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25. Januar 2019Tina Cieslik
TEC21

Lernen in Pastell

Im Herbst 2017 konnte die freiburgische Gemeinde Granges-Paccot ihre neue Primarschule eröffnen, im Frühling 2018 folgte die dazugehörige Doppelturnhalle. Die Bauten von Oeschger Schermesser Architekten schaffen einen attraktiven Ort an komplexer Lage. Im Innern überzeugt die Schule mit einer überraschenden Farbgebung.

Im Herbst 2017 konnte die freiburgische Gemeinde Granges-Paccot ihre neue Primarschule eröffnen, im Frühling 2018 folgte die dazugehörige Doppelturnhalle. Die Bauten von Oeschger Schermesser Architekten schaffen einen attraktiven Ort an komplexer Lage. Im Innern überzeugt die Schule mit einer überraschenden Farbgebung.

Als die Verkehrsplaner in den 1960er-­Jahren die Autobahn A12 Vevey–Bern projektierten, wählten sie im Raum Freiburg eine Linienführung entlang des nordwestlich der Stadt gelegenen Lava­pesson-Tals, mitten durch den Weiler Granges-Paccot (der Name leitet sich ab vom spätlateinischen «grangia» = Scheune). Rund 50 Jahre später ist nicht nur die benachbarte Kantonshaupt­stadt gewachsen, auch das Gebiet zwischen den «Scheunen» wurde durch Wohnquartiere ergänzt.

Granges-Paccot ist inzwischen mit der Gemeinde Givisiez und Freiburg zu einem Siedlungsgebiet zusammengewachsen – durch das eben eine Autobahn führt. Die Bevölkerungszahl der Gemeinde hat sich in den vergangenen 20 Jahren verdoppelt. Vor allem Familien sind zugezogen, die Zahl der Schulkinder hat sich gar verdreifacht. Das bestehende Primarschulhaus von Chantemerle von 1977 wurde zu eng. Ende 2013 schrieb die Gemeinde einen offenen Wettbewerb für einen Neubau mit Doppel­turnhalle aus, den Oeschger Schermesser Architekten aus Zürich für sich entscheiden konnten.

Das dreieckige, rund 20 000 m² grosse Grundstück illustriert die Folgen der einstigen Verkehrs­planung: Zwar liegt es zentral inmitten der drei Haupteinzugsgebiete der Schule, aber auch direkt neben der A12, die die Gemeinde von Ost nach West durchschneidet. Die Schülerinnen und Schüler von ennet der Autobahn überwinden das Hindernis via Route de Chavully, die die Fahrbahn als Brücke überquert und dem neuen Schulzentrum auch den Namen gab. An der Süd- und Ostseite des Perimeters hingegen liegt ein kleines Wäldchen, durch das ein Fussweg zum heutigen Schulgebäude führt. Durch die Setzung der Bauten, die Erschliessung und die Fassadengestaltung gelang es den Architekten, die Stimmung des Walds einzufangen und jene der hochfrequentierten Autobahn für die Nutzerinnen und Nutzer auszublenden.

Verfeinerte Weiterentwicklung

Das im September 2017 fertiggestellte Schulzentrum Chavully ist der zweite realisierte Bau des Büros. Schon der erste, die Primarschule Avry, lag im Kanton Freiburg (vgl. TEC21 26–27/2017), und auch die folgenden – alles Siegerprojekte aus Wettbewerben – sind Schulhäuser in der Romandie: das Collège de La Sarraz VD (Fertigstellung Sommer 2019), die Primarschule Praroman der Gemeinde Le Mouret FR (Wettbewerb Herbst 2018) und die Primarschule Champsec in Sion VS (Wettbewerb Herbst 2018). Die Zürcher scheinen mit ihren Ideen die lokalen Bedürfnisse und Erwartungen an ein Schulhaus besonders gut zu erfüllen.

Tatsächlich weisen die beiden Bauten in Avry und Granges-Paccot Gemeinsamkeiten auf, allen voran die expressive Farbgebung und die Volumetrie, zwei in Lage und Höhe leicht versetzte Kuben, die sich aus dem in zwei Richtungen geneigten Hang ergibt. Auch die Erschliessung ist verwandt: Statt Korridoren gibt es eine Abfolge ineinander verschränkter Hallen, die auch für Gruppenarbeiten genutzt werden können. Zusammen mit der identitätsstiftenden Holzfassade und der Setzung der Volumen war diese Aufsplittung des Raumprogramms in einen kindgerechten Massstab einer der Gründe für den Wettbewerbsgewinn.

Der östliche, der Stadt Freiburg zugewandte Bau beherbergt die Schule mit Klassen für rund 250 Kin­der inklusive Spezialräumen und sechs Kinder­gärten. Im westlichen, zur Autobahn hin gelegenen Bau ist die auch für ausserschulische Aktivitäten genutzte Doppelturnhalle untergebracht. Sie wirkt als Lärm- und Sichtschutz für das Areal und begrenzt den zwischen beiden Gebäuden liegenden Aussen­bereich, der sich so atmosphärisch zum Wald hin orientiert.

Jeweils ein Zugang an der Südost- und an der höher gelegenen Nordwestfassade führen in die Eingangshalle, die sich als mäandrierender Raum durch die beiden Kuben zieht und so Durch- und Ausblicke ermöglicht. Entlang der Nordwest- und Nordostfassade sind drei je 101 m² grosse Kindergärten aufgereiht, im Zentrum liegt der Kern mit Sanitärräumen und Fluchttreppenhaus. Eine zentrale Treppe führt in den um ein halbes Geschoss nach oben versetzten Quadranten, der das identische Raumprogramm gespiegelt enthält und zum Aussenbereich vis-à-vis der Turnhalle führt.

Die beiden Obergeschosse sind analog angelegt, allerdings reihen sich hier jeweils vier 81 m² grosse Klassenzimmer entlang der Fassaden. Die versetzte Anordnung der beiden Gebäudeteile erlaubt es, dass die Mehrheit der Klassenzimmer übereck belichtet wird, was besonders zum benachbarten Wäldchen hin eine spezielle Lichtstimmung ergibt.

Holz, Beton, Farbe

Die Fassadengestaltung verstärkt diese Assoziation. Die Architekten entschieden sich für eine Fassade aus druckimprägnierten, pigmentierten und mit einem doppelten Anstrich versehenen Weisstannenholz, das Tragwerk des Baus hingegen ist aus Beton. Die Holzelemente gliedern die Aussenhaut sowohl horizontal als Sturzbänder als auch vertikal. Dabei wechseln sich je ein bodenbündiges grosses Fenster, ein durch Öffnungen in der vertikalen Lattung semitransparentes und ein geschlossenes Holzelement ab. Gesimse betonen die ­einzelnen Geschosse. Im Innern wirken die semitransparenten Elemente wie ein Blick zwischen Baumstämmen hindurch auf eine Lichtung – eine Waldschule inmitten der Agglomeration.

Im Innern schufen die Architekten zwei Welten: jene des Materials und jene der Farbe. Die Erschlies­sungszonen aus hellem Sichtbeton ergänzt ein elfenbeinfarbener Terrazzoboden und eine durch ein Beton­fries von der Wand abgesetzte Akustikdecke aus Eichenholz. Die breiten Fensterrahmen, die Türen, Handläufe und Sitzbänke vervollständigen die Holz­palette, matt vernickelte Kleiderhaken dienen als Garderobe oder als Aufhängung für Selbstgebasteltes.

Die Unterrichts­räume kontrastieren dieses aufgeräumte Ambiente mit einer expressiven, aber ruhigen Farb­gebung. Sie sind jeweils monochrom in Pastellblau – in den Kinder­gärten – oder Pastellgelb bzw. -grün in den Klassenzimmern ausgeführt. Die Farbigkeit erinnert an den in Blau und Grün gehaltenen Vorgänger in Avry, wirkt durch den hohen Weissanteil aber deutlich unaufgeregter. Die farbigen Flächen – gestrichene Weissputzwände, eine ebenfalls gestrichene Akustikdecke und ein gegossener PU-Boden – bilden den Hintergrund für die schulischen Aktivitäten.

Trotz oder mit

Mit dem Schulzentrum Chavully werten die Architekten einen schwierigen, vom Verkehr geprägten Ort auf. Durch einfache architektonische Mittel wie den räumlichen Versatz, die Halbgeschosse und die durchaus mutige Farbgebung gelingt es ihnen, einen architektonischen Reichtum zu schaffen, der Kinder und Erwachsene ­gleichermassen anregt und die Anforderungen an ein zeitgenössisches Schulhaus erfüllt.

Mit der Autobahn durchs Dorf haben sich die Bewohnerinnen und Bewohner von Granges-Paccot längst arrangiert. Bauten wie das neue Schulzentrum zeigen, wie an solch extremen Lagen städtebaulicher Mehrwert entstehen kann – sogar für die Kleinsten.

TEC21, Fr., 2019.01.25



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2019|03-04 Freiburger Schule

21. Dezember 2018Tina Cieslik
TEC21

Kratzen für die Ewigkeit

Sgraffito kann mehr als nur Engadiner Häuser zieren. Seine Vielseitigkeit und die lange Haltbarkeit sind auch für heutige Anwendungen attraktiv. Technisch möglich wird dies durch zeitgenössische Putze, die traditionell verarbeitet werden.

Sgraffito kann mehr als nur Engadiner Häuser zieren. Seine Vielseitigkeit und die lange Haltbarkeit sind auch für heutige Anwendungen attraktiv. Technisch möglich wird dies durch zeitgenössische Putze, die traditionell verarbeitet werden.

Sgraffito wird hierzulande praktisch gleichgesetzt mit dem Bautyp des historischen Engadinerhauses. Tatsächlich handelt es sich beim Sgraffito – der Name stammt vom italienischen «(s)graffiare» = ritzen, kratzen – um eine jahrhunderte­alte Technik, die auf der handwerklichen Bearbeitung von Kalkmörtel beruht und in ganz Europa verbreitet ist, teilweise unter anderem Namen oder in einer verwandten Anwendungsweise. In die Schweiz gelangte sie in der Renaissance via Italien und setzte sich hier vor allem im Engadin durch.[1]

Zum einen lag das an den engen Handelsbeziehungen, zum anderen eigneten sich das trockene Klima sowie die zahlreichen Kalkvor­kommen und deren bereits etablierte Nutzung für die Technik. Zum Erfolg trug aber auch der Bautypus des traditionellen Engadinerhauses bei. Während Sgraffito in Italien vor allem städtische Bauten zierte, trans­formierte es die Wirtschafts- und Wohngebäude der Engadiner Bauern zu repräsentativen Bauten. Deren grossflächige asymmetrische Fassaden, die sich aus der Kombination von Struktur und städtebaulicher Konstellation ergaben, liessen sich mittels Sgraffito gliedern.[2]

Dazu kam die Konstruktion: Die unregelmässigen Bruchstein- und Strickbauwände wurden mit einer dicken Kalkputzschicht überzogen, die tiefen, abgeschrägten Fensterlaibungen mit weisser Kalktünche betont. So fügten sich hier Fassadengestaltung und Architektur zu einem markanten Bautyp zusammen, dessen Bildhaftigkeit durch Illustrationen in Kinderbüchern wie dem «Schellen-Ursli»[3] und durch den ­tradierten Formenkatalog ins kollektive nationale Gedächtnis eindrang und auch heute noch wirkt.

Handwerk, Kunst, Kunsthandwerk

Für das Engadin typisch sind die grafischen Hell-Dunkel-Motive. In anderen europäischen Regionen ­setzten sich auch mehrfarbige Sgraffiti durch, vor allem ab dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. So sind reich geschmückte Jugendstilfassaden aus Österreich bekannt, in Deutschland oder in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion findet man ab den 1930er-Jahren oft politisch angehauchte Motive.

Der Basisaufbau für ein Sgraffito besteht aus einem mindestens 20 mm dicken Grundputz, der Un­ebenheiten des Mauerwerks ausgleicht und eine flächendeckende Haftung gewährleistet. Darüber folgt ein dunkler mineralischer Putz als Kratzgrund. Früher wurde für die Färbung Russ oder Holzkohle verwendet, heute sind es Pigmente. Anschliessend trägt man eine helle Kalkschlämme «al fresco» auf, also solange der Verputz noch feucht und im Abbinden begriffen ist. Sie ist die eigentliche Kratzschicht. Bei bunten Motiven sind es mehrere verschiedenfarbige Schichten.

In die oberste Schicht wird das Motiv als Vorriss geritzt, anschliessend kratzt man die feuchte Kalkschlämme als Linie oder Fläche heraus, sodass der dunkle Grundputz an die Oberfläche tritt und ein leichtes Relief ­entsteht. Als Kratzwerkzeug kann ein einfacher Nagel dienen. Bei mehrfarbigen Sgraffiti ist die Technik schwieriger, da der Bildaufbau umgekehrt werden muss: Zuerst werden die Details angelegt, die Umrisse werden erst zum Schluss sichtbar.

Das eigentliche Kratzen oszilliert je nach Ausführendem und Anspruch zwischen Kunst und Handwerk. So gibt es Motive, die mit dem Zirkel vorgeritzt sind, oder sich wiederholende Formen, die mittels Schablonen aufgetragen werden. Daneben gab und gibt es aber auch immer die freien Zeichnungen, die poetische Motive wie Fabelwesen oder auch künstlerische Interpretationen zum Thema haben, wie man sie aus den 1930er- bis 1960er-Jahren kennt, sowie die typischen Sinnsprüche der Engadinerhäuser. Die Ausführenden waren und sind dementsprechend sowohl Handwerker als auch Künstler, die neben den traditionellen Motiven auch eigene Bildwelten realisieren.

Mehr als Oberfläche

Faszinierend an Sgraffito ist die Verbindung von ­Flüchtigkeit und Dauerhaftigkeit: Durch den Al-fresco-Auftrag nass in nass entsteht ein ephemerer Moment, anschliessend bildet sich durch die Karbonatisierung des Kalkmörtels eine feste Verbindung zwischen Farb- und Putzschicht, was auch das Sgraffito haltbar und witterungsresistent macht. Das Wasser verdunstet, der Kalk verbindet sich mit Kohlendioxid aus der Luft. So wird der Putz wieder zum Ausgangsmaterial Kalkstein, der chemische Kreislauf schliesst sich.

­Heute gibt es vor allem im Engadin zahlreiche über 300-­jährige Sgraffiti in hervorragendem Zustand. Bedroht sind sie gemäss Johannes Florin von der Bündner Denkmalpflege denn auch weniger vom Alterungsprozess als durch Neuerungen. Durch Um- oder Einbauten für heutige Ansprüche ändert sich oftmals das Innenraumklima und damit auch jenes in der Wand, was zu Schäden an den Sgraffiti führen kann. Und natürlich sind die Sgraffiti auch den Launen des Zeitgeists unterworfen: So wurden um die Wende zum 20. Jahrhundert zahlreiche Ornamente im Engadin übermalt, bis in den 1970er-Jahren der Wind kehrte und die historischen Darstellungen wieder hervorgeholt wurden. Das Gute an der Technik: Wird der Putz lediglich übermalt, sind die Ornamente nicht unwiederbringlich verloren.

In den letzten Jahren liessen vor allem in Deutschland energetische Instandsetzungen zahlreiche Beispiele aus den 1950er- und 1960er-Jahren hinter einer Aussendämmung verschwinden, oder sie wurden im Zuge einer Komplettsanierung zerstört. Auch dies ein Zeichen des Zeitgeists, immerhin waren Fassadenverzierungen um die Jahrtausendwende in der Architektur verpönt, und Aspekte der Energieeffizienz gewannen an Bedeutung. Schliesslich sorgten auch indust­riell hergestellte Materialien und das Aufkommen von Wärmedämmverbundsystemen für ein Verschwinden der Technik – Standardisierung, Garantien und Planbarkeit: bekannte Feinde des Handwerks.Revival? Ja, gern!

Doch wie in vielen anderen Bereichen könnte auch hier die Fusion zweier Herangehensweisen zu einer Weiterentwicklung und damit einer Wieder­belebung des Handwerks führen. Franz Bieri, Putz­experte bei Keimfarben, realisierte zusammen mit dem Architekten Robert Arnold und der Künstlerin Mazina Schmidlin-Könz 2014 ein zeitgenössisches Sgraffito an einem Mehrfamilienhaus in Davos (vgl. «Häuser sollen kommunizieren»). Auf einem ­Mauerwerksuntergrund entschied man sich hier für einen hydraulischen Kalkputz als Grundputz und einen pigmentierten, zweischichtig aufgetragenen feinkörnigen Deckputz mit industriell gefertigten und erprobten Standardprodukten des Unternehmens. Das Sgraffito wurde anschliessend auf traditionelle Art und Weise aufgebracht – das Ergebnis überzeugt in ästhetischer und bisher auch in technischer Hinsicht.

Franz Bieri würde allerdings sogar noch weiter gehen: Seiner Ansicht nach könnte Sgraffito auch auf einem Wärmedämmverbundsystem funktionieren. Beispiele für ein vergleichbaren Putzaufbau bei einer Aussendämmung gibt es bereits – allerdings ohne Sgraffito.[4] Bedingung für ein WDVS-Sgraffito wäre eine dickschichtige Netzeinbettung von mindestens 10 mm, um Risse an der Fassade zu vermeiden. Was in der Theorie einfach tönt, verlangt allerdings viel Erfahrung bei der Ausführung: Die Feuchteregulierung der verschiedenen Schichten und der Einfluss der Witterung sind nicht komplett planbar. Das Ergebnis ist in jedem Fall eine «lebendige», aber eben auch unregelmässige Oberfläche, allfällige Ausbesserungsarbeiten sind gestalterisch anspruchsvoll.

Dennoch: Das perfekte Unperfekte – und damit Einzigartige – in der Gestaltung ist längst wieder en vogue. Das gilt auch für Fassaden. Mutige Architek­tinnen und Architekten sind also herzlich eingeladen, die erste Sgraffitofassade auf einem WDV-System zu planen.


Anmerkungen:
[01] Die Angaben zur Sgraffitogeschichte und -technik beruhen auf der Publikation «Sgraffito – eine traditio­nelle Putztechnik im Engadin» von Hartmut Göhler in: Über Putz. Oberflächen realisieren und entwickeln (vgl. TEC21 27–28/2012, S. 11).
[02] Die Engadinerhäuser sind gemäss der romanischen genossenschaftlichen Dorf- und Wirtschaftsorganisation jeweils zu einem Dorfplatz mit Brunnen hin orientiert. Mit ihren beiden Eingängen, dem Eingangstor in den Sulèr (Vorraum zu Stube, Küche, Vorratskammer und Scheune) und der Zufahrt zum Stall an der Stirnseite ergeben sich deshalb unregelmässige Fassadengliede­rungen. Vgl. Duri Gaudenz, «Das Engadiner Haus» in: Hans Hofmann, Unterengadin, Calanda Verlag, Chur 1982.
[03] Dessen Autorin, Selina Könz (auch: Chönz), war die zweite Ehefrau des Architekten Iachen Ulrich Könz und Mutter des Künstlers Steivan Liun Könz. Beide restaurierten historische Sgraffiti im Engadin und fertigten auch eigene Werke an, darunter z. B. die Fassade des Hauses zum kleinen Pelikan an der Schipfe in Zürich.
[04] Vgl. Über Putz. Oberflächen entwickeln und realisieren, gta Verlag, Zürich 2012, S. 86–117.

TEC21, Fr., 2018.12.21



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2018|51-52 Sgraffito – gestern, heute, morgen

21. Dezember 2018Tina Cieslik
TEC21

«Häuser sollen kommunizieren»

Das Haus Sura in Davos überrascht mit einer ausdrucksvollen Sgraffitofassade. Der Entwurf und die Umsetzung stammen von ­Mazina Schmidlin-Könz. Im Gespräch erzählt die Künstlerin von der speziellen Zusammenarbeit und der Qualität des Unvorhergesehenen.

Das Haus Sura in Davos überrascht mit einer ausdrucksvollen Sgraffitofassade. Der Entwurf und die Umsetzung stammen von ­Mazina Schmidlin-Könz. Im Gespräch erzählt die Künstlerin von der speziellen Zusammenarbeit und der Qualität des Unvorhergesehenen.

Hoch am Sonnenhang über Davos, direkt am Waldrand, steht trutzig das Haus Sura. Neben den benachbarten Hotelpalästen wirkt es trotz seiner fünf Geschosse nicht besonders mächtig, aber mächtig besonders: Umlaufende Sgraffiti zieren die grauen Fassaden. Mysteriöse Inschriften und archaische Ornamente, Formen und Muster scheinen eine geheimnisvolle Botschaft auszusenden.

Das Innere ist profaner, die Baugeschichte hingegen ist es nicht: Als Spekulationsobjekt mit vier identischen Ferienwohnungen kam der von einer Generalunternehmung geplante Bau 2010 auf den Markt. Die heutige Bauherrschaft kaufte statt einer Wohnung gleich das ganze Projekt und liess es zu einem Ferienhaus nach eigenem Gusto abändern. Neben Wellness- und Fitnessräumen beherbergt der 2014 fertig gestellte Bau Suiten und ­Einzelzimmer, die als Ganzes oder individuell gemietet werden können.

Für die Architektur zeichnet der Küssnachter Architekt Robert Arnold verantwortlich (vgl. «‹Das Spontane ist die Qualität›»). Mit der Gestaltung der Fassade beaufragte er die Künstlerin Mazina Schmidlin-Könz aus der Architekten- und Künstlerdynastie Könz (vgl. Kasten unten). Sie entschied sich, die Fassade in traditioneller Sgraffitotechnik auszuführen (vgl. «Kratzen für die Ewigkeit»), setzte aber auf eine individuelle Auslegung der bekannten Motive. Das Ergebnis ist ein Bau, der zugleich zeitgenössisch und wie aus der Zeit gefallen wirkt.

TEC21: Frau Schmidlin-Könz, bei der Fassaden­gestaltung des Hauses Sura in Davos haben Sie tra­ditionelles Sgraffitohandwerk angewendet, die Gestaltung jedoch ist zeitgenössisch. Was waren Ihre Überlegungen dazu?
Mazina Schmidlin-Könz: Für mich war von Anfang an klar, dass ich an diesem Ort gern ein Sgraf­fito realisieren möchte. Aber ich wollte eine Neuinterpretation, kein Abmalen bekannter Motive mit dem Zirkel. Dazu kam die Farbe, eine Reminiszenz an den Ort mit seinem grauen Kalkstein und den orangen Färbungen der Eiseneinsprenkel. So wächst der Bau quasi aus dem Fels heraus. Der Architekt war sehr offen und akzeptierte meine Ideen. Und er half mir, auch die Bauherrschaft davon zu überzeugen.

TEC21: Wie liefen Planung und Ausführung konkret ab?
Mazina Schmidlin-Könz: Ich habe zunächst eine Fassadenabwicklung des Architekten erhalten, darauf beruhte mein erster Entwurf. Anschliessend fertigte ich einige Modelle, weitere Fassadenentwürfe und Fassadenmusterplatten an. Für die definitive Ausführung wurde die Fassaden in 14 jeweils etwa 60 m² grosse Abschnitte eingeteilt, die Fläche, die etwa einem Tageswerk entspricht. Zu diesen 14 Abschnitten kamen die Sonderflächen wie Laibungen bei den Terrassen oder beim Keller dazu, die wir ganz zum Schluss bear­beitet haben. Meine zwei Mitarbeiterinnen und ich arbeiteten von oben nach unten.
Wichtig ist eine gute Zusammenarbeit mit einem handwerklich versierten Gipser, der den Verputz auftragen muss. Wir verwendeten einen verglätteten hydraulischen Kalkputz mit kleinem Zementanteil. Der auf den Grundputz aufgetragene Deckputz wird zweilagig 3 bis 4 mm oder einlagig 6 mm dick auf­getragen. Man darf ihn nicht verdichten, damit die nachfolgenden Lasuren gut eindringen können.
Sgraffito ist eine Al-fresco-Technik: Wenn der Putz noch nass, aber schon etwas angetrocknet ist, wird er mit Sumpfkalk überstrichen. Der Sumpfkalk kann mit Wasser mehr oder weniger verdünnt werden und erzeugt so weisse Flächen mit einem unterschiedlichen Deckungsgrad. Zudem habe ich zusätz­liche Schichten mit pigmentiertem Sinterwasser aufgetragen, um die Fassade farbig gestalten zu können. Die Schwierigkeit dabei ist, dass die Sumpfkalk- und Sinterschichten stark verdünnt, also fast farblos sind, der Deckungsgrad und die Farbigkeit folglich erst beim Trocknen sichtbar werden. Beim Auftragen dieser Schichten kann man die Gestaltung deshalb noch nicht erkennen. Erst nach dem Abbinden des Deckputzes ist die Farbigkeit vollständig sichtbar. Um diese Schichten gestalterisch kontrollieren zu können, sind vorgängig Muster und eigentliche individuelle Rezepte zu erstellen. Nach dem Auf­tragen kann der noch feuchte Putz auch bei den nicht gestrichenen Flächen gekratzt werden. Korrekturen können nach dem Kratzen keine mehr angebracht werden. Wir haben die gesamte Fassade freihändig mit einem Nagel bearbeitet. Und auch das Wetter muss mitspielen: Es darf nicht regnen oder zu kalt sein, sonst trocknet die Fassade mehrere Tage nicht. Bei weniger als 4 °C bindet der Putz nicht mehr ab.

TEC21: Was sind typische Schwierigkeiten oder Fehler bei der Herstellung von Sgraffiti?
Mazina Schmidlin-Könz: Man benötigt einen ausreichend grossen Zeitraum, um die Arbeiten ausführen zu können. Zudem muss der Putz mit der traditionellen Sumpfkalktechnik ausgeführt werden. Moderne kunststoffvergütete und dünn aufgetragene Putze eignen sich nicht. Und selber hergestellte Putzmischungen würden zudem das Problem der Produktehaftung erzeugen.

TEC21: Auf welche Grundlagen haben Sie sich bei den Motiven bezogen? Beim Sgraffito an den historischen Engadinerhäusern gibt es ja fast eine Art Formen­katalog für die einzelnen Bauteile.
Mazina Schmidlin-Könz: Ich habe die traditionellen Motive wie Schrift, Ornamentik und geometrische Formen neu interpretiert. Sgraffito ist faszinierend, weil es so lebendig ist. Es gibt durch die Kratztechnik eine Tiefenwirkung, die weit über jene des reinen Farbbauftrags hinausgeht, ein Spiel mit Licht und Schatten. Für dieses Haus wollte ich aber eher eine Art Hülle erzeugen. Ich bin auch Textilgestalterin, was man beim Haus Sura auch sieht. Die Fassade wirkt sehr textil.
Mein Entwurf diente bei der Ausführung als Basis, aber so, wie ich ihn umsetzte, gab es darin spontane Elemente. Ich wollte nicht einfach den Plan kopieren, und manche Entscheidungen hingen auch davon ab, welche Erfahrungen ich vor Ort machte. Mit dieser potenziellen Ungenauigkeit hatten die Bauherrschaft und die Behörden allerdings Mühe.
Für mich muss Sgraffito spontan sein. Eine Kopie der historischen Motive ist der falsche Weg – auch wenn viele Handwerker so arbeiten. Unser Farb- und Formempfinden hat sich weiterentwickelt. In der Malerei versuchen wir ja auch nicht, eine bessere Mona Lisa zu malen. Wir müssen versuchen, wieder mehr Gefühl zu zeigen. Das funktioniert aber nur, wenn man den Mut hat, sich von seiner Entwurfszeichnung zu lösen. Man erkennt das gut, wenn man die gezeichneten Entwürfe mit der realisierten Fassade vergleicht: Es gibt eine Ähnlichkeit, sie ist aber kein identisches Abbild. Man muss die Freiheit haben, den Moment einfliessen zu lassen. Und vor Ort ausprobieren können, wie das Material reagiert.

TEC21: Wie ist die Resonanz auf den Bau?
Mazina Schmidlin-Könz: Unterdessen sehr positiv. Wenn ich vor Ort bin und höre, was die Leute sagen, die vorbeilaufen – der Bau wird immer angeschaut. Und das ist es ja, was Häuser machen sollten: mit den Menschen kommunizieren. Architekten haben heute Angst vor der Kunst. Sie sollten mehr Mut haben, mit Künstlern zusammenzuarbeiten. Früher gab es in dieser Hinsicht mehr Freiheiten: Die Hausbesitzer kannten die Sgraffitokünstler und vertrauten ihnen. Heutzu­tage geht es leider meist zuerst ums Geld, dann um die Absicherung und dann erst ums Projekt.

TEC21, Fr., 2018.12.21



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TEC21 2018|51-52 Sgraffito – gestern, heute, morgen

21. Dezember 2018Tina Cieslik
TEC21

«Das Spontane ist die Qualität»

Das Haus Sura in Davos ist ein Beispiel für die zeitgenössische Interpretation von Sgraffito. Der Architekt Robert Arnold erläutert die Zusammenarbeit mit der Künstlerin Mazina Schmidlin-Könz.

Das Haus Sura in Davos ist ein Beispiel für die zeitgenössische Interpretation von Sgraffito. Der Architekt Robert Arnold erläutert die Zusammenarbeit mit der Künstlerin Mazina Schmidlin-Könz.

TEC21: Herr Arnold, beim Bau des ­­Hauses Sura in Davos hatten Sie vonseiten der Bauherrschaft viele Freiheiten. Wie kam es dazu?
Robert Arnold: Das war ein Glücksfall. Die Bauherrschaft hatte Vertrauen und uns einen Freipass ­ge­geben. Bestellt hatte der Bauherr «das Nonplusultra». Ich habe mir zunächst lang überlegt, was das be­deuten könnte. Letztendlich bin ich auf die Frage der Qualität gestossen, der Wertigkeit. Während meiner Ausbildung hatte ich im Architekturbüro von Albert Caviezel in Vitznau gearbeitet. Er war eng mit dem Künstler Steivan Liun Könz befreundet, der zahlreiche Sgraffiti im Engadin und auch im Unterland realisiert hat. Daran erinnerte ich mich, über diesen Weg bin ich beim Sgraffito gelandet. Als Ausführende empfahl mir Albert Caviezel Steivan Liuns Nichte Mazina Schmidlin-Könz, die ebenfalls Sgraf­fiti realisiert.

TEC21: Wie musss man sich die Zusammen­arbeit zwischen Ihnen und Frau Schmidlin-Könz vorstellen? Das Volumen war zu dieser Zeit ja bereits fertig. Oder hatte der Entscheid für Sgraffito auch architektonische Entscheidungen zur Folge?
Robert Arnold: Es gab einige Fragen, die sich erst daraufhin lösten, z. B. beim Vordach oder beim Dachrandabschluss. Auch die flächenbündigen Fenster haben wir extra gemacht, um keine Reminiszenz an die markanten Laibungen beim historischen Engadinerhaus zu wecken. Daneben war auch die eigentliche Konstruktion eine Anpassung an das Sgraffito. Ursprünglich war die Konstruktion mit Aussendämmung geplant, wie das heute Standard ist. Für mich war aber klar: Sgraffito bedeutet ein zweischaliges Mauerwerk. Neben den architektonischen Details änderte sich auch meine Rolle als Architekt. Mein Standpunkt war: Hier arbeitet eine Künstlerin, die Rückendeckung braucht. Ich habe mich eher als Coach gesehen.

TEC21: Und Sie hatten das Vertrauen, dass das auch gut kommt?
Robert Arnold: Nach dem ersten Telefonat hatte ich Mazina eine Fas­sadenabwick­lung geschickt. Dann kam eine Zeichnung retour. Emotional hatte ich eine Vor­stellung vom Projekt, hätte sie aber nicht darstellen können oder sagen, worin sie besteht. Die Zeichnung entsprach genau diesen Ideen. Von da an habe ich nur noch versucht, ihr die Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Wir mussten zum Beispiel ein Farb- und Materialkonzept eingeben – mit einem freien Sgraffito funktioniert das nur bedingt. Das war administrativ die grösste Hürde. Dann hat sich aber herausgestellt, wie tragfähig das Konzept war. Alle Be­­tei­ligten haben ihre Opposition relativ schnell aufgegeben, als sie die Wertigkeit der Idee verstanden hatten.

TEC21: Es gab also eine grundsätzliche ­Opposition?
Robert Arnold: Das war die grundsätzliche Opposition gegen das Ungenaue, das Unvorhergesehene. Wie soll jemand in der heutigen Zeit etwas bewilligen, von dem er nicht weiss, wie es letztendlich ausgeführt wird? Tatsächlich ist aber genau dies die Qualität dieser Fassade, dass es spontane Entscheidungen gab. Am wichtigsten ist, dass der Bau eine Selbstverständlichkeit entwickelt, kein Spektakel.

TEC21, Fr., 2018.12.21



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05. Oktober 2018Tina Cieslik
TEC21

Sach- und Dachgeschichten

Die Basler St. Jakobshalle wurde instand gesetzt und erweitert. Der Arbeitsgemeinschaft Degelo Architekten / Berrel Berrel Kräutler gelang nicht nur eine zeitgenössische Neuinterpretation: Mit dem aktuellen Umbau haben sie die Halle neu erfunden.

Die Basler St. Jakobshalle wurde instand gesetzt und erweitert. Der Arbeitsgemeinschaft Degelo Architekten / Berrel Berrel Kräutler gelang nicht nur eine zeitgenössische Neuinterpretation: Mit dem aktuellen Umbau haben sie die Halle neu erfunden.

Unglaubliche siebeneinhalb Zentimeter misst das Dach der 1976 eröffneten St. Jakobshalle an seiner dünnsten Stelle. Ganze 4.65 m hingegen ist die maximale Höhe des 127 m langen Vordachs beim neu angefügten Foyer Nord. Die Zahlen machen deutlich: Die aktuelle Erweiterung ist auch eine Geschichte von zwei Dächern.

Als Mitte der 1970er-Jahre der Wunsch nach einer neuen Sporthalle im Basler Osten aufkam, entschieden sich Giovanni Panozzo und Albert Schmidt, Architekt und Ingenieur der späteren St. Jakobshalle, für eine filigrane Konstruktion aus Leichtbeton, die, wenn auch inzwischen aufgrund zusätzlicher Nutzungen punktuell verstärkt, noch heute intakt ist. Anfang der Nullerjahre wurde der Bedarf nach einer Modernisierung des 22 000 m² grossen Gebäudekomplexes aber wegen gestiegener Sicherheitsanforderungen immer dringlicher.

Tatsächlich war es nicht die Konstruktion der Grossen Halle mit 2800 m², die Anpassungen nötig machte, sondern die sich verändernden Rahmenbedingungen: Ursprünglich vor allem als Sportstätte konzipiert, bietet der Bau neben zwei weiteren Hallen (Kleine Halle und Halle 2) auch diverse Säle und Veranstaltungsräume (vgl. Grundrisse %%gallerylink:42848:hier%% und %%gallerylink:42849:hier%%). Und der Kern, die Grosse Halle, beherbergt inzwischen einen bunten Mix an Events, von der Generalversammlung über Fernsehshows bis zu Musikkonzerten und dem wichtigsten Mieter, dem Tennisturnier «Swiss Indoors». Entsprechend ge­stiegen war der Bedarf an Technik, an Fluchtwegen, an Zu- und Anlieferung, an Verpflegungsmöglichkeiten.

Der Kanton liess daher in einer Studie Abriss und Ersatzneubau der St. Jakobshalle prüfen. Dabei kam man allerdings zu dem Schluss, ein Erhalt des nicht denkmalgeschützten Baus sei in finanzieller Hinsicht deutlich günstiger – vor allem aus der Überlegung heraus, dass internationale Veranstalter, konfrontiert mit einem mehrjährigen Unterbruch, dauerhaft auf andere Spielstätten ausweichen könnten.

Radikaler Richtungswechsel

Den vom Kanton ausgeschriebenen Generalplanungswettbewerb für die Instandsetzung des Baus konnte im Juni 2013 die Arbeitsgemeinschaft Degelo Architekten / Berrel Berrel Kräutler für sich entscheiden – ausschlag­gebend dafür war unter anderem die enge Zusammen­arbeit mit den Ingenieuren von Schnetzker Puskas, eine fruchtbare Kooperation, die sich durch gesamte ­Planungs- und Bauzeit hindurch fortsetzte. Die Planer präsentierten als nur eines von zwei Teams einen ­städtebaulichen Befreiungsschlag: Ursprünglich befand sich der Haupteingang an der Brüglingerstrasse. Wollte man die St. Jakobshalle von der gleichnamigen Tramhaltestelle aus erreichen, musste man zunächst eine Treppenflucht über einen kleinen Hügel hinter sich bringen – die Haupterschliessung wirkte wie ein Nebeneingang ohne jede Grosszügigkeit.

Mit der Verlegung des Haupteingangs an die St. Jakobs-Strasse ist diese unglückliche Disposition nun gelöst. Ein Glücksfall war, dass die dafür nötigen Flächen bisher unbebaut geblieben waren. Heute betritt man den Bau direkt über das repräsentative Foyer Nord, die St. Jakobshalle hat damit eine Adresse und ein Gesicht. Das Foyer dient zum einen als Verteiler in die unterschiedlichen Hallen und Veranstaltungsräume, zum anderen kann es auch selber als Eventfläche genutzt werden. Wie ein Mantel legt es sich gemeinsam mit dem ebenfalls angebauten Foyer Süd um die Bestandbauten.

So entsteht eine neue Einheit – und Mantelnutzung wird einmal ganz wörtlich verstanden. Die Aufwertung dieser Räumlichkeiten, vor allem für das Catering, war neben der Adressbildung ein weiteres Anliegen für die Modernisierung. Denn die Events bilden zwar den Anziehungspunkt, den Umsatz aber macht die Gastronomie. Bisher waren die Verpflegungsstände vor allem in Temporärbauten untergebracht. Neu sind sie einheitlich in den Innenausbau entlang der Verkehrsflächen integriert.

Das Wettbewerbsprojekt brachte neben der verbesserten Erschliessung noch eine weitere wichtige Neuerung: die Erhöhung der Zuschauerkapazität in der Gros­sen Halle. Mit bisher 9000 Plätzen lag sie knapp unter der magischen Fünfstelligkeit und weit entfernt von der Konkurrenz, dem Zürcher Hallenstadion für 13 000 Zuschauer. Um im europäischen Wettbewerb mithalten zu können, sollten es schon 12 000 sein, eine Zahl, die die Halle nach dem aktuellen Umbau problemlos erreicht. Denn tatsächlich sind die Zu­schauerzahlen weniger von der Hallengrösse abhängig als von den Fluchtwegen und den Massnahmen für den Brandschutz.

Robuste Eleganz

Im Januar 2015 bewilligte der Grosse Rat des Kantons Basel-Stadt einen Kredit von 105 Mio. Franken für die Instandsetzung und Modernisierung des Bauwerks, im Frühling 2016 begann die erste Etappe der insgesamt drei Bauphasen. Um einen unterbruchsfreien Veranstaltungsbetrieb zu gewährleisten, fanden die Arbeiten jeweils in den spielärmeren Sommermonaten statt.

Das war aber nur eine der Herausforderungen. Eine weitere zeigte sich beim Innenausbau: Die Vielfalt an Events verlangt einen Spagat in der Gestaltung. Robust genug für ein Rockkonzert, angemessen gediegen für ein Galadinner sollten die Materialien sein. Die Architekten lösten die Aufgabe mit zurückhaltender Eleganz und Eichen- und Redgumholz an den Wänden, mit einem Boden aus grossformatigem Feinsteinzeug und farbigen Differenzierungen.

Die drei Hallen treten wie früher als Blackboxes in Erscheinung – je kleiner die Halle, desto heller das gewählte Schwarz. Die sie umfliessenden Nebenräume und Verkehrsflächen sind in neutralem Weiss gehalten. Für Atmosphäre sorgen die unterschiedlichen Möglichkeiten der Beleuchtung. Über sieben Licht­kuppeln flutet Tageslicht ins Innere des Foyers Nord, ergänzt durch eine Grundbeleuchtung aus eigens entwickelten LED-Leuchtringen, die zugleich noch Zu- und Abluft beinhalten (vgl. «Luft im Dach»). Bei einem intimeren Anlass können in die Decke in­tegrierte LED zugeschaltet werden. Der Clou für astronomische Connaisseurs: Sie sind massstäblich als Sternbilder angeordnet.

Wo sind all die Fenster hin?

Neben all der Freude über eine alte Halle, die wie ein Neubau wirkt, bleibt aber ein kleiner Wermutstropfen: eine alte Halle, die wie ein Neubau wirkt. Denn der einstige Sichtbeton ist unter Verputz und einer Dämmschicht verschwunden – und mit ihm die unterschiedlich grossen Fenster, die die Fassaden gliederten. Die Dämmung der Fassade und das Schlies­sen der Öffnungen waren allerdings Vorgaben im Wettbewerb. Die Fenster hatten zunehmend zu Problemen bei der Verdunkelung geführt – Veranstalter wünschen heute eine Blackbox mit Kunstlicht. Zudem gab es immer wieder Lärmklagen der Anwohner. In dieser Form ist der Umbau ein Zugeständnis an die Nutzung und wurde nur durch die fehlende Unterschutzstellung der Halle möglich. Er verbessert aber die innere Organisation und stärkt den architektonischen Ausdruck des Gesamtbaus. Das eindrückliche Dach der Grossen Halle kann immerhin noch im Innenraum erlebt werden.

Sein jüngerer Bruder, das weit auskragende Foyerdach, offenbart seine Geheimnisse dagegen nur dem Kenner. Zwar sind seine Dimensionen an der Fassade sichtbar; dass es über seine eigentliche Funktion hinaus auch die für Grossevents notwendige Gebäudetechnik beherbergt (vgl. «Luft im Dach»), lässt sich daran nicht ablesen. Das Dach wird zum Dreh- und Angelpunkt der Modernisierung: Es schafft innen und aussen einen neuen adäquaten Eingangs- und Foyerbereich und sorgt für die Adressbildung. Darüber hinaus bildet es den konstruktiven Rahmen für die baulich notwendigen Ertüchtigungen (vgl. «Neu eingebettet») und beinhaltet die Gebäudetechnik. Man darf gespannt sein, ob auch dieses Konzept in 40 Jahren noch seine Gültigkeit haben wird.

TEC21, Fr., 2018.10.05



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07. September 2018Daniela Dietsche
Tina Cieslik
TEC21

Heilsversprechen in Beton

Der Mariendom im nordrhein-westfälischen Neviges zieht seit 1968 Besucherinnen und Besucher in seinen Bann. Seine Bau- und Planungsgeschichte ist ähnlich facettenreich wie ein biblisches Epos – und sie dauert weiter an: Derzeit wird das Dach der Betonkonstruktion von Architekt Gottfried Böhm aufwendig instand gesetzt.

Der Mariendom im nordrhein-westfälischen Neviges zieht seit 1968 Besucherinnen und Besucher in seinen Bann. Seine Bau- und Planungsgeschichte ist ähnlich facettenreich wie ein biblisches Epos – und sie dauert weiter an: Derzeit wird das Dach der Betonkonstruktion von Architekt Gottfried Böhm aufwendig instand gesetzt.

Seit rund 350 Jahren pilgern Gläubige nach Neviges, um zur Heiligen Maria zu beten. Seit rund 50 Jahren sind es auch Architekturinteressierte: 1968 wurde hier ein Bauwerk fertiggestellt, das zu Recht als Ikone der deutschen Nachkriegsarchitektur gilt. Architekt Gottfried Böhm (*1920) – neben Frei Otto einziger deutscher Pritzker-Preisträger – gelang es damals, eine plastische Form für eine zeitgenössische Wallfahrtskirche zu finden, die auch heute noch fasziniert.

Die Marienwallfahrt in Neviges geht zurück bis ins 17. Jahrhundert. 1676 hatte ein Franziskanermönch beim Beten vor einem Kupferstich, der die unbefleckte Empfängnis zeigte, eine Marienerscheinung. Die Heilige soll ihn angewiesen haben, ihr Abbild nach Neviges zu tragen und dort zu verehren – so die Legende. Die Wahrheit dürfte profaner gewesen sein: Seit der Reformation war das Bergische Land protestantisch. Mit einer Wallfahrtskirche konnte die katholische Kirche in der Region Präsenz markieren. Das gelang: Über die Jahrhunderte wuchs die Marienwallfahrt zu einer Massenveranstaltung, ihren Höhepunkt erreichte sie nach dem Zweiten Weltkrieg mit jährlich 350 000 Pilgerinnen und Pilgern.

Die 1728 fertiggestellte Pfarrei- und Wallfahrtskirche St. Mariä Empfängnis platzte aus allen Nähten, die vorher schon mehrfach genommenen Anläufe für eine neue Wallfahrtskirche wurden konkret. Im September 1960 fiel der Entschluss für den Neubau, anschliessend dauerte es aber noch einmal zweieinhalb Jahre, bis das zuständige Erzbistum Köln zum Wettbewerb lud. 17 Architekturbüros, mit wenigen Ausnahmen alle aus der Region Köln, waren gebeten, eine Vision für eine zeitgenössische Wallfahrtskirche zu entwickeln. Das war mehr als eine Alibiübung: Der Kölner Erzbischof Josef Kardinal Frings spielte «auch in architektonischen Gestaltungsfragen eine dominante Rolle. Er sah (…) in dem Werk guter Architekten einen Ausdruck der Schöpferkraft Gottes und betrachtete sich deshalb in seinem Einflussbereich als letzte irdische Instanz in Gestaltungsfragen».[1]

Gemeinsam statt frontal

Der Kirchenbau war nach dem Zweiten Weltkrieg eine verbreitete Bauaufgabe. Werke wie die IIT-Kapelle von Mies van der Rohe in Chicago (1952) oder die Marienkirche in Tokio von Kenzo Tange (1961 bis 1964, initiiert und finanziert vom Erzbistum Köln) veränderten das traditionelle Verständnis von Sakralbauten. Viele dieser neuen Bauten entsprachen den Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils von 1962 bis 1965 oder nahmen diese vorweg: Der gemeinsame Gottesdienst rückte wortwörtlich ins Zentrum, der Priester zelebriert die Messe nun mit dem Gesicht zu den Gläubigen, der Altar steht mitten in der Kirche.

Dieses Gedankengut spiegelte sich auch in den Wettbewerbsbeiträgen zum Mariendom. Im Juli 1963 kürte die Jury den schlichten Entwurf von Kurt Faber zum Sieger. Das Siegerprojekt wurde dem Bauherrn Kardinal Frings vorgestellt – mit ernüchterndem Ergebnis: Seine Eminenz war enttäuscht von der Auswahl und befand, es sei noch keine «Lösung gefunden, [...] die als plastischer Baukörper bzw. als Bild und Zeichen einer Wallfahrtskirche befriedigt».[2] In der Folge liess er eine zweite Wettbewerbsrunde stattfinden. Die drei erstplatzierten Büros konnten ihre Entwürfe überarbeiten, ebenso Josef Lehmbrock und Gottfried Böhm, zudem wurde das Raumprogramm redimensioniert. Böhm ging schliesslich im März 1964 als Sieger aus der Konkurrenz hervor.

Die Legende besagt, der bereits stark sehbehinderte Kardinal habe Böhms expressives Projekt im Modell am besten ertasten und verstehen können. Möglicherweise war er aber nur auf der Suche nach einem emblematischen Bau, auch vor dem Hintergrund, dass die Pilgerzahlen inzwischen deutlich zurückgegangen waren und ein starker Anziehungspunkt gesucht wurde.

Räumlich inszenierter Glaube

Neben der ausdrucksstarken Form punktete Gottfried Böhms Entwurf vor allem mit seiner städtebaulichen Disposition. Und zwar nicht mit jener im Kontext der Gemeinde Neviges – der Mariendom wendet ihr quasi den Rücken zu –, sondern mit der internen des mit dem Bau entstehenden Klosterbezirks. Böhm verstand die Wallfahrt als sinnliches Erlebnis und inszenierte sie dementsprechend räumlich: Ein leicht ansteigender Pilgerweg, die Via sacra, führt, flankiert vom Schwesternheim mit den charakteristischen runden Erkern, in einer leichten Neigung zum Mariendom auf dem Hardenberg.

Dort angekommen, betreten die Gläubigen das Bauwerk, dessen Inneres dunkel und schlicht gehalten ist – nichts lenkt ab von der inneren Einkehr. Die einzig schmückenden Elemente sind die ebenfalls von Böhm entworfenen farbig verglasten Fenster, oft mit Rosenmotiven – die Rose ist das Symbol Marias –, die den Raum je nach Lichteinfall in leuchtendes Rot tauchen. Der polygonale Innenraum ist dabei die nahtlose Fortführung des differenzierten Aussenraums, eine für Böhm typische Gestaltung, die sich zum Beispiel auch in der Pflästerung des Bodens manifestiert, der im Material jener des Pilgerwegs entspricht, oder bei den Leuchten, die an Strassenlaternen erinnern.

Entscheid mit Folgen

Konstruktiv formte Böhm den Bau als räumliches Faltwerk aus Stahlbeton, mit einer Oberfläche aus sandgestrahltem Sichtbeton. Die eindrückliche formale Einheit aus Wand- und Dachflächen war allerdings nicht von Anfang an geplant: Der Architekt hatte eine Blei- oder Schieferdeckung mit Foamglasdämmung vorgesehen, allerdings weniger als Witterungs- denn als Wärmeschutz. Um den Bau bis zur Dacheindeckung wasserfest abzuschliessen, war die Decke zweischalig aus wasser­undurchlässigem Beton mit einer dazwischen liegenden Kunststofffolienabdichtung konstruiert. Als der erste Bauabschnitt über der Sakristei fertig betoniert war, schien er der Witterung zu trotzen, und Böhm schlug im Juli 1966 vor, die Bewehrung zu erhöhen und die verbleibenden Dachteile einschalig auszuführen – auch, da der Dom vor allem als «Sommerkirche» genutzt ­werden sollte und um allfällige Reparaturkosten für die Dachdeckung zu vermeiden.[3]

Dies stellte sich letztlich als fataler Entscheid heraus, denn die ersten Feuchteschäden traten bereits nach wenigen Jahren auf. Gegen Ende der 1980er-Jahre beschichtete man die Dachfläche daher mit Epoxidharz, was aber nicht den gewünschten Erfolg brachte. Die starre Beschichtung riss an vielen Stel­len und löste sich teilweise vom Beton­untergrund, sodass weiterhin Wasser in das Innere der Kirche eindrang. Zu Anfang des neuen Jahrtausends wurde die Situation so prekär, dass das Erzbistum eine Expertengruppe unter der Leitung von Peter Böhm, Sohn von Gottfried Böhm und selber Architekt, mit der Dach­instandsetzung beauftragte.

Beim gewählten Verfahren stützte man sich auf Versuche des Instituts für Bau­forschung der RWTH Aachen. Schlussendlich entschied man sich für einen carbonfaserverstärkten Spritz­betonauftrag. Bei einem Teilstück des 300 m² grossen Dachs über der Sakramentskapelle wurde 2017 das Epoxidharz entfernt, das Dach sandgestrahlt und der Stahlbeton instand gesetzt. Carbonfaserbewehrter Spritzmörtel soll das Dach nun optimal gegen Witterungseinflüsse schützen und dauerhaft abdichten – bisher mit gutem Ergebnis (vgl. «Risse, fein verteilt»).

Beton hält, Geld fehlt

Nachdem nun ein Bruchteil der Dachfläche erfolgreich abgedichtet ist, wird seit Juni 2018 im rückwärtigen Bereich ein Abschnitt von rund 800 m² bearbeitet. Die Massnahmen an diesem zweiten Bauabschnitt werden voraussichtlich bis ins Frühjahr 2019 dauern. Die Kosten für den aktuellen Abschnitt teilen sich das Erzbistum Köln, das Kulturstaatsministerium, die Deutsche Stiftung Denkmalschutz und die Wüs­tenrot-Stiftung. Bei einer Restfläche von über 1500 m² ist die – bisher ungesicherte – weitere Finanzierung aber eines der Hauptrisiken.


Anmerkungen:
[01] Karl Kiem, «Vielschichtiger Betonfelsen: Die Wallfahrtskirche in Neviges», in: Wolfgang Voigt (Hg.), Gottfried Böhm. Jovis Verlag, Berlin 2006, S. 60–80, Fussnote 52. Online abrufbar auf www.karl-kiem.net/Neviges/index.html
[02] Zitiert nach: Aktennotiz zur Audienz bei Seiner Eminenz am Dienstag, 10. 9. um 16.30 Uhr, vom 17. Sept. 1963; Bauakten im Generalvikariat Köln. In: Veronika Darius, Der Architekt Gottfried Böhm, Bauten der sechziger Jahre, Beton-Verlag, Düsseldorf 1988, Fussnote 102.
[03] Ebd., Fussnote 111.

TEC21, Fr., 2018.09.07



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07. September 2018Daniela Dietsche
Tina Cieslik
TEC21

Risse, fein verteilt

Seit Jahrzehnten dringt Wasser ins Innere des Mariendoms in Neviges. 2017 wurde ein Teil des Dachs mit carbonfaserbewehrtem Beton abgedichtet, wobei auch die Optik nicht zu kurz kommen durfte. Als Probefläche diente das Dach über der Sakramentskapelle.

Seit Jahrzehnten dringt Wasser ins Innere des Mariendoms in Neviges. 2017 wurde ein Teil des Dachs mit carbonfaserbewehrtem Beton abgedichtet, wobei auch die Optik nicht zu kurz kommen durfte. Als Probefläche diente das Dach über der Sakramentskapelle.

Das Dach des Mitte der 1960er-Jahre erstellten Mariendoms in Neviges nördlich von Wuppertal besteht aus vielen unterschiedlich geneigten Flächen, aus Spitzen, Kanten und Kehlen. Der Bau ist ein räumliches Faltwerk aus Stahlbeton, ohne äussere Abdichtung und ohne Dachein­­de­ckung (vgl. «Heilsversprechen in Beton»). In den letzten Jahrzehnten stellten Exper­ten verschiedene Rissschäden im Stahlbetondach fest. ­

Betroffen sind vor allem die Kehlen, die Übergänge von Wand zu Dach, kompliziert gestaltete Eckbereiche, ­ebene Dachflächen sowie die Arbeitsfugen. Durch feine Risse dringt Wasser ins Innere der denkmalgeschützten Kirche. Ansonsten ist der Bau, der seinerzeit mit wasserundurchlässigem Beton (WU-Beton) mit hohem ­Zementanteil und grosszügiger Bewehrung erstellt ­wurde, in gutem Zustand. In erster Linie geht es bei der aktuellen In­standsetzung also darum, das Dach gegen das Eindringen von betonangreifenden oder korro­sionsfördernden Stoffen zu schützen.

Das Problem ist nicht neu: Das Dach des Ma­riendoms war von Anfang an undicht. Mitte der 1980er-Jahre brachte man eine flächige Beschichtung auf Epoxidharzbasis auf. An einigen undichten Kehlbereichen wurde der Beton gegen PCC-Mörtelplomben ausgetauscht. Das löste das Problem nur temporär, denn die starre Harzschicht machte die thermischen Ver­formungen des Dachs nicht mit und löste sich vom Untergrund. Anfang des neuen Jahrtausends war klar, dass etwas passieren musste, bevor die Bewehrung korrodieren würde.

Gegen Wasser schützen

Zunächst dachte die Bauherrschaft an eine Bleideckung, wie sie im Entwurf von Gottfried Böhm auch vorgesehen war. Dieser Ansatz wurde aber verworfen, weil der vergleichsweise hohe Aufbau von rund 10 cm in den Verschneidungen, in denen teilweise bis zu vier verschieden geneigte Schrägflächen aufeinandertreffen, zu grossen Aufbauten geführt hätte. Die Idee, lediglich die Epoxidharzschicht zu entfernen, die am schlimmsten beschädigten Stellen abzudichten und den Bau dann jährlich zu warten, war wegen der aufwendigen Einrüstung und Einhausung für die Bauherrschaft keine Option.

Das Gerüst ist auch bei den aktuellen Arbeiten die Krux und der grösste Kostentreiber. Wegen der exponierten Lage und der besonderen Bauwerksgeometrie sind aufwendige Gerüste, Zuwegungen und Transporthilfen erforderlich. Zudem finden die Arbeiten – bis auf die finale Decklage – jeweils abschnittsweise von oben nach unten statt, d. h., das Gerüst muss jeweils verschoben und neu den geneigten Flächen angepasst werden. Um die zu bearbeitenden Flächen jederzeit vor- oder nachbehandeln zu können und vor erneuter Verschmutzung während der Mörtelaufträge zu schützen, sind umfangreiche Massnahmen nötig, beispielsweise das zeitweise Beheizen des Schutzzelts bei Temperaturen unter 5 °C.

Selbstheilung durch Verfeinerung

Die wasserführenden Risse einfach mit Mörtel zu verpressen ist nicht möglich, da die Dachkonstruktion aufgrund Temperaturbeanspruchung ständig in Bewegung ist. Eine feine Rissverteilung soll Abhilfe schaffen. Es wurde ein Instandsetzungskonzept mit carbon­bewehrtem Spritzmörtel entwickelt – die Idee dazu stammte von Gottfried Böhms Sohn Peter, der die Arbeiten mit seinem Architekturbüro begleitet. Mit dieser Schutzschicht sollen die sich zyklisch öffnenden Einzelrisse in ein fein verteiltes und damit unschädliches Rissbild im Instandsetzungsmörtel überführt werden. Die Rissbreite wird reduziert und ist somit nicht mehr wasserführend.

Die an den Arbeiten beteiligten Experten des Instituts für Bauforschung der RWTH Aachen schlugen vor, eine 28 mm dicke Mörtelschutzschicht (eingebracht in drei Lagen) flächig zu applizieren und jeweils dazwischen eine textile Bewehrung aus Carbon auf den Dachaussenflächen aufzubringen. Zusammen mit der abschliessenden äusseren Decklage beträgt die Dicke des Schutzsystems ca. 35 mm. Zudem empfahlen sie, jeden Riss zunächst mit einem Enthaftungsstreifen vorzubehandeln. Dadurch soll verhindert werden, dass sich der Einzelriss durch die Schutzschicht fortsetzt.

Die aufgebrachte Schicht wirkt wie eine flächige Beanspruchung auf das Faltwerk. «Wir sprechen hier von zusätzlich ca. 80 kg pro m2», sagt Sergeij Rempel, der das Projekt an der RHTW Aachen begleitete. Trotz der Zunahme der ständigen Belastung bleibt das Dach gemäss der statischen Untersuchung ohne weitere Massnahmen tragfähig. Rempel geht von einer Nutzungsdauer der carbontextilbewehrten Schutzschicht von ca. 100 Jahren aus.

Keine Korrosion dank Carbontextil

Da Carbontextil nicht korrosionsanfällig ist, kann es oberflächennah angeordnet werden und eignet sich somit besonders für dünne Bauteile. Lediglich wenige Millimeter sind zur Sicherstellung der Verankerungskräfte erforderlich. Das im Projekt eingesetzte Carbontextil besteht aus haardünnen Filamenten (Durchmesser rund 7 µm). Mehrere tausend dieser Filamente werden zu Fasersträngen gebündelt und anschliessend zu netzartigen Textilien verarbeitet. Die Textilien werden im Werk mit Epoxidharz getränkt, ausgehärtet und besandet, um eine höhere Bruchspannung des Mate­rials zu erreichen und, so die Hoffnung der Experten, dadurch eine noch feinere Rissverteilung zu erreichen.

Das Institut für Bauforschung der RWTH ­Aachen testete die textile Bewehrung in Kombination mit dem ausgewählten Spritzbeton über Jahre, denn nur mit ausreichend Erfahrung konnte das Instandsetzungskonzept auf den Mariendom in Neviges adaptiert werden. Es wurden sowohl experimentelle Unter­suchungen durchgeführt, bei denen nachzuweisen war, dass die Risse fein genug bleiben, als auch theoretische Tests, um zu zeigen, dass sich die neue Schutzschicht nicht vom Altbeton löst. Weitere Versuche legen nah, dass man die Textilien und den Mörtel bei einem möglichen Rückbau trennen könnte. «Man könnte sogar das Textil anschliessend erneut verwenden», ist Sergeij Rempel überzeugt.

Probefläche instand gesetzt

Nachdem alle Tests abgeschlossen waren, beauftragte die Bauherrschaft ein Unternehmen, eine Teil­fläche instand zu stellen. Gewählt wurde das Dach über der Sakramentskapelle. «Aus meiner Sicht ist das die schwierigste Stelle der Konstruktion», meint Sergeij Rempel.

Nach der Einrüstung und Einhausung der zu bearbeitenden Fläche wurde diese auf Schäden, Fehlstellen und Risse untersucht und kartiert. Zum Auftrag der carbontextilbewehrten Schutzschicht und der Enthaftungsstreifen im Bereich der Risse wurden die Betonflächen mit festem Strahlmittel tragfähig vorbereitet. Dazu wurden alle minder festen Schichten und alle trennend wirkenden Substanzen entfernt. Die vorhandene Epoxidharzbeschichtung und -spachtelung aus den 1980er-Jahren wurde abgetrennt – und erwies sich als erstaunlich hartnäckig: Obwohl sie sich stellenweise vom Untergrund gelöst hatte, liess sie sich komplett nur mit deutlich höherem Aufwand als ursprünglich gedacht entfernen. Poren und Lunker wurden geöffnet, bis das mittlere Korngefüge des Beton­untergrunds sichtbar freigelegt war.

Die markierten Bauteilrisse wurden mittig mit einem 18 cm breiten, elastifizierten, mineralischen Spachtel überdeckt, dem sogenannten Enthaftungs­streifen. Anschliessend wurden die steifen, vorab zugeschnittenen Textilien jeweils unmittelbar an die noch frische Zwischenmörtelschicht angelegt, aus­gerichtet, fixiert und mit Trockenspritzmörtel kraftschlüssig eingebettet. Darauf folgte die zweite Schicht aus Textilbewehrung, bevor die Deckschicht und die Hydrophobierung folgten.

Die verwendete Textilbewehrung lässt sich nur noch in geringem Mass verformen. Deshalb mussten für die Bewehrung der zahlreichen Kehlen, Ecken, Grate und Kanten besondere Formteile im Werk vor­gefertigt werden. In den Bereichen horizontaler oder schwach geneigter Flächen wurden die textilbewehrten Schutzmörtel analog, jedoch händisch eingebaut. Um die Ausführung beurteilen zu können, zogen die Forscher Bohrkerne aus den instand gesetzen Flächen. Dazu wurde ein Prüfstempel mit einem Durchmesser von 50 mm verwendet. Die zugehörige Bohrtiefe betrug 55 mm, sodass der Schnitt bis in den Altbeton reichte.

So wurden die Oberflächenzugfestigkeit und die Abreiss­festigkeit zwischen den Schichten ermittelt. Die mittleren Werte der Abreissfestigkeit lagen deutlich über dem geforderten Wert von 1.5 N/mm2. Die Experten der RWTH Aachen waren vor Ort und kontrollierten während des Spritzens die Schichtdicken und die Ebenflächigkeit. Zum lagegerechten Einbau der Carbonbewehrung waren lediglich Toleranzen von 3 mm zulässig. Ihren guten Eindruck der Ausführung bestätigten die gemessenen Werte, die innerhalb der Sollwerte lagen.

Was ist Original, was Interpretation?

Neben den technischen Eigenschaften der neuen Schicht lag ein Hauptaugenmerk auf deren Erscheinungs­bild: Immerhin gilt der geschützte Bau als Ikone der deutschen Nachkriegsarchitektur, und auch sein Erschaffer, der hochbetagte Architekt Gottfried Böhm, musste mit der Ausführung einverstanden sein.

Nach der Instandsetzung sollen die horizontale originale Schalbrettstruktur und die ursprüngliche Farbe des Altbetons sichtbar sein. Um den rötlichen Farbton zu erhalten, wurden dem Ausgangsmörtel Pigmente (Eisenoxid, Titanoxid) beigemischt. Die Oberflächenstruktur erzeugten die Arbeiter manuell: mit Reibebrett und Glättkelle – ein Vorgehen, das die Denkmal­pflege nicht begrüsste, da es sich dabei nicht um Herstellungsspuren handelt, sondern um ein nachträglich appliziertes Muster. Die Bauherr­schaft konnte sich hier aber durchsetzen: Zum einen strukturiert die Schalungstextur die neu sehr hellen Flächen, zum anderen kaschiert sie leichte Unregelmässigkeiten der neuen Schicht. Die neue, 35 mm dicke Schutzschicht beeinflusst die äussere Form des Bauwerks übrigens nicht – bei Dimensionen von 50 m Höhe und 37 m Breite sowie im Kontext der bewegten Dachlandschaft fällt ihre Höhe visuell nicht ins Gewicht.

Mehr zu reden gab in diesem Zusammenhang die helle Farbe des instand gesetzten Dachs. Tatsächlich wirkt sie im Vergleich zu den noch unbehandelten Flächen sehr sauber, doch der optische Trick mit der Schalungsstruktur funktioniert, und die Pigmente sorgen für ein fast samtiges Aussehen. Ungewohnt hingegen ist die plötzliche scharfe farbliche Trennung von Dach und Wandflächen; ein Effekt, den Gottfried Böhm aller­dings ausdrücklich befürwortet und der in den Entwürfen für den Dom auch immer abgebildet wurde. Inwiefern diese Trennung die plastische Form des Baus, der sich gerade durch die Einheit von Wand und Dach auszeichnet, beeinflusst, lässt sich erst sagen, wenn das ganze Dach renoviert ist. Die Bauherrschaft geht davon aus, dass das Dach allmählich Patina ansetzen wird. Eine Dampfdrucksäuberung der Wände ist angedacht, allerdings würde auch dann ein deutlicher Farbunterschied zwischen Wand- und Deckenflächen sichtbar bleiben.

Der nächste Schritt

Seit Anfang Juni 2018 bereitet die beauftragte Unternehmung die nächste Teilfläche für die Instandsetzung vor, die «Pyramide Nähe Altar» (%%gallerylink:42482:vgl. Dachaufsicht%%) mit 800 m². Das Vorgehen des ersten Teilabschnitts wollen die Beteiligten beibehalten, auch wenn es vonseiten der Bauherrschaft Überlegungen gab, auf den Enthaftungsstreifen über den Rissen zu verzichten. Tatsächlich zeigen die Flächen der nun seit eineinhalb Jahren instand gesetzten Pyramide über der Sakramentskapelle keine der prognostizierten Haarrisse. Die Vermutung: Möglicherweise verteilen die starren Carbonmatten die Spannungen ohnehin bereits über die gesamte Fläche.

Ob diese Theorie in einem allfälligen dritten Berarbeitungsabschnitt getestet werden kann, steht derzeit noch in den Sternen: Die für die gesamte In­standsetzung vorgesehenen rund drei Mio. Euro sind aufgebraucht. Aktuell ist die Bauherrschaft auf der Suche nach finanzieller Unterstützung. Rund 350 Jahre nach der Marien­erscheinung braucht es in Neviges nun wohl Hand­­fes­teres als Glaube, Liebe, Hoffnung.

TEC21, Fr., 2018.09.07



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10. August 2018Tina Cieslik
Paul Knüsel
TEC21

«Lieber freiwillig als mit Zwang»

1998 wurde das erste Haus in der Schweiz mit dem Energiestandard Minergie ausgezeichnet. 20 Jahre später sind es über 46 000 Minergie-Gebäude. Was hinter dem Erfolg steht, erklären zwei Vertreter des nationalen Trägervereins.

1998 wurde das erste Haus in der Schweiz mit dem Energiestandard Minergie ausgezeichnet. 20 Jahre später sind es über 46 000 Minergie-Gebäude. Was hinter dem Erfolg steht, erklären zwei Vertreter des nationalen Trägervereins.

TEC21: Wir gratulieren dem Verein Minergie zum 20. Geburtstag. Was wünscht sich der Jubilar?
Andreas Meyer Primavesi: Qualität und Einfachheit. Die letzten Jahre waren für die Bau- und Immobilienbranche ziemlich turbulent und unter anderem von der Energiestrategie 2050, der Digitalisierung und den tiefen Zinsen geprägt. Wir wünschen uns darum nicht etwas für uns selbst, sondern für die ganze Branche: dass man die Kräfte bündelt und sich aufs Wesentliche besinnt.

TEC21: Auch für den Verein Minergie haben die letzten Jahre einige Veränderungen gebracht; 2017 hat man erstmals substanzielle Korrekturen am Gebäude­standard vorgenommen. Was zeichnet diesen heute aus?
Andreas Meyer Primavesi: Ein Minergie-Haus ist etwa ein Viertel besser in der Energie- und CO2-Bilanz als ein konventioneller Neubau. Berücksichtigt man die niedrigen Betriebs- und Nebenkosten, die günstigeren Hypothekarzinsen oder den Mehrwert einer Minergie-Liegenschaft, dann lohnt sich der Aufwand auch wirtschaftlich. Minergie ist nur unwesentlich teurer und aufwendiger zu realisieren als der Mainstream. Denn ein zentrales Anliegen ist, dass wir möglichst viele Bauträger ansprechen können. Darum ist Minergie das erfolgreichste Gebäudelabel auf dem Markt. Man hat bereits vor 20 Jahren ein Gespür für das Mach­bare entwickelt, sonst hätte es kaum überlebt.

TEC21: Wenn Sie zurückblicken: Wie hat der Verein dies erreicht?
Milton Generelli: Mit Mut zur Innovation: Vor 20 Jahren hat der Standard erstmals eine thermische Bilanz eingefordert; gesetzlich erforderlich war einzig der Qualitätsnachweis für eine gut gedämmte Gebäudehülle. Dennoch war das primäre inhaltliche Anliegen nicht die Energieetikette, sondern die Steigerung des Komforts. Dies hat damals die Akzeptanz erhöht. Energiesparen war nicht populär und wurde eher mit Verzicht in Verbindung gebracht. Darum der Claim «mehr Komfort, mehr Energieeffizienz»: Dieser war den Endkunden einfach zu vermitteln. Doch es ist mehr als nur Mar­keting. Dahinter steckt ein fachlich fundiertes Konzept, das die Anforderungen zur Nutzerbehaglichkeit und qualitativen Gebäudesubstanz kombiniert.
Andreas Meyer Primavesi: Die sportliche Vorgabe bestand darin, das energetische Niveau von Neubauten um den Faktor zwei bis drei zu unterbieten; der Standard verlangte damals einen jährlichen Heizwärmebedarf von 42 kWh/m2 für neue Wohnbauten anstelle der gesetzlich erlaubten 120 kWh/m2. Erstaunlich ist si­cher, dass trotzdem eine solche Breitenwirkung entfaltet werden konnte.
Milton Generelli: Die Messlatte war weder zu tief noch zu hoch. Es hätte strengere Lösungen gegeben, aber die wären nicht derart breitenwirksam gewesen. Es war eben nie die Absicht von Minergie, nur vorbildliche Leuchttürme zu präsentieren, die zwar alles richtig machen, aber keine Verbreitung finden.

TEC21: Welche Rolle spielen die Kantone, die wesentlich zur Gründung des Vereins beigetragen haben?
Andreas Meyer Primavesi: Das enge Zusammenspiel mit den Behörden war sogar sehr wichtig und ist ein zentraler Erfolgsaspekt. Der Standard Minergie wäre ein Nischenprodukt geblieben, hätten sich die Erfinder und die Kantone nicht einigen können. Da waren anfänglich auch Hürden zu überwinden. Richtig vorwärts ging es, als die Kantone und anschliessend auch der Bund den Standard in ihre Energiepolitik integrierten. Dadurch hat sich die Sichtbarkeit wesentlich erhöht. Inzwischen ist Minergie ein Part­nerprojekt zwischen der öffentlichen Hand und der Privatwirtschaft. Es geht darum, dass wir freiwillig etwas leisten, was sonst mit Zwang realisiert werden müsste.

TEC21: Die Zertifizierungsregeln sind im letzten Jahr erneuert worden. Nun darf ein Neubau nicht mehr fossil beheizt werden. Ist das ein Versuchsballon für die Kantone, ihre Gesetze künftig darauf auszurichten?
Andreas Meyer Primavesi: Der Verein ist sich bewusst, dass diese Vorgabe aneckt und im Markt umstritten ist. Dennoch glauben wir nicht, dass die Versorgung mit fossiler Energie Bestandteil des zukunftsfähigen Gebäudestandards sein darf. Nicht nur bei Neubauten, auch bei Sanierungen ist dies zu hinterfragen. Was die Absichten der Kantone diesbezüglich betrifft, bin ich nicht die richtige Ansprechperson. Doch was der Verein tut, ist sicher kein Zufall. Unsere Vision tra­­gen die Kantone massgeblich mit, respektive sie haben bereits bei der Formulierung mitgewirkt. Ein Zweck des Standards ist: Wir sollen nachweisen, dass ein innovatives Baukonzept technisch und ökonomisch machbar ist. Der Gesetzgeber kann dann übernehmen, was er seinerseits für machbar und nachfrageorientiert hält.
Milton Generelli: Wichtig ist, dass wir – wie schon vor 20 Jahren – mutige Impulse setzen. Die neuen Vorgaben sind darum eine logische Fortsetzung. Zentral ist, dabei die Gesamtenergieeffizienz zu betrachten, ebenso wie die Verpflichtung, die Eigenversorgung etwa mit Photovoltaik anzu­streben. Die Technik, die es dazu braucht, gibt es heute schon.

TEC21: Nicht nur die Wärme, neuerdings wird auch der Stromkonsum bei Minergie mitgezählt. Warum hat man diesen Schritt, die Gesamtenergieeffizienz zu betrachten, nicht mit weniger Vorgaben verknüpft?
Andreas Meyer Primavesi: Hätte man zum Beispiel die Anforderungen an die Gebäudehülle komplett fallen gelassen und nur noch auf die Gesamtenergiebilanz gesetzt, hätten das sicher einige als grossen Wurf wahrgenom­men. Aber daraus wären Konflikte mit den kantonalen Gesetzen und den Baunormen entstanden. Das Bewertungssystem ist jedoch so aufgebaut, dass der Zielwert für die Gesamtenergieeffizienz auf unter­schiedliche Weise erreicht werden kann. Die Qualität der Gebäudehülle, der Eigenversorgungsgrad und die gebäudetechnischen Massnahmen können unter­­einan­­der abgestimmt werden. Den zwingenden Rahmen aber setzen die gesetzlichen Anforderungen an die Gebäudehülle und den Mindestanteil an erneuerbarer Energie. Das ist ein weiterer Mehrwert unseres frei­willigen Gebäudestandards: Ein Bauträger erhält mit der Zertifizierung die Sicherheit, dass er sämtliche Vorgaben für eine Baubewilligung erfüllen kann.
Milton Generelli: Wir dürfen nicht vergessen, dass sich der Standard weitgehend auf gültige SIA-Normen abstützt und eine Absicherung bietet, dass diese Grundlagen berücksichtigt werden. Allerdings wird das Bauen immer komplizierter; zusätzliche Qualitäts­aspekte kommen dazu. Den generellen Anstieg der Komplexität darf man Minergie aber nicht zum Vorwurf machen.
Andreas Meyer Primavesi: Ein Übermass an Anforderungen wird uns immer wieder vorgeworfen. Oder es wird wiederholt kritisiert, wie wenig Freiheiten das Konzept bietet. Aber wenn wir nicht genau hinschauen, wie gut die realisierte Bauqualität und der Komfort sind, würden uns substanzielle Baumängel vorgehalten. Nur darum müssen wir jetzt zum Beispiel nicht über Schimmel in Minergie-Häusern sprechen; den gibt es nicht. Auch die Abweichungen in der Energieperformance zwischen Planung und Alltag wären weitaus grösser, als sie sind. Die erfassten Differenzen sind nüchtern betrachtet nicht so riesig. Ein Erfolgsprinzip des Gebäudestandards steckt auch in der Planungssicherheit und im Investitionsschutz.

TEC21: Vereinfachungen waren also bei der letzten Erneuerungsrunde kein Thema?
Andreas Meyer Primavesi: Selbstverständlich hinterfragen wir selbst einiges. Aktuell ist die Belüftung von sanierten Gebäuden ein internes Diskussionsthema. Auf ein Lüftungssystem verzichten oder die Anforderungen fallen lassen werden wir bestimmt nicht. Die Lüftung ist für uns immer noch das richtige Mittel zum Zweck. Aber wir denken an eine flexiblere Beurteilung und schauen, welche neuen Technologien für Anpassungen oder Vereinfachungen genutzt werden können. Wir nehmen Kritik ernst, aber wir hören lieber auf konstruktive, lösungsorientierte Beiträge als auf laute Vorwürfe.

TEC21: Wie tauscht sich der Verein mit der Fachwelt aus, um Probleme aus der Praxis in Erfahrung zu bringen?
Andreas Meyer Primavesi: Wir sind am Erfahrungsaustausch interessiert und führen in allen Regionen regelmässige Treffen mit Architekten und Fachplanern durch. Aktuelle Themen neben der Lüftung sind der sommerliche Wärmeschutz und das Monitoring des Energieverbrauchs. Wir sind uns bewusst, dass es die Balance zwischen zu detaillierten und zu vagen Anforderungen zu halten gilt.
Milton Generelli: Die Neuerungen für die Zertifizierung sind nicht im stillen Kämmerlein entwickelt worden, sondern waren Teil eines zweijährigen Vernehmlassungs- und Bereinigungsprozesses.
Andreas Meyer Primavesi: Das hilft uns. Nach den ersten zwölf Monaten und den Erfahrungen, die wir mit den neuen Zielen und Kenngrössen sammeln konnten, kann ich sagen: Sie kommen gut an.

TEC21: Aber die Pflicht zur Eigenerzeugung von Strom ist kostenrelevant. Wie viel mehr ist für ein Minergie-Haus zu investieren im Vergleich zum konventionellen Niveau?
Andreas Meyer Primavesi: Früher hat der Verein kommuniziert, dass mit Mehrkosten von rund 5 % zu rechnen sei. Doch diese Analysen treffen heute nicht mehr zu, und aktualisierte Angaben gibt es nicht. Ich gehe aber davon aus, dass sich der Mehraufwand für die Ener­gie­erzeugung positiv auf die Lebenszyklus- und Betriebskosten auswirken wird. Zudem wird der Zusatz­aufwand für die Technik entschärft, weil die Dämmanforderungen dieselben wie beim Gesetzesstandard sind. Hier ist nicht mehr zu leisten als bei allen anderen auch.
Milton Generelli: Darum setzt der Verein auf den Markt. Bei der Solartechnologie sind heute schon günstige Lösungen verfügbar. Zudem glaube ich, dass ein Minergie-Haus nicht teurer sein muss als ein konventionelles Gebäude, wenn das Gesamtkonzept von Anfang an darauf ausgerichtet ist.

TEC21: Der Standard Minergie hat sich regional unterschiedlich verbreitet. An Orten mit hoher Baudynamik wie im Raum Zürich ist der Standard ausserordentlich gut vertreten. Warum funktioniert das etwa im Tessin weniger gut?
Milton Generelli: Der Kanton hat kein generelles Problem, sondern ist nur zeitlich verzögert unterwegs. Der Gesetzgeber war beim Vollzug der Energieziele etwas im Verzug. Erst vor etwa 15 Jahren wurde die SIA Norm 380/1 für die Baubewilligung verbindlich gemacht. Mittlerweile wird auf Sensibilisierung und Weiterbildung gesetzt. Öffentliche Bauten müssen nach Minergie zertifiziert werden, und das Bauen nach Minergie wird finanziell gefördert. Zudem hat die Einführung des Standards Minergie-A, der die Stromerzeugung ins Zentrum stellt, bei den Zertifizierungen im Tessin einen eigentlichen Aufschwung gebracht.
Andreas Meyer Primavesi: Sich in der ganzen Schweiz und in allen drei Landesteilen aktiv zu bemühen, ist für den Verein Minergie sicher ein Kraftakt. Unsere Ressourcen für das Marketing sind beschränkt. Gleichzeitig können wir von der Vernetzung und den regionalen oder klimatischen Unterschieden fachlich profitieren. So kümmert sich die Agentur im Tessin in Zusammenarbeit mit der Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana (Supsi) um die angewandte Forschung, wie wir mit dem steigenden Kühlbedarf umzugehen haben. Auch bei den Vorgaben für den sommerlichen Wärmeschutz können wir so voneinander lernen.
Milton Generelli: Effektiv können wir klimatisch bedingte Einflüsse einbringen. So wissen wir, dass Minergie-Häuser im Tessin vergleichsweise weniger gut gedämmt werden müssen, im Gegenzug aber mehr Energie produzieren. Zudem bereitet uns der Sommer mit dem steigenden Kühlbedarf mehr Mühe. Wir müssen kluge Ansätze entwickeln, damit man Wohnhäuser nicht nachträglich mit Kühlaggregaten ausstatten muss.

TEC21: Einem Jubilar wünscht man immer auch ein langes Leben. Wie lang wird es Minergie noch geben?
Milton Generelli: Solange wir Innovationen setzen und die Wirtschaft antreiben können, braucht es uns.
Andreas Meyer Primavesi: Sobald die Energiestrategie 2050 erreicht ist, braucht es uns nicht mehr. Oder wenn jedes Gebäude plus/minus eine Nullbilanz besitzt. Aber die Bauwirtschaft ist träge. Darum wird es den Verein in 20 Jahren sicher noch geben.

TEC21, Fr., 2018.08.10



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Presseschau 12

25. Januar 2019Tina Cieslik
TEC21

Lernen in Pastell

Im Herbst 2017 konnte die freiburgische Gemeinde Granges-Paccot ihre neue Primarschule eröffnen, im Frühling 2018 folgte die dazugehörige Doppelturnhalle. Die Bauten von Oeschger Schermesser Architekten schaffen einen attraktiven Ort an komplexer Lage. Im Innern überzeugt die Schule mit einer überraschenden Farbgebung.

Im Herbst 2017 konnte die freiburgische Gemeinde Granges-Paccot ihre neue Primarschule eröffnen, im Frühling 2018 folgte die dazugehörige Doppelturnhalle. Die Bauten von Oeschger Schermesser Architekten schaffen einen attraktiven Ort an komplexer Lage. Im Innern überzeugt die Schule mit einer überraschenden Farbgebung.

Als die Verkehrsplaner in den 1960er-­Jahren die Autobahn A12 Vevey–Bern projektierten, wählten sie im Raum Freiburg eine Linienführung entlang des nordwestlich der Stadt gelegenen Lava­pesson-Tals, mitten durch den Weiler Granges-Paccot (der Name leitet sich ab vom spätlateinischen «grangia» = Scheune). Rund 50 Jahre später ist nicht nur die benachbarte Kantonshaupt­stadt gewachsen, auch das Gebiet zwischen den «Scheunen» wurde durch Wohnquartiere ergänzt.

Granges-Paccot ist inzwischen mit der Gemeinde Givisiez und Freiburg zu einem Siedlungsgebiet zusammengewachsen – durch das eben eine Autobahn führt. Die Bevölkerungszahl der Gemeinde hat sich in den vergangenen 20 Jahren verdoppelt. Vor allem Familien sind zugezogen, die Zahl der Schulkinder hat sich gar verdreifacht. Das bestehende Primarschulhaus von Chantemerle von 1977 wurde zu eng. Ende 2013 schrieb die Gemeinde einen offenen Wettbewerb für einen Neubau mit Doppel­turnhalle aus, den Oeschger Schermesser Architekten aus Zürich für sich entscheiden konnten.

Das dreieckige, rund 20 000 m² grosse Grundstück illustriert die Folgen der einstigen Verkehrs­planung: Zwar liegt es zentral inmitten der drei Haupteinzugsgebiete der Schule, aber auch direkt neben der A12, die die Gemeinde von Ost nach West durchschneidet. Die Schülerinnen und Schüler von ennet der Autobahn überwinden das Hindernis via Route de Chavully, die die Fahrbahn als Brücke überquert und dem neuen Schulzentrum auch den Namen gab. An der Süd- und Ostseite des Perimeters hingegen liegt ein kleines Wäldchen, durch das ein Fussweg zum heutigen Schulgebäude führt. Durch die Setzung der Bauten, die Erschliessung und die Fassadengestaltung gelang es den Architekten, die Stimmung des Walds einzufangen und jene der hochfrequentierten Autobahn für die Nutzerinnen und Nutzer auszublenden.

Verfeinerte Weiterentwicklung

Das im September 2017 fertiggestellte Schulzentrum Chavully ist der zweite realisierte Bau des Büros. Schon der erste, die Primarschule Avry, lag im Kanton Freiburg (vgl. TEC21 26–27/2017), und auch die folgenden – alles Siegerprojekte aus Wettbewerben – sind Schulhäuser in der Romandie: das Collège de La Sarraz VD (Fertigstellung Sommer 2019), die Primarschule Praroman der Gemeinde Le Mouret FR (Wettbewerb Herbst 2018) und die Primarschule Champsec in Sion VS (Wettbewerb Herbst 2018). Die Zürcher scheinen mit ihren Ideen die lokalen Bedürfnisse und Erwartungen an ein Schulhaus besonders gut zu erfüllen.

Tatsächlich weisen die beiden Bauten in Avry und Granges-Paccot Gemeinsamkeiten auf, allen voran die expressive Farbgebung und die Volumetrie, zwei in Lage und Höhe leicht versetzte Kuben, die sich aus dem in zwei Richtungen geneigten Hang ergibt. Auch die Erschliessung ist verwandt: Statt Korridoren gibt es eine Abfolge ineinander verschränkter Hallen, die auch für Gruppenarbeiten genutzt werden können. Zusammen mit der identitätsstiftenden Holzfassade und der Setzung der Volumen war diese Aufsplittung des Raumprogramms in einen kindgerechten Massstab einer der Gründe für den Wettbewerbsgewinn.

Der östliche, der Stadt Freiburg zugewandte Bau beherbergt die Schule mit Klassen für rund 250 Kin­der inklusive Spezialräumen und sechs Kinder­gärten. Im westlichen, zur Autobahn hin gelegenen Bau ist die auch für ausserschulische Aktivitäten genutzte Doppelturnhalle untergebracht. Sie wirkt als Lärm- und Sichtschutz für das Areal und begrenzt den zwischen beiden Gebäuden liegenden Aussen­bereich, der sich so atmosphärisch zum Wald hin orientiert.

Jeweils ein Zugang an der Südost- und an der höher gelegenen Nordwestfassade führen in die Eingangshalle, die sich als mäandrierender Raum durch die beiden Kuben zieht und so Durch- und Ausblicke ermöglicht. Entlang der Nordwest- und Nordostfassade sind drei je 101 m² grosse Kindergärten aufgereiht, im Zentrum liegt der Kern mit Sanitärräumen und Fluchttreppenhaus. Eine zentrale Treppe führt in den um ein halbes Geschoss nach oben versetzten Quadranten, der das identische Raumprogramm gespiegelt enthält und zum Aussenbereich vis-à-vis der Turnhalle führt.

Die beiden Obergeschosse sind analog angelegt, allerdings reihen sich hier jeweils vier 81 m² grosse Klassenzimmer entlang der Fassaden. Die versetzte Anordnung der beiden Gebäudeteile erlaubt es, dass die Mehrheit der Klassenzimmer übereck belichtet wird, was besonders zum benachbarten Wäldchen hin eine spezielle Lichtstimmung ergibt.

Holz, Beton, Farbe

Die Fassadengestaltung verstärkt diese Assoziation. Die Architekten entschieden sich für eine Fassade aus druckimprägnierten, pigmentierten und mit einem doppelten Anstrich versehenen Weisstannenholz, das Tragwerk des Baus hingegen ist aus Beton. Die Holzelemente gliedern die Aussenhaut sowohl horizontal als Sturzbänder als auch vertikal. Dabei wechseln sich je ein bodenbündiges grosses Fenster, ein durch Öffnungen in der vertikalen Lattung semitransparentes und ein geschlossenes Holzelement ab. Gesimse betonen die ­einzelnen Geschosse. Im Innern wirken die semitransparenten Elemente wie ein Blick zwischen Baumstämmen hindurch auf eine Lichtung – eine Waldschule inmitten der Agglomeration.

Im Innern schufen die Architekten zwei Welten: jene des Materials und jene der Farbe. Die Erschlies­sungszonen aus hellem Sichtbeton ergänzt ein elfenbeinfarbener Terrazzoboden und eine durch ein Beton­fries von der Wand abgesetzte Akustikdecke aus Eichenholz. Die breiten Fensterrahmen, die Türen, Handläufe und Sitzbänke vervollständigen die Holz­palette, matt vernickelte Kleiderhaken dienen als Garderobe oder als Aufhängung für Selbstgebasteltes.

Die Unterrichts­räume kontrastieren dieses aufgeräumte Ambiente mit einer expressiven, aber ruhigen Farb­gebung. Sie sind jeweils monochrom in Pastellblau – in den Kinder­gärten – oder Pastellgelb bzw. -grün in den Klassenzimmern ausgeführt. Die Farbigkeit erinnert an den in Blau und Grün gehaltenen Vorgänger in Avry, wirkt durch den hohen Weissanteil aber deutlich unaufgeregter. Die farbigen Flächen – gestrichene Weissputzwände, eine ebenfalls gestrichene Akustikdecke und ein gegossener PU-Boden – bilden den Hintergrund für die schulischen Aktivitäten.

Trotz oder mit

Mit dem Schulzentrum Chavully werten die Architekten einen schwierigen, vom Verkehr geprägten Ort auf. Durch einfache architektonische Mittel wie den räumlichen Versatz, die Halbgeschosse und die durchaus mutige Farbgebung gelingt es ihnen, einen architektonischen Reichtum zu schaffen, der Kinder und Erwachsene ­gleichermassen anregt und die Anforderungen an ein zeitgenössisches Schulhaus erfüllt.

Mit der Autobahn durchs Dorf haben sich die Bewohnerinnen und Bewohner von Granges-Paccot längst arrangiert. Bauten wie das neue Schulzentrum zeigen, wie an solch extremen Lagen städtebaulicher Mehrwert entstehen kann – sogar für die Kleinsten.

TEC21, Fr., 2019.01.25



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TEC21 2019|03-04 Freiburger Schule

21. Dezember 2018Tina Cieslik
TEC21

Kratzen für die Ewigkeit

Sgraffito kann mehr als nur Engadiner Häuser zieren. Seine Vielseitigkeit und die lange Haltbarkeit sind auch für heutige Anwendungen attraktiv. Technisch möglich wird dies durch zeitgenössische Putze, die traditionell verarbeitet werden.

Sgraffito kann mehr als nur Engadiner Häuser zieren. Seine Vielseitigkeit und die lange Haltbarkeit sind auch für heutige Anwendungen attraktiv. Technisch möglich wird dies durch zeitgenössische Putze, die traditionell verarbeitet werden.

Sgraffito wird hierzulande praktisch gleichgesetzt mit dem Bautyp des historischen Engadinerhauses. Tatsächlich handelt es sich beim Sgraffito – der Name stammt vom italienischen «(s)graffiare» = ritzen, kratzen – um eine jahrhunderte­alte Technik, die auf der handwerklichen Bearbeitung von Kalkmörtel beruht und in ganz Europa verbreitet ist, teilweise unter anderem Namen oder in einer verwandten Anwendungsweise. In die Schweiz gelangte sie in der Renaissance via Italien und setzte sich hier vor allem im Engadin durch.[1]

Zum einen lag das an den engen Handelsbeziehungen, zum anderen eigneten sich das trockene Klima sowie die zahlreichen Kalkvor­kommen und deren bereits etablierte Nutzung für die Technik. Zum Erfolg trug aber auch der Bautypus des traditionellen Engadinerhauses bei. Während Sgraffito in Italien vor allem städtische Bauten zierte, trans­formierte es die Wirtschafts- und Wohngebäude der Engadiner Bauern zu repräsentativen Bauten. Deren grossflächige asymmetrische Fassaden, die sich aus der Kombination von Struktur und städtebaulicher Konstellation ergaben, liessen sich mittels Sgraffito gliedern.[2]

Dazu kam die Konstruktion: Die unregelmässigen Bruchstein- und Strickbauwände wurden mit einer dicken Kalkputzschicht überzogen, die tiefen, abgeschrägten Fensterlaibungen mit weisser Kalktünche betont. So fügten sich hier Fassadengestaltung und Architektur zu einem markanten Bautyp zusammen, dessen Bildhaftigkeit durch Illustrationen in Kinderbüchern wie dem «Schellen-Ursli»[3] und durch den ­tradierten Formenkatalog ins kollektive nationale Gedächtnis eindrang und auch heute noch wirkt.

Handwerk, Kunst, Kunsthandwerk

Für das Engadin typisch sind die grafischen Hell-Dunkel-Motive. In anderen europäischen Regionen ­setzten sich auch mehrfarbige Sgraffiti durch, vor allem ab dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. So sind reich geschmückte Jugendstilfassaden aus Österreich bekannt, in Deutschland oder in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion findet man ab den 1930er-Jahren oft politisch angehauchte Motive.

Der Basisaufbau für ein Sgraffito besteht aus einem mindestens 20 mm dicken Grundputz, der Un­ebenheiten des Mauerwerks ausgleicht und eine flächendeckende Haftung gewährleistet. Darüber folgt ein dunkler mineralischer Putz als Kratzgrund. Früher wurde für die Färbung Russ oder Holzkohle verwendet, heute sind es Pigmente. Anschliessend trägt man eine helle Kalkschlämme «al fresco» auf, also solange der Verputz noch feucht und im Abbinden begriffen ist. Sie ist die eigentliche Kratzschicht. Bei bunten Motiven sind es mehrere verschiedenfarbige Schichten.

In die oberste Schicht wird das Motiv als Vorriss geritzt, anschliessend kratzt man die feuchte Kalkschlämme als Linie oder Fläche heraus, sodass der dunkle Grundputz an die Oberfläche tritt und ein leichtes Relief ­entsteht. Als Kratzwerkzeug kann ein einfacher Nagel dienen. Bei mehrfarbigen Sgraffiti ist die Technik schwieriger, da der Bildaufbau umgekehrt werden muss: Zuerst werden die Details angelegt, die Umrisse werden erst zum Schluss sichtbar.

Das eigentliche Kratzen oszilliert je nach Ausführendem und Anspruch zwischen Kunst und Handwerk. So gibt es Motive, die mit dem Zirkel vorgeritzt sind, oder sich wiederholende Formen, die mittels Schablonen aufgetragen werden. Daneben gab und gibt es aber auch immer die freien Zeichnungen, die poetische Motive wie Fabelwesen oder auch künstlerische Interpretationen zum Thema haben, wie man sie aus den 1930er- bis 1960er-Jahren kennt, sowie die typischen Sinnsprüche der Engadinerhäuser. Die Ausführenden waren und sind dementsprechend sowohl Handwerker als auch Künstler, die neben den traditionellen Motiven auch eigene Bildwelten realisieren.

Mehr als Oberfläche

Faszinierend an Sgraffito ist die Verbindung von ­Flüchtigkeit und Dauerhaftigkeit: Durch den Al-fresco-Auftrag nass in nass entsteht ein ephemerer Moment, anschliessend bildet sich durch die Karbonatisierung des Kalkmörtels eine feste Verbindung zwischen Farb- und Putzschicht, was auch das Sgraffito haltbar und witterungsresistent macht. Das Wasser verdunstet, der Kalk verbindet sich mit Kohlendioxid aus der Luft. So wird der Putz wieder zum Ausgangsmaterial Kalkstein, der chemische Kreislauf schliesst sich.

­Heute gibt es vor allem im Engadin zahlreiche über 300-­jährige Sgraffiti in hervorragendem Zustand. Bedroht sind sie gemäss Johannes Florin von der Bündner Denkmalpflege denn auch weniger vom Alterungsprozess als durch Neuerungen. Durch Um- oder Einbauten für heutige Ansprüche ändert sich oftmals das Innenraumklima und damit auch jenes in der Wand, was zu Schäden an den Sgraffiti führen kann. Und natürlich sind die Sgraffiti auch den Launen des Zeitgeists unterworfen: So wurden um die Wende zum 20. Jahrhundert zahlreiche Ornamente im Engadin übermalt, bis in den 1970er-Jahren der Wind kehrte und die historischen Darstellungen wieder hervorgeholt wurden. Das Gute an der Technik: Wird der Putz lediglich übermalt, sind die Ornamente nicht unwiederbringlich verloren.

In den letzten Jahren liessen vor allem in Deutschland energetische Instandsetzungen zahlreiche Beispiele aus den 1950er- und 1960er-Jahren hinter einer Aussendämmung verschwinden, oder sie wurden im Zuge einer Komplettsanierung zerstört. Auch dies ein Zeichen des Zeitgeists, immerhin waren Fassadenverzierungen um die Jahrtausendwende in der Architektur verpönt, und Aspekte der Energieeffizienz gewannen an Bedeutung. Schliesslich sorgten auch indust­riell hergestellte Materialien und das Aufkommen von Wärmedämmverbundsystemen für ein Verschwinden der Technik – Standardisierung, Garantien und Planbarkeit: bekannte Feinde des Handwerks.Revival? Ja, gern!

Doch wie in vielen anderen Bereichen könnte auch hier die Fusion zweier Herangehensweisen zu einer Weiterentwicklung und damit einer Wieder­belebung des Handwerks führen. Franz Bieri, Putz­experte bei Keimfarben, realisierte zusammen mit dem Architekten Robert Arnold und der Künstlerin Mazina Schmidlin-Könz 2014 ein zeitgenössisches Sgraffito an einem Mehrfamilienhaus in Davos (vgl. «Häuser sollen kommunizieren»). Auf einem ­Mauerwerksuntergrund entschied man sich hier für einen hydraulischen Kalkputz als Grundputz und einen pigmentierten, zweischichtig aufgetragenen feinkörnigen Deckputz mit industriell gefertigten und erprobten Standardprodukten des Unternehmens. Das Sgraffito wurde anschliessend auf traditionelle Art und Weise aufgebracht – das Ergebnis überzeugt in ästhetischer und bisher auch in technischer Hinsicht.

Franz Bieri würde allerdings sogar noch weiter gehen: Seiner Ansicht nach könnte Sgraffito auch auf einem Wärmedämmverbundsystem funktionieren. Beispiele für ein vergleichbaren Putzaufbau bei einer Aussendämmung gibt es bereits – allerdings ohne Sgraffito.[4] Bedingung für ein WDVS-Sgraffito wäre eine dickschichtige Netzeinbettung von mindestens 10 mm, um Risse an der Fassade zu vermeiden. Was in der Theorie einfach tönt, verlangt allerdings viel Erfahrung bei der Ausführung: Die Feuchteregulierung der verschiedenen Schichten und der Einfluss der Witterung sind nicht komplett planbar. Das Ergebnis ist in jedem Fall eine «lebendige», aber eben auch unregelmässige Oberfläche, allfällige Ausbesserungsarbeiten sind gestalterisch anspruchsvoll.

Dennoch: Das perfekte Unperfekte – und damit Einzigartige – in der Gestaltung ist längst wieder en vogue. Das gilt auch für Fassaden. Mutige Architek­tinnen und Architekten sind also herzlich eingeladen, die erste Sgraffitofassade auf einem WDV-System zu planen.


Anmerkungen:
[01] Die Angaben zur Sgraffitogeschichte und -technik beruhen auf der Publikation «Sgraffito – eine traditio­nelle Putztechnik im Engadin» von Hartmut Göhler in: Über Putz. Oberflächen realisieren und entwickeln (vgl. TEC21 27–28/2012, S. 11).
[02] Die Engadinerhäuser sind gemäss der romanischen genossenschaftlichen Dorf- und Wirtschaftsorganisation jeweils zu einem Dorfplatz mit Brunnen hin orientiert. Mit ihren beiden Eingängen, dem Eingangstor in den Sulèr (Vorraum zu Stube, Küche, Vorratskammer und Scheune) und der Zufahrt zum Stall an der Stirnseite ergeben sich deshalb unregelmässige Fassadengliede­rungen. Vgl. Duri Gaudenz, «Das Engadiner Haus» in: Hans Hofmann, Unterengadin, Calanda Verlag, Chur 1982.
[03] Dessen Autorin, Selina Könz (auch: Chönz), war die zweite Ehefrau des Architekten Iachen Ulrich Könz und Mutter des Künstlers Steivan Liun Könz. Beide restaurierten historische Sgraffiti im Engadin und fertigten auch eigene Werke an, darunter z. B. die Fassade des Hauses zum kleinen Pelikan an der Schipfe in Zürich.
[04] Vgl. Über Putz. Oberflächen entwickeln und realisieren, gta Verlag, Zürich 2012, S. 86–117.

TEC21, Fr., 2018.12.21



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TEC21 2018|51-52 Sgraffito – gestern, heute, morgen

21. Dezember 2018Tina Cieslik
TEC21

«Häuser sollen kommunizieren»

Das Haus Sura in Davos überrascht mit einer ausdrucksvollen Sgraffitofassade. Der Entwurf und die Umsetzung stammen von ­Mazina Schmidlin-Könz. Im Gespräch erzählt die Künstlerin von der speziellen Zusammenarbeit und der Qualität des Unvorhergesehenen.

Das Haus Sura in Davos überrascht mit einer ausdrucksvollen Sgraffitofassade. Der Entwurf und die Umsetzung stammen von ­Mazina Schmidlin-Könz. Im Gespräch erzählt die Künstlerin von der speziellen Zusammenarbeit und der Qualität des Unvorhergesehenen.

Hoch am Sonnenhang über Davos, direkt am Waldrand, steht trutzig das Haus Sura. Neben den benachbarten Hotelpalästen wirkt es trotz seiner fünf Geschosse nicht besonders mächtig, aber mächtig besonders: Umlaufende Sgraffiti zieren die grauen Fassaden. Mysteriöse Inschriften und archaische Ornamente, Formen und Muster scheinen eine geheimnisvolle Botschaft auszusenden.

Das Innere ist profaner, die Baugeschichte hingegen ist es nicht: Als Spekulationsobjekt mit vier identischen Ferienwohnungen kam der von einer Generalunternehmung geplante Bau 2010 auf den Markt. Die heutige Bauherrschaft kaufte statt einer Wohnung gleich das ganze Projekt und liess es zu einem Ferienhaus nach eigenem Gusto abändern. Neben Wellness- und Fitnessräumen beherbergt der 2014 fertig gestellte Bau Suiten und ­Einzelzimmer, die als Ganzes oder individuell gemietet werden können.

Für die Architektur zeichnet der Küssnachter Architekt Robert Arnold verantwortlich (vgl. «‹Das Spontane ist die Qualität›»). Mit der Gestaltung der Fassade beaufragte er die Künstlerin Mazina Schmidlin-Könz aus der Architekten- und Künstlerdynastie Könz (vgl. Kasten unten). Sie entschied sich, die Fassade in traditioneller Sgraffitotechnik auszuführen (vgl. «Kratzen für die Ewigkeit»), setzte aber auf eine individuelle Auslegung der bekannten Motive. Das Ergebnis ist ein Bau, der zugleich zeitgenössisch und wie aus der Zeit gefallen wirkt.

TEC21: Frau Schmidlin-Könz, bei der Fassaden­gestaltung des Hauses Sura in Davos haben Sie tra­ditionelles Sgraffitohandwerk angewendet, die Gestaltung jedoch ist zeitgenössisch. Was waren Ihre Überlegungen dazu?
Mazina Schmidlin-Könz: Für mich war von Anfang an klar, dass ich an diesem Ort gern ein Sgraf­fito realisieren möchte. Aber ich wollte eine Neuinterpretation, kein Abmalen bekannter Motive mit dem Zirkel. Dazu kam die Farbe, eine Reminiszenz an den Ort mit seinem grauen Kalkstein und den orangen Färbungen der Eiseneinsprenkel. So wächst der Bau quasi aus dem Fels heraus. Der Architekt war sehr offen und akzeptierte meine Ideen. Und er half mir, auch die Bauherrschaft davon zu überzeugen.

TEC21: Wie liefen Planung und Ausführung konkret ab?
Mazina Schmidlin-Könz: Ich habe zunächst eine Fassadenabwicklung des Architekten erhalten, darauf beruhte mein erster Entwurf. Anschliessend fertigte ich einige Modelle, weitere Fassadenentwürfe und Fassadenmusterplatten an. Für die definitive Ausführung wurde die Fassaden in 14 jeweils etwa 60 m² grosse Abschnitte eingeteilt, die Fläche, die etwa einem Tageswerk entspricht. Zu diesen 14 Abschnitten kamen die Sonderflächen wie Laibungen bei den Terrassen oder beim Keller dazu, die wir ganz zum Schluss bear­beitet haben. Meine zwei Mitarbeiterinnen und ich arbeiteten von oben nach unten.
Wichtig ist eine gute Zusammenarbeit mit einem handwerklich versierten Gipser, der den Verputz auftragen muss. Wir verwendeten einen verglätteten hydraulischen Kalkputz mit kleinem Zementanteil. Der auf den Grundputz aufgetragene Deckputz wird zweilagig 3 bis 4 mm oder einlagig 6 mm dick auf­getragen. Man darf ihn nicht verdichten, damit die nachfolgenden Lasuren gut eindringen können.
Sgraffito ist eine Al-fresco-Technik: Wenn der Putz noch nass, aber schon etwas angetrocknet ist, wird er mit Sumpfkalk überstrichen. Der Sumpfkalk kann mit Wasser mehr oder weniger verdünnt werden und erzeugt so weisse Flächen mit einem unterschiedlichen Deckungsgrad. Zudem habe ich zusätz­liche Schichten mit pigmentiertem Sinterwasser aufgetragen, um die Fassade farbig gestalten zu können. Die Schwierigkeit dabei ist, dass die Sumpfkalk- und Sinterschichten stark verdünnt, also fast farblos sind, der Deckungsgrad und die Farbigkeit folglich erst beim Trocknen sichtbar werden. Beim Auftragen dieser Schichten kann man die Gestaltung deshalb noch nicht erkennen. Erst nach dem Abbinden des Deckputzes ist die Farbigkeit vollständig sichtbar. Um diese Schichten gestalterisch kontrollieren zu können, sind vorgängig Muster und eigentliche individuelle Rezepte zu erstellen. Nach dem Auf­tragen kann der noch feuchte Putz auch bei den nicht gestrichenen Flächen gekratzt werden. Korrekturen können nach dem Kratzen keine mehr angebracht werden. Wir haben die gesamte Fassade freihändig mit einem Nagel bearbeitet. Und auch das Wetter muss mitspielen: Es darf nicht regnen oder zu kalt sein, sonst trocknet die Fassade mehrere Tage nicht. Bei weniger als 4 °C bindet der Putz nicht mehr ab.

TEC21: Was sind typische Schwierigkeiten oder Fehler bei der Herstellung von Sgraffiti?
Mazina Schmidlin-Könz: Man benötigt einen ausreichend grossen Zeitraum, um die Arbeiten ausführen zu können. Zudem muss der Putz mit der traditionellen Sumpfkalktechnik ausgeführt werden. Moderne kunststoffvergütete und dünn aufgetragene Putze eignen sich nicht. Und selber hergestellte Putzmischungen würden zudem das Problem der Produktehaftung erzeugen.

TEC21: Auf welche Grundlagen haben Sie sich bei den Motiven bezogen? Beim Sgraffito an den historischen Engadinerhäusern gibt es ja fast eine Art Formen­katalog für die einzelnen Bauteile.
Mazina Schmidlin-Könz: Ich habe die traditionellen Motive wie Schrift, Ornamentik und geometrische Formen neu interpretiert. Sgraffito ist faszinierend, weil es so lebendig ist. Es gibt durch die Kratztechnik eine Tiefenwirkung, die weit über jene des reinen Farbbauftrags hinausgeht, ein Spiel mit Licht und Schatten. Für dieses Haus wollte ich aber eher eine Art Hülle erzeugen. Ich bin auch Textilgestalterin, was man beim Haus Sura auch sieht. Die Fassade wirkt sehr textil.
Mein Entwurf diente bei der Ausführung als Basis, aber so, wie ich ihn umsetzte, gab es darin spontane Elemente. Ich wollte nicht einfach den Plan kopieren, und manche Entscheidungen hingen auch davon ab, welche Erfahrungen ich vor Ort machte. Mit dieser potenziellen Ungenauigkeit hatten die Bauherrschaft und die Behörden allerdings Mühe.
Für mich muss Sgraffito spontan sein. Eine Kopie der historischen Motive ist der falsche Weg – auch wenn viele Handwerker so arbeiten. Unser Farb- und Formempfinden hat sich weiterentwickelt. In der Malerei versuchen wir ja auch nicht, eine bessere Mona Lisa zu malen. Wir müssen versuchen, wieder mehr Gefühl zu zeigen. Das funktioniert aber nur, wenn man den Mut hat, sich von seiner Entwurfszeichnung zu lösen. Man erkennt das gut, wenn man die gezeichneten Entwürfe mit der realisierten Fassade vergleicht: Es gibt eine Ähnlichkeit, sie ist aber kein identisches Abbild. Man muss die Freiheit haben, den Moment einfliessen zu lassen. Und vor Ort ausprobieren können, wie das Material reagiert.

TEC21: Wie ist die Resonanz auf den Bau?
Mazina Schmidlin-Könz: Unterdessen sehr positiv. Wenn ich vor Ort bin und höre, was die Leute sagen, die vorbeilaufen – der Bau wird immer angeschaut. Und das ist es ja, was Häuser machen sollten: mit den Menschen kommunizieren. Architekten haben heute Angst vor der Kunst. Sie sollten mehr Mut haben, mit Künstlern zusammenzuarbeiten. Früher gab es in dieser Hinsicht mehr Freiheiten: Die Hausbesitzer kannten die Sgraffitokünstler und vertrauten ihnen. Heutzu­tage geht es leider meist zuerst ums Geld, dann um die Absicherung und dann erst ums Projekt.

TEC21, Fr., 2018.12.21



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TEC21 2018|51-52 Sgraffito – gestern, heute, morgen

21. Dezember 2018Tina Cieslik
TEC21

«Das Spontane ist die Qualität»

Das Haus Sura in Davos ist ein Beispiel für die zeitgenössische Interpretation von Sgraffito. Der Architekt Robert Arnold erläutert die Zusammenarbeit mit der Künstlerin Mazina Schmidlin-Könz.

Das Haus Sura in Davos ist ein Beispiel für die zeitgenössische Interpretation von Sgraffito. Der Architekt Robert Arnold erläutert die Zusammenarbeit mit der Künstlerin Mazina Schmidlin-Könz.

TEC21: Herr Arnold, beim Bau des ­­Hauses Sura in Davos hatten Sie vonseiten der Bauherrschaft viele Freiheiten. Wie kam es dazu?
Robert Arnold: Das war ein Glücksfall. Die Bauherrschaft hatte Vertrauen und uns einen Freipass ­ge­geben. Bestellt hatte der Bauherr «das Nonplusultra». Ich habe mir zunächst lang überlegt, was das be­deuten könnte. Letztendlich bin ich auf die Frage der Qualität gestossen, der Wertigkeit. Während meiner Ausbildung hatte ich im Architekturbüro von Albert Caviezel in Vitznau gearbeitet. Er war eng mit dem Künstler Steivan Liun Könz befreundet, der zahlreiche Sgraffiti im Engadin und auch im Unterland realisiert hat. Daran erinnerte ich mich, über diesen Weg bin ich beim Sgraffito gelandet. Als Ausführende empfahl mir Albert Caviezel Steivan Liuns Nichte Mazina Schmidlin-Könz, die ebenfalls Sgraf­fiti realisiert.

TEC21: Wie musss man sich die Zusammen­arbeit zwischen Ihnen und Frau Schmidlin-Könz vorstellen? Das Volumen war zu dieser Zeit ja bereits fertig. Oder hatte der Entscheid für Sgraffito auch architektonische Entscheidungen zur Folge?
Robert Arnold: Es gab einige Fragen, die sich erst daraufhin lösten, z. B. beim Vordach oder beim Dachrandabschluss. Auch die flächenbündigen Fenster haben wir extra gemacht, um keine Reminiszenz an die markanten Laibungen beim historischen Engadinerhaus zu wecken. Daneben war auch die eigentliche Konstruktion eine Anpassung an das Sgraffito. Ursprünglich war die Konstruktion mit Aussendämmung geplant, wie das heute Standard ist. Für mich war aber klar: Sgraffito bedeutet ein zweischaliges Mauerwerk. Neben den architektonischen Details änderte sich auch meine Rolle als Architekt. Mein Standpunkt war: Hier arbeitet eine Künstlerin, die Rückendeckung braucht. Ich habe mich eher als Coach gesehen.

TEC21: Und Sie hatten das Vertrauen, dass das auch gut kommt?
Robert Arnold: Nach dem ersten Telefonat hatte ich Mazina eine Fas­sadenabwick­lung geschickt. Dann kam eine Zeichnung retour. Emotional hatte ich eine Vor­stellung vom Projekt, hätte sie aber nicht darstellen können oder sagen, worin sie besteht. Die Zeichnung entsprach genau diesen Ideen. Von da an habe ich nur noch versucht, ihr die Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Wir mussten zum Beispiel ein Farb- und Materialkonzept eingeben – mit einem freien Sgraffito funktioniert das nur bedingt. Das war administrativ die grösste Hürde. Dann hat sich aber herausgestellt, wie tragfähig das Konzept war. Alle Be­­tei­ligten haben ihre Opposition relativ schnell aufgegeben, als sie die Wertigkeit der Idee verstanden hatten.

TEC21: Es gab also eine grundsätzliche ­Opposition?
Robert Arnold: Das war die grundsätzliche Opposition gegen das Ungenaue, das Unvorhergesehene. Wie soll jemand in der heutigen Zeit etwas bewilligen, von dem er nicht weiss, wie es letztendlich ausgeführt wird? Tatsächlich ist aber genau dies die Qualität dieser Fassade, dass es spontane Entscheidungen gab. Am wichtigsten ist, dass der Bau eine Selbstverständlichkeit entwickelt, kein Spektakel.

TEC21, Fr., 2018.12.21



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05. Oktober 2018Tina Cieslik
TEC21

Sach- und Dachgeschichten

Die Basler St. Jakobshalle wurde instand gesetzt und erweitert. Der Arbeitsgemeinschaft Degelo Architekten / Berrel Berrel Kräutler gelang nicht nur eine zeitgenössische Neuinterpretation: Mit dem aktuellen Umbau haben sie die Halle neu erfunden.

Die Basler St. Jakobshalle wurde instand gesetzt und erweitert. Der Arbeitsgemeinschaft Degelo Architekten / Berrel Berrel Kräutler gelang nicht nur eine zeitgenössische Neuinterpretation: Mit dem aktuellen Umbau haben sie die Halle neu erfunden.

Unglaubliche siebeneinhalb Zentimeter misst das Dach der 1976 eröffneten St. Jakobshalle an seiner dünnsten Stelle. Ganze 4.65 m hingegen ist die maximale Höhe des 127 m langen Vordachs beim neu angefügten Foyer Nord. Die Zahlen machen deutlich: Die aktuelle Erweiterung ist auch eine Geschichte von zwei Dächern.

Als Mitte der 1970er-Jahre der Wunsch nach einer neuen Sporthalle im Basler Osten aufkam, entschieden sich Giovanni Panozzo und Albert Schmidt, Architekt und Ingenieur der späteren St. Jakobshalle, für eine filigrane Konstruktion aus Leichtbeton, die, wenn auch inzwischen aufgrund zusätzlicher Nutzungen punktuell verstärkt, noch heute intakt ist. Anfang der Nullerjahre wurde der Bedarf nach einer Modernisierung des 22 000 m² grossen Gebäudekomplexes aber wegen gestiegener Sicherheitsanforderungen immer dringlicher.

Tatsächlich war es nicht die Konstruktion der Grossen Halle mit 2800 m², die Anpassungen nötig machte, sondern die sich verändernden Rahmenbedingungen: Ursprünglich vor allem als Sportstätte konzipiert, bietet der Bau neben zwei weiteren Hallen (Kleine Halle und Halle 2) auch diverse Säle und Veranstaltungsräume (vgl. Grundrisse %%gallerylink:42848:hier%% und %%gallerylink:42849:hier%%). Und der Kern, die Grosse Halle, beherbergt inzwischen einen bunten Mix an Events, von der Generalversammlung über Fernsehshows bis zu Musikkonzerten und dem wichtigsten Mieter, dem Tennisturnier «Swiss Indoors». Entsprechend ge­stiegen war der Bedarf an Technik, an Fluchtwegen, an Zu- und Anlieferung, an Verpflegungsmöglichkeiten.

Der Kanton liess daher in einer Studie Abriss und Ersatzneubau der St. Jakobshalle prüfen. Dabei kam man allerdings zu dem Schluss, ein Erhalt des nicht denkmalgeschützten Baus sei in finanzieller Hinsicht deutlich günstiger – vor allem aus der Überlegung heraus, dass internationale Veranstalter, konfrontiert mit einem mehrjährigen Unterbruch, dauerhaft auf andere Spielstätten ausweichen könnten.

Radikaler Richtungswechsel

Den vom Kanton ausgeschriebenen Generalplanungswettbewerb für die Instandsetzung des Baus konnte im Juni 2013 die Arbeitsgemeinschaft Degelo Architekten / Berrel Berrel Kräutler für sich entscheiden – ausschlag­gebend dafür war unter anderem die enge Zusammen­arbeit mit den Ingenieuren von Schnetzker Puskas, eine fruchtbare Kooperation, die sich durch gesamte ­Planungs- und Bauzeit hindurch fortsetzte. Die Planer präsentierten als nur eines von zwei Teams einen ­städtebaulichen Befreiungsschlag: Ursprünglich befand sich der Haupteingang an der Brüglingerstrasse. Wollte man die St. Jakobshalle von der gleichnamigen Tramhaltestelle aus erreichen, musste man zunächst eine Treppenflucht über einen kleinen Hügel hinter sich bringen – die Haupterschliessung wirkte wie ein Nebeneingang ohne jede Grosszügigkeit.

Mit der Verlegung des Haupteingangs an die St. Jakobs-Strasse ist diese unglückliche Disposition nun gelöst. Ein Glücksfall war, dass die dafür nötigen Flächen bisher unbebaut geblieben waren. Heute betritt man den Bau direkt über das repräsentative Foyer Nord, die St. Jakobshalle hat damit eine Adresse und ein Gesicht. Das Foyer dient zum einen als Verteiler in die unterschiedlichen Hallen und Veranstaltungsräume, zum anderen kann es auch selber als Eventfläche genutzt werden. Wie ein Mantel legt es sich gemeinsam mit dem ebenfalls angebauten Foyer Süd um die Bestandbauten.

So entsteht eine neue Einheit – und Mantelnutzung wird einmal ganz wörtlich verstanden. Die Aufwertung dieser Räumlichkeiten, vor allem für das Catering, war neben der Adressbildung ein weiteres Anliegen für die Modernisierung. Denn die Events bilden zwar den Anziehungspunkt, den Umsatz aber macht die Gastronomie. Bisher waren die Verpflegungsstände vor allem in Temporärbauten untergebracht. Neu sind sie einheitlich in den Innenausbau entlang der Verkehrsflächen integriert.

Das Wettbewerbsprojekt brachte neben der verbesserten Erschliessung noch eine weitere wichtige Neuerung: die Erhöhung der Zuschauerkapazität in der Gros­sen Halle. Mit bisher 9000 Plätzen lag sie knapp unter der magischen Fünfstelligkeit und weit entfernt von der Konkurrenz, dem Zürcher Hallenstadion für 13 000 Zuschauer. Um im europäischen Wettbewerb mithalten zu können, sollten es schon 12 000 sein, eine Zahl, die die Halle nach dem aktuellen Umbau problemlos erreicht. Denn tatsächlich sind die Zu­schauerzahlen weniger von der Hallengrösse abhängig als von den Fluchtwegen und den Massnahmen für den Brandschutz.

Robuste Eleganz

Im Januar 2015 bewilligte der Grosse Rat des Kantons Basel-Stadt einen Kredit von 105 Mio. Franken für die Instandsetzung und Modernisierung des Bauwerks, im Frühling 2016 begann die erste Etappe der insgesamt drei Bauphasen. Um einen unterbruchsfreien Veranstaltungsbetrieb zu gewährleisten, fanden die Arbeiten jeweils in den spielärmeren Sommermonaten statt.

Das war aber nur eine der Herausforderungen. Eine weitere zeigte sich beim Innenausbau: Die Vielfalt an Events verlangt einen Spagat in der Gestaltung. Robust genug für ein Rockkonzert, angemessen gediegen für ein Galadinner sollten die Materialien sein. Die Architekten lösten die Aufgabe mit zurückhaltender Eleganz und Eichen- und Redgumholz an den Wänden, mit einem Boden aus grossformatigem Feinsteinzeug und farbigen Differenzierungen.

Die drei Hallen treten wie früher als Blackboxes in Erscheinung – je kleiner die Halle, desto heller das gewählte Schwarz. Die sie umfliessenden Nebenräume und Verkehrsflächen sind in neutralem Weiss gehalten. Für Atmosphäre sorgen die unterschiedlichen Möglichkeiten der Beleuchtung. Über sieben Licht­kuppeln flutet Tageslicht ins Innere des Foyers Nord, ergänzt durch eine Grundbeleuchtung aus eigens entwickelten LED-Leuchtringen, die zugleich noch Zu- und Abluft beinhalten (vgl. «Luft im Dach»). Bei einem intimeren Anlass können in die Decke in­tegrierte LED zugeschaltet werden. Der Clou für astronomische Connaisseurs: Sie sind massstäblich als Sternbilder angeordnet.

Wo sind all die Fenster hin?

Neben all der Freude über eine alte Halle, die wie ein Neubau wirkt, bleibt aber ein kleiner Wermutstropfen: eine alte Halle, die wie ein Neubau wirkt. Denn der einstige Sichtbeton ist unter Verputz und einer Dämmschicht verschwunden – und mit ihm die unterschiedlich grossen Fenster, die die Fassaden gliederten. Die Dämmung der Fassade und das Schlies­sen der Öffnungen waren allerdings Vorgaben im Wettbewerb. Die Fenster hatten zunehmend zu Problemen bei der Verdunkelung geführt – Veranstalter wünschen heute eine Blackbox mit Kunstlicht. Zudem gab es immer wieder Lärmklagen der Anwohner. In dieser Form ist der Umbau ein Zugeständnis an die Nutzung und wurde nur durch die fehlende Unterschutzstellung der Halle möglich. Er verbessert aber die innere Organisation und stärkt den architektonischen Ausdruck des Gesamtbaus. Das eindrückliche Dach der Grossen Halle kann immerhin noch im Innenraum erlebt werden.

Sein jüngerer Bruder, das weit auskragende Foyerdach, offenbart seine Geheimnisse dagegen nur dem Kenner. Zwar sind seine Dimensionen an der Fassade sichtbar; dass es über seine eigentliche Funktion hinaus auch die für Grossevents notwendige Gebäudetechnik beherbergt (vgl. «Luft im Dach»), lässt sich daran nicht ablesen. Das Dach wird zum Dreh- und Angelpunkt der Modernisierung: Es schafft innen und aussen einen neuen adäquaten Eingangs- und Foyerbereich und sorgt für die Adressbildung. Darüber hinaus bildet es den konstruktiven Rahmen für die baulich notwendigen Ertüchtigungen (vgl. «Neu eingebettet») und beinhaltet die Gebäudetechnik. Man darf gespannt sein, ob auch dieses Konzept in 40 Jahren noch seine Gültigkeit haben wird.

TEC21, Fr., 2018.10.05



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07. September 2018Daniela Dietsche
Tina Cieslik
TEC21

Heilsversprechen in Beton

Der Mariendom im nordrhein-westfälischen Neviges zieht seit 1968 Besucherinnen und Besucher in seinen Bann. Seine Bau- und Planungsgeschichte ist ähnlich facettenreich wie ein biblisches Epos – und sie dauert weiter an: Derzeit wird das Dach der Betonkonstruktion von Architekt Gottfried Böhm aufwendig instand gesetzt.

Der Mariendom im nordrhein-westfälischen Neviges zieht seit 1968 Besucherinnen und Besucher in seinen Bann. Seine Bau- und Planungsgeschichte ist ähnlich facettenreich wie ein biblisches Epos – und sie dauert weiter an: Derzeit wird das Dach der Betonkonstruktion von Architekt Gottfried Böhm aufwendig instand gesetzt.

Seit rund 350 Jahren pilgern Gläubige nach Neviges, um zur Heiligen Maria zu beten. Seit rund 50 Jahren sind es auch Architekturinteressierte: 1968 wurde hier ein Bauwerk fertiggestellt, das zu Recht als Ikone der deutschen Nachkriegsarchitektur gilt. Architekt Gottfried Böhm (*1920) – neben Frei Otto einziger deutscher Pritzker-Preisträger – gelang es damals, eine plastische Form für eine zeitgenössische Wallfahrtskirche zu finden, die auch heute noch fasziniert.

Die Marienwallfahrt in Neviges geht zurück bis ins 17. Jahrhundert. 1676 hatte ein Franziskanermönch beim Beten vor einem Kupferstich, der die unbefleckte Empfängnis zeigte, eine Marienerscheinung. Die Heilige soll ihn angewiesen haben, ihr Abbild nach Neviges zu tragen und dort zu verehren – so die Legende. Die Wahrheit dürfte profaner gewesen sein: Seit der Reformation war das Bergische Land protestantisch. Mit einer Wallfahrtskirche konnte die katholische Kirche in der Region Präsenz markieren. Das gelang: Über die Jahrhunderte wuchs die Marienwallfahrt zu einer Massenveranstaltung, ihren Höhepunkt erreichte sie nach dem Zweiten Weltkrieg mit jährlich 350 000 Pilgerinnen und Pilgern.

Die 1728 fertiggestellte Pfarrei- und Wallfahrtskirche St. Mariä Empfängnis platzte aus allen Nähten, die vorher schon mehrfach genommenen Anläufe für eine neue Wallfahrtskirche wurden konkret. Im September 1960 fiel der Entschluss für den Neubau, anschliessend dauerte es aber noch einmal zweieinhalb Jahre, bis das zuständige Erzbistum Köln zum Wettbewerb lud. 17 Architekturbüros, mit wenigen Ausnahmen alle aus der Region Köln, waren gebeten, eine Vision für eine zeitgenössische Wallfahrtskirche zu entwickeln. Das war mehr als eine Alibiübung: Der Kölner Erzbischof Josef Kardinal Frings spielte «auch in architektonischen Gestaltungsfragen eine dominante Rolle. Er sah (…) in dem Werk guter Architekten einen Ausdruck der Schöpferkraft Gottes und betrachtete sich deshalb in seinem Einflussbereich als letzte irdische Instanz in Gestaltungsfragen».[1]

Gemeinsam statt frontal

Der Kirchenbau war nach dem Zweiten Weltkrieg eine verbreitete Bauaufgabe. Werke wie die IIT-Kapelle von Mies van der Rohe in Chicago (1952) oder die Marienkirche in Tokio von Kenzo Tange (1961 bis 1964, initiiert und finanziert vom Erzbistum Köln) veränderten das traditionelle Verständnis von Sakralbauten. Viele dieser neuen Bauten entsprachen den Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils von 1962 bis 1965 oder nahmen diese vorweg: Der gemeinsame Gottesdienst rückte wortwörtlich ins Zentrum, der Priester zelebriert die Messe nun mit dem Gesicht zu den Gläubigen, der Altar steht mitten in der Kirche.

Dieses Gedankengut spiegelte sich auch in den Wettbewerbsbeiträgen zum Mariendom. Im Juli 1963 kürte die Jury den schlichten Entwurf von Kurt Faber zum Sieger. Das Siegerprojekt wurde dem Bauherrn Kardinal Frings vorgestellt – mit ernüchterndem Ergebnis: Seine Eminenz war enttäuscht von der Auswahl und befand, es sei noch keine «Lösung gefunden, [...] die als plastischer Baukörper bzw. als Bild und Zeichen einer Wallfahrtskirche befriedigt».[2] In der Folge liess er eine zweite Wettbewerbsrunde stattfinden. Die drei erstplatzierten Büros konnten ihre Entwürfe überarbeiten, ebenso Josef Lehmbrock und Gottfried Böhm, zudem wurde das Raumprogramm redimensioniert. Böhm ging schliesslich im März 1964 als Sieger aus der Konkurrenz hervor.

Die Legende besagt, der bereits stark sehbehinderte Kardinal habe Böhms expressives Projekt im Modell am besten ertasten und verstehen können. Möglicherweise war er aber nur auf der Suche nach einem emblematischen Bau, auch vor dem Hintergrund, dass die Pilgerzahlen inzwischen deutlich zurückgegangen waren und ein starker Anziehungspunkt gesucht wurde.

Räumlich inszenierter Glaube

Neben der ausdrucksstarken Form punktete Gottfried Böhms Entwurf vor allem mit seiner städtebaulichen Disposition. Und zwar nicht mit jener im Kontext der Gemeinde Neviges – der Mariendom wendet ihr quasi den Rücken zu –, sondern mit der internen des mit dem Bau entstehenden Klosterbezirks. Böhm verstand die Wallfahrt als sinnliches Erlebnis und inszenierte sie dementsprechend räumlich: Ein leicht ansteigender Pilgerweg, die Via sacra, führt, flankiert vom Schwesternheim mit den charakteristischen runden Erkern, in einer leichten Neigung zum Mariendom auf dem Hardenberg.

Dort angekommen, betreten die Gläubigen das Bauwerk, dessen Inneres dunkel und schlicht gehalten ist – nichts lenkt ab von der inneren Einkehr. Die einzig schmückenden Elemente sind die ebenfalls von Böhm entworfenen farbig verglasten Fenster, oft mit Rosenmotiven – die Rose ist das Symbol Marias –, die den Raum je nach Lichteinfall in leuchtendes Rot tauchen. Der polygonale Innenraum ist dabei die nahtlose Fortführung des differenzierten Aussenraums, eine für Böhm typische Gestaltung, die sich zum Beispiel auch in der Pflästerung des Bodens manifestiert, der im Material jener des Pilgerwegs entspricht, oder bei den Leuchten, die an Strassenlaternen erinnern.

Entscheid mit Folgen

Konstruktiv formte Böhm den Bau als räumliches Faltwerk aus Stahlbeton, mit einer Oberfläche aus sandgestrahltem Sichtbeton. Die eindrückliche formale Einheit aus Wand- und Dachflächen war allerdings nicht von Anfang an geplant: Der Architekt hatte eine Blei- oder Schieferdeckung mit Foamglasdämmung vorgesehen, allerdings weniger als Witterungs- denn als Wärmeschutz. Um den Bau bis zur Dacheindeckung wasserfest abzuschliessen, war die Decke zweischalig aus wasser­undurchlässigem Beton mit einer dazwischen liegenden Kunststofffolienabdichtung konstruiert. Als der erste Bauabschnitt über der Sakristei fertig betoniert war, schien er der Witterung zu trotzen, und Böhm schlug im Juli 1966 vor, die Bewehrung zu erhöhen und die verbleibenden Dachteile einschalig auszuführen – auch, da der Dom vor allem als «Sommerkirche» genutzt ­werden sollte und um allfällige Reparaturkosten für die Dachdeckung zu vermeiden.[3]

Dies stellte sich letztlich als fataler Entscheid heraus, denn die ersten Feuchteschäden traten bereits nach wenigen Jahren auf. Gegen Ende der 1980er-Jahre beschichtete man die Dachfläche daher mit Epoxidharz, was aber nicht den gewünschten Erfolg brachte. Die starre Beschichtung riss an vielen Stel­len und löste sich teilweise vom Beton­untergrund, sodass weiterhin Wasser in das Innere der Kirche eindrang. Zu Anfang des neuen Jahrtausends wurde die Situation so prekär, dass das Erzbistum eine Expertengruppe unter der Leitung von Peter Böhm, Sohn von Gottfried Böhm und selber Architekt, mit der Dach­instandsetzung beauftragte.

Beim gewählten Verfahren stützte man sich auf Versuche des Instituts für Bau­forschung der RWTH Aachen. Schlussendlich entschied man sich für einen carbonfaserverstärkten Spritz­betonauftrag. Bei einem Teilstück des 300 m² grossen Dachs über der Sakramentskapelle wurde 2017 das Epoxidharz entfernt, das Dach sandgestrahlt und der Stahlbeton instand gesetzt. Carbonfaserbewehrter Spritzmörtel soll das Dach nun optimal gegen Witterungseinflüsse schützen und dauerhaft abdichten – bisher mit gutem Ergebnis (vgl. «Risse, fein verteilt»).

Beton hält, Geld fehlt

Nachdem nun ein Bruchteil der Dachfläche erfolgreich abgedichtet ist, wird seit Juni 2018 im rückwärtigen Bereich ein Abschnitt von rund 800 m² bearbeitet. Die Massnahmen an diesem zweiten Bauabschnitt werden voraussichtlich bis ins Frühjahr 2019 dauern. Die Kosten für den aktuellen Abschnitt teilen sich das Erzbistum Köln, das Kulturstaatsministerium, die Deutsche Stiftung Denkmalschutz und die Wüs­tenrot-Stiftung. Bei einer Restfläche von über 1500 m² ist die – bisher ungesicherte – weitere Finanzierung aber eines der Hauptrisiken.


Anmerkungen:
[01] Karl Kiem, «Vielschichtiger Betonfelsen: Die Wallfahrtskirche in Neviges», in: Wolfgang Voigt (Hg.), Gottfried Böhm. Jovis Verlag, Berlin 2006, S. 60–80, Fussnote 52. Online abrufbar auf www.karl-kiem.net/Neviges/index.html
[02] Zitiert nach: Aktennotiz zur Audienz bei Seiner Eminenz am Dienstag, 10. 9. um 16.30 Uhr, vom 17. Sept. 1963; Bauakten im Generalvikariat Köln. In: Veronika Darius, Der Architekt Gottfried Böhm, Bauten der sechziger Jahre, Beton-Verlag, Düsseldorf 1988, Fussnote 102.
[03] Ebd., Fussnote 111.

TEC21, Fr., 2018.09.07



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07. September 2018Daniela Dietsche
Tina Cieslik
TEC21

Risse, fein verteilt

Seit Jahrzehnten dringt Wasser ins Innere des Mariendoms in Neviges. 2017 wurde ein Teil des Dachs mit carbonfaserbewehrtem Beton abgedichtet, wobei auch die Optik nicht zu kurz kommen durfte. Als Probefläche diente das Dach über der Sakramentskapelle.

Seit Jahrzehnten dringt Wasser ins Innere des Mariendoms in Neviges. 2017 wurde ein Teil des Dachs mit carbonfaserbewehrtem Beton abgedichtet, wobei auch die Optik nicht zu kurz kommen durfte. Als Probefläche diente das Dach über der Sakramentskapelle.

Das Dach des Mitte der 1960er-Jahre erstellten Mariendoms in Neviges nördlich von Wuppertal besteht aus vielen unterschiedlich geneigten Flächen, aus Spitzen, Kanten und Kehlen. Der Bau ist ein räumliches Faltwerk aus Stahlbeton, ohne äussere Abdichtung und ohne Dachein­­de­ckung (vgl. «Heilsversprechen in Beton»). In den letzten Jahrzehnten stellten Exper­ten verschiedene Rissschäden im Stahlbetondach fest. ­

Betroffen sind vor allem die Kehlen, die Übergänge von Wand zu Dach, kompliziert gestaltete Eckbereiche, ­ebene Dachflächen sowie die Arbeitsfugen. Durch feine Risse dringt Wasser ins Innere der denkmalgeschützten Kirche. Ansonsten ist der Bau, der seinerzeit mit wasserundurchlässigem Beton (WU-Beton) mit hohem ­Zementanteil und grosszügiger Bewehrung erstellt ­wurde, in gutem Zustand. In erster Linie geht es bei der aktuellen In­standsetzung also darum, das Dach gegen das Eindringen von betonangreifenden oder korro­sionsfördernden Stoffen zu schützen.

Das Problem ist nicht neu: Das Dach des Ma­riendoms war von Anfang an undicht. Mitte der 1980er-Jahre brachte man eine flächige Beschichtung auf Epoxidharzbasis auf. An einigen undichten Kehlbereichen wurde der Beton gegen PCC-Mörtelplomben ausgetauscht. Das löste das Problem nur temporär, denn die starre Harzschicht machte die thermischen Ver­formungen des Dachs nicht mit und löste sich vom Untergrund. Anfang des neuen Jahrtausends war klar, dass etwas passieren musste, bevor die Bewehrung korrodieren würde.

Gegen Wasser schützen

Zunächst dachte die Bauherrschaft an eine Bleideckung, wie sie im Entwurf von Gottfried Böhm auch vorgesehen war. Dieser Ansatz wurde aber verworfen, weil der vergleichsweise hohe Aufbau von rund 10 cm in den Verschneidungen, in denen teilweise bis zu vier verschieden geneigte Schrägflächen aufeinandertreffen, zu grossen Aufbauten geführt hätte. Die Idee, lediglich die Epoxidharzschicht zu entfernen, die am schlimmsten beschädigten Stellen abzudichten und den Bau dann jährlich zu warten, war wegen der aufwendigen Einrüstung und Einhausung für die Bauherrschaft keine Option.

Das Gerüst ist auch bei den aktuellen Arbeiten die Krux und der grösste Kostentreiber. Wegen der exponierten Lage und der besonderen Bauwerksgeometrie sind aufwendige Gerüste, Zuwegungen und Transporthilfen erforderlich. Zudem finden die Arbeiten – bis auf die finale Decklage – jeweils abschnittsweise von oben nach unten statt, d. h., das Gerüst muss jeweils verschoben und neu den geneigten Flächen angepasst werden. Um die zu bearbeitenden Flächen jederzeit vor- oder nachbehandeln zu können und vor erneuter Verschmutzung während der Mörtelaufträge zu schützen, sind umfangreiche Massnahmen nötig, beispielsweise das zeitweise Beheizen des Schutzzelts bei Temperaturen unter 5 °C.

Selbstheilung durch Verfeinerung

Die wasserführenden Risse einfach mit Mörtel zu verpressen ist nicht möglich, da die Dachkonstruktion aufgrund Temperaturbeanspruchung ständig in Bewegung ist. Eine feine Rissverteilung soll Abhilfe schaffen. Es wurde ein Instandsetzungskonzept mit carbon­bewehrtem Spritzmörtel entwickelt – die Idee dazu stammte von Gottfried Böhms Sohn Peter, der die Arbeiten mit seinem Architekturbüro begleitet. Mit dieser Schutzschicht sollen die sich zyklisch öffnenden Einzelrisse in ein fein verteiltes und damit unschädliches Rissbild im Instandsetzungsmörtel überführt werden. Die Rissbreite wird reduziert und ist somit nicht mehr wasserführend.

Die an den Arbeiten beteiligten Experten des Instituts für Bauforschung der RWTH Aachen schlugen vor, eine 28 mm dicke Mörtelschutzschicht (eingebracht in drei Lagen) flächig zu applizieren und jeweils dazwischen eine textile Bewehrung aus Carbon auf den Dachaussenflächen aufzubringen. Zusammen mit der abschliessenden äusseren Decklage beträgt die Dicke des Schutzsystems ca. 35 mm. Zudem empfahlen sie, jeden Riss zunächst mit einem Enthaftungsstreifen vorzubehandeln. Dadurch soll verhindert werden, dass sich der Einzelriss durch die Schutzschicht fortsetzt.

Die aufgebrachte Schicht wirkt wie eine flächige Beanspruchung auf das Faltwerk. «Wir sprechen hier von zusätzlich ca. 80 kg pro m2», sagt Sergeij Rempel, der das Projekt an der RHTW Aachen begleitete. Trotz der Zunahme der ständigen Belastung bleibt das Dach gemäss der statischen Untersuchung ohne weitere Massnahmen tragfähig. Rempel geht von einer Nutzungsdauer der carbontextilbewehrten Schutzschicht von ca. 100 Jahren aus.

Keine Korrosion dank Carbontextil

Da Carbontextil nicht korrosionsanfällig ist, kann es oberflächennah angeordnet werden und eignet sich somit besonders für dünne Bauteile. Lediglich wenige Millimeter sind zur Sicherstellung der Verankerungskräfte erforderlich. Das im Projekt eingesetzte Carbontextil besteht aus haardünnen Filamenten (Durchmesser rund 7 µm). Mehrere tausend dieser Filamente werden zu Fasersträngen gebündelt und anschliessend zu netzartigen Textilien verarbeitet. Die Textilien werden im Werk mit Epoxidharz getränkt, ausgehärtet und besandet, um eine höhere Bruchspannung des Mate­rials zu erreichen und, so die Hoffnung der Experten, dadurch eine noch feinere Rissverteilung zu erreichen.

Das Institut für Bauforschung der RWTH ­Aachen testete die textile Bewehrung in Kombination mit dem ausgewählten Spritzbeton über Jahre, denn nur mit ausreichend Erfahrung konnte das Instandsetzungskonzept auf den Mariendom in Neviges adaptiert werden. Es wurden sowohl experimentelle Unter­suchungen durchgeführt, bei denen nachzuweisen war, dass die Risse fein genug bleiben, als auch theoretische Tests, um zu zeigen, dass sich die neue Schutzschicht nicht vom Altbeton löst. Weitere Versuche legen nah, dass man die Textilien und den Mörtel bei einem möglichen Rückbau trennen könnte. «Man könnte sogar das Textil anschliessend erneut verwenden», ist Sergeij Rempel überzeugt.

Probefläche instand gesetzt

Nachdem alle Tests abgeschlossen waren, beauftragte die Bauherrschaft ein Unternehmen, eine Teil­fläche instand zu stellen. Gewählt wurde das Dach über der Sakramentskapelle. «Aus meiner Sicht ist das die schwierigste Stelle der Konstruktion», meint Sergeij Rempel.

Nach der Einrüstung und Einhausung der zu bearbeitenden Fläche wurde diese auf Schäden, Fehlstellen und Risse untersucht und kartiert. Zum Auftrag der carbontextilbewehrten Schutzschicht und der Enthaftungsstreifen im Bereich der Risse wurden die Betonflächen mit festem Strahlmittel tragfähig vorbereitet. Dazu wurden alle minder festen Schichten und alle trennend wirkenden Substanzen entfernt. Die vorhandene Epoxidharzbeschichtung und -spachtelung aus den 1980er-Jahren wurde abgetrennt – und erwies sich als erstaunlich hartnäckig: Obwohl sie sich stellenweise vom Untergrund gelöst hatte, liess sie sich komplett nur mit deutlich höherem Aufwand als ursprünglich gedacht entfernen. Poren und Lunker wurden geöffnet, bis das mittlere Korngefüge des Beton­untergrunds sichtbar freigelegt war.

Die markierten Bauteilrisse wurden mittig mit einem 18 cm breiten, elastifizierten, mineralischen Spachtel überdeckt, dem sogenannten Enthaftungs­streifen. Anschliessend wurden die steifen, vorab zugeschnittenen Textilien jeweils unmittelbar an die noch frische Zwischenmörtelschicht angelegt, aus­gerichtet, fixiert und mit Trockenspritzmörtel kraftschlüssig eingebettet. Darauf folgte die zweite Schicht aus Textilbewehrung, bevor die Deckschicht und die Hydrophobierung folgten.

Die verwendete Textilbewehrung lässt sich nur noch in geringem Mass verformen. Deshalb mussten für die Bewehrung der zahlreichen Kehlen, Ecken, Grate und Kanten besondere Formteile im Werk vor­gefertigt werden. In den Bereichen horizontaler oder schwach geneigter Flächen wurden die textilbewehrten Schutzmörtel analog, jedoch händisch eingebaut. Um die Ausführung beurteilen zu können, zogen die Forscher Bohrkerne aus den instand gesetzen Flächen. Dazu wurde ein Prüfstempel mit einem Durchmesser von 50 mm verwendet. Die zugehörige Bohrtiefe betrug 55 mm, sodass der Schnitt bis in den Altbeton reichte.

So wurden die Oberflächenzugfestigkeit und die Abreiss­festigkeit zwischen den Schichten ermittelt. Die mittleren Werte der Abreissfestigkeit lagen deutlich über dem geforderten Wert von 1.5 N/mm2. Die Experten der RWTH Aachen waren vor Ort und kontrollierten während des Spritzens die Schichtdicken und die Ebenflächigkeit. Zum lagegerechten Einbau der Carbonbewehrung waren lediglich Toleranzen von 3 mm zulässig. Ihren guten Eindruck der Ausführung bestätigten die gemessenen Werte, die innerhalb der Sollwerte lagen.

Was ist Original, was Interpretation?

Neben den technischen Eigenschaften der neuen Schicht lag ein Hauptaugenmerk auf deren Erscheinungs­bild: Immerhin gilt der geschützte Bau als Ikone der deutschen Nachkriegsarchitektur, und auch sein Erschaffer, der hochbetagte Architekt Gottfried Böhm, musste mit der Ausführung einverstanden sein.

Nach der Instandsetzung sollen die horizontale originale Schalbrettstruktur und die ursprüngliche Farbe des Altbetons sichtbar sein. Um den rötlichen Farbton zu erhalten, wurden dem Ausgangsmörtel Pigmente (Eisenoxid, Titanoxid) beigemischt. Die Oberflächenstruktur erzeugten die Arbeiter manuell: mit Reibebrett und Glättkelle – ein Vorgehen, das die Denkmal­pflege nicht begrüsste, da es sich dabei nicht um Herstellungsspuren handelt, sondern um ein nachträglich appliziertes Muster. Die Bauherr­schaft konnte sich hier aber durchsetzen: Zum einen strukturiert die Schalungstextur die neu sehr hellen Flächen, zum anderen kaschiert sie leichte Unregelmässigkeiten der neuen Schicht. Die neue, 35 mm dicke Schutzschicht beeinflusst die äussere Form des Bauwerks übrigens nicht – bei Dimensionen von 50 m Höhe und 37 m Breite sowie im Kontext der bewegten Dachlandschaft fällt ihre Höhe visuell nicht ins Gewicht.

Mehr zu reden gab in diesem Zusammenhang die helle Farbe des instand gesetzten Dachs. Tatsächlich wirkt sie im Vergleich zu den noch unbehandelten Flächen sehr sauber, doch der optische Trick mit der Schalungsstruktur funktioniert, und die Pigmente sorgen für ein fast samtiges Aussehen. Ungewohnt hingegen ist die plötzliche scharfe farbliche Trennung von Dach und Wandflächen; ein Effekt, den Gottfried Böhm aller­dings ausdrücklich befürwortet und der in den Entwürfen für den Dom auch immer abgebildet wurde. Inwiefern diese Trennung die plastische Form des Baus, der sich gerade durch die Einheit von Wand und Dach auszeichnet, beeinflusst, lässt sich erst sagen, wenn das ganze Dach renoviert ist. Die Bauherrschaft geht davon aus, dass das Dach allmählich Patina ansetzen wird. Eine Dampfdrucksäuberung der Wände ist angedacht, allerdings würde auch dann ein deutlicher Farbunterschied zwischen Wand- und Deckenflächen sichtbar bleiben.

Der nächste Schritt

Seit Anfang Juni 2018 bereitet die beauftragte Unternehmung die nächste Teilfläche für die Instandsetzung vor, die «Pyramide Nähe Altar» (%%gallerylink:42482:vgl. Dachaufsicht%%) mit 800 m². Das Vorgehen des ersten Teilabschnitts wollen die Beteiligten beibehalten, auch wenn es vonseiten der Bauherrschaft Überlegungen gab, auf den Enthaftungsstreifen über den Rissen zu verzichten. Tatsächlich zeigen die Flächen der nun seit eineinhalb Jahren instand gesetzten Pyramide über der Sakramentskapelle keine der prognostizierten Haarrisse. Die Vermutung: Möglicherweise verteilen die starren Carbonmatten die Spannungen ohnehin bereits über die gesamte Fläche.

Ob diese Theorie in einem allfälligen dritten Berarbeitungsabschnitt getestet werden kann, steht derzeit noch in den Sternen: Die für die gesamte In­standsetzung vorgesehenen rund drei Mio. Euro sind aufgebraucht. Aktuell ist die Bauherrschaft auf der Suche nach finanzieller Unterstützung. Rund 350 Jahre nach der Marien­erscheinung braucht es in Neviges nun wohl Hand­­fes­teres als Glaube, Liebe, Hoffnung.

TEC21, Fr., 2018.09.07



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10. August 2018Tina Cieslik
Paul Knüsel
TEC21

«Lieber freiwillig als mit Zwang»

1998 wurde das erste Haus in der Schweiz mit dem Energiestandard Minergie ausgezeichnet. 20 Jahre später sind es über 46 000 Minergie-Gebäude. Was hinter dem Erfolg steht, erklären zwei Vertreter des nationalen Trägervereins.

1998 wurde das erste Haus in der Schweiz mit dem Energiestandard Minergie ausgezeichnet. 20 Jahre später sind es über 46 000 Minergie-Gebäude. Was hinter dem Erfolg steht, erklären zwei Vertreter des nationalen Trägervereins.

TEC21: Wir gratulieren dem Verein Minergie zum 20. Geburtstag. Was wünscht sich der Jubilar?
Andreas Meyer Primavesi: Qualität und Einfachheit. Die letzten Jahre waren für die Bau- und Immobilienbranche ziemlich turbulent und unter anderem von der Energiestrategie 2050, der Digitalisierung und den tiefen Zinsen geprägt. Wir wünschen uns darum nicht etwas für uns selbst, sondern für die ganze Branche: dass man die Kräfte bündelt und sich aufs Wesentliche besinnt.

TEC21: Auch für den Verein Minergie haben die letzten Jahre einige Veränderungen gebracht; 2017 hat man erstmals substanzielle Korrekturen am Gebäude­standard vorgenommen. Was zeichnet diesen heute aus?
Andreas Meyer Primavesi: Ein Minergie-Haus ist etwa ein Viertel besser in der Energie- und CO2-Bilanz als ein konventioneller Neubau. Berücksichtigt man die niedrigen Betriebs- und Nebenkosten, die günstigeren Hypothekarzinsen oder den Mehrwert einer Minergie-Liegenschaft, dann lohnt sich der Aufwand auch wirtschaftlich. Minergie ist nur unwesentlich teurer und aufwendiger zu realisieren als der Mainstream. Denn ein zentrales Anliegen ist, dass wir möglichst viele Bauträger ansprechen können. Darum ist Minergie das erfolgreichste Gebäudelabel auf dem Markt. Man hat bereits vor 20 Jahren ein Gespür für das Mach­bare entwickelt, sonst hätte es kaum überlebt.

TEC21: Wenn Sie zurückblicken: Wie hat der Verein dies erreicht?
Milton Generelli: Mit Mut zur Innovation: Vor 20 Jahren hat der Standard erstmals eine thermische Bilanz eingefordert; gesetzlich erforderlich war einzig der Qualitätsnachweis für eine gut gedämmte Gebäudehülle. Dennoch war das primäre inhaltliche Anliegen nicht die Energieetikette, sondern die Steigerung des Komforts. Dies hat damals die Akzeptanz erhöht. Energiesparen war nicht populär und wurde eher mit Verzicht in Verbindung gebracht. Darum der Claim «mehr Komfort, mehr Energieeffizienz»: Dieser war den Endkunden einfach zu vermitteln. Doch es ist mehr als nur Mar­keting. Dahinter steckt ein fachlich fundiertes Konzept, das die Anforderungen zur Nutzerbehaglichkeit und qualitativen Gebäudesubstanz kombiniert.
Andreas Meyer Primavesi: Die sportliche Vorgabe bestand darin, das energetische Niveau von Neubauten um den Faktor zwei bis drei zu unterbieten; der Standard verlangte damals einen jährlichen Heizwärmebedarf von 42 kWh/m2 für neue Wohnbauten anstelle der gesetzlich erlaubten 120 kWh/m2. Erstaunlich ist si­cher, dass trotzdem eine solche Breitenwirkung entfaltet werden konnte.
Milton Generelli: Die Messlatte war weder zu tief noch zu hoch. Es hätte strengere Lösungen gegeben, aber die wären nicht derart breitenwirksam gewesen. Es war eben nie die Absicht von Minergie, nur vorbildliche Leuchttürme zu präsentieren, die zwar alles richtig machen, aber keine Verbreitung finden.

TEC21: Welche Rolle spielen die Kantone, die wesentlich zur Gründung des Vereins beigetragen haben?
Andreas Meyer Primavesi: Das enge Zusammenspiel mit den Behörden war sogar sehr wichtig und ist ein zentraler Erfolgsaspekt. Der Standard Minergie wäre ein Nischenprodukt geblieben, hätten sich die Erfinder und die Kantone nicht einigen können. Da waren anfänglich auch Hürden zu überwinden. Richtig vorwärts ging es, als die Kantone und anschliessend auch der Bund den Standard in ihre Energiepolitik integrierten. Dadurch hat sich die Sichtbarkeit wesentlich erhöht. Inzwischen ist Minergie ein Part­nerprojekt zwischen der öffentlichen Hand und der Privatwirtschaft. Es geht darum, dass wir freiwillig etwas leisten, was sonst mit Zwang realisiert werden müsste.

TEC21: Die Zertifizierungsregeln sind im letzten Jahr erneuert worden. Nun darf ein Neubau nicht mehr fossil beheizt werden. Ist das ein Versuchsballon für die Kantone, ihre Gesetze künftig darauf auszurichten?
Andreas Meyer Primavesi: Der Verein ist sich bewusst, dass diese Vorgabe aneckt und im Markt umstritten ist. Dennoch glauben wir nicht, dass die Versorgung mit fossiler Energie Bestandteil des zukunftsfähigen Gebäudestandards sein darf. Nicht nur bei Neubauten, auch bei Sanierungen ist dies zu hinterfragen. Was die Absichten der Kantone diesbezüglich betrifft, bin ich nicht die richtige Ansprechperson. Doch was der Verein tut, ist sicher kein Zufall. Unsere Vision tra­­gen die Kantone massgeblich mit, respektive sie haben bereits bei der Formulierung mitgewirkt. Ein Zweck des Standards ist: Wir sollen nachweisen, dass ein innovatives Baukonzept technisch und ökonomisch machbar ist. Der Gesetzgeber kann dann übernehmen, was er seinerseits für machbar und nachfrageorientiert hält.
Milton Generelli: Wichtig ist, dass wir – wie schon vor 20 Jahren – mutige Impulse setzen. Die neuen Vorgaben sind darum eine logische Fortsetzung. Zentral ist, dabei die Gesamtenergieeffizienz zu betrachten, ebenso wie die Verpflichtung, die Eigenversorgung etwa mit Photovoltaik anzu­streben. Die Technik, die es dazu braucht, gibt es heute schon.

TEC21: Nicht nur die Wärme, neuerdings wird auch der Stromkonsum bei Minergie mitgezählt. Warum hat man diesen Schritt, die Gesamtenergieeffizienz zu betrachten, nicht mit weniger Vorgaben verknüpft?
Andreas Meyer Primavesi: Hätte man zum Beispiel die Anforderungen an die Gebäudehülle komplett fallen gelassen und nur noch auf die Gesamtenergiebilanz gesetzt, hätten das sicher einige als grossen Wurf wahrgenom­men. Aber daraus wären Konflikte mit den kantonalen Gesetzen und den Baunormen entstanden. Das Bewertungssystem ist jedoch so aufgebaut, dass der Zielwert für die Gesamtenergieeffizienz auf unter­schiedliche Weise erreicht werden kann. Die Qualität der Gebäudehülle, der Eigenversorgungsgrad und die gebäudetechnischen Massnahmen können unter­­einan­­der abgestimmt werden. Den zwingenden Rahmen aber setzen die gesetzlichen Anforderungen an die Gebäudehülle und den Mindestanteil an erneuerbarer Energie. Das ist ein weiterer Mehrwert unseres frei­willigen Gebäudestandards: Ein Bauträger erhält mit der Zertifizierung die Sicherheit, dass er sämtliche Vorgaben für eine Baubewilligung erfüllen kann.
Milton Generelli: Wir dürfen nicht vergessen, dass sich der Standard weitgehend auf gültige SIA-Normen abstützt und eine Absicherung bietet, dass diese Grundlagen berücksichtigt werden. Allerdings wird das Bauen immer komplizierter; zusätzliche Qualitäts­aspekte kommen dazu. Den generellen Anstieg der Komplexität darf man Minergie aber nicht zum Vorwurf machen.
Andreas Meyer Primavesi: Ein Übermass an Anforderungen wird uns immer wieder vorgeworfen. Oder es wird wiederholt kritisiert, wie wenig Freiheiten das Konzept bietet. Aber wenn wir nicht genau hinschauen, wie gut die realisierte Bauqualität und der Komfort sind, würden uns substanzielle Baumängel vorgehalten. Nur darum müssen wir jetzt zum Beispiel nicht über Schimmel in Minergie-Häusern sprechen; den gibt es nicht. Auch die Abweichungen in der Energieperformance zwischen Planung und Alltag wären weitaus grösser, als sie sind. Die erfassten Differenzen sind nüchtern betrachtet nicht so riesig. Ein Erfolgsprinzip des Gebäudestandards steckt auch in der Planungssicherheit und im Investitionsschutz.

TEC21: Vereinfachungen waren also bei der letzten Erneuerungsrunde kein Thema?
Andreas Meyer Primavesi: Selbstverständlich hinterfragen wir selbst einiges. Aktuell ist die Belüftung von sanierten Gebäuden ein internes Diskussionsthema. Auf ein Lüftungssystem verzichten oder die Anforderungen fallen lassen werden wir bestimmt nicht. Die Lüftung ist für uns immer noch das richtige Mittel zum Zweck. Aber wir denken an eine flexiblere Beurteilung und schauen, welche neuen Technologien für Anpassungen oder Vereinfachungen genutzt werden können. Wir nehmen Kritik ernst, aber wir hören lieber auf konstruktive, lösungsorientierte Beiträge als auf laute Vorwürfe.

TEC21: Wie tauscht sich der Verein mit der Fachwelt aus, um Probleme aus der Praxis in Erfahrung zu bringen?
Andreas Meyer Primavesi: Wir sind am Erfahrungsaustausch interessiert und führen in allen Regionen regelmässige Treffen mit Architekten und Fachplanern durch. Aktuelle Themen neben der Lüftung sind der sommerliche Wärmeschutz und das Monitoring des Energieverbrauchs. Wir sind uns bewusst, dass es die Balance zwischen zu detaillierten und zu vagen Anforderungen zu halten gilt.
Milton Generelli: Die Neuerungen für die Zertifizierung sind nicht im stillen Kämmerlein entwickelt worden, sondern waren Teil eines zweijährigen Vernehmlassungs- und Bereinigungsprozesses.
Andreas Meyer Primavesi: Das hilft uns. Nach den ersten zwölf Monaten und den Erfahrungen, die wir mit den neuen Zielen und Kenngrössen sammeln konnten, kann ich sagen: Sie kommen gut an.

TEC21: Aber die Pflicht zur Eigenerzeugung von Strom ist kostenrelevant. Wie viel mehr ist für ein Minergie-Haus zu investieren im Vergleich zum konventionellen Niveau?
Andreas Meyer Primavesi: Früher hat der Verein kommuniziert, dass mit Mehrkosten von rund 5 % zu rechnen sei. Doch diese Analysen treffen heute nicht mehr zu, und aktualisierte Angaben gibt es nicht. Ich gehe aber davon aus, dass sich der Mehraufwand für die Ener­gie­erzeugung positiv auf die Lebenszyklus- und Betriebskosten auswirken wird. Zudem wird der Zusatz­aufwand für die Technik entschärft, weil die Dämmanforderungen dieselben wie beim Gesetzesstandard sind. Hier ist nicht mehr zu leisten als bei allen anderen auch.
Milton Generelli: Darum setzt der Verein auf den Markt. Bei der Solartechnologie sind heute schon günstige Lösungen verfügbar. Zudem glaube ich, dass ein Minergie-Haus nicht teurer sein muss als ein konventionelles Gebäude, wenn das Gesamtkonzept von Anfang an darauf ausgerichtet ist.

TEC21: Der Standard Minergie hat sich regional unterschiedlich verbreitet. An Orten mit hoher Baudynamik wie im Raum Zürich ist der Standard ausserordentlich gut vertreten. Warum funktioniert das etwa im Tessin weniger gut?
Milton Generelli: Der Kanton hat kein generelles Problem, sondern ist nur zeitlich verzögert unterwegs. Der Gesetzgeber war beim Vollzug der Energieziele etwas im Verzug. Erst vor etwa 15 Jahren wurde die SIA Norm 380/1 für die Baubewilligung verbindlich gemacht. Mittlerweile wird auf Sensibilisierung und Weiterbildung gesetzt. Öffentliche Bauten müssen nach Minergie zertifiziert werden, und das Bauen nach Minergie wird finanziell gefördert. Zudem hat die Einführung des Standards Minergie-A, der die Stromerzeugung ins Zentrum stellt, bei den Zertifizierungen im Tessin einen eigentlichen Aufschwung gebracht.
Andreas Meyer Primavesi: Sich in der ganzen Schweiz und in allen drei Landesteilen aktiv zu bemühen, ist für den Verein Minergie sicher ein Kraftakt. Unsere Ressourcen für das Marketing sind beschränkt. Gleichzeitig können wir von der Vernetzung und den regionalen oder klimatischen Unterschieden fachlich profitieren. So kümmert sich die Agentur im Tessin in Zusammenarbeit mit der Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana (Supsi) um die angewandte Forschung, wie wir mit dem steigenden Kühlbedarf umzugehen haben. Auch bei den Vorgaben für den sommerlichen Wärmeschutz können wir so voneinander lernen.
Milton Generelli: Effektiv können wir klimatisch bedingte Einflüsse einbringen. So wissen wir, dass Minergie-Häuser im Tessin vergleichsweise weniger gut gedämmt werden müssen, im Gegenzug aber mehr Energie produzieren. Zudem bereitet uns der Sommer mit dem steigenden Kühlbedarf mehr Mühe. Wir müssen kluge Ansätze entwickeln, damit man Wohnhäuser nicht nachträglich mit Kühlaggregaten ausstatten muss.

TEC21: Einem Jubilar wünscht man immer auch ein langes Leben. Wie lang wird es Minergie noch geben?
Milton Generelli: Solange wir Innovationen setzen und die Wirtschaft antreiben können, braucht es uns.
Andreas Meyer Primavesi: Sobald die Energiestrategie 2050 erreicht ist, braucht es uns nicht mehr. Oder wenn jedes Gebäude plus/minus eine Nullbilanz besitzt. Aber die Bauwirtschaft ist träge. Darum wird es den Verein in 20 Jahren sicher noch geben.

TEC21, Fr., 2018.08.10



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08. Juni 2018Tina Cieslik
TEC21

Bleibt alles anders

Die Nutzungen ändern sich, die Substanz bleibt: Der Umbau des 1925 erstellten Baus an der Bahnhofstrasse 53 in Zürich durch Tilla Theus und Partner war ein Abwägen zwischen zeitgenössischen ­Bedürfnissen, baukulturellen Überlegungen und – passend zur ­Nachbarschaft – dem optimalen Verhältnis von Preis und Leistung.

Die Nutzungen ändern sich, die Substanz bleibt: Der Umbau des 1925 erstellten Baus an der Bahnhofstrasse 53 in Zürich durch Tilla Theus und Partner war ein Abwägen zwischen zeitgenössischen ­Bedürfnissen, baukulturellen Überlegungen und – passend zur ­Nachbarschaft – dem optimalen Verhältnis von Preis und Leistung.

Im Jahr 1894 eröffnete die Schweizerische Volksbank ihre Filiale an der Bahnhofstrasse 53 in Zürich. Doch schon zwanzig Jahre später war der Bau zu klein, und die Volksbank veranstaltete einen Wettbewerb für einen Ersatzneubau.[1] Für die Ausführung taten sich der erstrangierte Architekt Otto Hon­egger und der viertrangierte Hans W. Moser in einer Architektengemeinschaft zusammen und kombinierten ihre Entwürfe. Das Resultat war ein Sandsteinbau mit zurückhaltender, strenger Fassade – ein typisches Beispiel eines auf Sicherheit und Seriosität ausgerichteten Bankhauses.

Für die Gestaltung zeichneten namhafte Künstler wie der Plastiker Otto Münch, der die Terrakottaverkleidung der Schalterhalle schuf, oder der Bildhauer Eduard Zimmermann verantwortlich. Er kreierte die beiden Bronzeskulpturen und die drei Steinmedaillons zwischen und über den drei Haupteingängen (Grundrisse).

1993 wurde die Volksbank Teil der Credit Suisse, die fünf Jahre später das Erdgeschoss an verschiedene Läden vermietete und in den oberen Etagen weiter Büros unterhielt. 2004 wurde der Bau unter Denkmalschutz gestellt. Acht Jahre später verkaufte die CS den Bau mit der attraktiven Adresse für kolportierte 300 bis 400 Mio. Franken an das Versicherungsunternehmen AXA, das ihn anschliessend gesamthaft instandsetzen liess.

Ausschlaggebend für den Kauf war eine Machbarkeitsstudie des Zürcher Architekturbüros Tilla Theus und Partner. Die Architekten hatten die Bestandspläne genau studiert und einen Kunstgriff zur Wertsteigerung vorgeschlagen: Die Decke des zweiten Untergeschosses wollte man absenken und dem 1. UG so wertvolle Raumhöhe schenken. Von knappen 2.50 m konnte diese damit auf attraktive 4.20 m (Rohbau) erhöht werden. Neben dem Optiker Visilab und der Modemarke Massimo Dutti im EG belegen heute der Flagship-Store der Mode­marke COS und das Bindella-Restaurant Ornellaia die Flächen.

Ein Hauch Extravaganz

Im Rahmen der Instandsetzung wurde 2015 der Unterschutzstellungsvertrag zwischen den Hauseigentümern und der Stadt Zürich angepasst und aktualisiert («Erhalten, ersetzt, ertüchtigt», Kasten unten). Das Büro Tilla Theus zeichnet verantwortlich für den Gesamt­umbau der Liegenschaft, den Innenausbau der Bürogeschosse 1 bis 6 und für jenen des Restaurants. Letzteres ist als Reminiszenz an einen toskanischen Innenhof konzipiert, mit gebrochenem Travertin an den Wänden, einer offenen Küche und einer Eiche, die allerdings mit der Krone nach unten von der Decke hängt.

Die schwierigen Proportionen des mit 23.4 m sehr langen und auch schmalen und hohen Raums werden etwas gelindert durch die abgeschrägten Verspiegelungen an den ebenfalls sehr hohen Fenstern. Deren Brüstungshöhe liegt auf 1.85 m, die Spiegel schaffen (verzerrten) Sichtkontakt nach aussen.

Neben überaus aufwendigen Eingriffen am Tragwerk inklusive Erdbebenertüchtigung (vgl. «Aufgefrischtes Äquivalent») waren zwei Schwerpunkte der Umbauarbeiten die vier Treppenhäuser und die Anpassungen bei den Fenstern. In den vertikalen Erschliessungen wurden die schmiedeeisernen Vergitterungen aufgefrischt oder ersetzt und die Stuckdecken sowie die originale Farbigkeit der Deckenfriese in ­Karminrot wiederhergestellt.

Bei den Fenstern entschieden sich die Planer für Holzrahmen nach historischem Vorbild. Eine Besonderheit sind die Schaufenster der Läden im Erdgeschoss: Dem Diskretions- und Sicherheits­bedürfnis der Bank folgend waren sie ursprünglich vergittert und lediglich mit einem kleinen Schaukasten versehen – zu unattraktiv für ein Ladengeschäft an bester Zürcher Lage. Die Gitter waren bereits bei den letzten Renovationsarbeiten 2004 entfernt worden. Nun schoben die Architekten die jetzt verglasten Schaukästen 80 cm nach vorn, bis zur Aussenkante der Gesimse, was die Sichtbarkeit der aus­gestellten Ware deutlich erhöht.

Bei den Büros wünschten es die Mieter, die Anwaltskanzlei Niederer Kraft & Frey, klassisch: Vorwiegend Einzelbüros reihen sich an den Aussenfassaden und hin zum Innenhof entlang des fünfeckigen Grundrisses. Die Materialisierung ist pragmatisch, mit weis­sen Tapeten und grauem Teppich. Eine Ausnahme bildet das 2. Obergeschoss, das als repräsentative Empfangs­ebene gestaltet ist: Die Wände der Korridore sind hier entweder mit tiefblau eloxierten Aluminiumplatten belegt oder mit weissem Stucco lustro verputzt, die Stützen beige marmoriert.

Der Boden aus bayrischem Fruchtschiefer und Hauteville-Marmor erinnert an den Belag der ­Schalterhalle. Dazu kommt das ehemalige Verwaltungsratszimmer, das sich mit Holztäfer, Lüster und einem barocken Kachelofen präsentiert. Unkonventionell ist der Aufzug in die Kanzlei: Mit trapez­förmigen Grundriss und voll verspiegelt soll er klaustrophoben Zeitgenossen die Angst vor der Enge nehmen. Das endlos gespiegelte Bildnis wirkte im Selbsttest allerdings eher verstörend.

Die Visitenkarte des Baus sind die weiterhin öffentlich zugängliche Schalterhalle im EG und der ­Tresorraum im UG – Shopping sei Dank. Tilla Theus setzte die Räume gemäss denkmalpflegerischen Kriterien instand. Die Schalterhalle erhält mit dem renovierten Dach aus Glasbausteinen wieder Tageslicht, bei Bedarf wird eine darunter eingesetzte Lichtdecke aktiviert. Bei den Böden gab es eine Überraschung: Gemäss historischen Quellen aus Solnhofener Kalk, handelte es sich gemäss Materialproben tatsächlich um Hauteville-Marmor, in Kombination mit bayrischem Fruchtschiefer.

Die Böden wurden aufgefrischt, die charakteristischen Terrakottaplatten der Pfeiler, Wandnischen und Türgewände, wo beschädigt, nachgegossen und ersetzt. Auch der Kundentresorraum im 1. UG wurde in den Originalzustand ver­setzt. Heute wie damals säumen Schliessfächer die Wände, den Raum selbst betritt man durch eine acht Tonnen schwere Tresortür. Wo einst Geld gehortet wurde, kann man es heute ausgeben: Die beiden Räume beherbergen nun die Niederlassung der schwedischen Modemarke COS.

Für den Ladenbau war an dieser Stelle ein Londoner Büro im Auftrag des Mieters zuständig. Es wusste die expressiven Räume nur bedingt zu nutzen: In der Schalterhalle mögen die grazilen Kleiderständer mit den soliden Stützen interessant kontrastieren, der überdimensionierte Kubus für die Garderoben im rückwärtigen Teil verstellt hingegen die Sicht auf die originalen Wandtafeln und verunklart den Raum. Bitter wird es beim Tresorraum: Während der Zugang durch den schön gestalteten Vorraum und die mächtige Tresortür spannungsvoll inszeniert ist, verstellte man die umlaufenden Schliessfächer an den Wänden mit den Kleiderständern – zu eng und zu viel für den Raum. Schade.


Anmerkung:
[01] Schweizerische Bauzeitung, 75–76/1920, Heft 4, S. 38 ff.

TEC21, Fr., 2018.06.08



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30. Juni 2017Tina Cieslik
Susanne Frank
TEC21

Freigespielt

Nachdem sie 2007 den Wettbewerb gewonnen hatten, entwickelten die Architekten Kuhlbrodt & Peters und Beat Aeberhard die Primarschulanlage in La Neuveville zu einem überzeugenden Ensemble, das sensibel auf Topografie und Stadtstruktur reagiert. Im Innern beeindruckt das Gebäude mit seiner räumlichen Komplexität.

Nachdem sie 2007 den Wettbewerb gewonnen hatten, entwickelten die Architekten Kuhlbrodt & Peters und Beat Aeberhard die Primarschulanlage in La Neuveville zu einem überzeugenden Ensemble, das sensibel auf Topografie und Stadtstruktur reagiert. Im Innern beeindruckt das Gebäude mit seiner räumlichen Komplexität.

Siegreiche Wettbewerbsprojekte machen bisweilen eine erstaunliche Karriere – so auch die Erweiterung der Primarschulanlage in La Neuveville, die die Zürcher Architekten Kuhlbrodt & Peters zusammen mit Beat Aeberhard realisierten. Genau genommen begann mit dem Gewinn des Wettbewerbs erst die eigentliche Erfolgsgeschichte dieses Projekts: die Transformation und Neugestaltung der bestehenden Schulanlage zu einem stimmigen Ensemble aus Altem und Neuem, das sich zur Stadt hin öffnet und seinen Kontext feinfühlig miteinbezieht – eine gelungene Stadtreparatur.

La Neuveville ist ein beschauliches Städtchen mit einem kompakten historischen Kern, dessen Bausubstanz überwiegend aus dem 16. bis 19. Jahrhundert stammt. Die malerischen Gebäude in ortstypischer Materialität Putz und Jurakalk sind authentisch erhalten und bilden wohlproportionierte Stadträume mit eigenem Charme. Nördlich der Altstadt schliessen sich die ­Häuserzeilen der Vorstadt an. Um diese beiden Schwerpunkte erweiterte sich die Gemeinde im Lauf der Zeit mit punktförmigen Einzelhäusern, die frei in die ­Land­schaft gestreut sind. Der Ort am Nordwestufer des Bielersees, umgeben von Weinbergen, ist landschaftlich privilegiert und bietet einzigartige Blick­bezüge zu seiner Umgebung.

Die Primarschulanlage liegt am nordöstlichen Rand der historischen Altstadt am Hang, auf halber Höhe zwischen historischem Kern und Vorstadt. Das Hauptgebäude, ein klassizistischer Bau mit reprä­sen­ta­tiver Fassade, stammt aus dem 19. Jahrhundert. In den 1960er-Jahren wurde es um zwei weitere Gebäude ergänzt, die parallel zum bestehenden quer in den Hang gesetzt wurden. Die einzigartige Sicht vom Aussen­bereich auf den See ging damit verloren, ebenso wie umgekehrt die visuelle Präsenz des historischen Hauptbaus im Stadtraum. An dieses Gebäude grenzt im Westen ein Grundstück mit einem Kindergarten und einem Trafohaus, auf dem die Stadt im Jahr 2007 einen Wettbewerb auslobte: Aufgabe war, hier ein Primarschulhaus inklusive Kindergarten als Erweiterung des bestehenden Ensembles zu planen. Mit ihrem Entwurf entschieden die Architekten Kuhlbrodt & Peters in ­Zusammenarbeit mit Beat Aeberhard das Verfahren für sich und wurden für die weitere Planung beauftragt – die sich dann allerdings ganz anders gestaltete als ­ursprünglich im Wettbewerb vorgesehen.

Sensibel im Kontext integriert

Nach einem zweijährigen Aufschub des Projektstarts, bedingt durch einen politischen Wechsel im Conseil Municipal, sollte der Neubau auch die sanierungsbedürftigen 60er-Jahre-Bauten der bestehenden Anlage ersetzen. Mit diesem Projekt, das das Raumprogramm aus dem Wettbewerb und dem Schulhaus aus den 60er-Jahren aufnimmt, gelang den Architekten, gestützt durch die Gemeinde, eine Neuordnung der gesamten Anlage und damit eine markante Aufwertung dieses Orts im Stadtgefüge. Sie platzierten den Neubau, einen kompakten viergeschossigen Solitär mit allseitig ausgerichteter Fassade und flachem Walmdach, auf dem Gelände des historischen Hauptgebäudes. Der Entwurf überzeugt durch seine städtebauliche Setzung längs zum Hang und leicht versetzt zum Hauptbau, nimmt dessen Proportion und Masstäblichkeit auf und integriert sich geschickt in die Topografie. Altes und neues Schulhaus sind auf wohltuende und angemessene Weise präsent im Stadtbild.

Mit der Weiterentwicklung ihres Wettbewerbsentwurfs lösten die Architekten die Schwierigkeiten der vorherigen Konstellation auf: Beide Schulhäuser – Alt- und Neubau – haben nun freie Sicht auf den See und die Altstadt. So entstand eine grosszügige Anlage mit einem Pausenhof, einem kleinen Garten als Experimentierfeld und zwei neuen Plätzen auf unterschiedlichen Geländeniveaus, über die das neue Schulhaus jeweils zugänglich ist. Das den Ort prägende Motiv der Stützmauer ist in die Gestaltung der Aussenräume einbezogen, bestehende Wegebeziehungen sind gut integriert. Die Idee der Planer, die Grünfläche am Hang mit Weinreben zu bepflanzen, liess sich aus Unterhaltsgründen leider nicht realisieren. Ein Schulgarten neben dem Eingangsbereich an der Nordfassade bietet aber pädagogischen Zugang zur einheimischen Flora.

Ein frei stehender Pavillon komplettiert das Ensemble aus altem und neuem Schulhaus und markiert einen räumlich prägnanten Eckpunkt. Dieser neu geschaffene gedeckte Aussenraum, der zukünftig mit Rankpflanzen begrünt sein wird, kann in der Pause, für den Freiunterricht und für verschiedene Anlässe sowohl von der Schule als auch von der Gemeinde genutzt werden. Zusammen mit einem grossen Saal im Untergeschoss des Neubaus, den die Schule auf gleichem Geländeniveau anbietet, verfügt die Anlage somit über ein interessantes Raumangebot für öffentliche Veranstaltungen in der Gemeinde.

Regionale Referenz

Mit seiner Materialität und in der Gestaltung der Fassa­den nimmt das neue Schulhaus den Dialog zu seiner Umgebung auf. Gestockte Sichtbetonfassaden in warmem Beige-Gelb verleihen dem Gebäude einen repräsentativen Charakter, in ihrer Haptik vermitteln sie zwischen Putzbauten und Natursteinmauern der Umgebung. Die Archi­tekten wählten Jurakalk aus der ­Region als Zuschlagstoff, der durch das Stocken der Betonoberfläche sichtbar gemacht wurde. So fügt sich der Neubau mit dem historischen Schulhaus nicht nur in seiner Volumetrie, sondern auch in seiner Materialität zu einem harmonischen Ensemble, ohne dabei seine Eigenständigkeit zu verlieren.

Auch in weiteren Details schaffen die Architekten Analogien zu dem, was am Ort zu finden ist: So erhalten die Fenster durch eine ungestockt belassene Laibung eine Rahmung, ähnlich wie sie in den Putzfassaden der Umgebung zu finden ist; die Fensterteilung lehnt sich an die klassische Symmetrie der Fenster der umgebenden Solitäre an. Dennoch zeigt die Fassade keinen symmetrischen Aufbau, Brüche ­widerspiegeln die innere Ordnung. Die Themen der ­Umgebung werden aufgegriffen, jedoch neu interpretiert und an das Raumprogramm angepasst.

Raumskulptur im Innern

Im Innern überrascht das Schulhaus mit einer ungewöhnlichen räumlichen Komplexität und Grosszügigkeit. Bewegt man sich im Gebäude, verweilt der Blick nicht in einem Geschoss, sondern öffnet sich gleich­zeitig in die Vertikale: Über die Geschosse hinweg sind diago­nale Bezüge sowohl zwischen den einzelnen Raumeinheiten als auch zwischen den unterschiedlichen Ebenen möglich. Der Raum wirkt dadurch offen und licht, die Übergänge zwischen den Geschossen darüber und darunter erscheinen fliessend. Grosse Fenster rahmen den Blick nach aussen, die Beziehung zu Stadt und Landschaft ist so auch im Innern spürbar.

Um diese Wirkung zu erzielen, konzipierten die Architekten einen z-förmigen Erschliessungsraum: Über dieses Prinzip werden jeweils zwei Einheiten – bestehend aus je einer Klasse, Lehrerzimmer, Sanitärblock und dazugehörigem Vorbereich – zusammen­gefasst. Der Clou besteht darin, dass sich die Achsen geschossweise drehen: Damit erzeugen sie eine (räumliche) Verschränkung in der Horizontalen und Vertikalen. Die Architekten verwendeten dieses Motiv bereits im Wettbewerb. Im nun realisierten Entwurf, mit einem grösseren Volumen und Raumprogramm, hatten sie die Chance, ein noch spannungsreicheres Raumgefüge zu konzipieren.

Zusammenspiel der Disziplinen

Dass die verschiedenen Raumeinheiten geschossweise gedreht angeordnet werden, führt räumlich zu einem Gewinn. Um jedoch den Anforderungen der Gebäudetechnik gerecht zu werden, mussten die Planer beson­­dere Lösungen erarbeiten: Da einzig das Element des Aufzugs über alle Geschosse durchgängig ist, war es notwendig, die Leitungsführung sorgfältig zu planen  – was in konstruktiver Zusammenarbeit zwischen Architek­­ten und Ingenieuren gelang. Auch die Klarheit und die skulpturale Wirkung, die sich im Erschliessungsraum zeigen, sind das Ergebnis sorgfältiger Planung. Für die Treppen wurden keine Fertigteile verwendet, sondern sie wurden vor Ort gegossen – nur so liessen sich die punktgenauen Treppenanschlüsse kontrollieren. Die Akustik im Treppenhaus ist überraschend angenehm für einen Raum, der skulptural in Sichtbeton erscheint. Räumlich-ästhe­tische, konstruktive und technische Anforderungen wurden ganzheitlich betrachtet und gelöst. Ver­schiedene Themen sind konzentriert und in einem Ele­ment zusammengefasst: So wurden Leuchtröhren und Akustik­elemente zu einer Technikeinheit gebündelt und in die Decke integriert.

Mit dem Bezug des Schulhauses im vergan­genen Herbst fand das Projekt nach neunjähriger Laufzeit seinen Abschluss. Nicht immer verheisst eine lange Planungszeit Gutes. Oft genug kann man beobachten, dass ein vielversprechendes Konzept Schritt für Schritt verunklärt wird. In diesem Fall hat sich ein gutes Projekt Schritt für Schritt zu einem besonderen weiterentwickelt.

TEC21, Fr., 2017.06.30



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2017|26-27 Neue Schulen in der Romandie

30. Juni 2017Tina Cieslik
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Monochrom heiter

Mit dem 2015 fertiggestellten Erweiterungsbau der Primarschule Avry gelang den Zürcher Architekten Oeschger Reimann Schermesser ein grosser Wurf: Aussen verspielt und innen gewagt, verbindet der Neubau intensive Raumerlebnisse mit kreativer Pflichterfüllung.

Mit dem 2015 fertiggestellten Erweiterungsbau der Primarschule Avry gelang den Zürcher Architekten Oeschger Reimann Schermesser ein grosser Wurf: Aussen verspielt und innen gewagt, verbindet der Neubau intensive Raumerlebnisse mit kreativer Pflichterfüllung.

Anfang der 1970er-Jahre erlangte Avry im Kanton Freiburg regionale Bekanntheit: Die Migros eröffnete hier 1973 eines der grössten Einkaufszentren der Schweiz, gleichzeitig die erste Shoppingmall im Kanton. Der eigentliche Dorfkern von Avry liegt rund 1 km westlich davon, gut versteckt im hügeligen Hinterland, mit bester Aussicht auf die Freiburger Voralpen.

Die Gemeinde ist nicht nur wegen ihrer idyllischen und gleichzeitig verkehrstechnisch gut erschlossenen Lage attraktiv. Die Ansiedlung des Einkaufszentrums und der folgenden Industriebetriebe schuf Arbeitsplätze, die Nähe zum Kantonshauptort ist für Pendler interessant. In den letzten Jahren entwickelte sich das ehemals landwirtschaftlich geprägte Dorf ­sukzessive zur Wohngemeinde. Die Infrastruktur, vor allem die bestehende Primarschule von 1978, konnte den Platzbedarf für die wachsende Schülerschaft nicht mehr decken. Die Gemeinde schrieb daher 2008 einen offenen Projektwettbewerb für einen Neubau aus. Er sollte Platz für neun Primarklassen und drei Kindergartengruppen bieten und auch einen Mehrzwecksaal für die Gemeinde sowie die Zivilschutzanlage beherbergen.

Als Standort war das Grundstück in der westlichen Verlängerung der bestehenden Schule vorgesehen. Siegreich aus der Konkurrenz hervor gingen die Zürcher Architekten Oeschger Reimann Schermesser. Ihr Entwurf löst die Anforderungen in einem ausgeklügelten Raumkonzept, das Innen- und Aussenraum auf raffinierte und vielschichtige Weise miteinander verknüpft.

Formvollendet kindgerecht

Der zweigeschossige Neubau besteht aus zwei aneinandergedockten, leicht versetzten Quadern in der Verlängerung des bestehenden Pausenhofs und eines der Hauptzufahrtswege zum Wohnquartier. Gemeinsam mit dem Bestandsbau entstand auf diese Weise ​ein ​­Ensemble, das der Bedeutung der Schule als öffentlichem, auch von der Gemeinde genutztem Gebäudekomplex gerecht wird. Ins Auge springen zunächst die tanzenden Fenster des Neubaus – alle Fassaden, Sichtbeton mit Grauzement und gebrochenem Jurakies, haben Öffnungen, die auf unterschiedliche Höhen gesetzt sind und deren Formate zwischen stehend und liegend variieren. Umlaufende, mit der Fassade vor Ort betonierte Zargen aus schalungsglatt belassenem Beton betonen die Asymmetrie ihrer Positionierung.

Durch die versetzte Anordnung der beiden Quader und zusammen mit der dreidimensionalen Gestaltung der Fenster gelingt es, den über 53 m langen Bau in die Nachbarschaft der kleinteiligen Wohnbauten zu integrieren. Ein weiterer Aspekt in der Positionierung der Fenster ist die Funktion: Bei den Klassen im OG bieten die unten liegenden Fenster Ausblicke auf Kinderhöhe, die oberen Fenster sind die Lüftungsflügel. Im EG sind die unteren Öffnungen auch als Eingänge oder Fenstertüren aus­gebildet, die oberen dienen der Belichtung. Die Nordfassade zum Pausenhof ist zudem als gedeckte Arkade ausgeführt. Hier erlauben die Öffnungen den Zugang zum Schulhaus, und die unverglasten Rahmen dienen als Sitzgelegenheit für die Kinder.

Räume mit Mehrwert

Ein wichtiges Kriterium im Wettbewerb – und später bei der Abstimmung über den Baukredit – war der Mehrzwecksaal. Er sollte von der Gemeinde auch zu ausserschulischen Zeiten zu nutzen sein. Die Architekten platzierten den 162 m² grossen Saal an der Ostseite des Baus, gegenüber der bestehenden Anlage, mit deren Pausenhof er einen auch für Veranstaltungen nutzbaren Aussenraum erhielt. Der Zugang für die Besucher erfolgt vom Laubengang an der Nordseite. An der Südseite der Halle liegt die Grossküche. Beide Räume, Küche und Saal, sind über die zentrale Eingangshalle auch von der Schule aus erschlossen.

Überhaupt die Erschliessung: Beim Blick auf die Grundrisse erkennt man, was für ein wichtiges Entwurfsthema sie darstellt. Die Architekten verzichteten auf eine schulhaustypische Erschliessung mit langen Gängen und setzten stattdessen auf eine Aneinanderreihung von Hallen, um die die einzelnen Klassenzimmer gruppiert sind. Diese horizontale und via wenige Stufen auch vertikale Verschränkung der Räume erlaubt zum einen, das ansteigende Terrain ohne grosse Treppenfluchten zu überbrücken; zum anderen handelt es sich bei den Hallen eher um öffentliche ­Plätze denn um reine Verkehrsflächen: Im Zentrum der Quader dienen die zenital belichteten Räume jeweils als Garderobe. Neben vier Reihen mit umlaufenden Kleiderhaken an den Wänden – ehemaligen Schrankgriffen – entwarfen die Architekten dafür amorphe Sitzmöbel in Kleeblattform, die gleichzeitig als Schuhregal dienen. Jeweils drei Möbel zonieren den zentralen Kern, von dem aus vier Klassenzimmer erschlossen werden.

Grosszügig und variabel

Neben dem öffentlichen Bereich mit Saal, Küche und Sanitärräumen ist im Erdgeschoss im ersten, nordöstlichen Quader auch das Lehrerzimmer untergebracht. Der 90 cm höher liegende, südwestliche Teil beherbergt den Kindergarten mit kleineren Spielnischen und einen Klassenraum. Zwei gespiegelte gegenläufige Treppen führen ins Obergeschoss, hier komplettieren acht Klassenzimmer sowie ein Büro für die Logopädie und ein Raum für den Spezial- und Stützunterricht das Raumprogramm. Räumlich (und auch pädagogisch) interessant sind die offenen Lernlandschaften in den zentralen Hallen. Im Obergeschoss sind sie nicht Teil des Brandschutzkonzepts und können daher auch möbliert werden.

Im Brandfall schliessen Brandschutz-Schiebetüren die Bereiche ab, regulär kann die Zirkulationszone so aber auch in zwei Gruppenräume unterteilt werden. Indi­viduelle Gruppenräume für jedes Klassenzimmer, wie sie sich in der Deutschschweiz in jenen Kantonen durchgesetzt haben, die dem Harmos-Konkordat (interkantonale Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule) beigetreten sind, waren nicht gefordert. Dafür liegen die Grundflächen der einzelnen Klassenräume mit je 81 m² deutlich über den rund 70 m² (plus Gruppenräumen), die beispielsweise der Kanton Zürich standardmässig für seine Unterrichtsräume in den Primarschulen veranschlagt.[1]

Und die Farbe?

Neben aller räumlicher Raffinesse ist es jedoch die ungewöhnliche Farbigkeit der Innenräume, die auf den ersten Blick verblüfft und auf den zweiten Blick überzeugt. Über ihre gestalterische Funktion hinaus veranschaulicht die Farbgebung das räumliche Konzept: Das «Herz der Schule», die öffentlichen Räume, Hallen, Treppenhäuser, Sanitärräume sind monochrom in ­Pastellblau gehalten; die  «Innenräume» – Klassen- und Lehrerzimmer, aber auch der Mehrzwecksaal und die Grossküche – in Pas­tellgrün. Die Wahl der Farben greift auch die ländliche Umgebung mit tiefem Horizont, viel Himmel und grünen Weiden auf, die durch praktisch jedes der grossflächigen Fenster zusammen mit viel Tageslicht nach innen wirken.

Mit den wechselnden Lichtsituationen eines Tags, aber auch mit jenen der Jahreszeiten bilden die Flächen eine Palette an Intensität von fast Weiss bis Tiefblau bzw. -grün. Spannend wird es immer dort, wo die Töne aufeinandertreffen und wo farbige Schatten und Überlagerungen zusammenkommen. Und das funktioniert überraschenderweise auch im Betrieb: Rund zwei Jahre nach Bezug erweisen sich die Ober­flächen als bemerkenswert ruhiger Hintergrund für ­ die Werke kindlicher und pädagogischer Kreativität.

Beharrlichkeit lohnt sich

Neun Jahre sind seit dem Wettbewerb vergangen, zwei Jahre seit der Eröffnung der Primarschule. Die lange Planungs- und Bauzeit war primär bedingt durch die planerischen Strukturen mit einer Gemeinde als Bauherrschaft und dem Sujet Schulhaus als öffentlicher Bauaufgabe – mit hoher Relevanz für das Dorfleben und entsprechend vielen Beteiligten. Das hat aber auch seine gute Seiten: Die Akzeptanz des Baus vor Ort ist hoch, die Nutzer sind zufrieden – trotz oder vielleicht auch gerade wegen des gewagten Farbkonzepts. Dies ist das Verdienst der hochwertigen Architektur, aber auch der Geduld und des kommunikativen Geschicks der beteiligten Planer.


Anmerkung:
[01] Vgl. «Raumstandards für Volkshochschulen der Stadt Zürich», zum Download unter: bit.ly/2sh0lQV. Für die Gruppenräume werden den Flächen allerdings jeweils noch einmal ein Viertel bzw. die Hälfte der Klassenzimmerfläche zugerechnet.

TEC21, Fr., 2017.06.30



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TEC21 2017|26-27 Neue Schulen in der Romandie

09. Juni 2017Tina Cieslik
Susanne Frank
TEC21

«Der Nutzer passt sich dem Haus an»

Fünf Bieler Architekten kauften im September 2015 das 1957–1959 von Max Schlup erbaute Farelhaus. So besonders wie der Bau, so ungewöhnlich ist das Konzept seiner Instandsetzung. Aktuell wird er schrittweise saniert – eine Geschichte von Mut, Fantasie und Verhältnismässigkeit.

Fünf Bieler Architekten kauften im September 2015 das 1957–1959 von Max Schlup erbaute Farelhaus. So besonders wie der Bau, so ungewöhnlich ist das Konzept seiner Instandsetzung. Aktuell wird er schrittweise saniert – eine Geschichte von Mut, Fantasie und Verhältnismässigkeit.

Es war ein Schlüsselwerk in seinem Schaffen: Mit dem Direktauftrag für den Bau des Farelhauses für die evangelisch-reformierte Gesamtkirchgemeinde Biel wandte sich der dort ansässige Architekt Max Schlup Ende der 1950er-Jahre weg vom Heimatstil hin zur Haltung der Solothurner Schule. Das Gebäude an prominenter Lage an der Schüsspromenade war in seiner Architektur ebenso visionär wie in seiner Nutzung: Curtain Wall, offener Innenhof und eine beeindruckende Transparenz im Erdgeschoss, dahinter ein multifunktionaler Kosmos aus Veranstaltungssaal, Bistro und Mehrzweckräumen. Die fünf Obergeschosse beherbergten Büros, Wohnungen und ein Mädchenheim.

Doch was vor rund sechs Jahrzehnten zukunftsträchtig war, ging über die Jahre im Alltag verloren.

Umnutzungen und eine fehlende Gesamtkoordination für eine Instandsetzung setzten dem Bau zu – so weit, dass sich die Gemeinde mangels zeitgenössischem Nutzungskonzept und finanziellen Mitteln 2015 gezwungen sah, den Bau zu verkaufen. Das Raumangebot mit Restaurant und Saal in Kombination mit der anstehenden Sanierung barg aber viele finanzielle Risiken und war damit für klassische Investoren schlicht zu unattraktiv. Ein Glück war die Ausgangslage hingegen für die Bieler Architekten Stephan Buchhofer, Reto Mosimann, Simon Schudel, Oliver Schmid und Ivo Thalmann. Sie hatten be­reits Erfahrungen mit Schlups Bauten gesammelt, sei es in der Bauberatung des Heimatschutzes, bei der Mitarbeit an der 2013 erschienenen Schlup-Monografie[1] oder bei der Instandsetzung von dessen Gebäuden.

Ihr Ansatz für die Sanierung (vgl. «Das Wunder von Biel», TEC21 11/2017) ist nicht modellhaft, aber vorbildlich: Er stellt die bestehende Struktur mit all ihren Qualitäten, aber auch Schwächen ins Zentrum und fokussiert nicht auf heutige Anforderungen an Nutzung und Komfort. Kann diese Grundhaltung auch nicht als universelles Rezept für einen gelungenen Umgang mit Bauten aus dieser Zeit propagiert werden, so zeigt das Beispiel Farelhaus doch, dass eine Herangehensweise frei von Ideologien, gepaart mit Risikobereitschaft und beschränkten ­Mitteln, der Bedeutung und Substanz eines derartigen Objekts durchaus gerecht werden kann. Die heutigen Nutzungen entsprechen dabei jenen von damals: ein bunter Mix aus Büros, Wohnungen, Bistro und dem Veranstaltungssaal. Im Gespräch erzählt das Team von der Gratwanderung zwischen architektonischer Wertschätzung und Wirtschaftlichkeit und von der Doppelrolle als Architekten und Investoren.

TEC21: Beim Farelhaus treten Sie gleichzeitig als Investoren, als Architekten und als Betreiber auf. Wie sind Sie organisiert?

Team Farel: Kauf und Sanierung haben wir selbst finanziert. Zunächst dachten wir, wir übernehmen das Haus, organisieren von Zeit zu Zeit einen Vortrag und füllen es wieder mit Büros. Aber bald merkten wir, dass das wahrscheinlich nicht reichen würde, um die Kirchgemeinde als Verkäuferin zu überzeugen – ein Haus zu renovieren ist eins, aber es mit Nutzungen zu belegen und zu betreiben ist eine ganz andere Sache und war für uns eine Herausforderung. Nebst der Konstituierung der Trägerschaft als AG gründeten wir einen kulturellen Beirat, daraus entstand später der von der Trägerschaft unabhängige Kulturverein. Die Trennung ermöglicht, dass die AG klassische Themen wie Rentabilität und langfristige Finanzierbarkeit verfolgen und so die Rahmenbedingungen für den Kulturverein schaffen kann.

TEC21: Nach dem Kaufentscheid hatten Sie kaum Planungszeit. Wie konnten Sie das als Team bewältigten?

Team Farel: Wir kennen uns schon lang. Gegenseitiges Vertrauen ist die Voraussetzung für ein solches Vorhaben. Für die Sanierung gab es anfangs zwei­wöchentliche Sitzungen mit uns allen. Wir haben aber schnell gemerkt, dass die Fäden irgendwo zusammenlaufen müssen. In diesem Fall wanderte die Verantwortung langsam zu Ivo Thalmann. Jeder im Team nimmt eine spezielle Rolle ein: Der eine ist der Aussenminister, kennt sich im Schlup-Archiv aus und war massgeblich an der Schlup-Monografie beteiligt. Ein anderer regelte die Finanzen, Mietverträge und das Baugesuch. Wiederum andere übernahmen spezifische Themen wie die Fassade oder den Brandschutz. Das ist der Vorteil eines Teams. Wir hätten es sonst nicht geschafft.

TEC21: In welchem Zustand fanden Sie den Bau vor?

Team Farel: Wir haben 40 Jahre Investition rückgebaut. Vor allem die Wohnungen waren in ziemlich schlechtem Zustand. Das hat mit der flachen Hierarchie der Kirchgemeinde zu tun: Jemand hatte eine Idee, brauchte einen Raum und renovierte ihn nach seinem Gusto. Was fehlte, war eine gesamthafte Koordination der individuellen Umbauten. Originale Bodenbeläge wurden mit diversen Materialien belegt, Backsteinwände teilweise gestrichen oder gar verputzt.

TEC21: Seit wann steht das Gebäude unter Denkmalschutz?

Team Farel: Erst seit der Sanierung. Vorher war es im Inventar als schützenswert eingetragen. Im Kanton Bern gibt es für Baudenkmäler die beiden Stufen «erhaltenswert» und «schützenswert». Bauten der ersten Kategorie sollen wegen ihrer ansprechenden architektonischen Qualität oder ihrer charakteristischen Eigenschaften geschont, jene der letzteren ungeschmälert bewahrt werden. Wenn saniert wird und die Denkmalpflege Beiträge spricht, gibt es ab 5 000 Franken einen Unterschutzstellungsvertrag. Die gesprochenen Beiträge sind an eine Begleitung der Sanierung durch die Denkmalpflege geknüpft.

TEC21: Inwieweit hat die Sanierung des Farelhauses den Denkmalschutz interessiert?

Team Farel: Sie war insofern von Interesse für die Denkmalpflege, als wir dafür finanzielle Unterstützung beantragt hatten. Inhaltlich waren wir in dieser Hinsicht gut aufgestellt: Nebst der Bearbeitung vieler im Inventar eingetragenen Bauten durch alle Beteiligten hatten spaceshop Architekten von 2008 bis 2010 die Eidgenössische Sportschule in Magglingen von Max Schlup saniert. 0815 Architekten hatten die Villa Favorita in Biel von 1861 saniert. Die Objekte wurden 2010 und 2012 mit dem Nationalen Denkmalpflegepreis ausgezeichnet. Die Eigentümerschaft hatte also grosses Vertrauen, dass der Bau bei uns in die rich­tigen Hände kommt. Dass das Farelhaus ein Schutz­objekt darstellt, ist in der Fachwelt unbestritten. Aber in der Politik wird alles infrage gestellt, was eine Einschränkung darstellen könnte – ein solches Gebäude braucht einen Mentor, sonst ist es weg.

TEC21: Was ist Ihr Sanierungskonzept?

Team Farel: Die wirtschaftliche Basis hat die Eingriffs­tiefe definiert, wobei sich dieser Ansatz auch mit unserer architektonischen Haltung deckt: möglichst bescheiden, bauschadenfrei und kostendeckend. Bescheidenheit beinhaltet ein stufenweises, situatives Vorgehen in Bezug auf die Substanz. Letztendlich ging es darum, diese zu erhalten. Dazu kommen der wirtschaftliche Aspekt und die Bauzeit von knapp einem halben Jahr: Hätten wir hier mehr Spielraum gehabt, hätten wir möglicherweise vieles anders gemacht. Hingegen gibt es Dinge, die man einfach in die Hand nehmen muss, zum Beispiel die Wasserinfiltrationen ins Untergeschoss. Und dann gibt es Risikoentscheide, wie die über 50-jährigen Installa­tionen oder die der 20-jährige Kessel der Heizung, die wir belassen haben. Als Investoren konnten wir bewusst Risiken in Kauf nehmen, die wir als Architekten im Auftrag einer Bauherrschaft vielleicht auch anders beurteilen würden. Für dieses Projekt war das eine grosse Chance.

TEC21: So zu denken erfordert eine neue Sicht der Dinge im Umgang mit einer derartigen Substanz.

Team Farel: Unsere Strategie war es, nicht zu viel zu machen. Wir gehen nicht von Idealen aus, sondern von dem, was unter diesen Umständen möglich ist. Und das darf man auch spüren. Der Nutzer passt sich dem Haus an, nicht umgekehrt. Es gibt Menschen, die sich in genau solchen Räumen wohlfühlen. Wir müssen diese Leute finden und nicht unsere Vorstellungen, die es auch gibt, auf alle Räume übertragen.

TEC21: Der energetische Aspekt ist bei einem Gebäude aus dieser Zeit durchaus ein Thema – gab es dazu Auf­lagen?

Team Farel: Bauten der 1950er- und 1960er-Jahre erfahren ja im Vergleich zu anderen historischen Bauten wenig Wertschätzung. Sie werden oft totsaniert oder verschwinden zugunsten von Ersatzbauten aus dem Stadtbild. Das liegt auch daran, dass man den Anspruch an die bestehende Substanz zu hoch ansetzt. Wir finden es fragwürdig, eine Sanierung durchzuführen, die gleichbedeutend mit einem Neubau ist – nur um eine Struktur zu erhalten, für die es heute nur bedingt eine Nachfrage gibt. Manchmal kann es auch zu einem Problem werden, wenn zu viel Geld da ist. Bei einem Altstadthaus ist jedem, auch einem Investor, klar, dass es gewisse Einschränkungen beim Komfort gibt. Da herrscht Konsens. Bei einem Gebäude aus den 1950er- oder 1960er-Jahren hat man dagegen das Gefühl, es sei ein modernes Haus, aber mit vielen Fehlern. Man vergleicht es mit einem zeitgenössischen Neubau. Dazu kommen die Standards der Behörden. Dort werden mittels Labels wie Minergie-P-Eco oder 2000-Watt-Gesellschaft politische Leitplanken gesetzt, sodass man als Planer oft nur noch wenig Spielraum hat.

TEC21: Wie ist der aktuelle Stand der Nutzung? Ist alles schon vermietet?

Team Farel: Alles, was fertig ist, ist vermietet. Wir haben mehr Nachfrage als Platz. Im zweiten und dritten Obergeschoss, dem ehemaligen Mädchenheim «Freundinnen junger Mädchen», haben wir mit der Sanierung noch nicht angefangen. Diese startet nach den Verhandlungen mit der zukünftigen Nutzerschaft im Frühsommer dieses Jahres. Hier soll eine Gemeinschaft mit unterschiedlichen Nutzern entstehen.

TEC21: In den Obergeschossen gibt es Büros neben Wohnungen, im Erdgeschoss liegt das Bistro, und im Saal finden Veranstaltungen statt. Führt das mit den Mietern zu Konflikten? Oder ist klar definiert: Wenn man hier wohnen oder arbeiten will, ist man mit der Art, wie das Haus genutzt wird, einverstanden?

Team Farel: Das Multifunktionelle des Hauses wird geschätzt. In den Mietverträgen gibt es einen Passus «Besondere Bestimmungen zu den Räumen». Darin wird alles beschrieben – was dieses Haus ist und was diese Räume können und was nicht. Da gibt es den Satz: «Die Dichtigkeit der Gebäudehülle ist zeittypisch und entspricht dem Standard eines Gebäudes aus den 1950er-Jahren. Allfällige Beeinträchtigungen gehören zum Charme des Gebäudes.» Und unter «Nachbarschaft»: «Das Farelhaus verfügt über eine gemischte Nutzung mit Wohnungen, Büro, Atelier, Bistro und Saal für kulturelle Events. Die unterschiedlichen Nutzungen verlangen von allen Beteiligten Offenheit und Respekt im gegenseitigen Umgang.» So kann das Gebäude als Kulturgut erhalten und ein offener Geist gepflegt werden.


Anmerkung:
[01] Architekturforum Biel (Hg.): Max Schlup. Architekt, Niggli, Sulgen 2013.

TEC21, Fr., 2017.06.09



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19. Mai 2017Tina Cieslik
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Geschichten weiterschreiben

Das Kunststück, Gutes zu erkennen und durch kluge Eingriffe noch besser zu machen – das gelang den Basler MET Architects 2015 bis 2016 bei Sanierung und Ausbau der Primarschule St. Johann in Basel.

Das Kunststück, Gutes zu erkennen und durch kluge Eingriffe noch besser zu machen – das gelang den Basler MET Architects 2015 bis 2016 bei Sanierung und Ausbau der Primarschule St. Johann in Basel.

St. Johann im Nordwesten Basels ist ein Arbeiterquartier. Zumindest war das Ende des 19. Jahrhunderts so, als sich der bis dato nur dünn besiedelte Stadtteil immer stärker industrialisierte und sich die Arbeiter in der Nachbarschaft ansiedelten. Und die Bewohner benötigten Infrastruktur: Das von 1886 bis 1888 nach Plänen von Kantonsbaumeister Heinrich Reese erstellte Schulhaus St. Johann war nach dem Schulhaus Bläsi (ebenfalls Heinrich Reese, 1882 / 83) und Sevogel (E. Vischer & Fueter, 1883 / 84) erst das dritte Schulhaus in einem Basler Aussenquartier.

1870 hatte sich das Basler Staatswesen von einer konservativen zu einer liberalen Demokratie gewandelt. Der neue Erziehungsdirektor Wilhelm Klein setzte sich stark für eine Einheitsschule ein, die auch den Kindern der zugewanderten Arbeiterschaft Zugang zu adäquater Bildung bieten sollte – nicht ganz uneigennützig, erhoffte man sich von der Investition in den gebildeten Nachwuchs doch einen Mehrwert für Industrie und Wirtschaft. Kleins Bemühungen manifestierten sich in einer massiven Bautätigkeit: Innerhalb von 30 Jahren entstand Schulraum für 20 000 Kinder.

Welchen Stellenwert die damaligen Stadtoberen der Bildung ungeachtet der sozialen Herkunft der Kinder beimassen, zeigt sich auch an der repräsentativen Gestaltung der Primarschule St. Johann. Der monumentale Bau im Neorenaissance-Stil stand als eigentlicher «Schulpalast» damals als Solitär auf der grünen Wiese. Das rechteckige viergeschossige Volumen mit hohem Sockelgeschoss ist streng symmetrisch aufgebaut und schliesst mit einem flach geneigten Walmdach ab.

Seitenrisaliten an der Nordwest- und Südostfassade bilden eine leichte U-Form. Dort liegen auch die Treppenhäuser, während der Haupteingang mittig an der Südfassade zu finden ist. Typisch für die zeitgenössische Bildungsphilosophie ist die qualitätvolle Ausführung inklusive der damaligen ebenfalls hochwertigen Ausstattung: Eine Aula und «Schulbänke nach bestem Vorbild» boten eine komfortable und gesunde Lernumgebung ebenso wie eine Warmluftheizung. Die von der zeitgenössischen Hygienedebatte befeuerte Forderung nach Luft und Licht schlug sich in der starken Durchfensterung des Baus nieder: Die hochrechteckigen Fenster der Südfassade sind jeweils zu Dreiergruppen zusammengefasst, an den Seitenfasssaden markieren ebensolche Dreiergruppen, hier teilweise in Bogenform, die Lage der Treppenhäuser.

Elegant und robust

Wie gut Bausubstanz und Raumdisposition funktionierten, zeigt die Tatsache, dass die erste grundlegende Sanierung des Schulhauses erst rund 125 Jahre später nötig wurde. Dies auch vor dem Hintergrund neuer Anforderungen – mit dem Beitritt zum HarmoS-Konkordat, der Interkantonalen Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule, investiert der Kanton Basel-Stadt bis 2022 790 Millionen Franken in Aus- und Neubau seiner Schulhäuser.

Auch die Primarschule St. Johann benötigte neue Räume für die Gruppenarbeit; die Zimmer für textiles Werken, Zeichnen und für den Naturkunde- und Geografieunterricht sollten im Dachgeschoss untergebracht werden. 2013 schrieb der Kanton als Bauherrschaft dafür ein Planerwahlverfahren mit Skizzen aus, der neben dem Dachgeschossausbau von St. Johann auch bautechnische Erfordernisse wie Verbesserungen bei Erdbebensicherheit und Brandschutz und die Erneuerung von Innenausbau und Gebäudetechnik umfasste.
Flach statt Fledermaus

MET Architects aus Basel gewannen die Konkurrenz mit einem feinsinnigen Entwurf. Die Grundrisstypologie der Geschosse – zentrale Erschliessung, je zwei Klassenzimmer im Mitteltrakt, je zwei Klassen in den Seitenflügeln – wird darin beibehalten und im Dachgeschoss übernommen bzw. adaptiert: Anstelle der beiden Klassen plus Treppenhaus sollten hier an den Seiten zwei durchgehende Räume entstehen. Die Belichtung der Ebene sollte mittels Fledermausgauben erfolgen, für die sich die Verfasser auf historische Referenzen stützten und eine konstruktiv schlüssige Herleitung entwickelten. Der Vorteil: Im Gegensatz zu herkömmlichen Gauben läuft das Bedachungsmaterial hier durch und fasst die neuen Elemente, ohne dass sie wie Fremdkörper wirken. Gleichzeitig bietet die vertikale Anordnung der Fensterflächen ausreichend Tageslicht für den Schulunterricht.

So überzeugend wie das Konzept, so eindeutig war die Reaktion der schon während des Verfahrens beteiligten Denkmalpflege: Sie befand nach dem Wettbewerbsgewinn, die Dachaufsicht sei möglichst unangetastet zu lassen. Eine Aufgabe, die die Architekten sensibel-pragmatisch lösten: Anstatt mit Fledermausgauben statteten sie das ausgebaute Dachgeschoss mit dachbündigen, 0.7 × 1.8 m grossen Holz-Metall-Dachflächenfenstern aus. Sie sind jeweils in der Mitte eines Binderfelds angeordnet – ein Kompromiss zwischen der Auffassung der Denkmalpflege und der Meinung der Planer, ein genutztes Dachgeschoss müsse auch als solches erkennbar sein.

Das Beste aus allen Epochen

Trotz mehrerer Renovationen in der Vergangenheit waren die massgeblichen Gestaltungselemente im Innern wie die Gipsdecken mit umlaufenden Friesen, die Lamperien und gegipsten Wände sowie die Böden aus Naturstein, Holz und Fliesen in gutem Zustand. Das Sanierungskonzept sah daher vor, die räumlichen Qualitäten zu erhalten und bei den Oberflächen den Geist des Bestands zu wahren – also ein Weiterschreiben der Baugeschichte, keinen harten Bruch. Für das Dachgeschoss hingegen galt es, diesen Geist mangels Vorbild neu zu definieren.

Im Untergeschoss ersetzten die Planer die beiden Brennkammern der Heissluftheizung durch zwei Räume für den Werkunterricht und das Schulmaterial; geheizt wird heute mit Fernwärme. Die neuen Leitungen für die technische Infrastruktur konnten in den ehemaligen Schächten der Heissluftheizung untergebracht werden. Ein wichtiger Eingriff war der Einbau des Lifts, der die rollstuhlgängige Erschliessung bis ins Dachgeschoss gewährleistet. Er fand seinen Platz im ebenfalls auf jedem Geschoss neu gestalteten Sanitärblock neben dem zentralen Eingangsbereich respektive den Einzel­büros (in den Obergeschossen).

Bei der Oberflächenbehandlung stützten sich die Planer auf Material- und Farbbefunde, die vier Epochen zum Vorschein brachten: Von den originalen Ocker-Beige-Tönen über eine Phase in Grün, Blau und Rot zu einer grauen Epoche und wieder zurück zum Original. Etwa alle 30 Jahre wechselte die Farbwelt, was die Architekten zum Anlass nahmen, ebenfalls etwas Neues einzuführen. Sie nahmen einen der Brauntöne von 1932 als Ausgangspunkt und entwickelten daraus verschiedenen Rottöne für das Holzwerk. Die Decken sind für die bessere Lichtreflexion weiss, die Gangwände in einem sehr zarten Rosaton, jene der Klassenzimmer komplementär in sehr hellem Grün gehalten.

Der Weg ins Dachgeschoss führt über eine neue, zentral platzierte Treppenanlage. Sie setzt die Materialität des Altbaus mit geölten Eichenböden, Lamperien und Gipswänden fort, variiert aber in den Details: Während sich die bestehenden Lamperien mit einem Absatz von der Wand abheben, sind die neuen Einbauten flächenbündig ausgeführt – ein subtiles Detail, das Alt und Neu in ihrer Kontinuität spüren lässt. Die Dachkonstruktion selber bleibt sichtbar. Die Balken wurden aus Unterhaltsgründen mit Ölfarbe in gebrochenem Weiss gestrichen. In den beiden Ateliers der Seitenflügel bieten umlaufende Einbauten im 1.30 m hohen Kniestock Ablagefläche und Stauraum. Die mit weissen Lineoleumeinlagen versehenen Schränke dienen gleichzeitig als Arbeitsfläche.

Positives Feedback

Im Herbst 2016 wurde das sanierte Schulhaus wieder eröffnet. Die bis dahin in Provisorien untergebrachte Schülerschaft nahm den Bau in Besitz, einige Lehrer nutzten die Chance, den Umbau auch pädagogisch zu thematisieren. Schülerinnen und Schüler durften ihre Eindrücke in Texten schildern, die man den Architekten übergab. Das Ergebnis überraschte: Neben dem generell äusserst positiven Feedback nannten die Schüler auch eher unauffällige Details wie die neuen Schränke für die Feuerlöscher. Das Beispiel zeigt: Hermann Reese hatte recht. Gute Gestaltung lohnt sich – auch als Investition in die Sensibilisierung der künftigen Generationen.

TEC21, Fr., 2017.05.19



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17. März 2017Tina Cieslik
Dietlind Jacobs
TEC21

Zeitloser Schwung

Kurz vor dem 50-jährigen Baujubiläum erstrahlen die Betonschalen des Schalenpioniers Heinz Isler an der Raststätte Deitingen-Süd in neuem Glanz. Konstruktion und Betonqualität überzeugen bis heute.

Kurz vor dem 50-jährigen Baujubiläum erstrahlen die Betonschalen des Schalenpioniers Heinz Isler an der Raststätte Deitingen-Süd in neuem Glanz. Konstruktion und Betonqualität überzeugen bis heute.

Eine Pause einzulegen an der Raststätte Deitingen-Süd an der A1 Bern–Zürich ist für bautechnisch Interessierte ­jeweils ein besonderes Erlebnis. Ein Blick Richtung Himmel führt zu einer aussergewöhnlichen Dachkonstruk­tion, zwei dünnwandig gewölbten Dreiecksschalen. Sie sind mit der mittig positionierten Raststätte verbunden und überspannen von dort aus die Fahrspuren. Die Schalen stammen aus den 1960er-Jahren, einer Zeit wachsender Mobilität. Mit dem Bau der Autobahn ­entstand in Deitingen 1968 die Silberkugel-Raststätte von Mövenpick sowie die Tankstelle von BP, der Eigentümerin der gesamten Parzelle.

Das Unternehmen zielte auf den Wiedererkennungswert seiner Raststätten und beauftragte daher den Burg­dorfer Bauingenieur Heinz Isler (»Schweizer Schalenpionier», Kasten unten) damit, ein Dach für die Tankstelle zu entwerfen. Das Ergebnis: zwei geschwungene Dreiecksschalen, die leichtfüssig die Zapfsäulen überspannten (vgl. Abb.). Die ausdrucksstarke Form sorgte für Aufsehen, und auch die für die damalige Zeit neuartige gewölbte Tragkonstruktion war besonders: Sie hatte nur drei Auflagerpunkte, besass aber eine grosse Spannweite und freie Ränder.

Möglich wurde dies durch Islers intensive Auseinandersetzung mit dem Werkstoff Beton. Er optimierte ihn so weit, dass der Einbau im grossen Gefälle der Wölbung möglich war. Dafür wählte der Ingenieur eine stetige Sieblinie mit hohem Feinkornanteil und einer Korngrösse bis 15 mm, maximal 325 kg Zement/m3 und einen möglichst niedrigen Wasserzementfaktor. Mit dieser Zusammensetzung erzielte er einen kompakten Beton, der sich auf den zwei Lagen engmaschiger Bewehrungseisen gut einbauen liess und nicht abrutschte.

Beeindruckend ist das vom Modell in die Realität umgesetzte schalenförmige Dach noch heute. Trotz der geringen Schalendicke von 9 cm ist das Dach 11.5 m hoch und hat eine Spannweite von 31 m. Auftretende Normalkräfte werden über äussere Fundamente ab­getragen. Zudem sind die zwei gegenüberliegenden ­Fundamente für die Aufnahmen von Horizontalschub mit einem unterirdischen Zugseil verbunden. Die zwei weiteren Auflagerpunkte sind auf dem Gebäude der Raststätte. Die natürliche Dachform ist statisch optimal und erfordert keine Versteifung der Randbereiche.

Veränderte Nutzungsbedürfnisse führten im Jahr 1999 zur Modernisierung der Raststätte. Die Zapfsäulen positionierte man neu vor der Raststätte – so liessen sich ihre Anzahl erhöhen und der Betankungsplatz optimieren. Die Bauherrschaft plante zunächst einen Abriss der Schalen. Als Folge des öffentlichen Protests wurde deren markantes Erscheinungsbild in Zusammenarbeit mit Heinz Isler dann doch gewahrt, wenngleich ihre Funktion durch die Änderung der räumlichen Disposition verloren ging. Im Jahr 2000 wurde das Bauwerk als Vertreter Schweizer Ingenieurbaukunst dennoch unter kantonalem Denkmalschutz gestellt.

Und heute?

Im Jahr 2014 plante die Eigentümerin BP Europe Umbauarbeiten an der Raststätte. In diesem Zusammenhang stellten sich die Fragen: Ist das Bauwerk noch erhaltenswert? Lohnen sich Investitionen für eine In­standsetzung?

Daraufhin wurden der Bauwerkszustand und die Tragsicherheit von Experten umfassend untersucht. Die Resultate unterstrichen Heinz Islers qualitativ hochwertige Bauweise des Betons. Denn es wurden nur wenige Schäden am Beton und an der Stahlbewehrung in Form von einzelnen feinen Rissen und wenigen Abplatzungen festgestellt, die als statisch unbedenklich beurteilt wurden. Das Zugseil im Fundament gewährleistet nach wie vor eine ausreichende Tragsicherheit für die Betonschalen. Der ursprünglich weisse Farb­anstrich der Oberseite wies netzartige Haarrisse, einzelne Fehlstellen, Verfärbungen sowie Besiedelung durch Mikroorganismen auf. Eine Bewehrungs­korro­sion, verursacht durch eintretendes Wasser an der ­Oberfläche, konnte nicht nachgewiesen werden. Nach Auswertung der Untersuchungsergebnisse beurteilten die Experten den Bauwerkszustand als gut.

Nun sollte der Bau auch der zukünftigen Nutzung gerecht werden. Um dies zu gewährleisten, wurden mit Unterstützung von Prof. Eugen Brühwiler als Gutachter und der Firma Flury Bauingenieure aus Suhr Massnahmen zur Instandsetzung der wenigen Schäden definiert. Die Verfahrenswahl stand unter der Prämisse, den Zustand des Bauwerks im Sinn von Heinz Isler zu verbessern, den Bau aber materialtechnisch nicht abzuändern. Daher fiel unter anderem die Entscheidung, die Oberseite der Schalen lediglich mit einem Farbanstrich als Schutz zu verbessern. Eine abdich­tende, kunststoffbasierte Beschichtung war nicht nötig. Die wenigen Risse und Korrosionsschäden wurden instandgesetzt.

Arbeiten mit System

Die Unterhaltsarbeiten starteten im September 2016 und dauerten zwei Monate. Man montierte ein frei ­stehendes Flächengerüst, das die Anforderungen an die Arbeitssicherheit, die Aufrechterhaltung des 24-Stunden-Betriebs und den Umweltschutz berücksichtigte. Unterhalb der Schalen war das Gerüst tunnelförmig ausgebildet, sodass der Verkehr die Baustelle praktisch unbehindert passieren konnte. Während der gesamten Ausführungsarbeiten lief der Betrieb der Tankstelle und des Restaurants weiter. Die Abstellpunkte des Gerüsts wurden mittels Anprallschutz vor dem motorisierten Verkehr geschützt.

Zunächst reinigte man die Unterseiten der Schalen mit 100 bar Wasserdruck. Anschliessend wurde die bestehende Farbbeschichtung der Oberseite mit 500 bar ­Wasserdruck abgetragen. Diese Behandlung sollte möglichst schonend erfolgen, der Abtrag der Zementhaut sollte sich auf der Oberfläche begrenzen. In Vorversuchen am Objekt legte man den notwendigen respektive annehmbaren Wasserdruck von 500 bar fest; die Kontrolle erfolgte visuell. Auch hier waren die Anforderungen im Hinblick auf den Umweltschutz zu erfüllen: Das alkalische Abwasser der Reinigungsarbeiten wurde mit auf dem Gerüst ausgelegten Folien gesammelt und über Rohre in ein Absetzbecken geleitet. Dort konnte es neutralisiert und anschliessend vorgereinigt in die öffentliche Kanalisation geführt werden. In einem dritten Schritt fanden Profilierungs- und Abdichtungsarbeiten statt. Die wenigen lokalen Unebenheiten auf der Oberseite wurden profiliert. Zur Abdichtung von zwei wasserführenden Rissen verwendete man einen Flüssigkunststoff und polyesterverstärktes Gewebe.

Nach Abschluss dieser Vorarbeiten brachte der Unternehmer an den Stirnseiten eine Tiefenhydrophobierung zum Schutz vor eindringendem Wasser auf. Die Oberseite wurde mit einem konventionellen Zweischichtensystem versehen: zuerst eine Grundierung als Haftungsschicht und darauf zweifach der ­weis­se Anstrich. Die Schalen wurden im Originalfarbton RAL 9110 gestrichen. Heute wirkt das Weiss recht dominant, aber bereits in etwa einem Jahr, dürfte eine Patina aus Autobahnstaub die Oberfläche weniger grell erscheinen lassen. Zum Abschluss wurde auf den Schalen eine ­feuerverzinkte Schneefangvorrichtung mit Eisstopper installiert, da der Betankungsplatz wegen Dachlawinen geschlossen werden musste. Obwohl das die Ästhetik der Schalen beeinträchtigt, folgte man dem Wunsch der Bauherrschaft und den Anforderungen an die ­Betriebssicherheit der Raststätte. Weiter wurde der Kamin beim Shopeingang um 3.5 m erhöht, um zukünftige Verschmutzungen der Schalen zu vermeiden.

Schalen im Wandel

Nach beinahe 50 Jahren Nutzungsdauer sprechen die Ergebnisse der Untersuchungen für Heinz Islers aus­gezeichnete Ingenieurarbeit. Auch bestätigt sich wieder einmal der Grundsatz, dass gut konzipierte Tragwerke dauerhafter sind. Mit den aktuell ausgeführten Unterhaltsarbeiten können die Schalen weitere Jahrzehnte als Landmarke an der Autobahn dienen – auch wenn sie in Zeiten veränderter Nutzungsbedürfnisse heute eine andere Bedeutung haben als früher.

TEC21, Fr., 2017.03.17



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TEC21 2017|11 Beton, exponiert

16. September 2016Tina Cieslik
TEC21

Zusammen wachsen

Am Anfang war es eine Vision: drei Länder, vier Bundesländer, Kantone oder Departemente und eine Vielzahl an Städten und Gemeinden zu einer Re­gion zusammenwachsen zu lassen – zwischenmenschlich, räumlich, aber auch politisch und planerisch. Inzwischen ist diese Idee, wenn auch noch nicht realisiert, so doch auf dem Weg dazu, Schritt für Schritt umgesetzt zu werden.

Am Anfang war es eine Vision: drei Länder, vier Bundesländer, Kantone oder Departemente und eine Vielzahl an Städten und Gemeinden zu einer Re­gion zusammenwachsen zu lassen – zwischenmenschlich, räumlich, aber auch politisch und planerisch. Inzwischen ist diese Idee, wenn auch noch nicht realisiert, so doch auf dem Weg dazu, Schritt für Schritt umgesetzt zu werden.

Entstanden ist die IBA Basel 2020 aus der Arbeit des Trinationalen Eurodistricts Basel (TEB), einer Plattform, die das grenzüberschreitende Wirken auf der Ebene der Politik und der Verwaltung koordiniert. Die konzeptionellen und strategischen Planungen dieser Plattform schloss man 2009 mit einem Memorandum ab. Der Wunsch: ein grenzüberschreitendes Projekt für die Region. Zur Auswahl standen zunächst auch eine Expo oder eine Bewerbung für die Olympischen Spiele. Das Rennen machte mit einer Internationalen Bauausstellung IBA schliesslich ein Format, das in Deutschland eine lange Tradition hat. Ursprünglich tatsächlich als Werkschau zur zeitgenössischen Baukultur konzipiert, entwickelte sich das Format über die Jahre zu einem alternativen, jeweils temporär begrenzten Instrument von Städtebau und -planung.

In Basel startete die Umsetzung im Herbst 2010, im April 2011 ging man mit einem Projektaufruf an die Öffentlichkeit. Das Ergebnis waren weit über 100 Projektvorschläge. Ein wissenschaftliches Kuratorium prüfte sie auf die Kompatibilität mit den IBA-Kriterien «Modellcharakter», «transnational» und «Exzellenz (sozial, ökonomisch, ökologisch)» und kategorisierte sie in den Handlungsfeldern «Landschaftsräume», «Stadträume» und «Zusammen leben». Bei den Konzepten handelte es sich sowohl um bereits bestehende Planungen, die sich durch die Einbettung in die IBA einen neuen Schub erhofften, als auch um neue Ideen.

So geordnet und mit Empfehlungen zur Weiterbearbeitung ausgestattet, stellten sich die mehr als 40 übrig gebliebenen Projekte Anfang November 2011 der Öffentlichkeit vor. Auf Grundlage der Empfehlungen des Kuratoriums werden die Projekte Schritt für Schritt weiterentwickelt und durch das IBA-Büro begleitet. Dabei durchlaufen sie mehrere Stufen: Kandidatur, Vornominierung, Nominierung und Label.

Eine dreiwöchige Ausstellung der damaligen 43 vornominierten Projekte wurde im Herbst 2013 in Basel gezeigt. In der anschliessenden Vertiefungsphase galt es, die Machbarkeit zu konkretisieren. Die Rolle der IBA ist dabei vielfach die eines Moderators, der die Beteiligten an einen Tisch bringt, die Planungsprozesse begleitet und bei der Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten hilft. Die Schwierigkeiten dabei liegen oft im Alltäglichen: abweichende Zeit- und Geldbudgets oder unterschiedliche Abläufe in politischen Prozessen (vgl. Interview: «Man muss ganz konkret hinschauen»).

Aktuell läuft die zweite Halbzeit der IBA Basel 2020: Bis zum 20. November können die drei bereits umgesetzten Projekte mit Label sowie die nominierten Konzepte im Rahmen der Zwischenpräsentation in der Voltahalle in Basel besichtigt werden. Dann gilt es, zum Endspurt anzusetzen: Wer sich mit dem IBA-Label schmücken will, muss in den beiden kommenden Jahren zumindest eine Teilumsetzung bis 2020 nachweisen können.(Tina Cieslik)

Ein Weg am Fluss: Rheinliebe

Die IBA Basel 2020 möchte die grenzüberschreitende Kooperationskultur zwischen Frankreich, der Schweiz und Deutschland im Raum Basel fördern. Dem Rhein als verbindendem, oft aber auch trennendem Element kommt dabei eine besondere Rolle zu: Zum einen ist «Vater Rhein» eine starke Identifikationsfigur, zum anderen zwingt die gemeinsame Verantwortung und Nutzung der ökologischen und wirtschaftlichen Ressourcen des Flusses zu kooperativem Handeln.

So erstaunt es nicht, dass beim Projektaufruf im Jahr 2011 mehrere Konzepte mit Bezug zum Fluss eingingen. Um die verschiedenen Ansätze und Ideen zu koordinieren, fasste die IBA Basel sie in der Projektgruppe «Rheinliebe» zusammen. Langfristig soll sich die ca. 80 km lange Zone an beiden Ufern zu einem zusammenhängenden und für die Bevölkerung zugänglichen Natur- und Landschaftspark entwickeln. Unter dem Dach der «Rheinliebe» entwickelte die ARGE Studio Urbane Landschaften im Auftrag der IBA einen sinnlichen Zugang zum Territorium, identifizierte «Verführungs-, Verschlossene und Bewundererlandschaften». Konkret verfolgt man unter anderem folgende Projekte: den Rheinuferweg St. Johann–Huningue (vgl. TEC21 20/2016); «Bad Bellingen rückt an den Rhein»; «RhyCycling revisited», den Rheinfelder «Rheinuferweg extended» und «Entdeckung Rhein».

Während bei den Rheinuferwegen die Erschliessung der Ufer als Erholungszone im Fokus steht, soll «Bad Bellingen rückt an den Rhein» den bisher durch Bahntrassee und Autobahn vom Altrhein abgetrennten Kurort näher an den Fluss bringen – mittels besserer Erschliessung für Fussgänger oder neuer Kanustationen. «RhyCycling revisited» untersucht die Kreisläufe von (Abfall-)Materialien rund um den Fluss. Die Ergebnisse werden in einem digitalen Archiv räumlich und zeitlich dokumentiert. Ein wichtiger Punkt der «Rheinliebe» ist der Anspruch an Vollständigkeit: Um alle Uferabschnitte einzubeziehen, hat die IBA Basel weitere Projektträgerschaften für die grenzüberschreitende «Rheinliebe» gewinnen können.

Die Projekte sind unterschiedlich weit fortgeschritten: So konnte im April der Rheinuferweg zwischen dem baslerischen St. Johann und dem französischen Huningue eingeweiht werden. Das Projekt hat das IBA-Label erhalten. Bei der Erweiterung des Rheinuferrundwegs in Rheinfelden hat im Herbst/Winter 2014/15 ein Projektwettbewerb für einen Steg über den Fluss stattgefunden, im Frühsommer 2017 soll mit den Bauarbeiten begonnen werden – der Projektstand entspricht einer Nominierung. (Tina Cieslik)

Industrie mit neuer Aufgabe: DMC Mulhouse

Das 75 Hektaren grosse Areal der ehemaligen Textilfabrik DMC (Dollfuss, Mieg & Cie) im französischen Mulhouse gehört zur IBA-Projektgruppe «Transformationsgebiete». Seit sich die Textilindustrie in den Fernen Osten verlagerte, ging die Produktion sukzessive zurück, das Areal wurde zur Industriebrache. Durch die gemeinsame Planung von unterschiedlichen Nutzern und der Stadt Mulhouse kann das historisch bedeutende Industriegebiet in den nächsten Jahrzehnten schrittweise umgenutzt und aufgewertet werden. Mit der Eröffnung des Tram-Trains, einer S-Bahn zwischen Mulhouse und Dornach (F), begann die Stadt 2010 die Rückeroberung des Quartiers im Herzen von Mulhouse.

Zu den Schwerpunkten des nominierten IBA-Projekts gehört es, temporäre Nutzungen zu fördern, bestehende Gebäude zu sanieren und Freiräume aufzuwerten. Dabei setzt das neue Quartier auf kulturellen und kreativen Unternehmergeist, nachhaltige Wirtschaft und Dienstleistungen. In einem Teil der bestehenden 100 000 m² grossen Fabrikhallen haben sich bereits Kreativunternehmen niedergelassen. Die mehr als 60 Kunst- und Theaterschaffenden, Fotografen, Grafiker, Tontechniker, Schreiner, Bildhauer, Szenografen und Tanzgruppen aus Mulhouse und der grenzüberschreitenden Region sind im Verein Motoco («more to come») zusammengeschlossen. Dank der Unterstützung durch Bürgermeister Jean Rotter konnte der Verein im Juni 2013 das Gebäude pachten und sich ein Vorkaufsrecht sichern.

Mit der Idee des Openparc hat Motoco-Gründer Mischa Schaub das Angebot seit 2015 erweitert. Es umfasst die vier Themencluster Openfab, Openstudio, Openhost und Playerpiano. Als Beispiel stellt der im Gebäude 75 beheimatete Verein Openfab Prototypen und Kleinserien in einem Maschinenpark her. Nach der 2016 abgeschlossenen Instandsetzung des Gebäudes 75 steht die Sanierung der weiteren Gebäude noch aus. Da diese aufwendig und kostenintensiv ist, suchen die Nutzer Kooperationen mit lokalen Partnern, europäischen Hochschulen und mit Förderprogrammen der EU.

Zum IBA-Projekt nominiert wurde das DMC, weil die zahlreichen Veranstaltungen das Gelände zurück in das Gedächtnis der trinationalen Bevölkerung bringen. Openparc ist ein Musterbeispiel für grenzüberschreitende Bottom-up-Prozesse. Die IBA unterstützt das Projekt durch Networking, auf der Suche nach Finanzierungs- und Koordinationspartnern sowie mit dem IBA-Hochschullabor, in dem Studierende Ideen für das Gelände erarbeiten. Um den Standort leichter zugänglich zu machen, plant die Stadt, bis 2020 die Verbindung zwischen dem Quartier und dem Bahnhof Dornach (F) zu verbessern. Durch neue Wegverbindungen und Durchbrüche in der Mauer, die das Gelände heute fast vollständig umgibt, soll das Quartier bis 2020 zur Stadt hin geöffnet werden. Grünflächen und die Biodiversität des Geländes werden zukünftig sichtbarer und können die Partnerschaften mit umliegenden Schulen und Vereinen verbessern.

Von Schweizer Seite wird Mulhouse als Kreativraum noch zu wenig wahrgenommen. Das Projekt bietet die Chance, die noch verhaltene Beziehung zwischen der wirtschaftlich und kulturell starken Stadt Basel und dem Entwicklungsraum Elsass zu stärken. (Katharina Marchal)

Infrastruktur besser nutzen: Aktive Bahnhöfe

Mit der Aufwertung der Bahnhöfe in der Region Basel will das Projekt nachhaltige Impulse für eine grenzüberschreitende Mobilität setzen. Der ganzheitliche Ansatz reicht von einer einheitlichen Signaletik bis zu städtebaulichen Konzepten im Umfeld der Bahnhöfe.

Ausgangspunkt war die Charta «Aktive Bahnhöfe» vom September 2013, mit der die folgenden fünf Bahnhöfe näher untersucht wurden: Badischer Bahnhof Basel, Gare de Saint-Louis, Hauptbahnhof Lörrach, Bahnhof Rheinweiler und Bahnhof Rheinfelden (Baden). Bereits die erste Analyse zeigte erheblichen Handlungsbedarf: Die Defizite reichen von der uneinheitlichen Bezeichnung für die Anbieter des öffentlichen Verkehrs über fehlende Pläne zum Dreiland und fehlende Tarifinformationen bis zu einem fehlenden Besucherleitsystem vom Bahnhof zu anderen Mobilitätsangeboten und fehlenden Informationen für fremdsprachige Gäste. Mittlerweile sind insgesamt 14 Bahnhöfe der S-Bahn in Frankreich, Deutschland und der Schweiz am Projekt beteiligt. Möglich war dies dank einem intensiven Dialog zwischen den beteiligten Gemeinden und den nationalen und regionalen Bahngesellschaften.

Mit gemeinsamen Standards sollen die Bahnhöfe zu modernen Mobilitätszentren entwickelt werden. Beginnen will man mit einem einheitlichen Besucherleitsystem; eine Liniennetzkarte soll an allen Bahnhöfen ausgehängt werden. Dazu kommt eine regionale Karte, die auf die jeweilige Ortschaft ausgerichtet ist, und eine Karte des Quartiers mit Angaben zur unmittelbaren Umgebung des Bahnhofs. Zusammen mit Informationen über die Tarife werden alle diese Inhalte übersichtlich und dreisprachig (deutsch, französisch, englisch) auf Stelen präsentiert. Ziel dieser Massnahmen ist es, die Orientierung mit einem grenzüberschreitenden, einheitlichen Auftritt zu erleichtern.

Die Bahnhöfe und S-Bahn-Haltestellen sollen vermehrt «Teil des öffentlichen Lebens» werden, wie Dirk Lohaus, der zuständige Projektleiter der IBA Basel, sagt.[1] Um dieses Ziel zu erreichen, will man das Angebot an Nutzungen und Dienstleistungen erweitern und vermehrt Konsumgüter des täglichen Bedarfs am Bahnhof anbieten. Auch der Umstieg von einem Verkehrsmittel zum anderen, vom Carsharing-Auto zum Fahrrad, zur Strassenbahn oder zum Sammeltaxi, kann verbessert werden. Generell sollen die Aufenthaltsqualität in den Bahnhöfen erhöht und die Umgebung der Bahnhöfe attraktiver werden.

Bereits im Oktober wird mit dem Hauptbahnhof Lörrach der erste Pilotstandort fertiggestellt sein. Weitere sechs Bahnhöfe folgen bis Ende 2016, und auch die Charta soll im kommenden Jahr überarbeitet werden. Ziel ist es, bis 2020 alle 14 Standorte zu realisieren. Darüber hinaus wirkt das Projekt als Katalysator, der neuen Partnern die Mitwirkung erleichtert und sie dazu motiviert, ihre Bahnhöfe ebenfalls zu aktivieren. So setzen viele im Sog der für das Label der IBA Basel nominierten Beiträge die Ziele dieses IBA-Projekts auch ohne Label um.

Das Projekt verdeutlicht, wie sichtbar die Landesgrenzen in Basel noch immer sind und wie schwer es fällt, sie zu überwinden. Auch deshalb müssen zuerst die Grundlagen geschaffen werden, wie beispielsweise ein einheitliches mehrsprachiges Besucherleitsystem und ein trinationaler Tarifverbund. Das Projekt setzt genau da an und will mit einer Initialzündung an 14 Bahnhöfen Impulse für das ganze Netz des öffentlichen Verkehrs geben. Ein ambitioniertes Projekt ganz im Sinn des Mottos der IBA Basel: «Au-delà des frontières, ensemble – Gemeinsam über Grenzen wachsen». (Jean-Pierre Wymann)


Anmerkung:
[01] BZ, Badische Zeitung, 23. August 2014.


Mobiler Katalysator: IBA KIT

Das nominierte Projekt IBA KIT ist Teil des Pilots «Trinationale Freiraumproduktion», das im Rahmen der IBA Basel 2020 ins Leben gerufen wurde. Mit dem Projekt sollen die Nutzung und Gestaltung von urbanen Freiräumen experimentell erforscht und gezielt gefördert werden. Die Beteiligten sind vor allem die Stadtgärtnereien der drei Länder (F, D, CH), die zusammen mit der IBA Basel das Projekt erarbeitet haben und weiterhin verfolgen. Aktive Mitwirkung kommt vonseiten der Bevölkerung, die die IBA KITs testet und sich für Umfragen und Studien zur Verfügung stellt.

Die Gemeinde Riehen hat in Zusammenarbeit mit dem Basler Landschaftsarchitekturbüro Bryum als erste Gemeinde der IBA-Projektpartner einen Prototyp entwickelt, eine «temporäre Freiraumkiste», genannt IBA KIT. Es ist ein partizipatives Werkzeug, das je nach den Erwartungen und Bedürfnissen der zukünftigen Nutzer gestaltet wird. Fest vor Ort stehend oder mobil, fordert es Bewohner und lokale Institutionen auf, sich aktiv an der Entwicklung und Verbesserung ihrer Lebensumgebung zu beteiligen. Das erste IBA KIT stand von November 2013 an ein Jahr lang der Bevölkerung des Niederholzquartiers von Riehen als Freiraumangebot und multifunktionales Spielelement zur Verfügung. Unterschiedliche, gratis nutzbare Spiel- und Freizeitgeräte richteten sich vor allem an die jüngere Generation und an Familien.

Im roten Container befanden sich unter anderem Schaukeln für Kleinkinder, Tisch und Sitzbänke sowie ein Badmintonnetz mit Schlägern. Die Kiste enthielt ausserdem sechs abschliessbare Spinde, in denen interessierte Bewohner und Quartiergruppen eigene Spielgeräte unterbringen konnten. Zwei offene Spinde beinhalteten Spielgeräte, aber auch Kehrschaufel, Besen und Abfallzange. Nach dem ersten Pilotprojekt und der Platzierung auf der Andreasmatte in Riehen wurden die Quartierbewohner im Umkreis der Freiraumkiste schriftlich befragt. In einer Studie wurden anschliessend Beurteilungen des Projekts sowie Verbesserungsvorschläge analysiert. Die Ergebnisse der Untersuchung sind in die weitere Gestaltung des Projekts eingeflossen.

Von der Andreasmatte und dem Sarasinpark wanderte das IBA KIT Riehen über die Grenze, zur Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge in Lörrach-Brombach (D). Dort sorgten seine Spiel- und Sportgeräte für Abwechslung im Alltag der Bewohner. Im Mai 2015 weihten die multikulturellen Bewohner eines Plattenbauviertels in Saint-Louis (F) ihr IBA KIT als Treff- und Austauschort ein. Ein Anwohnerverein gründete hier einen Gemeinschaftsgarten. Im Oktober 2015 lud das IBA KIT Rheinfelden (Baden) die Bewohner ein, sich einen neuen Park anzueignen und nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Um das KIT entstanden eine Gärtnergruppe, ein Mountainbike-Pumptrack und eine Boulegruppe. Im Juni 2016 weihte die Gärtnerei der Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel das IBA KIT UPK ein, das eine Etappe des neuen grenzüberschreitenden Spazierwegs Burgfelderpark bildet. Es soll den Austausch zwischen UPK und dem Umfeld stärken.

Derzeit existieren vier IBA KITs. Bis Ende des Jahres werden vier weitere in Weil am Rhein, Lörrach, Mulhouse und Basel-Stadt errichtet. Die bisher gesammelten Erfahrungen zeugen von deren Fähigkeit, verschiedene soziale Gruppen zusammenzubringen, neue Funktionen in die Quartiere zu integrieren und so ein gutes Zusammenleben zu fördern. (Katharina Marchal)

Terra incognita wird Begegnungsort: IBA Parc des Carrières

Noch wird hier Kies abgebaut: Der geplante IBA Parc des Carrières, hart an der Landesgrenze zwischen Frankreich und der Schweiz, ist heute ein unzugänglicher Ort. Während die Siedlungsbebauung von Basel und Allschwil bis an die Grenze reicht, ist die gegenüberliegende Seite von Landwirtschaft und Familiengärten geprägt – und von einer Grube, in der im Trockenabbau auf einer Tiefe von bis zu 14 m Kies gewonnen wird. Die meisten Wege enden an der Grenze.

Doch in dem unbebauten Terrain liegt die Chance – schon bald soll sich die elf Hektaren grosse Kernzone zu einem länderübergreifenden Grünraum entwickeln, der den Gemeinden Allschwil, Basel, Saint-Louis und Bourgfelden und Hégenheim als Begegnungsort dienen soll. Die Grube ist noch bis 2040 in Betrieb, die Transformation geht also sukzessive vonstatten. Das Projekt, eine Public Private Partnership von IBA Basel, Bürgerspital Basel, Kanton Basel-Stadt, Gemeinde Allschwil, Ville de Saint-Louis, Commune de Hégenheim und Communauté d’Agglomération des Trois Frontières, plant dafür mit vier Etappen: Die erste sieht grüne Korridore mit Langsamverkehrswegen vor, die die Parzelle und andere grüne Gürtel verbinden, sowie den Bau eines Kinderspielplatzes als erstes Zentrum.

Die drei folgenden Phasen betreffen die Transformation der drei bereits abgebauten Kiesgrubenabschnitte. Daneben muss die freie Zufahrt für die Kiesgrubenbetreiberin gewährleistet bleiben. Die abgebauten Kiesabschnitte werden gemäss ihrer Besonderheiten renaturiert und zum Park umgewandelt: Die ersten beiden Parzellen werden als artenreiche Magerwiesen mit einzelnen Gehölzgruppen und Kieselelementen gestaltet und extensiv landwirtschaftlich genutzt. Parzelle 3 hebt sich von den eher landschaftlichen Flächen ab: Ein Ringweg mit Stegen bildet eine gestaltete Parklandschaft.

Ein wichtiger Punkt betrifft die Anbindung an die bestehenden Siedlungsstrukturen: Korridore nach Allschwil, Basel und Bourgfelden sorgen für eine einfache Erschliessung. Aufbauend auf einer Entwicklungsstudie von 2013 (IBA Basel 2020; Courvoisier Stadtentwicklung, Basel; Digitale Paysage, Bauxwiller) erarbeitete man ein Vorprojekt, das die Investitions- und Unterhaltskosten konkretisierte. Damit beauftragt wurden die Landschaftsarchitekten pg landschaften aus Sissach und LAP’S (Les ateliers paysagistes) aus Bartenheim. Mit den ersten Arbeiten, den Korridoren, wird für 2017 gerechnet. Bis 2022 sollen die ersten Etappen umgestaltet sein, die Fertigstellung ist bis in etwa zehn Jahren vorgesehen.

Die Transformation der Kiesgrube steht in einem grösseren Kontext: Zum einen dient sie als Pilotprojekt im Rahmen der IBA-Projektgruppe «Kiesgruben 2.0 – Seen und Parks für die Region». Hier werden Zukunftsszenarien für die Kiesgruben der Region entwickelt. Zum anderen ist der IBA Parc des Carrières ein Baustein von aktuellen Planungen im Umfeld. Mit der Verlängerung der Tramlinie 3 und der Planung einer Umfahrungsstrasse (Route des Carrières und Zubringer Allschwil) sind zurzeit grosse Infrastrukturprojekte in Bearbeitung. Schliesslich sind mit der Öffnung und Aufwertung der Freizeitgärten, dem Freiraumkonzept Allschwil und dem Projekt «Trame verte» der Stadt Saint-Louis komplementäre Vorhaben in Planung. Die IBA übernimmt dabei die Koordination zwischen den verschiedenen Projekten. Der IBA Parc des Carrières besitzt aktuell den Status «nominiert» und ist bis 2020 auf gutem Weg zur Labelisierung.

TEC21, Fr., 2016.09.16



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2016|38-39 IBA Basel 2020 – der Stand der Dinge

26. August 2016Tina Cieslik
TEC21

Die Sonne ins Zimmer holen

Morgens fit aus dem Bett, am Nachmittag keinen Taucher haben und am Abend entspannt sein – das sollen dynamische Leuchten ermöglichen. Seit einigen Jahren werden sie auch in der Altenpflege eingesetzt. Dieser Beitrag stellt drei von der Age Stiftung[1] geförderte Beispiele vor.

Morgens fit aus dem Bett, am Nachmittag keinen Taucher haben und am Abend entspannt sein – das sollen dynamische Leuchten ermöglichen. Seit einigen Jahren werden sie auch in der Altenpflege eingesetzt. Dieser Beitrag stellt drei von der Age Stiftung[1] geförderte Beispiele vor.

Drei Viertel aller Informationen nehmen wir über die Augen auf – vorausgesetzt, unsere Sehfähigkeit ist nicht eingeschränkt. Sie nimmt jedoch stetig ab: Mit zunehmendem Alter verkleinert sich der Pupillendurchmesser; Augenlinse, Hornhaut und Glaskörper verlieren an Transparenz. Das hat Folgen für die Sehfähigkeit, beeinflusst aber auch chemische Prozesse im Körper: Die Trübung der Linse filtert hauptsächlich das blaue Licht heraus – eben jenes, das über die körpereigene Melatoninproduktion für die Steuerung des Tag-Nacht Rhythmus (circadianer Rhythmus, vgl. Glossar im Kasten unten) zuständig ist.

Nachts ist die Konzentration des Hormons um ein Zehnfaches erhöht. Krankheiten wie Winterdepression werden mit der geringen Lichtmenge durch kürzere Tage in Zusammenhang gebracht.

Alte Menschen sind mehrfach durch Lichtmangel betroffen: Zum einen ist ihre Sehfähigkeit eingeschränkt und ihr circadianer Rhythmus daher eher aus dem Gleichgewicht; biologisch wirksame Beleuchtungen in Pflege- und Altersheimen sollen hier Abhilfe schaffen. Zum anderen halten sie sich meist im Innenräumen auf, wo ihr Körper nicht genug Vitamin D bilden kann – das wiederum kann zu einer eingeschränkten Kalziumabsorption und damit zu Knochenbrüchen führen.

Alterspflegezentrum Appenzell AI

Eines der jüngeren Beispiele für die Anwendung ist das im Juni 2016 eröffnete Alterspflegezentrum des Kantons Appenzell Innerrhoden. Der Neubau auf dem Spitalgelände nördlich von Appenzell ging aus einem 2011 durchgeführten Projektwettbewerb hervor, den das Zürcher Büro Bob Gysin   Partner für sich entschied. Die heutige Anlage auf dem Spitalareal genügte nicht mehr, insbesondere sollte eine Gruppe für Demenzkranke geschaffen werden. Vorgesehen war ein kompakter vierstöckiger Neubau ohne direkten Bezug zu den Bestandsbauten.

Die Gebäudetiefe von teilweise über 45 m wird durch zwei Lichthöfe gebrochen, die das Tageslicht bis ins Erdgeschoss leiten. Die polygonale Form erlaubt Durchblicke und den Sichtbezug zum Aussenraum. An den Gebäudeaussenseiten sind in den Obergeschossen jeweils die Zimmer der rund 60 Bewohnerinnen und Bewohner untergebracht, die Kerne für die Erschliessung sind den Lichthöfen zugeordnet. Auf der Südseite des Baus befindet sich auf dem 1. Obergeschoss eine Terrasse mit einem in sich geschlossenen Demenzgarten, dessen Bepflanzung die Sinne anregen soll.

Als erstes Alterspflegezentrum in der Ostschweiz wurde der Bau mit dynamischen Licht ausgestattet – auf Wunsch der Bauherrschaft, die das Konzept bereits vom Alters- und Pflegeheim Sonnweid in Wetzikon her kannte. Die Wirkung der dynamischen Leuchten wird von einem mehrjährigen Monitoring begleitet. Lichtdecken in den Aufenthaltsräumen des 1. und 3. Obergeschoss sollen das Wohlbefinden der Bewohnerinnen und Bewohner sowie des Personals erhöhen. Zusätzlich sind zwei Leuchtdecken in der «Pflegeoase» im 3. Obergeschoss angebracht. Hier wohnen bis zu sechs besonders pflegebedürftige Personen, die in ihrer Mobilität stark eingeschränkt sind.

Die ansonsten automatisch gesteuerten Leuchten sind hier auch manuell bedienbar, um jeweils individuell auf die Bewohnerinnen und Bewohner eingehen zu können. Das 2. Obergeschoss dient als Kontrollbereich. Erweist sich die dynamische Beleuchtung als wirkungsvoll, kann die Etage nachgerüstet werden. Eine Besonderheit ist der Einsatz der Leuchten in den Stationszimmern: Sie sollen die Anfälligkeit für Medikationsfehler reduzieren und die Konzentrationsfähigkeit im anstrengenden Arbeitsfeld der Pflege unterstützen.

Die Bewohnerinnen und Bewohner reagieren nicht uneingeschränkt positiv auf die Leuchtdecken: Sie empfinden sie als zu hell und als Energieverschwendung («draussen scheint ja die Sonne»). Die (temperaturneutralen) LED-Leuchten beeinflussen das subjektive Wohlbefinden – wenn man sich lang unter der Decke aufhalte, so ist zu hören, bekäme man einen warmen Kopf. Auch das Personal ist nicht uneingeschränkt überzeugt: Man empfinde die Decken als zu hell und wünsche sich mehr individuelle Steuerungsmöglichkeiten.

Sonnweid das Heim, Wetzikon ZH

Die Sonnweid im zürcherischen Wetzikon ist eine Pioniereinrichtung in der Betreuung von Demenzkranken (vgl. TEC21 47/2010). Seit 2007 kommen hier dynamische Lichtdecken zum Einsatz, die den Tag-Nacht-Rhythmus der Bewohnerinnen und Bewohner unterstützen sollen. Ein Erweiterungsbau bot 2011 die Möglichkeit, die dynamische Beleuchtung grossflächig zu installieren und ihre Wirkung wissenschaftlich zu begleiten (Architektur: Bernasconi   Partner Architekten, Luzern).

Die Anlagen bestehen aus 1 × 1 m grossen Paneelen mit einer Leistung von je 21 W, die zu bis zu 9 m² grossen Lichtflächen zusammengefügt wurden. Sie befinden sich in den Aufenthaltsräumen, die Beleuchtungsstärke variiert zwischen 100 und 1500 Lux in vertikaler Richtung am Auge (Tageslicht: 3500–100 000 Lux). Im Gegensatz zu den bereits bestehenden Anlagen sind die neuen Paneele mit je zwölf Fluoreszenzleuchten in zwei unterschiedlichen Farbtemperaturen ausgestattet – eine marktfähige Steuerung mit LED existierte zur Bauzeit noch nicht.

Durch die Mischung von warmweissen (2700 Kelvin) und tageslichtweissen (6500 Kelvin) Leuchtmitteln lässt sich die Lichtfarbe im Raum graduell einstellen. Die Veränderung im Tagesverlauf von Warmweiss und ca. 500 Lux am Morgen zu 1000 bis 1500 Lux am Nachmittag bei tageslichtweissem Licht und 100–200 Lux in Warmweiss am Abend wird über einen Computer gesteuert und bildet nicht die tatsächlich herrschenden Lichtverhältnisse im Aussenbereich ab. Letzteres war zwar erwünscht, liess sich aber zu diesem Zeitpunkt technisch nicht ohne Weiteres realisieren.

2012 leitete die Neurobiologin Mirjam Münch (EPF Lausanne) die Studie «Wirkung von dynamischem Licht auf den Schlaf- und Wachrhythmus, das Wohlbefinden und die Immunfunktion bei älteren Menschen mit Demenz».[2] Die auf acht Wochen angelegte Untersuchung im Herbst/Winter mit über 100 Probanden teilte diese in zwei Gruppen auf: Die erste war in den Aufenthaltsräumen der circadianen Beleuchtung ausgesetzt, die Kontrollgruppe hielt sich in herkömmlich beleuchteten Räumen auf. Alle Teilnehmer konnten sich frei bewegen. Ein Bewegungstracker am Handgelenk, der auch die jeweilige Beleuchtungsstärke mass, zeichnete die individuelle Aktivität auf.

Ergänzend dazu dokumentierten das Pflegepersonal und geschulte Mitarbeiter den emotionalen Zustand der Bewohnerinnen und Bewohner in standardisierten Fragebögen. Die Studie brachte überraschende Ergebnisse: Nur unter Berücksichtigung der gesamten Beleuchtungsstärke, der die Bewohner tagsüber ausgesetzt waren, ergaben sich signifikante Unterschiede. Der Verlauf der Melatoninkonzentrationen zeigte eine starke Variation zwischen den Probanden, was darauf schliessen lässt, dass die Synchronisation der inneren Uhr mit dem äusseren Tag-Nacht-Rhythmus nicht mehr so gut getaktet ist.

Bei den Ruhe-Aktivitäts-Zyklen ergaben sich Unterschiede zwischen Männern und Frauen, und beim Schlaf waren in der Gruppe mit der grösseren Lichtmenge tagsüber die Bettgehzeiten später sowie die Verweildauer im Bett kürzer. Die Auswertung der Fragebögen zum persönlichen Wohlbefinden zeigten eine höhere Lebensqualität für die Gruppe, die tagsüber insgesamt mehr Licht ausgesetzt war, ebenso wie signifikant höhere Werte bei Freude und Aufmerksamkeit – für die Betreiber des Heims Grund genug, das Konzept weiterzuverfolgen.

Alterskompetenzzentrum Hofmatt, Münchenstein BL

Die Stiftung Hofmatt in Münchenstein bei Basel wurde von 2011 bis 2015 zu einem Alterskompetenzzentrum mit 165 Plätzen erweitert (Architektur: Oplatek Architekten, Basel; Lichtplanung: Adrian Huber, Basel). Im Rahmen der Erweiterung implementierte man ein Lichtkonzept, das speziell auf die Bedürfnisse an Demenz erkrankter Menschen zugeschnitten ist. Sie sind im Gartengeschoss und im ersten Obergeschoss untergebracht, darüber liegen die Wohneinheiten für betreutes Wohnen und für Menschen mit chronischen Erkrankungen.

Eine geriatrische Arztpraxis und ein Spitex-Stützpunkt ergänzen das Angebot, ebenso wie temporäre Tages- und Nachtstätten für den vorübergehenden Aufenthalt von betreuungsbedürftigen Personen. Neben einer dynamischen Beleuchtung in den Aufenthaltsräumen wurden erstmalig Dämmerungssimulatoren in den Zimmern der Demenzpatienten getestet.[3] Studien weisen darauf hin, dass speziell die Übergänge zwischen Tageslicht und Dunkelheit Zeiten sind, an denen sich die innere Uhr orientiert und die somit für die Regulation des Tag-Nacht-Rhythmus entscheidend sind.

Forscher der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel und der EPFL untersuchten, ob die Simulation der Dämmerung einen Einfluss auf die Schlaftiefe und die Schlafqualität bei Bewohnerinnen und Bewohnern mit mittlerer und schwerer Demenz haben. Zum Einsatz kam dabei eine neu entwickelte, mobile LED-Stehleuchte, die die Dämmerung simulierte. Ausserdem evaluierte man, ob sich die Stimmung und die Wachheit tagsüber verändern.

Dynamische Dämmerungssimulatoren (DDS) beruhen auf dem gleichen Konzept wie Lichtwecker: Zu Tagesbeginn steigt die Beleuchtungsstärke an, was zum Aufwachen anregen soll. Im Gegensatz zum Lichtwecker funktioniert der DDS auch abends mit einer nachlassenden Beleuchtungsstärke. Per Knopfdruck lässt sich bernsteinfarbenes Licht zuschalten, das die Dämmerung simuliert und zum Einschlafen animiert.

Das Forschungsprojekt ermöglichte die Entwicklung einer Leuchte mit einem Algorithmus, der die Dämmerung eines beliebigen Tages im Jahr und an jedem Ort der Erde mit einem Beleuchtungsstärkenbereich von 0.001 Lux bis 780 Lux (Sonnenaufgang) reproduzieren konnte.

An der Studie nahmen 20 Personen teil. Nach einer Eingewöhnungswoche erhielten zehn von ihnen für den Zeitraum von acht Wochen einen DDS, anschliessend wurde für weitere acht Wochen gewechselt. Die simulierte Dämmerung blieb während des Versuchs konstant. Wie bei der Studie in der Sonnweid dokumentierten Aktivitätsmonitore den Ruhe-Aktivitäts-Rhythmus der Teilnehmenden, und das Pflegepersonal beurteilte den Zustand der Probanden in Fragebögen.

Auch hier präsentierten sich die Ergebnisse überschaubar: Zwischen den Vergleichsgruppen zeigten sich keine Unterschiede im Ruhe-Aktivitäts-Rhythmus oder in den Schlafparametern. Dafür war das Wohlbefinden und die Laune der Bewohnerinnen und Bewohner unter der Anwendung der DDS morgens besser als in der Zeit ohne DDS. Dies war aber nur bei denjenigen Bewohnerinnen und Bewohnern der Fall, die unter besonders starken kognitiven Einschränkungen litten. Die Stiftung nutzt die Prototypen dennoch weiterhin, eine Weiterentwicklung der Leuchte ist geplant.

Wie weiter?

Nicht alles, was nicht messbar ist, hat auch keine Wirkung. Trotzdem erstaunt die Ausdauer, mit der Pflegeheime auf dynamisches Licht setzen. Gemäss Mirjam Münch, die die beiden Untersuchungen in der Sonnweid und in der Stiftung Hofmatt wissenschaftlich leitete, gibt es dafür gute Gründe: «Eine dynamisches Lichtkonzept stellt vor allem im Winter eine verbesserte ‹Zeitgeberfunktion› für die innere Uhr dar. Das ist gerade bei Menschen mit Demenz enorm wichtig, weil bei dieser Gruppe die Tag-Nacht-Unterschiede via innere Uhr nicht mehr so gut reguliert werden können. Eine tageslichtabhängige Steuerung wäre dabei unbedingt erwünscht.»

Die Theorie klingt gut – möglicherweise wäre mit einer besseren Vermittlung zumindest eine höhere Akzeptanz beim skeptischen Pflegepersonal zu erreichen.


Anmerkungen:
[01] Die Age Stiftung in Zürich möchte die öffentliche Wahrnehmung des Themas Wohnen und Altern schärfen. Sie unterstützt innovative Lösungsansätze in der Deutschschweiz mit finanziellen Mitteln. Infos, auch zu Fördermöglichkeiten: www.age-stiftung.ch
[02] «Wirkung von dynamischem Licht auf den Schlaf- und Wachrhythmus, das Wohlbefinden und die Immunfunktion bei älteren Menschen mit Demenz», 2012 im Alters- und Pflegezenrtrum Sonnweid das Heim. Projektbeteiligte: Mirjam Münch, EPFL, Michael Schmieder (Heimleitung), Katharina Bieler (Projektmanagement), Stiftung Sonnweid AG. Infos: www.age-stiftung.ch/uploads/media/Schlussbericht_2010_015.pdf
[03] «Dynamische Dämmerungssimulation bei Menschen mit Demenz», Studie November 2014 bis März 2015 im Alterskompetenzzentrum Hofmatt. Projektbeteiligte: Dr. Mirjam Münch (Charité Universitätsmedizin, Berlin), Prof. Dr. Anna Wirz-Justice und Dr. Vivien Bromundt (Zentrum für Chronobiologie der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel), Marc Boutellier, Projektleiter Stiftung Hofmatt; Entwicklung DDS-Leuchte: Fraunhofer Institut, Stuttgart; LEiDS, Stuttgart; Beratung Dämmerungssimulation: Haberstroh Architekten, Basel. Infos: www.age-stiftung.ch/uploads/media/Schlussbericht_13_015.pdf

TEC21, Fr., 2016.08.26



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2016|35 Dynamisches Licht

24. Juni 2016Tina Cieslik
TEC21

Was Textilien leisten

Lang als heimelig verpönt, feiern Vorhänge, Kissen und Teppiche seit einigen Jahren ein Comeback in unseren Interieurs. Die neuen Stoffe können oft mehr, als den Raum mit Sinnlichkeit zu füllen.

Lang als heimelig verpönt, feiern Vorhänge, Kissen und Teppiche seit einigen Jahren ein Comeback in unseren Interieurs. Die neuen Stoffe können oft mehr, als den Raum mit Sinnlichkeit zu füllen.

Die Textilkunst ist weltweit eine der ältesten Kulturtechniken. In der Schweiz nahm und nimmt sie einen bedeutenden Platz ein: Auf dem Höhepunkt 1870 arbeiteten 12 % aller Schweizer Erwerbstätigen in der Textilindustrie, vorwiegend in den beiden Zentren in der Nordwestschweiz um Basel und in der Ostschweiz um St. Gallen.[1] Technische Innovationen wie die industrielle Herstellung von Spitzen – die bekannte St. Galler Spitze – oder die maschinelle Paillettenstickerei legten den Grundstein für ein Gewerbe, das auch heute noch internationales Renommee hat.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ­wanderte die inländische Textilproduktion zunehmend ins günstigere Ausland ab, vor allem nach Asien. Um sich gegen die Konkurrenz behaupten zu können, spezialisierten sich die noch bestehenden Betriebe – beispielsweise auf technische Textilien für die Medizin-, Outdoor- oder Sicherheitsbranche, aber auch auf hochwertige Luxusstoffe für Haute Couture oder funktionale Gewebe für Inneneinrichtungen.

Was die Innenausstattung betrifft, hat sich in den letzten Jahren die Wahrnehmung gewandelt. Nach den plüschigen 1970er-Jahren verschwanden die Textilien aus den Räumen, sowohl den öffentlichen wie auch den privaten. Textilkunst galt als weibliches Bastelhandwerk. Inzwischen haben die Raumtextilien ­die Interieurs zurückerobert, in Form von Teppichen, Kelims, Vorhängen, Polsterstoffen, aber auch architektonischen Elementen wie Soft Cells oder Raumteilern.

Neben der emotionalen Komponente, der Fähigkeit, «dem Raum Poesie zu verleihen»,[2] übernehmen sie oft auch funktionale Aufgaben. Die neueste Generation der Stoffe vereint oft gleich mehrere Eigenschaften: Sie sind schwer entflamm- und biologisch abbaubar, verbessern die Akustik, wirken als Blendschutz, reflektieren einfallende Sonnenwärme und dienen als Lichtquelle.

Nicht synthetisch, aber flammhemmend

Im Objektbereich ist die Verwendung flammhemmender Stoffe wegen der hohen Sicherheitsanforderungen fast zwingend. Synthetische flammhemmende Textilien können statische Elektrizität erzeugen und Staubpartikel sowie Schadstoffe anziehen, zudem absorbieren sie keine Feuchtigkeit. Textilien aus Naturfasern (vgl. Glossar) wie Leinen oder Baumwolle sind feuchtigkeitsregulierend, allergenfrei und antistatisch, aber eben auch leicht brennbar.

Von 2011 bis 2015 hat das Unternehmen Christian Fischbacher aus St. Gallen daher auf Initiative des lombardischen Garnhersteller Coex und der Universität Pavia an einem Stoff aus möglichst umweltfreundlichen Naturmaterialien geforscht, der aber dennoch schwer entflammbar sein sollte (vgl. Glossar). Das Ergebnis ist «ECO FR», ein Stoff aus der Regeneratfaser Viskose und den Naturfasern Leinen und Baumwolle. In Italien hergestellt, gibt es ihn in drei verschiedenen Qualitäten, die sich durch den Anteil des jeweiligen Ausgangsmaterials und damit in Gewicht und Dichte unterscheiden.

«FR» steht für fire retardant, das Produkt hält Temperaturen bis zu 1000 °C stand, ohne zu schmelzen oder zu tropfen. Anschlies­send verkohlt es, bindet Sauerstoff und erstickt dadurch die Flammen, ohne dass schädliche Emissionen entstehen. Dies wird mittels einer molekularen Modifikation der Zellulose bei der eher umweltbelastenden Viskose­herstellung ­(vgl. Glossar) erreicht, sodass der Stoff nicht nachträglich chemisch imprägniert werden muss (waschbar ist er allerdings nicht, was wiederum eine chemische Rei­nigung bedingt).

Dies wirkt sich auch auf die Entsor­­gung aus: Der Stoff soll komplett biologisch abbaubar sein. Ob dies innerhalb der vorgeschriebenen Frist ­von ­30 Tagen gelingt, wird momentan getestet.

Schall, Wärme, Blendung

Ein weiteres Bedürfnis ist die Verbesserung der Akustik[3] und die Regulierung von einfallendem Sonnenlicht, und der Wärme, die dieses mit sich bringt. Schallabsorbierende Textilien verbessern die Raumakustik, indem der kinetische Anteil der Schallenergie innerhalb des Gewebes in Wärme umgewandelt wird, was die Nachhallzeit vermindert.

Für die Regulierung von Licht und Wärme werden in der Regel metallisierte Stoffe eingesetzt, die Ersteres reflektieren.

Der Langenthaler Textilhersteller Création Baumann befasste sich mit der Vereinigung dieser drei Funktionen. Nach anderthalb Jahren interner Entwicklung lancierte das Unternehmen im April 2016 den transparenten Vorhangstoff «Reflectacoustic»: Er bietet hohen Blend- und Wärmeschutz, gleichzeitig absorbiert er auch den Schall. Der bewertete Schallabsorptionsgrad, geprüft nach ISO 11654, liegt bei αw= 0.6 (vgl. Glossar, «Nachhallzeit»). In das zweiseitige Polyestergewebe aus Trevira CS ist auf der Rückseite ein metallisiertes Foliengarn eingewoben.

Auf diese Weise reflektiert die Geweberückseite das Sonnenlicht und verringert die Wärmeeinstrahlung um 40 %. Besonders ist die Oberfläche der vor Ort in Langenthal hergestellten, waschbaren Textilien: Bestehende reflektierende Stoffe sind in der Regel an der Rückseite mit einer Schicht aus Metallstaub bedampft, sodass sie grau wirken. Bei der Neuentwicklung entschied man sich stattdessen für eine Streifenlösung, transparente Flächen wechseln sich mit metallisierten Rippen ab. Dadurch bleibt der Stoff zum einen lichtdurchlässig, zum anderen besitzt er eine glatte Vorderseite, auch in Weiss.

Licht und Atmosphäre

Die Verbindung von Textilien und Licht gelingt dem Vorhangstoff «eLumino», den Création Baumann 2013 auf den Markt brachte. Die Technik, die LED auf Stoff appliziert, wurde im Rahmen des anderthalbjährigen KTI-Forschungsprojekts «e-Broidery» zusammen mit Partnern wie dem Textilunternehmen Forster Rohner aus St. Gallen und der Hochschule Luzern für Design und Kunst HSLU entwickelt.

Die langjährige Erfahrung und eigene Forschungsarbeiten des Stickereispezialisten Forster Rohner waren dabei entscheidend: Stickerei erlaubt die genaue Platzierung von Elementen auf einem Stoff und ermöglicht so die nötige Präzision zur Übertragung elektronischer Signale. Jede Diode benötigt zwei Leiterbahnen, die als Doppellinie in die Stickerei integriert sind. Die Dioden sind Eigenentwicklungen und erinnern an glänzende Pailletten.

Leiterbahnen und LED erzeugen auf dem Stoff, einer Mischung aus Polyester in Trevira CS und mit Metall beschichteteten Garnen, ein dekoratives Muster mit auf drei Stufen dimmbaren Lichtpunkten. Die Leiterbahnen werden industriell eingestickt, in einem zweiten Schritt werden die Dioden aufgebracht. Die Eigenschaften des Stoffs, seine Weichheit und der Fall bleiben erhalten.

«eLumino» wird mit einem Kabel mit USB-Stecker an die Stromversorgung angeschlossen, kann aber auch mit Akku betrieben werden. Um den Stoff zu waschen oder zu reinigen, kann die Stromzufuhr entfernt werden. Dimmer und An/Aus-Schalter sind in der Seitennaht platziert. Den Stoff gibt es in zwei Dessins und in zwei Stoffqualitäten, einmal als transparenter Voile (47 g/m2), einmal als opakes Gewebe (167 g/m2), in jeweils drei Farben. Inzwischen lief bereits ein neues Forschungsprojekt zum Thema «e-Broidery» an der HSLU, das sich mit chromatischen Lichteffekten auseinandersetzte und im November 2015 abgeschlossen wurde.[4]

Handwerk trifft Hightech

Neben den funktionalen Eigenschaften machen Textilien aber auch einfach Freude. Die Weichheit und Elastizität, die Beweglichkeit und die Faltungen, die vielfältigen Materialien, Muster, Farben und die Abstufungen in der Transparenz bieten visuelle, akustische und haptische Eindrücke. Inwieweit sie sich mit immer mehr Funktionen beladen lassen, werden zukünftige Entwicklungen zeigen. Im Hinblick auf die ökologischen Standards der gesamten Produktionskette gibt es aber schon heute noch Luft nach oben.

TEC21, Fr., 2016.06.24



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24. Juni 2016Tina Cieslik
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«Mit unseren Stoffen kann man Geschichten bauen»

Der St. Galler Textilhersteller Jakob Schlaepfer ist bekannt für seine opulenten Dessins. Die Produkte sieht man auf roten Teppichen ebenso wie auf Sofas. TEC21 sprach mit dem Kreativchef der Interior-Kollektion über Mode, Verrücktheit und die Grenzen der Kreativität.

Der St. Galler Textilhersteller Jakob Schlaepfer ist bekannt für seine opulenten Dessins. Die Produkte sieht man auf roten Teppichen ebenso wie auf Sofas. TEC21 sprach mit dem Kreativchef der Interior-Kollektion über Mode, Verrücktheit und die Grenzen der Kreativität.

TEC21: Herr Duss, seit vergangenem September sind Sie für die Interior-Kollektion bei Jakob Schlaepfer zuständig. Wodurch zeichnen sich die Textilien Ihres Unternehmens aus?

Bernhard Duss: Jakob Schlaepfer gibt es ­seit 1904. Wir sind eigentlich ein Kleiderstoffhersteller, arbeiten für Haute Couture und Pret-à-porter Lux und kommen aus der Tradition der St. Galler Stickerei. Ende des 19. Jahrhunderts hat man hier die maschinelle Spitzenherstellung erfunden.

In den 1960er-Jahren haben die damaligen Inhaber Jakob Schlaepfer zu einem Unternehmen für luxuriöse Haute-­Couture-Stoffe entwickelt und vor allem angefangen, Pailletten maschinell zu sticken. Dafür sind wir bis heute bekannt. Wir waren aber schon immer nicht nur ­auf Stickerei fokussiert, decken ein breites Feld ab: ­Wir mischen die Techniken, kombinieren sie neu und entwickeln auch unsere eigenen Maschinen. Bei uns geht es darum, alles zu nutzen, was man für die Textilgestaltung brauchen kann.

TEC21: Neben den Stoffen für die Haute Couture bieten Sie seit 2008 auch eine Interior-Kollektion an. Was sind die Unterschiede zur Mode?

Bernhard Duss: Alle unsere Kreationen haben einen starken Hintergrund in der Mode. Bei uns im Haus gibt es keine Konkurrenz und keine Berührungsängste zwischen den Ressorts, unsere Textildesignerinnen sind jeweils in beiden Bereichen tätig. Dementsprechend gibt es viele Stoffe, die ihren Anfang in der Mode gefunden haben und dann für den Wohnbereich adaptiert wurden – aber auch umgekehrt.

Generell muss es bei den Einrichtungsstoffen etwas robuster sein, wegen der längeren Haltbarkeit. Aber wir machen hier auch verrückte Sachen, alles andere gibt es ja schon zur Genüge. Wenn sich Leute für unsere Stoffe entschliessen, dann suchen sie das Luxuriöse. Unsere Produkte werden oft als Eyecatcher verwendet, in Kombination mit etwas Einfachem. Im Einrichtungsbereich sind wir mit einer Kollektion pro Jahr eher klein. Eine Kollektion beinhaltet etwa zehn Neuheiten, sowohl bei den Stoffen als auch bei den Tapeten.

TEC21: Wo werden die Stoffe hauptsächlich eingesetzt?

Bernhard Duss: Vorwiegend im Dekobereich. Unser Angebot reicht von Stoffen mit Stickereien über Metallstoffe aus verwebten Drähten zu Besonderheiten wie ­Reflektormotiven auf Seidentaft, die sich je nach Licht und Standpunkt verändern. In der aktuellen Kollek­tion haben wir auch einen Stoff mit einer Gravur auf Reflektormaterial oder transparente Vorhänge aus superleichtem, mit Aluminium oder Messing beschichtetem und zusätzlich bedrucktem Monofil­gewebe. Mit 10 g/m2 ist es das leichteste Gewebe, das es gibt.

Ein Schwerpunkt liegt auf der Paillettenstickerei für Interieurs. Unsere Pailletten sind Eigenentwicklungen. Wir verwenden eine grosse Auswahl an Pailletten, mit unterschiedlichen Farben und Oberflächen, matt, strukturiert oder holografisch glänzend. Mit unseren Stoffen kann man Geschichten bauen.

TEC21: Sie haben vorher die Tapeten erwähnt. Worum geht es da?

Bernhard Duss: Seit 2010 führen unsere eigene Tapetenkollektion, unter anderem inspiriert von den Bildtapeten des 19. Jahrhunderts, die wir neu interpretieren. Dafür arbeiten wir mit drei unterschiedlichen Grundmaterialien: einem matten Vlies, einer gesprenkelten Hologrammfolie und einer stark holografierenden Oberfläche. Alle Muster können wir auf alle Ober­flächen drucken. Daneben entwickeln wir vermehrt projektbezogene Tapeten auf Kundenwunsch, vor allem für den Objektbereich.

TEC21: Die Textilien sind sehr opulent, oft auch verspielt und wirken wie Haute Couture für die Wohnung. Wie gehen sie mit Sicherheitsnormen um, die im Hinblick auf die Kreativität eher bremsend wirken?

Bernhard Duss: Da gibt es eine Grenze. Wir werden immer wieder gefragt, ob es diesen oder jenen Stoff auch flammhemmend in Trevira CS gibt. Wir haben einige wenige im Programm, aber bei vielen unserer Techniken lässt sich das nicht umsetzen. Trotzdem findet man unsere Stoffe auch in öffentlichen Bereichen. Es kommt darauf an, wo und wie sie eingesetzt werden.

TEC21: Inwiefern ist Nachhaltigkeit bei Ihnen ein Thema?

Bernhard Duss: Unser Beitrag besteht in der langen Nutzungsdauer, den kurzen Wegen und der regionalen Wertschöpfung. Aber will man wirklich nachhaltig sein, bekommt man nicht all diese Farb- und Material­explosionen. Die Umweltfreundlichkeit von Textilien aus Recyclingmaterial ist wegen der dabei verbrauchten grauen Energie ohnehin umstritten. Unsere Produkte sind nachhaltig, weil man gezielt kauft und sie lang behält.

TEC21: Gibt es aktuelle Forschungsprojekte?

Bernhard Duss: Momentan haben wir haben ein Forschungsprojekt mit der Hochschule für Kunst und Design Luzern zum Thema «Dreidimensionaler Farbauftrag auf Stoff». Daraus ist unser neuestes Produkt «hyper­tube» entstanden, Stoffe für die aktuelle Haute-Couture-Kollektion: Es handelt sich um Spitzenmotive in Schwarz oder Weiss, die aus Silikon gespritzt werden – eine zeitgenössische Neuinterpretation der St. Galler Spitze.


[Ende Mai hat an der Oberen Zäune 6 in Zürich der Showroom von Jakob Schlaepfer mit Stoffen und Tapeten aus der Interior-Kollektion eröffnet.
Öffnungszeiten: Di–Fr 10–18.30 Uhr, Sa 10–16 Uhr.
Weitere Infos: jakobschlaepfer.com]

TEC21, Fr., 2016.06.24



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24. Juni 2016Tina Cieslik
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Vom Stall ins Bett

Rosshaarmatratzen sind ein Traditionsprodukt. Mit der Rückbesinnung auf Authentisches erlebt das Handwerk des letzten Schweizer Matratzenmachers eine Renaissance. Die Technik eignet sich aber auch für andere Anwendungen.

Rosshaarmatratzen sind ein Traditionsprodukt. Mit der Rückbesinnung auf Authentisches erlebt das Handwerk des letzten Schweizer Matratzenmachers eine Renaissance. Die Technik eignet sich aber auch für andere Anwendungen.

Knapp zehn Jahre ist es her, da liess der Oberaargauer Polsterer Heinz Roth einen Versuchsballon steigen: Er lancierte die Website www.rosshaarmatratzen.ch, um herauszufinden, ob diese traditionelle Art der Matratze in der Schweiz auf Interesse stösst. Bereits sein Vater und sein Grossvater hatten in ihrer Sattlerei seit 1906 Matratzen auf diese Weise hergestellt, Roth war von dem Produkt überzeugt und wollte das Handwerk wiederbeleben. Die Nachfrage war so gross, dass er sich nun ausschliesslich der Herstellung von Rosshaarmatratzen widmet. Aus der Nische wurde ein Geschäft.

Blond ist weicher

Jahrhundertelang schliefen die Menschen auf Säcken, die mit Heu, Stroh oder Schilf oder – luxuriöser – mit Wolle oder Gänsefedern gefüllt waren. Mit den zurückkehrenden Kreuzrittern gelangten im 13. Jahr­hundert dann die Vorstufen der heutigen Matratzen nach Europa – der Name kommt von «matrah», arabisch für Bodenkissen. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts schlief nur der Adel auf Rosshaar­matratzen, erst die In­dustrialisierung machte Matratzen mit anderen Füllungen für alle Schichten erschwinglich.

Die Herstellung von Kunststoffen nach dem Zweiten Weltkrieg führte schliesslich zur Verbreitung der Schaumstoffmatratzen. Rosshaarmatratzen überzeugen aber nach wie vor mit ihren positiven Eigenschaften: Sie sind hygroskopisch und temperaturregulierend. Jedes einzelne Schweifhaar funktioniert wie ein dünnes Röhrchen, das Feuchtigkeit aufsaugt und weiterleitet. Durch das trockene Klima gelten Rosshaarfüllungen als milbenarm, zudem sollen sie Belastungen durch Elektrosmog und Erdstrahlen vermindern helfen.

Eine handgefertigte Matratze mit Rosshaarfüllung ist zwar teurer in der Herstellung, kann aber bei guter Pflege und einer Auffrischung der Füllung (auflockern, entstauben) alle 10 bis 15 Jahre bis zu 50 Jahre in Gebrauch sein. Ein Grund dafür sind die wenigen, aber hochwertigen Materialien. Die Bezugsstoffe, die Roth verwendet – Leinen, Halbleinen und Baumwolldamast – stammen aus Belgien und Frankreich. Sie werden speziell für Matratzen hergestellt und sind so dicht gewebt, dass die Füllung nicht hindurchstechen kann.

Zwischen Bezug und Füllung liegt deshalb zusätzlich ein Wollvlies aus Ostschweizer Schurwolle. Die Füllung aus Rosshaar bezieht Heinz Roth aus dem Toggenburg, bei der schweizweit einzigen Rosshaarspinnerei. Für die Matratzen werden lediglich Schweifhaare von Pferden benutzt (die Produktbezeichnung «Rosshaar» kann auch Ochsenschwanzhaare beinhalten). Diese gibt es in unterschiedlichen Qualitäten. Heinz Roth bevorzugt für seine Matratzen Schweifhaare in Schwarz – wegen der höheren Elastizität; blonde Haare sind weicher.

In der Spinnerei wird das Haar zunächst in Seifenlauge gewaschen, dann in Heissluftöfen getrocknet, gehechelt,[1] gekämmt und dann in einem Autoklav[2] unter Vakuumdampf sterilisiert und zu gedrehten Strängen, dem Krollhaar, gedreht. Die Drehung ist wichtig für die Sprungkraft, so werden aus den einzelnen Haare kleine elastische Federn.
Gezupft, garniert, gebüschelt

Jede Matratze, die Heinz Roth herstellt, ist eine Bestellung. In der Regel sind es Standardmasse, man kann aber auch individuelle Grössen ordern, sofern sie die Maximalbreite von 1.60 m nicht übertreffen. Diese ist zum einen durch die Stoffbreite vorgegeben, zum anderen sind breitere Grössen schwierig in der Herstellung. Dazu kommt das Gewicht: Eine Matratze mit dem Massen 90 × 200 cm wiegt 17 bis 20 Kilogramm.

Zunächst wird der Bezugsstoff zugeschnitten, dann das Wollvlies aufgelegt. Um das Rosshaar als Füllung verwenden zu können, müssen die Stränge aufgezwirbelt werden. Heinz Roth benutzt dafür eine Zupfmaschine aus den 1950er-Jahren. Diese Geräte werden schon lang nicht mehr hergestellt, daher besitzt er noch weitere fünf davon – wann immer eine Sattlerei schliesst und die Maschinen aussortiert, ist Heinz Roth zur Stelle.

Das so aufgezupfte Rosshaar – für eine Matratze mit den Massen 90 × 200 cm benötigt man etwa 13 kg – wird nun in mehreren Lagen in einem ausgeklügelten System aufgebracht. In der Mitte, der Zone der stärksten Belastung, ist die Füllung mit etwa 50 cm am höchsten. Hier lassen sich auch Kunden­wünsche berücksichtigen, für schwere Personen kann mehr Füllung eingelegt werden, um die Matratze stabil zu halten. Über die Füllung kommt erneut ein Wollvlies, darüber wird der Stoff geschlagen, gespannt und ­zusammengeheftet.

Mit einer dicken, sichelförmigen Nadel und einem Nylonfaden näht Heinz Roth die Bezüge mit 1000 Stichen zusammen. Der Matratzenstich, den er verwendet, ermöglicht eine unsichtbare Naht – und wird im Übrigen auch von Ärzten beim Vernähen von Wunden geschätzt. Es folgt die Kantengarnierung: Was aussieht wie ein überdimensioniertes Kissen, wird mit zwei umlaufenden seitlichen Kanten, den Bourrelets, im Garnierstich in Form gebracht. Daneben existiert auch die Façon­einfassung ohne Kanten.

Sie wird für mit Wolle gefüllte und dadurch weichere Matratzen benutzt, ist für das elastische Rosshaar jedoch zu wenig stabil. Um die Füllung innerhalb der Matratze zu fixieren, werden nun die charakteristischen Abheftbüschel, Boufettes genannt, angebracht. Nach durchschnittlich zwölf Arbeitsstunden ist die Matratze fertig zum Einsatz.

Napoleon und Chäserrugg

Die Mehrheit von Heinz Roths Kunden wünscht eine neue handgefertigte Matratze. Immer öfter aber lassen auch Besitzer von Rosshaarmatratzen anderer Hersteller ihre Bettunterlage bei ihm auffrischen. Und von Zeit zu Zeit wird er zum Restaurator: So erneuerte er vor kurzem die 50 Jahre alte Matratze für ein napoleonisches Bettgestell – komplett mit integrierten Sprungfedern.

Neben der klassischen Matratze lassen sich Materialien und Technik aber auch für andere Anwendungen einsetzen: So tauchten Roths Werke, mit Stickereien der Luzerner Künstlerin Daniela Schönbächler veredelt, auch schon als Kunst-im-Bau-Sitzinstallation in der umgebauten Poststation von La Rösa im Puschlav auf. Und die Architekten von Herzog & de Meuron verwendeten eigens angefertigte Kissen als Rückenpolster im Restaurant der im Juni 2015 wieder eröffneten Bergstation Chäserrugg im Toggenburg (vgl. «Auf dem Gipfel des Ursprungs», TEC21 25/2016).


Anmerkungen:
[01] Beim Hecheln werden die Fasern mit einer Art Kamm parallel ausgerichtet und von Kurzfasern gereinigt.
[02] Autoklav: eine Art industrieller Schnellkochtopf, bei dem der Inhalt unter Überdruck sterilisiert wurde.

TEC21, Fr., 2016.06.24



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06. November 2015Tina Cieslik
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«Farbe bringen die Fahrgäste mit»

Der Regionalverkehr Bern-Solothurn RBS ersetzt nach 40 Jahren die Fahrzeuge der Linie S7 (Bern–Worb). Ulrich Reinert und Caspar Lösche erläutern Vorgehen und Herausforderungen beim Ersatz der als Mandarinli bekannten Züge.

Der Regionalverkehr Bern-Solothurn RBS ersetzt nach 40 Jahren die Fahrzeuge der Linie S7 (Bern–Worb). Ulrich Reinert und Caspar Lösche erläutern Vorgehen und Herausforderungen beim Ersatz der als Mandarinli bekannten Züge.

Der RBS ist Teil der S­Bahn Bern und eines der innovativsten öV­Unternehmen der Schweiz. Als erster Schweizer öV­Ver­ bund hat er 1963 den Taktfahrplan, 1971 den Zonentarif, 1974 den S­-Bahn-­Betrieb und 1992 Niederflurzüge eingeführt.
Entstanden ist der RBS aus den Vorgängerbahnen Solothurn­-Zollikofen­-Bern Bahn SZB und den Vereinigten Bern­-Worb­-Bahnen VBW, die sich 1984 zusammenschlossen. Heute transportieren die 4 Bahn­ und 22 Buslinien jährlich über 25 Millionen Fahrgäste. Die aktuelle Beschaffung der neuen Mandarinli – der Name kommt von der auffälligen orangen Farbe – ersetzt die in die Jahre gekommene Flotte der S7.

Die Mandarinli des RBS müssen altershalber ersetzt werden. Sie beschaffen deshalb in den nächsten Jahren neue Züge für die S7. Wie gehen Sie vor?
Ulrich Reinert: Unsere Züge sind fast 40 Jahre alt und haben damit ihr wirtschaftliches Lebensalter erreicht. Der eigentliche Beschaffungsprozess erfolgt nach GATT-­/WTO­-Vorgaben und ist relativ technisch. Da wir als meterspurige S­-Bahn keine Standardzüge beschaffen können, müssen unsere neuen Züge zuerst entwickelt und konstruiert werden. Wir de nieren als Erstes, welchen Ansprüchen die Fahrzeuge genügen sollen. So hatten wir in den letzten zehn Jahren auf der S7 einen Nachfragezuwachs von rund 40%. Die neuen Fahrzeuge müssen deshalb so gestaltet werden, dass sie viele Fahrgäste aufnehmen können, aber dennoch komfortabel bleiben.

Von wie vielen neuen Zügen sprechen wir?
Reinert: Wir bestellen 14 neue Fahrzeuge mit der Optionen für eine Nachbeschaffung. Wir rechnen damit, dass das erste Fahrzeug 2018 bei uns ist und alle Züge ab 2020 im Einsatz sind.

Wie gross ist der technische und betriebliche Spielraum bei der Neugestaltung?
Reinert: Viele Vorgaben ergeben sich aus den technischen Randbedingungen der Infrastruktur. Die Gestaltungsspielräume beziehen sich deshalb vor allem auf den Innenraum. Zentral ist auch die Frage nach der Anzahl Türen und deren Anordnung. Im Vordergrund steht der schnelle Fahrgastwechsel in einem stark genutzten System. Wichtig war für uns zu wissen, wie sich der Fahrgast zum und im Fahrzeug bewegt, welche Bedürfnisse er hat und welche davon wir berücksichtigen können.

Um die Bedürfnisse der Fahrgäste kennenzulernen, wurden diese befragt. Wie sind Sie vorgegangen?
Caspar Lösche: Wir haben auf der unabhängigen Webplattform Atizo ein Crowdsourcingprojekt lanciert, um gemeinsam mit unseren Fahrgästen Lösungen zu entwickeln, wie wir die Fahrt in den neuen Zügen – vom Ein­ bis zum Ausstieg, in der Stosszeit wie in Randzeiten – angenehmer gestalten können. Immerhin muss man sich bewusst sein, dass die Züge wieder mehrere Jahrzehnte im Einsatz sein sollen. Deshalb wurden auch klare Spielregeln definiert.

Wie sahen diese Spielregeln aus?
Lösche: Die Ideen sollten erstens massentauglich, zweitens technisch und nanziell umsetzbar und drittens nachhaltig sein, also auch nach mehreren Jahrzehnten noch Sinn machen. Die Umfrage lief während fünf Wochen, danach haben wir die Ideen intern bewertet und die besten mit einer Prämie von insgesamt 2000 Franken honoriert. Konstruktive und umsetzbare Ideen haben wir in das Pflichtenheft für die neuen Fahrzeuge eingebunden. Die eingegangenen 600 Ideen verdichteten wir mit der Geschäftsleitung und der Marketingabteilung auf 25 Ideengruppen. Diese haben wir erneut den Fahrgästen in Form konkreter Fragen präsentiert. Die Fragen konnte man via Smartphone direkt während der Fahrt beantworten. In dieser zweiten Runde wollten wir konkrete Fragen stellen, die eher auf die individuellen Ansprüche abzielten. In der ersten Runde kamen durch die offene Formulierung auch einige unerwartete Ideen auf.

Zum Beispiel?
Reinert: Es gab zwar auch weniger ernst gemeinte Ideen, wie etwa einen aufrecht stehenden Schlafsarg oder Dunstabzugshauben über den Sitzen. Das meiste war aber konstruktiv: Den Fahrgästen ging es vor allem um das Sitz­ respektive Stehplatzangebot, um zügiges Ein­ und Aussteigen und um gutes Zirkulieren im Fahrzeug. Überrascht hat uns, dass es unseren Fahrgästen also weniger um indivi­ duelle Wünsche als um Massentauglichkeit ging. Das ist ein tolles Resultat, die Mehrheit der Fahrgäste hat sehr rationale Ansprüche.

Wie kam es zu diesem aufwendigen Verfahren?
Lösche: Der RBS hat im August 2014 seinen Social­-Media­-Auftritt gestartet. Es lag für uns auf der Hand, dass wir die Fahrgäste auch über diese Kanäle in die Beschaffung der Fahrzeuge einbeziehen wollten und so gleichzeitig auch unseren neuen Auftritt bekannt machen konnten. Der direkte Einbezug der Fahrgäste ist für den RBS aber nichts Neues: Bereits in den 1970er-­Jahren waren die Fahrgäste befragt worden, welche Farbe die damals neuen Mandarinli­Züge haben sollten.
Reinert: Der gewählte Weg konnte sehr schlank durchgeführt werden – zeitlich innert weniger Monate und auch kostenmässig mit wenigen Tausend Franken. Zudem konnten wir mit dem Onlineansatz das gesamte Spektrum abfragen – es ging nicht nur um einen Aspekt wie vor 40 Jahren bei der Farbgestaltung, sondern entwickelte sich eher Richtung Marktforschung.

Lösen Sie die Gestaltungsfrage intern oder in Zusam- menarbeit mit einem Designbüro?
Reinert: Da unsere Züge eine Massanfertigung sein müssen und speziell konstruiert werden, nutzen wir den Spielraum auch für ein eigenständiges Design. Bei der letzten Zugbeschaffung vor knapp zehn Jahren wurde das Design erst nach der Auftragsvergabe an Stadler Rail AG entwickelt: Die Gestaltung dieser Züge vom Typ «NExT» (Nieder­flur­-Express­-Triebzug) trägt die Handschrift von Uli Huber, dem ehemaligen SBB­-Chefarchitekten. Bei der jetzt anstehenden Beschaffung mussten wir aus ausschreibungstechnischen Gründen einen neuen Weg gehen und haben das Design bereits vor der Ausschreibung erarbeitet. Dafür haben wir letztes Jahr vier Designbüros eingeladen und die süddeutsche Tricon Design AG als Designpartner ausgewählt. Diese Firma hat sich auf Zuggestaltung spezialisiert und weltweit schon diverse Metro­ und Stadtbahnfahrzeuge gestaltet. Beim neuen S7­-Zug soll die mit dem «NExT» eingeführte Designsprache weitergeführt werden: Im Innern setzen wir auf eine auch farblich ruhige Gestaltung mit indirekter Beleuchtung. Die Farbe bringen die Fahrgäste mit.

Gehen Sie auch international auf Ideensuche?
Reinert: Selbstverständlich. Auch wenn wir in der Schweiz einen guten Standard im Fahrzeugdesign haben, gibt es ausserhalb interessante Lösungen und Konzepte, die wir für unsere Bedürfnisse adaptieren können. So gibt es bei Stadtbahnen im Ruhrge­ biet schon länger zusätzlich zu den Türtastern aussen optische Sensoren, die die Türen automatisch öffnen. Dies möchten wir für unsere neuen Züge adaptieren. Andererseits gibt es auch abschreckende Beispiele. Diese sieht man auch bei Messen, wo Hersteller ihre neuen Fahrzeuge präsentieren. Typische Beispiele sind hier sehr enge Bestuhlungen und Zirkulationsflächen. Man ist oft erstaunt, wo überall noch Sitze hineingepresst werden; Doppelstockzüge mit Klappsitzen unmittelbar vor den Treppen oder Ähnliches. Man wird dann den Eindruck nicht los, dass solche Züge von Personen konzipiert und beschafft werden, die diese selber kaum je nutzen.

Welche Aspekte sind für den hohen Schweizer Standard massgebend?
Reinert: Einerseits dürfte dies am hohen Lebensstandard hierzulande liegen, der zu einer entsprechenden Anspruchshaltung führt. Vor allem aber ist der öffentliche Verkehr in der Schweiz ein ziemlich klassenloses Verkehrssystem: Der Fahrgast wird nicht als Beförderungsfall betrachtet, sondern als Kunde, und auch eine Bundesrätin oder ein CEO eines Konzerns fahren Zug oder Tram. Dies ist in vielen Ländern anders.

Wie wichtig ist Nachhaltigkeit für die RBS?
Reinert: In Bezug auf Energieef zienz und Verschleiss ist die Bahn als Massentransportmittel per se eine nachhaltige Sache. Ein Fahrzeug wird für eine Einsatzzeit von rund 40 Jahren konzipiert, wobei es üblicherweise nach 20 Jahren eine Modernisierung mit neuer Elektronik oder neuer Innenraumgestaltung gibt. Dabei werden nach Möglichkeit rezyklierbare Materialien verbaut.

Sind bei der aktuellen Beschaffung auch technische Einbauten wie WLAN ein Thema?
Lösche: Gerade der Bereich Mobilkommunikation entwickelt sich rasant. Es ist dabei schwierig bis unmöglich, eine technische Lösung einzubauen, die auch in 40 respektive 20 Jahren noch verbreitet ist. Daher verzichten wir in den neuen Zügen auf den Einbau von WLAN, sehen aber Repeater für einen optimalen Mobilfunkempfang vor. Wir gehen davon aus, dass Daten atrates für mobiles Surfen künftig zum Standard werden und daher WLAN, so wie wir es heute kennen, unterwegs nicht mehr notwendig sein wird.

Wie wichtig ist der Sicherheitsaspekt?
Lösche: Betreffend die Züge ist zu unterscheiden zwischen der technischen Sicherheit und dem Sicherheitsemp nden der Fahrgäste. Immerhin ist zu beachten, dass wir teilweise metroähnliche Zustände haben und grosse Stehflächen anbieten müssen.

Mit welchen Massen wird gerechnet?
Reinert: Entscheidend ist, ob die angebotenen Sitzplätze und Stehflächen effektiv auch genutzt werden. So haben die heutigen Mandarinli­Züge sehr enge Sitzteiler, was dazu führt, dass auch in Spitzenzeiten nicht alle Sitzplätze genutzt werden. Analog gilt bei Stehplätzen, dass diese komfortabel nutzbar sind, dass Anlehn­ oder zumindest gute Haltemöglichkeiten vorhanden sind. Zu beachten ist auch, dass die Zirkulationsflächen besonders auf den Einstiegsplattformen nicht als erste belegt werden. So legen wir grossen Wert auf Übersichtlichkeit: Der einsteigende Fahrgast soll rasch erkennen, wo noch Sitzplätze frei sind. Generell rechnen wir bei Stehplätzen mit maximal drei Personen pro Quadratmeter. Bei Sitzplätzen ergibt sich ein rechnerischer Flächenbedarf von 0.45 m² pro Person.

Versuchen Sie auch, die Kommunikation zwischen den Fahrgästen aktiv zu fördern?
Lösche: Unsere Erfahrungen zeigen, dass dies gar nicht gewünscht ist. Der grösste Teil unserer Fahrgäste sind Pendler, die täglich mit uns reisen. Wir legen deshalb auch akustisch Wert auf eine ruhige Umgebung. Neben dem Vermeiden von technischen Geräuschen sind die automatischen Durchsagen auf das Erforderliche beschränkt – kein «Herzlich willkommen beim RBS» aus der Konserve oder Ähnliches. Zudem sind die Fussböden unserer Züge mit Teppichen belegt – dies schluckt einiges an Lärm.

Wie gehen Sie mit Hindernisfreiheit um?
Reinert: Mobilität für alle ist uns ein grundsätzliches Anliegen. Dass dies kein Lippenbekenntnis ist, verdeutlicht die Tatsache, dass wir bereits ab 1994 als erstes Schweizer öV­Unternehmen Züge mit Niederflureinstieg eingeführt und auch die Perrons und die Perronzugänge entsprechend ausgerüstet haben. Bereits vor Schaffung des Behindertengleichstellungsgesetzes haben wir in allen Zügen Niederflurangeboten und damit die physische Barriere für Mobilitätsbehinderte massiv reduziert. Nachholbedarf haben wir bei der Kundeninformation an den Stationen, hier sind entsprechende Projekte aufgegleist.

Arbeiten Sie mit Psychologen zusammen?
Reinert: Bisher nicht – man kann nicht aus allen Bereichen Fachleute beiziehen. Dafür befindet man sich mitten im Leben. Auch wenn man immer wieder von der Wirklichkeit überrascht wird – das ist das Spannende am öffentlichen Verkehr.

TEC21, Fr., 2015.11.06



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25. September 2015Tina Cieslik
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Wie vorher, nur besser

Das Hebelschulhaus im baslerischen Riehen ist ein aussergewöhnlich schönes Exemplar eines Pavillonschulhauses der 1950er-Jahre. Von 2011 bis 2014 wurde es an heutige Bedürfnisse angepasst – ohne dabei etwas von seinen Qualitäten zu verlieren. Möglich machte dies der überdurchschnittliche Einsatz der Planenden.

Das Hebelschulhaus im baslerischen Riehen ist ein aussergewöhnlich schönes Exemplar eines Pavillonschulhauses der 1950er-Jahre. Von 2011 bis 2014 wurde es an heutige Bedürfnisse angepasst – ohne dabei etwas von seinen Qualitäten zu verlieren. Möglich machte dies der überdurchschnittliche Einsatz der Planenden.

Es gibt sie noch, die architektonischen Erfolgsgeschichten – auch in Zeiten von Rezession, Sparzwang und überbordenden Vorschriften. Eine davon ist die von MET Architects realisierte Instandsetzung des Hebelschulhauses im baslerischen Riehen.

Klassisch, detailreich, kindgerecht

Das Hebelschulhaus ist ein klassischer Pavillonbau. Er ging aus einem offenen Wettbewerb hervor, den der damals 28-jährige Basler Architekt Tibère Vadi 1951 gewann. Als Wettbewerbssieger gründete er 1952 zusammen mit Max Rasser das Architekturbüro Max Rasser & Tibère Vadi und projektierte das Erstlingswerk mit viel Hingabe und genauem Blick fürs Detail.

Die teilweise zweigeschossige und unterkellerte Schule besteht aus vier Baukörpern mit Pultdächern (vgl. Pläne S. 22) und wurde 1994 von Rolf Brüderlin um einen weiteren Trakt parallel zum Langenlängeweg ergänzt (Trakt A). Die beiden originalen südostorientierten Klassentrakte (Trakt C und D) befinden sich in diagonaler Stellung zur erschliessenden Verbindungsachse (Trakt B). Als Flügel sind sie trotz Morgensonne aus energetischer Sicht zwar nicht optimal positioniert, doch aus räumlicher Sicht vorteilhaft: Sie sind lichtdurchflutet und bilden ruhige, hofartige Zwischenräume im Aussenbereich. Der Verbindungtrakt endet, über eine gedeckte Ter­rasse erreichbar, im Kopfbau, worin die ehemalige Turnhalle und ein Zeichensaal untergebracht waren (Trakt E). An den Schnittstellen der drei Korridore befinden sich jeweils die Treppenaufgänge und prägnante Pilzstützen (vgl. Abb. S. 24).

Der 1952 bis 1953 erstellte Bau entsprach den damaligen Bemühungen einer kindergerechten Schulhausarchitektur mit übersichtlicher Gesamtorganisation, starkem Bezug zu den Aussenräumen, grosszügigen Fenstern, geschützten Pausen- und Aufenthaltsbereichen, Querlüftungsmöglichkeiten und einem differenzierten Farbkonzept.

Respektvoll zum Erfolg

In den folgenden Jahrzehnten wurde das im Inventar schützenswerter Bauten aufgeführte Schulhaus bis auf den Anbau von Trakt A lediglich Pinselrenovationen unterzogen. Ihnen fiel die ausgeklügelte Farbigkeit der einzelnen Bauteile zum Opfer. Als 2010 die Turnhalle zu einer Aula umfunktioniert werden sollte, nutzte der Kanton Basel-Stadt als Eigentümer die Gelegenheit, den Bau hinsichtlich Erdbebensicherheit, Brandschutz, Energie und Gebäudetechnik den aktuellen Erfordernissen anzupassen. Dazu kam die Renovation der Kunstwerke sowie die Instandsetzung der Oberflächen und eine Anpassung des Raumprogramms gemäss dem im Mai desselben Jahres in Kraft getretenen ­HarmoS-Konkordat (Interkantonale Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule).

Für den Umbau der Turnhalle und die Gesamt­sanierung des Schulhauses schrieb der Kanton 2010 ein offenes Planerwahlverfahren aus. Erfolgreich daraus hervor ging der Entwurf der Basler Architekten Thomas Thalhofer und Roula Moharram, die sich daraufhin – wie dazumal Tibère Vadi – mit einem eigenen Büro, als MET Architects, selbstständig machten. Ihr Entwurf sah vor, die Halle um eine Achse zu kürzen, um Platz für Toiletten und Nebenräume zu schaffen. Der Rhythmus der Fassade konnte beibehalten werden. Die Nordfassade des Trakts erhielt grossflächige Glasschiebefenster – so entstand ein lichtdurchflutetes Foyer, das sich bei geöffneten Türen bis auf die teilüberdachte Terrasse zwischen Trakt E und dem eigentlichen Schulhaus erstreckt (vgl. Grundrisse S. 22 und Abb. S. 29).

Auch bei der anschliessenden Instandsetzung des Schulhauses folgten die Architekten einfachen Prämissen: Die Grundstruktur des Baus besitzt eine so hohe Qualität, dass darin die Lösungen für heutige Bedürfnisse bereits angelegt sind. Für das neue Raumprogramm bedeutete dies, dass die gewünschte Flexibilität nicht über die Wandelbarkeit der einzelnen Räume erreicht wird, sondern über die Wiederholung des immergleichen Systems – pädagogische Konzepte ändern sich schnell, aber der Nukleus der Schule, das Klassenzimmer, bleibt gleich. Dazu gehörte auch, «temporäre» Bedürfnisse nicht überzubewerten, sondern abzuwägen, was sich langfristig bewährt.

Alt ist das bessere Neu

Um die energetische Erfordernisse zu erfüllen, sanierten die Planer auch Dach und Gebäudehülle. Die alten Fenster wurden durch dreifach verglaste ersetzt, die Betonbrüstungen erhielten eine 100-mm-Innen­däm­mung, Putzflächen wurden mit 120 mm von aussen isoliert und erhielten einen neuen, 20 mm starken mineralischen Dickputz. Belegt wurde die energetische Ertüchtigung via Systemnachweis. Auch das Dach erhielt einen neuen Aufbau: 120 mm Dämmung und ein Furaldach (vgl. Instandsetzung Schulhaus Chriesiweg, Zürich, TEC21 20/2009), auf das in den Trakten C und D eine 400 m² grosse Photovoltaikanlage aufgebracht wurde. Um den schmalen Dachrand des Bestands zu erhalten, besitzt das Dach einen Rücksprung – aufwendig für den Spengler, aber überzeugend im Ergebnis. Der Bau verbraucht heute im Betrieb nahezu 75 % weniger Energie als vor der Instandsetzung.

Wo immer möglich verwendeten die Architekten alte Bauteile und Möbel, die sie eingelagert im Keller fanden. Unter anderem liessen sie die mit farbigem ­Linoleum belegten Innentüren restaurieren. Die Schäden behob ein Schreiner, indem er eine dünne Schicht des Oberflächenmaterials abtrug und zu einer spachtelfähigen Masse weiterverarbeitete, mit der er Kerben und Löcher schloss. So konnte der Originalfarbton der Türoberflächen und damit das kindgerechte Orientierungssystem ­beibehalten werden: Petrol für die Unterrichtsräume, Grau für Nebennutzungen, Gelb für die Administration. Ähnliche Lösungen fanden sich für die Schränke in den Klassenzimmern, die eingelagert waren und lediglich aufgefrischt werden mussten. Oder für die Beschläge der Fenster: Um sich deren filigraner ­Anmutung anzunähern, aber gleichzeitig die durch die neue Dreifachverglasung entstandenen zusätzlichen Lasten tragen zu können, liessen die Architekten das Gestänge für die Kippfenster nach historischem Vorbild nachbauen.

Die Wände der Flure und Klassenzimmer erhielten wie im Bestand einen Überzug aus Stramin, der wie ein massgefertigtes Kleid in einem Stück auf die bis zu 40 m langen Wandflächen aufgebracht wurde (vgl. Kasten oben). Beim anschliessenden Anstrich stützten sich die Planer auf das vom Zürcher Haus der Farbe aufgrund von Quellenstudien und Sondierungen ermittelte historische Farbkonzept, das analog zum Bestand jeweils einen Dreiklang vorsah: ein heller Farbton gegenüber dem Fenster, ein mittlerer Farbton an der Fassadeninnenseite und ein dunkler Farbton für die Decke. In der Neuinterpretation von MET Architects sind das in den Klassenzimmern warme Beige- und Grüngrau­töne, an der tafelseitigen Wand und an den Pinnwänden mit einem Lachsrosa ergänzt, das den Ton der neuen Sonnenstoren aufgreift.

Bedingt zur Nachahmung empfohlen

Wer nun meint, dass all die Handwerkerleistungen das Budget gesprengt hätten, wird eines Besseren belehrt: Mit einem Kubikmeterpreis von 656 Fr./m3 (BKP 2) liegt das Schulhaus kaum höher als andere Gesamtsanierungen, ist aber nicht ganz so ökonomisch wie das Original von Rasser   Vadi, das mit seinerzeit 86 Fr./m3 der günstigste Schulhausneubau des Kantons war. Nicht abgegolten ist damit allerdings der immense Recherche­aufwand, den die Architekten betrieben. Gemäss eigenen Angaben verbuchen sie ­diesen Einsatz unter Forschung und Entwicklung. Möglich wurde das ausser­gewöhnlich schöne Ergebnis, weil alle Beteiligten die Wertschätzung für den Bau teilten und sich in den Sinn der Sache stellten.


Literaturhinweise:
Zum Bestand: Bauen +Wohnen, 8/1954, S. 314 ff.
Ulrike Jehle-Schulte Strathaus: Rasser und Vadi. In: Isabelle Rucki, Dorothee Huber (Hrsg.): Architektenlexikon der Schweiz, 19./20. Jahrhundert. Basel 1998.
Jahresbericht 2014 der Basler Denkmalpflege, S. 36f.

TEC21, Fr., 2015.09.25



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TEC21 2015|39 Hebelschulhaus Riehen

28. August 2015Tina Cieslik
TEC21

Vom Tempel zum Klick

Der Detailhandel steht vor einem Entwicklungsschritt: Zunehmender E-Commerce eröffnet internationale Märkte, macht aber zugleich Druck auf traditionelle Ladengeschäfte. Was bedeutet das für unsere Innenstädte und – im kleineren Massstab – für den Ladenbau?

Der Detailhandel steht vor einem Entwicklungsschritt: Zunehmender E-Commerce eröffnet internationale Märkte, macht aber zugleich Druck auf traditionelle Ladengeschäfte. Was bedeutet das für unsere Innenstädte und – im kleineren Massstab – für den Ladenbau?

Ende Juli machte der Schweizer Detailhandel Negativschlagzeilen: «Stärkste Umsatzeinbusse seit 35 Jahren, Umsatzrückgang von 2.1%, 2 Milliarden Franken weniger in der Kasse.»[1] Während der Einbruch in Rekordhöhe in der Schweiz auch dem Einkaufstourismus in die Euroländer geschuldet sein mag, steht der Detailhandel allgemein schon länger unter Druck. Mit dem Aufkommen von Onlineplattformen und einfacher Software, die es auch kleinen Firmen erlaubt, ihre Ware weltweit zu vertreiben, ist zum einen die Konkurrenz gewachsen, zum anderen sieht sich die Branche einer bestens informierten Kundschaft gegenüber. Wie sich diese Technologien für den Handel nutzen lassen, ist denn auch das Thema, das die Anbieter beschäftigt.

Konsumtempel, Kiste, Klick

Einkaufen als Freizeitbeschäftigung ist ein relativ junges Phänomen. Ende des 19. Jahrhunderts sorgten der steigende Wohlstand immer grösserer Bevölkerungsschichten und die aufstrebende Konsumgüterindustrie dafür, dass sich das Einkaufen von der reinen Bedarfsdeckung zum Konsum als Erlebnis wandelte. Einhergehend damit entstanden Handelshäuser als Teil einer lebendigen Stadtstruktur – die ersten Warenhäuser mit repräsentativer Architektur kamen auf. Ein Schnitt erfolgte nach dem Zweiten Weltkrieg mit der zunehmenden Mobilität. Statt auf Repräsentation legten die Anbieter nun Wert auf schnelle Erreichbarkeit und effiziente Flächennutzung. Es enstanden die bekannten «dekorierten Kisten» auf der grünen Wiese, mit teilweise fatalen Folgen für den Detailhandel in den Innenstädten.

Seit einigen Jahren sieht sich die Branche einem ähnlichen Paradigmenwechsel gegenüber: der Verlagerung von realen zu virtuellen Handelsplattformen. Interessant sind dabei vor allem die Schnittstellen und das jeweilige Ausmass. Aktuell zeichnen sich drei grosse Trends ab: ausschliesslicher Onlinehandel, Integration von neuen Technologien in bestehende Konzepte sowie die Sehnsucht nach Authentizität und Bezug zum Produkt. Daneben gibt es Mischformen in allen Varianten.

Für den reinen Onlinehandel steht in Mitteleuropa wohl kaum ein Name so sehr wie der Bekleidungshändler Zalando: Eine Vielzahl an Marken ist via Website bestellbar, wird kostenfrei nach Hause geliefert und kann ohne Gebühr retourniert werden. Der Auftritt des Händlers definiert sich allein durch dessen Website und Marketingmassnahmen – Plakatwerbung, TV-Spots und seit Kurzem auch wieder über gedruckte Kataloge (und zwei physische Outlet-Stores). Das seit der Firmengründung 2008 international expandierende System bedingt Lagerhäuser in Ostdeutschland und entsprechenden Güterverkehr. Ein ähnliches Konzept verfolgt die ebenfalls 2008 gegründete chinesische Supermarktkette Yihaodian. Sie verkauft ihre Ware via Displays in Metrostationen. Diese zeigen ein Bild einer Auslage, wie in einem herkömmlichen Supermarkt. Per App kann der Kunde einen Code des gewünschten Produkts mit dem Smartphone fotografieren und sich die Ware via Internet nach Hause liefern lassen. Neben diesen Extremen gibt es allerhand Differenzierungen wie Bezahlung per Smartphone, Self-Check-out-Kassen in Supermärkten (die im angelsächsischen Raum schon wieder auf dem Rückzug sind – zu hohe Inventurdifferenzen), Apotheken mit virtueller Sichtwahl (realer Verkaufstresen, virtuelles Produktdisplay mit Touchscreen) oder elektronische Regaletiketten, die per App Produktinformationen liefern.

Vielversprechend ist die Entwicklung zur qualitativen Differenzierung anstelle von quantitativem Wachstum. Ein sinnliches Erlebnis kann nur der reale Handel bieten. Erfolgreich entwickelt sich momentan der Trend, das Einkaufen mit interessanten gastronomischen oder kulturellen Angeboten zu verknüpfen – gern auch unter Einbindung neuer Technologien. Das zeigen Beispiele wie die Concept-Mall «Bikini Berlin» (vgl. «Sexy, nicht arm», S. 28) oder eine Auswahl an aktuellen Shopdesigns in Barcelona (vgl. E-Dossier «Retail Architecture» auf www.espazium.ch).


Anmerkung:
[01] Tages-Anzeiger, «Frankenschock wird zum Detailhändler-Schock», 30.07.2015 (online)

TEC21, Fr., 2015.08.28



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TEC21 2015|35 Handel im Wandel

29. Mai 2015Tina Cieslik
Markus Stucki
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Sonderbarer Solitär

Vor 50 Jahren starb Le Corbusier. Sein Zürcher Ausstellungspavillon Centre Le Corbusier / Museum Heidi Weber wurde zwei Jahre nach seinem Tod eingeweiht. Der Bau ist so komplex wie seine Entstehungsgeschichte.

Vor 50 Jahren starb Le Corbusier. Sein Zürcher Ausstellungspavillon Centre Le Corbusier / Museum Heidi Weber wurde zwei Jahre nach seinem Tod eingeweiht. Der Bau ist so komplex wie seine Entstehungsgeschichte.

Nicht weniger als eine Synthese von Architektur und Kunst hatte Le Corbusier (1887–1965) beim Entwurf im Sinn, einen Hybrid aus Ausstellungsbau und Wohnhaus (vgl. «Schöpferisches Destillat», S. 26), einen Prototyp seiner patentierten Stahlkonstruktion – kurz: ein gebautes Manifest. Es sollte sein Gesamtwerk verkörpern: die Überlegungen zu Raum und Proportion, Konstruktion und Farbgestaltung, zu Innenausbau und Möbeln, aber auch seine Kunst in Form von Collagen, Lithografien und Skulpturen.

Die Initiative für den Bau ging von der Zürcher Innenarchitektin und Galeristin Heidi Weber aus (Kasten S. 24). 1960 kam Le Corbusier zu einer ihrer Ausstellungen nach Zürich.[1] Bei einem Spaziergang durch den städtischen Park am Zürichhorn präsentierte sie ihm ihre Vision eines Ausstellungspavillons an diesem Ort. Kein Le-Corbusier-Mausoleum sollte es werden, sondern ein lebendiges Haus, gewidmet der Vermittlung von Werk und Ideen des Meisters.

Le Corbusier zeigte sich jedoch zunächst ab­lehnend: «Non, je ne ferai plus rien pour les Suisses. Les Suisses n’ont jamais été chic avec moi.»[2] Heidi Weber vermochte aber zunächst ihn zu überzeugen und dann auch die Stadt Zürich, die nach einigen Anlaufschwierigkeiten das Grundstück für 50 Jahre im Baurecht zur Verfügung stellte. Von 1961 bis 1967 entstand unter der langjährigen Bauleitung des Zürcher Architekten Willy Boesiger ein konstruktiv und funktional be­sonderer Bau, der weit über die Schweizer Grenzen strahlte – Le Corbusiers letztes geplantes und sein einziges in Stahl und Glas realisiertes Projekt.

Duale Funktion, dialektische Konstruktion

Das strukturelle Konzept, die Trennung in ein zweiteiliges, schützendes Stahldach und einen separaten Baukörper, hatte Le Corbusier bereits rund zwölf Jahre vorher angedacht – beim Entwurf des (nicht realisierten) «Pavillon des expositions temporaires pour la synthèse des arts majeurs» an der Porte Maillot in Paris.[3] Auch die Dimensionen seines Zürcher maison-musée beruhen auf dem Masssystem «Modulor», das Le Corbusier 1942 bis 1955 aufbauend auf den menschlichen Proportionen entwickelt hatte. (Das verwendete Rastermass von 226×226×226 cm entspricht der Körpergrösse eines 183 cm grossen Menschen mit ausgestrecktem Arm). Dieses Raster übertrug er sowohl auf die Ausstellungs- als auch auf die Wohnräume. Der 22.6×11.3 m grosse zweigeschossige Pavillon ist eine geometrische Demonstration, präzise und abstrakt, weit entfernt von Le Corbusiers restlichem Spätwerk, das von organischen Formen geprägt ist.

Auffallend ist die Unterteilung in ein wetterschützendes Stahldach (parapluies-parasols) auf sechs Stützen und die daruntergeschobenen Raumkuben (corps de logis), die keine Berührung mit dem Dach aufweisen. Die Tragstruktur entwickelte der Architekt gemeinsam mit dem Ingenieur Louis Fruitet (vgl. «Schirm und Skelett», S. 29). Untergeschoss und Erschliessungen (Rampe und Treppe) sind aus Stahlbeton, die Kuben aus Stahlprofilen, Glas und emaillierten Wandpaneelen. Der Bauprozess entsprach dieser Konstruktionsweise: Zuerst wurde das vorgefertigte gefaltete Stahldach auf das Untergeschoss gestellt, danach die Raumkuben autonom montiert. Diese von Le Corbusier patentierte Montage[4] kam hier erstmals zur Anwendung und bedingte eine kostenintensive Trockenbauweise: Die Winkelprofile mit über 20000 Edelstahlschrauben mussten sichtbar bleiben, um die Zerlegbarkeit des Systems zu demonstrieren. Der Innenraum wirkt trotz dem engen Stützenraster offen und bietet differenzierte Durch- und Ausblicke. Die sorgfältige Farbgebung und Materialisierung mit Holzpaneelen im Innern schaffen einen vielfältigen Hintergrund für Le Corbusiers Kunst.

1965, kurz vor seinem Tod, signierte Le Corbusier die Skizzen und Pläne für den Bau. In einem Brief an James Johnson Sweeney, den damaligen Direktor des New Yorker Guggenheim-Museums, urteilte er 1961: «Dieses Haus wird das kühnste, das ich je in meinem Leben gebaut habe.»[5] Als Le Corbusier im August 1965 77-jährig beim Schwimmen am französischen Cap ­Martin ertrank, übernahmen seine langjährigen Mitarbeiter Alain Tavès und Robert Rebutato die Planung.

Rezeption gestern, heute, morgen

Während sich die Fachwelt in Bezug auf die architektonische Bewertung des Pavillons anfangs eher verhalten zeigte, besuchten im Eröffnungsjahr 1967 über 47?000 Interessierte den Bau. Seither betreute Heidi Weber eine Vielzahl von Ausstellungen und Aktivitäten zum künstlerischen Werk Le Corbusiers.

2014 lief der Baurechtsvertrag aus, die Stadt übernahm den Bau und stellte ihn unter kantonalen Denkmalschutz (vgl. «Quer in der Landschaft», S. 31). In den Sommermonaten ist das Architekturjuwel jeweils für die Öffentlichkeit zugänglich und wird mit wechselnden Ausstellungen belebt.


Anmerkungen:
[01] Originalinterview in: Rassegno 3/1980, erneut (gekürzt) abgedruckt in Heimatschutz/Patrimoine 1/2014, S. 7 f.
[02] Tatsächlich war die Beziehung zur Schweiz nicht nur eine negative. Etlichen gescheiterten Projekten wie dem Völkerbundpalast in Genf (1927), verschiedenen Über­bauungen im Zürcher Seefeld und dem Direktionsgebäude der Schweizerischen Rentenanstalt (1933), ebenfalls in Zürich, stehen die Ehren­doktorwürden der Universität Zürich (1934) und der ETH Zürich (1955) gegenüber oder der Auftrag für das Schweizer Studentenwohnheim in der Pariser Cité Universitaire (1931–1933). Vgl. Schweizer Ingenieur und Architekt 11/1988, S. 313 f.
[03] Catherine Dumont d’Ayot/Tim Benton, Le Corbusiers Pavillon für Zürich, Zürich 2013, S. 30 ff., s. Buchhinweis S. 28
[04] A.a.O., S. 50 f., 54–55.
[05] Brief an James Johnston Sweeney, 27. September 1961, in: Jean Jenger, Le Corbusier. Choix des lettres, Basel 2002, S. 472–475. Vgl. Dumont d’Ayot/Benton, 2013, S. 18.
[06] Dumont d’Ayot/Benton, 2013, S. 21.

TEC21, Fr., 2015.05.29



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TEC21 2015|22 Der letzte Corbusier

17. April 2015Tina Cieslik
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Strahlende Königin?

Hotelpaläste, Ferienhäuser, Ruinen, Leerstand – Aufbruch? Seit Anfang des 19. Jahrhunderts prägen starke Brüche Bautätigkeit und Tourismus auf der Rigi. Nun zeigen sich zaghafte Zeichen eines Neustarts.

Hotelpaläste, Ferienhäuser, Ruinen, Leerstand – Aufbruch? Seit Anfang des 19. Jahrhunderts prägen starke Brüche Bautätigkeit und Tourismus auf der Rigi. Nun zeigen sich zaghafte Zeichen eines Neustarts.

Die Rigi wird auch die «Königin der Berge» genannt. Der Begriff geht auf eine Beschreibung des Einsiedler Stiftdekans Albrecht von Bonstetten zurück, der sie 1479 als «Montium Regina» und eigentlichen Mittelpunkt der Welt bezeichnete. Anders als die abenteuerumwobenen Drei- und Viertausender wie Eiger und Matterhorn liegt das Rigimassiv mit seinen maximal 1797.5 m ü.?M. in den Voralpen, in einer Insellage zwischen Vierwaldstätter-, Lauerzer- und Zugersee. Und der wohl grösste Unterschied: Die Rigi ist ein gezähmter, ein bebauter Berg.

Mythos und Zerfall

Die ersten Bergreisenden waren Pilger, die sich von der 1585 geweihten Felskapelle in Rigi Kaltbad und der rund 100 Jahre später erbauten Kapelle «Maria zum Schnee» in Rigi Klösterli Wunder erhofften. In der Felskapelle war die Pilgerfahrt mit einem Bad im namengebenden kalten Wasser der örtlichen Quelle verbunden – frühe Wurzeln der späteren Molke- und Wasserkuren.

Die touristische Reisetätigkeit auf die Rigi begann Anfang des 19. Jahrhunderts, als deutsche und britische Adlige, aber auch wohlhabende Zürcher zunächst noch zu Fuss, auf Pferden und Sänften den Berg entdeckten. Letztere finanzierten 1816 gar den Bau des ersten Wirtshauses auf Rigi Kulm. Damit setzte ein regelrechter Tourismusboom ein: Um den legendären Sonnenaufgang auf dem Gipfel zu erleben – dem wichtigsten Programmpunkt einer Rigireise –, musste man nun nicht mehr den mehrstündigen Aufstieg im Dunkeln ab Klösterli oder Kaltbad auf sich nehmen. Um dem Ansturm Herr zu werden, entstanden in der Folge weitere Gasthäuser in Klösterli und Kaltbad, und der Bau auf Kulm wurde erweitert, sodass bis 1825 bereits sieben Gastbetriebe mit 200 Betten existierten.

1837 ging die Dampfschifffahrt auf dem Vierwaldstättersee in Betrieb, was die Anreise erleichterte und sich in den Übernachtungszahlen niederschlug. Hatte die Schifffahrt die Nachfrage angekurbelt, liess sie der Bau der ersten Bergbahn Europas explodieren. Die Vitznau-Rigi-Bahn führte ab Mai 1871 von Vitznau über Rigi Kaltbad nach Rigi Staffel.[1] Vier Jahre später folgte die Arth-Rigi-Bahn mit einer Verbindung von Arth-Goldau nach Rigi Kulm. In kurzer Folge entstanden weitere Gasthäuser und die grossen Hotelpaläste der Belle Epoque – darunter Kurhaus Scheidegg (1840), Hotel Rigi Kulm (1847), Grandhotel Kaltbad (1849), Regina Montium (1856/57, Kulm), Hotel Bellevue (1874, Kaltbad), Grandhotel Schreiber (1875, Kulm) und Hotel Rigi First (1875). Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs hatte sich das Angebot an Gästebetten auf 2000 verzehnfacht. Gut erschlossen, in gesunder Höhe und mit spektakulärem Ausblick – die Rigi als Inbegriff des Schweizer Aussichtsbergs war geboren.

Der Krieg und die anschliessende Weltwirtschaftskrise beendeten die goldenen Zeiten. Die ausländischen Gäste blieben aus, gleichzeitig manifestierte sich ein Schweizer Unbehagen gegenüber den in den Bergen als urbane Fremdkörper empfundenen Bauten der Belle Epoque und gegen die Eliten, als deren Sinnbild sie galten. Einige der Hotels auf der Rigi verfielen, andere wurden zu einfachen Pensionen rückgebaut. Jahrzehntelang befeuerte der 1905 gegründete Schweizer Heimatschutz eine Kampagne gegen die «verlotterte Erbschaft aus der schlechtesten Zeit des letzten Jahrhunderts».[2] Der Bund unterstützte die Initiative zum Um- und Rückbau der grossen Berghotels als Erwerbsmöglichkeit für die Arbeitslosen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. 1951 widmete der Heimatschutz den Erlös der jährlichen Schoggitaler-Verkaufsaktion der «Säuberung des Rigi-Gipfels». Von 1952 bis 1954 wurde das Grandhotel Schreiber abgerissen, auf dem ehemaligen Westflügel entstand ein neuer – heimatschutz- konformer und wesentlich bescheidenerer – Bau nach Plänen von Landidörfli-Architekt (und Heimatschutzbauberater) Max Kopp (vgl. Abb. links unten).

Rückzug ins Private

Der Wandel von der glamourösen Feriendestination zum Tagesausflugsziel hatte allerdings bereits in den 1930er-Jahren begonnen: Statt Grandhotels entstand Parahotellerie, man baute einfache Gäste- und Ferienhäuser, vor allem am Hang über Kaltbad. Auf den ausländischen Adel folgten die neuen bürgerlichen Eliten: Wohlhabende Zuger, Luzerner und Zürcher liessen sich hier ihre Sommerfrischen bauen.

Wie schon ihre Vorgänger beauftragten auch die neuen Bauherrschaften teilweise namhafte Architekten, darunter Alfred Roth, Werner Stücheli und Hans Vollenweider. Einer davon war der Obwaldner Heimatstilarchitekt Robert Omlin, der 1934 für die örtliche Hotelpionierin Rosa Dahinden das Kinderheim und spätere Hotel «Bergsonne» im Chaletstil errichtete sowie Ferienhäuser für den Hotelier Robert Stierlin (nach 1930) und den Zürcher Bauunternehmer Wilhelm Halter (1939). Ebenfalls ein Holzhaus entwickelte 1930 der Werber Paul O. Althaus gemeinsam mit der Holzbau Lungern AG, die das «Schnäggehüsli» als Fertighausmodell im selben Jahr auf der Wohnbauausstellung in Basel vorstellte. Dem Heimatstil eher kritisch gegenüber stand der Architekt und Gründer des Glarner Heimatschutzes Hans Leuzinger. Der Vertreter einer moderaten Moderne baute 1940 ein Ferienhaus für den Basler Rechtsprofessor und Sohn des gleichnamigen Bundesrats Robert Haab. Der Bau zeichnet sich durch die präzise Platzierung in der Landschaft sowie eine Mischung von ländlichen und modernen Elementen wie Laubengang und offenem Terrassenaufgang aus.

1959 baute der Zürcher Architekt Ernst Gisel für seine Familie ein «regelrechtes kleines Meisterwerk».[3] Das von aussen unscheinbar wirkende Häuschen überzeugt im Innern durch eine ausgeklügelte Raumkomposition. Vier Jahre später schuf Gisel die heute unter Denkmalschutz stehende Bergkapelle in Kaltbad. Besonders sind dabei vor allem die vertikale Raumfolge und die raffinierte Lichtführung. Ein weiterer Protagonist der Ferienhausarchitektur auf der Rigi ist Justus Dahinden, Enkel der bereits erwähnten Rosa Dahinden. Für seinen Vater plante er 1954 in Unterstetten das Zelthaus. Das erste realisierte Projekt Dahindens ist eine asymmetrische Dachpyramide auf Stelzen – die reduzierte Form ist ganz auf die Aussicht ausgerichtet und perfekt an die Witterung angepasst.

Trial and error

Ab Ende der 1960er-Jahre war die Bautätigkeit auf der Rigi vor allem durch fehlgeschlagene oder wenig gelungene Vorhaben geprägt. So plante in den 1990er-Jahren ein privater Verein zusammen mit einer Stuttgarter Unternehmensberatung auf Rigi Staffel das Projekt «Rigi Arche 2000». Die Vision scheiterte letztlich an den Finanzen: Die vorgesehenen 11.5 Mio. Franken für das Ausstellungsgebäude konnten nicht aufgebracht werden. Ein Beispiel für eine gestalterisch wenig überzeugende Lösung ist das Eventzelt, das seit 2007 auf Rigi Staffel anstelle des Hotels Rigibahn steht.

Irrungen und Wirrungen gab es vor allem im Dorfkern von Kaltbad. 1998 kaufte ein deutscher Investor das heruntergekommene Hotel Bellevue, einen der letzten Repräsentanten der Haute Hotellerie auf der Rigi. Geplant war ein Neubau mit Ferienwohnungen, den Wettbewerb gewann das Basler Büro Diener?&?Diener. Statt einer fulminanten Eröffnung zum Millennium folgte dem raschem Abriss und Baubeginn aber Stillstand: Ende 1999 wurde der Investor wegen krimineller Machenschaften verhaftet, übrig blieb bis 2006 die Bauruine als weithin sichtbares Symbol des Scheiterns.

Neben dem Bellevue gab es ein weiteres Sorgenkind, die 1962 bis 1964 anstelle des 1961 durch Brandstiftung zerstörten Grandhotels Kaltbad erbaute «Hostellerie» von Justus Dahinden. Die als Grossprojekt konzipierte und nur teilweise ausgeführte Anlage aus Hotel, Ferienwohnungen und Sportzentrum im zeitgenössischen «Mövenpick-Stil»[4] war 30 Jahre später sanierungsbedürftig, entsprechende Vorhaben scheiterten zunächst aber jeweils an der Finanzierung.

2005 präsentierte der Nebikoner Bauunternehmer Peter Wüest eine ehrgeizige Vision, Kaltbad als touristischen Hotspot neu zu erfinden. Dazu sollte neben der Instandsetzung der Hostellerie und dem Bellevue-Ersatzneubau ein Bergbad von Mario Botta gehören. Zwei Jahre später zog sich der Generalunternehmer zurück, es kam erneut zu einem Marschhalt. Erst mit dem neuen Gestaltungsplan der Gemeinde 2009, der eine Redimensionierung beinhaltete, sowie zwei neuen Betreibern kam wieder Schwung ins Projekt.[5] Im Juli 2012 wurde die renovierte Hostellerie, jetzt Hotel Rigi Kaltbad, eingeweiht, zusammen mit dem – leider enttäuschenden – Mineralbad. Dass beschnittene finanzielle Mittel die Planungen beeinflussten, ist offensichtlich: Statt atmosphärischer Dichte herrscht im Umkleidebereich Hallenbadflair, die Sauna ist karg und bietet statt Bergsicht freien Blick auf ein Wohngebäude. Auch der Granit der Fassade aus Domodossola passt nicht recht zur Nagelfluh der Rigi.

2014 folgte das neue Bellevue mit 18 Ferienwohnungen (Architektur Lischer Partner AG, Luzern). Jüngster baulicher Neuzugang und letztes Puzzleteil im Gestaltungsplan ist das im März eröffnete Bahngebäude der Rigi-Vitznau-Bahn (Strüby Konzept AG) – räumlich gelungen, aber in der Materialisierung (Fassade und Dach teilweise aus Kupfer) erneut ein zusätzliches Element in der ohnehin bereits heterogenen Erscheinung von Kaltbad. Berg und Bauten bleiben ein Konglomerat. Heute besuchen jährlich rund 600?000 Gäste die Rigi, ihnen stehen 300 Gästebetten zur Verfügung. Nach den Wirren der vergangenen Jahre gibt es Anzeichen für eine positive Zukunft. In der RigiPlus AG, die 2012 aus einem interkantonalen Projekt der Neuen Regionalpolitik NRP hervorgegangen ist, sind alle Akteure auf und am Berg vertreten. Das Ziel ist ein gemeinsamer Auftritt der zwei Kantone, neun Gemeinden, neun Bergbahnen und 40 Gastronomiebetriebe – damit die Königin wieder strahlt.


Anmerkungen:
[01] Konzipiert wurde sie 1869–1871 von Niklaus Riggenbach, Ferdinand Adolf Naeff und Olivier Zschokke. Zum Einsatz kam das nach Riggenbach benannte und in Frankreich patentierte Zahnradbahnsystem mit Leiterzahnstangen.
[02] Ernst Laur, Die Säuberung des Rigi-Gipfels – das grosse Talerwerk des Jahre 1951/52. In: Heimatschutz/Patrimoine, Bd. 46, 1951, S. 56.
[03], [04] Jacques Herzog, Pierre de Meuron, Das kleine Haus auf dem Rigi – eine autobiografische Betrachtung. In: Bruno Maurer et al. (Hrsg.), Ernst Gisel Architekt, gta Verlag, Zürich 2010, S. 81.
[05] Bauunternehmer Rolf Kasper ist Besitzer von Bellevue und Hotel Rigi Kaltbad. Die Aqua-Spa-Resorts AG betreibt das Mineralbad & Spa Rigi Kaltbad.

TEC21, Fr., 2015.04.17



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TEC21 2015|16 Rigi I – bebauter Berg

21. März 2014Tina Cieslik
TEC21

Japanische Falten

Shibori, die jahrhundertealte japanische Textilfärbetechnik, ist in Europa angekommen. Junge Textildesigner entwickeln das Verfahren weiter: Statt Kimonos schmücken die Stoffe nun Haute Couture und Interieurs.

Shibori, die jahrhundertealte japanische Textilfärbetechnik, ist in Europa angekommen. Junge Textildesigner entwickeln das Verfahren weiter: Statt Kimonos schmücken die Stoffe nun Haute Couture und Interieurs.

Landschaften aus Miniaturvulkanen, Spuren von Wind im Sand oder Stacheln einer Koralle – die Vielfalt an Formen und Mustern der japanischen Shibori-Stoffe scheint nahezu grenzenlos. Jahrhundertelang veredelten Shibori-Künstler in aufwendiger Handarbeit die Stoffe für Kimonos. In den letzten Jahren feierten die Textilien ihren Einzug in die zeitgenössische Mode, so in Kollektionen von Issey Miyake, Yohji Yamamoto oder Oscar de la Renta. Nun erobern sie auch die Innenräume: als Überzüge von Leuchten und als Wohntextilien.

Knautschen gegen Farbe

Shibori sind reservegefärbte Stoffe. Nähte oder sogenannte Abbindereservierungen (das enge Umwickeln einzelner Stoffpartien) verhindern, dass das Textil an diesen Stellen die Farbe annimmt. Je stärker der Stoff gepresst wird, desto weniger Farbe gelangt ins Innere der Faltung. Früher verwendete man dafür meist Indigo, Randen oder Färberkrapp, heute sind es synthetisch hergestellte Farben. Löst man die Reservierungen, zeigen sich in den Mustern die Spuren der Vorbehandlung – der Stoff behält die Erinnerung an die Form.

Der Begriff «shibori» umfasst sowohl die Technik als auch das fertige Produkt. Der Ursprung des Worts – der Infinitiv «shiboru» bedeutet «wringen, pressen, drücken» – betont allerdings weniger den Aspekt des Färbens als das, was vorher mit dem Stoff geschieht: Durch Falten, Knautschen, Heften, Flechten, Verdrehen und Zupfen kreieren die Shibori-Künstler eine dreidimensionale Form aus dem flächigen Textil. Ähnliche Verfahren werden in vielen Kulturen verwendet, so in Westafrika (adire), Indien (bandhani) oder in Malaysia (plangi). Im englischen Sprachraum ist die Praktik unter der Bezeichnung «tie-dying» bekannt. Nirgendwo ist die Technik jedoch so vielfältig und differenziert wie in Japan: Hier gibt es über hundert verschiedene Arten von Shibori. Für ein Werkstück benötigen die Handwerker 10 bis 20 Tage.

Abbinden statt applizieren

In Europa werden die auf diese Weise gefärbten Stoffe oft unter dem Begriff «Batik» zusammengefasst. Tatsächlich handelt es sich jedoch um zwei verschiedene Techniken: Beim Shibori wird das gewünschte Dessin über die Flexibilität des Stoffs, über das Eindrehen, Zusammenfalten oder Abbinden einzelner Stoffpartien erreicht. Bei der aus Indonesien stammenden Batik (mbatik = mit Wachs schreiben) trägt man Muster mit flüssigem Wachs auf den Stoff auf, die bedeckten Stellen bleiben anschliessend vom Färben ausgenommen. Im Gegensatz zu diesen Mustern, die sich durch Präzision und scharfe Kanten auszeichnen, wirken die Bilder des Shibori weich und leicht verschwommen.

Nach Japan gelangte das Verfahren etwa im 8. Jahrhundert aus China. Baumwoll-, Hanf- und Seidenstoffe für Kimonos wurden auf diese Weise veredelt. Im 19. Jahrhundert nahmen Produktion und Bedeutung der Stoffe ab, bis sie nach dem Zweiten Weltkrieg, auch durch die Adaption westlicher Mode, weitgehend in Vergessenheit gerieten. Erst in den 1980er-Jahren erlebte Shibori ein Comeback. Vor allem in Kyoto und in Arimatsu-Narumi, heute ein Teil der Millionenstadt Nagoya auf der Insel Honshu an der japanischen Ostküste, lebte die Tradition hingegen fort und wurde weiterentwickelt. Das Aufkommen synthetischer Stoffe wie Polyester erlaubt es heute beispielsweise, die dreidimensionalen Strukturen, die durch das Abbinden entstehen, über eine Hitzebehandlung zu fixieren. Die Transformation von flächigem Textil zu räumlichem Stoff eröffnet eine Vielzahl an neuen Gestaltungsmöglichkeiten.

Holz und Streifen, Sturm und Spinnen

Shibori umfasst drei Arbeitsschritte – Schablonieren, Binden, Färben –, die jeweils von einem Spezialisten ausgeführt werden. In einer ersten Phase wird das gewünschte Design auf einen Bogen Papier gezeichnet. Anschliessend hämmert der Shibori-Künstler entlang der Konturen kleine Löcher in das Papier. Diese Schablone wird nun auf den Stoff gelegt und mit Farbe bestrichen, sodass das Muster auf den Stoff gelangt. Die Konturen zeigen an, wo der Stoff in einem zweiten Schritt zusammengeheftet wird. Die unzähligen Varianten des Shibori lassen sich grob in vier Gruppen einteilen: Zusammenbinden, Heften, Falten und Wickeln (nachfolgend wird je ein Beispiel pro Gruppe erläutert). Häufig dient ein Holzständer (tesuji dai) als Hilfsmittel, vor dem man sitzend arbeitet. Je nach Technik ist dessen Spitze unterschiedlich ausgebildet (Abb. Seite 23).

Zusammenbinden: An Spinnweben erinnern die Muster des Kumo Shibori. Diese Technik ist eine der ältesten: Bilder aus dem 12. Jahrhundert zeigen diese Muster, oft sind sie auch auf Holzschnitten der Edo-Zeit (1603–1868) zu sehen. Dabei werden Partien des Stoffs mit einem Winkelhaken aus Metall zu kleinen Hörnern zusammengezogen und mit einem nassen Faden umwickelt (Abb. Seite 23 und Titelbild).

Heften: Mokume Shibori (Holzmaserung) besticht durch seine Gleichmässigkeit und den wellenförmigen Kontrast zwischen Hell und Dunkel. Um diesen zu erzielen, ordnet der Shibori-Künstler parallel zum Schussfaden verlaufende Heftnähte übereinander an. Jeder Faden wird am Ende verknotet, sodass sich der Stoff zusammenziehen lässt. Die dabei entstehende Faltung erinnert an ein Akkordeon. Beim Färben bleiben die Innenseiten der Falten von der Farbe unberührt, es bildet sich ein enges lineares Muster, das der Maserung von Holz gleicht (Abb. links).

Falten: Für das Tesuji Shibori (Streifen von Hand) benötigt man den Holzständer, in dessen Basis ein Bambusstab mit einer V-förmigen Öffnung an der Spitze fixiert ist. Der feuchte Stoff wird in Plisséefalten gelegt und mit einem Faden umwickelt. Der Handwerker legt die Spitze der Rolle in den Bambusstab, das andere Ende hält er straff, indem er darauf sitzt. Nun umwickelt er die Falten im Abstand von etwa 4 cm eng mit einem Faden.

Wickeln: Ein bekannter Vertreter dieser Technik ist der Arashi Shibori (Sturm). Dafür wird der Stoff – traditionell ist es ein 3.60 × 12.8 m grosses Kimonotuch – um einen 3.65 m langen, leicht konischen polierten Holzstab geschlungen. Der Stoff wird nun im Abstand von etwa 4 cm eng mit einem Faden umwickelt. Anschliessend wird er zusammengeschoben, sodass sich kleine Falten bilden, wo der Stoff zusammengedrückt wird. Nach dem Färben zeigt sich ein Muster, das an windgepeitschten Regen erinnert.

Nach diesen Vorbereitungsarbeiten kann der Stoff in einer dritten Phase gefärbt werden. Zum Schluss löst man die Reservierungen, und das Muster kommt zum Vorschein. Liegt der Schwerpunkt auf den dreidimensionalen Formen statt auf der Färbung, wird auf Letztere verzichtet, stattdessen erfolgt eine Hitzebehandlung.

Die Qualität des Zufälligen

Wie traditionelles Handwerk ganz allgemein hat auch Shibori stark an Bedeutung verloren. Zwei Jahre an einem einzigen Kimono zu arbeiten – früher durchaus üblich – passt nicht mehr in eine Zeit, die von Effizienz geprägt ist. Gleichzeitig findet vor allem in den Shibori-Zentren Kyoto und Arimatsu-Narumi eine Rückbesinnung auf die ästhetischen und haptischen Qualitäten der Stoffe statt. Neben aller Könnerschaft ist das Endergebnis auch dem unkontrollierbaren Moment zu verdanken, in dem die Farbe auf den Stoff trifft. Die Kombination aus profundem Wissen und Zufall lässt sich für die Weiterentwicklung der Technik ebenso nutzen wie für die hiesige Gestaltung von Räumen.

TEC21, Fr., 2014.03.21



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TEC21 2014|12 Gezupft, gerupft, getupft

21. März 2014Tina Cieslik
TEC21

Kirgisischer Filz

Ihre Herstellung ist arbeitsintensiv, ihre Muster sind ausdruckstark: Shyrdaks – doppelt genähte Filzteppiche – werden in Zentralasien seit Jahrhunderten hergestellt. Mit ihren kraftvollen Motiven lassen sie sich auch mit europäischen Interieurs erstaunlich gut kombinieren.

Ihre Herstellung ist arbeitsintensiv, ihre Muster sind ausdruckstark: Shyrdaks – doppelt genähte Filzteppiche – werden in Zentralasien seit Jahrhunderten hergestellt. Mit ihren kraftvollen Motiven lassen sie sich auch mit europäischen Interieurs erstaunlich gut kombinieren.

Sie sind weich, flauschig, warm – und sie riechen nicht nach Schaf: In Kirgisistan werden Shyrdaks als textile Allzweckwaffe zum Isolieren der Jurten ebenso eingesetzt wie als Satteldecke. In den abgesteppten grafischen, meist symmetrischen Mustern manifestiert sich die Kultur der Region. Jedes Motiv hat eine Bedeutung – vorwiegend aus der Pflanzen- und Tierwelt oder aus dem Familienleben. Beliebte Formen sind beispielsweise das stilisierte Horn des Schafbocks (kochkor muyuz) oder abstrahierte aneinander gereihte Vogelschwingen als umlaufende Bordüre (kush kanat); oft sind es Bilder aus dem kirgisischen Nationalepos Manas.

Da es von jedem Ornament eine Positiv- und eine Negativform gibt, braucht es fundiertes Wissen, um die Kombinationen, die je nach Farbe variieren, korrekt lesen zu können. Tatsächlich lässt sich aber keinem Motiv eine universell gültige Bedeutung zuordnen, da jeder Shyrdak einen intuitive Komponente beinhaltet: Träume und Ziele der jeweiligen Herstellerin fliessen in die Produktion mit ein. Darauf weist auch das kirgisische Wort für «Idee, Ziel, Gedanke» hin, das auch «ein Design zum Ausschneiden entwerfen» bedeutet.

Während die Shyrdaks – «shyrdama» bedeutet «heften, nähen» – im Westen zunehmend bekannter werden, verliert die Tradition in Kirgisistan an Bedeutung. Die jungen Menschen übersiedeln in die Städte, für die Möblierung ihrer Wohnungen ziehen sie industriell hergestellte Ware aus synthetischen Stoffen vor. Seit Ende 2012 ist die Kunst der Shyrdak-Herstellung daher in der UNESCO-Liste des gefährdeten immateriellen Kulturerbes klassifiziert.[1] Filzen ist Frauenarbeit, die Mutter gibt ihr Wissen an die Tochter weiter. Der Shyrdak ist ein traditionelles Hochzeitsgeschenk der Älteren an die Jüngere. Verkauft wurden Shyrdaks früher nicht. Die seit 1991, seit der Unabhängigkeit des Landes, langsam, aber stetig steigende Nachfrage aus Europa sorgt nun aber dafür, dass mehr und mehr Frauen mit der Herstellung der Shyrdaks ihren Lebensunterhalt verdienen können. Denn trotz dem engen Bezug zur halbnomadischen Lebensweise der Kirgisen lassen sich die expressiven Teppiche gut mit europäischen Interieurs kombinieren. Die positiven Eigenschaften des Filzes – kälteisolierend bei geringem Gewicht, schalldämmend und feuchtigkeitsregulierend – tun ein Übriges. Bei guter Pflege besitzt ein Shyrdak eine Lebensdauer von etwa 30 Jahren.

Mit Muskelkraft und Seife

Neben den Shyrdaks nutzen die Kirgisen Filz für eine ganze Palette an Produkten, wie Taschen, Schuhe, Hüte oder Zeltplanen. Die Herstellung hat sich dabei kaum verändert. Nassfilzen ist eine der ältesten Techniken, um Textilien zu produzieren; Überreste von gefilzten Gegenständen können bis ins Jahr 6000 v. Chr. nachgewiesen werden. Auch heute noch wird in Kirgisistan zur Herstellung eines Shyrdaks zunächst die Wolle, hauptsächlich von Schafen, aber auch von Ziegen oder Yaks, gekämmt und durch Ausklopfen mit zwei Holzstäben gereinigt. Für einen grossen Filz benötigt man die Wolle von vier bis fünf Tieren. Die Wolle wird nun in drei Schichten auf einer Bastmatte (chij) ausgelegt. Dann übergiessen die Frauen die Wolle mit kochendem Wasser und Seife. Diese wirkt als alkalische Filzhilfe: Die Haare der Schafe besitzen eine dachziegelartig geschuppte Oberfläche, deren Plättchen aus Keratin sich durch Einwirkung der Seife aufstellen – eine optimale Vorbereitung für das spätere Verzahnen durch Walken.

Nun rollen die Frauen die Bastmatte zusammen, verschnüren sie zu einem Paket und versehen sie mit einem Überzug. Dann lassen sie das Paket etwa eineinhalb Stunden lang von einem Esel durch die Strassen ziehen oder stossen es mehrfach eine Anhöhe hinauf und hinunter – so soll der Filz die richtige Dichte erhalten. In einer zweiten Stufe rollen mehrere Frauen das Filzpaket über den Boden (Abb. oben). Auch in der Schlussphase kommen die Ellbogen zum Einsatz: Nachdem die Bastrolle entschnürt ist, walken die Frauen mit ihnen den Filz noch einmal nach. Durch die mechanische Bearbeitung entsteht ein fester Verbund, wobei das Ge- webe um etwa ein Drittel schrumpft.

Textile Intarsien

Je nach Verwendung erfolgt nun das Färben: Die nicht sichtbare Unterseite der Shyrdaks behält in der Regel die ursprüngliche Farbe der Wolle. Für die dekorativen Ornamente auf der Oberseite kommen traditionell natürliche Färbemittel wie Zwiebel- oder Baumnussschalen zum Einsatz. Diese Naturtöne sind vor allem im Westen beliebt. Die Kirgisen begeistern sich inzwischen für kräftige, bunte Muster aus synthetischen Farben.

Um ein Ornament herzustellen, legt die Handwerkerin zwei gleich grosse, verschiedenfarbige Filzstücke aufeinander. Anschliessend zeichnet sie mit Kreide freihändig die Hälfte oder ein Viertel eines Ornaments und klappt den Filz dann zusammen, sodass die gespiegelte Teilform zu einem Ganzen wird. Diese Arbeit verlangt ein ausgeprägtes räumliches Verständnis – es gilt, nicht nur das geometrische Verhältnis von Form und Randfläche zu beachten, sondern das Gesamtdesign des Teppichs im Auge zu behalten. Frauen, die die Ornamente zeichnen können, werden daher als Meisterinnen (usta) bezeichnet, das Talent dafür gilt als angeboren.

Das Muster wird mit einer Schere, früher oft auch mit einem scharfen Messer, durch die beiden zusammengehefteten Filzlagen hindurch ausgeschnitten. Sowohl das ausgeschnittene Ornament als auch die Negativform werden weiterverwendet, entweder für andere Elemente im selben Shyrdak oder in einem anderen Teppich. Es existiert also von jedem Exemplar ein farblich gespiegeltes Gegenstück, Reste gibt es keine. Im nächsten Schritt werden die Ornamente wie ein textiles Mosaikstück in die farblich kontrastierende Negativform eingelegt und mit einem Doppelzopfstich entlang der Konturen mit einem gesponnenen Faden (shona) vernäht. Farblich assortierte Kordeln (dje’ek) kaschieren die Naht und betonen gleichzeitig die Form des Ornaments. Zum Schluss versteppen die Näherinnen die dekorative Ober- mit der unifarbigen Unterseite. Pro Quadratmeter Teppich benötigen die Frauen zwischen 43 und 67 Arbeitsstunden, je nach Jahreszeit (im Winter mehr, im Sommer weniger) und Farbe der Filze (naturfarbige Filze brauchen weniger Zeit, bunt eingefärbte mehr).

Tradition und Objekt

In der Kultur der Kirgisen spielte die Herstellung der Teppiche einst eine wichtige Rolle, Shyrdaks gehören zu den bedeutendsten Kunstobjekten des Volks. Das Wissen über die Herstellung der Teppiche, ihre künstlerische Vielfalt, die Ornamentik und die damit verbundenen Zeremonien bilden eine Einheit und gaben dem kirgisischen Volk ein Gefühl von Identität und Kontinuität.

Heute hilft das westliche Interesse an den Textilien, dieses Erbe bewusst zu machen. Inzwischen gibt es mehrere Textilkooperativen, die Shyrdaks herstellen. Das Nationalmuseum in der Hauptstadt Bishkek führt zweimal jährlich Shyrdak-Ausstellungen durch. Neben diesen wichtigen kulturellen Funktionen überzeugen Shyrdaks aber vor allem als gute Produkte. Herstellung, Form und Funktion gehen hier eine schlüssige und attraktive Verbindung ein.


Anmerkungen:
[01] Dem Shyrdak verwandt sind die ebenfalls in Zentralasien verbreiteten Ayakiliz-Teppiche, bei denen die Ornamente bereits im ersten Filzdurchgang in den Teppich gelegt werden. Auch sie stehen auf der Liste des bedrohten Kulturerbes.
[02] Label-STEP gehörte bis Ende 2013 zur Max-Havelaar-Stiftung, die ein Gütesiegel für fair gehandelte Produkte vergibt. Seit Anfang 2014 ist die Organisation Teil der Entwicklungsorganisation «Brot für alle». Label-STEP engagiert sich für gute Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen in den Produktionsgebieten von handgefertigten Teppichen.

TEC21, Fr., 2014.03.21



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TEC21 2014|12 Gezupft, gerupft, getupft

17. Januar 2014Tina Cieslik
TEC21

Ein Gigant breitet sich aus

Der Neubau der Messe Basel polarisiert. Architektonische Ideale kollidierten mit städtebaulichen Zwängen, lokale Planungs- und Ausführungsstandards mit den Terminplänen internationaler Aussteller. Vor der wirtschaftlichen Bedeutung der Messe blieb die Arbeitskultur auf der Strecke.

Der Neubau der Messe Basel polarisiert. Architektonische Ideale kollidierten mit städtebaulichen Zwängen, lokale Planungs- und Ausführungsstandards mit den Terminplänen internationaler Aussteller. Vor der wirtschaftlichen Bedeutung der Messe blieb die Arbeitskultur auf der Strecke.

Im Februar 2013 erreichte die Messe Basel ­einen weiteren Meilenstein ihrer knapp hundertjährigen Geschichte: Mit der Eröffnung der neuen Halle 1 von Herzog & de Meuron ist erneut eine Etappe in der Entwicklung des Standorts im Zentrum von Kleinbasel ab­geschlossen. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts finden hier Messen statt, 1917 erstmals die Basler Muster­messe muba. Die internationale Uhren- und Schmuckmesse Baselworld, ehemals integriert in die muba, machte sich Anfang der 1970er-Jahre selbstständig. Begleitet wurde die Expansionspolitik jeweils von Hallenneubauten oder -erweiterungen, beginnend bei der ursprünglichen Halle 1 des Stadtzürcher Baumeisters Hermann Herter (1924–26) bis zur aktuellen Halle 1 von Herzog & de ­Meuron (vgl. Abb. S. 72 und S. 73, oben).

Die zunehmende Bedeutung der Baselworld und die Entstehung von konkurrenzierenden Messeplätzen, vorwiegend in Asien, machten gemäss der Betreiberfirma MCH Group einen Neubau nötig. Das börsenkotierte Unternehmen befindet sich zu 49 % im Besitz der Kantone Basel-Stadt, Basel-Landschaft und Zürich sowie der Stadt Zürich. Um im internationalen Wettbewerb der Aussteller für Luxusmarken mithalten zu können, galt es, mehr und vor allem hochwertigere Ausstellungsflächen zur Verfügung zu stellen. 2004 vergab die Bauherrschaft das Projekt als Direktauftrag an Herzog & de Meuron – man wünschte sich von dem lokalen Büro mit dem globalen Anspruch «einen Bau mit Ausstrahlungskraft».

Ein liegender Riese

Die Architekten entwarfen einen 230 × 106 m grossen dreistöckigen Riegel entlang des Riehenrings, der nordseitig an die bestehende Halle von Theo Hotz (Halle 1, 1998–1999; vgl. Abb. S. 72) andockt. Der Begriff «dreistöckig» führt hier allerdings in die Irre – die Geschosse sind zwischen 8 m und 10 m hoch. Weichen mussten dem ­Neubau der historische Kopfbau der Halle (1924–1926, Hermann Herter) und die ehemalige Halle 3 («Rosentalhalle») der Architekten Suter & Suter auf dem Südteil des Areals. Im Innern entstand so im 1. Obergeschoss eine durchgehende Messehalle mit einer Länge von über 400 m. Die einzelnen Ebenen sind – ähnlich wie beim SBB-Stellwerk der gleichen Architekten (1994 –1998) – leicht gegeneinander verschoben. Eine Fassade aus ­gewellten Aluminiumbändern umschliesst den Bau komplett und kaschiert mangels architektonischer ­Referenzgrössen wie Fenstern oder Geländern die Dimensionen des Volumens. Im Herbst 2008 wurde das Projekt aufgrund zu hoher Kosten überarbeitet und dabei auf 217 × 90 × 32 m redimensioniert, als Totalunternehmerin kam die HSR Real Estate AG mit an Bord.

Erschlossen wird der neue Hallenkomplex heute beim Messeplatz durch die Foyers Nord und Süd.

Die beiden Obergeschosse der neuen Halle überbrücken den Platz, auf dem nach wie vor die Trams Richtung Riehen und Badischer Bahnhof verkehren. Eine zentral an­geordnete kreisförmige Öffnung bringt Tageslicht in den in «City Lounge» umbenannten Platz. Die neue ­Halle 1 ist über Passerellen mit den Hallen 2, 3 und 4 sowie mit dem Kongresszentrum verbunden.

Das 430 Millionen Franken teure Gebäude wurde von Juni 2010 bis Februar 2013 in drei Phasen erstellt, unterbrochen jeweils durch mehrmonatige Pausen während der Messen Swissbau und Baselworld. Die kurze Bauzeit – der Bau sollte rechtzeitig zur Baselworld im April 2013 fertiggestellt sein – und der hohe Grad an Handarbeit (vgl. «Haute Couture», S. 82, und «Ein­geschriebenes Tragwerk», S. 84) schlugen sich in vielen Sonderlösungen (vgl. «Luxus brennt anders», S. 90, und Kasten «Gebäudetechnik», S. 72) und in teils prekären Arbeitsbedingungen nieder. 22 Monate lang arbeiteten im Dreischichtbetrieb täglich bis zu 1300 Arbeiter auf der Baustelle. Im August 2012 machte die Basler Zeitung «TagesWoche» Fälle von Lohndumping, Subunternehmerketten und nicht bezahlten Löhnen publik. Nachdem sich sowohl die Messe als auch die Regierung von Basel-Stadt als Hauptaktionärin des Unternehmens ­zunächst als nicht zuständig erklärten, übernahmen Bauherrschaft und Totalunternehmung im Dezember 2012 die Aussenstände. Ende April 2013 konnte die ­Baselworld als erste Messe im Neubau pünktlich stattfinden.

Ausstellungskiste mit Tarnkappe

Bereits zu Beginn der Planungen wurde das Projekt kontrovers beurteilt: Zum einen betraf die Kritik das Volumen des Baukörpers im ansonsten eher kleinteiligen Quartier, zum anderen die städtebauliche Setzung und den Umgang mit dem öffentlichen Raum. Auch die Direktvergabe an das Büro Herzog & de Meuron und der Verzicht auf einen Studienwettbewerb wurden bemängelt. Tatsächlich sind der Bau und seine Geschichte weit ­vielschichtiger, als diese knappe Auslegeordnung vermuten lässt.

In architektonischer Hinsicht kann Entwarnung gegeben werden. Vor allem die lebendig wirkende Aluminiumfassade und die Verschiebung der drei Geschosse gegeneinander lassen den Koloss erstaunlich leicht wirken, fast scheint er auf dem Glassockel des Erdgeschosses zu schweben (vgl. «Virtuos und unverträglich», S. 76). Sowohl Fassade als auch Tragwerk suggerieren ein Idealbild: Die vielen Einzelteile der ­futuristischen Fassade sind zwar am Computer geplant, aber in Handarbeit hergestellt und montiert worden.

Und das Tragwerk baut eigentlich auf einem Quader auf, um den herum die formgebende Konstruktion erstellt ist (vgl. «Haute Couture», S. 82, und «Eingeschriebenes Tragwerk», S. 84).

Städtebaulich ist die Sache weniger klar: Darf ein öffentlicher Platz von einem privaten Unternehmen überbaut werden? Immerhin bildet der Messeplatz einen Knotenpunkt im öffentlichen Verkehr zwischen Grossbasel auf der linken Uferseite und Kleinbasel, der Gemeinde Riehen und dem Badischen Bahnhof auf der rechten. Zwar deutet die neue Bezeichnung «City ­Lounge» – ob gelungen oder nicht – die Hoffnung an, den Platz auch ausserhalb der Messezeiten zu beleben. Auch die Architekten hegen diesen Wunsch (vgl. Kasten unten). Tatsache ist aber, dass der Neubau die Sichtachse entlang der Clarastrasse durch eine Wand aus Aluminium unterbricht und das Gebiet in ein Basel vor und eines hinter der Messe teilt.

Eine städtebauliche Projektstudie hätte hier womöglich Klärung gebracht – vor allem angesichts der Tatsache, dass die Messe nun doch den Abriss und die Neuüberbauung des muba-Parkings plant. Das Parking soll ins UG verschoben werden, oberirdisch sind Wohnungen und ein Hotel angedacht. Pikant: Im Vorfeld der Planungen für die jetzige Halle 1 stand der Abriss des Parkings inklusive eines Ersatzbaus entlang der Riehenstrasse als stadtverträgliche Alternative zum heutigen Neubau bereits zur Debatte. Damals wehrte sich die MCH Group aus Kostengründen vehement gegen dieses Ansinnen. Fünf Jahre später, nach Fertigstellung des Prestigebaus der Halle 1, beauftragte sie die drei Basler Büros Herzog & de Meuron, Buchner Bründler und Morger   Dettli mit der Testplanung. Bis zum Sommer 2013 sollten Ergebnisse vorliegen, bisher drang allerdings noch kein Entscheid an die Öffentlichkeit.

Was bringt die Messe der Stadt?

Die Entwicklung des Standorts ist noch nicht abgeschlossen. Daher stellt sich weniger die Frage nach der Qualität der Architektur als die nach dem Grund dieser Funktion an diesem Ort: Ergibt ein Messeplatz von dieser Grösse überhaupt Sinn mitten in einer Stadt?

Den Grundsatzentscheid dazu fällten die Baslerinnen und Basler bereits 1993, als sie die Verlegung der Hallen an den Flughafen ablehnten. Auch beim konkreten Projekt, das 2008 zur Abstimmung kam, stimmten rund zwei Drittel der Stimm­bürger für einen Ausbau – verständlich, führt man sich die Wertschöpfung der Messe, die für das Baselbiet mit jährlich 210 Millionen Franken beziffert wird, die über 70 Millionen Franken an Steuereinnahmen für die beiden Basler Kantone und die mit der Messe verknüpften 2500 Arbeitsplätze vor Augen.

Angesichts dieser Bedeutung sollte bei der Planung keine Salamitaktik zum Zug kommen. Stattdessen müsste eine sorgfältige Entwicklung nicht nur möglich, sondern selbstverständlich sein. Dazu kommt, dass die «Messe in der Stadt» von Stadt und Unternehmen aktiv vermarktet und als Alleinstellungsmerkmal gefördert wird. Umso mehr müsste den Beteiligten daran gelegen sein, dass das benachbarte Quartier mit seinen städtischen Qualitäten erhalten bleibt und nicht irgendwann die «Messe in einem Rest von Stadt» steht.

TEC21, Fr., 2014.01.17



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TEC21 2014|03-04 Neubau Messe Basel

27. September 2013Tina Cieslik
Claudia Carle
TEC21

«Hauptziel ist das Wohlbefinden der Bewohner»

Vor fast 40 Jahren schlossen sich in der Schweiz die ersten Baubiologen zu einem Verband zusammen, der mittlerweile 800 Mitglieder hat. Trotzdem wird bis heute nur ein Bruchteil aller Neu- und Umbauten nach baubiologischen Grundsätzen ausgeführt. Im Gespräch mit TEC21 orten drei Baubiologen unterschiedlicher Generationen unter anderem mangelndes Wissen über baubiologisches Bauen bei Architekten und Bauherrschaften als eine Ursache dafür. Sie erläutern, was man durch das Beiziehen eines Baubiologen gewinnt und welche Funktion er im Bauprozess wahrnehmen kann.

Vor fast 40 Jahren schlossen sich in der Schweiz die ersten Baubiologen zu einem Verband zusammen, der mittlerweile 800 Mitglieder hat. Trotzdem wird bis heute nur ein Bruchteil aller Neu- und Umbauten nach baubiologischen Grundsätzen ausgeführt. Im Gespräch mit TEC21 orten drei Baubiologen unterschiedlicher Generationen unter anderem mangelndes Wissen über baubiologisches Bauen bei Architekten und Bauherrschaften als eine Ursache dafür. Sie erläutern, was man durch das Beiziehen eines Baubiologen gewinnt und welche Funktion er im Bauprozess wahrnehmen kann.

TEC21: Wann werden Sie als Baubiologen in der Regel zu einem Projekt beigezogen?

Bosco Büeler (B. B.): Das ist sehr unterschiedlich. Die Bandbreite reicht von kurzen Beratungen, in denen Bauherren spezifische Fragen stellen, über eine Basisberatung zu Beginn der Planung bis hin zur Begleitung oder Planung des ganzen Projekts. Letzteres ist natürlich am umfassendsten und daher am schönsten. Neben Bauherrschaften beraten wir auch Architekten.

TEC21: Haben Baubiologen dann die Rolle eines weiteren Fachplaners?

Jörg Watter (J. W.): Baubiologen sind nach meinem Verständnis «Gesamtbetrachter», die Aspekte aus verschiedenen Fachrichtungen zu einem neuen, nachhaltigen Ganzen zusammenführen. Bei der Materialwahl können sie z. B. abschätzen, wie diese den Feuchtehaushalt, die Wärmespeicherung oder den Geruch beeinflusst, oder sie beraten bezüglich elektrobiologischer Aspekte. Das Problem der verschiedenen Fachplaner ist häufig, dass sie in ihrem Bereich zwar sehr gut sind, aber kaum disziplinenübergreifend zusammenarbeiten können, weil sie nicht die gleiche Sprache sprechen. Diese unterschiedlichen Werke zu einem zusammenzufügen und zu gewichten ist eine Qualität der Baubiologen. Das Hauptziel dabei ist das Wohlbefinden der Bewohner oder Nutzerinnen.

TEC21: Wie gehen Sie vor, wenn Sie ein Bauvorhaben von Anfang an begleiten?

J. W.: Das beginnt bei der Analyse des Grundstücks. Mit Hilfe von Sonnendiagrammen schaue ich zum Beispiel, wie man mit dem Gebäude passiv möglichst viel Sonnenenergie ernten kann bzw. wie man allenfalls Photovoltaik- oder Solarthermiemodule platzieren müsste. Natürlich schaue ich das Grundstück auch hinsichtlich der Wasseradern oder Erdverwerfungen1 an.

B. B.: Wenn ich mit Menschen zu tun habe, die das für Humbug halten, kann ich das auch problemlos akzeptieren. Dann lasse ich diese Untersuchungen einfach weg. Ich habe aber das Gefühl, dass die Leute in den vergangenen Jahren offener geworden sind gegenüber diesen Aspekten. Nathalie Frey (N. F.): Das hängt auch mit der eigenen Vorstellung vom Menschen zusammen: ob man nur an das glaubt, was man messen kann, oder daran, dass der Mensch grundsätzlich ein sensibleres Messgerät ist als alle technischen Instrumente.

TEC21: Welche Aspekte sind beim Gebäude selbst aus baubiologischer Sicht wichtig?

J. W.: In der Projektentwicklung beginne ich im Innern bei den Oberflächen, frage die Bauherrschaft, was sie in den verschiedenen Räumen am Boden bzw. an den Wänden und Decken spüren und sehen möchte. Meine Aufgabe ist es dann, die dahinterliegende Konstruktion mit den passenden Materialaufbauten zu entwickeln. Als Baubiologen arbeiten wir vorwiegend mit natürlichen, schadstofffreien und umweltfreundlichen Materialien.

N. F.: Unser Ziel ist, dass alle Sinne vom Raum genährt werden. Ob ich mich in einem Raum wohlfühle, hängt nicht nur mit der Form des Raums zusammen, sondern eben auch mit der Materialität, der Oberflächenstruktur, der Farbe, dem Lichteinfall, der Akustik und dem Raumklima. Ein weiterer Aspekt sind Störfaktoren wie Elektrosmog, die wir weitestgehend zu verhindern, zu reduzieren oder abzuschirmen versuchen (vgl. «Wohnraum für Umweltkranke» S. 25).

TEC21: Sie sprachen den Einsatz möglichst schadstofffreier Materialien an. Was bedeutet das bei einem Umbau? Welche Beurteilungskriterien ziehen Sie dafür heran?

J. W.: Bestehende Bauten werden mit Messungen vor Ort sorgfältig auf allfällige Schadstoffe überprüft und vorhandene Materialien bei Verdacht im Labor analysiert. So kann entschieden werden, was rückgebaut oder ersetzt werden muss.

TEC21: Welche Beurteilungskriterien ziehen Sie dafür heran?

J. W.: Das Problem ist, dass es für Wohnräume – anders als für den Bürobereich – nur wenige gesetzlich festgelegte Schadstoffgrenzwerte gibt, deren Einhaltung man einfordern könnte.

B. B.: Das Umweltschutzgesetz in der Schweiz geht nur bis zur Haustürschwelle. Eine entsprechende Ergänzung beim Chemikaliengesetz lag im Jahr 2000 auf dem Tisch, ist aber vom Parlament abgelehnt worden. Wir arbeiten daher mit den wissenschaftlich anerkannten Richtwerten des Standards baubiologischer Messtechnik SBM.2 Das sind hauptsächlich Erfahrungswerte aus Tausenden von Untersuchungen, aus denen man schliessen kann, ab welchen Werten bei den Bewohnern gesundheitliche Probleme auftreten können. Wobei eigentlich immer eine Kombination verschiedener Faktoren die Probleme verursacht – Schadstoffe, Elektrosmog, eine falsche Raumgestaltung und vielleicht noch persönliche Probleme. Und dann redet man manchmal über den letzten Tropfen, der das Glas zum Überlaufen bringt, und ist nicht bereit, auch über den Rest, der das Glas gefüllt hat, zu reden.

J. W.: Mit den Leuten, die auf Substanzen im Gebäude mit gesundheitlichen Beschwerden reagieren, haben vor allem die Messtechniker in unserem Verein zu tun. In meinem beruflichen Alltag als Architekt steht das nicht so im Vordergrund. Da geht es um die gesamte Nachhaltigkeitskette, zu der wir wertvolle Beiträge liefern können, beispielsweise durch den Einsatz lokaler Materialien mit niedriger grauer Energie, die Förderung der lokalen Wirtschaft oder auch soziale Aspekte. Häufig würde eine kurze Beratung durch einen Baubiologen genügen, um auf mögliche Probleme hinzuweisen. Ich verstehe nicht, warum bei Architekten so eine Hemmschwelle besteht, einen Baubiologen beizuziehen. Ebenso fehlt auch bei vielen Nutzern noch das Bewusstsein, dass nicht nur die Ernährung für unsere Gesundheit wichtig ist, sondern auch der Ort, wo wir leben. Sie könnten einfach mal einen Baubiologen fragen, wenn sie ein gesundheitliches Problem haben.

TEC21: Würden Sie sich wünschen, dass die Baubiologie in der Architekturausbildung verstärkt behandelt wird, um diese Hemmschwelle abzubauen?

J. W.: Das ist für mich zwingend. Ich bin Dozent an der Fachhochschule Chur und führe dort jetzt zum zweiten Mal die Weiterbildung Baubiologie durch. Ich stelle zu Beginn jeweils ein grosses Wissensdefizit fest, dann aber Begeisterung, wenn die Studierenden sehen, dass Baubiologie mehr ist als ein bisschen Pendeln. Ich hoffe natürlich, dass Chur nicht die einzige Schweizer Fachhochschule bleibt, die das Thema ernst nimmt. Wir sind auch daran, mit verschiedenen Fachverbänden Gespräche zu führen, damit das Thema Baubiologie in die Ausbildung von Handwerkern aufgenommen wird.

TEC21: Hat der Planer als Generalist und als derjenige, der alle Fachplaner zusammenhält, vielleicht auch deshalb Mühe damit, einen Baubiologen beizuziehen, weil dann jemand in alle Bereiche reinredet?

B. B.: Das mag sein. Darum ist es auch sehr wichtig, dass man eine gewisse Offenheit hat und nicht belehren will.

N. F.: Man muss ja auch nicht kompromisslos baubiologisch bauen, sondern kann Schwerpunkte setzen. Wir müssen offen sein, das Ganze nicht zu fundamental zu betreiben.

B. B.: Der Dogmatismus, den du ansprichst, Nathalie, hat uns in den ersten Jahren ganz viel Goodwill kaputt gemacht. Die jüngere Generation der Baubiologen aber bringt diesen Pragmatismus mit.

TEC21: Der Minergie-Eco-Standard enthält einige baubiologische Aspekte. Müssen baubiologische Kriterien noch stärker in solche Standards einfliessen?

J. W.: Ich bin sehr froh, dass es Minergie-Eco gibt. Das ist sicher ein Schritt in die richtige Richtung, aber man könnte Minergie-Eco noch weiterentwickeln. Eine Gefahr bei Minergie sehe ich, wenn diese Vorgaben ins Baugesetz aufgenommen werden. Lüftungsanlagen sind toll, wenn ich an einer lauten Strasse wohne, aber sie sind nicht an jedem Ort der richtige Weg.

B. B.: Man darf das Ziel – eine gute Luftqualität im Innenraum – nicht mit den Massnahmen zur Erreichung dieses Ziels verwechseln. Letztere müssen frei wählbar bleiben.

TEC21: Verteuert eine baubiologische Umsetzung ein Projekt?

B. B.: Nach meiner Erfahrung muss man bei einem Kleinbau mit ca. 5 % Mehrkosten rechnen.

J. W.: Da spielen zwei Aspekte eine Rolle. Vom Quadratmeterpreis her ist ein Naturbaustoff um 5 bis 10 % teurer als ein petrochemisches Produkt, wobei sich die Preise heute zum Teil immer mehr annähern. Vom Montageaufwand her gibt es praktisch keinen Unterschied.

B. B.: Das ist auch eine Frage der Menge. Bei einem Grossprojekt, das ich begleite, war der Kork dank der grossen Menge am Schluss günstiger als die aus baubiologischer Sicht nicht empfehlenswerte Steinwolle.

J. W.: Der zweite Aspekt ist die Betrachtung des gesamten Lebenszyklus, wo Themen wie graue Energie oder Renovierbarkeit ins Spiel kommen und baubiologisches Bauen besser abschneidet. Einen Massivholzboden kann ich nach 20 Jahren schleifen und wieder ölen, dann sieht der wieder perfekt aus. Laminat reisse ich nach 10 bis 15 Jahren raus.

TEC21: Welchen Anteil hat baubiologisches Bauen derzeit nach Ihrer Einschätzung?

J. W.: Ich schätze, wir sind bei 1 bis 2 %. Davon ist der grösste Teil Einfamilienhäuser oder Wohnungen (vgl. Abb. 01). Bei grösseren Gebäuden stellen wir aber seit Neuestem einen Anstieg der Nachfrage fest. Auch die öffentliche Hand greift vermehrt auf Baubiologen zurück, zum Beispiel bei Schulhausbauten (vgl. Abb. 03 – 05).

TEC21: Wo sehen Sie die künftigen Arbeitsschwerpunkte Ihres Verbands?

J. W.: Als ich vor fünf Jahren das Präsidium übernahm, hatten wir keine professionellen Strukturen. Mittlerweile haben wir immerhin die Fachstelle. Wir werden unsere Angebote weiter ausbauen, mit Verbänden zusammenarbeiten und die Qualität der Ausbildung stetig verbessern. Mir geht es darum, die Begeisterung für die Baubiologie nach aussen zu tragen und die Qualität baubiologischen Bauens zu zeigen. Wenn die Leute in den Raum kommen und sagen: «Da fühle ich mich wohl», ist das für mich ein grösseres Kompliment als jedes Label.

TEC21, Fr., 2013.09.27



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TEC21 2013|40 Baubiologie

28. Februar 2013Tina Cieslik
db

Zeitgemässer Bäderwechsel

Ein Bad im Wandel: Nach 100 Jahren als Wannen- und Duschbad für die einfachen Leute des Quartiers, eröffnete 2012 die zum Hamam umgebaute Bäderabteilung des Volkshauses in Zürich. Die neue Gestaltung vereint Unverwechselbarkeit mit einer dem Ort angemessenen Robustheit.

Ein Bad im Wandel: Nach 100 Jahren als Wannen- und Duschbad für die einfachen Leute des Quartiers, eröffnete 2012 die zum Hamam umgebaute Bäderabteilung des Volkshauses in Zürich. Die neue Gestaltung vereint Unverwechselbarkeit mit einer dem Ort angemessenen Robustheit.

1906 fand in Zürich eine Volksabstimmung statt: Zur Debatte stand neben dem Bau des Kunsthauses am reichen Zürichberg auch die Realisierung eines Volkshauses im Arbeiterviertel Aussersihl. Die Vorlage wurde angenommen, die Einweihung des Volkshauses erfolgte am 18. Dezember 1910. Der Bau von Johann Rudolf Streiff und Gottfried Schindler im Schweizer-Heimatschutz-Stil bündelte eine Reihe von Funktionen: ein alkoholfreies Restaurant, Bibliotheken, Büros, Veranstaltungssäle und eine öffentliche Bäderabteilung.

Bei den Bewohnern des Quartiers war das Volkshaus v. a. wegen des Bads im UG beliebt, da zu dieser Zeit kaum eine Wohnung des Viertels mit fließend Wasser ausgestattet war. Mit dem Bau konnte das wöchentliche Bad nun in einer der 29 Badewannen oder der 20 Duschen vorgenommen werden – strikt nach Geschlechtern getrennt und zu moderaten Preisen. Mit durchschnittlich 450 Besuchern pro Tag lief der Betrieb anfänglich so gut, dass sich damit die übrigen Aktivitäten des Volkshauses quersubventionieren ließen.

Mit der Ausstattung der Wohnungen mit Nasszellen begann der Niedergang der Bäderabteilung. In den 60er Jahren betrugen die Besucherzahlen nur noch ein Drittel der Anfangszeit, sodass 1968 der Teilumbau zur finnischen Sauna erfolgte.

Mit dem 2001 vom Züricher Stadtrat bewilligten Programm zur Aufwertung Aussersihls veränderte sich die Bevölkerungsstruktur: Statt Gastarbeitern und Rotlichtmilieu zogen Studenten und junge Familien in das Viertel. 2008 wurde das Restaurant im denkmalgeschützten Volkshaus umgebaut und auch für die Bäderabteilung fand sich eine Lösung: Der Züricher Architekt Tobias Rihs, Betreiber des Seebads Enge am Zürichsee, mietete sich 2010 im UG ein und ließ es zu einem türkischen Dampfbad umbauen – einem der ersten der Stadt.

Spielerisch und erdenschwer

Den rund 3,5 Mio. CHF (ca. 2,8 Mio. Euro) teuren Umbau realisierte das Züricher Büro Felder Architektur. Es schuf die zeitgemäße Interpretation eines klassisch türkischen Dampfbads. Dieser Badetyp – als Weiterentwicklung des im Byzantinischen Reich verbreiteten griechisch-römischen Bads – ist für die Ganzkörperreinigung gedacht, bedient sich jedoch keiner Badebecken, sondern Dampfkammern und fließenden Wassers – bedingt durch den in der Region herrschenden Wassermangel.

Über die bestehende Erschließung innerhalb des Volkshauses führt der Weg in das 450 m² große Bad zur Eingangszone mit Kasse. In der angrenzenden Garderobe entledigen sich die Besucher ihrer Kleidung und wickeln sich in ein Leinentuch, das Pestemal, das nur für die eigentliche Reinigung kurz abgenommen wird. Der weiterführende Raum erschließt zwei Behandlungsräume für Beauty-Anwendungen, den Ruhebereich und den Nassbereich. In ihm empfängt die Besucher zunächst ein Trinkbrunnen, dann öffnet sich der zentrale Raum mit einem amorphen 7,5 x 3 m großen kniehohen beheizten Podest in der Mitte. Um diesen »Nabelstein« sind das Dampfbad (zur Öffnung der Poren) sowie Nischen mit Waschstellen (für Peelings) und Liegen (für Massagen) angeordnet.

Ein Spiel zwischen Intimität und Öffentlichkeit inszenieren die an Maschrabiyya (dekorative arabische Holzgitter) erinnernden Beton-Gitterwerke, die die Reinigungsnischen vom Hauptraum abschirmen. Wie Schleier aus Beton zeigen und verstecken die Elemente gleichzeitig, was sich in ihrem Schutz abspielt. Die Massivität des Materials – geschliffen wie bei Brunnen und Nabelstein oder roh wie bei den Elementen der Gitter – passt in die unterirdischen Räume, ihre Robustheit erinnert an den Massenbetrieb der ehemaligen Bäderabteilung. Gleichzeitig lässt sie eine edle Form des Alterns zu: Die Oberflächen zeigen Spuren, keine Mängel.

Die Setzung der bis zu 2,25 m langen Gitterelemente erinnert an einen Blockbau: Die wogenden Wellenberge und -täler bestehen aus 250 Einzelteilen aus über 90 verschiedenen Typen. Verbunden sind die einzelnen Schichten mit Montagekleber. Holzregale, auf denen kleine Gegenstände abgelegt werden können, sind zwischen den Betonelementen durchgeschoben und von hinten verkeilt. Für Licht im Hauptraum sorgen überraschend formschöne Leuchten aus dem Untertagebau, die einen zusammen mit Schläuchen und Hebeln von Duschen und Armaturen im Bauch eines Schiffs wähnen lassen.

Die sorgfältige Gestaltung der Installationen und Becken offenbart die Freude der Architekten am Umgang mit dem Thema Wasser: Alle Wasserleitungen sind offen verlegt, die Armaturen stammen teils aus dem Gartenbau. Mischbatterien gibt es keine, stattdessen wird die Herstellung der passenden Wassertemperatur zur manuellen Fertigkeit. Waschbecken aus Keramik bedienen den Spieltrieb: So fließt das über einen Kippstöpsel abgelassene Wasser durch ein Rohr in der beheizten Sitzbank und, statt spurlos zu verschwinden, ergießt es sich zu Füßen des Besuchers.

Eine finnische Sauna mit Tauchbecken ergänzt die Nutzungen des Nassbereichs – eine Reverenz an die Vergangenheit und ein Zugeständnis an die Rentabilität. Nach einer Pause auf dem Nabelstein wechseln die Besucher in den Ruhebereich, um den Kreislauf mittels Getränken und kleinen Mahlzeiten wieder in Schwung zu bringen. Während im Nassbereich mineralische Materialien vorherrschen, zeichnen sich Behandlungsräume und Ruhezonen durch wertige Holzeinbauten aus. Die wie Perlmutt schimmernde Sisaltapete im Bereich der Ruheliegen reflektiert das Licht; dimmbare Leseleuchten laden zum stundenlangen Verweilen ein.

Die im gesamten Bad platzierte Kunst, darunter eine Wandmalerei von Eric Schumacher und eine Plattenarbeit von Noël Fischer, sorgt dafür, dass neben dem Leib auch Auge und Geist belebt werden.

Feuchtigkeit innen und aussen

Um den neuen Grundriss unterzubringen, bedurfte es keinerlei Eingriffe am bestehenden Tragwerk. Der Einbau der Gebäudetechnik hingegen war aufwendig: Das marode Entwässerungssystem wurde ersetzt und das Hamam mit einer neuen Lüftung ausgestattet. Heizungs-, Elektro- und Sanitärinstallationen konnten dagegen an die bestehenden Leitungen des Volkshauses angedockt werden. Eine 12 cm Innendämmung aus Schaumglas verhindert, dass Feuchtigkeit aus dem Erdreich ins Gebäude dringt – Messungen ergaben, dass nicht etwa die Feuchtigkeit im Innern zum Problem für die bis zu 1 m dicken Mauern aus Stampfbeton werden könnte, sondern eindringendes Grundwasser. Zudem wird die Luftfeuchtigkeit von 45 % kontinuierlich überwacht, um die originale Rippendecke mit ihrer minimalen Betonüberdeckung nicht zu gefährden.

100 Jahre nach Eröffnung des Volkshauses sind auch in Zürich Aussersihl die Arbeiter den Szenegängern gewichen – statt 20 Minuten Duschen ist heute stundenlanges Schwitzen gefragt. Die Architekten reagierten mit einer Gestaltung, die zum Ort und seiner Geschichte passt und dem Bad ein unverwechselbares Gesicht gibt: Die Raumaufteilung orientiert sich an der eines traditionellen Hamams, die Materialien sind robust und in ihrer Ausführung gleichzeitig edel, die Details oft überraschend. Ob dem Hamam eine ähnliche Entwicklung bevorsteht wie der Bäderabteilung? 15 Monate nach seiner Eröffnung läuft der Betrieb gut. Und auch, wenn das Bad heute von deutlich weniger Menschen frequentiert wird als die Bäderabteilung von 1910, dürfte die Anpassung des Eintrittspreises doch für vergleichbaren Umsatz sorgen.

db, Do., 2013.02.28



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db 2013|03 Im Bade

11. Januar 2013Tina Cieslik
TEC21

Maritimes Firmament

2007 beauftragten die Vereinten Nationen Spanien mit dem Umbau des Plenarsaals XX im Palais des Nations in Genf. Neben den architektonischen und technischen Neuerungen gehörte zum Bauprojekt auch ein Kunstwerk, den Auftrag dafür erhielt der mallorquinische Künstler Miquel Barceló. Er schuf ein dreidimensionales Deckengemälde in der Kuppel des Saals, dessen universell verständliche Motive eine maritime Höhle evozieren. Die Symbolik der Höhle als Versammlungsort und des Ozeans als sich kontinuierlich wandelndes Element bildet mit der von Barceló angewandten Technik des Farbauftrags eine formale Einheit: Er nutzte die Schwerkraft, um die Farbe in den Saal hineinwachsen zu lassen.

2007 beauftragten die Vereinten Nationen Spanien mit dem Umbau des Plenarsaals XX im Palais des Nations in Genf. Neben den architektonischen und technischen Neuerungen gehörte zum Bauprojekt auch ein Kunstwerk, den Auftrag dafür erhielt der mallorquinische Künstler Miquel Barceló. Er schuf ein dreidimensionales Deckengemälde in der Kuppel des Saals, dessen universell verständliche Motive eine maritime Höhle evozieren. Die Symbolik der Höhle als Versammlungsort und des Ozeans als sich kontinuierlich wandelndes Element bildet mit der von Barceló angewandten Technik des Farbauftrags eine formale Einheit: Er nutzte die Schwerkraft, um die Farbe in den Saal hineinwachsen zu lassen.

Der Palais des Nations in Genf ist nach dem Hauptquartier in New York der zweitwichtigste Sitz der Vereinten Nationen. Die Inneneinrichtung und die Kunstwerke sind zu einem grossen Teil von den Mitgliedsländern gespendet. Dabei übernimmt jeweils eine Nation für einen Raum eine Art Patenschaft und ist in der Folge für dessen Ausstattung zuständig. Während das Gebäude mit seiner neoklassizistischen Fassade von aussen streng und schlicht wirkt (zur Baugeschichte vgl. Kasten S. 18), spiegelt das Innere die Vielfalt der aktuell 193 Mitgliedsländer wider.

Bei einem Besuch des spanischen Königspaars im Jahr 2005 entstand die Idee, die Kuppel des 1200 m² grossen Plenarsaals XX (die Konferenzsäle sind durchnummeriert) im Gebäudeteil E, in dem dreimal jährlich der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen tagt[1], mit einem Kunstwerk aufzuwerten. Das von italienischen Sportwagen inspirierte Mobiliar des auch als «Salle Suisse» bekannten Raums – der Name geht auf eine 4-Millionen-Franken-Spende der Eidgenossenschaft von 1970 zurück – stammte von der französischen Architektin Charlotte Perriand und entsprach dem damaligen Standard der New Yorker Konferenzsäle. Während die Planungen für das Kunstwerk vorangingen, entschlossen sich die Vereinten Nationen, den Saal zusätzlich einer Totalrenovierung zu unterziehen. Den Auftrag für die Erneuerung von technischer Ausstattung, Klimatisierung und Innenaustattung erhielt 2007 mit Bouquin Stencek jenes Genfer Ingenieurbüro, das bereits für die Erstellung des Gebäudes Anfang der 1970er-Jahre zuständig gewesen war. Für die Architektur zeichnetet das Architekturbüro Spitsas & Zanghi aus Carouge sowie der Mallorquiner Architekt Antoní Esteva verantwortlich. Für das Kunstwerk hielt die als Bauherrschaft fungierende Stiftung ONUART einen eingeladenen Wettbewerb unter vier spanischen Künstlern ab.

Kunst mit Witz und Lebensfreude

Den Wettbewerb konnte Miquel Barceló (Kasten S. 18) für sich entscheiden. Barceló hat einen ursprünglichen Zugang zur Kunst, seine Werke zeichnen sich durch eine Vorliebe für die Elemente Wasser, Feuer und Erde und durch die Verwendung von Naturmotiven wie Pflanzen, Wellen oder Höhlen aus. Er arbeitet oft mit Keramik und natürlichen Pigmenten und schafft Gemälde, Skulpturen und räumliche Interventionen. Im März 2007, zur gleichen Zeit, als Barceló mit der Gestaltung des Saals beauftragt wurde, wurde eines seiner kontroversesten Werke eingeweiht, eine 300 m² grosse, in einer Mischtechnik aus Keramik und Malerei realisierte Arbeit in der Kathedrale von Palma de Mallorca. Sie stellt die biblische Geschichte der Speisung der Fünftausend auf der Hochzeit zu Kana dar und löste wegen der sinnlichen, überschäumenden Darstellung von Fischen, Amphoren, Gischt, Brotlaiben und Schädeln und der Auftragserteilung an den Atheisten Barceló sowohl Begeisterung als auch Empörung aus.

Universelles Palaver

Auch bei der Gestaltung des Plenarsaals arbeitete Barceló mit Motiven aus der Natur: Für den Raum, «vergleichbar mit dem Inneren einer Muschel, aber so gross wie eine Stierkampfarena»[2], entwarf er in der Kuppel ein Deckenrelief in Form einer maritimen Höhle. Barceló versteht die Höhle als Ort der Versammlung, als Sinnbild für die Agora oder den grossen afrikanischen Affenbrotbaum, unter dem man sich zum Palaver trifft. Sie steht für den Dialog der verschiedenen Kulturen, mit Bildern, die allen Kulturen vertraut sind – Stalaktiten, Brandungswellen, Gischt und weisse Schaumkronen. Den Plan, die raumüberspannende Kuppel als Ort für eine künstlerische Intervention zu nutzen, fasste bereits Anfang der 1970er-Jahre beim Bau des Saals der russisch-französische Maler Marc Chagall (1887–1985). Wegen der schleppenden Projektierung und des fortgeschrittenen Alters des Künstlers – er war damals schon 86-jährig – gelangte er aber nie zur Realisierung.

Die Idee für den Ozean aus Farben sei ihm in der Wüste gekommen, erklärte Barceló bei der Eröffnung des Saals im November 2008: «Es war an einem heissen Tag, mitten in der Sahelwüste. Ich erinnere mich lebhaft an eine Fata Morgana: das Bild einer Welt, die dem Himmel entgegentropft.»[3] Dieses Motiv passt gut zu zwei für den Künstler typischen Techniken: Er nutzt die Schwerkraft als Maltechnik und arbeitet mit Volumen an der Schnittstelle zwischen Malerei und Skulptur.

Gegen die Schwerkraft anmalen

Die Umsetzung begann im Mai 2007. Nachdem die Innenausstattung des Saals entfernt war, liefen die Vorbereitungsarbeiten am Tragwerk an. Da die ursprüngliche Deckenkonstruktion Kuppel (Durchmesser 37 m) die Lasten des Kunstwerks nicht tragen konnte, entfernten die Arbeiter zunächst die bestehende Decke, verstärkten die Kuppel mit einer Stahlkonstruktion und erstellten eine neue Decke aus 737 hochfesten Aluminiumwabenkernplatten, die auch im Flugzeugbau eingesetzt werden. Anschliessend bauten sie eine Plattform unter der Kuppel, die es dem Künstler und seiner 16- bis 21-köpfigen Equipe – Restauratoren und Kunststudenten aus Kolumbien, Spanien, Frankreich und der Schweiz unter der Leitung von Eudald Guillamet, einem Experten für die Restauration von Höhlenmalereien – erlaubten, näher an der Kuppel zu arbeiten. Im September 2007 startete die Arbeit am eigentlichen Werk. Dafür wurde die Unterkonstruktion zunächst mit einer Polyamidfolie ausgekleidet, auf die in zwei Schichten eine weisse Grundierung aufgetragen wurde – die «Leinwand für das Gemälde» (Abb. 03). Dann begannen die Arbeiten an den Wellen, den Höhlenformen und den Stalaktiten. Für die Wellen und Höhlen konnten die gleichen Platten wie für die Unterkonstruktion verwendet werden. Bei den Stalaktiten war es schwieriger: Um das Material mit der optimalen Konsistenz zu finden, arbeitete Barceló mit mehreren Materiallabors zusammen. Es dauerte bis Februar 2008, bis die richtige Epoxidharzmischung gefunden war, um Stalaktiten in verschiedenen Grössen formen zu können. Die Mischung enthielt neben Epoxidharz verschiedene Mikrosilikate und Polyäthylenfasern. Insgesamt brachten die Arbeiter rund 6000 kg an Material – verformte Aluminiumwabenkernplatten für die Höhlen und Wellen, Epoxidharz für die Stalaktiten – an der Decke an. Aus Sicherheitsgründen verschraubten sie die grösseren der ausgehärteten Stalaktiten zusätzlich mit der Unterkonstruktion.

Etwa gleichzeitig wurde bekannt, dass Spanien zur Finanzierung des 6.5 Millionen Euro teuren Kunstwerks rund 500 000 Euro aus seinem Entwicklungshilfefonds zweckentfremdet hatte. Wegen der Probleme mit dem Material und der kontroversen Finanzierung stand das Projekt mehrfach kurz vor dem Scheitern.

Material und Farben aus der ganzen Welt

Die Stalaktiten wurden hauptsächlich von Hand geformt, es kamen aber auch unkonventionelle Werkzeuge wie ein Gasdruckmarkierer aus dem Paintball-Sport zum Einsatz, mit dem der Künstler Portionen von Epoxidharz an die Decke schoss, die sich durch die Schwerkraft selber zu Stalaktiten formten (Abb. 06, Phase 1). Um das Material zu härten, erhielt es eine Beschichtung aus Chromoxid (Abb. 06, Phase 2), anschliessend musste die Decke mehrere Wochen lang trocknen und aushärten. Anfang Mai 2008 begann die Arbeit mit der Farbe, insgesamt 8000 kg. Barceló wählte dafür verschiedene Pigmente aus der ganzen Welt, darunter Titanweiss, Elfenbeinschwarz, Titanorange, Bristolgelb, Wismutgelb, Nickeltitangelb, Ultramarinblau, Ultramarinblau hell, Kobaltviolett, Melser Grau und Cyprische Grüne Erde. Die Pigmente mischte er mit Polyvinylacetat, Mikrosilikaten, Zellulosefasern und Wasser, der Farbauftrag erfolgte mithilfe von Spraywerkzeugen und von mit Farbe getränkten Besen.

Nachdem diese ersten, sehr bunten Farbschichten (Abb. 06, Phase 3   4) getrocknet waren, brachte Barceló eine zweite Farbschicht auf. Im Gegensatz zur ersten Lage bestand die zweite aus wenigen Farbtönen in Grau, Blau und Grün. Diese von ihm «Mondfarbe» genannte Farben stammten aus Deutschland, Frankreich und den Niederlanden. Sie wurden in einem Werk in Lausanne vorgemischt und dann in 1000-Liter-Behältern auf das Dach des Gebäudes transportiert. Im Unterschied zum vorherigen Farbauftrag, der aussieht, als sei eine Farbbombe explodiert, wurde die graublaugrüne Schicht nur aus einer Richtung auf die Kuppel gesprüht. Dieser Farbauftrag von der Seite, ein Markenzeichen von Barceló, hat einen grossen Einfluss darauf, wie das Werk wahrgenommen wird: Nur eine Seite der Kuppel war der Deckschicht ausgesetzt, auf der anderen blieb die gesamte Farbpalette erhalten. Auf diese Weise hat die Kuppel zwei Gesichter, abhängig vom Standpunkt, an dem sich der Betrachter befindet. Auf den Auftrag der Deckschicht folgten die letzten Feinarbeiten von Hand. Mit einem Besen und weisser Farbe verlieh Barceló den Wellen Schaumkronen, er wollte die Brandung, die Bewegung und die Gischt in einer Höhle am Meer zeigen. Nach 13 Monaten waren die Arbeiten an der Kuppel am 28. Mai 2008 abgeschlossen. Die inoffizielle Übergabe an die Vereinten Nationen folgte am 10. Juni. Am 18. November 2008 wurde der Plenarsaal, der heute «Saal der Menschenrechte und der Allianzen der Zivilisationen» heisst, offiziell eröffnet.

Vielfalt – oben und unten

Das Deckenrelief ist so gross, dass es von keinem Standpunkt aus möglich ist, es in seiner Gesamtheit zu erfassen. Man muss sich im Raum bewegen, verschiedene Standpunkte einnehmen – eine schöne Metapher für die Vielzahl an Meinungen und Hintergründen, die in den UN vertreten sind. Die Sinnlichkeit, die das Werk ausstrahlt und die vor allem auch in der fotografischen Dokumentation zu spüren ist – man meint die Farben zu riechen, die Schmatzgeräusche beim Auftrag zu hören –, steht in starkem Gegensatz zur eher nüchternen Arbeitsumgebung des ganzen Gebäudes und des restlichen Saals. Es scheint, als prallten zwei Welten aufeinander: die seriöse, standardisierte der Innenausstattung und des Mobiliars und die organische, ungezügelte des Kunstwerks. Die Welt in Beige und das bunte Universum sind nicht verbunden, bedingen sich aber gegenseitig: Zwar ist das Kunstwerk wild, die Brandung darf tosen, aber nur in dem Rahmen, der von der räumlichen Begrenzung der Kuppel vorgegeben ist. Diese Begrenzung nimmt dem Werk das unkontrolliert Wuchernde, das Unheimliche – ein passendes Bild für diesen Ort, an dem sich verschiedene Kulturen, Religionen und Nationalitäten treffen, um ihre Unterschiede hintan zu stellen und Gemeinsamkeiten zu finden.


Anmerkungen:
[01] Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen (1946–2006: Menschenrechtskommission) hat 47 Mitglieder (Afrika und Asien: jeweils 13 Sitze; Lateinamerika und Karibik: 8 Sitze; Osteuropa: 6 Sitze; Westeuropa und die anderen Staaten: 7 Sitze). Der Rat tritt dreimal pro Jahr für mehrere Wochen zusammen. Dabei wird jeder Staat alle vier Jahre einer «Universellen Menschenrechtsprüfung» (UPR) unterzogen. Der Menschenrechtsrat bewertet den Entwicklungsstand der Menschenrechte im geprüft en Staat und macht Verbesserungsvorschläge. Die nächste Session findet vom 25. Februar bis 22. März 2013 statt und kann via Webcast auf der Website der Vereinten Nationen verfolgt werden.
[02] ONUART Fundación (Hrsg.),«El mar de Barceló en la Sala de los Derechos Humanos y de la Alianza de Civilizaciones de la ONU en Ginebra», Peninsula, Barcelona 2008, S. 33.
[03] www.miquelbarcelo.com/documentos/Barcelo_125b1.pdf, Zugriff 25. September 2012.

TEC21, Fr., 2013.01.11



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TEC21 2013|03-04 Farbe als Material

24. August 2012Tina Cieslik
Andrea Wiegelmann
TEC21

Pflegekonzepte in Zürich und Dietikon

Der Anteil der über 80-Jährigen in unserer Gesellschaft steigt und mit ihm die Zahl der Personen, die in unterschiedlichen Formen Unterstützung und Pflege zur Bewältigung ihres Alltags benötigen. Die beiden Städte Zürich und Dietikon haben in den letzten Jahren ihr Angebot an Pflegeeinrichtungen analysiert und bestehende Pflegeheime instand gesetzt bzw. Neubauten errichtet. Auch wenn sich die Rahmenbedingungen unterscheiden – bei Besuchen des Pflegezentrums Bombach in Zürich Höngg und des Pflegeheims Ruggacker in Dietikon fällt auf, dass die Steigerung der Aufenthaltsqualität für Bewohner und Personal bei der Gestaltung der Häuser eine zentrale Rolle spielt.

Der Anteil der über 80-Jährigen in unserer Gesellschaft steigt und mit ihm die Zahl der Personen, die in unterschiedlichen Formen Unterstützung und Pflege zur Bewältigung ihres Alltags benötigen. Die beiden Städte Zürich und Dietikon haben in den letzten Jahren ihr Angebot an Pflegeeinrichtungen analysiert und bestehende Pflegeheime instand gesetzt bzw. Neubauten errichtet. Auch wenn sich die Rahmenbedingungen unterscheiden – bei Besuchen des Pflegezentrums Bombach in Zürich Höngg und des Pflegeheims Ruggacker in Dietikon fällt auf, dass die Steigerung der Aufenthaltsqualität für Bewohner und Personal bei der Gestaltung der Häuser eine zentrale Rolle spielt.

Weitläufige Eingangsbereiche, Blickbezüge in den Gebäuden und in die Umgebung, eine sorgfältige Detaillierung und Materialwahl zitieren in Zürich Höngg wie in Dietikon eher grosszügige Wohnanlagen denn Pflegeeinrichtungen. Es ist offensichtlich, dass sich der Anspruch an diese Häuser in den letzten Jahren gewandelt hat. Bewegungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten der Bewohnerinnen und Bewohner werden aktiv gefördert, die Selbstständigkeit jedes Einzelnen durch Therapien unterstützt. Die sogenannte Aktivierung, die Unterstützung und Förderung von Beweglichkeit und Aktivität, spielt eine zentrale Rolle. Auch das Leben auf den Abteilungen, mit Zimmernachbarn und Pflegern ist gestärkt. Statt Mehrbettzimmern bestimmen heute Ein- und Zweibettzimmer die Wohnetagen. Eigene Demenzabteilungen ergänzen das Programm. Beim Pflegezentrum Bombach in Zürich und beim Pflegeheim Ruggacker in Dietikon, beides Instandsetzungen, mussten bestehende Strukturen, entstanden aus Pflegekonzepten der 1960er-Jahre, an diesen Anforderungskatalog angepasst werden.

Während die Stadt Zürich für den Neubau wie die Instandsetzung ihrer Pflegeeinrichtungen einen Richtlinienkatalog[1], basierend aus den Erfahrungen mit den bestehenden Anlagen, erarbeitet hat, entwickelte Dietikon mithilfe externer Berater die erforderlichen Vorgaben für die Planung. Beide Städte reagieren damit auf die vorhandene Nachfrage, wenn auch die Voraussetzungen andere sind: Zürich möchte das Angebot an Pflegeeinrichtungen auf dem aktuellen Stand halten – der Anteil an über 80-Jährigen an der Gesamtbevölkerung wird nicht weiter steigen (vgl. Kasten S. 27) –, für Dietikon ist der Ausbau des Angebots auch Standortmarketing, da die Stadt in den nächsten Jahren von einer Zunahme der über 80-Jährigen ausgeht.

Grandezza in Bombach

Das Pflegezentrum Bombach, 1965 nach den Plänen der Architekten Josef Schütz und Hans von Meyenburg erbaut, liegt am Westrand von Zürich Höngg auf einer Geländeterrasse mit Aussicht über die Stadt. Über dem dreigeschossigen Sockel, auf zwei Untergeschosse folgt das freie Erdgeschoss, erhebt sich das siebenstöckige Bettenhaus, das mit einem zurückgesetzten Dachgeschoss abschliesst.

Den Besucher empfängt das instand gesetzte und im April 2012 wiedereröffnete Pflegezentrum mit einem grosszügigen offenen Erdgeschoss, das die parkartige Umgebung in das Gebäude hineinzieht. Das Nussbaumholz der Möbeleinbauten und die grossen Leuchten bestimmen den Raum. Die Offenheit, der Blick durch die geschosshohe Verglasung, die Kombination von warmen Holztönen und Steinböden entsprechen nicht im mindesten den Bildern, die beim Stichwort «Pflegeheim» im Kopf entstehen. Das verantwortliche Zürcher Büro Niedermann Sigg Schwendener nutzte die Möglichkeiten der Tragstruktur und schuf grosszügige, helle Räume.

Im Zuge der Instandsetzung wurde das Gebäude weitestgehend entkernt. Für die Anpassung der Grundrisse waren die Vorgaben des «Masterplans Bauten»[2] der Pflegezentren der Stadt Zürich ausschlaggebend. Darin enthalten sind Empfehlungen wie etwa die Zuordnung der Nasszellen zu den Zimmern oder die Anordnung von Aufenthaltsbereichen in jeder Abteilung. In Bombach sind eine Pflegeabteilung für Personen mit Sehbehinderung – erstmalig bei den Stadtzürcher Pflegezentren –, zwei Demenzabteilungen sowie eine Abteilung für geistig aktive (kognitiv intakte) Menschen integriert. Damit bietet das Pflegezentrum seinen Bewohnerinnen und Bewohnern eine auf die individuellen Bedürfnisse abgestimmte Pflege und zudem ein umfassendes Therapieprogramm. Ein Tageszentrum, das «Stöckli», nimmt demenzkranke Bewohnerinnen und Bewohner tageweise auf. Voraussichtlich 2016 wird ein separates Haus für Demenzpatienten die Anlage ergänzen.

Für diesen Anforderungskatalog mussten die Nutzungen im Erd- und Untergeschoss neu organisiert werden. Die Eingangshalle ist als Zentrum der Anlage gestärkt und beherbergt nun neben dem Empfangs- und Aufenthaltsbereich auch die Cafeteria. Die Untergeschosse nehmen den erweiterten Therapiebereich auf, ebenso die Küche, den Personal- und den Andachtsbereich. In den sieben Obergeschossen sind durch die Neuorganisation der Grundrisse Aufenthalts- und Essbereiche entstanden. Durch integrierte Wohnküchen kann den Bewohnern nun ein Frühstücksbuffet angeboten werden. Die Möglichkeit, mit den Nachbarn auf der Etage zu frühstücken, wird, so der Leiter des Pflegezentrums, Erwin Zehnder, sehr gut angenommen. Das gemeinsame Essen auf den Geschossen bekommt einen beinahe familiären Charakter, unterstützt durch die Tatsache, dass das Pflegepersonal in der Regel immer auf denselben Abteilungen arbeitet:

Auch bei der Gestaltung der Zimmer stand der Anspruch im Vordergrund, eine persönliche, wohnliche Atmosphäre zu schaffen. Die ehemaligen Mehrbettzimmer sind in Ein- und Zweibettzimmer mit direkt zugeordneten Nassräumen umgewandelt. Die Ausstattung ist zurückhaltend genug, um den persönlichen Möbeln und Einrichtungsobjekten der Bewohnerinnen und Bewohner Raum zu geben. Sie haben deutlich mehr Privatsphäre als zuvor. Grosszügige Panoramafenster bieten auch aus dem Bett Aussicht ins Tal. Schmale Lüftungsflügel versorgen die Zimmer mit Frischluft und helfen, in Kombination mit der Komfortlüftung, den typischen Krankenhausgeruch zu vermeiden. Auf den Fluren zitieren die Kunststeineinfassungen der Zimmertüren die Eingangssituation in ein Privathaus und schaffen eine intime Atmosphäre, vergleichbar mit einer engen Altstadtgasse. Dieses Bild unterstützen die im Vorbereich der Treppen und Aufzüge installierten Bänke ebenso wie die Ausbaumaterialien (Eichenholz und heller Kunststein). Die notwendige Funktionalität der Wohnbereiche, die dennoch alle Ansprüche an eine moderne Pflegestation erfüllen, drängt sich durch die Gestaltung und die Wahl der Materialien nicht auf.

Differenziertes Angebot in Dietikon

In Dietikon ähneln die Anforderungen an die Instandsetzung des Pflegeheims Ruggacker der Aufgabenstellung in Zürich. Die Verabschiedung des Altersleitbilds der Stadt Dietikon von 1996 (vgl. Kasten S. 27) erforderte einen Ausbau der Wohnmöglichkeiten für betagte Einwohnerinnen und Einwohner. Ziel der Stadt ist es, jedem Bewohner entsprechend seiner Möglichkeiten Unterstützung für diese Lebensphase zu bieten. Im Zug der notwendig gewordenen Instandsetzung des Pflegeheims – von Markus Dieterle 1966 errichtet – wurde in einem angegliederten Ersatzneubau daher auch ein selbstständiges Wohnangebot für Senioren geschaffen mit der Möglichkeit, ergänzende Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Verantwortliche Architekten sind, wie in Bombach, Niedermann Sigg Schwendener. Die Umsetzung in Dietikon war dabei komplexer als in Bombach: Für die Bewohner des Altbaus (Ruggacker 1) stand während der Zeit der Umbaumassnahme keine alternative Unterkunft zur Verfügung.[3] Daher wurde zunächst der Neubau errichtet, der zukünftig die Seniorenresidenz aufnehmen wird (Ruggacker 2) und die Bewohner aus dem Pflegeheim dorthin umgesiedelt. Gleichzeitig konnten so im Untergeschoss des Neubaus Lagerflächen, Garderobenräume und weitere Betriebsräume geschaffen werden, um den Alltagsbetrieb des Pflege- heims auch während der Bauphasen zu sichern. Auch die Errichtung des Zwischenbaus, der Speise- und Mehrzwecksaal aufnimmt, wurde in der ersten Etappe ausgeführt.

In einem zweiten Schritt wird momentan das Bestandsgebäude instand gesetzt. Der Neubau ist seit 2011 bezogen, der instand gesetzte Altbau wird Ende August 2012 fertiggestellt sein. Dann ziehen die Bewohnerinnen des Pflegeheims zurück, und der Neubau kann, nach einer erneuten Umbauphase, für das Alterswohnen genutzt werden.

Aufgrund der unterschiedlichen Nutzung verfolgten die Architekten von Beginn an das Konzept, zwei getrennte Gebäude zu realisieren, die über gemeinsam genutzte Bereiche verbunden sind: den Speisesaal, angeschlossen an die Empfangsbereiche, und die Verwaltungsräume beider Häuser in den Erd- und Untergeschossen.

Hohe Qualität im Rahmen des Möglichen

Die neu errichtete Altersresidenz besteht aus dem Gartengeschoss, drei dazwischenliegenden Vollgeschossen und dem zurückspringenden Dachgeschoss. Alle Wohnungen (vgl. Kas- ten S. 32) verfügen über Balkone oder Terrassen, die hinter den durchlaufenden, die Geschosse markierenden Brüstungen liegen. Die gestaffelte Grundrissstruktur fächert die Zimmer gegen Süden zum üppig begrünten Park auf. Die versetzte Anordnung rhythmisiert auch die Korridore, sich weitende und verengende Sequenzen erzeugen intimere und öffentlichere Räume (Abb. 11,12). Vor den Zimmern bilden sie private Zugangsbereiche. Jeweils am Anfang und Ende des Korridors liegen die Gemeinschaftsräume. Sie ermöglichen mittels innenliegender Verglasungen eine natürliche Belichtung der Erschliessungszone.

Der Bestandsbau liegt an der belebten Bremgartnerstrasse, zu der sich auch der Haupteingang orientiert. Die Instandsetzung sollte die Umwandlung der ursprünglichen Pflegezimmer zu grosszügigeren und kleineren Einheiten (Ein- und Zweibettzimmer) ermöglichen. Doch die strenge Schottenstruktur des Tragwerks stand einer umfassenden Neuorganisation der Grundrisse entgegen. Sie wurde weitestgehend übernommen, ebenso die Lage der Steigzonen. Die Pflegebereiche sind in den drei identischen Obergeschossen des bestehenden Gebäudes neu organisiert und werden durch ein zusätzliches Attikageschoss, das die Demenzabteilung aufnimmt, ergänzt. Die innere Organisation mit mittig angeordneten Korridoren ist beibehalten und jede Wohneinheit neu mit eigener Nasszelle ausgestattet. Die ehemaligen Balkone wurden den Zimmern zugeschlagen, um ausreichende Raumgrössen zu erhalten. Eine Vorgabe der Bauherrschaft, basierend auf einer – im Rahmen der Altersstrategie erstellten – Machbarkeitsstudie für die Instandsetzung. Um dennoch grösstmöglichen Aussenbezug zu gewährleisten, nutzten die Architekten Eichenholzfenster mit Öffnungsflügeln, die mit ihren niedrigen Brüstungszonen Blumenfenster zitieren und die Zimmer grosszügiger wirken lassen. Zudem ermöglichen sie, ergänzend zur integrierten kontrollierten Lüftung, eine individuelle Belüftung der Räume. Im Erdgeschoss des Pflegeheims nimmt der Gebäudeversprung den Zugang mit Empfang und anschliessender Cafeteria auf. Die grösszügige Öffnung des Geschosses zu Cafeteria und Aussenbereich wurde möglich, da mit der Instandsetzung die Waschküche ausgelagert und die frei gewordenen Flächen mit Infrastruktur und Küche belegt werden konnten. Wie beim Pflegezentrum Bombach versuchten die Architekten auch in Dietikon durch eine gute Versorgung mit Tageslicht in allen Bereichen sowie durch eine sorgfältige Material- und Farbwahl die Privatsphäre der Bewohnerinnen und Bewohner zu stärken und die Atmosphäre in den Geschossen wohnlich zu gestalten. Angesichts der Zwänge, die durch die vorgegebene Tragstruktur bestanden, ist das Ergebnis umso überzeugender.

Zwänge und Chancen

Die Städte Zürich und Dietikon agieren innerhalb völlig unterschiedlicher Rahmenbedingungen. Während Zürich mit seinen zehn Pflegezentren aus der Erfahrung der eigenen Heime lernen konnte, zog Dietikon eine externe Beratung hinzu. Trotz allen Unterschieden in Ausgangslage und Umsetzung gibt es auch Gemeinsamkeiten: Beide Städte setzen beim Wohn- und Pflegeangebot für das Alter auf eine umfangreiche Palette an Möglichkeiten, die den vielseitigen Lebensentwürfen unserer Gesellschaft Rechnung trägt. Der Umgang mit ihren Pflegeheimen zeigt exemplarisch, wie sich der Schwerpunkt vom «Pflegen» zum «Heim», sprich zum «Daheimsein», zum Wohnen verschiebt. Die gezeigten Beispiele lösen diesen Anspruch dank einer sorgfältigen und sinnlichen Gestaltung ein.


Anmerkungen:
[01] Masterplan Bauten der Städtischen Pflegezentren, Zürich; Informationen unter: www.stadt-zuerich.ch/gud/de/index/gesundheit/pflegezentren.html
[02] ebd.
[03] Während der Instandsetzung des Pflegezentrums Bombach konnten die Bewohner in das ehemalige Personalhaus des Stadtspitals Triemli umziehen, in dem für Umbauten dieser Art ein temporäres Pflegeheim eingerichtet wurde

TEC21, Fr., 2012.08.24



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TEC21 2012|35 Gepflegt Wohnen

01. Juni 2012Tina Cieslik
TEC21

Poliertes Bijou

Architektur der Moderne ist nicht das Erste, was einem einfällt, denkt man an die ländliche Region zwischen Thun und Bern. Und doch findet sich hier, gut...

Architektur der Moderne ist nicht das Erste, was einem einfällt, denkt man an die ländliche Region zwischen Thun und Bern. Und doch findet sich hier, gut...

Architektur der Moderne ist nicht das Erste, was einem einfällt, denkt man an die ländliche Region zwischen Thun und Bern. Und doch findet sich hier, gut versteckt hinter jahrzehntealten Eichen, an der Hang­kante zur Autobahn A6 ein architektonisches Kleinod aus den 1930er-Jahren: die Villa ­Caldwell, ein Einfamilienhaus für eine schweizerisch-britische Familie. Der von der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege in seiner Bedeutung zwischen regional und national eingestufte Bau befand sich 2004, als es zu ­einem Besitzerwechsel kam, noch weitgehend im Originalzustand. Von 2010 bis September 2011 wurde er vom Zürcher Architekturbüro Hauswirth instand gesetzt – ein nachahmenswertes Beispiel für den Umgang mit Bauten der Moderne.

Zwischen den herrschaftlichen Landsitzen der Bernburger wirkt der Bau, südöstlich von Bern in der Gemeinde Allmendingen gelegen, auch heute noch wie ein Fremdkörper. Der Gegensatz zu seiner landwirtschaftlich geprägten Nachbarschaft dürfte zur Entstehungszeit 1934/35 noch grösser gewesen sein. So verwundert es nicht, dass sich um Bau und Bewohner allerlei Gerüchte rankten: Von einer zum Schutz des Flugplatzes Bern-Belp auf dem ­Glockenturm installierten Flugabwehrkanone während des Zweiten Weltkriegs war die Rede; als später die belgische Gesandtschaft die Villa als Residenz nutzte, hiess es, der Bau ­diene untergetauchten Nazis als Versteck vor den Alliierten.

Konventionelles Raumprogramm mit seltsamen Ausnahmen
Bauherrin der Villa war Agnes Edith Welti, die jüngste Tochter einer britischen Mutter und ­eines Berner Vaters. Während des Physik- und Mathematikstudiums an der Universität Göttingen hatte sie ihren späteren Ehemann John Caldwell kennengelernt, der dort Chemie studierte. Anfang der 1930er-Jahre beauftragte das Ehepaar den befreundeten deutschen Architekten Otto Voepel1 aus Weimar mit einem Entwurf für eine Villa auf dem Bergliacker in Allmendingen. Das Grundstück befand sich an privilegierter Lage über dem Aaretal, mit Blick auf Belpberg und das Dreigestirn Eiger-Mönch-Jungfrau. Zwar existierte der Flugplatz Bern-Belp bereits seit 1929, die heute an das Grundstück grenzende Autobahn A6 zwischen Bern und Thun wurde aber erst rund 40 Jahre später gebaut.
Voepel entwarf einen Bau, der sich in seiner Gestaltung sowohl beim Formenkanon der Reform-Moderne bediente als auch traditionelle Elemente enthielt. Eine rückwärtige Vorfahrt führte zum Eingang des Hauses. Über die zentral gelegene Eingangshalle gelangte man in die drei repräsentativen Räume Bibliothek, Wohn- und Esszimmer, die alle südwärts zur ­Aussicht hin angeordnet sind. Anstelle der üblichen Gartenanlage, die wegen der Hanglage nicht möglich war, ordnete Voepel jedem Raum einen individuellen Aussenbereich in Form einer Terrasse zu. Das Flachdach und die gemauerten Brüstungen liessen den Bau als scharfgeschnittenes geometrisches Volumen wirken, das von weitem die Landschaft prägte – insbesondere da die Villa damals noch nicht von der heute ebenfalls geschützten Vegeta­tion verdeckt wurde. Im hinteren nördlichen Bereich waren Wirtschaftsräume, Küche und Garde­robe untergebracht. Die Wegführung in die Repräsentationsräume ist unüblich: Statt vom Entree direkt in das mittig gelegene Wohnzimmer, gelangt man zunächst linker Hand in die ­Bibliothek, dort öffnet sich eine Art versetzte Enfilade zu den beiden anderen Räumen (Abb. 10  13). Ob diese verschlungene Wegführung von Otto Voepel stammt, ist ungewiss – auf den Originalplänen ist schwach eine Tür zwischen Eingangsbereich und Wohnzimmer zu erkennen.2 Voepel war für den Entwurf der Villa verantwortlich, die Bauleitung vor Ort besorgte der Berner Architekt Paul Riesen, Baumeister war Hans Wüthrich aus Muri.
Auch im Untergeschoss gab es eine seltsame räumliche Anordnung: Über eine nach rechts aus der Mitte versetzte Treppe gelangte man zunächst auf ein Podest, von dem aus zwei weitere Treppen rechts und links zu Salon, Gartenzimmer und Billardraum sowie zu zwei seitlich angeordneten Nebenräumen für das Personal führten (Abb. 1). Statt die grosse ­Geste des Eintretens über das halbhohe Podest zu zelebrieren, trennte Voepel die Räume mit Wänden zu drei kleinen Einheiten. Eine Besonderheit bildet das auf der Ostseite gelegene Billardzimmer: Um die Mindestabstandsflächen von 1.50 m um den neun Fuss grossen Poolbillardtisch zu gewährleisten, ist die nördliche Wand entsprechend versetzt. Im Obergeschoss hingegen sind die Zimmer symmetrisch um den Treppenaufgang gruppiert.

Eckfenster und Klinkerplatten
Mit seinen gestaffelten Terrassen erinnert das Haus an Bauten von Adolf Loos, namentlich an die Villa Müller in Prag von 1930 (Abb. 7). Auch die unterschiedliche Behandlung der Fenster in Dimension und Konstruktion – Schiebefenster in Baubronze, Schiebefenster in gestrichenem Stahl, doppelt verglaste Drehfenster in Holz mit modern geformten Beschlägen und doppelt verglaste Holzfenster mit traditionellen Rudern – lässt diesen Bezug vermuten, ebenso wie der auf einem Quadrat basierende Grundriss. Gleichzeitig finden sich aber vor allem in den Details auch traditionelle Anleihen an den Heimatstil, wie die Kunststeinfassung der Eingangstüre oder die durch eine Ritzung im Verputz betonten Fenstereinfassungen.3
Eine Referenz an die Bauten der Moderne waren hingegen die grosszügigen, stützenlos ausgeführten Eckfenster in Bibliothek und Esszimmer (Abb. 2  16). Das Glas zwischen den schlanken Fenstereinfassungen ist kaum wahrnehmbar und wirkt wie eine Membran zwischen Brüstung und auskragendem Baukörper, zwischen Innen- und Aussenraum. Da es sich bei der Decke um eine Hourdisdecke handelt, wurden Betonunterzüge in das Fassadenmauerwerk eingearbeitet, um dieses Detail stützenlos ausführen zu können.
In der Oberflächengestaltung setzte sich diese Ambivalenz im Ausdruck fort: Die Bibliothek war mit Kassettendecke, Klinkerboden und gemauertem Cheminée konservativ ausgestattet (Abb. 13), in Wohn- und Esszimmer fand sich dagegen Parkett und grüner Linoleum. In Ober- und Untergeschoss wurde diese Schlichtheit weitergeführt, mit Linoleum am Boden und in Grün-, Blau- und Beigetönen gestrichenen Wänden. Dazu gab es weitere Details, die an Loos erinnern, wie die eingebaute Eckbeleuchtung am Podest im Untergeschoss (Abb. 15). Sowohl Simplizität als auch Traditionalismus wurden im Treppenhaus gebrochen: Die Wände waren hier ursprünglich in einem kräftigen Türkis gestrichen. Mit seinen Anleihen an traditionelle Typologien in Grundriss und Oberflächengestaltung in Kombination mit Elementen der Moderne lässt sich der Bau der deutschen Reform-Moderne der Zwischenkriegszeit zuordnen. Zusammen mit seinem aussergewöhnlich guten Erhaltungszustand verleiht ihm dies eine singuläre Stellung in der Schweizer Architektur.4

Vergessenes Schmuckstück
Die Familie Caldwell-Welti lebte nicht lange in der Villa, bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verliess sie die Schweiz Richtung England.5 In den 1950er-Jahren nutzte die belgische Botschaft das Haus als Residenz, 1981 erwarb es der Berner Schriftsteller und Sagenforscher Sergius Golowin, der es bis 2003 bewohnte. Der neue Besitzer, der den Bau 2004 erwarb (ursprünglich, um auf dem Grundstück eine Einstellhalle für seine Oldtimer-Sammlung zu erstellen), bewohnt die Villa nun seit Fertigstellung der Umbauarbeiten im Herbst 2011.
Mit der durch den Besitzerwechsel ausgelösten Instandsetzung nach 70 Jahren wurde der Zürcher Architekt Stefan Hauswirth betreut. In enger Zusammenarbeit mit der kantonalen Denkmalpflege entwickelte er ein Konzept für den Umgang mit dem geschützten Bau.
Die augenfälligste nachträgliche Veränderung an der Originalbausubstanz war die Verdoppelung der Kaminwandscheibe an der Nordostecke des Baus zu einem Glockenturm (in der Gegend «Fressglöggli» genannt6 und verantwortlich für die Mutmassungen über eine Flak auf dem Dach), die allerdings noch unter den ursprünglichen Besitzern ausgeführt ­wurde. 2006 wies der Bau noch in weiten Teilen den Originalverputz auf. Die detailreichen Beschläge an den Fenstern waren ebenso wie die Mechanismen für den Sonnenschutz ­grösstenteils intakt, teilweise aber nicht mehr funktionsfähig. Da die filigranen Fenster integraler Bestandteil des Gebäudes sind, kam eine Ertüchtigung auf heutige Wärmedämmwerte oder auch ein besserer Schallschutz nur sehr bedingt infrage.

Reparaturen, Nachbildungen und neue Einbauten
Die Erneuerungsmassnahmen bestanden grösstenteils aus Reinigungs- und Ausbesserungsarbeiten. Ein bedeutender Eingriff war der neue Verputz der Aussenfassade. Obwohl der Putz generell in gutem Zustand war, wies er an wenigen Stellen grosse Risse aus, die
lokal ausgebessert werden sollten. Die Ausführung war aber so homogen, dass sich beim Ausbessern statt der zu reparierenden Stelle jeweils die gesamte Oberfläche vom Mauerwerk löste. Um die wertvollen originalen Spenglerarbeiten wie Brüstungsabdeckungen und Sonnenschutzmechanismen nicht zu gefährden, entschied man, den gesamten Bau mit ­einem als Kratzputz ausgeführten Kalkhydrat-Zementputz zu versehen, der in Zusammensetzung und Ausführung dem Original entsprach. Wie dieses enthält die neue Oberfläche einen Glimmeranteil von 25 %, die Nachzeichnungen der Fenster wurden ebenfalls wieder aufgenommen. Eine weitere Massnahme im Aussenbereich betraf die Abdichtung der Terrassen, die wohl wegen der teilweise falschen Ausrichtung des Gefälles nie vollständig dicht waren. Um dies in Zukunft zu gewährleisten, erhielten die Terrassen eine Oberfläche aus Flüssigkunststoff, dem Leuchtchips aus wasserlöslichen Polymeren beigemischt sind, um die ursprünglich enthaltene Glimmermischung nachzubilden. Die Sonnenstoren waren integral erhalten und wurden wieder funktionstüchtig gemacht, teilweise fertigten die Handwerker auch Nachbildungen an. Bei den Fenstern gingen die Architekten differenziert vor: Die originalen Holzfenster mit Zweifachverglasung an der Nord- und teilweise an der Ost- und Westfassade wurden ausgebessert und mit einer Doppelisolierverglasung von 14 mm energetisch ertüchtigt. Schwieriger war dies bei den Metallfenstern mit ihren sehr schlanken Profilen. Im Obergeschoss griff man auf in Japan hergestelltes Vakuumglas (High Performance Insulation Floatglas, Schallschutz 30 Rw/dB) zurück. Dieses ermöglicht einen U-Wert von 1.4 W/m2K bei einer Dicke von 6.5 mm (Abb. 21) und eignet sich damit für Instandsetzungen denkmalgeschützter Gebäude aus den 1930er-Jahren. Bei den Fenstern im Erdgeschoss konnte ­dieses Glas wegen der grossen Formate von maximal 280 × 170 cm nicht verwendet werden. Um den U-Wert zu optimieren, entschieden sich die Architekten hier für 8.5 mm dickes ­VSG-Glas mit einer eingelegten transparenten Wärmefolie, das einen U-Wert von 3.2 W/m2K erreicht.
Im Inneren erfolgte zunächst eine Bestandsaufnahme der Originalfarbigkeit, die bei den Erneuerungsarbeiten als Referenz diente, aber wesentlich dezenter ausgeführt wurde. Grössere bauliche Eingriffe betrafen vor allem Küche und Nasszellen. Die Küche war ursprünglich durch eine Wand mit Einbauschränken vom Esszimmer getrennt, lediglich ein in die Schrankwand integrierter schmaler Durchgang schuf eine Verbindung. Einer der Schränke wurde entfernt, die Nische dient nun als Durchreiche oder Bar, der Raum und vor allem die Eckverglasung an der Südseite sind nun in ihrer ganzen Tiefe erfahrbar (Abb. 16 – 18).
Bei den Nasszellen wünschte der Bauherr eine komplette Veränderung: Während die Anordnung identisch blieb, ist die Oberflächenbehandlung eine zeitgenössische. Die Architekten fotografierten jeweils einen Ast der gleichzeitig mit dem Bau gepflanzten Eichen, abstra­hierten und verpixelten die Form und brachten dieses Motiv in die beiden neuen Bäder im Obergeschoss ein (Abb. 19   20). Wie die originalen Fliesen sind auch die neuen Plättli der Nasszellen fugenlos verarbeitet. Diese drastische Intervention versinnbildlicht die gute Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege: Die Villa kann nur erhalten werden, wenn sie bewohnt ist. Daher galt es, zwischen den denkmalpflegerischen Ansprüchen und den individuellen Wünschen des Bauherrn abzuwägen und, wo nötig, Kompromisse einzugehen. Die Eingriffe in den Bädern sind dazu reversibel, also aus denkmalpflegerischer Sicht vertretbar.
Im Untergeschoss korrigierten die Architekten die räumliche Disposition. Sie entfernten die Wände zwischen Salon, Billard- und Gartenzimmer, und es entstand ein grosszügiger, lichtdurchfluteter Raum, der über eine weitere Terrasse Zugang in den Garten gewährt. Auch
bei diesem Eingriff stellten die Beteiligten den Wohnkomfort über die originalgetreue Rekons­truktion. Als Erinnerung an die Wände erhielten die Originalstützen aus Kalksandstein eine Aufdopplung, die die Wandstärke der verschwundenen Raumteiler andeutet (Abb. 15).

Schönheit gegen Lärm
Das Problem der Dauerbeschallung durch die Autobahn konnte die Instandsetzung nicht beheben. Die Metallprofile der Fenster waren zu schlank für Schallschutzscheiben. Es ist den heutigen und künftigen Bewohnern daher zu wünschen, dass baldmöglichst Lärmschutzmassnahmen an der Autobahn durchgeführt werden. Ein Eingriff am Haus selber, wie es noch das Projekt von Peter Schenker und Kurt Gossenreiter 1997 vorsah (Abb. 24), steht heute aus denkmalpflegerischen Gründen ausser Frage.
Dass dieses für die Schweiz so aussergewöhnliche Haus gemäss denkmalpflegerischen ­Vorgaben erneuert und gleichzeitig weiterhin bewohnbar gemacht wurde, ist ein Glücksfall. Es wäre schön, wenn die dabei gemachten Erfahrungen hinsichtlich Materialverarbeitung und -technologie weiteren Bauten der Epoche zugutekommen könnten.

Tina Cieslik, cieslik@tec21.ch

TEC21, Fr., 2012.06.01

25. Mai 2012Tina Cieslik
TEC21

Poliertes Bijou

Architektur der Moderne ist nicht das Erste, was einem einfällt, denkt man an die ländliche Region zwischen Thun und Bern. Und doch findet sich hier, gut versteckt hinter jahrzehntealten Eichen, an der Hangkante zur Autobahn A6 ein architektonisches Kleinod aus den 1930er-Jahren: die Villa Caldwell, ein Einfamilienhaus für eine schweizerisch-britische Familie. Der von der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege in seiner Bedeutung zwischen regional und national eingestufte Bau befand sich 2004, als es zu einem Besitzerwechsel kam, noch weitgehend im Originalzustand. Von 2010 bis September 2011 wurde er vom Zürcher Architekturbüro Hauswirth instand gesetzt – ein nachahmenswertes Beispiel für den Umgang mit Bauten der Moderne.

Architektur der Moderne ist nicht das Erste, was einem einfällt, denkt man an die ländliche Region zwischen Thun und Bern. Und doch findet sich hier, gut versteckt hinter jahrzehntealten Eichen, an der Hangkante zur Autobahn A6 ein architektonisches Kleinod aus den 1930er-Jahren: die Villa Caldwell, ein Einfamilienhaus für eine schweizerisch-britische Familie. Der von der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege in seiner Bedeutung zwischen regional und national eingestufte Bau befand sich 2004, als es zu einem Besitzerwechsel kam, noch weitgehend im Originalzustand. Von 2010 bis September 2011 wurde er vom Zürcher Architekturbüro Hauswirth instand gesetzt – ein nachahmenswertes Beispiel für den Umgang mit Bauten der Moderne.

Zwischen den herrschaftlichen Landsitzen der Bernburger wirkt der Bau, südöstlich von Bern in der Gemeinde Allmendingen gelegen, auch heute noch wie ein Fremdkörper. Der Gegensatz zu seiner landwirtschaftlich geprägten Nachbarschaft dürfte zur Entstehungszeit 1934/35 noch grösser gewesen sein. So verwundert es nicht, dass sich um Bau und Bewohner allerlei Gerüchte rankten: Von einer zum Schutz des Flugplatzes Bern-Belp auf dem Glockenturm installierten Flugabwehrkanone während des Zweiten Weltkriegs war die Rede; als später die belgische Gesandtschaft die Villa als Residenz nutzte, hiess es, der Bau diene untergetauchten Nazis als Versteck vor den Alliierten.

Konventionelles Raumprogramm mit seltsamen Ausnahmen

Bauherrin der Villa war Agnes Edith Welti, die jüngste Tochter einer britischen Mutter und eines Berner Vaters. Während des Physik- und Mathematikstudiums an der Universität Göttingen hatte sie ihren späteren Ehemann John Caldwell kennengelernt, der dort Chemie studierte. Anfang der 1930er-Jahre beauftragte das Ehepaar den befreundeten deutschen Architekten Otto Voepel1 aus Weimar mit einem Entwurf für eine Villa auf dem Bergliacker in Allmendingen. Das Grundstück befand sich an privilegierter Lage über dem Aaretal, mit Blick auf Belpberg und das Dreigestirn Eiger-Mönch-Jungfrau. Zwar existierte der Flugplatz Bern-Belp bereits seit 1929, die heute an das Grundstück grenzende Autobahn A6 zwischen Bern und Thun wurde aber erst rund 40 Jahre später gebaut.

Voepel entwarf einen Bau, der sich in seiner Gestaltung sowohl beim Formenkanon der Reform-Moderne bediente als auch traditionelle Elemente enthielt. Eine rückwärtige Vorfahrt führte zum Eingang des Hauses. Über die zentral gelegene Eingangshalle gelangte man in die drei repräsentativen Räume Bibliothek, Wohn- und Esszimmer, die alle südwärts zur Aussicht hin angeordnet sind. Anstelle der üblichen Gartenanlage, die wegen der Hanglage nicht möglich war, ordnete Voepel jedem Raum einen individuellen Aussenbereich in Form einer Terrasse zu. Das Flachdach und die gemauerten Brüstungen liessen den Bau als scharfgeschnittenes geometrisches Volumen wirken, das von weitem die Landschaft prägte – insbesondere da die Villa damals noch nicht von der heute ebenfalls geschützten Vegetation verdeckt wurde. Im hinteren nördlichen Bereich waren Wirtschaftsräume, Küche und Garderobe untergebracht. Die Wegführung in die Repräsentationsräume ist unüblich: Statt vom Entree direkt in das mittig gelegene Wohnzimmer, gelangt man zunächst linker Hand in die Bibliothek, dort öffnet sich eine Art versetzte Enfilade zu den beiden anderen Räumen (Abb. 10+13). Ob diese verschlungene Wegführung von Otto Voepel stammt, ist ungewiss – auf den Originalplänen ist schwach eine Tür zwischen Eingangsbereich und Wohnzimmer zu erkennen.2 Voepel war für den Entwurf der Villa verantwortlich, die Bauleitung vor Ort besorgte der Berner Architekt Paul Riesen, Baumeister war Hans Wüthrich aus Muri. Auch im Untergeschoss gab es eine seltsame räumliche Anordnung: Über eine nach rechts aus der Mitte versetzte Treppe gelangte man zunächst auf ein Podest, von dem aus zwei weitere Treppen rechts und links zu Salon, Gartenzimmer und Billardraum sowie zu zwei seitlich angeordneten Nebenräumen für das Personal führten (Abb. 1). Statt die grosse Geste des Eintretens über das halbhohe Podest zu zelebrieren, trennte Voepel die Räume mit Wänden zu drei kleinen Einheiten. Eine Besonderheit bildet das auf der Ostseite gelegene Billardzimmer: Um die Mindestabstandsflächen von 1.50 m um den neun Fuss grossen Poolbillardtisch zu gewährleisten, ist die nördliche Wand entsprechend versetzt. Im Obergeschoss hingegen sind die Zimmer symmetrisch um den Treppenaufgang gruppiert.

Eckfenster und Klinkerplatten

Mit seinen gestaffelten Terrassen erinnert das Haus an Bauten von Adolf Loos, namentlich an die Villa Müller in Prag von 1930 (Abb. 7). Auch die unterschiedliche Behandlung der Fenster in Dimension und Konstruktion – Schiebefenster in Baubronze, Schiebefenster in gestrichenem Stahl, doppelt verglaste Drehfenster in Holz mit modern geformten Beschlägen und doppelt verglaste Holzfenster mit traditionellen Rudern – lässt diesen Bezug vermuten, ebenso wie der auf einem Quadrat basierende Grundriss. Gleichzeitig finden sich aber vor allem in den Details auch traditionelle Anleihen an den Heimatstil, wie die Kunststeinfassung der Eingangstüre oder die durch eine Ritzung im Verputz betonten Fenstereinfassungen.[3] Eine Referenz an die Bauten der Moderne waren hingegen die grosszügigen, stützenlos ausgeführten Eckfenster in Bibliothek und Esszimmer (Abb. 2+16). Das Glas zwischen den schlanken Fenstereinfassungen ist kaum wahrnehmbar und wirkt wie eine Membran zwischen Brüstung und auskragendem Baukörper, zwischen Innen- und Aussenraum. Da es sich bei der Decke um eine Hourdisdecke handelt, wurden Betonunterzüge in das Fassadenmauerwerk eingearbeitet, um dieses Detail stützenlos ausführen zu können.

In der Oberflächengestaltung setzte sich diese Ambivalenz im Ausdruck fort: Die Bibliothek war mit Kassettendecke, Klinkerboden und gemauertem Cheminée konservativ ausgestattet (Abb. 13), in Wohn- und Esszimmer fand sich dagegen Parkett und grüner Linoleum. In Ober- und Untergeschoss wurde diese Schlichtheit weitergeführt, mit Linoleum am Boden und in Grün-, Blau- und Beigetönen gestrichenen Wänden. Dazu gab es weitere Details, die an Loos erinnern, wie die eingebaute Eckbeleuchtung am Podest im Untergeschoss (Abb. 15). Sowohl Simplizität als auch Traditionalismus wurden im Treppenhaus gebrochen: Die Wände waren hier ursprünglich in einem kräftigen Türkis gestrichen. Mit seinen Anleihen an traditionelle Typologien in Grundriss und Oberflächengestaltung in Kombination mit Elementen der Moderne lässt sich der Bau der deutschen Reform-Moderne der Zwischenkriegszeit zuordnen. Zusammen mit seinem aussergewöhnlich guten Erhaltungszustand verleiht ihm dies eine singuläre Stellung in der Schweizer Architektur.[4]

Vergessenes Schmuckstück

Die Familie Caldwell-Welti lebte nicht lange in der Villa, bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verliess sie die Schweiz Richtung England.[5] In den 1950er-Jahren nutzte die belgische Botschaft das Haus als Residenz, 1981 erwarb es der Berner Schriftsteller und Sagenforscher Sergius Golowin, der es bis 2003 bewohnte. Der neue Besitzer, der den Bau 2004 erwarb (ursprünglich, um auf dem Grundstück eine Einstellhalle für seine Oldtimer-Sammlung zu erstellen), bewohnt die Villa nun seit Fertigstellung der Umbauarbeiten im Herbst 2011. Mit der durch den Besitzerwechsel ausgelösten Instandsetzung nach 70 Jahren wurde der Zürcher Architekt Stefan Hauswirth betreut. In enger Zusammenarbeit mit der kantonalen Denkmalpflege entwickelte er ein Konzept für den Umgang mit dem geschützten Bau.

Die augenfälligste nachträgliche Veränderung an der Originalbausubstanz war die Verdoppelung der Kaminwandscheibe an der Nordostecke des Baus zu einem Glockenturm (in der Gegend «Fressglöggli» genannt[6] und verantwortlich für die Mutmassungen über eine Flak auf dem Dach), die allerdings noch unter den ursprünglichen Besitzern ausgeführt wurde. 2006 wies der Bau noch in weiten Teilen den Originalverputz auf. Die detailreichen Beschläge an den Fenstern waren ebenso wie die Mechanismen für den Sonnenschutz grösstenteils intakt, teilweise aber nicht mehr funktionsfähig. Da die filigranen Fenster integraler Bestandteil des Gebäudes sind, kam eine Ertüchtigung auf heutige Wärmedämmwerte oder auch ein besserer Schallschutz nur sehr bedingt infrage.

Reparaturen, Nachbildungen und neue Einbauten

Die Erneuerungsmassnahmen bestanden grösstenteils aus Reinigungs- und Ausbesserungsarbeiten. Ein bedeutender Eingriff war der neue Verputz der Aussenfassade. Obwohl der Putz generell in gutem Zustand war, wies er an wenigen Stellen grosse Risse aus, die lokal ausgebessert werden sollten. Die Ausführung war aber so homogen, dass sich beim Ausbessern statt der zu reparierenden Stelle jeweils die gesamte Oberfläche vom Mauerwerk löste. Um die wertvollen originalen Spenglerarbeiten wie Brüstungsabdeckungen und Sonnenschutzmechanismen nicht zu gefährden, entschied man, den gesamten Bau mit einem als Kratzputz ausgeführten Kalkhydrat-Zementputz zu versehen, der in Zusammensetzung und Ausführung dem Original entsprach. Wie dieses enthält die neue Oberfläche einen Glimmeranteil von 25%, die Nachzeichnungen der Fenster wurden ebenfalls wieder aufgenommen. Eine weitere Massnahme im Aussenbereich betraf die Abdichtung der Terrassen, die wohl wegen der teilweise falschen Ausrichtung des Gefälles nie vollständig dicht waren. Um dies in Zukunft zu gewährleisten, erhielten die Terrassen eine Oberfläche aus Flüssigkunststoff, dem Leuchtchips aus wasserlöslichen Polymeren beigemischt sind, um die ursprünglich enthaltene Glimmermischung nachzubilden. Die Sonnenstoren waren integral erhalten und wurden wieder funktionstüchtig gemacht, teilweise fertigten die Handwerker auch Nachbildungen an. Bei den Fenstern gingen die Architekten differenziert vor: Die originalen Holzfenster mit Zweifachverglasung an der Nord- und teilweise an der Ost- und Westfassade wurden ausgebessert und mit einer Doppelisolierverglasung von 14mm energetisch ertüchtigt. Schwieriger war dies bei den Metallfenstern mit ihren sehr schlanken Profilen. Im Obergeschoss griff man auf in Japan hergestelltes Vakuumglas (High Performance Insulation Floatglas, Schallschutz 30 Rw/dB) zurück. Dieses ermöglicht einen U-Wert von 1.4W/m2K bei einer Dicke von 6.5mm (Abb. 21) und eignet sich damit für Instandsetzungen denkmalgeschützter Gebäude aus den 1930er-Jahren. Bei den Fenstern im Erdgeschoss konnte dieses Glas wegen der grossen Formate von maximal 280×170cm nicht verwendet werden. Um den U-Wert zu optimieren, entschieden sich die Architekten hier für 8.5mm dickes VSG-Glas mit einer eingelegten transparenten Wärmefolie, das einen U-Wert von 3.2W/m2K erreicht.

Im Inneren erfolgte zunächst eine Bestandsaufnahme der Originalfarbigkeit, die bei den Erneuerungsarbeiten als Referenz diente, aber wesentlich dezenter ausgeführt wurde. Grössere bauliche Eingriffe betrafen vor allem Küche und Nasszellen. Die Küche war ursprünglich durch eine Wand mit Einbauschränken vom Esszimmer getrennt, lediglich ein in die Schrankwand integrierter schmaler Durchgang schuf eine Verbindung. Einer der Schränke wurde entfernt, die Nische dient nun als Durchreiche oder Bar, der Raum und vor allem die Eckverglasung an der Südseite sind nun in ihrer ganzen Tiefe erfahrbar (Abb. 16–18).

Bei den Nasszellen wünschte der Bauherr eine komplette Veränderung: Während die Anordnung identisch blieb, ist die Oberflächenbehandlung eine zeitgenössische. Die Architekten fotografierten jeweils einen Ast der gleichzeitig mit dem Bau gepflanzten Eichen, abstrahierten und verpixelten die Form und brachten dieses Motiv in die beiden neuen Bäder im Obergeschoss ein (Abb. 19+20). Wie die originalen Fliesen sind auch die neuen Plättli der Nasszellen fugenlos verarbeitet. Diese drastische Intervention versinnbildlicht die gute Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege: Die Villa kann nur erhalten werden, wenn sie bewohnt ist. Daher galt es, zwischen den denkmalpflegerischen Ansprüchen und den individuellen Wünschen des Bauherrn abzuwägen und, wo nötig, Kompromisse einzugehen. Die Eingriffe in den Bädern sind dazu reversibel, also aus denkmalpflegerischer Sicht vertretbar.

Im Untergeschoss korrigierten die Architekten die räumliche Disposition. Sie entfernten die Wände zwischen Salon, Billard- und Gartenzimmer, und es entstand ein grosszügiger, lichtdurchfluteter Raum, der über eine weitere Terrasse Zugang in den Garten gewährt. Auch bei diesem Eingriff stellten die Beteiligten den Wohnkomfort über die originalgetreue Rekonstruktion. Als Erinnerung an die Wände erhielten die Originalstützen aus Kalksandstein eine Aufdopplung, die die Wandstärke der verschwundenen Raumteiler andeutet (Abb. 15).

Schönheit gegen Lärm

Das Problem der Dauerbeschallung durch die Autobahn konnte die Instandsetzung nicht beheben. Die Metallprofile der Fenster waren zu schlank für Schallschutzscheiben. Es ist den heutigen und künftigen Bewohnern daher zu wünschen, dass baldmöglichst Lärmschutzmassnahmen an der Autobahn durchgeführt werden. Ein Eingriff am Haus selber, wie es noch das Projekt von Peter Schenker und Kurt Gossenreiter 1997 vorsah (Abb. 24), steht heute aus denkmalpflegerischen Gründen ausser Frage.

Dass dieses für die Schweiz so aussergewöhnliche Haus gemäss denkmalpflegerischen Vorgaben erneuert und gleichzeitig weiterhin bewohnbar gemacht wurde, ist ein Glücksfall. Es wäre schön, wenn die dabei gemachten Erfahrungen hinsichtlich Materialverarbeitung und -technologie weiteren Bauten der Epoche zugutekommen könnten.


Anmerkungen:
[01] Otto Voepel war der Leiter der Staatlichen Bauschule Gotha und der Vater der Bauhausschülerin Charlotte Voepel-Neujahr. Es ist davon auszugehen, dass er mit den Ideen des Neuen Bauens vertraut war, er selber war aber kein Vertreter
[02] Robert Walker, «Die Villa Caldwell (Haus Golowin) in Allmendingen» (20.01.2003), in: Dokumentation Villa Caldwell, 20.12.2010
[03] Die florale Malerei auf der Kunststeinfassung der Eingangstür wurde vermutlich später angebracht. Sie enthält die Initialen SD, was auf Suzanne Draeger aus Genf hinweist, die die Villa 1951 erwarb
[04] Ein Gutachten der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege vom 9. September 2003 stuft die Villa Caldwell wegen ihrer Verbindung von traditionellen und modernen Elementen bei hoher gestalterischer und handwerklicher Qualität in ihrer Bedeutung zwischen regional und national ein. Als verwandtes Schweizer Beispiel gilt die Villa Sciaredo in Barbengo von Georgette Klein (1932).
[05] www.tqsi.info/genealogy, Zugriff: 6.5.12
[06] «Schweizer Architekturführer 1920–1990», Band 2 (Nordwestschweiz, Jura, Mittelland), Werk Verlag, Zürich, 1994, S. 152

TEC21, Fr., 2012.05.25



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23. März 2012Tina Cieslik
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Gegen die Einsamkeit

Die Zahl älterer Menschen und deren Anteil an der Gesamtbevölkerung ­steigen – mit den Babyboomern, den geburtenstarken Jahrgängen nach dem Zweiten Weltkrieg, kommt eine Generation in die Nachberufsphase, die sich nicht nur durch ein hohes Einkommen und einen entsprechenden Lebensstandard auszeichnet, sondern in der Regel auch über eine bessere Gesundheit verfügt als noch die Generation ihrer Eltern. Diesen Menschen stellt sich die Frage nach dem künftigen Wohnmodell: Viele wünschen die Einbettung in eine Gemeinschaft, verbunden mit einem gewissen Komfort, der weiterhin ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht. TEC21 hat drei aktuelle und unterschiedliche Modelle für selbständiges Wohnen im Alter verglichen.

Die Zahl älterer Menschen und deren Anteil an der Gesamtbevölkerung ­steigen – mit den Babyboomern, den geburtenstarken Jahrgängen nach dem Zweiten Weltkrieg, kommt eine Generation in die Nachberufsphase, die sich nicht nur durch ein hohes Einkommen und einen entsprechenden Lebensstandard auszeichnet, sondern in der Regel auch über eine bessere Gesundheit verfügt als noch die Generation ihrer Eltern. Diesen Menschen stellt sich die Frage nach dem künftigen Wohnmodell: Viele wünschen die Einbettung in eine Gemeinschaft, verbunden mit einem gewissen Komfort, der weiterhin ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht. TEC21 hat drei aktuelle und unterschiedliche Modelle für selbständiges Wohnen im Alter verglichen.

«Wohnen im Alter» boomt. Unzählige Stiftungen und Genossenschaften bieten heute in der Schweiz ein umfangreiches Angebot für Lebensalter, die oft durch ein « » gekennzeichnet werden. Von «44 » bis «80 » bewerben Slogans unterschiedlichste Wohnkonzepte für ebenso verschiedenartige Menschen und Einkommensverhältnisse. Das Spektrum reicht von Siedlungen mit integriertem Dienstleistungsangebot über Wohnanlagen, die mittels ­kleinerer Grundrisse, schwellenloser Räume und variabel wählbarer Serviceleistungen an die Bedürfnisse der Menschen nach der Familienphase angepasst sind, bis hin zu individuellen Wohnkonzepten, die von den künftigen Bewohnerinnen und Bewohnern auch selbst umgesetzt werden. An den folgenden Beispielen lassen sich drei Kernthemen ablesen: ­Wie viel Komfort wird geboten? Wie ausgeprägt ist die Gemeinschaft? Und: Was kosten die jeweiligen Wohnformen?

Alterswohnen Dufourstrasse, Zürich

Der Standort im Seefeld-Quartier nahe am Zürichsee, inmitten von vier- bis fünfgeschossigen Wohnbauten aus der Gründerzeit, ist eine der schöneren Wohnlagen der Stadt Zürich. Man kann sich vorstellen, wie der achtgeschossige, T-förmige, monolithische Betonbau, den Karl Flatz 1967 entworfen hat, mit seinen nüchternen Fassaden im Quartier auffiel. Der Bau umfasste seinerzeit 83 Kleinwohnungen, vorwiegend Einzimmerwohnungen ohne Bad und Balkon, und spiegelt die damaligen Vorstellungen und Ansprüche von Alterswohnen. Auch gut 40 Jahre später fällt die Alterssiedlung auf: Die einst strenge Sichtbetonfassade ist hinter dem lebhaften Spiel ihrer neuen Hülle verschwunden. Vor die Fassade gehängte ­Balkone mit metallenen Brüstungen prägen mit ihren weissen Sonnenschutzsegeln und gelben Vorhängen das Bild (Abb. 4). Das neue Kleid ist Ergebnis einer grundlegenden Instandsetzung, die mit einem vollständigen Umbau der Wohnungen einherging.

Die Bauherrin, die Stiftung Alterswohnungen der Stadt Zürich (SAW), ist Vermieterin von ­momentan 32 Alterssiedlungen im Stadtgebiet.[1] Ihre Gründung 1950 war eine Antwort auf die sozialen und politischen Entwicklungen in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Das rasche Wachstum der Städte führte zu Wohnungsnot vor allem in den unteren sozialen Schichten und bei den älteren Menschen. Die Stiftung bietet in Zürich lebenden Menschen über 60 Jahre vergleichsweise günstigen Wohnraum (vgl. Kasten S. 28), d.h. preiswerte Wohnungen innerhalb der Wohnbauförderung, sofern deren Jahreseinkommen gewisse Grenzen nicht übersteigt – 50600 Fr. für Einzelpersonen, 59700 Fr. für Zweipersonenhaus­halte. Ihre Mieterinnen und Mieter sollen so lange wie möglich selbstbestimmt in der eigenen Wohnung leben können und werden dabei durch ein umfangreiches Dienstleistungsangebot unterstützt.

Um die Alterssiedlung Dufourstrasse an zeitgemässe Bedürfnisse der Bewohner und Bewohnerinnen anzupassen und gleichzeitig dem Auftrag der Stiftung, für Menschen mit niedrigem Einkommen zu bauen, gerecht zu werden, entschied man sich für eine Instandsetzung. Dafür wurde 2007 ein Planerwahlverfahren durchgeführt, in dem die Zürcher Architekten Schneider Studer Primas mit ihrem Konzept für die Neuorganisation der Wohnungen sowie einer sorgfältigen, aber reduzierten Materialisierung innen wie aussen überzeugen konnten. Dabei kam dem Projekt zugute, dass die Bauträgerin Wert auf einen eigenständigen Charakter ihrer Bauten legte. So war es trotz dem begrenzten Budget möglich, die grosszügigen, versetzt angeordneten Balkone zu realisieren. Sie erlauben den Bewohnerinnen und Bewohnern den Kontakt zu den Nachbarn über die Stockwerke hinweg. Während die bewegte ­Fassade die Instandsetzung nach aussen sichtbar macht, entstanden im Inneren durch die Zusammenlegung der alten Wohneinheiten 51 Eineinhalb- bis Dreizimmerwohnungen mit unterschiedlichen Grundrissen, eigenem Bad und Balkon. Die Wohnflächen reichen von 46 m² (eineinhalb Zimmer) bis 70 m² (drei Zimmer). Alle Wohnungen sind über das zentrale Treppenhaus und zum Teil über die dort anschliessenden Laubengänge erschlossen.

Die Besonderheit des Gebäudes, die durch den T-förmigen Grundriss gegebene gute ­Belichtung aller Wohnungen, haben die Architekten für die Neuorganisation der Grundrisse genutzt. Bäder und Küchen sind neu eingebaut, grosszügige Verglasungen öffnen die Wohnungen nach aussen. Auf Flurzonen wurde weitestgehend verzichtet. Das Entrée bildet die Küchen mit einem Essbereich, ein Einbauschrank bietet zusätzliche Stauflächen. Die Bäder sind geräumig und mit schwellenfreien Duschen ausgestattet, die Armaturen sind alters­gerecht angebracht, auf «Behindertenarmaturen» hat man bewusst verzichtet. Neben dem grosszügigen Foyer im Erdgeschoss liegt ein Gemeinschaftsraum mit Küche, der den Bewohnerinnen und Bewohnern zur Verfügung steht – etwa für Geburtstagsfeiern – und auch für öffentliche Veranstaltungen genutzt wird. Auf der Eingangsebene liegen zudem das Spitex-Büro und die Sammelstelle des Wäscheservice. Die Dachterrasse im 7. Obergeschoss steht dagegen ausschliesslich den Mieterinnen und Mietern zur Verfügung. Hier befindet sich auch das Wohlfühlbad, ein grosszügiges Badezimmer mit Seeblick-Badewanne. Die bereits vor der Instandsetzung im Erdgeschoss untergebrachte Kinderkrippe ist um die Fläche der ehemaligen Hauswartswohnung vergrössert worden. Sie verfügt über einen eigenen Eingang und Garten – organisierte Interaktion zwischen den Generationen ist nicht vorgesehen. Das Wohnen mit Serviceleistungen bietet Unterstützung und Komfort, geht jedoch über ein nachbarschaftliches Verhältnis der Bewohner untereinander nicht hinaus. Es erlaubt den Mieterinnen und Mietern ganz im Sinn der Stiftung so lange wie möglich das selbständige Wohnen.

Gemeinschaftswohnen «Am Hof Köniz»

2006 lobte die Gemeinde Köniz einen Projekt- und Investorenwettbewerb für ein Grundstück im Dorfzentrum der Gemeinde Köniz aus. In Gehweite zu Bahnhof und Einkaufszentrum und mit Aussicht auf das Könizer Schloss gelegen, sollten auf dem Areal «Alte ­Migros» Wohnungen, insbesondere für Menschen in der ­zweiten Lebenshälfte, entstehen. Den Zuschlag erhielt die Arbeitsgemeinschaft aus Durrer Linggi Architekten, Zürich, und BEM Architekten, Baden, in Zusammenarbeit mit der Walliseller Genossenschaft Zukunftswohnen (vgl. Kasten S. 30). Die 2008 gegründete Genossenschaft entwickelt mit Interessengruppen, Gemeinden und Investoren Wohnangebote für Menschen in der zweiten Lebenshälfte. Der Fokus liegt dabei auf selbständigem, gemeinschaftlich organisiertem Wohnen – im Gegensatz zum Alleinwohnen oder zum betreuten Wohnen. Gemeinsam mit den Bewohnerinnen und Bewohnern werden die Regeln des Zusammenlebens entwickelt, die Genossenschaft übernimmt zudem administrative Aufgaben wie die Vermietung der Flächen oder die Koordination mit dem Hauswart. Die Mieter und Mieterinnen sollen sich – auf freiwilliger Basis – in Arbeitsgruppen für die Gemeinschaft engagieren, geschätzt wird ein Beitrag von zwei bis vier Wochenstunden. Betreiberin der Anlage in Köniz ist die eigens gegründete Genossenschaft «Am Hof Köniz», die Genossenschaft «Zukunftswohnen» ist darin ebenfalls vertreten.[3]

Von April 2010 bis Oktober 2011 realisierten die Architekten gemeinsam mit der Bau­unternehmung Losinger Marazzi, die inzwischen auf Druck der Investorin, der Gebäudeversicherung Bern, als ausführende Totalunternehmung zum Projekt gestossen war, einen viergeschossigen Zeilen- und einen fünfgeschossigen Punktbau, die zwischen den Gleisen der viermal stündlich verkehrenden Regionalbahn und der Durchgangsstrasse Richtung Niederwangen platziert sind. Ein Knick im Zeilenbau markiert die zentrale Erschliessung, im Erdgeschoss befindet sich an dieser Stelle der Gemeinschaftsraum der Siedlung. Südostseitig liegt der durch die Gleise und die Neubauten gebildete namensgebende Hof der Anlage, der rautenförmige Punktbau schirmt den Garten vom Strassenlärm ab. Die Erdgeschosse beider Bauten werden öffentlich genutzt, hier befinden sich u.a. ein Coiffeur, ein Kiosk, ein Optiker, ein Claro-Weltladen und eine Dépendance der Spitex.

Beide Bauten gleichen sich in der Fassade, im Wohnungsangebot hingegen unterscheiden sich die Volumen: Während im Zeilenbau in den drei Obergeschossen 33 Ein- bis Dreizimmerwohnungen (42.5–78.5 m²) mit einer Laubengangerschliessung untergebracht sind, befinden sich im fünfgeschossigen Punktbau 16 windmühlenartig um einen Erschliessungskern gruppierte Dreizimmerwohnungen mit einer Fläche von 80–86 m².

Die Wohnungen des Zeilenbaus sind jeweils von zwei Seiten belichtet, über die versetzte Anordnung der eingeschobenen Kerne aus Reduits und Nasszellen ergibt sich in den Haupt­räumen eine Zonierung, die eine Staffelung von den öffentlichen Bereichen am Laubengang (Küchen / Essbereiche) zu den privateren auf der Südostseite erlaubt. Diese Anordnung soll Begegnungen ermöglichen und so die Erschliessungszone aufwerten. Grosszügige, zum Hof orientierte Loggien bieten einen geschützten Aussenraum. Im Inneren weisen lediglich die schwellenlosen Nassräume auf die spezielle Nutzung hin: Statt eines Spiegelschranks über dem Lavabo wurden Schränke eingebaut, die auch für Rollstuhlfahrer benutzbar sind. Ein Badezimmer mit Badewanne (mit Einstieg) kann zusätzlich von allen Mieterinnen und Mietern genutzt werden. Daneben sind gewisse Leistungen wie die Gebäudereinigung und der Unterhalt der gebäudetechnischen Anlagen extern vergeben. Auf der sozialen Ebene begleitet die Verwaltung mit der Genossenschaft «Zukunftswohnen» die Bewohner und Bewohnerinnen mit einem Coaching. Arbeitsgruppen, etwa zur Betreuung einer Bibliothek oder des Gartens, sollen die Bindungen der Mieterinnen und Mieter untereinander stärken. Noch sucht die Genossenschaft «Am Hof» ihre Identität – was neben dem Neubezug vor allem durch das Wegfallen der im Wettbewerb noch vorgesehenen Gemeinschaftsflächen behindert wird. Der geplante Fitness- und Wellnessbereich musste auf Wunsch der Totalunternehmung weichen – stattdessen sind nun Aussenfitnessgeräte für den Garten in Planung. Der finanziellen Optimierung konnte lediglich ein für ­Bewohner und ­Bewohnerinnen mietbares Gästezimmer im 1. Obergeschoss und ein redimensionierter Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss entgehen. Inwieweit die Mieterinnen und Mieter tatsächlich am genossenschaftlichen Miteinander interessiert sind, bleibt zu diesem Zeitpunkt – sechs Monate nach Bezug – offen.

Gemeinschaftswohnen Winterthur-Seen

Der Neubau mit seiner Fassade aus blau gestrichenen, horizontalen Holzlamellen liegt ­etwas zurückversetzt an der Kanzleistrasse in einem Wohnquartier nahe der S-Bahn-Station von Winterthur-Seen. Die über die Gebäudeecken gebogenen Lamellen markieren in den ­Brüstungsbereichen als umlaufende Bänder die Geschosse, dazwischen sitzen die weissen Fensterrahmen der grosszügigen Öffnungen. Auf der Gartenseite ergibt sich ein ganz ­anderes Bild des Wohnbaus: Die Lamellen öffnen sich im Brüstungsbereich der über die Geschosse durchlaufenden Balkonzone – die raumhohe Befensterung ermöglicht auch bettlägerigen Personen den Blick ins Freie. Im Erdgeschoss liegt eine ausladende Holz­terrasse, die in den Garten führt. Die offenen Balkone und Terrassen wecken in Verbindung mit der blau gestrichenen Fassade Assoziationen an skandinavische Wohnbauten. Die ­Balkonzonen werden durch Rücksprünge des sich in die Tiefe staffelnden Grundrisses ­zoniert, ohne dass eine Trennung zwischen den einzelnen Wohnungen erforderlich wird. Diese Idee spiegelt das Wohnkonzept: Wer möchte, kann an der Gemeinschaft teilhaben – wer für sich sein möchte, kann sich zurückziehen.

Als private Initiative wurde 2007 der Hausverein Kanzlei-Seen gegründet, der sich auf der ­Suche nach einem geeignetem Objekt für ein Wohnkonzept, das den Gemeinschaftsgedanken betont, an die Winterthurer Genossenschaft GESEWO wandte. Die 1984 gegründete ­gemeinnützige Wohnungsbaugenossenschaft bietet ihren Mitgliedern die Möglichkeit des selbstbestimmten Wohnens in der Gemeinschaft.[4] Sie stellt für unterschiedliche Nutzer­gruppen Wohn- und Gewerberaum zur Verfügung. Die Bewohner und Bewohnerinnen ­organisieren sich in Hausvereinen selbst, und die Genossenschaft unterstützt diese bei der Verwaltung der Liegenschaften. Der Hausverein ist für die Auswahl neuer Mieterinnen und Mieter und den Gebäudeunterhalt verantwortlich und definiert auch die Notwendigkeit von Erneuerungs- und Renovationsarbeiten für die jeweilige Liegenschaft. In vom Hausverein ­organisierten Sitzungen werden die Hausregeln, das Budget, anstehende Unterhaltsarbeiten, die Nutzung der gemeinschaftlichen Anlagen besprochen. Je nach Bedarf kommen Vertreter der Genossenschaft hinzu.

Bei seinem Vorhaben kam dem damaligen Hausverein der Zufall zu Hilfe. Auch die Genossenschaft überlegte zu diesem Zeitpunkt, ein Projekt zu realisieren, das in Bezug auf das gemeinschaftliche Wohnen über die gängigen Konzepte hinausgeht. In Folge wurde für das aus zwei Parzellen zusammengelegte Grundstück an der Kanzleistrasse ein Studienauftrag ausgeschrieben. Die Zürcher Architekten Haerle Hubacher überzeugten mit ihrem Konzept eines Gemeinschaftswohnhauses (vgl. TEC21, 14/2008). Zentrale Idee, die sich in der Grundrissorganisation ablesen lässt, ist die Anordnung von kleineren privaten Wohneinheiten um grosszügige gemeinsam genutzte Räume (Abb. 18–19; vgl. auch TEC21, 7/2011).

Das im Dezember 2010 fertiggestellte Wohnhaus beherbergt 16 Wohneinheiten von 38 bis 67 m² auf vier Geschossen, dazu kommen gut 400 m² für gemeinsame Nutzungen, die im ganzen Haus durch den Bodenbelag aus rotem Linoleum gekennzeichnet sind. Den grössten Anteil davon nehmen die Flächen im Erdgeschoss ein. Über den Haupteingang gelangt man in einen offenen Flurbereich und blickt direkt auf den grossen, zur Terrasse ausgerichteten Gemeinschaftsraum. Der Raum wird genutzt – täglich, nicht nur bei Veranstaltungen, wie es bei grösseren Anlagen oft der Fall ist. Die Küche bietet genug Platz zum gemeinschaftlichen Kochen, zu dem sich die Bewohner regelmässig verabreden. Im Erdgeschoss liegt auch ein Zimmer mit eigenem Bad, das Freunde und Verwandte auf Besuch nutzen können. Im ersten und zweiten Obergeschoss ist die Gemeinschaftsfläche eine grosszügige Erschliessungszone mit geräumigen Nischen zur Strassen- und Gartenseite. Die Bewohnerinnen und Bewohner haben sie unterschiedlich belegt und als Bibliothek, Bügelecke, Platz zum Musizieren oder PC-Arbeitsplatz eingerichtet. Im dritten Obergeschoss geht die Zone in einen grossen Gemeinschaftsraum mit Küchenzeile über, hier sollen künftig Veranstaltungen für das Quartier, wie zum Beispiel Lesungen, durchgeführt werden. Auf jeder Etage befinden sich Stauflächen für die einzelnen Wohnungen in einem Einbaumöbel.

Die offenen Gemeinschaftszonen geben den Bewohnern Raum für die Gestaltung privater Eingangssituationen. Diese Bereiche erinnern an die Gassen eines Altstadtquartiers, wo die individuellen Hauszugänge ganz ähnlich mit Blumen oder Bänken markiert sind. Alle ­Wohneinheiten sind mit eigener Küchenzeile und einem Bad mit schwellenloser Dusche ­ausgestattet und haben Zugang zu den zum Garten orientierten Balkonzeilen.

Die Bewohnerinnen und Bewohner an der Kanzleistrasse sind seit etwas mehr als einem Jahr in ihrem neuen Heim. Noch wird an den Definitionen der Flächen und den Nutzungen gearbeitet, doch schon jetzt zeigt sich, dass die Mieter Bereitschaft zeigen müssen, sich auf das Konzept einzulassen. Die Pflichten im Haus wie die gemeinschaftlichen Aktivitäten machen aus den 18 Mietern eine grosse Wohngemeinschaft – neben all den Vorteilen birgt das auch Konflikte.

Selbständigkeit hält fit

Die vorgestellten Beispiele verdeutlichen, dass es sich für zukünftige Mieter wie auch für Bauherrschaften und Planerinnen und Planer lohnt, über die Zielgruppen der einzelnen Projekte, deren Bedürfnisse und Möglichkeiten nachzudenken. Dass dieses Wissen die Architektur beeinflusst, zeigen die Beispiele in Winterthur und Köniz; umgekehrt wirkt sich diese auch auf das spätere Zusammenleben aus. Die Alterswohnungen in Zürich werden von den Bewohnerinnen angenommen. Trotz der Grösse gibt es im Haus eine gewachsene Nachbarschaft, die Nähe zulässt. In Köniz ­dagegen ist die gegenüber dem ursprünglichen Konzept veränderte Anlage deutlich un­persönlicher. Durch die reduzierten Gemeinschaftsflächen und die nur in der Minimalvariante umgesetzte Gestaltung des Gartens gibt es für die Bewohnerinnen und Bewohner weniger räumliche Berührungspunkte für einen zwanglosen Austausch. Zudem manifestiert sich in den Grundrissen des Punktbaus ein Grundproblem des Projekts: Für Alleinstehende oder Paare sind die Wohnungen zu gross und mit durchschnittlich über 2000 Fr. Miete auch zu teuer. Die kleineren und auf den ersten Blick etwas unkonventionelleren Wohnungen mit dem Z-förmigen Grundriss im Zeilenbau sind hingegen (fast) alle vermietet. Allerdings liegt der Altersdurchschnitt der Mieter und Mieterinnen mit 70 Jahren höher als ursprünglich anvisiert – ein Indiz, dass der Wechsel vom Familienwohnen zu kleineren Einheiten häufig erst nach der Pensionierung erfolgt und damit deutlich später als von den Investoren proklamiert.

Fast ein Mehrgenerationenhaus ist dagegen die Wohngemeinschaft in Winterthur: Mit einem Altersspektrum von 50 bis 90 Jahren und sowohl Berufstätigen als auch Paaren ist die Diversität innerhalb der 16 Parteien vergleichsweise hoch. Entscheidend ist hier der Gemeinschaftsaspekt: Die Selbstverwaltung und demokratische Entscheidungsfindung benötigt viel Zeit und ­Engagement. Doch der Aufwand scheint sich zu lohnen, die Bewohner und Bewohnerinnen haben das Haus in Besitz genommen.

Ein nicht zu unterschätzender Faktor bei der Wahl des individuellen Wohnmodells ist der ­finanzielle Aspekt: Einen Einkauf in eine Genossenschaft kann sich nur leisten, wer über das entsprechende Vermögen verfügt. Vor allem Frauen, die aufgrund der höheren Lebenserwartung (vgl. «Für eine selbständige zweite Lebenshälfte», S. 22) die Mehrheit der über 65-Jährigen stellen, haben aufgrund niedriger Renten oder nach einer Scheidung oft nicht die finanziellen Mittel, um ihre Wohnform tatsächlich selbstbestimmt wählen zu können.

Eine Bauherrschaft, die – wie bei der Alterssiedlung Dufourstrasse – auf diese begrenzten Möglichkeiten mit einem auch architektonisch überzeugenden Angebot reagiert, erweist sich in einer solchen Situation als Glücksfall.


Anmerkungen:
[01] Informationen: www.wohnenab60.ch
[02] Schweizerische Bauzeitung, 23/1926, S. 31
[03] Informationen: www.zukunftswohnen.ch
[04] Informationen: www.gesewo.ch

TEC21, Fr., 2012.03.23



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TEC21 2012|13 Gemeinschaft im Alter

16. Dezember 2011Tina Cieslik
TEC21

À la Recherche …

Lässt sich Identität räumlich konstruieren? Die erstmals im Frühling 2009 an der ETH Zürich gezeigte Installation «The Lost Space of Stiller» des in London tätigen Architekten Markus Seifermann wagt eine räumliche Annäherung an ein Standardwerk der Identitätssuche, Max Frischs Roman «Stiller» von 1954. Die vielschichtige Interpretation soll Besucher und Besucherinnen dazu anregen, vermeintliche Gewissheiten infrage zu stellen – und den Fokus in der Architektur von den Zahlen wieder zu den Menschen zu verlagern.

Lässt sich Identität räumlich konstruieren? Die erstmals im Frühling 2009 an der ETH Zürich gezeigte Installation «The Lost Space of Stiller» des in London tätigen Architekten Markus Seifermann wagt eine räumliche Annäherung an ein Standardwerk der Identitätssuche, Max Frischs Roman «Stiller» von 1954. Die vielschichtige Interpretation soll Besucher und Besucherinnen dazu anregen, vermeintliche Gewissheiten infrage zu stellen – und den Fokus in der Architektur von den Zahlen wieder zu den Menschen zu verlagern.

Die Frage nach Identität ist ein roter Faden im Werk des Zürcher Schriftstellers und Architekten Max Frisch. Sein Roman «Stiller» (vgl. S. 20) bildet mit «Homo Faber» (1957) und «Mein Name sei Gantenbein » (1964) eine Trilogie, in der der Autor die Konstruktion der eigenen Identität durch die Beziehung zu seinen Mitmenschen auslotet – und dabei immer den Anspruch erhebt, wandelbar zu bleiben, Unvorhergesehenes zuzulassen.

Dieses Moment des Zufalls als Instrument der Erkenntnis steht auch im Zentrum der Installation «The Lost Space of Stiller – eine räumliche Annäherung»[1]. In seiner Masterarbeit 2005 an der Londoner Bartlett School of Architecture beschäftigte sich der Architekt und Gründer des Londoner Architekturbüros ’Patalab Markus Seifermann (vgl. Kasten) mit den räumlichen Bezügen in Frischs Werk, vor allem im «Stiller». Das Resultat waren 13 Collagen, die imaginierte Identitätsmaschinen zeigen. Mit ihnen werden Geschichtskokons geerntet, aus deren Fäden der Stoff für Stillers Geschichtsanzüge gesponnen wird (Abb. 7–9) – auch ein Verweis auf den Protagonisten aus «Mein Name sei Gantenbein», der «Geschichten anprobiert wie Kleider»[2]. Diese Collagen bildeten die physische und theoretische Basis für die Installation «The Lost Space of Stiller», die im Februar 2009 in der Haupthalle der ETH Zürich erstmals gezeigt wurde (weitere Ausstellungen sind für 2012/13 geplant, TEC21 wird berichten). Seifermann machte sich damit daran, Stiller nicht nur mit Identitäten auszustatten, sondern diese zu erforschen.

Raumgreifende Collage

Um sich der breiten Rezeption von Frischs Werk zu entziehen, wandte der Architekt architektonische Methoden an: Er transformierte seine Arbeit vom Plan ins Dreidimensionale. Im Zentrum seiner Installation stehen aber nicht die Handlungsorte des Romans, sondern die zweite Ebene, auf der sich die Geschichte abspielt: die Räume, die sich zwischen den Romanfiguren auftun, die unsichtbaren, aber spannungsvollen Zwischenräume – «das Unsagbare, das Weisse zwischen den Worten» (Max Frisch)[3]. Um die nötige Distanz zur Handlung des Buches aufzubauen, führte Seifermann die Kunstfigur des «identity stalkers» ein: Der Stalker ist auf der Suche nach der wahren Identität von Anatol Ludwig Stiller, die Installation ist seine Wohnung. Hier sammelt er akribisch Indizien für Stillers Identität, die er zu einem fassbaren Ganzen zusammenfügen will.

Die eigentliche Wohnung bilden vier hölzerne Frachtcontainer, einer davon aufgeplatzt als offene Wohnfläche, auf der Sofa, Fernseher, Teppich und Kronleuchter gruppiert sind. Jede dieser Einheiten erzählt eine Episode der Suche des Stalkers. So kann auch der Kronleuchter im Wohnzimmer mehr als nur leuchten: Eingebaute polierte Türknäufe spiegeln die Gesichter der Besucher, die Spiegelungen werden von im Kronleuchter installierten Kameras gefilmt. Auch die Maschinencollagen aus Seifermanns Abschlussarbeit tauchen wieder auf. Gesammelt in einem transportablen Collagiertisch (Abb. 10), verweisen sie auf die Vergänglichkeit vermeintlicher Gewissheiten. In einem der Container befindet sich das Badezimmer. An die Decke gehängt, bilden acht asynchron laufende Rasierapparate die Geräuschkulisse für die gesammelten Darstellungen in der Glasvitrine an der Wand: 18 Barthaarlandschaften in Petrischalen, mit denen der Stalker ein Barttagebuch führt und sich, wie Frischs Protagonist aus «Homo Faber», seiner selbst versichert.[4] In der Duschwanne trifft man wieder auf die Impressionen aus dem Kronleuchter: Die von den Kameras gefilmten verzerrten Spiegelungen werden in die Duschwanne projiziert, der Stalker duscht in den Bildern seiner Besucher und eignet sich so Teile ihrer Identität an, bevor er die Bilder durch den Abfluss spült (Abb. 6). Ein weiterer Container enthält das Esszimmer. Sechs Puppentorsi sind um eine gedeckte Tafel arrangiert, aber statt Teller und Besteck ist vor jedem Torso ein Fleischwolf platziert (Abb. 2). Die Torsi hängen an Fleischerhaken an der Decke und sind gefesselt – wurden hier im Rahmen der Wahrheitssuche Zeugen für Stillers Existenz gefoltert, ihre Körperteile durch den Fleischwolf gedreht?

Eine Treppe im dritten Container führt auf den Estrich, aus der Öffnung in der Decke tönen Geräuschfetzen. Ein Plattenspieler graviert hier in einer Endlosschlaufe seine Spuren in den Abguss einer Wachsschallplatte. Mit jeder Umdrehung kratzt die Nadel die aktuelle Wahrheit in das Wachs, ein Trichter überträgt die Botschaft akustisch in die Wohnung des Stalkers.

Synästhetische Spurensuche

Auf seiner Spurensuche bedient sich der Stalker forensischer Methoden. Er durchforstet Schweizer Telefonbücher nach Namensvettern von Stiller, er zerlegt Gedrucktes und dreht die Einzelteile durch seine imaginierten Geschichtsmühlen (Abb. 8). Wie ein Könner der Molekularküche zerlegt er seine Funde, um daraus die Essenz von Stillers Identität zu extrahieren. Diese Dekonstruktion kann nicht zum Erfolg führen: Je akribischer der Stalker sammelt, umso nebulöser werden die Grenzen von Stillers Existenz. Oder wie Max Frisch Mitte der 1940er-Jahre in seinen Tagebüchern schreibt: «Wahrheit kann man nicht beschreiben, nur erfinden.»[5] Umgesetzt hat Seifermann diese Suche auf verschiedenen Ebenen. Die Eindrücke der Collagen, Geräusche, Bilder und Diaprojektionen verschwimmen zu einem diffusen Gemisch aus Faszination, Ekel und Erotik, und treffen dabei vermutlich genau jenes Gefühl, das den Stalker mit dem Objekt seiner Begierde verbindet. Der Eindruck, der dadurch entsteht, ist suggestiv, irrational, manchmal heiter, oft verstörend.

Wie der Stalker seine Indizien, zerlegt Seifermann die Literatur und setzt sie präzise zu seiner «räumlichen Annäherung» neu zusammen. Ersterer benutzt Instrumente wie Lupen, Pinzetten, Mühlen, Rasierapparate, Trichter und Kameras; Seifermann arbeitet mit Entwurfsmethoden der Architektur, setzt Fragmente ein, stellt Collagen her und gebraucht Readymades – ähnlich wie Frisch im 1979 erschienenen «Der Mensch erscheint im Holozän». Diese Medien überlagern sich, ihre (Informations-)Schichten sind kontinuierlich im Fluss und bieten so Raum für den Zufall und neue Erkenntnisse. Nicht die einzelnen ausgestellten Gegenstände stehen im Vordergrund, sondern das, was sich durch deren Kombination im Raum abspielt. Tatsächlich wäre es Seifermann am liebsten, könnte er die Frachtcontainer jeweils an verschiedenen Orten einer Stadt platzieren: Durch eine grössere Distanz käme damit in bester ’pataphysischer Manier (vgl. Kasten, S. 30) mit dem Zeitfaktor eine weitere Ebene hinzu – das, was den Besuchern und Besucherinnen auf dem Weg zwischen den einzelnen Exponaten passiert.

Erinnerungen und Überlagerungen

Mit dem Einbezug des in der Architektur in der Regel fehlenden Phänomens der Zeit, schlägt Seifermann die Brücke zu seinen Referenzen. Als Vorbilder nennt er neben Marcel Proust und den Surrealisten zeitgenössische Werke wie Wilfried Georg Sebalds Roman «Austerlitz» (2001)[6] oder Christopher Nolans Film «Memento» (2000)[7]. Der Schriftsteller und der Filmemacher kreieren in ihren Arbeiten zwischenmenschliche Räume, die mit einer linearen chronologischen Abfolge nicht darzustellen wären. Neben den künstlerischen gibt es auch wissenschaftliche Bezüge aus der Neurologie. Die spiegelnden Türknäufe im Kronleuchter stammen beispielsweise aus einer Episode in Oliver Sacks Buch «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte»[8]. Darin berichtet der Autor von einer Person mit Identitätsverlust, die nur noch mit Knöpfen, Ringen oder Türknäufen sprach. Der Türknauf zeigte das eigene Spiegelbild, aber so verzerrt, dass in der Wahrnehmung der Person tatsächlich der Türknauf kommunizierte.

Offenheit für Interpretationen

Max Frischs Arbeiten räumlich zu interpretieren, erscheint bei genauerer Überlegung fast logisch – und dies nicht wegen dessen Ausbildung und Tätigkeit als Architekt oder der hohen Wertschätzung, die der Autor in Architektenkreisen geniesst. Frischs Romanfiguren sind räumlich angelegt, werden weniger über ihre Handlungen als über ihre Ecken, Kanten und Beziehungen untereinander charakterisiert. Über diese Beschreibungen erschliesst sich das Innenleben von Frischs Figuren.

Sich auf «The Lost Space of Stiller» einzulassen, verlangt Neugier und Unvoreingenommenheit. Dafür werden die Besucher und Besucherinnen mit einer Annäherung an ein literarisches Werk belohnt, die gänzlich ohne Text auskommt. Man kann sich bei der Auseinandersetzung mit der Installation nicht nur festgefahrener Sichtweisen zu Frischs Werk entledigen, sondern erfährt am Ende womöglich mehr über die eigene als über Stillers Identität. Tatsächlich ist die Installation aber auch als architektonisches Statement zu verstehen: gegen festgefügte Vorstellungen von Architektur, gegen einen Rationalismus, der alles mess- und damit vermeintlich beherrschbar gestalten will. «The Lost Space of Stiller» ist damit auch ein Plädoyer dafür, sich wieder den Menschen in den Räumen, ihren Fantasien, Hoffnungen, Wünschen und Ängsten zuzuwenden.


Anmerkungen:
[01] Erstmals gezeigt wurde die Ausstellung im Frühjahr 2009 an der ETH Zürich, ein Jahr später war sie in Teilen zusammen mit «The Poet’s Garden» (s. «Ceci n’est pas …», S. 36) im Architekturforum Ostschweiz zu sehen
[02] Max Frisch, Mein Name sei Gantenbein, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1964
[03] «Was wichtig ist: das Unsagbare, das Weisse zwischen den Worten, und immer reden diese Worte von den Nebensachen, die wir eigentlich nicht meinen.» Aus: Tagebuch 1946–1949, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1950
[04] «Ich fühle mich nicht wohl, wenn unrasiert […]. Ich habe dann das Gefühl, ich werde etwas wie eine Pflanze […].» Aus: Max Frisch, Homo Faber, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1957
[05] Max Frisch, Schwarzes Quadrat: Zwei Poetikvorlesungen. Hrsg. von Daniel de Vin, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008
[06] Wilfried Georg Sebald, Austerlitz, Hanser Verlag, München 2001
[07] Christopher Nolan, Memento, I Remember / Newmarket Capital Group / Team Todd, USA 2000
[08] Oliver Sacks, Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, Rowohlt, Rheinbeck 1988 Ein Film zur Ausstellung mit Erläuterungen von Markus Seifermann ist auf youtube zu sehen: www.youtube.com/watch?v=LIQr2DhAKgY

TEC21, Fr., 2011.12.16



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TEC21 2011|51-52 Raum zwischen Zeilen

29. Juli 2011Tina Cieslik
TEC21

Wohnen Im Silo

Die Obermühle in Baar ist die älteste urkundlich erwähnte Mühle im Kanton Zug (vgl. Kasten). Nachdem der Betrieb 2001 ausgelagert worden war, entwickelten die Architekten von NRS-Team aus Baar einen Gestaltungsplan für das gesamte Areal. Dabei erhielt das 35 m hohe Silo eine neue Nutzung: Wo früher Mehl und Getreide lagerten, befinden sich nach dem zusammen mit Berchtold Eicher Bauingenieure ausgeführten Umbau seit Mitte 2010 Wohnungen und Ateliers. Die Spuren der ursprünglichen Nutzung bleiben erkennbar. Neben dem markanten Siloturm und dem historischen Mühlengebäude besteht das Ensemble aus einem Kleinkraftwerk am Mühlebach, das in die Energieversorgung des neu genutzten Silos mit einbezogen wurde, sowie aus zwei Fabrikantenvillen von 1910. Ausser dem Silo sind alle Gebäude im Inventar der schützenswerten Bauten des Kantons Zug aufgeführt. Dennoch sollte auch dieser Bau erhalten bleiben, als Landmark und um den Ort als historischen Industriestandort aufzuwerten.

Die Obermühle in Baar ist die älteste urkundlich erwähnte Mühle im Kanton Zug (vgl. Kasten). Nachdem der Betrieb 2001 ausgelagert worden war, entwickelten die Architekten von NRS-Team aus Baar einen Gestaltungsplan für das gesamte Areal. Dabei erhielt das 35 m hohe Silo eine neue Nutzung: Wo früher Mehl und Getreide lagerten, befinden sich nach dem zusammen mit Berchtold Eicher Bauingenieure ausgeführten Umbau seit Mitte 2010 Wohnungen und Ateliers. Die Spuren der ursprünglichen Nutzung bleiben erkennbar. Neben dem markanten Siloturm und dem historischen Mühlengebäude besteht das Ensemble aus einem Kleinkraftwerk am Mühlebach, das in die Energieversorgung des neu genutzten Silos mit einbezogen wurde, sowie aus zwei Fabrikantenvillen von 1910. Ausser dem Silo sind alle Gebäude im Inventar der schützenswerten Bauten des Kantons Zug aufgeführt. Dennoch sollte auch dieser Bau erhalten bleiben, als Landmark und um den Ort als historischen Industriestandort aufzuwerten.

Die bestehenden Bauten auf dem Areal zu Wohn- und Büroflächen umzunutzen, lag zwar vor dem Hintergrund des angespannten Wohnungsmarktes im Grossraum Zug auf der Hand, drängte sich jedoch beim Silo aufgrund der vorhandenen Bausubstanz nicht unbedingt auf. Zwar befand sich dieses in gutem Zustand, aber mit seiner vertikalen Ausrichtung, den fensterlosen Fassaden und seinen vergleichsweise kleinräumigen Schächten bietet es auf den ersten Blick nicht die optimale Grundstruktur für zeitgenössisches Wohnen. In einem von der kantonalen Denkmalpflege und dem Zuger Bauingenieurbüro Berchtold Eicher begleiteten Prozess konnte schliesslich mit einer Kombination aus Erhalt des Bestands, Um- und Neubau eine Lösung gefunden werden, die den heutigen Bedürfnissen für Wohnungsbau gerecht wird, aber die ursprüngliche Nutzung erkennbar lässt. Der L-förmige Silobau wurde dafür nordseitig auf einen Rechteckgrundriss zurückgebaut und das im Westen an den Turm anschliessende Mühlengebäude um einen fünfgeschossigen Neubau ergänzt. Westseitig diesem ursprünglichen Kern vorgelagert ist eine 2.20 bis 3 m breite neue Schicht, die sich auch visuell durch die Verwendung von Zinkblech als Fassadenbekleidung von der bestehenden Bausubstanz abhebt (Abb. 1). Diese Erweiterung ermöglichte eine Vergrösserung der Wohnfläche sowie den Einbau von Loggien, die teilweise als vertikale Gärten mit Bäumen bepflanzt sind. Deren versetzte Anordnung bildet eine Art Riss in der Fassade, während sich die im Sichtbeton belassenen und nur durch die notwendigen Fenster ergänzten Nord-, Süd- und Ostfassaden eher verschlossen präsentieren.

Nur für Schwindelfreie

Das Raster der Getreideschächte innerhalb des Silos bestimmte massgeblich die Grundrisse der Wohnungen. Im Nord- und im Südteil lösten die Architekten die Zellenstruktur des 9.60 m × 35.70 m grossen Bestands auf, hier sind jetzt vom 2. bis 9. Obergeschoss jeweils eine Dreieinhalb- und eine Viereinhalbzimmerwohnung untergebracht (Abb. 13). Im Erdgeschoss und im 1. OG befinden sich Atelier,- Gewerbe- und Wohnflächen; Geschoss 10 und 11 verfügen über eine Fünfeinhalbzimmerwohnung sowie drei Viereinhalbzimmerwohnungen (Abb. 14). Der Mittelteil des Silos fungiert bis zum 9. OG als Erschliessungszone, hier liessen die Architekten 12 der ehemals 45 Getreideschächte stehen. Sie erstrecken sich über die Höhe von 25 m und dienen der Vertikalerschliessung mit Lift- und Treppenkernen sowie als Luftraum, der Ausblicke nach draussen erlaubt und die Vertikalität des Baus spüren lässt: Die belassenen Schüttspuren des Getreides entwickeln fast eine Sogwirkung (Abb. S. 15). Darüber hinaus bilden die Schächte eine nicht isolierte Vorzone vor jeder Wohnung und können als Lagerraum genutzt werden, analog zur ursprünglichen Nutzung (Abb. 12).

Tragstruktur genutzt, ersetzt, durchbrochen

Um den Anforderungen an den Komfort und den Ansprüchen des Minergiestandards zu genügen, sind die 23 Wohneinheiten rundherum jeweils mit einer 20 cm starken Innendämmung versehen. Die restlichen Bereiche sind kalt. Die Siloaussenwand umfasst also als kalte Haut zusammen mit dem kalt belassenen, mittleren Siloteil die beiden warmen Wohnbereiche (Abb. 15). Zwischen diesen Kalt- und Warmbereichen ist der Bau konsequent dilatiert, um Zwängungen zu minimieren und Wärmeausdehnungen aufzufangen. Nur punktuell sind die beiden Bereiche mit Chromstahlstäben miteinander verbunden (Abb. 10). Weil in diesen Bereichen mit Kondensatbildung gerechnet werden muss, sind Verbindungselemente mit höherer Korrosionsbeständigkeit nötig. Rechnerisch wirken die beiden Teile nicht zusammen, doch tatsächlich trägt die sehr steife Wabenstruktur des Erschliessungsbereiches zur Aussteifung des gesamten Gebäudes bei.

Getrennt von der mehr als 85 Jahre alten Silotragkonstruktion, trägt das neue Betonskelett aus einzelnen Schotten, Geschossdecken und vorfabrizierten Stützen alle vertikalen und horizontalen Lasten aus dem Wohnbereich in den Baugrund. Die bestehende 80 cm dicke Bodenplatte musste nicht verstärkt werden, da die neuen Tragelemente auf das alte Raster ausgerichtet sind und die Lastbilanz zeigte, dass die neue Nutzung leichter ist als die ursprüngliche.

Die westseitige, jeweils monolithisch mit der bestehenden Tragkonstruktion verbundene Erweiterung für die Loggien erhielt hingegen ein neues Fundament. Um differenzielle Setzungen zu vermeiden, wurde sie gepfählt.

Der Rückbau der filigranen Wabenstruktur im Innern des Silos mit Zellwänden von nur 15 cm Stärke erfolgte etappenweise und nach einem von den Bauingenieuren präzis geplanten und vorbestimmten Schema: Deckenabbruch, Spriessarbeiten, Anbringen von provisorischen Aussteifungen und Abbruch von Zellwänden wechselten sich ab. Zuerst begannen die Arbeiten im nördlichen, dann im mittigen und schliesslich im südlichen Siloteil. Dabei durften die Arbeiten im Silo Nord gegenüber jenen im Silo Mitte aus Stabilitätsgründen nicht mehr als zwei Geschosse Vorlauf haben. Die Betonarbeiten für die Neubaukonstruktionen erfolgten, sobald die Rückbauarbeiten in den betreffenden Schächten abgeschlossen waren.

Für den Brandfall ertüchtigt

Um die Wabenstruktur im Erschliessungskern bewahren und vor allem auch sichtbar belassen zu können, musste sie aufgrund der Nutzungsänderung den Anforderungen des Brandschutzes genügen. Der Treppenkern und das gesamte UG mussten in der neuen Nutzung die Feuerwiderstandsklasse R90 erfüllen und die restlichen Bereiche im EG bis zum 11. OG die Klasse R60. Die Bauingenieure überprüften deshalb die bestehende Betonkonstruktion auf ihren Brandwiderstand. Sie ermittelten die Wandstärken und die Bewehrungsüberdeckungen, indem sie im UG mit einem Profometer und im EG bis zum 4. OG in den Bereichen, wo Türen oder Fenster in die Zellwände gefräst worden waren, mit dem Massstab arbeiteten. Die Wände des Treppenhauses erfüllten die Anforderung R90 nicht – die Bauteilabmessungen und die Bewehrungsüberdeckungen waren kleiner als die erforderlichen 145 mm bzw. 20 mm. Deshalb wurde das Treppenhaus mit einer Vormauerung oder mit einer Betonaufdoppelung ertüchtigt. Die Wände und Stützen im Untergeschoss erfüllten zwar die Anforderung R90 bezüglich der Abmessungen – die Wände waren mindestens 300 mm und die Stützen mindestens 600 mm stark –, die Bewehrungsüberdeckungen waren jedoch geringer als die erforderlichen 19 mm. Die betroffenen Wandbereiche wurden mit Vormauerungen aus Kalksteinmauerwerk, Vorbeton oder mit Brandschutzverkleidungen ertüchtigt. Für die Wände im Erdgeschoss und in allen Obergeschossen mussten hingegen keine Massnahmen getroffen werden, da sie die Anforderung R60 an die Bauteilabmessung mit mindestens 145 mm und an die Bewehrungsüberdeckungen mit minimal 20 mm erfüllen – der gesamte Erschliessungskern darf sich deshalb unbearbeitet und unabgedeckt zeigen.

Für 30 Jahre, für 100 Jahre

Die roh belassenen Betonwände der drei Fassaden und des Erschliessungskerns bewahren den Silocharakter. In den Wohnungen ist es neben der kalten Vorzone vor allem die unverbaute Aussicht, die das ehemalige Silo spüren lässt. Die Innenräume sind unprätentiös mit weiss verputzten Wänden, weiss lasierten Betondecken und industriellem Eichenparkett ausgestattet. Die deutliche Unterscheidung zwischen der Rohheit der Tragstruktur und dem Innenausbau betont die verschiedenen Zeitachsen der Elemente: die Wohneinheiten, die zwar nicht gerade temporär, aber doch reversibel eingebaut sind, und das 85-jährige Tragwerk, das lange Zeit als Silo diente, jetzt Wohnungen beherbergt und in 30 Jahren vielleicht wieder einer ganz neuen Nutzung übergeben wird.

TEC21, Fr., 2011.07.29



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TEC21 2011|31-32 Umgenutzt

Tresor aus Nagelfluh

2007 gewannen die Luzerner Architekten Lütolf und Scheuner den Wettbewerb für den Neubau der Raiffeisenbank in Küssnacht am Rigi. Ihr Entwurf «Nagelfluh» überzeugte städtebaulich, mit guter Raumorganisation und einem lokalpatriotischen Kniff: Der Projektname weist auf das vorherrschende Gestein der benachbarten Rigi hin und stellt so den Bezug zum Standort her. Die in der Materialisierung der Nagelfluh nachempfundenen, vorfabrizierten Fassadenschwerter sind scharfkantig, glatt – fast geschmeidig – und beeindruckend präzise ausgeführt.

2007 gewannen die Luzerner Architekten Lütolf und Scheuner den Wettbewerb für den Neubau der Raiffeisenbank in Küssnacht am Rigi. Ihr Entwurf «Nagelfluh» überzeugte städtebaulich, mit guter Raumorganisation und einem lokalpatriotischen Kniff: Der Projektname weist auf das vorherrschende Gestein der benachbarten Rigi hin und stellt so den Bezug zum Standort her. Die in der Materialisierung der Nagelfluh nachempfundenen, vorfabrizierten Fassadenschwerter sind scharfkantig, glatt – fast geschmeidig – und beeindruckend präzise ausgeführt.

Die Raiffeisenbank ist die drittgrösste Bank der Schweiz. Zur Firmenphilosophie gehören neben der genossenschaftlichen Struktur insbesondere die Kundennähe und die lokale Verankerung, die auch durch die Pflege der Baukultur verwirklicht wird (vgl. Dossier Raiffeisenbank, Beilage zu TEC21 47/2006). 2006 fusionierten die Raiffeisenbanken am Rigi und Arth-Goldau zur Raiffeisenbank am Rigi mit Hauptsitz in Küssnacht. Um dem zusätzlichen Raumbedarf gerecht zu werden, lobte das Unternehmen im Frühling 2007 einen Studienauftrag mit Präqualifikation unter zehn eingeladenen Architekturbüros aus, den die Luzerner Architekten Lütolf und Scheuner für sich entschieden. Ihr Entwurf überzeugte mit der präzisen Reaktion auf die städtebauliche Ausgangslage und mit der intelligenten Umsetzung des Raumprogramms. Ausschlaggebend war aber der örtliche Bezug: Das Motiv für die Materialisierung der Fassade lieferte die Nagelfluh – ein junges Konglomerat aus Sedimentgestein mit gerundeten, farblich unterschiedlichen Gesteinskomponenten, das für die benachbarte Rigi typisch ist (Abb. 12).

Transparent und sicher

Das Grundstück, auf dem die im August 2010 eröffnete Filiale steht, liegt an der Bahnhofstrasse im Zentrum von Küssnacht (Abb. 1). Die Nutzung des Quartiers ist durchmischt, auch für den Neubau war ein Wohnflächenanteil von einem Viertel der Gesamtfläche vorgeschrieben. Die umgebende Bebauung stammt aus den 1960er- bis 1980er-Jahren und zeichnet sich durch eine gewisse Beliebigkeit sowie eine Vielfalt an Formen und Farben aus. Mit seiner nahezu quadratischen Form und der zurückhaltenden Materialisierung bildet der viergeschossige Neubau einen Ruhepol im heterogenen Stadtbild.

Leicht von der Strasse zurückversetzt, befindet sich das Gebäude in einer Linie mit den benachbarten Bauten, die Südwestfassade reagiert mit einer Schräge auf die leichte Krümmung im Strassenverlauf. Eine gedeckte Vorzone führt in den Eingangsbereich im Erdgeschoss. Aufgestellte Kunststeinschwerter mit rechteckigem Querschnitt hüllen das Gebäude bis zum Dach ein. Von der Seite betrachtet, erscheinen sie als Fläche und thematisieren damit ein Kernthema einer Bank: Das Spannungsfeld zwischen Öffnen und Schliessen, zwischen Transparenz und Sicherheit. Unterschiede im Rhythmus der Schwerter betonen die einzelnen Geschosse und die verschiedenen Nutzungen: An der Südwestfassade stehen die Schwerter im Erdgeschoss, wo die Kunden die Bank betreten, im Abstand von 2.54 m; sonst variiert ihr Achsabstand zwischen 0.64 m und 1.27 m (Abb. 1).

Gemeinsame Erschliessung, getrennte Funktionen

Auf das Entrée der Bank mit Bancomat folgt die grosse Kundenhalle. An der Nordostseite des Baus sind Einzelbüros, Besprechungs- und Nebenräume angeordnet, in den beiden Obergeschossen gibt es weitere Büros und ein grosses Besprechungszimmer. Die Erschliessung der Räumlichkeiten erfolgt vom Untergeschoss bis zum 2. Obergeschoss über eine einläufige Treppe. Ein zweigeschossiger Einschnitt in der Nordwestfassade – er gliedert den Kubus zusätzlich (Abb. 1, Abb.13) – bildet einen geschützten Aussenraum für die Mitarbeitenden der Bank. Um diesen Aussenraum herum sind im Dachgeschoss die Räume der Wohnung angeordnet, mit den Zimmern an der Nordostseite des Baus und einem grossen Wohnraum gegen Süden. Die 3.5-Zimmer-Wohnung wird über den gemeinsam mit der Bank genutzten Lift und über ein unauffällig an der Nordostseite des Baus platziertes Treppenhaus erschlossen. Ein an der südöstlichen Ecke des Kubus eingebetteter Patio erweitert den Innenraum – selbst die Vorhangschienen sind in diesen Bereich weitergezogen – um ein Viertel der Wohnfläche. Zwischen den beiden funktionalen Einheiten Bank und Wohnung gibt es keinen Sichtkontakt.

Sorgfältig verhüllt

Die Innenräume der Bank zeichnen sich durch eine Eleganz aus, die wesentlich vom sorgfältigen Einsatz der Materialien erzeugt wird. Die Wände sind komplett mit Nussbaumfurnier belegt, Türen und Einbauschränke verschwinden in der zusammenhängenden Holzoberfläche (Abb.15). Der über 100-jährige Baum, der das Furnier lieferte, stammte aus dem luzernischen Napfgebiet und musste wegen eines Sturms gefällt werden, das Holz wurde versteigert. Das aus dem Stamm produzierte Furnier reichte für eine Fläche von mehr als 1000 m², das überschüssige Material wurde für allfällige Reparaturen und Renovationen eingelagert. Der geschliffene Terrazzoboden enthält den gleichen Schwyzer Kies wie die Fassadenelemente.

Dadurch scheint der optische Übergang von Fassade zu Fussboden, von innen nach aussen, nahtlos (Abb. 11). Aus der Farbpalette der Gesteinskörnung im Terrazzo stammen auch die farblichen Akzente der ansonsten schwarzen Möbel: Die Lederober flächen der Servicemöbel im Erdgeschoss sind ochsenblutrot, die Verdunkelungsvorhänge im Sitzungszimmer dunkelgrün gehalten. Der Hintergrund ist mit weissen Vorhängen vor den Glasfassaden und ebenso gestrichenen Decken schlicht gestaltet, gebäudetechnische Elemente sollten möglichst reduziert oder ganz eliminiert werden. Neben den obligatorischen Rauchmeldern finden sich an den Decken daher lediglich die Beleuchtungskörper, die die Architekten speziell für diesen Bau entwickelt haben. Sie gewährleisten eine ausreichende Beleuchtung, ohne zu blenden, – hinter den minim abgehängten Sichtblenden befinden sich zudem die Zugänge für Zu- und Abluft.

Auch die gesamte tragende Konstruktion des Gebäudes in Massivbauweise ist unsichtbar: Die schlaff armierten Betonwände, die Flachdecken und innen liegenden, schlanken Stahlstützen an den Deckenrändern sind eingekleidet und in das architektonische Raster eingegliedert. Die Stahlstützen beispielsweise – gedrungene, mit einem Brandschutzanstrich versehene Vollstahlprofile – sind in Aluminiumbleche eingefasst. Ob ein solches Aluminiumblech hohl ist oder ein tragendes Element beinhaltet, ist nur noch auf Plänen zu erkennen (Abb. 11). Das Verkleiden des Tragwerks mag verwundern, ästhetisch macht es durchaus Sinn: Die regelmässig angeordneten, identischen «Stützen», die wiederum die Abmessungen und den Rhythmus der äusseren Fassadenschwerter übernehmen, schaffen eine visuelle Ruhe im Inneren.

Präzis und scharfkantig

Den gleichen Ansatz verfolgt die Fassade. Hier schaffen einheitlich dimensionierte und materialisierte Elemente ein ausgewogenes Bild. Der Kräftefluss lässt sich in der Anordnung der Schwerter vermeintlich ablesen, tatsächlich tragen die Fassadenschwerter aber nur ausnahmsweise, wie teilweise im Erdgeschoss. Auch diese bautechnisch verschiedenen Elemente behandelten die Planenden nicht unterschiedlich: Die Nagelfluh ist Vorbild für die Materialisierung der Schwerter aus vorfabriziertem Beton – ob sie tragen oder nicht. Die Fassadenelemente, die einen Querschnitt von 35 × 16 cm und eine maximale Länge von 7.20 m aufweisen, bestehen aus hochfestem Stahlbeton. Dieser wird mit einem gebrauchsfertig vorgemischten Bindemittel auf Portlandzementbasis[1] und mit einer Gesteinskörnung von 0–16 mm hergestellt. Durch Zusätze von Fliessmittel, Entlüfter und Schwindreduktionsmittel werden die Verarbeitungseigenschaften optimiert und ein dichtes Betongefüge erzielt.

Der Wasser/Bindemittel-Wert liegt dabei unter 0.2. Durch die hohe Frühfestigkeit des Betons – der Beton für Küssnacht erreichte am 7. Tag eine Druckfestigkeit von 71.44 N/mm2 – konnten die Elemente bereits nach nur sechs Stunden ausgeschalt und nur einen Tag nach dem Betonieren betonwerksteinmässig bearbeitet werden; eine Zwischenlagerung der Ele- mente entfiel. Wegen seiner geringen Porosität konnten die gegossenen und mit vorfabrizierten Körben schlaff armierten Elemente ohne vorheriges Schlämmen direkt geschliffen werden.

Die Vorfabrikanten schliffen und polierten die Elementoberfläche mit einer eigens für dieses Projekt entwickelten Maschine mit fahrbarem Schleifkopf. Aus architektonischer Sicht war es dabei wichtig, dass die vielfarbigen Rundkiese des 16er-Korns aus der Innerschweiz nicht nur angeschliffen wurden, sondern dass diese auch in genügend grosser Form in Erscheinung traten – wie es bei Nagelfluh der Fall ist. Indem die Vorfabrikanten die Schalung für die Elemente auf jeder Seite etwa 3 bis 4 mm grösser erstellten als das definitive Sollmass und das Übermass anschliessend abschliffen, konnten sie diesen ästhetischen Anspruch erfüllen. Das problematische und bei diesem Beton ausgeprägtere Schwindmass konnte so ebenfalls aufgefangen werden. Entsprechend präzise mussten jedoch die Einlagen in die Schalung versetzt werden.

Der Self Compacting Concrete (SCC) ermöglichte in diesem Fall eine effiziente Vorfabrikation, wodurch sich sein Einsatz rechtfertigte beziehungsweise die Vorfabrikation erst rentabel wurde. Ausserdem lassen sich mit diesem Beton respektive mit seinen Materialeigenschaften unter anderem die scharfen Kanten und die glatte Oberfläche der Schwerter erklären – die Präzision und die Geschmeidigkeit beeindrucken auch aus der Nähe.

Angemessen selbstbewusst

Mit dem Neubau erhält die Raiffeisenbank einen repräsentativen Firmensitz, der sich baulich im heterogenen Umfeld behauptet, ohne den Strassenzug zu dominieren. Die aussergewöhnliche Präzision in Projektierung, Planung und Ausführung – vor allem in der Verwendung des Materials durch die verschiedenen Massstäbe hindurch – sorgt für die starke Präsenz, die der Bau an seinem Standort am Fuss der Rigi entwickelt.


Anmerkung:
[01] Flowstone der Firma Dyckerhoff. Dieses Produkt ist, neben Portlandzementklinker und Sulfatträgern (wie Gips), aus Hüttensand und Quarzmehl zusammengesetzt

TEC21, Fr., 2011.05.13



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TEC21 2011|19-20 Ortsverbunden

13. Mai 2011Claudia Carle
Tina Cieslik
TEC21

Massgeschneidertes Lehmhaus

Von 2007 bis 2009 realisierten die Bieler spaceshop Architekten im solothurnischen Deitingen ein besonderes Einfamilienhaus. Der Bau dient als Experimentierfeld: Abwasserentsorgung und Energieerzeugung funktionieren nahezu autark, die Mehrheit der Baumaterialien – Lehm, Stroh, Bruchsteine und Holz – stammt aus einem Umkreis von maximal 10 km und wurde unveredelt weiterverwendet.

Von 2007 bis 2009 realisierten die Bieler spaceshop Architekten im solothurnischen Deitingen ein besonderes Einfamilienhaus. Der Bau dient als Experimentierfeld: Abwasserentsorgung und Energieerzeugung funktionieren nahezu autark, die Mehrheit der Baumaterialien – Lehm, Stroh, Bruchsteine und Holz – stammt aus einem Umkreis von maximal 10 km und wurde unveredelt weiterverwendet.

Die Anfänge des Projektes reichen bis ins Jahr 2004 zurück. Damals, nach dem Auszug seiner Kinder, konkretisierte Bauherr Ueli Flury seinen Wunsch nach weniger Wohnfläche. Als Baugrund bot sich der Garten seines damaligen Wohnhauses an, eines ehemaligen Bauernhauses mit angebauter Gärtnerei in der Dorfkernzone. Die Ausnützungsziffer des Grundstücks war noch nicht erreicht. Wichtiger als das eigentliche Gebäude war dem Bauherrn aber zunächst das bauökologische Konzept. Als Gärtner daran gewöhnt, mit den vorhandenen Ressourcen zu arbeiten und in möglichst geschlossenen Kreisläufen zu denken, wollte er diese Philosophie in den Bau einfliessen lassen. Gemeinsam mit dem befreundeten Landschaftsarchitekten Hans Klötzli und dem Bauökologen Ryszard Gorajek vom Berner Atelier für Architektur und Bauökologie AAB entwickelte er daher Lösungen für ein autark funktionierendes Gebäude mit einem möglichst geringen Aufwand an grauer Energie.

Neben den Baumaterialien umfasste der Ansatz auch Energieerzeugung und Abwasserentsorgung. Rasch wurde klar, dass der Aufwand relativ hoch ist und für einen Einpersonenhaushalt wenig Sinn ergibt. Man entschied sich daher, den Neubau in Bezug auf Fläche und Kapazität der technischen Infrastruktur für vier Personen zu konzipieren. Um die sorgfältige bauökologische Planung durch eine angemessene architektonische Qualität zu ergänzen, lud Bauherr Flury im Jahr 2006 vier Büros zu einem Studienauftrag ein, den die Bieler spaceshop Architekten für sich entschieden.

Bewegung durch Aussen- und Innenraum

Das Siegerprojekt beruht auf der Idee einer «promenade architecturale», auf der man sich zunächst von der Strasse aus entlang einer bestehenden Palisade in den hinteren Bereich des Gartens und ins Haus und anschliessend durch die seitlich gestaffelten Räume wieder in den Garten bewegt. Dieser Ablauf inszeniert unterschiedliche Ein- und Ausblicke in bzw. auf Haus und Grundstück und überspielt auch die geringe Grundfläche des pavillonartigen Baus, der nur drei Räume umfasst. Die beiden L-förmigen Lehmwände, die nahtlos vom Innen- in den Aussenraum übergehen, verweben die beiden Sphären nicht nur räumlich, sondern auch konstruktiv (Abb. 6). Wegen des hohen Grundwasserspiegels steht das Haus auf einem Sockel, was die Idee der «promenade» aufgrund der unterschiedlichen Bodenniveaus verstärkt. Betreten wird das Gebäude im zentralen Wohn-/Essbereich, der auch die Küche beherbergt und im Osten vom privaten Schlaf-/Badbereich sowie im Westen von einem Gartenzimmer flankiert wird. Das wesentliche Element der Küche ist der Stückholzherd, der sowohl zum Kochen als auch zum Heizen und zur Warmwassererzeugung dient. Er erwärmt das Wasser in einem Boiler und einem Wasserspeicher im Keller, von wo es an die Heizkörper in den Räumen abgegeben wird. Die dafür pro Jahr erforderlichen rund 10 Ster Holz stammen aus dem dorfeigenen Wald und werden vom Hausherrn zugeschnitten. Der relativ hohe Verbrauch ergibt sich aus dem Bedarf für die Warmwassererzeugung sowie aus den aufgrund des geringen Strohanteils eher mässigen Dämmwerten der Lehmwände.

Das Material gibt den Takt an

Nachdem das Raumprogramm und dessen konstruktive Umsetzung im Sommer 2007 feststanden, wurden zunächst die Strohballen für die Dämmung von Dach und Boden erworben: Die Landwirte verwenden unterschiedliche Maschinen für die Strohballenproduktion, dementsprechend unterscheiden sich deren Masse. Die Grösse der Strohballen bildete so das Ausgangsmodul für die gesamte Konstruktion. Auch das Fichtenholz aus dem Deitinger Burgerwald brauchte seine Zeit: Dem Mondkalender entsprechend wurde es Ende Oktober 2007 geschlagen. Um den Holzabfall so gering wie möglich zu halten, beschränkte man sich zudem auf die Normmasse für Holzbalken.

Der Bauherr wünschte sich bereits zu Beginn ein Lehmhaus. Neben der hohen Wärmespeicherfähigkeit des Materials sprach auch das angenehme Raumklima in Lehmhäusern mit einer relativ hohen, konstanten Luftfeuchtigkeit für diese Wahl. Lehm absorbiert zudem Gerüche – was sich bei der Nutzung der Wohnküche ohne Dunstabzug bereits als grosser Vorteil erwiesen hat. Die monolithischen Lehmwände sind auch visuell das dominierende Material des Baus. Sie sind in Lehmwellerbau-Technik errichtet, einer Massivlehmkonstruktion, die bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem in Ostdeutschland bei landwirtschaftlichen Ökonomiegebäuden zum Einsatz kam.[1] Dafür werden Stroh und Lehm in einem Mischungsverhältnis von ca. 25 kg Stroh auf 1 m³ Lehm gemischt, ohne Schalung mit einer Mistgabel zu einer Wand von bis zu 80 cm Höhe aufgeschichtet und anschliessend mit einem scharfen Spaten abgestochen (Abb. 3). Die Dicke der Wände von 80 cm ergab sich aus dem zu erreichenden Dämmwert – im Gegensatz zum zunächst favorisierten Stampflehm konnten mit dieser Technik die kantonalen Richtwerte eingehalten werden (s. Kasten S. 33). Das Stroh bietet zudem einen Witterungsschutz: Durch das Abstechen des Lehms sind die Halme von oben nach unten gerichtet, sodass Niederschläge ablaufen können und der dahinter liegende Lehm geschützt ist. Das Haus in Deitingen besteht aus vier horizontalen Schichten, die um das ganze Gebäude laufen. Konstruktiv geschützt werden die Lehmwände zudem durch bis zu 1.50 m grosse Dachüberstände. Das Dach und der Boden bestehen aus einer aufgedoppelten Balkenlage, in deren Zwischenräume die Strohballen als Dämmung gepresst wurden (Abb. 7). Die Dachhaut aus synthetischem Kautschuk ist mit einem Ziegelschrotsubstrat bedeckt und begrünt. Abgetragen werden die Dachlasten über in die Lehmwand eingelassene Holzstützen. Dieses Tragwerk ermöglichte zum einen den Bau eines Daches zum Schutz der Lehmwände während der Herstellung (Abb. 2). Zum anderen konnte so auf das Schwinden des Lehms reagiert werden: Während Fenster und Türen fest in die Holzkonstruktion montiert waren, konnten sich die Wände während des Trocknens innerhalb der Konstruktion bewegen, das Schwindmass betrug dabei etwa 10 cm. Ein weiteres lokales Baumaterial findet sich im Keller: Über Jahre vom Bauherrn gesammelte ehemalige Grab- und Brückensteine bilden die Kellermauern und den Sockel des Hauses. Um die graue Energie minimal zu halten, sind sie unbearbeitet mit Lagerfugen aus Trasskalkmörtel vermauert – ein reines Trockenmauerwerk im Keller akzeptierte der Tragwerksplaner nicht. Der Kellerboden besteht aus verdichtetem Mergel. Neben seiner Funktion als Lagerraum für Wein, Obst und Gemüse dient der Keller auch als Standort der Gebäudetechnik (Kompost-WC, Warmwasserboiler).

Graue Energie

Die Mehrheit der Baumaterialien stammt aus einem Umkreis von maximal 10 km und wurde roh belassen, um den energetischen Aufwand für Herstellung und Transport möglichst tief zu halten. Ausnahmen bilden die Flachdachabdichtung aus synthetischem Kautschuk, das Dachrandblech aus verzinntem Kupfer und die Doppelisolierverglasung. Auf Klebstoffe, Beschichtungen und Oberflächenbehandlungen wurde zugunsten eines gesunden Innenraumklimas verzichtet.

Die Bilanz der grauen Energie des Gebäudes, in die auch Lastwagentransporte und Maschineneinsätze eingerechnet wurden, ergibt mit 17.4 kWh/m2a einen Wert, der deutlich unter dem Zielwert des SIA-Effizienzpfades von 30 kWh/m2a liegt – dies trotz Eingeschossigkeit und relativ hohem Kelleranteil. Nicht eingerechnet ist in diesen Wert allerdings der Energieaufwand für die Trocknung der massiven Lehmwände mit Ölheizungen. Dieser war fast fünf Mal so hoch wie die graue Energie der Wände selbst (ohne Holzständer gerechnet), hätte aber mit einer besseren Zeitplanung vermieden werden können. Durch wetterbedingte Verzögerungen beim Bau der Lehmwände blieb vor dem gewünschten Bezugstermin nicht mehr genug Zeit für eine natürliche Austrocknung des Lehms.

Geschlossene, lokale Kreisläufe

Neben der Minimierung der grauen Energie lag den Planern vor allem der Gedanke der Autarkie des Gebäudes am Herzen. Die Umsetzung einer autarken Energieversorgung stellte sich in der Praxis jedoch als schwierig heraus. Da sich das Haus in einem Grundwasserschutzgebiet befindet, schied die Nutzung von Grundwasserwärme von vornherein aus. Geringes Windaufkommen und eine relativ hohe Bebauungsdichte sprachen gegen die Nutzung von Windenergie. In Erwägung gezogen wurde hingegen eine Biogasanlage, in der man die beim WC anfallenden Fäkalien sowie Feststoffe aus der Kläranlage hätte vergären und daraus Energie erzeugen können. Kleine, für einen Einzelhaushalt geeignete Biogasanlagen gibt es allerdings nur in Einzelanfertigung. Sie sind zudem unterhaltsintensiv. Daher verwarf das Planungsteam diese Option. Als weitere Variante für die Energieversorgung prüfte man die Nutzung von Wasserkraft. Der an der Grundstücksgrenze verlaufende Bach hat zwar ein geringes Gefälle, aber einen relativ hohen konstanten Abfluss, mit dem man ein Wasserrad hätte antreiben können. Diese Idee scheiterte jedoch an Bedenken des Fischereiverbandes.

Deshalb entschied man sich schliesslich für eine Fotovoltaikanlage auf dem Dach des benachbarten Bauernhauses. Für eine autarke Energieversorgung hätte es eine Batterie gebraucht, die aber teuer und energieintensiv in der Herstellung ist. Der produzierte Strom wird daher komplett ins öffentliche Stromnetz eingespeist. Dafür bezieht der Bauherr wiederum Ökostrom aus dem Netz, dank energieeffizienten Geräten und einem Leben ohne Fernseher und PC aber nur ein Viertel der von der Fotovoltaikanlage produzierten Menge. Der überschüssige Strom kompensiert rechnerisch mit der Zeit die im Gebäude steckende graue Energie (siehe Kasten S. 33).

Autark ist das Gebäude hingegen beim Wasserkreislauf. Das Grundstück verfügt über eine eigene Quelle, die den Bauherrn mit Wasser in Trinkwasserqualität versorgt. Das Grauwasser, also das Abwasser aus Küche, Waschbecken und Badewanne, wird in einer Pflanzenkläranlage neben dem Gebäude gereinigt und dann als Giesswasser in der benachbarten Gärtnerei verwendet (Abb. 9). Da die 2 m lange und 8 m breite, mit Schilf bewachsene Kläranlage nicht wie sonst üblich im Boden versenkt werden konnte, um ein genügend grosses Gefälle zur Gärtnerei hin zu erhalten, trennt sie den Eingangsbereich nun optisch vom Garten. Das gereinigte Wasser erreicht gemäss Messung des Kantons Trinkwasserqualität. Trotzdem hätte man es wegen der Ausweisung des Grundstückes als Grundwasserschutzgebiet nicht im Garten versickern lassen dürfen. Nur die Synergie mit der Gärtnerei ermöglichte also den autarken Wasserkreislauf.

Das WC funktioniert ebenfalls ohne Anschluss an die öffentliche Kanalisation. Die Fäkalien werden in einem Kompostbehälter im Keller gesammelt. Die Zugabe von Holzschnitzeln verbessert das Stickstoff-Kohlenstoff-Verhältnis des Komposts. Das anfallende Abwasser verdunstet grösstenteils, der Rest muss alle zwei bis drei Wochen abgelassen werden und wird vom Bauherrn zur Düngung des Gartens verwendet. Der Kompostbehälter muss nur rund zweimal pro Jahr geleert werden. Das vorkompostierte Material wird in einem Silo weiterkompostiert und kann schliesslich als Gartenerde verwendet werden.

Verantwortung für den gesamten Lebenszyklus übernehmen

Da dort, wo ein Kanalisationsnetz besteht, der Anschluss von Gebäuden an dieses Netz Pflicht ist, waren der autarke Abwasser- und WC-Kreislauf nur dank einer Ausnahmebewilligung der Behörden möglich. Wäre der Anschluss an die Kanalisation nicht die einfachere und möglicherweise auch aus Sicht der grauen Energie günstigere Lösung gewesen? Einen genauen Vergleich der grauen Energie habe man nicht gemacht, erklärt Gorajek. «Vielleicht ist es mitten im Ort schon weniger sinnvoll, autark zu agieren, als beispielsweise auf einer Alp. Es ging uns bei diesem Projekt aber vor allem um die Eigenverantwortung für das gesamte Haus und alles, was dadurch an Abfällen entsteht.» Statt das Abwasser in der Kanalisation zu entsorgen und Reinigung und Bau der entsprechenden Infrastruktur anderen zu überlassen, übernehme man das selbst. «Und am Ende seiner Lebensdauer kann man das Haus mit gutem Gewissen verlassen und weiss, dass es dem Erdboden gleich wird, wenn es zusammenbricht.»


Literatur:
[01] Christoph Ziegert: Lehmwellerbau. Konstruktion, Schäden und Sanierung. Fraunhofer IRB Verlag, Stuttgart, 2003

TEC21, Fr., 2011.05.13



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TEC21 2011|19-20 Ortsverbunden

01. April 2011Tina Cieslik
TEC21

Sommerfrische, wiederbelebt

Am Ende des Maderanertals im Kanton Uri liegt das Hotel «Maderanertal». Das Ensemble aus dem 19. Jahrhundert ist ein Bauzeuge aus der Frühzeit des Tourismus. Der prekäre Zustand der meist originalen Bausubstanz machte 2009 eine Sanierung notwendig. Planung und Ausführung berücksichtigten die schwer zugängliche Lage der Bauten, die kurzen Zeitfenster und den engen finanziellen Rahmen. Im Sommer 2010 wurde die erste Bauetappe fertiggestellt.

Am Ende des Maderanertals im Kanton Uri liegt das Hotel «Maderanertal». Das Ensemble aus dem 19. Jahrhundert ist ein Bauzeuge aus der Frühzeit des Tourismus. Der prekäre Zustand der meist originalen Bausubstanz machte 2009 eine Sanierung notwendig. Planung und Ausführung berücksichtigten die schwer zugängliche Lage der Bauten, die kurzen Zeitfenster und den engen finanziellen Rahmen. Im Sommer 2010 wurde die erste Bauetappe fertiggestellt.

In Amsteg, auf dem Weg zum Gotthardpass, befindet sich eine Abzweigung ins östlich gelegene Maderanertal. Die Strasse führt bis nach Bristen, von dort aus gelangt man zu Fuss in etwa zwei Stunden zur Balmenegg, einer von Wald umgebenen Felsterrasse auf 1349 m ü. M. Hier wurde 1864 auf Initiative von Basler Alpinisten das Hotel «Zum Schweizer Alpenclub» erbaut. Der Name war eine Reverenz an den 1863 gegründeten Schweizer Alpen-Club, ansonsten bestanden aber keine Verbindungen zum SAC. Zunächst entstand das klassizistische Haupthaus, als einfaches Gasthaus mit 19 möblierten Zimmern. Der beginnende Alpentourismus führte schon fünf Jahre später zum Bau des südöstlich gelegenen, luxuriöser ausgestatteten «Engländerhauses» mit 33 Zimmern, das auch eine Bibliothek und einen Pianosalon beherbergte.

Gleichzeitig wurde gegenüber, das Haupthaus flankierend, ein Waschhaus gebaut, dessen Sockelgeschoss später zusätzlich als Bäckerei diente. Damit war die Basis für ein fast städtisch anmutendes Ensemble gelegt: Nach einem Brand im Jahr 1880, der das Haupthaus komplett zerstörte, folgte nicht nur der direkte Wiederaufbau: 1887 wurde eine Kapelle gebaut, in der wegen der zahlreichen englischen Gäste neben katholischen auch anglikanische Gottesdienste gefeiert wurden. In der Folge entstanden weitere Bauten wie die Villa der Hotelierfamilie (ca. 1910), eine Kegelbahn (ca. 1910), ein Teepavillon (1910) und unterstützende Infrastruktur in Form eines Postbüros, einer Arztpraxis, eines Kiosks und eines Coiffeursalons. Ergänzt wurden diese Bauten durch die Aussenanlagen, den Zentralplatz mit Brunnen und Alpengarten und den natürlichen Butzlisee (Abb.1). Die Hotelgäste, unter ihnen illustre Vertreter wie der britische Science-Fiction-Autor H. G. Wells, der deutsche Reichspräsident Paul von Hindenburg oder Friedrich Nietzsche, blieben in der Regel mehrere Wochen. Da bis 1922 keine Strasse nach Bristen existierte, transportierten ortsansässige Träger die Gäste von Amsteg, später von Bristen, in Sänften bis ins Hotel.1 Für einige Gäste gehörte diese Abgeschiedenheit zum Programm: Dokumentiert ist, dass der Bristener Pfarrer Rupert Schäffeler 1916 Massnahmen gegen das grassierende Nacktwandern im Maderanertal verlangte. Bis in die 1960er-Jahre blieb das Hotel im Besitz der Erbauerfamilie Indergand, anschliessend wurde es dreissig Jahre vom Bristener Bergführer Hans Z’graggen geführt. 1967/68 fanden die letzten grösseren Bautätigkeiten statt: Der neue Besitzer erweiterte das Restaurant talseitig um eine Gartenwirtschaft. Es folgten eine Zeit der Stagnation und die Umbenennung zum Hotel «Maderanertal».

Seit Mitte der 1990er-Jahre wird das Hotel von Anna Fedier-Tresch, die zuvor als Angestellte im Hotel wirkte, und ihrem Sohn Tobias Fedier geführt. Durch fehlende Investitionen in der Vergangenheit existierte zwar noch ein Grossteil der originalen Bausubstanz, allerdings befand sich diese teilweise in so schlechtem Zustand, dass im Sommer 2009 eine Sanierung anstand.

Stufenweiser Planungsprozess

Initiiert wurde die schrittweise Erneuerung des Hotelensembles vom Schweizer Heimatschutz, der 2002 im Zuge des Schulthess-Gartenpreises unter dem Motto «Historische Gar- tenanlagen» auf das Ensemble aufmerksam wurde. Schnell war klar, dass eine isolierte Restaurierung der Aussenanlagen wenig sinnvoll war, daher wurde die Altdorfer Architektin Margrit Baumann beauftragt, eine Machbarkeitsstudie zur Sanierung der Gesamtanlage durchzuführen. Nachdem ein realistisches Konzept vorlag, das auch die Eigentümerfamilie überzeugte, übernahm der Heimatschutz das Patronat der Sanierung. Planung und Ausführung erfolgten durch das Architekturbüro Margrit Baumann. Aufgrund der kurzen Bauphasen – das Hotel ist jeweils von Juni bis Oktober geöffnet, gebaut werden kann von Ende April bis zum Saisonanfang sowie vom Saisonende bis zum ersten Schneefall – wurde das Projekt in zwei Teile mit mehreren Unteretappen aufgeteilt (vgl. Kasten S. 27). Diese zeitliche Staffelung korrespondiert auch mit der Finanzierung des Projekts, das auf Spenden angewiesen ist. Im Sommer 2010 konnte der erste Teil der ersten Etappe fertiggestellt werden. Diese Phase umfasste die Instandstellung der Gartenanlage sowie die Renovation des ersten Obergeschosses und den Einbau von sanitären Einheiten im 1. OG und im Saalgeschoss. Zudem konnten alle Häuser neu mit Strom und einer eigenen Unterverteilung versorgt werden.

Vorhandenes Nutzen, ergänzen, auffrischen

Im Zentrum des Sanierungskonzepts steht eine sanfte Renovation. Wichtig war den Beteiligten, mit den vorhandenen Mitteln eine hochwertige, aber der Umgebung angepasste Qualität in die Interieurs zu bringen. Das Haupthaus, ein mit Holzschindeln verkleideter fünfgeschossiger Holzständerbau, wird axial von der Platzseite her erschlossen, die Korridore liegen in der Längsachse. Die Grössen der auf drei Geschosse verteilten 23 Hotelzimmer entsprechen dem durch den Ständerbau vorgegebenen Raster.

Zunächst wurde die unter den Umbauten der letzten Jahrzehnte liegende ursprüngliche Bausubstanz freigelegt: Holzböden und Papiertapeten. Letztere stammen aus verschiedenen Jahrzehnten – wo möglich, wurden sie restauriert, stellenweise auch ersetzt. Die neuen Tapeten sind wie der Bestand mit Tier- und Pflanzenmotiven bedruckt (Abb. 9). Farblich entschied man sich bei Decken, Türen, Fenstern und Sockelleisten für Anstriche in warmen, hellen Tönen, die auf der Tonalität der vorgefundenen Tapeten aufbauen. Um Risse zu vermeiden, wurden die Wände des Korridors mit einem Putz mit hohem Kalkanteil versehen, der die Bewegungen des Holzbaus besser aufnehmen kann als ein Gipsputz. Das Prinzip der Auffrischung und Instandsetzung des Bestehenden wurde auch bei den Möbeln – Antiquitäten, meist aus Nussbaumholz – und Accessoires wie Waschschüsseln und -krügen angewendet. Eine weitreichende Massnahme bestand im Einbau eines Etagen-Baderaums mit einer Dusche, einem Lavabo und zwei WC. Dafür wurde der ursprüngliche Zugang zu den WC vom Treppenhaus in den Korridor verlegt und eine Wand versetzt (Abb. 6). Dieses Vorgehen erlaubte nicht nur die Schaffung eines grossen Baderaums, das Treppenhaus konnte dadurch auch als separater Brandabschnitt geschlossen und mit einer Brandabschnittstür versehen werden. Die Nasszellen bestehen aus in die Bausubstanz eingestellten Kuben aus beschichteten Kunstharzplatten. Neu ist jedes Geschoss elektrifiziert, die Leitungen konnten unsichtbar in der minimal abgehängten Decke im Flur verlegt werden. Die Elektroleitungen wurden vertikal durch ehemalige Cheminées gelegt, sodass keine neuen Schächte gezogen werden mussten.

Aussenanlagen mit Gletscherblick

Neben den Massnahmen im Haupthaus konnte in der ersten Etappe auch der historische Garten restauriert werden. Im Detail sah das Konzept vor, die Weg- und Platzränder nachzuarbeiten, teilweise auch neu zu definieren sowie die mittlerweile bewachsenen Kiesbeläge zu sanieren und zu ergänzen. Unerwünschte Materialien wie Betonplatten und unpassende oder verwilderte Sträucher und Bäume wurden entfernt, insbesondere im Bereich des ehemaligen Teehauses. Der Hof mit dem zentral angeordneten Brunnen erhielt seine Bedeutung als Mittelpunkt der Hotelanlage zurück. Ein neuer Kiesbelag und die Wiederbelebung der den Brunnen einfassenden Rabatten als mit Blütenstauden und Steingartengewächsen be- pflanztes Alpinum machen die Qualität der ursprünglichen Anlage wieder spürbar. Der Standort des 1978 abgerissenen Teehauses wurde mit Natursteinen und einem neuen Kiesrasen markiert, und eingefallene Natursteinmauern wurden wieder aufgebaut. Ein Rundweg um den Kapellenhügel bietet wie früher Aussicht auf den – jetzt allerdings weiter entfernt liegenden – Hüfigletscher. Als zweiter, eher privater, Aussenraum dient die Aussichtsterrasse mit Blick ins Tal. Sie konnte ebenfalls instand gesetzt und mit einem Kiesrasen versehen werden.

Projektgerechtes Vorgehen

Die abgelegene Lage der Baustelle erforderte eine besondere Arbeitsweise: So fand die Kommunikation mit den Handwerkern hinsichtlich der Ausführung ausschliesslich über Raster und Bezugshöhen statt, da absolute Masse in dem fast 150-jährigen Bau nicht existierten und zwischen Baustelle und Architekturbüro im Zweifelsfall spontan auch nicht eruierbar waren. Auch der enge finanzielle Rahmen, zunächst als Korsett empfunden, führte zu einem sehr bedachten Vorgehen, durch das die nötigen Eingriffe sehr gezielt geplant wurden. Ein Beispiel: Ursprünglich waren zwei Baderäume pro Etage geplant, aus finanziellen Gründen konnte aber nur einer realisiert werden. Im Nachhinein erwies sich der Verzicht als durchaus sinnvoll: Da das Hotel das Wasser aus dem von Gletscherwasser gespeisten Butzlisee bezieht, wäre bei zu vielen Sanitärräumen im Sommer möglicherweise mit Wasserknappheit zu rechnen. Durch die aktive Mitarbeit der Bauherrschaft bei den Sanierungsarbeiten konnten zudem nicht nur finanzielle Einsparungen erzielt werden. Die langen Winter im Maderanertal erfordern einen sorgfältigen Umgang mit der Bausubstanz. Die Mitarbeit an der Sanierung sensibilisierte die Eigentümerfamilie für die Bedürfnisse der Bauten, was sich in erhöhter Sorgfalt im Umgang mit der Substanz ausdrückt.

Blick zurück nach vorne

Die noch anstehenden Sanierungsarbeiten können mit den Erfahrungen aus der ersten Etappe angegangen werden. Es existieren Pläne, den Zentralplatz wie zu seinen Blütezeiten als «städtischen» Platz zu reaktivieren, mit öffentlichen Nutzungen in den Erdgeschossen wie einem Ausstellungsraum im Engländerhaus, einer Sauna im Ökonomiegebäude und Zugang zu Restaurant und Speisesaal im Haupthaus. Das abgelegene Hotel an der Schnittstelle zwischen landwirtschaftlich genutzter Natur und wilder Landschaft dient dann nicht mehr illustren Gästen als wochenlange Sommerfrische, sondern bietet einen Rückzugsort für all jene, die einige Tage in die Atmosphäre und den Rhythmus des 19. Jahrhunderts eintauchen möchten. Mit der Sanierung kehrt das ehemalige Kurhotel zurück zu seinen Ursprüngen als einfaches Berghaus – und das ist an diesem Ort ohnehin viel angebrachter.

TEC21, Fr., 2011.04.01



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TEC21 2011|14 Zimmer mit Aussicht

24. September 2010Tina Cieslik
TEC21

Für eine neue Generation

Das Haus Balmermatte in Bürglen UR stammt aus dem frühen 17. Jahrhundert. Die Architektur mit den grossen hohen Räumen erfüllt auch heutige Wohnansprüche. Die Altdorfer Architektin Margrit Baumann baute das denkmalgeschützte Bürger-Bauernhaus 2007 zum modernen Zweifamilienhaus um.

Das Haus Balmermatte in Bürglen UR stammt aus dem frühen 17. Jahrhundert. Die Architektur mit den grossen hohen Räumen erfüllt auch heutige Wohnansprüche. Die Altdorfer Architektin Margrit Baumann baute das denkmalgeschützte Bürger-Bauernhaus 2007 zum modernen Zweifamilienhaus um.

Der Bau liegt am westlichen Ortsrand von Bürglen im Kanton Uri, am Eingang zum Schächental. Dendrochronologische Analysen ergaben, dass das Bauholz 1608 geschlagen wurde; einen weiteren Hinweis auf die Entstehungszeit liefern die Jahreszahlen 1634,1636 und 1638, die in die Bemalungen der Innenräume integriert sind. Bei dem Strickbau mit Steinsockel handelt es sich um ein sogenanntes Bürger-Bauernhaus, das sich durch die höhere Geschosszahl, reich verzierte Prunkräume und das steile Dach von den einfachen Bauernhäusern der Umgebung unterscheidet. Die Entstehung der Bürger-Bauernhäuser ist eng mit der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung der Innerschweiz verknüpft: Im 16. Jahrhundert florierte der Handel über die Pässe, wovon auch die Urner Bevölkerung profitierte. Gleichzeitig blieben auch die wohlhabenderen Bauern Bürger unter Bürgern; ihre Häuser blieben im Grossen und Ganzen den ortsüblichen Formen verhaftet.1 Bauherr des Hauses Balmermatte war der Urner Landammann Johann Peter von Roll, einer der reichsten und einflussreichsten Männer der Eidgenossenschaft. Bis zum Bau der Klausenstrasse waren Hof und Grundstück inklusive des Hausgartens und eines kleinen Wäldchens von einer Mauer umschlossen. Der Stall lag ausserhalb dieses abgegrenzten Gebiets.2

Umdenken bei der Denkmalpflege

Während in den ersten Jahrhunderten die Eigentümer des Hofes mehrfach wechselten, sind Haus und Grundstück seit 1882 im Besitz derselben Familie. Ausser kleineren Eingriffen in den 1980er-Jahren wie einem Anbau an der Westseite für die Sanitärräume befand sich das Haus bis zum Umbau 2007 weitgehend im Originalzustand – mit allen Konsequenzen: Die Kinder des Eigentümers verbanden mit dem Haus primär die niedrige Raumtemperatur, im Winter durchschnittlich etwa 15 ˚C. Bereits der Vater wollte das Haus umbauen, scheiterte mit seinen Vorstellungen aber an den Vorgaben der Denkmalpflege. Er realisierte daraufhin nebenan ein Einfamilienhaus nach seinen Vorstellungen, der Sohn übernahm Haus und Betrieb. Den Anstoss für den aktuellen Umbau gab dessen älterer Bruder, der als Polier von der historischen Bausubstanz fasziniert war und dann auch die Baumeisterarbeiten leitete.

Die Talente der einzelnen Familienmitglieder in den Bauprozess einzubinden hat sich gemäss Architektin beim Umgang mit Bauernhäusern schon mehrfach bewährt. Der Bau aus dem frühen 17. Jahrhundert sollte in eine neue Generation übergeführt werden und Raum für zwei unabhängige Wohneinheiten bieten. Platz dafür gab es auf den fünf Geschossen mit seinen immerhin 25 Nutz- und Wohnräumen genug. Durch die beiden Zugänge – einer für repräsentative Zwecke an der Ostseite der Fassade sowie der Ausgang zum Stall Richtung Westen – waren für die Erschliessung auch keine Eingriffe in die Fassade nötig.

Umbau in Etappen

Der Umbau fand in zwei Etappen und bei laufendem Betrieb statt: Zunächst wurde die Stöckli-Wohnung gebaut, anschliessend folgte die Restaurierung der als Lagerraum genutzten Trinkstube im Tiefparterre. Die Herausforderung: Gebäudestruktur und Räume sollten integral erhalten werden – bei gleichzeitiger Erfüllung der Anforderungen an Schallschutz, Feuersicherheit und vor allem an das heutige Komfortbedürfnis. Für die neue Wohnung wurden ausschliesslich Kalträume im 2. Obergeschoss und im Dachgeschoss genutzt, die bisher teilweise als Estrich, teilweise als Trockenräume für Obst dienten. Erschlossen wird das Stöckli durch den Eingang an der Ostfassade, von hier führt eine Treppe direkt in das erste Wohngeschoss im 1. OG. Um Platz für die Treppe zu schaffen, musste ein Teil der bemalten Decke im Erdgeschoss herausgesägt werden – ein Entgegenkommen der Denkmalpflege, das so vor einigen Jahren noch nicht möglich gewesen wäre. Die Wohnung erstreckt sich über vier Geschosse: Im 1. Obergeschoss befindet sich die neu eingebaute Küche sowie die sogenannte «Apotheke». Dieser Raum ist komplett mit bedrucktem Täfer ausgekleidet (Abb. 10), auch das eingebaute Buffet weist ornamentale Verzierungen auf. Nach einer vorsichtigen Reinigung des Holzes wird der Raum heute als Wohnzimmer genutzt.

Bei der Küche bestand der Wunsch nach einem hellen Raum. Das Originaltäfer wurde daher ausgebaut und durch Fermacellplatten ersetzt. Da das Täfer aber weiterhin im Gebäude gelagert wird, also jederzeit wieder einbaubar ist, gab die Denkmalpflege ihre Zustimmung zu diesem Vorgehen. Diese Grundhaltung bestimmte den Umgang mit der historischen Bausubstanz: «Temporäre«, also konstruktiv nicht notwendige Elemente wie das Gäste-WC im Obergeschoss sind so eingebaut, dass sie bei Bedarf auch wieder entfernt werden können. Konstruktive Teile wie die beiden neuen Treppen sind dagegen fest mit der Bausubstanz verbunden.

Vom 1. Obergeschoss gelangt man über die Treppe in den grosszügigen zweigeschossigen Korridor im 2. Obergeschoss, der durch zwei Lukarnen erhellt wird (Abb. 3). Die obere Lukarne entstand im Zuge der Umbauarbeiten, es gab aber Hinweise darauf, dass an dieser Stelle schon früher eine Öffnung existierte. Der Korridor wirkt als Verteiler für Bad, Arbeits- und Schlafzimmer. Eine weitere Treppe führt in ein zweites Wohnzimmer direkt unter dem Dach. Diese Stube wird durch eine fast raumlange Verglasung im Dach erhellt, die analog zu den Sparrenabständen eingepasst ist und neben Licht und Luft auch Aussicht auf die spektakuläre Bergwelt bietet. Die Ausbauarbeiten umfassten neben Restauration und Reinigung der Holzoberflächen auch bauphysikalische Massnahmen: Alle Räume der Stöckli-Wohnung erhielten hinter der Täferung eine Innenisolation aus feuchtigkeitsabsorbierender Schafwolle.

Restauration der Trinkstube

Nach Fertigstellung der Wohnung konzentrierten sich die Arbeiten auf die Wiederherstellung der Trinkstube im Tiefparterre in der Südostecke des Hauses. Dieser ursprünglich reich verzierte Raum diente in den letzten Jahrzehnten als Abstellraum und war in entsprechendem Zustand. Zunächst wurde daher der Kalkboden ersetzt, der neben den Beschädigungen auch einen Niveauunterschied von bis zu 12 cm aufwies. Neben einer Isolierung aus Glassplittern konnten so auch die neuen Elektroleitungen sowie eine Bodenheizung eingebracht werden. Anschliessend folgte die Reinigung und Fixierung der dekorativen Kalkseccomalerei an Decke und Wänden. Während der weisse Untergrund der Holzkassettendecke mit Schablonenmalerei in Blau und Rot verziert ist, schmücken das Familienwappen der von Roll, verschiedene Tier- und Pflanzenmotive sowie eine Säulenanlage, die sich interessanterweise nicht an den Proportionen der Decke orientiert, die weiss gekalkten Wände.

Eine Besonderheit sind die beiden Tiermotive an Ost- und Westwand: Sie zeigen zwei springende Steinhirsche (Abb. 11). Im Kopfbereich waren beide Malereien so stark beschädigt, dass sich Architektin und Denkmalpflege für einen abstrahierten, dreidimensionalen Ersatz aus Holz entschieden. Da diese Art heute in der Gegend ausgestorben ist, wurden entsprechende Geweihe aus dem Muotathal beschafft. Neben diesen neuen Elementen wurden die bestehenden Fenster mit einfachen Isolierglasfenstern ohne Dichtungen ersetzt, Letzteres, damit sich darin kein Kondenswasser bilden kann. Heute ist die Trinkstube öffentlich zugänglich und kann für Anlässe gemietet werden. Die Eigentümer, die auch das Brennrecht besitzen, präsentieren hier ihre Produkte und führen so die Tradition der Trinkstube weiter.

Wohnen im Baudenkmal

Rund 400 Jahre steht das Haus Balmermatte bereits. Durch die Eingriffe konnte die Bausubstanz nicht nur erhalten werden, der Ausbau zum Zweifamilienhaus führte sogar zu einer Wertsteigerung, auch wenn das Haus hinsichtlich der Erwartungen an Schalldämmung, Innenraumklima oder Türhöhen manchmal auch ein Entgegenkommen der Bewohner verlangt. Dass zeitgenössisches Wohnen aber trotz Denkmalschutz möglich ist, zeigt dieses Beispiel exemplarisch. Zu Recht wurde der Bau daher 2009 mit dem Schweizer Denkmalpreis ausgezeichnet.

TEC21, Fr., 2010.09.24



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TEC21 2010|39 Tapetenwechsel

28. Mai 2010Tina Cieslik
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«Wo die Firma zuhause ist»

Das Büro ist längst ein Synonym für den Arbeitsplatz geworden. Etwa zwei Drittel aller Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in der Schweiz arbeiten heute in Büros. Aber obwohl 10 % der Gesamtbürofläche in der Schweiz leer stehen, werden weiterhin Büros gebaut. Was muss das Büro der Zukunft können, und wie sieht die Beziehung Mensch – A rbeitsplatz aus? Ein Gespräch mit Toni Lengen vom Zürcher Büroentwickler und -planer OFF Consult.

Das Büro ist längst ein Synonym für den Arbeitsplatz geworden. Etwa zwei Drittel aller Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in der Schweiz arbeiten heute in Büros. Aber obwohl 10 % der Gesamtbürofläche in der Schweiz leer stehen, werden weiterhin Büros gebaut. Was muss das Büro der Zukunft können, und wie sieht die Beziehung Mensch – A rbeitsplatz aus? Ein Gespräch mit Toni Lengen vom Zürcher Büroentwickler und -planer OFF Consult.

TEC21: Was sind momentan die Hauptbedürfnisse Ihrer Kunden? Gibt es einen Wandel vom Repräsentationsbedürfnis zu Aspekten wie Gesundheit oder Steigerung der Produktivität?
Toni Lengen: Die Steigerung der Produktivität ist nach wie vor ein Thema – allerdings kein lautes. Die Ressource Arbeitskraft, vor allem die der hoch qualifizierten Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, ist in der Schweiz sehr wertvoll. Es wird also nichts umgesetzt, was die Mitarbeitenden verärgern könnte. Das macht es schwierig, unkonventionelle Ideen zu realisieren. Wir glauben, dass in der Schweiz mit leer stehenden Büroarbeitsplätzen eine immense Fläche vergeudet wird. Das Einzelbüro ist immer noch ein Statussymbol, obwohl es das hierarchische Büro praktisch nicht mehr gibt.

TEC21: Wie sind Ihre Erfahrungen mit offenen, multipel genutzten Flächen?
TL: Im Gegensatz zu den Grossraumbüros der 1970er- und 1980er-Jahre, bei denen die Motivation darin lag, Kosten zu sparen, sind die Erfahrungen dort, wo man bewusst geplant hat, positiv. Eines der wichtigsten Themen in der Büroplanung ist die Kommunikation. Wir glauben, dass die Ressource ‹Mitarbeiter-Know-how› riesig ist und in vielen Betrieben dennoch schlecht genutzt wird. Eine ideale Formel für eine offene Fläche ist die Teamgrösse. Zwar kann eine offene Fläche mehrere Teams beherbergen, aber die Zonen sollten gegeneinander abgegrenzt sein. Eine Teamgrösse um die 15 Leute ist optimal: Die Leute sollen sich miteinander unterhalten können, um voneinander zu profitieren.

TEC21: Wie liesse sich diese Ressource besser nutzen, ausser über solche offenen Flächen?
TL: Es ist eine ganze Kette von Massnahmen, die zum Tragen kommen muss. Dazu gehören klassische Aspekte wie Mitarbeiterführung, Aus- und Weiterbildung und ein langfristiges Personalmanagement. Weitere Elemente sind die Infrastruktur und das Büro. Nach unserer Meinung mit offenen Zonen – aber intelligenten offenen Zonen. Natürlich spielen auch die Prozesse eine Rolle. Wie unterstützt man diese, damit eine optimale Zusammenarbeit möglich ist?

TEC21: Entspricht es dem Wunsch der Firmen, die Prozesse auch durch bauliche Massnahmen zu optimieren, indem man das Organigramm eines Betriebes räumlich umsetzt?
TL: Wir haben einige Kunden, bei denen wir sogenannte ‹One-Roof-Konzepte› umgesetzt haben, die im Hinblick auf Wirtschaftlichkeit, Flexibilität und auch bessere Arbeitsstrukturen sinnvoll waren. Es kann aber durchaus sein, dass gewisse Unternehmenseinheiten an einem anderen Standort gut aufgehoben sind. Auch bei den einfachsten Projekten werden zunächst die Arbeitsabläufe betrachtet. Bei der vertieften Betrachtung werden die Prozesse der einzelnen Abteilungen miteinander abgestimmt, um beurteilen zu können, welche Struktur am besten funktioniert. Auch wenn in bestimmten Positionen ein Einzelbüro sinnvoll ist, denken wir, dass Multi-Space-Büros eine Zukunft haben. Die Menschen werden den persönlichen Kontakt immer schätzen – aber nicht jederzeit. Deswegen müssen auch Rückzugsmöglichkeiten angeboten werden.
Der Kontakt zwischen den Mitarbeitern wird auch bei der Diskussion um Home-Office und mobile Arbeitsplätze unterschätzt. Die Sozialisation als Teil jeder Firmenkultur lässt dort eine Firmenidentität entstehen, wo das Unternehmen daheim ist. Das ist in der Regel ein Haus, ein Ort, eine Adresse. Wir haben eine Firma betreut, die mit ‹virtuellen› Büros angefangen und jetzt wunderschöne Büroräume bezogen hat. Dabei handelte es sich um eine Neugründung, die sich aus verschiedenen Konstellationen heraus entwickelt hat. Man merkte jedoch schnell, dass es irgendwo eine Postadresse geben muss, rechtlich gesehen braucht es einen Firmensitz. Selbstverständlich ist aber auch eine Kombination möglich: Home-Office oder Satellitenbüros sind grosse Themen. Die Büroimmobilie wird trotzdem nie aussterben.

TEC21: Der Internet-Suchdienst Google bietet seinen Mitarbeitern am Standort Zürich unkonventionelle Arbeitsplatzumgebungen. Wird diese Philosophie als Trendsetter betrachtet oder eher als exotisch gesehen?
TL: Ich denke nicht, dass dies Trendsetter sind. Büros haben heute stark mit Recruiting und Marketing zu tun; zum einen auf der Kundenseite, aber auch, wenn es um zukünftige Mitarbeiter geht. Google hat bewusst einen Weg gesucht, über ihre Büroinfrastruktur bestimmte Leute anzusprechen. Sie haben einen sehr werbewirksamen Auftritt gewählt, die Arbeit muss aber auch dort mehrheitlich an einem ganz normalen Arbeitsplatz erledigt werden. Das Angebot wird zwar genutzt, aber nicht von einer breiten Masse.
Das ist eine Erfahrung, die auch wir machen: Bietet ein Kunde im Rahmen eines Gesundheitskonzeptes Regenerationsmöglichkeiten an, wird immer nur ein kleiner Teil der Belegschaft solche Angebote nutzen. Viele Leute kann man gar nicht ansprechen. Sie sind der Meinung: Ich gehe arbeiten, mehr brauche ich nicht.
Um aber auf die Produktivität zurückzukommen: Das Fraunhofer-Institut in Stuttgart hat eine Studie dazu gemacht, die auch die Frage der Regeneration aufwirft.[1] Die Wissensarbeit ist komplexer als vor dreissig Jahren, als es repetetive Arbeit gab, die heute der Computer übernommen hat. Man ist anders gefordert, arbeitet in anspruchsvollen Jobs auch tendenziell länger. Es muss daher sensibel beobachtet werden, wie die tatsächliche Produktivität der Menschen aussieht. Die Studie zeigt, dass bei einem Achtstundentag nur während sechs Stunden tatsächlich produktiv gearbeitet wird.
Wenn man es also schafft, von diesen zwei Stunden unproduktiven Arbeitens noch eine Stunde produktiv zu leisten, würde dies eine enorme Steigerung der Effektivität bedeuten. Die Regeneration zur Steigerung der Leistungsfähigkeit müsste Teil der Firmenkultur werden. Leider ist das heute noch nicht so. Auch bei Firmen, die mit unseren Angeboten konform gehen, ist die Mentalität immer noch: Ich gehe zum Arbeiten ins Büro, nicht zum Schlafen. Wenn man während der Arbeitszeit Entspannungszeiten einschiebt, wird das als Zeichen von Schwäche interpretiert.

TEC21: Das liegt möglicherweise auch an der Art, wie solche Angebote präsentiert werden und ob sie Teil der Unternehmenskultur sind.
TL: Wir erleben oft während eines Projektes, dass wir auf solchen Konzepten nicht bestehen können. Sie würden nicht funktionieren, weil sie nicht zur Unternehmenskultur passen. Wir haben z. B. in einer Firma Stehkonferenztische eingebaut. In diesem Fall kam etwa zeitgleich ein neuer CEO, der das ganze Konzept verworfen hat. Bei solchen Projekten weiter Druck zu machen, würde an der Unternehmenskultur vorbeigehen. Früher ging es sehr stark um den grossen Wurf. Mittlerweile wissen wir, dass es nicht funktionieren kann, wenn der Mensch einer Entwicklung nicht folgen kann.

TEC21: Werden von Ihnen nach einiger Zeit Evaluationen der Projekte durchgeführt, der Soll- mit dem Ist-Zustand verglichen?
TL: Das ist durchaus üblich, vor allem bei Projekten, die wir substanziell mit- oder komplett neu entwickeln. Bei Firmen, die wir über lange Zeit begleitet haben, interessiert es uns natürlich, wie sich die Konzepte im Alltag bewähren. Auch dort kämpft man mit der Tatsache, dass sich das Konzept konventioneller weiterentwickelt, als wir uns das wünschen. Man schreckt noch immer davor zurück, den Vollarbeitsplatz in das System aufzunehmen und z. B. Desk-Sharing zu praktizieren. Aber auch da muss man sich mit den letzten dreissig Jahren Bürogeschichte auseinandersetzen. Damals hat man sehr konventionelle Büros gebaut. Treiber waren Optimierung der Fläche und Kosteneinsparungen, während heute eher das Knowledge-Management im Vordergrund steht. Damals wurden unter Umständen die Abteilungen auch auseinandergerissen; heute würde man wahrscheinlich eher die Wand abreissen. Das ist auch im sozialen Sinn eine positive Entwicklung.

TEC21: Im Bauen werden aktuell Nachhaltigkeitsthemen wie Energiesparen oder baubiologisch korrekte Materialien stark diskutiert. Ist das in der Büroplanung ein Thema?
TL: Absolut. Wobei man sagen muss, dass bei Herstellern und Lieferanten von Büroeinrichtungen lösungsmittelfreie Farbe und Lacke längst dem Standard entsprechen. Andererseits ist es erstaunlich, wie leichtfertig man mit anderen Themen umgeht. Nachhaltigkeit ist eine Frage der Definition. Bei der Forumsveranstaltung ‹Green Office›, die wir zusammen mit dem Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation angeboten haben (vgl. «Das optimale Büro?», S. 35), ging es nicht nur um den Umgang mit der Energie, obwohl das ein wichtiger Faktor war. Ein nachhaltiges Büro ist nicht nur ökologisch vorbildlich ausgerichtet, sondern auch gegenüber den Mitarbeitenden. Insofern ist Gesundheit auch ein Thema der Nachhaltigkeit.

TEC21: Gibt es heute in der Büroplanung ein ‹must-have›, ein Statussymbol?
TL: Wir haben festgestellt, dass man der Konferenzinfrastruktur zunehmend wieder eine andere Beachtung schenkt, die Menschen wieder ‹zu sich nach Hause holt›. Das hat mit klassischer Gastfreundschaft zu tun, aber auch mit dem Wunsch, die eigene Authentizität erlebbar zu machen. Nach wie vor spielt auch die Architektur eine grosse Rolle. Leider ist bei der Planung die Aussen-Innen-Betrachtung immer noch wichtiger als die Innen-Aussen- Betrachtung, die wir verfechten. Spannend sind die Projekte, bei denen wir schon in der Wettbewerbsphase mit einbezogen sind und das Briefing der Architekten durchführen können. Wir hatten ein paar Mal die Chance, bei der Erstellung des Betriebsprogramms die Anforderungen an die Primärstruktur mitzudefinieren. Diese Betrachtung entspricht dem Menschen auch besser. Nicht alles, was schön ist, ist auch dienlich, um darin zu arbeiten. Andererseits gibt es einen wachsenden Kreis von Architekten, der durchaus einsieht, dass es die sogenannten ‹work environment specialists› genauso braucht wie den Tragwerksplaner oder den Sanitäringenieur.

TEC21: Gibt es durch die wachsende Durchmischung der Arbeitswelt – z. B. durch die zunehmende Internationalisierung oder durch eine höhere Anzahl von Frauen in Führungspositionen – einen Wandel der Bedürfnisse?
TL: Diese Frage ist mir zuletzt im Zusammenhang mit älteren Mitarbeitern gestellt worden. Der Unterschied der Generationen ist in den Büros bald nicht mehr so riesig. Der 65-jährige Mitarbeiter arbeitet mit der gleichen Infrastruktur und benutzt die gleichen Kommunikationswege wie die Jungen. Es gibt körperliche Aspekte, die man berücksichtigen muss, z. B. dass ausreichend Licht vorhanden ist, dass man unter Umständen lärmempfindlicher ist. Diese Bedürfnisse müssen ernst genommen werden.
Was das Internationale anbelangt, wird künftig eher eine Rolle spielen, in was für einem Umfeld eine Firma steht, in der Stadt oder auf der grünen Wiese. Mit tendenziell jüngeren Mitarbeitern befindet man sich besser in einer urbanen Umgebung. Hier kommt auch das Umfeld insgesamt zum Tragen: Gibt es Einkaufs- und Ausgehmöglichkeiten, ein kulturelles Angebot, Betreuungsangebote für Kinder? Ein Bürohaus kann heute nicht mehr isoliert betrachtet werden. Im Gegenteil: Gerade auf der grünen Wiese werden ergänzende Dienstleistungen um den Arbeitsplatz immer wichtiger. Dazu gehören die Reinigung der Kleider oder Convenience-Angebote zur Verpflegung ausserhalb der Öffnungszeiten der Kantine.

TEC21: Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
TL: Eines unserer wegweisenden Projekte ist PricewaterhouseCooper in Zürich Oerlikon. PwC ist ein Multi-Space-Konzept, das wir ganzheitlich bearbeiten konnten. Ursprünglich wurde die Arealüberbauung zusammen mit ABB-Immobilien entwickelt. Wir haben den Grundausbau auf der Mieterseite begleitet sowie den ganzen Innenausbau geplant und realisiert. Themen waren u.a. die Gesundheit und die Mobilität. Das Mobilitätskonzept wurde gemeinsam mit einem darauf spezialisierten Ingenieurbüro entwickelt. Leider wurde es dann nicht im geplanten Umfang umgesetzt.

TEC21: Wie sah dieses Konzept aus?
TL: Es sollte kostenneutral realisiert werden, und bei der Summe wurde von den Subventionen für die Parkplätze ausgegangen. Dieser Betrag wurde neu verteilt. Die wenigen Parkplätze, die es gab, waren nicht mehr so günstig, dafür hätten alle Mitarbeitenden einen Beitrag an das Abonnement für den öffentlichen Verkehr erhalten. Dass sich das Konzept letzten Endes nicht durchsetzte, hatte auch mit der Rekrutierung von neuem Personal zu tun. Solange Studienabgänger ihre Prioritäten auf Einzelbüro und reservierten Parkplatz setzen, hat ein solches Konzept keine Chance.

TEC21: Die Unternehmen könnten so ein Konzept ja auch zu Marketingzwecken nutzen, um sich als nachhaltige Firma zu positionieren.
TL: Dies geschieht auch zunehmend. PricewaterhouseCoopers hat beispielsweise viel Neues gewagt, ist aber trotzdem ein eher traditionelles Unternehmen mit konservativer Kundschaft. Allzu progressive Ideen würden als Schwäche ausgelegt, nicht als Stärke – zumindest damals beim Bezug der neuen Büros. Unsere Welt ist nach wie vor geprägt von einer gewissen Bequemlichkeit.

TEC21: Welches sind die Zukunftsvisionen in der Büroplanung?
TL: Es wird erst dann im Büro einen Quantensprung geben, wenn die Technologie wieder einen Quantensprung macht, so wie das mit der Einführung der Desktop-Computer geschehen ist. Es gibt spannende Innovationen wie Digitalstrom, bei dem sich Daten über das bestehende Stromnetz übertragen lassen.[2] Das sind allerdings Neuerungen, die den Mitarbeitenden im Arbeitsprozess nicht unbedingt tangieren. Man wird sicher auch stärker versuchen, Nachhaltigkeitsziele wie die der 2000-Watt-Gesellschaft zu erreichen. Ich denke, der ganzheitliche Ansatz wird zunehmend zum Tragen kommen, zum Beispiel das Thema ‹Wohnen und Arbeiten› in einer vernünftigen Entfernung, zum Beispiel in Velodistanz.


[Gesprächspartner: Toni Lengen, Inhaber und Seniorconsultant OFF Consult AG, Zürich (www.offconsult.ch). Seit 26 Jahren im Bürobereich tätig, 20 Jahre davon selbstständig mit der Innovationsplattform Office LAB AG, www.officelab.ch]


Anmerkungen:
[01] Empirische OFFICE-21-Studie «Office Performance», Fraunhofer IAO, Stuttgart, 2002, www.office21.de/forschung/office_performance.htm
[02] Digitalstrom ist ein Bus-System zur Steuerung und Überwachung elektrischer Verbraucher über das vorhandene Stromnetz. Das System wurde an der ETH Zürich entwickelt

TEC21, Fr., 2010.05.28



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TEC21 2010|22 An die Arbeit!

19. März 2010Tina Cieslik
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Würfelquarz

Im März 2007 wurde die 1995 erbaute Anenhütte am Ende des Lötschentals von einer Lawine nahezu vollständig zerstört. Anstelle eines Wiederaufbaus visierte der Eigentümer einen Neubau an. Unter strengen Auflagen: Zum einen musste die Lawinensicherheit des Neubaus garantiert, zum anderen durfte das sensible Umfeld nicht tangiert werden – der Standort der Hütte liegt im Unesco-Weltnaturerbe und ist Teil des Bundesinventars der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung.

Im März 2007 wurde die 1995 erbaute Anenhütte am Ende des Lötschentals von einer Lawine nahezu vollständig zerstört. Anstelle eines Wiederaufbaus visierte der Eigentümer einen Neubau an. Unter strengen Auflagen: Zum einen musste die Lawinensicherheit des Neubaus garantiert, zum anderen durfte das sensible Umfeld nicht tangiert werden – der Standort der Hütte liegt im Unesco-Weltnaturerbe und ist Teil des Bundesinventars der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung.

Die alte Anenhütte (2358 m ü. M.) befand sich in einem Gebiet, das beim Bau 1995 als lawinensicher bzw. als schwach lawinengefährdet eingestuft wurde. Daher wurden auch keine konstruktiven Massnahmen gegen eine Lawineneinwirkung unternommen. Nördlich der Hütte befindet sich ein etwa 10–15 m hoher Felsrücken, der in der Regel den vom Jegichnubel (3124 m ü. M.) kommenden Schnee abhält.

Rekonstruktion des Ereignisses und Prognose

Als die Anenhütte am 3. März 2007 von einer Lawine überrollt wurde, gab es keine Augenzeugen. Um das Ereignis zu verstehen und eine Wiederholung zu verhindern, simulierte das Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) in Davos über 150 Varianten des Ereignisses. Dazu analysierte man neben den damaligen Wetter- und Schneebedingungen auch die Bruchbilder der Stahlbetonbauteile. Das Ergebnis: Nachdem in der Nacht vom 2. auf den 3. März 2007 etwa 1 m Neuschnee gefallen war, wurde die Hütte von einer Staublawine aus dem Geländekessel südlich des Jegichnubel getroffen, die den natürlichen Schutzgraben spiralförmig übersprungen hatte. Dabei wurde vermutlich zunächst das nicht gegen Lawinendrücke gesicherte Dach abgehoben. Eine haushohe Ecke an der nordöstlichen Fassade, die der Lawine eine optimale Angriffsfläche bot, verstärkte die Wirkung zusätzlich. Die Simulationen ergaben aber, dass der Standort im Schutz einer Felsrippe als sicher vor Kleinereignissen mit einer Wiederkehrdauer von 30 Jahren einzustufen ist.1 Die Hütte befindet sich etwa 200 m westlich der Lawinenhauptstossrichtung, zudem werden abfliessende Lawinen durch die Geländeform mit Moränen, Vertiefungen und Verflachungen nicht kanalisiert, sondern gebremst. Der nördlich der Hütte liegende Graben kann Lawinen aufnehmen, abbremsen oder umlenken. Allerdings besteht eine Lawinengefahr für Ereignisse mit einer Wiederkehrdauer von 300 Jahren. Für diese Ereignisse sind Lawinendruckwerte von 10–25 kN/m2 (je nach Bahn) zu erwarten. Damit liegt der Standort in einer blauen Lawinenzone, was einer seltenen und mässigen Gefährdung entspricht.

Standortbestimmung

Für den Besitzer der Hütte, der Ingenieur und Bergführer ist, stand früh fest, dass die Hütte wieder aufgebaut werden sollte – ein intuitiver Entscheid. Da alternative Standorte im Gebiet deutlich schlechter geeignet waren, konnte durch die Klassifizierung als blaue Lawinenzone ein Neubau der Hütte am gleichen Ort ins Auge gefasst werden. Zunächst ging es aber ans Aufräumen: Die Trümmer der Hütte lagen in einem Umkreis von bis zu 2 km im Tal und auf dem Langgletscher verstreut. Drei Monate lang wurde der Bauschutt nach Materialien getrennt, zerlegt, in helikoptertaugliche Pakete bis maximal 750 kg gepackt und ins Tal abtransportiert. Die zerstörte Hütte wurde bis auf die Grundmauern zurückgebaut. Um den Raumbedürfnissen der neuen Hütte gerecht zu werden, musste zusätzlich Fels gesprengt werden. Parallel zu den Aufräumarbeiten lobte die Bauherrschaft einen Studienauftrag unter fünf Architekturbüros aus. Neben dem architektonischen Ausdruck waren Sicherheitsaspekte ausschlaggebend: Die äussere Form hatte sich primär den Erfordernissen einer optimalen Druckverteilung bei einer Lawine unterzuordnen. Das gewählte Projekt ist kubisch angelegt. Mit der fensterlosen Nordfassade ist die kleinste Wand senkrecht zur Lawinenstossrichtung angeordnet und bietet wenig Angriffsfläche. Der Standort der neuen Hütte ist gegen Norden verschoben, dadurch würde ein Aufprall durch die Platzierung des Baus an einer Felsrippe gemildert (Abb. 12). Die Ostwand ist leicht geneigt, auch dies soll eine aufprallende Lawine ablenken. Der Eingang zur Hütte befindet sich an der lawinenabgewandten Westseite. Es gibt keinerlei Auskragungen oder Dachaufbauten, die Fenster stehen bündig mit der Aussenwand. Letztere waren so zu konstruieren, dass sie an der lawinengefährdeten Ostfassade den Druckkräften einer möglichen Lawine standhalten können, an Süd- und Westfassade den Sogkräften. Dafür wurden Druckkräfte von 20 kN/m2 angenommen. Neben der Verglasung war auch die Rahmenkonstruktion entsprechend auszuführen: Eine reguläre Fensterverglasung mit Glasleisten ist dafür nicht geeignet. Stattdessen wurde eine abgestimmte Rahmenkonstruktion mit 7 cm dickem Panzerglas (an der aufprallgefährdeten Ostfassade) gewählt. Aufgrund der Grösse und des Gewichts der Fenster mussten sie beim Bau von aussen eingesetzt werden. Neben den konstruktiven Auflagen wurde ein Wiederaufbau auch an ein Nutzungsverbot im Hochwinter geknüpft, es gibt auch keinen Winterraum.

Bauen im Weltnaturerbe

Eine besondere Situation ergab sich beim Bau zusätzlich durch die Umzonierung des Gebiets zum Unesco-Weltnaturerbe. Die Region Jungfrau-Aletsch-Bietschhorn (heute: Jungfrau-Aletsch)2 wurde 2001 zum Weltnaturerbe erklärt. 2007 wurde das Gebiet um über 50 % erweitert und umfasst heute ein 824 km2 grosses Gebiet. Zum erweiterten Perimeter gehört auch das Lötschental mit dem Gebiet um den Anusee und die Anenhütte. Darüber hinaus liegt die Hütte auch im Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung (BLN). Der neue Status zeigte sich beim Neubau der Hütte weniger in Auflagen an Konstruktion und Nutzung, sondern primär in der Durchführung der einzelnen Bauprozesse. Die Unversehrtheit bzw. die korrekte Wiederherstellung der umgebenden Natur musste während der Bauarbeiten durch mehrere Gutachten dokumentiert werden. Im September 2007 wurde eine provisorische Baubewilligung erteilt, und die Wiederaufbauarbeiten konnten beginnen. Für deren Ausführung ebenso wie für das Engineering zeichnete die Bauherrschaft verantwortlich. Die Materialtransporte erfolgten fast ausschliesslich viaHelikopter, lediglich der Spreizbagger war zu schwer und wurde zur Baustelle gefahren – eine Reise von 13 Stunden für eine Strecke von knapp 5 km und 600 Höhenmetern.

Die Tragkonstruktion wurde aus 685 m³ Stahlbeton erstellt, pro Kubikmeter Beton waren vier Rotationen (1 Rotation = Hin- und Rückflug) mit dem Helikopter notwendig. Gewählt wurde ein wasserdichter Beton der Festigkeitsklasse 30/37 und der Expositionsklasse XC4 mit einer hohen Endfestigkeit. Eine der Herausforderungen bestand darin, den Beton über die lange Transportzeit – 1.5 h vom Betonwerk bis zum Helikopterlandeplatz, dann Umfüllen für den Helikopterflug zur Baustelle – verarbeitbar zu erhalten. Zusätzlich erschwert wurde dies durch die tiefen Temperaturen von bis zu –27 º C. Der Beton wurde daher im Betonwerk mit 50 º C heissem Wasser hergestellt, beim Transport hatte er eine Temperatur von etwa 25 º C, die beim Umladen in die Kübel für den Helikopter nochmals um etwa 3–5 º C absank. Um ein Gefrieren des Betons zu verhindern, wurden die Behälter mehrfach gereinigt und mit einem Schalungsöl behandelt. Nach dem Einbau in die Schalung wurden die Flächen sofort mit Heizmatten bekleidet, darüber hinaus wurde dem Beton auch ein Frostschutzmittel beigesetzt. Lange war für die Hütte eine Kompaktfassade aus aufgeklebten Schieferplatten auf einer Foamglasisolation projektiert. Die gewünschte, nahezu fugenlose Verarbeitung liess sich jedoch nicht realisieren, zu hoch waren die Belastungen durch Wind und Witterung auf über 2000 m – die Systemlieferanten konnten keine Garantien übernehmen. Eine hinterlüftete Steinfassade genügte den Ansprüchen an die Lawinensicherheit nicht, insbesondere wegen auftretender Sogkräfte. Zum Einsatz kam schliesslich eine Kompaktfassade mit mehrschichtig verputzter Aussendämmung (Abb. 11). Die oberste Schicht enthält gemahlenes Aluminium, das mit dem Licht der Tageszeiten spielt und die Massivität des Volumens optisch unterstützt. Die beliebig wirkende Platzierung der Fenster in der Fassade entwickelte sich aus den Innenräumen, die genaue Anordnung und die Dimension der Öffnungen wurden situativ auf der Baustelle festgelegt. Dafür wurde die Blickachse der Besucher simuliert, die Öffnungen wurden am Ort mit der schönsten Aussicht fixiert und die entsprechenden Aussparungen in der Schalung vor Ort angepasst.

Reduktion im Inneren

Die noch erhaltenen Kellermauern wurden in den Neubau integriert und zu einem Sockelgeschoss erweitert, das Technik- und Lagerräume, Hüttenwartin- und Helferinnenzimmer, Sanitärräume und einen Wellnessbereich umfasst. Auch die Haupterschliessung erfolgt durch den Sockel in der Westfassade. Von hier gelangt man über eine zentrale Treppe ins 1. Obergeschoss mit Küche, Essraum und Zugang zur Aussenterrasse auf der Südseite. Um die Brandsicherheit zu gewährleisten, wurde das Treppenhaus als separater Brandabschnitt ausgeführt. Hier musste die Feuerresistenz der Stahltreppe und der Wandpaneele über Materialtests nachgewiesen werden, ebenso wie die Funktionstüchtigkeit der integrierten Brandschutztüren (Abb. 17).

Blickfang im Essraum sind die bis zu 6.40 m breiten Langfenster, die – klare Sicht vorausgesetzt – eine Aussicht bis zum Talanfang und auf die 4000er des Unterwallis gewähren. Im Inneren kommen nur wenige Materialien zum Einsatz: Fugenlos zusammengefügte Lärchenholzpaneele bilden eine homogene Oberfläche, der Boden ist mit Schieferplatten aus Norditalien belegt. Nichts stört die Uniformität der Fläche, auch die Leuchten sind als paneelbreite Streifen bündig in die Holzdecke integriert (Abb. 14). Letztere ist zu Akustikzwecken mit einer 1.5 mm-Lochung versehen. Die fugenlose Verarbeitung erforderte einen hohen Grad an Präzision in Produktion und Montage. Der Innenraum im Rohbau wurde per Laser vermessen, bevor die einzelnen Lamellen in Auftrag gegeben wurden. Vom 1. Obergeschoss führt die Treppe zu den beiden Schlafgeschossen. Gesamthaft sind hier 58 Schlafplätze angeordnet, acht davon für das Hüttenpersonal. Das Angebot reicht von Massenlagern mit 10 bis 12 Plätzen über Gruppen- und Familienzimmer mit Doppel- und Einzelbetten bis zu den beiden «Suiten» mit Doppelbett und eigenem Bad. Eine Besonderheit ist das einzige dekorative Element. Durch das ganze Haus sind die Holzoberflächen auf Augenhöhe durch integrierte, paneelbreite Bildleisten unterbrochen. Sie zeigen historische Aufnahmen aus dem Lötschental, die dank Mund-zu-Mund-Propaganda von Bewohnern des Tals zusammengetragen wurden. Mancher Wanderer hat hier schon seine Verwandten und Ahnen «besucht»: ein Bekenntnis der Hütte zum Tal und seinen Bewohnern und Bewohnerinnen.

Effiziente Versorgung, einfache Entsorgung

Zur Stromversorgung wurde nördlich der Hütte ein Wasserkraftwerk gebaut, bestehend aus Wasserfassung und Sandfang. Eine 850 m lange Druckleitung führt über eine Höhendifferenz von 165 m zum Turbinenhaus, wo eine zweistrahlige Peltonturbine mit Generator den Strom erzeugt. Die dafür notwendigen Rohre wurden im Tal zusammengeschweisst und in über 80 m langen Teilstücken von Helikoptern auf den Berg transportiert. Der durch Wasserkraft erzeugte Strom deckt den gesamten Energiebedarf der Hütte, wobei die Turbine immer nur so viel Strom erzeugt, wie gerade gebraucht wird (Abb.10 und Kasten). Werden allerdings mehrere Geräte mit hohem Verbrauch gleichzeitig eingeschaltet, kommt es zu einer Verzögerung von 2 Sekunden, bis sich die Turbine auf den neuen Bedarf eingestellt hat – ein Umstand, auf den nach der ersten vollständig betriebenen Saison 2009 reagiert wurde. Der Generator produziert jetzt mindestens konstant 50 kW; ein Wert, mit dem auch Leistungsspitzen abgefedert werden können. Das zu viel produzierte warme Wasser wird in zwei Speicher eingespeist. Dort steht es für Geräte wie Kaffee- oder Geschirrspülmaschine bereit und hilft, die dort nötige Energie zur Erwärmung zu reduzieren. Durch diesen Kunstgriff wird nicht nur das gesamte System stabiler, die einzelnen Geräte sind auch weniger schadenanfällig. Die Versorgung mit Brauch- und Trinkwasser erfolgt über die zahlreichen Quellen im Umkreis der Hütte – die Quelle für das Trinkwasser weist sogar Mineralwasserqualität auf. Eine mehrstufige Kläranlage unterhalb der Hütte reinigt das Abwasser und lässt es in der zerklüfteten Felszone unterhalb der Hütte versickern. Um das Funktionieren der abgestimmten Systeme auch im Winter, wenn die Hütte geschlossen ist, zu gewährleisten, wurden Sensoren angebracht, die es ermöglichen, Innentemperatur, Luftfeuchtigkeit und die Werte der Kraftwerkseinrichtungen extern zu überwachen und bei Bedarf regulierend einzugreifen.

Nachhaltigkeit und Kommerz

Neben der spektakulären Entstehungsgeschichte ist auch das Angebot der Anenhütte aussergewöhnlich. Durch den einfachen Zustieg wird die Hütte im Sommer primär von Tagestouristen und Wanderern besucht. Bergsteiger sind selten, sie nutzen die Hütte allenfalls als Zwischenstation zur Hollandia- oder zur Konkordiahütte. Von März bis Juni fahren zahlreiche Skitourenfahrer nach der Überschreitung der Lötschenlücke zur Fafleralp oder nach Blatten hinunter.

Die Hütte reagiert auf diese Situation mit einem an die Nutzer angepassten Angebot: Ein Wellnessbereich mit Sauna bietet Entspannung, es gibt Doppelzimmer mit Individualbadezimmern, alle Schlafplätze sind mit Duvets ausgestattet, im Keller lagert der Wein unter optimalen Bedingungen – fliessend (warmes) Wasser und Toiletten mit Wasserspülung sind da praktisch eine Selbstverständlichkeit. Der Eigentümer sieht sich denn auch oft der Kritik der Berggänger alter Schule ausgesetzt, die sich an der modernen Erscheinung und dem De-luxe-Angebot der Hütte stören. Eine Klage, die er mit dem Hinweis auf die Geschichte der Berghütten zurückweist: Schon immer bestand der Hüttenbau im state-of-the-art, der zeitgemässen Konstruktion und Verwendung von Materialien (vgl. TEC 21, 41/2009, Monte- Rosa-Hütte). Im aktuellen Wellness-Zeitalter gehört für ihn dazu eben auch eine Sauna.


Weiterführende Literatur zum Bauen in den Bergen:
– Roland Flückiger-Seiler: «150 Jahre Hüttenbau in den Alpen», in: Die Alpen, 7/2009 und 8/2009
– Jakob Eschenmoser: Vom Bergsteigen und Hüttenbauen. Orell Füssli, 1973
– Christoph Mayr Fingerle (Hrsg.): Neues Bauen in den Alpen. Birkhäuser, 2008
– Diego Giovanoli: Alpschermen und Maiensässe in Graubünden. Haupt Verlag, 2004

TEC21, Fr., 2010.03.19



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2010|12 Bergbau

04. Januar 2010Tina Cieslik
TEC21

Schattentheater

Städtisches Licht erfüllt neben rein funktionalen Aufgaben heute vor allem auch ästhetische Zwecke. Für diesen Anwendungsbereich entwickelte das Zürcher Gestalterbüro huber & steiger im Rahmen eines KTI-Projektes eine Technologie, die die Vorteile der herkömmlichen Flutlicht- und Mehrleuchtenverfahren kombiniert. Das neue Verfahren erlaubt eine homogene – und darüber hinaus: präzise – Ausleuchtung der Fassaden ohne unerwünschte Lichtemission an den Gebäudekanten und ohne Blendung im Inneren.

Städtisches Licht erfüllt neben rein funktionalen Aufgaben heute vor allem auch ästhetische Zwecke. Für diesen Anwendungsbereich entwickelte das Zürcher Gestalterbüro huber & steiger im Rahmen eines KTI-Projektes eine Technologie, die die Vorteile der herkömmlichen Flutlicht- und Mehrleuchtenverfahren kombiniert. Das neue Verfahren erlaubt eine homogene – und darüber hinaus: präzise – Ausleuchtung der Fassaden ohne unerwünschte Lichtemission an den Gebäudekanten und ohne Blendung im Inneren.

Am Anfang stand die Sicherheit: Wer in der Schweiz in vorindustrieller Zeit nachts die Strasse betrat, musste eine Laterne tragen, um als ehrlicher Fussgänger identifiziert zu werden – ansonsten bestand der Verdacht krimineller Absichten, und es drohte Bestrafung. Eine über Steuern finanzierte Strassenbeleuchtung kam in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf, Mitte des 19. Jahrhunderts folgte die systematische Gasbeleuchtung mit Bogenlampen. Die Einführung von Strassenlicht war jedoch umstritten: Konservative Gruppen sahen im künstlichen Licht eine Störung der göttlichen Ordnung.[1]

Neben diesen Beleuchtungen, die der Orientierung bei Dunkelheit und der Sicherheit, später auch der Verkehrssicherheit, dienten, kam mit dem Aufkommen der Neonreklamen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ein weiterer Aspekt hinzu: Licht diente fortan auch der städtischen Selbstdarstellung und der Werbung.

Von allem das Beste

An diesem Aufgabenspektrum hat sich seither kaum etwas geändert, die nächtliche Identität einer Stadt wird bis heute durch Licht verkörpert. Zur szenischen Beleuchtung des öffentlichen Raums kommen momentan zwei Technologien zum Einsatz: Bei der Beleuchtung mit Flutlicht werden die Objekte aus grosser Entfernung mit starken Scheinwerfern angestrahlt. Die Fassade wird gleichmässig hell, wirkt aber oftmals auch flach. Die ungerichtete Anstrahlung weist zudem hinsichtlich der Präzision der Bestrahlung Defizite auf, ein Grossteil des Lichtes strahlt über die Gebäudekanten hinaus in die Umgebung ab, was neben unerwünschten Lichtemissionen auch zu Blendungen führt.

Im Gegensatz dazu werden bei einer Akzentbeleuchtung mit sehr nahe am Gebäude platzierten Strahlern einzelne Fassadenelemente betont. Durch die Anstrahlung – in der Regel von unten nach oben – entsteht aber eine dramatische Beleuchtung mit hohen Kontrasten: sehr hell am Montagepunkt, zunehmend dunkler im Verlauf des Lichtstrahls. Zusätzlich zu dieser ästhetischen Besonderheit sind Anlagen mit Akzentstrahlern neben einem hohen Energiebedarf auch aufgrund der vielen einzelnen Beleuchtungskörper kostenund wartungsintensiv. Eine gleichmässig ausgeleuchtete Fassade ohne unerwünschte Lichtemissionen ist mit der bestehenden Technologie nicht zu realisieren.

In diese Bresche sprangen vor sechs Jahren die Zürcher Gestalter Luzius Huber und Florian Steiger. Innerhalb eines KTI-Projektes[2] entwickelten sie gemeinsam mit der Zürcher Hochschule der Künste und der Fachhochschule Nordwestschweiz eine Technologie auf der Basis des bis anhin hauptsächlich im szenografischen Bereich angewendeten Projektionsverfahrens. Im Zentrum ihrer Überlegungen standen dabei die Vermeidung von unerwünschtem Licht über die Gebäudekanten hinaus, die Reduzierung der Blendung innerhalb der Gebäude und die präzise Modulation des Stadtbildes – alles bei einem möglichst minimalen Verbrauch von Energie.

Dosierte Helligkeit

Das Verfahren funktioniert wie ein Schattenspiel: Verzugskorrigierte Bildvorlagen des Gebäudes werden von Projektoren an die Fassade projiziert. Das Hell-dunkel-Muster der Maske wird dabei entweder per Laser auf eine chrombeschichtete Glasplatte aufgebracht, oder es wird aufgeätzt (Abb. 8). Diese sogenannten GOBO (graphical optical blackout) werden dann in die Projektoren eingesetzt, die an bestehende Masten angehängt oder an Fassaden der gegenüberliegenden Gebäude montiert werden können. Schwarze Flächen auf der Vorlage verhindern den Lichtaustritt, weisse Bereiche lassen das Licht passieren. Mithilfe verschiedener Graustufen auf den Vorlagen können die jeweiligen Bauten gestalterisch interpretiert werden (Abb. 12 und 13). Auf diese Weise entsteht eine homogene Beleuchtung, die Oberfläche des Gebäudes wird zum Träger des Lichts, es gibt keine unerwünschten Spitzen. Im Gegensatz zu Beamern, deren Projektionsleistung auf dem gleichen Verfahren basiert, sind die grafischen Effekte allerdings eingeschränkt, gut lesbare Textprojektionen sind zum Beispiel nicht möglich – und auch nicht gewollt.

Kirche, Hotel, Schloss

Von 2007 bis 2008 wurde die Technologie in sechs Musteranlagen getestet. Um ein möglichst breites Anwendungsspektrum zu erhalten, wurden verschiedene städtische Situationen und unterschiedliche Gebäudetypologien untersucht, darunter eine Kirche in ländlicher (dunkler) Umgebung, ein gotisches Zunfthaus in der (engen) Altstadt von Basel und ein Hotel am Hauptbahnhof Zürich in einem sehr hellen, heterogenen Umfeld. Auf diese Weise konnte das notwendige Verfahrenswissen erworben werden, was etwa die jeweilige Anzahl und die Ausrichtung der Projektoren betrifft. Erstere hängt dabei von der gewünschten Intensität der Beleuchtung ab, aber auch vom Umgebungslicht und von der Distanz der Projektoren zum Gebäude. Auch der Lichteinfallwinkel sowie Materialität und Reflexionsgrad der Fassade sind zu berücksichtigen.

Bei der Wahl des Leuchtmittels stand daher neben den energetischen Überlegungen die Leistung im Vordergrund. Bei abbildenden Systemen wie Projektoren wird hierfür der Wirkungsgrad des Lichtstroms auf der angestrahlten Fläche bemessen.[3] Um eine optimale Nutzung des Lichtes zu erreichen, wurde ein Wirkungsgrad von 40–50 % angestrebt. Ausserdem waren eine gute Farbwiedergabe und eine hohe Lebensdauer gefragt. Die Entscheidung fiel auf Halogen-Metalldampflampen, wie sie auch für Aussenbeleuchtung, in Stadien oder zur Theaterbeleuchtung verwendet werden. Im Gegensatz zu anderen Hochdruck-Gasentladungslampen zeichnen sich diese durch einen Farbwiedergabeindex von 89 aus.[4] LED, die ebenfalls zur Diskussion standen, erreichen zwar mittlerweile hinsichtlich Energieeffizienz und Farbwiedergabeindex nahezu vergleichbare Werte, sind aber in Bezug auf die Leistung noch nicht konkurrenzfähig. Durch die optimierte Optik innerhalb des Projektors konnte die Lichtausbeute bis auf 45 % gesteigert werden. Das bedeutet, dass von 23 000 lm, die in der Lampe erzeugt werden, bis zu 9900 lm auf die Fassade projiziert werden.

Da bei einer Projektionsbeleuchtung das Licht zudem nahezu horizontal auf die Fläche fällt, kann es eine optimale Wirkung entfalten – im Gegensatz zu einer Beleuchtung mit Akzentstrahlern, bei der die Fassaden vertikal von unten nach oben angestrahlt werden. Es wird kegelförmig mit einem Radius von 40 ° projiziert, bei einer horizontalen Beleuchtung beträgt die Beleuchtungsstärke bei einer Distanz von 20 m etwa 50 Lux, bei 60 m noch etwa 7 Lux. Schwierig wird es bei sehr flachen Projektionswinkeln: An den Rändern eines Lichtkegels nimmt die Beleuchtungsstärke jeweils ab. Um hier eine gleichmässige Lichtverteilung zu gewährleisten, wird bei Winkeln unter 30 ° eine gegengleiche symmetrische Anordnung der Projektoren empfohlen.

Architektonische Verfremdungen

Neben der Technologie liegt eine Schlüsselfunktion des Verfahrens im gestalterischen Verständnis der Planenden. Bei der Herstellung der Bildvorlage müssen sich die jeweiligen Lichtplaner zum einen mit den Besonderheiten der Fassade, zum anderen mit dem umgebenden Stadtraum auseinandersetzen – und zwar auf lange Sicht: Die Lebensdauer einer öffentlichen Beleuchtungsanlage beträgt in der Schweiz in der Regel mehrere Jahrzehnte. Hier wird entschieden, wie ein Gebäude gestalterisch behandelt wird, wo die Akzentuierungen liegen, wie sich die Grundhelligkeit ausnimmt, welche Bereiche im Schatten bleiben.

Um dieses Verfahrenswissen zu generieren, wurde gemeinsam mit Studierenden der Zürcher Hochschule der Künste innerhalb des Forschungsprojekts auch mit architektonischen Verfremdungen experimentiert. Sie dienten gleichsam als Labor für die letztlich eingesetzten subtilen Modulierungen mittels unterschiedlicher Grauschattierungen. Die Ergebnisse sind verblüffend: Ganze Baukörper können simuliert, Oberflächen mit neuen Materialien belegt und dreidimensionale Elemente angefügt werden (Abb. 2 – 6) Diese expressive Art der Anstrahlung zeigt, was möglich, aber wohl nicht unbedingt wünschenswert ist. Immerhin erlaubt der einfache Wechsel der Bildvorlagen Variationen im Motiv, was das Verfahren auch für temporäre Beleuchtungsaufgaben attraktiv macht. Weniger Licht:

Utoquai und Schauspielhaus

In der Schweiz sind in den letzten drei Jahren 14 Anlagen entstanden, sechs weitere befinden sich in der konkreten Vorbereitung (vgl. Kasten S. 40). Das grösste realisierte Objekt befindet sich am Utoquai in Zürich. Während der Fussball- Europameisterschaft im Juni 2008 wurde hier im Rahmen des Zürcher Plan Lumière ein 600 m langer Strassenzug entlang des unteren rechten Seeufers angestrahlt. 25 Projektoren à 250 W beleuchteten fünf Fassaden, darunter Wohn- und Bürohäuser und ein Hotel (Abb. 9). Bis zu fünf Geräte konnten dazu an bestehenden Masten montiert werden. Die Aktion diente als Testlauf für eine fix installierte Anlage, die kommenden Februar ihren Betrieb aufnehmen wird (Abb. 10). Einen Ausblick auf mögliche kombinierte Verfahren zeigt die Beleuchtung der Westfassade des Zürcher Schauspielhauses. Ab dem Frühjahr 2010 ist eine Kombination aus Lichtprojektion und LED geplant, die die bestehende Beleuchtung mit ausschliesslich LED ablösen wird. Neben den ästhetischen Überlegungen spielte dabei auch der energetische Aspekt eine Rolle: Das Schauspielhaus wird über eine Länge von 40 m beleuchtet, die momentan installierte Beleuchtung mit LED benötigt dazu 5.0 KW. Dazu kommt die Werbebeleuchtung über dem Eingang. Die alternative Methode mittels Lichtprojektion lässt sich mit drei Projektoren mit einer Bestückung von je 150 W realisieren, was einem Verbrauch von 0.48 kW entspricht. Bei einer jährlichen Betriebsdauer von 2000 Stunden können damit 8400 kWh eingespart werden. Auf der gestalterischen Seite sprechen die Vorteile beider Methoden für eine Kombination: Mittels Projektion kann die Fassade vollflächig gleichmässig beleuchtet werden, während die an der Fassade angebrachten LED für die gewünschten Akzente sorgen (Abb. 15).

Ausblick: Kombinierte Verfahren

Mitte 2006 wurde eine Testanlage am EWZ in Zürich in Betrieb genommen. Sie zeigt sich erstaunlich robust, bisher wurden damit über drei Betriebsjahre ohne nennenswerte Störungen simuliert. Auch die seit etwa zwei Jahren laufenden Pilotanlagen weisen noch keine Ermüdungserscheinungen auf. Aus dem KTI-Projekt ist unterdessen mit «opticalight» eine Firma hervorgegangen, die sich aussschliesslich der Planung und Realisierung von Beleuchtungsanlagen mittels Lichtprojektion widmet. Für den internationalen Markt besteht eine Partnerschaft mit der deutschen siteco.

Das Verfahren bietet vor allem die Möglichkeit, einzelne Gebäude als Ensemble im städtebaulichen Kontext zusammenzufassen. Das Ergebnis ist so subtil, dass die Bauherrschaft bei Bemusterungen oft fragte, wann es denn endlich losginge – und erst beim Abschalten der Anlage bemerkte, dass bereits die ganze Zeit beleuchtet wurde. Kurz: Der Effekt ist unaufdringlich, aber spürbar – es entsteht kein weiterer Lichtreiz im Stadtbild. Gemeinsam mit den Vorteilen wie der reduzierten Blendung im Innenraum und der Vermeidung unerwünschter Lichtemissionen ist damit eine Anwendung entstanden, die sowohl funktional als auch ästhetisch überzeugt.

Natürlich gibt es dabei Grenzen: Für Glasfassaden ist das Verfahren nicht geeignet, transparente Oberflächen reflektieren kein Licht. Auch eine Bemusterung des Hospiz am Grimselpass erwies sich als wenig erfolgreich: Vor dem sehr dunklen Hintergrund der unbeleuchteten Bergwelt wirkte das Gebäude schlicht zu hell. Ein Zuviel an Licht ist auch der Grund, warum eine Akzentbeleuchtung einzelner kleiner Bauteile mittels Lichtprojektion wenig Sinn ergibt. Da die Technologie mit Lichtreduktion arbeitet, würde bei einer lediglich punktueller Anstrahlung zu viel Licht ungenutzt bleiben. Als Ergänzung zum Sortiment ist daher für 2011 ein kleiner Projektor geplant, der mit weniger leistungsfähigen Lampen arbeitet und auf kürzere Distanzen ausgelegt ist.


Anmerkungen:
[01] So z. B. in Winterthur, von wo ein zweijähriger «Lampenstreit» übermittelt ist. Am Ostermontag 1821 wurde mit 19 Laternen schliesslich die erste systematische Beleuchtung der Stadt in Betrieb genommen. Vgl. Meinrad Suter: Winterthur 1798–1831. Von der Revolution zur Regeneration. Stadbibliothek Winterthur, 1992, S. 275–277
[02] KTI ist die Förderagentur für Innovation des Bundes
[03] Gemessen wird dieser Wert bspw. in ANSI Lumen: Lumen = Lux·m² (ANSI = American National Standards Institute)
[04] Unter Farbwiedergabeindex versteht man einen fotometrischen Wert (Ra), der die Qualität der Farbwiedergabe von Lichtquellen beschreibt. Er zeigt, wie stark sich die Farbe eines Objektes bei der Beleuchtung mit zwei verschiedenen Lampen ändert. Sehr gute Farbwiedergabeeigenschaften besitzen Lampen mit einem Ra von 100, z. B. Glühlampen

TEC21, Mo., 2010.01.04



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tec21 2010|01-02 Stadtlicht

25. September 2009Tina Cieslik
TEC21

Frisches im Müsli

Zwischen 1928 und 1943 entstand im Osten von Winterthur das sogenannte Bichermüesli-Quartier, konzipiert und realisiert von Adolf Kellermüller. Aufgrund der Rohstoff knappheit während der Kriegsjahre kam zum Teil mangelhaft es Baumaterial zum Einsatz – schliesslich war die Bausubstanz so schlecht, dass von 2006 bis 2009 eine Komplettsanierung durchgeführt wurde. Durch eine horizontale Erweiterung der Reihenhäuser gelang den Zürcher Architekten Knapkiewicz & Fickert eine Aufwertung, die die Wohnqualität steigert und den Charakter der Siedlung betont.

Zwischen 1928 und 1943 entstand im Osten von Winterthur das sogenannte Bichermüesli-Quartier, konzipiert und realisiert von Adolf Kellermüller. Aufgrund der Rohstoff knappheit während der Kriegsjahre kam zum Teil mangelhaft es Baumaterial zum Einsatz – schliesslich war die Bausubstanz so schlecht, dass von 2006 bis 2009 eine Komplettsanierung durchgeführt wurde. Durch eine horizontale Erweiterung der Reihenhäuser gelang den Zürcher Architekten Knapkiewicz & Fickert eine Aufwertung, die die Wohnqualität steigert und den Charakter der Siedlung betont.

Anfang des 19. Jahrhunderts begann Winterthurs Entwicklung zur Industriestadt; 100 Jahre später stellte die Maschinenindustrie 60 % der Arbeitsplätze. Der hohe Bedarf an Arbeitern führte zu einem Mangel an Wohnraum, dem man mit dem Bau von Reihenhäusern nach dem Vorbild der englischen Gartenstädte begegnete. Auch der Bau der Siedlung Stadtrain im Osten von Winterthur geht auf eine solche Initiative zurück. Im Volksmund wird der Stadtteil wegen der Strassennamen «Quitten-», «Kirschen-», «Pfirsich-», «Aprikosen-», «Birnen-» und «Apfelweg» auch «Birchermüesli»-Quartier genannt. Die Bauherrin, die 1923 gegründete Heimstättengenossenschaft HGW, hatte das Ziel, insgesamt 277 Wohnungen zu erstellen, beginnend beim Spitzweg in Westen und endend an der Talackerstrasse im Osten. Mit dem Bau wurde Adolf Kellermüller beauftragt, der in Zusammenarbeit mit Hans Bernoulli bereits die Siedlungen Weberstrasse (1923–25), Bachtelstrasse (1924) und Eichliacker (1924–25) für die HGW realisiert hatte. Bei Planung und Bau der Siedlung Stadtrain arbeitete Kellermüller mit seinem Büropartner Hans Hoffman zusammen.

Kellermüllers Ansatz bestand darin, mit standardisierten Elementen auf der Basis handwerklicher Bauweisen das Kleinhaus als kostengünstige Alternative zur Mietwohnung zu realisieren. Er wählte dafür Kreuzreihenhäuser, eine Typologie, die er bei seiner Tätigkeit beim Wiederaufbau in Litauen und Ostpreussen kennengelernt hatte[1] und die sich durch extreme Kompaktheit auszeichnete. Es entstanden sieben Wohnblöcke à 18 Einheiten in Ost-West-Orientierung mit jeweils einem vorgelagerten Garten sowie mehrere Mehrfamilienhäuser am Blockrand. Durch die Anordnung «Rücken an Rücken» konnte sehr dicht gebaut werden, der Typus brachte aber Belüftungs- und Belichtungsprobleme mit sich, die durch eine Flachdachkonstruktion gelöst wurden: Ein doppeltes Oberlicht liess Licht und Luft ins Obergeschoss. Neben den Bauten, die formal dem «Bauen der neuen Sachlichkeit»[2] verpflichtet waren, zeichnete sich die Siedlung durch ein hierarchisch aufgebautes Erschliessungsnetz aus, das sich bis heute bewährt hat. 1930 waren bereits fünf Reihen fertiggestellt und an Private verkauft, als die Wirtschaftskrise die ursprüngliche Absicht, die Siedlung in einem Zug zu bauen, zunichtemachte. Die Realisierung wurde etappiert, zwei während des Krieges erbaute Häuserreihen sowie ein Mehrfamilienhaus an der Talackerstrasse blieben im Besitz der Genossenschaft. Sie wurden um 1943 fertiggestellt. Durch den Krieg herrschte ein Mangel an Baumaterial, statt in Beton wie bei den früheren Siedlungsteilen wurden die Dächer aus Holz konstruiert. Eine fehlerhaft ausgeführte Erneuerung der Dachabdichtung in den 1980er-Jahren hatte die Konstruktion verfaulen lassen. 2005 war der Zustand so desolat, dass eine vollumfängliche Sanierung nötig wurde.

Wettbewerb, Abriss und Neubau

Ein geladener Wettbewerb unter sechs Schweizer Architekturbüros wurde ausgeschrieben: Neben den Sanierungen im konstruktiven und energetischen Bereich waren eine Anpassung der sanitären Anlagen an heutige Standards und die Schaffung von grosszügigeren räumlichen Verhältnissen erwünscht. Im Juli 2005 konnten die Zürcher Architekten Knapkiewicz & Fickert die Auslobung für sich entscheiden (vgl. TEC21 35/2005). Ausschlaggebend dafür war unter anderem die geplante horizontale Erweiterung zur räumlichen Entspannung der Wohnfläche. Die Mehrheit der Teams hatte eine Aufstockung der Gebäude vorgeschlagen – im Hinblick auf die vorherrschenden Volumina im Quartier wurde dies jedoch abgelehnt. Für die Sanierung wurde eine differenzierte Herangehensweise gewählt und das Projekt in drei Bauphasen aufgeteilt. Die erste Etappe umfasste die Mehrfamilienhäuser an der Talackerstrasse. Die Bauten waren in sehr schlechtem Zustand und ausserdem mit einem Hochparterre versehen, was die angestrebte rollstuhlgängige Nutzung erschwerte. Hier wurden der Abriss und die Erstellung eines Ersatzbaus mit zwölf barrierefreien Dreizimmerwohnungen projektiert. Dadurch liess sich auch eine unterirdische zweigeschossige Einstellhalle mit 63 Plätzen realisieren, die den Bedarf der gesamten Siedlung deckt. Per Lift besteht ein Direktanschluss an die Wohnungen des Neubaus.

Den Architekten war es ein Anliegen, den kleinteiligen Volumina der Kreuzreihenhäuser keinen überdimensionierten Block gegenüberzustellen. Der dreigeschossige Neubau orientiert sich daher an den Proportionen des Abbruchbaus, durch den Wegfall des Hochparterres konnte aber ein zusätzliches Geschoss realisiert werden. Darüber hinaus wurde über die Wahl der Materialien versucht, eine Zusammengehörigkeit mit den Reihenhäusern herzustellen: Die dem Quartier zugewandte Fassade ist mit Eternit verkleidet und korrespondiert mit den ebenfalls eternitverkleideten Anbauten der Reihenhäuser. Süd-, Ost- und Nordfassade sind massiv gemauert, aussen isoliert und grau verputzt. Im Innern herrscht Genossenschaftscharme: Alle nichttragenden Wände sind aus Holz in Leichtbauweise erstellt, die Fugen mit hellgrauen Deckleisten belegt (Abb. 8). Die Kassettierung thematisiert den Kontrast zwischen massiven und Leichtbauelementen – ein Motiv, das durch die Schiebetüren zusätzlich akzentuiert wird. Im Grundriss orientierten sich die Architekten an Kellermüllers kompakten Typologien: Es gibt keine Verkehrsflächen, analog zur zunehmenden Privatsphäre reihen sich Nebenräume, Wohnzimmer und Schlafzimmer in drei Schichten hintereinander (Abb.10).

Horizontale Erweiterung / Vertikale Lichtführung

Die zweite Bauphase von 2008 bis 2009 umfasste die 18 Kreuzreihenhäuser zwischen Quittenund Kirschenweg. Hier stand neben der bautechnischen und energetischen Sanierung die Steigerung der Wohnqualität durch zusätzliche Fläche im Vordergrund. Mit einer Grundfläche von 53 m² waren die Reihenhäuser bescheiden dimensioniert. Das Erdgeschoss beherbergte die Küche, das Wohnzimmer und ein Bad mit Waschküche; im Obergeschoss gab es drei Schlafzimmer und ein WC. Neben den engen Raumverhältnissen und dem unbefriedigenden Zustand der Sanitärräume war primär auch die Erschliessung ein Problem: Durch das Fehlen von Verkehrsfläche befand man sich beim Eintreten praktisch bereits auf der Treppe ins Obergeschoss, der Keller konnte nur durch die Küche erschlossen werden.

Die Erweiterung lösten die Architekten durch einen nach Süden ausgerichteten eingeschossigen Anbau für Küche und Wohnzimmer, eine Holzkonstruktion mit Eternitverkleidung, die auf einer Bodenplatte aufgeständert ist. Die Küche wurde als Küchenzeile in den Verbindungsgang zwischen Bestand und Anbau platziert. Der durchgängige Linoleumboden betont den fliessenden Grundriss; es entsteht eine – an den Proportionen des ehemaligen Arbeiterhauses gemessen – geradezu grosszügige Enfilade. Der Vorteil dieser horizontalen Erweiterung liegt auf der Hand: Die Zusatzfläche wird für Wohnräume geschaffen, dort, wo die Bewohner sie am dringendsten benötigen. Darüber hinaus entsteht durch den neuen L-Grundriss im Aussenraum ein semiprivater Hof. Dem Anbau haftet etwas Provisorisches an, Assoziationen mit Schrebergärten, Schuppen drängen sich auf – eine bewusste Reverenz an die Geschichte der Siedlung.

In den Innenräumen verfolgte man eine Strategie der sanften wertsteigernden Eingriffe: Alle Gebrauchsräume – Küche, Wohnzimmer, Esszimmer und das Badezimmer mit Waschmaschine – sind im Erdgeschoss auf einem Niveau untergebracht. Ein zusätzlicher Aussenzugang zum Keller entspannt zudem die Erschliessungssituation. Die dringend nötige Sanierung des Daches wurde mit vorfabrizierten isolierten Holzelementen durchgeführt. Auf diese Weise konnte das Dach angehoben und eine Raumhöhe von 2.55–2.75 m im Obergeschoss ermöglicht werden. Die analog zum ursprünglichen Bestand projektierte Terrasse im Obergeschoss fiel Einsparungen zum Opfer. Zudem befürchtete die Bauherrschaft durch mögliche Einblicke in das Nachbargrundstück Einbussen in der Privatsphäre der Bewohner. Während des Umbaus stellte sich heraus, dass die Bausubstanz noch schlechter war als befürchtet: Im Treppenhaus war das Mauerwerk teilweise stehend vermauert, was eine Berechnung des Tragwerks praktisch verunmöglichte. Als Konsequenz versuchte man, zusätzliche Schwächungen des Mauerwerks zu vermeiden sowie – ganz allgemein – einen möglichst hohen Anteil der Originalsubstanz zu erhalten. Ein Beispiel: Während im ganzen Haus ein neuer Bodenbelag aus orange-gelbem Linoleum verlegt wurde, findet sich in einem der Räume im Obergeschoss ein Parkettboden. Dies ist der einzige Raum, in dem keine Abbrucharbeiten an den bestehenden Wänden vorgenommen wurden, das Parkett konnte übernommen werden. Da die Kreuzreihenhaus-Typologie natürliches Licht lediglich von der Fassadenseite her erlaubt, betraf ein wichtiger Eingriff die Lichtführung. Das bestehende Oberlicht wurde ersetzt, statt nur ins Obergeschoss leitet ein Lichtschacht neu natürliches Licht bis ins Wohn- / Esszimmer im Erdgeschoss. Das darüberliegende Schlafzimmer ist zum Schacht hin verglast und profitiert auf diese Weise ebenso von der zusätzlichen Helligkeit. Neben der Steigerung der Wohnqualität war auch die energetische Sanierung ein wichtiges Thema. Hier war die Kreuzreihenhaus-Typologie von Vorteil, die einzelnen Häuser konnten als gesamthaftes Volumen betrachtet werden. Eine Innendämmung wurde von der Bauherrschaft aus Platzgründen abgelehnt, die Architekten wollten aber ein «Verpacken» der Fassade möglichst vermeiden. Isoliert wird nun über die vorgefertigten Holzelemente des Daches, lediglich die Kopfbauten erhielten eine zusätzliche Dämmung an den Aussenfassaden. Daneben wurde die Fassade auch farblich aufgewertet: Die ehemals einheitlichen Fronten der Häuserreihe werden nun differenziert behandelt, während die vorgestellten Anbauten, die jetzt die neue Fassade gegen aussen bilden, mit grauem Eternit verkleidet sind. Als Reverenz an den Bestand wurden die neuen Haustüren rot gestrichen.

Heterogen statt zusammenhängend

Nach Fertigstellung der 18 Reihenhäuser im Mai 2009 sollte die anschliessende Reihe zwischen Kirschen- und Pfirsichweg nach dem gleichen Konzept saniert werden. Dazu wird es nicht kommen: Aufgrund von Differenzen zwischen Bauherrin und Architekten entschloss sich Erstere, die Zusammenarbeit zu beenden. Statt einer Sanierung ist ab April 2010 der Abriss der originalen Kreuzreihenhäuser geplant. An ihrer Stelle entstehen Ersatzbauten, die aufgrund des Volumenschutzes den sanierten Reihenhäusern samt Anbauten entsprechen werden. Der Entscheid ist zu bedauern, zeugt aber – von der Fragwürdigkeit einer solchen Rekonstruktion abgesehen – immerhin für die städtebauliche Qualität des Entwurfs von Knapkiewicz & Fickert: Mit den Anbauten gelang eine erhebliche Steigerung der Wohnqualität, ohne den Charakter der Siedlung zu zerstören. Sie bereichern das Quartier auf spielerische, selbstverständliche Art und ermöglichen eine zeitgemässe Nutzung.


Anmerkungen:
[01] Christoph Luchsinger, «Adolf Kellermüller (1895–1981). Drei Siedlungsunternehmen». archithese 6/1983
[02] Kellermüller bevorzugte den Ausdruck «Bauen der neuen Sachlichkeit» gegenüber «Neues Bauen». Es ging ihm nicht um die Erfindung einer neuen Baukultur, sondern um das Wiederfinden verlorener Qualitäten. Vgl.: Adolf Kellermüller, «Gedanken über Wesen und Aufgabe des Architekten», handschrift - liches Manuskript für ein Referat für die Oberklassen der Kantonsschule Winterthur, 8.2.1946, S.4

TEC21, Fr., 2009.09.25



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2009|39 Schicht für Schicht

03. September 2009Tina Cieslik
TEC21

Vom Turnen zum Sport

Gespielt und gewetteifert wurde schon immer. Während in der Antike und im Mittelalter Turniere und Wettkämpfe bestritten wurden, brachte die Aufklärung eine Betonung des Gesundheitsaspektes für die gesamte Bevölkerung. Es entstanden Hallen zur Ausübung der Körperertüchtigung, die sich in Grösse und Raumprogramm an den Bedürfnissen des Turnens orientierten. Die Zunahme der englischen Teamsportarten seit Anfang des 20. Jahrhunderts führte zu einer kontinuierlichen Adaptierung der Gebäudetypologie.

Gespielt und gewetteifert wurde schon immer. Während in der Antike und im Mittelalter Turniere und Wettkämpfe bestritten wurden, brachte die Aufklärung eine Betonung des Gesundheitsaspektes für die gesamte Bevölkerung. Es entstanden Hallen zur Ausübung der Körperertüchtigung, die sich in Grösse und Raumprogramm an den Bedürfnissen des Turnens orientierten. Die Zunahme der englischen Teamsportarten seit Anfang des 20. Jahrhunderts führte zu einer kontinuierlichen Adaptierung der Gebäudetypologie.

Jahrhundertelang war die systematische, leistungsorientierte Leibesertüchtigung dem Adel vorbehalten, während sich das Volk mit punktuell stattfindenden Spielen amüsierte. Im Gegensatz zur Antike und zum Mittelalter zeichnet sich der «moderne Sport» daher durch seine Breitenwirkung aus, die alle Gesellschaftsschichten umfasst. Die Grundlagen für diese Entwicklung wurden durch die Ideen der Aufklärung gelegt. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts wurde in Europa über den Stellenwert des Körperbewusstseins und der Körperertüchtigung debattiert. In seinem pädagogischen Werk «Émile ou de l’éducation» von 1762 betonte Jean-Jacques Rousseau die Bedeutung von Spielen und Bewegung als Teilen der Erziehung. Johann Heinrich Pestalozzi schuf die Idee der ganzheitlichen Entwicklung (Kopf, Hand, Herz) und formte daraus seine Elementargymnastik. 1793 erschien mit der «Gymnastik für die Jugend» von Johann Christoph Friedrich GutsMuths das erste systematische Lehrbuch der Turnkunst.

Realer Hintergrund dieses Prozesses war die Industrialisierung, die den Übergang von der Selbst- zur Fremdversorgungsgesellschaft und die Automatisierung der Produktion brachte. Die neue Klasse der Arbeiter stellte sozialpolitische Forderungen, etwa nach der Fünftagewoche und dem Achtstundentag, und schuf damit die Voraussetzung für etwas, das bis anhin nur die Herrschenden kannten: Freizeit. Allmählich hatte auch die Unterschicht Zeit, Musse und das Bedürfnis, sich Anerkennung ausserhalb des Arbeitsplatzes zu verdienen – eine Freiheit, die es auszufüllen galt.

„Sports“ in England - „Turnen für das Vaterland“ in Deutschland

In den europäischen Ländern bildeten sich verschiedene Modelle der Leibesertüchtigung aus, wegweisend waren England und Deutschland. In England, dem Ursprungsland der industriellen Revolution, waren Arbeitsteilung und individuelle Leistungsorientierung bereits Mitte des 18. Jahrhunderts weit fortgeschritten. Der sportliche Ansatz bestand hier darin, die traditionellen Volksspiele wie Rugby und Fussball stärker zu formalisieren und zu pädagogischen Zwecken zu nutzen. Die Begriffe «Fair Play» und «Gentlemanly Behaviour» sollten auch ausserhalb des Sports für breite Bevölkerungsschichten Bedeutung erlangen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann das englische Sportmodell auf den europäischen Kontinent überzuschwappen. Im deutschsprachigen Raum stiess es dabei auf erbitterten Widerstand der Turnvereine, die sich als Vertreter der körperlichen Bewegung etabliert hatten. Leibesübungen waren hier gleichzusetzen mit Turnen, und sehr oft: Turnen fürs Vaterland. Die Besetzung weiter Teile Deutschlands Anfang des 19. Jahrhunderts durch französische Truppen weckte den Drang zu bewaffnetem Widerstand, was den Stellenwert eines gesunden, wehrhaften Körpers erhöhte. Der bekannteste Protagonist innerhalb dieser nationalen Bewegung war «Turnvater» Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852). 1811 eröffnete er vor den Toren Berlins den Turnplatz Hasenheide, der eine hierarchiefreie deutsche Nation symbolisierte, wo sich alle mit «Du» ansprachen und ähnliche Kleidung trugen. Das galt allerdings nur für den männlichen Teil der Bevölkerung: Die Betonung des Wehrcharakters schloss die Teilnahme von Turnerinnen aus. Die stark nationalistisch motivierte Turnbewegung mit ihrem Streben nach einer einheitlichen Nation entwickelte sich jedoch zunehmend zu einer Provokation für die regierenden Kreise der deutschen Kleinstaaten: 1820 verhängte Preussen eine «Turnsperre», viele der deutschen Fürstentümer folgten. Jahn wurde verhaftet und unter Arrest gestellt, etliche seiner Anhänger flohen ins Ausland.

Turnbewegung und Nationalbewusstsein in der Schweiz

Zu dieser Zeit existierten in der Schweiz nur vereinzelt Einrichtungen zur Körpererziehung, etwa der Turnbetrieb, den der Turnlehrer Phokion Heinrich Clias (1782–1854) auf der Kleinen Schanze in Bern initiierte. 1816 schlossen sich Studenten unter Clias’ Führung zur «Vaterländischen Turngemeinde» und damit zum ersten Turnverein der Schweiz zusammen. Mit der Turnsperre in Deutschland gelangte das Jahn’sche Turnen auch in die Schweiz, wo es sich rasch verbreitete: 1832 erfolgte die Gründung des Eidgenössischen Turnvereins in Aarau. Ein wichtiges Bindeglied der zahlreichen Turngemeinden waren die jährlichen gesamtschweizerischen Turnfeste. Neben dem Sechskampf, bestehend aus Freiübungen, Wettlaufen, Springen sowie Übungen an Pferd, Barren und Reck, wurden 1855 Schwingen, Ringen, Steinstossen und Steinheben als «Nationalturnen» und als eigenständiger Wettkampf eingeführt.

Die Turnbewegung bildete in der Schweiz des 19. Jahrhunderts nicht nur die massgebliche Form der körperlichen Ertüchtigung; sie spielte auch eine sozialpolitische Rolle. Die Vereine waren Orte der Begegnung und der Festkultur. An den Feiern wurden patriotische Gefühle und Rituale gepflegt und das Nationalbewusstsein beschworen. Zwar gab es auch in der Schweiz restaurative oder sittlich-moralische Kritik an der Turnbewegung, etwa aus Sorge um etwaigen Autoritätsverlust von Pfarrern oder anderen Respektspersonen. Ein wesentlicher Unterschied zur Entwicklung in Deutschland war jedoch, dass sich die 1834 in den Statuten des Eidgenössischen Turnvereins festgeschriebene «Einigung der schweizerischen Turnerschaft» und die «nationale Erziehung der schweizerischen Jugend» nicht gegen die Regierung richtete.1 Dazu gab es auch keinen Grund, seit der Helvetischen Republik galt die Volkssouveränität. Im Gegenteil: Die Vereine fungierten als Stütze und Übungsfeld basisdemokratischer Verfahrensformen.

Die Pflege einheimischen Volkstums und nationaler Gesinnung inerhalb der Turnbewegung zeugt von einem Streben nach einer Gemeinschaft, die alle Bevölkerungsschichten umfasste.

Bauten und Dimensionen

Zu Beginn der Bewegung fand der Turnbetrieb in der Regel an fest installierten Geräten im Freien statt. So hatte eine Turnanlage gemäss Friedrich Ludwig Jahn primär folgende Kriterien zu erfüllen: «Jeder Turnplatz muss wo möglich folgende Beschaffenheit, Gelegenheit und Örtlichkeit haben. – Er muss eben sein, muss hoch liegen [...]; er muss festen, mit kurzem Rasen bedeckten Boden haben, und mit Bäumen bestanden sein [...]. Ein Hauptbedürfnis für jeden Turnplatz [...] ist eine verschliessbare feste Hütte [...] zur Aufbewahrung des beweglichen Turnzeugs und Geräthes [...]».[2] Die zunehmende Institutionalisierung und die Integration des Turnens in die schulische Erziehung führte aber bald zum Bau von einfachen Turnhallen. Johannes Niggeler (1816–1887), einer der bekanntesten Exponenten der Bewegung und Förderer des Schulturnens in der Schweiz, forderte 1860 eine Grundfläche von 2400 Fuss (ca. =12 × 24 m) pro gedeckte Anlage, damals für Klassen mit bis zu 50 Schülern und Schülerinnen.[3]

Im Zusammenhang mit dem ersten offiziellen Lehrmittel für den Schulturnunterricht, der 1876 erschienenen «Turnschule für Knaben und Mädchen» von Johannes Niggeler, publizierte die dem Militärdepartement angegliederte Eidgenössische Turnkomission (ETK) ab 1878 regelmässig Empfehlungen zum Turnstättenbau. Ab 1911 erschienen sie unter der Bezeichnung «Normalie». Das Reglement vom 1. August 1911 sah Hallenmasse von 9 × 18 m vor; Platz finden mussten ein Rollbalken, vier Rollrecke, acht Kletterstangen und vier Klettertaue. Diese Dimensionen waren ausschliesslich auf das Geräteturnen und damit auf die Bedürfnisse des Militärs bei der Aushebung abgestimmt. Trotz der abnehmenden Bedeutung des Wehrcharakters des Turnens und der zunehmenden Verbreitung der Ballspiele blieben diese Masse bis in die 1960er-Jahre hinein ausschlaggebend für den Sporthallenbau.

Polyvalente Bauten für den polysportiven Betrieb

Anfang des 20. Jahrhunderts geriet die militärische Ausrichtung des Turnens in die Kritik. Die Reformpädagogik kritisierte Künstlichkeit und Militarisierung des Schulturnens, während sich der Freizeitsport mit dem Aufkommen von Wanderbewegung, Leichtathletik und Ballsportarten immer weiter diversifizierte und institutionalisierte. Gleichzeitig setzte eine Professionalisierung ein, die sich auch in Dimension und Ausstattung der Sportstätten manifestierte. Schliesslich erlaubte erst die Standardisierung von Sportstätten und -geräten den objektiven Leistungsvergleich.

Ab den 1960er-Jahren war bei den Ballsportarten, die vorwiegend draussen gespielt wurden, ein Trend zur Verlagerung in die Halle zu erkennen. Die Wettspielmasse der Mannschaftssportarten beeinflussten die Dimensionen der Sporthallen, es entstanden die ersten Mehrfachhallen. Die heute bekannte klassische Dreifachhalle mit den Massen 45 × 27 m wurde in Deutschland aus der damals vorherrschenden Einfachhalle (15 × 27 m) entwickelt. Seit Oktober 2008 empfiehlt das Bundesamt für Sport (Baspo) für den Neubau von Dreifachhallen eine Grösse von 49 × 28 m. Dabei wird von einem Modul ausgegangen, das sich an einem Basketballfeld (26 × 14 m) inkl. umlaufenden Sicherheitsabstands von 1 m und dem Platzbedarf mobiler Trennwände (je 0.5 m) aufbaut (vgl. Abb.11). Auch die Anzahl der Kriterien, die es beim Sporthallenbau zu beachten gilt, ist gewachsen. Immer mehr und immer schnelllebigere Trends im Sport führen zu baulichen Anpassungen. Ausser den eigentlichen Turngeräten bieten die Hallen heute eine Vielzahl an Sportmöglichkeiten, wie das Anfang Mai eröffnete, vom Bregenzer Architekturbüro Dietrich/ Untertrifaller realisierte Sport Center an der ETH Hönggerberg zeigt. Dessen «konventionelles Angebot» wurde u.a. auf dem Dach um Plätze für Tennis, Bogenschiessen und Beachvolleyball erweitert. Seit 2004 kommen bei der militärischen Aushebung keine Kletterstangen mehr zum Einsatz. Sie werden daher – dem aktuellen Sportklettertrend folgend – zunehmend durch Kletterwände ersetzt. Beim Innenausbau ist neben der Wahl des richtigen Bodens (punkt-, kleinflächen-, flächen- oder kombielastisch) das Prinzip der «glatten Wand» zu berücksichtigen: Das bedeutet, dass die Oberfläche nicht rau und bis auf mindestens 2.70 m ab Boden flach, geschlossen und splitterfrei ausgebildet sein muss.

Die Zuwendung zu Ball- und Laufspielen hat die Zahl der Unfälle durch den Aufprall an der Hallenwand markant erhöht, eine nachgiebige Wandverkleidung ist daher wünschenswert. Die «glatte Wand» beinhaltet auch den flächenbündigen Einbau von ausklapp- oder hochfahrbaren Sportgeräten wie Sprossenwänden oder Ballspieltoren sowie den bündigen Einbau von Fenstern, Türen oder Heizungselementen.

Je nach Niveau gelten zudem Mindeststandards bei der Beleuchtung. Als Richtwerte sind für das Training 300 lx vorgesehen, bei regionalen Wettkämpfen 500 lx sowie 750 lx bei internationalen Konkurrenzen. Darüber hinaus sollte eine Halle möglichst blendungsfrei und gleichmässig ausgeleuchtet sein. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Akustik: Um den Lombard-Effekt, das Aufschaukeln des Schalls, zu minimieren, gilt für Mehrfachhallen eine maximale Nachhallzeit von ≤ 2.5 s.[4] Durch die Professionalisierung des Breitensports müssen die Hallen auch zuschauertauglich sein, was erhöhte Anforderungen an Brandschutz, Fluchtwege und unterstützende Infrastruktur mit sich bringt. Mit dem Wunsch nach energetischer Effizienz sowohl im Bau als auch im Betrieb ist in letzter Zeit ein weiterer Aspekt hinzugekommen, den es bei der Planung zu berücksichtigen gilt. Dass dies möglich ist, zeigen die 44 Neu- und Umbauten von Hallen, die in den letzten Jahren den Minergie- Standard für Sportbauten erreicht haben.[5]

Zeitgenössische Bauaufgabe

Aus den militärisch und politisch motivierten und bald standardisierten Körperübungen von Niggeler, Clias und Jahn ist längst eine diversifizierte Freizeitbeschäftigung geworden. Sporttreibende sind heute Individualisten, die zwischen verschiedenen Angeboten wechseln, je nach Mode, Bedürfnis oder Lebensphase. Diese Komplexität drückt sich in den dazugehörigen Bauten aus: Ein Blick auf die Wettbewerbslandschaft in der Schweiz zeigt, dass in den nächsten Jahren etliche neue Sporthallen entstehen und bestehende Anlagen den heutigen Anforderungen angepasst werden. Der Sport ist also tatsächlich im Alltag angekommen, ein Massenphänomen, dessen «fruchtbare Wirkungen nicht bloss das Leben auf dem Turnplatze sondern (…) auch für das gesellschaftliche und staatliche Leben (…) von Nutzen sind (…).»[3]


Anmerkungen:
[01] Zum Vergleich: «Das Turnwesen in Deutschland ist ein allgemeiner Männerbund zum Sturze der Tyrannei, zur Begründung der Freiheit, des Lichtes und der Einengung von Willkür.» Aus dem Protokoll des Frankfurter Turnfestes von 1847
[02] Friedrich Ludwig Jahn: Die deutsche Turnkunst. Berlin 1816, S. 188
[03] Johannes Niggeler: Turnschule für Knaben und Mädchen. 8. Auflage, Schulthess, Zürich 1888, S. 18
[04] Richtlinien zum Sporthallenbau finden sich u.a. in der Baspo-Norm 201 (2008) und der bfu-Dokumentation «Sporthallen-Sicherheitsempfehlungen für Planung, Bau und Betrieb»
[05] Bei Neubauten gilt eine Energiekennzahl von 25 kWh/m2, bei Umbauten 40 kWh/m2

TEC21, Do., 2009.09.03



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tec21 2009|36 Hallenzauber

26. Juni 2009Tina Cieslik
TEC21

Gastronomische Zitate

1935 realisierte der damalige Zürcher Stadtbaumeister Hermann Herter (1919–1942) ein «Dienstgebäude mit Bedürfnisanstalt» an städtebaulich exponierter Lage am Zusammenfluss von Schanzengraben und Sihl. In den letzten Jahren fristete der Bau ein Dornröschendasein als Anlaufstelle für Alkoholiker. Seit Anfang Junflstrahlt er in neuem Glanz: Das Imbisslokal «Rio Bar Express Buffet» wurde eröffnet – und wirkt, als hätte es schon immer hier gestanden.

1935 realisierte der damalige Zürcher Stadtbaumeister Hermann Herter (1919–1942) ein «Dienstgebäude mit Bedürfnisanstalt» an städtebaulich exponierter Lage am Zusammenfluss von Schanzengraben und Sihl. In den letzten Jahren fristete der Bau ein Dornröschendasein als Anlaufstelle für Alkoholiker. Seit Anfang Junflstrahlt er in neuem Glanz: Das Imbisslokal «Rio Bar Express Buffet» wurde eröffnet – und wirkt, als hätte es schon immer hier gestanden.

Im Rahmen eines Aufwertungsprogramms für das Sihlufer, das unter anderem auch dessen Nutzung über die Sihlstufen umfasst, wurde 2007 die Gessnerbrücke erneuert. Vor diesem Hintergrund entstand die Idee, das ehemalige Werkgebäude, das neben seiner Funktion als Treffpunkt für Alkoholabhängige auch als Transformatorenhäuschen der EWZ diente, entsprechend seiner städtebaulichen Lage aufzuwerten. 2006 führte das Amt für Hochbauten daher ein Planerwahlverfahren unter drei Architekturbüros durch, das die Zürcher Architekten Stucky Schneebeli für sich entschieden.

Fester Sockel und schwebendes Dach

Den Architekten war es wichtig, die beiden Charakteristika des Gebäudes – das expressive Dach und die Massigkeit des Betonvolumens – zu erhalten und zu stärken. Die trutzige Brückenstützmauer verbindet sich fugenlos mit der Gebäudewand, deren Oberfläche aus gestocktem Beton eine expressive Rillenstruktur aufweist. Die Intervention von Stucky Schneebeli besteht daher im Wesentlichen darin, den Bau auf Strassenniveau zu öffnen: Eine an den Ecken gerundete Glasfassade mit Fensterrahmen aus bronzefarbenem, eloxiertem und geschliffenem Aluminium schmiegt sich raumhoch an drei Seiten um das Gebäude. Zur Sihl hin präsentiert sich eine fest verglaste Fensterfront, der Haupteingang befindet sich an der Südseite. Die östliche Fassade öffnet sich zu einem gekiesten Platz, der als Aussenwirtschaft genutzt wird. Die Fenster als durchgehendes Band, das sich weich um die Gebäudeecken legt, sorgen nicht nur für eine formale Fassung des Baus. Durch die Verlagerung der Verglasung vor die Aussenwand wirkt auch der Innenraum von nur 45 m² wesentlich grosszügiger. Hinter der Glasfassade bleibt der bestehende Beton sichtbar, er ist hier schwarz gestrichen und bildet den Hintergrund für die Beschriftung im Retrostil (Abb. 01). Neben der massiven Brückenstützmauer ist das auskragende Flachdach – ein Markenzeichen Herters, der auch die Tramhaltestellen am Bellevue und am Paradeplatz realisierte – charakteristisch für den Bau. Hier wurden die Dachhaut erneuert sowie die erforderlichen Lüftungskanäle und der Kamin eingebaut. Abends wird das Dach durch eine indirekte Beleuchtung von unten subtil in Szene gesetzt.

Rotbraun, Messing, Beton

Die starke, auch konstruktive Verbindung von Gebäude und städtebaulicher Situierung legte es nahe, den Bau ohne Bezug zum zeitgenössischen Kontext zu planen: Die Bar sollte wirken, als existierte sie schon seit Längerem. Für den unwissenden Flaneur entsteht daher – zumindest auf den ersten Blick – eine vage nostalgische Aura von Italianità der 1950er- Jahre, ein Eindruck, der durch Materialwahl und Schriftzug transportiert wird. Aber auch das Farbkonzept der neuen Fassade lässt diese Assoziation entstehen. Die Farbreihe Rotbraun, Bronze und Messing harmoniert bestens mit den Zuschlagstoffen des Betons, dessen Oberfläche im Kontext dieses Farbklangs weich und warm wirkt. Die Tonalität wird im Innenraum fortgeführt: Ein rotbrauner Terrazzoboden mit Messingfilet läuft durch das gesamte Gebäude und transportiert das Thema «Beton» nach innen. Die Wände sind mitgrau gestrichenem Stramin bespannt, durch die indirekte Beleuchtung wirkt das Gewebe wie weichgezeichnet. Im hinteren Bereich des Baus befinden sich ein rollstuhlgängiges und öffentlich zugängliches «Züri-WC» sowie – an der Nahtstelle zwischen dem 1948 angebauten Trans formatorenhäuschen und dem ursprünglichen Werkgebäude – die Treppe ins Untergeschoss mit dem Originalgeländer. Hier sind Lager, Technikräume und die Gäste-WC untergebracht. Die gestockte Betonwand beim Treppenabgang (Bestand) wird im neu gestalteten Untergeschoss aufgegriffen und in den WC als geschliffene Wand variiert. Aufgrund der Hochwassergefahr mussten hier an der Sihlseite wasserdichte Fenster eingebaut werden. In Dimension und Anordnung entsprechen sie den Fenstern des Bestands.

Versatzstücke der Cafékultur

Der Innenausbau und die Möblierung wurden durch die Pächterschaft in Zusammenarbeit mit dem Zürcher Büro Kistler Spehar realisiert. Auch die innere Raumhülle sollte als etwas bereits Dagewesenes, aus der Geschichte Gewachsenes empfunden werden. Die Architekten überführten das Farbkonzept der Fassade in den Innenraum, der mit Reminiszenzen an die italienische und die wienerische Cafékultur bestückt ist. Die Front der Theke aus in Eichenrahmen gefasstem, anthrazit gebeiztem Wiener Geflecht erinnert nicht zufällig an den Kaffeehausstuhl von Michael Thonet. Auch die Möblierung greift das Thema auf: Bei Hockern und Barhockern kommen Stahlblechmöbel aus den 1930er-Jahren zum Einsatz, die Stühle sind ebenfalls gebraucht und wurden lediglich etwas «aufgefrischt». Um den Raum optimal nutzen zu können, sind alle tragenden Wandteile mit Stehtischen ausgestattet. Bedingt durch die geringe Raumhöhe von nur knapp 2.40 m und die Anforderungen an die Raumakustik wurde eine FL-Beleuchtung aus offen montierten TL-5-Ringleuchten gewählt, deren Vorschaltgeräte in die flachen, mit Stramin bespannten Deckenfelder integriert wurden. Die ursprünglich von Stucky Schneebeli zentral geplante Bar wurde auf die Fensterseite zur Sihl gelegt, damit sich der Gästebereich Richtung Vorplatz öffnen kann. Die Aussenwirtschaft mit etwa 60 Sitzplätzen ist integraler Teil der Anlage und wertet den kleinen Park mit den zwei markanten Platanen auf. Eine neue Kiesfläche verbindet die beiden Platzebenen im Abgang zu den Sihlstufen. Die formale Grenze zum Schanzen graben markiert ein ebenfalls von Stucky Schneebeli realisierter überdachter Unterstand, der Abfallcontainer und Nebenfunktionen beherbergt und baulich in die Stützmauer am Schanzengraben integriert wurde.

Heitere Selbstverständlichkeit

Das Ziel, den Ort mit einem Bau von Zeitlosigkeit aufzuwerten, ist erreicht. Ein Sammelsurium von Bezügen – chronologisch und geografisch – lässt die Bar authentisch wirken. Eben so, als existiere sie schon lange an diesem Brückenkopf und als hätten die Pächter alle paar Jahre ein paar Einrichtungsgegenstände ausgetauscht und erneuert. Dass dennoch keine heterogene Beliebigkeit entsteht, ist dem prägnanten Fassadeneingriff zu verdanken, dem konsequenten Farbkonzept und der subtilen Stärkung der Qualitäten des Gebäudes: dem Gegensatz von Transparenz und Massivität und dem Zusammenspiel von Innen- und Aussenraum.

TEC21, Fr., 2009.06.26



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tec21 2009|26 Innere Werte

17. April 2009Tina Cieslik
TEC21

Rhythmische Fügung

Die im September 2008 eingeweihte Schule der Zürcher Architekten von Ballmoos Krucker im Meilener Ortsteil Obermeilen (ZH) überzeugt durch unaufgeregte Monumentalität. Die Anlage aus Neu- und Bestandsbauten ist in logistischer sowie in ästhetisch-konstruktiver Hinsicht sorgfältig durchkomponiert: Die Bauarbeiten wurden phasenweise bei laufendem Schulbetrieb ausgeführt, die Proportionierung der Fassade erinnert durch Dimension und Art der Fügung der vorfabrizierten Waschbetonplatten an urtümliche Mauern und verleiht dem Ensemble ein zusammenhängendes Erscheinungsbild.

Die im September 2008 eingeweihte Schule der Zürcher Architekten von Ballmoos Krucker im Meilener Ortsteil Obermeilen (ZH) überzeugt durch unaufgeregte Monumentalität. Die Anlage aus Neu- und Bestandsbauten ist in logistischer sowie in ästhetisch-konstruktiver Hinsicht sorgfältig durchkomponiert: Die Bauarbeiten wurden phasenweise bei laufendem Schulbetrieb ausgeführt, die Proportionierung der Fassade erinnert durch Dimension und Art der Fügung der vorfabrizierten Waschbetonplatten an urtümliche Mauern und verleiht dem Ensemble ein zusammenhängendes Erscheinungsbild.

Die Primarschule Obermeilen ist ein Konglomerat aus fünf Gebäuden, die ältesten Trakte gehen auf 1936 zurück. Die Anlage war sanierungsbedürftig, und als 2002 neue Richtlinien für den Schulbau mit höheren Anforderungen an das Raumprogramm in Kraft traten, bestand Handlungsbedarf. Aus dem von der Schule Meilen ausgeschriebenen Studienauftrag mit Präqualifi kation ging 2002 der Entwurf der Architekten von Ballmoos Krucker siegreich hervor. Ausschlaggebend dafür war unter anderem die sukzessive Realisierbarkeit des Um- und Neubaus bei laufendem Schulbetrieb. Im vorgeschlagenen Projekt sollten drei der bestehenden Bauten bzw. Trakte behutsam saniert, zwei abgerissen und durch drei Neubauten ersetzt werden (Abb. 5)

Bauen in Etappen

Der Entwurf baut auf einer durchgehenden Erschliessungsachse auf. Entlang dieses Ganges reihen sich, ausgehend von der gedeckten Eingangshalle an der Ecke Seidengasse / Bergstrasse, die einzelnen Gebäude Schulhaus A und B (mit Turnhallen), die Aula, der Kindergarten und das Schulhaus C. Obwohl die Eingangshalle die Haupterschliessung darstellt, ist der Zugang problemlos auch auf den anderen Seiten möglich. Um den durchgängigen Schulbetrieb während der Arbeiten gewährleisten zu können, war der Bauablauf in Etappen aufgeteilt. Die Neubauten sind leicht versetzt zum Bestand platziert, dadurch konnte der Unterricht während des Baus von Schulhaus A im danebenliegenden Altbau abgehalten werden. Nach der Inbetriebnahme des Neubaus wurde der Abbruch des bestehenden Gebäudes in Angriff genommen. Gleichzeitig starteten der Neubau von Schulhaus B und Aula und der Umbau des bestehenden Schulhauses zum Kindergarten.

Trakt A beherbergt neben zwölf Klassenzimmern mit dazugehörigem Gruppenraum auch das Lehrerzimmer und das Büro der Schulleitung sowie einen Raum für den Abwart. Schulhaus B ist komplexer. Neue und bestehende Bauten fügen sich zu einem vielschichtigen Gebilde zusammen, das ein heterogenes Raumprogramm beherbergt. Im Inneren reihen sich Bibliothek, Mittagstisch, ein Multifunktionsraum, eine Cateringküche, die Hausabwartswohnung, Klassenzimmer und Gruppenräume aneinander. Eine neue Doppelturnhalle deckt zusammen mit einer bestehenden Halle den Bedarf für Schul- und Vereinssport ab. Auf Kellerniveau gibt es eine Verbindung zur öffentlich zugänglichen Aula, ebenfalls einem Neubau. Trakt C und der Kindergarten wurden nur behutsam saniert. Letzterer erhielt Böden aus Eichenholz, es wurde eine Verbindung zwischen den Stockwerken geschaffen und eine Veranda zum Garten vor das Haus gesetzt.

Räumliches Puzzle

Die Fassaden der Neubauten wurden mit grosszügig dimensionierten vorfabrizierten Waschbetonplatten realisiert. Die Massivität der scheinbar gestapelten Elemente lässt diese wie eine fest gefügte, solide Mauer wirken. Die ursprüngliche Konstruktion war auch tatsächlich so geplant, doch finanzielle Aspekte sowie die Auflagen für die Erdbebensicherheit (vgl. TEC21 19 / 2008) sprachen dagegen. Nun steht nur die unterste Reihe der Elemente auf den Fundamentriegeln, darüber sind die Platten wie bei einer herkömmlichen Fassadenverkleidung aufgehängt (Abb. 14). Ausgehend von den verschiedenen Funktionen der Platten wurden drei Elementtypen entwickelt: die selbsttragenden aufgehängten und abgestellten Platten mit je einer Dicke von 14 cm sowie die tragenden Elemente mit einer Dicke von 20 cm. Die Befestigung der aufgehängten Platten erfolgte über Hängezuganker, die in die innere tragende Betonwand eingebohrt wurden (Abb. 10). Im Element sind die Anschlussteile des Ankers eingelegt, ebenso das Gegenstück für die Distanzhalter. Bei den abgestellten Platten wird die Lastabtragung in das Fundament mit zurückversetztem Mörtelbett über einen Dorn gewährleistet. Die tragenden Stützen des Verbindungsgangs mit einer Dicke von 20 cm wurden beidseitig in Waschbeton ausgeführt und mussten daher in der Vorfabrikation stehend betoniert werden. Insgesamt wurden 522 vorfabrizierte Elemente eingebaut. Bei den Neubauten kam eine Mischbauweise zur Anwendung: Das Tragwerk aus Stahlbeton wurde vor Ort gegossen, nach dem Aufbringen der Dämmung wurden die vorfabrizierten Waschbetonelemente montiert. Von den Dimensionen der Verkleidung abgesehen, entspricht der Aufbau damit dem einer konventionellen hinterlüfteten Fassade.

Die Architekten entschieden sich aus verschiedenen Gründen für eine Hülle aus vorfabrizierten Elementen. Ein Anliegen war, die tragenden Stützen des Verbindungsganges und die Fassaden der Neubauten mit einer einheitlichen Oberfläche zu realisieren, tragende und vorgehängte Teile also aus demselben Material zu fertigen. Auf diese Weise liess sich neben der erschliessungstechnischen auch eine formale Verbindung zwischen Neubauten und Bestand herstellen. Der gedeckte Gang reicht bis an die Bestandsbauten, die tragenden Stützen aus Waschbeton stehen ohne falsche Ehrfurcht direkt vor den verputzten Fassaden. Die Verwendung von vorfabrizierten Elementen ist – entsprechende Planung vorausgesetzt – vor allem hinsichtlich der Berechen- und der Überprüfbarkeit von Vorteil. Zudem ist das Ergebnis reproduzierbar. Das gilt zum einen für die Präzision in den Dimensionen, zum anderen für die Oberfläche der Elemente. Bis die richtige Mischung von Zement und Zuschlagstoffen für die Fassadenelemente gefunden war, mussten mehrere Testreihen hergestellt werden. Zur Anwendung kam schliesslich ein gelblicher Weisszement mit einer Kiesmischung aus Jurakalksplittern, die Auswaschungstiefe beträgt 4 mm. Die Armierung erfolgte zweilagig mit Stahlnetzen bei einer Überdeckung von 30 mm. Das Aussehen der Oberfläche ist bei der Vorfabrikation trotz allfälligen Schwankungen in der Zusammensetzung der Zuschlagstoffe weit kalkulierbarer als bei der Herstellung von Bauteilen in situ, vor allem im Vergleich zu Sichtbeton.

Der hohe Präzisionsgrad in der Dimensionierung stellte dagegen auch ein Problem dar: Die Toleranzen des Rohbaus bewegten sich im Zentimeter-, die der vorfabrizierten Elemente im Millimeterbereich. Problematisch war besonders der Verbindungsgang, wo sich tragende Stützen, Attika- und Fassadenelemente treffen. Für die Montage musste daher ein detaillierter Ablauf entwickelt werden, der es erlaubte, vorfabrizierte Elemente an wichtigen Schlüsselstellen auszulassen. Nach der Montage der übrigen Platten wurden die fehlenden Puzzleteile vor Ort neu ausgemessen, mit den passenden Dimensionen hergestellt und eingesetzt. Ein weiteres Risiko bestand in der Beschädigung der vorfabrizierten Teile während der Montage. Die Reparatur auf der Baustelle ist, falls überhaupt möglich, aufwendiger als bei vor Ort angefertigten Teilen. Die ursprünglich industrielle Vorfabrikation wird damit zu einer Art wenn nicht Handwerk, so doch immerhin manufaktorischen Herstellung. Dennoch sind die vorgefertigten Elemente in der Herstellung eine kostengünstige Variante – bei gleichem Anspruch an die Oberfläche vor allem im Vergleich zu Sichtbeton und nur, wenn der Planungsaufwand nicht einberechnet wird. Um einwandfreie Optik und Präzision zu gewährleisten, wurde in Obermeilen darauf geachtet, den Elementbauer gemeinsam mit dem Baumeister auszuschreiben. Damit hatten von Ballmoos Krucker in der Vergangenheit bereits gute Erfahrungen gemacht.

Fuge und Fügung

Mit der Wahl einer Fassade aus vorfabrizierten Waschbetonelementen beschreiten von Ballmoos Krucker in gestalterischer Hinsicht einen auf den ersten Blick ungewohnten Weg. In der Schweiz erlebte diese Art der Konstruktion im Bauboom der 1960er-Jahre ihre Blütezeit, war aber – neben den offensichtlichen produktionstechnischen Vorteilen – in ästhetischer Hinsicht lange als seelenlos und banal stigmatisiert. Dennoch gab es Architekten wie die Franzosen Paul Bossard oder Emile Aillaud, die sich über die rein konstruktiven Fragen hinaus auch mit dem Gestaltungspotenzial dieser Baumethode auseinandersetzten. 1 Hier knüpfen die Arbeiten von von Ballmoos Krucker an. Auch ihnen gelingt es, durch die Beschaffenheit des Materials ebenso wie durch die Art der Fügung ästhetische Qualität zu schaffen. Bei der Schule Obermeilen lehnten die Architekten eine Putzfassade mit dem Hinweis auf die Funktion des Ensembles ab. Der öffentliche Charakter der Anlage sollte auch durch die Oberfläche transportiert werden.

Die Wirkung der Fassade wird primär durch das expressive Fugenbild erzeugt: Wie ein Netz überzieht es den Gebäudekomplex. Die Überhöhung der Nahtstelle durch den V-förmigen Anschnitt der offenen Fugen verweist auf die Dicke der Elemente und sorgt darüber hinaus für ein Gestaltungsmoment. Am oberen und am unteren Gebäudeabschluss wird die Abschrägung aufgehoben, die Fuge zu einem Schlitz verengt. Der Kontrast zwischen dem glatten Beton der offenen Naht und der strukturierten Oberfläche der Kalksplitter verstärkt diese Wirkung (Abb. 18). Die Fügung der Fassadenelemente entspricht Techniken aus dem Holzbau und verweist damit einmal mehr auf die handwerkliche Komponente des Verfahrens. Durch die komplexe Einarbeitung der nötigen Technik wie beispielsweise des Sonnenschutzes wird die Verbindungsstelle zu einem vielschichtigen räumlichen Knoten, einem überdimensionierten Tetrisspiel in 3-D.

Dauerhafte Ordnung

Die Schule Obermeilen entwickelt eine für eine Schule ungewöhnliche Präsenz, die sich auf der Grenze zum Monumentalen bewegt, aber nie erdrückend wirkt. Die feine Detaillierung der Nahtstellen und die kontinuierliche Erinnerung an den menschlichen Massstab – z.B. durch den respektvollen, aber unsentimentalen Umgang mit dem Bestand – verhindern ein Kippen ins Pathetische. In der Gestaltung der Fassade ist es den Architekten gelungen, industrielle Fertigung und sinnliche Wirkung zu verknüpfen. Dass sich der starke äussere Eindruck im Inneren fortsetzt, ist ein positiver Aspekt. Einem auf den ersten Blick unstrukturiert wirkenden Ensemble wurde durch gestalterische Massnahmen ein zusammenhängendes Gesicht verliehen. Das lose Konglomerat der Gebäude, das durch den Verbindungsgang funktional und formal zusammengehalten wird, lässt sich problemlos durch weitere Teile ergänzen. Architektur wird als Prozess mit offenem Ausgang begriffen. Weiterbauen ist erwünscht.

Anmerkung: [01] In der Siedlung Créteil in Paris (1959–1962) arbeitete Paul Bossard mit kalkulierten Imperfektionen der Oberflächen und offenen Fugen. Emile Aillaud plante in Grigny (1967–1971) mit nur drei verschiedenen Elementtypen, variierte aber die Anordnung der Öffnungen innerhalb der Platten. Vgl.: Bruno Krucker, «Zum entwerferischen Potenzial der Vorfabrikation», in: Uta Hassler, Hartwig Schmid (Hrsg.): Häuser aus Beton. Wasmuth, Tübingen 2004, S. 203 ff.

TEC21, Fr., 2009.04.17



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tec21 2009|16 Im Takt

16. Januar 2009Tina Cieslik
TEC21

Dreiklang in Grün

Die Wohnüberbauung Grünenberg der Zürcher Architekten Annette Gigon und Mike Guyer steht im Park der gleichnamigen Villa in Wädenswil ZH, im Spannungsfeld zwischen Natur, Industrie und heterogenen Wohnbauten. Drei polygonale Solitäre besetzen in versetzter Anordnung den Hang. Durch ihre subtile Farbigkeit fügen sich die Bauten sowohl in den Park als auch in die gebaute Umgebung ein, ohne beliebig zu wirken.

Die Wohnüberbauung Grünenberg der Zürcher Architekten Annette Gigon und Mike Guyer steht im Park der gleichnamigen Villa in Wädenswil ZH, im Spannungsfeld zwischen Natur, Industrie und heterogenen Wohnbauten. Drei polygonale Solitäre besetzen in versetzter Anordnung den Hang. Durch ihre subtile Farbigkeit fügen sich die Bauten sowohl in den Park als auch in die gebaute Umgebung ein, ohne beliebig zu wirken.

Die Villa Grünenberg liegt an privilegierter Stelle: in Hanglage mit einem 180°-Panorama über den Zürichsee, inmitten eines Parks mit altem Baumbestand. Der Park selbst wurde um die Jahrhundertwende vom Unternehmer Heinrich Blattmann-Ziegler, dem Besitzer der unterhalb des Grundstücks gelegenen Fabrik, nach dem Vorbild spätklassizistischer Landschaftsgärten angelegt. Die Familie wohnte zunächst in unmittelbarer Nachbarschaft zum Unternehmen, auf dem Gelände des späteren Parks befanden sich Obstwiesen. Im nordwestlichen Teil des Grundstücks, dort, wo die heutige Wohnüberbauung steht, liess Blattmann ein Arboretum mit exotischen Bäumen anlegen. Einher mit dem steigenden Wohlstand der Familie ging dann der Wunsch nach einem repräsentativeren Wohnsitz: 1911 bauten die Zürcher Architekten Robert Bischoff und Hermann Weideli im Grünenberg-Park eine Villa für die Familie.[1]

Als Ensemble von Park und Fabrikantenvilla in Sichtweite des familieneigenen Unternehmens spiegelt das Anwesen den Lebensstil der beginnenden Industrialisierung am linken Zürichseeufer wider und wurde daher von der Denkmalpflege als regional bedeutsam eingestuft. Der letzte Grundeigentümer liess als Kompromiss zwischen wirtschaftlicher Nutzung des Geländes und denkmalpflegerischem Interesse am integralen Erhalt der Anlage einen privaten Gestaltungsplan entwickeln: das 23 000 m² grosse Grundstück wurde in mehrere Bauzonen aufgeteilt, die Villa blieb erhalten, 15 000 m² des Terrains sollten nicht überbaut werden und den Bewohnern als Grünfläche erhalten bleiben. Den Wettbewerb auf Einladung konnten im Sommer 2002 die Zürcher Architekten Annette Gigon und Mike Guyer für sich entscheiden.

Gegossener Stein

Von 2005 bis 2007 wurde die Zone im nordwestlichen Teil des Parks bebaut. Leitmotiv des Projekts war es, der Villa in Bezug auf Präsenz und Dominanz den Vorrang zu lassen und die Neubauten dem Park zuzuordnen. Diese Überlegung hatte Einfluss auf die Anordnung der Volumen im Gelände: Die versetzte Position der Häuser erlaubt Durch- und Ausblicke in den Park und auf den See. Aber auch die formale Gestaltung der Körper trägt dem Konzept Rechnung: Kompakt sitzen die drei Gebäude im Hang, Loggien und auskragende Betonelemente gliedern die in Grüntönen variierenden Baukörper. Die mehrseitig orientierten oder durchlaufenden Grundrisse bieten für jede der 30 Wohnungen Seesicht, ebenso wie eine optimale Besonnung der Innenräume. Dafür wurden acht verschiedene Wohnungstypen entwickelt, von nach drei Seiten orientierten Wohnungen über kreuzweise angeordnete Maisonette-Wohnungen bis zu über die ganze Bautiefe reichenden Wohnräumen. Zur Materialisierung der Fassaden wurde mit Beton ein Material gewählt, das durch seine steinerne Erscheinung die Volumina der einzelnen Bauten noch betont.

Farbigkeit in Licht und Schatten

Komplettiert wird dieses Konzept durch die Farbigkeit der Fassaden. Jedes der drei Volumen ist in einer schwer fassbaren Nuance von Grün gestrichen, das Spektrum reicht von hellem Gelbgrün beim Haus A, dem kleinsten der Gruppe, über dunkles Olivgrau bis zu Ockergrün bei Haus B und Haus C. Farbig ist nur die nach aussen gerichtete Oberfläche, Laibungen von Fenstern und die Innenseiten der Pfeiler der Loggien sind in sandgestrahltem Beton belassen. Die Farbe ist appliziert und kann in naher Zukunft schon fast wie Patina wirken. Je nach Lichteinfall oder bei Regen changiert das Erscheinungsbild, Assoziationen mit der Witterung ausgesetzten Findlingen drängen sich auf. Bei der Entwicklung des Farbkonzepts arbeiteten die Architekten mit Pierre André Ferrand zusammen, es ist das erste gemeinsame Projekt mit dem Genfer Künstler. Durch die unregelmässige Form der Bauten und ihre Lage im Hang, vor dem Hintergrund der spiegelnden Oberfläche des Sees, inmitten der alten Bäume, drängte sich für Ferrand die Assoziation von Klippen, von kompakten felsigen Volumen auf – dies umso mehr, als für die Häuser in dieser Phase noch keine auskragenden Balkone projektiert waren. Daraufhin war klar, dass jedes Gebäude monolithisch in einer einzigen, eher dunklen Farbe gestrichen werden sollte. Anzahl und formale Gestaltung der Bauten legten zudem eine bestimmte Beziehung zwischen den Gebäuden nahe: die Aufteilung A, B C (ein kleines, zwei grosse Gebäude) übersetzte sich beim Farbkonzept in zwei Tönungen des gleichen Farbspektrums, ergänzt um eine dritte Farbe, die nicht lediglich eine chromatische Variation der ersten beiden sein sollte. Dieser Kontrast innerhalb der Farbfamilie erlaubte es zum einen, die innere Einheit des Ensembles zu stärken und es gegen die benachbarten, rot getönten Gebäude abzugrenzen. Zum anderen sollte die Identifikation der zukünftigen Bewohner mit ihrem Wohngebäude gestärkt werden.

Aufgrund der Kompaktheit der Bauten tendierte Ferrand zu dunklen, mineralischen Tönen, die Bauherrschaft empfand diese aber als zu trist. Eine Lösung zeichnete sich durch die Vorliebe der Architekten für vegetabile Farben ab; trotz dem Risiko, dass ein auf den Beton aufgetragenes künstliches Grün mit der umgebenden Vegetation konkurrieren könnte. Das helle Grün von Haus A war die Ausgangsfarbe, es entspricht einer Schattierung, die die Architekten schon bei früheren Projekten[2] benutzten. Es wurde ergänzt durch ein Ockergelb- Grün, als dritte Farbe setzte sich ein Olivgrau durch. Bei der Auswahl war es wichtig, dass sich die Farben klar voneinander abgrenzten, um den dazwischen liegenden Raum grösser erscheinen zu lassen. Zudem bestand die Gefahr, dass sich, je nach Lichtverhältnissen und Blickwinkel, Wände zweier unterschiedlicher Häuser mehr glichen als die Wände desselben Gebäudes. Gleichzeitig galt es, eine Atmosphäre der Ruhe zu schaffen, ohne fade und langweilig zu wirken.

Die Farbe komplettiert den Entwurf und erweitert das Projekt um eine Dimension. Sie erlaubt die Verschränkung von Bauten und Park, auch wenn sich Ferrand rückblickend zumindest beim olivgrauen Haus B eine noch dunklere Schattierung gewünscht hätte.

Anmerkungen:
[1] Adrian Scherrer: Vom Garten zur Wohnlandschaft – Zur Geschichte des Grünenberg-Parks. Jahrbuch der Stadt Wädenswil 2005, S.31 ff .
[2] Z.B. «Espace de l’art concret» (EAC) in Mouans Sartoux, Frankreich, 2004

TEC21, Fr., 2009.01.16



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