Übersicht

Texte

30. Juli 2012Elke Krasny
Sonja Pisarik
Hintergrund

Die Entwicklung der Wiener Kleingärten als „planungspolitisches Kapitalverbrechen“?

Elke: Uns interessiert der Umgang mit dem vielschichtigen Erbe dessen, was aus der Schreber- und Siedlerbewegung in Wien gewachsen ist. Die Zukunft dieser...

Elke: Uns interessiert der Umgang mit dem vielschichtigen Erbe dessen, was aus der Schreber- und Siedlerbewegung in Wien gewachsen ist. Die Zukunft dieser...

Elke: Uns interessiert der Umgang mit dem vielschichtigen Erbe dessen, was aus der Schreber- und Siedlerbewegung in Wien gewachsen ist. Die Zukunft dieser Orte ist ein Hot-Topic. Aufgrund bestimmter gesetzlicher Veränderungen – jetzt schon wieder mit einem zeitlichen Abstand – kann man zumindest Vermutungen anstellen, was das perspektivisch für ein Stadtganzes bedeutet. Wie geht Stadt mit etwas um, das – wenn man es zeithistorisch betrachtet – eine von den BürgerInnen dieser Stadt vor vielen Jahren erkämpfte Ressource ist?

Reinhard: Natürlich ist es ein Verlust von Artenvielfalt, wenn Obst- und Gemüsegärten, die es in den 1980er-Jahren ohnehin nicht mehr flächendeckend gegeben hat, final Zierrasen, Thujen und Swimmingpool weichen, aber das würde ich als das geringere Problem sehen. Das Erschütternde daran ist eher die extreme Dimension der Umwidmung in ganzjährig bewohnbare Kleingärten, was seit 1992 nach einer Gesetzesänderung möglich ist. Nach 15 Jahren waren von 35.000 Kleingärten bereits 20.000 widmungsrechtlich umgewandelt in dauerhaftes Wohnen. Die Stadt Wien ist in Zeiten, in denen schon längst klar war, dass das frei stehende Einfamilienhaus zumindest für die Großstadt kein sinnvolles Modell ist, auf die unbegreifliche Idee gekommen, 20.000 Einfamilienhäuser erstens einmal zuzulassen und zweitens dann auch noch zu fördern und die Grundstücke zu Spottpreisen zu verkaufen.

Sonja: Was ist das gravierendste Problem dieser Entwicklung?

Reinhard: Die bestimmende Konstante in der Entwicklung jedes Siedlungsraums ist das Grundstückseigentum. Dass man im ausgehenden 20. Jahrhundert diesen Schatz für die Stadtentwicklung, nämlich große zusammenhängende Grünflächen, die noch dazu in der Hand der Stadt Wien waren, aufsplittet in 20.000 oder 35.000 EigentümerInnen à 250 m², war eine rein populistische Entscheidung gegen jede fachliche Vernunft. Neben allen raumplanerischen Folgen ist das eine massive Verschleuderung von öffentlichem Eigentum. Da gab es von Anfang an völlig widersinnige Diskontierungen, also eigentlich das Gegenteil des üblichen Handelsprinzips, das doch normalerweise lautet: Am Anfang verlange ich den vollen Preis, und wenn ich sehe, das geht schlecht, dann werde ich billiger.

Sonja: Ja, hier läuft es andersrum. Als Anreiz für den Kauf gibt es einen Preisnachlass vom Verkehrswert, der in Abhängigkeit zum Umwidmungszeitpunkt steht. Drei Jahre nach der Außenvermessung, drei Jahre nach der Umwidmung oder ein Jahr nach der Innenparzellierung gibt es 45 % Nachlass. Nach Ablauf des ersten Jahres nach diesem jeweiligen Zeitraum wird der Preisnachlass auf 30 %, im nächsten Jahr auf 20 % und wieder ein Jahr später auf 10 % gesenkt.

Reinhard: Stadtstrukturell ist das sehr fatal: Es wurden strategisch entwickelbare Gebiete, die der Stadt gehörten, auf eine Vielzahl privater Kleineigentümer verteilt. Dadurch entsteht eine Siedlungsstruktur, die man nie wieder revidieren kann. Die harmlosere Variante wäre gewesen, den KleingärtnerInnen ein Baurecht einzuräumen, solange die Pacht ihrer Kleingärten noch läuft – was natürlich auch eine Schnapsidee ist. Sie hätten dann Einfamilienhäuser hinstellen können, die vielleicht 50, 60 Jahre, bis der Pachtvertrag ausläuft, Bestand gehabt hätten. Die Zeiten, in denen Gebäude für über 100 Jahre errichtet werden, sind ohnehin vorbei.

Sonja: Wie kam es dazu?

Reinhard: Die Stadt hat ihre Entscheidung damit erklärt, dass man widmungstechnisch nachvollziehen wollte, was ohnehin schon längst Realität war, nämlich dass in manchen Kleingärten auch gewohnt wird. Ist das der Sinn von Stadtplanung? Ein anderes Argument war, dass man eine Alternative zum Abwandern ins grüne Niederösterreich bieten wollte.

Sonja: Es wird kolportiert, dass die Stadt Wien mit der Gesetzesnovelle von 1992 Wohnraum schaffen wollte, weil man – fälschlich – geglaubt hatte, die Leute ziehen alle in ihre Kleingartenhäuser und ihre Wohnungen in Wien werden frei. Das hat allerdings kaum funktioniert, weil man einfach beides behalten hat. Dabei entstand 1988 – also vier Jahre vor der Novelle – das sogenannte Kleingartenkonzept, das eigentlich das Gegenteil von dem verlangte, was dann vier Jahre später passiert ist: eine deutliche Unterscheidung von Kleingarten- und Siedlungsgebiet, eingeschränkte Bebaubarkeit etc. Man fragt sich, welchen Grad an Verbindlichkeit solche Konzepte haben?

Reinhard: Null. Die Wiener Stadtplanung wurde in den frühen 1990er-Jahren zum Selbstbedienungsladen der Politik.

Elke: Was bedeutet das für die Stadt? Es gibt eine Stadt, die hat aus einer gewissen historischen Gewordenheit heraus die Ressource eines Grüngürtels. In dem ist auch Aufenthalt ein Teil davon, aber eben nicht als Daueraufenthalt durch alle vier Jahreszeiten. Aufgrund dieser gesetzlichen Veränderung legt man dann zwei Parzellen zusammen und schon wird das immer größer. Diese Fläche kann man aus der Mikroposition der einzelnen Personen, die dort leben, betrachten, aber man kann sie auch noch einmal von weiter weg betrachten – was heißt das, dass sie überhaupt existiert? Oder was bedeutet es, wenn sie nicht mehr da ist? Oder wenn man sie verhüttelt?

Reinhard: Was es an Verlust für die Bevölkerung bedeutet, kann ich nicht einschätzen. Für mich als Stadtbenutzer ist der Verlust weniger einer an öffentlich zugänglichen Grün- und Erholungsflächen als ein ästhetischer, weil fast alles enorm hässlich ist, was dort entsteht. Mein Eindruck ist, dass viele Kleingartenvereine ohnehin schon vorher bestrebt waren, diese Grünräume möglichst abzuriegeln.

Sonja: Ich war kürzlich am Hackenberg in Wien 19 unterwegs – dort gab es einen jahrelangen Umwidmungsstreit, denn fast die Hälfte der BewohnerInnen stimmte gegen die Umwidmung in ganzjähriges Wohnen. Auch die AnrainerInnen haben massiv versucht, das Gebiet als Naherholungsgebiet zu erhalten. Wenn man nun dort spazieren geht, sieht man erschreckende Entwicklungen. Es werden unzählige Meter lange Schneisen in die Kleingartensiedlung geschlagen, die dann von Developern bebaut werden. Überall hängen Transparente, die auf die Grausamkeiten architektonischer Natur verweisen, die entstehen werden. Und das Absurde daran sind die Preise: Die Häuser kosten zwischen 500.000 und 1.000.000 Euro!

Elke: Das ist überhaupt nicht mehr leistbar. Das Hackenberg-Beispiel ist interessant, wenn man bedenkt, dass diese Flächen ja irgendwann einmal aus einer ganz bestimmten Krisensituation heraus erkämpft wurden. Danach gab es eine Art Verfestigungszustand, in dem über Jahrzehnte Rechte ersessen wurden. Aber ich glaube, wir befinden uns schon auf einer nächsten Stufe: Die Developer entdecken diese Gebiete und die Begehrlichkeiten sind geweckt. Es verschwinden die Dinge, die konstitutiv wichtig waren.

Sonja: Das Kleingartengebiet wird zu einer hochpreisigen Siedlung ... Laut den Gemeinderatsprotokollen zur Umwidmung am Hackenberg war die Begründung der SPÖ für ihre Ja-Stimme, dass man die KleingärtnerInnen unterstützen will, die auch über ein kleines Stück Grün verfügen möchten und nicht das große Geld haben, um sich ein Grundstück anzuschaffen – im Grunde braucht man aber wohl in Zukunft das große Geld dafür.

Elke: Was können Leute tun, die alle diese Dinge nicht haben, weder den Zugang zu den Ressourcen noch das reale Kapital, um Teil eines Kleingartens zu werden, aber das Bedürfnis haben zu gärtnern – wo können die ihr Territorium finden?

Reinhard: Wir haben 220.000 Gemeindebauwohnungen, was eine immense sozialpolitische Manövriermasse ist. Ob die Wohnsituation überall zufriedenstellend ist, sei dahingestellt, aber – verglichen mit anderen europäischen Großstädten – ist das Wohnen in Wien noch immer relativ gut leistbar.

Elke: Bleiben wir ganz konkret beim Mikrokosmos am Hackenberg. Man kann an allen fünf Fingern abzählen, dass die HackenbergerInnen nicht alle dort bleiben werden. Das könnte man auch als einen Gentrifizierungsprozess im Kleingarten bezeichnen. Das Territorium ist entdeckt worden, die Frage der Investition wird eine andere – ich investiere nicht mehr mein Leben und meine Zeit, sondern ich zahle nur mehr Schulden ab, um dort zu wohnen. Ich glaube, es gibt einen Unterschied zwischen informeller Bauweise, die sich über ein Leben spannt, und dem Abzahlen von Schulden für ein neu erbautes Einfamilienhaus vom Developer.

Reinhard: Das ist eine interessante Sichtweise, die aber aus stadtplanerischer Sicht keine so große Rolle spielt. Für die Stadtplanung ist es fürs Erste egal, ob dort eine Investorenvilla oder die Do-it-yourself-Baumax-Hütte steht. Im Endeffekt handelt es sich ja in keinem der beiden Fälle um sozial schwache Schichten. Und wenn sie noch richtige KleingärtnerInnen waren, dann betrifft der Verlust „nur“ ihren Zweitwohnsitz – das heißt, es geht um keine Verdrängung vom Wohnstandort.

Elke: Viele von denen, die sich diese Selbstbaumethode über die Jahrzehnte noch leisten konnten, können sich eine Abzahlung nun nicht mehr so einfach leisten. Ich glaube, dass das einen ganz großen Unterschied macht. Aber die Frage bleibt ja trotzdem: Wo siehst du als Planer in einer Stadt, die sich jetzt derart zu verändern beginnt, einen Raum fürs Gärtnern?

Reinhard: Ich bin nicht der Meinung, dass man als Städter Anspruch auf einen Garten hat. Man hat sehr wohl Anspruch auf hohe Wohnqualität, die auch ein Substitut für einen Garten beinhalten sollte, sei es in Form einer Terrasse, einer Gemeinschaftsterrasse vielleicht, eines Balkons oder was auch immer. Und natürlich besteht ein Anspruch auf eine hohe Qualität des öffentlichen Raums, befestigt und grün. Darauf ja, aber auf ein eigenes Stück Wiese? Das geht sich allein rechnerisch nicht aus. Ich sehe darin auch nicht den Sinn einer Großstadt im 21. Jahrhundert angesichts der Bevölkerungsprognosen, die wir haben. Aber natürlich sollten Gärten, die historisch gewachsen sind, vor allem da, wo die Stadt ohnehin an natürliche Grenzen stößt, etwa in Richtung Wienerwald, beibehalten, mitunter sogar geschützt werden.

Elke: Ich glaube, dass das Recht auf ein Einfamilienhaus und das Recht auf Gärtnern zwei sehr unterschiedliche Dinge sind. Ich bin nicht sicher, ob ich dem zustimmen würde, dass man als Städter keinen Anspruch auf das Gärtnerische hat – in dem, was Stadt ist und was Stadt kann.

Reinhard: Das soll und kann Stadt schon ermöglichen, aber ich sehe die zwingende räumliche Koppelung zwischen dem Wohnen und dem Gärtnern nicht. Das kann auch gemeinschaftlich und bzw. oder an anderer Stelle stattfinden. Man könnte in den Außenbereichen zeitlich befristet Gartenland zur Verfügung stellen, dazu gibt es noch genug Flächen! Ganz Rothneusiedl steht sozusagen zur Verfügung.

Sonja: Aber ist nicht das Gärtnern auch ein sehr zeitspezifischer Moment? Der Wunsch zu gärtnern ist ja nicht zu jeder Zeit gleich hoch, oder? Neu ist auch, dass die Leute im Kleingarten immer jünger werden, das zeigen aktuelle Studien.

Elke: Jede Schule macht heute ihre Gartenprojekte. Das ist in der Zwischenzeit fast schon eine pädagogische Kunst geworden, den Garten zu ermöglichen. Es ist ja nicht nur der Ort, an dem gegärtnert wird, sondern es ist auch die Zeit, in der gegärtnert wird.

Reinhard: Also wem das Gärtnern ein so zentraler Lebensinhalt ist, für den stellt sich die Frage, ob er nicht am Land glücklicher wird. Ich denke, dass viele urbane Menschen keinen eigenen Garten brauchen und gern innerhalb der gründerzeitlich strukturierten Stadt leben.

Elke: Ich möchte noch etwas anderes fragen. Du hast am Anfang darüber gesprochen, dass die Kleingärten eine unglaubliche Ressource der Stadt sind. Sie sind großteils erschlossen und waren in einer Hand, sind das jetzt allerdings nicht mehr. Ich glaube, du hattest da etwas anderes im Kopf, als du von Ressource gesprochen hast. Was für eine Ressource ist das für dich? Was hast du da als Planer vor Augen?

Reinhard: Prinzipiell sollte Naturnähe auch in dicht bebauten Stadtteilen möglich sein. Man sollte die Verpflichtung zur Schaffung eines privaten Freiraums in die Wohnbauförderkriterien oder sogar in die Bauordnung hineinschreiben und diesen auch quantifizieren, beispielsweise mit 8 m² pro Haushalt. Das ist keinerlei Widerspruch zu Anforderungen wie Dichte und Urbanität, das sollte im Neubau problemlos möglich sein. Und wenn jeder im Neubau einen Freiraum hat und von den 8 m² dann 2 m² auf einen Pflanzentrog entfallen, dann ist das zumindest ein brauchbares Substitut für ein eigenes Fleckerl Erde zum Gärtnern. Wer mehr will, bemüht sich eben um die knappen Kleingärten am Stadtrand, die dann aber wirklich Kleingärten sein sollen. Und wer keinen bekommt oder noch mehr will, der kann immer noch irgendwo weiter draußen eine ihm entsprechende Wohnform suchen.

Elke: Was würdest du als Planer machen wollen, wenn du könntest?

Reinhard: In Wien fehlen die nötigen Instrumente, um prinzipiell mit Grundeigentum adäquat umzugehen. Andere Bundesländer haben bereits ganz erstaunliche Instrumente der Bodenmobilisierung. Natürlich umfasst das auch die Besteuerung oder Rückwidmung von gewidmetem, aber nicht genutztem Bauland – oder das Recht der öffentlichen Hand, gehortetes Bauland zu einem günstigen Preis anzukaufen. Da hat Wien keinerlei Gesetzgebung. Und bei den großen zusammenhängenden Grünflächen ist es umso wichtiger, dass eigentumsrechtliche oder vielmehr spekulative Aspekte bei entsprechendem Bedarf und standörtlicher Eignung einer geordneten Entwicklung nicht im Wege stehen, um dort effizient Infrastruktur hinlegen und konzertiert Städtebau betreiben zu können, anstatt mal hier, mal da etwas zu bauen.

Elke: Also du würdest diese Flächen für Städtebau nutzen?

Reinhard: Manche der Kleingartenanlagen langfristig ja! Natürlich ist es romantisch, wenn etwa in Tokio inmitten von Hochhäusern noch Reisfelder bestehen, aber für mich ist die Frage wesentlicher, was volkswirtschaftlich und stadtstrukturell sinnvoll ist. In dieser Hinsicht wäre es gut, wenn man besagtes Reisfeld irgendwann einmal einer städtischen Nutzung zuführen könnte.

Sonja: 1987 hat die MA 18 eine Studie herausgegeben, in der die Grünsysteme europäischer Großstädte miteinander verglichen wurden. Wien rühmt sich ja nach wie vor damit, so viele Grünflächen zu haben. Das Interessante war aber, das für die sehr große zweite der drei Zonen (die erste Zone umfasst das Stadtzentrum bis 5 km, die zweite Zone liegt 5 bis 10 km und die dritte Zone mehr als 10 km vom Stadtzentrum entfernt) die Werte sehr schlecht sind, weil es hier nur wenig zusammenhängende Grünflächen gibt. Wenn ich dich jetzt richtig verstehe, dann hättest du als Stadtplaner kein Problem damit, diese Flächen noch weiter zu reduzieren?

Reinhard: Die Frage für die Stadtplanung ist nicht nur, ob eine Veränderung für das konkrete Gebiet oder das unmittelbare Umfeld ideal ist, sondern ob es der Gesamtstadt oder sogar der ganzen Stadtregion dient. Das Stadtwachstum nicht in dieser von dir angesprochenen zweiten Zone unterzubringen, sondern an Standorten, wo weder die verkehrstechnische Erschließung noch die sonstige Infrastruktur vorhanden sind, hätte aus meiner Sicht wenig Sinn. Da bin ich für den Weg des geringeren Übels. Die langfristige Entwicklung von zentral gelegenen Kleingartenanlagen ist ja auch eine Frage des effizienten Einsatzes knapper öffentlicher Mittel und nicht nur romantisch zu sehen. Leider hat unsere Stadtregierung in den letzten 20 Jahren aber weder nach rationalen noch nach romantischen Gesichtspunkten agiert, sondern einfach nur sehr kurzsichtig. Es geht nicht darum, Grüninseln zuzubetonieren. Wenn man von einem Kleingartengebiet die Hälfte urban bebaut, wohnen in dieser Hälfte fünfmal so viele Leute, wie wenn man die einzelnen Hütten in Einfamilienhäuser umwandelt. Die andere Hälfte könnte man zu einem hochwertigen Freiraum für alle machen. Das wäre dann auch ein attraktiveres und nutzbareres Grünraumangebot für jene, die im Umfeld leben, als der größere vermeintliche Freiraum zuvor, wo man in Wirklichkeit aber bestenfalls durchspazieren konnte und über den privaten Thujenzaun hinweg mal einen Apfelbaum sah. Für mich ist das kein Schreckensszenario, eine rechnerisch, aber nicht funktional bestehende Grünfläche zu reduzieren und in diesem Zuge etwas Sinnvolleres daraus zu machen.

Elke: Das ist qualitativ ein ganz anderer Zugang als das Programm von 1992. Zuerst hatte man ein „koloniales Zeitmodell“, die Schrebergärten wurden auf einen langen Pachtzeitraum vergeben, so wie etwa Hongkong 100 Jahre lang eine britische Kolonie gewesen ist. Außerdem waren die Schrebergärten seit 1922 in der Sozialgesetzgebung verankert. Das Recht auf den Garten war somit Teil des sozialen Denkens des Funktionierens einer Stadt aus der Perspektive ihrer Gesetze. Das Gesetz von 1992 ist also ein Privatisierungsgesetz, kein Sozialgesetz, in dem Sinn, dass man einer Sozietät als Ganzes etwas Gutes tut, sondern es geht um die Stärkung von Privateigentum. Was müsste man jetzt tun, um dort hinzukommen, was du gerade skizziert hast?

Reinhard: Das ist realpolitisch inzwischen nicht mehr rückgängig zu machen. Da müsste man enteignen, deswegen halte ich das Kleingartengesetz von 1992 für ein Kapitalverbrechen. In dem Moment, wo man zusammenhängendes öffentliches Eigentum auf Tausende private Eigentümer aufsplittet, kann man jede weitere geordnete Entwicklung vergessen. Da ist es noch realistischer, dass die Stadtautobahnen in und um Wien einmal abgerissen werden oder nur noch Fahrräder darauf fahren dürfen, als dass in den ehemaligen Kleingärten noch einmal eine konzertierte Stadtentwicklung stattfindet.

Elke: Ich frage mich, was in den – unscharf – letzten zehn Jahren in vielen Städten der Welt passiert ist, wie aufgesetzt auch immer, denn vieles, wie Rooftop-Farming oder Vertical Farming, ist nur Kosmetik, was Versorgungslagen anbelangt. Das kann nie auffangen, was der gleichzeitig vor sich gehende Flächenfraß bewirkt. Wir haben hier ein bestimmtes Versprechen auf etwas, das sich so nicht einlöst. Es ist eine kulturelle Formation geworden, Stadt so zu denken, dass auch das, was man früher dem Land zugeschrieben hat, Teil der Stadt geworden ist. Du hast die Urbanisierung hervorgehoben und ich frage mich, ob das nicht längst Teil dessen geworden ist?

Reinhard: Ich sehe Grün und Beton nicht als Widerspruch. Prinzipiell gibt es wunderbare verdichtete Wohnformen, die stark durchgrünt sind. Ich halte nach wie vor Roland Rainers Gartenstadt für ein perfektes Modell. Ich kann es nicht nachvollziehen, dass man in Aspern bereits in der ersten Phase Großstadt bauen will. Warum wollen wir das über Jahrhunderte erfolgte Wachstum von Stadt, dem wir unsere Urbanität verdanken, nicht einmal an so einem Standort zulassen? Also eine Möglichkeit schaffen, dass sich Stadt wirklich entwickelt, nicht nur horizontal, sondern auch vertikal. Das wäre eine spannende Strategie, dort mit einer durchgrünten Stadt zu beginnen, die einige Jahrzehnte so bleiben kann oder auch nicht, auch dichter werden kann. Solange Schrebergärten einfache Schrebergärten sind, brauchen sie keinen Kanal, keine Heizsysteme, keine großen Straßen oder sonstige Infrastrukturen, keine Schulen, Kindergärten, keine Nahversorgung, keine sozialen oder medizinischen Einrichtungen, dann sind sie einfach städtische Formen von Gartenland mit einer kleinen Hütte, sodass man im Sommer auch mal übernachten kann. Bei Bedarf könnte eine solche Fläche in einigen Jahrzehnten sinnvollerweise einer urbanen Stadtentwicklung weichen; und die leicht verlagerbare Funktion Kleingartennutzung – es hängt ja kaum Infrastruktur dran – könnte an einem anderen Teil des Stadtrands angesiedelt werden. Die Ressource, die du meinst, nämlich Gartenland, ist ja im Grunde überall verfügbar. Die Stadt nachhaltig auszubauen, ist hingegen nicht überall machbar, weil es auch um die Verkehrswege und die sonstige Infrastruktur geht. Das heißt, wenn wir Bevölkerungszuwachs wollen, müssen wir uns fragen: Wo ist der optimale Ort dafür? Wenn der optimale Ort einer ist, wo jetzt ein Kleingarten besteht, dann finde ich es vertretbar, den in einer gewissen Fristigkeit woandershin zu verlagern und dort zu bauen. Es geht nicht um das Beschneiden des Rechts oder Anspruchs oder Bedürfnisses nach Gärtnern. Wichtiger ist das Wo beim Wohnen, Arbeiten und Einkaufen und nicht beim Gärtnern.

Elke: Wohin verlagert man das? Was sind die zugrunde gelegten Paradigmen? In Havanna zum Beispiel war das Urban Farming lange eine Form der Krisenbewältigung (kein Öl, keine Schädlingsbekämpfung vorhanden; strenges Embargo von den USA; Absatzmärkte in den Geschwisterstaaten verloren). In der Doktrin der Stadtplanung war das die „Notlösung“. Das Urban Farming war zunächst informell und dann von oben flächendeckend organisiert, es war aber klar, dass es wieder verschwindet, wenn etwas Besseres kommt. Es hat 20 Jahre gedauert, bis jetzt im Gesetzestext festgeschrieben wurde, dass die Organopónicos selber Teil einer stadtentwicklerischen Perspektive geworden sind. Das finde ich interessant. Wie lange kann es dauern, bis man begreift, dass etwas einen anderen Wert hat, als man ihm vorher beigemessen hat? Aber zurück zu den Kleingärten in Wien – ist nun hier durch die Privatisierung etwas passiert, das die Wertschätzung gegenüber der Ressource untergräbt?

Reinhard: Ja, diese Wertschätzung fehlt bei uns – das stimmt. Aber wenn wir jetzt Havanna außer Acht lassen, dann ist deine Position die einer breiter werdenden Soziogruppe, die das aus Leidenschaft macht und einfach haben möchte. Das ist legitim, aber da sind wir weit weg von einer Notwendigkeit, wie es in Havanna oder auch bei uns vor 100 Jahren der Fall war. Wenn ich es zugespitzt sagen darf: Das ist in Wien eher eine Lifestyle-Geschichte. Das ist zugegeben ein bisschen zynisch. Es ist eine Ausformung von Lebensqualität, die natürlich ihre Berechtigung hat. Aber dem eine breitere Bedeutung beizumessen ... Also dieser substanz- oder gesellschaftserhaltende Aspekt ist für mich beim Gärtnern in unseren Breiten einfach nicht da. Wir essen seit Jahrzehnten schon nicht mehr das, was unmittelbar vor unserer Haustür oder auch nur im Umland unserer Städte wächst.

Elke: Aber es gibt an vielen Orten Versuche, den Grüngürtel rund um die Stadt auch landwirtschaftlich für die lokale Nahversorgung zu nutzen.

Reinhard: Den Grüngürtel gilt es zu schützen, aber man muss auch daran denken, dass die Stadt wächst. Es ist für das Stadtwachstum ja nicht einmal Bevölkerungswachstum an sich notwendig, es genügt die ungebrochene Ausdehnung der Pro-Kopf-Wohnfläche.

Elke: Diesen Anspruch des Einzelnen finde ich sehr schwierig – sich in einer Art und Weise auszudehnen, die eine Gefräßigkeit annimmt und alles das, worüber wir jetzt sprechen, verunmöglicht. Also Freiräume, Grünflächen ...

Reinhard: Österreich hat seit 30 Jahren im Grunde dieselbe Bevölkerungszahl, wir haben allerdings unsere Siedlungsfläche – ich schätze einmal – um ca. 50 % ausgedehnt. Das ist der eigentliche Wahnsinn. Aber da ist kein Stadtplaner in der Lage, das zu ändern. Das ist ein gesellschaftliches Faktum und dem kann man nur gesellschaftspolitisch begegnen. Für gesellschaftlichen Wertewandel ist Stadtplanung nicht zuständig. Da müssen wir auf einer anderen Ebene diskutieren. Aber prinzipiell ist es positiv, dass Leute nicht mehr nur in Suburbia wohnen wollen, sondern wieder in die Stadt zurückkehren, dass die Städte – im Unterschied zu vor 20 Jahren – wieder wachsen. Da ist es mir lieber, wenn das Gärtnern hin und wieder verlagert wird, um die zuziehenden Menschen in urbanen Strukturen unterzubringen. Für mich ist das eine Frage der Abwägung des geringeren Übels.

Elke: Du hast vorhin von einer Halbierung der Fläche gesprochen. Leider ist das ja nur eine Fiktion, weil man nun aufgrund der Privatisierungen nicht mehr hinkommt. Aber dass man die Hälfte eines Kleingartengebietes in etwas verwandelt, was ein wienerisches Organopónicos sein kann und die andere Hälfte mittels Wohnbau verdichtet, klingt sehr interessant. Sonja hat aber richtig angemerkt, dass das genau in der Stadtzone stattfinden würde, die jetzt schon im internationalen Vergleich wenig Grün aufweist, obwohl die Stadt Wien immer dieses Bild der Grünheit vor sich selbst herträgt.

Reinhard: Mir fallen dazu immer die Pläne in der U-Bahn ein, die die unmittelbare Umgebung jeder U-Bahn-Station darstellen, in denen wirklich jede kleinste Verkehrsinsel oder jedes vom Stadtgartenamt gepflegte Tulpenbeet grün eingezeichnet ist – die pure Augenauswischerei. Zu der zweiten Zone, von der du gesprochen hast: Hier finde ich es tatsächlich sinnvoll, dass man verfügbare Ressourcen weiter bebaut. Wenn man vom klassischen Blockrand ausgeht, gibt es bei einer relativ effizienten Verdichtung vier Ebenen, um wertvollen Grünraum oder begrünbaren Freiraum zu schaffen. Das ist einmal der öffentliche Raum draußen vor dem Block, der von den Autos beherrscht wird – was aber nicht sein müsste. Das zweite Potenzial ist der Blockinnenbereich, geschützt, intim – hier sind ganz andere Nutzungsmöglichkeiten vorstellbar. Der Innenhof ist in Wien, leider auch aufgrund des Autos, im Neubau oft nur noch die Begrünung der darunter liegenden Tiefgarage. Das dritte sind die Loggien und Balkone – natürlich wäre hier viel mehr möglich als diese 4 m² kleinen, Satellitenschüssel tragenden Zellen. Und das vierte sind die Dachzonen. So gut wie jedes neue Haus hat ein Flachdach – man müsste dort nicht zwingend ein Penthouse platzieren. In Wien sind vor nicht allzu langer Zeit noch Wohnbauten errichtet worden, wo sich oben der Gemeinschaftsraum oder eine Dachterrasse für alle BewohnerInnen befanden. Ein wunderbares Beispiel ist die Sargfabrik: Was gibt es Schöneres als die Dachgärten dort? Die Sargfabrik zeigt im Grunde auf allen vier Ebenen, die ich jetzt angesprochen habe, was bei einer immensen Dichte trotzdem an Grünraumqualität möglich ist. Solange auf diesen Ebenen so viel unausgereizt bleibt, finde ich es als Stadtplaner eigentlich unverhältnismäßig, die Lösung für das Naturbedürfnis der StädterInnen für möglichst viele im Schrebergarten zu sehen. Es ist eine sehr spezifische Form, die in einer gewissen Quantität angeboten werden sollte, aber es ist vom Platz, vom stadtstrukturellen Gesamtgefüge und auch vom Bodenpreis her unrealistisch, das für Hunderttausende zur Verfügung zu stellen. Und wie schon gesagt: Ich sehe keinen Anspruch eines jeden Städters auf einen Kleingarten. Es gibt andere Formen, und ich glaube, dass die anderen Formen für viele einen ausreichenden Ersatz bilden könnten.

Sonja: Man kann also festhalten, dass auch die „Neue Siedlerbewegung“ auf jeden Fall ein Schritt in die falsche Richtung ist?

Reinhard: Auf jeden Fall! Das sind ja keine Gärten mehr. In der Luftaufnahme wird deutlich, wie dieses Siedlungsmodell aussieht: das frei stehende Einfamilienhaus und daneben der Swimmingpool. Im Übrigen leidet in den suburbanen Gebieten bereits die Grundwasserqualität darunter, dass jeder dreimal im Jahr das Chlorwasser seines Pools auslässt und in den Boden einbringt.

Sonja: Aber diese „Neue Siedlerbewegung“ scheint ja etwas zu sein, was die Stadt Wien intensiv betreibt.

Reinhard: Ja, seit 20 Jahren schon – im Grunde hat das Bernhard Görg mit „Wohnen im Grünen“ begonnen und Rudolf Schicker mit der „Neuen Siedlerbewegung“ fortgesetzt. Maria Vassilakou hat zumindest schon öffentlich deklariert, die Suburbanisierung innerhalb der Stadtgrenze nicht mehr weiter fortsetzen zu wollen.

Elke: Du hast vorher gesagt, grundsätzlicher Wertewandel ist nicht Aufgabe der StadtplanerInnen. Aber wenn man nun davon ausgeht, dass die Pläne in den U-Bahn-Stationen, die du ins Spiel gebracht hast, grundsätzliche Werthaltungen ausdrücken, heißt das nicht, dass die Stadtplanung sehr wohl zuständig ist für diese Form von quasi kartografischer Evozierung des Glaubens an spezifische Werte?

Reinhard: Zum einen stammen diese Pläne ja nicht von der Stadtplanung. Und zum anderen muss man schon unterscheiden zwischen der Stadtplanung als Apparat, als System, die hierzulande eine politikhörige ist, und der Stadtplanung als Disziplin mit all ihren Grundsätzen und Werthaltungen und Zielen. Das ist ja etwas ganz anderes.

Elke: Aber die politsche Planungshaltung inkorporiert diese Werte sehr wohl als ein Versprechen in ihre Mappings der Stadt, aber im Grunde genommen ist es nur die zugrunde liegende Narration. Man weiß ja nie, woher das kommt, dass dieses Versprechen immer perpetuiert wird. Man liest es, aber real ist es nicht so. Das heißt, die Propaganda war schon sehr stark. Ich glaube, man kann sich aus dieser Planungssicht nicht so leicht herausnehmen und sagen, die kulturellen Haltungen spielen da nicht herein. Man geht davon aus, Wien ist eine grüne Stadt und dann muss man sagen, de facto ist es nicht so. Man sitzt der Verlängerung einer Glaubwürdigkeitsbeschwörung auf.

Reinhard: Das beste Beispiel für diese Verlogenheit ist mein „Lieblingsplatz“ im 16. Bezirk – der Gutraterplatz. An so einem Platz gäbe es in Italien mindestens drei Kaffeehäuser und einfach Raum, eine für alle nutzbare Fläche. Hier ist es schon mal ein halbierter Platz, denn die Straße, auf der auch die Straßenbahnlinie 10 fährt, teilt ihn in zwei Hälften. Diese wären an sich auch noch schöne Plätze, aber wie sehen sie aus? Es gibt einen Gehsteig entlang der platzbildenden Bebauung und den Rest hat man – klassisch für Wien – einen halben Meter hochgepflastert und mit Bodendeckern begrünt, damit die Hunde nicht hineinscheißen. Man hat den Platz also einfach der Öffentlichkeit, jeder Nutzung entzogen, aber er ist rein formal zumindest grün. Das zeigt für mich die Unbeholfenheit und Kulturlosigkeit, die den Umgang mit dieser Stadt kennzeichnen. Und diese Plätze gibt es überall in Wien.

Hintergrund, Mo., 2012.07.30



verknüpfte Zeitschriften
Hintergrund 53 Herr und Frau Schreber

25. November 2009Sonja Pisarik
Hintergrund

Heimweh-Architektur

Wenn am 24. Oktober 2009 im niederösterreichischen Kurort Bad Vöslau eine landauf und landab heftig diskutierte Moschee eröffnet wird, so ist das österreichweit...

Wenn am 24. Oktober 2009 im niederösterreichischen Kurort Bad Vöslau eine landauf und landab heftig diskutierte Moschee eröffnet wird, so ist das österreichweit...

Wenn am 24. Oktober 2009 im niederösterreichischen Kurort Bad Vöslau eine landauf und landab heftig diskutierte Moschee eröffnet wird, so ist das österreichweit erst der dritte derartige Bau. Während sich in Deutschland eine erkleckliche Anzahl von Moscheen in Bau oder in Planung befindet, hinkt Österreich der gesamteuropäischen Entwicklung hinterher. Kein Wunder, sind doch im Zuge der Debatten um das 2006 errichtete Minarett in Telfs (im Übrigen kein architektonisches Glanzstück – das Minarett geriet zu einer Persiflage seiner selbst) und die geplante Moschee in Bludenz in den letzten Jahren die Wogen hochgegangen.

Zwei Bundesländer, Vorarlberg und Kärnten, haben inzwischen gefinkelte Gesetze erlassen, um den Bau von Moscheen oder Minaretten künftig unterbinden zu können. Die Kunst dabei ist die Vermeidung eines einklagbaren Widerspruchs zu dem in der Verfassung verankerten Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsausübung. Ihr dreißigjähriges Jubiläum feiert heuer Österreichs erste richtige Moschee. 1975 bis 1979 mit Geldmitteln des damaligen Königs von Saudi-Arabien in Wien-Floridsdorf errichtet, konzentrierte sich Erbauer Richard Lugner auf ein traditionelles Äußeres mit einem 32 m hohen Minarett und einer Kuppel. Angeschlossen an das Zentrum sind diverse kulturelle Einrichtungen. Mittlerweile leben in Österreich ca. 400.000 Muslime. Es existieren in etwa 250 Gebetsräume, die in Wohnungen oder ehemaligen Lager- bzw. Fabrikshallen untergebracht sind. Richtige Moscheen, also Bauwerke, die explizit als Moscheebauten neu entstehen (keine Umnutzungen), gibt es in Österreich bislang nur zwei. Die Vöslauer Moschee ist nach Telfs somit die dritte. Richard Lugner, der noch Jahre später mit dem Slogan „Wir bauen nicht nur Moscheen“ auf seinen Firmenwagen Werbung machte, wurde 1999 – also immerhin bereits 20 Jahre nach Fertigstellung – von Peter Westenthaler im Präsidentschaftswahlkampf verächtlich als unwählbarer Moscheenbauer bezeichnet.

Aber zurück zu Bad Vöslau, einer ehemaligen Sommerfrische im Süden Wiens: Als im Frühjahr 2006 zwei Mitglieder der Vöslauer ATIB (Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine) mit Entwürfen für eine Moschee an ein ortsansässiges Zivilingenieursbüro herantraten, war relativ bald klar, dass die Umsetzung nicht so einfach vonstatten gehen würde. Ausgangsvorstellung war eine Moschee mit zwei 30 m hohen Minaretten und mehreren Kuppeln mit der Anmutung eines stilistischen Direktimports aus der türkischen Heimat.

Dreißig Planvarianten später ist daraus ein deutlich schlichteres Kulturzentrum geworden. Eine zur Straße hin offene U-Form beherbergt ein Café und diverse Veranstaltungsräume, die sich mittels großzügiger Verglasung zum Innenhof öffnen, in dem zur Kühlung Wasser aus einem Brunnen springt. Erst dahinter kommt man in den eigentlichen Gebetsraum, einen einfachen Kubus mit einer silbernen Zinnkuppel, der durch Fliesen aus der Türkei zumindest im Inneren sein orientalisches Aussehen erhält. Wenn der Bau auch keineswegs als Meilenstein progressiver Moschee-Architektur zu bezeichnen ist, so ist ihm jedenfalls das Bemühen um eine modernere Formensprache anzusehen. Die jetzige Form ist das Ergebnis eines von der Gemeinde initiierten, mehrere Monate dauernden Mediationsverfahrens, das die Wogen glätten musste, die vor allem durch Unterschriften- und Flugzettelaktionen der FPÖ hochgepeitscht worden waren. Schlussendlich fanden Kompromissvorschläge beider Seiten Eingang in die Planungen, sodass sich die von der Gemeinde gewünschte Transparenz und Offenheit nun im Gebäude widerspiegelt. Eine solche ist auch in Sachen Integration gefordert: Bürgermeister Christoph Prinz möchte aus dem jahrzehntelangen Nebeneinander von Bewohnern des je nach vorherrschendem Migrationshintergrund als „Böhmenzipf“, „Klein-Chicago“ bzw. „Klein-Istanbul“ bezeichneten traditionellen Einwanderer-Viertels beim Bahnhof und den Einheimischen ein „Miteinander“ machen.

Am Fall von Bad Vöslau lässt sich das typische Streitmuster rund um ein Moscheeprojekt nachzeichnen: Zuerst wird über die Höhe von Kuppeln und Minaretten debattiert, dann landet die Diskussion ganz schnell bei wilden Verschwörungstheorien. Plötzlich ist von Terrorismus die Rede, von Dschihad, von Hasspredigern und von der allgemeinen „Gefahr der Islamierung“. Ignoriert wird eine auf der Hand liegende, deutlich weniger dramatische Interpretationsmöglichkeit: Auch Muslime bevorzugen für ihre Gottesdienste würdige Versammlungsräume anstelle von Hinterhöfen oder aufgelassenen Fabrikshallen. Schließlich stellen sie sich durch solche Bauten der Öffentlichkeit, was im besten Fall auch in einer transparenteren Architektur Ausdruck findet. Und hier sind wir bei einer Frage, die beim Neubau von Moscheen meist erst zum Schluss oder gar nicht gestellt wird: die nach der geeigneten architektonischen Gestaltung.

Christian Welzbacher fordert in seinem 2008 erschienen Buch „Euroislam-Architektur. Die neuen Moscheen des Abendlandes“ eine Qualitätsdebatte, die sich eine zeitgemäße Form für islamische Architektur zum Anliegen macht. Moscheen, wie sie heute überall in Europa entstehen, sind selbst nach muslimischer Lesart anders als christliche Kirchen oder Synagogen keine Sakralbauten, sondern eher „Multifunktionshäuser“. Es gibt kaum architektonische Zwänge, die durch die religiöse Tradition diktiert würden. Lediglich die nach Mekka zeigende Gebetsrichtung muss innerhalb des Raumes durch den Mihrab angezeigt werden. Dabei handelt es sich um eine Nische, die dem Vorbeter Platz gibt. Moscheen könnten also ganz unterschiedlich aussehen. Diese Gestaltungsfreiheit wird aber nur selten ausgespielt. Momentan entsteht in Rotterdam die Essalam-Moschee, eine der größten Europas. Sie wirkt wie ein orientalisches Postkartenklischee, scheint vollständig aus der Zeit gefallen und geht auf ihren örtlichen Kontext in keiner Weise ein. Das für den Entwurf verantwortlich zeichnende Büro Molenaar und van Winden bietet also den Gläubigen ein muslimisches Euro-Disney.

Eine derartig radikale Abkehr von der Gegenwart ist allerdings nicht mehr der Regelfall. Oft werden zumindest die traditionellen Bauweisen adaptiert und modifiziert – wenn auch nicht immer mit geglückten Endergebnissen. Selbst der Entwurf für die in Köln-Ehrenfeld entstehende Moschee, die einen veritablen, zwei Jahre andauernden Moschee-Streit auslöste (siehe das dazu erschienene Buch: „Der Moschee-Streit. Eine exemplarische Debatte über Einwanderung und Integration“, Hg. Franz Sommerfeld), bleibt mit ihrem imposanten Kuppelbau samt zwei 55 m hohen Minaretten seltsam unentschlossen auf halbem Wege zwischen traditioneller Symbolik und behutsamer Modernisierung stecken. Dabei wurde für dieses Großprojekt ein Architekturwettbewerb ausgeschrieben, den mit Paul Böhm, Spross einer bekannten deutschen Kirchenbaumeister-Dynastie, ein Architekt für sich entscheiden konnte, von dem man sich durchaus einen größeren Wurf hätte erwarten können. Offenbar waren seine Auftraggeber aber nur bedingt zu Kompromissen bereit. Auf muslimischer Seite erwarten eben viele einen Moscheebau, wie sie ihn aus der alten Heimat kennen – so kommt es teilweise zu unbekümmerten und unreflektierten Imitationen, die in westlichen Gesellschaften entweder Ablehnung hervorrufen oder als Folie für romantisierenden Exotismus dienen. Innovationen, die der Bauaufgabe Moschee einen neuen Schwung geben könnten, wären tatsächlich an der Zeit.

Natürlich muss nicht jede zukünftige Moschee das architektonische Rad neu erfinden und spektakuläre Projekte wie die Entwürfe für die Straßburger Zentralmoschee von Zaha Hadid oder das Londonder Abbey Mills Islamic Centre von MYAA werden wohl eher Einzelfälle bleiben. Ein großer Schritt wäre aber schon getan, wenn in Zentraleuropa zumindest der Standard erreicht werden könnte, den Bosnien mit seiner Experimentierfreude auf dem Gebiet der Moscheenbauten zumindest bis zum gewaltsamen Zerfall von Jugoslawien 40 Jahre lang gehalten hat. Eine der neuesten Moscheen Deutschlands, die in der Presse als Musterbeispiel zeitgenössischer Architektur gepriesen wurde, stammt daher nicht von ungefähr von einem jungen bosnischstämmigen Architekten: Alen Jasarevic. Das Bauwerk, das in dem kleinen Städtchen Penzberg, 40 km südlich von München, auch durch einen besonders engagierten Imam möglich geworden ist, beeindruckt durch die Loslösung von traditionellen Formen. Ein Bau mit Vorbildcharakter.

Die durchaus sinnvolle Debatte über den Einzug moderner Formensprache in die Moscheenarchitektur darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die massiven Kritiken und Polemiken, die meist auftauchen, sobald der Bau einer Moschee ruchbar wird, sich nicht gegen das Bauwerk in seiner ästhetischen Ausformung richten. Ganz im Gegenteil: Wenn schon eine Moschee, dann soll es nach Meinung vieler Nichtmuslime wenigstens eine schön anzuschauende = orientalisch, exotisch wirkende Moschee sein, wie der Integrationsbeauftragte der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich und SP-Gemeinderat Omar Al-Rawi bei der Podiumsdiskussion im Rahmen des Symposiums am 4. September 2009 versicherte. Das bedeutet, dass wohl nicht automatisch anzunehmen ist, dass durch moderne, transparente Architektur eine größere Akzeptanz in der Bevölkerung gegenüber der baulichen Präsenz des Islam erzielt werden kann.

Mindestens genauso wichtig wie die Überlegungen nach einer „passenden“ Architektur scheint in jedem Fall die Frage der Integration. Wie kann es gelingen, der Bevölkerung die Angst vor einer Moschee zu nehmen? Der Vöslauer Bürgermeister Christoph Prinz dazu in der Podiumsdiskussion: „Wir haben alle zusammen in unserer Stadt gewohnt, eigentlich nebeneinander gewohnt. Durch diesen Anlassfall waren wir gezwungen, uns zu entscheiden, ob wir in Zukunft eher ,gegeneinander’ wohnen oder mehr miteinander wohnen wollen.“ Im Februar heurigen Jahres war auf ORF online zu lesen, dass das islamische Kulturzentrum in Bad Vöslau im heurigen Jahr fertig sein würde und sich die ehemals heftigen Diskussionen beruhigt hätten. Sofort echauffierte sich im Forum ein wütender User: „Eine Frechheit sondergleichen über die Köpfe der Vöslauer Bevölkerung hinweg. Da traut sich der ORF noch schreiben, dass die Widersprüche nachgelassen haben.“ Mehrere Tausend Einträge im Forum folgten innerhalb weniger Tage. Als Aufreger wird das Thema Moscheenbau wohl noch lange herhalten müssen und damit auch die Debatten um bessere Integration und zeitgemäßere Architektur.


[Überarbeitete Fassung eines Artikels für das Nachrichtenmagazin „Profil“ (Heft Nr. 18 vom 27.04.2009)]

Hintergrund, Mi., 2009.11.25



verknüpfte Zeitschriften
Hintergrund 44

20. November 2008Gabriele Kaiser
Sonja Pisarik
Hintergrund

Modellbau ist Dedektivarbeit

Franz Hnizdo unterrichtet seit 1985 Architekturmodellbau an der Universität für angewandte Kunst in Wien und arbeitet derzeit u.a. an einer Publikation über die Bedeutung des Modells von der Antike bis in die Gegenwart und den historischen Modellbautechniken. Gabriele Kaiser und Sonja Pisarik trafen Franz Hnizdo zum Gespräch.

Franz Hnizdo unterrichtet seit 1985 Architekturmodellbau an der Universität für angewandte Kunst in Wien und arbeitet derzeit u.a. an einer Publikation über die Bedeutung des Modells von der Antike bis in die Gegenwart und den historischen Modellbautechniken. Gabriele Kaiser und Sonja Pisarik trafen Franz Hnizdo zum Gespräch.

Ihr Spezialgebiet sind Modellrekonstruktionen von historischer Architektur, und in diesem Sinn ist der Modellbau eine Forschungsdisziplin.
Er ist wesentlicher und anerkannter Beitrag zur Bauforschung – hauptsächlich interuniversitär und interdisziplinär in Zusammenarbeit mit archäologischen Instituten, auch mit der Ägyptologie und vielen Museen. Manches rekonstruieren wir auch völlig alleine, aber bei archäologischen Projekten arbeiten wir natürlich immer eng mit den jeweiligen Fachleuten zusammen. Bei vielen archäologischen Grabungen gibt es sogenannte Grabungsarchitekten, auch Studierende, die alles, was aus dem Boden herauskommt, aufnehmen und zeichnen. Da sitzen sie oft Monate bei einer bestimmten Volute, einem Kapitell oder sonst was. D.h. es entstehen viele Detailpläne von Steinen, steingerechte Aufrisse – oft ganze Pakete von Zeichnungen. Aber in den wenigsten Fällen macht sich wirklich jemand Gedanken, wie das ganze Gebäude ausgesehen hat. Wenn allerdings eine größere Ausstellung bevorsteht, wo auch die aufgehende Architektur gezeigt werden sollte, nicht nur schnell virtuell, sondern real, dann wird es manchmal eng. Das ist der wunde Punkt – es fehlt oft an der räumlichen Vorstellung. Da springe ich ganz gern in die Bresche und versuche mit Vormodellen, Modellstudien gewisse Dinge 3D wachsen zu lassen, damit wir der Wahrheit näher kommen. Das muss natürlich in sich stimmig sein, denn Sie können bei einem Rekonstruktionsmodell natürlich nicht lügen. Es muss immer übers Eck stimmen. Sie können zwar einfach wo beginnen, aber irgendwo lässt es dann aus – da gibt es dann plötzlich Fragezeichen an jeder Ecke. Mit einer Perspektive können Sie – das war schon in meiner Studienzeit so – schummeln wie Sie wollen. Wenn es dann real wird, ob jetzt in einem kleineren Maßstab oder in einem größeren gebaut wird, können Sie eigentlich nicht lügen. Da müssen Sie sich zur Wahrheit durchkämpfen.

Also kann man sich vorstellen, dass diese Modelle, die Sie auch zwischendurch anfertigen, bei sehr schwacher Datenlage auch so etwas wie Arbeitshypothesen sind, die immer überprüft werden müssen mit dem konkreten Fund.

Richtig. Man muss sich genau einlesen in das spezielle Fachgebiet, um eine profunde Gesprächsbasis mit dem Archäologen zu haben. Zunächst sind das ja nur Arbeitsgrundlagen. Und dann steigert sich das. Das ist so wie eine umgekehrte Pyramide, da haben wir oft zunächst wirklich nur die Spitze, dann irgendwann kriegen wir die Basis, und letztlich können wir ein seriöses Repräsentationsmodell bauen.
Wenn man an jüngere Beispiele wie das „Kabarett Fledermaus“ oder das „Palais Stoclet“ denkt, da gab es doch zum Teil Fotos oder Pläne, die Sie für das Rekonstruktionsmodell zu Hilfe nehmen konnten, oder?
Ja, beim Palais Stoclet gibt es viele Fotos, die wir im Vorfeld gemacht haben. Für solche Sachen recherchieren wir wie die Detektive. Aber ins Palais Stoclet kommt man nicht so einfach hinein, da gab es damals die Madame Stoclet, die niemandem so ohne weiteres Zutritt gewährte. Das kam immer sehr auf ihre Stimmung an. Wir wollten uns nicht abschrecken lassen, haben einen Schulbus gemietet und sind mit einem Fotografenteam nach Brüssel hinaufgefahren, ohne dass wir uns vorher groß angemeldet hätten. Ich habe nur versucht, über den Schwiegersohn, den Dr. Haas-Stoclet, dessen Tochter selbst Fotografin war, einen Kontakt herzustellen und ihm zu sagen, dass wir kommen. Er hat gemeint, dass er es seiner Maman sagen wird. Und so sind wir hineingekommen und konnten immerhin eine Woche dort verbringen. Wir haben mit Messlatten eine komplette Bauaufnahme gemacht, wir sind sogar in der Hoffmann-Küche von der Madame mit Tee bewirtet worden. Am Abend mussten wir ihr die Fotos und die Skizzen, die wir untertags gemacht haben, immer zeigen. Um am dritten Tag hat sie uns plötzlich alle hinauskomplimentiert, es war aus. Was jetzt? Es hat sich herausgestellt, dass wir ein Foto vom Innenhof gemacht haben, auf dem auch zufällig ein zerbrochener Blumentopf zu sehen war, und das war fatal, denn Madame Stoclet war extrem darauf bedacht, dass dieser Bau in seinem Idealzustand festgehalten wird. Es war ein Akt der Bewahrung – sie hat dort wie eine Oberinspektorin gewacht, denn sie hat schon so viele schlechte Dinge erlebt, dass der Bau z.B. auf Zigarettenpackerln abgebildet war. Das besagte Foto haben wir ihr dann ausgehändigt, und dann ging es wieder weiter. Wir waren sogar am Dach und haben von dort wunderbare Aufnahmen machen können. Außerdem haben wir in die Familienbücher Einblick nehmen dürfen. Später haben wir dann im Maßstab 1:50 für die Ausstellung „Traum und Wirklichkeit“ das Modell gemacht. Als dann Madame Stoclet zur Verleihung eines Ehrenringes nach Wien kam, war sie von dem Modell – weil es ja wirklich den Erstbau abgebildet hat – zu Tränen gerührt.
Beim „Kabarett Fledermaus“ tauchte eine Plan von Le Corbusier auf. Oder vielmehr eine kleine Skizze, die das Kabarett Fledermaus gezeigt hat. Man ist im Zuge einer geplanten Ausstellung im Wiener Theatermuseum an mich herangetreten und hat gemeint, jetzt können wir das Kabarett Fledermaus bauen, jetzt haben wir ja die Skizze. Und dann hat sich im Laufe intensiver Recherchen herausgestellt – wir waren auch vor Ort und haben wieder alles vermessen – dass die Skizze überhaupt nicht gestimmt hat. Dass Le Corbusier das zwar gezeichnet hat, aber idealisierend! Zwei Jahre später hat er sich halt in einer Eisenbahn daran erinnert und das Lokal aus der Erinnerung skizziert, was natürlich in den Proportionen nicht gestimmt hat. Ich habe dann u.a. alte Feuerwehrpläne ausgehoben. Also das geht wirklich in die ganz strenge Recherche.

Wie lange dauert im Wesentlichen so eine Recherche?

Mindestens ein halbes Jahr lang wird nur geforscht. Der eigentliche Modellbau ist ja dann nur mehr eine Umsetzung. Da gibt es dann natürlich immer wieder kleine Rückschläge oder Probleme, da muss man dann wieder nachschauen und gewissenhaft weitersuchen. Es geht immer um den Erstbau. Auch beim Belvedere zum Beispiel. Das Belvedere im Modell nachzubauen war, was die Datenlage betraf, eher leicht, immerhin gab es die Pläne von Salomon Kleiner. Salomon Kleiner hat den Erstbau ja seinerzeit ganz genau gezeichnet, aber trotzdem waren Fehler drinnen. Man kann nicht immer aus der Ferne diagnostizieren, man muss also dort auch selbst mit dem Maßstab herumgehen und schauen, was ist verbaut worden, wo schaut noch was heraus?
Gibt es bzgl. der Materialität des Modells zwingende Gründe, warum etwas aus Gips oder Holz gemacht wird?
Gebäude, auch die der Antike, leben für mich irgendwie. Jetzt könnte man sagen, so einen Tempel kann man aus Gips bauen, das wäre auch irgendwie naheliegend, hat man ja auch früher gemacht – aber Gips ist ein totes Material, das strahlt keine Lebendigkeit aus. In der Antike waren ja viele Tempel zumindest teilweise bemalt. Es wird daher versucht, verschiedene Edelhölzer betont abstrakt und farbnuanciert zusammenzustellen. Ich komme ja ursprünglich vom Geigenbau und von der Kunsttischlerei und Bildhauerei her, also mir ist der Werkstoff Holz einfach am liebsten, er ist auch am Dauerhaftesten, dazu sind Holzmodelle heute eine ausgesprochene Rarität. Das Belvedere z.B. hat an die 200 Figuren auf dem Dach, jedes Fenster hat ein anderes Ornament. Das kann und will ich nicht mit Kitt herstellen, wie das die Italiener in der Renaissance gemacht haben. Das sind Miniaturschnitztechniken, die ich seinerzeit bei einem Griechen gelernt habe. Und ich möchte das so präsentieren. Deswegen kosten die Modelle auch entsprechend, weil man da eine Menge Zeit braucht. Die Figuren sind ja dann oft nur etwa 2–2,5 cm groß, und sie müssen in den Proportionen ziemlich stimmen. Da komme ich mit Holz am besten hin. Wenn Sie da mit Malerei anfangen, dann wird es schnell zum Zuckerbäcker-Modell.

Es besteht die Gefahr, dass ein Modell wie ein Kinderspielzeug aussieht.

Bei uns nicht, da predige ich immer die Drei-Finger-Regel: Maximal drei fein abgestufte Holzarten; oder bei der Mischtechnik höchstens drei zueinander passende Materialien – das kommt meistens hin.
Manchmal ist es aber auch ein Kinderspielzeug! Aus der Antike bzw. aus der Steinzeit gibt es richtig schöne Kinderarbeiten – Esel, Schafe, kleine Töpfe, Häuser. Das kann also auch einfach Spielzeug gewesen sein, man muss nicht immer gleich an wahnsinnige Architekturleistungen denken. Wir haben doch als Kinder alle gerne in der Sandkiste Dinge geformt, und wenn die Eltern aus Ton modelliert haben, Töpfe, Löffel bis zum Steinzeitschnuller, und das Kind steht daneben, will es ja auch was formen. Wir haben manchmal den Beweis, weil die Fingerabdrücke von Kindern teilweise noch sichtbar sind, 7.000 oder 8.000 Jahre alt.

Sie unterrichten seit 1985 an der Angewandten. Liegt Ihr Schwerpunkt auf „klassischen“ Modellbautechniken?

Heute wird natürlich auch bei uns sehr viel mit dem Computer entworfen. Aber es ist auch Teil meiner Lehre, dass ich auf bestimmte Gefahren hinweise. Wir machen schon noch beides. Wir entwerfen nicht nur am Computer und lassen es über den Plotter drucken, weil da der Entwerfer oft draufkommt, dass das dann doch anders ausschaut als gedacht. Also, diese Ambivalenz zu erklären ist mir wichtig im Unterricht. Man muss sich fragen, was kann das reale Modell, was kann das virtuelle Modell? Ich will keines von beiden verdammen, da muss man vorsichtig sein! Aber es sollte ein Dialog, eine Ergänzung zwischen beiden sein. Das, was ich aus dem Computer rausnehme, wird vielleicht händisch weiterbearbeitet. Dann wird es ausgeplottet, weil das halt am einfachsten geht, dann wird weiterentwickelt, man scannt es wieder ein, kann das im Computer wieder weiterverändern, nimmt es wieder heraus – also ein Vice-versa zwischen Computer und Modell. Die großen Architekten wie Rietveld oder Gaudí hatten auch keine Zeichenateliers, da wurde alles nur mit Arbeitsmodellen gemacht. Wenn Sie an die Sagrada Familia denken – das wäre ja anders gar nicht gegangen. Diese ganzen Knoten in der Kathedrale, man hat ja gar nicht gewusst, ob das statisch alles trägt. Heute sind die Statik-Rechenprogramme perfekt, man kann ganze Netze durchrechnen lassen.
Grundsätzlich kann man wohl sagen, Rekonstruktionsmodelle sind Hypothesen oder auch analytische Instrumente, aber auf dem anderen Ende des Spektrums befindet sich die freie Plastik. Das ist es ja auch immer in gewisser Weise, wenn man anerkennt, dass das Modell kein totales Abbild der Wirklichkeit sein kann.
Man weiß ja aus der Antike, z.B. aus der Zeit der der großen Pyramiden, später der Lykier, dass viele Bauplastiken im Vorfeld im Kleinmaßstab gebaut worden sind. Wenn ich ein schwieriges Material vor mir habe, ist es schon ratsam, es vorher auszuprobieren. Ein wesentlicher Aspekt ist ja der Materialwiderstand, der sich dem künstlerischen Prozess entgegenstellt. Es wird jetzt auch versucht, diesen mittels Computer zu simulieren. Na ja. Wenn Sie eine Idee im Kopf haben und Sie versuchen, diese Idee umzusetzen, und Sie haben einen Stein vor sich, Holz, Styropor, dann wird diese Idee drei verschiedene Ausformungen haben. Der Widerstand, der sich Ihnen beim Stemmen oder Formen von Styropor oder Gips bietet, ist jeweils ein ganz anderer. Das heißt, man versucht, diese Statuen schon im richtigen Material zu machen. Heute gibt es schon Programme, wo man – damit das realer wird – beim Führungsstift verschiedene Materialwiderstände einstellen kann. Das heißt, stelle ich Stein ein, dann muss ich mehr drücken, stelle ich Styropor ein, gibt er mir dann weniger Widerstand. Das ist schon kurios. Die Materialwahl, die Materialgerechtigkeit, die Materialspannungen – das geht in den Entwurfsprozess hinein, und das ist wahnsinnig wichtig und kann natürlich nie richtig am Computer simuliert werden. Wenn der Student das neutral und mit natürlichen Materialien bearbeiten will und ihm Holz zu schwer ist, soll er halt Ton nehmen. Ich mache mit ihnen auch immer Tonübungen, gehe mit ihnen in die Keramik-Abteilung hinunter und gebe ihnen ein Thema, wo sie aus Ton etwas formen sollen. Ganz am Anfang, im ersten Semester, das ist ein ganz wichtiges Semester. Das Arbeiten mit Naturmaterialien ist bei den Studierenden wieder sehr gefragt, es wird wieder gerne „begriffen“, wir sind eben doch noch die „Angewandte“ und kein reiner Geistestempel.

Wie ist der internationale Stellenwert von solchen Rekonstruktionen? Gibt es da in Österreich eine Sonderstellung?

Ja ich glaube schon, das dürfte doch so eine kleine, leichte Einmaligkeit sein, und nicht nur in Österreich, da habe ich das Feedback von vielen namhaften Architekten und Archäologen. Wir hatten ja auch sehr berühmte Leute in Österreich, die zwar keine Rekonstruktionsmodelle bauten, sondern brav nach Plänen der Architekten vorgingen, z.B. aus dem Barock oder Rokoko, wie Matthias Steindl mit der Turmfassade von Zwettl. Das waren oft riesige Modelle, 15er, 25er, 30er. Der mathematische Turm von Kremsmünster ist aus Buchsbaum gebaut. Dieser Baum kann ein paar Hundert Jahre alt werden und ist kaum mehr zu bekommen. Er hat eine Härte fast wie Kalkstein, da kann man die kleinsten Details schnitzen. Antonio Selvas’ Modell für das Teatro la Fenice in Venedig fällt mir da noch ein und natürlich die Palladio-Modelle. Manche Ausführungen sind Riesenapparate, fast schon Möbel, da füllt ein Modell einen halben Raum.
Gab es quer durch die Jahrhunderte gesehen bestimmte Maßstabskonventionen?
Meistens wurden solche Modelle bei reicheren Leuten auf irgendwelchen Schlössern ausgestellt. Da gab es kein Platzproblem. Gemacht wurde das meist von Spezialschreinern. Michelangelo – das war die klassische Zeit der Modelle, oder Elias Holl. Es hat aber eine Zeit in Italien gegeben, wo Modelle wie Bücher gehandelt wurden. Wenn ich also ein Pseudogelehrter aus dem aufkommenden Bürgertum bin, dann richte ich mir eine Bibliothek ein. Ich umgebe mich also mit ernstzunehmender Literatur und Wissenschaft. So ca. 1775 hatten Antonio Chichi und Augusto Rosa einen Einfall, weil sie bemerkt haben, dass die Leute modellbegeistert sind und sich mit dem Altertum umgeben wollen. Sie haben eine Marktlücke entdeckt und Korkmodelle gebaut. Ruinenhafte Tempel, ein bisschen romantisch, ein bisschen künstlerisch. Sie hatten richtige Model, weil diese Korkmodelle weggegangen sind wie die warmen Semmeln. Richtige Korkpressen, um die Säulen schneller zu machen und die Voluten und Kapitelle. Denn die waren ja schwierig aus Kork zu schnitzen, und so hat man eine richtige kleine Industrie aufgebaut. Man hat die Königshöfe und das Bürgertum beliefert. In Wien gibt es noch ein paar dieser Korkmodelle im Technischen Museum, in Augsburg im Rathaus gibt es noch einige. Im John Soanes-Haus in London gibt es auch auf dem Dachboden sehr viele Chichi-Modelle. Augusto Rosa hat das dann noch weiterbetrieben bis zum Exzess. Da wurden die Modelle wie im Prater vor Publikum vorgeführt, und da hat sich was getan. Zum Beispiel wurde ein Modell vom Vesuv gebaut, und der ist dann plötzlich explodiert, da sind die Leute kohlrabenschwarz herausgekommen. Das war der Hit damals. Man hat Bauwerke zerkrachen lassen – ein Panoptikum.

Welchen Stellenwert haben in Ihrer Disziplin 1:1-Modelle?

1:1-Modelle sind nicht zu verachten. Eines der berühmtesten Beispiele ist das Belvedere. Anlässlich der Hochzeit von Marie Antoinette war der ganze Park geöffnet für das Publikum, es schwammen Kerzen auf den Teichen, das Volk war eingeladen. Aber Antoinette hat die Fassade vom Belvedere missfallen. Marie Theresia hat daher über die ganze Nordfassade eine Holzwand aufbauen lassen, also ein richtiges Gerüst mit Fenstern, und nach dem Stil der damaligen Zeit bemalen lassen. Fast das ganze Belvedere war nur sichtbar mit einer neuen Fassade, die ist zwei Meter vor der alten gestanden. Man musste durch die Kulisse durchgehen, wenn man hineinwollte. Also ein wunderbares Beispiel für ein 1:1-Modell. Oder denken Sie an Otto Wagners Museumsprojekt am Karlsplatz, oder an Plischkes Haus Gamerith, an Mies van der Rohe. Da wurde das Haus aus Holz und Segeltuch in wahrer Größe in die Landschaft hineingestellt, und der Bauherr konnte sich das anschauen. Und heute baut man aus rein pekuniären Gründen bei Hochhäusern auch schon einen Teil einer Etage im Voraus mit Teppich und allem, da kann der Professionist genau hochrechnen, was das insgesamt kosten wird. Das heißt, die Baukosten sind viel genauer. Aus reinen baukalkulatorischen Gründen wird das gemacht, aber auch für die Mieter natürlich, die noch was ändern wollen. Das kostet zwar, aber letztlich kann ich vorher schon verkaufen und weiß ganz genau, wo hab ich tragende Teile, wo kann ich bei den Zwischenwänden individuell variieren. Und jeder Professionist, ganz egal ob Maurer, Tischler oder Installateur, kann, sobald er wo unsicher ist, nachschauen, wo es z.B. Rohrverschneidungen etc. gibt. Denn wenn ein Professionist Unsicherheiten spürt, dann schlägt er das direkt auf die Kosten um. Große Bauwerke in der Antike haben eine sehr lange Bauzeit beansprucht. Im Normalfall hat irgendein Herrscher mit dem Mausoleum oder Palast, oder was auch immer, schon in seiner Jugend anfangen müssen. D.h. der Modellbauer hat auch den Stellenwert gehabt, dass man bereits vorher zeigen konnte, wie der Bau dann letztendlich einmal ausschauen wird.
Bei meinen eigenen Projekten kommt es natürlich auch vor, dass ich direkt am Grabungs-Campus eine sogenannte Architekturprobe 1:1 aus ergrabenen Blöcken zumindest teilweise aufbaue, dann mutiert eben das Studienmodell zu einem Stück Original.

Hintergrund, Do., 2008.11.20



verknüpfte Zeitschriften
Hintergrund 40

20. November 2008Gabriele Kaiser
Sonja Pisarik
Hintergrund

In der Schule wird mit Platzpatronen geschossen ...

„In der Schule wird mit Platzpatronen geschossen, im Büro aber scharf …“

Das 1973 eröffnete Verwaltungsgebäude der BMW München ist mit seinem kleeblattförmigen...

„In der Schule wird mit Platzpatronen geschossen, im Büro aber scharf …“

Das 1973 eröffnete Verwaltungsgebäude der BMW München ist mit seinem kleeblattförmigen...

„In der Schule wird mit Platzpatronen geschossen, im Büro aber scharf …“

Das 1973 eröffnete Verwaltungsgebäude der BMW München ist mit seinem kleeblattförmigen Grundriss wohl einer der signifikantesten Bauten von Karl Schwanzer. Dass der charismatische Architekt nicht nur im Entwurf und in der Hochschullehre, sondern auch in der Projektakquisition unkonventionelle Wege ging, wird in der Projektgenese des Vierzylinder-Turms deutlich. So ließ er im Dezember 1968 – nach einer Stippvisite bei sämtlichen BMW-Aufsichtsratsmitgliedern (mit Modellen und Projektunterlagen im Gepäck) – auf eigene Kosten in den Bavaria Filmstudios ein Funktionsmodell eines Etagensegments im Maßstab 1:1 nachbauen, um den noch zögerlichen Vorstand endgültig von seiner Projektidee zu überzeugen. Laurids Ortner, der zur Zeit des BMW-Wettbewerbs im Büro Schwanzer gearbeitet hat, erinnert sich an diese ungewöhnliche Überzeugungstat …

Ich kann mich an diese Pattstellung beim Wettbewerb erinnern. Die Entscheidung stagnierte irgendwie, und da hatte Schwanzer die Idee, das Ganze 1:1 in Geiselgasteig aufzubauen, in den Filmstudios der Bavaria. Ein volles Büro mit Blick auf München. Es sollte ein Geschoß ziemlich hoch oben sein. Man blickt hinaus über das künftige Olympiagelände, drinnen spielen die Leute Büro. Schwanzer meinte, ich soll diese 1:1-Geschichte übernehmen, aber ich konnte oder wollte – oder traute mich nicht. Eigene Projekte waren für mich schon wichtiger, Haus-Rucker-Co war im Entstehen. Ich hab abgesagt und war dann zu dem Zeitpunkt gar nicht mehr bei ihm im Büro. Ich weiß aber noch, dass er sich diese Installation für damalige Verhältnisse ungeheure 400.000–500.000 Schilling kosten hat lassen. Das war eine Riesensumme. Und das noch vor Auftragsvergabe! Später hat mir Schwanzer dann einmal erzählt, dass der Vorstand in die Etage kam und vollkommen von den Socken war.

Waren das Schauspieler, die da mitgespielt haben?

Ja natürlich, bzw. Statisten, die auf Schreibmaschinen geklopft und irgendwelche Akten durchs Büro getragen haben. Alles vollkommen realistisch, eine perfekte Kulisse, auch die simulierte Aussicht. Der Vorstand kam herein und schaute quasi zu ebener Erd’ auf München hinunter und meinte dann, wenn das schon so weit gediehen ist, können wir das ja nur mehr bauen! Es war vollkommen überzeugend. Für Schwanzer war das eine ganz gerade, unternehmerische Angelegenheit. Schwanzer war wirklich der prägende Mann für meine Generation, auch in einem über die Architektur hinausgehenden Sinn, in seiner ganzen Art, an die Dinge heranzugehen. Schwanzers Büro war ein völlig anders organisierter Laden als die damaligen Architekturbüros. Bei ihm gab es einen gewissen Glamour, eine speziell aufgeladene Atmosphäre von großer Welt. Man hatte immer das Gefühl, am Drücker zu sein – jetzt passiert es. Eigentlich war er der erste Architekt – auch in dem Sinne, wie man ein Architekturbüro modern führt. Er meinte damals, in der Schule wird mit Platzpatronen geschossen, im Büro aber scharf …

Würden Sie sagen, dass ihm beim BMW-Projekt auch seine rhetorischen Fähigkeiten zugute kamen?

Absolut! Er hat Qualitäten gehabt, so ein bisserl wie der Qualtinger. Diese massigen Leute, die haben oft etwas unerhört Leichtfüßiges. Qualtinger hatte das, und Schwanzer hatte das auch. Er konnte blendend Leute und Situationen nachmachen. Ich hab ihn zwar nie als großen Redner erlebt, aber so im Gespräch mit anderen Leuten, da hast du alle fünf Sinne zusammennehmen müssen, dass er dich nicht plattgemacht hat.

Auf einer Website (www.7-forum.com) wird in einem Leserbrief eines ehemaligen BMW-Mitarbeiters behauptet, dass dieses 1:1-Modell lediglich als Musterraum für die künftige Möblierung des BMW Verwaltungsgebäudes installiert worden sei.

Blödsinn! Das ist vollkommener Plunder! Das ist als echtes Risikoprojekt dort gestanden. Und es war nicht irgendwo im halbfertigen Bau eine Bemusterung, das wäre ja nicht so unüblich gewesen. Dort ist wirklich eine Bühne aufgebaut worden. Es wurde sozusagen auf Erfolg gespielt. Das war der absolute Kick. Man muss sich vorstellen, allein die runden Formen, da kriegt doch jeder aus dem Vorstand Bauchweh, dass da alle möglichen Probleme auftauchen, auch mit der Möblierung. Dann waren diese Zylinder auch noch konstruktiv von oben abgehängt, das waren alles Probleme für einen Vorstand, der in der Regel, und damals erst recht, recht konservative Vorstellungen hat. Eigentlich waren die mit dem Projekt überfordert. Und wenn man ihnen nicht vorgeführt hätte, dass es nicht nur funktioniert, sondern auch noch unerhört attraktiv ausschaut, hätte das Projekt vielleicht gar keine Chance gehabt. Das 1:1-Modell, das war der Zug zum Tor!

Diese Geschichte mit dem Bau in den Filmstudios beweist ja auch einen sehr hohen Grad an Emotionalität, weil sonst würde man ja gar nicht so viel Geld in ein Projekt hineinstecken, um andere Leute davon zu überzeugen, dass das, was man macht, das Richtige ist.

Aber es ist auch so eine Art Jägerinstinkt. Da ist die größtmögliche Beute, der größte Fisch, den es überhaupt gibt. Also, den zu erlegen, das ist der Schuss fürs Leben. Und so war es dann ja auch. Dieser Auftritt in Deutschland hatte ja damals noch eine ganz andere Dimension. Man muss bedenken, Schwanzer hat das wichtigste und größte Bürogebäude für den besten Konzern realisiert, den es in Deutschland damals gab. Das war eine Riesengeschichte, erstmals konnte sich ein Gebäude mit derartiger Signifikanz durchsetzen und zu einem Markenzeichen werden. Wenn heute Leute wie Ben van Berkel oder Zaha Hadid für so etwas geholt werden, dann ist das vergleichsweise ein kleiner Fisch. Eigentlich hätte man sich denken müssen, da kriegen jetzt bestimmt auch ein paar andere Vorstandsvorsitzende Appetit – so wie sie jetzt alle Appetit haben, sich zu verwirklichen. Aber das war erstaunlicherweise damals nicht der Fall.

Auch in diesem Sinn ist das Schwanzer-Projekt eine singuläre Geschichte.

Ganz sicher. Aber ich habe gar nicht gewusst, dass das mit dem Modell wie ein Mythos durch die Zeiten geistert.
Es ist jedenfalls gut, wenn die Sache ausgegraben wird, weil sie natürlich ein Licht auf diverse Strategien wirft, die theoretisch nach wie vor möglich wären.
Der Zeitpunkt für eine Aufarbeitung von Schwanzers Tätigkeit ist jetzt schon überreif, bevor die nächsten wegsterben, die noch etwas erzählen könnten.


[Auszug aus einem längeren Gespräch über Karl Schwanzer, das Gabi Kaiser und Sonja Pisarik am 27. August 2008 mit Laurids Ortner geführt haben.]

Hintergrund, Do., 2008.11.20



verknüpfte Zeitschriften
Hintergrund 40

Publikationen

Presseschau 12

30. Juli 2012Elke Krasny
Sonja Pisarik
Hintergrund

Die Entwicklung der Wiener Kleingärten als „planungspolitisches Kapitalverbrechen“?

Elke: Uns interessiert der Umgang mit dem vielschichtigen Erbe dessen, was aus der Schreber- und Siedlerbewegung in Wien gewachsen ist. Die Zukunft dieser...

Elke: Uns interessiert der Umgang mit dem vielschichtigen Erbe dessen, was aus der Schreber- und Siedlerbewegung in Wien gewachsen ist. Die Zukunft dieser...

Elke: Uns interessiert der Umgang mit dem vielschichtigen Erbe dessen, was aus der Schreber- und Siedlerbewegung in Wien gewachsen ist. Die Zukunft dieser Orte ist ein Hot-Topic. Aufgrund bestimmter gesetzlicher Veränderungen – jetzt schon wieder mit einem zeitlichen Abstand – kann man zumindest Vermutungen anstellen, was das perspektivisch für ein Stadtganzes bedeutet. Wie geht Stadt mit etwas um, das – wenn man es zeithistorisch betrachtet – eine von den BürgerInnen dieser Stadt vor vielen Jahren erkämpfte Ressource ist?

Reinhard: Natürlich ist es ein Verlust von Artenvielfalt, wenn Obst- und Gemüsegärten, die es in den 1980er-Jahren ohnehin nicht mehr flächendeckend gegeben hat, final Zierrasen, Thujen und Swimmingpool weichen, aber das würde ich als das geringere Problem sehen. Das Erschütternde daran ist eher die extreme Dimension der Umwidmung in ganzjährig bewohnbare Kleingärten, was seit 1992 nach einer Gesetzesänderung möglich ist. Nach 15 Jahren waren von 35.000 Kleingärten bereits 20.000 widmungsrechtlich umgewandelt in dauerhaftes Wohnen. Die Stadt Wien ist in Zeiten, in denen schon längst klar war, dass das frei stehende Einfamilienhaus zumindest für die Großstadt kein sinnvolles Modell ist, auf die unbegreifliche Idee gekommen, 20.000 Einfamilienhäuser erstens einmal zuzulassen und zweitens dann auch noch zu fördern und die Grundstücke zu Spottpreisen zu verkaufen.

Sonja: Was ist das gravierendste Problem dieser Entwicklung?

Reinhard: Die bestimmende Konstante in der Entwicklung jedes Siedlungsraums ist das Grundstückseigentum. Dass man im ausgehenden 20. Jahrhundert diesen Schatz für die Stadtentwicklung, nämlich große zusammenhängende Grünflächen, die noch dazu in der Hand der Stadt Wien waren, aufsplittet in 20.000 oder 35.000 EigentümerInnen à 250 m², war eine rein populistische Entscheidung gegen jede fachliche Vernunft. Neben allen raumplanerischen Folgen ist das eine massive Verschleuderung von öffentlichem Eigentum. Da gab es von Anfang an völlig widersinnige Diskontierungen, also eigentlich das Gegenteil des üblichen Handelsprinzips, das doch normalerweise lautet: Am Anfang verlange ich den vollen Preis, und wenn ich sehe, das geht schlecht, dann werde ich billiger.

Sonja: Ja, hier läuft es andersrum. Als Anreiz für den Kauf gibt es einen Preisnachlass vom Verkehrswert, der in Abhängigkeit zum Umwidmungszeitpunkt steht. Drei Jahre nach der Außenvermessung, drei Jahre nach der Umwidmung oder ein Jahr nach der Innenparzellierung gibt es 45 % Nachlass. Nach Ablauf des ersten Jahres nach diesem jeweiligen Zeitraum wird der Preisnachlass auf 30 %, im nächsten Jahr auf 20 % und wieder ein Jahr später auf 10 % gesenkt.

Reinhard: Stadtstrukturell ist das sehr fatal: Es wurden strategisch entwickelbare Gebiete, die der Stadt gehörten, auf eine Vielzahl privater Kleineigentümer verteilt. Dadurch entsteht eine Siedlungsstruktur, die man nie wieder revidieren kann. Die harmlosere Variante wäre gewesen, den KleingärtnerInnen ein Baurecht einzuräumen, solange die Pacht ihrer Kleingärten noch läuft – was natürlich auch eine Schnapsidee ist. Sie hätten dann Einfamilienhäuser hinstellen können, die vielleicht 50, 60 Jahre, bis der Pachtvertrag ausläuft, Bestand gehabt hätten. Die Zeiten, in denen Gebäude für über 100 Jahre errichtet werden, sind ohnehin vorbei.

Sonja: Wie kam es dazu?

Reinhard: Die Stadt hat ihre Entscheidung damit erklärt, dass man widmungstechnisch nachvollziehen wollte, was ohnehin schon längst Realität war, nämlich dass in manchen Kleingärten auch gewohnt wird. Ist das der Sinn von Stadtplanung? Ein anderes Argument war, dass man eine Alternative zum Abwandern ins grüne Niederösterreich bieten wollte.

Sonja: Es wird kolportiert, dass die Stadt Wien mit der Gesetzesnovelle von 1992 Wohnraum schaffen wollte, weil man – fälschlich – geglaubt hatte, die Leute ziehen alle in ihre Kleingartenhäuser und ihre Wohnungen in Wien werden frei. Das hat allerdings kaum funktioniert, weil man einfach beides behalten hat. Dabei entstand 1988 – also vier Jahre vor der Novelle – das sogenannte Kleingartenkonzept, das eigentlich das Gegenteil von dem verlangte, was dann vier Jahre später passiert ist: eine deutliche Unterscheidung von Kleingarten- und Siedlungsgebiet, eingeschränkte Bebaubarkeit etc. Man fragt sich, welchen Grad an Verbindlichkeit solche Konzepte haben?

Reinhard: Null. Die Wiener Stadtplanung wurde in den frühen 1990er-Jahren zum Selbstbedienungsladen der Politik.

Elke: Was bedeutet das für die Stadt? Es gibt eine Stadt, die hat aus einer gewissen historischen Gewordenheit heraus die Ressource eines Grüngürtels. In dem ist auch Aufenthalt ein Teil davon, aber eben nicht als Daueraufenthalt durch alle vier Jahreszeiten. Aufgrund dieser gesetzlichen Veränderung legt man dann zwei Parzellen zusammen und schon wird das immer größer. Diese Fläche kann man aus der Mikroposition der einzelnen Personen, die dort leben, betrachten, aber man kann sie auch noch einmal von weiter weg betrachten – was heißt das, dass sie überhaupt existiert? Oder was bedeutet es, wenn sie nicht mehr da ist? Oder wenn man sie verhüttelt?

Reinhard: Was es an Verlust für die Bevölkerung bedeutet, kann ich nicht einschätzen. Für mich als Stadtbenutzer ist der Verlust weniger einer an öffentlich zugänglichen Grün- und Erholungsflächen als ein ästhetischer, weil fast alles enorm hässlich ist, was dort entsteht. Mein Eindruck ist, dass viele Kleingartenvereine ohnehin schon vorher bestrebt waren, diese Grünräume möglichst abzuriegeln.

Sonja: Ich war kürzlich am Hackenberg in Wien 19 unterwegs – dort gab es einen jahrelangen Umwidmungsstreit, denn fast die Hälfte der BewohnerInnen stimmte gegen die Umwidmung in ganzjähriges Wohnen. Auch die AnrainerInnen haben massiv versucht, das Gebiet als Naherholungsgebiet zu erhalten. Wenn man nun dort spazieren geht, sieht man erschreckende Entwicklungen. Es werden unzählige Meter lange Schneisen in die Kleingartensiedlung geschlagen, die dann von Developern bebaut werden. Überall hängen Transparente, die auf die Grausamkeiten architektonischer Natur verweisen, die entstehen werden. Und das Absurde daran sind die Preise: Die Häuser kosten zwischen 500.000 und 1.000.000 Euro!

Elke: Das ist überhaupt nicht mehr leistbar. Das Hackenberg-Beispiel ist interessant, wenn man bedenkt, dass diese Flächen ja irgendwann einmal aus einer ganz bestimmten Krisensituation heraus erkämpft wurden. Danach gab es eine Art Verfestigungszustand, in dem über Jahrzehnte Rechte ersessen wurden. Aber ich glaube, wir befinden uns schon auf einer nächsten Stufe: Die Developer entdecken diese Gebiete und die Begehrlichkeiten sind geweckt. Es verschwinden die Dinge, die konstitutiv wichtig waren.

Sonja: Das Kleingartengebiet wird zu einer hochpreisigen Siedlung ... Laut den Gemeinderatsprotokollen zur Umwidmung am Hackenberg war die Begründung der SPÖ für ihre Ja-Stimme, dass man die KleingärtnerInnen unterstützen will, die auch über ein kleines Stück Grün verfügen möchten und nicht das große Geld haben, um sich ein Grundstück anzuschaffen – im Grunde braucht man aber wohl in Zukunft das große Geld dafür.

Elke: Was können Leute tun, die alle diese Dinge nicht haben, weder den Zugang zu den Ressourcen noch das reale Kapital, um Teil eines Kleingartens zu werden, aber das Bedürfnis haben zu gärtnern – wo können die ihr Territorium finden?

Reinhard: Wir haben 220.000 Gemeindebauwohnungen, was eine immense sozialpolitische Manövriermasse ist. Ob die Wohnsituation überall zufriedenstellend ist, sei dahingestellt, aber – verglichen mit anderen europäischen Großstädten – ist das Wohnen in Wien noch immer relativ gut leistbar.

Elke: Bleiben wir ganz konkret beim Mikrokosmos am Hackenberg. Man kann an allen fünf Fingern abzählen, dass die HackenbergerInnen nicht alle dort bleiben werden. Das könnte man auch als einen Gentrifizierungsprozess im Kleingarten bezeichnen. Das Territorium ist entdeckt worden, die Frage der Investition wird eine andere – ich investiere nicht mehr mein Leben und meine Zeit, sondern ich zahle nur mehr Schulden ab, um dort zu wohnen. Ich glaube, es gibt einen Unterschied zwischen informeller Bauweise, die sich über ein Leben spannt, und dem Abzahlen von Schulden für ein neu erbautes Einfamilienhaus vom Developer.

Reinhard: Das ist eine interessante Sichtweise, die aber aus stadtplanerischer Sicht keine so große Rolle spielt. Für die Stadtplanung ist es fürs Erste egal, ob dort eine Investorenvilla oder die Do-it-yourself-Baumax-Hütte steht. Im Endeffekt handelt es sich ja in keinem der beiden Fälle um sozial schwache Schichten. Und wenn sie noch richtige KleingärtnerInnen waren, dann betrifft der Verlust „nur“ ihren Zweitwohnsitz – das heißt, es geht um keine Verdrängung vom Wohnstandort.

Elke: Viele von denen, die sich diese Selbstbaumethode über die Jahrzehnte noch leisten konnten, können sich eine Abzahlung nun nicht mehr so einfach leisten. Ich glaube, dass das einen ganz großen Unterschied macht. Aber die Frage bleibt ja trotzdem: Wo siehst du als Planer in einer Stadt, die sich jetzt derart zu verändern beginnt, einen Raum fürs Gärtnern?

Reinhard: Ich bin nicht der Meinung, dass man als Städter Anspruch auf einen Garten hat. Man hat sehr wohl Anspruch auf hohe Wohnqualität, die auch ein Substitut für einen Garten beinhalten sollte, sei es in Form einer Terrasse, einer Gemeinschaftsterrasse vielleicht, eines Balkons oder was auch immer. Und natürlich besteht ein Anspruch auf eine hohe Qualität des öffentlichen Raums, befestigt und grün. Darauf ja, aber auf ein eigenes Stück Wiese? Das geht sich allein rechnerisch nicht aus. Ich sehe darin auch nicht den Sinn einer Großstadt im 21. Jahrhundert angesichts der Bevölkerungsprognosen, die wir haben. Aber natürlich sollten Gärten, die historisch gewachsen sind, vor allem da, wo die Stadt ohnehin an natürliche Grenzen stößt, etwa in Richtung Wienerwald, beibehalten, mitunter sogar geschützt werden.

Elke: Ich glaube, dass das Recht auf ein Einfamilienhaus und das Recht auf Gärtnern zwei sehr unterschiedliche Dinge sind. Ich bin nicht sicher, ob ich dem zustimmen würde, dass man als Städter keinen Anspruch auf das Gärtnerische hat – in dem, was Stadt ist und was Stadt kann.

Reinhard: Das soll und kann Stadt schon ermöglichen, aber ich sehe die zwingende räumliche Koppelung zwischen dem Wohnen und dem Gärtnern nicht. Das kann auch gemeinschaftlich und bzw. oder an anderer Stelle stattfinden. Man könnte in den Außenbereichen zeitlich befristet Gartenland zur Verfügung stellen, dazu gibt es noch genug Flächen! Ganz Rothneusiedl steht sozusagen zur Verfügung.

Sonja: Aber ist nicht das Gärtnern auch ein sehr zeitspezifischer Moment? Der Wunsch zu gärtnern ist ja nicht zu jeder Zeit gleich hoch, oder? Neu ist auch, dass die Leute im Kleingarten immer jünger werden, das zeigen aktuelle Studien.

Elke: Jede Schule macht heute ihre Gartenprojekte. Das ist in der Zwischenzeit fast schon eine pädagogische Kunst geworden, den Garten zu ermöglichen. Es ist ja nicht nur der Ort, an dem gegärtnert wird, sondern es ist auch die Zeit, in der gegärtnert wird.

Reinhard: Also wem das Gärtnern ein so zentraler Lebensinhalt ist, für den stellt sich die Frage, ob er nicht am Land glücklicher wird. Ich denke, dass viele urbane Menschen keinen eigenen Garten brauchen und gern innerhalb der gründerzeitlich strukturierten Stadt leben.

Elke: Ich möchte noch etwas anderes fragen. Du hast am Anfang darüber gesprochen, dass die Kleingärten eine unglaubliche Ressource der Stadt sind. Sie sind großteils erschlossen und waren in einer Hand, sind das jetzt allerdings nicht mehr. Ich glaube, du hattest da etwas anderes im Kopf, als du von Ressource gesprochen hast. Was für eine Ressource ist das für dich? Was hast du da als Planer vor Augen?

Reinhard: Prinzipiell sollte Naturnähe auch in dicht bebauten Stadtteilen möglich sein. Man sollte die Verpflichtung zur Schaffung eines privaten Freiraums in die Wohnbauförderkriterien oder sogar in die Bauordnung hineinschreiben und diesen auch quantifizieren, beispielsweise mit 8 m² pro Haushalt. Das ist keinerlei Widerspruch zu Anforderungen wie Dichte und Urbanität, das sollte im Neubau problemlos möglich sein. Und wenn jeder im Neubau einen Freiraum hat und von den 8 m² dann 2 m² auf einen Pflanzentrog entfallen, dann ist das zumindest ein brauchbares Substitut für ein eigenes Fleckerl Erde zum Gärtnern. Wer mehr will, bemüht sich eben um die knappen Kleingärten am Stadtrand, die dann aber wirklich Kleingärten sein sollen. Und wer keinen bekommt oder noch mehr will, der kann immer noch irgendwo weiter draußen eine ihm entsprechende Wohnform suchen.

Elke: Was würdest du als Planer machen wollen, wenn du könntest?

Reinhard: In Wien fehlen die nötigen Instrumente, um prinzipiell mit Grundeigentum adäquat umzugehen. Andere Bundesländer haben bereits ganz erstaunliche Instrumente der Bodenmobilisierung. Natürlich umfasst das auch die Besteuerung oder Rückwidmung von gewidmetem, aber nicht genutztem Bauland – oder das Recht der öffentlichen Hand, gehortetes Bauland zu einem günstigen Preis anzukaufen. Da hat Wien keinerlei Gesetzgebung. Und bei den großen zusammenhängenden Grünflächen ist es umso wichtiger, dass eigentumsrechtliche oder vielmehr spekulative Aspekte bei entsprechendem Bedarf und standörtlicher Eignung einer geordneten Entwicklung nicht im Wege stehen, um dort effizient Infrastruktur hinlegen und konzertiert Städtebau betreiben zu können, anstatt mal hier, mal da etwas zu bauen.

Elke: Also du würdest diese Flächen für Städtebau nutzen?

Reinhard: Manche der Kleingartenanlagen langfristig ja! Natürlich ist es romantisch, wenn etwa in Tokio inmitten von Hochhäusern noch Reisfelder bestehen, aber für mich ist die Frage wesentlicher, was volkswirtschaftlich und stadtstrukturell sinnvoll ist. In dieser Hinsicht wäre es gut, wenn man besagtes Reisfeld irgendwann einmal einer städtischen Nutzung zuführen könnte.

Sonja: 1987 hat die MA 18 eine Studie herausgegeben, in der die Grünsysteme europäischer Großstädte miteinander verglichen wurden. Wien rühmt sich ja nach wie vor damit, so viele Grünflächen zu haben. Das Interessante war aber, das für die sehr große zweite der drei Zonen (die erste Zone umfasst das Stadtzentrum bis 5 km, die zweite Zone liegt 5 bis 10 km und die dritte Zone mehr als 10 km vom Stadtzentrum entfernt) die Werte sehr schlecht sind, weil es hier nur wenig zusammenhängende Grünflächen gibt. Wenn ich dich jetzt richtig verstehe, dann hättest du als Stadtplaner kein Problem damit, diese Flächen noch weiter zu reduzieren?

Reinhard: Die Frage für die Stadtplanung ist nicht nur, ob eine Veränderung für das konkrete Gebiet oder das unmittelbare Umfeld ideal ist, sondern ob es der Gesamtstadt oder sogar der ganzen Stadtregion dient. Das Stadtwachstum nicht in dieser von dir angesprochenen zweiten Zone unterzubringen, sondern an Standorten, wo weder die verkehrstechnische Erschließung noch die sonstige Infrastruktur vorhanden sind, hätte aus meiner Sicht wenig Sinn. Da bin ich für den Weg des geringeren Übels. Die langfristige Entwicklung von zentral gelegenen Kleingartenanlagen ist ja auch eine Frage des effizienten Einsatzes knapper öffentlicher Mittel und nicht nur romantisch zu sehen. Leider hat unsere Stadtregierung in den letzten 20 Jahren aber weder nach rationalen noch nach romantischen Gesichtspunkten agiert, sondern einfach nur sehr kurzsichtig. Es geht nicht darum, Grüninseln zuzubetonieren. Wenn man von einem Kleingartengebiet die Hälfte urban bebaut, wohnen in dieser Hälfte fünfmal so viele Leute, wie wenn man die einzelnen Hütten in Einfamilienhäuser umwandelt. Die andere Hälfte könnte man zu einem hochwertigen Freiraum für alle machen. Das wäre dann auch ein attraktiveres und nutzbareres Grünraumangebot für jene, die im Umfeld leben, als der größere vermeintliche Freiraum zuvor, wo man in Wirklichkeit aber bestenfalls durchspazieren konnte und über den privaten Thujenzaun hinweg mal einen Apfelbaum sah. Für mich ist das kein Schreckensszenario, eine rechnerisch, aber nicht funktional bestehende Grünfläche zu reduzieren und in diesem Zuge etwas Sinnvolleres daraus zu machen.

Elke: Das ist qualitativ ein ganz anderer Zugang als das Programm von 1992. Zuerst hatte man ein „koloniales Zeitmodell“, die Schrebergärten wurden auf einen langen Pachtzeitraum vergeben, so wie etwa Hongkong 100 Jahre lang eine britische Kolonie gewesen ist. Außerdem waren die Schrebergärten seit 1922 in der Sozialgesetzgebung verankert. Das Recht auf den Garten war somit Teil des sozialen Denkens des Funktionierens einer Stadt aus der Perspektive ihrer Gesetze. Das Gesetz von 1992 ist also ein Privatisierungsgesetz, kein Sozialgesetz, in dem Sinn, dass man einer Sozietät als Ganzes etwas Gutes tut, sondern es geht um die Stärkung von Privateigentum. Was müsste man jetzt tun, um dort hinzukommen, was du gerade skizziert hast?

Reinhard: Das ist realpolitisch inzwischen nicht mehr rückgängig zu machen. Da müsste man enteignen, deswegen halte ich das Kleingartengesetz von 1992 für ein Kapitalverbrechen. In dem Moment, wo man zusammenhängendes öffentliches Eigentum auf Tausende private Eigentümer aufsplittet, kann man jede weitere geordnete Entwicklung vergessen. Da ist es noch realistischer, dass die Stadtautobahnen in und um Wien einmal abgerissen werden oder nur noch Fahrräder darauf fahren dürfen, als dass in den ehemaligen Kleingärten noch einmal eine konzertierte Stadtentwicklung stattfindet.

Elke: Ich frage mich, was in den – unscharf – letzten zehn Jahren in vielen Städten der Welt passiert ist, wie aufgesetzt auch immer, denn vieles, wie Rooftop-Farming oder Vertical Farming, ist nur Kosmetik, was Versorgungslagen anbelangt. Das kann nie auffangen, was der gleichzeitig vor sich gehende Flächenfraß bewirkt. Wir haben hier ein bestimmtes Versprechen auf etwas, das sich so nicht einlöst. Es ist eine kulturelle Formation geworden, Stadt so zu denken, dass auch das, was man früher dem Land zugeschrieben hat, Teil der Stadt geworden ist. Du hast die Urbanisierung hervorgehoben und ich frage mich, ob das nicht längst Teil dessen geworden ist?

Reinhard: Ich sehe Grün und Beton nicht als Widerspruch. Prinzipiell gibt es wunderbare verdichtete Wohnformen, die stark durchgrünt sind. Ich halte nach wie vor Roland Rainers Gartenstadt für ein perfektes Modell. Ich kann es nicht nachvollziehen, dass man in Aspern bereits in der ersten Phase Großstadt bauen will. Warum wollen wir das über Jahrhunderte erfolgte Wachstum von Stadt, dem wir unsere Urbanität verdanken, nicht einmal an so einem Standort zulassen? Also eine Möglichkeit schaffen, dass sich Stadt wirklich entwickelt, nicht nur horizontal, sondern auch vertikal. Das wäre eine spannende Strategie, dort mit einer durchgrünten Stadt zu beginnen, die einige Jahrzehnte so bleiben kann oder auch nicht, auch dichter werden kann. Solange Schrebergärten einfache Schrebergärten sind, brauchen sie keinen Kanal, keine Heizsysteme, keine großen Straßen oder sonstige Infrastrukturen, keine Schulen, Kindergärten, keine Nahversorgung, keine sozialen oder medizinischen Einrichtungen, dann sind sie einfach städtische Formen von Gartenland mit einer kleinen Hütte, sodass man im Sommer auch mal übernachten kann. Bei Bedarf könnte eine solche Fläche in einigen Jahrzehnten sinnvollerweise einer urbanen Stadtentwicklung weichen; und die leicht verlagerbare Funktion Kleingartennutzung – es hängt ja kaum Infrastruktur dran – könnte an einem anderen Teil des Stadtrands angesiedelt werden. Die Ressource, die du meinst, nämlich Gartenland, ist ja im Grunde überall verfügbar. Die Stadt nachhaltig auszubauen, ist hingegen nicht überall machbar, weil es auch um die Verkehrswege und die sonstige Infrastruktur geht. Das heißt, wenn wir Bevölkerungszuwachs wollen, müssen wir uns fragen: Wo ist der optimale Ort dafür? Wenn der optimale Ort einer ist, wo jetzt ein Kleingarten besteht, dann finde ich es vertretbar, den in einer gewissen Fristigkeit woandershin zu verlagern und dort zu bauen. Es geht nicht um das Beschneiden des Rechts oder Anspruchs oder Bedürfnisses nach Gärtnern. Wichtiger ist das Wo beim Wohnen, Arbeiten und Einkaufen und nicht beim Gärtnern.

Elke: Wohin verlagert man das? Was sind die zugrunde gelegten Paradigmen? In Havanna zum Beispiel war das Urban Farming lange eine Form der Krisenbewältigung (kein Öl, keine Schädlingsbekämpfung vorhanden; strenges Embargo von den USA; Absatzmärkte in den Geschwisterstaaten verloren). In der Doktrin der Stadtplanung war das die „Notlösung“. Das Urban Farming war zunächst informell und dann von oben flächendeckend organisiert, es war aber klar, dass es wieder verschwindet, wenn etwas Besseres kommt. Es hat 20 Jahre gedauert, bis jetzt im Gesetzestext festgeschrieben wurde, dass die Organopónicos selber Teil einer stadtentwicklerischen Perspektive geworden sind. Das finde ich interessant. Wie lange kann es dauern, bis man begreift, dass etwas einen anderen Wert hat, als man ihm vorher beigemessen hat? Aber zurück zu den Kleingärten in Wien – ist nun hier durch die Privatisierung etwas passiert, das die Wertschätzung gegenüber der Ressource untergräbt?

Reinhard: Ja, diese Wertschätzung fehlt bei uns – das stimmt. Aber wenn wir jetzt Havanna außer Acht lassen, dann ist deine Position die einer breiter werdenden Soziogruppe, die das aus Leidenschaft macht und einfach haben möchte. Das ist legitim, aber da sind wir weit weg von einer Notwendigkeit, wie es in Havanna oder auch bei uns vor 100 Jahren der Fall war. Wenn ich es zugespitzt sagen darf: Das ist in Wien eher eine Lifestyle-Geschichte. Das ist zugegeben ein bisschen zynisch. Es ist eine Ausformung von Lebensqualität, die natürlich ihre Berechtigung hat. Aber dem eine breitere Bedeutung beizumessen ... Also dieser substanz- oder gesellschaftserhaltende Aspekt ist für mich beim Gärtnern in unseren Breiten einfach nicht da. Wir essen seit Jahrzehnten schon nicht mehr das, was unmittelbar vor unserer Haustür oder auch nur im Umland unserer Städte wächst.

Elke: Aber es gibt an vielen Orten Versuche, den Grüngürtel rund um die Stadt auch landwirtschaftlich für die lokale Nahversorgung zu nutzen.

Reinhard: Den Grüngürtel gilt es zu schützen, aber man muss auch daran denken, dass die Stadt wächst. Es ist für das Stadtwachstum ja nicht einmal Bevölkerungswachstum an sich notwendig, es genügt die ungebrochene Ausdehnung der Pro-Kopf-Wohnfläche.

Elke: Diesen Anspruch des Einzelnen finde ich sehr schwierig – sich in einer Art und Weise auszudehnen, die eine Gefräßigkeit annimmt und alles das, worüber wir jetzt sprechen, verunmöglicht. Also Freiräume, Grünflächen ...

Reinhard: Österreich hat seit 30 Jahren im Grunde dieselbe Bevölkerungszahl, wir haben allerdings unsere Siedlungsfläche – ich schätze einmal – um ca. 50 % ausgedehnt. Das ist der eigentliche Wahnsinn. Aber da ist kein Stadtplaner in der Lage, das zu ändern. Das ist ein gesellschaftliches Faktum und dem kann man nur gesellschaftspolitisch begegnen. Für gesellschaftlichen Wertewandel ist Stadtplanung nicht zuständig. Da müssen wir auf einer anderen Ebene diskutieren. Aber prinzipiell ist es positiv, dass Leute nicht mehr nur in Suburbia wohnen wollen, sondern wieder in die Stadt zurückkehren, dass die Städte – im Unterschied zu vor 20 Jahren – wieder wachsen. Da ist es mir lieber, wenn das Gärtnern hin und wieder verlagert wird, um die zuziehenden Menschen in urbanen Strukturen unterzubringen. Für mich ist das eine Frage der Abwägung des geringeren Übels.

Elke: Du hast vorhin von einer Halbierung der Fläche gesprochen. Leider ist das ja nur eine Fiktion, weil man nun aufgrund der Privatisierungen nicht mehr hinkommt. Aber dass man die Hälfte eines Kleingartengebietes in etwas verwandelt, was ein wienerisches Organopónicos sein kann und die andere Hälfte mittels Wohnbau verdichtet, klingt sehr interessant. Sonja hat aber richtig angemerkt, dass das genau in der Stadtzone stattfinden würde, die jetzt schon im internationalen Vergleich wenig Grün aufweist, obwohl die Stadt Wien immer dieses Bild der Grünheit vor sich selbst herträgt.

Reinhard: Mir fallen dazu immer die Pläne in der U-Bahn ein, die die unmittelbare Umgebung jeder U-Bahn-Station darstellen, in denen wirklich jede kleinste Verkehrsinsel oder jedes vom Stadtgartenamt gepflegte Tulpenbeet grün eingezeichnet ist – die pure Augenauswischerei. Zu der zweiten Zone, von der du gesprochen hast: Hier finde ich es tatsächlich sinnvoll, dass man verfügbare Ressourcen weiter bebaut. Wenn man vom klassischen Blockrand ausgeht, gibt es bei einer relativ effizienten Verdichtung vier Ebenen, um wertvollen Grünraum oder begrünbaren Freiraum zu schaffen. Das ist einmal der öffentliche Raum draußen vor dem Block, der von den Autos beherrscht wird – was aber nicht sein müsste. Das zweite Potenzial ist der Blockinnenbereich, geschützt, intim – hier sind ganz andere Nutzungsmöglichkeiten vorstellbar. Der Innenhof ist in Wien, leider auch aufgrund des Autos, im Neubau oft nur noch die Begrünung der darunter liegenden Tiefgarage. Das dritte sind die Loggien und Balkone – natürlich wäre hier viel mehr möglich als diese 4 m² kleinen, Satellitenschüssel tragenden Zellen. Und das vierte sind die Dachzonen. So gut wie jedes neue Haus hat ein Flachdach – man müsste dort nicht zwingend ein Penthouse platzieren. In Wien sind vor nicht allzu langer Zeit noch Wohnbauten errichtet worden, wo sich oben der Gemeinschaftsraum oder eine Dachterrasse für alle BewohnerInnen befanden. Ein wunderbares Beispiel ist die Sargfabrik: Was gibt es Schöneres als die Dachgärten dort? Die Sargfabrik zeigt im Grunde auf allen vier Ebenen, die ich jetzt angesprochen habe, was bei einer immensen Dichte trotzdem an Grünraumqualität möglich ist. Solange auf diesen Ebenen so viel unausgereizt bleibt, finde ich es als Stadtplaner eigentlich unverhältnismäßig, die Lösung für das Naturbedürfnis der StädterInnen für möglichst viele im Schrebergarten zu sehen. Es ist eine sehr spezifische Form, die in einer gewissen Quantität angeboten werden sollte, aber es ist vom Platz, vom stadtstrukturellen Gesamtgefüge und auch vom Bodenpreis her unrealistisch, das für Hunderttausende zur Verfügung zu stellen. Und wie schon gesagt: Ich sehe keinen Anspruch eines jeden Städters auf einen Kleingarten. Es gibt andere Formen, und ich glaube, dass die anderen Formen für viele einen ausreichenden Ersatz bilden könnten.

Sonja: Man kann also festhalten, dass auch die „Neue Siedlerbewegung“ auf jeden Fall ein Schritt in die falsche Richtung ist?

Reinhard: Auf jeden Fall! Das sind ja keine Gärten mehr. In der Luftaufnahme wird deutlich, wie dieses Siedlungsmodell aussieht: das frei stehende Einfamilienhaus und daneben der Swimmingpool. Im Übrigen leidet in den suburbanen Gebieten bereits die Grundwasserqualität darunter, dass jeder dreimal im Jahr das Chlorwasser seines Pools auslässt und in den Boden einbringt.

Sonja: Aber diese „Neue Siedlerbewegung“ scheint ja etwas zu sein, was die Stadt Wien intensiv betreibt.

Reinhard: Ja, seit 20 Jahren schon – im Grunde hat das Bernhard Görg mit „Wohnen im Grünen“ begonnen und Rudolf Schicker mit der „Neuen Siedlerbewegung“ fortgesetzt. Maria Vassilakou hat zumindest schon öffentlich deklariert, die Suburbanisierung innerhalb der Stadtgrenze nicht mehr weiter fortsetzen zu wollen.

Elke: Du hast vorher gesagt, grundsätzlicher Wertewandel ist nicht Aufgabe der StadtplanerInnen. Aber wenn man nun davon ausgeht, dass die Pläne in den U-Bahn-Stationen, die du ins Spiel gebracht hast, grundsätzliche Werthaltungen ausdrücken, heißt das nicht, dass die Stadtplanung sehr wohl zuständig ist für diese Form von quasi kartografischer Evozierung des Glaubens an spezifische Werte?

Reinhard: Zum einen stammen diese Pläne ja nicht von der Stadtplanung. Und zum anderen muss man schon unterscheiden zwischen der Stadtplanung als Apparat, als System, die hierzulande eine politikhörige ist, und der Stadtplanung als Disziplin mit all ihren Grundsätzen und Werthaltungen und Zielen. Das ist ja etwas ganz anderes.

Elke: Aber die politsche Planungshaltung inkorporiert diese Werte sehr wohl als ein Versprechen in ihre Mappings der Stadt, aber im Grunde genommen ist es nur die zugrunde liegende Narration. Man weiß ja nie, woher das kommt, dass dieses Versprechen immer perpetuiert wird. Man liest es, aber real ist es nicht so. Das heißt, die Propaganda war schon sehr stark. Ich glaube, man kann sich aus dieser Planungssicht nicht so leicht herausnehmen und sagen, die kulturellen Haltungen spielen da nicht herein. Man geht davon aus, Wien ist eine grüne Stadt und dann muss man sagen, de facto ist es nicht so. Man sitzt der Verlängerung einer Glaubwürdigkeitsbeschwörung auf.

Reinhard: Das beste Beispiel für diese Verlogenheit ist mein „Lieblingsplatz“ im 16. Bezirk – der Gutraterplatz. An so einem Platz gäbe es in Italien mindestens drei Kaffeehäuser und einfach Raum, eine für alle nutzbare Fläche. Hier ist es schon mal ein halbierter Platz, denn die Straße, auf der auch die Straßenbahnlinie 10 fährt, teilt ihn in zwei Hälften. Diese wären an sich auch noch schöne Plätze, aber wie sehen sie aus? Es gibt einen Gehsteig entlang der platzbildenden Bebauung und den Rest hat man – klassisch für Wien – einen halben Meter hochgepflastert und mit Bodendeckern begrünt, damit die Hunde nicht hineinscheißen. Man hat den Platz also einfach der Öffentlichkeit, jeder Nutzung entzogen, aber er ist rein formal zumindest grün. Das zeigt für mich die Unbeholfenheit und Kulturlosigkeit, die den Umgang mit dieser Stadt kennzeichnen. Und diese Plätze gibt es überall in Wien.

Hintergrund, Mo., 2012.07.30



verknüpfte Zeitschriften
Hintergrund 53 Herr und Frau Schreber

25. November 2009Sonja Pisarik
Hintergrund

Heimweh-Architektur

Wenn am 24. Oktober 2009 im niederösterreichischen Kurort Bad Vöslau eine landauf und landab heftig diskutierte Moschee eröffnet wird, so ist das österreichweit...

Wenn am 24. Oktober 2009 im niederösterreichischen Kurort Bad Vöslau eine landauf und landab heftig diskutierte Moschee eröffnet wird, so ist das österreichweit...

Wenn am 24. Oktober 2009 im niederösterreichischen Kurort Bad Vöslau eine landauf und landab heftig diskutierte Moschee eröffnet wird, so ist das österreichweit erst der dritte derartige Bau. Während sich in Deutschland eine erkleckliche Anzahl von Moscheen in Bau oder in Planung befindet, hinkt Österreich der gesamteuropäischen Entwicklung hinterher. Kein Wunder, sind doch im Zuge der Debatten um das 2006 errichtete Minarett in Telfs (im Übrigen kein architektonisches Glanzstück – das Minarett geriet zu einer Persiflage seiner selbst) und die geplante Moschee in Bludenz in den letzten Jahren die Wogen hochgegangen.

Zwei Bundesländer, Vorarlberg und Kärnten, haben inzwischen gefinkelte Gesetze erlassen, um den Bau von Moscheen oder Minaretten künftig unterbinden zu können. Die Kunst dabei ist die Vermeidung eines einklagbaren Widerspruchs zu dem in der Verfassung verankerten Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsausübung. Ihr dreißigjähriges Jubiläum feiert heuer Österreichs erste richtige Moschee. 1975 bis 1979 mit Geldmitteln des damaligen Königs von Saudi-Arabien in Wien-Floridsdorf errichtet, konzentrierte sich Erbauer Richard Lugner auf ein traditionelles Äußeres mit einem 32 m hohen Minarett und einer Kuppel. Angeschlossen an das Zentrum sind diverse kulturelle Einrichtungen. Mittlerweile leben in Österreich ca. 400.000 Muslime. Es existieren in etwa 250 Gebetsräume, die in Wohnungen oder ehemaligen Lager- bzw. Fabrikshallen untergebracht sind. Richtige Moscheen, also Bauwerke, die explizit als Moscheebauten neu entstehen (keine Umnutzungen), gibt es in Österreich bislang nur zwei. Die Vöslauer Moschee ist nach Telfs somit die dritte. Richard Lugner, der noch Jahre später mit dem Slogan „Wir bauen nicht nur Moscheen“ auf seinen Firmenwagen Werbung machte, wurde 1999 – also immerhin bereits 20 Jahre nach Fertigstellung – von Peter Westenthaler im Präsidentschaftswahlkampf verächtlich als unwählbarer Moscheenbauer bezeichnet.

Aber zurück zu Bad Vöslau, einer ehemaligen Sommerfrische im Süden Wiens: Als im Frühjahr 2006 zwei Mitglieder der Vöslauer ATIB (Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine) mit Entwürfen für eine Moschee an ein ortsansässiges Zivilingenieursbüro herantraten, war relativ bald klar, dass die Umsetzung nicht so einfach vonstatten gehen würde. Ausgangsvorstellung war eine Moschee mit zwei 30 m hohen Minaretten und mehreren Kuppeln mit der Anmutung eines stilistischen Direktimports aus der türkischen Heimat.

Dreißig Planvarianten später ist daraus ein deutlich schlichteres Kulturzentrum geworden. Eine zur Straße hin offene U-Form beherbergt ein Café und diverse Veranstaltungsräume, die sich mittels großzügiger Verglasung zum Innenhof öffnen, in dem zur Kühlung Wasser aus einem Brunnen springt. Erst dahinter kommt man in den eigentlichen Gebetsraum, einen einfachen Kubus mit einer silbernen Zinnkuppel, der durch Fliesen aus der Türkei zumindest im Inneren sein orientalisches Aussehen erhält. Wenn der Bau auch keineswegs als Meilenstein progressiver Moschee-Architektur zu bezeichnen ist, so ist ihm jedenfalls das Bemühen um eine modernere Formensprache anzusehen. Die jetzige Form ist das Ergebnis eines von der Gemeinde initiierten, mehrere Monate dauernden Mediationsverfahrens, das die Wogen glätten musste, die vor allem durch Unterschriften- und Flugzettelaktionen der FPÖ hochgepeitscht worden waren. Schlussendlich fanden Kompromissvorschläge beider Seiten Eingang in die Planungen, sodass sich die von der Gemeinde gewünschte Transparenz und Offenheit nun im Gebäude widerspiegelt. Eine solche ist auch in Sachen Integration gefordert: Bürgermeister Christoph Prinz möchte aus dem jahrzehntelangen Nebeneinander von Bewohnern des je nach vorherrschendem Migrationshintergrund als „Böhmenzipf“, „Klein-Chicago“ bzw. „Klein-Istanbul“ bezeichneten traditionellen Einwanderer-Viertels beim Bahnhof und den Einheimischen ein „Miteinander“ machen.

Am Fall von Bad Vöslau lässt sich das typische Streitmuster rund um ein Moscheeprojekt nachzeichnen: Zuerst wird über die Höhe von Kuppeln und Minaretten debattiert, dann landet die Diskussion ganz schnell bei wilden Verschwörungstheorien. Plötzlich ist von Terrorismus die Rede, von Dschihad, von Hasspredigern und von der allgemeinen „Gefahr der Islamierung“. Ignoriert wird eine auf der Hand liegende, deutlich weniger dramatische Interpretationsmöglichkeit: Auch Muslime bevorzugen für ihre Gottesdienste würdige Versammlungsräume anstelle von Hinterhöfen oder aufgelassenen Fabrikshallen. Schließlich stellen sie sich durch solche Bauten der Öffentlichkeit, was im besten Fall auch in einer transparenteren Architektur Ausdruck findet. Und hier sind wir bei einer Frage, die beim Neubau von Moscheen meist erst zum Schluss oder gar nicht gestellt wird: die nach der geeigneten architektonischen Gestaltung.

Christian Welzbacher fordert in seinem 2008 erschienen Buch „Euroislam-Architektur. Die neuen Moscheen des Abendlandes“ eine Qualitätsdebatte, die sich eine zeitgemäße Form für islamische Architektur zum Anliegen macht. Moscheen, wie sie heute überall in Europa entstehen, sind selbst nach muslimischer Lesart anders als christliche Kirchen oder Synagogen keine Sakralbauten, sondern eher „Multifunktionshäuser“. Es gibt kaum architektonische Zwänge, die durch die religiöse Tradition diktiert würden. Lediglich die nach Mekka zeigende Gebetsrichtung muss innerhalb des Raumes durch den Mihrab angezeigt werden. Dabei handelt es sich um eine Nische, die dem Vorbeter Platz gibt. Moscheen könnten also ganz unterschiedlich aussehen. Diese Gestaltungsfreiheit wird aber nur selten ausgespielt. Momentan entsteht in Rotterdam die Essalam-Moschee, eine der größten Europas. Sie wirkt wie ein orientalisches Postkartenklischee, scheint vollständig aus der Zeit gefallen und geht auf ihren örtlichen Kontext in keiner Weise ein. Das für den Entwurf verantwortlich zeichnende Büro Molenaar und van Winden bietet also den Gläubigen ein muslimisches Euro-Disney.

Eine derartig radikale Abkehr von der Gegenwart ist allerdings nicht mehr der Regelfall. Oft werden zumindest die traditionellen Bauweisen adaptiert und modifiziert – wenn auch nicht immer mit geglückten Endergebnissen. Selbst der Entwurf für die in Köln-Ehrenfeld entstehende Moschee, die einen veritablen, zwei Jahre andauernden Moschee-Streit auslöste (siehe das dazu erschienene Buch: „Der Moschee-Streit. Eine exemplarische Debatte über Einwanderung und Integration“, Hg. Franz Sommerfeld), bleibt mit ihrem imposanten Kuppelbau samt zwei 55 m hohen Minaretten seltsam unentschlossen auf halbem Wege zwischen traditioneller Symbolik und behutsamer Modernisierung stecken. Dabei wurde für dieses Großprojekt ein Architekturwettbewerb ausgeschrieben, den mit Paul Böhm, Spross einer bekannten deutschen Kirchenbaumeister-Dynastie, ein Architekt für sich entscheiden konnte, von dem man sich durchaus einen größeren Wurf hätte erwarten können. Offenbar waren seine Auftraggeber aber nur bedingt zu Kompromissen bereit. Auf muslimischer Seite erwarten eben viele einen Moscheebau, wie sie ihn aus der alten Heimat kennen – so kommt es teilweise zu unbekümmerten und unreflektierten Imitationen, die in westlichen Gesellschaften entweder Ablehnung hervorrufen oder als Folie für romantisierenden Exotismus dienen. Innovationen, die der Bauaufgabe Moschee einen neuen Schwung geben könnten, wären tatsächlich an der Zeit.

Natürlich muss nicht jede zukünftige Moschee das architektonische Rad neu erfinden und spektakuläre Projekte wie die Entwürfe für die Straßburger Zentralmoschee von Zaha Hadid oder das Londonder Abbey Mills Islamic Centre von MYAA werden wohl eher Einzelfälle bleiben. Ein großer Schritt wäre aber schon getan, wenn in Zentraleuropa zumindest der Standard erreicht werden könnte, den Bosnien mit seiner Experimentierfreude auf dem Gebiet der Moscheenbauten zumindest bis zum gewaltsamen Zerfall von Jugoslawien 40 Jahre lang gehalten hat. Eine der neuesten Moscheen Deutschlands, die in der Presse als Musterbeispiel zeitgenössischer Architektur gepriesen wurde, stammt daher nicht von ungefähr von einem jungen bosnischstämmigen Architekten: Alen Jasarevic. Das Bauwerk, das in dem kleinen Städtchen Penzberg, 40 km südlich von München, auch durch einen besonders engagierten Imam möglich geworden ist, beeindruckt durch die Loslösung von traditionellen Formen. Ein Bau mit Vorbildcharakter.

Die durchaus sinnvolle Debatte über den Einzug moderner Formensprache in die Moscheenarchitektur darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die massiven Kritiken und Polemiken, die meist auftauchen, sobald der Bau einer Moschee ruchbar wird, sich nicht gegen das Bauwerk in seiner ästhetischen Ausformung richten. Ganz im Gegenteil: Wenn schon eine Moschee, dann soll es nach Meinung vieler Nichtmuslime wenigstens eine schön anzuschauende = orientalisch, exotisch wirkende Moschee sein, wie der Integrationsbeauftragte der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich und SP-Gemeinderat Omar Al-Rawi bei der Podiumsdiskussion im Rahmen des Symposiums am 4. September 2009 versicherte. Das bedeutet, dass wohl nicht automatisch anzunehmen ist, dass durch moderne, transparente Architektur eine größere Akzeptanz in der Bevölkerung gegenüber der baulichen Präsenz des Islam erzielt werden kann.

Mindestens genauso wichtig wie die Überlegungen nach einer „passenden“ Architektur scheint in jedem Fall die Frage der Integration. Wie kann es gelingen, der Bevölkerung die Angst vor einer Moschee zu nehmen? Der Vöslauer Bürgermeister Christoph Prinz dazu in der Podiumsdiskussion: „Wir haben alle zusammen in unserer Stadt gewohnt, eigentlich nebeneinander gewohnt. Durch diesen Anlassfall waren wir gezwungen, uns zu entscheiden, ob wir in Zukunft eher ,gegeneinander’ wohnen oder mehr miteinander wohnen wollen.“ Im Februar heurigen Jahres war auf ORF online zu lesen, dass das islamische Kulturzentrum in Bad Vöslau im heurigen Jahr fertig sein würde und sich die ehemals heftigen Diskussionen beruhigt hätten. Sofort echauffierte sich im Forum ein wütender User: „Eine Frechheit sondergleichen über die Köpfe der Vöslauer Bevölkerung hinweg. Da traut sich der ORF noch schreiben, dass die Widersprüche nachgelassen haben.“ Mehrere Tausend Einträge im Forum folgten innerhalb weniger Tage. Als Aufreger wird das Thema Moscheenbau wohl noch lange herhalten müssen und damit auch die Debatten um bessere Integration und zeitgemäßere Architektur.


[Überarbeitete Fassung eines Artikels für das Nachrichtenmagazin „Profil“ (Heft Nr. 18 vom 27.04.2009)]

Hintergrund, Mi., 2009.11.25



verknüpfte Zeitschriften
Hintergrund 44

20. November 2008Gabriele Kaiser
Sonja Pisarik
Hintergrund

Modellbau ist Dedektivarbeit

Franz Hnizdo unterrichtet seit 1985 Architekturmodellbau an der Universität für angewandte Kunst in Wien und arbeitet derzeit u.a. an einer Publikation über die Bedeutung des Modells von der Antike bis in die Gegenwart und den historischen Modellbautechniken. Gabriele Kaiser und Sonja Pisarik trafen Franz Hnizdo zum Gespräch.

Franz Hnizdo unterrichtet seit 1985 Architekturmodellbau an der Universität für angewandte Kunst in Wien und arbeitet derzeit u.a. an einer Publikation über die Bedeutung des Modells von der Antike bis in die Gegenwart und den historischen Modellbautechniken. Gabriele Kaiser und Sonja Pisarik trafen Franz Hnizdo zum Gespräch.

Ihr Spezialgebiet sind Modellrekonstruktionen von historischer Architektur, und in diesem Sinn ist der Modellbau eine Forschungsdisziplin.
Er ist wesentlicher und anerkannter Beitrag zur Bauforschung – hauptsächlich interuniversitär und interdisziplinär in Zusammenarbeit mit archäologischen Instituten, auch mit der Ägyptologie und vielen Museen. Manches rekonstruieren wir auch völlig alleine, aber bei archäologischen Projekten arbeiten wir natürlich immer eng mit den jeweiligen Fachleuten zusammen. Bei vielen archäologischen Grabungen gibt es sogenannte Grabungsarchitekten, auch Studierende, die alles, was aus dem Boden herauskommt, aufnehmen und zeichnen. Da sitzen sie oft Monate bei einer bestimmten Volute, einem Kapitell oder sonst was. D.h. es entstehen viele Detailpläne von Steinen, steingerechte Aufrisse – oft ganze Pakete von Zeichnungen. Aber in den wenigsten Fällen macht sich wirklich jemand Gedanken, wie das ganze Gebäude ausgesehen hat. Wenn allerdings eine größere Ausstellung bevorsteht, wo auch die aufgehende Architektur gezeigt werden sollte, nicht nur schnell virtuell, sondern real, dann wird es manchmal eng. Das ist der wunde Punkt – es fehlt oft an der räumlichen Vorstellung. Da springe ich ganz gern in die Bresche und versuche mit Vormodellen, Modellstudien gewisse Dinge 3D wachsen zu lassen, damit wir der Wahrheit näher kommen. Das muss natürlich in sich stimmig sein, denn Sie können bei einem Rekonstruktionsmodell natürlich nicht lügen. Es muss immer übers Eck stimmen. Sie können zwar einfach wo beginnen, aber irgendwo lässt es dann aus – da gibt es dann plötzlich Fragezeichen an jeder Ecke. Mit einer Perspektive können Sie – das war schon in meiner Studienzeit so – schummeln wie Sie wollen. Wenn es dann real wird, ob jetzt in einem kleineren Maßstab oder in einem größeren gebaut wird, können Sie eigentlich nicht lügen. Da müssen Sie sich zur Wahrheit durchkämpfen.

Also kann man sich vorstellen, dass diese Modelle, die Sie auch zwischendurch anfertigen, bei sehr schwacher Datenlage auch so etwas wie Arbeitshypothesen sind, die immer überprüft werden müssen mit dem konkreten Fund.

Richtig. Man muss sich genau einlesen in das spezielle Fachgebiet, um eine profunde Gesprächsbasis mit dem Archäologen zu haben. Zunächst sind das ja nur Arbeitsgrundlagen. Und dann steigert sich das. Das ist so wie eine umgekehrte Pyramide, da haben wir oft zunächst wirklich nur die Spitze, dann irgendwann kriegen wir die Basis, und letztlich können wir ein seriöses Repräsentationsmodell bauen.
Wenn man an jüngere Beispiele wie das „Kabarett Fledermaus“ oder das „Palais Stoclet“ denkt, da gab es doch zum Teil Fotos oder Pläne, die Sie für das Rekonstruktionsmodell zu Hilfe nehmen konnten, oder?
Ja, beim Palais Stoclet gibt es viele Fotos, die wir im Vorfeld gemacht haben. Für solche Sachen recherchieren wir wie die Detektive. Aber ins Palais Stoclet kommt man nicht so einfach hinein, da gab es damals die Madame Stoclet, die niemandem so ohne weiteres Zutritt gewährte. Das kam immer sehr auf ihre Stimmung an. Wir wollten uns nicht abschrecken lassen, haben einen Schulbus gemietet und sind mit einem Fotografenteam nach Brüssel hinaufgefahren, ohne dass wir uns vorher groß angemeldet hätten. Ich habe nur versucht, über den Schwiegersohn, den Dr. Haas-Stoclet, dessen Tochter selbst Fotografin war, einen Kontakt herzustellen und ihm zu sagen, dass wir kommen. Er hat gemeint, dass er es seiner Maman sagen wird. Und so sind wir hineingekommen und konnten immerhin eine Woche dort verbringen. Wir haben mit Messlatten eine komplette Bauaufnahme gemacht, wir sind sogar in der Hoffmann-Küche von der Madame mit Tee bewirtet worden. Am Abend mussten wir ihr die Fotos und die Skizzen, die wir untertags gemacht haben, immer zeigen. Um am dritten Tag hat sie uns plötzlich alle hinauskomplimentiert, es war aus. Was jetzt? Es hat sich herausgestellt, dass wir ein Foto vom Innenhof gemacht haben, auf dem auch zufällig ein zerbrochener Blumentopf zu sehen war, und das war fatal, denn Madame Stoclet war extrem darauf bedacht, dass dieser Bau in seinem Idealzustand festgehalten wird. Es war ein Akt der Bewahrung – sie hat dort wie eine Oberinspektorin gewacht, denn sie hat schon so viele schlechte Dinge erlebt, dass der Bau z.B. auf Zigarettenpackerln abgebildet war. Das besagte Foto haben wir ihr dann ausgehändigt, und dann ging es wieder weiter. Wir waren sogar am Dach und haben von dort wunderbare Aufnahmen machen können. Außerdem haben wir in die Familienbücher Einblick nehmen dürfen. Später haben wir dann im Maßstab 1:50 für die Ausstellung „Traum und Wirklichkeit“ das Modell gemacht. Als dann Madame Stoclet zur Verleihung eines Ehrenringes nach Wien kam, war sie von dem Modell – weil es ja wirklich den Erstbau abgebildet hat – zu Tränen gerührt.
Beim „Kabarett Fledermaus“ tauchte eine Plan von Le Corbusier auf. Oder vielmehr eine kleine Skizze, die das Kabarett Fledermaus gezeigt hat. Man ist im Zuge einer geplanten Ausstellung im Wiener Theatermuseum an mich herangetreten und hat gemeint, jetzt können wir das Kabarett Fledermaus bauen, jetzt haben wir ja die Skizze. Und dann hat sich im Laufe intensiver Recherchen herausgestellt – wir waren auch vor Ort und haben wieder alles vermessen – dass die Skizze überhaupt nicht gestimmt hat. Dass Le Corbusier das zwar gezeichnet hat, aber idealisierend! Zwei Jahre später hat er sich halt in einer Eisenbahn daran erinnert und das Lokal aus der Erinnerung skizziert, was natürlich in den Proportionen nicht gestimmt hat. Ich habe dann u.a. alte Feuerwehrpläne ausgehoben. Also das geht wirklich in die ganz strenge Recherche.

Wie lange dauert im Wesentlichen so eine Recherche?

Mindestens ein halbes Jahr lang wird nur geforscht. Der eigentliche Modellbau ist ja dann nur mehr eine Umsetzung. Da gibt es dann natürlich immer wieder kleine Rückschläge oder Probleme, da muss man dann wieder nachschauen und gewissenhaft weitersuchen. Es geht immer um den Erstbau. Auch beim Belvedere zum Beispiel. Das Belvedere im Modell nachzubauen war, was die Datenlage betraf, eher leicht, immerhin gab es die Pläne von Salomon Kleiner. Salomon Kleiner hat den Erstbau ja seinerzeit ganz genau gezeichnet, aber trotzdem waren Fehler drinnen. Man kann nicht immer aus der Ferne diagnostizieren, man muss also dort auch selbst mit dem Maßstab herumgehen und schauen, was ist verbaut worden, wo schaut noch was heraus?
Gibt es bzgl. der Materialität des Modells zwingende Gründe, warum etwas aus Gips oder Holz gemacht wird?
Gebäude, auch die der Antike, leben für mich irgendwie. Jetzt könnte man sagen, so einen Tempel kann man aus Gips bauen, das wäre auch irgendwie naheliegend, hat man ja auch früher gemacht – aber Gips ist ein totes Material, das strahlt keine Lebendigkeit aus. In der Antike waren ja viele Tempel zumindest teilweise bemalt. Es wird daher versucht, verschiedene Edelhölzer betont abstrakt und farbnuanciert zusammenzustellen. Ich komme ja ursprünglich vom Geigenbau und von der Kunsttischlerei und Bildhauerei her, also mir ist der Werkstoff Holz einfach am liebsten, er ist auch am Dauerhaftesten, dazu sind Holzmodelle heute eine ausgesprochene Rarität. Das Belvedere z.B. hat an die 200 Figuren auf dem Dach, jedes Fenster hat ein anderes Ornament. Das kann und will ich nicht mit Kitt herstellen, wie das die Italiener in der Renaissance gemacht haben. Das sind Miniaturschnitztechniken, die ich seinerzeit bei einem Griechen gelernt habe. Und ich möchte das so präsentieren. Deswegen kosten die Modelle auch entsprechend, weil man da eine Menge Zeit braucht. Die Figuren sind ja dann oft nur etwa 2–2,5 cm groß, und sie müssen in den Proportionen ziemlich stimmen. Da komme ich mit Holz am besten hin. Wenn Sie da mit Malerei anfangen, dann wird es schnell zum Zuckerbäcker-Modell.

Es besteht die Gefahr, dass ein Modell wie ein Kinderspielzeug aussieht.

Bei uns nicht, da predige ich immer die Drei-Finger-Regel: Maximal drei fein abgestufte Holzarten; oder bei der Mischtechnik höchstens drei zueinander passende Materialien – das kommt meistens hin.
Manchmal ist es aber auch ein Kinderspielzeug! Aus der Antike bzw. aus der Steinzeit gibt es richtig schöne Kinderarbeiten – Esel, Schafe, kleine Töpfe, Häuser. Das kann also auch einfach Spielzeug gewesen sein, man muss nicht immer gleich an wahnsinnige Architekturleistungen denken. Wir haben doch als Kinder alle gerne in der Sandkiste Dinge geformt, und wenn die Eltern aus Ton modelliert haben, Töpfe, Löffel bis zum Steinzeitschnuller, und das Kind steht daneben, will es ja auch was formen. Wir haben manchmal den Beweis, weil die Fingerabdrücke von Kindern teilweise noch sichtbar sind, 7.000 oder 8.000 Jahre alt.

Sie unterrichten seit 1985 an der Angewandten. Liegt Ihr Schwerpunkt auf „klassischen“ Modellbautechniken?

Heute wird natürlich auch bei uns sehr viel mit dem Computer entworfen. Aber es ist auch Teil meiner Lehre, dass ich auf bestimmte Gefahren hinweise. Wir machen schon noch beides. Wir entwerfen nicht nur am Computer und lassen es über den Plotter drucken, weil da der Entwerfer oft draufkommt, dass das dann doch anders ausschaut als gedacht. Also, diese Ambivalenz zu erklären ist mir wichtig im Unterricht. Man muss sich fragen, was kann das reale Modell, was kann das virtuelle Modell? Ich will keines von beiden verdammen, da muss man vorsichtig sein! Aber es sollte ein Dialog, eine Ergänzung zwischen beiden sein. Das, was ich aus dem Computer rausnehme, wird vielleicht händisch weiterbearbeitet. Dann wird es ausgeplottet, weil das halt am einfachsten geht, dann wird weiterentwickelt, man scannt es wieder ein, kann das im Computer wieder weiterverändern, nimmt es wieder heraus – also ein Vice-versa zwischen Computer und Modell. Die großen Architekten wie Rietveld oder Gaudí hatten auch keine Zeichenateliers, da wurde alles nur mit Arbeitsmodellen gemacht. Wenn Sie an die Sagrada Familia denken – das wäre ja anders gar nicht gegangen. Diese ganzen Knoten in der Kathedrale, man hat ja gar nicht gewusst, ob das statisch alles trägt. Heute sind die Statik-Rechenprogramme perfekt, man kann ganze Netze durchrechnen lassen.
Grundsätzlich kann man wohl sagen, Rekonstruktionsmodelle sind Hypothesen oder auch analytische Instrumente, aber auf dem anderen Ende des Spektrums befindet sich die freie Plastik. Das ist es ja auch immer in gewisser Weise, wenn man anerkennt, dass das Modell kein totales Abbild der Wirklichkeit sein kann.
Man weiß ja aus der Antike, z.B. aus der Zeit der der großen Pyramiden, später der Lykier, dass viele Bauplastiken im Vorfeld im Kleinmaßstab gebaut worden sind. Wenn ich ein schwieriges Material vor mir habe, ist es schon ratsam, es vorher auszuprobieren. Ein wesentlicher Aspekt ist ja der Materialwiderstand, der sich dem künstlerischen Prozess entgegenstellt. Es wird jetzt auch versucht, diesen mittels Computer zu simulieren. Na ja. Wenn Sie eine Idee im Kopf haben und Sie versuchen, diese Idee umzusetzen, und Sie haben einen Stein vor sich, Holz, Styropor, dann wird diese Idee drei verschiedene Ausformungen haben. Der Widerstand, der sich Ihnen beim Stemmen oder Formen von Styropor oder Gips bietet, ist jeweils ein ganz anderer. Das heißt, man versucht, diese Statuen schon im richtigen Material zu machen. Heute gibt es schon Programme, wo man – damit das realer wird – beim Führungsstift verschiedene Materialwiderstände einstellen kann. Das heißt, stelle ich Stein ein, dann muss ich mehr drücken, stelle ich Styropor ein, gibt er mir dann weniger Widerstand. Das ist schon kurios. Die Materialwahl, die Materialgerechtigkeit, die Materialspannungen – das geht in den Entwurfsprozess hinein, und das ist wahnsinnig wichtig und kann natürlich nie richtig am Computer simuliert werden. Wenn der Student das neutral und mit natürlichen Materialien bearbeiten will und ihm Holz zu schwer ist, soll er halt Ton nehmen. Ich mache mit ihnen auch immer Tonübungen, gehe mit ihnen in die Keramik-Abteilung hinunter und gebe ihnen ein Thema, wo sie aus Ton etwas formen sollen. Ganz am Anfang, im ersten Semester, das ist ein ganz wichtiges Semester. Das Arbeiten mit Naturmaterialien ist bei den Studierenden wieder sehr gefragt, es wird wieder gerne „begriffen“, wir sind eben doch noch die „Angewandte“ und kein reiner Geistestempel.

Wie ist der internationale Stellenwert von solchen Rekonstruktionen? Gibt es da in Österreich eine Sonderstellung?

Ja ich glaube schon, das dürfte doch so eine kleine, leichte Einmaligkeit sein, und nicht nur in Österreich, da habe ich das Feedback von vielen namhaften Architekten und Archäologen. Wir hatten ja auch sehr berühmte Leute in Österreich, die zwar keine Rekonstruktionsmodelle bauten, sondern brav nach Plänen der Architekten vorgingen, z.B. aus dem Barock oder Rokoko, wie Matthias Steindl mit der Turmfassade von Zwettl. Das waren oft riesige Modelle, 15er, 25er, 30er. Der mathematische Turm von Kremsmünster ist aus Buchsbaum gebaut. Dieser Baum kann ein paar Hundert Jahre alt werden und ist kaum mehr zu bekommen. Er hat eine Härte fast wie Kalkstein, da kann man die kleinsten Details schnitzen. Antonio Selvas’ Modell für das Teatro la Fenice in Venedig fällt mir da noch ein und natürlich die Palladio-Modelle. Manche Ausführungen sind Riesenapparate, fast schon Möbel, da füllt ein Modell einen halben Raum.
Gab es quer durch die Jahrhunderte gesehen bestimmte Maßstabskonventionen?
Meistens wurden solche Modelle bei reicheren Leuten auf irgendwelchen Schlössern ausgestellt. Da gab es kein Platzproblem. Gemacht wurde das meist von Spezialschreinern. Michelangelo – das war die klassische Zeit der Modelle, oder Elias Holl. Es hat aber eine Zeit in Italien gegeben, wo Modelle wie Bücher gehandelt wurden. Wenn ich also ein Pseudogelehrter aus dem aufkommenden Bürgertum bin, dann richte ich mir eine Bibliothek ein. Ich umgebe mich also mit ernstzunehmender Literatur und Wissenschaft. So ca. 1775 hatten Antonio Chichi und Augusto Rosa einen Einfall, weil sie bemerkt haben, dass die Leute modellbegeistert sind und sich mit dem Altertum umgeben wollen. Sie haben eine Marktlücke entdeckt und Korkmodelle gebaut. Ruinenhafte Tempel, ein bisschen romantisch, ein bisschen künstlerisch. Sie hatten richtige Model, weil diese Korkmodelle weggegangen sind wie die warmen Semmeln. Richtige Korkpressen, um die Säulen schneller zu machen und die Voluten und Kapitelle. Denn die waren ja schwierig aus Kork zu schnitzen, und so hat man eine richtige kleine Industrie aufgebaut. Man hat die Königshöfe und das Bürgertum beliefert. In Wien gibt es noch ein paar dieser Korkmodelle im Technischen Museum, in Augsburg im Rathaus gibt es noch einige. Im John Soanes-Haus in London gibt es auch auf dem Dachboden sehr viele Chichi-Modelle. Augusto Rosa hat das dann noch weiterbetrieben bis zum Exzess. Da wurden die Modelle wie im Prater vor Publikum vorgeführt, und da hat sich was getan. Zum Beispiel wurde ein Modell vom Vesuv gebaut, und der ist dann plötzlich explodiert, da sind die Leute kohlrabenschwarz herausgekommen. Das war der Hit damals. Man hat Bauwerke zerkrachen lassen – ein Panoptikum.

Welchen Stellenwert haben in Ihrer Disziplin 1:1-Modelle?

1:1-Modelle sind nicht zu verachten. Eines der berühmtesten Beispiele ist das Belvedere. Anlässlich der Hochzeit von Marie Antoinette war der ganze Park geöffnet für das Publikum, es schwammen Kerzen auf den Teichen, das Volk war eingeladen. Aber Antoinette hat die Fassade vom Belvedere missfallen. Marie Theresia hat daher über die ganze Nordfassade eine Holzwand aufbauen lassen, also ein richtiges Gerüst mit Fenstern, und nach dem Stil der damaligen Zeit bemalen lassen. Fast das ganze Belvedere war nur sichtbar mit einer neuen Fassade, die ist zwei Meter vor der alten gestanden. Man musste durch die Kulisse durchgehen, wenn man hineinwollte. Also ein wunderbares Beispiel für ein 1:1-Modell. Oder denken Sie an Otto Wagners Museumsprojekt am Karlsplatz, oder an Plischkes Haus Gamerith, an Mies van der Rohe. Da wurde das Haus aus Holz und Segeltuch in wahrer Größe in die Landschaft hineingestellt, und der Bauherr konnte sich das anschauen. Und heute baut man aus rein pekuniären Gründen bei Hochhäusern auch schon einen Teil einer Etage im Voraus mit Teppich und allem, da kann der Professionist genau hochrechnen, was das insgesamt kosten wird. Das heißt, die Baukosten sind viel genauer. Aus reinen baukalkulatorischen Gründen wird das gemacht, aber auch für die Mieter natürlich, die noch was ändern wollen. Das kostet zwar, aber letztlich kann ich vorher schon verkaufen und weiß ganz genau, wo hab ich tragende Teile, wo kann ich bei den Zwischenwänden individuell variieren. Und jeder Professionist, ganz egal ob Maurer, Tischler oder Installateur, kann, sobald er wo unsicher ist, nachschauen, wo es z.B. Rohrverschneidungen etc. gibt. Denn wenn ein Professionist Unsicherheiten spürt, dann schlägt er das direkt auf die Kosten um. Große Bauwerke in der Antike haben eine sehr lange Bauzeit beansprucht. Im Normalfall hat irgendein Herrscher mit dem Mausoleum oder Palast, oder was auch immer, schon in seiner Jugend anfangen müssen. D.h. der Modellbauer hat auch den Stellenwert gehabt, dass man bereits vorher zeigen konnte, wie der Bau dann letztendlich einmal ausschauen wird.
Bei meinen eigenen Projekten kommt es natürlich auch vor, dass ich direkt am Grabungs-Campus eine sogenannte Architekturprobe 1:1 aus ergrabenen Blöcken zumindest teilweise aufbaue, dann mutiert eben das Studienmodell zu einem Stück Original.

Hintergrund, Do., 2008.11.20



verknüpfte Zeitschriften
Hintergrund 40

20. November 2008Gabriele Kaiser
Sonja Pisarik
Hintergrund

In der Schule wird mit Platzpatronen geschossen ...

„In der Schule wird mit Platzpatronen geschossen, im Büro aber scharf …“

Das 1973 eröffnete Verwaltungsgebäude der BMW München ist mit seinem kleeblattförmigen...

„In der Schule wird mit Platzpatronen geschossen, im Büro aber scharf …“

Das 1973 eröffnete Verwaltungsgebäude der BMW München ist mit seinem kleeblattförmigen...

„In der Schule wird mit Platzpatronen geschossen, im Büro aber scharf …“

Das 1973 eröffnete Verwaltungsgebäude der BMW München ist mit seinem kleeblattförmigen Grundriss wohl einer der signifikantesten Bauten von Karl Schwanzer. Dass der charismatische Architekt nicht nur im Entwurf und in der Hochschullehre, sondern auch in der Projektakquisition unkonventionelle Wege ging, wird in der Projektgenese des Vierzylinder-Turms deutlich. So ließ er im Dezember 1968 – nach einer Stippvisite bei sämtlichen BMW-Aufsichtsratsmitgliedern (mit Modellen und Projektunterlagen im Gepäck) – auf eigene Kosten in den Bavaria Filmstudios ein Funktionsmodell eines Etagensegments im Maßstab 1:1 nachbauen, um den noch zögerlichen Vorstand endgültig von seiner Projektidee zu überzeugen. Laurids Ortner, der zur Zeit des BMW-Wettbewerbs im Büro Schwanzer gearbeitet hat, erinnert sich an diese ungewöhnliche Überzeugungstat …

Ich kann mich an diese Pattstellung beim Wettbewerb erinnern. Die Entscheidung stagnierte irgendwie, und da hatte Schwanzer die Idee, das Ganze 1:1 in Geiselgasteig aufzubauen, in den Filmstudios der Bavaria. Ein volles Büro mit Blick auf München. Es sollte ein Geschoß ziemlich hoch oben sein. Man blickt hinaus über das künftige Olympiagelände, drinnen spielen die Leute Büro. Schwanzer meinte, ich soll diese 1:1-Geschichte übernehmen, aber ich konnte oder wollte – oder traute mich nicht. Eigene Projekte waren für mich schon wichtiger, Haus-Rucker-Co war im Entstehen. Ich hab abgesagt und war dann zu dem Zeitpunkt gar nicht mehr bei ihm im Büro. Ich weiß aber noch, dass er sich diese Installation für damalige Verhältnisse ungeheure 400.000–500.000 Schilling kosten hat lassen. Das war eine Riesensumme. Und das noch vor Auftragsvergabe! Später hat mir Schwanzer dann einmal erzählt, dass der Vorstand in die Etage kam und vollkommen von den Socken war.

Waren das Schauspieler, die da mitgespielt haben?

Ja natürlich, bzw. Statisten, die auf Schreibmaschinen geklopft und irgendwelche Akten durchs Büro getragen haben. Alles vollkommen realistisch, eine perfekte Kulisse, auch die simulierte Aussicht. Der Vorstand kam herein und schaute quasi zu ebener Erd’ auf München hinunter und meinte dann, wenn das schon so weit gediehen ist, können wir das ja nur mehr bauen! Es war vollkommen überzeugend. Für Schwanzer war das eine ganz gerade, unternehmerische Angelegenheit. Schwanzer war wirklich der prägende Mann für meine Generation, auch in einem über die Architektur hinausgehenden Sinn, in seiner ganzen Art, an die Dinge heranzugehen. Schwanzers Büro war ein völlig anders organisierter Laden als die damaligen Architekturbüros. Bei ihm gab es einen gewissen Glamour, eine speziell aufgeladene Atmosphäre von großer Welt. Man hatte immer das Gefühl, am Drücker zu sein – jetzt passiert es. Eigentlich war er der erste Architekt – auch in dem Sinne, wie man ein Architekturbüro modern führt. Er meinte damals, in der Schule wird mit Platzpatronen geschossen, im Büro aber scharf …

Würden Sie sagen, dass ihm beim BMW-Projekt auch seine rhetorischen Fähigkeiten zugute kamen?

Absolut! Er hat Qualitäten gehabt, so ein bisserl wie der Qualtinger. Diese massigen Leute, die haben oft etwas unerhört Leichtfüßiges. Qualtinger hatte das, und Schwanzer hatte das auch. Er konnte blendend Leute und Situationen nachmachen. Ich hab ihn zwar nie als großen Redner erlebt, aber so im Gespräch mit anderen Leuten, da hast du alle fünf Sinne zusammennehmen müssen, dass er dich nicht plattgemacht hat.

Auf einer Website (www.7-forum.com) wird in einem Leserbrief eines ehemaligen BMW-Mitarbeiters behauptet, dass dieses 1:1-Modell lediglich als Musterraum für die künftige Möblierung des BMW Verwaltungsgebäudes installiert worden sei.

Blödsinn! Das ist vollkommener Plunder! Das ist als echtes Risikoprojekt dort gestanden. Und es war nicht irgendwo im halbfertigen Bau eine Bemusterung, das wäre ja nicht so unüblich gewesen. Dort ist wirklich eine Bühne aufgebaut worden. Es wurde sozusagen auf Erfolg gespielt. Das war der absolute Kick. Man muss sich vorstellen, allein die runden Formen, da kriegt doch jeder aus dem Vorstand Bauchweh, dass da alle möglichen Probleme auftauchen, auch mit der Möblierung. Dann waren diese Zylinder auch noch konstruktiv von oben abgehängt, das waren alles Probleme für einen Vorstand, der in der Regel, und damals erst recht, recht konservative Vorstellungen hat. Eigentlich waren die mit dem Projekt überfordert. Und wenn man ihnen nicht vorgeführt hätte, dass es nicht nur funktioniert, sondern auch noch unerhört attraktiv ausschaut, hätte das Projekt vielleicht gar keine Chance gehabt. Das 1:1-Modell, das war der Zug zum Tor!

Diese Geschichte mit dem Bau in den Filmstudios beweist ja auch einen sehr hohen Grad an Emotionalität, weil sonst würde man ja gar nicht so viel Geld in ein Projekt hineinstecken, um andere Leute davon zu überzeugen, dass das, was man macht, das Richtige ist.

Aber es ist auch so eine Art Jägerinstinkt. Da ist die größtmögliche Beute, der größte Fisch, den es überhaupt gibt. Also, den zu erlegen, das ist der Schuss fürs Leben. Und so war es dann ja auch. Dieser Auftritt in Deutschland hatte ja damals noch eine ganz andere Dimension. Man muss bedenken, Schwanzer hat das wichtigste und größte Bürogebäude für den besten Konzern realisiert, den es in Deutschland damals gab. Das war eine Riesengeschichte, erstmals konnte sich ein Gebäude mit derartiger Signifikanz durchsetzen und zu einem Markenzeichen werden. Wenn heute Leute wie Ben van Berkel oder Zaha Hadid für so etwas geholt werden, dann ist das vergleichsweise ein kleiner Fisch. Eigentlich hätte man sich denken müssen, da kriegen jetzt bestimmt auch ein paar andere Vorstandsvorsitzende Appetit – so wie sie jetzt alle Appetit haben, sich zu verwirklichen. Aber das war erstaunlicherweise damals nicht der Fall.

Auch in diesem Sinn ist das Schwanzer-Projekt eine singuläre Geschichte.

Ganz sicher. Aber ich habe gar nicht gewusst, dass das mit dem Modell wie ein Mythos durch die Zeiten geistert.
Es ist jedenfalls gut, wenn die Sache ausgegraben wird, weil sie natürlich ein Licht auf diverse Strategien wirft, die theoretisch nach wie vor möglich wären.
Der Zeitpunkt für eine Aufarbeitung von Schwanzers Tätigkeit ist jetzt schon überreif, bevor die nächsten wegsterben, die noch etwas erzählen könnten.


[Auszug aus einem längeren Gespräch über Karl Schwanzer, das Gabi Kaiser und Sonja Pisarik am 27. August 2008 mit Laurids Ortner geführt haben.]

Hintergrund, Do., 2008.11.20



verknüpfte Zeitschriften
Hintergrund 40

Profil

7 | 6 | 5 | 4 | 3 | 2 | 1