Details

Adresse
Saatlenfussweg 3, 8050 Zürich, Schweiz
Architektur
Christian Kerez
Bauherrschaft
Stadt Zürich
Tragwerksplanung / Stahlbau
dsp
Landschaftsarchitektur
4D Landschaftsarchitekten
örtliche Bauaufsicht
BGS & Partner
Kunst am Bau
Olivier Mosset
Fotografie
Hans Ege
Weitere Konsulent:innen
Akkustik: Martin Lienhard, Langenbruck, CH
Fassadenplanung: GKP Fassadentechnik, Aadorf, CH
Maßnahme
Neubau
Funktion
Bildung
Wettbewerb
2002
Ausführung
2005 - 2009

Ausführende Firmen

Baumeisterarbeiten: Barizzi Bau, Bertschikon, CH

Preise und Auszeichnungen

Publikationen

Archfoto

Genereller introtext zu Archfoto der von nextroom geschrieben wird.

Presseschau

08. Februar 2025Marius Huber
Neue Zürcher Zeitung

Der Architekt eines als Luxusbau verschrienen Zürcher Schulhauses sagt: «Ich würde alles noch einmal genau gleich machen»

Das Zürcher Schulhaus Leutschenbach ist nicht zum ersten Mal in den Schlagzeilen – zu Unrecht, findet Christian Kerez.

Das Zürcher Schulhaus Leutschenbach ist nicht zum ersten Mal in den Schlagzeilen – zu Unrecht, findet Christian Kerez.

Für den Architekten Christian Kerez muss es sich unangenehm vertraut anfühlen, wie das Aufplatzen einer alten Wunde. Das spektakuläre Zürcher Schulhaus Leutschenbach mit der Turnhalle auf dem Dach, eröffnet vor 15 Jahren, wird regelmässig als Beispiel herangezogen, wenn die Stadt Zürich für ihre Bauten kritisiert wird. Ein effekthaschender Luxusbau sei das, Kunst um der Kunst willen, viel zu teuer. Diese Vorwürfe wiederholen sich jetzt erneut auf allen Kanälen, weil bekanntgeworden ist, dass das Schulhaus im Sommer wegen Lärmproblemen nachgebessert werden musste.

Herr Kerez, wenn Sie noch einmal zurückkönnten: Was würden Sie am Schulhaus Leutschenbach anders machen?

Ich schaue es mir immer noch sehr gerne an, es ist grosszügig und abwechslungsreich. Ich würde alles noch einmal genau gleich machen.

Obwohl Sie dadurch im Ruf stehen, einer zu sein, der zu teuer baut und primär auf Architekturpreise aus ist?

Diese Kritik kommt meist von Leuten, die das Schulhaus nie von innen gesehen und erlebt haben. Viel wichtiger sind mir die Reaktionen der Direktbetroffenen.

Wenn Sie die Kritik wirklich kaltliesse, sässen wir kaum hier.

Ich möchte einiges klarstellen. Von den 64 Millionen Franken Anlagekosten, von denen immer geschrieben wird, sind lediglich 40,5 Millionen reine Gebäudekosten. Ich will mich gegen das schlechte Image dieses Schulhauses wehren – auch im Namen der Schüler, die dort einen wichtigen Abschnitt ihres Lebens verbringen und stolz sind auf ihre Schule.

Den Schülern macht doch gar niemand einen Vorwurf.

Aber als Schüler identifiziert man sich mit seiner Schule. Darum ist es wichtig, dass Schulhäuser unterschiedlich aussehen und eine eigene Persönlichkeit haben. Die Fussballmannschaft aus dem Leutschenbach hat die besondere Form ihres Schulhauses auf den Trikots abgebildet – das bedeutet mir mehr als mancher Architekturpreis.

Was sagen Sie zum Vorwurf der eitlen Spektakelarchitektur: Ist es nicht ein Fakt, dass es auch viel einfacher ginge?

Wir haben den Wettbewerb damals nicht gewonnen, weil wir ein Spektakel boten. Sondern weil wir Platz für einen öffentlichen Park gewonnen haben, indem wir in die Höhe bauten.

Auch in die Höhe bauen kann man konventioneller – ohne komplexe Statik aus dem Brückenbau und schwebende Geschosse.

Bauen ist nirgends so teuer wie in der Schweiz, und, ja, auch das Schulhaus Leutschenbach war teuer. Aber der Schein trügt. Viele halten es für teurer, als es war, weil die Fachwerkbauweise aus Stahl im Schulhausbau ungewohnt ist. Im Brückenbau, wo sie herkommt, wird sie angewandt, um Kosten zu sparen. Aber im zwinglianischen Zürich ist etwas gleich verdächtig, wenn es aus dem Rahmen fällt.

Pro Kubikmeter war das Schulhaus zu seiner Zeit eines der teureren.

Das ist richtig. Aber das liegt daran, dass es eine extrem kompakte Anlage mit sparsamen Grundrissen ist. Die Kosten pro Klassenzimmer liegen leicht unter dem Durchschnitt der Schulhäuser jener Zeit.

Allerdings heisst es unter Architekten heute, dass sich seit dem Leutschenbach kaum noch jemand traue, im Schulhausbau Experimente zu wagen. Ohne Grund wurde es kaum zur Zäsur.

Ich dachte damals, dass ich die Tür öffne für andere, die Experimente wagen. Tatsächlich hat das Leutschenbach kaum zu Veränderungen geführt. Es gab allerdings einen Wandel, der ausgelöst wurde durch eine politisch motivierte Polemik, dass die öffentliche Hand zu teuer baue. Als Folge davon hat man den Schulhausbau privatisiert. Und was ist passiert? Die teuerste Schulhausanlage in der Stadt Zürich ist die ZHdK, die Hochschule der Künste. Der Kanton ist dort nur Mieter der Allreal. Diese Schule hat 550 Millionen Franken Baukosten verschlungen. 550 Millionen! Aber kaum jemand spricht darüber.

Warum überhaupt Experimente? Was spricht dagegen, einen Zweckbau nach bewährtem Muster zu erstellen?

Weil Vielfalt wichtig ist. Ein Experiment muss auch nicht teuer sein. Man kann anders bauen und trotzdem billig. Ich baue mit meinem Büro zurzeit 450 Wohnungen in Südamerika – jede davon kostet weniger als 35 000 Franken.

Ein Experiment bedeutet doch per definitionem mehr Unwägbarkeit, auch finanziell. Dass ausgefallene Bauten teurer werden als geplant, ist die Regel. Auch bei Ihnen hat sich die Bauzeit damals verlängert.

Ich habe als junger Architekt einen Fehler gemacht: Wir haben den Kostenvoranschlag unter politischem Druck linear um 5 Prozent gekürzt. Wir dachten, wir könnten nicht nur alles besser, sondern auch etwas billiger machen. Das war ein Irrtum, diese freiwilligen Kürzungen haben uns am Ende gefehlt.

Sind sich Baukünstler nicht einfach zu schade dafür, auch einmal einen Entwurf abzuliefern, der nicht alles neu erfindet?

Ich beobachte etwas anderes: Wettbewerbe schränken heute den Spielraum von Architekten so stark ein, dass sich die verschiedenen Projekte kaum noch unterscheiden. Vielleicht braucht es in Zukunft gar keine Architekten mehr, weil eine KI die strengen Vorgaben besser umsetzen kann.

Abgesehen von einem tollen Motiv fürs Fussballtrikot: Was haben Kinder und die Lehrer davon, wenn ihnen der Staat eine Architektur-Ikone als Schulhaus hinstellt?

In diesem Schulhaus gibt es ganz viele unterschiedliche Räume. Eine reichhaltige räumliche Organisation, die dank der Stahlkonstruktion sehr direkt umgesetzt werden konnte.

Man wird den Verdacht nicht los, dass am Anfang der Wunsch des Architekten stand, diese aufregende Konstruktion zu errichten. Und alles andere musste sich dann danach richten, bis hin zur kühlen Materialisierung aus Stahl, Beton und Industrieglas.

Überhaupt nicht, die erste Idee war der Aussenplatz. Wir wollen nicht wie alle anderen hier eine Turnhalle und da die Klassenzimmer hinstellen, deshalb stapelten wir alles aufeinander. Daraus ergab sich die Frage, wie man den Weg von unten nach oben ansprechend gestaltet. So kamen wir auf die Organisation der Räume. Und erst daraus ergaben sich die Statik und das Material.

Was wussten Sie über die Bedürfnisse von Kindern, als Sie das Haus entworfen haben?

Sehr viel! Der spätere Schulleiter und ein Vertreter des pädagogischen Dienstes waren Teil der Wettbewerbsjury. Und in einer zweiten Phase konnten sich auch Lehrer mit ihren Wünschen einbringen. Dieses Projekt habe ich nicht im Alleingang entwickelt. Darum wehre ich mich gegen den Vorwurf, es sei mir nur um die Architektur gegangen. Die Auszeichnungen bekam das Gebäude später auch deshalb, weil es im Schulhausbau damals als vorbildlich galt. Unter anderem wegen der grossen Gemeinschaftszonen und der guten Nutzung vom Tageslicht.

Pädagogische Fachleute sind das eine, die Perspektive von Kindern ist etwas anderes. Wie kommen Sie darauf, dass sich Kinder leere Räume aus Stahl, Beton und Industrieglas wünschen?

Als Architekt bereite ich nur die Bühne, auf der sich die Kinder ausdrücken können – Farbe und Reichtum bringen diese selbst rein. Meine Architektur ist bewusst karg, aus Respekt vor den Nutzern.

Auch zu den fehlenden Nischen sagten Sie einmal, dass die Kinder sich diese selbst erkämpfen müssten. Eine seltsam harte Haltung.

Ich erinnere mich an meine eigene Kindheit. Das Erlebnis dieser weiten Pausenplätze ohne Versteckmöglichkeiten war grossartig. Gleichzeitig hat man als Kind stets auch Nischen gefunden und sich in diesen exponierten Räumen eingerichtet. Die verborgenen Nischen, die die Lehrer nicht kannten, haben uns mehr interessiert als jene, die von den Lehrern für uns eingerichtet wurden. Auch das will ich als Architekt nicht vorwegnehmen.

Das neue Zürcher Kinderspital von Herzog & de Meuron sorgt mit einem ganz anderen Ansatz für Aufsehen: Es will Geborgenheit vermitteln und setzt auf viel Holz, auf Pflanzen und auf Nischen.

Das finde ich wunderbar – ich war übrigens Teil der Jury. Aber es ist ein Spital, das ist etwas anderes. Wobei ich nicht ausschliessen will, dass man im Schulhausbau auch einen solchen Weg gehen kann.

Wenn Architekten wegen der Polemik ums Leutschenbach wirklich ängstlicher geworden sind und sich weniger trauen: Warum sind dann die neuesten Zürcher Schulhäuser noch teurer geworden?

Wenigstens sehen diese Schulen billig aus, dann muss sich ja niemand mehr drüber ärgern. (Lacht.) Architekten müssen immer mehr und aufwendigere gesetzliche Auflagen erfüllen. Ob es nun um Materialien geht, um Energieeffizienz oder Befindlichkeiten – es ist verrückt. Das treibt die Kosten in die Höhe und führt dazu, dass sich heutige Schulhäuser kaum noch voneinander unterscheiden.

Man könnte auch hier günstiger bauen, das hat zum Beispiel die private Zurich International School mit ihrem Campus gezeigt.

Der Architekt Marc Angélil hat für diese private Bauherrschaft viel weniger Auflagen erfüllen müssen. Diese Schule hat etwa kein Minergie-Label.

Könnte es daran liegen, dass diese Schule im Gegensatz zur Stadt Zürich im Leutschenbach nicht ein Zeichen für herausragende Baukultur setzen wollte?

Nein, noch einmal: Das Leutschenbach mag teuer aussehen, aber kostenmässig ist es ein durchschnittliches Schulhaus.

Sollte man angesichts stark schwankender Schülerzahlen nicht konsequent auf modulare, erweiterbare Schulen setzen statt auf in sich geschlossene Bildungstempel?

In einem Zürcher Schulmodul kostet ein Klassenzimmer fast gleich viel wie in einem Neubau. Die Kosten senkt man so also kaum. Und schauen Sie nach Frankreich: Dort hat man extrem günstig gebaut, alles vorfabriziert. Bei den Unruhen in den Banlieues wurden diese Schulen angezündet, weil sie als Ausdruck der Hoffnungslosigkeit wahrgenommen werden. Das kann man dem Leutschenbach und der Stadt Zürich nicht vorwerfen.

Warum haben Sie eigentlich nach dem Leutschenbach nie mehr ein Schulhaus gebaut?

Das klingt angesichts der schlechten Presse zurzeit vielleicht seltsam, aber ich habe damals jahrelang all meine Energie in dieses Projekt investiert. Danach fand ich, dass ich für mich das bestmögliche Schulhaus gebaut habe. Da braucht es kein zweites mehr.

24. Januar 2025Marius Huber
Neue Zürcher Zeitung

Zürichs berühmtestes Schulhaus ist ein Traum für Architekten, aber bewährte sich im Alltag nicht. Darum musste die Stadt teuer nachbessern

(SUBTITLE) Wände aus Industrieglas, ein ästhetisches Reinheitsideal und ein Lärmproblem – ein Musterfall für falsche Prioritätensetzung.

Es ist nicht so, dass diese Entlarvung der Zürcher Eitelkeit unvermeidlich gewesen wäre. Denn es gab rund um den Bau des Zürcher Schulhauses Leutschenbach...

Es ist nicht so, dass diese Entlarvung der Zürcher Eitelkeit unvermeidlich gewesen wäre. Denn es gab rund um den Bau des Zürcher Schulhauses Leutschenbach...

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Genial oder banal?

Das neue Schulhaus Leutschenbach spaltet die Architekturkritiker. Sechs kontroverse Meinungen zum Bau von Christian Kerez.

Das neue Schulhaus Leutschenbach spaltet die Architekturkritiker. Sechs kontroverse Meinungen zum Bau von Christian Kerez.

Es ist das zweitgrösste Schulhaus der Stadt Zürich und von der Kindergärtlerin bis zum Sekschüler gehen hier alle ein und aus. Der Bau dauerte ein Jahr länger als vorgesehen. Die Erscheinung ist für ein Schulhaus so ungewöhnlich, dass sie polarisieren muss. Seit August ist das Schulhaus Leutschenbach nun in Betrieb und Hochparterres Redaktorinnen und Redaktoren besichtigten es mit dem Architekten Christian Kerez.

Die Heiligsprechung des Banalen

Ivo Bösch: Die Jury traute dem Entwurf von Christian Kerez nicht zu, dass er baubar ist. Im Wettbewerb aus dem Jahr 2003 liess sie zwei Projekte überarbeiten. Zwar gefielen damals die Zonen zwischen den Schulzimmern. Doch dieser Bereich war Fluchtweg, also nicht nutzbar. Erst nach der Überarbeitung schlug Kerez die Fluchtbalkone vor. Der Feuerpolizist entwarf also beträchtlich mit. Eine Turnhalle auf dem Dach, eine Doppeltreppe, aneinander gereihte, hohe Schulzimmer und eine stützenfreie Fassade im Erdgeschoss: Mehr steckt nicht im Entwurf. Der Kern des Projekts ist die Konstruktion.

Das Haus steht nur auf sechs Dreifachstützen. Für den Handstand auf dem kleinen Finger scheute der Architekt keine Kosten. Doch bestimmte der Bauingenieur, wo welche Querschnitte welche Lasten tragen. Was Kerez mit dem kompakten Entwurf gewinnt, verliert er mit dieser Konstruktion. Obwohl beim Ausbau gespart wurde und obwohl es die zweitgrösste Schule der Stadt Zürich ist, ist der Bau im Kubikmetervergleich (BKP 1– 9: CHF 1108.–/m3, Stand August 2009) eines der teuersten Schulhäuser. Schon die Jury schrieb nach der ersten Stufe: «Die durch die kompakte Gebäudeform gegebene Ausgangslage für eine günstige Ökonomie wird durch zu erwartende erhöhte konstruktive Aufwendungen gemindert.» Dass diese Aufwendungen so gross werden und der Ausbau so leiden musste, konnte sie nicht voraussehen: Wände aus Industrieglas, in den Schulgeschossen Kunststeinplatten am Boden, sichtbare PE-Abwasserleitungen. Alles wirkt banal, Kerez würde es reduziert nennen. Glück für ihn, dass das Schulhaus in Schwamendingen steht und die Stadt endlich ein Signal für die Quartierentwicklung neben der Kehrichtverbrennungsanlage setzen musste.

Alles schrumpft

Roderick Hönig: 1994 stellte Pipilotti Rist im Kunstmuseum St. Gallen zwei überdimensionale Fernsehsessel neben eine meterhohe Stehlampe. Wer versuchte, die gigantischen, kaum handhabbaren Möbel zu besteigen, lernte physisch seine Lektion in Raumwahrnehmung. Die drei ungewöhnlich hohen Klassenzimmergeschosse erinnern an Rists Installation. Nur ists im Schulhaus Leutschenbach umgekehrt: Die Räume sind überdurchschnittlich hoch — satte 3,6 Meter, das Minimum schreibt 3 Meter vor. Die Überhöhe verleiht weiten Atem und Grosszügigkeit und lässt, wie in Rists Arbeit, Schülerin und Lehrer auf Kindergrösse «schrumpfen ». Die Architektur stellt so die Machtverhältnisse im Schulhaus in Frage, sie demokratisiert Subjekt und Objekt. Kerez sichert mit seinen überhohen Klassenzimmern und Pausenhallen aber auch die Souveränität seines Werks. Die Überhöhe sorgt dafür, dass Möblierung und Raum kaum in ein Verhältnis treten und dass man nicht plötzlich vor lauter Schulmöbel und farbigem Kinderleben Kerez’ «architecture brut» nicht mehr sieht. Elegant ist, dass der eitle Wunsch nach Wahrung der Reinheit der eigenen Architektur nicht auf Kosten der Nutzer geht — im Gegenteil: Die überdurchschnittliche Raumhöhe ist die Attraktion und Qualität des Schulhauses. Der Luxus, bezahlt auf Kosten des Ausbaus.

Die Paulista-Schule

Axel Simon: Wo ist da die Angemessenheit? Und was ist mit den hohen Kosten? Spätere Erweiterungsmöglichkeiten? Es gibt Bauwerke, an denen perlen solche Fragen ab. Radikalität imprägniert sie zum Manifest. In Leutschenbach steht man vor einem solchen, schaut einfach nur, blöd vor Staunen. Hier liegt Zürich nicht in der Schweiz, sondern am Rande São Paulos. Sicher, Kerez’ Konstruktionen sind komplizierter als diejenigen von Artigas, Bo Bardi oder Mendes da Rocha, die hiesigen Anforderungen sind es sowieso. Die räumliche Idee jedoch ist ähnlich: eine weite Landschaft rundum, die sich im Inneren widerspiegelt, sowie ein Raum, der mit zunehmender Schwere des Hauses an Leichtigkeit gewinnt. Die eidgenössische Komplexität der scheinbar einfachen Struktur überspielt der Architekt, indem er sich jede Oberflächengüte versagt. Der sichtbaren Stapelung der Etagen entsprechen der sichtbar gegossene Beton, der sichtbar geschweisste Stahl, das sichtbar gefügte Gussglas. Die Rohheit des Materials und der immense Raum machen aus der Schule eine Werkstatt, einen Ort, an dem man ohne die Bürde des Perfekten schaffen, sich ausbreiten, auf dem Trottinette durchjagen kann. Keine gebeugten Rücken, keine Schulkrüppel! Diese Forderung, die der spätere Bauhausdirektor Hannes Meyer 1926 seinem konstruktivistischen Petersschul-Entwurf beilegte, könnte auch auf den Leutschenbacher Beton gesprüht stehen — als Kunst am Bau versteht sich.

Ein starkes Stück

Werner Huber: Wie ein Equilibrist steht das Schulhaus auf der Wiese am Rand von Leutschenbach, scheint unter Hochspannung zu sein. Es berührt den Boden kaum, die Tragstruktur balanciert die Lasten der aufeinandergetürmten Nutzungen ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Die gleiche Spannung ist im Innern zu spüren, auch wenn die Fachwerkträger nicht immer zu sehen sind und es nicht auf Anhieb klar ist, wie die Statik überhaupt funktioniert. Kräfte werden über Umwege spazieren geführt, bevor sie den Boden erreichen. Es wäre einfacher gegangen. Ein paar Stützen hier und da diskret platziert — wer würde den Unterschied schon sehen? Kaum jemand, doch spüren würde man ihn bestimmt.

Der Architekt ist seinen Weg konsequent gegangen und hat alles seinem Konzept untergeordnet. Das ist seine grosse Leistung. Die Betonoberflächen sind nicht perfekt, der Ausbau ist karg, konstruktive Ausnahmen gibt es zuhauf. An irgendeinem anderen Bau würde man das beklagen, hier ist das sekundär. Kerez hat die richtigen Prioritäten gesetzt. Nur im Erdgeschoss musste das Konzept vor der Nutzung zurücktreten — und prompt ist
es daneben geraten: Nie und nimmer dürfte es verglast sein.

Republikanisch geschärft

Benedikt Loderer: Zwei Gründe, warum ich das Schulhaus Leutschenbach gut finde: Es ist republikanisch und es ist geschärft. In Schwamendingen leben viele jener Leute, denen man eine bildungsferne Herkunft nachsagt und die ihre Kinder nicht vor allem zum Lernen anstacheln. Für sie baute die Stadt Zürich ein republikanisches Schulhaus. Es ist ein Versprechen. Nie, sagt die Stadt, werden wir vom Prinzip der allgemeinen und obligatorischen Volksschule abweichen. Wir wollen weder Kloster-, noch Koran- oder Eliteschulen. Vor der Schule ist jedes Kind gleich und wir geben keines auf. Wir bilden sie zu Zürchern. Wir bauen Integrationsschulen. Dort, wo die Kinder am schwierigsten sind, machen wir nicht weniger, sondern mehr. Wir sparen nicht an den Bedürftigen. Gut genug gibt es nicht, wo es ein Mehr braucht. Das Schulhaus repräsentiert den Bildungsanspruch der Stadt. Dieses republikanische Schul- und Selbstverständnis strahlt das neue Schulhaus aus. Das Konzept ist einfach: Kerez stapelt. Er setzt die Nutzungen nicht neben-, sondern schichtet sie übereinander. Den Rest des Grundstücks lässt er frei. Das Konzept überzeugte im Wettbewerb, doch dann begann die Arbeit. Es nahm die Hürden der Feuerpolizei, bewältigte das gerade geltende pädagogische Programm, überwand die Schwierigkeiten seiner eigenen Statik, besiegte den Kostendruck, kurz, es wurde verwirklicht.

Selbstverständlich sieht es heute anders aus als im Wettbewerb — aber nicht verwässert, sondern geschärft. Kerez ist einer der wenigen Architekten, die Konzessionen machen können, ohne Schaden an ihrem architektonischen Konzept zu nehmen. Er ist nicht stur, er ist nur konsequent. Er weiss: Wer alles verteidigt, verteidigt nichts. Und er weiss, was er aufgeben kann, um das zu behalten, was er unbedingt haben will. Selektives Wichtignehmen heisst diese Schärfungskunst. Kerez ist ein Meister darin.

Die Konsequenzen der Konsequenz

Rahel Marti: Christian Kerez will konsequente Architektur schaffen. Er kämpft für die Reinheit der einen, einfachen Idee. Offenbar gelang es ihm, die Beteiligten für diese heroische Haltung zu gewinnen. Kerez stapelt, der Park soll frei bleiben. Er baut Glaswände, dazwischen soll Raum zum Lernen entstehen. Er will ein klares und rohes Schulhaus, in dem sich Schülerinnen und Lehrer entfalten. Paradoxerweise braucht es dafür ein komplexes Tragwerk und Bauarbeiten, die ein Jahr länger dauerten als geplant. Was aussieht wie eine strukturalistische Höchstleistung, ist eine Reihung von Ausnahmen und Kompromissen. Um etwa den Park ins Haus fliessen zu lassen — und dies bildlich, denn in der Tat gibt es ja eine Glasfassade —, ist das Gebäude an einer komplexen Fachwerkkonstruktion aufgehängt. Um die Reinheit dieser statischen Idee zu belassen, nimmt der Architekt verschiedenste Fachwerkdimensionen und damit verschiedenste Deckenfelder in Kauf, was zu zahllosen konstruktiven Anpassungen führt. Um den freien Grundriss in den Treppenhallen zu ermöglichen, sind breite, umlaufende Fluchtbalkone nötig. Damit hier keine Kinder herumrennen, werden sich Lehrerinnen und Lehrer Regeln ausdenken müssen. Um die Transluzenz des Industrieglases nicht zu stören, sind an den Wänden der Schulzimmer und der Turngarderoben nicht metallene Kleiderhaken montiert, sondern kleine, ab - bruchgefährdete Plastikhaken aufgeklebt. Die Konsequenz reicht soweit, dass Kerez auch Massnahmen durchsetzt, die mit pädagogischen Zielen nichts mehr zu tun haben. Etwa, dass keine Leuchten, dass nichts von den hohen Decken hängen darf, was aufwändige Betoneinlegearbeiten erforderte. Man wird sehen, denn nun muss sich das aussergewöhnliche Schulhaus bewähren. Sonst war die reine Idee architektonischer Selbstzweck und der Preis dafür hoch.



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