Übersicht

Texte

30. August 2013Ruedi Weidmann
Andreas Hofer
TEC21

Grandhotel – Dichte und Lebensqualität

Viele Qualitäten, die heute Ziel von nachhaltigen Überbauungen sein müssen, finden sich im Grandhotel: Es ist kompakt, dicht, vereint Wohnen und Arbeiten, ist sozial durchmischt und darauf getrimmt, mit seinen ­Räumen und Dienstleistungen hohe Lebensqualität zu schaffen. Kann das Grandhotel der Siedlungsplanung als Inspirationsquelle dienen? Die Artikel in diesem Heft gehen dieser Frage am Beispiel des Hotels Waldhaus Sils nach. Die vielleicht wichtigste Antwort: Nicht immer führt Sparsamkeit zu mehr Nachhaltigkeit, denn die Schönheit von gemeinsam genutzten Räumen ist vermutlich Voraussetzung für eine nachhaltige Lebensweise.

Viele Qualitäten, die heute Ziel von nachhaltigen Überbauungen sein müssen, finden sich im Grandhotel: Es ist kompakt, dicht, vereint Wohnen und Arbeiten, ist sozial durchmischt und darauf getrimmt, mit seinen ­Räumen und Dienstleistungen hohe Lebensqualität zu schaffen. Kann das Grandhotel der Siedlungsplanung als Inspirationsquelle dienen? Die Artikel in diesem Heft gehen dieser Frage am Beispiel des Hotels Waldhaus Sils nach. Die vielleicht wichtigste Antwort: Nicht immer führt Sparsamkeit zu mehr Nachhaltigkeit, denn die Schönheit von gemeinsam genutzten Räumen ist vermutlich Voraussetzung für eine nachhaltige Lebensweise.

Viele Qualitäten, die heute Ziel von nachhaltigen Überbauungen sein müssen, finden sich im Grandhotel: Es ist kompakt, dicht, vereint Wohnen und Arbeiten, ist sozial durchmischt und darauf getrimmt, mit seinen ­Räumen und Dienstleistungen hohe Lebensqualität zu schaffen. Kann das Grandhotel der Siedlungsplanung als Inspirationsquelle dienen? Die Artikel in diesem Heft gehen dieser Frage am Beispiel des Hotels Waldhaus Sils nach. Die vielleicht wichtigste Antwort: Nicht immer führt Sparsamkeit zu mehr Nachhaltigkeit, denn die Schönheit von gemeinsam genutzten Räumen ist vermutlich Voraussetzung für eine nachhaltige Lebensweise.

Die Schweiz wächst, und dieses Wachstum findet heute auch wieder in den Städten statt. Es entstehen Grosssiedlungen, eigentliche Stadterweiterungen, die in ihrer Dimension mit den Projekten der 1960er- und 1970er-Jahre vergleichbar sind. Waren diese Höhe- und Endpunkt der funktionalistischen Konzepte aus den 1920er-Jahren, so ist man sich heute einig in der Kritik am monofunktionalen Siedlungsbau, an den im Abstandsgrün stehenden, infrastrukturell unterversorgten Wohnblocks, die oft schlecht an die öffentlichen Verkehrsnetze angebunden sind. Heute geht es um Verdichtung, urbane Qualitäten und Vielfalt.

Was ist eine nachhaltige Siedlung?

An guten Lagen versuchen Investoren Zentralität neu zu schaffen, indem sie Stadtteile mit einer eigenen Nachfrage und hoher Attraktivität für die weitere Nachbarschaft entwickeln. Diese urbanen Implantate bedienen sich häufig bei Bildern aus dem 19. Jahrhundert, und ihre Vermarktung spielt mit Assoziationen der dichten europäischen Stadt. Beispiele sind die an S-Bahnstationen im Grossraum Zürich liegenden Quartiere im Limmatfeld in Dietikon, das im Rahmen eines Gestaltungsplans von Hans Kollhoff mit dem Slogan «Unsere kleine Stadt» wirbt, und das Richti-Areal in Wallisellen, dem Vittorio Magnago Lampugnani ein gründerzeitliches Gepräge mit Blockrandbebauung, Innenhöfen, Plätzen und Arkaden verliehen hat. Als Vorbilder für eine weitere nachhaltige Entwicklung sind diese Grossüberbauungen aber nicht geeignet. Denn eine Massstabsebene kleiner und an weniger prominenten Standorten fehlen dieser Strategie Masse und Überzeugungskraft. Die Einkaufs- und Freizeitlandschaften an den Autobahnkreuzen saugen die Kaufkraft aus Quartieren und Ortschaften, und die Produktion ist – bestenfalls – in Gewerbegebiete ausgelagert. Für eine urbane Vielfalt in den neuen Bebauungen fehlen deshalb die Nutzungen; es entstehen Siedlungen mit Wohnungen bis ins Erdgeschoss, deren private Vorzonen an Freiräume grenzen, die keine wirklichen Plätze sind. Der Versuch, mit guter Architektur und hochwertiger Materialisierung Identität zu schaffen, bleibt an der Oberfläche. Die mittlerweile hohen Dichten in diesen behaupteten «Zentrumsgebieten» und «Stadtentwicklungsschwerpunkten» führen nicht zu urbaner Lebendigkeit, sondern einzig zu Beengtheit.

Anreicherung durch soziale Funktionen

Wenn die Siedlung als Ort für nachhaltige Lebensstile mit hoher Lebensqualität tauglich werden soll, muss sie neu erfunden und angereichert werden. Material dafür bieten der demografische Wandel und die komplexeren Lebensentwürfe. Kollektive Organisation der Kinderbetreuung, neue Formen von Heim- und Teilzeitarbeit, Unterstützung bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit, Wellness, Sport und Erholung, Geselligkeit und Mitbestimmung, Mitarbeit bei der lokalen Nahrungsproduktion und -versorgung: All diese Bedürfnisse brauchen Räume und können Erdgeschosse zu verschiedenen Tageszeiten beleben. Die damit verbundene Kultur der Nähe und gegenseitigen Hilfe kann die Gemeinschaft gegenüber einer immer prekäreren Lohn- und Geldwirtschaft robuster machen. Vielleicht gelänge mit dieser Relokalisierung sozialer Funktionen im Wohnkontext auch eine Trendwende bei der Mobilität.

Keine historischen Vorbilder

Für diese neuen planerischen Aufgaben taugen als Referenz weder Rückgriffe auf dörfliche Strukturen noch der Fundus der Wohnutopien frühsozialistischer Gemeinschaften. So eindrücklich etwa die soeben als nationales Monument renovierte Familistère in Guise[1] einen verantwortungsvollen Kapitalismus als Alternative im 19. Jahrhundert dokumentiert – solche historischen Beispiele leiten das Wohnen von ökonomischen Zwangsgemeinschaften ab. Ihnen fehlt die luftige Freiwilligkeit einer reichen, postindustriellen Gesellschaft. Eine Reihe von genossenschaftlichen Projekten im Grossraum Zürich erprobt zurzeit das Potenzial dieser sozialen Funktionen für den Siedlungsbau. Diese Pionierprojekte sind äusserst ambitioniert und stellen sich breit den gesellschaftlichen Herausforderungen, sie können aber leicht als Einzelfälle und «gated communities» für Gutmenschen kritisiert werden. Deshalb haben wir in der Baugeschichte nach Beispielen für die Kraft von dichten, integrierten, hybriden Gebäuden gesucht. Fündig geworden sind wir bei bei der Luxushotellerie, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts in den Schweizer Alpen entwickelte.

Das Grandhotel als Inspiration

Gerade in ihrer Künstlichkeit, ihrem Exotismus sind die Grandhotels umfassende Organismen. Hier leistete sich zum ersten Mal eine erfolgreiche bürgerliche Gesellschaft einen voll ausgestatteten Raum jenseits der alltäglichen Arbeits- und Familienzwänge und ausserhalb der Stadt. Das Grandhotel ist kompakt gebaut, dicht belegt, vereint Wohnen und Arbeiten unter einem Dach, ist sozial durchmischt (Gäste und Angestellte) und darauf getrimmt, durch hoch verdichtete Dienstleistungen Lebensqualität zu produzieren – Charaktereigenschaften, die in ihrer Kombination in dichten, nachhaltigen Siedlungen und Quartieren hochwillkommen sind (TEC21 9/2013, S. 18). Viele der in diesem Kontext entwickelten Qualitäten, Infrastrukturen und Dienstleistungen, nicht zuletzt das damit verbundene Wissen über die «Herstellung» von Lebensqualität, scheinen uns aufschlussreich und anregend für die aktuelle Debatte um Stadt- und Raumentwicklung, Nachhaltigkeit und Suffizienz. Wohl wissend, dass das ökonomische Modell eines Hotels nicht dem einer Wohnsiedlung entspricht, wollten wir herausfinden, ob und in welcher Hinsicht das Grandhotel als Inspirationsquelle für die Siedlungsplanung dienen kann. Deshalb haben wir die Leitung des Hotels Waldhaus in Sils angefragt, ob sie bereit wäre, mit uns zusammen ihr Haus daraufhin zu durchleuchten und diese Frage zu erörtern. Das Resultat dieser Recherche umfasst auf den folgenden Seiten eine Beschreibung der Räume und der Dienstleistungen dieses Fünfsternehauses im Oberengadin und das Protokoll eines Rundgangs und eines langen Gesprächs mit dem Hoteldirektor.


Anmerkung:
[01] www.familistere.com

TEC21, Fr., 2013.08.30



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2013|36 Inspiration Grandhotel

10. Februar 2012Andreas Hofer
TEC21

Von den Umweltlabels zur nachhaltigen Stadt

Zehn Jahre nach ihrer pionierhaften Gründersiedlung in Zürich West hat die Genossenschaft KraftWerk1 ihr zweites Projekt fertiggestellt und ihren ersten Nachhaltigkeitsbericht veröffentlicht. Die Erfahrungen im Siedlungsalltag und die Strategiediskussionen für weitere Siedlungen führen die Genossenschaft dazu, Nachhaltigkeit immer breiter zu denken, das heisst ökologische Standards, Bewirtschaftung und Bewohnerverhalten gesamthaft zu evaluieren und dem Ziel 2000-Watt-Gesellschaft weiter anzunähern.

Zehn Jahre nach ihrer pionierhaften Gründersiedlung in Zürich West hat die Genossenschaft KraftWerk1 ihr zweites Projekt fertiggestellt und ihren ersten Nachhaltigkeitsbericht veröffentlicht. Die Erfahrungen im Siedlungsalltag und die Strategiediskussionen für weitere Siedlungen führen die Genossenschaft dazu, Nachhaltigkeit immer breiter zu denken, das heisst ökologische Standards, Bewirtschaftung und Bewohnerverhalten gesamthaft zu evaluieren und dem Ziel 2000-Watt-Gesellschaft weiter anzunähern.

KraftWerk1 war über Jahre eine Idee ohne Gebäude (TEC21 42/2001). Dieser Status erwies sich als starkes Fundament einer umfassenden Nachhaltigkeitsstrategie. Die Genossenschaft wuchs aus einer breit geführten Diskussion mit verschiedenen Anspruchsgruppen über nachhaltiges, städtisches Leben, soziale Integration und neue Wohn-, Arbeits- und Lebenszusammenhänge. Diese Diskurskultur lebte weiter, als die Planung der ersten Siedlung konkret wurde. Sie verpflichtete die zunehmend professionellen Gremien der Genossenschaft auf hohe Ziele und bildete die Basis für die Vermietung der Grosswohngemeinschaften und für die Organisationsstruktur, die bis heute wesentlich von Arbeitsgruppen für verschiedene alltägliche Belange geprägt ist.

Die Genossenschaft pflegt auch bei allen neuen Projekten einen intensiven partizipativen Prozess, der so früh wie möglich einsetzt. Die Leiterin des Ressorts Siedlungsprojekte im Vorstand lädt zusammen mit den anderen Vorstandsmitgliedern aus den Ressorts Soziales, Kommunikation und Bau frühzeitig Interessierte ein, um über das Raumprogramm und soziale und ökologische Ziele zu diskutieren. Hier entstehen die Vorgaben für die Architekturwettbewerbe. Die Jurierungen sind öffentlich, und die Architekturteams präsentieren regelmässig den Planungsstand. Die partizipativen Prozesse richten sich immer auf das ganze Projekt: Es geht nicht darum, mit einem «Baugruppenmodell» eine künftige Bewohnerschaft zu bilden, und explizit auch nicht um die Gestaltung der späteren eigenen Wohnung. Der Einbezug von «Laien» in die Entwicklung grosser Bauprojekte und das Bekenntnis der Genossenschaft, mit ihren Projekten neue Lösungen zu suchen, verändern auch die Kultur unter den Planungsprofis. Sie müssen in Workshops ihre Konzepte verständlich erklären und auch in der Baukommission der Genossenschaft bereit sein, Erprobtes zu hinterfragen und technische, finanzielle und energetische Aspekte innovativ zu verknüpfen. Mit KraftWerk1 zu planen, ist deshalb anstrengend und braucht Offenheit und Dialogbereitschaft.

Ökobilanz als ganzheitliches Steuerungsinstrument

Zu Beginn der Planungsphase von KraftWerk1 existierten die heute etablierten Labels für energieeffizientes Bauen noch nicht. Mit Gabor Doka, einem Spezialisten für Ökobilanzierungen, erarbeitete KraftWerk1 ein Bewertungsmodell und beschloss, 2% der Anlagekosten (1Mio. Fr.) für ökologische Massnahmen zu reservieren. Entscheidend war dabei, dass sich die Ökobilanz nicht auf das Gebäude bezog, sondern auf die gesamten Verbräuche eines durchschnittlichen Menschen in der Schweiz. Die angewendete Methode (Eco Indicator 95) berechnete Energieverbrauch und Umweltbelastungspunkte für die verschiedenen alltäglichen Tätigkeiten. Dies erlaubte es, die energetisch effizientesten Massnahmen zu bestimmen und sie mit anderen ökologischen Massnahmen – wie Wasserspartechnologien und Investitionen in die Biodiversität – zu vergleichen. Schliesslich flossen drei Viertel der Mittel in bauliche Massnahmen zur Senkung des Energieverbrauchs. Das grösste Gebäude erfüllt den während des Planungsprozesses lancierten Minergiestandard, in den kleineren Gebäuden wurde auf eine Lüftung mit Wärmerückgewinnung verzichtet. Kleinere Beträge wurden für viele weitere ökologische Massnahmen verwendet, ein Rest für Umweltprojekte nach dem Bezug. 2009 verglich das Umweltbüro Carbotech die Ökobilanz aus der Planungsphase mit den gemessenen Werten. Die mittlerweile verbesserte Methodik (Advanced LCA compare) bestätigte die ursprünglichen Annahmen weitgehend. In KraftWerk1 gelang es, den Verbrauch einer Person auf durchschnittlich 3400 Watt zu senken. Diese erhebliche Reduktion gegenüber dem schweizerischen Durchschnitt von etwa 6000 Watt ist dem guten energetischen Standard, einer deutlich reduzierten individuellen Mobilität und dem tiefen Flächenverbrauch von 36 m² pro Person zu verdanken. Das zeigt, dass Verbräuche mit einem ganzheitlichen Massnahmenbündel zwar massiv reduziert werden können, jedoch für einen 2000-Watt- Lebensstil tiefer greifende Veränderungen nötig sind, die über ein Bauprojekt hinausreichen.

Verloren im Labelwald

So erfreulich die Ausbreitung von Strategien (SIA-Effizienzpfad, 2000-Watt-Gesellschaft), technischen Konzepten (LowX, Plusenergiehäuser) und Labelfamilien (Minergie, Minergie-A, -P, -Eco) als Ausdruck gesteigerten Umweltbewusstseins ist, so unpraktikabel erweist sich für KraftWerk1 der Umgang mit diesen Instrumenten. Das Thema wird auf der technischen Seite immer präziser gefasst. Ein Heer von Ingenieurinnen und Beratern plant komplexe haustechnische Systeme, die Bauindustrie verkauft diese gerne, und so kann sich auch eine weitab jeder ÖV-Haltestelle gelegene Einfamilienhaussiedlung mit einem Umweltlabel schmücken. Aber es fehlen Auswertungen über die effektiv im Betrieb erreichten Werte, und es fehlen Konzepte für die nachhaltige Verankerung des komplexen Wissens im Alltag. Das wachsende technische Umweltwissen erschwert Berechnungen und die Kommunikation mit den Umwelthandelnden: den Wohnenden und Arbeitenden. Dass beispielsweise Primärenergiefaktoren bei Minergie und im SIA-Effizienzpfad unterschiedlich definiert sind – so berechtigt deren Herleitung jeweils sein mag –, führt zu Fehlern und Missverständnissen und erschwert die internationale Vergleichbarkeit. Das wird im Umweltbericht von KraftWerk1 deutlich (Kasten S. 22). In der ersten Ausgabe ist es noch nicht gelungen, die Kennzahlen so zu vermitteln, dass Fachleute die Gebäude in bestehende Labels einordnen und gleichzeitig die Genossenschaftsmitglieder ihren Beitrag zu einer besseren Umweltperformance erkennen können. Deutlichster Ausdruck davon, dass die ausschliesslich technische Lösung eines gesamtgesellschaftlichen Problems nicht zum Ziel führt, sind jedoch die mageren Resultate im Grossen: Der Energieverbrauch in der Schweiz folgt nach wie vor unerbittlich der Entwicklung des Bruttosozialprodukts, eine Trendwende ist nicht in Sicht. Im Neubau setzen sich Niedrigenergiekonzepte durch, die gesetzlichen Normen verlangen mittlerweile sehr viel. Doch das wird durch den wachsenden Flächenverbrauch pro Kopf zunichte gemacht (vgl. Artikel S. 18). Und im Bestand geschieht wenig – vielleicht sogar, weil hier die hohen Anforderungen an die energetische Performance abschreckend wirken.

KraftWerk2: vom bautechnischen Albtraum zum Wohnexperiment

Diese Herausforderung stellte sich beim zweiten Projekt der Genossenschaft. Die Stiftung Zürcher Kinder- und Jugendheime kam bei einer Überprüfung ihrer pädagogischen Angebote und ihrer strategischen Ziele zum Schluss, dass sie einen Teil des Zentrums Heizenholz in Zürich Höngg nicht mehr benötigte, und wollte zwei Häuser zu Wohnzwecken abgeben. Die Arealüberbauung aus den frühen 1970er-Jahren ist von hoher architektonischer Qualität, die Stadt hat sie seinerzeit als «Gute Baute der Stadt Zürich» ausgezeichnet. Die Stiftung erarbeitete für ihre Gebäude ein Erneuerungskonzept und ging davon aus, dass die Baurechtnehmerin die beiden Häuser im Rahmen dieses Konzepts umbauen würde. Im Bewerbungsverfahren unter gemeinnützigen Wohnbauträgern Ende 2007 stellte KraftWerk1 fest, dass das Areal über erhebliche Ausnutzungsreserven verfügte, und schlug vor, diese auszuschöpfen und somit das Projektvolumen deutlich zu vergrössern. Die beiden ursprünglich für Jugendwohngruppen genutzten viergeschossigen Häuser waren Zeugen ihrer Zeit: massive Backsteingebäude mit einem enormen Energieverbrauch, einer maroden Haustechnik und knappen Geschosshöhen, engen Grundrissen mit vielen tragenden Wänden, kurzum: ein bautechnischer Albtraum. Wenn für vierzigjährige Gebäude der Abriss zur Option wird, zeigt dies, wie wacklig Berechnungen von grauer Energie und Absenkpfaden bis ins Jahr 2150 sind – einen Zeitraum, den wir beim besten Willen nicht überblicken. Ein Ersatzneubau kam nicht infrage, weil bereits der Vorschlag, den Bestand zu verdichten, die Baurechtgeberin herausforderte, die sich vor jahrelangen Planungs- und Bauprozessen fürchtete. (Das seit Jahren juristisch umkämpfte Wohnprojekt Ringling ist in unmittelbarer Nähe geplant.)

Früh äusserte eine Gruppe älterer Menschen ihre Wohnbedürfnisse und brachte sich mit viel Energie in die Entwicklung eines Mehrgenerationenprojekts ein. Das Raumprogramm für den Studienauftrag umfasste einen breiten Wohnungsmix mit einem grossen Anteil an Kleinwohnungen, einigen Familienwohnungen, Wohngemeinschaften und als neues Experiment zwei Clusterwohnungen (Abb. 5 und TEC21 7/2011). In diesen sind verglichen mit einer klassischen Wohngemeinschaft die individuellen Bereiche grösser und mit einer bescheidenen Sanitär- und Kochinfrastruktur ausgestattet. Das Architekturbüro Adrian Streich gewann den Wettbewerb mit dem Projekt «terrasse commune», das die beiden Gebäude mit einem Zwischenbau zu einem grossen Haus verband. Der Zwischenbau bringt die barrierefreie Erschliessung und nimmt einen Grossteil der Gebäudetechnik auf, die Altbauten bleiben in ihrer Raum- und Tragstruktur soweit wie möglich erhalten. Das Volumen wird kompakter. Der Komplex erreicht nach dem Umbau, trotz Anschluss an ein energetisch nicht optimales, mit Öl betriebenes Fernheizungsnetz, den Minergiestandard. Eine konventionelle Lüftungsanlage konnte wegen der begrenzten Geschosshöhen nicht eingebaut werden. Gelüftet wird das Haus mit Überströmöffnungen über den Fenstern der Individualzimmer und zentralen Abluftkanälen. Wärmepumpen nutzen die Energie der Abluft zur Warmwassererzeugung und Heizungsunterstützung. Die Vor- und Nachteile der Strategie, einen Teil des Bestandes zu erhalten und zu ergänzen, konnten bis jetzt noch nicht bilanziert werden, da die Betriebszahlen noch fehlen. Mit dem Erhalt des Rohbaus, der etwa die Hälfte der grauen Energie eines Gebäudes ausmacht, wurden erheblich Material und Energie gespart. Ökonomisch haben jedoch bautechnische Schwierigkeiten die Kostenvorteile gegenüber einem Neubau weitgehend aufgefressen. Es bleibt die Hoffnung, dass die Gebäude durch die sorgfältige und aufwendige Instandsetzung ein zweites Leben bekommen haben, das sie für eine längere Zukunft tauglich macht.

KraftWerk4: Relokalisierung in der Agglomeration

Auf dem Areal der ehemaligen Textilfabrik Zwicky in Dübendorf entwickelt die Bau- und Wohngenossenschaft KraftWerk1 zusammen mit der Generalunternehmung Senn BPM und der Immobilienberatungsfirma Wüest&Partner ein Baufeld. Es ist vorgesehen, dass die Genossenschaft ungefähr die Hälfte des Bauvolumens übernimmt (etwa 150 Wohnungen und Gewerbeflächen). Die schwierige Lage, insbesondere die Lärmsituation, bestimmt das architektonische Konzept von KraftWerk4.[1] Das aus einem Wettbewerb hervorgegangene Projekt von Schneider Studer Primas Architekten nutzt die Rahmenbedingungen und entwickelt einen Baukasten aus Typologien, der unterschiedlichste Nutzungen und räumliche Qualitäten zulässt: Dünne Scheiben schirmen das Areal gegen den Lärm ab, zwei dicke Blöcke besetzen den Hofraum, Hallen schaffen im Erdgeschoss gassenähnliche Räume und auf ihren Dächern geschützte Gärten im dicht bebauten Areal. Es entsteht die Stimmung eines lebendigen Gewerbequartiers. Berechnungen im Vorprojekt zeigen, dass die massiven Volumen im Innern des Areals die dünnen Baukörper am Rand sowohl ökonomisch als auch energetisch kompensieren können. Eine Bilanz der grauen Energie für die Erstellung weist noch eine leichte Überschreitung der 2000-Watt-Zielwerte gemäss SIA-Merkblatt 2040 von einigen Prozent auf. Der energetische Standard wird auf Minergie-P-Niveau liegen. Die Nutzung von Wärme aus dem geklärten Abwasser der Kläranlage Neugut als Anergiequelle ermöglicht hocheffiziente Wärmepumpen und reduziert die thermische Belastung der Glatt. Zurzeit prüft die Genossenschaft Möglichkeiten der Energieproduktion auf dem Areal (Neunutzung der Wasserkraft der Glatt, Fotovoltaik auf Dächern und Fassaden). Im besten Fall könnte das Projekt seine gesamten Betriebsverbräuche selber erzeugen.

Für die Nachhaltigkeit mindestens so wichtig ist aber das Potenzial, auf dem Zwicky-Areal ein Gegenbild zur funktional getrennten Agglomeration zu schaffen, die in der Nachkriegszeit im Glatttal entstanden ist. Die Identität des vorhandenen Industrieensembles, das bereits mit verschiedenen Nutzungen neu belebt worden ist, ermöglicht eine Ergänzung und Stärkung mit einem dichten, vielfältigen Angebot an Wohn- und Arbeitsflächen. Wenn es gelingt, ein feines Netz aus Wohnen und Arbeiten zu knüpfen, und wenn die günstigen Gewerbeflächen Betriebe aus kreativen Branchen anziehen, die in der Innenstadt zurzeit erheblich unter Druck stehen, sind hier Prozesse einer produktiven Relokalisierung möglich. Dies ist eine Voraussetzung dafür, die fragmentierte Agglomeration in nachhaltige, lebenswerte Räume zu überführen und die ausufernde Mobilität in den Griff zu bekommen.

Die Erfahrungen in der Gründersiedlung und die Herausforderungen der neuen KraftWerk-Projekte zeigen exemplarisch den Beitrag auf, den wir mit der gebauten Umwelt für eine zukunftsfähige Gesellschaft leisten müssen: Niedrigenergiekonzepte müssen richtig betrieben, optimiert und den Benutzenden verständlich kommuniziert werden, es braucht einen kreativen Umgang mit dem Bestand, und die alltäglichen Funktionen müssen im grösseren Massstab zu nachhaltigen Quartieren rekombiniert werden.[2]


Anmerkungen:
[01] Das Projekt KraftWerk3 wurde 2011 aufgegeben
[02] KraftWerk1 beteiligt sich mit dem Projekt auf dem Zwicky-Areal am Pilotprojekt «Arealentwicklung für die 2000-Watt-Gesellschaft» des Bundesamts für Energie und der Stadt Zürich.

TEC21, Fr., 2012.02.10



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2012|7 Savoir vivre – 2000 Watt

28. Oktober 2010Andreas Hofer
TEC21

Verkehrslandschaft

Der Aufbau der nationalen Verkehrsinfrastruktur hat den Raum Zürich Nord erschlossen und seine Entwicklung geprägt. Mit der Glattalbahn, die zum ersten Mal interne Verbindungen schafft, könnte eine eigene, die politischen Grenzen überwindende Identität entstehen.

Der Aufbau der nationalen Verkehrsinfrastruktur hat den Raum Zürich Nord erschlossen und seine Entwicklung geprägt. Mit der Glattalbahn, die zum ersten Mal interne Verbindungen schafft, könnte eine eigene, die politischen Grenzen überwindende Identität entstehen.

Die vom ehemaligen ETH-Dozenten Martin Geiger1 entwickelte Standort-, Nutzungs- und Landwerttheorie (SNL-Theorie) kennt nur zwei Faktoren für die Güte eines Standorts: sein «Beziehungspotenzial» und den «umweltbedingten Eigenwert». Einfacher formuliert: «Wie nahe bin ich an möglichst vielen anderen Orten?» und «Habe ich Seesicht?». Diese beiden Faktoren bestimmen die Standortentscheide von Betrieben ebenso wie die Nachfrage nach Wohnraum, wobei die Wohnungssuchenden die weichen Faktoren bei der Standortwahl höher gewichten. Da ein gutes Beziehungspotenzial lärmige und zerschneidende Verkehrsinfrastruktur braucht, gibt es einen latenten Widerspruch zwischen guter Erreichbarkeit und hoher Wohnqualität.

Verkehr und wirtschaftliche Kräfte prägen den Raum

Mit der SNL-Theorie kann die räumliche Entwicklung seit der Industrialisierung erklärt werden – so etwa die Bildung von Westends in den meisten europäischen Metropolen (nah an den Schalthebeln der Macht, aber durch die vorherrschenden Westwindlagen vom Rauch aus den Schloten der Fabriken abgewandt), durchgrünte Vororte um die Endstationen des städtischen öffentlichen Verkehrs und schlussendlich Nebenzentren um S-Bahn-Stationen, Autobahnkreuze und Schnellzughalte. Die Leistungsfähigkeit des öffentlichen Verkehrs in der Schweiz und die räumliche Nähe verleitete die Landesplanung, über Jahrzehnte vom föderalismuskompatiblen Konzept der Schweiz als Netzwerk von intakten kleinen Städten in einer agrar geprägten Landschaft zu träumen: das Mittelland statistisch und wirtschaftlich eine international konkurrenzfähige Grossstadt – aber in der Erscheinung ländlich, provinziell.

Die wirtschaftlichen Kräfte führen aber nicht zu einer demokratisch austarierten Homogenität, sondern sie differenzieren Räume, lassen Knoten wachsen, reissen Peripherie in den Wachstumsmahlstrom oder hängen sie von der Entwicklung ab. Die Nähe und die Erreichbarkeit von vielen Standorten im schweizerischen Mittelland spannen jeden Ort in ein Beziehungsgefüge mit mehreren Nachbarn. So schuf der Nationalstrassenbau im Dreieck Basel, Bern und Zürich, um das Autobahnkreuz Härkingen, einen Knoten mässiger, aber kumulierter Attraktivität mit einer eigenartigen Mischung aus Distributionszentren, Grossmärkten, Sexclubs und Tankstellen. Solche Orte gibt es mittlerweile entlang der Ausfallachsen aller grösseren Städte in der Schweiz und bei wichtigen Verkehrskreuzungen. Zusammen mit den in einigem Abstand wuchernden Wohnsiedlungen sind sie das Mittelland, die Agglomeration. Der Norden von Zürich war in seiner Geschichte mehrmals umkämpfter Ort für Verkehrsinfrastrukturen, bezüglich ihrer Linienführung und Lage. Dabei standen bis zum Bau der Glattalbahn nie Entwicklungsziele für den Raum selber im Vordergrund, sondern Zürich Nord war der Schauplatz von übergeordneten technischen, politischen und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen. In ihrer Summe und Zufälligkeit gestalteten sie das heute dynamischste Wachstumsgebiet der Schweiz, oder – leicht vorgreifend – in den Worten Martin Geigers: Der Knoten mit dem höchsten Beziehungspotenzial der Schweiz war damit von Zürich weg in ein «Niemandsland» verschoben, aus dem sogleich eine neue Stadt zu wachsen begann

Der Kampf um die nationale Verkehrsinfrastruktur

Mitte des 19. Jahrhunderts tobte zwischen verschiedenen privaten Gesellschaften der Kampf um die Erschliessung der Schweiz mit der Eisenbahn. Die Konkurrenz um Strecken, Linienführungen und die möglichst schnelle Anbindung von Gütern und potenziellen Passagieren verhalfen der Schweiz zu einem der weltweit dichtesten Netze, dessen Elemente aber in wichtigen Punkten nicht aufeinander abgestimmt waren und das ökonomisch verhängnisvolle Parallellinien aufwies. Schauplatz einer dieser Kämpfe war Oerlikon. Nachdem 1856 eine von Zürcher Freisinnigen finanzierte Verbindung zwischen Zürich, Winterthur und Romanshorn über Oerlikon in Betrieb genommen war (Nordostbahn NOB), versuchten Winterthurer Industrielle durch das Furttal eine Konkurrenzlinie vom Boden- an den Genfersee zu bauen (Nationalbahn S.N.B).

Erbitterte wirtschaftliche Machtpolitik verhinderte den Anschluss von Zürich an diese Strecke und trieb die Nationalbahn nach wenigen Jahren in den Konkurs. Es blieb der Eisenbahnknoten in Oerlikon, der die damals wichtigsten Industriestädte Zürich, Winterthur und Baden verband. Industriebetriebe nutzten die strategische Lage; Oerlikon, das erst mit der zweiten Eingemeindung 1934 zu Zürich kam, wuchs vom Bauerndorf zum Fabrikstandort.2 Der nächste und wohl folgenschwerste Infrastrukturentscheid war die Standortwahl für den internationalen Zivilflughafen während des Zweiten Weltkriegs. Der Bund plante diesen «Schweizerischen Zentralflughafen» in Utzensdorf zwischen Bern und Solothurn. In den Zeiten der Anbauschlacht wog jedoch das Argument der lokalen Bevölkerung, dass für den Bau gewaltige Mengen wertvolles Ackerland geopfert werden müssten, schwerer. 1945 fiel der Standortentscheid für den Waffenplatz Kloten. Dieser lag in einem landwirtschaftlich ungenutzten Ried und gehörte praktischerweise bereits dem Bund.

Der letzte planerisch-politische Prozess, der das Schicksal von Zürich Nord prägte, war die Nationalstrassenplanung. Nachdem sich in den 1960er-Jahren in der Stadt Zürich massiver Widerstand gegen die Verknüpfung der Ost-West-Achse mit der Abzweigung in den Süden im Gebiet des Hauptbahnhofes von Zürich (das sogenannte Ypsilon) formiert hatte, wichen die Planer gegen aussen aus und trieben die Realisierung eines Autobahnrings voran. Der erste Sektor dieses Rings ist die 1985 fertiggestellte Nordumfahrung mit dem Gubristtunnel, der zweite die kürzlich eröffnete Westumfahrung (vgl. TEC21 17/2009). Während 25 Jahren erschloss also die Ringautobahn nicht Zürich, sondern die nördliche Peripherie. Zürich Nord liegt zwischen City und Flughafen, ist mit der wichtigsten Autobahnachse der Schweiz erschlossen und mit dem Bahnhof Oerlikon an den Fern- und S-Bahn-Verkehr angebunden. Bezüglich Beziehungspotenzial gibt es keinen besseren Standort in der Schweiz. Wie sieht es mit dem zweiten Faktor, dem umweltbedingten Eigenwert, aus?

Fehlende Identität

Zwischen den Katzenseen und dem Greifensee, der Glatt und Riedlandschaften und um den Hardwald als «Central Park» der Region liegen acht Gemeinden und zwei städtische Kreise, die sich von Bauerndörfern zu Subzentren entwickelt haben. Eingestreut sind Einkaufszentren, Fachmärkte für jedes Bedürfnis, Multiplexkino, Messezentrum, Sport- und Freizeitanlagen, Parks und Grünräume, Arbeitsplätze in allen Branchen, ETH-Institute und Hochschulen. Die städtischen Wohnquartiere sind durchgrünt und bestens ans Zentrum angeschlossen. Die Gemeinden liegen steuerlich im kantonalen Mittelfeld und wachsen stark, viele von ihnen haben gute Wohnlagen, zu Zeiten der Swissair Pilotenhänge genannt. Der Fluglärm ist ein grosses Thema, das aber die Entwicklung zu einem attraktiven Wohnort nicht bremsen konnte.

Die Anzahl der Arbeitsplätze entspricht ungefähr der Anzahl Menschen, die im Gebiet wohnen – das gleiche Verhältnis wie in der Kernstadt Zürich. Zürich Nord ist also nicht eine Schlafstadt, sondern ein Wirtschaftszentrum mit grossen Zupendlerströmen.3 Was dem Raum im Gegensatz zur Kernstadt fehlt, ist eine eigene Identität. Weder in Schwamendingen noch in einer der Glattal-Gemeinden würde sich ein Bewohner als «Glattaler» bezeichnen. Die Gründung des Standortmarketing-Labels «Glow. das Glattal» im Jahr 2001 konnte an diesem Umstand wenig ändern. Das Netzwerk blieb zu unverbindlich, und die einzelnen Gemeinden sind nicht bereit, zugunsten eines grösseren Ganzen ihre Eigenständigkeit einzuschränken. Näher an der Realität liegt das ebenfalls 2001 erschienene Buch «Annähernd perfekte Peripherie»4, das an der ETH erarbeitet und von Mario Campi, Franz Bucher und Mirko Zardini verfasst wurde. Die Autoren nähern sich dem Gebiet auf vielschichtige Weise, sie zeigen die Brüche, die widersprüchlichen Strukturen und die Inseln im Raum. Sie reden von einer neuen, autonomen urbanen Wirklichkeit: der Glattalstadt. Durch die Verdichtung und Beschleunigung eines weitgehend ungesteuerten Urbanisierungsprozesses wachsen die Gemeinden an der Peripherie zu einem Raum zusammen.

Agglomeration 2.0

Dieser Raum wird nun zum Pionierprojekt für die Zukunft der Agglomeration, einer Wirklichkeit, welche die Schweiz bei anhaltendem wirtschaftlichem Wachstum immer stärker prägen wird und die sich mit unabsehbaren Folgen zwischen die festgefügten Wahrnehmungsbilder von Stadt und Land zu schieben beginnt. Zaghaft nehmen Hochschulen, die Kunst und politische Instanzen in den letzten Jahren diesen Ball auf. Agglomeration ist zwar noch nicht trendy, aber immerhin Gegenstand von Fotoarbeiten von Fischli/Weiss, von Nationalfondsprojekten und Entwurfssemestern an Hochschulen. In Neu-Oerlikon ist zurzeit ein Gewerbegebäude mit dem verspielten Namen «Noerd» im Bau, das neben der Produktion der Freitag-Taschen auch Platz für kreatives Gewerbe bieten wird, und die Szenegastronomen der Gasometer AG betreiben seit diesem Jahr als erstes Lokal ausserhalb der Trendquartiere in Zürich West die Ziegelhütte in Schwamendingen. Dies sind starke erste Zeichen. Die Eröffnung der Glattalbahn könnte als Veredelung der Agglomeration zur traditionellen Stadt gesehen werden. Wo ein Tram fährt, ist nicht Dorf, sondern Quartier. Doch dies wird ein widersprüchlicher und langfristiger Prozess sein. Der neue Verkehrsträger überlagert bestehende Strukturen, schafft mit seinen Stationen häppchenweise Zentralität im Niemandsland und fördert den Trend zu Grossprojekten mit einer postmodernen, synthetischen Identität. Der Glattpark, der seinen umweltbedingten Eigenwert mit einem See steigerte, war hier nur der Anfang. Das Richti-Areal, Mittim und Integra Square in Wallisellen, der InsiderPark und die Bebauung Giessen in Dübendorf behaupten alle, neue Zentren zu sein. Es besteht die Gefahr, dass diese professionell vermarkteten Grossinvestitionen zu taubstummen, ein bisschen zu dicht geratenen Wohnsiedlungen werden, die beziehungslos im Raum stehen. Und es besteht einmal mehr die Hoffnung, dass ein nur mässig durch politische Instanzen regulierter Prozess uns mit etwas Neuem überraschen wird, dass die schiere Menge des Wachstums schliesslich doch so etwas wie Identität produziert: wohl nicht Stadt, aber vielleicht Agglomeration 2.0.

5Die Baugenossenschaft Kraftwerk 1 auf dem Zwicky-Areal

Die Totalunternehmung Senn BPM hat sich ein Teilgebiet des Zwicky-Areales in Dübendorf für die Entwicklung gesichert. Anfang 2009 lud sie über Wüest & Partner die Genossenschaft Kraftwerk1 (vgl. TEC21 42/2001) ein, sich als potenzielle Investorin am Prozess zu beteiligen. Die drei Partner erarbeiteten in der Folge die planerischen Grundlagen (das Baufeld ist Teil eines Gestaltungsplans) und führten einen Studienauftrag mit fünf eingeladenen Architekturbüros durch. Das Areal ist schwierig, lärmig und gross. Das Zürcher Büro Schneider Studer Primas gewann die Konkurrenz. Zurzeit läuft das Bewilligungsverfahren für den abgeänderten Gestaltungsplan. Der Baubeginn ist im Jahre 2012, der Bezug für das Jahr 2014 geplant.

Das circa 25 000 m² grosse Teilgebiet bietet Platz für 250 Wohnungen, Gewerbe- und Verkaufsräume. Unter Einbezug der angrenzenden – in Wohnungen und Gewerberäume umgenutzten – alten Fabrik und der benachbarten Baugebiete entsteht in den nächsten Jahren ein neues Quartier an der Grenze von Wallisellen und Dübendorf, durch dessen Mitte auf der Neugutstrasse die Glattalbahn fährt. KraftWerk1 beabsichtigt, etwa die Hälfte des Teilgebiets zu übernehmen. Weitere Flächen sollen an institutionelle Anleger und als Eigentumswohnungen verkauft werden.

Das Projekt von Schneider Studer Primas überrascht mit einer radikalen Haltung. An einem Standort, der sich auch vorstädtisch interpretieren liesse, schlagen die Architekten eine hochurbane Struktur vor, die sich an Bildern von Industriearealen orientiert. Ein Ring aus dünnen, geknickten Scheiben schirmt das Areal vom Lärm ab. Hier sind in einer flexiblen Struktur kleinere Wohnungen möglich, bei denen alle Zimmer lärmabgewandt gelüftet werden können. In den Sockeln der Scheiben gibt es zweigeschossige Hallen für Gewerbe, Wohnateliers und Grosswohnungen. Schliesslich besetzen grosse, allseitig orientierte Wohn- und Gewerbeblocks das Arealinnere.

Das Areal und das Architekturprojekt haben das Potenzial für vielschichtige Interpretationen der Arbeitenden und Wohnenden. Günstige Mieten und möglichst rohe Räume sollen einen Cluster aus Gewerbe-, Wohn- und Kulturprojekten ergeben – eine Art neu gebauter Freiraum, wie er im Raum Zürich durch die Verwertung der letzten Brachen rar geworden ist.

TEC21, Do., 2010.10.28



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2010|44 Netzstadt Glattal

27. März 2009Andreas Hofer
TEC21

Mobile kreative Nischen

Städtische Dichte erzeugt Kreativität. Das enge Nebeneinander von Kleinstunternehmen fördert spontane Zusammenarbeiten und ungeplante Lösungen. Aber eine lebendige Stadt verändert sich und baut. Das hebt die Preise und zerstört die Nischen der Kreativwirtschaft . In Zürich sollen Container kurze Pausen in diesem Zyklus nutzen, damit die Stadt nie aufhört, kreativ zu sein.

Städtische Dichte erzeugt Kreativität. Das enge Nebeneinander von Kleinstunternehmen fördert spontane Zusammenarbeiten und ungeplante Lösungen. Aber eine lebendige Stadt verändert sich und baut. Das hebt die Preise und zerstört die Nischen der Kreativwirtschaft . In Zürich sollen Container kurze Pausen in diesem Zyklus nutzen, damit die Stadt nie aufhört, kreativ zu sein.

Der Rückzug der Industrie aus den Kernstädten bestimmt seit den 1980er-Jahren die Stadtentwicklung in den westlichen Industrieländern. Plötzlich wurden riesige Gebiete zu Brachen, und es stellte sich die Frage nach ihrer künftigen Nutzung und einer planerischen Strategie. Neue Instrumente, städtebauliche Projekte, Gestaltungspläne und das Festlegen von Dichte und Nutzungen in kooperativen Prozessen lösten starre Zonenpläne und Bauvorschriften ab und brachten Dynamik in die Städte. Die Umnutzung von zentrumsnahen Industriearealen war in den meisten Fällen erfolgreich und trug wesentlich zur «Renaissance des Urbanen» bei. Seit einigen Jahren wächst zum Beispiel die Bevölkerung der Stadt Zürich nach vier Jahrzehnten der Schrumpfung wieder, und letztes Jahr feierte Winterthur den Aufstieg zur Grossstadt mit mehr als hunderttausend Einwohnern.

Deindustrialisierung und kreative Milieus

Schon während des langfristigen planerischen Prozesses wurden die Industrieareale aber als neuer Freiraum genutzt. Da in den grösseren Schweizer Städten seit Jahrzehnten eine scharfe Konkurrenz des zahlungskräftigen Dienstleistungssektors gegenüber weniger lukrativen Wohn-, Gewerbe- und kulturellen Nutzungen herrscht, ergriffen urbane Pioniere, wo immer dies möglich war, die Chance, frei werdende Industrieareale zu nutzen. Galerien und Kunsthallen, Theater- und Tanzensembles, Clubs und Bars, junge Architektur- und Gestaltungsbüros, Webdesigner und Programmierer – es gibt heute kaum eine Firma oder Institution in diesen Bereichen, die nicht als Zwischennutzung auf einem Industrieareal gegründet worden wäre.

Der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft war mehr als ein Tausch von blauen Werkstattkitteln gegen Anzug und Krawatte und ein Umzug aus der Industriehalle ins Grossraumbüro; er schuf eine neue kreative Klasse.[1] Ehemalige Industrieareale waren ihr Brutplatz. 1980 forderte die Jugendbewegung noch kulturelle Freiräume und stiess damit zunächst auf Unverständnis. Heute sind Graffiti, Technoclubs und alternative Theater- und Kunsträume selbstverständliche Bilder in jeder Standortmarketingbroschüre. Die neue Klasse veränderte die Städte. Doch es geht nicht nur um Bilder. Eine Dienstleistungsstadt, die international erfolgreich sein will, braucht ein breites kulturelles Milieu. Dieses produziert Orte, Themen und Dienstleistugen für die differenzierten Freizeitbedürfnisse der urbanen Eliten, liefert Ideen für Branding und Werbung und schafft Produkte in der Mode-, Lifestyleund Softwareindustrie.

Dass die Bedeutung des kreativen Milieus von Forschung, Wirtschaftsförderung und Planung entdeckt worden ist, markiert ihr Ankommen im normalen wirtschaftlichen Raum. Richard Florida, der das kreative Milieu zum entscheidenden Standortfaktor für den Erfolg von Städten erklärt hat und den Begriff für einen grossen Teil des Dienstleistungssektors braucht, schätzt seinen Anteil an der Gesamtwirtschaft auf bis zu 30 %. Für Zürich hat der Stadtgeograf Philipp Klaus den Begriff KIK (kreative innovative Kleinstunternehmen) ge prägt.[2] Er zählt zur Kreativwirtschaft neben Musik, Theater, Film und Kunst, Werbung, Journalismus, Marketing, Grafik und Architektur. Gemäss dieser Definition entspricht der kreative Sektor 8 % aller Arbeitsplätze. Da viele davon direkt von der Finanzdienstleistungsbranche und der wirtschaftlichen Dynamik der Stadt abhängig sind, ist die Kreativwirtschaft, zumindest kurzfristig, keine Rettung aus einer Finanzkrise. Für die Lebensqualität in der Stadt und für die langfristige wirtschaftliche Entwicklung hat sie aber grosse Bedeutung.

Nischen werden knapp

Die Wertschöpfung der Kreativwirtschaft pro Arbeitsplatz ist allerdings weniger gross als die der Finanzwirtschaft. In einer Bankenstadt wie Zürich entsteht daraus ein Platzproblem: Was als Zwischennutzung auf frei werdenden Industriearealen gewachsen ist und sie für neue Nutzungen geöffnet hat, erleidet gegenwärtig das typische Schicksal der Pioniere. Der überraschende und schnelle Erfolg der Industriearealumnutzung in Zürich West und Zürich Nord zerstört die Nischen. Grosse Hallen, die Rauheit und Offenheit der industriellen Architektur und die tiefen Mietpreise für Zwischennutzungen weichen Mischnutzungen in teuren Neubauten. Dieser Zyklus der Arealverwertung ist sozusagen normal für Städte im Kapitalismus. Speziell ist in Zürich aber die Geschwindigkeit, mit der Brachen auf Stadtgebiet verschwinden. Auch Räume, die in den letzten Jahren als Ventile dienten (Altstetten oder die Nachbargemeinde Schlieren), sind bereits Gegenstand umfassender Umstrukturierungen, andere wie Leutschenbach und Gebiete entlang der Sihl in Zürich Süd werden voraussichtlich übergangslos neu überbaut. Während die Industrie und Teile des Gewerbes in der Agglomeration Ersatz finden, würde eine Verpflanzung der Kreativwirtschaft aus der Kernstadt hinaus die Kommunikationsnetze und damit das Nervensystem der kleinteiligen, hoch kommunikativen Cluster zerstören. Wird die Blüte der Kreativwirtschaft am Mangel von temporär verfügbaren Räumen und an zu hohen Preisen scheitern und das zaghaft gewachsene Interesse daran Episode bleiben?[3]

Zwischen 2006 und 2008 erforschte das Projekt zone*imaginaire Zwischennutzungen der Kreativwirtschaft und ihre Bedürfnisse in verschiedenen Schweizer Städten.[4] Unternehmen wurden befragt, die Planungsgeschichte verschiedener Areale rekonstruiert, die Beispiele mit Erfahrungen im Ausland und dem internationalen Stand der Forschung zum Thema verglichen. zone*imaginaire postuliert, dass die Zwischennutzung von Industriebrachen nicht nur eine Übergangslösung ist, bis definitive Konzepte umgesetzt sind, sondern heute einen grundlegenden Faktor der Dynamik einer Stadt darstellt. Gerade die zeitliche Beschränkung führt zu einer Verdichtung städtischer Prozesse. Es entsteht eine Laborsituation, in der die räumlichen, zeitlichen, sozialen und finanziellen Besonderheiten optimale Bedingungen für Innovation schaffen.

Mobile Immobilien

Im Rahmen von zone*imaginaire entwickelte das Planungsbüro NRS-team aus Cham die Idee, das knapper werdende Angebot an Zwischennutzungsflächen mit temporären Bauten zu verdichten und zu ergänzen. NRS-team forscht seit längerer Zeit an modularen Strukturen und hat Gebäude aus Holz für Ausstellungen und Messen, Kindergärten und Wohnungen realisiert. Ein anderer Projektpartner von zone*imaginaire ist die Versicherungsgesellschaft Swiss Life, die im Zürcher Binzquartier mehrere Liegenschaften und Landreserven besitzt. Mit einem ehemaligen Lagerhaus hat sie bereits Erfahrungen mit Zwischen- und Umnutzungen gemacht: In die minimal umgebauten, riesigen Lagerhallen des «Supertanker» zogen zunächst kleinere Betriebe aus dem kreativen Milieu. Danach ergänzte ein zweigeschossiger Aufbau aus Holz das Raumprogramm um kleinteiligere Atelier- und Büroflächen.[5] Die auf innovative Projekte spezialisierte Immobilienfirma, die den «Supertanker» entwickelt und vermietet hat, und das NRS-team erhielten Ende 2007 von Swiss Life den Auftrag, ein modulares Bausystem zu realisieren, das als Zwischennutzung für Kleinbetriebe im kreativen Sektor auf Brachen eingesetzt werden kann. Für die Machbarkeitsstudie in Form einer Pilotsiedlung stellte Swiss Life ein verwildertes Areal in der Binz zur Verfügung. Schnell stiess das Projekt auf die beiden Grundprobleme, mit denen jede Baute auf Zeit zu kämpfen hat und an der viele Designerentwürfe mobiler Module gescheitert sind: Wie lässt sich eine temporäre Struktur in ein rechtliches System einbetten, für das Häuser immobil und dauerhaft sind? Und wie kann die erhebliche Anfangsinvestition im begrenzten zeitlichen Rahmen abgeschrieben werden? Mit einer Markteinschätzung wurden die Parameter des Projekts festgelegt. Sein Grundmodul ist ein abschliessbarer, geheizter, ans Internet angeschlossener Raum von 25 m², der weniger als 500 Franken pro Monat kostet. Die Module müssen zu grösseren Einheiten kombinierbar sein. Es braucht eine minimale sanitäre Infrastruktur. Es zeigte sich, dass die engen Kostenlimiten nur mit industriell hergestellten Containern erreichbar sind. Holzsysteme sind zu teuer und müssen bei Umplatzierungen mit grossem Aufwand teilweise zerlegt und neu zusammengefügt werden.

Baurechtlich ist die Containersiedlung ein normales Gebäude. Sie ist zonenkonform, hält Abstände und Freiraumziffer ein, ist an die städtischen Ver- und Entsorgungsnetze angeschlossen, wurde ausgesteckt, öffentlich ausgeschrieben und vom Stadtrat Ende 2008 bewilligt. Die Container sind auf ihrer Eingangsseite verglast und haben auf der Rückseite ein Fenster. Dreistöckige Stapel mit jeweils 40 Containern bilden die Grundeinheit. Das Projekt kann in Etappen bis auf maximal 200 Einheiten ausgebaut werden. Die Container stehen auf vor Ort gegossenen Betonfundamenten. Laubengänge aus herkömmlichen Baugerüstelementen erschliessen die Obergeschosse und beschatten die Südfassade. Der Innenausbau besteht aus rohen, gespachtelten Gipsplatten an Wänden und Decken sowie einer zementgebundenen Werkstoffplatte am Boden. In jedem Stapel gibt es einen Sanitärcontainer mit WC und Dusche. Um die Stapel herum darf nach dem Bau die Pioniervegetation wieder wuchern. Die Mietfläche beträgt insgesamt 5400 m².

Als kritisch erwiesen sich die Energievorschriften, die Vorschriften zum barrierefreien Bauen und der Brandschutz. Nach einem Jahr intensiver Entwicklungsarbeit erfüllt nun das Containerdorf die geltenden Gesetze auch in dieser Hinsicht. Die Container sind konventionell isoliert und mit Einzelluftwärmepumpen geheizt. Die hohen Wärmedämmstandards führen zu einer guten Schalldämmung zwischen den Einheiten und auch im Sommer zu einem angenehmen Raumklima.

Für die Wirtschaftlichkeit des Projekts ist entscheidend, dass es bei der definitiven Überbauung seines jetzigen Standorts disloziert und an weiteren Orten wieder aufgebaut werden kann, bis die technische Lebensdauer der Container erreicht ist. Kommunen und grosse Immobilienfirmen können die langfristige Verfügbarkeit von geeigneten Standorten gewährleisten. Mit der Zwischennutzung durch ein Containerdorf würden sie ihre Erträge in Entwicklungsgebieten optimieren und zusätzliches Raumangebot für die Kreativwirtschaft schaffen. Bei einem Umzug wird jeder Container auf einen Lastwagen verladen, die Betonfundamente werden ebenfalls wiederverwendet.

Neben der Lösung von technischen und finanziellen Problemen hängt der Erfolg des Projekts davon ab, ob es zu einem «Ort» mit einer kreativen Atmosphäre wird. Das Containerdorf in der Binz braucht eine Identität, damit Gemeinschaftlichkeit wachsen kann. Sie soll durch ergänzende Angebote im Gastro- und Kulturbereich entstehen. Das Projekt erhielt den Namen «Basislager», eine Website[6] und eine Theaterregisseurin als Kuratorin. Zusammen mit einem Frühstück auf dem Baugelände reichte das, um es in der Zürcher Kulturszene bekannt zu machen. Die Nachfrage nach einem Platz im Basislager nahm stetig zu. Die ersten beiden Lose mit zusammen 78 Einheiten sind vermietet. Bereits ist auch das Interesse von anderen Liegenschaftenbesitzern geweckt.

Wenn es im Betrieb funktioniert, wird das Basislager vielleicht etwas zum alten Traum der Moderne beitragen, die Immobilie ein bisschen mobiler zu machen. Auf jeden Fall schafft es willkommenen Raum in einer Stadt, in welcher der Platz für Kreativität notorisch knapp ist.


Anmerkungen
[01] Richard Florida: The Rise of the Creative Class. New York 2002
[02] Philipp Klaus: Stadt, Kultur, Innovation. Kulturwirtschaft und kreative innovative Kleinstunternehmen in der Stadt Zürich. Zürich 2006
[03] Eine Sammlung von Zwischennutzungsprojekten findet sich auf: www.zwischennutzung.net
[04] zone*imaginaire ist ein gemeinsames Projekt von verschiedenen Hochschulen, privaten Planungsfirmen, grossen Grundeigentümern und Kommunen. Es wurde vom KTI, Förderagentur für Innovation des Bundes, unterstützt (vgl. am Bau Beteiligte). www.zone-imaginaire.ch
[05] www.supertanker.ch
[06] www.basis-lager.ch

TEC21, Fr., 2009.03.27



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2009|13 Non-Finito

29. September 2008Andreas Hofer
TEC21

Der Verkehr geht, ein Quartier erwacht

Um 1930 entstand um den Bullingerplatz ein eindrückliches städtebauliches Ensemble des sozialen Wohnungsbaus. Die Eröffnung der Westumfahrung um Zürich ermöglicht eine Verkehrsreduktion, die als Chance für eine sozialverträgliche Erneuerung genutzt werden soll.

Um 1930 entstand um den Bullingerplatz ein eindrückliches städtebauliches Ensemble des sozialen Wohnungsbaus. Die Eröffnung der Westumfahrung um Zürich ermöglicht eine Verkehrsreduktion, die als Chance für eine sozialverträgliche Erneuerung genutzt werden soll.

Als Zürich um die Wende zum 20. Jahrhundert explosionsartig zur Grossstadt wurde, produzierte dies Stadträume unterschiedlichster Prägung. Die Industrie als treibende Kraft verwandelte im Westen und Norden Riedlandschaften in Fabrikareale. In ihrer Nähe siedelten die zuströmenden Arbeiterfamilien. Städtebau hiess in der Folge Massenwohnungsbau, Infrastrukturbau und Sozialpolitik. In den 1920er-Jahren löste die Tieferlegung der linksufrigen Eisenbahn in den Seebahneinschnitt umfangreiche Planungen aus. Die Stadtplanung gestaltete in der Folge die Entwicklung des Quartiers in einem heute unvorstellbaren Mass und sicherte ihre Ziele durch öffentlichen Landerwerb ab. Leitbild waren grosse Baufelder mit einer strassenbegleitenden Bebauung und durchgrünten Höfen. Ungefähr die Hälfte des Bullinger quartiers gehört heute der Stadt oder Genossenschaften. Den Endpunkt der baulichen Entwicklung markierte in den 1960er-Jahren die städtische Hochhaussiedlung Lochergut. Breite Alleen, ruhige Höfe, fast keine Produktion: Das Bullingerquartier ist eine Insel des gemeinnützigen Wohnungsbaus – allerdings eine umtoste und zerschnittene. Denn seit den 1970er-Jahren belegt die Westtangente die wichtigsten Strassen: Auf Bullinger- und Sihlfeldstrasse und über den Bullingerplatz quält sich der Verkehr in den Süden, auf der Seebahn- und der Hohlstrasse in die Gegenrichtung. Das Quartier ist heute eines der ärmsten der Stadt, hat einen der höchsten Anteile an ausländischer Wohnbevölkerung, aber ihm fehlt die multikulturelle Lebendigkeit des benachbarten Langstrassenquartiers oder des Kreises 5 jenseits des Gleisfeldes.

Verkehrsberuhigung als Chance

Die flankierenden Massnahmen zur Eröffnung der Westumfahrung von Zürich im nächsten Jahr ermöglichen einen Rückbau der Westtangente. Die Bullinger- und die Sihlfeldstrasse werden bis 2012 zu Quartierstrassen. Der (beträchtliche) innerstädtische Verkehr wird auf der Seebahnstrasse konzentriert. So stark, wie der Verkehr das Quartier stigmatisiert und seinen Charakter bestimmt hatte, wird seine Reduktion und Verlagerung an den Rand eine Entwicklungsdynamik auslösen. Die Stärke der gemeinnützigen Bauträger ermöglicht es, diese Transformation ähnlich koordiniert zu gestalten wie seinerzeit den Bau des Quartiers. Diese Chancen fallen mit Überlegungen der gemeinnützigen Bauträger über den Umgang mit ihren Beständen zusammen. Die um 1930 gebauten Siedlungen sind gut unterhalten, die Wohnungen sind aber eng und technisch veraltet. Eine umfassende Erneuerung würde das Quartier wieder für mittelständische Familien attraktiv machen, gleichzeitig aber knappen günstigen Wohnraum zerstören und soziale Verdrängungsprozesse auslösen. Wenn diese Veränderung mit Neubauten geschieht, stellen sich zusätzlich noch denkmalpflegerische Fragen. Es ist weniger die herausragende architektonische Qualität von Einzelgebäuden als die grosse städtebauliche Figur, die das Quartier wertvoll macht.

Der Ideenwettbewerb „Wie wohnen wir morgen?“

Der Schweizerische Verband für Wohnungswesen (SVW, der Verband der gemeinnützigen Wohnbauträger, Sektion Zürich) feierte im letzten Jahr gemeinsam mit der Stadt Zürich 100 Jahre Wohnbauförderung. Das Jubiläum sollte neben dem Rückblick auf eine stolze und in der Schweiz einmalige Erfolgsgeschichte auch für das Weiterdenken des gemeinnützigen Wohnungsbaus in die Zukunft genutzt werden. Ein städtebaulicher Ideenwettbewerb war die Plattform. Als Projektperimeter standen das Bullingerquartier und das Quartier Leutschenbach, ein Entwicklungsgebiet im Norden von Zürich mit einem grossen Wohnpotenzial, zur Verfügung. Die Aufgabe war breit und offen formuliert. Es ging nicht nur um architektonische Entwürfe oder die Umsetzung eines Raumprogramms, sondern um den möglichen Beitrag des gemeinnützigen Wohnungsbaus zur Entwicklung der Stadt. 40 Teams, darunter 15 aus dem Ausland, stellten sich dieser Herausforderung mit ganz unterschiedlichen Konzepten. Die Jury vergab am Schluss sechs Preise, ohne diese zu rangieren.

Im Entwicklungsgebiet Leutschenbach bot die Situation wenig Anknüpfungspunkte. Die Frage war zu offen gestellt; das verleitete zu öko-technokratischen Megastrukturfantasien. Doch die negativen Erfahrungen mit den Grossplanungen im 20. Jahrhundert wirken nach: Architektur und Städtebau haben noch keine gemeinsame Sprache gefunden. Diesem Dilemma wichen eine Reihe von Autorinnen und Autoren aus, indem sie die Frage nach dem Wohnen der Zukunft auf abstrakte, poetische Weise zu beantworten suchten. In ihren Collagen wird die Stadt zum Spannungsfeld, in dem sich das intime Wohnen und der kommunikative Austausch im öffentlichen Raum überlagern. Zwei dieser Arbeiten erhielten einen Preis. Die vier anderen Preisträger beschäftigen sich mit dem Bullingerquartier. Das bestehende Quartier erwies sich als vielversprechendes Feld für die Weiterentwicklung des gemeinnützigen Wohnungsbaus. Alle Projekte setzten beim Potenzial des absehbaren Wandels an: Die Entlastung der Strassenräume gibt dem reinen Wohnquartier Öffentlichkeit. Teilweise verblüffend ähnliche Projekte schlugen einen Transformationsprozess mit wenig baulichen Massnahmen, einer Neuinterpretation des Hof- und Strassenraums und Software – Kooperationen und Kommunikation im Quartier – vor.

Quartiervernetzung als Pilotprojekt

Erfreulicherweise hat der Ideenwettbewerb in beiden Perimetern konkrete Folgen. In Leutschenbach sprach die Stadt Zürich der für diesen Zweck neu gegründeten Baugenossenschaft «mehr als wohnen» ein Grundstück im Baurecht zu. Hier soll eine experimentelle Wohnsiedlung entstehen; zurzeit läuft der Projektwettbewerb. Im Bullingerquartier führte die Diskussion der Wettbewerbsresultate zu einer Vernetzung der Baugenossenschaften. Nach einer internen Diskussionsrunde gelangten sie an die Stadtverwaltung und schlugen Gespräche vor, um eine gemeinsame Strategie zu entwickeln. In der ersten Jahreshälfte 2008 fanden zwei Workshops statt. Die beteiligten Amtsstellen, die Genossenschaften, der Quartierverein, die Kirchgemeinden und die Schulpflege diskutierten die künftige Entwicklung. Diese Gespräche mündeten in Leitsätze für die Erneuerung des Quartiers.

Zusammen mit den Ideen des Wettbewerbs steht damit ein gut gefüllter Werkzeugkasten für die weitere Entwicklung zur Verfügung: Um den verkehrsberuhigten Bullingerplatz soll ein Zentrum für das Quartier entstehen. Kommerzielle (Café) und soziale Infrastrukturen (Spitex, Mehrzwecksaal) schaffen eine grössere Öffentlichkeit. Die gemeinnützigen Bauträger fördern die Belebung der Erdgeschosse mit Gemeinschaftsräumen, Waschsalons, Ateliers und der Ansiedlung von Klein gewerbe, Krippen und Horten. Das Fusswegnetz kann unter Einbezug der Höfe enger geknüpft werden. Einzelne Höfe übernehmen Funktionen für das ganze Quartier. Der tiefe Motorisierungsgrad soll als Chance genutzt werden: Wenn die Parkierung in bestehenden Tiefgaragen am Rand konzentriert wird, entsteht ein verkehrsarmes Quartier. Eine Machbarkeitsstudie klärt siedlungsübergreifend das Potenzial von Ersatzneubauten ab. Der Ersatz einzelner Siedlungen an immissionsbelasteten Standorten ermöglicht eine massive Steigerung der Wohnqualität und eine Ergänzung des Angebotes mit zeitgemässen Familienwohnungen und altersgerechtem Wohnraum.

Der eingeschlagene Weg verspricht eine behutsame Erneuerung und eine Aktivierung der Potenziale im öffentlichen Raum. Das Bullingerquartier als Monument des Kampfes gegen die Wohnungsnot wird durch diesen Prozess vielleicht etwas von seiner architektonischen Homogenität und Strenge verlieren, aber als Stadtquartier an Vielfalt, Attraktivität und Zukunftsfähigkeit gewinnen.

TEC21, Mo., 2008.09.29



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2008|40 Im Sog der Autobahn

12. November 2007Andreas Hofer
TEC21

Dichte statt Zwang

Was kann Architektur bei der Suche nach einer grundsätzlich nachhaltigeren Siedlungsform helfen? Andreas Hofer diskutierte die Frage mit Architekturschaffenden, die Erfahrungen mit unkonventionellen Siedlungsprojekten gemacht haben. Basis für das Gespräch bildete der Artikel «Gemeinschaftshäuser in Zürich» in diesem Heft.

Was kann Architektur bei der Suche nach einer grundsätzlich nachhaltigeren Siedlungsform helfen? Andreas Hofer diskutierte die Frage mit Architekturschaffenden, die Erfahrungen mit unkonventionellen Siedlungsprojekten gemacht haben. Basis für das Gespräch bildete der Artikel «Gemeinschaftshäuser in Zürich» in diesem Heft.

Andreas Hofer: In Zürich feiern die Wohnbaugenossenschaften das 100-Jahr-Jubiläum des gemeinnützigen Wohnungsbaus. Sie sind auch sonst in Bewegung geraten, denn ein grosser Teil ihrer Bestände muss heute erneuert werden. Das böte die Chance, nach einer grundsätzlich nachhaltigeren Siedlungsweise zu suchen. Das hiesse wohl, die Trennung von Wohnen und und Arbeiten rückgängig zu machen, die soziale Durchmischung zu fördern und zeitgemässe Formen von Gemeinschaftlichkeit zu finden, die den heutigen Bedürfnissen nach persönlicher Unabhängigkeit, Haushaltrationalisierung und sozialen Kontakten gerecht würde.
Andreas Zimmermann, Sie scheinen gern alte Wohnutopien auszugraben: Ihr Bauprojekt für die Wogeno an der Grüngasse1 radikalisiert die Idee flexibler Grundrisse aus den 1980er-Jahren. Und im Wettbewerb der Genossenschaft Sonnengarten im Triemli schlugen Sie grosse Blöcke nach Art von Godins «Familistère» im 19. Jahrhundert vor, in denen die Wohnungen auf teilweise gedeckte Innenhöfe orientiert gewesen wären.2 Wie passen die alten Typologien in die heutige Welt?
Andreas Zimmermann: Für die Genossenschaftssiedlung im Triemli versuchten wir, grosse Gemeinschaftsbereiche zu schaffen, um das Kollektiv zu fördern. An zentralen Innenhöfen und Hallen sahen wir Funktionen wie die Waschküche oder zumietbare Zimmer für Büros respektive durchgesteckte Wohnungen vor. Die Erschliessung aller Wohnungen führte über den Gemeinschaftsbereich. Doch diese architektonisch-soziale Vorstellung löste bei der Genossenschaft die Angst aus, dass ihre Mieter das gar nicht suchen und so die Höfe ungenutzt und öde bleiben könnten.
Das kleine Wogeno-Projekt an der Grüngasse entsteht auf einem zentralen, sehr engen Grundstück. Wir fragten uns einerseits, ob die üblichen Wohnungsstandards hier wirklich das Richtige wären. Zum anderen finden wir, dass die bekannten Grundrisse von, zum Beispiel, ADP oder Michael Alder mit weglassbaren Trennwänden, aber eindeutigen Tages- und Nachtbereichen, nicht flexibel genug sind für die heutigen dispersen Vorstellungen über Wohn- und Lebensformen. An der Grüngasse sind nun die Wohnungshälften (Hof- und Strassenseite, Morgen- und Abendsonne) absolut gleichwertig. Räumliche Unterteilungen werden durch verschiebbare Schrankelemente realisiert. So sind unterschiedlichste Wohnformen denkbar – ohne hohe Kosten für individuelle, massgeschneiderte Grundrisse.
Andreas Hofer: Könnte man also sagen, das Gemeinschaftliche hat seinen Ort entweder in der Grossform oder dann im Quartier, während auf der Ebene der Wohnung eine extreme Individualisierung und Flexibilisierung stattfindet?
Andreas Zimmermann: Ja, das ist möglich. Die Wohnungen im Triemli haben wir in der Tat stark definiert. Dort wäre Identität durch die spezifische Wohnung und die Teilnahme am Kollektiv entstanden. An der Grüngasse entsteht das Gemeinschaftliche anders: In der Wogeno bilden die Bewohner Hausvereine und verwalten ihre Häuser zusammen. Identität entsteht hier durch die individuelle Anpassung und Nutzung einer sehr unspezifischen Wohnung.
Andreas Hofer: Urs Primas, Sie haben mit dem «Ringling»3 mit Franziska Schneider und Jens Studer eine Grossform in Planung: einen übergrossen Wohnhof mit vielfältiger EG-Nutzung im Quartier Rütihof am Stadtrand von Zürich. Waren Überlegungen zu gemeinschaftlichen Bedürfnissen prägend?
Urs Primas: Es gibt im Ringling mehrere Ebenen von Gemeinschaftlichkeit. Es sind drei Bauträger. Wir schlugen jedoch ein einziges grosses Haus vor, um deren Zusammenarbeit zum Ausdruck zu bringen und um das Potenzial dieser koordinierten Initiative ganz auszuschöpfen. Das Quartier Rütihof ist im Lauf von 30 Jahren gewachsen und hat dabei unterschiedliche Gebäudeformen, Aussenräume und Arten von Gemeinschaftlichkeit entwickelt. Wir wollen dem eine neue Ebene hinzufügen. Unsere Grossform stellt deshalb dem dichter werdenden Quartier den Park im Innenraum zur Verfügung.
Andreas Hofer: Priska Ammann, Ihr Büro war an der Entwicklung der Genossenschaft Dreieck4 in Aussersihl beteiligt. Charakteristisch ist hier die Weiterentwicklung einer bestehenden Gebäudestruktur. Hängen die gemeinschaftlichen Wohn- und Lebensformen im Dreieck damit zusammen?
Priska Ammann: Ja, sehr stark. Denn die Ausgangslage zur Gründung und Entwicklung der Genossenschaft war nicht primär eine Wohnideologie, die Leute wollten einfach dort bleiben. Deshalb gibt es im Dreieck eine soziale Durchmischung, die neue Siedlungen nur mit Mühe erreichen: Ausländer, Junge und Alte, Intellektuelle und Arbeiter waren schon da. Es gelang, die Leute zu halten. Aus ihrer Verwurzelung im Quartier und ihrer gemeinschaftlichen Erfahrung kommt auch die Ausstrahlung des Dreiecks: Es expandiert über die Strasse, und jetzt entsteht mit der Genossenschaft Kalkbreite5 gerade eine Art Ableger ein paar hundert Meter weiter entfernt.
Die Häuser aus dem 19. Jahrhundert mit ihren Ladenlokalen und neutralen Zimmern eignen sich gut für heutiges Wohnen, wir mussten nur Bäder einbauen. Die beiden Neubauten erweitern den Wohnungsspiegel, der eine mit Gross-, der andere mit Kleinwohnungen. Zur Förderung von sozialen Kontakten ist unser Neubau über Laubengänge am gemeinsam genutzten Hof erschlossen. Das kann allerdings heikel sein! Wenn alle Leute über einen Gemeinschaftshof gehen müssen, wie in Andreas Zimmermanns «Familistère», kann das auch zu viel sein. Es sollte keinen Zwang zu Gemeinschaft geben. In unserem Neubau kann man auch ungesehen den Lift nehmen.
Andreas Hofer: Stephan Gantenbein, Sie haben vor zehn Jahren ein Bürohaus in der Nähe des Albisriederplatzes in den Grosshaushalt «Karthago»6 mit über 50 Leuten und Gemeinschaftsküche umgebaut. Ist hier der Architekt der Handwerker eines sozialen Experiments?
Stephan Gantenbein: Das finde ich schön gesagt. Ja, wir waren Handwerker für Auftrag­geber, von denen einige aus der Hausbesetzerszene am Stauffacher kamen. Sie hatten eine unheimlich starke Vision von einem gemeinschaftlichen Wohnen in Bolo’ Bolos7, Hausgevierten in der Stadt mit begrünten Dächern, eigener Energieerzeugung und Beziehungen zu biologischem Landbau ausserhalb der Stadt. Annette Spiro und ich mussten uns da einarbeiten, eine sehr schöne Erfahrung. Das Gebäude war dann ein sehr normales Bürohaus mit Warenlift und Rasterfassade. Es liegt aber in einem attraktiven Quartier. Das ist wichtig! Bei Projekten, die etwas Neues versuchen, hilft eine Lage in der funktional dichten Kernstadt.
Ein zweites Thema begann mich damals zu interessieren: Nach dem Hauskauf war das Umbauprojekt noch nicht bereit und das Geld knapp. Deshalb wurde für ein Jahr eine Zwischennutzung eingerichtet. Es entwickelte sich ein buntes Leben im Haus, mit Kultur­betrieben, Wohnen und Arbeiten unter einem Dach. Für uns Architekten war es schwierig, als sich dann bei der Projektierung herausstellte, dass hinter jedem Fenster ein vermietbares Zimmer liegen musste, damit es finanziell aufging. Während der Zwischennutzung war dank den billigen Mieten mehr Vielfalt möglich. Seither frage ich mich: Könnte man nicht generell Liegenschaften gegen Ende ihrer Lebenserwartung für zehn Jahre einer Zwischennutzung überlassen? Die Miete ist günstig, man kann selber umbauen; das macht Experimente möglich, bevor das Baugesetz, Umwelt- und feuerpolizeiliche Auflagen hohe Investitionen und Mieten verursachen.
Barbara Buser: Das frage ich mich oft. In einem Provisorium finden alle unkonventionelle Lösungen toll – die Füsschen-Badewanne mit Kerzenbeleuchtung in altem Gemäuer! Doch sobald die Leute Eigentümer werden oder das Haus eine definitive Trägerschaft erhält, steigen die Ansprüche, und man muss eine 08/15-Renovation machen mit den üblichen Bädern, Küchen usw. Wieso?
Stephan Gantenbein: Im Karthago wurde immerhin der Grosshaushalt verwirklicht. Ein Wohngemeinschaftenhaus für heute 55 BewohnerInnen mit einer gemeinsamen Gross­küche, ein Unikat für Zürich. Es sind gescheite Leute, die wissen, dass so ein Experiment auch über den Magen funktioniert, und sie achten sehr darauf, gute KöchInnen anzustellen.
Andreas Zimmermann: Und in den Wohnungen gibt es keine Küchen?
Andreas Hofer: Doch.
Andreas Zimmermann: Das ist ein wichtiger Punkt: Wenn das Kollektiv ein Zwang ist, wird es offenbar schwierig. Dass ein Koch angestellt ist und man nicht selber im Turnus kochen muss, hilft sicher. Aber manchmal möchte man vielleicht allein oder im privaten Rahmen essen. Es geht also um das Verhältnis von kollektiv und privat, Zwang und Freiwilligkeit.
Stephan Gantenbein: Ich weiss nicht mehr, wer entschied, einen Steigstrang und Tee­küchen einzubauen. Einige der Wohngruppen haben ihre Küche mittlerweile ausgebaut, vor allem für das Wochenende, wenn der Koch frei hat.

Andreas Hofer: Stephan Gantenbein betont, wie wesentlich eine starke tragende Utopie und die zentrale städtische Lage für den Erfolg von «Karthago» waren. Nun gibt es aber in jüngster Zeit Beispiele von professionellen Immobilienfirmen, die ein Projekt an einem schwierigen Standort mit Dienstleistungen und einer Art synthetischer Ideologie aufzuwerten versuchen, was durchaus Wurzeln in wohnutopischen Bewegungen hat. Das bekannteste ist «James»8, eine von Immobilienfonds der UBS finanzierte Wohnsiedlung in Zürich Albisrieden mit 180 Wohnungen. In der Portierloge bietet eine Firma als «James» Dienstleistungen für die Mieter an. Michael Geschwentner, Sie waren Projektleiter von «James» im Büro Patrick Gmür. Hat sich dieses Konzept auf die Architektur ausgewirkt?
Michael Geschwentner: Das «James»-Konzept kam erst nach dem Architekturwettbewerb hinzu. Es stammt aus einem zweiten Wettbewerb für die Vermarktungsstrategie. Es war interessant zu sehen, was die Marketingfirmen in ihrem Wettbewerb in unser Projekt hineinlasen. Wir hatten im Hochhaus eine Portierloge eingezeichnet, als Sinnbild für ein urbanes Wohnen im Geiste bekannter Vorbilder, etwa in London, wo der Portier kein Luxus, sondern eine wichtige soziale Institution ist. Wir hatten gemerkt, dass das Wohnhochhaus Bilder von Anonymisierung und Vereinsamung auslöste. Ein Portier wirkt da natürlich dagegen. Wir strebten auch bewusst eine Klientel an, die keine Angst vor Vereinsamung hat: moderne urbane Nomaden. Das «James»-Konzept stiess dann auf enormes Interesse. Wir haben dafür das EG angepasst; sonst bildet die Architektur das Konzept nicht speziell ab.
Andreas Hofer: Konsumieren denn die Mieter lediglich den angebotenen Service, oder lösst «James» auch soziale Interaktionen aus?
Michael Geschwentner: Ich wohne selber im «James». Es ist schon ein Pioniergeist spürbar. Ich bin nicht sicher, ob die Portierloge ein Treffpunkt wird, es ist keine Hotel-Lobby,
sicher aber ein Ort für informelle Begegnungen. Aber es gibt noch das Intranet mit einem ­Tablet-PC in jeder Wohnung zur Kommunikation mit den anderen Mietern. Einige haben damit bereits das ganze Hochhaus zum Apéro eingeladen, und etwa ein Drittel ist gekommen.
Andreas Zimmermann: Das könnte ein grosses Potenzial haben: ein breit akzeptiertes Medium, das niederschwellig und relativ unverbindlich die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme bietet – aber eben freiwillig und nicht als Zwang.
Stephan Gantenbein: «James» ist ja irgendwo vergleichbar mit «Kraftwerk1»9, sicher vom Volumen her. Andreas Hofer, Sie kennen «Kraftwerk1» ja gut. Wo sehen Sie den Unterschied?
Andreas Hofer: Man könnte sagen, «James» ist das «Kraftwerk1» der UBS. Was bei «Kraftwerk1» mit viel Engagement und Freiwilligenarbeit passiert, ist bei «James» ein kommer­zielles Vermietungskonzept mit Abrechnung und Löhnen. Hier zeigt sich, wie ehemals verrückte Wohnutopien normal geworden sind: Zu «Karthago» musste sich 1993 ganz Zürich in einer Volksabstimmung äussern, weil gegen einen städtischen Baurechtsvertrag ein Referendum ergriffen wurde, heute erschrecken diese Ideen niemanden mehr, im Gegenteil.
Priska Ammann: Wesentlich finde ich die Frage, ob solche Modelle mit der Zeit auf ihre Umgebung ausstrahlen oder ob sie isoliert bleiben.
Michael Geschwentner: So viel ich weiss, gibt es Überlegungen, die Dienste von «James» auch für andere Siedlungen im Quartier anzubieten.
Stephan Gantenbein: Einen Gewinn sehe ich darin, wenn Projekte wie «James» Leute in die Stadt ziehen und damit die Zersiedelung der Landschaft bremsen. Erhöhte Attraktivität städtischer Angebote scheint mir hier der einzige Erfolg versprechende Weg.

Dieter Bachmann: Die UBS und eine junge Genossenschaft stossen also in eine ähnliche Richtung. Hingegen dünkt mich, dass sich die traditionellen Genossenschaften sehr schwer tun mit Neuerungen. Sie merken zwar, dass sie alte Gewohnheiten ablegen sollten, aber es fehlt ihnen der Mut, wirklich Stellung zu gesellschaftlichen Neuerungen zu nehmen. Am Ende bauen sie einfach etwas bessere Wohnungen, als sie schon haben.
Andreas Zimmermann: Das ist doch der Punkt, wo die grossen alten Baugenossenschaften ihre Stärken ausspielen könnten! In ihrer Grösse und ihren finanziellen Möglichkeiten liegt ein riesiges Potenzial. Als sie ihre Siedlungen bauten, galt es primär, im Kampf gegen die Wohnungsnot viele einfache und günstige Wohnungen zu erstellen. Dieser Gedanke ist noch zu fest verankert. Wenn die Genossenschaften in einem Quartier stärker zusammenarbeiten würden, so wie es Mischa Badertscher Architekten im Wettbewerb «100 Jahre mehr als Wohnen» vorschlagen10, könnten sie gemeinsam Dienstleistungen und Gelegenheiten zu sozialer Interaktion anbieten, die ohne Zwang funktionieren – ganz einfach, weil die Nachfrage im Quartier gross genug ist. So wie der «James»-Service jetzt eine Ausdehnung auf das Quartier in Betracht zieht, aber auch weiter gehend . . .
Dieter Bachmann: . . . mit Implantaten. Soziale Funktionen, beispielsweise Turnhallen, in Quartiere mit sozialen Defiziten zu implantieren und so Treffpunkte zu schaffen ist ein Trick mit phantastischen Möglichkeiten.
Micheal Geschwentner: Ich finde den Ansatz gut, mehr über Nutzungen zu reden . . .
Urs Primas: . . . und über Dichte. Genossenschaften wollten einst eine Alternative zur dichten, steinernen Stadt bieten und halten noch heute an tiefer Dichte als Qualität fest. Doch tiefe und mittlere Dichten erzeugen in einem Quartier nicht genug Nachfrage, um Servicefunktionen wirtschaftlich betreiben zu können. Die ganz niedere Dichte wird für das Wohnen immer attraktiv sein, aber auch hohe Dichten könnten mit Modellen wie «James» eine Chance für Nutzungsüberlagerungen bieten und so Quartiere beleben. Beim Wettbewerb für die städtische Wohnsiedlung Werdwies stellten unsere Kollegen vom Büro Undend die vorgegebene mittlere Schweizer Ausnützung von vielleicht 1.3 mit einer hongkongesken architektonischen Gestalt in Frage. Wir schlugen dort mit dem Beitrag «Boba Fett»11 vor, die Baumasse der ganzen Siedlung in einem einzigen Baukörper zu konzentrieren, nicht zuletzt, um die für ein öffentliches Erdgeschoss notwendige kritische Masse zu erreichen.

Andreas Hofer: Dass aus einer hohen Dichte heraus eine neue Lebensqualität entstehen kann, diese Erfahrung machen wir auch im «Kraftwerk 1». Ein anderes Tabu aus der Geschichte der Genossenschaftsbewegung ist, dass sich Genossenschaften bisher nicht mit der Nutzungsmischung beschäftigt haben und mit dem Verhältnis von Wohnen und Arbeiten, das sich stark verändert. Barbara Buser, Sie entwickeln in Basel mit Ihrer Firma Kantensprung auf Industriebrachen Kultur- und Gewerbezentren wie das Gundeldinger Feld12. Welche Wege habt ihr dafür gefunden? Fördergelder gibt es dafür ja nicht. Und weshalb baut ihr kaum Wohnungen?
Barbara Buser: Das Gundeldinger Quartier ist sehr dicht bewohnt, es gab kaum öffentliche Räume und Treffpunkte. Auf dem Gundeldinger Feld konnten wir für das Quartier eine alte Fabrik in ein Gewerbe- und Kulturzentrum ausbauen. Ich würde noch so gerne dort wohnen! Aber damit das finanzierbar wäre (die Bodenpreise entsprechen der zentralen Lage), müssten wir eine einstöckige Halle durch einen vierstöckigen Wohnbau ersetzen. Nun zeigt aber die Erfahrung in Basel, dass sich Wohnen und Kultur wegen des extremen Ruhebedürfnisses der Bewohner schlicht nicht vertragen. In allen gemischten Umnutzungsprojekten in Basel hat das Wohnen die Kultur verdrängt. Deshalb haben wir entschieden, auf dem Gundeldinger Feld keine Wohnungen zu bauen. Wir verschenken damit 4500 m² Nutzfläche zugunsten des Quartiers: Heute wird das Gundeldinger Feld täglich von 1000 Leuten besucht. Wir haben das ohne Subventionen zustande gebracht. Das
Finanzierungsmodell funktioniert so: Die Investorengemeinschaft besteht aus drei Privaten und drei Pensionskassen und ist keineswegs gemeinnützig. Sie hat das Gelände gekauft und erwartet die übliche Rendite von 5 %. Hingegen verzichten wir als Baurechtnehmer auf einen Gewinn. Dadurch können wir zahlbare Mieten verlangen und schrittweise die heutigen Energievorschriften umzusetzen. Wenn man eine Form findet, mit der man auf ein paar Prozent Gewinn verzichten kann, ist Vieles plötzlich möglich.
Andreas Hofer: Sie garantieren also einem Investor eine Rendite, entwickeln die Idee zur Umnutzung und übernehmen als Architekturbüro den Umbau. Ist dieser Weg, Kapital der Pensionskassen für alternative Stadtentwicklungsprojekte zu mobilisieren, ein generell anwendbares Modell, wenn man versuchen möchte, den Siedlungsbau nicht mehr nur vom Wohnen, sondern von der Quartierentwicklung und einer stärkeren Durchmischung der Funktionen her zu denken?
Barbara Buser: Davon bin ich überzeugt. Auch langfristig. Denn es geht auch darum, das Grundeigentum zu neutralisieren, um sinnvolle oder gemeinnützige Funktionen langfristig zu sichern. In Arlesheim hat die Stiftung Edith Maryon die ehemaligen Produktionsgebäude der Weleda gekauft, und wir haben sie umgenutzt13. Jetzt zahlen dort 20 Mieter eine recht hohe Miete, denn Arlesheim ist sehr beliebt, da steuergünstig. Ein Drittel der Miete wird in einen Fonds eingezahlt, der dazu dient, den Boden abzuschreiben. In 30 Jahren sollte er abbezahlt sein – dann halbieren sich die Mieten, und die jetzige Baurechtnehmerin, die benachbarte gemeinnützige Ita Wegman Klinik, wird sehr günstig ihre Tätigkeit ausweiten können. Die jetzigen Mieter helfen also, den Bodenpreis zu amortisieren, den Grundbesitz zu neutralisieren. Dieser Weg ist aber nur auf sehr günstigen Arealen möglich, meist grossen, die schnell verkauft werden müssen oder heruntergekommen sind, auf denen aber über eine Zwischennutzung sofort eine Miete realisiert werden kann, ohne dass zuerst Planungskosten, Leerstände und Investitionen anfallen.

Andreas Hofer: Sie sind als Architektin Unternehmerin geworden. Muss man wählen zwischen Architektur und Unternehmertum? Oder eröffnet die unternehmerische Projekt­entwicklung auch Architekturbüros neue Möglichkeiten?
Barbara Buser: Die enge Zusammenarbeit von Development und Architektur ist ganz zentral. Denn all diese Projekte brauchen eine feinfühlige und bescheidene bauliche Umsetzung unter weitgehender Wiederverwendung des Bestehenden. Wir haben gemerkt, dass wir diese Arbeit eigentlich nicht vergeben können, weil andere Büros einfach zu teuer planen. Unterdessen sind wir 18 Leute im Architekturbüro. Wir wollen eigentlich nicht weiterwachsen, aber fast jede Woche kommt ein weiteres Projekt hinzu. Wir haben eine zweite Firma gegründet, die sich vor allem mit Konzeptarbeit und Projektfinanzierung beschäftigt. Aber nach unserer Erfahrung müssen Konzeptarbeit und Architektur möglichst eng gekoppelt sein, um Schnittstellen zu vermeiden, die Kosten verursachen.
Andreas Hofer: Ist unser Berufsstand fit für solche Rollenverschiebungen und unternehmerische Herausforderungen?
Dieter Bachmann: Nein, ich glaube nicht.
Barbara Buser: Ich würde sagen, überhaupt nicht! Das ist auch ein Imageproblem unseres Berufs. Die Bauherren haben Angst vor Architekten, Angst, dass sie Kosten verur­sachen, und setzen dir einen Kostenmanager vor die Nase. Aber die Architekten haben sich das selber eingebrockt, weil sie nicht gesamtheitlich denken und die Life Cicle Costs der Gebäude nicht berücksichtigen.
Priska Ammann: Aber Architektur und die wirtschaftlichen Aspekte des Immobilien-Developments – das sind doch tatsächlich verschiedene Jobs! Sie können das nun verbinden, und das schafft natürlich ganz neue Synergien und ist bewundernswert, aber es ist wohl so selten, weil es sehr schwierig ist. Machen Sie denn selber noch Achitektur?
Urs Primas: Man muss ja Architektur nicht so eng definieren. Wir stellen ja alle auch Überlegungen zu Kosten und Vermietbarkeit an. Kunden trauen uns nur oft nicht zu, dass wir auch gute Ideen zur Immobilienentwicklung haben könnten. Aber es ist ja auch klar, dass wir nicht in Aspruch nehmen dürfen, alles selber zu können.
Barbara Buser: Das muss man ja auch nicht. Aber ich meine, es bräuchte mehr Architekten, die sich in die Immobilienentwicklung einschalten. Auch wenn unsere Ausbildung an der ETH nicht alles bietet, was man dazu braucht.
Urs Primas: Ich sehe schon Anlass zur Selbstkritik: Viele von uns funktionieren über die Wettbewerbe, wo wir vorgegebene Bedingungen akzeptieren und innerhalb dieses Rahmens dann etwas verkrampft Kreativität entwickeln. Diese Beispiele aus Basel zeigen aber, dass auf der Developer-Ebene ein grosses Potenzial für Kreativität liegt.
Michael Geschwentner: Also aktiv werden, statt auf Gelegenheiten warten.
Barbara Buser: Ja, denn als Architekt sollte man das Potenzial von bestehenden Gebäuden und Arealen doch erkennen. Dieses Feld dürfen wir nicht den Ökonomen überlassen!
Dieter Bachmann: Es ist ähnlich wie beim Städtebau. Auch da haben die Architekten eines ihrer ursprünglichen Kerngebiete immer mehr abgegeben und müssen es sich jetzt zurückerobern. Einst haben Architekten sich doch viel mehr um die ganze Stadt gekümmert. Heute hält man sich am Wettbewerbsperimeter fest und lässt sich so beschneiden. Das ist eigentlich falsch.

Andreas Hofer: Wir reden aus gegebenem Anlass über die Stadt, unsere Projekte stehen meist in der Stadt, und es wurde gesagt, ein zentraler Standort sei wichtig für neue Ideen. Nun hat aber die Schweiz mit der ungebremsten Zersiedelung und dem daraus resultierenden Verkehr ein Nachhaltigkeitsproblem. Haben wir auch Ideen für ausserhalb der Stadt?
Urs Primas: Ich erwarte, dass die Mobilität weiter zunimmt und nur über neue Verkehrsmittel nachhaltiger gestaltet werden kann. Denn die Entwicklung des Individualismus, die Ruedi Weidmann in seinem Artikel sehr schön beschrieben hat, wird weitergehen und weitere Länder einbeziehen; die Mobilität gehört dazu. Ich glaube deshalb nicht – und das wäre eine Kritik an diesem Text –, dass verdichtete und multifunktionale Siedlungen in der Stadt wesentlich zur Verkehrsverminderung beitragen können. Sie sind aber in anderen Bereichen nachhaltig.
Barbara Buser: «James» versucht doch, die Dienstleistungen einer Kernstadtumgebung auch weiter draussen anzubieten. Das finde ich richtig. «Kraftwerk1» geht auch in diese Richtung, nur basierend auf viel freiwilliger Arbeit. Für diese Orte oder noch weiter draussen, wo das Leben heute nur mit dem Auto funktioniert, muss man etwas erfinden.
Andreas Hofer: Priska Ammann, Ihr Büro baut in München Riem an einem neuen Quartier14 in einer Vorstadtsituation mit. Versucht man dort, urbane Qualitäten zu erreichen?
Priska Ammann: Wir haben das in der Stadtplanung und in einem Bauprojekt versucht. In der Stadtplanung hat unser Team ein differenziertes System von öffentlichen Plätzen, halböffentlichen Höfen und grünen Ruheräumen geschaffen. Die Wohnungseingänge liegen an der Strasse oder in halböffentlichen Höfen. U-Bahn-Ausgänge, Läden und öffentliche Bauten sind strategisch positioniert, um den öffentlichen Raum zu aktivieren. Das Baurecht schliesst an Strassenkreuzungen im Erdgeschoss Wohnungen aus. Im Quartier entstehen nun Läden, Cafés und publikumsorientierte Büros. Wir glauben, dass wir damit eine Basis für ein lebendiges Quartier gelegt haben.
Beim Bauprojekt, das wir dort bearbeiten, handelt es sich um Häuser von Einzelbauherrschaften, die sich in eine Baugemeinschaft zusammengetan haben, um eine Wohnüberbauung im Gemeinschaftseigentum zu erstellen (eine Alternative zum Stockwerkeigentum und zur Genossenschaft). So entsteht schon während der Planung eine Bewohnerschaft mit sozialem Zusammenhalt. In diesem Projekt ist es allerdings nicht gelungen, Läden ins Erdgeschoss zu bringen, weil sie nicht verkauft werden können. Stattdessen entsteht nun ein Gemeinschaftsraum, der so gebaut wird, dass er als Laden eingerichtet werden kann.

Andreas Hofer: Bauen für die Menschen von heute heisst also: möglichst wenig Zwang, dafür möglichst viele Möglichkeiten. An peripheren Langen könnte ein neues Gebäude die dazu nötige Dichte sowie Dienstleistungen selber mitbringen. Und im dichten städtischen Kontext? Muss sich hier die Architektur gar nicht unbedingt um Gemeinschaftlichkeit kümmern, hingegen mit einem vielfältigen Wohnungs- und Nutzungsmix dazu beitragen, dass sozial nachhaltiges Leben auf der Quartierebene stattfinden kann?
Stephan Gantenbein: Die Ebenen Haus und Stadt hängen unmittelbar zusammen. In Neu-Oerlikon etwa sind teilweise Überbauungen entstanden, die sich zu stark an den Siedlungsformen der früheren Stadterweiterungen orientieren, mit ausschliesslich Wohnungen auf dem Erdgeschoss, was natürlich wenig zu einer belebten Strasse beiträgt.
Dieter Bachmann: Wir erleben jetzt gerade, dass im Neubauquartier Aspholz / Ruggächer15 in Zürich Affoltern der gleiche Fehler wieder gemacht wird. Bei den privaten In­vestoren fehlt das Bewusstsein für diese Fragen. Sie wollen Wohnnutzung bis ins Erdgeschoss und mögen Alternativen nicht einmal prüfen. Das ist enttäuschend.
Ich sehe, dass es zwar einzelne Visionen gibt wie «James» oder «Kraftwerk1», aber in übergeordneten stadtplanerischen Überlegungen werden solche Anstösse kaum aufgenommen. Fragen wie «Wie sind die Funktionen verteilt und vernetzt?», «Wo sollen öffentliche Plätze und Funktionen sein?» werden kaum gestellt. Hier besteht enormer Nachholbedarf.
Urs Primas: Es ist ja begreiflich, dass niemand eine Pizzeria eröffnen will in einem Quartier, in dem noch kaum Leute wohnen. Aber müsste man nicht für eine längere Perspektive planen? Brauchte es nicht strukturelle, architektonische und Vermietungskonzepte, die sich der Entwicklung der Stadt anpassen könnten?
Dieter Bachmann: Ja genau. Beispielsweise baut man heute Schulen, die ein pädagogisches Konzept wunderbar umsetzen. Aber was macht man damit, wenn sie zu gross werden? Man könnte ja auch nutzungsneutrale Gebäude entwerfen, die als Schul- oder Wohn- oder Geschäftshaus funktionieren. Solche Überlegungen sollten für die Stadtplanung selbstverständlich werden. Sie könnte etwa festlegen, dass in einem Quartier alle Erd­geschosse drei Meter hoch sein müssen, dann wird man sie immer für alles brauchen können. Solche Gedanken und Visionen fehlen mir.

[ Aufzeichnung: Ruedi Weidmann, weidmann@tec21.ch ]

TEC21, Mo., 2007.11.12



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2007|46 Siedlungsplanung

Presseschau 12

30. August 2013Ruedi Weidmann
Andreas Hofer
TEC21

Grandhotel – Dichte und Lebensqualität

Viele Qualitäten, die heute Ziel von nachhaltigen Überbauungen sein müssen, finden sich im Grandhotel: Es ist kompakt, dicht, vereint Wohnen und Arbeiten, ist sozial durchmischt und darauf getrimmt, mit seinen ­Räumen und Dienstleistungen hohe Lebensqualität zu schaffen. Kann das Grandhotel der Siedlungsplanung als Inspirationsquelle dienen? Die Artikel in diesem Heft gehen dieser Frage am Beispiel des Hotels Waldhaus Sils nach. Die vielleicht wichtigste Antwort: Nicht immer führt Sparsamkeit zu mehr Nachhaltigkeit, denn die Schönheit von gemeinsam genutzten Räumen ist vermutlich Voraussetzung für eine nachhaltige Lebensweise.

Viele Qualitäten, die heute Ziel von nachhaltigen Überbauungen sein müssen, finden sich im Grandhotel: Es ist kompakt, dicht, vereint Wohnen und Arbeiten, ist sozial durchmischt und darauf getrimmt, mit seinen ­Räumen und Dienstleistungen hohe Lebensqualität zu schaffen. Kann das Grandhotel der Siedlungsplanung als Inspirationsquelle dienen? Die Artikel in diesem Heft gehen dieser Frage am Beispiel des Hotels Waldhaus Sils nach. Die vielleicht wichtigste Antwort: Nicht immer führt Sparsamkeit zu mehr Nachhaltigkeit, denn die Schönheit von gemeinsam genutzten Räumen ist vermutlich Voraussetzung für eine nachhaltige Lebensweise.

Viele Qualitäten, die heute Ziel von nachhaltigen Überbauungen sein müssen, finden sich im Grandhotel: Es ist kompakt, dicht, vereint Wohnen und Arbeiten, ist sozial durchmischt und darauf getrimmt, mit seinen ­Räumen und Dienstleistungen hohe Lebensqualität zu schaffen. Kann das Grandhotel der Siedlungsplanung als Inspirationsquelle dienen? Die Artikel in diesem Heft gehen dieser Frage am Beispiel des Hotels Waldhaus Sils nach. Die vielleicht wichtigste Antwort: Nicht immer führt Sparsamkeit zu mehr Nachhaltigkeit, denn die Schönheit von gemeinsam genutzten Räumen ist vermutlich Voraussetzung für eine nachhaltige Lebensweise.

Die Schweiz wächst, und dieses Wachstum findet heute auch wieder in den Städten statt. Es entstehen Grosssiedlungen, eigentliche Stadterweiterungen, die in ihrer Dimension mit den Projekten der 1960er- und 1970er-Jahre vergleichbar sind. Waren diese Höhe- und Endpunkt der funktionalistischen Konzepte aus den 1920er-Jahren, so ist man sich heute einig in der Kritik am monofunktionalen Siedlungsbau, an den im Abstandsgrün stehenden, infrastrukturell unterversorgten Wohnblocks, die oft schlecht an die öffentlichen Verkehrsnetze angebunden sind. Heute geht es um Verdichtung, urbane Qualitäten und Vielfalt.

Was ist eine nachhaltige Siedlung?

An guten Lagen versuchen Investoren Zentralität neu zu schaffen, indem sie Stadtteile mit einer eigenen Nachfrage und hoher Attraktivität für die weitere Nachbarschaft entwickeln. Diese urbanen Implantate bedienen sich häufig bei Bildern aus dem 19. Jahrhundert, und ihre Vermarktung spielt mit Assoziationen der dichten europäischen Stadt. Beispiele sind die an S-Bahnstationen im Grossraum Zürich liegenden Quartiere im Limmatfeld in Dietikon, das im Rahmen eines Gestaltungsplans von Hans Kollhoff mit dem Slogan «Unsere kleine Stadt» wirbt, und das Richti-Areal in Wallisellen, dem Vittorio Magnago Lampugnani ein gründerzeitliches Gepräge mit Blockrandbebauung, Innenhöfen, Plätzen und Arkaden verliehen hat. Als Vorbilder für eine weitere nachhaltige Entwicklung sind diese Grossüberbauungen aber nicht geeignet. Denn eine Massstabsebene kleiner und an weniger prominenten Standorten fehlen dieser Strategie Masse und Überzeugungskraft. Die Einkaufs- und Freizeitlandschaften an den Autobahnkreuzen saugen die Kaufkraft aus Quartieren und Ortschaften, und die Produktion ist – bestenfalls – in Gewerbegebiete ausgelagert. Für eine urbane Vielfalt in den neuen Bebauungen fehlen deshalb die Nutzungen; es entstehen Siedlungen mit Wohnungen bis ins Erdgeschoss, deren private Vorzonen an Freiräume grenzen, die keine wirklichen Plätze sind. Der Versuch, mit guter Architektur und hochwertiger Materialisierung Identität zu schaffen, bleibt an der Oberfläche. Die mittlerweile hohen Dichten in diesen behaupteten «Zentrumsgebieten» und «Stadtentwicklungsschwerpunkten» führen nicht zu urbaner Lebendigkeit, sondern einzig zu Beengtheit.

Anreicherung durch soziale Funktionen

Wenn die Siedlung als Ort für nachhaltige Lebensstile mit hoher Lebensqualität tauglich werden soll, muss sie neu erfunden und angereichert werden. Material dafür bieten der demografische Wandel und die komplexeren Lebensentwürfe. Kollektive Organisation der Kinderbetreuung, neue Formen von Heim- und Teilzeitarbeit, Unterstützung bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit, Wellness, Sport und Erholung, Geselligkeit und Mitbestimmung, Mitarbeit bei der lokalen Nahrungsproduktion und -versorgung: All diese Bedürfnisse brauchen Räume und können Erdgeschosse zu verschiedenen Tageszeiten beleben. Die damit verbundene Kultur der Nähe und gegenseitigen Hilfe kann die Gemeinschaft gegenüber einer immer prekäreren Lohn- und Geldwirtschaft robuster machen. Vielleicht gelänge mit dieser Relokalisierung sozialer Funktionen im Wohnkontext auch eine Trendwende bei der Mobilität.

Keine historischen Vorbilder

Für diese neuen planerischen Aufgaben taugen als Referenz weder Rückgriffe auf dörfliche Strukturen noch der Fundus der Wohnutopien frühsozialistischer Gemeinschaften. So eindrücklich etwa die soeben als nationales Monument renovierte Familistère in Guise[1] einen verantwortungsvollen Kapitalismus als Alternative im 19. Jahrhundert dokumentiert – solche historischen Beispiele leiten das Wohnen von ökonomischen Zwangsgemeinschaften ab. Ihnen fehlt die luftige Freiwilligkeit einer reichen, postindustriellen Gesellschaft. Eine Reihe von genossenschaftlichen Projekten im Grossraum Zürich erprobt zurzeit das Potenzial dieser sozialen Funktionen für den Siedlungsbau. Diese Pionierprojekte sind äusserst ambitioniert und stellen sich breit den gesellschaftlichen Herausforderungen, sie können aber leicht als Einzelfälle und «gated communities» für Gutmenschen kritisiert werden. Deshalb haben wir in der Baugeschichte nach Beispielen für die Kraft von dichten, integrierten, hybriden Gebäuden gesucht. Fündig geworden sind wir bei bei der Luxushotellerie, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts in den Schweizer Alpen entwickelte.

Das Grandhotel als Inspiration

Gerade in ihrer Künstlichkeit, ihrem Exotismus sind die Grandhotels umfassende Organismen. Hier leistete sich zum ersten Mal eine erfolgreiche bürgerliche Gesellschaft einen voll ausgestatteten Raum jenseits der alltäglichen Arbeits- und Familienzwänge und ausserhalb der Stadt. Das Grandhotel ist kompakt gebaut, dicht belegt, vereint Wohnen und Arbeiten unter einem Dach, ist sozial durchmischt (Gäste und Angestellte) und darauf getrimmt, durch hoch verdichtete Dienstleistungen Lebensqualität zu produzieren – Charaktereigenschaften, die in ihrer Kombination in dichten, nachhaltigen Siedlungen und Quartieren hochwillkommen sind (TEC21 9/2013, S. 18). Viele der in diesem Kontext entwickelten Qualitäten, Infrastrukturen und Dienstleistungen, nicht zuletzt das damit verbundene Wissen über die «Herstellung» von Lebensqualität, scheinen uns aufschlussreich und anregend für die aktuelle Debatte um Stadt- und Raumentwicklung, Nachhaltigkeit und Suffizienz. Wohl wissend, dass das ökonomische Modell eines Hotels nicht dem einer Wohnsiedlung entspricht, wollten wir herausfinden, ob und in welcher Hinsicht das Grandhotel als Inspirationsquelle für die Siedlungsplanung dienen kann. Deshalb haben wir die Leitung des Hotels Waldhaus in Sils angefragt, ob sie bereit wäre, mit uns zusammen ihr Haus daraufhin zu durchleuchten und diese Frage zu erörtern. Das Resultat dieser Recherche umfasst auf den folgenden Seiten eine Beschreibung der Räume und der Dienstleistungen dieses Fünfsternehauses im Oberengadin und das Protokoll eines Rundgangs und eines langen Gesprächs mit dem Hoteldirektor.


Anmerkung:
[01] www.familistere.com

TEC21, Fr., 2013.08.30



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2013|36 Inspiration Grandhotel

10. Februar 2012Andreas Hofer
TEC21

Von den Umweltlabels zur nachhaltigen Stadt

Zehn Jahre nach ihrer pionierhaften Gründersiedlung in Zürich West hat die Genossenschaft KraftWerk1 ihr zweites Projekt fertiggestellt und ihren ersten Nachhaltigkeitsbericht veröffentlicht. Die Erfahrungen im Siedlungsalltag und die Strategiediskussionen für weitere Siedlungen führen die Genossenschaft dazu, Nachhaltigkeit immer breiter zu denken, das heisst ökologische Standards, Bewirtschaftung und Bewohnerverhalten gesamthaft zu evaluieren und dem Ziel 2000-Watt-Gesellschaft weiter anzunähern.

Zehn Jahre nach ihrer pionierhaften Gründersiedlung in Zürich West hat die Genossenschaft KraftWerk1 ihr zweites Projekt fertiggestellt und ihren ersten Nachhaltigkeitsbericht veröffentlicht. Die Erfahrungen im Siedlungsalltag und die Strategiediskussionen für weitere Siedlungen führen die Genossenschaft dazu, Nachhaltigkeit immer breiter zu denken, das heisst ökologische Standards, Bewirtschaftung und Bewohnerverhalten gesamthaft zu evaluieren und dem Ziel 2000-Watt-Gesellschaft weiter anzunähern.

KraftWerk1 war über Jahre eine Idee ohne Gebäude (TEC21 42/2001). Dieser Status erwies sich als starkes Fundament einer umfassenden Nachhaltigkeitsstrategie. Die Genossenschaft wuchs aus einer breit geführten Diskussion mit verschiedenen Anspruchsgruppen über nachhaltiges, städtisches Leben, soziale Integration und neue Wohn-, Arbeits- und Lebenszusammenhänge. Diese Diskurskultur lebte weiter, als die Planung der ersten Siedlung konkret wurde. Sie verpflichtete die zunehmend professionellen Gremien der Genossenschaft auf hohe Ziele und bildete die Basis für die Vermietung der Grosswohngemeinschaften und für die Organisationsstruktur, die bis heute wesentlich von Arbeitsgruppen für verschiedene alltägliche Belange geprägt ist.

Die Genossenschaft pflegt auch bei allen neuen Projekten einen intensiven partizipativen Prozess, der so früh wie möglich einsetzt. Die Leiterin des Ressorts Siedlungsprojekte im Vorstand lädt zusammen mit den anderen Vorstandsmitgliedern aus den Ressorts Soziales, Kommunikation und Bau frühzeitig Interessierte ein, um über das Raumprogramm und soziale und ökologische Ziele zu diskutieren. Hier entstehen die Vorgaben für die Architekturwettbewerbe. Die Jurierungen sind öffentlich, und die Architekturteams präsentieren regelmässig den Planungsstand. Die partizipativen Prozesse richten sich immer auf das ganze Projekt: Es geht nicht darum, mit einem «Baugruppenmodell» eine künftige Bewohnerschaft zu bilden, und explizit auch nicht um die Gestaltung der späteren eigenen Wohnung. Der Einbezug von «Laien» in die Entwicklung grosser Bauprojekte und das Bekenntnis der Genossenschaft, mit ihren Projekten neue Lösungen zu suchen, verändern auch die Kultur unter den Planungsprofis. Sie müssen in Workshops ihre Konzepte verständlich erklären und auch in der Baukommission der Genossenschaft bereit sein, Erprobtes zu hinterfragen und technische, finanzielle und energetische Aspekte innovativ zu verknüpfen. Mit KraftWerk1 zu planen, ist deshalb anstrengend und braucht Offenheit und Dialogbereitschaft.

Ökobilanz als ganzheitliches Steuerungsinstrument

Zu Beginn der Planungsphase von KraftWerk1 existierten die heute etablierten Labels für energieeffizientes Bauen noch nicht. Mit Gabor Doka, einem Spezialisten für Ökobilanzierungen, erarbeitete KraftWerk1 ein Bewertungsmodell und beschloss, 2% der Anlagekosten (1Mio. Fr.) für ökologische Massnahmen zu reservieren. Entscheidend war dabei, dass sich die Ökobilanz nicht auf das Gebäude bezog, sondern auf die gesamten Verbräuche eines durchschnittlichen Menschen in der Schweiz. Die angewendete Methode (Eco Indicator 95) berechnete Energieverbrauch und Umweltbelastungspunkte für die verschiedenen alltäglichen Tätigkeiten. Dies erlaubte es, die energetisch effizientesten Massnahmen zu bestimmen und sie mit anderen ökologischen Massnahmen – wie Wasserspartechnologien und Investitionen in die Biodiversität – zu vergleichen. Schliesslich flossen drei Viertel der Mittel in bauliche Massnahmen zur Senkung des Energieverbrauchs. Das grösste Gebäude erfüllt den während des Planungsprozesses lancierten Minergiestandard, in den kleineren Gebäuden wurde auf eine Lüftung mit Wärmerückgewinnung verzichtet. Kleinere Beträge wurden für viele weitere ökologische Massnahmen verwendet, ein Rest für Umweltprojekte nach dem Bezug. 2009 verglich das Umweltbüro Carbotech die Ökobilanz aus der Planungsphase mit den gemessenen Werten. Die mittlerweile verbesserte Methodik (Advanced LCA compare) bestätigte die ursprünglichen Annahmen weitgehend. In KraftWerk1 gelang es, den Verbrauch einer Person auf durchschnittlich 3400 Watt zu senken. Diese erhebliche Reduktion gegenüber dem schweizerischen Durchschnitt von etwa 6000 Watt ist dem guten energetischen Standard, einer deutlich reduzierten individuellen Mobilität und dem tiefen Flächenverbrauch von 36 m² pro Person zu verdanken. Das zeigt, dass Verbräuche mit einem ganzheitlichen Massnahmenbündel zwar massiv reduziert werden können, jedoch für einen 2000-Watt- Lebensstil tiefer greifende Veränderungen nötig sind, die über ein Bauprojekt hinausreichen.

Verloren im Labelwald

So erfreulich die Ausbreitung von Strategien (SIA-Effizienzpfad, 2000-Watt-Gesellschaft), technischen Konzepten (LowX, Plusenergiehäuser) und Labelfamilien (Minergie, Minergie-A, -P, -Eco) als Ausdruck gesteigerten Umweltbewusstseins ist, so unpraktikabel erweist sich für KraftWerk1 der Umgang mit diesen Instrumenten. Das Thema wird auf der technischen Seite immer präziser gefasst. Ein Heer von Ingenieurinnen und Beratern plant komplexe haustechnische Systeme, die Bauindustrie verkauft diese gerne, und so kann sich auch eine weitab jeder ÖV-Haltestelle gelegene Einfamilienhaussiedlung mit einem Umweltlabel schmücken. Aber es fehlen Auswertungen über die effektiv im Betrieb erreichten Werte, und es fehlen Konzepte für die nachhaltige Verankerung des komplexen Wissens im Alltag. Das wachsende technische Umweltwissen erschwert Berechnungen und die Kommunikation mit den Umwelthandelnden: den Wohnenden und Arbeitenden. Dass beispielsweise Primärenergiefaktoren bei Minergie und im SIA-Effizienzpfad unterschiedlich definiert sind – so berechtigt deren Herleitung jeweils sein mag –, führt zu Fehlern und Missverständnissen und erschwert die internationale Vergleichbarkeit. Das wird im Umweltbericht von KraftWerk1 deutlich (Kasten S. 22). In der ersten Ausgabe ist es noch nicht gelungen, die Kennzahlen so zu vermitteln, dass Fachleute die Gebäude in bestehende Labels einordnen und gleichzeitig die Genossenschaftsmitglieder ihren Beitrag zu einer besseren Umweltperformance erkennen können. Deutlichster Ausdruck davon, dass die ausschliesslich technische Lösung eines gesamtgesellschaftlichen Problems nicht zum Ziel führt, sind jedoch die mageren Resultate im Grossen: Der Energieverbrauch in der Schweiz folgt nach wie vor unerbittlich der Entwicklung des Bruttosozialprodukts, eine Trendwende ist nicht in Sicht. Im Neubau setzen sich Niedrigenergiekonzepte durch, die gesetzlichen Normen verlangen mittlerweile sehr viel. Doch das wird durch den wachsenden Flächenverbrauch pro Kopf zunichte gemacht (vgl. Artikel S. 18). Und im Bestand geschieht wenig – vielleicht sogar, weil hier die hohen Anforderungen an die energetische Performance abschreckend wirken.

KraftWerk2: vom bautechnischen Albtraum zum Wohnexperiment

Diese Herausforderung stellte sich beim zweiten Projekt der Genossenschaft. Die Stiftung Zürcher Kinder- und Jugendheime kam bei einer Überprüfung ihrer pädagogischen Angebote und ihrer strategischen Ziele zum Schluss, dass sie einen Teil des Zentrums Heizenholz in Zürich Höngg nicht mehr benötigte, und wollte zwei Häuser zu Wohnzwecken abgeben. Die Arealüberbauung aus den frühen 1970er-Jahren ist von hoher architektonischer Qualität, die Stadt hat sie seinerzeit als «Gute Baute der Stadt Zürich» ausgezeichnet. Die Stiftung erarbeitete für ihre Gebäude ein Erneuerungskonzept und ging davon aus, dass die Baurechtnehmerin die beiden Häuser im Rahmen dieses Konzepts umbauen würde. Im Bewerbungsverfahren unter gemeinnützigen Wohnbauträgern Ende 2007 stellte KraftWerk1 fest, dass das Areal über erhebliche Ausnutzungsreserven verfügte, und schlug vor, diese auszuschöpfen und somit das Projektvolumen deutlich zu vergrössern. Die beiden ursprünglich für Jugendwohngruppen genutzten viergeschossigen Häuser waren Zeugen ihrer Zeit: massive Backsteingebäude mit einem enormen Energieverbrauch, einer maroden Haustechnik und knappen Geschosshöhen, engen Grundrissen mit vielen tragenden Wänden, kurzum: ein bautechnischer Albtraum. Wenn für vierzigjährige Gebäude der Abriss zur Option wird, zeigt dies, wie wacklig Berechnungen von grauer Energie und Absenkpfaden bis ins Jahr 2150 sind – einen Zeitraum, den wir beim besten Willen nicht überblicken. Ein Ersatzneubau kam nicht infrage, weil bereits der Vorschlag, den Bestand zu verdichten, die Baurechtgeberin herausforderte, die sich vor jahrelangen Planungs- und Bauprozessen fürchtete. (Das seit Jahren juristisch umkämpfte Wohnprojekt Ringling ist in unmittelbarer Nähe geplant.)

Früh äusserte eine Gruppe älterer Menschen ihre Wohnbedürfnisse und brachte sich mit viel Energie in die Entwicklung eines Mehrgenerationenprojekts ein. Das Raumprogramm für den Studienauftrag umfasste einen breiten Wohnungsmix mit einem grossen Anteil an Kleinwohnungen, einigen Familienwohnungen, Wohngemeinschaften und als neues Experiment zwei Clusterwohnungen (Abb. 5 und TEC21 7/2011). In diesen sind verglichen mit einer klassischen Wohngemeinschaft die individuellen Bereiche grösser und mit einer bescheidenen Sanitär- und Kochinfrastruktur ausgestattet. Das Architekturbüro Adrian Streich gewann den Wettbewerb mit dem Projekt «terrasse commune», das die beiden Gebäude mit einem Zwischenbau zu einem grossen Haus verband. Der Zwischenbau bringt die barrierefreie Erschliessung und nimmt einen Grossteil der Gebäudetechnik auf, die Altbauten bleiben in ihrer Raum- und Tragstruktur soweit wie möglich erhalten. Das Volumen wird kompakter. Der Komplex erreicht nach dem Umbau, trotz Anschluss an ein energetisch nicht optimales, mit Öl betriebenes Fernheizungsnetz, den Minergiestandard. Eine konventionelle Lüftungsanlage konnte wegen der begrenzten Geschosshöhen nicht eingebaut werden. Gelüftet wird das Haus mit Überströmöffnungen über den Fenstern der Individualzimmer und zentralen Abluftkanälen. Wärmepumpen nutzen die Energie der Abluft zur Warmwassererzeugung und Heizungsunterstützung. Die Vor- und Nachteile der Strategie, einen Teil des Bestandes zu erhalten und zu ergänzen, konnten bis jetzt noch nicht bilanziert werden, da die Betriebszahlen noch fehlen. Mit dem Erhalt des Rohbaus, der etwa die Hälfte der grauen Energie eines Gebäudes ausmacht, wurden erheblich Material und Energie gespart. Ökonomisch haben jedoch bautechnische Schwierigkeiten die Kostenvorteile gegenüber einem Neubau weitgehend aufgefressen. Es bleibt die Hoffnung, dass die Gebäude durch die sorgfältige und aufwendige Instandsetzung ein zweites Leben bekommen haben, das sie für eine längere Zukunft tauglich macht.

KraftWerk4: Relokalisierung in der Agglomeration

Auf dem Areal der ehemaligen Textilfabrik Zwicky in Dübendorf entwickelt die Bau- und Wohngenossenschaft KraftWerk1 zusammen mit der Generalunternehmung Senn BPM und der Immobilienberatungsfirma Wüest&Partner ein Baufeld. Es ist vorgesehen, dass die Genossenschaft ungefähr die Hälfte des Bauvolumens übernimmt (etwa 150 Wohnungen und Gewerbeflächen). Die schwierige Lage, insbesondere die Lärmsituation, bestimmt das architektonische Konzept von KraftWerk4.[1] Das aus einem Wettbewerb hervorgegangene Projekt von Schneider Studer Primas Architekten nutzt die Rahmenbedingungen und entwickelt einen Baukasten aus Typologien, der unterschiedlichste Nutzungen und räumliche Qualitäten zulässt: Dünne Scheiben schirmen das Areal gegen den Lärm ab, zwei dicke Blöcke besetzen den Hofraum, Hallen schaffen im Erdgeschoss gassenähnliche Räume und auf ihren Dächern geschützte Gärten im dicht bebauten Areal. Es entsteht die Stimmung eines lebendigen Gewerbequartiers. Berechnungen im Vorprojekt zeigen, dass die massiven Volumen im Innern des Areals die dünnen Baukörper am Rand sowohl ökonomisch als auch energetisch kompensieren können. Eine Bilanz der grauen Energie für die Erstellung weist noch eine leichte Überschreitung der 2000-Watt-Zielwerte gemäss SIA-Merkblatt 2040 von einigen Prozent auf. Der energetische Standard wird auf Minergie-P-Niveau liegen. Die Nutzung von Wärme aus dem geklärten Abwasser der Kläranlage Neugut als Anergiequelle ermöglicht hocheffiziente Wärmepumpen und reduziert die thermische Belastung der Glatt. Zurzeit prüft die Genossenschaft Möglichkeiten der Energieproduktion auf dem Areal (Neunutzung der Wasserkraft der Glatt, Fotovoltaik auf Dächern und Fassaden). Im besten Fall könnte das Projekt seine gesamten Betriebsverbräuche selber erzeugen.

Für die Nachhaltigkeit mindestens so wichtig ist aber das Potenzial, auf dem Zwicky-Areal ein Gegenbild zur funktional getrennten Agglomeration zu schaffen, die in der Nachkriegszeit im Glatttal entstanden ist. Die Identität des vorhandenen Industrieensembles, das bereits mit verschiedenen Nutzungen neu belebt worden ist, ermöglicht eine Ergänzung und Stärkung mit einem dichten, vielfältigen Angebot an Wohn- und Arbeitsflächen. Wenn es gelingt, ein feines Netz aus Wohnen und Arbeiten zu knüpfen, und wenn die günstigen Gewerbeflächen Betriebe aus kreativen Branchen anziehen, die in der Innenstadt zurzeit erheblich unter Druck stehen, sind hier Prozesse einer produktiven Relokalisierung möglich. Dies ist eine Voraussetzung dafür, die fragmentierte Agglomeration in nachhaltige, lebenswerte Räume zu überführen und die ausufernde Mobilität in den Griff zu bekommen.

Die Erfahrungen in der Gründersiedlung und die Herausforderungen der neuen KraftWerk-Projekte zeigen exemplarisch den Beitrag auf, den wir mit der gebauten Umwelt für eine zukunftsfähige Gesellschaft leisten müssen: Niedrigenergiekonzepte müssen richtig betrieben, optimiert und den Benutzenden verständlich kommuniziert werden, es braucht einen kreativen Umgang mit dem Bestand, und die alltäglichen Funktionen müssen im grösseren Massstab zu nachhaltigen Quartieren rekombiniert werden.[2]


Anmerkungen:
[01] Das Projekt KraftWerk3 wurde 2011 aufgegeben
[02] KraftWerk1 beteiligt sich mit dem Projekt auf dem Zwicky-Areal am Pilotprojekt «Arealentwicklung für die 2000-Watt-Gesellschaft» des Bundesamts für Energie und der Stadt Zürich.

TEC21, Fr., 2012.02.10



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2012|7 Savoir vivre – 2000 Watt

28. Oktober 2010Andreas Hofer
TEC21

Verkehrslandschaft

Der Aufbau der nationalen Verkehrsinfrastruktur hat den Raum Zürich Nord erschlossen und seine Entwicklung geprägt. Mit der Glattalbahn, die zum ersten Mal interne Verbindungen schafft, könnte eine eigene, die politischen Grenzen überwindende Identität entstehen.

Der Aufbau der nationalen Verkehrsinfrastruktur hat den Raum Zürich Nord erschlossen und seine Entwicklung geprägt. Mit der Glattalbahn, die zum ersten Mal interne Verbindungen schafft, könnte eine eigene, die politischen Grenzen überwindende Identität entstehen.

Die vom ehemaligen ETH-Dozenten Martin Geiger1 entwickelte Standort-, Nutzungs- und Landwerttheorie (SNL-Theorie) kennt nur zwei Faktoren für die Güte eines Standorts: sein «Beziehungspotenzial» und den «umweltbedingten Eigenwert». Einfacher formuliert: «Wie nahe bin ich an möglichst vielen anderen Orten?» und «Habe ich Seesicht?». Diese beiden Faktoren bestimmen die Standortentscheide von Betrieben ebenso wie die Nachfrage nach Wohnraum, wobei die Wohnungssuchenden die weichen Faktoren bei der Standortwahl höher gewichten. Da ein gutes Beziehungspotenzial lärmige und zerschneidende Verkehrsinfrastruktur braucht, gibt es einen latenten Widerspruch zwischen guter Erreichbarkeit und hoher Wohnqualität.

Verkehr und wirtschaftliche Kräfte prägen den Raum

Mit der SNL-Theorie kann die räumliche Entwicklung seit der Industrialisierung erklärt werden – so etwa die Bildung von Westends in den meisten europäischen Metropolen (nah an den Schalthebeln der Macht, aber durch die vorherrschenden Westwindlagen vom Rauch aus den Schloten der Fabriken abgewandt), durchgrünte Vororte um die Endstationen des städtischen öffentlichen Verkehrs und schlussendlich Nebenzentren um S-Bahn-Stationen, Autobahnkreuze und Schnellzughalte. Die Leistungsfähigkeit des öffentlichen Verkehrs in der Schweiz und die räumliche Nähe verleitete die Landesplanung, über Jahrzehnte vom föderalismuskompatiblen Konzept der Schweiz als Netzwerk von intakten kleinen Städten in einer agrar geprägten Landschaft zu träumen: das Mittelland statistisch und wirtschaftlich eine international konkurrenzfähige Grossstadt – aber in der Erscheinung ländlich, provinziell.

Die wirtschaftlichen Kräfte führen aber nicht zu einer demokratisch austarierten Homogenität, sondern sie differenzieren Räume, lassen Knoten wachsen, reissen Peripherie in den Wachstumsmahlstrom oder hängen sie von der Entwicklung ab. Die Nähe und die Erreichbarkeit von vielen Standorten im schweizerischen Mittelland spannen jeden Ort in ein Beziehungsgefüge mit mehreren Nachbarn. So schuf der Nationalstrassenbau im Dreieck Basel, Bern und Zürich, um das Autobahnkreuz Härkingen, einen Knoten mässiger, aber kumulierter Attraktivität mit einer eigenartigen Mischung aus Distributionszentren, Grossmärkten, Sexclubs und Tankstellen. Solche Orte gibt es mittlerweile entlang der Ausfallachsen aller grösseren Städte in der Schweiz und bei wichtigen Verkehrskreuzungen. Zusammen mit den in einigem Abstand wuchernden Wohnsiedlungen sind sie das Mittelland, die Agglomeration. Der Norden von Zürich war in seiner Geschichte mehrmals umkämpfter Ort für Verkehrsinfrastrukturen, bezüglich ihrer Linienführung und Lage. Dabei standen bis zum Bau der Glattalbahn nie Entwicklungsziele für den Raum selber im Vordergrund, sondern Zürich Nord war der Schauplatz von übergeordneten technischen, politischen und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen. In ihrer Summe und Zufälligkeit gestalteten sie das heute dynamischste Wachstumsgebiet der Schweiz, oder – leicht vorgreifend – in den Worten Martin Geigers: Der Knoten mit dem höchsten Beziehungspotenzial der Schweiz war damit von Zürich weg in ein «Niemandsland» verschoben, aus dem sogleich eine neue Stadt zu wachsen begann

Der Kampf um die nationale Verkehrsinfrastruktur

Mitte des 19. Jahrhunderts tobte zwischen verschiedenen privaten Gesellschaften der Kampf um die Erschliessung der Schweiz mit der Eisenbahn. Die Konkurrenz um Strecken, Linienführungen und die möglichst schnelle Anbindung von Gütern und potenziellen Passagieren verhalfen der Schweiz zu einem der weltweit dichtesten Netze, dessen Elemente aber in wichtigen Punkten nicht aufeinander abgestimmt waren und das ökonomisch verhängnisvolle Parallellinien aufwies. Schauplatz einer dieser Kämpfe war Oerlikon. Nachdem 1856 eine von Zürcher Freisinnigen finanzierte Verbindung zwischen Zürich, Winterthur und Romanshorn über Oerlikon in Betrieb genommen war (Nordostbahn NOB), versuchten Winterthurer Industrielle durch das Furttal eine Konkurrenzlinie vom Boden- an den Genfersee zu bauen (Nationalbahn S.N.B).

Erbitterte wirtschaftliche Machtpolitik verhinderte den Anschluss von Zürich an diese Strecke und trieb die Nationalbahn nach wenigen Jahren in den Konkurs. Es blieb der Eisenbahnknoten in Oerlikon, der die damals wichtigsten Industriestädte Zürich, Winterthur und Baden verband. Industriebetriebe nutzten die strategische Lage; Oerlikon, das erst mit der zweiten Eingemeindung 1934 zu Zürich kam, wuchs vom Bauerndorf zum Fabrikstandort.2 Der nächste und wohl folgenschwerste Infrastrukturentscheid war die Standortwahl für den internationalen Zivilflughafen während des Zweiten Weltkriegs. Der Bund plante diesen «Schweizerischen Zentralflughafen» in Utzensdorf zwischen Bern und Solothurn. In den Zeiten der Anbauschlacht wog jedoch das Argument der lokalen Bevölkerung, dass für den Bau gewaltige Mengen wertvolles Ackerland geopfert werden müssten, schwerer. 1945 fiel der Standortentscheid für den Waffenplatz Kloten. Dieser lag in einem landwirtschaftlich ungenutzten Ried und gehörte praktischerweise bereits dem Bund.

Der letzte planerisch-politische Prozess, der das Schicksal von Zürich Nord prägte, war die Nationalstrassenplanung. Nachdem sich in den 1960er-Jahren in der Stadt Zürich massiver Widerstand gegen die Verknüpfung der Ost-West-Achse mit der Abzweigung in den Süden im Gebiet des Hauptbahnhofes von Zürich (das sogenannte Ypsilon) formiert hatte, wichen die Planer gegen aussen aus und trieben die Realisierung eines Autobahnrings voran. Der erste Sektor dieses Rings ist die 1985 fertiggestellte Nordumfahrung mit dem Gubristtunnel, der zweite die kürzlich eröffnete Westumfahrung (vgl. TEC21 17/2009). Während 25 Jahren erschloss also die Ringautobahn nicht Zürich, sondern die nördliche Peripherie. Zürich Nord liegt zwischen City und Flughafen, ist mit der wichtigsten Autobahnachse der Schweiz erschlossen und mit dem Bahnhof Oerlikon an den Fern- und S-Bahn-Verkehr angebunden. Bezüglich Beziehungspotenzial gibt es keinen besseren Standort in der Schweiz. Wie sieht es mit dem zweiten Faktor, dem umweltbedingten Eigenwert, aus?

Fehlende Identität

Zwischen den Katzenseen und dem Greifensee, der Glatt und Riedlandschaften und um den Hardwald als «Central Park» der Region liegen acht Gemeinden und zwei städtische Kreise, die sich von Bauerndörfern zu Subzentren entwickelt haben. Eingestreut sind Einkaufszentren, Fachmärkte für jedes Bedürfnis, Multiplexkino, Messezentrum, Sport- und Freizeitanlagen, Parks und Grünräume, Arbeitsplätze in allen Branchen, ETH-Institute und Hochschulen. Die städtischen Wohnquartiere sind durchgrünt und bestens ans Zentrum angeschlossen. Die Gemeinden liegen steuerlich im kantonalen Mittelfeld und wachsen stark, viele von ihnen haben gute Wohnlagen, zu Zeiten der Swissair Pilotenhänge genannt. Der Fluglärm ist ein grosses Thema, das aber die Entwicklung zu einem attraktiven Wohnort nicht bremsen konnte.

Die Anzahl der Arbeitsplätze entspricht ungefähr der Anzahl Menschen, die im Gebiet wohnen – das gleiche Verhältnis wie in der Kernstadt Zürich. Zürich Nord ist also nicht eine Schlafstadt, sondern ein Wirtschaftszentrum mit grossen Zupendlerströmen.3 Was dem Raum im Gegensatz zur Kernstadt fehlt, ist eine eigene Identität. Weder in Schwamendingen noch in einer der Glattal-Gemeinden würde sich ein Bewohner als «Glattaler» bezeichnen. Die Gründung des Standortmarketing-Labels «Glow. das Glattal» im Jahr 2001 konnte an diesem Umstand wenig ändern. Das Netzwerk blieb zu unverbindlich, und die einzelnen Gemeinden sind nicht bereit, zugunsten eines grösseren Ganzen ihre Eigenständigkeit einzuschränken. Näher an der Realität liegt das ebenfalls 2001 erschienene Buch «Annähernd perfekte Peripherie»4, das an der ETH erarbeitet und von Mario Campi, Franz Bucher und Mirko Zardini verfasst wurde. Die Autoren nähern sich dem Gebiet auf vielschichtige Weise, sie zeigen die Brüche, die widersprüchlichen Strukturen und die Inseln im Raum. Sie reden von einer neuen, autonomen urbanen Wirklichkeit: der Glattalstadt. Durch die Verdichtung und Beschleunigung eines weitgehend ungesteuerten Urbanisierungsprozesses wachsen die Gemeinden an der Peripherie zu einem Raum zusammen.

Agglomeration 2.0

Dieser Raum wird nun zum Pionierprojekt für die Zukunft der Agglomeration, einer Wirklichkeit, welche die Schweiz bei anhaltendem wirtschaftlichem Wachstum immer stärker prägen wird und die sich mit unabsehbaren Folgen zwischen die festgefügten Wahrnehmungsbilder von Stadt und Land zu schieben beginnt. Zaghaft nehmen Hochschulen, die Kunst und politische Instanzen in den letzten Jahren diesen Ball auf. Agglomeration ist zwar noch nicht trendy, aber immerhin Gegenstand von Fotoarbeiten von Fischli/Weiss, von Nationalfondsprojekten und Entwurfssemestern an Hochschulen. In Neu-Oerlikon ist zurzeit ein Gewerbegebäude mit dem verspielten Namen «Noerd» im Bau, das neben der Produktion der Freitag-Taschen auch Platz für kreatives Gewerbe bieten wird, und die Szenegastronomen der Gasometer AG betreiben seit diesem Jahr als erstes Lokal ausserhalb der Trendquartiere in Zürich West die Ziegelhütte in Schwamendingen. Dies sind starke erste Zeichen. Die Eröffnung der Glattalbahn könnte als Veredelung der Agglomeration zur traditionellen Stadt gesehen werden. Wo ein Tram fährt, ist nicht Dorf, sondern Quartier. Doch dies wird ein widersprüchlicher und langfristiger Prozess sein. Der neue Verkehrsträger überlagert bestehende Strukturen, schafft mit seinen Stationen häppchenweise Zentralität im Niemandsland und fördert den Trend zu Grossprojekten mit einer postmodernen, synthetischen Identität. Der Glattpark, der seinen umweltbedingten Eigenwert mit einem See steigerte, war hier nur der Anfang. Das Richti-Areal, Mittim und Integra Square in Wallisellen, der InsiderPark und die Bebauung Giessen in Dübendorf behaupten alle, neue Zentren zu sein. Es besteht die Gefahr, dass diese professionell vermarkteten Grossinvestitionen zu taubstummen, ein bisschen zu dicht geratenen Wohnsiedlungen werden, die beziehungslos im Raum stehen. Und es besteht einmal mehr die Hoffnung, dass ein nur mässig durch politische Instanzen regulierter Prozess uns mit etwas Neuem überraschen wird, dass die schiere Menge des Wachstums schliesslich doch so etwas wie Identität produziert: wohl nicht Stadt, aber vielleicht Agglomeration 2.0.

5Die Baugenossenschaft Kraftwerk 1 auf dem Zwicky-Areal

Die Totalunternehmung Senn BPM hat sich ein Teilgebiet des Zwicky-Areales in Dübendorf für die Entwicklung gesichert. Anfang 2009 lud sie über Wüest & Partner die Genossenschaft Kraftwerk1 (vgl. TEC21 42/2001) ein, sich als potenzielle Investorin am Prozess zu beteiligen. Die drei Partner erarbeiteten in der Folge die planerischen Grundlagen (das Baufeld ist Teil eines Gestaltungsplans) und führten einen Studienauftrag mit fünf eingeladenen Architekturbüros durch. Das Areal ist schwierig, lärmig und gross. Das Zürcher Büro Schneider Studer Primas gewann die Konkurrenz. Zurzeit läuft das Bewilligungsverfahren für den abgeänderten Gestaltungsplan. Der Baubeginn ist im Jahre 2012, der Bezug für das Jahr 2014 geplant.

Das circa 25 000 m² grosse Teilgebiet bietet Platz für 250 Wohnungen, Gewerbe- und Verkaufsräume. Unter Einbezug der angrenzenden – in Wohnungen und Gewerberäume umgenutzten – alten Fabrik und der benachbarten Baugebiete entsteht in den nächsten Jahren ein neues Quartier an der Grenze von Wallisellen und Dübendorf, durch dessen Mitte auf der Neugutstrasse die Glattalbahn fährt. KraftWerk1 beabsichtigt, etwa die Hälfte des Teilgebiets zu übernehmen. Weitere Flächen sollen an institutionelle Anleger und als Eigentumswohnungen verkauft werden.

Das Projekt von Schneider Studer Primas überrascht mit einer radikalen Haltung. An einem Standort, der sich auch vorstädtisch interpretieren liesse, schlagen die Architekten eine hochurbane Struktur vor, die sich an Bildern von Industriearealen orientiert. Ein Ring aus dünnen, geknickten Scheiben schirmt das Areal vom Lärm ab. Hier sind in einer flexiblen Struktur kleinere Wohnungen möglich, bei denen alle Zimmer lärmabgewandt gelüftet werden können. In den Sockeln der Scheiben gibt es zweigeschossige Hallen für Gewerbe, Wohnateliers und Grosswohnungen. Schliesslich besetzen grosse, allseitig orientierte Wohn- und Gewerbeblocks das Arealinnere.

Das Areal und das Architekturprojekt haben das Potenzial für vielschichtige Interpretationen der Arbeitenden und Wohnenden. Günstige Mieten und möglichst rohe Räume sollen einen Cluster aus Gewerbe-, Wohn- und Kulturprojekten ergeben – eine Art neu gebauter Freiraum, wie er im Raum Zürich durch die Verwertung der letzten Brachen rar geworden ist.

TEC21, Do., 2010.10.28



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2010|44 Netzstadt Glattal

27. März 2009Andreas Hofer
TEC21

Mobile kreative Nischen

Städtische Dichte erzeugt Kreativität. Das enge Nebeneinander von Kleinstunternehmen fördert spontane Zusammenarbeiten und ungeplante Lösungen. Aber eine lebendige Stadt verändert sich und baut. Das hebt die Preise und zerstört die Nischen der Kreativwirtschaft . In Zürich sollen Container kurze Pausen in diesem Zyklus nutzen, damit die Stadt nie aufhört, kreativ zu sein.

Städtische Dichte erzeugt Kreativität. Das enge Nebeneinander von Kleinstunternehmen fördert spontane Zusammenarbeiten und ungeplante Lösungen. Aber eine lebendige Stadt verändert sich und baut. Das hebt die Preise und zerstört die Nischen der Kreativwirtschaft . In Zürich sollen Container kurze Pausen in diesem Zyklus nutzen, damit die Stadt nie aufhört, kreativ zu sein.

Der Rückzug der Industrie aus den Kernstädten bestimmt seit den 1980er-Jahren die Stadtentwicklung in den westlichen Industrieländern. Plötzlich wurden riesige Gebiete zu Brachen, und es stellte sich die Frage nach ihrer künftigen Nutzung und einer planerischen Strategie. Neue Instrumente, städtebauliche Projekte, Gestaltungspläne und das Festlegen von Dichte und Nutzungen in kooperativen Prozessen lösten starre Zonenpläne und Bauvorschriften ab und brachten Dynamik in die Städte. Die Umnutzung von zentrumsnahen Industriearealen war in den meisten Fällen erfolgreich und trug wesentlich zur «Renaissance des Urbanen» bei. Seit einigen Jahren wächst zum Beispiel die Bevölkerung der Stadt Zürich nach vier Jahrzehnten der Schrumpfung wieder, und letztes Jahr feierte Winterthur den Aufstieg zur Grossstadt mit mehr als hunderttausend Einwohnern.

Deindustrialisierung und kreative Milieus

Schon während des langfristigen planerischen Prozesses wurden die Industrieareale aber als neuer Freiraum genutzt. Da in den grösseren Schweizer Städten seit Jahrzehnten eine scharfe Konkurrenz des zahlungskräftigen Dienstleistungssektors gegenüber weniger lukrativen Wohn-, Gewerbe- und kulturellen Nutzungen herrscht, ergriffen urbane Pioniere, wo immer dies möglich war, die Chance, frei werdende Industrieareale zu nutzen. Galerien und Kunsthallen, Theater- und Tanzensembles, Clubs und Bars, junge Architektur- und Gestaltungsbüros, Webdesigner und Programmierer – es gibt heute kaum eine Firma oder Institution in diesen Bereichen, die nicht als Zwischennutzung auf einem Industrieareal gegründet worden wäre.

Der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft war mehr als ein Tausch von blauen Werkstattkitteln gegen Anzug und Krawatte und ein Umzug aus der Industriehalle ins Grossraumbüro; er schuf eine neue kreative Klasse.[1] Ehemalige Industrieareale waren ihr Brutplatz. 1980 forderte die Jugendbewegung noch kulturelle Freiräume und stiess damit zunächst auf Unverständnis. Heute sind Graffiti, Technoclubs und alternative Theater- und Kunsträume selbstverständliche Bilder in jeder Standortmarketingbroschüre. Die neue Klasse veränderte die Städte. Doch es geht nicht nur um Bilder. Eine Dienstleistungsstadt, die international erfolgreich sein will, braucht ein breites kulturelles Milieu. Dieses produziert Orte, Themen und Dienstleistugen für die differenzierten Freizeitbedürfnisse der urbanen Eliten, liefert Ideen für Branding und Werbung und schafft Produkte in der Mode-, Lifestyleund Softwareindustrie.

Dass die Bedeutung des kreativen Milieus von Forschung, Wirtschaftsförderung und Planung entdeckt worden ist, markiert ihr Ankommen im normalen wirtschaftlichen Raum. Richard Florida, der das kreative Milieu zum entscheidenden Standortfaktor für den Erfolg von Städten erklärt hat und den Begriff für einen grossen Teil des Dienstleistungssektors braucht, schätzt seinen Anteil an der Gesamtwirtschaft auf bis zu 30 %. Für Zürich hat der Stadtgeograf Philipp Klaus den Begriff KIK (kreative innovative Kleinstunternehmen) ge prägt.[2] Er zählt zur Kreativwirtschaft neben Musik, Theater, Film und Kunst, Werbung, Journalismus, Marketing, Grafik und Architektur. Gemäss dieser Definition entspricht der kreative Sektor 8 % aller Arbeitsplätze. Da viele davon direkt von der Finanzdienstleistungsbranche und der wirtschaftlichen Dynamik der Stadt abhängig sind, ist die Kreativwirtschaft, zumindest kurzfristig, keine Rettung aus einer Finanzkrise. Für die Lebensqualität in der Stadt und für die langfristige wirtschaftliche Entwicklung hat sie aber grosse Bedeutung.

Nischen werden knapp

Die Wertschöpfung der Kreativwirtschaft pro Arbeitsplatz ist allerdings weniger gross als die der Finanzwirtschaft. In einer Bankenstadt wie Zürich entsteht daraus ein Platzproblem: Was als Zwischennutzung auf frei werdenden Industriearealen gewachsen ist und sie für neue Nutzungen geöffnet hat, erleidet gegenwärtig das typische Schicksal der Pioniere. Der überraschende und schnelle Erfolg der Industriearealumnutzung in Zürich West und Zürich Nord zerstört die Nischen. Grosse Hallen, die Rauheit und Offenheit der industriellen Architektur und die tiefen Mietpreise für Zwischennutzungen weichen Mischnutzungen in teuren Neubauten. Dieser Zyklus der Arealverwertung ist sozusagen normal für Städte im Kapitalismus. Speziell ist in Zürich aber die Geschwindigkeit, mit der Brachen auf Stadtgebiet verschwinden. Auch Räume, die in den letzten Jahren als Ventile dienten (Altstetten oder die Nachbargemeinde Schlieren), sind bereits Gegenstand umfassender Umstrukturierungen, andere wie Leutschenbach und Gebiete entlang der Sihl in Zürich Süd werden voraussichtlich übergangslos neu überbaut. Während die Industrie und Teile des Gewerbes in der Agglomeration Ersatz finden, würde eine Verpflanzung der Kreativwirtschaft aus der Kernstadt hinaus die Kommunikationsnetze und damit das Nervensystem der kleinteiligen, hoch kommunikativen Cluster zerstören. Wird die Blüte der Kreativwirtschaft am Mangel von temporär verfügbaren Räumen und an zu hohen Preisen scheitern und das zaghaft gewachsene Interesse daran Episode bleiben?[3]

Zwischen 2006 und 2008 erforschte das Projekt zone*imaginaire Zwischennutzungen der Kreativwirtschaft und ihre Bedürfnisse in verschiedenen Schweizer Städten.[4] Unternehmen wurden befragt, die Planungsgeschichte verschiedener Areale rekonstruiert, die Beispiele mit Erfahrungen im Ausland und dem internationalen Stand der Forschung zum Thema verglichen. zone*imaginaire postuliert, dass die Zwischennutzung von Industriebrachen nicht nur eine Übergangslösung ist, bis definitive Konzepte umgesetzt sind, sondern heute einen grundlegenden Faktor der Dynamik einer Stadt darstellt. Gerade die zeitliche Beschränkung führt zu einer Verdichtung städtischer Prozesse. Es entsteht eine Laborsituation, in der die räumlichen, zeitlichen, sozialen und finanziellen Besonderheiten optimale Bedingungen für Innovation schaffen.

Mobile Immobilien

Im Rahmen von zone*imaginaire entwickelte das Planungsbüro NRS-team aus Cham die Idee, das knapper werdende Angebot an Zwischennutzungsflächen mit temporären Bauten zu verdichten und zu ergänzen. NRS-team forscht seit längerer Zeit an modularen Strukturen und hat Gebäude aus Holz für Ausstellungen und Messen, Kindergärten und Wohnungen realisiert. Ein anderer Projektpartner von zone*imaginaire ist die Versicherungsgesellschaft Swiss Life, die im Zürcher Binzquartier mehrere Liegenschaften und Landreserven besitzt. Mit einem ehemaligen Lagerhaus hat sie bereits Erfahrungen mit Zwischen- und Umnutzungen gemacht: In die minimal umgebauten, riesigen Lagerhallen des «Supertanker» zogen zunächst kleinere Betriebe aus dem kreativen Milieu. Danach ergänzte ein zweigeschossiger Aufbau aus Holz das Raumprogramm um kleinteiligere Atelier- und Büroflächen.[5] Die auf innovative Projekte spezialisierte Immobilienfirma, die den «Supertanker» entwickelt und vermietet hat, und das NRS-team erhielten Ende 2007 von Swiss Life den Auftrag, ein modulares Bausystem zu realisieren, das als Zwischennutzung für Kleinbetriebe im kreativen Sektor auf Brachen eingesetzt werden kann. Für die Machbarkeitsstudie in Form einer Pilotsiedlung stellte Swiss Life ein verwildertes Areal in der Binz zur Verfügung. Schnell stiess das Projekt auf die beiden Grundprobleme, mit denen jede Baute auf Zeit zu kämpfen hat und an der viele Designerentwürfe mobiler Module gescheitert sind: Wie lässt sich eine temporäre Struktur in ein rechtliches System einbetten, für das Häuser immobil und dauerhaft sind? Und wie kann die erhebliche Anfangsinvestition im begrenzten zeitlichen Rahmen abgeschrieben werden? Mit einer Markteinschätzung wurden die Parameter des Projekts festgelegt. Sein Grundmodul ist ein abschliessbarer, geheizter, ans Internet angeschlossener Raum von 25 m², der weniger als 500 Franken pro Monat kostet. Die Module müssen zu grösseren Einheiten kombinierbar sein. Es braucht eine minimale sanitäre Infrastruktur. Es zeigte sich, dass die engen Kostenlimiten nur mit industriell hergestellten Containern erreichbar sind. Holzsysteme sind zu teuer und müssen bei Umplatzierungen mit grossem Aufwand teilweise zerlegt und neu zusammengefügt werden.

Baurechtlich ist die Containersiedlung ein normales Gebäude. Sie ist zonenkonform, hält Abstände und Freiraumziffer ein, ist an die städtischen Ver- und Entsorgungsnetze angeschlossen, wurde ausgesteckt, öffentlich ausgeschrieben und vom Stadtrat Ende 2008 bewilligt. Die Container sind auf ihrer Eingangsseite verglast und haben auf der Rückseite ein Fenster. Dreistöckige Stapel mit jeweils 40 Containern bilden die Grundeinheit. Das Projekt kann in Etappen bis auf maximal 200 Einheiten ausgebaut werden. Die Container stehen auf vor Ort gegossenen Betonfundamenten. Laubengänge aus herkömmlichen Baugerüstelementen erschliessen die Obergeschosse und beschatten die Südfassade. Der Innenausbau besteht aus rohen, gespachtelten Gipsplatten an Wänden und Decken sowie einer zementgebundenen Werkstoffplatte am Boden. In jedem Stapel gibt es einen Sanitärcontainer mit WC und Dusche. Um die Stapel herum darf nach dem Bau die Pioniervegetation wieder wuchern. Die Mietfläche beträgt insgesamt 5400 m².

Als kritisch erwiesen sich die Energievorschriften, die Vorschriften zum barrierefreien Bauen und der Brandschutz. Nach einem Jahr intensiver Entwicklungsarbeit erfüllt nun das Containerdorf die geltenden Gesetze auch in dieser Hinsicht. Die Container sind konventionell isoliert und mit Einzelluftwärmepumpen geheizt. Die hohen Wärmedämmstandards führen zu einer guten Schalldämmung zwischen den Einheiten und auch im Sommer zu einem angenehmen Raumklima.

Für die Wirtschaftlichkeit des Projekts ist entscheidend, dass es bei der definitiven Überbauung seines jetzigen Standorts disloziert und an weiteren Orten wieder aufgebaut werden kann, bis die technische Lebensdauer der Container erreicht ist. Kommunen und grosse Immobilienfirmen können die langfristige Verfügbarkeit von geeigneten Standorten gewährleisten. Mit der Zwischennutzung durch ein Containerdorf würden sie ihre Erträge in Entwicklungsgebieten optimieren und zusätzliches Raumangebot für die Kreativwirtschaft schaffen. Bei einem Umzug wird jeder Container auf einen Lastwagen verladen, die Betonfundamente werden ebenfalls wiederverwendet.

Neben der Lösung von technischen und finanziellen Problemen hängt der Erfolg des Projekts davon ab, ob es zu einem «Ort» mit einer kreativen Atmosphäre wird. Das Containerdorf in der Binz braucht eine Identität, damit Gemeinschaftlichkeit wachsen kann. Sie soll durch ergänzende Angebote im Gastro- und Kulturbereich entstehen. Das Projekt erhielt den Namen «Basislager», eine Website[6] und eine Theaterregisseurin als Kuratorin. Zusammen mit einem Frühstück auf dem Baugelände reichte das, um es in der Zürcher Kulturszene bekannt zu machen. Die Nachfrage nach einem Platz im Basislager nahm stetig zu. Die ersten beiden Lose mit zusammen 78 Einheiten sind vermietet. Bereits ist auch das Interesse von anderen Liegenschaftenbesitzern geweckt.

Wenn es im Betrieb funktioniert, wird das Basislager vielleicht etwas zum alten Traum der Moderne beitragen, die Immobilie ein bisschen mobiler zu machen. Auf jeden Fall schafft es willkommenen Raum in einer Stadt, in welcher der Platz für Kreativität notorisch knapp ist.


Anmerkungen
[01] Richard Florida: The Rise of the Creative Class. New York 2002
[02] Philipp Klaus: Stadt, Kultur, Innovation. Kulturwirtschaft und kreative innovative Kleinstunternehmen in der Stadt Zürich. Zürich 2006
[03] Eine Sammlung von Zwischennutzungsprojekten findet sich auf: www.zwischennutzung.net
[04] zone*imaginaire ist ein gemeinsames Projekt von verschiedenen Hochschulen, privaten Planungsfirmen, grossen Grundeigentümern und Kommunen. Es wurde vom KTI, Förderagentur für Innovation des Bundes, unterstützt (vgl. am Bau Beteiligte). www.zone-imaginaire.ch
[05] www.supertanker.ch
[06] www.basis-lager.ch

TEC21, Fr., 2009.03.27



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2009|13 Non-Finito

29. September 2008Andreas Hofer
TEC21

Der Verkehr geht, ein Quartier erwacht

Um 1930 entstand um den Bullingerplatz ein eindrückliches städtebauliches Ensemble des sozialen Wohnungsbaus. Die Eröffnung der Westumfahrung um Zürich ermöglicht eine Verkehrsreduktion, die als Chance für eine sozialverträgliche Erneuerung genutzt werden soll.

Um 1930 entstand um den Bullingerplatz ein eindrückliches städtebauliches Ensemble des sozialen Wohnungsbaus. Die Eröffnung der Westumfahrung um Zürich ermöglicht eine Verkehrsreduktion, die als Chance für eine sozialverträgliche Erneuerung genutzt werden soll.

Als Zürich um die Wende zum 20. Jahrhundert explosionsartig zur Grossstadt wurde, produzierte dies Stadträume unterschiedlichster Prägung. Die Industrie als treibende Kraft verwandelte im Westen und Norden Riedlandschaften in Fabrikareale. In ihrer Nähe siedelten die zuströmenden Arbeiterfamilien. Städtebau hiess in der Folge Massenwohnungsbau, Infrastrukturbau und Sozialpolitik. In den 1920er-Jahren löste die Tieferlegung der linksufrigen Eisenbahn in den Seebahneinschnitt umfangreiche Planungen aus. Die Stadtplanung gestaltete in der Folge die Entwicklung des Quartiers in einem heute unvorstellbaren Mass und sicherte ihre Ziele durch öffentlichen Landerwerb ab. Leitbild waren grosse Baufelder mit einer strassenbegleitenden Bebauung und durchgrünten Höfen. Ungefähr die Hälfte des Bullinger quartiers gehört heute der Stadt oder Genossenschaften. Den Endpunkt der baulichen Entwicklung markierte in den 1960er-Jahren die städtische Hochhaussiedlung Lochergut. Breite Alleen, ruhige Höfe, fast keine Produktion: Das Bullingerquartier ist eine Insel des gemeinnützigen Wohnungsbaus – allerdings eine umtoste und zerschnittene. Denn seit den 1970er-Jahren belegt die Westtangente die wichtigsten Strassen: Auf Bullinger- und Sihlfeldstrasse und über den Bullingerplatz quält sich der Verkehr in den Süden, auf der Seebahn- und der Hohlstrasse in die Gegenrichtung. Das Quartier ist heute eines der ärmsten der Stadt, hat einen der höchsten Anteile an ausländischer Wohnbevölkerung, aber ihm fehlt die multikulturelle Lebendigkeit des benachbarten Langstrassenquartiers oder des Kreises 5 jenseits des Gleisfeldes.

Verkehrsberuhigung als Chance

Die flankierenden Massnahmen zur Eröffnung der Westumfahrung von Zürich im nächsten Jahr ermöglichen einen Rückbau der Westtangente. Die Bullinger- und die Sihlfeldstrasse werden bis 2012 zu Quartierstrassen. Der (beträchtliche) innerstädtische Verkehr wird auf der Seebahnstrasse konzentriert. So stark, wie der Verkehr das Quartier stigmatisiert und seinen Charakter bestimmt hatte, wird seine Reduktion und Verlagerung an den Rand eine Entwicklungsdynamik auslösen. Die Stärke der gemeinnützigen Bauträger ermöglicht es, diese Transformation ähnlich koordiniert zu gestalten wie seinerzeit den Bau des Quartiers. Diese Chancen fallen mit Überlegungen der gemeinnützigen Bauträger über den Umgang mit ihren Beständen zusammen. Die um 1930 gebauten Siedlungen sind gut unterhalten, die Wohnungen sind aber eng und technisch veraltet. Eine umfassende Erneuerung würde das Quartier wieder für mittelständische Familien attraktiv machen, gleichzeitig aber knappen günstigen Wohnraum zerstören und soziale Verdrängungsprozesse auslösen. Wenn diese Veränderung mit Neubauten geschieht, stellen sich zusätzlich noch denkmalpflegerische Fragen. Es ist weniger die herausragende architektonische Qualität von Einzelgebäuden als die grosse städtebauliche Figur, die das Quartier wertvoll macht.

Der Ideenwettbewerb „Wie wohnen wir morgen?“

Der Schweizerische Verband für Wohnungswesen (SVW, der Verband der gemeinnützigen Wohnbauträger, Sektion Zürich) feierte im letzten Jahr gemeinsam mit der Stadt Zürich 100 Jahre Wohnbauförderung. Das Jubiläum sollte neben dem Rückblick auf eine stolze und in der Schweiz einmalige Erfolgsgeschichte auch für das Weiterdenken des gemeinnützigen Wohnungsbaus in die Zukunft genutzt werden. Ein städtebaulicher Ideenwettbewerb war die Plattform. Als Projektperimeter standen das Bullingerquartier und das Quartier Leutschenbach, ein Entwicklungsgebiet im Norden von Zürich mit einem grossen Wohnpotenzial, zur Verfügung. Die Aufgabe war breit und offen formuliert. Es ging nicht nur um architektonische Entwürfe oder die Umsetzung eines Raumprogramms, sondern um den möglichen Beitrag des gemeinnützigen Wohnungsbaus zur Entwicklung der Stadt. 40 Teams, darunter 15 aus dem Ausland, stellten sich dieser Herausforderung mit ganz unterschiedlichen Konzepten. Die Jury vergab am Schluss sechs Preise, ohne diese zu rangieren.

Im Entwicklungsgebiet Leutschenbach bot die Situation wenig Anknüpfungspunkte. Die Frage war zu offen gestellt; das verleitete zu öko-technokratischen Megastrukturfantasien. Doch die negativen Erfahrungen mit den Grossplanungen im 20. Jahrhundert wirken nach: Architektur und Städtebau haben noch keine gemeinsame Sprache gefunden. Diesem Dilemma wichen eine Reihe von Autorinnen und Autoren aus, indem sie die Frage nach dem Wohnen der Zukunft auf abstrakte, poetische Weise zu beantworten suchten. In ihren Collagen wird die Stadt zum Spannungsfeld, in dem sich das intime Wohnen und der kommunikative Austausch im öffentlichen Raum überlagern. Zwei dieser Arbeiten erhielten einen Preis. Die vier anderen Preisträger beschäftigen sich mit dem Bullingerquartier. Das bestehende Quartier erwies sich als vielversprechendes Feld für die Weiterentwicklung des gemeinnützigen Wohnungsbaus. Alle Projekte setzten beim Potenzial des absehbaren Wandels an: Die Entlastung der Strassenräume gibt dem reinen Wohnquartier Öffentlichkeit. Teilweise verblüffend ähnliche Projekte schlugen einen Transformationsprozess mit wenig baulichen Massnahmen, einer Neuinterpretation des Hof- und Strassenraums und Software – Kooperationen und Kommunikation im Quartier – vor.

Quartiervernetzung als Pilotprojekt

Erfreulicherweise hat der Ideenwettbewerb in beiden Perimetern konkrete Folgen. In Leutschenbach sprach die Stadt Zürich der für diesen Zweck neu gegründeten Baugenossenschaft «mehr als wohnen» ein Grundstück im Baurecht zu. Hier soll eine experimentelle Wohnsiedlung entstehen; zurzeit läuft der Projektwettbewerb. Im Bullingerquartier führte die Diskussion der Wettbewerbsresultate zu einer Vernetzung der Baugenossenschaften. Nach einer internen Diskussionsrunde gelangten sie an die Stadtverwaltung und schlugen Gespräche vor, um eine gemeinsame Strategie zu entwickeln. In der ersten Jahreshälfte 2008 fanden zwei Workshops statt. Die beteiligten Amtsstellen, die Genossenschaften, der Quartierverein, die Kirchgemeinden und die Schulpflege diskutierten die künftige Entwicklung. Diese Gespräche mündeten in Leitsätze für die Erneuerung des Quartiers.

Zusammen mit den Ideen des Wettbewerbs steht damit ein gut gefüllter Werkzeugkasten für die weitere Entwicklung zur Verfügung: Um den verkehrsberuhigten Bullingerplatz soll ein Zentrum für das Quartier entstehen. Kommerzielle (Café) und soziale Infrastrukturen (Spitex, Mehrzwecksaal) schaffen eine grössere Öffentlichkeit. Die gemeinnützigen Bauträger fördern die Belebung der Erdgeschosse mit Gemeinschaftsräumen, Waschsalons, Ateliers und der Ansiedlung von Klein gewerbe, Krippen und Horten. Das Fusswegnetz kann unter Einbezug der Höfe enger geknüpft werden. Einzelne Höfe übernehmen Funktionen für das ganze Quartier. Der tiefe Motorisierungsgrad soll als Chance genutzt werden: Wenn die Parkierung in bestehenden Tiefgaragen am Rand konzentriert wird, entsteht ein verkehrsarmes Quartier. Eine Machbarkeitsstudie klärt siedlungsübergreifend das Potenzial von Ersatzneubauten ab. Der Ersatz einzelner Siedlungen an immissionsbelasteten Standorten ermöglicht eine massive Steigerung der Wohnqualität und eine Ergänzung des Angebotes mit zeitgemässen Familienwohnungen und altersgerechtem Wohnraum.

Der eingeschlagene Weg verspricht eine behutsame Erneuerung und eine Aktivierung der Potenziale im öffentlichen Raum. Das Bullingerquartier als Monument des Kampfes gegen die Wohnungsnot wird durch diesen Prozess vielleicht etwas von seiner architektonischen Homogenität und Strenge verlieren, aber als Stadtquartier an Vielfalt, Attraktivität und Zukunftsfähigkeit gewinnen.

TEC21, Mo., 2008.09.29



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2008|40 Im Sog der Autobahn

12. November 2007Andreas Hofer
TEC21

Dichte statt Zwang

Was kann Architektur bei der Suche nach einer grundsätzlich nachhaltigeren Siedlungsform helfen? Andreas Hofer diskutierte die Frage mit Architekturschaffenden, die Erfahrungen mit unkonventionellen Siedlungsprojekten gemacht haben. Basis für das Gespräch bildete der Artikel «Gemeinschaftshäuser in Zürich» in diesem Heft.

Was kann Architektur bei der Suche nach einer grundsätzlich nachhaltigeren Siedlungsform helfen? Andreas Hofer diskutierte die Frage mit Architekturschaffenden, die Erfahrungen mit unkonventionellen Siedlungsprojekten gemacht haben. Basis für das Gespräch bildete der Artikel «Gemeinschaftshäuser in Zürich» in diesem Heft.

Andreas Hofer: In Zürich feiern die Wohnbaugenossenschaften das 100-Jahr-Jubiläum des gemeinnützigen Wohnungsbaus. Sie sind auch sonst in Bewegung geraten, denn ein grosser Teil ihrer Bestände muss heute erneuert werden. Das böte die Chance, nach einer grundsätzlich nachhaltigeren Siedlungsweise zu suchen. Das hiesse wohl, die Trennung von Wohnen und und Arbeiten rückgängig zu machen, die soziale Durchmischung zu fördern und zeitgemässe Formen von Gemeinschaftlichkeit zu finden, die den heutigen Bedürfnissen nach persönlicher Unabhängigkeit, Haushaltrationalisierung und sozialen Kontakten gerecht würde.
Andreas Zimmermann, Sie scheinen gern alte Wohnutopien auszugraben: Ihr Bauprojekt für die Wogeno an der Grüngasse1 radikalisiert die Idee flexibler Grundrisse aus den 1980er-Jahren. Und im Wettbewerb der Genossenschaft Sonnengarten im Triemli schlugen Sie grosse Blöcke nach Art von Godins «Familistère» im 19. Jahrhundert vor, in denen die Wohnungen auf teilweise gedeckte Innenhöfe orientiert gewesen wären.2 Wie passen die alten Typologien in die heutige Welt?
Andreas Zimmermann: Für die Genossenschaftssiedlung im Triemli versuchten wir, grosse Gemeinschaftsbereiche zu schaffen, um das Kollektiv zu fördern. An zentralen Innenhöfen und Hallen sahen wir Funktionen wie die Waschküche oder zumietbare Zimmer für Büros respektive durchgesteckte Wohnungen vor. Die Erschliessung aller Wohnungen führte über den Gemeinschaftsbereich. Doch diese architektonisch-soziale Vorstellung löste bei der Genossenschaft die Angst aus, dass ihre Mieter das gar nicht suchen und so die Höfe ungenutzt und öde bleiben könnten.
Das kleine Wogeno-Projekt an der Grüngasse entsteht auf einem zentralen, sehr engen Grundstück. Wir fragten uns einerseits, ob die üblichen Wohnungsstandards hier wirklich das Richtige wären. Zum anderen finden wir, dass die bekannten Grundrisse von, zum Beispiel, ADP oder Michael Alder mit weglassbaren Trennwänden, aber eindeutigen Tages- und Nachtbereichen, nicht flexibel genug sind für die heutigen dispersen Vorstellungen über Wohn- und Lebensformen. An der Grüngasse sind nun die Wohnungshälften (Hof- und Strassenseite, Morgen- und Abendsonne) absolut gleichwertig. Räumliche Unterteilungen werden durch verschiebbare Schrankelemente realisiert. So sind unterschiedlichste Wohnformen denkbar – ohne hohe Kosten für individuelle, massgeschneiderte Grundrisse.
Andreas Hofer: Könnte man also sagen, das Gemeinschaftliche hat seinen Ort entweder in der Grossform oder dann im Quartier, während auf der Ebene der Wohnung eine extreme Individualisierung und Flexibilisierung stattfindet?
Andreas Zimmermann: Ja, das ist möglich. Die Wohnungen im Triemli haben wir in der Tat stark definiert. Dort wäre Identität durch die spezifische Wohnung und die Teilnahme am Kollektiv entstanden. An der Grüngasse entsteht das Gemeinschaftliche anders: In der Wogeno bilden die Bewohner Hausvereine und verwalten ihre Häuser zusammen. Identität entsteht hier durch die individuelle Anpassung und Nutzung einer sehr unspezifischen Wohnung.
Andreas Hofer: Urs Primas, Sie haben mit dem «Ringling»3 mit Franziska Schneider und Jens Studer eine Grossform in Planung: einen übergrossen Wohnhof mit vielfältiger EG-Nutzung im Quartier Rütihof am Stadtrand von Zürich. Waren Überlegungen zu gemeinschaftlichen Bedürfnissen prägend?
Urs Primas: Es gibt im Ringling mehrere Ebenen von Gemeinschaftlichkeit. Es sind drei Bauträger. Wir schlugen jedoch ein einziges grosses Haus vor, um deren Zusammenarbeit zum Ausdruck zu bringen und um das Potenzial dieser koordinierten Initiative ganz auszuschöpfen. Das Quartier Rütihof ist im Lauf von 30 Jahren gewachsen und hat dabei unterschiedliche Gebäudeformen, Aussenräume und Arten von Gemeinschaftlichkeit entwickelt. Wir wollen dem eine neue Ebene hinzufügen. Unsere Grossform stellt deshalb dem dichter werdenden Quartier den Park im Innenraum zur Verfügung.
Andreas Hofer: Priska Ammann, Ihr Büro war an der Entwicklung der Genossenschaft Dreieck4 in Aussersihl beteiligt. Charakteristisch ist hier die Weiterentwicklung einer bestehenden Gebäudestruktur. Hängen die gemeinschaftlichen Wohn- und Lebensformen im Dreieck damit zusammen?
Priska Ammann: Ja, sehr stark. Denn die Ausgangslage zur Gründung und Entwicklung der Genossenschaft war nicht primär eine Wohnideologie, die Leute wollten einfach dort bleiben. Deshalb gibt es im Dreieck eine soziale Durchmischung, die neue Siedlungen nur mit Mühe erreichen: Ausländer, Junge und Alte, Intellektuelle und Arbeiter waren schon da. Es gelang, die Leute zu halten. Aus ihrer Verwurzelung im Quartier und ihrer gemeinschaftlichen Erfahrung kommt auch die Ausstrahlung des Dreiecks: Es expandiert über die Strasse, und jetzt entsteht mit der Genossenschaft Kalkbreite5 gerade eine Art Ableger ein paar hundert Meter weiter entfernt.
Die Häuser aus dem 19. Jahrhundert mit ihren Ladenlokalen und neutralen Zimmern eignen sich gut für heutiges Wohnen, wir mussten nur Bäder einbauen. Die beiden Neubauten erweitern den Wohnungsspiegel, der eine mit Gross-, der andere mit Kleinwohnungen. Zur Förderung von sozialen Kontakten ist unser Neubau über Laubengänge am gemeinsam genutzten Hof erschlossen. Das kann allerdings heikel sein! Wenn alle Leute über einen Gemeinschaftshof gehen müssen, wie in Andreas Zimmermanns «Familistère», kann das auch zu viel sein. Es sollte keinen Zwang zu Gemeinschaft geben. In unserem Neubau kann man auch ungesehen den Lift nehmen.
Andreas Hofer: Stephan Gantenbein, Sie haben vor zehn Jahren ein Bürohaus in der Nähe des Albisriederplatzes in den Grosshaushalt «Karthago»6 mit über 50 Leuten und Gemeinschaftsküche umgebaut. Ist hier der Architekt der Handwerker eines sozialen Experiments?
Stephan Gantenbein: Das finde ich schön gesagt. Ja, wir waren Handwerker für Auftrag­geber, von denen einige aus der Hausbesetzerszene am Stauffacher kamen. Sie hatten eine unheimlich starke Vision von einem gemeinschaftlichen Wohnen in Bolo’ Bolos7, Hausgevierten in der Stadt mit begrünten Dächern, eigener Energieerzeugung und Beziehungen zu biologischem Landbau ausserhalb der Stadt. Annette Spiro und ich mussten uns da einarbeiten, eine sehr schöne Erfahrung. Das Gebäude war dann ein sehr normales Bürohaus mit Warenlift und Rasterfassade. Es liegt aber in einem attraktiven Quartier. Das ist wichtig! Bei Projekten, die etwas Neues versuchen, hilft eine Lage in der funktional dichten Kernstadt.
Ein zweites Thema begann mich damals zu interessieren: Nach dem Hauskauf war das Umbauprojekt noch nicht bereit und das Geld knapp. Deshalb wurde für ein Jahr eine Zwischennutzung eingerichtet. Es entwickelte sich ein buntes Leben im Haus, mit Kultur­betrieben, Wohnen und Arbeiten unter einem Dach. Für uns Architekten war es schwierig, als sich dann bei der Projektierung herausstellte, dass hinter jedem Fenster ein vermietbares Zimmer liegen musste, damit es finanziell aufging. Während der Zwischennutzung war dank den billigen Mieten mehr Vielfalt möglich. Seither frage ich mich: Könnte man nicht generell Liegenschaften gegen Ende ihrer Lebenserwartung für zehn Jahre einer Zwischennutzung überlassen? Die Miete ist günstig, man kann selber umbauen; das macht Experimente möglich, bevor das Baugesetz, Umwelt- und feuerpolizeiliche Auflagen hohe Investitionen und Mieten verursachen.
Barbara Buser: Das frage ich mich oft. In einem Provisorium finden alle unkonventionelle Lösungen toll – die Füsschen-Badewanne mit Kerzenbeleuchtung in altem Gemäuer! Doch sobald die Leute Eigentümer werden oder das Haus eine definitive Trägerschaft erhält, steigen die Ansprüche, und man muss eine 08/15-Renovation machen mit den üblichen Bädern, Küchen usw. Wieso?
Stephan Gantenbein: Im Karthago wurde immerhin der Grosshaushalt verwirklicht. Ein Wohngemeinschaftenhaus für heute 55 BewohnerInnen mit einer gemeinsamen Gross­küche, ein Unikat für Zürich. Es sind gescheite Leute, die wissen, dass so ein Experiment auch über den Magen funktioniert, und sie achten sehr darauf, gute KöchInnen anzustellen.
Andreas Zimmermann: Und in den Wohnungen gibt es keine Küchen?
Andreas Hofer: Doch.
Andreas Zimmermann: Das ist ein wichtiger Punkt: Wenn das Kollektiv ein Zwang ist, wird es offenbar schwierig. Dass ein Koch angestellt ist und man nicht selber im Turnus kochen muss, hilft sicher. Aber manchmal möchte man vielleicht allein oder im privaten Rahmen essen. Es geht also um das Verhältnis von kollektiv und privat, Zwang und Freiwilligkeit.
Stephan Gantenbein: Ich weiss nicht mehr, wer entschied, einen Steigstrang und Tee­küchen einzubauen. Einige der Wohngruppen haben ihre Küche mittlerweile ausgebaut, vor allem für das Wochenende, wenn der Koch frei hat.

Andreas Hofer: Stephan Gantenbein betont, wie wesentlich eine starke tragende Utopie und die zentrale städtische Lage für den Erfolg von «Karthago» waren. Nun gibt es aber in jüngster Zeit Beispiele von professionellen Immobilienfirmen, die ein Projekt an einem schwierigen Standort mit Dienstleistungen und einer Art synthetischer Ideologie aufzuwerten versuchen, was durchaus Wurzeln in wohnutopischen Bewegungen hat. Das bekannteste ist «James»8, eine von Immobilienfonds der UBS finanzierte Wohnsiedlung in Zürich Albisrieden mit 180 Wohnungen. In der Portierloge bietet eine Firma als «James» Dienstleistungen für die Mieter an. Michael Geschwentner, Sie waren Projektleiter von «James» im Büro Patrick Gmür. Hat sich dieses Konzept auf die Architektur ausgewirkt?
Michael Geschwentner: Das «James»-Konzept kam erst nach dem Architekturwettbewerb hinzu. Es stammt aus einem zweiten Wettbewerb für die Vermarktungsstrategie. Es war interessant zu sehen, was die Marketingfirmen in ihrem Wettbewerb in unser Projekt hineinlasen. Wir hatten im Hochhaus eine Portierloge eingezeichnet, als Sinnbild für ein urbanes Wohnen im Geiste bekannter Vorbilder, etwa in London, wo der Portier kein Luxus, sondern eine wichtige soziale Institution ist. Wir hatten gemerkt, dass das Wohnhochhaus Bilder von Anonymisierung und Vereinsamung auslöste. Ein Portier wirkt da natürlich dagegen. Wir strebten auch bewusst eine Klientel an, die keine Angst vor Vereinsamung hat: moderne urbane Nomaden. Das «James»-Konzept stiess dann auf enormes Interesse. Wir haben dafür das EG angepasst; sonst bildet die Architektur das Konzept nicht speziell ab.
Andreas Hofer: Konsumieren denn die Mieter lediglich den angebotenen Service, oder lösst «James» auch soziale Interaktionen aus?
Michael Geschwentner: Ich wohne selber im «James». Es ist schon ein Pioniergeist spürbar. Ich bin nicht sicher, ob die Portierloge ein Treffpunkt wird, es ist keine Hotel-Lobby,
sicher aber ein Ort für informelle Begegnungen. Aber es gibt noch das Intranet mit einem ­Tablet-PC in jeder Wohnung zur Kommunikation mit den anderen Mietern. Einige haben damit bereits das ganze Hochhaus zum Apéro eingeladen, und etwa ein Drittel ist gekommen.
Andreas Zimmermann: Das könnte ein grosses Potenzial haben: ein breit akzeptiertes Medium, das niederschwellig und relativ unverbindlich die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme bietet – aber eben freiwillig und nicht als Zwang.
Stephan Gantenbein: «James» ist ja irgendwo vergleichbar mit «Kraftwerk1»9, sicher vom Volumen her. Andreas Hofer, Sie kennen «Kraftwerk1» ja gut. Wo sehen Sie den Unterschied?
Andreas Hofer: Man könnte sagen, «James» ist das «Kraftwerk1» der UBS. Was bei «Kraftwerk1» mit viel Engagement und Freiwilligenarbeit passiert, ist bei «James» ein kommer­zielles Vermietungskonzept mit Abrechnung und Löhnen. Hier zeigt sich, wie ehemals verrückte Wohnutopien normal geworden sind: Zu «Karthago» musste sich 1993 ganz Zürich in einer Volksabstimmung äussern, weil gegen einen städtischen Baurechtsvertrag ein Referendum ergriffen wurde, heute erschrecken diese Ideen niemanden mehr, im Gegenteil.
Priska Ammann: Wesentlich finde ich die Frage, ob solche Modelle mit der Zeit auf ihre Umgebung ausstrahlen oder ob sie isoliert bleiben.
Michael Geschwentner: So viel ich weiss, gibt es Überlegungen, die Dienste von «James» auch für andere Siedlungen im Quartier anzubieten.
Stephan Gantenbein: Einen Gewinn sehe ich darin, wenn Projekte wie «James» Leute in die Stadt ziehen und damit die Zersiedelung der Landschaft bremsen. Erhöhte Attraktivität städtischer Angebote scheint mir hier der einzige Erfolg versprechende Weg.

Dieter Bachmann: Die UBS und eine junge Genossenschaft stossen also in eine ähnliche Richtung. Hingegen dünkt mich, dass sich die traditionellen Genossenschaften sehr schwer tun mit Neuerungen. Sie merken zwar, dass sie alte Gewohnheiten ablegen sollten, aber es fehlt ihnen der Mut, wirklich Stellung zu gesellschaftlichen Neuerungen zu nehmen. Am Ende bauen sie einfach etwas bessere Wohnungen, als sie schon haben.
Andreas Zimmermann: Das ist doch der Punkt, wo die grossen alten Baugenossenschaften ihre Stärken ausspielen könnten! In ihrer Grösse und ihren finanziellen Möglichkeiten liegt ein riesiges Potenzial. Als sie ihre Siedlungen bauten, galt es primär, im Kampf gegen die Wohnungsnot viele einfache und günstige Wohnungen zu erstellen. Dieser Gedanke ist noch zu fest verankert. Wenn die Genossenschaften in einem Quartier stärker zusammenarbeiten würden, so wie es Mischa Badertscher Architekten im Wettbewerb «100 Jahre mehr als Wohnen» vorschlagen10, könnten sie gemeinsam Dienstleistungen und Gelegenheiten zu sozialer Interaktion anbieten, die ohne Zwang funktionieren – ganz einfach, weil die Nachfrage im Quartier gross genug ist. So wie der «James»-Service jetzt eine Ausdehnung auf das Quartier in Betracht zieht, aber auch weiter gehend . . .
Dieter Bachmann: . . . mit Implantaten. Soziale Funktionen, beispielsweise Turnhallen, in Quartiere mit sozialen Defiziten zu implantieren und so Treffpunkte zu schaffen ist ein Trick mit phantastischen Möglichkeiten.
Micheal Geschwentner: Ich finde den Ansatz gut, mehr über Nutzungen zu reden . . .
Urs Primas: . . . und über Dichte. Genossenschaften wollten einst eine Alternative zur dichten, steinernen Stadt bieten und halten noch heute an tiefer Dichte als Qualität fest. Doch tiefe und mittlere Dichten erzeugen in einem Quartier nicht genug Nachfrage, um Servicefunktionen wirtschaftlich betreiben zu können. Die ganz niedere Dichte wird für das Wohnen immer attraktiv sein, aber auch hohe Dichten könnten mit Modellen wie «James» eine Chance für Nutzungsüberlagerungen bieten und so Quartiere beleben. Beim Wettbewerb für die städtische Wohnsiedlung Werdwies stellten unsere Kollegen vom Büro Undend die vorgegebene mittlere Schweizer Ausnützung von vielleicht 1.3 mit einer hongkongesken architektonischen Gestalt in Frage. Wir schlugen dort mit dem Beitrag «Boba Fett»11 vor, die Baumasse der ganzen Siedlung in einem einzigen Baukörper zu konzentrieren, nicht zuletzt, um die für ein öffentliches Erdgeschoss notwendige kritische Masse zu erreichen.

Andreas Hofer: Dass aus einer hohen Dichte heraus eine neue Lebensqualität entstehen kann, diese Erfahrung machen wir auch im «Kraftwerk 1». Ein anderes Tabu aus der Geschichte der Genossenschaftsbewegung ist, dass sich Genossenschaften bisher nicht mit der Nutzungsmischung beschäftigt haben und mit dem Verhältnis von Wohnen und Arbeiten, das sich stark verändert. Barbara Buser, Sie entwickeln in Basel mit Ihrer Firma Kantensprung auf Industriebrachen Kultur- und Gewerbezentren wie das Gundeldinger Feld12. Welche Wege habt ihr dafür gefunden? Fördergelder gibt es dafür ja nicht. Und weshalb baut ihr kaum Wohnungen?
Barbara Buser: Das Gundeldinger Quartier ist sehr dicht bewohnt, es gab kaum öffentliche Räume und Treffpunkte. Auf dem Gundeldinger Feld konnten wir für das Quartier eine alte Fabrik in ein Gewerbe- und Kulturzentrum ausbauen. Ich würde noch so gerne dort wohnen! Aber damit das finanzierbar wäre (die Bodenpreise entsprechen der zentralen Lage), müssten wir eine einstöckige Halle durch einen vierstöckigen Wohnbau ersetzen. Nun zeigt aber die Erfahrung in Basel, dass sich Wohnen und Kultur wegen des extremen Ruhebedürfnisses der Bewohner schlicht nicht vertragen. In allen gemischten Umnutzungsprojekten in Basel hat das Wohnen die Kultur verdrängt. Deshalb haben wir entschieden, auf dem Gundeldinger Feld keine Wohnungen zu bauen. Wir verschenken damit 4500 m² Nutzfläche zugunsten des Quartiers: Heute wird das Gundeldinger Feld täglich von 1000 Leuten besucht. Wir haben das ohne Subventionen zustande gebracht. Das
Finanzierungsmodell funktioniert so: Die Investorengemeinschaft besteht aus drei Privaten und drei Pensionskassen und ist keineswegs gemeinnützig. Sie hat das Gelände gekauft und erwartet die übliche Rendite von 5 %. Hingegen verzichten wir als Baurechtnehmer auf einen Gewinn. Dadurch können wir zahlbare Mieten verlangen und schrittweise die heutigen Energievorschriften umzusetzen. Wenn man eine Form findet, mit der man auf ein paar Prozent Gewinn verzichten kann, ist Vieles plötzlich möglich.
Andreas Hofer: Sie garantieren also einem Investor eine Rendite, entwickeln die Idee zur Umnutzung und übernehmen als Architekturbüro den Umbau. Ist dieser Weg, Kapital der Pensionskassen für alternative Stadtentwicklungsprojekte zu mobilisieren, ein generell anwendbares Modell, wenn man versuchen möchte, den Siedlungsbau nicht mehr nur vom Wohnen, sondern von der Quartierentwicklung und einer stärkeren Durchmischung der Funktionen her zu denken?
Barbara Buser: Davon bin ich überzeugt. Auch langfristig. Denn es geht auch darum, das Grundeigentum zu neutralisieren, um sinnvolle oder gemeinnützige Funktionen langfristig zu sichern. In Arlesheim hat die Stiftung Edith Maryon die ehemaligen Produktionsgebäude der Weleda gekauft, und wir haben sie umgenutzt13. Jetzt zahlen dort 20 Mieter eine recht hohe Miete, denn Arlesheim ist sehr beliebt, da steuergünstig. Ein Drittel der Miete wird in einen Fonds eingezahlt, der dazu dient, den Boden abzuschreiben. In 30 Jahren sollte er abbezahlt sein – dann halbieren sich die Mieten, und die jetzige Baurechtnehmerin, die benachbarte gemeinnützige Ita Wegman Klinik, wird sehr günstig ihre Tätigkeit ausweiten können. Die jetzigen Mieter helfen also, den Bodenpreis zu amortisieren, den Grundbesitz zu neutralisieren. Dieser Weg ist aber nur auf sehr günstigen Arealen möglich, meist grossen, die schnell verkauft werden müssen oder heruntergekommen sind, auf denen aber über eine Zwischennutzung sofort eine Miete realisiert werden kann, ohne dass zuerst Planungskosten, Leerstände und Investitionen anfallen.

Andreas Hofer: Sie sind als Architektin Unternehmerin geworden. Muss man wählen zwischen Architektur und Unternehmertum? Oder eröffnet die unternehmerische Projekt­entwicklung auch Architekturbüros neue Möglichkeiten?
Barbara Buser: Die enge Zusammenarbeit von Development und Architektur ist ganz zentral. Denn all diese Projekte brauchen eine feinfühlige und bescheidene bauliche Umsetzung unter weitgehender Wiederverwendung des Bestehenden. Wir haben gemerkt, dass wir diese Arbeit eigentlich nicht vergeben können, weil andere Büros einfach zu teuer planen. Unterdessen sind wir 18 Leute im Architekturbüro. Wir wollen eigentlich nicht weiterwachsen, aber fast jede Woche kommt ein weiteres Projekt hinzu. Wir haben eine zweite Firma gegründet, die sich vor allem mit Konzeptarbeit und Projektfinanzierung beschäftigt. Aber nach unserer Erfahrung müssen Konzeptarbeit und Architektur möglichst eng gekoppelt sein, um Schnittstellen zu vermeiden, die Kosten verursachen.
Andreas Hofer: Ist unser Berufsstand fit für solche Rollenverschiebungen und unternehmerische Herausforderungen?
Dieter Bachmann: Nein, ich glaube nicht.
Barbara Buser: Ich würde sagen, überhaupt nicht! Das ist auch ein Imageproblem unseres Berufs. Die Bauherren haben Angst vor Architekten, Angst, dass sie Kosten verur­sachen, und setzen dir einen Kostenmanager vor die Nase. Aber die Architekten haben sich das selber eingebrockt, weil sie nicht gesamtheitlich denken und die Life Cicle Costs der Gebäude nicht berücksichtigen.
Priska Ammann: Aber Architektur und die wirtschaftlichen Aspekte des Immobilien-Developments – das sind doch tatsächlich verschiedene Jobs! Sie können das nun verbinden, und das schafft natürlich ganz neue Synergien und ist bewundernswert, aber es ist wohl so selten, weil es sehr schwierig ist. Machen Sie denn selber noch Achitektur?
Urs Primas: Man muss ja Architektur nicht so eng definieren. Wir stellen ja alle auch Überlegungen zu Kosten und Vermietbarkeit an. Kunden trauen uns nur oft nicht zu, dass wir auch gute Ideen zur Immobilienentwicklung haben könnten. Aber es ist ja auch klar, dass wir nicht in Aspruch nehmen dürfen, alles selber zu können.
Barbara Buser: Das muss man ja auch nicht. Aber ich meine, es bräuchte mehr Architekten, die sich in die Immobilienentwicklung einschalten. Auch wenn unsere Ausbildung an der ETH nicht alles bietet, was man dazu braucht.
Urs Primas: Ich sehe schon Anlass zur Selbstkritik: Viele von uns funktionieren über die Wettbewerbe, wo wir vorgegebene Bedingungen akzeptieren und innerhalb dieses Rahmens dann etwas verkrampft Kreativität entwickeln. Diese Beispiele aus Basel zeigen aber, dass auf der Developer-Ebene ein grosses Potenzial für Kreativität liegt.
Michael Geschwentner: Also aktiv werden, statt auf Gelegenheiten warten.
Barbara Buser: Ja, denn als Architekt sollte man das Potenzial von bestehenden Gebäuden und Arealen doch erkennen. Dieses Feld dürfen wir nicht den Ökonomen überlassen!
Dieter Bachmann: Es ist ähnlich wie beim Städtebau. Auch da haben die Architekten eines ihrer ursprünglichen Kerngebiete immer mehr abgegeben und müssen es sich jetzt zurückerobern. Einst haben Architekten sich doch viel mehr um die ganze Stadt gekümmert. Heute hält man sich am Wettbewerbsperimeter fest und lässt sich so beschneiden. Das ist eigentlich falsch.

Andreas Hofer: Wir reden aus gegebenem Anlass über die Stadt, unsere Projekte stehen meist in der Stadt, und es wurde gesagt, ein zentraler Standort sei wichtig für neue Ideen. Nun hat aber die Schweiz mit der ungebremsten Zersiedelung und dem daraus resultierenden Verkehr ein Nachhaltigkeitsproblem. Haben wir auch Ideen für ausserhalb der Stadt?
Urs Primas: Ich erwarte, dass die Mobilität weiter zunimmt und nur über neue Verkehrsmittel nachhaltiger gestaltet werden kann. Denn die Entwicklung des Individualismus, die Ruedi Weidmann in seinem Artikel sehr schön beschrieben hat, wird weitergehen und weitere Länder einbeziehen; die Mobilität gehört dazu. Ich glaube deshalb nicht – und das wäre eine Kritik an diesem Text –, dass verdichtete und multifunktionale Siedlungen in der Stadt wesentlich zur Verkehrsverminderung beitragen können. Sie sind aber in anderen Bereichen nachhaltig.
Barbara Buser: «James» versucht doch, die Dienstleistungen einer Kernstadtumgebung auch weiter draussen anzubieten. Das finde ich richtig. «Kraftwerk1» geht auch in diese Richtung, nur basierend auf viel freiwilliger Arbeit. Für diese Orte oder noch weiter draussen, wo das Leben heute nur mit dem Auto funktioniert, muss man etwas erfinden.
Andreas Hofer: Priska Ammann, Ihr Büro baut in München Riem an einem neuen Quartier14 in einer Vorstadtsituation mit. Versucht man dort, urbane Qualitäten zu erreichen?
Priska Ammann: Wir haben das in der Stadtplanung und in einem Bauprojekt versucht. In der Stadtplanung hat unser Team ein differenziertes System von öffentlichen Plätzen, halböffentlichen Höfen und grünen Ruheräumen geschaffen. Die Wohnungseingänge liegen an der Strasse oder in halböffentlichen Höfen. U-Bahn-Ausgänge, Läden und öffentliche Bauten sind strategisch positioniert, um den öffentlichen Raum zu aktivieren. Das Baurecht schliesst an Strassenkreuzungen im Erdgeschoss Wohnungen aus. Im Quartier entstehen nun Läden, Cafés und publikumsorientierte Büros. Wir glauben, dass wir damit eine Basis für ein lebendiges Quartier gelegt haben.
Beim Bauprojekt, das wir dort bearbeiten, handelt es sich um Häuser von Einzelbauherrschaften, die sich in eine Baugemeinschaft zusammengetan haben, um eine Wohnüberbauung im Gemeinschaftseigentum zu erstellen (eine Alternative zum Stockwerkeigentum und zur Genossenschaft). So entsteht schon während der Planung eine Bewohnerschaft mit sozialem Zusammenhalt. In diesem Projekt ist es allerdings nicht gelungen, Läden ins Erdgeschoss zu bringen, weil sie nicht verkauft werden können. Stattdessen entsteht nun ein Gemeinschaftsraum, der so gebaut wird, dass er als Laden eingerichtet werden kann.

Andreas Hofer: Bauen für die Menschen von heute heisst also: möglichst wenig Zwang, dafür möglichst viele Möglichkeiten. An peripheren Langen könnte ein neues Gebäude die dazu nötige Dichte sowie Dienstleistungen selber mitbringen. Und im dichten städtischen Kontext? Muss sich hier die Architektur gar nicht unbedingt um Gemeinschaftlichkeit kümmern, hingegen mit einem vielfältigen Wohnungs- und Nutzungsmix dazu beitragen, dass sozial nachhaltiges Leben auf der Quartierebene stattfinden kann?
Stephan Gantenbein: Die Ebenen Haus und Stadt hängen unmittelbar zusammen. In Neu-Oerlikon etwa sind teilweise Überbauungen entstanden, die sich zu stark an den Siedlungsformen der früheren Stadterweiterungen orientieren, mit ausschliesslich Wohnungen auf dem Erdgeschoss, was natürlich wenig zu einer belebten Strasse beiträgt.
Dieter Bachmann: Wir erleben jetzt gerade, dass im Neubauquartier Aspholz / Ruggächer15 in Zürich Affoltern der gleiche Fehler wieder gemacht wird. Bei den privaten In­vestoren fehlt das Bewusstsein für diese Fragen. Sie wollen Wohnnutzung bis ins Erdgeschoss und mögen Alternativen nicht einmal prüfen. Das ist enttäuschend.
Ich sehe, dass es zwar einzelne Visionen gibt wie «James» oder «Kraftwerk1», aber in übergeordneten stadtplanerischen Überlegungen werden solche Anstösse kaum aufgenommen. Fragen wie «Wie sind die Funktionen verteilt und vernetzt?», «Wo sollen öffentliche Plätze und Funktionen sein?» werden kaum gestellt. Hier besteht enormer Nachholbedarf.
Urs Primas: Es ist ja begreiflich, dass niemand eine Pizzeria eröffnen will in einem Quartier, in dem noch kaum Leute wohnen. Aber müsste man nicht für eine längere Perspektive planen? Brauchte es nicht strukturelle, architektonische und Vermietungskonzepte, die sich der Entwicklung der Stadt anpassen könnten?
Dieter Bachmann: Ja genau. Beispielsweise baut man heute Schulen, die ein pädagogisches Konzept wunderbar umsetzen. Aber was macht man damit, wenn sie zu gross werden? Man könnte ja auch nutzungsneutrale Gebäude entwerfen, die als Schul- oder Wohn- oder Geschäftshaus funktionieren. Solche Überlegungen sollten für die Stadtplanung selbstverständlich werden. Sie könnte etwa festlegen, dass in einem Quartier alle Erd­geschosse drei Meter hoch sein müssen, dann wird man sie immer für alles brauchen können. Solche Gedanken und Visionen fehlen mir.

[ Aufzeichnung: Ruedi Weidmann, weidmann@tec21.ch ]

TEC21, Mo., 2007.11.12



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2007|46 Siedlungsplanung

Profil

Seit 2018: Künstlerischer Leiter der IBA 2027 StadtRegion Stuttgart
2016 – 2017: Projektleiter beim Amt für Hochbauten der Stadt Zürich für die Wohnbaustrategie der Stadt Zürich
2014 – 2018: Mitglied des Stiftungsrates der Wohnbaustiftung der Stadt Baden
Seit 2008: Mitglied der Geschäftsleitung der Baugenossenschaft mehr als wohnen
2003 – 2010: Mitglied des Vorstands von wohnbaugenossenschaften zürich
1995 – 2003: Mitglied des Vorstands der Bau- und Wohngenossenschaft Kraftwerk1
Seit 1995: Partner im Planungs- und Architekturbüro Archipel
1989: Diplom als Architekt an der ETH Zürich

Lehrtätigkeit

2012 – 2018: Dozent am CAS Nachhaltiges Bauen der Fachhochschule Nordwestschweiz
2000 – 2009: Dozent für Freiraumplanung an der Hochschule für Technik Rapperswil
1994 – 2004: Tutor am Lehrstuhl für Umweltnatur- und Umweltsozialwissenschaften der ETH Zürich
1994 – 1995: Stellvertretender Dozent für Architekturgeschichte und Entwurf an der Hochschule für Technik Rapperswil

Publikationen

Katalogbeitrag: «Eine Stadt für Menschen», in: Mateo Kries, Mathias Müller, Daniel Niggli, Andreas Ruby, Ilka Ruby (Hrsg.): Together! Die neue Architektur der Gemeinschaft. Katalog zur Ausstellung im Vitra Design Museum. 2017
Mehr als Wohnen – Genossenschaftlich planen - Ein Modellfall aus Zürich Hugentobler, Margrit, Hofer, Andreas, Simmendinger, Pia (Hrsg.), Birkhäuser Verlag GmbH, 2015
Vom Gemeinschaftsraum zum Wunschtraum – zur synergetischen Partizipation der jungen Zürcher Genossenschaftsprojekte. mit Margarete von Lupin. Archithese, 2/2015
The Sulzer/SLM Site in Winterthur, Switzerland: From the Factory to the New Town – The Reinvention of the City, in: Oevermann, Mieg: Industrial Heritage Sites in Transformation, Routledge, 2015
Von der Familienwohnung zum Cluster-Grundriss. TEC21, Nr. 7, 2011

Veranstaltungen

Umfangreiche Vortragstätigkeit zu Städtebau und Wohnungsfragen im In- und Ausland

Auszeichnungen

2016 World Habitat Award für das Hunziker Areal der Wohngenossenschaft mehr als wohnen

Wettbewerbe

Wettbewerbsbeitrag für eine Schweizerische Landesausstellung in der Ostschweiz 2027 «EXPLO» zusammen mit Paolo Bianchi, Walter Eckermann, Agnès Laube und Suzanne Pellaux. Engere Auswahl von 6 Projekten, 2015

7 | 6 | 5 | 4 | 3 | 2 | 1