Editorial
Neues aus Bern
In Bern ist etwas los. Grund genug für die Edition Hochparterre bei Scheidegger & Spiess, in diesen Tagen einen Architekturführer herauszugeben: «Bern baut». Und sein Autor Werner Huber schreibt die Titelgeschichte zu diesem Heft. Der markante Neubau des Historischen Museums von :mlzd Architekten, die Baustelle für die 310 Meter lange Kehrichtverwertungsanlage von Graber Pulver Architekten, der tief schürfende Umbruch im Wankdorf-Quartier, das noch immer werdende Brünnen: Eine Stadt ist in Bewegung. Das ist die eine, die erfreuliche Nachricht aus Bern. Die andere, die weniger glanzvolle, betrifft die «Stadtbauten Bern», die Institution, die das Baugeschehen lenkt. Unter anderem entzog sie Ralph Bänziger, dem Architekten des Feuer wehrstützpunktes Forsthaus West, den Auftrag, den er per Wettbewerb gewonnen und schon weit entwickelt hatte. Ivo Bösch kommentiert die Geschichte. Hochparterre ging auf Schulreise nach Zürich-Leutschenbach. Christian Kerez zeigte uns sein Schulhaus. Der Bau spaltete unsere Meinungen. So entschieden wir uns, dass jede und jeder seine Kritik schreibe. Wir freuen uns, wenn Sie sich unserer Debatte anschliessen und uns Ihre Meinung zum Schulhaus schreiben. Am 28. November organisieren wir übrigens für alle Leserinnen und Leser eine Schulhausreise nach Leutschenbach. Im April kündete der Möbelhändler Pfister an, mit Alfredo Häberli eine Kollektion mit Schweizer Designerinnen und Designern zu entwickeln. Ein Ruck ging durch die Szene. Die Entwürfe hält Pfister geheim, doch nun ist klar, wer an der Kollektion mitarbeiten wird: viele von Rang und Namen ebenso wie junge Talente. Meret Ernst hat sich bei Pfister erkundigt und in der Szene umgehört. Wer bei Hochparterre arbeitet, hat alle drei Jahre zwei Monate bezahlten Bildungsurlaub zu gut. Diesen Herbst sind Benedikt Loderer und Roderick Hönig unterwegs. Als ihre Stellvertreter begrüssen wir Axel Simon, den Architekturjournalisten, und Philipp Maurer, den Planer, Politiker und bis vor Kurzem Geschäftsleiter des Schweizer Heimatschutzes, auf der Redaktion.
Rahel Marti
Inhalt
06 Meinungen
08 Funde
11 Sitten und Bräuche
17 b -Ausweis
Titelgeschichte
18 Der Berner Bär erweitert seinen Horizont
Exemplarisch stehen Brünnen, Weissenstein, Hardegg und das Historische Museum für die neue Dynamik der Bundesstadt.
30 Design: Gecko lernt laufen. Ein Wettbewerb zeigt Projekte mit dem klebenden Texil.
32 Architektur: Hightech im Hochgebirge. Die neue Monte Rosa-Hütte von ETH und SAC
36 Architektur: «Das ist einfach leben». Ein Gespräch mit dem Architekten und Umweltgestalter Eduard Neuenschwander.
38 Design: schneller schaffen. Multi Space im Grossraumbüro soll für Wohlbefinden und Produktivität sorgen.
42 Architektur: Genial oder Banal? Sechs Meinungen zum umstrittenen Schulhaus Leutschenbach.
48 Design: Mit Geduld und Kontakt. Welche Rolle spielt das Internet beim Karrierestart der Designer?
50 Architektur: Ausgleich über den Atlantik. Ein Besuch bei fünf Architekturbüros in Kalifornien.
54 Design: Idee rüttelt Szene auf. Pfister holt sich Schweizer Designer ins Haus.
60 Leute
64 Siebensachen
66 Bücher
70 Fin de Chantier
76 Raumtraum
Der Berner Bär erweitert seinen Horizont
Bern, die gemächliche Beamtenstadt? Das war einmal. Eindrückliche Neubauten zeigen eine Dynamik, die die Bundesstadt zu einem Ziel für Architekturtouristen macht.
Paris ist der Eiffelturm, London der Big Ben, New York die Skyline. Und Bern? Bern ist die Altstadt in der Aareschlaufe. Von keiner anderen Schweizer Stadt machen wir uns ein so klares Bild. Selbst Bern Tourismus hat die Aareschlaufe in ihr Logo aufgenommen. Einzigartig und prächtig ist das Unesco-Weltkulturerbe — aber ist es nicht auch etwas langweilig, etwas gar gemütlich? Tatsächlich scheint in der Berner Altstadt, die auch Einkaufs- und Geschäftsstadt ist, kaum je Hektik aufzukommen. Nicht einmal an den Samstagen vor Weihnachten, wenn die ganze Stadt samt Agglomeration am «Rohren» ist, die Lauben rauf- und runterströmt. Liegt das am sprichwörtlichen Berner Charakter? Vielleicht. Doch selbst ungestüme Zürcher werden hier schnell gebremst: Platz zum Überholen gibt es in den engen Lauben nicht; die Gemächlichen geben das Tempo vor. Ganz anders geht es am Bahnhof zu und her, dem einzigen Ort, wo Bern Grossstadt ist. Hier, am Ende der Spitalgasse, ist das Ventil, an dem der Druck der geschäftigen Altstadtgassen Richtung Westen entweicht — und sogleich verpufft.
Denn wenn Bernerinnen und Berner «Stadt» sagen, dann meinen sie die Altstadt, und wenn sie dort einkaufen gehen, bewegen sie sich zwischen Bahnhofplatz und Zytglogge. Selbst durchaus städtische Quartiere, wie die Länggasse oberhalb des Bahnhofs oder der Breitenrain jenseits der Kornhausbrücke, gelten in der Berner Wahrnehmung nicht wirklich als Stadt. Auch aus der «Länggyge» oder dem «Breitsch» geht man «in die Stadt» und meint damit die Altstadt. Wohnen tun hier allerdings keine 4000 Seelen mehr.
Der Blick weitet sich
Zwei Neubauten haben in den letzten Jahren den Blick aus der Altstadt an den Stadtrand gelenkt: das «Zentrum Paul Klee» siehe HP 8 / 05 und das Freizeit- und Einkaufszentrum «Westside» siehe HP 1–2 / 09. Dieses ist der Magnet des neuen Stadtteils Brünnen, in dem Wohnraum für 2600 Bernerinnen und Berner entsteht, ein Stück Stadt mit klar definierten Strassen- und Platzräumen und mit Projekten aus unterschiedlichen Büros, erstellt für unterschiedliche Bauträger. Die ersten Konturen kann man heute besichtigen, doch für eine Bilanz ist es noch zu früh. Die Neubauten brauchen Zeit, um mit ihrer Umgebung zu verwachsen. Neue Ausrufezeichen stehen auch im Zentrum, die jüngsten sind eben erst fertig geworden: der Bärenpark, der am 25. Oktober eingeweiht wird, und der Annexbau des Historischen Museums siehe Seite 24. Zahlreiche neu gestaltete Strassen und Plätze — Bundesplatz, Casinoplatz, Bahnhofplatz — geben Orte, die einst vom Auto beherrscht waren, den Menschen zurück. Man mag sich darüber streiten, ob das Kleezentrum an der Autobahn draussen wirklich am richtigen Ort steht und ob «Westside» trotz idealem Bahn-, Bus- und bald auch Tramanschluss eben nicht doch mehr Autoverkehr erzeugt. Beiden ist es jedoch innerhalb kurzer Zeit gelungen, den Horizont der Stadt beträchtlich zu erweitern — nicht nur bei den Auswärtigen, sondern auch bei den Einheimischen. Huldigt das eine der Kultur, frönt das andere dem Kommerz, beides sind Architekturikonen geworden. Sie stehen nicht allein. Mehr über das «neue Bern» gibts in Hochparterres Architekturführer «Bern baut», der ab Ende Oktober im Buchhandel erhältlich ist. Rund 130 000 Menschen wohnen in der Stadt Bern.
Ihnen stehen 150 000 Arbeitsplätze gegenüber. «Das bedeutet nicht nur den Verkehr von täglich 70 000 Zupendlern, sondern auch hohe Belastungen für Berns Rolle als Zentrum, denen keine entsprechenden Steuereinnahmen gegenüber stehen », unterstreicht Regula Buchmüller, die Leiterin der Abteilung Stadtentwicklung. Die Stadt will dieses Verhältnis ändern und strebt eine Einwohnerzahl von 140 000 an — 1962 lag sie noch bei 165 768. Seit den Neunzigerjahren steht der Wohnungsbau zuoberst auf der Prioritätenliste der Stadtentwicklung. In eigener Regie kann die Stadt nur wenig bauen. Als der alte Staat Bern 1852 unter dem Kanton, der Stadt und der Burgergemeinde aufgeteilt wurde, erhielt die Stadt vor allem die Bauten, die Burgergemeinde hingegen das Land. Diese tritt denn auch bei etlichen Projekten als Baurechtsgeberin auf.
Mehr Genossenschaftsbauten
Untervertreten ist in Bern der gemeinnützige Wohnungsbau. Im «roten Zürich» und im «roten Biel» förderten die sozialdemokratischen Mehrheiten in den Zwanziger- und Dreissigerjahren den kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsbau. Ein «rotes Bern» gab es damals nicht. Heute ist immerhin ein Drittel der Wohnungen, die in den letzten acht Jahren entstanden, genossenschaftlich. Der Turnaround bei der Bevölkerungsentwicklung ist jedenfalls gelungen. Nach fast vierzig Jahren Rückgang ist die Einwohnerzahl seit Anfang des Jahrzehnts fast jedes Jahr gestiegen.hochparterre, Mo., 2009.10.12
12. Oktober 2009 Werner Huber
Genial oder banal?
Das neue Schulhaus Leutschenbach spaltet die Architekturkritiker. Sechs kontroverse Meinungen zum Bau von Christian Kerez.
Es ist das zweitgrösste Schulhaus der Stadt Zürich und von der Kindergärtlerin bis zum Sekschüler gehen hier alle ein und aus. Der Bau dauerte ein Jahr länger als vorgesehen. Die Erscheinung ist für ein Schulhaus so ungewöhnlich, dass sie polarisieren muss. Seit August ist das Schulhaus Leutschenbach nun in Betrieb und Hochparterres Redaktorinnen und Redaktoren besichtigten es mit dem Architekten Christian Kerez.
Die Heiligsprechung des Banalen
Ivo Bösch: Die Jury traute dem Entwurf von Christian Kerez nicht zu, dass er baubar ist. Im Wettbewerb aus dem Jahr 2003 liess sie zwei Projekte überarbeiten. Zwar gefielen damals die Zonen zwischen den Schulzimmern. Doch dieser Bereich war Fluchtweg, also nicht nutzbar. Erst nach der Überarbeitung schlug Kerez die Fluchtbalkone vor. Der Feuerpolizist entwarf also beträchtlich mit. Eine Turnhalle auf dem Dach, eine Doppeltreppe, aneinander gereihte, hohe Schulzimmer und eine stützenfreie Fassade im Erdgeschoss: Mehr steckt nicht im Entwurf. Der Kern des Projekts ist die Konstruktion.
Das Haus steht nur auf sechs Dreifachstützen. Für den Handstand auf dem kleinen Finger scheute der Architekt keine Kosten. Doch bestimmte der Bauingenieur, wo welche Querschnitte welche Lasten tragen. Was Kerez mit dem kompakten Entwurf gewinnt, verliert er mit dieser Konstruktion. Obwohl beim Ausbau gespart wurde und obwohl es die zweitgrösste Schule der Stadt Zürich ist, ist der Bau im Kubikmetervergleich (BKP 1– 9: CHF 1108.–/m3, Stand August 2009) eines der teuersten Schulhäuser. Schon die Jury schrieb nach der ersten Stufe: «Die durch die kompakte Gebäudeform gegebene Ausgangslage für eine günstige Ökonomie wird durch zu erwartende erhöhte konstruktive Aufwendungen gemindert.» Dass diese Aufwendungen so gross werden und der Ausbau so leiden musste, konnte sie nicht voraussehen: Wände aus Industrieglas, in den Schulgeschossen Kunststeinplatten am Boden, sichtbare PE-Abwasserleitungen. Alles wirkt banal, Kerez würde es reduziert nennen. Glück für ihn, dass das Schulhaus in Schwamendingen steht und die Stadt endlich ein Signal für die Quartierentwicklung neben der Kehrichtverbrennungsanlage setzen musste.
Alles schrumpft
Roderick Hönig: 1994 stellte Pipilotti Rist im Kunstmuseum St. Gallen zwei überdimensionale Fernsehsessel neben eine meterhohe Stehlampe. Wer versuchte, die gigantischen, kaum handhabbaren Möbel zu besteigen, lernte physisch seine Lektion in Raumwahrnehmung. Die drei ungewöhnlich hohen Klassenzimmergeschosse erinnern an Rists Installation. Nur ists im Schulhaus Leutschenbach umgekehrt: Die Räume sind überdurchschnittlich hoch — satte 3,6 Meter, das Minimum schreibt 3 Meter vor. Die Überhöhe verleiht weiten Atem und Grosszügigkeit und lässt, wie in Rists Arbeit, Schülerin und Lehrer auf Kindergrösse «schrumpfen ». Die Architektur stellt so die Machtverhältnisse im Schulhaus in Frage, sie demokratisiert Subjekt und Objekt. Kerez sichert mit seinen überhohen Klassenzimmern und Pausenhallen aber auch die Souveränität seines Werks. Die Überhöhe sorgt dafür, dass Möblierung und Raum kaum in ein Verhältnis treten und dass man nicht plötzlich vor lauter Schulmöbel und farbigem Kinderleben Kerez’ «architecture brut» nicht mehr sieht. Elegant ist, dass der eitle Wunsch nach Wahrung der Reinheit der eigenen Architektur nicht auf Kosten der Nutzer geht — im Gegenteil: Die überdurchschnittliche Raumhöhe ist die Attraktion und Qualität des Schulhauses. Der Luxus, bezahlt auf Kosten des Ausbaus.
Die Paulista-Schule
Axel Simon: Wo ist da die Angemessenheit? Und was ist mit den hohen Kosten? Spätere Erweiterungsmöglichkeiten? Es gibt Bauwerke, an denen perlen solche Fragen ab. Radikalität imprägniert sie zum Manifest. In Leutschenbach steht man vor einem solchen, schaut einfach nur, blöd vor Staunen. Hier liegt Zürich nicht in der Schweiz, sondern am Rande São Paulos. Sicher, Kerez’ Konstruktionen sind komplizierter als diejenigen von Artigas, Bo Bardi oder Mendes da Rocha, die hiesigen Anforderungen sind es sowieso. Die räumliche Idee jedoch ist ähnlich: eine weite Landschaft rundum, die sich im Inneren widerspiegelt, sowie ein Raum, der mit zunehmender Schwere des Hauses an Leichtigkeit gewinnt. Die eidgenössische Komplexität der scheinbar einfachen Struktur überspielt der Architekt, indem er sich jede Oberflächengüte versagt. Der sichtbaren Stapelung der Etagen entsprechen der sichtbar gegossene Beton, der sichtbar geschweisste Stahl, das sichtbar gefügte Gussglas. Die Rohheit des Materials und der immense Raum machen aus der Schule eine Werkstatt, einen Ort, an dem man ohne die Bürde des Perfekten schaffen, sich ausbreiten, auf dem Trottinette durchjagen kann. Keine gebeugten Rücken, keine Schulkrüppel! Diese Forderung, die der spätere Bauhausdirektor Hannes Meyer 1926 seinem konstruktivistischen Petersschul-Entwurf beilegte, könnte auch auf den Leutschenbacher Beton gesprüht stehen — als Kunst am Bau versteht sich.
Ein starkes Stück
Werner Huber: Wie ein Equilibrist steht das Schulhaus auf der Wiese am Rand von Leutschenbach, scheint unter Hochspannung zu sein. Es berührt den Boden kaum, die Tragstruktur balanciert die Lasten der aufeinandergetürmten Nutzungen ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Die gleiche Spannung ist im Innern zu spüren, auch wenn die Fachwerkträger nicht immer zu sehen sind und es nicht auf Anhieb klar ist, wie die Statik überhaupt funktioniert. Kräfte werden über Umwege spazieren geführt, bevor sie den Boden erreichen. Es wäre einfacher gegangen. Ein paar Stützen hier und da diskret platziert — wer würde den Unterschied schon sehen? Kaum jemand, doch spüren würde man ihn bestimmt.
Der Architekt ist seinen Weg konsequent gegangen und hat alles seinem Konzept untergeordnet. Das ist seine grosse Leistung. Die Betonoberflächen sind nicht perfekt, der Ausbau ist karg, konstruktive Ausnahmen gibt es zuhauf. An irgendeinem anderen Bau würde man das beklagen, hier ist das sekundär. Kerez hat die richtigen Prioritäten gesetzt. Nur im Erdgeschoss musste das Konzept vor der Nutzung zurücktreten — und prompt ist
es daneben geraten: Nie und nimmer dürfte es verglast sein.
Republikanisch geschärft
Benedikt Loderer: Zwei Gründe, warum ich das Schulhaus Leutschenbach gut finde: Es ist republikanisch und es ist geschärft. In Schwamendingen leben viele jener Leute, denen man eine bildungsferne Herkunft nachsagt und die ihre Kinder nicht vor allem zum Lernen anstacheln. Für sie baute die Stadt Zürich ein republikanisches Schulhaus. Es ist ein Versprechen. Nie, sagt die Stadt, werden wir vom Prinzip der allgemeinen und obligatorischen Volksschule abweichen. Wir wollen weder Kloster-, noch Koran- oder Eliteschulen. Vor der Schule ist jedes Kind gleich und wir geben keines auf. Wir bilden sie zu Zürchern. Wir bauen Integrationsschulen. Dort, wo die Kinder am schwierigsten sind, machen wir nicht weniger, sondern mehr. Wir sparen nicht an den Bedürftigen. Gut genug gibt es nicht, wo es ein Mehr braucht. Das Schulhaus repräsentiert den Bildungsanspruch der Stadt. Dieses republikanische Schul- und Selbstverständnis strahlt das neue Schulhaus aus. Das Konzept ist einfach: Kerez stapelt. Er setzt die Nutzungen nicht neben-, sondern schichtet sie übereinander. Den Rest des Grundstücks lässt er frei. Das Konzept überzeugte im Wettbewerb, doch dann begann die Arbeit. Es nahm die Hürden der Feuerpolizei, bewältigte das gerade geltende pädagogische Programm, überwand die Schwierigkeiten seiner eigenen Statik, besiegte den Kostendruck, kurz, es wurde verwirklicht.
Selbstverständlich sieht es heute anders aus als im Wettbewerb — aber nicht verwässert, sondern geschärft. Kerez ist einer der wenigen Architekten, die Konzessionen machen können, ohne Schaden an ihrem architektonischen Konzept zu nehmen. Er ist nicht stur, er ist nur konsequent. Er weiss: Wer alles verteidigt, verteidigt nichts. Und er weiss, was er aufgeben kann, um das zu behalten, was er unbedingt haben will. Selektives Wichtignehmen heisst diese Schärfungskunst. Kerez ist ein Meister darin.
Die Konsequenzen der Konsequenz
Rahel Marti: Christian Kerez will konsequente Architektur schaffen. Er kämpft für die Reinheit der einen, einfachen Idee. Offenbar gelang es ihm, die Beteiligten für diese heroische Haltung zu gewinnen. Kerez stapelt, der Park soll frei bleiben. Er baut Glaswände, dazwischen soll Raum zum Lernen entstehen. Er will ein klares und rohes Schulhaus, in dem sich Schülerinnen und Lehrer entfalten. Paradoxerweise braucht es dafür ein komplexes Tragwerk und Bauarbeiten, die ein Jahr länger dauerten als geplant. Was aussieht wie eine strukturalistische Höchstleistung, ist eine Reihung von Ausnahmen und Kompromissen. Um etwa den Park ins Haus fliessen zu lassen — und dies bildlich, denn in der Tat gibt es ja eine Glasfassade —, ist das Gebäude an einer komplexen Fachwerkkonstruktion aufgehängt. Um die Reinheit dieser statischen Idee zu belassen, nimmt der Architekt verschiedenste Fachwerkdimensionen und damit verschiedenste Deckenfelder in Kauf, was zu zahllosen konstruktiven Anpassungen führt. Um den freien Grundriss in den Treppenhallen zu ermöglichen, sind breite, umlaufende Fluchtbalkone nötig. Damit hier keine Kinder herumrennen, werden sich Lehrerinnen und Lehrer Regeln ausdenken müssen. Um die Transluzenz des Industrieglases nicht zu stören, sind an den Wänden der Schulzimmer und der Turngarderoben nicht metallene Kleiderhaken montiert, sondern kleine, ab - bruchgefährdete Plastikhaken aufgeklebt. Die Konsequenz reicht soweit, dass Kerez auch Massnahmen durchsetzt, die mit pädagogischen Zielen nichts mehr zu tun haben. Etwa, dass keine Leuchten, dass nichts von den hohen Decken hängen darf, was aufwändige Betoneinlegearbeiten erforderte. Man wird sehen, denn nun muss sich das aussergewöhnliche Schulhaus bewähren. Sonst war die reine Idee architektonischer Selbstzweck und der Preis dafür hoch.hochparterre, Mo., 2009.10.12
12. Oktober 2009 Ivo Bösch, Roderick Hönig, Axel Simon, Werner Huber, Benedikt Loderer, Rahel Marti
verknüpfte Bauwerke
Schulanlage Leutschenbach
Mietwohnung in der Reihe
Die beiden Mehrfamilienhäuser in Aesch wurden im Frühling 2009 fertig. Sie wirken aber nicht neu. Keine Insignien ordnen sie der landläufig modernen Architektur zu. Auf der kleinen Strasse zwischen den Häusern macht sich entspannter Alltag breit. Gartenmöbel aller Couleur warten auf den gemütlich gekachelten Terrassen; hier weht ein gehäkelter Vorhang durch ein offenes Küchenfenster, dort blühen Geranien an einem Gitter. Normalität. «Der Neubau fügt sich selbstverständlich in die umgebung ein.» Wie viele Architekturen machen den Satz zur Floskel. Bei dieser Überbauung kann man ihn gelten lassen. Für Frische sorgt die kräftige Fuchsia-Farbe des Aussenputzes, sein marmoriertes Muster dagegen wirkt etwas altbacken. Feinsinnig ist die soziale Gliederung der Häuser und Wohnungen. Die kleine Strasse hat einen Zug ins Öffentliche. Denn Loggien, Terrassen, Gärten und alle Eingänge säumen sie. Wer kommt und geht, muss auf diese Strasse treten; direkte Lifte aus der Tiefgarage gibt es nicht. Jede Erdgeschosswohnung hat ihren Weg, jede Obergeschosswohnung ihre Treppe. Reihenhäuser in Soho oder Brooklyn sind die Referenzen. Jede Wohnungstür ist eine Haustür. Davor liegt ein geschützter Eingang zum Schlüsselsuchen, dahinter ein Entree zum Schlüsselablegen. Es folgen ein kleiner Vorbereich, eine Küche, ein grosses Wohn- und Esszimmer, alle zur Stras se gerichtet. Dann trennt eine Wand quer durch die Häuser den hinteren Zimmerbereich ab, der zur Welt für sich wird. um die zulässige Fassadenlänge einzuhalten, sind die Zimmer ineinandergeschoben und bilden einen Kranz. Eine Konstellation, die an grossbürgerliche Wohnungen erinnert, was die detailreiche Ausführung der Türen und Fensterfelder aus Holz unterstreicht. Aus der architektonischen und finanziellen Enge des Mietwohnungsbaus holten die Basler Architekten eine hohe Raum-, Material- und Ausführungsqualität heraus. und aus den beiden Typen Geschosswohnung und Reihenhaus mischten sie ein neues Wohngefühl.hochparterre, Mo., 2009.10.12
12. Oktober 2009 Rahel Marti