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22. April 2017Elke Krasny
Der Standard

Architektur des Sorgetragens

Heute kommt es nicht so sehr darauf an, die Welt verschieden zu interpretieren, sondern sie zu reparieren. Die Architektur könnte zur Erreichung dieses Ziels einen wichtigen Beitrag leisten.

Heute kommt es nicht so sehr darauf an, die Welt verschieden zu interpretieren, sondern sie zu reparieren. Die Architektur könnte zur Erreichung dieses Ziels einen wichtigen Beitrag leisten.

Haben Architekten Sorgen? Eine berechtigte Frage. Es ist anzunehmen, dass ihre Profession den Architekten jeden Tag aufs Neue Sorgen bereitet. Einmal gibt es zu wenige Aufträge, dann fallen wieder zu viele Arbeitsstunden an. Und immer herrscht Zeitdruck. Eine Abgabe hetzt die nächste. Wettbewerbsteilnahmen bleiben erfolglos. Der Sparstift regiert. Vorschriften verunmöglichen vieles. Und zu guter Letzt das Haftungsrisiko, auch nicht ohne. Die Rede ist hier nicht einmal von höhenflugberauschter Spektakulär-Spekulations-Architektur, sondern von einer auf sozialer, ästhetischer und politischer Verantwortung beharrenden Alltagsarchitektur. Ohne Zweifel: Ja, Architektinnen und Architekten haben Sorgen.

Mehr vom Selben

Zeitdruck, Gelddruck, Prestigedruck: Die einen sehen Gefahr, dass die Architektur sich völlig den Zwängen des Markts unterworfen hat und nur mehr developergetrieben agiert. Die anderen bezweifeln, dass sich in der Architektur etwas Neues, Innovatives, Zukunftsweisendes entwickelt, weil doch letztlich immer nur mehr vom Selben gefordert wird.

In der Tat, wir müssen uns Sorgen machen um die Architektur. Doch nicht nur, weil es zu hohen Spekulationsdruck und zu wenig Innovation gibt. Nein, man muss sich größte Sorgen vor allem darum machen, wie die Architektur ihrer zentralen Aufgabe nachkommen kann – nämlich selbst Sorge zu tragen.

Die Philosophin Judith Butler hat vor nicht allzu langer Zeit in einem ihrer Essays darüber geschrieben, dass Architektur für das Sorgetragen wesentlich verantwortlich ist. Butler schreibt über den öffentlichen Raum, über Straßen und Plätze, und sagt, dass diese „materielle Umgebung” als „Stütze des Handelns” dient. Sie führt aus, dass „menschliches Handeln auf Unterstützung angewiesen ist, immer unterstütztes Handeln ist“. Architektur, das muss mit aller Deutlichkeit festgehalten werden, zählt zu den wichtigsten materiellen Stützen des menschlichen Handelns. Und auf Stützen muss man sich verlassen können. Sie müssen zur Verfügung stehen, in ausreichender Zahl, in angemessener Qualität, und zwar für alle.

Butler macht auch klar, dass die materiellen Stützen, die unser Handeln ermöglichen, genau das sind, worüber die größten Verteilungskämpfe ausgetragen werden. Wer kann über sie verfügen? Wem bleibt der Zugang verwehrt? Wer kann sie sich leisten? Und wer muss auf sie verzichten? Die steigende globalisierte Ungleichheit hat mit diesen ungerechten Verteilungen von Unterstützung zu tun. Das betrifft – nicht zuletzt auch – die Architektur.

Die Frage ist: Wie kann Architektur unter den gegenwärtigen Bedingungen von gleichzeitigem massivem kapitalgetriebenem Spekulationsdruck und verheerende Folgen verursachenden austeritätsbedingten Sparmaßnahmen die Aufgabe des Sorgetragens nicht nur übernehmen, sondern diese immanente Aufgabe auch neu definieren? Auf wessen Seite stehen Architekten und Architektinnen im Kampf um die materiellen Unterstützungen, die durch ihre Arbeit entsteht?

Werfen wir einen Blick in die Vergangenheit. Was lässt sich von der modernen Architektur, von ihren Folgen hier und heute lernen? Die moderne Architektur wollte Lösungen in großem Stil. Für alle. Vom Wohnen für das Existenzminimum über architekturhistorisch kanonisierte Einzelanfertigungen à la Mies van der Rohe oder Richard Neutra bis hin zum staatstragend-versorgenden sozialen Wohnungsbau in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Ansprüche waren hoch: funktional, sozial, ästhetisch. Die Architekten waren die Helden, in deren Hand es lag, Tabula rasa zu machen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und eine problemlose Zukunft aufzubauen.

Totalversagen

Heute leben wir in genau dieser Zukunft. Die globalen Probleme sind rasant gestiegen, die Ziele, die die moderne Architektur erreichen wollte, sind relevanter denn je, zugleich sind sie in größte Erreichungsferne gerückt. Was ist passiert? Kurz gesagt: Die moderne Architektur ist gestorben, und zwar 1972, mit der Sprengung von Pruitt-Igoe in St. Louis. Das war die Zäsur. Das war der Tod.

18 Jahre nach Fertigstellung stand die an Le Corbusier orientierte Wohnanlage, ein Slum-Bereinigungsprojekt, nicht mehr für die Sozialleistungen der modernen Architektur, wie nach der Fertigstellung euphorisch berichtet wurde, sondern nur noch für deren Totalversagen: rassistische Segregation, Armut, Verbrechen, Leerstand, Verwahrlosung. Sorgetragen? Auf allen Ebenen gescheitert. Die Lösung: nicht Reparatur, sondern Sprengung.

Care und Repair

Mit dem Tod der modernen Architektur wurde auch das Postulat der Moderne, der Form-Funktions-Zusammenhang, zu Grabe getragen. Paradoxerweise, so lässt sich im historischen Rückblick erkennen, setzte das eine funktionsbefreite Architektur in Gang, die sich an den Formen berauschen konnte. Aus dem Helden-Architekten wurde der Star-Architekt. Das hat dem Sorgetragen, das die Architektur leisten soll, nicht gut getan. Ganz im Gegenteil. Architektur ist ungleicher verteilt denn je. Und was Star-Architektur anbelangt: Sie ist pflegebedürftiger als die Architektur der Moderne. Instandhalten, Reparieren, Pflegen. Ohne Ende.

Doch wie kommen wir zu einer Architektur des Sorgetragens? Welche Maßnahmen gegen Prekarisierung und konjunkturbedingte Flexibilisierung müssen wir treffen? Welche Baumaterialien müssen wir verwenden? Und welche Arbeitsbedingungen müssen wir schaffen? In einem Sektor wohlgemerkt, der exemplarisch ist für die Ausbeutungsverhältnisse der globalisierten Arbeitsteilung. Es ist kein Wunder, dass es deutlich mehr Daten zur Ökobilanz gibt als zur Sozialbilanz. Daten dazu, wie viel Arbeit die Materialien den Nutzern abverlangen, gibt es, nebenbei bemerkt, gar nicht.

Die Sachlagen sind komplex. Die Zukunft ist – in Zeiten von Krisen, Kriegen, Katastrophen – wenig vielversprechend. Genau deshalb gibt es viel zu tun für eine Architektur des Sorgetragens und der Reparatur. Im kleinen Maßstab, an vielen Orten der Welt wird heute bereits Care- und Repair-Architektur gemacht. Wenn die Inhalte zählen, dann folgen neue und innovative Funktionen und Formen.

Der Philosoph Karl Marx hat in einer Replik auf Ludwig Feuerbach geschrieben: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern.“ Heute kommt es nicht so sehr darauf an, die Welt verschieden zu interpretieren, sondern sie zu reparieren. Der Beitrag der Architektur könnte ein wichtiger sein. Dafür hat sie zu sorgen.

Der Standard, Sa., 2017.04.22

30. Juli 2012Elke Krasny
Sonja Pisarik
Hintergrund

Die Entwicklung der Wiener Kleingärten als „planungspolitisches Kapitalverbrechen“?

Elke: Uns interessiert der Umgang mit dem vielschichtigen Erbe dessen, was aus der Schreber- und Siedlerbewegung in Wien gewachsen ist. Die Zukunft dieser...

Elke: Uns interessiert der Umgang mit dem vielschichtigen Erbe dessen, was aus der Schreber- und Siedlerbewegung in Wien gewachsen ist. Die Zukunft dieser...

Elke: Uns interessiert der Umgang mit dem vielschichtigen Erbe dessen, was aus der Schreber- und Siedlerbewegung in Wien gewachsen ist. Die Zukunft dieser Orte ist ein Hot-Topic. Aufgrund bestimmter gesetzlicher Veränderungen – jetzt schon wieder mit einem zeitlichen Abstand – kann man zumindest Vermutungen anstellen, was das perspektivisch für ein Stadtganzes bedeutet. Wie geht Stadt mit etwas um, das – wenn man es zeithistorisch betrachtet – eine von den BürgerInnen dieser Stadt vor vielen Jahren erkämpfte Ressource ist?

Reinhard: Natürlich ist es ein Verlust von Artenvielfalt, wenn Obst- und Gemüsegärten, die es in den 1980er-Jahren ohnehin nicht mehr flächendeckend gegeben hat, final Zierrasen, Thujen und Swimmingpool weichen, aber das würde ich als das geringere Problem sehen. Das Erschütternde daran ist eher die extreme Dimension der Umwidmung in ganzjährig bewohnbare Kleingärten, was seit 1992 nach einer Gesetzesänderung möglich ist. Nach 15 Jahren waren von 35.000 Kleingärten bereits 20.000 widmungsrechtlich umgewandelt in dauerhaftes Wohnen. Die Stadt Wien ist in Zeiten, in denen schon längst klar war, dass das frei stehende Einfamilienhaus zumindest für die Großstadt kein sinnvolles Modell ist, auf die unbegreifliche Idee gekommen, 20.000 Einfamilienhäuser erstens einmal zuzulassen und zweitens dann auch noch zu fördern und die Grundstücke zu Spottpreisen zu verkaufen.

Sonja: Was ist das gravierendste Problem dieser Entwicklung?

Reinhard: Die bestimmende Konstante in der Entwicklung jedes Siedlungsraums ist das Grundstückseigentum. Dass man im ausgehenden 20. Jahrhundert diesen Schatz für die Stadtentwicklung, nämlich große zusammenhängende Grünflächen, die noch dazu in der Hand der Stadt Wien waren, aufsplittet in 20.000 oder 35.000 EigentümerInnen à 250 m², war eine rein populistische Entscheidung gegen jede fachliche Vernunft. Neben allen raumplanerischen Folgen ist das eine massive Verschleuderung von öffentlichem Eigentum. Da gab es von Anfang an völlig widersinnige Diskontierungen, also eigentlich das Gegenteil des üblichen Handelsprinzips, das doch normalerweise lautet: Am Anfang verlange ich den vollen Preis, und wenn ich sehe, das geht schlecht, dann werde ich billiger.

Sonja: Ja, hier läuft es andersrum. Als Anreiz für den Kauf gibt es einen Preisnachlass vom Verkehrswert, der in Abhängigkeit zum Umwidmungszeitpunkt steht. Drei Jahre nach der Außenvermessung, drei Jahre nach der Umwidmung oder ein Jahr nach der Innenparzellierung gibt es 45 % Nachlass. Nach Ablauf des ersten Jahres nach diesem jeweiligen Zeitraum wird der Preisnachlass auf 30 %, im nächsten Jahr auf 20 % und wieder ein Jahr später auf 10 % gesenkt.

Reinhard: Stadtstrukturell ist das sehr fatal: Es wurden strategisch entwickelbare Gebiete, die der Stadt gehörten, auf eine Vielzahl privater Kleineigentümer verteilt. Dadurch entsteht eine Siedlungsstruktur, die man nie wieder revidieren kann. Die harmlosere Variante wäre gewesen, den KleingärtnerInnen ein Baurecht einzuräumen, solange die Pacht ihrer Kleingärten noch läuft – was natürlich auch eine Schnapsidee ist. Sie hätten dann Einfamilienhäuser hinstellen können, die vielleicht 50, 60 Jahre, bis der Pachtvertrag ausläuft, Bestand gehabt hätten. Die Zeiten, in denen Gebäude für über 100 Jahre errichtet werden, sind ohnehin vorbei.

Sonja: Wie kam es dazu?

Reinhard: Die Stadt hat ihre Entscheidung damit erklärt, dass man widmungstechnisch nachvollziehen wollte, was ohnehin schon längst Realität war, nämlich dass in manchen Kleingärten auch gewohnt wird. Ist das der Sinn von Stadtplanung? Ein anderes Argument war, dass man eine Alternative zum Abwandern ins grüne Niederösterreich bieten wollte.

Sonja: Es wird kolportiert, dass die Stadt Wien mit der Gesetzesnovelle von 1992 Wohnraum schaffen wollte, weil man – fälschlich – geglaubt hatte, die Leute ziehen alle in ihre Kleingartenhäuser und ihre Wohnungen in Wien werden frei. Das hat allerdings kaum funktioniert, weil man einfach beides behalten hat. Dabei entstand 1988 – also vier Jahre vor der Novelle – das sogenannte Kleingartenkonzept, das eigentlich das Gegenteil von dem verlangte, was dann vier Jahre später passiert ist: eine deutliche Unterscheidung von Kleingarten- und Siedlungsgebiet, eingeschränkte Bebaubarkeit etc. Man fragt sich, welchen Grad an Verbindlichkeit solche Konzepte haben?

Reinhard: Null. Die Wiener Stadtplanung wurde in den frühen 1990er-Jahren zum Selbstbedienungsladen der Politik.

Elke: Was bedeutet das für die Stadt? Es gibt eine Stadt, die hat aus einer gewissen historischen Gewordenheit heraus die Ressource eines Grüngürtels. In dem ist auch Aufenthalt ein Teil davon, aber eben nicht als Daueraufenthalt durch alle vier Jahreszeiten. Aufgrund dieser gesetzlichen Veränderung legt man dann zwei Parzellen zusammen und schon wird das immer größer. Diese Fläche kann man aus der Mikroposition der einzelnen Personen, die dort leben, betrachten, aber man kann sie auch noch einmal von weiter weg betrachten – was heißt das, dass sie überhaupt existiert? Oder was bedeutet es, wenn sie nicht mehr da ist? Oder wenn man sie verhüttelt?

Reinhard: Was es an Verlust für die Bevölkerung bedeutet, kann ich nicht einschätzen. Für mich als Stadtbenutzer ist der Verlust weniger einer an öffentlich zugänglichen Grün- und Erholungsflächen als ein ästhetischer, weil fast alles enorm hässlich ist, was dort entsteht. Mein Eindruck ist, dass viele Kleingartenvereine ohnehin schon vorher bestrebt waren, diese Grünräume möglichst abzuriegeln.

Sonja: Ich war kürzlich am Hackenberg in Wien 19 unterwegs – dort gab es einen jahrelangen Umwidmungsstreit, denn fast die Hälfte der BewohnerInnen stimmte gegen die Umwidmung in ganzjähriges Wohnen. Auch die AnrainerInnen haben massiv versucht, das Gebiet als Naherholungsgebiet zu erhalten. Wenn man nun dort spazieren geht, sieht man erschreckende Entwicklungen. Es werden unzählige Meter lange Schneisen in die Kleingartensiedlung geschlagen, die dann von Developern bebaut werden. Überall hängen Transparente, die auf die Grausamkeiten architektonischer Natur verweisen, die entstehen werden. Und das Absurde daran sind die Preise: Die Häuser kosten zwischen 500.000 und 1.000.000 Euro!

Elke: Das ist überhaupt nicht mehr leistbar. Das Hackenberg-Beispiel ist interessant, wenn man bedenkt, dass diese Flächen ja irgendwann einmal aus einer ganz bestimmten Krisensituation heraus erkämpft wurden. Danach gab es eine Art Verfestigungszustand, in dem über Jahrzehnte Rechte ersessen wurden. Aber ich glaube, wir befinden uns schon auf einer nächsten Stufe: Die Developer entdecken diese Gebiete und die Begehrlichkeiten sind geweckt. Es verschwinden die Dinge, die konstitutiv wichtig waren.

Sonja: Das Kleingartengebiet wird zu einer hochpreisigen Siedlung ... Laut den Gemeinderatsprotokollen zur Umwidmung am Hackenberg war die Begründung der SPÖ für ihre Ja-Stimme, dass man die KleingärtnerInnen unterstützen will, die auch über ein kleines Stück Grün verfügen möchten und nicht das große Geld haben, um sich ein Grundstück anzuschaffen – im Grunde braucht man aber wohl in Zukunft das große Geld dafür.

Elke: Was können Leute tun, die alle diese Dinge nicht haben, weder den Zugang zu den Ressourcen noch das reale Kapital, um Teil eines Kleingartens zu werden, aber das Bedürfnis haben zu gärtnern – wo können die ihr Territorium finden?

Reinhard: Wir haben 220.000 Gemeindebauwohnungen, was eine immense sozialpolitische Manövriermasse ist. Ob die Wohnsituation überall zufriedenstellend ist, sei dahingestellt, aber – verglichen mit anderen europäischen Großstädten – ist das Wohnen in Wien noch immer relativ gut leistbar.

Elke: Bleiben wir ganz konkret beim Mikrokosmos am Hackenberg. Man kann an allen fünf Fingern abzählen, dass die HackenbergerInnen nicht alle dort bleiben werden. Das könnte man auch als einen Gentrifizierungsprozess im Kleingarten bezeichnen. Das Territorium ist entdeckt worden, die Frage der Investition wird eine andere – ich investiere nicht mehr mein Leben und meine Zeit, sondern ich zahle nur mehr Schulden ab, um dort zu wohnen. Ich glaube, es gibt einen Unterschied zwischen informeller Bauweise, die sich über ein Leben spannt, und dem Abzahlen von Schulden für ein neu erbautes Einfamilienhaus vom Developer.

Reinhard: Das ist eine interessante Sichtweise, die aber aus stadtplanerischer Sicht keine so große Rolle spielt. Für die Stadtplanung ist es fürs Erste egal, ob dort eine Investorenvilla oder die Do-it-yourself-Baumax-Hütte steht. Im Endeffekt handelt es sich ja in keinem der beiden Fälle um sozial schwache Schichten. Und wenn sie noch richtige KleingärtnerInnen waren, dann betrifft der Verlust „nur“ ihren Zweitwohnsitz – das heißt, es geht um keine Verdrängung vom Wohnstandort.

Elke: Viele von denen, die sich diese Selbstbaumethode über die Jahrzehnte noch leisten konnten, können sich eine Abzahlung nun nicht mehr so einfach leisten. Ich glaube, dass das einen ganz großen Unterschied macht. Aber die Frage bleibt ja trotzdem: Wo siehst du als Planer in einer Stadt, die sich jetzt derart zu verändern beginnt, einen Raum fürs Gärtnern?

Reinhard: Ich bin nicht der Meinung, dass man als Städter Anspruch auf einen Garten hat. Man hat sehr wohl Anspruch auf hohe Wohnqualität, die auch ein Substitut für einen Garten beinhalten sollte, sei es in Form einer Terrasse, einer Gemeinschaftsterrasse vielleicht, eines Balkons oder was auch immer. Und natürlich besteht ein Anspruch auf eine hohe Qualität des öffentlichen Raums, befestigt und grün. Darauf ja, aber auf ein eigenes Stück Wiese? Das geht sich allein rechnerisch nicht aus. Ich sehe darin auch nicht den Sinn einer Großstadt im 21. Jahrhundert angesichts der Bevölkerungsprognosen, die wir haben. Aber natürlich sollten Gärten, die historisch gewachsen sind, vor allem da, wo die Stadt ohnehin an natürliche Grenzen stößt, etwa in Richtung Wienerwald, beibehalten, mitunter sogar geschützt werden.

Elke: Ich glaube, dass das Recht auf ein Einfamilienhaus und das Recht auf Gärtnern zwei sehr unterschiedliche Dinge sind. Ich bin nicht sicher, ob ich dem zustimmen würde, dass man als Städter keinen Anspruch auf das Gärtnerische hat – in dem, was Stadt ist und was Stadt kann.

Reinhard: Das soll und kann Stadt schon ermöglichen, aber ich sehe die zwingende räumliche Koppelung zwischen dem Wohnen und dem Gärtnern nicht. Das kann auch gemeinschaftlich und bzw. oder an anderer Stelle stattfinden. Man könnte in den Außenbereichen zeitlich befristet Gartenland zur Verfügung stellen, dazu gibt es noch genug Flächen! Ganz Rothneusiedl steht sozusagen zur Verfügung.

Sonja: Aber ist nicht das Gärtnern auch ein sehr zeitspezifischer Moment? Der Wunsch zu gärtnern ist ja nicht zu jeder Zeit gleich hoch, oder? Neu ist auch, dass die Leute im Kleingarten immer jünger werden, das zeigen aktuelle Studien.

Elke: Jede Schule macht heute ihre Gartenprojekte. Das ist in der Zwischenzeit fast schon eine pädagogische Kunst geworden, den Garten zu ermöglichen. Es ist ja nicht nur der Ort, an dem gegärtnert wird, sondern es ist auch die Zeit, in der gegärtnert wird.

Reinhard: Also wem das Gärtnern ein so zentraler Lebensinhalt ist, für den stellt sich die Frage, ob er nicht am Land glücklicher wird. Ich denke, dass viele urbane Menschen keinen eigenen Garten brauchen und gern innerhalb der gründerzeitlich strukturierten Stadt leben.

Elke: Ich möchte noch etwas anderes fragen. Du hast am Anfang darüber gesprochen, dass die Kleingärten eine unglaubliche Ressource der Stadt sind. Sie sind großteils erschlossen und waren in einer Hand, sind das jetzt allerdings nicht mehr. Ich glaube, du hattest da etwas anderes im Kopf, als du von Ressource gesprochen hast. Was für eine Ressource ist das für dich? Was hast du da als Planer vor Augen?

Reinhard: Prinzipiell sollte Naturnähe auch in dicht bebauten Stadtteilen möglich sein. Man sollte die Verpflichtung zur Schaffung eines privaten Freiraums in die Wohnbauförderkriterien oder sogar in die Bauordnung hineinschreiben und diesen auch quantifizieren, beispielsweise mit 8 m² pro Haushalt. Das ist keinerlei Widerspruch zu Anforderungen wie Dichte und Urbanität, das sollte im Neubau problemlos möglich sein. Und wenn jeder im Neubau einen Freiraum hat und von den 8 m² dann 2 m² auf einen Pflanzentrog entfallen, dann ist das zumindest ein brauchbares Substitut für ein eigenes Fleckerl Erde zum Gärtnern. Wer mehr will, bemüht sich eben um die knappen Kleingärten am Stadtrand, die dann aber wirklich Kleingärten sein sollen. Und wer keinen bekommt oder noch mehr will, der kann immer noch irgendwo weiter draußen eine ihm entsprechende Wohnform suchen.

Elke: Was würdest du als Planer machen wollen, wenn du könntest?

Reinhard: In Wien fehlen die nötigen Instrumente, um prinzipiell mit Grundeigentum adäquat umzugehen. Andere Bundesländer haben bereits ganz erstaunliche Instrumente der Bodenmobilisierung. Natürlich umfasst das auch die Besteuerung oder Rückwidmung von gewidmetem, aber nicht genutztem Bauland – oder das Recht der öffentlichen Hand, gehortetes Bauland zu einem günstigen Preis anzukaufen. Da hat Wien keinerlei Gesetzgebung. Und bei den großen zusammenhängenden Grünflächen ist es umso wichtiger, dass eigentumsrechtliche oder vielmehr spekulative Aspekte bei entsprechendem Bedarf und standörtlicher Eignung einer geordneten Entwicklung nicht im Wege stehen, um dort effizient Infrastruktur hinlegen und konzertiert Städtebau betreiben zu können, anstatt mal hier, mal da etwas zu bauen.

Elke: Also du würdest diese Flächen für Städtebau nutzen?

Reinhard: Manche der Kleingartenanlagen langfristig ja! Natürlich ist es romantisch, wenn etwa in Tokio inmitten von Hochhäusern noch Reisfelder bestehen, aber für mich ist die Frage wesentlicher, was volkswirtschaftlich und stadtstrukturell sinnvoll ist. In dieser Hinsicht wäre es gut, wenn man besagtes Reisfeld irgendwann einmal einer städtischen Nutzung zuführen könnte.

Sonja: 1987 hat die MA 18 eine Studie herausgegeben, in der die Grünsysteme europäischer Großstädte miteinander verglichen wurden. Wien rühmt sich ja nach wie vor damit, so viele Grünflächen zu haben. Das Interessante war aber, das für die sehr große zweite der drei Zonen (die erste Zone umfasst das Stadtzentrum bis 5 km, die zweite Zone liegt 5 bis 10 km und die dritte Zone mehr als 10 km vom Stadtzentrum entfernt) die Werte sehr schlecht sind, weil es hier nur wenig zusammenhängende Grünflächen gibt. Wenn ich dich jetzt richtig verstehe, dann hättest du als Stadtplaner kein Problem damit, diese Flächen noch weiter zu reduzieren?

Reinhard: Die Frage für die Stadtplanung ist nicht nur, ob eine Veränderung für das konkrete Gebiet oder das unmittelbare Umfeld ideal ist, sondern ob es der Gesamtstadt oder sogar der ganzen Stadtregion dient. Das Stadtwachstum nicht in dieser von dir angesprochenen zweiten Zone unterzubringen, sondern an Standorten, wo weder die verkehrstechnische Erschließung noch die sonstige Infrastruktur vorhanden sind, hätte aus meiner Sicht wenig Sinn. Da bin ich für den Weg des geringeren Übels. Die langfristige Entwicklung von zentral gelegenen Kleingartenanlagen ist ja auch eine Frage des effizienten Einsatzes knapper öffentlicher Mittel und nicht nur romantisch zu sehen. Leider hat unsere Stadtregierung in den letzten 20 Jahren aber weder nach rationalen noch nach romantischen Gesichtspunkten agiert, sondern einfach nur sehr kurzsichtig. Es geht nicht darum, Grüninseln zuzubetonieren. Wenn man von einem Kleingartengebiet die Hälfte urban bebaut, wohnen in dieser Hälfte fünfmal so viele Leute, wie wenn man die einzelnen Hütten in Einfamilienhäuser umwandelt. Die andere Hälfte könnte man zu einem hochwertigen Freiraum für alle machen. Das wäre dann auch ein attraktiveres und nutzbareres Grünraumangebot für jene, die im Umfeld leben, als der größere vermeintliche Freiraum zuvor, wo man in Wirklichkeit aber bestenfalls durchspazieren konnte und über den privaten Thujenzaun hinweg mal einen Apfelbaum sah. Für mich ist das kein Schreckensszenario, eine rechnerisch, aber nicht funktional bestehende Grünfläche zu reduzieren und in diesem Zuge etwas Sinnvolleres daraus zu machen.

Elke: Das ist qualitativ ein ganz anderer Zugang als das Programm von 1992. Zuerst hatte man ein „koloniales Zeitmodell“, die Schrebergärten wurden auf einen langen Pachtzeitraum vergeben, so wie etwa Hongkong 100 Jahre lang eine britische Kolonie gewesen ist. Außerdem waren die Schrebergärten seit 1922 in der Sozialgesetzgebung verankert. Das Recht auf den Garten war somit Teil des sozialen Denkens des Funktionierens einer Stadt aus der Perspektive ihrer Gesetze. Das Gesetz von 1992 ist also ein Privatisierungsgesetz, kein Sozialgesetz, in dem Sinn, dass man einer Sozietät als Ganzes etwas Gutes tut, sondern es geht um die Stärkung von Privateigentum. Was müsste man jetzt tun, um dort hinzukommen, was du gerade skizziert hast?

Reinhard: Das ist realpolitisch inzwischen nicht mehr rückgängig zu machen. Da müsste man enteignen, deswegen halte ich das Kleingartengesetz von 1992 für ein Kapitalverbrechen. In dem Moment, wo man zusammenhängendes öffentliches Eigentum auf Tausende private Eigentümer aufsplittet, kann man jede weitere geordnete Entwicklung vergessen. Da ist es noch realistischer, dass die Stadtautobahnen in und um Wien einmal abgerissen werden oder nur noch Fahrräder darauf fahren dürfen, als dass in den ehemaligen Kleingärten noch einmal eine konzertierte Stadtentwicklung stattfindet.

Elke: Ich frage mich, was in den – unscharf – letzten zehn Jahren in vielen Städten der Welt passiert ist, wie aufgesetzt auch immer, denn vieles, wie Rooftop-Farming oder Vertical Farming, ist nur Kosmetik, was Versorgungslagen anbelangt. Das kann nie auffangen, was der gleichzeitig vor sich gehende Flächenfraß bewirkt. Wir haben hier ein bestimmtes Versprechen auf etwas, das sich so nicht einlöst. Es ist eine kulturelle Formation geworden, Stadt so zu denken, dass auch das, was man früher dem Land zugeschrieben hat, Teil der Stadt geworden ist. Du hast die Urbanisierung hervorgehoben und ich frage mich, ob das nicht längst Teil dessen geworden ist?

Reinhard: Ich sehe Grün und Beton nicht als Widerspruch. Prinzipiell gibt es wunderbare verdichtete Wohnformen, die stark durchgrünt sind. Ich halte nach wie vor Roland Rainers Gartenstadt für ein perfektes Modell. Ich kann es nicht nachvollziehen, dass man in Aspern bereits in der ersten Phase Großstadt bauen will. Warum wollen wir das über Jahrhunderte erfolgte Wachstum von Stadt, dem wir unsere Urbanität verdanken, nicht einmal an so einem Standort zulassen? Also eine Möglichkeit schaffen, dass sich Stadt wirklich entwickelt, nicht nur horizontal, sondern auch vertikal. Das wäre eine spannende Strategie, dort mit einer durchgrünten Stadt zu beginnen, die einige Jahrzehnte so bleiben kann oder auch nicht, auch dichter werden kann. Solange Schrebergärten einfache Schrebergärten sind, brauchen sie keinen Kanal, keine Heizsysteme, keine großen Straßen oder sonstige Infrastrukturen, keine Schulen, Kindergärten, keine Nahversorgung, keine sozialen oder medizinischen Einrichtungen, dann sind sie einfach städtische Formen von Gartenland mit einer kleinen Hütte, sodass man im Sommer auch mal übernachten kann. Bei Bedarf könnte eine solche Fläche in einigen Jahrzehnten sinnvollerweise einer urbanen Stadtentwicklung weichen; und die leicht verlagerbare Funktion Kleingartennutzung – es hängt ja kaum Infrastruktur dran – könnte an einem anderen Teil des Stadtrands angesiedelt werden. Die Ressource, die du meinst, nämlich Gartenland, ist ja im Grunde überall verfügbar. Die Stadt nachhaltig auszubauen, ist hingegen nicht überall machbar, weil es auch um die Verkehrswege und die sonstige Infrastruktur geht. Das heißt, wenn wir Bevölkerungszuwachs wollen, müssen wir uns fragen: Wo ist der optimale Ort dafür? Wenn der optimale Ort einer ist, wo jetzt ein Kleingarten besteht, dann finde ich es vertretbar, den in einer gewissen Fristigkeit woandershin zu verlagern und dort zu bauen. Es geht nicht um das Beschneiden des Rechts oder Anspruchs oder Bedürfnisses nach Gärtnern. Wichtiger ist das Wo beim Wohnen, Arbeiten und Einkaufen und nicht beim Gärtnern.

Elke: Wohin verlagert man das? Was sind die zugrunde gelegten Paradigmen? In Havanna zum Beispiel war das Urban Farming lange eine Form der Krisenbewältigung (kein Öl, keine Schädlingsbekämpfung vorhanden; strenges Embargo von den USA; Absatzmärkte in den Geschwisterstaaten verloren). In der Doktrin der Stadtplanung war das die „Notlösung“. Das Urban Farming war zunächst informell und dann von oben flächendeckend organisiert, es war aber klar, dass es wieder verschwindet, wenn etwas Besseres kommt. Es hat 20 Jahre gedauert, bis jetzt im Gesetzestext festgeschrieben wurde, dass die Organopónicos selber Teil einer stadtentwicklerischen Perspektive geworden sind. Das finde ich interessant. Wie lange kann es dauern, bis man begreift, dass etwas einen anderen Wert hat, als man ihm vorher beigemessen hat? Aber zurück zu den Kleingärten in Wien – ist nun hier durch die Privatisierung etwas passiert, das die Wertschätzung gegenüber der Ressource untergräbt?

Reinhard: Ja, diese Wertschätzung fehlt bei uns – das stimmt. Aber wenn wir jetzt Havanna außer Acht lassen, dann ist deine Position die einer breiter werdenden Soziogruppe, die das aus Leidenschaft macht und einfach haben möchte. Das ist legitim, aber da sind wir weit weg von einer Notwendigkeit, wie es in Havanna oder auch bei uns vor 100 Jahren der Fall war. Wenn ich es zugespitzt sagen darf: Das ist in Wien eher eine Lifestyle-Geschichte. Das ist zugegeben ein bisschen zynisch. Es ist eine Ausformung von Lebensqualität, die natürlich ihre Berechtigung hat. Aber dem eine breitere Bedeutung beizumessen ... Also dieser substanz- oder gesellschaftserhaltende Aspekt ist für mich beim Gärtnern in unseren Breiten einfach nicht da. Wir essen seit Jahrzehnten schon nicht mehr das, was unmittelbar vor unserer Haustür oder auch nur im Umland unserer Städte wächst.

Elke: Aber es gibt an vielen Orten Versuche, den Grüngürtel rund um die Stadt auch landwirtschaftlich für die lokale Nahversorgung zu nutzen.

Reinhard: Den Grüngürtel gilt es zu schützen, aber man muss auch daran denken, dass die Stadt wächst. Es ist für das Stadtwachstum ja nicht einmal Bevölkerungswachstum an sich notwendig, es genügt die ungebrochene Ausdehnung der Pro-Kopf-Wohnfläche.

Elke: Diesen Anspruch des Einzelnen finde ich sehr schwierig – sich in einer Art und Weise auszudehnen, die eine Gefräßigkeit annimmt und alles das, worüber wir jetzt sprechen, verunmöglicht. Also Freiräume, Grünflächen ...

Reinhard: Österreich hat seit 30 Jahren im Grunde dieselbe Bevölkerungszahl, wir haben allerdings unsere Siedlungsfläche – ich schätze einmal – um ca. 50 % ausgedehnt. Das ist der eigentliche Wahnsinn. Aber da ist kein Stadtplaner in der Lage, das zu ändern. Das ist ein gesellschaftliches Faktum und dem kann man nur gesellschaftspolitisch begegnen. Für gesellschaftlichen Wertewandel ist Stadtplanung nicht zuständig. Da müssen wir auf einer anderen Ebene diskutieren. Aber prinzipiell ist es positiv, dass Leute nicht mehr nur in Suburbia wohnen wollen, sondern wieder in die Stadt zurückkehren, dass die Städte – im Unterschied zu vor 20 Jahren – wieder wachsen. Da ist es mir lieber, wenn das Gärtnern hin und wieder verlagert wird, um die zuziehenden Menschen in urbanen Strukturen unterzubringen. Für mich ist das eine Frage der Abwägung des geringeren Übels.

Elke: Du hast vorhin von einer Halbierung der Fläche gesprochen. Leider ist das ja nur eine Fiktion, weil man nun aufgrund der Privatisierungen nicht mehr hinkommt. Aber dass man die Hälfte eines Kleingartengebietes in etwas verwandelt, was ein wienerisches Organopónicos sein kann und die andere Hälfte mittels Wohnbau verdichtet, klingt sehr interessant. Sonja hat aber richtig angemerkt, dass das genau in der Stadtzone stattfinden würde, die jetzt schon im internationalen Vergleich wenig Grün aufweist, obwohl die Stadt Wien immer dieses Bild der Grünheit vor sich selbst herträgt.

Reinhard: Mir fallen dazu immer die Pläne in der U-Bahn ein, die die unmittelbare Umgebung jeder U-Bahn-Station darstellen, in denen wirklich jede kleinste Verkehrsinsel oder jedes vom Stadtgartenamt gepflegte Tulpenbeet grün eingezeichnet ist – die pure Augenauswischerei. Zu der zweiten Zone, von der du gesprochen hast: Hier finde ich es tatsächlich sinnvoll, dass man verfügbare Ressourcen weiter bebaut. Wenn man vom klassischen Blockrand ausgeht, gibt es bei einer relativ effizienten Verdichtung vier Ebenen, um wertvollen Grünraum oder begrünbaren Freiraum zu schaffen. Das ist einmal der öffentliche Raum draußen vor dem Block, der von den Autos beherrscht wird – was aber nicht sein müsste. Das zweite Potenzial ist der Blockinnenbereich, geschützt, intim – hier sind ganz andere Nutzungsmöglichkeiten vorstellbar. Der Innenhof ist in Wien, leider auch aufgrund des Autos, im Neubau oft nur noch die Begrünung der darunter liegenden Tiefgarage. Das dritte sind die Loggien und Balkone – natürlich wäre hier viel mehr möglich als diese 4 m² kleinen, Satellitenschüssel tragenden Zellen. Und das vierte sind die Dachzonen. So gut wie jedes neue Haus hat ein Flachdach – man müsste dort nicht zwingend ein Penthouse platzieren. In Wien sind vor nicht allzu langer Zeit noch Wohnbauten errichtet worden, wo sich oben der Gemeinschaftsraum oder eine Dachterrasse für alle BewohnerInnen befanden. Ein wunderbares Beispiel ist die Sargfabrik: Was gibt es Schöneres als die Dachgärten dort? Die Sargfabrik zeigt im Grunde auf allen vier Ebenen, die ich jetzt angesprochen habe, was bei einer immensen Dichte trotzdem an Grünraumqualität möglich ist. Solange auf diesen Ebenen so viel unausgereizt bleibt, finde ich es als Stadtplaner eigentlich unverhältnismäßig, die Lösung für das Naturbedürfnis der StädterInnen für möglichst viele im Schrebergarten zu sehen. Es ist eine sehr spezifische Form, die in einer gewissen Quantität angeboten werden sollte, aber es ist vom Platz, vom stadtstrukturellen Gesamtgefüge und auch vom Bodenpreis her unrealistisch, das für Hunderttausende zur Verfügung zu stellen. Und wie schon gesagt: Ich sehe keinen Anspruch eines jeden Städters auf einen Kleingarten. Es gibt andere Formen, und ich glaube, dass die anderen Formen für viele einen ausreichenden Ersatz bilden könnten.

Sonja: Man kann also festhalten, dass auch die „Neue Siedlerbewegung“ auf jeden Fall ein Schritt in die falsche Richtung ist?

Reinhard: Auf jeden Fall! Das sind ja keine Gärten mehr. In der Luftaufnahme wird deutlich, wie dieses Siedlungsmodell aussieht: das frei stehende Einfamilienhaus und daneben der Swimmingpool. Im Übrigen leidet in den suburbanen Gebieten bereits die Grundwasserqualität darunter, dass jeder dreimal im Jahr das Chlorwasser seines Pools auslässt und in den Boden einbringt.

Sonja: Aber diese „Neue Siedlerbewegung“ scheint ja etwas zu sein, was die Stadt Wien intensiv betreibt.

Reinhard: Ja, seit 20 Jahren schon – im Grunde hat das Bernhard Görg mit „Wohnen im Grünen“ begonnen und Rudolf Schicker mit der „Neuen Siedlerbewegung“ fortgesetzt. Maria Vassilakou hat zumindest schon öffentlich deklariert, die Suburbanisierung innerhalb der Stadtgrenze nicht mehr weiter fortsetzen zu wollen.

Elke: Du hast vorher gesagt, grundsätzlicher Wertewandel ist nicht Aufgabe der StadtplanerInnen. Aber wenn man nun davon ausgeht, dass die Pläne in den U-Bahn-Stationen, die du ins Spiel gebracht hast, grundsätzliche Werthaltungen ausdrücken, heißt das nicht, dass die Stadtplanung sehr wohl zuständig ist für diese Form von quasi kartografischer Evozierung des Glaubens an spezifische Werte?

Reinhard: Zum einen stammen diese Pläne ja nicht von der Stadtplanung. Und zum anderen muss man schon unterscheiden zwischen der Stadtplanung als Apparat, als System, die hierzulande eine politikhörige ist, und der Stadtplanung als Disziplin mit all ihren Grundsätzen und Werthaltungen und Zielen. Das ist ja etwas ganz anderes.

Elke: Aber die politsche Planungshaltung inkorporiert diese Werte sehr wohl als ein Versprechen in ihre Mappings der Stadt, aber im Grunde genommen ist es nur die zugrunde liegende Narration. Man weiß ja nie, woher das kommt, dass dieses Versprechen immer perpetuiert wird. Man liest es, aber real ist es nicht so. Das heißt, die Propaganda war schon sehr stark. Ich glaube, man kann sich aus dieser Planungssicht nicht so leicht herausnehmen und sagen, die kulturellen Haltungen spielen da nicht herein. Man geht davon aus, Wien ist eine grüne Stadt und dann muss man sagen, de facto ist es nicht so. Man sitzt der Verlängerung einer Glaubwürdigkeitsbeschwörung auf.

Reinhard: Das beste Beispiel für diese Verlogenheit ist mein „Lieblingsplatz“ im 16. Bezirk – der Gutraterplatz. An so einem Platz gäbe es in Italien mindestens drei Kaffeehäuser und einfach Raum, eine für alle nutzbare Fläche. Hier ist es schon mal ein halbierter Platz, denn die Straße, auf der auch die Straßenbahnlinie 10 fährt, teilt ihn in zwei Hälften. Diese wären an sich auch noch schöne Plätze, aber wie sehen sie aus? Es gibt einen Gehsteig entlang der platzbildenden Bebauung und den Rest hat man – klassisch für Wien – einen halben Meter hochgepflastert und mit Bodendeckern begrünt, damit die Hunde nicht hineinscheißen. Man hat den Platz also einfach der Öffentlichkeit, jeder Nutzung entzogen, aber er ist rein formal zumindest grün. Das zeigt für mich die Unbeholfenheit und Kulturlosigkeit, die den Umgang mit dieser Stadt kennzeichnen. Und diese Plätze gibt es überall in Wien.

Hintergrund, Mo., 2012.07.30



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Hintergrund 53 Herr und Frau Schreber

21. August 2010Elke Krasny
Spectrum

Der Schnee der Zukunft

Mehr, größer, bedeutender als die vorangegangene wollte bis dato noch jede Weltausstellung sein. Doch bei der Expo Shanghai werden tatsächlich viele Rekorde gebrochen werden. Ein Lokalaugenschein.

Mehr, größer, bedeutender als die vorangegangene wollte bis dato noch jede Weltausstellung sein. Doch bei der Expo Shanghai werden tatsächlich viele Rekorde gebrochen werden. Ein Lokalaugenschein.

Nummer fünf hat unseren Pavillon besucht.“ Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht unter allen Mitarbeitern im österreichischen Pavillon auf der Expo in Shanghai. „Die Frau des Ministers war auch dabei. Sie hat sofort damit begonnen, Schneebälle zu werfen.“ Mit „Nummer fünf“ ist der chinesische Kommunikationsminister Li Changchun gemeint. Er hat dem österreichischen Pavillon sogar noch vor dessen offizieller Eröffnung einen Besuch abgestattet.

Solche Besuche potenzieren das symbolische Kapital im diplomatischen Beziehungsraum auf Zeit, den eine Weltausstellung einrichtet. Solche Besuche der politischen Prominenz verwandeln das investierte symbolische Kapital in den sich langfristig realisierenden Tauschwert der zwischenstaatlichen Beziehungen, Ökonomie und Kultur inklusive. Der Eindruck des chinesischen Kommunikationsministers war ein positiver. Die Frau des Kommunikationsministers warf ihre Bälle gekonnt in die Winterlandschaft, die als virtuelle Projektion den fließenden Raum überzieht. Die erste Station im Österreichpavillon wartet mit einer Kunstschneeballschlacht auf. Die Überraschung glückt. Eine kühlende Erfrischung nimmt man gern an. Die Gäste werden, sobald sie durch den blickdicht schließenden Vorhang eingetreten sind, im tiefen Winter empfangen.

Weltausstellungen sind Diplomatie auf höchster Gestaltungsebene. Wenn das Gastgeberland China ruft, dann kann es sich niemand leisten, an ein Fernbleiben zu denken. Das würde die Spielregeln der internationalen Etikette verletzen. Solch einer Einladung zur Expo, zum repräsentativen Weltschauplatz, der von Mai bis Oktober links und rechts des Huangpu ein globales Dorf entstehen lässt, hat man Folge zu leisten. Und man hatte in diesen nationalen Auftritt mit intelligenter Architektur und gekonnter Ausstellungsgestaltung zu investieren. Alles andere könnte nämlich künftig verheerende ökonomische Nebeneffekte haben. Das will letztlich keine Nation riskieren. „Wer nicht vorhanden ist, macht keine Geschäfte“, sagt der österreichische Wirtschaftsminister Mitterlehner, der die Expo des Jahres 2010 als die wichtigste Weltausstellung betrachtet: „Wer nicht vorhanden ist, der wird keine Partner haben.“

Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Weltausstellungen vom Industriebürgertum und den erstarkenden Nationalstaaten als Foren des Austausches erfunden. Rasch wurden sie zum Umgschlagplatz der Informationen im Drei-D-Format, zum gestalteten Wissenstransfer mit dem Anspruch des internationalen Wettbewerbs. Zwischen den Nationen herrschten Austausch, Vergleich, Wettbewerb und Konkurrenz. Die Welt des 19. Jahrhunderts wurde angetrieben von der sich entwickelnden Dynamik der industriellen Produktion, von Landwirtschaft über Bildung bis zu Kunst oder Maschinen, dem Wissenssystem des 18. Jahrhunderts, der Enzyklopädie folgend, für diesen begehbaren Wettbewerb der Nationen geordnet.

1873: Wende in Wien

Mit der Wiener Weltausstellung von 1873 vollzog sich eine bis heute spürbare Wende in der räumlichen Konfiguration des Mediums. Vor allem für die industrieschwächeren Länder, aber auch für die weniger entwickelten Regionen des Habsburgerreiches war es von Vorteil, sich nicht nur mit technologischen Neuerungen zu beweisen, sondern mit einem landestypischen, repräsentativen Pavillon. Authentizität wurde zur entscheidenden Distinktion der Anziehung. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts lässt sich folglich der ferne, heute jedoch kaum mehr gewusste Ursprung der Nation als Pavillon-Gestaltungsaufgabe ausmachen, dessen Echo in den aktuellen Strategien des „nation branding“ nachklingt.

Mit 240 Teilnehmern, einzelnen Ländern, aber auch internationalen Organisationen, und der hochgerechneten Erwartung von 70 Millionen Besuchern will Shanghai alle vorangegangenen Weltausstellungen überflügeln. Mehr, größer, bedeutender als die vorangegangene wollte bis dato jede Weltausstellung sein. Doch in Shanghai werden wahrscheinlich viele Rekorde gebrochen werden. Damit ein solches Ereignis tiefenwirksam greift und sich global verbreitet, braucht es intensive Verstärkungseffekte. Seit 2008 schwört der lokale Fernsehsender International Channel Shanghai, kurz ICS, mit seinen englischen oder japanischen Sendungen, die chinesisch untertitelt werden, die Stadtbewohner auf den obligatorischen Expobesuch ein. Das Globalisierungsereignis Expo wurde mit medialer Tiefenwirkung tagtäglich bereits im Vorfeld als Berichterstattungsfixpunkt verankert.

Infrastrukturen von Medien und Transportmitteln wurden die längste Zeit als Todfeind von Weltausstellungen angesehen. Sie galten als deren Überflüssigmacher. Da man alles überall sehen kann, da man scheinbar über alle Grenzen reisen kann, wurden diese Foren der internationalen Begegnung auf Zeit als obsolet erachtet. Dass akzelerierte virtuelle Medienkommunikation und beschleunigte Realmobilität jedoch beide Ansprüche intensivieren können, nämlich die der medialen Fernwirkung und die der realen Begegnungsmöglichkeit, stellen städtische Großereignisse wie Olympische Spiele, Fußballmeisterschaften oder Weltausstellungen unter Beweis.

Der Beginn des 21. Jahrhunderts markiert eine Ära erneuter Expoenergie und gesteigerter Suche nach Anlässen für diplomatischen Kontakt, für Treffen mit Geschäftspartnern, für kulturellen Austausch. „Man muss Präsenz vor Ort zeigen. Kontaktpflege wird sehr geschätzt, und zwar nicht auf elektronischem Wege“, betont der Wirtschaftsminister bei seinem Expobesuch. Ausländische Staatsgäste absolvieren ihre Aufwartungen. Der kolumbianische Vizepräsident, der Chief Minister von Malaysia, der Wirtschaftsminister von Luxemburg, sie alle statteten dem Österreichpavillon bereits ihren Besuch ab. Ob sie und die vielen anderen, im Schnitt 14.000 Pavillonbesucher täglich die komplexen Entwurfsideen und die technologisch innovative Entstehungsgeschichte des Österreichpavillons auch nur annähernd erfassen können, ist mehr als fraglich. Sie kann allenfalls gefühlt werden, doch das ist für eine Weltausstellung zu wenig. Hinter den komplexen Faltungen und dem organisch fließenden Raumerleben, das von den beiden Architekturteams SPAN und Zeytinoglu Architects gemeinsam entwickelt wurde, steht eine avancierte, rein auf digitalen Modellen beruhende Entwurfsmethode. Dieser Entwurf musste Schritt für Schritt gemeinsam mit den chinesischen Partnerarchitekten, der Shanghai Xian Dai Architectural Design Group, mit der lokalen chinesischen Bauordnung in Einklang gebracht werden.

Aufruhend auf der beschleunigten Simulationen der Evolution, die qua Computer generiert wurde, ist erstmals ein realer architektonischer Raum hervorgebracht worden. Das ist die eigentliche Innovation des Österreichpavillons. Doch Innovationen muss man, so sie nicht auf den ersten Blick eingängig sind, vermitteln. Was sich nicht auf den ersten Blick zu erkennen gibt, wird vom Massenpublikum einer Expo schlichtweg übersehen. Das Interesse an der Entwicklung komplex gekrümmter natürlicher Flächen beflügelt die Architekturforschung, die Matias del Campo und Sandra Manninger, gemeinsam SPAN, schon seit mehreren Jahren betreiben. Dass dies alles auch etwas mit einer spezifischen österreichischen Architekturtradition zu tun hat, sich dem „Endlosen Haus“ von Friedrich Kiesler verpflichtet fühlt, wird man im Pavillon nicht erfahren. Denn es fehlt leider an der kuratorischen Kompetenz, die es verstanden hätte, die subtilen und komplexen Zusammenhänge in eine stimmige Ausstellungsnarration zu übersetzen.

Dennoch herrscht im Österreichpavillon ausgelassene Stimmung unter den Besucherinnen und Besuchern. Obwohl nach außen hin durch den Pavillon der Extremwetterlage in Shanghai kaum Rechnung getragen wurde und auch das Warten – und das Realerlebnis Expo hat sehr viel mit Warten zu tun, die langen Schlangen rund um die einzelnen Pavillons bedeuten mitunter zwei bis drei Stunden Anstehen – nicht in die Gestaltung einkalkuliert wurde, gibt sich das Pavilloninnenerleben erfrischend besucherorientiert. Die technisch aufwendigen Projektionen, die von Peyote Design entwickelt wurde, sorgen für Lust an der Interaktion.

Was die Besucher zu erleben bekommen, bestimmen sie selbst mit. Landschaften und Städte werden zum medialen Erlebnisparcours. Unter den Füßen der Ausstellungsbesucher wachsen im Waldbereich die Blumen, im Wasserbereich kann man die Fische jagen. Das spielerische Angebot wird bestens angenommen. Man hätte das technisch hohe Potenzial dieser Medieninteraktionen freilich zu ganz anderer Wissensvermittlung, zu ganz anderer Erfahrung, hochfahren können und nicht bei lieblichen, aber inhaltsentleerten Landschaftsszenarien mit wachsenden Blumen und schwimmenden Fischen verharren müssen.

Zehn Millionen Fliesen

Das intellektuelle und ästhetische Potenzial des Österreichpavillons, der auch ein Stück gebaute interkulturelle Realienkunde verkörpert, da seine Außenhaut aus zehn Millionen Porzellanfliesen besteht und somit die Verbindung zwischen China, dem Porzellanerfinder, und Österreich, dem zweitältesten europäischen Porzellanerzeuger, schafft, hätte sich für sein Innenleben Besseres verdient.

Auch der österreichische Umweltminister, Nikolaus Berlakovich, hat nach offiziellen Treffen mit Behördenvertretern in Peking, Nanjing und Shanghai und dem Besuch der weltgrößten Umweltfachmesse, der IFAT in Shanghai, der Expo und dem Österreichpavillon seinen Besuch abgestattet. Umwelttechnik wie Abwasserreinigung, Abfallverwertung, erneuerbare Energien oder Energieeffizienz, alles Gebiete, in denen China in den kommenden Jahren intensiv zur Bewältigung der Umweltprobleme investieren wird, wird er jedoch im Österreichpavillon vergeblich gesucht haben. Das allgemeine, von China gewählte Expothema, „Better City, Better Life“, hätte diesen Themen inhaltlich alle Türen weit geöffnet. Mehr sogar, das Thema ist als Anspruch formuliert, da die Weltausstellung eine Informationsmaschine, eine Volksbildungsmaßnahme in Sachen Nachhaltigkeit und Umweltbewusstseinsbildung ist. Mit Stadtinfrastruktur und Umwelttechnologien hätte man daher punkten können, ist doch Wien laut Mercer-Studie 2009 die Stadt mit der weltweit höchsten Lebensqualität, was bis dato jedoch niemand bei einem Besuch im Pavillon hat erfahren können – und zum offiziellen Expothema hätte man hier einiges mitzuteilen gehabt.

Inhalte also sind des österreichischen Pavillon Sache nicht, doch im Reich der Bilder spielt er alle seine Trümpfe aus. Das spüren Mediokraten, Touristen und andere Weltbürger und navigieren auf den Oberflächen. Gerade deshalb wäre dem Österreichpavillon, der zu den fünf beliebtesten der Expo zählt, mehr inhaltlicher Tiefgang zu wünschen. Die Besucher hätten sich sicher gerne darauf eingelassen.

Spectrum, Sa., 2010.08.21



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Expo 2010 Shanghai

04. Juni 2010Elke Krasny
dérive

Novi Beograd: Differentiated Neighbourhoods.

In Südosteuropa ist die Rasanz urbaner Transformationen durchdrungen vom ökonomischen Paradigma des kapitalintensiven Neoliberalismus. Die Logiken des...

In Südosteuropa ist die Rasanz urbaner Transformationen durchdrungen vom ökonomischen Paradigma des kapitalintensiven Neoliberalismus. Die Logiken des...

In Südosteuropa ist die Rasanz urbaner Transformationen durchdrungen vom ökonomischen Paradigma des kapitalintensiven Neoliberalismus. Die Logiken des Informellen auf allen Ebenen und des Marktes in vielen Facetten beherrschen den städtischen Alltag. Alle stabilen Anhaltspunkte und langfristigen Kontinuitäten sind durchbrochen. Vorherrschend sind Turboakzeleration und Kapitallogik. In deren Folge sind Sprünge und Risse, Widersprüche und Konflikte auszumachen, die den sozialen und kulturellen urbanen Raum in Bedrängnis versetzen. Novi Beograd/New Belgrade ist ein exemplarisches Labor der Ideologien und der Ökonomien.

In dieser explosiven Melange der Veränderungen initiierte Zoran Eric, Kurator des Centre for Visual Culture am Museum of Contemporary Art (MoCAB) in Belgrad, das langfristig angelegte künstlerische und urbanistische Rechercheprojekt Differentiated Neighbourhoods. Das Zentrum für visuelle Kultur kann als paradigmatisch für die ideologischen Veränderungen des Kulturbegriffs im spezifischen lokalen Kontext von Belgrad angesehen werden. Es war in den 1970er Jahren gegründet worden, hatte sich aus der Museumspädagogik heraus entwickelt und verfolgte den Anspruch durch Kunst zu erziehen. Es setzte auf die soziale Rolle von Kunst und kooperierte in seinen Seminaren und Aktivitäten mit Schulen, mit Fabriken, mit öffentlichen Firmen, mit Universitäten. Als Zoran Eric 2005 an diesem Zentrum für visuelle Kultur die Stelle des Kurators annahm, galt es, dessen Rolle in den veränderten Rahmenbedingungen der Verhältnisse zwischen Gesellschaft, Kultur, Staat und Stadt neu zu definieren. Wiewohl manche der Begriffe gleich geblieben sein mögen, ist es ihr Bedeutungsinhalt und ihr Kontext, der neue Ansprüche stellt, andere Inhalte und Zusammenhänge konstruiert. Die Publikation Differentiated Neighbourhoods of New Belgrade ist als eine Nachlesespur aus dem Recherche- und Untersuchungsprojekt in und über Novi Beograd geblieben.

Trotz globalisierter Bewegungsströme sind nicht alle Orte der Welt gleichermaßen im System von Austausch und Mobilität mit eingeschlossen. Das Buch Differentiated Neighbourhoods of New Belgrade, das mit einem Zitat des Globalisierungstheoretikers Arjun Appadurai über die Produktion von Neighbourhoods beginnt, ist wegen Auslieferungsrestriktionen nicht international auslieferbar, es muss direkt über das Museum of Contemporary Art in Belgrad (www.msub.org.rs) erworben werden.

Um einen kritischen Diskurs und eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Novi Beograd zu führen, wurde im Februar 2006 ein erstes Treffen des Teams veranstaltet. Der Hintergrund der Auseinandersetzung ist zum einen die Gegenwart in Novi Beograd, in der Eric die „perverse Ehe von neoliberalem, räuberischem Kapitalismus und aggressivem orthodoxem Christentum“ betont. Zum anderen ist es das spezifische historische Erbe dieses Stadtteils als Moderneexempel des Sonderwegs Jugoslawiens zwischen Ost und West. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Novi Beograd von jugoslawischen Arbeitsbrigaden errichtet. 1961, das im heutigen Westen als jenes Jahr in kollektiver Erinnerung geblieben ist, in dem der Mauerbau in Berlin begann, fand in Belgrad die Gründungssitzung der Bewegung der Blockfreien Staaten statt, initiiert vom jugoslawischen Präsidenten Tito, vom ägyptischen Staatschef Nasser, vom indonesischen Präsidenten Sukarno sowie vom indischen Premier Nehru.

Der über ein Jahr währende Prozess der lokalen Stadtfeldforschung Differentiated Neighbourhoods führte zu drei Themenschwerpunkten. Zum einen wurde eine Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe Novi Beograds als Verwaltungshauptstadt des sozialistischen Jugoslawiens und mit der Frage der sozialräumlichen Homogenisierung versus Differenzierung geführt. Ein zweiter thematischer Schwerpunkt konzentrierte sich auf die aktuellen urbanen Transformationen und den bedrohlich-überwältigenden Vormarsch von neoliberalen, kapitalintensiven Kräften, die in die leeren Räume von Novi Beograd eindringen und diese in Besitz nehmen. Der dritte Angelpunkt der künstlerischen und urbanistischen Recherchen setzte auf eine Innensicht, auf die subkulturellen, marginalisierten und segregierten neighbourhoods und die kollektiven Orte, an denen ein Gefühl der Identifikation und der lokalen Identität (wieder) entstehen kann. Hier stellte sich auch zentral die Frage, wie Community Building durch künstlerische oder urbanistische Strategien und Methoden mitinitiiert und befördert werden kann.

Das Buch und die dazugehörige DVD versammeln nun Einsichten in dieses prozessbasierte, diskursreiche und rechercheintensive Kunstprojekt. Die Vielzahl der Essays und der fotografischen Dokumente beinhaltet unter anderem einen Essay von Ljiljana Blagojevic zu New Belgrade: The Capital of No-City's Land, den Beitrag von Mark Terkessidis The Space in-between the Blocks. Learning from Local Modes of Place-making, die Auseinandersetzung von Sabine Bitter und Helmut Weber mit NEW, Novi Beograd 1948 - 1986 - 2006, die Untersuchungsmethode von Dubravka Sekulic, Dunja Predic und Davor Eres We Ask Architects Who are Asked: As Those Asked about New Belgrade, Stefan Römers Road-movie Boulevard der Illusionen oder Bik van der Pols Art is either Plagiarism or Revolution, or: Something is Definitely going to Happen Here.

Im Zuge der intensiven künstlerischen Stadtfeldforschungen fand eine Wiederentdeckung des Textes von Henri Lefebvre zum städtebaulichen Wettbewerb zu Novi Beograd aus dem Jahr 1986 statt. Aus diesem Fund gestalteten Sabine Bitter und Helmut Weber in Folge das Künstlerbuch Autogestion or Henri Lefebvre in New Belgrade. Lefebvre sah die Stadt als partizipatives Oeuvre aller. Gegen die obrigkeitsverordnete Stadtplanung wurde das Potenzial der Selbstorganisation gestellt. Differentiated Neighbourhood, erschienen auf Englisch und auf Serbisch, ist intellektuelle Aufbauarbeit, sich mit dem Denkmöglichen von Stadt in rasanten Transformationsprozessen intensiv auseinanderzusetzen.


MOCAB CVC 2009
Novi Beograd: Differentiated Neighbourhoods
Text: serbisch und englisch, inkl. einer DVD
440 Seiten, ca. 25 Euro

dérive, Fr., 2010.06.04



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dérive 39 Kunst und urbane Entwicklung

15. September 2009Elke Krasny
zuschnitt

Das Raue oder das Glatte

Das Echte oder das Furnierte, das Polierte oder das Matte, das Raue oder das Glatte, das Helle oder das Dunkle, das Transparente oder das Opake, das Feine...

Das Echte oder das Furnierte, das Polierte oder das Matte, das Raue oder das Glatte, das Helle oder das Dunkle, das Transparente oder das Opake, das Feine...

Das Echte oder das Furnierte, das Polierte oder das Matte, das Raue oder das Glatte, das Helle oder das Dunkle, das Transparente oder das Opake, das Feine oder das Grobe, das Weiche oder das Harte, das Nüchterne oder das Ausschweifende, das Minimalistische oder das Ornamentierte, das Farbenreiche oder das Weiße: Wer kann sich nicht an sie erinnern, an die scheinbar einfachen, jedoch umso folgenreicheren Entscheidungen, die das Lebensgefühl im Raum für kommende Jahre, ja manchmal sogar für Jahrzehnte Tag für Tag bestimmen. Diese Materialentscheidungen prägen nicht nur die sinnliche und atmosphärische Dimension von Räumen, sie erzählen auch von kulturellen Entwicklungen. Jede Platzierung von Material ist ein kultureller Akt.

So wie der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss sich die Frage nach den universalen Prinzipien des Denkens stellte, könnte man sich auch die Frage nach den allgemeinen Prinzipien stellen, die den menschlichen Alltag als gewohnte Haltung zum Ausdruck bringen. Dabei, wie sich das Innen anfühlt, geht es nicht um die spezifische Form oder Gestaltung einzelner Möbel. Die gesamte Materialität der Räume lässt sich auf die Vorstellung von Gegensatzpaaren zurückführen. Auf seiner anthropologischen Suche, die allgemeingültigen Muster, die für das menschliche Denken kulturell prägend sind, herauszufinden, kam Lévi-Strauss zur Vorstellung von Gegensatzpaaren: das Rohe und das Gekochte, das Heiße und das Kalte, oben und unten. Übertragen aufs Wohnen sind wir dann wieder dort gelandet, wo wir eingangs waren: das Raue oder das Glatte … Als bedeutendsten aller Gegensätze ortete Lévi-Strauss den zwischen Kultur und Natur. Auch mit diesem wird im Inneren der menschlichen Gehäuse fleißig operiert, dabei zeigt sich vor allem eines: Natürliches kommt hier immer als Strategie des Kulturellen zum Einsatz. Ist das Natürliche bestrebt, sich als solches zu zeigen, betreibt es damit höchstgradig Kulturpolitik in eigener Sache. Das Naturbelassene ist zu einer Leitvokabel der Architekturbeschreibungsprosa aufgestiegen. In der Dauerkrise des natürlichen Ressourcenschwundes wird das Naturbelassene als ästhetische Strategie zum Verbündeten der Rettungsvision.

Tritt zur ökologischen Dauerkrise die ökonomische Akutkrise, wie wir sie eben durchleben, ohne sie in ihrem vollen Ausmaß begreifen zu können, beginnt die Konjunktur einer anderen Materialität: Von der Suche nach der neuen Geborgenheit ist unumwunden die Rede. Konnte die effizienzgesteigerte, turbokapitalistische, überhitzte und zugleich kalte Welt, in der wir im Drang nach intensitätssteigerndem Wachstum den permanenten Beschleunigungsgang eingelegt haben, uns letztlich nur mit dem Scheitern dieses Modells alleine lassen, so muss die gewohnte Privatheit über Nacht mit anderen Rückhalten für die wiederzugewinnende Subjektivität aufwarten können. Die gerade noch neue Ornamentik, geboren aus der Glätte des Minimalismus, hat ebenso wie die aus Techno-Logik und Transparenz komponierten Lehrstücke der Nach-Nach-Moderne ihren Hype eingebüßt. Andere Vorstellungen prägen das Feld: Nachhaltigkeit, Sparsamkeit, Geborgenheit, Wärme, Dauerhaftigkeit, Leichtigkeit.

Innen ist nicht innen. Das, was wir immer schon geahnt haben mögen, bedarf dennoch einer Erklärung. Das Draußen – Politik und Zeitgeist, Erfindungen und Ideen, Technologie und Soziales– macht an den Fassaden, an den Haustüren, den Eingängen zum Inneren nicht halt. Rückblickend erzählen uns die Vorlieben für bestimmte Materialien spezifische Zeitläufte des Innenraums, die in Schichten ablesbar sind: Aus den gediegenen 1950er Jahren gelangten wir über die experimentierfreudigen 1970er und die individualisierungssüchtigen 1980er zu den ökologisch bewusster werdenden und gleichzeitig innovationsbegeisterungsfähigen 1990ern.

Nicht erst seit der Medienphilosoph Vilém Flusser die einprägsame Vorstellung der Wände, die »durchlöchert wie ein Emmentaler« sind, gefunden hat, um den Zusammenhang zwischen der auf Neuen Medien beruhenden Informationsrevolution und der physisch gebauten Architektur als Raumbild auszudrücken, ist das Innen und das Außen, das Private und das Öffentliche vielfältiger miteinander verschränkt und nicht voneinander zu trennen. Daraus folgt: Der Boden der Erfahrung, auf dem wir stehen, die Wände der Vorstellung, die uns umgeben, erzählen uns genau von diesen Verschränkungen und machen uns materiell mit unseren eigenen Kulturgeschichten vertraut.

[ Elke Krasny, Kulturtheoretikerin, Kuratorin, Autorin. Arbeitet zu Architektur, Urbanismus, Kunst als öffentlicher Raum, Gender und Repräsentation; Kuratorin von »Architektur beginnt im Kopf. The Making of Architecture«, Az W 2008/2009 ]

zuschnitt, Di., 2009.09.15



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zuschnitt 35 Innenfutter

10. Oktober 2008Elke Krasny
dérive

Das Labor europäischer Modernefantasien

„Jede neu eröffnete Baustelle ist ein Bataillon, jedes fertige Gebäude eine gewonnene Schlacht.“ Auf dieses Zitat von Hubert Lyautey, Militärgouverneur...

„Jede neu eröffnete Baustelle ist ein Bataillon, jedes fertige Gebäude eine gewonnene Schlacht.“ Auf dieses Zitat von Hubert Lyautey, Militärgouverneur...

„Jede neu eröffnete Baustelle ist ein Bataillon, jedes fertige Gebäude eine gewonnene Schlacht.“ Auf dieses Zitat von Hubert Lyautey, Militärgouverneur und von 28. April 1912 bis 25. August 1925 der erste französische Generalresident in Marokko, stößt man in der Ausstellung In der Wüste der Moderne, die im Haus der Kulturen der Welt in Berlin gezeigt wird.

„Französisch-Nordafrika“ war ein Labor europäischer Modernisierungsfantasien. Den Strukturen und Wirkungsweisen dieses gebauten und bewohnten Labors geht das unter der künstlerischen Leitung von Marion von Osten realisierte Ausstellungsprojekt nach. Neue Forschungen über Architektur und Stadtplanung der Moderne wurden nicht „zu Hause“ in Europa erprobt, sondern „in der außereuropäischen Fremde“, im kolonialen Nordafrika der 1950er und 1960er Jahre, um dann von dort aus an die europäischen Stadtränder in Form des egalitären Versprechens des Massenwohnbaus zurückzukehren. Ohne den Kolonialismus, so die These der dokumentarischen Ausstellung, wäre die europäische Version der Moderne weder denk- noch umsetzbar gewesen. Und was vielleicht in der Gegenwart als Reflexionsaufgabe noch entscheidender ist: „Wir leben in der kolonialen Moderne. Die Dekolonialisierung hat bei uns nicht stattgefunden“, wie Marion von Osten es formuliert.

Als Forschungs- und Kooperationsnetzwerk wurde ein mehrjähriger Arbeitsprozess initiiert, der in Archiven und Feldforschungen sowie künstlerischen Untersuchungen der Janusgesichtigkeit der Moderne zwischen Emanzipationsversprechen und Kolonialverwaltung nachging. Das interdisziplinäre Forschungsteam – Tom Avermaete, Serhat Karakayali und Marion von Osten arbeiteten gemeinsam mit Wafae Belarbi, Madelaine Bernstorff, Jesko Fezer, Brigitta Kuster, Andreas Müller, Daniel Weiss sowie Studierenden der Akademie der bildenden Kunst Wien, der Architekturfakultät der TU Delft und der Ècole Supérieure d’Architecture de Casablanca – recherchierte Geschichten von Bewohnerinnen und Bewohnern, Architekten, Stadtplanern, Kolonialisten, Anthropologen und Wissenschaftlern, die alle ihren Anteil hatten am Projekt der Modernisierung.

Der Versuch der Rekonstruktion der Geschichte als Beziehungsgeflecht zwischen Europa und Nordafrika, materialisiert in Stadtplanung, Architektur und alltäglicher Nutzung, wird in Architekturmodellen, Flugblättern, historischen Filmdokumenten und zeitgenössischen künstlerischen Arbeiten von Kader Attia und Hassan Darsi vermittelt. Grafiken und Pläne von Georges Candilis, Michel Écochard, Alison und Peter Smithson oder Malerei von Le Corbusier und Chaibia stellen die modernistischen Utopien vor und kontextualisieren sie in der Aneignung durch die Bewohner wie im zeithistorischen Bezugssystem der Befreiungsbewegungen und der kolonialistischen Propaganda.

Die Massenbauweise, wie wir sie als heu-tige, oft als Problemzonen titulierte Gebiete westlicher Stadtränder kennen, hatte ihren Probelauf in Nordafrika. Die visuelle, in den Architekturkanon eingeschriebene Ikonografie dieser Architekturen der nordafrikanischen Moderne zeichnet ein leuchtend weißes, formenbetontes Bild, das zeitlos monografische Architektenhandschriften als immerwährende Utopie transportiert. Heutige Feldforschungen förderten das tatsächliche Aussehen dieser Bauten, in vielfachen, vielstimmigen Überbauungen, additiven Ergänzungen und eigenwilligen Umnutzungen durch Bewohnerinnen und Bewohner zu Tage. Diese Bilder sind im Kanon der Architekturrezeption Störfaktoren, die verschämt verschwiegen, international ausgeblendet werden. Diese Bilder verkörpern jedoch genau jene Risse und Spannungsverhältnisse des Nachhalls ihrer schon im Entstehungsprozess höchst widersprüchlichen Geschichte zwischen den beanspruchten Planungsgewissheiten eines technokratischen Urbanismus und eines von Befreiungsbewegung, Eigeninitiative und Konflikt geprägten Alltagsurbanismus. Dass die technokratische Moderne nicht die Patentlösung ist, dass die Menschen in der Lage sind, ihre Umwelt selbst zu gestalten und Architekten dafür nur Rahmenbedingungen liefern und dass eine andere Bildproduktion über den gebauten urbanen Raum den Alltag der Nutzung als Potenzial des Individuums hervortreten ließe, gerade das könnte man von diesem Testgelände der Moderne in Nordafrika eben auch lernen. Hier setzt das vom Medienkollektiv Labor k3000 im Kontext des Gesamtprojekts realisierte Internetprojekt an: www.this-was-tomorrow-net versammelt Video- und Filmclips über Massenwohnbauten, aufgenommen aus der Perspektive ihrer Bewohnerinnen und Bewohner. Alle derzeit nach einem topografischen Grid aufzufindenden privaten Kurzfilme und Videoclips stammen aus dem Internet selbst. In Zukunft soll die Sammlung durch den direkten Kontakt zu den ProduzentInnen dieses Filmarchivs erweitert werden und auch mögliche Begegnungen von Wohnhochhaus zu Wohnhochhaus als Zukunftsperspektive in Betracht ziehen.

Der Ausgangspunkt des mehrjährigen Projekts der Auseinandersetzung mit urbanen Formationen als Strategie des Reglementierens und Potenzial individuierter Aneignung durch BenutzerInnen liegt für die exemplarische Fallstudie Casablanca in vielerlei Hinsicht in Europa: gemeinsam mit Studierenden hatte Marion von Osten vor mehreren Jahren einen ungeliebten Massenwohnbau in der Nähe von Zürich beforscht, dessen architektonische Entstehungsgeschichte bereits Richtung Nordafrika wies. Das für die Europäer gebaute Casablanca erlebte in den 1950ern eine Umdrehung der Mehrheitsverhältnisse in der BewohnerInnenstruktur: Als willkommene Arbeitskräfte siedelten sich MarokkanerInnen am Stadtrand an. Sie errichteten ihre spontanen Siedlungen, die so genannten Bidonvilles (Kanisterstädte), die einen Konnex mit den komplexen Strukturen der alten Medina-Viertel aufweisen, welche wiederum Vorbild für den Entwurf der Freien Universität Berlin durch die nordafrikaerfahrenen Architekten Candilis, Josic, Woods und Schiedhelm waren. Rezipiert wurde die heroisch-technologische Seite der FU als Innovation der Moderne, nicht jedoch die Erfahrung der außereuropäischen Fremde als wichtigste Inspirationsquelle. Nicht zuletzt ist es der Ausstellungsort selbst, der das Verhältnis zur Moderne als Aufgabenstellung für das Heute sowie eine Geschichte zwischen Freiheitsversprechen, politischer Symbolkraft des Gebauten und ideologischem Transfer eingeschrieben hat: Die Kongresshalle Berlin, in der sich das Haus der Kulturen der Welt befindet, ist ein prestigeträchtiger, ikonischer Bau der Moderne und wurde anlässlich der internationalen Bauausstellung, der Interbau 1956/1957 von den USA errichtet und dann im Jahr 1958 als Geschenk an die Stadt Berlin übergeben. Diese historische Symbolkraft des Gebäudes nahm der Intendant Bernhard M. Scherer zum Anlass, über eine Neuschreibung der Beziehungen „zwischen Europa und dem Rest der Welt“ als Leitlinie für die zukünftige Programmierung nachzudenken.

Es geht um die Zusammenhänge, Brüche und Konflikte der Beziehungen zwischen Nordafrika und Europa. In einer „Ethnologie unserer Rationalität, unseres Diskurses“ von der Michel Foucault spricht, wird der Versuch unternommen, die widersprüchlichen und zwiespältigen Bewegungen der kolonialen Geschichte und der Dekolonisierung des Alltags nachzuzeichnen. Die heutigen Vorstädte und Trabantenstädte europäischer wie nordafrikanischer Großstädte sind die gebauten Orte wie sozialen Räume transnationaler Bewegungen, Begegnungen, Kontakte und Konflikte. Das durch die RechercheurInnen zu Tage geförderte Material ist prekär, ein vollständiges Bild lässt sich nicht rekonstruieren. Diesen Umstand reflektiert das Ausstellungsdisplay von Jesko Fezer, Andreas Müller und Anna Voswinckel. Für jedes Ausstellungsobjekt wurde ein eigenes kleines Stahlgestell gebaut, das die Raumdramaturgie bestimmt. Alles wurde für die RezipientInnen auf Augenhöhe gebracht. Die Hinterseiten der Stahlgestelle verweisen auf die Lücken in der Rezeptionsgeschichte. Sie sind leer.

Ausstellung
In der Wüste der Moderne
Haus der Kulturen der Welt, Berlin
bis 26.10.2008

Filmreihe Kleine Pfade – Verschränkte Geschichten, Performance Walking Cube von Kanak Attack, Ausstellungsgespräche, Internationale Konferenz

www.hkw.de
www.this-was-tomorrow.net

dérive, Fr., 2008.10.10



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dérive 33 Sampler

15. September 2008Elke Krasny
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Gut verzogen

»Ungewöhnliche Gebäude aus ganz gewöhnlichen Materialien«, so beschreibt Alex de Rijke die Devise des zwanzigköpfigen Londoner Architekturbüros drmm –...

»Ungewöhnliche Gebäude aus ganz gewöhnlichen Materialien«, so beschreibt Alex de Rijke die Devise des zwanzigköpfigen Londoner Architekturbüros drmm –...

»Ungewöhnliche Gebäude aus ganz gewöhnlichen Materialien«, so beschreibt Alex de Rijke die Devise des zwanzigköpfigen Londoner Architekturbüros drmm – de Rijke Marsh Morgan Architects –, die auch bei einem ihrer jüngsten Projekte, der Kingsdale School in London, zum Tragen kommt.

Holz hat bei öffentlichen Bauten in Großbritannien keinerlei Tradition. Gerade deshalb verstehen drmm die zwei Gebäudeteile der Kingsdale School – das Musikgebäude und das Sportgebäude – als Demonstrationsprojekte für einen neuen Materialstandard im Schulbau. Holzmassivbauweise wollten drmm verwenden und damit den Beweis erbringen, dass Nachhaltigkeit und Ästhetik einander in keiner Weise ausschließen müssen. »Normalerweise«, so Alex de Rijke, »sind Sportbauten für Schulen langweilige und blinde Boxen aus Stahl ohne gutes Tageslicht«. Dass es auch ganz anders gehen kann, zeigt das von ihnen erzielte Ergebnis. Brettsperrholz ist, wie de Rijke betont, eigentlich kein neues Material, aber in Großbritannien wurde es für Schulbauten bis dato noch nie eingesetzt. drmm verstehen sich daher nicht so sehr als Erfinder, als vielmehr als frühe Verwender, eben als Pioniere des Materials. Für ihren Entwurfsprozess ist die kontinuierliche Recherche nach neuen Materialien ausschlaggebend. Im Fall der Kingsdale School spricht Alex de Rijke von einer »arrangierten Ehe«. Die Suche nach dem richtigen Material beginnt nämlich nicht mit dem Auftrag für ein neues Projekt, sondern umgekehrt: Ein bestimmtes Material ist drmm durch ihre ständigen Recherchen in seinen Qualitäten und Potenzialen bekannt und wartet darauf, dass ein geeigneter Auftrag kommt.

Für das Kingsdale School-Projekt wurde Brettsperrholz in großem Maßstab eingesetzt und »bis an seine Grenzen getrieben«. Das Music Department ist eine einfache Schachtel mit perforierter Oberfläche. Das Sportgebäude hingegen zeichnet sich durch sein Dach in Form eines hyperbolischen Paraboloids aus, dessen Erzeugende mittels Leimbindern hergestellt wurden. Auf ihnen wurden Brettsperrholzplatten befestigt, die dünn genug sind, um sie in die gewünschte Krümmung zu zwingen.

Die gesamte Konstruktion ruht auf 2,95 mal 13,5 Meter großen Wandelementen aus Brettsperrholz mit einer maximalen Höhe von 14 Metern. Der Holzwerkstoff ist zugleich die fertige Sichtoberfläche im Inneren der beiden Gebäudeteile, die Außenfassade besteht aus teilweise perforierten Stahlblechprofilen.

Projektingenieure waren Michael Hadi Associates. Mit ihnen arbeiteten drmm ebenso eng bei Materialtests und Computer- wie physisch gebauten Modellen zusammen wie mit dem steirischen Brettsperrholzhersteller selbst. Die eingesetzten großen Plattenformate entsprachen auch dem Wunsch, nachhaltiges Bewusstsein bereits in den Fertigungsprozess zu integrieren und Schnittabfall zu minimieren. Während de Rijke die Konstruktion des Sportgebäudes als relativ »straightforward« bezeichnet, verhält es sich beim Musikgebäude vollkommen anders. Hier wurden alle Räume konstruktiv voneinander getrennt, um jegliche Klangübertragung zu vermeiden. Auf mechanische Ventilation wurde verzichtet und stattdessen – ausgehend von kleinen Perforationen in der Gebäudehülle – ein ausgeklügelt simples, natürliches Belüftungssystem installiert. »Immer noch muss man Auftraggeber vom Holz überzeugen«, so de Rijke, »obwohl Holz das einzige Baumaterial ist, das einen Beitrag zur CO2 -Reduktion leistet«. Nur wegen des Geldes nehmen drmm Aufträge nicht an, es geht um mehr: um die Herausforderung, wirklich Interessantes entwickeln zu können, um ökologische Qualität, sozialen Anspruch und avancierte, materialbasierte Ästhetik. Im britischen Pavillon auf der heurigen Architektur-Biennale in Venedig, in den drmm von Kurator Ellis Woodman eingeladen wurden, kann man sich von diesem Anspruch ein Bild machen.

zuschnitt, Mo., 2008.09.15



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Kingsdale School – Music and Sports Buildings



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08. Mai 2008Elke Krasny
Der Standard

Spazierengehen auf leisen Sohlen

Das niederösterreichische Architekturtage-Programm ist heuer ganz aufs Gehen und Reden ausgerichtet. Vier Städte werden zu Fuß erkundet. Und am Ende gibt's eine Diskussion mit der Stoppuhr.

Das niederösterreichische Architekturtage-Programm ist heuer ganz aufs Gehen und Reden ausgerichtet. Vier Städte werden zu Fuß erkundet. Und am Ende gibt's eine Diskussion mit der Stoppuhr.

Krems - Seit einigen Jahren boomt die sogenannte Promenadologie, zu Deutsch Spaziergangswissenschaft. Ob bei Stadtplanern oder bei Künstlern, das Spazierengehen hat Methode. Auch bei den heurigen Architekturtagen in Niederösterreich lässt sich das Gebaute gemeinsam per pedes oder sogar vom Rad aus entdecken.

Ganz promenadologisch gedacht, im bewussten Hereinholen der Umgebung in die Wahrnehmung, werden vier niederösterreichische Städte gemeinsam mit Expertinnen und Experten ergangen. Martin Kislinger ist der Architektur-Rundgang-Leiter in Schrems. Da wird die sogenannte Himmelsleiter Hochmoor erklommen, das Moorbad inspiziert oder der Hauptplatz abgegangen.

Mit Günther Hintermeier lässt sich einen Tag lang sportlich beim gemeinsamen Pedaletreten die Hauptstadt St. Pölten erkunden, die sich nun in ihrer zweiten Phase der Stadtentwicklung befindet. Die Tour führt ins Regierungsviertel, zu Kulturbauten wie etwa dem Festspielhaus, zum ORF-Zentrum von Gustav Peichl bis hin zum eben fertiggestellten Wirtschaftszentrum Niederösterreich (Architekten Gschwandtner und Millbacher). Weiter geht es zur Rainer-Siedlung am gegenüberliegenden Ufer der Traisen, später dann zum Landespflegeheim und zur Landessportschule mit der neuen Eishalle vom Architekturbüro „sam ott-reinisch“.

Und Maria Schneider-Dichlberger nimmt spaziergangswissenschaftlich Waidhofen an der Ybbs unter die Lupe. Gemeinsam mit ihr wird das neue Schulzentrum aufgesucht, aber auch der Ybbs-Uferweg sowie die Waidhofener Stadtplätze. Im Rothschildschloss, das nun nach der Landesausstellung neu genutzt werden wird, kann man sich ebenfalls umsehen.

Festes Schuhwerk vonnöten

Schließlich Franziska Leeb: Beim Spaziergang mit ihr öffnen sich private Refugien in Krems, etwa Dachgeschoßwohnungen, Galerien, Steinertor. Der stete Programmhinweis auf die Vorteilhaftigkeit von bequemem Schuhwerk weist darauf hin, dass die Spaziergangswissenschaft eine Praxis ist, bei der man vor müden Füßen und wunden Zehen nicht gefeit ist.

Im Gehen erprobt sich mit dem gemeinsamen Sehen ein sensibilisiertes Erkennen und Sprechen. Zahlreiche Architekturbüros in ganz Niederösterreich (siehe Infokasten) laden Besucherinnen und Besucher ein, um bei Wein und Käse in einen gemeinsamen Dialog zu treten. Doch es gibt noch eine ganz andere Art der Architekturbegegnungsform. Speed-Dating nennt sich die kurze und effiziente Annäherung zwischen Bauherr und Architektin.

Seit 1999 in den USA erprobt, ist das populäre Alltagsformat der Beweis dafür, dass langsame Annäherungen zwischen den Geschlechtern out sind.

Effizienz ist angesagt

Sieben Minuten dauert üblicherweise das Instant-Kennenlernen zum Herausfinden von Basisinteressen mit möglichen Konsequenzen. An der Fachhochschule Wieselburg wird das rasche Rendezvous nun auf die Begegnung von (potenziellen) Bauherren und (potenziellen) Architektinnen umgemünzt. Die Moderation übernehmen Andrea Schurian und Jan Tabor.

Der Standard, Do., 2008.05.08

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Presseschau 12

22. April 2017Elke Krasny
Der Standard

Architektur des Sorgetragens

Heute kommt es nicht so sehr darauf an, die Welt verschieden zu interpretieren, sondern sie zu reparieren. Die Architektur könnte zur Erreichung dieses Ziels einen wichtigen Beitrag leisten.

Heute kommt es nicht so sehr darauf an, die Welt verschieden zu interpretieren, sondern sie zu reparieren. Die Architektur könnte zur Erreichung dieses Ziels einen wichtigen Beitrag leisten.

Haben Architekten Sorgen? Eine berechtigte Frage. Es ist anzunehmen, dass ihre Profession den Architekten jeden Tag aufs Neue Sorgen bereitet. Einmal gibt es zu wenige Aufträge, dann fallen wieder zu viele Arbeitsstunden an. Und immer herrscht Zeitdruck. Eine Abgabe hetzt die nächste. Wettbewerbsteilnahmen bleiben erfolglos. Der Sparstift regiert. Vorschriften verunmöglichen vieles. Und zu guter Letzt das Haftungsrisiko, auch nicht ohne. Die Rede ist hier nicht einmal von höhenflugberauschter Spektakulär-Spekulations-Architektur, sondern von einer auf sozialer, ästhetischer und politischer Verantwortung beharrenden Alltagsarchitektur. Ohne Zweifel: Ja, Architektinnen und Architekten haben Sorgen.

Mehr vom Selben

Zeitdruck, Gelddruck, Prestigedruck: Die einen sehen Gefahr, dass die Architektur sich völlig den Zwängen des Markts unterworfen hat und nur mehr developergetrieben agiert. Die anderen bezweifeln, dass sich in der Architektur etwas Neues, Innovatives, Zukunftsweisendes entwickelt, weil doch letztlich immer nur mehr vom Selben gefordert wird.

In der Tat, wir müssen uns Sorgen machen um die Architektur. Doch nicht nur, weil es zu hohen Spekulationsdruck und zu wenig Innovation gibt. Nein, man muss sich größte Sorgen vor allem darum machen, wie die Architektur ihrer zentralen Aufgabe nachkommen kann – nämlich selbst Sorge zu tragen.

Die Philosophin Judith Butler hat vor nicht allzu langer Zeit in einem ihrer Essays darüber geschrieben, dass Architektur für das Sorgetragen wesentlich verantwortlich ist. Butler schreibt über den öffentlichen Raum, über Straßen und Plätze, und sagt, dass diese „materielle Umgebung” als „Stütze des Handelns” dient. Sie führt aus, dass „menschliches Handeln auf Unterstützung angewiesen ist, immer unterstütztes Handeln ist“. Architektur, das muss mit aller Deutlichkeit festgehalten werden, zählt zu den wichtigsten materiellen Stützen des menschlichen Handelns. Und auf Stützen muss man sich verlassen können. Sie müssen zur Verfügung stehen, in ausreichender Zahl, in angemessener Qualität, und zwar für alle.

Butler macht auch klar, dass die materiellen Stützen, die unser Handeln ermöglichen, genau das sind, worüber die größten Verteilungskämpfe ausgetragen werden. Wer kann über sie verfügen? Wem bleibt der Zugang verwehrt? Wer kann sie sich leisten? Und wer muss auf sie verzichten? Die steigende globalisierte Ungleichheit hat mit diesen ungerechten Verteilungen von Unterstützung zu tun. Das betrifft – nicht zuletzt auch – die Architektur.

Die Frage ist: Wie kann Architektur unter den gegenwärtigen Bedingungen von gleichzeitigem massivem kapitalgetriebenem Spekulationsdruck und verheerende Folgen verursachenden austeritätsbedingten Sparmaßnahmen die Aufgabe des Sorgetragens nicht nur übernehmen, sondern diese immanente Aufgabe auch neu definieren? Auf wessen Seite stehen Architekten und Architektinnen im Kampf um die materiellen Unterstützungen, die durch ihre Arbeit entsteht?

Werfen wir einen Blick in die Vergangenheit. Was lässt sich von der modernen Architektur, von ihren Folgen hier und heute lernen? Die moderne Architektur wollte Lösungen in großem Stil. Für alle. Vom Wohnen für das Existenzminimum über architekturhistorisch kanonisierte Einzelanfertigungen à la Mies van der Rohe oder Richard Neutra bis hin zum staatstragend-versorgenden sozialen Wohnungsbau in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Ansprüche waren hoch: funktional, sozial, ästhetisch. Die Architekten waren die Helden, in deren Hand es lag, Tabula rasa zu machen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und eine problemlose Zukunft aufzubauen.

Totalversagen

Heute leben wir in genau dieser Zukunft. Die globalen Probleme sind rasant gestiegen, die Ziele, die die moderne Architektur erreichen wollte, sind relevanter denn je, zugleich sind sie in größte Erreichungsferne gerückt. Was ist passiert? Kurz gesagt: Die moderne Architektur ist gestorben, und zwar 1972, mit der Sprengung von Pruitt-Igoe in St. Louis. Das war die Zäsur. Das war der Tod.

18 Jahre nach Fertigstellung stand die an Le Corbusier orientierte Wohnanlage, ein Slum-Bereinigungsprojekt, nicht mehr für die Sozialleistungen der modernen Architektur, wie nach der Fertigstellung euphorisch berichtet wurde, sondern nur noch für deren Totalversagen: rassistische Segregation, Armut, Verbrechen, Leerstand, Verwahrlosung. Sorgetragen? Auf allen Ebenen gescheitert. Die Lösung: nicht Reparatur, sondern Sprengung.

Care und Repair

Mit dem Tod der modernen Architektur wurde auch das Postulat der Moderne, der Form-Funktions-Zusammenhang, zu Grabe getragen. Paradoxerweise, so lässt sich im historischen Rückblick erkennen, setzte das eine funktionsbefreite Architektur in Gang, die sich an den Formen berauschen konnte. Aus dem Helden-Architekten wurde der Star-Architekt. Das hat dem Sorgetragen, das die Architektur leisten soll, nicht gut getan. Ganz im Gegenteil. Architektur ist ungleicher verteilt denn je. Und was Star-Architektur anbelangt: Sie ist pflegebedürftiger als die Architektur der Moderne. Instandhalten, Reparieren, Pflegen. Ohne Ende.

Doch wie kommen wir zu einer Architektur des Sorgetragens? Welche Maßnahmen gegen Prekarisierung und konjunkturbedingte Flexibilisierung müssen wir treffen? Welche Baumaterialien müssen wir verwenden? Und welche Arbeitsbedingungen müssen wir schaffen? In einem Sektor wohlgemerkt, der exemplarisch ist für die Ausbeutungsverhältnisse der globalisierten Arbeitsteilung. Es ist kein Wunder, dass es deutlich mehr Daten zur Ökobilanz gibt als zur Sozialbilanz. Daten dazu, wie viel Arbeit die Materialien den Nutzern abverlangen, gibt es, nebenbei bemerkt, gar nicht.

Die Sachlagen sind komplex. Die Zukunft ist – in Zeiten von Krisen, Kriegen, Katastrophen – wenig vielversprechend. Genau deshalb gibt es viel zu tun für eine Architektur des Sorgetragens und der Reparatur. Im kleinen Maßstab, an vielen Orten der Welt wird heute bereits Care- und Repair-Architektur gemacht. Wenn die Inhalte zählen, dann folgen neue und innovative Funktionen und Formen.

Der Philosoph Karl Marx hat in einer Replik auf Ludwig Feuerbach geschrieben: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern.“ Heute kommt es nicht so sehr darauf an, die Welt verschieden zu interpretieren, sondern sie zu reparieren. Der Beitrag der Architektur könnte ein wichtiger sein. Dafür hat sie zu sorgen.

Der Standard, Sa., 2017.04.22

30. Juli 2012Elke Krasny
Sonja Pisarik
Hintergrund

Die Entwicklung der Wiener Kleingärten als „planungspolitisches Kapitalverbrechen“?

Elke: Uns interessiert der Umgang mit dem vielschichtigen Erbe dessen, was aus der Schreber- und Siedlerbewegung in Wien gewachsen ist. Die Zukunft dieser...

Elke: Uns interessiert der Umgang mit dem vielschichtigen Erbe dessen, was aus der Schreber- und Siedlerbewegung in Wien gewachsen ist. Die Zukunft dieser...

Elke: Uns interessiert der Umgang mit dem vielschichtigen Erbe dessen, was aus der Schreber- und Siedlerbewegung in Wien gewachsen ist. Die Zukunft dieser Orte ist ein Hot-Topic. Aufgrund bestimmter gesetzlicher Veränderungen – jetzt schon wieder mit einem zeitlichen Abstand – kann man zumindest Vermutungen anstellen, was das perspektivisch für ein Stadtganzes bedeutet. Wie geht Stadt mit etwas um, das – wenn man es zeithistorisch betrachtet – eine von den BürgerInnen dieser Stadt vor vielen Jahren erkämpfte Ressource ist?

Reinhard: Natürlich ist es ein Verlust von Artenvielfalt, wenn Obst- und Gemüsegärten, die es in den 1980er-Jahren ohnehin nicht mehr flächendeckend gegeben hat, final Zierrasen, Thujen und Swimmingpool weichen, aber das würde ich als das geringere Problem sehen. Das Erschütternde daran ist eher die extreme Dimension der Umwidmung in ganzjährig bewohnbare Kleingärten, was seit 1992 nach einer Gesetzesänderung möglich ist. Nach 15 Jahren waren von 35.000 Kleingärten bereits 20.000 widmungsrechtlich umgewandelt in dauerhaftes Wohnen. Die Stadt Wien ist in Zeiten, in denen schon längst klar war, dass das frei stehende Einfamilienhaus zumindest für die Großstadt kein sinnvolles Modell ist, auf die unbegreifliche Idee gekommen, 20.000 Einfamilienhäuser erstens einmal zuzulassen und zweitens dann auch noch zu fördern und die Grundstücke zu Spottpreisen zu verkaufen.

Sonja: Was ist das gravierendste Problem dieser Entwicklung?

Reinhard: Die bestimmende Konstante in der Entwicklung jedes Siedlungsraums ist das Grundstückseigentum. Dass man im ausgehenden 20. Jahrhundert diesen Schatz für die Stadtentwicklung, nämlich große zusammenhängende Grünflächen, die noch dazu in der Hand der Stadt Wien waren, aufsplittet in 20.000 oder 35.000 EigentümerInnen à 250 m², war eine rein populistische Entscheidung gegen jede fachliche Vernunft. Neben allen raumplanerischen Folgen ist das eine massive Verschleuderung von öffentlichem Eigentum. Da gab es von Anfang an völlig widersinnige Diskontierungen, also eigentlich das Gegenteil des üblichen Handelsprinzips, das doch normalerweise lautet: Am Anfang verlange ich den vollen Preis, und wenn ich sehe, das geht schlecht, dann werde ich billiger.

Sonja: Ja, hier läuft es andersrum. Als Anreiz für den Kauf gibt es einen Preisnachlass vom Verkehrswert, der in Abhängigkeit zum Umwidmungszeitpunkt steht. Drei Jahre nach der Außenvermessung, drei Jahre nach der Umwidmung oder ein Jahr nach der Innenparzellierung gibt es 45 % Nachlass. Nach Ablauf des ersten Jahres nach diesem jeweiligen Zeitraum wird der Preisnachlass auf 30 %, im nächsten Jahr auf 20 % und wieder ein Jahr später auf 10 % gesenkt.

Reinhard: Stadtstrukturell ist das sehr fatal: Es wurden strategisch entwickelbare Gebiete, die der Stadt gehörten, auf eine Vielzahl privater Kleineigentümer verteilt. Dadurch entsteht eine Siedlungsstruktur, die man nie wieder revidieren kann. Die harmlosere Variante wäre gewesen, den KleingärtnerInnen ein Baurecht einzuräumen, solange die Pacht ihrer Kleingärten noch läuft – was natürlich auch eine Schnapsidee ist. Sie hätten dann Einfamilienhäuser hinstellen können, die vielleicht 50, 60 Jahre, bis der Pachtvertrag ausläuft, Bestand gehabt hätten. Die Zeiten, in denen Gebäude für über 100 Jahre errichtet werden, sind ohnehin vorbei.

Sonja: Wie kam es dazu?

Reinhard: Die Stadt hat ihre Entscheidung damit erklärt, dass man widmungstechnisch nachvollziehen wollte, was ohnehin schon längst Realität war, nämlich dass in manchen Kleingärten auch gewohnt wird. Ist das der Sinn von Stadtplanung? Ein anderes Argument war, dass man eine Alternative zum Abwandern ins grüne Niederösterreich bieten wollte.

Sonja: Es wird kolportiert, dass die Stadt Wien mit der Gesetzesnovelle von 1992 Wohnraum schaffen wollte, weil man – fälschlich – geglaubt hatte, die Leute ziehen alle in ihre Kleingartenhäuser und ihre Wohnungen in Wien werden frei. Das hat allerdings kaum funktioniert, weil man einfach beides behalten hat. Dabei entstand 1988 – also vier Jahre vor der Novelle – das sogenannte Kleingartenkonzept, das eigentlich das Gegenteil von dem verlangte, was dann vier Jahre später passiert ist: eine deutliche Unterscheidung von Kleingarten- und Siedlungsgebiet, eingeschränkte Bebaubarkeit etc. Man fragt sich, welchen Grad an Verbindlichkeit solche Konzepte haben?

Reinhard: Null. Die Wiener Stadtplanung wurde in den frühen 1990er-Jahren zum Selbstbedienungsladen der Politik.

Elke: Was bedeutet das für die Stadt? Es gibt eine Stadt, die hat aus einer gewissen historischen Gewordenheit heraus die Ressource eines Grüngürtels. In dem ist auch Aufenthalt ein Teil davon, aber eben nicht als Daueraufenthalt durch alle vier Jahreszeiten. Aufgrund dieser gesetzlichen Veränderung legt man dann zwei Parzellen zusammen und schon wird das immer größer. Diese Fläche kann man aus der Mikroposition der einzelnen Personen, die dort leben, betrachten, aber man kann sie auch noch einmal von weiter weg betrachten – was heißt das, dass sie überhaupt existiert? Oder was bedeutet es, wenn sie nicht mehr da ist? Oder wenn man sie verhüttelt?

Reinhard: Was es an Verlust für die Bevölkerung bedeutet, kann ich nicht einschätzen. Für mich als Stadtbenutzer ist der Verlust weniger einer an öffentlich zugänglichen Grün- und Erholungsflächen als ein ästhetischer, weil fast alles enorm hässlich ist, was dort entsteht. Mein Eindruck ist, dass viele Kleingartenvereine ohnehin schon vorher bestrebt waren, diese Grünräume möglichst abzuriegeln.

Sonja: Ich war kürzlich am Hackenberg in Wien 19 unterwegs – dort gab es einen jahrelangen Umwidmungsstreit, denn fast die Hälfte der BewohnerInnen stimmte gegen die Umwidmung in ganzjähriges Wohnen. Auch die AnrainerInnen haben massiv versucht, das Gebiet als Naherholungsgebiet zu erhalten. Wenn man nun dort spazieren geht, sieht man erschreckende Entwicklungen. Es werden unzählige Meter lange Schneisen in die Kleingartensiedlung geschlagen, die dann von Developern bebaut werden. Überall hängen Transparente, die auf die Grausamkeiten architektonischer Natur verweisen, die entstehen werden. Und das Absurde daran sind die Preise: Die Häuser kosten zwischen 500.000 und 1.000.000 Euro!

Elke: Das ist überhaupt nicht mehr leistbar. Das Hackenberg-Beispiel ist interessant, wenn man bedenkt, dass diese Flächen ja irgendwann einmal aus einer ganz bestimmten Krisensituation heraus erkämpft wurden. Danach gab es eine Art Verfestigungszustand, in dem über Jahrzehnte Rechte ersessen wurden. Aber ich glaube, wir befinden uns schon auf einer nächsten Stufe: Die Developer entdecken diese Gebiete und die Begehrlichkeiten sind geweckt. Es verschwinden die Dinge, die konstitutiv wichtig waren.

Sonja: Das Kleingartengebiet wird zu einer hochpreisigen Siedlung ... Laut den Gemeinderatsprotokollen zur Umwidmung am Hackenberg war die Begründung der SPÖ für ihre Ja-Stimme, dass man die KleingärtnerInnen unterstützen will, die auch über ein kleines Stück Grün verfügen möchten und nicht das große Geld haben, um sich ein Grundstück anzuschaffen – im Grunde braucht man aber wohl in Zukunft das große Geld dafür.

Elke: Was können Leute tun, die alle diese Dinge nicht haben, weder den Zugang zu den Ressourcen noch das reale Kapital, um Teil eines Kleingartens zu werden, aber das Bedürfnis haben zu gärtnern – wo können die ihr Territorium finden?

Reinhard: Wir haben 220.000 Gemeindebauwohnungen, was eine immense sozialpolitische Manövriermasse ist. Ob die Wohnsituation überall zufriedenstellend ist, sei dahingestellt, aber – verglichen mit anderen europäischen Großstädten – ist das Wohnen in Wien noch immer relativ gut leistbar.

Elke: Bleiben wir ganz konkret beim Mikrokosmos am Hackenberg. Man kann an allen fünf Fingern abzählen, dass die HackenbergerInnen nicht alle dort bleiben werden. Das könnte man auch als einen Gentrifizierungsprozess im Kleingarten bezeichnen. Das Territorium ist entdeckt worden, die Frage der Investition wird eine andere – ich investiere nicht mehr mein Leben und meine Zeit, sondern ich zahle nur mehr Schulden ab, um dort zu wohnen. Ich glaube, es gibt einen Unterschied zwischen informeller Bauweise, die sich über ein Leben spannt, und dem Abzahlen von Schulden für ein neu erbautes Einfamilienhaus vom Developer.

Reinhard: Das ist eine interessante Sichtweise, die aber aus stadtplanerischer Sicht keine so große Rolle spielt. Für die Stadtplanung ist es fürs Erste egal, ob dort eine Investorenvilla oder die Do-it-yourself-Baumax-Hütte steht. Im Endeffekt handelt es sich ja in keinem der beiden Fälle um sozial schwache Schichten. Und wenn sie noch richtige KleingärtnerInnen waren, dann betrifft der Verlust „nur“ ihren Zweitwohnsitz – das heißt, es geht um keine Verdrängung vom Wohnstandort.

Elke: Viele von denen, die sich diese Selbstbaumethode über die Jahrzehnte noch leisten konnten, können sich eine Abzahlung nun nicht mehr so einfach leisten. Ich glaube, dass das einen ganz großen Unterschied macht. Aber die Frage bleibt ja trotzdem: Wo siehst du als Planer in einer Stadt, die sich jetzt derart zu verändern beginnt, einen Raum fürs Gärtnern?

Reinhard: Ich bin nicht der Meinung, dass man als Städter Anspruch auf einen Garten hat. Man hat sehr wohl Anspruch auf hohe Wohnqualität, die auch ein Substitut für einen Garten beinhalten sollte, sei es in Form einer Terrasse, einer Gemeinschaftsterrasse vielleicht, eines Balkons oder was auch immer. Und natürlich besteht ein Anspruch auf eine hohe Qualität des öffentlichen Raums, befestigt und grün. Darauf ja, aber auf ein eigenes Stück Wiese? Das geht sich allein rechnerisch nicht aus. Ich sehe darin auch nicht den Sinn einer Großstadt im 21. Jahrhundert angesichts der Bevölkerungsprognosen, die wir haben. Aber natürlich sollten Gärten, die historisch gewachsen sind, vor allem da, wo die Stadt ohnehin an natürliche Grenzen stößt, etwa in Richtung Wienerwald, beibehalten, mitunter sogar geschützt werden.

Elke: Ich glaube, dass das Recht auf ein Einfamilienhaus und das Recht auf Gärtnern zwei sehr unterschiedliche Dinge sind. Ich bin nicht sicher, ob ich dem zustimmen würde, dass man als Städter keinen Anspruch auf das Gärtnerische hat – in dem, was Stadt ist und was Stadt kann.

Reinhard: Das soll und kann Stadt schon ermöglichen, aber ich sehe die zwingende räumliche Koppelung zwischen dem Wohnen und dem Gärtnern nicht. Das kann auch gemeinschaftlich und bzw. oder an anderer Stelle stattfinden. Man könnte in den Außenbereichen zeitlich befristet Gartenland zur Verfügung stellen, dazu gibt es noch genug Flächen! Ganz Rothneusiedl steht sozusagen zur Verfügung.

Sonja: Aber ist nicht das Gärtnern auch ein sehr zeitspezifischer Moment? Der Wunsch zu gärtnern ist ja nicht zu jeder Zeit gleich hoch, oder? Neu ist auch, dass die Leute im Kleingarten immer jünger werden, das zeigen aktuelle Studien.

Elke: Jede Schule macht heute ihre Gartenprojekte. Das ist in der Zwischenzeit fast schon eine pädagogische Kunst geworden, den Garten zu ermöglichen. Es ist ja nicht nur der Ort, an dem gegärtnert wird, sondern es ist auch die Zeit, in der gegärtnert wird.

Reinhard: Also wem das Gärtnern ein so zentraler Lebensinhalt ist, für den stellt sich die Frage, ob er nicht am Land glücklicher wird. Ich denke, dass viele urbane Menschen keinen eigenen Garten brauchen und gern innerhalb der gründerzeitlich strukturierten Stadt leben.

Elke: Ich möchte noch etwas anderes fragen. Du hast am Anfang darüber gesprochen, dass die Kleingärten eine unglaubliche Ressource der Stadt sind. Sie sind großteils erschlossen und waren in einer Hand, sind das jetzt allerdings nicht mehr. Ich glaube, du hattest da etwas anderes im Kopf, als du von Ressource gesprochen hast. Was für eine Ressource ist das für dich? Was hast du da als Planer vor Augen?

Reinhard: Prinzipiell sollte Naturnähe auch in dicht bebauten Stadtteilen möglich sein. Man sollte die Verpflichtung zur Schaffung eines privaten Freiraums in die Wohnbauförderkriterien oder sogar in die Bauordnung hineinschreiben und diesen auch quantifizieren, beispielsweise mit 8 m² pro Haushalt. Das ist keinerlei Widerspruch zu Anforderungen wie Dichte und Urbanität, das sollte im Neubau problemlos möglich sein. Und wenn jeder im Neubau einen Freiraum hat und von den 8 m² dann 2 m² auf einen Pflanzentrog entfallen, dann ist das zumindest ein brauchbares Substitut für ein eigenes Fleckerl Erde zum Gärtnern. Wer mehr will, bemüht sich eben um die knappen Kleingärten am Stadtrand, die dann aber wirklich Kleingärten sein sollen. Und wer keinen bekommt oder noch mehr will, der kann immer noch irgendwo weiter draußen eine ihm entsprechende Wohnform suchen.

Elke: Was würdest du als Planer machen wollen, wenn du könntest?

Reinhard: In Wien fehlen die nötigen Instrumente, um prinzipiell mit Grundeigentum adäquat umzugehen. Andere Bundesländer haben bereits ganz erstaunliche Instrumente der Bodenmobilisierung. Natürlich umfasst das auch die Besteuerung oder Rückwidmung von gewidmetem, aber nicht genutztem Bauland – oder das Recht der öffentlichen Hand, gehortetes Bauland zu einem günstigen Preis anzukaufen. Da hat Wien keinerlei Gesetzgebung. Und bei den großen zusammenhängenden Grünflächen ist es umso wichtiger, dass eigentumsrechtliche oder vielmehr spekulative Aspekte bei entsprechendem Bedarf und standörtlicher Eignung einer geordneten Entwicklung nicht im Wege stehen, um dort effizient Infrastruktur hinlegen und konzertiert Städtebau betreiben zu können, anstatt mal hier, mal da etwas zu bauen.

Elke: Also du würdest diese Flächen für Städtebau nutzen?

Reinhard: Manche der Kleingartenanlagen langfristig ja! Natürlich ist es romantisch, wenn etwa in Tokio inmitten von Hochhäusern noch Reisfelder bestehen, aber für mich ist die Frage wesentlicher, was volkswirtschaftlich und stadtstrukturell sinnvoll ist. In dieser Hinsicht wäre es gut, wenn man besagtes Reisfeld irgendwann einmal einer städtischen Nutzung zuführen könnte.

Sonja: 1987 hat die MA 18 eine Studie herausgegeben, in der die Grünsysteme europäischer Großstädte miteinander verglichen wurden. Wien rühmt sich ja nach wie vor damit, so viele Grünflächen zu haben. Das Interessante war aber, das für die sehr große zweite der drei Zonen (die erste Zone umfasst das Stadtzentrum bis 5 km, die zweite Zone liegt 5 bis 10 km und die dritte Zone mehr als 10 km vom Stadtzentrum entfernt) die Werte sehr schlecht sind, weil es hier nur wenig zusammenhängende Grünflächen gibt. Wenn ich dich jetzt richtig verstehe, dann hättest du als Stadtplaner kein Problem damit, diese Flächen noch weiter zu reduzieren?

Reinhard: Die Frage für die Stadtplanung ist nicht nur, ob eine Veränderung für das konkrete Gebiet oder das unmittelbare Umfeld ideal ist, sondern ob es der Gesamtstadt oder sogar der ganzen Stadtregion dient. Das Stadtwachstum nicht in dieser von dir angesprochenen zweiten Zone unterzubringen, sondern an Standorten, wo weder die verkehrstechnische Erschließung noch die sonstige Infrastruktur vorhanden sind, hätte aus meiner Sicht wenig Sinn. Da bin ich für den Weg des geringeren Übels. Die langfristige Entwicklung von zentral gelegenen Kleingartenanlagen ist ja auch eine Frage des effizienten Einsatzes knapper öffentlicher Mittel und nicht nur romantisch zu sehen. Leider hat unsere Stadtregierung in den letzten 20 Jahren aber weder nach rationalen noch nach romantischen Gesichtspunkten agiert, sondern einfach nur sehr kurzsichtig. Es geht nicht darum, Grüninseln zuzubetonieren. Wenn man von einem Kleingartengebiet die Hälfte urban bebaut, wohnen in dieser Hälfte fünfmal so viele Leute, wie wenn man die einzelnen Hütten in Einfamilienhäuser umwandelt. Die andere Hälfte könnte man zu einem hochwertigen Freiraum für alle machen. Das wäre dann auch ein attraktiveres und nutzbareres Grünraumangebot für jene, die im Umfeld leben, als der größere vermeintliche Freiraum zuvor, wo man in Wirklichkeit aber bestenfalls durchspazieren konnte und über den privaten Thujenzaun hinweg mal einen Apfelbaum sah. Für mich ist das kein Schreckensszenario, eine rechnerisch, aber nicht funktional bestehende Grünfläche zu reduzieren und in diesem Zuge etwas Sinnvolleres daraus zu machen.

Elke: Das ist qualitativ ein ganz anderer Zugang als das Programm von 1992. Zuerst hatte man ein „koloniales Zeitmodell“, die Schrebergärten wurden auf einen langen Pachtzeitraum vergeben, so wie etwa Hongkong 100 Jahre lang eine britische Kolonie gewesen ist. Außerdem waren die Schrebergärten seit 1922 in der Sozialgesetzgebung verankert. Das Recht auf den Garten war somit Teil des sozialen Denkens des Funktionierens einer Stadt aus der Perspektive ihrer Gesetze. Das Gesetz von 1992 ist also ein Privatisierungsgesetz, kein Sozialgesetz, in dem Sinn, dass man einer Sozietät als Ganzes etwas Gutes tut, sondern es geht um die Stärkung von Privateigentum. Was müsste man jetzt tun, um dort hinzukommen, was du gerade skizziert hast?

Reinhard: Das ist realpolitisch inzwischen nicht mehr rückgängig zu machen. Da müsste man enteignen, deswegen halte ich das Kleingartengesetz von 1992 für ein Kapitalverbrechen. In dem Moment, wo man zusammenhängendes öffentliches Eigentum auf Tausende private Eigentümer aufsplittet, kann man jede weitere geordnete Entwicklung vergessen. Da ist es noch realistischer, dass die Stadtautobahnen in und um Wien einmal abgerissen werden oder nur noch Fahrräder darauf fahren dürfen, als dass in den ehemaligen Kleingärten noch einmal eine konzertierte Stadtentwicklung stattfindet.

Elke: Ich frage mich, was in den – unscharf – letzten zehn Jahren in vielen Städten der Welt passiert ist, wie aufgesetzt auch immer, denn vieles, wie Rooftop-Farming oder Vertical Farming, ist nur Kosmetik, was Versorgungslagen anbelangt. Das kann nie auffangen, was der gleichzeitig vor sich gehende Flächenfraß bewirkt. Wir haben hier ein bestimmtes Versprechen auf etwas, das sich so nicht einlöst. Es ist eine kulturelle Formation geworden, Stadt so zu denken, dass auch das, was man früher dem Land zugeschrieben hat, Teil der Stadt geworden ist. Du hast die Urbanisierung hervorgehoben und ich frage mich, ob das nicht längst Teil dessen geworden ist?

Reinhard: Ich sehe Grün und Beton nicht als Widerspruch. Prinzipiell gibt es wunderbare verdichtete Wohnformen, die stark durchgrünt sind. Ich halte nach wie vor Roland Rainers Gartenstadt für ein perfektes Modell. Ich kann es nicht nachvollziehen, dass man in Aspern bereits in der ersten Phase Großstadt bauen will. Warum wollen wir das über Jahrhunderte erfolgte Wachstum von Stadt, dem wir unsere Urbanität verdanken, nicht einmal an so einem Standort zulassen? Also eine Möglichkeit schaffen, dass sich Stadt wirklich entwickelt, nicht nur horizontal, sondern auch vertikal. Das wäre eine spannende Strategie, dort mit einer durchgrünten Stadt zu beginnen, die einige Jahrzehnte so bleiben kann oder auch nicht, auch dichter werden kann. Solange Schrebergärten einfache Schrebergärten sind, brauchen sie keinen Kanal, keine Heizsysteme, keine großen Straßen oder sonstige Infrastrukturen, keine Schulen, Kindergärten, keine Nahversorgung, keine sozialen oder medizinischen Einrichtungen, dann sind sie einfach städtische Formen von Gartenland mit einer kleinen Hütte, sodass man im Sommer auch mal übernachten kann. Bei Bedarf könnte eine solche Fläche in einigen Jahrzehnten sinnvollerweise einer urbanen Stadtentwicklung weichen; und die leicht verlagerbare Funktion Kleingartennutzung – es hängt ja kaum Infrastruktur dran – könnte an einem anderen Teil des Stadtrands angesiedelt werden. Die Ressource, die du meinst, nämlich Gartenland, ist ja im Grunde überall verfügbar. Die Stadt nachhaltig auszubauen, ist hingegen nicht überall machbar, weil es auch um die Verkehrswege und die sonstige Infrastruktur geht. Das heißt, wenn wir Bevölkerungszuwachs wollen, müssen wir uns fragen: Wo ist der optimale Ort dafür? Wenn der optimale Ort einer ist, wo jetzt ein Kleingarten besteht, dann finde ich es vertretbar, den in einer gewissen Fristigkeit woandershin zu verlagern und dort zu bauen. Es geht nicht um das Beschneiden des Rechts oder Anspruchs oder Bedürfnisses nach Gärtnern. Wichtiger ist das Wo beim Wohnen, Arbeiten und Einkaufen und nicht beim Gärtnern.

Elke: Wohin verlagert man das? Was sind die zugrunde gelegten Paradigmen? In Havanna zum Beispiel war das Urban Farming lange eine Form der Krisenbewältigung (kein Öl, keine Schädlingsbekämpfung vorhanden; strenges Embargo von den USA; Absatzmärkte in den Geschwisterstaaten verloren). In der Doktrin der Stadtplanung war das die „Notlösung“. Das Urban Farming war zunächst informell und dann von oben flächendeckend organisiert, es war aber klar, dass es wieder verschwindet, wenn etwas Besseres kommt. Es hat 20 Jahre gedauert, bis jetzt im Gesetzestext festgeschrieben wurde, dass die Organopónicos selber Teil einer stadtentwicklerischen Perspektive geworden sind. Das finde ich interessant. Wie lange kann es dauern, bis man begreift, dass etwas einen anderen Wert hat, als man ihm vorher beigemessen hat? Aber zurück zu den Kleingärten in Wien – ist nun hier durch die Privatisierung etwas passiert, das die Wertschätzung gegenüber der Ressource untergräbt?

Reinhard: Ja, diese Wertschätzung fehlt bei uns – das stimmt. Aber wenn wir jetzt Havanna außer Acht lassen, dann ist deine Position die einer breiter werdenden Soziogruppe, die das aus Leidenschaft macht und einfach haben möchte. Das ist legitim, aber da sind wir weit weg von einer Notwendigkeit, wie es in Havanna oder auch bei uns vor 100 Jahren der Fall war. Wenn ich es zugespitzt sagen darf: Das ist in Wien eher eine Lifestyle-Geschichte. Das ist zugegeben ein bisschen zynisch. Es ist eine Ausformung von Lebensqualität, die natürlich ihre Berechtigung hat. Aber dem eine breitere Bedeutung beizumessen ... Also dieser substanz- oder gesellschaftserhaltende Aspekt ist für mich beim Gärtnern in unseren Breiten einfach nicht da. Wir essen seit Jahrzehnten schon nicht mehr das, was unmittelbar vor unserer Haustür oder auch nur im Umland unserer Städte wächst.

Elke: Aber es gibt an vielen Orten Versuche, den Grüngürtel rund um die Stadt auch landwirtschaftlich für die lokale Nahversorgung zu nutzen.

Reinhard: Den Grüngürtel gilt es zu schützen, aber man muss auch daran denken, dass die Stadt wächst. Es ist für das Stadtwachstum ja nicht einmal Bevölkerungswachstum an sich notwendig, es genügt die ungebrochene Ausdehnung der Pro-Kopf-Wohnfläche.

Elke: Diesen Anspruch des Einzelnen finde ich sehr schwierig – sich in einer Art und Weise auszudehnen, die eine Gefräßigkeit annimmt und alles das, worüber wir jetzt sprechen, verunmöglicht. Also Freiräume, Grünflächen ...

Reinhard: Österreich hat seit 30 Jahren im Grunde dieselbe Bevölkerungszahl, wir haben allerdings unsere Siedlungsfläche – ich schätze einmal – um ca. 50 % ausgedehnt. Das ist der eigentliche Wahnsinn. Aber da ist kein Stadtplaner in der Lage, das zu ändern. Das ist ein gesellschaftliches Faktum und dem kann man nur gesellschaftspolitisch begegnen. Für gesellschaftlichen Wertewandel ist Stadtplanung nicht zuständig. Da müssen wir auf einer anderen Ebene diskutieren. Aber prinzipiell ist es positiv, dass Leute nicht mehr nur in Suburbia wohnen wollen, sondern wieder in die Stadt zurückkehren, dass die Städte – im Unterschied zu vor 20 Jahren – wieder wachsen. Da ist es mir lieber, wenn das Gärtnern hin und wieder verlagert wird, um die zuziehenden Menschen in urbanen Strukturen unterzubringen. Für mich ist das eine Frage der Abwägung des geringeren Übels.

Elke: Du hast vorhin von einer Halbierung der Fläche gesprochen. Leider ist das ja nur eine Fiktion, weil man nun aufgrund der Privatisierungen nicht mehr hinkommt. Aber dass man die Hälfte eines Kleingartengebietes in etwas verwandelt, was ein wienerisches Organopónicos sein kann und die andere Hälfte mittels Wohnbau verdichtet, klingt sehr interessant. Sonja hat aber richtig angemerkt, dass das genau in der Stadtzone stattfinden würde, die jetzt schon im internationalen Vergleich wenig Grün aufweist, obwohl die Stadt Wien immer dieses Bild der Grünheit vor sich selbst herträgt.

Reinhard: Mir fallen dazu immer die Pläne in der U-Bahn ein, die die unmittelbare Umgebung jeder U-Bahn-Station darstellen, in denen wirklich jede kleinste Verkehrsinsel oder jedes vom Stadtgartenamt gepflegte Tulpenbeet grün eingezeichnet ist – die pure Augenauswischerei. Zu der zweiten Zone, von der du gesprochen hast: Hier finde ich es tatsächlich sinnvoll, dass man verfügbare Ressourcen weiter bebaut. Wenn man vom klassischen Blockrand ausgeht, gibt es bei einer relativ effizienten Verdichtung vier Ebenen, um wertvollen Grünraum oder begrünbaren Freiraum zu schaffen. Das ist einmal der öffentliche Raum draußen vor dem Block, der von den Autos beherrscht wird – was aber nicht sein müsste. Das zweite Potenzial ist der Blockinnenbereich, geschützt, intim – hier sind ganz andere Nutzungsmöglichkeiten vorstellbar. Der Innenhof ist in Wien, leider auch aufgrund des Autos, im Neubau oft nur noch die Begrünung der darunter liegenden Tiefgarage. Das dritte sind die Loggien und Balkone – natürlich wäre hier viel mehr möglich als diese 4 m² kleinen, Satellitenschüssel tragenden Zellen. Und das vierte sind die Dachzonen. So gut wie jedes neue Haus hat ein Flachdach – man müsste dort nicht zwingend ein Penthouse platzieren. In Wien sind vor nicht allzu langer Zeit noch Wohnbauten errichtet worden, wo sich oben der Gemeinschaftsraum oder eine Dachterrasse für alle BewohnerInnen befanden. Ein wunderbares Beispiel ist die Sargfabrik: Was gibt es Schöneres als die Dachgärten dort? Die Sargfabrik zeigt im Grunde auf allen vier Ebenen, die ich jetzt angesprochen habe, was bei einer immensen Dichte trotzdem an Grünraumqualität möglich ist. Solange auf diesen Ebenen so viel unausgereizt bleibt, finde ich es als Stadtplaner eigentlich unverhältnismäßig, die Lösung für das Naturbedürfnis der StädterInnen für möglichst viele im Schrebergarten zu sehen. Es ist eine sehr spezifische Form, die in einer gewissen Quantität angeboten werden sollte, aber es ist vom Platz, vom stadtstrukturellen Gesamtgefüge und auch vom Bodenpreis her unrealistisch, das für Hunderttausende zur Verfügung zu stellen. Und wie schon gesagt: Ich sehe keinen Anspruch eines jeden Städters auf einen Kleingarten. Es gibt andere Formen, und ich glaube, dass die anderen Formen für viele einen ausreichenden Ersatz bilden könnten.

Sonja: Man kann also festhalten, dass auch die „Neue Siedlerbewegung“ auf jeden Fall ein Schritt in die falsche Richtung ist?

Reinhard: Auf jeden Fall! Das sind ja keine Gärten mehr. In der Luftaufnahme wird deutlich, wie dieses Siedlungsmodell aussieht: das frei stehende Einfamilienhaus und daneben der Swimmingpool. Im Übrigen leidet in den suburbanen Gebieten bereits die Grundwasserqualität darunter, dass jeder dreimal im Jahr das Chlorwasser seines Pools auslässt und in den Boden einbringt.

Sonja: Aber diese „Neue Siedlerbewegung“ scheint ja etwas zu sein, was die Stadt Wien intensiv betreibt.

Reinhard: Ja, seit 20 Jahren schon – im Grunde hat das Bernhard Görg mit „Wohnen im Grünen“ begonnen und Rudolf Schicker mit der „Neuen Siedlerbewegung“ fortgesetzt. Maria Vassilakou hat zumindest schon öffentlich deklariert, die Suburbanisierung innerhalb der Stadtgrenze nicht mehr weiter fortsetzen zu wollen.

Elke: Du hast vorher gesagt, grundsätzlicher Wertewandel ist nicht Aufgabe der StadtplanerInnen. Aber wenn man nun davon ausgeht, dass die Pläne in den U-Bahn-Stationen, die du ins Spiel gebracht hast, grundsätzliche Werthaltungen ausdrücken, heißt das nicht, dass die Stadtplanung sehr wohl zuständig ist für diese Form von quasi kartografischer Evozierung des Glaubens an spezifische Werte?

Reinhard: Zum einen stammen diese Pläne ja nicht von der Stadtplanung. Und zum anderen muss man schon unterscheiden zwischen der Stadtplanung als Apparat, als System, die hierzulande eine politikhörige ist, und der Stadtplanung als Disziplin mit all ihren Grundsätzen und Werthaltungen und Zielen. Das ist ja etwas ganz anderes.

Elke: Aber die politsche Planungshaltung inkorporiert diese Werte sehr wohl als ein Versprechen in ihre Mappings der Stadt, aber im Grunde genommen ist es nur die zugrunde liegende Narration. Man weiß ja nie, woher das kommt, dass dieses Versprechen immer perpetuiert wird. Man liest es, aber real ist es nicht so. Das heißt, die Propaganda war schon sehr stark. Ich glaube, man kann sich aus dieser Planungssicht nicht so leicht herausnehmen und sagen, die kulturellen Haltungen spielen da nicht herein. Man geht davon aus, Wien ist eine grüne Stadt und dann muss man sagen, de facto ist es nicht so. Man sitzt der Verlängerung einer Glaubwürdigkeitsbeschwörung auf.

Reinhard: Das beste Beispiel für diese Verlogenheit ist mein „Lieblingsplatz“ im 16. Bezirk – der Gutraterplatz. An so einem Platz gäbe es in Italien mindestens drei Kaffeehäuser und einfach Raum, eine für alle nutzbare Fläche. Hier ist es schon mal ein halbierter Platz, denn die Straße, auf der auch die Straßenbahnlinie 10 fährt, teilt ihn in zwei Hälften. Diese wären an sich auch noch schöne Plätze, aber wie sehen sie aus? Es gibt einen Gehsteig entlang der platzbildenden Bebauung und den Rest hat man – klassisch für Wien – einen halben Meter hochgepflastert und mit Bodendeckern begrünt, damit die Hunde nicht hineinscheißen. Man hat den Platz also einfach der Öffentlichkeit, jeder Nutzung entzogen, aber er ist rein formal zumindest grün. Das zeigt für mich die Unbeholfenheit und Kulturlosigkeit, die den Umgang mit dieser Stadt kennzeichnen. Und diese Plätze gibt es überall in Wien.

Hintergrund, Mo., 2012.07.30



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Hintergrund 53 Herr und Frau Schreber

21. August 2010Elke Krasny
Spectrum

Der Schnee der Zukunft

Mehr, größer, bedeutender als die vorangegangene wollte bis dato noch jede Weltausstellung sein. Doch bei der Expo Shanghai werden tatsächlich viele Rekorde gebrochen werden. Ein Lokalaugenschein.

Mehr, größer, bedeutender als die vorangegangene wollte bis dato noch jede Weltausstellung sein. Doch bei der Expo Shanghai werden tatsächlich viele Rekorde gebrochen werden. Ein Lokalaugenschein.

Nummer fünf hat unseren Pavillon besucht.“ Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht unter allen Mitarbeitern im österreichischen Pavillon auf der Expo in Shanghai. „Die Frau des Ministers war auch dabei. Sie hat sofort damit begonnen, Schneebälle zu werfen.“ Mit „Nummer fünf“ ist der chinesische Kommunikationsminister Li Changchun gemeint. Er hat dem österreichischen Pavillon sogar noch vor dessen offizieller Eröffnung einen Besuch abgestattet.

Solche Besuche potenzieren das symbolische Kapital im diplomatischen Beziehungsraum auf Zeit, den eine Weltausstellung einrichtet. Solche Besuche der politischen Prominenz verwandeln das investierte symbolische Kapital in den sich langfristig realisierenden Tauschwert der zwischenstaatlichen Beziehungen, Ökonomie und Kultur inklusive. Der Eindruck des chinesischen Kommunikationsministers war ein positiver. Die Frau des Kommunikationsministers warf ihre Bälle gekonnt in die Winterlandschaft, die als virtuelle Projektion den fließenden Raum überzieht. Die erste Station im Österreichpavillon wartet mit einer Kunstschneeballschlacht auf. Die Überraschung glückt. Eine kühlende Erfrischung nimmt man gern an. Die Gäste werden, sobald sie durch den blickdicht schließenden Vorhang eingetreten sind, im tiefen Winter empfangen.

Weltausstellungen sind Diplomatie auf höchster Gestaltungsebene. Wenn das Gastgeberland China ruft, dann kann es sich niemand leisten, an ein Fernbleiben zu denken. Das würde die Spielregeln der internationalen Etikette verletzen. Solch einer Einladung zur Expo, zum repräsentativen Weltschauplatz, der von Mai bis Oktober links und rechts des Huangpu ein globales Dorf entstehen lässt, hat man Folge zu leisten. Und man hatte in diesen nationalen Auftritt mit intelligenter Architektur und gekonnter Ausstellungsgestaltung zu investieren. Alles andere könnte nämlich künftig verheerende ökonomische Nebeneffekte haben. Das will letztlich keine Nation riskieren. „Wer nicht vorhanden ist, macht keine Geschäfte“, sagt der österreichische Wirtschaftsminister Mitterlehner, der die Expo des Jahres 2010 als die wichtigste Weltausstellung betrachtet: „Wer nicht vorhanden ist, der wird keine Partner haben.“

Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Weltausstellungen vom Industriebürgertum und den erstarkenden Nationalstaaten als Foren des Austausches erfunden. Rasch wurden sie zum Umgschlagplatz der Informationen im Drei-D-Format, zum gestalteten Wissenstransfer mit dem Anspruch des internationalen Wettbewerbs. Zwischen den Nationen herrschten Austausch, Vergleich, Wettbewerb und Konkurrenz. Die Welt des 19. Jahrhunderts wurde angetrieben von der sich entwickelnden Dynamik der industriellen Produktion, von Landwirtschaft über Bildung bis zu Kunst oder Maschinen, dem Wissenssystem des 18. Jahrhunderts, der Enzyklopädie folgend, für diesen begehbaren Wettbewerb der Nationen geordnet.

1873: Wende in Wien

Mit der Wiener Weltausstellung von 1873 vollzog sich eine bis heute spürbare Wende in der räumlichen Konfiguration des Mediums. Vor allem für die industrieschwächeren Länder, aber auch für die weniger entwickelten Regionen des Habsburgerreiches war es von Vorteil, sich nicht nur mit technologischen Neuerungen zu beweisen, sondern mit einem landestypischen, repräsentativen Pavillon. Authentizität wurde zur entscheidenden Distinktion der Anziehung. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts lässt sich folglich der ferne, heute jedoch kaum mehr gewusste Ursprung der Nation als Pavillon-Gestaltungsaufgabe ausmachen, dessen Echo in den aktuellen Strategien des „nation branding“ nachklingt.

Mit 240 Teilnehmern, einzelnen Ländern, aber auch internationalen Organisationen, und der hochgerechneten Erwartung von 70 Millionen Besuchern will Shanghai alle vorangegangenen Weltausstellungen überflügeln. Mehr, größer, bedeutender als die vorangegangene wollte bis dato jede Weltausstellung sein. Doch in Shanghai werden wahrscheinlich viele Rekorde gebrochen werden. Damit ein solches Ereignis tiefenwirksam greift und sich global verbreitet, braucht es intensive Verstärkungseffekte. Seit 2008 schwört der lokale Fernsehsender International Channel Shanghai, kurz ICS, mit seinen englischen oder japanischen Sendungen, die chinesisch untertitelt werden, die Stadtbewohner auf den obligatorischen Expobesuch ein. Das Globalisierungsereignis Expo wurde mit medialer Tiefenwirkung tagtäglich bereits im Vorfeld als Berichterstattungsfixpunkt verankert.

Infrastrukturen von Medien und Transportmitteln wurden die längste Zeit als Todfeind von Weltausstellungen angesehen. Sie galten als deren Überflüssigmacher. Da man alles überall sehen kann, da man scheinbar über alle Grenzen reisen kann, wurden diese Foren der internationalen Begegnung auf Zeit als obsolet erachtet. Dass akzelerierte virtuelle Medienkommunikation und beschleunigte Realmobilität jedoch beide Ansprüche intensivieren können, nämlich die der medialen Fernwirkung und die der realen Begegnungsmöglichkeit, stellen städtische Großereignisse wie Olympische Spiele, Fußballmeisterschaften oder Weltausstellungen unter Beweis.

Der Beginn des 21. Jahrhunderts markiert eine Ära erneuter Expoenergie und gesteigerter Suche nach Anlässen für diplomatischen Kontakt, für Treffen mit Geschäftspartnern, für kulturellen Austausch. „Man muss Präsenz vor Ort zeigen. Kontaktpflege wird sehr geschätzt, und zwar nicht auf elektronischem Wege“, betont der Wirtschaftsminister bei seinem Expobesuch. Ausländische Staatsgäste absolvieren ihre Aufwartungen. Der kolumbianische Vizepräsident, der Chief Minister von Malaysia, der Wirtschaftsminister von Luxemburg, sie alle statteten dem Österreichpavillon bereits ihren Besuch ab. Ob sie und die vielen anderen, im Schnitt 14.000 Pavillonbesucher täglich die komplexen Entwurfsideen und die technologisch innovative Entstehungsgeschichte des Österreichpavillons auch nur annähernd erfassen können, ist mehr als fraglich. Sie kann allenfalls gefühlt werden, doch das ist für eine Weltausstellung zu wenig. Hinter den komplexen Faltungen und dem organisch fließenden Raumerleben, das von den beiden Architekturteams SPAN und Zeytinoglu Architects gemeinsam entwickelt wurde, steht eine avancierte, rein auf digitalen Modellen beruhende Entwurfsmethode. Dieser Entwurf musste Schritt für Schritt gemeinsam mit den chinesischen Partnerarchitekten, der Shanghai Xian Dai Architectural Design Group, mit der lokalen chinesischen Bauordnung in Einklang gebracht werden.

Aufruhend auf der beschleunigten Simulationen der Evolution, die qua Computer generiert wurde, ist erstmals ein realer architektonischer Raum hervorgebracht worden. Das ist die eigentliche Innovation des Österreichpavillons. Doch Innovationen muss man, so sie nicht auf den ersten Blick eingängig sind, vermitteln. Was sich nicht auf den ersten Blick zu erkennen gibt, wird vom Massenpublikum einer Expo schlichtweg übersehen. Das Interesse an der Entwicklung komplex gekrümmter natürlicher Flächen beflügelt die Architekturforschung, die Matias del Campo und Sandra Manninger, gemeinsam SPAN, schon seit mehreren Jahren betreiben. Dass dies alles auch etwas mit einer spezifischen österreichischen Architekturtradition zu tun hat, sich dem „Endlosen Haus“ von Friedrich Kiesler verpflichtet fühlt, wird man im Pavillon nicht erfahren. Denn es fehlt leider an der kuratorischen Kompetenz, die es verstanden hätte, die subtilen und komplexen Zusammenhänge in eine stimmige Ausstellungsnarration zu übersetzen.

Dennoch herrscht im Österreichpavillon ausgelassene Stimmung unter den Besucherinnen und Besuchern. Obwohl nach außen hin durch den Pavillon der Extremwetterlage in Shanghai kaum Rechnung getragen wurde und auch das Warten – und das Realerlebnis Expo hat sehr viel mit Warten zu tun, die langen Schlangen rund um die einzelnen Pavillons bedeuten mitunter zwei bis drei Stunden Anstehen – nicht in die Gestaltung einkalkuliert wurde, gibt sich das Pavilloninnenerleben erfrischend besucherorientiert. Die technisch aufwendigen Projektionen, die von Peyote Design entwickelt wurde, sorgen für Lust an der Interaktion.

Was die Besucher zu erleben bekommen, bestimmen sie selbst mit. Landschaften und Städte werden zum medialen Erlebnisparcours. Unter den Füßen der Ausstellungsbesucher wachsen im Waldbereich die Blumen, im Wasserbereich kann man die Fische jagen. Das spielerische Angebot wird bestens angenommen. Man hätte das technisch hohe Potenzial dieser Medieninteraktionen freilich zu ganz anderer Wissensvermittlung, zu ganz anderer Erfahrung, hochfahren können und nicht bei lieblichen, aber inhaltsentleerten Landschaftsszenarien mit wachsenden Blumen und schwimmenden Fischen verharren müssen.

Zehn Millionen Fliesen

Das intellektuelle und ästhetische Potenzial des Österreichpavillons, der auch ein Stück gebaute interkulturelle Realienkunde verkörpert, da seine Außenhaut aus zehn Millionen Porzellanfliesen besteht und somit die Verbindung zwischen China, dem Porzellanerfinder, und Österreich, dem zweitältesten europäischen Porzellanerzeuger, schafft, hätte sich für sein Innenleben Besseres verdient.

Auch der österreichische Umweltminister, Nikolaus Berlakovich, hat nach offiziellen Treffen mit Behördenvertretern in Peking, Nanjing und Shanghai und dem Besuch der weltgrößten Umweltfachmesse, der IFAT in Shanghai, der Expo und dem Österreichpavillon seinen Besuch abgestattet. Umwelttechnik wie Abwasserreinigung, Abfallverwertung, erneuerbare Energien oder Energieeffizienz, alles Gebiete, in denen China in den kommenden Jahren intensiv zur Bewältigung der Umweltprobleme investieren wird, wird er jedoch im Österreichpavillon vergeblich gesucht haben. Das allgemeine, von China gewählte Expothema, „Better City, Better Life“, hätte diesen Themen inhaltlich alle Türen weit geöffnet. Mehr sogar, das Thema ist als Anspruch formuliert, da die Weltausstellung eine Informationsmaschine, eine Volksbildungsmaßnahme in Sachen Nachhaltigkeit und Umweltbewusstseinsbildung ist. Mit Stadtinfrastruktur und Umwelttechnologien hätte man daher punkten können, ist doch Wien laut Mercer-Studie 2009 die Stadt mit der weltweit höchsten Lebensqualität, was bis dato jedoch niemand bei einem Besuch im Pavillon hat erfahren können – und zum offiziellen Expothema hätte man hier einiges mitzuteilen gehabt.

Inhalte also sind des österreichischen Pavillon Sache nicht, doch im Reich der Bilder spielt er alle seine Trümpfe aus. Das spüren Mediokraten, Touristen und andere Weltbürger und navigieren auf den Oberflächen. Gerade deshalb wäre dem Österreichpavillon, der zu den fünf beliebtesten der Expo zählt, mehr inhaltlicher Tiefgang zu wünschen. Die Besucher hätten sich sicher gerne darauf eingelassen.

Spectrum, Sa., 2010.08.21



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Expo 2010 Shanghai

04. Juni 2010Elke Krasny
dérive

Novi Beograd: Differentiated Neighbourhoods.

In Südosteuropa ist die Rasanz urbaner Transformationen durchdrungen vom ökonomischen Paradigma des kapitalintensiven Neoliberalismus. Die Logiken des...

In Südosteuropa ist die Rasanz urbaner Transformationen durchdrungen vom ökonomischen Paradigma des kapitalintensiven Neoliberalismus. Die Logiken des...

In Südosteuropa ist die Rasanz urbaner Transformationen durchdrungen vom ökonomischen Paradigma des kapitalintensiven Neoliberalismus. Die Logiken des Informellen auf allen Ebenen und des Marktes in vielen Facetten beherrschen den städtischen Alltag. Alle stabilen Anhaltspunkte und langfristigen Kontinuitäten sind durchbrochen. Vorherrschend sind Turboakzeleration und Kapitallogik. In deren Folge sind Sprünge und Risse, Widersprüche und Konflikte auszumachen, die den sozialen und kulturellen urbanen Raum in Bedrängnis versetzen. Novi Beograd/New Belgrade ist ein exemplarisches Labor der Ideologien und der Ökonomien.

In dieser explosiven Melange der Veränderungen initiierte Zoran Eric, Kurator des Centre for Visual Culture am Museum of Contemporary Art (MoCAB) in Belgrad, das langfristig angelegte künstlerische und urbanistische Rechercheprojekt Differentiated Neighbourhoods. Das Zentrum für visuelle Kultur kann als paradigmatisch für die ideologischen Veränderungen des Kulturbegriffs im spezifischen lokalen Kontext von Belgrad angesehen werden. Es war in den 1970er Jahren gegründet worden, hatte sich aus der Museumspädagogik heraus entwickelt und verfolgte den Anspruch durch Kunst zu erziehen. Es setzte auf die soziale Rolle von Kunst und kooperierte in seinen Seminaren und Aktivitäten mit Schulen, mit Fabriken, mit öffentlichen Firmen, mit Universitäten. Als Zoran Eric 2005 an diesem Zentrum für visuelle Kultur die Stelle des Kurators annahm, galt es, dessen Rolle in den veränderten Rahmenbedingungen der Verhältnisse zwischen Gesellschaft, Kultur, Staat und Stadt neu zu definieren. Wiewohl manche der Begriffe gleich geblieben sein mögen, ist es ihr Bedeutungsinhalt und ihr Kontext, der neue Ansprüche stellt, andere Inhalte und Zusammenhänge konstruiert. Die Publikation Differentiated Neighbourhoods of New Belgrade ist als eine Nachlesespur aus dem Recherche- und Untersuchungsprojekt in und über Novi Beograd geblieben.

Trotz globalisierter Bewegungsströme sind nicht alle Orte der Welt gleichermaßen im System von Austausch und Mobilität mit eingeschlossen. Das Buch Differentiated Neighbourhoods of New Belgrade, das mit einem Zitat des Globalisierungstheoretikers Arjun Appadurai über die Produktion von Neighbourhoods beginnt, ist wegen Auslieferungsrestriktionen nicht international auslieferbar, es muss direkt über das Museum of Contemporary Art in Belgrad (www.msub.org.rs) erworben werden.

Um einen kritischen Diskurs und eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Novi Beograd zu führen, wurde im Februar 2006 ein erstes Treffen des Teams veranstaltet. Der Hintergrund der Auseinandersetzung ist zum einen die Gegenwart in Novi Beograd, in der Eric die „perverse Ehe von neoliberalem, räuberischem Kapitalismus und aggressivem orthodoxem Christentum“ betont. Zum anderen ist es das spezifische historische Erbe dieses Stadtteils als Moderneexempel des Sonderwegs Jugoslawiens zwischen Ost und West. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Novi Beograd von jugoslawischen Arbeitsbrigaden errichtet. 1961, das im heutigen Westen als jenes Jahr in kollektiver Erinnerung geblieben ist, in dem der Mauerbau in Berlin begann, fand in Belgrad die Gründungssitzung der Bewegung der Blockfreien Staaten statt, initiiert vom jugoslawischen Präsidenten Tito, vom ägyptischen Staatschef Nasser, vom indonesischen Präsidenten Sukarno sowie vom indischen Premier Nehru.

Der über ein Jahr währende Prozess der lokalen Stadtfeldforschung Differentiated Neighbourhoods führte zu drei Themenschwerpunkten. Zum einen wurde eine Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe Novi Beograds als Verwaltungshauptstadt des sozialistischen Jugoslawiens und mit der Frage der sozialräumlichen Homogenisierung versus Differenzierung geführt. Ein zweiter thematischer Schwerpunkt konzentrierte sich auf die aktuellen urbanen Transformationen und den bedrohlich-überwältigenden Vormarsch von neoliberalen, kapitalintensiven Kräften, die in die leeren Räume von Novi Beograd eindringen und diese in Besitz nehmen. Der dritte Angelpunkt der künstlerischen und urbanistischen Recherchen setzte auf eine Innensicht, auf die subkulturellen, marginalisierten und segregierten neighbourhoods und die kollektiven Orte, an denen ein Gefühl der Identifikation und der lokalen Identität (wieder) entstehen kann. Hier stellte sich auch zentral die Frage, wie Community Building durch künstlerische oder urbanistische Strategien und Methoden mitinitiiert und befördert werden kann.

Das Buch und die dazugehörige DVD versammeln nun Einsichten in dieses prozessbasierte, diskursreiche und rechercheintensive Kunstprojekt. Die Vielzahl der Essays und der fotografischen Dokumente beinhaltet unter anderem einen Essay von Ljiljana Blagojevic zu New Belgrade: The Capital of No-City's Land, den Beitrag von Mark Terkessidis The Space in-between the Blocks. Learning from Local Modes of Place-making, die Auseinandersetzung von Sabine Bitter und Helmut Weber mit NEW, Novi Beograd 1948 - 1986 - 2006, die Untersuchungsmethode von Dubravka Sekulic, Dunja Predic und Davor Eres We Ask Architects Who are Asked: As Those Asked about New Belgrade, Stefan Römers Road-movie Boulevard der Illusionen oder Bik van der Pols Art is either Plagiarism or Revolution, or: Something is Definitely going to Happen Here.

Im Zuge der intensiven künstlerischen Stadtfeldforschungen fand eine Wiederentdeckung des Textes von Henri Lefebvre zum städtebaulichen Wettbewerb zu Novi Beograd aus dem Jahr 1986 statt. Aus diesem Fund gestalteten Sabine Bitter und Helmut Weber in Folge das Künstlerbuch Autogestion or Henri Lefebvre in New Belgrade. Lefebvre sah die Stadt als partizipatives Oeuvre aller. Gegen die obrigkeitsverordnete Stadtplanung wurde das Potenzial der Selbstorganisation gestellt. Differentiated Neighbourhood, erschienen auf Englisch und auf Serbisch, ist intellektuelle Aufbauarbeit, sich mit dem Denkmöglichen von Stadt in rasanten Transformationsprozessen intensiv auseinanderzusetzen.


MOCAB CVC 2009
Novi Beograd: Differentiated Neighbourhoods
Text: serbisch und englisch, inkl. einer DVD
440 Seiten, ca. 25 Euro

dérive, Fr., 2010.06.04



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dérive 39 Kunst und urbane Entwicklung

15. September 2009Elke Krasny
zuschnitt

Das Raue oder das Glatte

Das Echte oder das Furnierte, das Polierte oder das Matte, das Raue oder das Glatte, das Helle oder das Dunkle, das Transparente oder das Opake, das Feine...

Das Echte oder das Furnierte, das Polierte oder das Matte, das Raue oder das Glatte, das Helle oder das Dunkle, das Transparente oder das Opake, das Feine...

Das Echte oder das Furnierte, das Polierte oder das Matte, das Raue oder das Glatte, das Helle oder das Dunkle, das Transparente oder das Opake, das Feine oder das Grobe, das Weiche oder das Harte, das Nüchterne oder das Ausschweifende, das Minimalistische oder das Ornamentierte, das Farbenreiche oder das Weiße: Wer kann sich nicht an sie erinnern, an die scheinbar einfachen, jedoch umso folgenreicheren Entscheidungen, die das Lebensgefühl im Raum für kommende Jahre, ja manchmal sogar für Jahrzehnte Tag für Tag bestimmen. Diese Materialentscheidungen prägen nicht nur die sinnliche und atmosphärische Dimension von Räumen, sie erzählen auch von kulturellen Entwicklungen. Jede Platzierung von Material ist ein kultureller Akt.

So wie der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss sich die Frage nach den universalen Prinzipien des Denkens stellte, könnte man sich auch die Frage nach den allgemeinen Prinzipien stellen, die den menschlichen Alltag als gewohnte Haltung zum Ausdruck bringen. Dabei, wie sich das Innen anfühlt, geht es nicht um die spezifische Form oder Gestaltung einzelner Möbel. Die gesamte Materialität der Räume lässt sich auf die Vorstellung von Gegensatzpaaren zurückführen. Auf seiner anthropologischen Suche, die allgemeingültigen Muster, die für das menschliche Denken kulturell prägend sind, herauszufinden, kam Lévi-Strauss zur Vorstellung von Gegensatzpaaren: das Rohe und das Gekochte, das Heiße und das Kalte, oben und unten. Übertragen aufs Wohnen sind wir dann wieder dort gelandet, wo wir eingangs waren: das Raue oder das Glatte … Als bedeutendsten aller Gegensätze ortete Lévi-Strauss den zwischen Kultur und Natur. Auch mit diesem wird im Inneren der menschlichen Gehäuse fleißig operiert, dabei zeigt sich vor allem eines: Natürliches kommt hier immer als Strategie des Kulturellen zum Einsatz. Ist das Natürliche bestrebt, sich als solches zu zeigen, betreibt es damit höchstgradig Kulturpolitik in eigener Sache. Das Naturbelassene ist zu einer Leitvokabel der Architekturbeschreibungsprosa aufgestiegen. In der Dauerkrise des natürlichen Ressourcenschwundes wird das Naturbelassene als ästhetische Strategie zum Verbündeten der Rettungsvision.

Tritt zur ökologischen Dauerkrise die ökonomische Akutkrise, wie wir sie eben durchleben, ohne sie in ihrem vollen Ausmaß begreifen zu können, beginnt die Konjunktur einer anderen Materialität: Von der Suche nach der neuen Geborgenheit ist unumwunden die Rede. Konnte die effizienzgesteigerte, turbokapitalistische, überhitzte und zugleich kalte Welt, in der wir im Drang nach intensitätssteigerndem Wachstum den permanenten Beschleunigungsgang eingelegt haben, uns letztlich nur mit dem Scheitern dieses Modells alleine lassen, so muss die gewohnte Privatheit über Nacht mit anderen Rückhalten für die wiederzugewinnende Subjektivität aufwarten können. Die gerade noch neue Ornamentik, geboren aus der Glätte des Minimalismus, hat ebenso wie die aus Techno-Logik und Transparenz komponierten Lehrstücke der Nach-Nach-Moderne ihren Hype eingebüßt. Andere Vorstellungen prägen das Feld: Nachhaltigkeit, Sparsamkeit, Geborgenheit, Wärme, Dauerhaftigkeit, Leichtigkeit.

Innen ist nicht innen. Das, was wir immer schon geahnt haben mögen, bedarf dennoch einer Erklärung. Das Draußen – Politik und Zeitgeist, Erfindungen und Ideen, Technologie und Soziales– macht an den Fassaden, an den Haustüren, den Eingängen zum Inneren nicht halt. Rückblickend erzählen uns die Vorlieben für bestimmte Materialien spezifische Zeitläufte des Innenraums, die in Schichten ablesbar sind: Aus den gediegenen 1950er Jahren gelangten wir über die experimentierfreudigen 1970er und die individualisierungssüchtigen 1980er zu den ökologisch bewusster werdenden und gleichzeitig innovationsbegeisterungsfähigen 1990ern.

Nicht erst seit der Medienphilosoph Vilém Flusser die einprägsame Vorstellung der Wände, die »durchlöchert wie ein Emmentaler« sind, gefunden hat, um den Zusammenhang zwischen der auf Neuen Medien beruhenden Informationsrevolution und der physisch gebauten Architektur als Raumbild auszudrücken, ist das Innen und das Außen, das Private und das Öffentliche vielfältiger miteinander verschränkt und nicht voneinander zu trennen. Daraus folgt: Der Boden der Erfahrung, auf dem wir stehen, die Wände der Vorstellung, die uns umgeben, erzählen uns genau von diesen Verschränkungen und machen uns materiell mit unseren eigenen Kulturgeschichten vertraut.

[ Elke Krasny, Kulturtheoretikerin, Kuratorin, Autorin. Arbeitet zu Architektur, Urbanismus, Kunst als öffentlicher Raum, Gender und Repräsentation; Kuratorin von »Architektur beginnt im Kopf. The Making of Architecture«, Az W 2008/2009 ]

zuschnitt, Di., 2009.09.15



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10. Oktober 2008Elke Krasny
dérive

Das Labor europäischer Modernefantasien

„Jede neu eröffnete Baustelle ist ein Bataillon, jedes fertige Gebäude eine gewonnene Schlacht.“ Auf dieses Zitat von Hubert Lyautey, Militärgouverneur...

„Jede neu eröffnete Baustelle ist ein Bataillon, jedes fertige Gebäude eine gewonnene Schlacht.“ Auf dieses Zitat von Hubert Lyautey, Militärgouverneur...

„Jede neu eröffnete Baustelle ist ein Bataillon, jedes fertige Gebäude eine gewonnene Schlacht.“ Auf dieses Zitat von Hubert Lyautey, Militärgouverneur und von 28. April 1912 bis 25. August 1925 der erste französische Generalresident in Marokko, stößt man in der Ausstellung In der Wüste der Moderne, die im Haus der Kulturen der Welt in Berlin gezeigt wird.

„Französisch-Nordafrika“ war ein Labor europäischer Modernisierungsfantasien. Den Strukturen und Wirkungsweisen dieses gebauten und bewohnten Labors geht das unter der künstlerischen Leitung von Marion von Osten realisierte Ausstellungsprojekt nach. Neue Forschungen über Architektur und Stadtplanung der Moderne wurden nicht „zu Hause“ in Europa erprobt, sondern „in der außereuropäischen Fremde“, im kolonialen Nordafrika der 1950er und 1960er Jahre, um dann von dort aus an die europäischen Stadtränder in Form des egalitären Versprechens des Massenwohnbaus zurückzukehren. Ohne den Kolonialismus, so die These der dokumentarischen Ausstellung, wäre die europäische Version der Moderne weder denk- noch umsetzbar gewesen. Und was vielleicht in der Gegenwart als Reflexionsaufgabe noch entscheidender ist: „Wir leben in der kolonialen Moderne. Die Dekolonialisierung hat bei uns nicht stattgefunden“, wie Marion von Osten es formuliert.

Als Forschungs- und Kooperationsnetzwerk wurde ein mehrjähriger Arbeitsprozess initiiert, der in Archiven und Feldforschungen sowie künstlerischen Untersuchungen der Janusgesichtigkeit der Moderne zwischen Emanzipationsversprechen und Kolonialverwaltung nachging. Das interdisziplinäre Forschungsteam – Tom Avermaete, Serhat Karakayali und Marion von Osten arbeiteten gemeinsam mit Wafae Belarbi, Madelaine Bernstorff, Jesko Fezer, Brigitta Kuster, Andreas Müller, Daniel Weiss sowie Studierenden der Akademie der bildenden Kunst Wien, der Architekturfakultät der TU Delft und der Ècole Supérieure d’Architecture de Casablanca – recherchierte Geschichten von Bewohnerinnen und Bewohnern, Architekten, Stadtplanern, Kolonialisten, Anthropologen und Wissenschaftlern, die alle ihren Anteil hatten am Projekt der Modernisierung.

Der Versuch der Rekonstruktion der Geschichte als Beziehungsgeflecht zwischen Europa und Nordafrika, materialisiert in Stadtplanung, Architektur und alltäglicher Nutzung, wird in Architekturmodellen, Flugblättern, historischen Filmdokumenten und zeitgenössischen künstlerischen Arbeiten von Kader Attia und Hassan Darsi vermittelt. Grafiken und Pläne von Georges Candilis, Michel Écochard, Alison und Peter Smithson oder Malerei von Le Corbusier und Chaibia stellen die modernistischen Utopien vor und kontextualisieren sie in der Aneignung durch die Bewohner wie im zeithistorischen Bezugssystem der Befreiungsbewegungen und der kolonialistischen Propaganda.

Die Massenbauweise, wie wir sie als heu-tige, oft als Problemzonen titulierte Gebiete westlicher Stadtränder kennen, hatte ihren Probelauf in Nordafrika. Die visuelle, in den Architekturkanon eingeschriebene Ikonografie dieser Architekturen der nordafrikanischen Moderne zeichnet ein leuchtend weißes, formenbetontes Bild, das zeitlos monografische Architektenhandschriften als immerwährende Utopie transportiert. Heutige Feldforschungen förderten das tatsächliche Aussehen dieser Bauten, in vielfachen, vielstimmigen Überbauungen, additiven Ergänzungen und eigenwilligen Umnutzungen durch Bewohnerinnen und Bewohner zu Tage. Diese Bilder sind im Kanon der Architekturrezeption Störfaktoren, die verschämt verschwiegen, international ausgeblendet werden. Diese Bilder verkörpern jedoch genau jene Risse und Spannungsverhältnisse des Nachhalls ihrer schon im Entstehungsprozess höchst widersprüchlichen Geschichte zwischen den beanspruchten Planungsgewissheiten eines technokratischen Urbanismus und eines von Befreiungsbewegung, Eigeninitiative und Konflikt geprägten Alltagsurbanismus. Dass die technokratische Moderne nicht die Patentlösung ist, dass die Menschen in der Lage sind, ihre Umwelt selbst zu gestalten und Architekten dafür nur Rahmenbedingungen liefern und dass eine andere Bildproduktion über den gebauten urbanen Raum den Alltag der Nutzung als Potenzial des Individuums hervortreten ließe, gerade das könnte man von diesem Testgelände der Moderne in Nordafrika eben auch lernen. Hier setzt das vom Medienkollektiv Labor k3000 im Kontext des Gesamtprojekts realisierte Internetprojekt an: www.this-was-tomorrow-net versammelt Video- und Filmclips über Massenwohnbauten, aufgenommen aus der Perspektive ihrer Bewohnerinnen und Bewohner. Alle derzeit nach einem topografischen Grid aufzufindenden privaten Kurzfilme und Videoclips stammen aus dem Internet selbst. In Zukunft soll die Sammlung durch den direkten Kontakt zu den ProduzentInnen dieses Filmarchivs erweitert werden und auch mögliche Begegnungen von Wohnhochhaus zu Wohnhochhaus als Zukunftsperspektive in Betracht ziehen.

Der Ausgangspunkt des mehrjährigen Projekts der Auseinandersetzung mit urbanen Formationen als Strategie des Reglementierens und Potenzial individuierter Aneignung durch BenutzerInnen liegt für die exemplarische Fallstudie Casablanca in vielerlei Hinsicht in Europa: gemeinsam mit Studierenden hatte Marion von Osten vor mehreren Jahren einen ungeliebten Massenwohnbau in der Nähe von Zürich beforscht, dessen architektonische Entstehungsgeschichte bereits Richtung Nordafrika wies. Das für die Europäer gebaute Casablanca erlebte in den 1950ern eine Umdrehung der Mehrheitsverhältnisse in der BewohnerInnenstruktur: Als willkommene Arbeitskräfte siedelten sich MarokkanerInnen am Stadtrand an. Sie errichteten ihre spontanen Siedlungen, die so genannten Bidonvilles (Kanisterstädte), die einen Konnex mit den komplexen Strukturen der alten Medina-Viertel aufweisen, welche wiederum Vorbild für den Entwurf der Freien Universität Berlin durch die nordafrikaerfahrenen Architekten Candilis, Josic, Woods und Schiedhelm waren. Rezipiert wurde die heroisch-technologische Seite der FU als Innovation der Moderne, nicht jedoch die Erfahrung der außereuropäischen Fremde als wichtigste Inspirationsquelle. Nicht zuletzt ist es der Ausstellungsort selbst, der das Verhältnis zur Moderne als Aufgabenstellung für das Heute sowie eine Geschichte zwischen Freiheitsversprechen, politischer Symbolkraft des Gebauten und ideologischem Transfer eingeschrieben hat: Die Kongresshalle Berlin, in der sich das Haus der Kulturen der Welt befindet, ist ein prestigeträchtiger, ikonischer Bau der Moderne und wurde anlässlich der internationalen Bauausstellung, der Interbau 1956/1957 von den USA errichtet und dann im Jahr 1958 als Geschenk an die Stadt Berlin übergeben. Diese historische Symbolkraft des Gebäudes nahm der Intendant Bernhard M. Scherer zum Anlass, über eine Neuschreibung der Beziehungen „zwischen Europa und dem Rest der Welt“ als Leitlinie für die zukünftige Programmierung nachzudenken.

Es geht um die Zusammenhänge, Brüche und Konflikte der Beziehungen zwischen Nordafrika und Europa. In einer „Ethnologie unserer Rationalität, unseres Diskurses“ von der Michel Foucault spricht, wird der Versuch unternommen, die widersprüchlichen und zwiespältigen Bewegungen der kolonialen Geschichte und der Dekolonisierung des Alltags nachzuzeichnen. Die heutigen Vorstädte und Trabantenstädte europäischer wie nordafrikanischer Großstädte sind die gebauten Orte wie sozialen Räume transnationaler Bewegungen, Begegnungen, Kontakte und Konflikte. Das durch die RechercheurInnen zu Tage geförderte Material ist prekär, ein vollständiges Bild lässt sich nicht rekonstruieren. Diesen Umstand reflektiert das Ausstellungsdisplay von Jesko Fezer, Andreas Müller und Anna Voswinckel. Für jedes Ausstellungsobjekt wurde ein eigenes kleines Stahlgestell gebaut, das die Raumdramaturgie bestimmt. Alles wurde für die RezipientInnen auf Augenhöhe gebracht. Die Hinterseiten der Stahlgestelle verweisen auf die Lücken in der Rezeptionsgeschichte. Sie sind leer.

Ausstellung
In der Wüste der Moderne
Haus der Kulturen der Welt, Berlin
bis 26.10.2008

Filmreihe Kleine Pfade – Verschränkte Geschichten, Performance Walking Cube von Kanak Attack, Ausstellungsgespräche, Internationale Konferenz

www.hkw.de
www.this-was-tomorrow.net

dérive, Fr., 2008.10.10



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dérive 33 Sampler

15. September 2008Elke Krasny
zuschnitt

Gut verzogen

»Ungewöhnliche Gebäude aus ganz gewöhnlichen Materialien«, so beschreibt Alex de Rijke die Devise des zwanzigköpfigen Londoner Architekturbüros drmm –...

»Ungewöhnliche Gebäude aus ganz gewöhnlichen Materialien«, so beschreibt Alex de Rijke die Devise des zwanzigköpfigen Londoner Architekturbüros drmm –...

»Ungewöhnliche Gebäude aus ganz gewöhnlichen Materialien«, so beschreibt Alex de Rijke die Devise des zwanzigköpfigen Londoner Architekturbüros drmm – de Rijke Marsh Morgan Architects –, die auch bei einem ihrer jüngsten Projekte, der Kingsdale School in London, zum Tragen kommt.

Holz hat bei öffentlichen Bauten in Großbritannien keinerlei Tradition. Gerade deshalb verstehen drmm die zwei Gebäudeteile der Kingsdale School – das Musikgebäude und das Sportgebäude – als Demonstrationsprojekte für einen neuen Materialstandard im Schulbau. Holzmassivbauweise wollten drmm verwenden und damit den Beweis erbringen, dass Nachhaltigkeit und Ästhetik einander in keiner Weise ausschließen müssen. »Normalerweise«, so Alex de Rijke, »sind Sportbauten für Schulen langweilige und blinde Boxen aus Stahl ohne gutes Tageslicht«. Dass es auch ganz anders gehen kann, zeigt das von ihnen erzielte Ergebnis. Brettsperrholz ist, wie de Rijke betont, eigentlich kein neues Material, aber in Großbritannien wurde es für Schulbauten bis dato noch nie eingesetzt. drmm verstehen sich daher nicht so sehr als Erfinder, als vielmehr als frühe Verwender, eben als Pioniere des Materials. Für ihren Entwurfsprozess ist die kontinuierliche Recherche nach neuen Materialien ausschlaggebend. Im Fall der Kingsdale School spricht Alex de Rijke von einer »arrangierten Ehe«. Die Suche nach dem richtigen Material beginnt nämlich nicht mit dem Auftrag für ein neues Projekt, sondern umgekehrt: Ein bestimmtes Material ist drmm durch ihre ständigen Recherchen in seinen Qualitäten und Potenzialen bekannt und wartet darauf, dass ein geeigneter Auftrag kommt.

Für das Kingsdale School-Projekt wurde Brettsperrholz in großem Maßstab eingesetzt und »bis an seine Grenzen getrieben«. Das Music Department ist eine einfache Schachtel mit perforierter Oberfläche. Das Sportgebäude hingegen zeichnet sich durch sein Dach in Form eines hyperbolischen Paraboloids aus, dessen Erzeugende mittels Leimbindern hergestellt wurden. Auf ihnen wurden Brettsperrholzplatten befestigt, die dünn genug sind, um sie in die gewünschte Krümmung zu zwingen.

Die gesamte Konstruktion ruht auf 2,95 mal 13,5 Meter großen Wandelementen aus Brettsperrholz mit einer maximalen Höhe von 14 Metern. Der Holzwerkstoff ist zugleich die fertige Sichtoberfläche im Inneren der beiden Gebäudeteile, die Außenfassade besteht aus teilweise perforierten Stahlblechprofilen.

Projektingenieure waren Michael Hadi Associates. Mit ihnen arbeiteten drmm ebenso eng bei Materialtests und Computer- wie physisch gebauten Modellen zusammen wie mit dem steirischen Brettsperrholzhersteller selbst. Die eingesetzten großen Plattenformate entsprachen auch dem Wunsch, nachhaltiges Bewusstsein bereits in den Fertigungsprozess zu integrieren und Schnittabfall zu minimieren. Während de Rijke die Konstruktion des Sportgebäudes als relativ »straightforward« bezeichnet, verhält es sich beim Musikgebäude vollkommen anders. Hier wurden alle Räume konstruktiv voneinander getrennt, um jegliche Klangübertragung zu vermeiden. Auf mechanische Ventilation wurde verzichtet und stattdessen – ausgehend von kleinen Perforationen in der Gebäudehülle – ein ausgeklügelt simples, natürliches Belüftungssystem installiert. »Immer noch muss man Auftraggeber vom Holz überzeugen«, so de Rijke, »obwohl Holz das einzige Baumaterial ist, das einen Beitrag zur CO2 -Reduktion leistet«. Nur wegen des Geldes nehmen drmm Aufträge nicht an, es geht um mehr: um die Herausforderung, wirklich Interessantes entwickeln zu können, um ökologische Qualität, sozialen Anspruch und avancierte, materialbasierte Ästhetik. Im britischen Pavillon auf der heurigen Architektur-Biennale in Venedig, in den drmm von Kurator Ellis Woodman eingeladen wurden, kann man sich von diesem Anspruch ein Bild machen.

zuschnitt, Mo., 2008.09.15



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Kingsdale School – Music and Sports Buildings



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08. Mai 2008Elke Krasny
Der Standard

Spazierengehen auf leisen Sohlen

Das niederösterreichische Architekturtage-Programm ist heuer ganz aufs Gehen und Reden ausgerichtet. Vier Städte werden zu Fuß erkundet. Und am Ende gibt's eine Diskussion mit der Stoppuhr.

Das niederösterreichische Architekturtage-Programm ist heuer ganz aufs Gehen und Reden ausgerichtet. Vier Städte werden zu Fuß erkundet. Und am Ende gibt's eine Diskussion mit der Stoppuhr.

Krems - Seit einigen Jahren boomt die sogenannte Promenadologie, zu Deutsch Spaziergangswissenschaft. Ob bei Stadtplanern oder bei Künstlern, das Spazierengehen hat Methode. Auch bei den heurigen Architekturtagen in Niederösterreich lässt sich das Gebaute gemeinsam per pedes oder sogar vom Rad aus entdecken.

Ganz promenadologisch gedacht, im bewussten Hereinholen der Umgebung in die Wahrnehmung, werden vier niederösterreichische Städte gemeinsam mit Expertinnen und Experten ergangen. Martin Kislinger ist der Architektur-Rundgang-Leiter in Schrems. Da wird die sogenannte Himmelsleiter Hochmoor erklommen, das Moorbad inspiziert oder der Hauptplatz abgegangen.

Mit Günther Hintermeier lässt sich einen Tag lang sportlich beim gemeinsamen Pedaletreten die Hauptstadt St. Pölten erkunden, die sich nun in ihrer zweiten Phase der Stadtentwicklung befindet. Die Tour führt ins Regierungsviertel, zu Kulturbauten wie etwa dem Festspielhaus, zum ORF-Zentrum von Gustav Peichl bis hin zum eben fertiggestellten Wirtschaftszentrum Niederösterreich (Architekten Gschwandtner und Millbacher). Weiter geht es zur Rainer-Siedlung am gegenüberliegenden Ufer der Traisen, später dann zum Landespflegeheim und zur Landessportschule mit der neuen Eishalle vom Architekturbüro „sam ott-reinisch“.

Und Maria Schneider-Dichlberger nimmt spaziergangswissenschaftlich Waidhofen an der Ybbs unter die Lupe. Gemeinsam mit ihr wird das neue Schulzentrum aufgesucht, aber auch der Ybbs-Uferweg sowie die Waidhofener Stadtplätze. Im Rothschildschloss, das nun nach der Landesausstellung neu genutzt werden wird, kann man sich ebenfalls umsehen.

Festes Schuhwerk vonnöten

Schließlich Franziska Leeb: Beim Spaziergang mit ihr öffnen sich private Refugien in Krems, etwa Dachgeschoßwohnungen, Galerien, Steinertor. Der stete Programmhinweis auf die Vorteilhaftigkeit von bequemem Schuhwerk weist darauf hin, dass die Spaziergangswissenschaft eine Praxis ist, bei der man vor müden Füßen und wunden Zehen nicht gefeit ist.

Im Gehen erprobt sich mit dem gemeinsamen Sehen ein sensibilisiertes Erkennen und Sprechen. Zahlreiche Architekturbüros in ganz Niederösterreich (siehe Infokasten) laden Besucherinnen und Besucher ein, um bei Wein und Käse in einen gemeinsamen Dialog zu treten. Doch es gibt noch eine ganz andere Art der Architekturbegegnungsform. Speed-Dating nennt sich die kurze und effiziente Annäherung zwischen Bauherr und Architektin.

Seit 1999 in den USA erprobt, ist das populäre Alltagsformat der Beweis dafür, dass langsame Annäherungen zwischen den Geschlechtern out sind.

Effizienz ist angesagt

Sieben Minuten dauert üblicherweise das Instant-Kennenlernen zum Herausfinden von Basisinteressen mit möglichen Konsequenzen. An der Fachhochschule Wieselburg wird das rasche Rendezvous nun auf die Begegnung von (potenziellen) Bauherren und (potenziellen) Architektinnen umgemünzt. Die Moderation übernehmen Andrea Schurian und Jan Tabor.

Der Standard, Do., 2008.05.08

15. Juli 2007Elke Krasny
Spectrum

Mythen, Märchen und Know-how

2008 wird der neue König von Bhutan gekrönt. Die Ehrengäste werden in einem Hotel logieren, das von einer öster-reichischen Architektin geplant wird. Die Geschichte eines nicht alltäglichen Projekts.

2008 wird der neue König von Bhutan gekrönt. Die Ehrengäste werden in einem Hotel logieren, das von einer öster-reichischen Architektin geplant wird. Die Geschichte eines nicht alltäglichen Projekts.

Projektpräsentation beim Minister für Tourismus und Energie in Bhutan, Mittagessen bei der österreichischen Botschafterin in New Delhi, Besprechung mit den indischen Haustechnikern, Rückflug nach Wien. So sieht der Arbeitsalltag einer österreichischen Architektin aus, die in Bhutan baut. Die aus Innsbruck stammende Irene Ott-Reinisch plant dort ein Hotel. Das grenzt an ein kleines Wunder. Denn man muss wissen, dass Ausländer in Bhutan bisher höchst selten bis nie einen Auftrag bekamen.

Nur aus dem benachbarten Indien arbeiten Architekten im Land. Traditionellerweise gab es 13 verschiedene Kunsthandwerke, die für die Gestaltung der bhutanischen Welt zuständig waren. Handwerker, Maurer, Tischler hatten das seit Generationen überlieferte komplexe Wissen, wie ein Haus auszusehen hat. Somit war für Architektur im engeren, entwerfenden Sinn kein Bedarf. Stein, Holz, Lehm, das waren die Materialien, begleitet von einer farbenliebenden, oberflächenbestimmenden Dekorationslust.

Dieses mythisch verschlossene und geheimnisumrankte Land Bhutan im Hohen Himalaja war bis 1961 abgeschottet von den Einflüssen der Außenwelt, nur auf steilen Pfaden konnte man ins Landesinnere gelangen. Doch in Bhutan haben sich die Zeitläufte geändert, eine gezielte Öffnung hat begonnen. Dieser Sprung mit Landung in der Nachmoderne war ein gewaltiger. Es gibt einStraßennetz und Anschluss an die Welt via Flughafen und Fernsehen. Dadurch entstandder Bedarf an völlig anderen, nicht traditionell verankerten Architekturen wie beispielsweise Rundfunkgebäude, Flughafenoder Kraftwerk. Der lokale bhutanische Stararchitekt Pem Gyalthsen, der in Ahmedabad studiert hat, da es vor Ort keine Architekturfakultät gibt, war im Flughafenteam, plante das Rundfunkgebäude und ist auch der lokalePartnerarchitekt von Ott-Reinisch.

In jüngster Zeit ist diese Abgeschlossenheit als perfekte Exklusivität, als Nischenlage für das hochpreisige Segment des Qualitätstourismus entdeckt worden. Geheimnis zieht. Die Verlockungen der abgelegenen Pfade weit entfernt von massengebuchter Jedermannzugänglichkeit kommen wie gerufen. Diese vorsichtige Orientierung hin zum Tourismus brachte einen Bauboom mit sich, den Irene Ott-Reinisch mit der österreichischen Gründerzeit vergleicht. Die traditionell verbürgte und kulturell fix verankerte Dekorationsintensität nimmt schon manchmal ab, vereinzelt findet man gar Stadtvillen aus Stahlbeton oder riesige Auslagen, die keinerlei historische Entsprechungen haben. Aber noch ist die Einheitlichkeit des Erscheinungsbildes gegeben, der Nimbus der mythenumwobenen Abgeschiedenheit auch visuell intakt.

„Der Märchenprinzen-Index ist hoch,“ sagt Ott-Reinisch. „Bhutan, das ist ein richtiges Schneewittchen-Land.“ Das einzige asiatische Koordinationsbüro der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit hat seit 1994 seinen Sitz in der bhutanischen Hauptstadt Thimphu. Die Initiative zur Zusammenarbeit ging, aus Interesse an österreichischem Know-how, von Bhutan aus. Affinitäten und Sympathien werden über Ähnlichkeiten hergestellt, beide Länder sind klein, haben eine lange Geschichte und viele Berge. Gebirgsökologie und nachhaltige Wirtschaftsentwicklung sind hier wie dort gefragt. Und dass Ökologie, Energie und Tourismus nicht auf getrennten Blättern stehen, leuchtet ein. Österreichisches Wissen im Tourismusmanagement fließt nach Bhutan, hohe Sensibilität für den zukünftigen Umgang mit den natürlichen und kulturellen Schätzen des Landes ist gefordert.

Der Transfer von Tourismuswissen zwischen Österreich und Bhutan führt uns direkt auf die Hotel-Baustelle. Zum ersten Mal hat die Österreichische Entwicklungszusammenarbeit eine begleitende Bauherrenrolle übernommen. Mit großem Engagement übt die Leiterin des Thimphuer Büros, Marie-Christine Weinberger, die davor als Generalkonsulin in Shanghai tätig war, diese Rolle aus. Am Rand der 30.000 Einwohner zählenden Hauptstadt entsteht ein Ausbildungszentrum für angehende Tourismusfachleute. So wie sich bei österreichischen Tourismusfachschulen ein Praxishotel bewährt hat, in dem man authentische Arbeitserfahrungen sammelt, soll dies zukünftig auch in Bhutan der Fall sein. Nun kommt zentral die Architektur ins Spiel, aber auch die Geschichte Bhutans. Am 2. Juni 1974 wurde der damalige Kronprinz Jigme Singye Wangchuk gekrönt. Bei so einer Krönungszeremonie feiert das Land, nicht nur einen Tag, sondern ausgiebig, ein ganzes Jahr. Aus diesem königlichen Anlass wurde in den 1970er-Jahren ein Hotel errichtet, um die Ehrengäste würdig zu beherbergen. Dieses alte Hotel wird zur Tourismusschule umgenutzt. Die Österreichische Entwicklungszusammenarbeit ließ eine Machbarkeitsstudie durchführen, was Bauökologie, Umnutzungsmöglichkeiten der Substanz und Ähnliches mehr anbelangt. Jetzt kommen die „Six Degrees of Separation“ ins Spiel, die unseren Erdball in vielfältige, oft überraschende globale Nahverhältnisse rücken. Das Büro Sam-Ott-Reinisch war das österreichische Partnerarchitekturbüro Steven Holls für die Umsetzung der Wein-Erlebniswelt Loisium in Langenlois und international über Zeitzonen und kulturelle Unterschiede hinweg arbeitserprobt. Die Geschäftsführerin des Loisiums, Susanne Kraus-Winkler, wiederum war Teil der Machbarkeitsstudie für das Tourismusausbildungsprojekt in Bhutan, und IreneOtt-Reinisch hatte ihr beiläufig erzählt, dass sie Bhutan schon sehr interessieren würde. So führte eines zum anderen.

Der Minister für Tourismus in Bhutan ist auch zuständig für Energie, diese beiden Bereiche sind die Eckpfeiler der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit. Das ehemalige Hotel wurde als Tourismusschule haustechnisch für das 21. Jahrhundert fit gemacht, Tourismus und Energiebewusstsein gehen Hand in Hand. Die Umweltsünden, dieder Rest der Welt in den letzten Jahrzehnten angehäuft hat, sind an den Bhutanern in ihrer Weltabgeschlossenheit vorbeigegangen. Sie haben auf ihren Wald aufgepasst, keine Industrieanlagen errichtet und sich an keine fremde Macht verkauft. Die unversehrte Natur ist nun die exorbitante Chance. Umso größer ist daher das Interesse, die Fehler der anderen auszulassen und an aktuelles Wissen um Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung anzuknüpfen. Regenerative Energieformen, Wärmedämmung oder Solarenergie stehen ganz vorn auf der Agenda. Heizung, Lüftung, Sanitär, Abwasser, das alles wurde für die Tourismusschule umgerüstet und vom österreichisch-indischen Expertenteamenergiesparenden Anforderungen angepasst.Ott-Reinisch bezeichnet die vorhandene Substanz als Edelrohbau, der weiter verwendet wurde, die Raumstruktur wurde belassen, da sie für die Schule passt. Die Disziplinen Statik, Haustechnik oder Küchenplanung gibt es in Bhutan nicht, sie kommen für die Tourismusfachschule mit angeschlossenem Internat aus Indien und Österreich. Nun gibtes als Trainingsküche die beste Küche ganz Bhutans. Die kommt für Krönungsbanquette wiegelegen. Denn die Geschichte geht weiter, die nächste Königskrönung steht bevor, im Jahr 2008. Dann wird der 1980 geborene Jigme Khesar Namgyel Wangchuck, der im Dezember 2006 von seinem Vater die Macht übernommen hat, gekrönt werden.

Die Gestaltungsoberhoheit für die Umnutzung lag beim lokalen Partnerarchitekten Pem Gyaltshen. Über die Stunden währenden Projektpräsentationen war das Vertrauen der bhutanischen Minister in die österreichische Architektin gewachsen. Die Minister in Bhutan, die Führungsschicht und Beamtenschaft sind hoch gebildet, haben in den USA, England oder Indien studiert, waren interessiert an dem, was Irene Ott-Reinisch an Fachwissen über Passiv- und Niedrigenergiehäuser und ökologische Bautechnik mitbrachte. Es passierte das völlig Unerwartete, sie wurde gefragt, einen eigenständigen Entwurf für das Hotel vorzulegen. Ein kleines Modell reiste per Flugzeug an. Architekturmodelle kennt man in Bhutan sonst nurfür Dzong, die bhutanischen Klosterburgen. Die bhutanischen und indischen Architekten setzen heute bei Präsentationen auf glanzvoll schöne Renderings, nie auf Modelle. Ein abstraktes Baumassenmodell war daher nur schwer zu lesen für die bhutanischen Gegenüber, hatte es doch nicht die verführerische Überzeugungskraft der Renderings.

Für den ersten Entwurf des kompakten, rechteckigen Hotelblocks mit seinen 20 Zimmern setzten Irene Ott-Reinisch und ihre Mitarbeiter Urs Bette und Franz Leuthner auf einen Würfel, in dem Elemente der regionalen Architektursprache eigenständig interpretiert wurden. Franz Leuthner ist ein Bhutan-Afficionado, einer, der das Land wirklich kennt. Er arbeitete an einem von der österreichisch-bhutanischen Gesellschaft initiierten Schulbau im entlegenen Osten des Landes und forscht, angebunden an die Technische Universität in Wien, über die traditionelle Landesarchitektur. Neun Monate war er unterwegs, ist für dortige Verhältnisse eine exotische Ausnahmeerscheinung. Die Rabsey, so heißen die markanten, bunt bemalten Holzwürfel, die die traditionelle serielle Fassadengestaltung prägen, sind ein Must. Dies war eine der größten Herausforderungen für Urs Bette, der unermüdlich die architektonische Qualität trotz bhutanischer Fassadennorm sicherte. Um die Gestaltungsidentität zu wahren, werden Rabsey heute aus Beton gegossen, nicht mehr aus Holz gemacht, was bauphysikalisch problematisch ist. An nackte Fassaden muss man sich erst gewöhnen, die wird es auch beim neuen Praxishotel noch nicht geben. Südseitig schaut das Hotel weit über das Tal nach Thimpu, ist so gedreht, dass alle Zimmer Sonnenlicht haben. Heiße, schwüle Sommer und kalte Winter in Kombination mit zugigen Fenstern und mangelhafter Haustechnik verkürzten bis dato die Reisesaison drastisch.

In diesem Hotel mit der verbesserten thermischen Qualität wird man das ganze Jahr wohnen können. Unter dem Dach überrascht ein Stone Bath und Terrassen, auf denen man den spektakulären Ausblick in die starken Farben der Berge und der Stadt genießen kann. Das Innere des Hotels hat die bhutanischen Entscheidungsträger sofort überzeugt, aber eine Fassade ohne Ornamentierung und eine traditionelle Dachform, die umgedreht worden war, um die Solarkollektoren unsichtbar unterzubringen und das Brauchwasser ohne hässliche Regenrinnen zu sammeln, das ging dann doch nicht. „The better the architect, the more difficult it is“, sagten die buthanischen Minister. Nun, nach viel Reflexionszeit, soll es aber schneller weitergehen, damit das Praxishotel in Bhutan vielleicht doch noch bis 2008 zur Unterbringung von Staatsgästen zur Krönungsreife gebracht wird.

Spectrum, So., 2007.07.15

22. November 2003Elke Krasny
Der Standard

Beobachtungs-Standpunkte

Der Stadtraum als ein Raum der Wahrnehmungen

Der Stadtraum als ein Raum der Wahrnehmungen

Gegen die Übermacht der Bilder müssen Städte ihren Existenzbeweis antreten. Und dies tun sie mit neuen Wahrzeichen und Ikonen, Eiffelturm versus La Grande Arche de la Défense, Stephansdom versus Donauinsel. Ikonisch aufgeladen mutieren Stadtausschnitte zu globalen Landmarks. Wiedererkennung garantiert. Abweichung von Nachteil. Als Tourist ist man auf Aha-Trip zwischen medialem und realem Bild. Man freut sich über Deckungsgleichheit oder selbst gefundene Unterschiede zwischen Bild und Stadt.

Die kleine, überaus präzise recherchierte Ausstellung im Technischen Museum Wien (Details siehe obiger Beitrag) spürt den Schauplätzen und Entwicklungen der frühen Fotografie in Österreich nach. Anfänglich ist die Stadt für das Auge der Kamera bloß ein Gewimmel aus Dächern und Gebäuden. Der fotografische Blick fürs Besondere schult sich erst, standardisierte und favorisierte Blickachsen bilden sich allmählich. Der expandierende städtische Raum in seinen rasanten baulichen, technischen und ökonomischen Veränderungen wird vom Zukunftsmedium der Fotografie verfolgt und festgehalten. Hier wird Fotografie zur Chronik stadträumlicher Ereignisse.

Zu dieser Stadtchronik zählt auch eine in der Ausstellung präsentierte Serie der ältesten erhaltenen Panoramaaufnahmen von Wien, die Anfang der 1850er-Jahre vom Turm des Stephansdoms aus gemacht wurden. „In der Tat, von dieser Höhe der Vogelperspektive angesehen, hat selbst für den Eingebornen seine Stadt etwas Fremdes und Abenteuerliches, so dass er sich für den Augenblick nicht zu finden weiß. Wie eine ungeheure Wabe von Bienen liegt sie unten, durchbrochen und gegittert allenthalben und doch allenthalben zusammenhängend.“ So nimmt Adalbert Stifters Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des St. Stephansthurmes 1844 die fotografische Panoramatik literarisch vorweg.

Elisabeth Limbeck-Lilienau spricht im Katalog zur Ausstellung von Zeitschnitten und der unglaublichen Fähigkeit der Kamera, jedes kleinste Detail aufzuzeichnen und der Fotografie enzyklopädischen Charakter zu verleihen. Zehrt aber eine Stadt, so wie Wien, von ihrem historischen Erbe als kultureller Verpflichtung, dann wird es schwierig, neue Bilder über die alten zu legen. Das einstige Zukunftsmedium Fotografie wandelt sich zum Bewahrungsmedium.

Neue Bilder für zukünftige Wahrnehmungen zu schaffen heißt, auf Stadtentwicklungen zu setzen und nicht nur auf das Tradierte. Zeichnen sich im Weichbild der Stadt neue Aufnahmepositionen ab, so wird Raum für zukünftige Wahrnehmungsperspektiven geschaffen. []

Der Standard, Sa., 2003.11.22

10. September 2003Elke Krasny
ORF.at

Neue Sprache

Greg Lynn hat im vergangenen Jahr die Nachfolge Hans Holleins an der Universität für angewandte Kunst angetreten. Er begreift Architektur als ständige Forschungsarbeit.

Greg Lynn hat im vergangenen Jahr die Nachfolge Hans Holleins an der Universität für angewandte Kunst angetreten. Er begreift Architektur als ständige Forschungsarbeit.

Neueste Technologien in ihrem Funktionieren, in ihrem Wesen begreifen lernen und begreifen lehren, das ist Herausforderung und Anreiz für Lynns architektonisches Denken. Ob im Design oder in der Mode, in der Autoindustrie oder im Filmdesign, ob in Computeranimationsprogrammen oder in der Flugzeugindustrie, immer gilt es, mit den neuesten Entwicklungen Schritt zu halten und ihr Potenzial für die Architektur auszuloten.

Im Industriedesign kommen immer mehr freiachsig gekrümmte Flächen zum Einsatz, die herkömmliche Architekturpraxis hinkt da noch weit hinterher. So wird Architektur zur Forschungsarbeit, die sich methodisch das Experiment als Auffrischungskur verordnet.


Das Potato-Problem

Ökologie, Natur, Genetik sind für Lynn die neuen Leitworte, die Architektur zu repräsentieren hat. In Lynns Analyse und Architekturbegreifen spielen organischen Formen eine eminente Rolle. Die erste Aufgabe, die Greg Lynn seinen Wiener Studierenden stellte, lautete schlicht „potato problem“. Und genau aus dieser Aufgabenstellung lässt sich die Logik eines Architekturansatzes und seines Begreifens von Oberflächen und ihren Komplexitäten nachvollziehen.

So einfach die Kartoffel auf den ersten Blick erscheinen mag, so schwierig ist es, die Logik ihrer Form zu erfassen, ihre Eigenschaften in den Blick und in den Griff zu bekommen und mit den neusten technologischen Möglichkeiten zu bearbeiten. Die Logik der Form und die Logik des Computers verstehen und verwenden zu lernen, sind die zwei Kehrseiten der Medaille, die die Herangehensweise an das Architekturlehren bestimmen.

Da kann nicht einfach auf bestehende Systeme zurückgegriffen werden, der sichere Haltegriff konventioneller Formen wie rechte Winkel oder Kreise ist abmontiert, und das Formverstehen selbst wird zur architektonischen Herausforderung. Die technische Ausstattung, die für diese Entwurfs- und Experimentierpraxis vonnöten ist, wird an der Universität für angewandte Kunst nun Schritt um Schritt aufgebaut.


Die Natur des Computers

Greg Lynn versteht den Computer als neue Art von Haustier und setzt auf die Lernfähigkeit des Menschen, dessen konnektive Qualitäten auszuloten. Seine Räume sind temporal, flüssig, dynamisch. Er spürt als Theoretiker und Praktiker den durch die Computerisierung veränderten Produktions- und Wahrnehmungsbedingungen architektonischer Formen nach. Ihm geht es nicht nur um computergenerierte Formveränderung, sondern um die Hervorbringung neuer Strukturen, neuer Ornamente mittels Computer.

Sein Architekturwollen beschreibt Lynn mit dem Wort „intricacy“, Kompliziertheit, in der immer auch die Feinheiten und Nuancen der Differenzierung und des Verwobenseins mitschwingen. Organisches, Lebewesen stehen Pate für technische Modelle, für räumliche Entwicklungen. Doch anders als im gegenüberstellenden Begegnungsraum historischer Wunderkammern werden die Überschneidungen und Begegnungsmöglichkeiten zwischen Natur, Technik und Kultur, nun computerisiert und finden sich in dynamisierte Form gegossen im Raum der Architektur wieder.

ORF.at, Mi., 2003.09.10

10. September 2003Elke Krasny
ORF.at

Lynn statt Gehry

In Costa Rica pflanzt Lynn nun sein erstes großes Gebäude: eine bunt schimmernde Riesenpflanze als Entree in den Regenwald.

In Costa Rica pflanzt Lynn nun sein erstes großes Gebäude: eine bunt schimmernde Riesenpflanze als Entree in den Regenwald.

Regenwald, Trockenwald, Feuchtwald: Halb Costa Rica ist ein Nationalpark. Das Land ist führend im Ökotourismus. Vor einigen Jahren entstand der Wunsch nach einem naturhistorischen Museum und einem Besucherzentrum als Eingang in den Regenwald.

Ursprünglich wollte man Frank Gehry für den Auftrag gewinnen, doch dieser empfahl Greg Lynn. Vor mehr als zwei Jahren begann Lynn die Auseinandersetzung, im letzten halben Jahr wurde der konkrete Entwurf erarbeitet.


Tiere als Vorbild

Die Tier- und Pflanzenwelt fungierte als Inspirationsquelle. Die schimmernden Rot- und Grüntöne sind eine Hommage an eine lokale Papageienart, deren Farbe sich von Rot zu Grün verändern kann. In den nächsten zehn Jahren wird „Arc of the World“, das Museums- und Besucherzentrum am Pazifik, das als Modell im MAK zu betrachten ist, an der Pazifikküste von Costa Rica in die Realität umgesetzt werden.

Das letzte große Bauvorhaben in Costa Rica, wo man Big Projects mit Skepsis begegnet, ist 1908 fertig gestellt worden: ein Opernhaus mit 400 Sitzen für ein Land, in dem damals 2000 Menschen wohnten.

ORF.at, Mi., 2003.09.10

27. Mai 2003Elke Krasny
ORF.at

Bautraditionen im System der Politik

Das Idealbild des Wohnens im Nationalsozialismus lieferte Goethes Gartenhaus in Weimar, so die Architekturhistorikerin Iris Meder.

Das Idealbild des Wohnens im Nationalsozialismus lieferte Goethes Gartenhaus in Weimar, so die Architekturhistorikerin Iris Meder.

Obwohl die Nationalsozialisten sich vorgeblich auf lokale Bautraditionen oder anonymes Bauen beriefen, sehen die in dieser Zeit errichteten Wohnhäuser von Danzig über Wien bis Hamburg alles gleich aus. Ein sogenannter bodenständiger Stil wurde überallhin verpflanzt, vorbildhaft wirkte die traditionalistische Stuttgarter Schule, die zum Standard im Häuserbau erklärt wurde.


Kasernen statt Wohnhäuser

Insgesamt haben die Nationalsozialisten, die mehr mit der Errichtung monumentaler Regierungsbauten beschäftigt waren, nur wenige Wohnbauten errichtet. In Wien wurde die Fasangarten-Siedlung, die im Gegensatz zur Maria-Theresien-Kaserne heute öffentlich zugänglich ist, für die Offiziere der Waffen-SS gebaut. Als Architekt ist nur das Bauamt der SS auszumachen, die Bauausführung der derzeit von Angehörigen des Bundesheers bewohnten Siedlung, lag bei Häftlingen aus Straflagern.

Mittelfristig soll dieses Beispiel nationalsozialistischer Architektur in Wien abgerissen werden und der Fasangarten nach Plänen von Roland Rainer Raum geben für ein Biotop, ein Gestüt sowie ein Thermalbad.


In die Nachkriegszeit

Mit großer finanzieller Hilfe aus Schweden wurde in den Jahren 1947 bis 1951 die Per-Albin-Hansson-Siedlung West realisiert. Wegen dieser großzügigen „Schwedenhilfe“ wurde die für 3.500 Bewohner konzipierte Siedlung nach dem damaligen Ministerpräsiedenten von Schweden benannt so wie auch die Straßen und Plätze der Siedlung wurden alle nach schwedischer Prominenz benannt worden sind.

In der Formensprache orientierten sich die Architekten Max Fellerer, Franz Schuster, Friedrich Pangratz, Stefan Simony und Eugen Wörle durchaus an den Traditionen der zwanziger Jahre. Im Gegensatz zur vielfach publizierten Per-Albin-Hansson-Siedlung wurde die Siedlung am Schöpfwerk von Franz Schuster aus den fünfziger Jahren mit ihrem stringenten Farbkonzept und den ebenerdig angelegten Wohnstätten für ältere Menschen kaum öffentlich wahrgenommen.

ORF.at, Di., 2003.05.27

27. Mai 2003Elke Krasny
ORF.at

Flachdach kontra Walmdach

Die Österreichische Gesellschaft für Architektur (ÖGFA) lud zur zeitgeschichtlichen Siedlungstour durch den Südwesten von Wien.

Die Österreichische Gesellschaft für Architektur (ÖGFA) lud zur zeitgeschichtlichen Siedlungstour durch den Südwesten von Wien.

Konnte Anfang der dreißiger Jahre noch der Kanon der internationalen Moderne zum Einsatz kommen, wie Flachdächer oder Sonnenbäder bei der von Siegfried C. Drach entworfenen Malfattisiedlung aus dem Jahr 1932, so setzte zwei Jahre später der Ständestaat bereits auf Walmdächer und vom Mittelalter inspirierte Hauszeichen und Heiligendarstellungen.


Wüstenrots Siegeszug

Unter dem Motto, dass Menschen, die mit dem Hausbauen beschäftigt sind, keine Revolution anzetteln, wurde im Ständestaat das Bausparen propagiert. Und das in der Nähe von Stuttgart in der Ortschaft Wüstenrot gegründete Bausparen hatte zumindest im Westen von Österreich durchaus Monopolstellung: Häuser kaufte man bei Wüstenrot, so die landläufige Meinung. Aber auch in Wien ließ Wüstenrot Siedlungen errichten, wie beispielsweise die Wüstenrotsiedlung in der Bierhäuselberggasse.


Das nationale Mauerwerk

Beeinflusst vom italienischen Faschismus setzte der österreichische Ständestaat auf Massivbauweise. Beim Wettbewerb für die Wüstenrotsiedlung wurden durchaus auch Holzhäuser eingereicht, jedoch alle abgelehnt. Der damalige Prokurist der Wüstenrot Bausparkasse erteilte „jüdisch angekränkelten Wohnwürfeln mit Flachdächern“ eine Absage und setzte auf die „gediegene Ausführung“.


Starkes Vorbild

Ganz bewusst sollten Alternativen zu den Bauten des Roten Wien geschaffen werden. Was jedoch in der Formensprache nicht immer zum Ausdruck kommt. So sah der 1935 gebaute Engelbert-Dollfuß-Hof, der vom Unterstützungsinstitut der Bundessicherheitswache in Wien errichtet wurde und in den nach wie vor eine Polizeistation integriert ist, nicht anders aus als sonstige Wiener Gemeindebauten.

ORF.at, Di., 2003.05.27

27. Mai 2003Elke Krasny
ORF.at

Die Siedlung Eden

Im Wohnbau zeigen sich öffentliche Antworten auf die Fragen des privaten Wohnens.

Im Wohnbau zeigen sich öffentliche Antworten auf die Fragen des privaten Wohnens.

Nach dem Ersten Weltkrieg herrschte in Wien eklatante Wohnungsnot. Neben den vielen berühmt gewordenen, repräsentativen Wohnbauprojekten des Roten Wien, wie dem Karl-Marx-Hof oder dem Reumannhof, gab es jedoch noch völlig andere Konzepte als die der Superblocks.


Siedlungsbewegung

So formierte sich aus höchst unterschiedlichen Gruppierungen, wie den Theosophen, Baptisten, Zionisten, Sozialisten und Freidenkern, die Genossenschaft Eden die in der gleichnamigen Straße im 14. Bezirk die Siedlung Eden errichtete. Finanzielle Unterstützung kam von der schwedischen freikirchlichen Gemeinde. Geprägt war das gesamte Unterfangen von lebensreformerischen Idealen, einzelne Siedlergruppen schmückten sich mit Namen à la Menschheitsfrühling oder Zukunft. Der Wechsel der politischen Systeme ließ jedoch auch das Leben in der Siedlung nicht ungeschoren.

1934 verließen viele der Sozialisten Österreich, im Jahr 1938 die Zionisten und Kommunisten. Immer wieder erschütterten ideologische Konflikte das Miteinander der Siedler, deren Genossenschaft im Jahr 1963 aufgelöst wurde. Entworfen wurde die Siedlung von Ernst Egli und Grete Lihotzky. Lihotzkys Häuser wurden aus Bruchsteinen aus einem nahegelegenen Steinbruch errichtet und sind bis heute fast unverändert erhalten.


Siedlung versus Superblock

Nach anfänglichen Erfolgen kehrte sich die Gemeinde Wien dann von der Siedlungsbewegung gänzlich ab und wandte sich ausschließlich dem Blocksystem der Hochbauten zu. So standen sich in Wien auch zwei verschiedene architektonische Schulen gegenüber. Die Schüler von Otto Wagner setzten auf den mehrstöckigen Wohnungsbau.

Die Gruppe von Peter Behrens, Josef Frank, Josef Hoffmann, Oskar Strnad und Adolf Loos favorisierten den am Einfamilienhaus mit Nutzgarten orientierten Siedlungsbau. Auch Grete Lihotzky bevorzugte dieses Konzept und ging deshalb aus Wien nach Frankfurt, wo sie unter Stadtbaudirektor Ernst May ihre berühmt gewordene Frankfurter Küche entwickelte.

ORF.at, Di., 2003.05.27

09. Mai 2003Elke Krasny
ORF.at

Die Verfestigung des Vergänglichen

Das Symposion „tempo..rar“ versammelt Netzwerke des Temporären und bringt Akteure aus den unterschiedlichsten Lagern zusammen.

Das Symposion „tempo..rar“ versammelt Netzwerke des Temporären und bringt Akteure aus den unterschiedlichsten Lagern zusammen.

Der Architekt Florian Haydn sieht in zeitlich begrenzten Nutzungen die Entwicklungsmöglichkeit für alternative Lebensprozesse und den Freiraum für die Entstehung von Programmen.

In seiner Zukunftsvision gibt es sogar von Anfang an mitgeplanten Leerraum in neuen Projekten, der dann für alternative Projekte zur Verfügung steht. Gemeinsam mit Mirko Pogoreutz und Robert Temel konzipierte Haydn das viertägige Symposion, das erstmals versucht, die unterschiedlichen temporären Netzwerke in der Stadt miteinander ins Gespräch zu bringen.


Ideenbörse

Zwischen den über 40 Symposionsteilnehmern sollen durch Diskussionen, Information und Austausch längerfristig temporär orientierte Entwicklungen in Gang gesetzt werden. Beispiele, die aus anderen europäischen Städten referiert werden, sowie Ideen und Einfälle, die während des Symposions entstehen, bilden die Grundlage für zukünftige Programme.

Temporär, das sind nicht nur künstlerische Aktivitäten in leerstehenden Geschäftslokalen, sondern auch von der Caritas organisierte Wohnungen für Asylwerber oder vorübergehende Wohneinheiten für Scheidungsopfer, die in Wien zur Zeit als letzter Marktschrei gelten.


Lebendige Programme

Im Rahmen des EU-Projekts „Urban Catalysts“ beschäftigte sich Florian Haydn mit einer Bestandsaufnahme temporärer Wiener Aktivitäten und ihrer Wirkungen auf das urbane Leben. Zum Vorschein kamen unterschiedlichste kulturelle Praktiken, wie die kleine Kulturinitiative FMF Martinstraße, die immer wieder in Prekarien logierende und agierende Gruppe Wochenklausur, die sich der Kunst als sozialer Strategie verschrieben hat, das bereits ins fünfte Jahr gehende Festival Soho in Ottakring, das das Grätzl rund um den Brunnenmarkt temporär mit künstlerischem Leben erfüllt oder permanent breakfast, das gesprächsauslösende Kettenfrühstücken im öffentlichen Raum.

Parallel dazu untersuchten Rudolf Kohoutek und Christa Kamleithner im Auftrag der MA 18 weitere Fallbeispiele als urbane Katalysatoren wie das Museumsquartier, die Remise oder das Kabelwerk. Ansprüche, Umsetzungen und Realisierungsmöglichkeiten wurden mit den rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen verglichen und werden nun im Rahmen des Symposions vorgestellt.


[Tipp:
Symposion „Temporäre Nutzungen im Stadtraum“, 7. bis 15. Mai., tempo..rar]

ORF.at, Fr., 2003.05.09

09. Mai 2003Elke Krasny
ORF.at

Opfer des eigenen Erfolgs

Am Horizont benachteiligter städtischer Viertel zeigt sich der Hoffnungsschimmer kultureller Nutzung.

Am Horizont benachteiligter städtischer Viertel zeigt sich der Hoffnungsschimmer kultureller Nutzung.

Der Leerstand, Teil des städtischen Auf und Ab, Indikator für veränderte Produktions- und Lebensbedingungen, ist auch gefürchteter Gradmesser für die Öde und Verelendung von Vierteln. Zunehmend erwartet man sich von temporären kulturellen Bespielungen oder künstlerischen Nutzungen Aufschwung und neue Impulse.

Nicht immer sind die Begegnungen zwischen den verschiedenen Interessensgruppierungen und Nutzerwünschen frei von Kommunikationsschwierigkeiten und Missverständnissen. Auch ist das Temporäre nicht vor seiner eigenen Institutionalisierung gefeit.

Als Folgeprodukt des Symposions „tempo..rar“ soll ein Manual zur temporären Benutzung von leerstehenden Objekten entstehen, das zeigt, wie man Eigentümerinteressen und Nutzerziele durchaus in Einklang bringen kann.


Fallbeispiel Berlin Mitte

Im Zusammenhang mit „Urban Catalysts“ setzte sich der Initiator des Gesamtprojekts, Philipp Oswalt, an der TU Berlin in einem Entwurfsseminar mit der Berliner Temporärkultur auseinander. Das gewählte Fallbeispiel war Berlin Mitte. Hier etablierten sich in der Nach-Wende-Zeit eine Fülle kreativer Neunutzungen für den gegebenen Leerstand. Das größte Problem dieser temporären, subkulturellen Nutzungen und Bespielungen war ihr Erfolg.

Partyveranstalter, Kulturschaffende, Künstler, Kleinunternehmer nutzten das Potenzial leerstehender Räume in Berlin Mitte. Zuerst noch argwöhnisch beäugt, entwickelte sich dieses pulsierende Soziotop zum touristischen Anziehungspunkt und führte letztendlich zur Gentrifizierung. Die Zwischenräume wurden saniert und kommerziell verwertet. So willkommen die temporären Aktivitäten als Starthilfe für die Etablierung eines neuen Images waren, so wenig wurden ihre Aktivitäten in der „sanierten“ Struktur benötigt.

ORF.at, Fr., 2003.05.09

09. Mai 2003Elke Krasny
ORF.at

Alternativen der Stadtplanung

EU-weit wurden die Qualitäten und Potenziale temporärer Urbanität unter die Lupe genommen.

EU-weit wurden die Qualitäten und Potenziale temporärer Urbanität unter die Lupe genommen.

Gelangt der herkömmliche stadtplanerische Masterplan von drinnen nach draußen, von der Stube in die Wirklichkeit, so werden temporäre Aktivitäten im Gegensatz dazu spezifisch direkt vor Ort entwickelt. Sie reagieren auf Befindlichkeiten und Bedürfnisse, agieren, mit dem was ist und dem, was fehlt, und setzen so andere soziale Prozesse in Gang.

Unter dem Titel „Urban Catalysts“ fanden sich in Amsterdam, Berlin, Helsinki, Neapel und Wien zum Teil universitär verankerte Forschungs- und Beobachtungsgruppen zusammen, die temporäre Aktivitäten und Umnutzungen im Stadtraum aufspürten und alternative Programme zum Vorschein brachten.

Vor allem aber kristallisierte sich heraus, dass es „das Temporäre“ in „der europäischen Stadt“ nicht gibt. Zu unterschiedlich sind die Anlage der Städte, der mentalitätsgewordene Umgang mit dem Urbanen und vor allem auch die Spielformen temporärer Nutzungen.


Stadtentwicklung anders

Gerade auch temporär lebt jede Stadt in ihrer spezifisch eigenen Entwicklungszeit. So konnte das Projekt auch weniger Parallelen in der temporären Stadtentwicklung ausmachen, als vielmehr grundlegende Differenzen.

Während es in Amsterdam, vor dem Hintergrund der Landgewinnungen, eine Tradition temporärer Aktivitäten gibt, müssen in Helsinki die Möglichkeiten des Temporären erst bekannt gemacht werden. In Amsterdam-Nord auf dem Gelände einer ehemaligen Werft schlossen sich ehemalige Besetzer nun zu einer Developer-Gesellschaft zusammen und gewannen den Wettbewerb für Nutzungskonzepte, für die auch städtisches Geld bereit steht.

In Neapel hingegen, einer Stadt in der selbst illegal „temporäre“ Hochhäuser errichtet werden, beschäftigte sich „Urban Catalysts“ mit dem Areal einer archäologischen Site, die es vor Wildwuchs zu schützen gilt.

ORF.at, Fr., 2003.05.09

25. April 2003Elke Krasny
ORF.at

Steinleicht und lichtaktiv

Ob archaisch, minimalistisch oder hoch technoid, immer steht das Materialerleben bei Herzog & de Meuron im Vordergrund.

Ob archaisch, minimalistisch oder hoch technoid, immer steht das Materialerleben bei Herzog & de Meuron im Vordergrund.

Zur Hochblüte von Dekonstruktivismus und Postmoderne machten sich Herzog & de Meuron auf die Suche nach ihrer mentalen und kulturellen Verortung, arbeiteten an der Entwicklung einer eigenen architektonischen Sprache. 1986 schufen sie mit dem Ricola Storage Building ein minimalistisches Gebäude, in dem radikal auf jegliche darstellerische Mittel verzichtet wurde. Geleitet von Vorbildern der Minimal Art der US-amerikanischen Kunst der 60er und 70er Jahre suchten Herzog & de Meuron, diese gestalterischen und gedanklichen Ansätze auch mit den Mitteln und Möglichkeiten der Architektur zu verwirklichen.


Steine und Farben

Das Wechselspiel zwischen Außen und Innen ist konstitutiv für die Wahrnehmung der Architekturen von Herzog & de Meuron. Im Jahr 1995 realisierte das Architektenteam mit der Dominus Winery ihr erstes Projekt in den USA, das sich in eine umwerfend großmaßstäbliche Landschaft raffiniert integriert und zugleich aus ihr hervortritt.

Im Gegensatz zu den örtlichen Gepflogenheiten wurde auf eine Klimaanlage verzichtet. Eine archaisch wirkende Mauer, aufgeschichtetet aus Steinen, eingefangen mit einem Stahlgitter wie es bei Bachverbauungen zum Einsatz kommt, schafft einen kühlen Raum mit unendlich variierenden Licht- und Schattenwirkungen. Die nackten Steinwände, Mörtel kam nicht zum Einsatz, mutieren zu Lichtwänden, die ihre Schwarz-Weiß-Erscheinung in den Raum schattenwerfen.


Spiel mit Tag und Nacht

Auch für das 2002 fertiggestellte Laban Dance Center in London , einer der größten Tanzschulen der Welt, spielte das Entwerfen von Schatten-, Farben- und Lichträumen die entscheidende Rolle. Ist die Schule unter tags blass, fast unsichtbar, so mutiert sie des nachts zum strahlenden Leuchtkörper.

Materialtests spielen für Herzog & de Meuron eine entscheidende Rolle. Im Maßstab 1:1 wurden die Farbwirkungen der Polykarbonatplatten, mit denen das gesamte Gebäude verkleidet ist, erprobt. Nicht nur die Fassade ist farblich gegliedert, auch jedes Studio hat eine spezifische Frabe. Im Betrachten des Gebäudes verschmelzen tänzerische Bewegungen, Raum und Fassade zu einem riesigen Licht-Spiel-Farbkörper.

ORF.at, Fr., 2003.04.25

25. April 2003Elke Krasny
ORF.at

„Verstehen, was wir sind“

Im Rahmen der Otto-Wagner-Lecture stellt jährlich ein international renommierter Architekt sein Schaffen vor.

Im Rahmen der Otto-Wagner-Lecture stellt jährlich ein international renommierter Architekt sein Schaffen vor.

„Architektur als Vehikel, um zu verstehen, was wir sind und was wir machen,“ so Jacques Herzog über sein Selbstverständnis des Architekturmachens. Architektur als Prozess der Veränderungen, als Reise, als ständigen Aufbruch zu neuen Lösungen, in dem sich Vertrautes, Bekanntes und Bewährtes in neuer und anderer Form zur Erscheinung bringen kann. Architektur als Wahrnehmungsstandortbestimmung. Architektur als ständige Auseinandersetzung mit dem Wechselspiel von Sichtbarem und Unsichtbarem, mit dem Zeigen und Zum-Vorschein-bringen.


Global Players

Herzog & de Meuron agieren weltweit, insgesamt mit 180 Mitarbeitern. Das Hauptquartier befindet sich nach wie vor, seit der Gründung des Architekturbüros durch Jacques Herzog und Pierre de Meuron im Jahr 1978, in Basel. Derzeit sind Herzog & de Meuron mit 26 verschiedenen Projekten beschäftigt und haben über den Erdball verstreute Büros in London, München, San Francisco und Barcelona sowie temporäre Büros wie etwa in Minneapolis, New York, Tokyo, Shanghai oder Beijing.


Die Leidenschaft der Innovation

Außergewöhnliche Sensibilität für Materialien führen bei Herzog & de Meuron zu exzeptionellen Raumwirkungen. Wird Innovation zum Selbstzweck, so erstarrt sie häufig in technologischem Heroismus oder formalem Leerlauf. Ganz anders bei Herzog & de Meuron, die einfachen, archaischen, aber auch hoch technisiert komplexen Materialien Sinnlichkeit und eine andere Sichtbarkeit einhauchen. Mut zu Innovation und Experiment, aber auch die intensive Beschäftigung mit der Lehre sind anknüpfend an den berühmten Namensgeber die entscheidenden Kriterien für die Auswahl der Gastvortragenden bei der Otto-Wagner-Lecture. Initiiert von den Wiener Architekturschulen, veranstaltet die Akademie der bildenden Künste gemeinsam mit Zumtobel Staff heuer zum dritten Mal diese prominent besetzte Lecture, zu der in vergangenen Jahren Rafael Moneo und Rem Koolhaas geladen waren.

ORF.at, Fr., 2003.04.25

25. April 2003Elke Krasny
ORF.at

In allen Größen

Ob Minihochhaus in Tokyo oder Riesen-Stadion in Beijing, die unverwechselbare Sprache von Herzog & de Meuron kommt in allen Dimensionen zum Ausdruck.

Ob Minihochhaus in Tokyo oder Riesen-Stadion in Beijing, die unverwechselbare Sprache von Herzog & de Meuron kommt in allen Dimensionen zum Ausdruck.

Das medial vielseits beachtete neue Flagship Store für Prada in Tokyo wird am 6. Juni dieses Jahres eröffnet werden. Das kleine, sechsgeschoßige Hochhaus ist wie ein vielfach durchbrochener Kristall konzipiert. Nach unzähligen Tests wurden die gekrümmten Glaseinzelteile, die die ständig zwischen konkav und konvex oszillierende Fassade bilden, in Spanien gefertigt. Aber auch innen ist jeder Raum, jede Geschoßplatte anders geformt. Innen und außen erlauben ständig andere Blicke auf den Raum selbst, der sich mit seiner Addition von Schaufenstern in die verschiedensten Richtungen des Stadtraums reflektiert.


Sport.Platz

Auch beim jüngsten Projekt, dem Beijing International Stadium, dessen Wettbewerb Herzog & de Meuron heuer gewonnen haben, findet sich die Entwurfsgedankenwelt des Mini-Hochhauses wieder: Struktur, Raum und Fassade fallen in eins. 2008 wird dieses gigantische Stadium mit seiner charakteristischen Gitterstruktur für die Olympiade fertig gestellt sein, das größte Projekt, das derzeit in China realisiert wird. Und Jacques Herzog freut sich, aus einem Stadium „wirkliche Architektur zu machen und nicht bloß die heroische Inszenierung von Tragweiten.“


Vorzeige-Architektur

Der Wechsel zwischen Hintergrund und Vordergrund, zwischen Außen und Innen kennzeichnet die Architekturen von Herzog & de Meuron. Auch aus der engen Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern, wie Rémy Zaugg oder Helmut Federle, schöpfen Herzog & de Meuron fruchtbare Rauminspirationen.

Durch den neu entstandenen Raum wird etwas sichtbar gemacht, oft auch etwas, das vorher schon da war. Das Zeigen, das Vor-Zeigen ist als beharrlich präsenter und dennoch unaufdringlich bleibender Gestus ihren unterschiedlichen Bauten eingeschrieben. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass neben riesigen Bauaufgaben wie dem WM-Stadtion für München oder der Neuordnung der Hafenanlage in Santa Cruz de Tenerife, Museen und Ausstellungsräume das eigentliche Herzstück der Architektur von Herzog & de Meuron bilden, in denen man von Basel über München bis London oder Minneapolis ihre gebauten Denkräume und Vorstellungswelten mit ihrer ganz eigenen, geballten „Wahrnehmungsenergie“ als Betrachter intensiv erleben kann.

ORF.at, Fr., 2003.04.25

08. Juni 2002Elke Krasny
Spectrum

Raunzen ist passé

Es herrscht höchste Betriebsamkeit in den Wiener Architekturszenen. Ein neues Berufsbild ist in Planung, an einem neuen Selbstverständnis wird eifrig gearbeitet. Ein Überblick.

Es herrscht höchste Betriebsamkeit in den Wiener Architekturszenen. Ein neues Berufsbild ist in Planung, an einem neuen Selbstverständnis wird eifrig gearbeitet. Ein Überblick.

Ende der neunziger Jahre herrschte große Unzufriedenheit in Wiens junger Architekturszene: Die Rahmenbedingungen für innovatives oder gar experimentelles Bauen waren schlecht, Interesse für junge Architekturbüros mußte erst mühsam geweckt werden. Der Austausch mit Künstlern und anderen Kulturschaffenden kam nur spärlich in Gang, avanciertere theoretische Ansätze, etwa aus dem Bereich der Gender Studies, wurden wenig bis gar nicht wahrgenommen. Etablierte Institutionen der Architekturvermittlung zeigten an diesen neuen Ansätzen anfänglich nur wenig Interesse. Statt jedoch in Jammern oder gar Lethargie zu verfallen, wurde man initiativ, fand sich zu Plattformen, Netzwerken und anderen losen Vereinigungen zusammen und machte sich mit großem Engagement ans Verändern.

So startete Volker Dienst im Jahr 1997 die Plattform „architektur in progress“ und heftete sich die Vermittlung innovativer Architektur und junger Büros auf die Fahnen. Er schuf einen Rahmen zur Präsentation und, vielleicht noch wichtiger, zum Miteinandersprechen. Einen langfristigen Kooperationspartner für die Vortragsreihe fand Dienst in Bene Büromöbel. Ließen sich die Architekten anfangs noch eher zögerlich zum Vortrag bitten, ist nun schon mit Wartezeiten bis zu einem halben Jahr für einen Auftritt zu rechnen. Kooperiert wird seit neuestem auch mit der MAK-Nite, wo die Vortragenden die Gelegenheit haben, sich ergänzend zur Darstellung mit Worten und Lichtbildern auch räumlich unter Beweis zu stellen.

Ebenfalls 1997 fand sich die lose Gruppierung „bypass“, deren technoid-therapeutischen Namen man durchaus als Programm auffassen sollte. Es ging um nichts anderes als die Reform des Architektenberufs. Doch dann wurde es wieder still um „bypass“. Im Mai 2001 erwachte die Gruppierung zu neuem Leben und formierte sich unter dem Namen „ig-architektur“ als österreichweite Interessengemeinschaft Architekturschaffender. Man orientierte sich am Vorbild der IG Kultur oder der IG AutorInnen. Zur Standortbestimmung und Selbstdefinition nahm man sich Zeit. Knapp ein Jahr später, Ende April 2002, wurde nun dem gewünschten halböffentlichen Dasein ein Ende bereitet und im Semperdepot ein „going public“ mit Manifestverlesung in Szene gesetzt.

Der Verein mit rund 120 Mitgliedern tagt monatlich im Depot, im derzeitigen Ausweichquartier in der Breiten Gasse. Agiert wird streng basis-demokratisch, aus Arbeitsgruppen zu Themen wie Berufsberechtigung, Wettbewerbe oder Medien wird im Plenum referiert. Ihr großes Potential sieht die ig-architektur im gemeinsamen Handeln und im schnellen Informationsaustausch in der großen Gruppe. Primär geht es um die Verbesserung der beruflichen Rahmenbedingungen, langfristig aber auch um die Entwicklung eines neuen Verständnisses des Architektenberufs. „Man ist nicht mehr allein“, so die kulturpolitische Botschaft des Solidarnetzwerks, das sich der heterogenen Vorstellungen der einzelnen Mitglieder durchaus bewußt ist. Heißes Eisen ist die Berufszugangsberechtigung. Geht es nach dem Wunsch der ig-architektur, so soll man hinkünftig nach einem erfolgreichen Studienabschluß auch legal arbeiten können. Dies rüttelt entschieden an den Grundfesten der Berufsvertretung, der Kammer der Architekten- und Ingenieurkonsulenten, deren weitreichende Reform die ig-architektur durch „Druck von außen“ herbeiführen möchte.

Wie die Arbeitswelt von Architekten wirklich aussieht, bleibt den Augen der Öffentlichkeit zumeist verborgen. Ein neues Projekt von „architektur in progress“ soll hier Abhilfe schaffen und zugleich desolate Erdgeschoßzonen vor der „Garagisierung“ bewahren. Volker Dienst sieht leerstehende Geschäftslokale, mit Plakatwänden zugekleisterte Straßenfronten als Herausforderung zum Handeln, als ausgesprochenen Architektenarbeitsraum. „Keine Straße der Architekten, sondern die Architekten an die Straße bringen“, so lautet das Motto. Im Heumühlviertel im vierten und fünften Bezirk sowie im Grätzl rund um die Kaiserstraße im siebten Bezirk führt das Einkaufsmanagement Wien derzeit eine Erhebung des Leerstands durch. Architekten und andere kreative Köpfe sollen hinter den Schaufenstern einziehen und die Gegend mit Arbeitsleben erfüllen, aber auch durch konkrete Veränderungen aufwerten. Bis dato haben sich 45 interessierte Bürogemeinschaften gemeldet. Eine sogenannte „Start-up-Unit“ pro Gebiet soll beim Start ins Berufsleben helfen, mit der Kulturabteilung der Stadt Wien wird derzeit über eine Finanzierung der Miete für die ersten drei Jahre verhandelt. Bei einem Wettbewerb können neu gegründete Architekturbüros ihre Ideen und Konzepte zur langfristigen Revitalisierung des jeweiligen Viertels einbringen, der beste Vorschlag wird dann von einer Jury ausgewählt und mit der „Start-up-Unit“ ausgezeichnet.

Die „Revitalisierung der Architektur“, sieht „podroom“-Betreiberin Christine Bärnthaler vor allem von der Kunst kommen, die „gesellschaftliche Themen bearbeitet und verarbeitet“. Rund um das „podroom“ sammelt sich eine freie Architekturszene, die Zwischenräume auslotet, zu Grenzgängen aufbricht und mit den Vertretern anderer Sparten regen Austausch pflegt. Auftakt für die vielfältige Praxis dieses erweiterten Architekturbegriffs war im Oktober 1999 mit einer Ausstellung und einem Symposium in Ungarn. Unter dem Titel „architectural tactics“ hatten Themen wie Virtualität und Marketing ebenso Platz wie ein rund um Ferdinand Schmatz als literarischem Impulsgeber gruppiertes Architektentheater mit Heidulf Gerngross, Hermann Czech, Richard Manahl von Artec sowie Anna Popelka/Georg Poduschka. Zur Diskussion gestellt wurden von Schmatz Begriffe wie „Experte/Laie“, „Material/Mittel“ oder „Körper/Raum“ und somit allgemein die Frage nach den Möglichkeiten des Sprechens über Architektur aufgeworfen. Die kleine Initiative, die vom Engagement und der Improvisationsbereitschaft aller Beteiligten lebt, agiert international, mit einem Radius von St. Petersburg bis Buenos Aires.

Da Architektur in ihrer Entstehung so langsam ist, sieht Bärnthaler die Notwendigkeit, der Architektur bereits beim Entstehen zuschauen und zuhören zu können. Ideen sollen zirkulieren, Freiräume für Präsentationen geschaffen werden, lange bevor die Zeit für eine rückblickende Werkschau gekommen ist. Das leerstehende Kallco-Haus in der Breiten Gasse dient bis zum Herbst als Galerieraum und Büro. So befindet sich die Initiative nun direkt an der umstrittenen Zugangssituation auf der Hinterseite des Museumsquartiers, und sie wird diese Situation einem geladenen Wettbewerb zur Aufgabe stellen. Es sollen Gegenentwürfe zum bereits abgesegneten Entwurf von Carl Pruscha entstehen, die in einer wechselseitigen Jurierung durch die Teilnehmer öffentlich vorgestellt werden und dadurch auch die gängige Wettbewerbspraxis in Frage stellen.

Gebaute Räume und ihre vorherrschende Betrachtungsweise in Frage zu stellen war der Ausgangspunkt für eine Gruppe von Assistentinnen an der Technischen Universität Wien, die im Wintersemester 1999 eine Ringvorlesung zum Thema „Building Gender“ startete. Nie sind die gebauten Räume neutral, auch nicht in bezug auf das Geschlecht. Räumliche Organisationen spiegeln soziale Konstruktionen wie die von Geschlechterrollen wider. Die Architekturausbildung an der TU, im großen und ganzen der Theorie eher abhold, ist dennoch in der Zwischenzeit um die Gender Studies als Pflichtfach bereichert worden. Dörte Kuhlmann vom Institut für Baukunst, Bauaufnahmen und Architekturtheorie geht es um die „Entwicklung einer Kritik des gesamten Fachgebiets der Architektur“, um eine Theorie, die das Gebaute wie auch die Produktionsbedingungen von Architektinnen umfaßt.

Ausgehend von den Gender Studies wurde ein Lehrmodul zu „Architektur und Gesellschaft“ entwickelt, das in-stitutsübergreifend Architekturtheorie, Kunstgeschichte, Wohnbau, aber auch Stadtsoziologie und Plastische Gestaltung einbezieht. Das Hauptaugenmerk liegt künftig auf einer kritischen Auseinandersetzung mit der Architekturkritik: Wie kann man die Bilder der Hochglanzpublizistik lesen lernen, wie die Kriterien der Beurteilung nachvollziehen und bewerten?

Ob bei der Arbeit oder beim Wohnen, ob an historischen Plätzen oder bei High-Tech-Projekten: die Beiträge des Essaybands „Building Gender“ (edition selene) untersuchen das Aufeinandertreffen von Architektur und Geschlecht in seinen Konstruktionsweisen. So erfährt man von Daniela Hammer-Tugendhat, der Tochter der Auftraggeber des legendären Hauses Tugendhat in Brno, wie diese von Mies van der Rohe geschaffene Ikone moderner Architektur von „Mann, Frau und Kind“ tatsächlich bewohnt wurde. Klassische Frauenräume wie die Küche werden genauer unter die Lupe genommen und von Eva Blimlinger im Hinblick auf die geschlechtsspezifische Färbung von Planung und Raumausstattung untersucht. Wie Räume in ihrer sozialen Wirkungsweise funktionieren, wie Geschlechterrollen in diese Räume eingelassen sind und zugleich Weiblichkeit und Männlichkeit immer aufs neue anders produziert werden, dies ist zentrales Anliegen der genderspezifischen Auseinandersetzung mit Architektur.

Ende April ging die Nullnummer von „Die schönen Architektinnen“, „Die schönen Architekten“ in Radio Orange 94.0 auf Sendung. Welcher der beiden Titel nun politisch „korrekter“ sei, ist noch unentschieden und wird sich von Sendung zu Sendung weisen. In der programmatischen Vielfalt von Wiens einzigem freiem Radio wird zwischen Vietnamesisch und Persisch, zwischen Feministisch und Wienerisch ab nun auch Architektur gesprochen. Jeden Dienstag zwischen 17.30 und 18 Uhr. Architektur soll hier als kulturelle Frage, als Problem in der Stadt, als öffentliches Anliegen verhandelt werden.

Auf publizistisches Neuland wagte sich „dérive“-Herausgeber Christoph Laimer und stieß mit seiner interdisziplinären „Zeitschrift für Stadtforschung“ innerhalb der Architekturszene auf unerwartet große Resonanz. Politischer Stadtjournalismus, der Themen wie Rassismus oder Migration ebenso wie öffentlichen Raum, Rechte der Stadtbewohnerinnen oder die Kapitalisierung der Städte im globalen Standortwettbewerb aufgreift, schloß eine publizistische Lücke. Nach welchen Spielregeln funktioniert die Stadt, und wie wird dieses Funktionieren lesbar? Angeregt von den Ideen der Situationisten und den Arbeiten von Mike Davis über Los Angeles liefert „dérive“ Einsichten ins Urbane, wie sie sonst kaum zu finden sind. Für die nächsten Nummern sind Auseinandersetzungen mit Wohnen und Marketing sowie Stadt, Raum und Geschlecht geplant.

Unterschiedliche Publikationsprojekte sind zur Zeit in Vorbereitung. Für Herbst verspricht das „redaktionsbuero“ rund um Manuela Hötzl mit der Internetplattform „Contur“ neues Leben in die Architektur- und Kulturkritik zu bringen. Auf Architektur als Innovation setzt Christine Bärnthaler. „Architecture is a verb“, so der Titel der geplanten Zeitschrift, die global erscheinen und idealiter überall auf der Welt zum gleichen Preis erhältlich sein soll. Für die Nullnummer haben 13 argentinische Architekturbüros Le Corbusiers „vers une architecture“, zwischen 1920 und 1922 als Artikelfolge in der Zeitschrift „Esprit Nouveau“ erschienen und zu den einflußreichsten Architekturtexten des 20. Jahrhunderts zu zählen, einer zeitgenössischen Relektüre und Neuinterpretation unterzogen. Die Wahl ist programmatisch: „Architecture is a verb“ soll weltweit Innovationen versammeln und verbreiten. Ein Verlag für das Projekt ist noch nicht gefunden.

Architekturszenen proben den Aufbruch, die Plattformen und Netzwerke, die losen Gruppierungen und wechselnden Kooperationen agieren dezentral. Es geht nicht um den Bau eines neuen Zentrums der Architektur, sondern um ein breites Spektrum an Aktivitäten und unterschiedliche Zugänge zu Architektur. Der Mythos vom einzelkämpferischen Architekturheros, der in die Jahre gekommen sein muß, um endlich zu Erfolg zu gelangen und in opulenten Retrospektiven gefeiert zu werden, ist passé. Jammern und Klagen ebenso. Angesagt sind der Mut zur Innovation und zur Zusammenarbeit, die Bereitschaft zur Auslotung von Zwischenräumen und nicht zuletzt die Herausforderung, Architektur wieder verstärkt als soziales Handeln zu begreifen, das sich eben nicht nur im Gebauten mitteilt. Architektinnen und Architekten setzen Zeichen und bauen an einer veränderten Zukunft ihres
Berufs.

Spectrum, Sa., 2002.06.08

Profil

Lehrtätigkeit

Professorin an der Akademie der bildenden Kuenste Wien

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