Übersicht

Texte

28. Juni 2019Daniela Dietsche
Lukas Denzler
TEC21

«Eine Periodizität gibt es nicht»

Der Bereichsleiter Naturgefahren und Schutzbauten beim Bündner Amt für Wald und Naturgefahren, spricht über den Bergsturz von Bondo, die Herausforderungen bei der Gefahren­beurteilung und die Lehren, die man aus dem Ereignis gezogen hat.

Der Bereichsleiter Naturgefahren und Schutzbauten beim Bündner Amt für Wald und Naturgefahren, spricht über den Bergsturz von Bondo, die Herausforderungen bei der Gefahren­beurteilung und die Lehren, die man aus dem Ereignis gezogen hat.

TEC21: Herr Wilhelm, wo waren Sie am 23. August 2017? Was waren Ihre ersten Gedanken, als Sie vom Bergsturz in Bondo erfahren haben?
Christian Wilhelm: Ich war mit der Fachgruppe Naturgefahren im Wallis. Es war ein ungewöhnlich schöner Tag: Sonnenschein und blauer Himmel in der ganzen Schweiz. Dann vernahm ich von meinen Mitarbeitern, der Cengalo sei gekommen. Ich bin direkt nach Chur gefahren. Als ich ins Sitzungszimmer kam, liefen schon die ersten Filme. Sie zeigten einen trockenen Schuttstrom, der Bondo erreicht und die ersten Gebäude zerstört hatte. Es war unglaublich. Ich bin umgehend ins Bergell gereist, um mich mit unserem Spezialisten vor Ort abzustimmen. Am ersten Abend sprach die Kantonspolizei von 14 Vermissten. Eine Gruppe tauchte glücklicherweise am nächsten Tag in Italien auf. Acht Alpinisten werden leider heute noch vermisst.

TEC21: Hat Sie das Ereignis überrascht?
Christian Wilhelm: Vom unmittelbaren Schuttstrom und den Murgängen ohne Niederschläge waren wir alle sehr überrascht. Beim Cengalo gingen wir hingegen davon aus, dass sich ein Abbruch in den kommenden Wochen und Monaten ereignen kann. Darauf deuteten die letzten Messergebnisse zu den Felsbewegungen aus der Ferne vom Sommer 2017 hin. Zwei Tage vor dem Bergsturz ereignete sich ein Felssturz aus der Nordwestflanke. Dieser Sturz war nicht überraschend. Der Ausbruchbereich war sehr aufgelöst, und das wurde auch erkannt. Bis zu diesem Zeitpunkt war es ähnlich abgelaufen wie in den Vorjahren.

TEC21: Der fatale Bergsturz löste sich dann aber aus der Nordostflanke. Ohne Vorwarnung?
Christian Wilhelm: Ja, der schlagartige Ausbruch von rund 3 Mio. m3 kam sehr überraschend. In der Regel kündigen sich grosse Bergstürze mit Vorabbrüchen an. Das war hier nicht der Fall. Wir diskutierten nachher über unseren Blick auf den Cengalo. Es war, als wäre der Berg wie ein Zug unterwegs. Wir sahen ihn über die Jahre, aber er erhöhte plötzlich sein Tempo. Von unserer Position aus und aufgrund der uns zur Verfügung stehenden Informationen haben wir dies so nicht wahrgenommen.

TEC21: In neun Tagen lagerten sich in Bondo rund 500 000 m³ Material ab. Sind Ihnen ähnliche Ereignisse aus der Schweiz bekannt?
Christian Wilhelm: 2002 gab es infolge starker Unwetter im ganzen Kanton zahlreiche Murgänge. Die grössten brachten in fünf bis sieben Schüben ca. 50 000 bis 70 000 m³ Material. In Bondo sprechen wir von einer anderen Grössenordnung. Etwas Vergleichbares habe ich 2005 in Guttannen im Berner Oberland gesehen. Auch dort stiessen Kubaturen bis 500 000 m³ in den Talboden vor, allerdings nach Starkniederschlägen. Solche Erosionsgräben hatte ich bis dahin noch nie gesehen. Damals habe ich realisiert, dass die Situation im Hochgebirge sensibler geworden ist.

TEC21: Was hatte in Bondo Priorität, nachdem die ersten Tage überstanden waren?
Christian Wilhelm: Zunächst ist es wichtig, dass man sich gegenseitig unterstützt und die Chaosphase gemeinsam bewältigt. Unsere Spezialisten waren vor allem mit der Gefahrenbeurteilung beauftragt. Die Bedrohung war ja immer noch da. Wir mussten die Arbeiter bei den Räumarbeiten schützen. Um längere Vorwarn­zeiten zu haben und auch während der Nacht arbeiten zu können, überwachten wir den Cengalo mit einer permanenten Radaranlage. Auch das zerstörte Frühwarnsystem musste schnell wieder auf- und ausgebaut werden.

TEC21: In welchem finanziellen Rahmen liegt das Frühwarnsystem in Bondo?
Christian Wilhelm: Das bewegt sich bei etwa 250 000 Fr. pro Jahr. 80 Prozent der Kosten tragen Bund und Kanton, den Rest teilen sich die Gemeinde und das kantonale Tiefbauamt. Wir benötigen dieses Frühwarnsystem, weil wir die entscheidenden Faktoren, die nach einem Bergsturz einen Schuttstrom auslösen – so wie in Bondo geschehen –, noch nicht kennen. Und ein erneuter Bergsturz ist nicht auszuschliessen. Zudem kann das Auffangbecken im Extremfall gar nicht das ganze Material aufnehmen.

TEC21: Wie hoch sind die Kosten der Frühwarnsysteme im ganzen Kanton im Vergleich zu den Investitionen in Schutzbauten?
Christian Wilhelm: Für klassische Bauten zum Schutz vor Lawinen, Rutschungen und Steinschlag sowie den Bachverbau investieren Bund, Kanton, Gemeinden und Nutzniesser insgesamt etwa 20 bis 22 Mio. Fr. pro Jahr. Für Wasserbauprojekte kommen noch einmal 6 bis 8 Mio. Fr. dazu. Der Unterhalt und Betrieb der Frühwarnsysteme beläuft sich auf etwa eine halbe Million Franken. Doch diese Aufwendungen nehmen eindeutig zu. Wenn moderne Technolo­gien wie Radar und Webcams zur Verfügung stehen, möchte man sie auch nutzen. Das bringt neue Möglichkeiten, schafft aber auch Abhängigkeiten.

TEC21: In Bondo sind die baulichen Schutzmassnahmen erst wieder provisorisch erstellt. Was sind die ­nächsten Schritte?
Christian Wilhelm: Das Auffangbecken ist geräumt, die Dämme wurden erhöht. Jetzt geht es darum, das definitive Schutzbautenprojekt auszuarbeiten. Die Gefahrenbeurteilung haben wir zusammen mit Ingenieur­büros durchgeführt. Für das Bauprojekt ist die Abteilung Wasserbau zuständig. Der Baubeginn ist für 2021 vorgesehen. Sobald die neuen Schutzbauten erstellt sind, werden das Frühwarnsystem angepasst und die ver­bleibende Gefährdung in Bondo durch die Gefahrenkommission neu beurteilt. Diese Abstimmung bezeichnen wir als integrales Risikomanagement.

TEC21: Welche Schwierigkeiten bereitete die Gefahren­beurteilung?
Christian Wilhelm: Für die Erstellung der Gefahrenkarte ­«Wasser» für den jetzigen Zustand waren die Eingangsgrössen teils nur schwer abschätzbar. Für die Eintretenswahrscheinlichkeit nicht periodischer Ereignisse mussten auch Annahmen getroffen werden. Zudem führten mögliche Ereignisverket­tun­gen zu einer Vielzahl von Szenarien. Bei Bergstürzen muss man Abschätzungen und Annahmen mit sehr grossen Unsicherheiten treffen. Eine Periodizität am gleichen Berg ist unwahrscheinlich. Das klassische Gefahren- und Risikokonzept stösst deshalb an Grenzen. ­Grundlegend bei diesem Konzept ist, dass ein Gefahren­prozess beziehungsweise eine bestimmte Risikokonstellation wiederkehrend auftritt und dementsprechend Häufigkeiten be­ziehungsweise Wahrscheinlichkeiten abgeleitet werden können.

TEC21: Seit dem Bergsturz sind fast zwei Jahre vergangen. Hat der Kanton Korrekturen vorgenommen?
Christian Wilhelm: Solche Grossereignisse liefern immer neue Erkenntnisse. Im Nachgang haben wir beispiels­weise geprüft, ob die Aufgaben richtig verteilt sind, und uns die Frage gestellt, wo wir die Gemeinden noch besser unterstützen können. Das tun wir vor allem mit der Ausbildung von lokalen Natur­gefah­ren­be­ratern. Zudem werden in den Gemeinden vermehrt Notfallplanungen erarbeitet. Dieser sogenannte organisatorische Teil ist wichtiger geworden. Sehr bewährt hat sich die Expertengruppe, die wir un­mittelbar nach dem Ereignis eingesetzt haben.

TEC21: Ist es eine Option, der Natur Raum zurückzugeben?
Christian Wilhelm: Ja, das ist ein wichtiger Teil heutiger Schutzkonzepte. In Bondo wurden einzelne Gebäude, die getroffen wurden, nicht wieder aufgebaut. Gemeinde, Gebäudeversicherung und Dienststellen von Bund und Kanton haben hier gemeinsam gute Lösungen gefunden. Somit steht mehr Raum für das Schutzbautenkonzept, aber auch für die Natur zur Verfügung.

TEC21: Die Polizei hat nach den Ereignissen in Bondo ­Ermittlungen aufgenommen. Was ist der Stand der laufenden Untersuchung?
Christian Wilhelm: Kommt es bei einem Naturgefahrenereignis zu Todesfällen, so wird von Amts wegen eine Untersuchung eingeleitet. Dies bot uns die Gelegenheit, die Arbeiten der letzten Jahre umfassend zu dokumentieren. Darin haben wir unter anderem dargelegt, was wir als kantonale Fachstelle zu welchem Zeitpunkt wussten und was nicht. Die Dokumentation ist derzeit bei der Staatsanwaltschaft. Diese entscheidet auch, ob sie ein Verfahren eröffnet oder die Untersuchung einstellt.1

TEC21: Wo zeichnen sich die nächsten Herausforderungen im Bereich Naturgefahren im Kanton ab?
Christian Wilhelm: Momentan beschäftigt uns eine Rutschung in Brienz im Albulatal sehr. Betroffen sind auch die Kantonsstrasse und die RhB-Linie zwischen Tiefencastel und Filisur. Mit Bohrungen klären wir derzeit ab, wie tief die Rutschflächen liegen. Brienz droht nicht nur abzurutschen, es ist auch durch eine ­Sackung oberhalb des Dorfs bedroht. Die Situation wird seit einiger Zeit ebenfalls permanent überwacht. Die Gemeinde und der Kanton bereiten sich auf verschiedenste Szenarien vor.

TEC21, Fr., 2019.06.28



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2019|25-26 Wenn der Berg kommt

07. Juni 2019Daniela Dietsche
TEC21

Ästhetik versus Nutzen

Das Viadukt Mühle Rickenbach bei Wil SG wurde 1964 nach Plänen von Christian Menn gebaut. Bis 2020 wird die Spannbetonbrücke ­instand gesetzt, verstärkt und verbreitert.

Das Viadukt Mühle Rickenbach bei Wil SG wurde 1964 nach Plänen von Christian Menn gebaut. Bis 2020 wird die Spannbetonbrücke ­instand gesetzt, verstärkt und verbreitert.

Eine Spannbetonbrücke, Korrosionsschäden, eine Instandsetzung. Nahe der Autobahnausfahrt Wil SG überquert das Viadukt Mühle Rickenbach Strassen und Gewässer. Auf den ersten Blick nichts Überraschendes, und doch fällt im Anfangssatz des technischen Berichts auf, dass der Planer der Brücke namentlich genannt ist: Das Viadukt wurde 1964 nach Plänen von Prof. Dr. Ch. Menn gebaut, heisst es dort. Es war damit eines seiner frühesten Werke.

«Die Konstruktion ist sehr schlank und elegant und zeigt die typische materialsparende Bauweise der damaligen Zeit», sagt Sandro De Luca, Projektleiter und Oberbauleiter des Kantons St. Gallen.

Tragende Teile verstärken

Eine umfangreiche Untersuchung im Jahr 2012 zeigte den schlechten Zustand der Brücke. Vor allem in die Gerbergelenke drang chloridhaltiges Wasser ein, was zu Bewehrungskorrosion und infolgedessen zu Betonabplatzungen führte. Das Viadukt muss dringend ­instand gestellt werden. Das sah auch Christian Menn so. In einem Interview mit TEC21 sagte er einmal: «Ein Eingriff in ein Bauwerk wird dann notwendig, wenn die Funktionalität nicht mehr gewährleistet ist – sei es aufgrund der Geometrie, der ungenügenden Trag­sicherheit oder von Mängeln mit Schadenfolgen.»1

Wichtigste Vorgabe bei der aktuellen Instandsetzung in Wil: Das Befahren der Brücke im Gegenverkehr – rund 21 000 Fahrzeuge täglich – muss während der Bauzeit und künftig möglich sein. Deshalb wird die Brücke beidseitig um je 70 cm auf insgesamt 12.30 m verbreitert. Eine längere Vollsperrung, Umfahrung oder sonstige Alternativen gab es nicht. Die Verbreiterung der drei Fahrspuren wird im Endzustand den Forderungen für Kantonsstrassen entsprechen.

Infolge der Mehrlast und der notwendigen Dimensionierung auf Verkehrslasten gemäss SIA 269 (2011) mussten die Längsträger verstärkt werden. Hierzu wurde an den Innenseiten der Stege jeweils ein zusätzliches Vorspannkabel eingebaut. Ausserdem wurden bereits im Herbst/Winter 2017/2018 die Stützenfundamente verbreitert und teilweise mit Mikropfählen verstärkt.

Gerbergelenke eliminieren

Die beiden hoch beanspruchten Gerbergelenke beim Einhängeträger waren in einem besonders schlechten Zustand. «Wir haben uns entschieden, den Einhängeträger monolithisch mit dem Träger zu verbinden. Bei anderen Brücken haben wir den Einhängeträger auch schon ausgetauscht. Das wäre hier aufgrund der Vorgabe ‹Bauen unter Verkehr› nicht möglich», sagt de Luca.

Die Fuge wurde ausinjiziert, die Teilstücke der Fahrbahnplatte zusammenbetoniert und die Trägerstege auf der Innen- und Aussenseite mit vorgespannten Betonscheiben ergänzt bzw. verstärkt. So wurde die Brücke zu einem Durchlaufträger über sechs Felder. Mit dem Fugenschluss wurden zudem potenzielle Schwachstellen wie Undichtigkeiten in der Gerbergelenkfuge beseitigt und die Erdbebensicherheit verstärkt. Die Dauerhaftigkeit und die Redundanz des Tragwerks werden erhöht. Allerdings verändert sich durch die monolithische Verbindung der einzelnen Tragwerkselemente nun das statische System. Die Bewegungen aus Temperaturdifferenzen sind über die ganze Brückenlänge zu berücksichtigen und müssen bei den Wider­lagern aufgenommen werden. Deshalb werden die bestehenden Fahrbahnübergänge ausgebaut und durch Gleitfingerübergänge ersetzt.

Eleganz behalten

Die Verantwortlichen sind sich bewusst, welcher berühmte Bauingenieur die Brücke entworfen hat, doch die tägliche Baustellenarbeit beeinflusst dieses Wissen nicht. Hier geht es vor allem darum, die Probleme, die die damalige Bauweise mit sich bringt, normgerecht und technisch einwandfrei zu lösen – das heisst, die geringe Bewehrungsüberdeckung zu reprofilieren oder alten Beton mit neuem möglichst kraftschlüssig zu verbinden.

Bauwerk modernisieren

Unter Denkmalschutz steht das Viadukt Mühle Rickenbach nicht. «Wir bauen aber trotzdem im Sinn der Brücke», sagt Marcel Eisenring, Projektleiter beim Kanton St. Gallen und örtlicher Bauleiter. Das ist wiederum entspricht der Vorstellung von Christian Menn, der die Meinung vertrat, man solle den Projektverfasser, falls er noch lebt, bei einer Anpassung beiziehen und seine Erfahrungen nutzen. «Aber auch wenn er tot ist, sollte ihn jemand gleichsam vertreten.»[1]

«Natürlich werden die Massnahmen der Brücke ein neues Aussehen geben», sagt Eisenring. Die Brücke werde aber auch nach Abschluss der Bauarbeiten im Sommer 2020 ein elegantes Bauwerk sein. Dann jedoch modernisiert und aktualisiert in die Gegenwart transferiert.


Anmerkung:
[01] «Gleichgewicht ist einer der schönsten Begriffe», TEC21 37/2010, espazium.ch/de/aktuelles/christian.menn

TEC21, Fr., 2019.06.07



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2019|22-23 Christian Menn (1927-2018)

07. Juni 2019Daniela Dietsche
TEC21

Neuland

Seinen Fussgängersteg im Onsernonetal bezeichnete Christian Menn als Abschluss seiner Arbeit. Mit viel Einfühlungsvermögen hat er die Holzkonstruktion in der Schlucht platziert.

Seinen Fussgängersteg im Onsernonetal bezeichnete Christian Menn als Abschluss seiner Arbeit. Mit viel Einfühlungsvermögen hat er die Holzkonstruktion in der Schlucht platziert.

Christian Menn plante über 100 Brücken aus Beton – aber nur eine aus Holz: eine kleine Fussgängerbrücke im Onsernonetal, von der er sich wünschte, dass die Menschen sie als Teil seines Werks wahrnehmen würden. Die Brücke über den Isorno bei Niva unterhalb Loco ist Teil des historischen Verkehrswegs Via delle Vose, eines alten Säumerwegs im Tessin, der heute als Wanderweg genutzt wird. Eine Steinbogenbrücke, der ehemals einzige Übergang über den Talfluss ins Onsernonetal, wurde bei einem Hochwasser 1978 zerstört. Das Militär erstellte eine Gerüstbrücke, ein Provisorium, das Jahrzehnte bestand. Auf Initiative der schweizerischen Stiftung für Landschaftsschutz und einer Privatperson wurde die Planung einer neuen Brücke schliesslich in Angriff genommen und finanziert.

Bogentragwerk an exponierter Lage

In seinem Entwurf greift Christian Menn die Bogenform der ursprünglichen Steinbrücke auf, schlägt aber vor, das Tragwerk in Holz auszuführen. Eine Kombination aus einem für einen Fussgängersteg gern gewählten Material und der für das Tessin typischen Form einer Bogenbrücke. Seit 2016 ersetzt nun eine elegante Holzkonstruktion das Provisorium. Sie besteht aus zwei Bogenrippen, die beidseitig in Betonwiderlager ein­gespannt sind. Zwischen den Brettschichtträgen aus Lärchenholz sind mit Stahlwinkeln Holzplanken als Gehwegplatten befestigt. Damit die Trägerrippen nicht kippen, sind sie unter der Gehwegplatte mit Zugstangen untereinander ausgefacht.

Der Holzbau der 20 m langen und 2.44 m breiten Brücke wurde im Werk vorgefertigt. Ein Helikopter hob das 4.5 t schwere Element an seinen Platz. Angesichts des nur zu Fuss (30 bis 45 Minuten Wanderweg) erreichbaren Brückenstandorts war eine leichte, mit dem Helikopter versetzbare Brückenkonstruktion sicher von Vorteil.

Christian Menn konnte an der Einweihung im Frühjahr 2016 aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen und die Brücke auch später nicht mehr besuchen. In einem Interview sagte er dem «Tagesanzeiger», dass sie zwar klein sei und bloss Fussgängern diene: Doch dieses Brüggli sei der Abschluss seiner Arbeit. Er habe es schrecklich gern.[1]


Anmerkung:
[01] «Der Überbrücker», «Tagesanzeiger» vom 19. 7. 2018.

TEC21, Fr., 2019.06.07



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2019|22-23 Christian Menn (1927-2018)

24. Mai 2019Daniela Dietsche
TEC21

«Die Lebensdauer der Anlagen ist der grösste Unterschied»

Nur ein Bruchteil der Betriebs- und Sicherheitsausrüstung (BSA) ist für den Nutzer eines Strassentunnels sichtbar. Die technischen Einbauten zu koordinieren erfordert Flexibilität und Koordinationsgeschick. Markus Leipert gibt einen Einblick aus Sicht des Bau­herrenunterstützers BSA.

Nur ein Bruchteil der Betriebs- und Sicherheitsausrüstung (BSA) ist für den Nutzer eines Strassentunnels sichtbar. Die technischen Einbauten zu koordinieren erfordert Flexibilität und Koordinationsgeschick. Markus Leipert gibt einen Einblick aus Sicht des Bau­herrenunterstützers BSA.

TEC21: Herr Leipert, Sie unterstützen das Astra bei Neubau und Instand­setzung grosser Infrastrukturanlagen. Was sind Ihre Aufgaben bei der BSA-Planung?
Markus Leipert: Ich definiere die Anforderungen an die Installationen, die den Tunnel für Benutzerinnen und Bewirtschafter sicher und funktional machen. Ein Spagat zwischen betrieb­lichen Anforderungen, fachlichen Vorgaben und baulichen Randbedingungen.

TEC21: Was heisst das konkret?
Markus Leipert: Bei der Instandsetzung eines Strassenabschnitts interessiert die Baufachleute zunächst, welche Teile erneuert werden müssen: Brücken, Stützmauern, Beläge, Kanalisationen. Daraus werden der Ablauf und die Randbedingungen definiert. BSA-seitig muss man dann entscheiden, ob es eine umfangreiche Erneuerung braucht oder ob punk­tuelle Eingriffe ausreichen. Unsere Aufgabe ist es, der Bauherrschaft einen Variantenfächer mit Lösungen aufzuzeigen.

TEC21: Das heisst, zunächst werden die baulichen Randbedingungen definiert, und erst dann kommen die BSA-Planer zum Zug?
Markus Leipert: Die BSA ist aufgrund der Kleinteiligkeit trotz der vielen Abhängigkeiten flexibler im Ablauf. Der Bau ist vergleichsweise träger. Das Bauprojekt an sich ist meist über einen exakten Perimeter abgegrenzt. Die Massnahmen der BSA sind selten in sich geschlossen. Das bedeutet, dass man über die Grenzen resp. planerischen Schnittstellen hinausschauen und dabei auch übergeordnete Systeme wie das Verkehrsleitsystem oder Transitleitungen einbeziehen muss. Die BSA macht nur 10 bis 15 % der Bausumme aus, trotzdem tangiert sie alles.

TEC21: Gibt es weitere Unterschiede?
Markus Leipert: Die Lebensdauer der Anlagen ist der grösste Unterschied. Während zum Beispiel für den baulichen Teil eines Tunnels Nutzungsdauern über 50 Jahre üblich sind, sprechen wir bei den BSA-Anlagen von einer Lebensdauer zwischen 10 und 30 Jahren. Was zur Folge hat, dass der BSA-Planer in der Regel etwa 50 % an baulichen Reserven in Hinblick auf die Erneuerung vorsieht.

TEC21: Sie sprechen von halb leeren Technik­räumen oder unvollständig belegten Kabelrohrblöcken. Wofür werden diese Reserven gebraucht?
Markus Leipert: Wenn die BSA erneuert wird, geschieht dies unter Betrieb und unter Berücksichtigung der übergeordneten Systeme. Das heisst, bevor man die alten Anlagen herausnehmen kann, müssen die neuen eingebaut werden. Obwohl Anlagen durch den technologischen Fortschritt tendenziell kleiner werden, bleiben einzelne Elemente, zum Beispiel Kabel, gleich gross und werden oft zahlreicher.

TEC21: Wie gestaltet sich die alltägliche Zusammenarbeit?
Markus Leipert: In der Ausführung setzen Bau und BSA oft andere Prioritäten. Nehmen wir das Beispiel der Erneuerung einer Rohranlage inkl. Schachtbauwerken: Fehlt bei einem Schacht noch ein kurzes Verbindungsstück – ein geringer Aufwand aus baulicher Sicht –, ist die Aufgabe für den Bau zu 99 % erfüllt. Für die BSA können dadurch aber die Arbeiten ­komplett blockiert sein, da die Kabel nicht in einen un­voll­ständigen Rohrblock eingezogen werden können. Zu Verständnisproblemen kommt es im Übrigen nicht nur zwischen BSA und Bau, auch innerhalb der BSA kommt es durchaus zu Missverständnissen. So funktioniert die Lüftungsplanung nach eigenen Regeln – ganz anders als der Bau und die Elektroplanung.

TEC21: Wie gelingt die Zusammenarbeit trotz aller Unterschiede?
Markus Leipert: Wichtig ist Verständnis für den jeweils anderen und die unterschiedlichen zu beachtenden Randbedingungen und Eckwerte. Zudem hilft es allen, sich genügend Zeit zu nehmen für gegenseitige Erklärungen. Allgemein braucht ein BSA-Planer Erfahrung, um die baulichen An­forderungen zu definieren und die Be­­dürf­nisse der BSA kommunizieren zu können. Gegenseitige Kenntnisse in den be­tei­lig­ten Disziplinen sind dabei von Vorteil. Und die lernt man nicht im Studium, sondern in der Projekt­arbeit.

TEC21, Fr., 2019.05.24



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2019|21 Drei Buchstaben für die Sicherheit

24. Mai 2019Daniela Dietsche
TEC21

«Frühzeitig miteinander zu reden ist zentral»

Von einem Strassentunnel wird erwartet, dass seine Nutzer sowohl im Normal- als auch im Ereignisfall sicher sind. Das zu erreichen erfordert viel Feingefühl bei der Abstimmung zwischen BSA- und Baufachleuten.

Von einem Strassentunnel wird erwartet, dass seine Nutzer sowohl im Normal- als auch im Ereignisfall sicher sind. Das zu erreichen erfordert viel Feingefühl bei der Abstimmung zwischen BSA- und Baufachleuten.

TEC21: Frau Winter, Sie betreuen Instandsetzungen von Strassentunneln. Wo sind Ihre Schnittstellen zu den Planern der Betriebs- und Sicherheitsaus­rüstung?
Angela Winter: Bei einer Instandsetzung ist die Zu­sammenarbeit mit den Fachleuten der BSA deutlich intensiver als bei einem Neubau. Wir müssen gemeinsam entscheiden, was in der jeweiligen Situa­tion baulich möglich und technisch sinnvoll ist. In einem Tunnel, der vor 30 Jahren erstellt wurde, ist oft nur wenig Platz für zusätzliche Ein- oder Umbauten.

TEC21: Von Ihnen wird eine sachgemässe Dimensionierung erwartet. Wie gehen Sie vor, um festzulegen, was gemacht wird?
Angela Winter: Die BSA-Fachleute geben uns an, welche Elemente sie nach Norm benötigen, um einen sicheren Betrieb gewährleisten zu können. Das sind einige Anlagen mehr als noch vor wenigen Jahren, und für jedes zusätzliche Kabel braucht es ein Leerrohr für einen möglichen späteren Austausch unter Betrieb. Wir prüfen dann, wie viel Platz für zusätzliche Leerrohre, Kabelblöcke etc. zur Verfügung steht. Einen Konflikt im Fahrraum kann es zum Beispiel geben, wenn wir die Fahrbahnbreite einhalten müssen, die benötigte Anzahl Kabelschutzrohre aber eine Verbreiterung des Banketts verlangt.

TEC21: Wie wird man sich in einem solchen Fall einig?
Angela Winter: Wir nähern uns in einem iterativen Prozess an und suchen nach einem Kompromiss. Den endgültigen Entscheid trifft aber die Bauherrschaft. Nicht immer kann die Norm zu 100 % eingehalten werden.

TEC21: Gibt es Beispiele, die zeigen, dass es eine gute Abstimmung braucht, obwohl die Zuständigkeiten in den Dokumenten der Bauherrschaften eigentlich umfassend geregelt sind?
Angela Winter: Es sind oft kleinere Sachen, die aber den Bau verzögern können. Allen ist zum Beispiel klar: Der Bauunternehmer öffnet den Graben, die BSA-Spezialisten verlegen die Kabel. Wer jedoch für die Hüllrohre verantwortlich ist und wann diese im Projekt­ablauf zur Verfügung stehen müssen, wird von Projekt zu Projekt unterschiedlich gehandhabt. Oft sind es die BSA-Fachleute, die flexibel auf Ände­rungen im Bauablauf reagieren. Das muss man anerkennen.

TEC21: Könnte BIM helfen, von vornherein auch an die kleinen Dinge zu denken?
Angela Winter: BIM ist kein Allheilmittel. Trotzdem ist es sicher hilfreich, eine Methode zu haben, die die Ko­­­­­­or­dination unterstützt. Heute arbeiten wir mit ver­schie­denen Plänen: je einen für die Löschwasser­leitung, die Entwässerung, die Betriebs- und Sicherheitsausrüstung, oft in unterschiedlichen Mass­stäben oder als Schema, sodass man sie nicht sinnvoll über­einanderlegen kann. Man hat also einen erheblichen Mehraufwand, um alle Informationen zu sammeln und kompatibel aufzubereiten. Ein digitalisierter Bestand wird in jeder Projektphase Erleichterungen bringen.

TEC21: Haben Sie schon Erfahrungen mit BIM? Wie wird sich die Arbeit verändern?
Angela Winter: Mit BIM müssen wir im Tunnelbau von der Achse ausgehen. Bisher hat man vom Querschnitt her gedacht. Das Arbeiten im 3-D-Modell ist eine Umstellung, aber dass sich Arbeitsmethoden ändern, gibt es immer wieder. Das Verständnis für die andere Dis­ziplin ist weiterhin ein entscheidender Aspekt für die Zusammenarbeit.

TEC21, Fr., 2019.05.24



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2019|21 Drei Buchstaben für die Sicherheit

24. Mai 2019Daniela Dietsche
TEC21

Zwischen Programmieren und Konstruieren

Ein BIM-Pilot für die Betriebs- und Sicherheitsausrüstung ­begleitet die ­konventionelle Planung des neuen Tunnels Bypass Luzern. Technisch ist die Baubranche auf gutem Weg. Bis sich BIM im ­Planungsprozess etabliert hat, dauert es wahrscheinlich noch.

Ein BIM-Pilot für die Betriebs- und Sicherheitsausrüstung ­begleitet die ­konventionelle Planung des neuen Tunnels Bypass Luzern. Technisch ist die Baubranche auf gutem Weg. Bis sich BIM im ­Planungsprozess etabliert hat, dauert es wahrscheinlich noch.

Es hat sich viel getan in den letzten zehn Jahren. BSA- und Baufachleute haben sich angenähert. «Das Verständnis für die jeweils andere Disziplin, für deren Anforderungen und Bedürfnisse ist in der Projektarbeit deutlich gestiegen», sagt Christian Eugster, Leiter Versorgungstechnik bei Basler & Hofmann. BIM als Motivation für eine bessere Kommunikation war also nicht der primäre Grund, ein Pilotprojekt für die Verkehrstechnik zu lancieren. Für Teile des neuen Tunnels Bypass Luzern erarbeitete Basler & Hofmann im Rahmen eines internen Pilotprojekts parallel zur konventionellen Planung ein ­BIM-Modell.[1] Christian Eugster glaubt an die BIM-Methode. «Wir müssen uns vorbereiten», sagt er. «BIM ist nicht billiger und nicht schneller, aber die Qualität steigt. Wir arbeiten mit stabilen Daten. Die Koordination zwischen den Gewerken wird einfacher, und Fehler werden insgesamt weniger.»

Luzern vom Verkehr befreien

Wie vielerorts im Schweizer Nationalstrassennetz hat auch die A2 bei Luzern ihre Kapazitätsgrenze erreicht. Um die heutige Achse vom Transitverkehr zu entlasten, wird zwischen den Anschlüssen Buchrain und Hergiswil ausgebaut.[2] So soll es möglich werden, den Individualverkehr in der Stadt zu verflüssigen und den öffentlichen Verkehr zu priorisieren.

Derzeit wird das Ausführungsprojekt bearbeitet; die Projektauflage ist für Frühjahr 2020 geplant. Sobald der Genehmigungsprozess mit allen Konsequenzen abgeschlossen ist, soll rund zwölf Jahre lang gebaut werden.

Beginn wäre nach heutigem Stand frühestens 2024. Aufgeteilt ist das Projekt «Gesamtsystem Bypass Luzern» in vier Baulose sowie ein Teilprojekt Umwelt und ein Teilprojekt Betriebs- und Sicherheitsausrüstung, die beide jeweils den ganzen Perimeter umfassen. Innerhalb des Gesamtprojekts gilt der Tunnel Bypass Luzern als Kernstück. Der Neubau seiner drei Technikzentralen und Teile der Tunnelröhre werden parallel zur konventionellen Planung mit BIM modelliert. Dazu übernimmt Basler & Hofmann die Grundlagen aus der 2-D- beziehungsweise 3-D-Planung der «IG ByTuLu».

Konventionell und parametrisch

Die drei neuen Zentralen werden als statisches Modell abgebildet, d. h., die Konstruktion setzt sich aus einzelnen, informierten Elementen zusammen. Muss eine Raumaufteilung verändert werden, werden die Elemente im Modell manuell verschoben.

Bei den Tunnelabschnitten handelt es sich hingegen um ein parametrisches Modell, das sich an der Tunnelachse orientiert. Die Querschnittselemente werden mathematisch beschrieben. Die normgerechte Posi­tionierung der BSA-Elemente entlang der Achse wird pro gleichartigem Abschnitt in einer Datenbank generiert. Das heisst, alle Ausrüstungsgegenstände haben einen relativen Bezug zur Tunnelachse. Ändern sich der Tunnelquerschnitt oder die Ausrüstungselemente, wird die gesamte Anordnung neu generiert. Gegenüber der konventionellen Planung findet die Projektierung also in einer Datenbank und nicht in einem Planungsmodell mit grafischer Oberfläche statt – es wird hauptsächlich programmiert, nicht konstruiert. Die Ausgabe eines Plans (2-D oder 3-D) wird als grafische Auswertung des Datenbankmodells verstanden. Bewerkstelligt wird die BIM-Planung mit einem Revit-Modell, die Automatisierung von sich wiederholenden Arbeitsschritten (z. B. die Anordnung der Querschnittselemente) erfolgt mittels Dynamo-Script. So entsteht eine sechsdimensionale BIM-
­Planung; derzeit auf Fertigstellungsgrad LoD 200/3003.

Infrastrukturprojekte haben in der Regel eine lange Projektierungszeit. Es ist auch noch nicht klar, ob und wann der Tunnel Bypass Luzern tatsächlich gebaut wird. Können die Beteiligten trotzdem schon etwas aus dem BIM-Pilotprojekt mitnehmen? «Wir konnten Erfahrungen sammeln und die Ergebnisse nun als konzep­tionelle Grundlage für andere Projekte nutzen», sagt Christian Eugster. Am Anfang sei die Planung mit BIM sehr aufwendig und zeitintensiv gewesen.

Eine Umstellung für alle Beteiligten sei auch, dass Ent­scheidungen deutlich früher als im konventionellen Planungsprozess getroffen werden müssen. Sind diese Entscheidungen allerdings gut überlegt und fliessen sie rechtzeitig ins Modell ein, entsteht gegen Ende des ­Projekts weniger Aufwand als bisher.

Für Christian Eugster wird dennoch auch die Bauphase interessant sein. Dabei gehe es nicht nur darum, die Modelle zum Beispiel als Montageunterstützung einzusetzen, sondern auch um den umgekehrten Weg: die Informationen von der Baustelle zu erhalten und diese weiter zu nutzen. So sollte es laufend möglich sein, den aktuellen Arbeitsstand, Materialverbrauch etc. abzufragen und Fehler in der abschliessenden Doku­mentation zu vermeiden. Diese Vorteile gelten natürlich auch für die Bauherrschaften, die zum Beispiel ständig über den aktuellen Kostenstand und die Termin­einhaltung informiert sind.

Digitale Daten maximal nutzen

Auf die verschiedenen Bau- und Verkehrsphasen und oft vielen BSA-Provisorien bei grossen Infrastrukturprojekten angesprochen, erläutert Christian Eugster: «Wir fokussieren im Moment auf ein Objekt, um Schritt für Schritt herauszufinden, welche Daten wir brauchen und welches Vorgehen sinnvoll ist.» Zunächst ist es von Vorteil, wie im Fall Tunnel Bypass mit einem Neubau zu beginnen, da sonst bereits an erster Stelle die Frage steht, ob die bestehenden Elemente aufgenommen ­werden bzw. in welcher Tiefe sie im Modell abgebildet werden müssen. Ähnlich verhält es sich mit den wechselnden Bau- und Verkehrsphasen und den damit verbundenen Provisorien oder redundanten Systemen.

Weitere Punkte, die noch zu klären sind, sind die Einbindung der Modelle auf Objektebene in die übergeordneten Transitleitungen und die Übertragung der parametrisierten Projektdaten in die Erhaltungssysteme der Infrastruktureigentümer. Letztere sind hier gefordert.[4] Sie müssen herausfinden, welche Daten sie in welcher Phase benötigen. «Die Bauherrschaften sind noch nicht so weit, dass es klare Vorgaben an die Planer gibt, das heisst, es sind weder verbindliche Programme vorgeschrieben noch die Tiefe der Datenangaben definiert», sagt Christian Eugster. Die technische Umsetzung der Zielvorgaben aus der digitalen Strategie scheint für ihn machbar zu sein, wobei generell auf die Planungsbüros grössere Herausforderungen zukommen werden, da parallel zum heutigen Mitarbeiterbestand Kompetenz im Bereich der Informatik aufgebaut werden muss. Bis sich aber ein «neuer» Planungsprozess etabliert hat, dauert es wahrscheinlich noch einige Jahre.


Anmerkungen:
[01] Ein offizielles BIM-Pilotprojekt wurde vom Astra erstmals beim Gotthard-Strassentunnel ausgeschrieben. Neben der konventionell erfolgenden Gesamtplanung werden eine Zentrale sowie ein 1 km langer Muster­abschnitt des Tunnels als BIM-­Objekte geplant.
[02] www.bypasslu.ch
[03] Fertigstellungsgrade: LoD 100 konzeptionelle Darstellung, LoD 200 Dimension und Grösse massgeblicher Bauelemente, LoD 300 ausschreibungsreife Angaben mit Spezifikationen, LoD 400 fabrikationsreife Ausführungsplanung, LoD 500 Dokumentation des ausgeführten Elements.
[04] Das «BIM-Labor» des Astra führt gegenwärtig
Planungstests mit verschiedenen Plattformen und Programmen durch. Der Fokus liegt dabei auf einer 3-D-BIM-Planung mit informierten Objekten. Ziel ist, Erfahrungswerte zu sammeln und parametrisierte Projektdaten für eine spätere Übernahme in die eigenen Erhaltungssysteme zu strukturieren.

TEC21, Fr., 2019.05.24



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2019|21 Drei Buchstaben für die Sicherheit

09. November 2018Daniela Dietsche
TEC21

Geteilte E-Mobilität

Carsharing, Elektromobilität, Energiemanagement: Im Basler Areal Erlenmatt Ost soll in einem Pilotprojekt alles kombiniert werden. Während der Umsetzungsphase 2019 wird das Projekt wissenschaftlich begleitet, um reale Daten zum Nutzerverhalten oder zur Arealoptimierung zu erhalten.

Carsharing, Elektromobilität, Energiemanagement: Im Basler Areal Erlenmatt Ost soll in einem Pilotprojekt alles kombiniert werden. Während der Umsetzungsphase 2019 wird das Projekt wissenschaftlich begleitet, um reale Daten zum Nutzerverhalten oder zur Arealoptimierung zu erhalten.

Heute funktioniert das Laden eines Elektroautos meist noch nach dem einfachen Prinzip: Stecker in die Dose, Ladevorgang startet. Grundsätzlich eignen sich E-Fahrzeuge bzw. deren Batterien aber auch dafür, erneuerbaren Strom aus Photovoltaik oder Windkraft zwischenzuspeichern. Beim sogenannten bidirektionalen Laden wird das Elektroauto durch eine Steuerung intelligent geladen und bei Bedarf entladen (vgl. Abb.). Dadurch könnten Schwankungen im Stromnetz z. B. eines Gebäudes oder Areals ausgeglichen werden.

Hinter dem Projekt OKEE steckt genau dieser Gedanke: die Vernetzung und Optimierung der Bereiche Elektrizität, Wärmeversorgung und Verkehr, eine sogenannte Sektorkopplung zwischen den Sektoren Gebäude und Mobilität. Das Institut für Nachhaltige Entwicklung (INE) der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und novatlantis haben das Projekt auf dem Areal Erlenmatt Ost in Basel initiiert und setzen es in einem Projektkonsortium gemeinsam um. Als Partner beteiligen sich die ADEV-Energie­genossenschaft und die Stiftung Habitat. Sie alle sind an der praktischen Erprobung von Lade- und Eigenverbrauchslösungen für und mit Elektromobilität in grös­seren Arealen interessiert, sodass erstmals in der Schweiz ein komplexes Vehicle-to-Home-Pilotprojekt (V2H) mit einem Carsharing-Konzept kombiniert wird.

Derzeit gibt es noch viele technische und organisatorische Hindernisse bei der Umsetzung eines solchen ­Konzepts. Überhaupt ein geeignetes Areal zu finden war für die Projektverantwortlichen von OKEE eine grosse Herausforderung. Viele Anfragen scheiterten zum ­Beispiel an unterschiedlichen Planungshorizonten oder an ­fehlender Innovationsbereitschaft.

Glaubwürdiges Pilotprojekt

Nach intensiver Suche ergab sich der Kontakt zu den Verantwortlichen des Areals Erlenmatt Ost. Es zeigte sich, dass das Areal technisch für die Umsetzung der Sektorkopplung geeignet ist und die Schlüsselpersonen der ADEV-Energiegenossenschaft und der Stiftung Habitat grosses Interesse an diesem Pilotprojekt und der Zusammenarbeit haben. Das Areal Erlenmatt Ost wurde nach den Zielsetzungen der 2000-Watt-Gesellschaft entwickelt. Viele Gebäude entsprechen dem Standard Minergie-P-Eco, und alle sind mit PV-Anlagen auf den Dächern ausgestattet. So wird ein Grossteil des benötigten Stroms vor Ort produziert. Alle Gebäude bilden bereits heute eine Eigenverbrauchsgemeinschaft (EVG) mit ca. 400 Kunden (vgl. «Energie- und Soziallabor Erlenmatt Ost»).

Die Bewohner und Bewohnerinnen verpflichten sich via Mietvertrag zur EVG. Hier gibt es klare Kri­terien bezüglich Wohnfläche, Energieverbrauch und Mobilität. Das Quartier ist autoarm, entsprechend rar sind Parkplätze auf dem Gelände oder in der Tiefgarage. Konkret heisst das, pro zehn Wohnungen gibt es einen Parkplatz. Eine gute Ausgangslage, um mit der geteilten E-Mobilität den Nutzern einen Mehrwert anzubieten.

Seit Oktober 2018 steht ein Nissan Leaf in der Tiefgarage auf einem speziell ausgewiesenen Parkplatz und wird über eine bidirektionale Ladesäule mit arealeigenem Strom versorgt. Als eines der wenigen Elektro­fahrzeuge beherrscht dieses Auto die Vehicle-to-Grid-Technologie (V2G). Das heisst, die Batterie, ein 40-kWh-­Lithium-Ionen-Akku, kann auch wieder Strom ins Netz einspeisen. Sollte die Stromeigenproduktion auf dem Areal einmal nicht ausreichen, um das Fahrzeug zu laden, wird es vom übergeordneten Netz versorgt. Der Strom in Basel-Stadt stammt ausschliesslich aus erneuerbaren Energien, was für die Glaubwürdigkeit des Pilotprojekts und die Nutzung eines E-Autos zentral ist.

Im Gegensatz zu öffentlichen Carsharing-Modellen können ausschliesslich Personen, die auf dem Areal wohnen oder arbeiten, das Fahrzeug nutzen. Das Auto zu laden ist nicht komplizierter als Kraftstoff zu tanken. Ansonsten gelten die üblichen Regeln im Umgang mit Carsharing. Selbstverständlich muss das Auto rechtzeitig – mit Zeitpuffer zum Aufladen – zurückgebracht und an der Ladestation geparkt werden. Wenn die Batterie «ganz leer» ist, dauert das Laden sechs bis acht Stunden.

Bei einer durchschnittlichen Fahrleistung von ca. 40 km pro Tag dürften Ladezeiten zwischen drei und vier Stunden täglich ausreichen. Abgerechnet wird nach Mietdauer und gefahrenen Kilometern. Ein bestehendes Buchungs- und Abrechnungssystem wurde an die speziellen Rahmenbedingungen angepasst, sodass die Berechtigten via App oder Homepage das Auto ­buchen können.

Ab Anfang 2019 können die Bewohner zusätzlich auf einen Siebensitzer bzw. Transporter, einen Nissan Evalia, zurückgreifen, der als zweites Fahrzeug in das Projekt aufgenommen wird. Welches Fahrzeug für die Bewohnerinnen den meisten Nutzen bringen würde, wurde mithilfe einer Online-Umfrage eruiert.

Richtiger Anschluss, passender Stecker?

Bisher sind keine Standardprodukte vorhanden. «Aus ähnlichen Pilotprojekten in anderen Ländern sind keine Standardprodukte hervorgegangen», sagt Anna Roschewitz, Geschäftsführerin von novatlantis und Projektleiterin von OKEE. So exisierten auch immer noch unterschiedliche Systeme bei Steckern und Ladesta­tionen. Bei Neu- und Umbauten empfiehlt es sich daher, an geeigneten Standorten Leerrohre und Fundamente und für allfällige Änderungen genügend Platzreserven einzuplanen. Für eine eventuelle grössere Fahrzeug­flotte könnte die Tiefgarage auf dem Areal Erlenmatt Ost mit weiteren bidirektionalen Lade­stationen aus­gestattet werden.

Daten aus dem Alltag

Das Pilotprojekt wird für ein Jahr wissenschaftlich begleitet. Die realen Pilotdaten stellen – anders als Daten auf Basis von Annahmen – einen Datenschatz dar, um zahlreiche technische und organisatorische Fragen zu beantworten. Offene Fragen haben die Projektpartner viele: Welche Erfahrungen ergeben sich aus der Zusammenarbeit der Beteiligten? Wie sieht das Mobilitätsverhalten der Nutzerinnen und Nutzer aus? Wann stehen die mobilen Speicher für die Arealoptimierung zur Verfügung? Wie funktioniert die technische Einbindung der beiden bidirektionalen Elektroautos in das Energiemanagementsystem der Überbauung? Wie kann durch eine smarte Ladeplanung und die Beeinflussung des Nutzerverhaltens durch ein Tarifsystem der Eigenverbrauchsanteil erhöht werden? Lassen sich durch die Integration von Elektroautos in das Energiemanagementsystem des Areals neue Geschäftsmodelle identifizieren? Und können diese Erkenntnisse auf andere Areale oder Gemeinden übertragen werden? Welchen übergeordneten Beitrag leistet das Pilotprojekt für ­weitere Anwendungen in Basel und der Schweiz?

Um die Daten breiter abzustützen und festzustellen, ob und wie sie auf andere Überbauungen übertragbar sind, suchen die Verantwortlichen weitere Areale, in denen das Konzept angewendet werden kann. «Wenn jemand Interesse hat, sind wir gern zu einem Informationsgespräch bereit», betont Anna Roschewitz. Für Arealbetreiber und Eigenverbrauchsgemeinschaften, aber auch schon für Mehrfamilienhäuser könnte die geteilte E-Mobilität durchaus ein interessantes Modell sein.


Eine Übersicht, wie sich elektrische Energie speichern lässt, findet sich in TEC21 14–15/2017.

TEC21, Fr., 2018.11.09



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2018|45 Hausanschluss an die Stromwende

07. September 2018Daniela Dietsche
Tina Cieslik
TEC21

Heilsversprechen in Beton

Der Mariendom im nordrhein-westfälischen Neviges zieht seit 1968 Besucherinnen und Besucher in seinen Bann. Seine Bau- und Planungsgeschichte ist ähnlich facettenreich wie ein biblisches Epos – und sie dauert weiter an: Derzeit wird das Dach der Betonkonstruktion von Architekt Gottfried Böhm aufwendig instand gesetzt.

Der Mariendom im nordrhein-westfälischen Neviges zieht seit 1968 Besucherinnen und Besucher in seinen Bann. Seine Bau- und Planungsgeschichte ist ähnlich facettenreich wie ein biblisches Epos – und sie dauert weiter an: Derzeit wird das Dach der Betonkonstruktion von Architekt Gottfried Böhm aufwendig instand gesetzt.

Seit rund 350 Jahren pilgern Gläubige nach Neviges, um zur Heiligen Maria zu beten. Seit rund 50 Jahren sind es auch Architekturinteressierte: 1968 wurde hier ein Bauwerk fertiggestellt, das zu Recht als Ikone der deutschen Nachkriegsarchitektur gilt. Architekt Gottfried Böhm (*1920) – neben Frei Otto einziger deutscher Pritzker-Preisträger – gelang es damals, eine plastische Form für eine zeitgenössische Wallfahrtskirche zu finden, die auch heute noch fasziniert.

Die Marienwallfahrt in Neviges geht zurück bis ins 17. Jahrhundert. 1676 hatte ein Franziskanermönch beim Beten vor einem Kupferstich, der die unbefleckte Empfängnis zeigte, eine Marienerscheinung. Die Heilige soll ihn angewiesen haben, ihr Abbild nach Neviges zu tragen und dort zu verehren – so die Legende. Die Wahrheit dürfte profaner gewesen sein: Seit der Reformation war das Bergische Land protestantisch. Mit einer Wallfahrtskirche konnte die katholische Kirche in der Region Präsenz markieren. Das gelang: Über die Jahrhunderte wuchs die Marienwallfahrt zu einer Massenveranstaltung, ihren Höhepunkt erreichte sie nach dem Zweiten Weltkrieg mit jährlich 350 000 Pilgerinnen und Pilgern.

Die 1728 fertiggestellte Pfarrei- und Wallfahrtskirche St. Mariä Empfängnis platzte aus allen Nähten, die vorher schon mehrfach genommenen Anläufe für eine neue Wallfahrtskirche wurden konkret. Im September 1960 fiel der Entschluss für den Neubau, anschliessend dauerte es aber noch einmal zweieinhalb Jahre, bis das zuständige Erzbistum Köln zum Wettbewerb lud. 17 Architekturbüros, mit wenigen Ausnahmen alle aus der Region Köln, waren gebeten, eine Vision für eine zeitgenössische Wallfahrtskirche zu entwickeln. Das war mehr als eine Alibiübung: Der Kölner Erzbischof Josef Kardinal Frings spielte «auch in architektonischen Gestaltungsfragen eine dominante Rolle. Er sah (…) in dem Werk guter Architekten einen Ausdruck der Schöpferkraft Gottes und betrachtete sich deshalb in seinem Einflussbereich als letzte irdische Instanz in Gestaltungsfragen».[1]

Gemeinsam statt frontal

Der Kirchenbau war nach dem Zweiten Weltkrieg eine verbreitete Bauaufgabe. Werke wie die IIT-Kapelle von Mies van der Rohe in Chicago (1952) oder die Marienkirche in Tokio von Kenzo Tange (1961 bis 1964, initiiert und finanziert vom Erzbistum Köln) veränderten das traditionelle Verständnis von Sakralbauten. Viele dieser neuen Bauten entsprachen den Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils von 1962 bis 1965 oder nahmen diese vorweg: Der gemeinsame Gottesdienst rückte wortwörtlich ins Zentrum, der Priester zelebriert die Messe nun mit dem Gesicht zu den Gläubigen, der Altar steht mitten in der Kirche.

Dieses Gedankengut spiegelte sich auch in den Wettbewerbsbeiträgen zum Mariendom. Im Juli 1963 kürte die Jury den schlichten Entwurf von Kurt Faber zum Sieger. Das Siegerprojekt wurde dem Bauherrn Kardinal Frings vorgestellt – mit ernüchterndem Ergebnis: Seine Eminenz war enttäuscht von der Auswahl und befand, es sei noch keine «Lösung gefunden, [...] die als plastischer Baukörper bzw. als Bild und Zeichen einer Wallfahrtskirche befriedigt».[2] In der Folge liess er eine zweite Wettbewerbsrunde stattfinden. Die drei erstplatzierten Büros konnten ihre Entwürfe überarbeiten, ebenso Josef Lehmbrock und Gottfried Böhm, zudem wurde das Raumprogramm redimensioniert. Böhm ging schliesslich im März 1964 als Sieger aus der Konkurrenz hervor.

Die Legende besagt, der bereits stark sehbehinderte Kardinal habe Böhms expressives Projekt im Modell am besten ertasten und verstehen können. Möglicherweise war er aber nur auf der Suche nach einem emblematischen Bau, auch vor dem Hintergrund, dass die Pilgerzahlen inzwischen deutlich zurückgegangen waren und ein starker Anziehungspunkt gesucht wurde.

Räumlich inszenierter Glaube

Neben der ausdrucksstarken Form punktete Gottfried Böhms Entwurf vor allem mit seiner städtebaulichen Disposition. Und zwar nicht mit jener im Kontext der Gemeinde Neviges – der Mariendom wendet ihr quasi den Rücken zu –, sondern mit der internen des mit dem Bau entstehenden Klosterbezirks. Böhm verstand die Wallfahrt als sinnliches Erlebnis und inszenierte sie dementsprechend räumlich: Ein leicht ansteigender Pilgerweg, die Via sacra, führt, flankiert vom Schwesternheim mit den charakteristischen runden Erkern, in einer leichten Neigung zum Mariendom auf dem Hardenberg.

Dort angekommen, betreten die Gläubigen das Bauwerk, dessen Inneres dunkel und schlicht gehalten ist – nichts lenkt ab von der inneren Einkehr. Die einzig schmückenden Elemente sind die ebenfalls von Böhm entworfenen farbig verglasten Fenster, oft mit Rosenmotiven – die Rose ist das Symbol Marias –, die den Raum je nach Lichteinfall in leuchtendes Rot tauchen. Der polygonale Innenraum ist dabei die nahtlose Fortführung des differenzierten Aussenraums, eine für Böhm typische Gestaltung, die sich zum Beispiel auch in der Pflästerung des Bodens manifestiert, der im Material jener des Pilgerwegs entspricht, oder bei den Leuchten, die an Strassenlaternen erinnern.

Entscheid mit Folgen

Konstruktiv formte Böhm den Bau als räumliches Faltwerk aus Stahlbeton, mit einer Oberfläche aus sandgestrahltem Sichtbeton. Die eindrückliche formale Einheit aus Wand- und Dachflächen war allerdings nicht von Anfang an geplant: Der Architekt hatte eine Blei- oder Schieferdeckung mit Foamglasdämmung vorgesehen, allerdings weniger als Witterungs- denn als Wärmeschutz. Um den Bau bis zur Dacheindeckung wasserfest abzuschliessen, war die Decke zweischalig aus wasser­undurchlässigem Beton mit einer dazwischen liegenden Kunststofffolienabdichtung konstruiert. Als der erste Bauabschnitt über der Sakristei fertig betoniert war, schien er der Witterung zu trotzen, und Böhm schlug im Juli 1966 vor, die Bewehrung zu erhöhen und die verbleibenden Dachteile einschalig auszuführen – auch, da der Dom vor allem als «Sommerkirche» genutzt ­werden sollte und um allfällige Reparaturkosten für die Dachdeckung zu vermeiden.[3]

Dies stellte sich letztlich als fataler Entscheid heraus, denn die ersten Feuchteschäden traten bereits nach wenigen Jahren auf. Gegen Ende der 1980er-Jahre beschichtete man die Dachfläche daher mit Epoxidharz, was aber nicht den gewünschten Erfolg brachte. Die starre Beschichtung riss an vielen Stel­len und löste sich teilweise vom Beton­untergrund, sodass weiterhin Wasser in das Innere der Kirche eindrang. Zu Anfang des neuen Jahrtausends wurde die Situation so prekär, dass das Erzbistum eine Expertengruppe unter der Leitung von Peter Böhm, Sohn von Gottfried Böhm und selber Architekt, mit der Dach­instandsetzung beauftragte.

Beim gewählten Verfahren stützte man sich auf Versuche des Instituts für Bau­forschung der RWTH Aachen. Schlussendlich entschied man sich für einen carbonfaserverstärkten Spritz­betonauftrag. Bei einem Teilstück des 300 m² grossen Dachs über der Sakramentskapelle wurde 2017 das Epoxidharz entfernt, das Dach sandgestrahlt und der Stahlbeton instand gesetzt. Carbonfaserbewehrter Spritzmörtel soll das Dach nun optimal gegen Witterungseinflüsse schützen und dauerhaft abdichten – bisher mit gutem Ergebnis (vgl. «Risse, fein verteilt»).

Beton hält, Geld fehlt

Nachdem nun ein Bruchteil der Dachfläche erfolgreich abgedichtet ist, wird seit Juni 2018 im rückwärtigen Bereich ein Abschnitt von rund 800 m² bearbeitet. Die Massnahmen an diesem zweiten Bauabschnitt werden voraussichtlich bis ins Frühjahr 2019 dauern. Die Kosten für den aktuellen Abschnitt teilen sich das Erzbistum Köln, das Kulturstaatsministerium, die Deutsche Stiftung Denkmalschutz und die Wüs­tenrot-Stiftung. Bei einer Restfläche von über 1500 m² ist die – bisher ungesicherte – weitere Finanzierung aber eines der Hauptrisiken.


Anmerkungen:
[01] Karl Kiem, «Vielschichtiger Betonfelsen: Die Wallfahrtskirche in Neviges», in: Wolfgang Voigt (Hg.), Gottfried Böhm. Jovis Verlag, Berlin 2006, S. 60–80, Fussnote 52. Online abrufbar auf www.karl-kiem.net/Neviges/index.html
[02] Zitiert nach: Aktennotiz zur Audienz bei Seiner Eminenz am Dienstag, 10. 9. um 16.30 Uhr, vom 17. Sept. 1963; Bauakten im Generalvikariat Köln. In: Veronika Darius, Der Architekt Gottfried Böhm, Bauten der sechziger Jahre, Beton-Verlag, Düsseldorf 1988, Fussnote 102.
[03] Ebd., Fussnote 111.

TEC21, Fr., 2018.09.07



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2018|36 Mariendom in Neviges: Eingriff von oben

Alle 52 Texte ansehen

Presseschau 12

28. Juni 2019Daniela Dietsche
Lukas Denzler
TEC21

«Eine Periodizität gibt es nicht»

Der Bereichsleiter Naturgefahren und Schutzbauten beim Bündner Amt für Wald und Naturgefahren, spricht über den Bergsturz von Bondo, die Herausforderungen bei der Gefahren­beurteilung und die Lehren, die man aus dem Ereignis gezogen hat.

Der Bereichsleiter Naturgefahren und Schutzbauten beim Bündner Amt für Wald und Naturgefahren, spricht über den Bergsturz von Bondo, die Herausforderungen bei der Gefahren­beurteilung und die Lehren, die man aus dem Ereignis gezogen hat.

TEC21: Herr Wilhelm, wo waren Sie am 23. August 2017? Was waren Ihre ersten Gedanken, als Sie vom Bergsturz in Bondo erfahren haben?
Christian Wilhelm: Ich war mit der Fachgruppe Naturgefahren im Wallis. Es war ein ungewöhnlich schöner Tag: Sonnenschein und blauer Himmel in der ganzen Schweiz. Dann vernahm ich von meinen Mitarbeitern, der Cengalo sei gekommen. Ich bin direkt nach Chur gefahren. Als ich ins Sitzungszimmer kam, liefen schon die ersten Filme. Sie zeigten einen trockenen Schuttstrom, der Bondo erreicht und die ersten Gebäude zerstört hatte. Es war unglaublich. Ich bin umgehend ins Bergell gereist, um mich mit unserem Spezialisten vor Ort abzustimmen. Am ersten Abend sprach die Kantonspolizei von 14 Vermissten. Eine Gruppe tauchte glücklicherweise am nächsten Tag in Italien auf. Acht Alpinisten werden leider heute noch vermisst.

TEC21: Hat Sie das Ereignis überrascht?
Christian Wilhelm: Vom unmittelbaren Schuttstrom und den Murgängen ohne Niederschläge waren wir alle sehr überrascht. Beim Cengalo gingen wir hingegen davon aus, dass sich ein Abbruch in den kommenden Wochen und Monaten ereignen kann. Darauf deuteten die letzten Messergebnisse zu den Felsbewegungen aus der Ferne vom Sommer 2017 hin. Zwei Tage vor dem Bergsturz ereignete sich ein Felssturz aus der Nordwestflanke. Dieser Sturz war nicht überraschend. Der Ausbruchbereich war sehr aufgelöst, und das wurde auch erkannt. Bis zu diesem Zeitpunkt war es ähnlich abgelaufen wie in den Vorjahren.

TEC21: Der fatale Bergsturz löste sich dann aber aus der Nordostflanke. Ohne Vorwarnung?
Christian Wilhelm: Ja, der schlagartige Ausbruch von rund 3 Mio. m3 kam sehr überraschend. In der Regel kündigen sich grosse Bergstürze mit Vorabbrüchen an. Das war hier nicht der Fall. Wir diskutierten nachher über unseren Blick auf den Cengalo. Es war, als wäre der Berg wie ein Zug unterwegs. Wir sahen ihn über die Jahre, aber er erhöhte plötzlich sein Tempo. Von unserer Position aus und aufgrund der uns zur Verfügung stehenden Informationen haben wir dies so nicht wahrgenommen.

TEC21: In neun Tagen lagerten sich in Bondo rund 500 000 m³ Material ab. Sind Ihnen ähnliche Ereignisse aus der Schweiz bekannt?
Christian Wilhelm: 2002 gab es infolge starker Unwetter im ganzen Kanton zahlreiche Murgänge. Die grössten brachten in fünf bis sieben Schüben ca. 50 000 bis 70 000 m³ Material. In Bondo sprechen wir von einer anderen Grössenordnung. Etwas Vergleichbares habe ich 2005 in Guttannen im Berner Oberland gesehen. Auch dort stiessen Kubaturen bis 500 000 m³ in den Talboden vor, allerdings nach Starkniederschlägen. Solche Erosionsgräben hatte ich bis dahin noch nie gesehen. Damals habe ich realisiert, dass die Situation im Hochgebirge sensibler geworden ist.

TEC21: Was hatte in Bondo Priorität, nachdem die ersten Tage überstanden waren?
Christian Wilhelm: Zunächst ist es wichtig, dass man sich gegenseitig unterstützt und die Chaosphase gemeinsam bewältigt. Unsere Spezialisten waren vor allem mit der Gefahrenbeurteilung beauftragt. Die Bedrohung war ja immer noch da. Wir mussten die Arbeiter bei den Räumarbeiten schützen. Um längere Vorwarn­zeiten zu haben und auch während der Nacht arbeiten zu können, überwachten wir den Cengalo mit einer permanenten Radaranlage. Auch das zerstörte Frühwarnsystem musste schnell wieder auf- und ausgebaut werden.

TEC21: In welchem finanziellen Rahmen liegt das Frühwarnsystem in Bondo?
Christian Wilhelm: Das bewegt sich bei etwa 250 000 Fr. pro Jahr. 80 Prozent der Kosten tragen Bund und Kanton, den Rest teilen sich die Gemeinde und das kantonale Tiefbauamt. Wir benötigen dieses Frühwarnsystem, weil wir die entscheidenden Faktoren, die nach einem Bergsturz einen Schuttstrom auslösen – so wie in Bondo geschehen –, noch nicht kennen. Und ein erneuter Bergsturz ist nicht auszuschliessen. Zudem kann das Auffangbecken im Extremfall gar nicht das ganze Material aufnehmen.

TEC21: Wie hoch sind die Kosten der Frühwarnsysteme im ganzen Kanton im Vergleich zu den Investitionen in Schutzbauten?
Christian Wilhelm: Für klassische Bauten zum Schutz vor Lawinen, Rutschungen und Steinschlag sowie den Bachverbau investieren Bund, Kanton, Gemeinden und Nutzniesser insgesamt etwa 20 bis 22 Mio. Fr. pro Jahr. Für Wasserbauprojekte kommen noch einmal 6 bis 8 Mio. Fr. dazu. Der Unterhalt und Betrieb der Frühwarnsysteme beläuft sich auf etwa eine halbe Million Franken. Doch diese Aufwendungen nehmen eindeutig zu. Wenn moderne Technolo­gien wie Radar und Webcams zur Verfügung stehen, möchte man sie auch nutzen. Das bringt neue Möglichkeiten, schafft aber auch Abhängigkeiten.

TEC21: In Bondo sind die baulichen Schutzmassnahmen erst wieder provisorisch erstellt. Was sind die ­nächsten Schritte?
Christian Wilhelm: Das Auffangbecken ist geräumt, die Dämme wurden erhöht. Jetzt geht es darum, das definitive Schutzbautenprojekt auszuarbeiten. Die Gefahrenbeurteilung haben wir zusammen mit Ingenieur­büros durchgeführt. Für das Bauprojekt ist die Abteilung Wasserbau zuständig. Der Baubeginn ist für 2021 vorgesehen. Sobald die neuen Schutzbauten erstellt sind, werden das Frühwarnsystem angepasst und die ver­bleibende Gefährdung in Bondo durch die Gefahrenkommission neu beurteilt. Diese Abstimmung bezeichnen wir als integrales Risikomanagement.

TEC21: Welche Schwierigkeiten bereitete die Gefahren­beurteilung?
Christian Wilhelm: Für die Erstellung der Gefahrenkarte ­«Wasser» für den jetzigen Zustand waren die Eingangsgrössen teils nur schwer abschätzbar. Für die Eintretenswahrscheinlichkeit nicht periodischer Ereignisse mussten auch Annahmen getroffen werden. Zudem führten mögliche Ereignisverket­tun­gen zu einer Vielzahl von Szenarien. Bei Bergstürzen muss man Abschätzungen und Annahmen mit sehr grossen Unsicherheiten treffen. Eine Periodizität am gleichen Berg ist unwahrscheinlich. Das klassische Gefahren- und Risikokonzept stösst deshalb an Grenzen. ­Grundlegend bei diesem Konzept ist, dass ein Gefahren­prozess beziehungsweise eine bestimmte Risikokonstellation wiederkehrend auftritt und dementsprechend Häufigkeiten be­ziehungsweise Wahrscheinlichkeiten abgeleitet werden können.

TEC21: Seit dem Bergsturz sind fast zwei Jahre vergangen. Hat der Kanton Korrekturen vorgenommen?
Christian Wilhelm: Solche Grossereignisse liefern immer neue Erkenntnisse. Im Nachgang haben wir beispiels­weise geprüft, ob die Aufgaben richtig verteilt sind, und uns die Frage gestellt, wo wir die Gemeinden noch besser unterstützen können. Das tun wir vor allem mit der Ausbildung von lokalen Natur­gefah­ren­be­ratern. Zudem werden in den Gemeinden vermehrt Notfallplanungen erarbeitet. Dieser sogenannte organisatorische Teil ist wichtiger geworden. Sehr bewährt hat sich die Expertengruppe, die wir un­mittelbar nach dem Ereignis eingesetzt haben.

TEC21: Ist es eine Option, der Natur Raum zurückzugeben?
Christian Wilhelm: Ja, das ist ein wichtiger Teil heutiger Schutzkonzepte. In Bondo wurden einzelne Gebäude, die getroffen wurden, nicht wieder aufgebaut. Gemeinde, Gebäudeversicherung und Dienststellen von Bund und Kanton haben hier gemeinsam gute Lösungen gefunden. Somit steht mehr Raum für das Schutzbautenkonzept, aber auch für die Natur zur Verfügung.

TEC21: Die Polizei hat nach den Ereignissen in Bondo ­Ermittlungen aufgenommen. Was ist der Stand der laufenden Untersuchung?
Christian Wilhelm: Kommt es bei einem Naturgefahrenereignis zu Todesfällen, so wird von Amts wegen eine Untersuchung eingeleitet. Dies bot uns die Gelegenheit, die Arbeiten der letzten Jahre umfassend zu dokumentieren. Darin haben wir unter anderem dargelegt, was wir als kantonale Fachstelle zu welchem Zeitpunkt wussten und was nicht. Die Dokumentation ist derzeit bei der Staatsanwaltschaft. Diese entscheidet auch, ob sie ein Verfahren eröffnet oder die Untersuchung einstellt.1

TEC21: Wo zeichnen sich die nächsten Herausforderungen im Bereich Naturgefahren im Kanton ab?
Christian Wilhelm: Momentan beschäftigt uns eine Rutschung in Brienz im Albulatal sehr. Betroffen sind auch die Kantonsstrasse und die RhB-Linie zwischen Tiefencastel und Filisur. Mit Bohrungen klären wir derzeit ab, wie tief die Rutschflächen liegen. Brienz droht nicht nur abzurutschen, es ist auch durch eine ­Sackung oberhalb des Dorfs bedroht. Die Situation wird seit einiger Zeit ebenfalls permanent überwacht. Die Gemeinde und der Kanton bereiten sich auf verschiedenste Szenarien vor.

TEC21, Fr., 2019.06.28



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2019|25-26 Wenn der Berg kommt

07. Juni 2019Daniela Dietsche
TEC21

Ästhetik versus Nutzen

Das Viadukt Mühle Rickenbach bei Wil SG wurde 1964 nach Plänen von Christian Menn gebaut. Bis 2020 wird die Spannbetonbrücke ­instand gesetzt, verstärkt und verbreitert.

Das Viadukt Mühle Rickenbach bei Wil SG wurde 1964 nach Plänen von Christian Menn gebaut. Bis 2020 wird die Spannbetonbrücke ­instand gesetzt, verstärkt und verbreitert.

Eine Spannbetonbrücke, Korrosionsschäden, eine Instandsetzung. Nahe der Autobahnausfahrt Wil SG überquert das Viadukt Mühle Rickenbach Strassen und Gewässer. Auf den ersten Blick nichts Überraschendes, und doch fällt im Anfangssatz des technischen Berichts auf, dass der Planer der Brücke namentlich genannt ist: Das Viadukt wurde 1964 nach Plänen von Prof. Dr. Ch. Menn gebaut, heisst es dort. Es war damit eines seiner frühesten Werke.

«Die Konstruktion ist sehr schlank und elegant und zeigt die typische materialsparende Bauweise der damaligen Zeit», sagt Sandro De Luca, Projektleiter und Oberbauleiter des Kantons St. Gallen.

Tragende Teile verstärken

Eine umfangreiche Untersuchung im Jahr 2012 zeigte den schlechten Zustand der Brücke. Vor allem in die Gerbergelenke drang chloridhaltiges Wasser ein, was zu Bewehrungskorrosion und infolgedessen zu Betonabplatzungen führte. Das Viadukt muss dringend ­instand gestellt werden. Das sah auch Christian Menn so. In einem Interview mit TEC21 sagte er einmal: «Ein Eingriff in ein Bauwerk wird dann notwendig, wenn die Funktionalität nicht mehr gewährleistet ist – sei es aufgrund der Geometrie, der ungenügenden Trag­sicherheit oder von Mängeln mit Schadenfolgen.»1

Wichtigste Vorgabe bei der aktuellen Instandsetzung in Wil: Das Befahren der Brücke im Gegenverkehr – rund 21 000 Fahrzeuge täglich – muss während der Bauzeit und künftig möglich sein. Deshalb wird die Brücke beidseitig um je 70 cm auf insgesamt 12.30 m verbreitert. Eine längere Vollsperrung, Umfahrung oder sonstige Alternativen gab es nicht. Die Verbreiterung der drei Fahrspuren wird im Endzustand den Forderungen für Kantonsstrassen entsprechen.

Infolge der Mehrlast und der notwendigen Dimensionierung auf Verkehrslasten gemäss SIA 269 (2011) mussten die Längsträger verstärkt werden. Hierzu wurde an den Innenseiten der Stege jeweils ein zusätzliches Vorspannkabel eingebaut. Ausserdem wurden bereits im Herbst/Winter 2017/2018 die Stützenfundamente verbreitert und teilweise mit Mikropfählen verstärkt.

Gerbergelenke eliminieren

Die beiden hoch beanspruchten Gerbergelenke beim Einhängeträger waren in einem besonders schlechten Zustand. «Wir haben uns entschieden, den Einhängeträger monolithisch mit dem Träger zu verbinden. Bei anderen Brücken haben wir den Einhängeträger auch schon ausgetauscht. Das wäre hier aufgrund der Vorgabe ‹Bauen unter Verkehr› nicht möglich», sagt de Luca.

Die Fuge wurde ausinjiziert, die Teilstücke der Fahrbahnplatte zusammenbetoniert und die Trägerstege auf der Innen- und Aussenseite mit vorgespannten Betonscheiben ergänzt bzw. verstärkt. So wurde die Brücke zu einem Durchlaufträger über sechs Felder. Mit dem Fugenschluss wurden zudem potenzielle Schwachstellen wie Undichtigkeiten in der Gerbergelenkfuge beseitigt und die Erdbebensicherheit verstärkt. Die Dauerhaftigkeit und die Redundanz des Tragwerks werden erhöht. Allerdings verändert sich durch die monolithische Verbindung der einzelnen Tragwerkselemente nun das statische System. Die Bewegungen aus Temperaturdifferenzen sind über die ganze Brückenlänge zu berücksichtigen und müssen bei den Wider­lagern aufgenommen werden. Deshalb werden die bestehenden Fahrbahnübergänge ausgebaut und durch Gleitfingerübergänge ersetzt.

Eleganz behalten

Die Verantwortlichen sind sich bewusst, welcher berühmte Bauingenieur die Brücke entworfen hat, doch die tägliche Baustellenarbeit beeinflusst dieses Wissen nicht. Hier geht es vor allem darum, die Probleme, die die damalige Bauweise mit sich bringt, normgerecht und technisch einwandfrei zu lösen – das heisst, die geringe Bewehrungsüberdeckung zu reprofilieren oder alten Beton mit neuem möglichst kraftschlüssig zu verbinden.

Bauwerk modernisieren

Unter Denkmalschutz steht das Viadukt Mühle Rickenbach nicht. «Wir bauen aber trotzdem im Sinn der Brücke», sagt Marcel Eisenring, Projektleiter beim Kanton St. Gallen und örtlicher Bauleiter. Das ist wiederum entspricht der Vorstellung von Christian Menn, der die Meinung vertrat, man solle den Projektverfasser, falls er noch lebt, bei einer Anpassung beiziehen und seine Erfahrungen nutzen. «Aber auch wenn er tot ist, sollte ihn jemand gleichsam vertreten.»[1]

«Natürlich werden die Massnahmen der Brücke ein neues Aussehen geben», sagt Eisenring. Die Brücke werde aber auch nach Abschluss der Bauarbeiten im Sommer 2020 ein elegantes Bauwerk sein. Dann jedoch modernisiert und aktualisiert in die Gegenwart transferiert.


Anmerkung:
[01] «Gleichgewicht ist einer der schönsten Begriffe», TEC21 37/2010, espazium.ch/de/aktuelles/christian.menn

TEC21, Fr., 2019.06.07



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2019|22-23 Christian Menn (1927-2018)

07. Juni 2019Daniela Dietsche
TEC21

Neuland

Seinen Fussgängersteg im Onsernonetal bezeichnete Christian Menn als Abschluss seiner Arbeit. Mit viel Einfühlungsvermögen hat er die Holzkonstruktion in der Schlucht platziert.

Seinen Fussgängersteg im Onsernonetal bezeichnete Christian Menn als Abschluss seiner Arbeit. Mit viel Einfühlungsvermögen hat er die Holzkonstruktion in der Schlucht platziert.

Christian Menn plante über 100 Brücken aus Beton – aber nur eine aus Holz: eine kleine Fussgängerbrücke im Onsernonetal, von der er sich wünschte, dass die Menschen sie als Teil seines Werks wahrnehmen würden. Die Brücke über den Isorno bei Niva unterhalb Loco ist Teil des historischen Verkehrswegs Via delle Vose, eines alten Säumerwegs im Tessin, der heute als Wanderweg genutzt wird. Eine Steinbogenbrücke, der ehemals einzige Übergang über den Talfluss ins Onsernonetal, wurde bei einem Hochwasser 1978 zerstört. Das Militär erstellte eine Gerüstbrücke, ein Provisorium, das Jahrzehnte bestand. Auf Initiative der schweizerischen Stiftung für Landschaftsschutz und einer Privatperson wurde die Planung einer neuen Brücke schliesslich in Angriff genommen und finanziert.

Bogentragwerk an exponierter Lage

In seinem Entwurf greift Christian Menn die Bogenform der ursprünglichen Steinbrücke auf, schlägt aber vor, das Tragwerk in Holz auszuführen. Eine Kombination aus einem für einen Fussgängersteg gern gewählten Material und der für das Tessin typischen Form einer Bogenbrücke. Seit 2016 ersetzt nun eine elegante Holzkonstruktion das Provisorium. Sie besteht aus zwei Bogenrippen, die beidseitig in Betonwiderlager ein­gespannt sind. Zwischen den Brettschichtträgen aus Lärchenholz sind mit Stahlwinkeln Holzplanken als Gehwegplatten befestigt. Damit die Trägerrippen nicht kippen, sind sie unter der Gehwegplatte mit Zugstangen untereinander ausgefacht.

Der Holzbau der 20 m langen und 2.44 m breiten Brücke wurde im Werk vorgefertigt. Ein Helikopter hob das 4.5 t schwere Element an seinen Platz. Angesichts des nur zu Fuss (30 bis 45 Minuten Wanderweg) erreichbaren Brückenstandorts war eine leichte, mit dem Helikopter versetzbare Brückenkonstruktion sicher von Vorteil.

Christian Menn konnte an der Einweihung im Frühjahr 2016 aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen und die Brücke auch später nicht mehr besuchen. In einem Interview sagte er dem «Tagesanzeiger», dass sie zwar klein sei und bloss Fussgängern diene: Doch dieses Brüggli sei der Abschluss seiner Arbeit. Er habe es schrecklich gern.[1]


Anmerkung:
[01] «Der Überbrücker», «Tagesanzeiger» vom 19. 7. 2018.

TEC21, Fr., 2019.06.07



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2019|22-23 Christian Menn (1927-2018)

24. Mai 2019Daniela Dietsche
TEC21

«Die Lebensdauer der Anlagen ist der grösste Unterschied»

Nur ein Bruchteil der Betriebs- und Sicherheitsausrüstung (BSA) ist für den Nutzer eines Strassentunnels sichtbar. Die technischen Einbauten zu koordinieren erfordert Flexibilität und Koordinationsgeschick. Markus Leipert gibt einen Einblick aus Sicht des Bau­herrenunterstützers BSA.

Nur ein Bruchteil der Betriebs- und Sicherheitsausrüstung (BSA) ist für den Nutzer eines Strassentunnels sichtbar. Die technischen Einbauten zu koordinieren erfordert Flexibilität und Koordinationsgeschick. Markus Leipert gibt einen Einblick aus Sicht des Bau­herrenunterstützers BSA.

TEC21: Herr Leipert, Sie unterstützen das Astra bei Neubau und Instand­setzung grosser Infrastrukturanlagen. Was sind Ihre Aufgaben bei der BSA-Planung?
Markus Leipert: Ich definiere die Anforderungen an die Installationen, die den Tunnel für Benutzerinnen und Bewirtschafter sicher und funktional machen. Ein Spagat zwischen betrieb­lichen Anforderungen, fachlichen Vorgaben und baulichen Randbedingungen.

TEC21: Was heisst das konkret?
Markus Leipert: Bei der Instandsetzung eines Strassenabschnitts interessiert die Baufachleute zunächst, welche Teile erneuert werden müssen: Brücken, Stützmauern, Beläge, Kanalisationen. Daraus werden der Ablauf und die Randbedingungen definiert. BSA-seitig muss man dann entscheiden, ob es eine umfangreiche Erneuerung braucht oder ob punk­tuelle Eingriffe ausreichen. Unsere Aufgabe ist es, der Bauherrschaft einen Variantenfächer mit Lösungen aufzuzeigen.

TEC21: Das heisst, zunächst werden die baulichen Randbedingungen definiert, und erst dann kommen die BSA-Planer zum Zug?
Markus Leipert: Die BSA ist aufgrund der Kleinteiligkeit trotz der vielen Abhängigkeiten flexibler im Ablauf. Der Bau ist vergleichsweise träger. Das Bauprojekt an sich ist meist über einen exakten Perimeter abgegrenzt. Die Massnahmen der BSA sind selten in sich geschlossen. Das bedeutet, dass man über die Grenzen resp. planerischen Schnittstellen hinausschauen und dabei auch übergeordnete Systeme wie das Verkehrsleitsystem oder Transitleitungen einbeziehen muss. Die BSA macht nur 10 bis 15 % der Bausumme aus, trotzdem tangiert sie alles.

TEC21: Gibt es weitere Unterschiede?
Markus Leipert: Die Lebensdauer der Anlagen ist der grösste Unterschied. Während zum Beispiel für den baulichen Teil eines Tunnels Nutzungsdauern über 50 Jahre üblich sind, sprechen wir bei den BSA-Anlagen von einer Lebensdauer zwischen 10 und 30 Jahren. Was zur Folge hat, dass der BSA-Planer in der Regel etwa 50 % an baulichen Reserven in Hinblick auf die Erneuerung vorsieht.

TEC21: Sie sprechen von halb leeren Technik­räumen oder unvollständig belegten Kabelrohrblöcken. Wofür werden diese Reserven gebraucht?
Markus Leipert: Wenn die BSA erneuert wird, geschieht dies unter Betrieb und unter Berücksichtigung der übergeordneten Systeme. Das heisst, bevor man die alten Anlagen herausnehmen kann, müssen die neuen eingebaut werden. Obwohl Anlagen durch den technologischen Fortschritt tendenziell kleiner werden, bleiben einzelne Elemente, zum Beispiel Kabel, gleich gross und werden oft zahlreicher.

TEC21: Wie gestaltet sich die alltägliche Zusammenarbeit?
Markus Leipert: In der Ausführung setzen Bau und BSA oft andere Prioritäten. Nehmen wir das Beispiel der Erneuerung einer Rohranlage inkl. Schachtbauwerken: Fehlt bei einem Schacht noch ein kurzes Verbindungsstück – ein geringer Aufwand aus baulicher Sicht –, ist die Aufgabe für den Bau zu 99 % erfüllt. Für die BSA können dadurch aber die Arbeiten ­komplett blockiert sein, da die Kabel nicht in einen un­voll­ständigen Rohrblock eingezogen werden können. Zu Verständnisproblemen kommt es im Übrigen nicht nur zwischen BSA und Bau, auch innerhalb der BSA kommt es durchaus zu Missverständnissen. So funktioniert die Lüftungsplanung nach eigenen Regeln – ganz anders als der Bau und die Elektroplanung.

TEC21: Wie gelingt die Zusammenarbeit trotz aller Unterschiede?
Markus Leipert: Wichtig ist Verständnis für den jeweils anderen und die unterschiedlichen zu beachtenden Randbedingungen und Eckwerte. Zudem hilft es allen, sich genügend Zeit zu nehmen für gegenseitige Erklärungen. Allgemein braucht ein BSA-Planer Erfahrung, um die baulichen An­forderungen zu definieren und die Be­­dürf­nisse der BSA kommunizieren zu können. Gegenseitige Kenntnisse in den be­tei­lig­ten Disziplinen sind dabei von Vorteil. Und die lernt man nicht im Studium, sondern in der Projekt­arbeit.

TEC21, Fr., 2019.05.24



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2019|21 Drei Buchstaben für die Sicherheit

24. Mai 2019Daniela Dietsche
TEC21

«Frühzeitig miteinander zu reden ist zentral»

Von einem Strassentunnel wird erwartet, dass seine Nutzer sowohl im Normal- als auch im Ereignisfall sicher sind. Das zu erreichen erfordert viel Feingefühl bei der Abstimmung zwischen BSA- und Baufachleuten.

Von einem Strassentunnel wird erwartet, dass seine Nutzer sowohl im Normal- als auch im Ereignisfall sicher sind. Das zu erreichen erfordert viel Feingefühl bei der Abstimmung zwischen BSA- und Baufachleuten.

TEC21: Frau Winter, Sie betreuen Instandsetzungen von Strassentunneln. Wo sind Ihre Schnittstellen zu den Planern der Betriebs- und Sicherheitsaus­rüstung?
Angela Winter: Bei einer Instandsetzung ist die Zu­sammenarbeit mit den Fachleuten der BSA deutlich intensiver als bei einem Neubau. Wir müssen gemeinsam entscheiden, was in der jeweiligen Situa­tion baulich möglich und technisch sinnvoll ist. In einem Tunnel, der vor 30 Jahren erstellt wurde, ist oft nur wenig Platz für zusätzliche Ein- oder Umbauten.

TEC21: Von Ihnen wird eine sachgemässe Dimensionierung erwartet. Wie gehen Sie vor, um festzulegen, was gemacht wird?
Angela Winter: Die BSA-Fachleute geben uns an, welche Elemente sie nach Norm benötigen, um einen sicheren Betrieb gewährleisten zu können. Das sind einige Anlagen mehr als noch vor wenigen Jahren, und für jedes zusätzliche Kabel braucht es ein Leerrohr für einen möglichen späteren Austausch unter Betrieb. Wir prüfen dann, wie viel Platz für zusätzliche Leerrohre, Kabelblöcke etc. zur Verfügung steht. Einen Konflikt im Fahrraum kann es zum Beispiel geben, wenn wir die Fahrbahnbreite einhalten müssen, die benötigte Anzahl Kabelschutzrohre aber eine Verbreiterung des Banketts verlangt.

TEC21: Wie wird man sich in einem solchen Fall einig?
Angela Winter: Wir nähern uns in einem iterativen Prozess an und suchen nach einem Kompromiss. Den endgültigen Entscheid trifft aber die Bauherrschaft. Nicht immer kann die Norm zu 100 % eingehalten werden.

TEC21: Gibt es Beispiele, die zeigen, dass es eine gute Abstimmung braucht, obwohl die Zuständigkeiten in den Dokumenten der Bauherrschaften eigentlich umfassend geregelt sind?
Angela Winter: Es sind oft kleinere Sachen, die aber den Bau verzögern können. Allen ist zum Beispiel klar: Der Bauunternehmer öffnet den Graben, die BSA-Spezialisten verlegen die Kabel. Wer jedoch für die Hüllrohre verantwortlich ist und wann diese im Projekt­ablauf zur Verfügung stehen müssen, wird von Projekt zu Projekt unterschiedlich gehandhabt. Oft sind es die BSA-Fachleute, die flexibel auf Ände­rungen im Bauablauf reagieren. Das muss man anerkennen.

TEC21: Könnte BIM helfen, von vornherein auch an die kleinen Dinge zu denken?
Angela Winter: BIM ist kein Allheilmittel. Trotzdem ist es sicher hilfreich, eine Methode zu haben, die die Ko­­­­­­or­dination unterstützt. Heute arbeiten wir mit ver­schie­denen Plänen: je einen für die Löschwasser­leitung, die Entwässerung, die Betriebs- und Sicherheitsausrüstung, oft in unterschiedlichen Mass­stäben oder als Schema, sodass man sie nicht sinnvoll über­einanderlegen kann. Man hat also einen erheblichen Mehraufwand, um alle Informationen zu sammeln und kompatibel aufzubereiten. Ein digitalisierter Bestand wird in jeder Projektphase Erleichterungen bringen.

TEC21: Haben Sie schon Erfahrungen mit BIM? Wie wird sich die Arbeit verändern?
Angela Winter: Mit BIM müssen wir im Tunnelbau von der Achse ausgehen. Bisher hat man vom Querschnitt her gedacht. Das Arbeiten im 3-D-Modell ist eine Umstellung, aber dass sich Arbeitsmethoden ändern, gibt es immer wieder. Das Verständnis für die andere Dis­ziplin ist weiterhin ein entscheidender Aspekt für die Zusammenarbeit.

TEC21, Fr., 2019.05.24



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2019|21 Drei Buchstaben für die Sicherheit

24. Mai 2019Daniela Dietsche
TEC21

Zwischen Programmieren und Konstruieren

Ein BIM-Pilot für die Betriebs- und Sicherheitsausrüstung ­begleitet die ­konventionelle Planung des neuen Tunnels Bypass Luzern. Technisch ist die Baubranche auf gutem Weg. Bis sich BIM im ­Planungsprozess etabliert hat, dauert es wahrscheinlich noch.

Ein BIM-Pilot für die Betriebs- und Sicherheitsausrüstung ­begleitet die ­konventionelle Planung des neuen Tunnels Bypass Luzern. Technisch ist die Baubranche auf gutem Weg. Bis sich BIM im ­Planungsprozess etabliert hat, dauert es wahrscheinlich noch.

Es hat sich viel getan in den letzten zehn Jahren. BSA- und Baufachleute haben sich angenähert. «Das Verständnis für die jeweils andere Disziplin, für deren Anforderungen und Bedürfnisse ist in der Projektarbeit deutlich gestiegen», sagt Christian Eugster, Leiter Versorgungstechnik bei Basler & Hofmann. BIM als Motivation für eine bessere Kommunikation war also nicht der primäre Grund, ein Pilotprojekt für die Verkehrstechnik zu lancieren. Für Teile des neuen Tunnels Bypass Luzern erarbeitete Basler & Hofmann im Rahmen eines internen Pilotprojekts parallel zur konventionellen Planung ein ­BIM-Modell.[1] Christian Eugster glaubt an die BIM-Methode. «Wir müssen uns vorbereiten», sagt er. «BIM ist nicht billiger und nicht schneller, aber die Qualität steigt. Wir arbeiten mit stabilen Daten. Die Koordination zwischen den Gewerken wird einfacher, und Fehler werden insgesamt weniger.»

Luzern vom Verkehr befreien

Wie vielerorts im Schweizer Nationalstrassennetz hat auch die A2 bei Luzern ihre Kapazitätsgrenze erreicht. Um die heutige Achse vom Transitverkehr zu entlasten, wird zwischen den Anschlüssen Buchrain und Hergiswil ausgebaut.[2] So soll es möglich werden, den Individualverkehr in der Stadt zu verflüssigen und den öffentlichen Verkehr zu priorisieren.

Derzeit wird das Ausführungsprojekt bearbeitet; die Projektauflage ist für Frühjahr 2020 geplant. Sobald der Genehmigungsprozess mit allen Konsequenzen abgeschlossen ist, soll rund zwölf Jahre lang gebaut werden.

Beginn wäre nach heutigem Stand frühestens 2024. Aufgeteilt ist das Projekt «Gesamtsystem Bypass Luzern» in vier Baulose sowie ein Teilprojekt Umwelt und ein Teilprojekt Betriebs- und Sicherheitsausrüstung, die beide jeweils den ganzen Perimeter umfassen. Innerhalb des Gesamtprojekts gilt der Tunnel Bypass Luzern als Kernstück. Der Neubau seiner drei Technikzentralen und Teile der Tunnelröhre werden parallel zur konventionellen Planung mit BIM modelliert. Dazu übernimmt Basler & Hofmann die Grundlagen aus der 2-D- beziehungsweise 3-D-Planung der «IG ByTuLu».

Konventionell und parametrisch

Die drei neuen Zentralen werden als statisches Modell abgebildet, d. h., die Konstruktion setzt sich aus einzelnen, informierten Elementen zusammen. Muss eine Raumaufteilung verändert werden, werden die Elemente im Modell manuell verschoben.

Bei den Tunnelabschnitten handelt es sich hingegen um ein parametrisches Modell, das sich an der Tunnelachse orientiert. Die Querschnittselemente werden mathematisch beschrieben. Die normgerechte Posi­tionierung der BSA-Elemente entlang der Achse wird pro gleichartigem Abschnitt in einer Datenbank generiert. Das heisst, alle Ausrüstungsgegenstände haben einen relativen Bezug zur Tunnelachse. Ändern sich der Tunnelquerschnitt oder die Ausrüstungselemente, wird die gesamte Anordnung neu generiert. Gegenüber der konventionellen Planung findet die Projektierung also in einer Datenbank und nicht in einem Planungsmodell mit grafischer Oberfläche statt – es wird hauptsächlich programmiert, nicht konstruiert. Die Ausgabe eines Plans (2-D oder 3-D) wird als grafische Auswertung des Datenbankmodells verstanden. Bewerkstelligt wird die BIM-Planung mit einem Revit-Modell, die Automatisierung von sich wiederholenden Arbeitsschritten (z. B. die Anordnung der Querschnittselemente) erfolgt mittels Dynamo-Script. So entsteht eine sechsdimensionale BIM-
­Planung; derzeit auf Fertigstellungsgrad LoD 200/3003.

Infrastrukturprojekte haben in der Regel eine lange Projektierungszeit. Es ist auch noch nicht klar, ob und wann der Tunnel Bypass Luzern tatsächlich gebaut wird. Können die Beteiligten trotzdem schon etwas aus dem BIM-Pilotprojekt mitnehmen? «Wir konnten Erfahrungen sammeln und die Ergebnisse nun als konzep­tionelle Grundlage für andere Projekte nutzen», sagt Christian Eugster. Am Anfang sei die Planung mit BIM sehr aufwendig und zeitintensiv gewesen.

Eine Umstellung für alle Beteiligten sei auch, dass Ent­scheidungen deutlich früher als im konventionellen Planungsprozess getroffen werden müssen. Sind diese Entscheidungen allerdings gut überlegt und fliessen sie rechtzeitig ins Modell ein, entsteht gegen Ende des ­Projekts weniger Aufwand als bisher.

Für Christian Eugster wird dennoch auch die Bauphase interessant sein. Dabei gehe es nicht nur darum, die Modelle zum Beispiel als Montageunterstützung einzusetzen, sondern auch um den umgekehrten Weg: die Informationen von der Baustelle zu erhalten und diese weiter zu nutzen. So sollte es laufend möglich sein, den aktuellen Arbeitsstand, Materialverbrauch etc. abzufragen und Fehler in der abschliessenden Doku­mentation zu vermeiden. Diese Vorteile gelten natürlich auch für die Bauherrschaften, die zum Beispiel ständig über den aktuellen Kostenstand und die Termin­einhaltung informiert sind.

Digitale Daten maximal nutzen

Auf die verschiedenen Bau- und Verkehrsphasen und oft vielen BSA-Provisorien bei grossen Infrastrukturprojekten angesprochen, erläutert Christian Eugster: «Wir fokussieren im Moment auf ein Objekt, um Schritt für Schritt herauszufinden, welche Daten wir brauchen und welches Vorgehen sinnvoll ist.» Zunächst ist es von Vorteil, wie im Fall Tunnel Bypass mit einem Neubau zu beginnen, da sonst bereits an erster Stelle die Frage steht, ob die bestehenden Elemente aufgenommen ­werden bzw. in welcher Tiefe sie im Modell abgebildet werden müssen. Ähnlich verhält es sich mit den wechselnden Bau- und Verkehrsphasen und den damit verbundenen Provisorien oder redundanten Systemen.

Weitere Punkte, die noch zu klären sind, sind die Einbindung der Modelle auf Objektebene in die übergeordneten Transitleitungen und die Übertragung der parametrisierten Projektdaten in die Erhaltungssysteme der Infrastruktureigentümer. Letztere sind hier gefordert.[4] Sie müssen herausfinden, welche Daten sie in welcher Phase benötigen. «Die Bauherrschaften sind noch nicht so weit, dass es klare Vorgaben an die Planer gibt, das heisst, es sind weder verbindliche Programme vorgeschrieben noch die Tiefe der Datenangaben definiert», sagt Christian Eugster. Die technische Umsetzung der Zielvorgaben aus der digitalen Strategie scheint für ihn machbar zu sein, wobei generell auf die Planungsbüros grössere Herausforderungen zukommen werden, da parallel zum heutigen Mitarbeiterbestand Kompetenz im Bereich der Informatik aufgebaut werden muss. Bis sich aber ein «neuer» Planungsprozess etabliert hat, dauert es wahrscheinlich noch einige Jahre.


Anmerkungen:
[01] Ein offizielles BIM-Pilotprojekt wurde vom Astra erstmals beim Gotthard-Strassentunnel ausgeschrieben. Neben der konventionell erfolgenden Gesamtplanung werden eine Zentrale sowie ein 1 km langer Muster­abschnitt des Tunnels als BIM-­Objekte geplant.
[02] www.bypasslu.ch
[03] Fertigstellungsgrade: LoD 100 konzeptionelle Darstellung, LoD 200 Dimension und Grösse massgeblicher Bauelemente, LoD 300 ausschreibungsreife Angaben mit Spezifikationen, LoD 400 fabrikationsreife Ausführungsplanung, LoD 500 Dokumentation des ausgeführten Elements.
[04] Das «BIM-Labor» des Astra führt gegenwärtig
Planungstests mit verschiedenen Plattformen und Programmen durch. Der Fokus liegt dabei auf einer 3-D-BIM-Planung mit informierten Objekten. Ziel ist, Erfahrungswerte zu sammeln und parametrisierte Projektdaten für eine spätere Übernahme in die eigenen Erhaltungssysteme zu strukturieren.

TEC21, Fr., 2019.05.24



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2019|21 Drei Buchstaben für die Sicherheit

09. November 2018Daniela Dietsche
TEC21

Geteilte E-Mobilität

Carsharing, Elektromobilität, Energiemanagement: Im Basler Areal Erlenmatt Ost soll in einem Pilotprojekt alles kombiniert werden. Während der Umsetzungsphase 2019 wird das Projekt wissenschaftlich begleitet, um reale Daten zum Nutzerverhalten oder zur Arealoptimierung zu erhalten.

Carsharing, Elektromobilität, Energiemanagement: Im Basler Areal Erlenmatt Ost soll in einem Pilotprojekt alles kombiniert werden. Während der Umsetzungsphase 2019 wird das Projekt wissenschaftlich begleitet, um reale Daten zum Nutzerverhalten oder zur Arealoptimierung zu erhalten.

Heute funktioniert das Laden eines Elektroautos meist noch nach dem einfachen Prinzip: Stecker in die Dose, Ladevorgang startet. Grundsätzlich eignen sich E-Fahrzeuge bzw. deren Batterien aber auch dafür, erneuerbaren Strom aus Photovoltaik oder Windkraft zwischenzuspeichern. Beim sogenannten bidirektionalen Laden wird das Elektroauto durch eine Steuerung intelligent geladen und bei Bedarf entladen (vgl. Abb.). Dadurch könnten Schwankungen im Stromnetz z. B. eines Gebäudes oder Areals ausgeglichen werden.

Hinter dem Projekt OKEE steckt genau dieser Gedanke: die Vernetzung und Optimierung der Bereiche Elektrizität, Wärmeversorgung und Verkehr, eine sogenannte Sektorkopplung zwischen den Sektoren Gebäude und Mobilität. Das Institut für Nachhaltige Entwicklung (INE) der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und novatlantis haben das Projekt auf dem Areal Erlenmatt Ost in Basel initiiert und setzen es in einem Projektkonsortium gemeinsam um. Als Partner beteiligen sich die ADEV-Energie­genossenschaft und die Stiftung Habitat. Sie alle sind an der praktischen Erprobung von Lade- und Eigenverbrauchslösungen für und mit Elektromobilität in grös­seren Arealen interessiert, sodass erstmals in der Schweiz ein komplexes Vehicle-to-Home-Pilotprojekt (V2H) mit einem Carsharing-Konzept kombiniert wird.

Derzeit gibt es noch viele technische und organisatorische Hindernisse bei der Umsetzung eines solchen ­Konzepts. Überhaupt ein geeignetes Areal zu finden war für die Projektverantwortlichen von OKEE eine grosse Herausforderung. Viele Anfragen scheiterten zum ­Beispiel an unterschiedlichen Planungshorizonten oder an ­fehlender Innovationsbereitschaft.

Glaubwürdiges Pilotprojekt

Nach intensiver Suche ergab sich der Kontakt zu den Verantwortlichen des Areals Erlenmatt Ost. Es zeigte sich, dass das Areal technisch für die Umsetzung der Sektorkopplung geeignet ist und die Schlüsselpersonen der ADEV-Energiegenossenschaft und der Stiftung Habitat grosses Interesse an diesem Pilotprojekt und der Zusammenarbeit haben. Das Areal Erlenmatt Ost wurde nach den Zielsetzungen der 2000-Watt-Gesellschaft entwickelt. Viele Gebäude entsprechen dem Standard Minergie-P-Eco, und alle sind mit PV-Anlagen auf den Dächern ausgestattet. So wird ein Grossteil des benötigten Stroms vor Ort produziert. Alle Gebäude bilden bereits heute eine Eigenverbrauchsgemeinschaft (EVG) mit ca. 400 Kunden (vgl. «Energie- und Soziallabor Erlenmatt Ost»).

Die Bewohner und Bewohnerinnen verpflichten sich via Mietvertrag zur EVG. Hier gibt es klare Kri­terien bezüglich Wohnfläche, Energieverbrauch und Mobilität. Das Quartier ist autoarm, entsprechend rar sind Parkplätze auf dem Gelände oder in der Tiefgarage. Konkret heisst das, pro zehn Wohnungen gibt es einen Parkplatz. Eine gute Ausgangslage, um mit der geteilten E-Mobilität den Nutzern einen Mehrwert anzubieten.

Seit Oktober 2018 steht ein Nissan Leaf in der Tiefgarage auf einem speziell ausgewiesenen Parkplatz und wird über eine bidirektionale Ladesäule mit arealeigenem Strom versorgt. Als eines der wenigen Elektro­fahrzeuge beherrscht dieses Auto die Vehicle-to-Grid-Technologie (V2G). Das heisst, die Batterie, ein 40-kWh-­Lithium-Ionen-Akku, kann auch wieder Strom ins Netz einspeisen. Sollte die Stromeigenproduktion auf dem Areal einmal nicht ausreichen, um das Fahrzeug zu laden, wird es vom übergeordneten Netz versorgt. Der Strom in Basel-Stadt stammt ausschliesslich aus erneuerbaren Energien, was für die Glaubwürdigkeit des Pilotprojekts und die Nutzung eines E-Autos zentral ist.

Im Gegensatz zu öffentlichen Carsharing-Modellen können ausschliesslich Personen, die auf dem Areal wohnen oder arbeiten, das Fahrzeug nutzen. Das Auto zu laden ist nicht komplizierter als Kraftstoff zu tanken. Ansonsten gelten die üblichen Regeln im Umgang mit Carsharing. Selbstverständlich muss das Auto rechtzeitig – mit Zeitpuffer zum Aufladen – zurückgebracht und an der Ladestation geparkt werden. Wenn die Batterie «ganz leer» ist, dauert das Laden sechs bis acht Stunden.

Bei einer durchschnittlichen Fahrleistung von ca. 40 km pro Tag dürften Ladezeiten zwischen drei und vier Stunden täglich ausreichen. Abgerechnet wird nach Mietdauer und gefahrenen Kilometern. Ein bestehendes Buchungs- und Abrechnungssystem wurde an die speziellen Rahmenbedingungen angepasst, sodass die Berechtigten via App oder Homepage das Auto ­buchen können.

Ab Anfang 2019 können die Bewohner zusätzlich auf einen Siebensitzer bzw. Transporter, einen Nissan Evalia, zurückgreifen, der als zweites Fahrzeug in das Projekt aufgenommen wird. Welches Fahrzeug für die Bewohnerinnen den meisten Nutzen bringen würde, wurde mithilfe einer Online-Umfrage eruiert.

Richtiger Anschluss, passender Stecker?

Bisher sind keine Standardprodukte vorhanden. «Aus ähnlichen Pilotprojekten in anderen Ländern sind keine Standardprodukte hervorgegangen», sagt Anna Roschewitz, Geschäftsführerin von novatlantis und Projektleiterin von OKEE. So exisierten auch immer noch unterschiedliche Systeme bei Steckern und Ladesta­tionen. Bei Neu- und Umbauten empfiehlt es sich daher, an geeigneten Standorten Leerrohre und Fundamente und für allfällige Änderungen genügend Platzreserven einzuplanen. Für eine eventuelle grössere Fahrzeug­flotte könnte die Tiefgarage auf dem Areal Erlenmatt Ost mit weiteren bidirektionalen Lade­stationen aus­gestattet werden.

Daten aus dem Alltag

Das Pilotprojekt wird für ein Jahr wissenschaftlich begleitet. Die realen Pilotdaten stellen – anders als Daten auf Basis von Annahmen – einen Datenschatz dar, um zahlreiche technische und organisatorische Fragen zu beantworten. Offene Fragen haben die Projektpartner viele: Welche Erfahrungen ergeben sich aus der Zusammenarbeit der Beteiligten? Wie sieht das Mobilitätsverhalten der Nutzerinnen und Nutzer aus? Wann stehen die mobilen Speicher für die Arealoptimierung zur Verfügung? Wie funktioniert die technische Einbindung der beiden bidirektionalen Elektroautos in das Energiemanagementsystem der Überbauung? Wie kann durch eine smarte Ladeplanung und die Beeinflussung des Nutzerverhaltens durch ein Tarifsystem der Eigenverbrauchsanteil erhöht werden? Lassen sich durch die Integration von Elektroautos in das Energiemanagementsystem des Areals neue Geschäftsmodelle identifizieren? Und können diese Erkenntnisse auf andere Areale oder Gemeinden übertragen werden? Welchen übergeordneten Beitrag leistet das Pilotprojekt für ­weitere Anwendungen in Basel und der Schweiz?

Um die Daten breiter abzustützen und festzustellen, ob und wie sie auf andere Überbauungen übertragbar sind, suchen die Verantwortlichen weitere Areale, in denen das Konzept angewendet werden kann. «Wenn jemand Interesse hat, sind wir gern zu einem Informationsgespräch bereit», betont Anna Roschewitz. Für Arealbetreiber und Eigenverbrauchsgemeinschaften, aber auch schon für Mehrfamilienhäuser könnte die geteilte E-Mobilität durchaus ein interessantes Modell sein.


Eine Übersicht, wie sich elektrische Energie speichern lässt, findet sich in TEC21 14–15/2017.

TEC21, Fr., 2018.11.09



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2018|45 Hausanschluss an die Stromwende

07. September 2018Daniela Dietsche
Tina Cieslik
TEC21

Heilsversprechen in Beton

Der Mariendom im nordrhein-westfälischen Neviges zieht seit 1968 Besucherinnen und Besucher in seinen Bann. Seine Bau- und Planungsgeschichte ist ähnlich facettenreich wie ein biblisches Epos – und sie dauert weiter an: Derzeit wird das Dach der Betonkonstruktion von Architekt Gottfried Böhm aufwendig instand gesetzt.

Der Mariendom im nordrhein-westfälischen Neviges zieht seit 1968 Besucherinnen und Besucher in seinen Bann. Seine Bau- und Planungsgeschichte ist ähnlich facettenreich wie ein biblisches Epos – und sie dauert weiter an: Derzeit wird das Dach der Betonkonstruktion von Architekt Gottfried Böhm aufwendig instand gesetzt.

Seit rund 350 Jahren pilgern Gläubige nach Neviges, um zur Heiligen Maria zu beten. Seit rund 50 Jahren sind es auch Architekturinteressierte: 1968 wurde hier ein Bauwerk fertiggestellt, das zu Recht als Ikone der deutschen Nachkriegsarchitektur gilt. Architekt Gottfried Böhm (*1920) – neben Frei Otto einziger deutscher Pritzker-Preisträger – gelang es damals, eine plastische Form für eine zeitgenössische Wallfahrtskirche zu finden, die auch heute noch fasziniert.

Die Marienwallfahrt in Neviges geht zurück bis ins 17. Jahrhundert. 1676 hatte ein Franziskanermönch beim Beten vor einem Kupferstich, der die unbefleckte Empfängnis zeigte, eine Marienerscheinung. Die Heilige soll ihn angewiesen haben, ihr Abbild nach Neviges zu tragen und dort zu verehren – so die Legende. Die Wahrheit dürfte profaner gewesen sein: Seit der Reformation war das Bergische Land protestantisch. Mit einer Wallfahrtskirche konnte die katholische Kirche in der Region Präsenz markieren. Das gelang: Über die Jahrhunderte wuchs die Marienwallfahrt zu einer Massenveranstaltung, ihren Höhepunkt erreichte sie nach dem Zweiten Weltkrieg mit jährlich 350 000 Pilgerinnen und Pilgern.

Die 1728 fertiggestellte Pfarrei- und Wallfahrtskirche St. Mariä Empfängnis platzte aus allen Nähten, die vorher schon mehrfach genommenen Anläufe für eine neue Wallfahrtskirche wurden konkret. Im September 1960 fiel der Entschluss für den Neubau, anschliessend dauerte es aber noch einmal zweieinhalb Jahre, bis das zuständige Erzbistum Köln zum Wettbewerb lud. 17 Architekturbüros, mit wenigen Ausnahmen alle aus der Region Köln, waren gebeten, eine Vision für eine zeitgenössische Wallfahrtskirche zu entwickeln. Das war mehr als eine Alibiübung: Der Kölner Erzbischof Josef Kardinal Frings spielte «auch in architektonischen Gestaltungsfragen eine dominante Rolle. Er sah (…) in dem Werk guter Architekten einen Ausdruck der Schöpferkraft Gottes und betrachtete sich deshalb in seinem Einflussbereich als letzte irdische Instanz in Gestaltungsfragen».[1]

Gemeinsam statt frontal

Der Kirchenbau war nach dem Zweiten Weltkrieg eine verbreitete Bauaufgabe. Werke wie die IIT-Kapelle von Mies van der Rohe in Chicago (1952) oder die Marienkirche in Tokio von Kenzo Tange (1961 bis 1964, initiiert und finanziert vom Erzbistum Köln) veränderten das traditionelle Verständnis von Sakralbauten. Viele dieser neuen Bauten entsprachen den Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils von 1962 bis 1965 oder nahmen diese vorweg: Der gemeinsame Gottesdienst rückte wortwörtlich ins Zentrum, der Priester zelebriert die Messe nun mit dem Gesicht zu den Gläubigen, der Altar steht mitten in der Kirche.

Dieses Gedankengut spiegelte sich auch in den Wettbewerbsbeiträgen zum Mariendom. Im Juli 1963 kürte die Jury den schlichten Entwurf von Kurt Faber zum Sieger. Das Siegerprojekt wurde dem Bauherrn Kardinal Frings vorgestellt – mit ernüchterndem Ergebnis: Seine Eminenz war enttäuscht von der Auswahl und befand, es sei noch keine «Lösung gefunden, [...] die als plastischer Baukörper bzw. als Bild und Zeichen einer Wallfahrtskirche befriedigt».[2] In der Folge liess er eine zweite Wettbewerbsrunde stattfinden. Die drei erstplatzierten Büros konnten ihre Entwürfe überarbeiten, ebenso Josef Lehmbrock und Gottfried Böhm, zudem wurde das Raumprogramm redimensioniert. Böhm ging schliesslich im März 1964 als Sieger aus der Konkurrenz hervor.

Die Legende besagt, der bereits stark sehbehinderte Kardinal habe Böhms expressives Projekt im Modell am besten ertasten und verstehen können. Möglicherweise war er aber nur auf der Suche nach einem emblematischen Bau, auch vor dem Hintergrund, dass die Pilgerzahlen inzwischen deutlich zurückgegangen waren und ein starker Anziehungspunkt gesucht wurde.

Räumlich inszenierter Glaube

Neben der ausdrucksstarken Form punktete Gottfried Böhms Entwurf vor allem mit seiner städtebaulichen Disposition. Und zwar nicht mit jener im Kontext der Gemeinde Neviges – der Mariendom wendet ihr quasi den Rücken zu –, sondern mit der internen des mit dem Bau entstehenden Klosterbezirks. Böhm verstand die Wallfahrt als sinnliches Erlebnis und inszenierte sie dementsprechend räumlich: Ein leicht ansteigender Pilgerweg, die Via sacra, führt, flankiert vom Schwesternheim mit den charakteristischen runden Erkern, in einer leichten Neigung zum Mariendom auf dem Hardenberg.

Dort angekommen, betreten die Gläubigen das Bauwerk, dessen Inneres dunkel und schlicht gehalten ist – nichts lenkt ab von der inneren Einkehr. Die einzig schmückenden Elemente sind die ebenfalls von Böhm entworfenen farbig verglasten Fenster, oft mit Rosenmotiven – die Rose ist das Symbol Marias –, die den Raum je nach Lichteinfall in leuchtendes Rot tauchen. Der polygonale Innenraum ist dabei die nahtlose Fortführung des differenzierten Aussenraums, eine für Böhm typische Gestaltung, die sich zum Beispiel auch in der Pflästerung des Bodens manifestiert, der im Material jener des Pilgerwegs entspricht, oder bei den Leuchten, die an Strassenlaternen erinnern.

Entscheid mit Folgen

Konstruktiv formte Böhm den Bau als räumliches Faltwerk aus Stahlbeton, mit einer Oberfläche aus sandgestrahltem Sichtbeton. Die eindrückliche formale Einheit aus Wand- und Dachflächen war allerdings nicht von Anfang an geplant: Der Architekt hatte eine Blei- oder Schieferdeckung mit Foamglasdämmung vorgesehen, allerdings weniger als Witterungs- denn als Wärmeschutz. Um den Bau bis zur Dacheindeckung wasserfest abzuschliessen, war die Decke zweischalig aus wasser­undurchlässigem Beton mit einer dazwischen liegenden Kunststofffolienabdichtung konstruiert. Als der erste Bauabschnitt über der Sakristei fertig betoniert war, schien er der Witterung zu trotzen, und Böhm schlug im Juli 1966 vor, die Bewehrung zu erhöhen und die verbleibenden Dachteile einschalig auszuführen – auch, da der Dom vor allem als «Sommerkirche» genutzt ­werden sollte und um allfällige Reparaturkosten für die Dachdeckung zu vermeiden.[3]

Dies stellte sich letztlich als fataler Entscheid heraus, denn die ersten Feuchteschäden traten bereits nach wenigen Jahren auf. Gegen Ende der 1980er-Jahre beschichtete man die Dachfläche daher mit Epoxidharz, was aber nicht den gewünschten Erfolg brachte. Die starre Beschichtung riss an vielen Stel­len und löste sich teilweise vom Beton­untergrund, sodass weiterhin Wasser in das Innere der Kirche eindrang. Zu Anfang des neuen Jahrtausends wurde die Situation so prekär, dass das Erzbistum eine Expertengruppe unter der Leitung von Peter Böhm, Sohn von Gottfried Böhm und selber Architekt, mit der Dach­instandsetzung beauftragte.

Beim gewählten Verfahren stützte man sich auf Versuche des Instituts für Bau­forschung der RWTH Aachen. Schlussendlich entschied man sich für einen carbonfaserverstärkten Spritz­betonauftrag. Bei einem Teilstück des 300 m² grossen Dachs über der Sakramentskapelle wurde 2017 das Epoxidharz entfernt, das Dach sandgestrahlt und der Stahlbeton instand gesetzt. Carbonfaserbewehrter Spritzmörtel soll das Dach nun optimal gegen Witterungseinflüsse schützen und dauerhaft abdichten – bisher mit gutem Ergebnis (vgl. «Risse, fein verteilt»).

Beton hält, Geld fehlt

Nachdem nun ein Bruchteil der Dachfläche erfolgreich abgedichtet ist, wird seit Juni 2018 im rückwärtigen Bereich ein Abschnitt von rund 800 m² bearbeitet. Die Massnahmen an diesem zweiten Bauabschnitt werden voraussichtlich bis ins Frühjahr 2019 dauern. Die Kosten für den aktuellen Abschnitt teilen sich das Erzbistum Köln, das Kulturstaatsministerium, die Deutsche Stiftung Denkmalschutz und die Wüs­tenrot-Stiftung. Bei einer Restfläche von über 1500 m² ist die – bisher ungesicherte – weitere Finanzierung aber eines der Hauptrisiken.


Anmerkungen:
[01] Karl Kiem, «Vielschichtiger Betonfelsen: Die Wallfahrtskirche in Neviges», in: Wolfgang Voigt (Hg.), Gottfried Böhm. Jovis Verlag, Berlin 2006, S. 60–80, Fussnote 52. Online abrufbar auf www.karl-kiem.net/Neviges/index.html
[02] Zitiert nach: Aktennotiz zur Audienz bei Seiner Eminenz am Dienstag, 10. 9. um 16.30 Uhr, vom 17. Sept. 1963; Bauakten im Generalvikariat Köln. In: Veronika Darius, Der Architekt Gottfried Böhm, Bauten der sechziger Jahre, Beton-Verlag, Düsseldorf 1988, Fussnote 102.
[03] Ebd., Fussnote 111.

TEC21, Fr., 2018.09.07



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2018|36 Mariendom in Neviges: Eingriff von oben

07. September 2018Daniela Dietsche
Tina Cieslik
TEC21

Risse, fein verteilt

Seit Jahrzehnten dringt Wasser ins Innere des Mariendoms in Neviges. 2017 wurde ein Teil des Dachs mit carbonfaserbewehrtem Beton abgedichtet, wobei auch die Optik nicht zu kurz kommen durfte. Als Probefläche diente das Dach über der Sakramentskapelle.

Seit Jahrzehnten dringt Wasser ins Innere des Mariendoms in Neviges. 2017 wurde ein Teil des Dachs mit carbonfaserbewehrtem Beton abgedichtet, wobei auch die Optik nicht zu kurz kommen durfte. Als Probefläche diente das Dach über der Sakramentskapelle.

Das Dach des Mitte der 1960er-Jahre erstellten Mariendoms in Neviges nördlich von Wuppertal besteht aus vielen unterschiedlich geneigten Flächen, aus Spitzen, Kanten und Kehlen. Der Bau ist ein räumliches Faltwerk aus Stahlbeton, ohne äussere Abdichtung und ohne Dachein­­de­ckung (vgl. «Heilsversprechen in Beton»). In den letzten Jahrzehnten stellten Exper­ten verschiedene Rissschäden im Stahlbetondach fest. ­

Betroffen sind vor allem die Kehlen, die Übergänge von Wand zu Dach, kompliziert gestaltete Eckbereiche, ­ebene Dachflächen sowie die Arbeitsfugen. Durch feine Risse dringt Wasser ins Innere der denkmalgeschützten Kirche. Ansonsten ist der Bau, der seinerzeit mit wasserundurchlässigem Beton (WU-Beton) mit hohem ­Zementanteil und grosszügiger Bewehrung erstellt ­wurde, in gutem Zustand. In erster Linie geht es bei der aktuellen In­standsetzung also darum, das Dach gegen das Eindringen von betonangreifenden oder korro­sionsfördernden Stoffen zu schützen.

Das Problem ist nicht neu: Das Dach des Ma­riendoms war von Anfang an undicht. Mitte der 1980er-Jahre brachte man eine flächige Beschichtung auf Epoxidharzbasis auf. An einigen undichten Kehlbereichen wurde der Beton gegen PCC-Mörtelplomben ausgetauscht. Das löste das Problem nur temporär, denn die starre Harzschicht machte die thermischen Ver­formungen des Dachs nicht mit und löste sich vom Untergrund. Anfang des neuen Jahrtausends war klar, dass etwas passieren musste, bevor die Bewehrung korrodieren würde.

Gegen Wasser schützen

Zunächst dachte die Bauherrschaft an eine Bleideckung, wie sie im Entwurf von Gottfried Böhm auch vorgesehen war. Dieser Ansatz wurde aber verworfen, weil der vergleichsweise hohe Aufbau von rund 10 cm in den Verschneidungen, in denen teilweise bis zu vier verschieden geneigte Schrägflächen aufeinandertreffen, zu grossen Aufbauten geführt hätte. Die Idee, lediglich die Epoxidharzschicht zu entfernen, die am schlimmsten beschädigten Stellen abzudichten und den Bau dann jährlich zu warten, war wegen der aufwendigen Einrüstung und Einhausung für die Bauherrschaft keine Option.

Das Gerüst ist auch bei den aktuellen Arbeiten die Krux und der grösste Kostentreiber. Wegen der exponierten Lage und der besonderen Bauwerksgeometrie sind aufwendige Gerüste, Zuwegungen und Transporthilfen erforderlich. Zudem finden die Arbeiten – bis auf die finale Decklage – jeweils abschnittsweise von oben nach unten statt, d. h., das Gerüst muss jeweils verschoben und neu den geneigten Flächen angepasst werden. Um die zu bearbeitenden Flächen jederzeit vor- oder nachbehandeln zu können und vor erneuter Verschmutzung während der Mörtelaufträge zu schützen, sind umfangreiche Massnahmen nötig, beispielsweise das zeitweise Beheizen des Schutzzelts bei Temperaturen unter 5 °C.

Selbstheilung durch Verfeinerung

Die wasserführenden Risse einfach mit Mörtel zu verpressen ist nicht möglich, da die Dachkonstruktion aufgrund Temperaturbeanspruchung ständig in Bewegung ist. Eine feine Rissverteilung soll Abhilfe schaffen. Es wurde ein Instandsetzungskonzept mit carbon­bewehrtem Spritzmörtel entwickelt – die Idee dazu stammte von Gottfried Böhms Sohn Peter, der die Arbeiten mit seinem Architekturbüro begleitet. Mit dieser Schutzschicht sollen die sich zyklisch öffnenden Einzelrisse in ein fein verteiltes und damit unschädliches Rissbild im Instandsetzungsmörtel überführt werden. Die Rissbreite wird reduziert und ist somit nicht mehr wasserführend.

Die an den Arbeiten beteiligten Experten des Instituts für Bauforschung der RWTH Aachen schlugen vor, eine 28 mm dicke Mörtelschutzschicht (eingebracht in drei Lagen) flächig zu applizieren und jeweils dazwischen eine textile Bewehrung aus Carbon auf den Dachaussenflächen aufzubringen. Zusammen mit der abschliessenden äusseren Decklage beträgt die Dicke des Schutzsystems ca. 35 mm. Zudem empfahlen sie, jeden Riss zunächst mit einem Enthaftungsstreifen vorzubehandeln. Dadurch soll verhindert werden, dass sich der Einzelriss durch die Schutzschicht fortsetzt.

Die aufgebrachte Schicht wirkt wie eine flächige Beanspruchung auf das Faltwerk. «Wir sprechen hier von zusätzlich ca. 80 kg pro m2», sagt Sergeij Rempel, der das Projekt an der RHTW Aachen begleitete. Trotz der Zunahme der ständigen Belastung bleibt das Dach gemäss der statischen Untersuchung ohne weitere Massnahmen tragfähig. Rempel geht von einer Nutzungsdauer der carbontextilbewehrten Schutzschicht von ca. 100 Jahren aus.

Keine Korrosion dank Carbontextil

Da Carbontextil nicht korrosionsanfällig ist, kann es oberflächennah angeordnet werden und eignet sich somit besonders für dünne Bauteile. Lediglich wenige Millimeter sind zur Sicherstellung der Verankerungskräfte erforderlich. Das im Projekt eingesetzte Carbontextil besteht aus haardünnen Filamenten (Durchmesser rund 7 µm). Mehrere tausend dieser Filamente werden zu Fasersträngen gebündelt und anschliessend zu netzartigen Textilien verarbeitet. Die Textilien werden im Werk mit Epoxidharz getränkt, ausgehärtet und besandet, um eine höhere Bruchspannung des Mate­rials zu erreichen und, so die Hoffnung der Experten, dadurch eine noch feinere Rissverteilung zu erreichen.

Das Institut für Bauforschung der RWTH ­Aachen testete die textile Bewehrung in Kombination mit dem ausgewählten Spritzbeton über Jahre, denn nur mit ausreichend Erfahrung konnte das Instandsetzungskonzept auf den Mariendom in Neviges adaptiert werden. Es wurden sowohl experimentelle Unter­suchungen durchgeführt, bei denen nachzuweisen war, dass die Risse fein genug bleiben, als auch theoretische Tests, um zu zeigen, dass sich die neue Schutzschicht nicht vom Altbeton löst. Weitere Versuche legen nah, dass man die Textilien und den Mörtel bei einem möglichen Rückbau trennen könnte. «Man könnte sogar das Textil anschliessend erneut verwenden», ist Sergeij Rempel überzeugt.

Probefläche instand gesetzt

Nachdem alle Tests abgeschlossen waren, beauftragte die Bauherrschaft ein Unternehmen, eine Teil­fläche instand zu stellen. Gewählt wurde das Dach über der Sakramentskapelle. «Aus meiner Sicht ist das die schwierigste Stelle der Konstruktion», meint Sergeij Rempel.

Nach der Einrüstung und Einhausung der zu bearbeitenden Fläche wurde diese auf Schäden, Fehlstellen und Risse untersucht und kartiert. Zum Auftrag der carbontextilbewehrten Schutzschicht und der Enthaftungsstreifen im Bereich der Risse wurden die Betonflächen mit festem Strahlmittel tragfähig vorbereitet. Dazu wurden alle minder festen Schichten und alle trennend wirkenden Substanzen entfernt. Die vorhandene Epoxidharzbeschichtung und -spachtelung aus den 1980er-Jahren wurde abgetrennt – und erwies sich als erstaunlich hartnäckig: Obwohl sie sich stellenweise vom Untergrund gelöst hatte, liess sie sich komplett nur mit deutlich höherem Aufwand als ursprünglich gedacht entfernen. Poren und Lunker wurden geöffnet, bis das mittlere Korngefüge des Beton­untergrunds sichtbar freigelegt war.

Die markierten Bauteilrisse wurden mittig mit einem 18 cm breiten, elastifizierten, mineralischen Spachtel überdeckt, dem sogenannten Enthaftungs­streifen. Anschliessend wurden die steifen, vorab zugeschnittenen Textilien jeweils unmittelbar an die noch frische Zwischenmörtelschicht angelegt, aus­gerichtet, fixiert und mit Trockenspritzmörtel kraftschlüssig eingebettet. Darauf folgte die zweite Schicht aus Textilbewehrung, bevor die Deckschicht und die Hydrophobierung folgten.

Die verwendete Textilbewehrung lässt sich nur noch in geringem Mass verformen. Deshalb mussten für die Bewehrung der zahlreichen Kehlen, Ecken, Grate und Kanten besondere Formteile im Werk vor­gefertigt werden. In den Bereichen horizontaler oder schwach geneigter Flächen wurden die textilbewehrten Schutzmörtel analog, jedoch händisch eingebaut. Um die Ausführung beurteilen zu können, zogen die Forscher Bohrkerne aus den instand gesetzen Flächen. Dazu wurde ein Prüfstempel mit einem Durchmesser von 50 mm verwendet. Die zugehörige Bohrtiefe betrug 55 mm, sodass der Schnitt bis in den Altbeton reichte.

So wurden die Oberflächenzugfestigkeit und die Abreiss­festigkeit zwischen den Schichten ermittelt. Die mittleren Werte der Abreissfestigkeit lagen deutlich über dem geforderten Wert von 1.5 N/mm2. Die Experten der RWTH Aachen waren vor Ort und kontrollierten während des Spritzens die Schichtdicken und die Ebenflächigkeit. Zum lagegerechten Einbau der Carbonbewehrung waren lediglich Toleranzen von 3 mm zulässig. Ihren guten Eindruck der Ausführung bestätigten die gemessenen Werte, die innerhalb der Sollwerte lagen.

Was ist Original, was Interpretation?

Neben den technischen Eigenschaften der neuen Schicht lag ein Hauptaugenmerk auf deren Erscheinungs­bild: Immerhin gilt der geschützte Bau als Ikone der deutschen Nachkriegsarchitektur, und auch sein Erschaffer, der hochbetagte Architekt Gottfried Böhm, musste mit der Ausführung einverstanden sein.

Nach der Instandsetzung sollen die horizontale originale Schalbrettstruktur und die ursprüngliche Farbe des Altbetons sichtbar sein. Um den rötlichen Farbton zu erhalten, wurden dem Ausgangsmörtel Pigmente (Eisenoxid, Titanoxid) beigemischt. Die Oberflächenstruktur erzeugten die Arbeiter manuell: mit Reibebrett und Glättkelle – ein Vorgehen, das die Denkmal­pflege nicht begrüsste, da es sich dabei nicht um Herstellungsspuren handelt, sondern um ein nachträglich appliziertes Muster. Die Bauherr­schaft konnte sich hier aber durchsetzen: Zum einen strukturiert die Schalungstextur die neu sehr hellen Flächen, zum anderen kaschiert sie leichte Unregelmässigkeiten der neuen Schicht. Die neue, 35 mm dicke Schutzschicht beeinflusst die äussere Form des Bauwerks übrigens nicht – bei Dimensionen von 50 m Höhe und 37 m Breite sowie im Kontext der bewegten Dachlandschaft fällt ihre Höhe visuell nicht ins Gewicht.

Mehr zu reden gab in diesem Zusammenhang die helle Farbe des instand gesetzten Dachs. Tatsächlich wirkt sie im Vergleich zu den noch unbehandelten Flächen sehr sauber, doch der optische Trick mit der Schalungsstruktur funktioniert, und die Pigmente sorgen für ein fast samtiges Aussehen. Ungewohnt hingegen ist die plötzliche scharfe farbliche Trennung von Dach und Wandflächen; ein Effekt, den Gottfried Böhm aller­dings ausdrücklich befürwortet und der in den Entwürfen für den Dom auch immer abgebildet wurde. Inwiefern diese Trennung die plastische Form des Baus, der sich gerade durch die Einheit von Wand und Dach auszeichnet, beeinflusst, lässt sich erst sagen, wenn das ganze Dach renoviert ist. Die Bauherrschaft geht davon aus, dass das Dach allmählich Patina ansetzen wird. Eine Dampfdrucksäuberung der Wände ist angedacht, allerdings würde auch dann ein deutlicher Farbunterschied zwischen Wand- und Deckenflächen sichtbar bleiben.

Der nächste Schritt

Seit Anfang Juni 2018 bereitet die beauftragte Unternehmung die nächste Teilfläche für die Instandsetzung vor, die «Pyramide Nähe Altar» (%%gallerylink:42482:vgl. Dachaufsicht%%) mit 800 m². Das Vorgehen des ersten Teilabschnitts wollen die Beteiligten beibehalten, auch wenn es vonseiten der Bauherrschaft Überlegungen gab, auf den Enthaftungsstreifen über den Rissen zu verzichten. Tatsächlich zeigen die Flächen der nun seit eineinhalb Jahren instand gesetzten Pyramide über der Sakramentskapelle keine der prognostizierten Haarrisse. Die Vermutung: Möglicherweise verteilen die starren Carbonmatten die Spannungen ohnehin bereits über die gesamte Fläche.

Ob diese Theorie in einem allfälligen dritten Berarbeitungsabschnitt getestet werden kann, steht derzeit noch in den Sternen: Die für die gesamte In­standsetzung vorgesehenen rund drei Mio. Euro sind aufgebraucht. Aktuell ist die Bauherrschaft auf der Suche nach finanzieller Unterstützung. Rund 350 Jahre nach der Marien­erscheinung braucht es in Neviges nun wohl Hand­­fes­teres als Glaube, Liebe, Hoffnung.

TEC21, Fr., 2018.09.07



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2018|36 Mariendom in Neviges: Eingriff von oben

Herzstück aufgegleist

Die Planung für ein trinationales S-Bahn-System in der Metropolitanregion Basel ist einen entscheidenden Schritt vorangekommen. Das Projekt ­«Herzstück» wird die drei Basler Bahnhöfe verbinden, die Innenstadt und wichtige ­Entwicklungsgebiete erhalten ­zwei neue Tiefhaltestellen. Der Projektleiter und eine Fachjournalistin erörtern den Stand der Dinge.

Die Planung für ein trinationales S-Bahn-System in der Metropolitanregion Basel ist einen entscheidenden Schritt vorangekommen. Das Projekt ­«Herzstück» wird die drei Basler Bahnhöfe verbinden, die Innenstadt und wichtige ­Entwicklungsgebiete erhalten ­zwei neue Tiefhaltestellen. Der Projektleiter und eine Fachjournalistin erörtern den Stand der Dinge.

Arbeitsreiche Monate liegen hinter den Basler Entscheidungsträgern und den beteiligten Planungsbüros, die verschiedene Varianten studierten, um die drei Basler Bahnhöfe – Bahnhof SBB, Badischer Bahnhof sowie den Bahnhof St. Johann – mit einem System von Eisenbahntunnels zu verbinden. Dieses Tunnelsystem, auch als «Herzstück» bekannt, ist das Schlüsselelement im gesamten Projektportfolio, das zur Schaffung eines erstmalig ganzheitlichen und modernen S-Bahn-Systems in der Dreiländerregion notwendig ist.

Erst diese Infrastruktur, territorial zu 100 % im Perimeter des Stadtkantons gelegen, wird es ermöglichen, die S-Bahnen als Durchmesserlinien fahren zu lassen. Durchmesserlinien bedeuten hierbei konkret, dass Durchbindungen aus allen sieben um Basel lie­genden Talschaften durch das Stadtzentrum hindurch ermöglicht werden. In der dicht besiedelten Agglomeration wird das einen überregionalen, trinationalen Nutzen entfalten – und Basel als bedeutender Verkehrsdrehscheibe angemessen gerecht werden.

Ende April 2017 wurden der zu den Arbeiten zugehörige Synthesebericht[1] abgeschlossen und die Erkenntnisse mit entsprechenden Empfehlungen der Öffentlichkeit präsentiert. Aus einem Fächer an un­tersuchten Varianten und Kombinationen hat sich «Hoch Y» als Basis- und zugleich Bestvariante herauskristallisiert. «Hoch» bedeutet, dass ein Eisenbahn­tunnelsystem unter der Stadt, ca. 6.5 km lang, jeweils ober­irdisch bzw. im heutigen Gleisniveau an den Bahnhof SBB und den Badischen Bahnhof angeschlossen wird und somit auf aufwendige Tiefbahnhöfe ver­zichtet ­werden kann. «Y» steht für einen Abzweig ab der Tiefhaltestelle Mitte, mit dem der Streckenast aus und in Richtung EuroAirport, über den Bahnhof St. Johann führend, ebenfalls an das S-Bahn-Netz angebunden werden kann. Obwohl in erster Priorität das Gesamtsystem realisiert werden soll, wäre der Y-Ast auch als Option denkbar, was eine zeitlich gestaffelte Umsetzung ermöglichen würde.

Das Ende vom Enden und Wenden

In Basel hat sich – auch aufgrund seiner Grenzlage – ein spezielles, dezentrales Bahnhofsystem entwickelt. Es gibt keinen zentralen Bahnhof in der Stadtmitte, sondern mit dem Bahnhof SBB und dem Badischer Bahnhof zwei, die eher peripher liegen und zudem von verschiedenen Ländern und Bahnunternehmen mit unter­schiedlichen Aufgabenstellungen betrieben werden. Historisch bedingt sind beide als End- bzw. Durchgangsbahnhöfe konzipiert und auch erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts über die sogenannte Verbindungsbahn im Osten der Stadt miteinander verbunden worden.[2] Der dritte Bahnhof St. Johann hat seine historische Funktion weitgehend verloren und wird heute untergeordnet als reiner Haltepunkt durch den Regionalverkehr bedient.

Der Bahnhof SBB und der Badische Bahnhof werden durch den Regionalverkehr bzw. den in Basel gegenwärtig nur rudimentär bestehenden Mittelverteiler S-Bahn fast ausnahmslos als Kopfbahnhöfe genutzt. Die hieraus resultierenden Richtungswechsel führen zum einen dazu, dass Passagiere umsteigen und lange Wartehalte in Kauf nehmen müssen. Zum anderen ­verschlingen die notwendigen Wendemanöver ­wertvolle bahnbetriebliche Kapazitäten, womit eine organisatorisch günstigere Entflechtung von Fern- und Regionalverkehr heute nicht gegeben ist.

Mit den neuen Durchmesserlinien durch das Herzstück hindurch sowie einem insgesamt dichteren S-Bahn-Takt ab 2030/35 wird hier insgesamt Abhilfe geschaffen. Denn von einem besseren Angebot profitieren die Reisenden durch individuellere Ziel- und Routenwahl, weniger Umsteigevorgänge und auch kürzere Reisezeiten. Bei den prognostizierten Wachstumsraten im öV werden insbesondere die lokalen Feinverteiler Bus und Tram, aber auch der Fernverkehr auf den Zulaufstrecken entlastet. Auch lassen sich so die Personen­frequenzen im Stadtgebiet insgesamt besser verteilen. Insbesondere auf den Bahnhof SBB, der bereits heute zu Stosszeiten sichtbar an seine Kapazitätsgrenze gerät, wird das entlastende Auswirkungen haben. Aktuelle Berechnungen in dem für die Region massgebenden Gesamtverkehrsmodell (GVM) belegen diese Aussagen mit zugehörigen Auswertungen.

Schneller in die Stadtmitte

Mit der neuen unterirdischen Verbindung eröffnet sich auch die Möglichkeit, das Stadtzentrum und potenzielle städtische Entwicklungsgebiete direkt mit der Bahn zu erreichen. So ist eine Tiefhaltestelle Basel-Mitte im Raum Universität, Marktplatz, Universitätsspital und Schifflände sowie eine zweite im Klybeckquartier in Basels Norden vorgesehen (Karte).

Am Bahnhof SBB bietet sich zudem die Chance, einen zweiten leistungsfähigen Perronzu- bzw. -abgang zu schaffen: Im Westen des Bahnhofs wird eine neue Margarethenbrücke zu einem städtebaulich attraktiven Platz und einer verkehrstechnisch leistungsfähigen öV-Drehscheibe erweitert. Neben dem Potenzial, hier einen attraktiven Umsteigeort zu schaffen, wird der Stadt auch zu einer neuen Visitenkarte verholfen. Denn von hier eröffnet sich über die Achse Margarethenbrücke – Innere Margarethenstrasse eine zweite, direktere Anbindung an die Innenstadt als ­bisher einzig über den Centralbahnplatz und Aeschengraben. Die evaluierte Bestvariante ist somit, neben bautechnischen- und bahnbetrieblichen Aspekten, insbesondere aus der Optik des Städtebaus attraktiv, weil sie neben dem Stadtzentrum auch den grossen Entwicklungsschwerpunkt Basel Nord erschliesst (vgl. Foto­essay «Glückliche Synergie» und Interview mit Pierre de Meuron).

Der Eisenbahntunnel unter Basel

Da in Basel die Fläche sehr begrenzt ist, kann sich die Infrastruktur nicht weiter in die Breite entwickeln. Die Lösung liegt in der Tiefe, in diesem konkreten Fall als Durchmesserlinie unter der Stadt, dem Rhein und der Wiese hindurch – teilweise bis zu 30 m unter Terrain. Vorgesehen sind derzeit zwei parallel verlaufende, eingleisige Bahntunnel mit einem Innendurchmesser von 8.50 m. Der Abstand zwischen den Achsen der Röhren beträgt in der Regel 18 m; der Abstand der Fluchtstollen ca. 500 m. Die Evakuation würde über die Ausgänge der Tiefhaltestellen erfolgen. Die Abmessungen betreffend Lichtraumprofil, Längsneigung und Kurvenradien lassen die Nutzung durch gängiges Rollmaterial ohne Einschränkung zu.

Denn Infrastruktur, speziell Tunnels, werden mit einem Anlagenhorizont von bis zu 100 Jahren und damit für Generationen gebaut. Demnach ist das Betriebs-, Nutzungs- und Unterhaltsdesign so nachhaltig anzulegen, dass sich verändernde gesellschaftliche Ansprüche, speziell im Hinblick auf Mobilitäts- und Angebotswünsche, auch in Zukunft flexibel abbilden lassen. Die Bahnhöfe der SBB und DB werden in der Variante Hoch im heutigen Gleisniveau erschlossen. Der Verzicht auf Tiefbahnhöfe, die in ­anderen Varianten ebenfalls detailliert untersucht wurden, ermöglicht einen einfacheren Betrieb der Bahnhöfe, geringere Behinderungen während der Bauphase, tiefere Erstellungskosten und damit ein überzeugendes volkswirtschaftliches Nutzen-Kosten-Verhältnis für das Gesamtvorhaben.[3]

Gemäss aktueller Konzeption ist die bauliche Realisierung des Herzstücks wie folgt angedacht: Ab einem Startschacht im Bereich nördlich des Badischen Bahnhofs werden die Tunnelröhren bergmännisch mittels Tunnelvortriebsmaschine aufgefahren, unmittelbar gefolgt vom Roh- bzw. Endausbau sowie den Installationen für Bahn- und Sicherheitstechnik. Die Rampen zu den Tunnelröhren werden dagegen im Tagbau erstellt. Ebenfalls ist im Bereich Badischer Bahnhofs angedacht, die gesamte Logistik für die Abfuhr des Tunnelausbruchs sowie die Anfuhr der Baumaterialien vorzuhalten, im Idealfall rein über Bahntransporte. Untertage werden u. a. auch die zwei Ka­vernen für die neuen Tiefhaltestellen erstellt, gefolgt vom Bau/Ausbau der Mittelperrons, Verteil- und Zugangsebenen sowie Zugangsstollen in die Stadtebene hinein. Somit werden sich die baubedingten Einwirkungen im Stadtbild selbst auf ein Minimum reduzieren lassen.

Interdisziplinäres Projekt

In der ersten Phase ging es darum, die Machbarkeit des Gesamtvorhabens aus Sicht diverser integral zusammenhängender Fachgebiete zu bestätigen. Ebenfalls konnten die betriebs- und volkswirtschaftlichen Effekte positiv untermauert und plausibilisiert werden. Die Gremien der übergeordneten Bahnknotenorganisation, in der u. a. Vertreter der Kantone BS/BL, der Bahngesellschaften sowie des Bundesamts für Verkehr (BAV) eingebunden sind, werden nun darauf fokussieren, die übergeordnete Aufbau- und Ablauforganisation zu definieren sowie das gesamte Projektportfolio einzurichten. Im Schlüsselprojekt «Herzstück», das im Jahr 2014 durch die beiden Kantonsparlamente BS/BL mit einem gemeinsamen Projektierungskredit als Vorinvestition ausgestattet wurde, werden die Arbeiten ebenfalls fortgeführt. Die Beteiligten werden in den nächsten Jahren u. a. mit Fach- und Objektstudien bis hin zum eigentlichen Vorprojekt das Vorhaben vertiefen.

Mit dem Synthesebericht (Interview mit Rudolf Dieterle, Kasten unten) und dem optimierten Herzstück-Antrag haben die beiden Basel auch einen taktischen Schritt auf den Bund zu gemacht: Während es bei den meisten Bahnprojekten, die derzeit für die Aufnahme in den STEP AS 2030/35 des Bundes diskutiert werden, primär um den Abbau von Überlasten und damit um die Verbesserung bestehender Infrastrukturen geht, ist das System der tri­nationalen S-Bahn mit dem Schlüsselprojekt Herzstück vergleichbar mit einer Neuanlage, die auch die Ziele der Raumplanung sowie der Siedlungs-und Stadtentwicklung ganzheitlich berücksichtigt. Diese integrale Konzeption dürfte als Novum zu bewerten sein.


Anmerkungen:
[01] Zukunft Bahnknoten Basel, Synthesebericht, Ausgestaltung der notwendigen Infrastrukturen zur Realisierung eines trinationalen S-Bahn-Systems, Version 1.0, 18. April 2017.
[02] Vgl. Beat von Wartburg, «Vom Eiland zum Dreiland», in TEC21 42/2016.
[03] Gemäss den Ermittlungen im Synthesebericht kostet allein das Schlüsselobjekt Herzstück, ohne Zulaufstrecken, jedoch inklusive Anbindung an die Bahnhöfe, 1924 Mio. Fr. Mit dem Y-Ast (inklusive zugehörigen Ausbauten der Bahnhöfe St. Johann und EuroAirport) belaufen sich die Kosten auf 2777 Mio. Fr.

TEC21, Fr., 2017.07.14



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2017|28-29 Herzstück Basel – S-Bahn ins Zentrum

Das neue Quartier am Rheinhafen

Die Quartiere Kleinhüningen und Klybeck im Basler Norden sind im Umbruch. Der Druck ist enorm: Die Logistiker im Hafen brauchen Platz für den Güterumschlag, die Stadt benötigt Raum zum Wohnen und Arbeiten. Welche Chancen bietet der geplante Hafenausbau für die Stadtentwicklung?

Die Quartiere Kleinhüningen und Klybeck im Basler Norden sind im Umbruch. Der Druck ist enorm: Die Logistiker im Hafen brauchen Platz für den Güterumschlag, die Stadt benötigt Raum zum Wohnen und Arbeiten. Welche Chancen bietet der geplante Hafenausbau für die Stadtentwicklung?

Nur wenige Schritte trennen den historischen Kern des ehemaligen Fischerdorfs Kleinhüningen (vgl. «Ein Dorf wird Hafenstadt», S. 35) von den Hafen- und Industrieanlagen. In nur ein oder zwei Jahrzehnten wird die Stadt am Rhein hier ganz anders aussehen: Der geplante Ausbau der Hafeninfrastruktur führt dazu, dass sich die Gebiete in ­Hafennähe, auf der Westquaiinsel und entlang der Rheinufer markant verändern werden. Doch diese Entwicklung bleibt nicht auf die Quartiere Klein­hüningen und Klybeck begrenzt, vielmehr wird sich die Transformation dieses ca. 50 ha grossen Areals auf die gesamte Region im 3Land auswirken.

Der Hafen hat in seiner jetzigen Grösse die Grenzen seiner Kapazität erreicht, da der Güterverkehr weltweit stark anwächst und auch weiterhin zunehmen wird. Neben dem Umschlag von trockenen und flüssigen ­Massengütern wie Getreide und Heizöl spielt auch der Containerverkehr eine wichtige Rolle. 2015 wur­den in den Schweizerischen Rheinhäfen[1] 124  267 Con­tainer umgeschlagen (Schweizerische Rheinhäfen, Jahres­bericht 2015). Es ist davon auszugehen, dass sich der Containerverkehr in der Binnenschifffahrt ­bis 2030 verdoppeln oder gar verdreifachen wird. Der ­Neubau eines dritten Hafenbeckens mit Verlagerung ­der Hafeninfrastrukturen ist daher unumgänglich – und gleichzeitig auch eine grosse Chance für den Kanton Basel-Stadt.

Motoren der Stadtentwicklung

In unmittelbarer Nachbarschaft zum Hafen wurde im Mai 2008 die vierspurige Nordtangente eröffnet. Die rund 3 km lange Stadtautobahn verbindet die schweizerische mit der französischen und der deutschen Auto­bahn und verläuft zu 87 % unterirdisch. Für Basel, das an seine räumlichen Grenzen stösst, eine gute Gelegenheit, die Wohnlagen im Norden aufzuwerten; auf der Grossbaslerseite war das Quartier St. Johann zu stärken und über die Voltastrasse hinaus zu entwickeln. Die Voltastrasse hatte mit ihren rund 40 000 Fahrzeugen pro Tag eine unglaubliche Trennwirkung, fast im Sinn einer vorgezogenen Landesgrenze. Die Nordtangente brachte eine spürbare Verkehrsentlastung und war Auslöser für Investitionen in den Wohnungsbau und den öffentlichen Raum in Kleinbasel und St. Johann.

Im Zusammenspiel mit privaten Akteuren und der Quartierbevölkerung konnte die Stadt Basel eine Vielzahl von kleinen und grossen Massnahmen umsetzen: «Mit der Stadtreparatur ProVolta, insbesondere dem Boulevard Volta und den ­begleitenden Neubauten und Stadtplätzen auf dem Nordtangententunnel, konnten wir neue, hochwertige Stadträume schaffen und die Lebensqualität in das äussere St. Johann zurückbringen», erläutert Thomas Waltert, der für die Gesamtprojektkoordination Basel Nord seitens des Kantons ­Basel-Stadt zuständig ist. Die städtebaulichen Massnahmen im Rahmen des Nordtangentenbaus versteht er als Initialzündung für weitergehende Transfor­mationen der nördlichen Wohn- und Industrieareale. «Die direkt nachfolgenden Investitionen der Stiftung Habitat in das Geviert an der Lothringerstrasse (u. a. Musikerwohnhaus, vgl. TEC21 1–2/2016) und die Planung VoltaNord bestätigen, dass der Funken übergesprungen ist», so Waltert.

Zudem verbessert die Nordtangente die Anbindung an den Flughafen, was für die Pharmaindustrie mit ihrem internationalen Publikum interessant ist. Gleichzeitig trug der Wandel mit dem Novartis Campus vom Industrie- zum Forschungsstandort dazu bei, dass die Produktion ausgelagert wurde. Der Hafen St. Johann war nun kein idealer Nachbar mehr, dennoch wurde der Standort in Basels Norden nicht aufgegeben. Mit der Verlagerung dieses Hafens wurden der Kanton Basel-Stadt sowie die Schweizerischen Rheinhäfen beauftragt, eine abgestimmte Hafen- und Stadtentwicklung zu erarbeiten. Parallel dazu begann eine Standortbestimmung der Schweizerischen Rheinhäfen.

Rheinschifffahrt mit dem Ausbau des Hafens stärken

Es stand die Frage im Raum, ob denn zusätzliche Kapazitäten für Containerterminals überhaupt benötigt werden. Eine vom Bundesamt für Verkehr (BAV) initiierte Mediation, an der Vertreter der ganzen Logistikbranche beteiligt waren, schloss mit einer Wachstums­prognose, die von der Branche 2014 einstimmig als realistisch verabschiedet wurde. Auf dieser Vorgabe basiert die aktuelle Planung des trimodalen Terminals, erinnert sich Sabine Villabruna, Bereichsleiterin der Schweizerischen Rheinhäfen, Areale und Hafenbahn. Die Terminallogistik wird damit zum Thema der Raumplanung. Es braucht sowohl den Hafen, um die Versorgung der Schweiz, inbesondere des Mittellands sicherzustellen, als auch den optimalen Umschlagstandort für Schiff und Bahn in Kleinhüningen.

Geplant sind ein Ausbau und die teilweise Verlagerung der Hafenanlagen auf das Gebiet des ehemaligen badischen Rangierbahnhofs; hier soll ein drittes Hafenbecken realisiert werden, es wird ein trimodales Containerterminal (Schiff-Schiene-Strasse) entstehen. Das Hafenbecken III eignet sich einzig für das Gütersegment Containerumschlag. Die Hafenbecken I und II sind in ihrer Nutzung nicht beschränkt, sie bleiben weiter für die Schifffahrt in Betrieb. Die Umnutzung des ehemaligen Gleisfelds stellt die Planer vor einige Herausforderungen, da hier zwei nationale Interessen aufeinandertreffen: auf der einen Seite die Bedeutung des Hafens als Verkehrsdrehscheibe der Stadt und des gesamtschweizerischen Güterverkehrs, auf der anderen Seite die Belange des Naturschutzes, denn viele schützenswerte Tier- und Pflanzenarten haben sich im Lauf der Jahre auf dem Gebiet niedergelassen (vgl. TEC21 48/2012). Wie und wo entsprechende Ausgleichsflächen zur Verfügung stehen, wird derzeit ausgearbeitet.

Die Projektarbeiten für die erste Realisierungsphase des Containerterminals sind so weit fortgeschritten, dass ein konsolidiertes Betriebskonzept und eine Kostenplanung vorliegen. Darin geht es um das Stras­se-Schiene-Terminal (bimodaler Betrieb) auf dem Gelände des ehemaligen Rangierbahnhofs in Basel-Nord. Die Gateway Basel Nord AG[2] hat deshalb im November 2015 das Fördergesuch für die Finanzierung der Terminalinfrastruktur beim BAV eingereicht. Das Subventionsgesuch für die Finanzierung des Hafenbeckens III soll in der ersten Hälfte 2016 von den Schweizerischen Rheinhäfen eingereicht werden; ist diese gesichert, folgt das Plangenehmigungsgesuch.

Ein inhaltliches Leitbild entwickeln

Die Optimierung der Hafeninfrastruktur sichert und stärkt den Hafenstandort Kleinhüningen, der nicht nur für die Stadt, sondern für die gesamte Schweiz eine grosse Bedeutung hat. Mit diesen Perspektiven und Investitionen eröffnet sich für den Kanton Basel-Stadt aber auch die grosse Chance, am Rhein ein neues Stadtquartier zu entwickeln und die bestehenden Quartiere, besonders Klybeck, besser an den Fluss anzubinden. Mit Ablauf der Baurechte per Ende 2029 sollen die ­Hafenaktivitäten auf der Westquaiinsel aufgegeben werden, es besteht erstmals die Möglichkeit, den Hafenbahnhof zu verlagern. Somit werden grosse Flächen am Klybeckquai weitgehend uneingeschränkt für neue Nutzungen frei. An die Rheininsel angrenzend werden weiterhin emissionsträchtige Umschlagaktivitäten im Hafenbecken I stattfinden, die Nutzung auf der Westquaiinsel wird darauf abgestimmt. Die Rahmenbedingungen sind zum heutigen Zeitpunkt aber weder für
die Hafen- noch für die Stadtentwicklung gesichert.

Da die Hafen- und Stadtentwicklung Kleinhüningen-Klybeck sowohl im Kontext der Stadt als auch der trinationalen Agglomeration zu sehen ist, hat Basel im September 2012 mit Weil am Rhein (D) und Huningue (F) eine Planungsvereinbarung unterzeichnet. Auf Basis der Entwicklungsvision 3Land soll sich der Stadtraum entlang des Rheins rund um das Dreiländereck zwischen Dreirosen- und Palmrainbrücke zu einer urbanen Teilstadt innerhalb der trinationalen Agglomeration entwickeln. Die lokalen Planungen sollen aufgrund eines trinationalen Raumkonzepts koordiniert werden. Der Stadtteilrichtplan Kleinhüningen-Klybeck, der zur ­Bearbeitung ansteht, ist in diesem Zusammenhang das lokale Planungsinstrument in Basel.[3]

Mit der voranschreitenden Planung der Hafeninfrastruktur zeichnet sich nun eine neue Etappe ab: Mit dem Grossratsbeschluss im Mai 2014 wurden die Mittel zur Verfügung gestellt, um die Vorarbeiten zu einem Entwicklungsplan, d. h. einem Stadtteilrichtplan für Kleinhüningen-Klybeck, zu beginnen. Eine wesentliche Aufgabe wird nun sein, ein inhaltliches Leitbild für das neue Stadtquartier zu entwickeln (vgl. Interview mit Kantonsbaumeister Beat Aeberhard « ‹Wir wollen diese Jahrhundertchance nutzen› », unten). Aus diesem Grund hat die Stadt Basel im Februar dieses Jahres eine Ausschreibung lanciert, um ein Planerteam zu beauftragen, das die Grundlagen einer «Programma­tion» für die Stadtentwicklung auf den rheinnahen ­Hafenarealen erarbeiten soll. Seit Kurzem steht fest, welches Team für diese nächste Planungsphase beauftragt werden wird. Die Stadt Basel wird in der nächsten Zeit bekannt geben, wer den Zuschlag bekommen hat. Die Ergebnisse der Bearbeitung werden zu Beginn des nächsten Jahres erwartet.


Anmerkungen:
[01] Die Schweizerischen Rheinhäfen sind eine öffentlich-rechtliche Anstalt im Eigentum der Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft, die 2008 gegründet wurde. Zuvor agierten die Rheinhäfen eigenständig und in Konkurrenz zueinander. Heute beschäftigt der «Port of Switzerland», wie sich die Schweizerischen Rhein­häfen im internationalen Kontext nennen, rund 40 Mitarbeiter. Sie sind als öffentlicher Infrastrukturbetreiber dafür verantwortlich, die Güterschifffahrt zu fördern und einen Beitrag zur Verlagerungspolitik des Bundes zu leisten. www.portof.ch
[02] Die drei Schweizer Logistik- und Transportunternehmen Contargo, SBB Cargo und Hupac haben im Juni 2015 die Gateway Basel Nord gegründet. Die Gesellschaft mit Sitz in Basel plant und realisiert das Umschlagterminal Strasse-Schiene-Wasser für den Import-Export-Verkehr in Basel Nord. http://blog.sbbcargo.com/19331/gateway-basel-nord-ag-reicht-foerdergesuch-fuer-containerterminal-ein/
[03] www.3-land.net

TEC21, Fr., 2016.05.13



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2016|20 Hafen und Stadt

«Wir wollen diese Jahrhundertchance nutzen»

Am Basler Rheinhafen entsteht ein neues Quartier. Kantonsbaumeister Beat Aeberhard hat uns einige Fragen zum Verfahren beantwortet und erläutert seine Vorstellung für das neue Stück Stadt.

Am Basler Rheinhafen entsteht ein neues Quartier. Kantonsbaumeister Beat Aeberhard hat uns einige Fragen zum Verfahren beantwortet und erläutert seine Vorstellung für das neue Stück Stadt.

TEC21: Herr Aeberhard, für die Stadtentwicklung im Basler Norden beginnt nun eine neue wichtige Planungsphase. Was passiert aktuell?

Beat Aeberhard: Im Moment befinden wir uns in der Phase der planerischen Grundlagenarbeit. Die bisherigen städtebaulichen Überlegungen und Visionen haben zwar das Potenzial der Transformation im Basler Hafen eindrücklich aufgezeigt und mitgeholfen, die abgestimmte Hafen- und Stadtentwicklung politisch zu verankern. Gleichzeitig haben die ab­strakten Bilder aber auch einen Teil der Bevölkerung verunsichert. Die Chancen der Stadtentwicklung müssen wir den Menschen noch aufzeigen. Konkret verfügen wir erst über relativ wenige gesicherte Rahmenbedingungen. Als Nächstes wollen wir eine «Programmation» für die Entwicklungsgebiete am Rhein erarbeiten.

TEC21: Was verstehen Sie unter einer Programmation?

Beat Aeberhard: Darunter verstehe ich eine inhaltliche Leit­linie der Stadtentwicklung. Auf einer strategischen Ebene macht die Programmation Aussagen zu den Nutzungsarten, deren Verteilung, zu Akteuren, Verfahren und zur zeitlichen Dimension der Transformation. Es geht somit gegenwärtig nicht um Städtebau in seiner entwerferischen Dimension, sondern um die zukünftige Programmierung des Quartiers, das heisst um die Menschen mit ihren Bedürfnissen, die das neue Stadtquartier aufbauen und darin leben werden.

TEC21: Warum macht man eine Programmation als Grundlage für die Stadtentwicklung?

Beat Aeberhard: Stadtplanung ist hochpolitisch und bedingt das Aushandeln. In der anstehenden langen Reihe von Aushandlungsformaten ist die Programmation ein Element. Mit einem akteurbasierten Ansatz gehen wir nun die Grundlage für eine verbindliche Planung an.

TEC21: Wie geht es nach dieser Phase weiter mit der Stadt­entwicklung? Welche Schritte folgen als Nächstes?

Beat Aeberhard: Die Programmation ist ein wichtiger Baustein für den Stadtteilrichtplan Kleinhüningen-Klybeck, der als behördenverbindliches und dynamisches Ins­­­trument den langjährigen Transformationsprozess begleiten wird. Er bindet in der übergeordneten Sichtweise die verschiedenen Themen wie Hafenentwicklung, Mobilität, Frei- und Grünräume, aber auch die bestehenden Wohn- und Arbeitsquartiere zusammen, koordiniert sie und sorgt für einen transparenten Interessenausgleich. Er schafft die Basis, um den politisch notwendigen Konsens, nämlich eine sinnvolle Stadtentwicklung, herbeizuführen. Denn die Frage der gesellschaftlichen Konventionen ist von beträchtlicher Bedeutung. Es braucht die Übereinkunft darüber, wie die Stadt weiterzubauen ist. Auf Basis des Stadtteilrichtplans können dann nutzungsplanerische Massnahmen wie Zonenänderungen und Bebauungspläne bis hin zu konkreten Projektentwicklungen in die Wege geleitet werden.

TEC21: Wie sehen Sie dieses neue Quartier am Rhein? Welche Art von Stadt soll es werden?

Beat Aeberhard: Seit den ersten planerischen Entwürfen ist die Rede von einem lebendigen, gemischt genutzten Stück Stadt, das auf den Hafenarealen entstehen soll. Es entsteht aber nicht aus dem Nichts. Man wird die Auseinandersetzung mit dem Bestand suchen müssen. Die örtlichen Identitäten sind zu berücksichtigen. Darauf aufbauend sollen diese Gegebenheiten in den neuen Quartieren spürbar werden. Auf dem Klybeckquai ist ein Bezug zum bestehenden Klybeckquartier herzustellen, damit im Gegenzug auch für die heutige Bevölkerung Qualitäten und ungeahnte Möglichkeiten resultieren. Auf dem Westquai geht es um das Miteinander von Hafen und Stadt. Die neu entstehende Stadt befindet sich unmittelbar neben einem funktionierenden Hafen. Darauf müssen wir in der Planung Rücksicht nehmen und ein «echtes» Hafenquartier entwickeln. In der Konsequenz – und da wage ich nun eine Prognose – könnte das bedeuten, dass der Schwerpunkt auf dem Klybeckquai tenden­ziell auf Wohnen und Quartierleben, auf dem ­Westquai auf Arbeiten, öffentlichen, trinationalen Nutzungen und urbanem Wohnen liegt. So oder so, die Entwicklung dieses Stadtquartiers ist eine Jahrhundert­chance, die wir nutzen wollen.


[Beat Aeberhard ist seit April 2015 Kantonsbau­­meis­­ter und leitet den Bereich Städtebau & Architektur im Kanton Basel-Stadt. Von 2008 bis 2014 war er Stadtarchitekt in Zug und bis 2014 zudem als selbstständiger Architekt tätig. Er studierte Architektur und Städtebau an der ETH Lausanne und Zürich sowie an der Columbia University, New York.]

TEC21, Fr., 2016.05.13



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2016|20 Hafen und Stadt

29. April 2016Daniela Dietsche
TEC21

«Wir feiern bald den Höhepunkt unserer Arbeit»

Der Gotthard-Basistunnel wird im Juni eröffnet. Mit Renzo Simoni, dem Vorsitzenden der AlpTransit Gotthard, haben wir über die noch zu erledigenden Aufgaben, die Zukunft der Mitarbeitenden und die Weiterverwendung des gesammelten Wissens gesprochen.

Der Gotthard-Basistunnel wird im Juni eröffnet. Mit Renzo Simoni, dem Vorsitzenden der AlpTransit Gotthard, haben wir über die noch zu erledigenden Aufgaben, die Zukunft der Mitarbeitenden und die Weiterverwendung des gesammelten Wissens gesprochen.

TEC21: Herr Simoni, am 1. Juni 2016 wird der ­G­otthard-­Basistunnel eröffnet. Was ist bis dahin noch alles zu tun?

Renzo Simoni: Bis Ende Mai 2016 befinden wir uns im Testbetrieb. Insgesamt werden rund 3500 Fahrten mit bis zu 275 km/h durchgeführt. Es finden sowohl dynamische als auch statische Tests statt, ­um das Zusammenspiel aller im Tunnel eingebauten Komponenten in unterschiedlichen Betriebszuständen zu prüfen. Zudem laufen Fertigstellungs- und In­standsetzungsarbeiten, ausserdem sind Mängel zu beheben. Herausfordernd ist die logistische Koor­dination der verschiedenen Aufgaben. Dabei hilft ein detaillierter Plan für den 24-Stunden-Betrieb: ­Ge­ar­beitet wird in vier Schichten zu sechs Stunden, ­die jeweils für Unterhaltsarbeiten bzw. den Testbetrieb zur Verfügung stehen. Das Ziel ist die Übergabe des betriebsbereiten Tunnels an die SBB am 1. Juni 2016.

TEC21: Und was geschieht unterdessen vor den Portalen?

Renzo Simoni: Auf den Zulaufstrecken – das heisst auf den Anschlussstrecken im Norden bis Altdorf und im Süden bis Giustizia – sind weitere Anpassungs-, Rückbau- und Rekultivierungsarbeiten fällig.

TEC21: Das sind zum Beispiel …?

Renzo Simoni: Im Kanton Uri führt die Stammlinie schon seit zwei Monaten über den Bahndamm, der neu das Nordportal des Gotthard-Basistunnels erschliesst. Die bisherige Linie nach Erstfeld kann daher vollständig rückgebaut werden; ebenso der Autobahnzubringer, der die alten Gleise bislang auf einer Brücke überquert. Diese Verbindungsstrasse wird künftig ebenerdig geführt. Derweil sind die Arbeiten ­an der offenen Bahnstrecke grösstenteils beendet. Das Rekultivieren und diverse Instandsetzungen nehmen jedoch noch einige Zeit in Anspruch.

TEC21: Und im Süden?

Renzo Simoni: Dort dauert das Ganze weniger lang, weil die Verlegung der Stammlinie zwischen Bodio und Biasca bereits erfolgt ist und der Rückbau abgeschlossen ist. Der ehemalige Installationsplatz wird nun rekultiviert. Generell dauern einzelne Pflegemassnahmen und ökologische Ausgleichsmassnahmen, im Süden und im Norden, noch Jahre. Nach der Inbetrieb­nahme der AlpTransit Gotthard sind beispielsweise Neophyten in den neu geschaffenen Biotopen zu bekämpfen, renaturierte Bachbette zu überwachen oder Ausgleichsflächen sachgerecht zu pflegen.

TEC21: Sind damit die schlaflosen Nächte vorbei?

Renzo Simoni: Es gibt durchaus Themen, bei denen wir Lösungen suchen müssen. So gibt es Bereiche im Tunnel, an denen die segmentierte Fahrleitung für den nahtlosen Übergang über einige Meter doppelt geführt wird. Ein stehender Zug kann hier einen Kurzschluss und Schäden an der Fahrleitung verursachen. Dieses Phänomen hat man im SBB-Netz erst in den letzten Jahren festgestellt. Ein Zug kann an den unmöglichsten Stellen stehen bleiben. Jetzt muss geklärt werden, wie man damit umgeht.
Zudem beschäftigt uns der reibungslose Einsatz der Software für die Bahnleittechnik. Weiter haben Messfahrten gezeigt, dass der Tunnelfunk ab gewissen Geschwindigkeiten nicht überall qualitativ gleich gut ist. Jetzt muss man baulich nachrüsten. Offene Fragen gibt es auch bei den mobilen Erhaltungstoren, die den Tunnel während der Erhaltungsschichten segmentieren, bei diversen Kühlsystemen und bei den Brandschutzklappen. Das sind alles Themen, die eigentlich hätten gelöst und erledigt sein müssen, bevor der Testbetrieb begonnen hat. Aber es läuft eben selten so wie im Schulbuch.

TEC21: Erreichen Sie den nächsten Meilenstein wie geplant?

Renzo Simoni: Es gibt diese fachlich klar erkannten Unzulänglichkeiten. Wir gehen aber davon aus, dass wir den nächsten Meilenstein erreichen. Das ist die Erteilung der Bewilligung des Probebetriebs durch das Bundesamt für Verkehr. Bis zur Übergabe müssen wir die Funktionalität und die Erfüllung der Sicherheitsanforderungen im Tunnel nachweisen. Nur so können wir am 1. Juni dem Bund und den SBB einen betriebsbereiten Tunnel übergeben. Dann beginnt der sechsmonatige Probebetrieb. In dieser Zeit sind erneut diverse Nachweise zu erbringen, damit wir im Dezember fahrplanmässig in Betrieb gehen können.

TEC21: In der Probephase ist die Federführung bei der SBB?

Renzo Simoni: Das ist so. Unsere Leute arbeiten noch mit, aber die Gesamtverantwortung haben die SBB. Deshalb ist die Übergabe in diesem Juni der Höhepunkt unserer Arbeit, und den feiern wir. Nachher sind wir – salopp gesprochen – weg vom Fenster.

TEC21: Die AlpTransit Gotthard AG wird in naher Zukunft aufgelöst. Wie ist die Stimmung im Team?

Renzo Simoni: Man muss unterscheiden: Am Gotthard haben uns viele Mitarbeitende bereits verlassen, weil sie ihren Job erfüllt haben, so etwa Personen, die am Rohbau beschäftigt waren. Die am Ceneri oder für die Bahntechnik tätigen Mitarbeitenden sind so beschäftigt, dass sie sich zurzeit nicht allzu viele Gedanken machen müssen. Sicherheit gibt jedoch allen unser Programm «Libero» (Programm für Haltemassnahmen, Unterstützung bei Frühpensionierung, Outplacement etc.). Darin sind Funktionen definiert und in einem entsprechenden Prozess den Mitarbeitenden zugeordnet. Wir überprüfen zweimal pro Jahr, wie lang die jeweilige Funktion für das Projekt noch notwendig ist. Stellen wir fest, dass die Funktion einer Person innerhalb von zwei Jahren ab dem Betrachtungszeitpunkt ausläuft, muss der Vorgesetzte ein Standortgespräch führen. In den folgenden zwei Jahren wird dann gemeinsam eine für beide Seiten möglichst gute Lösung gesucht.

TEC21: Mit welchem Inhalt?

Renzo Simoni: Gemeinsam sind diverse Möglichkeiten erarbeitet worden, abhängig vom fachlichen Hintergrund, von der Lebensphase, dem Alter, den Vorstellungen der einzelnen Person etc. Im Anschluss ver­suchen wir eine Vereinbarung zu treffen, damit diese Person so lang bleiben kann, wie sie benötigt wird. Im Gegenzug kann man etwas anbieten, wie beispielsweise eine Halteprämie oder Unterstützung bei Outplacements oder Frühpensionierungen. Bis heute haben wir rund 30 Vereinbarungen unterschied­lichen Inhalts mit Mitarbeitenden abgeschlossen.

TEC21: Für die Mitarbeitenden ist also gut gesorgt – aber was passiert mit dem gesammelten Wissen?

Renzo Simoni: Gemäss Statuten soll die AlpTransit Gotthard AG aufgelöst werden, sobald die Achse Gotthard realisiert ist. Das schliesst den Ceneri mit ein, bezieht sich aber nicht auf die zurückgestellten Elemente. Jetzt ­­ist die Frage, ob es den politischen Willen gibt, dass ­­­­man unsere Erfahrung andernorts einsetzen möchte. Dazu braucht es die Zustimmung unseres Eigners SBB, aber auch die politische Akzeptanz. Im FABI-Gesetz steht, dass der Bund die SBB oder die Umsetzungsgesellschaften mit der Planung beauftragen kann. Es wird in der Schweiz weitere Tunnelprojekte geben – auch visionäre Projekte wie «cargo sous terrain» stehen im Raum. Dazu bräuchte es Bauherrenorganisa­tionen, die entsprechendes Know-how besitzen.

TEC21: Dieses Projekt würde Sie reizen?

Renzo Simoni: Klar, das wäre visionär. Auch wenn bei diesem Projekt derzeit sowohl finanziell als auch politisch noch vieles offen ist.

TEC21: Das Know-how, das während der Realisierung des Gotthard-Basistunnels aufgebaut wurde, interessiert auch heute schon andere Organisationen. Sie sind zum Beispiel Mitglied des Beirats der Projektgesellschaft der Stuttgart-Ulm GmbH der Deutschen Bahn AG. Wie kam es dazu, und was ist Ihre Aufgabe?

Renzo Simoni: Ich wurde aufgrund meiner aktuellen Funk­tion berufen. Ich habe zum Beispiel in Stuttgart unser Risikomanagement vorgestellt, das Modell der Personalmassnahmen oder das Ausschreibungskonzept Bahntechnik – es gibt viele Themen, bei denen ­«Stuttgart 21» von unseren Erfahrungen profitieren möchte. Es freut mich, dass ich meine Erfahrung und mein Wissen von Bauherrschaft zu Bauherrschaft weitergeben kann. In den letzten Jahren wurde in Bezug auf «Stuttgart 21» vieles nicht korrekt dar­gestellt. Aus dem Projekt wird sich zudem eine einmalige städtebauliche Chance ergeben.

TEC21: Welche Erkenntnisse können Sie weitergeben?

Renzo Simoni: Was die finanziellen Belange angeht, ist es sinnvoll, bereits ab dem Stadium Kostenschätzung ein Risikomanagement aufzuziehen. Ziel ist, sämt­liche Risiken zu erfassen und diese finanziell abzuschätzen, damit die entsprechenden Risikopuffer vorhanden sind. Das ist nicht einfach. Sobald höhere Investitionskosten absehbar sind, steigt das Risiko, dass ein Projekt politisch scheitert. Wichtig ist auch eine offene Kommunikation. Wenn es beispielsweise um eine offene Linienführung geht, müssen die Interessenspartner vor Ort von Anfang an einbezogen werden. So kann die Opposition schon in einem frühen Stadium gemindert respektive können allseits akzeptierbare Lösungen gefunden werden.

TEC21: Sie sprechen von der Linienführung im Kanton Uri?

Renzo Simoni: Genau. Der enge Lebensraum in der Urner Reussebene und der Verlauf der Anschlussstrecke wurden intensiv diskutiert und die verschiedensten Nutz- und Schutzinteressen berücksichtigt.
Die vertikale Linienführung im Bereich der Schächen­querung hat das Projekt verteuert und viel Zeit gekostet. Es gab intensive politische Auseinandersetzungen. Mit dem Ergebnis, dass man in Erstfeld im nördlichsten Los unterirdisch zwei Abzweiger gebaut hat. Dies ermöglicht eine spätere Anbindung für die Unter­fahrung des Raums Schattdorf und die direkte Verbindung zwischen Gotthard-Basistunnel und Axentunnel. Das war eine Vorinvestition, die den Bund rund 60 Millionen Franken gekostet hat.

TEC21: Vor Baubeginn gab es grosse Unsicherheiten. Wie sind die Arbeiten rückblickend verlaufen?

Renzo Simoni: Der Bau ist gut gelaufen. Im Grossen und Ganzen sind die Störungen und Hindernisse aufgetaucht, die man erwartet hat. Dazu gehören die Intschizone, das Tavetscher Zwischenmassiv, die Pioramulde oder das Unterfahren der Stauseen Val Nalps und Santa Maria. Das ist sicher auch eine Errungenschaft der intensiven Vorauserkundungen (vgl. «Signale aus dem Herzen des Gotthards», S. 34). Sie haben das Projekt be-rechenbarer gemacht, und die eigentliche Bauzeit von 16 Jahren wich im Endeffekt kaum von der Prognose ab, in der mit 12 bis 16 Jahren gerechnet worden war.

TEC21: Der Gotthard-Basistunnel wird in Kürze eröffnet. Wie ist der Stand am Ceneri?

Renzo Simoni: Im Januar dieses Jahres haben die Mineure die letzten Durchbrüche gefeiert und damit einen wichtigen Meilenstein erreicht: Die ganze Flachbahn durch die Schweizer Alpen ist durchgehend ausgebrochen. Das war ein historisches Ereignis für dieses Projekt. Die Ausbauarbeiten laufen weiter, die Planung für den Einbau der Bahntechnik hat begonnen. Die Übergabe vom Rohbau an die Bahntechnik erfolgt im Herbst 2017. Es ist vorgesehen, dass der Ceneri auf den Fahrplanwechsel Ende 2020 in Betrieb geht.

TEC21: Die meistgenannten Personen im Zusammenhang mit dem Bau des Gotthard-Scheiteltunnels sind Alfred Escher und Louis Favre. Welche Person wird später in den Geschichtsbüchern stehen, wenn es um den Gotthard-Basistunnel geht?

Renzo Simoni: Wichtig waren die erste Abstimmung zur NEAT und der damit verbundene politische Durchbruch. Dies ist verbunden mit dem damaligen Verkehrsminister Adolf Ogi. Ich nehme deshalb an, dass sein Name mit diesem Jahrhundertbauwerk in Erinnerung bleiben wird. Nicht nur für den Gotthard-Basistunnel oder die Gotthardachse, sondern stellvertretend für die gesamte NEAT, am Gotthard wie auch am Lötschberg.

TEC21, Fr., 2016.04.29



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2016|18-19 Durch Gneis und Granit

29. April 2016Daniela Dietsche
TEC21

Der Gotthard-Basistunnel ist …

… ein Bauwerk, eine Gesamtleistung und eine Infrastrukturinvestition, wie sie wohl nur alle Jahrhunderte einmal realisiert wird. Selbst die Auswahl der Besonderheiten und wichtigsten Daten beansprucht eine ganze Seite.

… ein Bauwerk, eine Gesamtleistung und eine Infrastrukturinvestition, wie sie wohl nur alle Jahrhunderte einmal realisiert wird. Selbst die Auswahl der Besonderheiten und wichtigsten Daten beansprucht eine ganze Seite.

… die Verbindung zwischen Erstfeld im Urner
Reusstal und Bodio in der unteren Leventina, Kanton Tessin.

… ein 57.1 km langer Tunnel mit zwei Röhren, die von der Eisenbahn, ab kommendem Dezember im Fahrplanverkehr, jeweils einspurig durchfahren werden.

… eben und geradlinig. Die Trasse verläuft mit nur gering­fügigen Steigungen und ohne enge Kurven auf einer Höhe von maximal 550 m ü. M.

… das Kernstück der Neuen Alpentransversale NEAT.
Mit Eröffnung des nachfolgenden Ceneri-Basistunnels 2020 wird die erste Flachbahn durch die Alpen Realität und die Schweiz an das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz angeschlossen.

… nach 23 Jahren Planungs- und Bauzeit fertiggestellt. Die erste Sprengung fand am 4. November 1999 statt; im Sommer 2003 begann der Tunnelvortrieb.

… das grösste Investitionsprojekt in der Geschichte der Schweiz: 12.3 Mrd. Fr. mutmassliche Baukosten.

… ein sorgfältig gestaltetes Infrastrukturprojekt,
ein Symbol für die Verkehrsverlagerung und eine umweltverträgliche Verkehrspolitik in der Schweiz.

… ein Bauwerk, das den Waren- und Personenverkehr in Europa verändern wird.

… derzeit der längste Eisenbahntunnel der Welt, gefolgt vom Seikan-Tunnel (54 km) in Japan und vom Eurotunnel (50.5 km) unter dem Ärmelkanal. Der 64 km lange Brennertunnel (A/I) ist bereits im Bau.

… der tiefste Eisenbahntunnel der Welt mit einer Felsüberlagerung von bis zu 2300 m.

… eine weltweit beachtete Ingenieurleistung und ein Projekt mit Strahlkraft über die Schweizer Grenzen.
… ein System aus Röhren, Stollen und Schächten von insgesamt 151.84 km Länge. Querschläge alle 325 m verbinden die zwei getrennten Röhren.

… sowohl mit vier Tunnelbohrmaschinen (64 %) als auch im Sprengvortrieb (36 %) ausgebrochen worden und in fünf Teilabschnitten erstellt.

... mit mindestens 30 cm dickem Gewölbe aus Ort­beton zur Sicherung der Tragfähigkeit versehen.

… eine Herausforderung für die Bahntechnik: ­Erstmals in Europa werden Güterzüge und Hoch­geschwindigkeitszüge im Mischverkehr durch ­Einspurtunnel geführt, was einen Strombedarf ­bis 2300 A verursacht. Ebenfalls besonders sind ­Temperaturen bis 40 °C, 70 % Luftfeuchtigkeit und salzhaltige Luft, die mit der Rollenden Landstrasse eingebracht wird.


Chronologie
1947 Erste Entwürfe für einen Gotthard-Basistunnel
1963 Varianten der NEAT werden geprüft
1989 Bundesrat beschliesst NEAT-Netzvariante
1992 Volks-Ja zur NEAT
1995 Debatte über Redimensionierung und Finan­zierung (bis 1998)
1995 Definition der Linienführung
1996 Erste Vorbereitungsarbeiten in Sedrun
1998 Volksentscheid: Finanzierung der NEAT
1999 Beginn des Hauptvortriebs
2002 Erste Tunnelbohrmaschine im Einsatz
2010 Durchschlag Oströhre (15. Oktober)
2011 Durchschlag Weströhre (23. März)
2016 Eröffnung des Gotthard-Basistunnels

TEC21, Fr., 2016.04.29



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2016|18-19 Durch Gneis und Granit

29. April 2016Daniela Dietsche
TEC21

Signale aus dem Herzen des Gotthards

Tiefbau und Geologie kann man nicht trennen: Grosse geologische ­Herausforderungen – unterschiedlichste Gesteinsschichten und ­Störungszonen – haben den Bau des 57 km langen Gotthard-Basistunnels geprägt. Mehrmals mussten die Ingenieure darauf reagieren.

Tiefbau und Geologie kann man nicht trennen: Grosse geologische ­Herausforderungen – unterschiedlichste Gesteinsschichten und ­Störungszonen – haben den Bau des 57 km langen Gotthard-Basistunnels geprägt. Mehrmals mussten die Ingenieure darauf reagieren.

Der Gotthard-Basistunnel darf als Schweizer Jahrhundertbauwerk bezeichnet werden. Die Berechtigung bezieht sich zum einen auf den fast 70 Jahre langen politischen Weg von der ersten Projektidee bis zur Eröffnung und zum anderen auf die natürlichen und technischen Hindernisse, die das Vorhaben anfänglich als hoch riskant oder gar unmöglich erscheinen liessen. Gewarnt wurde etwa vor dem «schwimmenden Gebirge», der Pioramulde: einer nahezu unüberwindlich befürchteten Störungszone. Die geologischen Erkenntnisse im tiefen Berg fielen schliesslich positiv aus. Mit unangenehmen Überraschungen waren die Tunnelbauer dagegen in anderen Fällen konfrontiert. Wie die schwierigen geologischen Verhältnisse gemeistert werden konnten und mit welchen Massnahmen deren Beherrschung gelang, wird weiter unten erklärt. Zunächst empfiehlt sich ein Blick auf die generelle geologische Situation, um einen Eindruck von der Dimension des Gotthard-Basistunnels (GBT) zu erhalten.

Die beim Bau durchörterten Gesteinsformationen ergeben eine anschauliche Darstellung des geologischen Aufbaus der Schweizer Zentralalpen. Vom Nordportal bei Erstfeld bis zum Südportal bei Bodio bohrten oder sprengten sich die Tunnelbauer durch drei – auch historisch und kulturell bezüglich ihrer Besiedlung an der Oberfläche – grundsätzlich verschiedene Gebirgsmassive: das Aarmassiv im Norden, aufgebaut aus Gneisen und Graniten, in der Mitte das vorwiegend aus denselben Gesteinsarten, aber in anderen Modifikationen zusammengesetzte Gotthardmassiv sowie die Penninische Gneiszone im Süden. Zwischen Aar- und Gotthardmassiv ist ein kleineres, von vielen Störungen durchzogenes Massiv eingebettet, das Tavetscher Zwischenmassiv (TZM). Dieses bildet das Tal des Vorderrheins, im oberen Teil Tavetsch genannt, und ist geologisch in ein stark gestörtes, rund 1150 m mächtiges, nördliches TZM und ein südliches, bautechnisch günstigeres, mehr als 2.3 km mächtiges TZM unterteilt – die Grenze verläuft ungefähr in der Talsohle.

Die Massive der Zentralalpen sind nicht homogen, sondern bestehen aus vielen unterschiedlich dicken Gesteinsschichten mit verschiedenen kristallinen Strukturen und Eigenschaften (vgl. Grafik S. 36 / 37). Die Alpenfaltung hat die Schichten vorwiegend steil bis senkrecht aufgerichtet, mit Ausnahme des südlichen, vom Alpenhauptkamm weiter entfernten Teils der Penninischen Gneiszone, dessen Schichten in einen horizontalen Verlauf abschwenken. Aufgrund dieser unterschiedlichen Schichtung unterscheidet die Geologie im Süden des GBT zwischen den alpennahen, senkrecht stehenden Lucomagno-Gneisen und den vorwiegend horizontal gebankten Leventina-Gneisen.

Tektonisch stark beanspruchte Störungen

Sowohl die grossen Massive als auch ihre mehr oder weniger homogenen Gesteinsschichten sind in der Regel nicht scharf voneinander abgegrenzt. Infolge gegenseitiger Verschiebungen sind die Störungsbereiche durch zerschertes oder zerriebenes Gestein getrennt. Die Geologie bezeichnet diese teilweise wenig stabilen Grenzstrukturen als «tektonisch stark beansprucht». Einige dieser unterschiedlich ausgebildeten Störungszonen sind an der Erdoberfläche erkennbar und waren den Geologen schon bekannt. Andere Störungen hingegen wurden bei den Erkundungsbohrungen vor Baubeginn oder erst bei Sondierbohrungen während des Tunnelvortriebs entdeckt, was Projektanpassungen und Verzögerungen zur Folge hatte. Die Breite der Störungszonen schwankt auf GBT-Niveau zwischen einigen Dezimetern und einigen hundert Metern.

Es gibt auch Ausnahmen unter den Grenzbereichen, wie Projektgeologe Franz Keller schildert[1]: «Aus geologischer Sicht am erstaunlichsten ist die Tatsache, dass […] jene Stelle, an der zwei grosse tektonische Einheiten – nämlich das Gotthardmassiv und das Tavetscher Zwischenmassiv – aneinander stossen, aus einer messerscharfen ungestörten Fuge besteht.» Das war aber die Ausnahme, denn Konzept, Detailprojektierung und besonders die Ausführung des GBT waren in wesentlichem Ausmass von den Störungszonen und den Massnahmen zu deren Beherrschung bestimmt.

Bautechnisch eher ein Vorteil war, dass eine grosse Anzahl unterschiedlicher Gesteinsschichten und Störungszonen ungefähr im rechten Winkel angefahren und durchörtert werden musste. Dadurch waren die Störungen dank vorauseilenden Sondierbohrungen überblickbar und beim Vortrieb relativ rasch durchfahrbar. Horizontale Schichten konnten hingegen, wenn sie von horizontal verlaufenden Störungen begleitet werden, ernsthafte und langwierige Hindernisse für einen Vortrieb der Tunnelbohrmaschine (TBM) sein. Bei Baubeginn waren 48 bautechnisch relevante Störzonen prognostiziert worden, von denen einige beim Vortrieb nicht angetroffen wurden. Im Gegenzug sind diverse unerwartete geologische Störungen eingetreten, sodass die effektive Anzahl deutlich grösser als die ursprüngliche Annahme gewesen sein dürfte. Im Folgenden werden drei repräsentative Beispiele von grossen Störungen sowie ihre Bewältigung näher beschrieben.

Tavetsch: nachgiebiger schwerer Einbau

Der nördliche Teil des Tavetscher Zwischenmassivs (TZM) ist eine unregelmässige Formation aus Schiefern, Phylliten und schiefrigen Gneisen. Seine geologische Erkundung erfolgte weitgehend im Vorfeld des Tunnelbaus. Der kritische Nordabschnitt ist 1150 m lang und weist eine Überlagerung von rund 800 m auf.

Seit den ersten Vorprojekten rechnete man mit grossen bautechnischen Schwierigkeiten aufgrund schwerer Druckerscheinungen in dieser Störungszone, weshalb neben diversen anderen Sondierbohrungen bereits 1997/98 eine 1750 m lange Schrägbohrung vom Talgrund bis unter Tunnelniveau abgeteuft wurde. Die Bohrungen zeigten auf, dass das Gebirge ein kleinräumiges Gemenge von weichen, duktil brechenden Gesteinen und harten, spröd brechenden Gesteinen ist – eine tunnelbautechnisch sehr anspruchsvolle Kombination. Von Anfang an war auch klar, dass ein zweispuriger Tunnelquerschnitt in einer derartigen Formation weder realisierbar noch stabilisierbar war und dass eine solche kritische Formation von einem nahe gelegenen Zwischenangriff aus angegangen werden musste, um nicht den gesamten Bau zu hemmen. So waren die Voruntersuchungen im TZM Nord mitentscheidend für das definitive Layout des GBT: zwei separate Röhren und ein Zwischenangriff mit Schacht bei Sedrun.

Wie aber sollte die kritische, 1150 m mächtige Zone in druckhaftem, mal weichem und duktilem, mal hartem und sprödem Gestein ausgebrochen und gesichert werden? Oder: Wie soll ein Tunnel gebohrt werden, wenn der frisch ausgebohrte Querschnitt sofort enger wird?[2] Ein vergleichbares Vorhaben war in der Schweiz in diesen Dimensionen noch nie angegangen worden. Diese als Konvergenz bezeichnete Phänomene wurden bislang erst an kleineren Ausbruchquerschnitten in anderen Gesteinen beobachtet und analysiert. Die Tunnelbautechnik berücksichtigt dazu zwei Bauprinzipien: das Widerstandsprinzip, bei dem der Tunnelquerschnitt so stark ausgebaut wird, dass er durch das Gebirge nicht zusammengedrückt werden kann. Diese Bauweise ist zuletzt in den 1990er-Jahren in Italien beim Bau der Transversalen durch den Apennin angewendet worden – respektive ist aus dem Kohlebergbau seit den 1930er-Jahren als Ausweichprinzip bekannt. Das Gebirge wird zusätzlich ausgebrochen, um mehr Raum zur Ausdehnung und zum Spannungsabbau zu schaffen.

In Vorversuchen zeigte sich bald, dass die Überlagerungshöhe im TZM von 800 m kombiniert mit dem grossen Ausbruchdurchmesser bis 13 m von einem Bauprinzip allein nicht bewältigbar war. Die Lösung brachte eine Verschmelzung beider Bauweisen – ein Novum im Tunnelbau: italienische Tunnelbauweise mit schwerem Ausbau für hohen Widerstand und deutsche Bergbaumethode mit Mehrausbruch und nachgiebiger Sicherung, um dem Gebirgsdruck auszuweichen. Der technische Aufwand stieg allerdings an: Radial wurden bis 70 cm mehr ausgebrochen, um die Konvergenz aufzufangen. Zudem wurden Anker für die Ortsbrustsicherung sowie nachgiebige, deformierbare und nachstellbare Stahlbögen zur Profilsicherung eingesetzt. Als weiteres Sicherungsmittel in diesem engen Raum wurde der mehrfach bewehrte Spritzbetonausbau für die Felssicherung gewählt. So gelang es, die 1150 kritischen Meter vom Zwischenangriff Sedrun aus in Tagesschritten von über 1 m langsam, aber stetig zwischen Januar 2005 und November 2007 auszubrechen und zu sichern.

Piora: High Noon mit Happy End

Wie Aufschlüsse an der Erdoberfläche und erste tastende Sondierungen noch vor Projektierungsbeginn befürchten liessen, lauerte an der Grenze zwischen dem Gotthardmassiv und der Penninischen Gneiszone ein geologisches Ungeheuer auf die Tunnelbauer: Der einige hundert Meter mächtige Zwischenraum zwischen den Hauptformationen ist bis in eine unbekannte grosse Tiefe mit zuckerkörnigem Dolomit unter hohem Wasserdruck ausgefüllt. Die Gebirgsüberlagerung beträgt an dieser Stelle rund 1800 m. Die Befürchtung war daher, dass dies für den Tunnelbau ein fast unüberwindliches Hindernis darstellt. Um Klarheit über das effektive Gefährdungspotenzial der Pioramulde zu erhalten, wurde vor 20 Jahren ein Sondierstollen von der Lukmanierpassstrasse bis zur Mulde erstellt. Das damalige Ergebnis hätte beinahe das Aus für das GBT-Projekt bedeutet.

Der mit einer Tunnelbohrmaschine vorgetriebene, horizontal angelegte Sondierstollen mit 5 m Durchmesser lag jedoch rund 300 m höher als das Niveau des geplanten Basistunnels. Auf dieser Höhe ist die Pioramulde rund 200 m breit und tatsächlich mit zuckerkörnigen Dolomit und Wasser unter hohem Druck gefüllt. Das mussten die Tunnelbauer am 31. März 1996 schmerzhaft erfahren, als vor dem Anbohren der Mulde grosse Wasser- und Sandmengen in den Sondierstollen einbrachen. Der Einbruch konnte gestoppt werden, aber der Basistunnel schien infrage gestellt. Weil die Tunnelbauer nicht aufgeben wollten, erkundeten sie auch die tieferen Gebirgslagen in der Umgebung der Pioramulde mit vier Sondierbohrungen. Erst dadurch wurde der glückliche, unerwartete und das Projekt in der ursprünglichen Form rettende Umstand aufgedeckt: Unterhalb des Sondierstollenniveaus verengt sich die klaffende Störungszone nicht nur, sondern wird auch rund 50 m über dem GBT-Niveau mit einem sogenannten Gipshut, einer harten, wenige Meter dicken wasserdichten Schicht, verschlossen. Die Mulde erstreckt sich zwar weit unter das Niveau des Basistunnels; sie ist aber mit kompaktem, gut zu bearbeitendem Anydritgestein gefüllt und führt kein Wasser. Damit war die zeitweise zum Schreckgespenst hochstilisierte Pioramulde zum überblickbaren geotechnischen Hindernis geschrumpft. Die 26 Sondierbohrungen mit einer Gesamtlänge von rund 8300 m bis auf Tunnelniveau liessen eine rund 125 m lange Strecke erwarten, mit festem, trockenem und leicht zu bearbeitendem Dolomit-Anhydritgestein (Dolomitmarmor). Der problemlose TBM-Ausbruch dieses Abschnitts in nur zwei Wochen im Herbst 2008 konnte dies bestätigen.

MFS Faido: teure Überraschung

Vor dem Südportal verläuft der Tunnel durch wenig problematisch eingestuften Leventina-Gneis. Trotzdem sind beim Ausbruch der MFS Faido unerwartete und in ihrem Ausmass überraschende Störungszonen aufgefahren worden. Die Schichtung des Gesteins erwies sich als dermassen komplex und kleinräumig, dass die Befunde beim Ausbruch der ersten Röhre praktisch nicht auf die nachfolgende zweite Röhre im Abstand von rund 30 m übertragen werden konnten. Der Vortrieb nach dem Sprengverfahren war wegen der permanenten Gefahr von Niederbrüchen nur unter grössten Vorsichtsmassnahmen überhaupt möglich. Schliesslich wurde der widerspenstige zerklüftete Fels im Übergang vom Lucomagno- zum Leventina-Gneis, der entgegen den Prognosen genau durch die projektierte Multifunktionsstelle verlief, als zu grosses bautechnisches Risiko für den Ausbruch der Verzweigungskavernen mit bis zu 250 m² Querschnitt eingestuft. Die Lösung dieses Problems war die Verschiebung der grossen Kavernen für die Verzweigungen und Spurwechsel um rund 600 m nach Süden in den stabilen Leventina-Gneis, der keine aussergewöhnlichen Baumassnahmen erforderte.


Anmerkungen:
[01] Franz Keller in: SIA-Dokumentation D 025, AlpTransit-Tagung 2005, S. 72.
[02] In diesem druckhaften Gestein gibt es keine lineare Beziehung zwischen dem Ausbauwiderstand – der für die Erhaltung des Gleichgewichts zwischen Tunnelquerschnitt und gewachsenem Gebirge erforderlich ist – und der radialen Verschiebung, d. h. der Zunahme des ausgebrochenen Querschnitts.

TEC21, Fr., 2016.04.29



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2016|18-19 Durch Gneis und Granit

11. Dezember 2015Daniela Dietsche
TEC21

(K)eine zweite Röhre

Der Gotthard hat seinen festen Platz im historischen und emotionalen Inventar der Schweiz. Nun steht er erneut im Fokus der Diskussion. Im Februar 2016 wird das Stimmvolk entscheiden, ob die Instandsetzung des Strassentunnels mit oder ohne den gleichzeitigen Bau einer zweiten Röhre ausgeführt werden soll.

Der Gotthard hat seinen festen Platz im historischen und emotionalen Inventar der Schweiz. Nun steht er erneut im Fokus der Diskussion. Im Februar 2016 wird das Stimmvolk entscheiden, ob die Instandsetzung des Strassentunnels mit oder ohne den gleichzeitigen Bau einer zweiten Röhre ausgeführt werden soll.

Der Gotthard-Strassentunnel ist das Kernstück einer wichtigen Nord-Süd-Route. Im Schnitt durchfahren ihn täglich über 17 000 Fahrzeuge (vgl. Grafik zu den jährlichen Zahlen).

35 Jahre nach seiner Eröffnung muss der 16.9 km lange, nicht richtungsgetrennte Gotthard instand gesetzt werden, entschied das Bundesamt für Strassen (Astra) Anfang August 2008. Dazu muss der Tunnel gesperrt werden, das ist unbestritten. Doch was passiert währenddessen mit dem Verkehr? Um den Verkehrsfluss aufrechtzuerhalten, stehen verschiedene Varianten im Raum: Sperrung, Umleitung, Bahnverlad oder der Bau einer zweiten Röhre.

Der Bundesrat entschied sich 2012, vor der In­standsetzung der bestehenden Röhre einen zweiten Tunnel zu bauen. Dies sei die beste Lösung (vgl. «Eine verpasste Chance»). Ende September 2014 stimmte auch der Nationalrat einer Parallelröhre zu. Geplant ist deren Bau ab 2020. Sieben Jahre später soll der be­stehende Strassentunnel gesperrt und instand gesetzt werden. Ab 2030 wären dann beide Röhren einspurig, richtungsgetrennt befahrbar, die zweite Spur würde als ­Pannenstreifen dienen. Für Neubau und Instandsetzung der alten Röhre schätzt das Astra die Kosten auf rund 2.8 Milliarden Franken.

Angeführt vom Verkehrs-Club Schweiz und vom Verein Alpen-Initiative wurde gegen diesen Beschluss das Referendum ergriffen und kam im Februar 2015 mit 75 872 gültigen Unterschriften zustande. Die Volksabstimmung findet am 28. Februar 2016 statt. Nach 1994 (Alpenschutzinitiative) und 2004 (Gegenvorschlag zur Avanti-Initiative) kann das Volk zum dritten Mal über den Bau eines zweiten Strassentunnels durch den Gotthard entscheiden. Bisher sagte es Nein.

Vor zehn Jahren war der Bau damit begründet worden, dass man die Verkehrskapazität erhöhen ­wolle. Das schliesst der Bund diesmal explizit aus (vgl. «‹Alle rationalen Argumente sprechen für unser Konzept›»). Befürworter und Gegner diskutieren nicht nur über Kapazitäten, sondern auch über Tunnelsicherheit, Investitionen und das Tessin.

Bei einem Ja im Februar wäre die Marschrichtung klar, die Politik hat sich entschieden, die Planungsbüros stehen in den Startlöchern. Um die Sanierungsarbeiten am Gotthardtunnel ohne eine zweite Röhre durchzuführen, müssen die Last- und Personenwagen auf die Bahn verladen werden. Dafür kann die bestehende Verkehrsinfrastruktur genutzt werden (vgl. «Die Lösung liegt auf der Schiene»).

Die Bedeutung des Gotthards in der Schweizer (Verkehrs-)Geschichte mag ein Grund sein, warum diese Fragen emotionaler diskutiert werden als üblich.

TEC21, Fr., 2015.12.11



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2015|50 Pingpong am Gotthard

11. Dezember 2015Daniela Dietsche
TEC21

«Alle rationalen Argumente sprechen für unser Konzept»

Der Direktor des Bundesamts für Strassen, Jürg Röthlisberger, gehört zu den vehementesten Befürwortern einer Parallelröhre für den Gotthard-Strassentunnel. TEC21 hat sich mit ihm über die Abstimmung im Februar, die Tunnelsicherheit, die Instandsetzung und den Neubau unterhalten.

Der Direktor des Bundesamts für Strassen, Jürg Röthlisberger, gehört zu den vehementesten Befürwortern einer Parallelröhre für den Gotthard-Strassentunnel. TEC21 hat sich mit ihm über die Abstimmung im Februar, die Tunnelsicherheit, die Instandsetzung und den Neubau unterhalten.

TEC21: Herr Röthlisberger, der Gotthard-Strassen­tunnel wurde 1980 eröffnet. Instandsetzungs­massnahmen sind unumgänglich. In Kürze: Welche sind das?
Jürg Röthlisberger: Einerseits geht es ganz klassisch um die Erhaltung der bestehenden Bausubstanz. Vor allem die Tunneldecke, der Belag und die elektromechanischen Anlagen müssen ersetzt werden. Andererseits geht es darum, den Tunnel an die heute geltenden Sicherheits- und Umweltnormen anzu­passen. Ein Beispiel ist die Beherrschung der Längsströmung. Heute können wir diese im Gotthard kaum beeinflussen. Das möchten wir mit der Instandsetzung ändern, um im Brandfall die Luft, die sich schnell ausbreitet und toxisch ist, lokal absaugen zu können.

TEC21: Die Norm sieht für Neubauprojekte eine Höhe des verkehrstechnischen Nutzraums von 5.20 m vor. Im Gotthard soll die Zwischendecke angehoben werden, um eine Höhe von 4.80 m zu erreichen. Genügt das?
Jürg Röthlisberger: Wenn wir bei den Massnahmen zur Erhöhung der Sicherheit in allen unseren 239 Tunnels die Neubaunorm anwenden würden, müssten wir fast jedes Mal neu bauen. Deshalb wird jeder Tunnel risikotechnisch analysiert, um zu sehen, wie weit man von der Norm abweichen kann. Am Gotthard gehen wir mit 4.80 m kein zusätzliches Risiko ein. Die Höhe erfordert lediglich etwas komplexere Systeme für die Überkopfsignalisation, aber das ist sicherheits­technisch machbar.

TEC21: Wann müsste die Instandsetzung spätestens umgesetzt sein, damit der Tunnel sicher betrieben werden kann?
Jürg Röthlisberger: Bis 2025. Wenn wir die Anlage entsprechend unterhalten und sogenannte Überbrückungs­massnahmen umsetzen, können wir das Bauwerk in extremis bis 2035 sicher betreiben.

TEC21: Was meinen Sie mit Überbrückungsmassnahmen?
Jürg Röthlisberger: Als wir vor sieben Jahren mit der Projektierung der Instandsetzung angefangen haben, gingen wir zum Beispiel davon aus, dass wir die bereits heute teilweise schadhafte und statisch unterdimensionierte Zwischendecke komplett austauschen müssen, dazu eine Vollsperrung nötig ist und die Kosten bei rund 250 Millionen Franken liegen. Inzwischen haben wir das Bauwerk weiter untersucht und mit der Empa materialtechnologische Versuche gefahren. Heute sind wir überzeugt, dass die Überbrückungsarbeiten während der Sperrnächte zwischen Frühling und Herbst auszuführen sind, wenn der Pass offen ist – immer noch für rund 250 Millionen Franken. Wir können den heutigen Zustand mit materialtechnologischen Massnahmen bis maximal 2035 konsolidieren. Ein einfaches Beispiel: Indem man die Decke speziell beschichtet, werden die Chlorideinträge reduziert.

TEC21: Überbrückungsmassnahmen allein genügen nicht. Um umfassend instand setzen zu können, schlägt das Astra vor, eine zweite Röhre zu bauen. Was spricht dafür?
Jürg Röthlisberger: Die rationalen Argumente. Wer sich auf die Ratio einlässt, kommt um das Konzept von Bundesrat und Parlament nicht herum. Weil es das einzige ist, das einen bleibenden Mehrwert schafft. Die nächste Instandsetzung wird in rund 30 Jahren fällig sein. Die Unterhaltszyklen werden sogar eher kürzer.

TEC21: Wie begründen Sie das?
Jürg Röthlisberger: Wir haben heute eine Richtungstrennung von Hamburg bis Göschenen und von Airolo bis Savona, aber nicht im längsten Alpentunnel der Welt. Der zweite Grund ist: In rund 30 Jahren muss erneut instand gesetzt werden, wobei die Unterhaltszyklen eher kürzer werden, da die Tunnelanlage nicht jünger wird. So gesehen ist die Investition in eine zweite Röhre auch eine Investition in künftige Generationen. Wenn wir eine Ersatzinfrastruktur für den Bahn­verlad erstellen, müssen wir wiederkehrend alle 30 Jahre temporäre Anlagen bauen und brauchen dafür das Geld und die Flächen. Zum Dritten geht es darum, den Verkehr während der wiederkehrenden Realisierungszeiten zu organisieren. Wir bauen für viel Geld die Neat und wollen die Güter auch auf dieses Förderband bringen. Es gilt aber zu bedenken, dass das Verlagerungsziel am Gotthard bei rund 500 000 Lastwagen pro Jahr zu 100 % erreicht ist. Das entspricht rund 60 % des heutigen Verkehrs.
Das heisst nicht nur, dass die vom Volk beschlossene Verlagerung ohne Wenn und Aber umgesetzt werden soll, sondern auch, dass alle kommenden Generationen das Verkehrsproblem während der Gotthard-Instandsetzungen lösen müssen.

TEC21: Um die Sicherheit im Tunnel zu erhöhen …
Jürg Röthlisberger: … Ein Wort noch zur Sicherheit. Unter den Gegnern einer zweiten Röhre sind viele Vertreter des öffentlichen Verkehrs, der öV war und ist das Verkehrssystem, bei dem die Sicherheit unverhandelbar ist. Dafür habe ich Verständnis, aber ich finde es intellektuell nicht redlich und gegenüber unserer Kundschaft eine Zumutung, dass man der Strasse eine Richtungstrennung im Gotthard nicht auch zugesteht. Einem Verkehrssystem, das per se unsicherer ist. Nach Aussagen des BAV würde es heute ein Projekt im Gegenverkehr aus Sicherheitsgründen nicht genehmigen – und das bei einem spurtreuen Fahrsystem. Aber bei der Strasse hält man das für zumutbar. Das nehme ich den Gegnern unserer Lösung übel. Allerdings ist das der einzige Punkt, bei allem anderen kann man geteilter Meinung sein, sofern man die Emotio höher gewichtet als die Ratio.

TEC21: Die Richtungstrennung, die Instandsetzung, die kürzer werdenden Unterhaltszyklen und eine misinterpretierte Verlagerung sind für Sie wichtige Gründe. Gibt es weitere?
Jürg Röthlisberger: Nicht zu vernachlässigen sind politische und gesellschaftliche Gründe. Ein ganzer Landesteil, eine Sprach- und Kulturregion würde einfach abgehängt. Und wenn das kein Abhängen ist, müsste man sich fragen, wieso man dann früher überhaupt einen Tunnel gebaut hat. Das Tessin pocht zurecht darauf, nicht nur ein Ferienland zu sein, sondern auch eine Wirtschaftsregion.

TEC21: Spielen in diesem Zusammenhang die übergeordneten Transitkorridore eine Rolle?
Jürg Röthlisberger: Selbstverständlich sind die Korridore sowohl innerschweizerisch als auch europäisch bedeutend. Und sie bleiben es auch, wenn die Verlagerung zu 100 % umgesetzt ist. Zudem sind wir durch das Landesverkehrsabkommen verpflichtet, diese Achse offen zu halten. Kapazität haben wir mehr als genug, sie reicht nur bei der absoluten Spitzenbelastung nicht aus. Aber auch andere Verkehrsinfrastrukturen in der Schweiz sind nicht auf die Spitzenbelastung ausgelegt. Wenn die nächste Generation eine dritte oder vierte Röhre bauen wird, ist das ihr Recht.

TEC21: Welche Elemente einer zweiten Röhre wären nach dem Bau an der Oberfläche sichtbar?
Jürg Röthlisberger: Landschaftlich sind die Eingriffe minim. Heute haben wir sechs Lüftungskamine in recht gutem Zustand. Sie müssen erst in ca. 30 Jahren unterhalten werden. Die zweite Röhre würde diese mitbenutzen, weil der Verkehr ja nicht zunimmt. Von aussen betrachtet, gäbe es nach dem Bau keine Änderung gegenüber heute. Nach der Sanierung wird der Verkehr in beiden Richtungen einspurig und richtungsgetrennt geführt werden und die heutigen Portale nutzen.

TEC21: Sie sind überzeugt, dass der Verkehr im Tunnel nicht zunimmt? Eine nächste Generation könnte das aber ändern.
Jürg Röthlisberger: Genau. In der direkten Demokratie hat jede Generation das Recht, das zu tun, was ihr unter dem jeweiligen Eindruck der Rahmenbedingungen und der Werte richtig erscheint, bis hin zur Anpassung der Bundesverfassung. Mein Eindruck ist, die Gegner der zweiten Röhre beanspruchen für sich, dass ihr Gedanke, der vor 30 Jahren richtig war und auch heute richtig ist, noch in 100 Jahren richtig ist. Keine Generation hat aber das Recht, die Welt so zu ge­stalten, dass nächste Generationen keine Hand­lungs­optionen mehr haben. Wir wollen so investieren, dass die kommende ­Generation etwas davon hat. Und wenn sie eine dritte oder eine vierte Röhre am Gotthard bauen wird oder umgekehrt alle Röhren am Gotthard schliessen wird, ist das ihr Recht.

TEC21: Ein Argument, das die Gegner anführen, ist die Macht des Faktischen.
Jürg Röthlisberger: Das ist ein ernst zu nehmendes Argument: Ich habe vier Spuren, also nutze ich sie auch. Aber im übertragenen Sinn gilt das für viele Lebensbereiche. Ein Beispiel: Es gibt in Bern viele Tempo-30-Zonen, mein Auto kann aber 180 km/h fahren, darf ich dann dort nicht durchfahren?
Es gibt nicht den geringsten Grund, dass man ausgerechnet in der Schweiz davon ausgehen sollte, dass das, was in der Verfassung steht – und jetzt neu noch mit dem Tropfenzählersystem auf Gesetzesstufe bestätigt wird – irgendwo auf einer niederen Beamten­ebene umgangen wird. Das ist schlicht ausgeschlossen. Wahrscheinlich gibt es kein anderes so gut beobachtetes Objekt wie den Gotthard.

TEC21: Wie geht es bei einem Ja für das Astra weiter?
Jürg Röthlisberger: Zunächst würde es mich persönlich freuen, wenn sich die rationalen Gedanken durchsetzten und es am Gotthard eine Abstimmung gäbe, bei der nicht die Emotionen ausschlaggebend sind. Natürlich wäre es auch ein Auftrag, eine Verantwortung und der Druck, zu beweisen, dass die Projekte realisierbar sind, und zwar in der geplanten Zeit und im prognostizierten Kostenrahmen.
Fatal wäre, wenn die Kosten aus dem Ruder laufen würden. Aber ich bin überzeugt, dass die 2.8 Milliarden Franken ausreichen. Was ich bei den Verladeanlagen nicht unbedingt so sehe, das mag tendenziös tönen, ist aber eine ehrliche Aussage. Es würde mich freuen, wenn es am Gotthard eine Abstimmung gäbe, bei der nicht die Emotionen ausschlaggebend sind.

TEC21: Und die Realisierungszeit?
Jürg Röthlisberger: Wir möchten vor 2035 eine zweite Röhre gebaut und die Instandsetzung abgeschlossen haben. Das ist herausfordernd, aber lösbar. Zeitlich kritisch sind die Auflageverfahren. Wir müssen ein Projekt vorlegen, das mit den Regionen gut abgestimmt ist. Beim Gotthard-Basistunnel waren auch vergaberechtliche Gründe für eine Verzögerung verantwortlich. Daraus haben wir gelernt und werden alles tun, damit uns das nicht passiert.

TEC21: Was würde ein Nein für Sie bedeuten?
Jürg Röthlisberger: Dann nehmen wir das sportlich, aber es würde mir grosse Sorgen machen. Nicht die Instandsetzung, aber der Bau der Verladeanlagen. Die Kantone Uri und Tessin wollen keine Verladeanlagen. Niemand möchte diese Flächen, die in ihrer Auslegung ein Abbild derjenigen von Dover und Folkestone sind. Dann bräuchte es Enteignungen, grundsätzlich dürfen wir das als Bund, aber es ist demokratisch heikel und braucht Zeit. Der Super-GAU wäre, wenn wir den Tunnel schliessen müssten, ohne ein Ersatz­angebot machen zu können.

TEC21: Was machen Sie dann?
Jürg Röthlisberger: Das weiss ich auch nicht. Klar kann man versuchen, einen Teil der Güter zusätzlich durch den Gotthard-Basistunnel zu schicken, aber das verzögert den Passagierverkehr, und auch die Lang-RoLa bräuchte irgendwo zusätzliche Verladeflächen. Die Kurz-RoLa würde die Verlagerung sogar konkurrenzieren, denn Verlagerung heisst nicht von Airolo nach Göschenen, sondern von Grenze zu Grenze. Die Rückfallebene, sprich der Bahnverlad, kämpft mit den gleichen Risiken wie die zweite Röhre, nur ausgeprägter: Kostensicherheit und Realisierbarkeit. Hinzu kommt, dass diese Rückfallebene landschaftlich hässlich ist.

TEC21: Die Stimmbürger können nur zwischen einer ­Instandhaltung mit einer zweiten Röhre und einer Instandhaltung ohne den Bau einer zweiten Röhre wählen. Andere Alternativen gibt es nicht?
Jürg Röthlisberger: Nichts zu machen ist keine Option. Denn die Achse muss man allein aus wirtschaftlichen Gründen offen halten. Wenn nicht, würde das zu einer starken Verdrängung auf die anderen Achsen führen, auf die San-Bernardino- oder die Simplon-Route und den Grossen St. Bernhard. Diese Strecken sind noch unsicherer, ausserdem ist es energetisch unsinnig, 40-Tonner auf 2000 m zu jagen. Unser Auftrag von Parlament und Bundesrat lautet: Während der Dauer der Schliessung des bestehenden Tunnels müssen wir ein Ersatzangebot organisieren. Eine Variante ohne Ersatzangebot ist nie ernsthaft diskutiert worden, denn die Auswirkungen wären katastrophal – innerschweizerisch und international.

TEC21: Warum ist die Situation gerade am Gotthard so emotional?
Jürg Röthlisberger: Neben dem Mythos Gotthard, der hier sicher mitschwingt, werden die Themen vermischt. Die Instandsetzung des Gotthard-Strassentunnels ist eine Konkurrenz im Sanierungsportfolio. Das ist richtig. Sie steht aber nicht in Konkurrenz zu Projekten der Engpassbeseitigung. Es ist unsere Aufgabe, zu priorisieren und das Netz ganzheitlich gesund zu halten.

TEC21, Fr., 2015.12.11



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2015|50 Pingpong am Gotthard

06. November 2015Daniela Dietsche
TEC21

Vom Wohnzimmer ins Fahrzeug

Die Anforderungen an die öffentlichen Verkehrsmittel sind enorm gestiegen. Der zunehmenden Komplexität steht die lange Lebensdauer der Fahrzeuge gegenüber – Gestalter und Ingenieure müssen Trends und technische Entwicklungen über mehrere Jahrzehnte antizipieren.

Die Anforderungen an die öffentlichen Verkehrsmittel sind enorm gestiegen. Der zunehmenden Komplexität steht die lange Lebensdauer der Fahrzeuge gegenüber – Gestalter und Ingenieure müssen Trends und technische Entwicklungen über mehrere Jahrzehnte antizipieren.

Beim Einsteigen zählt der erste Ein­druck. Jeder Fahrgast entscheidet individuell, ob er sich wohlfühlt oder nicht, abhängig vom Reiseziel oder vom bisher Erlebten, aber auch davon, was er in der jeweiligen Situation sieht, riecht oder hört. Unangenehmer Geruch oder störende Geräusche wiegen dabei schwerer als zum Beispiel unbequemes Sitzen. Dieses subjektive Empfinden, ge­paart mit den langen Lebenszyklen der Fahrzeuge (25 bis 40 Jahre), macht es für die Gestalter schwer, den ästhetischen und funktionalen Zeitgeist zu treffen. Das betrifft zum Beispiel die Ergonomie der Sitze, die Materialwahl, die Farbgebung oder die Art und Weise, Informationen zu transportieren. Dabei gilt: Ästhetik ist gewünscht, wird sich aber nicht durchsetzen, wenn sie zu teuer ist.

Sicherheit und Komfort für Passagiere und Chauffeure

Bezogen auf den Fahrgast geht es in erster Linie um Sicherheit, Komfort und die Konkurrenz zum eigenen Auto. Die Nachteile des motorisierten Individual­ verkehrs im urbanen Raum sind bekannt, trotzdem sind die Strassen voll. Mit einem wachsenden Verkehrs­ aufkommen ist damit zu rechnen, dass auch das Bedürfnis nach Privatsphäre im öffentlichen Verkehr steigen wird. Die Designer versuchen, den Raum in den öffentlichen Verkehrsmitteln so anzubieten, dass eine Personalisierung gelingt. «Die Wertvorstellung der Nutzer kommt aus ihrem alltäglichen Privat­ und Arbeitsumfeld.

Elemente und Funktionen aus diesen Bereichen möchten sie auch in den Fahrzeugen wieder nden», sagt Andrea Lipp, Studiendekanin Transportation Interior Design an der Hochschule Reutlingen[1].

Ein Beispiel ist die Wiederentdeckung von Holz. Diese Renaissance hängt nicht mit der früher gängigen Holzklasse zusammen, sondern damit, dass die Leitbil­ der der Innenarchitektur auf die Fahrzeuge übertragen werden. In der heutigen Form, also sphärisch verformt und ergonomisch angepasst, sind Holzsitze im Kommen. Das zeigen die Umfragen für die neue Tramgeneration in Zürich und die neuen Fahrzeuge in Basel (vgl. «Neue Drämmli» S. 30).

Bei Fahrzeugen, die sich im städtischen Umfeld bewegen, geht der Trend dahin, den Fahrer abzukapseln und ihm mehr eigenen Raum zu geben – auch um ihn vor Übergriffen zu schützen. Umgekehrt verlangt dies Gestaltungskonzepte, die der «sozialen Kontrolle» mehr Gewicht beimessen.

Die Hemmschwelle, etwas im Fahr­zeug zu zerstören oder jemanden anzugreifen, ist grund­ sätzlich höher, wenn man gesehen werden könnte. Das Fahrzeuginnere ist deshalb oft transparent gestaltet, verspiegelte Panoramafenster erlauben den Blick nach draussen, schützen aber umgekehrt vor Blicken.

Nicht zuletzt um das subjektive Sicherheitsgefühl von Fahr­gästen und Personal zu befriedigen, werden zunehmend Überwachungskameras installiert.

Gewicht, Kosten und Flexibilität sind elementar für den Betreiber

Für die Betreiber ist der Zusammenhang höheres Ge­wicht gleich höherer Kraftstoffverbrauch gleich höhere Kosten zentral. Auf innerstädtischen Linien werden Gepäckablagen immer seltener gebraucht.

Die Digita­lisierung führt zu leichterem Gepäck. Und die Fläche für die Gepäckabstellplätze füllen die Betreiber lieber mit Sitzplätzen – und damit zahlenden Kunden – als mit Stauraum. Die heutigen Sitze sind in der Regel modular aufgebaut, sodass sie sich problemlos ausbauen lassen und der Raum anders genutzt werden kann.

Ein viel diskutiertes Thema sind die Sitzbezüge in den Fahrzeugen des öffentlichen Verkehrs. Die Theorie, dass Sitze mit bunten Mustern seltener zerstört werden, bestätigt Andrea Lipp: «Es ist einfach nicht reizvoll, auf den bunten Mustern etwas zu malen oder zu schreiben.» Grundsätzlich könne man feststellen, dass Hochwertiges seltener zerstört werde. Oft werden die Ober ächen wegen des Vandalismus beschichtet oder mit Folien beklebt – dies ist zwar in der Anschaffung teurer, wirkt sich aber positiv auf den Unterhalt aus.

Für den Betreiber geht es beim Design in erster Linie um seinen Wiedererkennungswert, sein Image und das Erscheinungsbild. Er wird versuchen herauszufin­den, welche Farben und welche Formgebung seine Ziel­ gruppe mit welchen Eigenschaften verbindet. Die Her­ ausforderung für die Gestalter liegt zudem darin, die Fahrzeuge so zuzuschneiden, dass sie bezahlbar sind, um wettbewerbsfähig zu sein.

Möglicherweise geht ein Betreiber noch auf den kulturellen Hintergrund des Landes ein. Dies äussert sich in der Farbgebung oder der Anordnung der Sitze. Hat sich ein Betreiber entschie­ den, wird dieses Layout genutzt und über die Masse kostengünstig produziert. «Öffentliche Verkehrssysteme werden seit den 1960er­Jahren auf Massenleistungs­ fähigkeit und Wirtschaftlichkeit, aber nicht auf Reise­erlebnisse hin optimiert», sagt Lipp. Dennoch sind die Vorgaben der Verkehrsbetriebe für die Gestalter wahrscheinlich die geringste Einschränkung. Schwerer wie­gen die Vorgaben zu Material (schwer entflammbar, rutschsicher, abwaschbar, resistent gegen Feuchtigkeit), Massen (Durchgangsbreite, Kopfhöhe, Sitzabstand, Bar­rierefreiheit) oder Farbgebung (Kontrastfarben).

Vorausdenken ist entscheidend

Wegen der langen Lebenszyklen der Fahrzeuge im öf­ fentlichen Verkehr orientiert man sich bei der Gestaltung gern an ästhetischen Ideen, die sich lang gehalten haben: z. B. optische Leichtigkeit, die Hochwertigkeit suggeriert. Laut Lipp kommen auch Naturmaterialien, recyceltes Material oder insgesamt die Wiederverwertbarkeit der Materialien gut an. «Ein leichter Sitz deutet darauf hin, dass der Aufwand für die Herstellung nicht zu gross war», sagt sie.

Die künftigen Nutzer sind die heutigen Kinder­gartenkinder. In dieser Generation werden Infotainment und Digitalisierung wichtiger Bestandteil der Ausstat­tung sein. «Die Ausstattung entwickelt sich weg vom Material als Dekoration, hin zu interaktiven Materia­lien. Beispielsweise modernen Ledersitzen, die die Tem­peratur des Passagiers erfühlen und sich entsprechend erwärmen oder abkühlen.» Für neue Gestaltungsideen braucht man allerdings Platz im Fahrzeug. «Heute haben alle Fahrzeuge ihre Energiespeicher dabei oder sind dadurch in irgendeiner Form limitiert. Sobald sich die Form des Antriebs ändert, wird es wieder mehr Raum für Gestaltung geben», ist Andrea Lipp überzeugt.


Anmerkung:
[01] Die Hochschule Reutlingen (D) bietet einen Studiengang Transportation Interior Design (TID). Die Bachelor und Masterprogramme basieren auf den Themenbereichen Textiltechnologie, Textilmanagement, Textilhandel, Textildesign, Modedesign, Fahrzeuginnendesign und Künstlerische Konzeption. Die Studierenden erwerben fachübergreifend die nötige Kompetenz zur Gestaltung von Innenräumen für Verkehrsmittel aller Art – von der Konzeption bis zur praxisnahen Umsetzung. Wichtiger Bestandteil der Ausbildung ist neben dem dreidimensionalen Styling des Innenraums und seiner Komponenten der richtige Umgang und Einsatz von Materialien. Weitere Informationen: www.td.reutlingenuniversity.de

TEC21, Fr., 2015.11.06



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2015|45 Design auf der Kurzstrecke

30. Oktober 2015Daniela Dietsche
TEC21

Besinnlichkeit mitten im Leben

Bestattungsort und Erholungsraum, Arboretum und Feinstaubalter, Parkanlage und Tierrefugium – die Friedhöfe hierzulande werden heute vielfältig genutzt. Der beschaulichen Atmosphäre beim Besuch der Anlagen stand der nüchterne Blick der Fachleute gegenüber.

Bestattungsort und Erholungsraum, Arboretum und Feinstaubalter, Parkanlage und Tierrefugium – die Friedhöfe hierzulande werden heute vielfältig genutzt. Der beschaulichen Atmosphäre beim Besuch der Anlagen stand der nüchterne Blick der Fachleute gegenüber.

Wenn heute von einem Friedhof gesprochen wird, überwiegt die Vorstellung: sauber, aufgeräumt und akkurat aufgereihte Gräber. Streifzüge durch verschiedene Schweizer Anlagen zeigen ein anderes Bild. Sie gleichen Parkanlagen, es gibt zahlreiche nicht aktiv genutzte Flächen, auf denen das Gras hoch wachsen darf. Der Friedhofsbesucher trifft auf anonyme Gemeinschaftsgräber, lange Urnenwände, historische Familiengräber oder eben die bekannten Gräberreihen. Er begegnet Menschen im Zwiegespräch mit verstorbenen Angehörigen, Menschen auf dem Weg zur Arbeit oder solchen, die dort ihre Mittagspause verbringen. Menschen, die die besondere Atmosphäre schätzen. Ein Ort, der ruhig bleibt, obwohl im Hintergrund Geräusche einer hektischen und lauten Umgebung zu hören sind.

Die Friedhöfe sind abwechslungsreicher geworden und werden vielfältiger genutzt. Der Anteil der Feuerbestattungen[1] liegt heute schweizweit bei rund 85%.[2]

Dennoch wird sich die Kremation als Bestattungsform bei etwa 75% stabilisieren, dass der Anteil der Bevölkerung, der religiöse Bestattungsvorschriften kennt, zunehmen wird. Die jüdischen und die islamischen Riten gestatten es den Gläubigen nicht, die Verstorbenen einzuäschern. Darauf haben die Verantwortlichen in einigen Städten reagiert und islamische Grabfelder errichtet (vgl. «Den Toten eine Heimat», S. 28). Die jüdische Bevölkerung nutzt oft eigenständig betriebene israelitische Friedhöfe.

«Das hat einen historischen Hintergrund. Vor 100 Jahren hat man so auf die verschiedenen Religionen reagiert. Heute versuchen wir alle Religionen zu vereinen», sagt Christoph Schärer, Leiter von Stadtgrün Bern.

Stätten des Gedenkens und des Friedens

Von den eingeäscherten Verstorbenen werden heute rund 40% in einem Gemeinschaftsgrab beigesetzt.

Für Ein- wohner von Basel-Stadt werden pro Jahr rund 380 Bewilligungen für eine Beisetzung der Asche ausserhalb des Friedhofs erteilt. Obwohl die Anzahl in den letzten Jahren zugenommen hat, bleibt der Friedhof für die Menschen ein Ort des Abschieds, der Erinnerung und des Trosts. Für Emanuel Trueb, den Leiter der Stadtgärtnerei in Basel, ist der Gedanke absurd, dass eine Friedhofsanlage wie der Basler Zentralfriedhof Hörnli einst nicht mehr gebraucht werden könnte, weil der überwiegende Teil der Verstorbenen ausserhalb beigesetzt wird. «Das entbehrt jeder realistischen Grundlage», meint er.

«Die Angehörigen und Hinterbliebenen brauchen einen Ort, der ihnen ermöglicht, ihre Verstorbenen zu betrauern. Aber auch einen Ort, an dem sie ihre Trauer zurücklassen können, um dann ins Leben zurückzukehren. Wer eine Urne im Garten beisetzt oder zu Hause aufstellt, kann nicht loslassen», so die persönliche Einschätzung von Schärer. Es hat sich gezeigt, dass bei anonymen Bestattungen Hinterbliebene darunter leiden, nicht zu wissen, wo ihre Angehörigen bestattet wurden. Der Friedhof bietet die Möglichkeiten einer Begegnung mit den Verstorbenen und den Lebenden sowie einer Auseinandersetzung mit den Fragen von Leben und Tod. Für Trueb sind die Friedhöfe auch Ausdruck einer gesellschaftlichen Haltung gegenüber den Toten. Den Friedhof sieht er als am Ende alles zusammenführende Stätte für die Gesellschaft; als Stätte des Gedenkens, der Zusammengehörigkeit und des Friedens.

Platz ist kein Problem

Heute gibt es fast schon unübersichtlich viele Möglichkeiten einer Beisetzung. Während Familiengräber und Reihengräber für Särge oder Urnen an Bedeutung verlieren, werden Gemeinschaftsgräber immer beliebter. «Heute leben Familien oft geografisch weit verstreut. Viele Menschen können oder wollen das Grab ihrer Angehörigen nicht mehr regelmässig besuchen und pflegen», erklärt Rolf Steinmann vom Bestattungs- und Friedhofamt der Stadt Zürich. Auch der umgekehrte Fall ist häufig: Menschen, die sich mit ihrem Tod und ihrer Beisetzung befassen, entscheiden sich für ein Gemeinschaftsgrab, um niemandem zur Last zu fallen oder weil ihnen die standardisierte Anordnung der Reihengräber nicht gefällt. Doch es gibt ein Aber. «Wir haben festgestellt, dass das Gemeinschaftsgrab seine Schwächen hat», sagt Schärer. «Der Wunsch der Angehörigen, zu wissen, wo der Verstorbene bestattet ist, ist nicht zu übersehen.» Auf den Friedhöfen in Bern hat man deshalb die drei Urnenthemenfelder Rosen, Wald, Blumenblüten (vgl. Abb. S. 25 unten) vorbereitet. Dort ist es möglich, eine Tafel mit Namen und Daten aufzustellen und das Grabmal mit kleinen individuellen Zeichen zu bestücken. Die Pflege der Anlage übernehmen die Friedhofsgärtner.

Alternative Bestattungsarten werden ebenfalls immer beliebter, seien dies ein Wald für Aschebeisetzung, eine Luft- oder eine Wasserbestattung. Diese Entwicklungen führen dazu, dass die Friedhöfe trotz steigender Bevölkerungszahlen ausreichend Platz bieten. «Sofern sich die Bestattungsgewohnheiten nicht radikal ändern, reicht der Platz auf unserem Zentralfriedhof noch Jahrzehnte», sagt Trueb über den Basler Friedhof Hörnli. Platzmangel ist also nicht das Problem – im Gegenteil, denn die neuen Bestattungsformen beanspruchen deutlich weniger Raum.[4]

Familiengräber werden in der Regel nach 40 Jahren, die übrigen Gräber nach 20 Jahren Ruhezeit aufgehoben.[5] Werden sie nicht wieder belegt, entstehen Lücken in den Gräberreihen. Mancherorts wirken die Grabmale regelrecht vereinsamt. Bei Gemeinschaftsgräbern, unabhängig ob für Urne oder Sarg, liegt es in der Natur der Sache, dass sie leer wirken, obwohl Tausende auf diesen Flächen beigesetzt sind. Doch auch sie müssen unterhalten werden. Allein aus Kostengründen gibt es also ein Bestreben, attraktive und neuartige Angebote zu offerieren, um die Verstorbenen auf den Friedhöfen beisetzen zu können.

Obstgarten statt Gottesacker

Der Ökologie kommen solche Überlegungen entgegen. Der Unterhalt wird aus Kostengründen und aus ökologischen Aspekten zurückgefahren. Man rechnet mit einer Trauerphase von ein bis zwei Jahren, in dieser Zeit werden die Gräber häu g besucht und diese Abteilungen entsprechend intensiv gepflegt. Areale, wo die Toten bereits zehn Jahre oder länger bestattet sind, sind weitaus weniger frequentiert und werden dementsprechend seltener gemäht. Abgeräumte Flächen liegen drei oder vier Jahre brach, dort entwickeln sich wertvolle Flächen für Fauna und Flora. Die Artenvielfalt auf Friedhöfen ist enorm und wird durch den Anbau von Wildhecken oder, wie im Fall des Bremgartenfriedhofs in Bern, alten Apfel- und Birnensorten aktiv gefördert.[6] Wertvolle alte Baumbestände tun ihr Übriges. Den heutigen Anlagen kann ein gewisser Versuchscharakter nicht abgesprochen werden.

Schützenswerte Grabmale

Ein weiteres Experimentierfeld ist der Umgang mit den schützenswerten Grabmalen. Auf dem Wolfsgottesacker in Basel be nden sich die Familiengräber einiger Grössen der Chemie. Die Anlage steht unter Denkmalschutz; das beinhaltet die Bauwerke, den Garten und die Umfassung, nicht aber einzelne Gräber. Grabmale, die zu erhalten sind, bleiben im Besitz der Stadt und werden von der Stadtgärtnerei gepflegt. Des Weiteren gibt es Gräber, die mit Auflagen verkauft werden, zum Beispiel kann das heissen, nur die Tafel am Grabstein darf ersetzt werden. Es gibt aber auch Fälle, in denen das Familiengrab nach der Totenruhe aufgehoben wird.

Auf Zürichs Friedhöfen kann man den Einfluss der Industrialisierung an den Familiengräbern sehen. Allein auf dem Friedhof Sihlfeld befinden sich 350 historische Gräber verschiedener Epochen. Es wird unterschieden zwischen Grabsteinen, die unter Denkmalschutz stehen, und schützenswerten Grabmalen, die handwerklich nicht unbedingt überzeugen, bei denen aber das Ensemble und die Harmonie Grund sind, dass sie nicht aufgehoben werden. Auch hier besteht die Möglichkeit, ein historisches Grab zu mieten.

In Bern gibt es ebenfalls bemerkens- und erhaltenswerte Grabmäler. Hier haben sich die Verantwortlichen gegen eine Weiterverwendung entschieden. Die Gräber werden zwar nicht abgeräumt, aber auch nicht verkauft,nurminimalunterhaltenundweitgehenddem natürlichen Verfall überlassen.

Multikulturalität auf den Friedhöfen

Damit alle Religionen ihre Verstorbenen nach ihren Gebräuchen auf Schweizer Friedhöfen bestatten könnten, brauche es manchmal einen Kompromiss, sagt Schärer. «Wir haben das Grabfeld für die Muslime so eingerichtet, dass die Ausrichtung stimmt und der Kopf nach Mekka geneigt werden kann, auch wenn diese Anordnung nicht dem vorgesehenen Raster der ursprünglichen Anlage entspricht. Die Bestattung muss aber zwingend in einem Sarg erfolgen.» Das ist aufgrund der Hygienevorschriften wichtig. In den Ursprungsländern werden die Leichname meist in Tüchern eingewickelt beigesetzt.

Der Wunsch nach einem eigenen Grabfeld von muslimischen Einwohnern ist relativ jung. Die ersten Bestattungen stammen aus den frühen 2000er-Jahren. Die vorhergehenden Generationen wurden oft noch ins Heimatland überführt. Ganz untypisch für die muslimischen Gep ogenheiten ist der Grabschmuck, den man oft antrifft. Schärer sieht darin ein Zeichen für eine gelungene Integration.

Eine Herausforderung für die Friedhofsverwaltung in Bern ist die Au age, dass es auf künftigen muslimischen Grabfeldern zuvor keine Urnenbestattung geben durfte. «Wir haben noch solche Flächen auf den Friedhöfen», erklärt Schärer. «Zudem gibt es ausserhalb Reserveflächen, die wir mobilisieren könnten. Zurzeit befindet sich auf dieser Fläche eine Sportanlage.»

Powernap und Totenruhe

Der Friedhof als Ort für kulturelle Anlässe: Ausstellungen, Theateraufführungen, Lesungen oder Führungen zu prominenten Persönlichkeiten sind für Rolf Steinmann Möglichkeiten, auf die Themen Tod und Friedhof aufmerksam zu machen. Es sind Themen, die man gern von sich wegschiebt. «Wir möchten mit unseren Angeboten den Menschen helfen, einen Zugang zum Umgang mit dem Tod zu finden, und darüber hinaus den Räumlichkeiten einen Wert geben, wie dem alten Krematorium.»[7]

Er gibt aber auch zu, dass man sich in einem Spannungsfeld bewegt, wenn der Friedhof zum Park wird.

Insgesamt halten sich die Besucher an die Regeln und verhalten sich entsprechend, z.B. durch Vermeidung von Geschrei oder lautem Lachen. Dennoch sind die Grenzen subjektiv: Für manche ist das Sonnen oder der Konsum von Nahrungsmitteln bereits ein Tabu. Deshalb ist es wichtig, in gutem Kontakt mit der Bevölkerung zu stehen und auch über Werte zu diskutieren. «Ich möchte möglichst wenig verbieten und möglichst viel ermöglichen», sagt Steinmann. Dies biete auch die Chance, den Friedhof positiv wahrzunehmen. Ihm gehe es darum, Altbewährtes zu erhalten, ohne sich Neuem zu verschliessen.

Auf dem Bremgartenfriedhof möchte man aktiv einen ersten Schritt machen und Teile der Anlage als öffentlichen Park nutzen. Ein Bereich ist dabei für ruhige Freizeitnutzungen wie Lesen oder Sonnenbaden vorgesehen. Er liegt in unmittelbarer Nähe zu den aktiv genutzten Urnenthemenfeldern und soll baulich nicht abgegrenzt werden. Auf dem angrenzenden Areal – der ehemaligen Friedhofsgärtnerei – darf es auch mal lauter werden. Der entstehende Park dient künftig als Reserve äche und wird deshalb nicht verkauft oder gar überbaut. Man müsse den Friedhof als Ganzes sehen; es würde die Ruhe auf der Anlage erheblich beeinträchtigen, wenn Teile abgetrennt würden, sagt Christoph Schärer. Auf diese Art kann man all jenen, die einen besinnlichen Ort mitten im Leben suchen, entgegenkommen. Schärer gibt weiter zu bedenken: «Wir planen bei Friedhöfen in ganz anderen zeitlichen Dimensionen. Die Entwicklung auf Jahrzehnte vorauszusehen ist schlicht nicht möglich. Derzeit ist glücklicherweise kein grosser Druck für eine Umnutzung vorhanden.»

Emanuel Trueb meint: «Sollte der Druck zu gross werden und müsste man den Zentralfriedhof Hörnli aufgeben und zum Beispiel als Bauland nutzen, wäre das aus Sicht der Trauernden kein Problem. Die Umnutzung von Friedhöfen hat in Basel, wie auch in anderen Grossstädten, Tradition.» An Plätzen, wo einst die Toten ruhten, rauscht heute der Verkehr, stellen Cafés ihre Tische nach draussen oder gastieren wie in Basel Zirkusse und die Herbstmesse. Aus alten Friedhöfen wurden meist Parkanlagen, viel seltener wurden sie überbaut. Aufgrund des explosionsartigen Bevölkerungswachstums im 19. Jahrhundert wurde es auf den vorhandenen Friedhöfen eng. Auch die Aussicht, durch Feuerbestattungen Platz zu sparen, half nicht, und viele Städte eröffneten neue Anlagen – oft auf der grünen Wiese. Dass die heutigen Friedhöfe umgenutzt werden, ist aus vielen Gründen unwahrscheinlich, aber, wie die Geschichte zeigt, nicht unmöglich. Trotzdem wäre es wünschenswert, dass Friedhöfe in Zukunft keine Grünflächen unter anderen sind, sondern dass den Menschen ihre Sonderstellung aus kultureller und ökologischer Sicht wichtig bleiben wird.


Anmerkungen:
[01] Grundsätzlich gibt es nur zwei Bestattungsarten, die Erd- und die Feuerbestattung. Aus deren Wahl ergeben sich dann verschiedene Möglichkeiten einer Beisetzung.
[02] Statistik «Kremationen in der Schweiz», Schweizeri- scher Verband für Feuerbestattung SVFB, 1889–2014.
[03] Peter Gabriel, Franz Osswald (Hrsg.): Am Ende des Weges blüht der Garten der Ewigkeit, 75 Jahre Friedhof am Hörnli, Bestattungskultur im Kanton Basel-Stadt, 2007, S. 303.
[04] Laut Friedhofsverwaltung braucht ein Reihengrab für Urnen rund ein Drittel weniger Fläche als ein Reihengrab für eine Erdbestattung, die Aufbewah- rung in einer Urnennische spart noch mehr Platz und das Gemeinschaftsgrab oder die Gruft sowieso. Auf wenigen Quadratmetern werden Tausende Verstorbene beigesetzt.
[05] Seit 1846 gilt in der Schweiz eine Totenruhe, das heisst ein Turnus der Wiederbelegung von Gräbern, von 20 Jahren. Auf dem Friedhof Hörnli in Basel wird rund ein Drittel der Urnen, die herausgenommen werden, wieder beigesetzt.
[06] Stadtgrün Bern: Der Bremgartenfriedhof, Ein Spaziergang mit Geschichten, 2015.
[07] Christine Süssmann, Daniel Müller: Kremation, Vom Verbrennen der Toten in Zürich, 2013.

TEC21, Fr., 2015.10.30



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2015|44 Orte der Ruhe

05. Juni 2015Daniela Dietsche
TEC21

Tagbautunnel gegen den Lärm

Die A1 soll zwischen dem Autobahnkreuz Aubrugg und dem Schöneichtunnel umhüllt werden. Für die Autofahrer entsteht ein Tunnelbauwerk, für die Quartierbewohner ein Grün- und Freiraum auf dessen Dach.

Die A1 soll zwischen dem Autobahnkreuz Aubrugg und dem Schöneichtunnel umhüllt werden. Für die Autofahrer entsteht ein Tunnelbauwerk, für die Quartierbewohner ein Grün- und Freiraum auf dessen Dach.

Der Streckenabschnitt zwischen dem Autobahnkreuz Aubrugg und dem Schöneichtunnel zählt zu den meistbefahrenen Verkehrsachsen in Zürich. Mehr als 110 000 Fahrzeuge benutzen die A1 in diesem Bereich täglich. Sie gilt als die wichtigste nördliche Einfahrachse in der Agglomeration Zürich. Lärm- und Feinstaubbelastungen liegen hier regelmässig über den zulässigen Grenzwerten, teilweise über den Alarmwerten.

1980 wurde erstmals in Lärmschutzmassnahmen wie Schallschutzglas und Schutzmauern investiert, doch der Lärmpegel sank nur punktuell. Als Eigen­tümer ist das Bundesamt für Strassen (Astra) jedoch gemäss Umweltschutzgesetz und der seit 1987 geltenden Lärmschutzverordnung verpflichtet, Stras­senabschnitte zu sanieren, die übermässigen Lärm verursachen. Seit einigen Jahren verfolgen der Bund, der Kanton und die Stadt Zürich deshalb die Idee, die Nationalstrasse mit einem Tagbautunnel zu umschliessen. Die Geneh­migung des Projekts durch das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunika­tion (Uvek) steht bevor.

Die Lage der Autobahn bleibt im Wesentlichen bestehen, die Fahrspuren werden weiterhin richtungsgetrennt geführt. Die Einhausung schliesst in Richtung Stadtzentrum direkt an den bestehenden Schöneichtunnel an. Gemäss den Richtlinien des Bundes ist diese Kombination als zusammenhängende Tunnelanlage zu betrachten. Dadurch wird der Schöneichtunnel erheblich länger und muss lüftungs- und sicherheitstechnisch besser ausgerüstet werden. Zudem werden die Rasterdecke Waldgarten geschlossen und beim Westportal Tierspital ein neues Lüftungsbauwerk mit Abluftkamin erstellt. Die Einhausung und das Lüftungsbauwerk sollen die Luftqualität auf der Strecke zwischen den Portalen Aubrugg und Tierspital verbessern. Auf der Überdeckung entsteht ein Hochpark. Durch Treppen, Lifte, Rampen sowie die Auf­weitung und Neugestaltung der Unterführung ­Saat­lenstrasse soll die innere Verbindung des von der Natio­nalstrasse durchschnittenen Wohnquartiers gestärkt werden (vgl. «Vom Manko zum Plus», S. 29).

Statt Lärmschutzwand

Bis sich die Idee der Einhausung etablierte, hat es 20 Jahre gedauert. Noch 1995 entschied sich der Kanton für eine konventionelle Sanierung.[1] Vorgesehen waren 3 m hohe Lärmschutzwände, eine Geschwindigkeitsreduktion und Fenstersanierungen. 1999 kam die kantonale Volksinitative «Einhausung der Autobahn Schwamendingen» zustande. Der Regierungsrat lehnte den Vorschlag der Bevölkerung ab und legte dem Kantonsrat am 9. Juli 2001 eine Motion mit einem möglichen Finanzierungsschlüssel zwischen Bund, Kanton und Stadt vor. Um die städtebauliche Einordnung eines ­weitergehenden Lärmschutzes (z. B. bezüglich Materia­lisierung und Kon­struktion) beurteilen zu können, ­prüften die Architekturbüros Hotz, Diener & Diener und agps.architecture, unterstützt von weiteren Fachleuten, im Rahmen eines Studienauftrags 2003/2004 drei ­Varianten: eine Einhausung, eine Brücke und einen Tunnel. Ein Tunnel wurde aus finanziellen und technischen Gründen nicht weiterverfolgt, die beiden ande­ren Varianten vertieft.

Schliesslich gaben finanzielle und städtebauliche Überlegungen den Ausschlag dafür, aufgrund des Vorschlags von agps.architecture eine Einhausung zur Kreditvorlage auszuarbeiten. Sie wurde am 24. September 2006 vom Stimmvolk angenommen.

Zunächst war eine mit Erdreich überdeckte ­Betoneinhausung mit einem Park auf dem Dach und begrünten Böschungen angedacht. Im aktuellen Projekt sind die Böschungen aus Platzgründen und wegen der mangelnden Tragfähigkeit des Untergrunds nicht enthalten: Aufgrund der bestehenden Querstrassen hätte man die Hügelzüge immer wieder unterbrechen und viele Gebäude entlang der Autobahn rückbauen müssen. Zudem hätten Anschüttungen dieser Dimension zu grossräumigen Setzungen geführt. Stattdessen sind nun sieben Meter hohe Betonwände vorgesehen.

Die Einhausung soll das Quartier sowohl von Abgasen als auch von Lärm entlasten. Die Messungen auf der Überlandstrasse zeigen heute eine Lärmbelastung von 72 dB(A).[2] Das Astra schätzt, dass der verbleibende Grundlärm nach dem Bau der Einhausung bei 42 dB(A) liegen wird. Das Lärmproblem ist damit zwar weitgehend gelöst, es stellt sich aber die Frage, wie das neue Bauwerk städtebaulich sinnvoll ins Quartier eingebunden werden kann (vgl. «Transformation der Gartenstadt»).

Innen Tunnel, oben Park

Die Einhausung und ihre Sicherheitsinfrastruktur werden vom Astra unterhalten. Sie wird innen behandelt wie ein Tunnel, d. h., die Anforderungen an Lüftung, Entrauchung oder Signalisation unterscheiden sich nicht von anderen Nationalstrassentunnels. Da sich der Baugrund als setzungsempfindlich herausgestellt hat, wurde als Fundament eine aufgelöste Pfahlwand gewählt. Im Bereich des unter der Autobahn verlaufenden Tramtunnels bis zur Station Schörlistrasse wird die Decke des Tagbautunnels mit Fertigteilträgern ausgebildet, der Bereich von der Tramstation Schörlistrasse bis zum Portal Aubrugg mit einer Ortbetondecke. Grös­se und Komplexität des Projekts bedingen eine aufwendige Logistik. Der Bedarf an Installations-, Bewegungs-, Logistik- und Rettungsflächen mitten im Wohnquartier ist zeitlich und örtlich gross. Zahlreiche freie Flächen im Quartier werden temporär genutzt. Die Bauarbeiten sind so projektiert, dass die Autobahn unter Wahrung der Verkehrs- und Arbeitssicherheit vierspurig befahrbar bleibt. Auch der Tramtunnel mit seinen Stationen und Zugängen bleibt immer in Betrieb. Umleitungen über die Quartierstrassen sind nicht vorgesehen. Für bestimmte Arbeiten wird die Autobahn nachts gesperrt. Hierfür wurden im Zusammenarbeit mit der Dienst­abteilung Verkehr der Polizei grossräumige Umleitungskonzepte entwickelt. Zudem orientiert das Astra die Auto­fahrer mit einer begleitenden Informationskam­pagne frühzeitig über Alternativen.


Anmerkungen:
[01] Vor der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) waren für die Nationalstrassen noch die Kantone verantwortlich. [02] Das Gebiet entlang der Autobahn ist punkto Lärm­empfindichkeit vor allem in die Empfindlichkeits­stufen ES II und vereinzelt ES III klassiert. In diesen gelten tagsüber ein Immissionsgrenzwert (IGW) von 60 bzw. 65 dB(A) und ein Alarmwert (AW) von 70 dB(A).

TEC21, Fr., 2015.06.05



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2015|23 Eine Einhausung für Schwamendingen

«Die Antwort schmerzt: Ich bin es»

Mit der Philosophin Eva Schiffer und dem Wissenschaftsjournalisten Marcel Hänggi sprachen wir über Verkehr und Mobilität im weiteren Sinn. Das Experiment eines interdisziplinären Dialogs hat
Überlegungen hervorgebracht, die weit über technische Lösungsansätze hinausgehen und nachdenklich stimmen.

Mit der Philosophin Eva Schiffer und dem Wissenschaftsjournalisten Marcel Hänggi sprachen wir über Verkehr und Mobilität im weiteren Sinn. Das Experiment eines interdisziplinären Dialogs hat
Überlegungen hervorgebracht, die weit über technische Lösungsansätze hinausgehen und nachdenklich stimmen.

TEC21: Was bedeutet Fortschritt im Zusammenhang mit Mobilität?
Marcel Hänggi: Fortschritt ist ein grosses Wort. Ich wäre schon froh, wenn es keinen Rückschritt mehr gäbe. Es wird oft behauptet, unsere Gesellschaft werde mobiler. Ich behaupte das Gegenteil.

Wie kommen Sie zu dieser These?
Hänggi: Verkehr und Mobilität – oder sagen wir Mittel und Zweck – werden oft verwechselt. Der Verkehr nimmt natürlich zu, mit allen negativen Folgen. Kinder haben motorische Defizite, die Krankheiten infolge von Bewegungsmangel nehmen zu. Mir geht es um die Möglichkeit, meine Mobilitätsbedürfnisse im umfassenden Sinn befriedigen zu können. Unsere Mobilität, verstanden als Fähigkeit, das Bedürfnis nach Ortsveränderung zu befriedigen, unterscheidet sich nicht wesentlich von jener der Menschen vor 100 Jahren. Das gilt auch für die «Unterwegszeit»: Schnellere Verkehrsinfrastrukturen führen nicht zu Zeitersparnissen, sondern dazu, dass wir längere Wege zurücklegen. Die Mobilität ist konstant geblieben, der Mobilitätsaufwand – Kosten, Umweltverschleiss usw. – hingegen hat sich vervielfacht. Deshalb ist auch die Behauptung falsch, Mobilität sei zu billig. Heute gibt ein durchschnittlicher Schweizer Haushalt 8 % seines Budgets für Mobilität aus, mehr als für Lebensmittel. Vor 50 Jahren war es ein Bruchteil dessen.

Frau Schiffer, Sie haben einmal geschrieben, wir müssen zuerst den Stau im Kopf überwinden, um alles wieder in Fluss zu bringen (vgl. Kasten S. 32).
Eva Schiffer: Aus philosophischer Sicht müssen wir einen Schritt zurückgehen und uns fragen, wie wir als Gesellschaft in eine bestimmte Situation geraten sind.

Wir alle hetzen ständig hinter etwas her. Kay Axhausen schreibt in seinem Beitrag «Die Fahrzeit ist entscheidend» (vgl. S. 26) von einer «Befriedigung der Ungeduld, die ein Ergebnis des wachsenden Wohlstands ist».
Hänggi: Das ist offensichtlich.
Schiffer: Dieser frenetische Aktivismus ist etwas Entsetzliches. Jeder kennt das: diese Atemlosigkeit, die Unfähigkeit zu verweilen ... In der Geisteswissenschaft kann diese Entwicklung wunderbar nachvollzogen werden. Die christliche Heilsvorstellung verweist von hier nach dort. Und der Fortschrittsgedanke zur Zeit der Aufklärung, dass es «künftig» besser sein wird, knüpft an diese Vorstellung an. Diese Muster sind tief in uns verankert. In der vorchristlichen Zeit war das noch nicht so. Das griechische Wort für Bewegung, «Kinesis», bedeutet nicht die Verschiebung von Körpern im Raum, sondern bezeichnet «das, was uns bewegt». Hier muss niemand «weiterkommen».

Nun steht die Verkehrsplanerin, der Verkehrsplaner im Alltag vor der Aufgabe, ganz konkret die Infrastruktur so zu bauen, wie sie gewollt ist. Aber was wollen denn die Menschen wirklich? Herr Hänggi, Sie haben in Ihrem Referat am Berner Verkehrstag 2013 gesagt: Der Trend zur Verkehrszunahme wird gemacht. Was heisst das?
Hänggi: Wollen ist vielschichtig. Es gibt auch Dinge, die ich nur meine zu wollen. Ich glaube, in der Verkehrsdebatte hat vieles mit Fehlwahrnehmungen zu tun, mit der Verwechslung von Mittel und Zweck. Jede neue Verkehrsinfrastruktur schafft Zwänge. Was meist übersehen wird – und das finde ich psychologisch erklärbar –, ist, dass jede neue Strasse oder Bahnstrecke mir zwar grundsätzlich die Möglichkeit gibt, sie zu benutzen – also mir die Freiheit dazu schafft –, mich aber auch zu einem gewissen Grad dazu zwingt. Es ist ein mittelbarer Zwang, beispielsweise für mich als Konkurrent auf dem Arbeitsmarkt, wenn ich dieselben Chancen wie meine Mitkonkurrenten haben will. Oder wenn ich mir nicht mehr leisten kann, an einem Ort zu wohnen, weil eine neue S-Bahn-Linie die Mieten steigen lässt. In den USA gibt es die Diskussion um den «urban sprawl». Es wird behauptet, die Zersiedelung sei Ausdruck für den Willen der Menschen, immer weiter ausserhalb zu wohnen. Dabei ist die Suburbanisierung unter anderem eine Folge gezielter Politik nach dem Zweiten Weltkrieg. Zurückkehrende Veteranen bekamen Land in den Vororten. In der Boomzeit nach dem Krieg hat man in den Levittowns sogar bewusst fussgängerfeindlich gebaut, denn mit Fussgängern assoziierte man die Arbeitslosen der Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren.
Schiffer: Der Fussgänger ist ein gutes Beispiel. Wenn vor meinen Augen das Bild eines «Herumlungernden» entsteht, möchte ich kein Fussgänger sein. Der japanische Dichter Takiguchi zeichnet ein anderes Bild des Fussgängers: Sein Körper und sein Geist sind leicht, deshalb vermag er unterschiedliche Dinge wahrzunehmen. Da erscheint der Fussgänger als freier Mensch. Es ist wichtig, dass wir über die Bilder, die uns ergreifen, nachdenken und uns nicht nur mit technischen Lösungsvorschlägen befassen. Bis zu einem gewissen Grad sind wir selbst für die Wirkung von Bildern auf uns zuständig.
Hänggi: Vieles von dem, was Sie sagen, ist sicher mehrheitsfähig. Es gibt viele Menschen, die kein Interesse daran haben, ständig herumzurennen oder in der verstopften S-Bahn bzw. im Stau zu sitzen. Aber gleichzeitig sind wir infrastrukturellen Zwängen ausgeliefert. Ein Autofahrverbot würde die Freiheit der Menschen einschränken, die ein Auto benutzen. Sie haben sich ihr Leben so eingerichtet, dass sie es brauchen – auch wenn sie meine Einschätzung der Verkehrssituation teilen. Was aber viel mittelbarer ist: Das Fahrzeug befriedigt Bedürfnisse, die die Menschen nicht hätten, wenn es das Auto nicht gäbe. Würden die Autos von heute auf morgen abgeschafft, wäre der Verlust mittelfristig verhältnismässig klein. Aber der Gedanke ist zunächst erschreckend. Was ich damit sagen will: Bei einer Verkehrsreduktion wird die Einschränkung der Freiheit unmittelbarer erfahren als der Zugewinn von Freiheit, der daraus resultiert. Das erklärt ein Stück weit diese Diskrepanz, dass viele Leute durchaus lieber eine Welt hätten, in der weniger gehetzt wird ...
Schiffer: Es geht doch um die differenzierte Selbstwahrnehmung. Wenn ich als Autofahrerin mit dem Auto von A nach B will und mich auf diesem
Weg etwas begrenzt, dann nervt mich das – aber ich bin ja nicht nur Autofahrerin. Bin ich frei genug, über meine Autofahrerinnenwünsche hinauszudenken? Mich beispielsweise zu fragen, wozu ich da eigentlich herumfahre? Für den Philosophen Peter Bieri ist Freiheit ein Handwerk – eine Kunst, die wir ständig üben müssen. Es ist schwierig, sich von etwas zu befreien; noch schwieriger jedoch ist die Reflexion der Frage, wozu wir denn nun frei sind. Sind wir imstande, Freiheit in Sinn zu verwandeln? Im Übrigen ist das Gegenteil eines Übels nicht schon per se das Gute, so einfach ist es nicht. Wichtig ist der Wille zur Nachdenklichkeit des Einzelnen. Es ist für mündige Bürger keine Lösung, die Verkehrsprobleme den Planern auf den Tisch zu legen.

Was kann ein Auslöser sein, sich solche grundsätzlichen Fragen zu stellen? Braucht es die Erfahrung der staatlich verordneten Begrenzung, die doch wiederum ein Eingriff in die individuelle Freiheit ist?
Hänggi: Ich erlebe häufig in Debatten, dass Personen, die sich als liberal bezeichnen, staatliche Eingriffe befürworten, wenn es um Massnahmen zur Verkehrsreduktion geht und die Leute «gezwungen» werden sollen, weniger zu fahren. Aber die ganze Verkehrspolitik ist doch interventionistisch! Privatverkehr ist nur zur Hälfte privat, die Strassen gehören dem Staat. Es ist auch der Staat, der sie baut. Und es ist der Staat, der mich durch seinen Strassenbau zwingt, meine Kinder in ihrer Freiheit einzuschränken, damit sie nicht überfahren werden. Das Recht des Kinds, sich im öffentlichen Raum wie ein Kind zu bewegen, ist aber ein existenzielleres Recht, als mit 50 durchs Quartier zu rasen. Von daher geht es nicht um staatliche Intervention ja oder nein, sondern wenn schon, um die Form der staatlichen Intervention.
Schiffer: Unser ethisches Empfinden ist zutiefst von der Vorstellung einer Morallehre geprägt, bei der es nur um Verbote und Gebote geht. Was uns fehlt, ist eine zeitgemässe Strebens-, Glücks- und Wertethik – die ernsthafte Reflexion dessen, was uns wirklich wichtig ist. Auch ein kluger Techniker ist nicht nur Techniker, der technische Lösungen austüftelt, sondern zudem ein reflexiver Mensch, der über Sachfragen hinaus über grössere Zusammenhänge nachdenkt.
Hänggi: Ein realpolitischer Faktor, der in der Schweiz zum extremen Verkehrskonsum beiträgt, ist das gegenseitige Hochschaukeln von Schiene und Strasse. Im Bahnland Schweiz legen die Leute viel mehr Kilometer mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurück als im Autoland Deutschland. Aber die Schweizer fahren deswegen nicht weniger Auto – sondern gleich viel wie die Deutschen! Wir tun also beides exzessiv. Unser öV löst das Auto nicht ab, sondern produziert hauptsächlich Mehrverkehr. Beispielsweise kann ich dank der S-Bahn in Winterthur leben und in Baden arbeiten. Trotzdem nehme ich abends das Auto für die Freizeit. Da liegt der Verdacht nah, dass die S-Bahn kontraproduktiv war.

Je besser die Verkehrsinfrastruktur ist, umso selbstverständlicher wird der Anspruch auf Erreichbarkeit.
Schiffer: Wer produziert denn den ganzen Verkehr? Die Antwort schmerzt: Ich bin es. Die
Entscheidung, ob ich abends noch das Auto für die Freizeit nutze, liegt bei mir. Wir sollten über den realpolitischen Diskurs hinaus über uns selbst nachdenken, um zu verstehen, wie wir überhaupt hierher gekommen sind. Wie wollen wir unsere Probleme lösen, wenn wir nicht einmal die Problemstellungen selbst genauer in den Blick nehmen? Die «Lösungen», die wir produzieren, bleiben immer auf der Ebene von «Schiene oder Strasse», «längeren
oder kürzeren Verkehrswegen» usw. Die eigentliche Frage – was wir uns unter einem guten menschlichen Leben vorstellen – berühren wir nicht einmal.

Zum Schluss eine Frage zu einem technischen Lösungsansatz. Um den Verkehr zu steuern, wird Mobility Pricing in verschiedenen Varianten diskutiert. Wie ist Ihre Meinung dazu?
Hänggi: Ich finde diesen Ansatz gefährlich. Betrachtet man Mobilität als das, was die Ökonomie als Gemeingut ansieht, geht der Wert verloren, wenn Einzelne das Gemeingut übernutzen. Die klassische Antwort der Ökonomie ist, dass man das Gut handelbar macht. Mobility Pricing ist genau das. Die Leute übernutzen die Verkehrsinfrastrukturen, also muss man sie verteuern. Aus ökonomischer Sicht wird es meist positiv bewertet, aber die Schwächsten kommen unter die Räder. Mobilität ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Mit Mobility Pricing spart derjenige Zeit, der es sich leisten kann. Das ist gesellschaftlich von einer unglaublichen Tragweite. Wenn ein Mensch, der mehr Geld zur Verfügung hat, mich dazu zwingen kann, Zeit zu verlieren, ist das für eine egalitäre Gesellschaft inakzeptabel. Ich bin durchaus der Meinung, dass der Verkehr weit davon entfernt ist, seine Infrastrukturen zu finanzieren, und dass das korrigiert werden muss, aber mit Mobility Pricing führen wir soziale Probleme ein.
Schiffer: Soziale Probleme, von denen wir glauben, sie überwunden zu haben, und die einer liberalen Gesellschaft unwürdig sind. Bei dem amerikanischen Philosophen Michael Sandel bin ich in diesem Zusammenhang noch auf ein anderes Argument gestossen: Klimaabgaben und Mobility Pricing würden zur Annahme verführen, es gebe ein Recht auf Emissionen und beschleunigte Mobilität, und dieses sei käuflich. Zudem entstehe die Illusion, ständig herumzufliegen oder mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs zu sein seien Werte an sich, schliesslich habe man dafür bezahlt, und wofür man bezahle, sei wertvoll. Worum es einer zeitgemässen philosophischen Ethik geht, ist die Reflexion und der Dialog über das, was wir wirklich wertvoll finden. Können wir uns überhaupt ein anderes, weniger gnadenlos beschleunigtes menschliches Zusammenleben vorstellen als das gegenwärtige?

TEC21, So., 2015.02.22



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2015|07-08 Gedanken zur Mobilität

11. Januar 2015Daniela Dietsche
TEC21

Vom Wellenreiten und Wellenbauen

Wenn es zum Surfen an die Küste zu weit ist, muss die Welle eben ins Landesinnere geholt werden. Flusssurfen ist in. Ein junger Sport mit vielen begeisterten Wellenreitern, aber zu wenigen Sportstätten.

Wenn es zum Surfen an die Küste zu weit ist, muss die Welle eben ins Landesinnere geholt werden. Flusssurfen ist in. Ein junger Sport mit vielen begeisterten Wellenreitern, aber zu wenigen Sportstätten.

Der Geburtsort des Wellenreitens ist Hawaii, der des Flusssurfens München. Statt barfuss im Sand stehen die Surfer zu dieser Jahreszeit mit Neoprenschuhen am Ufer des Eisbachs im Schnee. Flusssurfen ist eine Abwandlung des klassischen Wellenreitens. Das Bewegungsschema wird dabei von einer sich bewegenden Welle auf eine stehende Welle übertragen. Anders als in einer Brandungswelle bewegt sich der Surfer nicht vorwärts, sondern fährt sozusagen «auf der Stelle». Das zum ­Wellenkamm hochfliessende Wasser schiebt ihn nach oben, und die Schwerkraft lässt ihn gleichzeitig zum Wellental gleiten.[1] Das Ziel ist jedoch nicht nur, auf der Stelle zu stehen, sondern sich mit dem Brett quer zur Welle zu bewegen. Dazu braucht der Surfer genügend Platz auf der Welle, denn je breiter sie ist, desto mehr Geschwindigkeit kann er aufbauen.[2]

Vom Nischen- zum Trendsport

Bereits in den 1980er-Jahren begannen einige Individualisten an verschiedenen Spots in München mit dem Flusssurfen. In den letzten Jahren haben sich immer mehr Sportler mit dem Virus infiziert. Am bekanntesten ist wahrscheinlich der Eisbach, der im Süden des Englischen Gartens an die Oberfläche tritt und dort die Eisbachwelle bildet. Erzeugt wird sie durch Störkörper aus Beton, die direkt hinter der Welle in der Sohle des Bachs zur Energiedissipation verankert sind. Zunächst war sie noch nicht konstant surfbar. Doch Ende der 1990er-Jahre fixierte ein Eisbach-Vete­ran einige Dutzend Eisenbahnbohlen neben der Welle im Wasser – ohne Genehmigung. Eine technische Meisterleistung: Die Holzbohlen verhindern, dass zurückfliessendes Kehrwasser vorn wieder in die Welle läuft. So entsteht eine schaumfreie und glatte Welle. Bei einem Wasserdurchfluss von 25 m³/s wird hier nun zu jeder Tages-, Nacht- und Jahreszeit gesurft – seit 2010 auch legal.[3]

Eine Anfänger- und Familienwelle befindet sich in Thalkirchen, im Süden von München: Die Flosslände bildet eine sanfte und glatt geformte Welle ohne gefährliche Steine dahinter. Und auch zu diesem Spot gibt es Anekdoten: Stefan Hornung, Drehbuchautor, Regisseur und Surfer, ärgerte sich, dass er immer wieder zur Flosslände fuhr, nur um festzustellen, dass er nicht surfen konnte, weil die Welle nicht lief. Er begann zu tüfteln, zunächst in der Duschwanne an einem einfachen Modell. Um dieses zu testen, hängte er einen 10 m langen Schlauch ins Wasser neben die Welle. Er sollte sich füllen und durch seine Masse das fliessende Wasser umlenken. Mit dieser Erfindung wollte Hornung den Durchfluss im Kanal verengen, damit den Wasserstand erhöhen und eine surfbare Welle erzeugen. Der Schlauch riss allerdings nach dem vierten Versuch, und das Experiment war fehlgeschlagen.[3]

Seit einigen Jahren bekommt ein Wasserkraftwerk oberhalb der Flosslände so viel Wasser, dass der Pegel im Kanal nicht mehr ausreicht, um die Welle zum Laufen zu bringen. Nur selten kommt noch genug ­Wasser, um dort surfen zu können. Dann sind schnell bis zu 30 Surfer vor Ort, die lang anstehen müssen, ehe sie loslegen können. Für die «Interessengemeinschaft Surfen in München» Grund genug, für den Erhalt dieser Welle zu kämpfen.

Wenn Wellen fehlen

Europaweit wurden in den letzten Jahren immer mehr Initiativen gegründet, um den Flusssurfern zu mehr Sportstätten zu verhelfen (vgl. Kasten «Schweizer Wellenprojekte», S. 28). Um das Surfen fernab der Meere zu ermöglichen und konstante Bedingungen zu schaffen, versuchen sie, selbst surfbare und sichere Wellen zu erzeugen (vgl. «Surfbare Wechselsprünge», S. 29). Auch wenn man im ersten Moment gut besuchte Surfspots am Meer oder gigantische Flusswellen wie die Pororoca in Brasilien vor Augen hat – es geht bei den angedachten Projekten um verhältnismässig kleine Anlagen.

Flusswellen sportlich zu gebrauchen birgt auch Ge­fahren, etwa Strömungen, Wellensog, Treibgut und Steine – vor allem bei Hochwasser. Kommt es an den Gewässerstrecken zu Unfällen, tauchen oft Fragen der Haftung auf. Solange der Fluss nicht angetastet wurde, sind die Surfer selbst haftbar. Doch sobald der Fluss baulich verändert wird, gibt es auch einen Verantwortlichen. In besonderem Mass gilt dies für regulierfähige Organe, z. B. für Hochwasserentlastungen an Stauanlagen. Irgendwann stellt sich die Frage, ob der Aufwand für Unterhalt und Haftung gerechtfertigt ist.

Wechselsprung und Sheet Flow

Die Erzeugung stehender Wellen in natürlichen Fliessgewässern ist schwierig, weil das Wellenbild sehr ­sensibel auf kleinste Änderungen des Wasserstands reagiert. Die Pioniere des Flusssurfens haben beobachtet, modelliert und ihre Ideen in die Tat umgesetzt – mehr oder weniger erfolgreich. Auch heute modellieren Ingenieure und Hydrauliker Wellen, berechnen geometrische und hydraulische Randbedingungen oder simulieren die geplanten Anlagen am Computer. Inzwischen hat man auch erste Erfahrungen gesammelt – Pilot­projekte sind dennoch Mangelware.

Grundsätzlich gibt es zwei unterschiedliche Ansätze, surfbare Wellen zu generieren. Zum einen mit einem Wechselsprung, der beim Fliessübergang vom schiessenden zum strömenden Abfluss entsteht – wobei der dazu notwendige schiessende Abfluss auf unterschiedliche Art erzeugt werden kann, zum Beispiel in Querschnittsverengungen, über Gefällewechsel wie durch eine Sohl- oder Blockrampe oder nach der Unterströmung eines Verschlussorgans (vgl. «Surfbare Wechselsprünge», S. 29). Beispiele für diesen Ansatz sind die beschriebene Eisbachwelle oder die Welle im Almkanal. Dieses Projekt wurde 2011 von der Stadt Salzburg umgesetzt. Dazu wurde eine Reihe numerischer Simulationen durchgeführt. Im Ergebnis konnte der Wechselsprung mit einer verstellbaren Klappe so eingestellt werden, dass sich eine stehende Welle ausbildet. Die Welle ist trotz ihrer geringen Grösse stark frequentiert.4 Die zweite Variante wird Sheet Flow genannt. Die Welle entsteht, indem das Wasser über eine entsprechend geformte Bodengeometrie strömt. Das beste Beispiel dafür ist die Surfwelle in Bratislava. Dort wird mittels einer gegenläufigen Rampe eine stehende Welle erzeugt. Die Sportler surfen auf einem recht dünnen Wasserfilm. Die Welle ist glatt, steil und schnell. Die Schwächen einer Anlage wie in Cunovo sind ein erhöhtes Verletzungsrisiko, viele abgebrochene Finnen und beschädigte Surfboards.[4] (Vgl. «Von Cunovo lernen», S. 34)

Künstlich erzeugte stehende Wellen findet man zunehmend auch in Hallen oder bei Grossveranstaltungen in speziellen Becken. Dort werden die Wellen durch aufwendige Maschinentechnik generiert.

Unterschiedliche Interessen im Fluss

Heute wird keine wasserbauliche Massnahme geplant oder umgesetzt, ohne dass zuvor ihre ökologische ­Dimension bedacht wurde. Aus dem Rückbau von Querbauwerken wie Wehren oder Sohlschwellen, die fischdurchgängig gemacht werden, kann sich die Chance ergeben, ein Flusswellenprojekt zu initiieren. Damit der Surfwunsch nicht mit den geltenden Naturschutzvorgaben kollidiert, muss im Fluss die gefahrlose Durchgängigkeit für aquatische Organismen in beide Richtungen gegeben sein. So kann es möglich sein, eine Anlage zu entwickeln, bei der Surfer und Fische(r) an einem Strang ziehen – wenngleich mit unterschiedlichen Zielen (vgl. «Sicher in der Töss», S. 32).

Für Wellen, die sich direkt in Flüssen befinden, ist der Einfluss des Feststofftransports und der Gewässermorphologie ein wesentlicher Parameter für den ökologischen Zustand und somit auch aus rechtlicher Sicht zu berücksichtigen. Flüsse verändern sich laufend morphologisch – dies können langsam ablaufende oder bei Hochwasser schlagartig auftretende Prozesse sein. Damit eine Welle im Fluss nachhaltig funktioniert, sind diese Prozesse in der Planung zu beachten. Eine fest institutionierte Freizeitnutzung, die eine stehende Welle verlangt, kann also mit mit sonstigen Interessen kollidieren und aus Sicht von Wassernutzung und Ökologie a priori unerwünscht sein. «Eine solche Welle verlangt oft entweder feste Einbauten wie Schwellen, Rampen, Blöcke in die Sohle mit den entsprechenden ökologischen Auswirkungen oder ein gewisses Abflussregime, was wiederum zu einer Einschränkung zum Beispiel der Wasserkraftnutzung führt», sagt Dr. Peter Billeter (IUB Engineering AG, Bern).

«Hinsichtlich Flussbau und ­Wassernutzung besteht deshalb keine Veranlassung, stehende Wellen zu installieren.»

Aus ökologischer Sicht sind, wie bei jeder Freizeitanlage, auch das zu erwartende Verkehrsaufkommen und die notwendige Infrastruktur zu bedenken. Freizeitanlagen wie Kletterhallen oder Skateparks schiessen wie Pilze aus dem Boden. Die Flusssurfer haben es zurzeit noch schwer. Doch wer hätte vor drei Jahrzehnten gedacht, dass Snowboarden jemals olympisch werden würde?


Anmerkungen:
[01] Der Teil der Welle, der oberhalb des Ruhewasserspiegels liegt, wird als Wellenberg bezeichnet. Die Position der höchsten Auslenkung ist der Wellenkamm. Der Teil der Welle, der unterhalb des Ruhewasserspiegels liegt, ist das Wellental.
[02] Spektakuläree Surfaufnahmen und ausgefallene Lebensentwürfe zeigt der Film von Björn Richie Lob: keep surfing, abrufbar auf www.espazium.ch
[03] Dieter Deventer, river surfing, Flusswellen von München bis zum Amazonas, München 2011, ISBN 978-3-7243-1034-1
[04] Benjamin Di-Qual, Gerry Schlegl, Markus Aufleger, Erzeugung stehender Flusswellen für den Surfsport, Deutsches Ingenieurblatt, Ausgabe 6/2014

TEC21, So., 2015.01.11



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2015|01-02 Stehende Flusswellen handgemacht

11. Januar 2015Daniela Dietsche
TEC21

Surfbare Wechselsprünge

Zu den Spielplätzen von Surfern und Kajakfahrern gehören auch stehende Flusswellen. In der Natur kommen sie zwar selten vor, sie lassen sich aber künstlich erzeugen.

Zu den Spielplätzen von Surfern und Kajakfahrern gehören auch stehende Flusswellen. In der Natur kommen sie zwar selten vor, sie lassen sich aber künstlich erzeugen.

Wasser zu nutzen war schon immer ein menschliches Interesse. Die nötigen Infrastrukturen dafür herzustellen ist eine klassische Fachdisziplin der Bauingenieure. Relativ neu ist die Frage, wie eine surfbare Welle für Wassersportler aussieht. Die Antwort klingt einfach: Die perfekte Welle läuft 24/7, ist leicht zugänglich, sicher, möglichst steil und hoch und vor allem breit. Im Gegensatz zu gängigen Ingenieurdisziplinen findet man in der Literatur hierzu noch keine Bemessungsgrundlagen. Es gibt lediglich einige Anhaltspunkte – die aber nicht unbedingt erfolgversprechend sein müssen, da die ­Natur weitgehend unberechenbar bleibt.

Betrachtet man das Thema von der wasserbaulichen und hydraulischen Lehre her, kommt man zunächst einmal auf einen Wechselsprung. Dessen Eigenschaft ist allerdings in erster Linie, höchst effizient Energie umzuwandeln, und nicht, für Sportler surfbar zu sein. Die klassische Aufgabe eines Wasserbauingenieurs ist es, das Tosbecken nach einem Querbauwerk so zu dimensionieren, dass auch bei wechselnden Randbedingungen eine gute Energieumwandlung (d. h. eine kräftige, ortsfeste Walze) nah am Bauwerk stattfindet.[1]

Aber auch hinter einem Querbauwerk kann eine ste­hende Welle entstehen. Wassertiefe, Fliessgeschwindigkeit und Höhe der Stufe bzw. der Höhenunterschied zwischen Ober- und Unterwasser bestimmen Form und Höhe der Welle, die sich in Fliessrichtung bildet. Im Gegensatz zum klassischen Wechselsprung wird bei einer solchen sogenannten «grünen Welle» weniger Energie umgewandelt.[2]

Dr. Helge Fuchs (ETH Zürich, Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie) erklärt: «Eine Welle ist genau genommen kein Massentransport, sondern ein Energietransport. Zwei Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um surfen zu können: Einerseits wird die geneigte Wasseroberfläche gebraucht, die durch die Wellenform unter dem Surfer entsteht, sodass er immer nach unten gleitet. Andererseits braucht man Wasser, das entgegen der eigenen Bewegungsrichtung fliesst, damit sich für den Surfer eine Art Gleichgewichtszustand einstellt.» Dieses Wasserspiegelprofil ergibt sich bei Wechselsprüngen, die sich in unterschiedlicher Art und Weise ausbilden können (vgl. Abbildungen unten), wenn ein schiessender Abfluss, der sich aus einer kleinen Zuflusswassertiefe kombiniert mit einer hohen Fliessgeschwindigkeit ergibt, auf einen strömenden Abfluss mit einer höheren Wassertiefe und einer langsameren Geschwindigkeit trifft – oder kurz: wenn eine Strömung mit hoher Geschwindigkeit gebremst wird. Diese Konfiguration hängt sehr stark vom Unterwasserspiegel ab. Übertragen auf die surfbare Welle heisst das: Wenn der Unterwasserspiegel schwankt, verändert sich die Wellenform.

Einfluss der Froude-Zahl

Dr. Peter Rutschmann, Leiter des Lehrstuhls für Wasserbau und Wasserwirtschaft der Technischen Universität München und Mitplaner der Rodeo-Welle in Graz[4], erläutert, warum zur Berechnung einer stehenden Welle die Froude-Zahl wichtig ist. Sie wird aus dem Verhältnis von Strömungsgeschwindigkeit und Ausbreitungsgeschwindigkeit einer Störung in flachem Wasser gebildet:

«Die Froude-Zahl im Zulauf der Welle sollte mindestens 1.7 sein. Im Bereich von 1.7 bis 4.5 ergibt sich wohl die beste Welle. Ab 4.5 beginnt der Übergang in den klassischen Wechselsprung mit ausgeprägter Deckwalze. Hier können Kajaker noch spielen, die Surfer eher nicht mehr», erklärt Rutschmann (vgl. «Sicher in der Töss», S. 32).

Wenn sich in einem Fluss eine Welle ausbildet, so nehmen in der Regel die Froude-Zahlen mit steigendem Abfluss ab. Bei kleineren Abflüssen entsteht somit ein schwer fahrbarer, klassischer Wechselsprung; mit steigendem Abfluss kommt man in den optimalen Bereich, steigt der Abfluss weiter, fällt die Welle in sich zusammen. Eine gute Welle für alle Nutzer zu kreieren ist sehr schwierig, es sei denn, es herrschen immer konstante Bedingungen oder es gibt eine Möglichkeit, die relevanten Parameter zu regulieren.

Die Froude-Zahl ist keine konstante Grösse über den Querschnitt, sondern ändert sich in einem natür­lichen Abflussquerschnitt über die Breite gesehen und nimmt auch bei morphologischen Veränderungen unterschiedliche Werte an. Durch eine Variation der Geometrie über den Querschnitt steigt die Wahrscheinlichkeit, dass an einer Stelle eine schöne Welle entsteht. Um das zu erreichen, muss man allerdings komplexere Untersuchungen an einem physikalischen oder numerischen Modell durchführen. «Bisher sind mir nur wenige Fälle bekannt, wo für eine solche Untersuchung Geld zur Verfügung stand. Deshalb spielt vielfach der Zufall die entscheidende Rolle, ob eine geplante Welle gut funktioniert oder nicht», sagt Rutschmann.

Trial and error

Wie schwierig es tatsächlich ist, zeigt das Beispiel der Sillwelle in Innsbruck. 2011 wurde die neu gestaltete Sillmündung als Hochwasserschutz und Naherholungsraum eröffnet. Die integrierte Welle sollte in der Mündung der Sill in den Inn entstehen. Die Planung wurde von einem wasserbaulichen Modellversuch begleitet. Erste Betriebserfahrungen mit der komplexen Anlage haben Optimierungsbedarf aufgezeigt. Nach intensivem Monitoring und Strömungsversuchen vor Ort wurden diverse Adaptierungsvorschläge erarbeitet. Die Verbesserung der Situation ist bis heute Gegenstand von weiterführenden Versuchen und Analysen.[5]

Hinsichtlich physikalischer Modellierung gibt Fuchs zu bedenken, dass Wassereigenschaften, sprich Oberflächenspannung oder Viskosität, im Versuchslabor nicht skaliert werden. Am Beispiel des Lufteintrags heisst das, so Fuchs: «Damit Luft in eine Strömung eingetragen wird, braucht es eine gewisse Turbulenz. Die Luftblasen haben eine gewisse Mindestgrösse, die sich im Modell nicht beliebig verkleinern lässt. Im Modell fehlt quasi der Anteil an kleinsten Luftblasen, und wir unterschätzen damit den Lufteintrag.» Die Ergebnisse aus dem Modellversuch müssen daher von Experten interpretiert werden, um sie in das gebaute Gerinne vor Ort übertragen zu können. Dann sollten diese Massstabseffekte keine entscheidende Rolle spielen.

Verstellbare Strukturen

Die Verfügbarkeit eines surfbaren Wechselsprungs lässt sich durch verstellbare Strukturen wie Klappen an der Absturzkante erhöhen. Mit einer solchen Klappe können die Strömung variiert und vor allem der Gegendruck eingestellt werden. «Eine richtige Grundlagenunter­suchung über den Einfluss der Klappe gibt es aber noch nicht», erklärt Fuchs. Er möchte das ändern und schreibt für das nächste Semester eine Masterarbeit aus, um das Thema aufzuarbeiten.

Eine Welle im Hauptschluss eines Flusses oder durch Einbauten am Ufer zu generieren ist schwierig, da eine Regulierung fast unmöglich ist. Hydraulisch einfacher, aber baulich aufwendiger ist es, einen Teil des Wassers in ein Nebengerinne auszuleiten. Damit ist es von den Zuflussbedingungen entkoppelt. Können Zufluss- und Abflussbedingungen im Seitengerinne fixiert werden, genügt im Prinzip schon ein Absturz, den die Hydrauliker so berechnen können, dass der Wechselsprung nicht wegwandert.

Die ingenieurtechnisch spannende Frage, wie ein Wechselsprung zu einer surfbaren Welle wird, ruft immer mehr Ingenieure auf den Plan – Tüftler und Wissenschaftler gleichermassen.[6]


Anmerkungen
[01] Der Quotient aus Wellenhöhe und Wellenlänge ist ein wichtiges Kennzeichen für die Beurteilung der Stabilität der Wellen und wird als Wellensteilheit S bezeichnet. Steile Wasserwellen sind gekennzeichnet durch ausladende Täler und spitze Kämme.
[02] Es wird zwischen Wellen mit grünem Wasser und einer Walze mit weissem Wasser unterschieden. Der Hydrauliker bezeichnet die entsprechenden Zustände als ondulierenden bzw. klassischen, eingestauten Wechselsprung.
[03] Benjamin Di-Qual, Gerry Schlegl, Markus Aufleger, Erzeugung stehender Flusswellen für den Surfsport, Deutsches Ingenieurblatt, Ausgabe 6/2014
[04] In Graz fanden im Mai 2003 die Rodeo-Weltmeisterschaften der Kajakfahrer statt. Dr. Peter Rutschmann half mit seinen Strömungssimulationen, den Spot, sprich die Terminator-III-Welle, zu optimieren.
[05] Michael Kremser, Forum Flusswellen 2013
[06] Damit Wissen und Erfahrungen nicht verloren gehen und ein Austausch zwischen allen Interessierten stattfinden kann, gibt es seit 2013 das Forum Flusswellen unter der Schirmherrschaft der Bayerischen Ingenieurekammer-Bau. Laut Angaben von Benjamin Di-Qual, Bauingenieur und Mitorganisator des Forums Flusswellen, macht das Forum 2015 eine Pause, die nächste Veranstaltung ist für Herbst 2016 geplant.

TEC21, So., 2015.01.11



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2015|01-02 Stehende Flusswellen handgemacht

17. Oktober 2014Daniela Dietsche
TEC21

Zürich bewegt sich

Viele Wünsche und Ideen, aber weder Platz noch Geld für alles und lange Entwicklungszeiten: Die Verkehrsnachfrage in der Stadt steigt kontinuierlich, die Infrastrukturen können nicht mithalten. Diese Situation erfordert ein offenes Denken und viel Aushandeln.

Viele Wünsche und Ideen, aber weder Platz noch Geld für alles und lange Entwicklungszeiten: Die Verkehrsnachfrage in der Stadt steigt kontinuierlich, die Infrastrukturen können nicht mithalten. Diese Situation erfordert ein offenes Denken und viel Aushandeln.

Gemessen an anderen Schweizer Städten und erst recht im europäischen oder globalen Vergleich kann man sich in Zürich hervorragend fortbewegen. Trotzdem hört man in der Limmatstadt Klagen auf hohem Niveau: Die öffentlichen Verkehrsmittel seien in den Spitzenzeiten zu voll, die Velowege unterbrochen, der motorisierte Verkehr staue sich zu oft, in der Innenstadt gebe es zu wenige Parkplätze, oder der Verkehrslärm beeinträchtige die Wohnqualität. Die Rahmenbedingungen für die Verkehrsplaner sind nicht einfach: Mobilität und der Umgang mit dem Verkehr werden in zunehmendem Mass zu gesellschaftspolitischen Themen. Infrastrukturprojekte sind keine klassische Ingenieuraufgaben mehr. Die Vorstellungen und Ansprüche der Bevölkerung prägen das Stadtbild, die Infrastruktur und die Verkehrssituation des heutigen Zürich.

Andy Fellmann, Leiter der Abteilung Mobilität und Verkehr des Tiefbauamts der Stadt Zürich, sieht in der Abstimmung zum Bau einer U-Bahn ein entscheidendes Datum der jüngeren Vergangenheit. Die Stimmberechtigten lehnten den Antrag 1973 ab. Hauptgrund waren wohl die Kosten, aber man wollte auch die Fussgänger nicht in den Untergrund verbannen. Zudem hätten dafür einige Tramlinien aufgehoben werden sollen. In der Folge sprach die Stadt Zürich einen Kredit von 200 Mio. Fr., um den oberirdischen Verkehr zu beschleunigen. Mit dem Geld wurden Lichtsignalanlagen und Eigentrassen für den öffentlichen Verkehr gebaut und dessen Priorisierung vorangetrieben. Der Veloverkehr war damals übrigens kein Thema. Im Jahr 2001 setzte ein Umdenken ein, und man begann, den öffentlichen Raum integraler und in Abhängigkeit von unterschiedlichen Verkehrsträgern zu betrachten.

Grossprojekte als Chance

1990 nahm die S-Bahn Zürich ihren Betrieb auf. Im Unterschied zu vielen anderen S-Bahnen verkehrt sie nicht auf einem eigenen Trassee, sondern nutzt das Netz gemeinsam mit dem Fern- und Güterverkehr. Das führt zwar zu einem komplexen Betrieb, hat aber Vorteile hinsichtlich Platzbedarf und Kosten. Mit der S-Bahn hat der öffentliche Verkehr einen Sprung nach vorn gemacht. Doch obwohl das System in den letzten Jahren erweitert wurde, stösst es bereits wieder an seine Grenzen. Die S-Bahn wurde bewusst als Zusatzangebot konzipiert. Die Bevölkerung entschied sich dafür, die Strassenkapazität nicht zu reduzieren. Das heisst: Zwar zeigt der Modalsplit[1] eine Zunahme des öffentlichen Verkehrs und damit einen niedrigeren Anteil des motorisierten Verkehrs an der Gesamtmobilität, doch in absoluten Zahlen nimmt der Autoverkehr nicht ab.

Aus diesem Grund braucht es Umfahrungsringe für den Individual- und Güterverkehr. «Nur so funktioniert die Stadt», sagt Fellmann. Ein solches Grossprojekt war die 2009 eröffnete Westumfahrung (vgl. TEC21 40/2008 und 17/2009). Sie verbindet die A1 Zürich–Bern mit der A3 Zürich–Chur. Damit wird der Ost-West-Durchgangsverkehr um die Stadt herumgeführt und diese vom Transitverkehr entlastet. Seit 2012 sind die Rückbauarbeiten in der West- und Seebahnstrasse abgeschlossen, und eine Studie des Astra zusammen mit Kanton und Stadt belegt eine deutliche Entlastung dieser Strassenzüge vom Durchgangsverkehr[2] (vgl. TEC21-Dossier «Umsicht – Regards –Sguardi 2013»).

Das jüngste Grossprojekt, das den Verkehr beeinflussen wird, ist die Durchmesserlinie (vgl. TEC21 17/2012, 48/2012, 26/2013, 13/2014). Das erste Teilstück mit dem Bahnhof Löwenstrasse und dem Weinbergtunnel wurde im Juni 2014 eröffnet. Die Durchmesserlinie wird für Entlastung sorgen – zurzeit besteht sogar ein gewisses Überangebot –, aber um dem zunehmenden Verkehr gerecht zu werden, braucht es mehr. Dabei muss der öffentliche Verkehr, der bereits heute mit 39 % den Hauptteil aller auf Stadtgebiet zurückgelegten Wege aufnimmt[3], auch den grössten Anteil des prognostizierten Zuwachses verkraften.

Laufend nachjustieren

Den Grund, dass der Autoverkehr seit den 1990er-Jahren trotz allgemeiner Wachstumsraten in der Schweiz in Zürich nicht zugenommen hat, sieht Fellmann neben dem Ausbau des öffentlichen Verkehrs und dem Bau des Umfahrungsrings für den Autoverkehr in der Anwendung der Parkplatzverordnung[4], die zwei Ziele verfolgt. Es sollen Parkplätze auf Privatgrund erstellt werden, damit im öffentlichen Raum Platz entsteht, und zugleich soll die Parkplatzzahl beschränkt werden. Ein Beispiel zur Wirkung der Parkplatzverordnung sind die rund 160 oberirdischen Parkplätze am Hafen Enge und in der Alfred-Escher-Strasse, die in eine öffentlich zugängliche Tiefgarage auf der Parzelle der Swiss Re verlegt werden. Damit wird zum einen das linke Seeufer gemäss Leitbild «Seebecken der Stadt Zürich» aufgewertet, und zum anderen können in der Alfred-Escher-Strasse die überkommunale Veloroute realisiert und eine beidseitige Baumreihe gemäss Alleenkonzept gepflanzt werden. Fellmann sagt: «Potenzial zu finden, um das Verkehrssystem weiterzuentwickeln und die Funktionalität im stark genutzten städtischen Raum aufrechtzuerhalten, und die Lösungen zwischen den Anliegen der Bevölkerung, der Wirtschaft und der Politik auszuhandeln, braucht viel Zeit.»

Dauerbrenner Velonetz

Das Velonetz der Stadt Zürich wird oft kritisiert. Auch Fellmann räumt ein: «Dort haben wir ein Riesenmanko.» Entstanden sei das aus der Geschichte: Man habe immer nur lokal gedacht und nicht das Netz als Ganzes gesehen. Trotz der Enge seien jedoch weitere Velorouten denkbar. Die Stadt versucht einerseits der Sihl entlang Platz zu schaffen, andererseits um den See – teilweise auf Kosten von Flächen in Parkanlagen. Das birgt Zündstoff für Diskussionen, denn bisher war es tabu, einen Park einer Verkehrsanlage zu opfern.

Will man sich an die Normen halten, reicht der Platz auf der Strasse und an den Knoten oft nicht aus. Die Vorgaben der Normen sind für Fellmann durchaus mitverantwortlich für unverständliche Querschnitte. Als Ausweg versucht es die Stadt nun mit farbig gestalteten Streifen: Zurzeit testet man 60 cm breite hellgelbe Markierungen auf der Strasse, die Velofahrenden zu mehr Platz am rechten Fahrbahnrand verhelfen sollen, um zumindest an Ampeln an den wartenden Autos vorbeifahren zu können. Solche Streifen wären zwar erlaubt, dürften aber nicht als Velospuren bezeichnet werden, sondern würden einer Mitbenutzung entsprechen. Aber sie wären ein Schritt vorwärts, um den Zielen des Masterplans Velo[5] näher zu kommen. Denkt man an Fahrradanhänger, in denen Eltern ihre Kinder befördern, oder andere überbreite Gefährte wie Fahrradtaxis, könnten diese Lösungen erneut Anlass zu Diskussionen geben. Das Velo – erstes massentaugliches Individualverkehrsmittel – wurde in den 1960er-Jahren verdrängt und muss nun seinen Platz zurückerobern.

In Zukunft, so steht zu vermuten, wird es nicht mehr möglich sein, jedem Verkehrsmittel ausreichend Platz einzuräumen. Das Konzept der Koexistenz im städtischen Raum muss deshalb weiterentwickelt werden. Aus der Überzeugung heraus, dass es für den Verkehrsfluss, die Verkehrssicherheit, die Wohnqualität und aus Lärmschutzgründen vorteilhaft ist, hat die Stadt Zürich 2013 beschlossen, auch in einigen Quartierzentren, die von Hauptstrassen durchquert werden, Tempo 30 einzuführen.[6] Dabei ist neben den öffentlichen Diskursen zum Thema jedes Projekt einzeln öffentlich aufzulegen, mit den gesetzlichen Rekursmöglichkeiten.

Tangentialen für öV und MIV

Das sternförmig angeordnete Tramnetz wurde lang nicht angetastet. Was heute die Busse leisten, sollen künftig auch Tramlinien übernehmen: Ringe und Tangentialen sollen die City entlasten. Mit der Durchmesserlinie der S-Bahn werden die Fahrgastzahlen weiter steigen. Wer also nicht unbedingt in die Innenstadt muss, soll diese umgehen können. «Wichtig ist uns, die Polyzentren zu stärken und das Tramnetz dezentral anzuordnen», sagt Fellmann. «Hierzu gehört auch, die Tramlinie 8 über die Hardbrücke zu führen. Eigentlich nur eine kleine Netzergänzung, jedoch mit grosser Wirkung, weil die tangentiale Verbindung über die SBB-Gleise bis heute im Tramnetz fehlt.» Der letzte grosse Tramausbau war die Linie 4 in Zürich-West, die im Dezember 2011 eröffnet wurde. Obwohl man sie bei Baubeginn noch nicht gebraucht hätte, war man überzeugt, dass sie künftig gebraucht werden würde. Als Glücksfall entpuppte sich die Fussball-Europameisterschaft 2008 und das geplante Stadion – auch wenn es nicht gebaut wurde. Solche Ereignisse wirken als Katalysator, der politische Mehrheiten generiert und sich finanziell und bei der Abstimmung positiv auswirkt.

Für 2025 schliesslich ist die Tramfortsetzung nach Affoltern geplant. Zürich-Nord entwickelt sich gegenwärtig stark, und die Nachfrage kann mit dem heutigen Bussystem nicht mehr bewältigt werden. «Wir fragen uns jeweils: Wie viel verträgt ein Gebiet noch? Wo brauchen wir Parkplätze, Fussgängerstreifen, Velowege und Haltestellen für den öffentlichen Verkehr?», sagt Fellmann. In der Regel folgt die Stadtplanung dem Verkehrssystem; anders bei der Europaallee (vgl. «Grossflächige Vergoldung», S. 27) – hier sind starke Wechselwirkungen zwischen Verkehr und Siedlung vorhanden. Sie wirkt als Gegenpol zur Altstadt. Die City öffnet sich Richtung Kreis 4 und 5. Das beeinflusst nun auch die Verkehrsströme und vor allem das Fuss- und Velonetz.

Ausweg zweite Ebene

Bei den derzeitigen Zukunftsprognosen betreffend Verkehrs- und Bevölkerungsentwicklung und den engen Platzverhältnissen fragt man sich unweigerlich, wie es mit einer zweiten Ebene aussieht. In Zürich denkt man dabei heute in der Regel an eine unterirdische Erschliessung. Fellmann steht dem kritisch gegenüber, denn mit einer zweiten Ebene werde eine Linie zementiert. Ein langer Tunnel durch die Stadt bringt nichts ohne die entsprechenden Zugänge. Hinzu kommen die Werkleitungen, deren Platzanspruch nicht zu unterschätzen ist (vgl. TEC21 22/2013).

In Wipkingen, Kreis 10, hat man sich nun trotzdem entschieden, die Autos ab 2032 durch einen neuen Rosengartentunnel zu führen, mit dem man zugleich Platz für eine neue Tramlinie gewinnt. Das Rosengartentram soll sodann über dem Tunnel vom Albisriederplatz zum Milchbuck führen. Eine Ebene über Strassenniveau ist hingegen eher selten: Lange diskutiert wurde und wird bei der geplanten Einhausung Schwamendingen. Sie soll helfen, das durch eine Stadtautobahn geteilte Quartier wieder zu verbinden. Eine rechtsgültige Plangenehmigungsverfügung des Uvek wird im Herbst 2014 erwartet.

Die angesagten urbanen Seilbahnen werden auch in Zürich von Zeit zu Zeit diskutiert. Bekanntestes Beispiel: die Seilbahn zum Zoo. Da es sich dort hauptsächlich um Freizeitverkehr handelt, wäre eine Gondelbahn eine gute Lösung. Wegen unterschiedlicher Systemgrössen und Umsteigeebenen ist die Verknüpfung mit anderen Verkehrsträgern jedoch relativ schwierig. Fellmann ist daher skeptisch, ob das im Pendlerverkehr funktionieren würde. Versuchen könnte man es auch auf der immer wieder vorgebrachten Linie Bahnhof Hardbrücke–ETH Hönggerberg. Allerdings ist hier die unkompliziertere Lösung, den Bustakt zu verdichten. Denn die Linienführung durch den bebauten Raum und die anschliessende Bewilligung könnten eine langwierige Angelegenheit werden. Da die Aushandlungs-, Einsprache- und Rekurskultur in der Schweiz grossen Einfluss hat, kann es gut zehn Jahre und länger dauern, ein Projekt zur Baureife zu bringen. «Nach dieser Zeit hat man andere gesellschaftliche Vorstellungen. Da passt das eine dann manchmal nicht mehr aufs andere», meint Fellmann. «Wir befassen uns mit solchen Ebenendiskussionen, wie auch mit einem Seebeckentunnel, der die Bevölkerung sehr beschäftigt.» Realität seien jedoch lokale Anpassungen, wie einen Platz zu unterfahren, um die Engpässe zu entschärfen.

Vorhandenes nutzen

Weil die Finanzlage angespannt ist, greift man bei der Stadt gern auf Bestehendes zurück. Für Velofahrende soll der Stadttunnel temporär genutzt werden. Dieser Tunnel wurde in einem Teilstück unter dem Hauptbahnhof als Vorinvestition während des Baus der Bahnhöfe Museums- und Löwenstrasse erstellt; er führt von der Brunau unter Sihl und Hauptbahnhof hindurch zum Platzspitz. Statt zu warten, bis er in 20 Jahren für den motorisierten Verkehr gebraucht wird, möchte ihn die Stadt nun nutzen. Der rund 500 m lange Tunnel muss noch angepasst werden, damit sich die Velofahrenden sicher fühlen, denn die Dimensionen sind riesig und die Züge auf der Tunneldecke laut.

Mit Infrastrukturausbauten allein wird man das Verkehrsproblem nicht in den Griff bekommen. Neben flexibel nutzbaren Infrastrukturen und einer Verkehrskultur der gegenseitigen Rücksichtnahme braucht es weitere neue Ansätze: zum Beispiel, das Tramsystem um ein Schnelltram zu ergänzen – ein Tram, das nicht an jeder Haltestelle hält.

Schwierig wird das wegen der Mitbenutzung der Schienen, querenden Fussgängern oder Autofahrern. Beim S-Bahn-Netz ist Ähnliches denkbar, mit dem Vorteil, dass es vom übrigen Verkehr abgekoppelt ist. Da Perronlängen und Umsteigezeiten ausgereizt sind, müsste zudem das Rollmaterial angepasst werden, also keine Doppelstockzüge mehr, mehr Türen, nur noch Stehplätze. ZVV und SBB suchen mit dem Konzept S-Bahn 2. Generation (2G) Lösungen in diese Richtung.


Anmerkungen:
[01] Verteilung des Verkehrsaufkommens auf verschiedene Verkehrsmittel.
[02] Bundesamt für Raumentwicklung: Auswirkungen der Westumfahrung von Zürich und der A4 durch das Knonaueramt, 2014.
[03] Auf den öffentlichen Verkehr entfallen heute 39 % aller im Stadtgebiet zurückgelegten Wege, auf das Auto 30 %, auf den Fussverkehr 27 % und aufs Velo 4 %.
[04] Stadt Zürich, Verordnung über private Fahrzeugabstellplätze (Parkplatzverordnung) Gemeinderatsbeschluss vom 11. Dezember 1996 mit Änderung vom 7. Juli 2010.
[05] Stadt Zürich, Masterplan Velo, Zürich lädt zum Velofahren ein, 2012.
[06] Stadt Zürich, Tempo- und Verkehrsregimes mit ÖV-Trassierung, 2013.

TEC21, Fr., 2014.10.17



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2014|42 Zürich II: Gegenwart und Zukunft

03. Oktober 2014Daniela Dietsche
TEC21

Heikle Eingriffe

Sollen die technischen Anlagen eines Speichersees erneuert werden, denkt man zunächst an eine Entleerung. Doch es gibt Alternativen.

Sollen die technischen Anlagen eines Speichersees erneuert werden, denkt man zunächst an eine Entleerung. Doch es gibt Alternativen.

Die Stauseen Valle di Lei und Lago di Livigno sind nicht die grössten, die Talsperren Valle di Lei und Punt dal Gall nicht die höchsten und die beiden Kraftwerksanlagen nicht die leistungsstärksten in der Schweiz. Beispielhaft stehen sie aber für die vielen Wasserkraftwerke mit Speicherseen in den Alpen, die mehrheitlich zwischen 1950 und 1970 gebaut wurden. Bei ihnen sind nun Gesamterneuerungen fällig oder bereits im Gang. Das Hauptziel: die Anlagen für die zweite Konzessionshälfte fit zu machen und so die Betriebs­sicherheit und die Wirtschaftlichkeit für die ganze Laufzeit der Konzession zu gewährleisten. Beim Ablauf der Konzession nach 80 Jahren dürften die meisten Anlagen das Ende ihrer Lebensdauer noch nicht erreicht haben. Wie es dannzumal weitergeht, hängt von den politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen ab, die aber hier nicht unser Thema sein sollen.

Die Sanierung der Einlaufbereiche und der technischen Anlagen kann nur im Trockenen vorgenommen werden. Eine Möglichkeit, diese Arbeiten auszuführen, besteht in der Absenkung des Sees auf die erforderliche Kote. Alternativ kann der Einlaufbereich auch mit provisorischen Abschlüssen mittels Taucharbeiten abgedichtet werden, sodass im Trockenen von der Luftseite her gearbeitet werden kann.

Um die Staumauer Punt dal Gall mit ihren technischen Anlagen an der internationalen Kraftwerks­stufe Punt dal Gall / Ova Spin erneuern zu können, soll zum zweiten Mal in der Schweiz das sogenannte Sättigungstauchen eingesetzt werden. Ursprünglich hatten die Engadiner Kraftwerke (EKW) geplant, den See zu entleeren. Doch nachdem Ende März 2013 eine Panne bei der Restwasserversorgung aufgetreten war, musste das Konzept überarbeitet werden. Grosse Mengen Schlamm gelangten damals vom See in den Spöl. Das ökologische System des Nationalparks, der an die Anlage grenzt, wurde beeinträchtigt. So etwas darf nicht mehr passieren – Öffentlichkeit und Naturschutz­organisationen sind hier besonders sensibilisiert.

Die dreistufige Kraftwerksgruppe der Kraft­werke Hinterrhein (KHR) in Graubünden hat einen guten Teil der Erneuerungsarbeiten bereits hinter sich. Unvergesslich die Bilder vom leeren Lago di Lei und den Alphütten, die dabei zum Vorschein kamen. Auch den Sufnersee wollten die KHR absenken, musste aber ­abbrechen, weil ein Eintrag von grossen Sedimentmengen in den Hinterrhein drohte. Der Grundablass konnte nicht wie geplant revidiert werden. Insgesamt aber sind die Spülungen und Entleerungen der Ausgleichsbecken und des Lago di Lei, auch aus ökologischer Sicht, erfolgreich verlaufen (vgl. «Gezielt spülen», S. 31).

Eine Besonderheit der beiden Stauseen ist, dass sie nahezu ganz zu Italien gehören, die Täler aber auf Schweizer Gebiet entwässern. Für die Nutzung der Was­ser­kräfte waren deshalb Staatsverträge notwendig. Die Zusammenarbeit mit Italien ist nun auch bei den Erneuerungsarbeiten zentral. Die Engadiner profitieren dabei von den KHR, die den Hürdenlauf der Genehmigung bereits hinter sich haben. Das Vorgehen bei der Erneuerung unterscheidet sich darin, dass die KHR lang nicht viel gemacht hatten und nun eine Gesamterneuerung durchführen. Die EKW hingegen erneuerten immer wieder Teile ihrer Anlagen – nun ist die Revi­sion der Staumauer Punt dal Gall an der Reihe.

TEC21, Fr., 2014.10.03



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2014|40 Erneuerungswelle bei Speicherkraftwerken

03. Oktober 2014Lukas Denzler
Daniela Dietsche
TEC21

«Mit Sättigungstauchern sind wir schneller»

Bei der Kraftwerksanlage Punt dal Gall ist es Zeit, einige Anlageteile zu erneuern. Nach einer gravierenden Panne im März 2013 musste das vorgesehene Sanierungsprojekt überarbeitet werden. Wichtigste Änderung: Der See wird nicht entleert, Taucher sollen übernehmen.

Bei der Kraftwerksanlage Punt dal Gall ist es Zeit, einige Anlageteile zu erneuern. Nach einer gravierenden Panne im März 2013 musste das vorgesehene Sanierungsprojekt überarbeitet werden. Wichtigste Änderung: Der See wird nicht entleert, Taucher sollen übernehmen.

TEC21: Herr Roth, die Staumauer Punt dal Gall mit ihren Anlagen besteht seit gut 40 Jahren. Nach ungefähr der Hälfte der Konzessionsdauer steht nun eine Erneuerung an. Ist das bei Wasserkraftwerken üblich?
Michael Roth: Ja, es ist sinnvoll, die nassen Teile, das heisst die Stahlwasserbauten unter Wasser, einmal während einer Konzessionsdauer von 80 Jahren zu ersetzen. Üblicherweise geschieht dies nach 40 bis 50 Jahren, um die Anlage bis zum Ende der Konzession sicher betreiben zu können. In unserem Fall bis 2050.

Die Planung begann 2012. Ende März 2013 kam es zu einer Kraftwerkspanne. Was hat sich ereignet?
Wir hatten einen langen kalten Winter, und es herrschte eine ausgeprägte Knappheit im Schweizer Regelenergiemarkt. Von den an den Engadiner Kraftwerken (EKW) beteiligten Partnern wurden wir an­gehalten, so viel Strom wie möglich zu liefern. Das führte dazu, dass der Seestand so tief war wie lang nicht mehr. Da er aber immer noch 18 m über dem in der Konzession festgelegten Absenkziel lag, machten wir uns keine Sorgen. Am 30. März stellten Nationalparkwärter fest, dass das Restwasser, mit dem der Spöl sonst versorgt wird, nicht mehr fliesst. Die Dotieranlage bei der Staumauer war verstopft. Um Abhilfe zu schaffen, öffneten die EKW den Grundablass. Dabei wurde der Spöl nicht nur mit Wasser versorgt, sondern es gelangte auch Schlamm ins Flussbett. Ebenfalls am 30. März trieben im Ausgleichsbecken Ova Spin tote See­saiblinge. Aufgrund des Fundorts in der Nähe der Einleitung des Wassers aus der Kraftwerkszentrale Ova Spin mussten sie aus dem Livigno-Stausee stammen. Deshalb stellte man die Turbinen ab und pumpte stattdessen Wasser hoch in den Livigno-­Stausee, um dessen Wasserstand anzuheben.

Die Fische gelangten also durch die Turbinen in das Ausgleichsbecken Ova Spin? Wie ist es möglich, dass Seesaiblinge in den Druckstollen geraten?
Sie können grundsätzlich in den Einlaufbereich des Druckstollens schwimmen, was sie in der Regel vermeiden. Vermutet wird, dass der knappe Lebensraum, bedingt durch den tiefen Wasserstand und eine Trübung des Wassers, die Fische dazu veranlasste, das sauberere Wasser im Druckstollen aufzusuchen, als die Turbinen nicht in Betrieb waren. Wenn die Maschinen laufen, meiden sie die Strömung im Einlaufbereich. Wenn sich die Fische aber einmal dort befinden und die Maschinen gestartet werden, sind sie gefangen und geraten in den Sog des Wassers.

Die Ereignisse wurden von der ETH Lausanne untersucht. Wie schätzen Sie den Vorfall heute ein?
Aufgrund der Arbeit der Task Force Spöl und der Berichte der ETH Lausanne wissen wir heute relativ genau, was passiert ist. Der niedrige Seestand führte zu veränderten Erosionsprozessen der Sedimente. Das ist ein dynamischer Vorgang, und es kann zu Trübeströmen kommen. Das sind Schlamm­lawinen am Seegrund, die durch den See bis zum Mauerfuss gelangen können. Dieser Schlamm ist über das Dotierwasser bereits vor dem Ereignis in den Spöl einge­tragen worden und war der Grund, weshalb viele Bachforellen verendeten. Irgendwann verstopfte die Dotieranlage. Das Öffnen des Grund­ablasses hat zweifelsohne nochmals zu einem zusätzlichen Schlamm­austrag geführt. Aber wir gehen davon aus, dass ein Grossteil des Schlamms schon vorher im Spöl war.

Die von Exponenten des Nationalparks und einzelnen Wissenschaftlern viel kritisierte Öffnung war also unvermeidbar?
Ja, den Grundablass zu öffnen war die einzige Möglichkeit, den Spöl wieder mit Wasser zu ver­sorgen. Durch die entstandene Strömung im Einlaufbereich löste sich auch die Verstopfung des Dotierwassereinlaufs. Zunächst gingen wir ebenfalls davon aus, dass das Öffnen des Grundablasses massiv zu dem ökologischen Schaden beigetragen hat. Das war auch Gegenstand des eingeleiteten Straf­verfahrens. Da es aus betrieblicher Sicht korrekt war und auch die Experten der ETH Lausanne dies so sehen, wurde das Verfahren eingestellt. Haftpflicht- und Schadenersatzfragen sind aber noch offen.

Noch einmal zurück zu den Unterwasserlawinen. Eine Lawine hinter einer Staumauer hört sich dramatisch an. Sind damit nicht Gefahren verbunden?
Ein Trübestrom hat nicht die Wucht einer Schneelawine. Seine Kraft ist für die baulichen ­Anlagen unkritisch. Hingegen können Trübeströme dazu führen, dass wichtige Anlagen wie der Grund­ablass mit Sedimenten eingedeckt werden, und das darf nicht passieren, der Grundablass muss aus Sicherheitsgründen jederzeit geöffnet werden können. Auch deshalb nehmen wir ihn ein- bis zweimal jährlich in Betrieb. Dabei werden die Sedimente frühzeitig weggespült.

Was sind die Konsequenzen aus dem Unfall?
Die Experten der ETH Lausanne haben uns empfohlen, die künstlichen Hochwasser weiterzuführen und den Einlauf in die Dotieranlage um einige Meter höher zu legen. Empfohlen wurde uns zudem, die Abgabe des Dotierwassers mit einer zweiten, unabhängigen Methode zu messen. Die bisherige misst nur die Menge des Dotierwassers, nicht aber seine Trübung. Was wir sofort einhalten können, ist die Empfehlung, den See nicht tiefer als 1735 m ü. M. abzusenken.

Das Absenkziel lag bisher bei 1700 m ü. M. Bringt die Entscheidung, auf die untersten 35 m zu verzichten, keine grossen ökonomischen Einbussen mit sich?
Je nach den Energiepreisen schmerzt das schon. Da wir aber Täler mit einem V-Profil haben, wirken sich die unteren 35 m nur wenig auf das gesamte Stauvolumen aus. Zudem ist der Livigno-Stausee im Vergleich zu den Zuflüssen gut dimensioniert und recht gross für einen Jahresspeicher, der zum Ziel hat, Wasser vom Sommer für den Winter zu speichern.

Das ursprüngliche Erneuerungskonzept sah vor, den See weitgehend zu entleeren und die Arbeiten im Trockenen durchzuführen. Wie beeinflusste das Ereignis die Planung?
Wir fragten uns, ob wir den See überhaupt so weit absenken können wie geplant, ohne einen weiteren Schlammaustrag in den Spöl zu riskieren. Dies führte zu einer Zäsur und Überarbeitung des Projekts. Nun verzichten wir auf die Entleerung und planen stattdessen, Taucher einzusetzen. Um den Grund­ablass, die Dotieranlage und die Drosselklappen, die sich in der Wasserleitung zu den Turbinen befinden, vor Seewasser zu schützen, muss ein Deckel auf den Öffnungen der Einläufe angebracht werden. Das heisst, es wird seeseitig abgedichtet, und anschlies­send können die Arbeiten an den Anlagenteilen in An­griff genommen werden. Der Einsatz von konven­tionellen Tauchern ist aber heikel. Auf 1800 m ü. M. ist vor allem das Auftauchen gefährlich. Zudem müssten wir den See über drei Sommer sehr tief halten. Die Gefahr eines erneuten Schlammaustrags wäre relativ gross. Diese Erkenntnisse führten zur zweiten Variante: dem Sättigungstauchen. Das Ver­fahren ist aus dem Offshore-Bereich bekannt. In der Schweiz wurde es erst einmal angewendet – 2012 bei der Staumauer Hongrin VD, oberhalb von Montreux.

Wie muss man sich das Sättigungstauchen vorstellen?
Die Taucher leben während mehreren Wochen auf einem Floss. In einer Druckkammer an der Wasseroberfläche werden sie unter den Druck gesetzt, der dem entspricht, der in ihrer Arbeitstiefe herrscht. Mit der Kammer verbunden ist eine Tauchglocke, die unter demselben Druck steht. Diese kann von der Kammer getrennt und auf die Arbeitshöhe abgesenkt werden. Dort können die Taucher aussteigen und arbeiten. Die Dekompression der Taucher wird gut drei Tage dauern.

Und wie sehen die Kosten aus?
Mit diesem Verfahren können wir die Arbeiten in einem Sommer abwickeln, bei normalem See­stand. Da die Seebewirtschaftung nur wenig eingeschränkt ist, erleiden wir kaum Verluste bei der Stromproduktion. Wir haben ein geringeres Risiko hinsichtlich Schlammeintrag in den Spöl und eine höhere Arbeitssicherheit, weil der kritische Faktor des Auftauchens entfällt. Die nun geplanten Sanierungsarbeiten ­werden mit 24 Mio. Fr. bis zu 10 Mio. Fr. teurer ­veranschlagt als bei der ursprünglichen Variante.

Wurden weitere Varianten geprüft?
Ja, wegen der Mehrkosten prüften wir Alternativen. Nehmen wir einmal an, es würde gelingen, den See ohne übermässigen Schlammaustrag abzusenken und zu entleeren. Das nächste Problem ist, dass der Spöl immer mit Wasser versorgt sein muss. Die Zuflüsse bringen dieses Wasser durch den leeren See an den Fuss der Staumauer, von wo es in den Spöl gelangt. Dabei besteht das Risiko, dass die Zuflüsse grosse Mengen Sedimente aus dem See erodieren. Um dies zu verhindern, haben wir uns überlegt, an den oberen Enden der beiden Seearme provisorische Wasserfassungen zu bauen und so das Wasser der Zuflüsse über Leitungen an den Mauerfuss zu bringen. Das wäre aber nicht günstiger, im Gegenteil, die Leitungen auf dem Seegrund zu bauen wäre teurer. Zudem ist es riskant, denn wenn der Zufluss bei starken Niederschlägen grösser als die Entnahme durch die provisorische Wasserfassung wird, muss das Wasser in den See geleitet werden. Im schlimmsten Fall müssten wir die Arbeiten einstellen.

Wann kommen die Taucher zum Einsatz, und wie lang werden die Arbeiten der Taucher dauern?
Wir gehen davon aus, dass die Taucher 2016 drei bis vier Wochen arbeiten. Weil immer Rest­wasser in den Spöl fliessen muss, können wir nicht alle Einläufe gleichzeitig schliessen. Sobald der Grund­ablass und der Einlauf in die Dotieranlage verschlossen sind, soll das Restwasser über einen Anschluss bei den Drosselklappen sichergestellt werden. Sind die Arbeiten an den Anlagenteilen abgeschlossen, ist auch die Arbeit der Taucher beendet, da die Abdeckungen später von der Seeoberfläche aus entfernt werden können. Wir gehen heute davon aus, dass die Erneuerung und Instandsetzung bis September 2017 durchgeführt sein werden. 

TEC21, Fr., 2014.10.03



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2014|40 Erneuerungswelle bei Speicherkraftwerken

05. September 2014Daniela Dietsche
TEC21

Bewegte Geschichte

Der rund 20 km lange Simplontunnel im Kanton Wallis wurde vor über 100 Jahren gebaut. Erst 1982 wurde er als längster Tunnel der Welt abgelöst. Obwohl er für sein Alter in einem guten Zustand ist, braucht es nun grössere Investitionen.

Der rund 20 km lange Simplontunnel im Kanton Wallis wurde vor über 100 Jahren gebaut. Erst 1982 wurde er als längster Tunnel der Welt abgelöst. Obwohl er für sein Alter in einem guten Zustand ist, braucht es nun grössere Investitionen.

Am Anfang stand die Vision, die Alpen im Allgemeinen und das Simplonmassiv im Besonderen eisenbahntechnisch zu durchqueren. Nach vielen Projekt­ideen und Studien begann 1898 der Bau des rund 20 km langen Simplontunnels. Er verläuft mit Ausnahme der Ein- und Ausfahrtskurven bei Brig VS und Iselle geradlinig und liegt je zur Hälfte in der Schweiz und in Italien. An­stel­le der ursprünglich geplanten Doppelspurröhre wurde die ­Unternehmervariante ausgeführt: Erstmals wurden zwei einspurige Tunnelröhren gebaut, die mit Querschlägen verbunden sind. Bei seiner Inbetriebnahme war der Tunnel auf dem neuesten Stand der Technik: zwei Röhren mit Gleiswechselmöglichkeit in der Tunnel­mitte und elektrischem Zugbetrieb. Seitdem wurden keine gravierenden Baumassnahmen durchgeführt.

Die grösste Anpassung war die Sohlenabsenkung

mit der Erneuerung der Entwässerung zwischen 1981 und 2002, um das benötigte Lichtraumprofil für den ­Huckepackkorridor zu gewährleisten. Seither können Züge der rollenden Autobahn, deren Lastwagen 4 m Eckhöhe aufweisen, durch den Simplon verkehren. Doch die Anforderungen an Kapazität und Sicherheit im ­ Güter- und Personenverkehr stiegen und veranlassten die SBB dazu, den Tunnel anzupassen. Denn trotz seiner 100 Jahre ist er seit 2007 Teil der Alptransit-Lötschberg-Simplon-Achse und damit des ersten Asts der ­Neuen Eisenbahn-Alpentransversalen (NEAT).

Am 6. Juni 2011 brannte es im Simplontunnel. Der Brand entstand, als die Plane eines Güterwagens die Oberleitung berührte und Feuer fing, worauf ein Kurzschluss den Zug zum Stehen brachte. Das Feuer breitete sich auf zehn weitere Güterwagen aus. Nach deren Bergung konnte das Tunnelgewölbe des vom Brand betroffenen Abschnitts untersucht werden. Dabei zeigte sich, dass die Schäden zwar grösser waren als angenommen, die ­Tragfähigkeit des Gewölbes aber nicht gefährdet war. Das Natursteingewölbe wies auf einer Länge von rund 300 m Abplatzungen auf, die sich beim Abklopfen lösten. Auch die Fahrbahn mit den Holzschwellen und den Schienen sowie die Fahrleitung waren beschädigt. Diese Schäden mussten bis Dezember 2011 behoben sein, damit die vorgesehenen Instand­setzungsarbeiten 2012 beginnen konnten. Nun wird seit zweieinhalb Jahren im Simplontunnel gearbeitet. Ausschlaggebend für die Instandsetzung sind die Massnahmen zur Erhöhung der Tunnelsicherheit, die sich aus Vorgaben des Bundesamts für Verkehr und Richtlinien der SBB zusammensetzen. Für die Selbstrettung mussten in beiden Tunnelröhren die Brandnotbeleuchtung und die Beschilderung verbessert und auf der Seite der Querschläge ein seitlicher Gehweg mit Handlauf erstellt werden.

Bei den Arbeiten zwischen Ende der 1980er-Jahre und 2004 hat man überall die Gleise und den Oberbau ersetzt – mit Ausnahme der Tunnelmitte, wo die beiden Röhren durch Diagonalen miteinander verbunden sind (vgl. schematische Übersicht oben). An dieser Stelle genügten die vier Weichen den Anforderungen noch. Jetzt holt man notwendig gewordene Erneuerungen nach und reguliert in der sogenannten Tunnelstation auch gleich die noch unzureichende Sohlenabsenkung. Das Schotterbett ist hier für heutige Ansprüche nicht dick genug.

Des Weiteren ersetzen und vergrössern die SBB auf 25 km die Entwässerungsleitungen, da die bestehenden verstopft oder versintert sind (vgl. S. 32). Zudem wird die Stromversorgung angepasst. Zum einen wird die Stromversorgung des Tunnels von 4 kV auf 16 kV umgerüstet und komplett neu erstellt. Zum anderen sind die Oberflächenkabelkanäle der 132-kV-Hochspannungskabel für die Bahnstromversorgung der ­Südseite nicht mehr regelkonform. Neu werden zwei Kabelrohrblöcke von 19.8 km Länge mit je zwei Kabelschutzrohren erstellt und neue Kabel eingesetzt. Dafür werden alle 1500 m grössere Muffennischen benötigt, die seitlich längs der Tunnelröhren angeordnet sind und im Sprengverfahren ausgebrochen werden.

Hinzu kommen die üblichen Unterhaltsarbeiten für die Zeit zwischen 2012 und 2015. Die Arbeiten dauern voraussichtlich vier Jahre, der Zugbetrieb läuft derweil weiter (vgl. unten: «Abstimmung ist zentral»). Die Investitions­kosten sind auf rund 200 Mio. Franken veranschlagt. Die Arbeiten werden von der SBB ausgeführt. Italien ist weder an den Arbeiten noch an den Kosten beteiligt. Genehmigt wird das gesamte Projekt durch das Bundes­amt für Verkehr in Bern. Dies ist im Staatsvertrag zwischen der Schweiz und Italien geregelt.[1]


Anmerkung:
[01] SR 0.742.140.21: Staatsvertrag zwischen der Schweiz und Italien betreffend den Bau und Betrieb einer Eisenbahn durch den Simplon von Brig nach Domodossola; abgeschlossen am 25. November 1895, von der Bundesversammlung genehmigt am 21. Dezember 1896, Ratifikationsurkunden ausgetauscht am 28. Juli 1898. Erneuerung des Staatsvertrags: 28.3.2006.

TEC21, Fr., 2014.09.05



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2014|36 Den Simplontunnel aufrüsten

20. Juni 2014Daniela Dietsche
TEC21

M25 versus A13

Die Ausbreitungsachsen der Wildtiere enden nicht an den Landesgrenzen. Doch inzwischen werden Luchs, Hirsch oder Wildkatze durch Tierquerungshilfen gelenkt und ihre Wanderungen genau verfolgt.

Die Ausbreitungsachsen der Wildtiere enden nicht an den Landesgrenzen. Doch inzwischen werden Luchs, Hirsch oder Wildkatze durch Tierquerungshilfen gelenkt und ihre Wanderungen genau verfolgt.

Die europäischen Länder stehen alle mehr oder weniger vor demselben Problem: Die Lebensräume der Wildtiere sind überbaut, verkleinert, isoliert oder in ihrer Qualität beeinträchtigt. Die Gefahr ist seit den 1980er-Jahren bekannt, dennoch verschärft sie sich laufend weiter. Vor allem Querungshilfen für Grosssäuger durchzusetzen scheint aufgrund der Finanzlage und der Genehmigungsprozesse schwierig zu sein. Alle Beteiligten – Landwirte, Verkehrswegebauer, Behörden und Naturschützer – dazu zu bringen, an einem Strang zu ziehen, ist ebenfalls kein länderspezifisches Problem. Es geht nicht nur darum, die heute heimischen grossen Wildtiere wie Rothirsche oder Wildschweine zu schützen und deren Situation zu verbessern, sondern auch Raubtieren wie Luchs, Wolf oder Bär wieder eine Heimat zu bieten. Erste Erfolge gibt es bereits.

Anfang Mai wanderte wieder ein zweijähriger männlicher Bär durch das Münstertal. Diese Aussagen zu M25, wie die Kennung des Bären lautet, stützen sich nicht nur auf Zufallsbeobachtungen. Der Bär wurde am 12. Februar 2014 im Südtirol eingefangen und besendert. Um die Wanderbewegungen nachzuvollziehen und die wichtigsten Korridore festzulegen, werden die Wildtiere überwacht. Für dieses Monitoring kommen mehrere Methoden infrage. Die Fotofallen-Beobachtung wird in der Schweiz seit 1998 angewandt und gehört heute zu den Standardmethoden. Gegenüber der reinen Spurensuche hat sie den Vorteil, auch das Verhalten der Tiere beobachten zu können. Zudem müssen die Tiere nicht vorab besendert werden. Wildtiere wie Luchse oder Rothirsche, die ein Sendehalsband tragen, können mit Radiotelemetrie angepeilt werden. Der im Halsband integrierte Sender überträgt auf einer individuell vergebenen Frequenz ein Signal. Seit 2005 werden in der Schweiz auch GPS-GSM- Systeme eingesetzt. Die GPS-Einheit im Halsband der Tiere speichert zu vorprogrammierten Zeiten den Standort und verschickt die Daten über das GSM-Mobilfunknetz direkt an einen Computer, an dem sie weiterverarbeitet werden können. Durch Umfragen beispielsweise bei der Jägerschaft und Zufallsbeobachtungen werden die Ergebnisse verdichtet. Zufallsbeobachtungen sind wertvoll, weil sie auf neue Entwicklungen hinweisen oder Lücken im Monitoringsystem aufdecken. Die Anzahl bekannter Verluste in den Populationen und die Verlustursachen liefern wichtige Hinweise über den Zustand der Populationen. Dazu gehören tot aufgefundene Tiere, aus den Populationen entfernte Tiere und konkrete Hinweise auf Wilderei. Genetische Methoden helfen ebenfalls, Wanderbewegungen nachzuvollziehen.

In Bezug auf spezifische Tierquerungshilfen ist es interessant zu zu wissen, wer die Wildtierpassage nutzt und ob es sich bei den nachgewiesenen Tieren um unterschiedliche Individuen handelt. Um beurteilen zu können, ob das Bauwerk seine ökologische Funktion erfüllt, ist es wichtig, Aussagen zum Verhalten der Tiere machen zu können. Zeigen die Tiere Anzeichen von Stress, oder fühlen sie sich wohl? Je nach Ergebnis können diverse Anpassungen erforderlich sein. Insgesamt ist das Ziel dieser Überwachungen, mehr über das Verhalten der Wildtiere und die Wirksamkeit der Wiedervernetzungsmassnahmen zu erfahren. Grünbrücken funktionieren insgesamt sehr gut; ob sie jedoch die Überlebenschancen und den Genfluss im Hinterland gewährleisten können, kann noch nicht beantwortet werden.

TEC21, Fr., 2014.06.20



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2014|25 Grüne Infrastruktur

20. Juni 2014Daniela Dietsche
TEC21

Landschaft, hindernisfrei

Verkehrsträger und Siedlungsflächen zerschneiden den Lebensraum
von Wildtieren und wirken als Barrieren. Die Schweiz war in Mitteleuropa eine der führenden Nationen bei der Planung und Umsetzung von Wildtierkorridoren. Der Elan scheint aber nachzulassen.

Verkehrsträger und Siedlungsflächen zerschneiden den Lebensraum
von Wildtieren und wirken als Barrieren. Die Schweiz war in Mitteleuropa eine der führenden Nationen bei der Planung und Umsetzung von Wildtierkorridoren. Der Elan scheint aber nachzulassen.

Wild lebende Grosssäuger wie Wildschweine, Rehe oder Rothirsche finden in Mitteleuropa zwar noch geeignete Lebensräume. Doch Strassen, Bahnlinien, künstliche Kanäle, Siedlungen, Wildschutzzäune, Lärmschutzwände oder intensive landwirtschaftliche Produktionsflächen machen ihnen das Leben schwer. Für Wildtiere ist es überlebenswichtig, verschiedene Landschaftsräume zu erreichen, denn sie wechseln mehrmals täglich ihren Standort: vom Wald, der Deckung bietet, zum Offenland, wo sie Nahrung finden. Im Urnerland beispielsweise ist speziell das schwierig geworden: Hier verläuft die Autobahn direkt am Hangfuss, und die Tiere können nicht auf offene Flächen hinaustreten. Im Lauf des Jahres bewegen sich die Tiere zu Fortpflanzungsplätzen und wechseln zwischen den Sommerlebensräumen in den Hochlagen zu ihren Winterlebensräumen in den Tieflagen. In diesem Zusammenhang ist auch der Begriff «minimale überlebensfähige Population» wichtig. Bei höher entwickelten Tieren besteht erst ab mindestens 500 Individuen langfristig eine Überlebenschance. Für Arten mit grossem Raumanspruch wird diese Zahl erst im Verbund mit benachbarten Populationen erreicht. Unterbleibt der Austausch zwischen den Populationen, kann es zu Inzucht und genetischer Verarmung kommen und damit zur Gefährdung von Tierbeständen.

In der Schweiz bestehen rund 26 % der Nationalstrassen aus künstlichen Bauten wie Brücken, Galerien und Tunnels. Obwohl viele dieser Strukturen von Wildtieren nicht genutzt werden, könnten sie durch ökologische Aufwertungsmassnahmen wie Heckenstrukturen in der Umgebung oder kleine bauliche Anpassungen attraktiver gemacht werden. «Rehe und Rothirsche können durchaus Anlagen für Menschen mitbenutzen», sagt Wildtierbiologe Antonio Righetti, Projektleiter B+S AG, Bern. «Wir haben zum Beispiel im Kanton Freiburg festgestellt, dass lokal ansässige Rehe eine gut mit der Umgebung vernetzte Überführung benutzt haben, sobald sie nicht mehr von Menschen gestört wurden.» Solche Phänomene seien auch in den Kantonen Thurgau und St. Gallen beobachtet worden. «Ein asphaltiertes Trottoir auf einer Überführung, das vor und nach der Brücke sowieso nicht weitergeführt wird, kann beispielsweise durch eine Mergelspur oder einen begrünten Streifen ersetzt werden», so Righetti. «Diese Materialien begehen die Tiere lieber – besonders auch kleinere Tierarten.» Bei Gewässerdurchlässen reiche es, sie so zu gestalten, dass seitlich genug Platz bleibt. Der Schweizerische Verband der Strassen- und Verkehrsfachleute (VSS) hat hierzu eine Norm verfasst (SN 640696). So können aus unüberwindbaren Barrieren teilweise passierbare Bauwerke werden. Wo das nicht genügt, braucht es bauliche Massnahmen, die es den Tieren erlauben, einen Verkehrsweg möglichst sicher und ungestört zu überwinden. Doch wo müssen diese Wildtierpassagen gebaut werden? Wo reicht eine Unterführung, wo braucht es eine Überführung? Sind Stellen prädestiniert, an denen sich häufig Wildunfälle ereignen (vgl. Tabelle S. 26)? Wie sieht das übergeordnete Netz aus, auf dem sich die Wildtiere bewegen? Rothirsche und Co. halten sich über Generationen an ihre festen Routen.

Nur 16 % der Wildtierkorridore intakt

Mitte der 1980er-Jahre wollte es das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) genauer wissen: Es beauftragte das Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (Buwal; heute Bundesamt für Umwelt [Bafu]) und das Bundesamt für Strassen (Astra), eine Richtlinie über die Planung und den Bau von Wildtierpassagen an Verkehrswegen1 zu erarbeiten. Diese trat im November 2001 in Kraft, gilt für das schweizerische National- und Hauptstrassennetz und regelt hauptsächlich die Abmessungen für Wildtierüberführungen. Bestandteil dieser Richtlinie sind auch zwei weitere Berichte2, 3, die zeigen, wo sich die Engpässe für Wildtiere und die Wildtierkorridore befinden, in welchem Zustand sie sind und welche wiederhergestellt werden müssen, um die Situation für die Wildtiere zu verbessern. Zum anderen legen sie fest, wo am sinnvollsten neue Wildtierpassagen errichtet und wie sie ausgestaltet werden sollen, um von den Tieren akzeptiert zu werden. In der Schweiz gibt es 303 überregional bedeutende Wildtierkorridore (Stand 2012; vgl. Karte links). Nur noch etwa ein Viertel ist aber ungehindert benutzbar. Mehr als die Hälfte ist in ihrer Funktionalität erheblich beeinträchtigt und der Rest sogar vollständig unterbrochen. Die meisten der beeinträchtigten Korridore liegen im Mittelland. Eine neue Erhebung zehn Jahre nach der ersten zeigt, dass sich der Zustand der Korridore insgesamt nicht verbessert hat4 (vgl. Grafik S. 26).

Insgesamt wurden 78 überregionale Korridore ausgeschieden, bei denen die Funktionstüchtigkeit nur durch grosse wildtierspezifische Bauwerke erreicht werden kann. Zieht man alle Korridore ab, bei denen sich die Funktionsfähigkeit durch eine wildtierspezifische Gestaltung bestehender Flussdurchlässe oder Autobahnviadukte wiederherstellen lässt, bleiben 51 Korridore.5 Diese mit Grünbrücken zu versehen ist technisch problemlos möglich, aber mit hohen Kosten verbunden und kommt nur schleppend voran. Bei Neu- und Ausbauten von Verkehrsträgern ist es heute Standard, dass Wildquerungen vom Bund verfügt werden, bei bestehenden Verkehrsträgern wird oft gewartet, bis ein Abschnitt saniert oder ausgebaut wird.

Querungshilfen für Wildtiere

«Für grosse Säuger ist die Wirksamkeit einer Grünbrücke vor allem von der Lage und Breite, weniger von der perfekten Detailgestaltung des Bauwerks abhängig», sagt Antonio Righetti. Jede Tierart, sogar jedes Individuum reagiert auf Querungshilfen unterschiedlich. Alle Arten gleichermassen zu berücksichtigen ist nicht möglich. Deshalb werden Zielarten definiert. Unter den Grosssäugern ist der sensible und vorsichtige Rothirsch hinsichtlich Abmessung und Störung am empfindlichsten und stellt die höchsten Ansprüche an eine Querungshilfe. Bei einer Standard-Wildtierüberführung geht man von rund 45 Metern Breite aus. Die Abmessungen von Wildtierunterführungen sind noch nicht standardisiert. Dazu läuft derzeit ein Forschungsprojekt des VSS. Die Ergebnisse mit Vorgaben für regionale und überregionale Korridore sollen 2015 vorliegen. Grundsätzlich gilt: Grosssäuger ziehen es vor, einen Verkehrsträger zu überqueren; ist eine Unterführung grosszügig gestaltet, nehmen sie auch diese an. Die erforderliche Dichte der Wildtierpassagen hängt von der Fragmentierung der betroffenen Landschaft ab und vor allem davon, ob es überhaupt Wechselmöglichkeiten gibt. Anders als etwa in Österreich – dort wird alle paar Kilometer ein Bauwerk erstellt – geht man in der Schweiz von vorhandenen bzw. wiederherzustellenden ehemaligen Verbindungen aus. Zwischen Dättwil und Birmensdorf AG beispielsweise trennen die Autobahn A1 und der angrenzende Autobahnzubringer der Kantonsstrasse zwei grössere Waldgebiete. Die Kantonsstrasse wird von einer Wildtierbrücke überspannt, und durch eine Unterführung unter der Autobahn können die Tiere sicher die Seiten wechseln. Nach der Fertigstellung 2004 wurde die Akzeptanz überwacht, um sicherzustellen, dass die Bauwerke ihren Zweck der Vernetzung auch erfüllen. Nach der Wiederholung der Kontrollen im vergangenen Jahr konnte nachgewiesen werden, dass viele Wildtiere die «Angebote» nutzen. Erhebungen an anderen Wildtierbrücken im Schweizer Netz sind ebenfalls Erfolg versprechend. Wenn die Wirkungskontrollen von Vernetzungselementen konsequent umgesetzt werden, kann das Argument, die Tiere benutzten die Passagen nicht, widerlegt werden. Die Frage nach der Verhältnismässigkeit bleibt trotzdem (vgl. TEC21 43/2013, S. 34).

Passagen allein reichen nicht

Nimmt der Flächendruck im heutigen Ausmass weiter zu, wird es für die Tiere allerdings immer schwieriger, ihre Übergänge überhaupt zu erreichen. Neben den Querungshilfen braucht es für eine funktionierende grüne Infrastruktur daher auch ein engmaschiges Netz aus qualitativ hochwertigen Schutzgebieten, punktuellen Trittsteinen, linearen und flächigen Vernetzungselementen.

Die nationalen und internationalen Rechtsgrundlagen verpflichten den Bund und die Kantone, die Lebensräume von Fauna und Flora besser zu vernetzen. Vor einigen Jahren war die Schweiz bei der Planung und Umsetzung von Korridoren, vor allem mit dem Projekt REN (Réseau écologique national), sehr fortschrittlich. Die geeigneten Zonen für die Entwicklung eines nationalen ökologischen Netzwerks wurden darin erarbeitet und 2004 veröffentlicht. Es zeigt bestehende und potenzielle Vernetzungen der Lebensräume von Flora und Fauna in der Schweiz und deren Zerschneidungen.

Das Bafu erarbeitet das REN zusammen mit den Kantonen. Es dient als ökologische Richtschnur bei Planungen in Land-, Wald- und Wasserwirtschaft, Fischerei, Jagd, Strassenbau sowie Natur- und Landschaftsschutz.

Die Wildtierkorridore bilden einen Teil dieses Netzwerks. Das Projekt eines nationalen ökologischen Netzwerks (REN) ging auf die 1995 von den europäischen Umweltministern beschlossene paneuropäische Strategie zur Förderung der Biodiversität zurück. Es ist zugleich eines der Hauptziele für das Landschaftskonzept Schweiz und wurde in das Konzept Landschaft 2020 integriert. «War die Schweiz vor 10, 20 Jahren in Sachen Vernetzung und Widtierpassagen führend, hat in jüngster Vergangenheit das Ausland auf- und unser Land teilweise überholt. Aktuell ist in anderen Ländern ein regeres Treiben zu beobachten», meint Righetti – in Polen, Deutschland und Frankreich zum Beispiel. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die EU-Richtlinien sehr streng sind, was den Artenschutz angeht (vgl. Kasten oben). Was in der Schweiz noch fehlt, ist ein Konzept, damit die Raumplanung für die grüne Infrastruktur neben den anderen Raumansprüchen bestehen kann. Im Aktionsplan Biodiversität ist eine Massnahme für eine Minimierung der Trennwirkung des Verkehrs vorgesehen. Er ist allerdings noch nicht verabschiedet. Der Entwurf wird derzeit vom Bafu überarbeitet; es ist vorgesehen, dass der Bundesrat im Frühjahr 2015 darüber befinden könnte. Diese Massnahme fordert eine Erweiterung und Beschleunigung der Sanierung. Damit komme auch wieder Schwung in die Sache der Wildtierkorridore, ist Righetti überzeugt.

Adrien Zeender, beim Bafu zuständig für die Wildtierkorridore, ist ebenfalls der Ansicht, dass dieser Schwung unbedingt notwendig ist. Als positiv sieht er, dass die Bedürfnisse – auch in Gerichtsentscheiden – anerkannt werden, einige Wildtierkorridore saniert wurden und Korridore in Planungsinstrumenten wie den kantonalen Richtplänen (vgl. S. 28 «Das Bewusstsein ist hoch») berücksichtigt werden. Aber er merkt auch an, dass dieser positive Trend durch eine Verschlechterung der Situation bei anderen Wildtierkorridoren egalisiert wird. Die geplante Sanierung der Nationalstrassen finde langsamer statt als noch 2003 geplant, die Gemeinden berücksichtigten die Wildtierkorridore in ihrer Nutzungsplänen noch viel zu wenig, was zu Konflikten führe. Mit der generellen Zunahme des Verkehrs nimmt die Durchlässigkeit der Korridore auch entsprechend ab. Um die Situation zu verbessern, braucht es vor allem mehr Konkretes. «Schlussendlich brauchen die Tiere Massnahmen und nicht nur Intentionen», sagt Zeender.

Künftig könnte sich die Lage sogar noch zuspitzen. Durch Veränderungen im Klima und im Wasserregime werden sich auch die Lebensräume verändern. Wildtiere müssen ihren Standort ändern und in Gebiete mit besseren Bedingungen ziehen können.


Anmerkungen:
[01] Uvek: Richtlinie «Planung und Bau von Wildtierpassagen an Verkehrswegen», 11. 11. 2001
[02] Uvek: Grundlagenbericht für die Richtlinie «Planung und Bau von Wildtierpassagen an Verkehrswegen»,
11.11.2001
[03] Schweizerische Gesellschaft für Wildtierbiologie (SGW), Schweizerische Vogelwarte, Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (Buwal), Schriftenreihe Umwelt Nr. 326: Korridore für Wildtiere in der Schweiz, 2001, S. 23–25
[04] Adrien Zeender, Bundesamt für Umwelt: Infrastrukturpolitik Verkehr, Wildtierkorridore; Referat beim Eco-Naturkongress, Workshop «Freie Fahrt für Wildtiere – Wie die Schweiz zu mehr Wildtierkorridoren kommt», 21.2.2014
[05] Bundesamt für Umwelt: Zerschneidung von Lebensräumen durch Verkehrsinfrastrukturen COST 341, Umwelt-Wissen, 2., aktualisierte Auflage 2007
[06] Bundesamt für Umwelt: Eidgenössische Jagdstatistik, www.wild.uzh.ch/jagdst/index.php?la=1, 21.5.2014
[07] Bundesamt für Naturschutz, www.bfn.de/
0401_pm.html?tx_ttnews[tt_news]=4358, 27.5.2014

Literatur:
Heike Leitschuh-Fecht, Peter Holm (Hrsg.): Lebensräume schaffen. Artenschutz im Verkehrsnetz. Bern 2007.
Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg (Hrsg.): Ein Brückenschlag für Wildtiere. Querungshilfen über Verkehrswege: Auswege für wandernde Tierarten. Bd. 30, Stuttgart 2001.
Bundesamt für Strassen (Astra): Richtlinie Querungshilfe für Wildtiere. Bern 2014.
www.bafu.admin.ch > Themen > Massnahmen
zur Erhaltung der Biodiversität > Vernetzung > Wildtierkorridore

TEC21, Fr., 2014.06.20



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2014|25 Grüne Infrastruktur

28. März 2014Daniela Dietsche
TEC21

Logistische Meisterleistung

Die neuen Gleise der Durchmesserlinie brauchen Platz. Doch im Bahnhof Zürich Oerlikon und im angrenzenden Bahneinschnitt war es schon bisher eng und voll. Schritt für Schritt wurden Ingenieurbauwerke erstellt, um die Voraussetzungen für den Fahrplanwechsel 2015 zu schaffen.

Die neuen Gleise der Durchmesserlinie brauchen Platz. Doch im Bahnhof Zürich Oerlikon und im angrenzenden Bahneinschnitt war es schon bisher eng und voll. Schritt für Schritt wurden Ingenieurbauwerke erstellt, um die Voraussetzungen für den Fahrplanwechsel 2015 zu schaffen.

Im Juni 2014 wird die Durchmesserlinie Zürich auf der Nord-Süd-Achse Oerlikon–HB– Wiedikon eröffnet. Die ersten S-Bahn-Züge der Linien 2, 8 und 14 verkehren dann zwischen Zürich Oerlikon und Zürich HB durch den doppelspurigen Weinbergtunnel (vgl. TEC21 17/2012, 48/2012 und 31-32/2013). Die zwei neuen Gleise wurden im Einschnitt Oerlikon in die bestehende Gleisanlage eingeflochten. Was einfach klingt, war ein technisch komplexes und logistisch aufwendiges Unterfangen: Um sie unterzubringen, wurde der 10 bzw. 25 m breite Bahneinschnitt seit 2008 auf seiner ganzen Länge um bis zu 18 m verbreitert. Alle bestehenden Gleise und Weichen wurden umgebaut oder entfernt und in anderer Lage und Höhe neu verlegt – Fahrleitungen, Signal- und Kabelanlagen eingeschlossen. Die enge Baugrube und die hohen Sicherheitsansprüche forderten mehr als 20 Bauphasen. Der Zugverkehr hatte immer Vorrang: Pro Tag fuhren rund 800 Züge an den Bauarbeitern vorbei. Ein grosser Teil der Arbeiten konnte daher nur nachts oder an Wochenenden ausgeführt werden, wenn Gleise gesperrt werden konnten.

Neun Stockwerke für Rettung und Technik

Die Zugpassagiere, die durch den Weinberg- oder den Wipkingertunnel nach Zürich Oerlikon kommen, unterqueren das neue, neunstöckige Rettungs- und Technikgebäude (Schnitt rechts). Es beherbergt unter anderem Bahntechnikanlagen (Strom- und Bahnstromversorgung inkl. Trafostation, Sicherungs- und Telekommunikationsanlagen), die Wasser- und Löschwasserversorgung und einen Notausgang, Einsatzräume, Rettungsmittel und eine Rauchdruckanlage für einen Notfall oder Brand im Weinberg- oder Wipkingertunnel. Das rund 36 m hohe Gebäude ist flach auf Fels fundiert. Die massive Betonkonstruktion muss die grossen, auf drei Seiten anfallenden Erddrücke und gleichzeitig den Druck von aufstauendem Wasser zwischen Fels und Gebäude aufnehmen. Um die Stabilität sicherzustellen, wurde unter anderem ein Teil des Tagbautunnels als Fundamentfuss ausgebildet und monolithisch mit dem Gebäude verbunden. Die Hinterfüllung westlich des Gebäudes besteht aus mit Geotextilien bewehrter Erde. So können keine Lasten auf die grossflächige Portalwand einwirken. Um dem Umweltkonzept der Durchmesserlinie gerecht zu werden, sind in der Portalwand kleine Schlitze eingelassen, damit Fledermäuse in den Hohlräumen dahinter siedeln können.

Stützmauern lösen dichtes Grün ab

Umweltmassnahmen sind auch im Einschnitt vorgesehen, der noch vor einigen Jahren dicht bewachsen war. An Stelle der Bepflanzung stehen heute bis zu 33 m hohe Betonstützmauern. In der verbleibenden Böschung zwischen Bahnhof Zürich Oerlikon und der Regensbergbrücke wurden Steinkörbe für Eidechsen aufgebaut. Im Gesamtperimeter der Durchmesserlinie werden als Ausgleich weitere ökologische Ersatzmassnahmen wie Sandlinsen oder Wildbienen-Nisthilfen aus Holz ausgeführt (vgl. TEC21 48/2012). Die 670 m lange, teilweise überhängende Stützmauer auf der Ostseite ist als Nagelwand mit Spritzbeton, Vorsatzschale und hinten liegender Entwässerung konstruiert. Um Setzungen zu vermeiden, wurden zu Baubeginn zahlreiche Häuser nahe der Stützmauer unterfangen. Die Nagelwand mit nicht vorgespannten Ankern wurde in Etappen von oben nach unten gebaut, die Vorsatzschale von unten nach oben mit Grossflächenschalungen betoniert.

Die Strecke zwischen Bahnhof und Tunnelportalen ist auf beiden Seiten von Wohnhäusern gesäumt. Vor Baubeginn führte die Bauherrschaft Gebäudeaufnahmen zur Beweissicherung durch. Derzeit werden sie erneut vermessen. Insgesamt sind keine grossen Schäden zu beklagen; wo notwendig, werden die Gebäude nun instand gesetzt. Ferner misst ein Überwachungssystem halbstündlich Bewegungen der Betriebsgleise und Gebäude. Werden die festgelegten Grenzwerte überschritten, bekommen die verantwortlichen Ingenieure eine Nachricht per SMS und E-Mail, damit sie notwendige Massnahmen einleiten können.

Anwohner vor Lärm schützen

Im Quartier überstiegen die Lärmwerte die Grenzwerte schon vor Baubeginn – die Situation wird nun im Rahmen der Erweiterungsarbeiten verbessert. Auf den Stützmauern auf beiden Seiten des Bahneinschnitts entstanden auf 700 m Länge rund 4 m hohe Lärmschutzwände aus Glas und Stahl. Auf der Gleisebene wurden und werden an allen seitlichen Stützmauern 1 bis 2 m hohe schallabsorbierende Lavabetonelemente und auf den Stützmauern zwischen den Gleisen 1.10 m hohe schallabsorbierende Alu-Elemente montiert, die den Lärm nah an der Quelle – beim Berührungspunkt Rad und Schiene – dämpfen. Aufgrund des nicht unerheblichen Lärms während der Bauarbeiten wurden Schallschutzmatten montiert. Die Bauherrschaft stand zudem ständig in Kontakt mit den Anwohnern und Hausbesitzern. Frühzeitige Information über aussergewöhnlich laute Arbeiten mindert die Lärmbelastung zumindest gefühlsmässig.

Die naheliegende Alternative zu den aufwendigen Konstruktionen im Einschnitt – ein geschlossener Deckel – wurde schon früh im Planungsprozess verworfen. Ausschlaggebend waren finanzielle Gründe hinsichtlich Bau und Unterhalt und die Tatsache, dass er einen weiteren langfristigen Ausbau eingeschränkt hätte. Jetzt wären noch Ausbauten sowohl in die Höhe (Brücken oder Überwerfungen) als auch in die Tiefe (Untertunnelung oder Unterquerungsbauwerke) möglich. Beides wäre durch eine Überdeckung verunmöglicht oder zumindest stark erschwert worden.

Brücken und Unterquerungsbauwerk

Der Birchsteg und die Regensbergbrücke verbinden die Quartiere nördlich und südlich des Bahneinschnitts in Zürich-Nord. Da der Bahneinschnitt verbreitert wurde, mussten beide Brücken rückgebaut und verlängert neu erstellt werden. Ausserdem musste die Abstützung der Regensbergbrücke im Gleisfeld neu positioniert werden. Der neue Birchsteg, eine Fuss- und Radwegbrücke, führt als Balkentragwerk aus Stahlbeton mit einer Spannweite von 42 m stützenfrei über den Einschnitt. Der Überbau besteht aus einem vorgespannten, nach unten geöffneten Trogquerschnitt. Auf seiner Westseite ist der Querschnitt monolithisch mit einem 6 × 13 m grossen Widerlager verbunden. Die dadurch entstehende Einspannwirkung erlaubt es, die Brücke in dieser Schlankheit ohne Mittelstütze auszuführen. Beim Widerlager Ost ist die Brücke gelenkig und in Längsrichtung verschieblich gelagert. Die neue Regensbergbrücke dient weiterhin dem Strassenverkehr, ist jedoch auch für eine zukünftige Tramlinie ausgelegt. Das 46 m lange Bauwerk ist als integrale, zweifeldrige Rahmenbrücke mit vorgespanntem Plattenbalkenquerschnitt ausgebildet. Die Brücke wurde konventionell mittels Lehrgerüst gebaut, nachdem die alte Stahlbrücke aus dem Jahr 1908 in drei Teilen mit einem grossen Kran herausgehoben worden war. Der motorisierte Verkehr wurde während einem Jahr umgeleitet. Fussgänger und Radfahrer benutzten einen provisorischen Steg.

Die Mittelstütze der Brücke steht auf der Seitenwand des Unterquerungsbauwerks für den Zugverkehr. Dieses 510 m lange Bauwerk bauten die SBB, damit die Züge vom Hauptbahnhof Zürich kreuzungsfrei Richtung Flughafen und Ostschweiz fahren können. Denn allein mehr Platz für die Gleise aus dem Weinbergtunnel hätte nicht gereicht, um die Kapazität zu erhöhen. Der Weinbergtunnel unterquert im Bereich Oerlikon ein Gleis der Wipkingerlinie und kommt in zwei eingleisigen Tunnelausfahrten an die Oberfläche.

Ein Portal liegt direkt an der Stützmauer auf der Ostseite, das zweite in Verlängerung des Wipkingertunnels ungefähr auf Höhe des Käferbergtunnelportals. Durch den Käferbergtunnel gelangen die Passagiere nach Zürich Hardbrücke bzw. nach Altstetten.

Passagen unter dem Bahnhof

Zürich Oerlikon ist der siebtgrösste Bahnhof der Schweiz, gemessen an der Zahl der ein- und aussteigenden Personen pro Werktag. Praktisch alle Züge, die Zürich Richtung Norden und (Nord-)Osten verlassen, müssen ihn passieren. Trotzdem war sein Ausbau nicht immer Teil der Durchmesserlinie: Deren Perimeter endete bis 2009 an der westlichen Perronkante. Ursprünglich war geplant, den Bahnhof erst zu erweitern, wenn die Arbeiten an der Durchmesserlinie abgeschlossen wären – als Teil der vierten Teilergänzung der Zürcher S-Bahn. Im Lauf der Zeit ergaben sich Synergien, die die SBB, der Kanton Zürich, der ZVV und die Stadt Zürich nutzen wollten.

Hauptschlagader des neuen Bahnhofs Zürich Oerlikon wird die Personenunterführung Mitte. Mit einer Breite von 12.50 m wird sie auch den weiter wachsenden Passantenströmen gerecht. Je zwei Treppen und ein Lift führen von den Perrons in die Unterführung. Die Aufzüge sind analog denen in der Passage Sihlquai am Hauptbahnhof dimensioniert, das heisst 1 t Nutzlast und Platz für 13 Personen. Die Verkaufsfläche wird von 150 m² auf 2300 m² erhöht, damit ist der Geschäftsanteil vergleichbar mit dem im Bahnhof Bern. Westlich neben der Personenunterführung der SBB wird die Quartierverbindung der Stadt Zürich für den Fuss- und Veloverkehr gebaut. Sie verbindet ab 2016 das Zentrum von Oerlikon mit Neu-Oerlikon. Fussgänger und Velofahrer werden in dem rund 16 m breiten Raum getrennt geführt. Radfahrer können den Bahnhof kreuzen, ohne abzusteigen – dank einer befahrbaren Velorampe mit einer Steigung von 6 %. Eine unterirdische Abstellanlage für rund 370 Velos ermöglicht schnelles Umsteigen. Die Passagiere gelangen über eine Treppe aus der Passage auf die Perrons. Zwei Kopfbauten verbinden die Personenunterführung und die Quartierverbindung.

Über Hilfsbrücken fahren

Die beiden Unterführungen werden in Etappen in einer 70 m breiten Baugrube parallel zum Gleis erstellt. Der Kopfbau auf der Nordseite ist im Rohbau fertiggestellt, das neu erstellte Gleis 8 nahmen die SBB im August 2013 in Betrieb. Hier verkehren im Endausbau die meisten Züge und auch alle S-Bahnen, die aus Richtung Hardbrücke zum Flughafen oder nach Seebach und Opfikon fahren. Das neue Gleis 7 ist im Bau, es wird ab dem 7. April 2014 genutzt werden. Von dort fahren vorwiegend Züge vom Flughafen bzw. der (Nord-)Ostschweiz nach Zürich. In den folgenden Phasen werden immer zwei Gleise ausser Betrieb genommen, um in der offenen Baugrube den nächsten Teil der Unterführungen zu erstellen. Sie wird mit einer Rühlwand mit Holzausfachung gesichert, dem sogenannten Berliner Verbau, die Stirnseiten mit Nagelwänden. Die Bauphasen dauern jeweils rund sechs Monate. In dieser Zeit werden die Baugruben ausgehoben, die Personenunterführungen in Stahlbeton gebaut, Abdichtungen aufgebracht, Wiederauffüllungen erstellt, die Gleise neu gelegt (einschliesslich Signalen, Fahrleitung, Kabel) und die Perrons mit ihrer gesamten Ausstattung neu erstellt.

Die Züge aus und in Richtung Wallisellen, die auf Gleis 1 oder 2 verkehren, haben keine Möglichkeit, das Gleis nach dem Bahnhof zu wechseln. Eine Sperrung ist daher hier nicht realisierbar. Voraussichtlich ab November 2014 kommt deshalb eine technisch und logistisch anspruchsvolle Lösung zum Einsatz: Hilfsbrückenketten aus je fünf aneinander gehängten Brücken mit einer Gesamtlänge von 80 m pro Gleis. Fundiert werden diese auf Mikropfahltürmen, die bis in 16 m Tiefe unter der Baugrube gegründet sind. Um das Risiko eines hydraulischen Grundbruchs zu minimieren, werden die Pfähle vollständig unter Wasser gebohrt und betoniert. Um die Hilfsbrückenketten zu erstellen, sind sechs Intensivbauwochenenden mit 60-Stunden-Betrieb vorgesehen. Während 15 Monaten sollen die Züge über die Hilfsbrücken verkehren. In diesem Bereich erfolgt der Bau der Personenunterführung somit nicht neben, sondern unter den in Betrieb stehenden Gleisen. Der Bahnverkehr im Bahnhof Zürich Oerlikon und im gesamten Raum Zürich darf durch die Arbeiten nicht beeinträchtigt werden. Die Gleisanlagen und Baugruben werden rund um die Uhr überwacht, um kleinste Verschiebungen feststellen zu können. Das Überwachungssystem ist in einem engen Raster entlang der Baugruben eingerichtet.

Hinter den Messungen steht ein dreistufiges Alarmsystem. Entsprechend dem Alarmwert werden Massnahmen eingeleitet – bis hin zur Sperrung.

Sichtbeton prägt die neue Umgebung

Östlich des Bahnhofs im Gebiet Seebach und Leutschenbach entstehen neue Büro- und Wohngebäude (vgl. «Ein Schmetterling für Zürich-Nord» S. 22). Fusswege verbinden die öV-Haltestellen mit dem Bahnhof, ebenerdige Zugänge verkürzen die Gehdistanz zur bestehenden Personenunterführung Ost. Sie wird analog zur Personenunterführung Mitte in den sechsmonatigen Bauphasen ausgebaut.

Bis 2015 erstellen die SBB im Auftrag der Stadt Zürich zudem die neuen, breiteren Brücken über die Schaffhauserstrasse.

Insgesamt entstehen drei neue Brückentröge für je zwei Gleise. Im Widerlager unterhalb des Gleises 3 wird eine Abstellanlage für rund 300 Velos gebaut. Unter dem grossen Vorplatz zum Zugang Ost bei der Wattstrasse befindet sich eines von zwei neuen Retentionsfilterbecken im Bahnhof Zürich Oerlikon. Primär sammelt es das im Gleisbereich anfallende Schmutz- und Regenwasser.

Es wird durch einen Filterkies gereinigt und in den Vorfluter Riedgraben geleitet. In einem Havariefall wird im Becken mit einem Volumen von 1300 m³ das anfallende verschmutzte Löschwasser gesammelt. Das Ablaufen in die öffentlichen Gewässer kann so verhindert werden. Ein weiteres, kleineres Becken wurde in die Stützmauer entlang der Friesstrasse integriert. Beide Becken sind von aussen nicht sichtbar.

TEC21, Fr., 2014.03.28



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2014|13 Oerlikon underobsi

31. Januar 2014Daniela Dietsche
TEC21

Schritt für Schritt

Die Nachfrage im Pendler-, Reise- und Güterverkehr steigt seit Jahren. Mit FABI möchte die Bahn Angebot und Infrastruktur anpassen. Am 9. Februar wird über die Botschaft abgestimmt. Das Bahnprogramm folgt auf Bahn 2000, NEAT, HGV und ZEB. Ein Überblick.

Die Nachfrage im Pendler-, Reise- und Güterverkehr steigt seit Jahren. Mit FABI möchte die Bahn Angebot und Infrastruktur anpassen. Am 9. Februar wird über die Botschaft abgestimmt. Das Bahnprogramm folgt auf Bahn 2000, NEAT, HGV und ZEB. Ein Überblick.

Das Eisenbahnnetz in der Schweiz hat viele Aufgaben zu erfüllen: Personenpendelverkehr in die Städte, Pendelverkehr zwischen den Städten, Personen-F ernverkehr und Güterverkehr. Ein Schwerpunkt der Schweizer Verkehrspolitik ist zudem die Verlagerung der Güter im alpenquerenden Transit von der Strasse auf die Schiene. 2012 haben rund 1.2 Millionen Lkw die S chweizer Alpen überquert.[1] Eine Reduktion dieser Lastwagenfahrten auf das gesetzlich vorgesehene Verlagerungsziel – 650 000 Fahrten im Jahr 2018 – ist gemäss Verlagerungsbericht weiterhin nicht zu erreichen.[2]

Wohnbevölkerung, Arbeitsplatzangebot und individuelle Mobilitätsbedürfnisse nehmen in der Schweiz stetig zu; die Nachfrage im Pendlerverkehr steigt. Die Bahn versucht mit diesen Entwicklungen Schritt zu halten. Das Netz, das zu weiten Teilen aus dem 19. Jahrhundert stammt, ist ausgelastet. Für jeden Angebotsausbau muss es punktuell erweitert werden. Die L ösungsansätze der letzten Jahre waren verschiedene Bahnausbauprogramme (vgl. Abb. S. 18). Das jüngste heisst «Finanzierung und Ausbau der Bahninfrastruktur» (FA BI) und regelt eben nicht nur den Ausbau, sondern auch die künftige Finanzierung. Am 9. Februar stimmt das Schweizer Stimmvolk über die Vorlage FA BI ab. So weit, so gut, doch was verbirgt sich dahinter? Im Groben geht es darum, Engpässe im Schienennetz zu beseitigen und zusätzliche Kapazitäten zu schaffen. Schon heute ist das Eisenbahnnetz der Schweiz eines der am dichtesten befahrenen der Welt. Heutige Prognosen besagen, dass der Personen- und Güterverkehr bis 2030 gesamtschweizerisch um weitere 60 % ansteigen wird. Ausbauten der Infrastruktur seien deshalb unabdingbar, sagte Philippe Gauderon, Leiter Infrastruktur SBB, beim Trinationalen Bahnkongress in Basel im Mai 2013.

Einzelne Elemente der beiden Grossprojekte Bahn 2000 und Neue Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT) wurden aus finanziellen Gründen verschoben und die Mittel dem nachfolgenden Grossprojekt ZEB (Zukünftige Entwicklung der Bahninfrastruktur) zugesprochen.

Die Finanzierung der Projekte ab 2016 kann jedoch nicht mehr aus dem Fonds für die Eisenbahngrossprojekte (FinöV-F onds) erfolgen, da er befristet ist und die daraus finanzierten Projekte nicht beliebig erweitert werden können (vgl. S. 23). Der FinöVFonds soll in den neu geschaffenen Bahninfrastrukturfonds (BIF ) überführt werden. Mit ihm sollen Betrieb, Unterhalt und Ausbau finanziert werden. Gemeinsam mit STE P, also dem Ausbauteil, ergibt sich die Botschaft FABI.

FABI = STEP + BIF

Als Grundlage für den Ausbauteil von FA BI hat das Bundesamt für Verkehr (BAV) eine langfristige Perspektive erarbeitet, basierend auf den Fragen: Was erwarten die Kunden und Kundinnen in Zukunft vom öV-N etz? Welche Verbindungen sind notwendig, um diese Erwartungen zu erfüllen? Und welche Angebote müssen den Verbindungen hinterlegt werden? Zudem flossen die prognostizierte Verkehrsnachfrage und die Forderungen der Raumplanung nach der Siedlungsentwicklung nach innen in die Überlegungen ein. Die L angfristperspektive zeigt, wohin sich das Angebot im Schweizer Bahnverkehr entwickeln soll: Zunächst steht dabei die Kapazitätserhöhung im Vordergrund; kürzere Reisezeiten rangieren nicht an erster Stelle, sollen aber auch nicht verhindert werden. Der Betrachtungshorizont reicht bis mindestens 2050. Angebotsseitig legte das BAV fest, wo eine Taktverdichtung gebraucht wird, wo der S- Bahn-Verkehr gestärkt werden muss und wie die A nschlüsse ins Ausland aussehen sollen.

Erster Ausbauschritt: STEP 202

5Um die Ideen aus der Langfristperspektive zu realisieren, werden Projekte in STE P in zwei Dringlichkeitsstufen eingeteilt. Alle vier bis acht Jahre wird das bestehende Angebot mit den Prognosen für die Zukunft abgeglichen. Ausbauvorschläge werden von der Verwaltung ausgearbeitet und an den Bundesrat weitergereicht. Dieser legt sie dem Parlament zur Prüfung und Freigabe vor. Der erste Schritt enthält Projekte, die bis 2025 umgesetzt werden sollen: Bahnhofsumbauten, da zum Beispiel längere Perrons benötigt werden, um längeren Zugkompositionen Platz zu bieten und die Pendlerströme zu entflechten; neue Überholgleise, Doppelspurausbauten, Entflechtungsbauwerke oder Kreuzungsstellen, die sowohl dem Personen- als auch dem Güterverkehr zugutekommen (Karte S. 19).

Die technische Umsetzung dürfte unproblematisch sein; die erforderlichen Arbeiten unter Betrieb auszuführen ist jedoch anspruchsvoll. Auch Massnahmen zu den Taktverdichtungen gehören zu den Projekten, die dem Bahnprogramm STE P zugeordnet werden. In städtischen Gebieten – etwa zwischen Basel und Liestal – ist der Viertelstundentakt geplant, auf anderen Strecken wie Zürich–Chur, Bern–Luzern oder Biel–Neuenburg der Halbstundentakt. Das Versprechen an die Passagiere: mehr Züge, mehr Platz, höhere Pünktlichkeit und mehr Sicherheit.

Bahn 2000 machte den Anfang

Die Botschaft «Finanzierung und Ausbau der Bahninfrastruktur » fügt sich in eine lange Reihe von Bundesbeschlüssen zum Bahnbau ein. Einige Programme werden parallel ausgeführt, was es nicht einfacher macht, den Überblick zu behalten. Am 6. 12. 1987 haben die Stimmbürger die Vorlage zu «Bahn 2000» angenommen. Die heute weitgehend abgeschlossenen Vorhaben hatten das Ziel, schnellere und direktere Zugverbindungen in der ganzen Schweiz anbieten zu können. Idee des Projekts war es, einen vorteilhaften Fahrplan zu bestimmen und dann die dazu nötigen Infrastrukturausbauten anzugehen. Der Integrale Taktfahrplan zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Züge aus allen Richtungen zur vollen und/oder halben Stunde an den wichtigsten Bahnhöfen treffen, wodurch ein Umsteigen fast ohne Wartezeiten möglich wird. Möglich ist das aber nur, wenn die Fahrt zwischen den Knoten knapp unter 30 oder 60 Minuten dauert. Wo das nicht der Fall war, wurden neue Strecken erstellt oder alte ausgebaut. Das bekannteste Projekt der ersten Etappe war die Neubaustrecke Mattstetten–Rothrist, die 2004 eröffnet wurde. Die Idee zur zweiten Etappe «Bahn 2000» scheiterte jedoch.

Lötschberg, Gotthard und Ceneri

Am 27. 9. 1992 stimmte das Schweizer Stimmvolk dem Bundesbeschluss über den Bau der schweizerischen Eisenbahn-A lpentransversale (NEAT ) zu. Das Grossprojekt soll den Eisenbahntransitverkehr in Nord-S üd- Richtung verbessern, hauptsächlich um den alpenquerenden Schwerverkehr von der Strasse auf die Schiene zu verlagern. Diese Arbeiten laufen bekanntermassen noch. Die Fertigstellung des Gotthard-Basistunnels ist auf 2016 terminiert, die des Ceneri-Basistunnels – klammert man eine mögliche Zeitverzögerung durch den derzeitigen Rekurs aus – auf 2019.

Der Lötschberg-Basistunnel ist seit 2007 in Betrieb, wobei die Fertigstellung der zweiten Röhre aus finanziellen Gründen zurückgestellt wurde. Die fehlende Finanzierung war auch der Grund, warum der Hirzeltunnel zur Anbindung der Ostschweiz fallen gelassen und der Zimmerbergtunnel zwischen Thalwil und Zug zurückgestellt wurden.

Den Lärm in den Griff bekommen

Weit fortgeschritten ist das Grossprojekt Lärmsanierung der Eisenbahnen. Es richtet sich nach dem Bundesgesetz vom 24. März 2000 (BGLE ). Ziel ist es, bis Ende 2015 netzweit mindestens zwei Drittel der Bevölkerung, die schädlichem oder lästigem Eisenbahnlärm ausgesetzt ist, zu schützen. Dies in erster Priorität durch die S anierung des Rollmaterials und in zweiter Priorität durch bauliche Massnahmen wie den Bau von Lärmschutzwänden oder die Sanierung einzelner Stahlbrücken. Ende September 2013 hat das Parlament den nächsten Schritt beschlossen: Mit weiteren Massnahmen soll der Bahnlärm weiter reduziert werden.

Kernelement ist dabei, dass ab 2020 Lärmgrenzwerte für alle Güterwaggons gelten.

Anschluss ans europäische Netz

Das Bundesgesetz über den Anschluss der Ost- und Westschweiz an das europäische Eisenbahn-H ochleistungsnetz (HGV) vom 18. März 2005 soll dazu beitragen, einen möglichst grossen Anteil des internationalen Strassen- und Luftverkehrs auf die Schiene zu verlagern. Rund 30 Projekte in der Schweiz, in Deutschland und in Frankreich werden derzeit realisiert oder sind bereits abgeschlossen.

Den Bestand maximal ausnutzen

Das BAV überführte die in der zweiten Etappe «Bahn 2000» vorgesehenen Projekte in das Programm «Zukünftige Entwicklung der Bahninfrastruktur» (ZEB). Bund und SBB unterzeichneten die erste Umsetzungsvereinbarung für ZEB am 29. 6. 2011. Mit dem ZEB-Gesetzentwurf bezweckt man, die Kapazitäten für den Personenfern- und den Güterverkehr auszubauen und die Zahl der Vollknoten zu erhöhen. Dazu zählen auch Projekte im Zusammenhang mit dem Ausbau der NEAT- Zufahrten und der Durchmesserlinie Zürich.

Die SBB werden zum Beispiel die Zugfolgezeiten auf verschiedenen Abschnitten der Achse Basel–Chiasso verkürzen, um dadurch die Kapazität im Hinblick auf die Eröffnung des Gotthard- und Ceneri-Basistunnels zu erhöhen. Die Teilprojekte des Grossprojekts ZEB sind in Umsetzung oder in Planung.

Mehr Platz für den Güterverkehr

Beim «4-Meter-K orridor» handelt es sich um eine Güterverkehrsvorlage. Ein Ja zu FA BI ist Voraussetzung für dessen Realisierung. Die SBB sollen im Auftrag des Bundes die Gotthard-A chse ausbauen, damit ab 2020 auch Sattelauflieger, Wechselbehälter und Container mit einer Eckhöhe von vier Metern transportiert werden können. Für den durchgängigen 4-Meter-K orridor von Basel ins Tessin müssen rund 20 Tunnels ausgebaut und diverse Anpassungen an Fahrstrom- und Signalanlagen, Überführungen und Perrons vorgenommen werden. Das grösste Projekt ist der Bözbergtunnel im Kanton Aargau. Als beste Variante erwies sich hier der Neubau eines Doppelspurtunnels. Von dem höheren Lichtraumprofil kann – durch die Nutzung von Doppelstockwagen – auch der Personenverkehr profitieren. Die Vorlage wurde vom Parlament bereits in beiden Räten diskutiert, und die Differenzbereinigung steht kurz vor Abschluss. Die Nachfrage wächst weiter Mit einem Anteil von 17 % der Personenverkehrsleistung und 39 % der Güterverkehrsleistung am gesamten Verkehr belegen die Schweizer Bahnen einen internationalen Spitzenwert bezüglich Modal Split. Das erwartete Bevölkerungswachstum hat eine höhere Nachfrage nach Infrastrukturdienstleistungen zur Folge. Gemäss dem mittleren Referenzszenario des Bundesamtes für Statistik wächst die ständige Wohnbevölkerung der Schweiz bis 2060 auf 8 992 000 Personen. Geht man davon aus, dass die Schweiz ein attraktives Einwanderungsland bleibt, ist nicht auszuschliessen, dass die tatsächliche demografische Entwicklung dem oberen Szenario entspricht – gemäss Bundesamt für Statistik 11.3 Mio. Einwohner. Das Bevölkerungswachstum wird sich vermutlich auf die Ballungsräume konzentrieren.

Daher wird die Nachfrage nach Infrastrukturdienstleistungen vor allem zwischen den Agglomerationen steigen. Zu bedenken ist zudem, dass neue Infrastrukturen wirtschaftliches Wachstum begünstigen; dies führt zu höherer Nachfrage, die ihrerseits zusätzliche Infrastrukturkapazitäten erforderlich macht. Es drängen sich Fragen auf: Wie beeinflussen sich Bahninfrastrukturausbau und Strassenausbau künftig?

Geht der Ausbau immer weiter? Müsste der Verkehr irgendwann gesamthaft plafoniert werden, um das Mobilitätsverhalten zu steuern? Fragen, die an dieser Stelle offen bleiben.


Anmerkungen:
[01] Mit den bisherigen Massnahmen werden pro Jahr 650 000 bis 700 000 Fahrten vermieden: namentlich der NEAT , der Erhebung der LS VA, der Beibehaltung des Nachtfahrverbots für Lkw und einer gezielten Unterstützung des Schienengüterverkehrs bis zur Eröffnung der NEAT.
[02] Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation, Verlagerungsbericht Juli 2011–Juni 2013 vom November 2013.

TEC21, Fr., 2014.01.31



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2014|05-06 Was hinter FABI steckt

31. Januar 2014Daniela Dietsche
TEC21

«Die Projekte nach 2025 sind nicht in Stein gemeisselt»

TEC21: Das Bundesamt für Verkehr hat die Botschaft zu Finanzierung und Ausbau der Bahninfrastruktur (FABI) für den Bundesrat vorbereitet. Nach welchen...

TEC21: Das Bundesamt für Verkehr hat die Botschaft zu Finanzierung und Ausbau der Bahninfrastruktur (FABI) für den Bundesrat vorbereitet. Nach welchen...

TEC21: Das Bundesamt für Verkehr hat die Botschaft zu Finanzierung und Ausbau der Bahninfrastruktur (FABI) für den Bundesrat vorbereitet. Nach welchen Kriterien haben Sie die Projekte für den ersten Ausbauschritt ausgewählt, und wo liegen die Unterschiede zu den Vorhaben in ZEB?

Toni Eder: Wir haben analysiert, wo es eine Überlast gibt und wo sich mit der erwarteten Verkehrsentwicklung weitere Engpässe zeigen. In einem nächsten Schritt bewerteten wir die Entwicklungsmodule volks- und betriebswirtschaftlich. Die definitive Auswahl erfolgte dann ergänzt mit den Kriterien: Nutzen in allen Landesteilen und Aufwärtskompatibilität. Dabei war das vorgegebene Budget einzuhalten. Wir haben festgestellt, dass sich die Engpässe derzeit wie ein Bogen durch das schweizerische Mittelland ziehen: die Region Léman, Bern, Zürich, der Raum Basel und St. Gallen.

Obwohl im ersten Ausbauschritt (STE P 25) keine Neubauprojekte wie sehr grosse Tunnel vorgesehen sind, ist der Sprung gegenüber den ZEB-Projekten recht gross, was die Kosten angeht. Bei den ZEB-Projekten ging es darum, das bestehende Netz maximal auszunutzen. Um Probleme in den Agglomerationen und zwischen den Metropolitanräumen zu lösen, reichen kleinere Anpassungen nicht mehr aus. Neu gegenüber den früheren Programmen ist Folgendes: Der erste Ausbauschritt 2025 ist festgelegt, die zukünftige Entwicklung mit der Langfristperspektive ist aufgezeigt, und weitere Projekte sind mit Dringlichkeitsstufen genannt. Diese Projekte sind aber noch nicht in Stein gemeisselt. Nimmt der Verkehr weniger schnell zu als prognostiziert, müssen wir einzelne Projekte später realisieren oder im umgekehrten Fall eventuell auch beschleunigen.

Solche Beispiele gibt es immer wieder.

T. E.: Ja, die veränderte Einstellung der Verkehrsteilnehmer zum öffentlichen Verkehr und die Situation auf den Strassen in der Region Léman hatten beispielsweise grossen Einfluss auf die Planung. Die Verkehrsentwicklung unterscheidet sich deutlich von den Prognosen von vor 15 Jahren. Viele steigen auf öffentliche Verkehrsmittel um. Das führte aber dazu, dass Umplanungen notwendig wurden. Bei der Neubaustrecke zwischen Rupperswil und Gruemet im Aargau ist hingegen noch Zeit, um die Linienführung zu definieren. Deshalb haben wir das Geld, das für den Tunnel vorgesehen war, aus ZEB herausgenommen. Dieser Betrag soll im Rahmen von FA BI im Raum Lausanne eingesetzt werden. Dort wird derzeit die Modernisierung und Vergrösserung des Bahnhofs Lausanne geplant. Der Ausbau soll 2017 beginnen und bis 2025 abgeschlossen sein. Zudem ist ein viertes Gleis zwischen Lausanne und Renens im Kanton Waadt vorgesehen.

Die NEAT-Zulaufstrecken in der Schweiz sind noch nicht ausgebaut. Ist dafür Geld vorgesehen?

T. E.: Mit dem 2. Volksbeschluss 1998 wurde die NEAT redimensioniert und der Ausbau der Zulaufstrecken zurückgestellt. Mit den Basistunnels ist aber der Anfang gemacht. In ZEB sind mehrere hundert Millionen Franken enthalten, um den ursprünglichen Zielen einen Schritt näher zu kommen, z. B. die Kapazitätssteigerung Güterverkehr Basel–Gotthard-Nord, Gotthard-S üd–Chiasso. Dabei geht es um eine Zugfolgeverdichtung.

Diese Projekte zusammen mit den Massnahmen im Projekt «4-Meter-K orridor» sollen die NEAT leistungsfähiger machen. Wesentliche Verbesserungen auf der Nord-S üd-A chse sind deshalb in STE P 25 nicht mehr vorgesehen, wobei natürlich bei Ausbauten in den Räumen Basel, Aargau, Tessin auch die Nord-S üd-A chse profitiert.

Neben den konkreten Projekten gibt es in STEP 25 den Punkt «Planungsmittel für den nächsten Ausbauschritt». Was verbirgt sich dahinter?

T. E.: Das Vorgehen, dass Planungsmittel für einen noch festzulegenden Ausbauschritt gesprochen werden, erachte ich für einen kontinuierlichen Planungs- und Bauprozess als sehr zielführend. Heute beginnen die Arbeiten an der Vorlage für das Jahr 2018 und dem darin enthaltenen Ausbauschritt bis 2030 – ein Ja zu FA BI am 9. Februar vorausgesetzt.

Damit wir nach einer Zustimmung des Parlaments bis zum Baubeginn nicht zu viel Zeit verlieren, steht uns für die Planung der im Ausbauschritt 2030 vorgesehenen Projekte Geld zur Verfügung. Im entsprechenden Gesetz zu FA BI hat das Parlament bereits definiert, dass die Strecken Aarau–Zürich– Winterthur mit dem Brüttenertunnel, die Strecke Zürich–Zug–Luzern mit dem Zimmerbergtunnel und dem Tiefbahnhof und der Vollausbau des Lötschberg- Basistunnels projektiert werden sollen.

Das sind einige grosse Brocken zwischen 2025 und 2030 ...

T. E.: … das Gesetz wurde entsprechend formuliert. Dort heisst es «voraussichtlich bis 2030. Je nach Entwicklung …» Wir wurden vom Parlament auch gefragt, ob die Bauindustrie überhaupt in der Lage sei, so viel zu bauen. Die Ausgaben für Neubauten entsprechen den heutigen Ausgaben zum Bau der NEAT . Das kann die Bauwirtschaft. Aber klar ist, der Nutzen steht im Mittelpunkt, es ist kein Programm zur Stützung der Bauwirtschaft, sondern ein öV-Entwicklungsprogramm. Allerdings ist ein gewisser Vorteil solcher Programme für Planungsbüros und Bauunternehmer nicht zu leugnen. Sie können in der Planung schon früh sehen, welche Massnahmen vorgesehen sind, und entsprechend reagieren.

Lassen sich die geplanten Vorhaben auf dem bestehenden, dichten Netz überhaupt umsetzen, ohne den Verkehr zum Erliegen zu bringen?

T. E.: Die SBB schenken diesem Punkt besondere Beachtung und haben intern neue Strukturen für diese Planung geschaffen. Nehmen wir die Strecke Bern–Lausanne. Aufgrund der Umbauarbeiten am Bahnhof Lausanne sind Langsamfahrstellen nötig. Geplant ist auch ein Ausbau im Raum Holligen für die S- Bahn Bern, was ebenfalls eine Langsamfahrstelle zur Folge hätte. Die Zeiträume müssen exakt aufeinander abgestimmt und weitere Baustellen, auch Unterhaltsarbeiten auf der Strecke, vermieden werden. In aussergewöhnlichen Fällen kann es zu Sperrungen kommen; das verändert den Fahrplan, oder er wird weniger verlässlich. Um das System auf hohem Niveau halten zu können, darf es jedoch keinen Unterhaltsstau geben. Diesen Aufwand unterschätzt man von aussen.

Das Bewusstsein für die Fragen der Raumplanung hat in der Bevölkerung stark zugenommen. Inwiefern haben Sie als BAV diese Fragen berücksichtigt?

T. E.: Die Stärke der Schweiz sind die Zentren mit ihren Subzentren wie Burgdorf oder Wil. Diese muss man in das Gesamtnetz gut einbinden. Aufgrund der Analyse des bestehenden Netzes und der Anforderungen in der Zukunft war klar, dass die Kapazitäten zu erhöhen sind, nicht die Geschwindigkeit. Wir schaffen gute Verbindungen, aber keine Verbindungen, wie wir sie von U- Bahnen oder einer Metro kennen. Wir möchten mit dem Viertelstundentakt in den grossen Agglomerationen, dem Halbstundentakt etwas weiter ausserhalb und einem Grundnetz im Umland die heutige Siedlungsstruktur behalten und die Raumplanung unterstützen. Damit uns das in Zukunft nicht nur qualitativ gelingt, wird jedes neue Angebot auf seine räumliche Wirkung hin untersucht. Ein zusätzliches Tool ist für den Ausbauschritt 2030 vorgesehen. Damit kann man auf Karten zeigen, wie gut die Massnahme die Raumplanungsziele unterstützt.

Zurzeit deutet vieles auf eine Annahme der Vorlage hin. Könnte sich die Ablehnung der Erhöhung der Autobahnvignettengebühr auf FABI auswirken?

T. E.: Ob sich das «Nein» tatsächlich auf das Abstimmungsverhalten auswirkt, kann ich nicht beurteilen. Wird die FA BI- Vorlage hingegen abgelehnt, müsste man völlig neu priorisieren. Wir hätten kein Geld mehr für zusätzliche Ausbauten und könnten lediglich die Projekte im Programm ZEB umsetzen. Die andere Seite ist die Finanzierung des Unterhalts, die nicht mehr gewährleistet wäre. Zudem gibt es kantonale Folgeprojekte, die auch nicht umgesetzt werden könnten. Ich möchte zu bedenken geben, dass wir von einem Mobilitätssystem reden. Die Bahn hat in gewissen Bereichen ihre Vorteile und die Strasse in anderen. Es braucht beides, und es geht nicht darum, das eine gegen das andere auszuspielen, sondern beide weiterzuentwickeln. In den Agglomerationen ist der öffentliche Verkehr sehr wirkungsvoll. Die Taktverdichtungen beziehen sich auf Gegenden, wo man sich sinnvoll mit dem öffentlichen Verkehr fortbewegen kann. In ländlichen Gebieten stellen wir eine Grunderschliessung sicher, es ist nicht sinnvoll, in jedes Dorf eine Bahnlinie zu bauen.

TEC21, Fr., 2014.01.31



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2014|05-06 Was hinter FABI steckt

01. November 2013Barbara Hallmann
Daniela Dietsche
TEC21

Ist die Branche zu träge?

Ganz im Unterschied zu den USA oder Skandinavien hat die digitale Planungsmethode Building Information Modeling (BIM) in der Schweiz bisher noch nicht recht Fuss gefasst. Warum ist das so, und was müsste sich ändern? TEC21 hat Vertreter verschiedener Fachrichtungen mit sechs Thesen konfrontiert, die Kritiker gegen BIM anführen. Ein Vertreter aus einem Ingenieurunternehmen, ein Gebäudetechniker, ein Architekt und der Leiter Normen des SIA, die sich allesamt im Alltag mit der Technologie beschäftigen, halten manchmal vehement dagegen – und stimmen manchmal zu.

Ganz im Unterschied zu den USA oder Skandinavien hat die digitale Planungsmethode Building Information Modeling (BIM) in der Schweiz bisher noch nicht recht Fuss gefasst. Warum ist das so, und was müsste sich ändern? TEC21 hat Vertreter verschiedener Fachrichtungen mit sechs Thesen konfrontiert, die Kritiker gegen BIM anführen. Ein Vertreter aus einem Ingenieurunternehmen, ein Gebäudetechniker, ein Architekt und der Leiter Normen des SIA, die sich allesamt im Alltag mit der Technologie beschäftigen, halten manchmal vehement dagegen – und stimmen manchmal zu.

TEC21: Wir möchten Sie im Gespräch mit verschiedenen Thesen konfrontieren, die man gegen BIM vorbringen könnte. These 1 lautet: BIM lohnt sich nur für komplexe Projekte. Ansonsten ist der Zusatzaufwand zu gross. Was sagen Sie dazu?

Rolf Mielebacher (R. M.): BIM nur für grosse Projekte zu nutzen wäre für den Anfang der falsche Ansatz: Das Projekt ist komplex und die Software nicht ganz einfach. Für den Einstieg ist ein normales Projekt sinnvoll.
Markus Gehri (M. G.): Ich finde, es kann auch bei kleinen Projekten nützen. Auch für ein normales Sechsfamilienhaus müssen viele Nachweise geführt werden – da bringt BIM Vorteile.
Jobst Willers (J. W.): Ich bin überzeugt, BIM wird nur bei komplexen Projekten wie Spitälern oder Industriebauten kommen, weil dort der Lebenszyklusnutzen massiv zum ­Tragen kommt.
M. G.: Da hat jetzt der Gebäudetechniker gesprochen, der Gebäude mit ausgeklügelter Technologie ausstatten möchte. Aber BIM fängt schon früher an, bei der Schalung, bei den Fenstern. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass ein Sechsfamilienhaus ohne aufwendige Gebäudetechnik mit BIM projektiert wird.
Andreas Derrer (A. D.): Ich finde, nicht die Projektgrösse entscheidet, sondern der ­Detaillierungsgrad. Bei einem kleinen Ladengeschäft geht es nicht um die gleichen Themen wie bei einem Spital. Das Wichtigste ist für mich immer die Frage nach den Schnittstellen: Wie sammle ich die Informationen, wie bereite ich sie auf, und wie halte ich sie à jour?
R. M.: Gerade bei kleinen Projekten kann BIM Bauprozesse standardisieren. Die Bauwirtschaft möchte immer Unikate erschaffen. BIM könnte bei Käuferausbauten leicht Kosten sparen, wenn man beispielsweise Steckdosen und Wände zusammen verschieben kann, statt aufwendig alles einzeln anzupassen.

TEC21: These 2: Mit BIM entsteht für die Planer ein Zusatzaufwand, der nicht honoriert wird.

J. W.: Unsere bisherige Denkart in sechs SIA-Phasen steht uns im Weg. Wir sind das Arbeiten vom Groben ins Feine gewohnt.
M. G.: Ich glaube, die Leistung wird einfach zeitlich nach vorn verschoben. Im Idealfall entsteht im Vorprojekt bereits ein virtuelles Gebäude, bis hin zur letzten Schraube. Später gleicht sich das aus – sagt man –, weil bei der Realisierung weniger Kosten entstehen. Wie aber dieser Zusatzaufwand am Anfang mit den gesparten Kosten gegen Ende ausgeglichen und aufgeteilt wird, ist noch offen. Einfacher ist die Situation für einen GU oder TU.
J. W.: Ausserhalb dieser Unternehmen sieht es doch so aus: Wir haben oft ein Planerteam von acht oder mehr Ingenieurparteien. Drei davon haben von BIM keine Ahnung. Was macht man mit denen? Der Markt regelt das hoffentlich: Entweder verschwinden die Unkundigen, oder sie wenden BIM an.
A. D.: Viele sind sich nicht recht bewusst, was sie mit BIM erreichen möchten. Bei Spital­projekten in Kalifornien ist das Modellieren bis zur letzten Schraube unter anderem ein Grund dafür, den Genehmigungsprozess zu beschleunigen – weil der Ort, an dem die Schraube gesetzt wird, Einfluss auf die Erdbebensicherheit der abgehängten Decke hat. Dafür existiert dort eine Norm. Solange wir das in der Schweiz nicht haben, definieren wir selbst, wie detailliert modelliert werden soll – und folglich, welchen Zusatzaufwand wir generieren. Wir sehen das heute als eine Phase des Lernens an, die wir selbst steuern können.
R. M.: Wir haben bei uns jetzt einen BIM-Master angestellt. Die Chance, dass er vom ­Kunden separat vergütet wird, ist bei null. Man muss diverse Abmachungen treffen und überlegen, wer wann welche Information braucht, damit es für alle ein bisschen einfacher geht. Man bekommt nicht mehr Zeit dank BIM.
M. G.: Es besteht die Gefahr, dass die Bauherrschaft schon im Wettbewerb zu viel erwartet. Manchmal wird zum Beispiel gefordert, dass der behördliche Brandschutznachweis erbracht ist. Dafür muss man bereits im Wettbewerb wissen, welches Gerät eingesetzt wird und wo. Ein grosser Schweizer TU hat mir gesagt, dass bei ihm kein Wettbewerbsentwurf ohne ­Energienachweis angenommen wird. BIM kann das zwar, aber das bedeutet auch, dass der Aufwand im Wettbewerb quasi beliebig gross werden kann. Wird am Ende doch nicht gebaut, sieht es mit der Honorierung des bereits erbrachten Zusatzaufwands schlecht aus.

TEC21: Die dritte These lautet: Die Kommunikation über BIM zu organisieren passt nicht zu den gewohnten Abläufen in der Schweizer Baubranche mit ihren speziellen Bewilligungs- verfahren.
M. G.: Das ist momentan noch richtig. Die positiven Beispiele für BIM-Projekte kommen derzeit noch aus den USA und Skandinavien, aber dort sind ganz andere Vertragsformen üblich. Der SIA plant ein Arbeitspapier, das hierzulande übliche Zusammenarbeitsmodelle auflistet. Mit dieser Basis kann man nachdenken, wie BIM bei uns Erfolg haben könnte.
R. M.: Für die hiesigen Bauherren ist klar: Das wird heute noch angepasst, auch wenn ich morgen einziehe. Aber wenn du einer Ziegelei sagen kannst, dass du in 18 Monaten baust, bekommst du einen guten Preis. Das ist auch für den Kunden interessant. Nur: Die Gefahr von unzähligen Varianten und Änderungen verschiebt sich mit BIM nach vorn.
M. G.: Da machen unsere Gepflogenheiten ein Problem von BIM deutlich: Bei der Arbeit mit dem Modell muss man Änderungen direkt dort nachführen, bei der Arbeit mit Papier­plänen geht das recht unkompliziert mit Rotstift.

TEC21: These vier lautet: BIM behindert im Entwurf, weil die Software zu früh zu viele Informationen verlangt.
M. G.: Die frühe Phase, in der man entwickelt, dürfen wir nicht verlieren. Ein gutes BIM-Programm sollte zulassen, dass ich summarisch anfange und dann ins Detail gehe.
A. D.: Wenn im Wettbewerb verlangt würde, dass man ein Projekt schon in diesem Stadium mit 3-D komplett durchgeplant haben muss, dann wird das für uns zu einem Problem. Aber wenn es nur darum geht, Elemente als 3-D abzuliefern, die ohnehin zu einem Wettbewerbsprogramm gehören, dann geht das schon. Das Problem liegt eher darin, dass man sich anders organisieren muss, wenn man mit BIM statt mit 2-D arbeitet. Aber wir arbeiten in einem ersten Stadium noch immer auch mit Handskizzen.
R. M.: Beim Neubau sehe ich weniger Probleme. BIM ist nur so gut wie die Grundlage. Im Umbau müssen wir bei der Genauigkeit zulegen. Ist der Bestand so gut aufgenommen, dass das Modell funktioniert?

TEC21: These 5: Schweizer Bauherrschaften haben, anders als in Skandinavien oder den USA, kein Interesse an BIM.

J. W.: Wir sind eine träge Branche! Wenn der Bauherr nicht bestellt, passiert nichts. Aber vielleicht kommt jetzt die Wende, wenn selbst Stararchitekten per Stellenanzeige einen BIM-Koordinator suchen. In anderen Ländern verlangt der Gesetzgeber nach der Planung mit BIM. Unsere KBOB für öffentliche Bauten äussert sich vorläufig noch nicht dazu.
M. G.: Die Energiedirektoren könnten Treiber sein, wenn sie beschliessen, dass gewisse Nachweise bereits frühzeitig erbracht werden müssen.
R. M.: Der Druck auf die Branche wird kommen, wenn es sich herumspricht, dass man ein digitales Modell bestellen kann – oder wenn die Facility-Management-Branche darauf drängt. Aber seien wir ehrlich: Die Baubranche könnte diesem Druck auch zuvorkommen.

TEC21: Die letzte These: Vielerorts wird behauptet, die Technologie sei nicht ausgereift.

J. W.: Die Software ist sehr kompliziert. Wir brauchen eine Aus- und Weiterbildung. Die Ausbildung machen zurzeit aber hauptsächlich die Softwarelieferanten.
R. M.: Die Software selbst ist nicht das Problem, sondern ihre Anwendung. Und ich ­merke: Die Jungen in unserer Firma wollen BIM. Unser BIM-Master kommt aus der Software­industrie. Er ist damit beschäftigt, Informationen so zu übersetzen, dass wir sie darstellen können.
A. D.: Ich glaube, die Technologie ist nicht die grosse Frage. Es geht vielmehr darum, wie diese Methode unsere Abläufe neu organisiert. Wie kontrolliere ich das Modell? Und wie findet der Austausch statt? Schicke ich Formate wie pdf und dwg, dann weiss der andere, was er erwarten kann. Aber wenn ich ein Modell schicke? Wie bekommen wir welche Informationen wohin, und wie bekommen wir sie wieder raus? Wir können nicht so weiterarbeiten wie die letzten 20 Jahre, aber die jeweilige spezifische Software der einzelnen Disziplinen muss weiterhin einsetzbar bleiben. Sonst würde BIM eine massive Einschränkung bedeuten. Aber der Zwang zu einer intensiveren Zusammenarbeit und das grössere Vertrauen, das vorausgesetzt wird, könnten noch ein Hindernisgrund für den Einsatz von BIM sein. Denn ich muss meine Daten nicht nur abschicken, sondern mich auch dafür interessieren, wie sie angekommen sind. Kurz: Ich muss die Motivation haben, mich mit dem Blick der anderen Fachplaner darauf einzulassen.
M. G.: Aus meiner Sicht geht die Entwicklung dahin, dass weiterhin mit dem weichen Bleistift entworfen und die Dinge anschliessend im virtuellen Arbeitsraum fixiert werden. An dieser Stelle muss ein Umdenken stattfinden: Das BIM-Modell ist ab einem gewissen Zeitpunkt fix und kann nicht auf der Baustelle wieder verworfen werden. Ich sehe das virtuelle Modell als Zwischenstufe zwischen Handskizze und fertigem Bauwerk. Der Zusatzaufwand, der dafür entsteht, muss sich wieder einspielen, weil die Endphase reibungsloser und fehlerfreier stattfinden kann.

TEC21, Fr., 2013.11.01



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2013|45 Schafft Bim Ordnung?

«Der Alte Albulatunnel bleibt Teil des Systems»

Der rund sechs Kilometer lange Einspurtunnel zwischen Preda und Spinas auf der Albulalinie genügt den heutigen Anforderungen an Bahntechnik und Sicherheit nicht mehr. Ab 2014 soll ein neuer Albulatunnel gebaut, der bestehende ab 2021 als Sicherheitstunnel genutzt werden. Eine nachvollziehbare Entscheidung, die aber auch Wehmut auslöst. TEC21 hat sich mit Projektbeteiligten über Gestaltung, Erhalt und Neubau der Anlage unterhalten.

Der rund sechs Kilometer lange Einspurtunnel zwischen Preda und Spinas auf der Albulalinie genügt den heutigen Anforderungen an Bahntechnik und Sicherheit nicht mehr. Ab 2014 soll ein neuer Albulatunnel gebaut, der bestehende ab 2021 als Sicherheitstunnel genutzt werden. Eine nachvollziehbare Entscheidung, die aber auch Wehmut auslöst. TEC21 hat sich mit Projektbeteiligten über Gestaltung, Erhalt und Neubau der Anlage unterhalten.

TEC21: Der Bau eines neuen Albulatunnels ist beschlossen, das Genehmigungsverfahren läuft, der Baubeginn ist für 2014 geplant. Ist noch mit relevanten Einsprachen zu rechen?
Christian Florin (C. F.): Wir haben früh den Dialog mit Vertretern der Denkmalpflege, der Raumplanung und verschiedener Umweltverbände gesucht, um Überraschungen während des Verfahrens zu vermeiden. Wir rechnen zwar mit Auflagen, aber nicht mit einem No-Go. Nach intensiven Diskussionen unterstützt nun auch das Bundesamt für Kultur (BAK) den Neubau. In einem Gutachten der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege (EKD) vom Dezember 2010 im Auftrag des BAK bevorzugten die Autoren die Instandsetzung des bestehenden Albulatunnels. Wir haben diese Variante geprüft, uns dann aber mit Zustimmung der Denkmalpflege für den Neubau entschieden.

TEC21: Was passiert mit dem alten Tunnel?
Werner Kradolfer (W. K.): Der alte Tunnel ist als Sicherheitstunnel Bestandteil des Systems. Er wird nicht zu einem Denkmal ohne Nutzen.
Paul Loser (P. L.): Auch Unterhaltsarbeiten lassen sich so besser planen und leichter erledigen.
Jürg Conzett (J. C.): Das Positive am Entscheid, einen neuen Tunnel zu bauen, ist, dass der alte als Ganzes erhalten bleibt. Nun muss man sorgfältig mit ihm umgehen. Es leuchtet ein, dass ein Neubau der Instandsetzung unter Betrieb vorgezogen wird. Zu wissen, dass es hier einen Tunnel gibt, der die Bautechnik um 1900 dokumentiert, das ist doch etwas Wertvolles. Wichtig sind die Fragen: Wie erhält man den alten Tunnel? Was passiert nachher dort drin? Wie werden die Portalbereiche gestaltet?

TEC21: Was sagt die Bündner Denkmalpflege dazu?
Johannes Florin (J. F.): Der Albulatunnel ist ein wesentlicher Teil des Unesco-Welterbes. Die Welterbekandidatur lief 2008 parallel zu den Anfängen der Projektierung. Schon damals stand fest, dass der Tunnel an die heutigen Anforderungen angepasst werden muss. Die Befürchtung, ihn nicht anrühren zu dürfen, lag in der Luft. Deshalb gab es von Anfang an eine intensive Zusammenarbeit mit der EKD. Was bedeutet eine Baumassnahme für die Kandidatur? Geht es um die Bausubstanz? Muss der Tunnel seine Funktion behalten? Die EKD schlug eine Variante vor, bei der der alte Tunnel die Funktion behält und ein neuer Fluchtstollen gebaut wird, also die alte Linie mit neuer Bahntechnik weiter besteht.

TEC21: Das heisst, die Rhätische Bahn (RhB) gewichtete andere Argumente höher als den Betriebserhalt des bestehenden Tunnels?
P. L.: Die bautechnische Beurteilung inklusive Kosten, die Sicherheit und die Nachhaltigkeit des Bauvorhabens wurden mit unabhängigen Sachverständigen diskutiert. Bei der Sicherheit haben wir schnell gesehen, dass ein Neubau in Kombination mit dem bestehenden Tunnel einen Sicherheitsstandard bietet, der die Anforderungen heute und künftig erfüllt und mit dem die Fahrgäste im Ereignisfall durch den zusätzlichen Fluchttunnel eine faire Überlebenschance haben. Demgegenüber wurde das Sicherheitsniveau der Variante «Instandsetzung» als sehr schlecht beurteilt. Hinsichtlich der Rettung von Passagieren aus dem Tunnel bei Brand würde das Sicherheitsniveau dem vor 110 Jahren entsprechen. Der Neubau hat dagegen ein hohes Sicherheitsniveau. Brandszenarien bei Zügen beziehungsweise Lokomotiven kommen zwar selten vor, aber heute werden alle modernen Bahnsysteme auf diese Szenarien ausgerichtet. Aufgrund des höheren Sicherheitsniveaus und trotz der höheren Kosten hat sich die RhB für für die Variante «Instandsetzung» entschieden.

TEC21: Wie stark unterscheiden sich die Kosten für die Instandsetzung und den Neubau?
P. L.: Wir haben einen Preisunterschied von 10 bis 15 % ermittelt. Für das vorliegende Neubauprojekt inklusive Umbauten an den Bahnhöfen Preda und Spinas rechnen wir mit rund 345 Millionen Franken.

TEC21: Diese Differenz ist erstaunlich klein. Heisst das, der Neubau fällt günstig aus?
P. L.: Nein, eine Instandsetzung unter Betrieb ist sehr aufwendig und teuer. Wir hätten neue elektro- und bahntechnische Anlagen einbauen, die Sohle absenken und instand setzen, einzelne Gewölbeabschnitte ersetzen und die Gleise neu verlegen müssen.
C. F.: Die Lebenszykluskosten zeigen vor allem, dass sich der Neubau langfristig auszahlt. Bei den Sicherheitsüberlegungen spielt auch die Sicherheit während des Baus eine entscheidende Rolle. Ausserdem bedeutet Bauen unter Betrieb in einem Einspurtunnel nur rund fünf Stunden produktive Arbeit pro Nacht – das bedeutet fast zehn Jahre Bauzeit.
P. L.: Wir haben bei Instandsetzungen unter Betrieb auch schon schlechte Erfahrungen gemacht. Beim Tasnatunnel im Unterengadin kam es zu einem Tagbruch. Die Linie musste neun Monate stillgelegt werden. Das Risiko, für sieben bis acht Jahre am Albulatunnel keinen sicheren Betrieb zu haben, floss in die Güterabwägung ein.

TEC21: Oft ist die Vorgeschichte interessant. Gab es weitere Projektideen?
C. F.: Eine Idee war, einen neuen Fluchttunnel zu bauen und den alten Bahntunnel instand zu setzen. Aber der wäre danach nicht mehr der alte, denn das heutige Lichtraumprofil reicht nicht aus. Gewisse Güterzüge könnten die Strecke nicht mehr befahren. Auf diese Wertschöpfung sind wir aber angewiesen.
P. L.: Wir haben diskutiert, ob der neue Tunnel rechts oder links vom heutigen Tunnel liegen soll und wie die Einführung in den Berg aussehen könnte. Die aktuelle Lösung ist technisch ausgereift und überzeugt gestalterisch auch aus Sicht der Denkmalpflege.
J. F.: Abschliessend muss die Unesco-Kommission in Paris beurteilen, ob dieser Eingriff in das Streckendenkmal den Welterbestatus in Frage stellt. Die Gefahr gilt aber als gering. Die Diskussion zeigte vor allem, dass sich die denkmalpflegerischen Aspekte nicht nur auf den Tunnel beziehen, sondern auf die gesamte Strecke.
P. L.: Eine Eisenbahn muss sich verändern und weiterentwickeln können, das ist ein Wert einer kulturellen Anlage. Bei der Eingabe des Unesco-Dossiers hat die RhB darauf hingewiesen, dass ein Neubau im Rahmen des Weltkulturerbes möglich sein müsse.

TEC21: Wie sieht der Innenausbau des Sicherheitsstollens aus?
W. K.: Die Gleise werden entfernt und durch eine befahrbare Piste ersetzt. Seitlich bleibt ein Schotterstreifen für die Entwässerung erhalten. Das gemauerte Gewölbe bleibt so weit wie möglich unangetastet. Wo es nötig ist, werden wir es ersetzen, sodass der Tunnel während der kommenden 50 Jahre benutzt werden kann. Problematisch ist nicht das vorhandene Mauerwerk, sondern die Sanierungsmassnahmen der letzten 40 bis 50 Jahre.
P. L.: Damit der Fluchtweg im Ereignisfall unter Überdruck gesetzt werden kann, werden im Abstand von 200 m vom Portal auf der Seite Preda und 400 m ab Portal auf der Seite Spinas zwei Lüftungszentralen mit je einem Ventilator und einer Durchgangsschleuse angeordnet. Wir haben viele Schäden an unseren Bauten durch eindringendes Wasser oder Frost, durch die Schleusen verbessern sich die klimatischen Verhältnisse im Tunnel. Heute friert er von beiden Seiten rund zwei Kilometer ein. Das zehrt an der Substanz.
W. K.: Zwei Kavernen und zwölf Querverbindungen im Abstand von 425 m, 435 m bzw. 460 m werden an geologisch günstigen Stellen gebaut. Der Bau der Kavernen bedingt Eingriffe in die bestehende Bausubstanz auf 20 bis 25 m. Der grosse Teil des Albulatunnels bleibt aber erhalten – unverkleidet bleibt der nackte Fels weiterhin sichtbar. Als Bahntunnel hätte der bestehende Tunnel vollständig neu ausgekleidet werden müssen. Als Sicherheitstunnel sind die Anforderungen nicht mehr ganz so hoch. Durch seine Funktion wird er weiterhin unterhalten, ohne eine Funktion würde er mit der Zeit Schaden nehmen.

TEC21: Herr Conzett, Sie haben die Vorstudie für die Gestaltung der Portalbereiche erarbeitet, die dem Wettbewerb als eine Art Testplanung diente. Was war das Ergebnis?
J. C.: Das Ziel war, die Gleisgeometrie der Röhren so zu legen, dass man keine Sachzwänge produziert, die man später bereut. Wichtig war die Anordnung der neuen Portale. Rückblickend hätten wir mehr diskutieren können. Ich habe bei einigen Punkten nur angemerkt, dass wir darüber reden sollten – zum Beispiel, dass die eine Röhre ein Gleis hat und die andere nicht. Wie wirkt ein Tunnelloch ohne ein Gleis? Wie geht man mit diesem schwarzen Loch um? Heute bedauere ich, dass wir das nicht detaillierter betrachtet haben.
C. F.: Viele Abhängigkeiten sehen wir erst heute. Jürg Conzett hatte einen klaren Auftrag, und wir mussten mit einem Modell oder einer Visualisierung zeigen, was die Doppelportale bedeuten. Heute schauen wir es mit einer gewissen Distanz an.
P. L.: Distanz ist ein gutes Stichwort. Es dauert noch, bis die Arbeiten 2021 am Sicherheitstunnel beginnen, und wir haben ausreichend Zeit, die Gestaltungsplanung zu reflektieren.
C. F.: Ideen für eine Nutzung werden viele an uns herangetragen, ob als wintersichere Autoverbindung oder als Schleichweg, z. B. für Jäger. Als Sicherheitstunnel kann er nicht für jedermann offen sein, denn durch die Querschläge gelangt man direkt auf das Streckengleis.
J. C.: Öffentliche Führungen durch den Tunnel bei besonderen Anlässen, im Zusammenhang mit Aktivitäten des Bahnmuseums Bergün, erscheinen mir im Interesse einer Vermittlung sonst unzugänglicher Ingenieurleistungen sinnvoll.
W. K.: Man darf die Attraktivität aber auch nicht überschätzen. Wer nicht bautechnisch versiert ist und interpretieren kann, was warum und wie gebaut wurde, schaut auf ein Loch, das über den Grossteil der Strecke gleich aussieht. Ausserdem existieren solche schwarzen Löcher auch anderswo und stören dort nicht. Beim Simplon- oder Gotthardtunnel zum Beispiel sind die früheren Eingänge der Richtstollen noch als schwarze Löcher zu sehen. Sie haben heute auch eine andere Funktion. Unbefriedigend an der Situation am Albula ist, dass die neue Nutzung des alten Tunnels künftig nicht ersichtlich ist. Das ist eine herausfordernde Aufgabe für die Arbeitsgruppe Gestaltung.

TEC21: Die zwei Tunnelportale sind technisch eine Symbiose und gestalterisch ein Zwilling. Ist das ein konzeptionelles Problem?
J. F.: Ja, in Preda beispielsweise führen die Gleise direkt auf das alte Portal zu, biegen dann leicht links in den nach hinten versetzten neuen Tunnel ab, das vordere Portal ist leer. Eine Lösung könnte sein, dieses mit zwei Holztoren analog der heutigen Schneetore zu schliessen. Zwar wäre dies gestalterisch umsetzbar, doch bisher funktioniert das mit der Lüftung nicht. Die Überlegungen, wie wir mit der Symbolik umgehen, müssen noch reifen.
J. C.: Mich fasziniert der Zusammenhang Station, Tunnel, Berg. Wenn man von Preda zum Tunnel schaut, sieht man dahinter in einer Linie den Berg, auf dem seinerzeit das Vermessungssignal stand. Das zeigt, wie die Menschen im 19. Jahrhundert gebaut haben: Sie mussten gerade durch den Berg. Erstens, weil so vermessen wurde, und zweitens, weil man die Geologie nicht differenziert genug kannte. Das ist etwas, was jeder begreift. Eine klare Aufgabe, die im Einzelnen unendlich schwierig war. Diese Bauten hatten und haben eine überwältigende Einfachheit und Grösse. Diese Einfachheit kann nicht erhalten bleiben. Das ist ein Verlust. Chancen sind aber vorhanden und müssen berücksichtigt werden, wie bei den Mauerwerksviadukten auf der Albulastrecke, die sehr wohl instand gesetzt werden können. Dort haben wir das Glück, dass die Bausubstanz, die man auch aus kulturellen Gründen erhalten möchte, genügend Möglichkeiten bietet. Beim Tunnel ist die Problematik allerdings eine andere und vergleichbar mit dem Farbtobelviadukt in Peist, der die gestellten Anforderungen nicht mehr erfüllen konnte. Dort entschied sich die RhB, eine neue Brücke neben der alten zu bauen. Die historische Natursteinbrücke bleibt als Denkmal erhalten.

TEC21: Hat man sich Gedanken gemacht, das historische Ensemble zu umfahren, um seine Substanz zu konservieren?
C. F.: Ich wehre mich dagegen, eine Museumsbahn zu werden. Das bestehende Ensemble soll genutzt und unterhalten und damit erhalten bleiben. Mit der gewählten Lösung können wir die Gebäude am besten nutzen. Teilweise werden sie verschoben und nach Bauende wieder zurückgeschoben oder anders positioniert.
P. L.: Das Bauprojekt geht von Einfahrweiche bis Einfahrweiche. Die Bahnhöfe Preda und Spinas sind Teil des Projekts und Gesamtbilds. Es gibt einen Masterplan zum Umgang mit dem bauhistorischen Inventar. Inventarisiert sind die Gebäude der Gründerzeit und beim Bahnbau hinterlassene Spuren im Gelände. Die prägenden Aufnahmegebäude können am heutigen Standort belassen werden, andere Objekte werden an einem neuen Standort ins Gesamtbild eingefügt. Von weniger prägenden Strukturen wird man sich aufgrund der Bautätigkeit trennen müssen.
J. F.: Das ist das Spezielle am Albula: In den Vorbereichen in Spinas und Preda sieht man links und rechts der Gleise noch die Baustelleninstallation und die Gebäude von 1903. Sogar die Fundamente einiger Holzbaracken, die Trasseen der Materialbahnen und die Vermessungsinstallationen sind noch erkennbar. Dieses Umfeld zu verlassen wäre ein Verlust. Und es wäre ein Verlust, dies mit einer Neubauinstallation zu zerstören. Erstaunlich ist, dass selbst die geplante neue Baustelleninstallation ähnlich aussieht wie vor hundert Jahren und nicht mehr Platz beanspruchen wird als dazumal. Die Gebäude in den Vorbereichen können deshalb weitgehend erhalten werden. Wir haben die Chance, etwas zu verbessern und für heute ungenutzte Gebäude eine Lösung zu finden, sie erlebbar zu machen und wieder besser einzubinden.
C. F.: Man muss tatsächlich auch das Positive sehen: Wir können zum Beispiel den Schneefang über dem alten Portal bei Preda abhängen und ihm damit seinen ursprünglichen Charakter zurückzugeben.

TEC21: Der Albulatunnel ist der längste auf der Strecke, aber nicht der einzige. Und bestimmt auch nicht der einzige, der instand gesetzt werden muss. Ist die Entscheidung, die für den Albulatunnel gefällt wurde, beispielhaft für die anderen Tunnel auf der Linie?
P. L.: Die RhB arbeitet zurzeit an einer Normalbauweise, um alle Tunnel nach einem Standard instand setzen zu können. Aus Sicherheits- und Bahntechnikgründen müssen die Lichtraumprofile vergrössert werden, das heisst bestehendes Mauerwerk abgebrochen und erweitert werden. Aber in den Portalbereichen zeigt sich die Situation immer wieder anders.
J. C.: Ein Beispiel ist der Argenteritunnel bei St. Moritz. Er schliesst direkt an eine Brücke an, die Tunnelsohle kann nicht weiter abgesenkt werden, da sonst die Höhenkoten von Tunnelsohle und Brückenfahrbahn nicht mehr übereinstimmen. Ausserdem sind die Portale ein Merkmal einer Bahnlinie, und wir möchten die Proportionen erhalten. Deshalb wird in einem solchen Fall das Portal proportional vergrössert und wieder aufgemauert.
J. F.: Der damalige Baumeister hatte sein Material für die ganze Strecke aus einem einzigen Steinbruch und mauerte alle Portale wie die übrigen Kunstbauten in der gleichen Art auf. Bei dieser schönen Materialeinheit auf der ganzen Albulalinie und dem Aufwand, den wir bei den Instandsetzungsarbeiten der Brücken betreiben, dürfen wir nicht beliebig gegen den Kanon der Strecke verstossen: Deren Material ist der Stein. Die Diskussionen in der Jury haben uns immer wieder an diesen Punkt zurückgeführt.
C. F.: Die Diskussion betrifft nicht nur den Albulatunnel. Der Handlungsbedarf bei den Kunstbauten auf der gesamten Linie ist gross. Wir haben eine Pionierleistung geerbt. 100 Jahre lang haben wir davon profitiert. Jetzt suchen wir Methoden zur Instandsetzung, die den Spagat zwischen Sicherheit, Baudenkmal, Wirtschaftlichkeit und betrieblichen Möglichkeiten schaffen.

TEC21, Fr., 2013.04.26



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2013|18 Albulatunnel

01. März 2013Daniela Dietsche
TEC21

«Keine Strasse ist beliebt»

Zwischen den deutschen Grenzstädten Lörrach und Weil am Rhein gab es keine direkte Verbindung, doch schon seit 160 Jahren existiert die Idee zu einer solchen Strasse. 2006 wurde mit dem Bau der «Zollfreien Strasse» über Schweizer Gebiet begonnen. Nun steht das rund 750 m lange Teilstück der deutschen Bundesstrasse 317 vor der Eröffnung. Das Gespräch mit Bernd Murgul vom Regierungspräsidium Freiburg als Vertreter der Bauherrschaft und Dr. Rodolfo Lardi, dem Stellvertretenden Leiter des Tiefbauamts Basel-Stadt, thematisiert die Besonderheiten dieser grenzüberschreitenden Zusammenarbeit.

Zwischen den deutschen Grenzstädten Lörrach und Weil am Rhein gab es keine direkte Verbindung, doch schon seit 160 Jahren existiert die Idee zu einer solchen Strasse. 2006 wurde mit dem Bau der «Zollfreien Strasse» über Schweizer Gebiet begonnen. Nun steht das rund 750 m lange Teilstück der deutschen Bundesstrasse 317 vor der Eröffnung. Das Gespräch mit Bernd Murgul vom Regierungspräsidium Freiburg als Vertreter der Bauherrschaft und Dr. Rodolfo Lardi, dem Stellvertretenden Leiter des Tiefbauamts Basel-Stadt, thematisiert die Besonderheiten dieser grenzüberschreitenden Zusammenarbeit.

Die Städte Lörrach und Weil am Rhein liegen im Dreiländereck Deutschland–Frankreich–Schweiz und leiden erheblich unter dem Durchgangsverkehr. Zwischen den beiden Städten existiert heute nur eine grossräumige Verbindung über die deutsche A98 und A5. Viele motorisierte Verkehrsteilnehmer weichen deshalb auf die untergeordneten Strassenverbindungen durch das Dorf Tüllingen und über Schweizer Gebiet durch die Gemeinde Riehen aus, was vor allem während der Spitzenstunden am Morgen und Abend auch die Zollstellen stark belastet und zu Staus führt. Durch die neue Verbindungsstrasse sollen die Ortszentren von Lörrach, Weil am Rhein, Tüllingen und Riehen vom Pendlerverkehr entlastet und aufgewertet werden. Der gesamte motorisierte Durchgangsverkehr kann die Strasse benutzen. Grenzabfertigungen sind nicht notwendig, beförderte Ware muss nicht verzollt werden. Ein Zutritt zur Strasse auf Schweizer Seite ist nicht möglich.

TEC21: Die Zollfreie Strasse ist ein grenzüberschreitender Infrastrukturbau, wie es viele gibt. Was ist das Besondere daran?
Rodolfo Lardi (R.L.): Bei anderen grenzüberschreitenden Projekten bauen die Schweiz und zum Beispiel Deutschland nach ihren Vorschriften jeweils bis zur Grenze. Da müssen wir nur aufpassen, dass wir uns in Höhe und Lage treffen – man denke nur an den Höhenunterschied zwischen den Widerlagern beim Bau der Hochrheinbrücke bei Laufenburg. Bei der Zollfreien Strasse hatte der Kanton Basel-Stadt die Aufgabe, das Land zu enteignen und der Bundesrepublik zur Verfügung zu stellen. Deutschland baut also auf Schweizer Hoheitsgebiet.

TEC21: Wie ist das möglich?
R.L.: 1852 wurde zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und dem Grossherzogtum Baden ein Staatsvertrag zur Weiterführung der badischen Eisenbahn über schweizerisches Gebiet geschlossen. Basel wollte erreichen, dass die Eisenbahn in die Stadt fährt. Bernd Murgul (B.M.): Im Gegenzug erhielt die grossherzogliche badische Regierung mit Artikel 34 dieses Vertrags das Recht, die Stadt Lörrach und das Wiesental mit Weil mit einer Strasse über schweizerisches Gebiet zu verbinden.

TEC21: Und dann ist sehr lang nichts geschehen. Warum wurde die Idee ausgerechnet 1977 wieder aufgegriffen?
R.L.: Das ist in Verbindung mit dem Nationalstrassenbau zu sehen. Beim Zusammenschluss der schweizerischen A2 mit der deutschen A5 diskutierten die Beteiligten über den Standort des Zollgebäudes. Es kam schliesslich vollständig auf deutschem Gebiet zu stehen. Als Ausgleich sollte nun aber die Zollfreie Strasse gebaut werden. Am 25. April 1977 haben die Bundesrepublik Deutschland und die Schweizerische Eidgenossenschaft einen aktualisierten Vertrag abgeschlossen.
B.M.: Auf deutscher Seite begannen die Planungen und auf der schweizerischen die Enteignungen. Zwischen 1989 und 1999 wurde der Anschluss auf der Weiler Seite gebaut. Die Finanzierung verzögerte das Vorhaben. Es gab am Hochrhein eben Vorhaben mit höherer Priorität.

TEC21: Die Enteignungen führten ebenfalls zu Projektverzögerungen. Entschied man sich für einen Tunnel, um den Grundstückseigentümern entgegenzukommen?
B.M.: Der Bau eines Tunnels stand schon 1977 fest. Da das Terrain darüber genutzt werden kann, wird die Schweiz so wenig wie möglich belastet.
R.L.: Land vollständig zu enteignen ist immer teurer, als ein Durchleitungsrecht zu erwirken. Wir wollten natürlich auch einen alten Fehler nicht wiederholen: Die Schweiz hat Mitte des 19. Jahrhunderts der Badischen Bahn das Land für einen Rangierbahnhof zur Verfügung gestellt. Damals hat man nicht daran gedacht, dass die Bahn in 150 Jahren das Areal für den Betrieb des Güterbahnhofs nicht mehr brauchen würde. Um 2005 hat die Bahn nach einer Zwischennutzung das in Basel-Stadt liegende Areal Erlenmatt, das sie von der Schweiz bekommen hat, an private Projektentwickler verkauft. Die Zollfreie Strasse wird nach ihrer Fertigstellung Eigentum des Kantons Basel-Stadt, allerdings ohne die Ausstattung. Die bleibt Eigentum der Bundesrepublik. Damit verhindern wir, dass Deutschland das Land verkaufen kann, sollte die Strasse nicht mehr benötigt werden.

TEC21: Anfang 2004 war die Zollfreie Strasse durch Proteste der Bevölkerung in den Schlagzeilen.
R.L.: Im Januar sollten Bäume für den Bau der Wiesenbrücke gefällt werden, der war für Sommer 2004 geplant. Doch die Bevölkerung hat protestiert, das Gelände besetzt und sich an die Bäume gekettet. Einerseits wegen der bevorstehenden Rodung, andererseits, weil die Idee der Strasse aus ihrer Sicht überholt war. Die Strasse war nicht beliebt, keine Strasse ist beliebt. Bei einem Infrastrukturprojekt gibt es viele Einsprachen, und die Planung war zu dieser Zeit 30 Jahre alt. Bei Staatsverträgen passiert immer das Gleiche: Bis alle Hürden überwunden sind, sind die Verträge nicht mehr à jour.

TEC21: Wie konnte man sich einigen?
R.L.: Die gemischte deutsch-schweizerische Kommission[1], eingesetzt vom Schweizer Bundesrat und der deutschen Bundesregierung, analysierte die Standpunkte beider Parteien. Die Schweiz wollte die Strasse in der geplanten Form nicht. Für sie stellte sich die Frage, ob sie den verkehrspolitischen Bedürfnissen noch entspreche. Deutschland hielt an der Erfüllung des Staatsvertrags fest und war überzeugt, dass die Lösung städtebaulich und verkehrstechnisch die beste Variante sei, um Weil am Rhein, Lörrach und Riehen zu entlasten. Die Kommission empfahl im April 2004, auf Neuverhandlungen zu verzichten und die Strasse zu bauen.
B.M.: Die Linienführung mit den Grenzpunkten wurde im Staatsvertrag von 1977 festgelegt, sodass schon kleinste Anpassungen eine Änderung des Staatsvertrags bedeutet hätten. Auch aktuelle Verkehrsgutachten bestätigen, dass sich der Verkehr durch Riehen und am Tüllinger Berg stark vermindern wird. Aber die Einstellung zum Umweltschutz hat sich zwischen 1977 und 2004 gravierend geändert, und es ist unbestritten, dass das Projekt in eine sensible Landschaft eingreift. Also hat man zusätzlich die Umsetzung ökologischer Ausgleichsmassnahmen, zum Beispiel entlang der Wiese, vereinbart.
R.L.: Die Ingenieure erstellten einen detaillierten Gestaltungs- und Bepflanzungsplan, um eine möglichst gute Einbindung der Zollfreien Strasse in das Umfeld zu erreichen. Die Bundesrepublik stellt eine Million Franken zur Verfügung, um im Nachgang zusätzliche Massnahmen für den Umweltschutz umzusetzen. Nachdem das Projekt in der Schweiz den vollen Rechtsweg gegangen war, wurden im Januar 2006 die Bäume gefällt und Mitte 2006 mit dem Bau der Wiesebrücke begonnen.

TEC21: Nach schweizerischen oder deutschen Vorschriften?
B.M.: Kernbedingung des Projekts ist, dass Deutschland in der Schweiz baut, das heisst, das deutsche Bauvertragsrecht gilt. Die Arbeiten wurden EU- und schweizweit ausgeschrieben. Gebaut wurde nach den deutschen Bauvorschriften, es sei denn, es galten in der Schweiz schärfere Bedingungen – dies ist insbesondere im Umweltbereich der Fall –, dann wurden diese als Basis genommen. Im Vertrag geregelt ist auch, dass deutsche Materialien ohne Zollmodalitäten in der Schweiz für die Zollfreie verbaut werden können.

TEC21: Können Sie etwas zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit sagen?
R.L.: Die Schweiz und Deutschland sind föderale Staaten, beide mit gewachsenen Strukturen. Auf der Ebene Regierungspräsidium Freiburg und Tiefbauamt Basel-Stadt arbeiteten wir gut zusammen. Zum Beispiel sollte der Tunnelausbruch nicht durch Riehen transportiert werden, deshalb haben die Deutschen zuerst die Brücke gebaut und das Material über die bestehende Strasse rückwärts gezogen.
B.M.: Wir kennen uns und arbeiten auch in anderen Projekten zusammen. Aber für eine Bewilligung muss das Dossier entweder nach Stuttgart und Bonn oder nach Bern geschickt werden. Das gilt auch, wenn es um scheinbar kleine Massnahmen geht wie das Pflanzen von einigen zusätzlichen Bäumen. Diese Distanz dient zwar auch der Kontrolle, aber der Dienstweg ist schon sehr lang.

TEC21: Wie ist der Zugang generell geregelt?
B.M.: Die Strasse wird – auch heute noch – eingezäunt, und es gilt ein Betretungsverbot. Nur im Notfall darf davon abgewichen werden. Bei Unfall, Brand oder anderen aussergewöhnlichen Vorfällen gibt es eine Möglichkeit, von Schweizer Terrain auf die Zollfreie zu kommen. Die deutsche Polizei hat die Polizeihoheit. Die Schweizer Polizei hat das Recht, jederzeit einzugreifen, wenn Verfehlungen zu befürchten sind, die sich auf die Schweiz auswirken könnten. Bei einem Brand oder Unfall entscheidet die Leitstelle in Lörrach, wer aufgeboten wird. Der Beitritt der Schweiz zum Schengen-Raum hat in dieser Hinsicht vieles vereinfacht.

TEC21: Der Eröffnungstermin wurde immer wieder verschoben. Wann wird das erste Auto die Städteverbindung nutzen können?
R.L.: Der Kanton Basel-Stadt geht davon aus, dass das Schweizer Teilstück im Frühjahr 2013 fertig ist und die Strasse eröffnet wird. Falls das nicht so ist, bittet die Schweiz die deutsche Seite um schriftliche Mitteilung.

TEC21: Was könnte den Eröffnungstermin noch gefährden?
R.L.: Über die Forderung der Stadt Lörrach nach einem Kreisverkehr an der Anschlussstelle hat man lang diskutiert. Ich kann nicht nachvollziehen, dass die Forderung erst kurz vor Projektabschluss auf den Tisch kam, obwohl die Ausgestaltung der Strasse schon lang bewilligt ist. Die Stadt Lörrach wusste, dass das Regierungspräsidium Freiburg als Vertreter der Bundesrepublik Deutschland von der Schweiz mit dem Eröffnungstermin unter Druck gesetzt wird.

B.M.: Wir bemühen uns natürlich, den Termin zu halten. Seit Mitte Januar steht fest, dass ein Kreisverkehr gebaut wird, dafür muss aber die Baugenehmigung geändert werden, was mit einem nicht absehbaren Zeitaufwand verbunden ist. Die Baupiste für den Tunnel ist aber noch vorhanden, und die Strasse kann allenfalls provisorisch angeschlossen werden. Wir wollen Spannungen vermeiden, denn bisher ist alles in guter Atmosphäre gelaufen.

TEC21: Können die Planung und der Bau der Zollfreien Strasse als exemplarisch für grenzüberschreitende Arbeit gelten?
B.M.: Momentan bauen die SBB auf deutschem Grund bei Jestetten die Bahnstrecke Zürich–Schaffhausen zweigleisig aus. Das Grundsystem ist das gleiche, und die Zusammenarbeit zwischen den Ingenieuren funktioniert auch hier gut.
R.L.: Das grenzüberschreitende Bauen wird immer stärker kommen, vor allem in der Agglomeration Basel. Zurzeit bauen wir das Tram 8 nach Weil, Tram 3 wird nach Frankreich führen. Wir planen die Umnutzung des Hafengebiets mit Brückenschlägen nach Deutschland und Frankreich. Klar gibt es Reibereien, wir wollen das nicht leugnen. Bei der S-Bahn stehen wir zum Beispiel vor dem Problem der unterschiedlichen Betriebsspannungen und der unterschiedlichen Stromversorgung. Wie jedes Bauprojekt ist jedes grenzüberscheitende Projekt ein interessanter Sonderfall; man braucht viel Erfahrung und lernt aus Fehlern.


Anmerkung:
[01] Artikel 18 des Vertrags zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland über die Strasse zwischen Lörrach und Weil am Rhein auf schweizerischem Gebiet vom 25. April 1977 lautet: «Die Vertragsstaaten errichten eine gemischte deutsch-schweizerische Kommission mit den Aufgaben, Fragen zu erörten, die sich im Zusammenhang mit der Durchführung dieses Vertrags und der technischen Vereinbarung ergeben; den beiden Regierungen Empfehlungen, auch über etwaige Abänderung dieses Vertrags und der technischen Vereinbarung, zu unterbreiten und zur Beseitigung von Schwierigkeiten den zuständigen Behörden geeignete Massnahmen zu empfehlen. Die Kommission besteht aus fünf deutschen und fünf schweizerischen Mitgliedern, die sich von Sachverständigen begleiten lassen können. Die Regierung jedes Vertragsstaats bestellt ein Mitglied ihrer Delegation zu deren Vorsitzenden. Jeder Delegationsvorsitzende kann die Kommission durch Ersuchen an den Vorsitzenden der anderen Delegation zu einer Sitzung einberufen, die auf seinen Wunsch spätestens innerhalb eines Monats nach Zugang dieses Ersuchens stattfinden muss.»

TEC21, Fr., 2013.03.01



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2013|10 Zollfreie Strasse Basel

23. November 2012Daniela Dietsche
TEC21

Lebensraum für Zugereiste

Im Gleisfeld zwischen dem Zürcher Hauptbahnhof und Altstetten haben viele seltene Tiere und Pflanzen einen Lebensraum gefunden. Das Areal gilt als wertvolle Pionierfläche im Mittelland und steht unter Naturschutz. Durch neue Bauten und Gleise für die Durchmesserlinie werden jedoch Teile davon versiegelt. Mit verschiedenen Massnahmen versuchen die Projektbeteiligten zu erreichen, dass es Fauna und Flora nach den Bauarbeiten mindestens so gut geht wie zuvor. Doch der Platz wird immer knapper.

Im Gleisfeld zwischen dem Zürcher Hauptbahnhof und Altstetten haben viele seltene Tiere und Pflanzen einen Lebensraum gefunden. Das Areal gilt als wertvolle Pionierfläche im Mittelland und steht unter Naturschutz. Durch neue Bauten und Gleise für die Durchmesserlinie werden jedoch Teile davon versiegelt. Mit verschiedenen Massnahmen versuchen die Projektbeteiligten zu erreichen, dass es Fauna und Flora nach den Bauarbeiten mindestens so gut geht wie zuvor. Doch der Platz wird immer knapper.

Zwischen dem Hauptbahnhof Zürich und Altstetten können Reisende derzeit jeden Tag beobachten, wie der Brückenbau für die Durchmesserlinie voranschreitet (vgl. «Schritt für Schritt über das Gleisfeld», S. 16). Aber nicht nur auf und über den stark befahrenen Gleisen des Zürcher Vorbahnhofs herrscht reges Treiben, sondern auch auf den vielen Teilflächen zwischen den Schienen. Diese bilden kein einheitliches Biotop, sondern unterschiedliche Lebensräume mit einer erstaunlichen Artenvielfalt. Doch man muss genau hinsehen, denn eins haben die dort lebenden Tiere und Pflanzen gemeinsam: Sie sind eher unauffällig.

Wertvolle 3000 x 300 Meter für Pflanzen und Tiere

Insgesamt 150 000 m² der 900 000 m² Bahnfläche zwischen dem Zürcher Hauptbahnhof und Altstetten gelten als naturnahe Flächen. Auf den Freiflächen entlang den Gleisen ist es sehr trocken und warm, denn es gibt keine Schatten spendenden Bäume. Die Böden sind mager und speichern kaum Feuchtigkeit. Die Bedingungen ähneln denen der steinig-sonnigen Jurahänge. Der Lebensraum lässt sich mit Pionierstandorten in Flussauen vergleichen, erklärt Barbara Huber, SBB-Projektleiterin Umwelt. Die natürliche Auendynamik entsteht durch Hochwasser, die, wenn sie zurückgehen, magere Kiesbänke hinterlassen. Dort siedeln sich Pionierpflanzen an – bis zum nächsten Hochwasser. Auf dem Bahnareal sorgen Menschen für die nötige Dynamik, indem sie es als Maschinenpark- oder Lagerplatz für Baumaterial nutzen. Dieses Umfeld zieht spezialisierte Tiere und Pflanzen an, die andernorts im Mittelland selten geworden sind. Weit verbreitet ist die lockere Pioniervegetation auf Kiesflächen oder die Besiedelung ungenutzter Randstreifen und schmaler Böschungen durch Ruderalpflanzen wie die Eselsdistel (Onopordum acanthium), die Wilde Möhre ( Daucus carota), den Schmalblättrigen Hohlzahn (Galeopsis angustifolia), den Scharfen Mauerpfeffer (Sedum acre), die Wegwarte (Cichorium intybus) oder den Rainfarn ( Tanacetum vulgare). Zudem werden hier drei in der Schweiz gefährdete Tierarten gezielt gefördert: die Blauflüglige Sandschrecke (Sphingonotus caerulans), die Mauereidechse ( Podarcis muralis) und die Wildbienen (in der Schweiz sind über 580 Arten bekannt).

Vor Baubeginn den Zustand erfassen

Die Planenden der Durchmesserlinie standen vor der Herausforderung, die neuen Brücken und Gleise bauen und gleichzeitig die erforderlichen Strukturen für die ökologisch wertvollen Populationen erhalten zu sollen. Dabei geht es nicht vorrangig um den Schutz der Tiere, denn umgesiedelt werden sie nicht – es gilt vielmehr, ihre Lebensräume zu erhalten. Bereits als der Bahnhofausbau für das Projekt Bahn 2000 bevorstand und dieser die Freiflächen zu beeinträchtigen drohte, begannen sich die SBB damit zu beschäftigen, wie Fauna und Flora geschützt werden könnten. Denn das Bundesgesetz vom 1. Juli 1966 über den Natur- und Heimatschutz (NHG) gibt vor: Falls sich eine Beeinträchtigung schutz würdiger Lebensräume durch technische Eingriffe unter Abwägung aller Interessen nicht vermeiden lässt, hat der Verursacher für besondere Massnahmen zu deren bestmöglichem Schutz, für Wiederherstellung oder für angemessenen Ersatz zu sorgen.

Anfang der 1990er-Jahre liessen die SBB die von den damals geplanten Grossprojekten betroffenen Flächen erstmalig hinsichtlich ihres ökologischen Werts untersuchen. Die Umweltfachleute der SBB legten ein Raster (50 m × 25 m) über den Perimeter und bewerteten jede Zelle. Auf der Grundlage dieser ökologischen Aufnahmen entstand ein Bewertungsund Ausgleichsmodell, das eine begrenzte Anzahl von Lebensraumtypen für trockene Standorte beinhaltet. Dieses Schema kam anschliessend bei allen Grossprojekten im Abschnitt Altstetten–Zürich HB zur Anwendung. Die Fachleute betrachteten jeweils den Vegetationsdeckungsgrad in der Rasterzelle und prüften, ob es dort Habitatstrukturen für Tiere gibt. Stellvertretend für die besonders gefährdeten und verletzlichen Arten werden drei Zielarten mit Kleinstrukturen gefördert: das heisst Spezies, die auf diesem Areal typisch und einfach nachzuweisen sind sowie auf der Roten Liste der gefährdeten Tierarten stehen. Auf ihre Anforderungen an den Lebensraum wurden die Ersatzmassnahmen zugeschnitten. Die durch bauliche Eingriffe verloren gegangenen Flächen werden bisher noch innerhalb des SBB-Areals ersetzt. Doch der Raum, auf dem ökologischer Ersatz möglich und sinnvoll ist, werde immer knapper, sagt Projektleiterin Huber. Der Konflikt zwischen dem Naturschutz und dem wirtschaftlichen Druck auf diese Flächen in bester innerstädtischer Lage sei nicht gelöst, und es sei durchaus legitim, über eine andere Nutzung dieser Bereiche nachzudenken.

Lebensräume für Tiere erhalten und gestalten

Mit Massnahmen, die den natürlichen Bedingungen nachempfunden sind, schaffen die Projektbeteiligten neue Lebensräume. Diese Eingriffe wurden im Umweltverträglichkeitsbericht grob festgelegt und im landschaftspflegerischen Begleitplan (vgl. «Instrument LBP», TEC21 5/2008) detailliert beschrieben. Für eine der drei Zielarten, die solitär lebenden Wildbienen, werden beispielsweise künstliche Nisthilfen aufgestellt, und das Gebiet wird mit Altholz und Sandlinsen einladend gestaltet. Die Blauflüglige Sandschrecke hingegen liebt grosse, offene Kies- oder Sandflächen mit geringem Pflanzenbewuchs. Sie ernährt sich von Gräsern und Kräutern. Doch solche Flächen sind rar auf dem SBB-Areal, und die Bauarbeiten setzen dem Insekt zu.

Eine erste Erfolgskontrolle nach den Bahn-2000-Arbeiten ergab, dass die Population kleiner geworden war. Wie sich der Verlust weiterer Flächen auswirkt, kontrollieren die SBB nach Abschluss der Arbeiten zur Durchmesserlinie erneut. Für die Zielart Mauereidechse ist vor allem die Möglichkeit zur Vernetzung relevant. Die Umweltbehörden schreiben daher vor, dass entlang wichtiger Korridore ein unbefestigter Kiesstreifen als lineares Vernetzungselement anzulegen sei, denn auf Belag oder Schotter wandern die Tiere nicht. Zudem werden Gitterkörbe mit Steinen oder Steinpackungen in der Böschung platziert, die als frostsichere Winterquartiere dienen können.

Neben diesen drei festgelegten Zielarten wird derzeit auch die Gelbbauchunke (Bombina variegata) gefördert. Sie wurde im beschriebenen Perimeter gefunden und steht ebenfalls auf der Roten Liste der gefährdeten Tierarten. Da aber die Lebensräume im Gleisfeld eher trocken und warm sind, hat die Fachstelle Naturschutz von Grün Stadt Zürich angeregt, zu ihrer Unterstützung kleine Feuchtareale anzulegen. Die SBB haben dies aufgegriffen, und bereits im vergangenen Frühjahr konnte die Umweltbaubegleitung nachweisen, dass die Gelbbauchunken die für sie erstellten Tümpel beim Bahnhof Altstetten angenommen haben, um sich fortzupflanzen. Renaturierung und Allmählicher Wa ndel Flächen, die während den Bahnhofausbauten als Baupiste oder Deponie genutzt wurden, werden nach Abschluss der Bauarbeiten renaturiert. Auf den beanspruchten Flächen entsteht durch gezieltes Aussaat neue Vegetation. Das einheimische Saatgut hierfür wird eingekauft, denn es muss sich dabei um regionale Ökotypen wie Ruderalflora oder Wildblumenwiese handeln, sagt Barbara Huber. Es ist jedoch durchaus möglich, dass die neu angesäten Pflanzen nicht so wachsen wie geplant. So kann beispielsweise in einem Kies-Sand-Gemisch, das aufgebracht wird, bereits fremdes Saatgut erhalten sein. Problematisch werden fremde Pflanzen allerdings erst, wenn sie die einheimischen Arten verdrängen. In der Plangenehmigungsverfügung ist deshalb auch die Neophytenkontrolle als Auflage enthalten. Wichtig für die Vegetation ist der regelmässige Unterhalt, damit sich die gebietsfremden Pflanzen nicht zu stark ausbreiten. Die einzelnen Flächen werden aber nicht künstlich auf dem Stand des Sekundärbiotops gehalten.

Mit der Zeit können die Böden durchaus fetter werden, und mit zunehmender Biomasse verändern sich die Lebensräume. Für die Zielarten kann das zu einem Problem werden, das die SBB aber in Kauf nehmen. Sollten offene Kiesflächen einwachsen, so ginge das auf Kosten der Blauflügligen Sandschrecke; werden die Flächen nicht geschnitten und Drahtgitterkörbe überwuchert, fehlen den Eidechsen die heissen Steine, um sich zu sonnen.

TEC21, Fr., 2012.11.23



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2012|48 Durchmesserlinie II

07. September 2012Lukas Denzler
Daniela Dietsche
TEC21

«Die interessen kumulieren am Seeufer»

Der Nutzungsdruck auf die Ufer der Schweizer Seen nimmt zu. Am Zürichsee und am Thurgauer Ufer des Bodensees finden gegenwärtig umfassende Planungen statt. Im Gespräch mit TEC21 erläutern die Planer am Zürichsee und am Bodensee, wie sie diese Aufgabe angepackt haben und welche Schwierigkeiten sich dabei stellten.

Der Nutzungsdruck auf die Ufer der Schweizer Seen nimmt zu. Am Zürichsee und am Thurgauer Ufer des Bodensees finden gegenwärtig umfassende Planungen statt. Im Gespräch mit TEC21 erläutern die Planer am Zürichsee und am Bodensee, wie sie diese Aufgabe angepackt haben und welche Schwierigkeiten sich dabei stellten.

Das Seeufer weckt als attraktiver Ort nicht nur zahlreiche Begehrlichkeiten; es liegt auch im Schnittpunkt der Zuständigkeiten. Während die Seen unter kantonaler Obhut stehen, ist das angrenzende Land Territorium der Gemeinden. Aus diesem Grund ist bei den Uferplanungen am Bodensee und am Zürichsee der Einbezug der Gemeinden zentral. Anspruchsvoll wird es, wenn ein übergeordnetes Ziel oder gar eine Vision für die Entwicklung an einem See erarbeitet werden soll. Dabei werden nämlich die Grenzen der eingespielten Planungsprozesse wie die kantonalen Richtpläne gesprengt. Am Zürichsee hat man dies gewagt. Das Projekt hiess ursprünglich «Vision Zürichsee 2050». Daraus ist nun das «Leitbild Zürichsee 2050» hervorgegangen, das demnächst durch die Zürcher Baudirektion verabschiedet werden soll. Annähernd zur selben Zeit entscheidet die Thurgauer Regierung über die Uferplanung am Rhein und am Untersee.

TEC21: Die ‹Vision Zürichsee 2050› ist ein Projekt der Zürcher Baudirektion, die Federführung liegt beim Amt für Abfall, Wasser, Energie und Luft (Awel). Herr Stutz, können Sie kurz schildern, wie es zu diesem Projekt kam?
Gerhard Stutz (GS): Auslöser waren die divergierenden und zunehmenden Nutzungsansprüche der Bevölkerung. Die Ufer werden immer stärker zugebaut, die Zugänglichkeit zum See ist an manchen Orten nicht gewährleistet, und die naturnahen Bereiche stehen unter Nutzungsdruck. Zudem existiert kein durchgehender Uferweg. Als Erstes wurde eine Zustandserhebung der Ufer vorgenommen. Als ich 2005 zum Awel kam, lag der Synthesebericht zu dieser Erhebung bereits vor. Über die Hälfte der Ufer des Zürcher Teils des Sees sind stark beeinträchtigt oder verbaut. Nur 5 % sind naturnah, und mehr als 90 % des Zürcher Ufers bestehen aus aufgeschüttetem Land. Der Bericht zeigt aber auch, dass bei mehr als der Hälfte der Uferlänge Potenzial für ökologische Aufwertungen besteht.

TEC21: Herr Natrup, Sie beschäftigten sich bereits vor Ihrer Zeit als Zürcher Kantonsplaner mit dem Zürichsee.
Wilhelm Natrup (WN): Ich hatte 2007 als externer Berater ein Mandat zur Unterstützung der Projektleitung der ‹Vision Zürichsee 2050› beim Awel. Das Ziel war es, eine Vision für den Zürichsee zu entwickeln. Dem Synthesebericht lagen viele Analysen zugrunde. Das Problem war, dass man vor lauter Analyse die Richtung nicht mehr sah. Doch die Analyse kann nicht die Vision sein. Unsere Aufgabe war es, zu klären, wie sich der Zürichsee über die nächsten Dekaden entwickeln soll. Neben dem federführenden Awel sind zwei weitere Ämter der Baudirektion involviert: das Amt für Landwirtschaft und Natur und das Amt für Raumentwicklung. Die Planung des Seeuferwegs fällt ausserdem in die Zuständigkeit des Amtes für Verkehr der Volkswirtschaftsdirektion.

TEC21: Herr Dünner, wie präsentiert sich die Ausgangslage am Bodensee? Gab es eine Initialzündung zur aktuellen Uferplanung im Thurgau?
Jürg Thomas Dünner (JD): Es gibt schon sehr lange Planungen am Bodensee. Die erste Rhein- und Seeuferschutzplanung des Kantons Thurgau geht auf das Jahr 1953 zurück. Es folgte eine Erholungs- und Landschaftsschutzplanung in den 1970er-Jahren. Ein Konzept zur Bootsstationierung entstand 1982, dieses ist in den kantonalen Richtplan aufgenommen worden. Die Bootsliegeplätze sind auch Bestandteil der von Deutschland, Österreich und der Schweiz unterzeichneten Vereinbarungen der Internationalen Gewässerschutzkommission für den Bodensee (IGKB).[1] Vor einigen Jahren gab es Anfragen aus den Gemeinden, die Zahl der Bootsliegeplätze zu erhöhen. Wir lehnten das jeweils ab, die Umweltverbände drohten auch mit Einsprachen. Der Druck war so gross, dass im kantonalen Richtplan 2009 festgehalten wurde, dass am Rhein von Schlatt bis Wagenhausen und am Thurgauer Untersee von Eschenz bis Tägerwilen eine Uferplanung zu erarbeiten sei.

TEC21: Kann dies als Start einer umfassenden Uferplanung im Thurgau gesehen werden?
JD: Es war sicher der Beginn der gegenwärtigen Uferplanung. Bezüglich Ökologie konnten wir auf die Uferbewertung zurückgreifen, die die IGKB 2006 durchgeführt hatte. Das Problem bei solchen Planungen ist oft, dass die Menschen befürchten, man wolle ihnen den See wegnehmen. Schnell entsteht die Angst, dass vieles nicht mehr erlaubt ist und der Region eine Käseglocke übergestülpt wird. Beim Untersee und am Rhein konnten wir nun eine Planung durchführen und gleichzeitig testen, ob unsere Planungsmethode funktioniert, um diese später auch am Obersee anzuwenden (vgl. Kasten S. 24).

TEC21: Was sind die spezifischen Herausforderungen bei Seeuferplanungen?
WN: Grundsätzlich geht man vor wie bei anderen Planungen. Die Empfindlichkeiten und
Besonderheiten sind an Seen einfach akzentuierter als in anderen Teilräumen. Zudem gibt es sehr viele Begehrlichkeiten, vor allem für Erholung und Freizeit. Doch Seeufer sind sensible Lebensräume, und wir haben die Aufgabe, sie zu schützen und zu entwickeln. In den letzten 15 Jahren ist die Einwohnerzahl des Kantons Zürich um 200 000 Personen gestiegen. Der Nutzungsdruck auf die Seen als Freizeitraum hat daher massiv zugenommen. Eine wichtige Frage war deshalb, wo noch Spielräume für eine Nutzungsintensivierung vorhanden sind. Doch das muss mit Augenmass erfolgen. Niemand möchte das Eventzentrum am Zürichsee werden. Aber die Gemeinden wollen das Seeufer für die eigene Bevölkerung attraktiv gestalten und nutzbar machen. Am Ufer bestehen auch Eigentumsrechte; es stellt sich die Frage, für wen der See eigentlich da ist: für die Leute, die am See wohnen, oder für diejenigen, die ihre Freizeit am See verbringen? Die Interessen kumulieren am Seeufer.
GS: Es reicht nicht, nur den Uferbereich anzuschauen. Man muss den See gesamtheitlich betrachten. Die Leute zieht es ans Wasser. Es gibt divergierende Meinungen in der Bevölkerung zur Nutzung des Sees, und auch innerhalb der Verwaltung mussten wir eine gemeinsame Haltung entwickeln.
JD: Mir fällt der Begriff der Allmende ein. Der See und das Ufer gehören allen ein bisschen. Deshalb braucht es Regeln für die Nutzung, die unter anderem auch international in Staatsverträgen oder dem Bodensee-Leitbild festgelegt sind. Mit divergierenden Ansichten innerhalb der Verwaltung sind wir auch im Thurgau konfrontiert, das ist nichts Aussergewöhnliches. Weiter waren die Aktualität und die Qualität der Grundlagen für die Planung sehr unterschiedlich. Am Bodensee gab es beispielsweise viele Grundlagen im Bereich Naturschutz oder Renaturierungen, während sie in anderen Fachgebieten wie etwa dem Denkmalschutz eher rudimentär waren.

TEC21: Wie funktioniert am Bodensee die Zusammenarbeit mit Deutschland?
JD: Bis jetzt ist es noch nicht gelungen, politisch wirklich grenzüberschreitend zu planen. Auf fachlicher Ebene gibt es hingegen Absprachen und einen engen Austausch. Wichtig sind uns auch die Nachbarkantone St. Gallen und Schaffhausen mit der Gemeinde Stein am Rhein, die mitten im Planungsperimeter liegt.

TEC21: Arbeitet man am Zürichsee mit den Kantonen Schwyz und St. Gallen zusammen?
GS: In den 1990er-Jahren hatte man beschlossen, die Zahl der Bootsplätze nicht mehr zu erhöhen. Das ist eine der wenigen interkantonalen Vereinbarungen. Das wurde nun wieder diskutiert; man war sich aber schnell einig, dass man daran festhalten will. Bei der Seeregulierung wurde hingegen entschieden, dass das Reglement, das seit mehr als 70 Jahren in Kraft ist, überprüft werden soll. Eventuell ist eine Anpassung aufgrund neuer Erkenntnisse aus den Hochwasserereignissen der letzten Jahre oder aus der Ökologie sinnvoll.

TEC21: Wie waren die Naturschutzvertreter bei den Uferplanungen involviert?
GS: In Zürich war die kantonale Fachstelle für Naturschutz beim ganzen Prozess dabei.
JD: Im Kanton Thurgau erfolgte die erste Planungsphase ebenfalls verwaltungsintern. Nach der Grobplanung bildeten wir eine externe Begleitgruppe, in der die Organisationen mit Verbandsbeschwerderecht im Thurgau, aber auch Thurgau Tourismus vertreten waren.

TEC21: Welche Rolle spielen die Gemeinden?
JD: Die Gemeinden am Rhein und am Untersee sind für uns sehr wichtige Partner. Wir haben sie schon am Anfang beigezogen und gefragt, ob sie einer solchen gemeindeüberschreitenden Uferplanung zustimmen, da die Planungshoheit für die Nutzungsplanung im Thurgau bei den Gemeinden liegt. Diese gaben uns das ‹Gut zur Planung›. Da uns damals die Überarbeitung des kantonalen Richtplans stark beanspruchte, vergaben wir die Entwicklung einer Planungsmethodik an ein externes Planungsbüro (vgl. Kasten S. 24).
WN: Wir präsentierten die Ergebnisse der Vision Zürichsee 2050 zuerst den beiden Planungsregionen am linken und rechten Zürichseeufer (vgl. Kasten links). 2010 führten wir mit Vertretern der Seegemeinden mehrere Workshops zu den vorläufigen Ergebnissen durch. Gleichzeitig wurden zwei kantonale Initiativen für einen durchgehenden Seeuferweg lanciert; diese politische Ausgangslage hat für uns die Gespräche mit den Gemeinden nicht einfacher gemacht. Bereits bei der Diskussion des Verkehrsrichtplans 2007 war der Seeuferweg eines der schwierigeren Geschäfte (vgl. Kasten S. 26). Bei der Richtplanrevision 2009, bei der unter anderem auch die Gewässer behandelt wurden, kam das Thema wieder hoch und wurde im Kantonsrat intensiv diskutiert. Als wir 2010 die Vision beziehungsweise das Leitbild, wie es nun heisst, mit den Gemeinden diskutierten, hatten diese das Gefühl, wir wollten das direkt in den Richtplan übernehmen. Doch das war nicht die Idee. Kurz gesagt: Es war nicht einfach, die Gemeinden ins Boot zu holen. Wir betonten, dass sie ihre Wünsche möglichst frei äussern sollten. Denn wenn es um langfristige Entscheidungen geht, müssen wir unterscheiden zwischen dem, was heute von den Gesetzen her möglich ist, und dem, was langfristig erwünscht ist. Wenn man von Vision redet, muss es möglich sein, über den heutigen Horizont hinauszudenken.

TEC21: In bestimmten Bereichen scheint der Spielraum tatsächlich begrenzt. So sind etwa Flachmoore durch die Bundesverfassung geschützt, und das Eidgenössische Natur- und Heimatschutzgesetz verbietet es, Ufervegetation zu roden oder zu überschütten.
WN: Wenn Bundesrecht tangiert wird, ist es immer schwierig. Wenn wir aber einen politischen Auftrag haben, lassen sich grundsätzlich auch die normativen Grundlagen anpassen. So wären heute etwa Inselschüttungen in Flachuferbereichen zur Erholung, aber auch für die Ökologie durchaus denkbar. Dafür wären aber die gesetzlichen Bestimmungen anzupassen.

TEC21: Aus der Vision wurde das Leitbild Zürichsee 2050. Was ist der aktuelle Stand?
GS: Wir haben einen Grundlagenbericht verfasst und Massnahmen formuliert, gegliedert in die Bereiche Wohnen und Arbeiten, Ökologie und Erholung. Das Ergebnis haben wir dem Regierungsrat präsentiert, und dieser hat im Frühling einer Vernehmlassung bei den betroffenen Gemeinden zugestimmt. Bis Ende August 2012 werden die Eingaben ausgewertet und anschliessend mit den Vertretern der Regionen besprochen. Bis Ende Jahr ist die Verabschiedung des Leitbildes durch die Baudirektion geplant.

TEC21: Herr Natrup, können Sie kurz die Bedeutung dieses Leitbildes erläutern?
WN: Wichtig ist Folgendes: Das Leitbild hat keine eigenständige Verbindlichkeit. Wenn wir etwas daraus rechtlich verankern wollen, dann braucht es eine Festlegung im kantonalen Richtplan. Für die Erholung haben wir im Kanton Zürich die regionalen Richtpläne, diese müssen dann die Regionen umsetzen. Freihalte- oder Erholungszonen sind auch in der Nutzungsplanung der Gemeinden festzulegen. Die Herausforderung besteht darin, die Planungsträger, also die Regierung und die Gemeinden, zu überzeugen, die Inhalte in ihren Planungsinstrumenten umzusetzen. Wir haben das Leitbild als Entscheidungsgrundlage erarbeitet, als Grundlage auch für den Diskurs mit den Planungsträgern – sowohl mit dem Parlament, denn dieses setzt den Richtplan letztlich fest, als auch mit den Regionen, weil diese in ihren Delegiertenversammlungen den regionalen Richtplan beschliessen müssen.

TEC21: Das Leitbild hat also keinen eigenen rechtlichen Stellenwert?
WN: Es kommt immer wieder vor, dass wir übergreifende Konzepte erarbeiten, die keine Rechtsverbindlichkeit haben und nicht den herkömmlichen Planungsinstrumenten zugeordnet werden können. Wir stecken in einem Dilemma, denn das Seeufer betrifft mehrere Planungsstufen: die kantonalen und regionalen Richtpläne sowie die Nutzungspläne der
Gemeinden. Manches betrifft uns als Bewilligungsbehörde, zum Beispiel die Fischerei oder der Wasserbau, aber auch das Konzessionsland mit den Bauten am Seeufer. Das Leitbild
ist ein Orientierungsrahmen und dient als Richtschnur für die internen Fachstellen der Verwaltung.

TEC21: Die Zürichseeplanung sprengt offensichtlich den Rahmen der konventionellen Planungsinstrumente.
WN: Ein einzelnes Instrument reicht eben nicht, vielmehr muss ein konsistentes, koordiniertes Verwaltungshandeln daraus erfolgen, und zwar auf allen Hierarchiestufen, vom Kanton über die Regionen und Gemeinden bis zur kantonalen Verwaltung, der bei Gewässern in vielen Fällen zuständigen Bewilligungsbehörde. Wir sehen das Leitbild nicht als statisches Instrument. Es ist wichtig, das grosse Ganze nicht aus den Augen zu verlieren. Was macht eigentlich den Reiz des Sees, der ja längst nicht mehr naturnah ist, aus? Es ist der Wechsel von attraktiven Landschaftsräumen, von Siedlungen, naturnahen Bereichen und ehemaligen industriellen Nutzungen.
TEC21: In der gegenwärtigen Diskussion am Zürichsee schlägt insbesondere der Seeuferweg hohe Wellen.
WN: Der Seeuferweg ist im Richtplan enthalten. Es geht dabei nicht darum, den Weg überall direkt am See zu führen. Wichtig ist aus unserer Sicht vor allem die Zugänglichkeit zum See an attraktiven Orten, ohne dass alles zugeparkt ist. Unser Ziel ist ein attraktiver Weg, der aber die bestehenden Eigentumsrechte respektiert. Auch die Erfordernisse des Naturschutzes sind zu beachten.
JD: Am Bodensee haben wir ähnliche Herausforderungen wie Herr Natrup sie schildert. Es gibt historisch gewachsene Eigentumsverhältnisse und Strukturen wie in Berlingen oder Steckborn, wo der Weg jeweils durch eine attraktive Altstadt führt. Beim Langsamverkehr sind wir vor allem damit konfrontiert, dass es heute nicht mehr reicht, ein 2 m breites Trassee zu bauen. Die Bedürfnisse der Fahrradfahrerinnen, Skater, Eltern mit Kinderwagen und Wanderer unterscheiden sich. Beispielsweise muss ein Skaterweg asphaltiert sein, ein Wanderweg sollte hingegen möglichst keinen Hartbelag aufweisen. Hinzu kommt, dass am Untersee der zur Verfügung stehende Raum durch den stellenweise bis ans Ufer reichenden und steil abfallenden Seerücken knapp ist.

TEC21: Im Zusammenhang mit dem Seeuferweg am Zürichsee fällt immer auch das Stichwort Konzessionsland.
GS: Konzessionsland sind Seeaufschüttungen. Diese erfolgten vor allem im 19. Jahrhundert. Der Bahnhof Tiefenbrunnen in Zürich ist ein gutes Beispiel. Das war früher eine Bucht; heute befindet sich der Bahnhof auf aufgeschüttetem Land. Das Material dafür stammte aus dem Riesbachtunnel. Auch der Bahnhof Horgen befindet sich auf aufgeschüttetem Gebiet. Für den Bau der Seeuferlinie benötigte man Land, gewann es, indem man überschüssiges Material in den See schüttete. Die Transportwege waren kurz, und man konnte die Besitzer, die Land hergeben mussten, so entschädigen. Doch das Land am See war lange Zeit nicht beliebt.

TEC21: Damals hat der Kanton die ehemalige Uferlinie festgehalten. Die rechtlichen Verhältnisse zwischen dieser und dem heutigen Seeufer sind höchst komplex.
GS: Das stimmt. Es gibt Kreise, die bezweifeln, ob das Konzessionsland überhaupt ins Eigentum der heutigen Nutzer übergegangen ist. Gemäss einer von uns in Auftrag gegebenen Rechtsstudie ist dieses Land jedoch Eigentum der heutigen Nutzer, allerdings mit gewissen Eigentumsvorbehalten. Der Kanton kann also mitreden, wenn etwas neu gebaut wird, er ist aber nicht Eigentümer dieses Landes. Auch wenn es Konzessionsland heisst, bezahlen die Nutzer keine jährlichen Konzessionsgebühren. Die Erstnutzer haben vor vielen Jahren einen bescheidenen Kaufpreis entrichtet.

TEC21: Der Zürcher Heimatschutz wehrt sich gegen diese Auslegung.
WN: Wir sind der Meinung, dass diese Frage geklärt ist. Aber es wird sicher weitere Diskussionen geben.
GS: Es gibt noch keinen Entscheid des Bundesgerichtes in dieser Sache und damit keine absolute Rechtssicherheit. Wir sind aber überzeugt, dass unsere Auffassung durch das Bundesgericht gestützt wird.

TEC21: Sollte der See nicht grundsätzlich öffentlich zugänglich sein?
WN: Politisch kommt diese Forderung, weil der Zürichsee in bestimmten Abschnitten wenig zugänglich ist. Wir haben ganze Siedlungen, die man umgehen muss. Es stellt sich die Frage, wie sich das verbessern lässt. Eigentum hat in der Schweiz einen hohen Stellenwert.
JD: Im Zivilgesetzbuch ist festgehalten, dass der Wald öffentlich zugänglich sein muss.
Bei den Seeufern gibt es keine analoge Bestimmung. Im Kanton Thurgau gibt es aber ein Gesetz, aufgrund dessen der Kanton und die Gemeinden im öffentlichen Interesse die
Zugänglichkeit der Ufer und den Bau von Uferwegen fördern können. Mit nur sieben Paragrafen handelt es sich um das kürzeste Thurgauer Gesetz. Die Finanzierung erfolgt über einen Fonds, der mit insgesamt 5 Mio. Franken gut dotiert ist. Mit diesen Mitteln kann der Kanton bei Bedarf Ufergrundstücke erwerben.

TEC21: Müssen Sie sich im Thurgau auch mit aufgeschüttetem Konzessionsland auseinandersetzen?
JD: Nein. Aufschüttungen gab es zwar, aber bei diesen Flächen ist die Eigentumsfrage geklärt. Wir haben am Bodensee eine etwas andere Ausgangslage als am Zürichsee: Die Besiedlung ist hier wesentlich weniger dicht und der Nutzungsdruck noch nicht ganz so gross. Zum Glück hat man bereits 1986 im ersten kantonalen Richtplan sogenannte Siedlungsbegrenzungslinien ausgeschieden, die einen gewissen Schutz für Grün- und Naturräume direkt am See bieten. So sind die Ufer zu einem wesentlichen Teil noch unbebaut, was in der soeben erschienen Broschüre des ETH-Studios Basel im Auftrag des Think Tank Thurgau[2] denn auch als Besonderheit für eine schweizerische Seenlandschaft bezeichnet wird.

TEC21: Im Thurgau erfolgte im Herbst 2011 die Bekanntmachung der Uferplanung.
Wie waren die Reaktionen?
JD: Insgesamt gingen in den elf Gemeinden 70 Eingaben ein, was unseren Erwartungen entsprach. Ein Drittel waren positive Reaktionen. Einige Hinweise führten zu Anpassungen der Planung. Der nächste Schritt ist, dass der Regierungsrat diese Planung zustimmend als Grundlage verabschiedet. Ich denke, wir haben ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Ansprüchen gefunden. Die heutige Uferplanung hat Grundlagencharakter, die Verbindlichkeit ist noch gering. In den nächsten zwei Jahren werden wir eine ähnliche Planung auch am Obersee von Kreuzlingen bis Horn durchführen, und dann gilt es, die wesentlichen Aussagen in den kantonalen Richtplan zu überführen. Anschliessend erfolgt die Umsetzung auf kommunaler Ebene.

TEC21: Wo stehen wir bei der Seeuferplanung in zehn Jahren?
JD: Ich hoffe, dass wir in zehn Jahren die Eckpunkte der Uferplanung am Untersee, am Rhein und am Obersee im kantonalen Richtplan verankert und bereits einen ansehnlichen Teil der vorgesehenen Massnahmen umgesetzt haben. Ich bin zuversichtlich, weil die Uferplanung nicht nur einschränkt, sondern den Gemeinden auch Möglichkeiten aufzeigt, die sie für ihre touristische und wirtschaftliche Entwicklung nutzen können.
WN: Wir haben auf beiden Seeseiten und in der Stadt Zürich regionale Richtpläne, in denen wesentliche Ziele aus dem Leitbild bestätigt und zum Teil auch schon umgesetzt sind.
Und wir sind so mutig, dass wir über Dinge diskutieren, über die wir heute noch nicht reden, zum Beispiel über grosse Events am Zürichsee. Ich wünsche mir, dass wir auch einmal neue Wege ausprobieren.
GS: In zehn Jahren werden wir das Reglement zur Regulierung des Zürichsees überprüft und allenfalls angepasst haben. Wie es mit der strittigen Frage des Konzessionslandes weitergeht und ob wir bald schon mehr Rechtssicherheit haben werden, weiss ich nicht.
Die ehemalige Seeuferlinie ist eine imaginäre Linie, die zum Teil vor mehr als 100 Jahren festgelegt worden ist. Es stellt sich die Frage, ob diese nun 100 weitere Jahre bestehen bleiben soll. Vielleicht sollten wir hier neue Lösungen suchen.


Anmerkungen:
[01] Informationen zur Internationalen Gewässerschutzkommission für den Bodensee (IGKB):
www.igkb.de; 2008 hat die Internationale Bodenseekonferenz (IBK) ein übergeordnetes Leitbild für die Entwicklung des Bodenseeraums verabschiedet: www.bodenseekonferenz.org/leitbild
[02] ETH-Studio Basel, Institut Stadt der Gegenwart: Südliches Bodenseeufer – Projekt für eine urbanisierte Kulturlandschaft. gta Verlag. 2012

TEC21, Fr., 2012.09.07



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2012|37 Seeufer planen

07. September 2012Daniela Dietsche
TEC21

Visitenkarte für Mammern

Die Gemeinde Mammern am Bodensee hat im April 2012 einen neuen Landesteg eröffnet. Die Planergemeinschaft Lauener Baer Architekten und BHAteam Ingenieure aus Frauenfeld planten und bauten die Steganlage. Der Steg erfüllt nicht nur die nautischen Anforderungen, sondern überzeugt auch durch seine elegante Erscheinung.

Die Gemeinde Mammern am Bodensee hat im April 2012 einen neuen Landesteg eröffnet. Die Planergemeinschaft Lauener Baer Architekten und BHAteam Ingenieure aus Frauenfeld planten und bauten die Steganlage. Der Steg erfüllt nicht nur die nautischen Anforderungen, sondern überzeugt auch durch seine elegante Erscheinung.

In Mammern gibt es nur zwei öffentliche Zugänge zum Bodensee: das Gemeindebad und den Landesteg. Letzterer ist deshalb ein wichtiger Ort für Bevölkerung und Gäste. Die rund 100 Jahre alte Steganlage war aufgrund von Verschleisserscheinungen sanierungsbedürftig.

Im Januar 2006 beauftragte die Gemeinde Mammern das Ingenieurbüro BHAteam, einen Sanierungsvorschlag einzureichen. In der Gemeindeversammlung im Februar 2008 lehnten die Stimmbürger den Vorschlag für 670 000  Franken jedoch ab. Lauener Baer Architekten entwarfen daraufhin das Konzept für einen Ersatzneubau. Mammern entschied sich 2009 – trotz den rund doppelt so hohen Kosten – für den Neubau als dauerhafte Lösung und beauftragte die Planergemeinschaft Lauener Baer Architekten und BHAteam Ingenieure im Juni 2009 mit der Ausführung.

Horizontal und vertikal abgestuft

Den Grund für die deutliche Bevorzugung der Neubaulösung durch die Stimmbürger sieht Architekt Donatus Lauener im grossen Mehrwert, der dank dieser für den Ort und die Bevölkerung geschaffen werden konnte. Der Grundriss der neuen Stegplattform ist mehrfach abgestuft. Das erste Segment ist rund drei Mal breiter als der Vorgängerbau, was am landseitigen Stegansatz, in Verlängerung des Zollhausplatzes, zu einem Gewinn an öffentlich nutzbarer Fläche führt (Abb. 2). Die erste Verjüngung definiert den Zugang zum privat genutzten Gondelhafen beziehungsweise zu den Gästeplätzen auf der Westseite. Das dritte Segment erschliesst die seeseitigen Einstiegsstellen der Kursschifffahrt Untersee und Rhein. Diese lassen sich dank der Verlängerung der Anlage um 8 m auf 52 m auch bei niedrigem Wasserstand problemlos ansteuern.

In Anlehnung an die horizontale Gliederung ist auch die Seitenansicht des Stegs abgestuft. Sie folgt dem Seegrund (Abb. 3). Als Ersatz für den alten Damm wurde unter der Stegplattform ein neues Leitwerk ausgebildet, das die Strömungsverhältnisse im Bereich der Bachmündung steuern und einer Verlandung der Stegeinrichtungen durch Geschiebe entgegenwirken soll.

Stegkonstruktion

Der Steg besteht aus einer 35 cm starken Stahlbetonplatte, die sich umlaufend auf 20 cm verjüngt. Die Platte wurde in fünf Etappen betoniert und ist über die gesamte Länge monolithisch verbunden. Einzig am Widerlager ist eine Dilatation vorhanden. Laut Tobias Rapp von BHAteam Ingenieure waren die Schalungsarbeiten besonders anspruchsvoll, da die Schalung zum Teil selbsttragend, das heisst mit einem Lehrgerüst an den Betonpfählen befestigt werden musste. Die Fundation der Stegplatte erfolgt über 18 bis zu 26 m lange Betonfertigteilrammpfähle, die die Lasten über Mantelreibung in den Seegrund einleiten. Die Pfählung wurde im Bereich bis zur letzten Verjüngung von einem Hilfsdamm ausgeführt. Für diese provisorische Schüttung verwendete man das Dammmaterial der ehemaligen Anlage. Alle seeseitigen Rammarbeiten erfolgten von Pontons aus.

Für die Absturzsicherung setzte das Bundesamt für Verkehr als Bewilligungsbehörde hohe Nutzlasten an. Der anzunehmende Geländerdruck basiert auf einem Lastfall, der Menschengedränge simuliert. Es wurde eine horizontale Linienlast von 3.0 kN/m vorgegeben.[1] Die Planer wählten eine Stahlkonstruktion aus Rechteckprofilen von 80 × 40 mm. Trotz diesen relativ grossen Abmessungen erscheint das Geländer elegant. Die schmale Profilseite der Geländerpfosten steht quer zum Stegrand. Die verschweisste Konstruktion ist biegesteif in die Betonplatte eingespannt. Diese Alternative für die heute standardmässig angewendete Befestigung mittels Fussplatten und Hutmuttern bietet optisch klare Vorteile (Abb. 4 – 6).

Zwei Rampen für die Passagiere der Kursschiffe

Ein besonderes Problem am Bodensee sind die Wasserstandschwankungen. Da der See nicht reguliert ist, liegen die durchschnittlichen jahreszeitlichen Schwankungen bei 2 m. Im Extremfall kann die Schwankung bis zu 3.5 m betragen. Daher sind Steganlagen immer variabel auszuführen, entweder mit höhenverstellbaren Brücken, Schwimmelementen oder festen Rampen. In Mammern wurde bei den Einstiegstellen der Kursschifffahrt auf eine ­höhenverstellbare Rampe verzichtet. Eine solche hätte aus Sicherheitsgründen nur während des Ein- und Aussteigens betreten werden dürfen, was einer Verkürzung der begehbaren Stegfläche um ca. 10 m gleichgekommen wäre. In Anlehnung an die ehemalige Anlage ­wurde deshalb neben dem Hauptsteg eine feste Niederwasserrampe gebaut (Abb. 2 und 3).

Komfortable Anlegemöglichkeiten schaffen

Der ehemalige Gondelhafen wurde in Folge der Stegverlängerung leicht verschoben. Dies verbessert die Ein- und Auswasserung der Sportboote westlich des Stegs. Ebenso entschärft sich so das Problem der bei Tiefwasserstand auf Grund laufenden Schwimmer des Gondelstegs. Eine 20 m lange und 2.7 m breite Betonschwimmmole ersetzt den Wellenbrecher aus Holzpfählen. So entstanden vier zusätzliche ­Gastplätze mit ausreichend Tiefgang für grössere Boote. Zudem stehen dort Wasser- und Stromanschlüsse bereit. Die Verankerung des Gondelstegs und der Betonschwimmmole erfolgte mittels vertikaler Stahlrohrpfähle, damit keine Seitenverschiebung und somit keine Lagezwängungen stattfinden.

Die Dalben vor dem Hauptsteg wurden entsprechend den Erfordernissen der Schifffahrt und den anstehenden Baugrund- und Tiefenverhältnissen als elastische Dreierbündel aus Stahlrohrprofilen konstruiert.

Erweiterung des Gemeindeplatzes

Der Steg in Mammern ist als Erweiterung des Gemeindeplatzes zu sehen. Dieser grenzt an den Schlosspark, der nicht öffentlich zugänglich ist. Zum Areal gehören zudem Sanitäranlagen und ein noch privat genutztes Zollhaus. Der Platz wurde teilweise neu möbliert und die Pflästerung an den Bestand angepasst. Als wichtigster Eingriff wurde westlich des Stegs eine Betonrampe aus den 1920er-Jahren abgebrochen. ­Dadurch konnte der entsprechende Abschnitt renaturiert und als kiesiges Seeufer gestaltet werden – ein wesentlicher Grund für die finanzielle Unterstützung des kommunalen Bauprojekts durch den Kanton Thurgau mit 100 000 Franken. Die Anlage wurde im April 2012 eröffnet und wird von der Bevölkerung und den Gästen des Dorfes gut angenommen. Der Mut der kleinen ­Gemeinde (5.5 km2, 600 Einwohner), der Sanierung der vertrauten Anlage ein modernes Neubauprojekt vorzuziehen, scheint sich auszuzahlen.


Anmerkung:
[01] Gemäss Lastangaben SIA-Norm 261 «Einwirkung auf Tragwerke, Kap. 13, Bauwerkstyp Brücken (Alle Verkehrsarten)» werden normalerweise bei öffentlichen Steganlagen 0.8 kN/m, bei nicht öffentlichen 0.5 kN/m angesetzt

TEC21, Fr., 2012.09.07



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2012|37 Seeufer planen

20. April 2012Daniela Dietsche
Lukas Denzler
TEC21

«Ein Bekenntnis zum Öffentlichen Verkehr»

Mit der Durchmesserlinie in Zürich verkürzen sich die Fahrzeiten auf der West- Ost-Achse des Schweizer Schienennetzes, und die Kapazität des Hauptbahnhofs Zürich wird um etwa ein Drittel erhöht. TEC 21 sprach mit Roland Kobel, dem Gesamtprojektleiter der Durchmessserlinie, über die besonderen Herausforderungen dieses Infrastrukturprojekts.

Mit der Durchmesserlinie in Zürich verkürzen sich die Fahrzeiten auf der West- Ost-Achse des Schweizer Schienennetzes, und die Kapazität des Hauptbahnhofs Zürich wird um etwa ein Drittel erhöht. TEC 21 sprach mit Roland Kobel, dem Gesamtprojektleiter der Durchmessserlinie, über die besonderen Herausforderungen dieses Infrastrukturprojekts.

TEC21: Grosse Infrastrukturprojekte haben oft eine lange Planungsgeschichte. Bei der Durchmesserlinie dürfte dies nicht anders gewesen sein.

Roland Kobel: So ist es. In den späten 1990er-Jahren waren unter dem Projektnamen «Fil Rouge» zur Kapazitätserhöhung Richtung Oerlikon zwei zusätzliche Gleise entlang der bestehenden Doppelspur geplant. Diese sollten vom Hauptbahnhof über den Wipkinger Viadukt Richtung Oerlikon führen. Gegenüber der heutigen Lösung mit dem Durchgangsbahnhof und dem Weinbergtunnel wäre diese Variante kostengünstiger gewesen. Doch aufgrund der absehbaren Frequenzerhöhung und den damit verbundenen Immissionen haben sich die Bewohner und Bewohnerinnen der Zürcher Stadtkreise 4 und 5 gewehrt. Zunächst war es eine Bürgerbewegung, später hat auch die Stadt Zürich von der Seite der Befürworter auf die Seite der Gegner gewechselt. Die Verantwortlichen erkannten, dass man den «Fil Rouge» nicht ohne massiven Widerstand hätte bauen können. Dies führte zu einem Umdenken und zur Suche nach akzeptierbaren Lösungen.

TEC21: Und eine Lösung wurde auch gefunden. Wie sieht die Linienführung aus?

R. K.: Das Projekt der Durchmesserlinie umfasst vier Abschnitte: Die Strecke vom Bahnhof Altstetten bis zur Langstrasse mit zwei Brücken für Fernverkehrszüge, den unter dem Hauptbahnhof liegenden, viergleisigen Durchgangsbahnhof Löwenstrasse, den rund 5 km langen Weinbergtunnel und schliesslich den Abschnitt in Oerlikon (Abb. 1). Viel Spielraum für eine kreative Linienführung hatten wir nicht. Die Niveauhöhe war vorgegeben, da die neue Strecke den unter dem Bahnhof bestehenden, aber ungenutzten Stadttunnel, einer Vorinvestition für die innerstädtische Autobahnverbindung, unterqueren musste. Abtauchen kann sie allerdings erst, nachdem die Strassenunterführung Langstrasse überquert ist. Im Hauptbahnhof war klar, dass die Gleise am Südrand des bestehenden Gleisfelds liegen, denn der Nordrand ist bereits durch den S-Bahnhof Museumstrasse belegt, und eine Anordnung in der Mitte hätte die Kapazität des ganzen Bahnhofs eingeschränkt. Weiter führt die Strecke unter der Limmat hindurch und muss dann weiter fallen, um den Hirschengrabentunnel der S-Bahn 5 m unter dessen Sohle zu unterqueren. In Oerlikon kommt sie schliesslich wieder an die Oberfläche (Abb. 3).

TEC21: Wann fiel der Entscheid, die Durchmesserlinie in dieser Form zu bauen?

R. K.: Die rund 10 km lange Neubaustrecke, von der 60 % unter Tage verlaufen, wurde 2001 von den politischen Gremien beschlossen und dem Volk zur Abstimmung vorgelegt. Das Projekt wurde mit 82 % Ja-Stimmen angenommen. In der Folge wurden das Vor-, Auflage- und Bauprojekt erarbeitet. 2006 schrieben wir die Arbeiten aus, und im September 2007 begannen wir zu bauen.

TEC21: Wie ist die Finanzierung bei diesem Projekt geregelt?

R. K.: Die Finanzierungsvereinbarung zwischen Bund, Kanton Zürich und SBB kam erst 2008 zustande. Das hat seine Ursache im Inkrafttreten des Infrastrukturgesetzes 2008. 2001 waren nur der Kanton Zürich und die SBB als Besteller der Durchmesserlinie aufgetreten. 2008 kam der Bund hinzu. Die nicht gesicherte Finanzierung war bei Baubeginn denn auch einer der Kritikpunkte. Das Projekt der Durchmesserlinie wurde im Rahmen der Finanzierungsverhandlungen 2008 auf Wunsch des Kantons Zürich um den Bahnhofausbau Oerlikon mit den Gleisen 7 und 8 erweitert. Mit dem Ausbau Oerlikon kostet das Projekt 2.031 Mrd. Franken (Preisbasis 2005). Der zeitlich koordinierte Bau der Durchmesserlinie und der zwei neuen Gleise in Oerlikon ist sinnvoll, denn durch diese Synergien lassen sich rund 40 Mio. Franken einsparen. Der rasche Baubeginn ist übrigens dem Kanton Zürich zu verdanken. Der Infrastrukturfonds trat erst am 1. Januar 2008 in Kraft und hatte auch nicht sofort Geld zur Verfügung. Der Kanton Zürich hat sich deshalb verpflichtet, die Vorfinanzierung des Bundesanteils bis zu einer Höhe von 500 Mio. Franken zu übernehmen. Die Zinskosten gehen dabei zu seinen Lasten.[1] Im Wettstreit unter den Kantonen um die Realisierung von Infrastrukturprojekten wurde Zürich deshalb vorgeworfen, es sei vorgeprescht.

TEC21: Aus Sicht der anderen Kantone ist dieser Vorwurf nachvollziehbar.

R. K.: Die Durchmesserlinie ist ein Bekenntnis des Kantons Zürich zum öffentlichen Verkehr. Der Zürcher Verkehrsverbund (ZVV) ist eine effiziente Organisation, die langfristig plant. Und der Kanton Zürich hat genügend Mittel für den öffentlichen Verkehr reserviert. Deshalb konnte er Mittel zur Vorfinanzierung zur Verfügung stellen, so dass die 2 Mrd. Franken jetzt in das Projekt Durchmesserlinie fliessen. Andere Kantone sind der Ansicht, dass auch ihre Projekte Unterstützung verdient hätten. Die Durchmesserlinie liegt zwar in Zürich, ihr Nutzen wird jedoch weit über den Kanton Zürich hinausreichen (vgl. Kasten). Von diesen überregionalen Vorteilen profitieren alle – es sind in erster Linie aber die Zürcher und Zürcherinnen, die die gegenwärtigen Immissionen der Bauarbeiten zu tragen haben und den für das Projekt benötigten Raum zur Verfügung stellen.

TEC21: Ist die Finanzierung heute sichergestellt?

R. K.: Die SBB und das Bundesamt für Verkehr (BAV) sind sich über den Umfang der Leistungsvereinbarung 2013 – 2016 einig. Aber das letzte Wort hat das eidgenössische Parlament, das über die Freigabe der Mittel dieses Jahr noch befinden muss.

TEC21: Das Projekt wird von mehreren Partnern finanziert. Wie spiegelt sich dies in der Projektorganisation wider?

R. K.: Besteller sind der Bund, vertreten durch das BAV, und der Kanton Zürich, vertreten durch die Volkswirtschaftsdirektion. Gemeinsam bilden sie die oberste politische Instanz. Die strategische Ebene auf der Bestellerseite, der so genannte Lenkungsausschuss, setzt sich zusammen aus Verantwortlichen der Division Infrastruktur der SBB, des ZVV, Stadt und Kanton Zürich und des BAV. Ersteller sind die SBB. Das Gesamtprojekt ist in vier Abschnitte aufgeteilt, die jeweils von einem Abschnittsleiter der SBB geführt werden. Ihm sind Ingenieur- und Planungsbüros sowie die Unternehmungen unterstellt. Je nach Bauphase wirken 500 bis 700 Personen im Projekt mit.

TEC21: Für ein Projekt dieser Grösse sind das relativ wenig Mitwirkende.

R. K.: Das hängt auch damit zusammen, dass es sich bei der Durchmesserlinie um eine innerstädtische Baustelle handelt. Wegen der Immissionen durch die Bauarbeiten sowie durch die Zulieferungen und Abtransporte können wir nicht rund um die Uhr arbeiten, sondern haben grundsätzlich eine Fünf-Tage-Woche, einen Ein-Schicht-Betrieb und arbeiten nur tagsüber. Ausnahmen gibt es im Gleisbereich, dort sind wir auf verkehrsarme Zeiten angewiesen oder im Tunnel, wo im Zwei- bis Dreischicht-Betrieb gearbeitet wird.

TEC21: Wirken sich diese Rahmenbedingungen auf die Termin- und Kostenplanung aus?

R. K.: Ja, aber auch andere Parameter waren relevant. Beispielsweise musste das Ausbruchmaterial des Weinbergtunnels umweltverträglich per Bahn zur Deponie transportiert werden. Die einzige Möglichkeit für den Abtransport war der Bahnhof Oerlikon. Dort verkehren pro Tag 800 Züge, und aus Kapazitätsgründen konnten wir nur sieben zusätzliche Züge pro Tag unterbringen, was 7000 t Ausbruchmaterial entspricht. Basierend auf dem Tunnelquerschnitt und dem Gewicht des auszubrechenden Molassefelses haben wir eine transportbedingte Ausbruchleistung von rund 15 m pro Tag errechnet. Diese Kapazitätsbegrenzung hatte finanziell aber durchaus positive Auswirkungen, denn eine Planung für die Maximalleistung ist selten die wirtschaftlichste.

TEC21: Gab es neben diesen Einschränkungen weitere planerische Herausforderungen?

R. K.: Im Dezember 2006 verfügte das BAV in der Plangenehmigung, dass der Abstand zwischen den Notausgängen im Weinbergtunnel halbiert werden müsse. Wir hatten alle 1000 m einen vorgesehen; heute sind die acht Notausgänge jeweils weniger als 500 m voneinander entfernt. Zunächst wollten wir am ursprünglichen Projekt festhalten. Im Herbst 2007 disku-tierten wir mit dem zuständigen Unternehmen über die Mehrkosten und die Bauzeitverlängerung. Entscheidend für die Ausarbeitung einer neuen Variante war die Aussage des Unternehmers, er würde sicher ein halbes Jahr länger brauchen. Er hatte bereits früher eine Variante mit parallelem Flucht- und Rettungsstollen angeboten. Diese kam wieder ins Spiel – und wird nun auch realisiert (Abb. 5 6). Diese Bestellungsänderung bedeutete, dass nicht nur das Projekt umgearbeitet, sondern vor allem auch durch das BAV neu bewilligt werden musste. Und das dauert in der Regel rund ein Jahr. Um den Ablauf zu beschleunigen, haben wir mit der Stadt Zürich vereinbart, dass wir das Projekt den Verantwortlichen vorstellen und allfällige Probleme direkt lösen. Dank diesem Vorgehen hatten wir in weniger als vier Monaten die Baubewilligung. Diese nachträgliche Bestellungsänderung hat natürlich Zusatzkosten verursacht; es gab aber keine zeitliche Verzögerung.

TEC21: Weshalb kam es zu dieser Verschärfung der Sicherheitsanforderungen?

R. K.: Die Normen und Standards, auf die sich die SBB stützte, sahen einen Abstand von 1000 m vor. Die Bewilligungsbehörde, das BAV, hat den Stand der Technik jedoch anders eingeschätzt. Aufgrund des Zeitdrucks waren ausführliche Diskussionen nicht möglich. Hätte man mehr Zeit gehabt, wäre wohl eine Expertengruppe gebildet worden. Sicherheitsfragen sind immer heikel. Sollte während des Betriebs etwas passieren, würde sich unweigerlich die Frage nach der Verantwortung stellen.

TEC21: Gab es während der Bauphase ebenfalls spezielle Ereignisse?

R. K.: Ja, die gab es, zum Beispiel bei den geologischen Verhältnissen. Sondierbohrungen zeigten im Raum Brunnenhof beim Bucheggplatz, dass die Felsoberkante örtlich bis 40 m tiefer verlief als andernorts. Das darüberliegende Lockermaterial war mit Grundwasser ge- sättigt. Um eine Überschwemmung des Tunnels zu verhindern, senkten wir den Grundwasserspiegel ab. So konnten wir diesen Abschnitt in trockener Bauweise durchfahren. Die gleiche Situation haben wir am Hauptbahnhof. Wir bauen dort nämlich unter dem natürlichen Grundwasserspiegel. Dieser wurde rund um den Bahnhof abgesenkt, damit wir im Trockenen bauen können («Bahnhof Löwenstrasse», S. 25).

TEC21: Bei der erwähnten Lockergesteinsmulde entschied man sich für eine Grundwasserabsenkung, während bei der Unterfahrung der Limmat die Tunnelbohrmaschine (TBM) umgebaut wurde.

R. K.: Im Raum Brunnenhof war die Grundwasserabsenkung die wirtschaftlichere Lösung, ein Umbau der TBM wäre aber auch möglich gewesen. Im Bereich der Limmat war klar, dass grundwassergesättigtes Lockergestein auftreten würde. Aus diesem Grund musste die Hartgestein-TBM auf Hydroschild-Vortrieb umgebaut werden. Das fand in den letzten Metern im Fels beim Central statt. Von dort hat man die restlichen 280 m im Lockergestein bis zum Bahnhof gebohrt.

TEC21: Konnte man hier von den Erfahrungen profitieren, die man beim Bau des Bahnhofs Museumstrasse in den 1980er-Jahren gemacht hat?

R. K.: Damals hat man die Limmat mit dem so genannten Gefrierverfahren unterquert. Dabei werden zuerst Gefrierlanzen gebohrt, in denen eine Kälteflüssigkeit zirkuliert, um den Boden zu gefrieren. Heute ist jedoch der kontinuierliche Vortrieb mit Hydroschild Stand der Technik. Die TBM bohrt sich durch das Gestein, und im Anschluss werden direkt wasserdichte Tübbinge eingebaut.

TEC21: Die Arbeiten finden in einem dicht bebauten Raum statt. Gab es unerwartete Schäden?

R. K.: An der Bausubstanz in der näheren Umgebung ergaben sich praktisch keine Schäden. Einzig in Oerlikon kam es zu Setzungen. Als Folge davon entstanden an einigen Häusern Risse, die wir jetzt reparieren müssen. Beim Hauptbahnhof werden Gebäude, Gleise und Baugrund durch ein System mit 40 Tachymetern und 4000 Messpunkten rund um die Uhr überwacht. Damit wird garantiert, dass Geländebewegungen rasch bemerkt werden (vgl. Kasten, S. 27). Unvorhergesehen und unangenehm war sicher die Sperrung des Bahnhofplatzes im April 2009.[2] Dass eine neue Maschine im Untergrund kaputt gehen könnte, damit hatte niemand gerechnet. Die dadurch verursachte Sperrung des Bahnhofsplatzes hat uns hingegen nicht unvorbereitet getroffen. Das für einen solchen Fall vorgesehene Ereignismanagementkonzept hat tadellos funktioniert.

TEC21: Die Arbeiten begannen 2007 – ab wann werden die Reisenden profitieren können?

R. K.: Der Bahnhof Löwenstrasse und der Weinbergtunnel werden Mitte 2014 eröffnet. Dann gilt ein neuer S-Bahn-Fahrplan zwischen dem linken Seeufer und Zürich-Nord. Nach der Eröffnung können die Gleise 51 bis 54 rückgebaut und die Brücken Richtung Altstetten angeschlossen werden. Damit kann auch der Fernverkehr in den Bahnhof Löwenstrasse gelenkt und die gesamte Durchmesserlinie Ende 2015 in Betrieb genommen werden.


Anmerkungen:
[01] Das Gespräch wurde am 13. Dezember 2011 geführt. Inzwischen beschlossen die Nachbarkantone und der Kanton Glarus, sich mit insgessamt 37 % an den Zinskosten zu beteiligen (SH 4 %, TG 3 %, SG 10 %, SZ 6 %, GL 1 %, ZG 5 %, AG 8 %)
[02] Im April 2009 blieb die TBM unter dem Bahnhofquai stecken. Sie wurde nicht geborgen. Alle umweltgefährdenden Stoffe wurden aus der TBM abgepumpt und entsorgt. Die Maschine selbst verbleibt an Ort und Stelle. Mit dieser Lösung haben sich die Fachleute für das sicherste Vorgehen entschieden, und stellen damit auch den Grundwasserschutz sicher. (Quelle: SBB, InfoMagazin zur Durchmesserlinie, 2011, Nr. 2)

TEC21, Fr., 2012.04.20



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2012|17 Durchmesserlinie 1

07. Oktober 2011Claudia Carle
Daniela Dietsche
TEC21

«Das Okavango-Delta ist ein Schatz für die Welt»

Das Okavango-Delta in Botswana ist eines der grössten und tierreichsten Feuchtgebiete Afrikas. Die zunehmenden Wasserentnahmen für die Bewässerung von Landwirtschaftsflächen am Oberlauf in Angola und Namibia bedrohen aber seine Existenz. Wolfgang Kinzelbach, Professor für Hydromechanik an der ETH Zürich, forscht seit zehn Jahren im Okavango-Delta. TEC 21 sprach mit ihm über die Ursachen des Konflikts, der exemplarisch ist für die sich weltweit verschärfende Konkurrenz um Wasser.

Das Okavango-Delta in Botswana ist eines der grössten und tierreichsten Feuchtgebiete Afrikas. Die zunehmenden Wasserentnahmen für die Bewässerung von Landwirtschaftsflächen am Oberlauf in Angola und Namibia bedrohen aber seine Existenz. Wolfgang Kinzelbach, Professor für Hydromechanik an der ETH Zürich, forscht seit zehn Jahren im Okavango-Delta. TEC 21 sprach mit ihm über die Ursachen des Konflikts, der exemplarisch ist für die sich weltweit verschärfende Konkurrenz um Wasser.

Das Okavango-Delta im Nordwesten Botswanas ist ein Binnendelta mit einer Fläche von mehr als 15 000 km2. Gespeist wird es aus dem Okavango, der im Hochland von Angola entspringt und durch Namibia nach Botswana fliesst (Abb. 3, 4). Nach dem Durchlaufen des sogenannten Pfannenstiels trifft der Fluss auf eine flache, mit Sedimenten verfüllte Grabenstruktur, die eine südliche Fortsetzung des Afrikanischen Grabenbruchs (Rift Valley) ist (Abb. 2). Wegen des geringen Gefälles fächert er sich in unzählige Arme auf. Das Wasser im Delta verdunstet zum grössten Teil, sei es über die Wasserfläche oder nach Versickerung über die Pflanzen (Transpiration). Nur ein geringer Anteil fliesst durch den Thamalakane bei Maun ab. Dank dem ganzjährig Wasser führenden Zufluss ist das Innere des Deltas ein permanenter Sumpf, der nach der Regenzeit wegen der jährlichen Flutwelle des Okavango gewaltig anwächst (Abb. 5). Diese Welle braucht für die letzten 300 km im flachen Gelände von Mohembo bis Maun rund vier Monate. Deshalb reicht die Wasserverfügbarkeit im temporären Sumpf des Deltas bis weit in die Trockenzeit hinein und wird dadurch zum Anziehungspunkt für viele Tierarten. Entsprechend attraktiv ist das Gebiet für Touristen.

Die Landschaft des Deltas ist einem steten Wandel unterworfen. Einen grossen Anteil daran haben die Tiere, allen voran die Termiten. Im Windschatten ihrer Bauten lagern sich Staub und Laub ab. Daraus entstehen Inseln, auf denen Pflanzen wachsen können. Diese Inseln sind eine Art «Müllhalde» für das beim Verdunsten des Wassers anfallende Salz: Die Pflanzen auf den Inseln nehmen Wasser auf und verdunsten es, wobei sich das im Süsswasser in geringer Konzentration enthaltene Salz lokal ansammelt. Wird die Salzakkumulation zu gross, sterben die Pflanzen ab und wachsen am Rand der Salzinseln weiter. Dank diesem Mechanismus bleibt der Salzgehalt in den übrigen Bereichen des Deltas erstaunlich gering (Abb. 8).

TEC21: Herr Kinzelbach, was fasziniert Sie am Okavango-Delta?

Wolfgang Kinzelbach: Wer einmal das Okavango-Delta besucht hat, möchte immer wieder hin. Das Gebiet ist zwar nicht so spektakulär wie beispielsweise die Serengeti mit den grossen Tierherden, aber es gibt extrem viele interessante Prozesse zu beobachten. Ein Beispiel: Die kleinen Unterschiede in der Topografie führen zu einer faszinierenden Dynamik. Alte Kanäle füllen sich mit Sedimenten und lassen das Wasser neue Wege suchen. Durch Torfbrände bricht das Gelände teilweise ein, und neue Gräben entstehen. Elefanten werfen Bäume um, wodurch Kanäle verstopft werden und austrocknen. Flusspferde arbeiten sich wie Dampfwalzen durch Papyrus und Schilf und schaffen so neue Kanäle. Alle diese Phänomene führen dazu, dass jedes Jahr mit der Flut eine neue Wasserlandschaft entsteht.

TEC21: Wie schätzen Sie die globale Bedeutung des Deltas ein?

W. K.: Das Okavango-Delta ist ein Schatz für die Welt. Es ist eines der weltweit wichtigen Feuchtgebiete. Wir haben seit 1900 die Hälfte der Feuchtgebietsfläche auf der Erde verloren, entweder durch den Verlust der Fläche oder des Wassers an die Landwirtschaft. Und es werden aufgrund des Bevölkerungsdrucks und des Drucks auf die Nahrungserzeugung immer noch viele Feuchtgebiete zerstört. Die Ramsar-Konvention1 versucht den Trend zu stoppen, um die Artenvielfalt dieser Gebiete zu schützen. Das Okavango-Delta ist das grösste der Gebiete, die unter dem Schutz der Konvention stehen.

TEC21: Und trotzdem ist es gefährdet. Können Sie erläutern, worin diese Gefährdung im Einzelnen besteht?

W. K.: Das Delta liegt in Botswana. Wie viel Wasser das Delta erreicht, entscheiden aber die Anlieger des Oberstroms in Angola und Namibia. Dort reicht der traditionelle afrikanische Landbau2 wegen der wachsenden Bevölkerung nicht mehr aus, um genügend Nahrung zu produzieren. Hinzu kommt, dass sich Angola nach dem Kriegsende nun wirtschaftlich zu entwickeln beginnt und unabhängig werden möchte von Nahrungsimporten. Daher will man viel mehr Wasser als bisher für die Landwirtschaft aus dem Okavango entnehmen. Die Ausdehnung der Landwirtschaft könnte auch die Wasserqualität im Zufluss vermindern. Das Wasser im Okavango ist heute nährstoffarm (oligotroph). Wird Dünger ausgewaschen, könnte dies zu einer Eutrophierung des Deltas führen.

TEC21: Wie gut bekannt waren die hydrologischen und wasserwirtschaftlichen Verhältnisse in der Region, als Sie mit Ihrem Forschungsprojekt begannen?

W. K.: Viele der Phänomene waren bereits gut erforscht, vor allem durch eine Forschungsgruppe an der University of the Witwatersrand in Südafrika und das Okavango Research Institute der University of Botswana. Wir als Ingenieure versuchen, diese qualitativ bekannten Vorgänge mit Zahlen zu belegen. Wir haben zum Beispiel ein Modell entwickelt, um zu zeigen, wie sich das Delta aufgrund einer Wasserentnahme im Oberstrom verändern würde.

TEC21: Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?

W. K.: Wir haben ermittelt, dass man etwa 58 m³ Wasser pro Sekunde bräuchte, um das gesamte bewässerungswürdige Land in Angola zu bewässern.3 Das ist mehr als die Hälfte der rund 100 m³/s, die der Okavango heute in der Trockenzeit führt. Unsere Modellierungen ergeben, dass man höchstens 15 bis 20 m³/s entnehmen sollte, um das Delta nicht irreversibel zu stören. Sonst werden die regelmässig überfluteten Flächen stark abnehmen, und an den Stellen, die nicht mehr jährlich überflutet werden, wird das für die Tiere wichtige Grasland von Bäumen verdrängt (Abb. 6).

TEC21: Gibt es neben der Wasserentnahme im Zufluss und der Eutrophierung noch weitere Gefährdungen für das Delta?

W. K.: Ja, im Oberstrom sind Staudämme zur Stromerzeugung geplant. Unsere Berechnungen zeigen aber, dass sie zu klein sind, um sich stark auszuwirken. Das Wasser wird nicht wie bei der Bewässerung dem Fluss entnommen, sondern fliesst nur verzögert ab, was lediglich die Abflussspitzen dämpfen wird. Problematischer ist, dass die Dämme das Sediment im Oberstrom zurückhalten. Wenn weniger Sediment in den Unterlauf gelangt, wird sich das Delta tiefer eingraben. Dies würde eine Verringerung der Dynamik im jährlichen Wandel bedeuten.

TEC21: Lässt sich abschätzen, wie sich die Klimaveränderung auf das Delta auswirken wird?

W. K.: Wir wissen heute noch zu wenig, um sichere Aussagen zu machen. Das Delta liegt nahe der innertropischen Konvergenzzone4, deren Ausdehnung nach Süden die Klimamodelle nicht gut vorhersagen können. Die Modellprognosen für die Temperatur sind recht einheitlich, beim Niederschlag hingegen, ergeben 12 Modelle 12 unterschiedliche Prognosen. 10 von 12 Modellen sagen voraus, dass es trockener wird. In diesem Fall wäre der Einfluss des Klimas vergleichbar mit dem durch die befürchtete Wasserentnahme für die Landwirtschaft. Die grösste Gefahr für das Delta ist, dass beides eintrifft.

TEC21: Zumindest die Wasserentnahmen liessen sich vermeiden oder reduzieren. Gibt es Bestrebungen zu einem Interessenausgleich zwischen Ober- und Unterliegern?

W. K.: Angola, Namibia und Botswana haben sich in der Okavango River Commission, der Okacom, zusammengeschlossen, um eine Lösung zu finden. Zurzeit werden umfassende Bestandesaufnahmen des Einzugsgebiets gemacht und Daten zur Landnutzung, zur Bevölkerungsentwicklung und zu den Zuflüssen erhoben. Unsere Forschungsergebnisse werden in die Diskussionen der Kommission einfliessen. Die Verantwortlichen werden sich zuerst über die allgemeine Entwicklung der Region einigen müssen. Anschliessend wird es leichter sein, über konkrete Zahlen zur maximal erlaubten Wasserentnahme zu verhandeln.

TEC21: Welche Lösungsmöglichkeiten sehen Sie für diesen Konflikt?

W. K.: Ich habe nachgerechnet, ob Botswana nicht einen Teil des Einkommens aus dem Tourismus an Angola abgeben könnte, damit dieses einen genügend grossen Zufluss nach Botswana garantiert. Denkbar wäre auch, dass Botswana wassersparende Bewässerungssysteme in Angola subventioniert. Aber die Gewinne, die Angola mit einem Ausbau der Landwirtschaft erzielen kann, sind so gross, dass die Einkünfte aus dem Tourismus in Botswana dies nicht aufwiegen können. Relativ neu ist die Idee, die Region mit dem grenzüberschreitenden Projekt ‹Kavango-Zambesi Transfrontier Conservation Area›5 für den Tourismus zu entwickeln. Das Potenzial ist vorhanden, denn es gibt noch eine ganze Reihe anderer Naturreservate. Man müsste beispielsweise die Verkehrsverbindungen verbessern, um sie für Touristen attraktiv zu machen. Wenn jedes Land vom Tourismus profitiert, ist vielleicht das Interesse grösser, das Delta zu erhalten.

TEC21: Die Touristen im Okavango-Delta kommen grösstenteils aus Europa und den USA. Müssten nicht auch die industrialisierten Länder einen Beitrag zur Erhaltung des Deltas leisten? W. K.: Will man die Natur dort für die Weltgemeinschaft erhalten, dann müssen internationale Gelder fliessen. Für den einfachen Botswaner wäre es interessanter, das gesamte Land in Weidefläche für Rinder umzuwandeln. Man muss die ökologischen Dienstleistungen, die im Okavango-Delta erbracht werden, bewerten und mit Ausgleichszahlungen belohnen. Es geht dabei um die Erhaltung eines Weltnaturerbes und einen gleichberechtigten Interessenausgleich. Das ist nicht zu verwechseln mit Entwicklungshilfe. Das Delta zu erhalten, sodass die nächsten Generationen dieses faszinierende Feuchtgebiet noch sehen können, ist wichtig. Die Weltbevölkerung wird bis 2050 auf neun Milliarden ansteigen. Da bleibt wenig Platz für die Natur

TEC21: Der Konflikt zwischen genug Wasser für die Menschen und genug Wasser für die Natur wird sich also verstärken. Wie lässt sich dieser entschärfen?

W. K.: Da die landwirtschaftliche Bewässerung den Grossteil des menschlichen Wasserverbrauchs ausmacht, muss man versuchen, die gleiche Menge Nahrung mit weniger Wasser zu erzeugen. Dazu gibt es zwei Möglichkeiten: eine wassersparende Bewässerung und einen effizienteren Umgang mit der Nahrung. In Indien gehen zum Beispiel 30 % der Nahrungsmittel direkt nach der Ernte verloren. Sie werden durch Pilze vernichtet oder von Mäusen gefressen, da sie nicht korrekt gelagert sind. Bei uns landen 25 % des verkauften Brots in der Mülltonne. In den Supermärkten werden 20 % der Nahrungsmittel weggeworfen, ohne dass die Packung aufgemacht wurde. Offenbar sind Nahrungsmittel zu billig. Es spielt auch eine Rolle, was wir essen. Rund 37 % des Getreides weltweit werden zur Fleischproduktion an Tiere verfüttert. Würde man dieses Getreide direkt essen, könnten damit mehr Menschen ernährt werden.

TEC21: Könnte auch der Einsatz landwirtschaftlicher Kulturen, die weniger Wasser benötigen, zum Wassersparen beitragen?

W. K.: Es gibt Versuche, Pflanzen durch andere Sorten oder Arten zu ersetzen, die denselben Zweck erfüllen. Baumwolle verdunstet zum Beispiel sehr viel Wasser, eine genmanipulierte Sorte jedoch nur die Hälfte. Natürlich gibt es Kritiker, aber grundsätzlich sind solche Dinge möglich.

TEC21: Ein Konkurrent bei der Verteilung ums Wasser sind ja auch Biotreibstoffe aus Kulturpflanzen. W. K.: Bis 2050 10 % des weltweiten Treibstoffverbrauchs durch Agrotreibstoffe zu ersetzen, wäre katastrophal. Die Wassermenge, die heute für die Landwirtschaft gebraucht wird, würde um ein Drittel steigen. Wie soll das gehen? Auf jeden Fall werden Nahrungsmittel teurer, was für uns zu ertragen ist, für die Entwicklungsländer aber einer Katastrophe gleichkommt. Gelingt es, Biotreibstoff aus Holz oder Öl aus Algen wirtschaftlich herzustellen, ist das in Ordnung. Solange Treibstoff aber aus Raps, Palmen und anderen Kulturpflanzen in Konkurrenz zur Nahrung hergestellt wird, ist dies hinsichtlich der Wasser- und Landressourcen unsinnig.

TEC21: Zum Schluss würden wir gern noch einen Blick in die Schweiz werfen: Bekommt die Natur bei uns genügend Wasser?

W. K.: Bei uns hat der Konflikt um das Wasser zwischen Mensch und Natur viel früher stattgefunden. Uns geht es jetzt besser, und wir haben keinen Bevölkerungsdruck mehr, deshalb haben wir heute das Privileg, darüber nachzudenken. Wir renaturieren zum Beispiel Flüsse oder versuchen, Feuchtgebiete wiederherzustellen. Wir können es uns leisten, der Natur etwas zurückzugeben. In der Dritten Welt wird es noch lange dauern, bis dieser Punkt erreicht ist. Prognosen gehen davon aus, dass 2050 das Maximum der Bevölkerungsentwicklung erreicht ist. Wenn man da optimistisch bleiben will, muss man weit in die Zukunft schauen, bis der Konflikt zwischen Mensch und Natur wieder entschärft werden kann.

TEC21, Fr., 2011.10.07



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2011|41 Begehrtes Wasser

25. März 2011Daniela Dietsche
TEC21

Potenzial besser nutzen

Das neue Wasserkraftwerk in Rheinfelden wird im September 2011 offiziell eingeweiht. Es besteht im Wesentlichen aus einem Maschinenhaus am linken Ufer und einem quer zum Fluss errichteten Stauwehr auf der gleichen Achse. Die Anlage erzeugt bei Vollauslastung dreimal so viel Energie wie das alte Kraftwerk. Technische, logistische und ökologische Herausforderungen begleiteten die Planung und den Bau des deutsch-schweizerischen Projekts.

Das neue Wasserkraftwerk in Rheinfelden wird im September 2011 offiziell eingeweiht. Es besteht im Wesentlichen aus einem Maschinenhaus am linken Ufer und einem quer zum Fluss errichteten Stauwehr auf der gleichen Achse. Die Anlage erzeugt bei Vollauslastung dreimal so viel Energie wie das alte Kraftwerk. Technische, logistische und ökologische Herausforderungen begleiteten die Planung und den Bau des deutsch-schweizerischen Projekts.

Das Wasserkraftwerk Rheinfelden liegt am Hochrhein an der Grenze zwischen dem Kanton Aargau und Baden-Württemberg. Im Jahr 1988 lief die Konzession für das erste Kraftwerk am Rhein ab (vgl. «Das erste Werk am Rhein», S. 18). Daraufhin erteilten der schweizerische Bundesrat und das Regierungspräsidium Freiburg eine Konzession für weitere 80 Jahre. Diese erlaubte, das alte Kraftwerk zunächst weiterzubetreiben. Parallel dazu sollte jedoch eine neue Anlage gebaut werden, um die Nutzung der regenerativen Energien zu intensivieren und die Energieproduktion zu erhöhen. In der Konzession wurde festgelegt, dass die turbinierte Wassermenge von 600 m³/s auf 1500 m³/s vergrössert und die Jahresproduktion von 185 Mio. kWh auf 600 Mio. kWh erhöht wird. Dafür wurde die Vergrösserung des nutzbaren Gefälles durch einen Höherstau im Oberwasser und eine Eintiefung im Unterwasser gestattet.

Verändertes Landschaftsbild in der Rheinsohle

Da sich ein Neubau unweigerlich auf Natur und Landschaft auswirkt, wurde für das Neubauprojekt in Rheinfelden eine zweistufige Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) nach Schweizer Gesetz angewendet. In Deutschland gab es 1985 dazu noch keine Gesetzgebung. Im Rahmen dieser UVP wurden Auswirkungen des Vorhabens im Detail untersucht, und als wichtigste ökologische Auflage wurde festgelegt, dass mindestens die Hälfte der Gwildfläche biologisch funktionsfähig erhalten bleiben muss. Das sogenannte Gwild ist eine der charakteristischen felsigen Stromschnellen des Hochrheins. Bei Niedrigwasser nutzten unter anderem Zugvögel dieses Gebiet zum Übernachten. Durch die Ausbaggerung der Rheinsohle für die Eintiefungsrinne im Unterwasser gingen rund 46 % des landschaftsprägenden Gwilds verloren. Um diesen Eingriff zu kompensieren, wurden 65 Ausgleichs- und Ersatzmassnahmen erarbeitet. Die zentrale Massnahme ist das Aufstiegs- und Laichgewässer, das derzeit im ehemaligen Oberwasserkanal erstellt wird (vgl. «Raum für Nase und Co.», S. 28). Das Umgehungsgewässer wurde mithilfe von Modellversuchen gestaltet. Dabei wurde festgestellt, dass aufgrund des benötigten Gefälles das alte Maschinenhaus weichen muss. Beim Planfeststellungsverfahren in den 1990er-Jahren musste man daher zwischen Denkmalschutz und Ökologie abwägen. Überlegungen, das bestehende Gebäude zu erhalten und beispielsweise den Fluss durch die ehemaligen Turbinenkammern zu führen, wurden aufgrund der schlechten Bausubstanz und der hohen Kosten nicht weiterverfolgt. Die Abbrucharbeiten haben inzwischen begonnen. Die alte Anlage wird bis Juni 2011 rückgebaut.

Hydraulik als zentrales Planungsinstrument

Um das geplante Kraftwerk hydraulisch zu prüfen und zu optimieren, wurden von 1992 bis 1994 an der Universität Karlsruhe Modellversuche durchgeführt. Wichtige Randbedingung war, dass die bestehende Anlage so lange Strom liefert, bis zwei der neuen Turbinen in Betrieb sind. Das bestehende Kraftwerk wurde daher in das Modell eingebaut. Vorgängige langjährige Wasserspiegelmessungen halfen, das Modell zu eichen. Die Versuche bestätigten, dass der Standort für die neue Kraftwerksanlage in Bezug auf die Hydraulik optimal gelegt wurde (Abb. 2). Gemäss Konzession musste das Oberwasser um 1.40 m erhöht werden.

Diese Stauerhöhung erfolgte im Oktober 2010, womit ein maximales Gefälle von 9 m erreicht wurde. Viele Optimierungsuntersuchungen mussten für die Anströmung des Maschinenhauses, die Strömungsverhältnisse in den Turbinenkammern und deren Geometrie durchgeführt werden.

Eine weitere Untersuchung im Modell war der Nachweis der Stauwehrkapazität auf der Grundlage, dass ein Hochwasser von 5400 m³/s abgeführt werden kann. Es zeigte sich, dass ein Stauwehr mit sieben Stauwehrfeldern und einer Breite von 200 m diese Anforderung erfüllen kann. Das Stauwehr liegt auf der gleichen Achse wie das Maschinenhaus und wurde quer zum Fluss errichtet. Drei der Wehrschütze wurden zur Feinregulierung mit Klappen versehen. Im Anschluss an das Maschinenhaus beginnt im Unterwasser eine 100 m breite und 1800 m lange Abflussrinne, in der das turbinierte Wasser abgeführt wird. Sie ist zu Beginn rund 10 m tief und geht dann zurück auf 3 bis 4 m. Die optimale Abströmung und die Dimensionierung der Eintiefung ergaben sich ebenfalls aus Modellversuchen. Durch diese Eintiefung wird der mittlere Wasserspiegel unterhalb des Kraftwerks, im Bereich des Gwilds, um etwa 50 cm gegenüber dem ursprünglichen Mittelwasserstand abgesenkt. Dies führt dazu, dass Teile des heutigen Flussgrunds sichtbar werden und die Funktion der Stromschnellen übernehmen. Ein Dotierablass (mit Turbine) im Trennpfeiler zwischen Maschinenhaus und Wehr hat die Aufgabe, die verbleibende Gwildfläche mit der in der Konzession vorgeschriebenen Restwassermenge von 30 m³/s zu bewässern.

Etappierte Bauweise

Da für den Bau der Anlage die Ableitbarkeit eines Bauhochwassers von 4000 m³/s nachgewiesen werden musste, war eine etappierte Bauweise nötig. Man untersuchte am Modell verschiedene Varianten, um Grösse, Form und Anzahl der Baugruben festzulegen. Als beste Lösung stellte sich eine Ausführung in drei Abschnitten heraus (Abb. 3). Sie engte den Flussquerschnitt so wenig wie möglich ein. Zunächst wurden die Stauwehrfelder 5 bis 7 und im Anschluss die Stauwehrfelder 2 bis 4 erstellt, in einer dritten Phase das Maschinenhaus, das Stauwehrfeld 1 und die Eintiefung. Um die Baumassnahmen in einem trockenen Zustand ausführen zu können, musste jeweils eine Baugrubenumschliessung im Rheinbett erstellt werden. Des Weiteren musste rund um die Baugrube ein Dichtungsschleier im Flussbett hergestellt werden, sodass möglichst kein Wasser eindringen konnte. Der Aushub erfolgte mittels Lockerungssprengungen. Das Fundament für die Baugrubenumschliessung bildete eine überschnittene Bohrpfahlwand mit einem Durchmesser von 900 mm, die 10 m tief in die Felssohle eingebracht wurde. Auf dem Fundament wurden die Stahlwände der Spundwand aufgestellt und verankert. Anschliessend wurden die Baugruben trockengelegt und nach den Arbeiten wieder geflutet.

Der Untergrund am Projektstandort besteht aus Muschelkalk, gefolgt von Dolomitfels mit anschliessendem Anhydritbereich. Trotz vielen geologischen Erkundungen stiess man in der zweiten Baugrube auf einen 8 m tiefen Hohlraum, der eine Breite von 23 m aufwies. Um einen Grundbruch zu verhindern, wurde er mit einer bewehrten überschnittenen Bohrpfahlwand gesichert.

Überflutete Keller

Aufgrund der geologischen Eigenschaften des Muschelkalkfelses kommuniziert das Grundwasser direkt mit dem Rheinwasserspiegel, was mit Grundwassermodellrechnungen nachgewiesen wurde (vgl. Kasten S. 25). Von der veränderten Grundwassersituation und dem Höherstau war vor allem das dicht am Rhein stehende Schloss Beuggen auf der deutschen Seite betroffen, was aufwendige Sicherungsmassnahmen erforderte. So wurden die gefährdeten Gebäude mit einem Horizontaldichtungsschleier im Mauerwerk gesichert, eine äussere und innere Abdichtung aufgebracht und die Keller aufgefüllt. Das gleiche Verfahren wurde bei einzelnen Gebäuden der flussabwärts stehenden Industrieanlagen angewandt. Des Weiteren mussten Fischereianlagen wie Galgenbären, Buhnen und Fischerhütten dem neuen Stauspiegel angepasst werden.

Technik unter Wass er

Damit die Sicht auf den Rhein nicht gestört wird, wurde in der Baugenehmigung eine flache Bauweise der Kraftwerksanlage verlangt. Das Maschinenhaus ragt daher nur 2 m über die Wasseroberfläche. Lediglich das Empfangsgebäude steht sichtbar in der Landschaft. Für die Betonarbeiten des Maschinenhauses war eine präzise Vermessung wichtig. Die Abweichung der Parallelität der Wände in den Turbinenschächten darf lediglich 2 mm betragen, damit die Turbinen präzise eingebaut werden und arbeiten können.

Von der Leitzentrale aus wird das Kraftwerk elektronisch überwacht und gesteuert. Personal wird nur noch für Inspektion und Wartung eingesetzt. Treten Netzteilstörungen auf oder fehlt Wasser, reagieren die technischen Anlagen selbstständig. An beiden Ufern liefern Pegelmessungen Informationen, um die Turbinen und das Stauwehr zu steuern. Seit Beginn des Jahres arbeiten die vier Rohrturbinen, auch Horizontalturbinen genannt, unter der Wasseroberfläche, von aussen unsichtbar. Sie leisten bei Vollauslastung 100 MW. Dies wird nach statistischen Auswertungen an etwa 50 Tagen des Jahres der Fall sein. Reicht das Wasser im Rhein nicht aus, wird die Leistung der Turbinen gedrosselt oder werden einzelne zeitweise abgeschaltet. In einem Störfall können die Turbinen (drehende Teile, ca. 230 t) innerhalb von 9.4 Sekunden abgeschaltet werden. Der produzierte Strom wird je zur Hälfte in das Schweizer bzw. das deutsche Netz eingespeist.

TEC21, Fr., 2011.03.25



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2011|13 Kraftwerk Rheinfelden

03. Dezember 2010Daniela Dietsche
TEC21

Schutzpatronin

Die Heilige Barbara wird als Schutzpatronin von Bergleuten und Tunnelbauern verehrt. Nach der Überlieferung ist sie eine frühchristliche Frauenfigur, die für ihre Überzeugung in der Römerzeit den Märtyrertod erlitten hat. Zahlreiche Kirchen und Reliquien weltweit deuten auf ihre Verehrung als Heilige hin. Jedes Jahr am 4. Dezember gedenken Mineure und Bergleute ihrer Schutzpatronin.

Die Heilige Barbara wird als Schutzpatronin von Bergleuten und Tunnelbauern verehrt. Nach der Überlieferung ist sie eine frühchristliche Frauenfigur, die für ihre Überzeugung in der Römerzeit den Märtyrertod erlitten hat. Zahlreiche Kirchen und Reliquien weltweit deuten auf ihre Verehrung als Heilige hin. Jedes Jahr am 4. Dezember gedenken Mineure und Bergleute ihrer Schutzpatronin.

Die aufwendige Inszenierung des Gotthard-Durchschlags und die Rettung der Bergleute in Chile haben die Heilige Barbara in den letzten Monaten in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Die Schutzpatronin der Tunnelbauer und Bergleute wird weltweit in der römischkatholischen, der griechisch-orthodoxen, der russisch-orthodoxen und der koptischen Kirche verehrt. Sie ist auch Patronin der Geologen, Hüttenleute und Artilleristen. Ihnen haben sich unter anderem Sprengmeister, Feuerwehrleute, Glockengiesser, Ärzte und Apotheker angeschlossen. Wissenschaftliche historische Zeugnisse zur Person der Heiligen Barbara jedoch fehlen: Authentische Quellen kennen ihren Namen nicht, sodass sie historisch eigentlich nicht existiert. Ihre weit verbreitete Verehrung ist dennoch sicher älter als die Legende, die sich erst im 7. Jahrhundert gebildet hat.[1]

Ein drittes Fenster als Zeichen der Dreieinigkeit

Es existieren unzählige Versionen der Legende der Heiligen Barbara, die sich auch teilweise widersprechen. Entstanden ist diese Vielzahl vermutlich durch Hinzufügen oder Weglassen von einzelnen Punkten bei den Abschriften. Die «Legenda aurea» (ca. 1250) gilt als die berühmteste, ausführlichste und am weitesten verbreitete Heiligengeschichte. Sie besagt, dass Barbaras Vater, der mächtige und heidnische Dioskorus, im 3. Jahrhundert zur Zeit des Kaisers Maximianus in Nikomedia[2] lebte. Er liebte seine Tochter über alles und versuchte, sie vor jeglicher Berührung mit der Welt zu bewahren, nicht zuletzt, um sie den Einflüssen der Christenlehre zu entziehen. Dioskorus liess einen Turm bauen, in den er Barbara während seiner Abwesenheit einschloss. In dieser Abgeschiedenheit begann sie, über die Welt und ihren Schöpfer nachzudenken, und richtete einen Brief mit ihren Fragen zum Christentum an den Gelehrten Origines[3], der in dieser Zeit in Alexandria lebte. Priester Valentinus überbrachte ihr seine Antwort persönlich, belehrte und taufte sie; ihrem Vater sagte sie, Valentinus sei ein in der Heilkunst erfahrener Alexandriner.

Als Dioskorus beabsichtigte, Barbara zu verheiraten, erwiderte sie nur zornig: «Zwinge mich nicht, dies zu tun, Vater.» In der Legende heisst es weiter: Daraufhin verliess er sie und stellte eine Menge Künstler an, um ein Badehaus zu bauen. Ob er dies tat, um seine Tochter zu besänftigen, ist aus der «Legenda aurea» nicht ersichtlich. Bevor er für längere Zeit verreiste, bestimmte er, wie das Bad aussehen sollte, und bezahlte die Handwerker, doch während seiner Abwesenheit bat Barbara diese, ein drittes Fenster als Zeichen der Dreieinigkeit einzubauen. Als Dioskorus zurückkehrte, offenbarte sie sich ihm als Christin. Er ermahnte sie, sich den alten Göttern wieder zuzuwenden, aber alle Vorhaltungen blieben erfolglos: Die Götterbilder im Turm waren bereits durch Kreuze ersetzt. Der wütende Dioskorus wollte seine Tochter auf der Stelle mit dem Schwert töten. Barbara betete, ein Fels spaltete sich, nahm sie auf und versetzte sie auf einen Berg, doch der Vater fand sie, und Barbara sollte vor dem Präfekten Marcianus dem neuen Glauben abschwören. Die Folter konnte sie jedoch nicht im Glauben erschüttern. In der Nacht erschien ihr im Verlies Christus, für den sie gelit- ten hatte, und befreite sie von ihren Wunden. Den Folterqualen sollte die Hinrichtung folgen. Schliesslich tötete sie ihr Vater mit dem Schwert. Dioskorus musste diese Tat direkt büssen: Er wurde vom Blitz getötet. Barbara wurde wohl nicht älter als 20 Jahre.

Verehrung folgte der Ausbreitung des Christentums

Nach ihrem Leben und Martyrium in der Übergangszeit vom 3. zum 4. Jahrhundert[4] traten im Orient bald erste Zeugnisse für ihre Verehrung als Bekennerin des Glaubens auf. So sollen ihre Gebeine schon 565 nach Konstantinopel geholt und dort um 900 eine St.-Barbara- Kirche erbaut worden sein.1 Von Kleinasien aus gelangte die Geschichte der Barbara auf das europäische Festland. Die abendländischen Kreuzzüge zur Eroberung des Heiligen Landes (12. und 13. Jahrhundert) spielten dabei eine wichtige Rolle, da die zurückkehrenden Kreuzritter die Barbaralegende mit nach Mitteleuropa brachten. Über Spanien und Portugal kam sie zur Zeit der Konquistadoren nach Süd- und Nordamerika.

In der koptischen Kirche wurde sie schon früh als Heilige gewürdigt. Ihre Anhänger verehren sie noch heute in der Barbarakirche zu Kairo aus dem 5. Jahrhundert. Als das älteste Bild der Heiligen gilt ein Fresko von 705 in der frühchristlichen Kirche Sankt Maria Antiqua auf dem Palatin in Rom, und in Trier ist 1161 ein Barbara-Kloster urkundlich nachweisbar. Von etwa 800 an tauchen Reliquien in Italien, Griechenland, in den Niederlanden, Polen und Russland auf.

Schutz für Kumpel und Mineure

Schon um 1300 wählten die Bergleute Santa Barbara als ihre Schutzpatronin. Der Hinweis in verschiedenen Fassungen der Legende, dass der Berg oder der Fels sich vor ihr öffnete und sie vor dem Vater verbarg, könnte dazu beigetragen haben. Während in der Frühzeit ihre Verehrung in Mitteleuropa nur regional und eingeschränkt nachweisbar ist, gehörte sie vom 14. Jahrhundert an zu den bedeutendsten Heiligen.[1]

Je nach Gefahrenlage durch Seuchen, Kriege oder Naturgewalten hat sich die Bedeutung der Heiligen Barbara gewandelt. Zum Beispiel soll Barbara, als die Weisende, die Bewohner der Gegend um das Bergwerk Gonzen im sankt-gallischen Rheintal, das jahrhundertelang stillgelegt war, erneut auf die Erzgrube hingewiesen haben (vgl. S. 24). Ihre Rolle als Retterin aus Gefahren erzählen unzählige Geschichten über die Rettung von Bergleuten. Von Barbara als der Bestrafenden von frevelhaftem Verhalten wird in Sagen erzählt, in denen zum Beispiel Bergleute an ihrem Gedenktag, dem 4. Dezember, arbeiteten.[5]

Mehr gesellschaftliche als religiöse Bedeutung

Die Verehrung der Barbara als Schutzpatronin und Nothelferin[6] hat sich bis in die Gegenwart hinein wenig verändert. Der Berufsstand der Bergleute und Tunnelbauer zeigt heute noch ein ausgeprägtes Bewusstsein für ihr Patronat. In vielen Bergwerken sind Schreine eingerichtet, in denen die Heilige Barbara dargestellt ist, ebenso wie an den Tunnelportalen. Trotz den technischen Erleichterungen und den fortschrittlichen Gesundheits- und Arbeitsschutzmassnahmen wird die Heilige Barbara zum Schutz vor dem plötzlichen Tod angerufen. Ihre Ausstrahlungskraft überdauerte Jahrhunderte und ist dem Zeitgeist nicht gewichen. Ihre zahlreichen Standorte und von ihr ausgehenden Volksbräuche belegen ihre Wichtigkeit. Ein Heiligenfest wird in der Regel am Todestag des Heiligen gefeiert, da er als der Tag der Geburt für ein himmlisches Leben gilt. Der Barbaratag wird in allen Bergwerken, Stollen und Tunneln des Abendlandes als Feiertag begangen. So ruht auch auf allen Tunnelbaustellen der Schweiz am 4. Dezember die Arbeit. Ungeachtet der Religionszugehörigkeit wird zu Ehren der Heiligen Barbara eine Messe gefeiert. Sie erhält Blumen, man spricht ein Gebet und gedenkt der verunglückten Arbeitskollegen. Anschliessend wird ausgiebig gefeiert.

TEC21, Fr., 2010.12.03



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2010|49-50 Schutz im Untergrund

«Wir müssen die soziale Kreativität mehr nutzen»

Von der drohenden Klimaveränderung wissen wir alle. Trotzdem ergreifen wir nur sehr zögerlich Gegenmassnahmen. Von Heinz Gutscher, Sozialpsychologe und Professor am Psychologischen Institut der Universität Zürich, wollten wir wissen, warum das so ist und wie sich Verhaltensänderungen beschleunigen lassen.

Von der drohenden Klimaveränderung wissen wir alle. Trotzdem ergreifen wir nur sehr zögerlich Gegenmassnahmen. Von Heinz Gutscher, Sozialpsychologe und Professor am Psychologischen Institut der Universität Zürich, wollten wir wissen, warum das so ist und wie sich Verhaltensänderungen beschleunigen lassen.

TEC21: Obwohl wir wissen, wie sich unser Verhalten auf das Klima und die gesamte Umwelt auswirkt, handeln wir in vielen Bereichen noch nicht umweltverträglich. Wie ist das zu erklären?
Heinz Gutscher: Man staunt oft, wie wenig die Leute tatsächlich wissen. Aber selbst wenn sie das Wissen haben, heisst das nicht automatisch, dass sie es auch anwenden. Es kommt darauf an, wie sie die von der Wissenschaft vorausgesagten Konsequenzen bewerten. Erst wenn diese positive oder negative Emotionen auslösen, ergibt sich daraus die Motivation, etwas ändern zu wollen. Es ist beispielsweise zu befürchten, dass bis 2050 viele Inselstaaten im Meer versinken, aber diese Inseln sind einfach zu weit weg. Auch die schmelzenden Gletscher in der Schweiz bewegen uns nicht wirklich alle. Wir leben in einer privilegierten Ecke der Erde und werden die Auswirkungen der Klimaveränderung anders, später und auch indirekter zu spüren bekommen.

TEC21: Sie meinen, dass die Klimaveränderung die Menschen emotional zu wenig bewegt, um sie zum Handeln zu motivieren?
Heinz Gutscher: Ja. Ausserdem gehört der Klimaschutz nicht zu den menschlichen Grundmotiven. Die Evolution drängte uns primär, zu überleben und einen gewissen Grad an Sicherheit und Komfort zu erreichen. Beim Abschätzen der Bedrohlichkeit des Klimawandels versagt unsere Intuition, kurz: Die Klimaveränderungen verbinden wir noch zu wenig mit realen Bedrohungsszenarien.

TEC21: Das Auftauen der Permafrostzonen in den Alpen ist aber eine Bedrohung, die sich direkt vor unserer Haustür abzeichnet.
Heinz Gutscher: Die Bedrohung ist in diesem Fall konkret, zumindest für die Menschen in den betroffenen Regionen. Aber ich habe grosse Zweifel, ob das uns alle in unserem Alltag wirklich bewegt. Viele Risiken sind immer noch relativ abstrakt, da sie uns nur von der Wissenschaft vermittelt werden, das heisst von Leuten, die sich ab und zu auch widersprechen, die extreme und weniger extreme Szenarien vorhersagen. Hier gibt es die Tendenz zu sagen: ‹Da warten wir mal, bis die sich geeinigt haben.›

TEC21: Distanziert man sich vielleicht auch von diesen Fakten, weil es fast immer Negativmeldungen über Bedrohungen und Risiken sind, die man irgendwann nicht mehr hören möchte? Wären Positivbotschaften nicht die bessere Wahl?
Heinz Gutscher: Ich denke, es braucht beides. Auf glaubwürdige Art Angst zu machen, ist ein sehr wirksames ‹Instrument›, wenn eine zumutbare und realisierbare Gegenmassnahme verfügbar ist. Wir sind von unseren Anlagen her höchst effiziente ‹Gefahrenvermeidungswesen›. Daher achten wir mehr auf Negativ- als auf Positivmeldungen. Wir haben eine klare Asymmetrie in der Verarbeitung. Aber natürlich sind auch Erfolgsmeldungen wichtig, um den Leuten Hoffnung zu machen, dass Verhaltensänderung etwas bringt. Beim Klimaschutz halte ich das allerdings für problematisch. Gewisse negative Auswirkungen wird es trotz allen Bemühungen geben – wenn auch wohl in einem geringeren Ausmass als ohne Gegenmassnahmen.

TEC21: Steht uns bei Veränderungen nicht oft auch die Gewohnheit im Weg?
Heinz Gutscher: Ja, Menschen sind Status-quo-Geschöpfe. Routine entlastet vom Nachdenken. Wenn man etwas ändert, muss man auf neue Gefahren achten. Damit man Lust hat, etwas Neues auszuprobieren, braucht es finanzielle und zeitliche Ressourcen. Auch Ereignisse wie die Eröffnung der Zürcher Westumfahrung oder die Sperrung eines Tunnels können Anlass sein, Gewohnheiten zu ändern.

TEC21: Kann man nicht auch unabhängig von so einem Ereignis die Menschen davon überzeugen, in ihrem Alltag etwas zu verändern?
Heinz Gutscher: Die Psychologie, die Soziologie, die Politologie und auch die Ökonomie kennen verschiedene Techniken zur Verhaltensänderung. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang z.B. das Sichtbarmachen von ‹Pionieren›, die bereits angefangen haben zu handeln. Ich sehe eine grosse Chance darin, deren Handeln stärker ins Licht zu rücken, denn Menschen orientieren sich daran, was andere machen. Dafür müssen sie gar nicht alles verstehen. Ich könnte mir auch vorstellen, das aktiv zu nutzen – der Nachbar als sozialer Multiplikator. Über Zeitungsinserate könnte man z.B. Leute suchen, die bereit sind, von Haus zu Haus zu gehen und über die Erfahrungen mit ihrer Solaranlage zu sprechen. Direkte menschliche Kommunikation hat grosse Vorteile: Sie ist bis zu einem gewissen Grad selbstheilend. Wenn die Leute geschickt genug sind oder gut ausgebildet, merken sie, wenn sie eine Person anders behandeln oder Dinge nochmals erklären müssen. Das kann ein gedruckter Flyer nicht.

TEC21: Nehmen wir an, jemand ist zu der Überzeugung gelangt, dass er sich umweltfreundlicher verhalten möchte. Das heisst ja noch nicht, dass er dann auch wirklich so handelt.
Heinz Gutscher: Oft sind es äussere Faktoren, die dem umweltfreundlichen Verhalten entgegenwirken. Diese Schwierigkeiten des Verhaltens muss man unbedingt berücksichtigen. Das ‹Wollen› ist das eine, es geht aber auch um das ‹Können› – kann ich mich überhaupt nachhaltig verhalten? Wenn eine Person zum Beispiel auf das Auto verzichten möchte, aber keinen ÖV-Anschluss in der Nähe hat, ist die Verhaltensschwierigkeit extrem. Es braucht entsprechende strukturelle Grundbedingungen – die Infrastruktur oder die Dienstleistungen, die es mir ermöglichen, mich entsprechend zu verhalten, oder die umgekehrt umweltschädigendes Verhalten verhindern. Fehlen beispielsweise Parkplätze in der Innenstadt, wird eher auf das Auto verzichtet. Ich muss auch die ökonomischen Mittel und die zeitlichen Ressourcen dafür haben. Aber selbst wenn man sich umweltfreundlich verhalten will und auch die Möglichkeit dazu hat, muss man es im entscheidenden Moment auch tatsächlich tun. Dafür gibt es heute schon verschiedene technische Hilfsmittel, die uns in der entsprechenden Situation darauf aufmerksam machen, dass wir etwas tun könnten.

TEC21: Können Sie ein Beispiel nennen?
Heinz Gutscher: Ja, es gibt Versuche mit Feedbackanzeigen, die – in der Wohnung angebracht – ihre Farbe ändern, je nachdem, ob momentan viel oder wenig elektrische Energie gebraucht wird.[1] Es hat sich gezeigt, dass diese Form von Feedback Vorteile gegenüber einem digitalen Display mit Zahlen hat, weil es schneller und intuitiver zu verarbeiten ist. Es gibt auch Untersuchungen mit Robotern, die zum Benutzer sprechen. Auch ein solches ‹soziales› Feedback ist wirksamer als die Kommunikation reiner Fakten in Zahlenform. Es ist quasi eine Missbilligung aus der sozialen Umgebung.

TEC21: Wenn ich umgekehrt aber das Gefühl habe, ich sei der Einzige, der sich umweltgerecht verhält, erzeugt das unter Umständen Frustration, weil der einzelne Beitrag eigentlich nichts bringt. Wie kann man dem entgegenwirken?
Heinz Gutscher: Wir müssen versuchen, für die Einzelnen die kleinen Beiträge aller anderen zu addieren und (mindestens virtuell) sichtbar zu machen. Um den Leuten das Gefühl zu geben, dass sie nicht allein sind, gibt es heute tolle IT-Möglichkeiten. Denkbar wäre eine Art Nachhaltigkeits-Facebook, wodurch ich merke, dass es noch viele andere Leute gibt, die sich nachhaltig verhalten, und wo ich auch Tipps bekomme. Es gibt auch die Möglichkeit, sogenannte ‹Alle-oder-niemand-Verträge› zu schliessen. Man sagt beispielsweise, unser Ziel ist, die Schadstoffbelastung in der Stadt um so und so viel Prozent zu senken. Um das zu erreichen, braucht es 20 000 Beiträge, das heisst 20 000 Leute, die mit ihrer Unterschrift bezeugen, das versprochene Verhalten, etwa im Verkehrsbereich, auszuführen, wenn alle diese Beiträge zusammenkommen. Der Vorteil davon ist: Wenn es gelingt, wird ein messbarer Effekt erreicht. Wichtig ist der Grundbefund: Menschen sind bedingt kooperativ. Es ist nicht so, dass wir nur über das Geld gesteuert werden, wir investieren auch etwas für eine Idee. Wenn andere mitmachen, machen wir tendenziell auch mit. Das sind wichtige Befunde, die über die klassische Ökonomie hinausgehen und ein Stück weit optimistisch stimmen. Fairness oder Gerechtigkeit sind bei vielen ebenfalls soziale Grundmotivationen.

TEC21: Welche Bedeutung haben Vorschriften als ein Instrument, Umweltverhalten zu steuern?
Heinz Gutscher: Vorschriften haben eine wichtige Funktion. Wir finden für jede neue soziale Idee Leute, die sie schon umsetzen oder die bereit sind, das unter günstigen Umständen zu tun. Diese Pioniere machen meist zwischen 10 und 20 Prozent aus. Die Mehrzahl der Menschen kann zum Nachfolgen animiert werden. Aber die letzten ca. 15 Prozent, die es nicht kümmert, was jemand anderes macht, und die sich nichts überlegen, können wir nur über Vorschriften und Gesetze mitnehmen.

TEC21: Konzentriert man sich heute zu sehr darauf, Wissen zu generieren oder sich Effizienztechniken zu überlegen, und vernachlässigt darüber die Forschung zu den Bestimmungsfaktoren menschlichen Verhaltens – also wie bringt man die Leute dazu, nachhaltiger zu werden?
Heinz Gutscher: Da gibt es tatsächlich ein Missverhältnis. In den USA fl iessen 97 Prozent der Mittel für die Klimaforschung in die Naturwissenschaften und nur 3 Prozent in die Sozialwissenschaften. Die genauen Zahlen für die Schweiz kenne ich nicht. Die Natur- und die Sozialwissenschaften sind aber nicht die Einzigen, die wichtige Beiträge liefern müssen. Eine witzige Art, auf das Gemeingutdilemma aufmerksam zu machen, war zum Beispiel ein Plakat während unserer Anti-Stau-Kampagne beim Ausbau des Baregg-Tunnels: ‹Ich stehe im Stau, weil die anderen nicht Zug fahren.› Das zeigt, dass es auch die Kreativen braucht. Es braucht alle – die ganz junge Generation, die Künstler, die Freaks. Und ich hoffe, dass auch die Politik gewisse Fantasien entwickeln wird. Wir müssen unsere soziale Kreativität stärker nutzen, um Veränderungen zu beschleunigen.


Anmerkungen:
[1] Die Ergebnisse dieser Studie von Cees Midden, TU Eindhoven, werden im Rahmen der 8th Biennial Conference on Environmental Psychology vom 6. bis 9. September 2009 in Zürich vorgestellt. www.sozpsy.uzh.ch/conference.html
[2] Quelle: Volker Linneweber: Umweltpsychologie – Ansatz und Anliegen, www.umweltpsychologie.de

TEC21, Fr., 2009.05.29



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2009|22 Vom Wissen zum Handeln

«Was man verlangt, sollte man vergüten»

Drei Gesprächsteilnehmer diskutieren die heutige Situation im Ingenieurwesen. Im Vordergrund stehen die Frage nach den Gründen für den herrschenden Futterneid und Punkte wie Marktsituation, Image, Submissionswesen, Urheberrecht und Missgunst. Konkrete Lösungsansätze kommen nicht zum Vorschein – dafür die Erkenntnis, dass diese vor allem aus den eigenen Reihen kommen müssten.

Drei Gesprächsteilnehmer diskutieren die heutige Situation im Ingenieurwesen. Im Vordergrund stehen die Frage nach den Gründen für den herrschenden Futterneid und Punkte wie Marktsituation, Image, Submissionswesen, Urheberrecht und Missgunst. Konkrete Lösungsansätze kommen nicht zum Vorschein – dafür die Erkenntnis, dass diese vor allem aus den eigenen Reihen kommen müssten.

Walter Kaufmann: Wir haben heute die paradoxe Situation, dass Bauingenieure eigentlich zu viel Arbeit haben und trotzdem über schlechte Honorare klagen. Das führt dazu, dass viele permanent überlastet sind und dass im Vergleich zu anderen Branchen weniger attraktive Löhne bezahlt werden können. Wir bewegen uns im marktwirtschaftlichen Umfeld und brauchen die Konkurrenz, um gute Leistungen zu bringen. Niemand verlangt Fantasiehonorare: Es ist mir bewusst, dass wir – gerade bei der öffentlichen Hand – mit Steuergeldern arbeiten und dass diese wirtschaftlich angelegt werden müssen – inklusive unseres Honorars.

Heinz Dudli: In der Schweiz gibt es zu viele Anbieter. Die Mehrzahl der Ingenieurbüros hat weniger als zehn Mitarbeitende. Eine solche Struktur ist weltweit selten. Dieser Konkurrenzkampf – nicht unbedingt «Futterneid» – führt dazu, dass Leistungen zu Preisen angeboten werden, die in keinem Verhältnis zur Komplexität der Aufgabe, unserem Aufwand und unserer Verantwortung stehen. Wir Ingenieure haben es in den letzten Jahren zugelassen, dass unserer hochqualifizierten Arbeit in der Gesellschaft und in der Politik wenig Wertschätzung entgegengebracht wird. Unser Ansehen hat stark gelitten, und unsere Ingenieurleistung, die man früher anerkannt und respektiert hat, ist zur Selbstverständlichkeit geworden.

Kaufmann: Darum werden wir vermehrt Probleme mit dem Berufsnachwuchs bekommen.

Hans Rudolf Spiess: Tiefe Honorare, nicht angemessene Löhne und das daraus resultierende schlechte Image machen den Ingenieurberuf immer weniger attraktiv. Es ist eine sich nach unten drehende Spirale. Die Frage ist, woran es liegt? Ein wichtiger Punkt ist, dass sich Bauingenieure heute in der Öffentlichkeit miserabel verkaufen. Bekannte Architekten schaffen es, sich periodisch öffentlich in Szene zu setzen, ihre Projekte werden in den Medien diskutiert. Vor allem wenn man an private Bauherren denkt, fällt das ins Gewicht: Grosse Privatfirmen wollen Namen. Dazu müssen sich Architekten her vorragend verkaufen. Das fehlt vielen Ingenieuren. Sie könnten sich ruhig mehr in Szene setzen. Dieser Mangel an Öffentlichkeitsarbeit liegt nicht zuletzt daran, dass es Ingenieure viel weniger gewohnt sind, in einem Wettbewerb zu arbeiten – höchstens in einem Brückenwettbewerb – und dass sich Ingenieure aus der Politik verabschiedet haben.

Dudli: Das erlebe ich in der Politik. Wo sind die Ingenieure? Wo ist deren Einsatz? Wenn man nicht weiss, wie eine Vernehmlassung abläuft, wie soll man dann Einfluss nehmen? Kaufmann: Architekten haben deutlich mehr Medienpräsenz – im Positiven wie im Negativen. Es hat Seltenheitswert, wenn etwas über Bauingenieure erscheint. Wenn sich die wenigen einem breiteren Publikum bekannten Berufskollegen, die ab und zu die Gelegenheit erhalten, ihre Meinung kundzutun, dann auch noch negativ über unseren Beruf äussern, schadet das unserem Ansehen massiv.

Spiess: Auch Projekte von namhaften Architekten werden in die Pfanne gehauen. Ein Unterschied zwischen Ingenieuren und Architekten ist jedoch, dass Architekten ein interessantes standespolitisches System haben: die grosse Masse, die SIA-Architekten, und den exklusiven Kreis der BSA-Architekten. Eventuell müssten sich die Bauingenieure überlegen, ob sie nicht auch einen exklusiven Zirkel wollen, um den Level zu heben.

Kaufmann: Solange Ingenieure Mühe haben anzuerkennen, dass ein anderer Ingenieur etwas besser abdecken kann, wird das Ansehen nicht besser. Die Situation führt dazu, dass alle Büros vermeintlich alles können und überall offerieren, auch wenn es nicht ihre Kernkompetenzen betrifft. Wenn die Referenzen oder das Know-how fehlen, versucht man dies mit einem tiefen Preis wettzumachen. Beispiele für die fehlende Anerkennung gibt es viele: Wenn ein Büro bei einem Architekturwettbewerb «mitgenommen» wird und ein anständiges Honorar erhält, dann wird seine Leistung nicht anerkannt, sondern es wird bei Berufskollegen oder beim Auftraggeber quasi als «teurer Krämer» angeschwärzt.
Wenn man einen Brückenwettbewerb gewinnt, gibt es Berufskollegen, die gratulieren. Aber oft wird das Siegerprojekt hintenrum schlechtgemacht – aus Enttäuschung und wegen der leider weitgehend fehlenden konstruktiven Diskussionskultur in unserem Beruf.

Dudli: Wenn ich mich an einem Wettbewerb beteilige, muss ich den Juryentscheid anerkennen. Es gibt immer eine andere Sicht. Das sind teilweise sehr subjektive Einschätzungen. Wichtig ist, dass die Jury darauf achtet, dass die Randbedingungen eingehalten werden.

Spiess: Was die Situation noch unbefriedigender macht, ist die Tatsache, dass die intellektuelle Leistung des Ingenieurs unterbewertet wird. Bei Architekturwettbewerben werden heute von Anfang an Bauingenieure, Haustechniker usw. involviert. Ingenieure werden aber bei Siegerprojekten selten genannt. Sie sind im Zuschlag nicht dabei, und häufig wird ihre Leistung noch einmal ausgeschrieben. Sie müssen gar froh sein, wenn sie mitofferieren dürfen, da sie – juristisch streng genommen – vorbefasst sind. Die intellektuellen Dienstleistungen sind schwierig zu fassen, aber wenn man primär eben diese statt das Honorar ausschreiben würde, könnte sich die Situation ändern. Das hat mit der Gewichtung der Kriterien zu tun. Kaufmann: Man kann durchaus auch heute den Preis weniger gewichten und den weichen Faktoren mehr Gewicht geben. Bei vielen Submissionen wirkt sich dies faktisch aber nicht auf das Resultat aus. Den Bauherren oder Vergabestellen fehlt der Mut, Anbieter selektiv zu bewerten – sie vergeben annähernd gleich viele Punkte, da sie nicht diskutieren möchten. Das führt dazu, dass letztlich doch der Preis allein entscheidend ist.

Dudli: Mit Softkriterien hat die Vergabestelle andererseits einen riesigen Spielraum, um den zu beauftragen, den sie gerne will. Damit wird immer noch sehr stark gespielt. Kaufmann: Heute kommt es oft vor, dass ein Anbieter, der nur 5 bis 10 % billiger ist, den Zuschlag erhält, obwohl er bei den Qualitätskriterien deutlich schlechter abschneidet. Wie gesagt würde das Submissionsgesetz durchaus die Möglichkeiten bieten, anders zu gewichten. Und es gibt zum Glück Bauherren, die den Mut haben, sich zu exponieren und die weichen Kriterien zu bewerten. Das hängt nicht allein von der Vergabestelle ab – sie muss Rückendeckung von den Amtsvorstehern, von der Politik und von uns Ingenieuren haben. Wenn wir als Ingenieure Rekurs einlegen, wenn einmal nicht der Billigste den Zuschlag bekommt, dann untergraben wir jeden Versuch, die Qualität zu honorieren. Mit der Folge, dass dieser Bauherr es in den nächsten zehn Jahren nicht mehr wagen wird, nicht den Billigsten zu berücksichtigen.

Dudli: Zu der ungenügenden Gewichtung der weichen Faktoren kommt hinzu, dass der Auftrag und die geforderte Leistung meist nicht exakt beschrieben werden. Das führt zu Spekula tion. Das Claimmanagement hält in unsere Branche Einzug – und zwar massiv. Kaufmann: Das Grundübel sollte aber keinesfalls darin gesehen werden, dass die Bauherren die Leistungen, die sie verlangen, nicht detailliert ausschreiben. Bei einer intellektuellen Dienstleistung ist das Resultat im Voraus nicht genau definiert, und auch nicht der Weg und die Leistungen, die zu erbringen sind. Ansonsten würde das einer Bestelldienstleistung gleichkommen. Dass wir es bis heute nicht geschafft haben, dass unsere intellektuelle Leistung politisch anerkannt wird, und dass Ingenieurdienstleistungen noch wie Bestellungen von Büromaterial ausgeschrieben werden, das ist unverständlich!

Dudli: Wie soll man diese intellektuelle Dienstleistung ausschreiben? Wir sind 20 Jahre nicht vom Fleck gekommen. Solange wir so ausschreiben, wie wir es jetzt tun, bauen wir wirtschaftlich schlechter als früher. Wir wählen eine Lösung, die technisch gut ist, doch für eine Optimierung fehlt die vergütete Zeit. Wenn in der Ausschreibung deutlicher würde, welche qualitative Leistung in einer gewissen Phase mit welcher Zielsetzung verlangt wird, dann erreichte man einen faireren Wettbewerb, mit mehr Kostentransparenz und für den Bauherrn besseren Entscheidungsgrundlagen für die Bewertung der intellektuellen Dienstleistung. Dies erhebt hohe Ansprüche an den Auslober. Leider sind Personen in den entsprechenden Positionen rar geworden. Das erforderliche Wissen, die Ideen und die Kreativität fehlen. Stattdessen wird heute oft versucht, die Verantwortung sowie die Projekt- und Kostenrisiken auf die Planer abzuschieben, indem man grosszügige Projektabgrenzungen vornimmt, darin enthaltene Leistungen allgemein beschreibt, in grosse Auftragspakete zusammenfasst und als Pauschale offerieren lässt. Diese für unsere Schweizer Strukturen zu grossen Auftragspakete benötigen für die termingerechte Leistungserbringung grosse Konsortien mit entsprechenden Ressourcen. Für den Zuschlag wird der Preis meist massgebend.

Kaufmann: Bei solchen grossen Ausschreibungen ist selbst das Unvorhergesehene zu offerieren, weil der Bauherr keine Nachträge riskieren will. Die Ingenieurbüros müssen dieses Risiko übernehmen und machen es auch.

Spiess: Es reicht schon, wenn sich nur ein Büro darauf einlässt.

Dudli: Gute Ideen und konzentriertes Wissen werden vom Auftraggeber aufgenommen und weitergegeben – aber nicht honoriert.

Kaufmann: Für die Bauherrschaft ist es, kurzfristig gedacht, bequem und günstig, statt eines Gesamtplanerwettbewerbs einen Architekturwettbewerb zu machen. Sie weiss, dass ein Architekturbüro, das eine anspruchsvolle Tragstruktur wählt, ohnehin einen Ingenieur hinzuzieht. Die Bauherren bekommen die intellektuelle Leistung des Ingenieurs quasi gratis. Anschliessend können sie die Ingenieurleistungen offen ausschreiben und einen billigen Anbieter finden, der das Ganze produziert.

Dudli: Bei einer anspruchsvollen Ingenieursubmission ist der Aufwand für die intellektuelle Arbeit horrend, insbesondere dann, wenn Teilleistungen des Vorprojekts erbracht werden müssen. Bei einem Preiswettbewerb ist nur noch die preiseffiziente Umsetzung gefragt. Das sind falsche Anreize. Die Kreativität, das Know-how und die Leistungsfähigkeit sollten zum Auftrag führen. Was man verlangt – hier die intellektuelle Dienstleistung in der Submissionsphase – sollte man entsprechend vergüten.

Spiess: Der nachträgliche Preiswettbewerb funktioniert, weil sich im Nachhinein kaum beweisen lässt, dass der Bau günstiger gekommen wäre, wenn ein anderer Ingenieur die Arbeit übernommen hätte. Vermutlich ist es aber so, dass ein besserer Ingenieur, der 10 % teurer angeboten hat, dafür 10 % der Baukosten eingespart hätte. Ein Ansatz wäre, dass auch bei den Ingenieuren die kreative Idee in die Submission eingebracht und gewichtet wird. Das führt zu einem weiteren kritischen Punkt: dem Urheberrecht. Der Ingenieur, der seine Idee einbringt, kann heute kaum verhindern, dass nach Ermittlung des Siegerprojekts ein anderer zu 80 % seines Honorars die Idee weiterverfolgt. Ein Ingenieur, der an einem Architekturwett bewerb teilnimmt, müsste seine Leistung besser schützen können. Hier besteht Handlungsbedarf.

Kaufmann: Das Problem ist nicht auf Wettbewerbe beschränkt. Wenn ich den Auftrag für eine frühe Projektphase, zum Beispiel für eine Studie, will, dann muss ich oft einen Vertrag unterschreiben, in dem steht, dass ich auf das Urheberrecht verzichte. Spiess: Die öffentliche Hand hat eine Nachfragemacht – sie nimmt die grosse Verantwortung hier zum Teil nicht wahr. In Deutschland gibt es das AGB-Gesetz mit «ungültigen Bauvertragsklauseln ». Was in der Schweiz von der öffentlichen Hand vertraglich gefordert wird, würde in Deutschland oft durch das Gesetz fallen.

Dudli: Warum lässt man das zu? Das Urheberrecht von intellektuellen Dienstleistungen in den Submissionsverordnungen zu verankern, wäre ein kreativer Ansatz. Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Kreativität, das Know-how und die Leistungsfähigkeit zum Auftrag führen, dafür müssen wir Ingenieure mit den Verbänden einstehen und kämpfen. Kaufmann: Wir dürfen nicht darauf vertrauen, dass uns jemand da herausholt, sondern wir müssen selber den Hebel ansetzen. Wir können es allenfalls nicht alleine, aber wir müssen von uns aus diesen ersten Schritt machen.


[Heinz Dudli: dipl. Bauingenieur ETH/SIA; CEO der Edy Toscano AG, Zürich; Präsident der SIA Berufsgruppe Ingenieurbau; Grossrat des Kantons Graubünden
Walter Kaufmann: Dr. sc. techn., dipl. Bauingenieur ETH/SIA; Teilhaber und Vorsitzender der Geschäftsleitung der dsp Ingenieure & Planer AG, Greifensee; Delegierter der Schweizer Gruppe der fib; Mitglied der Arbeitsgruppe Brückenforschung
Hans Rudolf Spiess: dipl. Bauingenieur ETH und lic. iur., SPIESS + PARTNER Büro für Baurecht, Zürich; Geschäft sleiter der Sektion Zürich des SIA; Präsident der SIA-Kommission 118 für Allgemeine
Vertragsbedingungen bei Bauarbeiten; Mitglied des Kantonsrates des Kantons St. Gallen]

TEC21, Fr., 2009.02.27



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2009|09 Futterneid

29. September 2008Daniela Dietsche
TEC21

Flama West Zürich

Im Mai 2009 wird die Westumfahrung Zürich mit dem Üetlibergtunnel eröffnet. Der Transitverkehr durch die Stadt nimmt ab. Dadurch kann ein Ast der Westtangente verschwinden, der «provisorischen Stadtautobahn», die seit 40 Jahren das Quartier Sihlfeld zerschneidet. Im Rahmen der flankierenden Massnahmen (FlaMa West) werden Bullinger-, Sihlfeld- und Weststrasse zurückgebaut; der gesamte Verkehr wird auf der Seebahnstrasse geführt.

Im Mai 2009 wird die Westumfahrung Zürich mit dem Üetlibergtunnel eröffnet. Der Transitverkehr durch die Stadt nimmt ab. Dadurch kann ein Ast der Westtangente verschwinden, der «provisorischen Stadtautobahn», die seit 40 Jahren das Quartier Sihlfeld zerschneidet. Im Rahmen der flankierenden Massnahmen (FlaMa West) werden Bullinger-, Sihlfeld- und Weststrasse zurückgebaut; der gesamte Verkehr wird auf der Seebahnstrasse geführt.

Die Zürcher Strassenplanung der 1950er-Jahre sah vor, drei Autobahnen bis ins Stadtzentrum zu führen und am Platzspitz zu verknüpfen. Das «Expressstrassen-Ypsilon» erwies sich aber als technisch, finanziell und politisch nicht realisierbar.[1] Den wachsenden Verkehr zu bewältigen wurde zur wichtigsten Aufgabe Zürichs.

Der Stadtrat berief den Architekten und Planer Hans Marti als Delegierten für Stadtplanung. Marti hatte als Redaktor dieser Zeitschrift unter dem Titel «Machen Sie diesen Blödsinn nicht» das Ypsilon grundsätzlich kritisiert.[2] Es gelang ihm, die politische Blockade zu lösen: Als provisorische Nord-Süd-Verbindung wurden Anfang der 1970er-Jahre bestehende Strassenzüge zur «Westtangente» ausgebaut. Sie besteht aus zwei zweispurigen Ästen mit Einbahnverkehr (Bild 2). Einer davon wird nun zurückgebaut – das Wohnquartier kann nach 40 Jahren etwas aufatmen.

Flankierende Massnahmen Westumfahrung Zürich

Die neue Hochleistungsstrasse entlastet mehrere Agglomerationsgemeinden und die Stadt Zürich vom Durchgangsverkehr. Es entsteht mehr attraktiver öffentlicher Raum. Flankierende Massnahmen (FlaMa West) greifen punktuell in das regionale Verkehrssystem ein, um den Transitverkehr umzulagern und den innerstädtischen Verkehr zu kanalisieren. Lichtsignalanlagen an den Haupteinfallsachsen in die Stadt werden den Verkehrsfluss dosieren und den Transitverkehr auf die Autobahn lenken. Das bringt die nötige Entlastung, um Stadträume gestalterisch aufwerten zu können.

Auf dem Strassenzug Bullingerstrasse–Sihlfeldstrasse–Weststrasse fahren heute pro Tag ca. 23 000 Fahrzeuge, und der Lärmalarmwert von 70 dB wird permanent überschritten. Nachts schützt ein Fahrverbot die Anwohner der Weststrasse ab der Badenerstrasse, der Verkehr wird jedoch durch andere Stadtteile geleitet.

Die künftigen Verkehrsmengen und die Dimension der Strassenabschnitte wurden mit Verkehrsmodellen berechnet. Diese basieren auf den Spitzenstundenverkehrsaufkommen am Morgen und am Abend im Prognosejahr 2010. Entscheidenden Einfluss hatte auch die Vorgabe, den öffentlichen Verkehr zu bevorzugen und die Situation für Fussgängerinnen und Velofahrer zu verbessern. Es wird davon ausgegangen, dass dank der Autobahn und den flankierenden Massnahmen der Verkehr auf der Bullinger-, West- und Sihlfeldstrasse bis 2012 stark abnimmt. Auf der Seebahnstrasse dagegen wird der Verkehr – und die damit verbundenen Lärm- und Luftemissionen – durch die neue Verkehrsführung zunehmen (Bild 3).

Stadträume gestalten

Mit der Strategie «Stadträume 2010»[3] möchte die Stadt Zürich den Stadtraum wieder stärker als Lebensraum nutzen und eine ruhige, elegante Gestaltungssprache als Standard etablieren. Grundlage der Strategie ist ein hierarchisch angelegter Plan, der die Stadträume in quartier-, stadt- oder landesweit bedeutsame Zonen einteilt. So wird heute die Sihlfeldstrasse als quartierweit oder der Bullingerplatz als stadtweit bedeutender Raum eingestuft. Die Strategie enthält ideale Gestaltungsstandards, denen sich die Gestaltung im gewachsenen Stadtraum nur annähern kann. «Stadträume 2010» war während der Projektierung der flankierenden Massnahmen zwar erst in Bearbeitung – Siedlungs-, Verkehrs- und Umweltplaner sowie die beteiligten Dienstabteilungen der Stadtverwaltung (siehe Kasten «Projektbeteiligte ») arbeiteten jedoch Gestaltungspläne aus, die auf Grundzügen der Strategie basieren.

Die Projektverantwortlichen verzichteten auf Gestaltungswettbewerbe. Dies um – nach Aussage des Tiefbauamtes – ein einheitliches Bild zu erreichen, die zeitlichen Vorgaben einhalten zu können und mögliche Mehrkosten zu vermeiden.

Seebahnstrasse: Rückgrat der Quartiererschliessung

Dass auf der Seebahnstrasse einmal Gegenverkehr eingerichtet werden sollte, war schon bei der Eröffnung der Westtangente in den 1970er-Jahren vorgesehen und ist seit damals so in den Richtplanungen festgelegt. Auf der Seebahnstrasse kann die heutige Strassenbreite allerdings nicht reduziert werden. Die künftig durchgängig zweistreifige Strasse wird weiterhin mit rund 30 000 Fahrzeugen pro Tag belastet sein. Sie wird als Rückgrat für die Erschliessung der umliegenden Quartiere dienen. Bei ihrer Planung standen die Kapazität und die Sicherstellung des Verkehrsflusses im Vordergrund. Durch Abbiegespuren im Kreuzungsbereich variiert die Strassenbreite stark, dem wird gestalterisch je nach Breitenbedarf mit einer überfahrbaren Mittelzone begegnet. Sie kann von Einsatzfahrzeugen der Feuerwehr und der Rettung überfahren werden.

Weststrasse: Raum für Gestaltung

Bullinger-, Sihlfeld- und Weststrasse werden zu Quartierstrassen mit Tempo 30 abklassiert und zurückgebaut. Hier konnte die Gestaltung weitgehend losgelöst von technischen Randbedingungen erfolgen. Die Strassenprofile können verschmälert werden unter Berücksichtigung künftig möglicher Verkehrsorganisationen wie Gegenverkehr, Einbahnverkehr, wechselseitige Parkierung oder Platzgestaltungen. An Kreuzungen mit Hauptachsen führen Niveausprünge teilweise zu einer «Verinselung» des Stadtraums. Die Trottoirabsätze werden aber gebraucht, um die Verkehrsarten zu trennen und die Sicherheit zu gewährleisten. So oft wie möglich wird das Niveau der Strasse dem des Trottoirs angepasst, um ein einheitliches Bild zu schaffen und die Dominanz des Strassenraums zu brechen. Zur optischen Aufwertung werden Bäume gepflanzt. Der Veloverkehr wird durchgängig auf der Fahrbahn geführt. Für den Individualverkehr werden Sperren eingebaut, um den Schleichverkehr aus dem Quartier zu verbannen. Die Ausgestaltung der Strassen ist genügend flexibel, um das Regime künftig anpassen zu können. Durch den vergleichsweise schmalen Querschnitt werden Baumpflanzungen möglich, ohne dass der Mindestabstand von 5 m zu den Gebäuden unterschritten wird. Aufgrund zu geringer Gebäudeabstände und der Lage der Werkleitungen sind Pflanzungen jedoch nicht auf der ganzen Länge möglich.

Insgesamt müssen 120 Parkplätze im öffentlichen Raum aufgehoben werden. Die Liegenschaftsbesitzer werden verpflichtet, vermehrt Parkplätze auf dem Privatareal zur Verfügung zu stellen.

Leben ins Sihlfeld

Wie gut die Massnahmen greifen, der Verkehr fliessen und ruhige, sichere, für den Durchgangsverkehr uninteressante Wohnquartiere entstehen werden, wird sich erst in einigen Jahren zeigen. Die Entlastung wird ab Mai 2009 spürbar sein, dann werden die Baustellen eingerichtet. Dabei bleibt der Verkehr zunächst noch je einstreifig auf beiden Ästen der Westtangente. Der Umbau der Seebahnstrasse für den Gegenverkehr wird voraussichtlich im Sommer 2010 beendet sein. Anschliessend wird der gesamte Verkehr auf die Seebahnstrasse verlegt, und der Rückbau des abklassierten Astes beginnt. Diese Arbeiten dauern voraussichtlich bis 2012.

Anmerkungen:
[1] Jean-Daniel Blanc: Die Stadt – ein Verkehrshindernis. Chronos Verlag Zürich, 1993
[2] Schweizerische Bauzeitung, Vol. 79 (1961): «Machen Sie diesen Blödsinn nicht», Seite 327
[3] Stadt Zürich: «Stadträume 2010», Strategie für die Gestaltung von Zürichs öff entlichem Raum, 2006
[4] Ingenieurgemeinschaft HMM: Technischer Bericht, Bauprojekt FlaMa West N4/N20 Westumfahrung,2006

TEC21, Mo., 2008.09.29



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2008|40 Im Sog der Autobahn

28. Januar 2008Claudia Carle
Daniela Dietsche
TEC21

Ökologische Gesamtschau

Bauen ist immer auch ein Eingriff in die ökologischen und ästhetischen Charakteristika der Landschaft. Damit dieser Aspekt neben den technischen und funktionalen Anforderungen an ein Bauwerk nicht auf der Strecke bleibt, wurde das Instrument der Landschaftspfl egerischen Begleitplanung geschaffen. Ein Gespräch mit Joachim Kleiner, Professor für Landschaftsgestaltung an der Hochschule für Technik in Rapperswil.

Bauen ist immer auch ein Eingriff in die ökologischen und ästhetischen Charakteristika der Landschaft. Damit dieser Aspekt neben den technischen und funktionalen Anforderungen an ein Bauwerk nicht auf der Strecke bleibt, wurde das Instrument der Landschaftspfl egerischen Begleitplanung geschaffen. Ein Gespräch mit Joachim Kleiner, Professor für Landschaftsgestaltung an der Hochschule für Technik in Rapperswil.

TEC21: Könnten Sie erläutern, was die Aufgabe der Landschaftspfl egerischen Begleitplanung (LBP) ist?

Joachim Kleiner: Die LBP versteht sich als begleitender Beitrag zu einem Bauprojekt, sei es aus dem Hoch- oder dem Tiefbau, und behandelt die Themen Natur und Landschaft. Mit der LBP versucht man, eine ökologische und ästhetische Gesamtschau und Optimierung des Projekts zu erreichen. Idealerweise begleitet sie dieses durch alle Projektierungs- und Bauphasen. Das Wesentliche ist der frühe Beizug des Landschaftsplaners, damit man rechtzeitig die richtigen Entscheidungen fällen kann. Es gibt viele Beispiele von Strassenplanungen mit langer Projektierungsgeschichte, bei denen die gewählte Linienführung zur Zerschneidung von Lebensräumen führte und daher später teure Wildbrücken erstellt wurden. Hätte man im Rahmen einer LBP die Landschaft als Ganzes betrachtet, hätte man vielleicht eine Linienführung gefunden, bei der keine Wildbrücke nötig gewesen wäre.

TEC21: Im Zusammenhang mit Bauprojekten existieren im Bereich Umwelt und Ökologie viele verschiedene Begriffe. Wie kann die LBP gegenüber anderen Instrumenten, zum Beispiel der Umweltbaubegleitung (UBB) oder der Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP), abgegrenzt werden?

Joachim Kleiner: Die Frage zeigt ganz gut, wo das Problem liegt: Die verschiedenen Instrumente und deren Bezeichnungen führen auch bei vielen Fachleuten oder Auftraggebern zu Verwirrung. Ein wesentlicher Unterschied ist, dass man mit der LBP versucht, schon bei der Variantendiskussion oder der Standortwahl in die Planung einzusteigen, während sich beispielsweise die UBB auf den eigentlichen Bauprozess konzentriert. Ein weiterer Unterschied ist, dass die LBP inhaltlich schmäler ist. Sie beschäftigt sich mit Natur und Landschaft, die eine qualitative Diskussion erfordern. Bei der UBB geht es dagegen um quantifi zierbare Aspekte wie Erschütterungen, Lärm, Staub et cetera und um das Einhalten der entsprechenden Grenzwerte. Die UVP betrachtet ebenfalls die gesamte Breite der Umweltaspekte. Sie ist aber in erster Linie eine Bewertung dessen, was projektiert wurde, und macht gegebenenfalls Aufl agen. Die UVP ist ab einer bestimmten Projektgrösse vom Umweltschutzgesetz vorgeschrieben. Grundsätzlich müssen sich aber auch kleinere Projekte nach denselben gesetzlichen Vorschriften richten wie UVP-pfl ichtige Projekte. Die LBP ist wie die Umweltbaubegleitung oder die ökologische Baubegleitung nicht gesetzlich verankert. Alle diese Instrumente haben bisher keinen normativen Charakter. Darinunterscheidet sich die Schweiz von Deutschland, wo die LBP – zumindest bei Strassenprojekten – gesetzlich vorgeschrieben ist.

TEC21: Wie lange gibt es die LBP in der Schweiz schon?

Joachim Kleiner: Dieser Begriff kommt aus Deutschland und wurde mit einer SIA-Dokumentation1 aus dem Jahr 2001 in der Schweiz eingeführt. Aber trotz des gleichen Begriffs ist die LBP in der Schweiz und in Deutschland inhaltlich nicht dasselbe. Wir legen Wert darauf, dass sich die LBP für sämtliche Landschaftseingriffe eignet, während sie in Deutschland nur beim Bau von Verkehrswegen angewendet wird.

TEC21: Wer entscheidet, ob eine LBP durchgeführt wird?

Joachim Kleiner: Die Verantwortung dafür liegt beim Auftraggeber. Bisher wird die LBP erst vereinzelt angewandt. Das liegt sicher auch an den vielen verschiedenen Instrumenten. Sie behindern sich gegenseitig, obwohl sie mit verschiedenen Schwerpunkten dasselbe Ziel verfolgen. Im Grossteil der Fälle, in denen heute LBP durchgeführt werden, sind Kantone, Gemeinden oder der Bund die Auftraggeber. Einige Deutschschweizer Kantone – vor allem der Kanton Aargau, aber auch Solothurn und Zürich– verlangen heute eine LBP. Oft fordert sie auch das Bundesamt für Umwelt.

TEC21: Bei welchem Anteil an Bauprojekten wird heute eine LBP durchgeführt? Joachim Kleiner: Das ist eine interessante Frage, aber da müsste man zuerst eine Recherche machen. Meines Wissens ist der Anteil bei Strassenbauprojekten im Kanton Aargau sehr hoch, in Zürich, Solothurn und Bern immerhin wahrnehmbar.

TEC21: Kommen wir nochmals zurück zu den Aufgaben der LBP. Sie sagten, es gehe um Natur und Landschaft, um eine ökologische und ästhetische Gesamtschau des Projekts.

Joachim Kleiner: Ja, Zielsetzung ist eine gesamtheitliche Betrachtung der Landschaft. Dazu gehört das Lesen und Begreifen der Ausgangslandschaft und von deren Charakteristika. Diese Charakteristika können ökologische oder gestaltgebende sein. Es geht dabei sowohl um Fauna und Flora als auch um die Sicht des Menschen, der die Landschaft wahrnimmt. Wenn dies geschehen ist, überlegt man sich, wie die Landschaft nach dem Eingriff aussieht.

TEC21: Und Ziel der LBP ist es dann, dass das neue Bauwerk diese Landschaft möglichst wenig verändert?

Joachim Kleiner: Oft ist es so, dass man einen möglichst unauffälligen Eingriff möchte. Das ist wie bei einer Tiefgarage, einem Tunnel oder einer Überdeckung – aus den Augen, aus dem Sinn. Wir können es uns fi nanziell leisten. Es gibt aber auch Eingriffe, die nicht unauffällig gestaltet werden können, diese müssen dann gut gemacht werden. Die Sunibergbrücke bei Klosters beispielsweise ist überhaupt nicht unauffällig, aber sie ist gut. Und sie tut der Landschaft gut. Der integrative Ansatz mag an vielen Orten richtig sein. Man legt zum Beispiel die Strasse etwas tiefer, damit die Ebene nicht zerschnitten wird. Aber an manchen Orten müssen wir die Strassen auch zeigen und mit dem Eingriff eine neue Landschaft entwickeln. In diesen Fällen ist gestalterische Kreativität gefragt. Unauffälligkeit führt nicht immer zur besten Lösung.

TEC21: Welchen Anteil der Kosten verursacht die LBP an den Gesamtbaukosten?

Joachim Kleiner: Grundsätzlich entstehen die Kosten nicht durch die LBP, von den Planungskosten einmal abgesehen. Die Kosten entstehen durch die gesetzlichen Auflagen.Das Umweltschutzgesetz und das Natur- und Heimatschutzgesetz schreiben vor, dass bei einem Eingriff für Ersatz oder Ausgleich ökologisch wertvoller Landschaftselemente gesorgt werden muss. Meiner Meinung nach sparen wir durch den frühzeitigen Einbezug der LBP Kosten: Flick- oder Reparaturlösungen sind immer teurer.

TEC21: Nach aussen entsteht oft der Eindruck, dass nur wegen einer Käferkolonie oder ein paar Feldhasen teure Lösungen in Kauf genommen werden müssen.

Joachim Kleiner: Das ist richtig, der Eindruck entsteht und wird leider zu wenig korrigiert. Wir reden hier von marginalen Beträgen, die durch diese Ersatz- und Ausgleichsmassnahmen entstehen. Wenn ein neuer Amphibienstandort 100000 Franken kostet, ist das für eine Autobahn nicht viel. So viel kostet auch eine grosse Verkehrstafel. Wir bewegen uns da im Bereich des Kunstprozents. Es geht um die ethische Frage, wie viel uns Natur und Landschaft wert sind. Abgesehen davon hat das wie gesagt nichts mit LBP zu tun, sondern mit den gesetzlichen Vorschriften.

TEC21: Wo endet die LBP zeitlich? Und wie wird die langfristige Pfl ege fi nanziert?

Joachim Kleiner: Für Umgebungsarbeiten dauert die sogenannte Anwuchspfl ege zwei Jahre. In der Dokumentation gehen wir weiter als die normalen Garantiephasen: Wir sind der Meinung, dass es eine Erfolgskontrolle braucht. Hier gibt es ein Problem im System. Wenn ein Kanton eine Strasse baut, dann hat er ein Bauprojekt mit einer Finanzierung für die Realisierungszeit mit anschliessender Garantiezeit. Irgendwann wird die Rechnung abgeschlossen – dann ist die Landschaft aber noch nicht fertig. Also ist es ganz wichtig, sogenannte Pfl egekonzepte zu entwickeln, die an den Betreiber übergehen. Wenn man das Verursacherprinzip zu Ende denkt und das Problem korrekt lösen möchte, müsste man für die Finanzierung Geld auf die Seite legen. Bisher war so viel Geld vorhanden, dass sich immer eine öffentliche Kasse gefunden hat, um später anfallende Kosten zu decken. Mit der zunehmenden Kostenwahrheit, die bei der öffentlichen Hand gefordert ist, und mit diesen ganzen Spardiskussionen wird das ein Problem. Seit 20 Jahren werden Ausgleichs- und Ersatzmassnahmen gefordert, da kommen Flächen zusammen, die etwas kosten.

TEC21: Wo sehen Sie zukünftigen Verbesserungsbedarf bei der LBP?

Joachim Kleiner: Das habe ich mich auch gefragt. Wir haben die Dokumentation geschrieben, und teilweise funktioniert das Instrument LBP jetzt. Aber eigentlich müsste man für einen grösseren Bekanntheitsgrad sorgen. Die LBP ist, im Vergleich zu Städtebau und Architektur, noch nicht zur Kultur geworden. Die Schweiz hat eine Kultur des Wettbewerbs entwickelt und damit eine gute Architekturqualität bekommen. Viele wichtige Bauten werden heute mit einem Wettbewerb gelöst. Bei der Landschaft ist das noch nicht so. Ich kann mir vorstellen, dass man bei grossen Projekten in eine ähnliche Richtung gehen muss. Meine Hoffnung ist, dass sich eine neue Kultur entwickelt, die die LBP als selbstverständlich ansieht. Die SBB haben etliche Brückenwettbewerbe für Teams bestehend aus Landschaftsarchitekten und Bauingenieuren ausgeschrieben. Ich fi nde, das ist ein guter Ansatz. Die Infrastruktur in der Schweiz wird weiter ausgebaut. Es wird darum gehen, die Landschaft attraktiv zu erhalten. Die Landschaft ist ein Standortfaktor, nicht nur für den Tourismus, sondern für die Lebensqualität grundsätzlich. Landschaftseingriffe können vieles kaputt machen, wenn sie nicht gut gemacht werden.

[ Joachim Kleiner, Professor für Landschaftsgestaltung, Hochschule für Technik in Rapperswil. Interview: Claudia Carle, Daniela Dietsche ]

TEC21, Mo., 2008.01.28



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2008|05 Instrument LBP

07. Januar 2008Daniela Dietsche
TEC21

Wasser im Spiel

Ob auf Jahrmärkten oder in Freizeitparks, Wildwasserbahnen sind Besuchermagneten. Diese Anlagen sind für die meisten Menschen körperlich unbedenklich, aber überraschen emotional. Hinter diesem besonderen Typ Fahrgeschäft steckt viel, auf den ersten Blick nicht sichtbares, technisches Know-how.

Ob auf Jahrmärkten oder in Freizeitparks, Wildwasserbahnen sind Besuchermagneten. Diese Anlagen sind für die meisten Menschen körperlich unbedenklich, aber überraschen emotional. Hinter diesem besonderen Typ Fahrgeschäft steckt viel, auf den ersten Blick nicht sichtbares, technisches Know-how.

Als es zum Abtransport des geschlagenen Holzes aus dem Wald noch keine Strasse gab, wurden die Baumstämme auf Rutschen und Gleitbahnen aus dem Wald abtransportiert. In diesen «Riesen» glitten die Stämme durch die Schwerkraft ins Tal. Die Rinnen wurden mit Wasser feucht und glatt gehalten. Der österreichische Förster und Erfi nder Viktor Schauberger (1885–1958) verbesserte die Haltbarkeit und die Transporteigenschaften dieser «Wasserriesen» durch mäanderförmige Kurvenführung und gezielte Wasserverwirbelungen. Diese Art des Holztransports und vor allem die herabschiessenden Stämme in den Rinnen faszinierten die Betrachter schon immer. Heute stürzen Menschen in Baumstämmen nachempfundenen Booten durch künstliche Wasserrinnen – auf Jahrmärkten oder in Freizeitparks. Gesichert durch moderne Technik, geniessen sie dieses Abenteuer.

Bewegung in der Wasserrinne

Bei den Wildwasserbahnen und den «Super Splash» genannten Anlagen werden die unterschiedlich thematisierten Boote mit einem Lift oder einem Förderband nach oben gezogen. Die Fahrt kann nach Erreichen der Krone entweder direkt mit einer Schussfahrt beginnen, oder die Boote werden zuerst noch in einem oberen Wasserkreislauf geführt. Um Richtungswechsel zu ermöglichen, können die Boote auf einer Plattform gedreht werden. Dank diesen Drehstationen können Kurven vermieden werden, falls es die Platzverhältnisse erfordern, und es kann zwischen Vorwärts- und Rückwärtsfahrt gewechselt werden. Bei der auf jeder Wildwasserbahn obligaten Schussfahrt werden die Boote durch Laufräder und seitlich angebrachte Räder sicher geführt. Im Kanal befi ndet sich Wasser, das mit Pumpen nach oben befördert wird und dann über die Auslegung der Kanäle zum nächsten defi nierten Punkt strömt, zum Beispiel zu einem weiteren Lift. Sobald die Besucher die Schussstrecke durchfahren haben, verlässt das Fahrwerk des Bootes die Führung, sodass es im Wasserkanal frei schwimmt. Diese Kanäle bestehen üblicherweise aus Beton oder Kunststoff. Das Strömungsverhalten wird in Verbindung mit dem Gefälle und der zu erwartenden Strömungsgeschwindigkeit im Vorfeld berechnet. Bei der Inbetriebnahme kann das Strömungsverhalten noch leicht beeinfl usst werden, sodass der Wasserstand bei unterschiedlich beladenen Booten ausreicht und die Boote durch ihr natürliches Auftriebsverhalten schwimmen.

Das Wasser verlassen

Die «Wasserachterbahn», eine Kombination aus Achterbahn und Wasserbahn, erlaubt, die Boote auch ausserhalb des Wassers zu führen. Der Schienenkontakt ist damit dem Achterbahnabschnitt vorbehalten. Die Konstruktion der Fahrzeuge ist in diesem Fall besonders aufwändig, weil die Mischung aus Boot und Achterbahnzug problematisch ist: Von der Achs- und Radanordnung her muss das Boot den Verdrehungen der Schiene wie eine Achterbahn folgen können; danach wird es im Wasser abgebremst und schwimmt weiter. Durch das Eintauchen in das Wasser mit hoher Geschwindigkeit werden an die Mechanik,insbesondere an die Lager und Lagerdichtungen, hohe konstruktive Anforderungen gestellt. Um den Benützern ein sicheres Ein- und Aussteigen zu ermöglichen, gibt es für die Wildwasserbahnen verschiedene Bahnhofsgestaltungen. Beim ältesten, inzwischen wenig gebräuchlichen Typ werden die Boote im Kanal von vorn unten mit einer Hydraulik- oder Pneumatikvorrichtung leicht angehoben und so angehalten. Heute werden die Boote in der Regel auf einem Förderband langsam vorwärtsbewegt, und die Fahrgäste steigen während der langsamen Fahrt ein. Bei Rundladestationen schwimmen die Boote synchron zu einer sich drehenden Scheibe, die auch dem Einsteigen dient.

Überraschungseffekte und Interaktivität

In den letzten Jahren hat ein Umdenken stattgefunden. Die Fahrgeschäftbetreiber setzen wieder vermehrt auf familienfreundliche Anlagen. Es ist nicht allein die Geschwindigkeit,die die Benutzer spüren, sondern die Kombination aus verschiedenen Fahreffekten, zum Beispiel Beschleunigungen bei plötzlichen Richtungs- oder Geschwindigkeitsänderungen.

Die Boote der Wasserbahnen bieten mehreren Personen Platz (etwa 16 Personen in Viererreihen oder sechs Personen hintereinander). Wasser spricht die Menschen an: Kleine Mädchen freuen sich über das ängstliche Gesicht ihrer Mutter und kleine Jungs über die nasse Hose des Vaters. Zusätzlich werden die Anlagen mit Sondereffekten attraktiv gestaltet. In den Booten oder auch am Ufer werden zum Beispiel Wasserspritzpistolen installiert, die den Spieltrieb wecken. Das Vergnügen steht jeder Altersklasse offen.

Module aus der Werkzeugkiste

In der Regel hat jeder Fahrgeschäftbetreiber seine eigenen Vorstellungen und Wünsche. In Verbindung mit den weltweit unterschiedlichen Normen und lokalen Vorschriften bringt dies diverse Anforderungen an die statische und die dynamische Berechnung und an die Betriebssicherheit mit sich. Ein Sortiment von Drehstationen, Stützenformen, Vertikalliften, Bahnhöfen, Rückwärtsschüssen, Weichen etc. erlaubt heute eine modulare Bauweise. Es werden Grundmodelle entwickelt, die aber so fl exibel sind, dass sie massgeschneidert angepasst werden können: Durch das Zusammensetzen verschiedener Module sollen die Wünsche der Betreiber individuell erfüllt werden. Der Betreiber legt die Eckdaten fest. Dabei spielt die Umgebung der Anlage – Topografi e, verfügbare Grundfl äche, Grad der Verbauung durch andere Anlagen – eine grosse Rolle. Zusätzlich werden die gewünschte Kapazität festgelegt sowie die Fahreffekte und Beschleunigungswerte ausgewählt. Aufgrund dieser Basisdaten erfolgt die statische und die dynamische Berechnung. Diese ist mit derjenigen der Achterbahnen vergleichbar (vgl. Artikel «Beschleunigung»), denn auch Wildwasserbahnen sind Schwingungen und Belastungen ausgesetzt. Zug, Druck, Schub, Torsion, Biegung wirken auf die Konstruktion ein. So muss beispielsweise das Verhalten von unterschiedlich besetzten Booten berücksichtigt werden.

Trotz einiger Zufälligkeiten, zum Beispiel die ungünstige Witterung oder der unberechenbare menschliche Faktor, wird durch den modularen Aufbau eine hohe Anlagensicherheit erreicht. Diese wird inzwischen von vielen Kunden vertraglich gefordert, da es sonst zu fi nanziellen Einbussen und unzufriedenen Besuchern kommen kann. Weitere entscheidende Vorteile für den Kunden sind die relativ hohe Kalkulationssicherheit und das Entfallen der Testaufbauten. Die Schienen werden mit Laser und Speziallinealen hergestellt, sodass lediglich Anlagenteile mit engen Kurven zum Test aufgebaut werden. So ergibt sich die Möglichkeit, schon frühzeitig mit dem Bau zu beginnen. Baugruben und Fundamente können erstellt werden, während die Produktion von Schienen, Steuerung etc. noch läuft. Bei den Booten ist das Vorgehen ähnlich: Das Grundmodul des Bootes, in seiner Form statisch und dynamisch defi niert, kann bereits gefertigt werden, während noch am Design gefeilt wird. Fehlerquellen lassen sich heute schon vor Baubeginn zum grossen Teil ausschliessen.

Wasser als Bremse

Die Wildwasserbahnen funktionieren wie die Eisenbahn oder die U-Bahn mit einem Blocksystem. Oben auf der Krone angekommen, wird das Boot erst freigegeben, wenn die installierte Sensorik die entsprechende Strecke als frei und sicher meldet. Das elektronische Blocksystem unterteilt die Strecke in einzelne Sicherheitsblöcke. Diese werden über ein redundantes Steuerungssystem überwacht. Treten Hindernisse auf, greift die Sicherheitsbremse regulierend ein. Die Steuerungen sind so konzipiert, dass alle sicherheitsrelevanten Schaltungen bei Stromausfall die erforderliche Zeit überbrücken können. Die Sicherheitsbremsen sind mit Federspeichern ausgestattet, sodass sie nicht auf eine Aufrechterhaltung der Energieversorgung angewiesen sind. Messsonden wachen darüber, dass der Wasserstand innerhalb gewisser vorgegebener Toleranzen liegt und nicht inkritische Bereiche abfällt. Eine Veränderung um wenige Zentimeter könnte die Sicherheit der Wildwasserbahn erheblich beeinfl ussen.

Ist die Schussfahrt überstanden und fotografi sch festgehalten, werden die Boote im Auslauf durch den Wasserwiderstand abgebremst. Dazu ist ein stabiler Wasserstand notwendig. Er muss so festgelegt werden, dass Spritzverhältnis und Verzögerung in einem vernünftigen Verhältnis stehen. Durch die auftretende Wasserverdrängung spritzt das Wasser so hoch auf, dass die Insassen dabei nass werden können, dennoch wird die Attra k tivität der Bahn an einem möglichst intensiven «Splash» gemessen. Um möglichst viel Wasser von den Fahrgästen fernzuhalten und um eine optimale, nicht zu abrupt einsetzende Bremswirkung zu erhalten, ist der Bug des Bootes entscheidend. Er muss so geformt sein, dass er das Wasser aufspaltet und seitlich ableitet. Die Geschwindigkeit und damit die notwendige Bremskraft ergeben sich jeweils aus Höhe und Neigung der Abfahrt. Unterstützt wird die Bremswirkung durch berührungsfreie Magnetbremsen.Die Abnutzung der eingesetzten Bauteile ist stark frequenzabhängig. Ebenso der Rhythmus der Wartung, die nicht mit den regelmässigen Sicherheitschecks zu verwechseln ist. Wasserbahnen sind sehr betreuungsintensiv, für die Wartung der komplexen Baugruppen sind Fachkräfte notwendig.

Opferanoden helfen, die Anlagen zu schützen

Wasserbahnen werden entweder aus Naturseen gespeist, oder das Wasser wird in einem Reservoir gespeichert. Die benötigte Wassermenge wird täglich in den Anlagenkreislauf gepumpt. In vielen Parks wird aus ästhetischen Gründen grosser Wert auf klares Wasser gelegt. Bei Bedarf werden chemische Zusätze beigemischt, zum Beispiel, um Algenbefall zu verhindern, was das Material zusätzlich belastet. Doch auch bei der Verwendung von Trinkwasser werden die Mechanik und das Material stark beansprucht. Die Betreiber wünschten lange Zeit tauchverzinkte Bauteile, da diese während der Lebensdauer der Beschichtung resistent gegen Korrosion sind. Werden diese Bauteile jedoch aus ästhetischen Gründen lackiert, können Probleme auftreten. Daher werden die Bauteile teilweise durch Opferanoden vor Korrosion geschützt.

Die Vision einer anderen Produktfamilie

«Stellen Sie sich ein Fahrzeug vor, das gelenkig mit dem Fahrgestell verbunden ist. Das heisst, das Boot folgt seinem natürlichen Schwimmverhalten. Es schaukelt und schwankt abhängig von Wind und Wellen. Jede Fahrt wird einzigartig sein. Das war bisher in dieser Form nicht möglich.» So stellt Günter Burger, Leiter des Technischen Büros der Firma Mack Rides in Waldkirch (D), in knappen Worten die Vision einer neuen Produktfamilie vor. Das europäische Patentamt beurkundete im Sommer dieses Jahres diese neue Form eines Wasserfahrgeschäfts, in den USA steht es kurz vor der Erteilung. Ähnlich wie bei einem Auto, dessen Bewegungen durch die Federung aufgefangen werden, soll das Wasser diese Aufgabe erfüllen, um den Benützern ein möglichst realistisches Gefühl einer Bootsfahrt zu vermitteln. Die Position des Bootes ist gegenüber dem Fahrwerk in Längs- und Querrichtung sowie in der Höhe veränderbar. Die Auslenkung gegen Kippen muss begrenzt werden, die Boote wären damit kentersicher. Das Fahrwerk wird auf Schienen, zum Beispiel auf einer Eisenbahnschwellen-ähnlichen, verdichteten Grundlage, unter Wasser geführt und angetrieben. Das scheinbar instabile Boot kann sich unterschiedlichen Wasserständen anpassen und ist dennoch jederzeit sicher geführt. Ein statischer Wasserkreislauf ist nicht mehr notwendig. Da das Wasserfahrzeug mit einem achterbahntypischen Fahrwerk ausgestattet sein kann, auf das es abgesenkt wird, wird es trotz der Eigenschaften eines im offenen Gewässer frei schwimmenden Bootes Achterbahnelemente wie Schüsse oder Horse-Shoe-Kurven befahren können. Wichtig wird hierbei eine sichere Verriegelung der Kupplungselemente sein. Die interaktive Einfl ussnahme der Fahrgäste auf Fahrgeschwindigkeit und Wellenbildung könnte das Erlebnis vervollständigen.

Neue Möglichkeiten eröffnen sich bei dieser Konstruktion für die Gestaltung. Bisher wurden die Kanalwände statisch durch das Gelände geführt, was für die Designer eine erhebliche Einschränkung der Ästhetik bedeutete. Nun wären weder für Kanäle noch Seen zwingend Betonarbeiten erforderlich. Die Ufer könnten frei gestaltet werden. Wie lange sich die Liebhaber der Wasserbahnen noch gedulden müssen, bis sie beispielsweise mit 100 km/h in einem Speedboot bei hohem Wellengang übers Wasser rasen, nach einer Fahrt übers «Festland» und einem Absturz über einen Wasserfall wieder vom Wasserwiderstand gebremst werden, ist noch offen.

TEC21, Mo., 2008.01.07



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2008|01-02 Technik zum Spass

Der Rochen von Lüttich

Zur neuen Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Brüssel und der deutschen Grenze gehören zahlreiche Kunstbauten und der neue TGV-Bahnhof in der belgischen Stadt Lüttich. Eine monumentale, aber filigrane Konstruktion aus Glas und Stahl von Santiago Calatrava wird ab 2008 die Gleise überspannen.

Zur neuen Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Brüssel und der deutschen Grenze gehören zahlreiche Kunstbauten und der neue TGV-Bahnhof in der belgischen Stadt Lüttich. Eine monumentale, aber filigrane Konstruktion aus Glas und Stahl von Santiago Calatrava wird ab 2008 die Gleise überspannen.

Heute nutzen täglich 35 000 Menschen die Infrastruktur des Bahnhofs Liège-Guillemins. Künftig werden 50 000 Personen erwartet. Gemäss einer Machbarkeitsstudie von 1995 genügt der bestehende Bahnhof den Anforderungen an die neue Hochgeschwindigkeitsstrecke nicht. Durch einen international ausgeschriebenen Wettbewerb suchte die Euro Liège TGV SA eine Idee für ein modernes, multifunktionales Reisezentrum als Nahtstelle zwischen Bahn und Passagier. Lange, gerade Bahnsteige, die das Einfahren der Züge in den Bahnhof und das Ein- und Aussteigen für die Passagiere erleichtern, sollten die hohen Anforderungen an die Geschwindigkeit, die Erreichbarkeit, den Passagierkomfort und die Sicherheit erfüllen. Den Wettbewerb für den Entwurf des neuen TGV-Bahnhofs in Lüttich gewann 1997 das Architektur- und Ingenieurbüro von Santiago Calatrava. In Zusammenarbeit mit dem Ingenieurbüro Greisch aus Belgien baut es gegenwärtig den neuen Bahnhof.

Fussgänger auf drei Ebenen

Aus der Stadt kommend, betreten die Reisenden einen weitläufigen Vorplatz. An dessen Ende überspannt ein riesiger Bogen die Bahnhofsfront und bildet den grosszügigen Eingangsbereich. Der Bahnhof kann von beiden Seiten betreten werden, sodass die zerschneidende Wirkung der Gleise aufgehoben wird. Auf der gesamten Breite gelangen die Reisenden ebenerdig in den Bahnhof und erblicken auf der linken Seite das Reisezentrum und die Fahrkartenschalter. Rechts hingegen bietet sich Infrastruktur zum Verweilen an: eine Bar, ein Restaurant sowie Läden und Warteräume. Auf dem Niveau über dem Reisezentrum liegen die Gleise und Bahnsteige. Von den 13 Bahnsteigen des alten Bahnhofes bleiben neun erhalten. Dazu kommen fünf neue, 8 m breite und grosszügig ausgestaltete Plattformen. Drei davon, 450 m lang, werden zukünftig eine Doppeleinheit des TGV aufnehmen können. Auf der dritten Ebene erlauben zwei Passerellen das Queren zwischen den Perrons und den ebenerdigen Austritt in das höher gelegene Quartier hinter dem Bahnhof. Alle drei Ebenen sind durch Treppen, Rolltreppen und Glasaufzüge verbunden, sodass sich die Passagiere mühelos im ganzen Bahnhof bewegen können. Das erste Gleis kann gar direkt vom Vorplatz aus erreicht werden.

Kräftefluss im Skelett

Über den Gleisen und den Bahnsteigen wölbt sich in Längsrichtung ein Dach, das den neuen Bahnhof prägt. Die monumentale, aber doch filigrane Konstruktion aus Glas und weissem Stahl überdeckt die Gleise und die gesamte neue Infrastruktur der Anlage. Sie lebt von ihrem organischen Erscheinungsbild und hat keine Fassade im klassischen Sinn. Das statische System scheint komplex, ist im Grunde aber einfach. Die insgesamt 39 Bogen aus Stahl sind im Abstand von 1.92 m parallel angeordnet. Am Rand sind sie während der Bauphase mit Verbänden gegeneinander ausgesteift. Als hohle Blechträger kons­truiert, haben die Stahlbogen über ihre Länge einen variablen Querschnitt und eine statische Höhe von bis zu 1.20 m. Mit einem Auflagerabstand von mehr als 157 m und einer Scheitelhöhe von 35 m über Terrain weist das Bauwerk eine beeindruckende Grösse auf. Dementsprechend gross sind die Lasten, die diese Tragstruktur aufnimmt und ableitet. Doch nicht die Belastung bestimmte die Dimensionierung der Tragkonstruktion, sondern die nötige Begrenzung der Verformungen, die durch die Glasverkleidung des Daches gegeben sind. Das komplexe Verhalten, vor allem infolge der Windeinwirkungen, konnte mit einem dreidimensionalen Finite-Elemente-Programm analysiert werden. Die sich aus den Berechnungen ergebenden Beanspruchungen und Verformungen wurden schliesslich in Windkanalversuchen verifiziert. Die Bogenenden sind auf Stahlträgern am Rand der Passerellen gelagert. Von dort aus fliessen die Kräfte in je fünf Auflager. Diese sind als Vierfüsser und gänzlich aus Stahl konstruiert. Allseitig unverschiebbar, aber in Bogenachse gelenkig, geben die Auflager die Reaktionen in die Betonfundamente ab. Mit dieser Auflagersituation kann die Steifigkeit des Daches in Längsrichtung erreicht werden. In Querrichtung wird die Aussteifung durch die geneigten Bogen der zwei Vordächer sichergestellt. Vier Stahlbogen, die diese Seitendächer stützen, sind wiederum in einem weissen, dreibeinigen Betonsockel verankert. Beide auskragenden Seitendächer (Casquettes genannt) sind mit dem gesamten zentralen Hauptdach verbunden und lassen das Bahnhofsgebäude wie einen Rochen aussehen, der sich mit seinen zwei Flügeln (Vordächer) und fünf Schwänzen (Bahnsteige) an den Hügelhang schmiegt.

Verknüpfung mit dem Strassennetz

Das Vordach auf der Rückseite überspannt das dreistöckige Parkhaus am Fusse des Hügels von Cointe. Es wird durch eine Brücke und eine Überführung direkt an die Autobahn angeschlossen. Diese Zufahrt wird nach der Fertigstellung des Bahnhofs eröffnet. Für das Parkhaus musste der Hügel auf einer Länge von rund 200 m abgetragen werden. Dafür wurden präzise Voruntersuchungen gemacht, denn die Stabilität einiger Erdschichten in diesem Bereich ist prekär. 1950 lösten hier die Erschütterungen des Zugverkehrs einen Hangrutsch aus. Fachspezialisten aus der Geologie und der Vermessungstechnik entschieden sich, die Baugrube mit einer Pfahlwand zu sichern. Dazu wurden armierte Betonpfähle mit einem Durchmesser von 1.50 m verwendet. Jeder einzelne Pfahl wurde rückverankert. Die Anker wurden etappenweise alle 3 m gesetzt, bis die Baugrube eine Gesamttiefe von 18 m erreichte. Um den Wasserdruck hinter der Pfahlwand abzusenken, legten die Planer Pumpensümpfe im Fussbereich der Pfahlwand an. Nach dem Errichten des Parkhauses verlieren die temporären Anker ihre Funktion. Sie werden im Erdreich belassen und bauen allmählich ihre Zugkraft ab. Die neue Tragstruktur des Parkhauses übernimmt sukzessiv den anfallenden horizontalen Erd- und, nach dem Abstellen der Pumpen, auch den Wasserdruck.

Organische Struktur aus Weissem Sichtbeton

Das grosszügige Dach aus Stahl und Glas prägt den Bahnhof. Doch darüber hinaus werden im Gebäude auch 65 000 m³ armierter Beton verarbeitet. Für das Parking werden 28 000 m³ verwendet, für die zentrale Passage und Technikkorridore unter den Gleisen 17 000 m³, für die Haupthalle noch einmal 13 000 m³ und schliesslich 13 000 m³ für zwei Retentionsbecken, die das Wasser der 33 000 m² grossen Dachfläche aufnehmen. Alle massiven Bauteile, die für die Passanten sichtbar sind (etwa 23% der gesamten Betonmenge), werden aus weissem Sichtbeton erstellt. Das Planerteam stellte dafür hohe Anforderungen und verlangte strenge Qualitätskontrollen. Spezialisten bestimmten die Eigenschaften der Schalung, den Wassergehalt, die Zusätze und die Vibrationsdauer bei der Verarbeitung des Betons. Mit mehr als hundert Betonproben auf der Baustelle kontrollierten sie alle Anforderungen.
Zahlreiche Oberflächen der Betonbauteile sind gekrümmt und präsentieren sich als organische Formen. Gebogene Träger und geschwungene Stützen, die an Knochen eines Skelettes erinnern, tragen in den Innenräumen die Kräfte ab. Wenn der Reisende im Bauch des Rochen zu den Gleisen eilt oder durch die Ladenzone schlendert, wird er aber von der Struktur nicht erdrückt. Im Gegenteil, was tatsächlich schwer und statisch ist, erscheint leicht und dynamisch.

Bestehender Bahnhof

Die letzten Arbeiten am neuen Bahnhof werden voraussichtlich bis Anfang 2009 ausgeführt. Sie beinhalten die Verglasung des Daches, die gesamte Haustechnik, die Beleuchtung und die Bahninfrastruktur (Signaletik), die Ausbauarbeiten (Läden, Schalterhallen, Büros) sowie die Umgebungsgestaltung. Bis dahin darf der Zugverkehr, wie schon während der gesamten Bauzeit, nicht unterbrochen werden. Dies erforderte verschiedene Bauphasen und die Aufrechterhaltung des Betriebs des benachbarten alten Bahnhofs. Bis vor wenigen Wochen hielt der alte Bahnhof mit der Hälfte seiner früheren Kapazität den Bahnbetrieb aufrecht, nun ist er abgebrochen. An seiner Stelle wird der Rochen mit fünf Schwänzen diese Funktion übernehmen.

TEC21, Mo., 2007.09.24



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2007|39 Bahnarchitektur

11. Juni 2007Daniela Dietsche
TEC21

Abschied vom Käfig?

Zoos und Tierparks sind weltweit Publikumsmagneten. Doch ihre Gestaltung hat sich verändert. Grosszügige, naturnah gestaltete Gehege lösten im Laufe der Zeit die engen Käfige ab. Die Besucher tauchen heute scheinbar in den Lebensraum der Tiere ein.

Zoos und Tierparks sind weltweit Publikumsmagneten. Doch ihre Gestaltung hat sich verändert. Grosszügige, naturnah gestaltete Gehege lösten im Laufe der Zeit die engen Käfige ab. Die Besucher tauchen heute scheinbar in den Lebensraum der Tiere ein.

Die ersten zooähnlichen Anlagen entstanden schon im zweiten Jahrtausend v. Chr. in Ägypten. Bei den königlichen Palästen wurden wilde Tiere zu rituellen Zwecken gehalten. Legendär war der «Garten des Ammon» der Königin Hatschepsut in Theben. Sie versammelte 1500 v. Chr. in den Tempelanlagen Deir al Bahri Wasserböcke, Antilopen, Gazellen, Strausse, Giraffen und Elefanten. Bekannt ist auch der «Park der Intelligenz», den Kaiser Wu-Wang 1150 v. Chr. errichtete. Der Park am kaiserlichen Hof nahe Peking bestand bis 1900 n. Chr. Auf 400 ha wurden zahlreiche Säugetiere, Vögel, Reptilien und Fische ge­halten.

Menagerien

Im Europa des 16. Jahrhunderts, des Zeitalters der grossen Entdeckungen, begann der weltweite Tierhandel. Fürsten und Königshäuser hielten exotische Tiere zu Repräsenta­tionszwecken in Gärten und Parks. Damit war die Urform des Zoos, die Menagerie, geboren. Die Menagerie beim Schloss Schönbrunn bei Wien, die 1752 eingerichtet wurde, gilt als der älteste Zoo der Welt. Diese Tiergärten der königlichen Höfe waren für das Volk meist nicht zugänglich. Später entwickelten sich «Fahrende Menagerien», und die wilden Tiere wurden als Attraktion auf Jahrmärkten gezeigt. Bis ins 19. Jahrhundert waren Zoos «Menagerien», in denen möglichst viele Tiere aus allen Erdteilen gesammelt wurden. Die Haltung der Tiere spielte keine Rolle, enge Käfige waren die Regel. Zur Zeit der Französischen Revolution wurde Kritik an dieser Art der Tierhaltung laut. 1793 führte die Französische Revolution dazu, die Menagerie in Versailles aufzulösen. Der Tierbestand war die Grundlage für den «Jardin des Plantes». Der Pariser Tierpark war der erste bürgerliche Zoo in Europa, der für alle Volksschichten geöffnet war. Die Gründung des Zoos in London 1828 löste eine Zoogründungswelle in Europa, später auch in Amerika, Japan und Australien aus. Die Besucher konnten nun durch eine Parklandschaft spazieren und die Tiere in ihren mehr oder weniger geräumigen Käfigen bestaunen. Die Tiere waren oft in architektonisch spektakulären Gebäuden untergebracht. Ab 1870 begannen die zoologischen Gärten nordische Holzkirchen für Hirsche, orientalische Maharadscha-Paläste für Elefanten und Burgen für Greifvögel zu bauen. Doch wurden nicht nur Tiere vorgeführt. Es wurden beispielsweise ganze Dörfer eingerichtet, in denen Nubier, Marokkaner oder Singhalesen für Wochen eingesperrt wurden und ihre Kriegs- und Maskentänze oder Schlangenbeschwörungen vorführen mussten. Diese Tier- und Völkerschauen zum Beispiel im Basler Zoo ­erfreuten sich bis 1932 grosser Beliebtheit bei der Bevölkerung.

Natur imitieren

Eine neue Epoche begann um 1900 mit dem Schweizer Kunststeinpionier und Bildhauer Urs Eggenschwyler und dem Hamburger Menageriebesitzer Carl Hagenbeck. Er hatte die Idee, Tiere in einem möglichst authentischen Lebensraum zu präsentieren. Nach jahrelangen Versuchen zum Sprungvermögen der Tiere eröffnete er 1907 bei Hamburg den ersten «Gitterlosen Tierpark». Es wurden erstmals künstliche Landschaften, Gebirge, Schluchten,
Abstufungen im Gelände, Seen und Wassergräben geschaffen. Diese wirkten zwar immer noch wie Theaterkulissen und waren aus Sicht der Menschen gestaltet. Dennoch stellten sie in Sachen artgerechter Haltung einen Quantensprung dar.[1]

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam die Verhaltensforschung auf, und man begann vermehrt, Gehege zu bauen, die dem natürlichen Verhalten der Tiere entgegenkamen. 1942 veröffentlichte der Schweizer Zoologe Heini Hediger sein Buch «Grundriss der Tiergartenbiologie». Heini Hediger und der Basler Wildbiologe Rudolf Schenkel widerlegten den Mythos der unbeschränkten Freiheit der Wildtiere. Ihrer Ansicht nach leben Tiere auch in der Wildnis in natürlicher Unfreiheit; in Revieren, in denen es Futter und Wasser geben muss und die von Nahrungskonkurrenten und Artgenossen bedrängt werden. Ihre These war, dass Tiere artgerecht gehalten würden, wenn es gelänge, dieses natürliche Territorium organisatorisch nachzubilden.

Naturnah gestalten

Ab 1950 ermöglichten abwaschbare Baumaterialien wie Fliesen, Edelstahl, Beton und Sicherheitsglas eine hygienischere Tierhaltung. Futter wurde nicht mehr nur auf den Boden geworfen, sondern in Futterkrippen verteilt. Zoos bauten vor allem in den 1960er- und 1970er-Jahren sterile und funktionalistische Gehege. Ab 1980 war ein Wandel spürbar. Aufgrund der veränderten Ansichten der Besucher und didaktischer Überlegungen wurden die Gehege vermehrt naturnah gestaltet. Tiere werden nun in Ausschnitten ihres Lebensraums präsentiert. Grosszügige, natürlich aussehende Freianlagen, in denen Zootiere in Gruppen miteinander leben, lösen langsam die Käfighaltung ab. Der Besucher betritt scheinbar den natürlichen Lebensraum der Tiere. Das Tier soll kein reines Ausstellungsstück mehr sein und hat zum Leidwesen der Besucher auch die Möglichkeit, sich zurückzuziehen.

Die Gehege und Parks heute

Der Auftrag der wissenschaftlich geführten Zoos («verein zooschweiz») ist es heute, Erholung, Bildung, Forschung und Naturschutz zu vereinen. Sie möchten ihren Besuchern und Besucherinnen die Natur näher bringen und sie für das Verständnis natürlicher Zusammenhänge sensibilisieren. So werden nicht nur die einzelnen Gehege Schritt für Schritt in grosszügige, naturnahe Anlagen umgebaut, auch die gesamte Gestaltung der Parks verändert sich. Sichtbar wird dies durch das Anlegen der Wege und der offenen Flächen. Natursteine, Wasser und Bepflanzung sollen den Zoos eine natürliche Wirkung verleihen. So sind im Laufe der Jahre zum Beispiel viele von Menschen geformte Gartenmotive wie Blumenbeete, geschnittene Hecken und Bäume oder auch gepflegter Rasen verschwunden.

In unserer Zeit dienen die Zoos neben der Erholung auch immer mehr der Forschung und der Erhaltung bedrohter Arten. Denn inzwischen sind auch freilebende Tiere einem «allumfassenden, menschlichen Management unterworfen»[2]. Einziger Unterschied: In der ­Natur überleben nur die Starken, im Zoo bekommen auch die Schwachen eine Chance.

TEC21, Mo., 2007.06.11



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2007|24 Zooarchitektur

14. Februar 2007Daniela Dietsche
TEC21

Grabenlos erneuern

Versickerndes Abwasser oder entweichendes Gas stellen ein hohes Risiko im Untergrund dar. In beschädigte Kanäle eindringendes Grundwasser führt zu einer unnötigen hydraulischen Belastung der Kläranlagen. Die Techniken der grabenlosen Erneuerung von Rohrleitungen haben sich in den letzten Jahren deutlich weiterentwickelt. Die Funktionsweisen von Berstlining- bzw. TIP-Verfahren sind weitgehend bekannt. Dennoch gibt es Fragen, die sich Ver- und Entsorger bei der Wahl des Verfahrens stellen.

Versickerndes Abwasser oder entweichendes Gas stellen ein hohes Risiko im Untergrund dar. In beschädigte Kanäle eindringendes Grundwasser führt zu einer unnötigen hydraulischen Belastung der Kläranlagen. Die Techniken der grabenlosen Erneuerung von Rohrleitungen haben sich in den letzten Jahren deutlich weiterentwickelt. Die Funktionsweisen von Berstlining- bzw. TIP-Verfahren sind weitgehend bekannt. Dennoch gibt es Fragen, die sich Ver- und Entsorger bei der Wahl des Verfahrens stellen.

Eine Strasse wird aufgegraben. Die Zufahrten zu den Häusern sind sowohl für Anwohner als auch für Rettungsdienste erschwert. Eltern jonglieren Kinderwagen über die provisorische Fussgängerführung. Parkplätze sind weit und breit keine in Sicht. Und dann noch dieser Lärm den ganzen Tag. Eine Linienbaustelle im offenen Graben fordert Geduld und Verständnis von Anwohnern und Verkehrsteilnehmern. Um die negativen Begleiterscheinungen des klassischen Werkleitungsbaus zu vermindern, werden grabenlose Verfahren immer interessanter. Soll zum Beispiel ein Kanal unter einer stark befahrenen Strasse erneuert werden, kann diese Arbeit ohne aufwändige Umleitungen ausgeführt und der Verkehrsfluss weitgehend aufrechterhalten werden. Interessant ist der Einsatz der grabenlosen Technik speziell bei engen Platzverhältnissen oder bei schützenswerten Oberflächen, zum Beispiel einer historischen Pflästerung, bei Grünanlagen oder Bauwerken in der Altstadt. Tief liegende Leitungen können ersetzt werden, ohne darüber liegende Leitungen zu gefährden bzw. solche im Voraus verlegen zu müssen. Neben diesen Vorteilen versprechen die Unternehmer Kostenersparnis und eine erhebliche Verkürzung der Bauzeit.

Kosten- und Zeitersparnis

Um welchen Faktor verringern sich Bauzeit und Kosten beim Einsatz von Berstlining im Vergleich zu konventionellen Methoden in städtischen Verhältnissen tatsächlich? Nach Aussage von Fachpersonen[1] kann die Bauzeit um ca. 50 % verkürzt werden. Bei den Kosten zeigt die Erfahrung, dass das Einsparpotenzial bei rund 30 % der Gesamtkosten liegt. Dabei erhalte die Bauherrschaft eine neue Leitung mit entsprechender Lebensdauer.
Bei einer Erneuerung von zwei oder mehreren Leitungen im Kombigraben ist die Situation schwieriger zu beurteilen. Die Wirtschaftlichkeit der Methode muss unter Berücksichtigung anderer Kriterien von Fall zu Fall eingeschätzt werden.
Eine Beurteilung der Situationen und eine seriöse Arbeitsvorbereitung sind bei den grabenlosen Bauverfahren besonders wichtig: Wie ist die Qualität des Bodens? Welche Fremdleitungen sind vorhanden? Oft überschätzten Unternehmen ihre Fähigkeiten und unterschätzten die Risiken: «Sie können mit diesen Verfahren nicht den ganzen konventionellen Tiefbau ablösen», sagt Werner Zimmer[2]. Als wichtigen Teil der Qualitätssicherung beim Ersatz von Kanalisationsleitungen sieht er eine Videobefahrung vor Baubeginn. Denn die Situation in der Leitung kann sich seit der letzten Befahrung verändert haben. Ausserdem sollte der Rohrmeister die Verhältnisse im zu erneuernden Kanal im Voraus kennen, um auf eventuelle Hindernisse (Versatz, Muffen, Fremdkörper, Anschlüsse) mit Erhöhung der Zugkraft reagieren zu können.

Einbau und Qualitätssicherung

Da die neue Leitung in der bestehenden Trasse eingebaut wird und dort die Funktion der alten übernimmt, ist die Anwendung der Verfahren bei allen Böden möglich. Die Geologie ist in der Regel bekannt. Beim Berstlining werden die Scherben des Altrohrs in die Umgebung verdrängt. Durch die Verdichtung des Bodens seitlich und nach oben bleibt die Lage der ursprünglichen Sohle erhalten. Eine Gefällekorrektur ist nicht möglich. Versätze können jedoch ausgeglichen werden. Grundsätzlich kann das Verfahren bei allen Schadensbildern bis hin zum Totaleinsturz eingesetzt werden. Vorbereitende Massnahmen an der Altleitung, zum Beispiel Ablagerungen beseitigen oder Hindernisse abfräsen, sind noch nötig.
Wie wird nun aber eine Beschädigung des einzuziehenden Rohrs durch scharfkantige Bruchstücke des geborstenen Altrohrs vermieden? Die Scherben des Altrohres und die mit Bentonit verfüllten Zwischenräume bilden einen vollflächigen Verbund des neuen Rohres mit dem umgebenden Erdreich. «Bei den bisher ausgeführten Erneuerungen konnten noch keine Schäden an der Aussenhülle der Rohre erkannt werden. Zwar entstehen Schleifspuren am Aussenmantel. Riefen, deren Tiefe die zulässigen zehn Prozent der Manteldicke überschritt, sind aber noch nie vorgekommen», sagt Zimmer.
Die maximale Leitungslänge hängt vom Verfahren ab: Wird das TIP-Verfahren im städtischen Bereich angewendet, gibt die Haltungslänge die Strecke vor. Die Erfahrung zeigt, dass es sinnvoll ist, pro Tag eine Haltung zu erneuern. Somit beschränkt sich auch der Aufwand für das Stilllegen der Hausanschlüsse auf diesen Zeitraum.
Abhängig von den Bodenverhältnissen und der Grösse der Zugkraftmaschine sind beim Berst­lining-Verfahren weitere Distanzen möglich. Die maximal zulässige Zugkraft hängt vom eingesetzten Rohrmaterial ab. Beispielsweise wurden in Hivange (Luxemburg) Stahlrohre DN 300 auf 1.5 km eingezogen. Die Haltungslänge betrug 240 m.
In der Regel liegt die Rückverformung von gespanntem Erdreich bei 12 bis 20 Stunden. Das heisst, nachdem die Aufweitung ausgeführt wurde, stellt sich eine Gewölbewirkung ein, und es ist notwendig, das Rohr innerhalb eines Tages einzuziehen. Denn schon einen Tag später wäre die Mantelreibung so gross, dass das Rohr beim Einbauen zerstört würde. Die Mantelreibungskräfte können durch glatte Oberflächen verringert werden. Um die Reibung bei schwierigen Böden herabzusetzen, wird in der Praxis ein umweltverträgliches Gleitmittel aufgetragen.

Fremdleitungen und Material

Begleitende Deformationsmessungen an der Oberfläche sind nicht notwendig. Wenn sich die Oberfläche heben würde und keine anderen Leitungen beschädigt wurden, kann man davon ausgehen, dass sich der Boden rückverformt.
Um negative Einwirkungen auf Fremdleitungen mit Sicherheit ausschliessen zu können, wird eine Distanz von mindestens 25 cm empfohlen. Die Festlegung der Abstände ist im Merkblatt 8 des RSV geregelt.[3] Da der Durchmesser der Leitung mit den grabenlosen Verfahren um bis zu zwei Nennweiten vergrössert werden kann, sind Voruntersuchungen unbedingt notwendig und die Pläne des Rohrleitungsnetzes sorgfältig zu prüfen.
Im Berstlining-Verfahren können alle Rohrmaterialien erneuert werden. Altrohre aus Steinzeug, Beton etc. werden zertrümmert und verdrängt. Altrohre aus Stahl, Kunststoff oder defekte Inliner werden aufgeschnitten und aufgeweitet. Das klassische Rohr für die Leitungserneuerung im Kanalbau ist das PP-Rohr oder ein PE-Rohr mit einem aufextrudierten, patentierten Schutzmantel aus mineralverstärktem Polyolefin. Die Rohre müssen zugfest oder verspannt sein, um die Kraft zu übertragen, die gebraucht wird, um das Rohr nachzuziehen.
Als das derzeit am besten geeignete Rohr für die grabenlose Erneuerung gilt das Dreischichtrohr «wavin TS». Das Rohr setzt sich aus einer innen und aussen liegenden Schutzschicht aus widerstandsfähigem PE-100-Werkstoff und einem Kern aus PE 100 zusammen. Die Schichten sind homogen miteinander verbunden und mechanisch nicht trennbar. Die äussere Schutzschicht ist widerstandsfähig gegen Kerben und Riefen, die beim Einziehen entstehen können. Die Innenschicht wirkt Punktlasten entgegen, die durch Scherben des Altrohres auftreten können.[4] Ein wichtiger Qualitätsaspekt beim Rohreinzug liegt in der Messung der Zugkräfte am Rohrstrang. Beim Einziehen können unvorhergesehene Kräfte auf das neue Rohr wirken. Wird eine permanente Zugkraftmessung im Inneren des Neurohrs installiert, kann auf die gelieferten Daten sofort reagiert werden. Übersteigt die Kraft die zugelassenen Werte, wird der Vorgang durch den Rohrmeister gestoppt. Die Verwendung des Zugkraftmessgeräts ist nicht zwingend vorgeschrieben, doch die Sicherheit eines fachgerechten Einbaus erhöht sich dadurch.
Bisher konzentriert sich die grabenlose Erneuerung auf Kreisprofile. Doch auch für alte gemauer-te Eiprofile wäre die Anwendung der Verfahren interessant. Die vorhandenen Zugkräfte würden ausreichen. Es gibt allerdings noch keinen Kaliberkopf, um diese Kanäle zu erneuern. Die Frage der Lagegenauigkeit beim Einzug eines Kreisprofils in die Bettung ist ebenfalls noch nicht geklärt.

Hausanschlüsse

Beschäftigt man sich mit dem Berstlining- oder dem TIP-Verfahren, stellt sich die Frage, wie der Anschluss bzw. die temporäre Ableitung von Seitenanschlüssen erfolgen. Da die Behinderung in der Regel nur einen Tag dauert, genügt der Stauraum im Kanal für das anfallende Abwasser. Ist hingegen ein Hochhaus betroffen, werden gesonderte Massnahmen wie das Bereitstellen eines Pumpwagens empfohlen. Beim TIP-Verfahren werden die Hausanschlüsse nicht mehr aufgegraben, sondern von innen per Robotertechnik angeschlossen. Die Anschlüsse werden im Voraus vermessen. Der Vorteil von Kaliber-Berstlining- oder TIP-Verfahren ist, dass, sobald das Rohr im Boden liegt und die Maschine abgekoppelt ist, ein funktionstüchtiges Rohr zur Verfügung steht. Nach der Druckprobe werden die Hausanschlüsse aufgefräst. Den Übergang bildet ein Sattelstück, das durch Injektionsverfahren mit Epoxidharz an das Anschlussstück des Übergangs zum Hausanschluss verspachtelt wird. Da das Rohr im Anfangsstadium leicht hinterläufig ist und erst später zusandet, ist der Übergang absolut trocken. Die Lagesicherheit des Rohres wird durch die Biegesteifigkeit des neuen Rohres und den geringen Ringspalt von ca. 4 mm gewährleistet. Pro Hausanschluss wird mit Kosten von 1000–1200 Franken gerechnet.
Durch das Öffnen von Hausanschlüssen, die aus dem Rohrinneren eingesetzt wurden, konnte man nachweisen, dass die Anschlüsse dicht sind. Langfristige Erfahrungen fehlen jedoch.
Für Ralf Escher[5] ist die zentrale Frage im innerstädtischen Bereich, bis zu welchem Verhältnis Leitungslänge/Anzahl Seitenanschlüsse das Verfahren wirtschaftlicher ist als der konventionelle Leitungsersatz im offenen Graben. Als Faustregel gilt: Bei mehr als 5 bis 7 Anschlüssen bei einer durchschnittlichen Haltungslänge von 50 m sind grabenlose Verfahren nicht mehr wirtschaftlich.

Ausblick

Rohrleitungsnetze stammen in der Regel aus unterschiedlichen technischen Entwicklungsstufen. Die Lebensdauer der Leitungen liegt zwischen 50 und 80 Jahren. Das Problem der defekten Rohrleitungen betrifft ganz Europa. Auch die Schweiz investiert jährlich Millionen, um die Wasserver- und -entsorgung sicherzustellen. Die gesetzliche Grundlage zur Kontrolle der bestehenden Abwasseranlagen ist im Gewässerschutzgesetz[6], Artikel 15, festgehalten. Öffentliche wie private ­Inhaber von Abwasserleitungen sind zur Überprüfung und Wartung aufgefordert. Der Überwachungsauftrag liegt beim Kanton. Jeder Kanalbetreiber muss heute davon ausgehen, dass nicht alle seine Kanäle dicht sind und er mit dem Betrieb seiner Kanalisation gegen das Gewässerschutzgesetz verstösst.

TEC21, Mi., 2007.02.14



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2007|07 Im Untergrund

«Sorgfalt in jedem Fall»

Bilder eingestürzter Brücken oder Gebäude werfen Fragen nach den Gründen, der Verantwortung und den Konsequenzen auf. Drei Fachleute diskutierten über die Abgrenzung der Verantwortung und die Gratwanderung der am Bau Beteilig-ten. Besteht ein Zusammenhang zwischen Schadenfällen und tiefen Honoraren? Welche Rolle spielen Fachkompetenz und Vertrauen? Inwiefern sind Technische Normen verbindliche Berechnungsgrundlage.

Bilder eingestürzter Brücken oder Gebäude werfen Fragen nach den Gründen, der Verantwortung und den Konsequenzen auf. Drei Fachleute diskutierten über die Abgrenzung der Verantwortung und die Gratwanderung der am Bau Beteilig-ten. Besteht ein Zusammenhang zwischen Schadenfällen und tiefen Honoraren? Welche Rolle spielen Fachkompetenz und Vertrauen? Inwiefern sind Technische Normen verbindliche Berechnungsgrundlage.

TEC21: Die Baubranche steht heute unter enormem Kosten- und Termindruck. Ist es unter solchen Bedingungen möglich, spontane Entscheidungen zu treffen, die den juristischen Gegebenheiten standhalten?
Erich Ramer: Grundsätzlich kann man solche Entscheidungen auf der Baustelle schon fällen. Aber gerade bei Grabenbauten sieht man regelmässig heikle Situationen. So kam mir auch schon ein Graben zu Gesicht, der unmittelbar neben den Gleisen senkrecht in den Baugrund «abgetieft» war. Er stand, aber es hätte auch genau anders sein können!

Wie kommt es zu diesen heiklen Situationen im Bauprozess?
Walter Ramseier: Wenn zum Beispiel die Planung in Frage oder auf den Kopf gestellt wird. Man plant etwas korrekt, und es ist sowohl ingenieurmässig als auch vom Bauablauf her abgesichert. Der Gesamtprojektleiter kennt zu diesem Zeitpunkt den Ablauf. Wird die Ausführung kurzfristig umgestellt, können die Unfälle passieren. In den meisten Fällen sind solche kurzfristigen Anpassungen Optimierungsangelegenheiten. Man will Kosten und Zeit einsparen. Das ist das tägliche Brot in einem Bauablauf: Wie können wir schneller und billiger bauen. Dieser Mechanismus von Änderungen technischer Abläufe findet auf der Baustelle oft statt. Die Schwierigkeit liegt darin, die richtige Einschätzung vorzunehmen. Es gehört zu den Aufgaben des Gesamtprojektleiters, hier den Finger aufzuheben und auf die Risiken aufmerksam zu machen.
Jürg Gasche: Auch aus meiner Sicht passiert immer dann etwas, wenn Abläufe geändert werden. Baustellen sind dynamisch. Dass die Beteiligten in einem solchen dynamischen Prozess Änderungen vornehmen können, ist natürlich zwingend. Für die Fachleute ist es darum eine Herausforderung, Änderungen in den dynamischen Abläufen so zu steuern, dass nichts passiert.

Trotzdem müssen die Regeln der Baukunde eingehalten werden. Kann diese Forderung in der Praxis umgesetzt werden?
Jürg Gasche: Wie man das macht, ohne dass Menschenleben gefährdet werden, müssen die Fachleute diskutieren. Auf jeden Fall müssen im Moment des Bauens die dann gültigen Regeln der Technik erfüllt sein. Dass sich diese immer weiter entwickeln, ist klar. Trotzdem kann man nicht alle Häuser im gleichen 10-Jahres-Takt, in dem technische Normen überarbeitet werden, nachrüsten. Wenn jedoch beispielsweise ein grosser Umbau vorgenommen wird, dann müssen sich die Planer damit auseinandersetzen, was der aktuelle Stand der Regeln der Technik ist. Es muss zwingend geklärt werden, was aus Sicherheitsgründen baulich angepasst werden muss.
Erich Ramer: Bei Umbau und/oder Nutzungsänderungen sind die neuen Normen einzuhalten. Wird aber weder an der Nutzung noch am Bauwerk etwas geändert, soll (ausser bei offensichtlichen Fehlern) das Bauwerk belassen werden, wie es seinerzeit dimensioniert wurde. Ein aktuelles Beispiel ist die Erdbebensicherheit. Nur wegen der Normen können wir nicht sämtliche Gebäude in der Schweiz erdbebentechnisch nachrüsten.
Jürg Gasche: In einem Fall beauftragte der Bauherr einen zweiten Ingenieur, weil der Erstbeauftragte gestorben war. Er überprüfte die Dimensionierung seines verstorbenen Kollegen und stellte fest, dass dieser mit den alten SIA-Normen gerechnet hatte. Die statische Berechnung der Tiefgarage entsprach somit nicht den gültigen Normen. Das Bauwerk war aber schon in der Ausführung. Die Haftpflichtversicherung des Verstorbenen übernahm die Mehrkosten der Anpassungen an die aktuelle Norm.
Erich Ramer: Das ist ja das Beste, was einem passieren kann. Aber wenn dieser nun nicht gestorben wäre?
Jürg Gasche: Dann hätte der Bauherr ein Bauwerk erhalten, das nicht den neuen Normen entsprechend dimensioniert gewesen wäre. Wahrscheinlich hätte auch das gehalten. Es ist eben beim Bauen so, solange etwas hält, auch wenn es gegen die Regeln der Technik verstösst, wird niemanden belastet: «Wo kein Kläger, da kein Richter». Zur Sorgfaltsspflicht des Fachmanns gehört aber, dass er seine Bauherrschaft darauf hinweist, wenn er eine Verletzung der Regeln der Technik bemerkt.

Wird man so nicht bei jedem Projekt «frecher» in der Dimensionierung? Sind Schäden eine Frage der Zeit, und häufen sich die Schadensfälle?
Erich Ramer: Frecher zu werden darf man sich als Ingenieur nicht leisten. Baustellen, auf denen nichts passiert, gelten nicht als Referenz. Man muss sich auf Erfahrungen stützen, die mit Berechnungen oder vielleicht sogar mit Kontrollmessungen gemacht wurden. Einstürze von fertigen Bauwerken sind übrigens eher die Ausnahme. Eine ungenügende Bemessung führt in der Regel nicht gleich zum Einsturz. Häufiger sind Einschränkungen der Gebrauchs­tauglichkeit. Ausserdem laufen Bauzustände eher Gefahr, bei der Bemessung vergessen zu werden. Aus diesem Grund ist es wichtig, die einzelnen Bauzustände systematisch anzugehen und alle Gefährdungsbilder zu erfassen. Dies ist wiederum eine Termin- und Honorarfrage. Mehr Geld heisst mehr Zeit. Wenn ich die Zeit habe, sorgfältiger nachzudenken, dann komme ich auch auf die relevanten Gefährdungsbilder. Wenn ich aber alles in Rekordzeit durchpauken muss, dann ist das Risiko grösser, dass ich das eine oder andere Gefährdungsbild übersehe.
Jürg Gasche: Zu beachten ist, dass rein juristisch gesehen sogar der Fachmann, der gratis arbeitet, trotzdem verpflichtet ist, sorgfältig zu arbeiten. Die Relation zwischen Honorar und Denkkapazität gibt es aus rechtlicher Sicht nicht. Wenn etwas passiert und die Untersuchung beginnt, werden die Juristen nicht zuerst sagen: «Aha, er hat nur 50 % vom üblichen Honorar erhalten. In diesem Falle müssen wir das Auge um zwei Viertel zudrücken.» Im Gegenteil, die Gesellschaft erwartet volle Sorgfalt in jedem Fall. Aber um der Sorgfaltspflicht nachzukommen, muss das Honorar stimmen. Man kann auch nicht einen Esel dazu bringen, eine Karre zu ziehen, ohne ihm jemals zu saufen zu geben!

Wie beurteilen Sie die derzeitige Honorarsituation in Bezug auf die Denkkapazität?
Walter Ramseier: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man mit den Honoraransätzen nach SIA 102 und den seit 2005 geltenden z-Werten klar kommt. Mit dem für mein Büro ermittelten Stundenansatz können wir die erwartete Leistung erbringen. Bei Ansätzen, die mehr als 10 % darunter liegen, gibt es ein Problem.
Erich Ramer: Im Tiefbau liegen die Honorare manchmal um 50 % oder mehr unter jenen, die man nach Honorarordnung ermitteln würde. Es gibt zwei Möglichkeiten, das zu erreichen. Ich kann einerseits weniger Leistung anstreben. Andererseits kann ich die Löhne der Mitarbeiter drücken und von ihnen verlangen, dass sie Gratisstunden leisten. Dann komme ich mit weniger bezahlten Stunden durch. Wenn Bezahlungen von nur 20 bis 50 % der empfohlenen SIA-Honorare angeboten werden, kann der Aufwand nicht einfach mit Rationalisieren und Erfahrung reduziert werden. Das birgt Risiken. Das sind zusätzliche Kostenrisiken neben den bereits angesprochenen Fehlerrisiken. Oft wird versucht, Zeit und somit Geld zu sparen, indem einfach weniger optimiert und sicherer bemessen wird. Der Bauherr hat dann zwar die teuren Bauten, hat aber ein paar Franken Honorar gespart.
Jürg Gasche: Das ist ein ganz wichtiger Ansatz, den Sie ansprechen! Man tut ein wenig mehr Eisen rein und dann hält’s. Das ist eine wichtige Relation: Was ist die Ersparnis am Ingenieur-Honorar in Franken und was die Bauverteuerung, die damit ausgelöst wird. Wenn klar dargelegt werden könnte, dass hier quasi eine Hebelwirkung besteht: Ein Franken gespartes Honorar bedeutet beispielsweise drei Franken teureres Bauen, dann müsste der Bauherr ganz klar sagen: «Dann legen wir lieber einen Franken drauf. Wir investieren zwar mehr in die Planung, das Bauen hingegen kostet uns weniger. Am Schluss haben wir insgesamt weniger ausgegeben!»
Walter Ramseier: Da staune ich jedes Mal wieder. Warum reiten die Bauherren auf den Honoraren rum? Es ist der kleinste Teil, gemessen an der Bausumme. Wenn sie eine gute Planerleistung haben, können sie wirklich Geld sparen.

Sind für Schadensfälle die Honorare der Grund allen Übels?
Walter Ramseier: Die niedrigen Honorare und Werklöhne sind bestimmt mit eine Ursache für das hohe Tempo, das auf den Baustellen vorgelegt wird. Das lässt das Risiko steigen. Meines Erachtens hat aber auch der Unternehmer grossen Einfluss darauf, einen Schaden zu verhüten oder zu verursachen. Dort sehe ich ein viel grösseres Gefahrenpotenzial als bei den Planern. Es sind die komplexen Zusammenhänge, aber auch die Schnittstellen in den Bauabläufen, die Fehler, Bauschäden und Unfälle forcieren. Zudem ist jeder Bau ein Prototyp. Das macht die Sache auch nicht einfacher.
Jürg Gasche: Wie konfrontieren denn Architekten den Bauherrn mit einem innovativen Projekt, das Prototyp-Charakter hat? Sagen sie dem Bauherrn: «Wenn Sie diese Lösung wollen, dann haben Sie etwas Spezielles, tragen jedoch mehr eigene Verantwortung»? Angenommen die Verantwortung wird nicht übernommen, zieht der Architekt dann eine konventionelle Lösung vor?
Walter Ramseier: Das machen Architekten nie, denn Architekten sind so ehrgeizig, dass sie das Risiko eingehen. Sie versuchen, sich in einem solchen Fall vielmehr abzusichern.

Innovation ist ein Risikofaktor. Stellen die Normen und Regelwerke heute eine Innova-tionsbremse dar?
Walter Ramseier: Als Innovationsbremse würde ich die SIA-Normen nicht bezeichnen. Es ist vielleicht so, dass sie das Bauen manchmal verkomplizieren. Der Aufwand, ständig auf dem neusten Wissenstand zu sein, ist verhältnismässig gross und sollte nicht unterschätzt werden.
Erich Ramer: Man kann sich nach gewissen Regeln auch ausserhalb der Norm bewegen, durch Versuche und Berechnungen nachweisen, dass der Sicherheit trotzdem Genüge getan ist. Normen sind darum eindeutig keine Innovationsbremse.
Jürg Gasche: Zur juristischen Absicherung müssen die Vereinbarungen ein Kapitel zu «Abweichungen von den Normen» enhalten. Ich empfehle bei Innovationen den Abweichungsvorgang, den darüber geführten Dialog zwischen Planer und Bauherr sowie die vom Bauherrn gefällten Entscheidungen akribisch zu dokumentieren.

Ist ein Schaden eingetreten, wird der Schuldige gesucht. Wer übernimmt die Verantwortung?
Walter Ramseier: Klare Richtlinien regeln die Verantwortung. Fehlen solche Richtlinien, kann in einem Schadenfall jeder am Bau Beteiligte in die Pflicht genommen werden. Als verantwortlicher Gesamtprojektleiter kann ich mich nur schützen, indem ich mich bei Spezialisten absichere.
Jürg Gasche: Der Gesamtprojektleiter hat eine Führungs- und Managementfunktion. Er ist verpflichtet kritische Fragen zu stellen und sich seriöse Entscheidungsgrundlagen zu verschaffen. Er darf sich nicht ohne weiteres auf das Urteil eines Spezialisten verlassen, wenn er keine Schuldzuweisung riskieren will.
Erich Ramer: Ich bin oft als Gesamtprojektleiter tätig und habe mit Spezialisten aus Fachgebieten zu tun, von denen ich selbst wenig oder nichts verstehe. Es würde mich stören, wenn der Richter mir ein Fachurteil zumessen würde, auf einem Gebiet für dessen Fragen ich einen Spezialisten zugezogen habe.
Wenn ich mich in die Rolle des Spezialisten versetze, masse ich mir an, für mich zu entscheiden, ob ich aus Erfahrung oder aus dem Bauch die Sachlage beurteilen kann oder, ob ich eine Berechnung brauche, um den Sachverhalt nachzuweisen. Wenn ich am Tisch sage: «Das ist für mich sonnenklar, das muss ich nicht noch einmal rechnen!», dann erwarte ich, dass mir der Gesamtprojektleiter das auch abnimmt. Umgekehrt muss sich der Gesamtprojektleiter auch darauf verlassen können, wenn sein zugezogener Spezialist behauptet: «Jawohl, ich habe mir das jetzt gerade überlegt, es ist für mich klar.»
Sie haben schon recht, ich bin auch der Meinung, der Gesamtprojektleiter muss nachfragen. Wenn dieser dafür aber immer eine Berechnung auf Papier verlangen müsste, würde mir dies zu weit gehen.
Jürg Gasche: Würde es Ihnen als Spezialist zu weit gehen oder würden Sie als Gesamtprojektleiter nicht so weit gehen wollen?
Erich Ramer: In beiden Rollen. Ich bin der Meinung, der Spezialist muss in der Lage sein, zu entscheiden, ob er eine Berechnung braucht, um etwas zu beurteilen oder ob er es ohne Berechnung nachweisen kann.

Die fehlende Fachkenntnis ist die eine Seite. Wer übernimmt die Verantwortung, wenn Aufgaben aus Kapazitätsgründen abgegeben werden?
Jürg Gasche: Man kann ja niemals alles selber machen. Wenn man aber aus Kapazitätsgründen eine Aufgabe delegiert, so trägt man die volle Verantwortung. Immer.
Erich Ramer: Es kommt ausserdem darauf an, wie man das Arbeitsverhältnis mit dem Auftraggeber vertraglich geregelt hat. Werden separate Verträge abgeschlossen, ist in jedem Vertrag auch eine gewisse Verantwortung zugewiesen. Hoffentlich eindeutig und ohne Lücken und Überschneidungen. Im Auftragsrecht hafte ich hingegen nur für die sorgfältige Auswahl des erlaubterweise zugezogenen Subplaners.

Wie sehen Massnahmen gegen die vorhandenen Fehlerrisiken aus? Sind Prüfingenieure eine Lösung?
Erich Ramer: Das kann für den projektierenden Ingenieur sehr bequem sein, denn dann übernimmt der Prüfingenieur einen Teil der Verantwortung.
Jürg Gasche: Wollen Sie das wirklich?
Erich Ramer: Eigentlich nicht. Das hat natürlich zur Folge, dass man in einem Fall, in dem ein Prüfingenieur mitwirkt, seine Statik in einer ganz bestimmten Form aufbereiten und abgeben muss. Andererseits aber hat der Prüfingenieur ein Auge darauf, ob alle massgebenden Fälle berücksichtigt sind. Jeder Prüfingenieur hat seine primäre Aufgabe in der Plausibilitätskontrolle, die er auf verschiedene Arten durchführt. So gesehen gibt es eine gewisse grössere Sicherheit gegen Schadenfälle. Allerdings kostet ein Prüfingenieur wiederum Geld und ich persönlich ziehe es vor, als Projektverfasser die finanziellen Mittel für eine sorgfältige Planung zur Verfügung zu haben.
Neben den Prüfingenieuren sehe ich als Massnahme auch das Beseitigen der Hauptfehlerquellen. Vor allem den oft politisch bedingten Termindruck und die harte Selektion auf Grund des tiefsten Preises.

TEC21, Mo., 2007.01.29



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2007|05 Sicher Bauen

08. Januar 2007Daniela Dietsche
TEC21

Formfindung für eine Membran

Um die Tempelanlagen Hagar Qim und Mnajdra auf Malta zu schützen, wurden in einem internationalen Wettbewerb reversib­le Schutzbauten gesucht. Das Siegerprojekt veränderte sich seit 2004 stark. Die Einbogenkonstruktion wurde von einer Zweibogenkonstruktion abgelöst. Das Aussehen gleicht heute eher einem Käfer statt dem geplanten Zelt. Den langen Weg der Formfindung gingen Architekt und Ingenieur gemeinsam.

Um die Tempelanlagen Hagar Qim und Mnajdra auf Malta zu schützen, wurden in einem internationalen Wettbewerb reversib­le Schutzbauten gesucht. Das Siegerprojekt veränderte sich seit 2004 stark. Die Einbogenkonstruktion wurde von einer Zweibogenkonstruktion abgelöst. Das Aussehen gleicht heute eher einem Käfer statt dem geplanten Zelt. Den langen Weg der Formfindung gingen Architekt und Ingenieur gemeinsam.

Schutzbauten
Die Tempelanlagen Hagar Qim und Mnajdra auf Malta wurden im 19. Jahrhundert zum ersten Mal freigelegt. Damit begann ihr eigentlicher Zerfall. Über Jahrhunderte waren sie von der Erde geschützt, nach der Ausgrabung sind sie Erosion, Überflutung, Versalzung und vielen anderen Umwelteinflüssen ausgesetzt. Zusätzlich werden die Steinfragmente durch eine zunehmende Zahl von Besuchern abgenutzt. Im Jahr 2004 wurde ein internationaler und offener Wettbewerb nach den Richtlinien von der Union Internationale des Architectes (UIA) und der Unesco durchgeführt. Die Aufgabe war, das kulturelle Erbe zu schützen. Ein neues Besucherzentrum, ein Leit- und Orientierungssystem sowie reversible Schutzbauten für die Tempelanlagen sollten geplant werden. Der Entwurf des Berner Architekten Walter Hunziker überzeugte die Jury (siehe TEC 21, 21/04). Das Wettbewerbsprojekt wurde in enger Zusammenarbeit mit den maltesischen Behörden, dem Membraningenieur und dem maltesischen Partnerbüro in den letzten zwei Jahren weiterentwickelt. Dabei wurde das Besucherzentrum auf den Perimeter eines bereits bestehenden Parkplatzes verschoben. Damit konnte erreicht werden, dass kein zusätzliches Naturland verbaut werden musste. Viele verschiedene Einflüsse und Anforderungen beeinflussten den Prozess der Formfindung für die Schutzbauten.

Die erste Idee
Die erste Idee war, eine einfache Form zu finden, um die fragilen Steinkonstruktionen zu schützen und die Ruinen mit möglichst wenig High tech zu überspannen: eine Zeltkonstruktion. Die Erbauer der Kultstätten berücksichtigten die Bewegung der Sonne und der Gestirne. Um der Ausrichtung der Tempelgrundrisse nach kosmischen Gesichtspunkten gerecht zu werden, wurde die Schutzkonstruktion in der Nordsüdachse ausgerichtet. Das Wettbewerbsprojekt beschreibt eine Einbogenkonstruktion aus Holz, die von einem textilen Gewebe überspannt wird. Es war geplant, die Teile des Bogens neben der Tempelanlage zu montieren und anschliessend aufzurichten. Mit dieser Konstruktion sollten die Wettbewerbsbedingungen erfüllt werden: möglichst minimale Fusspunkte, Reversibilität, Leichtigkeit, keine Vibrationen und wenig Material auf der Baustelle. Nach dem Wettbewerb begann die intensive Phase der Berechnung der Schutzbauten und ihre Formfindung.

Technische Machbarkeit
In dieser Phase mussten komplexe und zum Teil widersprüchliche Projektparameter auf einen Nenner gebracht und optimiert werden: die konservatorischen Aspekte vertreten durch Heritage Malta, der Schutz des Naturreservates (MEPA Maltese Environment and Planning Authority) sowie die Anliegen des Tourismusministeriums und der lokalen Bauern. Der Widerspruch, dass Schutzbauten zum Erhalt des Kulturguts auch immer eine Beeinträchtigung desselben einschliessen, musste ebenfalls berücksichtigt werden. Die Zeltkonstruktion war keine Skulptur, die vom Ingenieur nur noch nachgerechnet wird, sondern ein Konzept, das weiterbearbeitet wird. Für die endgültige Bestimmung und Berechnung der Form benötigt man umfangreiche Kenntnisse der ingenieur- und materialspezifischen Gesetzmässigkeiten. In Europa gibt es nur wenige Spezialisten auf dem Gebiet der Membrankonstruktionen. In der Schweiz war kein Büro zu finden, das sowohl die Berechnungen als auch die membrantechnische Beurteilung durchführen konnte. Ein Spezialist für textile Architektur, Michael Kiefer aus Radolfzell (D), wurde ins Projektteam integriert. Mit speziellen Berechnungsmodellen, basierend auf der Finiten-Elemente-Methode, wurden die Formen entwickelt. Die Fachwerkträger geben der Tragstruktur die Form, während die Membran inklusive Randabspannungen die Konstruktion stabilisiert. Membrane sind materialsparende Konstruktionen, werden aber aufgrund der schwierigen Verankerung der entstehenden Zugkräfte oft zu teuren Objekten. Um alle Bedingungen erfüllen zu können, wurde ein Glasfasergewebe für die Membran gewählt. Eine schmutzabweisende PTFE (Polytetrafluorethylen)-Beschichtung schützt das Gewebe vor UV-Strahlen. Die Transluzenz, die im Wettbewerb gefordert war, kann bei Werten von 8–15 % weitgehend beibehalten werden. Das gewählte Material ist nicht brennbar. Mit einer Gesamtdicke von 1 mm und einer flächenbezogenen Gesamtmasse von 1550 g/m2 kann das Gewebe eine Höchstzugkraft von 7500 N/5 cm aufnehmen.
Als der Ingenieur das Wettbewerbsprojekt überprüfte, kam es zur ersten grossen Korrektur. Durch die Spannweite von 70 m und die hohe Beanspruchung der Tragelemente war der Bogen nicht in Holz ausführbar. Der weiteren Dimensionierung des Bogens wurde daher eine Stahlkonstruktion zu Grunde gelegt.
Die Lagerung des Schutzbaus musste auf die Grundrisse der Tempelanlagen abgestimmt werden. Erschwerend kam hinzu, dass durch die Geländeform die Fusspunkte nicht frei gewählt werden konnten. Der Ingenieur versuchte in einem ersten Schritt, die Randabspannpunkte zu organisieren. Nachdem die möglichen Fusspunkte markiert waren, wurde dazwischen rechnerisch eine Form für die Membran erzeugt. Nach wie vor war das Offenhalten der «kosmischen» Achsen zu berücksichtigen. Es waren Sektoren bekannt, bei denen die rechnerisch ermittelte «Kurve» der Membran angepasst und nach oben gezogen werden musste, beispielsweise für die Front der Tempelanlage. Sie soll vom Meer frei sichtbar sein. Erst aufgrund dieser Vorgaben wurde schliesslich die Position der Stahlbogen festgelegt.
Die weitere Berechnung zeigte, dass die Windkräfte durch die exponierte Form der Tempelanlagen so gross sind, dass die Membran den dadurch entstehenden Beanspruchungen nicht mehr standhalten würde. Membrane tragen die Kräfte durch Verformung ab, daher bestand die Gefahr des Durchschlagens und damit das Risiko, die Ruinen wie auch die Membran zu beschädigen. Als Gegenmassnahme entschied man sich für den Einsatz von aussteifenden Kehlseilen. Dadurch konnte die Bewegung der Membran unter Kontrolle gebracht werden. Ausserdem achten Archäologen darauf, dass durch die Formgebung keine neuen Turbulenzen für die Tempelanlagen entstehen könnten.
Parallel zur Formfindung der Konstruktion wurde von den zuständigen Behörden verlangt, den visuellen Eingriff in die Landschaft zu reduzieren, das heisst die Bogenhöhe herabzusetzen. Architekt und Ingenieur griffen auf die Alternative aus dem technischen Bericht des Wettbewerbs zurück: Die Zweibogenlösung musste in Betracht gezogen werden. Durch die Einteilung der Kehlen konnte die Bewegung der Membran trotz der flachen Bogen unter Kontrolle gebracht werden. Für die endgültige Dimensionierung der Membran und der Seile wird ein Windkanaltest gefordert. Anhand eines Modells im Massstab 1:100 oder 1:50 werden die Windlasten gemessen. Die Ergebnisse werden nach der Auswertung auf die reale Situation übertragen und die Dimensionierung der tragenden Elemente optimiert.

Montage und Qualitätssicherung
Die Schutzbauten sind für einen Zeitraum von 25–30 Jahren ausgelegt, bis verbesserte Konservierungsmassnahmen zur Verfügung stehen. Als Fundamente sind Mikropfähle vorgesehen. Die Bemessung der Fusspunkte und der Fundamente erfolgt auf Basis der definitiven statischen Berechnung. Die Idee der Montage vor Ort bleibt weiterhin bestehen. Die grosse Herausforderung liegt im Aufbau der Stahlbögen, da nur ein kleiner Kran eingesetzt werden kann. Zum einen sind die Ruinen vor Vibrationen zu schützen, und zum anderen eignet sich die Zufahrt für schwere Fahrzeuge nicht. Nach Auskunft des Ingenieurs ist es aber noch verfrüht, über das Montagekonzept zu sprechen, da die ausführende Firma noch nicht bestimmt ist. Zurzeit gibt es verschiedene Lösungsansätze. Das Ingenieurbüro sieht temporäre Gerüsttürme vor. Sie werden ausserhalb der Ruinen aufgestellt, wobei erst noch ein Stabilitätsnachweis geführt werden muss. Der Schutz der Ruinen während der Montage gegen Erschütterung, Öl und Rost, ist Bestandteil der Ausschreibung. Um die Tempelanlagen während der Montage vor herabfallendem Kleinmaterial zu schützen, ist der Einsatz eines Sicherungsnetzes geplant. Das Risiko, dass die Anlagen durch Vandalismus beschädigt werden könnten, ist ausgeschlossen, da sie ständig bewacht sind.
Das beschichtete Glasfasergewebe wird nach einem Zuschnittmuster am Boden ausgelegt und stoffschlüssig verbunden. Während der Montage wird die Vorspannung aufgebracht, dabei wird sich das Material zwischen 3 und 7 % dehnen. Im Rahmen der Qualitätsprüfung werden Haftung und Festigkeit geprüft. Dichte Nähte sind bei Schutzbauten antiker Stätten besonders wichtig, da durch Tropfenbildung die Steinfragmente beschädigt werden könnten. Die Gefahr der Beschädigung durch Kondenswasser wird gering eingestuft, da die Konstruktion keine horizontalen Flächen aufweist und somit das Wasser auf der Innenseite der Membran zum Rand hin abgeleitet wird. Falls unvorhergesehen Wasser abtropft, besteht die Möglichkeit, die Konstruktion durch Drainagesysteme zu ergänzen. Das seltene, aber in grossen Mengen anfallende Regenwasser wird in der Umgebung versickert oder in Zisternen gesammelt.
Da es keine allgemeine Zulassung für Membrankonstruktionen gibt, wird der Qualitätsnachweis für Material und Verbindungen vom Unternehmer bei unabhängigen Forschungsinstituten eingefordert.
Um genaue Daten über die späteren Auswirkungen auf die Schutzbauten zu ermitteln, betreibt Heritage Malta ein intensives Klimamessprogramm in der Umgebung der Tempelanlagen.

Gratwanderung
Im Wettbewerb wurde eine Einbogenkonstruktion aus Holz visualisiert und favorisiert, für die Ausführung letztlich eine Zweibogenkonstruktion aus Stahl ausgeschrieben. Zurzeit läuft die letzte Phase der Auswertung der Ausführungsofferten. Die funktionalen Anforderungen, die gestalterischen Vorstellungen und die konstruktiven Möglichkeiten beeinflussten die Formfindung, wobei im Sinne des Architekten das Prinzip der Hochbogenstruktur bestehen bleibt. Die Form zu finden war sowohl für den Architekten als auch für den Ingenieur eine grosse Herausforderung und eine Gratwanderung zwischen der Leitidee und der technischen Machbarkeit. Da Membrane nur auf Zug beansprucht werden können und das Tragwerk immer im Gleichgewicht bleiben muss, führte eine kleine Veränderung sofort zur Verschiebung der Kräfte und als Folge zu einer neuen Form.

TEC21, Mo., 2007.01.08



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2007|01-02 Bauen im Ausland

Profil

7 | 6 | 5 | 4 | 3 | 2 | 1