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19. November 2005Andrea Nussbaum
Spectrum

Hundert müsste man sein

Ein Industrierelikt - und was man daraus machen kann. Oder: Wie alt alt bleibt und trotzdem neu wird. Über „BEHF Architekten“ und ihren Umbau einer Maschinenhalle in Wien-Favoriten.

Ein Industrierelikt - und was man daraus machen kann. Oder: Wie alt alt bleibt und trotzdem neu wird. Über „BEHF Architekten“ und ihren Umbau einer Maschinenhalle in Wien-Favoriten.

Nicht eine lästige Obligation, viel mehr eine urbane Chance sind die sich in vielen europäischen Metropolen befindenden Spuren ehemaliger innerstädtischer Industriebauten. London etwa hat die neue Tate Modern der kongenialen Kombination aus Gegenwartsarchitektur (Herzog & de Meuron) und einer funktional-archaischen Industriesubstanz (einem ehemaligen Kraftwerk) zu verdanken. Gerade die von den Stadtvätern zeitweise vernachlässigten Außenbezirke beherbergen ein komplexes Inventar an gewerblicher Baumaterie, die auf neue Nutzungen wartet.

Dem internationalen Trend folgend war Wiens Paradeprojekt bisher das Recycling der Gasometer in Wien-Simmering. Im Nachbarbezirk, Wien-Favoriten, ging es diesbezüglich lange nicht wirklich dynamisch zu. Dabei war der zehnte Wiener Gemeindebezirk zu Blütezeiten so etwas wie die industrielle Keimzelle der Stadt. Zu erkennen sind die Spuren dieser Zeiten noch im Quartier um Quellenstraße, Siccardsburggasse und Buchengasse. Viel ist zwar nicht übrig geblieben, aber der erhaltene Industriekomplex der ehemaligen Fabrik „Hugo Reinhold Gläser“ lässt ahnen, dass es dort um die Jahrhundertwende ziemlich lebendig zugegangen sein muss.

Wer heute vor der Fabrikanlage in der Quellenstraße 149 steht und die Fassade hinaufblickt, fühlt sich in eine andere Zeit versetzt, aber nicht nur das: auch an einen anderen Ort, in ein Klein-Manchester in Wien. Man schrieb das Jahr 1889, Spätgründerzeit, als dieser Komplex gebaut wurde, mit Werkstatthallen, einer Schmiede, einem Kessel- und einem Maschinenhaus, einem Wohnhaus für den Fabrikanten sowie allen Nebengebäuden, ausgeführt in schönster Sichtziegelbauweise (der Hauptteil der Anlage in der Quellenstraße wird dem Architekten Oskar Laske senior zugeschrieben).

Knapp zwei Jahrzehnte später, 1906, fügte man in der Siccardsburggasse dem Ensemble einen Erweiterungsbau an, eine Maschinenhalle mit feingliedrigem Glasdach. Bauherr dieses Industrierelikts war der aus Triest stammende Maximilian Luzzatto, der die gesamte Anlage der „H. R. Gläser“ 1899 übernahm und sie als Maschinenfabrik bis zu seinem Tod in den 1930er-Jahren betrieb. Heute, fast genau ein Jahrhundert nach der Erbauung, kann ein neues Kapitel der Geschichte dieses Relikts geschrieben werden, denn mit der Adaptierung der Halle durch „BEHF Architekten“ wurde den alten Ziegelgemäuern vor allem eines, ein neues Leben eingehaucht.

Auch an einem kalten, düsteren Novembertag wirkt die Halle freundlich und hell, strahlt mit ihren Mauern und dem fragilen eisernen Dachstuhl bemerkenswerte Qualität aus. „100 Jahre ist hier nichts passiert“, erzählt Alexander Munninger, Bauherr und Geschäftsführer von „balloonart“, der diese Halle nicht nur als Büro, Produktionsstätte, Lager, sondern auch als Eventzentrum nutzen will. Viele der Nutzungskonzepte für den charmanten Raum, so auch die Idee des Umbaus in ein Designhotel, scheiterten an einer simplen Tatsache, nämlich den Heizkosten, denn diese quasi nur überdachte Freifläche lässt sich schwer auf Zimmertemperatur bringen. Was tun?

Die Bedingungen, die die Architekten vorfanden, waren nicht die leichtesten. Da die Halle unter Denkmalschutz steht, mussten alle Maßnahmen mit dem Bundesdenkmalamt abgesprochen werden. „Das Dach“, so Armin Ebner von BEHF, „dürfte es, statisch gesehen, gar nicht mehr geben.“ Die Galerie, die rund um die Halle läuft, bestand aus Brettern, das Fundament aus einem Lehmboden. Unter diesen Voraussetzungen ist es klar, dass Umbauten risikoreiche Herausforderungen sind. Als Architekt muss man auf das Archiv-Planmaterial zurückgreifen, aber ob man sich darauf verlassen darf? Noch dazu, wo die Anforderungen an das Programm einen Kraftakt an Umbauarbeiten vorsahen: So war nicht nur die Schaffung von Büro- und Produktionsflächen gefragt, sondern auch die Einrichtung eines unterirdischen Lagers, ohne das hätte der Umbau aus wirtschaftlicher Sicht keinen Sinn gehabt.

Beim Umgang mit der vorhandenen Substanz berief sich BEHF auf das Rezept: „Alt bleibt alt. Alle neuen Bauteile sind als solche klar erkennbar.“ Kein Rekonstruieren, keine falsche Patina. Um die Stimmung der Industriekathedrale einzufangen, blieben, so weit möglich, alte Nutzungsspuren und Farbschichten erhalten. Die großen Sprossenfenster wurden, soweit vorhanden, belassen, in den Büros in der Galerie wurden innen neue Fenster den alten vorgesetzt. Auch beim noch vorhandenen Lastenkran entschied man sich für seine Erhaltung, er wurde nur nach Sicherheitsvorschrift wieder auf den Stand der Zeit gebracht.

Um einen klimatisierbaren Raum für die Büros zu schaffen, entschied sich BEHF für ein Raum-im-Raum-Konzept. Die alte, offene Galerie wurde mit Stahlbetonfertigteilen geschlossen, um so einen klimatisch getrennten eigenständigen Baukörper zu schaffen, nicht einen, der sich völlig von der alten Halle abgrenzt, sondern einen, der in ständigem Sichtbezug zu ihr steht. Wie schon zuvor sollte der direkte Blickkontakt zur Halle von den Büros in der Galerie aus möglich sein. Nur ist es heute nicht mehr der Fabrikant, der über seine Arbeiter wacht, der Kontakt dient eher dem Austausch und der Gleichstellung. „Flache Hierarchien“ ist das Schlagwort, mit dem BEHF bisher alle ihre Büros eingerichtet hat. Auch die einzelnen Abteilungen in der Bürogalerie sind daher nur durch flexible Glaswände voneinander getrennt. Gut ein Drittel der Bürogalerie wird derzeit nicht genutzt. Von Leerstand kann aber keine Rede sein, schon wird in Kooperation mit der Universität Wien an einem Konzept für Veranstaltungen gearbeitet.

Immer wieder sind es jedoch die Details, die eine Umrüstung dieser Art entscheidend beeinflussen, etwa wenn die Eisenträger nicht umbaut, sondern nur mit Brandschutzfarbe gestrichen werden, wenn alles getan wird, um das filigrane Dach zu erhalten, wenn man die Qualität der alten Mauern erkennt. Ein Relikt des industriellen Zeitalters: aus einer vergessenen Vergangenheit auf dem Weg in eine aufregende Zukunft.

Spectrum, Sa., 2005.11.19



verknüpfte Bauwerke
Balloonart Halle

11. Dezember 2004Andrea Nussbaum
Spectrum

Decke, Boden, Disziplin

„Wien ist die Hauptstadt der Dunkelheit. Wo es Schlagobers gibt, muss es auch Dunkelheit geben.“ US-Architekt Peter Eisenman über das Unbewusste, Ground Zero, Himmel, Hölle und seine demnächst anlaufende Ausstellung in Wien.

„Wien ist die Hauptstadt der Dunkelheit. Wo es Schlagobers gibt, muss es auch Dunkelheit geben.“ US-Architekt Peter Eisenman über das Unbewusste, Ground Zero, Himmel, Hölle und seine demnächst anlaufende Ausstellung in Wien.

Gänge, die ins Nichts führen. Treppen jenseits irgendeiner Funktion. Balken ohne konstruktive Notwendigkeit. Schon in den Sechziger- und Siebzigerjahren ließ Peter Eisenman unmissverständlich spüren, was er sich quasi als Programm vorgegeben hat: Sämtliche seiner Arbeiten seien, so Eisenman selbst, „von der Absicht beherrscht, den Akt der Architektur als Störung und darauf folgende Rekonstruktion einer immer neu entstehenden Architekturmetaphysik zu bestimmen“.

Bis heute sorgt der in New Jersey 1932 geborene und im englischen Cambridge promovierte Architekt immer wieder für Irritationen, derzeit etwa mit dem in Bau befindlichen „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ unweit des Brandenburger Tores. In Wien ist er einstweilen nur in einer Ausstellung präsent: mit der Personale „Barfuß auf weiß glühenden Mauern“, die ab 15. Dezember im Museum für angewandte Kunst zu sehen ist.

Peter Eisenman, leiden wir unter einer Inflation an Architekturpublikationen und -ausstellungen? Wird Architektur womöglich überschätzt?

Nein, Architektur wird immer noch unterschätzt. Wir sind es gewohnt, Medien zu konsumieren, aber wir beteiligen uns nicht an Architektur. Warum gehen Menschen in Fitnessclubs, warum machen sie Jogging? Um teilzuhaben. Aber sie benutzen nicht ihren Geist, sie benutzen ihren Körper. Architektur ist die einzige Disziplin, die den Geist, das Auge und den Körper zusammenführt. Sie ist wichtiger denn je in der medialen Welt.

Vor einem Monat war ich bei einem Symposium in Madrid gemeinsam mit Zaha Hadid und Jacques Herzog. Darüber wurde groß in den drei wichtigsten spanischen Zeitungen berichtet. Hätten wir in New York gesprochen, gäbe es gar nichts dazu. Das ist eine kulturelle Reaktion. Architektur ist offensichtlich relevanter für Italiener, Spanier, Österreicher und Deutsche als für die angelsächsischen Länder. Ich glaube nicht, dass Briten oder Amerikaner es kümmert, wer was baut. Warum habe ich diese Ausstellung im Museum für angewandte Kunst? Ich hatte nie eine Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art.

Und wie erklären Sie sich das?

Weil sich die Menschen in den USA darum nicht kümmern. Nehmen wir als Beispiel Österreich. Sie hatten Adolf Loos, Josef Hoffmann, Otto Wagner, die zu einer bestimmten Zeit entscheidende Rollen spielten. Architektur war Teil der Kultur von Karl Kraus, Sigmund Freud, Gustav Klimt und der Sezession. Heute gibt es in Österreich Hans Hollein, Gustav Peichl, Wolf Prix. Wenn es darum geht, ein wichtiges Projekt in Wien zu realisieren, werden oft die österreichischen Architekten damit beauftragt, denn die Architektur ist ein entscheidender Teil der Kultur, politisch und sozial. In Amerika ist das nicht so.

Dann leiden die USA unter einem Mangel an Kultur?

Nein, nicht unter einem Mangel an Kultur, aber unter dem Mangel, Architektur als kulturelles Phänomen zu begreifen. Schauen Sie sich doch die „New York Times“ an. Die Architektur finden Sie immer auf den hinteren Seiten, nur ganz selten schafft sie es auf die Titelseite im Feuilleton. Jedes Land beurteilt Architektur anders. Ich kann nie nach Deutschland reisen, ohne von der Presse interviewt zu werden, gerade was das Holocaust Memorial in Berlin betrifft. Darüber gibt es in Deutschland eine gesunde Debatte, das gäbe es in New York nicht.

Aber Sie hatten in New York auch eine große Debatte über die Bebauung von Ground Zero?

Ja, hatten wir, aber es war ein Desaster. Ob man das Projekt von Daniel Libeskind mag oder nicht, Tatsache ist: Er hat den Wettbewerb gewonnen. Und was macht er jetzt? Nichts. Er verlor sein Projekt; das politisch-kommerzielle Interesse hat es übernommen. Und hat sich jemand darüber aufgeregt, haben die Architekten dagegen protestiert? Frank Gehry hat den ursprünglichen Wettbewerb abgelehnt, und jetzt bekommt er das Museumsprojekt. Und was bekommt Libeskind? Er baut kein Memorial, er baut nicht den Freedom-Tower. Er bekam gar nichts.

New York in 100 Jahren, können Sie sich vorstellen, wie die Stadt dann aussehen wird?

New York war nie eine architektenfreundliche Stadt. Seit die Biennale einen Preis an eine Stadt vergibt, seit 1986, wurde er niemals New York verliehen. Das hat seinen guten Grund: weil es wenig Architektur in den amerikanischen Städten gibt. Als Tourist kommt man nach Amerika, um die Landschaft, den Grand Canyon, die Prärie zu sehen. Chicago hat interessante Architektur. Aber fährt jemand nach St. Louis? Nein. Nach Kansas City? Nein. Die Städte sind großteils urbane Wüste. Ich könnte sofort zehn europäische Städte aufzählen, die eine größere architektonische Kultur aufweisen als die meisten amerikanischen Städte. Keine der politischen Parteien hat sich jemals um Architektur gekümmert. Die kümmern sich weder um soziale Wohnprojekte noch um öffentliche Plätze. Die USA werden von kommerziellen Motiven geleitet, da passt die Architektur nicht hinein. Die Architektur bringt keine Stimmen.

Kommen wir zum Prozess des Entstehens von Architektur. Wo beginnen Sie, welche Fragen tauchen als erste auf?

Zuerst taucht die Frage nach der Präsenz auf. In der westlichen Welt geht man davon aus, dass die Architektur der Locus der Präsenz ist. Meine Frage lautet daher, warum akzeptieren wir diese Idee als Tatsache. Weil Architektur immer verortet ist, das ist Präsenz. Aber könnten wir nicht eine Architektur haben, die Ort und Nicht-Ort in einem ist, Präsenz und Nicht-Präsenz? Wie macht man eine Architektur der Nicht-Präsenz? Die Ausstellung im Museum für angewandte Kunst hinterfragt die Präsenz.

Also: Wie macht man eine Architektur der Nicht-Präsenz?

Diese Frage hat meine Arbeit seit 40 Jahren vorangetrieben hat. Man kann es auf unterschiedliche Weise betrachten. Was macht zum Beispiel einen großen Maler aus? Dieser Maler fragt, warum er so malen soll und über Malerei in der Weise nachdenken soll wie im 15., 16. Jahrhundert. Isaac Newton fragte nach der Konzeption des Universums, und seither haben wir die Newtonsche Physik. Dann folgte Descartes, dann Einstein und dann kam Heisenberg. Alle zusammen Denker, die die Annahmen der anderen hinterfragt haben. Wir sind andere Menschen geworden, wir denken anders, wir verhalten uns anders.

Es gab Fortschritte in der Wissenschaft, in der Philosophie, warum sollte es nicht den Versuch geben, die Kultur der Architektur voranzutreiben? Lassen Sie es mich anderes erklären: Es gibt zwei Arten von Ärzten, die einen gehen nach Afrika, um Aids-Patienten zu helfen, die anderen versuchen, im Labor eine wirksames Heilmittel gegen Aids zu finden. Ich bin nicht in Afrika, ich forsche im Labor. Man kann nicht sagen, das eine sei wichtiger als das andere. Ich könnte nicht da draußen sein. Ich mache, was ich kann.

Und wer forscht mit Ihnen im Labor?

Rem Koolhaas, Jacques Herzog, einige junge Architekten wie Greg Lynn, der in Wien unterrichtet, Wolf Prix. Ich bin nicht allein. Wenn Sie die Ausstellung in Wien sehen, werden sie den Unterschied verstehen. Zaha Hadids Ausstellung im vergangenen Jahr war fantastisch. Damit kann ich nicht konkurrieren. Wenn Sie unsere Installation sehen, werden Sie sagen: Oh mein Gott, wie befremdlich. Und wenn es nicht befremdlich wäre, hätte ich versagt.

Befremdlich? Ist das die Reaktion, die Sie bei den Besuchern erzeugen wollen?

Kennen Sie die Bilder zu meinem „Holocaust Memorial“ in Berlin? Es ist befremdlich. Die Menschen sind sprachlos, sie wissen nicht, was sie sagen sollen.

Die Menschen verlieren sich . . .

Sie verlieren sich nicht so sehr, sie bekommen ein Gefühl des Sichverlierens, des Verlorenseins im Raum. In Wirklichkeit ist es unmöglich, sich zu verlieren. Aber wie wäre es, sich für einen Moment zu verlieren? Das wäre sehr spannend.

Sie werden die Decke der unteren Ausstellungshalle des MAK abhängen und den Raum mit Säulen füllen.

Ja, die Decke wird nur 3,5 Meter hoch sein. Es wird dunkel in der Halle sein und niedrig. Das einzige Licht kommt aus den von innen beleuchteten Säulen.

Klingt ziemlich klaustrophobisch . . .

Aber warum sollte jemand Klaustrophisches wollen?

Sagen Sie es mir . . .

Nein, sagen Sie es mir, Sie sagten klaustrophobisch.

Ist das Ideal der Architektur nicht ein offener, lichtdurchfluteter Raum, Räume, an denen man sich freuen kann? Sie aber wollen, dass sich die Besucher bedrückt fühlen.

Macht das die Avantgarde nicht öfters?

Gewöhnt man sich nicht schnell an das Schockierende der Avantgarde?

An Klaustrophobie gewöhnt man sich nie. Um den Menschen das Licht und das Glück bewusst zu machen, braucht es die Dunkelheit. Wien ist die Hauptstadt der Dunkelheit, des Schattens und des Unbewussten. Wo es Schlagobers gibt, muss es auch Dunkelheit geben. In der christlichen Dialektik braucht es für den Himmel die Hölle. Für Gott braucht es einen Teufel.

Freud hat die Dunkelheit entdeckt, die in uns allen steckt, die wir versuchen müssen zu verstehen, sie rauszulassen, aber auf eine nicht gewalttätige Weise. Die moderne Literatur ist voll von den Gestalten eines dunklen Universums. Die Architektur muss einen Weg suchen, dazu einen Berührungspunkt zu finden. Wir, die Architekten, können nicht nur „happy people“ sein, die Komfort und Obdach bereitstellen. Ich wünsche mir, dass die Besucher mit ihren Gefühlen konfrontiert werden.

Nochmals zurück zu Wien als „Stadt der Dunkelheit“: Können Sie das näher erläutern?

Ich denke, diese Ausstellung hat viel mit Wien zu tun, mit Freud, mit Loos, mit der Moderne. Moderne in den USA bedeutet Technik und nicht Ideologie. Der Marxismus, der Faschismus, die Nazis haben Architektur immer als Politik, als Ideologie begriffen. Und in einem gewissen Sinn hatten sie Recht. Architektur wird immer ideologisch sein. Sie ist immer politisch und sozial, aber innerhalb ihrer eigenen Disziplin-Autonomie. Darum geht es in der Ausstellung, die Decke und der Boden repräsentieren diese Disziplin-Autonomie.

Spectrum, Sa., 2004.12.11

27. März 2004Andrea Nussbaum
Spectrum

Gedrängel auf der Warteliste

Bauten aus der architektonischen Champions League sind kein Wagnis und keine Extravaganz, sondern ein Konsumartikel. Die Marke Zaha Hadid, der Pritzker-Preis, Wiens Spittelau und die Verantwortung der Architekturkritik.

Bauten aus der architektonischen Champions League sind kein Wagnis und keine Extravaganz, sondern ein Konsumartikel. Die Marke Zaha Hadid, der Pritzker-Preis, Wiens Spittelau und die Verantwortung der Architekturkritik.

Es gibt sie: die Modeworte. Jede Branche hat die ihren, auch das Architekturfeuilleton. Und dort dreht sich seit kurzem vieles um ein Wort: Architekturvermittlung. Kritiker sind keine Kritiker mehr, denn ihre Aufgabe ist es neuerdings - eben - zu vermitteln, behutsam den Lesern Tag für Tag, Sonntag für Sonntag die Vorzüge der Architektur vor Augen zu führen. „Er spricht, er schreibt, er vermittelt, er publiziert - obschon ohne nennbaren Erfolg und scheinbar widersinnig - dennoch weiter“, meinte unlängst der deutsche Kritiker Ulrich Conrads über sich und seine Berufskollegen. Doch wozu das Ganze, ist man verleitet zu fragen, wenn es letztlich für die Architektur trotz allem keine wie auch immer geartete Aussicht auf Erfolg gibt? Ist die Architekturkritik tatsächlich ein Quotenkiller, überblättert und ohne Marktpotenzial - weder im Feuilleton noch im realen Leben?

Nehmen wir einmal den kleinen, aber exquisiten Wohnbau an der Spittelauer Lände in Wien, der im Sommer 2005 fertig gestellt werden soll. Das Besondere daran, der Apartmentkomplex mit Geschäfts- und Gastronomieflächen, der sich im Modell selbstbewusst über die ehrwürdigen Stadtbahnbögen von Otto Wagner erstreckt, ist so gut wie verkauft: 700 Vormerkungen liegen bereits vor. Ist es die Lage? Sind es die Grundrisse der Wohnungen? Oder ist es ein Name? Denn dieses kecke Zickzack am Donaukanal, das so lange auf sich warten ließ, stammt von keiner anderen als Zaha Hadid, der Pritzker-Preisträgerin 2004.

Bauten aus der architektonischen Champions League sind kein Wagnis mehr, kein Abenteuer und auch keine Extravaganz, sondern ein Konsumartikel, zugegebenermaßen in den besseren Fällen ein höchst ästhetischer, aber Konsum und Ästhetik gehören auch in der hohen Kunst des Bauens zusammen. Die Shop-Architektur hat es vorgemacht, jetzt folgt der Wohnbau.

Die Lage des neuen Apartmenthauses der Luxusklasse von Zaha Hadid ist außergewöhnlich: ein kleiner Fleck zwischen Donaukanal und Spittelauer Lände, der streng genommen in die Kategorie „unbebaubar“ fällt. Das Umfeld: eine städtebauliche Wüste, umringt von der von Hundertwasser behübschten Müllverbrennungsanlage, der Wirtschaftsuniversität und einem Bundesamtsgebäude, die allesamt keine Highlights städtischer Architektur sind, sieht man von den Stadtbahnbögen einmal ab, die lange unter ihrem Wert genutzt wurden.

Alles zusammen also ideale Voraussetzungen für die Meister der Oberliga, für solche wie Zaha Hadid. Hinzu kam, dass der Wiener Stadtplanung der Donaukanal und sein städtebauliches Potenzial schon einige Zeit am Herzen lag. Wenn schon die Kernstadt Wien nicht an der Donau liegt, dann sollte das doch wenigstens mit dem Donaukanal wettgemacht werden. Neue Projekte wurden erkoren und dabei auch jener Fleck an der Spittelauer Lände entdeckt.

Fast zehn Jahre sind nun vergangen, seit Zaha Hadid im Dezember 1994 mit dem damaligen Planungsstadtrat Hannes Swoboda die kantigen Volumina präsentierte, die sich um die Stadtbahnbögen wickeln - ohne die denkmalgeschützten Relikte einer Jahrhundertwende-Architektur zu berühren oder auf der Oberkante der ehemaligen Stadtbahntrasse aufzusetzen. In typischer Hadid-Manier schweben sie. „Wohnen am Wasser“ lautet das für Wien seltene Motto. 18 Wohneinheiten werden verkauft, 16 werden als „temporäre Wohnungen“ zeitlich begrenzt vermietet, alle haben Blick auf den Donaukanal: ein besonderer Ort mit außergewöhnlichen Perspektiven - wie geschaffen für die expressive Architektursprache der von London aus agierenden Architektin.

Dem Bauvorhaben schien nichts mehr im Weg zu stehen, doch die Realisierung blieb aus. Das Projekt verschwand aus der Tages- und schließlich auch aus der Architekturpresse. Die Stadtverwaltung vertröstete. Dass der Hadid-Bau jetzt mit einem solchen Erfolg (siehe Warteliste) ganz ohne unmittelbare Medien- oder Vermittlerhilfe aufwartet, scheint auf den ersten Blick für sich zu sprechen - und für die Architektur. Architektur - ein Verkaufsschlager! Das Wien der Zukunft: eine ganze Stadt als Architekturausstellung?

Szenenwechsel: G-Town, die Wiener Gasometer. Vier ungewöhnliche Denkmäler der Industriearchitektur, umgebaut zu Wohnungen und mit einem markanten Aushängeschild versehen. Ein überaus erfolgreiches Unternehmen für Bauträger wie die Stadterneuerungs- und Eigentumswohnungs-GmbH (SEG), die sowohl die Gasometer von Jean Nouvel und Coop Himmelb(l)au als auch das Spittelau-Projekt von Zaha Hadid umsetzt.

Und was beim Bau von Zaha Hadid die Warteliste ist, sind beim Gasometer-Projekt die Verkaufszahlen: In der bewährten Dreierkombination von Stararchitekten, Lage und Preis haben sich die Gasometer-Wohnungen der SEG erfolgreich verkauft.

Was bedeutet das nun für die Architektur? Nicht jeder Jean-Nouvel-, Coop-Himmelb(l)au- oder zukünftige Zaha-Hadid-Wohnungsbesitzer ist ein empfänglicher Architektur-Connaisseur, der sich jahrelang durch die Lektüre von Architekturmagazinen auf dem Laufenden hielt, um schließlich seine Wohn-Entscheidung zu treffen. Aber geprägt vom aus der Mode gelernten Markenbewusstsein, erfüllt es so manchen offenkundig mit beträchtlichem Stolz, dass gerade er in einem „Marken“-Wohnbau lebt, einem Wohnbau, über den geschrieben, diskutiert und der in Zeitschriften abgebildet wird.

Die Stararchitektur ist ein nobler Markenartikel geworden. Und hier schließt sich der Kreis, denn dass es so weit kam, dass die Stararchitektur als „Marke“ auffällt und ihre Nachfrage steigt, ist letztlich Verdienst - und gleichermaßen Verantwortung - der (wie man sieht nicht immer überblätterten) Architekturkritik.

Spectrum, Sa., 2004.03.27



verknüpfte Bauwerke
Wohnbau Spittelau

03. Mai 2003Andrea Nussbaum
Spectrum

Wenn's einfach passiert

Modelle und Planzeichnungen statt Waren aller Art: Junge Architektenteams setzen sich und ihre Arbeit in die Auslagen vormaliger Geschäftslokale. Anmerkungen zu einem Wiener Trend.

Modelle und Planzeichnungen statt Waren aller Art: Junge Architektenteams setzen sich und ihre Arbeit in die Auslagen vormaliger Geschäftslokale. Anmerkungen zu einem Wiener Trend.

Die urbane Evolution hinterlässt ihre Spuren. Dort, wo früher die spärliche Dekoration von Gemischtwarenhändlern oder Gewerbetreibenden die Schaufenster verstaubter Ladenlokale schmückte und nicht selten jahrzehntelang unberührt vergilbte, entdeckt man bei einem Streifzug durch die Wiener Innenstadtbezirke immer häufiger Beispiele zeitgenössischer Architektur, freilich keine gebaute. In der Auslage stehen Architekturmodelle. Materialmuster und Planmaterial ergänzen das Bild, dazu das Poster der einen oder anderen Ausstellung. Das Schaufenster ist die konstante Ausstellungsfläche für die Ambitionen der neuen Mieter. Dahinter, im Licht greller Arbeitslampen sitzen die Schöpfer der präsentierten Architekturfantasien: Jungarchitekten, Designer oder solche, die es bald werden.

Die neuen Mieter haben die Initiative ergriffen und aus der Not, einen geeigneten Büroraum zu erschwinglichen Preisen zu finden, einen einzigartigen Trend geschaffen: Arbeiten in der Auslage. Und das Experiment funktioniert. Wie in einem Reagenzglas werden in den besetzten Ladenlokalen die Formen, Strukturen und Strategien einer zu bauenden Zukunft geprobt. Die Ergebnisse sind für alle zu sehen. Die Bauexponate und die Philosophie, der sie entstammen, lassen keine Strömung erkennen, der man sich verpflichtet fühlt. Jedes Büro geht seinen eigenen Weg, sucht seinen eigenen Inhalt.

Einzig die Energie, etwas zu verändern, ist ihnen gemeinsam. In der Unerreichbarkeit der Dachateliers der Architekturelite sucht man die oft vergebens. Versucht man sich dort abgeschottet im Recycling des eigenen Stils von postmodern bis dekonstruktivistisch dem Architektur-Olymp zu nähern, ist man zur ebenen Erde daran, den Übervätern der Architekturszene langsam, aber sicher Konkurrenz zu machen.

Ein Installateurbetrieb war es einst; davor hatte ein Wagemutiger versucht, dem Sterben der kleinen Nahversorger zu trotzen, aber auch er musste sich dem wachsenden Druck der Lebensmittelgroßmärkte geschlagen geben. Triste Leere, bis die 170 Quadratmeter Ladenfläche und 68 Quadratmeter Schaufensterfläche im vierten Wiener Gemeindebezirk 1999 von den fünf Architekten von awg-AllesWirdGut besetzt wurden. Wenn es mit der Architektur nicht klappt, dann könnte man den Raum als Galerie oder als Nachtcafé nutzen, so der pragmatische Hintergedanke bei der Unterzeichnung des Mietvertrags. Mit der Architektur hat es geklappt, mehr noch, über das Gassenbüro mitsamt den Schaufenstern, in denen sie stolz nach gewonnen Wettbewerben ihre Freude bekundeten, wurden sie bekannt. „awg“ entspricht nicht dem verbreiteten Klischee des Architekten im schwarzen Designer-Anzug. Auch ihr Büroname könnte eher der einer HipHop-Gruppe sein. „Fünf Senkrechtstarter“, so hatte sie erst kürzlich Otto Kapfinger in der Ausstellung „emerging architecture“ tituliert. „awg“ hat es nicht nur geschafft, Architektur in den hintersten Winkel Tirols zu bringen, durch den Blick eines Architekturkritikers in die ungewöhnliche Auslage ergab sich prompt eine Beteiligung bei „ArchiLab“, der bekannten Ausstellung für junge Architektur im französischen Orléans. Auch den Auftrag zur Neugestaltung der Läden einer Modekette erhielten sie über ihre Bekanntheit als Straßenbüro. Das Schaufenster ist für sie nach wie vor Bühne und Botschaft des Mediums Büro; es ist kommunikatives Mittel und Ort einer neuen Art der Architekturrezeption.

Ähnlich war auch die Ausgangslage bei den vier Architekten von „archiguards“: Wie bei vielen Starter-Unternehmen war die Wohnung erste Arbeitsstätte. Mit steigender Auftragslage wurde die „Wohnung=Büro“-Lösung bald zu klein. Das Gassenlokal im Erdgeschoß, eine ehemalige Tischlerei, stand leer, und schon war der ideale Ort für den zukünftigen Standort von „archiguards“ gefunden. Die Büro-Adaptionen wurden je nach Kontostand vollzogen. Eine der ersten Interventionen in Richtung Corporate Design war der Tausch der Glasscheiben, die heute den Namenszug des Büros tragen. Hineinschauen kann man trotzdem.

Hat sich ihr exponierter Bürositz auf die von ihnen gebaute Architektur ausgewirkt? Das nicht. Aber ihre Haltung spiegelt sich zweifelsohne in ihrer Präsentation nach außen wieder. Nichts „Abgehobenes“ soll die Architektur sein, sondern eine Dienstleistung, die man sich leisten kann und soll. Im Moment suchen die vier nach einem neuen Bürositz. Wo der letztendlich sein wird, steht noch nicht fest, einige Wunschobjekte wurden bereits gesichtet. Eines steht aber fest: „Unbedingt wieder ein Gassenlokal.“

Auch die Architekten von „Synn“ (abgleitet aus dem Wort Synergien) machten sich vor über einem Jahr auf die Suche nach einem Büro, nicht irgendeine „konventionelle“ Etage im ersten oder zweiten Stock sollte es sein, sondern etwas mit einem Zeichen nach außen. Bewusst nutzen sie heute ihre Schaufenster als Werbefläche. Auch die orangefarbene Bar, die nachts das Büro beleuchtet, zieht an. Was „Synn“ damit bewirken wollen, ist vor allem eines: Schwellen abbauen, auch jene zu anderen Disziplinen, denn eines ist allen diesen jungen Büros eigen: Sie fühlen sich nicht mehr als Baukünstler. Architektur vermischt sich mit Design, vom Produkt bis zur Grafik.

Etwas differenzierter ist die Haltung von Mascha und Stuart Veech von veech.media.architecture, den Pionieren der Gassenlokal-Bewegung in Wien: „Wir verkaufen nichts, wir kreieren“ lautet ihr Credo. Deshalb geben sie sich im Kontakt zur Außenwelt und dem Bestreben, etwas nach außen zu transportieren, deutlich zurückhaltender. Die Scheiben sind konsequenterweise transluzent, nur Schatten und Licht sind zu erkennen. Aber ganz so abgeschlossen ist auch ihre Wirkungsstätte nicht: Im Sommer steht die Tür offen, und spätestens, wenn Modelle transportiert werden, weiß jeder, welche Art von Büro/Werkstatt sich hinter den semitransparenten Schaufenstern verbirgt. „Wenn alles offen wäre“, ergänzt Stuart Veech, „dann wäre es nicht mehr spannend.“

Die Besetzung dieser Nicht-Orte längst vergangener Nutzungen ist ein positives Zeichen im urbanen Geflecht. Denn man kann diese systematische Inbesitznahme der Straßen auch anders lesen: als individuelle Reparatur an der Stadttextur jenseits der von der Verwaltung verordneten Stadtbehübschung. Jahrzehntelang haben sich Architekturtheoretiker den Kopf zerbrochen, wie man architektonisches Bewusstsein verankern kann. Jetzt ist es dabei, einfach zu passieren: Die Kunden der jungen Architektur-Büros kommen neuerdings von der Straße, um Architektur „einzukaufen“.

Mehr noch: Alle, die sich mit Arbeitseffizienz und ihren Auswirkungen auf unsere Zukunft befassen, schwärmen von flachen Hierarchien und größtmöglicher Transparenz am Arbeitsplatz. Nie war sie größer als mitten drinnen, zwischen den Konsumenten. Designlabors im Gemeindebau? Werbeagenturen, die die repräsentative Villa im Nobelviertel gegen einen leer stehenden Supermarkt im Wohngebiet eintauschen? Noch klingt das utopisch. Aber der Gedanke, dass Konsumenten den Wettbewerb im „Real-Time-Voting“ entscheiden, könnte spannend werden.

Spectrum, Sa., 2003.05.03

18. Oktober 2002Andrea Nussbaum
ORF.at

Semperit Forschungszentrum

„Form follows function“, dieses zur Doktrin der Kisten- und Riegelarchitektur erhobene Theorem, sagt eigentlich nichts darüber aus, ob sich die der Funktion...

„Form follows function“, dieses zur Doktrin der Kisten- und Riegelarchitektur erhobene Theorem, sagt eigentlich nichts darüber aus, ob sich die der Funktion...

„Form follows function“, dieses zur Doktrin der Kisten- und Riegelarchitektur erhobene Theorem, sagt eigentlich nichts darüber aus, ob sich die der Funktion folgende Form an der Geometrie orientieren muss. Dass sich die Materialisierung einer im Raumprogramm funktionalen, aber äußerlich irregulären Form allerdings nicht ganz leicht umsetzen lässt, weil die Architektur fertigungstechnisch der Autoindustrie bei weitem nachhinkt, mussten die Architekten Karim Najjar und Rames Najjar bei der Realisierung des neuen Forschungs- und Entwicklungszentrums im südlichen Niederösterreich erfahren.

Was in der Autoindustrie zum Fertigungsstandard gehört, stößt in der Architektur noch immer auf Schwierigkeiten in der Umsetzung. Wenn sie mit einfachen baulichen Methoden realisiert werden soll, dann sollte die Form besser einer Geometrie folgen und sich nicht frei entwickeln.


Gelungene Probe

Als die Brüder Najjar & Najjar ihren Wettbewerbsbeitrag 1999 abgaben, wussten sie, dass sie die Großform bauen konnten, jedoch realisiert hatten sie so eine noch nicht. Damit experimentiert ja, in ihrer Installation Bug zum Steirischen Herbst, aber nicht als gebautes Büro- und Laborgebäude.

Da sich der Bauherr Semperit (nicht zu verwechseln mit dem Pleite gegangenen gleichnamigen Reifenhersteller) in seiner Firmen-CI als Innovationsunternehmen versteht, und es sich bei dem Bau noch dazu um ein Forschungs- und Entwicklungsgebäude handelt, also um ein Gebäude, in dem in Labors Gummiprodukte, vor allem medizinische Schutzhandschuhe, erforscht und getestet werden, war nach der Juryempfehlung unter Vorsitz von Günther Domenig, der Neubau bald fixiert: Die Newcomer Najjar & Najjar hatten mit ihrer silbrigen Alu-Röhren-Architektur etablierte Büros ausgestochen; sie werden „The Tube“ bauen.


The Tube

Die Röhre entpuppt sich als klar durchdachter Atriumsbau. Die Haupterschließung erfolgt über das Firmengelände an der nordwestlichen Schmalseite. Zur Straße hin ist ein riesiger „Mund“, der metaphorisch als Ansaugöffnung gelesen werden kann.

Diese transparente Öffnung und die Situierung der Röhre in einem 45 Grad Winkel zur Bundesstraße, so dass man einen Einblick auf die dahinterliegenden Produktionsstätten gewinnt, ist auch schon alles, was den Kontakt zum Ort bestimmt.


Intelligenges Raumprogramm

Das zentrale glasüberdachte Atrium ist die achsiale Verteilerzone über die im Erdgeschoß links und rechts die Laborräume erschlossen werden. Eine Nirosta-Treppe, die in ihrem Design mit schräg gestellten Handläufen an Schiffstreppen erinnert, führt ins Obergeschoß, wo Verwaltungs- und Vorstandsbüros bzw. die Besprechungsräume untergebracht sind.

Hinter dem straßenseitigen „Mund“ befinden sich die Büros der Techniker und eine eingezogene Galerie. Damit sich die Wege des Vorstands sowie Besucher der international operierenden Semperit AG mit den Anlieferungen für die Labors nicht kreuzen, sind an den Längsseiten der Röhre Liefereingänge vorgesehen, die das Gebäude in der Querachse durchschneiden bzw. die Auflagen des Brandschutzes erfüllen.


Die Konstruktion

Das Spannendste an der Alu-Röhre aber war und ist ihre Konstruktion. Bei der Realisierung hatten die Architekten und die ausführenden Firmen mit Variablen zu operieren, die zwar kalkulierbar sind, aber in der Umsetzung eine größere bauliche Präzision als üblich verlangen. Da Aluminium relativ dehnbar und Temperaturschwankungen von Minusgraden bis zu über 40 Plusgraden ausgesetzt ist, musste dieser Faktor ebenfalls in den Griff zu bekommen sein. Hinzu kam bei der Ausführung, dass Aluminium mit seiner glänzenden Oberfläche keine Fehler verzeiht, denn was wäre die zweisinnig gekrümmte Röhre ohne eine perfekte Haut?


Anleihen beim Schiffsbau

Um der Haut die Homogenität zu verschaffen, wie sie heute bei Autokarosserien Gang und Gebe ist, musste man auf das „Glätten“ - wie es im Schiffsbau üblich ist - zurückgreifen, da die Software-Programme der Autoherstellung für die Architektur noch nicht zur Verfügung stehen. Ihre innovative Pionierleistung und der ungebrochene Wille zur Durchführbarkeit, den Karim und Rames Najjar mit ihrem Erstlingswerk gezeigt sind, wurde sogleich mit dem Aluminiumpreis 2002 belohnt.


[Tipp:
Im Rahmen seiner sonntags-Exkursionen lädt das Architektur Zentrum Wien am 17. 10. unter Teilnahme des Teams najjar + najjar zu einem Besuch des Forschungszentrums in Wimpassing ein.]

[Den Originalbeitrag von Andrea Nussbaum finden Sie in architektur aktuell, Österreichs größter Architekturzeitschrift.]

ORF.at, Fr., 2002.10.18



verknüpfte Bauwerke
Semperit F & E

06. April 2002Andrea Nussbaum
Spectrum

Bleistift und Sehnsucht

Ungebrochen geradlinig und selbstbewußt gleitet es in die Höhe, es widersetzt sich jeder Mode, entzieht sich jedemTrend und ist genausowenig gefällig wie sein Architekt, Raimund Abraham: das Austrian Cultural Forum in Midtown NewYork.

Ungebrochen geradlinig und selbstbewußt gleitet es in die Höhe, es widersetzt sich jeder Mode, entzieht sich jedemTrend und ist genausowenig gefällig wie sein Architekt, Raimund Abraham: das Austrian Cultural Forum in Midtown NewYork.

Wim Wenders meinte: „A city should constantly excite.“ New York hat das immer getan - und die urbane Kulisse, die sich hier täglich neu in Szene setzt, hat einen raren Neubau erhalten. Die Metropole, in der sich jeder wie ein Darsteller in einem Film fühlen darf, hat sich im von banaler Funktionsarchitektur dominierten Midtown einen unbequemen Hauptdarsteller verdient und ihn bekommen: das Austrian Cultural Forum von Raimund Abraham. Mit diesem Gebäude zeigt sich Österreich von einer Seite, die es in der „Heimat“ vielfach erst zu realisieren gilt: konsequent, zeitlos, vertikal und unangepaßt.

Das urbane architektonische Casting von Midtown ist neben der vorherrschenden nichts-sagenden Bürohaus-Architektur und den Klassikern der Moderne von einigen zeitgenössischen Ausnahmen bestimmt. Wie die unterschiedlichen Genres im Film präsentieren sich die vereinzelten Akteure westlich und östlich der Fifth Avenue: die schillernde, mediale Welt des Times Square, Philip Johnsons Kathedrale der Postmoderne, das AT-&-T- beziehungsweise jetzige Sony-Building, die artifiziell anmutende Haut des LVHM-Buildings von Christian de Portzamparc, der nach außen geschlossene Neubau des American Folk Art Museum von Williams/Tsien - und seit jüngstem das Austrian Cultural Forum, das der bekannte Architektur-kritiker Kenneth Frampton anläßlich einer Modell-Präsentation im MoMA als „das bedeutendste realisierte Stück Architektur in Manhattan seit dem Seagram Building und dem Guggenheim Museum“ lobte.

Der Bauplatz ist schmal: etwas mehr als siebeneinhalb Meter zur Straßenfront, als unbebaute Lücke kaum wahrzunehmen. Keine leichte Aufgabe für die Architektur, will man die Geschoßfläche durch die notwendige Erschließung nicht gänzlich zerstückeln - einfach und akkurat hingegen die Lösung von Raimund Abraham.

Vor zehn Jahren hat er sich mit dem Heimvorteil des New Yorkers beim Wettbewerb um den Neubau des österreichischen Kulturinstituts durchgesetzt, sich mit einem logisch durchdachten Entwurf gegen so manches plakative Design behauptet. Unter den 226 Einreichungen war er der einzige, der die Erschließung nach hinten setzte, was es ermöglicht, auf dem engen Bauplatz loftartige, großzügige Räume zu schaffen.

Die Stiege an der Hinterseite aber ist mehr als nur ein praktischer Lösungsansatz, sie wurde zum formgebenden architektonischen Element, zur Säule, die den Turm im Boden fixiert. Als Scherenstiege mit zwei sich kreuzenden Treppen ist sie das Rückgrat des Gebäudes und erinnert an Brancusis „Endlose Säule“. Doch die Interpretation, daß seine Architektur skulptural sei, läßt Abraham nicht gelten. Vielmehr habe das Programm die formalen Überlegungen bestimmt: Das Problem der Nutzung sei zu lösen gewesen, und bei einem so kleinen Grundstück führe das unweigerlich zur Frage nach der vertikalen Zirkulation, die zum Grundstein des Entwurfs wurde.

Gegenstück zur architektonischen Wirbelsäule ist die „Maske“, eine 80 Grad geneigte, fallende Glasfassade. Die gerahmten Glaspaneele und die metallverkleideten vorspringenden Sei- tenfassaden, gefaßt in der Komposition einer elementaren Symmetrie, sind das markante Gesicht des Gebäudes. Der Grund für die Neigung der Fassade ist in den New Yorker „zoning“-Gesetzen zu suchen, die ursprünglich dazu dienten, den Lichteinfall in den Straßen zu regulieren, und die mit den zahlreichen abgetreppten und zurückspringenden Wolkenkratzern das Bild der Stadt prägen.

Das Raumprogramm beinhaltet alles, was zeitgemäße Kulturbauten brauchen - und noch vieles mehr: Ausstellungsflächen und die Hauptgalerie in den Untergeschoßen, frei zu bespielende Flächen, die mit einem Besucher-Café sowie einer Lounge und einem multifunktionalen Theatersaal in den Obergeschoßen verbunden sind, darüber eine Bibliothek und ein Konferenzraum. Das Büro des Chefs des Austrian Cultural Forum, Christoph Thun-Hohensteins, befindet sich in der siebten Etage, genau auf jener Höhe, auf der aus der Fassade eine Box auskragt. Aber diese schwebende Raumbox ist nicht, wie man voreilig vermuten könnte, die neue „Kommandozentrale“ des Forum-Chefs, es ist ein weiterer Veranstaltungsraum, der als Ort sogenannter „Art Talks in the Tower“ dienen wird.

Das Augenfälligste an dem Gebäude ist jedoch seine formale, ungebrochene Geradlinigkeit und das Selbstbewußtsein, mit dem es in die Höhe gleitet. Es widersetzt sich jeder Mode, entzieht sich jedem Architekturtrend und ist genausowenig gefällig, wie Raimund Abraham es ist: ein Monolith, der die Monotonie des architektonischen Ei- nerleis sprengt. Angepaßt sein ist nicht seine Sache. Auch das sieht man dem Neubau an. Das Kulturforum hat seinen Platz
in New York gefunden, weil der Architekt seine Architektur kompromißlos verteidigt hat. Es war ein Kampf um jeden Zentimeter: zehn mühsame Jahre, ermüdende Verhandlungen mit dem Bauträger, der Republik Österreich, und ein anstrengendes Tauziehen mit Generalplanern und Baufirmen. Finanzierungsprobleme hätten das Projekt beinahe zum Scheitern gebracht, anfänglich schlechte Betonqualität den Turm fast zum Einsturz gebracht. Wenn das Haus am 18. April eröffnet wird, werden sich viele nicht mehr daran erinnern wollen - außer dem Architekten, der gesteht, daß ihm die Umstände der Errichtung alle Kraft geraubt haben, sodaß er sich wieder vom Bauen distanzieren möchte.

Den Begriff Architekturbüro verabscheut Abraham, denn in Büros arbeiten Bürokraten. Die Bürokratie aber ist der Feind der Architektur, der Feind jeglicher Kreativität. Sein Atelier ist ein loftartiger „workshop“ in Noho, jenem Viertel nördlich des Trubels von Soho. Wenige Blocks von seinem Atelier entfernt liegt die Schule, an der er seit 1971 unterrichtet: die Cooper Union. Sie hat in der Architektenausbildung eine besondere Tradition, ist eine Schule der Individualisten, die dem Populären das Zeitlose, der Pragmatik des Bauens die imaginäre Auseinandersetzung vorziehen.

Eine Kreissäge, Sperrholzplatten für den Modellbau, Werkzeug: es ist dies nicht das Atelier eines Technokraten, sondern von jemandem, der, Mies van der Rohe zitierend, davon spricht, daß die Architektur dort beginnt, wo zwei Steine sorgfältig übereinandergelegt werden. Raimund Abraham hat den „handwerklichen“ Bezug zur Architektur nie aufgegeben. Die Sorgfalt, die Präzision, die Handwerker wie Architekten haben sollten, ist es, die er nicht müde werdend von sich selbst und von anderen fordert, wie erst jüngst in der Neuauflage seines Buchs „Elementare Architektur“: „Ich sage den Studenten immer, sie sollen sich mit der Präzision vertraut machen, die man in der Literatur, in der Musik und im Film anwendet. Wenn man in der Musik eine Note verschiebt, um zwei Millimeter, wird es ein anderer Ton, wenn man in der Sprache einen Buchstaben verschiebt, entsteht ein anderes Wort. Wenn man diese Präzision auf das Bauen überträgt, dann wird die Aussage von Mies sehr klar.“

Die Präzision des Sehens hat er beim Klettern gelernt: Denn davon hänge schließlich das Leben ab. Wenn man den nächsten Griff nicht sehe, komme man nicht weiter. Weitergekommen ist er zeichnend - denn ein Großteil seines Werks ist ungebaut - und nach zwanzigjähriger Verweigerung auch wieder bauend. Die Sehnsucht nach dem Bauen komme mit dem Alter, meint er. Und zum Bauen gehöre für ihn das Modell. Erst dessen Dreidimensionalität ermögliche eine physische Unmittelbarkeit und die Überprüfung des Entwurfs. Deshalb hat der Akt des Modellbauens in seinem Atelier einen besonderen Stellenwert, das Modell fast den Charakter eines Kultobjekts als Schlüssel zum Gebauten.

Bauen wird Abraham wieder: ein eigenes Haus an der Pazifikküste Mexikos. Es wird dies ein Haus zum Arbeiten, zum Zeichnen nach seinem Abschied von der Cooper Union, denn um Architektur zu machen, braucht er nur ein Blatt Papier, einen Bleistift und die Sehnsucht.

Am Ende steht ein Architekt, der - wie so viele vor ihm - seinem Geburtsland den Rücken gekehrt hat. Eines hat sich
geändert: Die beiden wurden wiedervereint an einem Ort, der die österreichische Identität nachhaltig beeinflussen wird. Die amerikanische Architektur-legende Louis Sullivan sprach davon, daß hohe Gebäude „über sich hinaussteigen“ sollten - eine Ambition, die von diesem kleinen Turm mit Leichtigkeit erfüllt wird.

Das Austrian Cultural Forum wird am 18. April mit der „Long Night Of Contemporary Music“ und einer Installation des Künstlerduos Granular Synthesis eröffnet. Ab 22. Mai folgt die Ausstellung „TransModernity: Austrian Architects“ (Jarbornegg & Pálffy, Henke/ Schreieck und Riegler/Riewe).

Spectrum, Sa., 2002.04.06



verknüpfte Bauwerke
Österreichisches Kulturinstitut

03. Oktober 2000Andrea Nussbaum
ORF.at

After the City

Die Buchrezensionen von Andrea Nussbaum und Gerald A. Rödler erschienen in der Originalfassung in Architektur aktuell.

Die Buchrezensionen von Andrea Nussbaum und Gerald A. Rödler erschienen in der Originalfassung in Architektur aktuell.

Was kommt nach der Stadt? - Die Vorstadt-Metropole, meint Lars Lerup.

Das stimmt zumindest aus amerikanischer Sicht (als Lerup das Buch schrieb, lebte er in Houston) und so ist auch die Fotoserie „Metropolis Portfolio“ zu verstehen: Bilder mehrspuriger Superhighways, Fabrikschlote aus denen Miasma aufsteigt, das typische Bild einer riesigen Shopping Mall=City („Born to shop“) oder das Foto gigantischer Hochspannungsleitungen, unter denen eine vereinsamte Kuh weidet.

Apocalypse now? Lars Lerup geht es nicht darum, die postindustriellen Entwicklungen zu verdammen und das Ende jeglicher sozio-kultureller Gemeinschaften an die Wand zu malen, sondern er schließt mit kühler Gelassenheit an den philosophischen Diskurs der Moderne an, zitiert Walter Benjamin, ruft uns Architekten wie Konrad Frey in Erinnerung, der die „Wüste“ außerhalb von Los Angeles kultivierte, oder spielt mit kryptischen Sätzen von Jorge Louis Borges.

Und was die Misere der Auto-Vorstadt-Metropole betrifft, dazu nur ein kleiner Verweis auf den Übervater der Moderne: Le Corbusier habe schließlich den Grundriss der Villa Savoye so konzipiert, dass man bequem mit dem Auto vorfahren kann. Lars Lerups Abhandlung über das, was nach der Stadt kommt, ist eine wortgewaltige Auseinandersetzung mit dem Thema, gespickt mit hochkarätigen Zitaten und überraschenden Gedankensprüngen.

Was kommt nach der Stadt? - Die Vorstadt-Metropole, meint Lars Lerup.

Das stimmt zumindest aus amerikanischer Sicht (als Lerup das Buch schrieb, lebte er in Houston) und so ist auch die Fotoserie „Metropolis Portfolio“ zu verstehen: Bilder mehrspuriger Superhighways, Fabrikschlote aus denen Miasma aufsteigt, das typische Bild einer riesigen Shopping Mall=City („Born to shop“) oder das Foto gigantischer Hochspannungsleitungen, unter denen eine vereinsamte Kuh weidet.

Apocalypse now? Lars Lerup geht es nicht darum, die postindustriellen Entwicklungen zu verdammen und das Ende jeglicher sozio-kultureller Gemeinschaften an die Wand zu malen, sondern er schließt mit kühler Gelassenheit an den philosophischen Diskurs der Moderne an, zitiert Walter Benjamin, ruft uns Architekten wie Konrad Frey in Erinnerung, der die „Wüste“ außerhalb von Los Angeles kultivierte, oder spielt mit kryptischen Sätzen von Jorge Louis Borges.

Und was die Misere der Auto-Vorstadt-Metropole betrifft, dazu nur ein kleiner Verweis auf den Übervater der Moderne: Le Corbusier habe schließlich den Grundriss der Villa Savoye so konzipiert, dass man bequem mit dem Auto vorfahren kann. Lars Lerups Abhandlung über das, was nach der Stadt kommt, ist eine wortgewaltige Auseinandersetzung mit dem Thema, gespickt mit hochkarätigen Zitaten und überraschenden Gedankensprüngen.

„Wenn es in der Oxford Street regnet, ist die Architektur nicht wichtiger als der Regen.“ Archigram haben es auf den Punkt gebracht: die Stadt ist mehr als die Summe ihrer Architektur.

„Breathing Cities“ nennt Nick Barley seine Sammlung archäologischer Anthologien, die alle Eines zeigen: nämlich wie Städte in der „Realität“ funktionieren, nicht in der Computersimulation von Städteplanern: Das Urbane, aufgefüllt mit Leben, mit realen Menschen; Städte, die „benützt“ werden, sich permanent verändern und „atmen“.

Nick Barley schickt die Leser auf eine Reise durch Honolulu, London, New York, Tokio, Yokohama, Paris, Venedig, Berlin und Euralille. Gezeigt werden Gebäude, Verkehrsströme, Menschen, Graffiti, Distributionswege, Baustellen und Trash, denn der moderne Mensch produziert Berge von Abfällen. Die Müllhalde „Fresh Kills Landfill“ auf Staten Island in New York, die größte der Welt, ist mit freiem Auge vom Weltraum aus sichtbar. (Trotz allem ist Marshall MacLuhans Vorhersage vor mehr als 30 Jahren, dass New York bald entvölkert sein wird, nicht eingetreten).

Ein Buch, das dort anfängt, wo der Diskurs in der Architektur in der Regel abbricht, dokumentiert von Künstlern, Fotografen und Autoren, mit Projekten und Gebautem von Shigeru Ban, Foreign Office architects, Zaha Hadid, Kas Oosterhuis und S333 Studio.


Mosaik der Geniedichte

Gerfried Sperl, architekturbegeisterter Chefredakteur des STANDARD, hat seit 1996 über 30 Exponenten der österreichischen Architekturszene in ihrer Arbeitsumgebung interviewt und die Gespräche nun in einer beredten Anthologie herausgegeben, die die vergleichsweise hohe „Geniedichte“ auf kleinem österreichischem Raum markant nachrechnen lässt.

Die faszinierende Pluralität der Auffassungen und Neigungen positioniert die Gesprächspartner als Gruppe origineller Individualisten, denen auch in der Rasterfahndungstabelle ihrer architektonischen Beziehungen am Ende des Bändchens keine einheitliche Klassifikation aufgezwungen werden kann. Ohne Vollständigkeitsanspruch liest sich die Liste der hier zu mehr als nur ihrem Werk Auskunft Gebenden wie ein „Who is Who“: Holzbauer, Kada, Rainer, Hollein, Domenig, Krischanitz, Prix, Podrecca, Tesar, Czech, Giencke, Eichinger oder Knechtl, Lainer, Ullmann, Frey, Auböck, Baumschlager/Eberle...

Verlag und Herausgeber haben versprochen, demnächst nicht nur fehlende Größen nachzureichen, sondern auch die Jungen und Aufstrebenden zu berücksichtigen. Wir dürfen uns hier auf gediegene Fortsetzung authentischer Kurzporträts und Stimmungsaufnahmen freuen, die ein hoch interessantes Mosaik österreichischer Kultur legen.


[Lars Lerup
After the City
200 Seiten, ca. 50 s/w-Abbildungen,
Text: Englisch
MIT Press
ATS 499,-]

[Nick Barley
Breathing Cities
The Architecture of Movement
ca. 128 Seiten, Text: Englisch
Birkhäuser - Verlag für Architektur
ATS 424,-]

[Österreichische Architekten
im Gespräch mit Gerfried Sperl
132 Seiten
Verlag Anton Pustet
ATS 280,-]

ORF.at, Di., 2000.10.03

Publikationen

Presseschau 12

19. November 2005Andrea Nussbaum
Spectrum

Hundert müsste man sein

Ein Industrierelikt - und was man daraus machen kann. Oder: Wie alt alt bleibt und trotzdem neu wird. Über „BEHF Architekten“ und ihren Umbau einer Maschinenhalle in Wien-Favoriten.

Ein Industrierelikt - und was man daraus machen kann. Oder: Wie alt alt bleibt und trotzdem neu wird. Über „BEHF Architekten“ und ihren Umbau einer Maschinenhalle in Wien-Favoriten.

Nicht eine lästige Obligation, viel mehr eine urbane Chance sind die sich in vielen europäischen Metropolen befindenden Spuren ehemaliger innerstädtischer Industriebauten. London etwa hat die neue Tate Modern der kongenialen Kombination aus Gegenwartsarchitektur (Herzog & de Meuron) und einer funktional-archaischen Industriesubstanz (einem ehemaligen Kraftwerk) zu verdanken. Gerade die von den Stadtvätern zeitweise vernachlässigten Außenbezirke beherbergen ein komplexes Inventar an gewerblicher Baumaterie, die auf neue Nutzungen wartet.

Dem internationalen Trend folgend war Wiens Paradeprojekt bisher das Recycling der Gasometer in Wien-Simmering. Im Nachbarbezirk, Wien-Favoriten, ging es diesbezüglich lange nicht wirklich dynamisch zu. Dabei war der zehnte Wiener Gemeindebezirk zu Blütezeiten so etwas wie die industrielle Keimzelle der Stadt. Zu erkennen sind die Spuren dieser Zeiten noch im Quartier um Quellenstraße, Siccardsburggasse und Buchengasse. Viel ist zwar nicht übrig geblieben, aber der erhaltene Industriekomplex der ehemaligen Fabrik „Hugo Reinhold Gläser“ lässt ahnen, dass es dort um die Jahrhundertwende ziemlich lebendig zugegangen sein muss.

Wer heute vor der Fabrikanlage in der Quellenstraße 149 steht und die Fassade hinaufblickt, fühlt sich in eine andere Zeit versetzt, aber nicht nur das: auch an einen anderen Ort, in ein Klein-Manchester in Wien. Man schrieb das Jahr 1889, Spätgründerzeit, als dieser Komplex gebaut wurde, mit Werkstatthallen, einer Schmiede, einem Kessel- und einem Maschinenhaus, einem Wohnhaus für den Fabrikanten sowie allen Nebengebäuden, ausgeführt in schönster Sichtziegelbauweise (der Hauptteil der Anlage in der Quellenstraße wird dem Architekten Oskar Laske senior zugeschrieben).

Knapp zwei Jahrzehnte später, 1906, fügte man in der Siccardsburggasse dem Ensemble einen Erweiterungsbau an, eine Maschinenhalle mit feingliedrigem Glasdach. Bauherr dieses Industrierelikts war der aus Triest stammende Maximilian Luzzatto, der die gesamte Anlage der „H. R. Gläser“ 1899 übernahm und sie als Maschinenfabrik bis zu seinem Tod in den 1930er-Jahren betrieb. Heute, fast genau ein Jahrhundert nach der Erbauung, kann ein neues Kapitel der Geschichte dieses Relikts geschrieben werden, denn mit der Adaptierung der Halle durch „BEHF Architekten“ wurde den alten Ziegelgemäuern vor allem eines, ein neues Leben eingehaucht.

Auch an einem kalten, düsteren Novembertag wirkt die Halle freundlich und hell, strahlt mit ihren Mauern und dem fragilen eisernen Dachstuhl bemerkenswerte Qualität aus. „100 Jahre ist hier nichts passiert“, erzählt Alexander Munninger, Bauherr und Geschäftsführer von „balloonart“, der diese Halle nicht nur als Büro, Produktionsstätte, Lager, sondern auch als Eventzentrum nutzen will. Viele der Nutzungskonzepte für den charmanten Raum, so auch die Idee des Umbaus in ein Designhotel, scheiterten an einer simplen Tatsache, nämlich den Heizkosten, denn diese quasi nur überdachte Freifläche lässt sich schwer auf Zimmertemperatur bringen. Was tun?

Die Bedingungen, die die Architekten vorfanden, waren nicht die leichtesten. Da die Halle unter Denkmalschutz steht, mussten alle Maßnahmen mit dem Bundesdenkmalamt abgesprochen werden. „Das Dach“, so Armin Ebner von BEHF, „dürfte es, statisch gesehen, gar nicht mehr geben.“ Die Galerie, die rund um die Halle läuft, bestand aus Brettern, das Fundament aus einem Lehmboden. Unter diesen Voraussetzungen ist es klar, dass Umbauten risikoreiche Herausforderungen sind. Als Architekt muss man auf das Archiv-Planmaterial zurückgreifen, aber ob man sich darauf verlassen darf? Noch dazu, wo die Anforderungen an das Programm einen Kraftakt an Umbauarbeiten vorsahen: So war nicht nur die Schaffung von Büro- und Produktionsflächen gefragt, sondern auch die Einrichtung eines unterirdischen Lagers, ohne das hätte der Umbau aus wirtschaftlicher Sicht keinen Sinn gehabt.

Beim Umgang mit der vorhandenen Substanz berief sich BEHF auf das Rezept: „Alt bleibt alt. Alle neuen Bauteile sind als solche klar erkennbar.“ Kein Rekonstruieren, keine falsche Patina. Um die Stimmung der Industriekathedrale einzufangen, blieben, so weit möglich, alte Nutzungsspuren und Farbschichten erhalten. Die großen Sprossenfenster wurden, soweit vorhanden, belassen, in den Büros in der Galerie wurden innen neue Fenster den alten vorgesetzt. Auch beim noch vorhandenen Lastenkran entschied man sich für seine Erhaltung, er wurde nur nach Sicherheitsvorschrift wieder auf den Stand der Zeit gebracht.

Um einen klimatisierbaren Raum für die Büros zu schaffen, entschied sich BEHF für ein Raum-im-Raum-Konzept. Die alte, offene Galerie wurde mit Stahlbetonfertigteilen geschlossen, um so einen klimatisch getrennten eigenständigen Baukörper zu schaffen, nicht einen, der sich völlig von der alten Halle abgrenzt, sondern einen, der in ständigem Sichtbezug zu ihr steht. Wie schon zuvor sollte der direkte Blickkontakt zur Halle von den Büros in der Galerie aus möglich sein. Nur ist es heute nicht mehr der Fabrikant, der über seine Arbeiter wacht, der Kontakt dient eher dem Austausch und der Gleichstellung. „Flache Hierarchien“ ist das Schlagwort, mit dem BEHF bisher alle ihre Büros eingerichtet hat. Auch die einzelnen Abteilungen in der Bürogalerie sind daher nur durch flexible Glaswände voneinander getrennt. Gut ein Drittel der Bürogalerie wird derzeit nicht genutzt. Von Leerstand kann aber keine Rede sein, schon wird in Kooperation mit der Universität Wien an einem Konzept für Veranstaltungen gearbeitet.

Immer wieder sind es jedoch die Details, die eine Umrüstung dieser Art entscheidend beeinflussen, etwa wenn die Eisenträger nicht umbaut, sondern nur mit Brandschutzfarbe gestrichen werden, wenn alles getan wird, um das filigrane Dach zu erhalten, wenn man die Qualität der alten Mauern erkennt. Ein Relikt des industriellen Zeitalters: aus einer vergessenen Vergangenheit auf dem Weg in eine aufregende Zukunft.

Spectrum, Sa., 2005.11.19



verknüpfte Bauwerke
Balloonart Halle

11. Dezember 2004Andrea Nussbaum
Spectrum

Decke, Boden, Disziplin

„Wien ist die Hauptstadt der Dunkelheit. Wo es Schlagobers gibt, muss es auch Dunkelheit geben.“ US-Architekt Peter Eisenman über das Unbewusste, Ground Zero, Himmel, Hölle und seine demnächst anlaufende Ausstellung in Wien.

„Wien ist die Hauptstadt der Dunkelheit. Wo es Schlagobers gibt, muss es auch Dunkelheit geben.“ US-Architekt Peter Eisenman über das Unbewusste, Ground Zero, Himmel, Hölle und seine demnächst anlaufende Ausstellung in Wien.

Gänge, die ins Nichts führen. Treppen jenseits irgendeiner Funktion. Balken ohne konstruktive Notwendigkeit. Schon in den Sechziger- und Siebzigerjahren ließ Peter Eisenman unmissverständlich spüren, was er sich quasi als Programm vorgegeben hat: Sämtliche seiner Arbeiten seien, so Eisenman selbst, „von der Absicht beherrscht, den Akt der Architektur als Störung und darauf folgende Rekonstruktion einer immer neu entstehenden Architekturmetaphysik zu bestimmen“.

Bis heute sorgt der in New Jersey 1932 geborene und im englischen Cambridge promovierte Architekt immer wieder für Irritationen, derzeit etwa mit dem in Bau befindlichen „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ unweit des Brandenburger Tores. In Wien ist er einstweilen nur in einer Ausstellung präsent: mit der Personale „Barfuß auf weiß glühenden Mauern“, die ab 15. Dezember im Museum für angewandte Kunst zu sehen ist.

Peter Eisenman, leiden wir unter einer Inflation an Architekturpublikationen und -ausstellungen? Wird Architektur womöglich überschätzt?

Nein, Architektur wird immer noch unterschätzt. Wir sind es gewohnt, Medien zu konsumieren, aber wir beteiligen uns nicht an Architektur. Warum gehen Menschen in Fitnessclubs, warum machen sie Jogging? Um teilzuhaben. Aber sie benutzen nicht ihren Geist, sie benutzen ihren Körper. Architektur ist die einzige Disziplin, die den Geist, das Auge und den Körper zusammenführt. Sie ist wichtiger denn je in der medialen Welt.

Vor einem Monat war ich bei einem Symposium in Madrid gemeinsam mit Zaha Hadid und Jacques Herzog. Darüber wurde groß in den drei wichtigsten spanischen Zeitungen berichtet. Hätten wir in New York gesprochen, gäbe es gar nichts dazu. Das ist eine kulturelle Reaktion. Architektur ist offensichtlich relevanter für Italiener, Spanier, Österreicher und Deutsche als für die angelsächsischen Länder. Ich glaube nicht, dass Briten oder Amerikaner es kümmert, wer was baut. Warum habe ich diese Ausstellung im Museum für angewandte Kunst? Ich hatte nie eine Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art.

Und wie erklären Sie sich das?

Weil sich die Menschen in den USA darum nicht kümmern. Nehmen wir als Beispiel Österreich. Sie hatten Adolf Loos, Josef Hoffmann, Otto Wagner, die zu einer bestimmten Zeit entscheidende Rollen spielten. Architektur war Teil der Kultur von Karl Kraus, Sigmund Freud, Gustav Klimt und der Sezession. Heute gibt es in Österreich Hans Hollein, Gustav Peichl, Wolf Prix. Wenn es darum geht, ein wichtiges Projekt in Wien zu realisieren, werden oft die österreichischen Architekten damit beauftragt, denn die Architektur ist ein entscheidender Teil der Kultur, politisch und sozial. In Amerika ist das nicht so.

Dann leiden die USA unter einem Mangel an Kultur?

Nein, nicht unter einem Mangel an Kultur, aber unter dem Mangel, Architektur als kulturelles Phänomen zu begreifen. Schauen Sie sich doch die „New York Times“ an. Die Architektur finden Sie immer auf den hinteren Seiten, nur ganz selten schafft sie es auf die Titelseite im Feuilleton. Jedes Land beurteilt Architektur anders. Ich kann nie nach Deutschland reisen, ohne von der Presse interviewt zu werden, gerade was das Holocaust Memorial in Berlin betrifft. Darüber gibt es in Deutschland eine gesunde Debatte, das gäbe es in New York nicht.

Aber Sie hatten in New York auch eine große Debatte über die Bebauung von Ground Zero?

Ja, hatten wir, aber es war ein Desaster. Ob man das Projekt von Daniel Libeskind mag oder nicht, Tatsache ist: Er hat den Wettbewerb gewonnen. Und was macht er jetzt? Nichts. Er verlor sein Projekt; das politisch-kommerzielle Interesse hat es übernommen. Und hat sich jemand darüber aufgeregt, haben die Architekten dagegen protestiert? Frank Gehry hat den ursprünglichen Wettbewerb abgelehnt, und jetzt bekommt er das Museumsprojekt. Und was bekommt Libeskind? Er baut kein Memorial, er baut nicht den Freedom-Tower. Er bekam gar nichts.

New York in 100 Jahren, können Sie sich vorstellen, wie die Stadt dann aussehen wird?

New York war nie eine architektenfreundliche Stadt. Seit die Biennale einen Preis an eine Stadt vergibt, seit 1986, wurde er niemals New York verliehen. Das hat seinen guten Grund: weil es wenig Architektur in den amerikanischen Städten gibt. Als Tourist kommt man nach Amerika, um die Landschaft, den Grand Canyon, die Prärie zu sehen. Chicago hat interessante Architektur. Aber fährt jemand nach St. Louis? Nein. Nach Kansas City? Nein. Die Städte sind großteils urbane Wüste. Ich könnte sofort zehn europäische Städte aufzählen, die eine größere architektonische Kultur aufweisen als die meisten amerikanischen Städte. Keine der politischen Parteien hat sich jemals um Architektur gekümmert. Die kümmern sich weder um soziale Wohnprojekte noch um öffentliche Plätze. Die USA werden von kommerziellen Motiven geleitet, da passt die Architektur nicht hinein. Die Architektur bringt keine Stimmen.

Kommen wir zum Prozess des Entstehens von Architektur. Wo beginnen Sie, welche Fragen tauchen als erste auf?

Zuerst taucht die Frage nach der Präsenz auf. In der westlichen Welt geht man davon aus, dass die Architektur der Locus der Präsenz ist. Meine Frage lautet daher, warum akzeptieren wir diese Idee als Tatsache. Weil Architektur immer verortet ist, das ist Präsenz. Aber könnten wir nicht eine Architektur haben, die Ort und Nicht-Ort in einem ist, Präsenz und Nicht-Präsenz? Wie macht man eine Architektur der Nicht-Präsenz? Die Ausstellung im Museum für angewandte Kunst hinterfragt die Präsenz.

Also: Wie macht man eine Architektur der Nicht-Präsenz?

Diese Frage hat meine Arbeit seit 40 Jahren vorangetrieben hat. Man kann es auf unterschiedliche Weise betrachten. Was macht zum Beispiel einen großen Maler aus? Dieser Maler fragt, warum er so malen soll und über Malerei in der Weise nachdenken soll wie im 15., 16. Jahrhundert. Isaac Newton fragte nach der Konzeption des Universums, und seither haben wir die Newtonsche Physik. Dann folgte Descartes, dann Einstein und dann kam Heisenberg. Alle zusammen Denker, die die Annahmen der anderen hinterfragt haben. Wir sind andere Menschen geworden, wir denken anders, wir verhalten uns anders.

Es gab Fortschritte in der Wissenschaft, in der Philosophie, warum sollte es nicht den Versuch geben, die Kultur der Architektur voranzutreiben? Lassen Sie es mich anderes erklären: Es gibt zwei Arten von Ärzten, die einen gehen nach Afrika, um Aids-Patienten zu helfen, die anderen versuchen, im Labor eine wirksames Heilmittel gegen Aids zu finden. Ich bin nicht in Afrika, ich forsche im Labor. Man kann nicht sagen, das eine sei wichtiger als das andere. Ich könnte nicht da draußen sein. Ich mache, was ich kann.

Und wer forscht mit Ihnen im Labor?

Rem Koolhaas, Jacques Herzog, einige junge Architekten wie Greg Lynn, der in Wien unterrichtet, Wolf Prix. Ich bin nicht allein. Wenn Sie die Ausstellung in Wien sehen, werden sie den Unterschied verstehen. Zaha Hadids Ausstellung im vergangenen Jahr war fantastisch. Damit kann ich nicht konkurrieren. Wenn Sie unsere Installation sehen, werden Sie sagen: Oh mein Gott, wie befremdlich. Und wenn es nicht befremdlich wäre, hätte ich versagt.

Befremdlich? Ist das die Reaktion, die Sie bei den Besuchern erzeugen wollen?

Kennen Sie die Bilder zu meinem „Holocaust Memorial“ in Berlin? Es ist befremdlich. Die Menschen sind sprachlos, sie wissen nicht, was sie sagen sollen.

Die Menschen verlieren sich . . .

Sie verlieren sich nicht so sehr, sie bekommen ein Gefühl des Sichverlierens, des Verlorenseins im Raum. In Wirklichkeit ist es unmöglich, sich zu verlieren. Aber wie wäre es, sich für einen Moment zu verlieren? Das wäre sehr spannend.

Sie werden die Decke der unteren Ausstellungshalle des MAK abhängen und den Raum mit Säulen füllen.

Ja, die Decke wird nur 3,5 Meter hoch sein. Es wird dunkel in der Halle sein und niedrig. Das einzige Licht kommt aus den von innen beleuchteten Säulen.

Klingt ziemlich klaustrophobisch . . .

Aber warum sollte jemand Klaustrophisches wollen?

Sagen Sie es mir . . .

Nein, sagen Sie es mir, Sie sagten klaustrophobisch.

Ist das Ideal der Architektur nicht ein offener, lichtdurchfluteter Raum, Räume, an denen man sich freuen kann? Sie aber wollen, dass sich die Besucher bedrückt fühlen.

Macht das die Avantgarde nicht öfters?

Gewöhnt man sich nicht schnell an das Schockierende der Avantgarde?

An Klaustrophobie gewöhnt man sich nie. Um den Menschen das Licht und das Glück bewusst zu machen, braucht es die Dunkelheit. Wien ist die Hauptstadt der Dunkelheit, des Schattens und des Unbewussten. Wo es Schlagobers gibt, muss es auch Dunkelheit geben. In der christlichen Dialektik braucht es für den Himmel die Hölle. Für Gott braucht es einen Teufel.

Freud hat die Dunkelheit entdeckt, die in uns allen steckt, die wir versuchen müssen zu verstehen, sie rauszulassen, aber auf eine nicht gewalttätige Weise. Die moderne Literatur ist voll von den Gestalten eines dunklen Universums. Die Architektur muss einen Weg suchen, dazu einen Berührungspunkt zu finden. Wir, die Architekten, können nicht nur „happy people“ sein, die Komfort und Obdach bereitstellen. Ich wünsche mir, dass die Besucher mit ihren Gefühlen konfrontiert werden.

Nochmals zurück zu Wien als „Stadt der Dunkelheit“: Können Sie das näher erläutern?

Ich denke, diese Ausstellung hat viel mit Wien zu tun, mit Freud, mit Loos, mit der Moderne. Moderne in den USA bedeutet Technik und nicht Ideologie. Der Marxismus, der Faschismus, die Nazis haben Architektur immer als Politik, als Ideologie begriffen. Und in einem gewissen Sinn hatten sie Recht. Architektur wird immer ideologisch sein. Sie ist immer politisch und sozial, aber innerhalb ihrer eigenen Disziplin-Autonomie. Darum geht es in der Ausstellung, die Decke und der Boden repräsentieren diese Disziplin-Autonomie.

Spectrum, Sa., 2004.12.11

27. März 2004Andrea Nussbaum
Spectrum

Gedrängel auf der Warteliste

Bauten aus der architektonischen Champions League sind kein Wagnis und keine Extravaganz, sondern ein Konsumartikel. Die Marke Zaha Hadid, der Pritzker-Preis, Wiens Spittelau und die Verantwortung der Architekturkritik.

Bauten aus der architektonischen Champions League sind kein Wagnis und keine Extravaganz, sondern ein Konsumartikel. Die Marke Zaha Hadid, der Pritzker-Preis, Wiens Spittelau und die Verantwortung der Architekturkritik.

Es gibt sie: die Modeworte. Jede Branche hat die ihren, auch das Architekturfeuilleton. Und dort dreht sich seit kurzem vieles um ein Wort: Architekturvermittlung. Kritiker sind keine Kritiker mehr, denn ihre Aufgabe ist es neuerdings - eben - zu vermitteln, behutsam den Lesern Tag für Tag, Sonntag für Sonntag die Vorzüge der Architektur vor Augen zu führen. „Er spricht, er schreibt, er vermittelt, er publiziert - obschon ohne nennbaren Erfolg und scheinbar widersinnig - dennoch weiter“, meinte unlängst der deutsche Kritiker Ulrich Conrads über sich und seine Berufskollegen. Doch wozu das Ganze, ist man verleitet zu fragen, wenn es letztlich für die Architektur trotz allem keine wie auch immer geartete Aussicht auf Erfolg gibt? Ist die Architekturkritik tatsächlich ein Quotenkiller, überblättert und ohne Marktpotenzial - weder im Feuilleton noch im realen Leben?

Nehmen wir einmal den kleinen, aber exquisiten Wohnbau an der Spittelauer Lände in Wien, der im Sommer 2005 fertig gestellt werden soll. Das Besondere daran, der Apartmentkomplex mit Geschäfts- und Gastronomieflächen, der sich im Modell selbstbewusst über die ehrwürdigen Stadtbahnbögen von Otto Wagner erstreckt, ist so gut wie verkauft: 700 Vormerkungen liegen bereits vor. Ist es die Lage? Sind es die Grundrisse der Wohnungen? Oder ist es ein Name? Denn dieses kecke Zickzack am Donaukanal, das so lange auf sich warten ließ, stammt von keiner anderen als Zaha Hadid, der Pritzker-Preisträgerin 2004.

Bauten aus der architektonischen Champions League sind kein Wagnis mehr, kein Abenteuer und auch keine Extravaganz, sondern ein Konsumartikel, zugegebenermaßen in den besseren Fällen ein höchst ästhetischer, aber Konsum und Ästhetik gehören auch in der hohen Kunst des Bauens zusammen. Die Shop-Architektur hat es vorgemacht, jetzt folgt der Wohnbau.

Die Lage des neuen Apartmenthauses der Luxusklasse von Zaha Hadid ist außergewöhnlich: ein kleiner Fleck zwischen Donaukanal und Spittelauer Lände, der streng genommen in die Kategorie „unbebaubar“ fällt. Das Umfeld: eine städtebauliche Wüste, umringt von der von Hundertwasser behübschten Müllverbrennungsanlage, der Wirtschaftsuniversität und einem Bundesamtsgebäude, die allesamt keine Highlights städtischer Architektur sind, sieht man von den Stadtbahnbögen einmal ab, die lange unter ihrem Wert genutzt wurden.

Alles zusammen also ideale Voraussetzungen für die Meister der Oberliga, für solche wie Zaha Hadid. Hinzu kam, dass der Wiener Stadtplanung der Donaukanal und sein städtebauliches Potenzial schon einige Zeit am Herzen lag. Wenn schon die Kernstadt Wien nicht an der Donau liegt, dann sollte das doch wenigstens mit dem Donaukanal wettgemacht werden. Neue Projekte wurden erkoren und dabei auch jener Fleck an der Spittelauer Lände entdeckt.

Fast zehn Jahre sind nun vergangen, seit Zaha Hadid im Dezember 1994 mit dem damaligen Planungsstadtrat Hannes Swoboda die kantigen Volumina präsentierte, die sich um die Stadtbahnbögen wickeln - ohne die denkmalgeschützten Relikte einer Jahrhundertwende-Architektur zu berühren oder auf der Oberkante der ehemaligen Stadtbahntrasse aufzusetzen. In typischer Hadid-Manier schweben sie. „Wohnen am Wasser“ lautet das für Wien seltene Motto. 18 Wohneinheiten werden verkauft, 16 werden als „temporäre Wohnungen“ zeitlich begrenzt vermietet, alle haben Blick auf den Donaukanal: ein besonderer Ort mit außergewöhnlichen Perspektiven - wie geschaffen für die expressive Architektursprache der von London aus agierenden Architektin.

Dem Bauvorhaben schien nichts mehr im Weg zu stehen, doch die Realisierung blieb aus. Das Projekt verschwand aus der Tages- und schließlich auch aus der Architekturpresse. Die Stadtverwaltung vertröstete. Dass der Hadid-Bau jetzt mit einem solchen Erfolg (siehe Warteliste) ganz ohne unmittelbare Medien- oder Vermittlerhilfe aufwartet, scheint auf den ersten Blick für sich zu sprechen - und für die Architektur. Architektur - ein Verkaufsschlager! Das Wien der Zukunft: eine ganze Stadt als Architekturausstellung?

Szenenwechsel: G-Town, die Wiener Gasometer. Vier ungewöhnliche Denkmäler der Industriearchitektur, umgebaut zu Wohnungen und mit einem markanten Aushängeschild versehen. Ein überaus erfolgreiches Unternehmen für Bauträger wie die Stadterneuerungs- und Eigentumswohnungs-GmbH (SEG), die sowohl die Gasometer von Jean Nouvel und Coop Himmelb(l)au als auch das Spittelau-Projekt von Zaha Hadid umsetzt.

Und was beim Bau von Zaha Hadid die Warteliste ist, sind beim Gasometer-Projekt die Verkaufszahlen: In der bewährten Dreierkombination von Stararchitekten, Lage und Preis haben sich die Gasometer-Wohnungen der SEG erfolgreich verkauft.

Was bedeutet das nun für die Architektur? Nicht jeder Jean-Nouvel-, Coop-Himmelb(l)au- oder zukünftige Zaha-Hadid-Wohnungsbesitzer ist ein empfänglicher Architektur-Connaisseur, der sich jahrelang durch die Lektüre von Architekturmagazinen auf dem Laufenden hielt, um schließlich seine Wohn-Entscheidung zu treffen. Aber geprägt vom aus der Mode gelernten Markenbewusstsein, erfüllt es so manchen offenkundig mit beträchtlichem Stolz, dass gerade er in einem „Marken“-Wohnbau lebt, einem Wohnbau, über den geschrieben, diskutiert und der in Zeitschriften abgebildet wird.

Die Stararchitektur ist ein nobler Markenartikel geworden. Und hier schließt sich der Kreis, denn dass es so weit kam, dass die Stararchitektur als „Marke“ auffällt und ihre Nachfrage steigt, ist letztlich Verdienst - und gleichermaßen Verantwortung - der (wie man sieht nicht immer überblätterten) Architekturkritik.

Spectrum, Sa., 2004.03.27



verknüpfte Bauwerke
Wohnbau Spittelau

03. Mai 2003Andrea Nussbaum
Spectrum

Wenn's einfach passiert

Modelle und Planzeichnungen statt Waren aller Art: Junge Architektenteams setzen sich und ihre Arbeit in die Auslagen vormaliger Geschäftslokale. Anmerkungen zu einem Wiener Trend.

Modelle und Planzeichnungen statt Waren aller Art: Junge Architektenteams setzen sich und ihre Arbeit in die Auslagen vormaliger Geschäftslokale. Anmerkungen zu einem Wiener Trend.

Die urbane Evolution hinterlässt ihre Spuren. Dort, wo früher die spärliche Dekoration von Gemischtwarenhändlern oder Gewerbetreibenden die Schaufenster verstaubter Ladenlokale schmückte und nicht selten jahrzehntelang unberührt vergilbte, entdeckt man bei einem Streifzug durch die Wiener Innenstadtbezirke immer häufiger Beispiele zeitgenössischer Architektur, freilich keine gebaute. In der Auslage stehen Architekturmodelle. Materialmuster und Planmaterial ergänzen das Bild, dazu das Poster der einen oder anderen Ausstellung. Das Schaufenster ist die konstante Ausstellungsfläche für die Ambitionen der neuen Mieter. Dahinter, im Licht greller Arbeitslampen sitzen die Schöpfer der präsentierten Architekturfantasien: Jungarchitekten, Designer oder solche, die es bald werden.

Die neuen Mieter haben die Initiative ergriffen und aus der Not, einen geeigneten Büroraum zu erschwinglichen Preisen zu finden, einen einzigartigen Trend geschaffen: Arbeiten in der Auslage. Und das Experiment funktioniert. Wie in einem Reagenzglas werden in den besetzten Ladenlokalen die Formen, Strukturen und Strategien einer zu bauenden Zukunft geprobt. Die Ergebnisse sind für alle zu sehen. Die Bauexponate und die Philosophie, der sie entstammen, lassen keine Strömung erkennen, der man sich verpflichtet fühlt. Jedes Büro geht seinen eigenen Weg, sucht seinen eigenen Inhalt.

Einzig die Energie, etwas zu verändern, ist ihnen gemeinsam. In der Unerreichbarkeit der Dachateliers der Architekturelite sucht man die oft vergebens. Versucht man sich dort abgeschottet im Recycling des eigenen Stils von postmodern bis dekonstruktivistisch dem Architektur-Olymp zu nähern, ist man zur ebenen Erde daran, den Übervätern der Architekturszene langsam, aber sicher Konkurrenz zu machen.

Ein Installateurbetrieb war es einst; davor hatte ein Wagemutiger versucht, dem Sterben der kleinen Nahversorger zu trotzen, aber auch er musste sich dem wachsenden Druck der Lebensmittelgroßmärkte geschlagen geben. Triste Leere, bis die 170 Quadratmeter Ladenfläche und 68 Quadratmeter Schaufensterfläche im vierten Wiener Gemeindebezirk 1999 von den fünf Architekten von awg-AllesWirdGut besetzt wurden. Wenn es mit der Architektur nicht klappt, dann könnte man den Raum als Galerie oder als Nachtcafé nutzen, so der pragmatische Hintergedanke bei der Unterzeichnung des Mietvertrags. Mit der Architektur hat es geklappt, mehr noch, über das Gassenbüro mitsamt den Schaufenstern, in denen sie stolz nach gewonnen Wettbewerben ihre Freude bekundeten, wurden sie bekannt. „awg“ entspricht nicht dem verbreiteten Klischee des Architekten im schwarzen Designer-Anzug. Auch ihr Büroname könnte eher der einer HipHop-Gruppe sein. „Fünf Senkrechtstarter“, so hatte sie erst kürzlich Otto Kapfinger in der Ausstellung „emerging architecture“ tituliert. „awg“ hat es nicht nur geschafft, Architektur in den hintersten Winkel Tirols zu bringen, durch den Blick eines Architekturkritikers in die ungewöhnliche Auslage ergab sich prompt eine Beteiligung bei „ArchiLab“, der bekannten Ausstellung für junge Architektur im französischen Orléans. Auch den Auftrag zur Neugestaltung der Läden einer Modekette erhielten sie über ihre Bekanntheit als Straßenbüro. Das Schaufenster ist für sie nach wie vor Bühne und Botschaft des Mediums Büro; es ist kommunikatives Mittel und Ort einer neuen Art der Architekturrezeption.

Ähnlich war auch die Ausgangslage bei den vier Architekten von „archiguards“: Wie bei vielen Starter-Unternehmen war die Wohnung erste Arbeitsstätte. Mit steigender Auftragslage wurde die „Wohnung=Büro“-Lösung bald zu klein. Das Gassenlokal im Erdgeschoß, eine ehemalige Tischlerei, stand leer, und schon war der ideale Ort für den zukünftigen Standort von „archiguards“ gefunden. Die Büro-Adaptionen wurden je nach Kontostand vollzogen. Eine der ersten Interventionen in Richtung Corporate Design war der Tausch der Glasscheiben, die heute den Namenszug des Büros tragen. Hineinschauen kann man trotzdem.

Hat sich ihr exponierter Bürositz auf die von ihnen gebaute Architektur ausgewirkt? Das nicht. Aber ihre Haltung spiegelt sich zweifelsohne in ihrer Präsentation nach außen wieder. Nichts „Abgehobenes“ soll die Architektur sein, sondern eine Dienstleistung, die man sich leisten kann und soll. Im Moment suchen die vier nach einem neuen Bürositz. Wo der letztendlich sein wird, steht noch nicht fest, einige Wunschobjekte wurden bereits gesichtet. Eines steht aber fest: „Unbedingt wieder ein Gassenlokal.“

Auch die Architekten von „Synn“ (abgleitet aus dem Wort Synergien) machten sich vor über einem Jahr auf die Suche nach einem Büro, nicht irgendeine „konventionelle“ Etage im ersten oder zweiten Stock sollte es sein, sondern etwas mit einem Zeichen nach außen. Bewusst nutzen sie heute ihre Schaufenster als Werbefläche. Auch die orangefarbene Bar, die nachts das Büro beleuchtet, zieht an. Was „Synn“ damit bewirken wollen, ist vor allem eines: Schwellen abbauen, auch jene zu anderen Disziplinen, denn eines ist allen diesen jungen Büros eigen: Sie fühlen sich nicht mehr als Baukünstler. Architektur vermischt sich mit Design, vom Produkt bis zur Grafik.

Etwas differenzierter ist die Haltung von Mascha und Stuart Veech von veech.media.architecture, den Pionieren der Gassenlokal-Bewegung in Wien: „Wir verkaufen nichts, wir kreieren“ lautet ihr Credo. Deshalb geben sie sich im Kontakt zur Außenwelt und dem Bestreben, etwas nach außen zu transportieren, deutlich zurückhaltender. Die Scheiben sind konsequenterweise transluzent, nur Schatten und Licht sind zu erkennen. Aber ganz so abgeschlossen ist auch ihre Wirkungsstätte nicht: Im Sommer steht die Tür offen, und spätestens, wenn Modelle transportiert werden, weiß jeder, welche Art von Büro/Werkstatt sich hinter den semitransparenten Schaufenstern verbirgt. „Wenn alles offen wäre“, ergänzt Stuart Veech, „dann wäre es nicht mehr spannend.“

Die Besetzung dieser Nicht-Orte längst vergangener Nutzungen ist ein positives Zeichen im urbanen Geflecht. Denn man kann diese systematische Inbesitznahme der Straßen auch anders lesen: als individuelle Reparatur an der Stadttextur jenseits der von der Verwaltung verordneten Stadtbehübschung. Jahrzehntelang haben sich Architekturtheoretiker den Kopf zerbrochen, wie man architektonisches Bewusstsein verankern kann. Jetzt ist es dabei, einfach zu passieren: Die Kunden der jungen Architektur-Büros kommen neuerdings von der Straße, um Architektur „einzukaufen“.

Mehr noch: Alle, die sich mit Arbeitseffizienz und ihren Auswirkungen auf unsere Zukunft befassen, schwärmen von flachen Hierarchien und größtmöglicher Transparenz am Arbeitsplatz. Nie war sie größer als mitten drinnen, zwischen den Konsumenten. Designlabors im Gemeindebau? Werbeagenturen, die die repräsentative Villa im Nobelviertel gegen einen leer stehenden Supermarkt im Wohngebiet eintauschen? Noch klingt das utopisch. Aber der Gedanke, dass Konsumenten den Wettbewerb im „Real-Time-Voting“ entscheiden, könnte spannend werden.

Spectrum, Sa., 2003.05.03

18. Oktober 2002Andrea Nussbaum
ORF.at

Semperit Forschungszentrum

„Form follows function“, dieses zur Doktrin der Kisten- und Riegelarchitektur erhobene Theorem, sagt eigentlich nichts darüber aus, ob sich die der Funktion...

„Form follows function“, dieses zur Doktrin der Kisten- und Riegelarchitektur erhobene Theorem, sagt eigentlich nichts darüber aus, ob sich die der Funktion...

„Form follows function“, dieses zur Doktrin der Kisten- und Riegelarchitektur erhobene Theorem, sagt eigentlich nichts darüber aus, ob sich die der Funktion folgende Form an der Geometrie orientieren muss. Dass sich die Materialisierung einer im Raumprogramm funktionalen, aber äußerlich irregulären Form allerdings nicht ganz leicht umsetzen lässt, weil die Architektur fertigungstechnisch der Autoindustrie bei weitem nachhinkt, mussten die Architekten Karim Najjar und Rames Najjar bei der Realisierung des neuen Forschungs- und Entwicklungszentrums im südlichen Niederösterreich erfahren.

Was in der Autoindustrie zum Fertigungsstandard gehört, stößt in der Architektur noch immer auf Schwierigkeiten in der Umsetzung. Wenn sie mit einfachen baulichen Methoden realisiert werden soll, dann sollte die Form besser einer Geometrie folgen und sich nicht frei entwickeln.


Gelungene Probe

Als die Brüder Najjar & Najjar ihren Wettbewerbsbeitrag 1999 abgaben, wussten sie, dass sie die Großform bauen konnten, jedoch realisiert hatten sie so eine noch nicht. Damit experimentiert ja, in ihrer Installation Bug zum Steirischen Herbst, aber nicht als gebautes Büro- und Laborgebäude.

Da sich der Bauherr Semperit (nicht zu verwechseln mit dem Pleite gegangenen gleichnamigen Reifenhersteller) in seiner Firmen-CI als Innovationsunternehmen versteht, und es sich bei dem Bau noch dazu um ein Forschungs- und Entwicklungsgebäude handelt, also um ein Gebäude, in dem in Labors Gummiprodukte, vor allem medizinische Schutzhandschuhe, erforscht und getestet werden, war nach der Juryempfehlung unter Vorsitz von Günther Domenig, der Neubau bald fixiert: Die Newcomer Najjar & Najjar hatten mit ihrer silbrigen Alu-Röhren-Architektur etablierte Büros ausgestochen; sie werden „The Tube“ bauen.


The Tube

Die Röhre entpuppt sich als klar durchdachter Atriumsbau. Die Haupterschließung erfolgt über das Firmengelände an der nordwestlichen Schmalseite. Zur Straße hin ist ein riesiger „Mund“, der metaphorisch als Ansaugöffnung gelesen werden kann.

Diese transparente Öffnung und die Situierung der Röhre in einem 45 Grad Winkel zur Bundesstraße, so dass man einen Einblick auf die dahinterliegenden Produktionsstätten gewinnt, ist auch schon alles, was den Kontakt zum Ort bestimmt.


Intelligenges Raumprogramm

Das zentrale glasüberdachte Atrium ist die achsiale Verteilerzone über die im Erdgeschoß links und rechts die Laborräume erschlossen werden. Eine Nirosta-Treppe, die in ihrem Design mit schräg gestellten Handläufen an Schiffstreppen erinnert, führt ins Obergeschoß, wo Verwaltungs- und Vorstandsbüros bzw. die Besprechungsräume untergebracht sind.

Hinter dem straßenseitigen „Mund“ befinden sich die Büros der Techniker und eine eingezogene Galerie. Damit sich die Wege des Vorstands sowie Besucher der international operierenden Semperit AG mit den Anlieferungen für die Labors nicht kreuzen, sind an den Längsseiten der Röhre Liefereingänge vorgesehen, die das Gebäude in der Querachse durchschneiden bzw. die Auflagen des Brandschutzes erfüllen.


Die Konstruktion

Das Spannendste an der Alu-Röhre aber war und ist ihre Konstruktion. Bei der Realisierung hatten die Architekten und die ausführenden Firmen mit Variablen zu operieren, die zwar kalkulierbar sind, aber in der Umsetzung eine größere bauliche Präzision als üblich verlangen. Da Aluminium relativ dehnbar und Temperaturschwankungen von Minusgraden bis zu über 40 Plusgraden ausgesetzt ist, musste dieser Faktor ebenfalls in den Griff zu bekommen sein. Hinzu kam bei der Ausführung, dass Aluminium mit seiner glänzenden Oberfläche keine Fehler verzeiht, denn was wäre die zweisinnig gekrümmte Röhre ohne eine perfekte Haut?


Anleihen beim Schiffsbau

Um der Haut die Homogenität zu verschaffen, wie sie heute bei Autokarosserien Gang und Gebe ist, musste man auf das „Glätten“ - wie es im Schiffsbau üblich ist - zurückgreifen, da die Software-Programme der Autoherstellung für die Architektur noch nicht zur Verfügung stehen. Ihre innovative Pionierleistung und der ungebrochene Wille zur Durchführbarkeit, den Karim und Rames Najjar mit ihrem Erstlingswerk gezeigt sind, wurde sogleich mit dem Aluminiumpreis 2002 belohnt.


[Tipp:
Im Rahmen seiner sonntags-Exkursionen lädt das Architektur Zentrum Wien am 17. 10. unter Teilnahme des Teams najjar + najjar zu einem Besuch des Forschungszentrums in Wimpassing ein.]

[Den Originalbeitrag von Andrea Nussbaum finden Sie in architektur aktuell, Österreichs größter Architekturzeitschrift.]

ORF.at, Fr., 2002.10.18



verknüpfte Bauwerke
Semperit F & E

06. April 2002Andrea Nussbaum
Spectrum

Bleistift und Sehnsucht

Ungebrochen geradlinig und selbstbewußt gleitet es in die Höhe, es widersetzt sich jeder Mode, entzieht sich jedemTrend und ist genausowenig gefällig wie sein Architekt, Raimund Abraham: das Austrian Cultural Forum in Midtown NewYork.

Ungebrochen geradlinig und selbstbewußt gleitet es in die Höhe, es widersetzt sich jeder Mode, entzieht sich jedemTrend und ist genausowenig gefällig wie sein Architekt, Raimund Abraham: das Austrian Cultural Forum in Midtown NewYork.

Wim Wenders meinte: „A city should constantly excite.“ New York hat das immer getan - und die urbane Kulisse, die sich hier täglich neu in Szene setzt, hat einen raren Neubau erhalten. Die Metropole, in der sich jeder wie ein Darsteller in einem Film fühlen darf, hat sich im von banaler Funktionsarchitektur dominierten Midtown einen unbequemen Hauptdarsteller verdient und ihn bekommen: das Austrian Cultural Forum von Raimund Abraham. Mit diesem Gebäude zeigt sich Österreich von einer Seite, die es in der „Heimat“ vielfach erst zu realisieren gilt: konsequent, zeitlos, vertikal und unangepaßt.

Das urbane architektonische Casting von Midtown ist neben der vorherrschenden nichts-sagenden Bürohaus-Architektur und den Klassikern der Moderne von einigen zeitgenössischen Ausnahmen bestimmt. Wie die unterschiedlichen Genres im Film präsentieren sich die vereinzelten Akteure westlich und östlich der Fifth Avenue: die schillernde, mediale Welt des Times Square, Philip Johnsons Kathedrale der Postmoderne, das AT-&-T- beziehungsweise jetzige Sony-Building, die artifiziell anmutende Haut des LVHM-Buildings von Christian de Portzamparc, der nach außen geschlossene Neubau des American Folk Art Museum von Williams/Tsien - und seit jüngstem das Austrian Cultural Forum, das der bekannte Architektur-kritiker Kenneth Frampton anläßlich einer Modell-Präsentation im MoMA als „das bedeutendste realisierte Stück Architektur in Manhattan seit dem Seagram Building und dem Guggenheim Museum“ lobte.

Der Bauplatz ist schmal: etwas mehr als siebeneinhalb Meter zur Straßenfront, als unbebaute Lücke kaum wahrzunehmen. Keine leichte Aufgabe für die Architektur, will man die Geschoßfläche durch die notwendige Erschließung nicht gänzlich zerstückeln - einfach und akkurat hingegen die Lösung von Raimund Abraham.

Vor zehn Jahren hat er sich mit dem Heimvorteil des New Yorkers beim Wettbewerb um den Neubau des österreichischen Kulturinstituts durchgesetzt, sich mit einem logisch durchdachten Entwurf gegen so manches plakative Design behauptet. Unter den 226 Einreichungen war er der einzige, der die Erschließung nach hinten setzte, was es ermöglicht, auf dem engen Bauplatz loftartige, großzügige Räume zu schaffen.

Die Stiege an der Hinterseite aber ist mehr als nur ein praktischer Lösungsansatz, sie wurde zum formgebenden architektonischen Element, zur Säule, die den Turm im Boden fixiert. Als Scherenstiege mit zwei sich kreuzenden Treppen ist sie das Rückgrat des Gebäudes und erinnert an Brancusis „Endlose Säule“. Doch die Interpretation, daß seine Architektur skulptural sei, läßt Abraham nicht gelten. Vielmehr habe das Programm die formalen Überlegungen bestimmt: Das Problem der Nutzung sei zu lösen gewesen, und bei einem so kleinen Grundstück führe das unweigerlich zur Frage nach der vertikalen Zirkulation, die zum Grundstein des Entwurfs wurde.

Gegenstück zur architektonischen Wirbelsäule ist die „Maske“, eine 80 Grad geneigte, fallende Glasfassade. Die gerahmten Glaspaneele und die metallverkleideten vorspringenden Sei- tenfassaden, gefaßt in der Komposition einer elementaren Symmetrie, sind das markante Gesicht des Gebäudes. Der Grund für die Neigung der Fassade ist in den New Yorker „zoning“-Gesetzen zu suchen, die ursprünglich dazu dienten, den Lichteinfall in den Straßen zu regulieren, und die mit den zahlreichen abgetreppten und zurückspringenden Wolkenkratzern das Bild der Stadt prägen.

Das Raumprogramm beinhaltet alles, was zeitgemäße Kulturbauten brauchen - und noch vieles mehr: Ausstellungsflächen und die Hauptgalerie in den Untergeschoßen, frei zu bespielende Flächen, die mit einem Besucher-Café sowie einer Lounge und einem multifunktionalen Theatersaal in den Obergeschoßen verbunden sind, darüber eine Bibliothek und ein Konferenzraum. Das Büro des Chefs des Austrian Cultural Forum, Christoph Thun-Hohensteins, befindet sich in der siebten Etage, genau auf jener Höhe, auf der aus der Fassade eine Box auskragt. Aber diese schwebende Raumbox ist nicht, wie man voreilig vermuten könnte, die neue „Kommandozentrale“ des Forum-Chefs, es ist ein weiterer Veranstaltungsraum, der als Ort sogenannter „Art Talks in the Tower“ dienen wird.

Das Augenfälligste an dem Gebäude ist jedoch seine formale, ungebrochene Geradlinigkeit und das Selbstbewußtsein, mit dem es in die Höhe gleitet. Es widersetzt sich jeder Mode, entzieht sich jedem Architekturtrend und ist genausowenig gefällig, wie Raimund Abraham es ist: ein Monolith, der die Monotonie des architektonischen Ei- nerleis sprengt. Angepaßt sein ist nicht seine Sache. Auch das sieht man dem Neubau an. Das Kulturforum hat seinen Platz
in New York gefunden, weil der Architekt seine Architektur kompromißlos verteidigt hat. Es war ein Kampf um jeden Zentimeter: zehn mühsame Jahre, ermüdende Verhandlungen mit dem Bauträger, der Republik Österreich, und ein anstrengendes Tauziehen mit Generalplanern und Baufirmen. Finanzierungsprobleme hätten das Projekt beinahe zum Scheitern gebracht, anfänglich schlechte Betonqualität den Turm fast zum Einsturz gebracht. Wenn das Haus am 18. April eröffnet wird, werden sich viele nicht mehr daran erinnern wollen - außer dem Architekten, der gesteht, daß ihm die Umstände der Errichtung alle Kraft geraubt haben, sodaß er sich wieder vom Bauen distanzieren möchte.

Den Begriff Architekturbüro verabscheut Abraham, denn in Büros arbeiten Bürokraten. Die Bürokratie aber ist der Feind der Architektur, der Feind jeglicher Kreativität. Sein Atelier ist ein loftartiger „workshop“ in Noho, jenem Viertel nördlich des Trubels von Soho. Wenige Blocks von seinem Atelier entfernt liegt die Schule, an der er seit 1971 unterrichtet: die Cooper Union. Sie hat in der Architektenausbildung eine besondere Tradition, ist eine Schule der Individualisten, die dem Populären das Zeitlose, der Pragmatik des Bauens die imaginäre Auseinandersetzung vorziehen.

Eine Kreissäge, Sperrholzplatten für den Modellbau, Werkzeug: es ist dies nicht das Atelier eines Technokraten, sondern von jemandem, der, Mies van der Rohe zitierend, davon spricht, daß die Architektur dort beginnt, wo zwei Steine sorgfältig übereinandergelegt werden. Raimund Abraham hat den „handwerklichen“ Bezug zur Architektur nie aufgegeben. Die Sorgfalt, die Präzision, die Handwerker wie Architekten haben sollten, ist es, die er nicht müde werdend von sich selbst und von anderen fordert, wie erst jüngst in der Neuauflage seines Buchs „Elementare Architektur“: „Ich sage den Studenten immer, sie sollen sich mit der Präzision vertraut machen, die man in der Literatur, in der Musik und im Film anwendet. Wenn man in der Musik eine Note verschiebt, um zwei Millimeter, wird es ein anderer Ton, wenn man in der Sprache einen Buchstaben verschiebt, entsteht ein anderes Wort. Wenn man diese Präzision auf das Bauen überträgt, dann wird die Aussage von Mies sehr klar.“

Die Präzision des Sehens hat er beim Klettern gelernt: Denn davon hänge schließlich das Leben ab. Wenn man den nächsten Griff nicht sehe, komme man nicht weiter. Weitergekommen ist er zeichnend - denn ein Großteil seines Werks ist ungebaut - und nach zwanzigjähriger Verweigerung auch wieder bauend. Die Sehnsucht nach dem Bauen komme mit dem Alter, meint er. Und zum Bauen gehöre für ihn das Modell. Erst dessen Dreidimensionalität ermögliche eine physische Unmittelbarkeit und die Überprüfung des Entwurfs. Deshalb hat der Akt des Modellbauens in seinem Atelier einen besonderen Stellenwert, das Modell fast den Charakter eines Kultobjekts als Schlüssel zum Gebauten.

Bauen wird Abraham wieder: ein eigenes Haus an der Pazifikküste Mexikos. Es wird dies ein Haus zum Arbeiten, zum Zeichnen nach seinem Abschied von der Cooper Union, denn um Architektur zu machen, braucht er nur ein Blatt Papier, einen Bleistift und die Sehnsucht.

Am Ende steht ein Architekt, der - wie so viele vor ihm - seinem Geburtsland den Rücken gekehrt hat. Eines hat sich
geändert: Die beiden wurden wiedervereint an einem Ort, der die österreichische Identität nachhaltig beeinflussen wird. Die amerikanische Architektur-legende Louis Sullivan sprach davon, daß hohe Gebäude „über sich hinaussteigen“ sollten - eine Ambition, die von diesem kleinen Turm mit Leichtigkeit erfüllt wird.

Das Austrian Cultural Forum wird am 18. April mit der „Long Night Of Contemporary Music“ und einer Installation des Künstlerduos Granular Synthesis eröffnet. Ab 22. Mai folgt die Ausstellung „TransModernity: Austrian Architects“ (Jarbornegg & Pálffy, Henke/ Schreieck und Riegler/Riewe).

Spectrum, Sa., 2002.04.06



verknüpfte Bauwerke
Österreichisches Kulturinstitut

03. Oktober 2000Andrea Nussbaum
ORF.at

After the City

Die Buchrezensionen von Andrea Nussbaum und Gerald A. Rödler erschienen in der Originalfassung in Architektur aktuell.

Die Buchrezensionen von Andrea Nussbaum und Gerald A. Rödler erschienen in der Originalfassung in Architektur aktuell.

Was kommt nach der Stadt? - Die Vorstadt-Metropole, meint Lars Lerup.

Das stimmt zumindest aus amerikanischer Sicht (als Lerup das Buch schrieb, lebte er in Houston) und so ist auch die Fotoserie „Metropolis Portfolio“ zu verstehen: Bilder mehrspuriger Superhighways, Fabrikschlote aus denen Miasma aufsteigt, das typische Bild einer riesigen Shopping Mall=City („Born to shop“) oder das Foto gigantischer Hochspannungsleitungen, unter denen eine vereinsamte Kuh weidet.

Apocalypse now? Lars Lerup geht es nicht darum, die postindustriellen Entwicklungen zu verdammen und das Ende jeglicher sozio-kultureller Gemeinschaften an die Wand zu malen, sondern er schließt mit kühler Gelassenheit an den philosophischen Diskurs der Moderne an, zitiert Walter Benjamin, ruft uns Architekten wie Konrad Frey in Erinnerung, der die „Wüste“ außerhalb von Los Angeles kultivierte, oder spielt mit kryptischen Sätzen von Jorge Louis Borges.

Und was die Misere der Auto-Vorstadt-Metropole betrifft, dazu nur ein kleiner Verweis auf den Übervater der Moderne: Le Corbusier habe schließlich den Grundriss der Villa Savoye so konzipiert, dass man bequem mit dem Auto vorfahren kann. Lars Lerups Abhandlung über das, was nach der Stadt kommt, ist eine wortgewaltige Auseinandersetzung mit dem Thema, gespickt mit hochkarätigen Zitaten und überraschenden Gedankensprüngen.

Was kommt nach der Stadt? - Die Vorstadt-Metropole, meint Lars Lerup.

Das stimmt zumindest aus amerikanischer Sicht (als Lerup das Buch schrieb, lebte er in Houston) und so ist auch die Fotoserie „Metropolis Portfolio“ zu verstehen: Bilder mehrspuriger Superhighways, Fabrikschlote aus denen Miasma aufsteigt, das typische Bild einer riesigen Shopping Mall=City („Born to shop“) oder das Foto gigantischer Hochspannungsleitungen, unter denen eine vereinsamte Kuh weidet.

Apocalypse now? Lars Lerup geht es nicht darum, die postindustriellen Entwicklungen zu verdammen und das Ende jeglicher sozio-kultureller Gemeinschaften an die Wand zu malen, sondern er schließt mit kühler Gelassenheit an den philosophischen Diskurs der Moderne an, zitiert Walter Benjamin, ruft uns Architekten wie Konrad Frey in Erinnerung, der die „Wüste“ außerhalb von Los Angeles kultivierte, oder spielt mit kryptischen Sätzen von Jorge Louis Borges.

Und was die Misere der Auto-Vorstadt-Metropole betrifft, dazu nur ein kleiner Verweis auf den Übervater der Moderne: Le Corbusier habe schließlich den Grundriss der Villa Savoye so konzipiert, dass man bequem mit dem Auto vorfahren kann. Lars Lerups Abhandlung über das, was nach der Stadt kommt, ist eine wortgewaltige Auseinandersetzung mit dem Thema, gespickt mit hochkarätigen Zitaten und überraschenden Gedankensprüngen.

„Wenn es in der Oxford Street regnet, ist die Architektur nicht wichtiger als der Regen.“ Archigram haben es auf den Punkt gebracht: die Stadt ist mehr als die Summe ihrer Architektur.

„Breathing Cities“ nennt Nick Barley seine Sammlung archäologischer Anthologien, die alle Eines zeigen: nämlich wie Städte in der „Realität“ funktionieren, nicht in der Computersimulation von Städteplanern: Das Urbane, aufgefüllt mit Leben, mit realen Menschen; Städte, die „benützt“ werden, sich permanent verändern und „atmen“.

Nick Barley schickt die Leser auf eine Reise durch Honolulu, London, New York, Tokio, Yokohama, Paris, Venedig, Berlin und Euralille. Gezeigt werden Gebäude, Verkehrsströme, Menschen, Graffiti, Distributionswege, Baustellen und Trash, denn der moderne Mensch produziert Berge von Abfällen. Die Müllhalde „Fresh Kills Landfill“ auf Staten Island in New York, die größte der Welt, ist mit freiem Auge vom Weltraum aus sichtbar. (Trotz allem ist Marshall MacLuhans Vorhersage vor mehr als 30 Jahren, dass New York bald entvölkert sein wird, nicht eingetreten).

Ein Buch, das dort anfängt, wo der Diskurs in der Architektur in der Regel abbricht, dokumentiert von Künstlern, Fotografen und Autoren, mit Projekten und Gebautem von Shigeru Ban, Foreign Office architects, Zaha Hadid, Kas Oosterhuis und S333 Studio.


Mosaik der Geniedichte

Gerfried Sperl, architekturbegeisterter Chefredakteur des STANDARD, hat seit 1996 über 30 Exponenten der österreichischen Architekturszene in ihrer Arbeitsumgebung interviewt und die Gespräche nun in einer beredten Anthologie herausgegeben, die die vergleichsweise hohe „Geniedichte“ auf kleinem österreichischem Raum markant nachrechnen lässt.

Die faszinierende Pluralität der Auffassungen und Neigungen positioniert die Gesprächspartner als Gruppe origineller Individualisten, denen auch in der Rasterfahndungstabelle ihrer architektonischen Beziehungen am Ende des Bändchens keine einheitliche Klassifikation aufgezwungen werden kann. Ohne Vollständigkeitsanspruch liest sich die Liste der hier zu mehr als nur ihrem Werk Auskunft Gebenden wie ein „Who is Who“: Holzbauer, Kada, Rainer, Hollein, Domenig, Krischanitz, Prix, Podrecca, Tesar, Czech, Giencke, Eichinger oder Knechtl, Lainer, Ullmann, Frey, Auböck, Baumschlager/Eberle...

Verlag und Herausgeber haben versprochen, demnächst nicht nur fehlende Größen nachzureichen, sondern auch die Jungen und Aufstrebenden zu berücksichtigen. Wir dürfen uns hier auf gediegene Fortsetzung authentischer Kurzporträts und Stimmungsaufnahmen freuen, die ein hoch interessantes Mosaik österreichischer Kultur legen.


[Lars Lerup
After the City
200 Seiten, ca. 50 s/w-Abbildungen,
Text: Englisch
MIT Press
ATS 499,-]

[Nick Barley
Breathing Cities
The Architecture of Movement
ca. 128 Seiten, Text: Englisch
Birkhäuser - Verlag für Architektur
ATS 424,-]

[Österreichische Architekten
im Gespräch mit Gerfried Sperl
132 Seiten
Verlag Anton Pustet
ATS 280,-]

ORF.at, Di., 2000.10.03

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