Kinder beim Spielen auf dem alten Platz beobachten. Dabei stellte sich heraus, dass die Kinder sich besonders gern mit Spielgeräten beschäftigen, die ihre Motorik fordern – also zum Beispiel Schaukeln und Wippen. Da auf dem künftigen Spielplatz ein Teil des Unterrichts abgehalten werden sollte, gaben auch die LehrerInnen ihre Wünsche zur Gestaltung an. Daniela Saxer vom Architekturbüro Raum B Architekten entwickelte nach diesen Vorgaben ein Konzept für die gesamte Schulanlage und erweiterte anschliessend das Planerteam. Gemeinsam mit dem Landschaftsarchitekturbüro Appert & Zwahlen aus Cham und der Baarer Künstlerin Johanna Naef planten die Architekten das Projekt und setzten es ab 2005 um.

Dosierte Gefahren auf dem Weg

Der neue Spielplatz unterteilt sich in drei Bereiche: eine gekieste Fläche, einen Sandkasten und einen Pavillon. Ein Merkmal der Anlage ist, dass es den Kindern nicht zu einfachgemacht wird, an jede beliebige Stelle des Spielplatzes zu gelangen. Der Weg zu Spielplatz und Schwimmbad sollte nicht einfach durchgehend asphaltiert werden, sondern auch bezwingbare Hindernisse und «Abenteuerwege» enthalten. Die oberste Prämisse der Planenden war: je kürzer der Weg, desto grösser muss die Herausforderung für die Kinder sein. Beispiele dafür sind ein Riffelblechboden mit minimalen, für Rollstuhlfahrer aber überwindbaren Stufen und Gitterroste, die über den Sandkasten führen. Einer der Roste ist stabil, der andere gelenkig fi xiert. Hier ist die Motorik der Kinder gefordert, denn auf dem wackelnden Steg will das Gleichgewicht gehalten werden. Zwischen der ersten und der zweiten Ebene liegt ein Wackelsteg, die zweite ist mit der dritten über eine wippende und kippende Brücke verbunden. Diese kippt und schaukelt beim Begehen und Befahren mit Rollstuhl und Fahrrad. Beim Pavillon schliesslich wählte die Architektin einen weichen Sportplatzbelag, der durch seine Höhe von 11 cm sehr stark federt. Die verschiedenen Lauf- und Fahrerlebnisse machen bereits den Gang zum Spielplatz zum Abenteuer.

Alle Sinne fordern

Über den Asphaltweg gelangen die Kinder zuerst in den Kiesbereich. Sie haben hier eine Fläche, die mit Kies, nicht bindigem Sand und grossen Steinen bedeckt ist. Besonders ihre taktile Wahrnehmung schulen sie beim Spiel. Einige Kinder nehmen wegen ihrer Behinderung nur wenig über ihre Haut wahr. In Kies und Sand können sie sich gefahrlos eingraben, die Materialien wahrnehmen und die Wärme oder die Kälte der Steine spüren. Für diesen Bereich entwickelte Johanna Naef Liegen aus Kunststoff, auf die sich die Kinder alleine oder mit Hilfe legen können. So erreichen sie den Boden und können bäuchlings im Sand spielen. Der Sandkasten im zweiten Bereich ist mit bindigem Sand gefüllt – ideal zum Burgenbauen und Matschen. Auch die Kinder im Rollstuhl können diesen Bereich befahren und an einem Matschtisch auf einer Betonplattform ohne die Hilfe anderer spielen (Bild 4). Als Besonderheit wurde ein erhöht liegender Pavillon errichtet. Kinder, die im Rollstuhl sitzen, können ihre Umgebung nur selten von einem erhöhten Standpunkt aus wahrnehmen. Auf dem Spielplatz haben sie aber diese Möglichkeit. Der Pavillon ist für Rollstuhlfahrer über eine Rampe zu erreichen, nicht gehbehinderte Kinder können ihn auch über eine Kletterwand, ein Netz oder einen schmalen Kamin – ein Metallrohr mit Sprossen – erklimmen (Bilder 2 und 3). Das Holztragwerk, geplant von Bauingenieur Walter Bieler aus Bonaduz, ergänzte in spielerischer Weise einen Stützenwald unter der Rampe. Die schräg angeordneten Pendelstützen stabilisieren die Rampe und bilden gleichzeitig einen Spielraum für die Kinder (Bilder und Pläne Seiten 26 und 27). Rückwärtig schliesst der Bau mit einer fl acheren Rampe für die Rollstuhlfahrer an den Pausenplatz an. Von diesem gelangen die nicht gehbehinderten Kinder auch direkt zum Spielplatz, müssen dazu aber eine Röhrenrutschbahn nutzen und auf dem Rückweg über grosse Steine klettern. Hier wird erneut der Vorsatz der Planer deutlich: kurze Wege müssen schwieriger gestaltet sein und eine Herausforderung darstellen. Birken und Föhren schliessen den Spielplatz gegenüber der angrenzenden Wohnbebauung ab. Strauchrosen setzen farbliche Akzente. Neu gepfl anzt wurden unter anderem Haselnuss- und Holundersträucher, die für die Kinder nicht nur in der Blütezeit interessant sind. Neben der optischen, akustischen, olfaktorischen und taktilen Wahrnehmung sind auch die Entwicklung des Gleichgewichtssinns und der Muskelkraft für ein Kind wichtig. Wenn die Kinder im Herbst die Beeren und Nüsse sammeln, trainieren sie ihre taktile Wahrnehmung und lernen, wie sie ihre Kraft dosieren müssen, um die Beeren nicht zu zerdrücken. Wollen die Kinder hingegen die Früchte der Erdbeeren erreichen, müssen sie sich auf den Boden knien, wobei sie für sie unübliche Bewegungsabläufe üben.

Neugestaltung von Pausenplatz und Mehrzweckraum

Die Betreuenden und die Kinder haben die neue Aussenraumgestaltung mittlerweile gut angenommen. Die Kinder sehen den Spielplatz auch als Aufgabe an, die es zu lösen gilt. Sie beschäftigen sich oft stundenlang mit einem Hindernis, bis sie es überwinden könnenDie Betreuenden verbieten den Kindern nichts, sie sollen ihre eigenen Erfahrungen im Ge - lände machen und ihre Grenzen selbst kennenlernen. Nach diesen positiven Erfahrungen will die Schulleitung des Heilpädagogischen Zentrums Hagendorn nun auch weitere Berei - che des Geländes umgestalten. Sie hat Daniela Saxer mit der Aufgabe betraut, ein Gestaltungskonzept für den zurzeit unattraktiven und verstellten Pausenplatz zu entwickeln. Hier sollen die Rabatten entfernt werden und so ein Platz zum Velofahren und Herumrennen entstehen. Ausserdem sollen der Mehrzweckraum generell saniert, die Raumfolge darin optimiert und die Zwischenräume mit spielerischen Komponenten versehen werden.

Öffnung zur Aussenwelt

Die Klassengrösse wird in Zukunft wohl eher abnehmen, da die Kinder schneller in Integrationsklassen öffentlicher Schulen aufgenommen werden sollen. Die Plätze im Internat hingegen werden nach wie vor gefragt sein, und damit wird auch die attraktive Gestaltung des Wohn- und Lernumfeldes ein Thema bleiben. «Behinderte wurden früher abgeschoben und ihre Einrichtungen abseits der Städte gebaut», so Saxer. Den Kontakt zur Aussenwelt könne das Heilpädagogische Zentrum heute wieder verstärken, indem es sein Gelände und seine Einrichtungen für Fachleute und Schulklassen öffnet. In den Mehrzweck- und Schulungsräumen sollen zum Beispiel Fachhochschulen Kurse, Weiterbildungen und Informationsabende durchführen. Das Interesse an einer Anlaufstelle für Personen aus der Praxis besteht. Andere Schulklassen sind eingeladen, den Spielplatz gemeinsam mit den Kindern des HZH zu nutzen. Das Angebot stösst auf Interesse, mittlerweile reisen auch Regelkindergärten und Schulklassen aus der Umgebung für einen Besuchstag an. Katinka Corts

TEC21, Mo., 2008.03.31



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tec21 2008|14 Spielräume

25. Februar 2008Katinka Corts-Münzner
TEC21

Wie Tag und Nacht

Physiologische Aspekte stehen im Zentrum des Interesses des schweizerischfranzösischen Architekten und Künstlers Philippe Rahm. In seine Installationen und Projekte integriert er die Zeit und das Klima und passt beides den Bedürfnissen der Nutzer an. Eines seiner aktuellen Projekte beschäftigt sich mit der Auswirkung des Raumes bei unterschiedlichem Licht.

Physiologische Aspekte stehen im Zentrum des Interesses des schweizerischfranzösischen Architekten und Künstlers Philippe Rahm. In seine Installationen und Projekte integriert er die Zeit und das Klima und passt beides den Bedürfnissen der Nutzer an. Eines seiner aktuellen Projekte beschäftigt sich mit der Auswirkung des Raumes bei unterschiedlichem Licht.

Viele Projekte von Philippe Rahm, der bis 2004 mit Jean-Gilles Décosterd zusammengearbeitet hat, drehen sich um Klima- und Lichträume – so etwa der Biennale-Beitrag «Hormo nium» von 2002 oder die Installation «Melatonin Room» zwei Jahre zuvor (vgl. TEC21 Nr. 36/2002 und 43/2004). Ein aktuelles Projekt Rahms, das seit 2007 besteht, ist ein Café, in dem die Wahrnehmung des Gastes über die physiologischen Wirkungen von Licht gezielt manipuliert werden soll. Ein blau verglaster Raum soll den Tag, ein gelb verglaster Bereich des Cafés die Nacht simulieren. Das Gebäude wird in das Fabric Outlet Center (FOC) im Schlosspark Eybesfeld im österreichischen Jöss, südlich von Graz, integriert.

Shoppen im Schlosspark

Nach dem Kauf der sanierungsbedürftigen Schlossanlage mit grossem Park entschloss sich die Bauherrschaft, die Restaurierung und Renovation gemeinsam mit verschiedenen Künstlern und Landschaftsgestaltern in Angriff zu nehmen. Das entwickelte Konzept sieht vor, wichtige historische Teile und Anlagen des Schlosses zu restaurierten; in anderen Bereichen des 70 ha grossen Geländes sollen zeitgenössische Kunst, Architektur und Landschaftsgestaltung Raum erhalten. Auf dem Gelände sollte neben temporärer Kunst und der sich verändernden Landschaft auch ein statischer Bereich entstehen. So wurden auf den Ländereien von Eybesfeld neue Gewerbefl ächen ausgewiesen, ein Fabric Outlet Center (FOC) sollte Mittelpunkt der neuen Anlage werden und auch die umgebende Landschaft nachhaltig verändern. Denn das Gut liegt an einer alten Handelsroute in einer Hügellandschaft und ist auch heute gut an Infrastrukturen wie Autobahn und Schnellstrassen angebunden. In der Umgebung befi nden sich neben Nutzwäldern, kleinen Städtchen und Dörfern auch grosse Gewerbegebiete. Die Landschaft um das Schloss erscheint heute nicht mehr als Einheit, sondern als Collage vieler kleiner Teile, denen die grossräumigen Beziehungen fehlen. Künstler und Bauherrschaft beschäftigten sich deshalb mit der Frage, inwieweit eine neue, die Einzelteile fassende Struktur auf dem Schlossareal umgesetzt werden könnte. In einem Masterplan entwickelten die Wiener Architekten BEHF ein räumlich übergeordnetes Landschaftskonzept, das das FOC in die Umgebung einbinden und ein räumliches Gesamtkunstwerk schaffen soll. Die Einkaufsmeile liegt im Zentrum der Gesamtplanung und nimmt im Masterplan eine Schlüsselposition ein. Alle Geschäfte gruppieren sich um einen zeitgenössisch gestalteten Garten. In diesem werden Kunst- und Raumobjekte die Kundschaft zum Verweilen einladen. Das Verkaufsareal wird von grünen Adern durchzogen, die einen Bezug zur umgebenden Landschaft schaffen und die Anlage mit dem Schlosspark und den umgebenden Wäldern verbinden.

«Split Time Café»

In diesem zentralen Garten soll auch das «Split Time Café» von Philippe Rahm eingebettet werden. Es ist in drei voneinander abgeschottete Bereiche unterteilt, jeder davon in ein eigenes Licht getaucht. Das soll bei den Gästen unterschiedliche Stimmungen wecken und verschiedene Wachheitsgrade verursachen. Die Gestaltung der Räume basiert auch auf neueren Erkenntnissen über die innere biologische Uhr des Menschen, seine Aktivierung mit Licht und den Melatoninhaushalt. Dieses im Gehirn produzierte Hormon wirkt schlaffördernd und ist für den Tag-Nacht-Rhythmus wichtig. Seine Ausschüttung wird durch die biologische Uhr und durch Licht gesteuert. Dabei, so fanden Wissenschafter heraus, reagiert dermenschliche Körper bei der Aktivierung mit Licht sehr stark auf die blaugrüne Region des Lichtspektrums (Strahlung zwischen 400 und 500 nm).

Mit Gelborange-Filtern, die nur das blaugrüne Spektrum des Lichtes blockieren, könnten also Räume geschaffen werden, in denen die Aktivierung des Körpers gedämpft wird. In dieser künstlich geschaffenen Nacht würden Menschen schneller müde werden.1 Als Gegenstück dazu könnte ein Glas mit Blaugrün-Filtern, das gelborangefarbenes Licht blockiert, die Aktivierung erhöhen und die Menschen im Raum wach halten. Im «Split Time Café» betritt der Gast zunächst einen Vorraum, der ihn in den grösseren Hauptraum führt. Die Fassade ist hier aus klarem, farblosem Glas und lässt das natürliche, reine Tageslicht ungefi ltert in den Innenraum: Der Gast erlebt in Echtzeit den Tagesverlauf, Witterung, Bewölkung und Besonnung und die natürliche Zu- und Abnahme der Lichtintensität. Möbliert ist der Raum wie ein traditionelles Café mit Tischen und Stühlen. Vom Hauptraum aus erreicht man den Tag- und den Nachtbereich. Der Tagbereich ist umgeben von blau eingefärbtem oder beschichtetem Glas. Hier wird der ewige Tag simuliert. Als Einrichtung sind bislang nur hohe Tische geplant, an denen die Kundschaft steht. Der zweite Raum ist gelb verglast. Hier wird am helllichten Tag eine physiologische Nacht erzeugt, obwohl der Raum hell erleuchtet ist. Die Möblierung soll entsprechend der empfundenen Tageszeit eher an eine Lounge erinnern. Bei Dunkelheit und im lichtärmeren Winter sollen die blaue und die gelbe Stimmung in den Räumen durch künstliche Leuchten erzeugt werden. Die Architektur gestaltet hier nicht mehr vordergründig den Raum, sondern dient vielmehr als Fassung für Zeit – sie konstruiert Tag und Nacht. Die Architektur wird zur Zeitmaschine.

TEC21, Mo., 2008.02.25



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tec21 2008|08 Gesundes Licht

11. Juni 2007Katinka Corts-Münzner
TEC21

Auf Augenhöhe

Der Zoologische Garten Basel wird zunehmend zu einem von Tieren bewohnten Landschaftsgarten. Die Verwaltung baut im so genannten Sautergarten aus den 1950er-Jahren eine asiatische Biotop-Grossanlage namens «Fuss des Himalayas». Indische Panzernashörner und der Grosse Panda sollen längerfristig die Hauptattraktionen sein. Die Innenräume der Nashornanlage wurden bereits im September 2006 nach der Sanierung wiedereröffnet, die Aussenanlage soll nun bis Herbst 2007 folgen.

Der Zoologische Garten Basel wird zunehmend zu einem von Tieren bewohnten Landschaftsgarten. Die Verwaltung baut im so genannten Sautergarten aus den 1950er-Jahren eine asiatische Biotop-Grossanlage namens «Fuss des Himalayas». Indische Panzernashörner und der Grosse Panda sollen längerfristig die Hauptattraktionen sein. Die Innenräume der Nashornanlage wurden bereits im September 2006 nach der Sanierung wiedereröffnet, die Aussenanlage soll nun bis Herbst 2007 folgen.

Als der Basler Zoo 1870 vor den Toren der Stadt gegründet wurde, war er der erste Tierpark in der Schweiz. Auf dem Gelände, das die Stadt dem Tierpark zur Verfügung stellte, wurden ab Sommer 1874 vor allem europäische Tiere und die Alpenfauna der Bevölkerung vorgestellt. Bereits zehn Jahre nach der Eröffnung musste das Gelände zum ersten Mal erweitert werden. 1934 konnte die Zooverwaltung mit einem Legat von Ulrich Sauter ein Stück Land zwischen der Elsässerbahn und dem Dorenbachviadukt erwerben. Das neue Areal wurde 1939 als «Sautergarten» eröffnet, in dem sich unter anderen das Steinbockgehege und die Pinguinanlage befanden.

Ein Haus für die Panzernashörner

Die Architekten Max Rasser und Tibère Vadi bauten mit dem Ingenieur Heinz Hossdorf das Nashornhaus 1959 im Sautergarten. Das Gebäude planten sie als lang gestreckten Riegel, der sich am Bahndamm der Zugtrasse entlangzieht. Das schmale Gebäude wirkt sehr dynamisch, weil es im Grundriss ein um 17° geneigtes Parallelogramm darstellt und auch alle Wände im Innenbereich diese Neigung übernehmen (Bilder 6 und 7). Vermutlich lehnten sich Rasser und Vadi dabei an Skizzen von Le Corbusier an, mit dessen Arbeiten sie sich beschäftigten. Den abgewinkelten Grundriss mit indirekt belichteten Räumen thematisierte Le Corbusier 1940 für die Ausstellung «France d’outre-mer» in Paris[1].

Die Zoobesucher betreten das Gebäude an der Stirnseite. Der Raum dahinter ist der Länge nach geteilt, etwa ein Viertel der Raumbreite ist als Besucherbereich begehbar, der Rest gehört den Tieren. Die Nashörner hielten sich vor der Sanierung jeweils in einer der vier Einzelboxen auf, deren Boden leicht erhöht war, damit die Besucher die Tiere besser über den Trennungsgraben hinweg betrachten konnten. Auf der Stirnseite, die gegenüber dem Eingang lag, konnten die Besucher in einen kleinen eingeschobenen Grünraum schauen und dann über eine Treppe zu den Zwergflusspferden im Obergeschoss und in den oberen Gartenbereich gelangen. Die Architektur überdauerte die Zeit, die Haltungsbedingungen für Panzernashörner jedoch veränderten sich. Mit der bestehenden Anlage konnte der Basler Zoo in den letzten Jahren die gesetzlichen Auflagen der Tierschutzverordnung und die Empfehlungen zur Tierhaltung nicht mehr erfüllen. Als Zuchtbuchführerin für die Panzernashörner wollte die Zooverwaltung jedoch eine vorbildliche Nashornanlage vorweisen und entschied sich 2004 für den Umbau des gesamten Geheges und der Aussenanlagen.

Sanierung im Bestand

Bei der Sanierung sollte die Architektur weitgehend erhalten werden. Gleichzeitig musste aber mehr Raum für die Tiere geschaffen und das Gebäude weiterhin mit dem Aussenraum verbunden bleiben, damit die Besucher vom Gehege direkt die Aussenanlage erreichen. Die Um- und Ausbaumassnahmen konnte der Architekt Peter Stiner aus Basel zum Teil im bestehenden Gebäudevolumen bewerkstelligen. Mit dem Einbau einer Spundwand zum Bahndamm hin erweiterte er das Gebäude und schuf Platz für ein grösseres Männchengehege. Um das Innengehege der Nashornweibchen zu vergrössern, wurden die Boxentrennwände herausgeschnitten (vgl. gelbe Wände in den Bildern 6 und 8) und je zwei Boxen zusammengelegt. Dadurch entstanden grössere Bewegungsbereiche für die einzelnen Tiere, die sich hier auch gemeinsam mit ihren Jungtieren aufhalten können. Die Betonwände in den Gehegen wurden zum Schutz und zur Körperpflege für die Tiere mit Holz beplankt (Bild 2 Bestand, Bild 3 im sanierten Zustand). Da sich Nashörner in der Freiheit vorwiegend auf weichen Böden von Wald- und Wiesenbereichen aufhalten, wurde auch der Boden des Geheges mit einer Schicht aus Holzhäckseln gedeckt.

Den Graben, der ursprünglich Besucher und Tiere trennte, entfernte Stiner. Er senkte den Boden des Geheges ab, damit Mensch und Tier auf gleicher Augenhöhe zueinander stehen, und er ersetzte den Graben durch ein gläsernes Besuchergeländer sowie eine innere Abgrenzung aus Metallstangen. Zwischen diesen beiden Barrieren bleibt zwar ein schmaler Sicherheitsabstand, optisch fällt dieser jedoch weniger ins Gewicht als der vorher bestehende Graben. Nachdem die Grabenmauer abgebrochen und die Innenwände entfernt waren, veränderte sich die Statik im Gebäude. Die zweigeschossigen Stützen am Besuchergang wurden nach altem Vorbild erstellt und den heutigen Anforderungen angepasst. Der schmale Querschnitt der Wände konnte beim Umbau dank einer stärkeren Armierung erhalten werden. Für die Sichtbetonoberflächen wurden Schalungsbretter statt -platten verwendet, um ein einheitliches Bild von Bestand und Erweiterung zu erhalten.

Am Ende des Ganges können die Besucher in die neu entstandene Badezone der Nashornkühe schauen. Das Gehege des Männchens und die Verbindungsgänge liegen dahinter im neu gebauten Bereich und sind für Besucher nicht einsehbar. Im Obergeschoss sind nicht mehr die Zwergflusspferde untergebracht, das Gehege wurde in einen Ausstellungsbereich umgebaut. Wie auch vor der Sanierung wird der Besucher nach der Fertigstellung der Erweiterung hier das Gebäude verlassen und in den Aussenbereich der Anlage gelangen.

Grüne Inseln und Lichtungen

Mit der Planung und Gestaltung der Aussenanlage wurden nach einem Evaluationsverfahren die Landschaftsarchitekten Schweingruber Zulauf aus Zürich beauftragt. Die gesamte Anlage sollte an die aktuellen Tierhaltungsempfehlungen angepasst und zusätzlich erweitert werden. Gerade die Erweiterung erwies sich als problematisch, da der Zoo mitten in der Stadt liegt und keine neuen grossen Aussenbereiche erwerben kann. Um die Männchenanlage auf mindestens 500 m² und die Weibchenanlage auf mindestens 1000 m² erweitern zu können, mussten andere bestehende Anlagen verlegt oder entfernt werden. Dazu gehörten die Rentier- und Teile der Flusspferdanlage sowie diverse Volieren. Nach dem Abbruch der Anlagen wurde die bisherige Abgrenzung zum Birsig entfernt und die Grenzmauer näher am Fluss wieder aufgebaut. Von der neuen, 5 m hohen Aussenmauer werden die Besucher nach der Fertigstellung nur etwa 1 m wahrnehmen, da die Mauer vorgeschüttet und bepflanzt werden soll. Auch einige alte Bäume mussten dem Projekt bereits weichen, als Ersatz werden am neu gestalteten Ufer andere Bäume gepflanzt. Durch die Verschiebung der Zoobegrenzung um 1 bis 7 m konnten die Landschaftsarchitekten 220 m² Fläche für die Nashornanlage und die dazugehörige Erschliessung für Personen und Fahrzeuge gewinnen.

Entsprechend dem Landschaftsparkkonzept mussten Schweingruber Zulauf für die Gestaltung der neuen Aussenanlage eine ausgewogene Mischung von vegetativen Kulissen, Erschliessungszonen und Tieranlagen finden. Die Lage für die Männchen- und die Weibchenbereiche war weitgehend durch die Ein- und Ausgänge im Gebäude definiert. Die Landschaftsarchitekten entwickelten ein Aussenraumkonzept, das den BesucherInnen den Eindruck einer zusammenhängenden Anlage vermittelt und dennoch eigene Bereiche für Männchen und Weibchen bietet. Die Besucher betreten den Sautergarten durch die Unterführung und sollen sich zukünftig in einer Graslandschaft wiederfinden. Schweingruber Zulauf verwenden hochwüchsigen Chinaschilf (Miscanthus sinensis giganteus), der an die Graslandschaft in der Heimat der Nashörner erinnert und den Besuchern den direkten Blick auf die Tiere und die Gebäude vorerst versperrt.

Entsprechend der Zoophilosophie in Basel sollen die Gehege nicht durchblickt werden können. Die Zoobesucher können vielmehr in einzelne Lichtungen der künstlich geschaffenen Graslandschaft schauen, in der die Tiere leben. Mit der räumlichen Gliederung, den an das Grasland im Kaziranga erinnernden Grüninseln und den Sand- und Kiesbankformationen, die der Ufersituation am Bramaputra entlehnt sind, wollen die Landschaftsarchitekten den natürlichen Lebensraum des Nashorns glaubwürdig vermitteln. Die künstlichen Nagelfluhfelsen, die in allen Gehegen des Basler Zoos vorkommen und ein einheitliches Bild schaffen, werden im Zusammenspiel mit unterschiedlich hohen Gräsern und den Wasserflächen der Badestellen die natürliche Umgebung – Überschwemmungsland, Sumpf, Röhricht und Feuchtwiesen – wiedergeben. Ergänzt wird das «Grasland» durch einzelne Bäume, die den Besucherweg begrenzen. In die Anlage werden Totbäume eingesetzt, die auch in der Natur den Nashörnern unter anderem als Kratzstellen und zur Körperpflege dienen. Die Anlagen von Männchen und Weibchen sind grundsätzlich durch Barrieren im hinteren Bereich getrennt, müssen aber in der Paarungszeit auch zueinander geöffnet werden können. Ein grosses Wasserbecken mit diskreter Barriere wird beide Bereiche an der Oberfläche verbinden, damit die Tiere miteinander Kontakt aufnehmen können. Wie auch im Innenbereich wird der Boden aus einem lockeren Bodensubstrat bestehen, das der Tierpfleger dennoch gut und sicher begehen kann. Als Untergrund wird eine einschichtige Asphaltdecke eingebracht, in der Entwässerungsrinnen verlaufen und Bodeneinläufe liegen. Darauf liegt eine Drainageschicht, die Wasser ableitet und den Untergrund elastisch macht. Nach einer Reihe von Versuchen hat sich herausgestellt, dass der 40 cm starke Weichbelag zu einem grossen Teil aus Rindenschnitzeln und kalkfreiem Sand aufgebaut werden soll, in den Suhlen wird dünnflüssiger Opalinuston verwendet.

tierische wohngemeinschaft

Zusammen mit den Panzernashörnern werden Zwergotter und Muntjaks, eine asiatische Hirschgattung, die etwa einen halben Meter hoch wird, die Anlage bewohnen. Die unter-
irdischen Behausungen, die für die Kleintiere bereits im Zuge der Gebäudesanierung im Nashornhaus integriert wurden, sind mit der Aussenanlage über ein Röhrensystem verbunden. Auf den Vegetationsinseln haben die Muntjaks eigene Rückzugsbereiche, die die Nashörner nicht erreichen können. Ausserdem sind in den Grüninseln – wieder unsichtbar für die Besucher – drei beheizte Otterburgen integriert. Für die Zwergotter wird ein Bachlauf am Gehege entlanggeführt, damit die Tiere ein sauberes Fliessgewässer entsprechend ihrem natürlichen Habitat zur Verfügung haben. Hier wechseln sich, ähnlich wie in natürlichen Bächen, Tief- und Seichtwasserbereiche ab. Der künstlich geschaffene Bach hat eine naturnahe Sohle mit Lehmdichtung. Die Wasserbereiche speist der Rümelinbach an der Westgrenze des Sautergartens. Eine Schieberanlage soll den Zufluss für die Flusspferdanlage, den Bach und die Wasserbecken steuern. Die Haus- und Filtertechnik für das gesamte Asienbiotop fand im neuen Untergeschoss des Nashornhauses ihren Platz. Das Wasser der beiden innen liegenden Badebecken wird durch Überläufe und einen grossen Rüttelfilter, der grobe Bestandteile ausscheidet, in das Filter- und Ausgleichbecken geführt. Darin wird es gereinigt und erwärmt, um dann wieder in die Badebecken eingeleitet zu werden. Die Aussenanlagen werden nicht an die Reinigungsanlage angeschlossen, die abgesetzten Schlämme stattdessen periodisch entfernt. Die Wassertümpel und künstlich geschaffene Kiesbänke nutzen die Landschaftsarchitekten auch als Abgrenzung zum Besucherbereich. Die Tümpel sind an den Aussengrenzen der Anlage 1.50 m tief und damit unüberwindbar für die Tiere, wodurch auf sichtbare Zäune und Gräben verzichtet werden kann. Nur am Besuchereingang wird eine 2 m hohe Stützmauer nötig sein, diese wird aber durch die Vegetationsinseln in der Anlage weitestgehend verdeckt.

Die Erweiterung der Aussenanlage verspricht einen – den beengten Zooverhältnissen entsprechend – angemessenen Lebensraum für die Panzernashörner. Fertig gestellt werden soll der Nashornbereich im Herbst 2007 – und vielleicht ist der Basler Zoo bis dahin auch dem Wunsch nach dem Riesenpanda als Panzernashornnachbar am «Fuss des Himalayas» ein Stück näher gekommen.

TEC21, Mo., 2007.06.11



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tec21 2007|24 Zooarchitektur

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Presseschau 12

16. September 2011Katinka Corts-Münzner
TEC21

Welt aus Rampen

Im Zürcher Balgristquartier haben Darlington Meier Architekten ein Erweiterungsgebäude für das bestehende Wohn- und Pflegeheim der Mathilde- Escher-Stiftung gebaut. Im Altbau und im villenartigen Neubau leben und arbeiten insgesamt 46 behinderte Jugendliche und junge Erwachsene in einer wohnlichen Atmosphäre.

Im Zürcher Balgristquartier haben Darlington Meier Architekten ein Erweiterungsgebäude für das bestehende Wohn- und Pflegeheim der Mathilde- Escher-Stiftung gebaut. Im Altbau und im villenartigen Neubau leben und arbeiten insgesamt 46 behinderte Jugendliche und junge Erwachsene in einer wohnlichen Atmosphäre.

Seit 1911 befindet sich das Mathilde-Escher-Heim (MEH) in einer Villa an der Leggstrasse im Balgristquartier, unterhalb des Spitals. Mit der Zeit wurde das Heim zum modernen Schul- und Ausbildungsheim für normal- und schwächerbegabte Kinder und Jugendliche mit Muskelerkrankungen. Heute ist es darauf spezialisiert und gehört zu den weltweit führenden Institutionen bei der Betreuung von Duchenne-Betroffenen[1]. Dank grossen Fortschritten bei der Betreuung und Versorgung der Erkrankten wird mittlerweile eine durchschnittliche Lebenserwartung von 30 bis 35 Jahren erreicht. Das hat auch zur Folge, dass die Mathilde- Escher-Stiftung, die das Heim bereits in den Jahren 1988 bis 1990 saniert und erweitert hatte, 2006 erneut zu einem Architekturwettbewerb einlud und um Erweiterungsvarianten auf dem Areal bat. Der Neubau sollte zwei Wohngruppen und zehn Wohnstudios sowie Gemeinschafts- und Beschäftigungsräume, einen Mehrzweckraum und Büros für die Verwaltung aufnehmen. Darlington Meier Architekten aus Zürich schlugen in ihrem Siegerentwurf einen städtebaulich autarken, villenähnlichen Neubau vor, der mit dem Altbau eine funktionale Einheit bildet.

Zwei Villen im Park

Auf dem grossen Gelände des MEH befindet sich die alte Villa auf dem nördlichen Teil des Areals, im Süden der Anlage konnte der Neubau so eingefügt werden, dass ein grosser Teil des bestehenden Parks erhalten blieb und eine freie Sicht in die Landschaft möglich ist.

Vogt Landschaftsarchitekten gestalteten den Garten mit Terrassen, sodass die unterschiedlich hoch gelegenen Eingangsbereiche der beiden Gebäude auch im Aussenbereich rollstuhlgängig verbunden sind. Der Neubau nimmt das Thema der bestehenden Villa auf und lehnt sich in Grösse und Farbigkeit an sie an. Er beherbergt neben den öffentlichen Funktionen wie Administration und Beschäftigungsstätte im Erdgeschoss Wohnräume und Gemeinschaftsbereiche in den zwei Obergeschossen. Im Dachgeschoss befindet sich die Mehrzweckhalle, in der auch Rollstuhl-Unihockey gespielt wird.

Der halböffentliche Eingangsbereich im Südwesten empfängt sowohl die Bewohnerinnen und Bewohner des MEH als auch Tagesklienten. Das grosszügige und tiefe Foyer wird über Glasbausteine in der Decke – der Boden des darüberliegenden Innenhofs – natürlich beleuchtet. Neben Verwaltungsräumen, Garderoben, Wäscherei und Sanitäranlagen befindet sich hier auch die «Pixelwerkstatt», in der die Bewohner am Computer arbeiten und spielen können. Diese unterste Gebäudeebene ist über eine Rampe mit dem Niveau des Altbaus verbunden. Obwohl das Haus sehr kompakt gebaut ist, konnte dieser zum Garten verglaste Gang zwischen den Wohnvillen luftig und grosszügig gestaltet werden. Die Bewohnerinnen und Bewohner können sowohl diesen witterungsgeschützten Bereich als auch den davorgelegenen asphaltierten Platz für Treffen und gemeinsame Aktivitäten nutzen. Im Altbau sind die Zimmer der älteren Bewohner untergebracht, die Wohnräume der Jugendlichen befinden sich in den zwei oberen Etagen des Neubaus.

Wohnen abseits des Spitals

In den Wohngeschossen gruppieren sich die einzelnen Zimmer um den als privateren Eingang fungierenden offenen Innenhof und sind nach Südosten und Südwesten ausgerichtet. Die angrenzenden Aufenthaltsflächen in den Gängen wirken dank dem einfallenden Tageslicht trotz grosser Gebäudetiefe hell und freundlich. In jedem Zimmer gibt es ein auf die Behinderung abgestimmtes Bad mit Dusche. Grosse Fenster mit niedriger Brüstung ermöglichen den rollstuhlfahrenden Bewohnerinnen und Bewohnern Ausblicke zur Stadt und zum See. Um die Pflege zu erleichtern und den Raum dennoch nicht ständig wie eine Krankenstation aussehen zu lassen, wurden die Schienen für eine eventuell notwendige Hebeanlage bereits in die Schalung eingelassen. Diese werden sonst – ob bereits gebraucht oder nicht – unter die Decke gehängt. Im Gebäudekern sind Aufzug, Personaltreppenhaus und das Pflegebad untergebracht, zudem gibt es ein «Schnupperzimmer» für zukünftige Bewohner.

Im davorliegenden Gemeinschaftsraum mit Terrasse gibt es eine Tee- und Aufwärmküche, grosse Tische mit Stühlen und eine Sofaecke. Die wenigen festen Einbauten sowie die für Therapiezwecke teilweise mobil gestaltete Küche lassen viel Bewegungsraum für die circa zwanzig Bewohnerinnen und Bewohner, die den Raum nutzen. «Erkennbares Entwurfsthema sollte die Wohnlichkeit und nicht die Behindertengängigkeit sein», sagt Mark Darlington. Das Gebäude sollte vielmehr genau auf die Bedürfnisse der heutigen Bewohner abgestimmt sein und dennoch spätere Veränderungen ermöglichen. Die vier Eckzimmer sind deshalb so konzipiert, dass sie auch zu Studios mit eigener Küche umgebaut werden könnten, falls selbstständige Menschen hier wohnen. Im Dachgeschoss, das sich nach Südwesten und zum Zürichsee hin orientiert, befindet sich ein stützenfreier Mehrzweckraum, der für heiminterne Veranstaltungen und als Sporthalle genutzt wird.

Eine Erschliessungsrampe führt bis ins oberste Geschoss, bei Bedarf sind die Räume auch über einen Aufzug erreichbar. Da sich die Bewohnerinnen und Bewohner im Haus mit Elektrorollstühlen bewegen, konnte die Rampe in Absprache mit der Behindertenkommission und zugunsten eines kompakteren Volumens mit 12 % steiler gebaut werden, als es für Handrollstühle erlaubt wäre (6 %). Durch einen breiten Schlitz im Dach wird die Rampe über alle Geschosse vom Tageslicht erhellt. Im Dachgeschoss bietet sie hohe Aufenthaltsqualität, denn von hier aus öffnet sich ein weiter Blick in die Umgebung, und die Bewohner können die grossen Rampenflächen als Treffpunkt nutzen.

Materialien für die Wohnlichkeit

Normalerweise werden Räume wohnlich, wenn sie möbliert werden. Im Mathilde-Escher- Heim, in dem es nur wenige, eingebaute Möbel gibt, schaffen jedoch die eingesetzten Materialien diese Wohnlichkeit. Die ständige Befahrung mit Rollstühlen beansprucht das Haus und die darin verbauten Materialien stark, weshalb robuste Baustoffe, die auch Kollisionen, Kratzer und Gummispuren aushalten und überarbeitet oder gar gestrichen werden können, Verwendung fanden. Als Hauptbaumaterial für das Gebäude wählten die Architekten unverputzten, gelblichen Kalksandsteinbeton, der mit seinen gestockten Leibungsflächen warm und freundlich wirkt. Auch in den Böden findet sich der helle Kalksandstein als Zuschlagstoff für die Hartbeton-Terrazzo-Mischung wieder. Als farblicher Kontrast zum hellen und marmorierten Sichtbeton kamen drei Holzarten zum Einsatz: für alle Türen und Schreinerarbeiten das stark gezeichnete Holz der Braunkernesche als Furnier und für die Tür- und Fensterrahmen als konstruktives Massivholz feiner gemaserte und leicht grau lasierte Lärche und Eiche. Die Geländer im Gebäude und die Postfächer im Gangbereich wurden in ihrer Dimension von vornherein fest eingeplant, da später in den Erschliessungsräumen keine zusätzlichen Einbauten gemacht werden sollten. Um den Nutzern zusätzlichen Bewegungsraum zu garantieren, sind die ebenfalls mit Braunkerneschenfurnier belegten Postfächer bündig in die Wand eingelassen.

Die meisten Heim- und Krankenbauten sehen wie Spitäler aus und lassen Bewohnerinnen und Bewohnern die Krankheit stets recht bewusst sein. Darlington Meier Architekten wollten im MEH einen angenehmen Lebensraum schaffen, in dem bei Bedarf ohne grössere Umbauten alle Annehmlichkeiten einer Krankenpflegestation zur Verfügung gestellt werden können.

«Die Architektur sollte es schaffen, vor der Spitalrealität dem Bedürfnis der Bewohner nach schönem Wohnraum gerecht zu werden», so Darlington. In den drei Jahren Planungs- und Bauzeit habe das Architektenteam einen unkomplizierten Umgang mit den Bewohnern gelernt. «Die Jugendlichen, die hier leben, haben zwar eine schwere Krankheit, sind aber Teenager wie alle anderen.»


Anmerkungen:
[01] Heute sind mehr als dreissig degenerative Muskelerkrankungen bekannt. Die meist symmetrisch ausgebildeten Muskelschwächen, zu denen auch die Muskeldystrophie Typ Duchenne gehört, unterscheiden sich hinsichtlich der beginnenden Körperregion, des Erkrankungsalters und des Verlaufs. Zwar können die Symptome der Krankheit behandelt werden, diese ist jedoch nicht heilbar und verläuft letztlich tödlich. Das Mathilde-Escher-Heim zählt zu den weltweit führenden, auf Menschen mit Muskeldystrophie Typ Duchenne spezialisierten Institutionen. Weitere Informationen: www.muskelkrank.ch
[02] alle Zitate aus: Conrad Ferdinand Meyer: Mathilde Escher (1808–1875), ein Portrait. Sonderdruck aus Zürcher Taschenbuch für 1883
[03] Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege. Band 1908

TEC21, Fr., 2011.09.16



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TEC21 2011|38 Special needs

03. Juni 2011Katinka Corts-Münzner
TEC21

«Der Einsatz der Farbe verändert sich»

Vom 7. bis 10. Juni findet an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) der internationale Kongress «Interaction of Colour & Light in the Arts and Sciences » der Association Internationale de la Couleur (AIC ) statt. TEC 21 sprach mit der Kunst- und Architekturhistorikerin Verena Schindler über die Verbindung von Licht und Farbe und über nationale Schwerpunkte in der Forschung.

Vom 7. bis 10. Juni findet an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) der internationale Kongress «Interaction of Colour & Light in the Arts and Sciences » der Association Internationale de la Couleur (AIC ) statt. TEC 21 sprach mit der Kunst- und Architekturhistorikerin Verena Schindler über die Verbindung von Licht und Farbe und über nationale Schwerpunkte in der Forschung.

TEC21: Frau Schindler, Sie sind für die Ausrichtung des diesjährigen Midterm Meetings der AIC in Zürich verantwortlich und haben auf Ihre Ausschreibung hin über 300 Beiträge aus mehr als 40 Ländern erhalten. Gibt es in der Ausrichtung der Forschung grosse nationale Unterschiede?

Verena M. Schindler: Die thematische Ausrichtung der Beiträge hängt sehr von den Interessen der nationalen Farbvereinigungen ab. Manche arbeiten verstärkt in der Optik wie in Italien und Spanien, andere in der Architektur und Gestaltung wie in Chile oder Portugal. Manche sind mehrheitlich universitär geprägt, procolore in der Schweiz hingegen hat ein sehr breites Mitgliederspektrum. Als ich das Vortragsprogramm zusammenstellte, sortierte ich die Beiträge zunächst nach Themen – unbeabsichtigt gerieten Forschungsbeiträge aus Japan in eine Session, die aus Deutschland und den USA in eine andere. Japaner forschen besonders intensiv im Bereich der Computertechnologie. In Korea und Taiwan sind hauptsächlich psychologische Faktoren ein Schwerpunkt, beispielsweise wie Menschen auf Bilder im Internet reagieren. Es gibt also definitiv nationale Schwerpunkte, doch ist es eine der Bedingungen, dass eine nationale Vereinigung interdisziplinär ausgerichtet sein muss. In Taiwan, wo 2012 der nächste Kongress stattfindet, liegt der Fokus auf Umweltthemen: wie wir auf unsere Umwelt reagieren und wie wir sie gestalten, damit wir zufrieden sind und in Harmonie leben können.

TEC21: Seit der Gründung 1967 sind viele Länder mit ihren Farbvereinigungen der AIC beigetreten. Sehen Sie heute alle Kontinente gut vertreten?

V. M. S.: Es gibt immer noch ein Übergewicht von Europa, Nordamerika und Asien in der AIC. Südafrika – als einziges afrikanisches Land – hat 2006 eine spannende Farbkonferenz organisiert, die Farbvereinigung existiert aber nicht mehr. Das heisst allerdings nicht, dass es dort keine Farbforschung gibt. Neu haben wir Chile und Mexiko gewinnen können. Gern würden wir das forschungsstarke Russland als Mitglied haben, und auch Indien wäre mit seiner Farb- und Textilindustrie ein interessanter Partner. Oft liegt es an der Politik und an den gesellschaftlichen Strukturen, wenn keine Vereinigung zustande kommt. Es ist aber auch nicht immer einfach, eine Vereinigung aufzubauen, weil die Mitglieder – entsprechend dem AIC-Prinzip der Interregionalität und der Interdisziplinarität – aus verschiedenen Städten kommen und zudem in unterschiedlichen Gebieten forschen müssen. Wenn es in grossen Ländern mehrere Gruppen gibt, die unterschiedliche Fachbereiche abdecken, schliessen sich diese meist zu einer Dachorganisation zusammen. In Deutschland gibt es beispielsweise eine technisch (Deutsche farbwissenschaftliche Gesellschaft e.V.) und eine gestalterisch (Deutsches Farbenzentrum) ausgerichtete Gruppe, die Dachorganisation Deutscher Verband Farbe ist Repräsentant bei der AIC. Mit dem Beitritt von Taiwan zur AIC hatten wir lange Zeit grosse Probleme, weil Taiwan von China als chinesische Region betrachtet wird. Seit 2001 gibt es dort eine sehr aktive Farb- vereinigung, die Mitglied der AIC werden wollte. China weigerte sich mit dem Hinweis auf die Statuten, nach denen es pro Land nur eine AIC-Vertreterin geben darf. Also änderten wir letztes Jahr die Statuten so, dass auch regionale Gruppierungen zulässig sind, wenn keine Einigung erzielt werden kann. Taiwan ist bislang unser jüngstes Mitglied.

TEC21: Bei Lichtfachplanern gibt es unterschiedliche Meinungen, welcher Ausbildungsweg der richtige sei. Gibt es für Farbfachleute Ihrer Meinung nach eine ideale Ausbildung?

V. M. S.: Was Farbe betrifft, gibt es kaum Möglichkeiten für eine spezielle Ausbildung – vielleicht am ehesten noch am Haus der Farbe in Zürich, im Ausland ist mir nichts bekannt. Viele Leute, die ich kenne, die im Farbbereich arbeiten, haben Kunst studiert. Natürlich haben auch Architektinnen und Architekten ein Farbgefühl. Aber die Farbausbildung ist in den Architekturschulen kein Schwerpunkt, und mir scheint, dass Architekten mit Farbfragen oft überfordert sind. Spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts weiss man, dass man Farbigkeit und die Gesetze der Farbkombinationen bis zu einem gewissen Punkt auch erlernen kann. Ein ausgeprägtes visuelles Empfinden bleibt eine wichtige Voraussetzung.

TEC21: Farbe kommt heute in der Architektur nicht nur als Körperfarbe, sondern immer mehr als Lichtfarbe zum Einsatz. Ist diese Inszenierung der Gebäude und Anlagen eine Bereicherung?

V. M. S.: Weltweit sehen wir eine Zunahme an Lichtinstallationen und Fassadenbespielungen. Mir geht das häufig zu weit. Eine der ersten Installationen mit farbigem Licht habe ich 2001 in Schanghai erlebt, da wurde die Unterseite einer Brücke blau beleuchtet. Die Chinesen, mit denen ich unterwegs war, fanden das schön, ich empfand es als sehr grell. Doch nicht nur Farbe und Helligkeit werden unterschiedlich wahrgenommen, der Einsatz der Farbe verändert sich auch über die Jahre. Zur Weihnachtszeit erstrahlt Paris heute in Blau und Weiss, früher waren die Weihnachtsfarben Rot und Gelb. Das sind interessante Entwicklungen in der Symbolik – wir gestalten unsere Umwelt, was wiederum unsere Wahrnehmung verändert. Als in Japan infolge des Fukushima-Unglücks zeitweise die Stromversorgung ausgesetzt wurde, blieben von den sonst flimmernden, farbigen Bildschirmen nur noch die technischen «Skelette» übrig – ganze Strassenzüge wirkten damit tot. Grosse Fassaden mit Leuchtwerbung sind der Tod des städtischen Raumes – die Gebäude verschwinden, und für Soziales bleibt kein Platz mehr, weil die Technik so stark und überwältigend ist.

TEC21: Wobei das wiederum mit einer von Nation zu Nation unterschiedlichen Wahrnehmung von Licht und Farbe zu tun hat. In Europa gibt es weit weniger Exzesse im Umgang mit Beleuchtung als in Asien oder vielleicht in Amerika.

V. M. S.: Ja, immer mehr Städte werden sich bewusst, was eine gute Beleuchtung leisten kann. Wurde in Zürich früher scheinbar wahllos beleuchtet, sind es heute nur noch wenige, für das Stadtbild wichtige Bauten, die inszeniert werden. Auch in Frankreich findet dieser Wandel statt: Die Notre-Dame in Paris wurde lange Zeit einfach mit gelbem Licht angestrahlt, 2002 jedoch realisierte Roger Narboni ein neues Beleuchtungskonzept, sodass die Struktur der Fassaden im kühleren und punktuell eingesetzten Licht nun viel besser zur Geltung kommt. Auch bei zeitgenössischen Bauten wird der Beleuchtung heute mehr Beachtung geschenkt. Yann Kersalés[2] Lichtinstallation am Musée du Quai Branly (Jean Nouvel, 2006) während der «Nuit Blanche» 2006 veränderte die Wirkung des Gebäudes sehr stark ( Abb. 1 – 2). Tagsüber sah man das Gebäude, das ganz in warmen Rot-, Ocker- und Brauntönen gehalten ist. Nachts hingegen wurde blaues und violettes Licht über Plexiglasstäbe an die Unterseite des Gebäudes projiziert – es entstand der Eindruck einer unterirdischen Wassergrotte. Ein anderes Beispiel dafür, was Licht bewirken kann, sind die Docks en Seine in Paris ( Jakob Macfarlane, 2008), die die Cité de la Mode et du Design beherbergen. Die Betonstruktur der ehemaligen Lagerhäuser blieb erhalten, sie wurde mit einer grünen, schlangenförmigen Metallstruktur überzogen. Seit Kersalés Beleuchtung integriert ist, leuchtet dieses Gebäude wie ein grünes Glühwürmchen über der Seine (Abb. 3), mit magischer Anziehungskraft.

TEC21: Worin sehen Sie die Hauptforschungsaufgaben der nächsten Jahre bezüglich Farbe und Licht?

V. M. S.: Auf der technischen und optischen Seite wird das Sehen im Alter ein grosses Thema sein. Es gibt immer mehr ältere Menschen, und es ist wichtig, auf das veränderte Farbsehen im Alter zu reagieren. Welche Farben muss man benutzen, damit Schilder auch für die Älteren erkennbar sind? Welche Farben sollten Architektinnen und Architekten nutzen, damit sich Menschen in Wohnungen, Altersheimen und Spitälern zurechtfinden und nicht die Orientierung verlieren? Diese Forschung ist auch im Computerbereich sehr intensiv: Welche Farben müssen Schriften und deren Hintergrund haben, damit auch ältere Leute am Computer lesen können? Oder im Allgemeinen: Wie kann man die Bildqualität verbessern? Ein weiteres wichtiges Thema wird die Ökologie sein. Man weiss, dass viele früher häufig verwendete Anstrichfarben giftig waren, und entwickelt heute solche, die besser für unsere Wohn- und Arbeitsräume geeignet sind. Dieses ökologische Denken betrifft selbstverständlich auch die Farbexperten in der Industrie. Schöne leuchtende Farben, wie das Cadmiumgelb, sind bei uns für industrielle Anwendungen verboten, und Chromgelb, ein Bleichromat, ist giftig und soll krebserregend sein. Nicht zuletzt werden Licht und Farbe einen immer grösseren Stellenwert im Städtebau erhalten. Die Bevölkerung wächst ständig, und wir leben immer enger beisammen. In allen Städten gibt es Quartiere, die ohne Beachtung von Vegetation und Farben errichtet wurden. Heute ist es ein Bedürfnis, eine Umwelt zu gestalten, in der man sich wohlfühlt. Farbe ist dabei ein wichtiges Element, aber auch Tag- und Nachtbeleuchtung gehören dazu. Projekte für neue oder zu sanierende Quartiere müssen zukünftig wohl verstärkt von interdisziplinären Teams aus Architektinnen, Landschaftsarchitekten, Farbgestalterinnen und Lichtexperten etc. bearbeitet werden, damit alle für die späteren Bewohnerinnen und Bewohner wichtigen Aspekte bei der Planung und Realisierung einbezogen werden.


Anmerkungen:
[01] Armelle Lavalou, Jean-Paul Robert: Le Musée du Quai Branly. Groupe Moniteur, département Architecture / Musée du Quai Branly, Paris, 2006. ISBN 2-281-19317-9
[02] Yann Kersalé (*1955) schloss sein Studium 1978 an der School of Fine Arts in Quimper mit dem Diplôme National Supérieur d’Expression Plastique ab. Als Lichtkünstler hat Kersalé seitdem hunderte Projekte – ob nun temporär, bei Lichtfestivals oder dauerhaft – realisiert. Bekannte Lichtkunstarbeiten entwickelte er unter anderem für Helmut Jahn (Sony-Center, Berlin; Flughäfen Bangkok und Chicago), Jean Nouvel (Opernhaus, Lyon; Quai-Branly-Museum, Paris; Torre Agbar, Barcelona) und Coop Himmelblau (Arte Plage, Biel)
[03] Jean-Paul Curnier, Henri-Pierre Jeudy, Monique Sicard: Yann Kersalé. Editions Norma, Paris, 2003. ISBN 2-909283-82-8

Literatur:
Werner Spillmann, Verena M. Schindler, Stefanie Wettstein, Isabel Haupt: Farb-Systeme 1611–2007. Schwabe-Verlag, 2. Auflage, Mai 2010. ISBN-10 9783796525179

TEC21, Fr., 2011.06.03



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TEC21 2011|23 Licht trifft Farbe

04. März 2011Katinka Corts-Münzner
TEC21

«Storybook für das Licht»

Die LED -Lichttechnik und deren dynamische Steuerungsmöglichkeiten machen derzeit immense Fortschritte. Die scheinbare Reife des Produkts verleitet Bauherrschaften dazu, dieses in ihren Projekten einsetzen zu wollen. Das bringt Architektinnen und Architekten in die Verlegenheit, mit einem neuen Medium zu arbeiten, zu dem es kaum Erfahrungswerte gibt. Ein Lichtplaner, der die Planungs- und die Bauseite kennt, kann in dieser Situation als Übersetzer fungieren.

Die LED -Lichttechnik und deren dynamische Steuerungsmöglichkeiten machen derzeit immense Fortschritte. Die scheinbare Reife des Produkts verleitet Bauherrschaften dazu, dieses in ihren Projekten einsetzen zu wollen. Das bringt Architektinnen und Architekten in die Verlegenheit, mit einem neuen Medium zu arbeiten, zu dem es kaum Erfahrungswerte gibt. Ein Lichtplaner, der die Planungs- und die Bauseite kennt, kann in dieser Situation als Übersetzer fungieren.

TEC21: Herr Moggio, Sie haben nach Ihrer Ausbildung zum Elektroplaner Architektur studiert. Heute leiten Sie bei Ernst Basler Partner die Abteilung Lichtarchitektur und arbeiten dort an repräsentativen Beleuchtungsprojekten. Wieso haben Sie sich auf Licht fokussiert?

Walter Moggio: Ich habe das Studium wegen des Lichts gemacht mit dem Ziel, mich
später mit der Architektur des Lichts zu befassen – als Lichtarchitekt. Ich wollte die Architektursprache erlernen, Farben und Proportionen verstehen und gute Architektur erkennen können, um sie mit Licht zu unterstützen. Die Ausbildung kommt mir heute sehr zugute, denn ich kann auf Plänen schnell Räume erfassen und dem Architekten oder der Architektin vermitteln, dass ich die Absicht dahinter und das architektonische Konzept verstanden habe. Als Lichtarchitekt verstehe ich mich als Dolmetscher zwischen Elektroingenieuren und Architekten.

TEC21: Die Lichtplanung erhält immer mehr Gewicht in der Architektur, sodass spezialisiertes Fachwissen notwendig ist. Dabei kommen die Lichtspezialisten aus ganz verschiedenen Berufsgattungen. Prägt der fachliche Hintergrund das gestaltete Licht?

W. M.: Auf jeden Fall. Es ist jedoch die Frage, ob diese Vielfalt eine Chance oder ein Fluch ist. In den letzten Jahren sind viele neu in den jungen Beruf der Lichtplanung eingestiegen, vielleicht, weil er spannend scheint und en vogue ist. Vom LED-Hersteller und Elektriker über die Einrichterin, den Messebauer bis zur Szenografin: Alle nennen sich Lichtplaner, -designer oder -gestalter. Die Erfahrung zeigt, dass ein Lichtarchitekt u.a. ein breites Schnittstellenwissen und vor allem eine fundierte Gestaltungskompetenz mitbringen muss. Zudem ist nebst dem Umgang mit Kunstlicht auch ein grosses Wissen zum Tageslicht gefragt. Wer überlegt und mit einer gewissen Verantwortung an eine Beleuchtungsaufgabe herangeht, merkt schnell, dass sich Lichtarchitekturwissen wie Wein verhält: Es reift mit der Zeit. Ich habe schon viel Erfahrung mit farbigem Licht und grossen Respekt vor diesem Thema. Der Weg zur bunten Lichtfarbe sollte erst dann beschritten werden, wenn man das unbunte Licht sowie Lichtrichtung und -art versteht und anzuwenden weiss.

TEC21: Kann nicht gerade eine gewisse Unerfahrenheit – oder auch Vorbehaltlosigkeit – kreative Ideen und neue, ungewöhnliche Konzepte unterstützen?

W. M.: Wenn man ganz unbelastet Konzepte entwickelt, entstehen womöglich sehr kreative
Ansätze. Viele Planerteams präsentieren Zauberkonzepte in Form von 3-D-Visualisierungen, die aber so nicht oder nur mit viel Aufwand umgesetzt werden können. Menschen glauben an diese meist effekthascherischen virtuellen Bilder, die grosse Erwartungen bei Auftraggebern wecken. Vergleicht man die Visualisierung mit der Realität, zeigt sich gerade in der Lichtstimmung meist ein anderes Bild. Die Verantwortung muss darin liegen, ein Bild zu generieren, das auch der Realität entspricht.

TEC21: Wie nähern Sie sich Projekten an?

W. M.: Erfolgsversprechend ist, wenn Architektinnen und Architekten mit ihrer Geschichte zum Gebäude zu mir kommen. Während sie mir die von ihnen erdachten Räume inhaltlich und atmosphärisch beschreiben, übersetze ich die Geschichte in Lichträume und erarbeite das Storybook für das Licht. Und das hat nichts mit Leuchten, Lichtmenge, mit Berechnung oder Farbe zu tun, sondern schöpft nur aus den bisherigen Erfahrungen und der kritischen Auseinandersetzung mit den eigenen Arbeiten. Wir klären dann die Frage, ob Licht zum Sehen, Hinsehen oder Ansehen geschaffen werden soll. Das Licht zum Sehen ermöglicht die Nutzung des Raumes, das Licht zum Hinsehen hebt Objekte oder Raumteile hervor, und das Licht zum Ansehen steht ohne einen quantitativen Anspruch selbst im Zentrum der Betrachtung – wie früher eine Kerze oder heute ein farbiger LED-Punkt. Wir müssen überlegen, ob das Licht körperhaft in Form auffälliger Leuchten oder immateriell und indirekt eingebracht werden soll. Für die Bearbeitung eines Projekts ist es auch wichtig zu klären, ob Licht den Blick lenken darf oder soll. Das geschieht beim Einsatz von bewegtem und auch farbigem Licht. Wenn es zudem noch hohe Helligkeitskontraste oder einen hohen Farbsättigungsgrad aufweist, fällt es noch mehr ins Blickfeld.

TEC21: Heisst das, dass Sie in Ihren Projekten selten mit bunten Lichtfarben arbeiten?

W. M.: Ich nutze zunächst einmal das unbunte Licht und versuche, die Anzahl an Weisstönen auszuschöpfen. Ein sehr wichtiges Kriterium für die Wahl der Beleuchtung ist, wie die Haut oder die Oberfläche im jeweiligen Licht wahrgenommen wird. Grün zum Beispiel gilt in der Farblehre als beruhigend, aber grünes Licht lässt menschliche Haut grau und ungesund erscheinen. Sobald man farbiges Licht oder farbige Oberflächen einplant, muss man sich bewusst sein, welche Wirkungen es auf Mensch und Umgebung haben wird. Mit dem Einzug von farbigem LED und medialen Fassaden im Aussenbereich wird zunehmend auch der urbane Raum (zu) farbig. Auch hier sollte eigentlich weniger mehr sein. Farbe muss den Entwurf oder die Nutzung unterstützen, zum reinen Selbstzweck darf man sie nicht in die Hand nehmen. Ich entscheide mich wegen der emotionalen Prägung des Lichtes im Zweifelsfall eher gegen Farbe und arbeite mit abgestimmten Weisstönen.

TEC21: Wobei da doch erschwerend hinzukommt, dass Farbe und Licht von jedem Einzelnen anders wahrgenommen werden.

W. M.: Das ist wahr. Eine Tapasbar in Spanien mag trotz einer nüchternen tageslichtweissen Beleuchtung gemütlich erscheinen, weil es draussen warm ist. In den nordischen Ländern hingegen findet man kaum Kaltweisslicht, weil dort in den Innenräumen Wärme gesucht wird. Wir Mitteleuropäer finden meist warm- und neutralweisses Licht besser als kaltweisses. Sozusagen ein Mechanismus unseres Körpers als Kompensation des hiesigen Klimas. Man muss überhaupt wissen, was mit unbunten und bunten Farben assoziiert wird. In vielen früheren Kulturen wurden Licht und Farbe zur Heilung von Krankheiten eingesetzt.[1] Farben oder Lichtniveaus können körperlich etwas bewirken und Emotionen wecken – so wie das Abendrot oder wie die blaue Stunde kurz nach dem Sonnenuntergang und vor dem Sonnenaufgang. Blaues Licht zum Beispiel wurde früher mit Ferne und Unendlichkeit verbunden, dann weckte es lange Zeit negative Assoziationen, weil es als ‹Drögelerlicht› galt. Unter blauem Licht sind Venen nicht sichtbar, deshalb waren lange Zeit viele Unterführungen und gedeckte Unterstände blau beleuchtet, um das Drogenmilieu zu vertreiben. Heute wird es wieder gern zur Beleuchtung eingesetzt, was zeigt, dass sich Assoziationen zu Farben wandeln.

TEC21: Sie unterrichten an der Hochschule Luzern (HSLU) das Fach Tages- und Kunstlicht. Wie behandeln Sie das Thema Lichtfarbe?

W. M.: Farbe, Lichtart und Lichtrichtung sowie Sehkomfort werden in der Klaviatur der quantitativen Lichtplanung berücksichtigt und finden einen Platz in der Lehre. Im Unterricht werden Grundlagenwissen und technisches Verständnis für qualitative Lichtplanung vermittelt. Bei Licht-Farb-Projekten muss zum Beispiel immer zwischen Körperfarben, die angestrahlt werden, und farbigem Licht unterschieden werden. Die Lichtfarbe wird beim Mischen immer heller (additive Farbmischung) und nicht, wie Körperfarben, dunkler (subtraktive Farbmischung) (Abb. 3). Wer gleichzeitig mit Körper- und Lichtfarben arbeiten möchte, sollte diese Körperfarben mit neutralweissem oder dem gleichfarbigen Licht anstrahlen. Auch das Wissen und die Möglichkeiten verschiedener Leuchtmittel ist wichtig. LED ist Teil des Grundlagenwissens und wird in der Anwendung diskutiert.

TEC21: LED bieten viele neue Möglichkeiten. Beeinflussen diese Ihre Entscheidung, mit welchem Licht Sie arbeiten möchten?

W. M.: Es ist nicht so, dass LED meine 15 Jahre Konzepterfahrung auf einmal neu schreiben. Meine Euphorie hält sich bis heute in Grenzen, da die visuelle Wahrnehmung des Menschen und die integralen lichttechnischen Werte in dieser Diskussion vernachlässigt werden. Der grosse LED-Enthusiasmus darf uns aber nicht zu sehr von der eigentlichen Lichtverantwortung ablenken. LED sind interessante und zukunftsweisende Lichtquellen, aber ich ordne sie zu den restlichen. Sie erzeugen unvergleichbar schöne, gesättigte Farben, und ich nutze sie für Aufgaben, bei denen mir ihr Einsatz sinnvoll erscheint – also wenn Farbe, Kompaktheit oder kleine, brillante Licht-Portionierung gefragt sind. Bisher verwende ich LED eher für Lichtkunst und als dekoratives Licht. Aufgrund ihrer mittleren Lichtausbeute und unzureichender Leuchtenfamilien können keine anspruchsvollen Lichtprojekte damit behandelt werden.
LED hat nach wie vor lichttechnische Lücken u.a. im Sehkomfortbereich und in der Farbkonstanz, abgesehen vom 3- bis 4fachen Anschaffungspreis für qualitativ hochwertige Produkte. Einzig die Lebensdauer ist interessant, sofern die theoretischen Vorhersagen zutreffen. Das Glühlampenverbot hätte zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können, denn so werden LED und Energiesparlampen als scheinbar nachhaltige Alternative angepriesen. Für die Industrie ist das lukrativ, denn die Hersteller verdienen an einem solchen Leuchtmittel das 10- bis 20fache gegenüber einer Glühlampe. Wenn man jeden Tag von diesem Produkt hört, bekommt man irgendwann ein schlechtes Gewissen, ein Energieverschwender zu sein. Und es ist zudem ein gutes Marketingtool, wenn man von sich behaupten kann, das ganze Geschäft nur mit LED ausgerüstet zu haben.
Viele Projekte, die ich sehe, bringen Menschen zum Staunen, auch wenn sie nicht nachhaltig sind. Darauf bin ich aber nicht aus, sondern auf etwas, das langfristig Freude macht. Eine Lichtlösung muss nicht billig sein, aber ich möchte nachhaltig günstige Konzepte machen.
In der professionellen Lichtplanung ist der LED-Einsatz nach wie vor eine Kompromisslösung – und das Potenzial des Leuchtmittels ist noch lange nicht ausgeschöpft.

TEC21: Aber ist es nicht so, dass Architektinnen und Architekten heute immer mehr mit Bauherrschaften konfrontiert sind, die fortschrittlich sein wollen und ganz selbstverständlich vom Einsatz von LED-Leuchten oder Lichtfarbkonzepten ausgehen?

W. M.: Das kann ich mir gut vorstellen. Jedoch spielen die momentan noch sehr hohen Anschaffungskosten den Architekten in die Hände. LED amortisieren sich mit den aktuellen Strompreisen nicht in einer Umbaugeneration. Zudem definiert der Investor bekanntlich die günstige Nachhaltigkeit anders als der zukünftige Betreiber. Ich bin davon überzeugt, dass man heute wenige lichtsensible Aufgaben mit LED lösen kann. Der Weg zum farbigen Licht ist jedoch mit dem Einzug der LED wesentlich einfacher geworden.

TEC21: Was empfehlen Sie Planenden für den Umgang mit den neuen Beleuchtungs- und
Steuerungsmöglichkeiten und mit den Beleuchtungswünschen der Bauherrschaften?

W. M.: Zunächst einmal eine überlegte Annäherung an das Thema, jenseits von Extremen. In den 1970er-Jahren schien es nicht möglich, dass ein Innenraum nicht bunt war. Es folgte eine Sättigung, gefolgt von einer Farbabstinenz bis Mitte der 1980er-Jahre – die Gestalterinnen und Gestalter schienen nur noch Schwarz- und Weisstöne und keine farbigen mehr anrühren zu wollen. In den letzten Jahren wurden entweder Erdfarben der Le-Corbusier-Palette oder Interieurs wie zu Zeiten der 1970er-Jahre wieder beliebt. Im Gegenzug wuchs aber auch bei Bauherrschaften der Wunsch nach farbigem Licht im Raum.
Lichtplaner kommen leider oft erst sehr spät zum Planungsteam, obwohl gerade das Tageslicht mit Öffnungen, Geometrien und Ausrichtung zu tun hat – entscheidende Punkte bei einem Entwurf. Bevor das Kunstlichtkonzept erarbeitet wird, muss die Nutzung des kostenlosen Tageslichts optimiert werden. Schon im Wettbewerbsstadium wird definiert, wo und wie viel Tageslicht in das Gebäude eingetragen wird und wie man sich davor schützen will.
Je weiter die Planung voranschreitet, desto kleiner wird der mögliche Einfluss. Wenn frühzeitig gemeinsam, begleitend, überlegt und geplant wird, kann ein echter Mehrwert für das Objekt geschaffen werden. Das vorsichtige Herantasten an Körperfarben (Abb. 3) kann sonst mit einem relativ grobmotorischen Griff zu farbigem Licht schnell zerstört werden.

TEC21, Fr., 2011.03.04



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TEC21 2011|10 Licht und Farbe

20. März 2009Katinka Corts-Münzner
TEC21

Funkelndes Bijou

Eine scheinbar gewachsene Betonskulptur, umhüllt von Eisblumenglas und durchwirkt von farbigem Licht – das ist das neue Veranstaltungsgebäude, das «Nordwesthaus», im Rohner Hafen im österreichischen Fussach. Die Zwischenräume der Fassade werden von 125 LED-Leuchten mit Spezialoptik beleuchtet, und diese werden so gesteuert, dass das Gebäude fast in Bewegung zu sein scheint.

Eine scheinbar gewachsene Betonskulptur, umhüllt von Eisblumenglas und durchwirkt von farbigem Licht – das ist das neue Veranstaltungsgebäude, das «Nordwesthaus», im Rohner Hafen im österreichischen Fussach. Die Zwischenräume der Fassade werden von 125 LED-Leuchten mit Spezialoptik beleuchtet, und diese werden so gesteuert, dass das Gebäude fast in Bewegung zu sein scheint.

Das Gelände des heutigen Rohner Hafens bei Fussach war bis vor ein paar Jahren ein Kieswerk. Als dieses geschlossen wurde, entwickelte die Besitzerin des Geländes gemeinsam mit dem Architekturbüro Baumschlager Eberle ein Projekt für eine kleine Marina. Zunächst bauten die Architekten 1999 das Gebäude der Hafenverwaltung am Eingang des Geländes, ein kleines architektonisches Highlight. Als Ergänzung dazu sollte noch ein weiteres Gebäude entstehen, das für Veranstaltungen genutzt werden kann. Als Standort für den Neubau mit Veranstaltungsraum wurde die nordwestliche Ecke des 16 000 m² grossen Grundstücks gewählt: bei den Booten mit den hohen Segelmasten, in der Nähe der schilfumstandenen Hafeneinfahrt und in Sichtweite des Verwaltungsgebäudes (Abb. 05). Schon zu Beginn der Planung sollte das «Nordwesthaus» im Wasser gegründet werden, so konnte auch eine Bootsgarage darin Platz finden. Das 2008 fertiggestellte «Nordwesthaus» soll in angemessener Distanz ein attraktives Gegenüber, eine Art Gegenpol, sein. Gleichzeitig fassen beide Gebäude den relativ grossen Platz, der im Winter als Bootsparkplatz dient und auf dem sich im Sommer die Liegeplatzmieter und die Gäste treffen können. Bereits das Verwaltungsgebäude zog Architekturtouristen an, denn es ist eine Landmarke im Grünen am Bodensee in der Nähe von Bregenz. Mit dem Neubau schräg gegenüber haben die Architekten eine weitere Pilgerstätte geschaffen.

Zarte Betonhülle und Eisblumenglas

Vom Verwaltungsgebäude sind es nur ein paar Schritte zum «Nordwesthaus». Und doch liegen Welten und eine sicht- und spürbare technische Entwicklung zwischen den Bauten. Die Betonwände des Neubaus wurden im Entwurf gemeinsam mit den Ingenieuren von Mader & Flatz aus Bregenz so weit reduziert, dass sie Stämmen mit Ästen ähneln und Erinnerungen an Toyo Itos Tod’s-Gebäude in Tokio wecken.

Bei dem am Bodensee üblichen Wasserstand ( 396.00 m = lokales Null) ragt der Neubau etwa 13 m aus dem Wasser, unter dem Wasserspiegel reicht das Gebäude bis 2 m an den Seeboden. Der Unterbau wurde unter den Wasserspiegel verlängert, damit die «Garage» für Boote erreichbar ist. Der Betonkörper steht auf etwa 15 m langen Ortbeton-Bohrpfählen und widersteht Wasserdruck und Auftrieb. Von der Oberkante der Erdgeschossbodenplatte wächst ein Betongeflecht in biomorpher Form nach oben bis unter die Betondecke, welche die Basis für das Flachdach bildet. Als Bewehrung wählten die Ingenieure relativ dünne Betonstähle, die vor Ort zu Armierungskörben verarbeitet und in die Schalung «hineingedrückt » werden konnten. Anordnung und Menge der Betonstützen entsprechen einer Synergie aus den optischen Wünschen der Architekten und den statischen Vorgaben des Ingenieurs, so Mader. Die Analyse der Rohbaustruktur erfolgte anschliessend mit einfachen Ersatzquerschnitten. Die Lastannahmen umfassten den Bereich von Eigenlasten, Auflasten, Nutzlasten, Schnee, Wind, Wasserdruck und Erdbeben. Aus diesen Daten entwickelten die Ingenieure wiederum einige wenige Regelquerschnitte, in denen die Anordnung von Bewehrung und Leitungsführung vereinheitlicht wurden. Über die gesamte Höhe des Stahlbetongeästes wurde die Schalung vor Ort in vier Abschnitten gesetzt. Mit wenigen gekrümmten Schalungs elementen konnten alle Aussparungen der Etappen in den Wänden geformt werden. Im Anschluss wurden die Wände sorgfältig gegossen, die Schalungen nach der Trocknung entfernt, gesäubert und neu kombiniert für die anders geformten Aussparungen der weiteren Abschnitte verwendet.

Der Neubau wirkt filigran, scheint fast zerbrechlich. Diesen Eindruck verstärkt zudem das Glas, das ihn umhüllt und das an Eisblumen erinnert (Abb. 06 – 08). Diese spezielle Oberflächenbearbeitung, vom Hersteller «Ice-H» genannt, ist bei allen Gläsern mit einer Stärke ab 3 mm möglich. Auf das Glas wird eine Flüssigkeit aufgebracht, die sich beim Aushärten zusammenzieht und dabei kleinste Teile aus der Glasoberfläche bricht. Das entstandene Dekor im Glas ist somit kein wiederkehrendes Muster, sondern an jeder Stelle einmalig – ähnlich dem Craquelé bei Ölgemälden oder den Haarrissen in den Raku-Keramiken. Diese Bearbeitungsform ist schon seit mehreren Hundert Jahren bekannt und wurde ursprünglich zur Verzierung von Schmuck- und Glasteilen, später auch für Innendekor verwendet. Die Architekten entschieden sich für diese Glasoberfläche, weil sie für das Gebäude eine transparente Hülle wollten, die nicht aus Mattglas besteht und durch die die «Betonbäume» noch erkennbar sein sollten.

Schlichter Innenraum im Farbspiel

Über eine kleine landseitige Brücke gelangt man durch ein überhohes Tor in das Veranstaltungsgebäude und in einen kleinen Vorraum auf Erdgeschossniveau (Abb. 09). Zur tiefer liegenden Bootsgarage führen Betonstufen, die je nach Jahreszeit und Wasserstand überspült werden. Der Bootsplatz kann zum Beispiel bei Veranstaltungen genutzt werden. Geht man nach oben, findet man sich im Hauptraum, dem Veranstaltungsbereich, wieder. Hier gibt es neben dem Treppenaufgang eine schmale Cateringküche, die nur bei Bedarf geöffnet wird und sonst als eleganter Edelstahlriegel dezent im Raum steht. Der Raum wird nicht beheizt und kann im Sommer von jedermann für Seminare, Workshops und Apéros für bis zu 100 Leute gemietet werden. Je nach Veranstaltung können Holztische und -bänke in Reihe, übereck oder frei arrangiert werden. Der Hingucker im Raum ist, wie von aussen auch, die Betonhülle mit ihren Zwischenräumen, die nur bei abendlichen Veranstaltungen von farbigen LED beleuchtet werden. Eine ständige Beleuchtung in den Abendstunden ist nicht vorgesehen, da sich der Hafen im Naturschutzgebiet Rheindelta befindet.

Für die Allgemeinbeleuchtung wurden 30 Downlights in die rohe Betondecke eingebaut. 125 LED-Leuchten sorgen für eine effektvolle Akzentuierung in der Fassade. Damit die Leuchten von den Besucherinnen und Besuchern möglichst nicht gesehen werden, wurden sie in die Laibungen, sozusagen in die Astgabeln, eingelassen (Abb. 16). Sämtliche benötigten Leerrohre für die Kabelführung befinden sich zwischen der Bewehrung im Beton, in den Decken sowie in den «Ästen» und «Stämmen». Damit die Strahler (Abb. 15) nur die Astgabeln beleuchten und kein Streulicht in den Raum abgeben, wurde auf die Leuchte eine extrem asymmetrische Sekundäroptik mit einer Linse gesetzt.[1] Diese erlaubt eine weite Abstrahlung in die Laibung, lässt das Licht quer dazu, aber nur sehr eng in den Raum, sodass keine Blendung entsteht. So wird auch das Licht der wenigen Strahler, die direkt in die Bodenplatte eingesetzt wurden, nicht als unangenehm empfunden. Jede Leuchte ist mit je vier Highpower-LED in Rot, Grün und Blau (RGB) ausgestattet und kann direkt über eine DMX-Steuerung angesprochen werden.[2] Die zwölf Lichtpunkte sind nicht symmetrisch gesetzt, sondern so, dass die Abstände der drei Farben immer so gering wie möglich gehalten sind und damit die bis zu 9 m hohen Hohlräume möglichst gleichmässig ausgeleuchtet werden. Zu Beginn der Planung waren noch RGB-W-Leuchten angedacht, pro Farbe drei LED. Die weissen LED wurden dann aber zugunsten des Lumenoutputs der farbigen LED weggelassen, und es wurden jeweils vier LED eingesetzt. Reines Weiss gibt es als Beleuchtung damit nicht, für die Fassade wird via DMX ein Weiss aus den Farben gemischt. Mithilfe der eingesetzten Steuerungssoftware werden die Farben Rot und Grün, die ein stärkeres Lumenoutput haben als Blau, heruntergeregelt und Blau zu 100 % eingeschaltet. Dabei nutzt man den Effekt, dass das menschliche Auge sehr träge ist und das Gehirn einen etwaigen Farbstich korrigiert. Die Lichtplaner programmierten einige Lichtszenarien, vom kühlen Weiss über wallende grün-türkise Farbverläufe, die an Schilf im Wasser erinnern sollen, bis hin zum «Feuer», bei dem das Gebäude mehr und mehr in den gelben und roten Lichtflammen aufgeht (Abb. 12).

Die Frage nach dem Geld

Man darf sie stellen. Die Antwort ist allerdings ernüchternd. «Keiner hat was an dem Bau verdient, es wurde viel Neues ausprobiert, und daher ist das Projekt nicht mit anderen zu vergleichen», so Maria Rohner, die Bauherrin. Architekten, Ingenieure und Lichtplaner halten sich bedeckt, stimmen aber gern mit ein und ergänzen: «Es war eine spannende Zusammenarbeit, und alle Baubeteiligten haben viel Herzblut in das Projekt gesteckt», sagt Ledon- Projektleiter Bernd Clauss. Als die Architekten der Bauherrschaft ihr Projekt vorstellten, war diese begeistert, das Budget allerdings weit überschritten. In der Zumtobel-Gruppe, zu der auch Ledon gehört, fand sie einen Partner, der einen Grossteil der Beleuchtungskosten übernahm. Den Bau nutzt Ledon dafür als überdimensionales Werbeschild für das eigene Marketing. «Für uns ist das ein tolles Vorzeigeprojekt direkt vor unserer Haustür», so Clauss. Das Resultat ist ein Bau, in und an dem tatsächlich viel Neues zu finden ist. Einige der im Gebäude eingesetzten Produkte – wie beispielsweise die Betonschalung, das Eisblumenglas und besonders die LED-Leuchten – sollen in den nächsten Jahren weiterentwickelt werden. Nicht nur der räumlichen Nähe der am Bau Beteiligten – alle im Umkreis von maximal 30 km –, sondern wohl auch der Freude am Experimentieren mit Form und Farbe ist es geschuldet, dass Auftraggeber und -nehmende dieses Projekt mit Lust und Engagement umgesetzt haben. Mit dem «Nordwesthaus» ist sicherlich eine neue Landmarke für Architekturtouristen entstanden. Und wenn es der Zufall so will, sehen diese es auch vor dem Nachthimmel funkeln.


Anmerkungen:
[1] Die Technologie der Linse gibt es nach Auskunft von Ledon schon lange, aber die gesamte Leuchte (inklusive Platine und Anordnung der LED) wurde für das Projekt neu entwickelt
[2] DMX ist ein Protokollstandard für eine Niedervolt-Steuerung in der Theatertechnik. Im Gegensatz zu DALI sendet DMX ständig Informationen und ermöglicht sehr schnelle Eff ekte und Farbwechsel

TEC21, Fr., 2009.03.20



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tec21 2009|12 Lichtfarbenspiel

30. Januar 2009Katinka Corts-Münzner
TEC21

Draussen in der Halle

In der weltweit ersten Simulationshalle für Helikopter in Gaissach bei Bad Tölz (D) können Rettungskräfte wetterunabhängig Berg- und Lufteinsätze trainieren. Das bedeutet: weniger CO2-Emission der Helikopter, weniger Lärm und mehr Sicherheit.

In der weltweit ersten Simulationshalle für Helikopter in Gaissach bei Bad Tölz (D) können Rettungskräfte wetterunabhängig Berg- und Lufteinsätze trainieren. Das bedeutet: weniger CO2-Emission der Helikopter, weniger Lärm und mehr Sicherheit.

Für Rettungseinsätze an schwer erreichbaren Orten muss das Team gut eingespielt und trainiert sein. Bislang führte die bayrische Bergwacht die etwa 100 dafür notwendigen Trainingstage im Freien durch. Bei diesen teuren Übungsstunden gab es jedoch immer wieder Probleme: Der Helikopter wurde zum Notfalleinsatz abgerufen, oder die Wetterbedingungen verhinderten die Durchführung einer Übung, sodass die ehrenamtlichen Retter abreisen mussten, ohne zum «Einsatz» gekommen zu sein. Eine weitere Einschränkung stellt die kontingentierte Flugzeit der Maschinen und der Piloten dar. Da die Helikopter etwa alle 2.5 Stunden nachgetankt werden müssen, wurden die Übungen dauernd unterbrochen. Auch der benötigte Treibstoff war ein Entscheidungsfaktor: Die Helikopter verbrauchen im Freien durchschnittlich 350 Liter Kerosin pro Trainingsflugstunde, und das bei einem Trainingsvolumen von 3300 Flugstunden pro Jahr. Die Bergwacht strebte daher die Simulation der Helikopterflüge in einer Hallenanlage an, um die Ausbildungs- und Trainingsstruktur zu verbessern.

Weltweit erste Flughalle für Simulationshelikopter

Als Bauort wurde ein Grundstück in Gaissach bei Bad Tölz gewählt, das nahe an den Bergen liegt und dank der Infrastruktur gut erreichbar ist. Mit dem Projekt wurden die Münchner Architekten Herzog Partner betraut. In Zusammenarbeit mit der Bergwacht entwickelten sie ein Gebäude, das für Schulungs- und Trainingszwecke der Bergwacht genutzt werden kann, in dem aber auch Einsatzgruppen anderer Rettungsorganisationen wie Wasserwacht, Feuerwehr und Polizei realitätsnah trainieren können. Dazu stehen ein stationärer sowie ein beweglicher Simulationshelikopter zur Verfügung. Der steuerbare Helikopter ohne Rotorblätter läuft an einer Krananlage, der stationäre für das Grundtraining an der Helikopterzelle befindet sich auf einem Übungsturm.

Training in der Halle

In den Übungen an der beweglichen Zelle können sich Rettungsleute abseilen, Opfer werden mit der Winde geborgen, und am Boden lassen sich verschiedene Situationen trainieren. Der Parcours auf dem Boden soll in den nächsten Jahren erweitert werden. Die Übungen in der Helikopterzelle wirken sehr realitätsnah, da die Zellen an der Aufhängung «frei» durch die Halle gesteuert werden können. In der Halle befinden sich in etwa 16 m Höhe entlang der Längsseite Kranbahnträger, die ihre Lasten über Konsolen an die Stützenfachwerke abgeben. Sie wurden für den Betrieb von bis zu drei Portalkrananlagen mit einem Gewicht von je 28 t ausgelegt. Die Kranbrücken sind das Rückgrat der Anlage, haben jeweils eine Spannweite von 25 m und bewegen sich in Längsrichtung durch die Halle. Sie werden über frequenzgeregelte Antriebe bewegt und können daher stufenlos in ihrer Geschwindigkeit gesteuert werden. Auf den Brücken läuft in Hallenquerrichtung die Krankatze mit Hubwerk und Drehvorrichtung. Um die Lärmentwicklung durch die Bewegungen der Kranbrücken auf den Kranbahnträgern zu minimieren und um die Kranbahnschienen feinjustieren zu können, wurden diese Schienen auf Elastomeren gelagert verschraubt.

In der Helikopterzelle stehen zur Steuerung nachgebaute Originalinstrumente zur Verfügung. Es können Höhe, Fahrtrichtung und -geschwindigkeit sowie Schräglage gesteuert werden. Sensoren liefern Informationen zur Bewegung an ein Datenmodell der Anlage, und diese setzt die Bewegungsanforderungen nur dann um, wenn dadurch keine Kollision mit den anderen Anlagen entsteht. Nach den ersten Betriebsmonaten wird die Anlage mit höherer Geschwindigkeit betrieben, auch die Freiheitsgrade für die Helikopter werden schrittweise gesteigert. Sämtliche Komponenten der Kranbrücken und der Aufhängungen verfügen über die erforderlichen Leistungsreserven. Tragende Teile haben mindestens doppelte Festigkeitswerte, und sicherheitsrelevante mechanische Bauteile wie die Bremsanlage sind doppelt vorhanden.

Um die reale Stresssituation nachzustellen, wurde die Anlage mit weiteren Besonderheiten ausgestattet. Zum Beispiel kann der Abwind, der durch die Rotorblätter erzeugt wird, simuliert werden. In den Bereichen, in denen sich die Einsatzkräfte während der Übung aufhalten, sollen möglichst hohe Windgeschwindigkeiten herrschen. Oberhalb der Helikopterzelle wurden Windgeneratoren angebracht, von denen jeder bei 7.5 KW Leistungsaufnahme ein Strömungsvolumen von 72 000 m³/h bei einer Strömungsgeschwindigkeit von etwa 60 km/h im Dauerbetrieb liefert. Zudem können über eine Lautsprecheranlage oder die Kopfhörer der Einsatzkräfte Rotoren- und Turbinengeräusche so eingespielt werden, wie es die jeweilige Trainingsaufgabe und Situation erfordert. Auch Blendungen entstehen beim Übungseinsatz ähnlich wie in der Realität, da die transparenten Wände das Sonnenlicht ungehindert durchlassen. Zusätzlich werden Stroboskopblitzer eingesetzt, die in Intensität und Frequenz geregelt werden können, um flackerndes Licht zu simulieren. Diese optische Störung entspricht in etwa dem Lichteffekt, der entsteht, wenn Sonne zwischen den Rotorblättern auf die Unfallstelle scheint. Die komplette Halle ist nicht beheizt, nur die Helikopterzellen, der Kontrollraum und die Basislager können temperiert werden. Die Anlage wird in den Wintermonaten schwere und warme Kleidung sowie Handschuhe erforderlich und damit das Training realitätsnaher machen.

Tragwerk und Fassade

Das Hallentragwerk ist wegen der Gebäudehöhe von fast 20 m hohen Windkräften ausgesetzt. Zusätzliche besondere Lastfälle für die Konstruktion entstehen durch die Bewegung der Helikopter entlang der Kranbahnen. Fünf räumliche, in ihrem Querschnitt dreieckige Fachwerkträger sind die Haupttragelemente der Stahlkonstruktion, Fassade und Dach lasten auf dem Zweigelenkrahmen. Die Stirnseiten der Halle bestehen jeweils aus zwei Ebenen, die biegesteif miteinander verbunden wurden. So entstand für Windlasten eine Tragwirkung als Vierendeelträger. In der Mitte der Längs- und der Stirnseiten der Fassade wurden horizontale Festpunkte gewählt, die die horizontalen Lasten an den Massivbau abgeben. Alle anderen Auflagerpunkte wurden in Längsrichtung der umlaufenden Wände verschiebbar gelagert, sodass horizontale Bewegungen des Tragwerks infolge Temperatureinwirkungen möglich sind.

Da die Bergwacht im Gebäude unter realitätsnahen Klimabedingungen trainieren wollte, wurde für die Fassade nur eine hochtransparente Folienkonstruktion verwendet. Diese dient als Wetterhaut, aber kaum als thermische Trennung. Die 0.3 mm starke transparente Folie wird in einem Stahlrahmen gehalten und durch Bögen nach aussen ausgelenkt, wodurch sie ihre geometrisch notwendige Steifigkeit erhält (s. Kasten S. 22).

Ausbau in den nächsten Jahren

Seit 2008 läuft der Trainingsbetrieb, und die Anlage erfüllt nach Angaben der Betreiber deren Erwartungen. Für den weiteren Ausbau des Trainingsparcours sind in einem weiteren Bauabschnitt ein Wasserbecken mit Wellen- und Strömungsanlage und eine alpine Fels- und Hügellandschaft mit Wasserrutsche für Übungen der Canyoning-Rettungsgruppen geplant. In die Felslandschaft sollen kurze Höhlengänge integriert werden. Auch ein kleines Haus soll in der künstlichen Landschaft stehen, an diesem können dann Rettungen über Dach, Balkon und Fenster trainiert werden. In einem weiteren Ausbauschritt soll der Parcours um eine Liftanlage mit Sesselliften und Kleinkabinen, einen Strommast und einen Baukran für Bergungsübungen erweitert werden.

TEC21, Fr., 2009.01.30



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31. März 2008Katinka Corts-Münzner
TEC21

Ungehindert spielen

Im Heilpädagogischen Zentrum in Hagendorn wurde 2006 ein grosser Spielplatz errichtet, der auf die speziellen Bedürfnisse körperlich und geistig behinderter Kinder zugeschnitten ist. Das Ziel der Planer war, einen Spielraum für alle Kinder zu schaffen – ganz egal für welches Alter und für welchen Grad der Behinderung.

Im Heilpädagogischen Zentrum in Hagendorn wurde 2006 ein grosser Spielplatz errichtet, der auf die speziellen Bedürfnisse körperlich und geistig behinderter Kinder zugeschnitten ist. Das Ziel der Planer war, einen Spielraum für alle Kinder zu schaffen – ganz egal für welches Alter und für welchen Grad der Behinderung.

Heilpädagogen und Lehrer wissen, dass die Bewegung im dreidimensionalen Raum auch die Bereiche im Gehirn schult, die für das Lernen extrem wichtig sind.1 Diese Erkenntnisse sollten auch in das Neubaukonzept für den Spielplatz in Hagendorn mit einfl iessen. Das Heilpädagogische Zentrum Hagendorn (HZH) liegt etwas abseits der Kantonsstrasse nach Cham und Zug, inmitten von Landwirtschaftsfl ächen und in der Nähe eines Wäldchens. Zur Anlage gehören ein Schulhaus, ein Mehrzweckbau mit Turnhalle und drei Internatsgebäude. Dazwischen gibt es einen Pausenplatz, unterhalb der Wohngebäude liegt eine grosse Grünanlage, in der sich der neue Spielplatz befi ndet (Bild 7). In der Ganztagsschule leben und lernen Kinder aus dem Kanton Zug und angrenzenden Kantonen. Sie haben sehr unterschiedliche Behinderungen, was eine einheitliche Lösung bei der Neuplanung des Spielplatzes unmöglich machte. Manche Kinder können zum Beispiel zwei Sprachen sprechen, sind aber in der Motorik gestört und brauchen Hilfe beim Essen. Andere sind körperlich nicht behindert, sind aber im frühpubertären Alter noch auf dem geistigen Niveau eines Kleinkindes.

Der Spielplatz als Lehrraum

Im Sommer 2004 stellte das HZH sein Unterrichtskonzept um. Die Kleinklassen wurden auf vier Lerngruppen mit je 12–16 SchülerInnen verteilt. Jeweils drei bis vier Pädagogen be - treuen die Gruppen über den ganzen Tag. Seit der Umstellung des Unterrichtskonzeptes werden auch die Pausen als Unterrichtszeiten angesehen, in denen zum Beispiel die Sen - sorik geschult wird. Der neue Aussenraum sollte demnach nicht nur Spielplatz, sondern auch Lernraum sein. Die Betreuenden konnten so die Pausen frei gestalten und deren Län - gen selbst festlegen, sie sollten die Kinder aber in dieser Zeit in eine Umgebung führen, in der ihre Aktivität angeregt wird. Auf dem Spielplatz sollen den Kindern Aufgaben gestellt werden, die sie dort lösen. Da die Kinder, die im Internat leben, den Spielplatz auch nach dem Unterricht nutzen, sollte er leicht verständlich und ohne Betreuer nutzbar sein. Bei der Erarbeitung des neuen Spielplatzkonzeptes wurden die Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Heilpädagogen befragt, wie den Bedürfnissen der Schüler auf dem Spielplatz entsprochen werden könnte. Die Spielsachen sollten nach ihrer Auskunft selbsterklärend sein und keine grosse Anleitung durch die Betreuer bedingen. Zur Vorbereitung des Projektes sollten die Betreuenden die Kinder beim Spielen auf dem alten Platz beobachten. Dabei stellte sich heraus, dass die Kinder sich besonders gern mit Spielgeräten beschäftigen, die ihre Motorik fordern – also zum Beispiel Schaukeln und Wippen. Da auf dem künftigen Spielplatz ein Teil des Unterrichts abgehalten werden sollte, gaben auch die LehrerInnen ihre Wünsche zur Gestaltung an. Daniela Saxer vom Architekturbüro Raum B Architekten entwickelte nach diesen Vorgaben ein Konzept für die gesamte Schulanlage und erweiterte anschliessend das Planerteam. Gemeinsam mit dem Landschaftsarchitekturbüro Appert & Zwahlen aus Cham und der Baarer Künstlerin Johanna Naef planten die Architekten das Projekt und setzten es ab 2005 um.

Dosierte Gefahren auf dem Weg

Der neue Spielplatz unterteilt sich in drei Bereiche: eine gekieste Fläche, einen Sandkasten und einen Pavillon. Ein Merkmal der Anlage ist, dass es den Kindern nicht zu einfachgemacht wird, an jede beliebige Stelle des Spielplatzes zu gelangen. Der Weg zu Spielplatz und Schwimmbad sollte nicht einfach durchgehend asphaltiert werden, sondern auch bezwingbare Hindernisse und «Abenteuerwege» enthalten. Die oberste Prämisse der Planenden war: je kürzer der Weg, desto grösser muss die Herausforderung für die Kinder sein. Beispiele dafür sind ein Riffelblechboden mit minimalen, für Rollstuhlfahrer aber überwindbaren Stufen und Gitterroste, die über den Sandkasten führen. Einer der Roste ist stabil, der andere gelenkig fi xiert. Hier ist die Motorik der Kinder gefordert, denn auf dem wackelnden Steg will das Gleichgewicht gehalten werden. Zwischen der ersten und der zweiten Ebene liegt ein Wackelsteg, die zweite ist mit der dritten über eine wippende und kippende Brücke verbunden. Diese kippt und schaukelt beim Begehen und Befahren mit Rollstuhl und Fahrrad. Beim Pavillon schliesslich wählte die Architektin einen weichen Sportplatzbelag, der durch seine Höhe von 11 cm sehr stark federt. Die verschiedenen Lauf- und Fahrerlebnisse machen bereits den Gang zum Spielplatz zum Abenteuer.

Alle Sinne fordern

Über den Asphaltweg gelangen die Kinder zuerst in den Kiesbereich. Sie haben hier eine Fläche, die mit Kies, nicht bindigem Sand und grossen Steinen bedeckt ist. Besonders ihre taktile Wahrnehmung schulen sie beim Spiel. Einige Kinder nehmen wegen ihrer Behinderung nur wenig über ihre Haut wahr. In Kies und Sand können sie sich gefahrlos eingraben, die Materialien wahrnehmen und die Wärme oder die Kälte der Steine spüren. Für diesen Bereich entwickelte Johanna Naef Liegen aus Kunststoff, auf die sich die Kinder alleine oder mit Hilfe legen können. So erreichen sie den Boden und können bäuchlings im Sand spielen. Der Sandkasten im zweiten Bereich ist mit bindigem Sand gefüllt – ideal zum Burgenbauen und Matschen. Auch die Kinder im Rollstuhl können diesen Bereich befahren und an einem Matschtisch auf einer Betonplattform ohne die Hilfe anderer spielen (Bild 4). Als Besonderheit wurde ein erhöht liegender Pavillon errichtet. Kinder, die im Rollstuhl sitzen, können ihre Umgebung nur selten von einem erhöhten Standpunkt aus wahrnehmen. Auf dem Spielplatz haben sie aber diese Möglichkeit. Der Pavillon ist für Rollstuhlfahrer über eine Rampe zu erreichen, nicht gehbehinderte Kinder können ihn auch über eine Kletterwand, ein Netz oder einen schmalen Kamin – ein Metallrohr mit Sprossen – erklimmen (Bilder 2 und 3). Das Holztragwerk, geplant von Bauingenieur Walter Bieler aus Bonaduz, ergänzte in spielerischer Weise einen Stützenwald unter der Rampe. Die schräg angeordneten Pendelstützen stabilisieren die Rampe und bilden gleichzeitig einen Spielraum für die Kinder (Bilder und Pläne Seiten 26 und 27). Rückwärtig schliesst der Bau mit einer fl acheren Rampe für die Rollstuhlfahrer an den Pausenplatz an. Von diesem gelangen die nicht gehbehinderten Kinder auch direkt zum Spielplatz, müssen dazu aber eine Röhrenrutschbahn nutzen und auf dem Rückweg über grosse Steine klettern. Hier wird erneut der Vorsatz der Planer deutlich: kurze Wege müssen schwieriger gestaltet sein und eine Herausforderung darstellen. Birken und Föhren schliessen den Spielplatz gegenüber der angrenzenden Wohnbebauung ab. Strauchrosen setzen farbliche Akzente. Neu gepfl anzt wurden unter anderem Haselnuss- und Holundersträucher, die für die Kinder nicht nur in der Blütezeit interessant sind. Neben der optischen, akustischen, olfaktorischen und taktilen Wahrnehmung sind auch die Entwicklung des Gleichgewichtssinns und der Muskelkraft für ein Kind wichtig. Wenn die Kinder im Herbst die Beeren und Nüsse sammeln, trainieren sie ihre taktile Wahrnehmung und lernen, wie sie ihre Kraft dosieren müssen, um die Beeren nicht zu zerdrücken. Wollen die Kinder hingegen die Früchte der Erdbeeren erreichen, müssen sie sich auf den Boden knien, wobei sie für sie unübliche Bewegungsabläufe üben.

Neugestaltung von Pausenplatz und Mehrzweckraum

Die Betreuenden und die Kinder haben die neue Aussenraumgestaltung mittlerweile gut angenommen. Die Kinder sehen den Spielplatz auch als Aufgabe an, die es zu lösen gilt. Sie beschäftigen sich oft stundenlang mit einem Hindernis, bis sie es überwinden könnenDie Betreuenden verbieten den Kindern nichts, sie sollen ihre eigenen Erfahrungen im Ge - lände machen und ihre Grenzen selbst kennenlernen. Nach diesen positiven Erfahrungen will die Schulleitung des Heilpädagogischen Zentrums Hagendorn nun auch weitere Berei - che des Geländes umgestalten. Sie hat Daniela Saxer mit der Aufgabe betraut, ein Gestaltungskonzept für den zurzeit unattraktiven und verstellten Pausenplatz zu entwickeln. Hier sollen die Rabatten entfernt werden und so ein Platz zum Velofahren und Herumrennen entstehen. Ausserdem sollen der Mehrzweckraum generell saniert, die Raumfolge darin optimiert und die Zwischenräume mit spielerischen Komponenten versehen werden.

Öffnung zur Aussenwelt

Die Klassengrösse wird in Zukunft wohl eher abnehmen, da die Kinder schneller in Integrationsklassen öffentlicher Schulen aufgenommen werden sollen. Die Plätze im Internat hingegen werden nach wie vor gefragt sein, und damit wird auch die attraktive Gestaltung des Wohn- und Lernumfeldes ein Thema bleiben. «Behinderte wurden früher abgeschoben und ihre Einrichtungen abseits der Städte gebaut», so Saxer. Den Kontakt zur Aussenwelt könne das Heilpädagogische Zentrum heute wieder verstärken, indem es sein Gelände und seine Einrichtungen für Fachleute und Schulklassen öffnet. In den Mehrzweck- und Schulungsräumen sollen zum Beispiel Fachhochschulen Kurse, Weiterbildungen und Informationsabende durchführen. Das Interesse an einer Anlaufstelle für Personen aus der Praxis besteht. Andere Schulklassen sind eingeladen, den Spielplatz gemeinsam mit den Kindern des HZH zu nutzen. Das Angebot stösst auf Interesse, mittlerweile reisen auch Regelkindergärten und Schulklassen aus der Umgebung für einen Besuchstag an. Katinka Corts

TEC21, Mo., 2008.03.31



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tec21 2008|14 Spielräume

25. Februar 2008Katinka Corts-Münzner
TEC21

Wie Tag und Nacht

Physiologische Aspekte stehen im Zentrum des Interesses des schweizerischfranzösischen Architekten und Künstlers Philippe Rahm. In seine Installationen und Projekte integriert er die Zeit und das Klima und passt beides den Bedürfnissen der Nutzer an. Eines seiner aktuellen Projekte beschäftigt sich mit der Auswirkung des Raumes bei unterschiedlichem Licht.

Physiologische Aspekte stehen im Zentrum des Interesses des schweizerischfranzösischen Architekten und Künstlers Philippe Rahm. In seine Installationen und Projekte integriert er die Zeit und das Klima und passt beides den Bedürfnissen der Nutzer an. Eines seiner aktuellen Projekte beschäftigt sich mit der Auswirkung des Raumes bei unterschiedlichem Licht.

Viele Projekte von Philippe Rahm, der bis 2004 mit Jean-Gilles Décosterd zusammengearbeitet hat, drehen sich um Klima- und Lichträume – so etwa der Biennale-Beitrag «Hormo nium» von 2002 oder die Installation «Melatonin Room» zwei Jahre zuvor (vgl. TEC21 Nr. 36/2002 und 43/2004). Ein aktuelles Projekt Rahms, das seit 2007 besteht, ist ein Café, in dem die Wahrnehmung des Gastes über die physiologischen Wirkungen von Licht gezielt manipuliert werden soll. Ein blau verglaster Raum soll den Tag, ein gelb verglaster Bereich des Cafés die Nacht simulieren. Das Gebäude wird in das Fabric Outlet Center (FOC) im Schlosspark Eybesfeld im österreichischen Jöss, südlich von Graz, integriert.

Shoppen im Schlosspark

Nach dem Kauf der sanierungsbedürftigen Schlossanlage mit grossem Park entschloss sich die Bauherrschaft, die Restaurierung und Renovation gemeinsam mit verschiedenen Künstlern und Landschaftsgestaltern in Angriff zu nehmen. Das entwickelte Konzept sieht vor, wichtige historische Teile und Anlagen des Schlosses zu restaurierten; in anderen Bereichen des 70 ha grossen Geländes sollen zeitgenössische Kunst, Architektur und Landschaftsgestaltung Raum erhalten. Auf dem Gelände sollte neben temporärer Kunst und der sich verändernden Landschaft auch ein statischer Bereich entstehen. So wurden auf den Ländereien von Eybesfeld neue Gewerbefl ächen ausgewiesen, ein Fabric Outlet Center (FOC) sollte Mittelpunkt der neuen Anlage werden und auch die umgebende Landschaft nachhaltig verändern. Denn das Gut liegt an einer alten Handelsroute in einer Hügellandschaft und ist auch heute gut an Infrastrukturen wie Autobahn und Schnellstrassen angebunden. In der Umgebung befi nden sich neben Nutzwäldern, kleinen Städtchen und Dörfern auch grosse Gewerbegebiete. Die Landschaft um das Schloss erscheint heute nicht mehr als Einheit, sondern als Collage vieler kleiner Teile, denen die grossräumigen Beziehungen fehlen. Künstler und Bauherrschaft beschäftigten sich deshalb mit der Frage, inwieweit eine neue, die Einzelteile fassende Struktur auf dem Schlossareal umgesetzt werden könnte. In einem Masterplan entwickelten die Wiener Architekten BEHF ein räumlich übergeordnetes Landschaftskonzept, das das FOC in die Umgebung einbinden und ein räumliches Gesamtkunstwerk schaffen soll. Die Einkaufsmeile liegt im Zentrum der Gesamtplanung und nimmt im Masterplan eine Schlüsselposition ein. Alle Geschäfte gruppieren sich um einen zeitgenössisch gestalteten Garten. In diesem werden Kunst- und Raumobjekte die Kundschaft zum Verweilen einladen. Das Verkaufsareal wird von grünen Adern durchzogen, die einen Bezug zur umgebenden Landschaft schaffen und die Anlage mit dem Schlosspark und den umgebenden Wäldern verbinden.

«Split Time Café»

In diesem zentralen Garten soll auch das «Split Time Café» von Philippe Rahm eingebettet werden. Es ist in drei voneinander abgeschottete Bereiche unterteilt, jeder davon in ein eigenes Licht getaucht. Das soll bei den Gästen unterschiedliche Stimmungen wecken und verschiedene Wachheitsgrade verursachen. Die Gestaltung der Räume basiert auch auf neueren Erkenntnissen über die innere biologische Uhr des Menschen, seine Aktivierung mit Licht und den Melatoninhaushalt. Dieses im Gehirn produzierte Hormon wirkt schlaffördernd und ist für den Tag-Nacht-Rhythmus wichtig. Seine Ausschüttung wird durch die biologische Uhr und durch Licht gesteuert. Dabei, so fanden Wissenschafter heraus, reagiert dermenschliche Körper bei der Aktivierung mit Licht sehr stark auf die blaugrüne Region des Lichtspektrums (Strahlung zwischen 400 und 500 nm).

Mit Gelborange-Filtern, die nur das blaugrüne Spektrum des Lichtes blockieren, könnten also Räume geschaffen werden, in denen die Aktivierung des Körpers gedämpft wird. In dieser künstlich geschaffenen Nacht würden Menschen schneller müde werden.1 Als Gegenstück dazu könnte ein Glas mit Blaugrün-Filtern, das gelborangefarbenes Licht blockiert, die Aktivierung erhöhen und die Menschen im Raum wach halten. Im «Split Time Café» betritt der Gast zunächst einen Vorraum, der ihn in den grösseren Hauptraum führt. Die Fassade ist hier aus klarem, farblosem Glas und lässt das natürliche, reine Tageslicht ungefi ltert in den Innenraum: Der Gast erlebt in Echtzeit den Tagesverlauf, Witterung, Bewölkung und Besonnung und die natürliche Zu- und Abnahme der Lichtintensität. Möbliert ist der Raum wie ein traditionelles Café mit Tischen und Stühlen. Vom Hauptraum aus erreicht man den Tag- und den Nachtbereich. Der Tagbereich ist umgeben von blau eingefärbtem oder beschichtetem Glas. Hier wird der ewige Tag simuliert. Als Einrichtung sind bislang nur hohe Tische geplant, an denen die Kundschaft steht. Der zweite Raum ist gelb verglast. Hier wird am helllichten Tag eine physiologische Nacht erzeugt, obwohl der Raum hell erleuchtet ist. Die Möblierung soll entsprechend der empfundenen Tageszeit eher an eine Lounge erinnern. Bei Dunkelheit und im lichtärmeren Winter sollen die blaue und die gelbe Stimmung in den Räumen durch künstliche Leuchten erzeugt werden. Die Architektur gestaltet hier nicht mehr vordergründig den Raum, sondern dient vielmehr als Fassung für Zeit – sie konstruiert Tag und Nacht. Die Architektur wird zur Zeitmaschine.

TEC21, Mo., 2008.02.25



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tec21 2008|08 Gesundes Licht

11. Juni 2007Katinka Corts-Münzner
TEC21

Auf Augenhöhe

Der Zoologische Garten Basel wird zunehmend zu einem von Tieren bewohnten Landschaftsgarten. Die Verwaltung baut im so genannten Sautergarten aus den 1950er-Jahren eine asiatische Biotop-Grossanlage namens «Fuss des Himalayas». Indische Panzernashörner und der Grosse Panda sollen längerfristig die Hauptattraktionen sein. Die Innenräume der Nashornanlage wurden bereits im September 2006 nach der Sanierung wiedereröffnet, die Aussenanlage soll nun bis Herbst 2007 folgen.

Der Zoologische Garten Basel wird zunehmend zu einem von Tieren bewohnten Landschaftsgarten. Die Verwaltung baut im so genannten Sautergarten aus den 1950er-Jahren eine asiatische Biotop-Grossanlage namens «Fuss des Himalayas». Indische Panzernashörner und der Grosse Panda sollen längerfristig die Hauptattraktionen sein. Die Innenräume der Nashornanlage wurden bereits im September 2006 nach der Sanierung wiedereröffnet, die Aussenanlage soll nun bis Herbst 2007 folgen.

Als der Basler Zoo 1870 vor den Toren der Stadt gegründet wurde, war er der erste Tierpark in der Schweiz. Auf dem Gelände, das die Stadt dem Tierpark zur Verfügung stellte, wurden ab Sommer 1874 vor allem europäische Tiere und die Alpenfauna der Bevölkerung vorgestellt. Bereits zehn Jahre nach der Eröffnung musste das Gelände zum ersten Mal erweitert werden. 1934 konnte die Zooverwaltung mit einem Legat von Ulrich Sauter ein Stück Land zwischen der Elsässerbahn und dem Dorenbachviadukt erwerben. Das neue Areal wurde 1939 als «Sautergarten» eröffnet, in dem sich unter anderen das Steinbockgehege und die Pinguinanlage befanden.

Ein Haus für die Panzernashörner

Die Architekten Max Rasser und Tibère Vadi bauten mit dem Ingenieur Heinz Hossdorf das Nashornhaus 1959 im Sautergarten. Das Gebäude planten sie als lang gestreckten Riegel, der sich am Bahndamm der Zugtrasse entlangzieht. Das schmale Gebäude wirkt sehr dynamisch, weil es im Grundriss ein um 17° geneigtes Parallelogramm darstellt und auch alle Wände im Innenbereich diese Neigung übernehmen (Bilder 6 und 7). Vermutlich lehnten sich Rasser und Vadi dabei an Skizzen von Le Corbusier an, mit dessen Arbeiten sie sich beschäftigten. Den abgewinkelten Grundriss mit indirekt belichteten Räumen thematisierte Le Corbusier 1940 für die Ausstellung «France d’outre-mer» in Paris[1].

Die Zoobesucher betreten das Gebäude an der Stirnseite. Der Raum dahinter ist der Länge nach geteilt, etwa ein Viertel der Raumbreite ist als Besucherbereich begehbar, der Rest gehört den Tieren. Die Nashörner hielten sich vor der Sanierung jeweils in einer der vier Einzelboxen auf, deren Boden leicht erhöht war, damit die Besucher die Tiere besser über den Trennungsgraben hinweg betrachten konnten. Auf der Stirnseite, die gegenüber dem Eingang lag, konnten die Besucher in einen kleinen eingeschobenen Grünraum schauen und dann über eine Treppe zu den Zwergflusspferden im Obergeschoss und in den oberen Gartenbereich gelangen. Die Architektur überdauerte die Zeit, die Haltungsbedingungen für Panzernashörner jedoch veränderten sich. Mit der bestehenden Anlage konnte der Basler Zoo in den letzten Jahren die gesetzlichen Auflagen der Tierschutzverordnung und die Empfehlungen zur Tierhaltung nicht mehr erfüllen. Als Zuchtbuchführerin für die Panzernashörner wollte die Zooverwaltung jedoch eine vorbildliche Nashornanlage vorweisen und entschied sich 2004 für den Umbau des gesamten Geheges und der Aussenanlagen.

Sanierung im Bestand

Bei der Sanierung sollte die Architektur weitgehend erhalten werden. Gleichzeitig musste aber mehr Raum für die Tiere geschaffen und das Gebäude weiterhin mit dem Aussenraum verbunden bleiben, damit die Besucher vom Gehege direkt die Aussenanlage erreichen. Die Um- und Ausbaumassnahmen konnte der Architekt Peter Stiner aus Basel zum Teil im bestehenden Gebäudevolumen bewerkstelligen. Mit dem Einbau einer Spundwand zum Bahndamm hin erweiterte er das Gebäude und schuf Platz für ein grösseres Männchengehege. Um das Innengehege der Nashornweibchen zu vergrössern, wurden die Boxentrennwände herausgeschnitten (vgl. gelbe Wände in den Bildern 6 und 8) und je zwei Boxen zusammengelegt. Dadurch entstanden grössere Bewegungsbereiche für die einzelnen Tiere, die sich hier auch gemeinsam mit ihren Jungtieren aufhalten können. Die Betonwände in den Gehegen wurden zum Schutz und zur Körperpflege für die Tiere mit Holz beplankt (Bild 2 Bestand, Bild 3 im sanierten Zustand). Da sich Nashörner in der Freiheit vorwiegend auf weichen Böden von Wald- und Wiesenbereichen aufhalten, wurde auch der Boden des Geheges mit einer Schicht aus Holzhäckseln gedeckt.

Den Graben, der ursprünglich Besucher und Tiere trennte, entfernte Stiner. Er senkte den Boden des Geheges ab, damit Mensch und Tier auf gleicher Augenhöhe zueinander stehen, und er ersetzte den Graben durch ein gläsernes Besuchergeländer sowie eine innere Abgrenzung aus Metallstangen. Zwischen diesen beiden Barrieren bleibt zwar ein schmaler Sicherheitsabstand, optisch fällt dieser jedoch weniger ins Gewicht als der vorher bestehende Graben. Nachdem die Grabenmauer abgebrochen und die Innenwände entfernt waren, veränderte sich die Statik im Gebäude. Die zweigeschossigen Stützen am Besuchergang wurden nach altem Vorbild erstellt und den heutigen Anforderungen angepasst. Der schmale Querschnitt der Wände konnte beim Umbau dank einer stärkeren Armierung erhalten werden. Für die Sichtbetonoberflächen wurden Schalungsbretter statt -platten verwendet, um ein einheitliches Bild von Bestand und Erweiterung zu erhalten.

Am Ende des Ganges können die Besucher in die neu entstandene Badezone der Nashornkühe schauen. Das Gehege des Männchens und die Verbindungsgänge liegen dahinter im neu gebauten Bereich und sind für Besucher nicht einsehbar. Im Obergeschoss sind nicht mehr die Zwergflusspferde untergebracht, das Gehege wurde in einen Ausstellungsbereich umgebaut. Wie auch vor der Sanierung wird der Besucher nach der Fertigstellung der Erweiterung hier das Gebäude verlassen und in den Aussenbereich der Anlage gelangen.

Grüne Inseln und Lichtungen

Mit der Planung und Gestaltung der Aussenanlage wurden nach einem Evaluationsverfahren die Landschaftsarchitekten Schweingruber Zulauf aus Zürich beauftragt. Die gesamte Anlage sollte an die aktuellen Tierhaltungsempfehlungen angepasst und zusätzlich erweitert werden. Gerade die Erweiterung erwies sich als problematisch, da der Zoo mitten in der Stadt liegt und keine neuen grossen Aussenbereiche erwerben kann. Um die Männchenanlage auf mindestens 500 m² und die Weibchenanlage auf mindestens 1000 m² erweitern zu können, mussten andere bestehende Anlagen verlegt oder entfernt werden. Dazu gehörten die Rentier- und Teile der Flusspferdanlage sowie diverse Volieren. Nach dem Abbruch der Anlagen wurde die bisherige Abgrenzung zum Birsig entfernt und die Grenzmauer näher am Fluss wieder aufgebaut. Von der neuen, 5 m hohen Aussenmauer werden die Besucher nach der Fertigstellung nur etwa 1 m wahrnehmen, da die Mauer vorgeschüttet und bepflanzt werden soll. Auch einige alte Bäume mussten dem Projekt bereits weichen, als Ersatz werden am neu gestalteten Ufer andere Bäume gepflanzt. Durch die Verschiebung der Zoobegrenzung um 1 bis 7 m konnten die Landschaftsarchitekten 220 m² Fläche für die Nashornanlage und die dazugehörige Erschliessung für Personen und Fahrzeuge gewinnen.

Entsprechend dem Landschaftsparkkonzept mussten Schweingruber Zulauf für die Gestaltung der neuen Aussenanlage eine ausgewogene Mischung von vegetativen Kulissen, Erschliessungszonen und Tieranlagen finden. Die Lage für die Männchen- und die Weibchenbereiche war weitgehend durch die Ein- und Ausgänge im Gebäude definiert. Die Landschaftsarchitekten entwickelten ein Aussenraumkonzept, das den BesucherInnen den Eindruck einer zusammenhängenden Anlage vermittelt und dennoch eigene Bereiche für Männchen und Weibchen bietet. Die Besucher betreten den Sautergarten durch die Unterführung und sollen sich zukünftig in einer Graslandschaft wiederfinden. Schweingruber Zulauf verwenden hochwüchsigen Chinaschilf (Miscanthus sinensis giganteus), der an die Graslandschaft in der Heimat der Nashörner erinnert und den Besuchern den direkten Blick auf die Tiere und die Gebäude vorerst versperrt.

Entsprechend der Zoophilosophie in Basel sollen die Gehege nicht durchblickt werden können. Die Zoobesucher können vielmehr in einzelne Lichtungen der künstlich geschaffenen Graslandschaft schauen, in der die Tiere leben. Mit der räumlichen Gliederung, den an das Grasland im Kaziranga erinnernden Grüninseln und den Sand- und Kiesbankformationen, die der Ufersituation am Bramaputra entlehnt sind, wollen die Landschaftsarchitekten den natürlichen Lebensraum des Nashorns glaubwürdig vermitteln. Die künstlichen Nagelfluhfelsen, die in allen Gehegen des Basler Zoos vorkommen und ein einheitliches Bild schaffen, werden im Zusammenspiel mit unterschiedlich hohen Gräsern und den Wasserflächen der Badestellen die natürliche Umgebung – Überschwemmungsland, Sumpf, Röhricht und Feuchtwiesen – wiedergeben. Ergänzt wird das «Grasland» durch einzelne Bäume, die den Besucherweg begrenzen. In die Anlage werden Totbäume eingesetzt, die auch in der Natur den Nashörnern unter anderem als Kratzstellen und zur Körperpflege dienen. Die Anlagen von Männchen und Weibchen sind grundsätzlich durch Barrieren im hinteren Bereich getrennt, müssen aber in der Paarungszeit auch zueinander geöffnet werden können. Ein grosses Wasserbecken mit diskreter Barriere wird beide Bereiche an der Oberfläche verbinden, damit die Tiere miteinander Kontakt aufnehmen können. Wie auch im Innenbereich wird der Boden aus einem lockeren Bodensubstrat bestehen, das der Tierpfleger dennoch gut und sicher begehen kann. Als Untergrund wird eine einschichtige Asphaltdecke eingebracht, in der Entwässerungsrinnen verlaufen und Bodeneinläufe liegen. Darauf liegt eine Drainageschicht, die Wasser ableitet und den Untergrund elastisch macht. Nach einer Reihe von Versuchen hat sich herausgestellt, dass der 40 cm starke Weichbelag zu einem grossen Teil aus Rindenschnitzeln und kalkfreiem Sand aufgebaut werden soll, in den Suhlen wird dünnflüssiger Opalinuston verwendet.

tierische wohngemeinschaft

Zusammen mit den Panzernashörnern werden Zwergotter und Muntjaks, eine asiatische Hirschgattung, die etwa einen halben Meter hoch wird, die Anlage bewohnen. Die unter-
irdischen Behausungen, die für die Kleintiere bereits im Zuge der Gebäudesanierung im Nashornhaus integriert wurden, sind mit der Aussenanlage über ein Röhrensystem verbunden. Auf den Vegetationsinseln haben die Muntjaks eigene Rückzugsbereiche, die die Nashörner nicht erreichen können. Ausserdem sind in den Grüninseln – wieder unsichtbar für die Besucher – drei beheizte Otterburgen integriert. Für die Zwergotter wird ein Bachlauf am Gehege entlanggeführt, damit die Tiere ein sauberes Fliessgewässer entsprechend ihrem natürlichen Habitat zur Verfügung haben. Hier wechseln sich, ähnlich wie in natürlichen Bächen, Tief- und Seichtwasserbereiche ab. Der künstlich geschaffene Bach hat eine naturnahe Sohle mit Lehmdichtung. Die Wasserbereiche speist der Rümelinbach an der Westgrenze des Sautergartens. Eine Schieberanlage soll den Zufluss für die Flusspferdanlage, den Bach und die Wasserbecken steuern. Die Haus- und Filtertechnik für das gesamte Asienbiotop fand im neuen Untergeschoss des Nashornhauses ihren Platz. Das Wasser der beiden innen liegenden Badebecken wird durch Überläufe und einen grossen Rüttelfilter, der grobe Bestandteile ausscheidet, in das Filter- und Ausgleichbecken geführt. Darin wird es gereinigt und erwärmt, um dann wieder in die Badebecken eingeleitet zu werden. Die Aussenanlagen werden nicht an die Reinigungsanlage angeschlossen, die abgesetzten Schlämme stattdessen periodisch entfernt. Die Wassertümpel und künstlich geschaffene Kiesbänke nutzen die Landschaftsarchitekten auch als Abgrenzung zum Besucherbereich. Die Tümpel sind an den Aussengrenzen der Anlage 1.50 m tief und damit unüberwindbar für die Tiere, wodurch auf sichtbare Zäune und Gräben verzichtet werden kann. Nur am Besuchereingang wird eine 2 m hohe Stützmauer nötig sein, diese wird aber durch die Vegetationsinseln in der Anlage weitestgehend verdeckt.

Die Erweiterung der Aussenanlage verspricht einen – den beengten Zooverhältnissen entsprechend – angemessenen Lebensraum für die Panzernashörner. Fertig gestellt werden soll der Nashornbereich im Herbst 2007 – und vielleicht ist der Basler Zoo bis dahin auch dem Wunsch nach dem Riesenpanda als Panzernashornnachbar am «Fuss des Himalayas» ein Stück näher gekommen.

TEC21, Mo., 2007.06.11



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tec21 2007|24 Zooarchitektur

04. Juni 2007Katinka Corts-Münzner
TEC21

Atlantropa

In den 1930er-Jahren plante Herman Sörgel, ein Architekt aus München, einen gigantischen Staudamm zur Energiegewinnung zwischen Marokko und Gibraltar. Das Mittelmeer sollte zum Verdunstungsbecken werden und der Atlantik zum Speichersee. Die Absenkung des Mittelmeers hätte viel Neuland geschaffen; die Kontinente wären mit einem zweiten Damm zwischen Sizilien und Tunesien verbunden worden. Afrika sollte bis zum Kongobecken für die Landwirtschaft bewässert – und für die Europäer «kultiviert» – werden.

In den 1930er-Jahren plante Herman Sörgel, ein Architekt aus München, einen gigantischen Staudamm zur Energiegewinnung zwischen Marokko und Gibraltar. Das Mittelmeer sollte zum Verdunstungsbecken werden und der Atlantik zum Speichersee. Die Absenkung des Mittelmeers hätte viel Neuland geschaffen; die Kontinente wären mit einem zweiten Damm zwischen Sizilien und Tunesien verbunden worden. Afrika sollte bis zum Kongobecken für die Landwirtschaft bewässert – und für die Europäer «kultiviert» – werden.

Herman Sörgel (1885–1952) bezeichnete sich selbst als Weltarchitekt. Er hatte zwar viele Schriften zur Architektur verfasst, aber wenig gebaut. 1927 widmete er sich erstmals seinem Grossprojekt, das ihm zu grosser Bekannheit in Europa und weltweit verhelfen sollte. Angeregt hatte ihn unter anderem der englische Schriftsteller Herbert George Wells, der Autor des 1895 erschienenen Romans «The time machine», der in seinem Buch «Outline of History» (1920) die Entstehung des Mittelmeers naturwissenschaftlich beschrieben hatte. Das heutige Meer habe in der glazialen Zeit aus mehreren innerkontinentalen Seen bestanden, die erst beim Rückgang des Eises und durch den ansteigenden Wasserspiegel untereinander und mit dem Atlantik verbunden wurden. Das einströmende Wasser des Atlantiks verhindert seitdem das Absinken des Wasserspiegels im Mittelmeer, dessen Zuflüsse aus Ebro, Rhone, Po, Nil und Schwarzem Meer dafür nicht genügen würden.

Warum sollte also diese Energie des beständig einströmenden Wassers nicht genutzt werden? Sörgel begann, Staudämme und Bauwerke zu entwerfen. Die beiden wichtigsten wurden die Staudämme bei Gibraltar und bei Sizilien (Bilder 1 bis 5). Ursprünglich sollte das Mittelmeer in mehreren Stufen um bis zu 500 m abgesenkt werden, schliesslich reduzierte Sörgel die Gesamtabsenkung auf 200 m und trug damit den Anforderungen der Schifffahrt Rechnung. Sörgel berechnete, dass der 14.2 km lange Damm bei Gibraltar aus 10 Mrd. m3 Gestein aufgeschüttet werden müsste und sich von Gibraltar über die seichtesten Stellen zwischen den Cabezos-Riffen über Tanger bis nach Marokko ziehen sollte. Am Meeresgrund wäre er 1600 m, an der Krone 100 m breit geworden. Eine zweite Staustufe plante Sörgel zwischen Sizilien und Tunesien. Die integrierten Wasserkraftwerke sollten gemeinsam mit den neuen Stauwerken an allen Flussmündungen den Strombedarf Europas decken (etwa 50.000 MW nahm Sörgel für das Kraftwerk in Gibraltar an).

Neue Städte und Häfen

Die Staudammplanungen zogen städtebauliche und organisatorische Probleme nach sich, für die Sörgel Lösungen finden musste. Nach der Senkung des Meeres hatten die Küstenstädte keinen Zugang zum Wasser mehr, der Wasserspiegel am Suez-Kanal war um 200 m gesenkt. Damit die Schifffahrtsrouten über Istanbul und Ägypten erhalten blieben, wurden auf dem Neuland Kanäle und grosse Staustufen angelegt. Ein Kanal führt zum Salzsee Choot el Djerid, der sich von der algerischen Grenze aus quer durch Tunesien nach Osten erstreckte und für das Stauprojekt ein Wassersammelbecken sein sollte. Ein weiterer Kanal stellte die Schiffsverbindung zum Schwarzen Meer sicher: Nach der Absenkung wurden Staustufen und Schiffsschleusen eingebaut, die das Marmarameer mit dem Ägäischen Meer durch einen kurzen Landkanal mit dem Xerxesgolf (heute Golf von Saros) verbanden. Damit die Städte, die bisher an der Küste lagen, weiterhin mit dem Schiff erreich­bar waren, mussten sie sich auf dem Neuland in Richtung Meer ausdehnen. Die bestehenden Hafenanlagen mussten an die Absenkung angepasst werden.

Für die Planung der Städte und einzelner zentraler Gebäude gewann Sörgel einige der wichtigsten deutschen Architekten des frühen 20. Jahrhunderts. Dazu gehörten Hans Poelzig, Fritz Höger, Emil Fahrenkamp, Ludwig Mies van der Rohe, Peter Behrens, Hans Döllgast und Erich Mendelssohn. Sie entwarfen für das Neuland neue Städte, Häfen und Wahrzeichen. Ferber Appel Architekten aus München planten das neue Genua (Bild 10), Döllgast und Sörgel den Unterhafen Port Said (Bilder 8 und 9) und Behrens den 400 m hohen Atlantropaturm bei der Nordschleuse des Gibraltarwerkes (Bild 6).

Venedig konservierte Sörgel als Kulturdenkmal. Dank einer Staumauer am südlichen Horizont veränderte sich die Wasserlinie nicht. Sörgel: «Venedig z.B. wird Binnenstadt; die Kanalisationsverhältnisse und die 25 Mio. m3 jährliche Sinkstoffe des Po zwischen Triest und Ravenna machen solche und ähnliche Städte in ihrer heutigen Form ohnehin zu Todeskandidaten.» (Sörgel 1929, S. 32) Und an einer anderen Stelle: «Der Damm, der diesen Stausee begrenzt, liegt 30 Kilometer vom Campanile San Marcos, dessen Loggia – 50 bis 60 Meter hoch – der höchste Aussichtspunkt von Venedig ist. Von der Loggia aus kann man den Damm nicht mehr wahrnehmen, so dass der Stausee wie das offene Meer wirkt.» (Zitat nach Voigt, S. 57)

In etwa 20 Jahren entstand eine enorme Menge an Einzelarbeiten und Bauprojekten, die mit dem Atlantropa-Projekt in Beziehung standen. Viele der Planungen sollten auf dem Neuland umgesetzt werden, das nach der Absenkung entstehen würde. Sörgel schreibt von 660200 km2 Neuland, einer Fläche grösser als Frankreich, Belgien und die Niederlande zusammen. Er war fest davon überzeugt, dass Afrika von den Europäern erschlossen werden musste, um kultiviert zu werden. In seiner weiterentwickelten Vorstellung des Kolonialismus ging es nicht mehr darum, einzelne Länder in Afrika zu beherrschen wie im Wettlauf um Afrika, der bis zum Ersten Weltkrieg zwischen den europäischen Staaten herrschte. Sörgel plante über die Ozeane hinweg und wollte durch die Vereinigung von Europa und Afrika zu Atlantropa einen wirtschaftlich mächtigen Weltteil – mit dem Zentrum im alten Karthago – zwischen Amerika und Asien schaffen.

Wasser für Afrika

Mit dem Wasser, das an den Staustufen Strom erzeugen sollte, hatte Sörgel noch weitere Pläne. Es sollte entsalzt, aufbereitet und in die Sahara geleitet werden, damit dort Plantagen entstehen konnten (Bilder 11 bis 13). Die Ernte aus dieser neuen «Kornkammer Europas» sollte – wie zu Zeiten der römischen Kaiser – in erster Linie Europa ernähren. Die «Goldenen Zwanziger» liessen einen gleichzeitigen Anstieg von Wohlstand und Bevölkerung erahnen. Weiteres aufbereitetes Wasser leitete Sörgel in Kanälen nach Zentralafrika. Hier plante Sörgel ein weiteres Grossprojekt, die Flutung des Kongobeckens. Der künstliche See sollte ganz Afrika mit Trinkwasser versorgen. Durch die natürliche Verdunstung sollten laut Sörgel Wolken entstehen, die sich in der Umgebung abregneten und dadurch den Boden fruchtbarer machten. Nach einiger Zeit, so meinte er, könnte sich das tropische Klima abkühlen und Afrika wieder ein grüner Kontinent werden. Sörgel: «Die Wiederbegrünung dieses gesegneten Weltteiles könnte die Kriegs- und Mordlust der Europäer für Jahrhunderte in Aufbauarbeit umwandeln. [...] Der Wille zur Tat wäre das grösste, aussichtsreiche Kulturwerk der Menschheit des 20. Jahrhunderts.» (Sörgel 1929, S. 36) Eines seiner Hauptaugenmerke galt der Vergrösserung des Lebensraumes für die Europäer – es ging dem technokratisch denkenden Sörgel nicht um ein humanitäres Projekt. Dass sein Projekt auch negative Auswirkungen auf das Klima haben könnte, glaubte Sörgel nicht: «Über den mutmasslichen Klimawechsel, über Vulkanausbrüche oder gar die ‹Verlagerung der Erdachse› – wie manche unken – brauchen wir uns wahrhaftig keine Sorgen zu machen. Die Erdkugel wird keinen Schaden leiden. Der Zustand, der durch Ausführung des Projektes geschaffen werden soll, hat ja schon einmal in grauer Vorzeit bestanden. Ausserdem hat man es in der Hand, bei jedem beliebigen Niveau die weitere Senkung einzustellen.» (Sörgel 1929, S. 32)

Vergessene Vision

Genau 80 Jahre ist es her, dass Sörgel sein Projekt Atlantropa, eines der grössenwahnsinnigsten Bauprojekte der Menschheit, begann. Die Träume und Vorstellungen Sörgels sind längst überholt, was die politische Landkarte und die Technikgläubigkeit betrifft. Mit der Energieproblematik, die sein Projekt lösen wollte, beschäftigen wir uns aber stärker denn je.
Im Grössenvergleich mit den Atlantropa-Dämmen ist die chinesische Drei-Schluchten-Talsperre zwar klein, doch Asien hat noch einige Projekte in der Schublade: so zum Beispiel die Rogun-Talsperre in Tadschikistan (3600 MW) und die chinesischen Projekte Jinping (3600 MW), Xiaowan (4200 MW), Laxiwa (3700 MW) und Xiluodu (12600 MW). Sie entsprechen zusammen immerhin fast der Hälfte der Leistung des Staudamms bei Gibraltar.

Bis zu seinem Tod 1952 beschäftigte sich Sörgel mit Atlantropa. Er fand immer wieder berühmte Mitstreiter, die wie er an die unbegrenzten Möglichkeiten der Technik glaubten. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde das Projekt zwar geduldet, aber nicht unterstützt. Wolfgang Voigt, der im Rahmen einer Forschungsarbeit den Nachlass Sörgels aufarbeitete, schreibt dazu: «Einige Anhänger Atlantropas wünschten sich ebenso wie manche Nationalsozialisten die Adoption des Projekts durch das ‹Dritte Reich› und hofften das Reich werde sich nach einem endgültigen Sieg im Osten dem Mittelmeer-Projekt zuwenden.» (Voigt 1998, S. 107)

Herman Sörgel gründete 1942 in München das Atlantropa-Institut in der Hoffnung auf ­einen offiziellen Forschungsauftrag. Er hielt Vorträge über seine Arbeit und zeigte sie in Ausstellungen in München, Essen, Dresden, Hamburg und Zürich. Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion und der Niederlage der Rommel-Truppen in Nordafrika verschwand das Thema Afrika bei den Nazis. Nach dem Zweiten Weltkrieg fand Sörgel bis 1948 rund 1200 Fördermitglieder für das Atlantropa-Institut, darunter Industriekonzerne wie Krupp, Mannesmann, Hochtief und Stinnes, wodurch das Projekt nochmals kurz aufblühen konnte. Nicht nur die kriegsgeschädigte Bevölkerung, sondern auch die Vereinten Nationen in New York waren von Sörgels Vorschlag für ein friedliches Zusammenleben der Völker beeindruckt. Die Amerikaner interessierten sich zudem für die Rohstoffreserven in Afrika, die mit dem Projekt erschlossen wurden. Auch afrikanische Politiker wie der Parlamentspräsident der Mali-Föderation Léopold Sédar Senghor schlossen sich dem Projekt an. Zu den Werbemassnahmen gehörten eine Atlantropa-Zeitschrift (ab 1946) und ein Werbefilm (1950), der in deutschen und ausländischen Kinos gezeigt wurde.

Als Sörgel 1952 starb, verblasste auch das Projekt. Es gab keine treibende Kraft mehr, die zeitweiligen Mitstreiter hatten meist nur an einzelnen Teilprojekten gearbeitet. Gleichzeitig wurde die Kernkraft zum neuen Hoffnungsträger in der Energiepolitik. Das Atlantropa-Institut wurde 1958 aufgelöst. Die Utopie eines Mittelmeerstaudammes, einer unerschöpflichen Energieversorgung für Europa und einer Klimaveränderung für Afrika schlummert heute in 45 Schachteln im Archiv des Deutschen Museums in München.

TEC21, Mo., 2007.06.04



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tec21 2007|23 Gestaut

14. Mai 2007Katinka Corts-Münzner
TEC21

Scharnier

Das alte Schulhaus war gut und funktionierte noch immer –
das wusste die Schulleitung, das erkannten die Architekten. Doch die Schule brauchte dringend mehr Räume für die Ausbildung. Wie erweitert man geschickt im Bestand, ohne Bestehendes zu beschädigen oder gar zu zerstören?

Das alte Schulhaus war gut und funktionierte noch immer –
das wusste die Schulleitung, das erkannten die Architekten. Doch die Schule brauchte dringend mehr Räume für die Ausbildung. Wie erweitert man geschickt im Bestand, ohne Bestehendes zu beschädigen oder gar zu zerstören?

Der Architekt Carl Franz Spinas baute die Schulanlage Giacometti 1978 / 79 in Chur. Bis 2006 wurde das Ensemble kaum verändert. Zwei unterschiedlich hohe Gebäuderiegel umschliessen
einen rechteckigen Pausenhof an drei Seiten, in Richtung Süden ist die Anlage offen. Im L-förmigen Schulhaus sind Unterrichtsräume, im zweiten Trakt Turnhalle und Aula untergebracht. Nachdem das Gebäude fast 30 Jahre lang als Sekundar- und Realschule genutzt worden war, sollte es erweitert werden. Die Stadt brauchte ein grösseres Schulhaus, um die Oberstufe von bisher vier Standorten auf drei konzentrieren zu können. Im Herbst 2004 nahm die Churer Stimmbürgerschaft die Oberstufenreform an und beschloss damit die Erweiterung des Schulgebäudes mit Klassenzimmern, Werkräumen und einer Schulküche.

Am 2004 ausgeschriebenen offenen Projektwettbewerb nahmen 44 Architektenteams teil (vgl. TEC21, 39 / 2004). Schon die Palette der Entwürfe – von freistehenden Einzelbauten über unterschiedlich hohe Aufstockungen auf dem Altbau bis zu Eingriffen an mehreren Stellen gleichzeitig – machte deutlich, welche Herausforderung die Bauaufgabe war. Und wie schwierig es werden würde, diese ohne grössere Störungen des Schulalltags zu bewältigen.

Ein neues Gelenk

Der Siegerentwurf von Claudia Drilling aus Trin und Adrian Christen aus Chur setzt an der Nahtstelle zwischen den beiden Schulgebäuden an. Der Neubau sollte so gesetzt werden, dass das bestehende Gefüge nicht gestört, sondern logisch erweitert wird. Der gewählte Standort zwischen den bestehenden Schulteilen hat nicht nur betriebliche Vorteile, da der Neubau so zum Verbindungsglied werden konnte. Auch die eingewachsenen Grünräume der Aussenanlage im Osten, Süden und Westen blieben erhalten, und die weite Öffnung des zentralen Pausenhofes nach Süden wurde so nicht gestört. Mit dem Neubau konkurrenzieren die Architekten den bestehenden Schulbau nicht, sondern ergänzen die gestufte Kubatur um ein Element. Die Erweiterung planten sie nicht auf dem Niveau des Altbaus, sondern um ein halbes Geschoss nach
unten versetzt. Dank diesem Versatz ist nun auch der östliche Gebäudetrakt vom Pausenhof aus direkt zugänglich, was die Abläufe im Gebäude vereinfacht.

Übertragene Formensprache

Die Architekten erweiterten den Schultrakt oberirdisch um drei Geschosse und schufen im Untergeschoss einen Durchgang zum Turnhallentrakt. So wie beim Altbau, der aus Einzelbauten mit Ausstülpungen und Versprüngen besteht, sollte der Versatz auch im neuen Gebäude spürbar werden. Auch in den Proportionen, den Formen und der ziegelroten Färbung nimmt der Neubau Bezug auf den Altbau.

Merkmale des Altbaus sind die abgeschrägten Kanten, die tiefen Laibungen und die schnörkellose, grob verputzte Fassade. Im Neubau wollten Drilling und Christen die Elemente wieder verwenden, diese aber zeitgemäss interpretieren: Die freistehenden Hausecken rundeten sie dafür ab. Die an sich unspektakulär aufgebaute Fassade des Neubaus erhielt durch abgesetzte Brüs­tungen und tiefe Laibungen eine besondere Lebendigkeit. Verstärkt wird diese Wirkung durch die ungleichmässige Oberfläche der Fassade. Die Architekten wollten für den Neubau eine Oberfläche, die ähnlich handwerklich wie der grobe Zementputz am Altbau wirken sollte, in Aufwand und Kosten aber verträglich mit der heutigen Zeit und gegenüber der Bauherrschaft vertretbar sein musste. Sie entschieden sich für eine Brettschalung, wie sie für die Entstehungszeit des Altbaus typisch war, und entwickelten eine neue Schalungsplatte nach altem Vorbild. Dafür wurden mit CNC-Maschinen in Dreischichtplatten 1.5 mm tiefe Absätze mit den Oberflächen einzelner, nebeneinander liegender Holzbretter eingefräst. Die Breite der «Bretter» und die Lage der «Stösse» wählten die Architekten dabei so, dass sie dem Fassadenraster entsprechend abschlossen. Die Etagen konnten mit den verbundenen Schalungstafeln am Stück gegossen werden, für das nächste Geschoss wurden die Tafeln ohne Versatz darüber angesetzt. Selbst für die abgerundeten Ecken setzten sie keine Fertigteile ein, sondern liessen die Schalungen einzeln anfertigen.

Die getrocknete, rohe Betonoberfläche liessen die Architekten in der gleichen ziegelroten Farbe lasieren, die in den 1970er-Jahren auf den Zementputz des bestehenden Schulbaus aufgebracht worden war. Mit dem Entscheid gegen durchgefärbten Beton und für eine auch Kosten sparende matte Lasur konnten Farbabweichungen vermieden werden, die beim Anmischen des Betons hätten entstehen können. Das Resultat überzeugt, die Farbe ist homogen, gleicht kleinere Unregelmässigkeiten der Betonoberfläche aus und wirkt dennoch nicht wie eine Übermalung der Holzmaserung.

Bewusst abgesetzt

So sehr sich der Neubau dem Altbau äusserlich annähert, so weit entfernt er sich in der Innenraumgestaltung. Die Zimmer und Gänge des Altbaus wirken eher düster. Im Neubau arbeiteten die Architekten mit hellen Farbtönen, grossen, offenen Zimmern und grosszügigen Zwischenräumen. In den vier Geschossen des Neubaus sind jeweils drei zweiseitig belichtete Klassenzimmer untergebracht, die über einen grossen Vorraum erschlossen werden. Dieser war in den Entwurfsplanungen noch als variabel nutzbarer Raum gedacht, was auch die Fachjury des Preisgerichts als «schulbetrieblich sinnvoll» bezeichnete. Dieser Vorraum wurde dann zwar in der geplanten Kubatur gebaut, konnte aber nur minimal bestuhlt werden, weil ihn die Feuerpolizei dem Fluchtbereich zuordnete. Besonders schade ist das in den Obergeschossen, wo die Zimmer von der Gemeinschaftszone ohne störenden Durchgangsverkehr profitieren könnten.

Auf allen Ebenen setzten die Architekten auf ein einfaches, die Räume optisch miteinander verbindendes Farbkonzept: Sie verwendeten beige eingefärbten und geölten Fliessestrich als Boden für die Erschliessungsräume und naturbelassene, also beigefarbene, doppelformatige Faserzementplatten an den Decken. Dazwischen verlaufen die weiss gestrichenen Wände und Türen als durchgehendes Band. In den Schulzimmern und der Schulküche wurde ein farblich ab­gestimmter, aber günstigerer Linoleumboden verlegt. Nur in der Werkstatt setzten die Architekten auch den langlebigen Zementestrich ein, um der höheren Beanspruchung Rechnung zu tragen.

Im Untergeschoss schliesst der Neubau an den Sporttrakt an. Der verbindende Gang ist zur Innenhofseite hin massiv ausgebildet, auf der gegenüberliegenden Seite verglast mit Durchgang zum neu gestalteten Pausen- und Sportbereich. Vor der Erweiterung war diese Fläche ungünstig und unattrativ über eine schmale Stiege erschlossen. Heute erreichen die SchülerInnen den Sportplatz über eine breite Treppe, die am Neubau entlangführt. Zwischen Neubau und Sportbereich fand ein kleiner bekiester Pausenhof mit Holzbänken und Ahornbäumen Platz.

Für die Schulanlage war es ein guter Entscheid, den Neubau als eine Art Gelenk zwischen die bestehenden Bauten zu setzen. Der Betrieb im Schulgebäude wurde nur minimal gestört und der Neubau in nur einem Schuljahr fertig gestellt. Die Anlage hat durch die Erweiterung kein völlig neues Gesicht erhalten. Vielmehr wurde der vertraute Charme der 1970er-Jahre neu interpretiert, wodurch eine hellere und frischere Stimmung auf dem Gelände eingezogen ist.

TEC21, Mo., 2007.05.14



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Erweiterung Oberstufenschulhaus Giacometti



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tec21 2007|20 Schulausbau

Sondermülldeponie Kölliken

Mehr als 20 Jahre nach ihrer Schliessung soll im November dieses Jahres der Rückbau der Sondermülldeponie Kölliken, der grössten Altlast der Schweiz, beginnen. Bis Ende 2012 werden rund 550 000 Tonnen Abfälle sowie verunreinigter Untergrund abgetragen und entsorgt. Der Aufwand, um dabei jegliche Emissionen in die Umwelt zu vermeiden, ist enorm.

Mehr als 20 Jahre nach ihrer Schliessung soll im November dieses Jahres der Rückbau der Sondermülldeponie Kölliken, der grössten Altlast der Schweiz, beginnen. Bis Ende 2012 werden rund 550 000 Tonnen Abfälle sowie verunreinigter Untergrund abgetragen und entsorgt. Der Aufwand, um dabei jegliche Emissionen in die Umwelt zu vermeiden, ist enorm.

Als die Sondermülldeponie im aargauischen Kölliken (SMDK) 1978 eröffnet wurde, galt sie als eine Pionierleistung für den Umweltschutz. Denn mit der Möglichkeit für eine geordnete Ablagerung umweltschädlicher und giftiger Abfälle aus Industrie und Gewerbe sollte die wilde und illegale Entsorgung eingedämmt werden. Doch schon 1985 – die Deponie war gerade erst zu zwei Dritteln gefüllt – verfügte der Gemeinderat Kölliken nach anhaltenden Protesten der Anwohner wegen Geruchs- und Staubbelastungen die Schliessung der Deponie. Erst danach stellte sich heraus, dass ausserdem schadstoffbelastetes Sickerwasser aus der Deponie permanent in den Untergrund vordringt und damit den nur 30 m im Abstrom der Deponie liegenden Grundwasserleiter, die so genannte Kölliker Rinne, gefährdet (Bild 3). Das einstige Vorzeigeprojekt entpuppte sich als grösste Altlast der Schweiz, wurde zum Medienskandal und zum Politikum.

Fehlende Erfahrungen mit Deponien

250 000 m³ Sonderabfälle aus der Schweiz, Deutschland und Italien waren in der ehemaligen Tongrube ohne jegliche Basisabdichtung direkt auf dem Molassegestein abgelagert worden. Als einzige Schutzmassnahme gegenüber dem Untergrund wurde ein rudimentäres Drainagesystem in die Deponiesohle eingebaut (Bild 1). Es gab auch kein Gasfassungssystem, sodass die beim biologischen Abbau der Abfälle entstehenden Gase ungehindert entweichen konnten. Dies entsprach dem damaligen Stand der Technik, als man noch kaum Erfahrungen mit dem Bau von Deponien hatte. In der Deponie wurden die verschiedensten Sonderabfälle durcheinander abgelagert, beispielsweise schwermetallhaltige Galvanikschlämme, Salzschlacke aus dem Aluminium-Recyc­ling, ölverschmutztes Aushubmaterial und Produktionsrückstände der chemischen Industrie. Die problematischsten Abfälle in Kölliken sind leichtlösliche Salze und chlorierte Kohlenwasserstoffe, die über Sickerwasser bzw. Ausgasung in die Umwelt gelangen.
In den letzten Jahren setzte das Konsortium Sondermülldeponie Kölliken, an dem die Kantone Aargau und Zürich mit je 412⁄3% sowie die Stadt Zürich und die Basler Chemiegruppe mit je
81⁄3% beteiligt sind, alles daran, vom Buhmann wieder zum Musterknaben zu werden. In den kommenden Jahren wird die Deponie rückgebaut, sodass in knapp zehn Jahren ein völlig unbe­­-las­tetes Areal für eine neue Nutzung zur Verfügung stehen wird.

Nachträgliche Sicherungsmassnahmen

Diskutiert hatte man den Rückbau der Deponie zwar schon seit Jahren, lange galt er jedoch als technisch und finanziell nicht machbar. Stattdessen arbeitete man in den Jahren nach der Schliessung der Deponie an nachträglichen Sicherungsmassnahmen. Im Vordergrund stand dabei einerseits die Fassung der Deponiegase, unter deren Gestank die Anwohner litten. Dafür wurden über den gesamten Deponiekörper verteilt Rammsonden installiert. Die gesammelten Gase werden seitdem in zwei Hochtemperaturöfen bei 900°C verbrannt.

Der zweite Schwerpunkt bei der Sicherung der Deponie lag auf hydraulischen Massnahmen, um das verschmutzte Sickerwasser in den Griff zu bekommen (Bild 4). So wurde die Deponieoberfläche abgedeckt, um das Eindringen von Niederschlagswasser zu unterbinden. Ausserdem wurde eine Hang-Drainage auf der Nordseite oberhalb der Deponie gebaut (Abschirmung Nord), mit der aus den oberen Bodenschichten in die Deponie fliessendes Wasser in den Vorfluter abgeleitet werden kann. Eine weitere hydraulische Abschirmung im Abstrom der Deponie (Abschirmung Süd) fasst einen grossen Teil des trotzdem noch anfallenden Sickerwassers. Sie besteht aus 130 vertikalen Drainagebohrungen im Abstand von 4 m, welche die Deponie auf der Südseite u-förmig umfassen. Im Fussbereich der Brunnenreihe verläuft ein rund 600 m langer, begehbarer Werkstollen (Bild 2), in dem das gefasste Wasser über ein Rohrsystem zur Deponie-eigenen Kläranlage geleitet wird.
Wie wirksam diese Massnahmen sind, wird mit mehr als 200 Piezometern (Beobachtungsrohren) im Umfeld der Deponie überprüft. In den Piezometern werden gewisse Leitparameter für die Wasserqualität permanent überwacht. Ausserdem werden regelmässig Proben für umfassende Analysen im Labor entnommen. Gemäss den Messergebnissen scheinen momentan keine Schadstoffe mehr aus der Deponie auszutreten. Im Gegenteil sind die Verschmutzungswerte im Umfeld der Deponie seit Inbetriebnahme der Abschirmung Süd deutlich zurückgegangen. Für den Fall, dass trotzdem der Durchbruch von verschmutztem Sickerwasser bis in den Grundwasserleiter der Kölliker Rinne festgestellt werden sollte, wurde eine Interventionsmöglichkeit geschaffen: In der Kölliker Rinne wurden quer zur Strömungsrichtung 14 Pumpbrunnen als hydraulische Bar­riere eingebaut. Damit könnte verunreinigtes Grundwasser komplett abgepumpt werden, sodass keine Gefahr für das 4 km stromabwärts gewonnene Trinkwasser besteht.

Planung der Gesamtsanierung

So gesichert hätte man die Deponie im Grunde die nächsten Jahrzehnte oder Jahrhunderte weiterbestehen lassen können. Allerdings hätte man damit auch das nach wie vor bestehende Risiko für Schadstoffaustritte in die Umwelt an künftige Generationen vererbt sowie die Verpflichtung, die technisch und finanziell aufwändigen Sicherungsmassnahmen permanent weiter zu betreiben. Dies lässt die seit 1998 gültige Altlastenverordnung des Bundes jedoch nicht mehr zu. Das Konsortium der SMDK suchte daher 1999 mit einem international ausgeschriebenen Ideenwettbewerb nach Möglichkeiten für eine komplette Sanierung der Deponie. Die besten Ideen aus vier ausgewählten Studien führte die österreichische Ingenieurgemeinschaft ASA Inerta / GUT bis Ende 2001 in einem Vorprojekt zusammen. Es zeigt, dass der Rückbau mittlerweile technisch möglich und die ordnungsgemässe Entsorgung der ausgehobenen Inhaltsstoffe realisierbar ist. Daraufhin wurde der Ingenieurgemeinschaft URS, Deutschland / Basler & Hofmann, Zürich, der Auftrag für die Erarbeitung eines Sanierungs- und Bauprojektes erteilt. Im Juni 2003 erliess die Abteilung Umwelt des Kantons Aargau die Sanierungsverfügung. Ziel ist es, alle abgelagerten Abfälle vollständig auszuräumen und zusätzlich den Untergrund der Deponie so weit abzubauen, dass von ihm keine wesentlichen Schadstoffemissionen mehr ausgehen können. Im Juli 2004 wurde die Baubewilligung erteilt und im März 2005 mit den Bauarbeiten begonnen.

Umfassender Schutz von Mensch und Umwelt

Die Sicherheitsvorkehrungen, um bei diesem Projekt in bewohntem Gebiet (Bild 8) die Belas­tungen der Anwohner mit Gestank, Staub und Lärm zu minimieren, sind enorm. Das gesamte Deponieareal wird mit drei Hallen überdacht (s. Kasten S. 18 und Bild 9): der Abbauhalle, der Manipulationshalle und der Lagerhalle. Die Lagerhalle kommt im östlichen, nicht mit Abfall verfüllten Teil des Deponiegeländes zu stehen. Im Untergeschoss befindet sich der Wasserkeller mit verschiedenen Becken. Ein Regenrückhaltebecken sorgt dafür, dass der Dachabfluss von den Hallendächern dosiert in den Vorfluter abgegeben wird. Ein weiteres Becken beinhaltet einen Vorrat an Löschwasser für den Brandfall, das nach Gebrauch in einem dritten Becken aufgefangen und der Kläranlage zugeführt werden kann. In der Lagerhalle kann die Abbaumenge von mehreren Tagen in Spezialcontainern verpackt für den Abtransport zwischengelagert werden (Bild 12).

Im Anschluss an die Lagerhalle wird die Manipulationshalle errichtet. Da sie bereits im verfüllten Teil der Deponie steht, wird sie in einer ersten Phase als Abbauhalle genutzt und erst nach Ausräumen der Sonderabfälle zur eigentlichen Manipulationshalle umgebaut.
Die grösste Halle ist die Abbauhalle, die sich an die Manipulationshalle anschliesst. Hier wird im November dieses Jahres mit dem Rückbau begonnen.

In allen Bereichen, in denen die Sonderabfälle offen liegen, den so genannten Schwarzbereichen, sorgen umfangreiche Schutzmassnahmen dafür, dass weder die Beschäftigten in Kontakt mit den Schadstoffen kommen noch Schadstoffe in die Umwelt entweichen können. In den luft- und staubdichten sowie lärmgedämmten Hallen herrscht ein permanenter Unterdruck. Zugänglich sind sie nur über Unterdruckschleusen. Die Beschäftigten arbeiten mit Schutzkleidung und Atemschutzgeräten bzw. die Geräteführer in luft- und staubdichten Fahrerkabinen mit eigener Atemluftversorgung. Die Abluft aus den Schwarzbereichen wird abgesaugt und in einer dreistufigen Abluftreinigungsanlage – bestehend aus Partikelfilter und zwei Aktivkohlefiltern – gereinigt. Auch die Abluft aus den Weissbereichen, also den Bereichen, wo der Sondermüll bereits geruchsdicht verpackt ist, wird einstufig über einen Aktivkohlefilter geleitet. Sämtliches Schmutzwasser, das in der Deponie anfällt, wird weiterhin in der Deponie-eigenen Kläranlage gereinigt.

Ablauf des Rückbaus

Um die gesamte Deponie rückzubauen, müssen schätzungsweise 545 000t Material ausgehoben werden. Davon sind 375 000t Sondermüll, 75 000t verunreinigtes Material von der Deponiesohle und 95 000t von der Oberflächenabdichtung. Vorgesehen ist, pro Tag 500t des in Fässern, Säcken sowie lose eingelagerten Sondermülls lagenweise von oben nach unten abzutragen (Bild 10). Die Deponiesohle soll bis durchschnittlich 1 m Tiefe ausgehoben werden. Gearbeitet wird dabei mit Baggern mit angehängten Tieflöffeln, Fassgreifern, Big-Bag-Greifern, Gabeln und Ladeschaufeln. Loses Material wird über Förderbänder in die Manipulationshalle transportiert und dort nach Augenschein zu Chargen mit gleichartigem Material zusammengefasst. Geborgene Fässer und Säcke werden in Transportwannen gestellt, auf eine horizontale Förderanlage gehoben und ebenfalls in die Manipulationshalle transportiert. Hier werden alle Chargen mit Robotergeräten beprobt und im Labor analysiert. Entsprechend den Analyseergebnissen werden die Abfälle dann geeignet verpackt und beschriftet und einem der Entsorgungswege zugewiesen (Bild 11).

Ein grosser Teil des Deponiematerials wird dabei mit der Bahn zu den Entsorgungseinrichtungen im In- und Ausland transportiert. Dafür erhält die Deponie einen eigenen Bahnanschluss. Da dieser aber erst nach Abschluss des Rückbaus im Bereich der Manipulationshalle gebaut werden kann, wird das Deponiegut in der ersten Sanierungsphase mit LKW abtransportiert.

Entsorgung

Ein Teil des ausgehobenen Materials kann rezykliert werden, beispielsweise in der Bodenwaschanlage ESAR in Rümlang, in Anlagen für Schlackenrecycling und in thermischen Bodenbehandlungsanlagen. Der Rest wird in Sondermüll- oder Kehrichtverbrennungsanlagen verbrannt bzw. in Rest- und Inertstoffdeponien sowie in Untertagedeponien eingelagert. Welche Anteile wie und wo entsorgt werden, lässt sich bisher nur grob abschätzen, da die Abfälle bei der Ablagerung nur ungenau dokumentiert wurden und zwischenzeitlich auch Querkontaminationen durch das in die Deponie eindringende Wasser stattgefunden haben. Ganz anders nun beim Rückbau: Der Weg der Abfälle wird von der Abbaustelle über die Analyse bis zur Entsorgung minutiös in einem Deponiemanagementsystem erfasst.

Genau überwacht werden während der Sanierung auch alle möglichen Emissionen in die Umwelt. So wird das Grundwasser mittels des bestehenden Messstellennetzes beobachtet. Die Abluft und die Luftqualität im Nahbereich der Deponie werden permanent kontrolliert, Erschütterungen und Lärm bei Bedarf gemessen sowie Böden und Pflanzen im Einzugsgebiet der Deponie beobachtet.
Ist die Deponie Ende 2012 fertig geräumt, wird mit einer Rasterbeprobung überprüft, ob wirklich alle Schadstoffe beseitigt wurden. Anschliessend werden die Hallen demontiert und das ehemalige Deponiegelände mit einer 50cm mächtigen Bodenschicht vorläufig rekultiviert. Die endgültige Auffüllung und Rekultivierung erfolgt erst nach einer Überwachungsphase von 3 bis 5 Jahren, in der man vor allem beobachtet, ob noch Schadstoffe ins Grundwasser gelangen.

Kosten

Die Gesamtsanierung der Deponie in Kölliken lässt sich das Konsortium einiges kosten: schätzungsweise 445Mio.Franken. Auf zusätzliche 140Mio.Franken belaufen sich die Kosten, die seit
der Schliessung für den Betrieb und den Bau der Sicherungsmassnahmen angefallen sind.

Daneben nehmen sich die Einnahmen während der Betriebszeit der Deponie fast schon lächerlich aus: 50 bis 70Franken kostete die Entsorgung eines Kubikmeters Abfall. Bei 250 000 m³ eingelagertem Sondermüll macht das rund 15Mio.Franken, von denen nach Schliessung der Deponie noch knapp 2Mio. als Rückstellungen zur Verfügung standen.

TEC21, Mo., 2007.02.26



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tec21 2007|09 Belastendes Erbe

04. Dezember 2006Katinka Corts-Münzner
TEC21

Schrumpfende Stadt, wachsende Parks

Leipzig steht über 15 Jahre nach der Wende noch immer im Umbruch und kämpft mit Wachstum und Schrumpfung auf dem Stadtgebiet. Mit den baulichen Strukturen bröckeln auch die sozialen. Die Stadtverwaltung setzt besonders im Osten der Stadt auf ein neues Konzept, mit dem brachliegende private Flächen zeitlich befristet als öffentlicher Freiraum genutzt werden dürfen. Grund­eigentümer haben der Stadt bereits mehr als 150 Flächen «geliehen». Leipzig wird attraktiver.

Leipzig steht über 15 Jahre nach der Wende noch immer im Umbruch und kämpft mit Wachstum und Schrumpfung auf dem Stadtgebiet. Mit den baulichen Strukturen bröckeln auch die sozialen. Die Stadtverwaltung setzt besonders im Osten der Stadt auf ein neues Konzept, mit dem brachliegende private Flächen zeitlich befristet als öffentlicher Freiraum genutzt werden dürfen. Grund­eigentümer haben der Stadt bereits mehr als 150 Flächen «geliehen». Leipzig wird attraktiver.

Leipzig ist mit seinem Grünflächenanteil von etwa 50% und einem Waldanteil von 7% eine der grünsten Städte Deutschlands. Früher war Leipzig eine der kompak­-t­esten Grossstädte, erst seit den Eingemeindungen bis 1999 ist es eine der flächengrössten Städte. Seit 2000 nimmt der Grünanteil stetig zu, da viele unbebaute und brachliegende Flächen zu Grün- und Freiflächen umgenutzt werden. Ziel ist es, sowohl die Standort- als auch die Lebensqualität und die Wettbewerbsfähigkeit der Stadt zu verbessern. Nach 1945 verlor Leipzig in der sowjetisch besetzten Zone an wirtschaftlicher Bedeutung. Die Wohngenossenschaften bauten neue Siedlungen am Stadtrand, die Altbauten der Gründerzeit im Zentrum verfielen.
Bei der Wende 1989 war die Infrastruktur Leipzigs vollständig sanierungsbedürftig. Die ökologische Situation war durch den Braunkohleabbau im Süden und die verschlissenen Industrieanlagen im Allgemeinen katastrophal. Bis Ende der 1980er-Jahre verliessen 200000 Bewohner die Stadt, nach 1990 waren es weitere 80000 in nur acht Jahren. Etwa 50000 Arbeitsplätze im ­verarbeitenden Gewerbe wurden mit den politischen und den wirtschaftlichen Veränderungen abgeschafft. 1300 ha der physischen Baustruktur in den Wohn- und Arbeitsbereichen blieben als Brachlandschaft zurück.
Wegen ihrer Funktion als Handels- und Messestadt in der Vorkriegszeit wurde Leipzig nach der Wende mit
7 Mrd. DM pro Jahr im privaten Sektor der zentrale Investitionsschwerpunkt in Ostdeutschland. Die Bundespolitik förderte den Neubau von Bürohäusern. Dabei waren 1990 mehr als 75% der 260000 Wohnungen – darunter fast alle des gründerzeitlichen Bestands – sanierungsbedürftig. Diese hätten in vielen Fällen für eine gemischte Nutzung umgebaut werden können. Die Neubauten hingegen führten zu einem problematischen Überangebot an Büroflächen. In Westdeutschland erprobte Planungsinstrumente wurden dabei unverändert auf das ostdeutsche Leipzig übertragen. Das wachstumsorientierte Modell eignete sich aber nur bedingt für eine Stadt in Transformation, in der Schrumpfen und Wachsen gleichzeitig verlaufen. So entstanden viele staatlich subventionierte Neubauvorhaben auf der grünen Wiese. Auch gewerbliche Nutzflächen wurden neu geschaffen, obwohl an den bisherigen innerstädtischen Industriestandorten mehr als genug Möglichkeiten und Fläche vorhanden waren. Das schwächte die Position der Innenstadt im Wettbewerb sehr. 1991, 1993 und 1999 entwickelte die Stadt als Reaktion auf diese Entwicklungen ein Einzelhandels- und Stadtteilzentrenkonzept sowie einen «Stadtentwicklungsplan Zentren». Das Stadtzentrum sollte fortan wieder gestärkt werden und einen Gegenpol zu den äusseren Zentren bilden. Neue Einzelhandelseinrichtungen waren prinzipiell möglich, durften aber funk­tionierende Stadtteile nicht gefährden.
Für den Stadtumbau waren angepasste Instrumentarien notwendig, um die Dualität von Wachstum und Schrumpfung in den verschiedenen Stadtteilen mittel- bis langfristig zu organisieren. Neben den Zielen mussten aber auch eine klare Wegbeschreibung geleistet und Instrumente geplant werden. Die Stadt investierte intensiv in drei Bereiche, so genannte neue «Stadtbausteine»: in das wirtschaftliche «Aktivband» im Norden, in die Umstrukturierung der urbanen Kerne mit den Gründerzeitbauten sowie in ein attraktives Gewässernetz in den ehemaligen Braunkohlegruben im Süden der Stadt (siehe tec21 3-4/2006).

Brennpunkt: der Leipziger Osten

Leipzig hat sehr grosse zusammenhängende Wohnquartiere aus der Gründerzeit. Zu DDR-Zeiten waren aber die moderneren Arbeiterquartiere ausserhalb des Zent­rums entstanden. Die unsanierten Gründerzeitblöcke, die zwar den Krieg überstanden hatten, aber keine zeitgemässen Installationen aufwiesen, standen bald leer – und Ende der 1980er-Jahre vor dem flächenhaften Abriss. Besonders die östlichen Stadtteile, die traditionell dicht bebaut und gemischt genutzt wurden, waren nach der Wende baulich und sozial in schlechtem Zustand. Der hohe Leerstand verhinderte eine positive Entwicklung der Quartiere. Im Bund-Länder-Programm «Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die Soziale Stadt» begleitete das Deutsche Institut für Urbanistik den Leipziger Osten als sächsisches Modellgebiet in der ersten Phase. Im Stadtentwicklungsplan Wohnbau und Stadterneuerung (STEP W S) wurden die Stadtteile Neustadt-Neuschönefeld, Volkmarsdorf, Reud­nitz und Anger-Crottendorf als Hauptaufgabenfelder bestimmt. Für den Leipziger Osten gab es keine einheitliche Gesamtlösung, dafür waren zu unterschiedliche Strukturen vorhanden. Einige Bauten waren zwar nach 1990 schnell saniert worden, standen aber häufig neben verfallenen Häusern, für die Alteigentümer noch Restitu­tionsansprüche geltend machen wollten oder deren Eigentumsverhältnisse noch nicht klar waren. Im Jahr 2002 konkretisierte das Stadtplanungsamt mit dem konzeptionellen Stadtteilplan (KSP) «Leipziger Osten» den STEP W S. Die Stadt schuf damit ein langfristiges Leitbild zur Verbesserung der öffentlichen Räume. Stadträumlich unverzichtbare Gebäudezeilen wurden definiert, aber auch Bereiche bestimmt, die durch ihre Struktur und Lage für Investoren nicht sehr attraktiv waren. Letztere wurden als Umstrukturierungsgebiete gekennzeichnet, in denen auf verschiedene Arten und unter Beachtung des baulichen und des sozialen Umfeldes mit Umnutzung und Abriss umgegangen ­werden sollte (Bild 5). Die Bauten sollten nicht mehr nur sich selbst überlassen werden. Leipzig wollte wie­-der attraktive und zentrumsnahe Stadtteile schaffen und die Abwanderung der Bürger an den Stadtrand ein­dämmen.

Zwischengrün

Diskussionen zur Stadtentwicklung fanden auch im «Forum Leipziger Osten» statt, wo sich Vertreter von Verwaltung, Wirtschaft und Institutionen mit den Bewohnern der Quartiere trafen. Im kooperativen Gutachterverfahren «Visionen für den Leipziger Osten» präsentierten die Berliner Landschaftsarchitekten BGMR ihren Entwurf für das «Rietzschkeband» (Bild 6). In diesem Projekt sollte der Stadtraum mit einem Grundgerüst aus öffentlichen Räumen neu gegliedert werden. Baukomplexe, die für die städtebauliche Wirkung wichtig sind, wurden benannt und gleichzeitig andere Stadtbereiche für grosse Freiflächen freigegeben. Damit wurden Interimsbegrünungen zum Thema. Die Stadt hatte bis dahin noch keine Möglichkeiten zur Aktivierung von Brachflächen geprüft und trat nun in Verhandlung mit den Grundstückseigentümern. Da viele aufgrund der schlechten Wohnungsmarktsituation auf bessere Bedingungen für Verkauf oder Sanierung ihrer Objekte warteten, lagen ihre Grundstücke brach. Das belastete das Wohnumfeld, was wiederum Investoren abschreckte – ein Teufelskreis. Um diesen aufzubrechen, beschloss Leipzig, das Instrument der Gestattungsvereinbarungen einzuführen (siehe Kasten). Damit konnte die temporäre öffentliche Nutzung von privaten Grundstücken geregelt werden. Mit der Aktivierung von Brachflächen sollte mehr Grün, weniger Dichte und mehr Vielfalt in den Wohnquartieren entstehen. Die öffentliche Nutzung ist dabei auf eine bestimmte Zeit begrenzt, der Eigentümer behält sein Baurecht.

Die so geschaffenen kleinen Freiräume ergänzen bestehende Parks, sind Spielbereiche, Gärten oder Parkplätze. Durch die Einbindung privater Grundstücke kann die Vernetzung von Freiräumen im Quartier verbessert werden. Sie öffnen Wege abseits der Hauptverkehrsstrassen oder schaffen eine ökologische Nische mit Durchgang zu einem grösseren Park.

Doch auch grössere Freiflächen können mit Hilfe von Gestattungsvereinbarungen entstehen. Die Treuhand­liegenschaftsgesellschaft (TLG) übergab der Stadt ein brachliegendes Fabrikgelände am Gerichtsweg. Auf rund 10000 m² entsiegelte die Stadt den Boden, der vollständig mit Werkshallen und Lagern überbaut war. Das Gelände wurde mit Bäumen und Wiese begrünt und mit einem Wegnetz erschlossen. Der Vandalismus ging zurück, und das Wohnumfeld profitierte von der grünen Oase im dicht bebauten Quartier.
Seit Oktober 2002 entsteht entlang der stark befahrenen Wurzener Strasse, basierend auf dem KSP «Leipziger Osten» und der Planung von BGMR Landschaftsarchitekten, eine zusammenhängende Grünfläche. Die Ruinen entlang der Strasse wurden entfernt. Auf den Privatgrundstücken konnten Wege und Pflanzbereiche ent­­stehen und mit Bäumen eine neue stadträumliche Kante definiert werden. Der recht dichte «Dunkle Wald» konnte in den letzten Jahren entsprechend der baulichen Entwicklung erweitert werden. Der anschliessende «Lichte Hain» schafft einen grünen Übergang zum Kleingartenpark Südost. Die temporären Grünflächen können nach einer Frist von 5 bis 10 Jahren wieder entfernt werden, wenn sich ein Investor für das Grundstück interessiert und der Eigentümer bauen möchte.

Permanente Stadtteilparks

Zwei grosse Parkanlagen wurden hingegen als dauerhafte Parkanlagen in den Wohngebieten geplant. Auf dem Gelände des ehemaligen Eilenburger Bahnhofs wurde
im Juni 2004 der Lene-Voigt-Park eröffnet (Bilder 9, 10). Basierend auf einem internationalen Landschaftsarchitekturworkshop wurde 1998 ein Gutachterverfahren durchgeführt. Das Landschaftsarchitekturbüro Kiefer aus Berlin gewann mit einem Entwurf, bei dem auf der linearen Struktur des ehemaligen Bahnhofs ein Park mit vernetzten Wegen und klar abgetrennten Räumen entsteht. In Etappen kaufte die Stadt die Flächen seit 1999 an und konnte nach und nach den 800 m langen und 80–130 m breiten Stadtteilpark anlegen. In Hochbeeten, die von Steinkorbwänden gesäumt werden, wurden Birken gepflanzt. Die Landschaftsarchitekten legten verschiedene Bereiche für Spiel-, Sport- und Ruhezwecke an. Um den Pflegeaufwand seitens der Stadt zu reduzieren, wurden auch eini­ge Parzellen zur individuellen Nutzung angeboten. Im östlichen Teil des Parks schliesst sich die ehemalige Bahnschneise Anger-Crottendorf an, die in den nächs­ten Jahren auch zum Park werden wird. Ebenfalls vom Büro Kiefer werden hier bis 2010 Planungen für Rad- und Fusswege umgesetzt, die sich durch den vorhandenen, ökologisch wertvollen Baum- und Strauchbestand ziehen werden.
Der grosse Rabet-Park liegt an den zwei stark befahrenen Strassen, der Eisenbahn- und der Hermann-Liebmann-Strasse in Neuschönefeld (Bilder 11, 12). Auf der Grundlage eines Gutachterverfahrens schrieb die Stadt einen Wettbewerb zur Erweiterung und Neugestaltung des bestehenden Parks aus. Das Berliner Landschaftsarchitekturbüro Lützow 7 gewann diesen mit einem Entwurf für eine grosszügige Anlage mit Volksparkcharakter. Durch den ganzen Park, in dem besonders die Angebote für Jugendliche gestärkt wurden, zieht sich ein breites Wegband für Sportaktivitäten. Dazwischen liegen Wiesen, die äusseren Ränder der Anlage sind dicht begrünt. Der Park wird seit 2004 in mehreren Bauabschnitten umgestaltet, Ende 2006 sollen die Arbeiten abgeschlossen sein.

Die Stadt Leipzig arbeitet seit Beginn der 1990er-Jahre, als die ersten Sanierungsgebiete und -planungen in Angriff genommen wurden, an der kontinuierlichen städtebaulichen Erneuerung. In den nächsten Jahren sollen die Lebensfähigkeit und die Konkurrenzstärke der einzelnen Stadtteile weiter gestärkt werden. Es leben heute noch immer weniger Menschen in den östlichen Stadtquartieren, als es möglich wäre. In den nächsten Jahren sollen die stadträumlich aufgelockerten gründerzeitlichen Quartiere entsprechend dem Projekt «Grünes Rietschkeband» durch Grünräume vernetzt und besser an die Innenstadt angeschlossen werden. Diese Strategie zeigt erste Erfolge. Der Bevölkerungsrückgang in den Gründerzeitquartieren hat sich stabilisiert, heute leben sogar 10% mehr Personen in den Stadtteilen als 1998. Sowohl die kleinen als auch die grossen Parkanlagen werden gut angenommen, besonders die Jugendlichen profitieren von den vielen neuen Freizeit- und Sportanlagen in den Quartieren.

TEC21, Mo., 2006.12.04



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tec21 2006|49-50 Zwischengrün

«Studieren mit mehr Eigenverantwortung»

Mit der Bologna-Reform verändern sich Lehre, Forschung und Praxis im Bauingenieurwesen. Die ersten Master-Absolventen der neuen Studiengänge kommen in einigen Jahren auf den Arbeitsmarkt. tec21 befragte Lehrende und Praktiker, wie sich die Ausbildung der Studierenden verändern wird und was die späteren Arbeitgeber von den Absolventen erwarten und sich erhoffen. Die fünf Interview-Partner wurden in schriftlicher Form nach ihren Vorstellungen befragt, wodurch unabhängige Stellungnahmen aus fünf Bauingenieur-Tätigkeitsfeldern zusammengetragen werden konnten.

Mit der Bologna-Reform verändern sich Lehre, Forschung und Praxis im Bauingenieurwesen. Die ersten Master-Absolventen der neuen Studiengänge kommen in einigen Jahren auf den Arbeitsmarkt. tec21 befragte Lehrende und Praktiker, wie sich die Ausbildung der Studierenden verändern wird und was die späteren Arbeitgeber von den Absolventen erwarten und sich erhoffen. Die fünf Interview-Partner wurden in schriftlicher Form nach ihren Vorstellungen befragt, wodurch unabhängige Stellungnahmen aus fünf Bauingenieur-Tätigkeitsfeldern zusammengetragen werden konnten.

Lehre

Welche inhaltlichen Veränderungen lassen sich nach der Bologna-Revision gegenüber der früheren Bauingenieur-Ausbildung feststellen?

Kenel: Die Umstellung auf den Bachelor bot die Möglichkeit, das Curriculum kritisch zu hinterfragen, den neuen Anforderungen anzupassen und die Unterrichtseinheiten zeitlich sowie fachlich besser abzustimmen. Die Hochschule für Technik Rapperswil (HSR) hat beispielsweise den Bereich Nachhaltigkeit und Umwelt verstärkt und vernetzt sich mehr mit den Abteilungen Raumplanung und Landschaftsarchitektur. Dies wirkt sich sehr positiv in der Bearbeitung von interdisziplinären Projektarbeiten aus.

Fontana: Es lassen sich im Wesentlichen zwei Veränderungen feststellen: Erstens zeigt sich eine stärkere Ausrichtung auf das wissenschaftliche Vorgehen, und zweitens besteht die Möglichkeit, sich im Master-Studium in zwei von sechs Richtungen (Konstruktion, Geotechnik, Verkehrssysteme, Wasserbau und Wasserwirtschaft, Bauplanung und Baubetrieb, Werkstoffe und Mechanik) zu vertiefen. Das bisherige breite Studium war in der vollen Tiefe für Studierende in vier Jahren kaum zu bewältigen. Sie sind nicht mehr bereit oder in der Lage, 70 und mehr Wochenstunden zu leisten – was auch verständlich ist. Auch ist eindeutig ein Trend zu mehr Mobilität mit Auslandsemestern festzustellen, was sich positiv auf die internationale Konkurrenzfähigkeit der Absolventen auswirkt. Die Fähigkeit zu präsentieren ist heute deutlich besser, eventuell aber zu Lasten der Selbstkritik an den eigenen technischen Kenntnissen und der Bescheidenheit.

Haben Sie in Zusammenhang mit der Bologna-Revision negative Erfahrungen gemacht?

Kenel: Der Bachelor-Studiengang wurde an der HSR im Wintersemester 05 / 06 problemlos eingeführt. Die Studierenden müssen vermehrt Eigenverantwortung im Studium übernehmen, so beispielsweise für das Selbststudium. Es ist aber noch zu früh, um über positive oder negative Erfahrungen zu berichten. Die zukünftigen Arbeitgeber unserer Abgänger wissen noch nicht genau, was sie von den jungen Ingenieurinnen und Ingenieuren erwarten können. Dieser Verunsicherung müssen wir im Dialog Rechnung tragen und die Chancen solcher Revisionen vermehrt ins Zentrum der Gespräche rücken.

Fontana: Mit dem bereits heute eingeführten euro-päischen Credit-System entfällt das grosse Schlussdiplom, mit dem das Wissen umfassend geprüft wurde. Das Wissen in den einzelnen Fächern ist zum Zeitpunkt der jeweiligen Prüfungen aus diesem Grund heute grösser. Leider fehlen Studierenden aber damit oft die Querbezüge, und das analytische gewinnt gegenüber dem synthetischen Denken.

Ist die Fachhochschule ein möglicher Weg, das Bildungsniveau der Technischen Hochschulen auf dem sekundären Bildungsweg zu erreichen?

Fontana: Ja ganz klar, sofern das Studium an der FH mit einem Master an der ETH abgeschlossen wird. Der Weg über die sekundäre Bildung wird, durch die zunehmende Bedeutung der sprachlichen Fähigkeiten gegenüber den mathematisch-naturwissenschaftlichen der gymnasialen Bildung, für die Ingenieurausbildung immer wichtiger. Gut ist, dass schon heute zwischen den Studierenden ein reger Austausch zwischen praktischer Erfahrung und theoretischem Wissen stattfindet.

Kenel: Die Fachhochschulen haben ein zur ETH verschiedenes Eintritts- und Austrittsprofil, welches die Studierenden auf die verschiedenen Aufgaben der Wirtschaft vorbereitet. Dabei geht es nicht um vergleichbare Bildungsniveaus. Das in der Schweizer Wirtschaft gut verankerte duale Bildungssystem erlaubt es, auch zukünftig einerseits IngenieurInnen an den FH mit stark praxisorientiertem Hintergrund als auch andererseits naturwissenschaftlich geprägte IngenieurInnen an der ETH auszubilden.
Um zu gewährleisten, dass Studierende einer bestimmten Fachrichtung ohne weitere Vorbehalte und Auflagen in ein entsprechendes Master-Studium an irgendeiner Fachhochschule der Schweiz eintreten können, war es bei der Konzipierung der Studiengänge notwendig, die Gliederung der Themengebiete und die Gewichte in der Ausbildung in den Grundzügen festzulegen. Die Konferenz der Fachhochschulen der Schweiz hat die Konzeption gestufter Studiengänge anhand einer ‹Best Practice und Empfehlungen› bereits im Jahr 2003 vorbereitet.

Deuring: Beide Ausbildungssysteme sind sehr wichtig, sollten sich aber auf die jeweiligen Stärken konzentrieren. Die FH kann auf in der Berufslehre erlangte Berufserfahrungen aufbauen, während die Absolventen des Gymnasiums eine gute Allgemeinbildung und Grundkenntnisse in naturwissenschaftlichen Gebieten mitbringen. Ein Studium ist dann effizient, wenn optimal auf diesen Voraussetzungen aufgebaut wird. Dennoch ist eine Durchlässigkeit der Ausbildungswege erforderlich, der Übertritt muss möglich sein. So absolvierte ich, damals etwas schulmüde, nach der Sekundarschule die Berufslehre. Die Freude am Studieren erlangte ich während der letzten Semester meiner Ausbildung zum Ingenieur HTL, und ich wollte meine Kenntnisse, nach dieser soliden Ausbildung, vor allem in den konstruktiven Fächern sowie der Materialtechnologie vertiefen. So war es für mich sehr willkommen, dass ich dank einem Übertrittskurs den Zugang an das zweite Vor-diplom der ETH erlangen konnte und damit für mich die Fortsetzung des Studiums im 5. Semester der ETH möglich war.

De Dominicis: Der Übertritt von der FH zur ETH soll möglich sein, die Übergangsanforderungen sollten aber hoch angesetzt werden. Schon wegen des heutigen Mangels an Fachkräften brauchen wir verschiedene Eingangspforten mit unterschiedlichen Voraussetzungen. Die Praxis braucht diese ‹Breite›, denn bei der Personalrekrutierung zeichnet sich der Trend ab, dass wir keine passenden Leute auf unserem Markt finden. Unsere Aufforderung an die Hochschulen lautet deswegen: Gestaltet die Lehrgänge so, dass die Studiengänge an Attraktivität gewinnen.

Die Stufe Master auf dem sekundären Bildungsweg zu erreichen, fehlt heute vollständig und wird nun nach der Bologna-Revision angeboten. Bildet der Master of Science FH ein
Konkurrenzprodukt gegenüber dem Master of Science ETH?

De Dominicis: Man sollte aufhören, von ‹konkurrenzierenden› Titeln zu sprechen, sondern vielmehr ‹sich ergänzende› Titel anstreben. In der Praxis ist die Konkurrenzierung bei der Anstellung kein Thema, was zählt, sind die vorhandenen Kompetenzen der Inge-nieurInnen. Und eine gute Qualität der Ausbildung ist die Basis dafür. Angesichts der rückläufigen Studentenzahlen sollte das Ziel die Fokussierung auf die Qualität sein. Die beschränkten Gelder müssen konzentriert und Doppelspurigkeiten vermieden werden. Ein möglicher Ansatz wäre, den Master nur an der ETH und einigen wenigen FH anzubieten. Von Konkurrenz hingegen müssen wir im internationalen Kontext sprechen. Dort brauchen wir ein gutes Produkt wie die Ausbildung und Forschung an der ETH bzw. der EPFL.

Fontana: Dank den guten Übertrittsmöglichkeiten von der FH an die ETH besteht in der Schweiz meines Erachtens keine Notwendigkeit für einen allgemeinen Master der FH im Bauingenieurwesen. Damit entfällt auch die Diskussion über ‹Andersartigkeit und Gleichwertigkeit›. Die ohnehin knappen Ressourcen sollten sinnvoller für berufsbegleitende Master der FH in Spezialbereichen eingesetzt werden.

Kenel: Das Masterprogramm FH bildet mit der praxisbezogenen Ausbildung eine gute Ergänzung zum wissenschaftlichen Master an der ETH. Die Wirtschaft braucht neben den naturwissenschaftlich tiefer gehend ausgebildeten ETH-Masters auch FH-Master, die in der Ausführung und Begleitung komplexer Bauvorhaben ihre Stärken haben.

Deuring: Die Praxis hat einen grossen Bedarf an Ingenieuren beider Ausbildungswege. Eine Angleichung ist für die Master-Stufe nicht sinnvoll, da beide Ausbildungswege erwünscht sind. Würde jedoch trotzdem eine Angleichung durchgeführt, müsste bei der Anstellung verstärkt auf die Spezialisierung der Absolventen geachtet werden.

An den FH wurde stets angestrebt, eine praxisnahe Ausbildung mit Dozierenden aus der Praxis anzubieten. Wird dies auch in Zukunft möglich sein?

Kenel: Der Lehrkörper der FH setzt sich aus hauptamtlichen Professoren und nebenamtlichen Dozenten zusammen. Während sich die Professoren neben der Lehre auch in der angewandten Forschung engagieren, garantieren die Dozenten den engen Kontakt zur Wirtschaft. Der Aufbau eines starken Mittelbaus, also die Anstellung von Assistenten, ermöglicht die Realisation verschiedener Projekte in der angewandten Forschung.

Fontana: Die Forschung an der FH im Bauingenieurbereich ist nicht unproblematisch. Den grössten Erfolg verspricht wohl die praxisnahe Forschung an aussergewöhnlichen Tragwerken, für die neue Bauteile und Materialien eingesetzt werden. Darin sollte die praktische Tätigkeit der FH-Dozierenden und die sorgfältige Evaluation und Analyse der am Bau erzielten Ergebnisse eingebettet sein. Damit liesse sich auch der Spagat zwischen praktischer Tätigkeit und Forschung der FH-Dozenten entschärfen.

Forschung

Wie reagiert die ETH mit ihren Forschungsprojekten auf die neue ‹Konkurrenz›, die durch die Forschungsmöglichkeiten an der FH entstehen?

Fontana: Das Verknüpfen von projektbezogener Forschung, Entwicklung und Dienstleistung hat für die FH einen besonderen Stellenwert und ist ihre starke Ausgangsposition. Die Beziehungen der Firmen zu den Forschern sind dabei häufig personenbezogen und richten sich nach deren besonderem Fachwissen und Reputation. Jedoch sollten an Hochschulen nicht Routinearbeiten ohne Forschungs- oder Ausbildungscharakter durchgeführt werden, womit private Anbieter mit öffentlichen Geldern konkurrenziert würden.
Das Humankapital der Doktorierenden der ETH und der Wissenstransfer beim Stellenwechsel in die Praxis haben für die Unternehmen einen hohen Stellenwert. Die Ausbildung von zukünftigen Spitzenkräften in der wissenschaftlichen Arbeit ist integrierender Bestandteil der Forschung an der ETH. Verbunden mit der Führung von technischen Mitarbeitern, der Organisation und Finanzierung des eigenen Projektes ist dies eine wichtige Erfahrung für die spätere praktische Tätigkeit. Neben der Forschung an der ETH und den FH darf aber auch die Bedeutung der Forschung an der Empa im Bereich der Bauingenieurwissenschaften nicht vergessen werden. ETH und Empa arbeiten hier zum Bespiel mit gemeinsamen Doktorierenden eng zusammen.

Stellen die Förderung der Grundlagenforschung an der ETH und die anwendungsorientierte Forschung an der FH eine Abgrenzung der beiden Forschungsgebiete dar?

Fontana: Mit den Doktorierenden und den Festangestellten wird sich automatisch eine mehr auf grundlagenorientierte und auf langfristige Ziele ausgerichtete Forschung an der ETH einstellen, mit anwendungsorientierten Projekten in Spezialbereichen. Andererseits festigt sich eine mehr entwicklungsorientierte Forschung an den Fachhochschulen mit stärkerem Bezug auf die forschenden Personen und ihr Spezialwissen, das von den Unternehmungen für ihre Entwicklungsprojekte auch in Form von Dienstleistungen gefragt ist.

Deuring: An der Empa und an den beiden ETH habe ich erlebt, wie effizient Forschungsprojekte durchgeführt werden. Sowohl die Unterstützung durch Fachkräfte als auch die Bedingungen in den Labors sind gut. Die betreuenden Professoren sind mit ihrem Wissen für die Leitung der Arbeiten bestens geeignet. An Fachhochschulen hingegen sind die Voraussetzungen sehr unterschiedlich, genauso wie die Qualität der Arbeiten. Wir sollten deshalb gut abwägen, wo welche Arbeiten vorgenommen werden. Konkurrenz belebt, aber zu viel Energie für die Akquisition von Forschungsarbeiten und deren Verteilung auf zu viele Schulen kann nicht sinnvoll sein. Ein Ansatz könnte sein, dass alle Regionen ein starkes Forschungszentrum haben und die übrigen Schulen mit einem entsprechenden Verbund auch von diesen Arbeiten profitieren.
Ebenso gilt es, gut zu überlegen, welche Zielsetzungen mit den Forschungsarbeiten zu verfolgen sind. Die Grundlagenforschung ist wichtig, dabei dürfen aber die Bedürfnisse der Bauindustrie nicht vergessen werden. Eine intensive Zusammenarbeit mit der Praxis sowie den verschiedenen Baustofflieferanten ist unabdingbar.

De Dominicis: Die Forschung sollte – egal ob ETH oder FH – zu einem gewissen Mass immer anwendungsorientiert sein, denn schliesslich sollten die Erkenntnisse für die Praxis mittel- oder langfristig einen Mehrwert ergeben. Die raren Forschungsgelder müssen konzentriert eingesetzt werden. Entsprechend unterstützen wir den Vorschlag, Forschung bei der ETH / EPFL sowie bei ausgewählten, spezialisierten FH zu betreiben.

Praxis

Besteht in der Praxis der Wunsch nach Generalisten oder mehrheitlich spezialisiert ausgebildeten Studenten?

Somaini: Mein Wunsch wäre ein Ingenieur oder eine Ingenieurin mit einem oder zwei Spezialfächern und mit guten Grundkenntnissen in den übrigen Gebieten. Damit wird einerseits die Fähigkeit geschult, sich in einer bestimmten Materie zu vertiefen, gleichzeitig wird aber auch die Gesamtübersicht gefördert.

De Dominicis: Bei der SBB Infrastruktur brauchen wir Generalisten und Fachspezialisten. Generalisten werden für das Projektmanagement in mittleren bis hochkomplexen Projekten mit verschiedensten Fachdisziplinen aus der Bahntechnik eingesetzt. Spezialisierte BauingenieurInnen nehmen wiederum wichtige Aufgaben im Bereich Engineering und Produktmanagement wahr. Wir benötigen also sowohl anwendungs- wie auch entwicklungsorientierte IngenieurInnen.

Deuring: Die Praxis benötigt den Generalisten und den Spezialisten. Der Generalist sollte mit Umsicht die Anliegen des Kunden und der Gesellschaft optimal umsetzen. Diese Generalisten müssen ihre Grenzen kennen und rechtzeitig die Spezialisten einsetzen, die in ausgewählten Themen über ein vertieftes Wissen verfügen. Dies bedeutet aber nicht, dass die Schule, oder sogar jede Schule, alle Ausbildungen anbieten muss. Eine Fachhochschule könnte sich zu einem Kompetenzzentrum für einen ausgewählten Bereich entwickeln, wie dies für den Bereich Holz in Biel mit Erfolg durchgeführt wird. Die Wahl von Vertiefungsrichtungen wiederum für die Hochschulen erachte ich als eine sehr gute Form.

Kenel: Das Abschlussprofil der FH ist generalistisch ausgerichtet. Eine Spezialisierung sollte auf dem Arbeitsmarkt oder im Master-Studium erfolgen.
Fontana: Der Studienplan der ETH ist Sache des Departements, die Meinungen der Praxis bilden darin einen wichtigen Teil des Findungsprozesses für das Curriculum. Es werden sehr wohl Generalisten ausgebildet, wobei nach wie vor die Möglichkeit besteht, Vertiefungsbereiche zu wählen.

Wie beurteilen Sie als Praktiker die Qualität der Absolventen heute?

Deuring: Wir dürfen uns sehr glücklich schätzen, dass die Qualität der in unserem Land ausgebildeten IngenieurInnen hoch ist. Diesen hohen Standard zu halten ist aber eine sehr grosse Herausforderung. Nur die besten Lehrkräfte sollten an die Schulen berufen werden. Sie müssen sowohl ihr Fach als auch die Ausbildungsmethodik beherrschen. Aber gerade die letztere Fähigkeit wird für Anstellungen selten geprüft. Die am besten geschulten Lehrer findet man an den Grundschulen. An den Hochschulen verfügen die Lehrkräfte selten über methodische Ausbildungen. Darüber hinaus ist für diesen Standard die Messlatte für die Studierenden weiterhin hoch zu halten. Weder der Mangel an BauingenieurInnen noch der Druck, genügend Studenten an einer Schule zu haben, dürfen dazu führen, dass die hohen Ansprüche nach unten korrigiert werden. Schulen sollten sich nicht gegenseitig die Studenten abwerben, vielmehr sollten klare inhaltliche Abgrenzungen dazu führen, dass ein Student die für ihn passende Ausbildungsstätte wählt. Die Anzahl der entsprechenden Angebote muss sich an Bedarf und Nachfrage sowie wirtschaftlich optimierten Studentenzahlen pro Studiengang orientieren und darf sich nicht nach födera-listischen Kriterien richten. Nur so wird unser Ausbildungsangebot im Vergleich zum Ausland weiterhin zur ersten Wahl gehören.

Wie wird sich die Qualität der zukünftigen Absolventen durch die Bologna-Revision verändern?

De Dominicis: Ich habe noch keine Erfahrung mit den Absolventen aus den Bachelor- und Master-Studiengängen sammeln können. Für uns ist es wichtig, dass im Hinblick auf die künftigen Herausforderungen insbesondere die Sozialkompetenz der Absolventen gestärkt wird. Das Arbeiten in multidisziplinären Teams mit strengen Qualitäts- und Kostenvorgaben nimmt stark zu. Mit der Einführung der Bologna-Revision wird hoffentlich auch die Vergleichbarkeit der Ausbildungen auf dem internationalen Parkett besser. Wir haben in den letzten Jahren vermehrt Fachkräfte aus dem grenznahen Ausland rekrutiert und gute Erfahrungen mit ihnen gemacht. Die rückläufigen Studentenzahlen an den inländischen Hochschulen werden diesen Trend verschärfen.


Haben Sie Befürchtungen, dass wesentliche Aspekte des Bauingenieurstudiums mit dem neuen Ausbildungssystem nicht mehr berücksichtigt werden können?

Somaini: Ich hoffe, dass damit die Möglichkeit genutzt wird, alte Strukturen aufzufrischen und der Praxis mehr Gewicht zu schenken. Gerade die Einführung eines obligatorischen Praktikums während des Studiums ist zu fördern. Mit einem Praxisbezug ist die Theorie viel einprägsamer, und es gibt ein bewussteres Lernen.

De Dominicis: Die Hochschulen müssen mit den Entwicklungen der Technik Schritt halten und für eine solide Grundausbildung sorgen. Ich habe das breite Spektrum der Fachdisziplinen immer als eine Stärke des Bauingenieurstudiums an der ETH erachtet. BauingenieurInnen sind mit ihren analytischen, vernetzenden und umsetzungsorientierten Fähigkeiten in der Praxis sehr polyvalent einsetzbar. Empfehlenswert ist die Einführung eines obligatorischen Praktikums. Die Stärken älterer Bauingenieur-Lehrgänge lagen darin, dass der Praxiserfahrung ein hoher Stellenwert eingeräumt wurde. Diesem Bezug zur Praxis muss die Hochschule weiterhin Rechnung tragen und entsprechend Zeit dafür im Lehrplan einräumen.

Deuring: Ich hoffe sehr, dass mit der Umsetzung des neuen Ausbildungssystems die sich eröffnenden Chancen genutzt werden. Die Fachhochschulen bilden die Praktiker aus, die bereits nach nur kurzer Einführung die ingenieurtechnische Bearbeitung vieler interessanter Projekte übernehmen können und dank ihrem Werdegang die konstruktive Durchbildung kennen und auch Konstrukteure anleiten können. Die Hochschulen dagegen dürfen in den wichtigen Grundlagenfächern keinen Abbau vornehmen. Gerade das analytische Denken zeichnet den Absolventen dieses Ausbildungsweges aus. Gleichzeitig soll die Ausbildung an den ETH nicht a priori die Vorbereitung auf eine Forschungskarriere sein. Durchaus wäre möglich, einen Teil der Studierenden entsprechend ihrer Neigung und Eignung ab den letzten Semestern auf diesen Weg zu schicken. Die übrigen aber sollen in den traditionellen Bauingenieurthemen eine fundierte Ausbildung erhalten, die sie, nach einer gegenüber dem FH-Abgänger längeren Einarbeitungszeit, zur Bearbeitung sehr komplexer Aufgaben befähigt.


Sollten unternehmerische Kompetenzen (Akquisition, Management, soziale Kompetenzen, Führungsqualitäten, Finanzierung usw.) bereits in der Grundausbildung geschult oder erst mit Weiterbildungsmöglichkeiten angeboten werden?

Somaini: Der Einbezug der erfahrenen BauingenieurIn-nen in die Projektleitung und in die Geschäftsleitung erfordert Zeit, in der das angeeignete Wissen wieder verloren geht. Es ist meiner Meinung nach nicht sinnvoll, bereits im Grundstudium die Ausbildung danach auszurichten, da dies nur auf Kosten von anderen Fächern erfolgen könnte. Viel sinnvoller ist es, dies in der Weiterbildung anzubieten. Schliesslich entwickelt sich der Stoff der entsprechenden Fächer auch weiter und soll bei der Vermittlung und anschliessenden Anwendung aktuell sein.

Deuring: Die Schulen müssen sich auf eine solide Grundausbildung konzentrieren. Es ist nicht sinnvoll, in allen Themen nur an der Oberfläche zu arbeiten. Daher sollten im Studium die hier angesprochenen Themen nur gestreift werden. Es ist vielmehr Aufgabe der Praxis, nach der gründlichen Einarbeitung einzugreifen. Darüber hinaus gibt es ein breites Kursangebot sowie Nachdiplom- und Ergänzungsstudien, deren Kernkompetenzen gerade darin liegen.
Die BauingenieurInnen sind im Hochbau PlanungspartnerInnen des Architekten. Im Rahmen der interdisziplinären Zusammenarbeit entwickeln sie mit ihm von Beginn weg hochwertige Strukturen. Aber eine Unterstützung des Architekten ist nur möglich, wenn die BauingenieurInnen diesen verstehen, die Zusammenarbeit nicht scheuen, sondern diese aktiv suchen und schliesslich zum Gelingen des Bauwerks mit einem hohen Engagement beitragen. Es kann definitiv nicht, wie heute immer wieder beobachtet, das Nacheinander sein, bei dem die IngenieurInnen nur noch ‹gesundrechnen›. Dies bedingt aber, dass die BauingenieurInnen eine Struktur entwerfen können, die physikalisch korrekt ist und dabei alle Randbedingungen berücksichtigt. Leider finden diesbezügliche Ausbildungen, nämlich das Entwerfen von Tragstrukturen, kaum statt.

De Dominicis: Was die Sozialkompetenz betrifft, sollte diese während der ganzen Ausbildung gefördert werden. Dazu gehört in erster Linie das Arbeiten in Teams. Die restlichen Aspekte der Unternehmungsführung sind meines Erachtens Themen der stetigen beruflichen Weiterbildung. Verschiedenste Personalentwicklungsmassnahmen lösen diese Herausforderungen. Das Bild, IngenieurInnen hätten verglichen zu anderen Akademikern wie Betriebswirtschaftern weniger Führungskompetenzen, ist falsch. Gerade BauingenieurInnen bringen sehr gute Voraussetzungen für Führungsaufgaben mit. Eine spezialisierte Weiterbildung ist heute für IngenieurInnen, die an unternehmerischen Aspekten interessiert sind, ein Muss. Persönlich finde ich es sinnvoll, die unternehmerischen Kompetenzen zu einem Zeitpunkt aufzubauen, wenn sie auch angewendet werden können.

Inwieweit werden Sie als Praktiker von den Schulen mit einbezogen, wenn Lehrziele definiert werden?

De Dominicis: Im Rahmen von speziellen Lehrgängen an der FH Winterthur konnten erste Erfahrungen bei der Mitgestaltung von Lehrgängen gesammelt werden. Ausserdem laufen Forschungs- und Diplomarbeiten mit verschiedensten Professuren an den Hochschulen. Wir versuchen, jährlich durch die Vermittlung von Praktika die Zusammenarbeit zu intensivieren. Auch uns steht jedoch nur eine beschränkte Menge von Ressourcen für die Betreuung der Studenten zur Verfügung. Im Hinblick auf den ausgetrockneten Markt im Bau- und Verkehrsbereich müssen aber auch wir den Fokus vermehrt auf junge Leute richten, um diese für das Bauwerk Bahnnetz zu faszinieren.

Somaini: Ich bin überzeugt, dass die Praxis ein Interesse an der Ausbildung ihrer zukünftigen Mitarbeiter haben muss.

Deuring: Ich glaube nicht, dass die Praxis oft für diese Fragen hinzugezogen wird. Das Interesse, an den Zielen mitarbeiten zu dürfen, ist aber sehr gross. Wir dürfen die jungen BauingenieurInnen einsetzen, also kann es uns nicht egal sein, mit welchem Rüstzeug sie bei uns ihre berufliche Karriere starten. Es ist ein grosses Privileg, als BauingenieurIn arbeiten
zu dürfen. Wir müssen aber intensiv daran arbeiten, in der Gesellschaft unseren Ruf wieder zu verbessern, indem wir unsere Leistungen nach aussen tragen und uns nicht verstecken. Dazu gehört auch, dass wir unseren IngenieurInnen entsprechend ihrer Ausbildung und Verantwortung angemessene Löhne bezahlen können. Die Umsetzung der erforderlichen Massnahmen wird hoffentlich dazu führen, dass wieder vermehrt junge Menschen diesen Ausbildungsweg wählen. Dann müssen die Schulen Garant dafür sein, dass wir in der Praxis auf gut ausgebildete Persönlichkeiten zählen dürfen.

TEC21, Mo., 2006.11.06



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2006|45 Bauingenieur-Ausbildung

18. September 2006Katinka Corts-Münzner
TEC21

Elementbau-Kasten

Für die Berufsschule Baden erweiterten Burkard Meyer Architekten den bestehenden Armin-Meili-Bau mit einem sechsgeschossigen Schulhaus und einem Sportkomplex. Besonders beeindruckend ist die grosse planerische Leistung, die der Einsatz vorfabrizierter Betonelemente im Schulhaus forderte.

Für die Berufsschule Baden erweiterten Burkard Meyer Architekten den bestehenden Armin-Meili-Bau mit einem sechsgeschossigen Schulhaus und einem Sportkomplex. Besonders beeindruckend ist die grosse planerische Leistung, die der Einsatz vorfabrizierter Betonelemente im Schulhaus forderte.

Das Schulhaus an der Bruggerstrasse bildet den neuen architektonischen Auftakt für das Berufsbildungszentrum Baden. Burkard Meyer Architekten entwickelten ein Gebäude, in dem zeitgemässe Pädagogik und hohe Energiestandards umgesetzt werden und das gleichzeitig mit vorfabrizierten Elementbauteilen verhältnismässig schnell fertig gestellt werden konnte. Der 110 m lange, schmale Sechsgeschosser schliesst nördlich des bestehenden Fabrikgebäudes der ABB Turbo Systems AG die strassenbegleitende Bebauung bis zur Eisenbahnunterführung ab. An der südlichen Front des Gebäudes lädt der kleine, mit Zitterpappeln begrenzte Schmiedeplatz mit Sitzgelegenheiten und Trinkbrunnen zum Verweilen ein und schafft gleichzeitig als Entrée einen Durchgang zu den weiteren Gebäuden, die der Schule angegliedert sind. Das Schulhaus für 50 Mio. Franken wurde als Elementbau konzipiert, was eine anspruchsvolle Detailplanung bedingte. Es mussten beispielsweise alle gestalterischen, statischen und funktionalen Details – Lüftung, Elektro, Akustik – definiert sein, bevor die gezeichneten Elemente vorfabriziert werden konnten. Für das Schulhaus kamen insgesamt 3100 einzelne Elementbauteile in 200 verschiedenen Typen zum Einsatz. Die Treppenhäuser wurden als vertikale Elemente vor Ort betoniert. Sie bilden mit den innen liegenden, vorfabrizierten Betonstützen das statische System des Gebäudes. Neben den Anforderungen, die der nicht alltägliche Vorfabrikationsgrad mit sich brachte, musste auch die Montage sorgfältig geschehen, da die Betonoberflächen, wie zum Beispiel die mit Kanneluren versehenen Stützen und die glatten Decken in den Korridoren, im Schulhaus sichtbar bleiben sollten.

Mittig eingesetzte Cluster

Über eine parallel zur Bruggerstrasse laufende Rampe wird das Piano nobile, wie es auch im Meili-Bau zu finden ist, erschlossen (Bild 6). Hinter dem Eingang findet sich ein kleiner Festsaal (Bild 2), der zwei Geschosse hoch ist und für interne Anlässe genutzt wird. Der Boden ist hier wie im ganzen Gebäude mit hellem Fliesszement überzogen, die Deckenelemente reflektieren das Licht verstärkt, da der verwendeten Betonmischung Marmor beigefügt wurde. Die einzigen Farbakzente in diesem Raum sind die bronzenen Leuchtenunterzüge an der Decke und die rot eingefärbten Kanneluren der Betonstützen in der Gebäudemitte. Von diesem Empfangsraum gelangt man durch schmale Stützengänge und über die Treppenhäuser zu den Klassenzimmern. Für die Regelgeschosse wichen die Architekten vom üblichen Konzept ab, die Klassenzimmer entlang der Fassade aneinander zu reihen und in der Mitte des Gebäudes einen grösseren Gang oder auch einen Aufenthaltsraum zu gestalten. Für die Berufsschule entwickelten sie mittig liegende, verglaste Cluster, um die die verschiedenen Erschliessungsgänge verlaufen. Je vier miteinander verbundene und einsehbare Zimmer bilden mit einem Treppenhaus einen eigenen Brandabschnitt (Bild 5).

Aussenkorridore als Temperaturpuffer

In den Klassenzimmern liegen nahezu alle Installationsleitungen in den vorfabrizierten Decken- und Wandelementen. Das Sprinklersystem integrierten die Architekten in den unterhalb der Decke verlaufenden Leuchtenkanal. Doch nicht nur die Installationsleitungen wurden vor der Fabrikation eingeplant. In den Klassenzimmern wurde die Deckenuntersicht zusätzlich mit gerippten Vertiefungen versehen und diese mit Dämmstreifen für die bessere Raumakustik ausgelegt.
Auch die Minergie-Anforderungen konnten mit dem Konzept des Elementbaus erreicht werden. Über zentrale Steigzonen werden die Schul- und Büroräume mit Zuluft versorgt (Bild 4). Bewegungsmelder signalisieren einem elektromechanischen Konstant-Volumenstromregler die Nutzung des Raumes, wodurch die Frischluftversorgung aktiviert wird. Ist ein Raum über längere Zeit ungenutzt, sorgt eine kurze Luftspülung für eine ausreichende Luftqualität. An der Gangseite der Zimmer entweicht die Luft durch schallgedämmte Überströmungskörper in das Abluftsystem der Aussenkorridore. Diese sind nicht beheizt, sondern bilden Sommer wie Winter Temperaturpuffer zu den Klassenzimmern. Allerdings werden die Korridore von der Abluft der Klassenzimmer durchströmt und damit die Luft in den Gängen erwärmt. Im Treppenhausbereich wird die Abluft abgesaugt und gelangt durch Steigschächte zur Luftaufbereitungszentrale auf dem Dach. Mit den innen liegenden beheizten Warmräumen und den aussen verlaufenden Gängen, die als Wärmepuffer funktionieren, wurde ein energetisch kompakter Bau geschaffen.

Sonnenschutz im Glaskasten

Der im strengen Raster aufgebauten Neubaufassade ist nicht auf den ersten Blick anzusehen, dass auch hier mit vorfabrizierten Elementen gearbeitet wurde. Die Hülle aus grün schimmernden Sonnenschutzgläsern und den aus Baubronze speziell angefertigten Tragprofilen der Glasfassade wirkt im Tageslicht sehr geschlossen. Bei Nacht löst sich die Fassade optisch auf, wenn Licht durch den Glaskörper nach aussen dringt und den Blick auf die verglasten Schulzimmer freigibt. Der Stützenabstand an den südwestlichen Fassaden ist so gewählt, dass ein Grossteil der eingetragenen Sonnenwärme bereits über die Betonelemente abgefangen wird. Auf der Nordost-Seite stehen die Stützen weiter auseinander, um ausreichend Helligkeit in das Gebäude einzulassen. Die von beiden Seiten von Tageslicht erhellten Klassenzimmer müssen jedoch dank den vorgelagerten Korridoren nicht zusätzlich verschattet werden, können aber zum Beispiel für die Nutzung von Projektoren verdunkelt werden.

Integrierter Sportkomplex für die Schule

Zwischen Bruggerstrasse und dem sanierten Altbau fügten Burkhard Meyer Architekten zusätzlich über der neu erstellten Tiefgarage einen grossen Sportkomplex ein, der von Schülern und externen Vereinen genutzt wird. Bei diesem Gebäudeteil wird der fünfgeschossige Höhenversprung im Areal deutlich. Eine monumentale Treppe führt durch eine Gebäudeschlucht am betongrauen Sportbau entlang hinauf zum Eingang (Bild 8). Ein Aussensportplatz und zwei in der Höhe gegeneinander versetzte Multifunktionssporthallen ducken sich so in den Berg und den Geländeversprung, dass gegenüber dem Meili-Bau lediglich ein Eingangsgeschoss sichtbar bleibt. Die obere und hangseitig liegende Sporthalle wird über die Dachfläche aus Glas belichtet (Bild 7). Als Witterungs- und Blendschutz deckten die Architekten die Glasflächen mit in unterschiedlichen Grüntönen gefärbten glasfaserverstärkten Kunststoffgittern ab. Einen farblichen Kontrast dazu bildet die bereits im Schulhaus verwendete dunkelrote Farbe, die in den hellen, blendfreien Sporträumen für die Wände eingesetzt wurde.

Bau als Kunst statt Kunst-am-Bau

Auch für die Alte Schmiede auf dem Areal gibt es einen Nutzungsplan. Die Idee ist, die insgesamt für alle Gebäude anfallenden Kunst-am-Bau-Gelder in Höhe von 1.2 Mio. Franken nicht in die Einzelgebäude der Schule zu investieren, sondern damit die Alte Schmiede, eine filigrane Fachwerkkonstruktion aus Eisen, zum Ausstellungsraum umzunutzen. Der Backsteinbau von 1906 ist einer der letzten Industriezeugen aus der Gründerzeit der Brown, Boveri&Cie. Die Stadt übernimmt die stützenlose Halle mit Satteldach und Oberlicht von der ABB, eine Nutzung des kommunal schützenswerten Objektes für Schulräume ist aber wegen der Altlasten im Gebäude – polychlorierte Biphenyle in Mauerwerk und Boden – nicht möglich. Die dafür nötige komplette Sanierung würde etwa 3 Mio. Franken kosten und gleichzeitig grosse Eingriffe in die Substanz des Gebäudes fordern. Diesen Herbst finden genauere Bodenuntersuchungen zur Bestimmung der Kontaminationsstärke statt. Anfang 2007 fällt der politische Entscheid, ob das Vorhaben für einen Ausstellungsraum verwirklicht werden kann. In einem zweistufigen Wettbewerb mit Präqualifikation könnte dann im Frühjahr eine künstlerische Arbeit für die Ausstellung im Gebäude gewählt werden.

TEC21, Mo., 2006.09.18



verknüpfte Bauwerke
Berufsschule Baden - Schulneubau und Sportkomplex



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2006|38 Baden macht Schule

09. Juni 2006Katinka Corts-Münzner
TEC21

Leichte Überdeckung

Für die Überdachung des Olympiastadions Berlin mussten die Architekten eine funktionale und denkmalgerechte Lösung finden. Die Öffnung des Daches auf einer Seite ist dank einer speziellen Tragarmkonstruktion möglich und gibt den Blick zum Maifeld frei.

Für die Überdachung des Olympiastadions Berlin mussten die Architekten eine funktionale und denkmalgerechte Lösung finden. Die Öffnung des Daches auf einer Seite ist dank einer speziellen Tragarmkonstruktion möglich und gibt den Blick zum Maifeld frei.

Den Sanierungs- und Umbauwettbewerb für das Berliner Olympiastadion für die Fussball-WM 2006 gewannen die Architekten von Gerkan, Marg und Partner (gmp) und das Ingenieurbüro Krebs und Kiefer 1998. Die Bauaufgabe erforderte den sensiblen Umgang mit dem historisch belasteten Stadion, das für die Olympiade 1936 gebaut worden war. Zudem musste eine Balance zwischen Bestand und neuer Architektur gefunden werden. An den Umbau des Stadions gab es viele Anforderungen: Der Oberring sollte saniert, der Unterring für 76000 Sitz- und 4000 Stehplätze umgebaut werden. Gemäss dem Fifa-Reglement1 musste eine Tribünenüberdachung erstellt werden. Erschwert wurde die Sanierung durch die Ausführung der Bauarbeiten bei laufendem Spielbetrieb im Stadion. In der kompletten Bauzeit (2000-2004) musste gewährleistet sein, dass für alle Bundesligaspiele zu jeder Veranstaltung 55000 Plätze zur Verfügung standen, für das jährlich im Mai traditionell in Berlin stattfindende DFB-Pokal-Endspiel sogar 70000. Die Baumassnahmen mussten also genauestens in zeitlich versetzte Bauabschnitte aufgeteilt und für die Veranstaltungen angepasst werden.

Ein neues Dach

Eine der anspruchsvollsten Bauaufgaben bei der Sanierung war die Vollüberdachung aller Tribünenplätze. Für die Fussball-Weltmeisterschaft 1974 war das Stadion leicht modernisiert worden. Am auffälligsten waren damals die neuen Teilüberdachungen für die Nord- und die Südtribüne, die von Architekt Friedrich Wilhelm Krahe entworfen worden waren. Denkmalpflegerisch waren sie sehr umstritten, da sie das Stadionoval in seiner Erscheinung stark beeinflussten. Mit der Bewerbung Berlins für die Olympischen Spiele 2000 entstanden neue Entwürfe für den Umbau und die Überdachung, die aber nach dem Ausscheiden Berlins verworfen wurden. Beim Umbau für die Fussball-Weltmeisterschaft 2006 konnten die Ingenieure Krebs und Kiefer nicht auf eine Konstruktion aus Druck- und Zugring für die Dachkonstruktion zurückgreifen, da die Sichtachse zwischen Stadioninnerem und Glockenturm nicht gestört werden sollte. Pylonen und Seilabspannungen im Aussenraum des Stadions waren seitens der Denkmalpflege nicht erlaubt. Doch auch die Stützen des Daches, die sich folglich auf den Tribünen befinden mussten, durften nur eine geringe Sichtbehinderung für die Zuschauer sein. Die Ingenieure erarbeiteten ein umlaufendes Tribünendach, das dank der leichten Kragarmkonstruktion aus Stahl im Bereich des Marathontores unterbrochen werden konnte. Die Haupttragstruktur besteht aus 76 radial ausgerichteten Fachwerkbindern, die mit tangential verlaufenden Unterstützungsträgern verbunden sind. Die Fachwerkträger sitzen auf 20 Baumstützen im Bereich der Tribünenanlage und 132 Aussenstützen oberhalb der mit Muschelkalk verkleideten Aussenpfeiler. 80 dieser Aussenstützen, die Radialbinder, die Baumstützen und der Randunterzug bilden ein Rahmensystem, das das Dach horizontal austeift. Die restlichen Aussenstützen sind Pendelstützen, in ihrem Inneren verlaufen die Entwässerungsrohre des Daches.

Die Binderpaare der Baum- und Aussenstützen wurden erst vormontiert und dann bis Mai 2004 von einem Kran aus in die Konstruktion gehoben, da Gerüste und Hebezeug im Stadion durch den laufenden Spielbetrieb nicht möglich waren. Alle Bauetappen wurden zwischengesichert und einzeln abgenommen. Die weite Auskragung des Daches zur Mitte des Stadions musste innerhalb der Dachkonstruktion ausgeglichen werden. Rückwärtige Verankerungen oder ein Durchbohren der Muschelkalkpfeiler waren seitens des Denkmalschutzes als Option ausgeschlossen worden. Der Querschnitt der 68 m spannenden Radialträger gleicht einem Flugzeugträger. Die maximale Konstruktionshöhe von 5.10 m liegt oberhalb der Stützen, an den Innen- und Aussenrändern des Daches ist sie auf ein dünnes Band minimiert. Die Träger wurden im äusseren Dachrand umlaufend mit einem dreieckförmigen Stahlbetonhohlkasten verstärkt, der jeweils hinter den Baumstützen zusätzlich mit Ortbeton verfüllt wurde.

Anhand eines Modells wurde das Lastverhalten der im Grundriss 300u230 m grossen Dachhaut im Grenzschichtwindkanal der Fachhochschule Aachen2 untersucht. An 450 Druckmessstellen konnten die Lastanfälligkeit für jede Windrichtung sowie Windstärken zwischen 13 m/s und 45 m/s bestimmt werden. Mit den Ergebnissen konnte ein leichtes Tragsystem für die Dachhaut konstruiert werden, das sich weder aufschwingt noch flattert. Gebäudefugen trennen die Last-abtragkonstruktionen voneinander, damit deren Lage sich bei Temperatureinwirkung nur wenig verändert. Auftretende Zwängungen im Dach werden durch radiale Bewegungsfugen im inneren und äusseren Dachbereich minimiert. In den Untergurt wurden neben der Beschallung auch Ketten von Leuchtstoffröhren integ-riert, die das Oberdach anstrahlen und die Tribünen indirekt beleuchten. Dank dem integrierten Lichtband im inneren Oval konnten die bisherigen Pylonen der Flutlichtanlage und die Lautsprechertrichter im Aussenraum entfernt werden.

Dachmembran

Die optische Leichtigkeit verdankt das Stadiondach der filigranen, grobmaschigen Stahlkonstruktion und der transluzenten und transparenten Dachhaut. Im inneren Dachrand wurde auf einer Fläche von 6000 m² punktgelagertes und teilvorgespanntes Verbundsicherheitsglas verwendet und damit das feingliedrige Tragwerk noch stärker betont. Über den Tribünen sollten die Dachmembrane unauffällig sein und Dachober- und -unterseite verkleiden. Die Lichtverhältnisse im Stadion durften dabei nur gering beeinträchtigt werden.

Für die 55000 m² Dachober- und -unterseite kamen schliesslich ungebleichte und alterungsbeständige Glasfasermembrane mit PTFE-Beschichtung zum Einsatz. Die Unterseite ist schalldurchlässig für die integrierte Tonanlage, der Zuschauer kann ausserdem die beleuchtete Stahlkonstruktion im Inneren des Daches sehen. Im Dachzwischenraum liegen auch die Erschliessungsstege für Wartung und Reinigung. Halterungen für die technische Ausstattung wurden ebenso eingebaut.

Die erst bräunliche Dachmembran bleicht mit der Zeit aus, sie hellte schon während der Bauzeit auf.
Die robuste Membran sollte theoretisch selbst beim Beschuss mit Feuerwerkskörpern keine Brandspuren davontragen. Die jetzige Gestaltung des Daches ist entsprechend den Anforderungen der Denkmalpflege von aussen sehr unauffällig und verändert den historischen Bau in seiner Wirkung kaum. Im Stadioninneren hebt sich die feingliedrige Konstruktion deutlich vom historischen Gebäude ab.

TEC21, Fr., 2006.06.09



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09. Juni 2006Katinka Corts-Münzner
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Zentralstadion Leipzig

Im Januar 2000 wurde der Grundstein für das neue Leipziger Stadion im begrünten Wall des bisherigen Zentralstadions gelegt. Den Basler Architekten Wirth+Wirth war es wichtig, die unter Denkmalschutz stehende Wallanlage möglichst nicht zu verändern.

Im Januar 2000 wurde der Grundstein für das neue Leipziger Stadion im begrünten Wall des bisherigen Zentralstadions gelegt. Den Basler Architekten Wirth+Wirth war es wichtig, die unter Denkmalschutz stehende Wallanlage möglichst nicht zu verändern.

Die Frankfurter Wiesen im Westen der Leipziger Innenstadt wurden bereits in den 1920er-Jahren für die Planung einer „Grosskampfbahn“ nahe der Innenstadt in Betracht gezogen. Nach Planänderungen wurde ein Fest- und Aufmarschgelände, der „Platz der 300000“, angelegt. Zum sächsischen NSDAP-Gautag 1938 wurde er in „Adolf-Hitler-Feld“ umbenannt. Werner March, der Architekt des Berliner Olympiastadions, schlug auf dem Gelände 1939 den Bau eines komplexen Sportfeldes mit Grossstadion vor. Dieses wurde durch den Zweiten Weltkrieg jedoch nicht mehr ausgeführt.

In den 1950er-Jahren wurden auf dem Areal Planungen für ein 800000 m² grosses „Leipziger Sportforum“ umgesetzt (Bilder 1 und 2). Es grenzt im Westen an das Elsterbecken, einen Kanal aus den 1920er-Jahren, südlich liegt das 200000 m² grosse Gelände der ehemaligen Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK). Als erste Bauten entstanden ein Schwimmstadion (1950-1952) und das oval in Nord-Süd-Achse ausgerichtete Zentralstadion (1955-1956, Chefarchitekt Karl Souradny). Das Stadion bestand aus einem 23 m hohen und 8 m breiten Wall, der aus 1.5 Mio. m3 Kriegstrümmern aus der Stadt Leipzig errichtet wurde. Die bauliche Nutzung der Trümmer war in einem Stadtbebauungsplan von 1948 festgelegt worden. Der Wall wurde im Osten und Westen untertunnelt, um einen Zugang zur Festwiese zu erhalten. 1954 fand auf der Festwiese das 1. Turn- und Sportfest der DDR statt, 70000 Zuschauer besuchten das Grossereignis. Im Zentralstadion fanden auf 75 Sitzreihen 100000 Zuschauer Platz, was die Sportanlage zur grössten Deutschlands machte. Freitreppen führten in den Stadionkessel, der auf dem Aussenkranz begrünt wurde.

Südlich vom Turm wurde auf dem ehemaligen „Adolf-Hitler-Feld“ eine nahezu quadratische Festwiese mit 41000 m² angelegt. Über 180000 freiwillige Helfer beteiligten sich an den Bauarbeiten. 1956 wurde das Zentralstadion anlässlich des Turn- und Sportfestes eröffnet. Hier fanden in den folgenden Jahren viele Grossereignisse statt: sieben Turnfeste, 49 Fussball-Länderspiele, über 50 internationale Fussballspiele sowie zahlreiche Leichtathletik- und Radsportveranstaltungen. Nach 1995 galt das Zentralstadion als nicht mehr wettbewerbsfähig, da seine Erneuerung nach internationalen Normen jahrelang verpasst worden war. Von 1992 bis 1995 trainierte hier der VfB Leipzig wegen Baufälligkeit seines eigenen Stadions. Die Zuschauerkapazität war durch die Sperrung baufälliger Blöcke damals bereits auf 37000 begrenzt. Mit dem Umzug des VfB musste die Stadt pro Jahr die 3 Mio. DM Betriebskosten für das Stadion alleine aufbringen. Der Erhalt der alten Anlagen rentierte bald nicht mehr für die wenigen sportfremden Veranstaltungen, und Pläne für eine gross angelegte Erneuerung wurden geschmiedet. In der Zwischenzeit fanden die Sportanlagen zwischen den umgebenden Wohngebieten dennoch ihre Nutzer: Die Aussenbecken des alten Schwimmstadions wurden seit 1992 von 50000 Besuchern pro Saison als Freibad genutzt. Unterhalb des Stadionwalls schlug 1993 ein Trödelmarkt seine Zelte auf, der sich schliesslich einmal rund um das Stadion zog und zu den grössten Märkten Europas zählte. Die Festwiese südlich des Stadions etablierte sich zu einem attraktiven Ort für Open-Air-Konzerte. 1991 nahm der Olympiastützpunkt Leipzig in den Gebäuden der DHfK seine Arbeit auf und forderte bessere Sportstätten für seine immerhin 213 Sportler, die hier für Olympia (Turmspringen, Schwimmen, Kanurennsport, Leichtathletik) trainierten.

Neues und altes Zentralstadion

Mit der Bewerbung des Deutschen Fussball-Bundes (DFB) um die Austragung der Fussball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland meldete Leipzig sein Interesse als Austragungsort an. Eine Sanierung des bestehenden Stadions war aber nicht möglich, da der Tabellenstand der Leipziger Fussballclubs kein Stadion für 100000 Zuschauer gerechtfertigt hätte. Nachdem der DFB Leipzig als Austragungsort berücksichtigen wollte und staatliche Finanzhilfe zugesagt war, lobte die Stadt 1996 einen mehrstufigen internationalen Projektwettbewerb zum Neubau eines Stadions aus. Die darin geforderte Grösse für 45000 Zuschauer sollte Leipzig Viertelfinalspiele der Fussball-WM bringen. Das Konzept des Planungskonsortiums der Basler Architekten Wirth+Wirth gewann den Wettbewerb. Ihr Entwurf sah die Einbettung eines neuen, kompakteren Stadions in den begrünten Wall des Zentralstadions vor und wollte den umgebenden Park in seiner Struktur erhalten (Bild 2). Die letzte Veranstaltung im alten Zentralstadion wurde der Evangelische Kirchentag am 27. Juli 2000, an dem 90000 Besucher teilnahmen.

Nachdem alle Bauvorbereitungen, wie archäologische Untersuchungen, Probebohrungen und die Erstellung der Hauptzufahrt, abgeschlossen waren, begann die Planierung im Stadionoval. Im Januar 2001 wurden die ersten der 720 bis zu 25 m tiefen Rammpfähle gesetzt und Bautrassen angelegt, die später zu Auffahrten ins Parkhaus werden sollten. Bereits im Juli wurden die Treppenhäuser gebaut, im Oktober die Fertigteilstützen gesetzt. Die Sitzreihen für das Stadion wurden von Januar bis April 2002 montiert, im Mai fand im rohbaufertigen Stadion das 31. Deutsche Turnfest statt. Neben der Veranstaltung erschwerte auch eine Baukrise, die zu Insolvenzen beteiligter Baufirmen führte, den Stadionbau.

Verschiebbares Dach

Das auffälligste am Stadion ist die 17 m hohe Überdachung, deren je zwei Tribünen- und Kurvendächer aus Stahl-Fachwerkträgern aufgebaut sind (Bild 6). Schwierig war bei der Dachplanung der sehr schlechte Baugrund nahe des Flusses, der keine Pylonen oder grosse Abspannungen nach aussen zuliess. Die Stützen, Träger und Seile des Stadiondaches wurden so verbunden, dass eine selbsttragende Schale entstand, die nur auf dem oberen Tribünenrand aufliegt. Zwei seilunterspannte Bogenbinder in Längsrichtung sowie Quer- und Längsträger bilden das Tragwerk für das Dach, das eine Fläche von 28000 m² überdeckt. Der erste der beiden 565t schweren Bogenbinder wurde im November 2002 mit mehreren Kränen in die Konstruktion gehoben. Die 202 m langen Hauptträger sind um 26° nach aussen geneigt und zum Dachaussenrand durch Seile stabilisiert und zu den Fassadenstützen abgespannt. Die Bogenbinder bestehen aus Rundrohren als Obergurt, für die Unterspannung kamen Druckstäbe und Seile zum Einsatz. Die Kurventräger hängen an den Bogenbindern und stützen sich zusätzlich auf Stiele am Tribünenrand ab. Eingedeckt wurde das Dach später mit 24000 m² Trapezblech mit Dämmschicht und Folie. Für den inneren Dachbereich wurden UV-durchlässige Polykarbonatplatten eingesetzt, um eine ausreichende Besonnung des Rasens im Stadion zu erreichen. Geplant ist eine mobile Überdachung für das Spielfeld. Da bisher aber noch kein akuter Bedarf nach einer verschliessbaren Grosshalle bestand, wurde sie als additives Element geplant.

Veränderter Gesamteindruck

Die Grünanlagen rund um das Zentralstadion bilden einen wichtigen innerstädtischen Teil des Grünstreifens von Elster und Auenwald. Durch den Baumbestand an der Aussenseite des alten Stadionwalls ist ein grosser Teil des Stadions nicht zu sehen, das weiss glänzende Dach jedoch zeigt deutlich, dass ein Neubau eingefügt wurde. Dieser ist mit der alten Bausubstanz örtlich und funktional verbunden. Das alte Hauptgebäude (Bild 5) dient als Eingangsgebäude für die VIP und die Presseleute und nimmt temporäre Stadionfunktionen auf. Der Besucher erlebt die Verbindung zwischen Alt und Neu beim Überqueren der Brücken, die von den historischen Tribünen zur Eschliessungsebene des neuen Stadions führen. In frei stehenden Kuben sind Cateringstationen und Sanitäranlagen untergebracht. Im Oberrang der Haupttribüne befinden sich die VIP-Logen, die separat von den Parkplätzen unterhalb der Stadionränge aus erreicht werden können. Ein Teil des Erdgeschosses vom alten Hauptgebäude, das teilweise für Stadionveranstaltungen mitgenutzt wird, ist für die Parkhauszufahrt umgebaut worden.

Positiv zu beurteilen ist der sensible Umgang der Architekten mit der Substanz. Im Vergleich zur Sanierung des Olympiastadions Berlin mussten die Architekten beim Leipziger Stadion mit einem wesentlich geringeren Kostenrahmen auskommen. Mit den minimalen Eingriffen in den bestehenden Stadionwall für Erschliessung und Parkebenen, dem Schutz von Baumbestand und Treppenanlagen und der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Ortes ist die Arbeit denkmalpflegerisch gelungen.

Der Preis der WM 2006

In Leipzig wurde zusätzlich die Infrastruktur ausgebaut. Die südlich des Sportforums verlaufende Jahnallee wurde verkehrsberuhigt und die Tramlinie teilweise in einen Tunnel verlegt. Die neu entstandene Kreuzung kann als Nord-Süd-Verbindung für den Autoverkehr genutzt werden, was das anliegende Wohngebiet Waldstrassenviertel stark entlastet. Bis zur WM wird auch der Vorplatz des Leipziger Hauptbahnhofs, ein wichtiger Knotenpunkt für alle Reisenden, komplett behinderten- gerecht ausgebaut. Die Betreibergesellschaft muss nun mindestens für die nächsten 15 Jahre die grosse Aufgabe meistern, die Finanzierung und Auslastung der Stätten des Sportforums zu sichern. Die Festwiese hat immer noch grosse Anziehungskraft auf Konzertveranstalter, die Arena wird mit ihrem begrenzteren Platzangebot auch ihre Auslastung finden. Für das Fussballstadion bleibt zu hoffen, dass sich genug Veranstalter finden, die 30000 bis 45000 Plätze füllen können. Oder dass die Leipziger Vereine wieder in die erste Bundesliga aufsteigen und das Stadion mit ihren Fans füllen.

TEC21, Fr., 2006.06.09



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30. Mai 2006Katinka Corts-Münzner
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Müthers Freilichtmuseum

Der Ingenieur Ulrich Müther war der wichtigste Betonschalenbauer der DDR. Die Fussbebauung des Berliner Fernsehturms, die Bobbahn in Oberhof und das Restaurant „Teepott“ in Rostock werden heute noch genutzt. Abseits der grossen Städte aber verfallen Müthers Gebäude. Dabei könnten die Betonkonstruktionen zu Pilgerstätten für Architektur- und Ingenieurtouristen werden.

Der Ingenieur Ulrich Müther war der wichtigste Betonschalenbauer der DDR. Die Fussbebauung des Berliner Fernsehturms, die Bobbahn in Oberhof und das Restaurant „Teepott“ in Rostock werden heute noch genutzt. Abseits der grossen Städte aber verfallen Müthers Gebäude. Dabei könnten die Betonkonstruktionen zu Pilgerstätten für Architektur- und Ingenieurtouristen werden.

Seiner Heimat ist Ulrich Müther treu geblieben. Er lebt wie eh und je in Binz auf Rügen an der Ostsee. Er nennt sich gern „Landbaumeister von Rügen“, denn von hier aus entwarf er in Zusammenarbeit mit verschiedenen Architekten von 1963 bis Ende der 1990er-Jahre weit über 70 Gebäude mit Betonschalendächern. Dazu gehören kleine Buswartehallen und Sportgebäude, Gaststätten und Schwimmbäder, aber auch Rennschlittenbahnen und Grossplanetarien. In allen Bauten finden sich dünne Betonschalen als Dach- oder Wandkonstruktion - sei es als Pilz-, Buckel-, Schirm-, Zylinder- oder Hyparschale. Müthers Schalenkonstruktionen waren zu DDR-Zeiten als Prestigebauten sehr begehrt. Viele, die Müthers Betongebäude kennen, sehen sie als moderne Klassiker.

Von der Tonne zur Schale

Ulrich Müther blieb das Abitur verwehrt, da er aus einer „studierten Familie“ kam, was damals nicht förderlich war. Sein Vater war Architekt und betrieb seit 1922 ein Bauunternehmen auf Rügen. Nach einer Lehre zum Zimmermann war Müther ein Jahr lang Geselle und studierte dann Bauingenieurwesen in Neustrelitz. Als Anfang der 1950er-Jahre bei der „Aktion Rose“ viele Pensionsbesitzer und Privatfirmen der Ostseeküste wegen „Spekulantentums“ enteignet wurden, verloren auch die Müthers ihr Unternehmen. Nach den Arbeiter-unruhen im Juni 1953 erhielten sie die Firma zurück.

In den folgenden Jahren wurde das Unternehmen nochmals durch den Staat umgestaltet: erst zur Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH), dann zum Volkseigenen Betrieb (VEB). Ulrich Müther hatte inzwischen mehrere Jahre in der Bauplanung gearbeitet, ein Bauingenieur-Fernstudium an der TU Dresden aufgenommen und war 1958 Technischer Leiter des Familienunternehmens geworden. „Tagsüber war ich in der Baufirma, nach Feierabend haben meine Frau und ich Projekte gezeichnet. So konnten wir Schalen aus der Schublade ziehen, sobald es eine Anfrage gab.“ Müther konnte die Sonderstellung des Unternehmens ausserhalb eines Kombinates stärken, indem er es immer weiter in Richtung Spezialbetonarbeiten ausbaute. „Für den Schalenbau war in der DDR vieles möglich. Der Staat zeigte gern Neues und war in Bezug auf Bauen nicht so konservativ“, sagt Müther.

Doch wie kam er eigentlich auf die Schalen? Schon vor seinem Studium hatte sich Müther mit Tonnenschalen und ihrer Konstruktion beschäftigt, jedoch konnte der Verlauf von Kräften und Spannungen in mehrfach gekrümmten Schalen noch nicht genau berechnet werden. Müther bekam die Möglichkeit, an einem neuen Lehrstuhl in Berlin zu arbeiten. Nach vielen Modellen und Berechnungen konnte er seine Diplomarbeit über eine gekrümmte Spritzbetonplatte, die als Terrassen-überdachung für ein Binzer Ferienheim (1963) geplant war, fertig stellen und auch ausführen. Sein Professor an der TU Dresden, Hermann Rühle, sass im Nationalen Komitee der IASS (International Association for Shell&Spatial Structures), die 1959 von Eduardo Torroja gegründet worden war. Dank dessen Kontakten konnte Müther 1966 zur Bauausstellung nach Budapest reisen. Dort lernte er wichtige Schalenbauer wie Jörg Schlaich (*1934), Josef Eibl (*1936), Stefan Polónyi (*1930) und Heinz Isler (*1926) kennen. Das Gesehene faszinierte Müther, und er entwickelte in der Folge mit kleinmassstäblichen Versuchsschalen immer neue Schalenformen. Inspiriert wurde er dabei vom traditionellen Schiffbau und seinen Erfahrungen als Segler. Für Modelle verwendete er Segeltuch, für Gussformen Sandhügel.

Eine Versuchsschale wurde früher als Buswartehäuschen genutzt und steht heute noch in Binz (Bild 4). An diesem 7u7 m grossen Vorläuferbau für die Mehrzweckhalle in Rostock Lütten-Klein (1968) konnte Müther messen, wie sich die Schale später bei der Mehrzweckhalle verhalten würde. Müthers liebste Form wurde mit den Jahren das hyperbolische Paraboloid. Die Schale besteht aus einem System gerader Linien, wodurch die statischen Kräfte genau berechnet werden können. So entstehen doppelt gekrümmte Flächen, die mit geraden Brettern geschalt werden können - „Rechenwerk und keine organisch gewachsene Kunst“, wie Müther sagt. Zudem kann die Hyparschale auf jeder Neigung und auf Erdschalung gespritzt werden. Mit seiner weiter-
entwickelten Spritzbetontechnik konnte er dann ohne Schalung bauen, der Beton wurde auf gewölbten Bewehrungsstahl und „Kaninchendraht“ aufgespritzt und blieb daran hängen.

Prestigebauten für den Sozialismus. Seine Bauten machten Müther bekannt und brachten ihm weitere Aufträge. Als in Rostock-Schutow 1966 eine Messehalle gebaut werden sollte, schlug Müther zwei gegeneinander versetzte, 7cm dicke Hyparschalen von je 20u20 m vor. Bei der Einweihung lernte Müther Vertreter der Rostocker Konsumgenossenschaft kennen, die ihn mit dem Bau eines Konsum-Pavillons beauftragten. Gleichzeitig wollte auch die Handelsorganisation (HO), der staatliche Einzelhandel, einen Neubau haben. So baute Müther 1966 das Strandrestaurant „Inselparadies“ in Baabe für die HO (Bilder 6-7) und für den Konsum in Rostock-Warnemünde das Restaurant „Teepott“ (Bild 9), das 1968 in Zusammenarbeit mit den Architekten Kaufmann, Pastor und Fleischhauer fertig gestellt wurde. Für das zweigeschossige „Inselparadies“ plante Müther im Erdgeschoss eine Essensausgabe für Strandgänger, im Inneren führte eine Treppe rund um die Stütze der mächtigen Pilzschale (16.8u16.8 m) ins Obergeschoss. Hier konnten die Gäste im Restaurant sitzen und beim Essen über die Ostsee schauen, auch Tanzveranstaltungen fanden hier statt. Heute sind die Betonkonstruktion und die filigranen Stahlrahmen der Fassade noch erhalten, das Gebäude aber findet keinen Nutzer. Gegen die herrliche Lage in einem Ostseeort, direkt am Strand, steht der touristische Nutzen: Die Hauptferienzeit für die Ostsee ist von April bis August, mit acht Monaten „Winterpause“ sind nur wenige Gebäude in den grossen Kurorten wirtschaftlich zu betreiben.

Lange Zeit stand auch der Warnemünder „Teepott“, ein von drei Hyparschalen überdachtes Gebäude, nach der Wende leer, obwohl die Lage an der Strandpromenade und neben der Westmole touristisch höchst attraktiv ist. Erst 2002 konnte er saniert werden, heute finden sich hier verschiedene Restaurants und kleinere Geschäfte. Für diese Aufteilung wurde allerdings der weite, durchgehende Raum geopfert, der früher das „Teepott“-Res-taurant im Obergeschoss ausmachte. Heute hat man im Inneren das Gefühl, das Dach liege auf den eingezogenen Zwischenwänden auf, obwohl es eine frei tragende Konstruktion ist. Die Sanierung bringt, wie Müther sagt, jetzt erst einmal Geld, später könne man die Leichtbauwände ja wieder entfernen. Der Erfolg gibt ihm Recht. Der Bau konnte durch die Nutzung vor dem Verfall gerettet werden.

In den 1980er-Jahren schaffte Müther es, seine Bauten als Devisen exportfähig zu machen. Für den VEB Carl Zeiss Jena, dessen optische Geräte sozialistische Exportschlager waren, baute Müther im Ausland Kuppeln: zunächst ein Raumfahrtzentrum und Planetarium in Tripolis, dafür gab es Öl aus Libyen. Für die Ausführung der Bauten nahm Müther sein bewährtes Team aus der DDR mit. Der Aufwand lohnte sich, es folgten Planetarien für Kolumbien (1982) und Kuwait (1984), eine Moschee in Jordanien (1984) und das Universarium Vantaa in Finnland (1987). Auch die Bundesrepublik erhielt in Wolfsburg eine Zeiss-Sternwarte. Als Komensationsgeschäft lieferte Volkswagen 10000 Golf an die DDR.

Mit dem Ende der DDR wurde es schwerer für Müther, sich gegen die internationale Konkurrenz auf dem Baumarkt zu behaupten. Zudem waren die Kosten für Baustoffe im Verhältnis zu den erfolderlichen Lohnkosten stark gesunken. Die aufwändige Bauweise wurde bis in die späten 1990er-Jahre nur noch vereinzelt eingesetzt, zum Beispiel für ein Planetarium in Algier (1990), eine Kirche in Hannover (1992) und zwei Radrennbahnen für Eisenhüttenstadt und Cottbus. Diese Aufträge in den ersten Nach-Wende-Jahren konnten aber nicht verhindern, dass Müther 1999 den Konkurs seiner Baufirma anmelden musste.

Neue Nutzung gesucht

Heute versucht der Schalenbauer von damals seine Bauten zu retten, beteiligt sich an Sanierungsplanungen oder legt selbst Hand an. Die Schalen stehen noch, und ihre Konstruktion ist statisch unbeschadet. Weil der Schutz seitens der Denkmalbehörden fehlt, verfallen die Fassaden, der Ausbau wird durch Vandalismus zerstört. Zum akuten Verfall seiner Bauten sagt Müther sarkastisch: „Immerhin ein Härtetest, den die Schalen trotz jahrelangen Leerstands ohne substanziellen Schaden bestanden haben.“ Im Jahr 2000 protestierten renommierte Baufachleute und Historiker gegen den Abriss des völlig intakten Berliner Restaurants „Ahornblatt“. Das Interesse wurde damit sogar in der Tagespresse wieder auf Müthers Bauten gelenkt, der Abriss konnte aber nicht verhindert werden. Jetzt muss der Investor, der das denkmalgeschützte Gebäude zu Gunsten einer klobigen und unattraktiven Blockrandbebauung abgerissen hat, die Aufarbeitung der Baugeschichte leisten und eine Dokumentation über das „Ahornblatt“ finanzieren.

Andere Beispiele zeigen aber, dass auch eine Sanierung und Neunutzung der Schalen möglich ist. In Dresden wurde das ehemalige Ruderzentrum zu einer Sporthalle ausgebaut, die Bauten am Fuss des Berliner Fernsehturms werden für Gastronomie genutzt, der „Teepott“ ist wieder eine Touristenattraktion, und der Strandwachturm in Binz (Bild 10) ist in den Händen seines Erbauers, der ihn liebevoll saniert hat. Die 1968 gebaute Rettungsstation wurde nicht mehr zur Strandsicherung gebraucht. Müther nutzt sie heute als Büro und Vortragsraum, empfängt hier auch spontan Gäste und gibt Interviews. Und der heute 71-Jährige hat immer wieder neue Ideen und Pläne: Im Strandturm gibt es genug Platz für Vorträge, die grossen Fenster können als Projektionsfläche für Filme genutzt werden - die Zuschauer sitzen dann in Strandkörben -, und bald erwartet er die Zulassung zur Standesamt-Aussenstelle für den Strandwachturm.

Müthers Architektur ist ein Kind ihrer Zeit. Die geringe Überbauungsdichte in fantastischen Lagen und die aufwändige Bauweise der Schalen würden sich heute nur schwer rechtfertigen lassen. Umso mehr sollten deshalb die wenigen erhaltenen Exemplare aus der DDR-Nachkriegsmoderne geschützt werden.

TEC21, Di., 2006.05.30



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20. Januar 2006Katinka Corts-Münzner
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Auf zu neuen Ufern

Was tun mit den Löchern, die die Kohlebagger in die Landschaft fressen? Eine Sanierungsgesellschaft flutet in Mitteldeutschland und der Lausitz 46 grössere Restlöcher. Bis 2020 wird so Europas grösste künstliche Seenplatte entstehen.

Was tun mit den Löchern, die die Kohlebagger in die Landschaft fressen? Eine Sanierungsgesellschaft flutet in Mitteldeutschland und der Lausitz 46 grössere Restlöcher. Bis 2020 wird so Europas grösste künstliche Seenplatte entstehen.

Die Lausitzer Landschaft mit ihren ausgedehnten Wald- und Agrarflächen ist stark vom Braunkohletagebau gezeichnet. Wenige Menschen leben heute in der früher wirtschaftlich starken Region zwischen Ostsachsen und Südbrandenburg. Die grossen Städte hier heissen Hoyerswerda, Bautzen und Cottbus und liegen 60–100km von der sächsischen Landeshauptstadt Dresden entfernt. In der Lausitz wurde schon vor den Zeiten des Dritten Reiches und der DDR Braunkohle abgebaut, zum Raubbau kam es aber erst ab 1935. In den 1980er-Jahren sollten 80% des Gesamtenergiebedarfs der DDR mit dem einzigen staatseigenen Energieträger gedeckt werden. Die Industrie durchlöcherte mit der Förderung von bis zu 300 Mio. t Rohbraunkohle pro Jahr bis 1989 die Landschaft, die nach der politischen Wende an den zu vielen nicht nutzbaren Brachen krankte.

Sanierung nach der politischen Wende

Im Rahmen der Privatisierung wurden nach der Wende die unwirtschaftlichen Tagebaue stillgesetzt und die wirtschaftlichen privatisiert. Um weiterhin Energie zur Verfügung zu haben, betrieb der Staat einige Tagebaue befristet weiter im Auslaufbergbau. Die entstandenen Brachen sollten entsprechend dem deutschen Bergbaugesetz saniert werden. Der Bund beauftragte die Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsgesellschaft mbH (LMBV) 1994 mit der Sanierung und Revitalisierung der Restlöcher. Die Einebnung der riesigen Mondlandschaften war jedoch durch das blosse Verfüllen mit Massen nicht zu bewältigen. Renaturierung hiess also, auch Seen entstehen zu lassen.

Die Flutungsprojekte der LMBV umfassen eine 25000ha grosse Seenplatte, die 46 grössere Restlöcher betrifft und künftig ein Drittel der Seenfläche Deutschlands ausmacht (Pläne 1 und 2). Zum Prestige-Objekt des Sanierungsvorhabens wurde der bereits fertig gestellte Cospudener See. Die kleine Ortschaft Cospuden an der südlichen Stadtgrenze von Leipzig musste 1981 dem Kohletagebau weichen. Mit der Stilllegung des Tagebaus 1990 und nach dem Abschalten der Grundwasserhaltung 1991 begannen die Sanierer die kontrollierte Flutung mit Sümpfungswasser aus dem damals noch fördernden Tagebau Zwenkau. Im Jahr 2000 wurde das Dorf Cospuden Namensgeberin für den im Rahmen der Expo entstandenen Landschaftspark bei Markkleeberg. Der 4.3 km2 grosse See ist heute von einer 3 km2 grossen Parkanlage umgeben – mit Strand, Wegenetz, Gastronomie und Hafen.

Das Vorzeigeprojekt aus Mitteldeutschland half den Sanierern auch bei den ersten Wasserbau-Vorhaben in der Lausitz. Auch hier waren die Flutungsbauwerke und die Flutung selbst ein stetiger Erkenntnisprozess. Zu Planungsbeginn gab es kein vergleichbares Projekt, das sich mit dem Thema Flutung in dieser Grössenordnung beschäftigte. Die Bauten und die Überwachungstechnik, die für die Arbeiten an der Lausitzer Seenplatte bisher erstellt und genutzt wurden, sind allesamt Prototypen. Sie wurden in Zusammenarbeit mit Wasserbauingenieuren und Tiefbauern auf der Basis eines Flutungskonzeptes der LMBV geplant und gebaut.

Sicherung und Stabilisierung

Bevor die Flutung beginnen konnte, mussten die steilen Bruchkanten der Abraumkippen gesichert und befestigt werden. Die Kippenböschungen in der Lausitz sind setzungsfliessgefährdet, da sie meist aus gleichförmigen Sanden bestehen, und aufsteigendes Wasser führt schnell zur Verflüssigung und damit potenziell zu Rutschungen. Diese Bewegungen von grossen Kippenbereichen werden Setzungsfliessen genannt. Dieses kündigt sich nicht an, sondern wird plötzlich durch Böschungsbrüche, Sackungen oder Erschütterungen (Initiale) ausgelöst. Innerhalb weniger Minuten rutschten so auch im Mai 1998 12 ha Wald und Grünland – eine Materialmenge von 4.5 Mio. m3 – während der Flutung in den Tagebausee Skado.

Zur Stabilisierung des Bodens dienen so genannte «versteckte Dämme» im Untergrund, die durch Sprengen und Rütteldruckverdichtung hergestellt werden. An der zukünftigen Uferkante werden dammartige Stützkörper durch Überspülen mit Wasser aus vorhandenem Kippenmaterial erzeugt. Der Einbau von nicht verflüssigungsfähigen Materialien wie Bauschutt, Wasserbausteinen oder Schotter hilft beim Bau von Uferböschungen, die im gekippten Bereich auf 1:10 bis 1:30 hergestellt werden müssen. In kurzen und steilen Strandbereichen sichern Gambionenwände die geschüttete Böschung vor dem Abrutschen. Wo Forst, Wiesen und Grünanlagen geplant sind, muss die verdichtete Oberfläche zusätzlich für die Bepflanzung befestigt werden.
Zeitgleich mit den Uferarbeiten entstehen die Einlaufbauwerke. Dazu gehören Heberleitungen, Schleusen, Überleiter von Stauseen und befestigte Kanäle (Bilder 3 und 4). Insbesondere Letztere werden nach der kompletten Flutung der Restlöcher für die Wasserzirkulation in den Seen verwendet (Bild 5). Sie dienen aber auch dem Tourismus, indem sie Touren mit Paddelbooten oder Ausflugsschiffen zwischen den Seen ermöglichen. Die Flutung beginnt, wenn alle notwendigen Genehmigungen vorliegen, die Sicherungsmassnahmen abgeschlossen und die Einlaufbauwerke errichtet sind.

Sümpfungs-, Grund- und Flutungswasser

Das Wasser kommt in geringem Umfang als Sümpfungswasser aus benachbarten aktiven Tagebauen, hauptsächlich aber aus den Flüssen der Region: Spree, Schwarze Elster und Neisse in der Lausitz, Saale und Mulde in Mitteldeutschland. Unkontrolliert darf das Wasser aber nicht abgeführt werden, da dies zu Austrocknungen und Verödungen in den Flussverläufen führen könnte. Eine Entnahmeregelung bestimmt, wie hoch der ökologische Mindestbedarf der Gewässer ist und wie viel Wasser für die Flutung entnommen werden darf. Die Wasserabnahme ist nicht kontinuierlich, sondern nur in Abstimmung mit den zuständigen Wasser- und Umweltbehörden der Bundesländer und nach Kontrolle der Pegelstände der Flüsse möglich. Bei hohem Wasserstand können auch benachbarte Talsperren ihren Überschuss an die Lausitz abgeben. Allerdings sind die Einlaufbauwerke nur im Dauerbetrieb wirtschaftlich. Sie sind nicht in der Lage, Hochwasser wie im Jahr 2003 komplett abzufangen. Die volle Öffnung der Schleusen hätte damals zur Überlastung und vielleicht zu ihrer Zerstörung führen können. Immerhin führt die Neisse normalerweise etwa 7–10 m³/s Wasser, beim Hochwasser hingegen über 250 m³/s.

Neben dem Flutungswasser dringt auch das aufgehende Grundwasser durch die geschütteten Braunkohle-abraumkippen (Bild 7). Diese enthalten in der Lausitz 0.2–1.0% Schwefelanteile, die vom Wasser gebunden werden. Auch Pyrit- und Markasitanteile im Wasser sind für die Übersäuerung des Seewassers verantwortlich (Bilder 6 und 8). In diesem Zustand dürfen die Seen noch nicht an die öffentlichen Gewässer angeschlossen werden. Mit künstlich eingeschwemmtem Kalkschlamm und Kalkfilterwänden sowie dem einströmenden Flutungswasser aus natürlichen Fliessgewässern werden die sauren Gewässer neutralisiert.

Von dem aufsteigenden Grundwasserspiegel sind auch einzelne Städte der Region betroffen. Einige Stadtteile sind erst mit dem Tagebau, teilweise unterhalb des vorbergbaulichen Grundwasserspiegels, entstanden. In den betroffenen Städten wie Hoyerswerda mussten deshalb unterirdische Ableitungssysteme mit Horizontalfilterbrunnen gebaut werden. Diese Brunnen sammeln das aufgehende Grundwasser und leiten es zurück in die Restlöcher – dieser Kreislauf wird zum Schutz der Stadt immer aufrechterhalten werden müssen.

Leben in der neuen Welt

Wenn man sich heute auf den Radwegen der neuen Seenlandschaft bewegt, glaubt man sich fast in der Mecklenburgischen Seenplatte. Die Flutung der Restlöcher soll auch eine Wiedergutmachung für den jahrzehntelangen Raubbau an der Natur sein. Die gigantischen Seen bleiben in den nächsten Jahren dennoch Fremdkörper in der Natur – die Bergbaunarben in der Landschaft heilen nur langsam. Noch ist sichtbar, dass Wälder, Felder und ganze Dörfer dem Tagebau weichen mussten. Neue Hafensiedlungen werden geplant, viel Wald gepflanzt und Wegenetze angelegt, damit die Seen natürlicher aussehen. In der künstlich geschaffenen Landschaft fehlt noch vieles an Infrastruktur, besonders in einem vermittelnden Massstab zum Menschen. In einigen Jahren aber werden Trampelpfade zum Ufer führen und die Seenlandschaft-Bewohner ihre Grillplätze über die Uferwiesen verteilt haben. Auf den Campingplätzen, die von Regionalplanern heute an die Uferbereiche gezeichnet werden, tummeln sich dann im Sommer etliche Touristen – und in einigen Jahrzehnten fügen sich die Seen vielleicht ganz selbstverständlich in die Lausitzer und die mitteldeutsche Landschaft ein.

Mit steigendem Wasserstand in den Tagebauseen verschwinden die Spuren der Industrie. Auf den Landzungen standen früher die Abbaugeräte, heute vernetzen sie Wasser und Umgebung
(Bild: LMBV)

TEC21, Fr., 2006.01.20



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