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26. Oktober 2008Walter Zschokke
Spectrum

Stringenz und Eleganz

Man sieht den Kräfteverlauf, spürt den Lasten nach, staunt über die Eleganz der Unterseiten: die Brücken des Bauingenieurs Alfred Pauser.

Man sieht den Kräfteverlauf, spürt den Lasten nach, staunt über die Eleganz der Unterseiten: die Brücken des Bauingenieurs Alfred Pauser.

Was haben die Brücken am Knoten Nussdorf, die Gürtelbrücke, die U6-Brücke, der Siemens-Nixdorf-Steg, die Rossauerbrücke, die Salztorbrücke, der Erdberger Steg, die Erdberger Brücke, die Schrägseilbrücke, alle über den Donaukanal, gemeinsam? Sie sind Entwürfe des Bauingenieurs Alfred Pauser; der erste noch im Ingenieurbüro Dr. Wycital, die späteren in eigener Verantwortung. Es sind Brücken mit unterschiedlichen Tragwerken, alle in ihrer Art durchaus elegant und formschön. Zahlreiche weitere Brücken aus dem Büro Pauser befinden sich auf Wiener Stadtgebiet, weitere über ganz Österreich verteilt. Sie belegen die Kompetenz ihres Entwerfers und seiner Büropartner.

Es mag zwar mittlerweile nicht mehr allgemein verbreiteter Irrglaube sein, dass der Bauingenieur nur genau zu rechnen brauche und sich die Form des Bauwerks quasi automatisch ergebe. Nicht zuletzt Le Corbusier verbreitete in seinem „Vers une achitecture“ diesen Unsinn. Nein, der Bauingenieur entwirft auf der Basis seiner Kompetenz und seiner Erfahrung ein Brückentragwerk, ein Silo, einen Turm, die er dann exakt berechnet. Denn ins Leere lässt sich nicht rechnen. Das heißt nichts anderes, als dass die Arbeit des Bauingenieurs sehr wohl kreativ ist, auch wenn das Feld möglicher Lösungen nicht unbegrenzt ist. Allerdings ist die Ästhetik von Ingenieurbauwerken nicht nur eine optische, sondern die innere Struktur, das Tragkonzept spielen eine ebenso wichtige Rolle. Die ästhetischen Vorstellungen unterscheiden sich daher von jenen, wie sie in der Architektur verbreitet sind.

Glücklicherweise verfügte Alfred Pauser, abgesehen von seiner enormen Schaffenskraft, über gestalterische Fähigkeiten, die er dank seiner konstruktiven Kenntnisse und Erfahrungen optimal einsetzen konnte. Seine Brücken weisen plastische Qualitäten auf und sind von unten sowohl interessant anzuschauen als auch konstruktiv nachvollziehbar und ordentlich aufgeräumt. Einbauten und Leitungen werden nicht dem Zufall überlassen. Dies lässt sie besonders im urbanen Raum als Teile der Stadtlandschaft nicht bloß für die Benützer, sondern ebenso für Flaneure attraktiv werden.

Beginnen wir mit der Rossauer Brücke, 1981–83. Die ingenieurmäßige Beschreibung liest sich, trotz der engen Randbedingungen, wie wenn es so sein müsste. Aber auf diese Stringenz muss man als entwerfender Bauingenieur zuerst kommen. Ein Rahmenträger von Kai zu Kai besteht in den Randfeldern aus massiven Tischen, die je auf vierfach gespreizten Streben auflagern, die ihrerseits in ein kräftiges Punktlager münden. Das Mittelfeld aus vorgefertigten Spannbetonträgern ist biegesteif in den Rahmen integriert. Für Einbauten und Leitungen ist in der Mittelachse eine entsprechende Aussparung vorgesehen. Das Tragwerk ist logisch, gewiss ökonomisch, aber es weist für den technisch kaum gebildeten Betrachter ebenso optische Qualitäten auf. Man sieht den Kräfteverlauf, spürt den Lasten nach, staunt über die Eleganz der Streben und die Größe der Punktlager. Insbesondere die Unterseite zeugt von plastischer Kraft, welche die nächtliche Effektbeleuchtung durchaus rechtfertigt.

Die Brücken im Knoten Nussdorf, 1974–83, mussten auf sehr engem Raum unter den für Schnellstraßen strengeren Trassierungsrichtlinien geplant werden. Aus meiner Sicht weisen die weiten Räume unter der Hochstraße eine spezielle Qualität auf. Wenn man die Pfeiler und Brückenträger als Teil der Stadtlandschaft an dieser dichten Stelle der Peripherie zu sehen bereit ist, ergibt sich plötzlich eine neue, spannungsvolle Raumstimmung. Auch hier ist der eigentlichen Sichtseite, der Unterseite, einiges an Sorgfalt beigemessen. Man merkt, es handelt sich nicht nur um einen beliebigen Zweckbau, vielmehr war von Anfang an die Ahnung da, dass der Raum unter der Brücke den Menschen als Weg und sogar dem Aufenthalt dienen würde. Gewiss sind diese Räume offen und fließend, aber das zeichnet die Moderne aus. Und ihre Aneignung kann durchaus kultivierter erfolgen als durch Hinterlassung individueller Markierungen.

Ein Bauwerk, das wegen der zunehmenden Verkehrsdichte bereits ersetzt werden musste, ist die erste Praterhochstraße von 1970. Die eleganten X-Stützen und auch die Fahrbahnkonstruktion bestanden sämtlich aus vorgefertigten Betonelementen. In der Auenlandschaft fügte sich die Brücke mit ihrer Leichtigkeit gut ein und fiel dem sensiblen Auge immer wieder positiv auf.

Eine Besonderheit ist die Erdberger Brücke im Zuge der A 23, 1969–71. Diese in ihrer Form erstmalige Schalenkonstruktion bildet im Stadtgefüge einen Akzent, der den Rang des Verkehrswegs als Autobahn und der Brückenstelle interpretiert. Als Bauwerk schafft die Brücke einen unverwechselbaren Ort in der Stadt, der nicht vordringlich den Benutzern, sondern Spaziergängern und Radfahrern als Merkpunkt dient.

Ein Kabinettstück der Vorspanntechnik ist der Franz-von-Sales-Steg, 1967–68, an der Osttangente. Die äußerst elegante Konstruktion stützt sich auf einen Pfeiler, um den sich der Wendel des Gehwegs herumschwingt. Das andere, höhere Widerlager wird vom ausgreifenden, kontinuierlich in der Stärke abnehmenden Brückenarm kaum mehr belastet. Es ist klar, dass derart anspruchsvolle Konstruktionen bei einem Fußgängersteg eher möglich sind. Dennoch zeigt sich an diesem Beispiel sowohl der kreative Freiraum, den sich der begabte Bauingenieur aufzuspannen vermag, als auch die plastische Kraft, die dem Objekt innewohnt.

Alfred Pauser stammt aus dem niederösterreichischen Gmünd, wo er 1930 geboren wurde; übrigens zeitgleich mit der Gruppe der Holzmeister-Schüler Wilhelm Holzbauer, Friedrich Kurrent und Friedrich Achleitner und anderen, die später Einfluss auf die Wiener Architektur nahmen. Mit Wilhelm Holzbauer hat Alfred Pauser oft zusammengearbeitet. Er studierte ab 1948 an der Technischen Hochschule Wien, war schon bald als Werkstudent im Ingenieurbüro von Dr. Wycital tätig und wurde 1962 Partner. Früh hatte er die Chance, mit dem großen Bauingenieur Fritz Leonhardt zusammenzuarbeiten, der mit dem Bau der Schwedenbrücke befasst war. Dies öffnete ihm nicht nur den internationalen fachlichen Austausch, sondern führte zu einer lebenslangen Freundschaft. 1964 gründete er sein eigenes Ingenieurbüro, das er ab 1979 mit den langjährigen Mitarbeitern Karl Beschorner, Peter Biberschick und Hans Klenovec in Partnerschaft führte. 1982 wurde er als Ordinarius für Hochbau an die Technische Universität Wien berufen, wo er sich nicht zuletzt für eine Verbesserung der Beziehung von Architektur- und Bauingenieurstudenten einsetzte. 1997 emeritiert, zog er sich 2002 auch aus dem Büroverbund zurück. Zahlreiche allgemein verständliche Publikationen zum Brückenbau zeugen von seinem breiten Wissen. Die erstmalige Verleihung des Wiener Ingenieurpreises ist neben den zahlreichen Auszeichnungen für sein Werk ein gewichtiger Impuls für den Ingenieurberuf ganz allgemein.

Spectrum, So., 2008.10.26



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Pauser Wolfgang

16. September 2008Walter Zschokke
zuschnitt

Nachgebohrt

Anlässlich der großen Holzausstellung »Holzzeit« 1995 im steirischen Murau kam buchstäblich in letzter Sekunde noch ein Pavillon aus einem damals gänzlich...

Anlässlich der großen Holzausstellung »Holzzeit« 1995 im steirischen Murau kam buchstäblich in letzter Sekunde noch ein Pavillon aus einem damals gänzlich...

Anlässlich der großen Holzausstellung »Holzzeit« 1995 im steirischen Murau kam buchstäblich in letzter Sekunde noch ein Pavillon aus einem damals gänzlich neuen Produkt dazu: aus Brettsperrholz, BSP. Der Eindruck war durchaus positiv, doch gelang es dem neuartigen Angebot im Kontext der thematisch breit angelegten Ausstellung nicht, sich schon in den Köpfen der Fachleute zu verankern. Heute, mehr als ein Jahrzehnt später und unter veränderten klimatischen und holzwirtschaftlichen Bedingungen, ist das Material durchaus bekannt. Erfahrene Fachleute räumen ihm in einer gezielten Befragung gute Chancen für die Zukunft ein. Die Architekten Hubert Rieß, Johannes Kaufmann und Gerhard Mitterberger sowie der Bauingenieur Gordian Kley von merz kley partner antworteten auf der Basis ihrer mehrjährigen Erfahrung mit dem Produkt.

Die Anwendungsmöglichkeiten von BSP sind sehr breit. Wenn das Gewicht entscheidend ist, etwa bei schlechtem Baugrund oder bei Aufstockungen, ist es unabhängig von der Nutzung ein Mittel der Wahl (Rieß). Die bauphysikalischen Kennwerte und die klare Trennung Rohbau / Ausbau erlauben eine einfache und sichere Planung (Rieß).

»BSP eignet sich besonders gut im mehrgeschossigen Wohnungs- und Verwaltungsbau, weil es hoch tragfähig ist und gute bauphysikalische und brandtechnische Werte hat.« (Kley)

Beim Konstruieren liegen die Vorteile in der Größe der Elemente. Es sind einfache, puristische Konstruktionen möglich (Kley) und nicht jeder Akteur muss ein »Akrobat« sein, um damit umzugehen (Kaufmann). Im Vordergrund steht natürlich eine Bauweise auf der Basis eines großmaschigen Konstruktionsrasters, damit Verschnitt und Kosten gespart werden. Bei kleineren Bauwerken, die formal exquisiter sein sollen, lässt sich jedoch sehr wohl eine Konfektion einzelner Teile auf Maß denken, die, kraftschlüssig zusammengefügt, interessante Formbildungen erlauben.

»Mit der zur Verfügung stehenden Abbundsoftware ist ‚Maßkonfektion’ selbstverständlich möglich.« (Rieß)

In gewissen Grenzen lässt sich mit Platten und Scheiben räumlich konstruieren, auch wenn der Einsatz von punktgestützten Platten nur schwer möglich ist. Vor allem die kraftschlüssige Ausbildung der Platten- oder Scheibenfugen ist anspruchsvoll und erfordert entsprechende Verbindungsmittel. Gordian Kley sieht daher eher eine prinzipielle Verwandtschaft mit dem Ziegelbau als mit dem Stahlbeton.

»Bauen mit BSP ist wie Modellbau mit Karton: Wände ausschneiden, zusammenkleben und fertig.« (Mitterberger)

Man muss sich auf die einfache Konstruktionsweise einlassen und ihre Gesetze, die immer noch Holzbauregeln sind (Kaufmann), befolgen, dann wird der Bau auch ökonomisch sinnvoll. Schwinden und Quellen sind durch die Absperrung eingeschränkt, die Platten haben aber trotzdem eine stärkere und eine schwächere Richtung, je nachdem, wie die äußersten Schichten verlaufen, was beim Konstruieren berücksichtigt sein will (Kley).

Bauen mit BSP ist dem klassischen Holzbau näher als dem monolithischen Betonbau.« (Kaufmann)

Architektonisch ist BSP durchaus attraktiv. Die einfache, großflächige Konstruktion fordert das plastische und das konzeptionelle Denken gleichermaßen heraus. Da BSP auf Sicht verwendet werden kann, besonders im Innenraum, und es glatte Flächen bietet, die den heutigen Bedürfnissen entsprechen, wirkt es großzügiger und nicht kleinteilig zusammengesetzt. Das »Gemachtsein« tritt hinter dem Raumkonzept zurück. Aufgrund der Elementbauweise ist das Erscheinungsbild »flächiger« geworden (Kaufmann). Hubert Rieß sieht einen implizit ästhetischen Aspekt für den planenden Architekten: Die Planung mit den großen Plattenelementen zwinge zur Disziplin, wobei dadurch das Interesse auch auf den Prozess – wie gebaut wird – gelenkt werde. Ein Aspekt, der heute oft gegenüber der Formfindung in den Hintergrund gerät (Rieß). Hier wird eine integrale Schönheit des Bauens angesprochen, die im aktuellen Oberflächenwahn unterzugehen droht, vom Architekten aber eine geistige Nähe zur Baustelle verlangt.

»Jeder Baustoff ist architekturfähig, aber ist es auch der Planer?« (Mitterberger)

Ohne Zweifel gibt es für das junge Konstruktionsmaterial noch einiges an Entwicklungsbedarf. Zuvorderst steht die Forderung nach einer Standardisierung der Produkte in dieselben Stärken bei allen Anbietern, z. B. in 10 mm Abstufungen, dann das Angebot von drei bis vier Qualitäten: nicht Sicht, Industrie, Sicht, Sicht+. Denn nur so sind herstellerneutrale Ausschreibungen möglich, ohne dass später womöglich umgeplant werden muss. Wenn die Elemente bereits im Werk abgebunden werden, gehen sie ohne Abladen, Abbinden in der Zimmerei und wieder Aufladen direkt auf die Baustelle, was technisch kein Problem darstellt. Kritisiert werden die langen Lieferzeiten, da nur auf Bestellung produziert wird. Auch hier brächte eine Standardisierung der Produkte gewisse Vorteile. Bemängelt wird zudem das Fehlen allgemeiner Qualitätsstandards, die manche Probleme – wie etwa ein hohes Schwindmaß einzelner Bretter – verhindern könnten.

»Eine auf Produktabmessungen abgestimmte Planung schränkt den Bieterkreis bei der Ausschreibung ein.« (Kley)

Vor allem im Bereich kraftschlüssiger Verbindungsmittel sind noch einige Entwicklungsfelder frei. Gewiss wird es aber auch von der Masse des insgesamt verbauten BSP abhängen, ob sich hier sekundäre Produktionsfelder öffnen, damit man von individuellen und damit meist teureren Detailkonstruktionen wegkommen kann.

Allgemein werden die Aussichten gut eingeschätzt, weil BSP schnell, trocken, leicht, sehr genau und schlanker als andere Konstruktionsweisen ist (Rieß). Doch geht es nun darum, das Produkt besser auf die Bedürfnisse des Marktes auszurichten. Zuvorderst sind das die Planer und die Zimmerer, denen keine unnötigen Schlaufen im Planungs- und Verarbeitungsprozess aufgeladen werden sollten, denn diese bedeuten Kosten für diese ersten Entscheidungsträger für oder gegen BSP. Die Kostenfrage für die Bauherrschaften stellt sich erst danach. Eine Standardisierung, damit produktneutral ausgeschrieben werden kann, wäre wohl ein wichtiger Schritt in diese Richtung.

zuschnitt, Di., 2008.09.16



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zuschnitt 31 Massiv über Kreuz

14. September 2008Walter Zschokke
Spectrum

Baldachin, gefaltet

Ein alter Bauernhof im Weinviertel, eine Handvoll Theater-begeisterter und jede Menge Engagement: wie sich das „Theater Westliches Weinviertel“ in Guntersdorf sein Haus erneuern ließ.

Ein alter Bauernhof im Weinviertel, eine Handvoll Theater-begeisterter und jede Menge Engagement: wie sich das „Theater Westliches Weinviertel“ in Guntersdorf sein Haus erneuern ließ.

Sanft wellig dehnt sich die Landschaft des Weinviertels gegen Norden. Die landwirtschaftliche Nutzung ist weiträumig: da ein Feldrain, dort eine Hecke. Ab und an führt die Straße durch ein Dorf. Schmale Streckhofparzellen reihen sich zu beiden Seiten. Ihre Grenzen verlaufen schräg zur Straßenachse, sodass vor den Kopfbauten der niedrigen Höfe eine dreieckige Fläche bleibt. Ein kleiner Vorplatz, der heute meist asphaltiert ist. Mag sein, dass es früher einmal kleine Gärten waren.

So auch in Guntersdorf, einer Ortschaft nördlich von Hollabrunn, am Weg nach Tschechien. Doch in der regelmäßigen Struktur gleichgerichteter Streckhöfe regte es sich. Vor über zwei Jahrzehnten hatte sich eine Gruppe Menschen zusammengefunden, die Theater spielen wollten und die dies mit zunehmender Professionalisierung und großem Engagement bis heute tun. Sie nannten das Unternehmen „Theater Westliches Weinviertel“ und fanden einen alten Streckhof an der Straße, dessen 70 Meter tiefes und knapp acht Meter breites Grundstück im vorderen Teil, im ehemaligen Wohnhaus, die Garderobe, einen Proberaum und Nebenräume aufnahm, während der Theaterraum im alten Heustadel eingerichtet wurde, der zuhinterst auf dem Grundstück, direkt an der hinteren Zufahrt steht. Zwischen den beiden Teilen lag ein schmaler Hof. Die meisten Arbeiten wurden in Eigenleistung von den Theaterbegeisterten erbracht.

Der Heustadel mit dem Theater war noch einigermaßen intakt, aber die vorderen Gebäude wurden immer baufälliger und waren für den wachsenden Betrieb längst zu eng geworden. Man entschloss sich daher, einen großen Schritt zu wagen, und lud im Jahr 2005 einige Architekten zu einem Wettbewerb ein. Es siegte die Architektengruppe „t-hoch-n“, zusammen mit dem lokalen Planer Franz Fellinger junior. „t-hoch-n“, das sind Gerhard Binder, Peter Wiesinger und Andreas Pichler. Ihren Bürositz haben sie in Wien. Aber sie vermochten sich offensichtlich am besten in die Typologie des Streckhofes einzufühlen. Nach längerem Planen und der Sicherung der Finanzierung konnte im Mai 2007 mit Bauen begonnen werden. Die Projektleitung lag bei Peter Wiesinger.

Die baufälligen Gebäude im vorderen Grundstücksbereich wurden abgebrochen und durch Neubauten ersetzt, die teils eingeschoßig, im Mittelteil zweigeschoßig, der Typologie des Streckhofs folgen und so in die Dorfstruktur gut integriert sind. Als neues Element, das Vorn und Hinten verbindet, legten die Architekten ein langes, schmales Dach am Vorderhaus vorbei durch den Hof und bis vor den Theaterstadel. Die weinrot gefärbten Bretter bilden nicht nur ein Dach, sondern eher eine Art Baldachin, der mal höher, mal etwas niedriger ist, und zur Straße hin signalhaft aufgefaltet wird, damit niemand das Theaterhaus übersieht. Selbstverständlich dient das Dach auch als Witterungsschutz, doch gelang es hier mit vergleichsweise einfachsten Mitteln, eine Festlichkeit zu erzeugen, die mit der Architektur des einfachen Vorderhauses allein nicht zu schaffen gewesen wäre.

Obwohl die leichte Konstruktion in Metall und Holz nicht sehr aufwendig ist, vermag die dematerialisierende Wirkung der Farbe einen nahezu textilen Charakter zu bewirken, womit das Baldachinartige gestärkt wird, jenes provisorisch Festliche, das an Wandertheater oder Zirkus erinnert, mithin an die Ursprünge des Theaters. Das Dach ist ein wesentliches, identitätstiftendes Element, das das Theaterambiente zur Außenwirkung bringt und die Teile zusammenhält. Ein verbliebenes Satteldach von einem Nebengebäude, dessen Wände entfernt wurden, schützt nun einen offenen Foyerbereich, der vor dem Stück und in allfälligen Pausen zum Aufenthalt einlädt.

Obwohl der Theaterraum im ehemaligen Heustadel samt dessen bestehender Holzkonstruktion nur geringfügig adaptiert wurde, verdient er Beachtung, denn er ist in dem Raum, dessen Grundriss ein Rechteck im Verhältnis 2:1 aufweist, quer organisiert, was zuerst einmal überrascht. Bei näherer Analyse zeigen sich neben dem Hauptvorteil auch eine Anzahl betrieblich günstiger Aspekte. Vor allem begeistert die Querorganisation, weil sie Akteure und Publikum in eine heftige Nahebeziehung bringt, die sich sonst kaum wo findet. Die Bühne ist breit, weist zwei Seitenteile auf, ist aber natürlich nicht sehr tief. Dafür drängen sich die fünf Sitzreihen dicht davor, zusätzliche Plätze bietet eine schmale Galerie. Für Hinterbänkler bleibt da kein Raum, denn auch der hinterste Platz liegt noch im direkten Wirkungsbereich der Aufführenden. Jeder Zuschauer wird damit Teil des Geschehens. Diese besondere Konstellation, die zum einen sicher den Zwängen der vorhandenen Struktur geschuldet war, ist jedoch zugleich ein genialer Befreiungsschlag im Sinne lebendigen Theaters.

Dass Zugänge zu Nebenräumen und das Tor zum Zufahrtsweg weiter genutzt werden können, sind positive Neben- und Sicherheitsaspekte. So sind die Kernelemente der Theatergebäude – trotz ihrer Einfachheit – von außerordentlicher Qualität, was ihren Nutzen für das Schauspiel betrifft.

Die entscheidenden Verbesserungen im Neubauteil erfassten die nun getrennten Garderoben, einen Aufenthaltsbereich, Werkstätten, eine kleine Probe- und Studiobühne und einen Wohnraum für Gastdramaturgen oder -regisseure. Alles ist sehr einfach gehalten, denn Geld war gewiss nicht im Überfluss da. Aber eben, wichtig ist, was man architektonisch daraus macht.

Seit Jahrzehnten profitiert das „Theater im Stadl“ vom Engagement der Schauspielerin und Regisseurin Franziska Wohlmann. Waren es zu Beginn Laien, die sich auf die Bühne wagten, hat sich der Charakter der Gruppe verändert. Manche werden in ihrer Begeisterung Schauspielunterricht genommen haben, um sich zu qualifizieren. Dazu gestoßen sind Schauspielerinnen und Schauspieler die dies nebenberuflich ausüben, weiters junge Leute in Schauspielausbildung sowie professionelle Darsteller.

Das Programm bietet zwei bis drei Eigenproduktionen pro Jahr, zahlreiche Gastspiele aus Kleinkunst, Kabarett und Kindertheater sowie Lesungen und Musikdarbietungen. Mit der einen oder anderen Eigenproduktion konnten sogar Gastspiele in Deutschland, Belgien, Frankreich und Tschechien bestritten werden. Man kann sich nun fragen, ob derartige Kulturleistungen für ein Dorf typisch seien. Gewiss hat es mit verbesserter Mobilität, mit der Urbanisierung des ländlichen Raumes zu tun, aber ohne die Initiative Einzelner und das Mitgehen Weiterer wäre kaum etwas entstanden. Wenn sich aber einmal eine Tradition herausgebildet und festgesetzt hat, dann ist so eine Bühne Teil der Dorf- und Regionalkultur und daher typisch – für das Dorf Guntersdorf. Der große Vorteil: Theater ist analog, es ist in der Nähe, man kann mitmachen, wenn es einen packt. Da gehört Architektur einfach dazu.

Spectrum, So., 2008.09.14



verknüpfte Bauwerke
TWW Theater Westliches Weinviertel

16. August 2008Walter Zschokke
Spectrum

Und weg ist das Dach

Das Oberammergauer Festspielhaus hat zusätzlich ein mobiles Dach bekommen. Was so leicht und elegant aussieht, ist ein Meisterstück der Ingenierbaukunst von Karlheinz Wagner.

Das Oberammergauer Festspielhaus hat zusätzlich ein mobiles Dach bekommen. Was so leicht und elegant aussieht, ist ein Meisterstück der Ingenierbaukunst von Karlheinz Wagner.

Zuvor noch ein Nachsatz zu meinem letzten Beitrag vom 21. Juni aus gegebenem Anlass: Derzeit schreiben und plappern alle die falsche Metapher vom „Vogelnest“ nach, wenn sie vom Olympia-Stadion in Peking berichten. Dabei erweist sich immer mehr, dass es aus der Ferne nicht wie ein bergendes Nest aussieht, sondern, wie jedes Kind bemerken würde, viel eher wie ein Käfig.

Doch wenden wir uns Naheliegenderem zu. Die Oberammergauer Passionsspiele finden seit 1634 statt, und zwar im Rhythmus von zehn Jahren. Etwa seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert steht mitten im Dorf ein 5000 Personen fassendes Festspielhaus mit Bogenträgern aus Stahlfachwerk in der Technologie damaliger Bahnhofshallen, verkleidet ursprünglich mit Holz. In jüngster Zeit erhielt das Gebäude eine äußere Schale aus Verputz, was ihm einen etwas monumentaleren Charakter verleiht.

Das Besondere an dem Haus ist, dass die Zuschauer im Trockenen sitzen, die Bühne mit Aufbauten jedoch unter freiem Himmel steht, damit der Blick aus dem Zuschauerraum einen markanten Berg erreicht, der zurSzenerie gehört. In den Jahren zwischen denPassionsspielen finden selbstverständlich ebenfalls Veranstaltungen unterschiedlichster Art statt, die jedoch weniger dem Wetterglück ausgesetzt sein sollten. Die Oberammergauer schrieben daher einen Wettbewerbunter Architekten und Bauingenieuren aus, um Entwürfe für ein mobiles Dach zu erhalten, das den Bühnenbereich über den Winterschützt, sowie gegen Regen, wenn dies bei Veranstaltungen erforderlich ist. Anlässlich der Passionsspiele jedoch muss das Dach so weit weggefahren werden können, dass es von keinem einzigen der 5000 Zuschauerplätze aus noch gesehen werden kann.

Der Wiener Bauingenieur Karlheinz Wagner, zusammen mit Architekt Christian Jabornegg von Jabornegg und Pálffy, gewann das anspruchsvolle Verfahren mit einem Dach, das entlang von zwei gekrümmten Trägern mit sich kreuzenden Erzeugenden eine hyperbolisch-paraboloide Form gewinnt. So ein Gebilde ist zwar als Idee schnell hingezeichnet, aber Konstruktion und Errichtung sind extrem anspruchsvoll. Und dann soll das Ganze noch auf sich hochkrümmenden Schienen in die eine Endposition gebracht oder wieder zurück in die hintere Endposition aus den Augen (der Zuschauer) verschwinden.

Die tragenden Schienen sind als gebogene Kastenträger ausgebildet, der Torsionssteifigkeit wegen. Das ließ sich nicht einfach so walzen, sondern musste zusammengeschweißt werden. Sie dienen als Widerlager der Dachkonstruktion, die immerhin 43 Meter Spannweite hat. In der oberen, auch für den Winter vorgesehenen Position kommen enorme Schneelasten dazu, die in speziellen Konstruktionen abgefangen werden, seitlich in den Bühnenaufbauten versteckt. Die Dachkonstruktion selbst wird in diesem Fall zusätzlich verspannt. Die Erzeugenden der Großform des Daches verlaufen als Stahlrohre kreuzweise diagonal von einem zum anderen Bogen, ein großmaschiges, gekrümmtes Netz bildend, das dem Dach seine Eleganz verleiht.

Die viereckigen Fächer zwischen den Rohren sind mit Stahlkabeln diagonal verspannt. Damit gewinnt die Konstruktion ihre Steifigkeit. Die Kräfte werden jeweils in einem komplexen Knoten konzentriert, den Karlheinz Wagner eigens entwickelt hat. Er ist so konstruiert, dass ein Knotentyp sämtliche geometrisch erforderlichen Lagen einnehmen kann und auch die Diagonalkabel entsprechend darin verankert sind und gespannt werden können. Wenn das Dach sich in der oberen Position befindet, schließt es mit einem pneumatischen Wulst dicht an das Gebäude an. Ist es in der unteren Position, bildet es ein ausladend schirmendes Vordach, das die Rückseite des Gebäudes stark aufwertet. In Oberammergau denkt man sogar daran, kleinere Veranstaltungen an der nun attraktiv gewordenen Rückseite abzuhalten.

Die Dachmembran besteht aus Bahnen eines feinen Edelstahlgewebes, die sich so weit verformen können, dass sie dem dreidimensionalen Flächenverlauf folgen können. Sie werden mit Stahlfedern in ihre Position gespannt. Im Winter müssen sie die Schneelast übernehmen können, und bei Regen dienen sie als Zerstäuber, damit die akustische Störung der Veranstaltungen minimiert wird. Das Wasser selbst wird von einer darunter gespannten Folie aufgefangen und zu den vier Fußpunkten geleitet und über Speier abgeführt.

Was auf den ersten Blick einfach aussieht, erweist sich bei näherer Betrachtung als extrem komplex und erforderte neben viel Nachdenken konkrete Versuche. Der Aufgabenbereich erfasste auch den des Maschinenbaus, nicht bloß der Tragwerksplanung und der Statik, etwas, wovon Architekten nur noch entfernt eine Ahnung haben.

Gewiss ist nicht jede Aufgabe für einen Bauingenieur derart komplex, aber dieses knapp 35 Tonnen schwere Dach gab zahlreiche Knacknüsse zu lösen, die auch einem sehr guten Bauingenieur des Nachts schlaflose Phasen bereiten können. Und am Ende schaut dann das Dach leicht und elegant aus, sodass man den geistigen Aufwand, der dahintersteckt, kaum mehr ahnt. Damit gelangen wir in den Spitzenbereich der Ingenieurbaukunst: Die Konstruktionen tragen und funktionieren mit einer Leichtigkeit, dass man die wirkenden Kräfte und schon gar die potenziell möglichen wie Wind und Schnee nicht einmal vermutet. So wird Ingenieurwerk und Ingenieurbaukunst zugleich zu Architektur. Dabei liegt die Ästhetik im Tragsystem, in den konstruktiven Details und in zahlreichen technischen Lösungen, die für das Gelingen erforderlich waren. Dank einem intensiven gestalterischen Perfektionsprozess ist aber das Bild, das sich dem Laien bietet, leicht, attraktiv und einprägsam. Gewiss ist nicht jeder Bauingenieur in diesen Dingen gleich begabt, doch der Einzelkämpfer Karlheinz Wagner offensichtlich schon.

An diesem Beispiel zeigt sich, wie spannend der Ingenieurberuf sein kann, wenn man sich die entsprechenden Herausforderungen sucht. Dass der Weg dorthin mit Mathematik dick gepflastert ist, sollte junge Menschen nicht abschrecken. Sie dient der Lösung von Problemen praktischer Natur, von denen die meisten heute nicht leiseste Ahnung mehr haben. Doch ohne die Ingenieure und ihre Leistungen wäre die Menschheit arm dran und vor allem ihre Zukunft in keinster Weise gesichert, da ein Großteil der anstehenden Probleme ohne technologische Weiterentwicklung nicht gelöst werden kann. Sparsamkeit hin oder her.

Spectrum, Sa., 2008.08.16

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Bauwerke

Artikel 12

07. Februar 2009Otto Kapfinger
Spectrum

Zur Sache zuallererst

Zum Tod des Architekturpublizisten Walter Zschokke

Zum Tod des Architekturpublizisten Walter Zschokke

Er hat die Architekturpublizistik Österreichs in den vergangenen Jahrzehnten entscheidend mitgeprägt. Seit 1988 schrieb der gebürtige Schweizer, Jahrgang 1948, Hunderte einschlägige Essays im „Spectrum“ – präzise, leidenschaftliche Reflexionen am Puls der regionalen und internationalen Entwicklung. Zschokkes Engagement für gestalterische Qualität in allen Maßstäben produzierte sich nie in lauter Polemik oder in brillant gedrechselten, ästhetischen Urteilen. Unbeirrt von Zeitmoden, kultivierte er die sachbezogene, vielschichtig ausgelotete Beschreibung des Faktischen als Grundlage jeder Diagnose, jeder kritischen Äußerung, jeder negativen oder positiven Wertung. Dazu befähigten ihn ein exzellentes technisch-konstruktives Wissen und Gespür, die breite Erfahrung auch als praktizierender Architekt, die kulturwissenschaftliche Schulung an der besten technischen Hochschule Europas und nicht zuletzt sein handwerkliches Know-how, speziell im Umgang mit Holz.

Aufgewachsen im Kanton Aargau, kam Zschokke nach dem Studium an der ETH Zürich, nach acht Jahren Assistenz bei Adolf Max Vogt und mit einem von André Corboz und Jacques Gubler approbierten technischen Doktorat 1985 nach Wien; hier führte er ab 1989 mit Walter Hans Michl ein Atelier, war Mitautor eines Wohn- und Bürohauses in Wien-Neubau, des Kirchenzentrums im Stadtteil Wien-Leberberg und großer städtebaulicher Wettbewerbe; 1992 gestaltete er mit Margherita Spiluttini die Fotoschau „Neue Häuser“, welche die damals junge Szene Österreichs auf vielen Stationen bis nach New York und Mexiko präsentierte; anlässlich des EU-Präsidentschaft Österreichs 1998 war er Mitautor und -gestalter der multimedialen Wanderausstellung „Architekturszene Österreich“.

Neben der Arbeit für das „Spectrum“ redigierte Zschokke etliche Architektenmonografien, war Mitbegründer von „Orte – Architekturnetzwerk Niederösterreich“, gefragter Juror und Gutachter, Vortragender. All dies wurde offiziell mit Preisen für Architektur und Publizistik von den Ländern Wien und Niederösterreich gewürdigt; zuletzt wirkte er als Juror/Mediator beim Um- und Zubau der Wiener Arbeiterkammer.

Sein bestes Buch ist die in der Schweiz verlegte Dokumentation über die hochalpine „Sustenpassstraße“, ein Standardwerk internationalen Formats an der Schnittstelle von Verkehrs- und Landschaftsplanung, von Ingenieurwesen und Architektur, von Wissenschaft und Ästhetik. Sein letzter Auftritt in der Öffentlichkeit war in Wien die Vorstellung des mit Walter Bohatsch betreuten nachgelassenen Buches „Geschautes“ von Ernst Hiesmayr.

Walter Zschokke konnte wie kein anderer konstruktive Stärken und Schwächen von Tragstrukturen auf Anhieb analysieren oder gebaute Raumereignisse in nachvollziehbare Beschreibungen gießen, vermochte aber auch aus der Betrachtung einer windschiefen Vorgartenmauer oder einer hölzernen Trinkschale ein ganzes Panorama alltagskultureller Kausalitäten und Schönheiten zu erzählen. Am 5. Februar war sein jahrelanger Kampf gegen den Krebs zu Ende, er starb im AKH, umsorgt von seiner Frau und den beiden erwachsenen Kindern. Er fehlt uns.

Presseschau 12

26. Oktober 2008Walter Zschokke
Spectrum

Stringenz und Eleganz

Man sieht den Kräfteverlauf, spürt den Lasten nach, staunt über die Eleganz der Unterseiten: die Brücken des Bauingenieurs Alfred Pauser.

Man sieht den Kräfteverlauf, spürt den Lasten nach, staunt über die Eleganz der Unterseiten: die Brücken des Bauingenieurs Alfred Pauser.

Was haben die Brücken am Knoten Nussdorf, die Gürtelbrücke, die U6-Brücke, der Siemens-Nixdorf-Steg, die Rossauerbrücke, die Salztorbrücke, der Erdberger Steg, die Erdberger Brücke, die Schrägseilbrücke, alle über den Donaukanal, gemeinsam? Sie sind Entwürfe des Bauingenieurs Alfred Pauser; der erste noch im Ingenieurbüro Dr. Wycital, die späteren in eigener Verantwortung. Es sind Brücken mit unterschiedlichen Tragwerken, alle in ihrer Art durchaus elegant und formschön. Zahlreiche weitere Brücken aus dem Büro Pauser befinden sich auf Wiener Stadtgebiet, weitere über ganz Österreich verteilt. Sie belegen die Kompetenz ihres Entwerfers und seiner Büropartner.

Es mag zwar mittlerweile nicht mehr allgemein verbreiteter Irrglaube sein, dass der Bauingenieur nur genau zu rechnen brauche und sich die Form des Bauwerks quasi automatisch ergebe. Nicht zuletzt Le Corbusier verbreitete in seinem „Vers une achitecture“ diesen Unsinn. Nein, der Bauingenieur entwirft auf der Basis seiner Kompetenz und seiner Erfahrung ein Brückentragwerk, ein Silo, einen Turm, die er dann exakt berechnet. Denn ins Leere lässt sich nicht rechnen. Das heißt nichts anderes, als dass die Arbeit des Bauingenieurs sehr wohl kreativ ist, auch wenn das Feld möglicher Lösungen nicht unbegrenzt ist. Allerdings ist die Ästhetik von Ingenieurbauwerken nicht nur eine optische, sondern die innere Struktur, das Tragkonzept spielen eine ebenso wichtige Rolle. Die ästhetischen Vorstellungen unterscheiden sich daher von jenen, wie sie in der Architektur verbreitet sind.

Glücklicherweise verfügte Alfred Pauser, abgesehen von seiner enormen Schaffenskraft, über gestalterische Fähigkeiten, die er dank seiner konstruktiven Kenntnisse und Erfahrungen optimal einsetzen konnte. Seine Brücken weisen plastische Qualitäten auf und sind von unten sowohl interessant anzuschauen als auch konstruktiv nachvollziehbar und ordentlich aufgeräumt. Einbauten und Leitungen werden nicht dem Zufall überlassen. Dies lässt sie besonders im urbanen Raum als Teile der Stadtlandschaft nicht bloß für die Benützer, sondern ebenso für Flaneure attraktiv werden.

Beginnen wir mit der Rossauer Brücke, 1981–83. Die ingenieurmäßige Beschreibung liest sich, trotz der engen Randbedingungen, wie wenn es so sein müsste. Aber auf diese Stringenz muss man als entwerfender Bauingenieur zuerst kommen. Ein Rahmenträger von Kai zu Kai besteht in den Randfeldern aus massiven Tischen, die je auf vierfach gespreizten Streben auflagern, die ihrerseits in ein kräftiges Punktlager münden. Das Mittelfeld aus vorgefertigten Spannbetonträgern ist biegesteif in den Rahmen integriert. Für Einbauten und Leitungen ist in der Mittelachse eine entsprechende Aussparung vorgesehen. Das Tragwerk ist logisch, gewiss ökonomisch, aber es weist für den technisch kaum gebildeten Betrachter ebenso optische Qualitäten auf. Man sieht den Kräfteverlauf, spürt den Lasten nach, staunt über die Eleganz der Streben und die Größe der Punktlager. Insbesondere die Unterseite zeugt von plastischer Kraft, welche die nächtliche Effektbeleuchtung durchaus rechtfertigt.

Die Brücken im Knoten Nussdorf, 1974–83, mussten auf sehr engem Raum unter den für Schnellstraßen strengeren Trassierungsrichtlinien geplant werden. Aus meiner Sicht weisen die weiten Räume unter der Hochstraße eine spezielle Qualität auf. Wenn man die Pfeiler und Brückenträger als Teil der Stadtlandschaft an dieser dichten Stelle der Peripherie zu sehen bereit ist, ergibt sich plötzlich eine neue, spannungsvolle Raumstimmung. Auch hier ist der eigentlichen Sichtseite, der Unterseite, einiges an Sorgfalt beigemessen. Man merkt, es handelt sich nicht nur um einen beliebigen Zweckbau, vielmehr war von Anfang an die Ahnung da, dass der Raum unter der Brücke den Menschen als Weg und sogar dem Aufenthalt dienen würde. Gewiss sind diese Räume offen und fließend, aber das zeichnet die Moderne aus. Und ihre Aneignung kann durchaus kultivierter erfolgen als durch Hinterlassung individueller Markierungen.

Ein Bauwerk, das wegen der zunehmenden Verkehrsdichte bereits ersetzt werden musste, ist die erste Praterhochstraße von 1970. Die eleganten X-Stützen und auch die Fahrbahnkonstruktion bestanden sämtlich aus vorgefertigten Betonelementen. In der Auenlandschaft fügte sich die Brücke mit ihrer Leichtigkeit gut ein und fiel dem sensiblen Auge immer wieder positiv auf.

Eine Besonderheit ist die Erdberger Brücke im Zuge der A 23, 1969–71. Diese in ihrer Form erstmalige Schalenkonstruktion bildet im Stadtgefüge einen Akzent, der den Rang des Verkehrswegs als Autobahn und der Brückenstelle interpretiert. Als Bauwerk schafft die Brücke einen unverwechselbaren Ort in der Stadt, der nicht vordringlich den Benutzern, sondern Spaziergängern und Radfahrern als Merkpunkt dient.

Ein Kabinettstück der Vorspanntechnik ist der Franz-von-Sales-Steg, 1967–68, an der Osttangente. Die äußerst elegante Konstruktion stützt sich auf einen Pfeiler, um den sich der Wendel des Gehwegs herumschwingt. Das andere, höhere Widerlager wird vom ausgreifenden, kontinuierlich in der Stärke abnehmenden Brückenarm kaum mehr belastet. Es ist klar, dass derart anspruchsvolle Konstruktionen bei einem Fußgängersteg eher möglich sind. Dennoch zeigt sich an diesem Beispiel sowohl der kreative Freiraum, den sich der begabte Bauingenieur aufzuspannen vermag, als auch die plastische Kraft, die dem Objekt innewohnt.

Alfred Pauser stammt aus dem niederösterreichischen Gmünd, wo er 1930 geboren wurde; übrigens zeitgleich mit der Gruppe der Holzmeister-Schüler Wilhelm Holzbauer, Friedrich Kurrent und Friedrich Achleitner und anderen, die später Einfluss auf die Wiener Architektur nahmen. Mit Wilhelm Holzbauer hat Alfred Pauser oft zusammengearbeitet. Er studierte ab 1948 an der Technischen Hochschule Wien, war schon bald als Werkstudent im Ingenieurbüro von Dr. Wycital tätig und wurde 1962 Partner. Früh hatte er die Chance, mit dem großen Bauingenieur Fritz Leonhardt zusammenzuarbeiten, der mit dem Bau der Schwedenbrücke befasst war. Dies öffnete ihm nicht nur den internationalen fachlichen Austausch, sondern führte zu einer lebenslangen Freundschaft. 1964 gründete er sein eigenes Ingenieurbüro, das er ab 1979 mit den langjährigen Mitarbeitern Karl Beschorner, Peter Biberschick und Hans Klenovec in Partnerschaft führte. 1982 wurde er als Ordinarius für Hochbau an die Technische Universität Wien berufen, wo er sich nicht zuletzt für eine Verbesserung der Beziehung von Architektur- und Bauingenieurstudenten einsetzte. 1997 emeritiert, zog er sich 2002 auch aus dem Büroverbund zurück. Zahlreiche allgemein verständliche Publikationen zum Brückenbau zeugen von seinem breiten Wissen. Die erstmalige Verleihung des Wiener Ingenieurpreises ist neben den zahlreichen Auszeichnungen für sein Werk ein gewichtiger Impuls für den Ingenieurberuf ganz allgemein.

Spectrum, So., 2008.10.26



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16. September 2008Walter Zschokke
zuschnitt

Nachgebohrt

Anlässlich der großen Holzausstellung »Holzzeit« 1995 im steirischen Murau kam buchstäblich in letzter Sekunde noch ein Pavillon aus einem damals gänzlich...

Anlässlich der großen Holzausstellung »Holzzeit« 1995 im steirischen Murau kam buchstäblich in letzter Sekunde noch ein Pavillon aus einem damals gänzlich...

Anlässlich der großen Holzausstellung »Holzzeit« 1995 im steirischen Murau kam buchstäblich in letzter Sekunde noch ein Pavillon aus einem damals gänzlich neuen Produkt dazu: aus Brettsperrholz, BSP. Der Eindruck war durchaus positiv, doch gelang es dem neuartigen Angebot im Kontext der thematisch breit angelegten Ausstellung nicht, sich schon in den Köpfen der Fachleute zu verankern. Heute, mehr als ein Jahrzehnt später und unter veränderten klimatischen und holzwirtschaftlichen Bedingungen, ist das Material durchaus bekannt. Erfahrene Fachleute räumen ihm in einer gezielten Befragung gute Chancen für die Zukunft ein. Die Architekten Hubert Rieß, Johannes Kaufmann und Gerhard Mitterberger sowie der Bauingenieur Gordian Kley von merz kley partner antworteten auf der Basis ihrer mehrjährigen Erfahrung mit dem Produkt.

Die Anwendungsmöglichkeiten von BSP sind sehr breit. Wenn das Gewicht entscheidend ist, etwa bei schlechtem Baugrund oder bei Aufstockungen, ist es unabhängig von der Nutzung ein Mittel der Wahl (Rieß). Die bauphysikalischen Kennwerte und die klare Trennung Rohbau / Ausbau erlauben eine einfache und sichere Planung (Rieß).

»BSP eignet sich besonders gut im mehrgeschossigen Wohnungs- und Verwaltungsbau, weil es hoch tragfähig ist und gute bauphysikalische und brandtechnische Werte hat.« (Kley)

Beim Konstruieren liegen die Vorteile in der Größe der Elemente. Es sind einfache, puristische Konstruktionen möglich (Kley) und nicht jeder Akteur muss ein »Akrobat« sein, um damit umzugehen (Kaufmann). Im Vordergrund steht natürlich eine Bauweise auf der Basis eines großmaschigen Konstruktionsrasters, damit Verschnitt und Kosten gespart werden. Bei kleineren Bauwerken, die formal exquisiter sein sollen, lässt sich jedoch sehr wohl eine Konfektion einzelner Teile auf Maß denken, die, kraftschlüssig zusammengefügt, interessante Formbildungen erlauben.

»Mit der zur Verfügung stehenden Abbundsoftware ist ‚Maßkonfektion’ selbstverständlich möglich.« (Rieß)

In gewissen Grenzen lässt sich mit Platten und Scheiben räumlich konstruieren, auch wenn der Einsatz von punktgestützten Platten nur schwer möglich ist. Vor allem die kraftschlüssige Ausbildung der Platten- oder Scheibenfugen ist anspruchsvoll und erfordert entsprechende Verbindungsmittel. Gordian Kley sieht daher eher eine prinzipielle Verwandtschaft mit dem Ziegelbau als mit dem Stahlbeton.

»Bauen mit BSP ist wie Modellbau mit Karton: Wände ausschneiden, zusammenkleben und fertig.« (Mitterberger)

Man muss sich auf die einfache Konstruktionsweise einlassen und ihre Gesetze, die immer noch Holzbauregeln sind (Kaufmann), befolgen, dann wird der Bau auch ökonomisch sinnvoll. Schwinden und Quellen sind durch die Absperrung eingeschränkt, die Platten haben aber trotzdem eine stärkere und eine schwächere Richtung, je nachdem, wie die äußersten Schichten verlaufen, was beim Konstruieren berücksichtigt sein will (Kley).

Bauen mit BSP ist dem klassischen Holzbau näher als dem monolithischen Betonbau.« (Kaufmann)

Architektonisch ist BSP durchaus attraktiv. Die einfache, großflächige Konstruktion fordert das plastische und das konzeptionelle Denken gleichermaßen heraus. Da BSP auf Sicht verwendet werden kann, besonders im Innenraum, und es glatte Flächen bietet, die den heutigen Bedürfnissen entsprechen, wirkt es großzügiger und nicht kleinteilig zusammengesetzt. Das »Gemachtsein« tritt hinter dem Raumkonzept zurück. Aufgrund der Elementbauweise ist das Erscheinungsbild »flächiger« geworden (Kaufmann). Hubert Rieß sieht einen implizit ästhetischen Aspekt für den planenden Architekten: Die Planung mit den großen Plattenelementen zwinge zur Disziplin, wobei dadurch das Interesse auch auf den Prozess – wie gebaut wird – gelenkt werde. Ein Aspekt, der heute oft gegenüber der Formfindung in den Hintergrund gerät (Rieß). Hier wird eine integrale Schönheit des Bauens angesprochen, die im aktuellen Oberflächenwahn unterzugehen droht, vom Architekten aber eine geistige Nähe zur Baustelle verlangt.

»Jeder Baustoff ist architekturfähig, aber ist es auch der Planer?« (Mitterberger)

Ohne Zweifel gibt es für das junge Konstruktionsmaterial noch einiges an Entwicklungsbedarf. Zuvorderst steht die Forderung nach einer Standardisierung der Produkte in dieselben Stärken bei allen Anbietern, z. B. in 10 mm Abstufungen, dann das Angebot von drei bis vier Qualitäten: nicht Sicht, Industrie, Sicht, Sicht+. Denn nur so sind herstellerneutrale Ausschreibungen möglich, ohne dass später womöglich umgeplant werden muss. Wenn die Elemente bereits im Werk abgebunden werden, gehen sie ohne Abladen, Abbinden in der Zimmerei und wieder Aufladen direkt auf die Baustelle, was technisch kein Problem darstellt. Kritisiert werden die langen Lieferzeiten, da nur auf Bestellung produziert wird. Auch hier brächte eine Standardisierung der Produkte gewisse Vorteile. Bemängelt wird zudem das Fehlen allgemeiner Qualitätsstandards, die manche Probleme – wie etwa ein hohes Schwindmaß einzelner Bretter – verhindern könnten.

»Eine auf Produktabmessungen abgestimmte Planung schränkt den Bieterkreis bei der Ausschreibung ein.« (Kley)

Vor allem im Bereich kraftschlüssiger Verbindungsmittel sind noch einige Entwicklungsfelder frei. Gewiss wird es aber auch von der Masse des insgesamt verbauten BSP abhängen, ob sich hier sekundäre Produktionsfelder öffnen, damit man von individuellen und damit meist teureren Detailkonstruktionen wegkommen kann.

Allgemein werden die Aussichten gut eingeschätzt, weil BSP schnell, trocken, leicht, sehr genau und schlanker als andere Konstruktionsweisen ist (Rieß). Doch geht es nun darum, das Produkt besser auf die Bedürfnisse des Marktes auszurichten. Zuvorderst sind das die Planer und die Zimmerer, denen keine unnötigen Schlaufen im Planungs- und Verarbeitungsprozess aufgeladen werden sollten, denn diese bedeuten Kosten für diese ersten Entscheidungsträger für oder gegen BSP. Die Kostenfrage für die Bauherrschaften stellt sich erst danach. Eine Standardisierung, damit produktneutral ausgeschrieben werden kann, wäre wohl ein wichtiger Schritt in diese Richtung.

zuschnitt, Di., 2008.09.16



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14. September 2008Walter Zschokke
Spectrum

Baldachin, gefaltet

Ein alter Bauernhof im Weinviertel, eine Handvoll Theater-begeisterter und jede Menge Engagement: wie sich das „Theater Westliches Weinviertel“ in Guntersdorf sein Haus erneuern ließ.

Ein alter Bauernhof im Weinviertel, eine Handvoll Theater-begeisterter und jede Menge Engagement: wie sich das „Theater Westliches Weinviertel“ in Guntersdorf sein Haus erneuern ließ.

Sanft wellig dehnt sich die Landschaft des Weinviertels gegen Norden. Die landwirtschaftliche Nutzung ist weiträumig: da ein Feldrain, dort eine Hecke. Ab und an führt die Straße durch ein Dorf. Schmale Streckhofparzellen reihen sich zu beiden Seiten. Ihre Grenzen verlaufen schräg zur Straßenachse, sodass vor den Kopfbauten der niedrigen Höfe eine dreieckige Fläche bleibt. Ein kleiner Vorplatz, der heute meist asphaltiert ist. Mag sein, dass es früher einmal kleine Gärten waren.

So auch in Guntersdorf, einer Ortschaft nördlich von Hollabrunn, am Weg nach Tschechien. Doch in der regelmäßigen Struktur gleichgerichteter Streckhöfe regte es sich. Vor über zwei Jahrzehnten hatte sich eine Gruppe Menschen zusammengefunden, die Theater spielen wollten und die dies mit zunehmender Professionalisierung und großem Engagement bis heute tun. Sie nannten das Unternehmen „Theater Westliches Weinviertel“ und fanden einen alten Streckhof an der Straße, dessen 70 Meter tiefes und knapp acht Meter breites Grundstück im vorderen Teil, im ehemaligen Wohnhaus, die Garderobe, einen Proberaum und Nebenräume aufnahm, während der Theaterraum im alten Heustadel eingerichtet wurde, der zuhinterst auf dem Grundstück, direkt an der hinteren Zufahrt steht. Zwischen den beiden Teilen lag ein schmaler Hof. Die meisten Arbeiten wurden in Eigenleistung von den Theaterbegeisterten erbracht.

Der Heustadel mit dem Theater war noch einigermaßen intakt, aber die vorderen Gebäude wurden immer baufälliger und waren für den wachsenden Betrieb längst zu eng geworden. Man entschloss sich daher, einen großen Schritt zu wagen, und lud im Jahr 2005 einige Architekten zu einem Wettbewerb ein. Es siegte die Architektengruppe „t-hoch-n“, zusammen mit dem lokalen Planer Franz Fellinger junior. „t-hoch-n“, das sind Gerhard Binder, Peter Wiesinger und Andreas Pichler. Ihren Bürositz haben sie in Wien. Aber sie vermochten sich offensichtlich am besten in die Typologie des Streckhofes einzufühlen. Nach längerem Planen und der Sicherung der Finanzierung konnte im Mai 2007 mit Bauen begonnen werden. Die Projektleitung lag bei Peter Wiesinger.

Die baufälligen Gebäude im vorderen Grundstücksbereich wurden abgebrochen und durch Neubauten ersetzt, die teils eingeschoßig, im Mittelteil zweigeschoßig, der Typologie des Streckhofs folgen und so in die Dorfstruktur gut integriert sind. Als neues Element, das Vorn und Hinten verbindet, legten die Architekten ein langes, schmales Dach am Vorderhaus vorbei durch den Hof und bis vor den Theaterstadel. Die weinrot gefärbten Bretter bilden nicht nur ein Dach, sondern eher eine Art Baldachin, der mal höher, mal etwas niedriger ist, und zur Straße hin signalhaft aufgefaltet wird, damit niemand das Theaterhaus übersieht. Selbstverständlich dient das Dach auch als Witterungsschutz, doch gelang es hier mit vergleichsweise einfachsten Mitteln, eine Festlichkeit zu erzeugen, die mit der Architektur des einfachen Vorderhauses allein nicht zu schaffen gewesen wäre.

Obwohl die leichte Konstruktion in Metall und Holz nicht sehr aufwendig ist, vermag die dematerialisierende Wirkung der Farbe einen nahezu textilen Charakter zu bewirken, womit das Baldachinartige gestärkt wird, jenes provisorisch Festliche, das an Wandertheater oder Zirkus erinnert, mithin an die Ursprünge des Theaters. Das Dach ist ein wesentliches, identitätstiftendes Element, das das Theaterambiente zur Außenwirkung bringt und die Teile zusammenhält. Ein verbliebenes Satteldach von einem Nebengebäude, dessen Wände entfernt wurden, schützt nun einen offenen Foyerbereich, der vor dem Stück und in allfälligen Pausen zum Aufenthalt einlädt.

Obwohl der Theaterraum im ehemaligen Heustadel samt dessen bestehender Holzkonstruktion nur geringfügig adaptiert wurde, verdient er Beachtung, denn er ist in dem Raum, dessen Grundriss ein Rechteck im Verhältnis 2:1 aufweist, quer organisiert, was zuerst einmal überrascht. Bei näherer Analyse zeigen sich neben dem Hauptvorteil auch eine Anzahl betrieblich günstiger Aspekte. Vor allem begeistert die Querorganisation, weil sie Akteure und Publikum in eine heftige Nahebeziehung bringt, die sich sonst kaum wo findet. Die Bühne ist breit, weist zwei Seitenteile auf, ist aber natürlich nicht sehr tief. Dafür drängen sich die fünf Sitzreihen dicht davor, zusätzliche Plätze bietet eine schmale Galerie. Für Hinterbänkler bleibt da kein Raum, denn auch der hinterste Platz liegt noch im direkten Wirkungsbereich der Aufführenden. Jeder Zuschauer wird damit Teil des Geschehens. Diese besondere Konstellation, die zum einen sicher den Zwängen der vorhandenen Struktur geschuldet war, ist jedoch zugleich ein genialer Befreiungsschlag im Sinne lebendigen Theaters.

Dass Zugänge zu Nebenräumen und das Tor zum Zufahrtsweg weiter genutzt werden können, sind positive Neben- und Sicherheitsaspekte. So sind die Kernelemente der Theatergebäude – trotz ihrer Einfachheit – von außerordentlicher Qualität, was ihren Nutzen für das Schauspiel betrifft.

Die entscheidenden Verbesserungen im Neubauteil erfassten die nun getrennten Garderoben, einen Aufenthaltsbereich, Werkstätten, eine kleine Probe- und Studiobühne und einen Wohnraum für Gastdramaturgen oder -regisseure. Alles ist sehr einfach gehalten, denn Geld war gewiss nicht im Überfluss da. Aber eben, wichtig ist, was man architektonisch daraus macht.

Seit Jahrzehnten profitiert das „Theater im Stadl“ vom Engagement der Schauspielerin und Regisseurin Franziska Wohlmann. Waren es zu Beginn Laien, die sich auf die Bühne wagten, hat sich der Charakter der Gruppe verändert. Manche werden in ihrer Begeisterung Schauspielunterricht genommen haben, um sich zu qualifizieren. Dazu gestoßen sind Schauspielerinnen und Schauspieler die dies nebenberuflich ausüben, weiters junge Leute in Schauspielausbildung sowie professionelle Darsteller.

Das Programm bietet zwei bis drei Eigenproduktionen pro Jahr, zahlreiche Gastspiele aus Kleinkunst, Kabarett und Kindertheater sowie Lesungen und Musikdarbietungen. Mit der einen oder anderen Eigenproduktion konnten sogar Gastspiele in Deutschland, Belgien, Frankreich und Tschechien bestritten werden. Man kann sich nun fragen, ob derartige Kulturleistungen für ein Dorf typisch seien. Gewiss hat es mit verbesserter Mobilität, mit der Urbanisierung des ländlichen Raumes zu tun, aber ohne die Initiative Einzelner und das Mitgehen Weiterer wäre kaum etwas entstanden. Wenn sich aber einmal eine Tradition herausgebildet und festgesetzt hat, dann ist so eine Bühne Teil der Dorf- und Regionalkultur und daher typisch – für das Dorf Guntersdorf. Der große Vorteil: Theater ist analog, es ist in der Nähe, man kann mitmachen, wenn es einen packt. Da gehört Architektur einfach dazu.

Spectrum, So., 2008.09.14



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TWW Theater Westliches Weinviertel

16. August 2008Walter Zschokke
Spectrum

Und weg ist das Dach

Das Oberammergauer Festspielhaus hat zusätzlich ein mobiles Dach bekommen. Was so leicht und elegant aussieht, ist ein Meisterstück der Ingenierbaukunst von Karlheinz Wagner.

Das Oberammergauer Festspielhaus hat zusätzlich ein mobiles Dach bekommen. Was so leicht und elegant aussieht, ist ein Meisterstück der Ingenierbaukunst von Karlheinz Wagner.

Zuvor noch ein Nachsatz zu meinem letzten Beitrag vom 21. Juni aus gegebenem Anlass: Derzeit schreiben und plappern alle die falsche Metapher vom „Vogelnest“ nach, wenn sie vom Olympia-Stadion in Peking berichten. Dabei erweist sich immer mehr, dass es aus der Ferne nicht wie ein bergendes Nest aussieht, sondern, wie jedes Kind bemerken würde, viel eher wie ein Käfig.

Doch wenden wir uns Naheliegenderem zu. Die Oberammergauer Passionsspiele finden seit 1634 statt, und zwar im Rhythmus von zehn Jahren. Etwa seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert steht mitten im Dorf ein 5000 Personen fassendes Festspielhaus mit Bogenträgern aus Stahlfachwerk in der Technologie damaliger Bahnhofshallen, verkleidet ursprünglich mit Holz. In jüngster Zeit erhielt das Gebäude eine äußere Schale aus Verputz, was ihm einen etwas monumentaleren Charakter verleiht.

Das Besondere an dem Haus ist, dass die Zuschauer im Trockenen sitzen, die Bühne mit Aufbauten jedoch unter freiem Himmel steht, damit der Blick aus dem Zuschauerraum einen markanten Berg erreicht, der zurSzenerie gehört. In den Jahren zwischen denPassionsspielen finden selbstverständlich ebenfalls Veranstaltungen unterschiedlichster Art statt, die jedoch weniger dem Wetterglück ausgesetzt sein sollten. Die Oberammergauer schrieben daher einen Wettbewerbunter Architekten und Bauingenieuren aus, um Entwürfe für ein mobiles Dach zu erhalten, das den Bühnenbereich über den Winterschützt, sowie gegen Regen, wenn dies bei Veranstaltungen erforderlich ist. Anlässlich der Passionsspiele jedoch muss das Dach so weit weggefahren werden können, dass es von keinem einzigen der 5000 Zuschauerplätze aus noch gesehen werden kann.

Der Wiener Bauingenieur Karlheinz Wagner, zusammen mit Architekt Christian Jabornegg von Jabornegg und Pálffy, gewann das anspruchsvolle Verfahren mit einem Dach, das entlang von zwei gekrümmten Trägern mit sich kreuzenden Erzeugenden eine hyperbolisch-paraboloide Form gewinnt. So ein Gebilde ist zwar als Idee schnell hingezeichnet, aber Konstruktion und Errichtung sind extrem anspruchsvoll. Und dann soll das Ganze noch auf sich hochkrümmenden Schienen in die eine Endposition gebracht oder wieder zurück in die hintere Endposition aus den Augen (der Zuschauer) verschwinden.

Die tragenden Schienen sind als gebogene Kastenträger ausgebildet, der Torsionssteifigkeit wegen. Das ließ sich nicht einfach so walzen, sondern musste zusammengeschweißt werden. Sie dienen als Widerlager der Dachkonstruktion, die immerhin 43 Meter Spannweite hat. In der oberen, auch für den Winter vorgesehenen Position kommen enorme Schneelasten dazu, die in speziellen Konstruktionen abgefangen werden, seitlich in den Bühnenaufbauten versteckt. Die Dachkonstruktion selbst wird in diesem Fall zusätzlich verspannt. Die Erzeugenden der Großform des Daches verlaufen als Stahlrohre kreuzweise diagonal von einem zum anderen Bogen, ein großmaschiges, gekrümmtes Netz bildend, das dem Dach seine Eleganz verleiht.

Die viereckigen Fächer zwischen den Rohren sind mit Stahlkabeln diagonal verspannt. Damit gewinnt die Konstruktion ihre Steifigkeit. Die Kräfte werden jeweils in einem komplexen Knoten konzentriert, den Karlheinz Wagner eigens entwickelt hat. Er ist so konstruiert, dass ein Knotentyp sämtliche geometrisch erforderlichen Lagen einnehmen kann und auch die Diagonalkabel entsprechend darin verankert sind und gespannt werden können. Wenn das Dach sich in der oberen Position befindet, schließt es mit einem pneumatischen Wulst dicht an das Gebäude an. Ist es in der unteren Position, bildet es ein ausladend schirmendes Vordach, das die Rückseite des Gebäudes stark aufwertet. In Oberammergau denkt man sogar daran, kleinere Veranstaltungen an der nun attraktiv gewordenen Rückseite abzuhalten.

Die Dachmembran besteht aus Bahnen eines feinen Edelstahlgewebes, die sich so weit verformen können, dass sie dem dreidimensionalen Flächenverlauf folgen können. Sie werden mit Stahlfedern in ihre Position gespannt. Im Winter müssen sie die Schneelast übernehmen können, und bei Regen dienen sie als Zerstäuber, damit die akustische Störung der Veranstaltungen minimiert wird. Das Wasser selbst wird von einer darunter gespannten Folie aufgefangen und zu den vier Fußpunkten geleitet und über Speier abgeführt.

Was auf den ersten Blick einfach aussieht, erweist sich bei näherer Betrachtung als extrem komplex und erforderte neben viel Nachdenken konkrete Versuche. Der Aufgabenbereich erfasste auch den des Maschinenbaus, nicht bloß der Tragwerksplanung und der Statik, etwas, wovon Architekten nur noch entfernt eine Ahnung haben.

Gewiss ist nicht jede Aufgabe für einen Bauingenieur derart komplex, aber dieses knapp 35 Tonnen schwere Dach gab zahlreiche Knacknüsse zu lösen, die auch einem sehr guten Bauingenieur des Nachts schlaflose Phasen bereiten können. Und am Ende schaut dann das Dach leicht und elegant aus, sodass man den geistigen Aufwand, der dahintersteckt, kaum mehr ahnt. Damit gelangen wir in den Spitzenbereich der Ingenieurbaukunst: Die Konstruktionen tragen und funktionieren mit einer Leichtigkeit, dass man die wirkenden Kräfte und schon gar die potenziell möglichen wie Wind und Schnee nicht einmal vermutet. So wird Ingenieurwerk und Ingenieurbaukunst zugleich zu Architektur. Dabei liegt die Ästhetik im Tragsystem, in den konstruktiven Details und in zahlreichen technischen Lösungen, die für das Gelingen erforderlich waren. Dank einem intensiven gestalterischen Perfektionsprozess ist aber das Bild, das sich dem Laien bietet, leicht, attraktiv und einprägsam. Gewiss ist nicht jeder Bauingenieur in diesen Dingen gleich begabt, doch der Einzelkämpfer Karlheinz Wagner offensichtlich schon.

An diesem Beispiel zeigt sich, wie spannend der Ingenieurberuf sein kann, wenn man sich die entsprechenden Herausforderungen sucht. Dass der Weg dorthin mit Mathematik dick gepflastert ist, sollte junge Menschen nicht abschrecken. Sie dient der Lösung von Problemen praktischer Natur, von denen die meisten heute nicht leiseste Ahnung mehr haben. Doch ohne die Ingenieure und ihre Leistungen wäre die Menschheit arm dran und vor allem ihre Zukunft in keinster Weise gesichert, da ein Großteil der anstehenden Probleme ohne technologische Weiterentwicklung nicht gelöst werden kann. Sparsamkeit hin oder her.

Spectrum, Sa., 2008.08.16

22. Juni 2008Walter Zschokke
Spectrum

Vom Elend der Kritik

Architektur zu beschreiben setzt voraus, dass man etwas vom Gegenstand verstanden hat und den Umgang mit Sprache beherrscht. Sollte man meinen. Die meisten aber schreiben, was andere schon geschrieben haben. Oder was ihnen gerade einfällt.

Architektur zu beschreiben setzt voraus, dass man etwas vom Gegenstand verstanden hat und den Umgang mit Sprache beherrscht. Sollte man meinen. Die meisten aber schreiben, was andere schon geschrieben haben. Oder was ihnen gerade einfällt.

Wie mag wohl ein Gebäude aussehen, das, von oben gesehen, als „futuristische Amöbe“ („Neue Zürcher Zeitung“) bezeichnet wird und im weiteren Verlauf als Wal? Sie wissen es nicht? Kein Wunder. Einen Wal kann man sich noch vorstellen, aber eine futuristische Amöbe? Aus dem Biologieunterricht vermögen wir uns zu erinnern, dass Amöben ständigen Veränderungen unterworfen sind. Wie würde sich jedoch der futuristische Wesenszug auswirken? Mehr nach den Projektionen von Futurologen oder eher nach den Erwartungen von Biologen? Wohl bestenfalls Ersteres.

Ganz fair ist mein Vorgehen zwar nicht, denn ich begann mit Sprachbildern aus einem Text, der mit einem Bild des Gebäudes versehen ist. Im Bildtext wird es als „Tornado an der Autobahn“ benannt. Klingelt es schon? Dann wird der Titel: „Gezähmter Wirbelsturm“ wohl kaum weiterhelfen. Während Tornado und Autobahn wenigstens dynamisch klingen, ist ein gezähmter Wirbelsturm eher etwas Harmloses, so wie jene Drachen in den Soft-Kinderbüchern, die unglücklicherweise nicht Feuer speien können, daher von ihren Artgenossen ausgegrenzt, von kleinen Mädchen oder Knaben getröstet und psychologisch betreut werden, damit sie wenigstens ab und an einen kleinen Funken spucken. Das leitet leider auf die falsche Spur. Dabei waren wir zwischendurch nahe dran.

Halten wir noch fest, dass in den angebotenen Metaphern mehrheitlich ein abschätziger Unterton mitschwingt, der aber nicht, oder kaum begründet wird. Also fast ein Untergriff, ist man geneigt zu sagen. Der Autor hingegen muss sich gesagt haben: „Dem – oder denen – habe ich es aber gegeben, sonst hätte er es beim Durchlesen nicht stehen lassen. Oder genügte ihm das Rechtschreibprogramm zur Kontrolle? Doch kommen wir zum Gegenstand zurück. Es wäre um Architekturkritik gegangen. Doch deren Ziel kann nicht sein, eine vermeintlich griffige Sprachfigur zu finden, die nichts erklärt. Das Gebäude scheint dem Kritiker nicht wirklich gefallen zu haben. Da und dort kommt dies im Text indirekt zum Ausdruck. Das ändert aber nichts an den schwachen Metaphern, die keine architektonische Sachverhalte vermitteln. Von wegen Tornado an der Autobahn: Es handelt sich um den Komplex der BMW-Welt in München von Coop Himmelb(l)au. Christian Kühn hat das Bauwerk – ohne schlechte Metaphern – im „Spectrum“ vom 13. Oktober 2007 eingehend besprochen.

Nun gibt es andere Bauten, deren Übernahme bekannter ist als das Bauwerk selbst. Beispielsweise die Kongresshalle von Hugh Stubbings für Berlin (1957), die der Arena in Raleigh, North Carolina (1950/53), von Nowitzki, Deitrick und Severnd nachempfunden ist. Der von den Medien immer wieder weitergetragene, dem Berliner Volksmund zugeschriebene Spottname „schwangere Auster“ bietet kaum Klärung an – oder weiß wer, wie eine schwangere Auster aussieht? Mit ihrem architektonischen Ausdruck hat dies gar nichts zu tun, dafür deutlich mehr mit unreflektiert weitergetragenen Klischees. Nachdem die Halle teilweise eingestürzt war, wurde man sich in Berlin bewusst, dass man sie eigentlich lieb gewonnen hatte, weshalb sie in gleicher Form wieder aufgebaut wurde. In der Folge legte sich das dumme und populistische Mediengeschwätz.

Ein weiteres Beispiel gefällig? Das Olympiastadion in Peking von Jacques Herzog & Pierre de Meuron und Partnern. Seit Jahren wird es medial als „Vogelnest“ verkauft. Unser bereits erwähnter Kritiker in der „Neuen Zürcher“ versteigt sich sogar dazu, die Chinesen würden dies „liebevoll“ tun. Da ist ihm wohl das Klischee der Wiener Secession dazwischen geraten, das außer den Fremdenführern niemand, und schon gar kein Wiener, und sicher nicht „liebevoll“, „Krauthappl“ nennt. Sie heißt schlicht Secession.

Aber bleiben wir beim sogenannten Vogelnest. Der Begriff entstand offensichtlich in einem frühen Projektstadium im Atelier in Basel. Das Modell im Maßstab 1:1000 oder 1:500 mochte in der Tat von oben so ausgeschaut haben, sodass sich im Büro dieser inoffizielle Projektname ergab. In einem Vortrag in Alpbach erzählte Meinhard von Gerkan (fünf Opernhäuser, vier Großbahnhöfe in China und so weiter), dass die Chinesen gern bildhafte Namen für die Bauwerke hätten und diese so viel leichter durchsetzbar seien. Wie dem auch sein mag, für das eigentliche architektonische Wesen des durchaus interessanten Stadion-Bauwerks sagt die Metapher vom Vogelnest überhaupt nichts aus. Modelle, auch Arbeitsmodelle setzen immer voraus, dass die Betrachtenden sie nicht als Objekt an sich, sondern als Hilfsmittel zur Kontrolle des Entwurfsgedankens interpretieren. Immer ist der gedankliche Schritt vom verkleinerten Maßstab zur Wirklichkeit des 1:1 zu leisten.

Den Architekten und Mitarbeitern im Atelier Herzog & de Meuron will ich nicht unterschieben, dass sie dies nicht könnten. Von allem Anfang war klar, und das lässt sich auch in ihrem parallelen Schaffen erkennen, dass sie ein Tragwerk suchten, das nicht wie ein klassisches Tragwerk hierarchisch oder anderweitig statisch funktional ausschaut, sondern bewusst astatisch wirkt und daher den Sehgewohnheiten widerspricht und aus der Distanz leicht wirkt. Das ist gewiss erstaunlich gut gelungen.

Wer sich vor ein paar Jahren die Ausstellung im Basler „Schaulager“ über die aktuellen Arbeiten des Büros angeschaut hat, erhielt dort die Hinweise, woher die Grundidee kommen könnte. Die Entwerfer befassten sich zu Beginn sehr intensiv mit der sichtbaren Kultur in China. Den Entschluss zur Teilnahme am Stadionwettbewerb fassten sie ziemlich spontan während einer Chinareise. In ihren Analysen und vor allem in ihren Projekten für China kam die Faszination für geregelt ungeregelte Muster zum Ausdruck, wie sie für Gitter, Steinteilungen und anderes Verwendung fanden und finden. Bekannt ist wahrscheinlich „cracked ice“ (gesprungenes Eis), ausgehend von dem Rissemuster, das die Eisfläche in einem Teich nach Tauwetter annimmt. Einen derartigen bildhaften Eindruck wollten die Entwerfer in ihr Bauwerk übertragen, wie sich damals in der genannten Ausstellung gut nachvollziehen ließ.

Dass aber im Inneren des Gitters aus sicher 2,5 mal 2,5 Meter messenden stählernen Kastenträgern räumlich äußerst spannende Konfigurationen des Halb-Drin, Halb-Draußen entstehen würden, ließ sich nur durch intensive Vorstellungsarbeit erahnen. Denn von außen sichtbar ist die luftige Hülle, die den eigentlichen Stadionkern großräumig umfasst. Sie verleiht dem Bauwerk jene Leichtigkeit, die zum Überleben des Vogelnest-Bildes mitgeholfen haben mag, auch wenn angesichts der realen Dimensionen im Bauwerk niemand mehr an ein Nest denken wird. Dies hindert gewisse Journalisten nicht – diesmal von „Spiegel Online“ –, deren Unkenntnis sich auch daran erweist, dass sie Rem Koolhaas als Mitarchitekten nennen, von einem Koloss zu schreiben, was nun wirklich weit daneben ist. Denn selbst wenn „Koloss“ ein klarer Begriff ist, da die architektonische Aussage falsch ist, nützt dies gar nichts.

Spectrum, So., 2008.06.22

02. Mai 2008Walter Zschokke
Spectrum

Stille muss möglich sein

Moderne Atmosphäre von hoher Eleganz und eine Akustik, die sich hören lassen kann: der neue Konzertsaal „Auditorium“ von Schloss Grafenegg.

Moderne Atmosphäre von hoher Eleganz und eine Akustik, die sich hören lassen kann: der neue Konzertsaal „Auditorium“ von Schloss Grafenegg.

Das Projekt der Dortmunder Architekten Ralf Schulte-Ladbeck und Matthias Schröder überzeugte im Architekturwettbewerb für ein neues Konzertsaal-Gebäude in Grafenegg nicht nur wegen der präzisen Positionierung, des geschickten Einbezugs der zu sanierenden Stallungen und der funktionierenden inneren Abläufe, sondern ebenso, weil das Gebäude eine klare Sichtbeziehung über den Park hinweg zur neuen Freilichtbühne und zum Schloss suchte. Obwohl das Gesamtvolumen unübersehbar bleibt, gelang es, den Eingang zwischen den beiden klassizistischen Bauwerken Reithalle und Schlosstaverne zwar nicht zu verstecken, aber solcherart zurückzunehmen, dass das Nebeneinander „ortsbaulich“ und architektonisch funktioniert. Das ansteigende Dach über dem Eingangsfoyer wird weiter hinten überragt von einer breit verglasten Loggia, von der aus der Ausblick auf den Park, den Wolkenturm und das Schloss ein durchaus herrschaftlicher ist.

Nach dem Erfolg mit dem Wolkenturm waren die Ansprüche der Bauherrschaft, der Familie Metternich-Sándor, Eigentümerin der Schlossanlage, sowie des Landes Niederösterreich, das einen nicht geringen Teil der Kosten übernahm, geweckt. Ein Bruch der Architektenpartnerschaft und wirtschaftsrechtliche Gründe zwangen jedoch die Auftraggeber bei fortgeschrittenem Rohbau, den Architekten zu wechseln. Mit Dieter Irresberger, langjähriger Partner von Wilhelm Holzbauer, fand man eine in akustisch-gestalterischen Fragen erfahrene Persönlichkeit. So ist denn das Saalinnere gestalterisch das Werk Irresbergers, akustisch das von Karlheinz Müller und seiner Firma Müller BBM, Planegg, die bereits den Wolkenturm betreute.

Der Neubau stößt in einem Winkel von zirka 20 Grad auf den Rechteckbau der Stallungen, dessen Kopf die Reithalle bildet. Der hintere Teil umfasst einen nahezu quadratischen Hof, in dem ein attraktiver Achteckbausteht. Die an die Reithalle anschließenden Prachtställe und das Oktogon wurden denkmalpflegerisch erneuert und dienen nun als respektables Pausenfoyer. In den rückwärtigen Teilen, die in ziemlich ruinösem Zustandwaren, sind nach den notwendigen Sanierungs- und Umbaumaßnahmen die Vorbereitungsräume der Musiker untergebracht. Für Dirigenten und Solisten ist an der Rückseite des Saalgebäudes Raum geschaffen mit Ausblick auf die weiten Felder im Norden.

Im keilförmigen Zwischenbereich von ehemaligen Stallungen und Konzertsaal findet auch räumlich eine intensive Durchdringungstatt. Das Eingangsfoyer greift mit einem Arm in diesen Gebäudeteil hinein und führt zu den Garderoben. Die Begegnung über die Jahrhunderte auf knappem Raum ist recht gut gelungen und wird in einem kleinen, trapezförmigen Gartenhof elegant sublimiert, dessen Abschluss der zweigeschoßige, verglaste Verbindungsgang bildet, über den die Musiker zur Bühne gelangen.

Das Prunkstück ist natürlich der Saal, das eigentliche Auditorium, der als längsquadrisches Volumen in der unregelmäßig polyedrischen äußeren Hülle steckt. Die Rechteckform des Grundrisses hat sich akustisch bewährt; berühmt ist der Goldene Saal des Wiener Musikvereins.

Obwohl die Großform einem langen Quader entspricht, sind die Innenflächen nirgends parallel, damit keine störenden Flatterechos entstehen können. Den Wänden sind in einer Art positiver Kassettierung flache Volumen vorgeblendet, deren Sichtflächen geringfügig windschief ausgeführt sind. Der blassgelbliche Stucco lustro enthält einen hintergründigen Goldton, sodass der Saal einen zeitgemäßen und zugleich klassisch-edlen Charakter gewinnt. Der Farbton ist perfekt mit dem Eichenholz des Parkettbodens, der Geländerholme und weiterer Holzteile abgestimmt, deren hellste Komponente im Ton exakt getroffen wurde. Zusammen mit dem klassischen Dunkelrot der Polster und dem Aluminium der Bestuhlung ergibt sich eine moderne Atmosphäre von hoher Eleganz. Diesem – immer noch begrenzten – Aufwand zollt der bescheidenere Ausbau der Stiegen und Gänge Rechnung, der jedoch nachrüstbar geplant wurde. Auch hier befand sich Architekt Irresberger da und dort in der Rolle der 13. Fee, indem er, gestalterisch verfeinernd, Härten milderte und zugleich, Kosten sparend, eingriff. Architektonisch ist somit, trotz des notwendig gewordenen Wechsels, ein ansprechendes Bauwerk entstanden, das im Kern, dank Dieter Irresberger, den Wiener Kontext nicht zu scheuen braucht.

Die Akustik erhielt unter der in Grafenegg bereits bewährten Leitung von Karlheinz Müller ein Konzept und eine Optimierung die einiges versprechen. Da ein musikalischer Rechteckraum lang, nicht zu breit, aber hoch sein sollte, wurde der Dachraum in das raumakustisch wirksame Volumen einbezogen. Die dunkel weggeblendete Decke wurde in gerichtete und diffus reflektierende Segmente aufgeteilt. Weiters wurden alle Decken-, Wand- und freien Fußbodenflächen zur Nachhallgenerierung und Schalllenkung akustisch optimiert. So konnten die gewünschten Nachhallzeiten von 1,6 bis 2,0 Sekunden erreicht werden. Weil der Saal auch für Festveranstaltungen und selbst Kongresse genutzt werden soll, ist der Boden eben und nur im hintersten Teil gestuft ansteigend. Auch wenn manche Sichtlinien dadurch nicht ganz optimal sein mögen, ist dies akustisch unproblematisch.

Die Bestuhlung besteht konstruktiv aus Aluminiumblech, um die Brandlast gering zu halten. Bei Sitzpolstern, Rückenlehne und Armlehnen ging jedoch Bequemlichkeit vor. Eine Begrenzung der gepolsterten Flächen lässt die Sitze akustisch gleichsam neutral wirken, ob sie nun durch Zuhörende besetzt sind oder nicht. Dies gilt nicht nur bei teilweiser Besetzung, sondern vor allem für die Proben.

Über dem Podium, das sich mit mobilen Elementen je nach gewünschter Orchestertopografie verändern lässt, schweben zwei in Höhe und Neigung verstellbare, segelartig leicht wirkende Schallreflektoren. Für Kammermusik werden sie niedrig gestellt, während sie für Orchesterbesetzung höher gefahren werden. Unabdingbar sind sie allerdings für das gegenseitige Hören der Musizierenden, sodass sich das Zusammenspiel besser entwickeln und kontrollieren lässt.

Für die Verwendung des Saales für Kongresse, für die zwecks Sprachverständlichkeit eine kürzere Nachhallzeit erforderlich ist, sind hinter dem Podium und oberhalb des zweiten Seitenranges Absorberflächen vorgesehen, indem hinter Lamellenfeldern mit variablen textilen Elementen die Nachhallzeit reduziert werden kann. Selbst eine Nutzung mit elektronischer Stützung wird so möglich. Karlheinz Müller weist abschließend auf einen wesentlichen Aspekt guter Raumakustik hin: die Stille. Außengeräusche sind durch eine ausreichend dimensionierte Schalldämmung nahezu ausgeschlossen. Die Belüftung ist so angelegt, dass sie bei Konzertveranstaltungen mit Publikum nicht wahrnehmbar ist. Dass alle diese Maßnahmen nicht gratis zu haben sind, wird einleuchten. Dennoch war es von Anfang an ein Ziel der Bauherrschaft, den Kostenrahmen nicht zu sehr auszuweiten. Obwohl optisch in manchen Bereichen spartanischen Prinzipien verpflichtet, wurden an der Raumakustik keine Abstriche gemacht, wie zu hören sein wird.

Spectrum, Fr., 2008.05.02



verknüpfte Bauwerke
Auditorium Grafenegg

29. März 2008Walter Zschokke
Spectrum

Rücken an Rücken

Der Trend zum frei stehenden Einfamilienhaus ist unge-brochen. Dabei würde eine verdichtete Siedlung Bauland, Kosten und Energie sparen. Eine Wohnanlage in Langenlois zeigt, wie es geht.

Der Trend zum frei stehenden Einfamilienhaus ist unge-brochen. Dabei würde eine verdichtete Siedlung Bauland, Kosten und Energie sparen. Eine Wohnanlage in Langenlois zeigt, wie es geht.

Raumplaner und Architekten wären sich seit vielen Jahrzehnten einig: Verdichteter Flachbau spart Siedlungsinfrastruktur, Bauland, Baukosten und Heizenergie. Doch der Trend zum frei stehenden Einfamilienhaus bleibt ungebrochen, denn Einsicht in die Notwendigkeit entwickelt sich in der Regel erst unter starkem materiellem Druck. Waren es in frühen Jahrhunderten die Gefahren einer noch ungerodeten Wildnis, die ein Zusammenrücken zum Siedlungsverband in geschlossenen Dörfern ratsam erscheinen ließen, sind es heute ökologische und ökonomische Gründe, die dafür sprechen würden.

Gewiss war der habliche Einzelhof freier Bauern in ausgesuchter Lage parallel dazu eine ebenso gepflegte Form der Landnahme, die allerdings entsprechendes Vermögen sowie eine größere Anzahl Knechte und Mägde voraussetzte. Ohne Dienstpersonal und auf kleinsten Parzellen dicht an dicht errichtet, gilt das frei stehende Haus paradoxerweise noch immer als erstrebenswertes Ziel, auch wenn die offenen Restgärten im Vergleich zu den geschützten und daher angenehm privaten Gartenhöfen in einem Angerdorf eindeutig weniger attraktiv sind. Vielleicht wenn sich die Gemeinden der hohen Unterhaltskosten der Infrastruktur einmal bewusst werden, ist zu hoffen, dass eine weitere Zersiedelung gebremst wird.

Konzepte, wie Siedlungsformen in geschlossenem Verband aussehen könnten, gibt es zuhauf. Da und dort wurden sie gebaut und funktionieren, wenn der oft idealistisch vorgeplante Gemeinschaftsgeist nicht die Leistungsbereitschaft der Bewohner überfordert. Doch selbst in diesen Fällen haben sich ideologische Ansprüche verflüchtigt, und die gelebte Wirklichkeit hat sich durchgesetzt. Einer, der sich schon länger mit der Frage verdichteten Wohnens befasst, ist der Wiener Architekt Walter Stelzhammer. Für den Jahre zurückliegenden städtebaulichen Wettbewerb Süßenbrunn hatte er sich ausführlich mit der Aufgabe befasst. Das Projekt wurde beachtet, aber zu einer Realisierung kam es nicht. In besserer Erinnerung, da gebaut, ist hingegen die „Wohnarche“ in Wien-Atzgersdorf, eine kompakte Anordnung von „Reihenhäusern“ Rücken an Rücken, mit je einem integrierten kleinen Hof, dessen Glasdach geöffnet werden kann, sodass die zum Hof orientierten Räume belichtet und belüftbar sind. Großzügige individuelle Dachterrassen erhöhen den Wohnwert.

Entsprechend den gestiegenen wärmetechnischen Anforderungen und der Lage an einer ländlichen Entwicklungsachse mit großen Baukörpern von Einkaufsmärkten und dergleichen wurde das Konzept von Atzgersdorf in Langenlois neu bearbeitet und interpretiert. Zweimal sechs Einheiten stehen Rücken an Rücken und bilden eine lang gestreckte Großform, der die auskragenden Obergeschoße und die schrägen Glasdächer über den Lichthöfen ein differenziertes Erscheinungsbild verleihen. Die beiden Längsseiten blicken nach Osten und nach Westen. Am Südkopf verfügen die dortigen zwei Häuser über zusätzliche Fenster. Die Nordseite ist hingegen geschlossen und zeigt die konkrete Figur des ausladenden Querschnitts. Kleine Vorgärten ziehen sich an beiden Längsseiten vor den durch die Auskragung beschirmten Eingangsvorbereichen. Bepflanzung und Gartengerätehäuschen werden bald von der Individualität der Bewohner künden.

Heutigen Gesetzen folgend, musste die Wohnanlage Passivhausstandard aufweisen, was nur mit Wohnraumlüftung zu erreichen ist. Dies erlaubte, den Hof mit einem geschlossenen Glasdach zu versehen, sodass seine Integration ins Leben der Bewohner leichter fällt als in Atzgersdorf, wo dies von den Jahreszeiten etwas beeinträchtigt wird. Dennoch sind die Wohnräume teils mit verglasten Schiebetüren, teils mit Fenstern zum Hofraum verschließbar, da zu diesem klimatischen Pufferraum eine leichte Temperaturdifferenz besteht. Da er die Treppe enthält und als Erschließungs- und Bewegungsraum dient, stört dies kaum. Umso mehr, als ihn schon wenige Sonnenstrahlen durch das Glasdach erwärmen. Im Sommer lässt es sich beschatten.

Betreten werden die Häuser unter dem ausladenden Obergeschoß, oder einen Halbstock tiefer von der Autoeinstellhalle her. Einen halben Treppenlauf höher liegt die Hauptwohnebene mit Küche, Essplatz und Sitzgruppe sowie dem Boden des Hofraums, der als weiterer Wohnbereich, für Pflanzen, als Spielzone und anderes mehr, dienen kann. Ein tief liegendes Fenster bietet einen Blick auf den Eingangsvorbereich.

Ein halbes Geschoß höher liegen an der Vorderseite des Hauses zwei Kinderzimmer und die separate Toilette. Nach einem weiteren halben Treppenlauf gelangt man an der Innenseite zum Elternzimmer, einem Schrankraum und zum großzügigen Bad. Das Elternzimmer erhält sein Licht durch ein großes Fenster zum Hofraum, belüftet wird es durch die Wohnraumlüftung. Dieser für manche neuartige Sachverhalt erweist sich jedoch als durchaus sinnvoll, da die Raumluft auch am Morgen frisch ist.

Die hauseigene Treppe ist noch nicht zu Ende, denn über einen weiteren halben Lauf erreicht man eine kleine Arbeitsgalerie und den Ausgang auf die Dachterrasse, die sich als geschützter Außenwohnbereich anbietet. Insgesamt sind in diesen dicht aneinander gefügten Häusern die bekannten Wohnfunktionen und Zimmergrößen vorhanden. Zugleich gibt es jedoch diesen auch räumlich interessanten, glasgedeckten Hofraum, der samt Treppe ein polyvalentes Angebot darstellt, das individuell interpretiert und genutzt werden kann.

Die Eigenheit stärker zurückgezogener Räume, die von der dichten Packung der Wohneinheiten bedingt ist, wird kompensiert durch die vortemperierte Belüftung und durch das Plus des hellen Hofraumes. Was den einen als Experiment erscheinen mag, ist jedoch die Weiterentwicklung und Aktualisierung eines uralten Nutzungs- und Bautyps, den man bereits auf der Alpensüdseite kennt und der im Mittelmeerraum als introvertiertes Hofhaus beliebt und verbreitet ist. Dass er bei einer Übertragung in den Norden einer Adaptierung bedarf, ist dem Architekten selbstverständlich. Dass es sich wegen des engen Rahmens der Wohnbauförderung um ein Minimalkonzept handelt, das da und dort mit geringem Aufwand noch verbessert werden kann, was von der Planung vorbedacht wurde, soll nicht verschwiegen werden.

Dennoch hat sich die Kremser Baugenossenschaft unter ihrem Direktor Alfred Graf nach den Siedlungen in Gneixendorf, am Hundsturm und am Langenloiser Berg mit Architekt Ernst Linsberger ein weiteres Mal als innovativ erwiesen. Die Zusammenarbeit mit engagierten Architekten führt jedenfalls zu Resultaten, die sich anschauen und die das Wohnungsangebot in qualitativer Hinsicht breiter werden lassen. Denn eine größere Auswahl an Typen erlaubt individuellen Wohnwünschen die Verwirklichung, die in quasi genormten Grundrissen nach veralteten Konzepten, wie sie leider noch immer errichtet werden, nicht einmal geträumt werden können.

Spectrum, Sa., 2008.03.29

16. März 2008Walter Zschokke
zuschnitt

Fenstergeschichten

Als der Psychiater und Anthropologe Paul Parin in einem Dogondorf im Nigerbogen einen Einwohner fragte, warum an seinem Lehmhaus keine Fenster seien, antwortete...

Als der Psychiater und Anthropologe Paul Parin in einem Dogondorf im Nigerbogen einen Einwohner fragte, warum an seinem Lehmhaus keine Fenster seien, antwortete...

Als der Psychiater und Anthropologe Paul Parin in einem Dogondorf im Nigerbogen einen Einwohner fragte, warum an seinem Lehmhaus keine Fenster seien, antwortete dieser: »Wozu Fenster. Wenn ich Licht brauche, gehe ich hinaus.« Nun, ganz so einfach war es auch bei diesem Lehmhaus nicht, dessen speziellen Typ Aldo van Eyck bekannt gemacht hatte, denn der runde Kopfteil der Küche braucht Licht zum Arbeiten und einen Abzug für den Rauch. Beidem dient die Tür zur Dachterrasse, die über einen Steigbaum erreicht wird. Eine Türe aber ist kein Fenster, auch wenn Jahrtausende lang das Einraumhaus mit nur einer Türe als Lichtöffnung ausgekommen sein mag.

Jedenfalls ist das Fenster entwicklungsgeschichtlich jünger als die Türe. Es wird dann erforderlich, wenn die Räume keine Außentüren mehr aufweisen und von innen über ein anderes Zimmer oder einen Gang zugänglich sind. Meist ging es darum, wenigstens einen Schimmer von Tageslicht in die umschlossene Finsternis zu holen. Dieses Problem hatten die Ureinwohner der nordamerikanischen Prärien nicht, denn die dünn geschabte Ledermembran ihrer Zelte war durchscheinend, wie der Forscher Maximilian Prinz zu Wied berichtet. Aber bei der Jurte der Kirgisen, wo die offene, zentrale Kuppel dem Rauchabzug und der Belichtung diente, ergab sich ein Problem, als mit Ofen und Rauchrohr gefeuert wurde und die Kuppel geschlossen blieb: Wo und wie macht man bei dem über Jahrhunderte perfektionierten Rundzelt aus Stecken und Filz ein Fenster?

In den Schlafkammern mancher Bauernhäuser unserer Vorfahren hatten die Blockwände in einer Stricklage eine nur 15 Zentimeter breite und hohe Lücke, damit man merkte, wann der Tag anbrach. Viele dieser Löcher wurden erst im vergangenen Jahrhundert vergrößert und mit einem verglasten Flügel versehen. Wenn es draußen kalt war, schloss eine Klappe den Luftzug aus, aber auch den letzten Lichtschimmer. Oft waren es auf Rahmen gespannte Schweinsblasen, die transluzent etwas Licht einließen, denn Glasscheiben waren kaum zu bezahlen. Wir finden sie zwar bei hochwertigen Sakralbauten der Romanik und seit der Gotik in Form farbiger Fenster als hohe Bilderwände. Normale Bürgersleute in ihren Fachwerkbauten nutzten die Möglichkeit von Fenstern aus Butzenscheiben, kleinen runden Scheibchen aus Glasschmelze, von Bleiprofilen in ein Wabenmuster gefasst, die dem Lichteinlass dienten. Um hinauszuschauen musste jedoch wegen der gestörten Optik der Flügel geöffnet werden. Größere Glasscheiben wurden in Manufakturen erzeugt, indem zylindrische Glasflaschen geblasen, Kopf- und Ansatzstück abgetrennt, der Mantel längs aufgeschnitten und flach ausgebreitet wurde. Größe und Format dieser Scheiben waren begrenzt durch die Lungenkraft der Glasbläser. Noch Joseph Paxton verwendete dieses »Modul« für das Dach des Londoner Glaspalasts.

Die teurere Variante, größere Flächen zu gießen, plan zu schleifen und zu polieren, war vor allem für Spiegel üblich oder dann und wann für exquisite Sondereffekte gut betuchter Bauherren. Die kleinen Formate bedingten Fenstersprossen aus Holz oder Metall, welche jedoch die neu gewonnene Durchsicht, die als Aussicht vermehrt eine Rolle zu spielen begann, zerteilten. Mit der Industrialisierung ersetzte zuerst Druckluft den menschlichen Glasbläser, dann kam das Floatglas auf. Die Formate wurden größer und länger. Und moderne Architekten interpretierten das Fenster neu. Es war nicht mehr wie bisher ein standardisiertes Belichtungselement im durchgegliederten historistischen Fassadenaufbau, sondern Teil der Raumwirkung sowie Regler der Beziehung von Innen und Außen. Wo in der Fassade das Fenster zu liegen kam, sollte von innen her bestimmt werden; das Fenster fasste oft einen bewusst gewählten Ausblick. Immer noch bestand es aus nur einer Scheibe, die viel transparenter war, weil nur zwei Spiegelungsebenen den Durchblick bremsten, halb so viel wie bei Isolier- oder Verbundsicherheitsglas. Dieser Effekt großer Glasscheiben in einigen Villen der 1920er Jahre lässt sich in Einzelfällen noch am Original oder an manchen Schaufensterscheiben nachvollziehen.

Mit der Auflösung der Mauer und der Einführung der Vollglasfassade seit den 1960er Jahren hat sich das Spiel von offen und geschlossen, jedenfalls für die großen Bürohäuser, verabschiedet. Wo nur noch Glaswände sind, gibt es keine Fenster mehr, denn es fehlt ihnen der architektonische Rahmen.

zuschnitt, So., 2008.03.16



verknüpfte Zeitschriften
zuschnitt 29 Holz und Glas

02. März 2008Walter Zschokke
Spectrum

Die Kunst der flachen Stufen

Das neue Life Sciences Center in Wien oder: Der Beweis, dass ein Institutsgebäude keineswegs auf architektonischen Luxus verzichten muss.

Das neue Life Sciences Center in Wien oder: Der Beweis, dass ein Institutsgebäude keineswegs auf architektonischen Luxus verzichten muss.

Wahrscheinlich wissen in der weiten Welt draußen mehr Leute um die im Wiener Biozentrum betriebene Spitzenforschung als in jener Stadt, in der diese Institute ihren Standort haben. Das ist zwar paradox, mag jedoch auch ein wenig an der Position im Stadtgebiet liegen. Auf dem Gelände des ehemaligen Schlachthofs St. Marx, im Schatten der Südost-Tangente, hat sich diese Industriebrache erst in jüngster Zeit zum städtebaulichen Transformationsgebiet entwickelt, obwohl mit dem Rennweg und der Landstraßer Hauptstraße, die an verschiedenen Stellen vom Ring wegstreben, zwei starke urbane Achsen an dieser Stelle wieder zusammentreffen und mit der Querachse Schlachthausgasse einen städtebaulichen Knoten bilden. Die Zeit dieses städtebaulichen Ortes wird noch kommen, nicht zuletzt abhängig von der öffentlichen Verkehrserschließung. Und weiter nach Südosten führt die Simmeringer Hauptstraße aus der Stadt.

Mit dem Ende 2005 fertiggestellten und vorigen Dezember bis ins oberste Geschoß bezogenen Life Sciences Center der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und dem seit 2003 in Betrieb befindlichen „Biocenter 2“ wurde der Wiener Biozentrum-Campus entscheidend erweitert, an dessen Anfang das Institut für molekulare Pathologie und die Max F. Perutz Laboratories standen. Mit den zuletzt abgeschlossenen Planungen, die über einen Wettbewerb dem Wiener Architekten Boris Podrecca übertragen wurden, setzte auch an diesem Ort städtebauliches Denken ein. Das „Biocenter 3“ ist im Bau, und in der weiteren Entwicklung ist im Binnenbereich des Campus ein begrünter Hof vorgesehen.

Doch vorerst muss man sich mit den beiden Neubauten begnügen, deren Fassaden wenig vom Innenleben preisgeben, auch wenn sie im einen Fall in Stein mit unterschiedlich bearbeiteten Oberflächen, im anderen Fall aus plissiertem und eloxiertem Aluminium bestehen. Diese Oberflächen wirken belebend auf die langen Fassaden, hinter denen sich Büros und vor allem Labors befinden. Räumlich interessant wird es allerdings überraschenderweise im Inneren der Gebäude. Das „Biocenter 2“ weist einen hohen Lichthof auf, in den erkerartig verglaste Aufenthaltsbereiche vorstoßen und den Raum plastisch aktivieren. Eine expressive Farbigkeit unterstützt die Raumwirkung. Junge Firmen der Biotechnologie machen hier ihre ersten selbstständigen Schritte.

Das Life Sciences Center enthält auf drei unterirdischen und sechs oberirdischen Geschoßen das Institut für Molekulare Biotechnologie sowie zuoberst das Gregor-Mendel-Institut für molekulare Pflanzenbiologie. Beide benötigen vor allem Laborflächen und Büros. Podrecca strukturierte das Bauvolumen in vertikalen Schichten, die parallel zur Dr.-Bohr-Gasse verlaufen. Direkt an der Fassade liegen die Büros, dahinter verläuft ein Gang. Dann kommt ein Streifen, in dem die vertikalen Erschließungen, Aufzüge und Fluchttreppen, liegen, aber ebenso schluchtartige Vertikalräume, die als Lichthöfe mit ihrer plastischen Durchformung und Einblicken von den Gängen her dem Haus einen starken architektonischen Kern verleihen, der identitätsbildend wirkt. In einer weiteren Schicht liegen die Dunkelräume, wo die Arbeit kein Tageslicht verträgt, dann folgen wieder ein Gang und endlich die Labors, vor denen sich über die gesamte Länge ein riesiger Wintergarten hinzieht, den nach Südosten eine Glaswand abschließt.

Quer zu dieser Ordnung durchstoßen auf jedem Geschoß drei Gänge das Gebäude und münden in Balkonen, die in den Wintergarten hineinragen, von wo der Blick auf einen alten, zur Absiedelung vorgesehenen Industriebetrieb fällt, wo sich in Zukunft der Gartenhof des Campus befinden wird. Diese Quergänge unterscheiden sich in der Art und Weise, wie sie zu den Vertikalräumen in Beziehung stehen, und stützen mit ihrer Transparenz die Orientierung im Gebäude. Das rationale System weist eine Struktur ähnlich jener einer römischen Gründungsstadt auf, mit Cardo und Decumanus, welche die Insulae der Labors gliedern, das Ganze gestapelt auf mehreren Ebenen. So viele, dass man die Übersicht verlieren würde, sind es nicht, und ein paar wesentliche, architektonisch aufgeladene Elemente unterstützen die Ortung.

Im Vordergrund steht da die Haupttreppe, die offen in der Erschließungsschlucht verläuft. Ihre Besonderheit ist ein heute unüblich gemächliches Stufenverhältnis von 10,5 Zentimeter Steigung und 43 Zentimeter Auftritt. Dieses Stufenverhältnis verleiht dem Treppensteigen, ob aufwärts oder abwärts, einen besonderen, verlangsamenden Reiz. Man findet solche Treppen sonst nur noch in Bauwerken des 19. Jahrhunderts, etwa in der ehemaligen Tierärztlichen Hochschule von Johann Aman, heute Hochschule für Musik und darstellende Kunst; im Palais des Erzherzog Ludwig Viktor von Heinrich Fers- tel, heute Burgtheater-Kasino; in Gottfried Sempers und Carl Hasenauers neuer Hofburg und im Burgtheater sowie natürlich in Otto Wagners Wohnhäusern. Der Funktionalismus des 20. Jahrhunderts eliminierte diese kultivierten Inszenierungen des Treppensteigens, und das Aufkommen der Aufzüge schien sie ganz überflüssig zu machen. An den Architekturschulen waren großzügige Treppen kein Thema mehr. Und ein weiteres Mal hatte sich eine Hauptkrankheit der Moderne, die Manie, das Kind mit dem Bad auszuschütten, durchgesetzt.

Umso mehr überrascht nun Boris Podrecca mit seinen angenehm zu beschreitenden flachen Stufen, die den Wechsel vom einen zum anderen Geschoß zum raumzeitlichen Erlebnis werden lassen, deren ausladende Absätze bei der Wende auf halber Höhe zum kurzen Verweilen einladen und den Blick in den von oben belichteten Vertikalraum, in die „Schlucht“ mit den offenen Gangfenstern, akzentuieren. Diesen architektonischenLuxus hätte man in einem naturwissenschaftlichen Institut nicht unbedingt erwartet. Für eine Institution wie die Österreichische Akademie der Wissenschaften mit ihrer historischen Tiefe und kulturellen Breite ist er allerdings absolut angemessen.

Im Übrigen wurde durchaus gespart. Der rohe Sichtbeton wird mit scharfen Kanten nobilitiert. Farbige Bodenbeläge in den Gängen erzeugen eine heitere Stimmung, und die Ausblicke zum Licht sowie die Aufenthaltsbereiche im Wintergarten bieten den imHaus Arbeitenden jene wichtigen Freiräume, die der Kurzerholung und dem spontanen wissenschaftlichen Diskurs dienen, dessen Bedeutung in Fachkreisen längst anerkannt ist. Und natürlich wird dort auch geraucht.

Das Erdgeschoß weist als Besonderheit einelliptisches Auditorium mit knapp 130 Plätzen auf, dessen ausgezeichnete Akustik auf elektronische Verstärkung locker verzichten kann. Die innen und außen geschuppt angebrachten Tafeln sind mit Eschenholzfurnier versehen und machen den Großraum als eingefügten Leichtbau erkennbar, seine starke Form wird von den Stülpungen relativiert. Rationalität und feines Gefühl sind an diesem Bauwerk gut ausbalanciert, obwohl die Anmutung der Labors und jene der allgemeinen Räume weit auseinanderliegen. Doch gerade aus dieser Spannung gewinnt das Bauwerk seine die nackte Funktionalität übersteigende architektonische Qualität.

Spectrum, So., 2008.03.02



verknüpfte Bauwerke
Vienna Biocenter 1, 2 + 3

03. Februar 2008Walter Zschokke
Spectrum

Ein Steg. Ein Denkmal!

Ein rares, schutzwürdiges Dokument der österreichi-schen Moderne: der Piaristensteg in Horn. Die geplante Sanierung bedroht nun seine außerordentliche Eleganz.

Ein rares, schutzwürdiges Dokument der österreichi-schen Moderne: der Piaristensteg in Horn. Die geplante Sanierung bedroht nun seine außerordentliche Eleganz.

Vom dreieckförmigen Hauptplatz in Horn führt ein unscheinbarer Durchgang durch die äußere Häuserzeile zu einem Steg, der in zwei eleganten Bogen zehn Meter hoch über die Taffa führt, das Flüsschen, das an dieser Längsseite die alte Stadt bespült. Die wichtige Fuß- und Radwegverbindung dürfte recht alt sein, auch wenn die derzeitige Brücke, von der man einen prächtigen Panoramablick auf die Stadt und das ehemalige Piaristenkloster genießt, auf 1937 datiert. In Eisenbeton errichtet, zeugt sie vom Credo ambitionierter Bauingenieure, mit einem Minimum an Material ein Maximum an Leistung zu erzielen.

Die statisch als Dreigelenksbogen wirkenden zwei Haupttragwerke mit rund 30 Metern Spannweite sind an den Auflagern kräftiger und nehmen zur Mitte hin in ihrer Stärke ab. Auf den Bogen sind quer stehende Scheiben aufgeständert, welche die dünne Fahrbahnplatte tragen. Die Stärke dieser Scheiben nimmt zur Mitte hin ebenfalls ab, sodass sie trotz geringerer Höhe jeweils schlanke Proportionen aufweisen. Die Fahrbahnplatte selbst wirkt mit ihrer geringen Stärke wie ein über die aufgeständerten Scheiben gespanntes Band. Ein luftiges Geländer aus vier parallelen Eisenrohren beeinträchtigt das klare Erscheinungsbild in keiner Weise. Jeder Teil dient dem Gesamtkonzept von außerordentlicher Eleganz und Konsequenz, das als modernes und zugleich klassisches Brückenbauwerk unsere Wertschätzung verdient.

Der Entwerfer dieser Fußgängerbrücke, der Bauingenieur Friedrich Ignaz Edler von Emperger (zusammen mit dem Ingenieur Karl Kugi), ist nicht irgend ein Bauingenieur, sondern war ein wichtiger österreichischer Eisenbetonpionier der ersten Stunde. 1862 im böhmischen Beraun, tschechisch Beroun, geboren, studierte er an den Technischen Hochschulen von Prag und Wien. Er war Schüler des wichtigen österreichischen Bauingenieurs Joseph Melan (1853 bis 1941) und arbeitete ab 1890 als Ingenieur in New York, eine Erfahrung, die ihm ein, zwei Jahrzehnte Vorsprung in der Erkenntnis kommender Entwicklungen ermöglichte. 1893/94plante und errichtete er nach dem System Melan, das er in den USA vertrat, die Edenparkbrücke in Cincinnati und machte damit in den Staaten die Bauweise in Eisenbeton populär. 1897 kehrte er nach Wien zurück, war Privatdozent an der Technischen Hochschule, gründete 1901 eine Zeitschrift die lange unter dem Titel „Beton und Eisen“ erschien. 1903 war er unter den ersten Ingenieuren, die das neu erworbene Promotionsrecht der Technischen Hochschule Wien wahrnahmen. Mit dem ab 1905 herausgegebenen „Betonkalender“ schuf er ein Handbuch für Fachleute, das bis heute, immer aufs Neue überarbeitet, erscheint. Emperger verstarb im Februar 1942 in Wien.

Nach der von ihm vertretenen „Methode Emperger“, bei der mit Armierung umschnürte und von Beton ummantelte gusseiserne Druckglieder zum Einsatz kamen, sodass die Sprödigkeit des Gusseisens durch diese Kombination relativiert wurde, errichtete er an der Internationalen Bauausstellung in Leipzig, 1913, die Schwarzenbergbrücke, einen Fußgängersteg mit 42 Meter Spannweite. In Unterleitenbach in Franken wurde 1913/14 eine weitere Brücke dieses Systems mit 52 Meter Weite über den Main gebaut. Die letzte Brücke dieser Art entstand 1925 bei Gmunden, die Traunfallbrücke, die 71 Meter überspannte. Keine dieser Brücken steht heute noch, weil seither die Verkehrslasten stark zunahmen, aber allen gemeinsam war eine spezifische Eleganz, die einerseits Empergers System der schlanken Tragglieder, andererseits aber ebenso seinem offensichtlichen Formgefühl und seiner ästhetischen Kompetenz zu verdanken waren. Das System umschnürter Stützen, das eine bessere Ausnützung der Betontragfähigkeit und schlankere Proportionen erlaubt, zu dem Emperger theoretische Grundlagen lieferte, ist heute allgemein verbreitet.

Der Piaristensteg in Horn, den Friedrich Emperger mit bereits 75 Jahren entwarf und der die große Erfahrung des Neuerungen stets aufgeschlossenen Geistes belegt, ist offensichtlich eines der letzten Bauwerke aus seiner Hand, die noch existieren. Es ist daher ein wichtiges ingenieurbaugeschichtliches Denkmal, in seiner außerordentlichen Eleganz zugleich ein rares Dokument der österreichischen Moderne vor dem Zweiten Weltkrieg und nicht weniger schutzwürdig als etwa ein Bauwerk von Adolf Loos. Im Wissen um den kultur- und technikgeschichtlichen Hintergrund ist die Forderung nach integralem Schutz und sorgfältigster Sanierung unter exakter Wahrung der ästhetischen Erscheinung, wie sie der Bauingenieur Karlheinz Wagner erhebt, mehr als berechtigt. Ein aktuelles Sanierungskonzept sieht jedoch eine extreme Verdickung der zu erneuernden Fahrbahnplatte und historisierende Geländer vor, was den zutiefst modernen Formen dieser Brücke brutal widerspricht.

Keine Frage, dass Abplatzungen an Kanten und die Korrosion von Armierungseisen saniert werden müssen. Die Technologie dafür ist heute Standard. Dass auch einzelne Teile, wie die Fahrbahnplatte, deren Tragfähigkeit nicht mehr den Sicherheitsanforderungen genügt, zu erneuern sind, ist verständlich. Bei allen diesen Arbeiten ist jedoch zu bedenken, dass man ein einmaliges Bauwerk vor sich hat. Das mag den Bürgern von Horn, die den Anblick gewohnt sind, seine Erscheinung mittlerweile etwas schäbig finden könnten und die sich funktionale und technische Verbesserungen wünschen, nicht selbstverständlich sein. Aber woher sollen sie dies wissen, wenn es ihnen niemand sagt. Das Wissen um die Geschichte der Ingenieurbaukunst ist das Privatvergnügen einiger weniger Fachleute. Es gehört nicht zum Ausbildungsstoff von Bauingenieuren, was diesen verunmöglicht, ein verbessertes Verständnis ihrer ureigensten Disziplin zu erlangen. Ganz zu schweigen davon, dass auch gestalterisch-ästhetische Kompetenz bei Ingenieuren dem Zufall überlassen bleibt.

Umgekehrt wurden die ingenieurwissenschaftlichen Fächer in der Architektenausbildung unnötigerweise zurückgedrängt, sodass den meisten Architekten, wenn sie für die Gestaltung von Ingenieurbauwerken beigezogen werden, die Kompetenz für das Verständnis von Tragsystemen sowie statischer und materialtechnologischer Aspekte abgeht. Und Kenntnisse zur Geschichte der Ingenieurbaukunst, die ihnen Hintergrundwissen bieten könnten, sind erst recht nicht vorhanden, wo schon die Architekturgeschichte zum Orchideenfach reduziert wird. Aufgesetzte Behübschungen sind die Folge.

Aber ein Fußgängersteg eignet sich recht gut für eine das Denkmal schützende Pflege, weil der finanzielle Aufwand und die zu berücksichtigenden Lasten sich in einem überschaubaren Rahmen bewegen. Es käme daher einem Schildbürgerstreich nahe, wenn die grundlegende Qualität des Piaristenstegs, die bloß aus ihrem Dornröschenschlaf ins kulturelle Bewusstsein geholt werden müsste, aus fehlendem Wissen und mangelnder Sensibilität zerstört würde. Die übliche Ausrede, man habe das alles nicht wissen können und leider sei es jetzt dafür zu spät, darf nicht gelten, denn die Fakten liegen dank Bibliotheken und Internet auf dem Tisch.

Spectrum, So., 2008.02.03

06. Januar 2008Walter Zschokke
Spectrum

Raffen oder dehnen?

Einmal Bregenz, einmal Wien: Zwei große Ausstellungen widmen sich den Werken von Peter Zumthor und Coop Himmelb(l)au. Mit unter-schiedlichen Konzepten – und in beiden Fällen nicht frei von Aura und Pathos.

Einmal Bregenz, einmal Wien: Zwei große Ausstellungen widmen sich den Werken von Peter Zumthor und Coop Himmelb(l)au. Mit unter-schiedlichen Konzepten – und in beiden Fällen nicht frei von Aura und Pathos.

Obwohl beide gern Zigarren rauchen, könnten sie unterschiedlicher nicht sein. Wolf D. Prix, Frontmann von Coop Himmelb(l)au, und Peter Zumthor, Haldenstein. In Form groß angelegter Ausstellungen blicken beide auf ihr Werk zurück. Zumthor in dem von ihm entworfenen Kunsthaus in Bregenz, Prix im von Peter Noever geleiteten Museum für angewandte Kunst (MAK) in Wien. Beide genießen in gewisser Weise Heimvorteil, doch die Grenzen des Mediums „Architekturausstellung“ sind für jeden Anlass genug, deren Eigengesetzlichkeiten auch als spezielles Projekt zu verstehen. Ausstellen heißt herzeigen. Je nach Temperament ist daher die Inszenierung heftiger oder unterkühlter.

In Bregenz füllt Peter Zumthor das ganze Haus, das wie nebenbei, als originales Werk aus seiner Hand die Ausstellung umfängt. Im Erdgeschoß sind es große Modelle, etwa jenes zum Kunstmuseum Kolumba in Köln, in das man den Kopf hineinstecken kann, um sich einen Eindruck des dortigen Raumes zu erarbeiten. Ja, erarbeiten, denn das Modell hat einen kleineren Maßstab als das Original, und diese Distanz gilt es mit der eigenen Vorstellungskraft zu überbrücken. Natürlich hat so ein Modell auch als Objekt an sich eine nicht unwesentliche Ausstrahlung, aber das kann vom architektonischen Sachverhalt, für das es als Arbeitsinstrument diente, auch ablenken.

Die nächsten beiden Geschoße gehören den Filminstallationen von Nicole Six und Paul Petrisch. Die beiden Künstler haben zwölf Bauwerke Zumthors aus den vergangenen 20 Jahren filmisch aufgenommen. Das konsequent durchgehaltene Konzept sah jeweils sechs feste Kamerastandpunkte vor, von denen gleichzeitig gefilmt wurde. In den Ausstellungsräumen werden die laufenden Bilder in derselben Konstellation auf große, den Raum gliedernde Leinwände projiziert. Von allein wird man diese Zusammenhänge kaum merken, umso mehr, als die Bilder auch auf den Rückseiten – spiegelverkehrt – zu sehen sind. Aber das tut nichts zur Sache, denn ausstellungsdidaktisch handelt es sich um eine hochinteressante Innovation. Die Bilder scheinen vielleicht anfangs festgefroren, als wären sie Fotografien. Doch Blätter und Zweige bewegen sich im Wind und Menschen gehen durch die Räume, einmal schleicht auch eine Katze vorüber. Sonst passiert eher wenig. Aber die Filmbilder werden von der originalen Tonspur begleitet. Dies liefert ein unschätzbares Indiz des Dreidimensionalen, das den Betrachter von den analog zur Aufnahmesituation aufgestellten Projektionsflächen nicht mit der gleichen Direktheit erreicht. Das Ohr verhält sich eben anders als das Auge. Als Normalbesucher wird man es allerdings kaum schaffen, alle zwölf, 40 Minuten lang laufenden filmischen Sequenzen anzuschauen, man wird sich ein- und wieder ausklinken und erhält gleichzeitig den Eindruck des Beiläufigen (die Sicht) wie den des Monumentalen (das Konzept).

Im obersten Geschoß werden Arbeitsmodelle, Skizzen und Pläne auf hohen, einfachen Tischen und Podesten präsentiert. Sie geben Einblick in die synthetisierende Arbeitsweise des Architekten und dokumentieren nebenher den Abschied von Reißschiene und Dreieck aus den Ateliers. Bei einigen der perfekt gezeichneten Pläne kommtschlicht Wehmut auf.

Im Wiener MAK gelangt man von der Weiskirchnerstraße in den zentralen Raum für Wechselausstellungen. Eine eigens errichtete Tribüne erlaubt den Blick auf eine große, von einer schräg laufenden Gasse geteilte, transluzente Plattform, auf der über 300 Modelle unterschiedlichen Maßstabs und Arbeitsfortschritts zum Schaubild einer Stadt arrangiert sind. Entlang den Rändern und an der Diagonale lassen sich die auf Augenhöhe befindlichen Modelle studieren. Für wissbegierige Besucher sind sie auch minimal beschriftet.

Bald einmal wird es jedoch finster, und es setzt eine Video- und Lichtschau ein. Die Plattform beginnt blau zu leuchten, Blitze zucken, und an der Wand gegenüber der Tribüne setzt eine Videoprojektion ein. Alles geht sehr schnell, kaum angetippt, haben die Aspekte auch wieder gewechselt. Dazwischen gibt ein jovialer Wolf D. Prix Kleinodien der Erkenntnis aus seinen 40 Jahren Praxis preis. Man erfährt etwa, dass die wesentlichen architektonischen Entscheide beim Entwurf gefällt werden. Das wird man sich merken müssen.

In autonom bestimmter Wahrnehmungsgeschwindigkeit kann man im dreiseitig anschließenden Galerieraum die drei wichtigsten Werke von Coop Himmelb(l)au der jüngsten Zeit betrachten: BMW-Welt, München; Musée des Confluances, Lyon; Europäische Zentralbank, Frankfurt am Main. Hier lässt sich der Werdegang und die weitere Entwicklung der Projekte studieren. Und es zeigt sich, wie aufwendig es bei diesen Größenordnungen ist, die Konstruktion architektonisch nicht in gewohnten Bahnen verlaufen zu lassen und Sehgewohnheiten auszutricksen. Etwas enttäuscht nimmt man zur Kenntnis, dass das Bild der luftigen Wolke, das man von den Renderings des Musée des Confluances in Erinnerung hat, sich in der weiteren Bearbeitung verändert hat: Schwer ist sie geworden und zu Boden gegangen. Aber Modelle sind ja nicht das Bauwerk.

Im Vergleich verzichten beide Ausstellungen nicht auf Aura und Pathos. Bei Zumthor sind es das bedächtige Wesen des Baumeisterarchitekten, des unbeirrbaren Arbeitens an der Idee, am Material, an beider Wirkung und dann an der Herstellung, bis das Bauwerk lapidar und selbstverständlich dasteht und für zeitgenössische Architektur erstaunlich breiten Anklang findet. In Summe, als Projekte nebeneinander gestellt und versuchsweise im Kopf zu ihrer architektonischen Größe zur Vorstellung gebracht, kann das mitunter anstrengen, fast zu viel werden. Aber Zumthor, in seiner großväterlichen Geduld, lässt dem Besucher die Zeit.

Für Wolf D. Prix scheint sich in seinem Avantgardeverständnis wenig verändert zu haben. Mit „Architektur muss brennen“ meint er weniger den platten Vergleich als den Widerspruch, der ausgelöst werden soll. Er pflegt das Image des Rebellischen, und wie die älter gewordenen Rockstars ihre Songs, mischt er mit der gleichen Selbstverständlichkeit ältere und neuere Werke, bringt sie parallel und synchron an die Rampe, um die Zugehörigkeit zur immerwährenden Avantgarde zu beteuern. Er lässt mit seiner Inszenierung dem Betrachter jedoch kaum Zeit um wahrzunehmen. Er vermittelt eine Stimmung, doch Architektur bleibt etwas anderes. Man muss sie weiterhin an Ort und Stelle besichtigen.

Spectrum, So., 2008.01.06

10. Dezember 2007Walter Zschokke
TEC21

Sehen und beschreiben

Im Urner Reusstal und in der Leventina haben Bahn- und Strassenbau die Topografie und die Kultur neu modelliert. Doch woraus besteht die Verkehrskulturlandschaft,...

Im Urner Reusstal und in der Leventina haben Bahn- und Strassenbau die Topografie und die Kultur neu modelliert. Doch woraus besteht die Verkehrskulturlandschaft,...

Im Urner Reusstal und in der Leventina haben Bahn- und Strassenbau die Topografie und die Kultur neu modelliert. Doch woraus besteht die Verkehrskulturlandschaft, und was haben die Einzelteile miteinander zu tun? Viele Teile sind unsichtbar geworden, überwachsen, vergessen oder selbstverständlich. Sie müssen entdeckt und in Sprache gefasst werden, damit sie wieder sichtbar werden. Der Autor dieses Artikels wurde von den SBB mit dieser Aufgabe betraut. Er sucht nach Methoden und Worten.

Die hochgradig technisch geprägte Kulturlandschaft im Urner Reusstal und, in etwas geringerem Mass, in der Leventina ist Zeugnis einer schrittweisen und in vielem pragmatischen Entwicklung – pragmatisch im durchaus positiven Sinn des in der jeweiligen Epoche sowohl technisch als auch ökonomisch gerade noch Machbaren. Nicht einzelne Sensationen, sondern die Gesamtleistung von Generationen bildet daher mehr und mehr den Anlass für die Faszination, die in den vergangenen Jahren mit der zunehmenden zeitlichen Distanz breitere Kreise erfasst hat.

Seitens der SBB ist man sich dieses Phänomens schon seit einiger Zeit bewusst. Dies führte zur Erarbeitung eines Inventars der Hochbauten an der Bergstrecke zwischen Erstfeld und Biasca, das mit wissenschaftlicher Detailschärfe den über die Jahre angewachsenen, veränderten und oft erneuerten Bestand auflistet und eingehend beschreibt. Doch in den beiden Bergtälern verläuft nicht nur eine doppelspurige Eisenbahnlinie der Nord–süd-Transversale, sondern es liegen darin auch die parallelen und teilweise überlagerten Systeme des Individualverkehrs: Saumpfad, Fahrstrasse, Autobahn, weiter die Anlagen für Produktion und Transport von Strom sowie mannigfaltige Schutzmassnahmen gegen Wildbäche, Lawinen, Steinschlag und Murabgänge (Rüfen), dazu militärische Anlagen zur Kontrolle des von der Bahn geschaffenen Korridors durch die Alpen. Sie alle sind eingebettet in eine von Fluss und Gletscher geformte alpine Topografie, die eine Folge von Landschaftsräumen unterschiedlichen Charakters aufweist.

In der Summe ist das sehr viel, und doch wird eine Fahrt über die Gotthard-Bergstrecke als ein grosses, nichtsdestotrotz stark komprimiertes Gesamtereignis wahrgenommen. Es war daher die Absicht der Verantwortlichen des Inventars, Toni Häfliger und Karl Holenstein, eine Zusammenschau anzustreben, die Bahnstrecke als Teil dieser technischen Landschaft zu betrachten und die Interdependenzen mit den anderen Systemen der technischen Infrastruktur als zusätzliche Faktoren der Sinnstiftung mit einzubeziehen.

Dem mit dieser Aufgabe betrauten Schreibenden stellte sich bald die Frage, ob die Wahrnehmung aus dem bewegten Eisenbahnzug dafür überhaupt geeignet ist. Der schräg nach vorn oder nach hinten zielende Blick aus dem Wagenfenster vermag näher Liegendes kaum zu erfassen, und schon ist es wieder verschwunden. Nur was etwas weiter entfernt ist, kann länger fixiert und somit «erkannt» werden. Eine Führerstandsfahrt bietet den von der Autofahrt bekannten frontalen Ausblick, der wesentlich ruhiger ist, weil man weiter vorausschauen und weniger auffällige Elemente der Bahninfrastruktur in Geleisenähe besser erkennen kann. Längeres Betrachten geht jedoch nicht, da sind selbst die 70 km/h, mit denen eine Güterzuglokomotive die Steigung bewältigt, viel zu schnell. Dazu kommt, dass ein nicht geringer Teil der Fahrt in kürzeren und längeren Tunneln verläuft, sodass dem Kontinuum der Bewegung ein stark fragmentierter Eindruck entgegensteht. Obwohl die Sicht aus dem fahrenden Zug hinaus ein wesentlicher Aspekt der «Erfahrung» und daher unabdingbar bleibt, kann sie keinesfalls genügen. Es ist daher zwingend, sich eine Aussensicht zu erarbeiten, die eine Gesamtvorstellung der durchfahrenen Landschaftsräume anstrebt. Dieser Versuch wird vom Überblick zum Einzelobjekt führen, doch er wird manche Lücken bewusst stehen lassen müssen, denn bis in alle Details vordringen zu wollen wäre vermessen. Dennoch ist der grosse Rahmen für das Gesamt- wie das Teilverständnis wesentlich.

Das ideale Vorgehen ist daher die immer wiederkehrende Annäherung an die Bahnlinie zu Fuss, unterstützt durch ein Fahrzeug. Damit wird die Kantonsstrasse zur Basislinie der Landschaftswahrnehmung, von der aus in intensiven Begehungen immer wieder die Nähe zur Bahntrasse gesucht wird, um die einzelnen Elemente in der Vorstellung zu einem Gesamteindruck zu verdichten. Selbstverständlich sind dabei Strässchen und Wege eine willkommene Hilfe, denn Wege entlang der Bahnlinie finden sich nur auf kurzen Teilstrecken. So präzisiert sich die etappenweise gewonnene Vorstellung mehr und mehr, und Zusammenhänge werden ersichtlich, die sich einem aus dem fahrenden Zug heraus nie erschlossen hätten. Eine unschätzbare Hilfe bildet zudem das in der Schweiz vorhandene ausgezeichnete Kartenwerk im Massstab 1 : 25000.

Die Dichte der technischen Infrastruktur im Tal bringt es mit sich, dass plötzlich gar vieles interessant wird. Vor allem wenn es zu Annäherungen, Kreuzungen, Überlagerungen und Engstellen der Systeme kommt, wenn sich die Bauwerke von nahe besehen und sogar anfassen lassen, wenn eine Brücke, über die sonst nur die Züge fahren dürfen, dem Fussgänger ebenfalls die Überwindung des topografischen Hindernisses zugesteht. Diese Begegnung zweier Massstäbe im doppelten Sinn – mächtiges Bauwerk–Mensch und Schritttempo–Eisenbahntempo – birgt einen hohen Erlebniswert, der nicht unterschätzt werden soll. Sigfried Giedion weist in «Bauen in Frankreich» (1928) auf dieses besondere, gleichsam überwältigende Gefühl hin: «In den luftumspülten Stiegen des Eiffelturms, besser noch in den Stahlschenkeln eines Pont Transbordeur, stösst man auf das ästhetische Grunderlebnis des heutigen Bauens.» Auf dem Fussweg zwischen den Stahlkastenträgern der Reussbrücke bei Intschi, wo als Lichtquelle und Gehfläche nur die Gitterroste unter den Füssen dienen, packt einen hoch über den Strudeln der Reuss dieses Gefühl ebenso heftig. Und wenn dann noch ein Zug über die Brücke rollt und die Topflager ächzen, kann es Manchen sogar zu viel werden. Eine Achterbahn ist da weniger elementar. Es sind diese Nebenerträge der Primärleistung von Kunstbauten, die den neuartigen Erlebniswert für Wandernde enorm steigern. Nach einer solchen Begehung mit Direktkontakt befährt man die Strecke mit ganz anderen Augen.

Eine derartige Annäherung wird erst möglich, wenn die Hemmschwellen, die infolge einer massiven Veränderung des gewohnten Landschaftsbildes in den Köpfen entstanden sind, durch Gewöhnung abgebaut oder niedriger werden, wenn – oft nach Jahrzehnten – die Historisierung eintritt und die Werke der Ingenieure gleichsam zu Topografie geworden sind, einer von Menschen gemachten Topografie notabene, in der wir desto mehr zu sehen und zu erkennen vermögen, je mehr wir technik-, kultur- und sozialgeschichtlich darüber wissen. Das heisst nun nicht, dass die Strecke mit erläuternden Tafeln gespickt sein muss. Denn zuvorderst steht das spontane Schauen, das niemandem genommen werden soll. Daraus ergeben sich Fragen. Ein handlicher Führer oder gar nur ein Faltblatt dürfte genügen, denn individuelle Entdeckerfreude und Erkenntnisvermehrung sollen nicht durch pädagogistische Erläuterungen geschmälert werden; man kann eine Sache auch zu Tode vermitteln. Am stärksten sind diese Werke, wenn Stein, Stahl und Beton sowie Dimensio­nen und Leistung unmittelbar wirken.

Das heisst dennoch nicht, dass die neu gewonnene Sicht auf die technische Kulturlandschaft nicht in ein anderes Medium, sei dies Fotografie oder wie bei der vorliegenden Aufgabe Sprache, gefasst werden darf. Abschliessend und vollumfänglich wird dies sowieso nicht gelingen, aber die beschreibende, interpretierende Annäherung ist jedenfalls erlaubt. Daraus ergeben sich – in anderen Medien – eigenständige Werke, die mit dem Objekt der Betrachtung in mehrfacher Beziehung stehen.

Für eine textliche Annäherung werden die Strukturierung in Systeme und Elemente, eine Gliederung in Abschnitte und Einzelobjekte sowie Überlagerungen und Details nützlich sein, um der Fülle an Material und Eindrücken ordnend beizukommen. Dabei wird unschwer feststellbar, dass hinter jeder Massnahme mehrheitlich rationale, ihrer Zeit entsprechende Überlegungen stehen und auch das Gesamtsystem klare Gesetzmässigkeiten aufweist. Das Verhältnis zur alpinen Landschaft war jedoch eher nüchtern, gleichsam absichtslos. Diese spezifische Absichtslosigkeit, wie sie zur Bauzeit der Gotthardbahn und dann auch wieder von 1950 bis 1980 vorherrschte, bringt nicht selten Neues hervor, das sich erst im Nachhinein als solches erkennen lässt. Sie lässt sich nicht willentlich und künstlich herbeiführen. Wenn wir aber heute diese Infrastrukturbauten analysieren, entfernen wir den Schleier gleicher Gültigkeit und holen die Dinge ins Bewusstsein. Damit eignen wir sie uns neuerlich an und machen sie zu etwas Besonderem, zu Geschichte. Als Fachleute wie als Entscheidungsträger, die darüber Bescheid wissen, sind wir in der Folge für die Integration kommender Veränderungen verantwortlich.

[ Walter Zschokke, Architekt ETH und Autor ]

TEC21, Mo., 2007.12.10



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2007|49-50 90 Km Bahnkultur

07. Dezember 2007Walter Zschokke
Spectrum

Freches Grün und schlichtes Holz

Ein Pensionistenheim, das nicht wie ein Krankenhaus aussieht? Durchaus möglich. Gerhard Lindner hat es bewiesen – in Waidhofen an der Thaya.

Ein Pensionistenheim, das nicht wie ein Krankenhaus aussieht? Durchaus möglich. Gerhard Lindner hat es bewiesen – in Waidhofen an der Thaya.

Waidhofen an der Thaya liegthoch oben im nördlichen Waldviertel und wurde bisher von aktuellen Entwicklungen hin zu engagierter zeitgenössischer Architektur kaum gestreift. Außerhalb des historischen Zentrums findet sich eine wilde Mischung beziehungslos hingewürfelter Bauten, deren erborgte Formen entfernt an schwache Derivate der Postmoderne erinnern. Robust, wie sie sind, werden sie kaum einstürzen, von einem architektonischen Bewusstsein oder Gespür ihrer Erbauer kann jedoch keine Rede sein.

Doch auch hier werden neuerdings Zeichen gesetzt. Das kürzlich in Betrieb genommene, von Architekt Gerhard Lindner entworfene Landespensionistenheim sticht aus dem belanglosen Umfeld heraus, nicht etwa der sensationellen Formen wegen, auch wenn seine Erscheinung durchaus zeitgenössisch ist, sondern weil die städtebauliche Gliederung in mehrere Trakte den Umraum aktiviert. Das Bauwerk steht nicht nur simpel irgendwie auf dem Grundstück; vielmehr ist das umfangreiche Volumen in drei Pflegetrakte aufgeteilt, die nach drei Seiten von einem zentralen Erschließungsbereich wegstreben, sodass zwei großzügige, begrünte Außenräume entstehen. An der vierten Seite dockt locker der Eingangs-, Therapie- und Verwaltungstrakt an, sodass auch hier vernünftige Außenräume entstehen, auch wenn sie auf der Ankommensseite der Parkierung und teils als Wirtschaftshof dienen.

Jahreszeiten, Jahresringe

Dieses Ausgreifen und Verzahnen mit dem Umraum bietet jenen, die noch einigermaßen gut zu Fuß sind, aber auch jenen, die im Rollstuhl geschoben werden müssen, eine Möglichkeit für kleine Spaziergänge, ohne mit Autos in Konflikt zu kommen. Zugleich erlaubt der Blick aus den Zimmern, der durch die französischen Fenster auch für bettlägerige Bewohner leichter möglich ist, den Wechsel der Jahreszeiten am wachsenden und welkenden Grün mit zu verfolgen. Natürlich wird es noch ein paar Jahre dauern, bis sich der kleine Park entwickelt hat, aber auch dieser Vorgang bietet Anregung.

An der Fassade wechseln große Fensterflächen, vor denen flache Balkone angeordnet sind, mit holzverschalten Elementen, hinter denen sich in den Zimmern erkerartige Nischen befinden, die seitlich verglast sind, sodass auch diagonale Ausblicke möglich sind. Die klaren Proportionen verleihen der Fassade und damit dem ganzen Gebäude Großzügigkeit und zugleich unverkennbare Identität. Das Holz wird mit den Jahren teils von der Sonne braunrot gebrannt werden, teils vom Regen grau verwaschen. Dies wird den Gesamteindruck weiter differenzieren und den individuellen Charakter der Außenräume stärken.

Besuchende betreten das Gebäude von der Rückseite, nachdem sie es – wahrscheinlich mit dem Auto – umrundet haben. Die kleine Eingangshalle wird von einer großflächigen grafischen Arbeit von Erich Steininger stark aufgewertet, die als frei stehender Wandschirm die Bewegungen der Menschen leitet: nach links zu den Pflegeabteilungen, nach rechts in den Verwaltungstrakt. Ein Café, ein Frisiersalon und die Kapelle schließen an. Geradeaus geht es Richtung Pflegebereich, vorbei an den Aufzügen und der Treppe, die alle drei Stockwerke und das Untergeschoß bedienen.

Prinzipiell sind die Hauptgeschoße ähnlich organisiert. Als Erstes gelangt man in eine großzügige Aufenthaltszone, von der keilförmig sich verjüngende Stichgänge in die drei Zimmertrakte führen. Mauerscheiben wechseln mit flachen Nischen, in denen sich die Türen zu den Zimmern befinden. Durch diese raumplastische Gliederung in Querrichtung verliert der Gang den Zug in die Länge, und das keilförmige Zusammenlaufen lässt ihn – vom Aufenthaltsbereich her – kürzer scheinen. Ein großes Fenster in der Stirnseite öffnet den Abschluss zum Licht.

Die Materialisierung unterstützt die differenzierende Raumbildung. Die Mauerscheiben bestehen aus horizontal geschaltem Beton, farbig gestrichen, sodass die Jahresringstruktur der Bretter noch zu erkennen ist. Ein dunkles Ziegelrot, ein Sonnengelb und ein freches Grün unterscheiden die drei Gangräume klar. Das Streichen der Oberflächen in kräftigen Farben wirkt jedoch dematerialisierend und betont das Abbild des Holzes. Die Türnischen sind vertikal in schlichtem Holz furniert, und der Fußboden ist mit Linoleum ausgelegt.

Die Decke ist wieder aus Holz. Wie das, wird man fragen, wenn die tragenden Mauern offensichtlich betoniert sind? Es sind Brettsperrholztafeln, die schubfest mit einem Überbeton verbunden sind, sodass Holz und Beton tragend zusammenwirken. Dies bringt Vorteile in akustischer Hinsicht sowie bezüglich Durchbiegung und Schwingungen. Optisch erweist sich jedoch die sichtbare Holzdecke als großer Gewinn, da sie wohnlicher wirkt als weißer Gipskarton oder Putz. In den Zimmern ist dies gewiss noch wichtiger, denn Bettlägerige haben nicht viel Auswahl, wohin sie schauen können, und eine Holzdecke wirkt eben lebendiger. Folgerichtig sind keine Leuchten an der Decke angebracht. Das künstliche Licht kommt indirekt aus einem Deckenversatz, sodass Blendung vermieden wird.

Dennoch darf man sich auch bei der Bauaufgabe für ein Pensionistenheim nicht zu viele Illusionen machen. Die Kosten dürfen nicht in den Himmel schießen, Hygiene und Pflegefreundlichkeit gilt es sicherzustellen, und funktional im Sinne des Personals sollte der Betrieb auch sein. Jahrzehntelang folgten diese Häuser denn auch in der Erscheinung dem Vorbild von Spitälern – von deren raumgestalterischen Qualitäten wir hier absehen wollen –, dabei handelt es sich um Wohnheime mit intensiver Betreuung. Diesen Anforderungen haben sich Architekten erst in jüngster Zeit ernsthaft gestellt, da die funktionalistischen Maximen der Moderne immer noch nachwirkten.

Der Wert der späten Jahre

Mit dem Landespensionistenheim in Waidhofen an der Thaya hat Gerhard Lindner eine äußerst positive Antwort auf die anspruchsvolle Bauaufgabe gegeben. Es gelang ihm, den Klinikcharakter zurückzudrängen. So könnte beispielsweise der Pflegestützpunkt durchaus als Verkaufspult für eine Konditorei durchgehen, ohne dass ein direktes Vorbild strapaziert würde. Und die hölzernen Handläufe entlang türloser Wände sind nicht bloß praktisch, sondern wirken achtsam und damit wohnlicher.

Allein, dass Verlassen eingespielter Muster fordert von allen Beteiligten einiges an Denkarbeit und Akzeptanz. Denn kann etwas, das auf den ersten Blick nicht so aussieht, hygienisch, funktional und leicht zu reinigen sein? Es kann sehr wohl, denn die technischen Möglichkeiten haben auch hier neue Wege geöffnet, und wenn die fixen Bilder in den Köpfen gelockert sind, wird manches möglich. Und plötzlich gewinnt das Wohnen für die abschließenden Monate oder Jahre eines Menschenlebens einen anderen Wert.

Spectrum, Fr., 2007.12.07



verknüpfte Bauwerke
Landes Pensionisten- und Pflegeheim

04. November 2007Walter Zschokke
Spectrum

Beton, wohnfähig

Man verbindet ihn eher mit Zweckbauten und feuchtkalten Durchgängen: Beton kann aber auch farbig sein oder textil wirken. Eine Mustersiedlung in Wien ist dem Baustoff gewidmet – und hat nichts zu verstecken.

Man verbindet ihn eher mit Zweckbauten und feuchtkalten Durchgängen: Beton kann aber auch farbig sein oder textil wirken. Eine Mustersiedlung in Wien ist dem Baustoff gewidmet – und hat nichts zu verstecken.

Ein sanfter Südwesthang über dem Wienfluss, vorstädtische Lage im äußersten Westen Wiens, Busstation vor der Nase und Schnellbahnstation um die Ecke. Da nimmt man die Bahnlinie davor und die Verzweigung Aufhof in Kauf. Jedenfalls überstieg das Interesse das Angebot etwa um das Zehnfache. Und gegen Luftschall ist der Beton unter den Baustoffen das Mittel der Wahl. Doch das war bloß ein Nebenargument, denn das Ziel dieser Mustersiedlung lautete, die Möglichkeiten des Baustoffs Beton „nachhaltig wirksam“ darzustellen. Darstellen heißt – auch – sichtbar machen, was heute aufgrund der erforderlichen Dämmwerte etwas mehr geistige Leistung erfordert als in den ölseligen Jahren vor 1973. Doch das sind bewältigbare technische Aspekte. Das eigentliche Problem ist die Anmutung.

Unsichtbar kommt Beton in fast allen Häusern vor. Auch Ziegel- und Holzbauweise können kaum darauf verzichten. Doch Herzeigen ist eine anspruchsvollere Aufgabe, denn sichtbar präsent ist Beton vor allem bei Tiefbauten der technischen und Verkehrsinfrastruktur, am unangenehmsten wohl in feuchtkalten Straßen- und Bahnunterführungen, während er bei Brücken, Tunnels und Stützmauern oder bei Tiefgaragen, Industrie- und Versorgungsbauten selbstverständlich erscheint. Das Problem lautet daher nicht, wie gewöhne ich die Menschen an den Tiefbaubeton, sondern: Wie wird Beton architekturfähig, sodass er auch im Wohnungsumfeld Anklang findet. Dies sollte mit einer Mustersiedlung demonstriert werden. Mit der Wahl von neun Architekten aus Österreich, Deutschland und der Schweiz, die ihre Kompetenz im Beton- wie im Wohnbau bereits ausreichend bewiesen hatten, durfte die Trägergruppe, angeführt von Lafarge Perlmoser, auf ein achtbares Resultat hoffen. Weiters sollten die Siedlungen nach den Auflagen für geförderten Wohnbau errichtet werden, wofür sich das Österreichische Siedlungswerk und die Gesellschaft für Stadtentwicklung und Stadterneuerung zur Bauträgerschaft zusammenfanden.

Grundrisse bestechend großzügig

Die „Spielleitung“ für das ambitiöse Unternehmen übernahm der in Berlin lehrende Wiener Architekt Adolf Krischanitz. Die Begrünung der Außenräume wird nach den Ideen der Landschaftsarchitektin Anna Detzlhofer heranwachsen. Mit einem vergleichsweise rigiden städtebaulichen Konzept strebte Krischanitz eine Ordnung an, die bei den zu erwartenden individuellen Konkretisierungen der einzelnen Gebäude dennoch einen Zusammenhalt garantierte. So stehen nun in zwei Kolonnen zehn prinzipiell längliche, dreigeschoßige Quader parallel zum Hang. Während die Längsseiten sich relativ nahe kommen, verfügen die Stirnseiten über mehr Luft, indem sich zwischen den beiden Häuserkolonnen ein Anger den Hang hinaufzieht und an den Seiten der Straßenraum zum Abstand von den Nachbarhäusern beiträgt. Funktional lässt sich dies mit der von Süden steiler einfallenden Sonne begründen. Wie zu erwarten, sind die Häuser sehr individuell geraten. Sei es aufgrund der Möglichkeit, Beton mit heutigen Technologien architektonisch vielfältig einzusetzen, oder sei es wegen des reichhaltigen Wohnungsangebots.

In vorderster westlicher Position steht das von Peter Märkli, Zürich, entworfene Haus. Der immer schon eigenständige Schweizer hat den Baukörper durch einen Versatz und die Betonung der Geschoßdecken stark plastisch akzentuiert. Die Fugen der Schalungselemente gliedern in zurückhaltender Weise die Mauerflächen. Die Wohnungsgrundrisse entwickeln sich in diagonaler Raumfolge vom offenen Treppenhaus an der Nordecke bis zur Loggia an der Südecke in bestechender Großzügigkeit. Wie bei allen Häusern mit Sichtbetonfassade besteht die Wärmedämmung an der Innenseite aus geschäumtem Glas.

Ostseitig steht zuvorderst ein blockhafter Bau mit betonten Ecken von Adolf Krischanitz. Verputzte Flächen und solche aus Sichtbeton gliedern das Bauwerk, dessen eher kleine Fenster und eingezogene Loggien an den Stirnseiten an der exponierten Lage dem Schallschutz Rechnung tragen. Die jeweils zwei Wohnungen pro Geschoß verfügen beidseits der zentralen Wohnhalle über flexibel zuordenbare Räume.

In der zweiten Reihe fällt der historisierende Bau von Hans Kollhoff, Berlin, in blendendem Weiß auf. Die vier Maisonnette-Wohnungen sind geschoßweise verschränkt, sodass alle vier Wohnungen Anteil an den beiden Stirnseiten haben. Das Thema Beton tritt allerdings hinter der Fassade zurück. Die Stuckelemente enthalten jedoch als Bindemittel Zement.

Das Nachbarhaus in der zweiten Reihe stammt von Otto Steidle, München. Nach dessen überraschendem Tod hat Johannes Ernst die Arbeit abgeschlossen. Dieses Haus ist von der inneren Organisation beachtenswert und belegt die hohe Kompetenz Steidles für den Mehrwohnungsbau. Vier Reihenhäuser stehen im Erd- und im zweiten Obergeschoß wie üblich nebeneinander. Im ersten Obergeschoß wechselt die Unterteilung in längs und einmal quer, sodass jeder Wohnung eine Zimmerzeile bis zur Gebäudeecke zugeteilt wird. Die geschützte Dachterrasse im obersten Geschoß vervollständigt den hohen Wohnwert. Die Sichtbetonfassade wird mit Fenstern und Schalungsfugen sparsam, aber sorgfältig proportioniert.

In der mittleren Reihe haben die Zürcher Gegenklassiker Marcel Meili und Markus Peter sowie der verhalten klassisch agierende Roger Diener aus Basel gearbeitet. Erstere zeigen mit einem diagonal sich entwickelnden Grundriss ihre raumgestalterische Kompetenz. Beim Beton spielen sie mit der Einfärbung der Gussmasse, wobei die willkürliche Grenzziehung technisch sehr anspruchsvoll war. Eine dritte geplante Farbe hätte den Kostenrahmen gesprengt. Roger Diener gibt jeder Einheit einen eineinhalb mal höheren Wohnraum und erzielt an der Fassade durch seitlich mit einer Fase versehene Schalbretter einen feinen, nahezu textilen Effekt.

Die nächste Reihe teilen sich Heinz Tesar und Max Dudler, Berlin. Tesar gliedert das Volumen in vier doppelgeschoßige Einheiten, die räumlich und bezüglich der Öffnungen eine hohe Qualität bieten.

Kabinettstücke des Wohnbaus

Den Sichtbeton hält er glatt und flächig und kontrastiert ihn mit einzelnen großen Fenstern, die den Fassadeneindruck dominieren. Dudler arbeitet mit dunkelgrau eingefärbtem Beton und vorgefertigten Elementen. Der stark ornamentale Charakter der Fassade mit schmalhohen Fenstern birgt jedenfalls brauchbare, zu den Stirnseiten orientierte Grundrisse.

Zuhinterst steht ostseitig das von Hermann Czech entworfene Haus, der auf die Hanglage mit einem feinen Raumplan antwortet und den Quader mit Versätzen und Terrassen auflöst. Unbekümmert bringt er die verputzte Dämmung außen auf und zeigt Rohbeton im Inneren. Westseitig ersetzt der oberste Baukörper drei Einzelhäuser des ursprünglichen Konzepts. Adolf Krischanitz hat hier kompensatorisch einen äußerst kostengünstigen, aber nicht minder durchdachten Entwurf realisiert. Insgesamt ist es sicher gelungen, eine breite Palette architekturfähiger Ausdrucksweisen in Beton zu realisieren. Darüber hinaus entstanden jedoch mehrere Kabinettstücke des Wohnbaus von außerordentlicher Qualität.

Spectrum, So., 2007.11.04



verknüpfte Bauwerke
Mustersiedlung 9=12

16. September 2007Walter Zschokke
Spectrum

Abschied von der Glätte

Ein Großteil des heutigen Architekturschaffens zeichnet sich durch glatte, harte Oberflächen aus, die sich gegen sinnliche Annäherung spreizen. Sie wollen vor allem sich selber zeigen, aber nicht angegriffen werden. Glauben ihre Entwerfer, sie könnten sie unangreifbar machen?

Ein Großteil des heutigen Architekturschaffens zeichnet sich durch glatte, harte Oberflächen aus, die sich gegen sinnliche Annäherung spreizen. Sie wollen vor allem sich selber zeigen, aber nicht angegriffen werden. Glauben ihre Entwerfer, sie könnten sie unangreifbar machen?

Seit einiger Zeit taucht bei der Anpreisung von Bauten oft der Begriff „Kristall“ auf. Das Bedeutungsfeld dieses Begriffs wird mit den Eigenschaften hart, transparent, klar, strahlend, rein, geometrisch und geordnet bis in die Molekularstruktur aufgespannt. Mit dem Schlagwort Kristall wird die Vorstellung eines Idealzustands aufgerufen, die sich auf das bezeichnete Objekt übertragen soll. Wie immer in solchen Fällen gibt es einige befriedigende und zahlreiche schlechte Beispiele. Das Kristallhafte, das einen idealen Zustand beansprucht, wird bereits durch kleine Unregelmäßigkeiten verunreinigt, ganz zu schweigen von Mängeln oder Fehlern. Der Kristall – in der Architektur – ist ideomorph, herrisch und duldet keine Konkurrenz. Wer nach ihm greift, muss sich seinen Gesetzen unterwerfen und hat meistens schon verloren. Daher gibt es so viele missglückte „Kristalle“, die das hehre Wort abnützen.

Der Kristall ist eitel, will zeigen, dass er allseitig ideal ist und kennt keine Rückseite, überall ist vorn. Was das für ein Gebäude bedeutet, lässt sich vielleicht am Problem erahnen, wo und wie man denn in einen Kristall hineingelangt, ohne den idealen Ausdruck zu stören und damit zugleich zu zerstören. Das Ganze erinnert ein wenig an die Schwierigkeiten, die sich ein Architekt einhandelt, wenn er einen Zentralbau entwerfen will, wie ein Blick in die Architekturgeschichte belegt. Nur wenige sind geglückt, die meisten weisen da oder dort Anzeichen auf, wie mühsam es war, die Ansprüche des Typs und jene der Nutzung in Einklang zu bringen, dass die idealtypische Konkurrenzierung leider doch nicht ganz gelang, weil eine Treppe, ein Zugang, ein wichtiger Ort im Gebäude oder eine Toilette das Idealbild stört. Nicht anders verhält es sich beim Gebäudetyp „Kristall“. Es reicht nicht, ihm den klingenden Namen umzuhängen, die Aufgabe ist entwerferisch und in der Baudurchführung zu lösen, sonst wird es peinlich.

Nun gut, dann eben kein idealer Kristall, aber ein wenig Kristall, besser „kristallin“, müsste doch erlaubt sein. Exakt diese Praxis breitet sich seit Jahren aus. Die Oberflächen sind glatter, härter und spiegelnder geworden. Glas, Metall, polierter Stein bestimmen außen und innen die neuen Gebäude. Glätte bedeutet Abkehr vom haptischen Charakter der Materialien. Sie sollen nicht „begriffen“ werden, nur gezeigt und gesehen. Gesehen, wie auf den auf Hochglanz gedruckten Abbildungen. Die primäre Erfahrung ist nicht mehr das Material selbst, sondern dessen Abbild. Dieses Bild soll vom Objekt wiederholt werden. Daher nicht berühren. Weil die Teile meistens kalt sind und ihrer Glätte die Feinstruktur fehlt, lässt sich vom Griff nicht mehr auf das Material schließen. So könnten wir auf den Tastsinn verzichten und dicke Fäustlinge anziehen.

Die glatten Oberflächen spiegeln das Licht, es wird vervielfacht und blendet bald einmal. Macht nichts, dann wird eben alles andere schwarz. Kristallin blendend – nicht bloß weiß – und schwarz. Keine Graustufen, das wäre peinlich kompromisslerisch. Aber: Warum ohne Not auf das breite Feld der Zwischentöne verzichten, etwa weil es Arbeit bedeuten könnte – interessante, inhaltlich bereichernde Arbeit, Forschung sogar?

Die glatten und harten Oberflächen bergen ein weiteres Problem: Da sie schallhart sind, ist der Nachhall lang und die Raumakustik schlecht. Die Sprachverständlichkeit sinkt, die Menschen müssen lauter reden, der Schallpegel steigt und so weiter und so fort. Wer kennt nicht die Lokale, in denen das eigene Wort nicht mehr verstanden wird, geschweige jenes des Gesprächspartners, der -partnerin. Macht nichts, denn sie telefonieren sowieso die halbe Zeit.

Kann es sein, dass das gestalterische Prinzip des Kristallinen in den Händen von Halbgebildeten – denn Architekten, die sich von den historischen Erfahrungen ihres ureigensten Handwerks abgekoppelt haben, sind halbgebildet –, dass dieses Prinzip, oberflächlich umgesetzt, sich nur mehr an gleichsam fühllose, blinde und taube Menschen richtet, denen es reicht, wenn sie das Bild sehen und abnicken können: „erkannt“, ohne zu merken, dass ihnen das Wesen von Architektur vorenthalten bleibt? Zum Kosmos der Architektur werden sie so nicht vorstoßen. Die blendenden Oberflächen behindern eine klare Sicht, dahinter gibt es kein Dahinter, das mit Architektur etwas zu tun hätte.

Klassizität als Stand einer Architekturentwicklung ist nicht zuletzt dann erreicht, wenn der Ausdruck eines Bauwerks das Gemachtsein vergessen lässt. Wo die Qualitäten der Formen, Proportionen und Oberflächen jenen Grad erreichen, der das Wesen des Werks in den Vordergrund bringt. Damit aber der profane Charakter eines Materials vergessen werden kann, muss es Hinweise auf diesen Charakter, zumindest eine Erinnerung an seine Materializität geben. Diese Erinnerung verblasst jedoch zusehends wegen der Verbreitung überglatter Materialien und durch das Überhandnehmen von Bildern glatter, wesenloser Oberflächen, wie sie nicht zuletzt von der Werbung geliebt werden.

In solchen Zeiten der Übersättigung mit gedankenlosen, sich selbst reproduzierenden Nachahmungen kam es im Verlauf der Geschichte und kommt es auch heute zu gegenklassischen Bewegungen, die, zuerst tastend und kaum bemerkt, etwas anderes suchen und versuchen. Zu nennen sind etwa die architektonischen Forschungen von Rüdiger Lainer zum Ornament und zur „Tiefe der Oberfläche“, die Arbeit an der expressiven Plastizität von Bauwerken und ihrer materialen Kraft durch Marie-Therese Harnoncourt und Ernst J. Fuchs, aber auch die primären Erfahrungen, die Architekturstudentinnen und -studenten der TU Wien, der Kunstuniversität Linz und anderer beim Bauen in Südafrika oder Bangladesch mit ortstypischen Materialien machen konnten. Die Spannweite solcher Erfahrungen sollte breit sein: etwa vom samtigen Anfühlen einer zweimal täglich feucht abgewischten Oberfläche eines feinporigen Naturholztisches bis zu jener Tatsache reichen, wie leicht man sich an splittrigem Holz einen Schiefer einzieht.

Wissen gehört auch dazu. Kulturgeschichtliche Kenntnisse, die den Bedeutungshintergrund von Materialien anreichern und verdichten, helfen zu unterscheiden, ob bei einer Filialkirche Stein aus dem gleichen Bruch verwendet wird, der dem Bau des Stephansdoms diente, oder ob der Stein in eine Bar kommt. Dafür ist Forschungsarbeit zu leisten, weil nicht nur alte Muster kopiert werden sollten oder weil die historischen Traditionen verschüttet sind, aber zugleich heutigen Ansprüchen nicht mehr genügen würden. Handwerkskunst und praxisbezogene Ingenieurwissenschaft sind dabei wichtiger als formalistische Experimente. Allerdings kann das heute der einzelne Architekt nicht allein bewältigen. Er braucht Partner, die ihr Metier beherrschen, was für den Architekten ebenso gilt. Dabei ist weniger wichtig zu wissen, was man meint zu können, weil sich das schnell ändern kann. Entscheidender ist zu wissen, was man nicht kann, damit die Zusammenarbeit mit den entsprechenden Fachleuten frühzeitig einsetzt. Andernfalls muss man sich hinterher mit dem Glätten der Oberflächen begnügen.

Spectrum, So., 2007.09.16

19. August 2007Walter Zschokke
Spectrum

Von Hand mit Lehm und Bambus

Eine preisgekrönte Diplomarbeit, Wasserbüffel statt Mischmaschinen und eine deutsch-österreichische Pionierleistung: der Bau einer Schule in Bangladesch. Ein Stück Hilfe zur Selbsthilfe.

Eine preisgekrönte Diplomarbeit, Wasserbüffel statt Mischmaschinen und eine deutsch-österreichische Pionierleistung: der Bau einer Schule in Bangladesch. Ein Stück Hilfe zur Selbsthilfe.

Margarethe Schütte-Lihotzky-Stipendium 2005: Der Jury liegt ein Heft vor über das Projekt für ein kleines Schulgebäude in Bangladesch. Es war Thema einer von Roland Gnaiger, Leiter der Fachklasse Architektur der Kunstuniversität Linz, betreuten Diplomarbeit. Illustriert ist es mit Handzeichnungen in Blei- und Buntstift und ergänzt mit Erläuterungen in einer energischen, gut lesbaren Handschrift. Aber wir schreiben doch das Jahr 2005, wo bleiben Computereinsatz und innovative Materialien? – Die wollen dort bauen, nur mit Lehm und Bambus. Und die Schule soll in einem der ärmsten ländlichen Gebiete errichtet werden, mit Materialien, die am Ort verfügbar und absolut günstig sind. Es geht um Hilfe zur Selbsthilfe, das wäre im Sinne der Namensgeberin des Stipendiums. Klar, einstimmig dafür.

Die Stipendiatin, Anna Heringer aus Rosenheim, frisch diplomierte Absolventin der Architektur, ist im Spätherbst desselben Jahres wieder in Rudrapur, Bangladesch, das sie von einem freiwilligen Sozialjahr Ende der 1990er-Jahre und weiteren Reisen gut kennt. Ihr Entwurf wird unter ihrer Leitung mit dem Berliner Architekten Eike Roswag sowie dem Bauingenieur und Lehmbauspezialisten Christof Ziegert und weiteren Helfern zusammen mit örtlichen Handwerkern und angelernten Kräften gebaut. Die Lehmbautechnik, deutsch: „Wellerwand“, ist auf die örtlichen Verhältnisse abgestimmt. Wasserbüffel stampfen im Kreis den Brei aus Lehm und Stroh.

Es wird in „Sätzen“ von zirka 60 Zentimeter Höhe gearbeitet, indem die Strohlehmmischung in mehreren Lagen, ohne Schalung aufgebracht wird. Nach einer Woche ist das Material so weit trocken, dass die endgültige Mauerstärke entlang von Richtlatten mit flachen Spaten abgestochen werden kann und die vorher struppige Oberfläche vergleichsweise glatt wird. Dann folgt der zweite Satz nach demselben Prinzip, dann der dritte – wenn nicht der subtropische Regen das Arbeiten verzögert. Die Schulkinder fertigen inzwischen unter Anleitung der Lehrer die Überlager für Türen und Fenster: Mit Stroh-Lehm-Zöpfen umwickelte Bambusstangen, die, nebeneinander gelegt, die Öffnungen überbrücken, sodass darüber die Lehmmauer weitergeführt werden kann.

Bauen mit Lehm ist weltweit verbreitet. Auch in Europa war es vor Jahrhunderten gang und gäbe. Das deutsche Wort „Wand“ kommt vom „Winden“ der Stroh-Lehm-Zöpfe auf meist dreikantige – noch gespaltene, nicht gesägte – Hölzer, die dicht übereinander in die Felder des Fachwerkskeletts eingesetzt waren. Danach wurde mit Lehm verputzt und mit Kalkfarbe gestrichen. Lehmmauern und -verputze finden auch heute wieder Anhänger. Pionierarbeit leistete der Vorarlberger Martin Rauch, der die Diplomandin beriet und in der Linzer Architekturschule lehrt. Bei der Detailplanung und Ausführung war der Bauingenieur Christof Ziegert aus Berlin beteiligt, der die Bautechnik und das Verfahren für die örtlichen Gegebenheiten definierte – beispielsweise ohneden Einsatz kostspieliger Schalungen.

Die Kooperation mit der Technischen Universität Berlin betraf aber auch den Bambusbau, denn eine Decke und ein Dach einer Bambuskonstruktion, in der Schüler sich aufhalten, müssen so sicher sein wie jede andereKonstruktion auch. Der Bauingenieur Uwe Seiler half bei der Entwicklung und leitete Versuche mit einem drei Meter großen Deckenfeld und mit Trägern aus mehreren Bambusstäben. Die zur Ausführung bestimmte Konstruktion hat er berechnet: Drei Lagen kräftiger Bambusstäbe bilden einen Trägerrost, wobei die mittlere Lage quer liegt. Alle Knoten wurden mit Stahlstäben verdübelt und mit Nylonschnüren gebunden. Zwischen die oberste Schicht tragender Bambusstangen wurde eine Schalung aus Bambusmatten gelegt, der Boden aus Strohlehm aufgebracht und geglättet.

Angeleitet von Zimmermann Emmanuel Heringer, konnten in der Zwischenzeit die zahlreichen Rahmen der Obergeschoßkonstruktion aus Bambus an einem Lehrgerüst vorgefertigt werden. Überhaupt wurde der technisch-handwerklichen Weiterbildung derheimischen Handwerker und Hilfskräfte viel Beachtung geschenkt, denn diese sollen die erlernten Fähigkeiten eigenverantwortlich einsetzen können. „Jeder lernte viel von den anderen. Ich lernte, starke Mauern zu bauen und Messinstrumente zu benützen. Und die Fremden lernten, dass Wasserbüffel die besten Mischmaschinen sind,“ berichtet der Lehmhandwerker Suresh.

Bauträger ist die in der Region tätige NGO Dipshikha, die das für den ländlichen Raum entwickelte Konzept der METI-Schulen (Modern Education and Training Institute) fördert. Damit soll der ländlichen Bevölkerung der Zugang zu guter, ganzheitlicher Bildung ermöglicht und der allgemeine Standard gehoben werden. Die Absolventen der zwei Vorschul- und acht Schuljahre sollen den Bezug zum Dorf nicht verlieren und die erworbenen intellektuellen und handwerklichen Fähigkeiten für die Entwicklung des ländlichen Raumes einsetzen.

Das Schulgebäude ist denkbar einfach: Im Erdgeschoß teilt das offene Treppenhaus den Baukörper in zwei und ein Klassenzimmer, an deren Rückseite je ein in weichen Rundungen aus Lehm ausgeformter, höhlenartiger Rückzugsraum anschließt für individuelles Studium oder Kontemplation. Die Lehmwände schützen vor Aufheizung durch die Sonne. Das Obergeschoß ist ein Leichtbau aus Bambus, beschattet und beschirmt durch das ausladende Dach. Bambusmatten halten die Sonne ab, lassen aber die Luft durchstreichen, sodass das Klima in den Schulräumen angenehm ist.

Das Arbeiten mit Menschen am anderen Ende des Globalisierungsprozesses ist nicht weniger anspruchsvoll. Fachliche und soziale Kompetenz sind ebenso gefordert, und der Kostendruck ist genauso vorhanden. Allerdings ist der Optimierungs-Effekt sowohl menschlich als auch hinsichtlich der baulich-räumlichen Qualität ein Vielfaches höher als im übersättigten Mitteleuropa.

Neben weiteren Preisen und Auszeichnungen erhielt die Diplomarbeit von Anna Heringer kürzlich den dieses Jahr in Shanghai vergebenen Hunter Douglas Award der in Rotterdam domizilierten Archiprix Foundation für die weltweit beste Architektur-Diplomarbeit. Unter den 185 Einreichenden aus 62 Ländern waren Absolventen der renommiertesten Architekturschulen vertreten, und selbst sie favorisierten in ihrer Auswahl die „School-handmade in Bangladesh“. Mittlerweile arbeitet das Team an Wohnhäusern in der Nähe des Schulhauses. Aus Lehm natürlich, und als Mutserbauten zur Verbesserung der Wohnverhältnisse.

[ Kunstuniversität Linz, die Architektur, Leitung: Roland Gnaiger; Energieberatung: Oskar Pakraz; Lehmbau: Martin Rauch. Technische Universität Berlin, Studienreformprojekt Foreign Affairs.

Team: Anna Heringer, Eike Roswag (Ar-chitekten), Christof Ziegert, Uwe Seiler (Bauingenieure), Emmanuel Heringer, Stefanie Haider (Bambuswerk, Metallbau). ]

Spectrum, So., 2007.08.19

24. Juni 2007Walter Zschokke
Spectrum

Jäher Aufbruch aus der Erde

Selbstbewusst und dennoch uneitel fügt sich die Freilicht-Konzertanlage in den Schloss- park von Grafenegg: der „Wolkenturm“, ein Werk der Sorgfalt und des plastischen Gespürs.

Selbstbewusst und dennoch uneitel fügt sich die Freilicht-Konzertanlage in den Schloss- park von Grafenegg: der „Wolkenturm“, ein Werk der Sorgfalt und des plastischen Gespürs.

Einer Insel gleich liegt der Schlosspark von Grafenegg in der Weite landwirtschaftlich genutzter Flächen, gesäumt von einer niedrigen Mauer, die vom alten Baumbestand überragt wird. Von Weitem war seit jeher der Turm der neogotisch überformten Schlossanlage zu erkennen, die im Kern gotische sowie Elemente der Renaissance aufweist. Etwas weniger fernwirksam, aber durchaus spektakulär ist nun ein Element des 21. Jahrhunderts dazugekommen: die Freilichtkonzertanlage. Sie liegt östlich des Schlosses in einer Geländevertiefung – „große Senke“ geheißen – die im 2005 abgehaltenen Wettbewerb als Standort festgelegt war.

Besonders daran sind nicht nur die betrieblich optimalen Voraussetzungen für Orchester und Zuhörer, es ist auch nicht allein die ausgewogene, von Müller-BBM, München, betreute Akustik; vielmehr sind es wahrnehmungsästhetisch die von „the next ENTERprise - architects“ mit architektonischen Mitteln erzielte Integration in den Park und zugleich die Verselbstständigung zum Bauwerk im Park, welche die neue Anlage auszeichnen. Im künftigen Dreieck: Schloss, Reithalle/Konzertsaal/Taverne, Freilichtbühne wahrt Letztere trotz ihrer expressiven Kraft jene Angemessenheit, die wirklich guter Architektur eigen ist. Die Entwerfenden wussten um die mittlere Rolle im Kontext und füllten sie selbstbewusst, aber uneitel aus.

Obwohl das Objekt von Weitem zwischen den Baumkronen zu erkennen ist, erscheint es Besuchern, nachdem sie vom Parkplatz durch das alte Tor in der Mauer gelangt sind, vorerst eher geheimnisvoll, da es in der Senke und hinter einem Rasenwall fast – aber eben nur fast – verschwindet. Auf dem kurzen Weg in den Park hinein darf man sich nach der Autofahrt – auf dem Land bleibt das Automobil Hauptverkehrsmittel – die Beine etwas lockern; lateral wird man hingeführt und gelangt auf ein Vorfeld mit wassergebundener Decke, von dem zwei von Stahlbetontafeln flankierte Schneisen durch den Rasenwall führen. Ein wenig erinnert der Beton zuerst an Straßenunterführungen; dieses Anklingen ist Absicht, wird aber von der Formgebung der plastischen Elemente aus dem „gewöhnlichen“ Material gekonnt überspielt. Nicht nur, dass die Flächen geböscht und schräg im Raum – geometrisch gesprochen: windschief – zueinander stehen, sondern auch die Schmalseiten schließen nicht orthogonal ab, sie sind schräg abgeschnitten und weisen exakte Kanten auf. Damit werden Körperhaftigkeit und Masse der Elemente betont, und es wird über eine anspruchsvolle Detailgestaltung subtil Abstand zum ordinären Tiefbau gewonnen. Die Erfahrungen vom Seebad Kaltern mögen eingeflossen sein, jedenfalls hat der Südtiroler Tragwerksplaner Josef Taferner, aus dem Ingenieurteam Bergmeister in Vahrn, auch hier wieder mitgewirkt.

Obwohl wir noch gar nicht am Ort des Geschehens sind, sondern noch in den Zugängen, bringt das Durchschreiten des Rasenwalls ein erstes intensives räumliches Erlebnis. Die Besucherströme werden gleichsam durch Kanäle gespült, die dem Einlauf zu einem Kleinkraftwerk alle Ehre machen würden. Einmal in der Arena angelangt, ob auf halber Höhe oder in der Tiefe der Senke vor der Bühne, steht man vor dem Objekt, das die Architekten bereits im Wettbewerb „Wolkenturm“ nannten.

Das atektonische Gebilde aus tafelartigen und gekanteten Betonkörpern, mit Rippen verstärkten Stahlplatten, verglasten Durchbrüchen und einer dematerialisierend mit walzblankem Blech verkleideten obersten Leichtbaukonstruktion entwickelt sich aus der Senke heraus, ohne dass es architektonische Hinweise gäbe, was wie trägt; aber gerade das macht die Elemente gewichtslos, gibt ihnen architektonisch den Auftrieb zum diffusen Schweben, das den Namen Wolkenturm rechtfertigt.

Die Sitzreihen für die 1670 Plätze steigen aus der Senke und legen sich an den polygonal geformten Rasenwall, von dessen Scheitel der Ausblick auf Bühne, Park, Reithalle/Konzerthalle und zum Schloss wandert, das neben einer Baumgruppe sichtbar wird. Diese Blickbeziehung ist wesentlich, denn die Frage, wie das neue Objekt im Park vom Schloss aus wirken würde, war dem Hause Metternich-Sándor als Eigentümer schon beim Wettbewerb wichtig. Nun steigt die Wiese aus der Ebene des Parks rückenartig leicht an, daraus entwickelt sich eine schräg nach oben gestaffelte Dynamik plastischer Beton- und Stahlelemente, die in dem unregelmäßigen, scharfkantig-spitzwinkligen Körper über der Bühnenöffnung kulminiert. So zeigt sich das Bauwerk von jeder Seite – und davon gibt es mehr als vier – in veränderter Gestalt. Es nimmt Bezug auf den Park und ist eine seiner optischen Attraktionen, denn dieser ist ganzjährig offen, Musikanlässe beschränken sich vorerst auf einige Wochen und einzelne Tage.

Neben dem Standort für hochwertige Konzertdarbietungen, der mit dem voraussichtlich im Frühjahr 2008 fertiggestellten Konzertsaal neben der frühklassizistischen Reithalle weiter ausgebaut wird, ist der 31 Hektar weite Park, eine überregional bedeutende Anlage, einen Besuch wert. Seine Geschichte spiegelt jene des Schlosses. Barocke Rudimente finden sich eingestreut in einem englischen Landschaftsgarten des 19. Jahrhunderts mit zahlreichen Strauch- und Baumarten. Während im 20. Jahrhundert die gestalterischen Ambitionen begrenzt blieben, wurde in jüngster Zeit die lebende dendrologische Sammlung – eine Vielzahl verschiedener Baumarten – ausgebaut. Zusammen mit next ENTERprise gewann das Büro „Land in Sicht“ des Landschaftsarchitekten Thomas Proksch den Wettbewerbsteil „gartendenkmalpflegerische Erneuerungdes Parks“. Das Konzept sah eine sanfte und naturnahe Pflege und vorsichtige Erneuerung vor. Mehrere alte Wege durchziehen den Landschaftsgarten und ermöglichen kürzere und längere Spaziergänge. Wie immer wird es ein paar Jahre dauern, bis alle Maßnahmen sich entfaltet haben und die Pflanzen herangewachsen sind. Da die Substanz reichhaltig war, ist der Park in Grafenegg neu angelegten Anlagen gegenüber im Vorteil und schon jetzt äußerst attraktiv.

Die außerordentliche Sorgfalt, mit der die Konzertanlage in den Park integriert und die Topografie des Ortes gestaltet wurde, macht sie zu einem begehbaren Architekturobjekt, das seinen Sinn aus der räumlichen Erfahrung, die es bietet, gewinnt und damit in vermeintlich toter Zeit belebend wirkt. The next ENTERprise - architects, das sind Marie-Therese Harnoncourt und Ernst J. Fuchs und ihr Team, demonstrieren damit ein weiteres Mal ihre Kompetenz und ihr plastisches Gespür. Der wiedererwachte Expressionismus mag seine Wurzeln in den frühen 1920er-Jahren haben, damals wurde jedoch mehr gezeichnet als gebaut. Heute sind es „tnE“ und andere, die bauen, und zwar in nachhaltiger Qualität. Da man hört, was man sieht (alte Akustikerregel) dürften die Konzerte fulminant werden.

Spectrum, So., 2007.06.24

10. Juni 2007Walter Zschokke
Spectrum

Zaubern mit Details

Kaltern in Südtirol. Ein Platz wie aus dem Lehrbuch und daran ein offenes Kunstwerk von Hermann Czech: das Weinhaus Punkt. Eine subtile Mischung aus Bestand, Ordnung, Vorläufigem und schwer datierbaren Zutaten.

Kaltern in Südtirol. Ein Platz wie aus dem Lehrbuch und daran ein offenes Kunstwerk von Hermann Czech: das Weinhaus Punkt. Eine subtile Mischung aus Bestand, Ordnung, Vorläufigem und schwer datierbaren Zutaten.

Auf der Alpensüdseite weisen nicht wenige dörfliche Siedlungen in ihrem Kern einen urbanen Charakter auf, auch wenn die landwirtschaftliche Produktion – neben dem Tourismus – wesentlich ist. Als Marktgemeinde verfügt Kaltern in Südtirol mit dem Markt seit Langem über dessen urbanisierendes Potenzial. Zudem haben sich seit dem 16. Jahrhundert zahlreiche Adelige und Notabeln im Ort „Ansitze“ errichten lassen, eine Art herrschaftlichen Zweitwohnsitz, der seinerseits städtische Muster in den schön gelegenen Ort einbrachte.

Doch ohne öffentlichen Raum kein Markt. Der entsprechende Platz liegt an der Hauptgasse. Er ist rechteckig, seine untere Stirnseite wird vom Rathaus eingenommen, dessen symmetrische Fassade das Vorfeld über die Straße hinweg dem Platz zuordnet. An den Längsseiten fassen zwei Häuserzeilen den Platzraum, der hinten von je seitlich vorspringenden Volumen abgeschlossen wird, zwischen denen eine Gasse steil bergan führt. Ein Platz wie aus dem Lehrbuch: intelligent, stimmig, attraktiv. Die südexponierte Platzwand weist Arkaden auf, vor denen Gasttische und Sonnenschirme stehen, nicht anders als am Wiener Graben.

Das Haus an der vorderen Ecke der Arkadenzeile, seit über 100 Jahren in Gemeindeigentum, war Ende 16. Jahrhundert als Ansitz errichtet worden und weist Elemente der regionalen Spätrenaissance auf. Eine 2003/2004 erfolgte, gründliche Sanierung schuf in den Obergeschoßen Räume für die Musikschule mit einem Saal für Konzerte. Im Erdgeschoß und in den Kellern sollte ein gastlicher Ort einziehen, wo die einheimischen Weinproduzenten ihre Produkte präsentieren wollten.

Wie die gesamte Südtiroler Kulturlandschaft ist auch dieses Haus geprägt von einer weit zurückreichenden, wechselhaften Geschichte, die sich in der Bausubstanz verfestigt hat. Um damit sorgfältig umzugehen und einen Ort für Einheimische wie für Touristen zu schaffen, holte man bewusst den Architekten Hermann Czech aus Wien.

Scheinbar roh, unfertig – perfekt

Er griff durchaus da und dort kräftig ein, beließ aber zugleich manches in einem rohen oder unfertig scheinenden Zustand, an den manchmal perfekte Oberflächen anschließen,sodass eine dicht gewirkte und intelligent gemischte Komposition aus subtil ordnenden Eingriffen, bewusst Belassenem und schwer datierbaren Zutaten entsteht, die der Anschauung vieles bietet und zugleich die Freiheit eines offenen Kunstwerks beansprucht.

Im Erdgeschoß schließt hinter der Arkade ein Vorraum an, von dem der Weg gerade in eine Bar mit Theke und Stehtischen führt und weiter in einen Gastraum, der von einem großen Tisch bestimmt wird. Sowohl vom Vorraum als auch vom Gastraum führen Treppen in die beiden Gasträume im Keller, sodass Erschließungsalternativen möglich sind. Die meisten Räume weisen einfache Kreuzgratgewölbe auf, der kleinere Kellerraum eine roh gefügte Tonne.

In der Einrichtung finden wir Elemente in abgewandelter Form wieder, die von Hermann Czech bekannt sind: die Spiegel, die offen geführten Lüftungskanäle und die Leuchten aus einem gewerblichen Umfeld. Doch sind es nicht diese augenfälligen Dinge, die der Gestaltung ihren besonderen Charakter verleihen, sondern das, was anfangs gar nicht bemerkt wird, sodass erst mehrmaliges genaues Hinschauen zu Erkenntnis führt. Es sind dies beispielsweise die unprätentiöse Einrichtung hinter der Bar, die Anordnung der Toiletten beim Treppenabgang im großen Gastraum, die Gestaltung der Abgänge, die Disposition und Ausformung des großen Weinverkostungsraums im Keller sowie die Rolle der Oberflächen und Farben. Dabei kommen architektenhandwerkliche Kenntnisse und Erfahrungen zum Einsatz, die Hermann Czech wie nur wenige vielschichtig einzusetzen weiß, sodass ein komplexes Gewebe von teils durchaus widersprüchlichen Maßnahmen ein vorläufiges Gesamtbild ergibt, das von einem Vorher erzählt und ein Nachher nicht ausschließt.

Bei der Bar und ihrer Einrichtung wurde jede altarähnliche Stilisierung vermieden. Die Geräte und Regale sind nach betrieblichen Gesichtspunkten gereiht. Ihre scheinbar zufällige Anordnung berücksichtigt, dass Geräte einmal durch neue ersetzt werden und Regale weichen müssen, weil vielleicht neue Gläser größer sind. Dieser Pragmatismus ist in der Gestaltung vom ersten Tag an enthalten.

Der Einbau von Toiletten konnte nicht, wie sonst oft üblich, ums Eck und mit einem Gang, sondern musste im begrenzten Bereich des erdgeschoßigen Gastraums erfolgen. Sie stehen nun als teils polygonal verformte und damit abgeschwächte Volumen im Hintergrund über dem Abgang zum Keller – nicht Fremdkörper, sondern notwendige Einbauten, die durch die Farbgebung, ein freundliches Grau, der oberflächlichen Wahrnehmung entzogen sind. – Die Treppenabgänge, als massive Einschnitte in die Gewölbestruktur scheinbar bedenklich, werden durch die Art und Weise, wie sie ausgeführt wurden, verträglich gemacht. Der vordere, kleinere erhielt über dem Abgang eine knappe Sitzgelegenheit mit Tischchen für vier Personen, von der nicht klar ist, aus welcher Zeit sie stammt, sodass der Eingriff, obwohl neu, schwer datierbar wird. Beim hinteren, größeren Abgang wird mit zwei schlanken Rundstützen überspielt, dass hier der Gewölbeansatz weggeschnitten werden musste.Nicht die Verletzung ist das Thema, sondern deren architektonische Sublimierung.

Seltenes Wissen, rares Handwerk

Im großen Weinverkostungsraum, zugleich der festlichste, wird der Treppenaufgang durch das Weinlager – klimatisiert und hinter Glas – abgeschirmt, sodass die vordere Raumzone mit einem großen Tisch zentriert und, von siamesischen Zwillingskandelabern flankiert, aufgewertet wird. Bestätigend kommt ein hochwertiger Steinboden dazu, der, in diagonalem Schachbrettmusterverlegt, Besonderheit ausdrückt. Was niemand merken wird: Vom rechten Winkel weichen die scheinbar quadratischen Platten um wenige Grade ab, um der zum Parallelogramm verzogenen Raumform zu folgen.

Bei den Farben nützt Hermann Czech das gesamte Angebot des Doppelkegels im räumlichen Farbspektrum zwischen Schwarz und Weiß, wobei es ihm um die Wirkung geht. Besonders mag er jene Farbtöne, die recht eigentlich übersehen werden, mit denen sich Flächen in die Umgebung einbinden lassen. Es kann aber auch eine klar gesetzte Maßnahme sein, wie das glanzblaue Gewölbefeld über dem Tisch im oberen Gastraum, das den Raum scheinbar höher macht.

Dass Hermann Czech ein großer Lehrender ist, hat er oftmals bewiesen und tut dies heute an der Technischen Hochschule in Zürich. In dem schmalen Heft über das Weinhaus Punkt erläutert er Christoph Mayr Fingerle in einem Gespräch ausführlich seine architektonischen Intentionen. So viel klar formuliertes Wissen zum gestalterischen Handwerk des Architekten konnte man in den letzten Jahren kaum wo lesen.

Spectrum, So., 2007.06.10



verknüpfte Bauwerke
Weinhaus PUNKT

04. Februar 2007Walter Zschokke
Spectrum

Großer Wurf für weiten Bogen

Elegant, städtebaulich sensibel, und ein Weltrekord: die 230 Meter weite Rad- und Fußgängerbrücke über den Rhein. Ein Werk der Auslandsösterreicher Dietmar Feichtinger und Wolfgang Strobl.

Elegant, städtebaulich sensibel, und ein Weltrekord: die 230 Meter weite Rad- und Fußgängerbrücke über den Rhein. Ein Werk der Auslandsösterreicher Dietmar Feichtinger und Wolfgang Strobl.

Als Erste nahmen die Möwen Besitz vom neuen Bauwerk, das eine Fähre zwischen dem deutschen Weil am Rhein und dem französischen Huningue ersetzt. Während sie den Vögeln als temporärer Aufenthaltsort dient, ist die Brücke für die Menschen in den urbanen Gebieten beidseits des Stromes als verbindendes Element von alltagspraktischer und symbolischer Bedeutung. Sind es doch im Rheinknie, zwischen Groß- und Kleinbasel, wo der Strom, von Osten kommend, sich nach Norden wendet, fünf Brücken, ein Wehrübergang und vier Fähren, die den Austausch sichern, während erst weit unterhalb der „Pont Palmrain“ auch Fußgängern und Radfahrern einen Übergang anbietet.

Die neue Brücke ist trotz der Weite des Stromes von 240 Metern ein urbanes Bauwerk. Sie liegt auf deutscher Seite in der Verlängerung der „Hauptstraße“ von Weil und trifft auf französischer Seite auf die „Rue de France“, die nach 200 Metern in die zentrale „Place Abbatucci“ mündet. Dies legt ihre städtebauliche Bedeutung fest. Und selbst Bewohner von Kleinbasel freuen sich über diesen direkten Radweg ins Elsass. Von der Brücke aus genießt man stromaufwärts beste Sicht auf die manövrierenden Schiffe vor dem Basler Rheinhafen, und im Hintergrund sind die Bauten des in Transformation befindlichen Novartis-Campus zu erkennen.

Die Stadt Weil am Rhein als Vertreterin der Bauherrschaft, der „Communauté des Trois Frontières“, war daher gut beraten, als sie 2001 einen Wettbewerb ausschrieb, den die Arbeitsgemeinschaft Feichtinger Architectes, Paris und Leonhardt, Andrä und Partner, Berlin gewann. Knappe 200 Meter unterhalb des politischen Einflussbereichs der Basler Stararchitekten schlug das Siegerteam eine elegante Stahlbogenbrücke vor, die mit einer einzigen Öffnung von 230 Metern den Rhein überspannt. Die Fahrbahnplatte dient als Zugband, sodass außer den Windlasten nur senkrechte Auflagerkräfte zu bewältigen sind. Um die Sicht auf den historischen Turm am Hauptplatz von Huningue nicht zu verstellen, verläuft die Brücke an der Nordseite der beiden neu verbundenen Straßenräume - eine städtebauliche Sensibilität, die heute nicht selbstverständlich ist. Zudem weist sie ein asymmetrisches Tragwerkskonzept auf: Der nördliche Bogen ist erkennbar kräftiger und besteht aus zwei Sechseckrohren. Der südliche, ein Rundrohr, neigt sich Ersterem zu, sodass die Blickachse zwischen den benachbarten Orten offen bleibt. Die gute Nachbarschaft Frankreichs und Deutschlands sowie die städtebauliche Einbindung bilden den Symbolgehalt des nicht bloß funktionalen, sondern wohlproportionierten und eleganten Bauwerks.

Doch damit sind die gestalterischen Überlegungen, die integral zum Wesen des Tragwerks gehören, nicht abgeschlossen. Die Bogenform, zu Beginn des Entwurfs einer quadratischen Parabel folgend, was einen stärker gekrümmten Scheitel und geradere Schenkel ergeben hätte, wurde in den Viertelpunkten um 40 Zentimeter angehoben. Sie wirkt nun runder, auch weicher, und entspricht einer Polynomfunktion vierten Grades. Besonders in der Schrägsicht bleibt der Kurvenschwung stetiger, und in der Seitenansicht wirkt der Bogen ruhiger und weniger angestrengt.

Um diese Leichtigkeit auch in die Uferbereiche auszudehnen, verzichteten die Planer bewusst auf massive Brückenköpfe und lösten die anfallenden Kräfte in ein räumliches Fachwerk auf. Leichtfüßig setzen die Bogen auf den nahe dem Ufer im Wasser befindlichen Fundamentpfeilern auf. Zwei kräftige Druckstreben leiten den Horizontalschub wieder zum Ende der Fahrbahnplatte hinauf, diese verbindet die Zugkräfte über den Strom hinweg. Die verbleibenden Vertikalkomponenten werden mit zwei Zugstäben im Untergrund verankert. Optisch bilden die Druckstäbe einen Auftakt zum großen Bogen und lassen den Übergang dynamischer wirken. Damit wird die Kontinuität betont. Schwere Brückenköpfe hätten unnötigerweise militärische Erinnerungen geweckt und in die Uferwege Zäsuren gesetzt.

Gewiss ist die Gestaltung eines Fußgänger- und Radfahrerstegs, bei dem die Hauptlasten das Eigengewicht und die Windkräfte sind, einfacher als etwa eine Autobahnbrücke. Aber die 230 Meter Spannweite bedeuten in dieser Kategorie derzeit Weltrekord, und der geringe Bogenstich von 23 Metern war ingenieurtechnisch eine Herausforderung. Bis in die Details reicht die planerische Sorgfalt. So wurden die Durchdringungen der Fahrbahnrandträger mit den Bogen als anspruchsvolle, exakte Stahlgussteile hergestellt, und alle übrigen Gelenke, Stäbe und Kraftanschlüsse sind bewusst, aber nicht verspielt gestaltet.

Das sensationelle, aber eben nicht sensationalistische Bauwerk verdankt seine Qualität zwei österreichischen Fachleuten, die seit Jahren im europäischen Ausland leben und arbeiten. Der Architekt Dietmar Feichtinger hat in Graz an der Technischen Universität studiert, arbeitet seit 1989 in Paris, seit 1994 mit eigenem Büro und ist auch in Österreich aktiv, wie der Campus Krems und das Kunsthaus Weiz sowie Wettbewerbsteilnahmen und -gewinne belegen. In Paris wurde voriges Jahr die Passarelle Simone-de-Beauvoir über die Seine, auch ein Wettbewerbsgewinn, eingeweiht. Seine konstruktive Kompetenz kommt bei den von ihm entworfenen Bauwerken in unaufdringlicher Weise zum Ausdruck.

Der Bauingenieur Wolfgang Strobl stammt aus Weiz, hat ebenfalls an der Technischen Universität Graz studiert und ist seit 1994 im Ingenieurbüro Leonhardt, Andrä und Partner tätig; seit 2000 als Gruppenleiter Hoch- und Ingenieurbau im Zweigbüro Berlin. Der vor wenigen Jahren verstorbene Gründer der Firma, Fritz Leonhardt, war einer der gezählten großen Bauingenieure im 20. Jahrhundert. Wolfgang Strobl konzentrierte sich früh auf die Softwareentwicklung zur statischen und dynamischen Berechnung anspruchsvoller Tragwerke. Als verantwortlicher Bauingenieur für die Brücke über den Rhein übernahm er in der Arbeitsgemeinschaft mit Dietmar Feichtinger, den er seit Studienzeiten kennt, die kaufmännische und technische Federführung.

Neben den beachtlichen gestalterischen und ingenieurtechnischen Qualitäten verweist das Bauwerk überdies auf ein Problem, das vor allem kleinere Staaten betrifft, dessen man sich aber meist kaum bewusst ist: das des Kaderexports. Zahlreiche Fachleute werden an den heimischen Universitäten ausgebildet. Oft sind es die Fähigsten und Kreativsten, denen es im Kleinstaat zu eng wird, sodass sie im nahen oder fernen Ausland nach Entfaltung suchen. Es ist aber die Ausnahme, dass solche kompetente Köpfe samt ihrer gesammelten Erfahrung zurückgeholt werden. Oft genug ist dem das Kartell der Daheimgebliebenen davor.

Spectrum, So., 2007.02.04



verknüpfte Bauwerke
Passerelle sur le Rhin

06. Januar 2007Walter Zschokke
Spectrum

Und sie retteten ein Haus

Muss die Erhaltung wertvoller Bausubstanz nur Sache des Staates sein? Was ein privater Verein hier leisten kann, zeigt eine kleine Erfolgsgeschichte aus der Schweiz.

Muss die Erhaltung wertvoller Bausubstanz nur Sache des Staates sein? Was ein privater Verein hier leisten kann, zeigt eine kleine Erfolgsgeschichte aus der Schweiz.

Vergangenes Jahr wurde in Stäfa am Zürichsee ein Haus eingeweiht, das 1928 einige Wochen als mittelständisches Fertighaus in Bern zu sehen war und danach 70 Jahre in Aarau als Wohnhaus diente. Vom Abbruch bedroht, wurde es 2003 demontiert und wird heute, wieder hergestellt, am neuen Standort als Eltern-Kind-Zentrum genutzt. Es handelt sich um das „Saffa-Haus“, entworfen von Lux Guyer (1894 bis 1955), der ersten selbständigen Architektin der Schweiz, damals Chefarchitektin der „Schweizer Ausstellung für Frauenarbeit“, Saffa 1928.

Die Gründe, sich ein weiteres Mal mit dem Haus und seiner Fortsetzungsgeschichte zu befassen, sind mehrere: Da ist zuerst die zivilgesellschaftliche Initiative zur Rettung und Neuaufstellung; dann die bis heute prinzipiell wegweisende Holzkonstruktion aus großen, vorgefertigten Tafelelementen; weiters die in der Architekturgeschichtsschreibung bisher gering geschätzte Fortführung der vor dem Ersten Weltkrieg entstandenen Reformbewegungen und deren Verknüpfung mit Elementen der Avantgarde der 1920er-Jahre, aber ohne die fatale Neigung ihrer radikalen Vertreter, jeweils das Kind mit dem Bad auszuschütten. Eine gewichtige gesellschaftliche Strömung, die vom Weltkrieg und seinen dekultivierenden Begleiterscheinungen nicht verschüttet oder radikalisiert worden war, ist die Bewegung für Frauenrechte, die in der Schweiz das Stimmrecht einforderte und mit der „Saffa“ zu befördern hoffte. Dessen Gewährung auf Bundesebene, 1971, war mehr als spät. Lux Guyer hat in ihren Hausentwürfen einer eigenständigen Rolle der Frau in Familie und Gesellschaft wesentliche Überlegungen gewidmet und gestalterisch umgesetzt, wie Dorothee Huber in ihrem grundlegenden Beitrag im kürzlich erschienenen Buch über die „drei Leben des Saffa-Hauses“ ausführt.

Nachdem die Erstbesitzerin 1986 hochbetagt verstorben war, diente das in öffentlichen Besitz gelangte Haus sozialen Zwecken. Das gewerblich und von Verkehrsträgern bestimmte Umfeld bedrängte das isolierte Wohnhaus. Der Aarauer Baudirektor wusste um den Wert des Hauses und bemühte sich um dessen Erhaltung. 1999 erfolgte ein Abbruchbescheid, der aber immer wieder ausgesetzt wurde. Als nichts weiterging, wandte er sich an eine Nichte Lux Guyers, die Zürcher Architektin Beate Schnitter. Umgehend setzte sich diese mit drei Kolleginnen zusammen, denen Guyers Werke vertraut waren.

Dass ein geschichtsträchtiges Haus gerettet werden müsste, darüber kann man am Wohnzimmertisch leicht Reden führen; etwas anderes ist es, die Idee umzusetzen. Die vier Architektinnen fackelten nicht lange, gründeten im Jänner 2002 einen Verein, der unter der engagierten Führung von Rita Schiess nach wenigen Monaten auf über hundert Mitglieder anwuchs. Insbesondere bezweckte er „die Sicherstellung der historischen Bausubstanz, eines geeigneten Grundstücks, der Finanzierung und der Realisierung des Wiederaufbaus, des Fortbestehens sowie der Unterschutzstellung des Saffa-Hauses“. Der Verein traf die Abklärungen für ein Nutzungskonzept, über die zu erwartenden Kosten und suchte nach Interessenten für das Haus, die über ein passendes Grundstück verfügten. Neben anderen war es die Gemeinde Stäfa, die das Haus einfach haben wollte. Noch während der Sommerferien wurden die nötigen Beschlüsse der Gemeindegremien gefasst und ein Grundstück in zentraler Lage bereitgestellt. Die vorgesehene öffentliche Nutzung als Eltern-Kind-Zentrum (Tagesmütterverein, Kinderhütedienst, Krabbelgruppe, Elternberatung et cetera) überzeugte, und Stäfa erhielt den Zuspruch. Im September wurde der Vertrag unterzeichnet.

Am intensivsten beschäftigte den Verein die Finanzierung. Der Hauptteil der benötigten circa 900.000 Euro war bis Ende 2005 beisammen. Zehn Prozent stammten vom Verein selbst, fast ebenso viel von Privaten, knapp ein Fünftel von Organisationen und Stiftungen, etwas über die Hälfte brachten Gemeinden, Kanton(e) und der Bund auf, die verbleibenden sieben Prozent stammten von Unternehmen. Obwohl das Ansinnen allseits begrüßt wurde, gab es knifflige Probleme zu lösen: Versuchen Sie einmal, im wahrscheinlich föderalistischsten Land der Erde ein demontiertes, als bewegliche Sache deklariertes, im Kanton Aargau eingelagertes Holzhaus im Kanton Zürich unter Denkmalschutz zu stellen, für einen offiziellen Beitrag jedoch Bedingung. Allseits guter Wille und gradlinige Beschlussfassungen erlaubten ab Juni 2005 den Wiederaufbau.

Was sich schon beim Abbau gezeigt hatte, bewies die neuerliche Montage: Das damals pionierhafte Vorfertigungssystem der Holzbau AG Lungern aus tafelartigen Großelementen ließ sich nach den Passmarken der Erstaufstellung wieder exakt zusammenbauen.

Die Nachhaltigkeit ist nicht bloß eine materielle, sondern ebenso eine ideelle. Ausgehend von einem der Architektin aus eigener Erfahrung vertrauten, von den Aufbruchstendenzen nach 1900 aktualisierten britischen Wohnstil, setzt sich das kompakte und doch gegliederte Haus aus mehreren Raumgruppen zusammen, die sowohl in sich, als auch untereinander starke räumliche Qualitäten und Beziehungen aufweisen, die dem vielfältigen Leben einer unbekannten Bewohnerschaft zugedacht waren. Dorothee Huber zählt im ganzen Haus nicht weniger als sechs individuelle Arbeitsplätze - ohne die temporären in der Küche. Damit drückt sich im Grundriss eine gesellschaftliche Gleichwertigkeit der einzelnen Bewohnerinnen und Bewohner aus, ob erwachsen, oder noch in Entwicklung. Diese Botschaft ist um vieles aktueller, als die auf Taylor und Ford zurückführbare, gleichschalterische Durchfunktionalisierung der Wohnungen, die in den 1960er-Jahren als Bauwirtschaftsfunktionalismus einen unrühmlichen Höhepunkt erlebte. Das differenzierte Raumangebot wäre ebenso für eine Patchwork-Familie geeignet, so wie es ohne architektonische Einbußen als Eltern-Kind-Zentrum nutzbar ist.

Anders als von der medialen Wahrnehmung der frühen Moderne in Schwarz-Weiß kontrastierenden Fotografien provoziert, waren und sind Lux Guyers Häuser lebendig bunt. Die originale Farbgebung und Materialwahl wurde, nach sorgfältiger Befundung durch die Farbenspezialistin Katrin Trautwein, im wieder aufgerichteten Haus zur Wirkung gebracht. Damit wird eine lang verdrängte, polychrome Architekturtradition betont und 1 : 1 nachvollziehbar. Und nach all diesen tollen Leistungen kann sich der Verein getrost auflösen.

Eine Würdigung des Pionierwerks sowie die Hintergründe seiner Entstehung und Rettung sind nachzulesen in: „Die drei Leben des Saffa-Hauses. Lux Guyers Musterhaus von 1928“, herausgegeben vom Verein proSAFFAhaus und dem Institut für Geschichte und Theorie der Architektur, gta Verlag, Zürich.

Eine frühere Würdigung im „Spectrum“ vom 7. Juni 1997 ist nachzulesen unter www.nextroom.at (Suchwort: Saffa).

Spectrum, Sa., 2007.01.06



verknüpfte Bauwerke
Wiederaufbau SAFFA-Haus

10. Dezember 2006Walter Zschokke
Spectrum

Was ein Grundriss hergibt

Hätten Sie Lust, einmal mit anderen Augen durch eine Stadt zu gehen? Oder mit frischer Neugier durch ein Haus? Über Wege, sich dem Phänomen Architektur zu nähern.

Hätten Sie Lust, einmal mit anderen Augen durch eine Stadt zu gehen? Oder mit frischer Neugier durch ein Haus? Über Wege, sich dem Phänomen Architektur zu nähern.

Als kulturinteressierter Mensch möchte man vielleicht gern wissen, wie ein Zugang zur Architektur zu finden wäre, der tiefer in den Gegenstand einzudringen vermag und nicht an Oberflächlichkeiten kleben bleibt. Der über ein vordergründiges Geschmacksurteil: „gefällt - gefällt nicht“ hinausführen könnte, hin zu einem erkenntnisgestützten Zugang, der das Verstehen von Sachverhalten und Zusammenhängen fördert. Das ist mit geistiger Arbeit verbunden. Einer Arbeit allerdings, die nicht entfremdet ist und die gebaute Umwelt reichhaltiger und interessanter werden lässt, weil diese uns mehr und mehr zu sagen vermag.

Denn die Architektur, das sind die vielen Architekturen, von den frühesten Zeugnissen des Bauens bis herauf in unsere Zeit. Oft als parallele Strömungen in derselben Epoche, wie es sie als Ungleichzeitigkeiten, als regionale Eigenheiten oder schlicht zeitgleich immer gegeben hat. Dabei gilt es zu bedenken, dass manche Zeugnisse von Architekten der Propagierung der eigenen Werke dienten, dass „eingebettete“ Kritiker oft Parteimeinungen vertraten und dass spezifische Machtverhältnisse die Quellen trüben können. Erst eine von vielfältigen Verunreinigungen einigermaßen geklärte, sprich: quellenkritisch aufgearbeitete Architekturgeschichte vermag der Architektur als Ganzer zu nützen. Unterbleibt dies, setzen sich Missverständnisse und Fehlinterpretationen fort.

Beispielsweise ist es für Verfechter einer Weiterführung der Moderne unabdingbar, dass sie deren Kritiker von Adolf Behne über Josef Frank und Aldo van Eyck samt Team 10 und manche andere, bis zum Verschimmelungsmanifest von Friedrich Hundertwasser oder Rolf Kellers Buch „Bauen als Umweltzerstörung“ ernst nehmen. Denn nur was begründeter Kritik standhält, wird besser und dauerhaft gut.

Dabei soll nicht vergessen werden, dass weder Fliegerbomben noch Abbruchhämmer architektursensibel waren und sind, dass politische und wirtschaftliche Verhältnisse um vieles stärker sein können als architektonische Werte. Aber die Antwort eines Soziologieprofessors Anfang der 1970er-Jahre auf den Bildungswunsch, das Feld architektonischer Wirkungen zu ergründen, die da lautete: Architektonische Zeichen seien anderen deutlich nachgereiht, sodass eine Erhöhung des Raumes um einen Meter gegenüber dem Aufhängen eines Che-Guevara-Posters keine Chance hätte, lässt sich heute nicht mehr halten. Nicht wenige nach der Veränderung befragte junge Menschen von heute würden antworten: „Der Raum ist höher geworden; aber wer ist der Typ an der Wand?“ Dieses gewachsene Interesse an Architektur gilt es mit qualifizierten Inhalten zu bedienen und zu fördern.

Aber Wahrnehmung von Bauwerken erschöpft sich nicht in zweidimensionalen Ansichten, ob als Fotografien oder am Bildschirm, vielmehr verdichtet sie sich im bewussten wie gefühlsmäßigen Bewegen in einer realen räumlichen Struktur, die dank eines den Menschen gegebenen topologischen Gedächtnisses durch Erinnern und Wissen über das unmittelbar Sichtbare weit hinausreicht. Dabei sind Grundrisszeichnungen eine wichtige Stütze und Hilfe zum vertieften Verständnis. Zum einen liefern sie einen Überblick über die Verteilung der Funktionen und deren Beziehungen untereinander. Zum anderen geben sie jene Ordnungen wieder, die räumliche Strukturierungen, Zonierungen, Trennungen und spezielle Wirkungen erzeugen.

Grundrisszeichnungen sind Abstraktionen, aber sie geben das Konzept wieder und liefern ein Grundgerüst, in dem weitere Informationen über Materialien, Oberflächen, Licht und Beleuchtung dazugedacht und miteinander in Beziehung gebracht werden können. Darum ist es sinnvoll, wenn sich nicht nur Fachleute, sondern mit Bauen befasste Politiker sowie alle an Architektur Interessierten Grundrisse verstehen, damit sie sich nicht von platten Bildern blenden lassen. Denn auf einem Grundriss kann man sich gedanklich an jeden Punkt in einem Gebäude begeben und die räumliche Wirkung imaginieren. Ein Schaubild hingegen gibt nur einen einzigen Standpunkt vor. Das bedarf einiger Übung, und nicht jeder und jedem mag es gleich gut gelingen, ein Bauwerk vor dem inneren Auge erstehen zu lassen. Aber was geht schon ohne Üben?

Einen möglichen Einstieg - nicht bloß für die von ihr unterrichteten Studierenden - hat die Wiener Architektin und Professorin an der TU Stuttgart Franziska Ullmann verfasst: „Basics. Architektonische Grundelemente und ihre Dynamik“. Was anfänglich noch simpel scheinen mag, verdichtet sich zusehends zu einer Einführung in räumlich-architektonisches Erleben. Mit zahlreichen Bildbeispielen, gespeist von vielen Reisen, wird die umfangreiche persönliche Architekturerfahrung geordnet, verallgemeinert und nachvollziehbar gemacht. Zwar gibt es für die Architektur keine absolute oder eindeutige Lexik der Bedeutungen, weil die Elemente in ihrem Zusammenwirken und in Abhängigkeit der Bedeutungszuschreibung durch Nutzungen in ihrer Aussage variieren können. Für einen ersten, davon losgelösten, abstrakten Zugang zu räumlichen Wirkungen sind die „Basics“ jedoch äußerst hilfreich. Man spaziert hernach mit anderen Augen durch eine Stadt, bewegt sich mit frisch gewonnener Neugier in einem Gebäude.

Wenn man dann an einer der zahlreichen in und um Wien angebotenen Besichtigungen, Bauvisiten, Architouren und so weiter teilnimmt, geht man offener auf ein Bauwerk zu und vermag einer unverschleierten Erläuterung durch Fachleute besser zu folgen. Denn Vorsicht, nicht alle Architektenaussagen decken sich auch mit den architektonischen Sachverhalten, und in der Wortwahl sind sie oft kreativer als beim Projektieren. Aber was nicht konkret am oder im Bauwerk vorhanden ist, lässt sich nicht herbeireden. Darum ist es für sogenannte architektonische Laien nicht schlecht, wenn sie Pläne lesen und einer architekturbezogenen Sprache zu folgen vermögen, um sich eine eigenes „Bild“ zu machen.

[ Eine anschauliche Einführung in das räumlich-architektonische Erleben bietet Franziska Ullmanns jüngst bei Springer, Wien, erschienener Band „Basics. Architektonische Grundelemente und ihre Dynamik“ (208 S., brosch., € 39,90). ]

Spectrum, So., 2006.12.10



verknüpfte Publikationen
Basics - Architektonische Grundelemente und ihre Dynamik

15. Oktober 2006Walter Zschokke
Spectrum

Bauen im mittleren Westen

Sie werden kaum aussterben, jene Architekturschreiber, die vom Büropult aus, hinter Stapeln internationaler Zeitschriften dem Klischee frönen, in den ländlich-industriell geprägten Bundesländern Niederösterreich oder Oberösterreich sei es mit akzeptabler Architektur nicht weit her. Denn, so meinen und vertreten sie offenbar, die wirkliche Architekturkultur sei nur in den großen Zentren zuhause. Sie verkennen jedoch den Strukturwandel der vergangenen zwei, drei Jahrzehnte, in denen das Bildungsprivileg der großen Städte von engagierten landstädtischen Gymnasien unterlaufen wurde, sodass in Gebieten, in denen bisher brave Baumeister den Stil vorgaben, neuerdings der Region entstammende Architekten sich wieder dort niederlassen und ihre nicht selten internationale Erfahrung zu qualifizierten Bauwerken konkretisieren.

Sie werden kaum aussterben, jene Architekturschreiber, die vom Büropult aus, hinter Stapeln internationaler Zeitschriften dem Klischee frönen, in den ländlich-industriell geprägten Bundesländern Niederösterreich oder Oberösterreich sei es mit akzeptabler Architektur nicht weit her. Denn, so meinen und vertreten sie offenbar, die wirkliche Architekturkultur sei nur in den großen Zentren zuhause. Sie verkennen jedoch den Strukturwandel der vergangenen zwei, drei Jahrzehnte, in denen das Bildungsprivileg der großen Städte von engagierten landstädtischen Gymnasien unterlaufen wurde, sodass in Gebieten, in denen bisher brave Baumeister den Stil vorgaben, neuerdings der Region entstammende Architekten sich wieder dort niederlassen und ihre nicht selten internationale Erfahrung zu qualifizierten Bauwerken konkretisieren.

Unter dem Vorsitz der engagierten Publizistin und Architektin Romana Ring-Szczurowsky ergriff daher das Architekturforum Oberösterreich zusammen mit dem führenden regionalen Printmedium, den „Oberösterreichischen Nachrichten“, die Initiative. Sie wollten wissen, wie die oberösterreichische Wirtschaft baut. Über einen Wettbewerb, der sich an Industrie, Gewerbe und Handel richtete und bei dem vor allem das Engagement der Bauherrschaften ausgezeichnet werden soll, kamen beachtliche 85 Einsendungen zustande. Eine Endauswahl wurde eingehend besichtigt, wovon der Schreibende profitieren und sich beeindrucken lassen durfte. Der folgende Querschnitt versucht subjektive und regionale Argumentationslinien einander anzunähern, ohne damit den Juryentscheid relativieren oder kommentieren zu wollen.

Bei der Fahrt durch Oberösterreich liegen oft genug ausgedehnte Felder und kleine Waldstücke beidseits der Landstraße. Doch unvermittelt taucht über einem noch stehenden Maisfeld ein lang gestrecktes Gebäude auf, dessen riesige Ausmaße sich nur erahnen lassen. Die Produktions- und Lagerhalle der Firma Fronius bei Sattledt, entworfen von den Architekten Benesch und Stögmüller, ist noch im Bau. Sie liegt über den Einstellhallen für die Mitarbeiterautos. Damit entfallen die Land fressenden Parkierungsflächen, wie man sie sonst von Anlagen dieser Größe kennt. Die Fassaden sind plastisch gegliedert, was mithilft, trotz der riesigen Dimensionen den Maßstab zu wahren.

In Schwanenstadt hat die Holzbaufirma Obermayr von „F2 Architekten“ eine Fertigungshalle planen lassen. Die beiden „F“ stehen für Markus Fischer und Christian Frömmel, die ihren Bürositz in Schwanenstadt haben. Die Dachkonstruktion der Halle besteht aus langen, tafelartig gegeneinander verfalteten Sandwichelementen aus Holzwerkstoffen. Aus der Differenz ergibt sich die Höhe der Fachwerkträger, die mit schlanken Diagonalen aus Stahl (siehe Foto)
sich vor den aufgespannten Oberlichtern hinziehen. Raumkonzept, Tragwerk und Lichtführung bilden gemeinsam ein integrales Ganzes. Gleichsam beiläufig kommt dazu, dass die Anlage als Null-Energie-Gebäude funktioniert.

Nahe der Autobahn bei Schörfling kann man einen langen, quaderförmigen Baukörper ausmachen, dessen rational abstrahiertes Tragwerk hinter einem extrem zart wirkenden Vorhang einer großflächigen Glasfassade zu erkennen ist. Die wasserhelle Membran ist Programm, denn die international tätige Firma produziert Glasfassaden. Heidl Architekten aus Leonding haben den Firmenanspruch bildwirksam ungesetzt.

Aber nicht nur große Anlagen, die auf der grünen Wiese geplant werden konnten, zeichnen sich durch ihre Architekturqualität aus. Mittelgroße Bauaufgaben, als Zubauten oder im städtebaulichen Kontext für entsprechende Firmen errichtet, fallen genauso positiv auf. Da ist das Bürohaus Schrangl, Preslmayr, Schauhofer in Linz der Architekten Schneider & Lengauer. Anthrazit eingefärbter Sichtbeton mit geometrisch exakten Kanten prägt das äußere Bild, das sich im Inneren fortsetzt. Doch gelingt es, der Härte des Materials dank der Einfärbung einen überraschend sanften Charakter abzugewinnen, der zu durchaus angenehmen Einzel- und Großbüros führt.

Ebenfalls mit durchgefärbtem Beton arbeitete Architekt Andreas Heidl für ein bei Gunskirchen errichtetes Bauwerk, in dem heiratswillige Paare sich ihre Gewandung aussuchen und bei der großen Auswahl, die von Erika Baudisch bereitgehalten wird, wohl auch finden können. Mächtige vorgefertigte Elemente aus terracotta-rosa eingefärbtem Beton sind lapidar auf- und ineinander gefügt. Nach außen ergibt dies, wie auf dem Foto zu erkennen ist, ein unverkennbares Bild. Im Inneren kontrastiert die fast samtig wirkende Oberfläche zu den feinen und duftigen Stoffen. Durch große Glasflächen im Dach einfallendes Licht erzeugt zusammen mit dem warmen Farbton eine mediterrane Atmosphäre, eine Erinnerung an gern gewählte Ziele für die Reise nach der Trauung.

Ein Haus mit jahrhundertealter Tradition, das Stift Schlierbach, plante, den Verkaufsbereich zu adaptieren. Die Welser Architekten Maximilian Luger und Franz Maul schlugen vor, nach einem betrieblichen Gesamtkonzept ein „Genusszentrum“ zu errichten, in dem die Produkte des Stifts besichtigt, genossen und erworben werden können. Auf den mehrgeschoßigen Sockel eines alten, an die Hügelkante gelehnten Ökonomiegebäudes setzten sie ein leichtes und transparentes, neues Dachgeschoß. Zu den barocken Gebäuden im ersten Stiftshof tritt es mit einer hohen Vorhalle in Erscheinung, die zu den beiden anderen eine städtebauliche Konstellation eingeht (siehe Foto). Am anderen Ende bietet eine gedeckte Terrasse hoch über den Häusern der Ansiedlung einen überwältigenden Ausblick über die nach den Voralpen flach auslaufende Landschaft.

Doch auch räumlich kleine Aufgaben vermögen architektonisch zu strahlen, wie das Verkaufslokal des Juweliers Mayrhofer am Linzer Hauptplatz beweist. Die historischen Gewölbe erhielten eine komplett neue, zeitgenössische Auskleidung mit einer völlig anderen aber durchaus starken Raumwirkung.

Weniger heftig verfuhren in Wels die Architekten Benesch & Stögmüller für das Friseurgeschäft „Hairline“. Einfühlsam wurden verschiedene Raumzonen konzipiert, und einer seriellen Anordnung der Frisierplätze wurde mit geschickten gestalterischen Maßnahmen entgegengewirkt.

Ein Feuerwerk aus Glas und Metall zündete das junge Büro „two in a box“ für die Filiale der Sparda Bank am Linzer Lenauplatz. Andreas Fiereder und Christian Stummer gelang es, wie das Foto zeigt, in dem hohen Raum unter der bloß geweißten rohen Betondecke mit frei hineingestellten Elementen diesen sowohl zu strukturieren als auch durchfließen zu lassen. Bankgeschäfte sind hier nicht geheimnisvoll, sondern sprechen breite Kreise an. Und doch bleibt das, was privat sein soll, privat. Insgesamt sammelt sich nach der längeren Fahrt durch das Land die Erkenntnis, dass qualitätsvolle Architektur in Oberösterreich nicht nur von einem Zentrum ausgeht, dass sie zwar handfest, aber selten verspielt ist und daher über eine vernünftige Halbwertszeit verfügt.

Spectrum, So., 2006.10.15

17. September 2006Walter Zschokke
Spectrum

Platz für Picasso & Co

Eine hierzulande noch kaum genutzte Möglichkeit, mehr Raum für ein Museum zu gewinnen: Die Mäzene Jeanne und Donald Kahn sponsern den Ausbau der Wiener Albertina.

Eine hierzulande noch kaum genutzte Möglichkeit, mehr Raum für ein Museum zu gewinnen: Die Mäzene Jeanne und Donald Kahn sponsern den Ausbau der Wiener Albertina.

Das Mitte 18. Jahrhundert als Palais Tarouca erbaute, zur Empirezeit erweiterte und von Josef Kornhäusel 1822 bis 1824 mit mehreren prächtigen Innenräumen ausgestattete Bauwerk hoch auf der Augustinerbastei enthält eine der drei größten grafischen Sammlungen der Erde: die Albertina. Nachdem vor wenigen Monaten die Musiksammlung der Nationalbibliothek in das erneuerte Palais Mollard an der Herrengasse neun übersiedelte, wurden im vierten Obergeschoß Räume frei. Die Chance, die Ausstellungsflächen im dritten Obergeschoß (1000 Quadratmeter, damals mitgesponsert von der „Propter Homines Stiftung“, Vaduz, und nach ihr benannt) im Geschoß darüber um 700 Quadratmeter zu erweitern, wollte sich der Direktor der Albertina, Klaus Albrecht Schröder, nicht entgehen lassen. Denn sein Konzept, neben Grafikwerken aus der eigenen Sammlung auch thematisch verwandte Ölbilder internationaler Leihgeber zu zeigen und damit ein breiteres Publikum anzusprechen, erforderte mehr Raum.

Da ohne öffentliche Mittel umgebaut werden sollte, galt es, einen Sponsor zu finden. Der Amerikaner Donald Kahn, der in Österreich beträchtliche Summen für die Salzburger Festspiele bereitstellte und in den USA sowie in Großbritannien mehrere Museen unterstützt, ließ sich über das Entwicklungspotenzial informieren und ermöglichte den Umbau mit einer siebenstelligen Summe. Dieses in den USA verbreitete Mäzenatentum ist in Europa noch wenig üblich. Voraussetzung sind allerdings ein guter Name und attraktive Perspektiven der unterstützten Institution. Kleinere und bloß regional bedeutsame Häuser haben meist das Nachsehen. Doch wäre es einfältig, der Albertina ihren internationalen Rang vorzuwerfen, lassen sich doch in ihrem Strahlungsfeld auch die Marktchancen anderer verbessern.

Zum Dank an die Sponsoren erhalten die neuen Räumlichkeiten deren Namen: „Jeanne & Donald Kahn Galleries“. Die neuen Ausstellungsräume können separat oder gemeinsam mit der Propter Homines Ausstellungshalle bespielt werden. Eröffnet werden sie mit einer breiten Darstellung des Spätwerks von Pablo Picasso.

Abgesehen von zeitgemäßer Technik für ein stabiles Klima, ultraviolettfreier Beleuchtung und Sicherheitseinrichtungen nach neuesten Standards, ohne die heute weder die Kunstwerke aus der Sammlung noch hochwertige Leihgaben gezeigt werden könnten, sind die Konfiguration und die innenräumliche Gestaltung der Ausstellungssäle interessant. Zuerst galt es allerdings, einige statisch wenig wirksame, aber die Raumhöhe einschränkende Verstärkungen des alten Holzdachstuhls konstruktiv zu ersetzen sowie zur Erhöhung der Erdbebensicherheit eine geschoßhohe Stahlkonstruktion einzuziehen, die als Raumtrennung mit mittigem Durchgang statisch wie eine Scheibe wirkt und auch einen Teil der Dachlasten abfängt.

Die von der Sphinxstiege her - oder mit dem zentralen Aufzug - zugänglichen Ausstellungssäle sind bezüglich ihrer Oberflächen gleich gestaltet wie jene der Propter Homines Ausstellungshalle darunter: geöltes Eichenparkett, glatte Wände, deren Farbe der Ausstellungsdramaturgie entsprechend und sogar Bezug nehmend auf einzelne Bilder bestimmt und jeweils neu aufgebracht wird. Die Decke ist hell, an den auf die Wände gerichteten Leuchtbändern fehlen auf den Baustellenfotografien noch die Abdeckungen. Was man aber darauf gut erkennen kann, ist das Konzept des selber gestaltenden Direktors, in den mehrheitlich schmallangen Räumen durch „points de vue“, sowohl im Raum selbst als auch beim Übergang zum nächsten Saal, die Möglichkeit zur Platzierung starker Bilder zu schaffen, die als Blickfang dienen, thematisch durch die Ausstellung leiten und die Besuchenden in den nächsten Raum ziehen. Daher wurden gerade Raumfluchten vermieden oder beispielsweise in den Raum hineingreifende Flügelwände eingebaut, die ihn zonieren, aber den Raumfluss nicht hemmen.

Die als Glanzlichter der Ausstellungsdramaturgie eingesetzten Bilder lassen sich auf diese Weise noch besser zur Geltung bringen. Wie man diese Möglichkeiten nützt, ob ein- oder mehrdeutig, ist einer Frage des jeweiligen Ausstellungskonzepts. Die Räume als solche bieten vor allem verschiedene Kategorien von Hintergründen.

Da wegen der konservatorisch empfindlichen Grafiken alle fünf Säle ausschließlich mit Kunstlicht beleuchtet sind, obwohl sich hinter manchen Wänden Fenster befinden, gibt es keine Ausblicke in die Stadt. Zur Kompensation bietet sich in einem Nebenbereich nahe dem Aufzug eine Pausenzone an mit Fensterblick in den glasüberdeckten Albertinahof.

An der Nordost- und der Südostseite des vierten Geschoßes entstehen die neuen Büros der Kustoden. Damit wird im neuen Studiengebäude hinter der Augustinerbastei Raum frei für den dringend benötigten externen Studiensaal. Wir verlassen daher die gleißende Oberfläche der Albertina, die ihrem Ruf, der internationalen Bedeutung gemäß, öffentlich gerecht werden muss, und begeben uns in die tiefsten Tiefen der Augustinerbastei, vor das weltweit erste vollautomatische Hochregallager für grafische Kunstwerke. Hier ruht seit Anfang Jänner dieses Jahres das kulturelle Kapital des Hauses: die Sammlung mit zirka 1,5 Millionen grafischen Kunstwerken. Vollklimatisiert, staubfrei, nicht zugänglich für Menschen, es sei denn zu Revisionszwecken der Anlage, ausgerüstet mit einer Intergen-Löschgasanlage. Volldigitalisiert kann jeder Kupferstich, jede Zeichnung, die sich jeweils mit anderen in Schachteln aus säurefreiem Karton befinden, in maximal 58 Sekunden in den Kommissionierungsraum geholt werden. Bestellungen von Forschenden werden vorbereitet, aber eine Nachbestellung aus dem Studiensaal ist innerhalb von Minuten erledigt. Mit fortlaufender Digitalisierung können immer mehr Werke an hochwertigen Bildschirmen betrachtet werden, sodass sie nicht in jedem Fall behoben werden müssen. Damit ist für die interne Arbeit und die internationale und universitäre Forschung eine neue Ära angebrochen, die wegweisend ist und auch auf diesem Gebiet einen nachhaltigen Schub auslösen wird. Bloß von außen ist davon nichts zu erkennen.

Spectrum, So., 2006.09.17

20. August 2006Walter Zschokke
Spectrum

Wer die Regeln ändern darf

Es gibt sie noch, die Meister der Architektur und des Lehrens! Was sie ausmacht, was man von ihnen lernen kann. Eine Würdigung Kazuo Shinoharas und Ernst Hiesmayrs, die in diesem Sommer gestorben sind.

Es gibt sie noch, die Meister der Architektur und des Lehrens! Was sie ausmacht, was man von ihnen lernen kann. Eine Würdigung Kazuo Shinoharas und Ernst Hiesmayrs, die in diesem Sommer gestorben sind.

Innerhalb weniger Wochen sind diesen Sommer zwei Meister der Architektur und des Lehrens ver storben: Kazuo Shinohara und Ernst Hiesmayr. Nach der Mathematik fand Kazuo Shinohara, Jahrgang 1925, zur Architektur, in die ihn Meister Kyoshi Seike, am Tokyo Institute of Technology, einführte. Ab 1953 lehrte er selber an dieser Hochschule. Vom traditionalen japanischen Hausbau herkommend, entwickelte er einen „eigenen Stil“ anhand mehrerer Einfamilienhäuser, wobei er Abstraktion und Reduktion vertiefte. Ernst Beneder, der 1984 bei ihm in Tokyo studierte, zeigt in seinem ausgezeichneten Aufsatz im „Umbau“ (12, 1990) auf, wie über Kontakte des führenden japanischen Architekturkritikers Koji Taki zu Paris eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Theorien Roland Barthes' zustande kam. Dessen „Le degré zéro de l'écriture“ stieß nach 1970 in Japan auf großes Interesse, während Barthes seine Beobachtungen „Im Reich der Zeichen“ bestätigt sah.

Für einen Schriftsteller baute Shinohara 1974 das Tanikawahaus, dessen Äußeres einer simplen Scheune gleicht - allerdings mit geometrisch reinem 45-Grad-Satteldach. Im Sinne einer Nullpunkt-Berührung läuft im Hauptraum der leicht geneigte Hang unverändert als Humusboden durch. Er wollte nackten Raum bereitstellen, ohne Symbolik oder Bedeutung, hält er in seinem Vortrag „In Vorbereitung auf den vierten Raum“ fest („Prolegomena“, 53, 1986). Eine Stütze sollte eine Stütze sein, eine Strebe eine Strebe. Als er sah, dass dieser Raum bei den Betrachtenden dennoch Bedeutungen erzeugte, vertiefte er sei- ne Überlegungen zum Konzept der „im Nullpunkt angehaltenen Maschine“ und versuchte, dies auch in größeren Bauten umzusetzen.

Die Beziehung zu Wien beginnt 1980 mit einer Einladung an das Institut für Wohnbau der Technischen Universität, als Juror für den Prolegomena-Preis. 1986 gelingt es, Shinohara als Gastprofessor nach Wien zu holen. 40 Studierende nützen, anfangs eher zögerlich, diese einmalige Chance. 1997 organisiert das Architekturnetzwerk ORTE in der Steiner Minoritenkirche eine von Ernst Beneder gestaltete, den hohen Raum sensationell aktivierende Ausstellung. Und Shinohara kommt nach Krems, zur Eröffnung und zum Symposion „Transit.Orte.Metropolis“. Schüler aus Barcelona, Paris, Amsterdam, Berlin und Zürich reisen an, um den Kontakt mit ihm in der Diskussion zu erneuern. Und der Meister stellt Fragen, will vor allem zuhören, fragt die jungen Architekten nach ihren Überlegungen zur Zukunft der Architektur.

Im Jahr darauf vertieft er die inhaltliche Auseinandersetzung, ruft seine Schüler auf, schriftlich über Stand und Entwicklung von Architektur und Urbanismus in den Städten ihres Wirkens zu berichten. Und Shinohara reflektiert und kommentiert. Aus diesem weltweiten Diskurs entsteht ein dichtes, in Japan veröffentlichtes Buch, das belegt: Die Shinohara-Schule lebt. Ende Juni dieses Jahres starb Kazuo Shinohara. Er war aktiver Vertreter des in der japanischen Kultur bis heute verankerten und von seinen Schülern geschätzten Meistertypus. Trotz vorhandener Fesseln dieser Tradition ist ein Meister frei zu weiterer Entwicklung, entsprechend dem Kernsatz in dem japanischen Film „Der Tod des Teemeisters“: „Der Meister darf die Regeln ändern.“ - Was um 1600 noch den Tod durch Sepuku bedeutet, doch darüber ist das moderne Japan längst hinweg. In Europa hat sich ein traditionales Meisterprinzip fast gänzlich verloren. Nur mehr sporadisch finden sich Persönlichkeiten, die, meist Kraft eigenen Ringens, spontan zu jener Charakterbildung finden, in der wir Meisterschaft zu erkennen und anzuerkennen vermögen. Ernst Hiesmayr, von dem wir vergangene Woche Abschied nehmen mussten, war einer dieser raren, unmittelbar wirkenden Menschen. Selbst wenn er an einer „Massenuniversität“ lehrte, hat er eine „Schule“ begründet, deren Vitalität sich in einer wachsenden Zahl ausgezeichneter Bauten manifestiert, denn seine Theorie konstituierte sich als gelebte Praxis.

In Hiesmayrs eigenen Bauwerken findet sich ein vergleichbares Streben nach Reduktion und Klarheit wie bei Shinohara. Da sind seine „kleinen Häuser“, deren Entwürfe auf eigener Anschauung traditionaler Bautypen basieren - was seine vielen kraftvollen Skizzen belegen. In der Durcharbeitung führt er sie dann zu ungekünstelter Modernität und selbstverständlicher Einfachheit.

Mit der Heilig-Kreuz-Kirche im Langholzfeld in Pasching bei Linz, leistete Hiesmayr in den 1960er-Jahren einen grundsätzlichen Beitrag zum österreichischen Kirchenbau nach 1945. Das Urprinzip des Vierstützenhauses, der laterale Zugang durch die megalithartige Fügung der den Raum umschließenden Mauerblöcke und die als Weg und Ort integrierten Arbeiten des Bildhausers Karl Prantl verdichten sich zu einem Gesamtwerk, das der berühmten Nachbarin im Keferfeld würdig zur Seite steht.

Das Clima-Villen-Hotel in Nussdorf, eine der sensibelsten landschafts- und topografiefühligen Anlagen ihrer Zeit, ist heute zur Unkenntlichkeit verändert. Hier versagte die denkmalpflegerische Praxis, weil ein öffentliches Interesse in der Erkenntnis dieser einmaligen Qualität noch nicht ausreichend entwickelt war. Immerhin steht das Juridikum nahe der Wiener Börse auf seinen vier kräftigen Pfeilern unverändert im Stadtgefüge. Auch hier fließt der - in diesem Fall urbane - Boden, unmerklich abfallend, im Erdgeschoß des Gebäudes durch, ein anderer Kontext und doch der gleiche, die üblichen Regeln überschreitende Gedanke wie beim Tanikawahaus von Shinohara.

Die beiden Meister sind sich damals in Krems begegnet. Die Lingua franca unserer Zeit war ihrer Generation noch nicht so geläufig, der sprachliche Austausch begrenzt, aber die Hand konnten sie sich reichen, in gegenseitiger Anerkennung ihrer Leistungen. Was können wir von diesen Persönlichkeiten lernen? Sie waren wahrhaftig. Sie zählten nicht zu jenen „Meister“-Darstellern, die der Figur, die sie zu spielen vorgeben, ein mystifizierendes Mäntelchen umhängen, um Distanz zu erzeugen und „absolute Kompetenz“ vorzuspiegeln. Sie waren einzig der Sache der Architektur verpflichtet, weder politischer Macht noch der des Geldes, und kannten daher keine Berührungsängste, wussten aber, wo nötig, Distanz zu wahren. Gegenüber Gegenwart und Zukunft blieben sie stets offen, zugleich wissend, dass es absolute Sicherheiten nicht gibt, dass das Einsehen von Fehlern nicht Schwäche, sondern Stärke bedeutet und dass Unsicherheit und Zweifel auf dem Weg zur Vertiefung von Verstehen und Erfassen dazugehören. Sie stellten Fragen und suchten gemeinsam mit ihren Schülern nach Antworten. Wer kommen wollte, durfte kommen, wer da war, wurde akzeptiert, und wer eines Tages gehen wollte, ja zur persönlichen Entwicklung einfach musste, gehörte dennoch weiterhin zum großen Kreis. In einer Zeit, in der virtuell produzierte Scheincharaktere überhand nehmen, dürfen sich alle glücklich schätzen, die mit diesen starken Persönlichkeiten zusammenarbeiten durften.

Spectrum, So., 2006.08.20

30. Juli 2006Walter Zschokke
Spectrum

Man hört, was man sieht

Architektur, die sich selbst nicht wichtiger nimmt als nötig. Keine Sensation, dafür Qualität bis ins kleinste Detail. Die zweite Bauetappe des Bregenzer Festspielhauses ist abgeschlossen.

Architektur, die sich selbst nicht wichtiger nimmt als nötig. Keine Sensation, dafür Qualität bis ins kleinste Detail. Die zweite Bauetappe des Bregenzer Festspielhauses ist abgeschlossen.

Mit dem Abschluss der gedrängten, zehn Monate dauernden Bauzeit wurde für den Festspiel hauskomplex ein Konzept vollendet, das die Bregenzer Architekten Helmut Dietrich und Much Untertrifaller 1992 für ihr siegreiches Wettbewerbsprojekt entwickelt hatten. Eine erste Bauetappe, die mit dem spektakulären, hoch aufgestelzten Trägerbauwerk dringliche betriebliche Probleme löste und das Raumangebot mit einem großen, unspezifisch gehaltenen Saal erweiterte, dessen Name („Werkstattbühne“) seine Bedeutung untertreibt, wurde 1997 abgeschlossen. Sie ließ den Hauptbau, das von Wilhelm Braun 1976 bis 1979 errichtete Festspielhaus, noch weitgehend unangetastet. Dieser sparsam errichtete Bau aus der Zeit vor den internationalen Erfolgen Vorarlberger Architekturschaffens basierte auf dem Projekt eines noch in den 1950er-Jahren gewonnenen Wettbewerbs und war schon bald zu eng und auch in anderer Hinsicht überfordert, auch wenn der Große Saal akustisch nicht wirklich schlecht war. Teile des Rohbaus sollten jedenfalls erhalten werden, was hinsichtlich der Raumhöhen einige knifflige architektonische Probleme stellte.

Schwerpunkt der Aufgabe war daher nicht, einen großen Wurf zu inszenieren, sondern zahlreiche große und kleine Verbesserungen zu einem neuen Gesamtkonzept zu integrieren, was bei der Komplexität der Bauaufgabe und der kurzen Ausführungszeit jede Anerkennung einfordert, die den Projektleitern und langjährigen Mitarbeitern des Büros Dietrich | Untertrifaller, Susanne Gaudl und Heiner Walker, ebenso gebührt.

Kernstück war die Erneuerung des großen Saals mit dem Einbau eines Ranges zur Anhebung der Sitzplatzanzahl. Für die akustische Optimierung zeichnete der erfahrene Spezialist Karlheinz Müller aus München verantwortlich. Dabei galt es zu berücksichtigen, dass sowohl Opern als auch Sprechtheater und sogar Kongressveranstaltungen möglich sein müssen. Ein Parkettboden statt Teppich sowie die Vergrößerung des Hallraumes nach oben durch den Einbau eines zwar blick-, aber nicht schalldichten Metallgewebes an der Decke sind die sichtbaren Maßnahmen. Erneuert wurde aber auch die gesamte Bühnentechnik, und unter den Sitzplätzen wurden je einzelne Zuluftauslässe angeordnet. Die neuen, gepolsterten Sitze sind bequem und bieten auf allen Plätzen gute Sicht. Und in der Akustik gilt: Man hört, was man sieht. Vom Rang aus ist der übrige Zuschauerbereich nahezu weggeblendet, sodass der Bühnenausschnitt optisch näher rückt. Farblich dominiert das leuchtende Rot der Sitzpolster, das mit dem warmen Dunkelbraun der Robinie für Parkett und Seitenwände gut harmoniert. Die Furniere für die Wandpaneele stammen von verschiedenen Stämmen, sodass sich ein absichtsvoll lebendiges Bild ergibt.

Im ersten Obergeschoß, an der Rückseite des Saales verbinden sich die Teilbereiche des Foyers, deren Achsen sich in einem flachen X kreuzen. Vom Eingang her führt eine breite Treppe hinauf, im Luftraum darüber entsteht eine starke, drei Geschoße hohe Innenraumfigur, deren Kraft von einer Galerie im zweiten Obergeschoß aus gut nachvollziehbar ist. Signifikant ist das Prisma, das den neuen Haupteingang an der Ostseite zum Platz markiert und beschirmt. Es enthält den „Propter Homines“-Saal, Ort vielfältiger künftiger Veranstaltungen. Darauf antwortet im Westen das aus der ersten Bauetappe stammende Seefoyer, mit breiter Fensterwand und Ausblick auf die Wasserfläche. In der Gesamtkonzeption bildet dieser räumliche Diagonalbezug eine Antwort auf das aufgestelzte Trägerbauwerk. Gemeinsam wirken sie ordnend in der komplexen Konstellation von Seebühne, Bühnenturm, Werkstattbühne, Foyers und Eingangshalle.

Das vielgliedrige Foyer dient allen Veranstaltungsstätten. Da die Raumhöhe, im zentralen Bereich, vom Rohbaubestand vorgegeben, eher knapp ist, sind Boden, Decke und die Wand zur Seetribüne hell, nahezu weiß gehalten. Räumliche Spannung erzeugen die dunkle, polygonale Rückwand des Saals und die flache Rundung gegenüber, hinter der sich die Seetribüne befindet. An solcherart schwierigen Raumkonfigurationen erweist sich die architektonische Sensibilität der Entwerfer, ging es doch nicht um ein Kaschieren, sondern um ein intelligentes Neuinterpretieren bestehender Rohbauteile.

Nach Möglichkeit wurden Bezüge zum See geschaffen, um die attraktive Uferlage, wie etwa beim Seefoyer, einzubeziehen. Neu wurde zwei Geschoße über dem Foyer die Festspiellounge angeordnet, ein VIP-Bereich mit guter Sicht auf die Seebühne, dessen Fensterfronten sich unter die Decke hochziehen lassen, ohne dass Vertikalsprossen stehen bleiben. Von hier bietet sich nicht nur eine gute Übersicht auf Bühnenbild und Spielgeschehen, sondern auch auf den See. Darüber befindet sich die Regie für die Seebühne. Gemeinsam lassen die beiden zusätzlichen, Fassade bildenden Geschoße die Ansicht zum See höher werden, denn auch nach dieser Seite wollten die Architekten die Wirkung des Gebäudes verstärken.

Nicht geringe Probleme boten die Ostseite zum neu geschaffenen Platz und die Südseite, Letztere als Ankunftsseite, vom zeichenhaften Kopf des Trägerbauwerks überragt. Das mit sechseckigen Eternitplatten verkleidete, mit vielen stumpfen Winkeln kleinmaßstäblich aufgelöste Volumen des Wilhelm-Bauer-Baus vermochte mit der neuen Größenordnung nicht mitzuhalten. Daher wurde mit Erweiterungen nach beiden Richtungen Raum für Künstlergarderoben und Vorbereitungsräume hinter der Bühne geschaffen. Nach außen galt es jedoch, die Volumen zu ordnen und in proportional vertretbare Verhältnisse zu bringen. Der dreigeschoßige Diensttrakt in hellem Grau bildet nun einen kräftigen Sockel für den markanter gewordenen Bühnenturm, während die breit gelagerte, zwecks Wärmeschutz dunkel verglaste Eingangshalle eine klare Front zum neuen Platz bildet. Bei Dämmerung wird sie einladend von innen heraus leuchten. Die offene Untersicht der zur Rechten anschließenden Seebühne sorgt für zusätzliche Dynamik. So gelingt es, trotz „Umbaus“ ein integrales Gesamtbauwerk zu schaffen, das, an einem weiträumigen, von Autos befreiten Platz liegend, bereits tagsüber dem Aufenthalt dient. Es wurde ein urbaner Ort geschaffen, an dem die Skulptur von Gottfried Bechtold einen starken künstlerischen Akzent setzt. Und an der Kante der Tribüne vorbei fällt der Blick wieder auf den See.

Dietrich und Untertrifaller geht es bei ihren Bauwerken nicht um Sensationen. Sie suchen nach Angemessenheit, dem Verbessern des Bestehenden auch im eigenen Werk. Sich selber in den Bauten nicht übertrieben wichtig zu nehmen, das zeigen auch die auf den Kontext bezogene neue Halle F im Wiener Stadthallenkomplex oder die künftige Hochschulsportanlage der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich auf dem Campus Höggerberg, deren Bau diesen Herbst beginnt. Zugleich wird das räumlich kompositorische Licht nicht unter den Scheffel gestellt und der Qualitätsanspruch bis in die Details gewahrt. Architektur aus Vorarlberg eben.

Spectrum, So., 2006.07.30



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Festspielhaus und Kongresshaus – 2. Bauetappe

01. Juli 2006Walter Zschokke
Spectrum

Wenn wir alt sind

Eine Fassade, die in warmem Rot leuchtet, Fenster, die auch einem Liegenden den Blick ins Freie gewähren. Keine Spur von Klinik oder Kälte: das Landespensionistenheim in Stockerau.

Eine Fassade, die in warmem Rot leuchtet, Fenster, die auch einem Liegenden den Blick ins Freie gewähren. Keine Spur von Klinik oder Kälte: das Landespensionistenheim in Stockerau.

Östlich des Ortskerns von Stockerau befand sich bis vor kurzem das alte Landespensionistenheim in einem sechsgeschoßigen Bau aus den späten 1960er-Jahren. Bauphysikalisch und vor allem betrieblich war er nicht mehr zeitgemäß, und ansehnlich ist er auch nicht. Man wird ihn demnächst abbrechen und den Grund neu bebauen. Neben dem Altbau entstand in den vergangenen zwei Jahren ein neues Landespensionistenheim, dessen Fassade in einem warmen Rotton freundlich leuchtet. Als Zweites fallen die halbrunden Stirnseiten des Zimmertrakts auf, wo Bewohnerinnen und Bewohner in großen Loggien, gut beschattet und betreut, frische Luft genießen können. Denn es gilt zu bedenken, dass nicht wenige der Hochbetagten sich - wenn überhaupt - nur mehr im Rollstuhl bewegen können.

Betriebsökonomische Studien legten in den vergangenen Jahren optimale Bettenzahlen für die Pflegestationen fest, die sich jeweils auf einer Ebene befinden müssen. Dies bestimmte die Ausdehnung des dreigeschoßigen Zimmertrakts, der im Süden und im Norden über die genannten halbrunden Loggien verfügt, die wie gestapelte Achterdecks eines Ausflugschiffes wirken. Die Zimmer liegen beidseitig an einem Mittelgang und sind nach Osten oder Westen gerichtet. Große Kastenfenster mit niedrigen Brüstungen bieten selbst Liegenden einen Blick nach draußen.

An der Westseite des Zimmertrakts stößt ein gedrungener Quertrakt auf den Langbau. Er enthält die vielen allgemeinen Räume für Aufenthalt, Haarpflege, Café und dergleichen. Die Hauskapelle befindet sich hier, aber auch der Servicebereich mit der Küche, die Eingangshalle und die Verwaltung. An der Gelenkstelle springen die Geschoßdecken zurück, sodass das von Süden eindringende Licht bis tief in die hohen Hallen gelangen kann. Ein weit auskragendes Dach schützt vor der harten Sommersonne.

Bei der architektonischen Gestaltung eines Pensionisten- oder Pflegeheims gilt es immer zu bedenken, dass drei ziemlich verschiedene Nutzergruppen zu berücksichtigen sind: die alten Menschen, das Betreuungspersonal und die Angehörigen, Freunde und Bekannten, die zu Besuch kommen. Bewohnerinnen und Bewohner, die sich noch selbst bewegen, sollen sich unschwer orientieren können und räumlich abwechslungsreiche Allgemeinbereiche vorfinden. Sollten sie jedoch bereits immobil sein, ist ihnen ein freundliches Zimmer zu wünschen.

Das Betreuungspersonal wird sich in vielen Fällen für eine längere Dauer im Gebäude aufhalten als die meisten Bewohner. Praktische Arbeitsverhältnisse und angenehme Aufenthaltsbereiche und -räume sind das eine. Ein positiver Gesamtcharakter des Gebäudes, der eine Identifikation mit dem Arbeitsort fördert, ist jedoch mit Sicherheit ebenso wichtig, weil dies die Qualität der Arbeitsleistung positiv beeinflusst. Gewiss gibt es andere und gewichtigere Faktoren, aber die sind in der Regel meist leichter veränderbar als die Architektur des Hauses.

Wer seine Angehörigen, Freunde oder Bekannten besuchen kommt, möchte wohnliche Bereiche vorfinden, wo er dem besuchten Menschen nahe sein und ein, zwei angenehme Stunden verbringen kann, im Gespräch oder in stillem Beisammensein. Dazu kann ein eher privater oder eher öffentlicher Rahmen sinnvoll sein. Jedenfalls ist es gut, wenn man aus einem Angebot wählen kann. So kommen viele verschiedene und anspruchsvolle Forderungen an die Architektur eines Pensionistenheims zusammen, die nicht immer glücklich erfüllt werden. Nicht selten greift ein kalter Klinikcharakter Platz, den man sich auch im Spitalsbereich eigentlich nicht wünscht.

Ganz anders im vorliegenden Fall von Stockerau. Architekt Johannes Zieser ist es gelungen, eine positive Atmosphäre zu schaffen, in der man sich in jeder der drei Benützerrollen wohl fühlen kann. Gewiss wird diese Stimmung weder Altersgebrechen oder Alltagssorgen noch subjektive Ängste wegzaubern, aber positive raumgestalterische Voraussetzungen sind jedenfalls eine gute Ausgangslage.

Der Tagesaufenthaltsbereich zeichnet sich durch doppelte, teils dreifache Raumhöhe aus, mit Galerien und mancherlei Sichtbeziehungen, die einen guten Überblick erlauben. Die große Glaswand trennt klimatisch und bietet dennoch einen intensiven Bezug zum Außenraum. Die Materialien: Parkettböden in warmfarbigem Holz, Natursteinverkleidungen von Mauern in ockerfärbigem Stein - das Muster erinnert an die 1950er-Jahre, an die sich wohl nicht wenige Bewohner erinnern werden. Schlanke runde Stützen tragen die Galerie, über der ein Glasdach noch einmal Licht in den großen Binnenraum einlässt.

Am überraschendsten ist jedoch, dass der Trakt mit den Zimmern aus Holz errichtet wurde, das an den Decken der Gänge und in den Zimmern zu sehen ist und die positive Raumwirkung mitbestimmt. Die Deckenplatten und Wandscheiben bestehen aus Brettsperrholz. Das sind kreuzweise zu großen Tafeln verleimte Brettschichten. Ihre Größe wird nur durch die Transportfähigkeit begrenzt. Diese massiven Holzwerkstoff-Elemente werden konstruktiv und statisch wirksam eingesetzt. Architektonisch erscheinen sie flächig, was bisher die Domäne des Stahlbetons war oder in Holz durch Verkleidung erreicht werden musste. Der Rohbau gleicht dem anderer Massivbauweisen, hat aber neben dem geringeren Gewicht den Vorteil der schnellen und trockenen Montage sowie der werkseitigen Vorfertigung.

Der Aufbau der Außenwände beginnt außen mit hinterlüfteten, rot lackierten Sperrholztafeln, deren Horizontalfugen gegen eindringenden Schlagregen sorgsam mit einem Wetterschenkel versehen sind. Zementgebundene Spanplatten schützen die Dämmung und sichern gegen Brandüberschlag. Hinter der Dämmung steht das tragende Brettsperrholz, innenseitig wurde es mit einer brandhemmenden Schicht versehen und dann mit Gipskarton verkleidet.

Damit ist das Bauwerk auch bautechnisch äußerst interessant und nützt die Möglichkeiten des modernen Holzbaus. Dabei werden auch die anderen Materialien je nach ihren Eigenschaften sinnvoll eingesetzt. Wir finden Stahlbeton, Holz und Holzwerkstoffe, Stahl und Glas, die zusammen die jeweils angemessene Stimmung erzeugen. Denn nicht eines allein vermag sämtliche Ansprüche zu erfüllen. Erst im Zusammenspiel der richtigen Kombination und Konstellation wird daraus Architektur.

Spectrum, Sa., 2006.07.01



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Seniorenheim Stockerau

22. Juni 2006Walter Zschokke
zuschnitt

Zwischen Wasser und Himmel

Der Fußgängersteg Rapperswil-Hurden

Der Fußgängersteg Rapperswil-Hurden

Der Raum über dem Zürichsee ist weit. Ungewohnt weit in dem stark hügeligen, von Gletschern und Flüssen modellierten und von den Menschen dicht überbauten Gebiet zwischen Alpen und Jura, dem schweizerischen »Mittelland«. Nur die Seen bieten sich darin als offene, ebene Räume an. Der seit einigen Jahren bestehende Holzsteg zwischen der Stadt Rapperswil und dem ehemaligen Fischerdorf Hurden verbindet daher nicht nur zwei gegenüberliegende Ufer, sondern führt hinaus in diese besondere Weite zwischen Wasser und Himmel. Gewiss kann sich der Mensch mit einem Boot ebenfalls in diesen Raum hinaus begeben, aber das ist nicht dasselbe wie zu Fuß, etwa einen Meter über der Wasserfläche auf einem 2,40 Meter breiten Weg dahin zu gehen, zu schlendern oder zügig zu wandern, wie es gerade gefällt. Ganze 841 Meter ist er lang, der Steg, und fünf Mal ändert er mit einem Knick mehr oder weniger stark die Richtung, ohne aber das Ziel, eine Landzunge auf der anderen Seeseite, aus dem Blickfeld zu lassen.

Über die Funktion als Weg hinaus ist der Holzsteg raumbildendes, architektonisches Element, denn an einer Seite begleitet eine schulterhohe Geländerwand aus Eichenstaffeln, dem gleichen Material wie die Gehfläche, die schmale, langgezogene Plattform über dem Wasser. Die Geländerwand schneidet den Raum, teilt ihn viel stärker als der Steg allein dies vermöchte, schirmt aber zugleich, bietet räumlichen Halt in der Weite. Da kann die andere Seite getrost offen bleiben und bloß mit fünf dünnen horizontalen Drähten gesichert sein, die minimale Raumbildung ist da und wirkt beruhigend.

Man geht zirka zehn Minuten auf dem Steg. Das ist lang genug, dass die einfache, extrem reduzierte Raumbildung ihre subtile Wirkung entfalten kann und sich als solche im Gedächtnis festschreibt, einen Ort über dem Wasser schafft, dessen Geheimnis sich beim Begehen erschließt. Aber dieser Ort, das ist nicht bloß ein fünf Jahre alter Steg, das ist viel mehr. Das ist ein Seeübergang, der in die Prähistorie zurück- reicht, eine Tiefe von Jahrtausenden, was für uns Menschen an die Ewigkeit grenzt. Eine eiszeitliche Endmoräne des Linthgletschers bildet hier eine ausgedehnte Untiefe, die teils kaum einen halben Meter unter Wasser verläuft. Man darf annehmen, dass hier eine großflächige Furt bestand, die seit der Eiszeit ein vergleichsweise gefahrloses Überqueren des Gewässers erlaubte – problemloser als durch die schnell fließende Limmat unterhalb, oder die sumpfige Linthebene oberhalb des Zürichsees. Weiter dürfte der Weg dann beim heutigen Konstanz über den Rhein geführt haben und als Nord-Südachse frühen Wanderungs- und Handelsbewegungen gedient haben. Es erstaunt daher wenig, dass eine frühbronzezeitliche Inselsiedlung schon vor 3500 Jahren eine Stegverbindung zum Nordufer aufwies. Wobei die seit dem späten Neolithikum bestehende, relativ dichte Besiedelung der günstigen Uferzonen archäologisch belegt ist. Damals wurde der See mit Einbäumen befahren, in keltischer und römischer Zeit dann mit größeren Schiffen, schriftliche Quellen über regelmäßigen Fährbetrieb datieren aus dem 9. Jahrhundert.

Die Stadt Rapperswil gehörte von 1354 bis 1464 zum damaligen Österreich. Erzherzog Rudolf IV. ließ 1358 eine 1850 Schritt lange Brücke auf Pfahljochen errichten, um über einen eigenen, mit Wagen befahrbaren Übergang zu verfügen und damit die zur Eidgenossenschaft gestoßene Stadt Zürich mit ihrer Brücke über die Limmat zu konkurrenzieren. Über 500 Jahre lang wurde der Übergang regelmäßig erneuert, bis 1878 im Zuge des Eisenbahnbaus ein moderner Seedamm für Schiene und Straße eröffnet und die Holzbrücke abgebrochen wurde. Neben dem Handels- und Lokalverkehr diente der uralte Übergang den Pilgern auf ihren Reisen durch Europa, etwa auf das Südufer und von dort zum nahen Kloster Einsiedeln; als Teil des schweizerischen Jakobsweges weist er aber auch nach dem fernen Santiago de Compostela. Wir verstehen daher, dass dieser Weg über den Steg nicht irgendein Weg war und ist.

Als der zunehmende Automobilverkehr auf dem Seedamm den Fußgängern die Wanderfreude verdross, engagierte sich ab 1975 eine lokale Initiative, wieder einen Steg zu errichten. Da sie nach ein paar Jahren ins Stocken geriet, bot das Millennium den Anlass zu erneuter Anstrengung: Für die Baukosten von zirka 2 Mio Euro wurden Spenden gesammelt, verschiedene, zum Bau erforderliche Bewilligungen eingeholt – die Flachwasserzonen und Inseln stehen unter Naturschutz – und die Planung aktualisiert. Die Bauingenieure Bruno Huber und Walter Bieler (Holzbau) sowie der Architekt Reto Zindel entwickelten das Konzept und eine langlebige Konstruktion. Vom Splint befreite Eichenpfähle von 30, 45 und 70 Zentimeter Stärke und bis zu 16 Metern Länge wurden paarweise mit 7,50 Meter Abstand in den Seegrund gerammt. Metallene Kappen schützen die bewitterten Stirnflächen. Darauf ist jeweils ein mittels Schwert am stärkeren Pfahl eingespanntes Stahlprofil befestigt. Auf diesen Querträgern liegt ein Rost aus schmalen Eichenbalken, der als Gehfläche dient, wobei dank alternierenden Versatzes statische Durchlaufwirkung erzielt wird.

Minimierte Kontaktflächen und Dimensionen sowie ausreichende Durchlüftung sorgen für ein rasches Trocknen nach Regen- und Schneefällen. U-förmige Stahlprofilbügel halten die schmalen Balken in der Schar und dienen seitlich als Geländerpfosten. Die längs gerichteten Tragelemente, durch deren Fugen der Blick auf den Wasserspiegel fällt, lassen das Gehen auf dem Steg anders empfinden, als wenn sie quer liegen würden. Da die Fasern in Gehrichtung verlaufen, wird die Oberfläche von den Schuhsohlen mehr poliert als aufgeraut, was zu einer stets glatten und frischen Oberfläche führt. Die seitliche Holzbrüstung ist ähnlich wie die Gehfläche ausgeführt, wobei die Hölzer in Brett- und Lattendimensionen sich da und dort leicht gebogen haben und nun ein lebendiges expressives Bild abgeben. Das Geh- und Raumerlebnis ist einmalig. Selbst bei Schneeregen ist man fast enttäuscht, wenn der Weg auf dem Steg schon zu Ende ist – immerhin: in Gegenrichtung ist es um kein Haar schlechter.

zuschnitt, Do., 2006.06.22



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28. Mai 2006Walter Zschokke
Spectrum

Moderne hinter Styropor

Jede Bauepoche blickt in der Regel verächtlich auf ihre Vorgängerin. Oft legt sie auch Hand an, meist zum Schaden der Gebäude. Jetzt geht es Roland Rainers ORF-Bauten auf dem Küniglberg an die Außenhaut. Zeit, die Spirale zu durchbrechen!

Jede Bauepoche blickt in der Regel verächtlich auf ihre Vorgängerin. Oft legt sie auch Hand an, meist zum Schaden der Gebäude. Jetzt geht es Roland Rainers ORF-Bauten auf dem Küniglberg an die Außenhaut. Zeit, die Spirale zu durchbrechen!

Würde man heute den Strebepfeilern und dem Chormauerwerk einer regional bedeutenden go tischen Kirche eine Außendämmung verpassen? Wohl kaum. Dennoch sei daran erinnert, dass die Bezeichnung „stile gotico“ im Italien der aufkommenden Renaissance abschätzig gemeint war, dass die heute selbstverständlich und positiv besetzte Benennung der Baukunst einer hochmittelalterlichen Epoche zuerst ein Schimpfwort war. Dasselbe gilt für die Begriffe „Barock“ oder auch „Zopf“, die den frühen Neoklassizisten dazu dienten, die Formenvielfalt und Schwelgerei der vorangegangenen eineinhalb Jahrhunderte zu diffamieren.

Wer sich aber heute weder von der geschmäcklerischen noch von der Partei nehmenden Seite den Phasen der Architektur- und Baugeschichte nähert, wird in jedem Abschnitt herausragende, geglückte und weniger geglückte Bauwerke finden, und je tiefer man in das Wissen über das Bauen und die Architektur eindringt, desto mehr wird man die Bauwerke und die gewonnene Erkenntnis genießen können. Ob dies nun Gotik, Barock, Historismus oder die noch billig zu schmähende Nachkriegsmoderne sei. Denn es ist nicht der vordergründige Effekt, der das Wesen von Architektur ausmacht.

Wäre es da nicht an der Zeit, diesen Mechanismus zu durchschauen, der Auftraggeber und Architekten die jeweiligen Vorgänger schlecht machen lässt und für die Qualitäten im Schaffen der Vätergeneration blind ist. Interessanterweise sind es dann die Enkel, die den Arbeiten ihrer „Großväter“ - neuerdings auch von „Großmüttern“ - Sentiment entgegenbringen - und nebenbei die Bauten von „Vätern“ und „Müttern“ scheußlich finden, ihrerseits wieder „das Kind mit dem Bad ausschütten“ und dieses beliebteste Muster der Moderne weiterführen.

Müssen wir diese wertevernichtende, alles andere als nachhaltige Spiralbewegung als „anthropologische Konstante“ hinnehmen? Vielleicht ja, wenn Architekturgeschichte nur als oberflächliche Stillehre unterrichtet wird, um hernach wie Rechnen geprüft zu werden. Jedoch nein, wenn Architekturgeschichte, falls sie denn überhaupt noch gelehrt wird, zum Wesen der Baukunst einer Epoche hinführt, wenn dabei die Eigenheiten und Qualitäten erläutert werden und mit den darauf folgenden Epochen genau so verfahren wird. Jedenfalls könnte dann öfter der verbreiteten Maxime von Luigi Snozzi: „Jeder Eingriff bedingt eine Zerstörung, zerstöre mit Verstand“ nachgelebt werden. Dabei liegt das Gewicht auf dem Wort „Verstand“. Wir sollen also zuerst verstehen lernen, um eingreifen zu können.

Seit einigen Monaten soll es den Bauten für den ORF von Roland Rainer auf dem Küniglberg an die Außenhaut gehen. Man erprobt eine Außendämmung des Stahlbetonskeletts, wie das Bild zeigt. Wie wenn es sich um einen beliebigen massiven Wohnbau aus den 1960er-Jahren handeln würde, wird Styropor außen draufgepappt. Doch versuchen wir zu verstehen, bevor wir loslegen: Roland Rainer hat ein rationales System mit vorgefertigten Betonelementen entwickelt, bei dem die nackte Konstruktion architekturwirksam sein sollte und auch ist. Er zelebriert das Fügen der Teile, die jedoch nicht plump pragmatisch geformt sind, sondern eine technisch begründbare Plastizität aufweisen, die sich im Spiel von Licht und Schatten zeigt. Tragwerk und Konstruktion sind nicht bloß dienend und hinter irgendwelchen Überzügen und Oberflächen verborgen, sondern sind integraler Teil der Architektur. Das gilt nicht immer und überall, aber am Küniglberg schon. Rainers rationale Haltung zeigt sich jenen, die verstehen wollen, auch am später an der Südseite hinzugefügten Stahlbau, wo die Konstruktion ebenso architekturrelevant ist - aber für Beton wäre die begrenzte Zahl zu fertigender Elemente nicht wirtschaftlich gewesen.

Ein Skelettbau ist bauphysikalisch nicht dasselbe wie ein Massivbau. Bevor daher die Bauabteilung des ORF Styroporplatten und Klebemörtel aufbringen lässt, wäre beispielsweise vorgängig ein Konzeptwettbewerb unter Bauphysikern nicht ganz abwegig gewesen, denn die großen Volumen mit einem günstigen Volumen-Oberflächen-Verhältnis, der hohe Anteil an Metallfensterflächen, die Probleme des Dampfdurchgangs und so weiter hätten ganz andere und gewiss auch hinsichtlich Kosten für Ausführung und Betrieb optimale Resultate erbringen können. Denn die Bastelei mit dem Styropor ist jedenfalls arbeitsaufwendig. Zudem werden Karbonatisierung und Schäden an der Armierung - bei Bauten aus dieser Zeit üblich, aber behebbar - überdeckt und einer Kontrolle entzogen.

Ohne professionellen Bauphysikern vorgreifen zu wollen, sei darauf hingewiesen, dass im Rahmen eines ingenieurwissenschaftlichen Gesamtkonzepts zur wärmetechnischen Sanierung auch eine Innendämmung mit Kalzium-Silikatplatten möglich wäre, die den feinsinnigen architektonischen Ausdruck nicht verplumpt und damit verständnislos zerstören würde. Bei der Sanierung des „Hauserhofes“ in Linz werden Kalzium-Silikatplatten als Innendämmung verwendet, eine innen liegende Dampfsperre kann entfallen, da etwa entstehendes Kondenswasser kontrolliert wieder an den Raum abgegeben würde.

Aber lassen wir die technischen Details den Spezialisten und konzentrieren wir uns auf die Architektur, die bei Roland Rainer eine wichtige technische Komponente enthält, die im Tragwerk, in dessen Plastizität und in der Rationalität der Gedankenführung ausgedrückt ist. Soll das nun unter Styropor und Stuck verschwinden? Denn im Umgang mit bestehender Architektur gilt eine weitere Maxime, die sich aus jener von Luigi Snozzi ableiten lässt: Wer Hand an ein historisches Bauwerk legt, sollte seinem vorangegangenen Architekten zumindest das Wasser reichen können.

Spectrum, So., 2006.05.28

30. April 2006Walter Zschokke
Spectrum

Die reine Struktur

Ein Ort mit wissenschaftlicher Tradition, revitalisiert als Galerie der Forschung: die ehemalige Alte Universität Wien. Ihre rationale Eleganz verdankt sie dem Architekten Rudolf Prohazka.

Ein Ort mit wissenschaftlicher Tradition, revitalisiert als Galerie der Forschung: die ehemalige Alte Universität Wien. Ihre rationale Eleganz verdankt sie dem Architekten Rudolf Prohazka.

Einen Begegnungsort zu schaffen für wissenschaftlich Forschende und zugleich einen Ort der Ver mittlung neuester Forschungsergebnisse an die Öffentlichkeit hatte die Österreichische Akademie der Wissenschaften im Sinn, als sie 1998 einen Architektenwettbewerb mit internationaler Beteiligung durchführte. Vor Jahren galt das für die „Galerie der Forschung“ vorgesehene Haus in der Bäckerstraße 20 als Geheimtipp unter Wiener Besonderheiten. Zu Bürozeiten war es möglich, durch den meist offenen Eingang und das Stiegenhaus zum zweiten Stock vorzudringen, um durch eine unversperrte Türe in einen riesigen Saal zu gelangen. Der war allerdings gänzlich mit einem Metallgerüst angefüllt, das die Plattform zur Restaurierung des Deckenfreskos trug. Da war zuerst die Überraschung, nach dem wenig ansprechenden Stiegenhaus auf den mächtigen Saal zu stoßen, dann die paradoxe Situation, diesen mit einem dreidimensionalen Gitter angefüllt vorzufinden.

Die übrigen Geschoße waren zwar nicht ähnlich dicht, aber ebenfalls reichlich verbaut. Und im Untergrund stießen Archäologen auf mittelalterliche Strukturen. Städtebaulich fiel das große Haus nicht besonders auf, weil es nicht über eine Schaufassade verfügte, obwohl es dreiseitig, aber nur auf kurze Distanz, freisteht. Ein Ansatz zu einer Schaufassade bestand zur Wollzeile hin, wo die Riemergasse auf einen kleinen Straßenhof trifft. Die Chance, vor dieser Südfassade einen Platz frei zu bekommen, war allerdings im engen Wien der Barockzeit und bis heute gering. Weiters liegt die Bäckerstraße höher als die Wollzeile, sodass man zwar von Ersterer eben hineingeht, sich zu Letzterer jedoch in Halbhochlage befindet.

Um die Mitte des 17. Jahrhunderts erbaut, war das Haus, das im Erdgeschoß die Aula der Universität, im ersten Obergeschoß Hörsäle und darüber den Theatersaal enthielt, durch zwei begehbare Schwibbogen über die Bäckerstraße mit dem Jesuitenkolleg verbunden. 1733 bis 1736 wurde der Theatersaal restauriert, und Anton Hertzog, ein Schüler des Andrea Pozzo, malte das heute von zahlreichen kleinen Schäden beeinträchtigte Deckenfresko. Nachdem die Kaiserin 1761 den Jesuiten das Theaterspiel untersagte, diente der Saal verschiedenen Zwecken, nicht zuletzt als naturwissenschaftliches Museum.

Die Baustruktur des Hauses ist rational, wobei man - die damalige Bautechnik berücksichtigend - nahezu von einem Skelettbau sprechen kann. Dieser Sachverhalt wurde von Architekt Rudolf Prohazka erkannt und in seinem Umbaukonzept präzisiert. In einem ersten Schritt stärkte er das rationale Konzept, indem er wilde, über die Jahrhunderte entstandene Einbauten entfernte und die reine Struktur hervorhob. Im Erdgeschoß wird sie nordseitig, entlang der Bäckerstraße durch einen langen Gang, an der westlichen Stirnseite vom Stiegenhaus und im Hauptkörper von drei Achsen mit jeweils zwei kräftigen Pfeilern bestimmt. Zwischen Letzteren sind vier Achsen mit zwei vergleichsweise schlanken Säulen eingefügt. Zusammen mit den in Pfeiler aufgelösten Außenmauern tragen sie ein Kreuzgratgewölbe. Die Säulenbasen mussten teils unterfangen werden, da der Boden zuvor verschiedene Niveaus aufwies - für ein öffentliches Gebäude heute ein Unding. Und in den Öffnungen der Südseite wurden die Brüstungen entfernt. Damit kommt die Großzügigkeit der Alten Aula bestens zur Geltung. Die Säulen scheinen eher zu hängen als zu tragen, vor allem fließt der Raum um sie herum, während die Pfeiler diesen zwar zonieren, aber nicht abschließen.

Im Geschoß darüber entfallen die Säulen. Die Korbbogentonnen überspannen locker zehn Meter, Stichkappen verbinden quer dazu. Hier und in der Aula sind die Räume für Ausstellungszwecke vorbereitet. Dem rationalen Tragsystem ist ein Versorgungsnetz überlagert, das Energieträger sowie Anschlüsse für Informationstechnologie über Bodensteckdosen und Lichtschienen so weit verteilt, dass für künftige, wechselnde Ausstellungsverhältnisse vorgesorgt ist.

Im obersten Geschoß befindet sich der gut 800 Quadratmeter messende Theatersaal der Jesuiten. Die 20 Meter Breite überspannt ein hoher Dachstuhl aus Holz, an dem die flache Decke mit dem Fresko hängt. Daher befindet sich der Saal zuoberst, was jedoch heute eine dritte Fluchttreppe bedingte, die in einem Grundstückzwickel an der Südseite Platz fand.

Das siegreiche Wettbewerbsprojekt Prohazkas sah den Vortragssaal unter der breiten Freitreppe im Straßenhof vor. Das knappe Budget ließ das aber nicht zu. Rudolf Prohazka, löste die schwierige Aufgabe laut der bewilligenden Denkmalamtsvertreterin mit einer „Königsidee“. Nun lässt sich im Theatersaal eine 70 Zentimeter starke, über die gesamte Breite und bis knapp unter das Fresko reichende Wand auf zwei seitlichen Zahnstangen mechanisch verschieben. Damit lassen sich unterschiedlich große Vortrags- und Veranstaltungsräume unterteilen. Die Wand ist raumakustisch wirksam und enthält hinter einem Chromstahlgewebe Scheinwerfer und weitere Ausrüstung. Selbst die Übersetzerkabinen lassen sich darin integrieren. Damit wurde in der 350 Jahre alten Baustruktur sehr viel modernste Technik untergebracht. Diese und auch das komplett neu errichtete Stiegenhaus samt Aufzug an der Stirnseite zum Platz vor der Jesuitenkirche sind in einer zurückhaltenden zeitgenössischen Formensprache ausgeführt, die mit dem rationalen Bestand harmoniert, weil beide strukturell verwandt sind.

Zur visuellen Kommunikation mit dem urbanen Umfeld sind drei bis zum zweiten Stock reichende, schmale Plasmadisplays bündig in die Fassade eingelassen. Sie wirken in die Bäckerstraße, zur Postgasse sowie in die Riemergasse hinein und lassen sich mit beliebigen Inhalten bespielen. Ein frei vor der Südfassade aufziehbarer Screen dient als Projektionsfläche. Damit erhält das ruhig und unaufdringlich wirkende Haus ein markantes Signal zur Stadt, ohne dass die historische Substanz angetastet wird.

Der Dialog notwendiger Erneuerungsmaßnahmen und zeitgenössischer Gestaltung mit der vorhandenen Struktur erfolgt auf großer Bandbreite. Weil er zugleich äußerst diszipliniert betrieben wurde, erweist sich der Umbau architektonisch gelungen, auch wenn die Ausstellungseinrichtungen noch nicht feststehen.

Spectrum, So., 2006.04.30



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Alte Aula / Galerie der Forschung

01. April 2006Walter Zschokke
Spectrum

Wie gestern morgen aussah

Ein Pionierwerk der 1970er-Jahre, das seinesgleichen sucht: die Wohnanlage „Wohnen morgen“ in Hollabrunn. In die Jahre gekommen - und doch ein Lehrstück über Architektur.

Ein Pionierwerk der 1970er-Jahre, das seinesgleichen sucht: die Wohnanlage „Wohnen morgen“ in Hollabrunn. In die Jahre gekommen - und doch ein Lehrstück über Architektur.

Nieselregen ist kaum die ideale Witterung, einen 30 Jahre alten Wohnbau zu besichtigen. Aber wenn er solche Begleitumstände aushält, muss etwas dran sein. Der Gegenstand der Anschauung in Hollabrunn, die Wohnanlage „Wohnen morgen“ mit 70 Einheiten, ist ein singuläres Wohnbauprojekt seiner Zeit in Niederösterreich. Die Anlage wurde 1971 bis 1976 nach dem Gewinn eines programmatischen Wettbewerbs von Ottokar Uhl und Jos Weber mit Beteiligung der späteren Bewohner geplant und errichtet. Eine begleitende Forschungsarbeit untersuchte einerseits den Einsatz vorgefertigter Elemente und andererseits den Partizipationsprozess, einen der ersten seiner Art in Österreich. Nicht dass für jeden Wohnbau dieser Aufwand getrieben werden könnte und müsste; aber als ein Angelpunkt in der Geschichte des Wohnbaus in Österreich sollten die dabei gemachten Erfahrungen zum Programm hiesiger Architekturschulen gehören.

Die Architekten arbeiteten dabei nicht isoliert, sondern stützten sich auf Konzepte aus den Niederlanden, wo Hermann Hertzberger, Aldo van Eyck und andere mit „strukturaler Architektur“ international auf sich aufmerksam machten. Als Basis diente das System S.A.R. der „Stichting Architecten Research“, zu Deutsch „Stiftung Architekten Forschung“, einer Initiative des Bundes Niederländischer Architekten sowie von neun Architekturbüros, die eine breite Anwendung industrieller Fertigungsverfahren zugleich mit einer individuellen Ausprägung anstrebten (siehe auch den Beitrag Bernhard Stegers in dem Sammelband über Ottokar Uhl, Anton Pustet Verlag).

Wie damals üblich, begann man bei der Planung mit einem Raster und einem Modulmaß. Ein Basismodul von zehn Zentimetern ergab verdreifacht 30 Zentimeter. Aufgeteilt in zehn und 20 Zentimeter führte dies zu einem „Bandraster“, der die Möglichkeiten für die tragenden und trennenden Bauelemente festlegte - allerdings immer mit ausreichend Varianz. Denn ein starrer Raster kann leicht in den Irrsinn kippen. Ausgehend von diesem feinmaschigen Planungsnetz wurden in der Gebäudetiefe parallele „Zonen“ festgelegt, die sich von den Raumgrößen herleiteten. Auch hier wurde differenziert in Kernzonen und „Margen“, die der einen oder der anderen Kernzone, zwecks planerische Elastizität, zugeordnet werden konnten.

In der anderen Richtung legten konstruktive Elemente von der Art unterbrochener Mauerscheiben „Sektoren“ und Raumbegrenzungen fest. Als weiteres Ziel galt es, Rohbaustruktur und Ausbau klar zu trennen, um bei der Planung, aber auch später, bei einer Erneuerung, Veränderungen zu erleichtern, ohne die Tragstruktur antasten zu müssen. Mittlerweile steht die Historisierung dieser speziellen Strömung der Nachkriegsmoderne an, die industrialisiertes Bauen, Ökonomie und unterschiedliche Benutzerwünsche unter einen Hut bringen wollte. Weil ihnen dies noch zu wenig war, strebten die Architekten nach einer Demokratisierung des Planungsprozesses unter dem Stichwort „Partizipation“. Die vom Architektengenius gestaltete Form trat hingegen hinter diese Ansprüche zurück. Das sind, kurz zusammengefasst, die Prämissen, unter denen wir uns historisch-kritisch der Wohnanlage in Hollabrunn nähern wollen.

Was zuerst auffällt, ist die kräftige Tragstruktur aus Betonelementen - sie enthalten einen Zuschlag aus Blähton, um den Wärmedurchgang zu reduzieren. An den Stirnseiten der langen Trakte ist dieses Skelett mit Zementsteinwänden ausgefacht, während an den Längsseiten vorgefertigte Wand- und Fensterelemente in Leichtbauweise abwechseln. Die Primärstruktur des tragenden Skeletts gewinnt dabei eine städtebauliche Dimension. So wie sich im Mittelalter Wohn- und Gewerbenutzungen parasitär in den Großstrukturen römischer Amphitheater einnisteten, reihen sich hier die entsprechend den Nutzerwünschen innerhalb eines Sektors vorspringenden Terrassen oder Räume zufällig nebeneinander. Die Spannung zwischen Tragstruktur und Füllung wird zum architektonischen Ausdruck.

Nach 30 Jahren ist die Bepflanzung herangewachsen. Da und dort überwuchert wilder Wein die massiven Pfeiler und Träger - im Winter bloß als Rankennetz, der sommerliche Blättermantel lässt sich leicht dazudenken. Damit haben die Bewohner die Struktur nicht bloß mit ihren Außenwänden, sondern auch mit ihrer Bepflanzung interpretiert. Unterschiedliche Farben, teils auch Materialien, kommen dazu. Und wieder folgt das Prinzip nicht einem von einer einzigen Hand festgelegten Gesamtbild.

Im Erdgeschoß durchzieht je eine zentrale Ganghalle die drei langen Gebäudetrakte. Sie ist nur für die Bewohner zugänglich, und dient diesen als öffentliche Zone im Sinne des Binnenstädtebaus. Sie ist breit genug, dass hier Fahrräder und Kinderwagen stehen können. Der Kork an der Decke - als Wärmedämmung und mit schalldämpfender Wirkung - sieht noch überraschend gut aus.

Während die Leichtbetonelemente der Tragstruktur eher archaische Dimensionen aufweisen - was architektonisch durchaus positiv zu beurteilen ist -, sind die ebenfalls aus Elementen gefügten Treppen im Inneren erstaunlich schlank. Die Platten der Absätze sind für heutige Verhältnisse ungewohnt dünn, ebenso die plissierten Läufe. Und nochmals entsteht eine architektonisch-proportionale Spannung, diesmal zwischen den Elementen der Primärstruktur und jenen der Treppen. Freilich kommt da und dort die - damals übliche - geringe Überdeckung der Verteilarmierung zum Vorschein. An einigen Stellen rostet sie und führt zu Abplatzungen. Nicht dass solche kleinen Schäden auf die leichte Schulter zu nehmen wären, aber nach 30 Jahren stehen andere Fassaden ebenfalls zur Reparatur an, manche sogar früher.

Es sind jedoch nicht bautechnische Probleme, die zuvorderst nach Erneuerung rufen, sondern ein absehbarer Generationenwechsel in den Wohnungen und eine voraussichtliche wärmetechnische Gebäudesanierung, die demnächst zu Veränderungen führen könnten. Deshalb muss klar festgehalten werden, dass wir vor einem Pionierwerk stehen, wofür sich in Niederösterreich und selbst darüber hinaus wenig Vergleichbares finden wird. Und auch wenn die exakt arbeitenden Kunsthistoriker mit ihrer Beurteilung noch nicht in den 1970er-Jahren angelangt sind, werden weder eine genossenschaftliche Bauabteilung noch ein beliebiger planender Baumeister den vom Bauwerk gestellten Ansprüchen genügen und die nötige Denkarbeit für Pflege und Erneuerung leisten können. Denn die Erneuerung eines Pionierwerks ist ebenso sehr Pionierarbeit, wofür nur architektonisch wie bautechnisch höchst qualifizierte Fachleute infrage kommen. Alles andere wäre, gemessen an der aktuellen Initiative zur architektonischen Verbesserung des Wohnbaus in Niederösterreich, reine Schildbürgerei.

Spectrum, Sa., 2006.04.01



verknüpfte Bauwerke
WHA „wohnen morgen“

04. März 2006Walter Zschokke
Spectrum

Die Kunst, Zweiter zu sein

Respektvolle Distanz statt harter Kontraste: Wie sich Helmut Dietrich und Much Untertrifaller mit Augenmaß einem Monumentalbau annähern. Die neue Halle F im Wiener Stadthallen-Komplex.

Respektvolle Distanz statt harter Kontraste: Wie sich Helmut Dietrich und Much Untertrifaller mit Augenmaß einem Monumentalbau annähern. Die neue Halle F im Wiener Stadthallen-Komplex.

Die Wiener Stadthalle gilt zu Recht als herausragendes Monumental bauwerk, das in der Wiederauf bauzeit der 1950er-Jahre als einsame Ausnahme neu errichtet wurde. Roland Rainer hatte mit seinem Entwurf nicht bloß ein sehr großes Gebäude im Sinne eines linear vergrößerten Hauses vorgeschlagen; vielmehr gelang ihm eine Großform, die dem riesigen Volumen maßstäblich gerecht wird und als städtebauliche Figur zu den Nachbarbauten etwa zwei Häusergrößen Abstand hält. Zugleich wahrte der zeichenhafte, an beiden Seiten expressiv hochgezogene und aufgestelzte Baukörper vorsichtige Distanz, indem er hinter Märzpark und niedrigem Foyerbau eher zurückhaltend in Erscheinung tritt. Eine zusätzliche Betonung des monumentalen Charakters vermied der Architekt. Und er wird nach den Jahren martialischer Massenaufmärsche und totalitärer Großveranstaltungen wohl gewusst haben, warum. Dennoch blieb die städtebauliche Beziehung zum Verkehrsknoten Urban-Loritz-Platz seltsam ungeklärt. Denn nicht wenige Besucher streben jeweils durch die vom Märzpark gebildete Entspannungszone - einen wichtigen Vorbereich solcher Anlagen der Massenkultur - zum Stadthallenkomplex. Aber gerade in dieser Richtung war die städtebauliche Wirkung schwach.

Mit der neuen Halle F, von Helmut Dietrich und Much Untertrifaller, nach gewonnenem Wettbewerb an eben dieser Schlüsselstelle errichtet, wird die Eckposition angemessen markiert, werden angrenzende Straßen- und Platzräume definiert und wird der Dialog mit dem beachtlichen Bestand gesucht und klug geführt. Die östliche, zum Gürtel gerichtete Stirnseite kragt etwa zwölf Meter aus. Das ist einerseits städtebaulich als Empfangsgeste zu deuten, andererseits liegt die vordere Kante in der Flucht der Querachse vor der Stadthalle, die von der Moerlinggasse und - auf der anderen Seite - von der Zinckgasse gebildet wird. Damit erhält der in der Hütteldorfer Straße vor dem Möbelhaus ausgeweitete Straßenraum einen klaren, straßenparallelen Abschluss und mit der Pausenterrasse vor dem Südfoyer ein urbanes Element.

Die verglaste Eingangswand unter der Auskragung, wo sich die Türen zum Eingangsfoyer reihen, folgt hingegen der Flucht der niedrigen Eingangsfront zur großen Halle. Damit werden zwei parallele städtebauliche Kanten mit dem neuen Gebäude sorgfältig und präzis in Beziehung gebracht. Die auch als Medienwand gestaltbare Stirnseite ist geschlossen, die schräg zurückweichenden Flanken hingegen sind vollflächig verglast. Dahinter befinden sich die Pausenfoyers. Während nun die südexponierte Seite parallel zur Hütteldorfer Straße verläuft und sich damit dem Stadtgefüge unterordnet, sodass das Bauwerk hier eher Stadtreparatur betreibt, ist die symmetrisch angeordnete Nordseite in dieser Hinsicht frei. Die Nähe zu den schrägen Tribünenstützen und den weiteren Schrägen an der großen Halle führt hier zu einem interessanten Dialog windschief im Raum verlaufender Kanten und Linien.

Dabei überlässt der Neubau der älteren Halle hinsichtlich Höhe und Instrumentierung den Vorrang. Die Lautstärke der Architektursprache ist zurückgenommen, und die glatten Aluminiumtafeln der Fassade halten ausreichend Distanz zum profilierten Blech an der großen Halle. Am Tag spiegelt sich deren sonnenbeschienene Südfassade in der Glaswand, die im Schatten liegt. Nachts öffnet sich das beleuchtete Pausenfoyer und dialogisiert mit dem Raum unter den hochgezogenen Rängen des Rainer-Baus.

Helmut Dietrich und Much Untertrifaller zeigen, wie in dieser spannungsreichen Situation nicht etwa harte Kontraste, sondern kalkulierte Annäherung bei den Volumen und respektvolle Distanz in den Details zum optimalen Resultat führen. Der Sachverhalt ist auf dem Foto von Bruno Klomfar gut erkennbar.

Das Innere ist übersichtlich strukturiert, mit kurzen Wegen und direkten Zugängen. Im keilförmigen Raum unter den Zuschauerrampen wird man in die Foyerhalle hineingezogen. Zwei breite Treppen führen an beiden Seiten hinauf zu den Pausenfoyers, deren ansteigender Boden mit den Sitzreihen im Saal korrespondiert, sodass keine Stufen anfallen. Boden und Wände sind mit Robinienholz belegt, einem robusten Material von dunkel-warmer Anmutung. Über die hohen Glaswände wirken die Pausenfoyers offen und sind abends von außen einsehbar wie riesige Schaufenster. Das Geschehen im Inneren wird den Vorbeigehenden gezeigt und belebt damit den öffentlichen Raum.

Der Saal selbst ist ganz in hellem Rot gehalten, eine starke Farbe, die bereits ohne Publikum Erwartungsspannung erzeugt. Es gibt hier keinen Balkon. Damit ist eine Trennung der Zuschauermasse vermieden. Gerade dass die Sitzreihen einmal durch einen breiten Querweg unterbrochen werden, der, „Catwalk“ genannt, zugleich einen ausgelagerten Teil der breiten Bühne bildet. Zuhinterst befindet sich leicht erhöht ein VIP-Bereich, von dem kurze Treppchen in die hinter der Saalrückwand befindlichen VIP-Lounges führen, mit einer Bar und bequemen Sitzzonen. Der Zuschauerraum ist somit ähnlich wie ein Segment aus einem Fußballstadion organisiert.

Zu beiden Seiten und hinter der Bühne schließt der Backstage-Bereich an, dessen Ebenen durch Treppen, wie im Bild versehen mit hellgrüner Wandfarbe, verbunden sind. Das angenehme, zum Saalrot komplementäre Grün verdanken Auftretende und Bühnenarbeiter der Einsicht, dass der Sichtbeton dann doch zu unansehnlich war. In diesem Fall wohl ein Glück, da dies in solchen Räumen eher mit radikalem Sparen als etwa mit jenem glatt geschalten Beton von Tadao Ando in Verbindung gebracht wird. In den Ecken des hinten breiteren Gebäudes befinden sich ein kleinerer und ein größerer Saal, für Proben, aber auch für Bankette, beispielsweise bei Kongressen. Sie sind daher auch von den Pausenfoyers her zugänglich. Darüber liegt noch ein Geschoß mit Büros.

Die Anlieferung erfolgt klarerweise von der Rückseite, und von den Laderampen sind es nur wenige Meter bis zur Bühne. Diese bietet alles, was in einer heutigen Veranstaltungshalle gefordert ist; für Konzerte, Revuen, Tanz bis zu Zirkus, aber ebenso Modeschauen und Tagungen. Darauf abgestimmt ist die Akustik, die mit Beschallungsanlagen auf kurze Nachhallzeiten ausgelegt ist. Sie sorgt für eine gute Sprachverständlichkeit und lässt den Toningenieuren freie Hand.

Der rational und dicht gepackte Komplex steckt in einem geometrisch exakt geformten Volumen, das auch in der Dachaufsicht nicht an Klarheit einbüßt. Damit ist das Bauwerk durchaus zeitgenössisch, aber nicht in einer aufdringlichen Art. Und trotz der attraktiven städtebaulichen Lage gesteht es der ein halbes Jahrhundert älteren Halle von Roland Rainer die Hauptrolle zu. Ein sehr guter Zweiter kann sich das leisten.

Spectrum, Sa., 2006.03.04



verknüpfte Bauwerke
Stadthalle Wien Halle F

07. Januar 2006Walter Zschokke
Spectrum

Herr Architekt sind Sie Gott?

Was ist ein Architekt? Was soll er sein? Heilsbringer, Zyniker, Machtmensch mit Soutane? Es wird Zeit, das Gespür für Realität und Verantwortung zu schärfen.

Was ist ein Architekt? Was soll er sein? Heilsbringer, Zyniker, Machtmensch mit Soutane? Es wird Zeit, das Gespür für Realität und Verantwortung zu schärfen.

Herr Architekt, sind Sie Gott?", eröffnete kürzlich ein Journalist sein Gespräch mit dem international erfolgreichen Baukünstler. Als am Rande prinzipiell Betroffener fragt man sich natürlich, was für ein Bild vom Wesen eines Architekten im Kopf des Journalisten existieren muss. Denn er fragte nicht: „Halten Sie sich für Gott?“, auch nicht: „Sind Sie ein Gott?“, sondern absolut: „Sind Sie Gott?“. Gewiss, die Frage war hintersinnig zugespitzt, um mit einem starken Einstieg zu beginnen. Doch schoss er damit über das Ziel hinaus, und der Architekt - bekannt dafür, dass er auch auf dumme Fragen intelligente Antworten zu geben weiß - parierte: „Was soll diese Frage?“ und hätte das Gespräch abgebrochen, wenn seitens des Journalisten nicht zivile Vernunft eingekehrt wäre.

Doch lösen wir uns von diesem Disput und kommen zurück zum Bild des Architekten, das zwar ein gutes Stück weit Projektion sein mag, aber nicht völlig aus der Luft gegriffen, sondern ebenso Selbstbild ist, genauer, das Produkt bewusster oder unbewusster Selbststilisierung sein dürfte. Dass diese Problematik nicht besonders neu ist, führt uns Ibsen anhand seines „Baumeister Solness“ vor. Und zahlreiche Architektenlebensläufe belegen es, seit sie - mit Beginn der Renaissance - historisch fassbar werden.

Es sind nicht nur die komplexe Aufgabe, die fachliche Kompetenz, die Fähigkeit zur Zusammenarbeit mit anderen, in ihren Disziplinen ebenso kompetenten Spezialisten und Handwerkern sowie nicht zuletzt das Gewicht der gesammelten Erfahrung, die an den Architektenberuf den hohen Anspruch stellen und die das gesellschaftliche Ansehen bescheren, das beim leisesten Nichtgenügen in pauschale Verurteilung umschlägt. Eine entscheidende Komponente bildet die Bereitschaft, große Aufgaben anzugehen, bis in die Details vorauszudenken und in der Folge auch zu bewältigen, denn ein Scheitern unterwegs wird sich keine Bauherrschaft leisten wollen.

Als Schlüsselfigur im Projektierungs- und Ausführungsprozess für ein anspruchsvolles Bauwerk gelangt der Architekt - und auch die Architektin - in eine faktische Machtposition, die zu verneinen entweder naiv oder unehrlich wäre. Die überzogene, eingangs kolportierte Gretchenfrage des Journalisten hätte daher nicht nach der unbeantwortbaren Selbstpositionierung im religiösen Überbau zielen sollen, sondern offener und direkter lauten: „Wie halten Sie es mit der Macht, Herr Architekt, und wie verhalten Sie sich zu anderen Mächtigen?“ Damit würde die Frage nach der Wahrnehmung der in einer Demokratie selbstverständlichen gesellschaftlichen Verantwortung der Macht gestellt, denn hier scheint einiges an Konfliktpotenzial zu liegen.

Noch Le Corbusier, dem man alles Mögliche nachsagt, sehnte sich nach einem Herrscher vom Schlage des königlichen Ministers Jean-Baptiste Colbert (1619 bis 1683), weil er sich für seine radikalen, durchaus totalitär anmutenden Großprojekte von neofeudalen Verhältnissen größere Realisierungschancen erhoffte. Es erstaunt daher wenig, dass er sich nicht zu schade war, zu diesem Zweck monatelang bei der Regierung in Vichy zu antichambrieren.

Es mag eine Binsenwahrheit sein, aber Macht macht transparent. Nicht nur zeigt sich der Charakter eines Menschen selten deutlicher als im Umgang mit Untergebenen und Abhängigen sowie umgekehrt im Verhalten gegenüber vermeintlich und wirklich Mächtigen. Vielmehr wird sich der Ruf der gesamten Berufsgruppe daran messen, wie frei und unabhängig, aber zugleich wie verantwortungsbewusst in Hinblick auf Aufgabe und Gesellschaft seine Mitglieder zu handeln und auch auf unlautere Optionen zu verzichten wissen. Denn nicht nur in der Politik, auch in der Architektur heiligt der Zweck die Mittel nicht.

Die gesellschaftliche Verantwortung der Architekten betonte bereits Vitruv, und seither wurde sie immer wieder beschworen. Aus dem Dienst an der und für die Gesellschaft, erbracht von Menschen, die sich ihr zugehörig fühlen, wird jedoch mit zunehmender äußerer und innerer Idealisierung eine abgehobene Angelegenheit. In der Folge legten sich nicht wenige Architekten den äußeren Habitus eines über der Gesellschaft schwebenden Heilsbringers zu. Oft genug glauben sie bald selber daran und verlieren jede Bodenhaftung, was dann in mehr als widersprüchlichem Verhalten zum Ausdruck kommt, sodass man sich jeweils fragt: „Ja merken die das denn nicht?“

Manchen der medial und auch anderswie umschmeichelten Großarchitekten möchte man deshalb eine/n Studierende/n der Architektur aus dem ersten Semester einen halben Schritt dahinterstellen, die ihm - wie einst den Cäsaren - immer wieder zuflüstern müssten: „Bedenke, dass du sterblich bist.“

Das angemaßte Image des Heilsbringers hat sich seine eigenen äußerlichen Zeichen geschaffen, das sich in priesterlichem Gehabe und schwarzer Kleidung ausdrückt und mittlerweile selbst von planenden Baumeistern nachgeahmt wird. Wäre es da nicht an der Zeit, sich nicht etwa eine neuartige Soutane einfallen zu lassen, sondern sich schlicht normal zu kleiden? Um das Gespür für gesellschaftliche Realitäten wiederzugewinnen, gälte es, ohne berufliche Hintergedanken, ausreichend Beziehungen hinein in einen Alltag zu entwickeln, der nicht bloß mit Architektur zu tun hat, und sich auf ein Aktivitätsfeld zu trauen, auf dem keine Machtpositionen einzunehmen, zu gewinnen oder zu verteidigen sind.

Was die Architektur betrifft, sollte der ehrliche Wettbewerb im Vordergrund stehen. Er dient nicht bloß dazu, eine optimale Lösung für eine bestimmte Bauaufgabe in einem konkreten städtebaulichen Kontext zu finden. Jungen Berufsleuten bietet er die Chance, sich mit Aufgaben projektierend zu befassen, für die sie nicht so schnell einen Auftrag erhalten werden. Die Teilnahme an Wettbewerben dient daher wesentlich der Selbst- und Weiterbildung. Dass das auf die Dauer für ein kleines Büro nicht finanzierbar ist und in größeren diese Nebenbedeutung meist verpufft, ist eine Krux, wofür zurzeit weder Vergaberichtlinien noch eine Wettbewerbsordnung einen Ausweg anbieten.

Ältere Berufsleute könnten die Teilnahme an Wettbewerben als Möglichkeit zur Selbstkontrolle sehen, wenn sie denn bereit sind, nach einem für sie negativen Juryentscheid genügend Distanz zu finden, und den eigenen Fehlern gegenüber nicht blind bleiben. Eine sorgfältige und gerechte Beurteilung durch die jurierenden Kollegen allerdings vorausgesetzt.

In der alltäglichen Berufspraxis gilt es hingegen, sich die Fähigkeit und das Engagement für das Große wie für das Kleine zu bewahren, die Frage der Angemessenheit immer wieder aufs Neue zu stellen und sich bewusst zu bleiben, dass ein Zyniker nicht zugleich ein guter Architekt sein kann.

Spectrum, Sa., 2006.01.07

12. November 2005Walter Zschokke
Spectrum

Begehrte Lage, erneuerte Pracht

Keine theatralischen Kontraste von Alt und Neu, stattdessen das rechte Maß aus Nähe und subtiler Distanz: das erneuerte Palais Epstein, eine Arbeit der Wiener Architekten Georg Töpfer und Alexander van der Donk.

Keine theatralischen Kontraste von Alt und Neu, stattdessen das rechte Maß aus Nähe und subtiler Distanz: das erneuerte Palais Epstein, eine Arbeit der Wiener Architekten Georg Töpfer und Alexander van der Donk.

Das Grundstück galt als das teuerste an der Ringstraße, denn seine Position mit Blick auf die Hofburg und zwischen den Flächen, die für die Hofmuseen sowie für das Parlamentsgebäude vorgesehen waren, war prominent. Die ursprüngliche Absicht, an dieser Stelle das Adelscasino zu errichten, wurde aufgegeben, weil der Preis zu hoch war. In der Folge erwarb der geadelte Prager Industrielle und Bankier Gustav Epstein (1827 bis 1879) die prestigeträchtige Parzelle, um darauf ein Palais für sich und seine Familie zu errichten, in dessen Erdgeschoß seine Privatbank ihren Sitz haben sollte.

Mit dem Entwurf beauftragte er Theophil Hansen (1813 bis 1891), jenen Architekten, der bereits mit dem Heinrichhof (gegenüber der Oper, im Krieg zerstört), dem Palais Todesco (mit Ludwig Förster) sowie dem Palais für Erzherzog Wilhelm am Parkring hervorgetreten war, und dessen Musikverein-Gebäude sich 1868 gerade in Bau befand. Theophil Hansen, der an der Ringstraße noch das Parlament, die Börse und - hinter dem Schillerplatz - die Akademie der bildenden Künste errichten sollte, war einer der bekanntesten Architekten seiner Zeit. Er beherrschte mit seinem Atelier die Spielarten des Historismus ebenso wie die aktuelle Bautechnik, war aber auch in vornehmer Innenraumgestaltung versiert. Die Bauausführung oblag dem jungen Otto Wagner. Das Haus war 1871 fertig gestellt, die Inneneinrichtung zog sich zum Teil etwas länger hin.

Trotz dieser kumulierten Superlative konnte sich Epstein seines prächtigen Hauses nicht lange erfreuen. Der Börsenkrach von 1873 ruinierte seine Privatbank, er verlor das Vermögen und musste ausziehen. 1883 kaufte die englische Gasgesellschaft das Gebäude. 1902 gelangte es an den Staat, wurde Sitz des Verwaltungsgerichtshofs, später des Landesschulrats, in der Folge des Reichsbauamts Wien, danach der sowjetischen Kommandantur und von 1955 bis 2001 wieder des Stadtschulrats. In der Geschichte des Hauses spiegelt sich einiges an österreichischer Geschichte, was bei dieser begehrten Lage nicht verwundert.

Hansen hatte den Grundriss für das Palais gemäß damaliger Praxis äußerst rational organisiert. Die repräsentativen Räume liegen an der langen Front zum Ring, weitere Haupträume an den kürzeren Seiten zu Bellariastraße und Schmerlingplatz. In seiner Mitte befindet sich ein von Beginn an mit Glas überdeckter Hof, dessen Fassaden reichhaltig ausgestaltet sind. Zu beiden Seiten schließen Treppenhäuser an, wobei die prächtige Feststiege zur Linken bis in den zweiten Stock hinaufführt, während die halbkreisförmige Nebenstiege ins oberste Geschoß reicht. Um diesen Kern herum zieht sich ringförmig ein Erschließungsgang, von dem aus alle Zimmer bis auf jene an den beiden Ecken zugänglich sind.

Die Fassaden gliederte Hansen recht zurückhaltend und verzichtete auf Risalite, wie sie bei der Wende zum Neobarock beliebt wurden. Die Ecken sind bloß mit einer breiteren Fensterachse und verdoppelten Pilastern leicht hervorgehoben. Die Mittelachse wird nicht betont, nur über dem Eingang und den angrenzenden Fenstern springt ein von vier Karyatiden getragener Balkon vor, der im Piano nobile vom Tanzsaal her betreten werden kann. Interessant und von den üblichen Fassadengliederungen dieser Zeit abweichend ist die Gleichbehandlung von erstem und zweitem Geschoß, was offenbar damit zusammenhängt, dass das zweite Obergeschoß für Epsteins Kinder vorgesehen war. Das erklärt auch, warum die Feststiege bis dort hinaufführt. Jedenfalls wirkt die Fassade stark beruhigt, aber deswegen nicht weniger edel. Offenbar klassisch bürgerliches Understatement, die Prachtentfaltung findet im Inneren statt.

Über die Jahrzehnte wurde aber vieles übertüncht und demontiert, glücklicherweise fanden sich einzelne Teile dann auf dem Dachboden wieder. Eine eigene Frage wäre, wer mit welchem Kulturverständnis übertünchen ließ und wer die handwerklich und mechanisch anspruchsvollen Schiebetüren nicht einfach vernichten wollte. Und eine weitere, warum sich derartige Vorgänge an hochwertigen Bauwerken mit konstanter Regelmäßigkeit wiederholen.

1998 erfolgte der Präsidialbeschluss über die Nutzung als Abgeordnetenhaus. Die das Projekt leitende Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) schrieb 2002 einen internationalen Wettbewerb aus, den die Wiener Architekten Georg Töpfer und Alexander van der Donk gewannen. Ihr Konzept nützte die oben erläuterte rationale Struktur, die zwischen Feuermauer und Gang noch einen schmalen Dienstteil enthielt. Den Gang öffneten sie im Erdgeschoß in beide Richtungen: zur Anlieferung und als neuen Eingang an der Parlamentsseite. Den alten Dienstteil entfernten sie vollständig und vermochten hier auf engstem Raum die notwendigen Vertikalerschließungen wie Aufzüge, Nottreppe, Luft- und Installationsschächte sowie die Toiletten unterzubringen. Eine weitere starke Veränderung betraf das Dachgeschoß. Hinter der Blicke abschirmenden Firstbalustrade ist unter einem flachen Glasdach eine vielgliedrige Bürozone eingeschoben. Dachtragwerk und beschattende Lamellen sind geschickt integriert, sodass in der Gegenrichtung der Blick zum Himmel frei wird.

Als weitere Spezialität sind „Negativgaupen“ in die Dachfläche geschnitten. Sie erlauben den Ausblick auf Türme und Dächer der Innenstadt, sind aber von außen kaum bemerkbar. Ertrag dieser Bemühungen ist die weitgehend störungsfreie Bewahrung der hochwertigen historischen Substanz, die nach aufwendigen Analysen durch Spezialisten des Denkmalamts unter den später aufgetragenen Schichten, die in keiner Weise an die Qualität der ursprünglichen Oberflächen heranreichen, hervorgeholt und in behutsamer Handarbeit gesichert und aufgefrischt werden konnte. Gemalte Holzmaserung oder Stuckmarmor galten lange Zeit als „Fälschungen“ und wurden verächtlich gemacht. Heute ist das Verständnis dafür wieder gewachsen, und im Kontext lässt sich nun das Zusammenwirken von Farben, Mustern, Kunst- und Naturmaterialien zu einem Gesamtkunstwerk gut nachzuvollziehen.

Ein Blick auf die Lebensläufe der beiden in den frühen 1960er-Jahren geborenen Architekten - von praxisfernen Schreibern gern mit dem einsamen Komparativ „jünger“ bezeichnet - zeigt, dass sie nicht zuletzt erfahrene Berufsleute sind. Nach dem Studium an der von Persönlichkeiten wie Ernst Hiesmayr, Hans Puchhammer und Anton Schweighofer geprägten Technischen Universität Wien arbeiteten sie mehrere Jahre in anspruchsvollen Architekturbüros, sich das praktische Rüstzeug und die nötige Erfahrung aneignend. Deshalb mussten sie gegen den starken Bestand des Palais Epstein nicht verzweifelt ankämpfen, sondern fühlten sich in die denkmalpflegerische Arbeit ein, fanden bei neuen Elementen das richtige Maß für strukturelle Nähe und subtile Distanz und erzielten so die nachhaltigere Lösung der gestellten Aufgabe als mit theatralischen Gegensätzen, die sich abnützen und bald lächerlich wirken.

Spectrum, Sa., 2005.11.12



verknüpfte Bauwerke
Palais Epstein - Generalsanierung, Umbau & Restaurierung

22. Oktober 2005Walter Zschokke
Spectrum

Schlicht und notwendig

Was sich von keinem Katheder aus lehren lässt: das Erlebnis nicht entfremdeter, nützlicher Arbeit. Architekturstudenten aus Linz und Wien planen und bauen für Bedürftige in Südafrika und im Senegal.

Was sich von keinem Katheder aus lehren lässt: das Erlebnis nicht entfremdeter, nützlicher Arbeit. Architekturstudenten aus Linz und Wien planen und bauen für Bedürftige in Südafrika und im Senegal.

Problemlösungskompetenz in der Überflussgesellschaft, Teamfähigkeit unter den Bedingungen des Starprinzips und Praxisbezug in einer zunehmend medial geprägten und automatisierten Welt: Wie sollen sich Studierende der Architektur diese für das spätere Berufsleben wesentlichen Kenntnisse und Erfahrungen aneignen, wenn bloß Geniekult, Individualitätswahn und oft zynische Arroganz den Lehrbetrieb bestimmen? Den Anstoß zu einem Semesterprojekt der anderen Art gab im vorigen Jahr Christoph Chorherr mit seinem Unternehmen für soziale und nachhaltige Architektur (sarch). Nach einer Zusammenarbeit mit Lehrenden und Studierenden der Technischen Universität Wien kontaktierte er Roland Gnaiger, Leiter der Studienrichtung Architektur an der Kunstuniversität Linz. Dieser war selber überrascht, wie viele Studierende sich in der Folge für das Thema interessierten.

In viereinhalb Monaten Vorbereitungs-, Planungs- und Bauzeit errichteten zwei Dutzend angehende Architektinnen und Architekten unter Anleitung von Lotte Schreiber, Richard Steger, Anna Heringer und Sigi Atteneder sowie unterstützt von Oskar Pankratz (Solararchitektur) und Martin Rauch (Lehmbau) für das Behindertenheim Tebago in der Township Orange Farm bei Johannesburg zwei Häuser mit je etwa 70 Quadratmeter Nutzfläche sowie eine Gartenhalle und gestalteten auch die umgebenden Außenflächen. Begeisterung und Einsatzfreude stießen auf eine Aufgabe, die im vergleichsweise reichen Mitteleuropa in Vergessenheit geraten zu sein scheint: das Bauen aus purer Notwendigkeit, die Lösung der Behausungsfrage auf unterster Stufe. Dabei konnten primäre Erfahrungen gemacht und fundamentale Erkenntnisse gesammelt und vermittelt werden, wie sie weder Zeichentisch noch Bildschirm bieten.

Wenn der Mangel den Kapitaleinsatz begrenzt und die Materialwahl drastisch einschränkt, sind praktische Problemlösungskompetenz und Improvisationsvermögen gefragt. Und die Einsicht in die Notwendigkeit bestimmt den Planungs- und Bauprozess. So viel Grundsätzliches, bezogen auf so viele Aspekte des Bauens, lässt sich vom Katheder aus gar nicht dozieren, wie im Rahmen eines solchen Projekts gleichsam selbstverständlich für jeden Einzelnen an Verständnisgewinn entsteht. Dabei mag das reale Produkt, gemessen an der unsäglichen Armut und den gesellschaftlichen Unzulänglichkeiten, als Tropfen auf den heißen Stein erscheinen, doch verkennt man die Vorbildwirkung, wenn die Einheimischen die Vorteile einer angepassten, einfachen Bauweise funktional und technisch nachvollziehen und mit den vorhandenen Materialien auch kopieren können. Da sie von ihren kulturellen Wurzeln getrennt wurden, sind sie wegen sozialer, hygienischer und zahlreicher anderer Probleme in den Townships kaum aus eigener Kraft in der Lage, die Stufe der hoffnungslos unpraktischen, im Südsommer zu heißen und im Südwinter zu kalten Blechhütten zu überwinden.

So mag der Ertrag kurzfristig für die Studierenden sogar höher sein, weil sie ihn optimal in ihre Ausbildung zu integrieren vermögen und das Erlebnis der nicht entfremdeten, unmittelbar nützlichen Arbeit ein bleibendes für das ganze spätere (Berufs-)Leben sein wird. Aber längerfristig kann ihr Einsatz über den Kreis der unmittelbar Begünstigten des Behindertenheims hinaus nachhaltige Wirkung entwickeln und als Folge des gezielten Einbezugs einheimischer Arbeitender die Selbsthilfe anregen und fördern. Die Freude in jeder Phase der Projektarbeit drückt sich in den Gebäuden aus: Sie strahlen so viel positive Kraft und bescheidene Schönheit aus, dass daneben all die modisch gestylten Nutzlosigkeiten unserer Überflussgesellschaft verblassen. Es ist dies der Glanz, der gleichsam als Nebenprodukt eines intensiven sozialen wie materiell-technischen Prozesses zu entstehen vermag. Wenn die Studierenden diesen Vorgang begriffen haben und im weiteren Verlauf ihres Berufslebens anzuwenden und umzusetzen wissen, dann ist für sie und die Architektur viel gewonnen.

Noch nicht so weit gediehen ist das von Richard Vakaj an der Akademie der bildenden Künste initiierte Projekt von Behausungen für Straßenkinder im Senegal, nachdem er vor acht Jahren mit Schülern der Camillo-Sitte-Lehranstalt für Straßenkinder in Rumänien einfache Behausungen errichtet hatte („Spectrum“ vom 15. März 1997). Auch diesmal geht es um einfachste Schlafmöglichkeiten, zusammengefügt aus vorgefertigten Holztafeln. Eine Studentin schreibt dazu: „So waren vor allem die finanziellen Mittel sehr eingeschränkt und ließen uns bald von zu aufwendigen Ideen zu sehr einfachen, aber zweckdienlichen übergehen.“ Als Vermittler der senegalesischen Verhältnisse wirkte der von dort stammende Pater Bonaventura, Pfarrer in Horn, der seit längerem Hilfsprojekte organisiert. Je zwei quaderförmigen Raumzellen mit vier Schlafplätzen in Stockbetten und einem breiten Fensterbrett als Tischplatte sind eine Toiletten- und eine Duschkabine zugeordnet. Eine Gruppe von mehreren derartigen Paaren bildet einen Hof, ergänzt durch einen Gemeinschaftsraum und eine Küche.

Vorerst haben vier Studierende zusammen mit Richard Vakaj einen Prototyp gebaut, an dem eine weitere Vereinfachung studiert wurde. Es zeigte sich, dass die unterschiedliche Vorbildung - einer war nach Tischlerlehre und Arbeit über die Studienberechtigungsprüfung an die Akademie gekommen, für einen anderen war die Lehrerpersönlichkeit Carl Pruscha wichtig, der seine Erfahrungen aus Nepal mit dem dortigen einfachen Bauen vermittelt hatte. Dazu schreibt die Studentin: „Meine Studienkollegen, die länger an der Akademie studieren, haben mir in Momenten der Unsicherheit geholfen und mir viel beigebracht.“ Wieder erweist sich der Nutzen der praktischen Arbeit nicht bloß als Hilfe für andere, sondern als Effekt gegenseitiger Unterstützung auch in der eigenen Fachausbildung.

Obwohl einiges schon gesponsert wurde, benötigt das engagierte Projekt noch einen weiteren materiellen Schub, damit die Teile für etwa 40 Schlafplätze gefertigt werden können. Sie sollen dann in Containern an den Bestimmungsort Ziguinchor in Senegal transportiert und von den Studierenden aufgebaut werden.

Man kann sich von der Globalisierung bedroht fühlen und sich einbunkern, oder man kann, wie die Studierenden in Linz und Wien es vormachen, aktiv damit umgehen, seine Kräfte, die in diesem Alter unerschöpflich scheinen, zum Nutzen von Mitmenschen in extrem bedürftigen Verhältnissen einsetzen und daraus für die eigene Aus- und Charakterbildung einen fundamentalen Nutzen ziehen.

[ Die Ausstellung „Living Tebogo“ im Architekturforum Oberösterreich ist bis zum 28. Oktober zu sehen: Mittwoch bis Samstag, 14 bis 17 Uhr, Freitag 14 bis 20 Uhr. Kontakt zur Unterstützung des Senegal-Projekts: Pater Bonaventura, Horn; Richard Vakaj, Wien. ]

Spectrum, Sa., 2005.10.22

17. September 2005Walter Zschokke
Spectrum

Schön schräg ist steil

Wie ein Vorposten der Stadt steht es da, das neue Messe-Hotel von Hermann Czech am Wiener Prater. Außen janusköpfig und doch mit klarer Kontur, innen von zeitlos sprödem Charme.

Wie ein Vorposten der Stadt steht es da, das neue Messe-Hotel von Hermann Czech am Wiener Prater. Außen janusköpfig und doch mit klarer Kontur, innen von zeitlos sprödem Charme.

Man sollte es sich nicht zu leicht machen mit einem Bauwerk von Hermann Czech. Erstens hat er selber die Architektur nie auf die leichte Schulter genommen, denn sie hintergründig zu machen, damit sie dort ankommt, wo sie seiner gewichtigen Meinung nach hingehört, ist Arbeit. Eine Arbeit, die allerdings nicht ins Schwitzen bringt, weil sie geistiger Natur ist. Zweitens verfehlt man ihr Wesen, wenn man sie episodenhaft aufnimmt und an den Oberflächen kleben bleibt. Man muss sich auf sie einlassen und in die Tiefe der Schichten vordringen. Übernachten ist nicht unbedingt erforderlich, aber auch nicht hinderlich.

Zwar steht das Gebäude neun Geschoße hoch vor der Nordwestseite des Messegeländes, an jener Stelle, wo die vom Volksprater kommende Perspektivstraße auf die Messestraße trifft, aber mit seiner Krümmung folgt es der Kurve der nördlich wegstrebenden Nordportalstraße. Wie ein Vorposten der Stadt nimmt es diszipliniert Bezug auf die Struktur des Straßennetzes, nutzt aber zugleich das Element der Straßenkrümmung, um damit Identität zu gewinnen.

Mit seiner konkaven Seite umfasst der Baukörper einen grünen Hof, der als Vorfahrt dient. Obwohl an schwach definierter Lage, wirkt das Bauwerk stadtbildend und ordnend, scheut sich aber auch nicht, die Stellung wirkungsstark auszubauen, denn es neigt sich geringfügig um vier Grad nach außen. Als würden die oberen Geschoße vom Kurvenschwung weggedrückt, löst sich der Baukörper von der Vertikalen.

Der Sockel allerdings steht fest. Dies wird nicht etwa mit „schwerem“ Material erzeugt, sondern mit einem geometrischen Muster, das dem Architekten vor Jahren in Leo von Klenzes Münchener Glyptothek aufgefallen ist, weil es trotz exakter Regel auf den ersten Blick unregelmäßig scheint wie Zyklopenmauerwerk. Das Muster ist daher nicht bloß historisches Zitat, sondern etwas Gefundenes, dessen grafische Wirkung faszinierte, und das, in einen anderen Zusammenhang gesetzt, den gewünschten Effekt unterstützt, ohne dass man über die Herkunft Bescheid wissen muss.

Mit einer konkaven und einer konvexen Seite wirkt das Bauwerk trotz gleicher Fassadengestaltung janusköpfig, als hätte es zwei Vorderseiten. Und so staunt man auch nicht, dass es von beiden Seiten betreten werden kann. Überhaupt, die Fassaden: Jedes Hotelzimmer weist eine Fenstertüre sowie anschließend ein Fenster mit normaler Parapethöhe auf, wobei die Position von Tür und Fenster mit jedem Geschoß wechselt. Diesem geometrisch-rhythmischen Fassadenbild wird ein zweites Muster dunkler, horizontaler Streifen scheinbar beziehungslos überlagert, obwohl ihr Abstand exakt eineinhalb Geschoße hoch ist. Die beiden Muster interferieren so stark, dass die Geschoßzahl schwer zu fassen ist und der Baukörper als ein Ganzes und damit monumentaler wirkt. Das ist viel Effekt für wenig Geld.

Die drei Fluchttreppen, je eine an den Stirnseiten sowie eine ungefähr in der Mitte der konkaven Seite, sind als Stahlstiegen auf das notwendige Minimum reduziert, stehen sie doch nur für den Notfall da, der statistisch alle paar Jahrzehnte auftreten mag. Mit ihrem amerikanisch-pragmatischen Charme scheinen sie gar nicht dazu zu gehören.

Zwei Geschoße hoch belegt die Hotel-Lobby den Mittelabschnitt des Gebäudes. Sie erhält Licht über hohe seitliche Glaswände, die sie zugleich nach außen abbilden. Damit die beidseitigen Windfänge genug Platz haben, sind die Betonstützen an diesen Stellen trapezförmig gespreizt. Als Ausnahmeelemente markieren sie natürlich auch den Eingang, und heute mag man es bekanntlich schräg. Doch wer die Arbeiten von Hermann Czech kennt, weiß, dass er schon sehr früh gern schräge Stützen plante, bloß kam er kaum dazu, welche zu bauen. Gleich nach den Eingängen steht je eine weitere Stütze da. Zuerst denkt man sich, warum jetzt das, die stehen doch im Weg. Das tun sie auch und schirmen damit den Binnenbereich vom Eingangsdruck ab, lenken die Bewegungen der Eintretenden um und beruhigen die als Querverbindung dienende Mittelzone.

Die Sessel der Lounge, entworfen für die Swiss Re in Rüeschlikon und hier wieder im Einsatz, paraphrasieren einen Entwurf von Le Corbusier und Charlotte Perriand. Doch Czech übt in der Tradition von Josef Frank Kritik an der harten, oft unpraktischen Moderne, indem er einen Zusatz anbringt: Ein Griff vorn an der Armlehne, ähnlich einer großen Fadenspule, erleichtert das Hochkommen aus den Lederpolstern. Das bricollage-haft angefügte Stück stammt vom Sessel, der vor Jahren für das Palais Schwarzenberg entworfen wurde. Die Kritik des Architekten ist die ausgeführte Korrektur. Zusammen mit der Farbgebung fordert sie die Klassikergläubigkeit gewisser Kreise heraus.

Während die unregelmäßig gelochte, an die 1950er-Jahre erinnernde gelbe Akustikdecke über dem zwei Geschoße hohen Teil durchgeht und damit die Einheit des großen Raumes betont, trennt eine Glaswand einen Teil als Speisesaal ab. Ihr Verlauf wirkt zufällig, fast ungelenk, was sicherlich Absicht ist, denn damit wird ihr trennender Charakter zurückgenommen. Sie scheint provisorisch, als wäre sie später dazugekommen, was sie natürlich nicht ist. Vielmehr handelt es sich um architektonisches Kalkül.

An beiden Stirnseiten der hohen Raumzonen schließen niedrige Raumzonen an. Die vertikalen Flächen dieses Versatzes sind mit großformatigen Fotografien gefüllt. Über den Speisesaal scheint sich ein barocker Balkon zu schieben, der Ausschnitt einer illusionistischen Malerei im Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek, fotografiert von Margherita Spiluttini; während über der Café-Lounge die Skyline der Donau-City - leicht verfremdet - prangt, festgehalten von Seiji Furuya. Von den beiden Kunstschaffenden stammen auch die Fotografien in den Hotelzimmern, womit auch dort ein anspruchsvolles Niveau herrscht, was man nicht oft antrifft.

Die Hotelzimmer sind, wie in dieser Kategorie üblich, nicht besonders groß, aber mit wenigen Möbelstücken, furniert mit einheimischen Edelhölzern, sympathisch eingerichtet. Außer dem Bett gibt es einen Arbeitstisch mit Sessel, ein bequemes Fauteuil, das Schränkchen mit Minibar und Safe sowie hinter einer Holzblende, die das Sakko auf dem Bügel nachzeichnet, die Kleiderstange. Im Duschbad dann eine Wiederbegegnung mit dem seitenrichtig gespiegelten eigenen Bild - im Übereck-Spiegel.

Auf dem Rückweg durch den Hotelgang fallen die schrägen Flächen auf, die der äußeren Neigung folgen. Ohne zusätzliche Maßnahmen gewinnt der Gang räumliche Spannung, die diesen vor vielen anderen, öden und verwinkelten, auszeichnet.

Hermann Czech liebt die gefinkelte, intellektuell anspruchsvolle Inszenierung. Dabei mischt er, oft recht harsch, Elemente konkreter Ungestaltetheit dazu, die wie „passiert“ aussehen, aber gerade das nicht sind. Vielmehr kontrastieren sie das andere, bequeme, gediegene, auch traditionale Element und schaffen zugleich ein Klima zeitlicher Unbestimmbarkeit, das dem Heute besser entspricht als modisch geschniegelte Glätte.

Spectrum, Sa., 2005.09.17



verknüpfte Bauwerke
Hotel Messe Wien

19. August 2005Walter Zschokke
Spectrum

Vom Schluf zur Halle

Einst eine der vielen Kreuzungen aus Schule und Kaserne. Jetzt eine Halle mit Galerien, lichtdurchflutet. Und außen eine Freitreppe, die klar signalisiert: Eingang! Der Umbau der Handelsakademie in Korneuburg durch Nehrer Medek & Partner.

Einst eine der vielen Kreuzungen aus Schule und Kaserne. Jetzt eine Halle mit Galerien, lichtdurchflutet. Und außen eine Freitreppe, die klar signalisiert: Eingang! Der Umbau der Handelsakademie in Korneuburg durch Nehrer Medek & Partner.

Die städtebauliche Entwicklung von Korneuburg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts un terscheidet sich kaum von jener ähnlicher Bezirkshauptstädte. Außerhalb des geschleiften Mauerkorsetts legt sich an die „Ringstraße“ ein Kranz öffentlicher Bauten; eine schöne und markante städtebauliche Figur, die bis in unsere Zeit weitergeführt wurde. Ihre Logik erlaubt es, sich in solchen Städten prinzipiell zurechtzufinden - auch wenn ein Stadtplan im konkreten Fall immer nützlich ist.

Das Gebäude der Handelsakademie liegt nördlich des Stadtkerns an einer Kurve des Dr.-Karl-Liebleitner-Rings am Übergang zum vorstädtisch orthogonalen Straßenraster. Auf Letzteren bezogen, war der Altbestand städtebaulich nicht besonders sensibel eingefügt. Vielmehr ist die symmetrische Fassade vom Ring weggedreht, sodass davor eine ungleiche Restfläche übrig blieb und die städtebauliche Figur eine sinnlose Störung aufwies. Überhaupt war der Altbau alles andere als ein Meisterwerk. Mit den drei flachen Risaliten gelang es nicht, die Fassade wirksam zu gliedern, und der enge, mittige Eingang war weder einladend noch besonders funktionell. An der Rückseite schloss einseitig ein kurzer Seitenflügel an und in der Mitte, der Typologie derartiger Zweckbauten folgend, das Stiegenhaus mit den Toiletten. Eine der verbreiteten Kreuzungen aus Schule und Kaserne eben.

Das aus einem Wettbewerb hervorgegangene Projekt von Nehrer Medek & Partner löst eine Reihe von städtebaulichen sowie funktionalen Defiziten des Altbaus und verleiht der Anlage deutlich mehr Charakter. Dabei wird nicht die Typologie des Altbaus fortgesetzt, etwa mit einer Verlängerung und Ergänzung durch Seitenflügel, sondern ein ebenfalls winkelförmiger Baukörper an die Rückseite des Altbestands gerückt, sodass sich dazwischen eine lichtdurchflutete Halle mit Gale-rien und Treppenläufen öffnet. Zusammen mit den ehemaligen Korridoren ergibt dies eine lang gezogene, ringförmige Erschließung mit Querverbindungen in Form breiter Stege. Damit gewinnt das neue Ganze eine funktional mehrdeutige, weiträumige Mitte.

Doch damit nicht genug. Die unattraktive zentrale Türe in den Altbau mit nachfolgendem Treppenschluf wird zum Nebeneingang erklärt und der kürzere Schenkel des Neubauteils neben dem Altbau nach vorn gezogen. Er erscheint als markanter Quader, aufgestelzt auf hohen Rundstützen, zwischen denen eine breite Treppe das angehobene Hauptgeschoß erschließt. Seitliche Rampen führen zu den Garderoben im Sockelgeschoß. Die monumentale Stirnseite und die Freitreppe signalisieren klar „Eingang“. Vor allem aber profitiert das neue Portal von dem in diesem Bereich tieferen Vorfeld. Damit wird die bisher unbefriedigende städtebauliche Lage des Altbaus geschickt relativiert und durch die unmissverständliche Geste des neuen Eingangs das Vorfeld positiv aktiviert.

Aber mit dem kompakten Konzept wird nicht nur die Straßenfront verbessert. An der Rückseite bleibt auf dem Grundstück ein großzügiger Freiraum offen für Pau-senflächen, ein Sportfeld und für eine mit Bäumen bestandene Wiese. Eine neue Turnhalle schließt entlang der Seitenstraße an den alten Seitenflügel an und schirmt den Binnenbereich von dieser Seite her ab.

An der anderen Seite verbindet ein neuer Fuß- und Radweg Ring und rückwärtige Straße, was in Korneuburg, wo auch ältere Menschen sich noch aufs Rad trauen können, geschätzt wird. Archi-tektonisch besteht der Dialog zwischen den beiden sich ergänzenden Gebäudewinkeln von Alt und Neu aus einer differenzierten Interpretation des Zwischenraums. Nach vorn bleibt bloß ein schmaler Spalt von der Breite ei- ner Armspanne. Doch ist er nicht nur als formale Distanznahme eingesetzt, wie in zahlreichen anderen Fällen, vielmehr enthält er im Grundriss den links an der Freitreppe vorbeiführenden Rampenweg zur Garderobe im Sockelgeschoß.

Im Binnenbereich, wo sich die beiden langen Schenkel der Gebäudewinkel gegenüberstehen, ist es die bereits angesprochene Oberlichthalle mit den dynamischen Elementen der Treppenläufe und den statischen der Galerien, die zur funktionalen und architektonischen Mitte des Bauwerks wird.

An der Rückseite erweitert sich der Abstand zwischen Alt und Neu, die Erschließungsgalerien werden zu verbindenden Brücken hinter einer verglasten Wand. Eine Freitreppe führt vom Hauptgeschoß in den abgesenkten Gartenhof. Der breite Treppenlauf wird flankiert von halbhohen Gitterwänden, die dem Element im dreiseitig durch Gebäudeteile definierten Außenraum die nötige Kraft verleihen, sodass es nicht bloß funktionell dienlich ist, sondern zugleich auch architektonisch wirksam.

Hier stehen sich der renovierte his-toristische Altbau mit lichtbedürftigen Fenstern von Klassenzimmern und die glatte Fassade des Neubaus, mit alu- miniumbeschichteten Kunststoffplatten geschützt, ein kurzes Stück weit gegenüber. Beide wahren sie ihren Charakter, sind aber zugleich anspruchslos und konkurrenzieren einander nicht, sondern sie bedeuten dasselbe - stammen jedoch aus verschiedenen Zeiten.

Das Innere ist sparsam gehalten; der Luxus manifestiert sich in Raum. Schall absorbierende Flächen sorgen dafür, dass der Nachhall gedämpft wird und man sein eigenes Wort noch verstehen kann, wenn aus allen Klassen die Schülerinnen und Schüler in die Pause strömen. In den Sommerferien, wenn alles aufgeräumt und leer ist, erscheint die Schule sehr spartanisch. Sie braucht das Leben, das von den Heranwachsenden in die Gänge, Galerien, Treppen und Hallen getragen wird. Dann kommt das architektonische Potenzial zur Geltung: das Vis-à-vis über die Halle hinweg; der Überblick auf die oder von der Treppe; die verschiedenen Raumqualitäten, etwa die Ganghalle, die als kleiner Festsaal abgetrennt oder, mit der Oberlichthalle verbunden, zur großen Aula werden kann; dann die kleine Bar für Getränke, Gebäck und Mehlspeisen, von deren Tischchen aus man wie aus einer Loge durch die hohe Glaswand auf das Spielfeld schauen kann.

Selbstverständlich ist eine Schule ein Lernort. Dafür ist die Handelsakademie auch mit großen Klassenzimmern und unzähligen Computern ausgerüstet; aber sie ist ebenso sehr gesellschaftlicher Begegnungsort, wo viele aufeinander folgende Schülergenerationen ihr Sozialverhalten außerhalb der Familie entwickeln können sollten. Und dafür müssen Architektur und Raum vorhanden sein. In Korneuburg wurde dies von Nehrer Medek & Partner überzeugend dargelegt und umgesetzt.

Spectrum, Fr., 2005.08.19

30. Juli 2005Walter Zschokke
Spectrum

Was ein Tragwerk vermag

Wie man auf einem ehemaligen Öltank ein Schulgebäude errichtet. Und warum es sich lohnt, wenn Architekt und Bauingenieur an einem strukturellen Strang ziehen. Das Volta-Schulhaus in Basel.

Wie man auf einem ehemaligen Öltank ein Schulgebäude errichtet. Und warum es sich lohnt, wenn Architekt und Bauingenieur an einem strukturellen Strang ziehen. Das Volta-Schulhaus in Basel.

Seit vier Jahren ist das Volta-Schulhaus im Basler St. Johann-Quartier nun in Betrieb. Es steht nahe der mittlerweile doppelstöckigen Dreirosenbrücke der Stadtautobahn über den Rhein. Auf der anderen Seite des Verkehrsbandes ist der Novartis-Campus im Entstehen; ein erster Bau von Diener, Federle und Wiederin ist soeben fertig geworden, ein weiterer, von Adolf Krischanitz, ist im Bau. Doch die Realität im Quartier beidseits der Straße, die geradeaus ins Elsass führt, ist eine andere.

Wegen des hohen Anteils an Kindern mit fremder Muttersprache werden - neben der deutschen - eben diese Sprachen unterrichtet, weil die Kinder so ein klareres Sprachgefühl entwickeln und in der Folge besser Schriftdeutsch lernen. Dies bedingte flexible Unterrichtsformen, ausreichend Gruppenräume neben den Klassenzimmern und ein neues Haus. Viel Platz gab es im Quartier allerdings nicht, sodass der Wegfall eines Teils der verpflichtenden Lagerkapazität für Schweröl des nahen Heizkraftwerks eine Chance bot. Der aus den 1960er-Jahren stammende Betonbau enthielt große Stahltanks in tiefen, wasserdichten Wannen. Nicht ganz die Hälfte stand zur Disposition. Ein Architektenwettbewerb sollte die Möglichkeiten klären.

Es gewann das Projekt der Basler Architekten Paola Maranta und Quintus Miller, das sie zusammen mit dem Bauingenieur Jürg Conzett aus Chur entwickelt hatten. Dabei ging es um die Frage, wie über der intakten Wanne ein Schulgebäude errichtet werden könnte. Als nicht eben harmlos erwiesen sich die Maße: 40 Meter Trakttiefe, 33,5 Meter Breite. Aber ebenso wenig ließen sich Punktlasten auf den Wannenboden aufsetzen. In solchen Fällen lohnt es sich für Architekten, frühzeitig mit einem Bauingenieur, der das Zeug und den Willen zum Tragwerksplaner hat, zusammenzuarbeiten.

Die Rolle des Bauingenieurs wird leider zu oft als die des „Statikers“ gesehen, der in Naviers Namen (Claude Louis Navier, 1785 bis 1836, Begründer der modernen Baustatik) eben berechnet, was ihm der Architektenentwurf vorgibt, und dabei in der Regel die Dimensionen erhöht. Sei es, weil der Architekt zu knapp geschätzt hat, sei es, weil der Statiker sich nicht plagen will. Mit einem Bauingenieur hingegen, der als Tragwerksplaner wirkt, lassen sich die Möglichkeiten viel umfassender ausloten. Vor allem aber kann das Tragwerk integraler Teil von Funktionsstruktur und Raumbildung werden.

Genau das ist im Volta-Schulhaus geschehen. In der Diskussion der Fachleute wurde ein vier Geschoße hohes räumliches Tragwerk aus Scheiben und Platten entwickelt, das die gesamten Gebäudelasten auf die Außenwände der Wanne überträgt. Das heißt: Einige der vertikalen Trennelemente aus Stahlbeton sind als Scheiben mit den ebenfalls betonierten Deckenplatten fest verbunden. Damit es jedoch nicht zu simpel werde, sah das Konzept im Binnenbereich vier Lichthöfe vor - bei der enormen Trakttiefe unumgänglich. Das betraf vor allem die Deckenplatten. Aber zwischen den einzelnen Schotten sollten die Menschen noch hin und her gehen können, die Betonscheiben mussten daher Öffnungen aufweisen. Das tun sie auch, und zwar nicht zu geizig, wie in der Plandarstellung zu erkennen ist. Drei derartige Schotten sind also über die darunter liegende Wanne gespannt, in der die Doppelturnhalle samt Garderoben und Nebenräumen Platz hat. Wer etwas tiefer in das komplexe Gebilde eindringt, stellt fest, dass unter der im Plan größeren Scheibe offenbar ein Querträger liegen muss, was auch stimmt, und bei der im Grundriss mittleren Schotte ist die große Öffnung spiegelgleich nach links gerückt, damit die Biegekräfte in den auf Druck beanspruchten Decken nicht unangenehm werden. Die zusätzlichen Öffnungen für die beiden quer liegenden Treppen und für die breiten Fenster sind dann bloß noch Kinkerlitzchen. Das Übrige ist Leichtbau.

Wir erinnern uns: Da gibt es im Obermurtal eine Holzbrücke über die Mur, die ebenso frech in der Mitte eine breite Öffnung aufweist, flankiert von zwei außermittig angeordneten Scheiben. Ja, genau die. Auch hier hieß der entwerfende Bauingenieur Jürg Conzett.

Mit ähnlichen Überlegungen, aber anderem Material und komplexer spielt es sich im Volta-Schulhaus in Basel ab. Aber was heißt das für die Architektur? Für die räumliche und die funktionale Struktur bedeutet das vorerst, dass man davon wenig merkt. Man betritt das Gebäude von der Hofseite und gelangt in eine die gesamte Breite einnehmende Querhalle.

Von dieser Aula, die bei Schlechtwetter als Pausenhalle dient, führt vom Eingang aus geradewegs eine Treppe ins erste Obergeschoß, das mit den anderen drei Obergeschoßen weit gehend deckungsgleich ist. Der Aufgang lässt sich mit einem Rollbalken schließen, da die Turnhallen am Abend und an Wochenenden Vereinen offen stehen.

In den eigentlichen Schulgeschoßen reihen sich die Zimmer und Gruppenräume wegen der Belichtung vorn und hinten an der Fassade. Den Binnenbereich teilen sich die vier alternierend gegeneinander versetzten Lichthöfe und die von ihnen mit Tageslicht versorgten Ganghallen. Zwei Treppen dienen als Vertikalverbindungen, und natürlich gibt es für Gehbehinderte einen Aufzug.

Der Stahlbeton der Scheiben und Deckenuntersichten liegt offen, die Tragstruktur wird gezeigt. Die übrigen Wände in Leichtbauweise sind in einem warmen Grauton gleicher Helligkeit gehalten, sodass der Unterschied nicht sofort auffällt. Die einzelnen Teile über die vier Geschoße zu verbinden ist anhand der Pläne einfacher als im Bauwerk selbst. Das Tragwerk ist daher keineswegs in den Vordergrund gerückt, es ist vielmehr ein integraler Teil der Architektur.

Im Gegensatz zu kammartigen Grundriss-Typologien liegt hier eine offene Gitterstruktur vor. Sie hat mehr mit einem urbanen Gefüge zu tun, das eine nicht hierarchische Struktur aufweist. Dies wäre generell für große öffentliche Gebäude und Wohnanlagen angezeigt, aber das ist ein anderes Thema. Jedenfalls erschöpft sich das architektonische Genießen im Volta-Schulhaus nicht an den Äußerlichkeiten.

Spectrum, Sa., 2005.07.30



verknüpfte Bauwerke
Volta-Schulhaus

25. Juni 2005Walter Zschokke
Spectrum

Geklärt, beruhigt, maßvoll

Nichts überfordert, nichts übertrumpft. Historischer Bestand in zurückhaltend zeitgenössischer Gestaltung: Wien, Herrengasse 9, 11 und 13. Außenministerium und Nationalbibliothek haben drei erneuerte Häuser bezogen.

Nichts überfordert, nichts übertrumpft. Historischer Bestand in zurückhaltend zeitgenössischer Gestaltung: Wien, Herrengasse 9, 11 und 13. Außenministerium und Nationalbibliothek haben drei erneuerte Häuser bezogen.

Bauzaun und Container am Minoritenplatz sind verschwunden, die schweren Baufahrzeuge, die oft genug den Verkehr zum Stillstand zwangen, sind andernorts im Einsatz. Von außen ist nicht viel Veränderung abzulesen, sieht man ab vom zweigeschoßigen, verglasten Steg über der Leopold-Figl-Gasse sowie von dem schmalen Streifen der beiden gänzlich erneuerten Dachgeschoße auf dem ehemaligen niederösterreichischen Landhaus. Natürlich wurden auch die Fassaden aufgefrischt, aber sonst gleicht das neue lokale Stadtbild dem alten.

Als Generalplaner für Umbau und Erneuerung der drei Häuser Herrengasse 9, 11 und 13 wurde Architekt Gerhard Lindner beauftragt, der sein Atelier in Baden hat, und im Umgang mit denkmalgeschützten Bauten über jahrelange Erfahrung verfügt. Bereits voll in Betrieb ist das mittlere Haus, die Nummer 11. Es wurde 1845 bis 1848 von Paul Sprenger als „Statthalterei“ für die Verwaltung Niederösterreichs gebaut. Baukünstlerisch interessant sind das westliche Stiegenhaus - das östliche wurde im Krieg zerstört - und der Marmorsaal. Letzterer weist an den Wänden prächtigen Stuckmarmor in duftigen Pastelltönen auf. Aus Unkenntnis wird dieses vom Naturstein verschiedene Gestaltungsmittel oft als falscher Marmor, ja als „Fälschung“ bezeichnet. Dieser Irrtum klärt sich schnell in dem von Deckenmalereien Leopold Kupelwiesers überwölbten Raum.

Für die neue Nutzung als Außenministerium wurde der Hauptzugang an den Minoritenplatz verlegt. Sicherheitserfordernisse und denkmalpflegerische Auflagen stellten dem Architekten manche verzwickte Aufgabe, die aber meist mit ansprechender Zurückhaltung gelöst wurde. Vor allem klärte er die ziemlich verbaute Raumstruktur und vereinfachte damit die innere Orientierung. Alte, profilierte Türen wurden gerichtet, die Böden - etwa im Stiegenhaus - gereinigt, aber sonst belassen. Hingegen wurden neue Sanitärgruppen eingebaut und Aufzüge - knapp abgegrenzt - in den Bestand eingeschnitten.

Neue Türen weisen alle die gleichen, standardisierten Zargen auf, in welchen die Türblätter bündig einschlagen. So ergibt sich ein ruhiger Gesamteindruck, in dem Alt und Neu mit derselben Selbstverständlichkeit nebeneinander stehen und dank einer strukturellen Verwandtschaft gut harmonieren. Weniger geglückt ist die von einem „Farbgestalter“ nachträglich vorgenommene, cremige Ausmalung der Gänge. Trotz der „sonnengelben“ Flächen wirken die Korridore nun eher stumpf als hell. Der neu gestaltete Raum des Pressezentrums ist akustisch und optisch stark beruhigt, wird aber gerade dadurch nobilitiert.

Das Auswärtige Amt beansprucht überdies vier Geschoße im benachbarten Haus Herrengasse 13, dem früheren niederösterreichischen Landhaus. In diesem Gebäude wurden 1832 bis 1848 von Alois Pichl verschiedene, teils bis ins Spätmittelalter zurückreichende Teile zu einem Gesamtbauwerk vereinigt, an dem aber die baulichen und stilistischen Unterschiede nicht amalgamiert, sondern integriert wurden. Diesen Ansatz führt Gerhard Lindner, da und dort sogar recht pointiert, weiter. Die Verbindung zum Haupthaus erfolgt über den zweigeschoßigen neuen Glassteg. Vor allem aber wurden die zwei obersten Geschoße gänzlich ersetzt. Sie treten zwar nach außen kaum in Erscheinung, ermöglichen aber eine optimale innere Organisation, denn zuvor waren nicht wenige Räume wegen zu großer Trakttiefe ohne natürliches Licht. Breite Sonnenblenden schützen die großzügigen Büroräume vor sommerlicher Einstrahlung. An der Westseite ergab sich hinter der Attikamauer zum Minoritenplatz sogar Raum für einen attraktiven Gartenhof für Erholungspausen an frischer Luft.

Das Erd- und erste Obergeschoß mit den repräsentativen Räumen Landtagssaal, Herrensaal, Prälatensaal und Rittersaal behielt das Land Niederösterreich, um darin ein Veranstaltungszentrum und die Blau-Gelbe Galerie einzurichten. Der Landtagssaal mit der flach gewölbten, 1710 von Antonio Beduzzi ausgemalten Decke blieb natürlich weit gehend unverändert. Hingegen mussten in den üppigen, späthistoristischen Wand- und Deckenverkleidungen der anderen drei Säle die Maßnahmen für Lüftung und Klimatisierung möglichst versteckt untergebracht werden.

Im Erdgeschoß entstanden ausreichende Foyer- und Garderoberäumlichkeiten in zurückhaltend zeitgenössischer Gestaltung. Auch hier bewährte es sich, den heterogenen, teils attraktiven - beispielsweise gotischen -, aber zugleich schlichten Bestand nicht zu überfordern und auch nicht übertrumpfen zu wollen. Eine uneitle Gestaltung mit Eichenfurnier und Kratzputzflächen kommt dem entgegen.

Im südlichen Seitenflügel wird im Erdgeschoß die Blau-Gelbe Galerie einziehen. Für zeitgenössische Kunst vorgesehen, hält sich die Gestaltung auch hier angenehm zurück. Als Reminiszenz an die frühe Moderne weist der Boden einen fugenlosen Holzzementbelag auf, in den 1930er-Jahren oft als Industrieboden verlegt. Der weiträumige Innenhof wurde mit großformatigen Granitplatten gegenüber der früheren Situation mit Kleinsteinpflaster deutlich nobler definiert. Von hier aus treten auch die neuen Obergeschoße über dem alten Dachgesims in Erscheinung. Gestalterisch zurückgenommen, stören sie kaum.

In das Palais Mollard, Herrengasse 9, früher Niederösterreichisches Landesmuseum und in den hinteren, verwinkelt labyrinthischen Gebäudeteilen als Büros genutzt, zieht neu die Nationalbibliothek mit der Musiksammlung, dem Globen- und dem Esperantomuseum ein. Den barocken Straßentrakt erneuerte man mit denkmalpflegerischer Sorgfalt, während der hintere Teil unter Wahrung der Hofstruktur neu aufgebaut wurde. Im Wesentlichen enthält er einen Tief- und einen Hochspeicher. Vorzeigeelement ist jedoch das im rechten Seitenflügel neu errichtete Treppenhaus, dessen Innenwand aus verschiedenfarbigen, hinterleuchteten Glasflächen besteht. Da die Geschoßhöhen nach oben abnehmen, werden die Treppenläufe kürzer, und der Vertikalraum verengt sich nach oben keilförmig, was dem Raumerlebnis mehr Dynamik verleiht. Damit wird die bis ins 20. Jahrhundert reichende Tradition aufgenommen, Treppenhäuser als architektonischen Erlebnisraum, nicht als bloße Verbindung zwischen den Geschoßen zu interpretieren. Gewiss nehmen die meisten Leute den Aufzug, aber wenigstens abwärts ließen sich Treppen nutzen, was gesünder und hier auch räumlich interessant ist.

Die anspruchsvolle Tragwerksplanung und deren statische Berechnung stammen von den Bauingenieuren Manfred Gemeiner und Martin Haferl, in Architektenkreisen als architektursensible Fachleute seit längerem bekannt. Auch sie hatten weniger Sensationelles als unzählige knifflige Probleme zu lösen. Man mag nun einwenden, das sei für Architekten und Bauingenieure Alltag. Dass es aber trotz der komplexen Bedingungen in allen drei Häusern zu einem ansprechenden und angemessen unaufgeregten Gesamteindruck gekommen ist, ist eher eine positive Ausnahme. Denn aufgesetzte Eitelkeiten gibt es mittlerweile genug.

Spectrum, Sa., 2005.06.25

28. Mai 2005Walter Zschokke
Spectrum

Das Vorbild nebenan

Als Prügelknaben sind sie schnell zur Hand, die Häuselbauer. Dabei steckte einst in ihrem Bauen die Erfahrung von Jahrhunderten - und durchaus ästhetische Perfektion.

Als Prügelknaben sind sie schnell zur Hand, die Häuselbauer. Dabei steckte einst in ihrem Bauen die Erfahrung von Jahrhunderten - und durchaus ästhetische Perfektion.

Als Prügelknaben sind die Häuselbauer und ihre Produkte, der allgemein verbreitete Eigenheimbau, schnell zur Hand, wenn Architekten oder Kritiker so richtig loslegen. Ein Blick auf verhäuselte Landschaften bestätigt: Es herrscht ein Missstand. Doch mit permanenter Schelte wurde noch nie eine nachhaltige Verhaltensmodifikation erreicht. Unbesehen der gewichtigen raumplanerischen Argumente, die gegen den massenhaften Bau frei stehender Einfamilienhäuser sprechen, wie Landverbrauch, Infrastrukturkosten und Verkehrsaufkommen, findet er trotzdem statt. Aber wenn schon unvermeidlich, sollte er vielleicht vernünftiger erfolgen. Betrachten wir ihn daher einmal als Phänomen.

Eigentlich würde der verbreitete Eigenheimbau zum anonymen Bauen zählen, jenem traditionalen Hausbau früherer Zeiten. Das mag paradox klingen, aber für einen Großteil führen ähnliche Vorgänge zu Form und Gestalt, indem nämlich passende vorhandene Bauten, allenfalls geringfügig modifiziert, einfach kopiert werden. Auf diese Weise entwickelten sich vor Jahrhunderten jene regionalen Bautypen, die beispielsweise von der Bauernhausforschung erkannt und analysiert werden. Wirtschaftsformen, Klima, vorhandenes oder leicht greifbares Material, aber auch formgeschichtliche Aspekte führten zu oftmals und über Jahrhunderte wiederholten Typen, deren leichte Variation oder lagespezifische Modifikation jenes auf den ersten Blick gleichförmig-ruhige, im Detail jedoch vielfältig individualisierte Bild ergibt, das uns als „anonymes Bauen“ oder „Architektur ohne Architekten“ fasziniert. Die Vorbilder des anonymen Bauens stammten in der Regel von nebenan. An ihnen konnten auf gutnachbarschaftliche Art Mehr- oder Minderbedarf, auch die benötigte Menge Material abgemessen oder abgezählt, ja sogar die Kosten abgeschätzt werden. Und das alles ohne gezeichneten Plan. Über die Jahrzehnte und Jahrhunderte sammelte sich in diesen Typenbeispielen sehr viel Erfahrung - und durchaus auch ästhetische Perfektion. Den Beweis liefern mehrere Publikationen, die heute als klassisch gelten.

Seit einigen Jahrzehnten verläuft nun aber der Prozess, wie man zu Situierung, Grundrissaufteilung, Fassade und letztendlich zu seinem Haus kommt, anders ab. Es werden nicht mehr Haustypen an die eigenen Bedürfnisse adaptiert, sondern Elemente gesammelt, die nicht primär Funktionsträger in einem umfassenden Sinn, sondern vor allem Bedeutungsträger sind: Turm, Erker, Schopfwalm, Rundbogen, Wintergarten, Biotop und so weiter. Oft stammen diese Elemente aus aufwendigeren Hauskategorien und müssen daher reduzierter und billiger ausgeführt werden. Wegen des hektischen Bedeutungswandels kultureller Moden gelingt es den Bauenden nicht mehr, das naive Flickwerk auch ästhetisch in den Griff zu bekommen, wie früher üblich, als alles noch viel langsamer ablief.

Oft missproportioniert und zusammengeschustert, verlieren solche Häuser ihren einfachen Charakter und geraten zur peinlichen Karikatur. Dies wird allerdings von jenen, die sie - wenigstens zum Teil - mit eigenen Händen erbaut haben, klarerweise nicht so gesehen. Denn schließlich haben sie sich ihre vermeintlich architektonischen Applikationen von hoch gelobten Häusern abgekupfert. Warum bleibt nun das Lob aus? Übrigens, um es der Gerechtigkeit halber zu sagen, nicht wenige studierte Architekten arbeiten auch nicht anders und sind beleidigt, wenn man sie darauf hinweist.

Der Hauptunterschied zu früher liegt jedoch darin, dass die Vorbilder heute nicht nebenan, sondern in Magazinen gefunden werden. Meist sind es auch ziemlich aufwendige Häuser, oft eigentliche Villen, wenn auch nur auf Papier. Der Typus der Villa taugt jedoch nicht als Vorbild für den normalen Hausbau, weil dieser mit dem Luxus „Raum“ viel sparsamer umgehen muss. Auch ist die Lage meist bescheidener, die Parzelle um vieles enger, das Entree bloß ein Vorraum, das Wohnzimmer bestenfalls halb so groß, das Bad winzig und und und. Dagegen sind (schein)vergoldete Armaturen und Marmorfliesen fürs Bad in jedem Baumarkt zu finden und auch bezahlbar. Auf diesem Feld tobt denn auch der individuelle Konkurrenzkampf der Häuselbauer. Zu einer vernünftigen, Fläche sparenden Grundrissorganisation und einer klugen Gesamtkonzeption kommt man allerdings mit dem aus Nahezu-Villen zusammengestoppelten Eigenheim nicht.

Wie sollen nun aber die Häuselbauer aus ihrer Situation herausfinden, wenn adäquate Vorbilder fehlen, nicht ausreichend bekannt gemacht oder nicht angemessen, in einer verständlichen Sprache, erläutert und gewürdigt werden? Bis heute ist es unter Architekten beliebt, sich über den begehbaren Fertighäusermarkt der Blauen Lagune zu mokieren, aber als Methode liegt sie richtig.

Erinnern wir uns kurz an historische Versuche, an die Modellsiedlungen, die um 1930 auf Initiative der Werkbundbewegung entstanden. Da die sozialen Ziele der Propagierung der formalen Innovation einer neuen Architekturauffassung untergeordnet blieben und zudem oft deren Kostenrahmen sprengten, fanden sie nicht zu den eigentlichen Adressaten. Der Fortschritt im äußeren Erscheinungsbild war einfach zu groß, bei aller Qualität, die da und dort im Inneren zu finden gewesen wäre.

Mit dem Verlust der Vorbilder, verschärft noch durch Veränderungen der gesellschaftlichen Strukturen stellen sich heute entwerferische Probleme, die erst neu bearbeitet, in der Praxis erprobt und dann vermittelt werden müssen. Entsprechende Musterbauten sollten besichtigbar, begreifbar und 1:1 nachvollziehbar sein, nicht bloß in Form schöner Bilder vorliegen. Wenn aber für derartige Aufgaben nach Architekten gerufen wird - und als Neuentwicklungen wären sie eine klassische Architektenaufgabe -, bleibt vorausgesetzt, dass auf die Aufgabe bezogen und hart an der Realität gearbeitet wird. Das heißt vor allem, dass der Rahmen des Möglichen gewahrt und dass das typologisch Wesentliche klar vor dem Modischen rangiert.

Beispiele in Vorarlberg, wo nicht wenige Architekten mehrere Dutzend Einfamilienhausplanungen vorweisen können, zeigen, dass nicht jedes Mal alles neu erfunden werden muss. „Nicht der Rede wert“, sagen sie oft. Warum? Weil sie einen selbstverständlichen, unauffälligen und alltagstauglichen Standard gezeichnet haben, der in einigen wesentlichen Punkten, was Lage und spezielle Bedürfnisse betrifft, unkompliziert modifiziert wurde. Dieser Standard ist ohne viel Aufhebens von den Handwerkern baubar und für die Baufamilie oder den Auftraggeber auch bezahlbar.

Es ist jedoch wenig sinnvoll, den Häuselbauern bloß zu raten, sich doch einen Architekten zu nehmen, wenn nicht zuvor „vertrauensbildende Maßnahmen“ gesetzt werden. Etwa in Form einfacher und doch hochwertiger Mustersiedlungen zum Anschauen und Angreifen; aber auch seitens der Architekten, indem sie die Bauherreninteressen nicht ihrer Gier nach einem „publizierbaren Bau“ unterordnen.

Spectrum, Sa., 2005.05.28

30. April 2005Walter Zschokke
Spectrum

Abschied von der Masse

Ein Dach mit zeichenhafter Kraft, ein Damm als Element der räumlichen Struktur. Ansonsten Klarheit und kluge Angemessenheit. Der Bahnhof von Baden bei Wien nach dem Umbau.

Ein Dach mit zeichenhafter Kraft, ein Damm als Element der räumlichen Struktur. Ansonsten Klarheit und kluge Angemessenheit. Der Bahnhof von Baden bei Wien nach dem Umbau.

Schnurgerade zieht die Südbahn ihre Linie von Nordost nach Südwest durch das Badener Stadtgebiet. Im flachen Vorfeld des Helenentals verläuft die Trasse auf einem Damm. Denn die ersten Bahningenieure suchten jeden unnötigen Höhenunterschied, der kräftezehrende Steigungen zur Folge gehabt hätte, zu vermeiden. So bildet der Bahndamm ein unübersehbares Element der Stadtstruktur in den Erweiterungsgebieten des 19. und 20. Jahrhunderts. Nun könnte man meinen, der Damm trenne das Stadtgebiet. Das ist jedoch weniger der Fall, als wenn die Trasse zu ebener Erde verlaufen würde, wie ein Blick nach Wiener Neustadt beweist. Denn die Hochlage der Bahn erlaubt zahlreiche Durchstiche durch das Hindernis, so dass zwar die Blicke, nicht aber die Verkehrsbeziehungen unterbrochen werden. So schafft der Damm eine räumlich ordnende, aber kaum eine funktionale Trennung.

Die zum historischen Stadtkern periphere Lage des Bahnhofs veränderte das Stadtgefüge in den vergangenen eineinhalb Jahrhunderten. Auf der Stadtseite befand sich das repräsentative dreigeschoßige Aufnahmegebäude mit den Servicestellen für den Bahnbetrieb sowie Büros und Dienstwohnungen in den oberen Geschoßen. Mit dem Wandel der Rolle der Eisenbahn seit dem Aufkommen des motorisierten Straßenverkehrs sowie den neuerlichen Veränderungen im Zuge einer Intensivierung des Pendlerverkehrs im Großraum Wien sank die Bedeutung der Bahnhöfe in der Hierarchie gesellschaftlicher Wertvorstellungen.

Zwischenzeitlich glaubte man, an den entsprechenden Stellen vom urbanen Potenzial eines Bahnhofs prinzipiell profitieren zu können, und plante, diese Orte hoher Personenfrequenz zu Einkaufszentren aufzurüsten. Dies erwies sich jedoch nur für zentrale, in hoch verdichteter urbaner Lage befindliche Anlagen als sinnvoll, während kleinere Bahnhöfe, mangels längeren Aufenthalts der stets in Eile befindlichen Pendler, zu möglichst rational organisierten Stationen umfunktioniert werden müssen, selbst wenn beziehungsweise gerade wenn sie als regionale Umsteigeknoten von Bahn auf Bus und umgekehrt dienen.

Allerdings bedeutet dies eine Reduktion der erforderlichen Baumasse, wodurch die stadträumliche Präsenz sowie auch die mögliche Rolle im urbanen Gemenge abgebaut und zurückgestuft werden. Bei Erneuerungen oder Neuplanungen stehen die Architekten daher vor der Aufgabe, mangels möglicher Masse mit viel subtileren Mitteln städtebauliche Signifikanz zu erzeugen. Gerade dafür erweist sich die Hochlage der Bahntrasse in Baden als Vorteil. Denn als übergeordnetes stadträumliches Strukturelement ist der Damm, teils mit Mauern, welche die Böschungen befestigen, bereits vorhanden. Es galt daher, den Ort aufzuzeigen, wo der Austausch zwischen den Verkehrssystemen stattfindet. Natürlich ist dieser bereits durch die darauf ausgerichtete Stadtstruktur und die Tradition vorgegeben. Dennoch war es wichtig, ein Zeichen zu setzen. Das ist dem Wiener Architektenteam Dieter Henke und Marta Schreieck in doppelter Hinsicht gelungen. Einerseits mit einer nichts zu wünschen übrig lassenden Klarheit, andererseits mit kluger Angemessenheit im Umgang mit dem Vorhandenen.

Als von weitem erkennbares Zeichen dient das Dach, das in Form zweier flacher Paneele über dem Bahndamm zu schweben scheint. Weit auskragend, beschirmt es die Eingänge, so dass keinerlei Zusatzelemente wie etwa kleine Vordächer vonnöten sind, welche die Wirkung des großen Daches schwächen würden. Bei Eintreten der Dämmerung wird dessen Unterseite angestrahlt, so dass der leuchtende Schirm auch bei Dunkelheit seine zeichenhafte Kraft bewahrt.

Der Damm ist platzseitig mit einer Mauer befestigt und weist damit eine Fassade auf. Rechter Hand ist es eine aus Naturstein gemauerte Reihe eleganter Korbbögen, deren Bogenfelder teils mit Mauerwerk verblendet, in Stationsnähe jedoch für kleine Geschäfte geöffnet sind. Damit wird sowohl dem städtebaulichen Element des Dammes als auch dem historischen Bestand Rechnung getragen, und beides in die Neukonzeption selbstverständlich integriert. Das Bahnreisezentrum, ein Kiosk, ein Laden mit Backwaren für Reiseverpflegung, einige Automaten und die Toiletten finden im Volumen des Bahndamms ihren Platz. Zu beiden Seiten sind zahlreiche gedeckte Abstellplätze für Fahrräder neu errichtet worden, damit jene Pendler aus dem Nahbereich, die mit dem Fahrrad kommen, auch bei zwischenzeitlichem Regen mit einem trockenen Sattel rechnen dürfen. Für jene, die mit dem Auto zur Station fahren, steht auf der Leesdorfer Seite schon länger ein Parkdeck zur Verfügung. Über eine Brücke gelangt man direkt zum südlichen Bahnsteig.

Die kurz gehaltenen Erschließungswege der Bahnreisenden - der Bahnhof Baden weist eine hohe Benützerfrequenz auf - werden mit einer Glasmembran vor Wind und Schlagregen geschützt. Sie folgt der Rechteckform des Daches und hängt vor der sowohl statisch als auch gestalterisch minimierten Fassadenkonstruktion. Keinerlei Hinterspannungen oder verspielt gestylte Befestigungselemente stören die architektonische Wirkung: Da sind die schlanken Dachstützen, deren kräftige Querschnitte Dachgewicht und Windlasten aufnehmen, ohne dass sie mit ihrer Leistung protzen müssten. Visuell treten sie ebenso zurück wie die horizontalen Sprossen, deren liegende Rechteckquerschnitte in der Mitte von Zugstäben gehalten werden, die erst beim zweiten Hinschauen überhaupt auffallen.

Die Hauptwirkung der Glasmembran liegt jedoch in ihrem Aufbau aus einfachen Scheiben. Im Gegensatz zu den heute für klimatisierte Räume üblichen und notwendigen Isolierverglasungen, die mit vier Reflexionsebenen weniger durchsichtig sind, weist eine einzige Scheibe bloß deren zwei auf. Sie ist daher transparenter und ermöglicht besser als Erstere die Realisierung des klassisch modernen Traumes, den Raum optisch durchfließen zu lassen. Eben das gelingt den Architekten am Stationsgebäude von Baden, indem sie davon profitieren, dass die Halle nicht beheizt wird. Die Warteräume auf Bahnsteigebene sind in den Glasmembrankörper integriert, so dass auch sie die klare Gesamtwirkung nicht beeinträchtigen. Insgesamt ist die Körperhaftigkeit des gläsernen Witterungsschutzes zurückgenommen, so dass vor allem das Dach stark hervortritt und zur Wirkung kommt.

Die alte Unterführung war eng und unattraktiv. Die Erweiterung in Breite und Höhe veränderte den Charakter von einem Durchschlupf in einen Durchgangs- und Aufenthaltsraum. Ein Lichthof, der auf der Leesdorfer Seite in den Bahndamm eingeschnitten ist, unterbricht den Längsraum, korrespondiert mit dem Treppenaufgang zum Bahnsteig der nach Süden fahrenden Züge und wertet den Durchgangsraum architektonisch auf. Der im Hof gepflanzte Baum bildet einen weiteren Akzent.

Mit den architektonischen Maßnahmen gelingt es überraschend gut, trotz fehlender Masse der Bahnstation mit einer unspektakulären Formensprache jene Monumentalität zu verleihen, die ihr städtebaulich und funktional heute zusteht.

Spectrum, Sa., 2005.04.30



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Bahnhof Baden

09. April 2005Walter Zschokke
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Ja, auch Demut

Die Bauherren zufrieden, der Kostenrahmen eingehalten - und überdies: städtebaulich, konzeptionell und architektonisch geglückt. Zwei Beispiele zeitgenössischen Architektenhandwerks in Niederösterreich.

Die Bauherren zufrieden, der Kostenrahmen eingehalten - und überdies: städtebaulich, konzeptionell und architektonisch geglückt. Zwei Beispiele zeitgenössischen Architektenhandwerks in Niederösterreich.

Bei den medial aufbereiteten und oft gezeigten Beispielen publizierter Architektur handelt es sich immer um eine selektive Auswahl. Zum einen, weil viel mehr gebaut wird, als publiziert werden kann, zum anderen aber auch, weil eine bloß sorgfältig gemachte Architektenarbeit nicht ausreichend attraktiv ist, als dass sich ein Kritiker oder eine Kritikerin, die ja vom Glanz des publizierten Werks auch ein wenig abbekommen möchten, damit befassen. Es sind daher vor allem Arbeiten der medial bevorzugten „Stars“ oder formal sensationelle Projekte von Newcomern, als deren Entdecker sich Kritiker ebenfalls gern sehen, die besprochen werden. Ebenfalls beliebt sind Einfamilienhäuser, weil sie ein breites Publikum ansprechen, sowie - als wohlfeile Negativbeispiele - die Arbeiten der Häuselbauer, weil deren Geschmack oft genug verwirrt ist und sich ziemlich ungleichzeitig zum gerade gültigen und publizierten bewegt.

Architekten, die ihr Handwerk differenziert und sorgfältig, aber ohne Hang zu Sensationalismen betreiben, müssen sich denn auch von „Star“-Kollegen womöglich als „Häuselbauer“ abqualifizieren lassen, auch wenn ihre Arbeit für das Erscheinungsbild der Masse des Gebauten wichtiger ist als all die missverstandenen Kopien medial bekannter Bauten oder als die missglückten Arbeiten von Stars, die eher verschwiegen werden. Es sei denn, sie werden von Claqueuren und Nebelmachern so lange hoch gelobt, bis auch die Letzten begriffen haben, dass hier ein Misserfolg kaschiert werden soll.

Für Kritiker ist es daher erholsam, sich mit Bauten zu befassen, die alltägliches zeitgenössisches Architektenhandwerk repräsentieren, die die Bedürfnisse der Bauherrschaft erfüllen, den Kostenrahmen nicht überschreiten und dennoch städtebaulich, konzeptionell und architektonisch geglückt sind. Dies betrifft oft Sanierungen, Erneuerungen und Erweiterungen von Gebäuden aus Phasen intensiver Bautätigkeit, etwa der Gründerzeit oder der 1960er- und 1970er-Jahre, wie sie heute anstehen. Unsere beiden Beispiele stehen stellvertretend für andere, und der verantwortliche Architekt, Johannes Zieser, ist kein einsamer Vertreter seines Berufsstandes. Es gibt ausreichend gleich Gesinnte.

Die Gemeinde Würmla liegt an der Straße Richtung Tulln zwischen Böheimkirchen und Michelhausen. Das wahrscheinlich einzige besondere Bauwerk im Dorf ist das gründerzeitliche Schloss, das im Vergleich mit Schönbrunn natürlich im Erdboden versinken würde. Aber in Würmla ist Schönbrunn weit weg, und das Schloss - in einem Park mit alten Bäumen gelegen - wird zum architektonischen Angelpunkt. Jahrzehntelang vernachlässigt, waren seine Mauern durchfeuchtet, das Dach war undicht und der Park verwildert. Für einen privaten Käufer gab das Gebäude zu wenig her, und für eine öffentliche Nutzung des gesamten Hauses ist die Gemeinde zu klein. Den Niedergang beendete ein Konzept, das im Erdgeschoß unter anderem das Gemeindeamt und die Mediathek vorsah, im Obergeschoß den Einbau von Wohnungen. Aber auch dafür musste ein Investor gefunden werden, was mit der gemeinnützigen Genossenschaft Alpenland gelang.

Die geräumige Eingangshalle und das repräsentative Treppenhaus dienen heute beiden Nutzergruppen. Die wenigen, in ihrer Qualität erhaltenen Räume im Erdgeschoß boten für das Bürgermeisterzimmer und den Ratsaal einen würdigen Rahmen, auch wenn von den Stuckdecken bloß eine gerettet werden konnte. Dafür wertet der eine oder andere Kachelofen mit seiner Präsenz jeweils einen Raum auf. Das Äußere des Schlosses wurde nach denkmalpflegerischen Gesichtspunkten hergerichtet und der vollkommen zugewachsene Park ausgelichtet, sodass das freundlich-helle Gebäude nun in einem Hain hoher Bäume steht, wodurch die bescheidene Anlage aufgewertet wird. Die größten Eingriffe erfolgten im Obergeschoß, wobei es sich als Chance erwies, dass die Dippelbaumdecken verrottet waren und ersetzt werden mussten, weil die neue Stahlbetondecke einige Zentimeter höher gesetzt werden konnte, sodass in der Mittelzone eine Galerie eingezogen und die Wohnfläche vergrößert werden konnte.

Die hohen Fenster des Piano nobile lassen genügend Licht herein, dass auch die oberen Raumzonen nicht düster wirken. Unter der Galerie befinden sich Sanitär- und Abstellräume, die niedriger als die Wohnräume sein dürfen. Die zwölf Wohnungen zu zwei und drei Zimmern mit der meist als zusätzliche Wohnzone genutzten Galerie haben alle Abnehmer gefunden.

Beim Bundesschulzentrum für wirtschaftliche Berufe in Horn galt es, einen Bestand aus den 1970er-Jahren zu erweitern und überdies wärmetechnisch zu sanieren. Der zweiflügelige Erweiterungsbau setzt in der Mittelachse an der Rückseite des Bestandes an. Als räumliches Gelenk wirken die alte Treppe und, an diese anschließend, im Erd- sowie im ersten Obergeschoß eine großzügige Halle. Die beiden Flügel mit Klassenzimmern sind vom Altbau geringfügig weggeschwenkt, was sich noch an der Rückseite an der leicht polygonal eingezogenen Fassade abbildet. Städtebaulich nimmt der Baukörper in unaufgeregter Weise sowohl mit dem Bestand, an den er angebaut ist, als auch mit der rückwärtigen Nachbarschaft der Volksschule einen entspannten Dialog auf und führt das angelegte Konzept weiter. Sein zeitgenössischer Charakter realisiert sich auf der architektonischen Ebene: Die Treppen in den Flügeln liegen in lichtdurchfluteten Ganghallen. Eine farbige Folie im Verbundsicherheitsglas der Geländer bietet sowohl Transparenz als auch Differenz zur verglasten Fassade davor.

Neue Wandelemente im Altbau erhielten eine am Computer verfremdete Gestaltung durch die Künstlerin Elisabeth Handl, deren Ausgangsmotive Schülerfotos waren. Die Flächen in Orangetönen beleben die Stimmung in den Ganghallen und relativieren den ehemals nüchternen Charakter. Die alte Treppe mit ihren Sichtbetonwangen und Brüstungsauflagen aus dunklem Holz wurde original bewahrt. Sie zeugt von der Zeit, da ein Stiegenaufgang - auch in sparsamen Jahren - als architektonisch-räumliche Inszenierung aufgefasst wurde, dem mit beschränkten Mitteln Ausdruck verliehen wurde. Es ist nicht zuletzt das Verdienst von Johannes Zieser, diese zurückhaltende Qualität erfasst und im originalen Charakter in das erneuerte Konzept überführt zu haben. Denn bei dieser Sanierung und Erweiterung ging es nicht darum, dem qualitativ durchschnittlichen Bestand in demütigender Weise eine gegensätzliche Gestaltung überzustülpen, sondern darum, positive Elemente der Grundriss- und Raumstruktur aufzunehmen und mit eigenständigen, aber nicht konträren Elementen zu einem neuen Ganzen zu verbinden.

Das ist weder ein falsches Amalgamieren als Folge unklaren Denkens noch ein billig zu habendes, scheinradikales Schwelgen in hochgespielten Gegensätzen. Es ist viel schwieriger, weil sowohl im Erkennen als auch beim Entwerfen Sensibilität und - ja, auch Demut vor dem Vorhandenen gefordert sind, ohne dass dabei das Gesamtkonzept aus den Augen gelassen wird.

Spectrum, Sa., 2005.04.09



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Gemeindezentrum Schloss Würmla
Bundesschulzentrum

05. März 2005Walter Zschokke
Spectrum

Heimat ist überall

„Wer sich in Kolorit und Milieu einer Stadt einfühlt, Zufälle und Patina thematisiert, der mag Denkmalpflege und Museen nicht.“ Miroslav Sik, Architekt und Theoretiker. Ein Porträt.

„Wer sich in Kolorit und Milieu einer Stadt einfühlt, Zufälle und Patina thematisiert, der mag Denkmalpflege und Museen nicht.“ Miroslav Sik, Architekt und Theoretiker. Ein Porträt.

Eine der großen Schwächen der Neomoderne - die auf die „Postmoderne“ folgte - ist die Neigung zahlreicher Exponenten, immer wieder das Kind mit dem Bade auszuschütten, indem sie - ahistorisch, wie sie sind - das Vorhandene verdrängen oder ablehnen und unter verbalradikalen Trompetenstößen vom unerledigten Heute in eine von subjektiven Hoffnungen und Wünschen verengte „Zukunft“ flüchten, von der sie nicht wirklich eine Ahnung haben.

Das gilt sowohl für nicht wenige Architekten als auch für ihre eifrigen Propagandisten in den Medien. Offensichtlich unfähig, eigene, von der Sache ausgehende Gedanken zu entwickeln, folgen sie diesem oder jenem medial aufgebauschten formalistischen Trend und verlieren dabei die Bodenhaftung, weil sie meinen, sich nicht mehr mit dem konkreten städtebaulichen Kontext auseinander setzen zu müssen. Und sie schwätzen in oberflächlicher Weise von amerikanischen oder asiatischen Stadtvorbildern, die angeblich die Zukunft für die europäische Stadt darstellen. De facto auf das eigene Objekt fixiert, verbreiten sie publizistischen Nebel, um in dessen Schutz ihre Fremdanleihen einzubringen. Dabei verkennen sie sowohl die strukturelle Vielfalt als auch die oft Jahrtausende zurückreichenden historischen Wurzeln der europäischen Städte und ihre je spezifischen Entwicklungen, die jeder Stadt ihren individuellen Charakter eingeschrieben haben. Wird dies beim Arbeiten an der Stadt nicht berücksichtigt, sondern verdrängt, werden die daraus resultierenden Bauten jahrzehntelang Fremdkörper bleiben, bis sie wieder verschwunden sind, gestalterisch überformt oder von der Vitalität der Stadt schlicht assimiliert worden sind.

Das Instrumentarium zur Analyse des individuellen Charakters europäischer Städte wurde von italienischen Städtebautheoretikern in Rom, von Saverio Muratori und anderen, begründet und in der Folge effektvoller von Aldo Rossi verbreitet. Ihr typologisch-morphologischer Ansatz der Analyse erlaubte ein kontextuelles Projektieren, vernachlässigte jedoch die Berücksichtigung von Nebenwirkungen in der Feinstruktur, so dass formalistische Implantate nicht ausblieben.

An diesem Punkt setzen Theorie und Praxis des tschechisch-schweizerischen Architekten und Architekturlehrers Miroslav Sik an. Während sich die meisten Städtebauhistoriker auf die geschichtlichen Zentren beschränkten, richtete er seinen Blick frühzeitig auch auf vorstädtische Gebiete, in denen seit dem 19. Jahrhundert Wohnanlagen, Gewerbe- und kleinere Industriebetriebe, Dienstleistungsinfrastrukturen sowie Verkehrsbauten in dichter Mischung ein spezifisches Ambiente entwickelten. Sik, der sich selbst als Traditionalist bezeichnet, analysiert die Orte für seine Bauwerke bis in die Feinheiten lokaler Stimmungen, die von Farben, Nutzungsambiente, lokalen Stilmischungen bis hin zu einzelnen Bäumen reichen. Seine Interventionen sind zurückhaltend und streben die Stärkung vorhandener Ensemblewirkung an. Obwohl wortgewaltig und profiliert in seiner oft an Loos gemahnenden Diktion - „Das Stadtgesicht deines Gebäudes ist nicht deine Privatsache“ -, sind seine Entwürfe und Bauwerke verbindlich in der Haltung. Siks kurzer Text „Traditionell poetisch“ von 1995 (zu finden in seinem Buch „Altneue Gdanken. Texte und Gespräche 1987 - 2001“, Quart Verlag, Luzern) gibt sein Verhältnis zur europäischen Stadt konzentriert wieder, weshalb er hier zur Gänze zitiert werden soll:

"Die Stadt in ihrer Alltäglichkeit zu bewahren und ihr zugleich durch minimale Eingriffe Poetisches zu entlocken ist wohl das einzige Prinzip des Traditionalismus. Es tönt einfach: integriere und verfremde, Genius Loci und abgeleitete Imagination, Stadt als Vollendetes und ihr lokaler und empirischer Umbau. Nichts Großmaßstäbliches, Radikales und Avantgardistisches, keine Nostalgie und Importe. Es tönt einfach, ist jedoch das Allerschwierigste.

Die Stadt als Überlieferung zu bewahren verknotet uns mit älteren Generationen, ihren Träumen und Gewohnheiten, mit Wunder- und Widerlichkeit. Diesem Gegebenen verweigert der metropolitane Neomodernist Respekt und Verantwortung und zelebriert, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die Stunde zero. Seinem Neuanfang folgt der nächste, bis sich alles in Kontraste und Fragmente verwandelt. Wohl wachsen sie eines Tages wieder zum Ensemble zusammen, doch führt dorthin ein langer und schmerzhafter Weg. Die Alten sagten ,ordo amoris' und meinten damit die sanfte Einfühlung.

Die Stadt als Multiversum zu bewahren erfordert ein pluralistisches Gemüt. Heimat ist überall, im historischen Stadtkern, auf den Paradeboulevards des 19. Jahrhunderts, in der technischen und Schrebergarten-Peripherie, in der Satelliten-Utopie der 60er-Jahre. Romantisch und aufklärerisch strahlte die Heimat Stolz, Schönheit und Harmonie aus. Unsere Heimat ist grau und steif, zugleich bunt und motivierend, Tristesse und Action. Komposition gehört ihr an wie Chaos und Monotonie. Traditionalismus ist kein Stil, sondern ein Weg der Analogien.

Wer die Stadt traditionalistisch, sprich interpretierend, bewahrt, sich in Kolorit und Milieu einfühlt, Zufälle und Patina thematisiert, der mag Denkmalpflege und Museen nicht. Gewohnheiten und Traditionen werden bewahrt, indem man sie lebt, bewusst um sie kämpft, sie mit Nonkonformen schmilzt und ihnen eine gute Portion Spannung beimischt."

Als gebautes Beispiel sei das Musikerwohnheim genannt, eine Wohnanlage an der Zürcher Bienenstraße. Vis à vis steht eine Halle der Verkehrsbetriebe, und wenige Schritte westlich befindet sich das Letzgrund-Stadion, insgesamt eine spannende urbane Mischung. Drei kurze Trakte sind im Norden über zwei Stiegenhäuser zusammengekoppelt, von denen die akustisch gedämmten Übungsräume direkt zugänglich sind. Davor liegen südorientiert zu den beiden Höfen je zwei Loggien, über die der Zugang zu den eigentlichen Wohnungen erfolgt. Damit ist eine komplexe Benutzung möglich, weil die Übungsräume unabhängig sind - man muss als Musiker gar nicht im Haus selbst wohnen. Andererseits bietet die Loggia einen in seiner Art fast ländlich anmutenden Pufferbereich vor der eigentlichen Wohnung.

Miroslav Sik, der 1968 mit seiner Familie in die Schweiz emigrieren musste, lehrte seit den 80er-Jahren an den Technischen Hochschulen von Zürich, Lausanne und Prag. Seit 1998 ist er ordentlicher Professor an der ETH in Zürich.

Die 1931 in Hamburg gegründete Alfred-Toepfer-Stiftung, die sich für europäische Einigung und die Integration mittel- und osteuropäischer Länder und die Schwerpunkte Kultur und Wissenschaft, Naturschutz und Jugend einsetzt, vergibt seit 1963 die Heinrich-Tessenow-Medaille in Gold. Ausgezeichnet wurden bisher unter anderem die Architekten Sverre Fehn, Juan Navarro Baldeweg, David Chipperfield, Heinz Tesar, Edouardo Souto de Moura und Peter Märkli. Heuer ist es Miroslav Sik, der für seine Verdienste für eine „qualitätsvolle Weiterentwicklung der historisch gewachsenen europäischen Stadt“ gewürdigt wird.

Spectrum, Sa., 2005.03.05

05. Februar 2005Walter Zschokke
Spectrum

Hinsehen!

Warum wird das Innere eines Indianerzeltes bei Regen nicht nass? Warum hat der Athener Parthenon zwei verschiedene Säulenordnungen? Ein Plädoyer für offene Augen beim Studium der Architekturgeschichte.

Warum wird das Innere eines Indianerzeltes bei Regen nicht nass? Warum hat der Athener Parthenon zwei verschiedene Säulenordnungen? Ein Plädoyer für offene Augen beim Studium der Architekturgeschichte.

Soll man sich das als junger Architekturstudent antun: die Stilgeschichte von den Ägyptern bis zu Historismus und Jugendstil zu büffeln, Bauwerke, Namen von Baumeistern und Architekten und immer wieder Jahrzahlen auswendig lernen? Wozu soll das gut sein? Diese Frage darf getrost gestellt werden, wenn Architekturgeschichte wie Rechnen unterrichtet und geprüft wird - nichts gegen Kopfrechnen! - und daher auch daraufhin gelernt wird: ein Name, eine Jahreszahl; ein Name, eine Jahreszahl und so weiter. Kann denn Architekturgeschichte nicht mehr bieten als hohle Gelehrsamkeit? Natürlich könnte sie das, allerdings ist dies mit Verlust an Bequemlichkeit verbunden, sowohl für Lernende als auch für Lehrende. Wenn man sich nämlich die Frage stellt, was architektonisch vorliegt, lassen sich völlig andere und vor allem nachhaltigere Erkenntnisse gewinnen.

Mit zwei ausgewählten Beispielen soll das mögliche Feld skizziert werden, auf dem sich eine auch heute noch ertragreiche Architekturgeschichte bewegen kann. Denken wir uns in ein Kegelzelt der Ureinwohner Nordamerikas in den Plains, wo einst Millionen Bisons grasten. Die sorgfältige Zeichnung des Ethnografen Frederic Weygold stammt aus dem 19. Jahrhundert, bezüglich Geräte und Waffen ist die Steinzeit bereits vorbei - aber die Behausung, ursprünglich für den Sommer, die Zeit der Büffeljagd, vorgesehen, versammelt Jahrhunderte praktischer Erfahrung. Den Berichten von 1832 von Maximilian Prinz zu Wied dürfen wir entnehmen, dass die Zeltmembran dünn wie Pergament geschabt war und das Licht durchscheinen ließ. Auf der Zeichnung erkennen wir vor dem primären Holzgerüst eine Art Vorhang, der an den Zeltstangen angehängt ist. Die Befestigung erfolgt jedoch nicht direkt, sondern über eine umlaufende Leine, die jeweils von oben her einmal um die Zeltstangen geschlungen ist. Der Ledervorhang hängt dazwischen mit Schlaufen an der Leine.

Was wir nicht sehen, aber wissen dürfen, ist, dass die Zeltstangen oben über den Kegel hinausragen. Wenn es regnet, dringt an der als Rauchloch dienenden Kegelspitze Wasser ein und rinnt an der Unterseite der Stangen ins Zelt. An der umgeschlungenen Leine würde es etwas aufgehalten und bald heruntertropfen. Die ethnografischen Quellen berichten, dass an dieser Stelle zwei Holzspäne solcherart unter die Leine geklemmt wurden, dass das Wasser kapillar angezogen, zum Stangenfuß weitergeleitet und an den Zeltrand geführt wurde. Dieses Detail ist bloß eines von vielen, die an der über Jahrhunderte und Generationen mit den damals zur Verfügung stehenden Mitteln perfektionierten Zeltkonstruktion zu finden sind. Es handelt sich um eine beispielhafte Annäherung von Nutzeffekt und formaler Durchbildung.

Die verdichtete Erfahrung von Generationen manifestiert sich ebenso im wiederkehrenden Strukturprinzip des Dreibeins, ob für die Primärstruktur des Zeltes, die Rückenstützen oder das Gestell des Kochkessels, der den Bisonmagen abgelöst hat, in dem wenige Jahrzehnte zuvor noch mit erhitzten Steinen gekocht wurde. Und alles war leicht und unkompliziert transportfähig! In ungestörten Gesellschaften entstanden auf diese oder ähnliche Weise in einem kollektiven Prozess jene komplexen Zusammenhänge, die wir bis heute als Architektur wahrnehmen. Indem wir ihre Prinzipien erkennen, begreifen wir die Zeitlosigkeit architektonischer Wirkung. Und ihre Durchdringung bis in die kleinsten Details kann uns Heutigen zwar nicht materiell, aber ideell von Nutzen sein.

Nächstes Beispiel: Der Parthenon auf der Athener Akropolis gilt als jener Tempel, an dem die klassischen Prinzipien am perfektesten ausgearbeitet wurden. Das mit dorischer Säulenordnung versehene Bauwerk erlaubt daher einen genussvollen Nachvollzug dessen, was wir heute unter Klassizität verstehen. Die dorische Ordnung gilt als die ursprünglichere, direktere Umsetzung des Prinzips „Tragen und Lasten“. Es wurde ihr - im Gegensatz zur ionischen Ordnung - das männliche Prinzip zugeschrieben, das für Tempel männlicher Gottheiten Anwendung fand. Doch bereits hier sollten wir skeptisch werden, denn der Parthenon ist der Athene Parthenos gewidmet, die nach der Sage in voller Rüstung dem von Schmerz gepeinigten Haupt des Zeus entstieg.

Wenn wir uns nun aber auf die primäre architektonische Ebene begeben und eine dorische Säule näher anschauen, ist es vor allem die flache Kannelur mit scharfen Graten, welche die Oberfläche des Schaftes bestimmt. Im haptischen Zugriff erweist sie sich als eher schroff. Der allseitigen Offenheit des Säulenumgangs steht somit die distanzierende Wirkung der Oberfläche des Säulenschafts entgegen. Diese Spannung gegensätzlicher architektonischer Wirkungen lohnt bereits das nähere Eingehen auf die attraktive Ruine. Doch es gibt mehr zu entdecken: Im westlichen Teil der Cella, der mit dem östlichen, wo das Standbild der Athene stand, keine Verbindung hat, stehen im Geviert vier Säulen, welche die Decke tragen. Überraschenderweise folgen sie jedoch nicht der dorischen Säulenordnung, sondern der ionischen. Wie das? Ein derartiger Stilbruch am perfektesten Tempel des klassischen Altertums wird kaum einfach „passiert“ sein. Wir dürfen daher architektonische Absicht vermuten. Die ort- und zeitgleiche Anwendung beider Säulenordnungen mag schnell Urteilenden als „Protopostmoderne“ erscheinen, das Phänomen wäre provokant benannt, einige Lacher hätte man eingeheimst - aber sind wir damit dem Wesen der Sache näher gekommen? Nein.

Befassen wir uns daher mit der Oberflächenbeschaffenheit der ionischen Säulenschäfte: Sie weisen ebenfalls Kanneluren auf, doch sind sie schmaler und tiefer. Vor allem aber trennt ein leistenartiger Steg die vertikalen Rinnen, sodass das Rund der Säule stärker zum Ausdruck kommt. Sie wirkt weniger abweisend, mithin weniger raumverdrängend als eine Säule mit dorischer Kannelur. Hier dürfte der Schlüssel für ein Verstehen der vier andersartigen Säulen liegen: Dorische Säulen hätten stärker raumfordernd und objekthafter gewirkt. Der Raum wäre zurückgedrängt worden. Die annäherungsfreundlichere Kannelur der ionischen Säulen nimmt die mitten im Raum stehenden stützenden Elemente zurück, um den Raum aufzuwerten. Auch hier wurde eine ausgewogene Spannung gegensätzlicher architektonischer Momente angestrebt.

Einmal sensibel geworden, wird man bald merken, dass auch bei den Propyläen, dem Torbauwerk zur Akropolis, die inneren, den Torweg flankierenden Säulen der ionischen Ordnung folgen, während außen die dorische gilt. Nun dürfen wir annehmen, dass das Nebeneinander beider Ordnungen weder historische noch stilistische Gründe hat, sondern schlicht architektonischen Wirkungen gehorcht. Vitruv, der ein halbes Jahrtausend nach Errichtung des Parthenon Stile und Entwicklung erläuterte, hat Textgläubige auf eine zumindest denkwürdige Fährte gelockt. Das authentisch-architektonische Wesen eines Sachverhalts ist in den Bauwerken selbst zu suchen. Ihr Nachvollzug hilft, den Blick zu schärfen für ähnliche oder auch ganz andere architektonische Phänomene, die dann beim Entwerfen das Verständnis für ein Arbeiten mit komplexen Zusammenhängen zu einem lustvollen Prozess werden lassen, im Gegensatz zur Exekution modischer Stilelemente mit platter, auf vordergründige Effekte zielender Aussage.

Dabei ist es relativ unerheblich, an welchen Bauwerken und an welcher Epoche wir den differenzierenden Blick schulen, die Geschichte der Architektur ist so reich, dass wir nie an ein Ende gelangen.

Spectrum, Sa., 2005.02.05

08. Januar 2005Walter Zschokke
Spectrum

Bauen!

Den Nebelwerfern, Claqueuren und dem Starkult zum Trotz: Nur das reale Bauwerk ist Architektur. Die bloße Zeichnung bleibt Projekt. Das Metier braucht mehr als schöne Bilder.

Den Nebelwerfern, Claqueuren und dem Starkult zum Trotz: Nur das reale Bauwerk ist Architektur. Die bloße Zeichnung bleibt Projekt. Das Metier braucht mehr als schöne Bilder.

Eine Überbetonung äußerlich-for malistischer Aspekte, die Ein schränkung auf zweidimensio nale Bilder meist glatter Oberflächen sowie unkritische, sprachlich holperige Lobeshymnen kennzeichnen in jüngster Zeit die mediale Kommunikation von Gebautem. Besonders avanciert sich wähnende Auguren konstatieren einen Trend zu reinen Bildmedien und verabschieden sich vorauseilend von einer sprachlichen Auseinandersetzung mit Architektur. In der Not fachlicher Inkompetenz greifen die Schreiber zu populistischen Metaphern, die bei näherer Analyse des architektonischen Kontextes nicht standhalten. Kürzlich tauchte in einem Bericht über das geplante Stadion in Beijing von Herzog & de Meuron die Bezeichnung „Vogelnest“ auf. Mit seiner strukturell und maßstäblich falschen Metapher demonstriert der Schreiber sein eigenes Unverständnis architektonischer Zusammenhänge.

Mag sein, dass im Bürojargon, vor dem Modell 1:500, solche Übernamen - von mir aus sogar „liebevoll“ - in Gebrauch sind. Für das Raumgefühl im bewusst astatisch wirkenden Tragsystem im Maßstab 1:1 mit seinen mächtigen, sich wild kreuzenden Kastenträgern aus Stahl helfen solche populistischen Anbiederungen nicht weiter; viel schlimmer, sie leiten in die Irre. Denn methodisch Entwerfenden dient ein Modell als Kontrollmedium der Vorstellung des Projekts vor dem inneren Auge in wahrer Größe, andernfalls stolpern sie leicht über die Strukturformel, die besagt, dass ein Großteil der Parameter beim Vergrößern nicht linear, sondern mit der zweiten und dritten Potenz wächst. Es sind daher sprachliche Bilder zu finden, die sich nicht am Modell auf dem Tisch, sondern am realen architektonischen Konzept orientieren

Zwar gilt vordergründig als allgemeiner Konsens, dass Architektur nur in Kenntnis des Originals beurteilbar sei. Die Vernebelungsagenturen des Stararchitektenkults forcieren jedoch das Gegenteil. Indem sie isolierte und geschönte Bilder publizieren, versuchen sie Ansichten bereits vor einem Besuch an Ort und Stelle zu fixieren, eifrig bestrebt, deren unkritische Bestätigung zu provozieren. Und nicht wenige der solcherart gehuldigten Architekten verlieren die Bodenhaftung, schwimmen oben auf der Welle mit und geben unverständliches Geraune von sich, das mit ihren Bauten und Projekten wenig zu tun hat. Dazu ist zu sagen: Nur das real vollendete Bauwerk ist Architektur. Gezeichnetes bleibt Projekt; Geredetes bestenfalls Luftschloss.

Denn Architektur bleibt ein anspruchsvolles Komplexon, das zahlreichen Kriterien unterliegt. Vor 2000 Jahren fixierte der römische Militäringenieur Vitruv in der Hauptquelle unseres theoretischen Wissens über die Architektur der Antike, „Zehn Bücher über Architektur“, drei Kriterien: „firmitas“ (Festigkeit), „utilitas“ (Zweckmäßigkeit) und „venustas“ (Anmut). Zudem äußert er sich bereits zur Notwendigkeit der Kostenkontrolle, da der Architekt mit fremdem Geld baue. Vieles hat sich seither verändert, einiges ist erstaunlich aktuell geblieben. Die Renaissance, durch Leon Battista Alberti eingeleitet, erneuerte die Gültigkeit von Vitruvs Kriterien bis weit ins 18. Jahrhundert.

Mit dem Anbruch des bürgerlichen Zeitalters erhielt die Ökonomie wesentlich mehr Gewicht, und Jean Nicolas Louis Durand formulierte mit seinen Typologien grundrissökonomische Kriterien. Die Verwissenschaftlichung des Denkens und die zunehmenden Verluste an vertrauten Bauwerken im Zuge der Industrialisierung aktualisierten die Geschichte der eigenen Disziplin im Historismus, und mit der Entwicklung einer Theorie der Denkmalpflege durch Georg Dehio und Alois Riegl erhielten die Kriterien zur Wahrung des Kulturerbes eine moderne Grundlage. Gleichzeitig erstarrte jedoch der Historismus im billigem Eklektizismus.

Dennoch bleibt die Architekturgeschichte für das zeitgenössische Bauen eine unabdingbare Wurzel zur kritischen Selbstanalyse. Die wiederkehrenden Bestrebungen, dieses Kriterium zu umgehen oder zu verdrängen, wie dies von selbst ernannten Avantgardisten immer wieder probiert wird, sind ihrerseits zu Historismen verkommen. Denn was wegweisend sein wird, lässt sich bei einer langsamen und per se nachhaltigen Kunst wie der Architektur erst aus zeitlicher Distanz beurteilen. Das Übrige ist Kaffeesatzleserei und Wichtigmacherei.

Die soziale Komponente in der Architektur wird nicht von allen gleich gewertet. Im Interesse gesellschaftlicher Stabilität wird sie jedoch im Städte- und Wohnbau vernünftigerweise ernst genommen. Spät hat die Industrialisierung das Bauwesen erfasst, beflügelt vom Erfolg der Fordschen Fließbandproduktion von Automobilen. Die meisten Architekten verirrten sich jedoch in vordergründigen Formalismen, die oft genug zu Bauschäden führten. Das Kriterium einer optimierten Industrialisierung des Bauens ist jedoch heute unabdingbar. Die Ölkrise von 1973 verschaffte endlich der Energiefrage und der Forderung nach Nachhaltigkeit die nötige Beachtung. Und die Erneuerung historischer Stadtteile führte rasch zur Frage nach der städtebaulichen Angemessenheit der Interventionen. Alle diese Kriterien sind auch heute aktuell. Wenn sie vernachlässigt werden, kommt es zu unnötigen Reibungen im Entwurfs- und Bauprozess. Ihre Bearbeitung im Zuge der planerischen Durcharbeitung ist anpruchsvolles Architektenhandwerk und erfordert qualifizierte Berufsleute. Künstlerische Kompetenz in Bezug auf Konzeptidee, Raumstruktur, Materialwirkungen und Proportionen ist jedoch Voraussetzung.

Aber damit ist das Haus noch nicht gebaut, denn die Umsetzung der Planung in jener Qualität, die den integralen architektonischen Anspruch im späteren Bauwerk sicherstellt, erfordert eine vom Starkult in der Regel unterschlagene intensive Beteiligung von Spezialisten. Es beginnt mit der ingenieurwissenschaftlichen Komponente für das Tragwerk, die Konstruktion und die bauphysikalischen Aspekte. Dazu kommen die Leistungen der Baustoff- und Bauteilindustrie. Vieles wird heute vorgefertigt und auf der Baustelle montiert. Erst heute befinden wir uns dort, wo sich die Pioniere in den 1920er-Jahren hinträumten. Trotzdem bedingt die Bauherstellung weiterhin ein technisch versiertes zeitgenössisches Handwerk. Das „Gewusst-wie“ und eine perfekte Endfertigung sind unverzichtbar, sonst kommt es schwerlich zu Architektur.

Die organisatorisch-technische Komponente für den gesamten Ablauf, die Bauleitung, ist von zentraler Bedeutung. Nicht von ungefähr kooperieren namhafte Architekten immer wieder mit denselben spezialisierten Bauleitungsbüros. Und dabei gibt es auch eine Ästhetik schlanker, wirksamer Baubesprechungs-Protokolle!

In den vergangenen Jahrzehnten ist das Errichten architektonisch qualifizierter Bauwerke immer mehr zu einem extrem anspruchsvollen Prozess mit permanentem Mediationsbedarf geworden. Wohl hat der Architekt in manchen Ländern seine zentrale Rolle zu Gunsten der Architektur wahren können. Das Herunterspielen der Herstellungsproblematik sowie eine formalistisch orientierte Vernebelung durch Claqueure auf der medialen Ebene spalten jedoch die Ansprüche von der Wirklichkeit ab - mittelfristig zu Lasten der Architektur.

Spectrum, Sa., 2005.01.08

11. Dezember 2004Walter Zschokke
Spectrum

Zeichen, Schule machend

Fahrt durch das frühwinterliche Niederösterreich: über kleine Pässe, durch enge Täler, Kleinstädte und Dörfer. Und entlang der jüngsten Arbeiten engagierter Architekten. Ein Streifzug.

Fahrt durch das frühwinterliche Niederösterreich: über kleine Pässe, durch enge Täler, Kleinstädte und Dörfer. Und entlang der jüngsten Arbeiten engagierter Architekten. Ein Streifzug.

Fahrt durch Niederösterreich im Spätherbst: auf Land- und Nebenstraßen, mit kurzen Halten in Kleinstädten und Dörfern, zwecks Besichtigung jüngster Arbeiten verschiedener Architektinnen und Architekten. Anfangs auf morgendlich nebelfeuchter Fahrbahn durch enge Täler und über kleine Pässe im Voralpenbereich, die Talflanken bedeckt mit steilen Waldstücken, durchsetzt von Felsformationen, zwischendurch eine kleine Ansiedlung, wenn die Erweiterung des Talbodens dies zulässt, und da und dort eine Burgruine über schroffen Feldzacken.

In Scheibbs, wo der mittelalterliche Stadtkern in eine schmale Zone neben dem Fluss gezwängt ist, wurde jüngst eine Filiale von Forster Optik eingerichtet, gestaltet von Irmgard Frank und Finn Erschen. Das prominent unter einem bemalten Giebel im Stadtgefüge ruhende Haus weist mit Stein eingefasste Stichbogenarkaden aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts auf. Dahinter befindet sich das Optikgeschäft, das tief ins Gebäude hineinreicht. Eine kräftige Längsmauer, durch Einbauten in ihrer Dimension noch verstärkt, teilt den Schauraum vom Servicebereich. Durchgänge und ein geschützter Sitzplatz für kurze Wartezeiten lockern dieses strukturierende Element auf. Im Schauraum werden Brillengestelle auf gläsernen Tablaren vor hinterleuchteten Milchglasflächen präsentiert, oben und unten begleitet von einem breiten Band eisgrün leuchtender Scheiben. Dazu kontrastiert das warmfarbig dunkle Parkett, während frei im Raum stehende Möbel aus hellem Holz gearbeitet sind. Der edle Charakter der Einrichtung verleiht dem Angebot und der Serviceleistung der Firma einen zusätzlichen Impuls zum positiven Gesamteindruck.

Ins Alpenvorland weiten sich die Täler, und die Topografie wird weicher. Am Weg liegt Matzleinsdorf bei Melk, eine kleine Ortschaft. Die bescheidene Kirche unklaren Alters erhielt einen Vorbau, der als geräumiger Eingangsbereich dient. Hinter dem Schulhaus hervor lädt der schräg aus der gerundeten Ecke stoßende Eingang zum Eintreten. Ein breites Fenster bietet Einblick in den Sakralraum mit den schlichten Fichtenholzbänken. Richard Zeitlhuber hat den Vorbau auf beengtem Platz als zeitgenössisches Element an das kleine Kirchenschiff gefügt. Er wirkt angenehm beiläufig und dennoch freundlich offen.

In Melk befindet sich am Hauptplatz eine weitere Forster-Filiale, diesmal von Sabine Bartscherer und Ana Paula Cachola gestaltet. Auch hier galt es, das Geschäft in die Mauerstruktur eines im Kern mittelalterlichen Hauses zu komponieren. Ein mit Glas überdeckter ehemaliger Hof bringt Licht in die Tiefe des Raumes, eine in Pfeiler aufgelöste Mauer teilt wiederum die Hauptbereiche ab. Die Brillengestelle werden hier in niedrigen, dafür umso breiteren Fächern präsentiert, die unregelmäßig in der schwarzen, rahmenden Wandfläche eingeschnitten sind. Eine indirekte Beleuchtung verstärkt die Wirkung der Objekte. Der Generationsunterschied in der Ausbildung zwischen den Entwerferinnen - im Vergleich zu jenen der Filiale in Scheibbs - wird deutlich an der Schrägstellung einer Arbeitsinsel im hinteren Bereich oder an der Möblierung der Kinderecke im Obergeschoß. Dennoch passt die differenzierte Gestaltung zu den ausgestellten Produkten: zarten Brillengestellen und zerbrechlichen Augengläsern, und ebenso zur exakten Bearbeitung und Anpassung an individuelle Kundenbedürfnisse und -wünsche, wie dies dem hoch spezialisierten Geschäftszweig entspricht.

Durch den Dunkelsteiner Wald, dessen Name allein schon an Märchen gemahnt, führt der Weg nach Herzogenburg. Hier wurde der Platz vor der Stiftskirche teilweise neu gestaltet, aber der Bereich daneben, vor der Feuerwehr, belassen. Es handelt sich um eine gestufte Anlage: von Betonmäuerchen gerahmte Grünflächen, dazwischen eingesenkte Ruhezonen; eine in ihrer plastischen Qualität durchaus erhaltenswerte Anlage aus den 1970er-Jahren. Und auch die von geparkten Autos besetzte Hauptfläche des von Bürgerhäusern eingefassten Kirchenplatzes blieb unangetastet. (Gregor) Eichinger oder (Christian) Knechtl, die Gestalter der Zone vor der Kirche, legten eine mit quadratischen Ebenseer Zementsteinen belegte Fläche aus, die von einer frei ausbauchenden Linie begrenzt wird. Das unregelmäßige Muster der von hell- bis dunkelgrau abgestuft eingefärbten Steine erschließt sich erst aus großer Höhe, beispielsweise von den Balustraden unter dem Turmhelm. Die „Pixel“ verdichten sich zum Bild: Eine Hand scheint sich den Platzteil zu greifen, um die Zone vor der Kirche den zudringlich parkenden Autos zu entziehen: eine feinsinnig kontextuelle Arbeit.

Weiter geht es durch die Ebene nach Zwentendorf. Positive Erinnerungen steigen auf an die Jury im Verfahren zur Erweiterung der Hauptschule, umsichtig und vorbildhaft geleitet durch den tragischerweise früh verstorbenen Reinhard Medek, die das Projekt von Martin Kohlbauer auf den ersten Platz setzte. Wie hat der Gewinner die Ausführung bewältigt? Ein Gang um das Gebäude nähert Erinnerung und reales Bauwerk einander an: die gestuft vorkragenden Geschoße, der schlank aufgestelzte Körper des zweiten und dritten Obergeschoßes, die ruhige Fassade zum Park neben der Kirche, die Pausenfläche im Hofbereich auf dem Turnhallendach und die Raum lassende Behandlung des alten Baukörpers: alles vorhanden und in Gebrauch. Die städtebauliche Integration der zeitgenössischen Bauformen ist gelungen.

In Tulln ist es ein Billa-Markt von Gottfried Haselmeyer der positiv ins Auge springt. Lange Jahre waren die rotgelben Läden geprägt von hochnotpeinlichen Anbiederungsversuchen aus mit Holz getäfelten Blenden und ziegelbedeckten Scheindächern an eine vermeintlich ländliche Bauweise. Architekt Haselmeyer hat in Niederösterreich in dieser Hinsicht unbedankt härteste Pionierarbeit geleistet und die ersten selbstverständlich wirkenden Billa-Märkte in Zwettl, Grein und eben Tulln gestaltet.

Im Bogen um Wien herum, südlich von Schwechat stoße ich an der Landstraße nach Lanzendorf auf ein Firmengebäude, dessen signifikantes Dach aus regelmäßig gereihten Schichtholzträgerrn über den Gebäuden und Lagerflächen zu schweben scheint und alles zu einem Ganzen fasst. Otmar Hasler hat für die Dachdeckerfirma ein unmissverständliches, aber vor allem auch nützliches Kennzeichen entworfen, dessen klare architektonische Form mehr bietet, als nur ein „Firmenschild“ zu sein.

An hellen Tagen mag man auf der Heimfahrt durch die ebenen Landstriche vor dem Einbruch der Nacht nicht selten von einem dieser großartig weiten, von Wolken dramatisch aufgeladenen niederösterreichischen Himmel überrascht werden, die für den Betrachter aus den Häuserschluchten der Großstadt nie diese Entfaltung und überwältigende Wucht erreichen.

Spectrum, Sa., 2004.12.11

12. November 2004Walter Zschokke
Spectrum

Aus eigenem Holz

Angemessen, klassisch und soeben mit dem Bauherrenpreis ausgezeichnet: Schule, Dorfladen, Gemeindeamt und Dorfgasthaus aus massivem Holz. Nach dem Entwurf von Bruno Spagolla für Blons im Großen Walsertal.

Angemessen, klassisch und soeben mit dem Bauherrenpreis ausgezeichnet: Schule, Dorfladen, Gemeindeamt und Dorfgasthaus aus massivem Holz. Nach dem Entwurf von Bruno Spagolla für Blons im Großen Walsertal.

Wenn man von Süden her über das Tal auf den Sonnenhang schaut, auf dem die zahlreichen Höfe des Dörfchens Blons verteilt sind, fällt auf, dass um die Kirche herum einige größere Baukörper stehen und kleinere sich dazu scharen. Zusammen bilden sie das Dorfzentrum. Der Kirchturm mit spitzem Helm überragt die Gruppe, darunter lagert die Längsseite des Kirchenschiffs unter steilem Schindeldach. Zu beiden Seiten schließt je ein giebelständiges Bauvolumen an, das jenes der nahen Familienhäuser um das Vier- bis Fünffache übersteigt. Es handelt sich links um das alte Volksschulhaus aus den 1950er-Jahren, rechts um das neue, das diesen Herbst in Betrieb genommen wurde. An den äußeren Flügeln dieses gleichsam klassischen Aufbaus befinden sich zwei parallel am Hang liegende Baukörper; links die Hauptschule aus den 1970er-Jahren, die sich in die alte Volksschule ausdehnen wird, sowie rechts das Gebäude mit dem neuen Dorfgasthaus und dem Gemeindeamt. Noch leuchtet das Holz der Neubauten hellgelb heraus. In wenigen Jahren wird es die Sonne goldbraun und bald noch dunkler gebrannt haben.

Ja, ist denn diese auf Harmonie bedachte Verdichtung der dörflichen Struktur zeitgemäß? Das kontextuelle Bauen ist doch vorbei. Angesagt ist das Betonen von Gegensätzen, die Fixierung auf den eitlen Solitär, und überhaupt, wo bleibt da die Innovation? Angemessenheit, denn um die geht es hier, ist zeitlos. Angemessen zu entwerfen heißt eben nicht, ein Bauwerk monofunktional auf Aufmerksamkeit hin zu trimmen, mit dem erwartbaren Risiko, dass ein aggressiv um Beachtung bettelndes Äußeres nach einigen Jahren peinlich wirkt, weil die überzogene Gestik lächerlich geworden ist. Heute, da gestalterisches Polarisieren in vielen Fällen zum Selbstzweck verkommen ist und die Pawlowschen Hunde der Architekturagitprop nur auf simple Äußerlichkeiten ansprechen, ist es hingegen eine Wohltat, vertieftes Eingehen auf komplexe, Tradition und Innovation integrierende Angemessenheit nachvollziehen zu dürfen und den vielschichtigen Überlegungen nachzuforschen, die diese und jene Entwurfsentscheidung zur Folge hatte. Damit gelangen wir in jenen Bereich komplexen Genießens von Architektur, der dem schnellen Kick vordergründiger Effekte überlegen ist, weil er nicht zuletzt nachhaltiger ist. Das heißt aber auch, dass traditionelle Prinzipien, kombiniert mit neuer Technik, oft weniger störanfällig sind als kaum erprobte Neuigkeiten. Die Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts zeigt daher unter anderem, dass ein Verdrängen von Erfahrung zu eklatanten Bauschäden führt.

Das Dorf Blons musste nach den schweren Lawinenniedergängen vom 11. Jänner 1954 nicht weniger als 57 Menschenleben beklagen. Die Schneemassen hatten den Schutzwald umfahren oder sich neue Bahnen gebrochen. Als Gegenmaßnahmen wurden hoch oben Verbauungen errichtet, und der gemeindeeigene Schutzwald wurde erweitert. Doch auch dieser erfordert Pflege, will sagen: Durchforstung. Dabei fallen zuhauf kräftige Stämme von Fichten, Weißtannen und Lärchen an, und manch schöner Bergahorn ist auch dabei.

Die Blonser besitzen also Holz genug, weshalb sie es als Baumaterial für die dringend benötigten Zentrumsfunktionen festlegten. Die neuen Gebäude sollten die zweiklassige Volksschule mit Turnsaal und den Dorfladen sowie die Gemeindeverwaltung und endlich wieder ein Dorfgasthaus enthalten. Dazu kam ein Lawinenlehrpfad zur Erinnerung und Aufarbeitung, aber ebenso zur Mahnung für Skitouristen und Snowboarder. Ein Architektenwettbewerb erkor das Projekt von Bruno Spagolla aus Bludenz, der vor Jahren die Hauptschule gebaut hatte, zur Ausführung.

Die Funktionen sind auf zwei Gebäude aufgeteilt, die von der Straße weg in den Hang hinausgeschoben sind, so dass eine ebene Fläche als Schulhof und Parkplatz entsteht und darunter, zum Tal hin, ein volles Geschoß Licht erhält. Im Untergeschoß des giebelständigen Schulhauses befinden sich Turnsaal und Garderoben. Das große, außermittig liegende Fenster prägt die Stirnseite des Gebäudes und bietet den Turnenden Ausblick ins Tal. Darüber im Erdgeschoß ist der Dorfladen angeordnet, der vorher von der Straße abgelegen und recht beengt war. An der eingezogenen Nordostecke, einem Schopf, wie diese wettergeschützte Vorzone in Vorarlberg genannt wird, befindet sich der Eingang zu den beiden Volksschulklassen, die das Obergeschoß ausfüllen. Eine Galerie nutzt zusätzlich den Firstraum unter dem Satteldach für Gruppenbereiche, das Giebeldreieck ist verglast und gibt wieder die Aussicht ins Tal frei.

Doch nun zum Holz: Mit provisorischen Seilbahnen aus dem Wald gebracht und in der nahen Großsägerei zu Klotzbrettern und Balken geschnitten, wurden die Fichtenbohlen zu 20 cm starken und 80 cm breiten Elementen gefügt, die von diagonal vorgebohrten und eingepressten Buchenholzdübeln zusammengespannt werden. Die stärker getrockneten Dübel quellen im wenig feuchteren Fichtenholz wieder auf und halten durch Reibung fest. Diagonaldübelholz nennen es die Fachleute. Mit diesen Elementen werden Wände und Decken gefügt und als transportierfähige Teile auf dem in Stahlbeton gegossenen Sockelbauwerk aufgerichtet. Als Witterungsschutz ist eine in Nut und Kamm gefügte Bohlenplatte, die ebenso durch Diagonaldübel zusammengehalten wird, vor die Holzwand montiert. Gemeinsam verfügen sie über ausreichend Dämm- und Speicherwirkung, so dass für das Gebäude Passivhausstandard erreicht wurde. Auch das Satteldach ist aus Diagonaldübel-Holzelementen gefügt. Das statische Verhalten dieser Platten und Scheiben gleicht jenem von Stahlbeton, sie sind allerdings bloß ein Drittel so schwer und bilden keine Wärmebrücken. Und für die erdberührenden Teile kam ausreichend Beton zum Einsatz. So ergänzen sich die Materialien.

Aus den kräftigsten Weißtannen, ein Baum, der in Vorarlberg häufiger ist als sonst in Österreich, konnten wunderschön schlichte, astfreie Bretter und Kantel geschnitten werden, die für die Fenster und an den Laibungen Verwendung fanden. Für die Handläufe und Stiegen kam handschmeichelnder Bergahorn zum Einsatz. So sind die meisten im Schutzwald vertretenen Hölzer auch im Schulhaus zugegen.

Das andere Gebäude enthält im Erdgeschoß das Dorfgasthaus und darunter im Gebäudesockel die Gemeindeverwaltung. Es ist als Skelettbau mit kräftigen Schichtholzpfeilern errichtet, dessen Pultdach wieder von Diagonaldübel-Holzplatten getragen wird, die zusätzlich unterspannt sind. Die Gestaltung bleibt zeitgenössisch, wie dies der aufgeschlossenen Gemeinde mit einem nicht geringen Anteil junger Einwohner entspricht. Vor allem aber wurde das Bedürfnis nach einem gemeinsamen Ort gesellschaftlicher Begegnung wieder erfüllt. Die prächtige Aussicht an den entlang der Südfassade aufgereihten Tischen wird aber auch Gäste von auswärts herbeilocken. Und nebenbei können sie sich von den Bauwerken deren Geschichte erzählen lassen, in der Angemessenheit und vernetztes Denken und Handeln gut vertreten sind.

Spectrum, Fr., 2004.11.12



verknüpfte Bauwerke
Gemeindezentrum Blons

23. Oktober 2004Walter Zschokke
Spectrum

Lockende Stufen

Moderne Klassizität statt falscher Aufgeblasenheit: Salzburg hat für sein Museum der Moderne ein spannungsvolles Gebäude bekommen. Eines, das nicht wichtiger sein soll als die Kunstwerke, die es beherbergt.

Moderne Klassizität statt falscher Aufgeblasenheit: Salzburg hat für sein Museum der Moderne ein spannungsvolles Gebäude bekommen. Eines, das nicht wichtiger sein soll als die Kunstwerke, die es beherbergt.

Diese Kiste da auf dem Mönchsberg . . ." - „Entschuldigen Sie, eine Kiste wäre aus Holz.“ - „Na dann, diese Schachtel . . .“ - „Ist auch falsch, denn eine Schachtel bestände aus Karton oder dünnem Holz.“ - „Ja, darf man denn überhaupt keine griffigen Metaphern mehr verwenden?“ - „Nein, dürfen Sie nicht, denn Ihre Metaphern greifen daneben und sind maßstäblich falsch. Sagen Sie großer, liegender Quader, und schon stimmt's.“ - „Aber . . .“ - „Halten Sie jetzt die Klappe!“

Neben der gedrungenen Vertikalen des vertrauten Wasserturms, dessen historisierendes Äußeres seit über hundert Jahren erfolgreich um Akzeptanz des camouflierten Zweckbaus bettelt, ist ein horizontal betontes Element dazugekommen. Rahmenartig fasst die zur Stadt gerichtete Ostfassade ein breites Fenster, das den Hochblickenden signalisiert, wie bequem man von dort oben herunterschauen kann. Auf sich aufmerksam macht das Bauwerk mit der massiven Verkleidung aus dem fast weißen hellen Untersberger Marmor, der aus der Nähe stammt und, von nahe besehen, feine rote Äderungen aufweist. Modisches Schwarz hätte den Bau verschwinden lassen; doch wäre das gescheit gewesen? Schließlich sollen Besucher darauf aufmerksam gemacht werden, müssen sie doch mit dem Lift hinauffahren. Und besser als falsche Aufgeblasenheit ist moderne Klassizität allemal. Die neun Zentimeter starke Vormauerung weist Körper und Masse auf, und der lagerhafte Steinschnitt vermittelt Klassizität, subtil gebrochen durch die aufgeraute Oberfläche und ein nach Musikthemen mathematisch umgesetztes Muster schmaler Vertikalschlitze, die der Entlüftung dienen.

Das Haus für die Sammlung Welz, etliche Dauerleihgaben und Ankäufe vieler Jahre, reiht sich somit in die Gruppe jener Muse-umsbauten, die nach außen Dauerhaftigkeit, Sicherheit und Wertkonservativismus vermitteln. Aber ist das Bewahren und Herzeigen von Werken der Moderne, ja selbst zeitgenössischer künstlerischer Arbeiten nicht eine konservierende Tätigkeit? So kommen äußerer Eindruck und Funktion des Hauses zur Deckung.

Doch wechseln wir zum Inneren des mehrgeschoßigen Bauwerks der Münchner Architekten Klaus Friedrich, Stefan Hoff und Stefan Zwink, das hinter dem Aussichtscafé, dem das breite Ostfenster gewidmet ist, quasi versteckt liegt. Der Mönchsberg wird durch einen Torbogen auf dem Niveau des Stadtkerns betreten. Drei schnelle Aufzüge heben die Besucher aus der Kaverne in die Höhe. Sie enden in einer niedrigen Halle, aus der zwei Stiegenläufe hinauf ans Licht und an die Brüstung über der Felswand locken. Der Zugang zum Museum führt aber in die andere Richtung, weiter in den Berg hinein, wo eine geräumige Querhalle die Besucher vorerst zur Ruhe und ans Kassenpult bringt und von wo Garderoben, Shop sowie ein Vortrags- und Mehrzweckraum zugänglich sind. Eine wirklich breite Treppe lädt nun ein, tiefer in den Berg einzudringen, doch zugleich ansteigend auf einen Lichtschein zuzugehen. So gelangt man in eine schluchtartige Querhalle, von der die erste Ausstellungsebene zugänglich ist. Hoch über Kopf schützt ein Glasdach, und rechts führen weitere breite Stiegenläufe zum nächsten Geschoß, denn noch ist man nicht aus dem Berg heraus. Die Säle weisen Kunstlicht auf, es sind Rundgänge, aber auch eine freie Wegsuche möglich. Die Wände sind hier neutral weiß, während die Gang- und Treppenhallen von Mauern aus glattem Sichtbeton umfangen sind, dem ein heller Zuschlagstoff beigemischt wurde, so dass er freundlicher wirkt als der übliche Tiefbaubeton. Eine feine Maßnahme, knapp über der Wahrnehmungsschwelle, aber enorm wichtig.

Natürlich kann man auch den Aufzug nehmen, um in die oberen Geschoße zu gelangen, doch der Weg durch die Treppenschlucht ist architektonisch attraktiver. Nun hat man auch die zur Terrasse befestigte Oberfläche des Berges erreicht. Breite Fenstertüren öffnen sich zum Skulpturenhof im Schatten des Wasserturms. Zwei lange, parallele Säle liegen vor und hinter der Treppenschlucht; im vorderen Gebäudeteil befindet sich auf dieser Ebene das Café.

Nochmals lockt eine Treppe unter gläsernem Dach zum weiteren Aufstieg ins oberste Geschoß, wo die Oberlichtsäle sich S-förmig um die beiden Treppenschluchten legen und Verbindungsgänge sowie ein luftiger Steg einem direkten Zugang dienen. Hier sind mit Bedacht teils sehr große Ausblicksfenster gesetzt, die sich zu den nahe stehenden Bäumen öffnen oder einen Ausblick nach Süden erlauben. Allerdings wird die Durchsicht wegen der starken Filterwirkung gegen UV-Licht beeinträchtigt, wenn zugleich die Sonne aufs Glas scheint. Hier muss die räumliche Konzeption vor den konservatorischen Bedingungen kapitulieren.

Die flach in die Decke eingesetzten Oberlichter beruhigen deren Wirkung, so dass von dort kaum eine visuelle Störung ausgeht. Etwas schwieriger ist es in den unteren Geschoßen mit dem Kunstlicht, das aus stark präsenten, parallelen Leuchtbalken an der Decke kommt. Aber da das Museum nicht streng als neutraler weißer Raum ausgelegt ist, ist dies ein Nebenaspekt in der attraktiven räumlichen Vielfalt, die mittels zusätzlicher Wände variiert und für kleinere Formate und Bildkombinationen anders definiert werden kann.

Dass das Präfix „Star“ nicht immer Erfolg garantiert, gilt nicht nur im Fußball, sondern auch in der Architektur. Dies erweist sich an der von Matteo Thun stammenden Einrichtung des Cafés von der modischen Stange. Lässt sich in dem Gewirr abgeworfener Geweihstangen, welche die Deckenbeleuchtung kaschieren, noch so etwas wie Witz vermuten, sind die Farbkreise an der Rückwand im Café eines Kunstmuseums peinlich. In einer Werkskantine hätte man gesagt: „okay, gut gemeint“. Doch wer weiß, wie flüchtig solche Inszenierungen sind, wird sich nicht aufregen.

Denn die Art und Weise, wie sich das Bauwerk innenräumlich aus dem Berg heraus entwickelt, ist spannungsvoll und engagiert gemacht. Die Trennung von Aufstieg und Abstieg von den Raumfolgen im Ausstellungsbereich sowie die Differenzierung der Geschoße sind sinnvoll. Doch vor allem ist angenehm, dass das Gebäude nicht wichtiger sein soll als die darin auszustellenden Kunstwerke und deren Zusammenschau. Es ist ein dienendes Bauwerk, dessen räumliche Entwicklung in vertikaler und horizontaler Ausdehnung die notwendige „Passegiata“ zwischen einer Bildersequenz, einer Thematik, einer Künstlerpersönlichkeit oder einer Epoche und der nächsten anbietet, also trotz der beachtlichen Ausstellungsfläche von 2300 Quadratmetern, abwechslungsreich bleibt. Salzburg hat damit ein attraktives Haus für seine Sammlung der Moderne und darüber hinaus zielenden Ausstellungen erhalten, dessen Innenleben den Vergleich mit anderen Häusern nicht zu scheuen braucht.

Spectrum, Sa., 2004.10.23



verknüpfte Bauwerke
Museum der Moderne

18. September 2004Walter Zschokke
Spectrum

Wie viel Raum braucht ein Werk?

Das Glanzstück ist die Decke: Im Rhythmus einer Sinuskurve hebt und senkt sie sich. Und bestimmt so den Raum wie die ersten Takte einen Walzer. Friedrich Kurrents Ausstellungshalle für die Werke Maria Biljan-Bilgers.

Das Glanzstück ist die Decke: Im Rhythmus einer Sinuskurve hebt und senkt sie sich. Und bestimmt so den Raum wie die ersten Takte einen Walzer. Friedrich Kurrents Ausstellungshalle für die Werke Maria Biljan-Bilgers.

Entlang der Straße, die nach Westen aus dem niederösterreichischen Dorf Sommerein strebt, reihen sich die Weinkeller. Das knappe Dutzend in die Böschung hineingebauter Stirnfassaden wird angeführt von einem Gebäude mit breiter, im Mittelteil steil aufragender Giebelmauer, in dessen Kern sich eine vermutlich spätmittelalterliche Kapelle verbirgt, an die, längst säkularisiert, zu beiden Seiten angebaut wurde. Sie markiert die Grenze des Wohngebiets. Das von Mauern eingefasste Geviert könnte vor Jahrhunderten ein Friedhof gewesen sein, aber so genau weiß man das nicht. Dahinter, im Süden, liegt ein aufgelassener Steinbruch, in dem Leithakalk gebrochen wurde.

Seit den 1970er-Jahren dienten Gebäude und Garten der bildenden Künstlerin Maria Biljan-Bilger (1912 bis 1997), die für ihre bildhauerischen Arbeiten den Leithakalk schätzte, als Atelier und Sommerwohnort. Vor etwas mehr als zehn Jahren konnte ein rückwärtig anschließender, trapezförmiger Grundstücksstreifen dazuerworben werden, mit dem Ziel, darauf eine Ausstellungshalle für Werke aus dem Besitz der Künstlerin sowie verstreute, vom Zeitgeist verschmähte und mit Glück gerettete Arbeiten zu errichten. Er war mit Abraum des Steinbruchs angefüllt, so dass sich erst später herausstellte, dass sich eine verbliebene Felskante diagonal durch das Grundstück zieht. Architekt Friedrich Kurrent, Lebenspartner der Künstlerin und Spiritus Rector des Unternehmens, begann 1994 mit der Planung. Ein Verein der Freunde wurde gebildet, und endlich flossen Fördergelder vom Land Niederösterreich, vom Bund, und auch die Gemeinde trug das Ihre dazu bei, so dass am 1. Mai dieses Jahres eröffnet werden konnte.

Das Grundstück ist bloß 36 Meter lang, die Ostseite, wo der Eingang von einer Stichgasse her erfolgt, misst 20 Meter, die kontinuierlich auf 13 Meter im Westen schrumpfen. Der erste Plan sah vor, darauf flächenfüllend eine zweischiffige Halle zu errichten, was von dem zum Vorschein gekommenen Fels durchkreuzt wurde. Nun ist sie um ein Drittel kürzer und im hinteren Teil etwas eingeschränkt, dafür ist die Präsenz der Felskante ein Gewinn für die Raumstimmung in der Halle.

Als ordnendes Element wirkt die Natursteinmauer im Süden, die in einem Rhythmus von sechs Metern jeweils durch einen Mauerpfeiler verstärkt ist. Das Baumaterial stammt von einem abgebrochenen Gasthaus im Dorf. Zwischen den Pfeilern ziehen sich Steinbänke, die bei Sonnenschein zum Sitzen einladen. Die Krone der Mauer onduliert nun zwei Wellen lang in einer Sinusschwingung, deren Amplitude unmerklich abnimmt. Genau genommen, verebbt sie im Schnittpunkt der nach etwa 150 Metern sich schneidenden Geraden der beiden Grenzlinien. Doch davon merkt der Besucher im Innenraum wenig, meint er doch, in den um einige Grade vom orthogonalen Netz abweichenden Ecken rechte Winkel zu erkennen; und der unmerklich zusammenlaufende Raum wirkt vom Eingang her kürzer, in der Gegenrichtung länger. In Hinblick auf den imaginären Schnittpunkt irgendwo am Ende der Kellerzeile denkt man an den tröstenden Vers Christian Morgensterns, dass sich selbst Parallelen in der Unendlichkeit treffen werden.

Friedrich Kurrent hat die Illusion freilich noch etwas zugespitzt, indem auch der Boden leicht ansteigt, so dass die Stirnseiten des südlichen Hallenschiffs vorn und hinten ähnliche Proportionen aufweisen und man ohne Grundriss zuerst einmal gar nichts merkt von dieser besonderen räumlichen Spannung, aber nichtsdestotrotz davon gefangen genommen wird. Das nördliche Hallenschiff verengt sich nun im Rhythmus der Stützen, weil die Felskante sich breit macht und am Ende auch in den Raum drängt.

Obwohl man beim Eingangstor zu ebener Erde den Raum betreten hat, kommt nun ein Gefühl des Sich-unter-der-Erde-Befindens auf, eine spezifische Geborgenheit, wie sie höhlenartigen Räumen eigen ist. Eine Pforte führt zuhinterst wieder ins Freie, man findet sich in einem allseitig mehr als kopfhoch eingefassten Außenraum wieder: auf der Südseite begrenzt durch die weitergeführte Natursteinmauer, im Norden umfasst von der ausbuchtenden Felskante. Den Raum beherrscht eine blockhafte Skulptur aus römischem Travertin. Drei Stufen in einem schmalen Durchlass leiten über zum Freiraum hinter der Ausstellungshalle, wo jene Reliefmauer steht, die Maria Biljan-Bilger für das längst abgebrochene Ausflugsrestaurant „Bellevue“ (1959 bis 1963) der Architekten Traude und Wolfgang Windbrechtinger schuf, sowie Kinderhäuser aus Steinzeug aus dem Kinderbad Hietzing, die in dieser Umgebung gut zur Geltung kommen.

Aber das Glanzstück des die Sachzwänge subtil überspielenden Entwurfs für das Bauwerk ist die Hallendecke. Während der Längsträger, der die beiden ungleichen Hallenschiffe zoniert, auf drei Rundstützen aus Stahlbeton horizontal verläuft, hebt und senkt sich die Decke an den Seiten im Rhythmus von Sinuskurven, so dass sich flache Gewölbe mit gebauchten Flächen abwechseln. Diese wenigen Schwingungen bestimmen den Raum wie die ersten Takte einen nachfolgenden Walzer. Erzeugt werden sie, wie dies bei Regelflächen so üblich ist, durch Geraden, deren Lage durch die gegenläufigen Sinuskurven der Seitenmauerkronen und die Gerade des Hauptträgers in der Mitte vorgegeben werden. Konstruktiv umgesetzt sind sie mit armierten Trägern aus Ziegeln und Beton, wie sie bei Tonhohlkörperdecken verwendet werden. Allerdings sind sie hier fugenlos nebeneinander verlegt, wobei die längstmögliche Spannweite gerade ausreichte. Der Versatz der Träger ergibt ein feines Stufenmuster, das an der Decke aufscheint und verschwindet, entsprechend dem Kurvenschwung der Flächen. Ein armierter Überbeton verbindet die Einzelelemente statisch zur Platte.

Mit dieser Decke gewinnt die Halle jene Besonderheit, die sie zum architektonischen Raum, zur Ausstellungshalle für die Steinzeug-Figuren von Maria Biljan-Bilger werden lässt. Hohes Seitenlicht, das durch breite Öffnungen unter den Wölbungen eindringt, betont deren Plastizität und erweckt sie zum Leben. Vertikale Lamellen aus Stahlblech regeln den Lichteinfall und halten Wind und Wetter ab. Quadratische Ausblicksfenster zielen auf die Felsformationen des verlassenen Steinbruchs und halten die Erinnerung lebendig, wo man sich befindet. Ihre Kraft bezieht die Halle neben der räumlichen Qualität aus dem ,Infinito' des bewusst im Rohbau angehaltenen Bauverlaufs.

Friedrich Kurrent, dem Wenigbauer und wichtigen Lehrer, ist damit ein Hauptwerk gelungen. Und ich wiederhole eine Überlegung zur Ausstellungshalle „La Congiunta“ in Giornico, Schweiz, von Peter Merkli, die er für Werke von Hans Josephson errichtete: „Wie viel Raum braucht ein Kunstwerk? Vielleicht so viel, als es Kraft enthält, dass es Menschen dazu bewegt, diesen Raum zu schaffen.“

Die Ausstellungshalle ist von April bis Oktober samstags und sonntags von 10 bis 12 und 14 bis 18 Uhr geöffnet.

Spectrum, Sa., 2004.09.18



verknüpfte Bauwerke
Maria Biljan-Bilger-Ausstellungshalle und Privathaus

17. Juli 2004Walter Zschokke
Spectrum

Offene Türen aufstoßen

Seit Jahrtausenden ist die Architekturentwicklung ein Open-Source-Projekt. Ein Diskurs, der permanent stattfindet. Nicht zuletzt in Wiener Architekturzeitschriften. Ein Überblick.

Seit Jahrtausenden ist die Architekturentwicklung ein Open-Source-Projekt. Ein Diskurs, der permanent stattfindet. Nicht zuletzt in Wiener Architekturzeitschriften. Ein Überblick.

Unter dem Titel „Ein Kommunismus der Ideen“ plädiert Dennis Kaspari im kürzlich erschienenen „Umbau 21“ dafür, eine Architekturpraxis zu entwickeln, die in Anlehnung an die „Open-Source-Bewegung“ der freien Softwareszene (zum Beispiel Linux), den Architekturdiskurs ebenso offen und für alle zugänglich organisiert. Man müsse nur den Quellcode der jeweiligen Programme der Architekturgenerierung veröffentlichen. Nun, die Türen, die hier aufgestoßen werden sollen, sind weit offen. Mag sein, dass vor lauter Toren die Eintrittsmöglichkeiten übersehen werden. Denn wer sich ein wenig mit Architekturgeschichte befasst hat, wird rasch merken, dass die Architekturentwicklung seit Jahrtausenden ein Open-Source-Projekt ist. Denn selten sind Kunstwerke so öffentlich wie Bauwerke. Sie stehen über Jahrzehnte und Jahrhunderte und geben sogar als Ruinen noch ihre zugrunde liegenden Überlegungen jenen preis, die gelernt haben, sie zu analysieren und im Kontext zu verstehen.

Damit kommen wir zu einem entscheidenden Punkt: Die Architektur ist die Architektur und ein Computerprogramm ist ein Computerprogramm. Was unter Architektur nach heutigem Wissen verstanden werden kann, ist, dass es sich um ein Komplexon aus messbaren und nur gefühlsmäßig erfassbaren Faktoren handelt und dass ihr Gestehungsprozess sich aus strikten Abläufen und unabhängig wirkenden Einflüssen herausbildet. Es liegt ihr nicht ein mechanisches Muster zugrunde, das eindeutige Beziehungen zwischen dem konkreten Objekt und den Bedeutungen und Wirkungen sicherstellen würde; vielmehr kommt es immer wieder zu Mehrdeutigkeiten und interferierenden Überlagerungen, so dass die Interpretation von zahlreichen Faktoren abhängt, angefangen vom kulturellen Kontext bis hin zur Fähigkeit, die Betrachtenden zu analysieren. Bei der strenger und finaler zu strukturierenden Softwareproduktion ist dieser Spielraum viel geringer.

Der Vergleich mit Disziplinen der Massenkultur mag immer wieder anregend sein, doch geht in die Irre, wer, statt bei der Sache selbst zu bleiben, nach den Regeln eines woher auch immer gewählten Erklärungsmusters weiterdenkt. Ob dies nun das Fußballspiel, das Kochen oder etwas anderes sei, jede Disziplin hat je ihre eigenen Regeln, die von jenen der Architektur verschieden sind. Alle vergleichenden Überlegungen müssen weiterhin im innerarchitektonischen Diskurs wurzeln, sonst schaut außer kurzzeitiger Anregung wenig heraus.

Dieser Diskurs findet permanent statt: in nonverbalen Bereichen durch Anschauung und das Errichten von Gebäuden nach den Entwürfen der Architekturpraktiker sowie als planliche Darstellung von Projekten, beispielsweise bei Wettbewerben; auf der sprachlichen Ebene sind es Vorträge und Diskussionen sowie die schriftliche Fassung von Erkenntnissen und Meinungen. Dabei kann es immer wieder zu Dialogen kommen, die über zeitliche Distanzen von wenigen Monaten bis zu Jahrhunderten reichen, deren Medium die Architektur ist, das heißt die Bauwerke selbst.

Über das Medium der Sprache verständigen sich die am Diskurs teilnehmenden Fachleute und interessierten Laien sowie Spezialisten anderer Disziplinen über ihre gegenwärtige Interpretation des betrachteten Gegenstands oder Sachverhalts. Waren es bis ins 18. Jahrhundert vornehmlich Traktate und enzyklopädische Veröffentlichungen, die - neben Vorträgen, die großteils verhallt sind - den stattgehabten Diskurs ausmachten, so treten mit der politischen Liberalisierung im 19. Jahrhundert die Fachzeitschriften auf den Plan, mit denen technische Neuerungen und gestalterische Entwicklungen in den Markt der Ideen eingebracht werden. Diese Tradition hält bis heute an, und so finden wir auch in Wien wieder mehrere diesbezügliche Zeitschriften, wobei unser Interesse diesmal jenen gelten soll, die mit wenig Bildern und viel Text, oftmals wissenschaftsmethodisch gestützt durch Fußnoten, daherkommen. Trotzdem handelt es sich dabei um ein Minderheitenprogramm, aber um eines für qualifizierte Minderheiten, was sich letztlich überproportional auswirkt. - Beginnen wir mit der älteren, der bereits erwähnten Zeitschrift „UmBau“, die seit 1979, zwar nicht periodisch, aber immer wieder als mehr oder weniger starke Broschüre im A5-Format erscheint und nun bei der 21. Nummer angelangt ist. Herausgeberin ist die Österreichische Gesellschaft für Architektur, die seit Jahrzehnten mit Vortrags- und Besichtigungsprogrammen in Wien präsent ist. Ab der Nummer 19 wurde das Institut für Architekturtheorie der TU Wien, Leitung Kari Jormakka, dazugeholt, was sich sowohl inhaltlich als auch auf die Frequenz des Erscheinens positiv auswirkte. Dieser wichtige Bezug zur universitären Ebene, der früher zwar informell immer irgendwie bestanden hatte, erhöhte das Gewicht der Publikation im doppelten Sinn.

Das Themenheft „Lernen von Calvin Klein“ versammelt Aufsätze und Gespräche mit Fachleuten zur Frage, inwieweit die Mode, deren implizite Muster und ihr beschleunigter Wechsel sowie die Techniken und der absolute Zwang zum Verkauf die Architekturentwicklung und das Schaffen der Architektinnen und Architekten beeinflussen. Nicht immer wird man bereit sein, den Ausführungen widerspruchslos zu folgen, aber das ist der Sinn derartiger Lektüre. Schwieriger wird es bloß dann, wenn nach einer langen Folge von Zitaten nicht klar wird, worauf der Autor eigentlich hinaus will. Doch der nächste „Call for Papers“ zum Thema „Wettbewerb!“ ist bereits erfolgt, für neuen Diskussionsstoff wird gesorgt.

Seit dem Jahr 2000 erscheint die vom Architekturzentrum Wien herausgegebene Publikation „Hintergrund“, ursprünglich als Heft im A5-Format, seit der Nummer 20 als Taschenbuch, wenig größer als die bekannt günstigen Reclam-Editionen. Thematisch begleitet „Hintergrund“ das Ausstellungs-, Kongress- und Vermittlungsprogramm in freier Weise. Die jüngste, die Nummer 24, befasst sich unter dem Stichwort „Kiosk“ mit dem Resultat eines diesbezüglichen Wettbewerbs für den Ticketservice „Österreich Ticket“ sowie getreu dem Namen der Publikation mit literarischen Texten, in denen das alltagskulturelle Geschehen in den und um die wackeligen Hütten am Straßenrand mehr oder weniger hintergründig aufscheint.

Etwa gleich alt ist das A4-große Heft „dérive“, im Untertitel als Zeitschrift für Stadtforschung präzisiert, deren 15. Heft den Schwerpunkt „Frauenöffentlichkeiten“ behandelt. Das Schwergewicht liegt hier auf soziokulturellen Themen, die für eine erneuernde Programmierung von Städtebau und Architektur Diskussionsstoff bereitstellen. Engagiert setzen sich die Schreibenden für soziale Randgruppen ein, doch verschwimmt dabei ein wenig der Unterschied zwischen asiatischer, amerikanischer und europäischer Stadt. Allen drei Publikationen ist gemeinsam, dass sie sich intensiver mit der Bedeutung stiftenden kulturellen Umgebung befassen als mit innerarchitektonischen Themen, mit denen der „Quellcode“ zu den nachhaltigeren Beweggründen von Architektur zu knacken wäre. Aber das wäre für viele weniger unterhaltsam.

Spectrum, Sa., 2004.07.17

26. Juni 2004Walter Zschokke
Spectrum

In der Oase des Prinzen

Die Gezeiten städtebaulicher Entwicklung haben vom Garten des Kriegsherrn und Pflanzenfreunds Prinz Eugen wenig übrig gelassen. Jetzt wurde er denkmalpflegerisch wiederbelebt, nach Konzepten von Maria Auböck.

Die Gezeiten städtebaulicher Entwicklung haben vom Garten des Kriegsherrn und Pflanzenfreunds Prinz Eugen wenig übrig gelassen. Jetzt wurde er denkmalpflegerisch wiederbelebt, nach Konzepten von Maria Auböck.

Schon Mitte 18. Jahrhundert, nach Übernahme der Schlossanlage durch Kaiserin Maria Theresia, wurde der gärtnerische Aufwand im Belvederegarten stark reduziert, denn Prinz Eugen, der erfolgreiche Kriegsherr, war als Pflanzenliebhaber eine Ausnahmefigur und hatte in seinen letzten 15 Lebensjahren auf Gestaltung und Pflege seiner Gärten viel Geld und auch Zeit verwendet. Bereits 1779 wurden die Anlagen dem Publikum geöffnet, sodass Wienerinnen und Wiener sowie erste Touristen den Garten genießen durften. Im 19. Jahrhundert kam die Anlage auch technisch immer mehr in die Jahre; erst unter Franz Ferdinand, der im Schloss Wohnsitz nahm, gab es einen gestalterischen Impuls - der Zeit entsprechend im Jugendstil.

Doch in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen wird von Heuernte im Gartenparterre berichtet. Kriegsschäden kamen dazu, und dem ahistorischen Funktionalismus der Nachkriegszeit ging das Gefühl für barocke Gärten völlig ab. Doch seither dehnten sich die kunsthistorischen Forschungen auch auf Anlagen gärtnerischer und landschaftlicher Gestaltung aus, und mit dem vertieften Wissen wuchs zugleich die Begeisterung der spezialisierten Fachleute.

Zu diesen zählt auch die Gartenarchitektin Maria Auböck, die mit dem Konzept zur Restaurierung des Gartenkomplexes beim Belvedere beauftragt wurde, das 1991 vorlag. Als wichtige Quelle diente das von Prinz Eugen in Auftrag gegebene Stichwerk Salomon Kleiners. Mit vergleichsweise wenig zusätzlichen öffentlichen Geldern bewerkstelligte die Bundesgartenverwaltung unter dem örtlichen Leiter Willibald Ludwig in den folgenden Jahren eine künstliche Bewässerung, die Sicherung der Beetkanten und die Anlage von Ziegelbruch- und Kiesornamenten; dazu kamen der Tausch der überalterten Hecken aus Feldahorn sowie die Sommerpflanzungen nach dem Konzept des schottischen Gartengestalters Mark Laird. Der World Monuments Fund aus New York initiierte mit einer großen Spende - die von der Burghauptmannschaft kräftig aufgestockt wurde - den Bau einer Zisterne und die Sanierung der Rampen. Und der Verein der Wiener Museumsfreunde ließ die Sphingen restaurieren.

Archäologische Grabungen lieferten die Angaben zur Wiederherstellung des Senkgartens - man beliebte dort jeweils Crocket zu spielen - vor der ehemaligen Voliere im Kammergarten, dem besonders reich gestalteten Teil vor den Privatgemächern des Prinzen.

Wenn man das Wienpanorama des Bernardo Bellotto, das in der Weltkulturerbediskussion unter dem Stichwort „Canaletto-Blick“ immer wieder als Maßstab zitiert wurde, zur Hand nimmt und dabei berücksichtigt, dass seither die Ringstraße entstand und überhaupt alle Häuser höher geworden sind, fällt dennoch auf, dass der Garten Prinz Eugens einen wesentlichen Teil des Vordergrundes einnimmt. Abgesehen von der günstigen Lage für einen Blick auf die Stadt, dürfte auch der berühmte Garten die Standortwahl für die Camera obscura des Künstlers beeinflusst haben. Jedenfalls ist er sehr detailliert dargestellt, mitsamt pflegenden Gärtnergesellen und zahlreichen Besuchern, sodass auch dieses Bild als Quelle für die Restaurierung herbeigezogen wurde.

Wenn schon Weltkulturerbe, dann gehört der Belvedere-Garten dazu: ehedem ein sanft nach Norden abfallender Weinberg, ließ der Erbauer das Terrain kräftig umgestalten. Zwischen den Hauptbauwerken des Unteren und des Oberen Belvedere ist der in drei Teile gegliederte Hauptgarten aufgespannt. Im unteren, ebenen Teil bilden Bosketten aus exakt geformten Hecken und hochstämmigen Kugelbäumen abwechslungsreiche, nach oben offene Raumgebilde mit Durchblicken und ruhigen, geschützten Bereichen. Eine Querachse mit ehemals zwei Teichen - heute Senkgärten - weitet den Raum, während die Mittelachse, begleitet von weißen, aus den Hecken tretenden Skulpturen und flankiert von einem Spalier aus Eibenpyramiden und -kegeln in Menschengröße, auf einen leider noch trockenen Brunnen zustrebt, der in die akzentuierte Geländestufe zum oberen Teil eingebaut ist. An der Westseite des unteren Teils schließt der Kammergarten an, in dem die farbenprächtige barocke Bepflanzungsweise bereits wieder zu bewundern ist.

Vor der Geländestufe verschwindet das obere Belvedere aus dem Blickfeld, der Flaneur ist gehalten, nach rechts oder links auszuweichen und über die dort befindlichen Stufen, zwischen denen ornamentgeschmückte Rampen hochführen, die obere Ebene zu erreichen, wo das Schloss wieder zu sehen ist. Die stetig ansteigende Fläche bildet das Gartenparterre, dessen mit Kies und Ziegelsplit im Rasen angelegte Ornamente dafür vorgesehen waren, von den oberen Räumen des Schlosses aus gesehen, am wirkungsvollsten zur Geltung zu kommen - wie dies durch Bernardo Bellotto und andere nachvollzogen wurde.

Im vorderen, dem Ausblick entfernteren Teil schneidet eine horizontale Fläche in die schiefe Ebene: das versenkte Parterre. Die seitlich begleitenden Rasenflächen werden immer steiler, im hinteren Abschluss kommt es zu einer zweiten künstlichen Geländestufe, deren Mittelachse von einer Kaskade besetzt gehalten wird. An dieser Stelle sind beide Schlossteile den Blicken entzogen, was natürlich umgekehrt auch gilt. Dieser Teil des Gartens war - und ist heute wieder - mit stark farbigen Sommerblumen bepflanzt, die drei Mal gewechselt werden, damit die sinnenfreudige Pracht länger anhält.

Vor der Ostseite des Oberen Belvedere liegt die radial gegliederte ehemalige Menagerie, während südseitig der Vorpark und der Teichhof bis zum Linienwall, dem heutigen Gürtel, reichten. Hier ist vorgesehen, die Bestandsreste aus der Zeit Franz Ferdinands zu ergänzen. Auch würde es nicht schaden, die Asphaltflächen zu reduzieren. Es wird kaum verwundern, dass die denkmalpflegerische Erneuerung und die jährliche Betreuung aufwendig sind. Die Umwegrentabilität für den Wientourismus sollte jedoch nicht unterschätzt werden, ebenso wenig die Bedeutung als Grünraum für die benachbarten Wohnquartiere. Mit der Wiederherstellung wachsen Verständnis und Stolz in der Stadtbevölkerung, mithin die Identifikation mit dem kulturellen Erbe. Man wird Gäste hinführen und als Wissensbasis mit kundigen Erläuterungen das vor kurzem von Maria Auböck herausgegebenes Buch zur Hand nehmen.

Der von Maria Auböck herausgegebene Band „Das Belvedere“ (Fotos: Ingrid Gregor) ist bei Holzhausen, Wien, erschienen.

Spectrum, Sa., 2004.06.26



verknüpfte Bauwerke
Belvederegärten - Denkmalpflegerische Wiederherstellung



verknüpfte Publikationen
Das Belvedere - Der Garten des Prinzen Eugen in Wien

29. Mai 2004Walter Zschokke
Spectrum

Mit Linie 11 zu No. 250

Da liegen nicht nur zwei Studienmodelle für einen Baukörper, sondern zwei Dutzend, nicht ein paar Materialstudien, sondern unzählige: Mit einer Ausstellung bei Basel bieten Herzog & de Meuron Einblick in ihren kreativen Kosmos.

Da liegen nicht nur zwei Studienmodelle für einen Baukörper, sondern zwei Dutzend, nicht ein paar Materialstudien, sondern unzählige: Mit einer Ausstellung bei Basel bieten Herzog & de Meuron Einblick in ihren kreativen Kosmos.

Basel, Stadt am Dreiländereck mit Deutschland und Frankreich, wo der Rhein sich nach Norden wendet. Hier fanden Wissenschaft und Industrie, Kunst und Kultur immer wieder guten Nährboden. Ein gediegenes Bürgertum stellte dazu oft die Mittel bereit - nicht nur zur Traditionspflege, sondern auch explizit zur Förderung des Neuen.

So gründete Maja Hoffmann-Stehlin 1933 zum Andenken an ihren tödlich verunfallten Gatten die Emanuel-Hoffmann-Stiftung. Deren Zweck ist das Fördern und Sammeln von Kunstwerken, „die sich neuer, in die Zukunft weisender, von der jeweiligen Gegenwart noch nicht verstandener Ausdrucksmittel bedienen“, um sie „durch dauernde Ausstellung öffentlich sichtbar“ zu machen, wie die Stiftungsurkunde festhält. Seit 1995 leiten die Enkelinnen, Maja Oeri und Maja Hoffmann, den Stiftungsrat. Die Sammlung ist über die Jahrzehnte auf mehrere hundert Werke angewachsen, von denen ein großer Teil nicht besichtigt werden konnte, da sie verpackt im Kunstdepot lagerten. Um sowohl der Forschung als auch für konservatorisch heikle Werke den Restaurierenden permanenten Zugang zu gewähren, musste Abhilfe geschaffen werden. Dies erreichte die Stiftungspräsidentin Maja Oeri mit der innovativen Idee eines „Schaulagers“ - weder Museum noch Warenlager -, das als neuer Typus seit einem Jahr die dichte Basler Kulturlandschaft bereichert.

Das Areal fand man am Stadtrand, nördlich von Münchenstein, im auslaufenden Tal der dem Rhein zustrebenden Birs. Aber nicht landschaftliche Reize bestimmen die Nachbarschaft, sondern eine vom Strukturwandel erfasste Industrie- und Gewerbezone, deren urbanisierende Transformation gerade vorangetrieben wird. Zur Linken das regionale Vertriebszentrum eines Großverteilers, dessen Spiralrampe als Zufahrt zu den Dachparkplätzen zeichenhaft ins Blickfeld gerückt ist; zur Rechten und gegenüber ein paar Ein- und Mehrfamilienhäuser, die in dieser Umgebung zwar ungewohnt scheinen, in Wirklichkeit aber den Rand der vom Wohnen dominierten Vororte bilden. Zwei Größenordnungen treffen hier aufeinander, zugleich aber zwei gesellschaftliche Konzepte: die ausgreifende, sich wandelnde vielschichtige Stadt und das davon nicht unbetroffene, aber weniger differenzierte Land.

Die Straßenbahnlinie 11, vom Basler Hauptbahnhof entlang der südöstlichen Ausfallstraße nach Reinach und Aesch führend, hält direkt vor dem Neubau, für den die Stiftung nach einer Evaluation das Architekturbüro Herzog & de Meuron verpflichtete. Das Projektteam umfasst 15 Namen, neben Jacques Herzog und Pierre de Meuron auch Partner Harry Gugger, der, bereits für die Tate Modern in London verantwortlich, auch hier die architektonische Leitung innehatte.

Das unter No. 169 im Verzeichnis des Büros geführte Bauwerk ist zuerst einmal schlicht groß. Der über einem unregelmäßigen Fünfeck mit zwei rechten Winkeln errichtete blockhafte Baukörper ragt gut 22 Meter in die Höhe, die Länge der geraden Rückseite misst über 74 Meter. Die Vorderseite stößt im stumpfen Winkel vor, ihre beiden Begrenzungslinien folgen den Richtungen der davor liegenden Straßen und ordnen sich damit den lokalen städtebaulichen Gegebenheiten unter. Während vier der fünf Seiten mehrheitlich geschlossen sind und eine körnige Oberfläche aufweisen, die aussieht wie erdig brauner Konglomeratfelsen - was durch Abschlagen der äußersten, von der Schalung glatten Betonhaut noch vor dem Aushärten erreicht wurde -, ist die fünfte, die Eingangsseite, konkav eingezogen und rein weiß.

Drei glatte Flächen entfalten sich zu einem monumentalen Triptychon, eine vierte überspannt den angedeuteten cour d'honneur und läuft vorn in einer messerscharfen Kante aus. Die seitlichen Flächen tragen riesige LED-Screens, die obere, schirmende, wirkt im Schatten etwas dunkler, die mittlere aber ist leer weiß und wird von den anderen drei gerahmt wie eine Kinoleinwand. Etwas vorgeschoben steht quer ein kleines Haus, monolithisch aus dem gleichen konglomerathaften Beton gegossen. Es wirkt wie ein Pförtnerhaus und dient auch als Ein- beziehungsweise Durchgang. Seine wahre Größe schrumpft vor dem mächtigen Dahinter zu knuspriger Winzigkeit, die beim Durchschreiten dann wieder zu ihren eigentlichen Dimensionen anwächst. Im Vorhof angelangt, bemerkt man den verglasten Spalt zwischen dem leicht abfallenden Asphaltboden und den hohen weißen Flächen, durch den man wie unter hochgedrückter Zeltleinwand gleichsam beiläufig - oder wie ein Lausbub ins Zirkuszelt - ins Gebäude gelangt.

Drinnen wird man von einem aus dem Untergeschoß bis unters Dach reichenden Vertikalraum empfangen - dahinter liegen die Lagergeschoße sowie Manipulationsflächen, ein Auditorium und einige Büros. Von der Brüstung aus schaut man Überblick gewinnend ins Untergeschoß auf die Fläche für Sonderausstellungen, wo derzeit das Projekt No. 250 von Herzog & de Meuron ausgebreitet ist, eine umfangreiche Ausstellung, welche die kreativen Findungsprozesse für eine große Zahl ihrer Entwürfe dokumentiert, darunter auch das „Schaulager“ selbst, aber ebenso die geistige und wahrnehmende Vorarbeit für ihre Projekte in China.

Mit dieser Ausstellung gewähren die Architekten einen ungewohnt tiefen Einblick in ihre Entwurfsmethodik. Diese beginnt mit einer Offenheit für sinnliche Impressionen jeglicher Art, die nicht bloß visueller, sondern ebenso daktiler Art sind. Dazu gesellen sich prozesshafte Erfahrungen aus der Natur wie dem Handwerk, der Kultur wie der Wissenschaft. Alles wird als anregend empfunden, alles lässt sich irgendwie verwerten und transformieren. Damit handelt es sich nicht nur um eine Wunderkammer barocker Sammler, sondern um ein riesiges Zwischenlager von Formen, Eindrücken und Techniken, aus denen die immer wieder überraschenden Wendungen im Schaffen dieser Architekten alimentiert werden.

Dieser Prozess ist nicht linear, stetig, sondern sprunghaft spielerisch, oft spontan, jedoch immer insistierend. Da liegen nicht nur zwei Studienmodelle für einen Baukörper, sondern zwei Dutzend; nicht ein paar Materialstudien, sondern unzählige. Vieles wird eins zu eins ausprobiert, wie etwa umfangreiche Studien der Oberflächenbildung mit Ziegelsteinen in China zeigen. Und immer wieder ist es das scheinbar Unsinnige, Unkorrekte, das gegen alle Erfahrung ausprobiert und durch hartnäckiges Forschen praktikabel und technisch sicher gemacht wird.

Dass aus dieser Arbeitsmethode kein formaler Stil resultiert, wird nicht verwundern, denn die forschende Neugier verändert ständig das Produkt. Und weil sie nicht dem ersten günstigen Einfall folgen, sondern weiter pröbeln und spielerisch nachfragen, erreichen sie mit ihren Entwürfen immer wieder eine stupende Qualität. Was uns Herzog & de Meuron hier vorführen, ist ein ungeduldiges, aber hartnäckiges Forschen auf dem Feld des Architektonischen, eine gelebte Kritik am eiligen Zielen oder Grapschen nach dem sofortigen Effekt. Kaum geeignet zum oberflächlichen Abkupfern. [*]

[ Die Ausstellung „Herzog & de Meuron. No. 250“ ist noch bis 12. September im „Schaulager“, Münchenstein bei Basel, zu sehen. Näheres unter www.schaulager.org. ]

Spectrum, Sa., 2004.05.29

30. April 2004Walter Zschokke
Spectrum

Mehr nicht!

Karge Materialien, harte Kanten und spröde Details statt pathetischer Überhöhung: das Besucherzentrum vom Team MSP-H neben dem Konzentrationslager Mauthausen.

Karge Materialien, harte Kanten und spröde Details statt pathetischer Überhöhung: das Besucherzentrum vom Team MSP-H neben dem Konzentrationslager Mauthausen.

Mauthausen war als vorerst einziges Konzentrationslager mit Stufe III klassifiziert, wo mit härtesten Haftbedingungen, durch Unterernährung, Überarbeitung, Demütigung, Psychoterror, durch Prügel, Folter, Erschießen und in der Gaskammer die eingelieferten Menschen in den Tod getrieben oder geradewegs ermordet wurden. Bis zum Frühjahr 1943 betrug die mittlere Überlebensdauer eines Häftlings maximal sechs Monate, danach, weil die SS sie in ihren Rüstungsbetrieben benötigte, etwa neun bis zwölf Monate, ab Winter 1944/45 jedoch nur mehr fünf Monate. Von den über 200.000 Menschen, die in Mauthausen und den Außenlagern festgehalten wurden, sind 100.000 getötet worden. Über 50.000 starben allein in den letzten Monaten vor der Befreiung.

Die von gedrungenen Wachttürmen verstärkte Mauer aus Granitblöcken hält breit die flache Hügelkuppe neben dem Steinbruch besetzt. Das neue Besucherzentrum liegt seitlich davor, verschwindet aber in einer Stufe des Terrainverlaufs. Erst von den Parkplätzen her tritt es mit einer schweigenden Betonmauer in Erscheinung, die von zwei gleichwertigen Durchlässen unterbrochen wird. Lose ausgelegte, schwere Steine - sie stammen von der Böschungsmauer, die sich an dieser Stelle befand - schaffen Distanz, zeugen aber unmissverständlich von der menschenschinderischen Arbeit im Steinbruch. Damit sind wir beim Thema.

Es geht um Erinnern, um Gedenken, um Trauer über das, was Menschen von anderen Menschen an diesem Ort angetan wurde. Der Zeitzeugen werden immer weniger, und nachgeborene Generationen müssen sich ihren eigenen Zugang zu historischen Fakten und Geschehnissen suchen und schaffen. Dies geschieht ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des nationalsozialistischen Terrors mit einer deutlichen Zeichensetzung: Innerhalb der aus den Jahren 1938 bis 1945 stammenden Gebäude des Lagers sollen keine Nutzungen verbleiben, die das Authentische des Ortes und seine Bedeutung als Gedenkstätte relativieren. Die Büros der Verwaltung sowie Anlagen für die physischen Bedürfnisse der Besucher, aber auch erstmals Räume zur Vermittlung der Erinnerung galt es in einer angemessenen Anlage zusammenzufassen und außerhalb der Gedenkstätte an leicht erreichbarer Stelle anzuordnen. Die der Enkelgeneration zuzuzählenden Wiener Architekten Herwig Mayer, Christoph Schwarz und Karl Peyrer-Heimstätt wollten architektonisch mit dem Bestehenden in keiner Weise in Beziehung treten. Ihr Konzept einer in die Erde versenkten Anlage will nicht erläuternde Architektur sein. Sie wollten gar „Nichtarchitektur“ schaffen.

Die Grundrissstruktur des neuen Besucherzentrums ist unhierarchisch. Die beiden Durchlässe verlängern sich in den Komplex hinein, der obere bis zu einer Außentreppe, die auf das Feld vor der Lagermauer führt. Der untere mündet in einen kahlen Lichthof. Quer zu den Erschließungsgassen ziehen sich streifenartig Bauvolumen und schmale Höfe, im Inneren des Hauptgebäudes als Querwege unter Oberlichtern akzentuiert. So folgen sich gestaffelt, zuerst direkt an der Mauer, der verglaste Körper von Shop und Besuchererstinformation sowie eine Toilettenanlage; dann eine offene Hofzone; dann der von zwei Querwegen durchzogene Hauptbaukörper des Besucherzentrums und zum Abschluss wieder eine Hofzone. In diesem strukturierten Feld sind im Mittelteil Ausstellungs-, Seminar- und Filmvorführräume angeordnet, im hinteren seitlichen Randbereich das Archiv, die Bibliothek, ein Medien- und ein Meditationsraum. Im vorderen dann ein einfaches Café und die Büros der Verwaltung. Ein Streifen in der Mitte und die Randbereiche sind zweigeschoßig belegt, für den Ausstellungsraum und die Filmvorführräume wird die Gebäudehöhe ausgenützt. Störungen, wie beim Aushub gefundene Kellerräume, werden neutral integriert.

Dass das Bauwerk in die Erde eingesenkt wurde, ist auch im Gebäudeinneren präsent durch Ausblicke in von hohen Betonmauern gefasste Höfe, auf Treppen, die hinauf und hinaus führen, durch die Lichtführung aus über Kopf liegenden, verglasten Oberlichtbändern. Unterstützt wird die räumliche Grunddisposition durch die sparsame Materialisierung in Sichtbeton, geglättetem Betonestrich, Glas, feuerverzinktem Eisen, grau beschichteten Fensterprofilen und Eichenholz für die wenigen Möbel und die Parkettböden in Räumen längeren Aufenthalts.

Nun könnte man einwenden, das sei ein verbreitetes Merkmal zeitgenössischer Architektur. Das stimmt einerseits und andererseits wieder nicht. Die Kargheit, die Orthogonalität, die harten Kanten und spröden Details mögen anderswo auch zu finden sein. Hier im Besucherzentrum der Gedächtnisstätte Mauthausen wird jedoch eine falsch klingende Überhöhung vermieden, auch wenn eine areligiöse Sakralität mitschwingt, was aber den Themen Erinnern und Gedenken an die Opfer entspricht. Mit der zeitgenössischen Architektur wird eine falsche Historisierung vermieden. Zudem bekommt man nie den Eindruck, dass sich hier jemand über eine pathetisch metaphernreiche „Gedenkarchitektur“ profilieren wollte, wie dies in anderen Fällen, ob Mahnmal oder Abdankungshalle, zur Genüge geschehen ist. Eher erscheint das Bauwerk aussageverwandt mit Werken der konkreten Kunst. Die Elemente sind einfach da, vielleicht da und dort einen einzigen, kleinen Schritt über dieses „da sein“ hinaus gestaltet, dass sie so weit dienlich werden wie unbedingt nötig, aber nicht bequem. Mehr nicht. Dieser Versuch, „Nichtarchitektur“ zu schaffen, mündet in ein Bestreben, die Elemente nicht aufzuladen, sondern möglichst bedeutungsleer zu lassen und bloß Räume und Raumkonfigurationen anzubieten, die für Gedanken und Gedenken Platz bieten.

Der längliche Quader für Shop und Erstinformation lehnt sich an die Schildmauer zum Parkplatz an, hofseitig ist er raumhoch verglast, die Einsicht wird durch vertikal dahinter montierte Bretter verwehrt. Hinaus schauend, sieht man etwa so viel wie durch einen Lattenzaun. Der Ausstellungsbereich ist von Betonscheiben eingefasst, jene an der Vorderseite zum Hof ist über dem Boden durch einen Lichtspalt abgesetzt. Auch zur Deckenplatte öffnet sich über die ganze Länge ein Spalt, der über Streiflicht den Raum mild beleuchtet. Der breitere Oberlichtstreifen über dem Querweg trennt den hohen vom niedrigen Ausstellungsbereich. Die Lichtflut lässt etwas aufatmen nach den nicht leicht zu verarbeitenden Inhalten der Ausstellung. Die Filmvorführräume sind als karge Auditorien mit tiefen Stufen gestaltet, die zum Sitzen und Vorbeigehen ausreichen. Oben an der Rückseite öffnen sich Türen zur hinteren, entsprechend höher liegenden Hofzone, die als Pausenfoyer dient.

Fast versteckt im oberen Seitenbereich befindet sich ein kleiner, hoher Meditationsraum. Er öffnet sich blickgeschützt auf eine räumlich gefasste Wasserfläche. Die Sitzbank, gleich gehalten wie die übrigen Sitzmöbel, besteht aus einem länglichen mit Eichenholz furnierten Quader, der von zwei kräftigen Stahlblechen gestützt wird. Bequem sind sie nicht, denn nicht zum Ruhen, zum Denken soll man hier kommen.

Spectrum, Fr., 2004.04.30



verknüpfte Bauwerke
Besucherforum KZ-Gedenkstätte Mauthausen

17. April 2004Walter Zschokke
Spectrum

Endlich Spielraum

Müssen wir als Folge der EU-Erweiterung mit einer Billigkonkurrenz durch die Architekten der Nachbarländer rechnen? Oder gelten Qualität und internationaler Anspruch in diesen Ländern im gleichen Maß wie hierzulande auch?

Müssen wir als Folge der EU-Erweiterung mit einer Billigkonkurrenz durch die Architekten der Nachbarländer rechnen? Oder gelten Qualität und internationaler Anspruch in diesen Ländern im gleichen Maß wie hierzulande auch?

Als die staatliche Topografie der Nachbarländer Österreichs 1990 noch etwas weniger unterteilt war, aber der Eiserne Vorhang bereits gefallen, fragten sich vier neugierige Zeitschriftenmacher in der heute vergriffenen Nummer 2 der �BauArt�, was wohl jetzt mit der Architektur passieren werde, und starteten eine Umschau. Sie hofften, dass nach dem Zusammenbruch der jahrzehntelangen Abschottung im Norden und Osten einem kulturellen Austausch weniger Hindernisse im Wege stehen würden, und befragten Fachleute in der Tschechoslowakei, in Ungarn und Slowenien nach dem Stand in Sachen Architektur. Petr Pelčák, Brünn, Ákos Moravánsky, Budapest, und Andrey Hrausky, Laibach, zeigten die schmalen Strömungen der Veränderung auf, die schon seit einigen Jahren in ihren Ländern im Gange waren. Von 1991 datiert eine Publikation aus der heutigen Slowakei, die einen ähnlichen Überblick bietet.

Trotz der Schwierigkeiten, sich über Zeitschriften und Reisen zu informieren, war in den meisten Fällen ein internationaler Einfluss feststellbar, zugleich spielten jedoch in jedem Land die spezifischen, teils aus den 1930er-Jahren stammenden Architekturtraditionen eine bestimmende Rolle. War es in der Tschechoslowakei die bis 1938 in die Breite entwickelte Moderne, an der man � neben Einflüssen der Postmoderne � Maß nahm, so zog man sich in Ungarn auf eine stark nationalromantisch bestimmte Strömung zurück. Dagegen vermochten die slowenischen Architekten mit Josef Plečnik auf eine traditionale Identifikationsfigur zurückzugreifen, verfügten jedoch mit dessen Schüler und ehemaligen Corbusier-Mitarbeiter Edvard Ravnikar auch über einen qualifizierten Vertreter und Lehrer der Moderne. Nicht zu unterschätzen waren aber die teils noch halb konspirativen Zusammenkünfte junger Architekturfachleute, die in Slowenien sich schon 1982 eine organisatorische Form in der Vereinigung unabhängiger Architekten, DESSA, geben konnten. Die �Piraner Tage der Architektur�, jeweils Anfang November im Adriastädtchen Piran, waren das einzige Architektursymposium im damaligen Jugoslawien, wo Referenten unter anderem aus Österreich, Italien und der Schweiz geholt wurden. Damit gelang es, in der großen Gruppe ein waches Architekturbewusstsein zu schaffen, auch wenn die profunden Kenntnisse internationalen Architekturschaffens die geringen Möglichkeiten der Praxis weit hinter sich ließen.

In Brünn fanden sich Mitte der 1980er- Jahre junge Absolventen der dortigen Technischen Universität zusammen, um ihren Hunger nach architektonischem Wissen sowohl über die eigenen regionalen Wurzeln als auch über das aktuelle internationale Geschehen zu stillen. Wegen der engeren politischen Verhältnisse, die wenig Spielraum ließen, gelang der Schritt zur offiziellen Organisation, die sich nach dem regelmäßigen Ort der Treffen in Prag �Obecní Dům� nannte, erst im Herbst 1989. Seither hat diese Vereinigung jedoch ihre kontinuierlichen Aktivitäten stark weiterentwickelt. Wenn nun eine halbe Generation später immer mal wieder Bauwerke aus der Tschechischen Republik und Slowenien, teils auch aus der Slowakei, in den Fachzeitschriften der westmitteleuropäischen Länder aufscheinen, so steht das mit dieser engagierten architekturkulturpolitischen Vorarbeit in unmittelbarem Zusammenhang. Nachfolgenden jüngeren Studierenden boten sich dadurch Möglichkeiten einer vertieften Bildung, die dann beim Sprung ins Ausland, ob zur Praxis oder zum weiteren Studium, beste Voraussetzungen bildeten. Einige können bereits auf beachtliche Bauten verweisen, für die sie in ihren Ländern auch schon ausgezeichnet wurden.

Natürlich ist es immer ungerecht, einzelne Beispiele stellvertretend für die Leistungen vieler hervorzuheben. Die Auswahl erfolgt daher illustrativ, ist aber eben zwangsläufig etwas zufällig. Das neue Gebäude für die Wirtschaftskammer in Laibach wurde von Jurij Sadar (Jahrgang 1963) und Bostjan Vuga (1966) entworfen und 1999 fertig gestellt. Vor einen achtgeschoßigen Halbtrakt mit klassischen Bürozeilen stellten die Architekten einen unregelmäßig mit mehr Raumhöhe und weniger Geschoßen organisierten Halbtrakt für öffentliche und Veranstaltungsräume. Damit gelang es, dem Bauwerk eine unverkennbare, eigene Fassade zu verleihen, die dennoch die innere Organisation abbildet. Vertikale Raumentwicklungen ziehen sich durch diesen vorderen Bereich, und die von breiten Rahmen gefassten Hauptgeschoße sind sogar leicht gegeneinander verschwenkt. Es handelt sich um ein ausdruckstarkes Bauwerk, das nicht mit teurenMaterialien prunkenmuss.

Anders als früher haben die Architekten heute auch den vollen Zugriff auf die neuesten Technologien, und sie verstehen damit umzugehen. Zugleich agieren sie spielerisch bei der Farbgestaltung. Auch wenn mit dem Bau zum internationalen Standard aufgeschlossen wurde, bleibt die Frage der regionalen Identität nicht unbeantwortet. Das Beispiel zeigt vor allem auch, wie gekonnt jene Gesichtslosigkeit vermieden wurde, die ehemals die staatlichen Wohnsilos ebenso prägte, wie sie heute von rasch hingeklotzten Investorenbauten reproduziert wird.

Die 2001 errichtete Bibliothek der Philosophischen Fakultät an der Masaryk-Universität in Brünn steht in einem Häusergeviert inmitten teils verwilderter Gärten. Ladislav Kuba (1964) und Tomá� Pilař (1965) haben in Brünn und Prag, Letzterer auch in Wien studiert. Der rationale Grundriss koppelt das neue, quadrische Volumen eng an ein bestehendes Institutsgebäude der Blockrandbebauung. Als verbindendes Element dient das großzügige Stiegenhaus, wo in einer weiten, kreisrunden Öffnung die zweiläufige Treppe über einen von den beiden Läufen elegant in Schwebe gehaltenen Absatz nach oben führt. Die nach Osten und Westen geöffneten Längsseiten des anschließenden Bibliotheks- und Lesetrakts werden von einem schleierartig vorgehängten Gitter aus Eichenholzleisten beschattet und tagsüber vor Blicken abgeschirmt. Nachts entsteht natürlich ein Umkehreffekt mit Laternenwirkung. Die Geschoßdifferenzierung wird damit aufgehoben. Der Baukörper erscheint als ein Ganzes, was ihm einen monumentalen Charakter verleiht, der aber wegen der Zartheit der Elemente und der haptischen Qualität des Materials Eichenholz nicht negativ ist. Die betont rationale Architektur des eleganten Bauwerks wurzelt einerseits in der in Tschechien gut vertretenen klassischen Moderne, andererseits mag sie im internationalen Kontext bestens mithalten, auch wenn der Wind der Architekturmoden gerade amDrehen ist.

Damals in der �BauArt� schrieben wir, dass �Ansätze zur Begegnung, die in der Verkleidung eines Entwicklungshelfers oder Therapeuten daherkommen, falsch sind. Eine offene und ehrliche Konkurrenz mit den klassischen Mitteln des Architekten: Projekt und ausgeführtes Bauwerk, verhilft beiden Teilen rascher zu selbständiger Arbeit.� Diesen gedanklichen Ansatz haben nicht wenige Fachleute in Slowenien und Tschechien eingelöst.

Spectrum, Sa., 2004.04.17

03. April 2004Walter Zschokke
Spectrum

Und dann der Aha-Effekt

Was bleibt von einem Bauwerk übrig, wenn sich der mediale Pulverdampf gelichtet hat und die Hofberichterstatter des „Star-Architekten“ abgezogen sind? Oder: Genügt ein Name für ein Urteil?

Was bleibt von einem Bauwerk übrig, wenn sich der mediale Pulverdampf gelichtet hat und die Hofberichterstatter des „Star-Architekten“ abgezogen sind? Oder: Genügt ein Name für ein Urteil?

Die Frage, ob Architektur ein Trägermedium ist, das mit außerarchitektonischen Botschaften aufgeladen werden kann, scheint wieder einmal die Köpfe zu beschäftigen. Denn ein Bauwerk allein, das bloß sich selber ist und darüber hinaus keine Botschaft transportieren will, scheint für den Markt uninteressant, verlangt der Markt doch von der Oberfläche der Waren ausgehende Botschaften. Und, sagen die Werbeberater, je plakativer die Botschaft, desto leichter wird sie verstanden. Bauten wären dann ideale Vehikel zur Verbreitung unterschiedlichster Botschaften, weil sie immer dastehen und ungefragt ihre (Werbe-)Aussage verkünden. Dabei meine ich natürlich nicht die Plakatwände, die an Fassaden angebracht, oder die Reklamebilder, die auf Feuermauern gepinselt werden. Nein, gemeint sind Bedeutungen, die den Bauten auf unterschiedliche Weise zugeschrieben werden.

Da die Zeit immer drängt, wird die Zuschreibung von Bedeutung meist etwas angeschoben, etwa durch Ansage, indem Architekt und Bauherrschaft gewisse leicht erkennbare Elemente benennen und damit Stichworte liefern, die in beflissener medialer Wiederholung den Weg zu den Besuchern des Objekts finden und bei ihnen den Aha-Effekt auslösen: „Aha, ich sehe das flaschengrüne Glas; aha, damit sind Weinflaschen gemeint; jetzt begreife ich diese Architektur.“

Ebenfalls wirksam ist es, einen bekannten Architektennamen, von einem, der schon länger im Geschäft ist, wie einen Schild vor das Gebäude zu stellen, vorzugsweise mit dem Zusatz „Star“. Der Name und die paar Zeichen, die er anbringt, bürgen für ein Wiedererkennen: „Den Namen habe ich schon gehört oder gelesen, der ist (mir) bekannt, dann muss er ein wichtiger Architekt sein, ergo ist auch die Architektur des Gebäudes gut.“ Dass die Namen der sogenannten Stararchitekten dabei verwechselt werden, ist üblich, spielt aber für den gewünschten Effekt keine Rolle. Das Starprinzip enthebt Kritiker, Kollegen und nicht zuletzt Politiker, sich auf die Architektur einlassen zu müssen. Der Name genügt für ein Urteil. Mehr braucht man nicht verstanden zu haben.

Bedeutung lässt sich aber auch durch mediale Aktivitäten zuschreiben. Die Zahl der Lobeshymnen, verfasst durch Journalisten, die vielleicht einen flotten Schreibstil pflegen, aber nicht fähig sind, einen architekturbezogenen Zugang zu suchen und sprachlich wiederzugeben, hat stark zugenommen. Da wird locker behauptet, ohne die Behauptungen am Gegenstand zu belegen. In solchen Beiträgen liest man die haarsträubendsten Metaphern und Maßstabsverirrungen in der Wahl der Vergleiche, denn Vergleichen ist hilfreich, möglichst mit einem Gebäude, dem bereits Bekanntheit und Bedeutung zukommt, auch wenn die Ähnlichkeit dürftig ist und der Vergleich hinkt.

Und Provokation ist immer gut. Sie dient meistens dazu, mit dem Gebäude in die Medien zu kommen und auf diese Weise eine über die Vorbeigehenden hinausreichende Zahl an Menschen anzusprechen und so die gewünschte Bedeutung zu erlangen. Wenn nun Gebäude auf die genannten Arten bedeutend gemacht wurden, sind sie dann zugleich gut? Und wenn Bauwerke wenig bedeuten, sind sie dann zugleich schlecht?

Wie veraltet erscheint daneben die Bedeutungszuweisung durch die Nutzung, die einem Gebäude über die Jahre zuwächst. Aber aufgepasst, es ist dies die stärkste Einschreibung von Bedeutung, die selbst nach einem Wechsel der Nutzung nicht sofort verschwindet. Es hängt mit der langen Lebensdauer von Bauwerken zusammen, dass kurzlebige Bedeutungen an ihnen nicht haften bleiben, sondern im Takt mit den kulturellen Wechselbädern sich verlieren. Je rascher die Metaebene, die man sich als Bezug für die Bedeutungszuschreibung gesucht hat, der Veränderung unterworfen ist, desto eher verliert sich die aufgeklatschte Bedeutung und wird oft genug ins Gegenteil verkehrt.

Sensationen verebben, Modisches wird langweilig, Rekorde werden gebrochen, und wenn den Stars die Hofberichterstatter abhanden kommen, verblasst ihr medialer Ruhm. Ja, und Altes wird auf einmal baufällig und verliert den einstigen Glanz. Nicht bloß war Alt-Wien einmal neu, sondern auch Neu-Wien wird einmal alt aussehen. Das dürfte für nicht wenige kurzzeitig hoch gelobte Bauten eine gefährliche Drohung sein.

Ja gibt es in diesem Jammertal verlorener und vergangener Werte denn gar nichts, was hält? Einen Hort wo man sich beruhigt auf den bei Hans Christian Andersen zu findenden Satz „Vergoldung vergeht, aber Schweinsleder besteht“ („Das alte Haus“) zurückziehen könnte und einfach abwarten, bis Blendwerk und „hot news“ verglüht sind, sich Pulverdampf und künstlicher Nebel gelichtet haben?

Diesen Hort gibt es. Es ist dies die Architektur selbst - sinngemäß „die (bisher geschaffenen) Architekturen“, wie es Aldo Rossi zu formulieren pflegte. Die innerarchitektonischen Bedeutungen sind den Bauwerken eingeschrieben, nicht zugewiesen oder zugeschrieben und auch nicht durch Gebrauch festgelegt. Bauwerke haben den Charakter architektonischer Botschaften, die von Fachleuten auf dem Strom der Geschichte ausgesetzt wurden. Die, weil sie das gebaute Resultat komplex durchdachter architektonischer Konzepte sind, als solche auch nachvollzogen werden können. Architektonische Qualität, Komplexität oder verblüffende Einfachheit, kultureller Kontext, Geschichte und städtebauliche Einbindung, alle diese Komponenten lassen sich in und an einem Bauwerk erkennen und im Vergleich mit anderen Quellen interpretieren. Denn innerarchitektonische Bedeutungen sind die Sache selbst. So wird Architektur zum Medium, ein Bauwerk zum Bedeutungsträger seines ureigensten Charakters.

Diesen Erfahrungs- und Erkenntnisprozess zu durchlaufen verschafft den unmittelbarsten Architekturgenuss. Dazu braucht man nicht einmal Architekt oder Architektin zu sein. Man muss sich bloß einlassen auf das Medium Architektur und die ganzen begleitenden und dem schnellen Effekt nachhechelnden Trittbrettideologien über Bord werfen, da sie nur den Blick verstellen. Es mag helfen, wenn man den Ariadnefaden eines oder einer langjährigen Architekturbetrachtenden aufnimmt, ihnen nachfolgt, und ihre Erkenntniswege nachgeht, um irgendwann eigene Wege suchen zu können.

Das Wichtigste dabei ist Unvoreingenommenheit. Denn jede vorgefasste Meinung, jedes Schon-wissen-Wollen stört den Erkenntnisprozess. Vergessen Sie Stilgeschichte und angelernte Erkennungsmerkmale, die nur dazu dienen, als Erste oder Erster eine kategorielle Zuweisung verlauten zu lassen. Verlegen Sie sich aufs Schauen. Auf ein abwartendes Schauen, das nicht vorschnell wissen will. Ein Bauwerk hat so viele Elemente und Aspekte, dass man lange hinschauen kann, bis man es durchgeschaut hat.

Das will nicht heißen, dass die Entwicklungen der Baustile nicht auch ein Interesse wert wären; aber erst, wenn das absichtslose Schauen erlernt wurde, denn dann erweist sich die Architekturgeschichte als so komplex und differenziert, dass oberflächliche Stil- und Bedeutungszuweisungen nicht mehr interessieren.






Spectrum, Sa., 2004.04.03

06. März 2004Walter Zschokke
Spectrum

Vom Hirn aufs Papier

Mit Skizzen und Entwürfen bespielt das Architekturforum Tirol zum letzten Mal seine alte Heimstätte. Die Versteigerung der Exponate soll das Budget für die Adaptierung des neuen Standorts aufbessern: des Adambräu-Sudhauses von Lois Welzenbacher.

Mit Skizzen und Entwürfen bespielt das Architekturforum Tirol zum letzten Mal seine alte Heimstätte. Die Versteigerung der Exponate soll das Budget für die Adaptierung des neuen Standorts aufbessern: des Adambräu-Sudhauses von Lois Welzenbacher.

Der ersten Verfestigung und Visualisierung einer Entwurfsidee haftet etwas Auratisches an. Das Dokument des geistigen Geburtsvorgangs enthält wie kaum eine andere Darstellung den Wesenskern eines künftigen Bauwerks. Üblicherweise ist das eine Handskizze, doch es kann auch eine Materialkonstellation in Form eines Skizzenmodells sein, und seitdem allgemein am Computer gezeichnet wird, ergeben sich neuartige Visualisierungen dessen, was das Wesen eines Bauwerks ausmacht, in Form von Überlagerungen, unerwarteten Verdichtungen und Datensammlungen. Allen ist gemeinsam, dass eine komplexe und spannungsreiche Beziehung zum späteren Bauwerk existiert, die als Aussage der Wahrnehmung zugänglich ist. Dabei sind solche Darstellungen meist wenig dekorativ im Sinne einer Bildwirkung, sie können es aber durchaus sein, etwa in der Art eines japanischen Schriftzeichens, dessen Bedeutung in der grafischen Reduktion und Konzentration selbst dem zugänglich wird, der der japanischen Sprache sonst nicht kundig ist.

Diese innere Kraft, die als künstlerischer Wert Ideenskizzen - begrifflich weit gefasst - auszeichnet, bildet das Rückgrat der aktuellen Ausstellung „sketches“, die auf einer Initiative von Arno Ritter, dem Leiter des Architekturforums Tirol, basiert. Rund 80 Architektur- und Kunstschaffende waren eingeladen, ein Produkt aus ihrem Atelier, das das Werden einer Entwurfsidee wiedergibt, herzuschenken. Hinter dem Unternehmen „sketches“ steckt die Absicht, im Zuge einer für kommenden 13. März geplanten Versteigerungsaktion die knappe Kasse für den Innenausbau des neuen Hauses aufzubessern. Denn das Architekturforum kann im Herbst in die unteren Geschoße des ehemaligen Sudhauses einziehen, das Lois Welzenbacher 1926/27 für die Adambräu errichtet hat. Es ist dies eine großartige Chance sowohl für das denkmalgeschützte Bauwerk als auch für das Architekturforum und dessen initiativen und integrativen Leiter.

Die Abschiedsausstellung am alten Standort in der Innsbrucker Erlerstraße bildet somit ein mehrdeutiges Bindeglied zum neuen Ort. Ein Großteil der angefragten Fachleute reagierte, und so kamen recht unterschiedliche Werke zusammen - von der klassischen Skizze bis zu Modellen und von Computerdarstellungen bis zum Film. Die Vielfalt wird auf zwei langen Pulten, die Rücken an Rücken im Ausstellungsraum stehen, zusammengefasst. Diese Pulte bestehen aus schräg gestellten Gerüstböcken, die von einer Baufirma gesponsert wurden, auf denen einfache Tischplatten (gesponsert)
aufliegen. Große Glastafeln (gesponsert) beschweren und schützen die Exponate.

Das äußerst einfache System erlaubt auf unkomplizierte Weise die Präsentation von Plänen und Fotografien. Denn es ist nicht erforderlich, das Ausstellen von Architektur-dokumenten immer wieder neu zu erfinden. Das Zusammenführen von Planinhalten und Bildern ist für Betrachtende in der Regel anspruchsvoll genug und muss nicht durch gestalterische Mätzchen erschwert werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn man sich, wie das Architekturforum Tirol, nicht nur an Insider wendet. Die Reihung in alphabetischer Folge gibt eine vordergründige Ordnung vor, aus der sich - zufällig - da und dort hintergründige Konstellationen ergeben, die über das einzelne Objekt hinaus Spannung erzeugen. Dabei wird deutlich, wie die zeichnerische oder darstellerische Qualität zurücktritt vor dem, was ausgedrückt werden wollte. Damit wird auch der Unterschied zu einer Kunstausstellung sichtbar, die sich mit breiteren Fragestellungen befassen kann. Architektur ausstellen heißt in der Regel, Absentes medial zu vermitteln.

Bei der Ideenskizze steht die analoge Verfestigung des Absenten jedoch noch aus. Als Betrachter stehen wir vor dem Vorausgeschauten, das - womöglich vorbewusst - den Weg vom Gehirn über die Hand aufs Papier gefunden hat. Nicht alles erreicht diesen Grad an Subtilität, aber man konstatiert dankbar die klare, der Wahrnehmung nicht entgegen stehende Ausstellungsgestaltung. In einem vergleichbaren, in der Rohbauphase ebenfalls noch skizzenhaften Zustand befindet sich derzeit auch die denkmalpflegerisch sorgsame Transformation des Adambräu-Sudhauses. Friedrich Achleitner hat in einem ausführlichen Gutachten dessen architekturhistorischen und städtebaulichen Wert festgeschrieben. Im vorigen Jahr erfolgte die Unterschutzstellung durch das Bundesdenkmalamt. Nach den Plänen der Architektengemeinschaft Rainer Köberl, Thomas Giner, Erich Wucherer wird das Bauwerk, aus dem die Sudkessel schon früher entfernt worden waren, für die neuen Zwecke nutzbar gemacht.

Dabei erweist sich die räumlich interessante Konstellation in den unteren Geschoßen, wo ein faktischer Raumplan, der sich aus den technischen Notwendigkeiten für das vertikal entwickelte Sudhaus - damals eine Neuheit - quasi von selber ergab, als attraktive Chance für die Gliederung der Publikums- und Ausstellungsräume. Sie können thematisch getrennt oder als Gesamtkomplex bespielt werden. Ihre räumlichen und funktionalen Bezüge lassen sich sowohl trennend als auch verbindend interpretieren. So können mit vergleichsweise wenig Aufwand interessante Ausstellungskonzepte realisiert werden, weil diese Räume eine Vielzahl gestalterischer Antworten provozieren werden. Dabei bleiben die Flächen durchaus bescheiden: Auf den drei räumlich verknüpften Ebenen sind zirka 320 Quadratmeter Ausstellungsfläche vorhanden, und für Lager, Büros und Nebenräume kommen noch 200 dazu.

In den oberen Geschoßen, die großteils von ehemaligen Getreidesilos und Wassertanks beansprucht sind, wird das Archiv für Baukunst - Architektur und Ingenieurbau - der Universität Innsbruck seine neue Heimstatt finden. Was auf den ersten Blick unmöglich erscheinen mag, erweist sich dank des klugen Konzepts der Architekten als Chance: Die Silos werden - angeschnitten und mit Fußböden versehen - zu Archivräumen. Wo früher die umgekehrt pyramidenförmigen Auslässe der Silos mündeten, befindet sich demnächst der Studiensaal, und vielleicht fällt aus den Öffnungen statt Gerste und Weizen bald das Licht auf die Arbeitstische. In den obersten Geschoßen, zugänglich über Treppen, Stiegen und natürlich auch einen Lift, finden sich Räume für Forschung und Verwaltung, die von der städtebaulichen Position und der Höhenlage profitieren, indem sich Ausblicke über die Stadt, an die Talflanken und hinauf zu den Gipfeln der nahen Bergketten bieten, so dass der alpine Raum, dem sich das Institut widmen will, immer präsent sein wird.

Als in den frühen Neunzigerjahren in den Ländern die Architekturinitiativen gegründet wurden, war die Entwicklung nicht überall absehbar. Für Tirol ist es jedenfalls gelungen, in Innsbruck ein Forum für die Sache der Architektur zu schaffen, das geschickt die Bestrebungen bündelt, nicht bloß den Fachleuten eine Diskussionsplattform zu bieten, sondern allgemein Architekturinteressierten, aber auch Schulklassen und ihren Lehrern Zugänge zum Wesen der Baukunst zu öffnen. Dass das im neuen Haus noch viel besser gehen wird, ist keine Frage.

[ Die Ausstellung „sketches - Skizzen zu Architektur und Tirol“ im Architekturforum Tirol (Innsbruck, Erlerstraße 1/1) ist noch bis 12. März zu sehen (Montag bis Freitag 14 bis 19 Uhr). Die Versteigerung der Exponate geht am 13. März im Rahmen einer Finissage ab 17 Uhr über die Bühne. Der Ausrufpreis liegt für alle Exponate bei 100 Euro. ]

Spectrum, Sa., 2004.03.06

07. Februar 2004Walter Zschokke
Spectrum

Nur sparsam salzen!

Architektonisch war sie nur ordentlicher Durchschnitt, aber dennoch so etwas wie ein urbanes Merkobjekt: eine leer stehende Gummifabrik in Wien-Breitensee. Rüdiger Lainer hat sie revitalisiert und ergänzt, ohne dabei den Altbestand zu deklassieren.

Architektonisch war sie nur ordentlicher Durchschnitt, aber dennoch so etwas wie ein urbanes Merkobjekt: eine leer stehende Gummifabrik in Wien-Breitensee. Rüdiger Lainer hat sie revitalisiert und ergänzt, ohne dabei den Altbestand zu deklassieren.

Die Ausfallstraßen nach Westen tangieren und durchstoßen im 14. Wiener Gemeindebezirk auf ihrem Weg zur Stadtgrenze da und dort verbliebene Industriezonen, deren ursprüngliche Nutzung aber oft schon vor Jahren aufgelassen oder verlegt wurde und deren Gebäude, meist nur notdürftig unterhalten, mit Zwischennutzungen belegt sind oder schon länger leer stehen. Obwohl nicht selten dem Verfall nahe, zeugt manch beachtliches Bauwerk vom unternehmerischen Stolz seiner ursprünglichen Bauherrschaft. Bekanntestes Beispiel sind wohl die ehemaligen Zeiss-Werke von Robert Oerley, deren Baukörper deutlich aus der umgebenden Wohnbebauung herausragt und deren Observatoriumskuppel von der Gloriette aus gut zu erkennen ist.

Andere sind im städtebaulichen Gefüge stärker integriert, doch bilden sie wegen der Größenordnung ihrer Bauvolumen eine Ausnahme im Kontext der umgebenden Stadthäuser. Wenn sie sogar eine besondere städtebauliche Stellung einnehmen und von ihren Entwerfern auch darauf hin konzipiert wurden, bilden sie bis heute wichtige Elemente im urbanen Gemenge baulicher Zeichen. Sie setzen sich in der Erinnerung fest und dienen damit der Orientierung. Beispielsweise geben sie Passagieren in der Straßenbahn beiläufig rasch Antwort auf die Frage „Wo bin ich gerade, lohnt es sich, noch eine weitere Seite zu lesen anzufangen, oder muss ich mich zum Aussteigen bereit machen?“.

Diese urbanen Merkobjekte sind wesentlich an der visuellen Qualität des öffentlichen Raums beteiligt und bilden darin eine Art Kontinuum als Knoten in einem großmaschig geknüpften Netz. Zusammen mit anderen sowie mit den ähnlich wichtigen öffentlichen Räumen bestimmen sie den schnell erfassbaren städtebaulichen Grundcharakter eines Quartiers oder Stadtbezirks. Es ist daher durchaus gerechtfertigt, sie unter Denkmalschutz zu stellen.

Ein derartiges Objekt ist mir vor längerem bei gelegentlichen Fahrten durch die Hütteldorfer Straße aufgefallen, und man
wundert sich kaum, dass es selbstverständlich in Friedrich Achleitners zweitem Wiener Band seiner „Österreichischen Architektur im 20. Jahrhundert“ zu finden ist. Es ist die Nummer 130 an der langen Straße. Das Gebäude wurde als Gummifabrik erbaut; seit 1889 war es im Besitz der Semperit, unter deren Regie 1909/10 der Kopfbau, entworfen von Franz Sobotka, am heutigen Lotte-Lenya-Platz als letzter Bauabschnitt entstand. Ab 1926 diente es nur mehr als Magazin, in letzter Zeit stand es leer.

Die vertikal betonten Pfeiler der gemauerten Ziegelfassade entsprechen damaliger Praxis im Industrie- und Warenhausbau. Der Gebäudekopf wurde mit einem kleinen flachen Giebelelement ausgezeichnet. Die Betonrippendecken nach System Hennébique im Inneren sind extrem ausgemagert, und die minimal armierten Pfeiler mussten im Zuge der Sanierung sogar verstärkt werden. Man hatte zur Bauzeit also extrem gespart. Auch die Architektur ist bloß ordentlicher Durchschnitt, jedoch die Größenordnung des Baukörpers und seine Stellung in der Gabelung von Hütteldorfer und Heinrich-Collin-Straße, kurz nach der wichtigen Kreuzung mit Ameisgasse und Leyserstraße, sowie das Vorfeld des Lotte-Lenya-Platzes werteten den Bau städtebaulich so stark auf, dass es richtig war, seine Revitalisierung anzustreben.

Rüdiger Lainer, der mit der erst auf den zweiten Blick anspruchsvollen Aufgabe befasst wurde, sicherte und sanierte behutsam den Altbestand und fügte nordseitig, an der Heinrich-Collin-Straße, einen niedrigeren Baukörper an. Vor allem aber wurde dem Dach ein langes Bauvolumen aus zwei zurückspringenden Geschoßen aufgesetzt. Ohne diese Steigerung des Flächenangebots wäre eine Erhaltung des signifikanten Bauwerks wirtschaftlich kaum tragbar gewesen.

Als Nutzungen sind in den unteren beiden Hauptgeschoßen ein Fitness-Center und darüber Büros untergebracht. Obwohl schon sehr weit draußen gelegen, oder vielleicht gerade deshalb, hat sich im Umfeld der Station Breitenlee der Vorortelinie, der Straßenbahn und der kreuzenden Busstrecke sowie der Ausstrahlung der wenige hundert Meter entfernt vorbei führenden U3 eine gewisse Urbanität aus verbliebenen Resten früherer Zeiten und neuen Initiativen entwickelt. Diese - bescheidene - Zukunftshoffnung bot sich als Überlebenschance für das Gebäude an.

Nun galt es aber die neuen Teile zum alten Baukörper in eine vernünftige, zugleich zurückhaltende Beziehung zu setzen. Dies gelingt, indem den neuen Teilbaukörpern eine Fassade aus reliefierten Aluminiumguss-Elementen vorgeblendet wird. Das mittlere, matte Grau des Aluminiums ist unaufdringlich, das Relief aus Pflanzenmustern lässt ein spiegelndes Glänzen nicht zu, eher schluckt es das Licht. Damit behält die betonte Materialität der Ziegelmauer die Vorherrschaft. Es besteht jedoch ein subtiler Zusammenhang zwischen den beiden Oberflächen, der struktureller Natur ist.

Während die Ziegel lagerhaft gemauert sind, sodass eine Textur aus vielen kleinen langen Rechteckformaten entsteht, sind die Aluminiumguss-Elemente als zirka fünf mal größere Hochformate ähnlicher Proportion mit dünnen Fugen vertikal montiert. Beide weisen eine ihrer Größenordnung entsprechende raue Oberfläche auf. Obwohl einerseits Backstein, andererseits Aluminum als Material vorliegt (wobei das Aluminium aus Erde, aus Bauxit gewonnen wird), gibt es die Strukturverwandtschaften der Oberflächenbeschaffenheit und der Proportion. Damit gelingt es dem Architekten, Alt und Neu erkennbar, doch nicht feindlich nebeneinander zu stellen. Unregelmäßige Rankgerüste auf der Attika des Hauptbaukörpers schaffen zudem eine weiche Übergangszone zum Dachaufbau.

Dieser gefühlvolle Umgang, der das im Detail nicht besonders wertvolle Alte nicht deklassiert, sondern seine vorhandenen Werte zu verstärken weiß, sodass es mit dem zurückhaltend auftretenden Neuen mitzuhalten vermag, verlangt nicht nur von den Entwerfenden, sondern auch von den ausführenden Handwerkern und der Bauleitung ein entsprechendes Bewusstsein. Dabei geht es beispielsweise um das nötige Gespür für einen nicht zu perfekten Fugenmörtel. Ein Zuviel würde sofort lächerlich wirken, und die sorgsam gehütete Aura des Alten wäre zerstört und damit das ganze Bemühen, die prekäre Qualität fast unmerklich anzuheben, um der städtebaulichen Rolle des Gebäudes Genüge zu tun, zum Scheitern verurteilt. Es ist wie beim Salzen eines Gerichts: ein Zuviel lässt sich nicht rückgängig machen. Da nützen all die schönen CAD-Darstellungen nichts: Ohne Erfahrung und Gespür für die realen Materialwirkungen und deren Kombination sowie für eine adäquate Ausführung wird daraus nicht Architektur.

Mit Kostendruck müssen heute fast alle Architekten bewusst umgehen. Dabei aber den Einsatz der Mittel so klug zu steuern, dass die architektonische Wirkung bei der Ausführung nicht auf der Strecke bleibt, gelingt jeweils nur wenigen. An der Hütteldorfer Straße 130 wurde dies in positiver Weise wieder einmal bewiesen.

Spectrum, Sa., 2004.02.07



verknüpfte Bauwerke
Gummifabrik - Umbau

10. Januar 2004Walter Zschokke
Spectrum

Für da hinten in China

Dass europäische „Großarchitekten“ ihre städtebaulich armseligen Plangrafiken nach China verkaufen, ist ärgerlich genug. Dass fachfremde Journalisten sie auch noch euphorisch bejubeln, schlägt dem Fass den Boden aus.

Dass europäische „Großarchitekten“ ihre städtebaulich armseligen Plangrafiken nach China verkaufen, ist ärgerlich genug. Dass fachfremde Journalisten sie auch noch euphorisch bejubeln, schlägt dem Fass den Boden aus.

Eine dicke Haut müsste man haben. Dann würden Jubelartikel wie jener im „Standard“ vom 27. Dezember vorigen Jahres abprallen und ungelesen ins Altpapier wandern. Aber halt! Was da vorgestellt wurde, soll gebaut werden: in China, 60 Kilometer von Shanghai. Ein Kreisring von Büro- und Wohngebäuden umfasst einen See von 2,5 Kilometer Durchmesser. Radiale Autobahnen und ein halber Außenring zerteilen die peripher liegenden Flächen, in denen große Schachbrett-Quartiere, ähnlich römischen Kolonialstädten, isoliert in angedeutete Landschaftsstrukturen gesetzt sind. Zu dem um einige Kilometer hinausgeschobenen Meeresufer werden die Radialen mit Hochhausalleen markiert. Die Gewässer des ehemaligen Marschlandes sollen als Kanäle die Quartiere durchziehen, „die Luft reinigen“, im See münden und danach im Meer. Bei der geringen Fließgeschwindigkeit wird man sich wundern, wie das vor sich gehen soll. Aber bei dem großen Maßstab sind derartige Fragen wahrscheinlich kleinlich.

Luchao Harbour City, wie die Stadt heißen wird, soll bis 2020 für 300.000 Menschen Lebensraum bieten. Innerhalb des Autobahnrings liegen etwa 30 Quadratkilometer Fläche, das ergibt im Schnitt zirka 100 Einwohner pro Hektar, was nicht eben viel ist. Bewegen sollen sie sich per U-Bahn und zu Fuß. Fahrräder als Symbol eines überwundenen Lebensstandards wird es offenbar nicht mehr geben. Wie ein U-BahnBau im Grundwasser bei der relativ geringen Einwohnerdichte ökonomisch argumentiert wird und warum Straßenbahnen nicht das geeignetere Mittel der Wahl wären, wird nicht gesagt.

Das Grundrisskonzept weist von den Radialstraßen ausgehende hierarchische Erschließungen auf. Wenn man ins Nachbarquartier hinüber will, muss man mit dem Auto über den inneren Ring fahren - oder zu Fuß durch die dazwischen liegende Landschaft wandern. Öffentliche Bauten befinden sich vereinzelt in einem 500 Meter breiten, parkartigen Ring, der die Geschäftsstadt umfasst. Arbeitsstätten liegen offensichtlich am weitesten draußen, in ähnlichen Clustern wie die Wohnquartiere, am Außenring. Das gesamte Konzept folgt der überholten, weil zu simplen Trennung der Funktionen in Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Verkehr, wobei letztere durch ein räumlich weites Auseinanderliegen der anderen drei erst recht anschwellen wird.

Was eine Stadt ausmacht: Vernetzung, Überlagerung und kurze Nebenwege für den langsamen Verkehr der Fußgänger und Radfahrer, ist nicht zu erkennen. Weite Zwischenzonen trennen die Quartiere. Werden sie zu Parks, oder dienen sie der Selbstversorgung in Kleingärten? Zu viele Fragen bleiben ungeklärt. Der sogenannte Entwurf erweist sich als plangrafisches Produkt in der bedenklichen Tradition frühneuzeitlicher Idealstädte oder akademistischer Zeichenübungen des 19. Jahrhunderts, überlagert von vulgärfunktionalistischen Stadtutopien letztendlich totalitärer Tendenz. Es sind dies eindimensionale Kopfgeburten, die einer ernsthaften Kritik nie standhielten, deren Autoren das Wesen des Urbanen nicht verstanden haben oder eben ganz andere Ziele verfolgten, etwa fortifikatorische, diktatorische oder die einer plumpen Funktionalisierung im Sinne simplifizierender Auslegung der Theorien von F. W. Taylor und Henry Ford. Dass beispielsweise die Wind- und Himmelsrichtungen für die Lage der Schachbrettquartiere egal sind, überrascht daher nicht. Es gäbe wohl nur wenige Universitätsinstitute für Städtebau in Europa, die auf ein solches Projekt positiv reagieren würden. Warum verkauft man dann diesen Ladenhüter nach China?

Aber das alles kümmert den „Großarchitekten“ Meinhard von Gerkan mit seinen über 300 Mitarbeitern wenig.
Für ihn ist alles einfach: Den chinesischen Auftraggebern liefert er das vermeintlich poetische Bild eines Tropfens, der ins Wasser fällt und konzentrische Kreise erzeugt. Wieder einmal wird uns eine falsche Metapher aufgetischt, die weder im Maßstab noch inhaltlich stimmt, aber sie lässt sich wunderbar raunend erzählen, und die Umstehenden werden mit den Köpfen nicken. Auf dem Modell in Tischgröße können sie es sich vorstellen, an den wirklichen Maßstab denken sie dabei nicht. Weiters suggeriert die Metapher einen Ausbreitungsprozess, der im Konzept nicht enthalten ist. Aber dafür war das Bild auch nicht gedacht. Es dient bloß als PR-Gag. Damit erweist sich die Planung für Luchao Harbour City als eine Wiederholung des uralten kolonialen „Tauschhandels“: Glasperlen für Elfenbein. Für die in Euro gezahlten Honorare erhalten die Auftraggeber drittklassige, formalistische Stadtgrundrisse, die den Verfassern in Europa zurückgewiesen oder im ersten Rundgang eines korrekt jurierten Wettbewerbs aus der Diskussion fliegen würden.

Mit verbalen Beschwörungen - „Luchao ist keine Autostadt, sie ist eine Menschenstadt“ - wird entgegen den langen Wegen von „Verkehrsberuhigung“ gefaselt. Oder: „Ich will, dass sich die Leute wohlfühlen“ - dann hätten der „Großarchitekt“ und seine Mitarbeiter entsprechende planerische Maßnahmen setzen müssen. „Identität“ will er schaffen - mit identischen Schachbrett-Quartieren von jeweils 13.000 Einwohnern. Aber Identitätsbildung beschränkt sich nicht auf formalistische Bilder, sondern ist ein gesellschaftlicher Vorgang. Die europäischen Städte gewannen ihre Identität unabhängig von ihrer Einwohnerzahl unter anderem dank der Selbstbestimmung der Bürger. Die Bürger ehemaliger Residenzstädte konnten erst nach dem Abdanken der absolut Herrschenden deren historische Bauwerke für die Stärkung ihrer Identität nutzbar machen.

Damit kommen wir zu einem weiteren ärgerlichen Punkt des PR-Artikels über die Großtaten des Hamburger Großbüros. Der Autor, Christian Sywottek, hat sich in seiner Ausbildung weder mit Architektur noch mit Städtebau eingehend befasst. Sein Fach ist vielmehr die flotte Schreibe. Da finden sich Sätze wie: „Jetzt gibt es Luchao. Im brodelnden China, dem einzigen Land, wo derartige Großprojekte eine Chance haben.“ Ohne dass nach dem Warum gefragt wird. Oder ein unkritisches Weitertragen von Aussagen, wenn der Planer stolz verkündet: „Die Chinesen, die haben es mehr mit dem metaphorischen Denken. Sie denken in Symbolen und auch mal um die Ecke.“ Das verweist auf eine zumindest überheblich paternalistische, wenn nicht gar neokolonialistische Haltung, die sich von einem partnerschaftlichen Austausch weit entfernt hat. Dies in Wien, der Stadt der Ringstraße, Camillo Sittes, Otto Wagners und seiner Schüler und so weiter lesen zu müssen schmerzt. Und man wundert sich wenig, dieselben Textbausteine desselben Autors, im „Du“ Nr. 742 von Dezember 2003 („Volles Risiko. Architektur als Abenteuer“), moderat redigiert, zu lesen. Ja, wenn die Lotsen und Steuermänner der Medien unachtsam sind, kann es empfindlich krachen.

Paradoxerweise darf man sich mit ähnlichen Argumenten - bloß anders interpretiert - trösten, mit denen sich der „Großarchitekt“ schon jetzt aus der Verantwortung schleicht: „Hoffentlich kommen nun nicht noch irgendwelche modische Angeber zum Zuge, die nur ordentlich einen raushängen lassen wollen.“ Wer vitale Städte kennt, weiß, dass deren Leben nach spätestens 200 Jahren jedes auch noch so verkorkste Layout zu überwinden vermochte. Dafür haben „die Chinesen“ sowohl Zeit als auch die Geduld.

Spectrum, Sa., 2004.01.10

15. November 2003Walter Zschokke
Spectrum

Über den Raum stolpern

Nicht nur Texte über Bauwerke, auch Bauwerke selbst lassen eines zusehends vermissen: „das Architektonische“. Die Gründe? Populistische Anbiederung und die Trennung von Entwurf und Ausführung. Eine Protestnote.

Nicht nur Texte über Bauwerke, auch Bauwerke selbst lassen eines zusehends vermissen: „das Architektonische“. Die Gründe? Populistische Anbiederung und die Trennung von Entwurf und Ausführung. Eine Protestnote.

Eigenartig: Je mehr über Architektur geredet und publiziert wird, desto weniger findet sich vom Wesen dieses Gegenstandes - nennen wir es vorläufig das Architektonische - darin wieder. Dieses Komplexon aus Konzept, Raum, Konstruktion, Material, Form, Gebrauch und Ökonomie wird einem Bauwerk im Verlauf der entwerferischen
Arbeit des Architekten sowie deren Umsetzung eingeschrieben. Bei einer Betrachtung oder sorgfältigen Analyse kann dies auch wieder erkannt und benannt werden, und das ist dann auch die bewusste Form des Genießens eines Gebäudes.

Im Bestreben, Aufmerksamkeit und publizistischen Effekt zu ergrapschen, werden viele Bauten auf eine einzige formale
Dimension hin getrimmt. Das ist kurze Zeit lustig, für die folgende, lange Stehzeit reicht es jedoch nur mehr zu einem müden Lächeln, weil die vordergründige Absicht in der Summe dieser Bauten so offensichtlich wird.

Nun ist Architektur eine dreidimensionale Angelegenheit und überdies voller Mehrdeutigkeiten. Entsprechend vieldeutig fallen denn auch die Resultate von Betrachtungen aus. So sind zahlreiche diesbezügliche Texte belanglos, weil sie äußerst allgemein und ungenau sind und kaum zum Wesen eines Bauwerks vorstoßen. Selbst ernst zu nehmende Architekten wie Steven Holl geben zu ihrem Entwurf oft nur oberflächliche Plattitüden von sich. Wir möchten doch hoffen, dass sein architektonisches Denken komplexer ist als seine Erklärungen zum Loisium.

Aber das ist nicht so tragisch, das Medium der Architekten ist oft nicht die Sprache, sondern das Bauwerk selbst, allenfalls die Skizze oder die Zeichnung. Aber jene, die sich einem Bauwerk interpretatorisch mit den Mitteln der Sprache nähern wollen, dürften sich schon so weit disziplinieren, dass, um ein simples Beispiel zu wählen, „Kubus“ einen Würfel meint und nicht bereits volkstümlich für Quader verwendet wird.

Wenn eine gewichtige Zeitung in ihrer Werbung in Erinnerung zu rufen pflegte: „Die Arbeit an der Sprache ist Arbeit am Gedanken“, dann gilt das vor allem auch für das Schreiben über Architektur, wo die Gedanken leicht über eine Ecke der dritten Dimension stolpern können. Es ist oft genug betont worden, dass Architektur eben dreidimensional sei und daher mit dem linearen Band der Sprache nicht erfasst werden könne und überdies ein Bild mehr als tausend Worte sage. Eben. Das Bild sagt vielleicht auch zu viel. Ohne verbale Präzisierung weiß schon nach zehn Jahren fast niemand mehr, welche Bildaussage im Zusammenhang gemeint war.

Jedenfalls lässt sich mit der Sprache der Zugang zu einem Sachverhalt durchaus gestuft vornehmen, und wenn man berücksichtigt, dass Begriffe klare Bedeutungsfelder haben, lässt sich damit schon ganz gut arbeiten. Darum ist es so wichtig, im Begrifflichen präzis zu sein. Denn mit einer Boulevardisierung der Sprache bleibt das Architektonische auf der Strecke. Darum ist es so unerträglich, reißerische Titel wie: „Loos macht Zotti zu Kleinholz“ lesen zu müssen. Das verärgert mündige Leser.

Adolf Loos ist jetzt 70 Jahre tot. (Ach ja, in der Comicwelt ist die Umkehr der Zeitachse ein Klacks.) Der Verfasser begibt sich mit solcher Titelsetzung auf die Ebene jener Innenausbauplaner, die glauben machen wollen, sie könnten einen Loos „original-getreu“ herstellen. Wissen sie denn um den kulturellen Hintergrund, mit dem Adolf Loos vor 105 Jahren seinen Entwurf begann? Und von welchen Plänen wollen sie ausgehen, wo bekannt ist, wie viel der Architekt bei Innenausbauten damals - wie selbst heute - direkt mit dem qualifizierten Handwerker besprach. Nach Fotografien arbeiten heißt deshalb der Ausweg. Das können mittelmäßige Planer heute am besten. Ob aus Zeitschriften oder Archiven, die Bilder dienen als Vorlagen für ein unselbstständiges und uninspiriertes Inszenieren von Staffagen und plakativen Effekten. Das wird nie und nimmer Architektur, auch wenn es, sollte es die ersten 100 Jahre überstehen, die Chance hätte, sich als Fußnote in die Architekturgeschichte zu schwindeln. Und so ergeht es auch jenen, die ihre
Titelformulierungen von den Gehsteig-Blättern abkupfern.

Ganz anders arbeiteten die Meister der Frührenaissance, Alberti, Brunelleschi und Donatello, die durch das Studium der römischen Ruinen zu konstruktiven und raumbildnerischen Erkenntnissen gelangten, die sie dann in eigenständige Bauwerke umsetzten. Das ist auch die einzige zulässige Möglichkeit: dass Architekten, deren fachliche und gestalterische Kraft erwiesen ist, sich in von ihnen zu bestimmender Interpretation mit den Spuren der Erinnerung befassen und darauf aufbauend zu einem entwerferischen Konzept für ein zeitgenössisches Bauwerk mit architektonisch-historischen Bezügen kommen. Dass das so geht, ist dutzendfach bewiesen. Voraussetzung ist allerdings, dass die heutigen Architekten ihren Vorgängern entwerferisch und gestalterisch das Wasser reichen können. Mit einem denkmalpflegerischen Ansatz allein ist es nicht getan.

Das Gleiche gilt für das Schreiben über Architektur. Wer sich nicht eine differenzierte Sprache zum Gegenstand erarbeitet und sich in verschiedenen Methoden übt, komplexe Sachverhalte zu erfassen und zu vermitteln, wird zum architektonischen Wesen eines Bauwerks nicht vordringen, sondern irgendwelche Geschichten erzählen, was den anspruchsvollen Leser nicht zufrieden stellt. Tendenzen zu einer populistischen Schreibe, wie in jüngster Zeit feststellbar, gehören auf den gleichen Misthaufen wie die populistische Politik. Es ist einer anspruchsvollen Sache nicht dienlich, wenn sie verbal platt gewalzt wird. Es kann nicht darum gehen, Meinung zu machen, sondern Grundlagen zu liefern, dass mündige Leserinnen und Leser sich eine Meinung bilden können. Dass es dabei ohne plump anbiedernde Metaphern abgehen sollte, die meist auch maßstäblich nicht stimmen, müsste sich von selbst verstehen.

Doch ist das Wesen des Architektonischen auch in Bauwerken selbst gefährdet. Infolge der oftmals gewünschten Trennung von Entwurf und Ausführung (oder weil Entwerfende keine Ahnung vom Bauen haben) verflüchtigt sich der Kerngedanke eines Entwurfs nicht selten im Verlauf der Ausführungsplanung. Zwei zeitgleich entstandene Bauten, die Bezirkshauptmannschaft Murau von Wolfgang Tschapeller und Friedrich Schöffauer und das Kunsthaus Graz von Peter Cook, Colin Fournier und Architektur Consult, geben dies bei näherem Hinschauen schnell preis. An der BH Murau ist die Hand des Architekten bis ins letzte Detail zu spüren. Es ist kein leichtgängiges Bauwerk, in seiner Komplexität aber überzeugend. Beim Kunsthaus Graz zerbröselten die tragenden architektonischen Ideen im Zuge der Ausführung, und irgendwann wurde der Bau nur noch abgewickelt. Das ist ihm jetzt auch anzusehen. Aber wenn es ein wirtschaftspolitisches Ziel sein sollte, wie im früheren Ostblock nur noch einige wenige große Planungsfirmen zu haben, werden über kurz die meisten größeren Neubauten „abgewickelt“ aussehen und das Wesen des Architektonischen wird sich verflüchtigt haben.

Spectrum, Sa., 2003.11.15

18. Oktober 2003Walter Zschokke
Spectrum

Manche können anders

Mit angemessenen Mitteln aus räumlich verfahrenen Verhältnissen eine neue, ausgewogene Situation zu schaffen: das ist Romana Ring in Otterbach bei Schärding gelungen - mit der Erneuerung einer landwirtschaftlichen Schule.

Mit angemessenen Mitteln aus räumlich verfahrenen Verhältnissen eine neue, ausgewogene Situation zu schaffen: das ist Romana Ring in Otterbach bei Schärding gelungen - mit der Erneuerung einer landwirtschaftlichen Schule.

Ausgedehnte Felder, da und dort Waldstücke, verstreut einige land wirtschaftliche Betriebe, in sonnigen Lagen Ansammlungen von Einfamilienhäusern: das Innviertel bei Schärding. In dieser Umgebung bestanden die Bauten der landwirtschaftlichen Schule Otterbach bis vor kurzem aus einem schlossartigen, dreigeschoßigen Haupthaus in romantisch-historisierendem Eklektizismus des späten 19. Jahrhunderts, drei älteren Wirtschaftsgebäuden und einem großen Hof sowie zwei hässlichen Pavillons mit Flachdach aus der hohen Zeit des Bauwirtschaftsfunktionalismus. Deren Fundamente, wird man bei Baubeginn feststellen, wurden so sparsam ausgeführt, dass wegen der geplanten Aufstockung zuerst Gewicht in Form einer Betondecke abgetragen werden musste, bevor in Leichtbauweise darauf aufgebaut werden konnte. Und bei den Kosten sollte natürlich auch gespart werden.

Die beiden bisher recht beziehungslos daneben stehenden Pavillons waren vom Hauptgebäude her und untereinander durch Gangbauten erschlossen. Derartige witterungsgeschützte Verbindungswege sollten auch nach der Erweiterung vorhanden sein. Das Erneuerungskonzept sah die Aufstockung der Pavillons um ein Geschoß mit Satteldächern von 30 Grad Neigung vor, der gleichen wie beim Hauptgebäude, aber ohne Gaupen und Anwalmungen. Der entfernter stehende Pavillon wurde nach vorn um eine große Werkstatt mit Durchfahrt auf gut 40 Meter Gebäudelänge erweitert. Die einfache Großform und eine einheitliche Fassade aus gestülpten Brettern weisen ihn als Wirtschaftsgebäude aus, das die Anlage von den anschließenden Feldern klar abgrenzt.

Das gewachsene Volumen vermag aber mit dem des nunmehr knapp doppelt so großen des Hauptgebäudes in eine räumliche Beziehung zu treten: Zwischen den beiden Baukörpern entsteht ein hofartiger Außenraum, der zur Zufahrt hin offen ist, nach hinten jedoch von der Stirnseite des etwas zurückversetzten zweiten Pavillons abgeschlossen und von den zweigeschoßigen, geschlossenen Verbindungsbauten auch seitlich gefasst wird. An dem neu zum „mittleren“ Baukörper gewordenen zweiten Pavillon wird die gestärkte Position mit einer symmetrischen Fassadengestaltung unterstrichen. Die sparsame Instrumentierung mit viel weiß geputzter Mauerfläche besteht aus einem mittig gesetzten verglasten Eingangsportal, sechs weiträumig spationierten Fenstern im Obergeschoß und einem strichdünnen Dachabschluss. Abgesehen von einer Turnhalle im hinteren Gebäudeteil, sind im Obergeschoß nun die Büros der Direktion untergebracht. Während das Portal und die breite Rampe einladend wirken, bremst die Anordnung der sechs Fenster in gleichwertiger Reihung eine weitere Betonung der Mitte. Sie wirken profan, unterstützen aber die Breitenwirkung dieser Stirnfassade. Mit architektonischen Mitteln, die im Nachvollzug des Neuklassizismus unter anderem bei Heinrich Tessenow, aber auch bei Adolf Loos erlernt werden können, erhält die erweiterte Schulanlage ein klar erkennbares Konzept, das siedlungsbaulich stimmt und in dem sich Ankommende rasch zurechtfinden.

Soweit ist alles sorgfältig unter Beachtung von Proportionen, Dimensionen und Geometrien gestaltet. Man wäre froh, die Menge des Gebauten in ländlichen Gegenden würde in die Nähe dieser prinzipiellen Qualität aufschließen, was ihre Planer vor lauter Desorientierung leider nicht schaffen. Aber wir sind mit unseren Betrachtungen noch nicht zu Ende, denn wir haben die Verbindungsgänge bisher außer Acht gelassen. Sie sind es nämlich, die der Anlage über ihre Grundqualität das besondere Etwas verleihen, weil ihre schräg verlaufenden Rampen - was sich dank unterschiedlicher Niveauhöhen von selbst ergibt, aber klug ins Gesamtkonzept einbezogen wurde - den klassischen Ansatz wirksam konterkarieren. Das gegenklassische Element der Rampen gibt der Anlage jenen Kick, der sie aus durchaus vernünftiger Normalität heraushebt und in einen architektonischen Spannungszustand versetzt, der nicht mehr bloß rational, sondern unmittelbar sinnlich wirkt.

Dabei bildet der offene Übergang vor dem „cour d'honneur“ einen räumlichen Filter, nicht zuletzt damit auch den zudringlichen Autofahrern, die jeden Schritt zu vermeiden suchen, eine Grenze gesetzt wird; zudem gelingt es damit, den Hof aufzuwerten und den Raum nicht ungehemmt ausfließen zu lassen. Mit der feinen schrägen Linie der durch die Stützenpaare durchlaufenden Rampe wird die sorgsam aufgebaute Symmetrie gerade im richtigen Maß irritiert. Eine Symmetrie, die, von weiter vorn betrachtet, schon eine gegenläufige „Schräge“ aufweist, jene der ungleichen Baukörper des Hauptgebäudes und des Werkstatt- und Schultrakts. Die beiden ungleichen Beziehungen kreuzen sich vor der ausgewogen statischen Fassade des Mittelpavillons und finden zum ruhigen Abschluss.

Außerdem weist die Stülpschalung am anderen Pavillon geregelt unregelmäßig eingeschnittene Fensteröffnungen auf, die in größeren Feldern sitzen, in denen Glasstreifen mit Brettern abwechseln. Sie befinden sich vor Arbeitsräumen, die auf diese Weise ausreichend belichtet werden, von nahe besehen dem Gebäude auch einen eigenen - nochmals gegenklassisch irritierenden - Ausdruck verleihen, aus der Ferne betrachtet aber im großen Volumen aufgehen.

Der Linzer Architektin Romana Ring, deren ideelle Wurzeln in jene Wiener Architekturdenkschule zurückreichen, die vor allem von Hermann Czech geprägt wurde, ist hier etwas gelungen, wovon andere immer nur reden: Sie hat mit angemessenen Mitteln aus räumlich verfahrenen Verhältnissen eine neue, subtil ausgewogene Situation geschaffen. Dass dabei Holz eine tragende Rolle spielt und auch schützend eingesetzt ist, war zudem Anlass, ihre architektonische Leistung mit einem der vier diesjährigen Holzbaupreise in Oberösterreich auszuzeichnen.

In einer Zeit, da der aus berechtigter Kritik an einer engstirnigen Moderne gewachsene Pluralismus des Denkens und Gestaltens wieder abgelöst wird durch ein Abwickeln aus Zeitschriften abgeschauter Stilformen, lässt der Mut zum scheinbar Unzeitgemäßen hoffen. Denn es sind nicht der Neuigkeitswert und die oberflächliche Radikalität eines Gebäudes, die seine architektonische Nachhaltigkeit bestimmen und ihm damit einen Platz in der Architekturgeschichte sichern, sondern die ihm innewohnende strukturelle Qualität sowie die Angemessenheit gegenüber der Aufgabe und dem städtebaulichen Kontext.

Spectrum, Sa., 2003.10.18



verknüpfte Bauwerke
Landwirtschaftliche Berufs- und Fachschule Otterbach

20. September 2003Walter Zschokke
Spectrum

Steinalt und rostfrisch

Man staunt: über die radikal neuen Einbauten, die Markus Scherer im Schloss Tirol für das Museum für Kultur- und Landesgeschichte gestaltet hat; und fast mehr noch über die Billigung des Denkmalamts.

Man staunt: über die radikal neuen Einbauten, die Markus Scherer im Schloss Tirol für das Museum für Kultur- und Landesgeschichte gestaltet hat; und fast mehr noch über die Billigung des Denkmalamts.

Alpensüdseite, Bilderbuchwetter, geschichtsträchtige Landschaft an den Schlüsselstellen uralter Übergänge: Wir befinden uns in Südtirol, wo jeder Felskopf, jeder Höcker eine alte Kloster- oder Burganlage oder zumindest einen Ansitz trägt. Nicht der geringsten eine ist das Schloss Tirol, Dynastenburg der Grafen von Tirol - bis ins 14. Jahrhundert deren Regierungssitz - und Namengeber für das Land beidseits von Alpenkamm und Brennerpass. Hoch über dem Kurort Meran besetzt die markante Anlage eine felsige Anhöhe.

Nach wechselvoller Geschichte und längerem Niedergang erfuhren die zerfallenden Gemäuer im 19. Jahrhundert eine romantisch überhöhende Renovierung. Unter anderem wurde der vormals gedrungene Bergfried, der vielleicht einmal einen hölzernen Oberbau getragen hatte, um fast das Anderthalbfache auf 33 Meter Höhe aufgestockt. Er markiert die vertikale Dominante, während der Südpalas davor mit dem angeschlossenen Rundchor der Schlosskapelle den lagerhaften Kontrapunkt bildet.

Man staunt ob dieses freien Umgangs mit der Altsubstanz, die der besonderen Lage sowie einer signifikanteren Erscheinung denkmalpflegerische Bedenken unterordnete. Im Detail zeigt sich allerdings, dass die damaligen Einbauten in den prächtigen Kaisersaal nicht dieselbe Qualität aufweisen. In der ehemals stützenfrei überspannten Halle beanspruchen sie mit kräftigen Pfosten und ornamentierten Kopfbändern die Raummitte zu sehr und zerstörten jene Qualität, die erhalten zu wollen sie vorgaben.

Heute beherbergt die symbolträchtige Burganlage Südtirols Landesmuseum für Kultur- und Landesgeschichte. Die wissenschaftlichen Kuratoren Hans Heiss und Giorgio Mezzalira sowie Benno Erhard aus Nordtirol und Barbara Gabrielli haben unter der Gesamtleitung von Direktor Siegfried de Rachewiltz dank zahlreichen Leihgaben aus der Bevölkerung eine äußerst lebensnahe und instruktive Schau zusammengestellt, die das bewegte 20. Jahrhundert und seine Auswirkungen auf die selbstbewusste Region zusammenfasst.

Doch wie bringt man eine Ausstellung in einen steinernen Turm? Weil die Zusätze des 19. Jahrhunderts, da nicht so alt und nicht „authentisch“, vom Denkmalamt als weniger schützenswert eingestuft wurden, konnten sämtliche hölzernen Einbauten - bis auf das Zeltdach, das für die Umbauphase abgehoben wurde - entfernt werden. Der junge Bozener Architekt Markus Scherer, zuvor schon mit seinem damaligen Partner Walter Angonese mit den Museumseinbauten in den Südpalas befasst, stellte sich der nicht geringen Herausforderung. Seine Interventionen beginnen in ehemaligen Wirtschaftsgebäuden im Westteil der Burganlage, die nun den Shop, Garderoben, Toiletten sowie das Café enthalten, und ziehen sich über den Hocheingang in den Bergfried hinein und hinauf bis zum Ausguck.

Als radikale konzeptionelle Vorgabe konfrontiert er das Vorhandene, vornehmlich sichtbar gemauerter Naturstein, mit Roststahl. Dem alten Gemäuer - egal ob 850 oder 150 Jahre alt (Fachleute erkennen den Unterschied) - setzt er den Stahl, das Material des späten 19. Jahrhunderts, in für unser Empfinden gealterter Erscheinungsform, eben „angerostet“ entgegen. Und das betrifft einfach alles: Toiletten, Garderobekästchen, Treppenstufen und Geländer hinauf zum Bergfried. Es überkommt einen da und dort, etwa in den Garderoben, ein unbestimmt mulmiges Gefühl von Zeitverschiebung. Obwohl die Formen und Details aktuell sind, wirken sie schockgealtert, als hätte man eine Zeitreise gemacht, selber bloß wenige Wochen abwesend, doch zurückgekommen in eine seit Jahrzehnten verlassene Umgebung.

Im Bergfried, dessen Mauern oben sehr viel schlanker sind - im 19. Jahrhundert waren keine fortifikatorischen Zwecke mehr zu erfüllen, der gesuchte visuelle Effekt konnte günstiger erzielt werden -, wird das architektonische Konzept aus Naturstein und Roststahl auf die Spitze getrieben. Im hohen, nach oben weiter werdenden Raumprisma stehen vier stählerne Pylone in Windradanordnung. Unten gut verankert, streben die Hohlkästen oben auseinander und sind zuoberst an einen die Mauerkrone festigenden Ankerring aus Stahlbeton angeschlossen. Das Natursteingemäuer erhielt so eine aussteifende innere Armierung aus Stahl.

Um diese vier Pylone und teilweise auch in dem von ihnen umhüllten Innenraum ist eine Folge kleiner Plattformen montiert, die den einzelnen ausstellungsdidaktischen Schritten entsprechen und jeweils durch Stufen verbunden. So steigt man thematisch im 20. Jahrhundert höher und höher, bis man an der Wende zum 21. Jahrhundert angelangt ist und durch die Turmscharten die Aussicht auf die zeitgenössische Wirklichkeit nach Westen in den Vinschgau und nach Süden auf Meran und in das Etschtal hinaus genießen kann.

Durch Lücken in den Plattformen gelingt immer wieder ein kurzer Blick hinauf in die vertikale Raumentwicklung - oder umgekehrt: von oben hinunter in die thematischen Kammern im Raumkern. Es dauert, bis die Reise auf der Zeitspirale den Turm hinauf absolviert ist. Zum Abschluss enthält das pyramidenförmige Dach einen „Sprach-Klangraum“ des Schriftstellers Kurt Lanthaler, der das heutige gemischtsprachige Südtirol thematisiert. Auch hier sind Roststahlbleche als Raumbegrenzung eingesetzt. Die äußerst engagierte Arbeit hinterlässt einen entsprechend positiven Gesamteindruck. Darüber hinaus gefällt die ländlich-alpenländische Robustheit, die sich keine Sorgen macht, ob einzelne Besucher an den rostigen Stahlplatten anstreifen könnten.

Jeder kann sehen, wie die Oberflächen sind, und sich danach richten. Der höhere Grad an Eigenverantwortung, der auf die selbstverständliche Vertrautheit der Bergler mit der dritten Dimension zurückzuführen sein dürfte, wirkt befreiend. Man imaginiere sich als Kontrast dazu, was für hypertrophe Abwehrstrategien sauertöpfische Wiener Museumsbeamte gegen derartige rostige Oberflächen im Ausstellungsbereich kreißen würden.

Die Alpensüdseite ist klimatisch anders. Die deutlich höhere Zahl an Sonnenstunden und mildere Winter machen gestalterische Konzeptionen möglich, die im feuchteren Norden nur schwer funktionieren. Es lässt sich daher nicht alles überall gleich anwenden. Eine alte Erkenntnis, die schon die historistischen Architekten plagte. Doch wer hindert Interessierte an einer Reise nach Südtirol?

Der 1962 geborene Markus Scherer kennt Wien durchaus, denn er hat an der Technischen Universität Architektur studiert. Aber ebenso kennt er, dank Studien in Venedig, die italienische Tradition im Umgang mit alter Bausubstanz. Praktische Erkenntnisse sammelte er bei den Aufträgen für das Bergbaumuseum in Steinhaus im Ahrntal und bei der Adaptierung der Josefsburg in der Festung Kufstein, ausgeführt zusammen mit Walter Angonese und anderen. Diese Erfahrungen ermöglichten ihm, an das Schloss Tirol zugleich abgeklärter und radikaler heranzugehen und die architektonische Spannung wirkungsvoll auf die Spitze zu treiben.

Spectrum, Sa., 2003.09.20



verknüpfte Bauwerke
Museum für Kultur- und Landesgeschichte

23. August 2003Walter Zschokke
Spectrum

Kalter Kaffee? Irrtum!

Sie sind Moden gegenüber indifferent, weil sie Grundlegendes ansprechen, und sie werden deshalb auch Langzeitwirkung haben: Ottokar Uhls „Gegen-Sätze“. Nichtraucher und Nichttrinker debattieren.

Sie sind Moden gegenüber indifferent, weil sie Grundlegendes ansprechen, und sie werden deshalb auch Langzeitwirkung haben: Ottokar Uhls „Gegen-Sätze“. Nichtraucher und Nichttrinker debattieren.

In einem schattigen Gastgarten sitzen der Nichtraucher und der Nichttrinker bei g'spritztem Wein und Soda-Citron. Sie debattieren über ein kürzlich erschienenes Buch mit Texten von Ottokar Uhl, dem 1931 in Kärnten geborenen kämpferischen Emeritus der Technischen Universität Karlsruhe mit Wohnsitz Wien.

Nichtraucher: Diese Gedanken aus den Siebziger- und Achtzigerjahren mit heutiger Distanz zu lesen ist überraschend und anregend. Man wird gewahr, was damals die Köpfe erhitzte, aber auch zu neuen Überlegungen angestiftet.

Nichttrinker: Ist doch alles kalter Kaffee und längst überholt, wen soll das interessieren? Heute sind ganz andere Fragen aktuell.

Nichtraucher: Irrtum! Wesentliche Aussagen sind deswegen nicht falsch geworden. Einiges ist sogar als selbstverständliche Erkenntnis in die tägliche Praxis engagierter Architekten eingeflossen. Uhl hat Grundlagenforschung betrieben, die nicht jeder noch einmal machen muss.

Nichttrinker: Das würde bei den abgesunkenen Honorarsätzen auch gar nicht mehr gehen. Schon für Uhl überstieg der Aufwand den finanziellen Ertrag. Ohne stützende Forschungsgelder wären seine partizipatorischen Entwurfsprozesse nie bis zum Bauen gekommen.

Nichtraucher: Darum geht es nicht, sondern darum, dass diese diskursiven Prozesse mit den späteren Nutzern zu einem anderen Gebrauchswert und neuen Erscheinungsbild der Bauwerke geführt haben. Seine Theorien sind Gestalt geworden. Sie lassen sich an den Bauwerken nachvollziehen, und zusammen mit den Texten ergeben sich klare Aussagen, die von anderen Architekten in manche ihrer Wohnbauten aufgenommen wurden.

Nichttrinker: Das sind doch bloß Tropfen auf einen heißen Stein, die im Massenwohnbau geringe Auswirkungen haben.

Nichtraucher: In seinem Drang, das Planen von Wohnbauten von Grund auf zu erforschen und neu zu formulieren, spricht Uhl auch nicht von Entwerfen als einem gefühlsmäßigen Vorgang, sondern von Planen im Sinne eines rationalen Vorgangs. Der Einbezug anderer Fachdisziplinen und der künftigen Bewohner führte zu Erkenntnissen, die heute selbstverständlich scheinen. Damals ging es aber darum, den benutzerfeindlichen Bauwirtschaftsfunktionalismus, der etwa mit der unflexiblen Großplattenbauweise idiotische Wohnungsgrundrisse produzierte, sachlich zu widerlegen.

Nichttrinker: In diesen Wohnanlagen wohnen aber bis heute Menschen, so katastrophal können sie daher nicht sein.

Nichtraucher: Das wäre im Einzelfall zu klären. Aber Uhl geht es eben darum, das Gespräch, das beim Bau eines Einfamilienhauses zwischen Architekt und Bauherrschaft selbstverständlich ist, auch jenen zu ermöglichen, die sich nur eine geförderte Wohnung leisten können. Er erreichte damit mehr Identifikation der Bewohner mit ihrer Wohnung und mit dem ganzen Haus. Durch die Gesprächsrunden haben sich die Leute kennen gelernt und zu einem gemeinsamen Handeln gefunden, ein Prozess, der sonst Jahrzehnte dauern kann.

Nichttrinker: Sozialromantiker! Das kann im Massenwohnungsbau gar nicht funktionieren. Das geht schon organisatorisch nicht.

Nichtraucher: Wer sagt denn, dass es richtig ist, 800 oder 1000 Wohnungen aufs Mal hinzuklotzen. Bei einer Trennung von Rohbau und Ausbau ließe sich diese Aufgabe je für ein Stiegenhaus auf weitere Fachleute aufteilen, die dann mit einer geringeren Zahl späterer Bewohner das Gespräch führen könnten. Derartige Erkenntnisse sind in Uhls Texten angelegt. Aber er hat sich nicht nur mit der Wohnungsfrage befasst, sondern mit derselben Hartnäckigkeit auch versucht, im Kirchenbau neue Wege zu gehen.

Nichttrinker: Gerade im Kirchenbau finde ich den Verzicht auf eine zeichenhafte Form und das Verneinen einer wichtigen Rolle im städtebaulichen Gefüge befremdlich.

Nichtraucher: Da, hier schreibt Uhl, dass „der Kirchenbau als isolierte Bauaufgabe überholt ist. Und zwar ist überholt das isolierte, einsam und an dominierender Stelle stehende Gebäude ebenso wie die auf isolierte Nutzung ausgerichteten Räume in strenger Trennung von den übrigen Funktionen.“ Und für diese Aufgaben hat er seine Vorstellungen partizipatorischer Planung in mehreren Fällen verwirklichen können, auch wenn die katholische Kirche hierarchisch strukturiert ist und sich manchmal schwer getan hat. Auf Gemeindeebene lässt sich das leichter anfangen. Da für Uhl der Aspekt des gemeinsamen Abendmahls und des gemeinsamen Gebets, des Versammelns, wichtiger ist als jener der individuellen Kontemplation, für die er eine Überhöhung durch sakralisierte Architektur ablehnt, kann dieser Versammlungsraum dann auch profan genutzt werden und bedarf nicht der zeichenhaften Anlehnung an historische Beispiele.

Nichttrinker: Das wollen die Gläubigen doch gar nicht. Sie verlangen das, was sie gewöhnt sind. Und einen Kirchenbau, der ihrem Idealbild einer Kirche in keiner Weise mehr nahe kommt, lehnen sie ab.

Nichtraucher: Weil sich die Bedingungen hin zu demokratischen Verhältnissen verändert haben, sind die Bedürfnisse auch in religiösen Dingen neu zu definieren. Die Denkarbeit passiert nicht von allein. Darum schlägt Uhl einen formalisierten Prozess vor, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen und nicht unbemerkt wieder in alte Geleise zu rutschen. In seinem Aufsatz „Kirchenbau als Prozess“ erläutert er sechs Phasen: Untersuchung - Planung - Konstruktion - Verteilung - Gebrauch - Elimination. Wesentlich sind daher seine methodischen Ansätze, die das Neue nicht „aus der Luft“ - oder aus einer Zeitschrift - herausgreifen, sondern mit den Betroffenen entwickeln. Das ist etwas ganz anderes als das Zitieren historischer Formen, die zu ihrer Zeit als revolutionär galten, oder das zwanghafte Suchen nach neuartigen Formen. Für Uhl ist die Form am Anfang unwichtig. Ihm geht es um neue Konzepte. Die Formen ergeben sich im darauf folgenden Schritt.

Nichttrinker: Damit wird er heute nicht viel Echo haben, wo sich alles um Oberflächen und Formen dreht.

Nichtraucher: Weil seine Texte Grundsätzliches ansprechen, sind sie Moden gegenüber indifferent. Sie werden Langzeitwirkung haben, insbesondere nachdem sie in einem handlichen Buch zusammengefasst sind, das noch nach Jahren gelesen und beherzigt werden kann.

Nichttrinker: Aber es ist doch bekannt, dass Architekten nur Bilder anschauen und keine Texte lesen, wie soll da so ein Buch Auswirkungen haben?

Nichtraucher: Und selbst wenn dem so wäre. Wer sagt denn, dass nicht andere Menschen, etwa solche, die gemeinsam etwas bauen wollen, auf Uhls Schriften stoßen und seine Methoden des Gesprächs und des Beizugs weiterer Fachleute von den Architekten einfordern werden?


[Ottokar Uhl
Gegen-Sätze. Architektur als Dialog. Ausgewählte Texte aus vier Jahrzehnten, Hrsg. von Elke Krasny und Claudia Mazanek, 208 S., brosch., € 18,90 (Picus Verlag, Wien)]

Spectrum, Sa., 2003.08.23

26. Juli 2003Walter Zschokke
Spectrum

Was im Backstein wurzelt

Die Jahrhunderte alten Bauten der Toskana sind eines ihrer touristischen Atouts. Dass die Region auch an moderner Architektur Beachtliches zu bieten hat, ist kaum bekannt. Eine Ausstellung im Wiener Ringturm schafft Abhilfe.

Die Jahrhunderte alten Bauten der Toskana sind eines ihrer touristischen Atouts. Dass die Region auch an moderner Architektur Beachtliches zu bieten hat, ist kaum bekannt. Eine Ausstellung im Wiener Ringturm schafft Abhilfe.

Das zahlreiche Vorhandensein Jahrhunderte alter architektonischer Großtaten kann für eine Stadt oder Region zu einem starken touristischen Atout werden. Die historischen, gestalterischen oder technischen Wunderstücke bleiben nahezu unkonkurrenzierbar, weil sie alle ihren Platz in der heroisierenden Geschichtsschreibung und -vermittlung längst besetzen und nicht wiederholbar sind.

Schwieriger ist dagegen das Fortschreiben einer solchen Tradition, denn da sind beharrende Kräfte, die am Bekannten festhalten, weil es sich als Erfolgsschiene bewährt hat und darüber hinaus zielende Experimente nicht ausreichend Gewähr zu bieten scheinen. Andererseits ist die Phalanx historischer Superstücke für den Architekturschaffenden nicht nur Anregung und Herausforderung, sondern kann zugleich entmutigen und lähmen.

Das Verzweifeln des Künstlers vor der historischen Größe ist ein nicht unbekanntes Phänomen. Das Syndrom, das im 19. Jahrhundert manche Rom-Fahrer befiel, dass sie am Ort, überwältigt von einmaligen Eindrücken sowie von der Masse des Geschauten, nicht mehr an ein eigenes, selbstständiges Schaffen zu glauben vermochten und, heimgekehrt, ihre Zeit brauchten, bis sie Selbsteinschätzung und Leistungsvermögen wieder in Übereinstimmung und auf das frühere Niveau bringen konnten. Jene, die direkt aus solchen Städten und Regionen stammen, mussten und müssen für einige Zeit Distanz suchen, um das scheinbar Selbstverständliche kritisch zu relativieren und neu würdigen zu lernen.

Und jetzt die Toskana. Wir wissen um die Etrusker, die Römer und um eine blühende, europaweit aktive Wirtschaft der Florentiner Woll- und Seidenweber im Mittelalter, die selbst von katastrophalen Pestepidemien nicht gebremst werden konnte. Voraussetzungen, die den Nährboden des eindrücklichen Aufschwungs bilden, der als „Renaissance“ seither die kunstgeschichtlichen Betrachtungen dominiert. Im 19. Jahrhundert verfestigte der Historismus ein bereits selbstverständlich dichtes Gefüge, sodass ein Aufbruch, wie in manchen Ländern nördlich der Alpen, nicht so leicht in Gang kam.

Zwar haben sich in Florenz und Lucca beachtliche Werke aus der Zeit des Jugendstils erhalten, die jedoch einem perfekt ausgeführten Dekor verpflichtet bleiben und nur in Einzelfällen jene fließenden Raumfolgen aufweisen, die als Vorboten die Moderne ankünden. Die zeitlich frühe Etablierung eines totalitären Regimes unter Mussolini und der kulturpolitische Zufall bewirkten, dass im Unterschied zum Deutschen Reich die Bewegung der Neuen Sachlichkeit beziehungsweise des Neuen Bauens, in Italien „Rationalismo“ genannt, für knapp zwei Jahrzehnte zum Staatsstil erhoben wurde, bevor dem Diktator die Anleihen beim imperialen Rom dann doch besser ins propagandistische Konzept passten.

Die Architekten ließen sich zuerst - nicht wenige voller Begeisterung - in die „Bewegung“ einbinden, nicht alle machten allerdings die spätere Kehrtwendung auch noch mit. Als Staatsstil hatte der Rationalismus ganz Italien und damit auch die - vergleichsweise - konservative Toskana erfasst. Unter den zahlreichen Parteiheimen (Case del Popolo), Fliegerschulen, Sportstadien, Kinderheimen, Arbeitersiedlungen und Verkehrsbauten stechen das Stadion „Artemio Franchi“ von Pier-Luigi Nervi und Alessandro Giuntoli (1932); das Heiz- und Stellwerk zum Bahnhof von Florenz von Angiolo Mazzoni (1934); aber vor allem der dortige Hauptbahnhof selbst, die Stazione Santa Maria Novella (1934), von einer Gruppe toskanischer Architekten unter Leitung von Giovanni Michelucci (1891 bis 1990) erbaut, heraus. Letzterer wird von der Ausstellung im Ringturm als Lehrer, Architekt und Schlüsselfigur vorgestellt, ebenso seine Schüler und teils Mitarbeiter Edoardo Detti (1913 bis 1984), Leonardo Ricci (1918 bis 1994) und Leonardo Savioli (1917 bis 1982).

Obwohl nur mit Fotografien dokumentiert und mit ausführlichen Erläuterungen versehen, die wohl kaum zur Gänze gelesen werden, entsteht das unschwer nachvollziehbare Bild einer Schule - prinzipiell vergleichbar der Wagner-Schule in Wien -, deren Wirkung aber vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu greifen beginnt und sich in Projekten manifestiert, die in Kenntnis der Entwicklungen der Moderne, der Bauwerke von Frank Lloyd Wright, Alvar Aalto, Le Corbusier, Mies van der Rohe sowie Carlo Scarpa und den anderen Heroen der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts ihren Platz suchen und finden, indem die Auseinandersetzung mit der regionalen Kunst- und Kulturgeschichte äußerst differenziert und sensibel, dabei aber nicht weniger kraftvoll geführt wird. In einer prinzipiell undogmatischen Herangehensweise und beim kreativen Zusammenspiel traditionaler und neuer Materialien sind denn auch die interessantesten Impulse zu finden, die in das Schaffen der Achtziger- und Neunzigerjahre fortwirken, das sich von den herrschenden Strömungen an der Alpennordseite deutlich unterscheidet.

Da stößt man auf eine erfrischend angstfreie Verwendung von Naturstein, als rohe, grobe Mauer, als sorgfältig geschichtetes, Masse verkörperndes Bossenmauerwerk sowie glatt geschliffen im Innenausbau. Die Kontraste, die zu Konstruktionselementen und Fassadenteilen aus Stahl und Glas bestehen, betten diese Bauten wesentlich besser in die toskanischen Stadtgefüge und -geflechte ein als ein sklavisches Nachäffen vergangener Stile.

Aber auch der Sichtbeton ist unter der toskanischen Sonne ein anderes Material als im oft feuchten Norden. Die plastischen Gebilde aus einer Kombination komplexer Tragwerke und kräftiger Volumen kommen beim Spiel von Licht und Schatten so zur Geltung, wie von Le Corbusier in seinem berühmten Zitat angesprochen. Allerdings verspielter und damit für breitere Kreise leichter akzeptierbar, wie dies die „Case Popolari“ in Sorgane, Florenz (1963 bis 1980), von Leonardo Ricci und Leonardo Savioli in Gemeinschaftsarbeit mit vielen anderen Architekten entworfen und gebaut, auf eindrucksvolle Weise zeigen.

Am stärksten in toskanischer Tradition dürfte jedoch der Backstein wurzeln, denn mit diesem Material wurden und werden ein Großteil der beachtlichen Bauwerke dieser Region errichtet. Das oft ins Bräunliche tendierende Rot der gebrannten Erde vermag den Mauermassen ihren spezifischen Charakter zu verleihen und sie zugleich zu relativieren. Die feine Textur der geschichteten Ziegelsteine erzeugt zudem jene differenzierende, gegenklassische Erinnerung an das „Gemachtsein“ - von Hand nämlich -, die unverkleidet und unverputzt direkt zur Wirkung gelangt, wie beim Abbildungsbeispiel von Massimo Carmassi ersichtlich ist.

Architekturausstellungen sind für den einzelnen Betrachter so gut wie die Gedanken, zu denen sie anregen, oder so stark
wie die Sehnsucht zu einer Reise, die sie dorthin provozieren. Dies löst die Schau ausreichend ein.


[Die Ausstellung „Toskana: Architektur der Moderne“ im Ringturm (Wien I, Schottenring 30) ist noch bis 3. Oktober zu sehen (Montag bis Freitag 9 bis 18 Uhr).]

Spectrum, Sa., 2003.07.26

21. Juni 2003Walter Zschokke
Spectrum

Missing Link, ånglahnt

Runde Geburtstage haben ihr Gutes. Sie evozieren Forschungsenergie und lösen den Fluss von Fördergeldern aus. Ernst A. Plischke (1903-1992): zum 100. Geburtstag eines Österreichers, dessen Hauptwerk in Neuseeland steht.

Runde Geburtstage haben ihr Gutes. Sie evozieren Forschungsenergie und lösen den Fluss von Fördergeldern aus. Ernst A. Plischke (1903-1992): zum 100. Geburtstag eines Österreichers, dessen Hauptwerk in Neuseeland steht.

Aus der Gruppe um 1900 geborener Architekten, die, von heute aus betrachtet, überregional bekannt wurden, ragt der am 26. Juni 1903 in Klosterneuburg bei Wien als Sohn eines Architekten auf die Welt gekommene Ernst Anton Plischke heraus. Rudolf Baumfeld (1903-1988) und Viktor Grünfeld/Gruen (1903-1980) sahen sich in dem deutschnational-antisemitischen Klima nach dem Ersten Weltkrieg isoliert, während der Einzelgänger Bernard Rudofsky (1905-1988) sich bereits mehrheitlich im Ausland aufhielt. Alle drei verließen Österreich 1938.

Oswald Haerdtl (1899-1957) zählt gerade noch dazu, es scheint aber zu Plischke kein Naheverhältnis gegeben zu haben. Erich Boltenstern (1896-1991), Anton Brenner (1896-1957) und Margarete Schütte-Lihotzky (1897-2000) sowie Eugen Wörle (1909-1996) und Roland Rainer (geboren 1910) weisen bereits sechs bis sieben Jahre Abstand auf, eine Distanz, die bei Architekten einer Ausbildungsgeneration entspricht, in der sie gemeinsam geprägt werden von Lehrerpersönlichkeiten, geschichtlichen Ereignissen und internationalen Einflüssen.

Wie viele potenzielle Kollegen auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs verheizt wurden, lässt sich wohl nie feststellen. Und Herbert Eichholzer (1903-1943), aus Graz und regional etwas benachteiligt, wurde von den Nazis als politischer Widerstandskämpfer hingerichtet. Die vergleichsweise geringe Bautätigkeit in den Zwanzigerjahren - Österreich war nicht gerade reich - wird nicht wenige davon abgehalten haben, den unsicheren Beruf eines Architekten zu ergreifen. Das schmälert alles nicht die Leistung von Ernst Plischke. Es zeigt bloß, wie schmal die personelle Basis für eine „zweite Generation“ moderner Architekten Ende der Zwanziger-, Anfang der Dreißigerjahre nach den Leitfiguren Josef Frank (1885-1967) und Lois Welzenbacher (1889- 1955) geworden war.

Anders als etwa in der benachbarten Tschechoslowakei, wo dank der Lehrerpersönlichkeit Jan Kotera (1871-1923) eine ganze Gruppe junger Architekten dann in den Dreißigerjahren eine selbstbewusste Moderne prägten, oder in der Schweiz, wo „Vater“ Karl Moser (1869-1936) eine ähnliche Funktion ausübte, fehlte in Wien eine Peer-Group, ein direktes Umfeld gleich gesinnter Kollegen. Nach dem Studium bei Peter Behrens an der Akademie der bildenden Künste und kurzer Tätigkeit in dessen Atelier - aus dem er in jenes von Josef Frank wechselte - nützte Plischke daher 1928 eine sich bietende Chance für einen Aufenthalt in New York. Der Börsenkrach von 1929 zwang ihn zur Rückkehr nach Wien, wo er sich mit Wohnungseinrichtungen und kleinen Umbauten über Wasser hielt.

Schon im Studium waren sein Talent und seine außerordentlichen darstellerischen Fähigkeiten aufgefallen, und für die Diplomarbeit hatte er den Meisterschulpreis erhalten. Mit seinem ersten größeren Bauwerk, dem Arbeitsamt Liesing (1930/31), stieß er unmittelbar in die vorderste Reihe der europäischen Modernen vor und fand Aufnahme in den erlauchten Kreis der von Alberto Sartoris in seinem Buch „Gli elementi dell'architettura funzionale“ versammelten Architekten. Ein weiteres Pionierwerk aus dieser Zeit, das „Haus im Rosenthal“, wurde seither stark entstellt und gelangte nicht ins allgemeine Bewusstsein.

Plischkes Beitrag zur Wiener Werkbundsiedlung (1931/32) fand unterschiedliche Anerkennung. Mit dem Haus am Attersee jedoch, 1933/34, für seinen Freund Walter Gamerith und dessen Gattin Grete erbaut, schuf Ernst Plischke jenes Bauwerk, das in Österreich zur Ikone der modernen Architektur der dreißiger Jahre wurde. 1935 wurde ihm dafür der erstmals vergebene Staatspreis für Architektur verliehen, eine Großtat, die offenbar dem leisen Architektenkollegen Max Fellerer (1889-1954) zu verdanken war, denn der Fürst über der Architektenschaft, Clemens Holzmeister (1886-1983) war kein Freund der rationalen Moderne.

Mit diesem Haus auf einer Hügelkuppe über dem Attersee hat Ernst Plischke sein Sensorium für den landschaftsbezogenen Architekturentwurf bewiesen. Zugleich öffnete er die Türe zu einer undogmatischen Auffassung moderner Architektur, wie sie von seinem mittlerweile bereits nach Schweden emigrierten Mentor Josef Frank für Österreich theoretisch eingeleitet worden war.

Eine wenig erfreuliche Auftragslage und die 1938 massiv einsetzende rassistische Hetze gegen die Juden zwangen Ernst Plischke und seine Gattin Anna, die jüdischer Herkunft war, im März 1938 zur Emigration. Mit Glück und durch Vermittlung eines ehemaligen Bauherrn erhielten sie die Einreisegenehmigung für Neuseeland (das seine Grenze nach Kriegsausbruch dicht machte). Eine Anstellung im Ministerium für Wohnbau sicherte ein bescheidenes Auskommen. Eine Aufnahme in das New Zealand Institute of Architects kam nicht in Frage, da er sich der Aufnahmeprüfung nicht unterziehen wollte. So finden sich denn in seinem Nachlass aus dieser Zeit die qualitativ auf höchstem Niveau gezeichneten und schattierten Perspektiven von Entwürfen, die von einem anderen stammten oder zumindest unter dessen Namen figurierten. Nebenbei konnte er ein paar kleine Umbauten für Freunde und Bekannte ausführen. Die Situation ist durchaus jener zu vergleichen, der - allerdings hoffnungsloser - nicht wenige Architekten der tschechischen Moderne nach dem Zweiten Weltkrieg in staatlichen Zeichenbüros ausgesetzt waren.

1947 konnte Ernst A. Plischke die demütigende Phase insofern beenden, als er (direkt vom Premierminister) einen offiziellen Auftrag zum Verfassen einer allgemein verständlichen Schrift über die zeitgenössische Architektur erhielt, die unter dem Titel „Design and Living“ erschien. Im Jahr darauf ging er mit Cedric Firth eine Partnerschaft ein, die bis 1963 dauerte, als er auf Betreiben Roland Rainers nach Wien an die Akademie berufen wurde. In den 15 Jahren in Neuseeland entstand sein architektonisches Hauptwerk: mehrere bestechend schöne, durchaus auch einfache Wohnhäuser und Villen, drei Sakralbauten und ein Bürohaus. Vieles andere blieb Projekt.

In verdienstvoller Weise ist dieses wenig bekannte Werk nun von Eva B. Ottillinger und August Sarnitz aufgearbeitet und in einer umfangreichen Publikation, „Ernst Plischke - Das Neue Bauen und die Neue Welt“ (Prestel Verlag, München), zusammen mit dem OEuvre in Österreich zugänglich gemacht worden. Eine Ausstellung im Wiener Hofmobiliendepot zeigt zur Zeit elegante und edle Möbelstücke und Einrichtungen aus Plischkes Hand.

Das weitere Schicksal Ernst A. Plischkes ist oft beklagt worden, wird aber deshalb für einen Architekten dieses Formats um nichts weniger schmerzlich. Endlich, mit bereits 60 Jahren als Leiter einer Meisterklasse nach Wien berufen, durfte er während zehn Jahren junge (und „jüngere“) Architekten ausbilden, die heute tragend am ausgezeichneten Ruf der österreichischen Architektur beteiligt sind. Abgesehen von einem Einfamilienhaus in Graz und einem in Wien sowie der Erweiterung einer Schule gab es für Ernst A. Plischke in Österreich nichts zu bauen. Man ließ ihn, wie es hierzulande zynisch heißt, „ånglahnt“ stehen.

Spectrum, Sa., 2003.06.21

30. Mai 2003Walter Zschokke
Spectrum

Von der Arglist der Zeit

Der Architektenstand in Zerwürfnissen gefangen, das Wettbewerbswesen eine Karikatur, was soll da aus der Architektur werden? Nichtraucher und Nichttrinker im Gespräch.

Der Architektenstand in Zerwürfnissen gefangen, das Wettbewerbswesen eine Karikatur, was soll da aus der Architektur werden? Nichtraucher und Nichttrinker im Gespräch.

Das Café Museum macht Erneuerungspause. Heimatlos geworden stolpern Nichtraucher und Nichttrinker durch ihr Wien. Doch siehe: Ein ganzes Quartier aus Cafés mit angeschlossenen Museen bietet sich an. Keine Frage, wo sie sich hinsetzen: dorthin, wo sie dem Thema Architektur am nächsten sind. Unter dem Baldachin türkischer Fliesen führen sie ihr Gespräch von vorgestern fort.

Nichttrinker: Es fällt mir schwer, nach dem Verlust unserer vertrauten Umgebung aus rotem Kunstleder, schwarzen Bugholzsesseln und weißen Marmortischchen klare Gedanken zu fassen. Mein Kreislauf ist auf dem Boden, mein Blick trübt sich, und die Gedärme verknoten sich in der Magengrube.

Nichtraucher: Aber zum Raunzen reicht's.

Nichtrinker: Ich trage noch weit größere Sorge: der Architektenstand in Zerwürfnissen gefangen, das Wettbewerbswesen eine Karikatur, was soll da aus der Architektur werden?

Nichtraucher: Da muss ich dir ja fast zustimmen. Die Anonymität der Wettbewerbsteilnehmer wird durch die Zweistufigkeit unterlaufen, exorbitante Bedingungen schränken den Teilnehmerkreis ein, und die sogenannten Stars organisieren sich ihre Aufträge womöglich an Verfahren und Jurys vorbei, bloß um danach ihr Projekt von einem Großbüro mit peinlichen Verlusten an Architekturqualität ausführen zu lassen.

Nichttrinker: Die Architekten müssen sich eben solidarisieren wie einst die Arbeiter.

Nichtraucher: Das geht nur bis zu einem gewissen Grad. Ich will ja nicht ausschließen, dass es auch unter Architekten echte Freundschaften geben soll, aber vom Prinzip des freien Berufs her ist eben jeder dem anderen zugleich Konkurrent, und so summieren sich manche vermeintliche und wirkliche Ungerechtigkeiten, die verletzen und den Einzelnen mit der Zeit verbittern. Es gibt immer mehr Verlierer als Gewinner bei einem Wettbewerb. Die gegenseitige Abstoßung ist größer als die Kohäsion.

Nichttrinker: Dann müssten sie sich eben so organisieren wie die Ritter an Artus' Tafelrunde, als gleichgestellte Einzelkämpfer, die sich in Turnieren bewähren, die fair bleiben und nichttödlichen Ausgang haben. Die Suche nach dem Gral ließe sich ersetzen durch die Suche nach der jeweils neuesten Form, die alles bisherige in den Schatten stellt.

Nichtraucher: Deine Metaphorik ist ja wieder einmal zuschlagend wie ein Burgtor. Mag ja sein, dass sich gewisse „Stararchitekten“ für den Prinz Eisenherz der Szene halten, bloß ist das eine ziemlich platte Vorstellung. Für deine Idealisierung im Sinne des Frühmittelalters sind es schlicht zu viele Architekten geworden. Außerdem ist das Kriegshandwerk nicht geeignet, in einen Beruf übertragen zu werden, dessen Aufgabe ein kreatives, konstruktives Zusammenwirken formaler Vorstellungen, gesellschaftlicher Absichten, sozialer Bedürfnisse, materieller Bedingungen, technischer Möglichkeiten und vieles mehr umfasst. Mit Dreinschlagen und Fertigmachen kommt man da nicht weiter, am nächsten Tag muss mit denselben Menschen wieder gearbeitet werden.

Nichttrinker: Aber mittlerweile ist alles so kompliziert, dass ein Einzelner die großen Aufgaben nicht mehr zu überblicken vermag. Die Architektur geht noch an ihrer Komplexität zu Grunde.

Nichtraucher: Das gilt doch nur für einen äußerst geringen Teil der Aufgaben. Kompliziert werden sie allerdings durch politische Stellvertreterkriege und verdeckte Interessengegensätze. Das Bauen ist technisch auf höchstem Niveau bewältigbar, Architekten organisieren sich oft als Team und haben einen Kreis von kompetenten Fachleuten um sich, mit denen sie meist schon öfter zusammengearbeitet haben, so dass ohne lange gruppendynamische Vorspiele losgelegt werden kann, wenn die Auftragslage klar ist.

Nichttrinker: Aber das Berufsbild hat sich doch völlig geändert, das kann man in allen Fachorganen lesen und sogar in Tageszeitungen.

Nichtraucher: Es wäre schön, wenn diese Alarmisten klarstellen würden, was sich wirklich verändert hat und was schlicht gleich geblieben ist. Aus meiner Sicht hat etwa der Computer die Arbeit in vielerlei Hinsicht erleichtert. Allerdings muss man wissen, welche Methoden außer der Arbeit mit dem Computer für den Entwurfsprozess und die Selbst- und Qualitätskontrolle auch wichtig und effektiv sind. Man darf nicht vergessen, dass der Bildschirm eng begrenzt ist, dass wirklich dreidimensionale Verfahren wie Arbeitsmodelle oder die relative Unschärfe einer Skizze unersetzlich bleiben. Sicher ist es anspruchsvoll, das richtige Mittel für den richtigen Zweck auszuwählen. Um Karl Jaspers abzuwandeln: Man muss das Gefühl für das Nichtcomputerisierbare bis zur Untrüglichkeit schärfen. Aber man kann natürlich das Feld den Consultern, Facility-Managern, Ökoplanern und Feng-Shui-Beratern überlassen. Vielleicht ist diese Aufrüstung auf der Planerseite bloß eine Reaktion auf die Ausweitung der Kommissionen auf Bauherrenseite, wo jeder Recht haben darf und sich niemand die Führung in die Hand zu nehmen traut, weil eine wankelmütige Öffentlichkeit und der politische Gegner drohen. Da versteckt man sich lieber hinter Experten. Und wenn der überladene Kahn dann tief im Schlick festgefahren ist, wie bei Wien-Mitte, ruft man nach Architekten, dass sie ihn wieder flottmachen. Man erhofft sich von einem neuerlichen Wettbewerbsverfahren offenbar ein aktualisiertes Image, das die aufgestauten volkswirtschaftlichen Illusionen, die eine hohe Dichte erzwingen, zu kaschieren vermag. Ob das der Weg ist, zu Bauwerken zu gelangen, die in 100 Jahren auch zum Weltkulturerbe zählen, ist zu bezweifeln.

Nichttrinker: Was willst du eigentlich? Über das Museumsquartier wurde auch permanent gestritten, und jetzt ist es doch richtig gemütlich hier. Schau dir an, wer aller vorbeikommt, um sich zu zeigen oder anderen zuzuschauen, die sich ihrerseits scheinbar absichtslos präsentieren. Das Museumsquartier wird schneller ins touristische Weltkulturerbe inkorporiert sein, als du denken kannst.

Nichtraucher: Was kümmert mich das touristische Weltkulturerbe einer Großstadt. Ich habe da in Drosendorf eine Gasthausgartenplattform gesehen, die schlägt alles, was an Schanigärten das Wiener Pflaster beansprucht. Wenn sie bloß nicht so weit weg wäre.

Vegetarier: Hier seid ihr also. Hätte mir denken können, dass ihr vom Café Museum nur in ein Museumscafé wechseln könnt. Zu mehr Veränderung eurer Gewohnheiten seid ihr offenbar nicht fähig, auch wenn ihr demonstrativ in allem verschiedener Meinung sein müsst. Seid bloß froh, dass Architektur die Menschen immer wieder bewegen wird, so wird euch der Stoff für eure Spiegelfechtereien nie ausgehen.

Spectrum, Fr., 2003.05.30

19. April 2003Walter Zschokke
Spectrum

„Dass er in gutem Ruf steht“

Integrität, Engagement und das breite Wissen, das der Architektenberuf heutzutage erfordert: das zeichnete Reinhard Medek aus. Nachdenken anlässlich eines allzu frühen Todes.

Integrität, Engagement und das breite Wissen, das der Architektenberuf heutzutage erfordert: das zeichnete Reinhard Medek aus. Nachdenken anlässlich eines allzu frühen Todes.

Vitruv schrieb vor bald 2000 Jahren in seinem Werk „Zehn Bücher über Architektur“ über „Die Ausbildung des Baumeisters“, dieser müsse „fleißig Philosophie gehört haben“, und begründet wie folgt: „Die Philosophie aber bringt den vollendeten Architekten mit hoher Gesinnung hervor und lässt ihn nicht anmaßend, sondern eher umgänglich, billig (im Sinne von angemessen) denkend und zuverlässig, und, was das Wichtigste ist, ohne Habgier sein. Kein Werk kann nämlich in der Tat ohne Zuverlässigkeit und Lauterkeit der Gesinnung geschaffen werden. Er soll nicht begehrlich und nicht dauernd darauf aus sein, Geschenke zu bekommen, sondern er soll mit charakterlichem Ernst dadurch seine Würde wahren, dass er in gutem Ruf steht.“

Diesen Vorgaben hat der 1944 geborene Reinhard Medek in selbstverständlicher Weise nachgelebt. Der plötzliche, allzu frühe Tod traf einen Architekten, der sich nicht als „Star“ in Szene setzte. Vielmehr war er ein Mensch, dessen kontinuierliches Arbeiten mehr zur Vertrauensbildung im Interesse der Architektur und der Architektenschaft beigetragen hat als so mancher hoch tönende Kollege. Mit ihm ist ein Architekt verstorben, der diesen Titel mehr als andere verdiente.

Als Mitglied einer Jury, die im Wettbewerb für eine Schulerweiterung zu urteilen hatte, erhielt ich die Gelegenheit, unter seiner Vorsitzführung zu arbeiten. Da gab es kein Vorprellen und voreiliges Sichfestlegen auf ein „Siegerprojekt“. Schritt für Schritt erarbeitete sich die gesamte Jury unter seiner Leitung eine genaue Vorstellung von jedem Entwurf, um sie dann gegeneinander abzuwägen. Die weniger geglückten Arbeiten wurden ebenso durchdiskutiert wie jene, die eine passendere Lösung versprachen. Ein Ausscheiden musste mehrfach begründet werden, und für Zynismen und Häme gab es keinen Platz. In einer abschließenden Diskussion wurde das bessere von zwei guten Projekten in der Folge klar erkannt, sodass der Juryentscheid einstimmig erfolgen konnte. Dabei forderte Reinhard Medek die Fachjuroren heraus, ihre Interpretation der Projekte klar zu formulieren, damit die wesentlichen Punkte offen zur Sprache kamen.

Ein nicht zu unterschätzender Ertrag dieses disziplinierten Vorgehens war, dass die Sachpreisrichter - Bürgermeister, Schuldirektor, Gemeinderäte - nicht überfahren wurden, sondern am Meinungsbildungsprozess teilnehmen und, wo fachlich nicht versiert, jedenfalls die Argumente nachvollziehen konnten. Obwohl der Entwurf in seiner Modernität keineswegs leichtgängig war, ist die Schule mittlerweile gebaut und sieht gut aus. Stärker als in beigeordneten Funktionen tritt beim Juryvorsitzenden der Charakter hervor, denn Macht macht transparent.

Mit seinem Büropartner, dem gleichaltrigen Manfred Nehrer, war Reinhard Medek seit Studienzeiten befreundet. Im Jahr 1970 begannen sie gemeinsam an Wettbewerben teilzunehmen, was ihnen einige Preise und mehrere Ankäufe eintrug. 1973 gelang der Durchbruch mit zwei ersten Preisen für das Bundesschulzentrum Deutschlandsberg und die HTBLA Klagenfurt. Seither besteht das gemeinsame Architekturatelier, das bei 107 Wettbewerben 18 erste Preise, ebenso viele zweite und dritte Preise sowie noch einmal so viele Ankäufe gewonnen hat. In drei Jahrzehnten Partnerschaft erhielten sie ihre Aufträge mehrheitlich über Wettbewerbe.

Sie belegen damit die wesentliche Rolle des korrekt abgewickelten offenen Architektenwettbewerbs für die Architekturkultur und für die Architekten selbst. Denn die Teilnahme dient vorerst dem Selbststudium und der Weiterbildung. Nach dem dritten durchgearbeiteten Schulbauprojekt beispielsweise hat man sich als junges Büro vielleicht so weit qualifiziert, dass beim vierten Mal ein erster Preis und ein Auftrag möglich werden und gerechtfertigt sind. Dieser wichtige Aspekt wird von engstirnigen Präqualifikationsverfahren vernachlässigt und verdrängt. Sie bedeuten daher nicht etwa Liberalisierung, sondern Erstarrung für den Berufsstand. Denn in einer weiteren Hinsicht geht es um konzeptionelle Innovation, die über das Mittel des Wettbewerbs sehr oft hilft, festgefahrene funktionstypologische Muster zu lockern und zu überwinden.

Die Projekte von Nehrer & Medek zeichnen sich aus durch konzeptionelle Stringenz, bauwirtschaftliche Ökonomie und die Integration neuer und neuester Erkenntnisse von Bauphysik und Ökologie, ohne jedoch diesbezüglich dogmatisch zu werden. Ein schönes Beispiel aus ihrer eindrücklichen Werkliste ist das Bundesgymnasium Lustenau. Die Stammklassen sind in Dreiergruppen zusammengefasst, denen Garderoben und eine kleine Halle als polyvalenter Gruppenraum, wie in der Fotografie ersichtlich, zugeordnet sind. Diese Einheiten bilden zusammen mit einem Netz von Gängen einen Cluster, in den ruhige Höfe eingeschnitten sind. Eine Dreifachturnhalle und die notwendige Schulinfrastruktur ergänzen die neuartige Anlage.

Es wird heute viel von einer völligen Neuordnung des Berufsbildes der Architekten geschrieben und geredet. Einerseits stimmt es: Immer mehr Aspekte kommen zu den bisherigen dazu, einzelne Aufgaben wurden ausgegliedert und ein eigener Beruf. Obwohl mittlerweile das Bauen stark industrialisiert ist, sind die Bauwerke technisch anspruchsvoller und komplexer als noch vor wenigen Jahrzehnten. Entsprechend aufwendig gestaltet sich der Entwurf von der ersten Skizze bis zur Ausführungsplanung. Andererseits haben sich städtebauliche Integration und architektonische Durcharbeitung vom Prinzip her nicht verändert.

Das bisher sehr breite Anforderungsprofil des Architekten ist noch breiter geworden. Zahlreiche Teilaspekte sind zumindest zu verstehen, damit sich die Konsequenzen für das Gesamtprojekt abschätzen lassen. In dieser nicht ganz neuen Situation schließen sich Architekten in Teams zusammen, deren Mitglieder verschiedene Segmente der Architektenleistung abdecken. Dies bedingt vor allem die Fähigkeit zur Zusammenarbeit.

Eine erfolgreiche Partnerschaft über mehrere Jahrzehnte, wie sie von Reinhard Medek und Manfred Nehrer mit ihren später dazugekommenen Partnern täglich gelebt und von Bau zu Bau erneuert wurde, hat daher Beispielcharakter. Wie die vielen Architektengruppen unter den jüngeren Fachleuten belegen, erblicken diese darin mehr Zukunftschancen als in der Rolle der genialen Künstlerarchitekten, denen leider nur mehr Fassadengestaltungen, kleinere Applikationen zu Großbauten oder etwa eine Inneneinrichtung übertragen werden. Oder sie gefallen sich darin, wunderschöne Modelle zu assemblieren, die dann von erfahrenen Architekturfirmen baubar gemacht und ausgeführt werden.

Allerdings vermögen die sogenannten Stars, die sich durch Eigenlob und selbstreferenzielle Medienpräsenz permanent in den Vordergrund drängen, einer Mehrheit der Architekturschaffenden schwerlich das richtige Vorbild zu bieten. Denn die meisten Bauaufgaben erfordern eine weniger präpotente Haltung und eine differenziertere Herangehensweise - wie von Vitruv gefordert und seither von vielen Architekten als Berufung ernst genommen. Von Reinhard Medek ließ sich in dieser Hinsicht einiges lernen.

Spectrum, Sa., 2003.04.19

22. Februar 2003Walter Zschokke
Spectrum

Von griffig zu handgreiflich

Ernsthaft über Architektur zu reden oder zu schreiben erfordert vom Autor, das Erkennen von architektonischen Sachverhalten in eine andere Kategorie, in die der Sprache, zu übertragen. Dabei behindern falsche oder populistische Metaphern mehr, als sie nützen.

Ernsthaft über Architektur zu reden oder zu schreiben erfordert vom Autor, das Erkennen von architektonischen Sachverhalten in eine andere Kategorie, in die der Sprache, zu übertragen. Dabei behindern falsche oder populistische Metaphern mehr, als sie nützen.

Ein illustrierendes Wort, dessen Bedeutungsfeld einen komplexen Sachverhalt zu vermitteln vermag, spart manche Zeile langatmiger Erläuterung. Die Suche nach einer griffigen Metapher ist daher die halbe Arbeit, und die Freude des Autors, wenn eine vermeintlich oder gar wirklich gelungene Formulierung gefunden ist, drängt zuweilen zum Überschäumen. Doch gerade dann sind Bedenken berechtigt.

Uralt ist beispielsweise die Geschichte, daß die Wiener angeblich der durchbrochenen Scheinkuppel über dem Secessionsgebäude „Krauthappl“ sagen würden. Damit nicht genug, wird der Zusatz kolportiert, sie würden das „liebevoll“ tun. Abgesehen davon, daß höchste Vorsicht geboten ist, wenn in Wien wer etwas „liebevoll“ sagt, habe ich die vergangenen drei Jahrzehnte nie einen Wiener oder eine Wienerin vom „Krauthappl“ reden hören, sondern immer von „der Secession“. Mag aber sein, daß der Gegenstand dieser Geschichte, die den Touristen, die nicht die Zeit zum Verifizieren haben, von Fremdenführern immer wieder erzählt wird, daß also diese Bezeichnung kurz nach Fertigstellung des Gebäudes in einigen Presseerzeugnissen auftauchte und kurzzeitig Verbreitung fand.

Es braucht allerdings nicht viel Geschichtskenntnis, um zu wissen, daß das Secessionsgebäude, ein demonstratives Monument für künstlerische Erneuerung, damals ungewohnt war und deswegen in diffuser Weise abgelehnt wurde. Es ist daher zu vermuten, daß, wenn überhaupt, die Bezeichnung „Krauthappl“ abschätzig gemeint war und als Totschlag-„Argument“ gegen das Bauwerk und die künstlerischen und geistigen Ideen seiner Entstehungszeit gerichtet war. Daß die Tourismusindustrie heute am meisten davon profitiert, gehört zur Ironie der Geschichte.

Für eine architekturkritische Betrachtung ist die Metapher „Krauthappl“ jedoch untauglich, weil das kugelförmige Gebilde aus übergroßen, sparvergoldeten Lorbeerblättern durchbrochen und ersichtlich leer ist, was dem strukturellen Wesen eines Kautkopfs widerspricht. Von seiner architektonischen Wirkung her leicht, gewinnt die Blätterkuppel im Geviert der kurzen Pylone scheinbaren Auftrieb und symbolisiert eine Aura - eben jene eines Kunsttempels im damaligen Verständnis.

Ein anderes Beispiel steht in Dresden, an der berühmten Brühlschen Terrasse über dem Elbbogen in unmittelbarer Nähe zur Frauenkirche. (So etwas sollte man heute einmal versuchen wollen. Wir verzichten darauf, uns auszumalen, mit welchen Metaphern der Sturm der Entrüstung zuschlagen würde.) Es handelt sich um die Hochschule für bildende Künste, entworfen von Constantin Lipsius und 1894 fertiggestellt. Das vielgestaltige Bauwerk, soeben vorbildlich restauriert, wird überragt von einer gefalteten Glaskuppel, deren Struktur diagonal verstrebter Stahlrippen durch das leicht mattierte Glas durchscheint. Die elegante Kuppel nennt man in Dresden offenbar „Zitronenpresse“, wie der jüngst erschienenen Monographie mit zwei Politikervorworten entnommen werden muß.

Wenn der Volksmund in Sachsen so redet - soll sein. Zur Architekturbeschreibung taugt die Metapher nicht. „Sprich mit dem bauern in deiner sprache. Der wiener advokat, der im steinklopferhansdialekt mit dem bauern spricht, hat vertilgt zu werden.“ Rät uns dringend Adolf Loos. Darüber hinaus geht es um Größenverhältnisse: Eine Zitronenpresse ist ein handliches Küchengerät. Zur architektonischen Wirkung und zum Verständnis der gefalteten Glaskuppel sagt die Metapher nichts aus. Sie führt auf eine falsche Fährte. Was hat eine naive und oberflächliche Formanalogie mit Architektur zu tun, wo Material- und Lichtwirkung, starke Großform und Transparenz den Ausdruck bestimmen.

Nun könnte man einwenden, das sei alles lange her und es seien alte Geschichten. Leider nicht. Seit die haarsträubendsten Metaphern bei Politikern und Journalisten beliebt sind, glauben offenbar manche Architekturjournalisten, die unteren Metaphern-Schubladen seien zum Gebrauch freigegeben: „Neue Zürcher Zeitung“, 9. September 2002, es geht um das Siegerprojekt im Wettbewerb zur Erweiterung des „Landesmuseums“, das in Zürich neben dem Hauptbahnhof steht. Die Architekten Emanuel Christ und Christoph Gantenbein, beide wenig über 30 Jahre, haben ihn gewonnen. Schon zum Einstieg müssen sie sich vom Kulturredaktor als „Nachwuchsarchitekten“ abqualifizieren lassen. Im weiteren wird ihr Projekt mit den Metaphern „barocke Halskrause“ und „Keuschheitsgürtel“ belegt, weil der Autor mit dem Projekt, das dem späthistoristischen Bestand im Burgstil in äußerst spannungsvoller Weise nahetritt, sowie mit der Jury, die es anderen Projekten vorzog, nicht einverstanden ist.

Die Kritik, die er aus seiner Warte übt, ist sein gutes Recht. Der tendenziöse Versuch, unqualifizierte Begriffe zum allgemeinen Gebrauch in die Diskussion werfen, ist unverzeihlich. Es schadet der Architektur als Disziplin und der sachlichen, an das interessierte Publikum herangetragenen Diskussion, wenn derart beziehungslose Totschlag-„Argumente“ gezielt zum Weitergebrauch freigesetzt werden. Der Kritiker hat den billigsten Weg gewählt, die populistische Anbiederung an die Masse potentieller Neinsager, um von der geachteten Plattform seines Mediums aus eine Ablehnungsfront zu provozieren.

Deftige und süffige Metaphern kennzeichnen generell den Populismus. In diesem Fall sind sie so abwegig und in keiner Weise mit dem Wesen des Projekts in Beziehung zu bringen, daß sie auf den Autor zurückschlagen. Wohl mag er sich beim Schreiben die Hände gerieben und „Denen habe ich es aber gesagt!“ gedacht haben, aber um welchen Preis bezüglich seiner Glaubwürdigkeit gegenüber Fachleuten?

Es muß nicht immer eine öffentliche Streitfrage sein, die Anlaß für schwache Metaphern ist. In der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom 10. Februar 2003 versucht ein anderer Autor über eine ganze Seite das Stadthaus Scharnhauser Park bei Stuttgart von Architekt Jürgen Mayer H., ein gewiß schwer greifbares Gebäude, diskursiv zu erklären. Irgendwo unterwegs wird die Fassade mit dem Bedienungsfeld eines DVD-Players verglichen. Wieder der proportionale Mißgriff, aber vor allem die Frage: Welcher DVD-Player, welche Marke, welches Jahr? Weiter unten wird ein Streifenmuster durch einen „Siebziger-Jahre-Stretchpullover“ illustriert. Hat jemand davon gesicherte Bilder im Kopf? Was sollen Sprachbilder, wenn davon keine gesicherten Vorstellungen erwartet werden dürfen?

Natürlich kommt es oft vor, daß unter Architekten beim Entwerfen und Erarbeiten eines Projekts im Atelier sich gruppenspezifische Codes und Übernamen für Teile oder das Ganze herausbilden, die für dieses oder jenes Element am Entwurf oder im Verlauf der Diskussionen im verschworenen Team eine Vorstellungshilfe oder einfach einen temporären Projektnamen liefern. Wenn sie aber zusätzlicher Erläuterung bedürfen, um von interessierten Laien verstanden zu werden, sind sie nicht öffentlichkeitstauglich und sollten die Büroräume nicht verlassen. Wenn Sprache der Verständigung zwischen Fachleuten und interessierten Nichtfachleuten sowie der Aufklärung letzterer im Interesse der Betroffenen dienen soll, dann sind Binnencodes und alle nebulösen Metaphern zu meiden. Jede Kultursprache ist reichhaltig genug, um Sachverhalte, die verstanden wurden, auch klar auszudrücken. Bleiben die Formulierungen verschwommen und sind die Begriffe unscharf, liegt der Verdacht nahe, daß die Schreibenden selbst nicht begriffen haben - wie sollen dann Lesende verstehen können?

Trotz Vorbehalten ist eine Metapher, die den anvisierten Sachverhalt oder auch eine Stimmung gut trifft, eine Bereicherung eines kritischen Textes. Dabei bilden nicht formale Ähnlichkeit, sondern strukturelle Vergleichbarkeit ein wesentliches Qualitätsmerkmal. Gerade bei Architektur verbieten sich Begriffe, die von der Größenordnung her nicht stimmen, weil Bauwerke immer in Relation zur menschlichen Gestalt zu sehen und zu verstehen sind. Ein Gerät ist etwas anderes als ein Möbel, und ein Möbel ist etwas anderes als ein Gebäude, und die Stadt ist die Stadt, auch wenn sich in den Grenzbereichen der Größenordnungen Überschneidungen ergeben, die zahlreiche Möglichkeiten bieten, gestalterische Spannungen zwischen ebendiesen Größenordnungen zu erzeugen und zu nützen. Aber das ist das Entwerfen und Gestalten selbst, nicht der schreibende Versuch, sich im Nachvollzug des Entwurfs mit den Mitteln der Sprache damit auseinanderzusetzen.

Unpassende Sprachbilder verstärken die Verwirrung in den Köpfen, besonders wenn ihre Entstehung und Existenz auf formalistische Eitelkeiten der Schreibenden zurückzuführen sind. Meist sind es der Dingwelt entlehnte Bedeutungen, die Bauwerken übergestülpt werden. Aber hier liegt die Hauptgefahr, denn Bedeutungen haften bloß zeitlich begrenzt an Bauwerken und Bauelementen.

Sie ändern und verlieren sich im Zeitenlauf, und durch Nutzung und gesellschaftlichen Kontext entstehen andere, neue. Im Interesse der Architektur tun wir gut daran, die Sprache der Beschreibung und Charakterisierung so zu wählen, daß diese nicht schon nach wenigen Jahren unverständlich geworden sind, weil Schlüsselformulierungen aus zeitgeistigen Metaphern bestehen.

Sprache im Umgang mit Architektur sollte sich daher unmittelbar an den Bauwerken und an deren Lebensdauer orientieren. Sie muß auf längere Sicht verständlich bleiben. Dann vermögen jene, die sich für das Thema interessieren, auch ohne Fachleute zu sein, mit etwas Übung immer besser den Ausführungen zu folgen und tiefer in den Gegenstand einzudringen. In einem zweiten Schritt läßt sich auch Neuartiges erklären und verstehen, weil die Wörter vertraut und ihre Bedeutungen bekannt sind.

Wenn Kritiker, die sich ja neuerdings „Architekturvermittler“ nennen, das allgemeine Architekturverständnis fördern wollen, müssen sie zuerst darauf achten, daß ihre Sprache in negativen wie in positiven Formulierungen von den Adressaten verstanden wird. Populistische Anbiederungen sind in diesem Zusammenhang kurzsichtig und wenig zielführend und daher verantwortungslos.

Spectrum, Sa., 2003.02.22

25. Januar 2003Walter Zschokke
Spectrum

Heran mit Feder und Bleistift!

Das beliebte Spiel aller selbsternannten Erneuerer: das Kind mit dem Bad auszuschütten, betrifft heute das Zeichnen von Hand. Weil es angeblich seit Einführung des computergestützten Entwerfens überflüssig geworden ist, wird es nicht mehr geübt. Ein Aufruf.

Das beliebte Spiel aller selbsternannten Erneuerer: das Kind mit dem Bad auszuschütten, betrifft heute das Zeichnen von Hand. Weil es angeblich seit Einführung des computergestützten Entwerfens überflüssig geworden ist, wird es nicht mehr geübt. Ein Aufruf.

Wenn der 1933 geborene portugiesische Architekt Alvaro Siza zum Stift greift, um den großartigen Innenraum des Pantheon zu zeichnen, sind auf dem Blatt nicht bloß die innere Fassade und die Kuppel bis und mit dem Okulus zu sehen, sondern auch der Block, die zeichnende Hand, ja selbst das Knie des Nachbars. Auf der kleinen Seite des viel genützten Skizzenbuchs (Nr. 66) kommt zusammen, was mit der Bewegung der Augen, ja des Kopfes eingefangen werden kann. Mit Leichtigkeit schafft Siza Raum und Tiefe und vermag deutlich mehr vom Wesen dieses sakralen Zentralraums zu erfassen, als die Bemühungen des Photographen einfangen, selbst wenn dieser den Lichteinfall durch die Deckenöffnung stellvertretend für die von der Linse nicht mehr erreichten Quelle ins Bild holt.

Das älteste erhaltene Skizzenbuch eines Baumeister-Architekten, jenes von Villard de Honnecourt aus dem 13. Jahrhundert, das Lern- und das Lehrbuch seiner Bauhütte, zeigt Skizzen, die ebenso zeitlos wirken wie viele Zeichnungen von Architekten seither, mit denen Bauwerke, Räume, Maße, Proportionen und Details festgehalten wurden. Es handelt sich dabei um ein Selbststudium am originalen Objekt, eine Intensivierung der Wahrnehmung und Systematisierung des Erkenntnisvorgangs über das Medium des Zeichnens mit der freien Hand. Dabei geht es um ein Einüben der Verbindung von Auge, Hirn und Hand. Denn was nicht gesehen, nicht erkannt wurde, läßt sich schwer zeichnen. Neben dem Führen des Stifts wird das genaue Hinsehen geübt, aber ebenso das Schauen, jener vorerst absichtslose Blick auf die Gesamtheit, der dem Wesen hinter den Oberflächen nachspürt, bei dem Erinnern und Vergleichen verständnis-bildend dazukommen.

Nicht alle Augenmenschen sind Zeichner. Seit Erfindung der Photographie bietet sich dieses Medium als Stütze der Erinnerung und Methode der Wahrnehmung an. Aber das genaue Hinsehen wurde damit keineswegs überflüssig. Wer nicht vorher überlegt hat, was er photographieren will, muß zu Hause zuerst feststellen, was er alles abzulichten vergessen hat. Immerhin lassen sich auf der Papier-kopie oftmals Dinge finden, die vorher nicht gesehen wurden. Das und anderes unterscheidet das Photographieren kategoriell vom Zeichnen und ersetzt dieses daher nicht. Es ist als Medium neu dazugekommen. Die Arbeit wurde reicher und anspruchsvoller.

Seit einigen Jahren macht die technische Entwicklung auch den Videofilm für die Archi-tekturwahrnehmung praktikabel. Hier kommen Vorteile wie Raumton und Bewegung - als Bewegung des „Auges“ im Raum sowie der Blick auf sich Bewegendes im Raum - dazu. Die Anforderungen zur Erstellung eines aussagekräftigen Kurzfilms sind jedoch hoch, weshalb das eigenständige, aber anspruchsvolle und aufwendige Medium nur ausnahmsweise zu den bisherigen dazukommt. Wie leicht und unkompliziert sind im Vergleich dazu Skizzenblock und Stift.

Immerhin, alle diese Mittel der medial gestützten Betrachtung dienen den Architekten dazu, Erfahrungen zu sammeln, das Gefühl und das Vorstellungsvermögen für Räume in ihrer wahren Größenordnung zu üben und zu schärfen, damit dann bei der Umkehrung, beim Projektieren, die gewählten Proportionen den Erwartungen entsprechen. Das ist wichtig, weil Gebautes niemals unabhängig vom Menschen, von seiner Gestalt als Bezugsgröße erlebt werden kann. Immer sind die Proportionen von Mensch zu Raum und Bauwerk zu bedenken.

Diese Überlegungen sind alt. Andrea Palladio (1508 bis 1580) schreibt in seinen „Quattro Libri dell'Architettura“: „Die Säulen einer jeden Ordnung sollen so geformt sein, daß der obere Teil dünner sei, und in der Mitte soll sie eine leichte Schwellung haben. Bei der Verjüngung ist zu beachten, daß sie um so geringer ist, je länger die Säule ist, da aus der Distanz betrachtet die Höhe von selbst den Effekt der Verjüngung bewirkt.“ In der Folge gibt Palladio dann die unterschiedlichen Verhältnisse von Säulenfuß- und Säulenhalsdurchmesser bei verschieden hohen Säulen an. Selbstverständlich bezieht er sich dabei auf Vitruv. Auch wenn wir heute nicht mehr unbedingt Säulen gestalten, bauen wir weiterhin für Menschen, deren Augenhöhe sich seit damals nicht wesentlich verändert hat. Eine nicht geringe Rolle spielt die Zeichnung als Unterstützung einer mündlichen Erläuterung. Oft wird in der Diskussion eine Idee geboren, die dann als schnell hingeworfene Skizze Form gewinnt und das Gesagte unterstützt.

Die Vieldeutigkeit einer ausschließlich textlichen Beschreibung ohne klärende Zeichnungen sind von historischen Beispielen her bekannt. So gelang es weder, die von Plinius in seinen Briefen beschriebene Villa glaubhaft zu rekonstruieren, noch, eine gesicherte Darstellung von Cäsars Rheinbrücke abzuleiten, obwohl dies seit der Renaissance immer wieder versucht wurde. Über zu viele Ecken, Kanten, Flächen, Räume und Verbindungen verfügt ein dreidimensionales räumliches und konstruktives Gebilde, als daß der lineare Faden eines Textes eine eindeutige Übertragung vom Betrachter und Schreibenden zum Leser sicherzustellen vermöchte.

Zu viel verliert sich zwischen den Zeilen, zu auf wendig ist die topologische Verortung jeder Angabe. Wieviel einfacher - und noch immer schwer genug - wird jedoch die Übermittlung, wenn sie von Skizzen gestützt wird. Aus der freien Hand zeichnen zu können wird daher weiterhin ein Wettbewerbsvorteil bleiben.

Seit Mitte der 1980er Jahre hat sich das Zeichnen am Computer, CAD genannt, durchgesetzt. Die enormen Vorteile sind offensichtlich, und wer sich überhaupt noch an den wiederkehrenden Ärger mit verstopften Tuschestiften erinnert, weint ihnen keine Träne nach. Doch auch hier muß festgehalten werden, daß das Neue nur Teile des Leistungsfeldes der bisherigen Medien abzudecken vermag. Es kommt eben neu dazu, und wie immer verspricht man sich davon wunder was, und mit der Zeit spielt sich ein neues Verhältnis ein.

Außerdem sind die Menschen, besonders die Architekten, verschieden. Der eine liebt dies, die andere das. Der sinnliche Umgang mit Papier und Stiften, ob Blei oder Farbe, hat seinen eigenen Reiz. Entwerfende werden selber herausfinden müssen, was ihnen am ehesten entspricht.

Verluste gibt es auch zu beklagen, etwa die der relativen Unschärfe im frühen Projektstadium. Bei der Eingabe müssen viele Fragen exakt beantwortet werden, die man früher auf eine spätere Projektstufe verschieben konnte. Vom Papierverbrauch gar nicht zu reden. Eine Hauptgefahr ist nicht im CAD zu sehen, sondern darin, daß die Referenzen für das Entwerfen nicht an Ort und Stelle zeichnerisch oder photographisch erarbeitete Gebäude- und Raumwahrnehmungen sind, sondern Abbildungen publizierter Projekte oder ausgesuchte Publikationsbilder der Schokoladenseiten von neuen Bauten. Damit verliert sich die geübte Beziehung: Objekt-Auge-Hand-Zeichnung und kann in der Umkehrung: Zeichnung-Hand-Auge-imaginiertes Objekt beim Entwurf nicht mehr zum Tragen kommen. Oft liegen dann Abbil-dungen von Gebäudeoberflächen vor, die über dessen architektonischen Charakter wenig aussagen. Aber Architektur war immer schon mehr als das Nachbauen dreidimensionaler Bilder.

Auch wenn es auf den ersten Blick als Generationenproblem erscheinen mag, wenn Architekt Gustav Peichl (Jahrgang 1928) im Titel der dieser Tage im Akademiehof eröffnenden Ausstellung seiner typischen Entwurfsskizzen ein Zurück zu Feder und Bleistift fordert, ist dies natürlich einerseits die subjektive Meinung eines Architekten, der den Zeichenstift beherrscht. Aber andererseits steht dahinter sein Wissen und die Erfahrung um die spezifische Rolle und die Bedeutung der Zeichnung. Für ihn ist die Skizze die Sprache der Architektur. Das mag vielleicht nicht für jeden stimmen. Der Umkehrschluß: daß dies deshalb nicht mehr geübt werden müsse, ist sicher falsch.

Allerdings ist die Architektenzeichnung nicht notwendigerweise selber „Kunstwerk“, auch wenn sie durchaus künstlerischen Ausdruck haben kann, sondern Mittel zum Zweck.
Sie kann Wahrnehmungsstütze, Ideenskizze, Erläuterungszeichnung sein. Dabei darf sie durchaus ungelenk scheinen, entscheidend ist, daß damit Inhalte schnell und effizient transportiert werden.

Denn die Kunst des Architekten beweist sich im Bauwerk. Es dürfte interessieren, daß an einer der besten technischen Hochschulen des Kontinents die angehenden Ingenieure heute CAD und das Zeichnen von Hand lernen. Jene, die das Lehrprogramm neu zusammengestellt haben, werden sich dabei sicher etwas gedacht haben.

Ein unbestrittener Meister der Architektur, Alvaro Siza, dessen Werke wohl kaum als unzeitgemäß gelten dürften, hat sich jedenfalls etwas gedacht und für uns aufgeschrieben: „Plötzlich fängt der Bleistift oder der Kuli an, Bilder festzuhalten. Gesichter im Vordergrund, flüchtige Profile oder klare Details, die Hände, die sie zeichnen. Linien, erst furchtsam, starr, ohne Präzision, später eigensinnig analytisch, in Momenten trügerisch endgültig, frei bis zur Trunkenheit; später müde und schließlich belanglos. Für die Dauer einer wirklichen Reise erlangen die Augen, mit ihnen der Geist, unerwartete Aufnahmefähigkeiten. Wir erfahren unmittelbar. Was wir gelernt haben, taucht wieder auf, gelöst in den Linien, die wir später zeichnen.“

Spectrum, Sa., 2003.01.25



verknüpfte Akteure
Siza Vieira Álvaro

28. Dezember 2002Walter Zschokke
Spectrum

Alt werden, ohne alt zu sein

Die Lebenserwartung von Bauwerken ist nicht nur von technischen Aspekten abhängig. Der architektonische Ausdruck muß kulturelle und soziale Akzeptanz finden, sonst kommt ein Bau vor der Zeit in die Jahre.

Die Lebenserwartung von Bauwerken ist nicht nur von technischen Aspekten abhängig. Der architektonische Ausdruck muß kulturelle und soziale Akzeptanz finden, sonst kommt ein Bau vor der Zeit in die Jahre.

Vor Jahrtausenden war es vermutlich die exakte Geometrie, jene der Pyramiden und später die dem Pantheon eingeschriebene Kugel, die diesen Monumenten eine Aura des Absoluten verlieh, die zerstörerisches Handanlegen hintanhielt und ihnen Dauer sicherte. Die technischen Probleme langlebigen Bauens waren bereits unter historischen Bedingungen und sind auch heute - theoretisch - weitgehend gelöst. Praktisch ergeben sich jedoch immer wieder Schwierigkeiten, weil wider besseres Wissen schleißig gebaut wird - oder weil der architektonische Ausdruck im Zuge allgemeiner kultureller Veränderungen verschlissen ist, bevor die materielle Substanz am Ende ihrer Tage steht.

Diesen Widerspruch mögen die beiden Abbildungen illustrieren. Da sind einmal vier Reihenhäuser aus Holz, errichtet in einem verstädterten Ballungsraum, sorgfältig geplant und ausgeführt von einem erfahrenen Architekten. Nahezu alles wurde bedacht und auf eine lange Lebensdauer ausgerichtet. Aber: Wirken sie nicht etwas streng, sogar lehrerhaft, ein wenig unfroh. Ob das ihre kulturelle Lebensdauer nicht eher behindert als fördert? Das zweite, ein Musiksaal hinter einem alten Café in einer Großstadt, ist so günstig gebaut, wie es eben ging. Der zeitgeistig gestaltete Innenraum wird von einer vielflächig deformierten Oberfläche definiert. Schrille Gegensätze - Kronleuchter aus einer Kirche, Lampen aus einem Operationssaal - ergänzen das Bühnenbild. Das mag zwar kurzlebig, aber für eine spritzige Anmutung zweckhaft sein. Nach zehn Jahren wird man sich voraussichtlich etwas Neues überlegen, um wieder dem Zeitgeist zu entsprechen. Der vom Rohbau unabhängige Innenausbau läßt sich, da amortisiert, bedenkenlos erneuern. Die Metallgitter des Ausbaus sind rezyklierbar, ebenso die Requisiten - falls sich wer findet.

Demonstrativ aktuell ist sowieso kurzlebig, allzu demonstrativ langlebig verbraucht sich auch. Aus dem von den zwei Beispielen aufgespannten Dilemma weist vielleicht Dietmar Eberle einen Weg, indem er frühzeitig fragt: „Wie wird ein Gebäude alt?“ Da 25 Prozent des Gesamtenergieverbrauchs beim Bau anfallen, entscheide sich deren optimale Nutzung „nicht anhand der Solaranlage, sondern anhand der kulturellen Qualität des Gebäudes. Denn diese bestimmt die Lebensdauer“: „Wenn wir irgendwelche technischen, ökonomischen oder energetischen Ziele umsetzen wollen, müssen wir dafür sorgen, daß sie eine soziale und kulturelle Akzeptanz haben.“ (Er sagt sorgen, nicht kämpfen.) Dietmar Eberle spricht hier die gesellschaftliche Verantwortung des Architekten an, die zu oft leicht abwertend, als naives Weltverbesserertum abgetan wird. Allerdings finden wir diese Forderung (wie so manches) bereits bei Vitruv.

Adolf Max Vogt, Zürcher Emeritus für Architekturgeschichte, formuliert im Gespräch mit Anton Schweighofer zurückhaltend: „Architekt zu werden bedeutet, in irgendeiner Weise etwas besser machen, etwas verändern zu wollen, und zwar sehr konkret zugunsten von jemandem. Wenn man dieses Bedürfnis nicht hat, kann man tausend andere Berufe wählen.“ Wolf D. Prix sagt es etwas elitärer: „Der Architekt, der die Welt nicht verbessern will, bleibt Häuslbauer.“ Maßstab ist für ihn die gebaute Innovation. Man kann es auch billiger geben, es muß nicht immer gleich die ganze Welt sein. Die Bedenken von Wolf D. Prix hinsichtlich des Mittelmaßes teile ich nicht. Warum soll eine Anhebung des Durchschnitts die Spitzenleistungen behindern? Etwa weil sich letztere dann nicht mehr so deutlich abheben?

Damit sich nachhaltiges Bauen und nachhaltige Architektur gesamtökonomisch auswirken, muß auch die Masse des Gebauten besser werden. Das braucht die Spitzenleistungen keineswegs zu kratzen, sie wirken ohnehin als Leitsterne. Architektur wird weiterhin eine langsame Kunst bleiben, weil eine vielfältige Industrie dahintersteht, die Baustoffe, Bauteile und Bauverfahren zu ökonomischer und technischer Machbarkeit und Reife entwickeln muß, sollen die neuen Ideen auch zu annehmbaren Kosten realisiert werden. Erfahrungen bei Montageverfahren müssen sich verfestigen, sonst sind die Kosten nicht kalkulierbar. Ein zu schnelles Rotieren der Innovationsspirale führt zu einem gewaltigen „Potlach“, jener demonstrativen Vernichtung künstlerischer oder kultureller Werte durch konkurrierende Potentaten.

Beim Bauen betrifft dies vor allem das Fachwissen der Ausführenden. Was das für die Dauerhaftigkeit der Gebäude heißt, läßt sich leicht ermessen. Dem Tübinger Philosophen Otfried Höffe verdanken wir den Begriff „Verblüffungsresistenz“. Damit bezeichnet er „die Fähigkeit, nicht jede Neuerung von heute für revolutionär neu zu halten“. Sondern dafür Erfahrungen und die Lehren der Geschichtswissenschaften zu nutzen.

Architekten dürften sich an Adolf Loos erinnern, der eine Neuerung nur guthieß, wenn sie eine Verbesserung brachte. Modernisten neigten zu allen Zeiten, die Rolle der Geschichte zu verdrängen oder zu ignorieren. Im blinden Vorwärtsstürmen vergessen die selbsternannten Avantgardisten, ihr Schaffen sozial und kulturell abzustützen, wofür ihnen die Geschichte zahlreiche Ansätze bieten würde. Unterwegs wundern sie sich, wenn Bauherren und Nutzer zurückbleiben. Anstatt zu reflektieren, beschimpfen sie diese dann noch.

Beim derzeitigen Zustand öffentlicher Haushalte sind überproportional hohe Baukosten für Bauaufgaben kaum mehr argumentierbar. Diese Form des Potlach mögen sich vielleicht einige Private leisten. Mancher mag sich mit einer miniaturisierten Spielform des Potlach, dem häufigen und demonstrativen Rauchen teurer Zigarren zufrieden geben. Denn es bringt nichts, gegen die Facility-Mangager zu polemisieren. Sie sind eine von vielen Randbedingungen. Eher hilft die Bescheidenheit eines Jacques Herzog: „Nachhaltigkeit hat keine Form, keine Gestalt. Wenn man von Formen ausgeht und an diesen festhält, ist die Nachhaltigkeit schon im Eimer. Man kann keine gute Architektur machen, ohne all diese Regeln der Kunst zu beachten. Manchmal gelingt es besser, manchmal weniger gut. Die Techniker helfen uns dabei. Manchmal besser, manchmal weniger gut.“

Spectrum, Sa., 2002.12.28

30. November 2002Walter Zschokke
Spectrum

Jetzt wird's körperlich

Kann man von zuviel Architektur auch einen Ausschlag bekommen? Ob eine diesbezügliche Überempfindlichkeit ansteckend ist oder genetisch bedingt, bleibt jedenfalls ungeklärt. Ein fiktives Gespräch.

Kann man von zuviel Architektur auch einen Ausschlag bekommen? Ob eine diesbezügliche Überempfindlichkeit ansteckend ist oder genetisch bedingt, bleibt jedenfalls ungeklärt. Ein fiktives Gespräch.

Soll ich mir die Gespräche von Nichtraucher mit Nichttrinker, die an ihrem Tisch im Café Museum sitzen, wieder einmal anhören, oder lasse ich die beiden hitzigen Debattierer (Macher sind sie eher nicht) an ihrem Tisch allein? befragt sich der Berichterstatter. Zu spät, sie haben mich erkannt und rufen mich her. Aber wer weiß, vielleicht wird's ja interessant.

Nichttrinker: Ich habe neuerdings eine Architekturallergie. Das ist kein Spaß.

Nichtraucher: Eine was?

Nichttrinker (mit leicht stolzem Unterton): Eine Architekturallergie.

Nichtraucher: Ja gibt's denn das? Mit Katzen kennt man das ja - aber gegenüber Architektur?

Nichttrinker: Doch, doch, das gibt es sehr wohl. Oft reicht es schon, wenn ich in den Medien etwas sehe oder davon lese.

Nichtraucher: Und wie äußert sich die Allergie, welche Symptome stellst du an dir fest?

Nichttrinker: Der Hals wird trocken, die Nase fängt an zu rinnen, am Rücken steigt ein Kribbeln hoch, der Puls wird flach, ich fange an zu frösteln und verfalle umgehend in eine tiefe Depression. Und es gibt auch Hautausschlag.

Nichtraucher: Das klingt ja eher ernsthaft. Und was tut man dagegen?

Nichttrinker: Ich halte mich von allem fern, was auch nur von weitem nach absichtsvoll gestalteter Architektur ausschaut, und zwar sowohl im Original wie auch in ausgestellter und in publizierter Form.

Nichtraucher: Und mit dieser Diät kommst du zurecht? Architektur ist ja eine ziemlich öffentliche Sache, der man schwerlich ausweichen kann.

Nichttrinker: Na ja, beim Radfahren mache ich einen Buckel, da rutscht sie dann drüber weg. In der Straßenbahn ist es schwieriger, die läuft auf Schienen, da hilft nur Augen zumachen. Im Auto geht das nicht, da muß ich bei der Routenwahl äußerst planmäßig vorgehen. Wenn bloß die Einbahnstraßen nicht wären. Und wenn unerwartet Architektur auftaucht, klappe ich die Sonnenblende herunter, das reduziert das Blickfeld und lindert das Bauchweh.

Nichtraucher: Bauchweh bekommst du auch?

Nichttrinker: Ja, und wie. Du weißt ja, wie sehr mich das Thema schon immer beschäftigt hat, aber jetzt wird's körperlich.

Nichtraucher: Aber die Zeugungsfähigkeit ist nicht beeinträchtigt?

Nichttrinker: Ich weiß nicht - den Wahrheitsbeweis möchte ich eher vermeiden, wenn ich an die Folgekosten denke.

Nichtraucher: Versuchen wir es mal andersherum. Worauf bist du denn speziell allergisch?

Nichttrinker: Auf alles, was sich so extrem auffällig in den Vordergrund drängt, mit aller Gewalt auf sich aufmerksam machen will, städtebaulich grundlos quer zur Umgebung steht und die Nachbarhäuser mit seiner schieren Präsenz gleichsam heruntermacht. Kurz, alles, was mir ungewollt ins Auge steigt.

Nichtraucher: Ich bin zwar kein Arzt, aber läßt es sich irgendwie eingrenzen, etwa auf neue Bauten, auf besonders große oder hohe Häuser?

Nichttrinker: Ja, neue zu meist, aber ältere auch. Ganz schlimm sind gewisse Türme. Ich kann beispielsweise nicht mehr auf der Reichsbrücke, sondern nur noch mit der U1 hinüber nach Kagran fahren. Die belegte Zunge vom U-Bahn-Design nehme ich in Kauf, aber oben drüber käme noch Schüttelfrost und sogar Netzhautablösung dazu.

Nichtraucher: Na, na, na; da wird's doch Abstufungen geben. Kannst du denn Türme nennen, bei denen du keine allergischen Symptome bekommst?

Nichttrinker: Bei Fernleitungsmasten bleibt alles ruhig, und auch die Speicherbauten im Alberner Hafen bewirken keine Abweichungen vom Neutralzustand. Aber bei den hochgezüchteten, aufgetakelten Vielgeschoßern, die sämtlich nur „Ich, ich, ich!“ rufen, ist die Allergie voll da. Weil sie fast von überall zu sehen sind, stellen sie für mich eine echte Bedrohung dar.

Nichtraucher: Und ein Abflauen der Allergie im Sinne einer Gewöhnung gibt es nicht?

Nichttrinker: Manchmal, das gebe ich ja zu, ist es weniger schlimm. Ja, ich kann mich sogar ein wenig an bestimmte Neubauten gewöhnen, wenn ich, die Symptome verdrängend, genauer hingeschaut habe und das eine oder andere zu erfassen, zu begreifen meine.

Nichtraucher: Hilft es dir denn, wenn einer von diesen Architekturkrankenpflegern oder -krankenschwestern, diesen „Architekturvermittlern“ ein Bauwerk vorstellt?

Nichttrinker: Solange die von einer erkennbaren Position weg und ohne viel Brimborium ein Bauwerk erläutern und ihre Meinung klar ausdrücken, komme ich ja ohne Bauchflimmern durch, aber wehe, es tauchen diese dürftigen Metaphern auf, da schießt mir das Wasser in die Augen, daß ich meine, ich bekomme den grauen Star. Aber Geschriebenes ist nicht so schlimm, ich muß es ja nicht lesen. Man spart sich sogar viel Zeit auf diese Weise. Zeitungen haben den immensen Vorteil, daß man ganze Seiten überspringen kann.

Nichtraucher: Eigentlich, wenn ich es genauer betrachte, ist Architektur selber Medium, drückt aus, was der Architekt zu einem bestimmten Zeitpunkt wollte, und vermittelt sich am besten direkt im Original. Bloß, um Architektur unmittelbar zu erleben, wird man sich hinbegeben und das Anschauen auch irgendwie einüben müssen, indem man anderen in ihrem Erkenntnisgang nachfolgt oder es eben selber versucht. Andererseits möchte man vielleicht wissen, was in der Sache erfahrene Leute von einem Bauwerk halten.

Nichttrinker: Aber diese „Kritiker“ müssen immer so gescheit daherschreiben, und überhaupt, nicht wenige agieren doch als bloße Propaganda-Schreiber für eine bestimmte Strömung.

Oder sagen wir doch ruhig: für eine bestimmte Clique. Und gewisse Architekten werden mit Samthandschuhen behandelt, während andere gar nie vorkommen.

Nichtraucher: Ich will ja hier nicht die Kritiker verteidigen - aber für architekturinteressierte Laien ist es doch wichtig, daß sie sich bei einigermaßen kompetenten Fachleuten informieren können. Und schließlich gibt es ja jede Menge Führungen zu alten und neuen Bauwerken. Davor und darin darf sich dann jeder selber seine Meinung bilden.

Nichttrinker: Bist du naiv! So läuft das doch nicht. Meinungen werden durch die Medien gemacht. Jene, die sich selber
kritisch eine eigene Meinung erarbeiten, sind sehr dünn gesät.

Nichtraucher: Nach dir sollte man womöglich auf Architekturberichterstattung und -diskussion ganz verzichten. Aber eine öffentliche Sache sollte auch öffentlich verhandelt werden.

Nichttrinker: Ja, schon, aber von Leuten, die sich eingearbeitet haben. Das Neujahrskonzert wird auch von zig Millionen Hörern und Zusehern wahrgenommen, aber bei der Wahl des Dirigenten und bei der Interpretation der Stücke gibt es vorher keine Publikumsbefragung.

Nichtraucher: Musik ist Musik, und Architektur ist Architektur. Die beiden Kunstgattungen sind zu verschieden, als daß man so kurz greifende Vergleiche ziehen könnte. Bleiben wir daher bei letzterer. Sie ließe sich durchaus öffentlich verhandeln, wenn da nicht absichtlich und unabsichtlich von verschiedenen Seiten manches vernebelt würde. Es gibt Investoreninteressen, Bauträgerinteressen, Architekteninteressen, dann kommt noch die Politik dazu, die das Produkt womöglich unbedingt als Erfolg verkaufen will, weit hinten dann die Nutzer oder Bewohnerinnen. Aber das hat alles mit Architekturqualität wenig zu tun.

Nichttrinker: Ja eben, und weil erkennbare Mittelmäßigkeit und dreist behauptete Qualität sich so oft nicht decken, bekomme ich dann von diesen Doppelbildern eine Architekturallergie.

Vor kurzem ist der Vegetarier dazugestoßen; als stiller Zuhörer halte ich mich zurück.

Vegetarier: Hast du noch nie etwas von bewußt selektiver Wahrnehmung gehört? Du mußt ja nicht alles in deine Augen einsaugen, was herumsteht. Du mußt einfach das, was dir Schwierigkeiten bereitet, ausblenden. Das machen wir sowieso die ganze Zeit. Wenn ich kein Fleisch esse, lasse ich auch einen Teil des Eßbaren einfach aus. Du mußt dir eben die Rosinen herauspicken. Der Anteil an achtbarer alter und ansprechender neuer Architektur ist größer, als du wahrhaben willst. Du mußt sie bloß aufsuchen. Alle anderen bekannten Kunstwerke werden gezielt aufgesucht, und manchmal stößt man sogar zufällig auf ein tolles Stück. Das ist doch auch bei den meisten Bauwerken so. Nur in eigenartig ausgesuchten Sonderfällen wird plötzlich so getan, als hinge die Zukunft der Menschheit davon ab, daß alle Gebäude zu etwas Besonderem werden. Das sind doch Scheingefechte, in Wirklichkeit geht es um ganz andere Fragen. Eine vertane Chance, eine Peinlichkeit oder Scheußlichkeit, ja auch ein Kleinod mehr oder weniger, das ist doch nicht das Kernproblem, das ist doch immer so gelaufen. Über die Jahrhunderte bleibt dann ein Rest vom Besseren übrig. Dazwischen gibt es glücklicherweise auch viel Unauffälliges, das die Einzelfälle umgibt, auffängt und sogar trägt. Ohne dieses Unauffällige wäre es wohl kaum auszuhalten. Man stelle sich vor, alles wäre „Architektur“, das wäre ja totalitär. So gesehen, sollten die Architekten vermehrt an einem Anwachsen dieses Unauffälligen arbeiten. Das dürfte schwierig genug sein und sie genauso beschäftigt halten wie ihre eitlen Produkte auch.

Spectrum, Sa., 2002.11.30

09. November 2002Walter Zschokke
Spectrum

Schwebender Fels unter Glas

Natur, Kunst und Landeskunde: diese drei Sparten betreut das Niederösterreichische Landesmuseum. Hans Hollein hat mit seinem Neubau im Kulturbezirk Sankt Pölten für jede dieser Sparten individuelle Innenraumkonzepte entwickelt.

Natur, Kunst und Landeskunde: diese drei Sparten betreut das Niederösterreichische Landesmuseum. Hans Hollein hat mit seinem Neubau im Kulturbezirk Sankt Pölten für jede dieser Sparten individuelle Innenraumkonzepte entwickelt.

Der vielgestaltige Gebäude komplex zwischen Fest spielhaus und ORF-Gebäude wurde soeben als letzter Bau im Kulturbezirk des niederösterreichischen Regierungsviertels fertiggestellt. Dabei verlängert ein neuer Gebäudeflügel im Westen die vom Festspielhaus vorgegebene städtebauliche Kante. Er ist über einen ebenfalls neuen Verbindungstrakt an den schon einige Jahre bestehenden östlichen Flügel mit der „Shedhalle“ angeschlossen. Gemeinsam umfassen die drei Trakte einen leicht abgesenkten, nach Süden offenen Gartenhof, in den drei große, gestaffelte Vierteltonnen hineingreifen. Der Hauptzugang zum neuen Mehrspartenhaus befindet sich unter der bekannten geneigten Glaswelle am Südrand des Schubertplatzes.

Der neue Verbindungstrakt enthält die Foyerhalle mit Kasse, Garderoben et cetera. Daran schließt ein fensterloser, mit dunklen Eternitplatten diagonal verkleideter Quader an. Das Innere ist als 3D-Kino eingerichtet, in dem ein zirka 25minütiger Film den Einstieg in den Bereich Landeskunde vermittelt. Im „Museumslabor“ im Erdgeschoß des westlichen Gebäudeflügels erfolgt dann die Möglichkeit zur Vertiefung und Vernetzung über eine Batterie Computerkonsolen.

Für alte Kunst aus Niederösterreich enthält das Ober-geschoß zwei Ausstellungssäle, die mit spätmittelalterlicher und barocker Kunst sowie Werken aus dem 19. Jahrhundert gut bestückt sind. Ein Verbindungsgang auf dem Dach des Foyers führt hinüber zur Shedhalle. Er dient als Skulpturenhalle und ist hoch und breit genug für Werke des Bildhauers Anton Hanak. Im östlichen Flügel sind ausgezeichnete Werke niederösterreichischer Künstler des 20. Jahrhunderts dank einer intensiven Ankaufstätigkeit des Landes bestens vertreten.

Die drei gestaffelten Vierteltonnen überwölben einen vier Geschoße hohen Raum, in dem eine vielfältige, dichte und sorgfältig gestaltete Naturschau entlang dem Leitthema Wasser junge und alte Besucher fesseln wird. Im Süden, zum ORF-Gebäude hin, wird ein mächtiger Trapezblechcontainer von einem massiven, rosa gefärbten Sockel leicht verkantet hochgestemmt. Er schließt den Komplex ab, bildet allerdings zur Nachbarschaft eine eher kühle Schulter aus.

Von außen betrachtet erscheint die Anlage gleichsam collageartig aus einem guten Dutzend individueller Elemente agglomeriert, die ihren Nutzungscharakter meist in abstrahierter Weise nach außen abbilden. Sie sind dicht aneinandergestoßen, sodaß der Besucher im Innern von einem Raumtypus in den nächsten wechselt. Oft weisen verbindende Verkehrsräume wie Gänge oder Treppen einen durchaus eigenen, ansprechenden Raumcharakter auf. Das pragmatisch erscheinende Äußere wirkt dagegen durchaus sperrig. Es ist in keiner Weise harmonisiert, etwa um einen geschlossenen Gesamteindruck zu erzeugen. Vielmehr wird mit Eigensinn auf konkreter Vielgestalt beharrt.

Die Innenräume sind für ihre Zwecke sehr individuell und auch sehr sorgfältig konzipiert. Die beiden Säle für die alte Kunst wurden mit durchaus definitiv wirkenden, aber de facto flexiblen Wandelementen bestückt, die für die Gemälde angenehm beruhigte Hängemöglichkeiten bieten. Die Auswahl und Präsentation der Sammlung kann somit leicht im Abstand von ein, zwei Jahren geändert werden. Von BEHF, einem Wiener Architektenteam der jungen Generation, wurde ein zweigeschoßiger Einbau in die Shedhalle geplant, der sich als abstrakte, begehbare Raumskulptur für Kunst des 20. Jahrhunderts ganz gut eignet. Freistehend, jedoch im gleichen Weiß gehalten wie die Umfassungsmauern, beansprucht dieser mittelfristig gesehen durchaus temporäre Einbau den Raum in zurückhaltender Weise und bietet vielfältige Möglichkeiten, Bilder und Objekte zu zeigen. Die beachtliche Auswahl wurde vom Basler Markus Brüderlin kuratiert.

Glanzstück der Gesamtanlage ist die Naturschau unter den teils verglasten Vierteltonnen. Sie wurde unter der Schirmherrschaft von Helmut Pechlaner konzipiert. Aus dem als Höhle gestalteten Untergeschoß entwickelt sich der Ausstellungsbereich über Rampen, Terrassen, gewendelte Treppen, Plattformen, Stiegen, Stege und Kanzeln in luftige Höhen unter dem Glasschirm. Querverbindungen erlauben individuelle Wege durch das im positiven Sinn dreidimensional labyrinthische Raumgebilde. Ein transparenter Aufzug verbindet in der Vertikalen. Die von Architekt Markus Eiblmayr betreute Ausstellungsgestaltung enthält zahlreiche zum Teil sehr große Aquarien mit Lebendexponaten, meist Fischen und anderen Wassertieren. Dabei ist die Spanne von perfekter Künstlichkeit, abstrakter Geometrie der Glasbehälter und zahllosen Naturexponaten sehr groß, aber gerade dadurch wirkungsvoll. Bereits surrealistisch ist in diesem Kontext der „schwebende“ Felsblock in schwankender Höhe, in dem ein kleiner Gletscher eingebettet ruht. Hier kippt das vermeintliche Naturobjekt hinüber in Konzeptkunst.

Die Fülle, die sicher gewollte Unübersichtlichkeit und Exponatdichte, vermag die Vielfalt der Natur in verschiedenen Lebensräumen gut wiederzugeben. Sie erzeugt zugleich jene geheimnisvolle Spannung, die anregend wirkt und selbst den mehrmaligen Besuch nicht langweilig werden läßt.

Wiederbegegnung und unerwartete Neuentdeckung werden eine positive Besucherbindung an das Landesmuseum sichern.

Für die differenzierten und qualifizierten Ausstellungskonzepte erweisen sich die individuell charakterisierten Innenräume als gut geeignet. Da und dort eingefügte Verbindungsräume, wie die schmale Treppenschlucht im Bereich alte Kunst, bieten den Besuchern kurze Abschnitte zum Durchatmen an, in denen nichts ausgestellt ist - außer dem spezifischen Raumtyp natürlich.

Ausblicksfenster, wie jene zum Hammerpark, konnten aus konservatorischen Gründen wegen des Lichteinfalls nicht genützt werden. Andere, wie jene im „Südturm“ genannten Annex, wirken in ihrer libeskindesken Unregelmäßigkeit etwas gezwungen, auch wenn sie den Blick auf den Gartenhof erlauben, der erst im Frühling in seiner ganzen Pracht ergrünen wird.

Die Halbierung des ursprünglichen Bauvolumens und eine niedrige Kostendecke haben dem Unternehmen nicht sichtbar geschadet. Vielmehr gewinnt man den Eindruck, daß die entgegengesetzten Themen Kunst und Natur hinsichtlich ihres Umfangs für die Besucher bewältigbar bleiben und in Beziehung gesetzt werden können. Damit wird das Haus zu einem Museum neuen Typs, das mit wechselnden Ausstellungskonzepten vor allem im Kunstbereich die produktiv konfrontierende Spannung noch wird steigern können. Anders als für nicht wenige in den vergangenen Jahren in Gottes Namen entstandene Kleinmuseen dürfte der Erfolg daher nicht ausbleiben.

Spectrum, Sa., 2002.11.09



verknüpfte Bauwerke
Niederösterreichisches Landesmuseum

28. September 2002Walter Zschokke
Spectrum

Ein Material als Lehrmeister

Gleich neun prämierte Objekte beim „Holzbaupreis Niederösterreich 02“ dokumentieren zweierlei: die gestalterische Vielfalt, die das Material ermöglicht; und die Breite, welche hochqualitative Holz-Architektur inzwischen gewonnen hat.

Gleich neun prämierte Objekte beim „Holzbaupreis Niederösterreich 02“ dokumentieren zweierlei: die gestalterische Vielfalt, die das Material ermöglicht; und die Breite, welche hochqualitative Holz-Architektur inzwischen gewonnen hat.

Ein günstiger Preis und die leichte Bearbeitbarkeit haben Vorteile - man spart beim Bauen mit Holz und Holzwerkstoffen an Aufwand -, aber auch Nachteile: Jeder Dilettant kann mit Nägeln, Schrauben oder Leim etwas zusammen-basteln, das weder konstruktiv noch gestalterisch etwas taugt, denn das Material vermag sich gegen fehlerhafte Verwendung nicht zu wehren. In der Folge nimmt es Schaden und mit ihm das Gebäude. Ein qualitativ hochstehendes Holzbauwerk erfordert auch heute Detailkenntnisse, Erfahrung sowie Offenheit gegenüber neuen Entwicklungen und ist eine hochprofessionelle Angelegenheit für Entwerfer und Handwerker. Wer daher in das vielfältige Wesen von Holz eindringt und den Verästelungen nachspürt, die sich von technischen Aspekten bis zu kulturgeschichtlichen Bedeutungsfeldern auffächern, dem öffnet sich eine Wunderwelt von Möglichkeiten. Holz ist deshalb ein vorzügliches Baumaterial für ausgezeichnete Bauwerke. Zugleich fordert es Angemessenheit ein, ohne die es bald lächerlich wirken würde.

Seine selektiven Komponenten machen Holz zu einem kompetitiven Material par excellence, und die Landesholzbaupreise wurden zu hart umkämpften Wettbewerben. Das war beim kürzlich durch Umweltlandesrat Wolfgang Sobotka verliehenen „Holzbaupreis Niederösterreich 02“ nicht anders. 78 Einreichungen stellten sich einer Fachjury. Nach mehreren Durchgängen spießte es sich in der Endrunde. Von den neun verbliebenen Bauwerken wies jedes sowohl holzspezifisch als auch architektonisch klare Qualitäten auf, und doch stach keines heraus, sodaß jeder weitere Ausschluß ungerecht geworden wäre. Als salomonische Konsequenz erhielten alle neune einen Preis.

Die breite Spitze zeigt erstens, daß das Bauen mit Holz auch im Nordosten Österreichs verstärkt Einzug gehalten hat; zweitens, daß sich architektonische Qualität in erfreulicher Weise in die niederösterreichischen Regionen ausbreitet; und drittens, daß das Material Holz eine große Vielfalt an Erscheinungsformen bereithält, was der breitgefächerten
Situation aktueller architekto-nischer Strömungen entgegenkommt.

In der Kategorie der privaten Wohnbauten sind es fünf Preise. Da ist eine kleine Siedlung in Perchtoldsdorf, entworfen von Architekt Bernhard Holletschek. Vier Einfamilienhäuser, deren Haustyp in Lage und Form variiert wurde, integrieren sich in die bestehende Siedlungsstruktur in äußerst positiver Weise. Flexible Grundrisse in den Obergeschoßen, relativ spät durch die künftigen Bewohner festgelegt, nützen die Vorteile des Leicht- und Trockenbaus, und die warme Farb-gebung der Fassadenschalung erzeugt eine angenehm wohnliche Atmosphäre. Aber nicht nur im Umgang mit Holz, auch beim sparsamen Baulandverbrauch ist die Anlage vorbildlich.

In Nitzing bei Tulln plazierte Architekt Franz Schartner ein Einfamilienhaus mit Graphikatelier geschickt am Dorfanger, sodaß von den beiden Volumen ein Eingangshof und ein Gartenhof gebildet werden, die neben dem prächtigen Garten das kleine Anwesen aufwerten. Klare Grundrisse und eine geschickte Lichtführung über dem Gang zeichnen das Bauwerk aus, mit dem bewiesen wird, daß in alten Dorfkernen zeitgenössisch gebaut werden kann, ohne die Siedlungsstruktur aufzubrechen.

In frecher Kombination mit Holz, Glas und Stahl planten die Architekten Aichholzer und Klein ein Einfamilienhaus in Waidhofen an der Ybbs. Selbst unsichtbar ist Holz für die Deckenkonstruktion aus Hohlkastenelementen dabei.

Auf ein altes Sockelgeschoß aus Bruchsteinmauerwerk in Spitz an der Donau setzte Architekt Martin Ertl die hölzerne Hülle für ein Einfamilienhaus. Fünf schlanke Stahlrahmen bilden das Skelett, die Galerie und die Begrenzungen der Innenräume sind aus Holz gefertigt, wobei der hohe Anteil an Eigenleistung des Bauherrn auf architektonisch hohem Niveau erfolgte.

In Gablitz wiederum fügte Architekt Konrad Spindler an ein traditionelles Holzhaus einen zeitgenössischen Holzbau aus locker gefügten Scheiben. Der im Charakter präzisierte Bestand und der räumlich attraktive Neubau dialogisieren dank einer Balance der Volumen über die zeitliche Spanne des wechsel-haften 20. Jahrhunderts hinweg.

Unter den vier öffentlichen und gewerblichen Bauten bildet der Bauhof mit Feuerwehr in Tattendorf ein Beispiel für ei-nen einfachen und ansprechenden Zweckbau. Architekt Georg Reinberg hat mit lehmverputzten Mauern und einer südwestorientierten Kollektorwand ökologische und energetische Forderungen in selbstverständlicher Weise integriert, ohne sie architektonisch zu wichtig werden zu lassen.

Als Veranstaltungszentrum dient der große Saalbau hinter dem von der Gemeinde Weitersfeld reaktivierten Gasthof. Die schwungvolle Dachrundung ent- warf „Kislinger Architekten“ aus Horn. Das schlichte Dunkelgrau der Fassade aus Faser-zementtafeln beschirmt eine Leimholzkonstruktion, einen in warmem Holzton ausgekleideten Großraum sowie das dazu passende Foyer. Das unmittelbare siedlungsbauliche Umfeld wird aufgewertet zu öffentlichen Räumen: Zwei Stege überbrücken den nahen Bachgraben und verbinden zum Dorfteil auf der anderen Seite.

Architekt Manfred Rapf hatte eine ungewohnte und brillante Idee für eine Aussichtswarte bei Schrems, die durch den Zimmermeister Otto Strohmeier konkretisiert wurde. Zwei lange Reihen entrindeter Fichtenstämme ragen aus der Lichtung auf der Hügelkuppe und tragen einen ebenso langen Steg. Dazwischen zieht sich diagonal eine Kaskadentreppe hinauf, deren Unterbau die Gesamtkonstruktion in Längsrichtung aussteift. Himmelsleiter genannt, ermöglicht sie nicht bloß Aussicht über zahllose Wipfel, sondern in der Höhe auch einen kleinen Auslauf.

Von mutiger unternehmerischer Initiative zeugt das erneuerte Firmengebäude des Möbelgeschäfts und Innenausbau-betriebs Johann Will in Zwettl, entworfen vom Sohn des Inhabers, Architekt Johannes Will. Aus der schrägen Glasfassade des Empfangs-, Ausstellungs- und Bürogebäudes stößt forsch der mit wetterfestem Sperrholz verkleidete Eingang. Überzeugende Details der Holzkonstruktion und spannungsvoll-dynamische Innenräume holen internationales Flair ins Waldviertel.

Es fällt auf, daß die Bauwerke über ganz Niederösterreich verteilt sind und daß oft wenig bekannte Architektennamen dahinterstehen, was ein positives Zeichen allgemeiner Qualitätssteigerung ist. Nahezu allen Preisträger-Bauwerken ist gemeinsam, daß in zeitgemäßer Weise auf den siedlungsbau-lichen Kontext eingegangen wurde: nämlich mit der Größenordnung und der Plazierung der Bauvolumen, mithin der Organisation der Baustruktur. Damit wird das Feld frei für ein Gestalten mit Holz, das den heutigen technischen Möglichkeiten entspricht, die sich durch hoch-exakte computergesteuerte Verarbeitung und weitgehende Vorfertigung auszeichnen. Das handwerkliche Erfahrungspoten- tial kommt dabei nicht zu kurz, denn weiterhin gilt es mitzudenken, was Holz kann, welche Eigenheiten zu berücksichtigen sind und wie die Wirkung des Materials im Zuge des Alterungsprozesses sein wird.

Damit erschließt das Bauen mit Holz eine anspruchsvolle Disziplin mit durchaus hochkulturellen Aspekten. Wer sich das Material Holz zum Lehrmeister wählt, seine Vielfalt erforscht und zu immer wieder neuen Anwendungsmöglichkeiten findet, hat ein interessantes Berufsleben vor sich. Denn das anspruchsvolle Material fordert heraus, und wer mit offenen Sinnen damit arbeitet, wird mit Erfahrungen belohnt, die man anderswo kaum noch sammeln kann. Es erstaunt daher nicht, daß Handwerker wie Zimmerer und Tischler am und mit dem Holz auch menschlich reifen.

Und der Architekt, der sich auf Holz einläßt, wird daran lernen können, was Angemessenheit bedeutet. Eine siedlungsbauliche, architektonische, konstruktive, ökonomische und ökologische Angemessenheit, die im weitesten Sinne eben kulturell ist. Eine Angemessenheit aber auch, die sich nicht auf Oberflächlichkeiten beschränkt, sondern in der Tiefe der Strukturen gründet.

Angenehm beim Holz ist aber auch, daß es kaum arrogant wirkt. Zwar kann es dümmlich und falsch verwendet werden, aber da es zu Einsichten zwingt, was die Grenzen seiner spezifischen Möglichkeiten betrifft, steht es zu anderen Baumaterialien nicht im Gegensatz. Überheblichkeit zählt sicher nicht zu seinen Konnotationen.

Seine viele Jahrtausende alte Geschichte im Dienst der Menschen und seine Anpassungsfähigkeit haben unzählige Kombinationsformen in technischer und gestalterischer Hinsicht aufgezeigt, in denen Holz nicht herrisch, sondern immer leistungsbereit und oft geduldig dienend auftritt.

Trotzdem: Fehler verzeiht das Holz weder Entwerfenden noch Handwerkern - was das Material trotz seiner einfachen Handhabung so selektiv macht. Wer nicht vorauszudenken vermag, wird scheitern. Das ist in unserer schnellebigen Zeit eigentlich ein toller Aspekt. Wo medial geförderte Simplifizierung und Verblödung um sich greifen und das Individuum bedrängen, bietet das Material Holz Vertiefung und Differenzierung, für die ein Menschenleben nicht ausreicht. Diese Aussicht auf das Unendliche macht ein Berufsleben mit Holz zwar anstrengend, aber wertvoll. Darum erzählt ein qualitätvolles Bauwerk nicht geschwätzig von seiner Herstellung, auch nicht von Jux und Spaß beim Entwerfen - den man durchaus haben soll -, sondern es wirkt nachhaltig mit der sinnlichen Qualität von Material, Raum, Konstruktion und Form.

Spectrum, Sa., 2002.09.28

20. September 2002Walter Zschokke
Die Presse

Holleins Hilton hoch hinauf

Architekturkritiker bewerten die künftige Fassadengestaltung, Aufstockung und den Zugewinn an verkaufbaren Quadratmetern: Das Hilton Hotel am Wiener Stadtpark mutiert nach Plänen von Hans Hollein. Droht ein Debakel am Fuß?

Architekturkritiker bewerten die künftige Fassadengestaltung, Aufstockung und den Zugewinn an verkaufbaren Quadratmetern: Das Hilton Hotel am Wiener Stadtpark mutiert nach Plänen von Hans Hollein. Droht ein Debakel am Fuß?

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Hilton Hotel - Aufstockung

15. September 2002Walter Zschokke
zuschnitt

Luzide Haut über massigem Körperbau

Das Einkaufszentrum Kirchpark befindet sich am Lustenauer Dorfplatz. Der einfache Kubus des Gebäudes, mit Verkaufs- und Gastronomieräumen und einem Parkdeck,...

Das Einkaufszentrum Kirchpark befindet sich am Lustenauer Dorfplatz. Der einfache Kubus des Gebäudes, mit Verkaufs- und Gastronomieräumen und einem Parkdeck,...

Das Einkaufszentrum Kirchpark befindet sich am Lustenauer Dorfplatz. Der einfache Kubus des Gebäudes, mit Verkaufs- und Gastronomieräumen und einem Parkdeck, wird überragt von einem überdimensionierten Dach, das 20 m weit auskragt. Die Hülle des Baus besteht aus Polycarbonat-Platten. Die Materialität und Transluzenz der weißen Stegplatten wirkt im Gegensatz zur rohen Holzkonstruktion leicht. Die Stützen aus Brettschichtholz sind im Raster von 8 x 20 m gesetzt und entsprechen mit dem Maßen 32 mal 40cm (bis zu 32 mal 40cm) Stahlbetonstützen. Bei der horizontalen Tragkonstruktion, mit Stegplatten verkleidet, handelt es sich um Brettschichtholzgurten, die mit beidseitig angebrachten hohen Stegen aus Spanstreifenholzplatten zu Kastenträgern verbunden sind. Nachts wird die helle Außenhaut durch Fluoreszenzlampen zum Leuchten gebracht und lässt die dahinterliegende Konstruktion deutlicher durchscheinen.

Der große Einkaufsmarkt am Lustenauer Dorfplatz wirkt auf den ersten Blick recht massiv in seiner demonstrativen Körperlichkeit, die von der mehrseitigen glatten Verkleidung aus Polycarbonat-Platten herrührt. Über dem lagerhaften Baukörper der Verkaufs- und Gastronomieräume und dem darauf befindlichen Parkdeck ist der voluminöse Dachkörper aufgestelzt, dessen Funktion als Witterungsschirm für die Fahrzeuge mit einer 20 Meter weiten Auskragung über den Platz zeichenhaft überhöht wird.

Selbstverständlich hat dieses Dach vor allem auch städtebauliche Bedeutung, die aber nicht Gegenstand dieser Betrachtungen sein soll. Die klar begrenzten Körper wirken auf Grund ihres primären Zuschnitts. Das heißt, dass sie aus mittlerer Distanz betrachtet, unabhängig vom Material, kraftvoll und somit auch »schwer« erscheinen. Diesem Eindruck widersetzt sich jedoch ihre Tektonik, das Aufgestelzt-Sein des Dachkörpers und dessen ungewöhnliches Auskragen. Indem vermieden wird, explizit zu zeigen, wie das Gebäude konstruiert ist, entsteht eine spezifische Tendenz zur Schwerelosigkeit. Oder anders gesagt: Die Antworten, die das Bauwerk zur Frage des Gewichts liefern könnte, sind gestalterisch weitgehend ausgeblendet. Dies betrifft zwar nur den ersten, allerdings einigermaßen prägenden Eindruck. Die matt-weißen, semitransparenten Stegplatten halten die Wirkung als Körper beim Nähertreten nicht länger aufrecht, sondern erlauben unscharfe Einblicke auf die unmittelbar dahinter liegenden Bohlen der Unterkonstruktion und revidieren den ersten Eindruck des Körperhaften.

Was aus der Distanz betrachtet als Außenfläche eines Volumens erscheint, erweist sich aus der Nähe besehen als Membran, die, über einer Unterkonstruktion montiert, nachts durch zahlreiche Fluoreszenzlampen zum Leuchten gebracht wird. Damit wird die körperhafte Schwere aufgehoben. Die Hülle ist – ganz im Gegenteil – leicht. Unsere Erfahrung lehrt uns allerdings, dass jede Hülle, die nicht selbsttragend oder pneumatisch ist, ein tragendes Gerüst bedingt. Dieses Gerüst, das heißt die primäre und sekundäre Konstruktion, besteht weitgehend aus Holzwerkstoffen. Gezeigt wird uns dies an den Stützen, die zwar gehobelt, aber sonst als kräftige Brettschichtholzpakete, mithin als »Holz«, in Erscheinung treten. Von der horizontalen Tragstruktur sieht man vorerst nichts. Doch bleiben wir bei den Stützen, wie sie im Erdgeschoß zu sehen sind. Ihr Abstand ist recht groß, der Raster beträgt 8 mal 20 Meter. Jede Stütze erhält damit nahezu den Status eines Einzelobjekts. Ihre Dimensionen von 32 mal 40 Zentimeter und sogar 32 mal 90 Zentimeter an der Platzfront, wo die Last des kragenden Daches dazu kommt, entsprechen jenen von Stahlbetonstützen – sind aber aus Holz.

Der gewohnte Maßstab eines Balkenwerks wird verlassen. Die Primärkonstruktion weist ein anderes Schrittmaß auf, als wir es vom Massivholzbau her kennen. Es liegt eher im Bereich des Hallen- und Brückenbaus. Damit werden andere Lasten und Kräfte angesprochen, womit wir wieder beim Eindruck von Schwere wären. Unterstützt wird dies von der Materialwirkung des roh belassenen Holzes. Ein tendenziell dematerialisierender Anstrich hätte diese Wirkung aufgehoben. Das rohe Holz verhält sich jedoch polar zu den Polycarbonat-Platten und stärkt architektonisch deren Wirkung als leichtes Material. Am Weg über die Treppe zum Parkdeck wird uns ein einziges Mal ein Blick auf die horizontale Tragkonstruktion gewährt, die sonst im Ungewissen hinter der mit Stegplatten verkleideten Untersicht verbleibt. Es handelt sich bei den kragenden Primärträgern um kräftige Brettschichtholzgurten, die mit beidseitig angebrachten hohen Stegen aus Spanstreifenholzplatten zu Kastenträgern verbunden sind.

Auch hier überrascht wieder die rohe Oberfläche des Materials, die einen Eindruck jener gewaltigen Kräfte vermittelt, die von der Ingenieurholzkonstruktion verlässlich übernommen werden. Damit wird punktuell das Thema Schwere angesprochen, das sonst von der Oberflächenverkleidung stark gedämpft wird und selbst im Einkaufsmarkt, dessen Wände und Decken aus Mehrschichtplatten bestehen, kaum wahrgenommen wird. Da jedoch die Fakten, wie die Dimensionen der Stützen, das Parkdeck im Obergeschoß und die Spannweiten für große Lasten und somit für Schwere sprechen, genügen von dieser Seite punktuelle Hinweise, um die polare Spannung zu Leichtigkeit und Transluzenz der Verkleidung aus Polycarbonat-Platten aufzubauen. Und das macht die Architektur aus.

zuschnitt, So., 2002.09.15



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zuschnitt 07 Leicht und schwer

31. August 2002Walter Zschokke
Spectrum

Vom Standbein aufs Spielbein

Architektonisches Gestalten heißt Ordnen. Dinge, Materialien, Funktionen, Räume werden in Zusammenhänge gesetzt, die rational oder gefühlsmäßig, zufällig oder logisch sein können. Nachdenken über den doppelgesichtigen Sinn von Ordnungen.

Architektonisches Gestalten heißt Ordnen. Dinge, Materialien, Funktionen, Räume werden in Zusammenhänge gesetzt, die rational oder gefühlsmäßig, zufällig oder logisch sein können. Nachdenken über den doppelgesichtigen Sinn von Ordnungen.

Max Frisch berichtet in seinen Tagebüchern über die Probenarbeit zur Uraufführung seines Stücks „Andorra“. Der Darsteller des Andri hatte seine Schuhe ausgezogen, denn er mußte ja seine Füße zeigen, und so hingestellt, wie zwei Schuhe stehen, wenn sie mit einer Hand gepackt und abgesetzt werden. Beim mehrmaligen Auf- und Abtreten der Schauspieler beim Wiederholen der Szene gerieten sie offenbar einem der Mitspieler zwischen die Füße, sodaß sie verschoben wurden.

Auf der leeren Bühne erkannten plötzlich alle die neue Wirkung der gestörten Abstellposition. Imaginär wuchsen Standbein und Spielbein aus den Schuhen und mit ihnen die Person des abwesenden, weil abgeführten Andri. Der veränderte Normalfall dokumentierte schlagartig den Bruch im alltäglichen Ablauf der Dinge, und die Regie nützte die Erkenntnis, um mit der Irritation der gewohnten Ordnung die dramatische Wirkung zu steigern.

Die kleine Geschichte lehrt uns, daß Veränderungen an Ordnungen, die zu Standards geworden sind, schnell bemerkt und interpretiert werden und - soweit sie mit dem praktischen Leben der Menschen zu tun haben - meist auch eindeutig verstanden werden. Andere Positionen von Schuhen verweisen auf andere Zusammenhänge: Ungeordnet, einer vielleicht verkehrt, vor dem Sofa liegend, wurden sie vielleicht ausgezogen, bevor man es sich auf den Polstern gemütlich machte.

Nicht jedes menschliche Accessoire eignet sich zu derartigen Aussagen, und nicht jede Konstellation ist sofort verständlich, aber je gewohnter der Normalfall, desto besser läßt sich mit einem Bestandteil auf den ganzen Menschen verweisen und in einem gegebenen Kontext eine eindeutige Aussage machen.

Ähnlich verhält es sich mit Sesseln. Da sie für das Sitzen der Menschen entwickelt und perfektioniert wurden, scheinen sie sehr oft dieses Sitzen bereits darzustellen. Auf alle Fälle verweist ein Sessel auf die menschliche Gestalt auch dann - beziehungsweise insbesondere dann -, wenn diese abwesend ist. Dies haben Architekturphotographen schon frühzeitig erkannt, indem sie bei Innenaufnahmen nicht selten mit demonstrativ aufgestellten Sesseln nicht vorhandene menschliche Maßfiguren ersetzten.

Doch auch hier ist nicht jede Anordnung gleich aussagekräftig. Knapp an den Tisch gestellt, meint aufgeräumt, Menschen sind dabei ausgeschlossen. Etwas abgerückt und aus den Raumachsen verdreht, lautet die Aussage ganz anders. „Wer ist auf meinem Stühlchen gesessen?“ vermochte der Zwerg in „Schneewittchen“ zu fragen, nicht etwa, weil die Sitzfläche noch warm gewesen wäre, sondern weil das kleine Möbel vom Tisch weggerückt war.

Leere Sessel können also diese oder jene Vorstellung hervorrufen, wenn sie aus der Ordnung abstrakten Aufgeräumtseins herausgehoben sind, wenn sie von stattgehabtem Leben erzählen.

Die Theaterkunst macht sich solche Erkenntnisse zunutze, aber was tut die viel langsamere Architektur? Natürlich ist sie abstrakter und hängt bloß mittelbar mit dem Leben zusammen. Der architektonische Raum ist meistens Umraum. Er hält relative Distanz zum eigentlich Lebendigen, denn Raumhülle ist eben nicht Kleid und schon gar nicht Haut. Es sind dies drei klar verschiedene Kategorien, auch wenn gewisse Kollegen dies gern verwischen. Raum ist daher unspezifischer als Bekleidung, aber doch nicht ohne jede Bedeutung. Er umfängt meist nicht einzelne Individuen, sondern kleine und größere Gruppen.

Wenn nun aber die Verhaltensmuster mehr und mehr divergieren, der ursprüngliche Standard zu einer Spielart unter mehreren wird, verliert der unspezifisch gewordene Raum seine Aussage über in ihm gelebte gesellschaftliche Vorgänge und Verhältnisse. Bildhafte Erkenntnis ist immer nur in Relation zu gesicherten Bedeutungen möglich. Schon bei fünf Interpretationsmöglichkeiten ist ein Erkennen erschwert. Doch wie kommt es zu Bedeutungen? Das Leben und das Kulturverhalten, die Art und Weise der Benutzung ordnen die Dinge einander zu und schreiben die Bedeu-tungen in Konstellationen ein.

Doch es gibt auch Naturgesetze, wie etwa die Schwerkraft, oder Materialkonstanten, wie Elastizität und Festigkeit, sowie Eigenschaften: daß ein Material brennen, verrotten oder rosten kann. Sie können bestimmte Ordnungen erzwingen oder hervorrufen, die sich mit wenig Allgemeinbildung oder mit Erfahrung erkennen und interpretieren lassen.

Das architektonische Gestalten versucht sich indes immer wieder von dieser Erdenschwere zu befreien und allgemeinere Prinzipien auszudrücken, die über kurzfristige Bedeutungs-zuweisungen hinausgreifen. Mit dem Erreichen allgemeiner Gültigkeit nähert es sich einer Ausdrucksweise, die für eine Epoche gern als klassisch bezeichnet wird.

Davon produzieren Nachahmende dann Klischees. Bis die ideale Form erreicht war, dauerte das Schleifen einer dorischen Säule am Parthenon Wochen oder gar Monate.

Daran läßt sich im übertragenen Sinn in der heutigen Zeit abschätzen, wie lange es dauert, bis konstruktive Prinzipien so weit entwickelt sind, bis bei der Betrachtung der danach errichteten Bauwerke die Herstellung, das „Gemacht-Sein“, ja jede Erinnerung an Materialgesetze sich verliert und allein das sublime architektonische Prinzip noch existiert: der spezifische Raumübergang, die trennende Membran vor ei-nem Raumgefüge, Lasten oder Schweben und anderes mehr.

Wenn die Gestaltung gar zu abgehoben agiert, und sich von allgemeiner Verständlichkeit zu weit entfernt, kann sie bald einmal mit nicht immer angenehmen gesellschaftlichen Realitäten konfrontiert werden.

Es muß ja nicht jedes Mal ein Absturz in einen Matsch aus Blut und Boden sein, aber leicht verständliche und daher eingängige Bilder sind in der Meinungsindustrie beliebt. Und gerade dann greifen populistische Simplifizierungen um sich, wenn Glätte und Distanz die Dimensionen gelebten Alltags verlassen haben.

Störungen in spiegelnden Oberflächen, die tiefer blicken lassen, Unstetigkeiten in sinnentleerten Rastern oder Lebensspuren an völlig geometrisierten Formen, die einen Gebrauch auszuschließen schienen, werden dann plötzlich zur Ritze in der Oberfläche, zur Verwerfung in einer zwanghaft harmonisierten Ordnung oder zur bedeutungtragenden Abnützung, die gefühlsmäßig und intellektuell wieder einen Zugang möglich machen und Wege zur Veränderbarkeit aufzeigen, sodaß es mit der Architektur wieder ei-nen Schritt oder einen Sprung weiter geht.

Spectrum, Sa., 2002.08.31

03. August 2002Walter Zschokke
Spectrum

Die Tiefe des Nutzgartens

„Architektur Raum Burgenland“: Diese Initiative setzte vor zehn Jahre erste Impulse für qualitatives Bauen im östlichsten Bundesland. Und ihr Engagement trägt Früchte: Das demonstrieren die mit dem „Architekturpreis Burgenland 2002“ ausgezeichneten Projekte.

„Architektur Raum Burgenland“: Diese Initiative setzte vor zehn Jahre erste Impulse für qualitatives Bauen im östlichsten Bundesland. Und ihr Engagement trägt Früchte: Das demonstrieren die mit dem „Architekturpreis Burgenland 2002“ ausgezeichneten Projekte.

Aus den siebziger und achtziger Jahren zählte Otto Kapfinger für das Burgenland gerade einmal eine Handvoll Bauwerke auf, die den Status „Architektur“ verdienten. Im übrigen dominierten Ahnungslosigkeit und Bauwirtschaftsfunktionalismus. Die frühen neunziger Jahre brachten für das Baugeschehen in Österreich den kulturpolitischen Impuls landesbezogener Initiativen für die Sache der Architektur.

Als „Architektur Raum Burgenland“ formierte sich eine engagierte Gruppe und begann aktiv zu werden. Eine erste, 1993 erschienene Publikation versammelte 19 beispielhafte Bauwerke von 1985 bis 1993. Umbauten, Zubauten, Kleinbauten und Einfamilienhäuser bildeten die Mehrzahl gegenüber drei, vier größeren Gebäuden. Das Lebenszeichen signalisierte: „Wir haben nicht nichts“; aber vorherrschend war eine architekturkulturelle Dürre.

Drei Jahre später entstand in Kooperation mit Kärnten, Slowenien und den italienischen Provinzen Udine und Trento - genauer: mit den regional aktiven Architekturvereinigungen - die Ausstellung „Alpe Adria - Architekturparallelen“. Unter zehn Bauten konnte stolz auf die neue Stadtfeuerwehr in Oberwart von Hans Gangoly verwiesen werden: endlich eine größere öffentliche Bauaufgabe von zeitgenössischem Charakter. Weiters ein Betriebsgebäude, noch ein Feuerwehrhaus, ein Atelier und wieder Einfamilienhäuser.

Zwei Jahre danach, 1998, im Zuge einer neuerlichen Ausstellung über die Architektur im Land, konnte der Beginn einer breiteren Entwicklung konstatiert werden. Die einberufene Jury wollte das gewachsene Interesse nicht durch eine engherzige Auswahl dämpfen, sondern schlug vor, die Breite der Arbeiten zu dokumentieren. Das war nicht paternalistisch gemeint, sondern entsprach der in Bewegung geratenen Situation, die durch eine strenge Beurteilung nicht wieder vorschnell verfestigt werden sollte.

Jetzt befinden wir uns im Jahr 2002. Das Land Burgenland schreibt erstmals offiziell einen Architekturpreis aus, der vom Beirat für Baukultur und Ortsbildpflege sowie vom Landeskulturreferat betreut wird. Eine unabhängige fünfköpfige Jury, der heuer Friedrich Achleitner, Hans Gangoly, Roland Gnaiger, Anna Popelka und Rudolf Szedenik angehörten, konnte aus einer großen Zahl überdurchschnittlicher Bauwerke auswählen.

Mehr noch: Der - logischen - Verpflichtung, spezifische Aspekte der Region zu berücksichtigen, kam sie mit einer Grundsatzdiskussion nach und gelangte zu folgendem Schluß: „Eine Aufgabe neuen Bauens im Burgenland wäre es aber, die einmaligen Qualitäten der alten Bebauungsformen, der räumlichen Nähe, der geschlossenen Höfe und Gärten, des geringen Baulandbedarfs, der Beziehung von Innen und Außen wiederzuentdecken.“

Und weiter: „Es geht dabei nicht um eine romantisierende Konservierung alles Alten, sondern um einen neuen Blick, der diese Qualitäten neu sieht und in der Verbesserung und Erneuerung der Bausubstanz neu bewertet.“

Nach diesem Programm wurden Bauwerke für den Preis nominiert, deren Entwerfer den siedlungsbaulichen Kontext thematisiert und beispielhaft bearbeitet hatten. Die Jury mochte sich bei der hohen Qualität nicht einschränken und vergab vier Preise und sieben Auszeichnungen.

Damit hat sich eine Entwicklung bestätigt, die in anderen Regionen und Bundesländern ebenfalls abgelaufen ist, die aber weder zwingend noch identisch sein muß noch ist. Für das Burgenland erfolgte sie jedenfalls erfreulich rasant und wesentlich stärker zunehmend als die allgemeine Konjunktur für Architektur, umso mehr, als sich diese derzeit mehrheitlich in modische und medial aufgeblasene Sensationalismen versteigt und für nachhaltige Prozesse in vermeintlichen Randregionen wenig übrig hat.

Die Nominierung der Rathauserweiterung in Eisenstadt von Andreas Fellerer und Jiri Vendl, der Erweiterung eines Einfamilienhauses aus den fünfziger Jahren in geschlossener Baustruktur durch „pool Architektur“, der Ausstellungshalle zum Atelierkomplex des Bildhauers Wander Bertoni von Johannes Spalt sowie der Feriensiedlung Inselwelt Jois von Georg Wolfgang Reinberg zum Architekturpreis Burgenland 2002 ist daher ein wohltuendes Kontrastprogramm.

Das Eisenstädter Rathaus, bei dem die neu errichteten Bauvolumen die ehemals dörfliche Struktur mit Seitenflügeln und dazwischen liegendem Hof interpretieren, ist vor einem Jahr im „Spectrum“ ausführlich vorgestellt worden.

Neuesten Datums ist dagegen die Arbeit von „pool Architektur“. Ihre Wohnhauserweiterung im Siedlungsverband von Hornstein folgt typologisch traditionalen Mustern baulicher Entwicklung in die Tiefe des Nutzgartens. Die Organisation der Räume und Raumzonen verteilt sich jedoch auf wechselnden Niveaus, die teils mit Stufen, teils mit Rampen verbunden sind. Die dynamische, künstliche Topographie bietet Übergänge und Durchdringungen an, und die schiefe Ebene - bisher Sinnbild für haltloses Gleiten - wird räumlicher Ort.

In der Ausstellungshalle zur über die Jahre erneuerten Mühle in Winden am See kondensiert Altmeister Johannes Spalt die Komponenten seines lebenslangen Architekturstrebens zu
beispielhafter Angemessenheit beim Bauen. Die Werke des Bildhauers Wander Bertoni gelangen in der klaren Raumkonzeption des Atriumhauses zu individueller Geltung. Eine klassisch moderne und zugleich traditionale Materialwahl beweist, daß es nicht demonstrativer Neuigkeiten bedarf, um Architektur zu schaffen. Wie wohltuend gegenüber manch anderem, euphemistisch mit der Schutzbezeichnung „Alterswerk“ der Diskussion entzogenem Bau.

Mit der Inselwelt Jois gelingt es Georg Wolfgang Reinberg, siedlungsbauliche, ökologische, landschaftliche und tourismuswirtschaftliche Interessen in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Besonderen Anklang fanden die differenzierten Außenräume der Anlage, deren maßvolle Verdichtung als zukunftsträchtiges Gegenmodell zur antiräumlichen Zersiedelung mit isolierten Einzelhäusern gesehen wird.

Über die Preise und Auszeichnungen hinaus zeigen die vergangenen vier Jahre eine
entscheidende Hinwendung zu mehr Qualität dank einer neuen Architektengeneration im Land. Daß die Perlen in der Masse des Gebauten gesucht werden müssen - wo wäre das anders?

Spectrum, Sa., 2002.08.03

06. Juli 2002Walter Zschokke
Spectrum

www.schweiz.ausstellen.ch

In jeder Generation leistet sich die Schweiz eine gesellschaftlich-kulturelle Standortbestimmung. Heuer mit der „Expo 02“ im nordwestschweizerischen Dreiseengebiet: überraschend vielfältig und angenehm unverklemmt. Eine Empfehlung.

In jeder Generation leistet sich die Schweiz eine gesellschaftlich-kulturelle Standortbestimmung. Heuer mit der „Expo 02“ im nordwestschweizerischen Dreiseengebiet: überraschend vielfältig und angenehm unverklemmt. Eine Empfehlung.

Was weiß man in der Schweiz über Österreich - und umgekehrt? Medial vermittelte Bilder eines Landes stimmen nur wenig mit dem persönlichen Augenschein überein. Sie werden in einer Art kollektiven Zwangs zu Ausnahmeereignissen wie zu Klischees permanent erzeugt und verdecken die viel breitere, differenziertere und weniger sensationelle Realität. Alternativ dazu bietet in diesem Jahr die Expo 02 eine Möglichkeit, eine selbstreflexive Schweiz zu entdecken, die in ihrer Vielfalt überrascht; die manchmal feinsinnig, manch- mal tapsig, zuweilen tiefgrün-dig, aber oft angenehm unverklemmt, eine gesellschaftlich-kulturelle Standortbestimmung vornimmt und den Augen, Ohren, Nasen, Händen und Füßen der Besucher zur Wahrnehmung anbietet.

Die regional verteilte Ausstellungslandschaft erstreckt sich in einer Zone der westeuropäischen Sprachgrenze, in Französisch und Deutsch sprechenden Städten, deren Ortstafeln zweisprachig sind. Nicht weniger als vier Standorte an den Ufern der drei mit Kanälen verbundenen, von der Aare gespeisten Mittellandgewässer Bieler-, Murten- und Neuenburgersee umfaßt diese vielseitige Schau, die nicht zu Ende geschaut werden kann und die ein bis drei Tage Zeit erfordert. In den Städten Biel-Bienne, Murten-Morat, Yverdon-les-Bains und Neuchâtel-Neuenburg sind als Blickpunkte künstliche Plattformen im See errichtet worden, die signifikante Gebäude oder gebäudeähnlich Gebilde tragen, deren Wesen und Formen über internationale Architektenwettbewerbe gefunden wurden. Sie heißen Arteplage.

Jede dieser Arteplages ist einem Oberthema gewidmet, das in einem halben bis knappen Dutzend Pavillons inhaltlich sowie ausstellungsdidaktisch unterschiedlich behandelt wird. Für Abwechslung ist damit ebenso gesorgt wie mit zahlreichen großen und kleinen Darbietungen und Veranstaltungen sowie mit Essen, Trinken. Von Arteplage zu Arteplage fahren große „Iris“-Schnellboote; etwas kürzer dauert es mit der Eisenbahn; gemütlicher, aber aus eigener Kraft geht es auf gemieteten Rädern oder gar Skates.

In Biel-Bienne lautet das Thema „Macht und Freiheit“. Das Wiener Architektenteam Coop Himmelb(l)au entwarf ein langes, schlank und schräg aufgestelztes Dach, das zwei Haken schlägt und dann noch einige Dutzend Meter in den See hinausspaziert. Über eine breite Rampe gelangt man vom Ufer auf die vom Dach beschattete Besucherplattform, wo sich vier Pavillons aufreihen. Zum See hin bildet das Dach einen offenen Winkel, aus dem drei Türme 40 Meter hoch aufragen. Sie werden von einer spiralig ansteigenden Rampe umkreist, die sich in einer Brücke fortsetzt, hoch über das Hafenbecken schwingt und auf festem Grund wieder den eingangs durchschrittenen Expopark erreicht, mit fünf Pavillons, zwei Veranstaltungsstätten und einem Vergnügungspark.

Die Bauten an diesem Rundweg sind für einen Sommer aufgebaut. Am Tag wirken die mit Textilbespannung in mittelgrauer Farbe versehenen Türme und das Dach durch ihre Volumen und den Schattenwurf. Abends und nachts dienen sie als Projektionsflächen für das Lichtspektakel und erstrahlen in wechselnden Farben. Unter den Pavillons sticht der mit Blattgold belegte Quader zum Unterthema „Geld und Wert - das letzte Tabu“ heraus. Bis zur Greifhöhe ist die Vergoldung bereits abgewetzt, Wartende haben unzählige Wörter und Namen hineingeritzt und -geschabt. Das Innere zeigt die in Partnerschaft mit der Schweizerischen Nationalbank entstandene umfangreiche Ausstellung, in der weder das Goldene Kalb fehlt noch die vielen Zahlungsmittel aus nahen und fernen Zeiten und Ländern.

Irritierend und faszinierend zugleich dann der Geldvernichtungsroboter, der mit spitzem Greifzeug eine ab dem Stapel vorbereitete neue 200-FrankenNote packt, genüßlich hochhebt, dem Publikum vor den Nasen herumschwenkt und es „gluschtig“ macht. Dann steckt der Roboterarm den Geldschein in einen Aktenvernichter, aus dem nur mehr Papierstreifen quellen, die sich zu Haufen kringeln. Natürlich geschieht das alles hinter festen Glaswänden. In der Ausstellung fehlen auch nicht Ansätze jener Gesellschaftsutopisten, die dem Tauschmittel „Geld“ die Schuld für alle Übel dieser Welt anlasteten, in der Verkennung menschlichen Realverhaltens aber scheiterten.

Neben derart dichten, klassischen Ausstellungen gibt es stimmungs- und anspruchsvolle Inszenierungen, wie den Pavillon „SWISH*“, in dem es um die Wünsche von Schweizerinnen und Schweizern, jungen und alten, weiblichen und männlichen und so weiter geht, der als geschlossener Wandelgarten aus unzähligen Brettern und Leisten über dem darunter befindlichen Seespiegel gestaltet ist. Oder man sucht sich durch den Irrgarten glatter Stämme des Pavillons „Grenzen (er)leben“ einen Weg ins obere Geschoß, wo eine Multimediashow das Thema künstlerisch umsetzt. Nicht wenige Pavillons weisen Erlebnischarakter auf mit viel Bewegung und Spaß, einige sind thematisch tiefer schürfend, andere locker und rasch konsumierbar.

Dazwischen finden sich Erholungszonen, wo man sich länger hinsetzen kann, etwa im Klangraum des einen Turms oder entlang der Besucherhauptströme in Gartencafés, wo man einer Lieblingsbeschäftigung der menschlichen Spezies frönen kann: anderen Menschen zuzuschauen.

In Murten-Morat, der mittelalterlichen Stadt hinter Mauern und Türmen, einer Zähringer Gründung wie die Stadt Bern, behandelt die Ausstellung das Oberthema „Augenblick und Ewigkeit“. Kein Geringerer als der für seine Inszenierungskunst bekannte französische Architekt Jean Nouvel hat hier die Regie übernommen und auch auf Details eingewirkt. Einerseits verlegte er Teile der Ausstellung in und an den mittelalterlichen Stadtkern, die alten Mauern mit teils angerosteten, Vergänglichkeit bedeutenden Schiffscon-tainern oder mit Baugerüst-konstruktionen konstrastierend. Andererseits ließ er entlang der Uferpromenade „Nicht-Gebäude“ wie Kieshaufen, Rundholzstapel und Hüllen aus Stahlplatten - rostenden natürlich - errichten, in denen verschiedene Inhalte wirksam aufbereitet wurden. Nicht zuletzt sind in Murten die Unterthemen „Landwirtschaft“ und „Sicherheitspolitik“ umfangreich dargestellt.

Höhepunkt und Signet dieser Arteplage ist der Kubus draußen im See, dessen Dimensionen (eines zwölfstöckigen Hauses) nicht zu fassen sind. Auf mit Sonnenenergie getriebenen Barken gleiten die Besucher hinaus zur schwimmenden Insel, legen am ebenfalls mit Stahlplatten beplankten Würfel an und gelangen in eine Wunderwelt dreier übereinander gestapelter riesiger Panoramen, deren Ebenen - wie im Warenhaus - über Rolltreppen erreichbar sind. Das erste Deck belegt eine Arbeit junger Medienschaffender, die unzählige Bilder und Ansichten der Schweiz elektronisch in Bewegung gebracht und zudem pfiffig verfremdet haben. Darüber befindet sich ein scheinbar leeres Geschoß, das in Augenhöhe einen breiten Streifen Lochblech aufweist, durch den das tatsächliche Panorama von See und Stadt zu sehen ist, das aber beim Nähertreten hinter der Lochblechstruktur verschwindet, weil die Sehwerkzeuge auf das Dahinterliegende nicht mehr scharfstellen können. Zuoberst steigt man zur Plattform in der Mitte eines kolossalen Rundgemäldes hoch, eines klassischen Panoramas des 19. Jahrhunderts, das die 1476 geschlagene Schlacht bei Murten in zeittypischer und aus der zweifachen Distanz durchaus ironisch gebrochen wiedergibt. Die Eidgenossen erbeuteten damals die überaus reiche Fahrhabe Karls des Kühnen, die aus Gobelins, edlem Tafelgeschirr, prächtigen Waffen und vielem anderen mehr bestand und als „Burgunderbeute“ in die nationale Geschichtsschreibung einging.

Der Standort Neuchâtel-Neuenburg wartet mit dem Oberthema „Natur und Künstlichkeit“ auf, dem Blick in die Zukunft moderner Roboter- und Biotechnologie sowie jenem auf die Nutzung natürlicher wie künstlicher Energieformen oder die entfesselte Wirkung ersterer in einem Wirbelsturm. Yverdon-les Bains, mit dem frappierenden Signet einer echten künstlichen Wolke, erfunden von den New Yorker Architekten Elizabeth Diller und Rick Scofidio, befaßt sich mit dem Thema „Ich und das Universum“, wobei die individuellen Gefühle nicht zu kurz kommen.

Alles zu sehen, muß man sich Zeit nehmen, wohl auch ein, zwei Mal in der Gegend übernachten.

Man kann selbst Bern oder eine der nahen Städte als „Basislager“ wählen, denn man bewegt sich schnell und leicht mit der Bahn (Autobahnen sind oft verstopft). Die Bahngesellschaften bieten kostengünstige Arrangements, sodaß zwischendurch ein Ausflug in kühlere Bergeshöhen in der Regel inbegriffen ist. Der Urbanisierungsgrad des schweizerischen Mittellandes ist mittlerweile so weit angewachsen, daß die SBB zur Metro der Schweiz geworden sind - weshalb ein Vergleich zu den ÖBB aus Strukturgründen immer hinkt. Aber wie dem auch im Detail sein mag, so leicht wie in diesem Jahr wird man eine differenzierte Sicht auf das nachbarliche Inselland mitten in der EU nicht so bald wieder bekommen können.

Die Expo 02 ist geöffnet bis 20. Oktober 2002, die Ausstellungen täglich von 9.30 bis 20 Uhr, Schlendern und Feiern im Juli und August täglich bis 2 Uhr früh. Informationen über Internet unter: www.expo.02.ch.

Spectrum, Sa., 2002.07.06



verknüpfte Bauwerke
EXPO.02 - Schweizerische Landesausstellung

08. Juni 2002Walter Zschokke
Spectrum

Bewußt neben den Trends

Klotzen statt kleckern: Wenn Novartis in Basel sein europäisches Zentrum für Forschung und Entwicklung errichtet, wäre das, sollte man meinen, eine naheliegende Devise. Der Masterplan von Vittorio Magnago Lampugnani setzt indes auf Maßhalten.

Klotzen statt kleckern: Wenn Novartis in Basel sein europäisches Zentrum für Forschung und Entwicklung errichtet, wäre das, sollte man meinen, eine naheliegende Devise. Der Masterplan von Vittorio Magnago Lampugnani setzt indes auf Maßhalten.

Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden in Basel die ersten Bauten der Firma Sandoz, einem Unternehmen der aufstrebenden chemischen Industrie, die der Stadt Wohlstand und internationale Bedeutung verschaffte. Binnen weniger Jahrzehnte war das etwa 20 Hektar große Areal mit Produktionsgebäuden dicht bebaut, wie das Luftbild von 1969 zeigt. Wie andere Industriekomplexe auch gewann die Anlage über die Jahrzehnte parastädtischen Charakter, wobei die spezifische Urbanität von Produktion, Forschung, Verwaltung sowie von der Infrastruktur für die Arbeitspausen bestimmt war.

Anders jedoch als für die riesigen Areale etwa von Sulzer in Winterthur oder ABB in Baden/Aargau, auf denen die Produktion wegen des Strukturwandels in der Schwerindustrie stillgelegt wurde, das Leben in den riesigen Hallen erstarb und mühsam unter Beizug öffentlicher Gelder eine Neubelebung hohe und riskante Investitionen erforderte, wird in Basel kein abrupter Wechsel, sondern eine schrittweise Transformation angestrebt. Das ist auch der Grund, weshalb das Thema von überregionalem Interesse ist. Denn hier geht es nicht um die „Rettung“ einer Industriebrache, weil die davon abhängigen Städte bedroht sind, sondern um vorausblickende Maßnahmen, die im Interesse von Novartis wie in jenem der Stadt Basel liegen.

Dem seit 1999 agierenden CEO von Novartis, Daniel Vasella, war aufgefallen, daß der Zustand der Firmengebäude den Eindruck von Stillstand erweckte, ja sogar den einer gewissen Vernachlässigung. Für das strategische Ziel, den Produktionsstandort aufzuheben und dafür den europäischen Schwerpunkt für Forschung und Entwicklung zu errichten, fehlten noch ein Bild und eine operative Vorgehensweise.

Ein im nachhinein glücklich zu nennendes Zusammentreffen mit Vittorio Magnago Lampugnani, dem Architekten, Historiker und Publizisten, der mittlerweile die wichtige Professur für Städtebaugeschichte an der ETH Zürich bekleidet, erbrachte die Idee des Campus, einer lebendigen Wissenschaftsstadt in der großen Stadt. An den Planungen sind weiters die Fachleute Peter Walker (Grünraum), Harald Szeemann (Kunst), Andreas Schulz (Licht) sowie Alan Fletcher (Graphic Design) beteiligt. Eine eindeutige Grenzziehung blieb aus betrieblichen wie rechtlichen Gründen unvermeidlich. Damit wird jedoch eine exakte Definition des Territoriums erreicht, denn es geht auch um Identität. Eine Identität, die nicht mit spektakulären Superzeichen - wir sind hier im calvinistischen Basel -, sondern mit strukturbildenden Maßnahmen angestrebt wird. Lampugnani, der Römer mit Standbeinen in Mailand und Zürich, glaubt nicht an das Retortenprodukt der geschlossenen Mall, sondern an einige - wenige - Regeln für die Bebauung, legt ei-ne Anzahl öffentlich-räumlicher Strukturelemente für das bauliche Gefüge fest sowie einige wichtige Zonen, wo innen und außen in Beziehung stehen.

Eine Transformation, die am soziokulturell und wirtschaftlich lebendigen Betriebskörper erfolgt, kann eben nicht mit einer Tabula rasa beginnen, auf die die radikale Moderne bis heute fixiert ist, sondern erfordert ein schrittweises Vorgehen nach einem Masterplan, der Vorhandenes ernst nimmt. - Die Ansprüche der künftigen Beschäftigten, internationalen Spitzenkräften mit großer Teamkompetenz, sind nicht gering. Zwar bietet Basel eine hohe Lebensqualität, das genügt aber nicht. Relativ rasch müssen daher sichtbare Maßnahmen gesetzt werden, die beispielsweise von einer dezidierten Begrünung begleitet sind.

Die allgemeinen städtebaulichen Regeln des Masterplans sind einfach: Als erstes wird im größten Teil des Areals eine Traufkante von 22 Metern vorgegeben. Die orthogonale Struktur der Produktionsgebäude wird beibehalten, die Straßen werden jedoch neu charakterisiert und zu (betriebsintern) öffentlichen Räumen gemacht.

Eine alleeartige Hauptachse - heute noch „Fabrikstraße“ genannt - zieht sich in ausreichender Breite durch das Areal und soll an ihrer westexponierten Seite einen Portikus erhalten, an dem vom Café über Geschäfte des täglichen Bedarfs bis zum Fitnesszentrum städtische Nutzungen situiert werden.

Auf den in einen Park vorgezogenen Eingangsbereich mit zwei flankierenden Pavillons folgen, tangential an der großen Achse liegend, ein „Forum“ genannter Platz, wo sich der Sitz der zentralen Verwaltung befindet - ein Gebäude aus den dreißiger Jahren -, der gefaßt wird vom geplanten Baukörper für Novartis Pharma, zugleich markanter Eckbau zum davor liegenden Park.

Nach dem Hauptsitz folgt ein großer „grüner“ Platz, dann schneidet die Hüningerstraße diagonal durch den Campus, eine „Störung“, die belebend aufgefaßt wird. Parallel zur Hauptachse durchzieht ein langer, parkartiger Grünraum für kurze Spaziergänge das Areal, und im übrigen Gefüge sind zwei größere Grünflächen ausgespart.

Den Anschluß zur Stadt wird ein Cluster aus bestehenden und neu zu errichtenden Hochhäusern bilden, während die Kante zum Rheinufer, im Masterplan als quasi römisches Castrum dargestellt, sich im Zuge von Gesamtüberlegungen der Basler Stadtplanung noch verändern wird, denn natürlich gilt es auch mit dieser Einvernehmen zu schaffen.

Die architektonische Konkretisierung des angestrebten Stadt- bildes soll über kleine Wettbewerbe unter drei bis fünf aus-gewählten Fachleuten erfolgen. Dabei wird nicht nach dem zeichenhaften Einzelbauwerk gesucht, sondern nach dem beachtlichen Bau, der im Verein mit bestehenden und zukünftigen Bauten stadtbildend wirkt. Maßhalten heißt die Devise, die hinter diesem Konzept steht, eine klassische bürgerliche Tugend, wie sie seit Jahrhunderten stadterhaltend zu wirken vermochte, wenn nicht Eigennutz, überbordende Spekulation oder Krieg die kontinuierliche Entwicklung unterbrachen.

Radikalen Kritikern wird dies zuwenig sein, sie werden mehr zeitgeistige „Experimente“ einfordern. Insofern liegt das Konzept neben den sogenannten Trends. Aus heutiger Sicht ist es daher ein in seiner Verhaltenheit durch- aus kühnes Unterfangen, weil es eine moralische Haltung im Städtebau einfordert.

Natürlich kann man einwenden, daß das alles einfach ist, wenn der Boden und die Initiative in einer Hand liegen. Doch es hätte auch anders kommen können. Jedenfalls ist sowohl der Bauherrschaft als auch den Planern die nötige Ausdauer und ein qualitativer Erfolg zu wünschen, damit das Beispiel Schule macht. [*]

Spectrum, Sa., 2002.06.08



verknüpfte Ensembles
Novartis Campus

11. Mai 2002Walter Zschokke
Spectrum

Handfreundliches Handwerk

Das individuelle Möbel mit einer Lebensdauer über mehrere Generationen sei tot, behaupten periodisch die radikalen Modernisten. Die „Designinitiative Werkraum Bregenzerwald“, geleitet von Roland Gnaiger und Adolph Stiller, tritt zum Beweis des Gegenteils an.

Das individuelle Möbel mit einer Lebensdauer über mehrere Generationen sei tot, behaupten periodisch die radikalen Modernisten. Die „Designinitiative Werkraum Bregenzerwald“, geleitet von Roland Gnaiger und Adolph Stiller, tritt zum Beweis des Gegenteils an.

Ein Weinviertler Tischler, der Latein gelernt und Architektur studiert hat, sowie ein Abkömmling wälderischer Bergbauern, der ebenfalls Architektur studierte und mittlerweile selber lehrt, setzen sich unter dem Label „Designinitiative Werkraum Bregenzerwald“ mit qualifizierten Handwerksfirmen zusammen, um nicht bloß Prototypen zu entwerfen, sondern alltagstaugliche Möbel zur (Klein-)Serienreife zu entwickeln. Das Gebiet zwischen Rheintal, Allgäu, Kleinem und Großem Walsertal erweist sich dabei als eine eigene Welt. Wen wundert es, wenn er beispielsweise hört, wie die bäuerlichen Vorfahren bekannter Vorarlberger Architekten unserer Tage vor hundert Jahren ihren Bergkäse selber nach Mailand auf den Markt führten und dort verkauften, daß heute nicht wenige Firmen der holzverarbeitenden Industrie ihre Produkte erfolgreich in den Nachbarländern vertreiben. Eine weitere Vorarlberger Erfolgsstory? Ja, was sonst.

Die Wohnvorstellungen haben sich gewandelt. Nicht geringen Anteil und Verdienst - im doppelten Sinn - haben daran die Anbieter kostengünstiger Möbel. Soll sein. Aber wer beim Montieren die schütteren Spanplatten und die ausgemagerten Verbindungen sieht, wird sich fragen, ob diese wohl ein Auseinandernehmen und einen weiteren Zusammenbau aushalten. Nun, dafür sind sie auch nicht gedacht. Und wer will sich aufregen, solange das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt.

Da West- und Mitteleuropa sich bereits seit zwei Generationen an Frieden und Stabilität erfreuen dürfen, gewinnt die Tradition - mittlerweile die der Moderne - an Wert. Moderne Klassiker von Alvar Aalto, Mies van der Rohe, Le Corbusier & Charlotte Periand, Marcel Breuer und Josef Frank finden verbreitete Wertschätzung. Zur Aristokratie der Moderne zählen natürlich nur jene, die solches nicht am Flohmarkt ergattert oder teuer beim Lizenznehmer gekauft haben, sondern die edlen Stücke schlicht erben konnten, weil man sie immer schon in der Familie im Gebrauch hatte. Vorausgesetzt, die Enkel haben auch das Kulturverständnis der Großeltern mitbekommen, andernfalls die schönen Stücke womöglich kaputt geritten oder dem Flohmarkt anvertraut wurden.

Schwieriger ist es jedoch, heute jene Möbel zu erwerben, die in zwei Generationen noch oder wieder als qualitativ besonders und designgeschichtlich anerkannt gelten. Denn, seien wir ehrlich, der Besitz eines solchen Stücks oder einer Gruppe bereitet selten mehr Freude, als wenn der auf Besuch weilenden Konkurrenz der Neid nur so aus den Augen spritzt. Ein ererbtes Originalmöbel ist ein Atout, gegen den neue Profiküche und Sprudelbad abdanken. Allerdings, wie beim Aktienkauf muß man sich trauen, ein Risiko einzugehen. Dazu bieten jene Designinitiativen, die periodisch Fachleute des Entwurfs mit jenen des Handwerks (und mit neuesten technischen Möglichkeiten) zusammenbringen, eine gute Chance: kleine Stückzahlen, sorgfältige Herstellung, jüngere Designer aus dem Spitzenfeld, deren Chancen, in die Geschichte einzugehen, intakt sind. Außerdem sind die meisten Entwürfe wirklich praktisch. Wenn sich daher dereinst erweisen sollte, daß das wankelmütige Schicksal den guten Stücken nicht in erhofftem Maß historische Bedeutsamkeit zukommen ließ, dann waren sie inzwischen wenigstens nützlich.

Die jüngste Ausstellung dieser Art in der Galerie im Ringturm, die sich die Wiener Städtische Allgemeine Versicherung seit vier Jahren leistet, zeigt Möbel und Gebrauchsgegenstände der Designinitiative Werkraum Bregenzerwald. Adolph Stiller und Roland Gnaiger haben als Kuratoren über Monate die Entwicklung der Produkte betreut, sodaß der prototypische Charakter, der solchen Stücken nicht selten anhaftet, überwunden ist.

Wenn nun eine subjektive Auswahl getroffen wird, um einen Einblick in die Ausstellung zu geben, so gilt dies nicht im Sinne eines Börsentips. Es ist allemal besser, den eigenen Kopf in die Ausstellung und die Nase in den Katalog zu stecken sowie mit dem Allerwertesten die Sessel zu testen.

Mit der Installation „bauKasten“ nimmt Roland Gnaiger ein Thema auf, das viele in den sechziger Jahren faszinierte. Damals musterten die Brauereien ihre hölzernen Bierkisten aus und gaben sie billig ab. Obwohl im Format keinesfalls ideal, fanden sie unter Studenten, Designern und Architekten begeisterte Abnehmer, weil sie sich zu Wandregalen und frei stehenden Gebilden türmen ließen. Sie dienten als Hocker und Tischchen, und beim Wohnungswechsel konnte man die Bücher gleich in der Kisten lassen. Aber der Vorrat ging rasch zur Neige. Nicht wenige Architekturstudenten befaßten sich daher mit dem Entwurf einer handlichen Stapelkiste in optimalem Format - und scheiterten selbst bei Serienproduktion an den Kosten. Die Holzwerkstatt Faißt hat nun diesen alten Traum aktuell umgesetzt: so einfach und praktisch wie nötig, wandelbar und unspezifisch oder mit kleinen Fächern, bunt lasiert oder naturbelassen. Auf ein praktisches Format hielt der Gestalter ein waches Auge.

Für Besitzer kleiner Bibliotheken empfiehlt sich jedoch eine dichtere Packung, die mit dem Bücherturm, entworfen von Ferdinand Rüf, gleich in drei gegeneinander verschieblichen Regalschichten angeboten wird. Die Ausführung von Eberle Metall in Chromstahlblech ist elegant und spart bei den Gestelldimensionen, was den Fächern zugute kommt. Für den Griff wählte man allerdings schon Holz, weil es handfeundlicher ist und dem ganzen Möbel eine besondere Note verleiht.

Multifunktionalen Stauraum in Form von Trommeln aus Sperrholz bieten die Teile der von Irmgard Frank entworfenen Dreier-Gruppe. Wenn Bettzeug, Wintersachen, Spielzeug und so weiter weggepackt sind, dienen „small“, „medium“ und „large“ als Hocker oder Tischchen. Die autonome runde Form läßt sich überall dazu gesellen, beansprucht allerdings sofort eine zentrale Position - ob im Kinderzimmer oder im Vorraum. Mit allem kombinierbar, geht sie dennoch keine engere Beziehung ein. Das kühl wirkende Birkenholz in der sorgfältigen Verarbeitung durch die Tischlerei Schmidinger wird im Lauf der Jahre einen wärmeren Ton annehmen, wie überhaupt Holz beim Älterwerden an Charakter gewinnt.

Zwei üblicherweise getrennt auftretende Funktionen kombiniert der Paravent von Hugo Dworzak. Er schirmt und leuchtet. In den zeitgenössischen offenen Grundrissen gewinnt dieses klassische Möbel neue Bedeutung, indem Zonen definiert und Sichtschutz geboten werden. Eine Abgrenzung, die weniger hart ist als eine ins Schloß gedrückte Türe, in deren mildem Schein sich aber gemütlich sitzen und lesen läßt. Die dünnen Fichtenfurniere auf einem Träger aus Acrylglas, von der Firma Franz Mätzler gefertigt, wirken am Tag eher unscheinbar. Abends werden die Flügel des Paravents zu flachen Lampions; das Schnittbild von Frühjahrs- und Sommerholz tritt hervor, den Materialcharakter potenzierend. Die handelsüblichen Leuchtstoffröhren werden in ihrer Lichtfarbe verfremdet. Es entsteht ein Bild von Wärme, ohne daß Feuer brennt.

Filz, das Material, das Jurten und Köpfe deckt und in Form von Patschen im Winter allerlei Füße wärmt, ist als Bezugsstoff für Polsterelemente ungewohnt. Aber genau dieses Ungewohnte und dennoch Ansprechende fasziniert an den von Johannes Mohr für die Firma Mohr Polster entworfenen quaderförmigen Filzkörpern, die zum Hinsetzen, Anlehnen und Liegen einladen. Sonderbar körperhaft ist der Filz mit seinen Stärken im Mehrmillimeterbereich selber schon. Zusammengenäht mit großen Stichen, bilden die Teilstücke an den Kanten eine betonte Naht - sie machen aus dieser im Sinne Gottfried Sempers „eine Tugend“ - und geben dem weichen Quader eine klare Form.

Äußerst elegant spannt sich eine Hängematte zwischen den Enden zweier schichtverleimter, in freier Form gebogener Kufen nach dem Entwurf von Georg Bechter. Nicht bloß faul in der Matte liegen - noch dazu Schaukeln kann man darin. Ein minimalistischer Materialaufwand reduziert seinerseits die raumverdrängende Präsenz des schönen Möbels. Allerdings, über eine Loft oder großzügige Terrasse sollte man schon verfügen, um träumend darin zu wippen.

Einen alten Bekannten, den von Hubert Schuller entworfenen Sessel, der 1994 aus einem Wettbewerb für die Holzausstellung in der Steiermark hervorging, trifft man ebenfalls in der Ausstellung. Der Vergessenheit entrissen, formal präzisiert und von der Firma Anton Mohr perfekt und vergleichsweise kostengünstig hergestellt, sieht er zuversichtlich einer zweiten Chance entgegen, viele neue Besitzer zu finden.

Die beiden Haupthürden, der Vertrieb und der Preis, werden bei allen gezeigten Möbeln über Sein oder Nichtsein wesentlich mitentscheiden. Die gestalterische und handwerkliche Qualität kann sich jedenfalls sehen lassen.

[ Die Schau „Möbel für alle - Designinitiative Werkraum Bregenzerwald“ ist bis 28. Juni im Ausstellungszentrum der Wiener Städtischen Allgemeinen Versicherung (Wien I, Schottenring 30) zu sehen: Montag bis Freitag 9 bis 18 Uhr, Donnerstag bis 19.30 Uhr. ]

Spectrum, Sa., 2002.05.11

13. April 2002Walter Zschokke
Spectrum

Zeiträume, gegenwärtig

Ingenieurbauwerke in der machtvollen Topographie der Alpen hat Margherita Spiluttini in Bilder verdichtet. Die komplex in die Tiefe gestaffelten Blickräume sind derzeit in einer Ausstellung im Technischen Museum Wien zu sehen.

Ingenieurbauwerke in der machtvollen Topographie der Alpen hat Margherita Spiluttini in Bilder verdichtet. Die komplex in die Tiefe gestaffelten Blickräume sind derzeit in einer Ausstellung im Technischen Museum Wien zu sehen.

Auf ihren unzähligen Fahrten zu den Bauwerken, die zu photographieren Margherita Spiluttini beauftragt wurde, gab es ein Dazwischen: Gebirgsstraßen in Tirol und Vorarlberg - zuweilen auch weiter westlich oder südlich - als rasch zu bewältigende Wege zum Arbeitsziel oder nach Hause ins Photolabor. Aus den vielen geschauten Bildern, die, der Fahrgeschwindigkeit unterworfen, dicht aufeinander folgen, werden einzelne so wichtig, daß sie bald einmal anhält und das geschaute Bild mit der Kamera einfängt. Und so wird der Nebeneffekt zur selbstgestellten, künstlerischen Aufgabe.

Es ist seit Jahrhunderten bekannt: Das Gebirge (für uns die Alpen) ist gewaltig und erhaben. So wie beispielsweise das Meer und die Wüste auch. Sie bieten räumliche Erfahrungen in ungewohnten Dimensionen sowie eine Wahrnehmung von Nähe und Ferne, mit denen verglichen stadträumliches Erleben vielleicht sophisticated sein mag, aber nicht über diese Kraft und diesen Atem verfügt.

In diesem Kontext bleiben Kunstbauten wie Brücken und Tunnels oder Staumauern und Dämme, so groß und aufwendig sie auch sein mögen - und so bewundernswert die Ingenieurleistung -, schlicht Beiwerk. Weil aber dieses Beiwerk ingenieurmäßig zielgerichtet angelegt und nach technischem Aufwand und Kosten auf einen festgelegten Zweck hin optimiert wurde, erschließt sich uns seine unmittelbare Sinnhaftigkeit, und es entsteht jene einzigartige Spannung von kühnem, letztendlich begrenztem Menschenwerk und absoluter Naturgewalt.

Diese Spannung wird von Margherita Spiluttini emotionslos wahrgenommen und mit der Großformat-Kamera erfaßt und festgehalten. Und obwohl jeder Standpunkt mit dem Automobil erreichbar war, steckt in je-dem Bild die gespeicherte Energie dieses unauflösbaren Gegensatzes.

Die Arbeit mit der Großformat-Kamera ist eine andere als jene mit dem Kleinbildgerät. Den Kopf unter dem schwarzen Tuch, wird man viel stärker Teil des Verfahrens, ist mit sich und dem gestürzten Bild auf der Mattscheibe allein. Es werden daher zuerst einmal projektierte, das heißt vorausgeschaute und dann sorgsam erarbeitete Bilder geschaffen. Was in der „Frontscheibe des Autos, eine Art Bildschirm in einer bewegten Behausung“ (Spiluttini), begann, wird im Kopfraum unter dem schwarzen Tuch zum bleibenden Werk. Obwohl sie von graphischer Bildkomposition und von Ornament spricht, was als abstrakte Komponente zur Suggestivkraft der Bildwirkung beiträgt, sind es zugleich auch unterschiedliche Räume, die von ihrer Bildwahl erfaßt werden.

Vor allem in ihren Steinbruchbildern, aber auch bei Aufnahmen von Alpenpaß-Straßen, ist es der Tiefblick in einen landschaftlichen Großraum, der als Typus breit vertreten ist. Sie pflegt damit die Tradition des berühmten Gemäldes „Kreidefelsen auf Rügen“ (1818) von Caspar David Friedrich.

Der Horizont liegt bei zwei Dritteln der Formathöhe, der Vordergrund umfaßt den Bildraum des scheinbar hochgeklappten Mittelgrundes, in den der Betrachter richtig hineingezogen wird, während der Horizont noch weiter in die Ferne rückt.

Das Weitwinkelobjektiv erfaßt mit Detail- und Tiefenschärfe wesentlich mehr, als das gewohnte Blickfeld des menschlichen Sehorgans einzugrenzen vermag, weshalb die Augen der Betrachtenden entweder im
Bild herumzuwandern gezwungen sind oder zu einem unbestimmten Schauen hinübergleiten wie im absichtslosen Zustand des Meditierens. Diese Bilder können kaum „zu Ende“ geschaut werden, man kann
sich immer aufs neue in sie versenken.

Sehr oft sind es Elemente des Bildinhalts, wie Straßenbänder, Wegführungen oder Fahrspuren, die in ihrer eindeutigen Lesbarkeit Tiefenwirkung und Räumlichkeit erzeugen, wo die kleinteilige Detailgenauigkeit zu jenem flächig ornamentalen Charakter tendiert, den die Photographin in ihren Erläuterungen anspricht. Auch aus diesen Gegensätzen nährt sich die im Bildfeld aufgebaute und verdichtete Spannung. Daß nur das Original in großformatiger Reproduktion diese Schärfe und Bildqualität aufweist, sei angemerkt.

Eine andere Gruppe Photographien vergegenwärtigt Zeiträume. Die Eingriffe in die Erdoberfläche liegen Jahre oder Jahrzehnte zurück. Pflanzenbewuchs und Verwitterungsspuren, Zeichen von Alterung im ursprünglich glatten Beton evozieren einen zeitlichen Raum, der von den bekannt ungleichen Geschwindigkeiten des Wachstums von Pflanzen, der Jahreszeiten oder der Erosion von Gesteinsschichten und Betonoberflächen aufgespannt wird.

Vergehen und Entstehen halten sich die Waage. Keineswegs wird romantische Trauer eingefordert. Die Momentaufnahme zeigt Sachverhalte, die wir als Betrachtende unschwer zu interpretieren vermögen. Unendlich angenehm, verstecken sich hinter den Bildern keine moralisierenden Vorwürfe. Es ist so, wie es ist.

Während nicht wenige der ausgewählten Photographien, bei herbstlich nebliger Witterung aufgenommen, spezifisch unbunt sind und vom Farbspektrum nur ein kleines Segment in Anspruch nehmen, heben bei anderen Schatten und Lichter die flache Raumschicht eines Reliefs hervor und überwinden auf diese Weise die Zweidimensionalität der Bildebene.

Für die von Elisabeth Limbeck-Lilienau kuratierte Ausstellung auf der ersten Galerie im Westflügel des Technischen Museums Wien hat die Architektin Elsa Prochazka ein Präsentationssystem entworfen, das den rahmenlos gehängten Photographien eigene Räume und Raumzonen schafft.

Boxen aus Stahlrahmen, an zwei Längsseiten bekleidet mit mittelgrauen Eternittafeln, erzeugen räumliche Verdichtungen für kleinere Ausarbeitungen, während große Bilder von den Außenflächen gleichsam gerahmt werden. Im neutralisierenden Feld dieser autonomen Körper kommen die von Margherita Spiluttini mit ihren Augen und Händen geschaffenen verschlingenden Bildräume bestens zur Geltung, und sie erweist sich damit als Meisterin im Herbeizaubern dreidimensionaler Wirkung aus der ebenen Fläche.

Die Ausstellung „Margherita Spiluttini: Nach der Natur - Konstruktionen der Landschaft“ ist bis 22. September im Technischen Museum Wien (Wien XIV, Mariahilfer Straße 212, Telephon 89998-6000) zu sehen (Montag bis Samstag 9 bis 18 Uhr, Donnerstag 9 bis 20 Uhr, Sonntag, Feiertag 10 bis 18 Uhr).

Spectrum, Sa., 2002.04.13

10. April 2002Walter Zschokke
werk, bauen + wohnen

Redesign Diana

Der städtische Flussraum des Wiener Donaukanals ändert sich. Das zentrumsnahe Gebiet gerät in einen Entwicklungssog, denn der 2. Wiener Gemeindebezirk wird aufgewertet von einer zweiten, im Bau befindlichen U-Bahnlinie. Viele Häuser aus den Sechziger- und frühen Siebzigerjahren sind heute erneuerungsreif. Aber es stehen nicht nur eine wärmetechnische Gebäudesanierung und die Aktualisierung des Innenausbaus an, sondern der Umgang mit der noch wenig geliebten Epoche, in der städtebauliche Integration wenig Bedeutung zu haben schien. Die Erneuerung eines Gebäudes verlängert somit eine fragwürdige Situation. Wenn es daher wie beim Wiener IBM-Gebäude «Diana» gelingt, verbessernd zu wirken, gewinnt die ganze Stadt.

Der städtische Flussraum des Wiener Donaukanals ändert sich. Das zentrumsnahe Gebiet gerät in einen Entwicklungssog, denn der 2. Wiener Gemeindebezirk wird aufgewertet von einer zweiten, im Bau befindlichen U-Bahnlinie. Viele Häuser aus den Sechziger- und frühen Siebzigerjahren sind heute erneuerungsreif. Aber es stehen nicht nur eine wärmetechnische Gebäudesanierung und die Aktualisierung des Innenausbaus an, sondern der Umgang mit der noch wenig geliebten Epoche, in der städtebauliche Integration wenig Bedeutung zu haben schien. Die Erneuerung eines Gebäudes verlängert somit eine fragwürdige Situation. Wenn es daher wie beim Wiener IBM-Gebäude «Diana» gelingt, verbessernd zu wirken, gewinnt die ganze Stadt.

Hinweis: Leider können Sie den vollständigen Artikel nicht in nextroom lesen. Sie haben jedoch die Möglichkeit, diesen im „werk, bauen + wohnen“ Archiv abzurufen. Vollständigen Artikel anssehen


verknüpfte Bauwerke
IBM redesign DIANA



verknüpfte Zeitschriften
werk, bauen + wohnen 2002-04 Forschung im Büro

16. März 2002Walter Zschokke
Spectrum

Laubenkolonie in der Vertikale

Wohnbau, insbesondere jener mit dem Vorsatz „sozialer“, dient elementaren Bedürfnissen. Am Laaer Berg in Wien hat Günter Lautner diese Ansprüche mit Sorgfalt und Augenmaß eingelöst.

Wohnbau, insbesondere jener mit dem Vorsatz „sozialer“, dient elementaren Bedürfnissen. Am Laaer Berg in Wien hat Günter Lautner diese Ansprüche mit Sorgfalt und Augenmaß eingelöst.

Weder lassen sich Grundfragen der Architektur ein für alle Mal beantworten, noch ist die Antwort jedes Mal komplett neu zu erfinden. Vielmehr muß ein Architekt in seiner Zeit um richtige Antworten ringen, denn das Diktat verinnerlichter Mode und die Kostenschere lassen oft wenig Spielraum. Besonders schmal wird diese Bandbreite beim mengenmäßig vorherrschenden Wohnungsbau für jene, deren Einkommen knapp und deren Freiheiten massenmedial definiert werden. Dieser Bevölkerungsgruppe ist weder mit formalistischen Experimenten noch mit geschmäcklerischen Behübschungen gedient. Was diese Menschen brauchen, sind vernünftige Grundrisse und ein sinnvolles Dienstleistungsangebot im Wohnumfeld.

Auf dem Laaer Berg ist der Wind Dauergast, und die Fahrzeugströme in beiden Richtungen der gleichnamigen Straße reißen selten ab. Aus einem städtebaulichen Wettbewerb resultierte 1996 das generelle Konzept von Architekt Ernst Hofmann, das im oberen Teil, entlang der Laaer-Berg-Straße, von Architekt Günter Lautner und seinem Mitarbeiter Nicolaj Kirisits umgesetzt und präzisiert wurde. Errichtet wurde die Wohnanlage in der Verantwortung der MA 17, „Wiener Wohnen“.

Die städtebauliche Figur entlang der Laaer-Berg-Straße, deren leichte Kurve von der Abfolge radial gesetzter Wohntrakte paraphrasiert wird, erreicht vorstädtische Qualität und erinnerbare Zeichenhaftigkeit. Die sieben Stirnseiten erzeugen eine aufgelockerte Straßenflucht, die in der Perspektive zusammenrückt. Die Gebäudehöhen wirken im Verhältnis zur Breite der vierspurigen Straße weder zu hoch noch zu niedrig. Zwei Geschoße mehr, wie ursprünglich vorgesehen, würden die Maßstäblichkeit kippen lassen, und der Rest an Ortbarkeit verlöre sich in der Vielzahl.

Straßen- wie hangseitig kragen die scheibenartigen Baukörper zwei Geschoße hoch aus, gestützt von jeweils zwei kräftigen Rundstützen aus Stahlbeton. Die nicht unpathetisch wirkende Maßnahme definiert zwei Fußgängerwege. Entlang der Straße fassen die hohen Vorhallen einen zurückversetzten Gehsteig, an dem die Hauseingänge liegen sowie - in kleinen Baukörpern zwischen den Wohntrakten - mehrere Dienstleistungsnutzungen. Rückseitig handelt es sich eher um einen Weg, auf dem Kinder ungefährdet ihren Bewegungsdrang auf Rädern und Rollen ausleben können.

Die beiden ungleichen und doch ähnlichen Bewegungsachsen sind architektonisch mit den Wohntrakten verschränkt und bilden mit diesen eine Leiterstruktur. Wegen des Straßenlärms sind die stirnseitigen Fenster im Westen klein gehalten, und zwischen die Gebäude wurden viergeschoßige Glaswände gespannt. Angenehmerweise bremsen sie auch den Wind, was Kinder und Eltern in den Höfen dahinter wahrscheinlich zu schätzen wissen. Ein Streifenmuster hilft, daß Vögel die Glaswand nicht übersehen.

So vervollständigen wenige Elemente mit durchaus funktionalem Hintergrund die städtebauliche Figur der sieben Wohn- häuser, deren Gleichmaß dank der radialen Fächerung und der nach dem Konzept von Michaela Pammer zart differenzierenden Farbgebung in Pastelltönen relativiert wird. Die Kraft, die aus der Wiederholung des Elements geschöpft werden kann, wird genützt, um identitätsbildend zu wirken - aber so weit gezügelt, daß dem Individuum ausreichend Ansätze geboten werden, seinen Platz zu finden.

Von der gedeckten Vorhalle gelangt man jeweils ins Stiegenhaus und zum Lift. Der gerade Treppenlauf macht diesen Bereich großzügiger, denn hier führt der Weg durch zum kurzen Laubengang, an dem vier Wohnungstüren liegen. Die einzelnen Einheiten sind nicht sehr groß, dafür grundrißlich klug organisiert, sodaß auf einem Geschoß keine zwei Wohnungen gleich sind. Die Differenzierung und die Überschaubarkeit sichern den hohen Gebrauchswert. Denn es ist nicht egal, ob man durch einen engen, finsteren Stiegenschluf zur Wohnung vordringen muß oder ob genug Licht und Raum zur Verfügung stehen, daß eine Begegnung nicht zum peinlichen Anein-andervorbeidrängen verkommt.
Es ist eine altbekannte Tatsache - und darauf basieren etwa auch die Notenlinien -, daß bei fünf gleichen Elementen eine Unterscheidung noch ohne zu zählen möglich ist. Das mag der Grund sein, warum die Gebäudetrakte mit den jeweils fünf Wohngeschoßen so übersichtlich wirken, was auch wieder bedeutet, daß man sich von außen an ihnen zurechtfindet. Dies gilt selbst für die glatten Nordfassaden, wo das große Profilglasfeld vor den Laubengängen von zufällig verteilten Lüftungs- und Ausblicksfenstern durchbrochen wird.

Wesentlich stärker wurde das Spiel mit dem Zufall an den südorientierten Fassaden betrieben. Vor die Wohnräume sind hier kleine Loggien gehängt, die als vertikale Laubenkolonie das Außenwohnen in minimaler und doch tauglicher Größe möglich machen. Seitenwände aus Rohglas schirmen Wind und Blicke ab, Breite und Tiefe erlauben es, gemütlich zu viert an einem Tisch zu sitzen. Die zum gedrungenen Rechteck geschnittene Fläche bringt wesentlich mehr als die meist zu seichten Balkone, die sich oft nutzlos über die gesamte Fassade ziehen, zur Abstellfläche verkommen und wo man Wind und Blicken ausgesetzt ist.

Eine vom Zufall bestimmte Verteilung erzeugt an jeder Südfront ein anderes Bild. Nicht daß der Aufenthalt in der einzelnen Loggia dadurch ein anderer würde, aber das Bild nach außen zeugt von unangestrengter Individualität in der Vielzahl gleicher Formen.

Die Loggien sind auf dünnen, nach vorn sich noch verjüngenden Stahlbetonplatten aufgebaut und wirken luftig wie Schwalbennester. Sogar das schirmende Welleternit ist nicht bloß billig, sondern erinnert an selbstgebaute Hütten und Häuschen in Laubenkolonien. Diese Lockerheit verleiht den Fassaden eine sympathische Anmutung. Die Loggien bieten Freiraum im doppelten Sinn und werten die Wohnungen auf. Dennoch soll das Wohnen in einer durchaus dichten, aber differenzierten Anlage wie der beschriebenen dem Wohnen im Reihenhaus - oder im Hochhaus - für jene, die das für sich wünschen, nicht entgegengestellt werden. Aber die Menschen müssen wählen dürfen. Und dafür bilden Günter Lautners Feinkonzept und Architektur ein überzeugendes Angebot.

Spectrum, Sa., 2002.03.16



verknüpfte Bauwerke
Wohnhausanlage Laaerbergstrasse

15. März 2002Walter Zschokke
zuschnitt

Aus der Landschaft heraus, in die Landschaft hinein

Exakt am Hang situiert, bietet das Apartmenthaus seinen Gästen eine Aussicht über das Tal bis nach Lech am Arlberg. 14 Apartments in zwei verschiedenen Größen stehen zur Auswahl. Die Grundrisse erstrecken sich über die gesamte Gebäudetiefe, jeder Einheit ist eine kleine Terrasse vorgelagert. Die Gäste sind autonom, da die gesamte Infrastruktur wie Rezeption im nahegelegenen Gasthof untergebracht ist. Das Haus ist in Massiv-Holzbauweise errichtet - eine Mischkonstruktion aus Holzständern und eingezogenen Betondecken. Außen wurden geölte Lärchenholzbretter für die Fassade verwendet, innen kommt Holz bei Decken und Böden zum Einsatz. Das Gebäude erfüllt die Kriterien eines Niedrigenergiehauses und wurde mit dem österreichischen Staatspreis für »Tourismus und Architektur« 2000 ausgezeichnet.

Exakt am Hang situiert, bietet das Apartmenthaus seinen Gästen eine Aussicht über das Tal bis nach Lech am Arlberg. 14 Apartments in zwei verschiedenen Größen stehen zur Auswahl. Die Grundrisse erstrecken sich über die gesamte Gebäudetiefe, jeder Einheit ist eine kleine Terrasse vorgelagert. Die Gäste sind autonom, da die gesamte Infrastruktur wie Rezeption im nahegelegenen Gasthof untergebracht ist. Das Haus ist in Massiv-Holzbauweise errichtet - eine Mischkonstruktion aus Holzständern und eingezogenen Betondecken. Außen wurden geölte Lärchenholzbretter für die Fassade verwendet, innen kommt Holz bei Decken und Böden zum Einsatz. Das Gebäude erfüllt die Kriterien eines Niedrigenergiehauses und wurde mit dem österreichischen Staatspreis für »Tourismus und Architektur« 2000 ausgezeichnet.

Am südöstlichen Siedlungsrand des Wintersportortes Warth sitzt das längliche Gebäude exakt an der Hangkante, so dass die Aussicht aus den Apartments und von den breiten Balkonen nicht nur zu den gegenüberliegenden Berggipfeln und nach Lech am Arlberg, sondern auch ins Tal hinunter und hinauf reicht. Eine beneidenswerte Position für das Frühstück vor dem Pistenvergnügen. Den gerade geschnittenen Baukörper bedeckt eine Horizontalschalung aus geölten Lärchenholzbrettern. Nach oben schließt ihn ein flaches Pultdach ab. Während sich vorn die Balkone dreigeschoßig über die gesamte Breite ziehen und sogar über die Hausecken hinausgreifen, wird die Rückseite von den drei kragenartig vorstehenden Wetterschirmen der Eingänge rhythmisiert. Sie blicken auf eine kurze Gasse, die auf der anderen Flanke räumlich von der ins Terrain eingefügten und erdüberdeckten Einstellhalle definiert wird. Diese Verankerung in die Topographie ist ein wichtiges Qualitätsmerkmal guter alpiner Architektur. Die Proportionen des Gassenraumes auf der Zugangsseite entsprechen jenen dörflicher Verhältnisse, während die Gesamtgestalt auf der Aussichtsseite auf Fernsicht konzipiert ist. Mit minimalen Mitteln gelingt es, einen architektonisch klaren Ausdruck zu schaffen.

Das betriebliche Konzept für die zwölf kleinen und zwei etwas größeren Apartments verzichtet auf den sorgenden Hotelier. Die Karten zum Öffnen der elektronisch gesperrten Türen werden den Mietern per Post zugeschickt, oder sie können sie in einem Herbergsbetrieb im Ort abholen. Im übrigen sind sie autonom. Der Bauherr Mag. Wolfgang Hefel hat möglichst schlanke administrative Strukturen angestrebt. Der Erfolg bestätigt seine unternehmerischen Überlegungen.

Die Konstruktion für das Bauwerk nützt die vielfältigen Eigenschaften von Holz und Holzwerkstoffen und verwendet dazu Beton für schall- und brandhemmende Elemente, die zugleich konstruktiv aussteifend wirken. So bestehen die Stiegenhausschalen und die trennenden Scheiben zwischen den Apartments aus 20cm armiertem Beton, während für Außenwände, Decken und Böden Holz zum Einsatz kam. Wiederum zur Verminderung der Schalldurchlässigkeit wurde eine Holzverbunddecke gewählt, denn bei einem Vorgängerbau, dem Doppelwohnhaus in Schwarzach/Vorarlberg, machte der Architekt die Erfahrung, dass die Schalldämmwerte bloß mit Betonpflastersteinen auf einer Gummiauflage über der Brettstapeldecke nicht ganz erreicht wurden. Im Sinne einer intelligenten Kombination der Materialien wurde daher eine Verbundkonstruktion gewählt, bei der der gewichtige, schalldämmende Ortbeton auch statisch wirksam wird. Holz übernimmt den Zug, Beton den Druck. Zuunterst in der Decke befindet sich daher eine 12cm starke Brettstapelplatte, deren Unterseite bereits fertig gehobelt ist. Darauf liegen 10cm armierter Beton, mit dem Holz schubfest verbunden durch spezielle, halb ins Holz eingedrehte Schrauben. Es folgen 3cm Split, 2,5cm Trittschallmatten, auf der 3,5cm starke Heraklith-Platten aufliegen, zwischen denen die Staffeln des Schiffbodens gleichsam schweben. Die Lärchenbretter des Bodens liegen somit auf dem Heraklith auf und Lastabtragung und Schalldämmung sind perfekt.

Es spricht viel Erfahrung und Ingenieurgeist aus dieser Konstruktion, die bis auf den Beton in Trockenbauweise ausgeführt werden konnte. Ebenso wurden die Treppen aus Holz vorgefertigt und als Ganzes von oben in die Stiegenhausschalen eingesenkt. Natürlich galt diese Art der Werkstattvorfertigung auch für die Fassaden, die stückweise, samt den Fenstern mit dem Kran in Position gebracht wurden. Der Aufbau der Fassadenelemente beginnt von innen nach außen wieder mit einer 12cm starken Kantelwand, wie die Brettstapel auch genannt werden. Sie werden von hölzernen, auf Zug belasteten Dübeln zusammen gehalten. Was zuvor mit eingeleimten Gewindestangen aufwändiger erzielt wurde, kann nun mit gepressten und getrockneten Holzdübeln erreicht werden, die im Holz der Kantel aufgehen unddarin über Haftreibung festsitzen. Bisher hielt sich das Arbeiten des Holzes in den vorgesehenen Grenzen. Auch hier ist die Innenseite gehobelt und somit fertig. Nach außen folgen eine 16mm OSB-Platte, 16cm Steinwolledämmung, eine weitere 16mm OSBPlatte, die Konterlattung mit Hinterfüftung und die Außenschalung.

Die Konstruktion verbindet eine positive innere und äußere Anmutung mit hohen Wärmedämm- und Speicherwerten und erlaubt dank Vorfertigung eine kürzere Bauzeit, was in schneesicheren Bergregionen von Bedeutung ist, denn Zeit ist hier viel Geld, wenn die Baustelle über den Winter steht. Die zeitgenössische, sorgfältig proportionierte architektonische Erscheinung, die druchdachte Konstruktionsweise mit Holz und das in die Zukunft weisende, betriebliche Konzept gaben den Ausschlag, dass dem 1999 fertiggestellten Bauwerk im Jahr 2000 der Staatspreis Architektur und Tourismus verliehen wurde. Damit ist die kulturelle Botschaft allerseiten angelangt: Architekten, Bauherren, Herbergsbetreiber und auch Gäste schätzen innovative Holzkonstruktionen und ihr ebenso zeitgemäßes Erscheinungsbild.

zuschnitt, Fr., 2002.03.15



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16. Februar 2002Walter Zschokke
Spectrum

Was ist schon „epochal“?

Eine zeitgemäße architektonische Ausdrucksweise muß reifen können. Beschleunigung, Medialisierung und die Fetischisierung nackter Neuigkeit stehen dem entgegen. Über die unselige Rolle, welche die Kritik dabei bisweilen spielt: eine Betrachtung.

Eine zeitgemäße architektonische Ausdrucksweise muß reifen können. Beschleunigung, Medialisierung und die Fetischisierung nackter Neuigkeit stehen dem entgegen. Über die unselige Rolle, welche die Kritik dabei bisweilen spielt: eine Betrachtung.

Wesentliche Themen der Architektur des 20. Jahrhunderts wurden von Le Corbusier bei seinem Entwurf für ein Mehrfamilienhaus in Genf angeschlagen, von dessen Stiegenhaus unser Bild einen Blick wiedergibt. Die „Maison Clarté“ (1932) ist ein Stahlbau mit ausgiebiger Verwendung von Glas. Ein Blick auf die Details und die diesbezüglichen Zeichnungen zeigt, wieviel seither an technischen und konzeptionellen Verbesserungen erfolgt ist. Die Bauteilindustrie hat ausgeklügelte Systeme für Metallfenster entwickelt; gravieren-de Konstruktionsfehler wurden nach Bauschäden ausgemerzt; heute können für viele Bauteile wirtschaftliche Stückzahlen produziert werden; die spezifische Erfahrung der Handwerker hat sich überhaupt erst herausgebildet; und die mittlerweile gestiegenen Ansprüche an Dämmwerte und bauphysikalische Wirkungsweisen wurden technisch und formal bewältigt.

Doch die Hauptthemen der Architektur haben sich in diesem Zeitraum nur unwesentlich verändert. Immer noch gelten „Licht, Luft, Öffnung“ sowie Leichtigkeit und Transparenz, aber auch Standardisierung und Industrialisierung als Maximen der Moderne. Farbigkeit und Materialwirkung spielen wechselnde Nebenrollen.

Das Beispiel zeigt, daß die Entfaltung einer architektonischen Ausdrucksweise im Einklang mit der Entwicklung der Technologie über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten erfolgt. Daß überdies Zwischenspiele und Aufspaltungen verlangsamend wirken und einen komplexen, uneinheitlichen Pro- zeß charakterisieren, der in der Rückschau gern als geradlinig gezeichnet wird. In diesem Ablauf sehen sich Architekturkritik und ihre Exponenten gern als Förderer oder gar Weichensteller, indem immer wieder „epochale“ Ereignisse postuliert werden, die sich in der Regel hinterher als oberflächliche Moden oder formalistische Gags erweisen. Ein nicht geringer Teil der Fachwelt orientiert sich jedoch daran, verspricht sich davon individuellen Erfolg und kopiert mehr oder weniger begabt. Weil als Anschauungsmaterial nicht Bauwerke, sondern - meist geschönte - Abbildungen dienen und weil es eher die weniger begabten Architekten sind, die das Abkupfern betreiben, bleiben viele Bauten architektonisch auf halbem Weg stecken. So werden Städte und Dörfer angefüllt mit Halbheiten. Dieser verbreiteten Unselbständigkeit entspricht ei- ne Orientierungslosigkeit bei konkreten Aufgaben: Modische Muster werden übernommen und unreflektiert einem gänzlich anderen Kontext aufgesetzt.

Die Architekturpublizistik rea- giert mit pawlowschem Reflex auf die modischen Details, lobt das Produkt und verzichtet auf inhaltliche Auseinandersetzung und Eindringtiefe. Gebetsmühlenartig werden die immer gleichen, leeren Schlagworte hingeworfen, mit platten Metaphern wird vermieden, Sachverhalten auf den Grund zu gehen. Den Architekten genügt die Tatsache, daß ihre Bauten publiziert werden.

Solange keine negativen Wertungen abgegeben werden, ist es ihnen egal, was an Text dazugegeben wird. Für eine Diskussion von Für und Wider sind die Ausführungen sowieso zu kurz. Und so beißt sich die Katze in den Schwanz.

Architektonische Experimente werden immer wieder gern als Blickfänge eingesetzt, Fragen der Realisierbarkeit werden ausgeklammert, da zweidimensionale Bilder zum Publizieren ausreichen. Der anspruchsvolle Entwicklungsprozeß, wie er von Fachplanern und Bauindustrie zusammen mit dem Architekten noch geleistet werden müßte, bis ein neuer Ansatz ausgereift ist, stellt an diesen einiges an fachlichen Ansprüchen und erfordert Kooperations- und Gesprächsfähigkeit. Werden diese Aspekte vernachlässigt, reduzieren sich die Architekten zu Architekturmalern - nur halt mit den zeitgenössischen Mitteln computergestützter Darstellung. Die Kritiker mutieren zu Interpreten mehr oder weniger geglückter Bilder von postulierten Experimenten.

In solchen Phasen übertriebenen Starkults und der Verherrlichung unausgereifter Konzepte werden Rückgriffe auf einfache Lösungen dankbar angenommen. Man denke nur an die epidemische Ausbreitung der populistischen Strömung der Postmoderne und ihre dankbare Annahme seitens schlechter Architekten mit ihren plumpen Grapschereien nach vermeintlich historischen „klassischen“ Formen und deren schwerfällige Umsetzung. Daß eine fundierte Kritik an den Fehlern der Moderne deren weitere Entwicklung und Verbreitung provozierte und ihr zu neuerlicher Konjunktur verhalf, sei nur nebenbei angemerkt.

Der Ball läge also bei den Architekten, die den formalen Experimenten das nötige Unterfutter aus technischer und ökonomischer Realisierbarkeit mitliefern sollten, damit Vertrauen in die neuen Formen entstehen und sich verfestigen kann.

Das hieße verlangsamen, hieße auch, Erfahrungen bei den Handwerkern wachsen zu lassen, die mit neuen Techniken umgehen und Produktionsprozesse optimieren können müssen, um wirtschaftlich gesund zu bleiben. Die permanente Flucht nach vorn in die Innovation um der Innovation willen läßt diesen wichtigen Faktor unberücksichtigt und vernichtet die Erfahrung. Vor lauter Umschulen gehen die Inhalte verloren. Es gilt zu akzeptieren, daß die Architektur eine langsame Kunst ist, deren Rhythmus noch von anderen Faktoren mitbestimmt wird als bloß vom Kitzel schnell hingeworfener Avantgardismen. Das Scheitern der Avantgarden der zwanziger Jahre an den Produktionsverhältnissen und das Erreichen vieler ihrer Ziele und Visionen zwei Generationen später sollte in dieser Erkenntnis bestärken.

Die Fetischisierung des Vorrangs der skizzierten Idee vor ihrer konsequenten Durcharbeitung ist eine der Hauptsünden, die sich die Kritik vorwerfen lassen muß. Ihre Aufgabe kann weder die des Vordenkens sein - das muß sie schon den Architekten selber überlassen -, noch sollte sie sich in der Rolle der paternalistischen Fördererin des Nachwuchses gefallen - zu sehr geförderter Nachwuchs entbehrt nicht selten des Rückgrats. Vielmehr lautet die Aufgabe der Kritik, einerseits eine sachliche Auseinandersetzung in der Fach- welt zu führen und anderer-seits die gewonnene Erkenntnis einem architekturinteressierten Publikum zu vermitteln.

Hier gilt es noch einem Manko abzuhelfen: Jede Generation von Architekten muß sich eine eigene Haltung und eine dazu passende Sprache erarbeiten. Eine eigene Stimme und die Fähigkeit zur kritischen Diskussion können aber nur der jeweiligen Generation, die über den gleichen Erfahrungshintergrund ver- fügt, erwachsen. Meist muß der Anspruch auch gegen die Exponenten der vorangegangenen Ge- neration durchgesetzt werden.

Dieser Vorgang scheint unabdingbar zur Schärfung des eigenen Profils. Denn nicht den Alten mit ihren Werken müssen sie gefällig sein, geht es doch darum, sich als Generation von Architekten und Kritikern neu zu positionieren.

Spectrum, Sa., 2002.02.16

19. Januar 2002Walter Zschokke
Spectrum

Resonanzen und Obertöne

Die Frage ist längst nicht mehr „Ja oder nein?“, es geht inzwischen ums Wo und ums Wie: Hochhäuser in Wien. Ein Konzept mit vagen Vorgaben existiert zwar, zwingende stadträumliche Ideen, die dem Investitionsdruck standhielten, stehen indessen noch aus.

Die Frage ist längst nicht mehr „Ja oder nein?“, es geht inzwischen ums Wo und ums Wie: Hochhäuser in Wien. Ein Konzept mit vagen Vorgaben existiert zwar, zwingende stadträumliche Ideen, die dem Investitionsdruck standhielten, stehen indessen noch aus.

Große Städte, noch dazu, wenn sie viele hundert Jahre alt sind, verfügen über eine spezifische Anziehungskraft, die in den Köpfen weiter Bevölkerungskreise ansetzt. In ihren auf eine, zwei Silben verschliffenen Namen klingt mehr mit als die bloße Bezeichnung. Es sind die zahllosen Chancen, die eine Stadt bietet, sich hochzuarbeiten, sein Glück zu machen. Abstürze werden selbstverständlich verdrängt. Wer an sich glaubt, ist überzeugt, es irgendwie zu schaffen.

Dieses Potential - jene in den Vorstädten, die es irgendwie schaffen wollen, sowie jene, die von der Stadt träumen, um dem begrenzten Raum ihrer Dörfer und abgelegenen Kleinstädte zu entkommen - erzeugt einen mentalen Umschlingungsdruck. Der Drang, sich in Metropolen niederzulassen, ist keine Modeerscheinung, sondern wirkt permanent. Selbst wenn materielle Grenzen - ob aus Stein und Stahl, mit Kontrolltoren und -posten, oder wirtschaftlicher Natur, etwa hohe Lebenshaltungskosten und Repräsentationsausgaben - ein Vordringen in die „Stadt“ erschweren, bleiben die kulturellen Gravitationskräfte bestehen. Sie verstärken sich sogar, weil das Drinnen oder Draußen so eindeutig ist.

Materieller Ausdruck dieser zentripetalen Kräfte ist das Ansteigen der Geschoßzahl, wie dies etwa im Wien des 18. und 19. Jahrhunderts der Fall war. In Manhattan ist es die Insellage, die zur Höhenentwicklung der untypischsten amerikanischen Stadt geführt hat. Die wachsenden technischen Möglichkeiten erlaubten alsbald Gebäudeproportionen, die den materiellen Zwang zur Verdichtung überstiegen und ins Symbolhafte vordrangen. Seither gibt es zwei Argumentationsachsen für den Bau von Hochhäusern: jene des Drucks der Massen und der Ökonomie sowie die des repräsentativen Ausdrucks.

Das Bild von Manhattan stand über ein halbes Jahrhundert für Prosperität und Zukunft. Bereits in den fünfziger Jahren wurde dieses Bild in kleinerem Maßstab europaweit kopiert, auch dort, wo der politische den ökonomischen Druck überstieg. Ja selbst in ländlichen Kleinstädten. Mangels Bürobedarf bestanden die hohen Häuser aus gestapelten Familienwohnungen oder Zimmern für das Personal von Krankenhäusern. Zur bildhaften Bedürfnisbefriedigung genügte denn auch ein einziges höheres Haus, das bei 16 Geschoßen und wenig wirtschaftlicher Schlankheit sogar hoch wirkte. Daß der ökonomische Druck fehlte, beweist die Tatsache, daß sie nahezu alle einsam blieben.

Doch zurück nach Wien. Solange die Stadt im geographischen Sack des Eisernen Vorhangs gefangen blieb, beschränkte sich die kleine Hochhauskonjunktur auf ein paar symbolische Stüpfel, wobei der „Ringturm“ am Franz-Josefs-Kai städtebaulich richtig zu stehen kam. Aber welchen urbanistischen Rang erreichte das Haus am Matzleinsdorfer Platz? Als nach 1989 die Grenzen durchlässiger wurden, begann auch Wien wieder zu wachsen.

Der Versuch, mit dem „Trainingsprogramm“ einer Expo die Fitneß der Stadt hinsichtlich ihrer Stellung als Donaumetropole anzuheben, scheiterte am linkskonservativen Widerstand. Mit dem EU-Beitritt befand sich die Stadt wieder in derselben geographischen Abschnürung, diesmal durch die Schengen-Außengrenze. Daß die temporäre Ruhe trügerisch ist, weiß man allerdings an den entscheidenden Stellen der Stadt. Es wird für Wien ein Hochhauskonzept angestrebt, das künftige Entwicklungen in Bahnen lenken soll.

Ausgehend von dem 1991 von Coop Himmelb(l)au ausgearbeiteten Konzeptvorschlag wurden zuerst jene Bereiche festgelegt, die nicht in Frage kommen sollen: die Innenstadt oder Schönbrunn. Und es wurden freizuhaltende Sichtachsen auf die historische Stadtkrone, den Stephansdom, festgelegt. Andere auch. Ein Blick auf das Netz hochwertiger öffentlicher Erschließung mit U- und Schnellbahnen zeigt, daß neben der Innenstadt, die ja nicht in Frage kommt, der zweite Bezirk - insbesondere nach dem Ausbau der U2 -, der Bereich des Gürtels - wo U6 und Straßenbahn-Radiallinien sich kreuzen - sowie die Bereiche im Wiental - mit Schnittpunkten zweier U-Bahn-Linien - eine hohe Standortgunst aufweisen. Das heißt nun aber nicht, daß Hochhäuser deshalb an diesen Stellen auch städtebaulich richtig stehen würden, von wirtschaftlichen Überlegungen ganz zu schweigen. Es kann daher nicht bloß darum gehen, wo Hochhäuser verhindert werden sollen, sondern es muß auch darum gehen, wo man sie haben will. Ein Abschieben an den Stadtrand würde heißen, daß man sie eigentlich nicht will, sich das aber nicht zu sagen traut.

Lassen wir einmal den Höhenwettbewerb weg, und denken wir in Gebäuden von 75 plus/minus 15 Meter. Da Bauwerke dieser Höhe die Stadttopographie wesentlich verändern, geht es um die Frage des künftigen Stadtbildes. Insbesondere, wenn sie nicht einzeln, sondern als Gruppe, Zeile oder Cluster angeordnet werden.

Daß näher am Zentrum liegende Zonen größeres Interesse finden, werden jene schon bemerkt haben, welche die eher gemächliche Entwicklung der Investitionen vor der UNO-City beobachtet haben. Da liegt die Bebauung entlang des linken Ufers des Donaukanals näher. Eine positive Vision dieser innerstädtischen Kante auf mittlere Frist tut allein deshalb not, weil die Transformation bereits eingesetzt hat. Die Weite des Flußraums und der gebogene Verlauf machen die Ansicht äußerst attraktiv. Hier könnte der Ring nicht bloß für den Verkehr, sondern auch städtebaulich in adäquater Weise geschlossen werden.

Wie das von Hans Hollein gesetzte Beispiel beweist, erlaubt der Höhenunterschied zur Stadtterrasse die bisher gewählte Größenordnung. Entlang dieser wichtigen Schauseite keine bindenden stadträumlichen Ideen zu entwickeln hieße, diesen zentrumsnahen Bereich den Zufällen des zunehmenden Investitionsdrucks zu überlassen.

Mit der Stadt Zürich unterhält Wien einen Erfahrungsaustausch zur Frage des Hochhauskonzepts. Die schweizerische Metropole steht unter nicht geringem Konkurrenzdruck aus München, Stuttgart, Mailand und so weiter und will ihre Stellung ausbauen. Der Strukturwandel, der die städtebaulich weniger empfindlichen Industriezonen beidseits der nach Westen führenden Eisenbahngeleise erfaßt hat, bietet die Chance einer Verdichtung und Urbanisierung ungeahnten Ausmaßes. Hier möchte man Höhen bis 80 Meter zulassen, in angrenzenden Zonen, die etwas empfindlicher eingestuft werden, unter gewissen Bedingungen ebenfalls. Für weitere Stadtteile sollen 40 Meter Höhenbegrenzung gelten.

Die Altstadt und die Seeufer sind tabu. Wichtig erscheint vor allem der positive Blick in die Zukunft: Die Stadt soll sich weiterentwickeln, ihr Erscheinungsbild soll sich in wesentlichen Teilen verändern dürfen, indem ganze Quartiere mit ähnlich hohen Gebäuden zulässig werden. Dem Druck der Agglomeration wird auf diese Weise Raum geschaffen. Die bisherigen Industrieanlagen stehen aber nicht leer. Viele sind mit Zwischennutzungen belegt, und mit dem Theater in der Schiffbauhalle und mehreren Kinos haben sich Kulturinstitutionen frühzeitig angesiedelt. Beim nächsten regionalen Konjunkturanstieg - etwa nach Inkrafttreten der bilateralen Verträge mit der EU im Mai dieses Jahres - wird sich der Transformationsprozeß intensivieren. Damit die Interessen der Stadt Berücksichtigung finden, gibt es Auflagen nach städtebaulicher Einordnung, einem positiven Bezug zum öffentlichen Raum, ökologischer und klimatischer Unbedenklichkeit sowie architektonischer Qualität.

Das alles weiß man in Wien natürlich ebenfalls. An der positiven Vision einer künftigen Stadtgestalt ist allerdings noch zu arbeiten.

Aber was soll das alles nach dem 11. September 2001? Es würde wohl wesentlich mehr brauchen als einen terroristischen Anschlag selbst dieser Brutalität, um Städtern - wo auch immer - den Willen zur Stadt und die Bejahung von Urbanität auszutreiben. Denn die europäisch geprägte Polis ist seit ihrem Entstehen mit dem Gedanken der Demokratie eng verbunden. Daran ändern auch ein paar gewesene Residenzstädte wenig. Sie lebt aus ihrer Bevölkerung heraus, mit allen Obertönen und Resonanzen im Klang ihres Namens. Dazu gehören auch Hochhäuser auf dem rechten Fleck.

Der Genueser Architekt Renzo Piano, zur Zeit mit der Planung für den neuen Sitz der „New York Times“ befaßt, antwortete dem Journalisten der „Neuen Zürcher Zeitung“ auf die entsprechende Frage: „Ich war am 11. September in New York - ein unbeschreiblicher Tag - alle waren in einer Art Schockzustand. Tags darauf, beim Treffen mit meinen Auftraggebern, sagte niemand: Laßt uns aufhören, oder laßt uns eine Pause machen.“ Und weiter: „Als ich den Auftrag für die ,New York Times' erhielt, fragte ich: Warum nehmen Sie einen Europäer und nicht einen Amerikaner? Die Antwort lautete: Weil Sie vielleicht besser wissen als wir, wie man Urbanität schafft, wie man einen humanistischeren Zugang zum Bauen findet.“ Mit einem vergleichbaren Ansatz wird man auch in Wien zu einem intelligenten Hochhauskonzept kommen.

Spectrum, Sa., 2002.01.19

10. Januar 2002Walter Zschokke
werk, bauen + wohnen

Wenn draussen noch drinnen ist

In Wien-Simmering hat ein Aufsehen erweckendes Unterhaltungszentrum der neuen Art seinen Betrieb aufgenommen. Im Inneren einer farbig lockenden Hülle entfaltet sich eine gleichsam in Bewegung versetzte, räumlich vielfältige und in sich geschlossene Welt. Die schiere Grösse und die Nutzung des Zentrums sind ein gewichtiges Argument für das Auseinanderfallen von äusserer Hülle und innerer Struktur, wo durch die Konstellation der Ebenen in der Mall und der Körper der Kinosäle ein pulsierender Binnenraum entsteht. Es ist ein doppeldeutiger Raum: Wer von aussen kommt, erlebt ihn als Innenraum, wer einen Kinosaal oder ein Geschäft verlässt, meint in einen Aussenraum zu treten. Handelt es sich dabei um eine weitere konsequente Fortschreibung der Moderne, indem Rolltreppen, Stege und die signifikant ansteigenden Unterseiten von Auditorien oder Kinosälen für eine binnenräumliche Wirkung und neuartige Raumkonfigurationen genützt werden?

In Wien-Simmering hat ein Aufsehen erweckendes Unterhaltungszentrum der neuen Art seinen Betrieb aufgenommen. Im Inneren einer farbig lockenden Hülle entfaltet sich eine gleichsam in Bewegung versetzte, räumlich vielfältige und in sich geschlossene Welt. Die schiere Grösse und die Nutzung des Zentrums sind ein gewichtiges Argument für das Auseinanderfallen von äusserer Hülle und innerer Struktur, wo durch die Konstellation der Ebenen in der Mall und der Körper der Kinosäle ein pulsierender Binnenraum entsteht. Es ist ein doppeldeutiger Raum: Wer von aussen kommt, erlebt ihn als Innenraum, wer einen Kinosaal oder ein Geschäft verlässt, meint in einen Aussenraum zu treten. Handelt es sich dabei um eine weitere konsequente Fortschreibung der Moderne, indem Rolltreppen, Stege und die signifikant ansteigenden Unterseiten von Auditorien oder Kinosälen für eine binnenräumliche Wirkung und neuartige Raumkonfigurationen genützt werden?

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werk, bauen + wohnen 2002-01/02 Nach innen

22. Dezember 2001Walter Zschokke
Spectrum

Die Lichtskulptur in der Vitrine

Sakralität, Besinnlichkeit, ja Geborgenheit erwartet man von einem Kirchenbauwerk unserer Tage. Wie das auch mit Sichtbeton und Glas zu schaffen ist, führen die Linzer Architekten Gabriale und Peter Riepl in Steyr-Resthof vor.

Sakralität, Besinnlichkeit, ja Geborgenheit erwartet man von einem Kirchenbauwerk unserer Tage. Wie das auch mit Sichtbeton und Glas zu schaffen ist, führen die Linzer Architekten Gabriale und Peter Riepl in Steyr-Resthof vor.

Steyr-Resthof ist ein gut zwei Dutzend Jahre alter Stadtteil im Nordosten von Steyr, der den Behörden trotz seiner 6000 Einwohner bisher keinen Wegweiser wert war. Die wenig ansprechenden, sechs- bis achtgeschoßigen Wohnbauten erhalten zur Zeit eine aufhellende Fassadenrenovation. Nachdem schon früher ein Pfarrhof mit Räumen für die Gemeinde im sogenannten Quartierzentrum - ziemlich viele Parkplätze und zwei Geschäfte - errichtet worden war, konnte nun auch die Kirche gebaut werden. Das Projekt wurde über einen Architekturwettbewerb ermittelt, den das Linzer Architektenpaar Gabriele und Peter Riepl für sich entscheiden konnte.

Ein großes Grundriß-Quadrat bildet den Rahmen, in den Räume und Raumzonen verschiedener Höhenentwicklung eingeschrieben sind. Manche sind ganz flach, wie die östlich vorgelagerte Wasserfläche, andere ragen in die Höhe, wie die turmartige Vitrine an der Südostecke. Langgezogene, großflächig verglaste Öffnungen sind in den glatten Sichtbeton geschnitten, wobei die Proportionen von Öffnung zu Mauer solcherart gewählt wurden, daß einladendes und bergendes Moment sich die Waage halten. An der Westseite, wo der Hauptzugang liegt, verstärkt ein Portikus, dessen Dachscheibe auf einer Reihe von sieben schlanken Rundstützen zu schweben scheint, die einladende Wirkung der dahinter liegenden, breiten Glaswand.

Aber auch von Osten führt ein Weg zur Kirche hin, eine breite Glaswand bietet Einblick, doch die Wasserfläche gebietet Abstand. Der Weg führt tangential am Nebenzugang vorbei und erreicht den Portikus von der Rückseite her. Damit ist das Gebäude ohne bestimmte Ausrichtung eingebunden in den Siedlungsverband, öffnet sich mit Bedacht nach allen Seiten in einer adäquaten Weise und bietet im Süden, zur vorbeiführenden Straße, eine der Aufgabe angemessene Aussicht von zurückhaltender Monumentalität. Dies wird erreicht, indem die Fenster vor Sakristei und Ministrantenraum zu einem einzigen Fensterband zusammengefaßt sind, das somit als einzige Öffnung in der Sichtbeton-Mauer Kraft gewinnt und jene damit noch stärkt.

Natürlich bildet der hochgestellte Glasquader, der in die Südostecke eingesetzt ist, das dominierende Element dieser Ansichtsseite, aber er ist kein eigentlicher Turm - dafür müßte er aus dem Boden aufsteigen. In die Mauer eingesetzt, mutiert er zur übergroßen Vitrine, zum Lichtfänger nach innen, zum Behältnis für eine außerordentlich geglückte, farbige Licht-skulptur von Keith Sonnier, die in der Photographie bloß unzureichend wiedergegeben wird. Jetzt, zur Winterszeit, kommt sie beim frühen Einnachten ausgezeichnet zur Geltung. Sonnier erweckt die große Glasvitrine zu bunt sprühendem Leben. Als wären es langsam verglimmende Spuren fliegender Leuchtkörper, verleihen diese räumlichen Schreibschwünge dem Gebilde aus Profilen und Scheiben Körperlichkeit und füllen den Raum mit Licht.

Insgesamt weist das Äußere des Bauwerks eine gespannte Ausgewogenheit von geschlossen und offen auf, die nicht abweisend ist, sondern zum Betreten einlädt, aber zugleich den Gläubigen die Gewißheit vermittelt, daß sie innen in ihrer Andacht auch abgeschirmt sind.

Der hohe Portikus sammelt die Kirchgänger, bietet auch für den Schwatz nach dem Gottesdienst Schutz vor Regen und harten Sonnenstrahlen. Nach dem Eintreten gelangt der Besucher in eine Vorhalle, deren Decke recht niedrig liegt, aber dennoch nicht bedrückt, weil die Außenwand zum Portikus komplett aus Glas besteht und an der Innenseite ein ins Gebäude eingeschnittener Gartenhof anschließt, dessen Erde bis zur Höhe der begleitenden Sitzbank reicht. Die sparsame Gestaltung von Cordula Loidl-Reisch mit einem Bäumchen und niedrigen Stauden vermittelt in besinnlicher Weise etwas von der Außenwelt ins Innere; dieser Tage beispielsweise den Zauber einer unberührten Schneedecke auf den Pflanzen.

An diesem Außenraum im Innenraum vorbei zielt der Zugang nun in langer Achse auf den Taufstein, über dem die Decke angehoben ist, sodaß die Raumzone über ihre Definition als Abschluß des Ganges hinaus noch in anderer Weise ausgezeichnet wird. Zu beiden Seiten der niedrig gehaltenen Zugangsachse liegen nun die beiden eigentlichen Sakralräume: zur Linken die große, querrechteckige Hauptkirche und zur Rechten, hinter dem Gartenhof, die Kapelle, deren eine Flanke vom markanten Glasturm her Licht erhält. Auch sie ist höher gehalten als der Zugang, sodaß sie ihren eigenen Raumcharakter wahrt.

Der Kirchensaal ist zugleich der höchste Raum der ganzen Anlage. Von der Form eines einfachen Quaders, wird er an zwei Seiten vom Zugang umfangen, sodaß der Raum dort seitlich etwas wegfließt. Das wird vom durchgehenden Boden aus bruchrohem Schiefer noch gefördert. Aber die scharfe und niedrige Begrenzung durch die Decke bildet eine ausreichende Zäsur. Unterstützt wird diese abgrenzende Wirkung von einem einzelnen kubischen Element, das zwischen Gang und Kirchenraum steht, gleichsam die Ecke befestigt und als stark definierter Raum die Marienstatue beherbergt.

An den anderen beiden Seiten des Kirchensaals verläuft in Kniehöhe ein durchgehendes Fensterband, sodaß die Mauern nicht direkt auf dem Boden aufsitzen. Obwohl weder viel Ausblick noch Einblick möglich ist, wird mit dieser Maßnahme ein weiteres Mal die Betonmauer relativiert. Der Kirchenraum selbst erscheint wie eine große, umgestülpte Schachtel, die aber eben nicht auf dem Boden aufliegt, sondern leicht abgehoben ist.

Zusätzlich zu den genannten Öffnungen zieht sich noch ein Lichtspalt in der Decke über der Altarwand entlang, der die Sonnenstrahlen von morgens bis abends auf die vertikale Fläche fallen läßt. Das Innere der Mauern ist nun nicht mehr sichtbarer Beton, sondern wurde mit Birkensperrholz großplattig verkleidet. Der warme Gelbton erzeugt eine Raumstimmung, die durchaus meditativ, aber nicht beengend ist.

Die Reduktion der Materialwirkung auf große Oberflächen und eine Detaillierung, die nicht die Art und Weise, „wie es gemacht ist“, betont, bringt vor allem die Vielfalt räumlicher Konstellationen und Übergänge zur Geltung, die, verstärkt von der Lichtführung, die architektonische Reichhaltigkeit der dem heiligen Franziskus geweihten Kirche ausmachen. Resthof hat damit ein Sakralbauwerk von mehr als überdurchschnittlicher Qualität erhalten, das die Sünden des Bauwirtschaftsfunktionalismus, Form geworden in den umgebenden Wohnblöcken, deutlich werden läßt, allerdings auch ein wenig kompensiert.

Spectrum, Sa., 2001.12.22



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Kirche St. Franziskus

26. Oktober 2001Walter Zschokke
Spectrum

Von der Luft über den Köpfen

Beispielhaft für den Umgang mit der nicht unproblematischen Bausubstanz vom Ende der sechziger Jahre: Rudolf Prohazkas Überformung des IBM-Gebäudes am linken Donaukanalufer, Wien-Leopoldstadt.

Beispielhaft für den Umgang mit der nicht unproblematischen Bausubstanz vom Ende der sechziger Jahre: Rudolf Prohazkas Überformung des IBM-Gebäudes am linken Donaukanalufer, Wien-Leopoldstadt.

Zueinander stehen sie orthogonal, aber städtebaulich beziehen sie sich auf gar nichts. Die beiden Scheibenhäuser am Donaukanal zwischen Salztor-und Marienbrücke mit Rasterfassaden aus Betonelementen erleichterten die Aufgabe einer architektonischen neben der gebäudetechnischen Erneuerung keineswegs. Hermann Czech bemerkt dazu: „Wenn Fehler groß genug sind, nennt man sie Stadtentwicklung, und mittlerweile sind diese beiden Baukörper gleicher Fassadenstruktur, aber unterschiedlicher Proportion Teil der Wahrnehmung des Donaukanals. Soweit Czech zur normativen Kraft des Faktischen.

Als daher die Wiener Städtische Versicherung als Eigentümerin und die Österreich-Zentrale von IBM als langjährige Mieterin des südlichen Baukörpers –der nördliche gehört Raiffeisen –eine Erneuerung ins Auge faßten, riet Czech zu einem geladenen Wettbewerb und leitete die Jury. Es wurden Konzepte gesucht, die bei laufendem Betrieb das Gebäude strukturell und technisch auf einen zeitgemäßen Stand bringen und eine architektonische Verbesserung bewirken sollten.

Rudolf Prohazka, Wiener Architekt der mittleren Generation, der den Wettbewerb gewann, schlug an drei Seiten eine zusätzliche Glashaut vor, legte im Inneren großflächig die Deckenstruktur frei, durchbrach an mehreren Stellen den langgezogenen Kern im Mittelbereich und erweiterte das Attikageschoß zu einem Sitzungs- und Seminarzentrum.

Die vor die alte Fassade gesetzte Schicht aus Glas verbessert den Schallschutz und verändert die bauphysikalische Disposition. Der Sonnenschutz kann vor den Fenstern geführt werden, ist aber windgeschützt und damit weniger störanfällig; und die Betonstruktur der Fassade, vorher im Winter als Kühlrippen wirkend –innen (!)waren als „Dämmung“ drei Zentimeter Heraklith angebracht –ist weniger ausgesetzt und gleicht als Speichermasse Schwankungen aus. Die vom Treibhauseffekt erwärmte Luft zwischen alter und neuer Fassade kann zuoberst durch automatisch bedienbare Öffnungen entweichen. Gitterstege dienen der Reinigung, mit Brandüberschlagsklappen alle drei Geschoße dem Brandschutz.

Architektonisch gelang es Rudolf Prohazka, unter Verzicht auf zusätzlich sichtbare Elemente wie Verspannungen und dergleichen, bloß mit der Konstruktion der Putzstege sowie über oben und unten aufgeklebte Edelstahlbleche, die Glastafeln vor der alten Fassade solcherart zu befestigen, daß eine dichte Haut entsteht. Mit der genialen Idee einer flachen Vorwölbung der gesamten Südseite verleiht er der äußeren Hülle Spannung, die in jeder einzelnen Glastafel besteht und sich im Großen ganzheitlich auswirkt, weil die gebäudehohe Fläche nicht in kleine Facetten zerfällt. Mit der leichten Wölbung gelingt dem Architekten auch eine städtebauliche Bezugnahme auf die Flußbiegung. Vertikale und horizontale Krümmung treten in eine feinsinnige Beziehung.

Da die äußerste Hülle nur aus einer einzigen Schicht Glas besteht, wirkt sie wasserartig durchsichtig, anders als man es von Isolierglas gewöhnt ist, wo vier Reflexionsebenen die Transparenz reduzieren. Daher ist die alte Fassadenstruktur weiterhin gut erkennbar. Alt und neu verbinden sich zu einem neuartigen, beide Komponenten übersteigenden architektonischen Ausdruck.

Im Inneren ging es vor allem um eine Reorganisation der Bürostruktur, vom abgeschlossenen Einzelbüro zu offenen Gruppenbüros. Das Entkleiden der Tragstruktur an der Deckenuntersicht, das heißt der Wegfall der abgehängten Decken und die Konzentration von Installationen auf einen Kernbereich, bewirkte vor allem zweierlei: Erstens gewinnt der Charakter der Baustruktur an Prägnanz, die räumliche Amalgamierung der Geschoße durch die flache Rasterdecke entfällt. Doch stärker fällt zweitens der Gewinn an Raumhöhe ins Gewicht, es entsteht spürbar mehr „Luft“ über den Köpfen, was den Mitarbeitern sicher nicht unangenehm ist.

Für die Kästen der Standardmöblierung wurden gelochte Türblätter mit schallabsorbierender Wirkung verwendet. Und für die temporär anwesenden Mitarbeitern, die auf Telearbeit und Desksharing umstellen wollten, teilweise auch mußten, entwarf Prohazka einen Caddy, der im individuellen Schrank abgestellt, mit dem Nötigen gefüllt und zum ausgewählten Arbeitsplatz gerollt werden kann.

Eine hochdrehbare Arbeitsplatte erlaubt sogar das stehende Arbeiten am Laptop. Dies mag auf den ersten Blick befremden, Arbeitsphysiologen betonen jedoch, daß ein Wechsel von sitzender und stehender Arbeitsweise Rückenbeschwerden vorbeugt. Wen wundert es, daß der Desksharing-Caddy kürzlich die Nomination zum Staatspreis für Design erhalten hat.

Beim Eingangsgeschoß und beim Dach griff der Architekt stärker ein. Um das Foyer großzügiger zu machen, ließ er in diesem Bereich die Deckenelemente herausheben, sodaß eine repräsentative Eingangshalle entstand. Das Firmenrestaurant wurde ebenfalls aufgefrischt, der Garten einbezogen und ein Café für kurze Pausen eingerichtet. Unaufdringlich zeitgemäß trifft der Gestalter den Stil für ein zukunftsorientiertes Unternehmen: Standardisierung und Individualität mischen sich in angenehmer Weise.

Im Attikageschoß konnten die Rohbaustrukturen der alten Klimazentrale zu Seminar- und Sitzungszimmern umgestaltet werden. Ihre größere Höhe bietet repräsentative Raumproportionen, die Aussicht auf die Wiener Innenstadt ist schlicht erhebend. Der südseitig über die gesamte Länge gezogene Wintergarten dient als Wandelgang, Pausen- und Erholungsbereich. Die neue Klimazentrale fand darüber, unter der neuen Dachtonne, ihren Platz.

Über die grundsätzliche Qualität der gesamten Entwurfsarbeit hinaus ist die Erneuerung des aus den späten sechziger Jahren stammenden, von Architekt Georg Lippert geplanten Gebäudes beispielhaft für den Umgang mit der nicht unproblematischen Bausubstanz aus dieser Zeit. Das eine zu tun, das andere nicht einfach zu lassen, diese schwierige Gratwanderung ist Rudolf Prohazka gemeinsam mit der Bauherrschaft zweifelsfrei gelungen.

Spectrum, Fr., 2001.10.26



verknüpfte Bauwerke
IBM redesign DIANA

29. September 2001Walter Zschokke
Spectrum

Bauen beginnt immer bei 0:0

Was beim Herumreden an Neubauten gern vergessen wird: Die Qualität der Architektur ist nicht abhängig vom Kubikmeterpreis. Das belegt eindrücklich Rüdiger Lainers „Pleasuredome“ neben den Simmeringer Gasometern.

Was beim Herumreden an Neubauten gern vergessen wird: Die Qualität der Architektur ist nicht abhängig vom Kubikmeterpreis. Das belegt eindrücklich Rüdiger Lainers „Pleasuredome“ neben den Simmeringer Gasometern.

Die normative Kraft des Faktischen ist im langsam taktenden Prozeß städtebaulicher Entwicklung eine der stärksten Einflußgrößen. Nicht vordergründige Schönheit oder Häßlichkeit noch deklarierte Qualität, sondern primäre Strukturelemente und die Zeit, ausgedrückt in Gewöhnung, prägen das Stadtbild. Manches, was vor hundert Jahren die Gemüter erhitzte, ist heute lieb gewordenes Postkartenmotiv, anderes, bei seiner Eröffnung in den höchsten Tönen bejubelt, versank in Bedeutungslosigkeit oder ist längst verschwunden und vergessen.

Der Organismus Stadt ist nicht wählerisch und oft unberechenbar. In diesem Kontext spielt die architektonische Qualität bloß eine wichtige Nebenrolle. Ist sie gut besetzt und kommt sie zur optimalen Entfaltung, bietet dies Anlaß zum Genießen und Erfreuen, ist sie mittelmäßig besetzt, hat dies auf den langfristigen Prozeß wenig Einfluß. Tagesmoden sind der gebauten Stadt Wurscht. Sie nährt sich aus anderen Quellen.

Das städtebauliche Entwicklungsgebiet im Einzugsbereich der U3-Station Gasometer liegt an der wichtigsten Kette urbaner Knoten unter den Linien des Wiener U-Bahn-Netzes. Die U3 konnte dies werden, da sie mehrere Erwartungsgebiete verbindet, in denen der Grad der Urbanisierung massiv gesteigert werden konnte, weil er vorher drastisch abgesunken war. Vor allem lagen diese Gebiete nicht auf der grünen Wiese, sondern bildeten bloß Senken in der urbanen Topographie, eingebettet in die Großstadt Wien. Daß sich als Folge der neuen Subzentren andernorts der Urbanisierungsgrad zurückbildet, gehört zur komplexen Prozeßhaftigkeit in der gebauten und in der gelebten Stadt.
Man könnte es sich daher sparen, das profane Anfüllen der funktionslos gewordenen vier städtebaulichen Superzeichen in Simmering mit Wohnen und Dienstleistung propagandistisch hochzujubeln, wie wenn es gälte, eine Wahl zu gewinnen. Das Gebiet ist hochwertig erschlossen, es wird sich in den kommenden Jahrzehnten in Schüben und gewiß auch mit Durststrecken entwickeln, wie dies eben so ist. Gegen den langen Atem städtebaulicher Prozesse haben PR-Kampagnen den Charakter von Strohfeuern und dienen vor allem der Selbstversicherung der Involvierten. Alles andere läuft über den Preis. Die architektonische Qualität ist Nebensache, wie man an der SCS ersehen kann, sie gehört zur Sphäre des Kultivierens, die sich mit jener des Markts überschneiden kann, aber nicht muß.

Ebensowenig müssen sich die vielfältigen Wirklichkeiten und ihre Spiegelungen in den Medien überschneiden. So gehorchen die Welt der Comics und jene der Filme anderen, oft simpleren Regeln, die sich vom Alltagsleben und natürlich von dem der Eliten unterscheiden. Wenn daher von PR-Schreibern hochgejubelte „Stararchitekten“ dargestellt werden und sich selbst so sehen wie der immer siegreiche Prinz Eisenherz in den amerikanischen Comics der dreißiger und vierziger Jahre, ist das eine sehr papierene Wirklichkeit. Auch die besten Entwerfer beginnen beim Projektieren bei 0 : 0 und können an einer Aufgabe scheitern. Das Präfix „Star“ garantiert dabei für gar nichts.
Diese simple Erkenntnis läßt sich soeben in Simmering wieder nachvollziehen, nachdem neben den Gasometern das Kino-, Entertainment- und Garagengebäude „Plesuredome“ eröffnet worden ist, das trotz städtebaulich bescheidenerem Auftreten in Konzeption und innerer Gestaltung viel mehr an Raumlust und Lebensfreude einlöst als die griesgrämig befüllten vier Mauerwerkszylinder, in deren städtebaulichem und propagandistischem Schatten es sich entwickelt hat.

Das städtebauliche Konzept für das Umfeld der Gasometer, wie es von Rüdiger Lainer und seinem Team vorgeschlagen wurde, definierte eine „Traufkante“ für den Straßenraum der Guglgasse nördlich der Gasometer, auf den sich das Portal der Rockhalle öffnet. Die Straßenfront des Pleasuredome wird von einer hohen Glaswand bestimmt, deren langer gerader Charakter von Teilflächen verschiedenfarbiger Folien gegliedert und relativiert wird. Dahinter liegen, einsehbar, auf einer Basis von einem beziehungsweise vier Parkgeschoßen zwei ausgedehnte Raumkomplexe, die den Alltagsgenüssen Kino, Essen, Trinken, Flanieren, Spielen und Menschen-bei-diesen-Tätigkeiten-Zuschauen dienen.

Für jene, die nicht aus den Liften von den Garagen kommen, gibt es zwei Zugänge: Erstens eine lange, geschlängelte Rampe, die am Gehsteig beginnt, nach zwei Kehren ins Bauwerk eindringt und entlang der farbigen Glaswand ansteigt, tiefe Einblicke in die Foyers vor den Kinosälen bietet und in die Halle vor dem Entertainmentbereich mündet. Zweitens eine Brücke, die aus der - na ja - Gasometer-Mall herüberführt, deren Seitenflächen und Decke verglast sind und die ebenfalls in die oben genannte Vorhalle hineinzielt. Die Lagegunst nutzt eine langgezogene Café-und- Bar-Installation, ein zeitgemäßer Schanigarten auf der Brücke für das Sehen-und-Gesehenwerden.

G eschäfte, Gastronomieeinrichtungen und Spielmöglichkeiten säumen die eigentliche, dreigeschoßige Mall, in welche die Besucher nun hereingezogen werden. Rundherum führende, in der Höhe versetzte Galerien versprechen weitere Attraktionen und locken hinauf in die oberen Geschoße, zu denen Rolltreppen hochführen. Daß nicht alle Inneneinrichtungen das Qualitätsniveau einhalten, liegt in der Natur derartiger oft kurzlebiger Einrichtungen. Mit den durchgehenden Bändern vor den Deckenstirnen bringt Lainer ausreichend Ordnung in die flutenden Raumfolgen, deren Lufträume er mit Ste- gen und Stiegen durchstößt, auf denen sich sein Gespür für Raum, ja seine Raumlust und positive Haltung zu Lebensfreude nachvollziehen lassen.

E rst auf der zweiten Ebene der Mall öffnet sich der Zugang zu den 15 Kinosälen, vorbei an Kassen und Verkaufspulten für Kinoverpflegung in die Foyers, wo die großblockige Struktur der gestapelten Kinosäle mit ihren ansteigend kragenden Unterseiten, angefacht durch Farben von Oskar Putz, eine räumlich spannungsvolle Atmosphäre erzeugen, wo die Verbindungsstege der Projektionskabinen, der Toilettenturm im Hintergrund, Deckendurchbrüche und eine lustvoll ausgekostete Rolltreppenkombination zum unteren Foyer Backstage und Frontstage eins werden lassen und wo das Flanieren im Raum als Vorspiel zum Film Freude und Genuß bereitet. Damit ist es dem Architekten und seinem verschworenen Team gelungen, im Meer der Kommerzbauten ein architektonisch qualifiziertes Zeichen zu setzen, das wesentlich mehr bietet als schnelle Triebbefriedigung.

Spectrum, Sa., 2001.09.29



verknüpfte Bauwerke
Entertainmentcenter Gasometer

01. September 2001Walter Zschokke
Spectrum

Die Direktheit der Einschicht

Es müssen nicht unbedingt Bauwerke sein, mit denen sich ein Architekt in die Geschichte einschreibt. Friedrich Kurrent hat auch als engagierter Universitätslehrer und als unermüdlicher Kämpfer für die Sache der Architektur ausgiebig gewirkt. Eine Würdigung zum 70. Geburtstag.

Es müssen nicht unbedingt Bauwerke sein, mit denen sich ein Architekt in die Geschichte einschreibt. Friedrich Kurrent hat auch als engagierter Universitätslehrer und als unermüdlicher Kämpfer für die Sache der Architektur ausgiebig gewirkt. Eine Würdigung zum 70. Geburtstag.

Das regionale und internationale Architekturgeschehen kennt Vielbauer und Wenigbauer, Schweiger und Rhetoriker - auch Schwätzer, Clowns, Schwindler und Narren. Aber es gibt auch Forschende, Kämpfer und Lehrende. Einer, den vor allem Eigenschaften dieser letzten drei Charakterisierungen auszeichnen, ist Friedrich Kurrent, der kommenden 10. September seinen siebzigsten Geburtstag feiern darf.

Er wirkte über drei Jahrzehnte als Lehrer, erst als Assistent bei Ernst A. Plischke in Wien, dann als Professor für Entwerfen und Raumgestaltung sowie Sakralbau an der TU München. Er war seit den fünfziger Jahren - und ist es noch heute - ein energischer und kompromißloser Kämpfer für die Sache der Architektur. Und er ist ein Forscher, der Wissen und Erkenntnis auf unzähligen Architekturreisen mehrte, zeichnend, analysierend und an Ort und Stelle an seine Studenten weitergebend.

Zum Bauen kam er eher weniger, vielleicht weil seine Entwürfe eher sperrig und komplex waren und sind, sich dem leichtgängigen Konsum verweigern, schon gar nicht modisch sind, sondern einerseits Kontakt zur Geschichte, zum Ort suchen, aber zugleich neuartige räumliche Konzepte umsetzen.

Kurrent, der viel erlebt, viel erfahren und viel gestritten hat, gehörte 1965 zu den Gründungsmitgliedern der Österreichischen Gesellschaft für Architektur. Mittlerweile ist die Saat vielfach aufgegangen, und er kann zurückblicken. Er hat dies vor einigen Jahren für die „Gesellschaft“ getan, indem er ihre ersten Jahre nachzeichnete und an einem spannenden und auch amüsanten Abend im Wittgensteinhaus vortrug, denn Kurrent ist ein ausgezeichneter Erzähler, dem man gern zuhört.

Sein eigenes Werk war bisher nicht in Buchform zusammengefaßt worden, weshalb die vom Pustet Verlag angestrebte, von der Österreichischen Gesellschaft für Architektur herausgegebene Publikation „Einige Häuser, Kirchen und dergleichen“ zur Erhellung der jüngsten Architekturgeschichte beiträgt.

Zu danken ist aber vor allem, daß Kurrent spontan entschied, das Buch selber zu schreiben. So konnte ein zutiefst persönlicher Bericht über 50 Jahre Einsatz für die Sache der Architektur entstehen, was eben etwas ganz anderes ist, als wenn gute Freunde oder Schüler, selbst engagierte Architekturgeschichtler, über einen verdienten Architekten ein Buch verfassen, dem selten die Kraft einer persönlichen Stellungnahme eignet.

In einer Chronologie, durchsetzt mit Bauten und Projekten, die er zuerst gemeinsam mit Johannes Spalt und Wilhelm Holzbauer, später allein entwarf, bietet Friedrich Kurrent einen Überblick über sein vielfältiges Schaffen. Dabei hält er nicht zurück mit subjektiven Urteilen, bleibt aber gerade dadurch griffig und unterhaltsam, wo andere sich in Andeutungen verlieren oder sich um klare Aussagen herumdrücken.

Vielleicht ist es seine Herkunft aus der Einschicht im salzburgischen Hintersee, wo sein Vater als Seilbahn- und Maschinenschlosser die Transportmittel für den Holzeinschlag errichtete und betreute, die ihn eine offene und direkte Art bewahren ließ. Jedenfalls ist es nicht selbstverständlich, daß der viel und gern zeichnende Bub zuerst nach Salzburg an die Gewerbeschule - heute HTL - und danach nach Wien zum Architekturstudium an die Akademie in die Meisterschule von Clemens Holzmeister kam.

Kurrent berichtet lebendig von dieser ersten Zeit nach dem Krieg, er erinnert sich an die wenigen modernen Bauwerke, die ihm vor Augen kommen und ihn tief beeindrucken, etwa an den Florentiner Bahnhof von Giovanni Michelucci (1936). Heute, da die Informationen über neuartige Bauwerke verbreitet werden, noch bevor sie fertiggestellt sind, fragt man sich, ob überhaupt noch derartige Schlüsselerlebnisse einer erstmaligen Begegnung mit einem zuvor unbekannten Bauwerk möglich sind.

Das engagierte Studium in der Gruppe um Johannes Spalt und alsbald die Zusammenarbeit mit Spalt, Wilhelm Holzbauer und Otto Leitner in der „Arbeitsgruppe 4“ an ersten Wettbewerben bietet den jungen Architekten die Möglichkeit zu internationalen Kontakten. Das Europa der Architektur ist damals noch übersichtlich, die berühmten Meister sind zu Vorträgen greifbar, und eine Reise ins Nachbarland hat einen Wert, der heute nur mit interkontinentalen Flügen aufzuwiegen ist.

Aber Kurrent ist nicht bloß auf das internationale Geschehen ausgerichtet, denn immer wieder lenkt er seine genau beobachtenden Augen auf einfache Bauten, auf das Bauen mit Holz, das ihm aus der Umgebung seiner Kindheit vertraut ist. Sein breites Wissen macht ihn zu einem ausgezeichneten, kritikfähigen Partner beim Entwurf, und mit dem Seelsorgezentrum in Steyr-Ennsleiten gelingt ihm zusammen mit Holzbauer und Spalt eines der wichtigsten Bauwerke der neu erstandenen österreichischen Moderne nach Nazizeit, Krieg und Wiederaufbau. Nicht wenige interessante Konzepte bleiben auf dem Papier oder werden im spezifischen Wiener Klima jahrelang zerredet und vom Auftraggeber nicht mehr weiterverfolgt. Seine jüngste Arbeit zeigt das Projekt für eine Synagoge der jüdischen Gemeinde München.

Immer wieder macht Friedrich Kurrent - gemeinsam mit anderen - mit Ausstellungen auf wichtige Persönlichkeiten des österreichischen Architekturschaffens im 20. Jahrhundert aufmerksam, um der modernen Architektur mehr Akzeptanz zu verschaffen. Er gehört zu den ersten, welche die Arbeiten von Josef Frank würdigen, die das Werk von Joseph Plecnik studieren und in der Folge das Bauen im Kontext propagieren, womit er die problematische Ort- und Geschichtslosigkeit gewisser modernistischer Strömungen überwinden will.

Obwohl außerordentlich streitbar, betätigt sich Kurrent immer wieder als Vermittler in vielerlei Hinsicht, ist aber als steter Mahner oft nicht gern gelitten. Politiker sind in dieser Hinsicht empfindlich. Aber mit seiner verbindlichen Hartnäckigkeit hat er einiges erreicht. Sein Grundsatz, daß historische Bauten so gegenwärtig sind wie neu errichtete, bietet einen klärenden Zugang zum Wesen der Stadt und den Phänomenen des Urbanismus.

Auch wenn dies hierzulande vielleicht weniger wahrgenommen wird, fünf Studentengenerationen der TU München werden seine Lehre in die Praxis tragen.


Am 10. September lädt die Österreichische Gesellschaft für Architektur um 19 Uhr zur Präsentation des Buchs „Einige Häuser und dergleichen“ und zu einem „Fest zum 70. Geburtstag“ Friedrich Kurrents ins Haus Wittgenstein (Wien III, Parkgasse 18).

Spectrum, Sa., 2001.09.01

04. August 2001Walter Zschokke
Spectrum

Über den Tellerrand schaun

Ist die Architekturkultur einmal zerstört, kann es Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis sich ein entsprechender soziokultureller Organismus regeneriert hat. In der Tschechischen Republik regen sich nach der Stagnation der Plattenbauzeit aus uralten Wurzeln neue Triebe

Ist die Architekturkultur einmal zerstört, kann es Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis sich ein entsprechender soziokultureller Organismus regeneriert hat. In der Tschechischen Republik regen sich nach der Stagnation der Plattenbauzeit aus uralten Wurzeln neue Triebe

Europa ist von Staatsgrenzen durchzogen, das lernt jedes Kind anhand jener Karten, auf denen die Länder mittels vier Farben unterschieden sind. Diese Grenzen halten sich oft an Flüsse, Gebirgszüge und so weiter - im naiven Glauben, daß natürliche Hindernisse die benachbarten Siedlungsräume von jeher teilen würden. Daß das willkürliche Annahmen sind, beweist die Kulturgeschichte: Waren doch Flußräume - weil die Gewässer als Verkehrsadern dienten - viel verbindender, als man heute gemeinhin glaubt, vor allem, wenn allein nationalistische Ideologien aus dem 19. und 20. Jahrhundert die Köpfe anfüllen. So ist beispielsweise der Donauraum ein uralter Kulturraum. Über viele Stationen verband er Wien mit Byzanz - eine nicht zu unterschätzende Beziehung.

Es gibt allerdings Grenzen, die oft keine vermeintlich natürlichen Markierungen in der Landschaft aufweisen, es sind dies die Sprachgrenzen, die Europa durchziehen. Wir finden eine westeuropäische Sprachgrenze zwischen dem deutschsprachigen und dem französischsprachigen Kulturraum, die südeuropäische zum italienischsprachigen, eine südwesteuropäische, eine nordwesteuropäische, eine nordeuropäische Sprachgrenze und selbstverständlich eine osteuropäische Sprachgrenze zum Slawisch sprechenden Kulturraum, wobei die finnougrische Sprachgruppe die Komplexität noch etwas erhöht, denn wenn's einfach wäre, wär' es ja leicht.

Europäer sein war noch nie leicht, denn es hieß eigentlich schon immer, mehrere Sprachen zu verstehen und zu sprechen. Nach dem Latein galt zwar das Französische lange als Lingua franca, heute ist es ein angloamerikanisches Basic. Dennoch galt und gilt es, drei, vier Sprachen zu beherrschen, will man sich in den verschiedenen Kulturräumen ausreichend geländegängig bewegen. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs kommt nun eine fünfte, slawische, dazu. Bei einigen dauert es einfach länger, bis sie begriffen haben.

So, und jetzt kommen wir zur Architektur. Da Architektur ohne Sprachkenntnisse verstehbar ist, hält sie sich nicht an Sprachgrenzen und schon gar nicht an Staatsgrenzen. Der jüngste Träger des Pritzker-Preises, den er zusammen mit seinem Partner Pierre de Meuron verliehen erhielt, der Basler Jacques Herzog, hat diese Ehre und die damit verbundene Publizität nicht für sich genützt, sondern um mit europäischem Denken die Chancen zu betonen, die in einer nach beiden Richtungen offenen europäischen Sprachgrenze liegen.

Er, der aus dem Kleinbasel stammt und darauf stolz ist, in dessen Namen aber bereits die beiden dort benachbarten Sprachen aufscheinen, hat sich im Zuge eines längeren Gesprächs mit dem renommierten Journalisten Frank A. Meyer im Fernsehen zur besten Sendezeit vehement dafür eingesetzt, aktiv und positiv mit der Lage Basels am Dreiländereck umzugehen und einer kulturpolitischen Vision Tore zu öffnen. Nebenbei gesagt, im westlichen Deutschland sprechen erstaunlich viele Angehörige der gebildeten Schichten ziemlich gut Französisch. An der westeuropäischen Sprachgrenze ist also einiges los, man will geländegängig werden, selbst wenn es nur ums gute Essen und um den guten Wein geht.

Von der südeuropäischen Sprachgrenze hört man, daß im Kanton Uri, aus dem bis vor knapp über 200 Jahren bloß die Vögte ins Italienisch sprechende „Untertanenland“ Tessin entsandt wurden, seit bald zehn Jahren in der Volksschule alle Kinder Italienisch lernen - als erste Fremdsprache. Und haben Sie kürzlich mit jemandem in Mailand telephoniert und Ihr Touristenitalienisch gestottert, wurden aber in perfektem Englisch auf eine allgemeine Sprachebene gebeten?
Keine hundert Kilometer nördlich und östlich von Wien verläuft die osteuropäische Sprachgrenze, man könnte fast sagen, sie macht einen Bogen um Wien. Zwar wird auf den Wirtschaftsseiten der Zeitungen immer von Wien als Drehscheibe zum Osten geschrieben, aber wie hält man's mit der Architekturkultur? Ja, das „Architektur Zentrum“ machte eine Reise nach Brno/Brünn zur Moderne der dreißiger Jahre. Und „ORTE - architekturnetzwerk niederösterreich“ organisiert mit dem unermüdlichen Ján Tábor mehrtägige Touren unter dem Titel „Bauen an der Grenze“ - für zwei Dutzend Teilnehmer. Äußerst spannend und wichtig.

Aber kennen wir die aktuelle Architekturszene in Prag, Liberec oder Usti nad Labem? Man kennt vielleicht alte Namen aus den dreißiger Jahren, aber wie heißen die jungen, zeitgenössischen Architekten? Und überhaupt, haben die dort schon so etwas wie Architektur, da war doch bis vor kurzem noch Kommunismus, woher sollen die das können? Und das alte Prag ist doch so schön, was soll dort zeitgenössische Architektur?

Eine kürzlich erschienene Publikation mit dem Titel „Ceská architektura 1999/2000“ beantwortet diese Fragen und macht neugierig, mehr und anders zu fragen, wenn die Sprache nicht ein Hindernis bildet. 32 kürzlich vollendete Bauwerke werden vorgestellt, die, mit großem Engagement entworfen und errichtet, an die Tradition der tschechischen Architektur „vor München“ anknüpfen. Das Ministerium für Industrie und Handel sowie die Tschechische Architektenkammer und freundlicherweise einige Sponsoren aus der Bauwirtschaft haben gefördert. Als Herausgeberin zeichnet eine Nonprofit-Organisation namens „Prostor“ in Prag. Präsident Václav Havel schrieb ein kurzes Vorwort, einen längeren einführenden Text verfaßte der Architekt und Architekturhistoriker Petr Pelcák aus Brno/Brünn. Das Buch ist in Tschechisch und Englisch gehalten, die Graphik angenehm unaufgeregt und verständlich: vorab ein Steckbrief mit Adresse, Architekten, Mitarbeitern, Bauherrschaft, Baufirma, Baudaten. Dann ein erläuternder Text, Lageplan, Grundrisse, Schnitte und sorgfältige Aufnahmen verschiedener Photographen, den Plänen sinnvoll zugeordnet, sodaß Leserinnen und Leser sich die Bauten vergegenwärtigen können, ohne sie schon gesehen zu haben.

Pelcák verschweigt nicht, daß es die Architektur und ihre Entwerfer nicht leicht haben. Er erläutert vor allem die innertschechischen Faktoren, die lange Stagnation unter dem Kommunismus, die wirtschaftliche Lage, die eigenartige Rolle einer verspäteten Postmoderne, die fälschlicherweise als Befreiung von der trostlosen Kasernenmentalität und der Plattenbautenzeit gesehen wurde.

H eute orientiert sich das Bemühen der Architekten an einer internationalen Moderne, die ihre Wurzeln nicht zuletzt in den Bauten der dreißiger Jahre der damaligen Tschechoslowakei findet, denn während im übrigen Europa dieser Zeit die Baukrise oder politischer Totalitarismus eine Weiterentwicklung verhinderten, konnte sich die Moderne in der Tschechoslowakei breit entfalten.

Man wird daher in dem Buch weniger dekonstruktivistische Bauwerke finden als klare, oft spannungsvoll gegliederte Baukörper, die in fortgeschritten industrialisierter Bauweise errichtet sind. Fast entsteht der Eindruck, daß lange unterdrückte Träume endlich gebaut werden können.

Ein erstes Beispiel ist das Mehrzweck-Bauwerk beim Prager Kongreßzentrum. Die Architekten Václav Alda, Petr Dvorák, Martin Nemec, Ján Stempel aus Prag sind seit einigen Jahren die Shooting-Stars der Szene. Das Kürzel A.D.N.S. wird man schon irgendwo gelesen haben - eines ihrer ersten Bauwerke wurde an dieser Stelle im Mai 1996 besprochen. Heute enthält die Auswahl allein von ihnen drei Bauten. Sie beherrschen die großen Dimensionen und den städtebaulichen Maßstab. Interessante Baukörpergliederungen, Durchblicke und sorgfältige Detaillierung werten die von hart rechnenden Investoren errichteten Bauten auf. Etwas weniger eng wird es für sie beim neuen Studiogebäude für das tschechische Radio abgelaufen sein, großzügige Vertikalräume und Galerien, glatte Oberflächen, edle Materialien, einige freche Farbtupfer. Die kennen sich aus.

Aber auch die Forschungsbibliothek in Liberec von Radim Kousal ist keineswegs klein. Über einem dreigeschoßigen Sockelkörper, der im hinteren Teil fünf niedrigere Geschoße mit Magazinen enthält, erhebt sich der riesige, verglaste Lesesaal mit Freihandbibliothek auf drei Ebenen unter dem nach vorn mit Schwung heruntergezogenen Dach. Im Inneren sprüht die Gestaltung vor Lebensfreude, ohne jedoch zu überborden.

Zwei kleinere Bauwerke, die Tennishalle in Litomysl und das Bürohaus in Brno, kennen „Spectrum“-Leser schon, nicht aber ein Haus mit Geschoßwohnungen in Staré Mesto. Wohnbau ist nach den riesigen Plattenbauten - „Panelák“ genannt - ein sensibles Thema, aber Kapital steht nicht im Überfluß zur Verfügung. Die Architekten Ales Burian und Gustav Krivinka aus Brno/Brünn gaben dem Haus zur Straße eine klare, sorgsam proportionierte und ausgewogene Fassade, die, leicht bombiert, auf deren Verlauf reagiert.

D ie Grundrisse der kleinen Wohnungen an den Laubengängen nützen intelligent die knappen Flächen, außen verleiht die braunrote Farbe den Rückseiten mediterranes Flair. - Einfamilienhäuser und Villen sind ebenfalls vertreten, manch eine edel und gediegen, wie die Botschaftsresidenz in Budapest. Andere, etwa das Haus für ein Ehepaar mit Großmutter in Usti nad Labem von Ján Jehlík, wirken fast manifestartig lapidar gegliedert und immer irgendwie fröhlich.
Insgesamt schaut es eindeutig nach Aufbruch aus im nördlichen Nachbarland, wobei es nicht nur der ideologische Druck war, der ja vor zehn Jahren wegfiel, sondern die ökonomischen Bedingungen, die sich nur langsam bessern, weshalb die privaten Auftraggeber als wichtige Förderer engagierter Architektur noch rar sind.

Man sollte in den östlichen Nachbarländern nicht bloß die ehemaligen Gebiete der Donaumonarchie sehen, sondern sie als Teil des riesigen Slawisch sprechenden Kulturraums verstehen, dessen vielfältige Verschränkungen mit dem deutschsprachigen erst aufscheinen, wenn man Zugang zu einer slawischen Sprache gefunden hat. Ein erster Zugang mag über die Architektur gelingen, die von ihrem Charakter her „vorsprachlich“ ist.

Spectrum, Sa., 2001.08.04

15. Juli 2001Walter Zschokke
zuschnitt

Grundsätzlich interessiert uns alles, was mit Konstruktion zu tun hat.

Jürg Conzett und seine Partner Gianfranco Bronzini sowie Patrick Gartmann machen Konstruktionsentwürfe. Sie bezeichnen sich nicht als »Statiker«, obwohl sie das natürlich auch sind, aber die Statik ist für sie ein Teilgebiet. Der deutsche Ausdruck »Tragwerksplaner« passt besser für ihre umfassende Tätigkeit.

Jürg Conzett und seine Partner Gianfranco Bronzini sowie Patrick Gartmann machen Konstruktionsentwürfe. Sie bezeichnen sich nicht als »Statiker«, obwohl sie das natürlich auch sind, aber die Statik ist für sie ein Teilgebiet. Der deutsche Ausdruck »Tragwerksplaner« passt besser für ihre umfassende Tätigkeit.

In einem entsprechenden Rahmen soll auch ihre Beschäftigung mit Holz gesehen werden. Sie sehen sich nicht nur als Spezialisten für ein bestimmtes Material oder eine bestimmte Bauweise, sondern decken innerhalb eines größeren Bereichs alle Gebiete ab, damit ein Geschäftspartner sicher sein kann, dass sie ohne Scheuklappen nach dem angemessenen Material suchen. Sie sind aber überzeugt, dass aus dieser Haltung insbesondere für den Holzbau die Möglichkeit ungewöhnlicher Tragwerke oder die Kombination mit anderen Materialien besser erwachsen kann, als wenn sie sich zu direkt auf holzspezifische Aspekte festlegen würden.

Zschokke: Ihr seid also Tragwerksplaner und habt regelmäßig mit Architekten zu tun. Manchmal habt ihr aber auch ohne Architekten gearbeitet. Wie gestaltet sich das Verhältnis zu den Architekten?

Gartmann: Es ist immer eine Zusammenarbeit und oft eine Entwicklung. Aus einem Ineinanderarbeiten der Sichtweisen von Architekten einerseits und Bauingenieuren andererseits entwickelt sich im Verlauf der Diskussion ein interessantes und gutes Projekt. Beide tragen mit Vorschlägen zum Gelingen bei und suchen gemeinsam nach Lösungen.

Zschokke: Und wie läuft eine derartige Zusammenarbeit ab?

Gartmann: Oft steht eine Idee im Vordergrund. Dieter Schwarz, ein Architekt beispielsweise, baut Nullenergiehäuser. Um Kosten zu sparen, errichtet er die Gebäude aus Holz, benötigt aber auch Speichermasse im Gebäude. In einem Fall machten wir eine Holz-Betonverbundkonstruktion, bei der der Beton die Decke aussteift, zugleich aber als Wärmespeicher wirkt. Beim zweiten Haus wendeten wir eine spezielle Verglasung mit Paraffin im Glas als Wärmespeicher an.

Conzett: Bei der Zusammenarbeit mit Architekten steht für mich das Ziel, eine Übereinstimmung von Architektur und Ingenieurbau in einem Bauwerk zu erreichen, weit vorne. Es ist letztlich auch dasselbe. Es ist meine Überzeugung, dass die Trennung in zwei Berufsgruppen zwar historisch ist, aber deshalb nicht weiter geführt werden muss. Ich persönlich kann gar nicht trennen.

Zschokke: Das Produkt, das Bauwerk wäre also in jedem Fall Architektur?

Conzett: Und zugleich ist es auch Konstruktion. Ich habe kürzlich bei Gottfried Semper nachgelesen, für ihn war es das griechische Ideal, und ich denke, dass dies immer noch gilt. Nämlich, dass der Ausdruck eines Gebäudes und die strukturelle Kernform so stark miteinander verwoben sind, dass sie nicht getrennt werden können. Für uns heißt das, dass wir nur mit Architekten zusammenarbeiten können, die sich für Konstruktion interessieren.

Conzett: Generell finde ich es interessant, in einem Team zu arbeiten, aber das betrifft nicht nur Architekten, es betrifft auch Teams mit Ingenieuren oder Unternehmern. Die Voraussetzung, dass sie gern zusammenarbeiten und eine entsprechende Offenheit haben, ist charakterlich bedingt und macht die Arbeit im Team anregend. Auf der anderen Seite braucht es ab und zu auch die eigene Verantwortung als Ingenieur, sonst verlernt man das. Es braucht eben eine gesunde Mischung. Man muss sich ab und zu ins Kämmerlein zurückziehen und ganz allein sein können.

Zschokke: Wie hat sich damals beim Murauer Steg die Zusammenarbeit entwickelt, aus der das Projekt entstanden ist?

Conzett: Wir haben gearbeitet wie in einem gemeinsamen Büro. Ich arbeite gerne über längere Zeiträume mit denselben Menschen zusammen. Je besser man sich kennt, desto reibungsloser verläuft die Arbeit. Anton Kaufmann hat bei dieser Brücke auch eine äußerst wichtige Rolle gespielt, weil er auch die Möglichkeiten als Hersteller gesehen hat. Er hat Vorschläge gemacht, etwa für die nagelpressverleimten Gurtungen. Das war ein wichtiger Beitrag für das Gelingen.

Zschokke: Wie ist es aber zu diesem stark raumbildenden Tragwerk gekommen? Kam das daher, weil gefordert war, dass der Steg überdacht sein müsse, oder war es eine städtebaulich architektonische Überlegung, oder war es ein interessantes Tragwerkskonzept, aus dem dann die Gestalt entwickelt worden ist?

Conzett: Das kann man nicht auseinanderdividieren und wie in einem Ablaufdiagramm darstellen. Man sitzt zusammen, man probiert aus, man skizziert, man denkt nach, man verwirft, man fängt nochmals an, bis am Schluss etwas da ist, das eben gleichzeitig Architektur ist und ein Ingenieurbauwerk. Und bei dieser Fuß- und Radwegbrücke über die Mur ist das weitgehend gelungen.

Zschokke: Der Traversina-Steg ist anders, man geht nicht durch das Tragwerk hindurch, der Weg verläuft über dem Tragwerk. Was unterscheidet diesen Steg von jenem in Murau?

Conzett: Man sieht natürlich auf einen Blick, der Traversina-Steg ist extrem leicht und die Murauer Brücke ist schwer. Das ist ein vordergründiger Unterschied, denn es gibt mehrere Gemeinsamkeiten. Etwa das Thema des Zentralträgers. In Murau bilden die mittigen Gurte das langlebige Grundelement. Beim Traversina-Steg liegt der Druckgurt ebenfalls in der Mitte und wird durch den Gehweg geschützt. Derselbe Gedankengang äußert sich formal auf verschiedene Weise. Der Umgang mit Torsion war bei beiden Brücken extrem. So ist es auch beim Traversina-Steg nicht so, dass man über der Konstruktion geht, sondern man befindet sich noch dazwischen, denn die Wandscheiben der Geländer sind auch Teil der Statur. Auch der Traversina-Steg ist eine Auseinandersetzung mit Raum, es ist natürlich ein anderer Raum von der Topographie her, aber die Themen sind eng verwandt.
Zschokke In Murau haben wir aber ein Dach und eine Verschalung. Wie erfolgt nun der konstruktive Holzschutz beim Traversina-Steg?

Conzett: Also der Druckgurt ist durch den Gehweg geschützt. Und die übrigen Teile sind auswechselbar. Das war der Grund für vierteilige Streben. Bei diesen Streben kann man die Teilstäbe demontieren und wieder montieren, ohne dass Hilfsmaßnahmen nötig wären. Ebenso gilt dies für die Geländer. Sie sind - wenn die Brücke nicht gerade extrem belastet ist - auswechselbar. Das geschieht relativ einfach. Die lebenswichtigen Teile der Brücke sind bestens geschützt und müssen nie ausgewechselt werden, während die sekundären Teile leicht ausgewechselt werden können.
Vom Prinzip her ist es in Murau ähnlich, es gibt eine Hierarchie der Teile: die Gurte und die Schubscheiben liegen in der Mitte, die kann man natürlich nicht ersetzen, aber die Geländer, sogar die Querträger der Gehfläche wären ohne weiteres auswechselbar, wenn dies nötig werden sollte. Aber sie sind durch das Dach geschützt und aus geeignetem Holz, aus Lärche, sodass das in dieser Generation nicht nötig werden sollte.

Zschokke: Auf was für eine Lebenszeit wäre der Traversina- Steg, ohne die geologischen Ausnahmeverhältnisse und den Bergsturz einzubeziehen, ausgelegt gewesen?

Conzett: Man kann vielleicht die Silser Brücke (bei Thusis) von Richard Coray als Vergleich beiziehen, bei der Geländerteile und andere exponierte Teile im Abstand von zwanzig, dreißig Jahren ausgewechselt wurden. Aber die Pylone, die primären Elemente der Hängekonstruktion sind viel stärker der Witterung ausgesetzt als der Obergurt des Traversina- Stegs. Die Originalteile hat man dort etwa nach 70 Jahren ersetzt.

Zschokke: Das hieße, dass der Traversina-Steg ein Menschenalter gut überstehen hätte können, wenn er nicht durch den Murengang weggerissen worden wäre.

Conzett: Sicher.

Zschokke: Als Ersatz des weggerissenen Traversina- Stegs gibt es ein neues Konzept. Ist das so, weil die Brückenstelle neu gewählt werden musste, oder weil euer Forschungsinteresse sich gewandelt hat und ihr etwas Neues ausprobieren wollt, oder sind es Bedenken zum damaligen Konzept?

Conzett: Im ersten Moment wollten wir alle die Brücke wieder bauen, so wie sie gewesen ist. Das ist verständlich. Allerdings möchte man soetwas nicht ein zweites Mal erleben. Wir dachten daran, die Brückenstelle mit einer Verbauung zu sichern. Es zeigte sich aber, dass die Verbauung sehr teuer geworden wäre und dennoch keinen absoluten Schutz geboten hätte. Dann kam dazu ein ethischer Aspekt. Es ist ein touristisches Projekt, es ist keine Straße. Man kann nicht sagen: die Leute haben keinen anderen Weg und müssen da durch gehen. Nein, sie müssen nicht dort durchgehen, man lockt sie fast dorthin. Daher ist es nicht zu verantworten, eine Stelle, die man als gefährlich erkannt hat, weiterhin zu bebauen und betreten zu lassen. Es wäre kaum angemessen, vergleichbare Verbauungsmaßnahmen zu treffen, wie für eine Autobahn. Ein starker Reiz des Bauwerks war die Filigranität in einer wilden Landschaft. Dieser Reiz ginge verloren, wenn die Schutzbauten die gleiche Größenordnung wie die Brücke erreichen würden. Aus diesen Überlegungen sind wir zum Schluss gekommen, dass es dort keine Brücke mehr geben kann. Wir müssen aus dem, was geschehen ist, die Lehren ziehen. Wir verschieben die Brücke talwärts, bis zu einem Standort, von dem wir wissen, er kann nicht mehr von einem Felssturz getroffen werden. Das erfordert ein anderes Brückenkonzept, weil das Problem sich anders stellt, und die Spannweite etwas größer ist. Das heißt aber nicht, dass wir an einem anderen Ort, wo der Typ des Traversina-Stegs hinpassen würde, ihn nicht noch einmal bauen würden.

Zschokke: Die Kombination von Materialien ist ja sehr interessant, etwa von Holz und Stahl oder von Holz und Beton. Wir haben vorher von der Möglichkeit gehört, den Beton als Speichermasse zu verwenden. Wie steht es mit den Möglichkeiten, Beton konstruktiv mit Holz zu kombinieren? Denn es gibt die Möglichkeit, den Beton auch tragen, das heißt statisch wirksam werden zu lassen.

Bronzini: Wir versuchten das soeben mit einem Projekt im Valsertal, bei »Peiden-Bad«, der Abzweigung ins Lugnetz aufzuzeigen. Eine alte, schon sehr baufällige Eisenbrücke musste ersetzt werden. Und die Lasten wurden erhöht. Die Gemeinde möchte grundsätzlich eigenes Holz einsetzen, weil sie es nahezu gratis liefern könnte. Wir haben ein Sprengwerk aus Holz vorgeschlagen, und darüber, auch als Schutz, eine Fahrbahnplatte aus Beton mit Geländern, möglicherweise aus Holz. Wir haben mit einer konventionellen Betonvariante verglichen und es zeigte sich, dass die beiden preislich etwa gleichwertig sind und gute Chancen bestehen, jene mit Holz auszuführen.

Zschokke: Wie funktioniert das Zusammenwirken von Holz und Beton? Ich nehme an, die Betonplatte wird statisch auch eine Rolle spielen.

Bronzini: Selbstverständlich. Wir haben ein Sprengwerk, wieder zentral, wie beim Traversina-Steg oder bei der Murauer Brücke, das gut geschützt ist. Dieses Sprengwerk trägt die Eigenlasten. Dann haben wir darüber eine Platte, die dreimal breiter ist. Diese Platte muss helfen, die exzentrische Belastung, die Torsionsbeanspruchungen, die aus dem Verkehr entstehen können, zu übernehmen, wobei Platte und Randabschlüsse die Kräfte an die Widerlager abgeben. Einen Verbund benötigen wir in diesem Fall nicht. Das Sprengwerk bietet zusätzliche Unterstützungen. Darüber verläuft die vorgespannte Fahrbahnplatte aus Beton.

Conzett: Für das Konzept dieser Brücke sprachen auch montagetechnische Gründe. Wir wollten eine Art verlorene Schalung unter dem Beton einsetzen, die aber kein eigenes Gerüst benötigt. Sie läuft quer durch und ist vom Betonunterbau getrennt, sodass eine Schubverbindung relativ schwierig gewesen wäre. Es war uns wichtiger, dass die Montage einfach und rasch ablaufen kann, da die Straße nur für kurze Zeit gesperrt werden darf. Daher ist kein Verbund vorhanden. Er hätte aber auch nicht viel genützt. Das sind immer individuelle Entscheidungen, so dass man nicht generell sagen kann, der Verbund ist ein Allheilmittel und wird dann womöglich zu teuer. Diese Überlegungen sind Teil des Konstruktionsentwurfs und das ist eben ein Entwurf…

Bronzini: …für eine normale Straßenbrücke für Fahrzeuge von 28 Tonnen.

Conzett: Grundsätzlich interessiert uns alles, was mit Konstruktion zu tun hat. Aber wir haben festgestellt, dass in unserem Kanton in vielen Gemeinden die Verwendung von Massivholz - möglichst direkt aus dem gemeindeeigenen Wald - eine äußerst günstige Variante darstellt, die häufig nicht bedacht wird, weil sie zu wenig hightech-mäßig daherkommt. Das finden wir einerseits interessant. Andererseits machen wir natürlich auch gerne ein Hightech- Objekt, wenn es uns sinnvoll erscheint. Das kommt ganz auf die Umstände an. Aber ich finde, auch in den herkömmlichen, simplen Strukturen kann ein großes Potenzial an Faszination stecken, wenn man sie mit spezifischer Konsequenz behandelt. Es ist nicht immer nötig, neu zu erfinden. Mich persönlich interessiert es, aus gewöhnlichen Dingen etwas Sinnvolles zu machen, und das Komplizierte auf eine elementare Grundlage zurück zu führen.

zuschnitt, So., 2001.07.15



verknüpfte Akteure
Conzett Jürg
Bronzini Gianfranco
Gartmann Patrick



verknüpfte Zeitschriften
zuschnitt 02 Brücken bauen

07. Juli 2001Walter Zschokke
Spectrum

Im Dialog der Jahrhunderte

Wo Stilepochen aufeinanderprallen, da kommt es darauf an, wie die Kombination der Elemente erfolgt, wie die Konfrontation architektonisch bewältigt wird. Ein bemerkenswertes Beispiel: der Zubau zum Eisenstädter Rathaus von Andreas Fellerer und Jiri Vendl.

Wo Stilepochen aufeinanderprallen, da kommt es darauf an, wie die Kombination der Elemente erfolgt, wie die Konfrontation architektonisch bewältigt wird. Ein bemerkenswertes Beispiel: der Zubau zum Eisenstädter Rathaus von Andreas Fellerer und Jiri Vendl.

Das Eisenstädter Rathaus datiert aus der Mitte des 17. Jahrhunderts und verfügt über eine äußerst interessante Fassade zur Hauptstraße, an der Elemente der Spätrenaissance und des Frühbarocks, ja selbst gewisse spätgotische Spuren zusammenspielen. Mit den beiden Rund-Erkern und einem eckigen in der Mitte, dem Bilder- und Fensterband und den geschwungenen Giebeln bildet es einen der architektonischen Höhepunkte an der platzartig verbreiterten Hauptstraße. Für eine zeitgemäße Verwaltung und ein entsprechendes Bürgerservice ist es jedoch zu klein, weshalb nur mehr der Hochzeitssaal, Empfangsräume und das Büro des Bürgermeisters mit Nebenflächen hier Platz finden.
Für die Gemeindeverwaltung und den Gemeinderatssaal wurde daher auf dem tiefen Grundstück, das bis zur Haydngasse reicht, ein Verwaltungstrakt vorgesehen. Zusammen mit dem östlich benachbarten Gebäude des Rathauses und der parallel liegenden Parzelle wurde für das insgesamt mehr als 2600 Quadratmeter messende Areal ein Architektenwettbewerb ausgeschrieben, den die Wiener Andreas Fellerer und Jirí Vendl für sich entscheiden konnten.

Ihr Konzept folgte dem siedlungstypologischen Prinzip und sah einen tiefen, bis zur Haydngasse reichenden Hof vor, der von zwei langen, vier Geschoße hohen Seitenflügeln gefaßt wird. Der östliche enthält in den ersten beiden Geschoßen Geschäftsräumlichkeiten und darüber eine Zeile von fünf Maisonnetten. Der westliche Seitenflügel ist auf drei Geschoßen als Bürohaus organisiert; das vierte enthält die Räumlichkeiten für die politischen Parteien sowie den Gemeinderatssaal, der volumetrisch, seiner Bedeutung gemäß, einen kräftigen Eckakzent setzt und an der Haydngasse in spannungsvoller Weise über die Jahrhunderte hinweg mit den gotischen Pfeilerrippen am Chor der Franziskanerkirche dialogisiert.

Den Anschluß an den alten Straßentrakt bilden jeweils die Stiegenhäuser, die funktional und in puncto Gliederung der Bauvolumen als Gelenk wirken. Das klare städtebauliche Konzept zeugt von großer Selbstverständlichkeit. Die Architekten wählten das Naheliegende und fraglos Richtige und verblieben im Muster der vorhandenen Baustruktur. In der architektonischen Durchbildung strebten sie jedoch gemeinsam mit ihrer Projektleiterin, Ingeborg Heim, einen unaufgeregten, kühl-trocken-modernen Ausdruck an, der konsequent und mit feinem Gespür für Proportionen und Raumbildungen durchgehalten wird.

Weiß geputzte Mauern und Brüstungsbänder, Fensterprofile in Aluminium und als Brüstung vor dem oberen Geschäftsgeschoß graugrünes Glas: Mit der disziplinierten Materialwahl und dem muralen Charakter der Stirnseiten gelingt es, den verhältnismäßig großen Eingriff in den Kontext einzufügen. Denn das Instrumentarium der benachbarten älteren Bauten ist - insbesondere an den Gebäuderückseiten - nicht gar soviel anders: Mauern sowie Fenster als Löcher in den Mauern, Leichtbau in Holz und Glas bei Pawlatschen. Stukkaturen, Verdachungen und so weiter weisen nur die Vorderseiten auf. Damit bleibt, auch wenn die Formate der Öffnungen andere sind, einiges an Strukturverwandtschaft gewahrt, sodaß selbst das Nebeneinander des neuen Bauwerks mit einer gründerzeitlichen Fassade an der Haydngasse nicht unverträglich wirkt.

Natürlich spielt die zwischenzeitliche Gewöhnung an die Architektur der Moderne eine Rolle. Nicht anders verhält es sich aber mit den barockisierten Fensteröffnungen am Chor der Franziskanerkirche. Zwischen den Stilformen und ihren Baudaten liegen Jahrhunderte. Doch es kommt darauf an, wie die Kombination der Elemente erfolgte, wie die Konfrontation architektonisch bewältigt wurde. Ob sie proportional im Verhältnis von Öffnung und Mauer aufeinander abgestimmt sind, ob man merkt, daß die Maßnahme nicht gleichgültig, sondern sorgsam gesetzt wurde. Das hieße, daß sogar allein die planerische Achtsamkeit als Moment der Integration zu wirken vermöchte. Für eine in Stilmustern verhaftete Vorgangsweise natürlich undenkbar, sehr wohl aber aus architektonischer Sicht. Die langen Hoffassaden weisen einen höheren Anteil an Metall-Glas-Konstruktionen auf. Sie wirken damit offener, andererseits halten sich die Gestalter an nutzungsspezifisch klare Aussagen: vor den Geschäftsräumen großflächige Verglasungen, vor den Büros Bandfenster und vor den Wohnungen eine Mauerfläche mit versetzten Öffnungen, was auf ihren konstruktiven Charakter hinweist.

Den Gemeinderatssaal, dessen zweiseitige Auskragungen in Stahlkonstruktion bewältigt wurden, hüllt eine Leichtbaukonstruktion mit Blechverkleidung. An diesem wichtigen Gebäudeteil hätte man sich vielleicht etwas weniger Zurückhaltung erwartet. Denn die disziplinierte Sprossen- und Fugenteilung nimmt den funktional begründeten Regelverstoß der Auskragungen fast zu sehr wieder zurück. Das Innere des Verwaltungsflügels birgt hinter den Büros entlang der Fassade außer den Erschließungsflächen vor allem eine dreigeschoßige Halle mit umlaufenden Galerien und großzügigen Stiegenläufen. Das Licht gelangt zenital durch ein Fensterband an der Feuermauer, wo die Schatten der Sprossen die Sichtbetonwand beleben.

Hier wird der Rücksprung des obersten Geschoßes sichtbar. Die größeren Spannweiten gaben dem Tragwerksplaner Richard Woschitz einige Nüsse zu knacken. Die konstruktiven Anstrengungen sind jedoch nicht zu sehen, sie ziehen sich zurück in das räumliche Gebilde aus Scheiben und Platten, das den hohen Raum definiert. Sie sind Tragwerk und Architektur zugleich. Die Brüstungen aus rotem Schalungssperrholz verleihen dem Raum seitlichen Halt, sodaß er sich nicht in den Galerien verliert.

Auch beim Geschäfts- und Wohnflügel findet das Prinzip mit dem Fensterband in der Dachfläche Anwendung. Die von der Feuermauer abgerückte Zeile der Maisonnetten wird über einen Laubengang erschlossen, west- und damit hofseitig sind im Obergeschoß bei jeder Wohnung zimmergroße Terrassen eingeschnitten, die als geschützte, private Außenräume einen hohen Wohnwert aufweisen. Ihr Rhythmus von Hohl und Voll belebt den Gesamtbaukörper, signalisiert Individualität in der Reihe und überlagert damit die verbindende Wirkung des unteren Wohngeschoßes, das als langes Prisma über der Metall-Glas-Fassade der Geschäfte zu schweben scheint. Das Vokabular der Moderne ist mit abgestimmten Details perfekt artikuliert und wirkt nicht mehr als elitäre, sondern als verbreitete Architektursprache, die mittlerweile von interessierten Laien nachempfunden, genossen und in ihrer Qualität beurteilt werden kann.

Spectrum, Sa., 2001.07.07



verknüpfte Bauwerke
Zubau zum Rathaus

23. Juni 2001Walter Zschokke
Spectrum

Es hätte schlimmer kommen können

Fast zwei Dutzend Jahre benötigte die Republik im heftigen Infight mit „Kronen Zeitung“ und Stadt Wien, um von der Idee eines zeitgenössischen Kulturbezirks zu dessen baulicher Realisierung zu gelangen. Noch stehen die meisten Neubauten stumm, aus Steinen ohne was herum und harren ihrer Bespielung. Zur Eröffnung des Museumsquartiers: ein kritischer Rundgang.

Fast zwei Dutzend Jahre benötigte die Republik im heftigen Infight mit „Kronen Zeitung“ und Stadt Wien, um von der Idee eines zeitgenössischen Kulturbezirks zu dessen baulicher Realisierung zu gelangen. Noch stehen die meisten Neubauten stumm, aus Steinen ohne was herum und harren ihrer Bespielung. Zur Eröffnung des Museumsquartiers: ein kritischer Rundgang.

Das meiste ist bekannt. Unendlich langes Gezerre im Vorfeld. Intrigenspiele, Schach- und Winkelzüge sowie Kompromisse gäben Stoff für mehrere Tragikomödien - doch wir sind in Wien, wo derlei Alltag ist. Die Architekten Ortner & Ortner, Gewinner des Wettbewerbs, planten jedenfalls mehr als einmal um. Doch seit 1995 stand das städtebauliche Konzept in großen Zügen fest - Präzisierungen im Detail wie immer vorbehalten -, und heute ziehen sich die Bautruppen unter Hinterlassung der üblichen Rückstände mehr oder weniger geordnet zurück.

Der Blick vom Burgtor offenbart einiges: Hinter dem pfirsichrosa leuchtenden Prospekt der ehemaligen Hofstallungen des Johann Bernhard Fischer von Erlach, wie sie halt nach Kriegszerstörungen im frühen 19. Jahrhundert und amtlicher Wiederherstellung nach Beschädigungen im Revolutionsjahr 1848 ins 20. Jahrhundert gedämmert sind, wächst rechter Hand eine dunkle Wölbung über den langen First, die sich vor der hohen Häuserzeile an der Breiten Gasse deutlich abhebt. Linker Hand schiebt sich, bloß schwach erkennbar, ein heller Baukörper unter die lagerhafte Attikabebauung über der Karl-Schweighofer-Gasse. Und seit über einem halben Jahrhundert darf der Flakturm in der Stiftskaserne die Blickachse dominieren.

Der schwache Kompromiß aus der Forderung der Neugläubigen, daß sich die Neubauten über den niederen Altbestand hinaus zeichenhaft manifestieren dürften und auch sollten, und der Reaktion der Altgläubigen, daß dies keinesfalls geschehen dürfe, hat ein eklatantes Ungleichgewicht hinterlassen. Kein Wunder in einem kulturpolitischen Klima, das von allen möglichen Seiten permanent und wider bessere Erkenntnis vergiftet wurde. Einem Klima, in dem sich Kontrahenten gegenseitig selbst die Eiterzähne neiden, wie man weiter westlich zu sagen pflegt. Allein die nüchterne Chronologie der Ereignisse mit den Schlagzeilen der Gehsteigpresse, zusammengestellt von Architekturzentrum und Museumsquartier, spricht Bände (siehe „hintergrund Nr. 11“, eine Publikation des Architekturzentrums Wien).

Nun, es hätte schlimmer kommen können. Einmal durch den Haupteingang spaziert, in den vorläufig Mittelhof genannten, zentralen Außenraum - es wird sich nächstens gewiß der Name eines verdienten (Kultur-)Politikers des Volkes finden, nach dem er dann benannt wird -, steht man also auf einem geräumigen Platz, erblickt zur Linken einen neuen weißen Baukörper, zur Rechten einen neuen dunkelgrau changierenden und in der Mitte einen brav neobarock erneuerten querstehenden Trakt mit einem dreibogigen Vorbau, dessen Attika weiterhin eine Uhr trägt, damit alle wissen, was es geschlagen hat und ob sie noch rechtzeitig zur angepeilten Veranstaltung kommen.

Von seiner Zeichenhaftigkeit sollte man sich aber nicht irritieren lassen. Hier geht es nicht hinein. Die seitlichen Treppen führen nur hinauf und wieder herunter. Aber die Eindeutigkeit der übrigen Disposition, große Baukörper, helle und dunkle Oberflächen, lassen solche Verwirrspielchen der alten Bausubstanz abblitzen, denn deutlich signalisieren die breiten, je beiden Neubauten angefügten Treppen, daß es hier weitergeht. Der Platzraum wird von den genannten vier Gebäudevolumen - dem ehemaligen Palais des Oberhofstallmeisters, der ehemaligen Winterreithalle, dem Leopold Museum und dem Museum Moderner Kunst - als Spannungsfeld von zwei sich kreuzenden Baukörperbeziehungen definiert, wobei die Relation der Neubauten etwas freier interpretiert ist als die axialsymmetrische Gegenüberstellung der zentralen Gebäude des Bestands. Er wirkt nicht so groß, wie er ist, da die beiden Neubauten ein Ablesen von Geschoßen zumindest erschweren. Aus Distanz erscheinen sie kleiner - also vermeintlich näher. Weder kann man daher übermäßige Monumentalität vorwerfen, noch daß sich ihre Proportionen außerhalb des vorhandenen städtebaulichen Maßstabs bewegten.

Das Vorstoßen der beiden neuen Baukörper in den weiten Freiraum hinter der bestehenden Randbebauung gliedert diesen in mehrere platzartige Zonen, die trotz des Kontinuums Eigenständigkeit erlangen. Sie versprechen abwechslungsreiches Flanieren und vielfache Bespielbarkeit. Dabei wird die Rückseite des Frontprospekts, die eben eine Rückseite ist, von zwei Reihen Ahornbäumen, die das Mittelpalais flankieren, abgeschirmt und neutralisiert. Begleitende Holzbänke geben dieser Platzkante eine unkomplizierte, urbane Wohnlichkeit. Im Kontext des Rahmens, der vom zu erhaltenden Bestand vorgegeben wurde, ist das Konzept, die beiden Neubauvolumen auf zwei Hauptbaukörper zu konzentrieren, diese aber aus dem Raster zu lösen und mit einer Drehung auf benachbarte städtebauliche Richtungen zu beziehen, durchaus geglückt. Hinter der von der Winterreithalle markierten Linie ist das Museumsquartier nicht zu Ende: Eine Art Hintergasse, die sich zwischen Bestand und den Rückseiten der Neubauten durchwindet, entwickelt ein spezifisches Flair derartiger Zonen, mit Müllcontainern, Servicefahrzeugen, Berufstätigen und verirrten Touristen.

Hier stößt man auf den dritten großen Neubaukörper, jenen der Kunsthalle Wien, der parallel zur ehemaligen Winterreithalle, der nun zwei Veranstaltungshallen eingeschrieben sind, unmittelbar an diese anschließt. Der knappe verbleibende Umraum wird vom sogenannten Ovaltrakt gefaßt, dem hintersten Teil des Altbestands. Der lange Gassenraum dazwischen ist in seiner Kontrastwirkung nicht unattraktiv. Etwas problematisch scheint jedoch die beziehungsneutrale Distanzlosigkeit von Reithalle und Kunsthalle in städtebaulicher Hinsicht. Obwohl sie über einen gemeinsamen Eingang verfügen, signalisiert von einem hohen gemauerten Torbogen, dessen ziegelrote Schmucklosigkeit der Symmetrie der Reithalle ein Schnippchen schlägt, bilden sich hier die Zwänge am deutlichsten ab; die Durchfahrt für die Anlieferung, die Unverrückbarkeit der Winterreithalle, der knappe Platz erschwerten ein Interagieren von Neu mit Alt. Die zwei langen Baukörper sind aneinandergequetscht, die eigenartig asymmetrische Dachform des neuen läßt den Betrachter ratlos. Die Zugänge halten sich im wesentlichen an das Angebot des Bestands, der das Museumsquartier umschließt. Man betritt die (Klein-)Stadt der Museen in der musealen Stadt durch Torbogen. Oft zieren deren Schlußsteine süßlich modellierte Pferdeköpfe, die eher aus dem verklemmten 19. Jahrhundert als aus der Barockzeit stammen. Nur von Westen, aus dem siebten Bezirk wurde von der Breiten Gasse her eine Bresche in die Häuserzeile geschlagen. Ein Steg führt auf den umlaufenden offenen Gang, der auf Höhe Dachgeschoß des Ovaltrakts verläuft. Die beiden Arme dieses Weges leiten nach links und nach rechts durch Durchlässe, über weitere Stege und Treppen - ja, auch Aufzüge - auf die Terrassen hinunter, welche die Reithalle flankieren und als Zugangsebenen der beiden großen Museen dienen.

Auf die reale Hinterhofatmosphäre der alten Feuermauern und des noch zu regenerierenden Glacis-Beisels reagierten die Architekten mit einem gleichsam synthetischen Backstage-Design, dessen von der Kunsthalle entlehnter Ziegelbodenbelag befremdlich wirkt. Überhaupt scheint man sich hier in der Wahl der Mittel vertan zu haben. Die überkandidelten Geländer sind eben nicht anspruchslos, die verzogene, angeschnittene Rückseite des Ovaltrakts ist zu kleinkrämerisch. Mag sein, daß die Zeit die schlimmsten Wunden heilt, doch die Selbstverständlichkeit eines Wiener Hinterhofzugangs wurde nicht erreicht, die selbstgestellten Ansprüche, sofern sie bestanden, wurden nicht eingelöst.

Auch der südliche Zugang, von der Mariahilfer Straße her, läßt Fragen offen. Wer hat bloß die unsäglichen eckigen Betonkisten für die zahlreichen Bäume im Klosterhof zu verantworten, die den kleinen Hofraum zerstören?

Der Städtebau ist also halbwegs zufriedenstellend, wenn auch nicht sensationell ausgefallen. Die Vitalität der Nutzungen, vor allem die der Besucher wird sich der Plätze, Höfe und Gassen bemächtigen, sie beleben und permanent umfunktionieren. Neben Straßencafés werden sich wohl zwar keine Schuhputzer ansiedeln, aber vielleicht fliegende Fußmasseure, die den brennenden Sohlen der Besucher nach den vielen durchwanderten Sälen Linderung verschaffen. Nach dem Städtebau soll nun der Blick auf die Architektur der einzelnen Neubauten gerichtet sein, die nach dem Prinzip der harten Schale - weiß, anthrazit, rotbraun; Kalkstein, Basalt, Ziegel - gestaltet und unterschieden sind. Der augenfälligste Neubau ist das Museum Moderner Kunst, dessen hochgewölbte Dachform Signifikanz verleiht und dessen allseitige Fassade in dunklen braungrauen bis anthrazitschwarzen Farbtönen changiert. Mauerwerkstruktur und Farbtextur erzeugen ein faszinierendes Spannungsverhältnis. Lichtwechsel und Lichtfarbe - etwa bei Dämmerung - werden den Ausdruck ständig verändern, Regen auch. Der klare Baukörper wird immer wieder anders erscheinen, neugierig machen auf das Innere und sich längerfristig zu behaupten wissen. Die nach oben strebende Großform wächst wie ein Pilz aus dem Platzbelag heraus. Eine kragenartige Scheide aus hellem Stein definiert dessen Rand. Die anfangs gerundeten, nach oben gleitend schärfer werdenden Gebäudekanten verstärken die aufstrebende Wirkung. Warum ist aber der Abstand des weißen Wulstes zum Baukörper vorne und seitlich ungleich? Will uns der Architekt hier etwas mitteilen, wenn ja, was? Jedenfalls wirkt dieses Detail unentschieden in einem sonst starken und schlüssigen Konzept. Der niedrige Eingang, der von der Terrasse auf halber Höhe erfolgt, muß nach der breiten Freitreppe, die als Signal für die Besucher wirkt, nicht noch gesondert betont werden. Die scheinbare Beiläufigkeit ist sympathisch und beeinträchtigt den zugleich als Freiluftcafé genutzten Zwischenbereich wenig. Ein pompöser Eingang hätte die geschlossene Einheit des Baukörpers zerstört. Das Kunsthaus Bregenz oder die Landesbibliothek und das Landesarchiv in St. Pölten legten für einen Gebäudezugang in zurückhaltender Art und Weise die Spur. Wenn die Lage des Zugangs wie hier städtebaulich bereits definiert ist, braucht es kein auffälliges Portal mehr.

Im Inneren empfängt den Besucher eine hohe, ebenfalls mit Basalt verkleidete Halle, dessen Porosität raumakustisch angenehm dämpfend wirkt. Ein verglaster Lift ist heute offenbar ein Muß, während die gußeisernen Treppenstufen zumindest originell wirken, aber zugleich etwas erzwungen. Unverständlich immer wieder die Glasbrüstungen, auf die man sich nicht bequem stützen kann, auch wenn der eindrückliche Tiefblick - oder ein müder Rücken - dies nahelegen möchten. Das mittlerweile erforderliche Verbundsicherheitsglas mit zwei Glasscheiben, also vier Spiegelungsebenen, weist wegen der Glasstärke einen leichten Farbton auf und hat nicht mehr die Durchsichtigkeit einer einzelnen Scheibe - oder eines einfachen Metallgeländers aus schlanken Stäben.

Die Säle sind flexibel unterteilbar, das System der Beleuchtung drängt sich allerdings vor Hängung oder Aufstellung der Kunstwerke noch relativ stark in den Vordergrund. Die Raumakustik weist wegen der harten, glatten Oberflächen einen langen Nachhall auf, was bei Führungen problematisch sein wird. Und Lautsprecherdurchsagen wird man kaum verstehen. Das Prinzip der neutralen, weißen Räume, ausschließlich mit Kunstlicht, war ein Nutzerwunsch. Doch hier gibt es rasch wechselnde Moden. Nur im obersten Geschoß durchbricht ein breites Fenster, das den Blick auf Dächer und Kuppeln der Innenstadt freigibt, die hermetische Schale. Hier oben folgt die Decke auch der äußeren Wölbung, eine Galerie gibt dem für Veranstaltungen und die Vernissagen gedachten Raum individuelles Flair. Insgesamt hinterläßt das Bauwerk für das Museum Moderner Kunst, trotz einiger diskussionswürdiger Teilaspekte in architektonischer Hinsicht, einen guten, ja den besten Eindruck. Der große Quader für das Museum Leopold bildet dazu das städtebauliche Gegenstück. Er ist weniger hermetisch, mit Fensteröffnungen in der blendend weißen Natursteinschale. Mit einer breiten Treppe zur Eingangsterrasse hinauf und dem bescheidenen Eingang ist es gleich erschlossen wie das dunkle Schwestergebäude. Der Grundriß ist nach dem Windradprinzip um eine hohe zentrale Halle organisiert, was außen mittels schmalhoher Fensterschlitze ablesbar gemacht ist. Eine eigenartige Stelle in der Fassade ist jedoch dort, wo die Steinbank, die den Übergang der Gebäudebasis zum Platz formuliert, unvermittelt abbricht und nur mehr als steinerne Leiste fortgesetzt wird. Und gerade an dieser Stelle endet irgendwie der hohe Fensterspalt. Die primäre strukturelle Ebene mischt sich in nicht nachvollziehbarer Weise mit tertiären Detailaspekten. Diese Unstetigkeit oder Störung wirkt unbeholfen, wie „passiert“ und läßt die sorgende Hand des Architekten vermissen. Sollte sie jedoch gewollt sein, fehlt ihr der nötige Kick. Wenig gelungen sind auch die flachen, feldweisen Kanneluren des Kalksteinmantels. Auch hier fehlt eine architektonische Beziehung dieser Applikation zum Ganzen oder zu den eingeschnittenen Fenstern. Für eine kontrastierende Maßnahme ist sie wiederum zu schwach.

Die Kalksteinverkleidung zieht sich auch in die allgemeinen Räume der Innenwelt des Leopold-Museums. Oft deckt sie alle sechs begrenzenden Flächen der Räume. Die glatten Oberflächen schaffen raumakustische Probleme, auch wenn Konzerttauglichkeit nicht im Pflichtenheft gestanden ist. Der alles deckende Naturstein wirkt in diesem Ausmaß eher verkrampft und bemüht, was gewiß auch mit der nicht übermäßig sorgfältigen handwerklichen Bearbeitung zusammenhängt. Insgesamt verläßt der Betrachter das leere Haus nicht sonderlich befriedigt. - Der Entscheid, die Kunsthalle mit Ziegeln zu verfliesen, erscheint im Gesamtzusammenhang nicht sorgfältig genug durchgearbeitet. Immerhin ist die Gestaltung der langen Mauer zum Ovaltrakt gelungen. Der Gassenraum ist angenehm unprätentiös und ruhig, gewinnt sogar als der schönste der Hintergassenzüge eigenständige Qualität. Aber das Gebäude verliert seine Objekthaftigkeit im Vergleich mit den anderen beiden Museen, weil die Ziegel über alles und jedes und sogar noch bis zur Breiten Gasse hinauf gezogen sind. Das Innere einer Kunsthalle wird gewöhnlich einem permanenten Wandel unterworfen, doch auch hier tritt das Beleuchtungssystem stark in Erscheinung.

Die Erneuerung des ursprünglich von Fischer von Erlach geplanten langen Hauptprospekts durch Manfred Wehdorn ist noch nicht abgeschlossen. Die Chance, das Bauwerk im Sinne des Entwurfs Fischers in städtebaulicher und architektonischer Hinsicht mit einer deutlicher differenzierten Dachlandschaft und einer Betonung der Eckrisalite zu stärken, wurde nicht wahrgenommen. Es zeigt sich bei diesem konservatorischen Ansatz ein Problem, indem selbst bei dieser architektonisch eher durchschnittlichen Bausubstanz und - bezogen auf die Renovationen des 19. Jahrhunderts - einem relativ geringen Gebäudealter der technisch-denkmalpflegerischen vor einer architektonisch-kritischen Erneuerung der Vorzug gegeben wurde.

In der gesamten Anlage waren zahlreiche Detailaspekte architektonisch zu lösen. Das sind Geländer, Treppenrampen, Anschlüsse von Alt und Neu, der Einbau von Liften, die Verteilung von Platzbelägen und so weiter. Ob es nun die in Steinbrüstungen eingeschnittenen zusätzlichen Glasgeländer oder überhaupt die gestalterisch stark hervortretenden, verschiedenen Geländerarten sind, die großen Glaslifte im rückwärtigen Bereich oder die sarkophagartigen Steinbänke vor der Reithalle: in dieser Maßstabsebene, in der der Mensch den Architekturelementen körperlich sehr nahe kommt, machen sich mangelnde Durcharbeitung in Hinblick auf Selbstverständlichkeit und Unkompliziertheit schnell bemerkbar. Wegen der angestrebten großen Keilform der Außentreppen werden beispielsweise die den Eindruck wieder schwächenden Glaseinsätze in Kauf genommen. Oder die attraktiven Gitter vor den Glasliften werden durch ihre anschließende Degradierung zu Geländern entwertet und entwerten ihrerseits die Liftprismen in ihrer Wirkung. Und wo stellt das erwartete, zahlreiche junge Publikum seine Räder hin?

Mag sein, daß bei so umfangreichen Projekten die Detailliebe nicht omnipräsent sein kann. Vielleicht handelt es sich auch um eine Entwicklung, die in anderen Ländern längst abgeschlossen ist und hier gerade nachvollzogen wird. Schade ist es allemal.

Spectrum, Sa., 2001.06.23



verknüpfte Bauwerke
MuseumsQuartier Wien - MQ

09. Juni 2001Walter Zschokke
Spectrum

So schließt man Baulücken

Was für städtische Wohnhäuser gilt, gilt selbstredend auch für Bürohäuser: daß sie energietechnisch sparsam geplant und errichtet werden können. Gerhard Lindner liefert dafür in Wien-Ottakring einen technisch wie gestalterisch ansprechenden Beleg.

Was für städtische Wohnhäuser gilt, gilt selbstredend auch für Bürohäuser: daß sie energietechnisch sparsam geplant und errichtet werden können. Gerhard Lindner liefert dafür in Wien-Ottakring einen technisch wie gestalterisch ansprechenden Beleg.

Vor mehr als zehn Jahren überlegten sich offizielle Stellen noch ernsthaft, auf die Verlängerung der U3 nach Ottakring und ihre Verknüpfung mit der Schnellbahn zu verzichten, weil man das Entwicklungspotential als zu gering einstufte. Doch es kam der Fall des Eisernen Vorhangs, und in der Folge wurden die Chancen im Nahbereich der Station Ottakring von der öffentlichen Hand genutzt. Private Investoren blieben nicht untätig, und so gibt es im weiteren Umfeld einige Baustellen.

Die mittlere Körnung der Parzellenstruktur kommt einer funktional durchmischten Erneuerung der überalterten Stadtsubstanz entgegen. Wenn größere Areale neu bebaut werden, dauert es in der Regel einige Jahre, bis sich der Stadtorganismus eingespielt hat. Das Schließen einer Baulücke ist hingegen ein selbstverständlicher Vorgang im Alltag eines Stadtquartiers.

An der Lorenz-Mandl-Gasse sah es noch vor wenigen Jahren hinsichtlich Arbeitsplätzen wenig hoffnungsvoll aus. Leerstehende und bloß temporär genutzte ehemalige Produktionsstätten mit ungepflegten Fassaden steckten zwischen den großen Wohnanlagen. Mittlerweile hat sich eine bunte Mischung neuer Nutzungen - meist im Altbestand - angesiedelt. Der nächste Schritt, der Beginn baulicher Erneuerung, war nur eine Frage der Zeit. So lud der Projektentwickler Bene-Consulting vor zwei Jahren mehrere Architekten ein, ein Gutachten über ein etwa 650 Quadratmeter zählendes Grundstück abzugeben. Ein bestehender Hofflügel sollte erhalten bleiben, möglichst viele Garagenplätze sollten geschaffen und der Neubau für optimale Büronutzung vorgesehen werden. Alles unter marktwirtschaftlichen Kriterien, versteht sich. Mit einem durchrationalisierten Konzept, das die späteren Betriebskosten und jenen Anteil am Betriebsklima einbezog, der von der baulichen Gestaltung beeinflußbar ist, entschied der in Baden bei Wien domizilierte Architekt Gerhard Lindner den Wettbewerb für sich. Den Ausschlag gab das ökonomisch kluge Gesamtkonzept, das eine architektonisch sorgfältige Umsetzung versprach.

Es gehört zur Ironie der Flächenwidmung, daß der sicherste Erhalt von Hofeinbauten in einem Verbot und der Belegung der Hofflächen mit einem kleinen „g“ besteht, was „gärtnerische Gestaltung“ heißt. Der nicht unansehnliche zweigeschoßige Hofflügel mit immerhin 350 Quadratmetern Nutzfläche wurde daher komplett mit der Tiefgarage unterfangen und die Hoffläche sowie das erneuerte Dach des Altbaus mit einer kräftigen Humusschicht überzogen und begrünt.

Für den Straßentrakt schlugen die Entwerfer, Architekt Lindner und Projektleiter Thomas Vielnascher, eine Stahlkonstruktion mit vorgehängter Fassade vor, um Bauzeit zu sparen. Die Vertikalerschließungen wie Treppe, Lift und Lüftungsschächte kamen zur Feuermauer beim Anschluß an den Hofflügel zu liegen, die Sanitärräume nebst weiteren Schächten an der anderen Feuermauer. Und weil ein Leichtbau energetisch so seine Probleme haben kann, wurden Decken aus Betonhohldielen vorgesehen, die als Speicher- und Ausgleichsmasse im Wechsel von Tag und Nacht sowie Sommer und Winter dienen. Dies vor allem deshalb, weil über ein unter der Tiefgarage liegendes Erdregister - Kunststoffrohre, die von angesaugter Luft durchströmt werden - die Frischluft, vorgekühlt oder vorgewärmt, nach einem gefinkelten System die Deckenhohlräume durchfließt. Im Sommer können die Decken nachts abgekühlt und die Arbeitsbedingungen positiv beeinflußt werden. Im Winter wird die zur Stützlüftung benötigte Luft im Erdregister vortemperiert und über einen Fernwärmeanschluß auf das gewünschte Raumklima abgestimmt.

Alle diese Teile des Gesamtkonzepts sind rational nachvollziehbar, bilden somit die ingenieurwissenschaftlichen Komponenten des Entwurfs, die nun mit den Überlegungen zu Erscheinung und Gestalt des Bauwerks in ein architektonisches Gesamtkonzept integriert werden mußten.

Selbstverständlich legte der Architekt diese ingenieurtechnischen Komponenten bis in die Details mit Fachleuten fest, besonders ihre potentiellen Auswirkungen auf die Architektur. Als Tragwerksplaner wirkte das Büro Gmeiner/Haferl, die energetische Gebäudesimulation betreute Patrick Jung. Seit alters weist der Architektenberuf eine nicht unwesentliche Ingenieurkomponente auf, die allerdings kaum weniger Kreativität erfordert, nur etwas mehr Disziplin. Kosten lassen sich nämlich nur mit kreativen Überlegungen einsparen, genau rechnen kann der Computer.

Architektonisch ging es um die gestalterische Einfügung in den Bestand und eine angenehme Raumstimmung im Inneren. Im Erdgeschoß, das weder für Büro- noch für Wohnnutzung sehr günstig ist, wurden Zugang, Einfahrt und Serviceräume zu einem dunkel gefärbten Sockel zusammengefaßt. Denn an Geschäfte war an dieser Stelle nicht zu denken. Darüber steigt die Fassade mit niedrigen, vorgehängten Betonelementen und eingesetzten Fenstern in Holz-Metall-Bauweise auf. Die Teilung und Gliederung in hochformatige Flächen bezieht sich auf Proportionen, die sich an benachbarten Gründerzeithäusern finden. Der Versatz der Ordnung von Geschoß zu Geschoß hat neben feuerpolizeilichen Vor- schriften seine Gründe gewiß auch in aktuellen Strömungen, die sich auf die fünfziger und sechziger Jahre beziehen. Und die gewählten Farben erinnern ebenfalls ein wenig an diese Zeit. Neu ist dagegen die Interpretation des Dachgesimses als tiefliegendes Fensterband, durch das man aus dem Dachgeschoß auf die Straße hinunter zu sehen vermag.

Die vor den Geschoßdecken abgehängten Putzstege dienen auch der Beschattung, weisen aber zugleich eine prinzipielle Verwandtschaft mit den Fensterverdachungen nebenan auf. Denn ein in die Tiefe gegliedertes Fassadenrelief wirkt anders als eine glatte Glaswand.

Im Inneren wurden nach vorgegebenem Büroraster von 1,30 Meter Modulmaß nichttragende Wände versetzt. Glasscheiben in Holzrahmen und farbige Paneele schaffen eine weiträumige Atmosphäre. Fenster zum Öffnen entsprechen den Mitarbeiterbedürfnissen, die etwa bei Hochhäusern unerfüllbar bleiben müssen. Am Hofflügel erweist sich die erfahrene Hand Lindners, der einige feinfühlige denkmalpflegerische Arbeiten vorweisen kann, im Umgang mit wenig spektakulärer Altsubstanz, was für die ansprechende architektonische Gesamtstimmung nicht unwesentlich ist. - Wenn bloß mehr Baulücken in dieser Qualität geschlossen würden!

Spectrum, Sa., 2001.06.09



verknüpfte Bauwerke
MAM Bürohaus Wien

12. Mai 2001Walter Zschokke
Spectrum

Das Ablaufdatum aufgestempelt

Was gestern noch als der neueste „Hype“ abgefeiert wurde, ist heute bereits optisch verschlissen. Was tun, wenn der modische Lack ab ist? Ein Plädoyer für mehr Verantwortung beim Bauen, gerichtet an Auftraggeber, Architekten - und Medienleute.

Was gestern noch als der neueste „Hype“ abgefeiert wurde, ist heute bereits optisch verschlissen. Was tun, wenn der modische Lack ab ist? Ein Plädoyer für mehr Verantwortung beim Bauen, gerichtet an Auftraggeber, Architekten - und Medienleute.

Wenn man tiefer in die Architekturgeschichte einer Epoche eindringt, gerät man immer wieder ins Staunen ob der Reichhaltigkeit an architektonischen Konzepten, räumlichen Verdichtungen, Materialwirkungen oder Lichtführungen. Die Wirklichkeit erweist sich vielfältiger als alle Versuche der Wiedergabe, die sich verständnishalber einen roten Faden auslegen, vereinfachen und auswählen müssen.

Die Zuwendung zu Bauwerken der Vergangenheit fällt meist leicht. Den Forscherdrang steigert das Wissen, daß diese Bauten Zeugnisse jener Zeit sind, aus der unsere hervorgegangen ist. Das erleichtert es uns, einen Weg zu gehen, den andere, vielleicht gebildetere, klügere, erfahrenere oder genialere vor uns angelegt haben. Ihren Spuren folgend, uns da und dort Nebenwege suchend, ja, sich eigene Auffassungen erarbeitend, erlaubt man sich, mit Vorgängern nicht einverstanden zu sein, ihnen gar im Geiste zu widersprechen, das ehemals teure Buch womöglich zuzuklappen und wegzulegen. Man wird, wenn sie nicht zerstört ist, zur Substanz, zu den Bauwerken dieser Zeit hingehen, die Originale befragen, wie sie entstanden sein mögen, um ihre Wirkung in die Gegenwart zu verstehen. Aber mittelmäßige oder schwache Bauten taugen dazu nur wenig. Man wird daher die Finger davon lassen.

Bis ins 20. Jahrhundert hinein mag es uns für Europa noch gelingen, eine gewisse Übersicht zu erarbeiten, doch in den jüngsten Jahrzehnten ist so viel und so kontrovers, in einem intensiven Wechsel von Auffassungen und Haltungen geplant und gebaut worden, daß die Wahrnehmung und Verarbeitung sowohl die Möglichkeiten von Normalbürgern als auch jene interessierter Laien übersteigt. Selbst die Kapazitäten jener, die sich berufsmäßig damit befassen, geraten an ihre Grenzen.

In diesem Kontext verwundert es kaum, daß die Kunstfigur „Austerlitz“ in W. G. Sebalds gleichnamigem Roman den Verlust an Raumstimmung und geschichtlicher Aura im alten Lesesaal der Bibliothéque Nationale in Paris beklagt - jenes hohen Raums, der von Henri Labrouste Mitte des 19. Jahrhunderts aus vielerlei gußeisernen Einzelteilen konzipiert wurde - und den Wechsel zur neuen Bibliothéque de France mit einer vernichtenden Kritik quittiert, die sich über mehrere Seiten zieht. Die Architektur betreffende Argumente mischen sich mit Kritik am Betrieb, aber das Sinnbild, die Zielscheibe der Standpauke bleibt das Gebäude.

Doch die Bauten von Dominique Perrault, dem Architekten der Bibliothéque de France, bilden bloß eine Strömung im breit verzweigten zeitgenössischen Ar- chitekturgeschehen. Denn nicht wenige Architekten manifestieren sich mit ihren Bauten auf ganz andere Weise. Einige agieren historisierend, andere klassisch modern, dritte graben Konzepte aus den sechziger Jahren aus oder haben immer schon so entworfen und so weiter. Vielen aber ist gemeinsam, daß ihre Bauten gleichsam schreiend daherkommen müssen, weil sie glauben, in einem angeblich unerbittlichen Konkurrenzkampf bestehen zu sollen.

Aber ist das nicht kurzsichtig? Tragen Bauten, die mit dem Speed des Drastischen oder Modischen aufgepeppt sind, nicht einen Stempel mit baldigem Ablaufdatum? Wird man es sich überhaupt leisten können, sie nach einem Dutzend Jahren, wenn ihre penetrante Erscheinung sich optisch verschlissen hat, abzureißen und durch einen Bau in dannzumaliger Mode zu ersetzen? Sollte sich die Architektur von jenem Virus, der für die Kleidermode unabdingbares Ferment ist, nicht etwas weniger oft infizieren lassen?

Ein Altmeister der Architekturkritik, Adolf Max Vogt aus Zürich, versteckte kürzlich einen starken Satz gleichsam beiläufig in einer Buchbesprechung: „Die Rangelei um Aufmerksamkeit, die Lust am Wechselsurfen muß die Architektur deshalb nicht fürchten, weil sie in einen elementaren Lebensbereich gehört. Ihre Würde besteht gerade darin, daß sie im Tempofieber nicht mittun kann und etwas anderes zu artikulieren hat“ (Neue Zürcher Zeitung, Nr. 79/2001).

Vogt ordnet die Architektur einem „elementaren Lebensbereich“ zu und signalisiert damit die große Verantwortung jener, die Architektur zu schaffen sich anheischig machen. Er spricht von „Würde“, mit der sie sich zu befassen haben, so sie Architektur wollen. Mit dem „anderen, das sie zu artikulieren“ habe, das er nicht ausschreibt, sondern bloß als Gegensatz zum „Tempofieber“, in dem die Architektur „nicht mittun kann“, andeutet, meint Vogt jene Dauerhaftigkeit der Formen über die Generationengegensätze hinweg, die man Nachhaltigkeit nennen könnte. Jene Kraft nämlich, die uns aus Bauten anspricht, die historisch geworden sind, sodaß eine neue Generation Menschen ihre Präsenz unvoreingenommen, parallel zu älteren, ganz alten und neuen, als Topographie von Bauwerken wahrnehmen kann.

Aus der Distanz der Jahre läßt sich die Qualitätsdiskussion noch einmal führen, und nicht selten haben die Vorzeichen im Zuge solcher Wiederaufnahmen der öffentlichen Diskussion gewechselt. Wird dies unterlassen, können ausgezeichnete Bauwerke sang- und klanglos verschwinden.

Oder sie können so weit durch Umbauten entstellt werden, daß sie nach einem weiteren Lebensabschnitt diskussionslos abgebrochen werden. Aber in der Regel ist es schwaches Mittelmaß, das absteigt. - Entscheidend scheint mir auch die einleitende Bemerkung Vogts: daß nämlich die Architektur den hektischen Wechsel nicht zu fürchten brauche, denn Architektur ist das, was bleibt - was im Guten wie im Schlechten überdauert, wenn Ideologien und kleinliche Streitereien längst im Humus der Geschichte versickert sind.

A us dieser Perspektive läßt sich die Verantwortung jener ableiten, die Architektur beauftragen; vor allem aber jener, die sie entwerfen und ihre Realisierung beaufsichtigen. Sie gilt den Architekten. Zynismus, Gewinnsucht, Ränkespiel und Eitelkeit, die zu Cliquenwirtschaft und Packelei mit Politikern oder privaten Spekulanten führen, können nachhaltige Qualität nicht erzwingen, selbst wenn es kurzfristig gelingen mag, gewisse Medienleute Lobeshymnen verfassen zu lassen.

Wenige Jahre Distanz genügen meist, den Propagandafirnis zu verblättern. Wenn dann darunter die Substanz nicht ausreichend architektonische Qualität aufweist, die sich an gleichzeitigen und vorangegangenen Bauwerken ermessen und beurteilen läßt, bleibt nämlich die abschließende Anerkennung versagt, und das fälschlicherweise hochgelobte Mittelmaß und Kitschzeug versinkt im riesigen Meer des Vergessens.

Spectrum, Sa., 2001.05.12

14. April 2001Walter Zschokke
Spectrum

Riesling und Lärchenholz

Sie sind aus der ostösterreichischen Kulturlandschaft nicht wegzudenken: Buschenschanken. In Klein-Engersdorf haben der Weinbauer Josef Lackner und der Architekt Reinhard Haslwanter in der Heurigen-Topographie einen neuen Akzent gesetzt.

Sie sind aus der ostösterreichischen Kulturlandschaft nicht wegzudenken: Buschenschanken. In Klein-Engersdorf haben der Weinbauer Josef Lackner und der Architekt Reinhard Haslwanter in der Heurigen-Topographie einen neuen Akzent gesetzt.

Die Nebenerwerbsbuschenschank der Familie Lackner in Klein-Engersdorf bestand seit den späten fünfziger Jahren. Als der Sohn 1993 den Betrieb hauptberuflich übernahm, vergrößerte er die Anbaufläche durch Zukauf, begrenzte aber deren spezifischen Ertrag. Die im positiven Sinn schweren Böden in Südlage rund um den Ort ergeben einen guten, oft ausgezeichneten Tropfen. Neben Grünem Veltliner, Weißburgunder und Welschriesling werden auch Riesling, Sauvignon blanc sowie Blauburger und Zweigelt angebaut. Auf der Kremser Weinbaumesse wurden Produkte des ambitionierten Weinbauern und Kellermeisters als Gebietssieger sowie Salonwein gewürdigt.

Die Degustation war lehrreich und schmackhaft, die Konsumation bescheiden im Preis; als Architekturkritiker beschränkt sich der Schreibende aber auf sein Fachgebiet. Man sollte nicht peinlich dilettieren wie gewisse architektonisch schwach beleumdete Gastrokritiker, die - ignorant und unterschwellig überheblich - den dümmlichen Begriff „Designer-Heurigen“ hinwerfen, anstatt von Tranksame und Speisen in faßlichen Worten zu berichten.
Der initiative Weinbauer Josef Lackner erkannte jedenfalls bald, daß er seinen Familienbetrieb nicht bloß auf der Produktionsseite erweitern durfte, sondern auch den Absatz, sprich die Platzzahl in seiner Buschenschank - die er sechs Mal im Jahr für je drei Wochen offenhält - erhöhen mußte. Mit dem Architekten Reinhard Haslwanter entwickelte er über Monate ein betriebliches Konzept, das dieser räumlich sensibel und funktional klug umsetzte. Ein traufständiges, zweigeschoßiges Haus in der geschlossenen Zeile an der Dorfstraße bildete den Bestand. Ein Teil des Erdgeschoßes diente als Gastraum, der schon früher einmal nach rückwärts erweitert worden war, wo Wirtschaftsgebäude und Geräteschuppen anschlossen, die zusammen mit dem Wohnhaus den für die Gegend typischen Hakenhof formen. Das Grundstück steigt von der Einfahrt her um gut eineinhalb Geschoße an und geht über in den langgezogenen, südsüdwestorientierten Weinberg.

Der Architekt schlug nun vor, die klassische Hoftypologie beizubehalten, den Neubau an der Stelle der Schuppen entlang der westlichen Grundgrenze zu situieren und den Hof zu terrassieren. Vom alten Schank- und Gästeraum ausgehend, an der räumlichen Zäsur eines Kachelofens vorbei, entwickeln sich die neuen Räume vorerst auf gleichem Niveau nach hinten, um dann über einige Stufen zu einem Halbgeschoß mit zweiter Schank anzusteigen, von dem nach vor und nach hinten kurze Treppenläufe zu zwei weiteren Gasträumen führen.

Dank dieser Gliederung weisen alle Teilbereiche eine angenehm wohnliche Größe auf. Ein halbes Geschoß tiefer liegen zentral die Toiletten und der elegant überwölbte Weinverkostungsraum. Dahinter folgt der große Keller. Entsprechend der Stufung der Gasträume im Inneren steigt parallel dazu der Hof über zwei Terrassen an, deren letzte mit einer niedrigen Mauer zum Weinberg abgegrenzt wird.

Auf jedem Niveau ermöglichen große verglaste Schiebetüren von Frühling bis Herbst eine unmittelbare Beziehung von Innenräumen und Gartenterrassen. Überhaupt ist die gesamte Trennwand zwischen Gasträumen und Hof auf großflächige Gläser in schlanken Holzrahmen reduziert. Räumlich bietet der lange Neubau daher vor allem ein schirmendes Dach mittlerer Neigung, unter dem ein gegliederter Großraum zahlreiche Blickbezüge hinauf und hinunter, hinaus und hinein anbietet.

In der hohen Mittelzone entsteht mit der zusätzlichen Schank ein neues Gravitationszentrum dieses Heurigen, das, von den beiden oberen Gasträumen flankiert, eine Querachse zum mittleren Hofteil andeutet, sodaß der lange Baukörper Eigenständigkeit gewinnt und über die räumliche Symmetrie einen gegenüber der Längsbewegung zur Ruhe gekommenen Ort schafft.

Ein Gast, von der großzügigen Raumform dieser Gartenhalle beeindruckt, rief bewundernd aus: „Das ist ja wie im Westbahnhof“, womit er wesentliche Qualitätsmerkmale erkannte: Raumhöhe und gestufte Entwicklung. Drinnen erscheint gleich wie draußen, weil über Kopf genügend Luft bleibt und die Glasflächen sehr groß sind. Westseitig verläuft ein hochliegendes Fensterband, das, etwas von der Grenze abgesetzt, auch von dieser Seite Licht eindringen läßt. Wenn die Sonne am späten Nachmittag tiefer sinkt, erreichen ihre Strahlen die Dachuntersicht und die Schar der schlanken Balken, und die obere Raumhälfte beginnt in einem prächtigen Goldton zu glühen.

Für das architektonische Gesamtkonzept ist die Materialwahl wichtig. Hier zeigt sich Reinhard Haslwanter, der gemeinsam mit Peter Fellner die Ausführung betreute, als perfekter handwerklicher Denker und Gestalter. Während die bergende Mauer im Westen, aus Abbruchziegeln gefügt und unverputzt, für ein kräftiges Kontinuum sorgt, besteht die übrige Konstruktion aus schichtverleimtem Lärchenholz. Auch die schlanken Rundstützen hinter der Glasfassade sind aus diesem Holz gefertigt, ebenso die Fenster- und Türrahmen. Schon nach wenigen Monaten hat der Baustoff eine rötliche Färbung angenommen und dominiert zusammen mit den Ziegeln die farblich warme Raumstimmung. Für Teile des Bodens im unteren Bereich wurde dunkler Dolomit verwendet, auf den oberen Ebenen ist es Schiffboden, wieder aus Lärche. Eine Bodenheizung bietet für Winter und Übergangszeiten Behaglichkeit.

Bequem wirken auch die einfachen Tische und Bänke, die von der Bauherrschaft ausgewählt wurden - und keinesfalls schwerfällig, wie man sie leider oft vorfindet. Die flachkegelförmigen Lampenschirme aus Milchglas von geringen Dimensionen sind räumlich nicht wirksam, sodaß die großzügige Gesamtform der Halle gewahrt bleibt. Eine allgemeine Beleuchtung erfolgt indirekt von der Seite.

Überhaupt galt den Gestaltern Zurückhaltung als wichtige Maxime, sodaß der gepflegt wirkende Heurige schon jetzt eine zeitlose Selbstverständlichkeit ausstrahlt, die aber ohne das sorgfältige und kraftvolle Gesamtkonzept nicht jene Qualität erreichen würde, die diese Buschenschank im Vergleich mit anderen zu einem hochstehenden Ausnahmebauwerk werden läßt.

Spectrum, Sa., 2001.04.14



verknüpfte Bauwerke
Zu- und Umbau ´Heuriger Lackner´

17. März 2001Walter Zschokke
Spectrum

Unterspannung macht schlank

Eigentlich gab's bei der unspektakulären Bauaufgabe nichts zu holen: vier Brücken über die Westautobahn. Doch Erhard Kargel wurde für sein konstruktives und gestalterisches Konzept mit dem Österreichischen Ingenieurpreis 2000 ausgezeichnet - völlig zu Recht.

Eigentlich gab's bei der unspektakulären Bauaufgabe nichts zu holen: vier Brücken über die Westautobahn. Doch Erhard Kargel wurde für sein konstruktives und gestalterisches Konzept mit dem Österreichischen Ingenieurpreis 2000 ausgezeichnet - völlig zu Recht.

Selbst bei hoher Geschwindigkeit wird man die Serie von vier Brücken, die westlich der Raststätte Sankt Pölten die Autobahn queren, nicht übersehen. Aber ihre Zahl - zwei, drei, fünf? - und ihre Bestimmung - Wirtschaftswege? Landesstraßen? - wird der eilige Autofahrer kaum auf Anhieb mitbekommen. Aber als Gruppe fallen die Brücken auf, bleiben sie im Gedächtnis der Benützer der Westautobahn haften.

Das wird vielleicht einerseits an der Wiederholung, an der Vierzahl liegen, andererseits aber an einer ungewohnten Eigenheit: Die Brückenfelder weisen nicht bloß das übliche Stahlbetontragwerk mit geradem Durch- laufträger auf. Vielmehr ist unten noch etwas dran, das die Erbauer stolz in leuchtendem Gelb streichen ließen: Die Brücken sind unterspannt. Unterspannte Tragwerke waren schon im 19. Jahrhundert gebräuchlich, um Material und damit Gewicht zu sparen, unerwünschte Durch- biegungen zu vermeiden und größere Spannweiten zu bewältigen. Hölzerne oder eiserne Träger erhielten durch schmiedeeiserne Zugstangen, die mit Druckstäben an der Unterseite auf Distanz gehalten wurden, höhere Tragfähigkeit, indem bei gleichem Trägerquerschnitt höhere Lasten übernommen werden konnten.

In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts kam es im Gefolge wachsender Begeisterung für alte Industriehallen mit derartigen Tragwerken zu einer Renaissance des Prinzips der Unterspannung, das aber allzuoft nicht nur in sinnvollen Zusammenhängen eingesetzt wurde, sondern immer irgendwie, wie dies bei Moden eben der Fall ist. Nur in Ausnahmefällen gelang es, dieses statisch-konstruktive Prinzip auch architektonisch zu bewältigen. Denn wie es eben so ist, wenn mittelmäßige Architekten das Abbild einer Konstruktion reproduzieren, ohne den komplexen Hintergrund zu verstehen, kam es zu allerlei lächerlichen Überspanntheiten, an deren Stelle ein simpler Profilträger auch gestalterisch die bessere Lösung gewesen wäre.

Die Brückeningenieure verwendeten das Prinzip im ausgehenden 19. Jahrhundert - und verwenden es bis heute -, um Kosten zu sparen: etwa wenn wegen höherer Verkehrslasten Brücken verstärkt werden mußten, die noch tragfähig waren und deren Neubau wesentlich teurer zu stehen gekommen wäre. So wies die berühmte Trisanna-Brücke an der Arlbergstrecke bis über die Jahrhundertmitte eine derartige Unterspannung auf. Der bautechnisch anspruchsvolle Vorgang beim Ersatz durch neue Stahlbogenträger kann an einem Modell im Wiener Technischen Museum bestaunt werden.

Das Prinzip der Unterspannung ist also alt. Aber die konkrete Umsetzung stellt darüber hinaus hohe Anforderungen. Allen voran steht bei Zweckbauten immer die Wirtschaftlichkeit. Aber die Eisenbahn-Hochleistungsstrecken AG setzte eine ganze Reihe von weiteren Planungszielen: einheitliches Entwurfskonzept für alle vier Überführungen; wirtschaftliche Herstellung der Tragwerke, möglichst mit Fertigteilen, um den Autobahnbetrieb nur geringstfügig zu behindern; optische Auflösung der Widerlager zur optimalen Eingliederung in die Landschaft; schlankes Erscheinungsbild; Nachvollziehbarkeit des Tragverhaltens; und nicht zuletzt sollten die Brücken zum unverwechselbaren Kennzeichen dieses Landschaftsabschnitts werden.

Der Linzer Bauingenieur Erhard Kargel, der das Vergabeverfahren gewonnen hatte, ist uns von der Bundesstraßenbrücke über das Gernitztal bei Großmotten, an der Strecke von Krems nach Zwettl ein Begriff. Schon dort hatte sein kluges, konstruktiv-bautechnisch sowie gestalterisch souveränes Konzept beeindruckt.

Vor Sankt Pölten waren weder Topographie noch Spannweiten spektakulär, und drei Wirtschaftswege und eine Landesstraße sind harmloser als die Ortsumfahrung mit Talübergang einer Bundesstraße. Der Reiz liegt einerseits in der Vierzahl, somit in der Wiederholung innerhalb eines kurzen Autobahnabschnitts. Aber vor allem liegt er darin, wie die Aufgabe aufgefaßt wurde. Wirtschaftliche, konstruktive, herstellungstechnische und gestalterische Aspekte wurden zu einem Gesamtkonzept integriert, dessen Resultat sehenswert ist und das vorigen Herbst mit dem Österreichischen Ingenieurpreis 2000, für innovativen und kreativen Einsatz von Beton ausgezeichnet wurde.

Jeweils drei schlanke Pfeiler bilden ein Joch, mehrere dieser Joche stützen das Tragwerk, das in einem ersten Arbeitsgang aus vorgefertigten Plattenbalken mit einfacher Unterspannung aus massivem Rundstahl bestand. In der Breite dreifach, für die Landesstraße vierfach addiert und längs über sechs Felder aneinandergereiht, bildeten sie zugleich die Schalung für einen - ebenfalls bewehrten - Ortsbetonkern, durch den über die einzelnen Felder statische Durchlaufwirkung erreicht wurde. Die Stahl-Zugkonstruktion führt über mittig angeordnete Böcke, wird in den stärker betonierten Endteilen verankert und mündet in vertikalen, über das Betonelement hinausreichenden Stahlblechen, die über den Brückenpfeilern verbunden und hernach einbetoniert wurden, sodaß die Zugkräfte sich gegenseitig übernehmen und „durchlaufen“.

Bei all diesen Überlegungen wurde immer nach jener wirtschaftlichsten Lösung gesucht, die auch gestalterisch die Wünsche des Planers befriedigte. Zur Arbeit des Bauingenieurs auf diesem anspruchsvollen Niveau bemerkte der renommierte Tragwerksplaner Jürg Conzett aus Chur kürzlich anläßlich eines Symposiums über alpine Ingenieurbauwerke: „Bei hochstehender fachlicher Durchdringung eines Projekts gelangt man als Bauingenieur an den Punkt, an dem die pragmatischen Kriterien ihre Strenge verlieren und man in die architektonische Sphäre vorstößt.“

D ies ist Erhard Kargel mit seinen vier Brücken ebenfalls gelungen. Er konnte die inneren Kräfte, die aus den ständigen Lasten resultieren, sowie die Gesamtmomente infolge beweglicher Lasten mit seiner intelligenten Konstruktion - im Vergleich zu anderen konstruktiven Prinzipien - niedriger halten. So wurden dank der mittigen Unterstützung durch die Distanzböcke geringere Trägerhöhen möglich, mithin niedrigere Eigenlasten und insgesamt ein schlankeres Erscheinungsbild.

M it einer sorgfältigen Proportionierung, sauberen Betonoberflächen und exakt gesetzten Arbeitsfugen, wie sie nur bei weitgehender Vorfertigung erzielbar sind, gab er dem äußeren Erscheinungsbild eine besondere Note.

Der rhythmische Verlauf der Linie der Unterspannungen entspricht im umgekehrten Sinn der Folge der Wölbungen bei einer Bogenbrücke. Damit werden strukturell vertraute Elemente von Brücken aufgenommen, aber den zeitgenössischen technischen Bedingungen entsprechend umgesetzt, sodaß ein neuartiges Bild entsteht, das nicht fremd und unverständlich ist, sondern sich den Betrachtenden rasch erschließt.

In der flachwelligen Landschaft bilden die vier Brücken, wie angestrebt, unverwechselbare Merk-Orte. Ihre spezifische Identität überträgt sich auf den Landschaftsabschnitt. Damit gelingt es Auftraggeberin und Bauingenieur, mit einem zeitgenössischen Konzept an frühere integrale landschaftsgestalterische Überlegungen - wie sie im Zuge der Planung von Infrastrukturanlagen nicht immer gepflogen wurden - selbständig und auf hohem technisch-gestalterischem Niveau anzuknüpfen.

Spectrum, Sa., 2001.03.17

17. Februar 2001Walter Zschokke
Spectrum

Kulturprodukt, Handelsware?

Die Rolle der Architektur als eine dauerhaft kulturbildende künstlerische Disziplin ist vordergründig unbestritten. Eine Entschließung des Rates der Europäischen Union dringt nun darauf, die Konsequenzen aus diesem Konsens zu ziehen.

Die Rolle der Architektur als eine dauerhaft kulturbildende künstlerische Disziplin ist vordergründig unbestritten. Eine Entschließung des Rates der Europäischen Union dringt nun darauf, die Konsequenzen aus diesem Konsens zu ziehen.

Nicht zufällig hat der 1902 in Leipzig geborene, 1933 nach England emigrierte Kunsthistoriker Nikolaus Pevsner seiner 1943 erstmals erschienenen Publikation zur Architekturgeschichte, die eine Zeitspanne vom Parthenon bis zu Asplunds Krematorium in Stockholm umfaßt, den Titel „Europäische Architektur“ gegeben. Der für seine Verdienste zum Sir geadelte Forscher und Kunstvermittler hielt in einer Phase erbitterten Zerwürfnisses in Europa, die - auch - von beiderseitigen Zerstörungen von Architektur noch nie dagewesenen Ausmaßes gekennzeichnet ist, daran fest, daß das europäische Architekturschaffen gemeinsame Wurzeln und wechselnde Einflüsse in verschiedensten Richtungen aufweist, daß dessen Eigenart in der Wechselhaftigkeit und Vielfalt, zugleich in einer gegenseitigen Verflochtenheit und Interdependenz zu erkennen ist.

Pevsners leicht lesbarer Rückblick auf über 2000 Jahre Architekturentwicklung beweist, welche Bedeutung das Zusammenwirken von Bauherrschaften und Architekten für das Entstehen dessen hatte, was heute auf deutsch etwas ungelenk „Kulturerbe“ - französisch „patrimoine“, englisch „cultural heritage“ - genannt wird. Er zeigt auch, daß Handwerk und Bautechnik zu allen Zeiten wesentlich an der Qualität der Bauwerke beteiligt waren.

Dieser materiell unübersehbaren Präsenz gegenüber hält sich eigenartiger Weise das primitive ideologische Vorurteil, mit ihren Bauwerken würden sich die Architekten bloß persönliche Denkmale schaffen wollen. Dem ist entgegenzuhalten, daß nur in Ausnahmefällen der Name des Architekten allgemein mit dem des Hauses verbunden bleibt. Selbst das Haus am Michaelerplatz für die Herrenschneiderei Goldmann & Salatsch würde wohl kaum „Looshaus“ genannt, wenn nicht der bloß eine Silbe kurze Name des Architekten und der zur Bauzeit entfachte Skandal dem Volksmund entgegengekommen wäre.
Ein mehrsilbiges Präfix wie Hinterleitner oder Schwellengruber hätte sich kaum eingebürgert. Vielmehr heißen und hießen die Häuser zum einen nach ihrem Aussehen: Maison carrée, NŒmes; Maison de verre, Paris; Cristal Palace, London; das Graue Haus, Wien. Zum anderen und überwiegenden Teil werden sie nach dem Bauherrn oder gar nach der Bauherrschaft eines Vorgängerbaus benannt: Haas-Haus, Wien, BMW-Hochhaus, München; Pirelli-Hochhaus, Mailand; AEG-Turbinenhalle, Berlin - niemand redet vom Hollein-Haus am Stephansplatz, dem Schwanzer-Vierzylinder, dem Ponti-Haus oder der Behrens-Halle. Soviel zum angeblich persönlichen Denkmalskult der Architekten.

Weil aber die ureigenste Aufgabe des Architekten - auch wenn heute verschiedenste Fachplaner in die Projektierungsarbeit integriert werden müssen - die der Zusammenschau aller wesentlichen, Erscheinung und Gestalt bestimmenden Faktoren im Hinblick auf das Werden des Bauwerks ist, das er als erster vorausgeschaut, eben projektiert hat - und das er, lange bevor es dasteht, in- und auswendig kennt -, kann er nicht anders, als die konzeptionelle Idee gegen unpassende Einfälle zu verteidigen. Denn nur so läßt sich die Qualität des architektonischen Konzepts halten. Diesem Bestreben stehen sachliche außerarchitektonische Einwände nicht entgegen, sie lassen sich in aller Regel einarbeiten, wenn sie zeitgerecht vorgebracht werden.

Natürlich gibt es in jedem Berufsstand - wie auch unter Politikern und Politikerinnen - bessere und schlechtere Fachleute. Aber Architekten sind es gewohnt, sich immer wieder in Qualitätswettbewerben zu messen und sich dabei einer Fachjury zu stellen. Und die Zahl der nicht gewonnenen Verfahren übersteigt bei fast allen Architekten jene, die nach einem ersten Preis ausgeführt werden konnten, bei weitem. Steht das Gebäude fertig da, kommen die Kritiker, berufene und unberufene. Jedenfalls ist es immer einfacher, hinterher gescheit zu reden. Und für den Architekten gilt es einiges hinzunehmen und wegzustecken.

Dennoch sind sie nicht die einzigen, die an Qualität in der Architektur interessiert sind. Denn Bauherrschaften wünschen sich Bauwerke, die sie herzeigen können. Zwar sind sie als Private mit ihrem Kapital oder eingegangenen Verpflichtungen existentiell beteiligt. Der Architekt ist jedoch mit seinem Entwurf, den er verinnerlicht hat, auf zutiefst persönliche Weise verhängt. Dies ist nicht anders, wenn auf der Auftraggeberseite eine öffentliche Körperschaft steht, deren Vertreter als Gremium finanziell nicht haften. Der Architekt allerdings ist für seine Architektur verantwortlich, leider auch dann, wenn seine Fachkompetenz nicht ausreichte.

Dennoch soll nicht so getan werden, als konzentrierte sich das gesamte Architekturwollen nur auf die Entwerfer im Sinne einer privaten Marotte. Die Verantwortung der Bauherrschaft, insbesondere öffentlicher Stellen, ist längst bekannt. Diese kulturelle Verantwortung gilt auch, wenn die Aufgaben an Private delegiert werden.

E rfreulicherweise ist nun, nach vorbereitenden Kon- ferenzen unter Kulturbeamten und Fachvertretern aus allen 15 EU-Staaten, der Rat der Europäischen Union unmißverständlich mit einer „Entschließung zur architektonischen Qualität der städtischen und ländlichen Umwelt“ hervorgetreten. Nach mehreren Hinweisen auf vorangegangene Entschließungen zu Kultur und Bildung, in Kenntnis der Schluß- folgerungen der Umweltministertagung in Porto vom April 2000, in denen die Bedeutung der Qualität der baulichen Umwelt hervorgehoben wurde; erwägend, daß im Juli 2000 ein
„Europäisches architektur-politisches Forum“ stattfand mit Architekturfachleuten aus Beruf und Verwaltung aus allen 15 Mitgliedstaaten; begrüßend, daß weitere Arbeitskreise inhaltlich beigetragen haben, erklärt der EU-Rat: „Daß die Architektur einen grundlegenden Bestandteil der Geschichte, der Kultur und der Lebenswelt jedes unserer Länder bildet und eine
der wesentlichen künstlerischen Ausdrucksformen im Alltagsleben der Bürger sowie das Kulturerbe von morgen darstellt; die Qualität der Architektur ein konstituierendes Merkmal der ländlichen wie auch der städtischen Umwelt und der Landschaft ist; die kulturelle Dimension und die Qualität der materiellen Raumgestaltung in der Regional- und Kohäsionspolitik der Gemeinschaft berücksichtigt werden müssen; die Architektur eine intellektuelle, kulturelle, künstlerische und berufliche Arbeit darstellt, und die architektonische Dienstleistung somit eine sowohl kulturelle wie auch ökonomische berufliche Dienstleistung ist.“

Der EU-Rat unterstreicht die Bedeutung, die er Folgendem beimißt: „den den europäischen Städten gemeinsamen Merkmalen wie etwa der Bedeutung der geschichtlichen Kontinuität, der Qualität der öffentlichen Räume, dem Zusammenleben verschiedener Gesellschaftsschichten und der reichen städtischen Vielfalt; der Tatsache, daß eine hochwertige Architektur, durch die der Lebensrahmen und das Verhältnis der Bürger zu ihrer ländlichen oder städtischen Um- welt verbessert werden, einen wirksamen Beitrag zum sozialen Zusammenhalt, zur Schaffung von Arbeitsplätzen, zur Förderung des Kulturtourismus und zur regionalen wirtschaftlichen Entwicklung leisten kann.“

Der EU-Rat empfiehlt daher den Mitgliedstaaten: „Ihre Anstrengungen zu verstärken, die auf eine bessere Kenntnis von Architektur und Stadtplanung und auf deren Förderung sowie auf eine verstärkte Sensibilisierung der Bauherren und der Bürger für die architektonische, städtische und landschaftliche Kultur sowie die Vermittlung entsprechender Kenntnisse abzielen; die Besonderheit der architektonischen Dienstleistung im Rahmen der Beschlüsse und Maßnahmen, in denen dies zum Tragen kommen muß, zu berücksichtigen; die architektonische Qualität durch beispielhafte Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Bauvorhaben zu för- dern; den Erfahrungs- und Informationsaustausch im Bereich der Architektur zu fördern.“
Und der EU-Rat fordert die Kommission auf: „Darauf zu achten, daß die architektonische Qualität und die Besonderheit der architektonischen Dienstleistung im Rahmen ihrer Politiken, Aktionen und Programme Berücksichtigung finden.“

W eiters dazu, „im Benehmen mit den Mitgliedstaaten und im Einklang mit den entsprechenden Strukturfondsregelungen nach Mitteln und Wegen zu suchen, wie die architektonische Qualität und die Erhaltung des Kulturerbes im Rahmen der Strukturfondsmaßnahmen stärker berücksichtigt werden kann.“

Das ist ein eindeutiges Bekenntnis zur Wahrung und Verbesserung der architektonischen Kultur in Europa, damit die Pevsners, Poseners, und Achleitners des 22. Jahrhunderts über die europäische Architektur des 21. Jahrhunderts etwas zu berichten haben, sie schätzen und würdigen können, wenn sie nicht, was mehr zu wünschen wäre, Allgemeingut geworden ist.

Eine Aufgabe ist allerdings für die nächsten Jahrzehnte vordringlich: Die Bauten für Institutionen und Verwaltung der EU, ob in Luxembourg, Bruxelles, Strasbourg oder anderswo, sollten dem architektonischen Mittelmaß, dem sie leider mehrheitlich verpflichtet sind, entrissen werden.

Spectrum, Sa., 2001.02.17

20. Januar 2001Walter Zschokke
Spectrum

Muß ja nicht gleich Schinkel sein

Eine Gemeinde will ein neues Feuerwehrgebäude mit Gendarmerieposten errichten, das äußerlich ins vorvorige Jahrhundert paßte. Hätte sie dann nicht auch einen „qualificirten“ Herrn Architekten aus dieser Zeit engagieren sollen? Ein Lehrstück aus Hinterbrühl bei Wien.

Eine Gemeinde will ein neues Feuerwehrgebäude mit Gendarmerieposten errichten, das äußerlich ins vorvorige Jahrhundert paßte. Hätte sie dann nicht auch einen „qualificirten“ Herrn Architekten aus dieser Zeit engagieren sollen? Ein Lehrstück aus Hinterbrühl bei Wien.

Die vorausschauende Gemeindeführung von Hinterbrühl sieht sich veranlaßt, anstehende Raumprobleme von Straßendienst, Feuerwehr und Gendarmerie mit einem Gesamtkonzept zu lösen, bei dem auch Räumlichkeiten für Kultur - in dem für den Gemeindestraßendienst umgebauten derzeitigen Feuerwehrhaus - entstehen sollen.
Der „Gemeindebote“ informiert über das Vorhaben. Die harmonische Einbindung ins Ortsbild wird mit einer Darstellung von Architekt Marosevic illustriert.

Das ist vernünftig und vorbildlich; aber halten zu Gnaden: Wie schaut das aus?! Jedenfalls nicht wie die Feuerwehrhäuser in Dornbirn, Oberwart oder Kleinwarasdorf der Architekten Ritsch, Gangoly oder Szedenik, sondern wie ein Konglomerat aus Neubarock, ärarischem Zweckbau und einem Schuß Jugendstil, erkennbar am Mittelrisalit der Feuerwehrfahrzeug-Einstellhalle sowie an den in Quadrate geteilten Fenstern und Portalen.

Nicht zu vergessen der Turm, an dem Einflüsse des Expressionismus der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts vermutet werden dürfen, allerdings erinnern die hohen, quer versproßten Fenster an vertikale Stiegenhausverglasungen neusachlicher Bauten der dreißiger Jahre. Bleibt noch das Stichbogenfenster im ersten Stock des Mittelrisalits des Gendarmerietrakts: Hier werden die Enddreißiger und frühen vierziger Jahre zitiert. Die Dachgaupen verweisen auf die späten achtziger Jahre.

Ist es nun ein Lehrstück, eine gebaute Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts? Wohl kaum, denn was da zusammengeklaubt und zu einem Fassadenbild gestückelt wurde, sind dritte und vierte Ableitungen architekturgeschichtlich bekannter Werke. Wenn die Gestaltung quasi naiv erfolgt wäre, also unbewußt von Bauten abgeschaut wurde, die von anderen Bauten abgeschaut waren, die wiederum . . . - ja, wenn. Doch ist der Planer studierter Architekt. Die billige Ausrede akademischer Unschuld gilt nicht. Befragen wir daher drei Experten, die solchen Bauten nicht von vornherein ablehnend gegenüberstehen.

Als erster hätte der Prince of Wales das Wort. Er ist zwar kein Fachmann, aber ein Liebhaber historisierender Gestaltung. Er wäre mild, würde vielleicht am Turm als zu neuzeitlich herumkritteln, hätte sich noch einen Dachreiter gewünscht und auf fehlende Pferdestallungen hingewiesen.

Als zweiter soll der Luxemburger Léon Krier zum Zug kommen. Er hat in den achtziger Jahren mit dem antikisierenden Projekt „Atlantis“ von sich reden gemacht, war auch Architekturberater von Prinz Charles, doch ist er als studierter Architekt ein Fachmann. Das Stilgemisch würde ihm nicht wirklich passen, er hätte es gern klassischer, mit wirklichen Säulen anstelle von Pilastern. Warum sich der Chance begeben, das Gendarmeriegebäude aussehen zu lassen wie Wachhäuser des frühen 19. Jahrhunderts, etwa jenes in Graz; es muß ja nicht gleich die Neue Wache von Karl Friedrich Schinkel sein.

Den Schlauchtrocknungsturm hätte sich Krier höher gewünscht und im Stil eines römischen Wachtturms, der Limes lag ja nicht fern. Die Fahrzeugeinstellhalle dazwischen sähe er dann als Thermenhalle, mit Halbrundfenstern in der Giebelzeile. Nach kurzem Sinnieren würde er dem Bürgermeister vorschlagen, das Projekt der Einfachheit halber als Ganzes zu übernehmen, damit etwas Rechtes daraus werde. Wir warnen jedoch, es käme die Gemeinde teuer zu stehen.

Léon Krier wird gedankt und der dritte Experte um seine Meinung gebeten. Er spricht aus dem Jenseits, denn Karl König, Jahrgänger und Gegenspieler Otto Wagners, verstarb 1915. Der Wiener Exponent des Neobarock wäre streng. Er liebte das Monumentale und eine plastische Fassadendurchbildung. Au- ßerdem mochte er keine platte „Heimatkunst“, und er war ein fordernder Lehrer.

Als erstes hätte er die Massengliederung kritisiert, die schleifende Verbindung zwischen Gendarmerie- und Feuerwehrgebäude, dann die beiden sich konkurrenzierenden Mittelrisalite. Den bei der Feuerwehr hätte er durchgestrichen, dafür die Zeichenhaftigkeit des Turmes mehr betont. In der Architektursprache des Historismus deute ein Mittelrisalit auf einen Eingang hin und liefere Besuchern eine erste rasche Orientierung. Hier handle es sich aber nur um das mittlere von fünf gleichen Toren, was einer Irreführung gleichkomme.

Gar keine Freude hätte er am Fassadenaufbau des Gendarmeriegebäudes: Die bamstigen Knoten in halber Pilasterhöhe zerstörten die monumentale Wirkung. Entweder sollten die Pilaster durchgehen oder durch Säulen oder zumindest Halbsäulen vor dem Obergeschoß ersetzt werden.

Vollends ungehalten wäre er über die beiden großen Öffnungen im Erdgeschoß Mitte und rechts. Sie zerstörten die klare Hierarchie. Entweder sei der Mittelrisalit wichtig oder nicht, ein derartiger Symmetriebruch sei ein Greuel! Er schlage dem Bürgermeister einen kleinen Wettbewerb vor, selbstverständlich übernehme er den Vorsitz im Preisgericht, und er wisse auch, wen einladen.

Ja, die Experten für historisierende Architektur lassen kaum gute Fäden am Hinterbrühler Projekt. Dabei handelt es sich doch um eine Projektion von Sehnsüchten. Innen soll es neuesten Ansprüchen genügen, außen eine historisierende Hülle aufweisen - ein Bild, das Träumereien beschwören möchte, daß sich seit 1912 nichts verändert habe: kein Attentat auf den Thronfolger, kein Erster Weltkrieg, nicht die Nationalsozialisten und schon gar nicht ein Zweiter Weltkrieg; Autos vielleicht, aber nur der Pferdeäpfel wegen. Das Dilemma ist aufgespannt.

Leicht deutbare Bilder wünschen sich die Menschen; sie wollen sich etwas zu den Bauwerken denken können, das Neue in Beziehung zum Bestehenden sehen und im Neuen auch Vertrautes finden. Das Bemühen um Historizität ist daher alt. Paul Schultze-Naumburg hat das nach 1900 mit seinen Saalecker Werkstätten von Thüringen aus sehr sorgfältig und mit garantierten Preisen gemacht.

Einer, der heute diese Aspekte eingehendst analysiert und theoretisiert hat, ist der tschechisch-schweizerische Architekt Miroslav Sik. Sein Konzept einer „analogen Architektur“ bindet erinnerte Bilder in seine Gestaltungen ein und vermag damit Vertrautheit zu wecken, ohne in platt-historisierendes Nachstammeln abzugleiten.

Es gäbe sie also, die achtbaren konservativen Architekturleistungen. Sie erfordern aber ebensoviel Engagement und Können wie jene für moderne Architektur - und sind letztendlich so zeitgenössisch wie diese.

Spectrum, Sa., 2001.01.20

23. Dezember 2000Walter Zschokke
Spectrum

Und auch noch schwarz

Unverrückbar schwer, behauptet der Quader seinen Platz inmitten der umgebenden Baumassen - und birgt einen von Lichtpunkten erhellten Innenraum, der diese Schwere kontemplativ aufhebt: Heinz Tesars Kirche in der Wiener Donau-City.

Unverrückbar schwer, behauptet der Quader seinen Platz inmitten der umgebenden Baumassen - und birgt einen von Lichtpunkten erhellten Innenraum, der diese Schwere kontemplativ aufhebt: Heinz Tesars Kirche in der Wiener Donau-City.

Schlußrunde der Jury zur Beurteilung der Projekte für die Kirche Donau-City: Drei starke Arbeiten sind noch in der Diskussion. Die erste, eine imponierende Raumbildung von Klaus Kada, hat zu sehr den Charakter einer Gedächtniskirche, was für die neue Quartierbevölkerung nicht das Richtige sein dürfte.

Die zweite, von Marta Schreieck und Dieter Henke auf anspruchsvoller dreieckiger Grundform sorgfältigst bis in die räumlichen Details durchgearbeitet, ist modern im Ausdruck und verspricht attraktive innenräumliche Konfigurationen. Zur diagonalen Fußgängerachse der Donau-City verhält sie sich jedoch fast zu zurückhaltend: Der Haupteingang liegt rückwärtig am Weg zum Konferenzzentrum, was nicht dem Wunsch des Auslobers entspricht, der an dieser Stelle ein offen wirkendes Gotteshaus hinstellen möchte.

Die dritte Arbeit, von Heinz Tesar kraftvoll und sensibel zugleich hingeworfen, vermag in dem von Giganten beherrschten Umfeld als autonome Setzung zu bestehen, indem keine der vorhandenen Achsen aufgenommen wird. Und ein vielversprechender, von vielen Lichtpunkten aufgeladener Innenraum läßt eine dichte, kontemplative Stimmung erwarten, weshalb die Jury Kardinal Schönborn vorschlägt, dieses Projekt ausführen zu lassen. Nun ist es gebaut, Ende November wurde die Kirche geweiht.

Städtebaulich besetzt der Sakralbau die Schlüsselstelle am Eingang zur Donau-City. Nicht als Vorwerk - eine Aufgabe, die vom Bankgebäude davor übernommen wird -, sondern einen Schritt zurück, angelehnt an die kleine Geländestufe, die zum Niveau der Platte vermittelt. Dunkel, fast schwarz, unverrückbar schwer, aus dem Boden wachsend, steht sie da, die Kirche.

Das gedrückte Volumen auf quadratischer Grundfläche könnte bedrohlich wirken. Es tut dies aber deshalb nicht, weil seine vier oberen Ecken gebrochen sind. An jeder Kante ist ein Stück herausgeschnitten: ein Würfel von einem Viertel Höhe an der einen, ein Prisma von halber Höhe an der nächsten, von dreiviertel Höhe an der dritten, in ganzer Gebäudehöhe an der vierten Ecke, wo der Eingang liegt, durch den man über einen Windfang, direkt vom Gehsteig, in den Kirchenraum tritt.
Die „Beschädigungen“ der reinen Form sind wichtig, weil sie erlauben, mit dunkel brünierten Chromstahlplatten als äußerster Schale, dem Volumen Schwere zu verleihen. Auch die Perforation mit zweierlei runden Löchern wirkt relativierend, ebenso der diagonale Raster glänzender Punkte. So wie der Verlegeplan der Platten, der mit dem Punkteraster auf den ersten Blick wenig zu tun hat und von Kolonne zu Kolonne einen vertikalen Versatz aufweist, mit kartesianischem Denken wenig gemein hat.

Die primären architektonischen Maßnahmen: harter Quader, autonome Setzung und dann auch noch schwarz, werden somit in ihrer potentiellen Arroganz gezielt geschwächt, sodaß sie annehmbar werden, ohne ihre Wirkung gänzlich einzubüßen.

Innen ist das Gehäuse mit Holz ausgekleidet. Birkensperrholz an Wänden und Decke, Stäbchenparkett auf dem Boden. Das ist heikel, denn Sperrholz gilt als billiges, profanes Material, das im sakralen Kontext die Atmosphäre beeinflussen könnte. Doch die Grundstimmung bleibt warm, und der nahezu monochrome Charakter leitet den Blick auf die Öffnungen. Zuerst zu jenen in den Ecken, die verschieden groß sind und starken Lichteinfall zulassen.

Die Ausblicke auf Fassadenausschnitte der nahen Hochhäuser bringen den Ort wieder in Erinnerung. Doch die Scharen von Lichtpunkten in den Wänden verändern den Raumcharakter: Die Perforation der Hülle macht diese erfahrbarer, als wenn sie hermetisch geschlossen wäre. Sie schafft Geborgenheit im Wissen, daß es ein Draußen gibt. Bei längerem Hinsehen bemerkt man, daß die größeren Lichtpunkte verschieden schräge Leibungen aufweisen, sodaß sie sich wie Augen, über die das Außen in den Sakralraum drängt, auf den Betrachter zu richten scheinen.

Der quadratische Grundriß ordnet das Bauwerk den Zentralraumtypen zu. Eine anspruchsvolle Aufgabe, an der nicht wenige schon gescheitert sind. Doch Heinz Tesar läßt sich nicht beeindrucken. Mit der Nebenraumzeile drückt er die Bodenfläche zum Rechteck. Schräge Wände und ein gerundeter Übergang am oberen Abschluß lassen sie als ephemeren Einbau erscheinen. Über Kopf bleibt das von den angeschnittenen Ecken zum gedrungenen Kreuz verwandelte Quadrat der Decke gewahrt.

Den nicht mehr eindeutig bestimmbaren Raummittelpunkt läßt Tesar offen, konzentriert zwar die Kreissegmente der Sitzreihen auf das ungefähre Feld, wo sich jener befinden könnte, den Altar rückt er jedoch zurück und verleiht dem Raum damit sanft eine Richtung, die er mit der unperforierten Kreisscheibe, die das große Kreuz in der vorderen Wand rahmt, abfängt.

Die schwach definierten Raumzonen in den Ecken - unter den einspringenden Lichtprismen - werden zu Orten aufgewertet: Zur Linken, unter niedriger Decke, für die Taufe; zur Rechten, von einem Lichtwürfel gekrönt, der Tabernakel. Die beiden Ecken im Rücken werden durch die hohen verglasten Öffnungen zu Lichtzonen, am hellsten der Eingang im Süden, im Norden liegt dann der Ort der Marienanbetung.

Anfangs arbeitet Heinz Tesar „konkret“: etwa bei der Eckausbildung, die einer geometrischen Regel folgt, bei der Festlegung auf eine einzige Holzart im Inneren oder bei den Rastern der Lichtaugen und den glänzenden Punkten außen. Aber danach erzeugt er Unschärfen: durch Überlagerung, Störung, Unterbrechung, Auslassung und bewußte Ungenauigkeit, gesteigert bis zum frei eingesetzten Schnitt in der Decke, der diese dominiert.

Damit schafft er eine nicht mehr rational faßbare Stimmung von Überlagerungen und Interferenzen, die das Profane des Materials, die Schwere der äußeren Erscheinung und das Herrische des Zentralbautyps überspielen, ja gleichsam aufheben.
Heinz Tesar gehört zu jenen Architekten, die ihren Weg gehen und gegen Modeströmungen immun sind. Seinen architektonischen Ideen zu folgen, den konkreten und irrationalen Linien nachzuspüren bietet nachhaltiges Genießen.

Spectrum, Sa., 2000.12.23



verknüpfte Bauwerke
Kirche Donau-City

25. November 2000Walter Zschokke
Spectrum

Sieben zu eins für die Länder

Die Auszeichnung von Bauherrschaften durch die Zentralvereinigung der Architekten hat eine mehr als 30jährige Tradition. Sie erinnert daran, daß Qualität eben auch von dieser Seite her angestrebt werden muß, damit Architektur zumTragen kommt.

Die Auszeichnung von Bauherrschaften durch die Zentralvereinigung der Architekten hat eine mehr als 30jährige Tradition. Sie erinnert daran, daß Qualität eben auch von dieser Seite her angestrebt werden muß, damit Architektur zumTragen kommt.

Wenn der Gastkommentator Alf Gerd Fantur beklagt, daß Wien wieder häßlicher werde (in der „Presse“ vom 16. November, Seite 2), reiht er sich ein in den depressiven Chor jener, die nur immer das Schlechte sehen und von diesem solcherart überwältigt werden, daß sie jede Hoffnung auf Besserung fahren lassen. Natürlich überwiegt in der Masse des Gebauten seit undenklichen Zeiten das Belanglose, eklektisch Zusammengegrapschte, gestalterisch Unbeholfene oder gewinnsüchtig Hingeklotzte. Warum sollen ausgerechnet beim Bauen, wo soviel Kapital auf dem Spiel steht, andere Regeln menschlichen Verhaltens vorherrschen?

Es gibt jedoch eine kleine radikale Minderheit, die, weil sie qualifiziert ist, sich nicht einfach majorisieren läßt, die Architektur will und dies auch im Verein mit Fachleuten anstrebt. Das sind Bauherren und ihre Architekten und/oder Architektinnen, die sich Kultiviertheit leisten und dies in Architektur ausdrücken.

Wer die 92 Einreichungen für den diesjährigen „Bauherrenpreis“ durchgeht, wird vielleicht überrascht sein von der Breite und Qualität des Angebots. Das österreichische Bauschaffen erweist sich an den im vergangenen Jahr fertiggestellten Bauwerken als engagiert und auf hohem Niveau angesiedelt.

Die Endauswahl gab den Juroren, Marta Schreieck, Bart Lootsma und Dietmar Steiner, einiges zu beißen. Was vor zehn Jahren noch locker in die Preisränge hätte aufschließen können, hebt nun im Verein mit anderen den Durchschnitt der eingereichten, aber nicht ausgezeichneten Bauwerke.

Es ist nämlich nicht wahr, daß es mit der Architektur bergab geht. Das Gegenteil ist der Fall: Es gibt mehr qualifizierte Architekten pro Kopf der Bevölkerung als je zuvor. Und wenn eine wachsende Zahl Bauherrschaften, wie dies zur Zeit feststellbar ist, sich für das Zustandekommen von Architektur einsetzt, wird die Zahl qualifizierter Bauwerke pro Jahr weiter wachsen.

Wie bei jeder kulturellen Entwicklung in die Breite kann nicht jedes Werk ein avantgardistisches Manifest sein, das widerspräche der Natur dieser Charakterisierung. Aber es kann an dem Ort, wo es steht, gut dastehen und einstehen, wofür es dasteht. Damit ist so ein Bauwerk natürlich auch immer eine Kritik an jenen Bauten, deren Gestalter sich in ihrem Tun verhaspelt haben. Das ist in anderen künstlerischen und Hochleistungsdisziplinen nicht viel anders. Das müssen beide Seiten aushalten.

Ein Blick auf die acht mit einem Preis ausgezeichneten Bauherrschaften zeigt drei Gruppen: private Persönlichkeiten (drei Bauten), öffentliche Hände (drei Bauten) und Körperschaften öffentlichen Rechts (zwei Bauten). Das Wahrnehmen von architekturkultureller Verantwortung ist auf der zivilgesellschaftlichen Seite nicht schwach vertreten, was zu hoffen Anlaß gibt. Dasselbe gilt für jene der Gemeinwesen, obwohl sie dort noch verbreiteter zu Hause sein müßte, weil die kulturelle Verantwortung eine institutionelle ist. Jede Auswahl ist zudem Ausdruck der spezifischen Jury-Atmosphäre und -Diskussion, wofür die Mitglieder des Gremiums die Verantwortung übernehmen. Und das Ausscheiden fiel in diesem Jahr gewiß nicht leicht.

Nicht die Größe des Bauwerks ist für seine Qualität maßgebend. Das beweisen das Feuerwehr- und Kulturhaus in Hittisau im Bregenzer Wald, die Schlosserhalle in Trumau im südlichen Niederösterreich und der Kinder- und Jugendhort in Taxam bei Salzburg. Bürgermeister Konrad Schwarz hatte es nicht immer leicht, seinen Bregenzerwäldern den klaren Entwurf der noch nicht 40jährigen Architekten Andreas Cukrowicz und Anton Nachbaur-Sturm nahezubringen, denen der erfahrene Baukünstler Siegfried Wäger zur Seite stand. Die Verknüpfung von Zweckbau als Rüst- und kultureller Nutzung als Veranstaltungshaus einte jedoch die Bürger. Heute bestreiten sie ein engagiertes Kulturprogramm in der räumlich ansprechenden Struktur, die im Hauptgeschoß mit viel Holz und differenzierter Licht- und Blickführung Stimmung schafft. Im Sockelgeschoß gelang es, für das Feuerwehrmagazin eine zwar technische, aber dennoch angenehme Atmosphäre zu erzielen.

Hinreißend ist die von Ursula und Ernst Holzmann gewagte Kombination von Schlosserei und Bar am Dorfrand von Trumau, deren rostende Fassadenbleche mit den bündig sitzenden Glasflächen kontrastieren. „Pool Architektur“ - das sind Christoph Lammerhuber, Axel Linemayr, Florian Wallnöfer und Evelyn Wurster (alle unter 40) - haben an die Werkhalle eine schräge Bar komponiert, die nach außen wirkt und deren vielversprechendes Inneres - natürlich mit viel Stahl - tagsüber als Sozialraum dient und abends zu einem gut frequentierten regionalen Treffpunkt zu werden verspricht. Der Blick durch hohe Glasscheiben in die Werkstatt ist im Bierpreis inbegriffen.

Salzburgs Baudirektor Walter Hebsacker scheute sich nicht, das anspruchsvolle Projekt eines hölzernen Aufbaus für den einer Schule angefügten Hort auf eine bestehende Schwimm- und Turnhalle von den ebenfalls noch nicht 40jährigen Architekten Maria Flöckner und Hermann Schnöll ausführen zu lassen. Einfühlsam gestaltete Räume und Raumzonen sowie ein Nullenergiekonzept für den Neubauteil bilden den Ertrag dieses Verfahrens, von dem vor allem die Kinder und Jugendlichen profitieren werden.

Daß die einzigartige Initiative von Agnes und Karl-Heinz Essl für den privat finanzierten Museumsbau in Klosterneuburg einen Bauherren-Preis verdienen würde, war wohl am leichtesten zu erraten. Die für Wien typischen anfänglichen Unkenrufe sind längst verstummt, die Architektur von Heinz Tesar wurde von berufener Seite gewürdigt, und der lebendig gestaltete Betrieb sichert dem gewichtigen kulturellen Ort vor den Toren Wiens eine florierende Zukunft.

Die Generali-Gruppe kann bereits auf eine Reihe engagierter Bauwerke verweisen, darunter die damals überraschende Skulpturenhalle im Inneren eines Baublocks in Karlsplatznähe. An dem ungleichen Turmpaar über dem Donaukanal konnte Hans Hollein wesentlich ungestörter arbeiten als an dem populistisch angefeindeten Haus am Stock-im-Eisen-Platz. Auch wird sein Bestreben nachvollziehbar, antagonistische Volumen und plastische Bewegungen vom Groß- ins Kleinmaßstäbliche gleichsam auspendeln zu lassen und auf diese Weise Gegensätze sichtbar zu machen und doch zu versuchen, sie zugleich aufzulösen.

Rationalität in der strukturierten Durcharbeitung, gepaart mit ökonomischer Konsequenz, zeichnet die Wohnanlage für die Neue Heimat Tirol am Lohbach in Innsbruck aus. Über mehrere verschiedenerorts gebaute Etappen haben Carlo Baumschlager und Dietmar Eberle mit ihrem bekannt effizienten Büro einen Typus präzisiert und weiterentwickelt, dessen Reife sich darin zeigt, daß er nicht schematisch reproduziert, sondern jedes Mal durch neuerliche Überlegungen verbessert wurde.

Eine besondere Rolle spielt der Umgang mit alter Bausubstanz, weil sich darin sowohl Sensibilität der Analyse als auch gestalterische Kraft erkennen lassen. Dem Grazer Kaufmann Albin Sorger wird es 1993, bei Planungsbeginn, noch nicht bewußt gewesen sein, worauf er sich mit dem denkmalgeschützten Bestand der ehemaligen Stadtmühle eingelassen hatte. Dem heute 41jährigen Burgenländer Hans Gangoly gelang es, mit seinem komplexen Entwurf und seiner Fähigkeit zum Gespräch sowohl das Denkmalamt zu begeistern als auch den Bauherrn von der Notwendigkeit zu überzeugen, der beeindruckenden, alten Tragstruktur aus Holz eine räumlich spannende, neue Funktionsstruktur mit verschieden großen Wohnungen zu überlagern. Das Resultat ist feinsinnig, vermeidet allerdings harte Gegensätze von aufgesetzter Radikalität. Nichtsdestotrotz ist es eindeutig ein Stück Architektur, das am Ende des Jahrhunderts ins nächste weist.

Mit der Bewahrung der in den fünfziger Jahren von den Architekten Ramersdorfer & Meusburger unbekümmert und locker hingebauten Alten Textilschule hat der Stadtplaner von Dornbirn, Markus Aberer, wichtige Pionierarbeit geleistet, ist doch das Verständnis für Bauwerke aus dieser Zeit noch keineswegs selbstverständlich, denn gerade in jüngster Zeit mehren sich die Verluste in unverzeihlicher Weise. Unterstützt von Bürgermeister Wolfgang Rümmele, Stadt Dornbirn, und vom Land Vorarlberg, gelang es, dieses Bauwerk nicht bloß zu erhalten, sondern in der Fachhochschule Vorarlberg auch eine passende und vitale, die Anlage aufwertende Nutzung zu finden.

Die bereits mehrfach bewährten Vorarlberger Fachleute Helmut Dietrich, Hermann Kaufmann, Christian Lenz und Wolfgang Ritsch erneuerten teils sanft und flexibel abgestuft, bewältigten aber auch schwierige bautechnische und bauphysikalische Probleme unter Wahrung des spezifischen architektonischen Ausdrucks der Bauzeit. Mit Präzision und Sparsamkeit bewiesen sie den architektonischen Wert des Bauwerks, indem sie ihm neuen Glanz verliehen, ohne den Widerschein der dynamischen, heute bereits verklärten fünfziger Jahre zu überstrahlen.

Die acht prämierten Beispiele bilden die Spitze eines Bergs von Beispielen, die seit vorigem Jahr in Österreich neu dazugekommen sind. Sie beweisen, daß es um die Architektur in Österreich so schlecht nicht stehen kann. Die geographische Verteilung über die Bundesländer sollte aber nicht zuletzt der alten Metropole Wien zu denken geben.

Spectrum, Sa., 2000.11.25



verknüpfte Auszeichnungen
ZV-Bauherrenpreis 2000

28. Oktober 2000Walter Zschokke
Spectrum

Beziehungen, gutnachbarlich

Der Spielraum bei der Errichtung eines Bürohauses in der Brünner Innenstadt war denkbar knapp. Doch Sapák, Skrabal und Grym verschafften sich Luft genug für eine städtebaulich angemessene und handwerklich souveräne Lösung in der Tradition der tschechischen Moderne.

Der Spielraum bei der Errichtung eines Bürohauses in der Brünner Innenstadt war denkbar knapp. Doch Sapák, Skrabal und Grym verschafften sich Luft genug für eine städtebaulich angemessene und handwerklich souveräne Lösung in der Tradition der tschechischen Moderne.

...folgt.

Spectrum, Sa., 2000.10.28



verknüpfte Bauwerke
Verwaltungsgebäude

30. September 2000Walter Zschokke
Spectrum

Streulicht ins Schulhausherz

Oftmals überanstrengt zeitgenössisch, nicht selten volkstümelnd: Schulhausbau auf dem Land. Anders in Dobl bei Graz: Dort haben Klaus Leitner, Peter Pretterhofer und Sonja Simbeni eine Volksschule mit Mehrzwecksaal intelligent in die Landschaft hinzugefügt.

Oftmals überanstrengt zeitgenössisch, nicht selten volkstümelnd: Schulhausbau auf dem Land. Anders in Dobl bei Graz: Dort haben Klaus Leitner, Peter Pretterhofer und Sonja Simbeni eine Volksschule mit Mehrzwecksaal intelligent in die Landschaft hinzugefügt.

Wenige Autominuten süd- westlich von Graz liegt das Dorf Dobl am Fuß eines niedrigen Hügelzugs, dessen flache Kuppe ein kleines Schloß, die Kirche, das alte Schulhaus sowie einige Nebengebäude und mehrere Wohnhäuser trägt. Ostseitig, an der Geländeschulter, schließen zwei neu errichtete Baukörper für Volksschule und Mehrzwecksaal den Kirchenbezirk räumlich ab.

Keine 200 Meter weiter nördlich ragt ein konstruktiv interessanter Sendemast in den Himmel, dem umfangreiche Baulichkeiten zugeordnet sind, die erkennbar aus den frühen vierziger Jahren stammen. Es handelt sich um die ehemalige Station „Alpen“ des Senders „Donau und Alpen“ mit einer Reichweite von Norwegen bis Nordafrika. Später sendete von hier der ORF; heute dienen die Räume einem Privatradio. Im Ausgedinge trägt der Mast eine Batterie Mobilfunkantennen.

Die Anlage steht unter Denkmalschutz. Friedrich Achleitner, der die monumentale Baukörperfolge entlang der Hangkante vor Jahren registrierte, attestiert ihr insofern Bedeutung, als es sich „um ein selten gut erhaltenes Beispiel eines technischen Baus handelt, der unter rigorosen ideologischen Bedingungen entstand“.

Nun, dieselbe Hangkante trägt auch die uns interessierenden Schulgebäude. Der Entwurf lehnt sich gestalterisch nicht an die nördliche Nachbarschaft an. Siedlungsbaulicher Bezug ist die Gebäudegruppe um die Kirche. Die Architekten verdrängen nicht, sondern analysieren nüchtern den prinzipiellen Charakter der ordensburghaft dräuenden Anlage. Und stoßen dabei auf die Art, wie Architekt Walther Schmidt, Berlin, sich auf die Topographie bezog. Das übrige an gestalterischem Ausdruck sei Fachleuten Mahnung, sogar Warnung, eine Identifikation mit demonstrativ totalitärer Machtpolitik vorher zu bedenken, nicht nachher zu vermelden, man hätte nicht anders gekonnt. Achleitner „erscheint die Anlage als eine Art Psychogramm einer Ideologie und als Akt der symbolischen Verklammerung gespaltener, ja konträrer Interessen“.

Jedenfalls vermieden die Entwerfenden - Klaus Leitner, Peter Pretterhofer und Sonja Simbeni - eine Überreaktion. Sie plazierten ihre breitgelagerten Baukörper solcherart an die Hangkante, daß die beiden Teile in der Ansicht von Osten, von wo auch die neue Zufahrt erfolgt, den spitzbehelmten Kirchturm flankieren. Im südlichen Trakt (im Bild rechts) befindet sich die Volksschule, im nördlichen Trakt der Mehrzwecksaal. Von der hofartigen Plattform dazwischen bietet sich ein Ausblick über den sanften Abhang, Straße und Wald. Talseitig wird erkennbar, daß die beiden von oben getrennt scheinenden Teile im unteren Geschoß verbunden sind. Längs über beide Baukörper ziehen sich hohe Dachaufsätze, die über der Mehrzweckhalle den Lüftungsaggregaten, über der Schule jedoch einer durchdachten Innenbelichtung dienen.

Ein erdig dunkles Rot verleiht dem Äußeren der Anlage elementare Kraft, deutet aber zugleich nach Skandinavien: zu Gunnar Asplund und anderen. Nein, hier stand nicht die „Grazer Schule“ Pate, sondern eine in der Steiermark vorhandene schmale Architekturströmung, die auf das Wirken von Franz Riepl zurückzuführen ist. Klaus Leitner und Peter Pretterhofer, ehemalige Assistenten des Grazer Professors, sowie Sonja Simbeni haben als Team den 1998 ausgeschriebenen Wettbewerb gewonnen. Anton Weber, der durchsetzungskräftige junge Bürgermeister von Dobl gab als Bauherr Tempo vor, und zum heurigen Schulbeginn wurde eröffnet.

Was heute von außen betrachtet zurückhaltend selbstbewußt dasteht, birgt im Inneren eine räumlich interessante und von der Lichtführung her wirkungsstarke Konstellation versetzter Ebenen und räumlicher Durchdringungen. Der an seiner Längsseite nach Osten geöffnete Dachaufsatz läßt das Licht auf die gegenüberliegende gebäudelange Wandscheibe fallen. Von hier wird es diffus hinunter in die Ganghalle reflektiert, die längs mittig das Bauwerk durchzieht. Ohne Blendung gelangt damit eine große Lichtfülle in den die gesamte Anlage erschließenden Raum.

Die obere Zugangsebene greift ins Bauwerk hinein, wo ein geräumiges Foyer bei Regenwetter als Pausenbereich dient. Von hier führen zwei Stiegenanlagen zu den beiden halbgeschoßig versetzten Ebenen der ostorientierten Klassenzimmer. Einmal quer zur Längsachse, die vom vertikalen Lichtraum verkörpert wird, und einmal parallel dazu, was erlaubt, beim Wechsel der Niveaus den hohen Längsraum auf zwei Arten zu erfahren.

Derzeit modische Glasbrüstungen sucht man hier vergebens, weil die Entwerfenden massive Brüstungen zur räumlichen Definition sowie als lichtstreuende Flächen einsetzen. Daß sich unter der Spachtelung und einem dematerialisierend weißen Anstrich meist scheibenförmige, strukturell tragende Glieder aus Stahlbeton verbergen, wird nur fachkundigen Beobachtern auffallen. Sie ermöglichen jedoch langgezogene, stützenfreie Öffnungen, die vor allem räumlich wirken, ohne ihre statisch-konstruktive Funktion in den Vordergrund zu stellen.

Die Lichtfülle läßt einen attraktiven Binnenraum entstehen: nicht Lichthof, nicht Korridor, eher ein räumliches Herz des Schulgebäudes, von dem alle angrenzenden Zimmer und Räume profitieren. Vom Foyer blickt man diagonal durch gangseitige Oberlichter über die Köpfe der somit ungestört lernenden Schüler hinweg, aus den ostseitigen Fenstern auf die Wiese. Auch in dieser Außenmauer wird das Prinzip einer - in diesem Fall gelochten - Scheibe angewendet.

Um dies anzudeuten, sind die Fenster versetzt angeordnet. Im Grundriß ist die aus dem Versatz resultierende halbe Klasse als Gruppenraum vermerkt. Scheinbar formale Aspekte erweisen sich damit als mit dem Kontext des architektonisch sorgfältig durchkomponierten Gesamtkonzepts vernetzt.

Der Mehrzwecksaal öffnet sich nach Osten auf einen Vorplatz, den ein halbes Dutzend Linden in wenigen Jahren beschatten werden. Im Inneren verschwinden die Sportgeräte hinter Wandverkleidungen, weil man für die zahlreichen Anlässe der Dorfgemeinschaft den Turnhallencharakter hintan halten wollte. Eine einfache Bar im unteren Foyer, von einer schwenkbaren Wand verdeckt, verspricht heiteres Festefeiern. Damit ist für Schule und Dorfgemeinschaft doppelt vorgesorgt: architektonisch auf überregional herzeigbarem Niveau, ist das Bauwerk zugleich einfühlsam gegenüber Ansprüchen des lokalen Dorflebens.

Spectrum, Sa., 2000.09.30



verknüpfte Bauwerke
Volksschule und Mehrzwecksaal Dobl

19. August 2000Walter Zschokke
Spectrum

So karg wie notwendig

Ein Stahl-Tragsystem, OSB-Spanplatten, Welleternit: Petr Hrusa und Petr Pelcák setzten bei ihrer Tennishalle in Litomisl, Tschechien, billigste Materialien ein. In deren Gestaltung erweisen sie sich allerdings als souveräne Fortsetzer der tschechischen Moderne.

Ein Stahl-Tragsystem, OSB-Spanplatten, Welleternit: Petr Hrusa und Petr Pelcák setzten bei ihrer Tennishalle in Litomisl, Tschechien, billigste Materialien ein. In deren Gestaltung erweisen sie sich allerdings als souveräne Fortsetzer der tschechischen Moderne.

Das tschechische Städtchen Litomisl verfügt über einen beachtlichen historischen Stadtkern mit einem weiträumigen Hauptplatz. Kulturbeflissenen ist der Name vielleicht bekannt als Geburtsort des Komponisten Bedrich Smetana, dessen Denkmal das Zentrum ziert. Oder man kennt Litomisl einfach als eine der zahlreichen liebenswürdigen Kleinstädte, die zu besuchen sich immer lohnt, weil sich dort manches erhalten hat und somit nachvollziehbar bleibt, was in größeren Städten vom Zeitenlauf überfahren oder weggefegt wurde. Im Guten wie im Schlechten atmen sie Geschichtlichkeit des Alltags, von Handwerkern und Kaufleuten, von Bürgerstolz und -sturheit, Aufstieg und Niedergang.

Nun hat Litomisl heute das Glück, von initiativen und kulturbewußten Leuten regiert zu werden, die um den Wert des Stadtbildes wissen, für die aber die Geschichte nicht im 19. Jahrhundert stehengeblieben ist. Was heute neu entsteht, soll daher zeitgenössische Züge tragen, was an Hand einer 1999 fertiggestellten Tennishalle eindrücklich bewiesen wird.
Die Sportanlagen befinden sich etwas außerhalb der Stadt im Zuge eines flachen Bachtälchens, das von Birken und verschiedenerlei Pappeln gesäumt wird. Kleingärten verleihen der südexponierten Talflanke ein spezifisches Flair, an der gegenüberliegenden Seite zieht sich ein beliebter Spazierweg an der Geländeschulter hin, und im Talgrund reiht sich ein halbes Dutzend Tennisplätze dem Bachlauf entlang, die vom Weg her gut einsehbar sind.

Ein Mehrzweckgebäude mit einer Übungshalle für Tennis, drei Squash-Courts, ausreichend Garderoben, der Platzwartwohnung und einem kleinen Restaurant sollte dazukommen. Kosten durfte es nicht viel, da die Einbauelemente der Squash-Anlage komplett aus den USA importiert werden mußten, was in einem ostmitteleuropäischen Reformland eine extrem hohe ökonomische Barriere bedeutet.

Die beiden Brünner Architekten Petr Hrusa und Petr Pelcák gewannen das Auswahlverfahren mit dem Entwurf für einen einzigen Baukörper, den sie in Talrichtung auf die Geländekante setzten, die Niveaudifferenz mit zwei Zugängen nützend. Gut drei Fünftel des Baukörpers beansprucht die Tennishalle, den Rest teilen sich im Untergeschoß Garderoben und Clubräume, im Hauptgeschoß Squash-Courts und Restaurant sowie - im Obergeschoß über dem Restaurant - die Wohnung für den Platzwart mit Familie.

Ein flaches Satteldach aus Welleternit deckt den langen Baukörper, dessen Nordfassade über das Tal hinweg die Aufteilung vermittelt: ein langes, tiefliegendes Bandfenster vor der Tennishalle und, etwas kürzer, eines vor dem Restaurant, mit großen Schiebeelementen, sommers zu öffnen, sodaß der Schankraum zur Loggia wird und Aussicht auf die Tennisfelder bietet.

Kostengünstig bauen heißt, beim in großen Flächen erforderlichen Material das billigste in einfachster Verarbeitung zu wählen. Die Außenhaut besteht aus zementgebundenen Spanplatten ohne Anstrich. Innen wurden OSB- Spanplatten verwendet, deren große Späne ein typisches Muster erzeugen. Für das Tragsystem wurde eine Standard-Stahlkonstruktion aus dem Industriehallenbau gewählt. Damit war die Stimmung bereits weitgehend vorgegeben. Das eher ärmlich wirkende Material drohte jeden gestalterischen Anspruch zu unterlaufen.

Die Strategie der Architekten zielte auf Sorgfalt: Sorgfalt in den Proportionen, Sorgfalt in den Details und Sorgfalt bei der Gestaltung der Öffnungen. Mit großen, längsrechteckigen Tafeln wird die Fassade strukturiert. In die horizontalen Fugen eingesetzte Eichenholzleisten betonen die lagerhafte Ruhe der Fassade, die Tafelgröße liegt zwischen kleinteilig und großflächig, das heißt zwischen texturiell und atektonisch. Mit der Zwischengröße gelingt es, im Verhältnis vom Teil „Platte“ zum Ganzen „Hallenbau“ eine Proportion zu finden, die Monumentalität anklingen läßt. Dies reicht aus der Distanz prinzipiell aus, das Bauwerk als „Architektur“ anzukündigen.

Die Öffnungen sind der Plattenordnung unterworfen. Damit erhält letztere, trotz des extrem preiswerten Materials, mehr formales Gewicht. Die differenzierte Behandlung der Öffnungen - fassadenbündig in Metallkonstruktion für die großen Fenster, tiefliegend in Holzkonstruktion für die kleinen sowie leicht vorstehend in Metallbau für den Haupteingang - ergibt ein weiteres qualitatives Gegengewicht zum Material.

S orgfältig durchdachte Details bis hin zur Wahl der Schrift beim Eingang verleihen dem Bauwerk auch aus der Nähe betrachtet jene Qualität, die im Gesamtkontext zu angemessenem kulturellem Gewicht verhilft. Denn man soll nicht vergessen, es ist eine Sporthalle, keine Kirche, aber auch keine Industriehalle.

Im Inneren setzt sich das Prinzip Aufwertung mit einfachsten Mitteln fort. Sei dies die gelungene Kunst am Bau durch einen Maler, der im Gang die Wände mit einem fröhlich-frischen Muster versah. Oder seien dies die Möbel im Restaurant, wo speziell entworfene, gewichtige Tische mit klug ausgewähltem Standardmobiliar jene Mischung bilden, die sich klar von einem Kantinenklima unterscheidet. Die große Halle ist bestimmt von der Wirkung der OSB-Platten, deren gelbbrauner Holzton die Alterung vorwegzunehmen scheint. Das Gefüge der sichtbaren, rot gestrichenen Stahlkonstruktion und die akustisch wirksamen, einfachen Lat- tenroste an den Stirnseiten relativieren die Gefahr nostalgischer Fünfziger-Jahre-Verklärung.

Mit ihrer Tennishalle in Litomisl gelang Petr Hrusa und Petr Pelcák ein Bauwerk, das sich von jenen Investorenkubaturen unterscheidet, die in vielen Fällen das Bild neuer Bauten in den tschechischen Städten prägt. Sie demonstrieren die Souveränität bewußten Architektenhandwerks über die materiellen Bedingungen und setzen die Tradition der entwickelten Moderne fort, die sich in der Tschechoslowakei bis 1938 auszubreiten vermochte. Nach der jahrzehntelangen, für die Architektur lähmenden Phase kollektivistischen Ungeists finden sich mittlerweile nicht nur vereinzelte Bauwerke von ansprechender Qualität, wie ein Blick in die aktuelle Prager Architekturzeitschrift „Architekt“ bestätigt.
Auch wenn es vorerst eher kleinere Umbauten und Einfamilienhäuser sein mögen - so hat es andernorts mit der Wiedererweckung der Architekturkultur auch angefangen.

Spectrum, Sa., 2000.08.19



verknüpfte Bauwerke
Tennishalle

08. Juli 2000Walter Zschokke
Spectrum

Himmel über Atzgersdorf

Zwischen Reihenhaus, verdichtetem Flachbau und Geschoßwohnungsbau: Walter Stelzhammers Atriumhäuser sind eine eigene, zukunftsträchtige Kategorie dichten urbanen Wohnbaus, weil sie für vielfältigste Bedürfnisse Räume und Zonen bereitstellen.

Zwischen Reihenhaus, verdichtetem Flachbau und Geschoßwohnungsbau: Walter Stelzhammers Atriumhäuser sind eine eigene, zukunftsträchtige Kategorie dichten urbanen Wohnbaus, weil sie für vielfältigste Bedürfnisse Räume und Zonen bereitstellen.

Der lange, gedrungene Baukörper füllt fast das gesamte Grundstück. Gerade daß man mit dem Automobil außen herum fahren kann und noch ein schmaler Streifen Grün bleibt. Die Stirnseite zur Ziedlergasse nahe dem Kirchenplatz ist fast blind zu nennen. Zwei niedrige Fenster und ein hinter Betonbrüstungen gut geschützter Balkon verstärken die abschirmend geschlossene Wirkung der weißen Mauer. Auch die langen Seitenfassaden, die das eingezogene Kellergeschoß überragen, sind wenig geöffnet, aber dennoch nicht unfreundlich. Ein kleiner Balkon zum Hinaustreten mag dem Gespräch mit Kindern, Besuchern oder Nachbarn zu ebener Erde dienen.

Erst die Vogelschau bietet Einblick in die Struktur, die das differenzierte Innenleben verständlich werden läßt. Denn die dicht aneinandergefügten Wohn- einheiten sind nach oben, zum Lebensraum der Mauersegler und zu den Wolken geöffnet. Zwei Zeilen quadratischer Atrien sind zwei Geschoße tief in den Baukörper eingeschnitten. Daran fügen sich U-förmig die Wohneinheiten, einen Schenkel zur Fassade, den anderen zur Mittelmauer, die sich längs durch den gesamten Baukörper zieht. Zweimal neun Atrien zu zwei Wohneinheiten ergibt 36 Häuser zu 130 Quadratmeter Wohnfläche in einer Großform. Die Erbauer nennen es „Wohnarche“. Ein kleiner, zweiter Block daneben enthält weitere sechs Einheiten.

Walter Stelzhammer, Plischke-Schüler mit einem Naheverhältnis zum osmanischen Kulturraum, ist ein zäher Forscher und Tüftler, der sich seit Jahren mit Fragen verdichteten Wohnens auseinandersetzt. Sein Entwurf für ein doppelt breites Handtuchgrundstück in Atzgersdorf, unter extrem kostenkritischen Bedingungen entstanden, ist seit der Wohnanlage Schmidgunstgasse in Simmering von Franz E. Kneissl das interessanteste Wohnbauwerk dieser Art. Zwischen Reihenhaus und verdichtetem Flachbau einerseits und dem Geschoßwohnungsbau andererseits beansprucht diese Strukturform eine dritte Kategorie, die als intelligente Alternative eines dichten, urbanen Wohnens längerfristig Zukunft hat.

Als erstes trennt Walter Stelzhammer das Atrium mit einer schalldämmenden Milchglaswand in zwei Teilräume, sodaß die Nachbarn sich akustisch nicht stören, der Charakter des Hofes aber dennoch nicht beengend wird. Sodann stapelt er zwei Wohngeschoße auf das Sockelgeschoß, deren Licht- und Luftbezug vornehmlich durch das Atrium erfolgt. Eine baurechtlich gefinkelte, teilweise öffenbare Glasüberdachung ermöglicht unterschiedliche, auf die Witterung abgestimmte Formen der Nutzung. Am Dach bietet der Architekt ein großzügig verglastes Dachzimmer, eine blick- und windgeschützte sowie eine offenere Terrasse an, die sich die Bewohner unter Zuhilfenahme der Produkte aus Baumärkten umgehend in lauschige Dachgärten verwandelt haben.

In den Schenkeln des Grundriß-U befinden sich Wohnräume, die nicht oder wenig spezifiziert sind. Es lassen sich mehrere Varianten, bis zur Teilung in zwei Kinderzimmer, durchspielen. Das Verbindungsstück enthält die Treppe, Sanitärräume und den zum Atrium verglasten Gang. In den großzügigen Vorraum im Sockelgeschoß kann eine komplette Familie inklusive Hund eintreten, um begrüßt zu werden. Hinter der Stiege schließt der Kellerraum an. Das Auto läßt sich vor dem Hauseingang parkieren, wo man regengeschützt aussteigen kann.

Das Atriumhaus kennen wir aus dem Mittelmeerraum schon seit Jahrtausenden. Seit die Bautechnologie die Feuchteabdichtung beherrscht, ist es auch in unseren Breiten möglich geworden, Hof und angrenzende Räume für den Aufenthalt angenehmer zu machen. Dank der Lage im ersten Obergeschoß und des glasklaren Schiebedachs entsteht ein angenehm intimer Wohnbereich, weder drin noch draußen. Walter Stelzhammer erweist sich als vorausschauender Wohnbauarchitekt, der weder Ideologien vorgibt noch zwanghaft modische Auslenkungen inszeniert, sondern für die vielfältigsten menschlichen Tätigkeiten, Bedürfnisse und Befindlichkeiten Räume, Zonen und Bereiche bereitstellt.

Denn die Menschen sind nicht bloß verschieden, sie verhalten sich sowohl zu Tages-, Nacht- und Jahreszeiten anders als auch in den Lebensaltern. Der Vielfalt an Ansprüchen begegnet Stelzhammer mit einem trotz aller ökonomischen Einschränkungen offenen Prinzip. Dabei ist es nicht unerheblich, daß die Stiege durch das Haus hinaufführt, auf das flache Dach. Auch wenn von dort kein Weg weiter führt, bieten die räumliche Entspannung und die Öffnung zum Himmel wesentlich mehr als etwa der Dachraum eines konventionellen Hauses.

Wohnen heißt in unserem Kulturraum vor allem auch, sich individuell zurückziehen zu können, sich zu sammeln, frei gewählte Intimität und die Abschirmung vom Gewühl der Agglomeration zu genießen. Da bietet der Zugang zu einer privaten Dachterrasse einen kaum zu überschätzenden Wert: individuelles Außenwohnen unterm Himmelsgewölbe oder unterm Sternenzelt. Das sind konzeptionelle Qualitäten, die einen sparsamen Ausbaugrad im übrigen Bereich mehr als kompensieren.

Im Vergleich mit den etwa zehn Jahre älteren Atriumhäusern der Wohnanlage Traviatagasse, wo die Organisation der privaten Außenräume auf halbem Weg stehengeblieben ist, bietet die Wohnanlage in Atzgersdorf mehr und sorgfältiger durchdachte Antworten zur Wohnungsfrage.

Nun wird sich manch einer denken, daß dies in den Außenbezirken noch angehen möge, aber in den dicht verbauten Quartieren innerhalb des Gürtels zu eng empfunden würde. Dem ist nicht so, entgegnet der unermüdliche Planer und legt ein Projekt vor, das er an der Kaiserstraße, im Baublock zwischen Bernardgasse und Neustiftgasse bearbeitet. Das schmallange Grundstück wird im Süden von einer hohen Feuermauer beschattet. An diese lehnt sich nun eine Zeile gestapelter Atriumtypen an, deren Binnenräume zum langgezogenen Hof hin loggienartig offen oder verglast sind.

Der fünfgeschoßige Aufbau enthält im Erdgeschoß Ateliers, denen im Mezzanin Galerieräume zugeordnet sind. Darüber, im ersten Stock, ist eine Einliegerwohnung eingeschoben, die aber auch mit dem Atelier verbunden werden kann. Ihr Hauptzugang erfolgt über einen deutlich abgerückten Steg entlang der gegenüberliegenden Grundstücksgrenze.
Ein weiterer, dem klassischen Wohnen dienender Atriumtyp wird nun darüber gestapelt. Die Besonnung ist angemessen, für Ateliers wäre sie schon fast wieder unangenehm. Das Prinzip folgt dem Wohnungstyp in Atzgersdorf; nur die Glaswand zum großen Hof ist selbstverständlich durchsichtig. Natürlich verfügt das Haus über eine Dachterrasse.

Die kompakte Wohnform paßt in den dicht verbauten siebten Wiener Gemeindebezirk, weil sie vom Nutzungsmix her Ansprüchen entspricht, wie sie hier von Bewohnern gern gestellt werden. Es zeigt sich auch, wie anpassungsfähig der Atriumtyp ist, da seine Addierbarkeit nahezu beliebig ist.

Indem er Licht und Luft über das Atrium hereinholt, sind keine weiteren Fenster erforderlich, können aber dort, wo sinnvoll und möglich, gesetzt werden. Der Straßenlärm wird nebensächlich, und die Einsichtproblematik stellt sich kaum, weil das Gegenüber zur selben Wohneinheit gehört. Unterschiedliche Größen sind kein Problem, weil jeweils ein Schenkel des „U“ weggelassen werden kann, was die Wohnfläche fast halbiert.

Ein hoher Vorfertigungsgrad wurde bereits in Atzgersdorf realisiert, wobei hier die junge Generation in der Leitung der Generalunternehmung ihr Verdienst am Zustandekommen der Innovation hatte. Denn selbst wenn heute die Bauträger bereit sind, innovative Konzepte durchzudenken und anzubieten, muß dieser Schritt auch bautechnisch und in der Ausführung erfolgen, weil sonst die Kosten nicht gesenkt werden können.

Vorfertigung steht bis heute unter dem Verdacht, der Grund für schematische Fassaden und unflexible Grundrisse zu sein. Das trifft jedoch so nicht zu. Vielmehr existieren noch ideologische Rudimente aus den zwanziger und dreißiger Jahren, als parallel zu Industrialisierung und Fordismus totalitäre, gleichschalterische Ideologien um sich griffen. Sie flossen und fließen nicht selten unbewußt in die Entwürfe und Ausführungen ein.

Im Gegensatz zu funktionalisierten, prästabilierten Zimmerteilungen schaffen daher offe-ne, nutzungsneutrale Grundrisse entscheidende Voraussetzungen zur Entwicklung individueller Ausdrucksformen, die dann jene gelebte kulturelle Vielfalt zuläßt, die beispielsweise an den Dachgärten, in der Draufschau von gar nicht so weit oben, ablesbar wird.

Spectrum, Sa., 2000.07.08



verknüpfte Bauwerke
Wohnarche Atzgersdorf

17. Juni 2000Walter Zschokke
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Kulturbürger, Kettenraucher

Ob Weltausstellungspavillon, Espresso-Bar oder Zigarettenpackung: Oswald Haerdtl, 1899 bis 1959, nahm sich auch scheinbar nebensächlicher Dinge der visuellen Kultur an. Adolph Stiller präsentiert in einer Wiener Ausstellung die Breite von Haerdtls Werk.

Ob Weltausstellungspavillon, Espresso-Bar oder Zigarettenpackung: Oswald Haerdtl, 1899 bis 1959, nahm sich auch scheinbar nebensächlicher Dinge der visuellen Kultur an. Adolph Stiller präsentiert in einer Wiener Ausstellung die Breite von Haerdtls Werk.

Dem Wiener Architekten und Designer Oswald Haerdtl, 1899 bis 1959, ist im Vergleich zu Josef Hoffmann, Adolf Loos oder selbst Josef Frank nicht dieselbe internationale Beachtung zuteil geworden. Fast drei Jahrzehnte jünger als sein mittlerweile weltbekannter Lehrmeister Josef Hoffmann, war er in den zwanziger Jahren als Nachfolger von Max Fellerer zum Büroleiter aufgerückt und wurde in den dreißiger Jahren Atelierpartner Hoffmanns, von dem er sich aber 1939 trennte.

Studiert hatte Haerdtl bei Oskar Strnad. Zur Architektur war er über die Graphische Lehranstalt, eine Tischlerlehre und das Studium der Malerei gekommen. Seine Begabung für visuelle Wahrnehmung war somit mehrfach geschult, und von einem feinsinnigen Tastgefühl zeugen die zahlreichen, angenehm zu besitzenden Möbel aus seiner Hand.

Diese Kultiviertheit versuchte er unablässig auf seine Umgebung zu übertragen. Tatmensch und manischer Arbeiter, der er war, hielt er tief in die Nächte hinein zeichnend seine Gedanken fest und bereitete den Mitarbeitern die Arbeit für den nächsten Tag vor. Während seiner beruflichen Entfaltung geriet Oswald Haerdtl in die kulturellen Umbrüche der zwanziger und dreißiger Jahre, hielt aber Distanz zur totalitären Entwicklung und lavierte, wohl auch mit Glück, durch Naziherrschaft und Weltkrieg, um danach mit Energie und größtem Einsatz zur kulturellen Wiederbelebung beizutragen.

Während Josef Hoffmann - auch - edle Zigarettenetuis entworfen hatte, befaßte sich Kettenraucher Haerdtl - auch - mit dem graphischen Design von Zigarettenpackungen. Daran zeigt sich nicht zuletzt die Breite seiner Begabung und sein Anliegen, auch scheinbar nebensächlichen Dingen der visuellen Kultur Interesse zu schenken.

Zählen in den dreißiger Jahren die Pavillons auf den Weltausstellungen in Brüssel 1935 und Paris 1937 zu seinen herausragenden Werken, so sind es in den fünfziger Jahren der Messepavillon für Felten & Guilleaume, eine Schule am Czerninplatz, ein Druckereigebäude in Wien-Margareten und das Historische Museum der Stadt Wien sowie unzählige Ladenlokale, Kaffeehaus-Einrichtungen und Espresso-Bars, die sein Schaffen vergegenwärtigen.

Besonders für letztere wirkte er als Kenner der norditalienischen Cafékultur positiv erneuernd, Plüsch und kalten Mief durch Italianitá und mediterrane Leichtigkeit ersetzend. Als wahrscheinlich einziges verbliebenes Beispiel gilt die Milchbar im Volksgarten.

Haerdtls Architektur zeichnet sich durch proportionale Klarheit und disziplinierte Sachlichkeit aus. Mit exakt gesetzten Maßnahmen erreicht er architektonische Wirkung. So gelingt ihm mit dem Pavillon für Felten & Guilleaume auf dem Wiener Messegelände eine perfekte Inszenierung von Luftigkeit und Transparenz, eine nahezu sakrale Interpretation des Vierstützentypus mit abgesetzter klimatischer Trennebene, die räumlich kaum zu existieren scheint.

Natürlich half ihm dabei die Einfachverglasung, die weniger spiegelt als heute die doppelten Scheiben, aber architektonisch-konstruktiv und von den Proportionen her war er souverän. Die ruhige, ausgewogene Fassade der Schule am Czerninplatz zeigt, wie er mit geringster Instrumentierung sensibel umgehen konnte. Seine „Einfachheit“ war nicht dominant plakativ, sondern nobel.

Daß das Historische Museum in mancher Beziehung etwas verkrampft wirkt, hängt wohl eher mit der Einmischung des Juryvorsitzenden und damals in Wien sehr mächtigen, in politisch-moralischer Hinsicht fragwürdigen Professorenkollegen an der Akademie für angewandte Kunst, Franz Schuster, zusammen als mit einem etwaigen Knick in Haerdtls Gestaltungsvermögen. Daß Haerdtl edel wirkende Formen beherrschte, bewies er mit einer Inneneinrichtung für das kriegsbeschädigte Bundeskanzleramt. Eindrücklich ist auch seine Fähigkeit zu perfekter Integration von Schrift in Architektur, was nur wenige außer ihm beherrschten.

Dem universalen Architekten und Kulturbürger Haerdtl wurde nun die verdiente Würdigung zuteil. Leider für viele seiner Werke zu spät, wie aus dem kommentierten Werkverzeichnis hervorgeht. Der Wiener Architekturwissenschaftler Adolph Stiller hat in jahrelangen Forschungen den Nachlaß Haerdtls aufgearbeitet, der von den Erben sorgsam bewahrt und äußerst verantwortungsbewußt an das „Architektur Zentrum Wien“ übergeben wurde.

Es gab nämlich ein lukratives Angebot aus Übersee . . . In einer von Stiller gestalteten Ausstellung ist ein kleiner, aber eindrücklicher Teil aus Haerdtls Schaffen im Ausstellungszentrum der Wiener Städtischen Versicherung am Ringturm zu sehen.

Zahlreiche sorgfältige Architekturphotographien in Schwarz- weiß; Originalpläne in Bleistift, oft mit Aquarellfarben farblich und atmosphärisch verstärkt, sowie einige Modelle, die vor Jahren für eine von Johannes Spalt angeregte und gestaltete erste Ausstellung gebaut worden waren, geben einen gehaltvollen Überblick.

Der wissenschaftliche Katalog in Buchform von Adolph Stiller enthält zusätzliche Beiträge von kompetenter Seite. Es handelt sich um einen Glücksfall, daß Stiller, der an der HTL Mödling Matura und Tischlermeisterdiplom erwarb und an der Akademie der bildenden Künste und in Paris Architektur studierte, gerade diesen Nachlaß bearbeitet hat, denn versehen mit längerer Auslandserfahrung in universitären Forschungszirkeln in Paris, Genf, Mailand und Zürich, erweist er sich als kompetenter und kongenialer Analytiker und Interpret von Oswald Haerdtls Schaffen.

Mit seiner Arbeit setzt er die Kultur des Erinnerns auf hohem Qualitätsniveau fort, die etwa Friedrich Achleitner und Otto Kapfinger seit Jahrzehnten pflegen. Diese spät und quasi privat, mit Unterstützung der Kunstsektion des Bundeskanzleramts, erfolgte wissenschaftliche Aufbereitung der wichtigen Wiener Architektenfigur Oswald Haerdtl läßt allerdings ein gravierendes Defizit in der heutigen universitären Forschung aufklaffen, das durch nichts entschuldbar ist.

Noch bis 15. September ist die Ausstellung „Oswald Haerdtl - Architekt und Designer 1899 bis 1959“ im Ausstellungszentrum im Ringturm (Wien I, Schottenring 30; Montag bis Freitag 9 bis 18 Uhr) zu sehen.

Spectrum, Sa., 2000.06.17

27. Mai 2000Walter Zschokke
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Wie beginnt denn hier die Großstadt?

Ob sie nun an eine Visitenkarte gemahnen oder eher an eine Sinnestäuschung - Wiens Stadteinfahrten passiert niemand, ohne das eine oder andere städtebauliche Merkzeichen wahrzunehmen. Allerlei automobile Perspektiven.

Ob sie nun an eine Visitenkarte gemahnen oder eher an eine Sinnestäuschung - Wiens Stadteinfahrten passiert niemand, ohne das eine oder andere städtebauliche Merkzeichen wahrzunehmen. Allerlei automobile Perspektiven.

Wo endet eine Großstadt im Zeitalter der Globalisierung? Trotz World Wide Web darf wohl als greifbare Stadtgrenze der Rand des Siedlungsgebiets angenommen werden. Da dieser sich in Etappen weiter hinausschiebt, stehen auch qualitätvolle Setzungen immer unt er der Drohung, ihre Stellung als „Stadttor“ oderarchitektonische Grenzmarkierung zu verlieren. Peinlich wird dies nur dann, wenn die Gestaltung diese Nebenfunktion gleichsam gackernd und flügelschlagend überhöht hatte. In allen anderen Fällen verweist das Bauwerk auf Entwicklung und erinnert Geschichte.

Die Wiener Westeinfahrt auf der Autobahn läßt sich nur unter Berücksichtigung der fahrdynamischen Komponenten angemessen würdigen: Nach einer längeren Fahrt durch Forste, Fluren und Hügel des Wienerwaldes folgt ein letzter längerer Anstieg, der flach kulminiert, wo die Fahrbahn sich in eine Linkswendung schmiegt und im Einschnitt unter einer Brücke durchtaucht. Danach sinkt sie gleichsam ab. Zur Rechten erscheint die gemauerte Einfriedung des Lainzer Tiergartens wie ein zivilisatorischer Vorposten. Nachts sind es die ins Blickfeld tretenden Straßenleuchten, die dicht gereiht am Mittelstreifen ihr Licht verstreuen. Viel stärker in der Erinnerung haftet jedoch das drucklose Rollen im obersten Gang, wie bei Sinkflug, ins Wiental hinunter.

Eigentlich ein sympathisches Heimkommen. Es begrüßt uns in der Perspektive das Kreuz aus Straßenleuchtenpunkten am Ab- hang des Wolfsbergs. Und am Tag sind es die imposanten Rückhaltebecken der Wienflußverbauung. Man wird erinnert an Kraft und Verheerungsgewalt entfesselter Wassermassen und an die Ingenieurkunst, die diesen Kräften Einhalt gebot. All dies ist eindrucksvoll umgesetzt in ein einzigartiges landschaftsgestalterisches Ensemble. Nun zur Rechten noch eine Kastanienallee; ein, zwei den Verkehrsfluß portionierende Lichtsignale und dann der Hackinger Steg, dessen Glaskörper ankündigt: Jetzt beginnt die Stadt.

Man kann aber auch von Nordwesten einfahren, durch Klosterneuburg - das ist Niederösterreich, zählt noch nicht. Auf der äußersten Heiligenstädter Straße, am Absatz des Leopoldsbergs vorbei - ist fad. Da hätte man zwecks Fahrspaß besser die Höhenstraße genommen. Aber über die sickert man so unmerklich ins Stadtgebiet ein, das wollen wir nicht. Wir möchten empfangen werden. Fahren wir daher weiter, Kahlenberger Dörfl: Ist schon recht, aber nicht das, was wir jetzt möchten.
Da, die Fahrbahn hebt ab, wird aufgestelzt: Stadtautobahn! Und linkerhand Otto Wagner: Nußdorfer Wehr, mit Verwaltungsgebäude und Kettenmagazin, sowie anschließend die Stahlbogen der Uferbahnbrücke. Dieses dichte Ensemble am Brigittenauer Spitz mit seiner spezifischen Identität einander an die Tragglieder rückender Ingenieurbauwerke verschiedener Epochen verfügt über Kraft und Qualität. Damit auch der letzte Tourist seiner Ankunft in Wien gewiß wird, folgt noch die Quittung: das Fernheizwerk Spittelau mit Hundertwasser-Inkrustation. Soll sein.

Wenn man von Nordnordosten, über die Brünner Straße, einfährt, macht diese kurz nach der Stadtgrenze einen präzisierenden Schwenker zur Südrichtung. An dieser Stelle konnte man ehedem vom Wagram aus den ersten Fernblick auf die Residenzstadt werfen. Ab hier visiert die Brünner Straße exakt den Stephansturm an. Heute steht in dieser Achse der Millenniums-Tower, nachts mit rot blinkendem Aufsatz.

Wer vom Flughafen, oder von Bratislava, herkommt, muß mit städtebaulichen Superzeichen in mittlerer Entfernung vorliebnehmen. Nachts beeindruckt der Lichtfilter über der Raffinerie Schwechat, am Tag sind es die Getreidespeicher beim Alberner Hafen und die vier Gasometer in Simmering. Dann zieht es sich. Die Stadt hat offensichtlich schon angefangen, doch richtig angezeigt wurde sie uns nicht. Tief vordringend in gemächlicher Fahrt (50 Stundenkilometer), üben wir uns in Geduld. Dann aber, bei Max Fabianis Urania mit der Sternwarte, biegen wir ein und sind auf dem Ring: Das ist ein ordentlicher Empfang. Eine gepflegte Regie ließe beim Passieren der Aspernbrücke den Donauwalzer einsetzen, um mitfahrenden Gästen ans Gemüt zu rühren. Jetzt nicht hudeln, sondern genießen. Wir sind da!

Es ist natürlich jedem unbenommen, auch von Süden nach Wien hinein zu fahren. Aus dem dichten Kolonnenverkehr oder beim Stop-and-go fällt der Blick notwendigerweise auf die Silhouette, welche die Gebäude auf dem Hügelrücken des Wienerbergs erzeugen.

Links hinten ein Längsriegel, der wie ein leergepumpter Tanker aus dem Häusermeer heraussteht: das Krankenkassengebäude. Dann die in Bau befindlichen Twin Towers, deren Ausmaße das wenige Jahre alte Wienerberg-Hochhaus marginalisieren. Nur Karl Schwanzers Philips-Haus steht wie eine Eins, breitbrüstig und nachts leuchtend seit seiner Errichtung, obwohl mittlerweile am niedrigsten. Weiter rechts ragt noch wie ein i-Punkt der alte Wasserturm aus den Wohnbauten.

Natürlich wurde auch diese Einfahrt nicht als Ensemble geplant. Die absolutistischen Zeiten sind vorbei. Der Silhouettenwirkung kommt jedoch an dieser Stelle wesentliches Gewicht zu. Von Stadtkrone kann man nicht schreiben, da gehört mehr dazu, und der Anblick ist zu heterogen. Doch läßt sich hier das eingangs erwähnte Kriterium für Grenzmarkierungen illustrieren: daß diese ihre Würde zu wahren vermögen, auch wenn sie längst vom Stadtkörper umschlossen sind.

Was dem Denkmal der Spinnerin am Kreuz nicht bloß altersbedingt oder dem Schwanzer-Bau noch lange gelingt, vermag das Wienerberg-Hochhaus mit seinen Fassadenapplikationen nicht zu leisten: daß es nämlich von den Twin Towers, deren Fernwirkung allerding jede Zwillingshaftigkeit abgeht, in den Schatten gestellt wird. Höhe allein genügt nicht; hoch wirken lautete die Kunst.

Daß der Ensemblewirkung so wenig Gewicht beigemessen wurde, stellt den Verantwortlichen hinsichtlich ihrer Voraussicht kein besonders glänzendes Zeugnis aus. Doch man wird sich auch an diesen Anblick gewöhnen - und Gewöhnung nivelliert (fast) alle städtebaulichen Brüche und Widersprüchlichkeiten.

Spectrum, Sa., 2000.05.27

06. Mai 2000Walter Zschokke
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Die Provinz muß wollen dürfen

Ambitionierte Exemplare eigenständiger baukultureller Entwicklung auf der einen Seite; konservierende Pflege ländlicher Kulissen auf der anderen: Südtirol architektonisch. Ein Lokalaugenschein.

Ambitionierte Exemplare eigenständiger baukultureller Entwicklung auf der einen Seite; konservierende Pflege ländlicher Kulissen auf der anderen: Südtirol architektonisch. Ein Lokalaugenschein.

Ende April. Noch liegt ein rosener Hauch über den ausgedehnten Apfelplantagen des Vinschgaus, doch im breiten Tal der Etsch unterhalb Merans ist die Blütezeit bereits vorüber. Dennoch bestimmen die Baumgärten mit den langen Reihen niederstämmiger Obstsorten das Landschaftsbild. Dazwischen hat die mehrtausendjährige Besiedelungsgeschichte zahlreiche bauliche Zeugnisse abgelagert: Kaum ein Hügel oder eine größere felsige Erhebung, die nicht von einer mittelalterlichen Burg, einer Kirche oder einem Kloster besetzt wäre.

An den Talflanken finden sich zahlreiche kleinere Landsitze. Die Dörfer sind dank einer konsequenten Raumplanung kompakt geblieben. Den landwirtschaftlichen Bauten und jenen der früheren Handelstätigkeit wurde neu die touristische Infrastruktur überlagert. Waren es zu Beginn historistische Hotelpaläste, wechselte der Stil in den 1930er Jahren zu vergrößerten Typen landwirtschaftlicher Bauten. Seit einigen Jahren ist nun der mittelalterliche Burgenbau wieder en vogue. Ein Turm, eckig oder rund, gehört einfach dazu. Außerdem erlaubt das Burgprinzip die zufällige Agglomeration von Erweiterungsetappen, wie dies bei den mittelalterlichen Vorbildern schon geübt wurde. Denn wer fragt bei einer Burg schon nach der Qualität der Architektur?

Neben einer nicht geringen Zahl von Gewerbebauten fallen Einrichtungen der Stromindustrie aus den 1920er Jahren auf, die sich nicht verstecken. In den landwirtschaftlich genutzten Zo- nen sind es dagegen die temporären Strukturen Tausender gestapelter Großkisten für die Obsternte, die das Auge auf sich ziehen. Oft sind sie, zu riesigen flachen Quadern gefügt, unter freiem Himmel oder aber unter Dächern gelagert. Denn wie überall auf der Alpensüdseite sind die Regenfälle weniger häufig, dafür ergiebiger. Eine intensive Vegetation wird noch optimiert durch Bewässerung.

Die Entwicklung der Architektur erfolgte langsam und wurde meist von außen an das Land herangetragen. Zu den starken, bodenständigen Typen ländlichen Bauens kontrastieren attraktive mittelalterliche Stadtkerne mit interessanten Haustypologien. Südlich der Alpen ist die Urbanität seit Jahrhunderten ausgeprägter als im Norden. Was Generationen von Architekten beeindruckte und bis heute beeindruckt.

Sigrid Hauser, in Meran aufgewachsene, in Wien arbeitende Architekturtheoretikerin, konstatierte in einem längeren, vor zehn Jahren erschienenen Aufsatz - neben weiterhin wirkenden Einflüssen aus den großen Zentren im Süden und Norden - eine zaghafte eigenständige Entwicklung. Seither hat sich diese verstärkt, und es finden sich da und dort engagierte Bauten, die dennoch einfühlsam auf Landschaft und nähere Umgebung bezogen sind.

Da steht aus jüngster Zeit etwa ein Bauernhof in Burgstall, einem Dorf wenige Kilometer unterhalb von Meran. Thomas Höller und Georg Klotzner vergrößerten ein Wohn- und Wirtschaftsgebäude aus den fünfziger Jahren. Der würfelförmige Wohnteil ist dreigeschoßig. Ebenerdig sind Einstellräume und die Werkstatt angeordnet, darüber liegen Küche und Wohnen, zuoberst befinden sich die Schlafzimmer. Südseitig öffnen sich die Räume mit Fenstertüren auf eine Terrasse und zwei Balkone, im Norden ist ein Treppenturm angekoppelt, der auch die Sanitärräume enthält. Ein verglaster Gang führt in
beiden Obergeschoßen zum Hauptbaukörper.

Für die landwirtschaftlichen Maschinen wurde eine Garage errichtet, die nordseitig an den Treppenturm anschließt. Ihr Dach ist zu einer Terrasse ausgebaut. Als wesentlichstes Element ist nun über die Reihe der drei unterschiedlichen Baukörper ein langes Satteldach gezogen, das als Großform die Identität des Bauwerks bestimmt. Seinem Schatten, der zugleich einen riesigen Luftraum definiert, ordnen sich die drei Teilvolumen unter. Großzügigkeit und auch ein wenig Stolz sprechen aus der Anlage. Mit den schlanken Stahlstützen wird Pathos vermieden, das Dach wird fast schwebend gehalten über dem Meer graugrüner Apfelbäume. Eine schöne Anlage, die dem südalpinen Klima Rechnung trägt: umspült von milden Lüften, doch ausreichend beschattet und beschirmt.

Andererseits ist sie dem praktischen Prinzip lockerer Anordnung verpflichtet, das Zwischen- und Reserveräume läßt, die beim landwirtschaftlichen Betrieb gern genutzt werden. Und ein Sommernachtfest auf der Terrasse über der Garage wird nicht zu verschmähen sein. Alltag und Arbeit, Festtag und Lebensfreude vereinen sich unter diesem Dach.

Höller und Klotzner, beide Ende der fünfziger Jahre geboren, stammen aus der Gegend, haben in Innsbruck studiert und führen seit 1988 ein gemeinsames Atelier in Meran. Bauten von weiteren Architekten sind ebenso herzeigenswert, aber ganz zufrieden ist man in Südtirol dennoch nicht.

Der renommierte Preis für alpines Bauen, der von Sexten aus initiiert und bereits dreimal an jeweils acht Bauten verliehen wurde, hat noch nie einen Bau aus Südtirol in den Kreis der Ausgezeichneten einbezogen. Und bei größeren Wettbewerben haben fast immer Architekten aus Großstädten im Norden oder Süden gewonnen. Also eher ein Weiterschreiben der Praxis nach 1900 und der dreißiger Jahre, als eingesessene Fachleute bestenfalls in Partnerschaft mit den Großstädtern für die örtliche Abwicklung sorgen durften?

Aktuellstes Beispiel ist der Wettbewerb zur Neugestaltung des Sparkassengebäudes am Bozner Waltherplatz. Das Bauwerk aus den fünfziger Jahren sollte umgebaut und in seiner städtebaulichen Wirkung verstärkt werden. Zehn Architekturbüros wurden eingeladen, vier aus Südtirol, sechs aus dem benachbarten Ausland; österreichische Architekten waren darunter nicht vertreten.

Der Bestand stellt einen damals als nicht besonders glücklich beurteilten Kompromiß zwischen Tradition und Moderne dar. Das Konzept wirkt eher verkrampft, während der Ausbau auf hohem handwerklichem Niveau und mit wertvollen Materialien erfolgte. Das - zweitgereihte - Projekt von Höller & Klotzner strebte daher eine völlige Neugestaltung an, wobei ihr Entwurf als aktuell und in dieser Hinsicht auch als qualifiziert einzustufen ist. Gewonnen hat jedoch ein renommiertes Berliner Büro, das eine sanfte, pflegliche Erneuerung vorschlug. Beide Vorschläge haben etwas für sich. Befremdend ist jedoch, daß bei der Ungleichzeitigkeit zwischen Metropole und Provinz eigentlich wieder letztere das Nachsehen hat.

Das Bestreben, kräftig zu erneuern und in dieser Hinsicht internationales Niveau anzustreben - wobei dies heute mit einheimischen Kräften auf dem Niveau der Zeit erfolgen könnte -, wird unterlaufen vom sentimentalen Wünschen aus einer Metropole, daß die Provinz doch so bleiben möge, wie sie ist, nur halt etwas gepflegter und etwas aufgeräumter.

Und wieder einmal dient das vermeintlich Unberührte, vermeintlich Ländlich-Naive abseits der Metropolen den Bürgern aus ebendiesen Metropolen als Projektionsfläche unerfüllter romantischer Gefühle: „Eure Zurückgebliebenheit, liebe Provinzler, rührt uns, und wir möchten uns bei euch von den Härten der Großstadt erholen können. Also laßt bitte die Finger von allzu ambitionierten Veränderungen, die uns womöglich im Herzen weh tun könnten.“ So klingt das Wehklagen der Großstädter im Klartext.

Hier stellt sich daher die Frage, ob die handwerklichen Leistungen und die wertvollen Materialien nicht in einer anderen Form gewürdigt werden könnten als mit dem damit verbundenen Festhalten an einem biederen und letztendlich mittelmäßigen Gesamtkonzept. Auf diese Frage hat der gutgemeinte Vorschlag aus dem Norden keine Antworten geliefert. Denn auf längere Sicht stellt das schwächere Gesamtkonzept für den qualitativen Ausdruck der Stadt ein größeres Risiko dar, als es der potentielle Verlust handwerklicher Qualitäten sein könnte. Die doppelte Herausforderung, das Gesamtkonzept zu stärken und die wesentlichen Elemente des Innenausbaus gescheit zu bewahren, ohne zu verklären, ist jedenfalls nicht bewältigt. Nach Durchsicht der Dokumentation über das gesamte Verfahren bleibt ein unangenehmer Nachgeschmack.

Nachdem die Schnellebigkeit in den Metropolen die meisten Zeugen aus den fünfziger Jahren mit ihren - angeblich - vom Wiederaufbau bedingten Unzulänglichkeiten bereits beseitigt hat, werden nun die Städte der Provinz - wieder einmal - von außen dazu angehalten, im Interesse anderer ihre Kulissen zu pflegen. Man kann mir beide Standpunkte erklären, und ich verstehe auch beider Intentionen, aber ich meine, die Menschen, und insbesondere die Architekten, in der „Provinz“ sollen auch wollen dürfen. Umso mehr, als sie bewiesen haben, daß sie auch können.

Spectrum, Sa., 2000.05.06



verknüpfte Bauwerke
Wohn- und Wirtschaftsgebäude

15. April 2000Walter Zschokke
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Da eine Ecke, dort ein Prisma

Einheitliche Gestaltung: Diese fixe Idee verhinderte Jahrzehnte hindurch eine rationale Auseinandersetzung mit dem Thema „Ortsbild“. Einen nicht zu übergehenden Beitrag zur nun laufenden Diskussion stellt Helmut Dietrichs Wohnhaus in Schnepfau dar.

Einheitliche Gestaltung: Diese fixe Idee verhinderte Jahrzehnte hindurch eine rationale Auseinandersetzung mit dem Thema „Ortsbild“. Einen nicht zu übergehenden Beitrag zur nun laufenden Diskussion stellt Helmut Dietrichs Wohnhaus in Schnepfau dar.

Mobilisierung und elektronische Medien haben im vergangenen Jahrzehnt den Gegensatz Stadt-Land relativiert. Das Bildungsprivileg der Stadt vor dem Land ist schon früher gefallen. „Land“ ist also nicht mehr eine rein landwirtschaftlich bestimmte Gegend, auch wenn im Sommer weiterhin Kornfelder wogen und schattige Wälder rauschen. Romantischen Projektionen stehen neue Realitäten gegenüber, und so ist es auch vorbei mit schematisch-starren Vorstellungen, wie so ein Ortsbild auszusehen habe oder angestückelt werden soll.

Die im Rhythmus von fünf bis zehn Jahren wechselnden Moden äußerer Gestaltung von Häusern haben die Versuche, mittels detaillierter Bestimmungen in Bebauungsplänen ein einheitliches Bild zu erzwingen, allesamt scheitern lassen. Denn fixe Regeln, von noch so gescheiten Analytikern aufgestellt, können nicht garantieren, daß andere, die sie anwenden, auch vernünftige Produkte zustande bringen. Eine diesbezügliche falsche Hoffnung hat jahrzehntelang die Köpfe beherrscht. Im Kulturbereich - das gilt auch für die Architektur - ist das Anstreben von Qualität nicht delegierbar.

Das normale Bauen böte wenig Probleme, wenn keine falschen Ansprüche erhoben würden. Aber der oder die Entwerfer müßten wissen, in welcher Liga mitzuspielen sie Rüstzeug und Erfahrung mitbringen.

Beim Vorstoßen in den Bereich der Architektur, die wir als die Kunstform des Bauens ansprechen wollen, gilt eine Aussage von Klaus-Jürgen Bauer, der als Architekt mit Qualifikationen in Architekturtheorie in Eisenstadt ein Atelier führt: „Architektur unterliegt heute überall, ob Kapitale oder Provinz, denselben Qualitätsmaßstäben“, beschied er vom Podium einer Veranstaltung in Krems, organisiert von den „ländlichen“ Architekturhäusern Burgenlands, Kärntens und Niederösterreichs zum Thema Ortsbild.

Das heißt, es gibt keinen Peripheriebonus mehr. Das entbindet die jeweils Beteiligten dümmlich tümelnder Bauweisen. Aber es zwingt zu einem Anheben der Bestellqualität auf Bauherrenseite.

Schnepfau, ein Dorf im Bregenzerwald. Locker liegt es hingestreut am südexponierten Rand des Talbodens, einer nutzbar gemachten Au der Bregenzer Ach. Im Süden ragt die Kanisfluh mächtig in den Himmel. Der kleine Dorfkern befindet sich bei der Kirche, wo das Sträßchen über die Schnepfegg nach Bizau abzweigt. Am Fuß des dahinter ansteigenden Hanges fließt der Dorfbach. Auch wenn das behäbige Bauwerk des klassizistischen Pfarrhauses mit seinem altersgrauen Schindelschirm schon bessere Tage gesehen haben mag, bestimmt es mit seinem ruhigen Äußeren heute noch den Ort.

Westlich davor steht nun seit kurzem ein kleines Haus mit Holzfassade und Satteldach. Sein primäres Volumen besteht aus einem länglichen Quader. Das Dach weist eine Neigung von nur 20 Grad auf, der daher wenig betonte First verläuft in Längsrichtung.

Aber aus dem Volumen sind größere Teile ausgeschnitten: da eine Ecke, dort ein Prisma über die gesamte Länge. Und die verglasten Öffnungen bilden meist Fortsetzungen der Ausschnitte oder schließen diese als zurückgesetzte Trennebene klimatisch ab. Ins Auge fällt jedoch die äußere Hülle, deren Feingliedrigkeit ins Textile changiert. - Nun möchten wir natürlich wissen, wer das Bauwerk entworfen hat. Es ist dies Helmut Dietrich, geboren in Mellau, zwei Dörfer unterhalb Schnepfau, der zusammen mit Much Untertrifaller in Bregenz ein Architekturbüro führt. Von den beiden stammen die spektakuläre Erweiterung des Bregenzer Festspielhauses, einige Wohnanlagen, mehrere Kindergärten und zahlreiche Ein- und Zweifamilienhäuser. Von Dietrich sind auch feinsinnige Möbelentwürfe und Innenraumgestaltungen bekannt.

Das unter Mitarbeit von Marina Hämmerle entstandene neue Haus dient einem Ehepaar als Alterswohnsitz. Auf dem benachbarten Grundstück befindet sich das gut zehn Jahre früher entstandene erste Einfamilienhaus aus der Hand Helmut Dietrichs, das prototypisch für die damalige Entwicklung der Vorarlberger Baukultur steht. Die von ländlichen Nutzbauten übernommene, nobilitierte Vertikalschalung; die von leichten Irritationen aufgelockerte Symmetrie der Fassaden; die Elemente regionaler Baukultur, wie Satteldach und „Schopf“ - ein loggienartig eingezogener Außenraum, der oft dem Eingang vorgeschaltet wird -, all das stand und steht für ein kollektives Produkt der „Baukünstler“, das Vorarlberg über den Kreis Architekturinteressierter hinaus in der Welt bekannt gemacht hat.

Nun also ein weiteres Haus an demselben Ort nach einer ganzen Reihe von Häusern, die auf das Unterland und den Bregenzerwald verteilt sind. Seine äußerste Fassadenschicht besteht aus zahlreichen, extrem feinen, horizontal befestigten Leisten, die mattenartig unter dem knappen Dachüberstand herabzuhängen scheinen. Damit wird jeglicher Eindruck von Masse sublimiert; und auch das Holzige, wie es manchen Lamellenfassaden oder vertikalen Verbretterungen anhaftet, wird neutralisiert.

Der neuartige Effekt liegt irgendwo zwischen grobem Stoff und Rutengeflecht und ist durchaus vergleichbar dem eines Schindelschirms. Formale Zuspitzung und Verfeinerung zeichnen diese Hülle aus. Die reine Symmetrie bezieht sich nur mehr auf die prinzipielle Großform. Die Ansichten mit ausgeschnittenen Teilvolumen sind überhaupt nicht axialsymmetrisch.
Was jedoch durch sorgfältiges Abstimmen von Proportionen erreicht wurde, ist Ausgewogenheit. Und zwar eine Ausgewogenheit des Verhältnisses von offenen und geschlossenen Flächen, wobei es sich bei ersteren immer um Anschnitte handelt und letztere, ungelocht, jeweils von einem Polygonzug umschrieben werden können.

Diese Flächen sind ein Ganzes, Öffnungen bilden das „Andere“, ja zählen zum Umraum. Damit gelingt es, eine Identität von Fassadenwirkung und Raumgefüge zu erzielen, die nicht primär funktional, sondern zuerst architektonisch ist. Und das alles bleibt angenehm unaufgeregt.

Damit liegt Schnepfau nahe bei Bregenz, bei Vals, bei Luzern und anderswo, wo immer Architektur mit hohem Anspruch realisiert wurde und wird. Ganz nebenbei wurde das Ortsbild perfekt gepflegt und nachhaltig angereichert.

Spectrum, Sa., 2000.04.15



verknüpfte Bauwerke
Einfamilienhaus Rüscher

25. März 2000Walter Zschokke
Spectrum

Kreideweiß & Spiegelschwarz

Wie den dritten Stock einer aufgelassenen Wollwarenfabrik in Wien-Margareten für eine Werbeagentur adaptieren? Edel, versteht sich. Dolenc und Scheiwiller schaffen das, indem sie demonstrative Moderne mit einem bodenständigen Grundton unterlegen.

Wie den dritten Stock einer aufgelassenen Wollwarenfabrik in Wien-Margareten für eine Werbeagentur adaptieren? Edel, versteht sich. Dolenc und Scheiwiller schaffen das, indem sie demonstrative Moderne mit einem bodenständigen Grundton unterlegen.

Die ehemalige Wollwarenfabrik Bernhard Altmann in Wien-Margareten, zwischen Siebenbrunnengasse und Stolberggasse gelegen, findet sich im „Achleitner“ verzeichnet. Vom Betriebsgebäude im südlichen Abschnitt der Gebäulichkeiten hat man einen schönen Ausblick auf den kleinen Park an der Zentagasse. Das halbrunde hofseitige Stiegenhaus mit den breiten Treppenläufen dürfte ebenso aus den zwanziger Jahren stammen wie die viergeschoßige Stahlbetonkonstruktion der Werksäle, in denen gevoutete Unterzüge den Raum zonieren.

Im dritten Stock mietete sich vor kurzem eine international tätige Werbeagentur ein. Ihr hoher Qualitätsanspruch schlug sich bereits in zahlreichen Preisen und Auszeichnungen nieder, und auch der Kundenkreis ist eindrücklich. Da wollte man sich bei der Einrichtung der Agentur nicht lumpen lassen. Die Firma Weber, Hodel, Schmid - heute mit einem Altersdurchschnitt der Mitarbeiter von 30 Jahren - startete 1991 von Zürich aus und betraute ein erfolgreiches Schweizer Architektenteam, Caroline Dolenc und Andreas Scheiwiller, mit der Umgestaltung.

Scheiwiller ist 1959 geboren, Dolenc Mitte der sechziger Jahre. Sie studierten beide an der ETH Zürich und arbeiteten danach in engagierten Architekturbüros. Die Gründung eigener Ateliers erfolgte 1988 beziehungsweise 1996. Seit 1998 besteht das gemeinsame Büro. Scheiwiller ist überdies Professor für Architektur an der Universität Genf.

Nun ist es Insidern nicht unbekannt, daß Schweizer und Wiener denselben deutschen Satz nicht selten verschieden interpretieren. Es kann auch einige Zeit dauern, bis alle Beteiligten dahinterkommen, daß sie einander nicht richtig verstehen. Ich möchte vorsichtig vermuten, daß die jeweilige Zwischenzeilensprache eben eine andere ist. Weil sie auf Nummer sicher gehen wollten, ihnen Erfahrungen mit hiesigen Handwerkern abgingen und weil sie seit längerem mit einem Betrieb gut zusammenarbeiten, ließen die Architekten die Einbaumöbel in Zürich fertigen. Ungewohnt daran ist nur, daß die Schweiz nicht EU-Mitglied ist, sonst sind derartige Lieferdistanzen mittlerweile üblich.

Es wurden die Fenster repariert - schöne Hebeschiebefenster, die einen Hauch Chicago in den fünften Wiener Gemeindebezirk wehen. Ein neuer Boden aus kaltgepreßten Asphaltplatten kam dazu. Aber vor allem wurde ein den Raum strukturierendes Element in den ungerichteten, unregelmäßigen Grundriß hineingestellt, das zonierend wirkt und die allgemeine Fläche von den verschiedenen Arbeitsbereichen trennt. Es besteht aus einer raumhältigen Wand von zwei Drittel Raumhöhe und beginnt schon im Stiegenhaus, umfaßt den Liftkern und stößt hinter dem Empfang in den weiten Raum vor, biegt ungefähr rechtwinklig ab und entwickelt sich, über fünf weitere Kantungen enger werdend, in Form einer eckigen Spirale bis zu einem geschlossenen Kern.

A n diesem ist außen die Kaffeeküche angeordnet, innen befindet sich sinnigerweise der Server für das interne Computernetzwerk. Abgesehen davon, daß die innere Zone als Erschließung für die außen liegenden Arbeitsbereiche dient - die allesamt durch „Schranktüren“ zugänglich sind -, befinden sich, von innen nach außen: nahe dem Kern die Kopieranlage, Zeitschriften und eine Handbibliothek, davor die Pausenzone und beim Eingang der Empfang.

Über der Schrankwand fließt der Raum kontinuierlich durch, von der befensterten Außenmauer zur ebenfalls stark aufgelösten Hofmauer. Hinter der Schrankwand und begrenzt durch die Außenmauer liegen kleine und große Arbeitsräume, durch Glaswände unterteilt. Mit Schiebepaneelen aus hellem Streckmetall lassen sich die lateralen Durchgänge schließen. Die von den Unterzügen abgehängten Gleitschienen tragen auch die Beleuchtung, die indirekt wirkt. Zur akustischen Dämpfung erhielt die Decke fein gelochte Oberflächen, und auch die Schiebepaneele wirken schallabsorbierend.

Nun ist das in Summe bereits ganz gescheit, es ist aber noch nicht alles. Farben kommen dazu. Das Betonskelett, die Unterzüge und Rippen sind glatt und scharfkantig gespachtelt und in blendendem Weiß gehalten. Die sich progressiv einwickelnde Schrankwand ist schwarz - ein perfekt hochglanzlackiertes Edelschwarz. Damit wird der Gegensatz ziemlich zugespitzt. Die Rolle des Moderators übernimmt daher der Fußboden.

E r ist überall unauffällig präsent, und das schwer definierbare Braungrau der Asphaltplatten in seiner alltäglichen Durchschnittlichkeit exponiert verbindlich das vornehme Schwarz und das dematerialisierende Weiß.
Das übrige Mobiliar ist ebenfalls schwarz, nur die Tischplatten aus matt anthrazit lasiertem MDF (mitteldichte Faserplatten) wirken schieferig grau. Doch sie sind an der Grundstimmung nur mehr marginal beteiligt. Diese lebt von dem akut polarisierten Gegensatz von Kreideweiß und Spiegelschwarz, die beide der klassischen Moderne entstammen.

Aber da kommt noch etwas dazu, das nicht der Moderne, der demonstrativen permanenten Innovation zugehört, sondern das als traditionales Element einen bodenständigen Grundton einbringt. Es erinnert an das Vorstadtgrau auf den Darstellungen der „Analogen“, wie die Strömung um den tschechisch-schweizerischen Architekten Miroslav Sik Ende der 1980er Jahre genannt wurde, deren Auswirkungen bis zu den neuesten Entwicklungen in Graubünden feststellbar sind. Andreas Scheiwiller charakterisiert den Plattenbelag als muffig. Das macht vorerst stutzen. Ein „muffiger“ Boden in einer Werbeagentur? Die Welt ist eben nicht nur schwarz und weiß, sondern besteht aus zahlreichen Zwischentönen. Und auf diesem Humus müssen auch Werbeagenturen arbeiten. Wir zitieren Miroslav Sik: „Ein Ja zum Realismus heißt ein Ja zu unzähligen, noblen und weniger noblen Architekturen unserer Umwelt, ein Ja zu unzähligen Stimmungen und Bildern, die man als radikaler Architekt hat stets übersehen und zertrümmern können.“

Die klassische Moderne neigte stets zum Idealisieren. Dolenc/Scheiwiller gehen darüber hinaus: In der Wiener Agentur von Weber, Hodel, Schmid finden wir radikale Zuspitzung und abgeschliffen wirkende Alltäglichkeit pfiffig kombiniert.

Spectrum, Sa., 2000.03.25



verknüpfte Bauwerke
Die Wiener Schnecke

04. März 2000Walter Zschokke
Spectrum

Doppelt runde Sachen

Architektur gestaltet Raum. Diesen an sich banalen Sachverhalt lassen zwei Objekte in Niederösterreich zur beeindruckenden Erfahrung werden: Max Pauly baute in Mitterretzbach, „the Poor Boys Enterprise“ in Hof am Leithagebirge.

Architektur gestaltet Raum. Diesen an sich banalen Sachverhalt lassen zwei Objekte in Niederösterreich zur beeindruckenden Erfahrung werden: Max Pauly baute in Mitterretzbach, „the Poor Boys Enterprise“ in Hof am Leithagebirge.

Wir sind es gewohnt, der Baukunst abzufordern, daß sie nützlich sei. Der „Nebeneffekt“ architektonischer Erfahrungsmöglichkeiten wird oft drittrangig behandelt, obwohl gerade darüber ausgiebig gestritten wird. Zwei neue Objekte im Überschneidungsgebiet von Kunst und Architektur lohnen derzeit die Fahrt ins periphere Niederösterreich. Dort sind in den vergangenen Jahren über 200 Kunstprojekte im öffentlichen Raum mit Landesgeldern gefördert und realisiert worden. Die Werke decken ein breites Spektrum ab, das von bildender zu Konzeptkunst und neuen Medien reicht, aber auch Aspekte des Design, der Architektur und manchmal sogar der Ingenieurkunst umfaßt.

Meist sind es kleine Wettbewerbe unter drei bis sechs Kunstschaffenden, aus denen ein Projekt hervorgeht, das vom siebenköpfigen Gutachtergremium für Kunst im öffentlichen Raum empfohlen wird. Vertreter der örtlichen Behörden und engagierte Vereine sind in das Verfahren eingebunden. Demokratiepolitisch ist diese Art der Vergabe nach Qualitätskriterien sicher eine der besten.

Bei Mitterretzbach im Weinviertel befindet sich auf einer Anhöhe ein „Schalenstein“ aus vorgeschichtlicher Zeit, der die Menschen immer wieder faszinierte. Es gibt Berichte aus der frühen Neuzeit über spontane Heilungen durch Wasser aus den eigenartigen Vertiefungen. Eine Kapelle wurde errichtet und eine vorhandene Quelle gefaßt. Im 18. Jahrhundert kam es zu Wallfahrten, für die man in der Folge eine größere Kirche errichtete, durch deren Fundamente das Heilung versprechende Quellwasser eingeleitet wurde. Joseph II. und seine Verwaltung, denen die populistisch aufwallende Volksfrömmigkeit und vor allem damit verbundene Scharlatanerien und Geschäftemacherei zuviel wurden, ließen jedoch den Bau 1785 abtragen.
Seither überwucherten Buschwerk und Bäume die Fundamente. Der Ort blieb jedoch Anziehungspunkt für viele, nicht zuletzt auch deshalb, weil er eine herrliche Aussicht ins Retzer Land und bis nach Mähren hinein bietet. 1995 bis 1997 wurden die Grundfesten archäologisch ergraben und gesichert, wobei Retzbacher Bürger tatkräftig mitarbeiteten.

Der Wunsch, der Anlage eine wie auch immer geartete architektonische Fassung zu geben, führte die Antragsteller zur Abteilung Kultur und Wissenschaft der niederösterreichischen Landesverwaltung. Der kleine Wettbewerb zur künstlerisch-architektonischen Gestaltung wurde von Max Pauly gewonnen, er ist Absolvent der Kunsthochschule Linz und führt heute ein Architekturatelier in Wien.

Die im Spätsommer vorigen Jahres fertiggestellte Anlage interpretiert die Topographie des Ortes: Der niedrige Hügelzug fällt nach Südosten ab. Das architektonische Objekt, ein einfach gehaltener Steg, schwingt sich von der Kuppe weg, umrundet in elliptischem Bogen die spirituell aufgeladene Zone mit dem Schalenstein, den Kirchenfundamenten und der Kapelle sowie einigen Bäumen und kehrt zur Hügelkuppe zurück. Er rahmt die aus verschiedenen Zeiten stammenden Artefakte, bietet aber zugleich einen breiten Ausblick auf die sanftwellige Landschaft. Zur Verstärkung des Effekts steigt die Ebene des Stegs, die Hangneigung konterkarierend, leicht an, wobei sich aber Ellipsenscheitel und Kulminationspunkt nicht decken.

Dieses eher unbestimmte Verschleifen entspricht der dienenden Rolle des Stegs: Rahmen nach innen, Ausblick bieten nach außen. Eine exakte geometrische Zuordnung hätte sich vielleicht zu wichtig genommen. Auch ist eine Ellipse unbestimmter als der Kreis, der in herrischer Weise einen Punkt zentriert, während erstere ein Feld umschreibt. Die leichte Neigung bewirkt ein Verschneiden der Stegfläche mit dem Hang, sodaß nur die halbe Ellipse real existiert. Eine zweite, virtuelle Hälfte bewegt sich in der Geometrie unserer Vorstellung unter der Erde, sodaß der auratische Ort nach hinten ungestört ins Gelände übergehen kann.

Der Steg ist gestalterisch abstrahiert, Art und Weise des Tragens sind sublimiert. Dieselbe flache Bretterschalung deckt Ober- und Unterseite; betont wird die dünne Scheibe des Gehwegs, nicht das Konstruiertsein. Das luftige Geländergitter stört diesen Eindruck kaum. Und die runden Stützen aus Stahl sind nicht lotrecht, sondern stehen „normal“, das heißt orthogonal zur geneigten Ebene. Damit wird angedeutet, daß sie zum System des Stegs gehören, auch wenn keine konstruktiven Hinweise auf eine Einspannung zu sehen sind. Die reine architektonisch-geometrische Form bleibt künstlich und abstrakt. Sie eignet sich gut als Rahmen der historischen Zeugnisse in dem durch sie exponierten Feld. Aber als Steg hat sie eine zweite Seite: Die Aussichtsplattform verweist vom Inneren auf das, was außen ist, auf die Welt.

Ebenfalls ein lineares begehbares Objekt ist kürzlich in Hof am Leithagebirge vollendet worden. Nach dem gleichen Verfahren - kleiner Wettbewerb, Auswahl durch das Gutachtergremium - erhielt die Gruppe „the Poor Boys Enterprise“ aus Wien den Auftrag zur Ausführung ihres Entwurfs. Die Aufgabe hatte gelautet, die regionale Kulturwerkstätte vom Gelände des kommunalen Bauhofs abzutrennen. Die Architektengruppe, das sind Marie-Therese Harnoncourt, Florian Haydn und Ernst J. Fuchs, schlug einen langen, gekrümmten Gang aus Brunnenringen von zweieinhalb Meter Durchmesser vor, der als Zugang, Durchgang und Erlebnisraum sowie als Abgrenzung zum Bauhof dient.

Das heterogene Gewerbegebiet an einer in die Weite hinauszielenden Landstraße ist nicht eben attraktiv, vordem dienten die Hallen der Produktion von Betonsteinen, heute sind sie für die Zwecke der Kulturwerkstätte adaptiert, vor allem in Raumakustik wurde einiges an Arbeit - auch Fronarbeit - investiert, denn es wird gern, viel und unterschiedlich musiziert in Hof.

Die alte Nutzung bildete einen Ansatzpunkt: Brunnenringe aus armiertem Beton definieren den Zaun-Gang. Die um sprachlich doppeldeutige Formulierungen selten verlegenen Poor Boys nennen ihn „Blindgänger“. Zwischen den einzelnen Ringen ist ein etwas mehr als handbreiter Zwischenraum offen, weniger um durchzuschaun, denn um Licht einzulassen. Das verändert auch die Akustik, die anders ist als in einer geschlossenen Röhre, was man in einem Abschnitt, wo die Elemente dicht an dicht gesetzt sind, schnell merkt.

Die Innenseiten sind weiß gestrichen, außen ist der Beton roh und paßt zur Umgebung des Gewerbegebiets. Zwei Durchlässe mit Schiebetüren erlauben den Ausstieg in den platzartigen Hof der Kulturwerkstätte, der vom bogenförmigen Verlauf der Rohrteile erst definiert wurde. Doch die eigentliche Sensation ist der Weg durch den „Blindgänger“. Rhythmisch fällt das Licht ein, der gekrümmte Raum läßt offen, ob das Ende nicht geschlossen ist. (Ist es nicht.) Der Weg ist lang genug, um die sinnlichen Empfindungen beim Durchschreiten auszuloten. Es macht Freude, sich darin zu bewegen, die akustischen Nebeneffekte wahrzunehmen und den Licht-und-Schatten-Spielen zu folgen. Ein listiger Erlebnisraum, eine doppelt runde Sache.

Abgesehen von der außerordentlichen Qualität beider Arbeiten ist ein weiterer Aspekt wesentlich: Die Globalisierung zeigt hier ihre positiven Seiten für den ländlichen Raum. Es entstehen Werke in Dörfern, die man dort nicht vermuten würde. Internationale Vergleiche mit Großstadtprodukten brauchen sie aber nicht zu scheuen. Nicht daß deswegen schon ein Bilbao-Effekt entstünde, aber sie sind dem Ort angemessen, ohne einer falsch tönenden Ländlichkeit nachzuhängen. Sie sind frisch zeitgenössisch und entsprechen einem von den heutigen Medien noch in die entfernteste Stube transportierten Erfahrungshintergrund. Aber in Hof und in Mitterretzbach sind sie real und unmittelbar erfahrbar.

Spectrum, Sa., 2000.03.04

12. Februar 2000Walter Zschokke
Spectrum

Haut, Filz & Blechcontainer

Es gibt sie noch: Menschen, die nicht zum Vergnügen herumziehen, sondern um sich den Lebensunterhalt zu sichern, eine Lebensweise, die als überholte Zwischenstufe in der Entwicklung menschlicher Gesellschaften gilt. Unsere Nomaden: von Ungleichzeitigkeiten und Behausungsprovisorien.

Es gibt sie noch: Menschen, die nicht zum Vergnügen herumziehen, sondern um sich den Lebensunterhalt zu sichern, eine Lebensweise, die als überholte Zwischenstufe in der Entwicklung menschlicher Gesellschaften gilt. Unsere Nomaden: von Ungleichzeitigkeiten und Behausungsprovisorien.

. . . folgt.

Spectrum, Sa., 2000.02.12

22. Januar 2000Walter Zschokke
Spectrum

Wie imperial sind Achsen?

Land Art, Vorgarten, städtebauliches Verbindungsglied? Die Gestaltung des knappen Bereichs vor dem künftigen Wiener Museumsquartier ist derzeit in Diskussion. Einige Überlegungen zur Aufgabenstellung.

Land Art, Vorgarten, städtebauliches Verbindungsglied? Die Gestaltung des knappen Bereichs vor dem künftigen Wiener Museumsquartier ist derzeit in Diskussion. Einige Überlegungen zur Aufgabenstellung.

Schon in der ersten Ausschreibung eines Architektenwettbewerbs aus dem Jahr 1986, der Entwürfe für das neuzuschaffende Wiener Museumsquartier in den ehemaligen Hofstallungen einforderte, war die Durchlässigkeit des Quartiers in Ostwestrichtung - oder, etwas hochtrabender gesprochen, die städtebauliche Verbindung vom siebenten zum ersten Bezirk - verlangt. Nachdem der Sperriegel der Winterreithalle erhalten werden mußte, war diese Aufgabe nicht leichter geworden.

Skeptiker seien jedoch daran erinnert, daß die Gehzeit aus dem siebenten Bezirk bis zum Graben etwa eine halbe Stunde ausmacht. Mit der U-Bahn dauert es samt Anschlußwegen und Wartezeit etwa 15 bis 20 Minuten. Wenn nun ein schönes Stück Weg durch autofreie Anlagen führt, könnte diese doppelte Viertelstunde täglicher Mehrzeit beim Weg zur Arbeit nicht nur gesund, sondern sogar attraktiv sein. Auch wenn viele Bewohner des siebenten nicht im ersten Bezirk arbeiten, ist eine solche Verbindung nicht geringzuschätzen, besonders wenn die zu erwartende Ausstrahlung des Museumsquartiers in die anschließenden Wohn- und Geschäftsgevierte eingerechnet wird.

Das in Bau befindliche Projekt von Ortner & Ortner löst diese Öffnung nach Westen funktional einigermaßen zufriedenstellend. Für die Zahnlücke zur Breiten Gasse können die Architekten nicht verantwortlich gemacht werden, ein Durchgang war offenbar nicht anders zu haben. Und wenn die Passanten einmal um die Rückseite des wiedererrichteten rückwärtigen Halbrundbaus herum sind, ist auch der Weg räumlich wieder attraktiv: Man gelangt auf zwei die alte Reithalle - neu: Veranstaltungshalle - flankierende Terrassen, die zu den Großvolumen Museum Leopold und Museum Moderner Kunst vermitteln. Auf breiten Treppenanlagen steigt man von ihnen hinunter auf den Museumsplatz. Wer nun aus einem der fünf großen Durchgänge unter dem querliegenden Fischertrakt hinaustritt, steht auf einem knappen Vorfeld, dessen städtebauliche Bedeutsamkeit erst vor kurzem ins Bewußtsein getreten ist. Wie immer in solchen Fällen trudeln - wie die Tauben auf das von Rentnerinnen gestreute Futter - allerlei Einfälle herein, was auf dem Restflecken alles gemacht werden könnte.

Typischerweise sind dies fast immer selbstbezogene Konzepte, die auf städtebauliche Zusammenhänge wenig achten. Oder - wie im Fall der mittlerweile wieder abgebauten Kunstinstallation aus orangen Netzen, die im Spätsommer auf das Gelände aufmerksam machen wollte - die Adressaten sind die vorbeifahrenden Autofahrer. Es kommt vor und ist auch durchaus interessant, daß Autobahnen und Überlandstraßen auch nach Gesichtspunkten filmischen Sehens vom Lenkrad aus gestaltet werden. Im urbanen Umfeld dient der Städtebau weniger dem ästhetischen Genuß der Automobilisten - die sollen auf den Verkehr achten, und wenn es grün wird, nicht so lange brodeln -, sondern vor allem den Fußgängern und unter diesen den Flaneuren.

Wien ist in dieser Hinsicht eine außerordentlich attraktive Stadt, aber auch sie kann sich noch verbessern. Wir fragen daher, in welchem städtebaulichen Kontext dieser Vorgarten steht, dieser verschwindend kleine Rest des ehemals ausgedehnten Glacis. Ein Blick auf die Stadtkarte zeigt, daß er ein kleiner Bestandteil der gewichtigsten städtebaulichen Querachse zum Ring ist, wie sie im Kern von Gottfried Semper formuliert wurde. Sie wurzelt am Kohlmarkt in der Innenstadt und streckt ihre Fühler aus, sagen wir einmal, bis zum Siebensternplatzl unterhalb der Neubaugasse. An dieser Abfolge öffentlicher Räume gibt es Großartiges und Kleinteiliges, Älteres und Jüngeres zu ergehen und zu erschauen.

In Gedanken vom Kohlmarkt her kommend, empfängt uns der Michaelerplatz mit seinem klar definierten Rund. Die weich ausschwingenden Flügel des Michaelertrakts und das innere Burgtor nehmen den Betrachter auf und belohnen ihn mit dem hohen Kuppelraum. Einige Schritte weiter folgt ein weiterer Tordurchgang. Nun tangiert man den platzartigen Hof „in der Burg“, von dem kleine Durchgänge den Leopoldinischen Trakt unterfahren. Nach diesem neuerlichen Engnis, wo auch meistens ob der Düsenwirkung ein starker Wind weht, öffnet sich die Weite des Heldenplatzes. Nach den Gassen und Straßen der Innenstadt mit ihren mittelgroßen Plätzen ist diese Größe etwas Besonderes. Der Horizont senkt sich ab, der Himmel kommt zur Geltung und wird wichtig wie nirgends sonst im dichten Stadtgebiet. An klaren Abenden steht die Venus über dem Burgtor, später ist es zuweilen der Mond, als Sichel oder voll.

An diesem Platz zeigt sich, daß Kapitalmangel nicht selten ein guter Städtebauer ist. Hätte man, wie von Semper geplant, nicht nur im Süden, sondern auch im Norden einen konkaven Gebäudeflügel errichtet, wäre das Ganze ein pathetischer, aber steriler, weil stark gebundener Platzraum geworden. Durch das Ausfließen nach Norden gewinnt der Platz seine großartige, befreiende Weite; der Blick gleitet über Volksgarten und Rathauspark zur Front des neugotischen Rathauses, die uns in ihrer Schrägsicht die Biegung des Rings vermittelt.

Beim Weitergehen bündeln die fünf Unterkolumnien des Burgtors die aufgefächerten Sehstrahlen, bevor wir den Ring, die identitätsstiftende städtebauliche Figur der Stadt des 19. Jahrhunderts, überqueren. Die doppelten Baumreihen sind kurz unterbrochen, das Vorfeld des Burgtors reicht räumlich über den Ring hinüber, die Bewegung auf dem großartigen Boulevard wird - ein weiteres Mal - durch eine Querachse gebremst. Semper wollte dies durch flankierende Triumphtore noch verstärken. Auch hier wirkt der Verzicht auf das akademistische Muster meines Erachtens nach subtiler.

Der nun folgende Maria-Theresia-Platz ist eigentlich kein Platz, sondern ein Garten. Beherrscht von den beiden Mittelrisaliten der Museen und dem Denkmal, das die Mitte besetzt hält, vermag sich kein integrales Raumgefühl zu entwickeln, der Raum gliedert sich auf in Zonen, die ihrerseits nach beiden Seiten ausfließen. Die eher unattraktiven, kaum raumbildenden Schwarzkiefern vor der Lastenstraße bieten wenig Halt, stören aber den Raumfluß. Nun folgt die rein funktionale Achse der Lastenstraße, die in keiner Weise mit dem Ring vergleichbar ist. Da in beiden Richtungen doppelspurig befahren, bildet sie für Fußgänger eine unangenehmere Sperre als der Ring, auch wenn wir dort auf zwei Straßenbahngeleise zu achten hatten. Es versteht sich von selbst, daß eine Unterführung - nicht möglich wegen der U 2 - oder gar eine Überführung lächerlich wirken würde. Am ehesten diente ein breiter Zebrastreifen, auf das uns beschäftigende Vorfeld hinüber zu gelangen. Dahinter erhebt sich der Fischertrakt, in der Breite ausgreifend, aber nicht angemessen hoch. Als ältestes Bauwerk der näheren Umgebung ist ihm daraus kein Vorwurf konstruierbar.

Der Prospekt, der von Fischer auf Fernsicht über das Glacis hinweg entworfen wurde, hat für die Kurzdistanz an Wirkung eingebüßt. Immerhin bieten sich insgesamt fünf Tore als Durchgänge zu den dahinterliegenden Höfen und Platzräumen an. Er bildet daher keine wirkliche Sperre. Die Gestaltung der davorliegenden Fläche sollte aber mehrere Ansprüche einlösen: Unabhängig von historischen Animositäten ist der städtische Raum des Maria-Theresia-Platzes im Westen wirkungsvoll abzuschließen, das heißt, alles, was die städtebauliche Wirkung der mittleren Gebäudeteile - das sind das Palais und die anschließenden Ovalställe - schwächen könnte, ist zu unterlassen. Zugleich sollen die Wege zu allen fünf Tordurchgängen sich entfalten können. Überhaupt sollte der Fischertrakt in seiner städtebaulichen Präsenz unterstützt werden. Ein Wiedererrichten der 1809 - anläßlich der französischen Belagerung - heruntergeschossenen turmartigen Dachaufsätze auf den Außenrisaliten würde ihm effektvoll unter die Arme greifen, die äußersten Durchgänge betonen und die auslaufenden Flügel gegenüber den Nachbarbauten stärken. Mit der differenzierten Dachlandschaft und den betonten seitlichen Abschlüssen, wie dies in der Darstellung von J. Ziegler gut erkennbar ist, gewänne der Fischertrakt jenes städtebauliche Gewicht, das er in seiner künftigen Funktion dringend nötig hätte.

Die Fläche davor ist als mehrfache Überlagerung zu interpretieren. Einerseits greift, wie gesagt, der Stadtraum zwischen den Museen über die Lastenstraße; andererseits sollten aber die Hof- und Platzflächen im Inneren des Museumsquartiers sich durch die Tore hindurch bemerkbar machen, den Fischertrakt nicht als Barriere interpretierend, sondern als notwendiges Dazwischen zum nächsten städtischen Außenraum.

Nach ausführlichen Besprechungen mit den zuständigen Magistratsabteilungen, dem Bundesdenkmalamt, Gartendenkmalpflegern und Grünraumgestaltern liegt vom Atelier Ortner & Ortner ein Projekt vor, das nicht schlecht ist, das aber auch noch nicht wirklich begeistert, weil es irgendwie unentschieden bleibt. Die Bezirksvorsteherin von Wien-Neubau, Gabriele Zimmermann, erwartet sich für den Ort eine qualitative Steigerung. Für eine eigenständige Gestaltung ist die Fläche aber zu knapp und ihre städtebauliche Stellung zu schwach. Die Aufgabe ist daher viel schwieriger: Mit weitgehender gestalterischer Zurückhaltung soll die Verbindung von hinten nach vorn, von der „Vorstadt“ zur „Stadt“ und umgekehrt, von den Museen des 19. zu jenen des ausgehenden 20. Jahrhunderts geschaffen werden. Das hat mit der Fertigstellung einer angeblich imperialen Achse wenig zu tun - wie lange die Habsburger nicht mehr regieren in Wien, kann sich jede und jeder an den Fingern abzählen -, sondern mit stadträumlicher Sensibilität.

Spectrum, Sa., 2000.01.22

31. Dezember 1999Walter Zschokke
Spectrum

Ein Hoch auf Gebrauchsspuren

Eine Sache kann radikal falsch oder einfach dumm sein - Radikalität oder Einfachheit sind keine Qualitäten an sich. Nach all den Tabulae rasae des Jahrhunderts, nach Moderne und Gegenmoderne: was können wir aus dem Novecento lernen

Eine Sache kann radikal falsch oder einfach dumm sein - Radikalität oder Einfachheit sind keine Qualitäten an sich. Nach all den Tabulae rasae des Jahrhunderts, nach Moderne und Gegenmoderne: was können wir aus dem Novecento lernen

Der Begriff Novecento"leitet sich von den Jahrhundertbezeichnungen der italienischen Renaissance mit Quattrocento und Cinquecento her. Bestimmend ist die Ziffer des Hunderters. Das Novecento begann somit 1900 und endet heute. Die nordalpine Zählweise ist um ein Jahr verschoben und benötigt noch zwölf Monate, um das 20. Jahrhundert vollzumachen.
Jene, die schon immer gern vom Unerledigten ins Unabsehbare flüchteten, reden jedoch unverfroren vom Beginn des nächsten Jahrtausends. Als überzeugte Europäer dürfen wir jedenfalls in einem Jahr noch einmal von Herzen feiern. Daß die Werbeplaner diese doppelte Chance im Sinne eines Vorrohrkrepierers verjuxen, stellt ihnen kein gutes Zeugnis aus.

Doch bleiben wir bei der Architektur. Das Novecento startet mit lebensreformerischen Bestrebungen, dem Bruch mit Konventionen und der Besinnung auf frühbürgerliche Werte und Traditionen. Gestalter, Handwerk und Industrie finden sich in den Werkbünden und begründen das Industrial Design. Der Erste Weltkrieg mit den Schrecken von Grabenkampf und Gaskrieg erstickt die zarten Tendenzen. Angestauter sozialer Druck entlädt sich in Revolutionen.

In der Verzweiflung gedeiht der Glaube an absolute Lösungen, die Tabula rasa wird rechts und links zum beherrschenden Paradigma. Von Industrialisierung und Moderne überzeugte Gestalter propagieren den totalen Ersatz des Bisherigen durch den „modernen Zweckbau“. Die Bewahrer des Alten reagieren auch nicht zimperlich. Das flache Dach gilt als bolschewistisch. Vorsichtig reformerische Bestrebungen werden zerrieben.

Ein weiterer Weltkrieg und totalitäre Ideologien zerstören sowohl die Kultur des einzelnen durch Traumatisierung, Entwurzelung und Tod als auch die Kultur gewachsener Gemeinschaften durch Rassismus, Angriffskrieg und Massenmord. Der Bombenkrieg führt zu Architekturzerstörungen größten Ausmaßes. Diese Traumata behindern lange ein Wiedererstehen qualifizierter Architektur- kultur. Der Wiederaufbau erzwingt Pragmatismus, Mittelmaß herrscht vor. Es kommt zu einer abgeschwächten Weiterführung von Moderne wie Gegenmoderne. Beide Strömungen unterliegen dem Bauwirtschaftsfunktionalismus unter modernistischer Tünche.

Die zunehmende ökologische und demokratiepolitische Verunsicherung in den sechziger und siebziger Jahren provoziert ein Infragestellen unreflektierter modernistischer Dogmen und das Ausrufen der Postmoderne, die sich zwar in der Breite als formalistischer Flop erweist, aber ein Nebeneinander verschiedener Strömungen zuläßt, die teils untereinander in erbittertem Streit liegen und die Kämpfe der zwanziger und dreißiger Jahre noch einmal durchspielen. - Heute, am Ende des Novecento, gibt es einmal den relativ breiten Strom einer pragmatischen Weiterführung der Moderne, dem es weitgehend gelungen ist, die inhaltliche Kritik einzuarbeiten. Neben zahlreichen Einzelbauten sind da und dort ansehnliche Ensembles moderner Raum- und Gestaltauffassung entstanden.

Die Betonung der Konstruktion in High-Tech-Manier zeitigt einerseits attraktive Leichtbauten, welche die Einflüsse von Flugzeugbau und Seglerromantik nicht verleugnen. Das Material Glas hat im Novecento eine beispiellose technologische Entwicklung durchgemacht, die heute allgemein verbreitet ist. Doch findet sich zuweilen ein konstruktiver Formalismus, der unangenehm in den Vordergrund drängt.

Die Negation klassischer Konstruktionsprinzipien führt zu einem gegenteiligen Ausdruck. Allerdings erfordert gerade dies noch viel eingehendere fachliche Kenntnisse und enorme konstruktive Kreativität, da die Entwürfe ja „baubar“ gemacht werden müssen, ohne daß der Ausdruck des Unkonstruktiven, des Nichttragens, ja Unbelastetseins verlorengeht.
Relativ exakt auf Peter Zumthor - oder auf Tadao Ando - läßt sich eine Bewegung zurückführen, die das Wesen des Materials betont, Holz als Holz, Stein als Stein, Beton als Beton und sonst als nichts anderes zur Geltung bringen will. Wohldosiertes Pathos und gekonnte Auratisierung spielen eine gewichtige Rolle. Wie schmal dieser Pfad ist und wie rasch die Stimmung ins Peinliche oder gar Lächerliche abgleiten kann, führen uns gewisse epigonenhafte Großbüros in diszipliniert uninspirierter Weise vor.

Übertragung von Wirkungsweisen aus der Kunst, vornehmlich aus der Minimal Art, bestimmen eine weitere Richtung. Als „neue Einfachheit“ arbeitet sie mit dem Pathos von Sparsamkeit und der Auratisierung von Verzicht. Extrem anspruchsvoll in der Ausführung, erträgt sie nicht die geringste optische Störung, da diese sofort unerwünschte Bedeutung erlangen würde.
Seit den siebziger Jahren bewegt die Frage der Ökologie und der Nachhaltigkeit die Gemüter. Was als oft sektiererische Bewegung begann, ist heute tief in die Lehre von Konzeption und Detailkonstruktion eingedrungen. Auf den architektonischen Ausdruck kann dies Auswirkungen haben, ist aber nicht zwingend.

F ragen des verdeckten Energieverbrauchs und der Raumplanung werden wichtig. Das Nullenergiehaus auf dem Land bringt wenig, wenn zwei Erwachsene mit zwei Autos in die Stadt pendeln.

Neben diesen etablierten Strömungen finden sich da und dort experimentelle Tendenzen, die über formalistische Attitüden hinausreichen und an denen sich zeigt, daß die Debatte weitergeht.

In der zweiten Hälfte des Novecento wächst die Rolle der Medien bezüglich Information und Desinformation gewaltig an. Dabei soll nicht vergessen bleiben, daß sich Architektur am besten durch sich selbst vermittelt. Die Verselbständigung diverser medialer Wirklichkeiten, auch die der sogenannten virtuellen Architektur, zeigen nur umso deutlicher die Unersetzlichkeit der direkten Architekturerfahrung auf, die mit allen Sinnen, nicht bloß mit den Augen, erfolgt; wo nicht zuletzt reale Gebrauchsspuren vor dem Hintergrund kulturgeschichtlichen Wissens Bedeutung erlangen. Die neuen Medien kommen daher zu den bisherigen dazu und stehen mit diesen in Konkurrenz um Gunst und Zeitbudget des Publikums.
Da Gebautes eine längere Errichtungszeit voraussetzt und nicht pausenlos nach Opportunität veränderbar ist, ist Architektur nur bedingt populismus- tauglich. Man braucht sich daher nicht allzusehr zu sorgen, das aufgemotzte Pathos eines politischen Sattelbefehls ist kurzlebig. Architektur entfaltet ihre Breitenwirkung in nachhaltiger Verzögerung.

Wir sind also am Ende des Novecento angelangt. Als Bild dient uns eine Photographie des Theatersaals der Jesuiten, angefüllt mit dem Gerüst, das den provisorischen Boden für die Restaurierung der Deckenfresken trägt. Das dienende Raumgitter füllt den Großraum, macht Raum quasi sichtbar, neutralisiert ihn aber zugleich bezüglich seiner Benutzung. Das Gerüst gewinnt ästhetische Qualitäten. Der temporäre Zustand hat Dauer. Wir haben einen Zwischenstand vor uns. Die Arbeiten sind noch nicht abgeschlossen.

Anstelle eines Ausblicks frage ich, was wir vom Novecento lernen können: Zuvörderst die Erkenntnis, daß das Prinzip der Tabula rasa nur selten zielführend ist. Das Neue leistet nicht vollständigen Ersatz des Bisherigen, es kommt vorerst einmal dazu, muß sich in der Praxis und unter sich verändernden Bedingungen bewähren, gegenüber noch neueren Ansätzen behaupten. Ein Prozeß, der weder logisch noch gerecht und ohne Garantien abläuft.

Soziale Fragen werden nicht mit Architektur gelöst, sondern müssen von der Politik vorbereitet werden und in taugliche Programme umgegossen werden. Die Architektur kann in der Folge Antworten anbieten. Vergessene Fragen und unterdrückte Antworten suchen sich dennoch ihre Räume, auch ohne Architekten. Es gilt daher vorab, die Bestellqualität auf Bauherrenseite zu verbessern und deren Verantwortlichkeit durch Repersonalisierung zu erhöhen.

Die immer wieder genährte Hoffnung auf einen „neuen Menschen“, der die neue Architektur richtig nutzt und empfindet, ist eine Illusion. Da wird auch Gentechnologie nicht weiterhelfen. Man wird mit Menschen, wie sie sind, arbeiten und kultivierend tätig sein. Nicht auf schnellen Vorteil bedacht, sondern auf nachhaltige Entwicklung. In der Rückschau wird man es dann Hochkultur nennen.

B edeutungen haften nur bedingt und zeitlich begrenzt an Formen und Bauwerken. Es ist die Nutzung, die ihnen mittelfristig ihre Bedeutung zuschreibt. Eine geistige Entideologisierung der Formen bietet daher neue gestalterische Freiräume, eine bewußte Übernahme von Formen samt Ideologie engt sie ein.

Nicht in Architekturzeitschriften sind neue Ideen zu suchen, sondern aus der Problemstellung heraus zu erarbeiten. Die Architekten sollen selber denken und nicht zirkelschließend im bedingten Reflex den Pawlowschen Hunden der Architekturkritik folgen. Radikalität oder Einfachheit sind nicht Qualitäten an sich. Eine Sache kann radikal falsch oder einfach dumm sein. Ob radikal oder behutsam richtig ist, folgt aus der Analyse der Aufgabe; ob ein Konzept einfach oder komplex sein soll, wird auch vom Kontext mitbestimmt.

Das Zwischenjahr mit den augenfälligen Nullen bietet somit genügend Stoff zum Überdenken - um dann weiterhin zu bauen.

Spectrum, Fr., 1999.12.31

11. Dezember 1999Walter Zschokke
Spectrum

Neu, aber nicht fremd

Hermann Kaufmann mit einem Biomasse-Heizwerk in Lech und Christian Lenz mit einem Apartment-Haus in Warth stellen einfrucksvoll unter Beweis: Auf den falschen Firnis verlogener Heimattümelei kann beim alpinen Bauen mittlerweile verzichtet werden.

Hermann Kaufmann mit einem Biomasse-Heizwerk in Lech und Christian Lenz mit einem Apartment-Haus in Warth stellen einfrucksvoll unter Beweis: Auf den falschen Firnis verlogener Heimattümelei kann beim alpinen Bauen mittlerweile verzichtet werden.

Nach den elegant ausgebauten Kehren an der Westseite des Arlbergs wenden wir uns kurz vor der Paßhöhe nach Norden, um auf der von zahlreichen Lawinengalerien geschützten Flexenstraße den Wintersportort Lech zu erreichen. Unterwegs taucht vor uns im Windschutzscheibenausschnitt ein großes, holzverschaltes Gebäude auf, dessen Frontseite hoch aufragt, während das Dach pultartig flach nach hinten abfällt.

Der Bau liegt einige hundert Meter vor dem Dorf, an einer Stelle, wo Straße und Flüßchen um den knappen Raum wetteifern und die Talflanken schluchtartig zusammenrücken. Es blieb gerade noch genug Platz, um das Biomasse-Heizwerk für das nahe Lech zu errichten. Die Straße fällt in einer Rechtskurve relativ steil ab. Ihrem äußeren Rand folgt konkav eine über zehn Meter hohe, oben holzverbretterte Wand.

Der als Stützmauer niedrig beginnende, gestockte Betonsockel wird mit fallender Straße höher, übernimmt dann die Funktion der Gebäudebasis, löst sich aber nach halber Länge auf in drei runde Stahlbetonstützen, hinter denen eine offene Vorhalle liegt. Immer höher wird der untere, nun verglaste Teil, während der obere, holzverkleidete, dem Gefälle der Straße folgend, abnimmt. Nach Norden ergibt sich daraus eine klare Teilung 1:1, oben Holz, unten Glas.

Der Baukörper des Biomasse-Heizwerks interpretiert feinfühlig Topographie und Straßenverlauf. Markant bildet er ein künstliches Engnis als Auftakt zum darauffolgenden natürlichen Engnis. Er dialogisiert mit den Mitteln von Volumen, Proportion und Material mit der bestehenden Situation und schafft zugleich einen neuen Ort. Und das alles ziemlich unprätentiös. Wie eine textile Decke scheint der Holzschirm über einem unsichtbaren Gestell zu hängen, an der Attika abgekantet, unten bündig abgeschnitten. Die Stirnseiten sind leicht zurückgesetzt, an der Südseite in Form zweier gebäudehoher Schiebetore, so hoch, daß die Lastwagen zum Entladen mit vorn hochgestemmtem Ladecontainer hinausschieben können.

Doch meist sind sie geschlossen, wirken fast abweisend. Ganz im Gegensatz dazu ist die Nordfassade mit Glaswand und Vorhalle einladend. Eine Besichtigung ist nicht ausdrücklich verboten, Kinder und Jugendliche sollen aber nur in Begleitung Erwachsener hineinschauen, besagt ein Hinweiszettel. Als ökologisch wichtige Maßnahme zur Luftverbesserung im Kurort, wo bei den nicht seltenen Inversionslagen Hausbrand und Autoverkehr die Schadstoffkonzentration unangenehm ansteigen lassen, ist die Anlage Teil einer Basisinfrastruktur zur nachhaltigen Verbesserung des touristischen Angebots. Über diese Nutzfunktion hinaus bildet die von Architekt Hermann Kaufmann gestaltete äußere Hülle eine Station in der Tradition alpiner Baukunst, wie sie Lois Welzenbacher und Franz Baumann für dieses Jahrhundert begründet haben.

Einige wenige Kilometer von Lech entfernt liegt das Bergdorf Warth. Doch trennt ein unverbauter Lawinenhang die beiden Wintersportorte. Am südöstlichen Siedlungsrand, mit Blick gegen Lech hat der Vorarlberger Architekt Christian Lenz ein Apartment-Haus an die Hangkante gebaut, das dieser Tage in Betrieb geht. Zwölf kleine und zwei etwas größere Einheiten sind in einem liegenden Prisma versammelt, vor dessen Südostfassade sich dreigeschoßig Balkone hinziehen, die an den Stirnseiten keck über das Gebäudevolumen hinausstehen.

Die übrigen drei Fassaden sind horizontal mit Lärchenbrettern verschalt. Noch strahlen sie hell und schnittfrisch, während die nahen landwirtschaftlichen Nutzbauten von Sonne und Wetter längst dunkelbraun gegerbt sind und dennoch den warmen Grundton nicht verloren haben. In der kühlen und trockenen alpinen Höhenlage hält Holz länger, kann es unbedenklicher bezüglich Feuchtigkeit eingesetzt werden, weil die organischen Zerfallsprozesse langsamer ablaufen. Holz ist daher ein ideales Material fürs Bauen in den Bergen.

Doch wissen gerade die Vorarlberger Holzbauspezialisten um die Brandgefährdung des Materials Holz. Das Innere des Apartment-Hauses ist daher durch Schotten aus Stahlbeton unterteilt, die auch die drei Stiegenhäuser umschließen. Die Apartments weisen zwei Zimmer, Bad und Kochnische auf. Der breite Balkon würde selbst bei Wintersonne zum vergnüglichen Frühstücken einladen – wenn nicht die weißen Pisten wirksamer lockten.

Das knapp kalkulierte, rational konzipierte Bauwerk erscheint nicht als Fremdkörper, weil es sorgfältig in die Topographie eingefügt wurde. An der Rückseite entsteht zwischen der zweieinhalbgeschoßigen Hausfassade und dem in den Hang eingegrabenen, erdüberdeckten Carport eine Gasse, die durch die drei Eingänge mit ihren kurzen, kragenartigen Wetterschutzvorbauten belebt wird.

Die mittlere Größenordnung des Gesamtbaukörpers wird durch diese Dreiteilung angenehm relativiert. Die Vorderfront,als Ganzes auf Fernwirkung bedacht, erhält mit der luftigen Balkonstruktur eine schleierartige Raumschicht vorgelagert, die das kantige Volumen weicher macht.

Dem Entwerfer gelingt es damit, in einer zeitgenössischen Formensprache zur nahen und ferneren Umgebung zu vermitteln, das Bauwerk zwar neu, aber in struktureller Hinsicht nicht fremd erscheinen zu lassen. Dies wird sich insbesondere als Qualität erweisen, wenn das Gebäude später mit wettergebräunter Hülle in schneefreier Landschaft steht. Da Schnee die Konturen weich werden läßt und vieles zudeckt, wirken Bauwerke im Winter meist „idealer“ und präziser von der Umgebung abgesetzt. Der Anblick im Sommer bildet daher eine härtere Prüfung.

Hermann Kaufmann und Christian Lenz arbeiten schon seit längerer Zeit in Ateliergemeinschaft. Meistens bearbeiten sie ihre Bauten individuell, bei komplexeren Aufgaben aber auch gemeinsam, da das Gespräch Eindringtiefe und Qualität steigert und Christian Lenz nach einem Jahr Designpraxis in Italien zusätzliche Aspekte einbringt.

Doch stehen sie in Vorarlberg nicht allein. Andere Büros arbeiten vergleichbar. Gesamthaft zeigt sich, daß zeitgenössische Architektur auch für die Tourismusindustrie selbstverständlicher geworden ist.

Auf den falschen Firnis verlogener Heimattümelei kann mittlerweile verzichtet werden. Die Kriterien verschieben sich hin zu zeitgenössischer architektonischer Qualität.

Spectrum, Sa., 1999.12.11

20. November 1999Walter Zschokke
Spectrum

Wie man Flatterecho vermeidet

Die Skepsis war groß: Würde es gelingen, die Gebäude der Veterinärmedizinischen Universität im dritten Wiener Gemeindebezirk für die Universität für Musik und darstellende Kunst zu adaptieren? Reinhard Gallister schaffte es – mit Eingriffen in den klassizistischen Zweckbau.

Die Skepsis war groß: Würde es gelingen, die Gebäude der Veterinärmedizinischen Universität im dritten Wiener Gemeindebezirk für die Universität für Musik und darstellende Kunst zu adaptieren? Reinhard Gallister schaffte es – mit Eingriffen in den klassizistischen Zweckbau.

Die ausgedehnten Anlagen des ehemaligen kaiserlichen „Tierarznei-Instituts“hinter der Straßenzeile an der Ungargasse im dritten Wiener Gemeindebezirk, die mit ihrer eher bescheiden wirkenden Hauptfront zum Bahneinschnitt orientiert sind, befanden sich in einem desolaten Zustand. Sie waren in den Jahren 1821 bis 1823 von Johann Aman (1765 bis 1834) errichtet worden, dessen Name wohl nur einem kleinen Prozentsatz der Fachleute heute noch geläufig ist. Damals war er immerhin Hofbaumeister, und sein in sprödem Klassizismus errichteter Zweckbau hat seine kühle, disziplinierte Grundhaltung mittlerweile wiedergewonnen. Anfangs hatten nicht wenige gezweifelt, ob diese Substanz für die Verwendung als Musikuniversität überhaupt taugen könne.

Es bedurfte eines ausgeprägten Möglichkeitssinnes, in den von zahlreichen Einbauten und abgehängten Decken überwucherten, mehrheitlich als Labors genutzten Baustrukturen die historischen wie die künftigen Räume zu erschauen, in denen neu die universitäre Musikausbildung in Wien stattfinden sollte. Reinhard Gallister als Architekt und Generalplaner sowie Gerhard Buresch von der Bundesimmobiliengesellschaft als Bauträgerin und die Gruppe der Nutzervertreter um Rektor Erwin Ortner standen daher vor einer anspruchsvollen Aufgabe.

Johann Aman hatte den Hauptbau der Tierarznei-Schule um einen querrechteckigen Hof organisiert, auf den er den Erschließungsgang orientierte. Die Treppenhäuser befinden sich jeweils in Traktmitte. Die Hauptansicht zum heutigen Bahneinschnitt –damals der Wiener Neustädter Kanal, dessen unterste Schleusenstufe sich exakt vor dem Hauptbau befand – zeichnete er durch einen palaisartigen Mittelbau aus; niedrigere, freistehende Flügelbauten verliehen der Schaufront zusätzliche Breite. Heute ist sie durch den unregelmäßigen Baumbestand in ihrer Wirkung leider ziemlich eingeschränkt. Ein auf die Architektur abgestimmtes gärtnerisches Pflanz-und Pflegekonzept würde die Wirkung auf mittlere Distanz wesentlich verbessern.

Das Innere der Gebäude wurde durch die Erneuerung wieder auf seine ursprünglichen räumlichen Strukturen zurückgeführt. Eine Mittelmauer in asymmetrischer Lage trennt Gang- und Foyerbereiche von den Übungssälen und -zimmern. Dabei kommen die Mauerstärken von über einem Meter den akustischen Bedürfnissen entgegen. Einziger Störfaktor ist die Bahnlinie, insbesondere die Güterzüge, weshalb die empfindlichsten Nutzungen in den hofseitigen Trakten untergebracht wurden.

Das gesamte Erdgeschoß ist massiv überwölbt, was den Räumen zu einem feierlichen Ausdruck verhilft. Die Mauern und Gewölbekappen wurden glatt geputzt und weiß gestrichen, wodurch die klaren räumlichen Dispositionen zutage treten. Dazu im Gegensatz stehen die Treppenhäuser, die Aman in rauhem Muschelkalk, aber in feiner Detaillierung ausgeführt hatte, sodaß sie sich mit ihrer materialen Kraft vom abstrahierenden Weiß absetzen. Ein bequemes Stufenverhältnis von 13 zu 40 Zentimetern – heute gelten 16 auf 30 Zentimeter als Norm – bestätigt, daß die Treppenanlagen nebender säulengeschmückten Eingangshalle dem Hofbaumeister gestalterisch ein Hauptanliegen gewesen sein müssen. Von der damaligen Festsaalgestaltung ist hingegen nichts erhalten.

Dieser durchaus noblen, vom Bundesdenkmalamt gewürdigten Struktur überlagerte Architekt Gallister sein System hinzugefügter Elemente, das in Form unterschiedlich gearteter Paneele klar als neue Maßnahme erkennbar bleiben wird. Damit ist die historische Struktur nicht verunklärt, sondern erfährt eine Präzisierung und Steigerung.

Alle Übungsräume mußten mit Doppeltüren ausgestattet werden. Dies wurde so gelöst, daß gangseitig ein Paneel vor die Mauer gestellt wurde, in das eine oder mehrere Türen bündig eingeschnitten sind. Der warme Buchenholzton erzeugt in den Gängen und Foyers eine angenehme Stimmung. Die Holzverkleidung zieht sich nun in der Türlaibung nach innen und weitet sich im Übungszimmer wieder zum Paneel – oft sogar noch in einer Raumecke weitergeführt – ,in das die Tür wieder bündig eingeschnitten ist. Feine Lochungen überziehen zwecks Dämpfung des Halls innen und außen und im Türzwischenraum die in Buche furnierten Tafeln. In aufwendiger Konstruktion sind sämtliche Zwischenwände in den Übungsbereichen doppelt ausgeführt und um einige Winkel gegeneinander verschwenkt, was mit dem Auge nicht bemerkbar ist, sich aber raumakustisch positiv auswirkt, da ein Flatterecho vermieden wird.

Die Decken der überwölbten Räume mußten speziell behandelt werden, da konkave Flächen extrem problematisch sind, weil sie die Schallwellen fokussieren. In Zusammenarbeit mit dem Akustiker Karl Bernd Quiring entwickelte Gallister ein abgehängtes konvexes Paneel, in das auch die Beleuchtungselemente integriert worden sind. Ebenfalls in Buche furniert, trägt es mit dem Parkettboden zu einer wohnlichen Raumstimmung bei, ohne daß der Sachverhalt der Überwölbung wie bei einer abgehängten Decke ausgeblendet wäre. Im Gegenteil, die in den Gewölbeansatz hinaufgreifenden Anschnitte der Rundbogenfenster bleiben sichtbar.

Mag sein, daß der spröde Klassizismus des Johann Aman heute anders gesehen wird als noch vor wenigen Jahrzehnten. Die zeitgenössische Architekturströmung einer schnörkellosen Einfachheit schafft es jedenfalls ausgezeichnet, mit den klaren Proportionen der Räume und dem kühlen Weiß der Mauern in Dialog zu treten.– Die Lage der Gangbeleuchtung ist auf die Fensterachsen der Hoffassade abgestimmt und in „Striche“(Fluoreszenzleuchten) sowie große (Tiefstrahler) und kleine „Punkte“ (Halogenleuchten) differenziert.

Es ergibt sich, entsprechend den Fensteröffnungen für das natürliche Licht, eine architektonisch gebundene Ordnung für die Beleuchtung, auf die zudem die jeweiligen Längen der Türpaneele abgestimmt wurden, sodaß ein subtiles Zusammenwirken von Decke und Wänden entsteht, das zwar kaum explizit wahrgenommen wird, aber dennoch räumlich eine Rolle spielt.

Konzertsäle und Studioräume erfuhren unter Beiziehung des Akustikers eine intensive Bearbeitung. Mehrere Paneele – teils verschwenkt und hart, teils hinter einer leichten Stoffbespannung weich und veränderbar – bestimmen sowohl akustisch als auch gestalterisch den Raum. Hier setzte Gallister gezielt Farbe ein, um den Sälen Individualität und zusätzliches Flair zu verleihen. Die Fensterwände blieben unverändert, sodaß eine Gesamtidentität gewahrt bleibt.

Mit sparsamen architektonischen Interventionen gelang es bei diesem Bauwerk, den kargen Ausdruck klassizistischer Zweckarchitektur in eine geringfügig, aber entscheidend festlichere Stimmung zu versetzen, die der international gewichtigen Wiener Universität für Musik und darstellende Kunst angemessen ist.

Spectrum, Sa., 1999.11.20



verknüpfte Bauwerke
Universität für Musik und darstellende Kunst - Umbau

30. Oktober 1999Walter Zschokke
Spectrum

Kunstraum auf Luftkissen

Differenziert und ausgewogen zugleich: Das neueste Bauwerk von Architekt Heinz Tesar bietet der Sammlung von Agnes und Karlheinz Essl in Klosterneuburg Raum und Heimstatt.

Differenziert und ausgewogen zugleich: Das neueste Bauwerk von Architekt Heinz Tesar bietet der Sammlung von Agnes und Karlheinz Essl in Klosterneuburg Raum und Heimstatt.

Da Stadtgebiet von Wien wird etwas außermittig vom Donaustrom in nordwest-südöstlicher Richtung durchschnitten. Vor den Grenzen der Stadt, aber noch in ihrem Wirkungsbereich – und auch nicht allzu weit entfernt vom Strom – liegen im Südosten und im Nordwesten zwei Pole einer Unternehmenskultur, für die sich im Kleinstaat nicht so leicht Vergleichbares findet. Der Mega-Baumarkt im Südosten, in Schwechat, steht für das ökonomische Fundament des Schömerkonzerns. Seine dynamische Architektur, von Dieter Henke und Marta Schreieck entworfen (siehe „Spectrum “vom 7.November 1998) zählt zu den absoluten Glanzlichtern unter den oft belanglosen Angeboten für diese Bauaufgabe.

Im Nordwesten, am Rande des Auwalds, überragt von der Klosterneuburger Stadtsilhouette, ruht blockhaft unverrückbar das neueste Bauwerk von Architekt Heinz Tesar, das der Sammlung des Ehepaars Agnes und Karlheinz Essl Raum und Heimstatt bieten wird. Unweit befindet sich seit 1987 der Sitz der Firmenzentrale, ebenfalls von Heinz Tesar entworfen, ein Hauptwerk aus dem Schaffen der „Wiener Szene , die aus ihrer kritischen Haltung zur Moderne kein Hehl machten. Seine ovale Mittelhalle und die Galerien dienten bisher der Präsentation der wachsenden Kunstsammlung der Firmeninhaber. Die drei Bauwerke sind Teil des breiten kulturellen Engagements der Familie Essl.

Die Lage des Neubaus zwischen Auwald und den Verkehrsträgern Straße und Eisenbahndamm, von letzterem räumlich abgesetzt durch einen Weingarten, kommt dem mächtigen Solitär zupaß. Der Bauplatz gehört gerade nicht mehr zum Gewerbegebiet, ist diesem aber noch verbunden, weil er nicht auf der Stadtseite, sondern auf der Stromseite der Bahnlinie liegt, eine qualitative Trennung, die erst die jüngste Zeit relativiert hat.

Ein hoher Sockel aus Sichtbeton, der aber mittels einer Schattenfuge vom umgebenden Terrain abgesetzt ist, trägt den weiß geputzten Überbau. Das mächtige Volumen negiert visuell die erwartete Verankerung im Erdreich und wirkt daher leicht angehoben, wie auf einem Luftkissen.

Die ungefähr dreieckige Grundkonfiguration ergibt drei Fassaden und drei Eckausbildungen. Dabei ist die Ansicht zur Stadt geeignet, aus Distanz betrachtet zu werden. Sie ist nach Westen orientiert und wird im Sockelbereich durch drei große Dreiecknischen in ihrer Länge gegliedert und von sechs Oberlichtgaden gekrönt, die über einer weitgehend geschlossenen Wand aufgereiht sind. Die Nordwestspitze des Baukörpers löst sich in gefächerte Betonscheiben und einen zylindrischen Erker auf. Beide Maßnahmen bieten dem Sog der langen Fassade sowie der Versuchung zum Pathos Widerstand und halten den Baukörper ohne Anstrengung an der Stelle. Die Südecke ist zu einem rechten Winkel beschnitten, ein kräftiges, turmartiges Prisma setzt hier den Akzent. Weich schwingt sich die flache Kuppe des Daches über der oberen Ausstellungshalle in die entgegengesetzte Richtung und schafft einen Ausgleich.

Die anderen beiden Fassaden treten von der Zufahrtsstraße her übereck in Erscheinung. Das schlanke Liftprisma vor der Südostseite betont die Eingangssituation, während die nordöstliche Flanke ruhig und geschlossen wirkt, ohne jedoch abzuweisen. Der Schwung des Daches nobilitiert das Bauwerk in sparsamer Weise. So ist das gesamte Äußere differenziert und ausgewogen zugleich.

Eine kleine Rampe überwindet den einen Meter Höhendifferenz zum Eingang, der über dem Niveau des 1000jährigen Hochwassers liegt, zum Schutz der Depots im Sockelgeschoß. In der hohen Eingangshalle entwickelt sich die Treppe kunstvoll nach oben und erschließt auch die beiden Zwischengeschoße, die auf dieser Seite eingeschoben sind. Hat man – mit Lift oder über die Stufen – die Ausstellungsebene erreicht, werden die Besucher von einem Foyer empfangen, dessen breite Glaswand zum begrünten Innenhof geöffnet ist. Damit wird ein Eindruck vermittelt, als würde man noch einmal im Erdgeschoß beginnen. Hier bietet sich ein Rundgang an: nach links, mit den sieben Oberlichtsälen beginnend, oder nach rechts, durch die untere Ausstellungshalle, die über Seitenlicht verfügt und von unterschiedlich breiten Mauerscheiben zoniert wird. Den langen Raum begleitet die Spalte eines Deckendurchbruchs in die darunter befindlichen Depots. Der Blick fällt in den Manipulationsgang; Unten und Oben werden in Beziehung gesetzt; die Ausstellungsfläche dient als Schauseite einer dichtgepackten Sammlung.

In der Ausstellungshalle fällt der Zylinder einer gebogenen Wand auf, hinter der eine Treppe nach oben führt. Als Galerie tangiert der Weg hinauf die oben offene Rotunde, es entsteht ein Übergangsraum, der zwischen den beiden Ausstellungshallen liegt. Von unten betretbar und von oben einsehbar, gehört er zu beiden Ebenen und scheidet sie als Mittler dennoch voneinander. Die obere Halle wird von der Dachkuppe überwölbt. Lichtschlitze die mit zunehmender Raumhöhe dichter stehen, verstärken dynamisch das räumliche Empfinden. Im vorderen Bereich sind hier der Shop und das Café angeordnet, eine Glaswand hält Störgeräusche ab.

Räumlich sind die Säle und Hallen von großer Mannigfaltigkeit. In den Oberlichtsälen gehen die Wände konkav gerundet in die Decke über, aus der dann wieder ein Trapez für die Lichtgaden ausgeschnitten ist. Lichtquelle und Abschattungsmaßnahmen bleiben sichtbar. Die Bildbetrachtung stören sie kaum, weil sie hoch liegen und eine obere Raumkante durch die Rundung vermieden wurde.

Die Verbindungen zwischen den Sälen sind von zweierlei Gestalt: einmal als pfortenartige Durchgänge, die aus den trennenden Wänden herausgeschnitten sind, und einmal als schlitzartige Durchlässe entlang der schrägen Außenmauer. So erhält jeder Raum eine klassische und eine moderne Öffnung. Daraus ergeben sich Gruppierungsmöglichkeiten, harte Schnitte und gleitende Übergänge finden eine räumliche Basis. Spontan wirkende Ausblicksfenster in Bodenhöhe oder an Raumkanten konterkarieren die Strenge der weißen Wand, ihre schlitzartige Dimensionierung vermeidet jedoch eine Konkurrenz zu den Bildern.

Dennoch werden die Kunstwerke hier nicht wie Pflegefälle behandelt, die nicht dergeringsten visuellen Störung ausgesetzt werden dürfen, weil ihre Aura Schaden nehmen könnte. Vielmehr vertraut man auf die Kraft der Werke, deren Wirkung von den gezielt gesetzten Öffnungen und der räumlichen Varianz kaum geschmälert, sondern vielmehr verstärkt werden kann.

Dasselbe gilt in der unteren Ausstellungshalle, wo verschieden breite Wandscheiben eine auf den ersten Blick zufällig wirkende Gliederung in Raumzonen vorgeben. Der Raum ist hier offener, es entstehen mehr und gestaffelte Durchblicke. So können Bilder und Plastiken auch räumlich – nicht bloß nebeneinander – konfrontiert werden. Und einem freien Flanierender Besucher bieten sich Durchgänge und Durchschlupfe an. Die obere Halle will dagegen als Ganzes gesehen werden, auch wenn die offene Rotunde zonierend wirkt; aber der Schwung der Deckenkuppe ist stärker.

Heinz Tesar erzeugt mit seinen vielfältigen Raumkonfigurationen gleichsam eine Art Topographie, auf die mit der Positionierung der Kunstwerke eingegangen werden kann. Dennoch ist jederzeit eine Ortung möglich, Ausblicke und Durchblicke zeigen an, wo im Gebäude man sich gerade befindet. Oft läßt er ein Thema fast bruchstückhaft anklingen, gerade so weit, daß eine spezifische Stimmung entsteht, aber auch so knapp, daß ein Klischee vermieden wird. Damit gelingt es ihm, neben normalen Wandflächen zahlreiche mehrdeutige Plätze für Kunstwerke anzubieten, die erst mit deren Inhalt und Präsenz fixiert werden. Ein Ausloten dieser räumlichen Vielfalt mit der Schau zur Eröffnung und mit künftigen Ausstellungen dürfte dem Kunstgenuß angenehm förderlich werden.

Das Pionierwerk der Familie Essl kann nicht hoch genug gewertet werden. Zeitgenössisches Kunstschaffen trifft wegen mancherlei Ungleichzeitigkeiten beim Erfahrungsstand von Kommentatoren und Betrachtern oft zu Unrecht auf Mißverstehen. Hier kann das Engagement privater Sammler weit besser als der staatliche Museumsbetrieb anregend, entspannend und vermittelnd wirken, weil die persönliche Identifikation, ja die Besessenheit dieser Kunstfreunde direkt spürbar wird, sodaß die Funken überspringen und sich Menschen auf Werke einlassen, denen sie vorher ablehnend gegenüberstehen mochten. Wenn sich öffentliches und privates Engagement in einem derartigen Wechselspiel entwickeln können, öffnet sich ein Ausweg aus der Sackgasse, in die eine vornehmlich staatliche Kunstpolitik immer wieder zu geraten droht. Das Gegengewicht dieser vielgleisigen und wendigeren privaten Kunstpolitik gibt den Kunstschaffenden mehr Bewegungsraum und Unabhängigkeit.

Spectrum, Sa., 1999.10.30



verknüpfte Bauwerke
Museum Sammlung Essl

09. Oktober 1999Walter Zschokke
Spectrum

Künstlerschweiß und Coladose

Stehen wir vor einer Wende in der Architektur? Was nützt das Herbeireden und Herbeischreiben, wenn die Architekten nicht weitertun? Nichtraucher und Nichttrinker debatierten aufs heftigste, wie es mit er Architektur weitergehen soll, und wurden dabei belauscht.

Stehen wir vor einer Wende in der Architektur? Was nützt das Herbeireden und Herbeischreiben, wenn die Architekten nicht weitertun? Nichtraucher und Nichttrinker debatierten aufs heftigste, wie es mit er Architektur weitergehen soll, und wurden dabei belauscht.

Der Berichterstatter konnte sich in letzter Zeit nur selten im Café Museum gemütlich hinsetzen, um dem Nichtraucher und dem Nichttrinker bei ihren Auslassungen zum aktuellen Architekturgeschehen zuzuhören. Weil er ihre Sager nicht ganz aus den Ohren verlieren wollte, hat er sich wieder einmal dazugesetzt, sich kundig zu machen. Wie in Wien nicht unüblich, definieren sich die beiden Kontrahenten dezidiert durch das, was sie ausdrrücklich nicht tun.

Nichttrinker:„Da war doch kürzlich eine Ausstellung über ein halbes Hundert Bauten in Österreich; und wenn ich mich richtig erinnere, lautete der Kommentar eines ernstzunehmenden Vertreters der Wiener Szene: ,Endlich haben wir in Österreich wieder einen Stil.‘ Dabei ist doch das Zeitalter der Stilkunst längst vorbei.“

Nichtraucher:„Da der Betreffende nikotnfrei lebt, schließe ich mich solidarisch seiner Meinung an. Ob eine breite Entwicklung als Stil identifizierbar wird oder ob sogenannte Stararchitekten seit 30 Jahren denselben Personalstil pflegen, ist unerheblich. Kommt eine Entwicklung ins Stadium eines Stils, ist es mit der Innovation vorbei. Stilexegeten verwalten nur mehr ein Schleifen am Ei. Seien dies nun die Neueinfachen mit faden Oberflächen und Lamellenkrankheit oder die High-Tech-Veteranen mit exhibitionistisch verschraubten Konstruktionen – letztendlich macht sich Langeweile breit.“

Nichttrinker:„Du machst die führenden Strömungen bloß aus Neid herunter. Je bekannter ein Baum, desto mehr Hunde lüpfen daran ihr Bein. Die Reinheit, ob in der Geometrie, der Konstruktion oder dem Material,dbildet in der Architektur einen Wert an sich. Das Streben nach absoluter Perfektion hat sie und ihre Schöpfer immer schon geadelt. Am meisten bewundert werden seit jeher jene Gebäude mit der reinsten Ausformulierung ihrer Architektur.“

Nichtraucher:„Interessanter sind allemal die Pionierwerke, weil daran die Entwicklung, quasi das fortschreitende Denken ablesbar ist. Man spürt dahinter die geistige Arbeit und kann das Wesen des Bauwerks besser nachempfinden.“

Nichttrinker:„Du möchtest wohl noch Künstlerschweiß riechen. Nein, diese Art Naturalismus lehne ich ab als schlechte Art, eigenes Unvermögen zu kaschieren. Da lobe ich mir jene Werke,wo die Anstrengung sublimiert ist, die in keiner Weise auf gehabte Mühen verweisen. Nur so ist ein wirkliches Genießen möglich, alles andere verursacht mir schon beim Anschauen Muskelkater.“

Nichtraucher:„Deine Anschauung ist oberflächlich und dringt nicht in tiefere Schichten eines Bauwerks ein. Wenn man die von dir gelobten Bauten befragt, repetieren sie nur Stereotypen. Weder erzählen sie etwas von sich, noch setzen sie Gefühle frei. Ihre Wirkung ist nicht nachhaltig. Erst eine bewegte Geschichte vermöchte sie aus ihrer Endlosschleife zu befreien. Eine vielschichtige Architektur, die mit dem täglichen Leben und Erlebender Menschen verknüpft ist, benötigt keine pathetische Stilisierung, deren Designer nur nach en pawlowschen Hunden in den Redaktionssesseln der Hochglanzmagazine schielen.

Da las ich doch kürzlich ein paar einleuchtende Sätze des Burgtheaterdramaturgen Stephan Müller, der sich als Fan von Schichten bezeichnet: ,Wie Goethe schon sagte, die Verschichtung ist wesentlich. Es gibt immer soundso viele Bedeutungsebenen. Und auch eine Theaterfigur wir immer interessanter, wenn neue Schichten aufgebrochen werden. Mein Credo geht in die Richtung, die Dinge so kompliziert anzuschauen, wie sie in Tat und Wahrheit sind. Theater funktioniert dann, wenn es gleichzeitig etwas Elementares anspricht, das ganz konkrete Alltägliche, und einen Durchstich schafft in etwas Rätselhaftes, Unbekanntes‘ („Schaufenster „Nr.38/ 1999). Damit wird das Ende der ,terrible simplification ‘eingeläutet.“

Nichttrinker:„Warum sollte das Theater der Architektur Erkenntnisse liefern. Architektur ist auf Dauer ausgerichtet. Mit ewigen Werten wie Geometrie und Proportionen sowie langlebigen Materialien wie Naturstein, Beton und Chromstahl, was auch als Ruine noch etwas hergibt. Derartige Bauwerke zu errichten, braucht es Stars, die das verharzte Regelgefüge der Baugesetze überwinden können und deren Personalstil gesicherte Publizität genießt. Nur noch Stars werden den europaweiten Kulturkampf überleben, die Absolventen mittelmäßiger Architekturschulen werden alle als Unselbständige in Großbüros verdümpeln.“

Nichtraucher:„Deine sogenannten Stars kochen doch auch mit Wasser. Besonders außerhalb der Metropolen. Bregenz ist nicht Luzern, und die verquetschten Cola-Dosen am Prager Moldauufer haben mit Bilbao schon gar nichts gemein. Sie sind vielmehr ein eklatantes Beispiel westlicher Überheblichkeit, die meint, für die unterentwickelten Osteuropäer würden zweit- und drittklassige Entwürfe ausreichen.

Vor allem können auch sogenannte Stararchitekten ein verfehltes städtebauliches Nutzungskonzept nicht retten. Das wird sich beispielsweise an den Wiener Gasometern zeigen, die ihre überragende städtebauliche Zeichenhaftigkeit verlieren werden, wenn sie nutzungsmäßig profaniert sind.

Man bedenke nur, was für ein tolles Technisches Museum dort mit Bahnanschluß und U-Bahn-Station möglich gewesen wäre. Dafür baut man daneben ein Kinocenter, was auch eine gescheite Nutzung für einen der Riesenkübel gewesen wäre. Hier liegt es im argen. Hier fehlen tragfähige Konzepte. Der Wille allein, ein besonderes Bauwerk zu errichten, das in den medialen Infight gehen kann, reicht nicht aus. Ohne konzeptionelle Basis können auch die Spin-Doktoren der Architektur nicht weiterhelfen.“

Nichttrinker:„Du weißt nicht, wovon du sprichst. Die neuen Medien und CAD werden die Architektur komplett umkrempeln. Da wird kein Stein auf dem anderen bleiben.“

Nichtraucher:„Gemach, gemach. Was nicht vorher als Konzept durchgdacht wurde, läßt sich auch nicht in den Computer tippen. Und warum sollte ich meine Freude beim Entwerfen ans Gerät abgeben? Wenn die Euphorien verflogen sind, werden die Ideen über die Implikationen des Arbeitsmittels – und mag es noch so dienstbar sein – die Oberhand behalten.“

Vegetarier (hat sich mittlerweile dazugesetzt): „Euer Streiten über gestrige Probleme ist ja rührend naiv. Die jungen Büros sind längst woanders. Sie arbeiten parallel mit Modellen, Zeichnungen und CAD, weil jede Darstellungsmethode im Prozeß der Konzept- und Formfindung ihre spezifischen Vorteile hat. Arbeitsmittel haben seit jeher dazu gedient, die Idee in verschiedenerlei Hinsicht zu überprüfen. Wem nichts einfällt, dem ist auch mit CAD nicht zu helfen.“

Spectrum, Sa., 1999.10.09

18. September 1999Walter Zschokke
Spectrum

Spröde Askese, barocke Pracht

Ein multifunktionale Foyer und ein Tiefspeicher mit einer Kapazität von 6700 Fachmetern: so bieten sich die Räumlichkeiten unter dem Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek nach der Neugestaltung durch Alessandro Alverà und Sepp Müller dar.

Ein multifunktionale Foyer und ein Tiefspeicher mit einer Kapazität von 6700 Fachmetern: so bieten sich die Räumlichkeiten unter dem Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek nach der Neugestaltung durch Alessandro Alverà und Sepp Müller dar.

Der Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek ist wohl den meisten Kulturinteressierten ein Begriff; viele haben ihn gesehen und vielleicht die Zahl der dort aufgestellten Bücher zu schätzen versucht. Auch wenn – nach offiziellen Angaben – zirka 190.000 Bände in den barocken Regalen aufgereiht sind, reichte der Raum schon lange nicht mehr aus, um die umfangreichen Bestände zu fassen. Daher dienten die darunterliegende erdgeschoßige Halle und auch die Untergeschoße als Bücherspeicher.

Diese Substruktionen stammen offenbar bereits aus dem 17.Jahrhundert und wurden in den Entwurf einbezogen, den Johann Bernhard Fischer von Erlach (1656 bis 1723) am Ende seiner Lebenszeit konzipierte. Ob der Vorbestand als Reithalle, Remise oder Pferdestall gedient hatte, ist unklar. Jedenfall waren die Fundamente im lehmigen Untergrund den erhöhten Pressungen durch den von Joeph Emanuel Fischer weitergeführten und erst 1735 vollendeten Kuppelbau nicht gewachsen.

Hofbaumeister Nicolaus Pacassi (1716 bis 1790) ließ daher schon Mitte des 18.Jahrhunderts Verstärkungspfeiler hochziehen, die vom Keller durch Erdgeschoß und Prunksaal führen und die Kuppel stützen. Heutigen Augen wird es schwerfallen, den gestalterisch integrierten Eingriff zu erkennen. Die Kuppel elbst wurde an der Basis mit einer Umgürtung versehen, wie die damals zur Vertärkung elbst am Petersdom erforderlich war. Eine Verbesserung des Zugangs zum Prunksaal erfolgte zu Beginn des 20.Jahrhundert durch den Einbau eines kleinen Vestibüls an der südöstlichen Stirnseite. Friedrich Ohmann zeichnet für den Entwurf verantwortlich. Zehntausende sind seither durch das kleine Kuppelrund zur barocken Prachtstiege geschritten, um den Prunksaal zu besuchen.

Der Bau des neuen Bücherpeichers im Burggarten und die verwaltungsrechtliche Umstrukturierung der Österreichischen Nationalbibliothek zur Teilrechtsfähigkeit schufen die Voraussetzungen für eine Neugestaltung des Erdgeschoßes. Das Konzept sah in den tonnenüberwölbten Räumlichkeiten ein multifunktionales Foyer vor, während in den drei Untergeschoßen die Sammlung von Inkunabeln, alten und wertvollen Drucken untergebracht werden sollte. Dieser Tiefspeicher weist eine Kapazität von 6700 Fachmetern auf, wie der Leiter die er Abteilung, Gerhard Wilhelm, ausführt. Davon sind 5300 Fachmeter für den heutigen Bestand, der 220.000 Bände beträgt, genutzt. Für weitere 50.000 Bände steht Reserveraum bereit. Die Sammlung umfaßt die Bestände seit Einführung des Buchdrucks im 15.Jahrhundert bis 1850, dem Ende der ausschließlichen Verwendung der Handpresse.

Die alten Gestelle wurden wiederverwendet, nur die hölzernen Fachbretter mußten durch solche aus Blech ersetzt werden, um die potentielle Brandlast zu reduzieren. Auf stählernen Gitterrosten aus den dreißiger Jahren bewegt sich der staunende Besucher in den mehrgeschoßigen Abteilungen des klimatisierten Tiefspeichers.

Man muß kein Büchernarr sein,um zwischen diesen Regalen und den zahllosen ledernen Buchrücken Ehrfurcht zu empfinden. Das konzentrierte Wissen und die kulturelle Leistung von Generationen finden hier ihr geordnetes Gedächtnis .Beruhigt nimmt man daher zur Kenntnis ,daß eine Brandchutzanlage existiert, die mit dem Löschgas Energen einen Brandherd im Keim ersticken würde. Ein Aufzugsschacht, der an der Südwestecke in die mächtigen Mauern geschrämt wurde, verbindet nun die drei unterirdischen mit fünf oberirdischen Geschoßen.

Erst diese Neuorganisation des Tiefspeichers befreite den Erdgeschoßraum von den Regalen, sodaß man nun als Normalbesucher darin herumspazieren kann. Der Architekt Alessandro Alverà erarbeitete den konzeptionellen Entwurf des neuen Foyers, während Architekt Sepp Müller und sein Mitarbeiter Stephan Seehof mit Planung und örtlicher Bauaufsicht betraut waren.

Der Eingang, bisher in einer Ecke des Josefsplatzes, liegt neu in der Mitte der Fassade, an logischer Stelle in dem von der Prunksaalkuppel gekrönten Risalit. Ein halbelliptischer Vorraum vermittelt zur zentralen Halle, deren Boden auf dem ursprünglichen Niveau, das etwa einen Meter unter jenem der heutigen Platzfläche liegt, belassen wurde.

Ein komplexes System von Stufen und rollstuhlgängigen Rampen erlaubt den Zugang zu den Seitenflügeln, ohne daß die architektonisch zentrierende Wirkung der Absenkung verlorengeht. Daß zu diesem Zweck die Pfeiler der Pacassischen Stützkonstruktion perforiert werden mußten, ist heute nicht mehr zu spüren, weil deren abschnürende Wirkung durch die seitlichen Passagen relativiert wurde, was den Raum insgesamt aufwertet.

Der nordwestliche Seitenflügel ist als Saal für festliche Anlässe, Konzerte und als Ausstellungsort eingerichtet. Als einziger Raumschmuck findet sich an der Stirnwand der blinde Kamin aus barocker Zeit, in dessen pylonartigem Aufsatz ein römischer Grabstein als Spolie eingeetzt ist. Von kräftiger Wirkung ist der Steinboden aus (rotem) Adneter Marmor mit eingesetzten Quadraten aus Untersberger Kalkstein. Das Muster entstammt dem darüberliegenden Prunksaal, nur wurden Hell und Dunkel vertauscht.

Der südwestliche Seitenflügel enthält eine kürzere Halle, in der die Portierloge und ein Shop die Zugangsachse zur Prachtstiege flankieren. Als vermittelnder Raum folgt Friedrich Ohmanns Vestibül. Das erneuerte Erdgechoß gewinnt nun eigenständige Qualität, und die räumliche Abfolge des Zugangs zum Prunksaal wird aufgewertet.

Im Gegensatz zu letzterem wird jedoch jede Prachtentfaltung vermieden; vielmehr ist die profane Gewölbekonstruktion glatt geputzt und geweißt, sodaß nach dem spröden Pathos des Verzichts die barocke Pracht ihre Wirkung entfalten kann. Da und dort finden sich kleine gestalterisch-intellektuelle Spitzfindigkeiten, die auf den räumlich-hi torischen Kontext Bezug nehmen. Sie zeugen von der intensiven Gedankenarbeit, die an das heute so einfach erscheinende, komplexe Bauwerk gewendet wurde.

Spectrum, Sa., 1999.09.18



verknüpfte Bauwerke
Österreichische Nationalbibliothek - Neugestaltung Foyer und Tiefspeicher

21. August 1999Walter Zschokke
Spectrum

Vom Wohnen im Hügel

Das Fertighaus ist ein architektonisches Stiefkind. Technische und Kostenvorgaben scheinen nur wenig gestalterischen Spielraum zu lassen. Gustav Peichls Entwurf verwirklicht indes eine Reihe klassisch moderner Postulate und genügt auchbaukulturellen Ansprüchen.

Das Fertighaus ist ein architektonisches Stiefkind. Technische und Kostenvorgaben scheinen nur wenig gestalterischen Spielraum zu lassen. Gustav Peichls Entwurf verwirklicht indes eine Reihe klassisch moderner Postulate und genügt auchbaukulturellen Ansprüchen.

Ein oberflächlicher Blick in einen Fertighauskatalog könnte glauben machen, die Moderne sei in dieses nicht unbedeutende Segment des Eigenheimbaus noch nicht eingezogen. In der Bauorganisation, der Vorfertigung und der Abwicklung jedoch hätten sich die Protagonisten des Neuen Bauens keine rationalere Praxis vorstellen können.

In den Anpreisungen tönt es allerdings wieder anders. So scheint es in der Fertighauswelt beispielsweise den Begriff „Beton “nicht zu geben. Das Gemisch aus Zement, Zuschlagstoffen und Wasser wird in einem Fall, da nicht Kies und Sand, wie sonst üblich, sondern – der besseren Dämmwerte wegen –Blähtonkügelchen als Zuschlagstoff dienen, so beschrieben: „Aus völlig naturbelassenem Ton werden ohne chemische Zusätze beizumengen, kleine, keramische Tonkügelchen gebrannt. Unzählige dieser Tonkügelchen sowie zu Zement veredelter Kalkstein (!) werden unter Anwendung modernster Fertigungstechnologien zu massiven Wand- und Deckenelementen geformt. “Wenn man diese Werbetexte liest, möchte man glauben, es seien biozertifizierte Heinzelmännchen am Werken.

Der äußere Eindruck ist fast durchwegs bieder, manchmal sogar ungestalt und plump. Ein diffuses Gemisch aus überkommenen und modischen Stilelementen, die oft reichlich ungeschickt amalgamiert werden, herrscht vor. Was dabei herauskommt, ist dennoch nicht unbewohnbar. Wirklich architektonischen Pfiff haben aber die wenigsten dieser effizient und kostengünstig hingestellten Häuser.

Doch gibt es seit geraumer Zeit Bestrebungen, auch im Fertighaussektor höheren architektonischen Ansprüchen zu genügen. Hans Kollhoff, Roger Diener, O.M.Ungers und andere lieferten entsprechende Entwürfe. In Österreich wird ein Vorschlag von Matte Thun angeboten.

Nicht ohne widerstrebende Gedanken hat sich nun Gustav Peichl mit seinem Partner Rudolf F.Weber dazu entschlossen, einen Entwurf für ein Fertighaus zu entwickeln. Die Vorgaben der Fertighausfirma legten die Systematik und den Wandaufbau fest. Die Grundrißgestaltung und die architektonische Wirkung stammen von den Architekten. Einschränkungen ergaben sich bei den Elementgrößen wegen der Transportierbarkeit mit Lastwagen.

Eine gewisse Flexibilität im Grundriß, etwas länger der kürzer, je nach Familiengröße und Bauherrnwunsch, war Bedingung. Dennoch sollte das Haus Charakter haben. Diesem Anliegen kam Gustav Peichl, der einen klar erkennbaren Personalstil pflegt, mit seinem Entwurf entgegen.

Längsschnitt und Seitenansicht folgen einem flachen Kreissegment. Hauptwohnebene ist das Erdgeschoß; im Obergeschoß bleibt unter dem Bogenscheitel Raum für eine Wohnzimmergalerie, eine windgeschützte Dachterrasse sowie einen der Terrasse zugewendeten Dachraum.

Der Erdgeschoßgrundriß ist langgezogen und unterscheidet sich damit vom Gros der Fertighausgrundrisse, deren Räume sich in aller Regel aneinander drängen. Ein langer Gang an der vorzugsweise nach Norden orientierten Eingangsseite bildet eine Art Rückgrat, von dem die Räume erschlossen sind. Ein kubischer Anbau enthält den Windfang. Er bildet zusammen mit dem locker angekoppelten Zylinder, der das Bad enthält, die stark plastische Charakterisierung der Eingangsseite. Das lange Rechteck des Grundrisses ist in der Mitte geteilt. Die westliche Hälfte enthält das Wohnzimmer mit dem Aufgang zur Galerie, die Küche und die Nebenräume.

Die östliche Hälfte ist den privateren Räumen,den Kinderzimmern und dem Elternschlafzimmer, vorbehalten. Besonderheit und zusätzliche Erschließung zieht sich an der Südseite vom Wohnraum bis zum Elternschlafzimmer ein gangartiger, mit Lamellen beschatteter Glasvorbau, der mittels Schiebetüren entsprechend dendahinterliegenden Zimmern unterteilbar ist. Fenster und Lamellenwände lassen sich zum Teil beiseite schieben. Nach Westen wie nach Osten ist jeweils ein geschützter Außenwohnplatz vorgelagert.

An diesem Grundriß ist einiges bemerkenswert: Da ist vorab der langgezogene Zuschnitt, der innerhalb des Hauses Distanzen schafft. Dies ermöglicht den individuell gewählten Rückzug ins Private. Die doppelte Erschließung, eine gleichsam offizielle vom Gang her sowie eine eher familiäre durch die Schiebetüren im südorientierten Glasvorbau, bietet ebenfalls Wahlfreiheit.

Mit über zwölf Quadratmetern sind die Kinderzimmer gut bemessen, und die differenzierten Außenwohnbereiche bieten für jede Jahres- und Tageszeit und für jede individuelle Stimmung Raum. Das Haus weist einige Exklusivitäten auf: die Wohnzimmergalerie, die Dachterrasse und nicht zuletzt das runde Bad. Da nicht anzunehmen ist, daß die Häuser batterieweise situiert werden, sondern vermutlich einzeln inmitten anderer (Fertig-) Häuser stehen, bleiben diese Eigenheiten identitätsstiftende Bes0nderheiten.

Man könnte nun einwenden, daß es dem Haus an Radikalität mangle, kein Loft, keine offenen Grundrisse und so weiter. Dem ist entgegenzuhalten,daß sich der Entwurf erstens an eine breitere Käuferschicht wendet und daß er zweitens eine ganze Reihe klassisch moderner Postulate verwirklicht, die bei den sonst üblichen Fertighäusern nicht berücksichtigt sind. Es steckt einiges an Lebensweisheit und Familienerfahrung indiesem Grundriß –und an kulturellem Bewußtsein auch.

Natürlich mag es etwas erstaunen, daß die wärmegedämmte Holzständerkonstruktin an der Außenseite mit Heraklitplatten verkleidet und mit zwei Zentimetern mineralischem Verputz versehen wird; doch ist dies nicht nur eine Konzession an die Wünsche der Konsumenten nach einer äußeren Anmutung von Dauerhaftigkeit, es entspricht auch dem Personalstil von Gustav Peichl, der seine Bauten schon immergern weiß verputzt hat. Und besser als der längerfristig bauphysikalisch problematische „Vollwärmeschutz “mit dem millimeterdünnen, elektrostatisch wirkenden Kunststoffverputz, der den Staub anzieht, ist diese Fassade allemal.

Die Qualität dieses Entwurfs liegt in seinem modernen Selbstverständnis – kombiniert mit ein paar zeitgenössischen Elementen wie den Sonnenschutzlamellen, versteht sich. Gustav Peichls Fertighaus: ein Pr0jekt,zudem demnächst in der „Presse “noch mehr zu lesen sein wird.

Spectrum, Sa., 1999.08.21

06. August 1999Walter Zschokke
Spectrum

Zwei Treppen über dem Alltag

Ob Loggia, Balkon oder Dachterrasse: eine private Aussenwohnfläche erhöht den Wohnwert beträchtlich. Gisela Podreka hat die Umgestaltung eines Althauskonglomerats in Wien-Hernals mit einem Dachgarten gekrönt, der ohne weiteres ein Wochenendendhaus ersetzt.

Ob Loggia, Balkon oder Dachterrasse: eine private Aussenwohnfläche erhöht den Wohnwert beträchtlich. Gisela Podreka hat die Umgestaltung eines Althauskonglomerats in Wien-Hernals mit einem Dachgarten gekrönt, der ohne weiteres ein Wochenendendhaus ersetzt.

Die Bretterroste es Bodens erinnern ein wenig an ein Schiffsdeck, anstelle einer Reling ziehen sich jedoch Pflanzentröge um das Bord. Das Häusermeer der Wiener Außenbezirke umbrandet hier eine kleine Insel: den Pezzlpark hinter dem Jörgerbad in Wien-Hernals.

Diesem von Leben erfüllten Grünraum ist er Dachgarten zugewendet. Der Ausblick gleitet über Baumkronen, hakt sich kurz fest an kaminbezahnten Dachfirsten und verliert sich in er wolkigen Weite es Himmels. Sehr viel Himmel, wie wir das sonst in der Stadt kaum gewohnt sind, überspannt das Sonnendeck. Er vermittelt ein Gefühl von Freiheit, von Entrücktheit – dabei liegt der Alltag bloß zwei,drei Treppen tiefer in den Bürogeschoßen.

Doch handelt es sich hier nicht um ein simples flaches Dach. Die Attika ist gesäumt von bepflanzten Trögen, in denen Blauraute, Schafgarbe und Lavendel mit Königskerzen und Karden abwechseln. Zur zarten Metallpergola ranken sich Glizinien hoch; empfindlichere Gewächse wie Feigen und Rosmarin wurzeln in Töpfen und können in der kalten Jahreszeit eingestellt werden.

Der konzeptionelle Entwurf für diese reichhaltige Bepflanzung stammt von der Landschaftsarchitektin Anna Detzlhofer. Sie weist darauf hin, daß die trockenen Stauden auch im Winter, bereift oder beschneit, einen interessanten Anblick bieten, weshalb sie erst im Vorfrühling zu schneiden sind. Jetzt, im Sommer, mag man noch nicht daran denken, sondern freut sich über en privaten Charakter,den die Pflanzen der Terrasse verleihen und sie in einen Dachgarten verwandeln, wo man in angenehmer Entrücktheit von der Adria träumen kann. Ein Zuviel an Sommersonne halten verschiebbare Stoffbahnen ab, die auch gänzlich eingezogen werden können, da man die Altweibersommer- und Frühjahrssonne ja ganz gern direkt genießt.

Eine solche Dachterrasse mit Bepflanzung ersetzt locker das Wochenend haus. Man spart sich Straßenverkehr und Schlepperei. Dabei muß sie gar nicht besonders groß sein. Es reicht, wenn sie von der Lage her und gestalterisch eine Welt für sich schafft, damit das Gefühl, dem Alltag ein wenig entronnen zu sein, zur Gewißheit werden kann. Sowohl in der Gesamtenergiebilanz als auch ökonomisch wirkt sich das positiv aus.

Natürlich gab es schon früher Dachzinnen, Söller, Altane; doch sie waren nicht für einen längeren Aufenthalt gedacht, sondern dienten meist als Ausguck. Und die Dachterrassen, die Le Corbusier 1922 in seinen fünf Punkten forderte, sind für heutige Bedürfnisse zu karg. Es bedurfte einer Kooperation mit Gärtnern und Landschaftsarchitektinnen, um jenes spezifische Zusammenwirken von Natur und Bauwerk zu erzielen, das Zufriedenheit schafft.

Das Wohnen im Dachgarten als zeitgenössisches Phänomen paßt zur Renaissance des Urbanen. Es verweist auf eine Wende in einer Entwicklung, die durch Stadtflucht und desurbanistische Strömungen in Architektur und Städtebau geprägt worden war. Nun wir man nicht jeder Wohnung einen Dachgarten zuteilen können. Dennoch ist im Außen-Wohnbau vermehrt darauf Bedacht zu nehmen, daß jede Wohnung über eine qualifizierte, möglichst ungestörte Außenwohnfläche verfügt. Das kann eine Loggia, ein kleiner Hof, ein vernünftig situierter Balkon oder eben eine Dachterrasse sein. Damit werden Bedürfnisse gestillt, die sich sonst in zusätzlicher Zersiedelung durch Wochenendhäuser äußern.

Schon sind die Mauersegler abgereist. Vor lauter sommerlicher Dachgartenbegeisterung wäre fast verschütt gegangen, daß unter jeder Dachterrasse auch ein Haus steckt. In unserem Fall hat es sogar eine rekonstruierbare Geschichte. Zu Beginn war es ein Hofgebäude und der Bergsteiggasse zugeordnet. Dicke, mehrschalige Wände schützten einen großen Eisraum vor sommerlicher Wärme, darunter befand sich ein Bierlager, das von der Eisluft und dem Tauwasser gekühlt wurde. Daneben schloß ein Pferdestall an.

Das zweigeschoßige Gebäude wurde 1929 von Kurt Gessner mit zwei zusätzlichen Geschoßen versehen, reichlich befenstert und in seiner Orientierung zum mittlerweile Park gewordenen rückwärtigen Raum gewendet. Nun blickt es mit der Hauptfront nach Westen, die sich in einer flachen Pilasterordnung über zwei Geschoße und darüber in zwei Bandfenstern äußert, deren Teilung für die Moderne ungewohnt kleinmaßstäblich ist. Genutzt wurde das viergeschoßige Bauwerk nun als Putzerei und Büglerei.

Auf seinen Stadtwanderungen war es Friedrich Achleitner aufgefallen, der das mittlerweile leerstehende Gebäude in seinen Führer aufnahm. Wäre der Grund nicht so knapp und die Verwertbarkeit nicht fraglich gewesen, stünde heute ein neues Haus an seiner Stelle. Der Möglichkeitssinn der Architekten Gisela und Boris Podrecca bot die Chance einer Sanierung: Büronutzung in den unteren zweieinhalb Geschoßen, darüber Wohnen. Wichtig war deshalb ein zweiter Zugang, der mit dem erneuerten Aufzug die Wohnung erschließt, während die Treppe vor allem dem Büro dient, aber auch bis zur Dachterrasse reicht.

Gisela Podreka, die das Projekt mit ihrem Atelier betreute, vermied modischen Schnickschnack. Schadhafte Stellen und Bauteile wurden erneuert und die Grundfesten trockengelegt. Die teils wild gewachsene Konstruktion ist sichtbar und zeugt von der wechselhaften Baugeschichte. Der relativen architektonischen Qualität wurde mit Selbstverständlichkeit begegnet.

Dies ist auch er Grund, warum das Bauwerk einer Betrachtung wert ist, denn die Mehrzahl der Bauaufgaben wäre von den Entwerfern in dieser Art zu bearbeiten. Denn sie taugen nicht zum Manifest und schon gar nicht zur Manifestkopie, an der vor allem abzulesen ist, wo abgekupfert wurde. Dies würde zu einem Sammelsurium aufgesetzter Secondhand-Gestaltungen führen. Daher mein regelmäßiges Insistieren auf sorgfältig durchgeführten Selbstverständlichkeiten, die des Spektakels nicht bedürfen. Der Dachgarten ist dafür krönender Abschluß.

Spectrum, Fr., 1999.08.06



verknüpfte Bauwerke
Dachterrasse Wien 17

10. Juli 1999Walter Zschokke
Spectrum

Vom Tatbestand der Architektur

Kulturkampf in Klosterneuburg: Bauherren werden angeprangert, weil sich Häuser angeblich nicht in den Bestand einfügen – was nicht nur darum bedenklich ist, weil das Baurecht eine distanzlose Anpassung keineswegs vorsieht. Eine Nachschau.

Kulturkampf in Klosterneuburg: Bauherren werden angeprangert, weil sich Häuser angeblich nicht in den Bestand einfügen – was nicht nur darum bedenklich ist, weil das Baurecht eine distanzlose Anpassung keineswegs vorsieht. Eine Nachschau.

Die „Stadtzeitung“ der Klosterneuburger Sozialdemokraten prangert in ihrer Juninummer einzelne Bauherren teils namentlich an, weil ihre Wohnhäuser sich angeblich wesentlich von den Einfamilienhäusern ihrer Umgebung unterscheiden. Weitere Beispiele in einer nächsten Nummer werden angekündigt. Abgesehen davon, daß hier das Recht auf Niederlassungsfreiheit durch eine bedenkliche Aufwiegelungstaktik zumindest tangiert wird, daß also demokratiepolitische Fragen zur Diskussion stünden, geht es um Aspekte der Ortsbildgestaltung und damit der Architektur.

„Passen diese Häuser wirklich ins Stadtbild?“ fragen die Autoren der Stadtpostille in der Überschrift, um im Schlußsatz hämisch anzumerken: „Es wäre interessant zu erfahren, wie die gutächterlichen Stellungnahmen des oftmals sehr strengen Stadtbildkonsulenten zu diesen ,Häuschen‘ lauten.“ Nun, der Begriff Stadtbild könnte dazu verleiten, den Ort des Geschehens im historischen Kern zu vermuten. Dem ist nicht so. Die angeprangerten Häuser befinden sich in Einfamilienhausquartieren im Weichbild oder gar an der Peripherie des Siedlungsgebiets. Der Begriff Ortsbild ist daher treffender, weil keine urbanen Verhältnisse vorherrschen. Die lockere Einzelhausbebauung läßt zudem die Topographie und die landschaftlichen Komponenten stärker ins Gewicht fallen.

Die Frage der Ortsbildgestaltung wird in der niederösterreichischen Baugesetzgebung im Paragraph 56 abgehandelt. Absatz eins besagt, daß Bauwerke, die einer Bewilligung bedürfen, sich in ihre Umgebung „harmonisch“ einfügen sollen. Falls ein Bebauungsplan einschränkende Regeln enthält, gelten diese, andernfalls ist das Bauwerk in Hinblick auf seine Einfügung zu prüfen. Dabei ist von der Struktur des umgebenden Baubestandes, der Charakteristik der Landschaft im Baugebiet und den charakteristischen gestalterischen Merkmalen des geplanten Bauwerks auszugehen.

Entscheidend scheint mir aber, was der Gesetzgeber unter dem Begriff Harmonie versteht: „Harmonie ist jene optische Wechselbeziehung, die sich – unabhängig von Baudetails, Stilelementen und Materialien – durch eine zeitgemäße Interpretation des ausgewogenen Verhältnisses sowie der gebauten Struktur sowie der dabei angewandten Gestaltungsprinzipien und dem geplanten Bauwerk ergibt.“

Lassen wir uns vom Amts- oder Juristendeutsch nicht irritieren. Die Intention des Gesetzgebers – und darauf kommt es an –zielt auf ein unschematisches Vorgehen: „Wechselbeziehung“; auf typologische und nicht auf stilistische Verwandtschaft: „unabhängig von Baudetails, Stilelementen und Materialien“; und sie blickt nach vorne: „zeitgemäße Interpretation“. Damit werden Bedingungen geschaffen, die der Architektur einen Weg aus stilkonservativer Befangenheit öffnet. Wenn wir uns nun an einen der inkriminierten Bauplätze begeben, treffen wir auf einen leicht nach Norden abfallenden Hang, an dem die Quartierstraße nahezu hangparallel, ansteigend verläuft. Der Straßeneinschnitt bedingt an der Südseite Stützmauern, an der Nordseite sind die Grundstücke eben betretbar, fallen aber mehr oder weniger stark ab. Die Topographie zwänge zu unterschiedlichem entwerferischem Verhalten für die beiden Straßenseiten. Als weiterer Aspekt stellt die Nordexposition des Hanges Probleme, die im Süden noch durch einen schattenwerfenden Waldsaum kompliziert werden.

Dies sind für einen halbwegs erfahrenen Architekten keine unüberwindlichen Hindernisse. Roland Rainer, ein klassischer Moderner, der nahezu das ganze Jahrhundert überblickt, Architekt des an diesem Nordhang errichteten Neubaus, hat diesen nahe an die Straße gerückt, um an der davon abgekehrten Seite dem privaten Gartenbereich genügend Sonne zu lassen. Zur Straße bietet das Privathaus wenig Einblick, dafür ist es zum Garten offen gehalten.

Die Gliederung der Bauvolumen reagiert auf den leichten Terrainanstieg in Ostwestrichtung; Landschaft und Topographie spielten bei der Kompositiontion eine wesentliche Rolle. Das begrünte Flachdach ist ökologisch sinnvoll für den Umgang mit dem Regenwasser und daher zeitgemäß. Der sichtbar gemauerte Recycling-Ziegel gehört in dieselbe Gedankenwelt. Das wesentlichste strukturelle Merkmal dieses Bauwerks lautet: Architektur. Kein Monument, aber das sorgsam durchdachte, gelände- und materialfühlig umgesetzte Konzept für ein Wohnhaus im ausgehenden Jahrhundert. In den Einfamilienhausquartieren Klosterneuburgs stehen gar nicht wenige ähnlicher Qualität und vergleichbaren Ausdrucks.

Die Häuser der näheren Umgebung reagieren weder besonders auf die topographische Lage noch auf die Nordhangexposition. Sie sind ortsüblicher Standard, meist von einem Baumeister adaptierte Schemagrundrisse, gestalterisch weder gut noch schlecht, von einer Familie durchaus glücklich bewohnbar. Vom Erscheinungsbild heterogen, sind die eher kompakten Volumen meist in die Grundstücksmitte gerückt. Der Garten erfährt damit keine Zonierung, wäre meist einsehbar und wird in der Regel durch hohe Grünhecken abgeschirmt.

Auch wenn sie zumeist nicht von Architekten entworfen wurden, folgen sie einer allgemeinen Typologie, die sich über die Jahre durch wechselseitiges Kopieren herausgebildet hat.

Ein derartiger Topos wirkt fast wie eine Norm, und obwohl jeder Bauherr ein individuelles Heim anstrebt, gleichen sich die Häuser. Diese Welt der baumeisterlichen Häuser unterscheidet sich von jener der Architektenhäuser vor allem durch eine Ungleichzeitigkeit der Kulturen: Im einen Fall geht ein kollektiver, eher ungeregelter, langsamer Prozeß vor sich, im anderen aber bettet ein gerichtetes Wollen die Gestaltung in die allgemeine Architekturentwicklung ein. Damit ergibt sich der Unterscheidungsgrund: das Anstreben von Architektur.

Klingt elitär? Es ist auch elitär, aber im Sinne von Qualität. Daher ist es bedenklich, wenn heutzutage Architektur im negativen Sinn als Argumentationskeule für Ausgrenzungsversuche mißbraucht wird, wo umgekehrt der Gesetzgeber mit seiner offenen Formulierung einer zeitgemäßen Architektur den Weg bereiten will.

Das Bundeskanzleramt, beziehungsweise dessen Kunstsektion, fördert über die „Häuser der Architektur“ in den Bundesländern die Vermittlung von zeitgenössischer Architektur, damit das öffentliche Verständnis mit der Architekturentwicklung einigermaßen Schritt halten kann. Zahlreiche Medien widmen sich ebenfalls regelmäßig dieser Aufgabe. Warum? Weil die neuere österreichische Architektur sich im internationalen Vergleich sehen lassen kann.

In dieser Situation architekturwilligen privaten Bauherren das Leben mit gleichmacherischen Parolen die Baufreude zu vermiesen ist kulturpolitische Sabotage an einer insgesamt positiven Entwicklung, die von öffentlicher und von privater Seite gemeinsam getragen wird – eben jener der Architektur in Österreich.

Spectrum, Sa., 1999.07.10

19. Juni 1999Walter Zschokke
Spectrum

Mehr Judo in den Städtebau!

Die funktionale Verknüpfung der Wiener Vorortelinie mit der U3 in Ottakring hat das Umfeld der beiden Stationen aufgewertet. Diese Chance wurde von den Architekten Nehrer &Medek erkannt und vorausblickend umgesetzt.

Die funktionale Verknüpfung der Wiener Vorortelinie mit der U3 in Ottakring hat das Umfeld der beiden Stationen aufgewertet. Diese Chance wurde von den Architekten Nehrer &Medek erkannt und vorausblickend umgesetzt.

Vor etwas mehr als einem Jahrzehnt waren die Straßengevierte entlang der stillgelegten Vorortelinie in der Gegend von Ottakring mehrheitlich zu Industriebrachen verkommen. Neben den Geleisen zog sich über Hunderte Meter eine hölzern eingezäunte Gstätten hin, auf der – zwischen verdorrten Gerippen hochgeschossener Pioniervegetation – aufgebrochene Kassen von Zeitungsverkaufstaschen herumlagen.

Die Gegend schien von allen guten Geistern verlassen, in der Thaliastraße sperrten die Geschäfte eins nach dem andern zu. Abgewohnte Zinshäuser der Gründerzeit förderten den Eindruck des Niedergangs genauso wie früh vergreiste Wohnanlagen aus den sechziger und siebziger Jahren. Ein drastisches Bild des Zerfalls, dem die Melancholie würdigen Alterns – die den Betrachter manchmal mit absehbaren Verlusten versöhnt – in jeder Beziehung abging.

Als jedoch gesichert war, daß die U3 bis Ottakring geführt würde, um dort mit Schnellbahn und Straßenbahn verknüpft zu werden, konnte ein in Stadtentwicklungsfragen erfahrener Fachmann wie Manfred Nehrer vorausahnen, welche Chancen für den Stadtorganismus und für den Stadtraum hier auf Verwirklichung drängten. Nun ist es eine alte Weisheit, daß Städtebau nicht bloß das mehr oder weniger ansprechende Verteilen von Gebäuden und das normengerechte Verlegen der Verkehrsbänder umfaßt. Vielmehr geht es um eine kluge Anordnung von Nutzungen ebenso wie um die Sicherstellung und Planung im Exkursionsprogramm urbaner Freiräume: der Gassen, Straßen, Höfe, Plätze und Parks, denn diese bilden die Voraussetzungen für eine Entwicklung urbanen Lebens.

Als Herzstück schlugen Nehrer &Medek daher einen Platz vor, der im Westen von den mit Geschäften und Gastronomiebetrieben angereicherten Bögen der Substruktion der Vorortelinie begrenzt wird. Im Norden verläuft tangential die Thaliastraße; dahinter eine erneuerte Blockrandbebauung, die mit den benachbarten gründerzeitlichen Häusern korrespondiert.

An der Ostseite befinden sich die Gebäude der ehemaligen Tabakregie. Heute enthalten die zur Thaliastraße vorgeschobenen Flügelbauten Geschäfte, Büros und Wohnungen, während das Hauptgebäude für die Höhere Technische Bundelehranstalt Wien XVI adaptiert und erweitert wurde. Der Zaun, der früher das Gelände der Aubstria Tabak umschloß, und sogar ein städtebaulich etwas verirrtes Gebäude aus jüngster Zeit wurden entfernt, sodaß der Platzraum über die auf ihre Wirkung als Verkehrsband reduzierte Paltaufgasse hinüberfließt und bis an die hohe Seitenfassade des nunmehrigen Schulgebäudes reicht.

An der Südseite erhebt sich, 22 Geschoße hoch, über linsenförmig ausbauchendem Grundriß ein neues Appartementhaus für das Personal des AKH, wofür Manfred Nehrer den hochhauserfahrenen Harry Seidler als Berater beizog. Ein kostenmäßig und funktionell extrem schlankes Konzept resultierte aus dieser Zusammenarbeit. Auf dem leicht ansteigenden Platz wirkt die aufragende, plastisch verformte Scheibe als Abschluß und als steigernder Gegensatz. Ihr Sockel enthält auf zwei Geschoßen gastronomische Einrichtungen sowie eine ausgedehnte Terrasse, die von Morgen und Abendsonne beschienen wird. Vor der harten Mittagssonne schützt der Hochhausschatten.

Wie bei allen Bauwerken ihres Büros haben Nehrer &Medek sich auch hier bemüht, Künstler mit ihren Werken direkt auf Raum und Bauwerk wirken zu lassen. Drei in Vitrinen gefaßte Plastiken von Manfred Wakolbinger gruppieren sich an und vor der Terrassenbrüstung. Etwas verschlossener gibt sich die Arbeit von Leo Zogmayer auf dem platzartigen Hof zur Thaliastraße vor dem ehemaligen Hauptgebäude der Austria Tabak: Mächtige, in der ansteigenden Platzfläche eingelassene Betonblöcke in Sitzhöhe bilden vielgliedrige Zwischenräume, die bei näherem Hinschauen als Buchstaben lesbar sind. Zusammen ergeben sie das Wort JETZT. Damit bezieht sich Zogmayer auf städtebauliche Prinzipien, in dem mit nutzbaren Volumen Zwischenräume gebildet werden, die einzeln und im Zusammenhang einen interpretierbaren Sinn ergeben. Stadträumlich betrachtet besteht das neue urbane Zentrum von Ottakring aus einem großen und einem kleinen Platz, die untereinander in Verbindung stehen. Diese städtebauliche Figur findet sich in zahlreichen urbanen Zentren nördlich und südlich der Alpen.

Als Besonderheit, die für eine gedeihliche Entwicklung des urbanen Charakters von nicht geringer Bedeutung ist, stellt sich die Hochlage der beiden Verkehrsträger Schnellbahn und U-Bahn dar: Die U-Bahn-Trasse trennt nicht, sondern beschirmt mit ihrem Brückenbauwerk den öffentlichen Raum – übrigens ein bestens geeigneter Ort für einen Markt mit Frischgemüse. Die vertikale Überlagerung der Verkehrsebenen wird von dem von Hermann Czech entworfenen „Haus, das im Obergeschoß die UBahn schluckt“, symbolhaft ausgedrückt.

Obwohl oder gerade weil Ottakring vom Zentrum relativ weit entfernt ist – im Westen beginnen die Ausläufer des Wienerwaldes –, konnte an dieser Stelle mit ihren optimalen Voraussetzungen die urbane Verdichtung gelingen. Hier war kein Kraftakt nötig, vielmehr galt es, die Dynamik der Entwicklung geschickt aufzunehmen und zu einer vernünftigen städtebaulichen Figur hinzuleiten. Das ist „Judo“, der sanfte Weg, im Städtebau; das weise Spiel der Körper und Nutzungen unter dem harten Licht ökonomischer und politischer Realitäten. Und es funktioniert sofort: Die Gastronomie und die Geschäfte erhalten Zulauf, der Stadtteil lebt auf, die Krisenstimmung der achtziger Jahre ist verabschiedet, da sind keine zusätzlichen Fördermaßnahmen erforderlich.

Städtebau bedingt Mitdenken und kluge Voraussicht. Kraftmeierei, Partikulärinteressen und Objektfixiertheit sind fehl am Platz. Es ist die vorausblickende komplexe Zusammenschau, jene wesentliche Fähigkeit eines guten Architekten, die durch kein elektronisches Hilfsmittel, keine Umfrage ersetzt werden kann, welche die Voraussetzung bildet für ein unmittelbar lebensfähiges Resultat. Eindimensionale, undifferenzierte Planungen benötigen dagegen Jahrzehnte, bis der urbane Organismus die vergessenen oder vernachlässigten Aspekte assimiliert hat.

Spectrum, Sa., 1999.06.19

17. April 1999Walter Zschokke
Spectrum

Ein Fall für die Blaue Lagune?

Goethes Weimarer Gartenhaus gibt es jetzt doppelt: Der Urahn bürgerlicher Wohnkultur wurde Im Park an der Ilm originalgetreu nachgebaut. Aber warum nur einmal? Warum nicht in einer kostensenkenden größeren Serie als Fertighaus?

Goethes Weimarer Gartenhaus gibt es jetzt doppelt: Der Urahn bürgerlicher Wohnkultur wurde Im Park an der Ilm originalgetreu nachgebaut. Aber warum nur einmal? Warum nicht in einer kostensenkenden größeren Serie als Fertighaus?

Gutbürgerliche Sparsamkeit legte schon immer Wert darauf, von einem guten Stück deren zwei zu haben. Und was bei Schuhen recht ist, erscheint bei Gartenhäusern billig. Das leuchtet jedem ein.

Doch gehen wir erst einmal zu den Wurzeln: Obwohl vor 223 Jahren von Herzog Carl August gesponsert, der das bereits damals bejahrte Weinberg- und Gartenhaus seinem 27jährigen Erzieher grundüberholt und mit einigen Möbeln eigener Wahl zur Verfügung stellte, gilt das als „Goethes Gartenhaus“in die Architekturgeschichte eingegangene Gebäude als Urahn bürgerlicher Wohnkultur.

An ihm orientierten sich die Sehnsüchte der Reformer von Architektur und Handwerk, die zu Beginn unseres Jahrhunderts im frühbürgerlichen Klassizismus das Vorbild für die künftig zu schaffende Architektur sehen wollten. Paul Mebes betonte dies mit seiner 1907 erschienenen Publikation „um 1800“ und ebenso Paul Schultze-Naumburg in seinen „Kulturarbeiten“, auch wenn die beiden Paule um das wirkliche Vorbild einen Bogen machten wie die Katze um den heißen Brei, setzten sie dafür umso mehr vergleichbare Beispiele ins Gefolge der als selbstverständlich bekannt vorausgesetzten Ikone des Bildungsbürgertums.

Aber worin liegt das Prototypische des Hauses, in dem Goethe zuerst allein und dann, nachdem der an der deutschen Provinz Verzweifelnde 1786 nach Italien ausgewichen war, einige Jahre mit seiner Geliebten, Christiane, wohnte? Dank der vorausschauenden Vorarbeit der Kollegen von der Zeitschrift „arch+“ sind wir seit Oktober 1982 (ein Goethejahr!) bestens dokumentiert: 11,90 Meter lang, 8,00 Meter breit, so die Außenmaße. Ein massiver Baukörper in leichter Hanglage, überragt von einem nahezu gleich hohen Zeltdach mit knappem Überstand. Drei Fensterachsen auf der Längsseite, deren zwei an der Schmalseite.

Die Grundrisse sind ohne viel Überraschung konzipiert. Im Erdgeschoß betritt man durch die rundbogige Haustür einen Flur, von dem die Treppe in eineinhalb geraden Läufen nach oben führt. Geradeaus geht es ins Speisezimmer, das zwei Fenster der Gartenseite beansprucht. Daran schließt linkerhand die Küche an, die vom Flur nur über einen Vorraum zugänglich ist. Die Kammer daneben in der Hausecke diente wohl dem Personal. Küche und Kammer sind massiv überwölbt, da sie offenbar Feuerstellen enthielten.

Im Obergeschoß erfolgt die Raumtrennung durch ausgefachte hölzerne Ständerwände; wieder ein Flur bei der Treppe oder eher eine Diele; daran reihen sich über Eck vier Zimmer: Empfangszimmer, Arbeitszimmer, Bibliothekszimmer, Schlafzimmer. Arbeits- und Schlafzimmer weisen keine Tür zur Diele auf, sind daher nur über das Empfangszimmer oder die Bibliothek zugänglich. Ein Bad suchen wir vergebens, den Abtritt finden wir unten im Vorraum neben der Kammer.

Der gedrungene Quader wird von einem großzügigen Dachraum überspannt, einem klassischen Kaltdach mit stehendem Stuhl. Der Kamin mußte leicht schräg verzogen werden, damit er am First mündete. Mehrere Schleppgaupen mit Fenstern, über deren Lage und Zahl die Dokumente widersprüchliche Angaben enthalten, sind in den Dachflächen verteilt.

Über niedrige Deckenbalken braucht man sich nicht zu ärgern: Eine großzügige Raumhöhe von 3,44 Meter im Erd- und immer noch stattliche 2,75 Meter im Obergeschoß weisen das Haus als Oberschichtbehausung aus. Die Nettowohnfläche ohne Flur und Treppe liegt knapp unter 130 Quadratmeter. Wenn man berücksichtigt, daß das Haus ohne Kinder bewohnt wurde, sind das üppige 65 Quadratmeter Wohnfläche pro Person. Das kann mit heutigen Ansprüchen durchaus mithalten.

Aber alle diese Nützlichkeiten können nicht der Grund sein, warum die Kargheit so anmutig wirkt, die sparsame Bescheidenheit spätere Generationen derart verzückte und noch heutige Besucher in Rührung versetzt. Daher zu den Feinheiten: Bei genauer Betrachtung fällt auf, daß die Mauern leicht geböscht sind, was das Bauwerk turmartiger, ja wehrhafter, aber gleichzeitig auch stärker mit dem Boden verhaftet wirken läßt. An der Gartenseite ist zudem das Fenster links oben, hinter dem das Schlafzimmer liegt, zugemauert und bloß aufgemalt.

Hier liegt sicher eine Schwäche, indem Dichtung und Wahrheit in Konflikt geraten. Die Ergänzung als blindes Trompel’œil ist weniger stark als eine leicht irritierte Symmetrie, wie jeder weiß, der sich mit bürgerlichem Klassizismus befaßt. Denn ein leichter Silberblick macht sympathisch. Jedenfalls sind die übrigen drei Fassaden freier und mit viel Maueranteil komponiert.

Doch zurück zur Gartenseite, die als Hauptwohnseite wohl die wichtigste ist: Hier sind die drei Erdgeschoßfenster etwas breiter und vor allem höher als jene im Obergeschoß. Der Maueranteil nimmt nach oben zu, das Gewicht verlagert sich nach oben. Außerdem sind die Obergeschoßfenster von oben her aus der Mauer ausgeschnitten und stoßen bis unter das Dachgesims.

Sie werden zwischen Mauermasse und Dach gleichsam eingeklemmt, was dem trennenden Strich der Traufe mehr Gewicht gibt und vor allem den bergenden Charakter des Dachs mit mehr Bedeutung hervorhebt.

Das Dach wird zu einem dem Mauersockel gleichwertigen Teil des Bauwerks, kein Wunder, daß die Flachdächer der Moderne so lange ohne Chance auf dem Markt blieben. Daß der dünne Raster der Spalierstangen als Gitter aus horizontalen Rechtecken vor die Fassaden gelegt ist, gibt dem Haus sein besonderes Flair und macht es erst richtig zum Gartenhaus im Sinne einer barocken Folie, die als Kulisse für die tägliche Selbstinszenierung dient.

Ein Leben in diesem Haus, in dem üppigen, halbverwilderten Garten, hinter den kräftigen, schutzbietenden Mauern und unter dem hohen schirmenden Dach muß für die nahen Kleinstädter, die in ihren dichtgedrängten schmalen Häusern mit den niedrigen Kammern hinter zugezogenen Gardinen wohnten, mit einer Aura von Freiheit umwoben gewesen seien. Wer in diesem Gartenhaus wohnte, unterlag nicht den gesellschaftlichen Zwängen der biederen Bürger, sondern genoß den arkadischen Freiraum, den man damals Hirten, Räubern und eben auch Gärtnern zuschrieb.

Diese gesellschaftlichen Projektionen machten „das Gärtnerhaus“ zur besonderen Bauaufgabe, die an Architekturschulen im Einführungsjahr beliebt war. Und so ist eben dieses Häuschen in Weimar mit seinem raunenden Bedeutungshintergund zu viel mehr als einer Dichterwohnstatt geworden.

Oftmalige Restaurierungen haben immer wieder zu leichten Veränderungen geführt, die heute anhand einer Dokumentation nachvollzogen werden können. Doch zusätzlich zum Original wurde nun gleichsam als haptische Sicherstellung in minutiöser Detailarbeit ein Gleiches errichtet. Die Kulturstadt Weimar verfügt daher über zwei Gartenhäuser, die beide besichtigt werden können und die den Bürgern bereits gleichermaßen ans Herz gewachsen sind.

Über die Gründe für diese Verdoppelung läßt sich nur orakeln: Soll die Abnutzung des Originals durch Besucher auf die Hälfte reduziert werden, oder ist die wundersame Verdoppelung eine verspätete Interpretation des kurzzeitigen Direktors der kubanischen Nationalbank, der vor bald vier Jahrzehnten dazu aufrief, zwei, drei, viele Gartenhäuser zu schaffen – wahrscheinlich als staatliche Geldbeschaffungsmaßnahme.

Für den kleinen Geldbeutel gibt’s das Haus immerhin als Ausschneidebogen; die blockhafte Konfiguration stellt kaum Anforderungen an Bastler, sie ist in wenigen Minuten aufgestellt. Doch kann eine derartige Miniaturisierung die Sehnsüchte befriedigen, die über zwei Jahrhunderte, und mehrmals befeuert, in kulturbürgerlich gebildeten Busen schmachteten? Scheute man sich wieder einmal, den Weg zum wirklichen Volksmodell zu beschreiten und das Häuschen als Wahlmodell einer gehobenen Fertighauspalette anzubieten? Die paar notwendigen Adaptierungen hätte das Bauwerk doch ausgehalten.

Da läßt man von Stararchitekten leicht verkrampft wirkende Fertighaustypen entwerfen, um auch in diesem Bereich„ das Volk“ an den neuesten Errungenschaften der Kultur teilhaben zu lassen; aber das Sehnsuchtsmotiv jeder neuklassizistischen Besinnung wird nicht neu aufgelegt, sondern, viel schlimmer, nur einmal exakt kopiert, um den Leuten vorzuspielen, worauf sie schon wieder verzichten müssen.

Die Kosten des handgeschnitzten Modells von 1,5 Millionen Mark (10,5 Millionen Schilling, 760.000 Euro) sollten sich bei entsprechenden Stückzahlen doch senken lassen, besonders wenn auf eine vorgängige Abnutzung von Stiegen und Türschwellen verzichtet werden kann. Ist es die Ehrfurcht vor der deutschen Klassik, die das Unternehmen auf halbem Weg haltmachen ließ und die bisher verhinderte, daß das Haus an der Blauen Lagune angeboten wird? Oder ist es einfach zu karg in seiner Anmutung, löst es zuwenig Kaufreize aus, weil es keinen Erker aufweist, keinen Wintergarten und keinen Turm? Wie konnte es Goethe bloß in dieser kläglichen Hütte ohne Geschirrspüler aushalten? Ach ja, er verfügte noch über Hauspersonal.

Wir werden also auf unserer Fertighausidee sitzenbleiben, niemand will mehr leben wie der große Dichter vor seiner Italienreise, denn nichts ist enttäuschender als peinlich genau eingelöste Sehnsüchte.

Spectrum, Sa., 1999.04.17

27. März 1999Walter Zschokke
Spectrum

Kritisches Alter von 30 bis 80

Ernst Hiesmayrs Clima Villenhotel in Wien Nußdorf, ein beispielhaftes Bauwerk der sechziger Jahre, wird dieser Tage umgebaut und in seinem architektonischen Ausdruck zerstört: was zwar Rechtens, aber trotzdem ein kultureller Fauxpas ist. Ein Einwurf.

Ernst Hiesmayrs Clima Villenhotel in Wien Nußdorf, ein beispielhaftes Bauwerk der sechziger Jahre, wird dieser Tage umgebaut und in seinem architektonischen Ausdruck zerstört: was zwar Rechtens, aber trotzdem ein kultureller Fauxpas ist. Ein Einwurf.

An einer landschaftlich empfindlichen Stelle am Siedlungsrand unter den Weinbergen im Norden Wiens Ernst Hiesmayr vor drei Jahrzehnten einige flache Quader gestaffelt in die anspruchsvolle Topographie. Sie versammelten sich um einen ruhigen Gartenhof, in dessen Teich Enten ihre Küken großzogen.

Die klar zugeschnittenen Volumen wiesen eine äußere Schale aus Sichtbeton auf, die seitlichen Sichtschutzlamellen an den Balkonen bestanden aus Holz, alle übrigen Ausbauteile, ob Geländer, Kragrahmen, Bodenplatten oder Treppenstufen, waren aus einem einzigen Material, aus sorgfältig gegossenem Stahlbeton, gefertigt.

Schon nach wenigen Jahren hatte wilder Wein die blockartigen Baukörper überzogen, sodaß zwischen rauhem, felshaftem Untergrund und weichem Blätterpelz –noch in den sechziger Jahren – mit Absicht jenes gleichgewichtige Spannungsverhältnis von Menschenwerk und Natur aufkam, das ein Dutzend Jahre später von vielen eingefordert wurde.

Die Anlage diente als Villenhotel, hätte aber ökonomisch gewinnbringender auch als anspruchsvolle Wohnsiedlung genutzt werden können. Als beispielhafte Architektur einer touristischen Infrastruktur wie als feinfühlige Setzung in landschaftlich empfindlicher Lage fand es von fachlicher Seite Anerkennung. Die reduzierte Formensprache, ein spezifisch knapper Materialeinsatz, das Blockhafte der Mauern, die großflächig verglasten, zur Landschaft sich weitenden Innenräume und zum Verweilen einladende Gartenbereiche – all dies erinnerte irgendwie an Kargheit und Lebenskraft alpiner Landschaften, an die Selbstverständlichkeit des einfachen, auf jahrhundertealten Erfahrungen und Sparsamkeit beruhen-fügte den Bauens in vielen ländlich-gebirgigen Gegenden der Erde.

In den siebziger Jahren kam es dann zur pauschalen Verurteilung der zweiten Moderne an Hand der gravierenden Auswüchse des Bauwirtschaftsfunktionalismus, zur generellen Ablehnung sichtbaren Betons und in der Folge zur selbsternannten Postmoderne mit ihren billigen Rezepten, was zu wenigen interessanten und unzähligen mittelmäßigen und schlechten Bauten führte. Der Publikumsgeschmack driftete mangels gelebter kultureller Führung durch weltoffen-bürgerliche und intellektuelle Schichten zu Hundertwasser und Medienboulevard.

Eine Erneuerung der Architektur formulierte sich vorerst aus gesellschaftlichen Gegensätzen. Die Architektur der fünfziger und sechziger Jahre geriet in Vergessenheit – übrigens in einer Zeit, als die Fachöffentlichkeit sich pionierhaft und kämpferisch um die Erhaltung der Werke Otto Wagners verdient machte!

Irgendwann kam es seitens der Stadt Wien zu einer Aufzonung des Grundstücks, was einer Vergrößerung des potentiellen Bauvolumens an dieser Stelle gleichkam. Bei genauerer Begutachtung des empfindlichen Siedlungsrandes am Fuß des Nußbergs ruft dies heute leichtes Kopfschütteln hervor.

Nach einer Handänderung sieht der neue Eigentümer sich legitimiert, den möglichen höheren Ertrag auch zu realisieren. Marktwirtschaftlich und rechtlich ist das Urteil schon gesprochen. – Zu diesem Zeitpunkt rufen besorgte Bürger in der Regel nach dem Denkmalamt. Doch dafür ist es historisch gesprochen zu früh, denn auf ein wissenschaftlich nachweisbares „öffentliches Interesse“ hat sich die Zivilgesellschaft noch nicht geeinigt. Denn es mangelt in Mitteleuropa an einer Kultur des sorgenden Umgangs mit Werken der jeweiligen Vätergeneration. Erst die Enkel sind bereit, in den Arbeiten der Großväter Beispielhaftes zu erkennen.

Es ist heute ein leichtes, für die Bewahrung eines beliebigen Gründerzeithauses breite und emotional gestützte Zustimmung zu erhalten. Daß dabei die Qualitätsfrage außer acht gelassen wird, stört nur wenige. Es reichen hundert Jahre Baualter, um die Gemüter zu rühren. Das Denkmalamt seinerseits verfügt für diese Zeitabschnitte über gesicherte wissenschaftliche Beurteilungskriterien. Alterswert und architektonischer Wert lassen sich diskutieren und bestimmen.

Daß in spezifischen Ausnahmefällen wie beim Museumsquartier die Gehsteigzeitungen von ihren Einflußmöglichkeiten demagogisch Gebrauch machen, wissen wir. Sie tun es aber nicht in hundert anderen Fällen, weil diese für ihre täglichen Zwecke uninteressant sind. Dagegen ist die knapp eine Generation zurückliegende Zeit gleichsam eine Terra incognita. Vieles ist vergessen, und das Feld wird beherrscht von subjektiven Erinnerungen, die jeweils individuell als richtig verteidigt werden, für die aber noch kein (Architektur-)Historiker das objektivierende Bezugsfeld erarbeitet hat.

Die nachfolgende Generation ist mit ihrer eigenen Entwicklung befaßt, wird sich daher kaum um eine Würdigung der Bauten ihrer direkten Vorgänger kümmern, umso mehr, als deren Exponenten gar nicht selten ihren Einfluß auf das Tagesgeschehen noch geltend machen können: Wir haben es hier auf dem Feld der Architektur mit einem Phänomen, vergleichbar dem der späten Hofübergabe, zu tun – mit allen Begleiterscheinungen.

Doch vielleicht braucht es dieses glättende Vergessen, bevor wieder Werte gesetzt werden können. Es wäre daher im individuell konkreten Fall Sache der Zivilgesellschaft, Aufgabe ihrer mündigen Bürger, ihre Rolle eigenverantwortlich im Wechselspiel zivilisatorischer Entwicklung wahrzunehmen. Eine gesetzliche Verpflichtung gibt es nicht, nur eine kulturelle. Fachleute stehen zur Verfügung, man muß die entsprechenden Forscherpioniere nur beiziehen.

Die Verantwortung liegt daher in der Phase unklarer offizieller Bewertung bei den Besitzern und Eigentümern, auch bei den Käufern und Verkäufern. Ein Marktgeschehen, gespickt mit Zufällen, befindet darüber, ob ein Bauwerk den unsicheren Lebensabschnitt im Alter zwischen drei und acht Jahrzehnten auch bezüglich seines architektonischen Charakters unbeschadet übersteht.

Dabei können wir uns heute nicht mehr auf Weltkriege und gebrochene Biographien der Exponenten ausreden. Es hängt schlicht davon ab, ob die mit einer Liegenschaft befaßten Leute: Eigentümer, Architekten, Beamte, über das entsprechende Kulturverhalten verfügen, ob sie „Kultur haben“, wie man im Alltag sagt. Ob also dieser Markt unter einigermaßen kultivierten Bedingungen abläuft.

Dann läßt sich nach bestem Wissen und Gewissen bewahren und/oder weiterbauen und/oder erneuern. Und dann wird das Urteil der Geschichte auch ein positives oder zumindest ein mildes sein.

Spectrum, Sa., 1999.03.27

06. März 1999Walter Zschokke
Spectrum

Der Steg durch gläserne Pforten

Die neue Gänserndorfer Volksschule der Architekten Nehrer und Medek ist schon gut eingewohnt. Das klare Vorfrühlingslicht verleiht ihr zusätzliche Brillanz und verbessert die ohnehin schon vorbildliche Energiebillanz.

Die neue Gänserndorfer Volksschule der Architekten Nehrer und Medek ist schon gut eingewohnt. Das klare Vorfrühlingslicht verleiht ihr zusätzliche Brillanz und verbessert die ohnehin schon vorbildliche Energiebillanz.

Ein unermeßlicher Marchfelder Himmel dehnt sich über Gänserndorf, wo die Bauten wenige Geschoße aufweisen und die Siedlungsgebiete weit verstreut sind. Am südlichen Rand des städtischen Kerns, neben einer niederösterreichischen Straßenmeisterei, liegt mit der Schmalseite zur Siebenbrunnenstraße die neue Volksschule.

Eigentlich liegt sie nicht an dieser Straße, von der sie etwas zurückversetzt ist, sodaß ein Vorplatz freibleibt, sondern die Schule liegt an einem Steg. Einem Steg, der sich von Osten her auf Kragstützen mit Hilfe einer sanften Bodenwelle aus der Ebene herausarbeitet, als käme der Weg, den er trägt, von weit her. Weit wie die nahe Hochspannungsleitung, deren Masten mit Siebenmeilenstiefeln übers Land staken, von irgendwoher nach irgendwohin. Der Steg, der der Morgensonne den Weg in die Schule weist, dringt also in Längsrichtung durch gläserne Pforten in das Gebäude ein und wird dort zu einem zirka 80 Meter langen Laubengang, der auf ebenfalls kragenden Trägern im ersten Obergeschoß geführt wird.

Und dann ist da eine sandgoldgelbe Wandscheibe, ebenfalls zirka 80 Meter lang, die vom Laubengang etwas Abstand hält –genau gemessen nimmt dieser von anderthalb auf vier Meter zu, sodaß sich zwischen Wand und Steg ein flach keilförmiger Zwischenraum auftut. Diese Wand könnte ein Abschnitt aus einer Trennlinie sein, die sich imaginär in Ostwestrichtung um den Erdball zieht und nur an dieser Stelle zur Materialisierung gefunden hat.

Steg und Wand sind für das räumliche Erleben elementare architektonische Setzungen. In ihrem Spannungsverhältnis definieren sie einen mehrdeutigen, gegen oben offenen Raum – eine Ganghalle, die als Achse und Rückgrat dem Schulgebäude Halt gibt. Das weitere Konzept ordnet sich diesem Prinzip in klarer Logik unter: Die Klassenzimmer reihen sich auf zwei Ebenen entlang des zum Laubengang mutierten Stegs, hinter der Wand liegen Turnhalle, Garderoben, Toiletten und die Räume fürs Werken mit für diesen Zweck bestem Nordlicht. Lehrerzimmer, Sammlung, Direktion und Nebenräume wurden in dem zur Straße blickenden Quertrakt zusammengefaßt. Zwischen diesem und der Turnhallenstirn bleibt eine hohe, verglaste Aula als Binnenraum, in den sich der Außenraum hineinzieht, nur durch Glaswände klimatisch relativiert.

Im vorderen Teil des Klassentrakts ist das Erdgeschoß leicht variiert, sodaß es die Schulküche und den Speisesaal aufnehmen kann, der sich auf einen Gartensitzplatz öffnen läßt. Überhaupt ist im vorderen Bereich die Durchlässigkeit im Erdgeschoß sehr groß, da die Platzfläche vor der Schule unter den aufgestelzten Verwaltungstrakt hineingezogen wurde und wieder nur mit Glaswänden zur Aula abschließt. Damit wird auch klar, daß der vordere Teil der Schule der eher öffentliche ist, aus dem eine Spiraltreppe zur Direktorsloggia hinaufführt, von der der freundliche Mann einen Überblick genießt, ähnlich dem eines Kapitäns auf seiner Kommandobrücke. Da wissen die Kinder jedenfalls immer, wo sie seine inspizierenden Augen zu gewärtigen haben.

Das Licht für die Aula und die Ganghalle entlang der Wand wird von einem südorientiert aufgesetzten Oberlichtband eingefangen. Es fällt auf die gelb eingefärbte Wand und wird in diesem Farbton diffus in die beschatteten Zonen auf und unter dem Steg reflektiert, was jenen zu einer sonnigen Stimmung verhilft. Natürlich wird auch ein Teil des Lichts in Wärme umgewandelt, die sich in der massiven Wand speichert, denn sie ist aus Stahlbeton. Daß die Architekten diese ursprünglich in Sichtbeton geplant hatten, sei nicht verschwiegen. Sichtbeton ist prinzipiell nicht negativ. Der vom Direktor induzierte Mut zur Farbe hat jedoch der gesamten Raumstimmung eine wesentliche zusätzliche Komponente verliehen.

Das Architekturbüro von Manfred Nehrer und Reinhard Medek ist bekannt für seine rationalen Entwürfe, für spursicheres Kostenbewußtsein und für exaktes Projektmanagement. Diese Diszipliniertheit spricht zuweilen auch aus der Architektur, die einen etwas spröden Charme gewinnt. Es ist gewiß richtig, daß die Kinder automatisch Leben und Farbe in ein Schulhaus bringen, doch denke ich, daß der Askes ein Weiß und Grau ein eindeutiger farbiger Akzent – wie mit der lößgelben Wand geschehen – zu einer dichteren Atmosphäre verhilft.

Ein spielerisches Element bringen die schrägstehenden Rundstützen unter dem Fronttrakt, die sich auf dem Platz davor in allerlei Variationen verselbständigen. Durch ihre Schrägstellung wirken sie aber zugleich aussteifend auf die darüber befindliche Stahlbetonplatte, die sonst nur von wenigen scheibenartigen Elementen gehalten wird.

Die Integration statisch-konstruktiver Elemente auf der Konzeptebene in diearchitektonische Wirkung des Bauwerks hat bei Nehrer und Medek Tradition. Sie erinnert daran, daß die Moderne, an der die beiden Architekten engagiert weiterbauen, eine ihrer wesentlichen Wurzeln in der Bauingenieurskunst findet. Ob die Relativierung dieser statisch-konstruktiven Idee durch den Einfall des Freispazierens der Stützen am Vorplatz nicht zu sehr überlagert wird, war an dem herrlichen Vorfrühlingsmorgen nicht definitiv zu entscheiden. Es ist aber für den positiven Gesamteindruck unerheblich.

Dem Laien wird kaum auffallen, daß bei der Tragstruktur mit Stahlbetonfertigteilen gearbeitet wurde. Damit werden Baukosten gesenkt, und die Bauzeit wird verkürzt. Ein Beweis für die zunehmende Industrialisierung des Bauwesens auch in Ostösterreich. Der Innenausbau in Leichtbauweise, mit industriell erzeugten Werkstoffen, verwandelt den inneren Ausdruck stark. Während der Rohbau – wie eine Photographie aus der Bauzeit in der Ganghalle zeigt – durchaus als Einstellhalle für die benachbarte Straßenmeisterei interpretiert werden konnte, ist davon im fertigen Schulhaus nichts mehr zu spüren.

Dies verweist auf eine weitere zeitgenössische Entwicklung: Weitgehend unspezifische Primärstrukturen erhalten ihre definitive Bestimmung durch den Ausbau. Man könnte sich in einigen Jahrzehnten, ausgehend von einem auf den Rohbau reduzierten Zustand, wieder eine andere nutzungsmäßige und architektonische Interpretation der Baustruktur denken, so wie am gedanklichen Anfang einmal ein Steg und eine Ebene allein in der flachen Landschaft standen, an denen sich in der Folge die Elemente einer ganzen Volksschule festsetzten.

Spectrum, Sa., 1999.03.06



verknüpfte Bauwerke
Volksschule

13. Februar 1999Walter Zschokke
Spectrum

So falsch, wie's nur irgend geht

Freizeitpark mit Museumskugel in Ebreichsdorf, eine Therme mit Hotel in Payerbach: ihre schiere Größe macht diese Projekte zu einer öffentlichen Angelegenheit – zumal das, was inhaltlich und architektonisch geboten werden soll, allzu dürftig ist.

Freizeitpark mit Museumskugel in Ebreichsdorf, eine Therme mit Hotel in Payerbach: ihre schiere Größe macht diese Projekte zu einer öffentlichen Angelegenheit – zumal das, was inhaltlich und architektonisch geboten werden soll, allzu dürftig ist.

Goldgräberstimmung breitet sich lauffeuerartig in jeder Gemeinde aus, wenn ein Investor mit den Millionen klingelt. Arbeitsplätze, Steueraufkommen, überregionale Bekanntheit und am Horizont die Fördermittel von Land, Bund und EU lassen die(Milchmädchen-)Träume von Politikern und Einwohnern in den Himmel schießen. Ein provinzieller Muffel, wer sich hier erlaubt, Zweifel vorzubringen.

Der Fortschritt hat eben seinen Preis, hören wir noch sagen, was uns erst recht hellhörig macht. Ein wirtschaftlicher Flop einer großen Unternehmung hat wesentlich weiterreichende Erschütterungen zur Folge als der einer kleineren oder in Etappen entwickelten Initiative. Noch vor dem Problem des architektonischen Erscheinungsbildes seien deshalb Fragen nach den inhaltlichen Konzepten gestellt.

Auf nach Ebreichsdorf: Geblendet stehen die Menschen vor dem Projekt für einen Kugelbau, dessen Höhe mittlerweile auf fast die Hälfte geschrumpft ist. Die pure Größe dürfte eigentlich nicht schrecken. Kühltürme von Kernkraftwerken, wie sie in Nachbarländern herumstehen, sind höher, und die geometrisch reine Form wird von den dortigenAnwohnern nichtalsansich bedrohlich aufgefaßt. Wenn sie etwas fürchten, ist es ein Unfall mit Austritt von Radioaktivität; weshalb eine Schutzraumpflicht kaum auf Widerstand stößt.

Aber welches Programm soll in der Kugel geboten werden? Man hört von einem geplanten Menschheitsmuseum. Wer befaßt sich mit dem wissenschaftlichen und dem gestalterischen Konzept, wer stellt dazu kritische Fragen? Österreich genießt eine anspruchsvolle Kulturtradition. Womit sollen die zwischen 12.000 und 20.000 Quadratmeter Fläche bespielt werden? Etwa mit Wachsfigurenkabinetten? Für ein Unternehmen, das mitteleuropäischen Standards genügen soll, müßte ein Team von Topfachleuten bereits seit Jahren an der Arbeit sein. Hat jemand Namen gehört oder ein Vorkonzept gesehen?

Kommen wir zur Architektur. Eine Kugel zu entwerfen stellt vom Äußeren keine Ansprüche. Aber das Innere ist konkav gerundet, was die Aufgabe kompliziert, und die Frage nach der gestalterischen Lösung für eine Kugel hat schon manche Architekten ein Leben lang verfolgt; etwa ‘ Etienne-Louis Boull´ ee, dessen 200. Todestag kürzlich zu begehen war.

Was die Öffentlichkeit bisher an Schaubildern für das Großbauwerk in Ebreichsdorf gesehen hat, ist schlicht dürftig. Hat irgendwer Namen von erfahrenen oder von jungen wagemutigen Architekten gehört? Gab es ein Wettbewerbsverfahren mit einer kompetenten Jury? Nichts von allem.

Nun ist das Ding wahrlich größer als ein Einfamilienhaus, wo man schlimmstenfalls beide Augen vor der privaten Gestaltungsfreiheit zudrücken kann. Seine Größe macht es zwangsläufig zu einer öffentlichen Sache.

Damit muß das Bauwerk auch vor einer qualifizierten Öffentlichkeit bestehen. Über die Erfahrung der gestalterischen Bewältigung dieser Dimensionen verfügen nur wenige Architekten. Woher wird dann ein Bürgermeister als oberste Baubehörde seine Beurteilungskriterien beziehen? Von dem, was man als Interessierter bisher zusehenbekam,läßtsich nichtableiten,daßeinentsprechend qualifizierter Kreis von Fachleuten Inhalte und Gestaltung der Großanlage verantworten wird. Da stellt sich schon die Frage, ob das gesamte Projekt wirklich gutgenug ist, daß nicht einFlop droht.

Zweiter Fall: „Alpen“-Therme Payerbach. Das Konzept verspricht einen medizinischen Supermarkt von klassisch bis esoterisch für Leute, die mangels wirklicher Leiden zwischen den Therapien hin und her zappen möchten. Und das Pflegeteam wird man vielleicht mangels inländischen Fachpersonals aus der EU beziehen? Ein Fünfsternhotel daneben soll wahrscheinlich die morgenländischen Scheichs oder die neureichen Russen anlocken – aber stehen die nicht eher auf die wirklichen Alpen, auf Kitzbühel, St. Anton, St. Moritz? Was sollen sie in Payerbach? Sind die Überkapazitäten im Angebot der österreichischen Hotellerie noch immer zu gering?

In architektonischer Hinsicht wird ein Entwurf vorgelegt, der keinerlei siedlungs- oder städtebauliche Qualitäten aufweist. Beziehungslos sind sternförmig Baukörper aneinandergefügt, die typologisch an die überwachungsoptimierten Gefängnisbauten des 19. Jahrhunderts erinnern. Über die Tauglichkeit derartiger Strukturen zu Erholungszwecken hege ich gewisse Zweifel. Kein Wunder, daß man zur Rettung des verunglückten Gesamtkonzepts die bereits wieder abklingende Mode des Feng Shui bemühen muß.

In Wochenendkursen aufgeschnappte Faustregeln aus einem weit entfernten Kulturkreis werden flächendeckend allgemeinverbindlich umgesetzt. Als ob alle Menschen in ihrem Raum- und Materialempfinden gleich wären.

In Europa studieren die jungen Leute fünf bis acht Jahre Architektur, sammeln in gut zehn Jahren Praxis Erfahrungen baupraktischer und soziokultureller Natur, um der Komplexität der gestellten Probleme gerecht zu werden. Und dann soll man sich von ein paar simplen esoterischen Dogmen gängeln lassen?

Die peinliche populistische Anbiederung auf dem Niveau der Gehsteigblätter-Horoskope, bei der in oberflächlicher Weise fremde Kulturen geplündert werden, weist eine extrem kurze Halbwertszeit auf – für eine nachhaltige touristische Entwicklung keine gute Voraussetzung. Den Clou zum Abschluß: Damit sich das Projekt in die Landschaft füge, habe man die Anlehnung an für diese Gegend typische Bauten der Jahrhundertwende gesucht – ein Ansatz, so falsch, wie er nur sein kann. Erstens zeigt das Projekt keinerlei erkennbare Verwandtschaft mit Bauten der Jahrhundertwende, dafür mit viertklassiger Postmoderne der achtziger Jahre. Zweitens hat der Baustil nichts, aber auch gar nichts mit dem Verhältnis eines Bauwerks zur Landschaft zu tun. Dieses hängt mit der Lage, der Orientierung sowie der Beziehung des Ortes zur näheren und entfernteren Topographie und zur Aussicht zusammen. Davon ist in dem miserablen Entwurf nichts zuerkennen.

Es ist einfach würdelos, daß in Österreich, wo nicht wenige Architekturleistungen derzeit Weltgeltung erreichen, bei Investitionsvorhaben in Milliardenhöhe dermaßen unterklassig gebaut werden soll. Daß die Investoren ihre kulturelle Verantwortung offenbar nicht wahrzunehmen vermögen, stellt ihnen kein gutes Zeugnis aus, denn Delegierenkönnen ist eine wesentliche Führungseigenschaft. Aber Kulturbewußtsein muß sich halt jeder selbst erarbeiten, es ist für Geld nicht zu kaufen.

Spectrum, Sa., 1999.02.13

31. Dezember 1998Walter Zschokke
Spectrum

Stirnen in der Luft

Mit dem Neubau der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät definieren Dieter Henke und Marta Schreieck eine Schlüsselstelle im Innsbrucker Stadtgefüge: Sie setzten die Idee einer offenen Universität sorgsam und elegant zugleich um.

Mit dem Neubau der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät definieren Dieter Henke und Marta Schreieck eine Schlüsselstelle im Innsbrucker Stadtgefüge: Sie setzten die Idee einer offenen Universität sorgsam und elegant zugleich um.

Nordöstlich des Innsbrucker Stadtkerns liegt der Hofgarten, ein ausgedehnter Grünraum, der zwischen der dichtgepackten barocken Altstadt und der offener bebauten, gründerzeitlich und später aufgefüllten Blockstruktur liegt. Entlang der Universitätsstraße reihen sich südseitig die alte Universität, die Jesuitenkirche sowie weitere öffentliche Gebäude; nordseitig sind es die Stadtsäle und dahinter das Landestheater, die diesen kulturellen Schwerpunkt imStadtgefüge mitbestimmen.

Die alte Fennerkaserne an der Ecke zur Kaiserjägerstraße bildete in diesem Kontext wegen ihrer prinzipiell introvertierten Nutzung in urbanistischer Hinsicht einen blinden Fleck. Als sie infolge Verlegung des Bundesheers nach Kranebitten leer stand, und der Bau eines Fünfsternhotels an dieserStelle von keinem Investor gewagtwurde, stellte sich daher die Frage einer anderen stadtbildenden Nutzung. In einem sehr frühen Stadium kam es nun seitens der Universität Innsbruck, die an dieser Stelle ein Fakultätsgebäude für die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften wünschte, zu einer Fokussierung des Bauwillens in einer engagierten Persönlichkeit: Manfried Gantner, Professor am Institut für Finanzwissenschaften.

Im Hinblick auf den 1988 beschlossenen städtebaulichen Wettbewerb entwickelte Gantner die Idee einer Stadtuniversität, die gedacht war als „offene Universität“ mit intensiver Vernetzung innovativer Institutionen der Privatwirtschaft –zur permanenten Weiterbildung der Führungskräfte – sowie mit Unternehmen aus dem Bereich Wirtschaftsberatung. Diese Gedanken waren bereits entwickelt, als die Architekten zum städtebaulichen Wettbewerb an-traten, um für die heikle Aufgabenstellung auf dem Eckgrundstück, wo Sillgasse und Kaiserjägerstraße versetzt auf die Universitätsstraße treffen, Lösungsvorschläge zu entwerfen. In dem zweistufigen Verfahren setzten sich Marta Schreieck und Dieter Henke, damals knapp über 35 Jahre alt, mit einem bestechend klaren Projekt durch.

Städtebaulich erzeugt der Entwurf mit einem ostwestgerichteten Längstrakt zwischen Landestheater und Kapuzinerkirche. eine innere Stadtkante zum Hofgarten. An der Südseite schließt parallel der längere Schenkel eines abgewinkelten zweiten Trakts an, dessen anderer Schenkel kühn zur Universitätsstraße vorstößt. Zwischen den beiden Längstrakten ist eine hohe, glasüberdeckte Halle eingeschoben, und vor der Südfassade weitet sich der Außenraum zum Platz, der von der Universitätsstraße durch einen Solitär abgeschirmt wird: das in Fertigstellung befindliche Management-Zentrum.

Der neu definierte innerstädtische Außenraum tritt mit dem bestehenden in doppelte Beziehung: An der Westseite führt vom Platz vor der Jesuitenkirche her eine Gasse nach hinten, um alsbald auf die großzügig gefaßte Weite zu treffen. Ostseitig stößt der Straßenraum der Sillgasse über die Universitätsstraße in den neugeschaffenen Platzraum vor und wird von einem mit elegantem Kurvenschwung aus dem Längstrakt hervorquellenden Gebäudeteil gleichsam aufgefangen.

Die heikle Situation an der Einmündung der Kaiserjägerstraße in die Universitätsstraße – der ehemaligen Ecke der Fennerkaserne – wird von einem weit vorkragenden Bauteil des abgewinkelten Südtrakts neu definiert, der auf seine Weise geschickt mit den Turmerkern zweier naher Gebäudeecken kommuniziert. Eine weitere, bestens gelüftete Gebäudestirnseite bildet, schräg abgeschnitten, das Gegenüber der Kapuzinerkirche. Hoch auf schlanken Rundstützen aufgestelzt, deutet das freie Ende des nördlichen Längstrakts die städtebauliche Kante an dieser Stelle geschickt an, läßt aber der Eingangsseite der Kirche genügend Raum.

Obwohl die beiden parallelen Trakte des Fakultätsgebäudes gegen 190 Meter lang sind, also im Stadtgefüge eine Setzung erster Ordnung bilden, wurde mit wenigen klugen Maßnahmen eine räumliche Integration ins Stadtbild erreicht: Das Neue dialogisiert mit dem Bestehenden sorgsam und elegant zugleich. Marta Schreieck und Dieter Henke beweisen mit diesem bald zehn Jahre alten Entwurf ihre städtebauliche Kompetenz, die an Ort und Stelle anschaulich erfahrbar ist.

Doch nun zum Hauptbau, dem Fakultätsgebäude für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften: Zwei parallele Längstrakte nehmen also eine hohe Halle in ihre Mitte, die von einem vertikalen Erschließungskern in einen größeren westlichen und einen kleineren östlichen Abschnitt geteilt wird. Der Haupteingang liegt in der Mitte der Südfassade, am neugeschaffenen Platz. Die im alten Verlauf errichtete Mauer des ehemaligen Pflanzgartens zur Linken sowie die ausschwingende Glasfassade der Mensa und der darüberliegenden Bibliothek zur Rechten erzeugen die empfangende Geste, die architektonisch dem Haupteingang in der langen Fassade – ohne zusätzliches Lamento mit einem Vordach – Gewicht verleiht.

Wenn man den Windfangzylinder mit Drehtür durchschritten hat, befindet man sich in dem lichten Binnenraum zwischen den Längstrakten. Kaskadenartig, in vier Läufen, steigt eine Treppe längs gegen Westen unter dem Glasdach bis zum obersten Geschoß hinauf, zu ihrer Linken bleiben jeweils offene terrassenartige Raumzonen für den kurzen Aufenthalt. Schon beim Hinaufsteigen ist die Raumwahrnehmung sehr intensiv, bis dann auf der obersten Plattform der Panoramablick seitlich durch das Glasdach auf die Nordkette fällt und den kategoriellen Sprung vom Binnenraum der Halle zu dem von den Bergketten nachhaltig gefaßten Landschaftsraum des Inntals provoziert. – Die Konzeption des großen Innenraums erfolgte wie selbstverständlich im Wissen um den größeren Zusammenhang der stark präsenten Talflanken.

Das Hinuntersteigen ist ein stufenweises Eintauchen in den hohen Vertikalraum, der vor allem „Raum“ ist, da die Innenfassaden mit ihren Holzpaneelwänden, unterbrochen von verglasten Oberlichtstreifen und sichtschützenden Holzjalousien, schmucklos und glatt gehalten sind. Obwohl die eine Seite laubengangartige Erschließungskorridore aufweist, herrscht der starke räumliche Zug nach oben vor, den das trichterförmige Ausweiten erzeugt.

Diese Erweiterung nach oben bestimmt auch den Charakter der Volumen in der Querrichtung, indem die beiden Längstrakte jeweils nach außen mit jedem Geschoß einen guten Meter weiter auskragen. Die Institute weisen somit jedem Geschoß etwas mehr Bautiefe auf.

Das heißt nun nicht, daß die unteren Geschoße weniger attraktiv wären, denn hier sind die publikumsintensiveren Räume, die Hörsäle, die Mensa mit Café, die räumlich spannungsvolle Bibliothek sowie großflächige Computerarbeitsräume, angeordnet. Die Bibliothek, die, südseitig von Lamellen beschattet, aus dem Baukörper hinausdrängt, reicht andererseits durch das ganze Bauwerk hindurch, die zugehörigen Büros blicken nach Norden.

Die darüberliegende kleinere Mittelhalle ist daher weniger hoch; sie beginnt erst im dritten Obergeschoß, dafür gelangt über drei große Deckenöffnungen Tageslicht bis in den Binnenbereich der Bibliothek. Die subtile Lichtstimmung in den drei nordseitig unter den Längstrakt geschobenen Hörsälen; die intelligente, mit den Nutzern abgestimmte innere Organisation der Institute; die vielen individuellen Büroräume, etwa jene an den Gebäudeecken; sowie zahlreiche weitere architektenhandwerklich sorgfältig durchdachte Komponenten der Gesamtanlage machen diese zu einem reifen Werk.

Eine derart umfangreiche Arbeit setzt vielfältige Kooperationen voraus. Mit Johann Obermoser war ein erfahrener Projektmanager tätig; Wolfdietrich Ziesel für die Tragwerksplanung und Alexander Sommerfeld für die anspruchsvolle Klima- und Lüftungstechnik, die auf einfachen Prinzipien basiert, waren für die Architekten wichtige Gesprächspartner.

Daß sich am Schluß auch noch die Bundesimmobiliengesellschaft über eine Kostenunterschreitung freuen durfte, zeugt vielleicht direkter als manches architektonische Detail von der guten Zusammenarbeit aller Beteiligten.

Ein derartiges Arbeitsklima entsteht gewiß eher, wenn einzelne verantwortungsbewußte Persönlichkeiten agieren, weniger, wenn die Problem ein unübersichtlichen Kommissionen zerredet werden. Jedenfalls ist es einer Architektur förderlich, die ihre Ansprüche einzulösen weiß.

Spectrum, Do., 1998.12.31



verknüpfte Bauwerke
SOWI Sozial- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät - Neubau

12. Dezember 1998Walter Zschokke
Spectrum

Langhaus und Breithaus

Kirchham, Oberösterreich: Die spätgotische Kirche war zu klein geworden. Friedrich Kurrent verschaffte der Gemeinde Platz, indem er dem alten einen neuen Andachtsraum gleichwertig an die Seite stellte.

Kirchham, Oberösterreich: Die spätgotische Kirche war zu klein geworden. Friedrich Kurrent verschaffte der Gemeinde Platz, indem er dem alten einen neuen Andachtsraum gleichwertig an die Seite stellte.

Der Kirchturm überragt mit seinen gut drei Dutzend Meter Höhe sämtliche Gebäude des Dorfes Kirchham. Dahinter schließt, von dem mächtigen, in Naturstein gemauerten Prisma fast verdeckt, das hohe Langhaus an, das im Inneren eine mit Netzgewölben überspannte Halle birgt. Der in weiterer Folge nach Osten ansetzende, quadratische Chor weist einen durch die Maßwerkfenster hell belichteten Fünf-Achtel-Abschluß auf und teilt sich mit der Halle das steile, leicht verzogene Dach.

Die Ausrüstung der spätgotischen Kirche wurde in der Barockzeit erneuert, und wegen Platzmangels erfuhr die Empore eine hölzerne Erweiterung nach vorn. Dennoch war die Kirche zu klein geworden, und die Gemeinde befaßte sich seit Jahren mit Erweiterungsplänen.

Nun ist die Veränderung eines spätmittelalterlichen Bauwerks kein harmloses Unterfangen, vor allem, wenn dieses formal geschlossen ist. Man beschränkte sich daher auf die dringend notwendige statische Sicherung und errichtete neben der alten Kirche, mit dieser über eine verglaste Zwischenzone verbunden, einen neuen, größeren Andachtsraum für die Gemeinde.

Friedrich Kurrent, Architekt, Holzmeisterschüler und emeritierter Professor der TU München, schlug ein „Breithaus“ vor, das im Grundriß das Verhältnis vier zu drei aufweist. Die Richtung erhält der Raum durch eine flache Konche an der nach Osten orientierten langen Seite. Den eher gedrungenen Baukörper schützt ein gegenüber dem Altbau deutlich weniger steiles Zeltdach mit von unten sichtbarer Tragkonstruktion aus schichtverleimtem Fichtenholz. Von außen wirkt das Bauwerk bescheiden und überläßt dem Altbau die zeichenhafte Fernwirkung. Aus der Nähe weisen allerdings die hochliegende Fensterzeile und eine Dachlaterne auf die Besonderheit des Gebäudes hin. Man sicherte also den Bestand, wird ihn im Inneren noch herrichten, und zum Alten kommt das Neue als ein weiteres Kapitel gleichwertig hinzu. In der größeren Gesamtanlage wurden die Funktionen neu verteilt: Sonntagsmessen finden im Neubau statt; als Werktagskapelle, für Hochzeiten und Taufen dient der spätgotische Altbau, wo sich auch weiterhin der Tabernakel befindet.

Diese Haltung, bei dem das Neue das Alte nicht verdrängt sondern klug ergänzt, erweitert das Feld der Nutzungsmöglichkeiten. Sie unterscheidet sich in diesem Fall auch von jener der Transformation wie auch von der des Gegensatzes. Der Altbau - lang und hoch - und der Neubau - breit und geräumig - bilden eine Dualität, die gemeinsam auf nachhaltigen Weiterbestand ausgerichtet ist.

Das bescheidene Äußere des Neubaus, selbst die eigenwillige Form der Dachlaterne würden wohl kaum einen vorbeifahrenden Fremden zum Anhalten bewegen. Das Besondere des Bauwerks verbirgt sich vielmehr im Innenraum, den man von einem gepflasterten Vorplatz und der glasüberdeckten Zwischenzone durch drei gleich große Öffnungen von der Seite her betritt.

Sofort wird man umfangen von der warmen, meditativen Raumstimmung. Die Mauern, mit einem dreiviertel Meter ebenso stark wie jene des Altbaus, sind innen mit sichtbarem Ziegelmauerwerk versehen. Der hochliegende Halbkranz quadratischer Fenster versieht den Raum in angenehmer Weise mit Tageslicht. Die Chorwand ist geschlossen, nur um den Dachfuß zieht sich allseitig ein dünner, verglaster Lichtschlitz und betont den schirmenden Charakter des Zeltdachs. Die schrägen inneren Fensterlaibungen sind mit weißem Marmor verkleidet. Dieser unterstützt als Reflektor das einfallende Licht und hebt die Öffnungen von der bescheideneren Sichtziegelmauer ab, ja verleiht ihnen auratischen Charakter.

Der Altar steht im Drittelspunkt des Raumes, auf den der Viertelkreis der Konche bezogen ist. In konzentrischen Halbkreisen ordnen sich die Sitzbänke darum herum auf dem leicht zur Mitte abfallenden Boden, sodaß der Altar, obwohl auf gleichem Niveau wie die Eingangsschwelle liegend, um zwei Stufen erhaben ist. Dem offenen Halbkreis der Gemeinde ist der ebenfalls zu dieser gehörende Viertelkreis für den Chor zugeordnet, sodaß der Altar in die Mitte der Gemeinde zu stehen kommt. Hoch darüber, an der Unterseite des Laternendaches, schwebt das Bild der Taube des Heiligen Geistes nach Entwürfen der vor wenigen Jahren verstorbenen Künstlerin Maria Biljan-Bilger. - Die komplexe Geometrie dieser Anordnung ist nicht auf den ersten Blick durchschaubar, der geistige Schwerpunkt des Raumes ist vom Schnittpunkt der Diagonalen etwas nach Osten verlegt, Zentrierung und Ausrichtung sind überlagert, woraus sich eine spannungsvolle Mehrdeutigkeit ergibt.

Mit diesen gestalterischen Maßnahmen werden die besonderen Anforderungen an einen zeitgemäßen Andachtsraum: (Ver-)Sammlung und Konzentration, aber auch das vorsichtige Bezeichnen einer gemeinsamen Richtung einfühlsam interpretiert. Demgegenüber haben reine Zentralbautypen immer etwas Herrisches, und achsiale Anordnungen leiden unter der Hierarchie der räumlichen Abfolge.

Das naturbelassene Fichtenholz der Dachkonstruktion mit seiner warmen Materialfarbe kontrastiert zum dunklen, bruchrohen Schiefer des Bodens, aus dem der helle Kalkstein der Stufen herausleuchtet. Den Altar aus dunklem Waldviertler Diorit hat der Bildhauer Franz Xaver Ölzant gestaltet; als weiterer Künstler wirkte der Eisenplastiker Sepp Auer für das Vortragkreuz und den Gitter-Rost vor dem solitären Laurentius-Fenster, dessen nach Süden orientierte Alabasterscheiben im Sonnenlicht zu lodern beginnen.

Friedrich Kurrent hat einen besinnlichen, unaufdringlichen Sakralraum für die Liturgie nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil geschaffen. Mit Sorgfalt ist die Material- und Raumwirkung abgestimmt, etwa beim Übergang von der Zwischenzone in den Kirchenraum oder bei der komplex komponierten Zonierung in dem scheinbar einfachen Breithaus.

Es ist eine wichtige kulturelle Leistung unserer Zeit, daß wir Dinge verschiedenen Alters nebeneinander bestehen lassen können, ohne sofort nach vereinheitlichender Überformung zu rufen. Eine solche Gelassenheit hat den unangenehm eifernden Charakterzug des Modernismus überwunden, lehnt die Moderne jedoch nicht als Ganzes ab. Mit dem Einarbeiten berechtigter Kritik an dieser Moderne gelingt es, sowohl die Architektur in differenzierter Weise weiter zu entwickeln als auch das Verständnis der lokalen Bevölkerung für neue Ausdrucksformen zu gewinnen.

Spectrum, Sa., 1998.12.12



verknüpfte Bauwerke
Röm.-kath. Pfarrkirche St. Laurentius

21. November 1998Walter Zschokke
Spectrum

Mit vierzig Jahren abgebrochen

Als Architekt tatkräftiger Modernist, vom Naturell her Draufgänger und Bohemien, politisch „Gefühlssozialist“: der Grazer Herbert Eichholzer, 1941 von den Nazis verhaftet, 1943 hingerichtet. Eine Ausstellung in Wien erinnert an den zu Unrecht Vergessenen.

Als Architekt tatkräftiger Modernist, vom Naturell her Draufgänger und Bohemien, politisch „Gefühlssozialist“: der Grazer Herbert Eichholzer, 1941 von den Nazis verhaftet, 1943 hingerichtet. Eine Ausstellung in Wien erinnert an den zu Unrecht Vergessenen.

Paris, Ende der zwanziger Jahre. Im Atelier von le Corbusier, rue de Sèvres 35, war es nicht üblich, Mitarbeiter zu bezahlen. Der 26jährige Grazer, der im Herbst 1929 als Volontär an Ausführungsplänen des Centrosoyus für Moskau arbeitete, blieb wohl nicht zuletzt deshalb nur bis Weihnachten. Dennoch hatte er, welterfahren, wie er war, die Architektursprache des Meisters aufgesaugt, um sie zurück nach Graz zu tragen.

Die Grundlagen einer modern ausgerichteten Haltung hatte allerdings schon sein Lehrer an der Technischen Hochschule in Graz, Friedrich Zotter, gelegt, und sein eigenwilliger Charakter machten ihn Neuem gegenüber aufgeschlossen. Gustav Scheiger, langjähriger Sekretär der Grazer Sezession, beschreibt ihn in einem späten Nachruf als „einerseits tief religiös, andererseits extrem antikirchlich, leidenschaftlich individualistisch und ebenso kollektivistisch, vornehm snobistisch in einem Zug, kameradschaftlich und rücksichtslos zugleich, klug planend und grenzenlos unbedacht, vereinigte er alle Widersprüche mit einem bezwingenden Charme, einer messerscharfen Dialektik, souveräner Unbestechlichkeit und tollkühnem Wagemut“ (Tagebuch, Wien, 3. 11. 1956).

In der Steiermark der frühen dreißiger Jahre ließen sich die Ideen des Neuen Bauens nicht ohne Abstriche umsetzen. Eichholzers erster Auftrag - eine Wohnanlage in Judenburg - , der sein größter bleiben sollte, atmet denn auch den bewährten Geist der Volkswohnhäuser der zwanziger Jahre.

Herbert Eichholzer, ein großer Anreger, aber auch oft unterwegs, teilte nicht ungern das Atelier mit einem Partner. In den ersten Jahren war dies Rudolf Nowotny, der jedoch früh an Diphtherie verstarb. Danach tritt Viktor Badl bei zahlreichen Projekten als Partner auf, später war dies Friedrich Hodnik. Bei den meisten Aufträgen handelte es sich um kleine Umbauten, um Geschäftsportale, Wohnzimmermöblierungen und dergleichen. Dabei zeigt sich anfangs ein von kubischen Erscheinungsformen abgeleiteter Charakter, der später dynamischer wird, etwa wenn die Lehnen von Fauteuils dem Schwung von Automobilkotflügeln nachempfunden sind.

Einige wenige größere Objekte zeugen von seinem Engagement für eine erneuerte Architektur. Darunter sind zwei kleine Häuser von 1932/33 am Ulrichsbrunn in Graz zu nennen, die, extrem kompakt, auf zwei Geschoßen Küche und Wohnraum sowie zwei Schlafzimmer enthalten. Eine schmale Treppe und minimale Nebenräume ergänzen das Bauwerk. Ein Bad war vermutlich in der Waschküche zu nehmen. Vom Raumprogramm entsprachen sie dem, was damals leistbar war. Aber ihre Architektur war geprägt vom Traum der Moderne: als weiße Kuben mit flachem Dach standen sie im Hang, mit wohlproportionierten, von innen nach außen entwickelten Fassaden und exakt eingeschnittenen Fenstern.

Ein etwas größeres Einfamilienhaus konnte Eichholzer 1936 an der Rosenberggasse in Graz errichten. Ein Teil des Hauptgeschoßes ist auf Stützen aufgestelzt, vor den Wohnräumen dehnt sich ein Bandfenster, und darüber öffnet sich eine Dachterrasse. Damit war ein Teil jener fünf programmatischen Punkte le Corbusiers eingelöst.

Bei Entwürfen für Wettbewerbe, unter anderem mit seinem früheren Lehrer Friedrich Zotter entstanden, kommen die klaren geometrischen Formen der Moderne noch deutlicher zum Ausdruck. Ein größerer Erfolg blieb ihm jedoch versagt. Dafür engagierte er sich in der Grazer Sezession bei Debatten um Fragen der Kunst und - als erklärter Gefühlssozialist - verstärkt auch politisch gegen den drohenden Nationalsozialismus.

Einer Verhaftung nach dem „Anschluß“ entzog er sich durch Ausreise nach Triest und Paris. Nach einem Aufenthalt in Istanbul, wo er bei Clemens Holzmeister arbeitete, kehrte er 1940 nach Graz zurück und betätigte sich integrierend im zaghaft keimenden Widerstand gegen das Naziregime. Über sein tatsächliches Wirken und seine politische Grundhaltung bestehen unterschiedliche Auffassungen: ob er jetzt Kommunist war oder ob er eine eigene Weltanschauung von künstlerischer Freiheit und weitgefaßtem Sozialismus pflegte. Seine bisherige Biographie, die ihn als „wilden Hund“, Bohemien, tatkräftigen Architekten, weitgereist und vielsprachig ausweist, bietet nicht das Bild, das man sich heute von ei- nem orthodoxen Kommunisten macht. Vielmehr erscheint er als herausragende, facettenreiche Persönlichkeit, als Draufgängernatur, die zwangsläufig mit dem gleichschalterischen, totalitären Unrechtsregime in Konflikt geraten mußte.

Gemäß seinem Naturell zog er sich nicht in die „innere Emigration“ zurück - auch wenn er in diesem Punkt zuweilen geschwankt haben mag - , noch blieb er im sicheren Ausland, sondern er suchte die Auseinandersetzung in Graz. Dabei mag er den barbarischen Charakter der Nazidiktatur unterschätzt haben. Die letztendlich dilettantisch agierenden, zentralistisch strukturierten Gruppen wurden von einem Infiltranten verraten und Anfang 1941 allesamt verhaftet.

Herbert Eichholzer wurde wie die meisten anderen seiner etwa 20 Gesinnungsgenossen - nach einem „Hochverratsprozeß“ vor dem „Volksgerichtshof“ am 7. Jänner 1943 - in Wien mit dem Fallbeil geköpft. Einige wenige erhielten Zuchthausstrafen und überlebten. Eichholzer stand mit knapp 40 Jahren im ersten Drittel eines Architektenlebens, das von der Wirtschaftskrise gebremst und vom Naziregime abgebrochen wurde.

Dietrich Ecker hat Anfang der achtziger Jahre in seiner Dissertation Eichholzers Werk zusammengestellt und gewürdigt. Vor einem Jahr zeigte der Verein für Geschichts- und Bildungsarbeit „CLIO“ in Graz eine Ausstellung über Eichholzer, die Grazer Sezession und ihr Umfeld. Etwas verkleinert wurde sie von der Österreichischen Gesellschaft für Architektur ins Wittgensteinhaus (Wien 3, Parkgasse 18) geholt und ist dort wochentags (von 9 bis 17 Uhr) bis 4. Dezember zu sehen.

Außer einigen Möbeln ist von Eichholzers Werken nahezu keines unverändert erhalten. Diese Auslöschung betraf in einer Art unbewußtem Gehorsam auch die wenigen Zeugen einer aufkeimenden Moderne in der Steiermark. Die äußerst knappe Darstellung regt aber an, weiter zu forschen, aufzuarbeiten und vermittelnd zu verbreiten. Eichholzers Haltung - die des Architekten, des aktiven Menschen wie auch die des Verfechters künstlerischer Freiheit - ist es samt ihren Widersprüchen wert, von einer vorwärts enteilenden Nachwelt in lebendiger Erinnerung gehalten zu werden.

Spectrum, Sa., 1998.11.21

07. November 1998Walter Zschokke
Spectrum

50.000 Kubikmeter in Schwebe

Was Karl-Heinz Essl mit dem Klosterneuburger Hauptsitz seiner Firma begann, das führte er jüngst in Schwechat mit einem Baumarkt von Marta Schreieck und Dieter Henke weiter: als Bauherr Architektur mit Anspruch zu fördern.

Was Karl-Heinz Essl mit dem Klosterneuburger Hauptsitz seiner Firma begann, das führte er jüngst in Schwechat mit einem Baumarkt von Marta Schreieck und Dieter Henke weiter: als Bauherr Architektur mit Anspruch zu fördern.

Die Kreuzung der B 9, der Preßburger Straße, mit der B 10, der Budapester Straße, galt früher als wichtiger Verkehrsknoten, was von einer Tankstelle mit signalhaft frohgemutem Pavillondach seit den späten fünfziger Jahren entsprechend markiert wurde. Doch die Flughafenautobahn zog die Verkehrsströme an sich, die scheinbare Lagegunst war von begrenzter Dauer; seit Jahren hält sich nur mehr ein Landstraßencafé in dem eingeschoßigen Gebäude, das selbst ohne Zapfsäulen unschwer als ehemalige Tankstelle zu erkennen ist.

Und wieder änderte sich das ökonomische Lokalklima: Eine Baumarktkette entdeckte die verkehrsgünstige Lage am Autobahnzubringer und plazierte nahe der Kreuzung eine leichte Hallenkonstruktion zur Präsentation ihres kostengünstigen Angebots für Bastler, Wohnungsgestalter, Renovierer, Häuselbauer und Pfuscher aller Sparten. Das Geschäft florierte, die Konkurrenz entwickelte sich ebenfalls, und das Unternehmen stand vor der Aufgabe, das Sortiment zu erweitern und dem Erscheinungsbild eine klare Identität gegenüber den Mitbewerbern zu geben.

Karl-Heinz Essl, Direktor des Unternehmens und Sammler zeitgenössischer österreichischer Kunst, wählte das Prinzip Architektur. Er ließ sich unter anderem von Friedrich Achleitner beraten und führte kleine Wettbewerbe für mehrere geplante Standorte durch. Obwohl in einem Verfahren zweitplaziert, stieß der Entwurf von Dieter Henke und Marta Schreieck seitens der Firmenleitung auf Interesse, sodaß die beiden Wiener Architekten mit Tiroler Wurzeln für den Standort Schwechat direkt beauftragt wurden.

Die Aufgabe lautete, den bestehenden Baumarkt um das Eineinhalbfache auf 10.000 Quadratmeter zu erweitern, ein Gartencenter anzufügen und für die fast ausschließlich motorisierten Kunden 340 Stellplätze anzubieten. Mit ihrem Entwurf reagierten die Architekten auf die verkehrsintensive Lage und vereinigten Bestand und Neubau zu einer einzigen Großform, die ihren dynamischen Ausdruck von der Königsidee bezieht, die beschattenden Lamellen von einer senkrechten Position vor dem geschlossenen Container des Altbestands kontinuierlich in eine horizontale vor dem Glashaus am Westkopf übergehen zu lassen.

Die über 70 Meter lange Nordansicht zur B 9 steht damit stetig unter einer von den sechs Lamellenbahnen erzeugten visuellen Spannung, deren Träger um die gerundete Westfront herumgezogen werden, sich vom Gebäude lösen und das Freigelände des Gartencenters räumlich fassen, bevor sie abgestuft enden, womit auch die vorher erzeugte Spannung formal aufgelöst wird.

Die Tragkonstruktion für diese starke architektonische Figur besteht einerseits aus vertikalen, oben und unten gelenkig gelagerten Flachstählen, sogenannten Schwertern, denen die Scheiben der Glasfassade in horizontalen Sprossen vorgehängt sind. An der gerundeten Front stehen die Stützen schräg hinaus, sodaß sich unregelmäßig verzogene Glasschnitte ergeben.

Andererseits sind vor der Glaswand horizontal verlaufende Rohre montiert, die über kurze Stege mit den Schwertern verbunden sind. So entsteht ein rahmenartiges, teils innenliegendes, teils außenliegendes Tragwerk, das den Eindruck großer Leichtigkeit vermittelt. Dies gelingt umso mehr, als die äußeren Rohre zugleich Träger der Aluminiumblech-Lamellen sind, die sie abdecken, weshalb sie als statisch wirksame Elemente kaum in Erscheinung treten. Am polygonal verglasten Kopf verläuft die äußere Schneide der Lamellen in perfekter Rundung, wodurch die vom Hochziehen eingeleitete Spannung in keiner Weise an Intensität verliert.

Marta Schreieck und Dieter Henke erweisen sich mit dieser Fassade als Meister architektonischer Sublimierung. Das Konzept ist in seiner Wirkung bis ins Detail durchgedacht und baulich perfekt umgesetzt, doch steckt in der Gesamtanlage noch einiges mehr. Da das Gelände zum Gebäudekopf hin leicht abfällt, bleibt die unter dem Bauwerk angeordnete Parkierungsebene seitlich offen. Die schlanken Rundstützen, auf denen der lange Baukörper mehr zu schweben scheint, als er auflastet, beeinträchtigen die Durchsicht kaum, und die seitlich verglasten Fluchtstiegenläufe in Beton machen den Eindruck von Fallreeps, die beim Befehl „bauMax klar zum Abheben!“ rasch hochgezogen werden könnten.

Die nach Süden orientierte Eingangsseite ist erdgebundener. Als Gegensatz zur Nordfassade, die sich als ein langgezogen-kräftiges Ausatmen interpretieren läßt, könnte man meinen, daß im Inneren betriebswirtschaftliche Rationalität vorherrscht. Dies ist einesteils sicher der Fall; doch auch hier haben die Architekten mit gezielten Maßnahmen den Raumeindruck verändert. Da ist natürlich der Ausblick auf das mit Bäumen durchsetzte Betriebsgebiet, der von schmalen horizontalen Streifen im hinteren Bereich zu nur kurz von den Lamellen unterbrochener Durchsichtigkeit zunimmt. Im stirnseitigen Westteil, wo Gartenutensilien und Pflanzen zum Verkauf stehen, ist zusätzlich ein breiter Streifen des Dachs in Glas ausgeführt, was den kopfartigen Charakter verstärkt und den Gartenbereich zu einem lichtdurchfluteten Glashaus macht.

Schlanke, verzinkte Rundstützen bilden den weitmaschigen Raster der stählernen Tragkonstruktion für das Dach; auf diesen ruhen - übergangslos - weiß gestrichene Profilträger auf. Die Sekundärträger sind dazwischengespannt, darüber liegt Profilblech. Beide Teilsysteme sind ebenfalls weiß. Die Decke wird damit trotz sichtbaren Konstruktionsteilen homogener und scheint hinter den zahlreichen abgehängten Schildern und Beleuchtungskörpern fast zu verschwinden. Die ungewohnt deutliche Unterscheidung der Stützen läßt diese nicht so sehr als konstruktive Elemente hervortreten, die den Raum in Schiffe teilen.

Vielmehr gesellen sie sich zu den Gestellen und Werbemaßnahmen der Verkaufsstruktur, während das farblich zusammengefaßte Dach die große Halle räumlich als ein Ganzes überspannt.

Wir dürfen annehmen, daß die ökonomische Spanne für architektonische Maßnahmen im harten Konkurrenzkampf unter den Baumarktketten nicht besonders groß ist, ja sogar zu Kostenneutralität tendieren dürfte. Unter diesen Voraussetzungen haben Henke/Schreieck das Notwendige und das Mögliche so klug und trefflich arrangiert, daß ein in sich stimmendes Gesamtkonzept mit nach außen ultimativer Wirkung resultiert.

Daß es ihnen gelang, auch im Inneren gezielte Maßnahmen zur Präzisierung des Raumcharakters zu setzen, ist bei derartigen Bauaufgaben weniger selbstverständlich, stellt aber dem Bauherrn ein gutes Zeugnis aus als Förderer qualifizierter Architektur trotz härtester ökonomischer Konkurrenz. Da könnte sich manche öffentliche Bauherrschaft ein Beispiel nehmen.

Spectrum, Sa., 1998.11.07



verknüpfte Bauwerke
Baumax Schwechat

24. Oktober 1998Walter Zschokke
Spectrum

Betreten des Grüns verboten

Nach einem Architekturfrühling droht in Wien wieder die Winterstarre. Die magistratischen Ellen, nach denen Gestaltungsspielraum zugemessen wird, scheinen kürzer zu werden: die Volksschule von Peter Nigst in der Wagramer Straße - ein Fallbeispiel.

Nach einem Architekturfrühling droht in Wien wieder die Winterstarre. Die magistratischen Ellen, nach denen Gestaltungsspielraum zugemessen wird, scheinen kürzer zu werden: die Volksschule von Peter Nigst in der Wagramer Straße - ein Fallbeispiel.

Man kann Schulhäuser auch in die Höhe bauen. Wie das etwa in den Wiener Gründerzeit-Vierteln ge- schehen ist. Und jene über sechs Stockwerke reichende Schule in der Schäffergasse, von Siegfried Theiss und Hans Jaksch, aus den frühen fünfziger Jahren gehört architektonisch zum Besten ihrer Zeit. Seither waren maximal drei Geschoße üblich. Doch kürzlich konnte wieder ein vertikal entwickelter Bautyp realisiert werden.

An eine sechsgeschoßige Wohnhauszeile entlang der Wagramer Straße schließt, von einem gassenartigen Durchlaß getrennt, der helle Baukörper der neuen Volksschule an. Große Öffnungen im unteren Fassadenbereich oder entsprechend zusammengefaßte Fensterschlitze kontrastieren zu den Bandfenstern vor den darüberliegenden Geschoßen und signalisieren eine differenzierte Nutzung. Die Schar schmaler hoher Fenster belichtet die knappe, über zwei Geschoße reichende Eingangshalle. Die vier mit Lamellen verschatteten Öffnungen daneben gehören zum erdgeschoßigen Turnsaal.

Im zweiten Obergeschoß befindet sich der Ganztagesbereich mit Küche nebst Freizeitklassen; im dritten sind vier Klassen sowie die Direktion mit Lehrerzimmer und Bibliothek untergebracht; im vierten weitere vier Klassen, eine Vorschulklasse sowie Sammlungs- und Werkräume; den fünften Stock teilen sich Gruppenräume, ein Mehrzweckraum sowie eine betretbare und eine nicht betretbare Dachterrasse.

Die Schulhausgänge sind hell und weiträumig, mit einer kleinen Ganghalle auf jedem Geschoß. Das Stiegenhaus greift mit dem einen Podest jeweils aus dem Bauwerk hinaus in den Raum über dem schmalen Durchgang. Dieser Teil ist erkerartig verglast und bietet nach beiden Seiten Aussicht in den Gassenraum. Einem aufgestelzten Rucksack gleich, hängt an der Gebäuderückseite ein gedrungener Gebäudeflügel mit jeweils zwei Klassen pro Geschoß. Er schirmt eine offene Pausenhalle im ersten Stock, von der eine Außentreppe in den kleinen Hof führt. Knapp dahinter streben die neuen Wohntürme von Coop Himmelb(l)au, Peichl & Partner und NFOG in die Höhe.

Die Schule stammt ebenfalls von NFOG-Architekten (Nigst, Fonatti, Ostertag, Gaisrucker), den Autoren des städtebaulichen Konzepts für die Bebauung auf der Fläche zwischen der U 1 in Hochlage und der Wagramer Straße. Für das Projekt zeichnet vor allem Peter Nigst verantwortlich, als Mitarbeiter wirkte Markus Lang. Die räumlich attraktiven Erschließungsflächen und die heitere Atmosphäre hinterlassen beim Betrachter einen angenehmen Eindruck. Es bieten sich mehrere Pausenbereiche an, wo die Kinder ihren Bewegungsdrang ausleben können.

Doch gibt es Punkte, die unverständlich erscheinen, was jedoch nicht dem Architekten anzulasten ist: Die Turnhalle befand sich im ersten Entwurf zuoberst, wie dies statisch und schulbetrieblich sinnvoll wäre.

Ein Spardekret mit zehn Prozent Kostenreduktion drückte auf den Ausbaustandard. Als zusätzliche Knacknuß mußte plötzlich die Turnhalle mit konstruktivem Mehraufwand ins Erdgeschoß verlegt werden, begründet mit der abendlichen Nutzung durch Sportvereine - trotz eingeplanter funktionaler Trennung. Jetzt dürfen dafür die Kinder täglich ins dritte und vierte Geschoß hinaufsteigen. Von dieser Warte ist es doppelt unverständlich, daß die nahe, begrünte Dachterrasse nicht betreten werden soll.

Die großflächige Werbung einer nahen Autowerkstätte dominiert gewinnträchtig die nordöstliche Stirnseite. Ein gemeinsam mit einem Künstler ausgearbeiteter Gegenvorschlag des Architekten fand keine Gnade. Ein durchdachtes Farbkonzept für die Innenräume wurde zerredet, sodaß als Alternative schlichtes Weiß blieb.

Nun könnte man abwinken: Dies sei ein Einzelfall. Doch die Erfahrungen engagierter Architekten, die im Schulbau etwas anderes als das Reglementierte ausprobieren wollten, sprechen eine andere Sprache. - Ob wohl Zvi Hecker in Wien so hätte bauen dürfen wie in Berlin? Nach einem kurzen Architekturfrühling ist das Klima wieder herbstlich kühl geworden. Hinter der Nebelwand der Projekte einiger „Stararchitekten“ grassiert restaurative Realität. Mammutkommissionen mit wechselnder Besetzung, in denen jede Amtsstelle unhinterfragt recht haben darf, weiten ihre Ermessensspielräume zu Lasten der Architektur beliebig aus. Was dazu führt, daß den Bauherrschaften jedes (Persönlichkeits-)Profil fehlt.

Die dezente Farbgebung in Reseda und Mattgrün, die Hermann Czech vor über zehn Jahren am Stadtparksteg ausführte, wurde kürzlich in grob kontrastierendes Lichtgrau mit hellgrünen Geländern umgestrichen.

In der Erzherzog-Karl-Stadt kam es an einem eben fertiggestellten Wohnbau von Michael Loudon zu einer willkürlichen „Verschönerung“. Wer dessen Architektur kennt, weiß, wie wichtig ihm schweigende, neutrale Wandflächen im Gesamtkontext sind. Auf eine solche, bewußt leer gehaltene Gebäudestirn wurde, ohne Rücksprache mit dem Architekten, in einem Anfall von Horror vacui umfangreicher kunstgewerblicher Schmuck appliziert - wo andererseits Architekten ihre Fassaden der Magistratsabteilung für Stadtgestaltung zur Vidierung vorlegen müssen.

Der Weggang des nach Brüssel mandatierten Planungsstadtrats Hannes Swoboda hat hinsichtlich Architektur in Wien ein kulturpolitisches Vakuum hinterlassen, in das jetzt beliebig kleinkrämerisch hineinreklamiert und -dekretiert wird. Was Wien auf mittlere und lange Frist erneuerte Identität und überregionale Prägnanz vermitteln könnte, eine lebendige zeitgenössische Architektur und deren nachhaltige Entwicklung, bleibt auf der Strecke.

Aus dem Mißstand ergibt sich die Forderung nach einer unabhängigen Architekturanwaltschaft für Wien. Ein auf Zeit gewählter Einzelkurator oder ein Dreiergremium mit entsprechenden Kompetenzen, wie dies in den Niederlanden oder in Spanien der Architektur Auftrieb verlieh, könnte unabhängig von politischen Wetterwechseln der Architekturqualität den nötigen Rückhalt geben.

Spectrum, Sa., 1998.10.24



verknüpfte Bauwerke
Volksschule

19. September 1998Walter Zschokke
Spectrum

Theatralik mit Augenzwinkern

Keine spektakulären Formen, keine angestrengte „Einfachheit“, sondern eine glatte, ruhige Oberfläche, die zu moderner Klassizität tendiert: das ORF-Landesstudio Sankt Pölten von Gustav Peichl und Rudolf Weber.

Keine spektakulären Formen, keine angestrengte „Einfachheit“, sondern eine glatte, ruhige Oberfläche, die zu moderner Klassizität tendiert: das ORF-Landesstudio Sankt Pölten von Gustav Peichl und Rudolf Weber.

Beim städtebaulichen Wettbewerb für das neu zu errichtende Regierungsviertel in St. Pölten hatten viele Architekten für das im Programm genannte ORF-Landesstudio den typischen, auf eine zentrale Halle bezogenen und in Segmente gegliederten Grundriß der aus den siebziger Jahren stammenden Landesstudios von Gustav Peichl eingesetzt. Sie verwendeten den Typ wie eine Signatur und anerkannten damit zugleich die architektonische Leistung als dauerhaft an.

Nun wäre es gewiß interessant gewesen, wie Peichl & Partner nach einem Vierteljahrhundert den damals entwickelten Typ heute interpretiert hätten. Doch der Wandel im Medienalltag und eine niedrige Kostendecke zwangen zu Reduktion. Entsprechend mußte ein neues Konzept entwickelt werden, das mit den anderen Landesstudios allenfalls noch die Farbe, das Silbergrau der Aluminiumfassade, gemein hat.

Der Neubau steht etwas südöstlich vom Kulturbezirk innerhalb der ausholenden Kurve, die von der eingehausten Bundesstraße beschrieben wird. Dahinter schließt der Hammerpark mit seinem prächtigen Baumbestand an. Die Lage auf der grünen Wiese kommt dem objekthaften Charakter des Bauwerks entgegen. Als städtebaulicher Solitär wirkt es hier prominenter, als dies nahe bei den hohen Bürobauten oder den Gebäuden des Kulturbezirks der Fall gewesen wäre, denn die vergleichsweise geringe Kubatur hätte mit der Größenordnung dieser Bauten nicht mithalten können.

Obwohl das Bauwerk fest auf dem Boden ruht und nicht aufgestelzt ist, wie dies die Exponenten der Moderne in den zwanziger Jahren forderten, ist es mit den Werken dieser Zeit insofern verwandt, als der Eindruck entsteht, es sei soeben gelandet, so leicht sitzt es auf dem grünen Rasen. Der Philosoph Ernst Bloch nannte diese Häuser „reisefertig“.

Die Zweckmäßigkeit, die dieser Charakterisierung innewohnt, zeichnet auch das ORF-Studio in St. Pölten aus. Gustav Peichl und sein Partner Rudolf Weber erweisen sich als kontinuierlich moderne Architekten, denen konstruktive und betriebliche Funktionalität wichtig sind. War an den älteren Landesstudios die Bauwirtschaft in mancherlei Hinsicht noch nicht in der Lage, den gewünschten Vorfertigungsgrad und den hohen Anteil zu montierender Teile in konfektionierter Form bereitzustellen, kann heute von Entwerfern auf ein reichhaltiges Angebot von Halbfabrikaten und fertigen Bauteilen zurückgegriffen werden. Die Industrialisierung des Bauwesens erlaubt es den Architekten, mit bereits bewährten Produkten zu arbeiten, die auf andere Komponenten abgestimmt sind. Sie brauchen nicht mehr alles „neu zu erfinden“, und die technischen Risiken sind kleiner geworden, das Bauen relativ günstiger.

Die technisch-konstruktiv perfekte Durchplanung des Neubaus ergibt eine entsprechend glatte und ruhige Oberfläche, die ihre Herstellung nicht geschwätzig referieren muß, um Wirkung zu erzielen. Damit tendiert der Ausdruck zu moderner Klassizität, die durch das Mittel einer vorgesetzten Schicht beschattender Lamellen aktualisiert wird. Diese Lamellen legen gleichsam einen Raumschleier vor die nach konkretem Bedarf differenzierte Kubatur, die im Obergeschoß da und dort zurückgestaffelt ist, weil nicht so viel Nutzfläche erforderlich war.

Der Grundriß für das Erdgeschoß basiert auf einem Quadrat, das in einen Stützenraster von sechsmal sechs Feldern aufgeteilt wurde. Von Norden her führt ein nach rechts und nach links ausschwingender gepflasterter Fußweg zum leicht eingezogenen Eingang, der zusätzlich durch ein die Mittelachse besetzt haltendes, rotes Wandpaneel ausgezeichnet ist, über dem das Bildlogo des ORF prangt. Die Eingangstür liegt links davon, eine gezielte Irritation der Symmetrie, wie wir sie bei Gustav Peichl immer wieder finden.

In den relativ geräumigen Windfang blickt von der linken Seite her das freundlich prüfende Auge der Dame vom Empfang, zur Rechten führt ein Durchgang in eine kleine Wartezone, die sich durch große Glasscheiben nach außen und nach innen öffnet. Seitlich schließt noch ein Raum mit Terminals zum Internetsurfen an. Auf engstem Raum sind hier alle für diesen entscheidenden Kontrollpunkt wesentlichen Funktionen untergebracht. Architektonisch wurden sie in freundlicher Atmosphäre konkretisiert, sodaß der Empfangscharakter deutlich vor dem durchaus notwendigen der Kontrolle rangiert.

Mit vergleichsweise geringen Mitteln - für die Sitzgruppe wurden Fauteuils von Le Corbusier gewählt - wird noble Eleganz erzeugt, die bereits beim Eintreten zu spüren ist. Damit wird die weitere Stimmung in dem von außen neutral zweckmäßig wirkenden Bauwerk tendenziell festgelegt. Hinter dem Eingang weitet sich eine Halle, die wie ein Atrium in den flachen Baukörper eingeschnitten ist und die von einem kleinen begrünten Lichthof abgeschlossen und zugleich nach hinten geöffnet wird.

Die Stimmung in der Halle tendiert mit den verdoppelten Rundstützen im Achsenkreuz, dem Muster der Betonrippen an der Decke und vor allem durch den mittig den Raum überragenden Laternenzylinder aus Glasbausteinen zu weihevoller Überhöhung. Der durch den Zylinderraum nach oben führende, gerade Treppenlauf rückt jedoch das Bild wieder zurecht in profane Wirklichkeit.

Mit kontrolliertem und gezielt eingesetztem Aufwand entstand hier ein repräsentativer Mehrzweckraum, dessen Seitenwände zum Hängen von Kunstwerken genützt werden. Natürlich entbehrt der Auftritt von Persönlichkeiten, die über die zentrale Treppe heruntersteigen, nicht einer gewissen theatralischen Komponente, doch wird dieser Eindruck wieder ironisch gebrochen durch die Erinnerung an zahlreiche Fernsehshows, in denen ein Schlagersternchen mit dem Mikrophon in der Hand, durch Playbacktechnik versichert, ein paar Treppenstufen herabschwebt. Der feinfühlige Intendant wird schon wissen, wann er die Haupttreppe benutzt und wann er, über Lift oder Nebentreppe, durch eine Seitentür die Halle betritt, um Besucher zu begrüßen.

Die Raumfigur mit dem zentralen Stiegenlauf finden wir in mehreren Bauten des Peichl- schen Oeuvres. Sie ist beim EVN-Forum in Maria Enzersdorf ebenso eingesetzt wie bei den Probebühnen der Bundestheater im Arsenal und war in Ansätzen bereits in den Landesstudios vorhanden. Gustav Peichls Gespür und seine Erfahrung für gesellschaftliche Gesten, für das Spiel von Sehen und Gesehenwerden kommen hier augenzwinkernd zum Einsatz. - Mit Eingang und Halle ist der teilöffentliche Bereich des Gebäudes auch schon zu Ende. Die Studio- und Diensträume legen sich U-förmig um diesen architektonisch betonten Raumkern: Bild- und Tonstudios sowie Räume für komplett ausgerüstete Workstations und Arbeitsplätze für redaktionelles Arbeiten liegen an kurzen Gängen. Große Binnenfenster öffnen Blickverbindungen zwischen akustisch getrennten Räumen. Dies ermöglicht eine rasche und unkomplizierte interne Kommunikation, was neben den kurzen Wegen ein rationelles und effizientes Arbeiten erlaubt.

Im Untergeschoß befinden sich Lager- und Archivräume sowie die Standplätze mehrerer Übertragungswagen nebst einigen Parkplätzen für Personenwagen. Dieser in den Rasen eingesenkte Teil wird von einer linear eingeschnittenen Rampe von der Bundesstraße her erschlossen.

Etwa die Hälfte der Mitarbeiter des ORF-Landesstudios ist weiterhin in Wien im Einsatz, weil dort die Infrastruktur vorhanden ist und ausgelastet werden soll. Die Verbindung erfolgt elektronisch. Doch stehen mit dem großen und dem kleinen Saal im Festspielhaus mögliche Aufnahmestätten zur Verfügung. Ohne die Nutzung derartiger Synergien ließe sich in der polyzentralen, wenig dichten Struktur Niederösterreichs nicht ökonomisch arbeiten.

Das Obergeschoß weist ein geringeres Flächenangebot auf: ein paar wenige Büros, ein Sitzungszimmer, ein Café mit vorgelagerter Terrasse sowie einige Serviceräume sitzen als Attika auf dem Erdgeschoßsockel auf. Die freien Terrassenflächen sind begrünt. Spätere Erweiterungen sind unter Ausnützung dieser Reserveflächen bereits heute eingeplant. Überragt wird das Bauwerk von einem Sendemast, dem das aus dem Hof aufsteigende Liftprisma als Basis dient.

Insgesamt zeugt das Bauwerk von vernunftbetonter Haltung. Die architektonisch repräsentativ ausgelegten Teile sind knapp gehalten, in den anderen, den eigentlichen Haupträumen des Funkhauses, bestimmt sparsame Zweckmäßigkeit das Bild, die jedoch nie kalt wirkt. Das Lamellengerüst der Sonnenblenden, das aus Kostengründen nicht beweglich ausgebildet werden konnte, überspielt nun mit seinen klaren Linien den im Obergeschoß zurückgestaffelten Baukörper. Es wirkt von außen distanzierend, sodaß die Radio- und Fernsehleute in den erdgeschoßigen Studioräumen ungestört von Passantenblicken arbeiten können.

Bezogen auf die Bauten des Regierungsviertels, wirkt das von seinen Dimensionen her kleinstädtische Bauwerk vermittelnd zum angrenzenden Vorstadtgebiet. Die Entwerfer suchten nicht die Sensation, etwa mit spektakulären Formen oder mit pathostriefender „Einfachheit“, sondern planten und errichteten ein praktisches Bauwerk, das sowohl dem landstädtischen Charakter St. Pöltens als auch einer bedachtsamen Tradition des Architekturwollens entspricht.

Spectrum, Sa., 1998.09.19



verknüpfte Bauwerke
ORF - Landesstudio Niederösterreich

29. August 1998Walter Zschokke
Spectrum

Gütesiegel Alltagstauglichkeit

Es gibt Gebrauchsgegenstände, die so selbstverständlich geworden sind, daß wir sie kaum mehr wahrnehmen. Ihre unprätentiöse Form läßt die Frage nach dem Designer oft gar nicht erst aufkommen. Eine Nachschau im Alltag.

Es gibt Gebrauchsgegenstände, die so selbstverständlich geworden sind, daß wir sie kaum mehr wahrnehmen. Ihre unprätentiöse Form läßt die Frage nach dem Designer oft gar nicht erst aufkommen. Eine Nachschau im Alltag.

Angesichts einer überhand nehmenden medialen Bilderflut, die zu verarbeiten fünf Leben nicht ausreichen würden, fragt sich mancher Gestalter: Wie weiter? Gibt es eine Richtung? Legt jemand Wegmarken, und woran wären sie zu erkennen? Lassen sich fixe Bezugspunkte ausmachen? Und: Wo fährt hier der Zug zur Avantgarde? So viele Fragen - und für jede zwei Dutzend Antworten. An diesem Punkt soll auf das entsprechende Loos-Zitat verzichtet werden - es existiert - , doch wen interessiert nach einem Jahrhundert Automobil die Manufaktur von Sätteln?

Nehmen wir an, man möchte nicht einfach bei anderen Ideen abkupfern, sondern die Dinge aus der Problemstellung heraus entwerfen und entwickeln. Soll man aus den zahlreichen Bildern, denen man tagtäglich begegnet, einzelne auswählen und verarbeiten, also mitschwimmen im Zeit- und Bilderstrom, ihn nützend, aber, von der Fließrichtung bestimmt, den potentiellen Vorwurf des Opportunismus in Kauf nehmen. Oder strebt man eine Reduktion in Form, Material, Farbe (natürlich Schwarz) an, wissend, daß den Produkten damit Pathos verliehen wird, auch wenn dies im Kontext befremdend wirken mag.

Eine ähnliche, mehr konzeptionelle Vorgehensweise wäre die Konzentration auf Grundprinzipien und Primärtypen, um sie als ordnende Elemente wirken zu lassen. Doch ihre mögliche Zahl ist beschränkt, sie lassen sich nicht beliebig vermehren, weil sie Produkte einer längeren kulturellen Entwicklung sind. Durch Anleihen aus dem Bereich der Kunst läßt sich ebenfalls Aufmerksamkeit provozieren; Minimal Art sowie Konkrete Kunst müssen ungefragt herhalten für visuelle Schroffheit und gewöhnungsbedürftige Nutzerfreundlichkeit.

Daher will man vielleicht festhalten an Bewährtem, erträgt den Vorwurf des Konservativismus, doch was kann beim beschleunigten Bilderverschleiß währschaft aussehen und sogar währschaft sein? Denn es soll ein neues, vorbildloses Produkt gestaltet werden. Vor lauter Zweifeln über den richtigen Weg verzieht man sich womöglich in die innere Emigration, verweigert die Plätschermedien ganz, erhöht damit aber die Gefahr des Nichtverstandenwerdens, weil man sich kaum mehr in einer gängigen und daher allgemeinverständlichen (Bild-)Sprache ausdrückt.

Nun haben Designprodukte jeweils eine zeitliche Konjunktur: Manche tanzen einen Sommer (wer interessiert sich heute noch für Rubiks Cube?); andere halten sich ein paar Jahre (Memphis war um 1980 ein Impuls, aber heute schlafen einem darob die Füße ein); einige überdauern Jahrzehnte, etwa der VW Käfer oder der Mini, denen heute noch Emotionen zufliegen, wenngleich ihr technisches Innenleben völlig erneuert ist und das gleichgebliebene oder aktuell überformte Äußere als Selbstzitat verwendet wird. Immerhin muß ein Produkt erst so weit kommen.

Als eine weitere Strategie, die vielleicht ein wenig an jene der Barfüßer erinnert, die zu Lebzeiten zwar ein bescheidenes Auskommen, doch selten Ruhm und Ehre einbringt, wäre die des Eintauchens in den Alltag. Man würde Produkte entwerfen und entwickeln, die zwar gebraucht und daher bei gutem Preis-Leistungs-Verhältnis auch gekauft, aber kaum lang beachtet werden, weil sie banal scheinen. Sie könnten schon immer dagewesen sein, und obwohl regelmäßig verwendet, würden sie aus lauter Vertrautheit ausgeblendet, unsichtbar gleichsam.

Ein Streifzug durch die Fachliteratur und eigene Erfahrungen förderte vier Beispiele zutage, die für eine ganze Reihe Gegenstände dieser Art stehen: Da ist einmal das technische Porzellan aus der staatlichen Porzellan-Manufaktur Berlin; zweitens der Küchentisch aus einer Typenmöbelfamilie von Ferdinand Kramer, zeitgleich mit der Frankfurter Küche der jungen Margarethe Lihotzky; drittens der Minenschärfer „Gedess“, den älteren und noch mit Druckbleistift zeichnenden Fachleuten bestens bekannt, vom elektronischen Fortschritt bedroht, aber auch von den 0,35-Minen überflüssig gemacht; viertens der „Rex“-Sparschäler, ein rüstiger Fünfziger. Das technische Porzellan wurde ab 1821 in wachsenden Stückzahlen für Färbereien produziert, welche die großen Mengen industriell erzeugter Textilien verarbeiteten. Es wird bis heute in den gleichen Formen hergestellt. Eine zeitliche Einordnung wird dem Laien schwerfallen.

Das Verdikt der reinen Zweckform wird kaum greifen, dafür sind die Gefäße zu elegant. In der Zeit der Neuen Sachlichkeit schätzten Gestalter die suggestive Wirkung dieser Formen und ließen sich bei ihren Entwürfen davon inspirieren. Ungerührt wurde seitdem weiterproduziert, ohne heimattümelnde oder postmoderne Schlenker.

Für den Privathaushalt sind sie wohl nicht wirklich zu gebrauchen; neben anderem Geschirr wirken sie ziemlich herb, aber im Labor, in der Werkstatt, im Atelier - dort auch als improvisiertes Trinkgefäß - waren sie „schon immer“ zu Hause; farbverschmiert, ein paar Pinsel und Stifte haltend, kaum auffallend, von Nachkommen beim Aufräumen oft achtlos weggeworfen.

Die isolierende Photographie auratisiert sie und macht sie zum Objekt des Begehrens - wenn Sie das Stück in den Händen halten, verliert sich der Glanz, das profane Objekt ruft nach Alltag und Arbeit.

Für Großserien im Rahmen des Frankfurter Wohnbauprogramms der zwanziger Jahre war der Küchentisch von Ferdinand Kramer gedacht. Die prismatisch-geraden Profile der Beine verweisen auf maschinelle Herstellung. Damals wollte man um jeden Preis erkennbaren Stil vermeiden, doch wurden die Entwürfe, die sich an der Grenze wahrnehmbarer „Gestaltung“ bewegen, ihrerseits bis heute stilbildend, man braucht bloß die Kataloge einschlägiger Möbelhäuser durchzublättern, wo derartige Typen fixer Teil des Programms sind.

Die Selbstverständlichkeit der rationalen Form transportiert Werte wie Zweckmäßigkeit, Schlichtheit, Wohlfeilheit und Hygiene, obwohl dies im Einzelfall alles nicht zutreffen muß. Kramers Entwürfe haben nicht die noble Eleganz der Möbel von Mies van der Rohe; die demonstrativ moderne Wohnlichkeit von Charlotte Perriand und Le Corbusier ist ihnen fremd, und die Kühnheit der Freischwinger von Mart Stam und Marcel Breuer geht ihnen ab. Sie wurden nicht zu Klassikern, weil sie nie darauf angelegt waren, aber ihr Prinzip lebt bis heute in zahlreichen Varianten in den alltäglichen Wohnungen von Arbeitern und Angestellten fort.

Die Einführung des Druckbleistifts rief nach einem Gerät zum Schärfen der Minen, das nur die Mine, nicht aber die metallene Halterung erfaßt. Georges Dessonnaz aus Fribourg im Üechtland ließ 1940 einen Minenschärfer patentieren. Die Büroartikel-Handelsfirma Kuhn in Zürich kaufte die Rechte 1944 und exportiert das Gerät seither in die Zeichensäle der halben Erde. Alle Teile sind einzeln ersetzbar, eine geschickte Anordnung des Kegels im Bodenstück hält das kugelförmige Gelenk der Tülle, in die der Minenhalter gesteckt wird, fest.

Sinnend machte man zum Spitzen mit beiden Händen eine gegenläufige Drehbewegung. Beim Aufschrauben schwärzte man sich die Finger mit Graphitstaub, dennoch war das Gerät beliebt. Es erlaubte die kleinen Pausen vor dem nächsten Zeichenschritt.

Vor dem Computer zünden sich die Leute nun für diesen Moment eine Zigarette an. Unsentimentale Chefs haben schon vor Jahren auf 0,35-Minen umstellen lassen. Die Mühle wird daher aus dem Büroalltag verschwinden, auch wenn ihr in Amerika der Form wegen, der Spitzname „Apollo“ verliehen wurde.

Zurück in der Küche, greifen wir zum Schälen von Karotten oder Erdäpfeln wahrscheinlich zum Rex-Sparschäler oder einem ihm ähnlichen unautorisierten Derivat. Seit seiner 1947 erfolgten Patentierung wurden über 30 Millionen Stück erzeugt und in Europa und den USA verkauft. Alfred Neweczerzal, in den zwanziger und dreißiger Jahren Händler von Küchengeräten, kam über einen Gemüsehobel mit verstellbarem Messer, den er 1936 in Deutschland patentieren ließ, zum handlichen Sparschäler aus konkav verformtem und versteiftem Aluminiumband. Der mit zwei Kupfernieten befestigte Augenschneider wurde früher aus dem ausgestanzten Mittelstreifen des Messers gewonnen, ein Vorgang, der heute zu aufwendig wäre.

Eine Datierung fällt auch hier nicht leicht. Aus den USA, wo das Gerät Verbreitung fand, stammt die Legende, es handle sich um eine Erfindung der Shaker, was diese ins 19. Jahrhundert verlegen würde. Dessenungeachtet wird der Schäler weiterhin produziert und ist im Endverkauf mittlerweile indexbereinigt fünfmal so billig wie bei der Markteinführung.

Die vier Beispiele zeigen verschiedene Lebenswege von Designprodukten. Die einen halten ihre Nischenstellung als Standardprodukt im Fachhandel. Andere waren zu unspezifisch, um zum Klassiker aufzusteigen, wurden aber zum Urahn einer immer wieder gewählten typischen Form. Der Minenschärfer hat seine großen Zeiten hinter sich, während der Sparschäler auch die Nachkommen des Erfinders ernährt. Allen eignet eine Selbstverständlichkeit, die in ihrer Form nicht erneuert zu werden braucht. Praktisch wie sie sind, haben sie sich schon vor Jahrzehnten durchgesetzt und lassen sich als Designprodukte mit hohem Alltagswert gestalterisch nicht in Frage stellen.

Spectrum, Sa., 1998.08.29

15. August 1998Walter Zschokke
Spectrum

Brückenhäuser mit Landschaft

Ersatz durch Stahlbeton, Konservierung oder hochwertige Erneuerung: noch ist nicht entschieden, was mit den mehr als 100 Jahre alten Stahlgitterbrücken der Kamptalbahn geschehen wird. Ein Aufruf zu kulturpolitischer Verantwortung.

Ersatz durch Stahlbeton, Konservierung oder hochwertige Erneuerung: noch ist nicht entschieden, was mit den mehr als 100 Jahre alten Stahlgitterbrücken der Kamptalbahn geschehen wird. Ein Aufruf zu kulturpolitischer Verantwortung.

Seit Roseggers Bedenken gegen den Eisenbahnbau sind mehr als hundert Jahre vergangen. Den heute lebenden Menschen sind die Brücken und Hochbauten der Bahnlinien vertraut. Sie sind Teil der durch die Aktivitäten der Menschen geformten Kulturlandschaft geworden.

Ein besonderer Landschaftsraum dieser Art mit hoher Erlebnisdichte ist das Kamptal zwischen Zöbing und Rosenburg. Geologische Formen der fluvialen Erosion begleiten den mäandrierenden Verlauf des Tals, und die menschliche Kultur hat sich über die Jahrhunderte in mannigfaltiger Weise ausgedrückt: kleine Dörfer, Handwerksbetriebe, herrschaftliche Burgen und Schloßanlagen, Industriebauten sowie die Zeugen einer frühen Sommerfrischelandschaft, deren Lebensquell der Kamp und die attraktive, teils epische, teils wildromantische Landschaft waren, zu deren Lebensader jedoch die 1889 gebaute Kamptalbahn wurde, die heute von der Straße stark konkurrenziert wird.

Entlang der Bahnstrecke liegen fünf Stahlfachwerkbrücken, die, den Kamp querend, beachtliche Ausmaße haben, weshalb sie nicht hinter Häusern, Bäumen und Buschwerk verschwinden, sondern als unübersehbare Markierungen in der Landschaft präsent sind.

Diese Brücken stehen für die zuständigen ÖBB-Stellen nun offenbar am Ende ihrer Nutzungsdauer, zumindest zwei sollen abgebrochen und durch Neubauten aus Stahlbeton ersetzt werden. Dies zu einem Zeitpunkt, da an der niederösterreichischen Eisenstraße bei Ybbsitz neue Brücken und Stege aus Stahlfachwerk errichtet werden, die zur touristischen Infrastruktur zählen und zum Teil als Kunstwerke gefördert werden.

Es hat lange gedauert, bis Stahlfachwerkbrücken als attraktive oder gar schöne Bauwerke in die allgemeinen Sehgewohnheiten integriert wurden. In unser elelektronischen Epoche mit ihrem riesigen Anteil latenter Virtualität können diese originalen Zeugen aus dem mechanisch dominierten Industriezeitalter allein durch ihre Präsenz dem staunenden Betrachter manches erzählen, was heute von vielen verstanden wird, weil das dahinterstehende grundsätzliche technische Wissen Allgemeingut geworden ist.

Der im Kamptal verwendete Brückentyp ist ein Gitterkastenträger mit bogenförmigem Obergurt, was zur Folge hat, daß die Kräfte in diesem Polygonzug aus druckbelasteten Fachwerkstäben ungefähr gleich sind. Entsprechend kann die obere Begrenzungslinie der Silhouette auch visuell in gleicher Stärke durchlaufen. Der gerade Untergurt, in dem die Zugkräfte in den Stäben zur Mitte hin zunehmen, ist nicht dem Problem der Knickbelastung ausgesetzt, weshalb er schlanker ist. Er tritt optisch auch nicht gleichwertig in Erscheinung. Dagegen sind die vertikalen Druckpfosten und die Zugdiagonalen, die im Fachwerk die Querkräfte übernehmen, nach Maßgabe ihrer Belastung differenziert. Zur Mitte hin dünner, zu den beiden Auflagern hin kräftiger.

Die fünf Brücken sind ausgereifte Standardprodukte aus der großen Zeit der Stahlskelettbauweise, die nach einer kurzen, ideologisch bedingten Renaissance des Steinbrückenbaus zumeist von der Stahlbetonbauweise abgelöst wurde. Sie sind selten geworden, weil sie wegen der zunehmenden Lokomotivgewichte oft schon früh zu ersetzen waren. Da der Schienenoberbau innerhalb des Tragwerks verläuft, ergibt sich für den durchfahrenden Eisenbahnpassagier ein spezielles räumliches Erlebnis, das vielleicht nicht immer explizit analysiert, aber unbewußt wahrgenommen wird: Man sitzt im beidseitig befensterten Längsraum des Waggons, der seinerseits den von der Gitterstruktur aus dem Umraum herausgelösten Brückenraum durchfährt.

Zugleich liegt dieser bloß netzartig angedeutete Brückenraum quer über dem Flußraum, der von den beiden Ufern begrenzt wird. Diese ausgeprägte räumliche Überlagerung ist nur bei Brücken möglich, deren Tragwerk über der Fahrbahn liegt und die daher dem Benützer Anhaltspunkte über ihr Tragsystem liefern. Bei den meisten Holzbrücken war dies schon immer so, die nötige Einhausung als Schutz vor der Witterung –nicht für die Menschen, sondern für das Tragwerk – erzeugte im Brückenlängshaus ein klägliches Dämmerlicht, in dem man kaum etwas zu erkennen vermochte. Bei Stahlbetonbrücken sind Tragwerkselemente über der Fahrbahn die Ausnahme. Zum ästhetischen Genuß der „luftumspülten“ Eisenkonstruktionen finden wir erstmals bei Sigfried Giedion in den zwanziger Jahren eine längere Beschreibung. Seither ist ein Dreivierteljahrhundert vergangen, und das räumliche Erleben einer luftigen Stahlkonstruktion ist nach wie vor ein Genuß.

Die Besonderheit der Kamptalbrücken liegt nun darin, daß derselbe Brückentyp in immer anderer Umgebung immer wieder auftaucht. Unabsichtlich wurden so die fachgerecht angewendeten Normalien der Eisenbahnbauer zur Konstante, die der wechselnden Landschaftssituation das Gegenüber liefert. Dieses ästhetische Prinzip wird in der„Landart“ nicht selten verwendet, um in der Differenz zum jeweils gleichen Objekt den Blick auf die Landschaft zu öffnen und zu schärfen.

Somit müssen die fünf Brücken als Gesamtheit gesehen werden und können nicht einzeln ausgemustert werden. In ihrer Fünfzahl bilden sie eine großräumige landschaftliche Installation, der heute durch die geänderten Sehgewohnheiten künstlerische Qualität zugewachsen ist.

Die unterste, kurz vor Stiefern, befindet sich in einer Lage, wo das Tal relativ eng ist, Fluß, Straße und Bahn teilen sich den knappen Raum, erst auf kurze Distanz wird man des imposanten Fachwerks gewahr. Die nächste dagegen ist schon von weitem sichtbar, als einzelnes Bauwerk ragt sie in Schrägsicht aus dem landwirtschaftlich genutzten Umfeld heraus. Kurz darauf folgt die Brücke bei Plank, wo die Bahntrasse eine enge Kurve beschreibt, jene etwas weitere des Flusses abkürzend. Die Lage in der Biegung erlaubt auch dem Bahnpassagier den vorausschauenden Blick auf das Bauwerk, für den Benutzer der Straße ergibt sich eine attraktive Überecksicht; die räumliche Nähe zur kleinen Kirche mag früher irritiert haben, heute sehen wir darin ein interessantes Spannungsverhältnis zweier Landmarken.

Die vierte Brücke, kurz vor Buchberg, quert den Kamp unmittelbar nach einem Felsdurchstich, der den Blick zu beiden Seiten einschränkt, sodaß der Effekt der Öffnung über dem Flußraum umso stärker zur Wirkung kommt. In der Gegenrichtung ist es natürlich umgekehrt. Eine besondere Konstellation ist bei der fünften Brücke unterhalb der Rosenburg zu entdecken: Wenige Meter neben der Bahnbrücke setzt ein Fußgängersteg aus derselben Zeit und vom selben Brückentyp über den Kamp. Zwischen beiden Übergängen entsteht über die typologische und historische Verwandtschaft hinaus ein räumliches Spannungsverhältnis, das in dieser Form nicht oft vorkommt und selten so rein genossen werden kann. Der kurze Augenschein zeigt, wieviel kulturgeschichtliche, landschaftliche und ästhetische Bereicherung von den fünf Brücken ausgeht, weshalb man im Kamptal mit dieser Problematik vorsichtig umgehen sollte.

Die neuere Technikgeschichte als selbstverständlicher Teil der Menschheitsgeschichte ist noch nicht so lang breit anerkannt. Eine an Einzelpersönlichkeiten und „Heldentaten“ orientierte Wahrnehmung hat lange Jahre die strukturellen Aspekte und teils anonyme, teils von Ingenieurteams oder -firmen erbrachte Leistungen übersehen. Und selbst wenn einzelne Wissenschaftler ihre Erkenntnisse gesammelt haben, dauert es oft Jahrzehnte, bis dies zu den entsprechenden Stellen durchgesickert ist.

Noch immer wird im Zusammenhang mit der Bauingenieurkunst von ästhetisch bedeutungslosen „Zweckbauten“ gesprochen. Und auch zahlreichen Bauingenieuren geht offenbar das Flair für die Geschichte ihrer eigenen Disziplin ab. Dabei ist die einschlägige Literatur auch für jene, die mitten im praktischen Berufsleben stehen, durchaus noch zu überblicken. Die ÖBB als Sachwalterin der in Frage stehenden Brücken kann die kulturpolitische Verantwortung nicht abschieben. Daß die entscheidenden Stellen nicht bemerken konnten oder wollten, daß hier eine besondere Aufgabe vorliegt, stellt ihnen kein gutes Zeugnis aus. Wieder einmal scheint der Möglichkeitssinn schlecht entwickelt.

Nachdem die Brücken offensichtlich kaum gepflegt wurden, läßt sich leicht das Ende ihrer Nutzungsdauer dekretieren.

Doch was – wenn es wirklich so sein sollte – sich nicht mehr herrichten läßt und für die Bahn nicht mehr genügend tragfähig ist, könnte noch jahrzehntelang im Zuge einer Fuß- und Radwanderstrecke eingesetzt werden.In einer vielschichtigen und touristisch initiativen Kuturlandschaft wie dem Kamptal ist ein derartiger Ansatz zumindest zu diskutieren. Wie jedes Großunternehmen haben auch die ÖBB einen Kulturauftrag. Da dieser vornehmlich durch geistige Leistungen erfüllbar ist, zieht das gebetsmühlenartig vorgebrachte Kostenargument nicht.

Und sollten die fünf Brücken wirklich zu erneuern sein, sei daran erinnert, daß nur das Bessere Gutes ersetzen darf. Es gibt in Österreich mittlerweile eine Reihe Bauingenieure, die über ihre konstruktiven Fähigkeiten hinaus auch in gestalterischer Hinsicht wesentliche Beiträge zu leisten vermögen, eine Tatsache, die offenbar von Amtsplanern noch nicht wirklich zur Kenntnis genommen wurde.

Spectrum, Sa., 1998.08.15

08. August 1998Walter Zschokke
Spectrum

Screens, Inserts - und Events

Licht und Film, Ton und Musik, Bilder, Namen, Stichworte: ein Gestalterteam um Rüdiger Lainer setzt bei der steiermärkischen Landesausstellung in Bad Radkersburg zum Thema Jugendkulturen auf sinnliche Erfahrung, nicht auf Belehrung.

Licht und Film, Ton und Musik, Bilder, Namen, Stichworte: ein Gestalterteam um Rüdiger Lainer setzt bei der steiermärkischen Landesausstellung in Bad Radkersburg zum Thema Jugendkulturen auf sinnliche Erfahrung, nicht auf Belehrung.

Tief im Süden der Steiermark, nahe dem Dreiländereck Österreich-Slowenien-Ungarn, liegt das Städtchen Bad Radkersburg, dessen schmuck herausgeputzter Kern noch heute von historischen Wallanlagen umgürtet und mit einem kleinen Glacis von der Umgebung abgesetzt ist. Am neu gepflasterten Hauptplatz spannt sich vor der breiten Fassade des ehemaligen Rathauses ein roter „Screen“, als läge dahinter eine Großbaustelle, darauf prangt in großen Lettern „YOUgend“. Darunter lesen wir „Jugendkulturen '68 - '98“. Die diesjährige steiermärkische Landesausstellung widmet sich dem Thema Jugendkultur und tut dies mit einer Rückschau auf die vergangenen dreieinhalb Jahrzehnte.

Für die Ausstellung wurde die Revitalisierung des alten Rathauses, mit der das Grazer Architektenteam Florian Riegler und Roger Riewe betraut ist, im Rohbauzustand angehalten. Zwischen Altbausubstanz, bestehend aus einem Straßentrakt mit zwei Seitenflügeln, und einem neu hinzugefügten Quader aus Stahlbeton im hinteren Bereich des Grundstücks öffnet sich ein großzügiger Hof, der mit einem provisorischen Dach überspannt wurde.

In diese Struktur legte der Wiener Architekt Rüdiger Lainer zusammen mit Werner Silbermayr und dem Graphik Designer Erich Monitzer eine Ausstellungslandschaft, die über mehrere Ebenen führt. Den Rhythmus geben geschlossene Stimmungsräume, denen Vertiefungszonen nachfolgen. Teils über offene Rampen und Stege, teils durch die Räume des Altbestands führt die Chronologie von den sechziger bis zu den neunziger Jahren. Als wissenschaftliche Berater zog das Team Robert Buchschwenter, Roman Horak und Siegfried Mattl bei, die inhaltliche Leitung seitens der Kulturabteilung des Landes lag bei der landesausstellungserfahrenen Ileane Schwarzkogler.

Nun könnte man einwenden, was das Thema Jugendkultur denn im hübschen Landstädtchen hart an der Grenze zu suchen habe; doch haben sich in ebendiesen Jahrzehnten auch in scheinbar peripheren Lagen die Verhältnisse gewandelt. Der Anschluß an den Lauf der Welt ist durch gewachsene Mobilität und mediale Vernetzung in einem Maß möglich geworden, daß der Informationsstand der Jugendlichen auf dem Land nicht schlechter ist als in den Zentren. Mag sein, daß gewisse Veranstaltungen der Hochkultur etwas entfernt stattfinden mögen, die Organisatoren von „Events“ für Jugendliche legen ihre Informationskanäle jedenfalls weit hinaus, um ihre potentiellen Kunden anzusprechen.

Ein weiteres Argument ist die Lage nahe dem Dreiländereck, wo sich Kulturen aus drei Sprachräumen begegnen, die nur zwischenzeitlich scharf getrennt waren. Und wer, wenn nicht die Jugend würde den Sprung über die Sprachbarrieren am ehesten schaffen. Folgerichtig sind die Objektbeschriftungen dreisprachig, deutsch, slowenisch und englisch.

Die Ausstellung selbst ist dezidiert auf Schauen angelegt, weniger auf Lesen und Wissensvermittlung, zu diesem Zweck gibt es einen interessanten Katalog. Sie vermittelt daher vor allem Bilder, bewegte und statische, und natürlich Musik, jenes Medium, über das sich in den nachwachsenden Generationen seit Jahrzehnten die Gruppenzugehörigkeiten definiert haben.

Durch die lange Toreinfahrt gelangt man in den Hof, der durch die Vorgaben der beiden Grazer Architekten eine ausgeprägte „backstage“-Anmutung erhalten hat, was vielleicht zuerst etwas verwirrt, aber dann die Neugier weckt, einmal hinter die Kulissen zu schauen. Hier bietet ein Internet-Café seinen Service an, und in einer anderen Raumzone stehen einige Computer zur Interaktion bereit.

Der Zugang zum Ausstellungsparcours liegt im Hintergrund des Hofes, angezeigt von einem leuchtenden Pfeil. Durch einen schmalen gebogenen Gang, der sich als geschickt gestaltete Schallschleuse herausstellt, gerät man unvermittelt in den ersten „Stimmungsraum“, der den sechziger Jahren gewidmet ist, wird von Musik- und Filmsequenzen aus dieser Zeit umfangen, schaut fragend oder sich erinnernd auf die animierten Bilder: Bonnie and Clyde werden von Schüssen durchsiebt, Charles Bronson glost unter der in die Stirn gezogenen Hutkrempe hervor, ein junger Sean Connery begründet den James-Bond-Mythos, und Peter Fonda und Denis Hopper sind „on the road“. Manch anderes verweist in kürzesten „Inserts“ auf die Stimmung der endsechziger Jahre, jener Zeit des Aufbrechens ohne klares Ziel, doch mit überzeugter Absage an das Bestehende.

Die ausgezeichnet gemachte visuelle und akustische Einstimmung mit Film, Dia, Licht und Ton nimmt einen gänzlich gefangen, doch nach wenigen Minuten hellt sich der unregelmäßig gerundete Raum auf, ein projizierter Lichtpfeil zeigt zum Ausgang, einer weiteren Schallschleuse, die überleitet zu einer gewundenen Rampe, an der entlang die erste thematische Vertiefung mit Objekten, Bildern, Namen, Schlag- und Stichworten zu sehen ist.

Nach der „Druckkammer“ des Stimmungsraumes kommt es hier zur Entspannung, auch in räumlicher Hinsicht. Die Rampe schraubt sich durch das große Volumen des Stahlbetonquaders, es gibt Blickbeziehungen in den Hofbereich hinunter, sodaß die Orientierung nach dem „Gefühlsinput“ wieder möglich wird.

Die Materialisierung von Rampen und Raumhüllen ist unter extremen „low-cost“-Bedingungen erfolgt: ein Handlauf aus Rundstahl, Geländerfüllungen aus roh belassenen Hartfaserplatten, die der Krümmung folgen.

Auf der ersten Obergeschoßebene angelangt, stoßen wir auf den nächsten Stimmungsraum, diesmal gilt er den siebziger Jahren. Die unregelmäßigen Volumen dieser Projektions- und Schallräume sind innenseitig teils akustisch ausgekleidet, teils als Bildwand neutral geweißt. Außen ist der gespachtelte Gipskarton farbig gestrichen. Damit wird das „backstage-image“ des Rohbaus relativiert, die großen klaren Farbflächen treten zeichenhaft strukturierend hervor, das Besucherinteresse herauszufordern.

Die Vertiefungsinstallationen und -collagen sind nach den Begriffen „Ich“, „Wir“, „Hülle“, „Sinne“ und „Bildung“ aufgebaut. Bilder aus den Medien, an die wir uns erinnern oder die denen gleichen, an die wir uns zu erinnern meinen, rufen Bedeutungszusammenhänge auf, einzelne Objekte stehen für den Kult, der zuweilen um sie getrieben wurde. Sie sind Signale aus der jüngsten Vergangenheit, die rascher veraltet als das, was jeweils vorher geschah, und daher ebenso schnell vom Vergessen erfaßt, weil sie schlicht „mega-out“ sind.

Im weiteren Verlauf erreicht man einen mit psychedelisch weichen Formen ausgestalteten Entspannungsraum, der nicht zuletzt das Abhandenkommen von Inhalten und die Entpolitisierung Ende der siebziger Jahre symbolisiert, was dann Anfang der achtziger Jahre jedenfalls da und dort in diffus argumentierten Gewaltaktionen ausbrach.

Den Vertiefungszonen sind immer auch Kunstwerke aus dem entsprechenden Jahrzehnt zugeordnet. Naturgemäß stehen dabei steirische Künstler und Werke aus den Sammlungen des Landes etwas mehr im Vordergrund. Bei der angestrebten Vermittlung der Zeitstimmung ist Kunst im Original, gerade bei dem hohen Anteil reproduzierter Bilder in der gesamten Ausstellung, unabdingbar.

Für die achtziger Jahre ist der Stimmungsraum nicht rund, sondern gezackt, und ein spiegelmäßig verdoppelter Arnold Schwarzenegger ballert sich durch eine Serie von Gewaltszenen. Auf einer langen Rampe über dem Hof kann man nach soviel filmischem Pulverdampf wieder frische Luft schnappen. Es folgen der Stimmungsraum der neunziger Jahre und eine komprimierte Technodisco.

Als eine Art Ausklang folgt darauf eine Serie von offenen Klangkabinen in neutralem Weiß, von deren Decken aus jeweils zwei Lautsprechern Beispiele für die Parallelität zeitgenössischer Musikstile zu hören sind. Nach der kompakten Bilderflut ist diese klösterlich anmutende Raumstruktur von einprägsamer Wirkung. Mit ihrer Leere, der Absenz von Bildern wird noch viel deutlicher, wie sehr diese drei Jahrzehnte von den visuellen Medien beherrscht wurden und wie anspruchsvoll es dagegen ist, ein Dutzend Musikstile nur mit dem Gehör zu differenzieren.

So kurz wie die Zeit zurückliegt, hat die Geschichtsforschung noch keine abschließenden Deutungen über die Epoche nach der ersten Mondlandung verfaßt. Das Terrain ist noch kaum betreten, das Konzept und die Gestaltung der Ausstellung sind daher mutig und zwangsläufig subjektiv zugleich, doch immer dicht genug, daß ein zweiter Durchgang noch neue Einsichten bringt.

Wir schließen aus dem Gezeigten, daß in jeder Generation die jungen Menschen den Zwängen ständiger Instrumentalisierungsversuche sowohl unterliegen als auch immer wieder ausweichen, indem sie durch eine Änderung der Weltsicht diese Zwänge relativieren.

Dieses Sich-nicht-fassen-Lassen von einer tendenziell verknöchernden Erwachsenenwelt ist sicher einer der Hauptgeneratoren für die ungebrochene Innovationskraft, die den steten Wechsel in der Kultur der Jungen auszeichnet. Denn den Heranwachsenden ist vieles Neuland. Dagegen ist Stil ein Phänomen der Erwachsenenwelt.

Spectrum, Sa., 1998.08.08

11. Juli 1998Walter Zschokke
Spectrum

Zum Gebrauch der Menschen

Der rechte Winkel war ihm nicht heilig und Stahlbeton nur ein Baustoff von vielen. Seine Arbeiten weisen ihn als Vertreter der Moderne aus, der sich aber ihren Dogmen nicht unterwarf: der finnische Architekt Alvar Aalto, 1898 bis 1976 - ein Porträt.

Der rechte Winkel war ihm nicht heilig und Stahlbeton nur ein Baustoff von vielen. Seine Arbeiten weisen ihn als Vertreter der Moderne aus, der sich aber ihren Dogmen nicht unterwarf: der finnische Architekt Alvar Aalto, 1898 bis 1976 - ein Porträt.

Sein runder Geburtstag wird heuer gefeiert; mehrere Publikationen über sein Schaffen werden herausgegeben, und sein Wert als finnischer Kulturexport steigt und steigt.

Das Beispiel des Architekten Alvar Aalto (1898 bis 1976) zeigt, wie wichtig die Werke eines engagierten Entwerfers für das kulturelle Selbstverständnis eines Landes werden können. Natürlich ziert sein Bildnis mittlerweile auch eine finnische Banknote. Zahlreichen Fachleuten sind seine Bauten Vorbilder und Lernobjekte. Seine Möbelentwürfe aus den zwanziger und dreißiger Jahren werden heute als Klassiker in der ganzen Welt verkauft.

Wer war der Architekt Alvar Aalto, und wie wurde die Basis für seine Entwicklung gelegt? Sein eigenes Architekturbüro eröffnete Aalto schon 1922 - mit 24 Jahren. Als er 1928 mit Vertretern der westeuropäischen Moderne in Kontakt kam, hatte er bereits eine beachtliche Werkliste aufzuweisen. Dennoch beeindruckten ihn die Arbeiten der Holländer, allen voran jene des feinsinnigen Johannes Duiker, etwa das Sanatorium Zonnestrahl, das ihm Anstoß für sein eigenes Schaffen mit Stahlbeton wurde. Das in dieser Zeit für den Wettbewerb entworfene Sanatorium Paimio reflektiert mit seiner klug verarbeiteten Neuen Sachlichkeit diese Begegnung.

Die geographische Nähe zu den russischen Konstruktivisten machte sich ebenfalls bemerkbar, am ehesten sind Verwandtschaften zu Nikolai A. Ladowski und der Gruppe Asnowa festzustellen. Doch ging es Aalto nicht um ein Kopieren von Äußerlichkeiten. So wie er vorher mit seinem Schaffen den Klassizismus von Gunnar Asplund rezipierte, prüfte er nun die funktionalistische Formensprache in seiner eigenen Weise auf ihre Tauglichkeit. Dies machte ihn für Sigfried Giedion, den wichtigsten Propagandisten der Moderne, ebenso interessant wie für Henry-Russel Hitchcock und den jungen Philip Johnson, die seine Zeitungsdruckerei in Turku 1932 in ihre berühmt gewordene Ausstellung „Der Internationale Stil“ aufnahmen.

Aber Aalto entwand sich mit seinen weiteren Arbeiten einem Stildiktat, wie es etwa von Walter Gropius, seinen Schülern und Mitstreitern vertreten wurde. Der rechte Winkel war ihm nicht heilig und Stahlbeton nur ein Baustoff von mehreren. Vor allem das in Finnland reichlich vorhandene Holz diente ihm als ausdrucksstarkes und formbares Material - vom Möbel bis zur raumbestimmenden Wand oder Decke. Dabei ging er immer wieder vom direkten Gebrauch der Menschen aus. Daher sind seine Möbel angenehm zum Angreifen, seine Räume entspannt zu durchschreiten.

In den frühen dreißiger Jahren überarbeitete Aalto den ursprünglich neuklassizistisch gehaltenen, erstprämierten Wettbewerbsentwurf für die städtische Bibliothek von Viipuri damals finnisch, nach dem Winterkrieg von 1939 und bis heute eine Stadt in Rußland. Obwohl die beiden gegeneinander versetzten Baukörper in der Formensprache des Internationalen Stils gehalten sind, gibt es im Inneren mehrere Stellen, wo Aalto die Orthogonalität aufhebt und mit leichten Schrägen einer aufkommenden Symmetrie die nötige Irritation versetzt oder, wie im berühmten Vortragssaal, den kistenartigen Raumcharakter verläßt: Die holzverschalte Stirnwand steigt schräg nach vor geneigt an, um in die gewellte Decke überzugehen, deren Formfindung akustischen Überlegungen gehorcht.

Nach dem Krieg stand das Gebäude zehn Jahre leer, doch ist es heute wieder als Bibliothek in Betrieb. Eine erste Renovierung fand in den frühen sechziger Jahren statt. Zur Zeit bemühen sich Architekten aus Finnland und Rußland, unterstützt von einem internationalen Hilfskomitee, um eine sorgfältige Erhaltung.

An diesem Bauwerk hatte Aalto manches ausprobiert, was bei seinen späteren Entwürfen immer wieder zur Anwendung gelangte. Es kamen darin auch seine Möbelentwürfe aus gebogenem Birkenholz in differenzierter Modellpalette zum Einsatz.

Aber die Bibliothek von Viipuri ist nicht nur im Schaffen Aaltos von grundlegender Bedeutung, sondern sie gilt den Vertretern einer lebendigen, nichtdogmatischen Entwicklung der Moderne bis heute als Ikone, von der man lange nicht wußte, ob sie real überhaupt noch existierte.

Während Aalto die modernen Bauformen, die mit ihrer blendenden Reinheit und der geraden Linienführung einer Ästhetik scheinbar industriell gefertigter Produkte huldigten, viel ausgeprägter als andere auf ihre benutzerfreundliche Zweckmäßigkeit hin untersucht hatte, zeigte er bei seinen weiteren Arbeiten keine Scheu vor freien Formen. Eine Vertikalschalung aus geraden Leisten oder Brettern läßt sich um gerundete Formen herumziehen.

Was er bei Pavillongestaltungen in den dreißiger Jahren für die Weltausstellungen in Paris 1937 und New York 1939 für die zahlreichen Besucher demonstriert hatte: Holz als zeitgenössischer Baustoff angewendet - ohne den heimattümelnden Beigeschmack, dem es damals gern unterworfen wurde, setzte er in der Villa Mairea in Noormarkku 1938/39 um.

Außen kombinierte er holzverschalte Volumen mit weiß verputzen Teilen des Hauses. Im Inneren verwendete er vertikal angeordnete Rundhölzer in unregelmäßiger Folge als Raumfilter; das Verweigern eines Rasters mit dem Bezug zu lockeren Baumgruppen in den finnischen Wäldern erklärend. Fast immer versuchte Aalto das Raumprogramm so zu gliedern, daß zwei oder mehr Körper einen hofartigen Bereich definieren. Damit bezog er den Umraum ein und begann einen Dialog mit natürlichen Elementen der Umgebung. Das konnten Felsformationen sein, alte Bäume oder ganz einfach das Gras einer Wiese. Aalto selber schrieb dazu: „Eines der schwierigsten architektonischen Probleme besteht darin, das den Bau umgebende Gelände in menschlichem Maßstab zu gestalten. In der modernen Architektur, wo der Rationalismus des Skelettbaues und der Baukörper an sich zu dominieren drohen, entsteht oft in den Überbleibseln des Geländes ein architektonisches Vakuum. Es wäre gut, wenn man, anstatt dieses Vakuum mit dekorativen Gärten auszufüllen, die organische Bewegung des Menschen in die Gestaltung des Geländes mit einbeziehen würde.“

Bei der Grastreppe zum Rathaus von Säynätsolo (1949 bis 1952) wird dieses Naheverhältnis zu verwilderter Natur ausgeprägt thematisiert. Diese Wildheit steht bei Aalto immer wieder neben einer struktiven Ordnung. Er läßt ihr Raum, will nicht alles beistimmen, sondern bewegt sich in einem gleichberechtigten Dialog. Da es nicht inszenierte Wildheit ist, sondern alltägliches Wuchern, das von außen hineingreift, zeugt diese Haltung von ehrlicher Gespaltenheit des Architekten zwischen Gestaltungswille und intuitivem Geschehenlassen.

Mit Wien verbindet Alvar Aalto ein ex aequo errungener 1. Preis im 1953 ausgeschriebenen Wettbewerb für die Stadthalle. Der andere 1. Preis ging an Roland Rainer, der sein Projekt auch ausführte. Es zählt heute zu den wichtigsten Bauwerken der fünfziger Jahre in Wien.

Während die anderen Teilnehmer der Problematik der großen Dimension mehrheitlich nicht gewachsen waren, indem ihre Entwürfe linear vergrößerte Häuser vorschlugen, wählten sowohl Rainer als auch Aalto einen anderen Weg.

Beide entwarfen eine städtebaulich deutlich in Erscheinung tretende Großform, die nicht mehr an ein Haus im gewohnten Sinn erinnerte und die dennoch als Ganzes wirkte. Damit trugen sie der städtebaulichen Problematik Rechnung und gaben auch auf die architektonische Erfordernis nach einer anderen Maßstäblichkeit die richtige Antwort.

In seinem Konzept schlug Aalto eine Halle mit gebirgsähnlichem Charakter vor, bei der das Dach von Kabeln getragen worden wäre, die wie bei einer Hängebrücke auf Pylonen auflagerten. Unter der auf diese Weise erzeugten mächtigen Hülle versammelten sich die große sowie weitere kleine Hallen. Das geforderte Hallenbad legte er separat an die Zugangsseite. Zusammen mit den winkelförmig angeordneten Foyerflügeln bildet sein Volumen einen weiträumigen Eingangshof, der als Übergangsraum von der Vogelweidstraße zu den Foyers dient.

An dieser und an zahlreichen anderen Aufgaben erwies sich Aalto als Städtebauer von großem Format. Damit zählt er zu jenen wenigen Architekten, die auf allen Maßstabsebenen, vom Möbel über Einfamilienhäuser, Kirchen, Museen sowie Opern- und Theaterhäuser bis zum Stadtteil, Bleibendes zu schaffen wußten.

Ein Blick auf seine Wohnbauten zeigt ein von Sorgfalt und Menschenfreundschaft geprägtes Bild. Seine Grundrisse sind klug organisiert und bieten den Bewohnern Nutzungsalternativen an. Obwohl er die inneren Erschließungsflächen zu minimieren suchte, gelang es ihm dennoch, daraus eigentliche Räume zu gestalten, sodaß vor jeder Wohnungstür ein ausreichender Vorbereich entstand. Licht- und trostlose Innengänge hat er konsequent vermieden.

Alvar Aaltos Einfluß auf die europäische Architektur der fünfziger und sechziger Jahre ist beachtlich. Mancher Architekt, der heute zwischen 70 und 80 Jahre zählt, hat in seiner Werkliste Bauten, die zeigen, daß ihr Entwerfer von Aalto gelernt hat. Die neuerliche Beschäftigung mit seinem Werk ist auch für jüngere Architekten gewinnbringend. Besonders denke ich da an jene, deren Vorstellungen vor lauter Schroffheit nicht zu den Menschen finden.

Spectrum, Sa., 1998.07.11

20. Juni 1998Walter Zschokke
Spectrum

Schlankheit aus Kalkül

Die neue Umfahrung von Großmotten im Waldviertel quert das Gernitzbachtal auf drei schlanken Baumstützen aus Stahlbeton. Der Bauingenieur Erhard Kargel aus Linz hat die elegante Brücke im Zuge der Bundesstraße B 37 entworfen und berechnet.

Die neue Umfahrung von Großmotten im Waldviertel quert das Gernitzbachtal auf drei schlanken Baumstützen aus Stahlbeton. Der Bauingenieur Erhard Kargel aus Linz hat die elegante Brücke im Zuge der Bundesstraße B 37 entworfen und berechnet.

Nachdem durch das gesamte 19. Jahrhundert dem ununterbrochen innovativen Ingenieurbau die ästhetische Anerkennung verweigert worden war - insbesondere die Fachwerke aus Stahl wurden als „Gesträhn“ ohne Chance auf monumentale Wirkung abgetan - , fanden sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts erste Stimmen, die eine Ingenieurästhetik formulierten.

Darunter ist für den deutschsprachigen Kulturraum Hermann Muthesius (1861 bis 1927) zu nennen, der in seinem Vortrag „Die Einheit der Architektur“ (1908) folgende Gedanken aussprach: „Ebendiese knappste Ausdrucksform des konstruktiv Richtigen macht einen bestimmten Eindruck auf den empfänglichen Beschauer. Und derjenige Beschauer ist empfänglich, dessen statisches Gefühl entwickelt ist.“ Und zum Problem der fehlenden Masse und daher nicht möglichen Monumentalität entgegnete er: „Man wird sich an diesen Mangel an Körperlichkeit gewöhnt haben, und man wird gerade in dieser die Materie überwindenden Schlankheit und Durchsichtigkeit ein neues künstlerisches Moment erkennen.“

Der 1951 geborene Ingenieur und Architekt Santiago Calatrava antwortete 1983 auf die Frage nach den Freiheitsgraden des Ingenieurs: „Ist einmal das System (einer Hänge- oder Bogenbrücke und so weiter) gewählt, steigt man in den eigentlichen Entwurf dieses Objekts oder dieses Systems ein. In diesem Moment ist das Verfahren sehr subjektiv, aber immer im Sinne des konstruktiv richtigen Baus und strukturell richtigen Verhaltens. Die Mathematik als Rechenwissenschaft kommt später. Aber grundsätzlich gehören die persönliche Interpretation der konstruktiven Elemente und die Freiheit im Gebrauch der Technik zur Freiheit des Ingenieurs, wo er sich formal ausdrücken kann.“

Der Linzer Bauingenieur Erhard Kargel hat diesen Freiraum mit einem Entwurf ausgelotet, den er als Alternative zum Amtsprojekt bei der öffentlichen Ausschreibung zur Ausführung einreichte. Die Brückenstelle liegt im Waldviertel und dient der Umfahrung von Großmotten, einem Dorf kurz vor Rastenfeld am Weg von Krems nach Zwettl. Die 161 Meter lange Stahlbetonbrücke ist auf drei Pfeiler abgestützt, die sich baumartig in vier Streben verzweigen. Daraus ergeben sich für die Brückenfahrbahn geringere Stützweiten von nur jeweils 24 Metern, was die Ausbildung einer dünneren Fahrbahnplatte auf zwei Plattenbalken erlaubte. Insgesamt gewinnt das Brückenbauwerk damit in der Ansicht große Leichtigkeit, ja man möchte fast sagen Schnelligkeit, denn die Fahrbahn scheint recht eigentlich über das Tal der Gernitz dahinzupfeifen.

An sich ist eine Brücke nicht sehr stark raumbildend, auch wenn man bei Regen unter dem Dach der breiten Fahrbahn einigermaßen trocken bleiben mag. Vielmehr durchschneidet oder durchstößt sie den Raum über einem Fluß oder in einem Tal.

In unserem Fall setzt sie oben an den Talflanken an und tangiert als Hochbrücke den Talraum im oberen Bereich. Die kaum in Erscheinung tretenden seitlichen Auflager überlassen das Primat der Fahrbahn, die dem kontinuierlichen Band der Straße untergeordnet ist. Die schräg verlaufenden Streben interpretieren nicht so sehr ein „Tragen und Lasten“, wie dies bei den verbreiteten Balkenbrücken auf vertikalen Pfeilern der Fall ist. - Diese Formulierung hat Jakob Burckhardt für den griechischen Tempel geprägt, wo der Architrav auf der Säule lastet.

Die Gernitztalbrücke von Erhard Kargel gehorcht eher dem Prinzip Spannung und Bewegung: „Spannung“ wegen der schlanken, schrägen Streben; „Bewegung“ wegen der dünnen und schnell wirkenden Fahrbahnplatte, deren Plattenbalken im Schatten verschwinden, was sie noch zarter erscheinen läßt.

Aber nicht nur im Erscheinungsbild sind diese Begriffe latent vorhanden. Natürlich finden sich in jedem Bauwerk Spannungen. Ein besonderes Problem stellen dabei aber jene Zwängspannungen dar, die durch kleine Längenänderungen infolge Temperaturschwankungen oder durch das anfängliche Schwinden des Betons entstehen.

Da die Streben sowohl bei der Verzweigung als auch im Plattenbalken der Fahrbahn biegesteif eingespannt sind, entsteht eine Art Rahmenwerk, das bei den riesigen Dimensionen nicht mehr steif bleibt wie ein Fachwerk.

Die schlanken Dimensionen von Streben und Fahrbahn lassen sich etwas leichter verformen als riesige Pfeiler und Kastenträger. Damit folgt das Tragwerk in einem geringfügigen - zulässigen - Maß den Bewegungen, die sich aus den genannten Längenänderungen ergeben. Die schlanke Konstruktion stemmt sich nicht dagegen, sondern nimmt die leichten Bewegungen auf, ohne jedoch die Hauptaufgabe zu vernachlässigen, schwere fahrende Lasten (bis zu 200 Tonnen in Alleinfahrt!) mühelos zu tragen.

Als Laie glaubt man kaum, daß sich Stahlbeton elastisch verformen könne. Bei Längen von zwei und mehr Dutzend Metern spielt sich das bereits im Bereich von Zentimetern ab. Ob dies nun unter fahrender Last oder bei Temperaturwechsel eintritt, ist unerheblich; jedenfalls greift man nicht zu kurz, wenn man in Hinsicht darauf feststellt, daß die Brücke „lebt“.

Die Schlankheit der Teile war daher nicht von modischen Erwägungen bestimmt, sondern von Überlegungen, die vom Tragverhalten ausgingen. Dennoch war es dem Bauingenieur Erhard Kargel wichtig, wie die Brücke in der Ansicht aussieht und wie sie in der Landschaft steht, hatte er doch sein Gefühl für entsprechende ästhetische Ansprüche bereits an der Bogenbrücke „Fischgraben“ bei Bischofshofen bewiesen.

Seine erste Entwurfsskizze zeigt schon die wesentlichen Teile des Tragsystems und vor allem die Proportionen der einzelnen Teile und ihr Zusammenwirken in der Ansicht. Mit dieser Skizze haben wir einen Beleg, wie er von Ingenieurseite nur selten zu bekommen ist, da grundlegende Skizzen doch eher bei den Architekten als bei Ingenieuren aufbewahrt werden. Sie weist nach, daß ein Konzept für eine Brücke ebenso spontan aus dem Kopf des Ingenieurs aufs Papier gebracht werden kann. Die genaue Berechnung unter Berücksichtigung aller Lastfälle ist dann eine ausgedehnte Fleißarbeit.

Eine Brücke entwerfen ist eines, sie kostengünstig zu bauen verlangt noch einmal soviel Kreativität, denn, wie Christian Menn, der Altmeister des Stahlbetonbrückenbaus in der Schweiz zu sagen pflegt: „Eine genauere Rechnung ergibt keine billigere Brücke; nur das intelligente Konzept sichert günstige Kosten, und das erfordert Kreativität.“ Die drei mal vier V-förmig auseinanderstrebenden Stiele der Baumpfeiler wurden von der ausführenden Firma Mayreder in ihrem Fertigteilwerk in Sankt Valentin hergestellt und auf die Baustelle gefahren. Um Gewicht zu sparen, blieben sie vorerst hohl. Mit großen Kränen hochgehoben, punktgenau auf die Pfeilerstümpfe gesetzt, mit Theodoliten exakt ausgerichtet und mit Hilfsgliedern verspannt, wurden sie mit der Basis fest vergossen.

Wie konnten die 18 Meter langen, 20 Tonnen schweren Teile millimetergenau in ihre Position gebracht werden? Die Arbeit mit Computer und Vermessungsinstrumenten auf Laserbasis erlaubt heute eine Präzision, die vor 20 Jahren bloß ein Kopfschütteln der angesprochenen Bauleute hervorgerufen hätte. Das Zusammenspiel von vorgefertigten Elementen mit dem Ortsbeton ist ausgezeichnet; die Arbeitsfugen sind kaum zu erkennen, Helligkeitsunterschiede im Beton wurden vermieden.

Dem Autofahrer, der zügig über die Brücke fährt, bleibt ihr eleganter Unterbau verborgen. Eilig verschwindet man hinter der nächsten Kurve und hat kaum bemerkt, daß man sich auf einer Brücke befand. Aber für den geruhsamen Wanderer und vor allem für die Bewohner des nahen Dorfes, die viele Jahrzehnte mit der Brücke leben werden, spielt die Qualität von deren Erscheinungsbild eine Hauptrolle. Dafür hat Bauingenieur Erhard Kargel mit feinem Gespür gesorgt.

Spectrum, Sa., 1998.06.20

31. Mai 1998Walter Zschokke
Spectrum

Genuß- und Tourenfahrer

Verkehrstechnisch ist sie schlicht die Verbindung zwischen Neuwaldegg und Kloster- neuburg; kulturgeschichtlich ein Denkmal kollektiver Mobilitätseuphorie; und touristisch ist sie nach wie vor eine Attraktion: die Wiener Höhenstraße. Eine Nachschau

Verkehrstechnisch ist sie schlicht die Verbindung zwischen Neuwaldegg und Kloster- neuburg; kulturgeschichtlich ein Denkmal kollektiver Mobilitätseuphorie; und touristisch ist sie nach wie vor eine Attraktion: die Wiener Höhenstraße. Eine Nachschau

Das Automobil dürfte als Leitfossil des 20. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen. Dies war in den zwanziger Jahren noch nicht absehbar, als in Europa vorerst die Angehörigen der Oberschicht auf staubigen, für Kutschen und Fuhrwerke ausgelegten Straßen einherfuhren. Über den Grad der Motorisierung darf man sich freilich keine Illusionen machen: Auf ein Automobil kamen 1937 in Österreich noch 134 Einwohner - in den USA nur mehr viereinhalb. Verhältnisse, die wir uns heute nur schwer in Erinnerung zu rufen vermögen.

Einer, der sich intensiv mit dieser Zeit und dem Phänomen der Automobilisierung und den damals für ein genießerisches Befahren angelegten Straßen befaßt hat, ist der Historiker Georg Rigele. Seine Forschungen über die Glocknerstraße, erbaut von 1925 bis 1935, und über die 1934 bis 1938 errichtete Wiener Höhenstraße sind in Buchform zugänglich (1998 bei WUV und 1993 im Verlag Turia & Kant erschienen). Rigele belegt, daß diese Straßen nicht primär einem Verkehrsbedürfnis gedient haben, etwa um von da nach dort zu gelangen, sondern als attraktive Fahrstrecke für touristische Zwecke gesehen und auch so genutzt wurden.

Natürlich kann man über die Höhenstraße von Hütteldorf nach Klosterneuburg gelangen, aber selbst wenn man dies jeden Tag tun würde, bliebe die Fahrt ein kinetisch-visuelles Ereignis von hohem ästhetischem Gehalt. Und das war von Anfang an so eingeplant. Wir dürfen davon ausgehen, daß bereits in den dreißiger Jahren die hedonistischen Aspekte des Autofahrens voll erkannt waren und auch das filmische Sehen sowie die Panoramaschwenks in engen Kurven bewußt reflektiert wurden. Dies umso mehr, als eine automobilbesitzende Oberschicht sich noch mehrheitlich chauffieren ließ, die Augen daher frei für die Vorzüge der Landschaft hatte und mit Muße über allerlei Zusammenhänge nachdenken konnte.

In den zwanziger Jahren entstand eine neue Freizeitkultur: Wochenenden und Ferienaufenthalte wurden von den Mittelschichten für Ausflüge und Reisen genutzt, und auch die Organisationen der Arbeiterkulturbewegung nahmen jede Gelegenheit wahr, einen Aufenthalt in der freien Natur zu realisieren.

Das Schlüsselwort jener Zeit hieß „Wandern“. Vorgespurt wurde das spätere Massenphänomen bereits vor dem Ersten Weltkrieg vom „Wandervogel“, der sich zur unabhängigen „Freideutschen Jugend“ zählte, die neben anderen Initiativen zur breiten lebensreformerischen Aufbruchbewegung im Jahrzehnt nach 1900 gehörte: kein Alkohol, kein Nikotin - aber eben Wandern, gemeinsames Singen und Musizieren.

Man darf sich diese Entwicklungen ähnlich vorstellen wie in den achtziger Jahren, als das Windsurfen aktuell war, oder wie in den neunziger Jahren das Massenphänomen der Skater. Jedenfalls übertrugen sich der Begriff des Wanderns und die damit einhergehende Landschaftserfahrung auf die neuen Verkehrsmittel: Fahrrad und Automobil.

Autowandern galt als touristische Attraktion, und exakt dafür wurden Straßen wie die Höhenstraße, die Glocknerstraße, die deutsche Alpenstraße und die schweizerische Sustenstraße gefordert, geplant und errichtet. - Die Höhenstraße ist ein kulturgeschichtliches Denkmal dieser autoseligen Zeit, der Fahrgenuß ist noch gleich wie damals. Man wird nun vielleicht einwenden, daß sie unter einem autoritären Regime errichtet worden und daher als Denkmal problematisch sei. Ähnlich wie bei den Reichsautobahnen wird erzählt, sie sei vor allem eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme gewesen. Dies wird von Georg Rigele für die Höhenstraße an Hand von Quellen widerlegt. Und auch der Reichsautobahnbau war bei der Arbeitslosigkeit der dreißiger Jahre von geringer Wirkung.

Daß diese Projekte propagandistisch genützt wurden, ist eine andere Sache. Sie hätten aber nicht soviel Widerhall gefunden, und die Propaganda wäre versickert, wenn es nicht bereits diese kollektive Mobilitätseuphorie, diese Erwartungshaltung auf ein motorisiertes Bewegen, ob auf vier oder auf zwei Rädern, gegeben hätte. In der Schweiz, wo aus demselben Fühlen heraus und mit derselben Argumentation für den Tourismus von 1938 bis 1946 die Sustenstraße gebaut wurde, läßt sich trotz frontistischer Bewegungen und tiefer Verstrickungen in die Kriegswirtschaft des Deutschen Reiches kein autoritäres oder totalitäres Regime nachweisen.

Auf ikonologischer Ebene finden sich kaum eindeutige Zeichen. Die Höhenstraße ist gestalterisch eher sparsam instrumentiert. Das mit Kleinsteinpflasterung versehene Straßenband wird von einem schmalen Streifen aus längsrechteckigen Pflastersteinen gesäumt, die Bankette waren ursprünglich geschottert und mager mit Gras bewachsen, mittlerweile sind sie asphaltiert. Am niederösterreichischen Ast nach Klosterneuburg hinunter läßt sich dies noch nachvollziehen.

Mit wenig Abstand folgt eine eng gesetzte Reihe Wehrsteine. Ursprünglich dafür gedacht, abweichende Kutschenräder abzuwehren, haben sie zur Straße hin eine gerundete Seite. Auf Paßstraßen signalisierten sie bei einem sommerlichen Wintereinbruch den Straßenverlauf. Der kurze Abstand von etwa zweieinhalb Metern läßt die begleitende Reihe in der Schrägsicht fast verschmelzen, und leichte Kurven kündigen sich in der Fernsicht durch die scheinbar lockerer werdende Folge aufragender Steine an.

Eine einfache, aber formschöne Steinmetzarbeit, die schon damals nicht besonders modern war, sind die feinkörnigen, gestockten Granitzapfen an der Rückseite gerade, die Oberseite ist nach vorn abgeflacht. Ein Automobil können die Steine natürlich nicht aufhalten, darum sind jene zwei Exemplare, die jeweils die Peitschenkandelaber der Straßenbeleuchtung flankieren, eher als warnende Wächter zu interpretieren denn als Anfahrschutz.

Da und dort wurde überstehendes Erdreich abgetragen, um den Ausblick freizugeben, aber meist fügte sich die Straßenführung so schmiegsam ins Gelände, daß nur selten Stützmauern erforderlich waren. Überhaupt ist es die Linienführung, die neben der Pflasterung den besonderen Reiz dieser Straße ausmacht.

Obwohl sie mehrheitlich durch den bodenständigen, mit einzelnen Buchen durchsetzten Eichen-Hainbuchen-Wald führt, ist an jenen Stellen, wo sich ein Überblick auf die nahe Großstadt bietet, darauf Bedacht genommen worden. Daran läßt sich ablesen, wie sehr sie als Ausflugsstraße geplant worden ist, und auch die großzügig angelegten Parkplätze sind nur selten zu klein, an schönen Sonntagen aber gut genutzt. Das Fehlen von kleinen Ausstellplätzen mag typisch sein für eine Zeit, in der dem geordneten Massenverhalten vor dem spontanen eines Individuums der Vorzug gegeben wurde.

Wie Georg Rigele aufzeigt, ist auch der Fußweg, der den östlichen Umkehrpunkt der Höhenstraße, den Leopoldsberg, mit dem Kahlenbergerdorf verbindet, im gleichen Duktus gestaltet.

Der in der „Architekturabteilung“ (damals MA 24) der Wiener Stadtverwaltung an leitender Stelle tätige Architekt Erich Leischner wirkte offiziell „beratend“. Seine zahlreichen Zeichnungen von der Straße und ihrer landschaftlichen Einbindung lassen aber ein sehr „aktives Lektorat“ der Ingenieurplanungen vermuten.

Dem aufmerksamen Fuß- und Autowanderer wird bald klar, daß es sich hier um eine integrale landschaftsgestalterische Planung handelt, ein sehr langes lineares Element, das durch seine geschickt gewählte Höhenlage nicht bloß die Topographie, durch die sie führt, spannungsvoll interpretiert, sondern das mit der Linienführung immer wieder die Blickbeziehung zur Großstadt sucht und darüber hinaus eine Aussicht bis zu den Kuppen der Voralpen im Süden anzubieten weiß.

Das Erleben dieser Straße beim Durchfahren ist nicht an hohe Geschwindigkeiten gebunden. Eigenartigerweise pendelt sich der Genußfahrer bei etwa 50 Stundenkilometern ein - 60 sind erlaubt. Auch wenn früher einmal Rennen gefahren wurden, ist sie keine Rennstrecke.

Nicht unwesentlich an diesem Kulturdenkmal ist, daß es kaum verändert wurde. Die Glocknerstraße ist seit den dreißiger Jahren stark erneuert worden, auch die Sustenstraße und die deutsche Alpenstraße sind längst glatt asphaltiert. Der Kleinsteinpflasterbelag, der noch immer die Fahrbahn bildet, ist mehrheitlich in erstaunlich gutem Zustand, nur leider da und dort unsachgemäß mit Asphalt geflickt. Hier eine Belagsänderung vorzunehmen kommt einer Zerstörung dieses Kulturdenkmals gleich.

Wie die Stadtbahn von Otto Wagner ist die Wiener Höhenstraße ein besonderes Verkehrsbauwerk und bezüglich der weitgehend originalen Erhaltung das letzte seiner Zeit und seiner Art. Die Stadt Wien ist gut beraten, es zu pflegen und als Teil ihrer touristischen und Naherholungsinfrastruktur wieder ernst zu nehmen.

Spectrum, So., 1998.05.31

09. Mai 1998Walter Zschokke
Spectrum

Glasbox auf der Kante

Wo früher Klassenzimmer waren, finden sich heute Ateliers und Ausstellungsräume. Unter kluger Nutzung des Altbestands ist Peter und Gabriele Riepl ein funktional wie gestalterisch beeindruckender Umbau gelungen: das „Offene Kulturhaus Linz“.

Wo früher Klassenzimmer waren, finden sich heute Ateliers und Ausstellungsräume. Unter kluger Nutzung des Altbestands ist Peter und Gabriele Riepl ein funktional wie gestalterisch beeindruckender Umbau gelungen: das „Offene Kulturhaus Linz“.

Das Schulgebäude des Konvents der Ursulinen in Linz an dem heute zum Platz gewordenen ehemaligen Ordensgarten wurde von 1930 bis 1937 in zwei Etappen errichtet. Es gilt als das modernste des eher konservativen Baumeisterarchitekten Mattäus Schlager. Die ruhige Gestaltung der südorientierten Hauptfassade weist vier Zeilen gleichartiger Fenster auf. Jeweils drei sind zu einer Gruppe zusammengerückt und passen auf die früher dahinter befindlichen Klassenzimmer. Der Saal im obersten Geschoß, mit seinen fünf hohen Rundbogenfenstern, bildete einen Akzent in der emotionslos gleichmäßigen Ansicht, die mit der im rechten Winkel dazu stehenden Fassade des Konventsgebäudes korrespondiert.

Der breite und wenig tiefe, einhüftige Grundriß war von der östlichen Stirnseite her durch einen kleinen vorgelagerten Gartenhof und ein Stiegenhaus zugänglich. Durch einen langen geraden Gang gelangte man in die südorientierten Klassenzimmer. Nordseitig blieb zwischen Gang und naher Feuermauer ein schluchtartiger Lichthof offen, in den ein Toilettenturm hineinragte. Ein texturartiger Verputz prägte die Außenhaut; das Muster aus flachrunden Vertiefungen war mit der Maurerkelle erzeugt worden. Ehemals weiß, verwitterte er mit den Jahren zu einem schmutzigen Stadtgrau. Insgesamt bot das Gebäude einen zwar strengen, aber nicht kasernenhaften Eindruck. Aus heutiger Sicht verfügte es über einen spezifisch herben architektonischen Reiz.

Die neue Nutzung als „offenes Kulturhaus“ begann noch bei unverändertem Zustand des Bauwerks, doch wurde über einen geladenen Wettbewerb ein Umbauprojekt gesucht, den die Linzer Architekten Peter und Gabriele Riepl gewannen. Sie legten den Hauptzugang in die Mitte der Südfassade, nutzten den Vertikalraum des nordseitigen Lichthofs für eine attraktive Erschließung und plazierten eine großflächig verglaste Box als Medienfoyer aufs Dach.

Der als Autoparkplatz genutzte ehemalige Garten der Ursulinen konnte - mit einer Tiefgarage unterfangen - als öffentlicher Stadtraum für die Fußgänger zurückgewonnen werden. Von dieser Fläche führt nun ein schlanker Steg zum Eingang, für den nur eine einzelne Fensterbrüstung herausgebrochen wurde. Die Maßnahme bleibt subtil, an der Fassade ändert sich wenig, als Zeichen reicht der Steg aus, alle weiteren Veränderungen betreffen das Innere.

Das auf den Windfang folgende Eingangsfoyer greift ins darüberliegende Geschoß. Die herausgebrochene Decke verleiht so der neuen, quer gelegten Haupterschließung räumlichen Nachdruck. Vom Platz her kommend, führt die gerade Bewegung durch das Haus bis zur rückwärtigen Feuermauer, wo sie nach beiden Seiten rechtwinklig umgelenkt wird: zur Linken in den Lift, zur Rechten zur neuen Haupttreppe, die in zwei Absätzen das erste Obergeschoß erreicht, wo eine weitere Intervention des Architekten deutlich wird.

Der schmale, schluchtartige Innenhof wurde ausgeräumt und vom Prisma des Aufzugschachts geteilt. Die östliche Hälfte, glasüberdeckt und mit dem anschließenden Gang durch die bodeneben ausgebrochenen Fensteröffnungen verbunden, bildet eine mehrfach nutzbare Stiegenhaushalle. Sie dient als Ausstellungsraum, bildet aber auch eine Zwischenstation auf dem Weg vom Eingangsfoyer zum neuen, vor dem alten Saal liegenden kleinen Foyer im zweiten Obergeschoß. Kaskadenartig zieht sich nun die Treppe in Gegenrichtung zum ehemaligen Dachgeschoß, heute dem dritten Obergeschoß, hinauf, das neu zu einer Art offenem Zwischendeck umgeformt wurde, über dem, auf der Dachkante balancierend und fingerartig gestützt auf pyramidenförmig gespreizten Streben, die gläserne Box des Mediendecks errichtet wurde.

Dieses Mediendeck ist die augenfälligste Veränderung nach außen; seine luftig-transparente Erscheinung steht in einem ausgewogenen Spannungsverhältnis zum historischen, das Kontinuum der Fassade mit den fünf hohen Fenstern brechende Element des Saales, der mit seiner Dachkonstruktion der Attikalinie eine Erhöhung abnötigt.

Zu dem auf die Dachkante heruntergeholten Luftschloß gelangt man vom Eingangsfoyer her direkt mit dem Lift. Nach dem Ausstieg führt ein großflächig verglaster Gang nach vorn zur „Skylobby“. Der beeindruckende Ausblick fällt auf den zum Stadtraum umgeformten Parkplatz und auf ein paar bescheidene Vorstadthäuser, die nun unversehens in einen verstärkten urbanen Kontext geraten sind.

Nach Westen gleitet der Blick über das hohe Dach des alten Klosters, dessen ungewohnte Nähe angenehme Ruhe ausströmt. Hinter der am Boden, an der Front und im Dach verglasten Himmelsloggia befinden sich ein weiterer, etwas kleinerer Saal und ein Foyer. Das westliche Stiegenhaus des Altbaus, um ein Geschoß höher geführt, dient als Fluchttreppe.

Mit dem Entwurf zur Transformation des ehemaligen Schulgebäudes in eine Ausstellungs- und Produktionsstätte für Kunst ist Peter Riepl eine besondere Leistung gelungen: Wesentliche Teile des Hauses blieben in der Substanz unverändert und wurden nur an der Oberfläche erneuert. So dienen die meisten ehemaligen Klassenzimmer - nur geringfügig adaptiert - als Ateliers, als Ausstellungsräume oder, unterteilt, der Verwaltung.

Die für das nun öffentliche Gebäude wesentliche innere Erschließung mit den erforderlichen Pufferzonen, gemeinhin „Foyers“ genannt, wurde neu entwickelt und verhilft dem Kulturhaus zu spezifischer Identität. Über die Geschoße verteilt und doch in der Gebäudemitte konzentriert, zieht sich der räumlich vielgliedrige Organismus des öffentlichen Binnenraums durch das Haus wie die Höfe, Gassen und Plätze in einer Stadt, doch kommt hier die dritte Dimension dazu.

Ehemals dienenden und Resträumen hat Peter Riepl neue Qualitäten verliehen. Der schmale Hof, der früher nur die Gangfenster belichtete, wurde zu einer hohen Oberlichthalle, zu der der Gang das Verhältnis eines Seitenschiffs einnimmt. Der früher üppige Aufbau des Kaltdachs hinter den vier runden Fenstern der hohen Attikamauer wurde zum luftigen Zwischendeck mit einem seitlich geschützten, zum Himmel offenen Terrassenteil.

Die Materialien betonen den einfachen, robusten Charakter der Umbauteile: verzinkte Stahlprofile und sichtbar belassener Stahlbeton bilden das Schwergewicht. Die Feuermauer an der Rückseite zeigt in diesem Kontext ihren spezifischen Charakter. Die Schaltafeln drücken sich selbstverständlich ab, proportionieren die gut acht Meter hohe Wand und treten im Streiflicht stärker hervor. Es handelt sich um einen auf die neunziger Jahre bezogenen „béton brut“, den Le Corbusier in den Fünfzigern noch mit sägerohen Einzelbrettern erzeugt hatte.

Zur zurückhaltenden Gestaltung der allgemeinen Räume treten mehrere künstlerische Interventionen in Beziehung, die von verschiedenen Kunstschaffenden zusammen mit dem Architekten realisiert wurden. Am augenfälligsten ist die grau glänzende Graphitschicht, die Sabine Bitter und Helmut Weber auf die Fassade auftragen ließen. Sie zieht sich auch an der Hofseite um das Bauwerk herum und markiert die ehemalige Außenhaut, was besonders im Bereich der hohen Oberlichthalle zu einem spannungsvollen Spiel zwischen innen und Binnenaußenraum führt.

Robert Schuster hat die Schwellenbereiche bei Mauerdurchbrüchen mit Aluminiumtafeln versehen, auf denen Zeichen in Blindenschrift ein erhabenes Relief bilden. Mit den Jahren von den Sohlen der Besucher abgenützt, machen sie im Zuge ihres „Erblindens“ Vergänglichkeit sichtbar. Einen „Empfangsraum“ in postmodern wirkender Rustika hat Otto Mittmannsgruber im ersten Obergeschoß eingerichtet, und Johann Moser wird auf dem künftigen Platz vor dem Haus, der städtische Dimensionen gewinnt, einen solitären Flutlichtmast aufstellen.

Bei der Eröffnung diskutierten Direktoren von Kunsthallen, Architekten und eine Künstlerin über „Räume für Kunst“. Die neugeschaffene Architektur im Offenen Kulturhaus Linz, die aus einer klugen Transformation des soliden Altbestands hervorgegangen ist, macht derartige Räume mit ihrer Abfolge differenzierter Foyers über Treppen und Glasloggien auf ausgesprochen attraktive Art und Weise für Besucher und Benützerinnen zugänglich.

Spectrum, Sa., 1998.05.09



verknüpfte Bauwerke
Offenes Kulturhaus Linz - O.K. - Um- und Ausbau

18. April 1998Walter Zschokke
Spectrum

Kanzelpredigt, Flaschenpost?

Wie verschafft man dem interessierten Laien Zugang zur zeitgenössischen Architektur? Durch ein Unterrichtsfach „Architektur“? Ein gutgemeinter Vorschlag - aber wie viele Menschen haben infolge des Unterrichts Zugang zur Literatur gefunden?

Wie verschafft man dem interessierten Laien Zugang zur zeitgenössischen Architektur? Durch ein Unterrichtsfach „Architektur“? Ein gutgemeinter Vorschlag - aber wie viele Menschen haben infolge des Unterrichts Zugang zur Literatur gefunden?

Verstanden zu werden durch das Medium ihrer Arbeiten ist Kunstschaffenden wie Architekten ein nicht unwesentliches Bedürfnis. Dem Wunsch nach allgemeiner inhaltlicher Anerkennung steht aber der in diesem Jahrhundert wie nie zuvor verbreitete Zwang zur Innovation entgegen. Das Dilemma, in dem sich der Suchende befindet, wird von Hermann Czech in kurzen Sätzen entfaltet: „Um verstanden zu werden, kann man entweder etwas Neues in einer bekannten Sprache oder etwas Bekanntes in einer neuen Sprache vorbringen. Etwas Neues in einer neuen Sprache wird dagegen das Publikum überfordern.“

Die Ungleichzeitigkeit eines Verstehens, das durch publizierende Fachleute zwar vorexerziert, von den an Kunst und Kultur interessierten Zeitgenossen aber nur sehr teilweise nachvollzogen wird, bildet ein altes Problem. Wenn nun eine die Misere des Unverstandenseins beklagende Runde Fachleute an diesem Punkt angelangt ist, folgt fast zwingend die Forderung, man solle in der Schule mehr für dieses Verstehen tun, also in unserem Fall ein Fach „Architektur“ in den Lehrplan zumindest der Gymnasien aufnehmen.

Am Ende des 20. Jahrhunderts ist die Schule zu einem Lasttier geworden, dem alles mögliche und unmögliche aufgepackt wird. In diesem Zusammenhang sei die Frage erlaubt, wie viele Menschen als direkte Folge des Unterrichts einen genußfähigen Zugang zur Literatur gefunden haben. Mir scheint, der gesellschaftliche Fortschritt einer im 19. Jahrhundert eingeführten allgemeinen Schulpflicht droht uns wegen Überfrachtung des Vehikels im Gewebe individuellen und kollektiven Wohlmeinens zu zerrinnen.

Es stellt sich weiters die Frage nach einer sinnvollen Packung der Inhalte, nach den geeigneten Lehrkräften und nach den Lehrmitteln. Architekturpublikationen gäbe es zuhauf, aber ob sie auch als Lehrmittel geeignet sind? Kürzlich sind mir dazu zwei Beispiele zugegangen. Das erste hat den Titel „Bauen, Wohnen, Gestalten. Ein Lehrbehelf ab der 5. Schulstufe“. Als Herausgeber zeichnet das Amt der NÖ Landesregierung, Baudirektion-Ortsbildpflege. Der Text wurde durch die Fachleute Johannes Zieser, Architekt, und Friedrich Fischer, Leiter der Ortsbildpflege, verfaßt.

Wie der Titel besagt, geht es den Autoren um eine Einführung ins heutige Baugeschehen, das in den vergangenen fünf Jahrzehnten wesentlich komplexer geworden ist. Fragen des Umweltschutzes, des Energiebedarfs - auch der „grauen“ Energie, die in den Baustoffen als Folge ihrer Herstellung bereits enthalten ist - werden behandelt. Auf die Komplexität der Zusammenhänge und auf Gefahren wird immer wieder hingewiesen.

Im Hinblick auf „Architektur“ nimmt das Buch in einem kurzen Kapitel eine Begriffsdefinition vor und unterscheidet die Baukunst vom alltäglichen Bauen. Der Text betont, daß Architektur eine öffentliche Kunst ist, woraus sich eine entsprechende Verantwortung auch der Bauherrschaft, ob öffentlich oder privat, ergibt. Der Zusammenhang mit der Kultur- und Politgeschichte und die daraus resultierende kontroversielle Stellung der Architektur leitet über zur Feststellung, daß eine Gesellschaft sich in ihren Bauten ein Spiegelbild schafft; wie auch in ihren älteren Baudenkmälern, die sie schützt und pflegt.

Alltags- und praxisbezogen, verzichtet das Lehrmittel auf weitere Vertiefungen zur Architektur, dafür wird in das Thema der schwachen Wechselwirkungen eingeführt, oft auch als feinstoffliche Kräfte oder geomantische Phänomene bezeichnet. Wem die aktuelle Konjunktur des Feng Shui, der chinesischen Metaphysik, eher chinesisch vorkommt - zweitägiges Intensivseminar im Architekturforum Zürich für 380 Franken (3230 Schilling, 232 Euro) - , der sei daran erinnert, daß die europäische Tradition der Muter und Rutengänger von einer Erfahrungszeit von zehn und mehr Jahren ausgeht - so lange, wie ein zügig durchlaufenes Architekturstudium mit anschließender Praxis mindestens dauert.

Das zweite Unterrichtsmittel, das auf meinen Schreibtisch gelangte, kommt aus Deutschland. Herausgegeben wurde es von der Wüstenrotstiftung und der Akademie der Architektenkammer Hessen. Der Frankfurter Architekturpublizist Manuel Cuadra hat es verfaßt, unterstützt vom Pädagogen Wilhelm Adam.

Der Titel, „Planen und Bauen. Meine Schule - Ein Werkstattbuch mit Anregungen und Anleitungen für baulustige Schülerinnen und Schüler“, verweist auf die praktische Seite des Bauens.

In den Ausführungen kommen diese Aspekte ausführlich zur Sprache. Sicherheitsfragen werden jeweils besonders betont. Als Beispiele dienen sieben Schulgebäude aus diesem Jahrhundert in verschiedenen deutschen Städten zwischen Hamburg und München. Das Konzept sieht aber vor, von den eigenen Schulgebäuden auszugehen. Cuadra fordert die Schüler auf, sich mit ihrer Schule und deren Umgebung zu befassen.

Da das Ziel im Vordergrund steht, die Schüler in irgendeiner Weise zu baulichen Aktivitäten zu motivieren, geht es bei dieser Betrachtung der Schule zuerst einmal um Kritik im Sinn einer Suche nach Mängeln. Damit wird der Ansatz, was an den Schulgebäuden Architektur sein könnte, erst einmal hinausgeschoben. Er wird im Schlußdrittel durch ansprechende kleine Monographien der sieben Schulhäuser nachgeholt.

Das Problem der eng begrenzten praktischen Möglichkeiten, wie es sich im Kontext eines Schulgebäudes baulustigen Schülerinnen und Schülern entgegenstellt, läßt eigentlich nur Applikationen zu, die für das Architekturverständnis kaum relevant sind. Im ungünstigsten Fall handelt es sich bei einem Verbesserungsvorschlag um Ordnungsmaßnahmen vor der Verkaufsstelle für Pausenverpflegung, im harmloseren Fall wird das Mißverständnis gegenüber der Kunst am Bau perpetuiert: Wenn man nicht weiß, wozu eine Rauminstallation aus bunten Kunststoffrohren nütze sein könnte, muß es sich wohl um Kunst handeln.

Doch davon abgesehen, werden zahlreiche Anregungen geboten und konstruktive Prinzipien erläutert. Am stärksten ist das Lehrmittel in den abschließenden Monographien, die für jede der sieben Schulen aus heutiger Sicht Verständnis zu erwecken vermögen.

Was ich bei beiden Lehrmitteln vermisse, ist der Aspekt einer genießenden Anschauung von Architektur, wie sie beispielsweise hinter Le Corbusiers Satz steht, Architektur sei „le jeu savant, magnifique et correcte des volumes assemblés sous la lumière“, das wissende, großartige und ordnende Spiel der unter dem Licht versammelten Körper. Wie kommt man als interessierter Laie dazu, dieses manische Arbeiten von Architekten nachvollziehen zu können, um Raum und plastische Form zu genießen - ohne sich zehn Jahre lang zum Architekten auszubilden?

Mein erster Architekturlehrer, Bernhard Hoesli, definierte Architektur als Zusammenwirken von Raum, Konstruktion, Material und (plastischer) Form und machte dies durch ein Tetraeder anschaulich, dessen Eckpunkte mit diesen Begriffen besetzt waren. Die Aufgabe des Architekten, die ihm niemand abnehmen kann, wäre demnach die projektive Zusammenschau all dieser (und weiterer) Faktoren zu einem wie auch immer gearteten emotional oder intellektuell festgelegten Konzept, das dem späteren Bauwerk eingeschrieben bleibt.

Den vorbedachten und den im nachhinein zustandegekommenen Wirkungen all dieser das Bauwerk ausmachenden Komponenten nachzuspüren wäre jedenfalls eine Möglichkeit des Genießens; ob diese nun in stiller Anschauung im Objekt, beim Durchwandern des Bauwerks oder nach dem Studium zusätzlicher Unterlagen realisiert wird, ist unerheblich.

Bei allem Verständnis für die Architekturvermittlungsbemühungen durch Kritiker und Lehrpersonen - die eigenen eingeschlossen - sehe ich darin keine ausreichende Wirkung. Denn das eigentliche Medium der Architekten bleibt das Bauwerk im Original. Damit ist zu sprechen, sei dies in der Art einer Kanzelpredigt oder einer Flaschenpost. Das kann auch ein eloquenter und wortgewandter Vermittler nicht ersetzen. Die direkte Erfahrung ist unverzichtbar, darum ist das Bemühen, Architektur als theoretisches Unterrichtsfach einzuführen, zwar verdienstvoll, aber es trifft nicht den Kern der Sache.

Nicht Architektur in die Schule zu bringen, sondern Schule in Architektur abzuhalten muß daher das Ziel heißen. Jeder Kindergarten, jede Volksschule, jede Hauptschule, jedes Gymnasium, die Höhere Technische Lehranstalt und alle Hochschul- oder Universitätsgebäude sind nach bestem Wissen und Gewissen unserer Zeit mit architektonischem Anspruch zu errichten oder, wenn es ansteht, zu erneuern. Diese Verantwortung kann keiner Gemeinde, nicht den Ländern und auch nicht dem Bund abgenommen werden.

Daraus entstehen keine Mehrkosten, außer jenen, die für eine demokratisch korrekte Auswahl des besten Entwurfs anfallen. Qualifizierte Fachleute stehen ausreichend zur Verfügung.

Dafür kann man sich ein zusätzliches Unterrichtsfach „Architektur“ - mit absehbar geringfügigen positiven Auswirkungen - sparen.

Spectrum, Sa., 1998.04.18

07. März 1998Walter Zschokke
Spectrum

Hochgebirge am Handlauf

Gräben, Klüfte, Geländekanten: So vielgestaltig wie die alpine Topographie präsentiert sich auch die Ausstellungsarchitektur. János Kárász hat zum Thema „Über die Berge“ nichts weniger als ein kleines Gebirge in die Sankt Pöltner Shedhalle gestellt.

Gräben, Klüfte, Geländekanten: So vielgestaltig wie die alpine Topographie präsentiert sich auch die Ausstellungsarchitektur. János Kárász hat zum Thema „Über die Berge“ nichts weniger als ein kleines Gebirge in die Sankt Pöltner Shedhalle gestellt.

Das Thema Alpen bewegt bereits seit Jahrhunderten Künstler und regt sie zu Werken an. Dieser Aspekt wurde in den vergangenen Monaten in den Kunsthallen Krems und Wien breit abgehandelt. Die soeben eröffnete Ausstellung „Über die Berge“ in der Shedhalle St. Pölten sucht den Zugang zum europäischen Hauptgebirge auf der kulturgeschichtlichen Achse über essayartige thematische Schnitte, die von der Inbesitznahme durch maßstäblichen Reliefbau über die Anpreisung alpiner Kurorte auf Plakaten und die Wahrnehmung der Landschaft durch Maler verschiedener Epochen bis zum Lebensraum der Problem- und anderer Bären reichen.

Nach einer Idee von Erich Steiner und Direktor Peter Zawrel betreute ein Redaktionsteam, bestehend aus Karl Brunner, János Kárász, Wolfgang Kos, Hermann Schacht und dem Team ZISLAWENG (Sara Schmidt, Wolfgang Tobisch), ein gutes Dutzend Kuratoren, die je einen Aspekt, zuweilen auch mehrere behandelten.

Neben Werken von bergsteigenden Malern und zahlreichen kulturgeschichtlichen Zeugnissen zum Alpinsport sind es zwei Arbeiten mit neuen Medien, die hervorstechen: Peter Tschermenig erläutert den Wandel besonderer Landschaftsansichten an den Beispielen von Annaberg, Gutenstein, Lilienfeld und dem Lassnigfall bei Wienerbruck, wobei anhand verschiedener Darstellungen, die teilweise bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen, in einer Art Überblendtechnik der historische und räumliche Perspektivenwechsel nachvollzogen wird.

Robert Zemann zeigt vier parallelgeschaltete und inhaltlich koordinierte Viedeofilme, die vier verschiedene Zugänge und zugleich Nutzungsweisen in demselben Landschaftsraum der Hohen Wand wiedergeben. Da ist der Bauer, der mit seinem Balkenmäher geschickt, aber nicht ohne nötige Anstrengung eine abschüssige Wiese mäht. Während ein Wanderer über steiler werdende Steige der Höhe zustrebt, braucht der Autofahrer eher Geschicklichkeit beim Lenken, Schalten und Gasgeben. Dem Paragleiter breitet sich dagegen zu seinen Füßen ein rundum reichender Tiefblick beim stetigen Sinkflug nach dem Sprung von der schroffen Klippe aus.

Die Ausstellungsarchitektur bietet verschiedene Zugänge und Abfolgen durch die Themenbereiche an, sodaß der Besucher nach Lust und Laune auf dem vielgestaltigen Gebilde herumsteigen kann und sich seinen Weg durch die unabhängigen Kapitel der Ausstellung selber zusammenstellen darf. Dieser Freiheitsgrad stellt schon zu Beginn jede zwanghaft belehrende Absicht in Abrede. Er bereitet Vergnügen, bietet Entdeckerfreude und befriedigt hinter Wegkehren und in Schlupfen die geweckte Neugier.

János Kárász vom Atelier Auböck & Kárász, in Architektur und Sozialwissenschaften gleichermaßen ausgebildet, hat nichts weniger als ein kleines Gebirge in die Shedhalle gestellt.

Man erinnert sich an die Eröffnung des Bauwerks, als einigen Kritikern die zirka 19 auf 38 Meter messende Halle mit fast zwölf Metern als zu hoch erschien. Jetzt zeigt sich, daß diese Höhe den Ausstellungskonzeptoren in der Vertikalen ungewöhnliche Freiheiten einräumt. Die komplett rollstuhlgängige Anlage weist eine kontinuierliche Steigung auf, die nur von kleinen Absätzen unterbrochen wird, die ein kurzes Rasten erlauben.

Die schlanke und luftige Holzkonstruktion wurde zusammen mit dem jungen Bauingenieur Richard Woschitz entwickelt. Sie scheint die Halle auszufüllen und reicht bis wenige Meter unter das steil gezackte Sheddach, das der Kunsthalle den Namen lieh. In autonomer Schrägstellung reicht die Installation aus Scheiben und Platten da und dort recht nahe an die umfassenden Wände. Dadurch ergeben sich Engnisse, wie sie in einem Gelände mit lebendiger Topographie nicht selten vorkommen und und die in abstrakter Form an den Weg durch Gräben und Klüfte erinnern. Im Unterbau sind nahezu grottenartige kleine Kabinette zugänglich, die jeweils einzelnen Themen gewidmet sind.

Mit zunehmend gewonnener Höhe gelangt man auf eine kleine Plattform, die - mit spürbarem Gefälle - als eine Lichtung oder als kleiner Geländeabsatz interpretiert werden kann. Über einen abschließenden Höhenweg, von dem man nach beiden Seiten hinunterblicken kann, gelangt man zu einer stegartigen Brücke, die in flachem Bogen zum oberen der beiden kleineren Säle des Hauses führt, wo man, vom sicheren Boden der permanenten Baustruktur wieder empfangen, in die kartesianische Normalität zurückkehrt.

Da man der Gesamtinstallation immer sehr nahe steht, ergeben sich perspektivische Verzerrungen, die eine rasche Analyse erschweren. Das Strukturkonzept ist daher einfacher, als man glauben möchte. Selbst in der Rückschau von der Brücke her bietet sich das Bild einer „zerklüfteten Karstlandschaft“, in der keine zwei Kanten parallel zu verlaufen scheinen.

Ein Studium der Pläne zeigt allerdings, daß es sich in Wahrheit viel einfacher verhält: Zwei längsrechteckige Strukturelemente kreuzen sich in schiefem Winkel. Das größere beginnt mit einer flachen Rampe an der Eingangsseite. Sie wendet sich im hinteren Bereich wieder nach vorn, um in das andere Strukturelement überzuwechseln, während das erstere in luftiger Höhe in einer auf zwei schlanken hölzernen Scheiben aufgestelzten Platte ausläuft. Fast in Greifnähe stehen die Besucher in halber Raumhöhe vor der Südwand des Hauses, die ein Landschaftspanorama aus der Jahrhundertwendezeit ziert. Das strahlende Licht auf dem Gemälde stimmt zufällig mit der klaren Luft des kühlen, windigen Vorfrühlingssonntags überein, die draußen der Landschaft kristalline Schärfe verleiht.

An beiden Flanken weist das hölzerne Gebirge im großen Binnenraum zwei Treppenläufe auf, die vom Hallenboden zu den oberen Niveaus hinaufführen, sodaß diese allseitig zugänglich sind. Neben extrem schlanken, scheibenartigen Brettschichtholzbindern kamen vor allem englische Chipboard-Spanplatten zum Einsatz, die hierzulande auch unter dem Namen OSB-Platten bekannt sind. Die großen Späne bestimmen die Oberfläche und geben ihr einen rohen Ausdruck, der in seiner Direktheit an die Rauhigkeit von Fels erinnert, ohne formal ähnlich zu sein.

Einige unabhängiger eingesetzte Großtafeln dieser Präsentationsstruktur wurden mit einer petroleumfarbigen Lasur versehen. Auch sie sind extrem schlank und scheinen fast zu schweben. Als Bodenbelag eingesetzt, sind die genannten Spanplatten rutschfest, da die ohnehin flache Steigung kaum Probleme bietet. Ihre Textur läßt zudem an Waldboden mit Blättern denken.

Das Bauwerk, das an tektonische Platten geologischer Verwerfungen erinnert, leistet vielerlei: Es spielt mit Ahnungen, Vermutungen und Erfahrungen, ist aber rational aus beidseitig beplankten, im Inneren versteiften Rahmenelementen hergestellt.

Natürlich gehört János Kárász nicht zu den ersten, die das Muster der OSB-Platten gestalterisch als Bedeutungsträger einsetzen. Man kann es beispielweise in der kleinen, von Hans Holbein gestalteten Trafik neben dem Haas-Haus sehen, wo die Platten an der zeltartigen Decke Tabak assoziieren. In St. Pölten sind sie sowohl konstruktiv als auch als mehrfacher Bedeutungsträger eingesetzt. Hier erweist sich auch eine relative Neutralität des Holzwerkstoffs im Ausdruck. Eine Aussage ergibt sich erst im Kontext der benachbarten oder gesamthaft vermittelten Inhalte. Und die Verfremdung ist mit eingeschlossen.

Wie immer bei solchen temporären Aufbauten stellt sich die Frage, ob und wie mit einer Nachnutzung Kosten, wo nicht gespart, so doch teilweise wieder hereingespielt werden können. Da die gesamte Konstruktion aus Elementen zusammengesetzt und verschraubt wurde, läßt sie sich nach Gebrauch wieder demontieren, sodaß sie einer weiteren Verwendung zugeführt werden kann.

Im Prinzip lassen sich mit den zimmermannsmäßigen Halbfabrikaten zwei Einraumvolumen herstellen, wobei bei einer Verwendung im Außenbereich noch eine Klimaschicht dazukommen muß. Da es sich um unspezifische Elemente handelt, ist der Spielraum für eine herzustellende Form und Struktur relativ groß. Architekt und Tragwerksplaner werden daher zusammen mit dem ausführenden Zimmereiunternehmen W. P. Handler nach dem Abbau in Frage kommende Nutzungen prüfen und eine optimale Kombination der Elemente entwickeln.

Dieses Vorgehen ist nicht neu, denn schon bei manchen Ausstellungen wurde versucht, die Hallen oder Pavillons einer neuen Nutzung zuzuführen, nicht selten scheiterte man jedoch an der gebundenen Struktur der Großräume. In diesem Fall ist jedoch durch die Aufgliederung in vergleichsweise neutrale Elemente weder die Größenordnung noch das äußere Erscheinungsbild festgelegt, so- daß unter Zuhilfenahme zusätzlicher Teile das Spektrum möglicher Nutzungen breiter ist.

All dies sieht man aber der Konstruktion im jetzigen Zustand nicht an. Es ist eine dienende Struktur, die, kurzweilig und mehrdeutig interpretierbar, die an sie gestellten Forderungen in selbstverständlicher Weise erfüllt. Ein potentielles späteres Weiterbestehen schlummert noch im Material.

Die Ausstellung „Über die Berge - Europäische Kulturlandschaften und Niederösterreich“ in der St. Pöltner Shedhalle ist noch bis 30. August zu sehen.

Spectrum, Sa., 1998.03.07

14. Februar 1998Walter Zschokke
Spectrum

Raum, Proportion, Material

Eine Stahlkonstruktion aus vorgefertigten Elementen muß nicht „billig“ wirken. Das belegt Günter Lautners Bankfiliale in Wien-Simmering. Vom protzigen Spartempel zm schlanken Dienstleistungsunternehmen.

Eine Stahlkonstruktion aus vorgefertigten Elementen muß nicht „billig“ wirken. Das belegt Günter Lautners Bankfiliale in Wien-Simmering. Vom protzigen Spartempel zm schlanken Dienstleistungsunternehmen.

Das Neubaugebiet am Leberberg steht vor der Fertigstellung. Selbst wenn man sich als Kritiker an guten Leistungen orientieren möchte, kommt man um die Bausünden nicht herum, die dort entstanden sind. Nördlich der beiden Kirchen wurde im vergangenen Jahr ein Bauteil errichtet, dessen städtebauliche Struktur nicht nur Rätsel aufgibt, sondern mehr als nachdenklich stimmt.

Im ursprünglichen Konzept, weit entfernt davon, eine Meisterleistung zu sein, war eine Schar Einzelbaukörper, sogenannte Stadtvillen, im versetzten Raster mit Geschoßwohnungen vorgesehen gewesen. Inzwischen wurden die Volumen zur Erzielung einer höheren Dichte kräftig gemästet, sodaß sie in allen Richtungen zugenommen haben und sich mit den Kanten berühren. Aus den Einzelbaukörpern wurde ein sechsgeschoßiges Gitter mit lichthofartigen Ausnehmungen.

Man fragt sich, wer hier wohnen will oder für wen dieser Cluster gedacht ist. Jedenfalls hat dieser Bauteil die besten Chancen, einmal dem Schicksal von Pruit Igo, St. Louis/USA, zu folgen, das bekanntlich 1972 wegen Unbewältigbarkeit der sozialen Probleme seiner Bewohner gesprengt wurde. Charles Jencks sah darin den Startschuß zur Postmoderne, von der er eine Überwindung der Fehler der Moderne erhoffte.

Pikantes Detail: Die äußeren Formen des genannten Bauteils am Leberberg sind jener ubiquitären formalistischen Strömung der Postmoderne zuzuordnen, mit der mittelmäßige und schlechte Architekten seit über einem Jahrzehnt ihre entwerferische Blöße zu decken versuchen. Doch ist die Verantwortung nicht nur bei den Architekten zu suchen, schließlich gibt es Bauträger und eine Planungsbehörde. Ob die Verantwortlichen in zwanzig Jahren sich auf die Brust schlagen und „Mea culpa“ rufen werden?

Doch neben Bausünden finden sich zuweilen auch Lichtblicke: Vorn an der Kreuzung der Etrichstraße mit Swetelsky-gasse und Sängergasse steht die neue Zweigstelle einer Bank. Sie mag ein Zeichen dafür sein, daß man sich in den Chefetagen der Bank Austria an die siebziger Jahre erinnert hat, als architektonisch Ansprüche gestellt wurden, die mit Umbauten von Johannes Spalt, Friedrich Kurrent und Johann Georg Gsteu sowie mit dem Neubau einer Filiale von Günther Domenig in Favoriten eingelöst wurden. Der durch Domenig erneuerte Hauptsitz an der Vorderen Zollamtsstraße und die kürzlich von Hermann Czech feinsinnig ausgebaute Filiale an der Bognergasse deuten jedenfalls auf ein neuerwachtes Architekturverständnis hin.

Mit der Planung der peripher gelegenen Zweigstelle am Leberberg, die in naher Zukunft nicht wenige Kunden zu versorgen haben wird, war Günter Lautner von der Architektengemeinschaft Lautner-Scheifinger-Szedenik-Schindler betraut worden. Die städtebaulich exponierte Lage stellt an das zweigeschoßige Bauwerk hohe Anforderungen. Indem das obere Geschoß derart gegenüber dem unteren verschoben ist, daß es an beiden Straßenfronten vorkragt, gewinnt es Abstand von den dahinter dräuenden Wohngebirgen und vermag ohne weiteren Aufwand die Ecke ausreichend zu markieren, obwohl es um vier bis fünf Geschoße weniger zählt.

Zwei raumbildende Mauerwinkel erzeugen neben den Decken die architektonische Grundstruktur: Der erste befindet sich im Erdgeschoß und ist zur Kreuzung hin geöffnet, während der zweite im Obergeschoß zur Etrichstraße hin abschirmt, zur Swetelskygasse aber offen bleibt. Die einfache Grundfigur führt zu vier unterschiedlich ausgebildeten Fassaden, die entsprechend ihrer städtebaulichen Ausrichtung und bezogen auf die Nutzung als Dienstleistungsgebäude charakteristisch sind.

Der Eingang liegt im Norden, zur Swetelskygasse. Hier sind beide Geschoße voll verglast. Das obere schützt mit seiner Auskragung den Bereich vor dem Windfang und den Bedienungsplatz vor dem Bankomaten vor der Witterung. Die nach Osten gerichtete längere Schauseite, die parallel zur Etrichstraße verläuft, ist unten verglast; das leicht vorspringende Obergeschoß ist dagegen vollkommen geschlossen. Diese klare Trennung wirkt eher logohaft, die Fassade ist durchaus einladend, aber konkurriert nicht um die Bedeutung als Eingang.

An der anderen Längsseite befindet sich der Kundenparkplatz. Hier ist logischerweise das Erdgeschoß geschlossen, die etwas zurückgesetzten Räume im verglasten Obergeschoß - Diensträume und die Haustechnikzentrale - erhalten viel Licht, werden aber nicht durch Einblicke gestört. Dabei handelt es sich um eine eindeutige Rückseite, die jedoch nicht abweisend wirkt, da zwei kleine Fenster, ein breites mit hochliegender Fensterbank und ein schmal-hohes, die Fläche durchbrechen.

Die vierte Fassade, nach Süden orientiert, besteht aus zwei gestaffelten, geschlossenen Flächen, sodaß die Büros vor der Mittagssonne geschützt sind. An dieser Seite hätte wohl anschließend der Konsum errichtet werden sollen; noch sprießen Huflattich und andere Pioniergewächse aus dem nackten Löß, bis sich ein neuer Großverteiler für diesen Bauplatz gefunden hat. Die vier verschiedenen Fassaden zeigen, daß der scheinbar abstrakte architektonische Ansatz mit den beiden Winkeln den Baukörper zum Sprechen bringt und mit seiner Umgebung nutzungsbezogen kommunizieren läßt.

Nachdem man die verglaste Windfangzone durchschritten hat, erweist sich das Innere als weite Halle, die zum Teil ins Obergeschoß hinaufreicht, zu dem ein offener Treppenlauf hochführt. Der Raum wird von zwei Zeilen runder Betonstützen akzentuiert, die zu beiden Längsseiten aufgereiht sind. Frei stehen sie vor der Glasfront und vor der Trennwand zu Tresor- und Besprechungsraum. Natürlich tragen sie die Deckenlast und das Obergeschoß, aber ihre stumme Präsenz wertet den Raum zusätzlich auf, gibt ihm ein Flair, das über jenes einer gewöhnlichen Büroatmosphäre hinausreicht.

Der Treppenlauf im doppelt hohen Raumteil führt in einen kleinen Mehrzwecksaal über dem Eingang, der von der Bank für allerlei Initiativen bis hin zu kleinen Ausstellungen genutzt werden kann. Eine schmale Galerie erschließt Dienst- und Nebenräume. Da das gesamte Gebäude als Montagebau errichtet wurde, besteht die Stahlbetonkonstruktion aus vorgefertigten Elementen, wobei die runden Stützen mit ihrer gestockten Oberfläche deren visuelle Schnelligkeit etwas verlangsamen. Die handwerkliche Bearbeitung verfremdet den Elementbaucharakter, der nun nicht mehr mit „billig“ gleichgesetzt wird.

Die mittleren Säulen im Obergeschoß wirken als Zugelemente, an denen die Decke aufgehängt ist. Dies ermöglicht im Erdgeschoß die großzügige Kundenhalle. An den auffällig schlanken Dimensionen haben die Ingenieure Novotny-Bauer mitgetüftelt und -gerechnet.

Das Äußere wird materialmäßig von Faserzementplatten in grauer Naturfarbe bestimmt. Als Schutzschicht für die darunterliegende Wärmedämmung ist dieses Material des 20. Jahrhunderts in Form großer Tafeln davorgehängt, die mit ihren Proportionen zur Gesamtfläche den architektonischen Ausdruck edler werden lassen, ohne daß Naturstein eingesetzt werden muß.

Trotz merkbarer Kostendecke ist Günter Lautner und seinen Mitarbeitern Michaela Pammer und Robert Ruderstaller sowie Hans Bojer für die Bauaufsicht ein Bauwerk gelungen, das mit den Mitteln der Architektur, mit Proportion, Raumgestalt und Materialwirkung, erreicht, daß es nicht billig wirkt, obwohl es sich von den mit wertvollen Materialien aufgerüsteten Zweigstellen der inneren Bezirke unterscheidet.

Ja, es löst sich von jener Tradition, die, wie Loos es ausdrückte, dem Kunden bedeutet, daß sein Geld hier sicher und gut aufgehoben sei. Vielmehr steht der Bau für die Bank als modernes Dienstleistungsunternehmen, das der Kunde nicht mit demütigem Erschauern betreten muß; seine aktualisierte Aussage dürfte heute eher lauten: „Hier bekommst du rasch und unkompliziert Kredit.“

Daß dieser Paradigmenwechsel in einem Neubaugebiet leichter zu bewerkstelligen ist als in der Innenstadt, leuchtet ein. Die Art und Weise dieser Neuformulierung, ihre Leichtigkeit und Eleganz waren schon am Rohbau zu erkennen und wurden in der Detaillierung bestätigt.

Nun wäre zu hoffen, daß ein anderer Wechsel ebenfalls greift: daß die Banken engagierten Architekten außer Krediten weiterhin Aufträge in Sachen Architektur übertragen und auch beim Wohnbau genauer hinschauen, was sie da finanzieren, damit nicht nach einem Vierteljahrhundert wieder gesprengt werden muß.

Spectrum, Sa., 1998.02.14



verknüpfte Bauwerke
Bank Austria Filiale

24. Januar 1998Walter Zschokke
Spectrum

Einen Fuß über die Armlehne?

Der Sessel ist jenes Möbelstück, das der menschlichen Anatomie am nächsten rückt. Ein heikles Produkt also, dem neben stützender Steifigkeit auch elegante Leichtigkeit abverlangt wird. Überlegungen zum Design eines Gebrauchsgegenstandes.

Der Sessel ist jenes Möbelstück, das der menschlichen Anatomie am nächsten rückt. Ein heikles Produkt also, dem neben stützender Steifigkeit auch elegante Leichtigkeit abverlangt wird. Überlegungen zum Design eines Gebrauchsgegenstandes.

Kein Sitzen ohne Haltung. Ähnlich wie beim Stehen sind zahlreiche Muskeln damit befaßt, den Körper aufrecht zu stabilisieren und den Kopf oben zu halten. Das eigentliche Sitzen kann dabei sehr verschieden sein und sagt vielleicht etwas aus über den gegenwärtigen inneren Spannungszustand. Im Lauf der Kulturgeschichte haben sich aber die Konventionen bezüglich des Sitzens selbst immer wieder leicht verändert und entsprechend auch die Möbelstücke, auf denen gesessen wurde. Die Interpretation der Sitzhaltung durch den Entwerfer eines Sessels ist daher zeitgebunden und kann ab und zu in Frage gestellt und neu formuliert werden.

Nun ist der Sessel jenes Möbel, das der menschlichen Anatomie am nächsten rückt. Es ist das von seinem Charakter her am stärksten anthropomorphe Stück in bewohnten Räumen. Nicht selten werden daher Stühle und Sessel als Maßstabvergleich eingesetzt und vertreten die menschliche Figur auf Bildern und Photographien, ob dies Stilleben wie Adolph von Menzels „Balkonzimmer“ sind oder Innenaufnahmen der zeitgenössischen Architekturphotographie. Immer verweisen die Sessel unmißverständlich auf den - absenten - Menschen.

Dabei besteht das Paradoxon, daß „unordentlich“ hingestellte Sessel stärker animiert wirken als exakt aufgeräumte. Dieses Phänomen beschreibt Max Frisch in seinen Tagebüchern an Hand der Schuhe von Andri in dem Theaterstück „Andorra“. Beim Szenenwechsel anläßlich der Proben hatte jemand die vom Darsteller säuberlich als Paar abgestellten Schuhe verschoben, sodaß sie in geöffneter Stellung dramatisch an den soeben abgeführten Andri erinnerten. Ähnlich verhält es sich auch mit Sesseln.

Wenn es um Produktdesign geht, also um Entwurf und Entwicklung im Hinblick auf die Erzeugung großer Stückzahlen, nicht bloß um das Basteln einzelner Möbelobjekte, spielen Art und Weise der vermuteten künftigen Benutzung eine wichtige Rolle. Wie der nach Authentizität forschende Schriftsteller den Leuten beim Reden „aufs Maul“ schaut, wird der Gestalter, der am Konzept für einen Sessel arbeitet, den Menschen beim Sitzen auf die Beine, den Körper und auf die Haltung schauen.

Im Café sitzen sie anders als am Speisetisch; und beim Lümmeln auf einer Bank halten sie die Beine lockerer als beim Gespräch mit einem Vorgesetzten. Aber für alle diese Gelegenheiten soll ein Sitzmöbel dienlich sein, die darauf Sitzenden nicht unangenehm zum ständigen Positionswechsel nötigen.

Vor 100 Jahren hat sich Adolf Loos mit denselben Fragen („Das Sitzmöbel“, 1898) befaßt. Seine Gedanken zeugen von genauer Beobachtung und reicher Welterfahrenheit. Er spricht über englische Möbel: „Alle arten von sitzgelegenheiten sind in ein und demselben zimmer vertreten. Jeder kann sich den ihm gerade passenden sitz aussuchen. (. . .) Der drawing-room aber, unser salon, wird seiner bestimmung gemäß leichte, also leicht transportable sessel aufweisen. Auch sind diese nicht zum ausruhen da, sondern um die sitzgelegenheit bei leichter, anregender konversation zu bieten. Auf kleinen, kapriziösen sesseln plaudert sich's besser als im großvaterstuhl.“

Loos redet der Vielfalt das Wort und weist auf kulturelle Unterschiede hin. Man könnte nun sagen, er hat - mit Nachsicht bezüglich einiger zeitspezifischer „Unkorrektheiten“ - in seinem Beitrag zum Sitzen schon alles gesagt, zwar nicht im Detail, aber von der Methode der Betrachtung her: „Habt ihr noch nie das bedürfnis gehabt, besonders bei großer ermüdung, den einen fuß über die armlehne zu hängen? An sich ist das eine sehr unbequeme stellung, aber manchmal ist sie eine wahre wohltat.“ Er pfeift auf Konventionen; um zu neuen Einsichten zu gelangen, schaut er sich selber beim Sitzen zu.

Lassen wir einmal das Prinzip Sessel und seine Elemente aus heutiger Sicht Revue passieren und beginnen mit dem gedanklichen Sitzen - zuerst beim Sitz: meist eine ebene Fläche mit seichter Mulde in der Mitte, etwa zwei Spannen hoch über dem Fußboden plaziert. Andere Kulturen sitzen in anderen Höhen, aber auch in Europa war diese Höhe nicht immer gleich. Lag dieser Abstand im 18. Jahrhundert beim höfisch beeinflußten Sitzmöbel bei 40 bis 42 Zentimetern, ging das Biedermeier trotz bürgerlich-häuslicher Bequemlichkeit auf 44 bis 45 Zentimeter hinauf. Das aufstrebende Bürgertum dieser Zeit saß stolz und vielleicht auch etwas steifer als die Barockmenschen in seinen Sitzmöbeln. Bugholzsessel aus der Gründerzeit weisen 46 bis 47 Zentimeter Sitzhöhe auf, und einzelne Stühle aus der Jugendstilzeit, als alles etwas überhöht gezeichnet wurde, kommen auf gute 48 Zentimeter.

Die Bauentwurfslehre von Ernst Neufert aus den dreißiger Jahren geht wieder auf 45 zurück. In den sechziger Jahren galten dagegen 43 Zentimeter als bequem. Der „Modulor“ von Le Corbusier, aus dessen roter Reihe das Maß stammt, hatte sich offenbar ausgewirkt. Diese Verschiebungen um Fingerbreiten bestätigen, daß die Länge der menschlichen Unterschenkel nicht das alleinige Kriterium sein konnte.

Andere Feinheiten, wie eine leichte Neigung um einen Zentimeter von vorn nach hinten und die Ausbildung der vorderen Kante spielen da mit hinein. Ist letztere zu scharf, schneidet sie in Venen an der Unterseite der Oberschenkel und stört den Blutrückfluß. Für ein Speiselokal, dessen Besitzer ein mehrmaliges Belegen der Sitzplätze anstrebt, ist der Gestalter in dieser Hinsicht gut beraten, wenn diese Kante nicht zu angenehm gerundet ist. In diesem Fall stellt auch die Durchlüftung der Sitzfläche keine Probleme. Für längeres Sitzen ist dagegen eine gelochte Fläche von Vorteil. Nach wie vor sehr günstig ist das Geflecht aus Bambusspältlingen, „Jonc“ genannt, das im 18. Jahrhundert aus China nach Europa fand. Aber es ist empfindlich und recht teuer zu ersetzen, weshalb schon Thonet gelochtes Formsperrholz vorzog.

Die Lehne eines Sessels ist nicht mit jener eines (Lehn-)Stuhls zu vergleichen. Sie soll die Schulterblätter etwas stützen, aber mit ihrer oberen Kante nicht in den Rücken einschneiden. Auch hier kennen einige Produkte aus neuester Zeit wenig Gnade.

Vor Jahrzehnten, als das „Sitz gerade!“ am Familientisch alle paar Minuten erscholl, hatte die Lehne gar keine Stützfunktion, sondern gab das aufrechte Sitzen visuell unmittelbar vor. Heute, da man nach dem Essen mit Freunden gern am abgeräumten Tisch sitzen bleibt, um die Gesprächsfäden nicht zu zerschneiden, kommt ihr wieder mehr Bedeutung zu: Sie muß einige Wechsel der Sitzposition zulassen, soll aber die Rippenbogen am Rücken nicht durch zu starke Krümmung einengen. Und sollte sich jemand verkehrt auf den Sessel setzen wollen, muß er sich mit den Unterarmen auf der Rückenlehne aufstützen können.

Wenn sich der Sitzende stark zurücklehnt, tritt ein ganz anderes, ein statisch-konstruktives Problem auf: Die Verbindung zwischen der Zarge und den in die Lehnenholme übergehenden Hinterbeinen wird extrem hoch belastet. Dies ist besonders der Fall, wenn der Mensch, sich räkelnd, den Sessel noch leicht nach hinten kippt, sodaß dieser nur mehr auf den hinteren Beinen steht. In den USA erfand man daher den „Rocker“, wie uns Loos wissen läßt, einen Sessel mit leicht gekrümmten, nach hinten verlängerten Kufen. Daß es sich dabei nicht um einen Schaukelstuhl handelt, belegt das Fehlen nach vorn wirkender Kufenstücke.

Die Bugholzsessel des Fin de siècle waren an dieser Stelle, wo als Verbindungsmittel bloß eine große Schraube von der Innenseite der Zarge her in die Hinterbeinholme eindrang, besonders anfällig. Es wurden daher bugartige Versteifungsstücke angeboten oder bereits fertig montiert, die diese heikle Stelle verstärken halfen.

Adolf Loos, der feine Beobachter und scharfe Kritiker, muß sich darüber seine Gedanken gemacht haben. Es ist anzunehmen, daß ihm die Überlagerung des U-förmig gebogenen Doppelholms, der in die Lehne übergehenden Beine mit dem inneren Hilfsbogen und den außen angesetzten Bügen zuviel war. An anderer Stelle spricht er vom Weglassen des Überflüssigen. Bei seinem Sessel für das Café Museum, den er ziemlich genau vor einem Jahrhundert entworfen haben dürfte, läßt er die Hinterbeine in den inneren, niedrigeren Bogen übergehen, überfängt ihn mit einem etwas höher gesetzten zweiten, dessen Schenkel sich ersterem eine kurze Strecke anschmiegen, um dann elegant nach vorn zur Zarge zu streben und die aussteifende Funktion zu übernehmen.

Vier weitere von unten eingesetzte Halbbogen verleihen dem Gestell trotz extrem dünner Zarge Steifigkeit und jene Eleganz und Leichtigkeit, die von den immer wieder erwähnten elliptischen Querschnitten der Lehnenbogen gekrönt wird. - Die Lehne stützt angenehm die Schulterblätter, und ein Rock läßt sich gut darüberhängen. Den Sessel erzeugte damals Josef Kohn.

Seit ein paar Jahren wird wieder ein Bugholzsessel auf dem Markt angeboten, dessen Stylisten sich auf Loos berufen. Die Verdreifachung der Lehnenbogen hat aber mit dem Entwurf von Loos bestenfalls vom Kurvenschwung her etwas gemeinsam und erinnert formal eher an Gestaltungsmuster von Josef Hoffmann. Vor allem aber entbehrt er jener eleganten statisch-konstruktiven Lösung zur Aussteifung der heiklen Verbindung zwischen Zarge und Lehnenholmen. Es ließe sich daher nicht einmal auf Plagiat klagen.

Spectrum, Sa., 1998.01.24

03. Januar 1998Walter Zschokke
Spectrum

18 Spannen à 22 Zentimeter

Sie sind ein kulturhistorischer Schatz: die Zeichnungen des italienischen Barock- architekten Francesco Borromini. Die Graphische Sammlung Albertina hat diesen Schatz nun gehoben, sprich auf CD-ROM aufbereitet - eine Pionierleistung.

Sie sind ein kulturhistorischer Schatz: die Zeichnungen des italienischen Barock- architekten Francesco Borromini. Die Graphische Sammlung Albertina hat diesen Schatz nun gehoben, sprich auf CD-ROM aufbereitet - eine Pionierleistung.

Der Barockarchitekt Francesco Borromini zählt zu den wichtigsten Gestaltern seiner Zeit. 1599 in Bissone bei Lugano geboren, machte er eine Steinmetzlehre an der Mailänder Dombauhütte. Unter seinem Oheim Carlo Maderno (1556 bis 1629) arbeitete er in Rom an St. Peter, profilierte sich aber bald als plastisch-räumlich begabter Entwerfer und schuf einige der schönsten Werke der römischen Barockarchitektur. 1667, im Gefühl, verkannt und zurückgesetzt zu werden, beendete er sein Leben, indem er sich ins Schwert stürzte.

Doch was hat Borromini mit Wien zu tun? Ganz einfach: Der unmittelbar aus seinem Erbe stammende Nachlaß wird von der Graphischen Sammlung Albertina gehütet. Der preußische Antiquar und Sammler Philipp Baron von Stosch hatte ihn Anfang des 18. Jahrhunderts erworben. Zusammen mit einer umfangreichen Kollektion von Landkarten, Veduten, Fassadenaufnahmen und originalen Entwurfszeichnungen in 324 Klebebänden unter dem Namen „Atlas Stosch“ versammelt, gelangte er 1769 durch Kauf an die kaiserliche Hofbibliothek. Seit 1920 lagern die Architekturzeichnungen im Archiv der Albertina.

Die 628 Blätter mit über 700 Zeichnungen bilden zirka 85 Prozent des bekannten zeichnerischen Werkes von Francesco Borromini. Weitere erhaltene Bestände finden sich in der Bibliotheca Vaticana, der Berliner Kunstbibliothek und der Royal Library in Windsor. Aus der Barockzeit haben sich extrem wenige Architekten-Nachlässe erhalten: jene des Gian Lorenzo Bernini (1598 bis 1680) in Leipzig und des Filippo Juvarra (1678 bis 1736) in Turin sowie die Sammlung des Nicodemus Tessin (1615 bis 1681) in Stockholm. Die Borromini-Zeichnungen gehören daher zu den wertvollsten Teilen des Weltkulturerbes.

Eigentum verpflichtet. Dies gilt nicht zuletzt für die Hüter kunst- und kulturgeschichtlicher Werte. Es verpflichtet, nicht bloß aufzubewahren, sondern zur Forschung und zur Veröffentlichung. Der Leiter der Architektursammlung der Albertina, der architektur- und raumfühlige Wiener Kunsthistoriker Richard Bösel, hat daher in Zusammenarbeit mit der Bibliotheca Hertziana (Max-Planck-Institut) Rom und deren Leiter, C. L. Frommel, die umfangreiche Architektur eines internationalen Forschungsprojekts entwickelt.

Sämtliche bekannten Borromini-Zeichnungen wurden von der Kunsthistorikerin Elisabeth Sladek und Richard Bösel katalogisiert und in der Folge hochauflösend elektronisch erfaßt. Jetzt stehen sie auf CD-ROM den namhaftesten Spezialisten für Barockarchitektur in Wien, Rom, Berlin, New York, Saarbrücken, Tübingen, Zürich, Würzburg und München zur Verfügung. Ziel ist eine vernetzte Forschung im Hinblick auf die umfassenden Ausstellungen in Rom (1999) und Wien (2000) sowie eine kleinere in Lugano, die 400 Jahre nach Borrominis Geburt stattfinden sollen.

Ausgezeichnete Wiedergabequalität auf dem Bildschirm, Vergrößerungsmöglichkeit, Kontrastierung und Farbsteuerung erlauben eine dezentrale, eingehende, aber zugleich schonende Bearbeitung, für die bisher eine Reise nach Wien und ein längerer Forschungsaufenthalt erforderlich waren. Die Kooperation prominenter Wissenschaftler, die elektronische Vernetzung und die Strukturierung des gesamten Vorhabens sind in der Architekturgeschichte ein Novum. Das Pilotprojekt der Albertina mußte beispielsweise die Kriterien für eine elektronische Erfassung von Architekturzeichnungen erst entwickeln.

Bei der Arbeit an den Hunderten Zeichnungen gelang es Richard Bösel, Elemente wieder zusammenzubringen, die im Lauf der Geschichte getrennt worden waren. Da gab es die 1661 entstandene und bereits publizierte Schnittzeichnung in Bleistift, katalogisiert unter „Az. Rom 803“, für den Neubau der Sakristei zur Peterskirche in Rom. Die Forschung vermutete noch in den achtziger Jahren einen Zentralbau mit achteckigem Kuppelraum. An anderer Stelle des Nachlasses, katalogisiert mit den Nummern „Az. Rom 770 und 771“, fanden sich jedoch zwei Grundrisse, deren Verwandtschaft mit dem genannten Schnitt dem Wiener Forscher auffiel. Ihre Großform folgt einem Oval, und der zentrale Hauptraum ist rechteckig mit halbrunden Nischen in den Raumwinkeln.

Zwischen ovaler Außenhaut und dem überkuppelten Zentralraum hatte Borromini eine ringförmige Kette von vier ideal ausgebildeten Nebenräumen gelegt, elliptisch die Vestibüle, längsrechteckig die Nebensakristeien, mit gekrümmten Verbindungsgängen. Aus dem Schnitt geht hervor, daß die Niveaus von Zentralraum und Mantelräumen verschieden sind, was den Forschern einige Probleme aufgab. Zusammen mit Elisabeth Sladek erarbeitete Richard Bösel eine Rekonstruktion. Zuerst fiel auf, daß zusätzlich zu zwei gewendelten Stiegen eine weitere Treppe mit 26 Stufen in einem der zum Ring geschlossenen Gänge angeordnet ist, die bei einem angenehmen Steigungsverhältnis vier Meter zu überwinden vermag.

Da es sich bei den drei Darstellungen um Entwurfszeichnungen handelt, die sowohl eine Überlagerung mehrerer Geschoßebenen als auch in prozeßhafter Weise alternative Überlegungen dokumentieren - was damals durchaus üblich war - , sind sie zwar nicht eindeutig interpretierbar, aber sie ermöglichen den gedanklichen Nachvollzug des vermuteten entwerferischen Prozesses.

Eine eingehende Kenntnis des Gesamtwerks, zeitgenössischer Entwürfe und Bauten anderer Architekten sowie der bisher geleisteten Forschungsarbeiten ist dabei unabdingbar.

Die beiden Grundrisse geben unterschiedliche Entwicklungsstadien wieder. Folgen wir der Analyse Richard Bösels, die einem demnächst in italienischer Sprache erscheinenden Aufsatz entnommen ist: „Der Hauptraum (eigentlich die Gemeinschaftssakristei), dessen Stellung in den beiden Varianten unverändert bleibt, ist auf das Niveau von 18 Palmi (Spannen, zirka 22 Zentimeter) angehoben, was der Höhe des Fußbodens von St. Peter entspricht beziehungsweise jenem der Brücke, die direkt in die Basilika hinüberführt.“ Die beiden großen seitlichen Kapellen befinden sich auf Erdgeschoßniveau, reichen aber mit ihrer Wölbung über den Boden des Zentralraumes hinauf, sodaß von diesem durch zwei große Fenster je eine Blickverbindung nach unten besteht. Im darüberliegenden Geschoß sind beidseitig ähnlich große Sekundärsakristeien angeordnet, die ebenfalls durch ein Fenster, diesmal von oben her, mit dem Zentralraum verbunden sind. Auf diese Weise ist die Kommunikation unter den zahlreichen geistlichen Würdenträgern, die an einem Gottesdienst in St. Peter mitwirken, sowie deren Bereitstellung zur Prozession gewährleistet.

Aus anderen Quellen weiß man, daß Borromini mit seinem Entwurf in Konkurrenz stand zu einem Projekt von Francesco Maria Febei, dem obersten Zeremoniar von Papst Alexander VII. Die funktionellen Aspekte waren deshalb sehr wichtig. Andererseits entwickelte Borromini eine faszinierende Konfiguration von Räumen, die kaum Vergleiche kennt.

In einer Grundrißskizze versuchte er die komplizierten Vertikalbezüge von Zugängen, Vestibülen, Nebensakristeien und zentraler Hauptsakristei in Einklang zu bringen. Die knappe Quellenlage und die komprimierte Darstellung mehrerer Ebenen in einem Plan lassen vieles offen. Dennoch gelang Richard Bösel und Elisabeth Sladek eine plausible Rekonstruktion, die von J. Heger, einem CAD-Spezialisten, auf Computer umgesetzt wurde.

Nach einigen weiteren Arbeitsschritten ist es nun möglich, in Form einer filmischen Bildsequenz das Bauwerk am Monitor gleichsam zu durchschreiten. Ein Vorgang, der heute ganz selbstverständlich angewendet wird, im Falle eines alten, nicht realisierten Entwurfs jedoch sehr viel evaluierender Gedankenarbeit bedarf. Dem komplexen Gebäude des internationalen Forschungs- und Ausstellungskonzepts stellen die beiden Wiener Kunsthistoriker somit die nicht minder anspruchsvolle Rekonstruktion Projekt gebliebener Entwürfe zur Seite, sodaß Borrominis Werk, das über die knappe Handvoll realisierter Bauten bedeutend hinausreicht, angemessen ausgestellt werden kann.

Während Architekten bei Rekonstruktionen dazu neigen, gleichsam entwerferisch-kreativ über die Quellen hinauszugehen, sind Kunsthistoriker gehalten, auf dem Boden nachvollziehbarer Tatsachen zu bleiben. Vermutungen sind als solche auszuweisen, und immer wieder müssen Fragen wegen ungenügender Quellenlage offenbleiben. Daher ist es dem breiten Wissen und den kombinatorischen Fähigkeiten Richard Bösels und seinem Team zu verdanken, wenn der in der Albertina gut gehütete Schatz des Borromini-Nachlasses, aufs beste aufgearbeitet und aufbereitet, in zwei Jahren einer interessierten Fachwelt und der allgemeinen Öffentlichkeit präsentiert werden kann.

Spectrum, Sa., 1998.01.03

06. Dezember 1997Walter Zschokke
Spectrum

Die Schräglage der Neunziger

Zu Unrecht geschmäht: Das kürzlich abgesegnete Projekt für die Neugestaltung des Wiener Museumsquartiers ist keine zurechtgestutzte Variante des ursprünglichen Entwurfs, sondern ein neuer städtebaulicher Ansatz. Eine Revision.

Zu Unrecht geschmäht: Das kürzlich abgesegnete Projekt für die Neugestaltung des Wiener Museumsquartiers ist keine zurechtgestutzte Variante des ursprünglichen Entwurfs, sondern ein neuer städtebaulicher Ansatz. Eine Revision.

Abschied nehmen heißt es von der Vorstellung, das aktuelle Projekt für die Neugestaltung des Wiener Museumsquartiers sei eine redimensionierte, gebändigte Variante des vieldiskutierten, vielgeschmähten und zögerlich verteidigten Entwurfs, der vor drei Jahren die Gemüter erregte, weil da noch ein Turm zuviel aus dem Modell ragte.

Ein neuer städtebaulicher Ansatz aus den neunziger Jahren ersetzt jenen aus dem vorangegangenen Jahrzehnt. Während mit dem Vorgängerprojekt versucht wurde, über die Firstlinie des sogenannten Fischer-Trakts städtebauliche Zeichen Richtung Heldenplatz und Innenstadt zu senden, erzeugt der neue Ansatz in der Weite hinter dem Altbestand einen großen querliegenden Platz.

Dieser städtische Binnenraum wird von vier ungefähr gleichwertigen Baukörpern definiert: dem zentralen Palais des Marstallkommandanten, dem zum Kubus tendierenden Quader des Leopold-Museums und dem langgestreckten, sphärisch überdachten Quader des Museums Moderner Kunst. Diese vier wichtigsten Bauten sind entweder nur durch niedrige Nebentrakte oder gar nicht miteinander verbunden und erzeugen durch die kreuzweise Gegenüberstellung in der freien Mitte ein räumliches Spannungsfeld.

Die polare Disposition des Palais zur Reithalle wird von den konzentrierten Volumen von Leopold-Museum und Museum Moderner Kunst flankiert. Die beiden Neubauten sind aber gegenüber den Hauptachsen des Bestands um einige Winkelgrade verdreht. Der erste bezieht sich auf die städtebauliche Ordnung der ehemaligen Hofmuseen, der zweite nimmt die Richtung der Parzellenstruktur am Spittelberg auf, die von den hohen Feuermauern der Häuserzeile an der Breiten Gasse weitervermittelt wird.

Diese spezifische Schrägstellung läßt die beiden Quader im alten Gefüge scheinbar frei floaten, sodaß im Umfeld Außenräume differenzierten Zuschnitts entstehen. In der Querrichtung des fußballfeldgroßen Binnenplatzes bilden sie daher weniger einen seitlichen Abschluß als zwei Einschnürungen, welche die gesamte Freifläche zwischen Fürstenhof und Staatsratshof zonieren.

Hinter der Reithalle, die zur Veranstaltungshalle umgebaut wird, schließt parallel ein längsrechteckiger Neubau an: die Kunsthalle. Der hintere Bereich des Quartiers ist das genaue Gegenteil der weiträumigen Höfe und der Weite davor: Verwinkelte Gassenräume und kleine Höfe unregelmäßigen Zuschnitts lassen den Neubau nur auf kurze Distanz in Erscheinung treten. Es entsteht ein dichtes Gemenge mit zahlreichen Brüchen und Störungen, die für Wien ebenso typisch sind wie die Großräumigkeit der Ringstraße.

Das neue städtebauliche Konzept der konzentrierten Intervention bewahrt einerseits die vielbeschworene Identität der ehemaligen Hofstallungen, andererseits treten die Neubauten mit dem Bestand in ein gleichwertiges, durchaus spannungsreiches Verhältnis.

Wenn nun das Neue konzentriert wird und jeweils zwei bis drei Geschoße tief unter den Boden reicht, stellt sich die Frage, was vom Altbestand übrigbleibt. Es ist dies der lange Fronttrakt zur Stadt, dessen Ursprünge auf Fischer von Erlach zurückzuführen sind und der, obwohl im 19. Jahrhundert von Amtsarchitekten historistisch überformt, Fischer-Trakt genannt wird. An dem der Mariahilfer Straße zugewandten Teil ist es der größere Fürstenhof mit angrenzenden Bauten und an der Burggasse spiegelbildlich der Staatsratshof mit seiner Bausubstanz, die bewahrt werden. Die uminterpretierte Winterreithalle mit Kaiserloge und der dahinterliegende Halbrundbau und natürlich das Glacis-Beisl bleiben ebenso erhalten.

Das neue Leopold-Museum besteht aus vier windradförmig um einen Lichthof gefügten Teilkörpern. Eine äußere Hülle aus hellem Kalkstein, die aus gemauerten Blöcken ähnlich jenen von Bibliothek und Archiv in St. Pölten besteht, bestimmt die architektonische Erscheinung.

Das neue Museum Moderner Kunst wird von einer vertikalen Erschließungsschicht mit Aufzügen und Treppen in einen größeren vorderen und in einen hinteren Abschnitt geteilt. Auch dieser Bau erhält eine massive Natursteinverkleidung. Um das Monolithische zu betonen, wird bei beiden Gebäuden das Material über die Dachfläche gezogen. Die neue Kunsthalle erfährt eine ähnliche Materialisierung in Ziegelstein, sodaß sich in der Flugsicht auf das Quartier eine Art fünfte Fassade ergibt.

Über breite, sockelartige Stiegenrampen gelangt man zu den beiden Museen. Vor den Eingängen dehnen sich jeweils größere Terrassen, von denen weitere Treppenläufe zum Durchgang in den siebten Bezirk führen, der von beiden Aufgängen her hinter dem Halbrundbau zusammengefaßt wird. Diese Durchgänge erscheinen im derzeitigen Planungsstand noch etwas ungeschlacht, wie überhaupt das ganze Quartier erst in der baulichen Konkretisierung abschließend zu beurteilen ist.

Die zurückhaltendere und auch sparsamere Art weist diesen zweiten Entwurf als Produkt der neunziger Jahre aus, das sich von jenem frecheren aus der zweiten Wettbewerbsstufe mit insgesamt drei (!) Türmen klar unterscheidet. In der Reduktion war es eher schwächer geworden, und mit der gläsernen Hülle des Museums Moderner Kunst taten sich manche schwer.

Im aktuellen Projekt erweist es sich städtebaulich als richtig, die imperiale Achse des Kaiserforums nach dem Triumphbogenmotiv des zentralen Palais auf dem großen Querplatz ausklingen zu lassen und nicht in die alte Reithalle hinein weiterzuführen, die in Zukunft von der nördlichen Stirnseite her zugänglich sein wird.

Das Nutzungskonzept postuliert ein urbanes Nebeneinander von auf lange Dauer ausgelegten Institutionen, wie es die beiden Museen oder die Kunst- und die Veranstaltungshalle sind, mit rascher sich verändernden oder in Entwicklung befindlichen Instituten wie dem Kindermuseum, dem Architekturzentrum, dem Kunstdepot und vielen kleineren und kleinsten Elementen der Wiener Kulturlandschaft. In diese Mischung finden sich wie selbstverständlich eingelagert auch zahlreiche Wohnungen, einige Ateliers und zirka 2000 Quadratmeter Büroflächen.

Diese Kombination läßt auf ein urbanes Museumsquartier hoffen, nicht zuletzt deshalb, weil ein Teil dieser Nutzungen bereits heute das Leben im Museumsquartier bestimmt und Anlaufschwierigkeiten vorbeugt. Das Verhältnis wird sich zwar etwas verschieben, wenn die großen Brocken der zwei neuen Museen in Betrieb gehen, aber auch sie werden vom bunten Leben rundherum profitieren.

Man kann sich natürlich fragen, ob das eher unspektakuläre Projekt, wie es jetzt vorliegt, allen Ansprüchen auf internationale Repräsentation zu genügen vermag. Doch wird es sich als wichtiger herausstellen, wie das ganze Ensemble bespielt wird und wie es im Stadtleben verankert ist. Ich neige dazu, das zurückhaltende, als neu einzustufende zweite Projekt als besser zu bewerten als die reduzierte Endstufe des vorherigen, wo der Reithalle die etwas problematische Rolle eines Mehrfachfoyers zugekommen wäre; doch muß alles erst gebaut werden, bevor ein differenzierteres Urteil möglich wird.

Ein Aspekt, der nicht außer acht gelassen werden darf, ist die Erneuerung des sogenannten Fischer-Trakts. Während die Architekten sich in zwei Wettbewerbsstufen maßen und das erstprämierte Projekt mittlerweile neu konzipiert wurde, hat man von den 150 Kunsthistorikern wenig Substantielles gehört, die vor ein paar Jahren den Fischer-Trakt vom Rang her knapp unter der Karlskirche einstufen wollten. Niemand hat sich die Mühe gemacht nachzuforschen, wieviel an dem Trakt nach dem Artilleriebeschuß von 1809 noch von Fischer stammt. Damals verschwanden die Dachaufsätze auf den Außenrisaliten, die 1986 von Hermann Czech als wesentlich reklamiert wurden. Es war aber auch die von Fischer differenzierte Dachlandschaft durch eine amalgamierte Form ersetzt worden.

Diese städtebaulich und architektonisch wichtigen Komponenten, die dem Fronttrakt erst wieder zum Präfix „Fischer“ verhelfen könnten, würden diesem gegenüber den je zwei benachbarten Museumsbauten jenes städtebauliche Gewicht geben, das für den langen, mehrheitlich niedrigen Baukörper mit einer Fassadenrenovation nicht zu erreichen ist.

Wenn es möglich ist, dem Mittelrisalit der Gloriette unter Mißachtung der architektonischen Klarheit Fenster einzusetzen, weil es sie einmal gegeben hat, dann muß es doch möglich sein, den Fronttrakt des Museumsquartiers wieder mit jenen wesentlichen Elementen zu versehen, die es einmal gegeben hat und die ihm zu jener architektonisch-städtebaulichen Klarheit verhelfen, unter der er den Namen Fischer-Trakt auch verdient. Daß diese Aufgabe nicht mit denkmalpflegerischer Technologie, sondern mit dem kreativen Einfühlungsvermögen eines Architekten zu bearbeiten ist, steht auf einem anderen Blatt.

Spectrum, Sa., 1997.12.06



verknüpfte Bauwerke
MuseumsQuartier Wien - MQ

08. November 1997Walter Zschokke
Spectrum

Über den kleinen Unterschied

„Frauen-Werk-Stadt“ lautete der Titel eines vom städtischen Frauenbüro initiierten Projekts in Wien Floridsdorf. Zu Recht: Vier Architektinnen entwarfen eine Wohnanlage, die auch auf die Bedürfnisse berufstätiger Mütter eingeht.

„Frauen-Werk-Stadt“ lautete der Titel eines vom städtischen Frauenbüro initiierten Projekts in Wien Floridsdorf. Zu Recht: Vier Architektinnen entwarfen eine Wohnanlage, die auch auf die Bedürfnisse berufstätiger Mütter eingeht.

Die Spange Schloßhofer – Donaufelder Straße verbindet den Platz am Floridsdorfer Spitz mit dem alten Dorfkern von Kagran. Bis vor kurzem führte sie mehrheitlich durch von Gärtnereien genutzte Felder; nur unmittelbar entlang der Straße, in deren Mitte die Trasse der Straßenbahn Nummer 26 verläuft, entstand eine niedrige Begleitbebauung. Doch in naher Zukunft soll diese Achse urbanisiert werden. Zahlreiche Wohnanlagen hoher Dichte sind südlich und nördlich dieser tangentialen Verbindungsstraße geplant oder in Ausführung begriffen.

Als eine der ersten Planungen in dieser Gegend ist nun die unter dem Arbeitstitel „Frauen-Werk-Stadt“ von den Architektinnen Franziska Ullmann, Lieselotte Peretti, Gisela Podreka und Elsa Prochazka entworfene, 360 Wohnungen große Anlage fertig geworden. Der sechsgeschoßige Straßentrakt steigt denn auch noch etwas isoliert aus der niedrigen Umgebung heraus, doch in den kommenden Jahren soll sich das Bild ändern und beidseitig eine städtische Bebauung anschließen.

Der Anlage liegt ein Programm des Frauenbüros im Magistrat der Stadt Wien zugrunde. Aus einem Wettbewerbsverfahren, zu dem acht Architektinnen eingeladen wurden, resultierte ein städtebauliches Konzept von Franziska Ullmann, der Wettbewerbsgewinnerin. Als Vertreterin einer stark differenzierenden Auffassung gestaltete sie verschiedenartige Außenräume, die nicht bloß Räume zwischen hohen Wohnhäusern sind: Hinter demStraßentrakt liegt ein hofartiger Platz, der über eine langgezogene Verengung mit einer angerartigen Ausweitung im hinteren Grundstücksbereich in Verbindung steht. Durch einen kräftigen, rückgratartigen Baukörper davon abgesetzt, liegen zwei privatere Höfe, die über Durchgänge zugänglich sind.

Die Definition dieser verschieden öffentlichen Außen-lautete räume besteht aus vier je von einer Architektin bearbeiteten Bauteilen. Die architektonische Konkretisierung durch Franziska Ullmann erfaßt den betont urbanen Straßentrakt, der an der Ostecke, entlang dem Car-Floridsdorf. minweg um die Ecke gezogen ist, sowie einen kurzen Abschnitt der seitlich nach hinten anschließenden Kette von Einzeltrakten, die eine flache S-Kurve bilden.

Den langen Abschnitt entwarf Elsa Prochazka, die auch die Gestaltung der flügelartig wegstehenden, über einer kleinen Senke aufgestelzten Kindertagesstätte bestimmte. Der lange, gerade nach hinten zielende Baukörper in der Grundstücksmitte wurde von Gisela Podreka entworfen; sie betreute auch den niedrigeren Anschlußbaukörper, der parallel zu der schräg verlaufenden hinteren Grundstücksgrenze verschwenkt ist und in einer offenen, auf einem Sockelbauwerk aufsitzenden Kinderspielhalle ausklingt.

Lieselotte Peretti nahm sich architektonisch der Randbebauung für die beiden Höfe an, beginnend mit dem rückwärtigen Abschluß des vorderen Platzes. Die östliche Blockrandbebauung folgt beim hinteren Hof ebenfalls der nach Nordwesten abdrehenden Grundstücksgrenze. Auch hier läuft der Endtrakt in einer gedeckten Spielhalle aus. Mit der doppelten Figur niedrigerer Abschlußbauten wird zu den anschließenden einund zweigeschoßigen Häusern initiier-einer Kleingartensiedlung ein Übergang hergestellt. Die hinter Wien-dem städtebaulichen Konzept stehende Haltung erweist sich als betont kontextuell. Es wurden Bezüge gesucht und Nachbarschaften ernst genommen.

Nicht ganz glücklich erfolgte in dieser Hinsicht die Aufteilung auf die beiden Bauträger: die Gemeinde Wien für die Bauteile Ullmann und Peretti und die Wohnbauvereinigung der Privatangestellten für die Bauteile Podreka und Prochazka. So gibt es beim Übergang vom vorderen Platz zum nach hinten führenden Anger je eine wenig einsichtige Unstetigkeit zwischen den Bauteilen Peretti und Podreka, und mitten durch einen Trakt in der westlichen Baukörperkette verläuft ein Schnitt zwischen den Bauteilen Ullmann und Prochazka.

Diese zwei Brüche wirken in dem nach Ausgewogenheit strebenden städtebaulichen Konzept eher befremdlich, sie scheinen aber in einer gleichwertigen Aufteilung der durch die Architektinnen zu bearbeitenden Volumen begründet.

In der architektonischen Umsetzung zeigt sich dann der Fächer verschiedener Architektinnenhandschriften, was insgesamt zu einem abwechslungsreichen Ambiente geführt hat. Franziska Ullmann komponierte den Baukörper vorn an der Donaufelder Straße aus mehreren Funktionsgruppen: Das Erdgeschoß nehmen Geschäfte ein; links von der Hofeinfahrt ist eine Polizeistation über zwei Geschoße angeordnet; im Mittelbereich der aufsteigenden Geschoße sitzt ein doppeltes Paket Maisonnetten-Wohnungen, die von rückseitigen Laubengängen im ersten und im vierten Obergeschoß erschlossen werden. Zu beiden Seiten folgen Geschoßwohnungen.

Der Problematik, daß die Südseite zugleich auf die laute Straße blickt, wird im untersten Wohngeschoß mit einer vorgelagerten Loggia begegnet. Die heterogene Struktur wird von den beiden rot verputzten Endteilen zusammengehalten.

Um eine soziale Kontrolle der nahen Außenräume zu ermöglichen, wurden nach beiden Seiten Küchen orientiert; großzügige Erschließungsbereiche bei den Stiegenhäusern schaffen Begegnungszonen, die für gemeinsame Aktivitäten der Bewohnerinnen und Bewohner temporär nutzbar gemacht werden können. – Bei der Hofbebauung von Lieselotte Peretti mischen sich postmoderne Relikte, wie der turmartige Baukörper an der Ecke zum vorderen Platz, mit neomodernen, wie den Glasbausteinloggien an der Ostfassade. Die Grundrisse sind eher konventionell, wobei sich bei den Anschlüssen der Quertrakte Probleme mit der Einsicht von Zimmern zu Balkonen und umgekehrt ergeben.

Gisela Podreka hat vor ihren langen geraden Wohnhaustrakt eine Schicht aus Laubengängen und Loggien gestellt. Das schlanke Skelett aus Stahlbetonelementen dient als Rankgerüst und wird in ein paar Jahren bewachsen sein. Die Zeile der Maisonnetten im Sockelbereich weist ostseitig kleine Gartenterrassen auf. Die Geschoßwohnungen in den darüberliegenden Stockwerken sind über helle, weiträumige Stiegenhäuser erschlossen und verfügen nach beiden Seiten über Balkone oder Loggien.

Die Architektursprache ist hier trockener: Weiße Mauern und verzinktes Metall erzeugen eine lichte und luftige Stimmung. Die Grundrisse können loftartig offen oder in Zimmer aufgeteilt organisiert werden, da das Tragsystem in Scheiben und Stützen aufgelöst ist. Elsa Prochazka versah den polygonalen Zug aus gleichen Trakten mit stirnseitig gerundeten Dachaufsätzen, die den Kurvenschwung in die vertikale Dimension uminterpretieren.

Die Dachaufbauten enthalten die Waschküchen; die Wäsche läßt sich bei gutem Wetter im Freien trocknen. Bei Nichtgebrauch sind Kinderspiel und gemeinsame Aktivitäten der Hausbewohnerinnen und -bewohner möglich. Die Grundrisse sind ausgeklügelt und lassen in ausgewogener Form verschiedene Nutzungsvarianten zu. In die knappen Lücken zwischen den Trakten stoßen kleine Erker vor. Sie enthalten jeweils die Küchen, von denen nach beiden Seiten ein Ausblick möglich ist.

Der Kindergarten mit drei Gruppen im aufgestelzten Pavillon beansprucht mit seinen übrigen Räumen das Erdgeschoß des angrenzenden Wohntrakts, wo ein Mehrzweckraum am Abend und an Wochenenden auch von den Mietern der Wohnanlage genutzt werden kann. Der klassischen Putzfassade sind an der Westseite zahlreiche Erker vorgehängt, deren unregelmäßige Anordnung ein plastisch bewegtes Bild ergibt.

Die gesamte Anlage mußte unter den ökonomisch beschränkten Bedingungen des geförderten Wohnbaus errichtet werden. Dies ließ keine Extravaganzen zu. Aber auch wenn es sich in dieser Hinsicht um normalen Wohnbau handelt, wurden zahlreiche Verbesserungen in den Wohnungen und im Wohnumfeld angestrebt und Bereiche geschaffen, die für gemeinsame Aktivitäten genutzt werden können. Daß eine Bewohnerinitiative mit Vereinscharakter nötig sein wird, um die gemeinschaftlichen Möglichkeiten wahrnehmen zu kön-tiger nen und zu verhindern, daß sie an kleinlichen Details scheitern, war den Initiatorinnen von Anfang an klar.

Das Einplanen und Durchsetzen derartiger unspezifischer Räume stößt aber immer wieder auf Skepsis seitens der Bauträger. Sie lassen sich nur bei Mehrfachnutzungen und geringen Kosten überzeugen.

Positive Effekte, die von derartigen Räumen und von gemeinschaftlichen Initiativen ausgehen und auf die Bewohnergemeinschaft wirken, sind von anderen, seit Jahrzehnten bewohnten Anlagen bekannt. Die Herausbildung eines gesellschaftlichen Organismus, eines auf den Wohnhof bezogenen Gemeinschaftsgeists bedarf jedoch einiger Jahre.

Wenn die Bäume auf demvon Johanna Kandl gestalteten Anger etwas höher gewachsen sind und die von Maria Auböck geplanten Grünbereiche in Blüte stehen, werden auch die vielen auf die Bedürfnisse berufstätiger Mütter und auf sich verändernde Familienstrukturen zugeschnittenen baulichen Maßnahmen durchgeschlagen haben. Denn die vielen kleinen Verbesserungen schaffen jene Differenz zu den oft kritisierten Großwohnanlagen, die ein positives Gesamtklima aufkommen läßt. So weit reicht der Zeichenstift der Architektinnen allerdings nicht – nun ist es an den Bewohnerinnen und Bewohnern.

Spectrum, Sa., 1997.11.08



verknüpfte Bauwerke
Frauen-Werk-Stadt

01. November 1997Walter Zschokke
Spectrum

Die Frontscheibe als Leinwand

Die Pfeiler einer Straßengalerie zerschneiden die Aussicht in Einzelbilder, in einer Haarnadelkurve schwenkt das Panorama um 180 Grad. Von der Steuerung des Blicks auf einer Alpenstraße - eine mobile Erfahrung.

Die Pfeiler einer Straßengalerie zerschneiden die Aussicht in Einzelbilder, in einer Haarnadelkurve schwenkt das Panorama um 180 Grad. Von der Steuerung des Blicks auf einer Alpenstraße - eine mobile Erfahrung.

Die Alpen waren oft Gegenstand von Projektionen, ob sie nun der angeblichen Wildheit ihrer Bewohner, der Schroffheit der Flühe und Gipfel galten oder der jahreszeitunabhängigen Bedrohung durch das wechselhafte Wetter und unberechenbare Lawinen.

Die Unterländer wahrten jedenfalls bis vor wenigen Jahrzehnten einen gewissen Respekt, der prompt umschlug in Kampfstimmung, wenn es darum ging, einen Paß zu begehen, einen Gipfel zu ersteigen, eine Wand zu durchklettern, eine Brücke über eine Schlucht zu schlagen, einen Tunnel zu bohren oder Seilbahnen in die Schneeregionen zu legen.

Dabei bildete sich ein kämpferisches Vokabular heraus, das erst in neueren Alpenführern modifiziert wird. Für die einheimischen Kristallsucher, für die Gamsjäger und Wildheuer war dagegen das Besteigen der Felsbänder hoch über den Tälern normaler Alltag.

Mit zunehmender verkehrsmäßiger Erschließung traten die Schrecknisse zurück. Die zusätzlichen, temporär besitzergreifenden Bewohner aus dem Flachland neigten aber dazu, ihre neugewonnene Beziehung zum Gebirge ideologisch zu überhöhen, was sich in der Malerei, im Liedgut und auch in der Baukunst äußerte. Eine Vermischung mit der Blut-und-Boden-Ideologie der dreißiger und vierziger Jahre machte vieles davon für nachfolgende Generationen ungenießbar, es sei denn, man behalf sich mit Ironie. Es fehlte damit aber eine positive Zugangsmöglichkeit.

Wenn in diesem Jahr durch Ausstellungen in den Kunsthallen Krems und Wien sowie etwas später in St. Pölten in kooperativer Form von Fachleuten aus den Alpenrepubliken Österreich und der Schweiz über die Kunst ein aktualisierter Zugang zum Phänomen „Alpen“ gesucht wird, entspricht dies daher dem natürlichen Prozeß, in dem jede Generation sich ihr Bild der Welt neu definieren muß.

Nun gibt es auch heute einen praxisbetonten Zugang zum Alpenraum, jenen der Bauingenieure. Die der Erschließung mit dem Automobil dienenden Infrastrukturanlagen wurden seit den dreißiger Jahren ständig ausgebaut. Spätestens ab den fünfziger Jahren fielen sie aber aus dem Raster baukünstlerischer Betrachtungen heraus. Zwar galten die Glocknerstraße in Österreich sowie die Sustenstraße in der Schweiz als bewußt zur Landschaft in Beziehung gesetzte Alpenstraßenbauwerke. Ihre gestalterische Bedeutung rückte mit den Jahren in den Hintergrund, und viele verkehrstechnisch erforderliche Veränderungen relativierten die ursprüngliche Wirkung.

Inzwischen wurden aber zahlreiche weitere Straßen im Alpenraum errichtet, die nicht nach schönheitlichen, sondern nach technischen, scheinbar objektiven Regeln der Straßenbaufachmänner geplant waren. Sichtbeton hatte die in aufwendiger Handarbeit erstellten Natursteinmauern abgelöst. Das Straßenband, vor 60 Jahren nur geschottert und gewalzt, wird heute glatt asphaltiert und mit weißen Linien markiert. Aber die von Bauökonomie und Geologie vorgegebene Linienführung und die von Erhaltungs- und Sicherheitsaspekten bestimmte bauliche Ausführung gewinnen als Interpretation der Topographie durch die rational nachvollziehbaren Gesetze der Ingenieurwissenschaft eine eigene Qualität.

Die Topographie im Gebirge sprengt gewohnte Größenordnungen. Die von den Seitenwänden der Täler definierten Großräume weisen im Verhältnis zu von Menschen errichteten, selbst sehr großen Gebäuden riesige Dimensionen auf. Ihre Proportionen wechseln von eng zu weit, von der Schlucht zum Talkessel und zu erhabener Weiträumigkeit auf Paßhöhen. Mit den Kunstbauten der Ingenieure werden diese Aspekte verstärkt: In einem Tunnel verdichtet sich der Raum, um sich nach der Ausfahrt wieder zur vollen Weite eines Gebirgstals zu entfalten.

Bei der Fahrt entlang einer Berglehne ergeben sich Vorausblicke und Rückblicke, die eine Ortung im Raum unterstützen; in einer Haarnadelkurve dagegen ändert sich das Panorama mit raschem Schwung um 180 Grad; aber auch sonst kann die Szenerie unvermittelt wechseln: Nach einem Engnis weitet sich das Tal, und der Blick vermag weit vorauszugreifen; eine Brücke kündigt sich mit ihrer Seitenansicht an; das Portal eines kurzen Tunnels rahmt den Ausblick bei der Durchfahrt einer Felsrippe. Meist ist ein Rückblick auch ein Tiefblick, der einen Überblick auf die eben befahrene Strecke erlaubt.

Obwohl das Straßenband stetig weiterführt, liegt dieser Kontinuität ein reichhaltiges Instrumentarium des Bauingenieurs zugrunde: Brücke, Tunnel, Schutzgalerie, Lehnenviadukt, Wendeplatte, Stützmauer in verschiedenen Höhen und Ausformungen. Diese Elemente bilden zur Fahrspur eine Begleitung. Sie ist typologisch nach Kategorien strukturiert, doch in der konkreten Anwendung sind die Elemente situationsbezogen modifiziert, sodaß nur selten ein wirklich gleicher Ausdruck entsteht.

Beim Befahren mit einem berggängigen Automobil entsteht daher für den Fahrer und Beifahrer ein kinetisches Raumkunstwerk, das, vom Ausschnitt der Frontscheibe gerahmt, in eine Folge von Bildern und Bildsequenzen gegliedert ist. Insbesondere nach mehrfachem Befahren kristallisieren sich zeichenhafte „Bilder“ heraus, die der gesamten Strecke ihre Akzente aufsetzen. Diese auf einen zeitlichen Ablauf bezogene Folge von Bildern ist bereits in den dreißiger Jahren mit dem filmischen Sehen verglichen worden. Doch die dynamischen Wechsel von kurzer Blickdistanz und Vollpanorama schaffen eine andere Dramaturgie als bei einer Fahrt in der Ebene, wo sich die Totale nur unmerklich verändert.

Ein visuell sensibler Mensch wie die Photographin Margherita Spiluttini, aus deren Archiv unsere Abbildung stammt, vermag diesen Bildfolgen einiges abzugewinnen. Im Zuge ihrer photographischen Dokumentation zahlreicher Bauwerke in Vorarlberg, Tirol, Salzburg, der Steiermark und Kärnten haben sich beim oftmaligen Befahren derselben Strecken Bilder in die Erinnerung eingeschrieben, die umso fester haften, als sie zuerst nur beiläufig wahrgenommen werden, gilt doch beim Steuern die Hauptaufmerksamkeit der Straße und dem Verkehr. Doch nach mehrmaligem Durchfahren verfestigen sich die Eindrücke; die Strecke gliedert sich in Abschnitte und „Figuren“, deren Abfolge erinnerbar wird; zeichenhaft überhöhte Situationen und die bekannten Bilder.

Die ausgewählte Photographie zeigt eine Straßengalerie bei Fontanella im Vorarlbergischen. Rechts wölbt sich die Betonschale hoch und beschirmt die Fahrbahn; links wird der Blick durch die geneigten Stahlbetonstützen in Einzelbilder zerschnitten, die sich zum Panorama fügen. In der Schrägsicht nach vorn verdecken die Stützen den Ausblick, sodaß die Bilder beim Fahren fast verzögert am linken Rand des Blickfelds auftauchen. Die Linienführung der langgezogenen Doppelkurve ist auch in der perspektivischen Verkürzung von perfekter Stetigkeit. Dies wird durch Übergangskurven erreicht, die von einem Kreisbogen zum nächsten überleiten. Eine derartige Streckenführung erlaubt ein gleichmäßiges Fahren ohne abrupte Steuerbewegungen.

Das Bild der Doppelkurve, die jeweils zur konvexen Seite leicht überhöht ist, verspricht ein harmonisches Kurvenerlebnis, das durch die Dynamik des Fahrens auch mit dem Körper und dem Gleichgewichtssinn erspürt werden kann. Die begleitenden Randsteine zu beiden Seiten haben sanft führende Wirkung. Ihre auf das Notwendige reduzierte Ausformung genügt in dem minimalistischen Ambiente, um als starkes Zeichen zu wirken. Ebenso entspricht das schmale Band der Leuchten an der Decke der Mittellinie, die auch bei Dämmerung und Dunkelheit den Verlauf des Straßenbandes weit voraus anzeigt.

Die Straßenbaukunst im Alpenraum hat seit den dreißiger Jahren technisch ein hohes Niveau erreicht. Die Stetigkeit der Linienführung in allen drei Dimensionen wird planerisch perfekt beherrscht, und auch die bauliche Umsetzung läßt nur wenige Wünsche offen. Einen Sichtbeton in dieser Qualität erhält man bei architektonisch anspruchsvollen Hochbauten eher selten. Als reine Zweckbauten sind sie meist frei von peinlicher Behübschung. Ihre Ästhetik realisiert sich während des Befahrens, wobei das suggestive Moment des kontinuierlichen Straßenbandes und die Beanspruchung durch die Verantwortung des Fahrens jene Beiläufigkeit der Wahrnehmung erzeugen, die zugleich Unvoreingenommenheit garantiert.

Ein fremder Blick auf eine bekannte Sache, denn alle haben Straßen im Alpenraum schon irgendwo gesehen; vielleicht ist es auch eine Art Kinderblick, der sich von der Vormundschaft des Erwachsenenhirns zu befreien vermag, weil dieses, von der Tätigkeit des Fahrens beansprucht, eigentlich abgelenkt ist.

So weist der Alpenraum von Ljubljana bis Grenoble zahlreiche Straßen auf, die über spezifische Eigenheiten und Qualitäten verfügen, sodaß sie als räumlich-dynamisches Erlebnis individuell erinnerbar sind.

Sie bilden gleichsam Indikatoren für die Topographie, da sie, in komplexer Abhängigkeit von dieser, nach mathematischen Regeln konstruiert sind. Beim Befahren erschließt sich das Werk in seiner sinnlichen Komplexität von Bewegung und Bildeindrücken, die sich zu einem durchaus künstlerischen Gesamteindruck verdichten. Sie sind Kunstwerke und bilden, im doppelten Sinn, ein Medium, die Gebirgswelt zu erfahren.

Spectrum, Sa., 1997.11.01

13. September 1997Walter Zschokke
Spectrum

Die Utopie der Normalität

Die Landesbibliothek von Karin Bily und Paul Katzberger und das Landesarchiv von Michael Loudon: Von außen wirken die zwei jüngsten Bauten des St. Pöltener Kulturbezirks wie aus einem Guß, ihre Innenleben bilden indes eine spannende Polarität.

Die Landesbibliothek von Karin Bily und Paul Katzberger und das Landesarchiv von Michael Loudon: Von außen wirken die zwei jüngsten Bauten des St. Pöltener Kulturbezirks wie aus einem Guß, ihre Innenleben bilden indes eine spannende Polarität.

Wenn es um zeitgenössische Architektur geht, kommt einem Zitat von Otto Kapfinger Schlüsselfunktion zu: „Radikalität - wie sie im zumeist sehr leichtfertig kolportierten Geniebegriff vom Architekten aufblitzt - Radikalität kann sich heute eher im Versuch beweisen, eine Utopie der Normalität zu realisieren. Denn es geht dort darum, in aller Freiheit und in neuem, von keinem Anachronismusverdacht getrübtem Umgang mit der baukünstlerischen Tradition dieses Jahrhunderts so unpathetisch wie möglich den Gebrauch der Baukunst als Bündel verschiedenster Gültigkeiten zu thematisieren.“

Diese Sätze spannen das Feld auf, aus dem Landesbibliothek und Landesarchiv architektonisch hervorgegangen sind. Die Architekten Karin Bily, Paul Katzberger und Michael Loudon, seit einigen Jahren in Büropartnerschaft tätig, hatten sich über die städtebauliche Konfiguration geeinigt, nachdem sie im geladenen Wettbewerb für den St. Pöltener Kulturbezirk neben Hans Hollein und Klaus Kada für die Realisierung eines Teilbereichs ausgewählt worden waren.

Der Baugrund für Bibliothek und Landesarchiv liegt in jenem Bereich des neuen Stadtquartiers, wo die flußparallele Struktur der Verwaltungsstadt von der Querachse des Kulturbezirks aufgebrochen wird und in der Raumfolge Landhaus- und Landtagsplatz sowie bedeutungsmäßig mit Landhaus und Landtagsgebäude kulminiert. Als fernwirksames Signal reckt sich als südlicher Platzabschluß der Klangturm von Ernst Hoffmann gen Himmel.

Das städtebauliche Konzept ist einfach: Eng aneinandergerückt - dazwischen bleiben nur schmale Gassen - , sind drei quadrische Volumen U-förmig auf einen Hof bezogen, den 20 zu einem Hain formierte Ahornbäume luftig beschirmen. Das größte der drei Volumen enthält die Bibliothek. Sie definiert die exponierte Nordflanke und trennt den leicht ansteigenden Schubertplatz vom Landhausplatz. In jenem Körper, der die Basis des „U“ bildet, befindet sich der Archiv- und Bearbeitungstrakt. Der dritte und kleinste Quader dient als Publikumstrakt des Archivs. Dahinter schließt der südwestliche Abschnitt des Verwaltungsbezirks an.

Nach außen bilden die drei Körper eine Einheit. Die Verkleidung mit weißem Kalkstein in lagerhafter Struktur deutet zwar einen subtilen Unterschied an, aber dem Vorübergehenden erscheinen die drei Baukörper als Ensemble aus einem Guß. Das gilt aber nur von außen. Während Michael Loudon, unterstützt von seinem Mitarbeiter Josef Habeler, für das Archiv eine fast klassisch anzusprechende in Schichten organisierte innere Ordnung konzipiert hat, entwickelten Karin Bily und Paul Katzberger für die Bibliothek einen gegenklassischen Diskurs mit Durchdringungen und Überlagerungen, die eine präzis vorgegebene Konstruktionsstruktur in den Hintergrund treten lassen.

Das Archiv weist zum Landhausplatz hin einen von starken Mauern geschützten Depotteil auf. Auf vier Geschoßen inklusive Keller stehen hier dicht an dicht Regale mit alten, in Rinds- und Schweinsleder gebundenen Büchern. Andere Archivalien lagern in Schachteln, einige wenige in Faszikeln. Im fünften, obersten Geschoß blickt eine Zeile von Büros nach Osten auf den Landhausplatz, hinter dem dazugehörigen Gang sind wieder Gestelle zu einer Handbibliothek gereiht. Zwischen dem Depotteil und den hinter der Metall-Glas-Fassade bereits von außen erkennbaren, nach Westen, zum Ahornhof, orientierten Büros ist eine vertikale, durch das gesamte Volumen durchgehende Raumschicht eingeschoben. Eine Kaskadentreppe zieht sich darin diagonal von unten bis zum obersten Geschoß, während zwei verglaste Lifte die Vertikale und den Angelpunkt des Gebäudewinkels markieren. Die Erschließung der Büros erfolgt über Laubengänge, von denen kurze Stege über die Treppenabsätze zum Depot hinüberführen.

Ob man nun von unten nach oben blickt, wo das Licht durch regelmäßig plazierte Dachaufsätze, die nach Norden verglast sind, in den schmalen langen Schacht eindringt und, nach unten abnehmend, gleichsam versickert; ob man mit dem gläsernen Lift im Schnellgang mit wechselnder Perspektive hinauf zum Licht gelangt; oder ob man auf den schmalen Stegen hinüber ins Depot wechselt - immer ist mit der Bewegung im Raum zugleich eine intensive Raumerfahrung verbunden.

Der Publikumstrakt ist in jedem Geschoß mit einer geraden Treppe, einem verglasten Foyer und einem Steg relativ locker an den Depottrakt angekoppelt, sodaß sich gerade noch ein schmales Stiegengäßchen dazwischen hindurchzuzwängen vermag. Man betritt ihn durch eine Drehtür vom Ahornhain her. Ein breit organisiertes Foyer leitet linker Hand zu einer Stiege, die ins Obergeschoß zur Anmeldung weist.

Dieser foyerartige Teil greift in den anderen Baukörper hinüber, er bildet zugleich das funktionale Gelenk zum hohen, langgezogenen Lesesaal, in dem ein langer Tisch den Raum beherrscht. Vier Arbeitskabinen stoßen erkerartig durch die Südmauer. Ihre Glasfensterwand kann mit hölzernen Schiebelamellen verschattet werden. Zwei hohe Lichtbänder ziehen sich unter der Decke den Längsseiten entlang. Zum Hinausschauen dient ein niedriger horizontaler Schlitz in Augenhöhe der Sitzenden. Auch dieser läßt sich abblenden. Der Lesesaal gibt sich introvertiert, fast meditativ in seiner Raumwirkung. Das Konzept des einen großen Tisches symbolisiert das abstrakte Gebäude gemeinsamen Forschens, gebildet aus der Summe individueller Ansätze.

Ueber dem Lesesaal liegt ein Dachgarten mit Pausencafé für die Mitarbeiter. Der von hohen Mauern begrenzte, kontemplative Raum ist oben offen. Er betont, wie das gesamte Gebäude, die intellektuellen Vorgänge des Archivierens und konzentrierten Forschens. Denn Archivarbeit ist letztendlich Meditation auf Vergangenheit. Einige wenige Ausblicke sind bewußt gewählt, sie dienen aber nicht der Belichtung, dafür sind die hohen Oberlichte da. Die Archivbeamten verfügen über normale Büros mit Fenstern.

Die Bibliothek ist komplexer organisiert: im Sockelgeschoß Depoträumlichkeiten, im Erdgeschoß Verwaltung, Katalogisierung, Buchrestaurierung und ein Lesesaal für Kinder, dem eine eingezogene Terrasse mit Blick aufs Festspielhaus vorgelagert ist. Im Obergeschoß nimmt der Lesesaal den Kernbereich ein; westlich schließen Bücherdepots auf mehreren Geschoßen an, in die ein Vortragssaal inkorporiert wurde; östlich sind es zwei kleinere Säle quadratischen Zuschnitts für graphische Archive und Bearbeitungstische. Ein Archiv aller in Niederösterreich erscheinenden Zeitschriften liegt an der Südseite. Nach Norden öffnet sich ein nahezu städtebaulich breites Fenster auf den Park zwischen Regierungsviertel und altem Stadtrand und holt den Außenraum energisch herein.

Strukturell wird das Gebäude ebenfalls durch einen vertikalen Schnitt geteilt. Zwischen einsehbarem Bücherspeicher und Lesesaal führt ein schmaler, von oben belichteter Schlitz durch das Haus. Logischerweise sind hier ebenfalls die Lifte plaziert. Der Eingang, wieder vom Ahornhain her in Form einer Drehtür, liegt exakt an dieser Schnittstelle. Und hier entwickelt sich nun ein Prinzip, das von Karin Bily und Paul Katzberger schon da und dort angewendet wurde: jenes der haarscharf nebeneinander versetzten Achsen. Unmittelbar nach der Drehtür bieten sich die Alternativen der zum Lesesaal hinaufführenden Treppe oder des ebenen Weges zum Lift an. Eine geschwungene Wand in Rot weitet sich zum kleinen Foyer, und eine knappe Sitzbank lädt zum Blick nach oben ein, der erst von der Untersicht des Daches gebremst wird.

Der dreimal 2,30 Meter hohe Lesesaal ist auf der exakten Basis von vier mal vier Quadraten entwickelt, der sich aber die funktionale Ordnung nicht beugt. Die extrem schlanken Stahlbetonstützen mit ihren scharf getrennten Licht- und Schattenseiten werden zu konkreten Skulpturen in einem Raum, in dessen unterem Drittel Eichenholz und in dessen oberen zwei Dritteln fein gelochtes, matt glänzendes Blech vorherrscht. Der hohe Raum ist damit akustisch gedämpft: ein ruhiger Arbeitsraum. Ein Deckendurchbruch holt Zenitallicht in den Saal, das über Kopf umgelenkt und von den Blechwänden reflektiert wird, woraus gleichmäßige Lichtverhältnisse resultieren. Auch hier Arbeitstische, ein paar kleine und ein großer, sowie acht Kabinen zum ungestörten Arbeiten.

Die Klarheit der konstruktiven Struktur wird bewußt in mehrdeutiger Weise verschleiert, da und dort taucht Unerwartetes auf, doch werden Sensationalismen vermieden. Die Raumstimmung gewinnt den Charakter eines Akkords.

Die Verschiedenheit der Haltungen, wie sie aus den beiden Bauwerken sprechen, hat die Architekten aber nicht gehindert, sich städtebaulich an die eingangs gefaßte Ordnung zu halten. Diese Unaufgeregtheit und Selbstverständlichkeit läßt die Gebäudegruppe nach außen die Funktion eines ruhigen Pols übernehmen. Eine Aufgabe, die mit dem Charakter ihrer Nutzung übereinstimmt.

Spectrum, Sa., 1997.09.13



verknüpfte Bauwerke
NÖ Landesbibliothek und NÖ Landesarchiv

23. August 1997Walter Zschokke
Spectrum

Zwei ungleiche Schwestern

Zwei Reihenhausanlagen, ein Architekt: kein Vergleich! Was passiert, wenn die Behörde in ein durchdachtes architektonisches Konzept eingreift: Überlegungen zum verdichteten Siedlungsbau anhand der Anlagen von Heinz Lutter in Preßbaum.

Zwei Reihenhausanlagen, ein Architekt: kein Vergleich! Was passiert, wenn die Behörde in ein durchdachtes architektonisches Konzept eingreift: Überlegungen zum verdichteten Siedlungsbau anhand der Anlagen von Heinz Lutter in Preßbaum.

Bei der Durchsicht interessanter Bauten in Niederösterreich aus dem vergangenen Jahrzehnt stößt man in Preßbaum auf eine Wohnanlage, die einem Rätsel aufgibt. An einem mittelsteilen Nordhang liegen nebeneinander zwei kleine Reihenhausanlagen, die von der unten vorbeiführenden Quartierstraße her erschlossen sind. Die östliche weist zwei senkrecht zum Hang verlaufende Zeilen auf, die westliche ist in zwei Trakte parallel zum Hang organisiert. Der botanisch vielfältige Altbaumbestand läßt auf ehemalige Villengärten schließen, die sich streifenartig den Hang hinaufzogen. Da und dort steht denn auch in der Nachbarschaft noch das eine oder andere frühgründerzeitliche Bürgerhaus mit steilem Dach, dunkel gebeiztem Holz und einladender Veranda.

Die beiden westlichen, hangparallelen Zeilen wirken etwas biederer; jeweils drei schmale Reihenhäuser sind zu einem Baukörper zusammengefaßt. Auf den ersten Blick wirken sie älter als ihre östliche Schwesteranlage, deren architektonisch spritzig instrumentierte Bauvolumen die Hanglage geschickt interpretieren.

Bei genauem Hinsehen wird man aber an den aktueller wirkenden Häusern einen stärkeren Verwitterungsgrad der Holzteile feststellen können. Ein Nachfragen bei Architekt Heinz Lutter, der für den Entwurf beider Anlagen verantwortlich zeichnet, schafft Klarheit: Jene mit den Zeilen in der Fallinie entstand 1988 bis 1992. Die hangparallelen Zeilen wurden anschließend begonnen und 1996 fertiggestellt.

Weshalb dieser scheinbare Widerspruch? - Der Baubehörde erschien der architektonisch-siedlungsbauliche Charakter der ersten Anlage nicht passend, weshalb sie für die zweite Etappe eine andere Anordnung vorschrieb. Der Architekt kann bis heute keinen Gefallen an der neu vorgeschriebenen Anordnung finden. Im folgenden soll näher auf diese Problematik eingegangen werden.

Ein Nordhang gilt nicht als bevorzugtes Wohngebiet, doch die über 100 Jahre alten Häuser in der Nachbarschaft lassen schließen, daß die konkrete Lage so schlecht nicht sein kann. Jedenfalls gilt es beim Entwerfen besonders darauf zu achten, daß die Wohnräume ausreichend besonnt werden. Erschwerend wirkt sich aus, daß die Aussichtsseite keine Sonne erhält, dafür ist das Panorama immer ins richtige Licht gerückt.

Wenn nun die Zeilen, wie bei der älteren Anlage, in der Fallinie verlaufen, erhalten sie jedenfalls Morgen- und Abendsonne. Im konkreten Fall sind sie relativ nahe aneinander gerückt - im schmalen Zwischenraum verläuft die Erschließung - , sodaß die eine vormittags, die andere nachmittags besonnt wird, klarer Himmel vorausgesetzt. Entsprechend sind die Grundrisse gespiegelt, und als weitere Maßnahme ist ein Gartenzimmer flügelartig herausgezogen, auf dessen Dach ein vom Wohnraum zugänglicher Sitzplatz im Freien angeordnet ist, der natürlich Mittagssonne erhält. Wegen der geringen Trakttiefe wurden die einzelnen Einheiten in die Länge gezogen. Es blieb daher noch Platz für einen privaten Gartenhof vor den Kinderzimmern, die sich ein Geschoß tiefer befinden.

Im obersten Stockwerk ist dem Elternzimmer eine Dachterrasse vorgelagert, die eine privatere Nutzung des Außenraums erlaubt. Es ist denkbar, daß die Eltern, solange die Kinder noch sehr klein sind, ihren Schlafraum ebenfalls auf der Ebene unter dem Wohngeschoß haben und daß oben ein Großelternteil über einen autonomen Wohnbereich verfügt. Die seitlich an der Wand zur Erschließungsgasse hinaufführende Kaskadentreppe verbindet alle drei Ebenen.

Der Windfang in Form einer Kiste aus Sperrholz, zu der eine Metallstiege hochführt, ist gassenseitig jeweils mittig dem Hauptgeschoß vorgelagert. Die Hangsituation nützend, führt ein weiterer Zugang ein Geschoß tiefer zu den Kinderzimmern. Wer die Mineralwasserkisten in den dahinter liegenden Keller zu tragen hat, wird ihn zu schätzen wissen. Und die herangewachsenen Kinder werden sich über den Status relativer Autonomie freuen.

Abgesehen von der bei Schneelage nicht ganz unproblematischen, weil steilen Mittelgasse - sie wird jeweils sofort geräumt werden müssen oder wäre vielleicht sogar zu heizen - weist die Siedlung zahlreiche wertvolle, das Wohnen verbessernde Komponenten auf. Die einzelnen Häuser sind relativ gleichwertig, der Außenraumbezug ist vielfältig und von abgestufter Privatheit. Dem dient auch die klare Unterscheidung der Eingangs- von der Gartenseite. Die Gestaltung zeichnet sich durch einen intensiven Flirt mit den fünfziger Jahren aus; er wirkt unbeschwert-fröhlich, wie es verklärte Erinnerungen so an sich haben. Nach außen wird durch die Zäsuren der Dachterrassen eine deutliche Trennung der einzelnen Einheiten erreicht. Obwohl kompakt, wird die Siedlung damit sinnfällig strukturiert. Insgesamt handelt es sich um gut durchgearbeitete, vielfältig und auf individuelle Art und Weise nutzbare Häuser, die den gewichtigen Vorteil geschlossener Bauweise und eines sparsamen Landverbrauchs aufweisen. Daß die alte Linde zuoberst exakt in der Achse der Erschließungsgasse steht, mag als Geschenk des Ortes an die Bewohner interpretiert werden.

Der jüngere Teil der Anlage mit den beiden parallel zum Hang stehenden Zeilen ist wohl deshalb in dieser Form entstanden, weil die kurzen Trakte, obwohl sie gut doppelt so groß sind wie die nachbarlichen Gründerzeitvillen, ein wenig an die von diesen geprägte lockere Baumassenverteilung erinnern. Eine typologische Verwandtschaft besteht jedoch nicht.

Ein nicht geringes Problem stellt die für einen Südtyp relativ große, von der Grundstückskonfiguration erzwungene Trakttiefe dar. Sie wird in der Regel vorzugsweise für Ost-West-Typen verwendet. In der etwas dunkleren Mittelzone verläuft quer die Stiege, daran anschließend stapeln sich über die Stockwerke die installationsintensiven Räume wie Küche, Bad und Toilette. Schlafzimmer und Wohnküche sind nach Süden gelegt, im Norden befindet sich der Wohnraum, aufgewertet durch doppelte Höhe und eine galerieartige Diele vor den Kinderzimmern. Die Lage am Hang hat zur Folge, daß wegen der zulässigen Bauhöhe die Dachterrasse auf die Nordseite zu liegen kommen mußte; das Elternzimmer auf demselben Niveau schaut nach Süden. Die geringe, aus der Drittelung der möglichen Traktlänge sich ergebende Breite der einzelnen Einheiten erzwingt beim Außenwohnen, im Garten oder auf der Terrasse, ein dichtes Nebeneinander, was nicht unbedingt als angenehm empfunden werden muß.

Zwar ist wegen der am Nordhang höheren Ansprüche an den Sonneneinfallswinkel der Abstand der Zeilen ausreichend, dennoch stoßen eine Eingangs- und eine Hauptwohnseite zusammen. Und von oben ist das untere Haus einsehbar. Ost-West-Typen werden in der Regel Rücken zu Rücken angeordnet, damit ein halböffentlicher Zwischen- und Vorgartenbereich für die Erschließung und ein privaterer für das Außenwohnen entstehen kann. Bei Südorientierung funktioniert dies jedoch nicht. Während die an den Stirnseiten liegenden Einheiten je nach Osten und Westen zusätzliche Fensteröffnungen aufweisen, ist die mittlere Wohnung in dieser Hinsicht deutlich benachteiligt, der geringere Energieverlust macht die mindere Lagegunst nicht wett.

Da das Bauvolumen in der Mitte des Grundstücks angeordnet werden mußte, entstehen rundherum Abstandsflächen ohne räumliche Qualitäten, die sich gegen eine private Nutzung sperren. Anders als bei der Nachbarsiedlung erlaubt die Terrassierung keine differenzierten Außenwohnzonen.

Die ältere Siedlung, die eine spezifische Interpretation der topographischen Lage, der Exposition zu den Himmelsrichtungen und des Zusammenwohnens in den verschiedenen Phasen eines Familienlebens lieferte, hatte wegen ihres weiß Gott nicht besonders radikalen, aber für Wienerwälder offenbar ungewohnten Aussehens eine behördliche Reaktion hervorgerufen, deren Konsequenzen nicht wirklich durchgedacht worden sind. Obwohl die Grundrisse sehr wohl optimiert und vernünftig durchgearbeitet sind, darf man es dem Architekten nicht verdenken, daß er mit weniger Begeisterung bei der Sache war, nachdem er bereits den materiellen Beweis in Form einer intelligenten Konzeption für eine dichte Bebauung an dieser Nordlage erbracht hatte.

Die dringende Forderung nach sparsamerem Landverbrauch durch geschlossene Bauweise verlangt neue Siedlungstypologien. Daß diese anders ausschauen als Einzelhäuser, liegt auf der Hand. Seitens der den Bebauungsplan festlegenden Behörden ist daher - nach einer angemessenen Schrecksekunde - für künftige Fälle mehr Weitsicht gefordert.

Spectrum, Sa., 1997.08.23



verknüpfte Bauwerke
Wohnanlage

19. Juli 1997Walter Zschokke
Spectrum

Glasgefieder wie Perlmutt

Einen Ort für Kunstwerke und einen Ort, wo man Kunstwerken in Ruhe begegnen kann, wollte Peter Zumthor schaffen. Sein Kunsthaus Bregenz erfüllt diese Vorgaben in maßstabsetzender Perfektion.

Einen Ort für Kunstwerke und einen Ort, wo man Kunstwerken in Ruhe begegnen kann, wollte Peter Zumthor schaffen. Sein Kunsthaus Bregenz erfüllt diese Vorgaben in maßstabsetzender Perfektion.

Das neue Kunsthaus Bregenz ist ein Turm. Der „Ort für Kunstwerke“ hat die typologische Struktur eines mittelalterlichen „Donjon“, jenes mächtigen Turmtypus, den man in England „Keep“ nennt. Bei dem die Treppen sich spiralig in den dicken, oft raumhältigen Außenmauern hochwinden, welche die übereinanderliegenden Hallen im Inneren umfassen.

Dieses Grundprinzip stand schon fest, nachdem im Jänner 1990 der Architektenwettbewerb entschieden war. Der durch Einsprachen hinausgeschobene Baubeginn erfolgte Anfang 1994. Man nützte die Wartezeit. Das eben fertiggestellte Haus erfuhr gegenüber dem Einreichprojekt weitere Präzisierungen.

Städtebaulich ist der aus zwei Baukörpern bestehende Neubau leicht zu verstehen: Der Turm reiht sich vorn in die Front zum See, zwischen andere hohe Gebäude wie die gründerzeitliche Post und das etwas verunglückte Bühnenhaus des Kornhaustheaters aus den fünfziger Jahren. Zur Stadt hin gerichtet und bewußt eigenständig, steht der längsquadrische Verwaltungsbau des Museums. Er ist volumetrisch und bezüglich seiner städtebaulichen Lage verwandt mit den anderen Bauten dieser lockeren Zwischenzone an der Kornmarktstraße: dem benachbarten Gasthaus und der runden Seekapelle. Die beiden Neubauten fügen sich in die bestehende stadträumliche Struktur. Der Turm überragt seine Nachbarn, weil er eben ein Turm ist. Eine gedrungenere Proportion wäre einer Abschwächung der Idee gleichgekommen.

Im übertragenen Sinn steht der Turm unter anderem für die Ausstrahlung in die Nachbarregionen Deutschlands und der Schweiz, denn das Haus besetzt eine wichtige Position am Ufer des Bodensees, im westlichsten Zipfel Österreichs. Für ein öffentliches Gebäude und Kulturbauwerk ist die städtebauliche Hervorhebung fast selbstverständlich.

Das Kunsthaus Bregenz versteht sich als Ausstellungshaus internationaler zeitgenössischer Kunst und will Ort permanenter Auseinandersetzung mit Kunst und Gestaltungsfragen sein. Peter Zumthor formuliert auf das Bauwerk bezogen bedächtiger: Es solle „Ort für Kunstwerke und ein Ort für den Menschen, der diesen Kunstwerken ungestört und in Ruhe begegnen möchte“, sein.

Ungestört und in Ruhe. Damit hat er sich selbst die Aufgabe formuliert. Mit dem „Menschen“, Frau oder Mann, ist das Individuum angesprochen. Darum der Turm: als Rückzugsort nicht der Kunst, sondern des Menschen - zur Begegnung mit Kunst - , das Hinaufsteigen als Sichentfernen von Lärm und Getriebe in den Straßen.

Wenn man nun auf dem Karl-Tizian-Platz vor der nach Beleuchtung und Witterung changierenden Fassade steht, rechter Hand das in Schwarz gehaltene Verwaltungsgebäude, sieht man nur die äußere Hülle aus großen, überschuppt montierten Glasschindeln.

Die hinter der Hülle befindliche Struktur ist aus Stahlbeton. Sie beginnt mit den in der Tiefe gründenden Fundamenten. Es folgt eine Wanne, zwei Geschoße unter Straßenniveau. Sie gibt den quadratischen Grundriß vor.

Daraus steigen windradförmig drei tragende Betonscheiben auf. Die beiden längeren bilden einen Winkel, in dessen Öffnung die kürzere bei der vierten Gebäudeecke positioniert ist. In der untersten Kellerdecke verspannt, die allseitig an die Wanne anschließt, entwickelt sich die Tragstruktur aus dem ersten Untergeschoß heraus losgelöst von den Umfassungswänden der Baugrube in die Höhe.

Die Geschoßdecken als auskragende Plattformen werden von den drei kräftigen Betonscheiben durchdrungen, sodaß sich deren Konstellation auf allen Geschoßen wiederholt, wo sie jeweils ein räumliches Spannungsfeld erzeugen. Im Erdgeschoß ist außen an der in der Untergeschoßwanne stehenden Plattform eine transparente Glaswand herumgezogen, die als Klimagrenze dient.

Zwischen dieser inneren Wand und der äußeren geschuppten Glashülle zieht sich ein Spalt von der Breite eines schmalen Korridors um das Bauwerk und läßt von oben Licht in die angrenzenden Bereiche des ersten Untergeschoßes einsickern. Der Raum zwischen geschuppter Hülle und Klimawand, der auch die Stützkonstruktion für die Glastafeln enthält, ist mit einer Reinigungsgondel befahrbar. Zuoberst führt ein Dienststeg um den Bau herum. - Durch die geätzten Scheiben der gläsernen Schindeln kann man schemenhaft arbeitende Menschen erkennen. Von der Stützkonstruktion sieht man nichts, da sie listigerweise hinter jenem Streifen angeordnet ist, in dem sich die Glasplatten überdecken. Nur die langen Diagonalen der Windverspannung sind als Linien zu erkennen, die der Fassade als geometrisches Proportionalnetz hinterlegt sind. Obwohl die Befestigungen der Platten sichtbar sind, verschwindet die Tragstruktur hinter dem wie Perlmutt schimmernden Glasgefieder.

Während also die Erdgeschoßhalle von den drei Betonscheiben raumbildend gefaßt und von den doppelten Mattglaswänden schleierartig umhüllt wird, werden die Ausstellungsräume in den oberen drei Stockwerken je von einer umlaufenden Betonwand umschlossen. Die tragenden Stahlbetonscheiben stehen dazu nach innen in einem knappen Abstand, sodaß von der Halle drei Teilräume abgetrennt werden.

Diese drei schmalen langen Räume enthalten jeweils die Vertikalverbindungen. Das Prinzip ist auf allen Geschoßen dasselbe, nur die Deckenhöhe nimmt nach oben leicht zu. Da die Betonscheiben etwas vorgezogen sind, muß man um die freie Kante herumgehen, um dahinter zu kommen. - In der Achse des Eingangs befindet sich der Materiallift hinter der kurzen Betonscheibe, jene an der „rechten“ Seite verdeckt den Besucherlift und schützt die Fluchtstiege, und die Tragscheibe hinter der Eingangsfassade birgt den jeweils von unten her aufsteigenden Lauf der Kaskadentreppe, auf der die Besucher den nächsten Raum erreichen können. Wegen dieser vor der Betonumschließung stehenden Tragscheiben wirken die Ausstellungsräume nicht hermetisch, obwohl rundherum nur samtig grauer Beton zu sehen ist.

Die Lichtdecke aus quadratischen, ebenfalls mattierten Glastafeln trennt optisch vom darüberliegenden Lichtführungsraum ab, der halb so hoch ist wie der Saal darunter und zur Fassadenhülle nur eine klimatrennende, klare Verglasung aufweist. Durch die geschuppte Mattglasschicht dringt das Licht seitlich ein und verteilt sich, zur Mitte hin abnehmend, über der Decke. Der Wechsel im Tageslauf teilt sich so nach innen mit. Wenn die Lichtmenge zu gering wird, setzt die künstliche Beleuchtung ein.

Diese lichtführende Raumschicht über dem begehbaren Raum begleitet auch die Treppe nach unten. Das Verlassen eines Stockwerks geschieht durch die kleine „Tapetentür“ aus Beton im hinteren Bereich der Tragscheibe. Nachdem sie schwer ins Schloß gefallen ist, steht man zuunterst im hellen Treppenraum, über Kopf die leuchtende Glasdecke. In drei Hüben wird man von der räumlich-suggestiven Wirkung des von zwei Absätzen unterbrochenen Stiegenlaufs gleichsam hochgesaugt, um an der gleichen Stelle auf der oberen Ebene entlassen zu werden, an der man jene darunter betreten hat oder im Erdgeschoß die Eingangshalle. Mit diesem Hinuntergreifen in den Treppenzug holt der obere Raum die Besucher bereits unten ab. Die Treppe bildet dabei den Entrakt.

Der kategorische Schnitt nach jedem Saal, der atemberaubende Aufstieg als Vorbereitung zum nächsten und die gestaffelte Definition der ausblicklosen Räume erzeugen eine weihevoll-meditative Stimmung. Der normale Sichtbeton, obwohl von ausgezeichneter Qualität, verliert seine Alltäglichkeit. Er wird gehöht durch Licht und Raumwirkung. Die Künstler und Kuratoren werden, wie bei einem Konzertsaal, lernen müssen, die Räume dieses anspruchsvollen Hauses zu bespielen.

Peter Zumthor hat für das Bregenzer Kunsthaus ein absolutes Raumgebilde erdacht, konsequent durchgearbeitet und die Herstellung in perfekter Qualität sichergestellt. Dies bremst leichtfertigen Umgang. Sein Insistieren auf qualitativen Ansprüchen bildet zugleich einen dauerhaften Kommentar zur zeitgenössischen Kunst. Das ist nicht dasselbe wie eine Fabrikhalle für improvisierte Ausstellungen. Diese Räume werden sich als Prüfsteine erweisen, denen Werke und Präsentationsformen gewachsen sein müssen.

Nun werden sich alsbald Kopisten einfinden, die das Prinzip der Glasschindeln und ich weiß nicht was alles - wie vor einigen Jahren die Holzlamellen - bei mittelmäßigen Bauten in ganz Mitteleuropa anwenden. Dann blicken sie zu den Kritikern und warten auf den Pawlowschen Reflex. Man kann da schwer helfen.

Von Zumthor soll man nicht Details übernehmen wollen, sondern von ihm lernen, wie unbeirrbar er architektonische Qualität anstrebt. Seine Passion schafft Werke, zu denen man einfach hinpilgern muß, sie still anschauend zu genießen. Danach sollte man sich über die eigene Gipfelhöhe keine übermäßigen Illusionen machen. Unter den Architekten gibt es übergenug mittelmäßige, die die erste Geige spielen wollen, aber es herrscht stets Mangel an guten zweiten Geigern.

Spectrum, Sa., 1997.07.19



verknüpfte Bauwerke
Kunsthaus Bregenz

21. Juni 1997Walter Zschokke
Spectrum

Gnadenfrist auf Noten

Der Architektenberuf im Wandel: Moden, wechselnde Ideologien sowie die Entwicklung der Bautechnologie und der Bauwirtschaft haben ihren Anteil an der Veränderung. Was meinen Architekten der Vergangenheit dazu? Eine fiktive Diskussionsrunde.

Der Architektenberuf im Wandel: Moden, wechselnde Ideologien sowie die Entwicklung der Bautechnologie und der Bauwirtschaft haben ihren Anteil an der Veränderung. Was meinen Architekten der Vergangenheit dazu? Eine fiktive Diskussionsrunde.

Wir leben in einer Zeit der Beiräte. Was also würde geschehen, wenn die für das Schicksal der Menschen zuständige oberste Behörde auch die Geister einiger Architekten einberiefe, deren Abbilder heute auf europäischen Banknoten zu finden sind? Was würden Otto Wagner, Wiener Wegbereiter der Moderne, der deutsche Architekturfürst Balthasar Neumann, der römische Barockmeister Francesco Borromini und Joze Plecnik, Vater der slowenischen Architektur, zum Stand des Architektenberufs zu sagen wissen?

Der 50-Mark-Balthasar-Neumann würde vielleicht so beginnen: „Ein Grund für die Krise des Berufs scheint mir im Verlust an kultivierten fürstlichen Bauherren zu liegen, die sich ihre Prachtentfaltung etwas kosten ließen, die in Konkurrenz mit anderen standen und von ihren Leibarchitekten immer neue Höchstleistungen forderten. Im Kielwasser dieser Großbauherren folgten zahlreiche kleinere und kleine Auftraggeber, die entsprechend ihrer gesellschaftlichen Bedeutung und ihrer Betuchtheit Bauaufträge erteilten, sodaß für die Architekten genug zu schaffen war.“

Heute fehle „vielen Vertretern von Rang jene kultivierte Bildung“, würde Neumann fortsetzen: „Politiker schielen der nächsten Wahlen wegen nach den Stammtischen, und Industrie- oder Bankdirektoren lassen jenes kulturelle Engagement nicht selten vermissen, das die Herrscher meiner Zeit auszeichnete. Auch stelle ich fest, daß es keinen Konsens über die gestalterische Richtung gibt; da sind Glasfetischisten, Sichtbetonminimalisten, Holzbaufundamentalisten und so weiter. Und im architektonischen Ausdruck gelten mehrere Strömungen gleichzeitig. Eine eindeutige Linie würde hier Klarheit schaffen, die Banker und Politiker könnten sich an einen Stil gewöhnen, vermöchten vielleicht Qualitätsmerkmale zu unterscheiden, und alle Fachleute könnten sich auf die Perfektion eines einzigen Stils konzentrieren, um ihn zur Hochblüte zu treiben.“

An dieser Stelle müßte sich der 100-Franken-Borromini einmischen: „Es ist eine absurde Vorstellung, die Entwicklung der Baukunst in feste Bahnen lenken zu wollen. Sie darf weder von außen noch von innen vorbestimmt werden, sonst ist keine Erneuerung mehr möglich. Aber ich bin überzeugt, daß der Bezug zur Praxis von grundlegender Bedeutung ist. Erst wenn ich als Gestalter gefühlsmäßig über meine Fähigkeiten verfügen kann, etwa wie Materialien zu bearbeiten sind, wie ihre Grenzen ausgelotet, mit klugen Kombinationen sogar überschritten werden können, wie sie den Beanspruchungen durch Zeit und Umwelteinflüsse standhalten und wie sie am Bau ersetzt und ohne Schaden weiterverwendet oder einer Endverwertung zugeführt werden können - erst wenn ich dies alles im Gefühl habe, bin ich ein vollwertiger Architekt.“

Das anspruchsvolle Bauen setze Erfahrung voraus, „selber gemachte sowie nachvollzogene an den Bauten und Projekten der Vorgänger und Kollegen“, würde Borromini dann meinen: „Nur aufbauend auf diesen Arbeiten kann man zu Neuem vorstoßen; freilich bedingt dies einen befreiten Geist, sonst bleibt man in den Krusten des Alten befangen. Doch hüte man sich vor den Blendern. Ich spreche aus eigener, bitterer Erfahrung: Monumentale Gesten zählen oft mehr als subtile Raumschöpfungen, modische Exaltiertheit findet eher Beachtung als strukturelle Konsequenz und vielschichtige Verwobenheit mit dem Thema und dem Ort. Mir scheint auch, daß die moralische Haltung des Architekten hoch zu gewichten ist. Denn Zynismen fließen unbewußt in die Architektur ein; sie äußern sich in Unterlassungen, in vordergründigen Anbiederungen und in Geringschätzung berechtigter Nutzeranliegen.“

Hier könnte Otto Wagner einhaken: „Ja, es geht um Wahrhaftigkeit, etwa jene der Konstruktion, die erst zur richtigen Form führen kann. Die Berücksichtigung aller Materialien ihrer Natur gemäß setzt deren genaue Kenntnis voraus. Für noch wichtiger erachte ich, daß die jungen Absolventen nach der Grundausbildung bei erfahrenen Meistern eine Art Architekturlehre machen, wo sie vor allem lernen, wie unabhängig von der gestalterischen Erscheinung der Bauwerke gediegene Qualität angestrebt wird, wo fachliches Vermögen geschult und Ansprüche eingelöst werden.“

Je früher sie dann selbständige Erfahrungen machen könnten, desto besser würden hernach ihre Bauten: „Man sehe sich nur die Architekten an, die aus meiner Schule hervorgegangen sind. Ohne energische Nachwuchsförderung gibt es keine Kontinuität der Architekturkultur. Doch die neue Zeit, die neue Bauproduktion erfordern noch andere Qualifikationen. Die vielen technischen Möglichkeiten, die neuen Materialien, die ständig wechselnden Detaillösungen verlangen technische Kompetenz und ökonomische Übersicht; und gegenüber dem Bauherrn ist Kostenbewußtsein und Kostenkontrolle gefragt. Kostengünstig bauen heißt, Erfahrung und Kreativität schon beim Entwerfen einzusetzen, nicht erst vor der Ausführung durch stures Feilschen und Preisdrücken gegenüber den Handwerkern.“

Ein unzufriedener Handwerker mache „keine sauberen Details, die erst die nötige Dauerhaftigkeit des Bauwerks sicherstellen“: „Doch am wenigsten nützt den Architekten Neid und Mißgunst unter den Kollegen. Wenn sie sich gegenseitig in den Rücken fallen, gegenüber anders gearteten Entwürfen nur geschmacklich, nicht inhaltlich urteilen, geben sie den Bauherren schlechte Unterweisung. Eine positive Würdigung von Architekturauffassungen, die von der eigenen verschiedenen sind, erhöht auch das Verständnis für eigene Raumschöpfungen.“

Die Architekturgeschichte zeige, „daß, aus zeitlicher Distanz betrachtet, ehemals erbitterte Kontrahenten heute nahezu gleichwertig nebeneinanderstehen können“: „Das habe auch ich erst spät erkannt. Natürlich fördert ein Disput auch das öffentliche Interesse, aber wenn er nur erfolgt, um Aufsehen zu erregen, bringt er keine Verbesserung der Lage der Architektur.“

Jetzt ergriffe Joze Plecnik das Wort, gedankenvoll von seinem 500-Tolar-Schein blickend: „Die Kluft zwischen einer enteilenden, selbsternannten Avantgarde und dem kulturbewußten Teil der Bevölkerung darf nicht zu weit aufreißen. Es kann nicht Sache der Laien sein, immer wieder Verständnisbrücken zu suchen. Auch die sogenannten Vermittler in Wort und Bild können da nicht immer helfen. Die Gestalter selbst müssen mit den Mitteln der Architektur arbeiten und die Menschen dort abholen, wo sie gerade stehen, um sie zu neuerarbeitetem Verständnis zu führen.“

Das heiße, „daß man ihnen auf die Hände und auf die Füße schauen muß, ihr Verhalten im Innen- und im Außenraum geduldig studiert“: „Erst dann kann man eine sinnvolle zeitgenössische Umsetzung ihrer Bedürfnisse bieten, die über manifestartige Konkretisierungen eigener Befindlichkeiten und ideologische Demonstrationen hinausgeht. Die Kritik, die der Sperrmüllstil des Malers Hundertwasser am seelenlosen Bauwirtschaftsfunktionalismus geübt hat, war richtig. Das anhaltende Interesse an seiner Dekorpraxis zeigt, daß es noch zu wenig gelungen ist, gültige Alternativen für das Geschmacksempfinden breiter Kreise zu entwickeln und diese zu vermitteln. Und die Falle formalistischer Radikalismen, mit vordergründigen Ökonomismen getarnt, ist weiterhin gefährlich gespannt.“

Die menschliche Komponente des Bauens sei der „am stärksten und am weitesten in die Zukunft wirkende positive Faktor der Architektur“, würde Plecnik vielleicht sagen: „Wenn es gelingt, sie in sinnlich erfahrbare Formen und Materialisierungen umzusetzen, arbeiten wir an der europäischen Kultur.“

An dieser Stelle hätte der Vertreter der Behörde ein Zeichen gemacht, daß es genug sei. Das Festhalten an beruflicher Disziplin und Selbstköpfigkeit der Architekten in der Gesellschaft widerspräche gewiß seinem Glauben an riesige Baudurchführungsfirmen, wie es sie ehedem im Ostblock gab. Die Folgen für die Architektur und deren Kultur sind noch und bereits wieder zu erkennen. Die Banknotenbilder würden wieder verstummen, trotz ihrer alltäglichen, millionenfachen Präsenz. Nach der Einführung des Euro müssen manche ihre Breitenwirkung ohnehin anderswo entfalten.

Spectrum, Sa., 1997.06.21

06. Juni 1997Walter Zschokke
Spectrum

130 Anfragen, ein Interessent

Wirtschaftlicher Erfolg blieb der Zürcher Architektin Lux Guyer (1894 bis 1955) mit ihren Fertighausvillen versagt.Die Architekturgeschichtsschreibung überging sie lange - und damit auch ihre reformerischen Ansätze. Eine Erinnerung.

Wirtschaftlicher Erfolg blieb der Zürcher Architektin Lux Guyer (1894 bis 1955) mit ihren Fertighausvillen versagt.Die Architekturgeschichtsschreibung überging sie lange - und damit auch ihre reformerischen Ansätze. Eine Erinnerung.

Sie verfügte zwar nicht über ein Diplom, aber über eine selbstbestimmte Ausbildung als Architektin: Louise Guyer, die sich nach ihrem Rufnahmen „Lux“ Guyer nannte, wurde 1894 in Zürich geboren, besuchte Kurse bei Gustav Gull an der ETH, arbeitete in dessen Atelier und war in Paris, Berlin und London tätig.

Bereits 1925 eröffnete sie ihr eigenes Architekturbüro in Zürich. Sie gilt als erste selbständige Architektin der Schweiz und hatte Ende der zwanziger Jahre eine ganze Reihe von Projekten in Arbeit: eine umfangreiche Wohnanlage für alleinstehende berufstätige Frauen, ein Ferienheim im Auftrag des Konsumvereins, eine Gruppe von fünf Mehrfamilienhäusern, ein Studentinnenheim, zwei, drei Einfamilienhäuser sowie, 1928, die große Schweizer Ausstellung für Frauenarbeit in Bern, für die unter dem Kurztitel SAFFA geworben wurde.

Guyer galt als Architektin, die reformerischen Bauaufgaben gegenüber aufgeschlossen war. Das waren zuvörderst die im Auftrag von Frauenvereinen propagierten Wohnhäuser für alleinstehende Frauen, denen der Besitz einer eigenen Wohnung aus „moralischen“ Gründen verwehrt wurde. In dieser intensiven Zeit soll Lux Guyer in ihrem Büro über 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt haben.

Weil sie einen englisch beeinflußten Neuklassizismus pflegte, wurde sie jahrzehntelang von der Architekturgeschichtsschreibung, die die radikale Moderne bevorzugt behandelte, übergangen. Ihre klugen und unkonventionellen, keineswegs konservativen Grundrisse hätten aber mehr Aufmerksamkeit verdient. Für die Schweizer Ausstellung für Frauenarbeit entwarf sie 1927/28 als Ausstellungsobjekt und räumliche Hülle eines kultivierten Wohnstils ein Fertighaus, das für Familien der intellektuellen Mittelschicht gedacht war. An diesem gebauten Beispiel läßt sich die Problematik erahnen, die sich ergibt, wenn ein Architekt oder eben eine Architektin einen Standardtyp entwickelt, um ihn in Serie bauen zu lassen. Die Ausstellung zum Thema Standardhäuser im Wiener „Architektur Zentrum“ bietet dazu den Anlaß.

Das in pflaumenrotem Eternit verschindelte Holzhaus bildet ein dichtes Konzentrat bürgerlicher Wohnkultur mit deutlichen reformerischen Ansätzen in einem durchdachten, polyvalenten Grundriß. Der Eingang wird an der Nordseite von einem kleinen, außermittig plazierten Risalit signalisiert, der zugleich ein kurzes Vordach bildet. Von dem großzügigen Windfang führt eine breite Türe geradeaus in die Wohnhalle und eine schmale Pforte rechter Hand in den Wirtschaftsteil mit der Küche. Links von der Halle schließt eine von Lux Guyer entwickelte Zimmer-Bad-Zimmer-Kombination an, bei der die beiden großen Flügeltüren des Bades in zwei Positionen fixiert werden können, sodaß tagsüber zwischen den Kinderzimmern ein Spielbereich offen bleibt. Große Fenstertüren führen von den Zimmern ins Freie - Lux Guyer vertrat die Meinung, jedes Kind solle über einen individuellen Gartenbereich verfügen.

Von der winkelförmigen Wohnhalle, die im vorderen Flügel einen spärlich möblierten Teil aufweist, führt die einläufige Stiege ins Obergeschoß. Im anderen Flügel findet sich ein gemütlicher Raum für den Eßtisch mit vorgelagertem beschattetem Gartensitzplatz. Unter dem Treppenpodest hindurch erfolgt die Verbindung zur Küche mit einem eigenen Ausgang zum Gemüse- und Kräutergarten, damals eine Selbstverständlichkeit.

Das Obergeschoß weist neben dem Elternzimmer, dem Bad, einem Kleinkinderzimmer und einer Gästekammer ein geräumiges, T-förmiges Atelier auf, dessen Decke im Mittelteil zeltartig in den Dachraum erweitert ist. Im Risalit über dem Eingang entsteht eine alkovenartige Nische mit attraktiven, übereck gesetzten Ausblicksfenstern. Zahlreiche eingebaute Schränke und die modern eingerichtete Küche zeugen vom praktischen Verstand der jungen Architektin.

Für die bauliche Herstellung des Hauses wandte sie sich an eine erfahrene Holzbaufirma aus Kriens bei Luzern. Jahrzehntelang hatten Innerschweizer Zimmereien Holzhäuser im sogenannten „Chalet-Stil“ erzeugt. Die Käufer konnten sich die aus standardisierten Teilen zusammengebauten Häuser aus einem Katalog bestellen. Leider haben sich kaum Firmenunterlagen erhalten. Da Unternehmen dieser Art wenig inhaltlichen, sondern vor allem geschäftlichen Ehrgeiz entwickelten, sahen sie keine Notwendigkeit, ihre Aktivitäten für die Nachwelt zu archivieren. - Prinzipiell hatte Lux Guyer damit den richtigen Ansatz gewählt. Doch das eigentliche Problem erwies sich als ein berufsspezifisches: Architekten sind es gewöhnt, auf besondere Wünsche des Bauherrn einzugehen. Und wer zum Architekten geht, will in der Regel ein individuelles Haus. Das Standardhaus dagegen wird nach einem Katalog zusammengestellt und mit bestimmten Accessoires zu einem Fixpreis geliefert. Dies setzt einen Verbleib im geschmacklichen Mainstream voraus. Der nervöse Wechsel, wie ihn die Moderne praktizierte, ist ausgeschlossen.

Aber auch der durchaus breit akzeptierte Neuklassizismus, der von Lux Guyer gepflegt wurde, sicherte keinen geschäftlichen Erfolg. Beim Verkauf von der Stange stellt sich niemand ungefragt die Aufgabe, die verlangten Änderungen in ein architektonisch-gestalterisches Konzept zu integrieren, wie dies die Architektin tat. Obwohl sie mehrere Häuser jeweils zuerst für sich selbst baute, sie möbliert mit eigenen Entwürfen und Sammlerstücken herzeigte und dann verkaufte, um alsbald mit ihren wichtigsten Stücken in das nächste Haus umzuziehen, nahm sie auch an den auf das SAFFA-Haus folgenden Häusern Verbesserungen und Erweiterungen vor. Damit unterlief sie das Vermarktungsprinzip für Standardhäuser, das nicht vorausgeplante Änderungen ausschloß.

Der Prototyp auf der Ausstellung in Bern stieß auf großes Interesse. Über 130 Anfragen gingen bei der Architektin ein. Am Schluß blieb jedoch nur eine einzige ernsthafte Interessentin übrig, eine Geflügelzüchterin aus dem Aargau, deren Gatte eine Futtermühle besaß. Das Ausstellungshaus wurde in der Folge demontiert, nach Aarau transportiert und dort auf einem vorbereiteten Fundament mit Keller wieder aufgestellt.

Der mit der örtlichen Bauleitung betraute Architekt, Adolf Studer, ein Freund der Bauherrschaft, war der damals interessanteste Entwerfer in der Region. Er verunfallte 1938 auf einer vom Automobilclub veranstalteten Orientierungsfahrt durch den Jura zusammen mit seinem Bauherrn und Kameraden tödlich.

Es kam eine schwere Zeit für die junge Unternehmerin, bis der herangewachsene Sohn die Firma übernehmen konnte. Hohe Bäume wuchsen um das Haus, es war bereits aus kurzer Entfernung nicht mehr auszumachen.

Als wir die alte Dame 1982, im Rahmen eines Seminars über Lux Guyer besuchten - das Häuschen war noch Ende der dreißiger Jahre von Adolf Studer geschickt erweitert worden - , staunten wir über das gepflegte Haus mit seiner reichhaltigen Gemäldesammlung mit Bildern von Ferdinand Hodler, Giovanni Giaccometti und Pietro Chiesa. Es war ein tiefer Blick in die Kultur der ersten Jahrhunderthälfte. In einem Gestell in der Halle standen Architekturbücher, wobei der Name Friedrich Schinkel öfter aufschien. Im Gespräch erfuhren wir, daß es sich bei der Unternehmerin, die der Architektin das Standardhaus abgekauft hatte, um eine Urenkelin des großen preußischen Architekten handelte, die sich außer in Kunst auch in Architekturdingen gut auskannte.

Es war ein schmales Marktsegment, in das sich Lux Guyer mit ihrer architektonisch engagierten Kleinvilla auf Fertighausbasis vorgewagt hatte. Der wirtschaftliche Erfolg blieb aus. Sie plante und errichtete noch mehrere attraktive und äußerst wohnliche Häuser, an denen Josef Frank gewiß Gefallen gefunden hätte.

Anfang der dreißiger Jahre setzte eine schwere Baukrise ein, die bis 1937/38 anhielt. Lux Guyer, die geheiratet und einen Sohn zu betreuen hatte, fand kaum Aufträge. Erst gegen Ende des Jahrzehnts konnte sie wieder einige Bauten ausführen, wobei sie eng mit Künstlerinnen und Künstlern zusammenarbeitete. Diese sehr eigenwilligen, künstlerisch expressiven Arbeiten wurden leider alle längst abgebrochen. Lux Guyer selber starb früh, 1955, und konnte das wiedererwachte Interesse an ihren Arbeiten nicht mehr erleben.

Spectrum, Fr., 1997.06.06



verknüpfte Bauwerke
SAFFA Haus

17. Mai 1997Walter Zschokke
Spectrum

Fester Rücken, gläserner Bauch

In der Nähe von Kritzendorf hat Gerhard Steixner für ein Musikerehepaar ein Solarhaus gebaut, das zeitgenössischen Wohnbedürfnissen entspricht. Obwohl es architektonisch überzeugt, gibt es noch ungelöste Probleme. Eines davon: die Schalldämmung.

In der Nähe von Kritzendorf hat Gerhard Steixner für ein Musikerehepaar ein Solarhaus gebaut, das zeitgenössischen Wohnbedürfnissen entspricht. Obwohl es architektonisch überzeugt, gibt es noch ungelöste Probleme. Eines davon: die Schalldämmung.

Vor drei Wochen wurde hier die geschlossene und verdichtete Bauweise hochgelobt, und jetzt steht wieder ein freistehendes Einfamilienhaus zur Debatte, wo doch die Zersiedelung hintangehalten werden sollte - woran soll man jetzt glauben? Die Glaubens- und Gewissensfreiheit entbindet auch in der Architektur vom Glauben-Müssen. Daß Glaubenskämpfe sich damit nicht erübrigt haben, weiß dennoch jeder Architekt.

Davon abgesehen gibt es Menschen, das heißt zugleich potentielle Bauherren oder Baufrauen, denen gilt die Wohnung mitten in der Stadt als das Richtige, andere schätzen den lockeren Verbund und die Nachbarschaft einer Reihenhaussiedlung, und wieder andere suchen die relative Ruhe und Abgeschiedenheit eines Einzelhauses auf ausreichend großem Grundstück.

Natürlich bestimmt der ökonomische Faktor das individuelle Glücksgefühl wesentlich mit - man schätzt oder gibt vor zu schätzen, was man sich leisten kann - , aber es gibt auch berufsbedingte Argumente. Nachdem die nachbarliche Toleranzbereitschaft in den vergangenen Jahrzehnten in akustischer Hinsicht eher abgenommen hat, kann es sich für ein Musikerpaar als sinnvoll erweisen, die Wohnung aus der Stadt heraus in ein Einzelhaus zu verlegen.

Nach dem Haus in Weerberg, Tirol, das Margarethe Heubacher-Sentobe für einen Komponisten plante, stoßen wir erneut auf Musiker als Auftraggebende; sie ist Flötistin, er komponiert und dirigiert. Bemerkenswerterweise haben sich auch hier zeitgenössische Musikschaffende für eine dezidiert heutige Architektur entschieden.

Ihr neues Haus steht relativ weit oben auf einem locker mit Bäumen bestandenen Hang, der nach Süden zu einem bewaldeten Tal abfällt und nach Osten flach geneigt ist. Aus dem Mittelgrund blinkt der Spiegel der Donau herauf, dahinter weitet sich das Hügelmeer des Weinviertels. In der Nachbarschaft finden sich weitere Einzelhäuser, die aber großteils hinter Laubkronen verschwinden. Von dem vorbeiführenden Sträßchen etwas abgerückt, sitzt das Haus hart an der oberen Grundstücksgrenze. Ein Gartenweg führt vom Autoabstellplatz zum Haus hinauf, das über einen kurzen Steg von Norden her betreten werden kann.

Konzeptionell gesehen setzt sich das Haus aus einem massiven, die Stiege und Serviceräume enthaltenden Teil, der wie ein breiter Rücken die Nordseite deckt, und dem leichtgebauten, luftigen Hauptbau zusammen, der unter einem ausladenden flachen Dachschirm die Wohnräume umfaßt.

Das Gebäude ist als passives Solarhaus entworfen: Durch ein großes, schräggestelltes Dachfenster strahlt die Sonne auf die Nordwand hinter dem Stiegenhaus, die als Kollektor und Speicher wirkt. Dunkle Porphyrplatten sind mit handwerklicher Sorgfalt und entsprechendem Formgefühl in freiem Muster auf den Stahlbetonkern aufgebracht.

Der Fußboden des Wohnraums aus schwarzen Schieferplatten bildet die zweite Kollektorfläche, die im Winter von der tiefstehenden Sonne angestrahlt wird und ebenfalls die Wärme speichert. Im Sommer behindert der Schatten des auskragenden Daches ein Aufheizen. Eine locker beastete Kiefer vor der Südfassade legt zudem einen partiell willkommenen Schattenschleier auf den umlaufenden Balkon.

Die genannten Maßnahmen unterstützen den Wärmehaushalt, doch gehört das Gebäude laut Aussage des Architekten nicht zu den Spitzenreitern unter den Minimalverbrauchern. Gerhard Steixner ist Rainer-Schüler und ein konsequenter Moderner, der offene Grundrisse und große Glasflächen bevorzugt.

Die Konzeption des Hauses mit dem massiven Rücken, einem weitgehend verglasten „Bauch“ und einem an drei Seiten vorgelagerten Mantel aus gedeckten Außenwohnflächen unterstützt die moderne Wohnauffassung. Im Osten kragt ein Frühstücksbalkon über den Garten aus, und im Westen schließt ein Sitzplatz an das Wohnzimmer an, sodaß ein differenziertes und intensives Außenwohnen möglich wird. - Der zwei Geschoße hohe Wohnraum geht nahtlos in den niedrigen Wohnküchenbereich über, nach hinten, zur Stiege ist der Raum offen, und das Schlafzimmer sitzt wie ein Schwalbennest über der Wohnküche, vom Luftraum über der Sitzgruppe nur durch eine Glasscheibe getrennt. Die großen Glasflächen sind alle fix eingesetzt; zum Hinausgehen und zum Lüften dienen ein paar türgroße Fensterflügel, die sich nach außen öffnen - bei Winddruck sind sie selbstdichtend.

Da im vorderen Bereich keine massiven Teile raumbildend wirken, geben zwei kastenartige Elemente seitlich etwas räumliche Fassung. Sie enthalten Regale für Bücher sowie Küchenutensilien und Vorräte und stehen gegen außen wie Rucksäcke über die gläserne Trennschicht vor.

Im Untergeschoß, das hangseitig frei steht, befinden sich ein weiteres Zimmer und zwei Kabinette. Als besonderer Raum liegt an der Nordwestecke ein Atelier mit einer eingehängten Ruhegalerie. Dieser Raum ist stark definiert. Sein Volumen steht nach Norden und nach Westen über das Profil des Hauses hinaus. Die beiden gegeneinander gestellten Winkel aus Stahlbeton lassen nach Süden und nach Osten je eine schmale hohe Fensteröffnung zu, je nach Sonnenstand belebt das Streiflicht die schalungsrohen Wände.

Zwei Problemkomplexe, an denen der Architekt noch arbeitet, beschäftigen auch die Bewohner: die luftige Treppe und die Schalldämmung. Die Moderne strebt möglichst schlanke, ja visuell äußerst wagemutige Konstruktionen an. Diesem Bedürfnis können Geländer störend entgegenstehen. Für Erwachsene mit intaktem Gleichgewichtssinn ist der Verzicht auf Geländer selten ein Problem. Bei Kleinkindern kann dies jedoch zu Unfällen und nachfolgenden Haftungsproblemen führen. - Nun ist das Selbstverständnis bezüglich Sicherheit kulturell unterschiedlich. Im Mittelmeerraum ist das Bedürfnis nach Handläufen allgemein geringer, und auch die Zwei- bis Viertausender der Alpen haben nur selten Geländer. Als planender Architekt habe ich bei einem Haus im Nordtessin an den steinernen Außentreppen - wie dort seit alters üblich und daher auch nicht gesetzlich vorgeschrieben - auf Geländer verzichtet. Die Menschen, auch die ganz jungen, waren anfangs vorsichtiger, haben sich aber alle daran gewöhnt.

Der ostösterreichische Kulturraum kennt ein deutlich höheres Bedürfnis an struktureller Sicherheit - zuweilen grenzt es an Bevormundung - , das aber individuell nur schwer unterlaufen werden kann. Der Widerspruch zu den modernen Maximen ist daher gestalterisch zu bewältigen, und Gerhard Steixner wird uns die Lösung nicht schuldig bleiben.

Der andere Aspekt, die Schalldämmung, die bei gleichzeitiger Praxis am Instrument und Arbeit des Komponierens zu Konflikten führt, weil sie den Anforderungen noch nicht genügt, scheint aus meiner Sicht zumindest teilweise weniger technischer als grundrißtypologischer Natur zu sein. Die Rolle der selbständig berufstätigen Frau drückt sich in den Wohnhausgrundrissen noch nicht aus. Als Hausfrau regierte sie bis vor wenigen Jahren über die - meist abgetrennte - Küche und tagsüber über das Wohnzimmer. Das war ihr Bereich, in dem sie die Linie vorgab. Für ein eigenes Büro, ein Studio oder Atelier wurde das Bedürfnis nur ausnahmsweise formuliert, man vergleiche dazu Virginia Woolfs „A Room of One's Own“.

Die Trennung in ein „Zimmer des Herrn“ und ein gleichwertiges „Zimmer der Dame“, die wir aus Grundrissen großbürgerlicher Villen des 19. Jahrhunderts herauslesen können, hat sich nicht in das mittelständische Einfamilienhaus hinübergerettet.

Konkret: Die Flötistin hat keinen eigenen schallgedämmten Übungsraum, und die bislang getroffenen Schutzmaßnahmen für das Studio des Komponisten reichen nicht aus. An Hand des Grundrisses waren noch alle überzeugt, daß es funktionieren würde, die Praxis hat sie eines Besseren belehrt.

Man wird als Architekt im Hinblick auf die fortschreitende Gleichstellung selbständig berufstätiger Lebenspartner neue Grundrißtypologien entwickeln müssen und für das „Zimmer der Dame“ nach angemessenen zeitgenössischen Interpretationen suchen müssen. Damit wird das Haus etwas größer und kostet natürlich entsprechend mehr.

Die Herausbildung eines jeweils individuellen Bereichs dürfte sich auch in der Struktur und im Erschließungssystem bemerkbar machen. An architektenhandwerklichen und innovatorischen Aufgaben fehlt es jedenfalls in dieser Hinsicht für die Zukunft nicht.

Spectrum, Sa., 1997.05.17



verknüpfte Bauwerke
Standard Solar III

26. April 1997Walter Zschokke
Spectrum

Auf schmalem Handtuch

Geschlossene Bauweise ist ein Gebot der Zeit, um die Zersiedelung des ländlichen Raums zu bremsen. Dieser Maxime folgt Adolf Krischanitz mit seinem Landhaus im burgenländischen Zurndorf, dem Pionierbau einer kompakten Siedlung.

Geschlossene Bauweise ist ein Gebot der Zeit, um die Zersiedelung des ländlichen Raums zu bremsen. Dieser Maxime folgt Adolf Krischanitz mit seinem Landhaus im burgenländischen Zurndorf, dem Pionierbau einer kompakten Siedlung.

Hinter der hohen Stirnwand stehen dichtgedrängt Bücher in ihren Fächern. Darüber öffnet sich ein breites Fenster mit tief liegender Glasebene dem Südlicht, das im Winter weit in die Wohnhalle hinein strahlt. Das stark gegliederte Wohngebäude steht vorerst allein. Die langen Flanken sind geschlossen; es sind Feuermauern, an die gemäß Bebauungsplan ähnlich organisierte Häuser anschließen können.

In der Nähe von Zurndorf, im Nordburgenland, wo die Felder sich über die langwellig-sanft modellierte Topographie hinziehen, war eine alternative Lebensgemeinschaft in die Jahre gekommen. Veränderungen stehen an. Ein siedlungsbauliches Konzept, das Adolf Krischanitz mit seinem damaligen Mitarbeiter Markus Grob vor ein paar Jahren entwickelt hatte, teilt die über 400 Meter im Geviert messende Anlage in eine grüne, weitgehend unbebaute Mitte und in einen zu bebauenden Randbereich, der in parallele Streifen von etwa 7,20 Meter Breite und jeweils fast 60 Meter Länge aufgeteilt wurde.

Der Stall der vor Jahren zu Therapiezwecken gehaltenen Pferde wurde von einem Bauern aus dem nahen Dorf übernommen. Heute haben dort mehrere Pferdefreunde bereits etwa 20 Reittiere stehen. Dies war der Anlaß für unseren Bauherrn, sich in nächster Nähe ein Haus errichten zu lassen. Als Pionierbau steht das Bauwerk nun im teils brachliegenden, teils als Obstbaumgarten genutzten, ummauerten Areal.

Der sinnvolle und vernünftige Schritt zurück zu geschlossener Bauweise auf schmalen Handtuchparzellen, wie er im Burgenland von alters her vertraut ist, wurde gekoppelt mit einem nach vorn, was die Disposition auf dem bebaubaren Grundstreifen betrifft, und einem zweiten - vielleicht zur Seite - in den Bereich konkreter Architektur (im Sinn konkreter Kunst) in Form einer teilweise aleatorisch erzeugten Addition von Räumen. Das Muster mag dabei unter anderem vom Streckhof entlehnt sein, ebenfalls einem alten ländlichen Bautyp.

Die Randbedingungen für ein derartiges Architekturspiel sind nicht übermäßig weit, da die seitliche Beschränkung und das Grenzbaurecht den Rahmen setzen. Der Grundriß wird in die Länge gezogen und die Belichtung erfolgt, soweit sie nicht an den Stirnseiten liegt, über Innenhöfe. In den windgekämmten Ebenen des Burgenlandes dienen Höfe sommers als wichtiger Außenwohnbereich, und mit dem Hakenhof wurde für die bäuerliche Nutzung ein Bautyp entwickelt, der sich über die Jahrhunderte bewährt hat und dessen Tauglichkeit sich auch für Umnutzungen bis heute beweist.

Der von Adolf Krischanitz mit seinem Mitarbeiter Marc Gilbert entwickelte Grundriß folgt einem etwas anderen Prinzip: dem der verschobenen Achsen. An der anfangs genannten Stirnfassade führt links der Zugang vorbei. Die Eingangstüre ist ein paar Meter zurückversetzt, sodaß seitlich genügend Fassadenlänge frei bleibt, daß darin eine lange Fensterwand eingesetzt werden konnte, die sich zur Hälfte beiseiteschieben läßt. So entsteht ein Vorbereich, der geschützt und einladend zugleich ist. Sommers kann man direkt in die Wohnhalle eintreten oder Gäste hereinbitten. Die Konfiguration erinnert in positiver Weise an das eine Wohnzimmerfenster der burgenländischen Streckhöfe, das ebenfalls seitlich, noch vor der Eingangstüre liegt.

Die Eingangsachse führt durch den Vorraum, durchstößt eine Zwischenzone, zielt durch die schmale Küche und mündet in den Innenhof. Die quer über die gesamte Gebäudebreite verlaufende Zwischenzone trennt einen zum Hof gelegenen Eß- und Frühstücksbereich von der nach vorn orientierten Wohnhalle. Zugleich führt sie aber auf die andere Seite, wo eine kräftige Mauerscheibe aus glattem Stahlbeton den Beginn eines langen Korridors anzeigt. Er führt am Innenhof vorbei, wo sich wieder eine Fensterwand raumhoch öffnet, um von Westen Licht einfallen zu lassen. Es folgt eine Dunkelzone, von der die Türe zum Schlafraum abzweigt. Geradeaus leitet ein Glasabschluß in eine Art Laube über. Hier könnte ein zweiter Hof ansetzen und eine weitere Schlafzimmergruppe folgen. Vorerst öffnet sich hier das Haus zum Garten.

Ursprünglich war das Bauwerk ebenerdig gedacht; mag aber sein, daß es dem Bauherrn bereits ausreichend introvertiert war. Aus der zwei Geschoße hohen Wohnhalle führt daher eine Treppe hinauf ins Obergeschoß, wo sich ein großer Raum und zwei Gästekammern befinden. Aus der vorgelagerten Loggia vermag der Blick nun Richtung Nordosten über die Anlage hinauszuschweifen, weit über Felder, wo mächtige Hochspannungsmasten sich zu elementar-landschaftlichen Ereignissen hochrecken.

Auf den in die Länge gezogenen Grundriß treffen wir bei Krischanitz bereits bei einem Einzelhaustyp in der Siedlung Pilotengasse. Auch dort lassen lange Korridore im Haus drin einen Weg entstehen, schaffen Distanzen und Polaritäten, sodaß der offene Grundriß des Wohnbereichs nicht mit anderen Räumen in Konflikt gerät. Ein langer Gang ist daher ein deutlicher Hinweis auf dahinterliegende Privatheit.

Dieses Auseinanderlegen der Räume kompensiert fehlende Erschließungsalternativen. Es gibt nicht ausreichend Raum, um zwei Wege nach hinten zu führen, der Seitenwechsel der inneren Erschließung bildet zugleich den Wechsel im Öffentlichkeitscharakter.

Räumlich beherrscht die Wohnhalle mit doppelter Zimmerhöhe den vorderen Hausteil. Im Rücken der Stirnwand sind wandfüllend die Bücherregale eingebaut. Sie dominieren in positiver Weise, denn mit einer Bücherwand im Rücken läßt sich trefflich argumentieren. Nach hinten wird der Raum von Betonscheiben geteilt und von der tieferliegenden Decke aus demselben Material zoniert. Die Außenwände wirken massiv und sind es auch. Die einschichtige Wand aus Gasbetonsteinen ist außen mit einem rauhen Kratzputz in heller Sandfarbe versehen, innen etwas feiner in demselben Ton.

Die Fenster wurden aus handelsüblichen Holzprofilen in die Lücken zwischen den Mauern eingesetzt. Die Hebeschiebefenster sind so groß, wie die Raumstruktur dies erlaubt, und der sichtbare Rahmen beeinträchtigt die Offenheit kaum. Die Ausführung ist dezidiert unaufgeregt.

Die Architektur komponiert sich aus dem Charakter der Räume und der differenzierten Lichtführung und -qualität: direktes Sonnenlicht, Himmelslicht im Hof, Widerschein an einer Wand und abgestuftes Dämmerlicht im nach hinten entschwindenden Gang. Kein Lichtkult, wie er noch heute in der klassischen Moderne regiert, sondern Hinwendung zu höhlenartigem Charakter, mit einseitigem Lichteinfall und Abnahme bis zu Dämmerdunkel.

Es wurden nur Fensterwände eingesetzt, keine Öffnungen vom Typ „Loch in der Mauer“, sodaß elementare Fügungen Räume ergeben. Man ist im Inneren geborgen oder kann sich hinaus begeben in die flache Weite, wo nur das Pferd oder das Fahrrad die Landschaftsveränderungen zueinander in erinnerbare Zeitdistanzen bringen. Ein Ausblicksfenster, das wie ein Bild einen Landschaftsausschnitt rahmt, ergäbe hier keinen Sinn.

Das Haus ist vielmehr ein Rückzugsort, ein polares Gebilde zur offenen Landschaft. Anders als an einem zersiedelten Dorfrand wirkt der Gegensatz von Bauwerk und Umgebung hier sehr fundamental.

Die Bauherrschaft ist Architektur gewohnt. Schon vor über einem Dutzend Jahren ließ sie sich von Klaus Kada in Graz einen Dachboden ausbauen, später ein Haus in der Oststeiermark von Ernst Giselbrecht. Der berufliche Wechsel nach Wien bedingte einen Wohnungsausbau und nun wieder ein Haus auf dem Land, denn die Eheleute halten Pferde und reiten gern. Sie haben sich die Häuser nicht als Sammelstücke errichten lassen, sondern für ihren Alltag, den mit Freunden und Bekannten sowie für die Erholung an Wochenenden. Hier scheint eine städtebürgerliche Kultiviertheit auf, die zeitgenössischer Architektur gegenüber offen ist.

Neben anderen, vergleichbaren Entwicklungen ist dies vielleicht für letztere ein Hoffnungsschimmer, in ihrer ganzen Breite auf vermehrtes Interesse zu stoßen. Denn wie soll Architektur entstehen können, wenn sie nicht von engagierten Baufrauen und Bauherren gefordert und geordert wird. Denn die Last des Architekturwollens kann nicht von den Architekten allein getragen werden.

Spectrum, Sa., 1997.04.26



verknüpfte Bauwerke
Haus Sperl

15. März 1997Walter Zschokke
Spectrum

80 Quadratmeter Zuhause

An der „Camillo Sitte Lehranstalt“ in Wien-Landstraße haben Richard Vakaj und seine Schüler rumänischen Straßenkindern ein Obdach geschaffen. Nun wird dieser hölzerne Elementbau in Rumänien aufgestellt.

An der „Camillo Sitte Lehranstalt“ in Wien-Landstraße haben Richard Vakaj und seine Schüler rumänischen Straßenkindern ein Obdach geschaffen. Nun wird dieser hölzerne Elementbau in Rumänien aufgestellt.

Der geklonte Mensch als Schreckgespenst: Vor ihm macht man uns dieser Tage fürchten. Als ob die Menschwerdung mit der Zeugung (oder einer technischen Züchtung) und der Geburt (oder der „Dekantierung“) abgeschlossen wäre. Mehr als 20 Jahre dauert heute der Entwicklungsprozeß. Das Ziel einer reifen Persönlichkeit werden viele erst nach drei Jahrzehnten ins Blickfeld bekommen. Geduldige Erziehungsarbeit und konsequente Vorbildwirkung konstituieren im Lauf der Zeit einen mehr oder im Ermangelungsfall eben weniger gebildeten und kultivierten Menschen, der, selbständig an sich arbeitend, fähig ist, aktiv an den produktiven, gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Prozessen mitzugestalten.

Katastrophale Einbrüche durch Krieg, politische Umstürze oder allgemeine Not haben zur Folge, daß zahlreiche Jugendliche in einer höchst empfindlichen Entwicklungsphase aus der Bahn gedrängt oder geworfen werden und, weil es ums schiere Überleben geht, einem Druck zu asozialem und kriminellem Verhalten unterworfen werden. Man sieht, hört und liest heute in den Medien von den Straßenkindern in Brasilien; die Literatur kennt das Phänomen schon länger. Heinrich Pestalozzi betreute unter anderem in Stans durch den kriegerischen Einbruch französischer Heere zu Waisen gewordene Kinder und wurde als neuzeitlicher Pädagoge bekannt.

Charles Dickens' Roman „Oliver Twist“ berichtet aus einer Zeit, als Halbwüchsige wegen eines Taschendiebstahls durch Erhängen aus der Welt geschafft wurden. Der russische Pädagoge Anton S. Makarenko sammelte positive Erfahrungen, als er sich ab 1920 kriminellen und verwahrlosten Jugendlichen widmete, die ihre Eltern durch Krieg und Revolution verloren hatten. Sein Buch „Der Weg ins Leben“ hat seinen Wert bis heute bewahrt, auch wenn Makarenkos spätere Schriften aus der Stalinzeit bedenklich eng denkend sind.

Kurt Held, von dem das bekannte Jugendbuch „Die rote Zora und ihre Bande“ stammt, hat mit dem vierbändigen Roman „Giuseppe und Maria“ das Leben verwaister und sich selbst überlassener Jugendlicher im südlichen Italien in der Phase von 1944/45 beschrieben, als die Alliierten sich nach Norden vorkämpften.

Es ist daher kein neuartiges oder unbekanntes Phänomen, daß auch in Europa durch Umwälzungen betroffene elternlose Jugendliche Halt und Zuwendung brauchen, damit sie nicht stehlen müssen, um ihr Überleben zu sichern. Kirchliche Kreise widmen sich beispielsweise in Rumänien dieser Aufgabe mit viel Energie.

Richard Vakaj wurde mit dem Elend rumänischer Straßenkinder in Oradea konfrontiert, als er eine Vorbereitungsfahrt für den traditionellen Projektunterricht der „Camillo Sitte Schule“ machte. Als Professor an dieser Höheren Technischen Lehranstalt ergriff er 1993/94 die Initiative, um mit den Schülern Unterkünfte für obdachlose Kinder nicht nur zu planen, sondern auch selber herzustellen. Dieser Tage fahren Lehrer und Schüler nun nach Oradea, Rumänien, um ihren Prototyp aufzustellen.

Eine Notbehausung von zirka 80 Quadratmetern Wohnfläche, ist das Architektur? Und was hat das auf der entsprechenden Seite im „Spectrum“ zu suchen? werden jene fragen, die sich für ihre Prachtbauten schon längst eine Würdigung erwartet haben. Dem ist entgegenzuhalten, daß die Betrachtung und Bewertung von Bauwerken nicht losgelöst von den gesellschaftlichen Umständen erfolgen kann, unter denen und für die sie entstanden sind. Und wenn Jugendliche mit großem Einsatz über längere Zeit für ihre vom Schicksal härtest betroffenen Altersgenossen eine Behausung planen und ausführen, hat das auch deshalb mit Architektur zu tun, weil das Produkt durch das soziale Engagement an inhaltlichem Wert gewinnt.

Der Lernprozeß ist nicht bloß ein handwerklich-technischer, sondern ein soziokultureller. Man erfährt unmittelbar, was andernorts „Existenzminimum“ bedeuten kann. Die damit in den Schülern vollzogene Reifung läßt sich mit keinem noch so ausgeklügelten fiktiven Projekt simulieren. Der architektonische Gehalt einer derartigen Aufgabe liegt daher auch im Unsichtbaren, das heißt beispielsweise in der Reduktion auf ein für Mitteleuropäer unvorstellbares ökonomisches und soziales Minimum. Er liegt aber auch in der Tatsache, daß sowohl der Container als auch die Baracke in typologischer Hinsicht verworfen wurden.

Das Konzept sieht vielmehr ein pavillonartiges Gebilde vor, das aus sechseckigen Zellen, die eine Seitenlänge von zwei Metern aufweisen, zusammengefügt wurde. Hier spielen bereits Aspekte der Konstruktion und des Zusammenbaus mit hinein, deren Beachtung Teil des entwerferischen Lernprozesses war, aber noch geht es uns um Raum und Form. Indem an zwei Stellen beim Zusammentreffen von drei Zellenecken die tragenden Trennwände in Stützen aufgelöst werden, entsteht ein größerer Aufenthaltsraum, dessen Mitte von einem fix montierten großen Tisch eingenommen wird.

An der einen Seite schließen ein Sanitärraum und die Küche an; an der anderen sind drei sechseckige Kojen angelagert, die jeweils auf zwei Stockbetten vier Schlafplätze enthalten, sodaß der ganze Pavillon für zwölf Jugendliche ausgelegt ist.

Die Sechseckform mag auf den ersten Blick unpraktisch erscheinen, weil dreieckige Restflächen entstehen, die allerdings mit einer fest eingebauten Tischplatte vor den Fenstern geschickt genützt werden.

Räumlich entsteht durch die zur Rundhütte tendierende Form jedoch eine spezifische Geborgenheit und zugleich Autonomie, die bei aneinandergereihten rechteckigen Zimmern nicht aufkommt. Es handelt sich trotz der existentiellen Minimierung um ein „besonderes“ Bauwerk, das im Gegensatz zur Baracke und zum Container über Identität verfügt und Identifikation zu vermitteln vermag, was bei der sozialen Desintegration und der wegen vielfältiger äußerer Zwänge vorhandenen Aggressivität der Straßenkinder von nicht geringer Bedeutung sein dürfte.

Die Konstruktion besteht aus hölzernen Rahmen, die, beidseitig mit Brettern verschalt und innen wärmegedämmt, als Sandwichelemente addiert werden. Jene für die Wände haben die Maße zwei Meter mal 2,26, sodaß ein Element zu zweit problemlos bewegt werden kann. Für Boden und Dach sind die Elemente dreieckig und auf einer einfachen Konstruktion aus drei sternförmig zusammengeschraubten V-förmigen Bandstahlelementen aufgelegt, die strahlenförmig zu den Ecken verlaufen.

Die Wandelemente werden an den Gebäudekanten mit einem massiven Holzsteher verschraubt, der zugleich die offene Fuge schließt. Das flache Dach ist mit einer verklebten Folie gedichtet. Unter den Wandelementen gibt es sowohl geschlossene als auch solche mit hohen Fenstern in halber Elementbreite. Diese sind fixverglast.

Als dritter Typ finden sich niedrig liegende Öffnungen, die beim Sitzen das Hinausschauen erlauben und sich zum Lüften ausklappen lassen. Das kleine Format der Isolierglasscheiben rührt nicht etwa von einer Anlehnung an Josef Hoffmann her, sondern hat mit Standardisierung und geringerer Bruchgefahr zu tun.

Als Material dient vornehmlich Holz, das sich einmal mehr als Freund der Bedürftigen erweist, als Halbfabrikat zur Verfügung steht und mit einfachster Technologie verarbeitbar ist. Dies kommt den Möglichkeiten der Schüler ebenso entgegen wie einer künftigen Reparier- und Veränderbarkeit am neuen Standort. Das geringe Gewicht erleichtert Transport und Montage ohne Kran und andere Hilfsmittel an Ort und Stelle.

Die Erfahrungen, die von den Schülern im Rahmen dieses ausgedehnten Projektunterrichts gesammelt wurden, führen über das übliche Schulwissen weit hinaus. Die praktische Erprobung eines Bausystems erlaubt Einsichten, zu denen man weder am Zeichentisch noch am CAD-Bildschirm vorzudringen vermag: Das ist unmittelbares Leben. Die enorme Beschränkung durch ökonomische und technisch-organisatorische Aspekte erhöhte die Findigkeit für einfache Detaillösungen.

Das Beispiel zeigt aber auch, daß in den jungen Menschen enorme Energien schlummern, die, durch Begeisterung geweckt, im Zusammenwirken große Taten möglich machen. Daß diese Kräfte auch ungerichtet verpuffen können, ist bekannt.

In verantwortungsvoller Weise wurde hier diese Begeisterungsfähigkeit hervorgerufen und die Schüler zu Leistungen hingeführt, die sie wohl kaum je vergessen werden. Dazu gehört auch die Erfahrung von Zusammenarbeit. Richard Vakaj, der nicht zufällig aus der Meisterschule Roland Rainers stammt, ließ nicht locker, bis das Projekt realisiert war. Natürlich wurde die gesamte Arbeit von Schuldirektor und Abteilungsvorstand sowie von Professorenkollegen unterstützt. Darüber hinaus hat eine ganze Reihe Firmen mit Materiallieferungen und Dienstleistungen die Realisierung möglich gemacht.

Während im Krisengebiet - neben einer Soforthilfe - die Arbeit dort einsetzen muß, wo die heranwachsende Jugend in ihrer positiven Entwicklung bedroht ist, konnten im verhältnismäßig stabilen Wien unserer Tage Jugendliche derselben Generation ihrer Kräfte beim Aufbau einer guten Sache gewahr werden. Bauen hat eben ganz allgemein mit dem Übernehmen von Verantwortung zu tun. Auch das ist Architektur.

Spectrum, Sa., 1997.03.15



verknüpfte Bauwerke
Unterkünfte für obdachlose Kinder

01. März 1997Walter Zschokke
Spectrum

Wenn es funkelt in St.Pölten

Wie ein Opal in räumlich differenzierter Fassung leuchtet das Festspielhaus in St. Pölten, entworfen von Klaus Kada, in sein Umfeld. Es steht für das neu sich entwickelnde Architekturverständnis Niederösterreichs.

Wie ein Opal in räumlich differenzierter Fassung leuchtet das Festspielhaus in St. Pölten, entworfen von Klaus Kada, in sein Umfeld. Es steht für das neu sich entwickelnde Architekturverständnis Niederösterreichs.

Städtebaulich bildet das Festspielhaus die westlichste Eckbastion des neuen Regierungsviertels. In attraktiver Übereckstellung tritt es dem unbeirrbaren Besucher entgegen, der von der stillgelegten Lederergasse her - an der die ehemalige Synagoge steht - zum Kulturbezirk vordringt. Diese zumindest für Fußgänger nicht unwesentliche Verbindungsachse aus dem historischen Zentrum zu Kulturbezirk und Regierungsviertel wurde seitens der Stadt bisher stiefmütterlich behandelt.

Wie unrecht diese hat, an jener Stelle noch die kalte Schulter zu zeigen, wird beim Nähertreten klar, denn das Haus weist in ihrer Richtung ein offenes und lebendiges Gesicht auf: Signalhaft dunkelblau kragt ein hoch auf hyperschlanken Stützen aufgestelzter, geschuppt verglaster Körper über die Fassadenflucht hinaus. Er beschirmt zugleich die darunter befindliche offene Galerie des Pausenfoyers, die den Blick in die nahen Kronen alter Bäume freigibt.

Weiter Richtung Osten an dieser spannungsvoll-plastisch aufgebauten Fassade liegt der Haupteingang. Schlanke Scheiben aus Stahlbeton sind zu einem vier Geschoße hohen, monumentalen Portikus gefügt. Trotz des massiven Materials steht das fragil wirkende Raumgebilde, das mit gläsernen Membranen klimatisch abgedichtet ist, zum ruhigen Bauwerk der Landesbibliothek, das ostseitig die dazwischenliegende, ansteigende Platzfläche faßt, in volumetrischem Bezug.

Zu diesem öffentlichen Raum entwickelt das Festspielhaus den stärksten Ausdruck: Ein riesiger, mit Mattglas bespannter Körper drängt aus dem flach quadrischen Hauptbau heraus. Seine hochaufragende, überhängende Front wirkt geheimnisvoll, macht neugierig auf das, was dahinter liegt. Der Raum darum herum ist einsehbar. Galerien, Stege und Treppen sind von außen zu erkennen. Am Tag treten sie hinter den spiegelnden Glasflächen etwas zurück; nachts, wenn das Haus von innen herausleuchtet, sind sie deutlicher zu sehen.

Das verheißungsvolle Äußere, das mit Einblicken nicht geizt, birgt im Inneren eine klare, dreidimensionale Struktur, die weniger durch ihre relative Symmetrie als durch weiträumige Übersichtlichkeit leicht verstehbar und begehbar wird. Den Kern bildet der breite, fast bullig wirkende große Saal, der auf den Bühnenkomplex mit Hinter- und Seitenbühnen ausgerichtet ist, über dem der Bühnenturm aufragt. Nach Westen und Nordwesten ist fast beschützend eine Schicht Büroräume winkelförmig davorgestellt. Sie erzeugt zur vorbeiführenden Zufahrtsstraße einen ruhigen, neutral wirkenden Abschluß. Nach Norden, der Ankunftsseite von der Stadt, liegen Foyers und Wandelgänge sowie der schon erwähnte kleine Saal, der sich hinter der blaugeschuppten Glashaut verbirgt. Im Osten verläuft die Eingangshalle unter Treppenläufen und Stegen und unter dem vom Boden her auf verhältnismäßig schlanken Streben hochgespreizten Heck des großen Saales durch das ganze Gebäude. Analog zu dem Platz davor steigt hier der Fußboden merklich an. Der öffentliche Raum wird auf diese Weise weit ins Foyer hineingezogen.

Dieser relativ ungewohnte Sachverhalt verstärkt das Gefühl, sich noch gar nicht in einem Innenraum zu befinden, sondern im Schutz des kragenden Glaskörpers vor allem von dessen räumlicher Abstrahlung zu profitieren. Wie zwei Ecktürme markieren die selbständigen Raumgebilde aus schlanken Stahlbetonscheiben die beiden Gebäudekanten zum ansteigenden Platz. Sie enthalten Fluchttreppen, Stiegen sowie einen Lift mit dazugehörigen Plattformen. Von diesen führen Stege zu den zwei versetzt übereinanderliegenden, tunnelartigen Galerien im Rücken des großen Saales.

Die leicht gekrümmten, expressiv-dynamischen Räume mit ihren schiefen seitlichen Begrenzungsflächen führen zu den hinteren Zugängen. Sie durchstoßen das Heck des verheißungsvoll exponierten Körpers, dessen erwartungsgespannte Aufladung durch die gewölbten Seitenflächen, die von keiner Decke berührt werden, symbolisiert wird. Die Treppen, Stege und Galerien dienen eigentlich der Exposition dieses Körpers, zu dem lediglich einige kurze Stege hinführen. Tiefe Laibungen fassen die doppelten Türen, durch welche die Besucher, nachdem sie draußen promeniert sind, sich gezeigt und genügend andere, ebenfalls promenierende, festlich gekleidete Menschen gesehen haben, in den großen Saal gelangen können.

Weitere Besucher des Hauses, die soeben mit dem Automobil in die Tiefgarage eingefahren sind, gelangen von dieser zu einem Aufgang, der vom Untergeschoß unmittelbar in die Eingangshalle führt. Auf einer Rolltreppe fahren sie nach oben; baldachinartig ist die klare Glashaut darüber hinausgezogen, schräge Pendelstützen stemmen sich über die langgezogene Bodenöffnung. Etwas höher folgt dann die überhängende Rückwand.

Den Kopf neugierig hochgereckt zum urbanen Raum, fährt man als neuangekommener Besucher aus dem Untergrund herauf: ein Auftritt auf der angeschrägten Bühne des öffentlichen Lebens von besonderer Art.

Nun betreten die Besucher den Saal, wo sie nicht von dunkelrotem Samt empfangen werden, sondern von erfrischend gestreiften Sesselbezügen in Silberweiß und Anthrazitgrau. Zu dem hellen Holz der Wände gesellt sich an den vorderen Seitenwänden ein Farbimpuls in Smaragdgrün. Der sehr kompakt wirkende Saal verspricht von allen Plätzen gute Sicht zur Bühne; die Aufführung kann beginnen.

Klaus Kada, der in Leibnitz geborene und aufgewachsene Südsteirer, der in Graz Architektur studiert hat und mittlerweile in Aachen einem Lehrstuhl für Entwerfen vorsteht, verfügt, wie nur wenige, über eine Architekturpranke, mit der er kräftig und sorgfältig zugleich den Raum teilt und für Besucher erschließt.

Betrachtet man das gesamte Bauwerk von seiner räumlichen Struktur her, von innen nach außen vorgehend, ergibt sich folgendes Bild: Als Kern des Bauwerks ruht, schlank aufgestützt, der geheimnisvoll aufgeladene Körper, einem Asteroiden gleich. Er ist das Ziel der Inszenierung des Ankommens, das Objekt der Begierde.

Um diesen Körper herum zieht sich, wie eine virtuelle zweite Hülle, ein Leerraum, der nur von den kurzen Zugangsstegen durchstoßen wird. Fast in Greifweite - aber eben nur fast - spannt sich die in der Tiefe mattierte gläserne Haut über den betonierten Kern und verleiht dem Objekt seine geschlossene äußere Form.

Von den Raumstrukturen aus Stahlbetonscheiben in den Gebäudeecken wird eine weitere Raumschicht markiert, die nur klimatisch durch Glasmembranen von der Außenwelt getrennt ist. Sie ist die Bühne für den urban verdichteten Auftakt zum Veranstaltungsbesuch, jenen wichtigen Aspekt des Sehen-und-Gesehenwerdens, der bei Veranstaltungen der Hochkultur unabdingbarer und integrierter Bestandteil ist.

Die kompakte, flach-quadrische Großform des aus verschiedenen Teilen agglomerierten Gebäudes wird von zwei Elementen durchbrochen, die den Hauptzweck des Bauwerks entscheidend bestimmen: dem großen und dem kleinen Saal. Während die blaue Hülle des kleinen Saales nach außen Objekthaftigkeit signalisiert, spiegelt der große Körper tagsüber die wechselnden Lichtverhältnisse, um bei einbrechender Dunkelheit selbst zu leuchten. Beide sind sie in einen scheinbaren Schwebezustand versetzt, ein Effekt, der einerseits von der Materialisierung in Glas, andererseits von den überschlanken Stützelementen herrührt, die eher wie Zugelemente wirken, die ein Abheben verhindern sollen, denn als tragende Rundstützen.

Die leicht gewölbte vielflächige Glashaut des Auditoriums stellt für hiesige Verhältnisse insofern ein herstellungstechnisches Novum dar, als der Zuschnitt der einzelnen, teils viereckigen, teils dreieckigen flachen Glaselemente vollkommen computergesteuert ablief. Die exakte Zeichnung in elektronischer Form ging an das Werk, wo der maschinelle Zuschnitt direkt ab Diskette erfolgte.

Dieses Vorgehen setzt exaktes Maßnehmen - ebenfalls mit elektronischen Meßinstrumenten - am Rohbau voraus, erlaubt aber bei der Montage ein zügiges Arbeiten, weil die Elemente wie Teile eines Puzzles zur gewölbten Fläche zusammenpassen, mithin die darunterliegende Montagekonstruktion auf die in sich stimmende Glashaut auszurichten war.

Nur auf diese Weise ist es möglich, derartig komplexe, doppelt gekrümmte Flächen höherer mathematischer Ordnung exakt und zu vertretbaren Kosten auszuführen. Was bei Glas funktioniert, gilt bei anderen Bauten auch für Holz oder Naturstein.

Sowohl in architektonisch-kultureller als auch in technisch-herstellungsmäßiger Hinsicht hat Klaus Kada ein eminent zeitgenössisches, aber auch ein außerordentlich offenes öffentliches Kulturbauwerk geschaffen, das bereits jetzt über ausgeprägte Identität verfügt. Die Identifikation der Niederösterreicher mit „ihrem“ Festspielhaus wird wohl nicht lange auf sich warten lassen. Das Gebäude selbst und seine architektonische Qualität sind eine Herausforderung für die weitere Arbeit auf dem niederösterreichischen Kultursektor.

Spectrum, Sa., 1997.03.01



verknüpfte Bauwerke
Festspielhaus

22. Februar 1997Walter Zschokke
Spectrum

Konzertflügel mit Landschaft

Auf einem Steilhang, mehr als 1000 Meter über dem Meer, bei Weerberg, Tirol, hat Margarethe Heubacher-Sentobe für einen Musiker den Ort „zum Arbeiten“ errichtet - ein Haus wie der Auftakt zu Beethovens Fünfter.

Auf einem Steilhang, mehr als 1000 Meter über dem Meer, bei Weerberg, Tirol, hat Margarethe Heubacher-Sentobe für einen Musiker den Ort „zum Arbeiten“ errichtet - ein Haus wie der Auftakt zu Beethovens Fünfter.

Drei querliegende Raumschichten durchstößt der Blick nach dem Eintreten, um dann durch ein wandgroßes Fenster nach Süden über das Tal hinunterzugleiten. Das gesamte Innere des kleinen Hauses bildet ein räumliches Kontinuum, das von einer Schar pfeilerartiger, schmaler Wandscheiben zoniert wird. Zugleich ist es eine Art reziproke Bühne: Die Landschaft blickt von vorn in das Haus hinein. Der Zugang liegt an der nach Norden gerichteten Eingangsseite. Hier ist die Außenmauer - schalungsroher Beton - geschlossen. Zur einzigen Öffnung, der Tür, führt ein kurzer Steg, steil fällt das unverändert gelassene Terrain ab.

Die breite, ein Geschoß hohe Mauer schirmt die neun - in drei Reihen zu je drei Stück - in den Hang gestellten Pfeilerscheiben. Bei jedem Takt rücken die äußeren zwei Pfeiler um einen Schritt seitlich hinaus, sodaß sich der Innenraum gestuft trichterförmig zur Landschaft öffnet. Dadurch entwickeln sich zwei parallele Raumfolgen von hinten nach vorn, von niedrig zu hoch und von eher geschlossen zu weitgehend offen. Sie werden von dem starken Querzug der vordersten Schicht abgebremst.

Das Dach ist ebenfalls nach vorn, gegenläufig zum Hang aufgetreppt. Da vom Eingangsgeschoß eine einläufige Treppe nach unten führt, öffnet sich der umbaute Raum nicht nur seitlich, sondern auch nach oben und vor allem nach unten. Lapidar stehen die Mauerpfeiler im Hang. Dazwischen spannen sich in schlanken Holzrahmen große Glasflächen. Das Haus wird zu einem großen Instrument, das die umgebende Landschaft von drei Seiten her in sich aufnimmt.

Mit jedem Pfeilertakt werden die seitlichen Fenster höher, reduziert sich die räumliche Fassung, bis man zuvorderst turmhoch über der abschüssigen Wiese steht, halb drin, halb draußen. Hier ist man völlig exponiert, die Balkonplatte davor kragt gefühlsmäßig bereits ins Nichts.

Von außen treten Sichtbeton, Caroline-Kiefer, Glas und das Blech der Dacheindeckung in Erscheinung. Im Inneren sind die Wände weiß verputzt, und für den Schiffboden wurde Lärchenholz verwendet. Mit dieser rigiden Reduktion auf die zwei, drei im Alpenraum für das alltägliche Bauen verwendeten Materialien und mit der geländefühligen Positionierung ist das Bauwerk eingebunden in die moderne Tradition des alpinen Bauens, wie sie in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren von Lois Welzenbacher und Franz Baumann für Tirol begründet und von Architekten wie Ernst Hiesmayr und anderen weitergeführt wurde. Nach einigen schwachen Jahrzehnten in den fünfziger und sechziger Jahren wird sie seit ein paar Jahren von engagierten und fähigen Architektinnen und Architekten wieder gepflegt.

Das trotz seiner geringen Dimension großartige Haus von Margarethe Heubacher-Sentobe verfügt über eine berückend klare gedankliche Struktur. In die tektonische Fassung, die räumlich Halt bietet, ohne einzuschnüren, ließen sich die Nutzungen mit unbekümmerter Leichtigkeit einschreiben, dennoch sind spezifische Orte von hoher architektonischer Dichte entstanden.

Wenn man sich den Grundriß vergegenwärtigt, liegen zwei freistehende Pfeilerscheiben im Mittelbereich des Hauses. Zwischen den beiden kräftigen Mauervolumen verdichtet sich der Raum jeweils zu einer spezifischen Zone, die auf beiden Geschoßen einen Ort der Ruhe bildet. Auf der Ebene des Eingangs ist es ein bequemes Sofa mit Ausblick nach Westen, im Stockwerk darunter schiebt sich das Bett zwischen die Pfeiler. Um den räumlichen Gebäudekern reihen sich die verschiedenen Nutzungszonen, gehen teils ineinander über, werden aber doch deutlich zoniert durch die Konstellation der Pfeilerscheiben.

Der nicht zuletzt auch ökonomisch bedingte, auf die Form einwirkende Reduktionsprozeß wurde von der Architektin gemeinsam mit dem Bauherrn vorangetrieben. Der Musiker - Pianist und Komponist - war dabei ein qualifizierter Diskussionspartner. Da in den vergangenen Jahren das gegenseitige Mißverstehen unter den künstlerischen Disziplinen zugenommen hat, freut es einen, auf dieses positive Beispiel zu stoßen.

Der Eßplatz liegt im unteren Geschoß der vordersten Raumschicht. Er gewinnt durch die doppelte Raumhöhe verstärkte Bedeutung. Von hinten und von der Seite blickt man aus den anschließenden galerieartigen Raumzonen durch zarte Geländer darauf hinunter; die kragende Balkonplatte davor mildert aufkommende Schwindelgefühle. In gleicher räumlicher Lage wie der Eßplatz, einen Stock höher, in der vordersten Raumschicht des Eingangsgeschoßes, ist der große Flügel situiert. Diese Raumzone auf einer vorgeschobenen Plattform im Hausinneren bildet den Abschluß der westseitigen Raumfolge. Exponiert und mit Ausblicken verwöhnt, so hatte sich der Hausherr seinen Ort zum Arbeiten gewünscht.

Die Architektin Margarethe Heubacher-Sentobe stammt aus Schwaz im Unterinntal. Nach der HTL in Innsbruck studierte sie Architektur bei Roland Rainer an der Akademie der bildenden Künste in Wien, wo sie 1973 mit dem Diplom abschloß. Ihre Praxiszeit verbrachte sie in Innsbruck. Bereits damals konnte sie als Mitarbeiterin von Architekt Günther Norer mehrere Wettbewerbserfolge verbuchen. Seit 1978 führt sie ihr eigenes Atelier in Schwaz. Sie arbeitet meist allein und zeichnet in der Regel alle Pläne selbst. Nur bei größeren Projekten zieht sie Mitarbeiter bei. Seit 1990 wirkt sie auch als Lehrbeauftragte an der Universität Innsbruck. Sie ist verheiratet und hat eine bald erwachsene Tochter.

Daß ihr Arbeitsvolumen nicht gering war und es bis heute nicht ist, kann man sich denken. Außer mehreren einfühlsam entworfenen Einfamilienhäusern in Schwaz und Umgebung hat sie zwei mittelgroße Wohnanlagen errichtet. Der von ihr entworfene Seniorenclub-Stadtpark in Schwaz wurde mit dem Bauherrenpreis der Zentralvereinigung der Architekten ausgezeichnet. Schon in ihren früheren Werken hat sich Margarethe Heubacher-Sentobe immer auch mit der Massenwirkung von Mauerwerk befaßt. Mit dem in diesem Jahrhundert erfolgten Aufkommen der Fliegerei - als einige Architekten begannen, sich an den Leichtbaukonstruktionen der Flugzeuge zu orientieren - ist konstruktive Leichtigkeit zu einer der Ikonen von Modernität geworden. Vertreter der nachfolgenden Generationen erhoben dieses Prinzip nicht selten zum Dogma. In diesem Kontext weist Heubacher-Sentobe mit ihren Entwürfen darauf hin, daß neben Leichtigkeit auch Masse und Gewicht als Elemente der Architektur existieren und daß gerade das Spannungsverhältnis von schwer und leicht, von undurchsichtiger Masse und transparenter, dünner Haut als architekturgenerierendes Moment wirken kann.

In der Form, wie das die Architektin mit viel gestalterischer Sorgfalt mit dem Haus am Steilhang demonstriert, bekommt man es allerdings selten vor Augen. Da ist zuerst der Berg, dann die schirmende Betonmauer und die Pfeilerscheiben. Dazwischen sind die durchsichtigen Klimatrennungen eingezogen und die filigranen Geländer gelegt, die bei räumlichen Übergängen mit unterschiedlichen Niveaus erforderlich sind. Das ist alles.

Das Bauwerk verweist aber auch auf eine in jüngster Zeit feststellbare Entwicklung, die das Klischee von der Großstadt als alleinigem Hort architektonischer Hochkultur als das decouvriert, was es ist: ein Propagandaslogan. In der Welt als ausgedehntem, nicht hierarchischem urbanem Gebilde, medial vielfältig vernetzt, finden sich Rückzugszonen, wo eine geringere Hektik und die Absenz pausenlos fokussierender Medien ein sorgfältigeres Arbeiten und die Konzentration auf die wesentlichen Dinge erlauben.

Hat nicht Peter Zumthor, obwohl aus Oberwil bei Basel stammend, sein Atelier im Dorf Haldenstein bei Chur eingerichtet und seinen internationalen Erfolg von dort aus begründet und ausgebaut? Dagegen wirken der Jahrmarkt der Eitelkeiten, die zahllosen Vernissagen, die vielen Vorträge und Ausstellungen, aber auch das allzu hastig Geschriebene eher verwirrend als klärend. Die sich anbahnende Überproduktionskrise modisch-architektischer Flachwurzler betrifft derzeit vor allem die Metropolen.

Es erstaunt andererseits nicht, daß die Bauten von Margarethe Heubacher-Sentobe erst jetzt, nach bald 20 Jahren selbständiger Tätigkeit, ins allgemeine Blickfeld rücken. Wer wie sie allein arbeitet und von Auftrag zu Auftrag an der eigenen Entwicklung gefeilt hat, wird wenig Zeit finden, sich auch noch um die Propagierung seiner Arbeiten zu kümmern. Dafür ist diese Art der Selbstqualifizierung in tragenden Schichten gegründet, wie es für ein auf lange Nutzungsdauer ausgelegtes Bauwerk üblich ist.

Spectrum, Sa., 1997.02.22



verknüpfte Bauwerke
Studio für einen Pianisten

01. Februar 1997Walter Zschokke
Spectrum

Im Zweifel für den Architekten

Die U6 brachte der Brigittenau urbane Blutauffrischung. Jetzt stellen sich die privaten Investoren ein. Otto Häuselmayer hat projektiert, die Ausführung übernahm der Investor. Von der merkbaren Kluft zwischen Architektur und Bauen.

Die U6 brachte der Brigittenau urbane Blutauffrischung. Jetzt stellen sich die privaten Investoren ein. Otto Häuselmayer hat projektiert, die Ausführung übernahm der Investor. Von der merkbaren Kluft zwischen Architektur und Bauen.

Der 20. Wiener Gemeindebezirk gehört nicht zu den städtebaulichen Vorzeige gebieten. Dicht gedrängte gründerzeitliche Mietskasernen besetzen den Südteil, im Nordwesten wechseln im Ansatz steckengebliebene Konzepte mit beziehungslos hingestellten großen Bauvolumen. Dazwischen eingestreut blieben bis vor kurzem manche Grundstücke unverbaut; sie dienten als Autoabstellplätze oder verwilderten zu „Gstätten“, auf denen allerhand Zivilisationsschutt deponiert wurde.

Seit 1989 hat sich hingegen einiges verändert: Wien verlor den Ruch der Grenzstadt mit seiner hemmenden Wirkung auf Investitionen, und mit dem Anschluß der Brigittenau an das Wiener U-Bahn-Netz setzte dort ein Erneuerungsprozeß ein. So wurde die Leipziger Straße, unter der die U-Bahn verläuft, nach den Ideen von Boris Podrecca zu einem städtischen Grünzug umgestaltet. Bei der Station Jägerstraße war ein halber Baublock zur Wexstraße hin seit Jahren leer geblieben.

Wohnblöcke aus den sechziger Jahren und gegenüber das hohe dunkle Prisma des Technischen Gewerbemuseums bestimmen das Umfeld. Grünflächen mit großen Bäumen ziehen sich zwischen den Siebengeschoßern mit flachen Satteldächern und angeklebten Balkonen durch und verschleiern die architektonischen Blößen im Wohnbau dieser Zeit.

Architekt Otto Häuselmayer, der ein städtebauliches Gutachterverfahren mit seinem unaufgeregten Konzept für sich entscheiden konnte, schloß mit einem dem Straßenverlauf folgenden Winkelbau den Straßenraum der Jägerstraße und vollendete an der Wexstraße die von einem Späte-sechziger-Jahre-Block angefangene Randbebauung.

Hofseitig, wo sich der Winkel zu Grünzug und Stationsbereich öffnet, setzte er einen kräftigen Solitär auf quadratischer Grundfläche in die äußerste Ecke. Das Erdgeschoß des gesamten Grundstücks wird von einem Einkaufszentrum und weiteren Geschäftsräumlichkeiten eingenommen; das Dach ist mit Privatgärten begrünt. Volle vier Geschoße senkt sich die Autogarage in den Untergrund.

Die Bautiefe der Wohnhautrakte beträgt 16 Meter, was der Grundrißplanung einige Nüsse zum Knacken aufgab, da im Mittelbereich fast zwangsläufig schlechter belichtete Zonen entstehen.

Der erfahrene Wohnbauarchitekt Häuselmayer ließ sich aber nicht beirren und löste die funktionalen Probleme des bis zum äußersten ausgequetschten Grundstücks. Neben funktionaler Klarheit weisen die Bauwerke Otto Häuselmayers eine ausgeprägte Tektonik auf. Sie verfügen über ein Oben und ein Unten und haben Körper.

Das Erdgeschoß bildet eine Basis oder ein Piedestal. Der Baukörper erscheint als ausgeprägtes Volumen mit räumlich-plastischen Eingriffen auf einer mittleren Maßstabsebene - beispielsweise für die Treppenhäuser, die damit Seitenlicht erhalten. Nach oben wird ein eindeutiger, ordnender Abschluß gesucht, in diesem Fall durch ein vortretendes Geschoß, dessen Fenster sich zur Zeile zusammenschließen.

Damit schafft Häuselmayer eine integrierende Klammer, deren Wirkung man mit jener eines großen bergenden Daches vergleichen kann. Obwohl flach gedeckt, wirkt das Bauwerk auch so beschirmt.

Die zweigeschoßigen Öffnungen vor den eingezogenen Stiegenhäusern bilden ein Meta-Element zwischen Lochfenstern und dem gesamten Haus. Wie die Loggienpakete auf der Hofseite entfalten sie ihre Wirkung auf größere Distanz. Weil sie maßstäblich zum Gesamtgebäude in Beziehung treten, handelt es sich nicht um ein bloß aufgeblasenes Haus, acht statt drei Geschoße, sondern um eine räumlich-plastische Komposition, die auf den Maßstab des gesamten Baublocks bezogen ist.

An zwei Stellen greift das Konzept stärker in das Regelkonzept ein, das pro Stiegenhaus vier angeschlossene Wohnungen je Geschoß mit Loggien auf der Hofseite vorsieht. Da ist einerseits der Übergang von der üblichen Baublocktiefe der sechziger Jahre, die zwölf Meter beträgt, auf jene nicht unproblematische der Neunziger, die vier Meter mehr aufweist. Andererseits ist es die Ecksituation Jägerstraße/ Wexstraße, deren Bedeutung durch eine von unten her gestuft zunehmende Auskragung hervorgehoben wird. Weil das Abschlußgeschoß in gleicher Höhe ums Eck gezogen wird wie über den Flügeltrakten, bleibt die Maßnahme im Rahmen und bricht nicht aus der selbstauferlegten Ordnung aus. Das Gebäude klärt die Einmündung der Jägerstraße in die Wexstraße und bildet mit dem benachbarten Block eine Kante zur offenen Bebauung gegenüber. Die bedeutungtragende Ausnahme im Erdgeschoßbereich wird im öffentlichen Raum angeboten, sodaß für die Stadt ein faktischer Nutzen entsteht.

Beim Anschluß der Randbebauung zum Sechziger-Jahre-Block wird die ältere Trakttiefe mit dem Neubau noch einige Meter fortgesetzt. Dann beginnt als erstes, kühn vorkragend, die Klammer des oberen Abschlusses.

Sie wird gebäudeplastisch gestützt von einem aus den Hauptachsen verdrehten Liftschacht, an den ein vertikal verglastes Treppenhaus anschließt. Aus dieser Spalte schwingt sich nun die körperhafte Mauer der darunterliegenden Geschoße vor, um in eleganter Rundung in die Fassadenflucht einzudrehen. Die freie Stirnseite des zweiten Winkelflügels, die zur U-Bahn-Station blickt, ist dagegen äußerst cool, wie mit dem Messer abgeschnitten, sodaß der Profilschnitt des Randtrakts ablesbar wird. Fast vermeint man, eine der spannungsvollen und bedeutungsleeren Wiener Feuermauern vor sich zu haben, aber die Verteilung der Fenster und die hohe verglaste Scheibe vor den Eckloggien belehren uns auf sanfte Weise: Auch diese Fassade ist sorgfältig komponiert.

Der Solitär im Hofbereich ist betont einfach gehalten. Mit den Eckloggien wird den Gebäudekanten die Schärfe genommen und das Pathos des Einzelbaus relativiert. Auch hier erhält der obere Abschluß besondere Zuwendung, diesmal sind es lamellenartige Sonnenblenden über der Dachterrasse, die mit ihrer luftigen Struktur vor hellem Himmel den Dachabschluß mehr andeuten, als daß sie ihn betonen würden.

Nun gilt es anzufügen, daß die bisherige Analyse etwas idealisiert ist, denn bei genauerem Hinsehen entdeckt man da und dort architektonische Ungenauigkeiten und Überstände, die das tektonische Konzept stören. Sie sind dem Architekten unangenehm, obwohl er sie nicht zu verantworten hat, denn die gesamte Ausführungsplanung, die der Einreichung folgte, lag in der Verantwortung des Investors, von der künstlerischen Oberleitung blieb noch exakt die Hälfte für den Architekten. An diesem Beispiel zeigt sich, daß architektonische Qualität mit einem gut durchgearbeiteten Projekt allein nicht sichergestellt ist.

Die Integration herstellungsbedingter Änderungen in das architektonische Gesamtkonzept, die erst während der Ausführungsplanung als notwendig aufscheinen, kann von jenen, die nur auf eine möglichst problemlose Baudurchführung fixiert sind, kaum zufriedenstellend gelöst werden.

Der Architekt ist daher der unmittelbare Interessenwalter architektonischer Qualität, da er meist als einziger das noch virtuelle Gesamtbild vor Augen hat. Wenn nun zu einem späten Zeitpunkt noch Änderungen vorgenommen werden müssen, wird er als guter Vertreter seines Fachs automatisch hellhörig.

Die Fragen, wie sich die Änderung zu dem feststehenden Teil des Projekts verhält, ob sich nicht Unverträglichkeiten oder störende Überschneidungen ergeben, sind daher wichtige Komponenten der Ausführungsplanung, denn in dieser heiklen Phase wird die definitive Materialisierung der Architektur vorbereitet.

Daß die eigentliche Ausführung eine weitere Hürde bildet, versteht sich von selbst. Man halte sich in diesem Zusammenhang vor Augen, daß Peter Zumthor den Bauhandwerkern, die seinen Entwurf für das Thermalbad im bündnerischen Vals ausführen sollten, in einer Vorlesung die architektonischen Ziele erläutert hat.

Davon sind wir an der Wexstraße natürlich weit entfernt. Dennoch hat Otto Häuselmayer den Auftraggeber von der Notwendigkeit architektonischen Engagements zu überzeugen versucht und keinen Aufwand an zeichnerischen Darstellungen gescheut. Ein qualifiziertes Architekturwollen ist aber leider auf Bauherrenseite oft nur ungenügend entwickelt.

Für eine lebendige Architekturkultur ist dies jedoch Voraussetzung. Die Verantwortung dafür kann aber nicht vom Architekten allein getragen werden. Ohne architekturfühlige Bauherrschaften gibt es keine Fortsetzung der Architekturkultur.

Eine Hauptkomponente von Häuselmayers Schaffen ist der Bezug zum Leben. Man merkt dies seinen Grundrissen an, aber auch den gut belichteten und fein proportionierten halböffentlichen Räumen wie den Eingangshallen und den Stiegenhäusern.

Ohne den selbstlosen Einsatz des Architekten - sein Architekturwollen hat ihm niemand vergütet - hätte die Bebauung Jägerstraße/ Wexstraße niemals die heute ablesbare Qualität erhalten. Mit einem etwas weniger bescheidenen Architekturverständnis seitens der Bauherrschaft wären aber zahlreiche, für das geübte Auge schmerzliche Mängel nicht entstanden.

Spectrum, Sa., 1997.02.01



verknüpfte Bauwerke
Wohnhausanlage Jägerstraße / Wexgasse

01. Februar 1997Walter Zschokke
newroom

Ökologisches Stadthaus

Mit dem Ziel, ein ökologisch vernünftiges Stadthaus zu errichten, das den Besitz eines Automobils entbehrlich macht, schrieb die soziskulturell engagierte Bauträger-Firma Chorherr & Beiter 1992 einen offenen Wettbewerb aus.

Mit dem Ziel, ein ökologisch vernünftiges Stadthaus zu errichten, das den Besitz eines Automobils entbehrlich macht, schrieb die soziskulturell engagierte Bauträger-Firma Chorherr & Beiter 1992 einen offenen Wettbewerb aus.

In der Überarbeitung wurden weitere Möglichkeiten ökologischer Maßnahmen geprüft und auf den Kostenrahmen der Wohnbauförderung abgestimmt.

Die weitere Projektierungsarbeit legte das Hauptgewicht auf zwei Schienen: die individuell -partizipatorische Planung der Wohnungen und die energietechnischen und ökologisch vorausschauenden Maßnahmen. Die Architektur des Hauses wurde davon nur mittelbar berührt, etwa in Form einer pergolaartigen Beschattung der Dachterrasse durch die Warmwasserkollektoren oder, etwas gewichtiger: Weil keine Garagenabfahrtsrampe den knappen Platz im Erdgeschoß wegfrißt, bleibt viel Raum für einen Gemeinschafts- und Kinderspielraum. Daß ein Stiegenhaus natürliches Licht erhalten soll, erscheint selbstverständlich. Geschickt plaziert und verglast, dient es zugleich passiver Sonnenenergienutzung.

Eine gute Wärmedämmung ist heute allgemein die Regel; die Lage zwischen zwei Nachbarhäusern und eine kompakte Gebäudeform minimieren die Probleme des Transmissionsverlustes. Meist unsichtbar, aber in Zukunft von wesentlicher Bedeutung ist der sparsame Umgang mit Trinkwasser, mithin die Nutzung des Regenwassers als „Grauwasser“ für die WC-Spülung. Eine Zisterne im autofreien Keller dient als Speicher. Ebensowenig tritt die Auswahl der Baumaterialien nach Primärenergieanteil sowie ökologisch unbedenklicher Produktion, Verarbeitung und Entsorgung besonders hervor. Dann schon eher der Verzicht auf eine Garage; die Stellplatzverpflichtung konnte mit der vertraglichen Eintragung von Parkierungsflächen in der Tiefgarage Reumannplatz erfüllt werden. Abgesehen von der Nutzung der Raumvorteile vermieden die Planer, diese mehrheitlich technischen Aspekte zu thematisieren; sie entwarfen ein normales Stadthaus in einer aktuellen Strömung zeitgenössischer Architektur.

Im Hinblick auf die individuelle Planung der Wohnungen wurden nur Stiege, Lift und Installationsschächte, sowie - außer den tragenden Außenmauern - zwei kurze, scheibenartige Stützen im Inneren fixiert. Die grundrißliche Aufteilung erfolgte in einem partizipatorischen Planungsprozeß mit den Leitplanken derBauordnung und der Kostenobergrenze.

Insgesamt ist das Grundkonzept des Hauses geprägt von einer generellen Offenheit gegenüber möglichen Wünschen und Bedürfnissen. Das Unspezifische zeichnet sich in der Fassade insofern ab, als emotionslos fünf französische Fenster pro Geschoß, regelmäßig gereiht fünfmal übereinander gestapelt sind. Dieses polyvalente Fenster in einer regelmäßigen Anordnung läßt dennoch die unterschiedlichsten Grundrißanordnungen zu. Ihren individuellen Aspekt gewinnt die Ansicht durch die roten Schiebeläden, die von den Bewohnern nach Bedarf ganz oder teilweise neben die Fensteröffnungen geschoben werden. Die geometrisch klare Ordnung der Fenster wird somit überlagert von der ungeregelten der Laden. Dies gibt der Fassade den richtigen Pfiff. Die Rückseite ist geprägt von dem verglasten Stiegenhaus und einfachen, hochformatig-zweiflügeligen Fenstern, wie sie nicht wenige Häuser der Nachbarschaft aufweisen.

DieEingangssituation wird betont, indem die Fenster der untersten zwei Geschosse zusammengefaßt eine Art Kolossalordnung andeuten. Die leicht eingezogene größere Öffnung um die Eingangstüre herum wird mit dem Rufzeichen einer Rundstütze akzentuiert. Mit seinen klaren Proportionen und den mehrheitlich gleichen Elementen fügt sich der Neubau ohne Sperenzchen in die Front der Nachbarhäuser, die zum Freiraum des Puchsbaumplatzes blicken. Nur mit dem Spiel der roten Schiebeläden wird ein deutlich neues Gestaltungselement eingeführt.

Die weite Eingangshalle, das trotz knappem Raum freundliche Stiegenhaus mit schönen Ausblicken in den grünen Hof und die großzügige Dachterrasse, von der ein prächtiger Blick breit über die Dächer bis zu den Wienerwaldbergen reicht, bilden die halböffentlichen Nutzflächen, bzw. die hausgemeinschaftlichen Räume. Die sorgfältige Behandlung dieser Bereiche hat für eine angenehme Zukunft in diesem Haus ebensoviel Gewicht, wie die Beachtung der ökologischen Forderungen, die sich nur bedingt als architekturgenerierend erwiesen haben.

newroom, Sa., 1997.02.01

11. Januar 1997Walter Zschokke
Spectrum

Nicht nur zur Abwechslung

Das Unprätentiöse hat auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten keinen Platz. Effekthascherei sichert publizistische Aufmerksamkeit. Ganz anders Hermann Czech: Seine Texte zur Architektur sind ein Plädoyer für substantielle Skepsis.

Das Unprätentiöse hat auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten keinen Platz. Effekthascherei sichert publizistische Aufmerksamkeit. Ganz anders Hermann Czech: Seine Texte zur Architektur sind ein Plädoyer für substantielle Skepsis.

Die Zeiten, da man sich bei oder mündlichen Äußerungen zur mit aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten von Adolf Loos zu schmücken beliebte, sind längst vorüber. Auch jener Satz von Josef Frank „das Haus als Weg und Platz“ wird nur noch selten für ohnehin meist schlecht passende Gelegenheiten bemüht. Selbst das eindimensionale Mißverstehen von Otto Wagners Theorien zur Stadt ist aus der Mode gekommen. Und was Gottfried Semper eigentlich gemeint hat seiner Bekleidungstheorie, war glücklicherweise schon immer schwer auffindbar festgehalten, sodaß ein detailliertes Zitat sich von selbst erübrigte.

Zum einen ist es ja angenehm, daß nicht mehr für jedes Geschreibsel oder Gefasel ein Satz aus der Feder eines weit größeren Denkers zur dilettantischen Auffettung herhalten muß. Andererseits entfernen sich heutige Architekturtendenzen zunehmend von Geschichtlichkeit und auf das Leben bezogenen Inhalten der eigenen Disziplin.

Unter dem Qualifikationsstrich geschieht dies nicht nur zum Schaden der Produkte, denn die postmoderne Zitiererei historischer Stilmerkmale war so schnell penetrant und platt geworden, daß sie qualitativ nicht für geglückte Versuche in dieser Richtung taugte. Aber ist die Ignoranz gegenüber der Geschichte der eigenen Disziplin nicht ihrerseits ein Historismus? Die Geschichtsfeindlichkeit der frühen Moderne in den zwanziger Jahren ist bekannt. Sie wurde aber getragen von Exponenten, die diese ihre Geschichte sehr wohl noch intus hatten. Erst die zweite Generation, die Nachbeter, die keinen bewußten Emanzipationsprozeß durchgemacht hatten, womit sie ihre Ablehnung hätten begründen können, kannten außer den modernen Mythen keine Vergangenheit mehr.

Auch ein Charles-Edouard Jeanneret alias Le Corbusier hatte, wie wir bei Adolf Max Vogt nachlesen können, noch seine Geschichte gelernt. Am erfolgreichsten war Le Corbusier aber in der Promotion seiner selbst. Ihm gelang es wie nur wenigen, seinen Namen aus dem engen Käfig der Fachkommunikation auf den allgemeinen Markt zu werfen.

Die Frage, ob es bezogen auf die architektonische Qualität ein gutes oder ein schlechtes Zeichen sei, wenn heute die Berichterstattung über ein aktuelles Bauwerk vom Feuilleton in die „vermischten Meldungen“ rutscht, wird im Einzelfall zu klären sein. Jedenfalls lassen sich mehrere Mittel und Wege erkennen, mit denen versucht wird, vergleichbare Bekanntheit zu erlangen. Ein erstes Prinzip, der Personalstil, läßt sich am Beispiel Mario Bottas aufzeigen oder an dem O. M. Ungers oder Richard Meiers. Ihre Bauten sind in Sekundenbruchteilen auf Grund von Stilmerkmalen zu identifizieren, wie fast jede und jeder heutzutage einen griechischen Tempel von einer gotischen Kathedrale zu unterscheiden vermag.

Eine Selbstreferenz dieser Art wird von gut dressierten Ateliers durch jahrelange Selbstwiederholung erreicht, sodaß letztlich auch ein Schweizer Bundesrat seinen Botta auf Anhieb zu erkennen vermag. Bei soviel subjektiv fixiertem Anteil ist natürlich der Spielraum für ein Eingehen auf die besonderen Umstände des Ortes gering, weshalb Vertreter einer derartigen Taktik die Auseinandersetzung mit dem Ort bereits in der Theoriebildung ausschließen. In aller Regel sind sie in ihrer eigenen Optik jene, die den Ort erst schaffen. Ihre Epigonen können dann unbedarft erklären, die Sache mit „dem Ort“ sei schlicht vorbei: „out of time“; wahrscheinlich, weil sie vor lauter Blindheit außer ihrem Eingriff gar keine „Orte“ wahrnehmen können.

Ein zweites Prinzip ist die Zuspitzung des Entwurfs auf einen demonstrativen Effekt, dem alles andere untergeordnet wird. Diese Maßnahme erlaubt den Betrachtern, sich im guten Glauben zu wiegen, sie hätten bereits das abgebildete Bauwerk auf Anhieb verstanden - denn wer wird offensive Augenfälligkeiten übersehen?

Ein längeres Sichbefassen mit dem Gegenstand entfällt; Sachverhalt und Symbol kommen zur Deckung, alles übrige ist Zeitverlust. Als Vertreter dieses Vorgehens darf etwa Philip Johnson angesprochen werden, dessen „Effekte“ ihm immer wieder Publizität sicherten; leider fällt auch Frank O. Gehrys jüngster Bau, „Ginger & Fred“ in Prag, unter diese Masche. Und an der Architectural Association in London scheint das effektbetonte Entwerfen als Königsdisziplin gelehrt zu werden.

Als ein drittes Verfahren, Bekanntheit zu fördern, hat sich die Übernahme bereits erfolgreicher Konzepte aus anderen Disziplinen eingebürgert. Dabei darf man nicht zu bescheiden sein: Relativitätstheorie, Minimal art, Viren, die Umstülpung der Zelle beim Entwicklungsvorgang des Lebens und so weiter sind das mindeste. Nur allgemein popularisiert sollte ein solcher Ansatz sein. Irgendwelche nobelpreiswürdigen Themen aus den siebziger oder achtziger Jahren taugen dazu wenig, weil sich niemand daran erinnern kann. Am besten stammen die Quellen bereits ihrerseits aus dem Segment „Vermischte Meldungen“ auf der letzten Seite großer internationaler Blätter, dann traut sich nämlich niemand danach zu fragen, ob sachliche Gründe für die Wahl gerade dieses Konzepts sprechen, weil man nicht als uninformiert gelten will.

Dieses dritte Vorgehen ist vor allem bei jüngeren Berufsvertretern anzutreffen, deren Startum zwar noch verborgen, deren zur Schau getragenes Selbstbewußtsein aber bereits voll entfaltet ist. Aber im täglichen Hickhack um publizistische Zuwendung darf man nicht zimperlich sein. Es gibt sowieso zu viele Architekten.

Mit den genannten Prinzipien glauben nun manche zu Publizität und entsprechender Bekanntheit gelangen zu können, und die Publizistik spielt mit. Leichte Faßlichkeit ist in; klar im Out sind: komplexes Herangehen an Probleme und vernetzendes Denken, Berücksichtigen der Geschichte (des Ortes, des Bauwerks, der zu beherbergenden Institution, der Stadt, der Gesellschaft und so weiter), Einbeziehen der stadträumlich- städtebaulichen Zusammenhänge, Nachdenken über alltägliche und profane Bedürfnisse und anderes mehr.

Ganz daneben sind heute Zurückhaltung und Bescheidenheit, etwa das Stellen der Frage, ob denn bereits der bauliche Aspekt einer Problematik im Vordergrund steht oder ob nicht zuerst wichtige Programmfragen geklärt werden müßten, bevor es ans Bauen gehen kann. Programmfragen sind jener Bereich, vor dem sich Politiker so gern drücken; den sie nicht selten ganz gern den Architekten zuschieben, um Verantwortliche zu haben, damit sie selber aus dem Schußfeld sind. Weil der Architekt - da es sein Beruf ist - bauen muß, um zu überleben, wird er sich für den Auftrag und den Bau abstrampeln und Probleme einer Lösung zuführen, die gar nicht in sein Ressort fallen, nur damit endlich etwas weitergeht.

Das Unprätentiöse und das Selbstverständliche haben auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten keinen Platz. Als Resultat eines insistierenden kritischen Befragens sind derartige Bauten mit den Erwartungshaltungen einer nach Sensationen dürstenden Öffentlichkeit nicht zur Deckung zu bringen. Aber auch wenn es noch so viele versuchen, halte ich alle Versuche, auf einfachem Weg zu Bekanntheit zu gelangen, für Irrwege, weil sie zu platt sind. Das Bauen und die Architektur sind einfach komplexer, weil mit dem Leben verknüpft.

Als passender, viel umfassenderer Diskussionsbeitrag in der aktuellen Unübersichtlichkeit sind deshalb die bereits 1977 erstmals erschienenen Aufsätze und Kommentare von Hermann Czech wieder verfügbar und um einige seither verfaßte Texte erweitert worden („Zur Abwechslung“, Löcker Verlag, Wien). Die mit scharf gespitzter Feder verfaßten Arbeiten aus den sechziger und siebziger Jahren weisen Czech als damals bereits fundierten Kenner und skeptischen Befrager aus. Er wollte es genau wissen und stellte auch nach gegebenen Antworten weitere Fragen, die treffsicher die unklaren Stellen in den Argumentationen der anderen sichtbar werden ließen.

In den neueren Beiträgen werden unter anderem Czechs städtebauliche Konzeptionen erläutert, die - „möglichst nahe an das Leben heran“ - sich nicht um die modischen „Tapetenmuster“ der Lagepläne kümmern und auch nicht pathetisch brustaufreißerisch daherkommen, wie dies Daniel Libeskind nötig zu haben vermeint, der Czech seinen berechtigten Erfolg im Oranienburger Wettbewerb aus eigensüchtigen Gründen miesgemacht hat.

Hermann Czechs Texte lesen sich mit dauerhaftem Gewinn, sie bleiben nicht in der Polemik stecken, enthalten zündenden Hintersinn und stehen für die positive Tradition des von langem Residenzstadt-Byzantinismus geprägten Wiener Skeptizismus. Czech ist aber kein Schwarzseher; er glaubt an Auswege, allein schon deshalb, weil er das Leben auf seiner Seite weiß.

Ein Ratschlag für 1997 an die befugten und beeideten wie die wilden Mitglieder der Zunft: Bei künftigen Erläuterungen ab und zu ein Czech-Zitat einfließen zu lassen dürfte nicht schaden. Denn die Phase, in der jede schriftliche und mündliche Äußerung zur Architektur irgendwo irgendwie ein Czech-Zitat enthalten muß, kommt bestimmt. Viel besser allerdings wäre es, Czechs Aufsätze „Zur Abwechslung“ und auch jene von Loos, Frank und anderen, des Inhalts, nicht des Zitierens wegen zu lesen. Und sich dann wieder zu melden, wenn man etwas Substantielles zur Diskussion beizutragen weiß.

Analog zu Czechs Diktum, daß Architektur Ruhe geben, ihre Hintergrundrolle tragen und erst reden solle, wenn sie - vom Leben - gefragt wird.

Spectrum, Sa., 1997.01.11

21. Dezember 1996Walter Zschokke
Spectrum

Ein Rest Geheimnis darf bleiben

Im Neubaugebiet Wulzendorf, Wien-Donaustadt, hat Walter Stelzhammer mit dem Seelsorgezentrum St. Katharina von Siena einen Ort der Begegnung geschaffen, der trotz seiner bescheidenen Maße ein inhaltliches Signal setzt.

Im Neubaugebiet Wulzendorf, Wien-Donaustadt, hat Walter Stelzhammer mit dem Seelsorgezentrum St. Katharina von Siena einen Ort der Begegnung geschaffen, der trotz seiner bescheidenen Maße ein inhaltliches Signal setzt.

Der Blick auf einen Stadtplan vom Ende der achtziger Jahre weist noch gähnende Leere aus in dem Geviert zwischen Erzherzog-Karl-Straße im Norden, dem Dorfrand von Aspern mit Friedhof im Osten, der Wulzendorfstraße im Süden und dem damals noch im Bau befindlichen Sozialmedizinischen Zentrum Ost im Westen. Das nicht ganz einen Quadratkilometer große, ehemals landwirtschaftlich genutzte Gebiet wird durchschnitten von der Langobardenstraße.

Ein kürzlich aufgenommenes Flugbild zeigt völlig veränderte Verhältnisse: Südlich der Langobardenstraße sind die Felder bis auf einen Grünzug in hoher Dichte zugebaut. Städtebauliche Ansätze sind bei gutem Willen auszumachen, ihr Zusammenwirken ist aber offensichtlich nach bewährter Manier beim Zerreden in Wiener Mammutkommissionen, in denen sich keiner verantwortlich zu fühlen braucht, unter den Besprechungstisch gerutscht.

Der engagierteste Ansatz stammt von Architekt Walter Stelzhammer: An einen rückgratartigen Längstrakt sind in großen Abständen Quertrakte angedockt, sodaß dazwischen je eine Zeile Reihenhäuser Platz findet. Im Gegensatz zum Teilbereich mit fülligen Sechsgeschoßern und Dachschwimmbeckenbeglückung entsteht bei Stelzhammer ein stadträumlicher Rhythmus: Die Außenräume sind differenziert, und unterschiedliche Wohnungstypen lassen eine gewisse, auch soziale Durchmischung erwarten.

Die architektonische Konkretisierung der Quertrakte in Form von Laubenganghäusern wurde im Atelier Ablinger/Vedral entworfen, während Margarethe Cufer mit Erfahrung und Sorgfalt die Reihenhäuser betreute. Walter Stelzhammer gestaltete den mittleren Längstrakt mit den Kupplungsstücken zu den Quertrakten. Sie überbrükken die Bergenstraße und weisen an der Unterseite eine stark plastische Durchbildung auf: Lineare Zugangsstege und zylindrische Stiegenzapfen der darüberliegenden Wohnungen ergeben eine zwar ungewohnte, aber interessante Untersichtslandschaft.

Vor dem nördlichen Abschluß, wo die Bergengasse, vom Osloer Platz herkommend, sich rechtwinklig nach Süden wendet, um den Neubau zu unterfahren, ist ein flaches Bauwerk zwischen die hohen Blöcke geschoben, das ebenfalls von Walter Stelzhammer - unter Mitarbeit von Adrian Ryser - entworfen wurde. Es handelt sich dabei um das Seelsorgezentrum St. Katharina von Siena der Pfarre Aspern mit Mehrzwecksaal, Jugendbetreuungs- und Serviceräumen sowie einem Büro für die Pastoralassistentin.

Daß bei derart vielen gleichzeitig bezogenen Wohnungen das Arbeiten an der menschlichen Gemeinschaft zu einer vordringlichen Aufgabe wird, dürfte einleuchten. Die Kirche findet in diesen schockartig gewachsenen Quartieren ein Feld vor, dessen Bearbeitung weit über die klassische Seelsorge hinausreicht. Darum ist der Versammlungsraum mit einer Faltwand teilbar: in den auch als Werktagskapelle nutzbaren Altarbereich und in eine hintere Zone, die im Zusammenwirken mit einer kleinen Küche ohne gegenseitige Irritation profanen Zwecken dienen kann.

Doch beginnen wir mit dem Grundsätzlichen: Zuerst ist da eine Dachplatte, die sich auf schlanken Stützen über die Breite des Straßenraumes spannt und links und rechts gerade noch zweieinhalb Meter Durchgang offen läßt. Unter diesem Dach sind, im Sinne des „plan libre“, drei kräftige Wandscheiben aufgestellt: an der Vorderfront eine, die mit weißem Marmor verkleidet ist, im Hintergrund eine aus schwarzem Granit und seitlich links, fast über die gesamte Tiefe des Bauwerks, die dritte, eine mit hölzernen Dreischichtplatten beplankte Mauerscheibe.

Diese drei raumbildenden Elemente reichen knapp bis zur Greifhöhe und tragen nur sich selber. Darüber zieht sich allseitig ein Oberlichtband, sodaß Dach und Wandscheiben ihre Autonomie behalten. Auf das der Aufgabe angemessene Pathos des Daches, das wie ein vielbeiniger Tisch Vorhalle und Gemeindesaal schirmt, antwortet die lapidare Dreiheit der Wandscheiben: Marmor weiß, Granit schwarz, Holz braun lasiert. Die seitliche Trennung vom Gemeindesaal zur Vorhalle ist mehrheitlich verglast, drei Drehflügeltore erlauben die funktionale Intensivierung der Innen/außen-Beziehung. Die Vorhalle, akzentuiert mit einem Baum, der durch die kreisrunde Öffnung im statisch minimierten Stahlbetonschirm dem Licht entgegenwächst, ist ebenso weiträumig wie der vom Gemeindesaal belegte Teil. Es entsteht eine Dualität von hohl und voll, eindeutig sakral und allgemein weihevoll.

Dem einzigen großen Deckenauge über dem Baum im offenen Teil entspricht ein Feld von Lichtkuppeln im klimatisch geschlossenen Bereich. Daß aus bauphysikalischen Gründen die Deckenplatte über dem Saal allseitig getrennt von einer Schar Stahlbetonträger abgehängt werden mußte, ist ein Detail am Rande, das sich aber räumlich nicht auswirkt. Nicht jeder statisch- konstruktive Sachverhalt muß gestalterische Folgen haben, ein Rest Geheimnis darf bleiben, meint unter anderem auch Jürg Conzett, der begabte Schweizer Bauingenieur aus Chur. Wer die Überlager von außen erkennt und nur ein wenig bauphysikalisch denkt, kann sich selber einen Reim machen.

Der Boden des Gemeindesaals ist mit hellen Terrazzoplatten belegt. Hier gewinnt die profane Komponente wieder an Gewicht. Während die weiß-marmorne Altarwand mit Kreuz und Tabernakel ausgezeichnet ist, trägt die Holzwand vorn eben noch eine kleine, geschnitzte historische Marienstatue, nach hinten geht sie jedoch bruchlos in ein schweigendes und zugleich neutrales raumbildendes Element über.

Mit der Bestuhlung, für die Roland Rainers Sesselmodell gewählt wurde, das dieser 1958 auch für die Stadthalle verwendet hatte, erfährt der Gemeindesaal einen weiteren Schub in Richtung Profanität. Der liturgischen Möblierung des Altarraumes kommt daher sehr viel Gewicht zu.

Walter Stelzhammer nahm bei seinem Entwurf Bezug auf das primäre Element des Bauwerks, das schirmende Dach. Die schlank aufgestelzten Möbel aus massivem Eichenholz bilden eine gestalterische Einheit. Der Altar besteht aus einem Tischblatt, an dessen Ecken mittelbar durch vier Messingkreuze, die zugleich die Weihekreuze darstellen, die Beine konstruktiv eingesetzt sind. Die gleichen Messingkreuze wiederholen sich als „Füßchen“ am unteren Ende der Tischbeine. Obwohl der Altar verschiebbar bleibt, was den Bedingungen des Mehrzwecksaals entgegenkommt, ist damit eine sinnbildliche Unverrückbarkeit gegeben.

An der Vorderseite ist über eine einfache Konstruktion und einen Längsschlitz in der Tischplatte fahnenartig ein weißes Tuch eingehängt, sodaß auch auf Distanz der besondere Charakter der Mensa Domini deutlich wird. Ein nämliches Tuch ziert den Ort der Verkündigung, den Ambo, dessen fragile Konstruktion durch eine metallene Aussteifung, die auch als Ablage dient, stabilisiert wird. Die Auflage für die Heilige Schrift besteht aus einem pultartig zusammengefalteten Blech.

Die Session ist in ähnlicher Weise aus orthogonal gefügten Vierkantstäben gefertigt: der Sitz des Pfarrers geringfügig hervorgehoben durch die den Polster überragende Lehne, jene für die Ministranten als einfache Hocker in gleicher Höhe. Der Tabernakel ist als kubisches Holzkästchen in die weißmarmorne Altarwand eingelassen. Bei geöffneter Tür tritt das verdoppelte Ansichtsquadrat in Beziehung zur Proportion des Altartisches.

Mit konsequenten gestalterischen Maßnahmen gelingt es Walter Stelzhammer und seinem Mitarbeiter Adrian Ryser, den sakralen Charakter des Gebäudes und des Raumes sicherzustellen. Gewiß ist es eine eher dominikanisch kühle Ästhetik, die hier vorgegeben wird. Noble Bescheidenheit, gepaart mit angemessener Askese, bestimmen den Eindruck. Und doch scheint mir, daß an dieser Stelle, auf einer Restfläche zwischen den hohen Baublöcken in dem aufs neue erweiterten Wiener Stadtbrei, eine klare und zeichenhafte architektonische Ordnung richtig ist. Damit wurde ein inhaltliches Signal gesetzt.

Aus Erfahrung weiß man heute, daß das Einwohnen eines Neubauquartiers oft Jahrzehnte dauert. Mit dem Seelsorgezentrum St. Katharina von Siena wurde ein katalytisches Element zur Beschleunigung dieses Prozesses gesetzt und ein Ort für die erste gemeinschaftliche Weihnachtsfeier geschaffen, damit in dem Nebeneinander der Neueingezogenen erste gesellschaftliche Vernetzungen entstehen können.

Spectrum, Sa., 1996.12.21



verknüpfte Bauwerke
Seelsorgezentrum ´St. Katharina von Siena´

30. November 1996Walter Zschokke
Spectrum

Lichtathletik in der Sportschule

Der Landeshauptstadt - Impuls wirkt auf die übrigen Städte Niederösterreichs: Wiener Neustadt zeigt mit der neuen Sporthauptschule von Ernst Maurer architektonisches Profil.

Der Landeshauptstadt - Impuls wirkt auf die übrigen Städte Niederösterreichs: Wiener Neustadt zeigt mit der neuen Sporthauptschule von Ernst Maurer architektonisches Profil.

Der Wiener Neustädter Hauptplatz im Herzen des historischen Zentrums ist dreimal so groß wie das Rasenfeld der neuen Sporthauptschule am westlichen Rand des Stadtgebiets. Die vorsichtige Neugestaltung dieses eindrücklichen innerstädtischen öffentlichen Raums, der auch im größeren Umkreis nicht so schnell einen Vergleich zu scheuen braucht, wird von den Architekten Eichinger oder Knechtl ausgeführt.

Baudirektor Helmut Wenninger lacht verschmitzt, wenn er von der Aufregung um die Steginstallation von Tadashi Kawamata erzählt, die im Juni/Juli dieses Jahres rund um das Grätzel eine völlig neuartige räumliche Erfahrung des Hauptplatzes ermöglichte. Der von der Vermessung herkommende Baufachmann pflegt seine künstlerischen Seiten und kann beim Thema zeitgenössische Architektur kundig mitreden.

Die genannten Projekte belegen, daß die im September in Betrieb genommene Sporthauptschule in Wiener Neustadt West mehr bedeutet als die sprichwörtliche Schwalbe eines Architekturfrühlings. Zeitgenössische Architektur ist Gegenstand eines Dialogs geworden, der den mittleren und kleineren Städten Niederösterreichs zur Präzisierung ihrer Identität verhilft und zu einem künftigen Stadtbild beiträgt, in dem die heutige Zeit angemessen vertreten ist.

Für diese Hauptschule wurde 1993 in Wien, Niederösterreich und dem Burgenland ein Wettbewerb ausgeschrieben, in dem das attraktive und zugleich ökonomische Projekt von Ernst Maurer aus Hollabrunn den ersten Preis erzielte. Als wichtige Mitarbeiter seines Büros nennt Maurer für die Projektierung Sergej Nikoljski, einen gebürtigen Russen, der sein Architekturstudium in Skopje absolvierte, und für die Ausführungsplanung Helmut Himmelbrunner.

Die Schule steht in einem Neubaugebiet, in dem Wohnbauten aus den siebziger Jahren und offene, noch unverbaute Flächen einander abwechseln. Die Parzelle diente offenbar längere Zeit dem Kiesabbau, der Grundwasserspiegel liegt nur knappe zwei Meter unter dem neuen Niveau. Schon wenige Jahren nach der Stillegung bildete sich in einer größeren Vertiefung ein Feuchtbiotop, das bei der Planung zu berücksichtigen war. Am Südrand steigt das ansonsten flache Gelände steil an und erreicht wieder den ursprünglichen topographischen Verlauf.

Von dem Güter- und Spazierweg, der oben an dieser künstlichen Geländekante vorbeiführt, bietet sich ein guter Blick auf die Anlage: Im Vordergrund liegen die Sportanlagen; dahinter erhebt sich die in die Breite entwickelte Südfassade, die vom Baumbestand des Biotops lokker beschattet wird. Während das große, flache Volumen der Dreifachturnhalle am rechten Flügel gegen das Sportfeld vorstößt und die Senke mit dem Teich räumlich faßt, antwortet darauf am linken Flügel eine schlanke, ebensoweit vortretende Pergola.

Die Südfassade des langgezogenen Klassentrakts ist horizontal geschichtet. Im Erdgeschoß weist eine breite, etwas zurückversetzte Glaswand auf die dahinterliegende Halle hin, die räumlich mit dem Naturraum davor korrespondiert.

Die Nordfassade wird durch eine flachere Differenzierung der Volumen gegliedert und trägt am Haupttrakt ein collageartiges Reliefbild aus verputztem Mauerwerk, Fenstern und Glaswänden sowie Metall- und Natursteinverkleidung, deren Teile mit den unterschiedlichen Inhalten dieser Gebäudehälfte übereinstimmen. Das Vorfeld ist noch unbebaut, sodaß der Blick von weitem das Gesamtbild zu erfassen vermag.

An beiden Enden des Klassentrakts treten allseitig verglaste Körper hervor. Sie gehören zu einer längs verlaufenden mittleren Schicht, die auf allen drei Geschoßen den durchgehenden Erschließungsgang enthält.

Von hier sind im Süden die Klassenräume und im Norden die Sonderklassen für Zeichnen und das Schwerpunktfach EDV-Unterricht, die Haupttreppe und Nebenräume zugänglich. Das durchgehend verglaste Dach öffnet sich zum Himmelslicht, das durch große, die halbe Gangbreite einnehmende Öffnungen bis in die im Erdgeschoß befindliche Pausenhalle gelangt.

Die Klassenzimmer in den beiden Obergeschoßen betritt man über stegartige Brücken. Die vielen Öffnungen haben zur Folge, daß eine durchgehende vertikale Raumschicht entsteht, in der die Erschließungswege wie Laubengänge eingesetzt sind. Diese Konfiguration gibt dem Schulgebäude einen ausdrucksstarken und identitätsstiftenden Kern.

Die verglasten Hallen an beiden Enden dienen ebenfalls als Pausenräume, die davorliegenden Dachterrassen sind begehbar. Im zweiten Obergeschoß sind es nur mehr kleine Balkone, die wegen ihrer Abgehobenheit wohl kaum für Volksredner gedacht sind, sondern den abgedrängten Rauchern unter den Lehrern als letzte Zuflucht dienen dürften.

Die lange Halle im Erdgeschoß liegt ein paar Stufen tiefer, der Raum gewinnt an Höhe, und vom begleitenden Gang aus gewinnt man eine gute Übersicht. Daß dies nicht bloß der Kontrolle, sondern vor allem dem raschen Finden von Freunden und Freundinnen dient, ist die eine Seite. Eine andere ist die architektonische Wirkung, der Aufbau in mehrdeutigen Schichten:Man befindet sich zeit- und ortgleich in mehreren virtuellen und faktischen Volumen, die als Räume oder Raumzonen erkenn- und ahnbar sind.

Die dem Eingang im Osten gegenüberliegende Stirnwand der Halle läßt sich teilen und zur Seite schieben. Dahinter liegt der Musikraum, der aber auch als Bühnenraum, mit der Pausenhalle als Zuschauerraum, dienen kann. Nicht nur architektonisch, sondern auch von der Nutzung her läßt die Halle mehrere Lesarten zu. Beispielsweise steht hier eine Bronzefigur des Wiener Neustädter Plastikers Kurt Ingerl dominant auf ihrem Sockel und überwacht in den Pausen das Treiben der Schüler.

Ein erster Vorschlag für eine künstlerische Intervention, erstgereiht in einem Wettbewerb unter sechs geladenen Künstlern, war nicht realisierbar; es gelang aber, das Konzept für die Landesberufsschule in St. Pölten, ebenfalls von Ernst Maurer, zu übernehmen. Der zweitgereihte Vorschlag, eine Installation von Werner Feiersinger auf der östlich vorgelagerten Terrasse, war aus Gewichtsgründen nicht machbar. Mit konzentriertem Einsatz aller Beteiligten fand man einen neuen Platz, für den der Künstler einen neuen Entwurf entwickelte: eine spannungsvolle Stahlplastik.

Das Gutachtergremium für Kunst im öffentlichen Raum in Niederösterreich moderierte, die Zusammenarbeit von Architekt und Künstler funktionierte bestens, nur, die Wiener Neustädter hätten eben gern einen einheimischen Künstler gefördert. Jetzt verfügt der neue Schulbau über zwei hochwertige Werke.

Während für Kurt Ingerl die Arbeit an der abstrahierten menschlichen Gestalt wesentlich war, ist Werner Feiersinger im Bereich zwischen Plastik und Architektur tätig. Ausgehend von einem Würfel, von demTeile ausgeklappt werden, sodaß ein räumliches Wechselspiel von „scheinbar drinnen“ und „scheinbar draußen“ entsteht, gelang ihm ein anmutiges und zugleich begehbares Objekt, das signalhaft den Hauptzugang flankiert.

Insgesamt bezeichnet dieser Schulbau eine Wende in der Wiener Neustädter Architekturentwicklung. Während das neue Museum bei St. Peter an der Sperr noch von einer ungeklärten Mischung aus Postmoderne und Moderne bestimmt wird, ist die Sporthauptschule geprägt von jugendlicher Frische und räumlicher Gestaltungsfreude. Neben der sorgfältigen Wahl der Materialien wurde von dem Farbpsychologen Karl Fischer ein fein abgestimmtes Farbkonzept realisiert, das vor allem in der dreigeschoßigen Ganghalle eine spannende Raumstimmung aufkommen läßt.

Ernst Maurer ist ein ausgezeichnetes Werk gelungen. Seiner Integrationsgabe ist es zu danken, daß manche heikle Klippe umschifft werden konnte, ohne daß dabei der architektonische Ausdruck gelitten hätte. Auch die Kunst kam zu ihrem Recht.

Die Ungleichzeitigkeiten in der Entwicklung von Metropole und mittelgroßer Landstadt verlangen Gespür und Vermittlergabe. Wenn die Behörden, wie dies in Wiener Neustadt der Fall ist, bei der Suche nach gangbaren Lösungen mittun und nicht nur referieren, wie es nicht geht, entfallen wesentliche Hürden, die andernorts vielleicht zu einer Karikatur, aber nicht zu Architektur führen.

Spectrum, Sa., 1996.11.30



verknüpfte Bauwerke
Dr. Fred Sinowatz-Sporthauptschule

09. November 1996Walter Zschokke
Spectrum

Spanschachtel am Zürichberg

Das Zürcher Architektenpaar Marianne Burkhalter und Christian Sumi befaßt sich seit über zehn Jahren mit den tonischen Spannweiten des Holzbaus. Ihre Arbeiten können derzeit im „Architektur Zentrum Wien“ beurteilt werden.

Das Zürcher Architektenpaar Marianne Burkhalter und Christian Sumi befaßt sich seit über zehn Jahren mit den tonischen Spannweiten des Holzbaus. Ihre Arbeiten können derzeit im „Architektur Zentrum Wien“ beurteilt werden.

Holz ist geduldig. Das zeigt sich daran, daß es sowohl über Jahrtausende dem ländlichen Bauen als Hauptmaterial diente als auch im 19. Jahrhundert, bereits weitgehend industriell und hochorganisiert, zu „Schwyzer-Hüsli“ im Laubsägestil verarbeitet wurde, die, in halb Europa verteilt, als frühe industrielle Fertighäuser erstmals in größerem Maßstab die ländliche Baukultur karikierten. Die Exponenten der Moderne waren in der Folge pathetisch bestrebt, die „richtigen“ zeitgenössischen Formen für industriell produzierte Häuser zu finden. Dabei spielte das Holz eher eine Nebenrolle, weil der Stahlbau, auch wenn er seinen Zenit schon überschritten hatte, nach wie vor als Sinnbild der Industrialisierung galt, während der neu aufgekommene Stahlbeton als Innovation schlechthin gesehen wurde.

Trotz der vermeintlichen Unaktualität hat das Holz bei der Modernisierung des Bauens immer wieder Freunde gefunden, die das Material für Bauwerke mit zeitgenössischem Ausdruck einsetzten, sei es wegen seiner leichten maschinellen wie handwerklichen Bearbeitbarkeit, dem geringen Gewicht bei hoher Festigkeit oder der Möglichkeit einer weitgehenden Vorfertigung in großen Teilen.

Aber auch wenn Holz geduldig sein mag, es verzeiht weder konstruktive Dummheiten noch mangelnde Erfahrung. Die relativ schmale Spur, die entlang von modernen Holzbauten durch unser Jahrhundert verfolgt werden kann, weist zahlreiche interessante und lehrreiche Beispiele auf. Frank Lloyd Wright, Konrad Wachsmann (mit Walter Gropius), Jean Prouvé mit Pierre Jeanneret und Arne Jacobson heißen einige Großväter des modernen Holzbaus.

Bei diesen Arbeiten setzten auch die Forschungen von Marianne Burkhalter und Christian Sumi an, dem Zürcher Architektenpaar, das seit Mitte der achtziger Jahre der Geschichte des modernen Holzbaus nachgespürt und mittlerweile selber ein Fortsetzungskapitel dazu verfaßt hat. Ihr Beitrag kann anhand einer Ausstellung, die am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur der ETH Zürich von Burkhalter und Sumi zusammengestellt wurde, bis 24. November im „Architektur Zentrum Wien“ nachvollzogen werden. Es handelt sich dabei nicht unbedingt um eine leicht konsumierbare Ausstellung. Wie ein Wald - oder eine Stadt - bieten sich die stelenartig aufgestellten Holzwerkstoffplatten vom einige Stufen höher liegenden Zugang her dar. Sie sind von Photographien und Plänen, zuweilen ist auch ein Modell angebracht.

Dennoch muß man sich näher mit den gezeigten Inhalten befassen, muß sich einlassen und das Bauwerk vor dem geistigen Auge selber erzeugen. Dabei sind die sorgfältigen Aufnahmen des Zürcher Architekturphotographen Heinrich Helfenstein eine große Hilfe. - Der in Österreich durch die Salzburger Sommerseminare vertraute Name Konrad Wachsmann ist auch für Burkhalter und Sumi eine erste Adresse. Es geht ihnen keineswegs um formale Anleihen, sondern um den Nachvollzug gedanklicher Prinzipien. Darauf aufbauend haben die beiden über die Jahre ein Werk geschaffen, das sich sehen lassen darf.

Ausgehend von exakten konstruktiven Überlegungen, in die auch die reichhaltigen Erfahrungen Marianne Burkhalters von einem längeren Aufenthalt in den USA einflossen, stießen sie zu Material- und Raumwirkungen vor, die sich sowohl von Mario Bottas mittlerweile fad gewordenen Selbstzitaten unterscheiden als auch von einer leicht provinziellen Detailverliebtheit und formalen Scheinradikalität, wie sie in der deutschen Schweiz in der mittleren Leistungsstufe Platz gegriffen hat. Burkhalter und Sumis Bauten sind weder hermetisch noch langweilig, aber sie referieren auch nicht an jeder Ecke, wie sie gemacht sind. Eher denke ich, daß sie eine architektonische Stimmung hervorrufen - analog einem Klang oder einem Akkord in der Musik.

Die Erweiterung des Hotels Zürichberg mag ihre Arbeitsweise beispielhaft verdeutlichen. Zwar beginnen die meisten Erklärungen dieses Bauwerks mit dem Unterbau, mir scheint es aber wesentlicher, daß neben das bestehende alte Hotel des Zürcher Frauenvereins ein autonomer Baukörper gestellt wurde, der einen elliptischen Grundriß und von außen die Form einer übergroßen Spanschachtel hat. Mit diesem selbständigen Baukörper gelingt es, dem Altbau, der bisher allein in der abfallenden Wiese vor dem Waldrand stand, seinerseits die Autonomie zu bewahren. Die eigenständige Form des Neubaus, der relative Abstand und der Verzicht auf eine Eingangssituation - der Zugang erfolgt unterirdisch - lassen eine Konkurrenz gar nicht erst aufkommen.

Hier spielt auch die äußerste Haut, eine Bespannung mit dünnen Brettern aus Redwood, ein Rolle. Im Verhältnis zum Bauwerk sind die Bretter spandünn. Im Verein mit den breiten, Durchblicken teilweise offenen Fugen und der geringen Dimension führt dies nach einer Bewitterung zu raschem Trocknen, was die Lebensdauer dieser Außenhaut erhöht. Die äußerste Schicht, die mit Klappläden, auch über die Loggien hinweg, dichtgemacht werden kann, ist jedoch für die gefühlsmäßige Wahrnehmung wichtig; sie wirkt weich, trotz der Spannung im Material, und sie vermeidet das architek hermetische Pathos, wie es derzeit bei zahlreichen Hüllenbauern beliebt ist. Eher ist diese horizontale Verschalung mit einem Schleier vergleichbar. Sie verdeckt und läßt durchscheinen und kann an strategisch wichtigen Stellen gänzlich weggefaltet werden. Diese materialmäßige und konstruktive Verbindlichkeit bildet die Grundlage für das versöhnliche Verhältnis von Neu- und Altbau.

Das Innere ist nun, entgegen den ersten Vermutungen von außen, entlang einer ansteigenden Spirale organisiert. Immerhin, wenn man genau hinschaut, erkennt man zwischen den Balkonöffnungen den Höhenversatz um ein oder zwei Bretter. Um den ebenfalls elliptischen Lichthof verläuft in Form einer sanft ansteigenden spiraligen Rampe ein Gang, an dem nach außen die Zimmertüren liegen. Dort, wo diese Folge im Boden verschwindet, werden die Hotelzimmer durch Autoabstellplätze ersetzt, die sich entlang der Rampe in den Untergrund schrauben. Dieses notwendige Zusammenpassen von oberirdischer und unterirdischer Organisation - wobei die Garagenspirale der primäre Gedanke war - bildete die Schlüsselerkenntnis im Entwurfsverlauf und stellte die Weichen für eine ganze Reihe von Detailproblemen, etwa bei den Türschwellen, die aber alle unaufgeregt gelöst wurden.

Und hier liegt vielleicht eine Erklärung für die unprätentiöse Wirkung des Gebäudes, das doch eine ungewohnte Form aufweist: Die Abgeklärtheit der Details, die schlicht gelöst, nicht zelebriert sind, läßt das Bauwerk ganz selbstverständlich dastehen.

Obwohl die Fassade nicht in einem landläufigen Sinn regelmäßig ist, denn die Balkonöffnungen sind gegeneinander versetzt, vermittelt sie Kontinuität. Dies rührt daher, weil die Gespanntheit der Form, trotz der großen Öffnungen, im Verlauf der Rundung gewahrt bleibt. Der Charakter des Bauwerks wird bewußt mit subtilen architektonischen Mitteln präzisiert. Das Ziel, eine klare, aber dennoch nicht aufdringlich wirkende Form zu schaffen, wurde erreicht.

Weder getarnt noch angeglichen, sondern paradoxerweise in verschleierter Form wurde das Verhältnis zum Altbau geklärt. Damit sind wir wieder einmal bei der klugen Bauerntochter, die im Fischernetz - weder bekleidet noch nackt - vor den mächtigen König trat. Da scheint jene „Schlagfertigkeit“ auf, von der Christian Sumi spricht, wenn er um seine Antwort zu den veränderten Bedingungen des Architektenberufs gefragt wird. In der Ausstellung füllt das Credo des Architektenpaars die eine Stirnwand - das Mittel der Wahl gegen Wiener Zweckpessimismus und Raunzertum im Hinblick auf europäische Bedingungen: „Die ständigen Anpassungen unserer Profession an das sich stets wandelnde Umfeld sind kein Symptom der Schwäche, sondern der Stärke. Wie Roland Barthes Argonauten, welche ihr Raumschiff im Flug ständig erneuern, bauen auch die Architekten kontinuierlich ihr Theoriegebäude um, ohne ,Zwischenlandung und Unterbruch‘. “

Und weiter: „Das scheinbar Unvereinbare der verschiedenen den Entwurf generierenden Parameter - institutionelle Ansprüche einer Bauaufgabe versus Möglichkeiten eines Ortes beispielsweise - bildet das Grunddispositiv jeglicher Entwurfsarbeit. Nicht das Eliminieren dieser Widersprüche, sondern der schlagfertige Umgang mit diesen Konflikten, das Zentrieren der zentrifugal auseinanderdriftenden Ansprüche und damit das Freilegen eines verborgenen Kerns ist die vorrangige Aufgabe unserer Profession und unterscheidet diese grundlegend vom Ingenieur und vom Soziologen, aber auch vom Medienfachmann.“

Spectrum, Sa., 1996.11.09



verknüpfte Bauwerke
Hotel Zürichberg - Renovation und Neubau

19. Oktober 1996Walter Zschokke
Spectrum

Am Stehpult ohne Beethoven

Mozart, Haydn, Beethoven, Schubert: Ihre von Elsa Prochazka neugestalteten Wohn- und Arbeitsstätten laden zu einem interaktiven Besuch. Ein Augenschein.

Mozart, Haydn, Beethoven, Schubert: Ihre von Elsa Prochazka neugestalteten Wohn- und Arbeitsstätten laden zu einem interaktiven Besuch. Ein Augenschein.

Wenige niedrige Räume, weiß gekalkte Wände und ein einfacher, mit dunkelroter Farbe gestrichener Schiffboden aus breiten Brettern bestimmen den Eindruck im Eroicahaus an der Döblinger Hauptstraße, einer der vier ärmlicheren Musikerwohnungen, die in Form von Gedenkstätten auf uns gekommen sind. Zu dieser Kargheit bildet die Pracht der Beletage an der Domgasse 5, mit dem Blick in die von der Nachmittagssonne beschienene Blutgasse, einen deutlichen Gegensatz, auch wenn sich Mozart diese Wohnstätte nur eineinhalb Jahre lang leisten konnte. Die um ein knappes Jahrhundert jüngere, gutbürgerliche Wohnung von Johann Strauß stellte andere Anforderungen. All diese Unterschiede mit einem gestalterischen Gesamtkonzept von entsprechender Bandbreite zu bewältigen gehörte zum Auftrag an die Architektin Elsa Prochazka.

Das Verhältnis der Menschen zum Erinnern ist in den vergangenen Jahrzehnten unterschiedlich gehandhabt worden und auch in jüngster Zeit einem Wandel unterworfen. Man mißtraut vordergründigen Zeugnissen und einem aufgeplusterten Pathos. Dennoch wünschen sich die einen sentimentale, bühnenbildhafte Nachbildungen eines auf Mutmaßungen beruhenden historischen Sachverhalts. Aber bei derartigen populären Inszenierungen klingt das Pathos nicht selten reichlich hohl, und die Art des Nachhalls verweist auf jene, die sich von der Verehrung der Besucher für die berühmte Persönlichkeit einen privaten Gewinn oder entsprechenden Bedeutungszuwachs erhoffen. Andere sehen in diesem Segment der Hochkultur alles andere als eine Spielwiese für Bühnenbildner und möchten daher Gefühl und Verstand in ein kritisches Verhältnis bringen.

Die acht Wohnungen unterstehen seit längerem der Verantwortung des Historischen Museums der Stadt Wien. Irgendwann im 19. Jahrhundert von Privaten oder von Gedenkvereinen gestiftet, waren sie nun einmal vorhanden und wurden mehr oder weniger häufig von Gästen besucht, woraus sich eine ganz pragmatische Verpflichtung zur Traditionspflege ergab, die der Stadt Wien mit ihrer historischen Tiefe gut ansteht. Und wer würde sich heute getrauen, in der Welthauptstadt der Musik eine historisch gesicherte Wohn- und Arbeitsstätte eines berühmten Komponisten aufzulösen. Im Verlauf der vergangenen drei Jahre wagte man es, die Erinnerungsstätten etwas betreuungsfreundlicher, aber insgesamt auch etwas abstrakter zu konzipieren.

Zwar wird die „Erinnerungsarbeit“ dadurch ein wenig erschwert, zugleich aber sachlich vertieft und von falschem atmosphärischem Ballast befreit. In einem generellen Ansatz handelt es sich bei diesen Musikerwohnungen kraft ihrer kulturellen Bedeutung und der geregelten allgemeinen Zugänglichkeit um ein Netz öffentlicher Räume, um territoriale Einstülpungen im städtischen Gefüge individueller oder familiärer Privatheiten. Es sind kleine Besonderheiten, zufällig in der städtebaulichen Struktur verteilt; Bestandseinheiten, die von ihrer Lage und ihrer typologischen Organisation her normalerweise privat sind, nun aber zum öffentlich zugänglichen Bereich geschlagen wurden, wie etwa ein Café, eine Kirche, ein Amt oder auch ein Museum.

Die zeitliche Distanz erleichtert und erschwert den Vorgang des Erinnerns: Mozart, Haydn, Beethoven, Schubert, alle sind sie vor mehr als 150 Jahren gestorben, bei Johann Strauß werden es bald deren 100 sein. Dieser Abstand erlaubt die Klärung und Reduktion auf einige wesentliche Aspekte sowie die Konzentration auf die Wiedergabe von Musik, wobei Werke aus der Phase des Komponisten, die er in dieser Wohnung zubrachte, gewählt wurden. Nach dem neugierigen Gang durch die ehemalige Wohnung bildet denn auch das Anhören mehrerer Musikstücke die Krönung eines Besuchs.

Den entscheidenden Schritt der Gestalterin bildete jedoch der Rückgriff auf den reinen Raum, mithin das Leeren der Zimmer. Falsche Devotionalien und Stimmung heischende, nicht zum originalen Inventar gehörende alte Einrichtungsgegenstände wurden entfernt zugunsten von einigen wenigen typisierten, je nach Wohnung in wechselnder Farbigkeit lasierten Ahornholzmöbeln. Ihre flachen, kastenartigen Formen schweben auf schlanken Beinen im Raum. Damit wurde Absenz betont, nicht scheinbare Anwesenheit.

Als Besucher betritt man die Wohnungen fast wie ein zufälliger Nachmieter. Außer im zentral gelegenen Figarohaus ist man in der Regel allein oder teilt die Anwesenheit vielleicht für kurze Zeit mit einem zweiten Besucher oder einer Besucherin. Daraus ergibt sich eine Stimmung relativer Ungestörtheit.

Hier hakt nun die Gestaltung des Ausstellungsmobiliars ein: Der Besucher darf - was an originalen Erinnerungsstücken aus konservatorischen Gründen verboten bleiben muß - Laden herausziehen, Klappen öffnen und schließen sowie Tasten drücken. Damit wird dem Betätigungsdrang und der Neugier ein Feld geöffnet. Bei dieser kontextuellen Bedeutung der Möbel wird es nicht erstaunen, daß das auf der Biennale ausgestellte Stück etwas verloren wirkte. Obwohl Elsa Prochazka mit ihrem Konzept sehr konkret auf Besucherwünsche nach näherem Zugang auch zur Person des Musikers eingeht, verbietet sie sich das Schwelgen in Klischeevorstellungen und erschwert in harmloser Abstufung den Zugang zur Information.

Man muß ein wenig arbeiten, und sei dies nur das Herausziehen einer Schublade; aber wenn diese schon herausgezogen wurde, liest man auch die Transkription des darin gezeigten Brieffaksimiles. Die Originale sind in der Regel zu wertvoll und empfindlich, die Textauswahl ist daher inhaltsbetont. Nur ein, zwei Objekte, deren Fetischcharakter bewußt kalkuliert wurde, dienen als originaler Ansatzpunkt: Schuberts Brille, gleichsam sein „Markenzeichen“, Beethovens Standuhr oder, reichlich doppeldeutig, eine Schlüssellochabdeckung aus Buntmetall vom Schloß seiner Zimmertür. Die Architektin negiert nicht die voyeuristische Komponente eines Besuchs und gibt mit diesem Kleinobjekt dazu einen versteckten Kommentar.

Wer in eine der Musikergedenkstätten eintritt, muß nicht erst geworben werden, denn sie liegen nicht in Reichweite der touristischen Hauptzentren. In den Hof eines klassizistischen Bürgerhauses vorzudringen oder in den vierten Stock eines Adelspalais zu steigen verlangt Entdeckerfreude. Die knappe Auswahl der Exponate schafft Raum für die Eigenleistung des Besuchers, es wird ihm nicht alles vorgekaut eingelöffelt. Man hat Zeit, die Beschriftungen in den Schiebern und hinter den Klappen auszulösen, die scheinbare Sperrigkeit der Gestaltung erweist sich als Herausforderung, als Einladung, sich näher einzulassen, auch, um den Gegenstand vor dem Lesen zu betrachten.

Erinnern ist ein Rückblicken aus unserer Zeit, und so ist auch jeder Umgang mit dem Vergangenen eine zeitgenössische Angelegenheit. Da und dort hat die Architektin die zahlreichen Farbschichten an den Wänden auf einem schmalen Streifen freilegen lassen. Dies deutet darauf hin, daß die ausgewählte Phase eine unter mehreren ist, daß vor und nach der geehrten Persönlichkeit ebenfalls Menschen in den Räumen gelebt haben, geboren wurden und starben.

Als ausdrücklich zeitgenössischen Beitrag hat sie in einem Raum der Mozart-Wohnung in Zusammenarbeit mit der Wiener Künstlerin Johanna Kandl eine weitere Schicht hinzugefügt, die diese als zartes, schleierartiges Gemenge von Händen beziehungsweise deren Silhouetten entworfen hat; Hände, deren Haltung von Bildern Mozarts und seiner Zeitgenossen stammen. Die Aufwertung des Raumes mit einemunaufdringlichen zeitgenössischen Kunstwerk bedeutet für diese vielbesuchte Gedenkstätte eine Art Verstärkung der Aura. Zugleich handelt es sich um ein Fortschreiben der künstlerischen Geschichte mit anderen als mit musikalischen Mitteln. Die zurückhaltende Form dieser Einschiebung nimmt damit den Charakter eines Kommentars an. Eine ähnliche Rolle spielen die Sessel von Jasper Morrison, elegante, schlanke Gebilde aus Birkensperrholz, die da und dort das Niedersetzen erlauben, vorzugsweise vor den einem Spinett nachempfundenen Musikmöbeln, wo über Tastendruck Musikstücke in hoher Wiedergabequalität aufgerufen und über Kopfhörer angehört werden können.

Den typisierten Möbeln wird ein industriell produzierter Sessel aus den achtziger Jahren beigesellt. Das gemiedene (überdies historisch falsche) Klischee hätte, dem Tourismus zuliebe, Thonet Nummer 14 lauten können, aber Elsa Prochazka beharrte ein weiteres Mal auf einem strikt heutigen Zugang und auf hoher gestalterischer Qualität. Mit dieser Konsequenz, dem sparsamen Einsatz von Objekten und dem großzügigen Zur-Verfügung- Stellen von Raum, auch von Denk-Raum, hat sie dem eigenartigen innerurbanen Archipel der Wiener Musikergedenkstätten einen speziellen und attraktiven Dreh versetzt, der einen Besuch lohnt.

Spectrum, Sa., 1996.10.19



verknüpfte Bauwerke
Beethoven-Gedenkstätte „Eroicahaus“
Schubert-Gedenkstätte „Geburtshaus“
Mozart-Gedenkstätte „Figarohaus“
Haydn-Gedenkstätte
Schubert-Gedenkstätte „Sterbehaus“

12. Oktober 1996Walter Zschokke
Spectrum

Die Spannung am Blockrand

Im Stadterweiterungsgebiet Leberberg, Wien-Simmering, hat die Bautätigkeit den Zenit überschritten. Erste Bauten sind fertiggestellt. Erfreuliches Beispiel: der Wohnbau von Otmar Hasler.

Im Stadterweiterungsgebiet Leberberg, Wien-Simmering, hat die Bautätigkeit den Zenit überschritten. Erste Bauten sind fertiggestellt. Erfreuliches Beispiel: der Wohnbau von Otmar Hasler.

Sonntag am Leberberg, Simmering: Soeben sind die Mieter in ihre Wohnungen eingezogen und machen, nachdem der Regen aufgehört hat, einen kleinen Spaziergang durch das Quartier, um einen Eindruck der sich noch täglich ändernden Umgebung zu gewinnen, die zumeist noch aus ungleich fortgeschrittenen Baustellen besteht.

Das etwa zwei Jahrzehnte alte städtebauliche Konzept für dieses ausgedehnte Stadterweiterungsgebiet wurde primär von einer Straßenplanung bestimmt. Die dazwischen verbliebenen Flächen sollten mit einer Blockrandbebauung gefüllt werden, für die im Konzept reichlich graphisch anmutende Varianten vorgesehen waren. Das Prinzip der Blockrandbebauung, aus dem 19. Jahrhundert stammend, bei dem mehr oder weniger große Höfe entstehen, findet unter zeitgenössischen Architekten und Städtebauern nicht ungeteilte Zustimmung. Doch wie bei allen städtebaulichen Konzepten kommt es auch hier darauf an, was man im Zuge der architektonischen Durchbildung daraus macht.

Die meisten der für die architektonische Durchbildung beigezogenen Architekten haben sich mit der Frage befaßt, wie die geschlossene Form des Blocks relativiert werden kann. Je nach gestalterischem Vermögen der Entwerfer und der Flexibilität des Bauträgers ergaben sich unterschiedliche Konkretisierungen. Neben eher schematisch abgewickelten Großformen und Fassaden, für die der Planer des städtebaulichen Konzepts eigenhändig verantwortlich zeichnet - ihr Anteil an der gesamten Bebauung ist nicht gering -, finden sich interessante Ansätze, an denen mit architektonischen Mitteln erzeugte Identität und Differenzierung ablesbar werden.

Der kürzlich fertiggestellte zweite Hof im Bauteil eins, südöstlich der neuen Schule an der Svetelskygasse, gehört zu dieser Gruppe. Zwei Ateliers mußten sich die Aufgabe teilen: Den nordöstlichen Winkelbau, fünf Geschoße hoch, hat Architektin Margarethe Cufer entworfen, der südwestliche Teil, eingeschlossen ein Kindergarten und ein Kindertagesheim, stammt von Otmar Hasler.

Sozialer Wohnbau ist gewiß nicht zuvorderst ein architektonisches Problem. Da geht es um Grundrißökonomie, um Zimmergrößen und robuste Materialien; nach außen sollen einige strukturierende Elemente die große Masse gliedern, und es ist angenehm, wenn der Bereich im Stiegenhaus, vor den Wohnungen, möglichst ansprechend und nicht zu eng wirkt.

Margarethe Cufer hat im einen Flügel des Winkelbaus an drei nordseitig gelegenen Stiegenhäusern jeweils zwei Dreizimmerwohnungen angeordnet, die an der Südseite breite Balkone aufweisen, deren geregelt unregelmäßige Anordnung das Bild der Süd- und zugleich Hoffassade bestimmt. Der andere Gebäudeflügel - ostwestorientiert - enthält sowohl Vierzimmer- als auch Ein- und Zweizimmerwohnungen, die von einem Stiegenhaus sowie von einem Winkelgang vom anderen Gebäudeteil her zugänglich sind.

Mit diesem Eckbau wird der Baublock klar markiert. Otmar Hasler hat nun einen nordsüdorientierten Längstrakt solcherart an den Winkel angelehnt, daß eine zum westseitig gelegenen Park offene, schlichte U-Form entsteht, die aber durch zwei Besonderheiten unverwechselbar gemacht wird. Mit einem kleinen, auf Pfeilern aufgestelzten Stichtrakt wird der Hauptzugang zum Hof überbaut und zugleich eine spannungsvolle Nähe zum Kopf des einen Winkelflügels eingegangen. Der kleine und der große Baukörper schieben leicht aneinander vorbei, sodaß eine Reiche von der Breite der halb eingeklemmten Balkone entsteht. Diese besondere Unstetigkeit wird nach außen mit roter Farbe markiert, während die großen Baukörper in blassem, zu weiß tendierendem Lila eingefärbt sind.

Zwischen den Schenkeln des U befindet sich das kreuzförmig gegliederte Bauwerk des Kindergartens - rot verputzt -, dem ein gerader Trakt mit fünf Maisonettes in gedecktem Weiß aufgesetzt ist. Ein brückenartiger Zugang im dritten Obergeschoß bindet diesen Bauteil an Stiegenhaus und Lift im südlich anschließenden Längstrakt an.

Diese beiden Maßnahmen, das aufgestelzte Eingangshaus und die Maisonettezeile am „Skywalk“, verleihen dem Hof fast lapidar Klarheit und Unverwechselbarkeit. Es sind Gebäudeteile, groß genug, eine oder mehrere Wohnungen zu enthalten, aber nicht so groß, daß sie zu den primären, das U bildenden Trakten in Konkurrenz treten würden. Stellvertretend für viele Wohnungen in der Zeile stehen sie für Individualität, von der jeder Bewohner dieses Hofes ein wenig auf sich beziehen kann. Dies wird erreicht mit deutlicher Proportionierung, relativer Nähe und relativer Ferne, mithin dezidierten räumlichen Beziehungen.

Der Kindergarten weist vier Gruppenräume auf, die mit Garderoben und Toilettenanlagen jeweils eine Einheit bilden. Ihre individuelle Anbindung, die Anordnung auf zwei Geschoßen mit Treppen und Rampen machen aus dem Gebäude bereits eine winzige Stadt, mit Durchgangs- und Verweilräumen, großen und kleinen, ja kleinsten Zimmern - bis zum Spielhaus - und zahlreichen Ausgängen ins Freie.

Die Wohnungen im Längstrakt gruppieren sich an drei Stiegenhäuser. Jeweils ein gerader Treppenlauf und der Lift stehen in einer rechteckigen Halle. Die großzügige Dimensionierung dieser gemeinsamen Zugangsräume läßt in keiner Weise Enge aufkommen und gibt jeder Einheit einen eigenen Bereich vor der Wohnungstür. Die Normalwohnung mit drei Zimmern, großer Küche und Nebenräumen weist ein teilbares Wohnzimmer sowie vom Vorraum aus mittels Gang einen direkten Zugang zum Schlafteil auf. Der zwingende Durchgang durch das Wohnzimmer wird damit vermieden. Die fünf Maisonettes werden auf der Wohnebene betreten. Noch vom Vorraum führt die Treppe ins darunterliegende Geschoß mit vier Schlafzimmern, Mitteldiele und Bad. Vom Wohnzimmer mit Eßplatz und großzügiger Küche führt eine Treppe hinauf zu einer teilweise gedeckten Dachterrasse. Die Lage dieser fünf Maisonettewohnungen über dem Kindertagesheim mutet vielleicht etwas spleenig an, doch wird auch hier die Position genützt für eine individuellere Ausbildung qualifizierter Fami-lienwohnungen.

Otmar Hasler hat nicht nur für jene Wohnungen im Regelverband gut organisierte und flexible Grundrisse entwickelt, sondern auch eine größere Anzahl Ausnahmefälle erzeugt, die den Bedürfnissen nach individuell ausgebildeter Wohnatmosphäre entgegenkommen. Damit entsteht auch für die einzelne Wohnung ein hohes Maß an Identität, die durch die individuelle Möblierung nur noch genützt werden muß.

Wenn man nun bedenkt, daß als Bauträger die Wiener Magistratsabteilung 24 wirkte, wird die Leistung Haslers umso deutlicher. In der Schere zwischen vielfältigen Ansprüchen und engem Kostenrahmen muß man sich auf robuste Details einstellen, das heißt, das Bauwerk ist so zu entwerfen, daß eine einfache Detaillierung möglich wird. Gegenüber dem nicht übermäßig wendigen Apparat der MA 24 gerät man als Architekt mit einem innovationsbefrachteten Projekt rasch ins Hintertreffen, weil es am gegenseitigen Verstehen mangelt. Dagegen ist eine Art Judotaktik angezeigt: mit der Grundbewegung des Gegenübers rechnen und deren Richtung in die eigenen Überlegungen einbauen. Wenn man jedoch als Architekt gegen eingespielte, fixe Positionen ankämpft, wirkt sich dieser Clinch auf das gesamte Projekt aus: In gestalterischer Hinsicht verliert man die Kontrolle, und jede Korrekturmaßnahme kostet viel Kraft.

Volkswirtschaftlich gesehen wächst dann der Planungsaufwand steil an; während die wirklichen Kosten bei der öffentlichen Hand nicht explizit aufscheinen, schlagen oftmalige und endlose Sitzungen, mehrmaliges Umplanen und fruchtlose Auseinandersetzungen mit der Zeit im privaten Architekturbüro auf die Buchhaltung und aufs Gemüt von Chef und Mitarbeitern. Otmar Hasler vermochte sinnlose Streitereien hintanzuhalten und damit die Kontrolle über den architektonischen Ausdruck zu wahren.

Ein Blick auf die Fassaden zeigt, daß auch hier ein spannungsreiches Spiel von Proportionen, Wand und Öffnung, Rhythmus, Reihung, Fläche und Volumen möglich geworden ist. Dies konnte nur gelingen, weil mit den architektonischen Zielen auf die strukturellen Möglichkeiten des Bauträgers eingegangen wurde. Beim Gemeindewohnbau die neueste Mode publizierter Architekturentwürfe exekutieren zu wollen entspricht weder der Gangart der amtlichen Bauträger noch dem Formbewußtsein der späteren Bewohner. Mit dieser Ungleichzeitigkeit ohne Zynismus und Überheblichkeit umzugehen ist Otmar Hasler am Leberberg architektonisch überzeugend gelungen.

Spectrum, Sa., 1996.10.12



verknüpfte Bauwerke
Wohnbau am Leberberg

28. September 1996Walter Zschokke
Spectrum

Und es fing ganz harmlos an

Zwischen Naturgenuß und spielerischer Erforschung von Räumen: Bei Neuss in Nordrhein-Westfalen entsteht das „MuseumInsel Hombroich“ - Kunstsammlung, Naturpark, Architekturwanderpfad und Kulturlabor. Eine Zwischenbilanz.

Zwischen Naturgenuß und spielerischer Erforschung von Räumen: Bei Neuss in Nordrhein-Westfalen entsteht das „MuseumInsel Hombroich“ - Kunstsammlung, Naturpark, Architekturwanderpfad und Kulturlabor. Eine Zwischenbilanz.

Venedig am letzten Tag dieses mageren Sommers. Vormittags liegt über den Dächern feuchtkalter Nebel, der die Kuppeln und Türme der Kirchen umfängt. Gegen Mittag schaffen es einige Sonnenstrahlen, den Nebel zu durchdringen, doch am Nachmittag stellt sich, zuerst nieselnd, dann stärker nässend, Regen ein, als Abgesang auf einen Sommer, der nicht groß war.

Im Westen der Lagunenstadt, ausgezeichnet durch den überraschend weiträumigen Campo Santa Margarita, befindet sich das Quartiere dei Carmini, ein Wohngebiet, in dem keine Touristenläden und Speiselokale die Gassen und Kanäle säumen. Am Rio dei Carmini, mit Blick auf den Vorplatz der gleichnamigen Kirche, steht der Palazzo Vendramin, noch geprägt von der Romantik des Zerfalls, der jahrelang den Ruf Venedigs ausmachte. Durchfeuchtete Mauern, fehlende Baluster, brökkelnder Verputz und Taubenkot täuschen die Augen der Laien.

Der Möglichkeitssinn von Architekten sieht hinter diesen vordergründigen Mängeln eine hohe und lange Sala terrena, darüber eine prächtige Halle und daran anschließend Zimmer und Säle mit wechselnder Ausstattung. In ein paar Jahren wird auch dieses Bauwerk erneuert sein, sodaß über die Schönheit der Räumlichkeiten keine Zweifel mehr bestehen werden.

Dieser Tage hat sich in dem Palast eine Ausstellung niedergelassen, die als deutscher Beitrag im Rahmen der 6. Architekturbiennale ein spezifisches kulturelles Unternehmen dokumentiert, das in besonderer Weise in der Tradition des deutschen Idealismus steht. Im Spannungsfeld von Architektur, Skulptur, Landschaftspflege und Kunstpräsentation hat es in den letzten Jahren in kunstinteressierten Kreisen unter dem Namen „Museum Insel Hombroich“ von sich reden gemacht. Dieses Hombroich liegt in der Nähe der alten Mittelstadt Neuss in Niedersachsen.

Es fing ganz harmlos an. Der Kunstsammler Karl-Heinrich Müller kaufte für seine wachsende Sammlung die frühhistoristischen Gebäude eines Gutes, die von der Erft umflossen werden, einem Flüßlein, das sein Wasser in den Rhein trägt. Später erwarb Müller angrenzende landwirtschaftliche Flächen der Erftauen. Der Bildhauer Erwin Heerich von der Kunsthochschule in Düsseldorf, dessen konkrete Skulpturen in der Sammlung vertreten sind, entwarf für den sich entwickelnden Landschaftspark Pavillons in wachsender Zahl, die als Ausstellungsräume dienen und durch ein Netz von Kieswegen erschlossen werden.

Diese Pavillons sind gleichermaßen Räume für Kunst sowie begehbare, konkrete Skulpturen, deren Formfindungsprinzipien meist einfachen Regeln folgen, die aber durch konsequente Reduktion in materialer und proportionaler Hinsicht große Ausdruckskraft erlangen. Die Mauern aus wiederverwendeten Ziegeln sind im Inneren dematerialisierend weiß und glatt verputzt; verzinkter Stahl, Holz und Stegplatten dienen für die Dachkonstruktion. Oft sind es einfache Raumkonzeptionen, die in der Verdichtung größerer Aneinanderfügungen und beim Wechsel außen- innen beziehungsweise innen- außen starke Wirkung erlangen.

Der Pflanzenbewuchs des Landschaftsparks ist mittlerweile recht weit gediehen. Mehrere zehntausend Besucher genießen jährlich den Spaziergang durch die 24 Hektar renaturierter Landschaft und den Blick auf die zu ihrem Gehalt rückgeführte Kunst, die ohne Beschriftung, oft in kühner Gegenüberstellung von Jung und Alt, Fern und Nah auf die Sinne wirken kann. Der Hamburger „Spiegel“ nennt die Anlage ein „Gesamtkunstwerk“ und ein „künstliches Paradies“, und wenn es ums Märchenerzählen ginge, könnten alle Beteiligten glücklich bis an ihr Lebensende dort weiterwerkeln.

Doch der Schritt ins letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts brachte eine neue Konfrontation: Einen knappen Kilometer entfernt befand sich eine obsolet gewordene Raketenstation, die 1994 erworben werden konnte. Diese nun wirklich aktuelle Herausforderung erfaßte die beteiligten Künstler und Architekten. Die vorhandenen Baulichkeiten, Unterkünfte, Hangars und Kommandobüros, wurden zu Ateliers, Wohngebäuden, Werkstätten und einer Veranstaltungshalle umgenutzt.

In der Folge soll hier ein „Kulturlabor“ entstehen. Zu diesem Zweck haben Erwin Heerich und weitere Architekten und Künstler Projekte erarbeitet. Von Alvaro Siza stammt der Entwurf für ein biophysikalisches Institut; Claudio Silvestrin plante ein klosterartiges Seminargebäude; Oliver Kruse und Katsuhito Nishikawa realisierten ein Gästehaus für solitäre Menschen, von dem mehrere Einheiten zu einem größeren Wohn- und Atelierhaus addiert werden sollen.

Tadao Ando projektierte ein Ausstellungsgebäude für klassisch- moderne Kunst der Jahrhundertwende, und von Raimund Abraham liegt der Entwurf für ein Gebäude vor, mit einem Musikstudio sowie Übungs- und Wohnräumen für Musiker und Komponisten.

Die neuinterpretierte Raketenstation soll zu einem Begegnungs-, Arbeits- und Forschungszentrum von Künstlern verschiedener Disziplinen werden. Teilweise begehbare Großskulpturen von Heinz Baumüller, Eduardo Chillida und Katsuhito Nishikawa sollen voraussichtlich errichtet werden.

Sehr vieles, auch sehr Verschiedenes kommt hier zusammen. Das Spannende scheint mir aber die Dialektik des Ortes zu sein, einer Zone, die während Jahrzehnten auf Karten und Luftphotographien inexistent war, ein Unort, abgegrenzt durch Stacheldraht, in der Ebene unsichtbar gemacht durch hohe Erdwälle.

Über die Konzentration künstlerischer und raumschaffender Kräfte kommt es hier zu einer Umdeutung und kulturellen Verdichtung, die mit großer Geschwindigkeit abzulaufen vermag, nachdem nun die Bedrohung entfallen ist.

Natürlich lassen sich für ein derartiges Unternehmen immer Vorläufer und Vergleichsbeispiele finden, seien dies die vom Bayernkönig Ludwig II. beschäftigten Künstler des späten Historismus, die Kolonie auf der Mathildenhöhe in Darmstadt oder die Deutschen Werkstätten in Dresden-Hellerau, das Bauhaus in Weimar und später Dessau oder die Werkstätten auf Burg Giebichenstein.

In fast allen Fällen entstand daraus ein kultureller Knoten, eine Verdichtung oder Akademie im weitesten Sinne, in der Interessierte zu Kunst und Architektur fanden und bereits erfahrene Künstler auch als Lehrer weiter reiften.

Natürlich gibt es in Hombroich Unterschiede in Qualität und Ausdruck, und ein Leben in klösterlicher Abgeschiedenheit werden internationale Künstler nur für einige Tage oder Wochen suchen, um danach wieder in die große Welt zurückzukehren. Dennoch sind die meisten der vorliegenden Entwürfe recht vielversprechend.

Das Faszinierende ist einerseits das Umdeuten von scheinbar wertloser, unnütz gewordener Bausubstanz, die äußerst optimiert aus industriellen Halbfabrikaten zusammengebaut worden war. Andererseits ist es die Beschäftigung der Künstler mit Raum, ob es sich nun um die Arbeit Heinz Baumüllers handelt oder die bereits ansehnliche Reihe von ausgeführten Entwürfen Erwin Heerichs.

Wenn man die Reihe der Bauten im Landschaftspark Insel Hombroich durchgeht und nun die Entwürfe für das Gelände der Raketenstation studiert, läßt sich eine spannende Entwicklung feststellen, die sich vom gebundenen Entwerfen in einem abstrakten Gitter zu lösen beginnt, einerseits den Weg einer seriellen Variation und dichten Aneinanderfügung beschreitet, aber andererseits auch die spezifische Interpretation des Ortes und der Nutzung zum Programmgemacht hat.

Letzteres zeigt sich an dem von Erwin Heerich entworfenen Gebäude zur Unterbringung eines Reliefs von Lucio Fontana: Drei U-Elemente und zwei parallele Scheiben erzeugen einen gegliederten Raum, der von den offenen, einspringenden Ecken sein Licht erhält. Der schmale Zugang bildet den scharf geschnittenen Übergang vom Umraum zum Innenraum.

Auf diese Weise wird ein Erfahrungsraum geschaffen, der Besuchern ein spielerisches Erforschen von Räumen, Raumstimmungen, Licht, Enge und Weite, aber auch der Wirkung von Kunstwerken im und mit dem Raum ermöglicht.

Abgesehen vom Naturgenuß, vom Spazieren an der frischen Luft, sind es die einfachen räumlichen Konstellationen, die Akustik und die Abstraktion dieser Räume, die eine Wahrnehmung mit niedrigem Rauschpegel erlauben. Es mag diese Klarheit sein, die als Faszinosum die Besucher anzieht und diese beruhigt und erholt wieder an ihre Arbeits- und Wohnplätze entläßt.

Spectrum, Sa., 1996.09.28



verknüpfte Bauwerke
Museum Insel Hombroich

17. August 1996Walter Zschokke
Spectrum

Pirouetten und Pausenclowns

Nichttrinker, ein zu Kulturpessimismus neigender Generalist, und Nichtraucher, ein berufsmäßiger Optimist alter Schule, sitzen wieder beisammen und reden über Avantgarde und Epigonentum. Ein Dialog.

Nichttrinker, ein zu Kulturpessimismus neigender Generalist, und Nichtraucher, ein berufsmäßiger Optimist alter Schule, sitzen wieder beisammen und reden über Avantgarde und Epigonentum. Ein Dialog.

Nichttrinker (ein eher zu Kulturpessimismus neigender Generalist): Du schwadronierst ständig über Architektur und deren kulturelle Bedeutung, das hat doch kein ernsthaftes Gewicht, da gilt heute dieses und morgen jenes. Nimm die Gasometer, für Wien eigentlich das Schönbrunn des jungen Industriezeitalters, nachdem die Rotunde im Prater abgebrannt ist. Was machen die „Stararchitekten“ und die Politiker daraus? Sie profanieren diese vier Kathedralen der beginnenden Verbrauchergesellschaft großen Stils zu Sozialbauten mit fragwürdig belichteten Wohnungen und akustisch problematischen Hofschächten und so weiter.

Nichtraucher (ein berufsmäßi-ger Optimist älterer Schule): Du siehst das zu negativ. An diesen Denkmälern der Industriekultur bietet sich die Möglichkeit einer spannungsvollen Aneignung durch die Avantgarde unserer Architektenschaft. Die späteren Bewohner werden zu einem neuen Architekturverständnis geführt, die Enkel jener Verbraucher, die das von den Gasometern ins Netz gedrückte Stadtgas konsumierten, werden dereinst die kühn umfunktionierten Hüllen bewohnen. Das ist geschichtliche Dialektik, wie sie unserer Zeit entspricht. Da werden die Bewohner die etwas schlechtere Aussicht gern in Kauf nehmen.

Nichttrinker: Was heißt hier Avantgarde; das sind doch Historisten ihrer eigenen Frühwerke oder schlichte Neohistoristen ohne Frühwerke. Avantgarde, das ist doch jene Truppe, die im Vorfeld agiert, das schnelle Scharmützel sucht, um die Stärke des Gegners abzuklären, die entscheidende Auseinandersetzung aber vermeidet und dem Haupthaufen überläßt, inzwischen aber bereits zu neuen Zielen aufgebrochen ist. Ich bin eher der Meinung, daß hier wieder einmal publizierbare Architektur „avant la construction“ produziert wird, wie dies mit den Künstlerateliers auf den Stadtbahnbögen bei der Spittelau von Zaha Hadid geschehen ist: Die plastische Erscheinung im Modell sieht zwar attraktiv aus, die Grundrisse aber, soweit überhaupt bekannt, sind eher kläglich.

Nichtraucher: Das verstehst du nicht richtig. Für Künstler sind doch die Grundrisse egal, die machen damit, was sie wollen. Es geht um den Geist, der in diesen dynamischen Formen steckt, die Signalwirkung für den Fremdenverkehr, das weltbekannte Heizwerk ist auch in der Nähe, das ergibt doch Synergieeffekte. Und die Vorbildwirkung auf unsere Architekturstudenten darf nicht vergessen werden.

Nichttrinker: Bei siebeneinhalb verquetschten Ateliers redest du von Quartier Latin, damit stehst du komplett neben dem Skateboard. Diese Push-up-Projekte verstärken nur die bereits bestehende Verwirrung in den Köpfen der Architekturstudenten. Diese glauben, jedes Projekt müsse sich so aufplustern, und vergessen, daß es daneben auch sehr viel Alltag zu bewältigen gibt.

Nichtraucher: Was man nicht früh genug übt, kann man später nicht richtig praktizieren. Die Jungen sollen jede Gelegenheit nützen, um zu lernen, wie man eine Architektur entwirft, die sich im internationalen Konkurrenzkampf und bei Wettbewerben durchsetzen kann. Was interessieren mich die Normalos und die Realos. Die Frechsten und Wagemutigsten muß man fördern, damit etwas Zukunftsweisendes entstehen kann.

Nichttrinker: Deine Illusionen einer synthetischen Avantgarde aus dem Avantgardistenkindergarten möchte ich haben. Das sind doch nur die, die am lautesten auf sich aufmerksam machen und, wenn einmal längere Durststrecken kommen, anfangen, ihr Los als verkannte Avantgardisten zu beweinen. Die kläglichste Rolle unter der an Rollenbildern nicht armen Architektenschaft ist doch die der larmoyanten Avantgarde. Warum sollen sich die Sanitäter - die Kritiker, die Vermittler - nur um die blessierten Vorausstürmer kümmern, die sich einmal den Kopf angerannt haben. Sollen die sich halt besser orientieren und nicht jedem selbsternannten architektonischen Fähnleinschwenker unreflektiert nachlaufen. Da halte ich es für wichtiger, im Gros der Truppe zu arbeiten, das Erreichte zu sichern und auszubauen. Nur so können jene in die Zukunft ausschwärmenden Gruppen und Einzelpersonen überhaupt den nötigen Rückhalt bekommen. Denn eine Avantgarde ohne Haupthaufen ist nichts.

Nichtraucher: Das mag ja auch richtig sein, diese Arbeit ist verdienstvoll, aber nicht besonders attraktiv. Die Propagierung von Ausnahmeleistungen schafft überdies jenes Kielwasser, in dem die Architekturkultur als Ganzes vorangebracht werden kann.

Nichttrinker: Das ist doch Quatsch. Über die mediale Verbreitung kumulieren sich die einzelnen Ausnahmeobjekte zu scheinbarer Normalität. Das fördert nur das Epigonentum; angesichts all der schwankenden Pirouetten und halbgelungenen Salti hält das Publikumdiese Architekturen für eine Ansammlung von Pausenclowns. Hinter dem Nebelvorhang der pränatal publizierten sekundären „Stararchitektur“ geschieht aber weiterhin der alte Schwachsinn in leicht verändertem Gewand.

Nichtraucher: Du mit deinem Pessimismus. Es ist doch positiv, wenn private Unternehmer oder gar die öffentliche Hand als Mäzene für engagierte Architektur auftreten. Ich denke an Vitra in Weil am Rhein, wo Raumvorstellungen, die vorher nur auf zweidimensionalem Papier oder bestenfalls am leicht gewölbten Bildschirm bestanden, endlich einmal eins zu eins und begehbar zu erleben sind. Daß ein Großteil der übrigen Bauten mittelmäßig oder gar schlecht ist, war immer so und wird immer so bleiben. Man kann den Avantgardisten nicht anlasten, daß sie schwache Epigonen haben. Mir scheint auch, daß alle engagierten Architekten sich in irgendeiner Form zur Avantgarde zählen. Ich würde dagegen sehr gern einmal ein wirklich gutes konservatives zeitgenössisches Bauwerk studieren, aber was uns die einschlägigen Architekten da vorsetzen, ist reichlich schwach auf der Brust.

Nichttrinker: Du weißt so gut wie ich, daß sich gute Architektur nicht dekretieren läßt. Das Bedürfnis, am Entwurf zu arbeiten, ohne sich vorschnell auf bestimmte Bilder zu fixieren, ist kaum zu erzwingen und schwer zu lehren. Und wenn nicht die oberflächliche Wirkung, sondern das Maß an Auseinandersetzung mit dem Aufgabenkomplex und der Grad an innerer Klärung den Wert bestimmen sollen, ist mehr Zeit für die Kritik aufzuwenden, aber auch für das Einleben und das damit einhergehende, mit der Erfahrung wachsende öffentliche Verständnis von Architektur.

Nichtraucher: Noch einmal, man zeige mir ein interessantes Beispiel eines traditionell gemeinten und auch so gebauten Hauses. Wo die Symmetrie nicht plump, der Materialeinsatz nicht zu klobig und die zeitgenössische Konstruktion nicht scheinheilig hinter einer traditionalistischen Tapete versteckt ist. In der Architektur zieht die konservative Haltung offenbar einfach keine guten Leute an. Vielleicht sollte man einmal eine „Arri` eregarde“ propagieren, die nicht bloß aus Denkmalpflegern besteht.

Nichttrinker: Du übernimmst ja ungefragt meine Positionen, nur müssen sie immer etwas Besonderes sein. Woher sollen wir heute wissen, was die in hundert Jahren unter Denkmalschutz stellen werden. Ich denke immer, daß da ganz andere Bauten wichtig sein werden, als wir heute zu glauben geneigt sind. Zur Zeit ist es jedenfalls öfter ein Unglück, wenn ein Bauwerk unter die Denkmalpfleger fällt. Besonders, wenn es bekannt ist und zudemdie Chance birgt, gewinnbringend vermarktet zu werden. In Schönbrunn hat man die Achse, die von der Schloßallee bis zur Gloriette reichte, nach dem Ehrenhof im Hauptbau gekappt. Von den Redoutensälen braucht man nicht mehr zu reden. Bei den Hofstallungen wurde bisher alles andere gepflegt als das Denkmal, soweit überhaupt eines vorhanden ist. Und wenn dann die ehemaligen Hofmuseen über eine Glaspyramide vor dem Maria-Theresia-Denkmal unterirdisch erschlossen sein werden, wird die historische Eingangssequenz von Semper/Hasenauer jedenfalls nicht mehr erlebbar sein.

Nichtraucher: Das ist es ja, was ich dir ständig klarmachen möchte, daß es viel mehr darauf ankommt, wie etwas gemacht wird, nicht so sehr nur darauf, was geplant wird. Dafür gibt es gerade in Wien genügend Beispiele.

Nichttrinker: Aber deswegen brauchst du mir trotzdem nicht den Schmus einer mittlerweile angegreisten, notabene reichlich selbsternannten Avantgarde anzudienen. Anstatt ständig von einer besonderen Position, ob avant oder arrière, zu phantasieren, halte ich es für klüger, Selbstverständlichkeit anzustreben - den Begriff habe ich kürzlich bei Janos Karasz gelesen -, die ohne das falsche Pathos all der Ismen und Einfältigkeiten auskommt.

Vegetarier (der die ganze Zeit stumm daneben gesessen ist): Das hätte ich euch schon am Anfang sagen können.

Spectrum, Sa., 1996.08.17

27. Juli 1996Walter Zschokke
Spectrum

Übernachten ohne Gerümpel

Der Kremser Gestaltungsbeirat versagte einem romantisierenden Hotelentwurf das Plazet. Elena und Alois Neururer haben statt dessen ein zeitgenössisches Stadthotel errichtet: das „Klinglhuber“.

Der Kremser Gestaltungsbeirat versagte einem romantisierenden Hotelentwurf das Plazet. Elena und Alois Neururer haben statt dessen ein zeitgenössisches Stadthotel errichtet: das „Klinglhuber“.

Die Fronten waren rasch verhärtet, als im Sommer 1994 der prominent besetzte, neu eingerichtete Kremser Gestaltungsbeirat und der Stadtbaudirektor die Notbremse zogen und für ein eigenartig romantisierendes Hotelprojekt die Überarbeitung der Fassade verlangten. Binnen Tagen versuchten auch einige populistische Lokalpolitiker, einen Kulturkampf vom Zaun zu brechen, um daraus politisches Kleingeld zu schlagen. In dieser emotional aufgeheizten Situation erhielten der in Wien ansässige Tiroler Architekt Alois Neururer und dessen Partnerin, Elena Theodorou- Neururer, den Auftrag, die Fassaden zu modifizieren.

Der Bauplatz für das neue Hotel Klinglhuber befand sich in der östlich des Kremsflüßchens gelegenen Vorstadt mit mittelalterlich geprägter Struktur und geschlossener Bauweise. Das Geviert Wiener Straße - Kettensteggasse - Hohensteinstraße war früher vor allem mit Ökonomie- und Nebengebäuden besetzt, Teile davon sollten dem Hotelneubau weichen. Die Hohensteinstraße weitet sich vor der neuen Südfront zu einem kleinen Platz, sodaß diese etwas mehr städtebauliches Gewicht erhält und zur Hauptfassade wird.

Ein Blick auf die abgelehnte Fassade zeigt einen Mittelgiebel, dessen Großform in den Gaupen wiederholt wird; weiters einen Turmerker an der einen Ecke, das Ganze kombiniert mit einem Krüppelwalmdach, woraus sich allerlei interessante Verschneidungen für den Spengler ergeben hätten. Der bereits bewilligte Grundriß, mit dem sich die neubestellten Fassadenentwerfer befassen mußten - schließlich sollte die neue Fassade dazupassen -, hatte eine ebenfalls romantisierende Struktur, mit eher dunklen, labyrinthischen Gängen und fürstlich mit Raumreserven versorgten Hotelzimmern an der Hauptfront. Zur Kompensation gab es für weniger bemittelte Gäste ein paar kleine Zimmer zum engen Lichthof.

Die Architekten Elena und Alois Neururer erkannten rasch, daß hier ein Mißverständnis vorlag. Die Zimmergrößen waren auf den Betrieb eines Ferienhotels abgestimmt, in dem die Gäste ein bis zwei Wochen bleiben. In Krems benötigte man jedoch ein Stadthotel für Geschäftsleute, die ein bis drei Tage im Haus logieren und tagsüber die meiste Zeit unterwegs sind. Dank ihrer Erfahrung mit Hotelbauten im Tiroler Pitztal, von wo Alois Neururer auch stammt, konnten sie die Bauherrschaft, die alteingesessene Hotelier- und Gastwirtfamilie Klinglhuber, auf den Fehler aufmerksam machen.

Mit einem völlig neuen Entwurf zeigten sie auf, daß im zulässigen Bauvolumen um einige Zimmer mehr unterzubringen waren; diese Tatsache dürfte auch für den Weiterbestand des Unternehmens nicht ganz bedeutungslos sein. Auf dem Normalgeschoß der ersten Bauetappe waren es statt sieben Zimmern deren zehn, mit 20 an Stelle von nur 15 Betten. Helle und übersichtliche Gänge erschließen die Zimmer. Nach der Präsentation dieser Zahlen und Grundrisse setzte bei der Bauherrschaft ein Umdenken ein. Man einigte sich darauf, das neukonzipierte Projekt weiterzuverfolgen, obwohl gegenüber dem architektonischen Ausdruck noch Skepsis bestand.

Das kürzlich fertiggestellte und in Betrieb genommene dreigeschoßige Bauwerk mit zurückgesetztem Dachgeschoß verfügt über einen großzügig geöffneten Eingangsbereich: Nach vorn öffnet sich die breitgelagerte Halle mit Rezeption und einer Bar zur Linken, imHintergrund schließt der um drei Stufen erhöhte Frühstücksbereich an, der von einem Oberlichtstreifen direkt hinter der Rezeption und von einer Glaswand zum Hof morgendliches Licht erhält. Ein großer Konferenzraum, der um einen mittelgroßen Seminarraum erweiterbar ist, und ein Sitzungszimmer füllen die Gebäudeecke hinter der markanten Natursteinverkleidung.

Die in Krems verbreiteten Erkerfenster aus der Biedermeierzeit mit gewölbten Glasscheiben waren den Architekten aufgefallen. Man konnte, als sich das Leben noch auf den Gassen abspielte, seine Neugier befriedigen, ohne den Fensterflügel öffnen zu müssen. Man darf annehmen, daß diese Erkerfenster Anfang des 19. Jahrhunderts in Mode gekommen waren. - Eine zeitgenössisch interpretierte Form der Beziehung zum Straßenraum sollte für die Hotelzimmer in vergleichbarer Weise versucht werden. Da der Winkel an der freistehenden Gebäudeecke etwas weniger als 90 Grad aufweist, sind die Zimmer, der Schräge der Fassade folgend, entsprechend zurückgestaffelt.

Im Hotelgang dahinter, der in der Breite abnimmt, bleibt dafür vor dem Lift etwas mehr Manövrierfläche. Die Fenster verharren dagegen in der orthogonalen Ordnung, sodaß eine Doppelreihe aus zwei mal sieben Erkerfenstern die Fassade belebt. Im zurückspringenden, von unten kaum wahrnehmbaren Dachgeschoß befinden sich zwei weitere Hotelzimmer und eine Wohnung.

Die Zimmer sind mit einfachen Möbeln aus hellem Birkenholz ausgestattet, ein kecker Sessel mit einseitiger Armlehne aus dem Sortiment der Firma Wittmann rundet die Einrichtung ab. Ein kastenartiger Holzteil birgt die raumsparende Schiebetüre, durch die man ins Bad gelangt. Zwei schmale Glasstreifen in der räumlichen Hülle des Badezimmers lassen Tageslicht eindringen, sodaß der kleine Raum weniger eng wirkt. Die Aus- und Durchblicksmöglichkeiten werten ihn zusätzlich auf. Die Hotelhalle ist ebenfalls mit Fauteuils im Design von Paolo Piva bestückt. Man wagt gar nicht zu raten, woher die romantisierenden Möbel für das erste Projekt wohl gekommen wären.

Die Rückseite des an die Kettensteggasse grenzenden Seitentrakts, an den später die zweite Bauetappe angeschlossen werden soll, ist gesondert bedacht und behandelt worden. Die Architekten stellten Überlegungen an, wie diese Rückseite für die Zwischenzeit zu gestalten sei, damit sie nicht allzu geschlossen und unfreundlich wirkt. Mit Fenstertüren beim Gang und dem vollverglasten Dachgeschoß über dem Stiegenhaus ist dies überzeugend gelungen.

Das Angenehme an diesem Hotelgebäude ist seine unangestrengte Selbstverständlichkeit. Als Gast trifft man auf eine unkomplizierte, aber durchaus hochstehende Übernachtungsmöglichkeit, die frei ist von den Requisiten und dem Beiwerk überladener Hotelromantik, wie es den Hoteliers von Ausstattungsfirmen und Tourismusberatern immer wieder aufgeschwatzt wird. Wie soll man sich in einem Wust von unnützem Gerümpel wohl fühlen, selbst wenn dieser für teures Geld vom Antiquitätenhändler erstanden wurde? Wieviel angenehmer daher die zeitgenössischen Möbel in zeitgenössischer Architektur. Die Gäste fahren mit Automobilen in aktuellem Design vor dem Hotel vor, warum sollte dann das Bauwerk aussehen wie die schlechte Karikatur einer Postkutschenstation des vorigen Jahrhunderts?

Alois Neururer ist 1957 geboren und stammt aus St. Leonhard im Pitztal, Elena Theodorou- Neururer ist zwei Jahre jünger und kommt aus Nikosia, Zypern. Beide haben an der TU Wien studiert, wo Ernst Hiesmayr, bei dem Neururer mehrere Jahre als Assistent wirkte, für ihre Entwicklung bestimmend war. Seit 1985 führen die Neururers gemeinsam ein Atelier. Beide sind mit dem Problem Tourismusarchitektur aus ihrer jeweiligen Heimat - dem östlichen Mittelmeerraum beziehungsweise den Tiroler Alpentälern - bestens vertraut.

Nach den Hotels im Pitztal, für die sie außer mit dem „Internationalen Architekturpreis für Neues Bauen in den Alpen 1992“ auch mit dem Staatspreis für Architektur und Tourismus ausgezeichnet wurden, zeigen sie mit dem Stadthotel in Krems einen Weg aus der Krise der Tourismusarchitektur. Der Gast wird als mündiger Zeitgenosse betrachtet, das Übernachtungsangebot als reelle Dienstleistung. Dafür bedarf es weder kindischer Scheinwelten noch eines servilen Klimas wie im Schmierentheater der einschlägigen Fernsehserien. Sich von diesem Unsinn zu befreien ist ein Leistung, für die nicht nur den Architekten, sondern vor allem auch den Gastgebern, das heißt der Hoteliersfamilie, größte Anerkennung gebührt.

Spectrum, Sa., 1996.07.27



verknüpfte Bauwerke
Hotel Klinglhuber

06. Juli 1996Walter Zschokke
Spectrum

Vom Getreide zu den Büchern

Sechs Ebenen, durch einen Vertikalraum verbunden. In Biberach, Deutschland, wurde ein alter Getreidespeicher zur Stadtbücherei umgebaut. Boris Podrecca zeichnet verantwortlich für Entwurf und Ausführung.

Sechs Ebenen, durch einen Vertikalraum verbunden. In Biberach, Deutschland, wurde ein alter Getreidespeicher zur Stadtbücherei umgebaut. Boris Podrecca zeichnet verantwortlich für Entwurf und Ausführung.

Hat sich schon jemand Gedanken gemacht über den Doppelsinn der Bezeichnung „nicht löschbarer Speicher“, mit der halb qualifizierend, halb abqualifizierend Bücher gemeint sind: daß das Feuer des Inhalts noch nach Jahrhunderten auf Leserinnen und Leser überspringen kann, daß die Erinnerung an ein Buch bis heute weiterlebt, auch wenn die letzten handgeschriebenen Exemplare schon zur Römerzeit verlorengegangen sind, und daß Versuche, durch massenhaftes Verbrennen die Existenz eines Buches auszulöschen, in ihrem Wahn kläglich gescheitert sind. Daß aber die elektronisch gespeicherten Informationen auf Band und Diskette, angeblich sogar auf CD, sich schneller abbauen als selbst jene Bestände der Nationalbibliothek, die leider nicht auf säurefreies Papier gedruckt worden sind, und vom Verfall bedroht sind.

Es ist daher weder anachronistisch noch zukunftsfeindlich, wenn sich die Behörden von Biberach im Hinblick auf die Revitalisierung eines alten Speichers für die Stadtbücherei entschieden haben. Bei dem Bauwerk, das auf dem „Viehmarktplatz“ steht, handelt es sich um einen ausgesprochenen Solitär. Die schmalen, nur der Lüftung und einer minimalen Belichtung dienenden Fenster wirken nach außen nur mehr als Scharten und geben dem Bau ein geschlossenes, kompaktes Aussehen.

Breitgelagert und an den Seiten zwei Geschoße hoch gemauert, wird das große Volumen von einem mächtigen Satteldach überragt, das an den Stirnseiten von hohen Giebelwänden gestützt wird. Daß der Winkel des Daches mit knapp 55 Grad dem pythagoräischen Dreieck mit den Seiten drei zu vier zu fünf entspricht, zeigt die universale Bedeutung dieser jahrtausendealten Handwerkerregel, mit der ein rechter Winkel fixiert werden kann und die bis heute auf Baustellen verwendet wird. Wen wundert es daher, daß der Rechteckgrundriß mit eins zu 1,63 ziemlich genau dem Verhältnis des Goldenen Schnitts folgt. Die schiere Größe und die autonome Geschlossenheit - neben der lebenserhaltenden Funktion als Getreidespeicher - haben den kulturellen Wert über die Jahrhunderte festgeschrieben. Die sorgfältige Proportionierung hat aber gewiß mit dazu beigetragen, daß das Bauwerk bis in unsere Zeit erhalten geblieben ist, denn als Speicher hat es schon länger ausgedient. Heute ist das Bauwerk denkmalgeschützt.

Das Innere ist angefüllt mit Zimmermannswerk: in der Breite dreischiffig, in der Länge über zehn Achsen mit kürzeren Stützenabständen. Die mit Bügen ausgesteiften Pfosten tragen kräftige Unterzüge, auf denen die breiten Balken der Schüttböden für das Getreide lasten. Das etagenweise hierarchisch aufgebaute Holzwerk bietet Raum für zwei Vollgeschoße und vier nach oben in der Breite abnehmende Ebenen im hohen Dachraum. Dieses Gebäude, das ein integrales Ganzes bildete, sollte für die Verwendung als Stadtbücherei adaptiert werden. Damit lag der Ball beim Architekten. Boris Podrecca, der bei zahlreichen Umbauten seine Sensibilität im Umgang mit bestehender Bausubstanz bewiesen hat, sorgte zuerst einmal für Licht: Im Bereich der mittleren fünf Rasterfelder wurden die Böden herausgetrennt und die insgesamt sechs Ebenen durch einen Vertikalraum verbunden.

Um diesen neuen Raum architektonisch wirksam werden zu lassen, schnitt der Architekt im Firstbereich die geschuppte Haut aus Dachziegeln heraus und ersetzte sie durch Glas. Mit diesem Zenitallicht gab er dem bisher emotionslos geschichteten Gebäude eine Mitte, durch die von oben Licht eindringt, das in die angrenzenden Bereiche durchsickert.

Folgerichtig wurden auch die Elemente der Vertikalerschließung in diesen hohen Raum hineingestellt: als gläsernes Prisma der Lift, der über leichte Stege zugänglich ist. Weiters für das feuersichere Fluchtstiegenhaus ein Rechteckprisma aus Sichtbeton. Mit den Arbeitsfugen des Betoniervorgangs verschränkte kleine Öffnungen beleben die Oberfläche und verweisen mit ihrer abgetreppten Anordnung auf den Inhalt. Vom Eingang her bis zum zweiten Obergeschoß zieht sich die Raumdiagonale einer regelmäßig von Absätzen unterbrochenen Kaskadentreppe. Diese erschließt und verbindet die drei als Publikumsbereiche genutzten unteren Geschoße. Die darüberliegenden Stockwerke sind nur dem Personal zugänglich. Der Lift und der obere Teil der Fluchtstiege dienen als interne Vertikalverbindung.

Während in den oberen Geschoßen Regale und Einzelarbeitsplätze das Bild bestimmen, enthält das Erdgeschoß ein Foyer mit Depotgestellen für Taschen und Mappen. Informationstische, Karteien und ein computerisierter Katalog sowie Sanitäranlagen schließen sich an. Dazu kommt an der dem Eingang gegenüberliegenden Stirnseite ein Vortragsraum, der auch direkt von außen zugänglich ist. Podrecca hat die Mauerschale unangetastet gelassen. Er läßt ihr die Hauptrolle: Er hat keine neuen Löcher hineinstemmen lassen, keine trennenden oder durchdringenden Elemente zu ihr in einen provokativen Gegensatz gestellt. Der in sprödem Weiß verputzte Quader mit Satteldach wirkt derart unspezifisch, daß der Windfang, vor die eine Stirnseite gestellt, als eindeutiges Signal für den Eingang dient. Doch geht es Podrecca vor allem um ein räumliches Prinzip: Nach Durchschreiten des Portals, das heißt nach Passieren der dicken Mauerschale, soll man sich bereits im innenräumlichen Großraum befinden, der Windfangkobel darf den Raumeindruck nicht stören.

Obwohl das materialmäßig wie räumlich präsente Zimmermannswerk gitterartig den von der Mauerschale definierten Großraum füllt, bildet es zugleich ein integrierendes Element, das die Ganzheit des Innenraumes wahrt. Indem die gläserne Schleuse außerhalb steht, wird das räumliche Präludium vor die eigentliche Schwelle verlegt. Um aber den Übergang von innen nach außen weicher zu machen und zu vermitteln, hat Podrecca eine kurze Mauerscheibe in die Öffnung gestellt. Diese leitet den Eintretenden und erweitert den Schwellenbereich auf zwei, drei Schritte zur Übergangszone.

Im Gegensatz zu einer richtigen Schwelle bildet diese Wandscheibe aber kein Gehhindernis. Selbst der Bodenbelag zieht sich vom Windfang bis zum Treppenansatz teppichartig durch. Mit diesen gestalterischen Maßnahmen wird die konzeptionelle Strenge des Bestands auf einer unteren Maßstabsebene durch Annäherung relativiert. In anderen Bereichen geht Podrecca dagegen zur Mauerschale auf Distanz, etwa mit den Dachwasserabfallrohren im Bereich der architektonisch empfindlichen Gebäudekanten.

Das Freistellen dieser vertikalen Elemente autonomisiert den weißen Körper der Mauerschale. Der Gestalter will dessen Integrität nicht antasten. Für einen visuell sensiblen Menschen hat die Lage der Dachwasserrohre Einfluß auf die proportionale Wirkung der Fassade. Das Abrücken will beiden Teilsystemen formale Identität geben. Sie werden nicht vermischt, sondern säuberlich sortiert und nebeneinandergestellt, jedem wird explizit sein Recht und sein Platz zugesprochen.

Das Bauwerk erzählt dem Auge des Beobachters seine Geschichte, aber auch noch andere Geschichten - jedoch nicht verbal, mit der gesprochenen Sprache als Referenzebene, sondern in der Sprache der Dinge, der Materialien, der Formen und der Bräuche. Manches läßt sich erst beim Benutzen, beim Angreifen erfassen, weil erst der unmittelbare Gebrauch den Grund für eine gestalterische Maßnahme erschließt.

Boris Podrecca, in dessen Namen sich bereits die kulturellen Sphären mischen, der Vielsprachige, der sich nördlich und südlich der Alpen wie zu Hause bewegt, ist ein Meistererzähler und Vermittler zwischen den Kulturen und Zeiten. Wer bereit ist, sich auf seine Arbeiten einzulassen, gerät in eine Welt, die an die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht erinnert, an Aladins Wunderlampe - das Licht - und an das „Sesam öffne dich!“ zum Raum. Podrecca erzählt mit architektonischen Mitteln, unbeirrt von der bereits auslaufenden Modeströmung einer zur Manier verkommenen sogenannten neuen Einfachheit, aber auch unbeirrt von Entwicklungen, die die Architektur zur Gaudi machen oder sie für den Eintrag in das Guinnessbuch der Rekorde herrichten möchten.

Nicht die vorschnelle Festlegung einer äußeren Form oder die Übernahme eines Stils garantieren für architektonische Qualität, sondern die Tiefe der Auseinandersetzung mit der Aufgabe, dem Bestand, den Materialien, den Formen und den kulturellen Zusammenhängen. Daß man als Architekt dabei auswählen darf, sogar auswählen muß, macht die Aufgabe nur attraktiver, aber auch schwieriger.

Spectrum, Sa., 1996.07.06



verknüpfte Bauwerke
Stadtbücherei

15. Juni 1996Walter Zschokke
Spectrum

Kleister und Mummenschanz

Die Existenz einer lebendigen Architekturszene ist nicht ein Naturphänomen, sondern Frucht vielfältiger Anstrengungen. Und zerstört ist allemal schneller als aufgebaut. Zur Lage der Architektur in Wien - ein Aufruf zur Sorgfalt.

Die Existenz einer lebendigen Architekturszene ist nicht ein Naturphänomen, sondern Frucht vielfältiger Anstrengungen. Und zerstört ist allemal schneller als aufgebaut. Zur Lage der Architektur in Wien - ein Aufruf zur Sorgfalt.

In letzter Zeit häufen sich wieder die Meldungen, der Beruf des Architekten drohe zu verschwinden, das Bauen werde zunehmend von Bauingenieuren und Betriebswirtschaftern bestimmt, Büros von bis zu 1000 Mitarbeitern würden im EU-Raum die Regel, und die paar verbliebenen Architekten könnten sich dort als Angestellte eben noch mit der optischen Wirkung der Fassaden befassen.

Natürlich ist es möglich, daß der Berufszweig der selbständigen Architekten zurückgedrängt wird, indem man dessen Berechtigung anzweifelt, diese endlich abspricht und die ökonomische Basis durch Honorardruck untergräbt. Als Folge davon würde das Produkt „Architektur“ langsam aus dem Gesichtsfeld der Menschen verschwinden. Nach einer längeren Phase der Unterdrückung architektonischer Freiheit, Selbständigkeit und Initiative wären deren Träger alt oder gestorben, die Architekturkultur wäre eingeschläfert und alsbald ganz verschwunden. Ein Fingerschnippen würde dann nicht mehr genügen, um sie wieder auf hohem Niveau einsetzen zu lassen. Ein langwieriger Entwicklungsprozeß und jahrzehntelange Ausbildungs- und Aufbauarbeit sind dafür nötig, wie ein Blick in die Reformstaaten des ehemaligen Ostblocks zeigt.

Wenn aber die Architektur, um Ludwig Mies van der Rohe zu folgen, dort beginnt, wo der Mensch zwei Ziegelsteine bedachtsam aufeinanderschichtet, werden sich auch in Zukunft Individuen finden, die in einem Akt zivilen Ungehorsams diese und die damit in Zusammenhang stehenden Fragen zum Hauptinhalt ihrer Berufung machen. Daraus wird ersichtlich, daß der Beruf des Architekten, trotz aller Unkenrufe, ein zeitloser Beruf ist. In einer komplexer werdenden Welt ist die vorausblickende Zusammenschau aller wesentlichen, das Bauen bestimmenden und beeinflussenden Faktoren von entscheidender Bedeutung für das Resultat. Diese geistige Arbeit kann weder von einem Gremium noch vom Computer übernommen werden. Sie muß sich in einem Kopf oder in maximal zwei Köpfen konzentrieren, es müssen eine Haltung, eine Absicht, ein Wille dahinterstehen, sonst wird das Ergebnis belanglos.

Eine erste Bedrohung erwuchs der im vergangenen Jahrzehnt aufgeblühten Wiener Architekturkultur mit dem praxisfremden Vorschlag, eine einzige Normschule zu bestimmen, die an jeder Stelle zu errichten wäre, damit man auf den angeblich individuell konkreten und ortsbezogenen Entwurfsprozeß verzichten könne.

Abgesehen davon, daß sich hinter einem derartigen Ansinnen eine Kasernenhofmentalität verbirgt, geht ihm das lebendige Kulturverständnis ab, sollte doch Entwicklung und Vielfalt durch Stagnation und Einfalt ersetzt werden. Zwar scheint der Vorstoß - in der sen- siblen Vorwahlzeit - vorerst abgeblasen, aber die Verhärtung des Klimas gegenüber zeitgenössischer Architektur, die Absenz ernstgemeinter offener Wettbewerbe und die konzeptlose Politik bei städtebaulich bedeutsamen Filetstücken wie dem Museumsquartier, den Gasometern oder im Umkreis der UNO-City sprechen eine andere Sprache.

Neben der Bedrohung durch Konzeptlosigkeit und mangelndes Qualitätsbewußtsein gibt es einen schleichenden Prozeß der Infantilisierung im Ausdruck, der den Ruf Wiens als Kulturstadt in wenigen Jahren ruinieren kann. Will man international ernst genommen werden, oder sollen Verkleisterung und Mummenschanz Platz greifen?

Auf der allgemeinen Ebene beginnt es mit einer sprachlichen Regression, jenen unsäglich einfältigen, alle paar Jahre wechselnden Plakaten an den Autobahneinfahrten rund um Wien. Für einmal Vorbeifahrende mag dies geringe Bedeutung haben. Den Einheimischen, die mehrmals passieren, fällt es zunehmend schwerer, sich als Bewohner dieser faktischen Metropole, die über kulturhistorische Tiefe und inhaltlichen Reichtum verfügt, von dümmlichen Kalauern belästigen lassen zu müssen. Bezüglich der Architektur geht es weiter mit der Unfähigkeit, Proportionen zu erkennen und zu wahren. Ob dies nun der sprachliche Vergleich von Gebäuden mit Schuhschachteln ist, dem jede Differenzierung und eben das Erkennen von Größenordnungen abgeht, oder ob es die Koppelung der Werke Otto Wagners mit den Produkten der Manufaktur Hundertwasser ist - zwecks Vermarktung an rasch vorbeigetriebene Touristenhorden. In jedem Fall werden Bedeutungen und Werte amalgamiert, die auch ein wohlmeinender analytischer Betrachter als verschieden und unvereinbar erkennen muß. Glaubt man allen Ernstes, daß die kulturelle Lebensdauer der gestalterisch dilettantischen Überwucherung des Passagierschiffs Vindobona jener der Wehranlagen in Nußdorf gleichzusetzen sei?

Eine nachhaltige touristische Bewirtschaftung historischer und zeitgenössischer Werte muß auf Differenzierung beharren und wird Hochkultur nicht mit Trivialkultur gleichsetzen dürfen. Der Gastgeber gibt in der Art, wie kulturelle Inhalte vermittelt werden, zugleich bekannt, in welcher Formdiese gekostet oder eben konsumiert werden sollen. Wenn man zwischen Copa Kagrana und Innenstadt nicht zu unterscheiden weiß, muß man sich über Shorts und Schlapfen im Stephansdom weder wundern noch beklagen.

Eine fortgeschrittene Unübersichtlichkeit führt drittens zur Verwischung der Kategorien. Die Baukunst ist wegen der sich über Generationen erstrekkenden Lebensdauer ihrer Werke eine langsame Kunst. Eine Gleichsetzung mit der Mode oder eine zu platte oder nur oberflächliche Übernahme von Bildern ist ihr nicht zuträglich. Das abgebildete Beispiel, ein Kindergarten beim Sozialmedi- zinischen Zentrum Ost, an der Langobardenstraße in Wien-Stadlau, steht auch für andere Bauten dieser Art und darüber hinaus für eine Entwicklung, die von der Verwirrung in den Köpfen der Architekten wie in jenen der Bauherrschaften zeugt.

Auch hier ist das Thema die vordergründige Infantilisierung. Man glaubt, daß ein Kindergarten „kindlich“ gemacht werden müsse, indem man Kinder mit kindischen Projektionen konfrontiert, die für sie mit der Welt ihrer realen Erfahrung nichts gemein haben. Was herauskommt, ist nur mehr läppisch. Welches Kind verfügt heute noch über einen Anker-Steinbaukasten, auf den sich die unbeholfene Gestaltung des Kindergartens zu beziehen meint, und darf mit dem bereits musealen Bauspielzeug frei spielen, sodaß es einen Bezug zum Kindergartengebäude zu erkennen vermöchte? Ob Froebel- oder Ankerbaukasten, Holz oder Kunststein, Meccano oder Lego, Metall oder Kunststoff: alle Bauspiele sind notwendigerweise Simplifizierungen, denen wesentliche Komponenten dessen, was reale Architektur ausmacht, abgehen. Es handelt sich um Reduktionen für das kindliche Spiel, das in einer wichtigen Entwicklungsphase, die Erwachsenenwelt imitierend, diese mimetisch abzubilden sucht.

Im Vordergrund der Unterschiede stehen der Maßstab und die Tatsache, daß man damit kaum raumbildend wirken kann. Da die Systeme quasi nur mit ganzen Zahlenverhältnissen operieren, fehlt der ganze Komplex der Toleranzbereiche, das Eigenleben der Fugen, der Dilatationen und Durchbiegungen. Und die Statik spielt im Spielzeugmaßstab überhaupt noch keine wesentliche Rolle. Der naive Rückgriff und die direkte Übertragung in ein Bauwerk wirken daher dümmlich. Zugleich zeugen sie davon, daß der Planer die Kinder nur scheinbar ernst genommen hat.

Die Alternativen Normkaserne oder Schlumpfhausen sind für das Architekturgefühl der jungen Menschen denkbar schlecht. Versucht die eine, das Bedürfnis nach differenziertem Orts- und Architekturverständnis zu negieren, verkleistert die andere mit ihren Überkrustungen die Augen und verhindert mit der zum Inhalt beziehungslosen Deckschicht die Erkenntnis und damit den Zugang zum Wesen der Sache.

Gewiß ist es für die Lebenserfahrung eines Jugendlichen auch gut, wenn das Gebäude der Hauptschule oder des Gymnasiums, das er besucht, von einer anderen Architekturauffassung geprägt ist als jenes der Volksschule oder des Kindergartens. So kann aus den Unterschieden die Existenz architektonischer Vielfalt erfahren werden.

Und es ist auch durchaus interessant, wenn man einige Jahre in ein sehr altes Schulhaus gegangen ist, weil man den Atem der Geschichte, und sei es die Geschichte des Alltags, durch eigene Erfahrung gespürt hat. Schlecht verträgt sich in diesem Zusammenhang nur schwache oder verlogene Architektur. Die kulturpolitische Verantwortung für den Gehalt der zeitgenössischen Architektur kann daher weder verneint noch einer populistischen Hauptströmung oder einigen „Stars“ überlassen werden. Auf den Schultern einer vielfältig strukturierten, in mehrere formale Richtungen aufgegliederten Architektenschaft ist sie in einer Demokratie immer noch am besten aufgehoben.

Spectrum, Sa., 1996.06.15

25. Mai 1996Walter Zschokke
Spectrum

Harter Kern, holzige Schale

Nördlich von München hat die aus Wien gebürtige Architektin Doris Thut für eine Künstlerfamilie ein Wohn- und Atelierhaus geschaffen kompakt und offen zugleich.

Nördlich von München hat die aus Wien gebürtige Architektin Doris Thut für eine Künstlerfamilie ein Wohn- und Atelierhaus geschaffen kompakt und offen zugleich.

Wohnen und Arbeiten, Familie und Kunst unter einem Dach zu vereinen, so lautete der Auftrag einer Künstlerfamilie an die Architektin Doris Thut, die zusammen mit ihrem Partner Ralph Thut in München ein Architekturbüro führt. Das über einen kurzen Fahrweg erschlossene Grundstück liegt in leicht hügeliger Landschaft. Das Wohnhaus unterscheidet sich auf den ersten Blick nicht sehr von seinen Nachbarn; Erdgeschoß und ausgebautes Dach waren laut Bebauungsbestimmungen zulässig; das Satteldach entspricht der Vorschrift. Man nähert sich dem Haus von Südosten, eine grüne Hecke weist von links zum Eingang hin; die ankommende Bewegung wird abgelenkt und zur Rechten von einer schräg stehenden Wandfläche aus weißen Holzpaneelen zumeingezogenen Windfang geleitet.

Das Ankommen ist räumlich bereits sehr klar artikuliert, und doch erlaubt die hüfthohe Hecke einen Blick in den dahinter liegenden Gartenbereich. Familienmitglieder können durch einen schmalen Schlupf, an der Hecke vorbei, geradewegs zum Außensitzplatz unter dem großen Dach weitergehen. Andere Besucher wählen den Weg zu Windfang und Hausglocke.

Das 1990 fertiggestellte Haus entwickelt sich aus einem rechteckigen Grundriß unter dem in Nordsüdrichtung verlaufenden Dachfirst. An der Westseite sind die Wohnräume angeordnet, an der Ostseite liegt ein großzügiges, bis unters Dach reichendes Atelier. Dazwischen zieht sich durch die gesamte Gebäudelänge eine Schicht aus Neben- und Durchgangsräumen, die sich an eine massive Betonwand anschmiegen. Letztere dient der Aussteifung und als Speichermasse.

Sowohl kurz nach dem Eingang als auch im hinteren Bereich besteht je eine Querverbindung zwischen Wohnteil und Atelier. Damit werden Erschließungsalternativen möglich. Im Obergeschoß ist ein Teil dieses Mittelstreifens als Arbeitsgalerie ausgebildet - mit Blick auf das Atelier. Ein sich am First entlangziehendes Oberlicht läßt die Westsonne herein und versorgt die Galerie und die schmale Stiege auf der Wohnzimmerseite mit Licht.

Der Wohnraum liegt drei Stufen tiefer als der Eingang, er folgt mit seiner Höhenlage dem sanft abfallenden Terrain. Ein freistehendes Gestell trennt den Kochbereich ab, die kleine Küche läßt sich abschließen. Hinter der Küche liegt noch ein Kinderzimmer, das über eine Dusche mit Toilette verfügt. Hier erweist sich die Zugangsmöglichkeit durch das Atelier als angenehm: Besonders heranwachsende Kinder schätzen es, wenn sie nicht immer durch den Wohnraum gehen müssen, um in ihre Zimmer zu gelangen; die Eltern sind ebenfalls ungestört.

Derartige grundrißliche Wahlfreiheiten sind dem Hausfrieden förderlich. Über dem Wohnraum ist eine weitere Ga-lerie, als Spieldiele und zum Fernsehen, eingezogen. Die konstruktive Verwendung dreizölliger Furnierholzplatten für den Boden sparte Bauhöhe, sodaß in dem knappen zur Verfügung stehenden Volumen sehr viel Aufenthalts- und Bewegungsraum geschaffen wurde: Elternzimmer, Bad und zwei Kammern fanden im Obergeschoß noch Platz. An der Südwestseite des Hauses schließt eine großzügige, gedeckte Holzplattform an.

Was auf den ersten Blick verborgen bleibt, ist die Tatsache, daß das kompakte, räumlich attraktive Wohnhaus in seiner konstruktiven Systematik optimal durchdacht und durchrationalisiert ist. Es steckt wesentlich mehr Überlegung und herstellungsbezogene Forschung darin, als für eine derartige Bauaufgabe erforderlich. Die tragende Holzrahmenkonstruktion beispielsweise wurde in ihrer Systematik aus den USA übernommen, weil die „Unicom Method of House Construction“ intelligenter und materialsparender ist als das in Deutschland übliche System. Die Furnierholzplatten für die Decken stammen aus Finnland.

Auf derartige Produkte überhaupt aufmerksam zu werden - insbesondere, wenn sie nicht dem modischen Aufputz der Fassade dienen, sondern als konstruktive Elemente Verwendung finden sollen - erfordert Sachkenntnis. Während für die Holzbausystematik Erfahrungen aus Übersee und für die Deckenplatten neueste Holzwerkstoffe aus Skandinavien Verwendung fanden, dienten landesübliche kesseldruckimprägnierte (Telegraphen-)Masten als Stützen für das Vordach an der Westseite und vor der Südwestecke.

Eine große Bandbreite und lockere Unbefangenheit in der Anwendung von Materialien und Konstruktionsweisen zeichnen die Arbeiten von Doris und Ralph Thut aus - sind sie doch immer Produkte ausgedehnter Forschungen. Daher stecken in diesem scheinbar einfachen Einfamilienhaus das Wissen und die Erfahrung von Reihenhaus- und Mehrfamilienhausbauten, für die die Architekten bereits in den siebziger Jahren mit Preisen ausgezeichnet wurden.

In den achtziger Jahren folgten Gastprofessuren in Cambridge, USA, und an der Technischen Universität Graz. Seit 1990 ist Doris Thut Professorin an der Fachhochschule in München und Ralph Thut Professor an der Ingenieurschule im schweizerischen Biel.

Sie treiben ihre Forschungen für eine Architektur des Gebrauchs mit jedem Bauwerk einen Schritt weiter. Wenn ein Auftrag mit ihrer Überzeugung nicht zur Deckung gebracht werden kann, verzichten sie. Für kostengünstigen und zugleich ökologisch verantwortungsbewußten Wohnbau sind die beiden Architekten heute in Fachkreisen international anerkannt.

Lokale Politiker tun sich mit dieser Architektur oft schwer, weil diese nicht den gängigen Mustern entspricht und „Ek-ken“ und „Borsten“ aufweist und weil die Entwerfer an gesellschaftlichen Realitäten nicht vorbeisehen. Der Bau in Erding bei München ist ein sprechendes Beispiel dafür.

Die Beachtung auch der sozialen Faktoren im Städtebau hat zu interessanten Wettbewerbsentwürfen geführt. Vielschichtige Arbeiten wie die der Thuts verlangen allerdings ein genaues Hinsehen - was nicht bei allen Beurteilungsgremien garaniert ist.

Begonnen hat es vor über drei Jahrzehnten in der Meisterklasse von Ernst A. Plischke an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Während Doris Thut in Wien aufgewachsen ist, fand Ralph Thut nach einer Zeichnerlehre in der Schweiz den Weg von der Praxis zum akademischen Studium der Architektur. Von Wien wechselten die beiden später an die Akademie in München und schlossen dort das Studiummit dem Diplom ab. Im Rahmen der Mitarbeit an einem Wohnbau von Otto Steidle machten sie bereits Ende der sechziger Jahre praktische Erfahrungen. Seit 1972 führen Doris und Ralph Thut ein gemeinsames Architekturbüro in München, wo sie mit einem Pionierbauwerk, dem 1978 fertiggestellten Wohnbau für sechs Familien im Stadtteil Perlach, ökologische und energetische Fragen beantwortet haben, lange bevor andere ein Problembewußtsein dafür entwickelten.

An diesem Haus, in dem sie auch selber wohnen, konnten sie nicht nur Tauglichkeit und Dauerhaftigkeit neuentwickelter und kostengünstiger konstruktiver Details im täglichen Gebrauch überprüfen, sondern auch soziale Prozesse in der Hausgemeinschaft besser verstehen. Diese Erfahrungen erlaubten ihnen eine nüchterne, weder idealistische noch zynische Bearbeitung des wichtigen Problemkomplexes verdichteten Wohnens. In ihren theoretischen Reflexionen schreiben sie: „Die konsequente Einbeziehung des Gebrauchsprozesses - durch Beobachtung, Erinnerung, Vorstellung - bewirkt, daß qualitative Komponenten in die Gestaltung konkreter einfließen können und die Funktionen erweitert werden.“

Weil die Thuts ihre theoretischen Überlegungen ernst nehmen, werden ihre Entwürfe und Bauten, wie die besagte Wohnanlage an der Max-Planck-Straße in Erding, die bereits seit zehn Jahren bestens funktioniert, zur gebauten Kritik am oft seelenlosen Massenwohnbau unserer Zeit.

Spectrum, Sa., 1996.05.25



verknüpfte Bauwerke
Wohn- und Atelierhaus

04. Mai 1996Walter Zschokke
Spectrum

Ein Blick zurück nach vorn

In Prag hat das junge tschechische Architektenteam A.D.N.S. ein Bankgebäude errichtet - und trotz härtester ökonomischer Bedingungen erfolgreich an die Tradition der tschechischen Moderne angeknüpft.

In Prag hat das junge tschechische Architektenteam A.D.N.S. ein Bankgebäude errichtet - und trotz härtester ökonomischer Bedingungen erfolgreich an die Tradition der tschechischen Moderne angeknüpft.

Auf der Eisenbahnfahrt von Wien über Brünn nach Prag gleitet der Zug durch sanftwellige Landschaften mit vorfrühlingshaft braunen Feldern, die da und dort von Feldrainen, Hecken und Gehölzgruppen unterbrochen werden. Klares Morgenlicht liegt auf den Fluren und heitert den Geist auf. Ab und zu führen die Geleise auch durch kleinere Waldstücke. Die wenigen Dörfer an der Strecke weisen klare Ränder auf, eine Zersiedelung hat nicht stattgefunden.

Bei der Durchfahrt größerer Ortschaften und der Städte fallen immer wieder rationale Bauwerke mit sorgfältig proportionierten Fassaden auf, die offenbar aus den zwanziger oder dreißiger Jahren stammen. Zuweilen kommen Getreidesilos ins Blickfeld, die wahrscheinlich auch einen Le Corbusier ins Schwärmen gebracht hätten. Ohne Anstrengung läßt sich erkennen, daß die Moderne sich auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik bis 1938 wesentlich besser hat entfalten können als etwa in Österreich.

Das Prager Stadtzentrum ist dagegen mehrheitlich von historistischen und gründerzeitlichen Bauten bestimmt; da und dort wurde im 20. Jahrhundert ein Neubau errichtet, der sich aber in die vorgegebene Struktur einfügte.

Im Stadtteil Vinohrady, südlich des über den Wenzelsplatz blickenden Nationalmuseums, hat an der Anglická-Straße kürzlich das junge tschechische Architektenteam A.D.N.S. einen Neubau für eine Bankfiliale fertiggestellt, der angenehm auffällt.

In die rot eingefärbte Putzfassade sind elegante, großstädtisch wirkende, querformatige Fenster eingeschnitten. Erstes und zweites Obergeschoß sind durch drei flach vortretende, verglaste Körper zusammengefaßt, die vom Ausdruck her einer Mezzaninzone entsprechen. Daraus ergibt sich der klassische Aufbau eines Stadthauses mit Sockel- oder Ladengeschoß, Mezzanin oder Piano nobile, aufsteigender Wand und Dach. Mit dem zurückgesetzten Dachgeschoß enthält das Gebäude acht Stockwerke über der Erde und vier darunter.

Im Untergrund verlaufende Tunnels für Eisenbahn und U-Bahn erschwerten und verteuerten die Gründung, und die hohen Quadratmeterpreise zwangen zu einer optimalen Verwertung des Grundstücks. Außer einem kleinen Lichthof und dem schrägen Anschnitt zur Wahrung des Lichtkeils für ein Nachbarhaus ist das zulässige Bauvolumen voll ausgenützt.

Ein erster Entwurf, wie er auf dem Verkaufsprospekt des Investors zu sehen ist, wies eine Mittenbetonung auf, die im Sockelbereich mit einer glänzenden Rundstütze verstärkt wurde. Er gleicht gewissen Neubauten an der Wiener Mariahilfer Straße, deren architektonischer Wert bescheiden ist. Mit der Verdoppelung der Scharte im Sockel- und Dachbe-reich wäre die Kontinuität in der Fassadenfolge stärker gestört worden. Von der Nutzung her gibt es aber keinen Anlaß, das Gebäude wesentlich über seine Nachbarn hinauszuheben; und das sakrale Prinzip der betonten Mittelachse ist einem städtischen Geschäftshaus wenig angemessen.

Demgegenüber weist das fertige Gebäude eine gehörige Qualitätssteigerung auf: Die Gleichbehandlung der Felder zwischen den bis zum Gehsteig herunterreichenden Mauerpfeilern beruhigt die anspruchsvolle Fassade, die im Erdgeschoß immerhin eine zweispurige Garageneinfahrt, das Portal zu den Bankschaltern und den Hauseingang bewältigen mußte. Die „Füße“ der Mauerpfeiler sind mit Naturstein verkleidet, und auch der eingeschoben wirkende Sockelteil beim Hauseingang, der den Bankomatschalter wie mit einem Passepartout rahmt, erhielt eine vorgeblendete Schicht Steinplatten.

Die das erste und das zweite Obergeschoß zusammenfassenden, kastenartig vorstehenden Fenster der Mezzaninzone erzeugen eine urban wirkende, abstrahierte Kolossalordnung. Dahinter liegen attraktive Büros für Kundenverkehr und die Direktion. Darüber sind die breiten Fenster in der Mitte senkrecht unterteilt, eine schmalere Sprosse trennt in eine obere und eine untere Hälfte, die sich jeweils zum Lüften zurückklappen lassen. Die einfache Teilung wirkt emotionslos und profan, durch die gedehnte Proportionierung aber weder bieder noch billig.

Der Einschnitt im Bereich der obersten zwei Geschoße, in dem etwas zurückgesetzt die helle Glasfassade des Dachgeschoßes in Erscheinung tritt, erzeugt eine dynamische Staffelung und macht aus der rotverputzten Mauer eine Schildwand oder eine Art schützende Verpackung für etwas Kostbares. Durch diese vertikale Schichtung und insbesondere durch die nächtliche Beleuchtung des zurückgesetzten Teils erhält das Gebäude einen verheißungsvollen Ausdruck, was für eine Geschäftsbank sicher nicht falsch ist.

Obwohl wenig Raum zur Verfügung stand, haben die Architekten den mittig nach hinten führenden Schalterraum mit doppelter Geschoßhöhe aufgewertet; er ist von einem galerieartigen Gang von oben überblickbar und auch von den Kundenbereichen im ersten Obergeschoß einsehbar. Damit gelingt es, diesem Bereich, trotz normaler Raumhöhe, einen Rest Großzügigkeit zu geben. Der Fußboden ist in Naturstein ausgeführt, Schalter und Wände der Bankhalle wurden mit Buchenholzfurnier verkleidet. Mit verhältnismäßig geringen Mitteln gelingt es hier, durch eine sorgfältige und ruhige Gestaltung eine dem Geldinstitut angemessene, noble Atmosphäre zu erzeugen.

Etwas problematisch erscheint nur das Ablagebrett für Taschen vor den Schaltern, das zwar aus Naturstein besteht, aber durch die Aufteilung in eine dünne Platte und einen stirnseitig daruntergeklebten Streifen etwas unbeholfen wirkt. Dieses Detail soll jedoch nicht davon ablenken, daß es den engagierten Architekten gelungen ist, trotz härtester ökonomischer Bedingungen die architektonisch problematische Investoren- Postmoderne deutscher Provenienz zu überwinden und eine wesentlich besser gestaltete Fassade zu errichten, die an der Qualität der tschechischen Moderne anknüpft.

Diese wichtige Verteidigung einer hochstehenden Architekturtradition vor einem inferioren Investorengeschmack, wie er oft genug auch in Wien oder im übrigen Europa die Neubauten prägt, ist unabdingbare Voraussetzung für die Wiederherstellung einer niveauvollen Architekturkultur.

Wenn man die Türen zwischen Publikumsbereich und internen Büros hinter sich hat, sinkt der Ausbaugrad rapid ab. Mit geschwungenen Glasflächen im Treppenhaus und Natursteinabdeckungen in den Sanitärräumen ist ein Rest Vornehmheit gewahrt. Die Büros und internen Gänge jedoch sind sparsamst aufgeteilt. Hier fehlen auch Naturmaterialien, wie Holz oder Stein, und Farben. Türen und Wände sind ohne Differenzierung in einem cremig getönten Weiß gehalten. Vor allem die Grundrißorganisation ist nicht mehr so leicht durchschaubar, weil Stiegenhaus und Lichthof eng und von den Gängen keine Ausblicke in den Außenbereich möglich sind. Das erschwert die Orientierung. Hier hat die Flächenoptimierung emotionslos zugeschlagen. Was der Bankkunde nicht sieht, darf nach Ansicht des Investors offenbar bedenkenloser gestaltet sein. In den reinen Verwaltungsbüros haben die Architekten eindeutig den kürzeren gezogen.

Bei zwei Aspekten im Bereich der Fassade hat sich der Besucher aus Wien ergebnislos nach dem Warum gefragt. Zum einen sind die Pfeiler zwischen den Mezzanin-Erkern nicht senkrecht, sondern weichen bis zum Gehsteigniveau leicht schräg nach hinten zurück. Damit deuten sie an, etwas anderes zu sein als die darüber aufsteigende, rotverputzte Wand. Da sie aber in der gleichen Farbe gehalten sind, entsteht Unklarheit. Denn zum anderen sind die Böden dieser Erker massiv, der Übergang vom Innen- zum Außenraum nützt das Zurückweichen der Wand nicht aus, der Glaskörper ist nicht allseitig verglast, sondern nur an der Vorderseite.

Die Reduktion des architektonischen Ausdrucks auf das flache Bild eines Gebäudes, ohne ausreichende Überlegungen zur räumlichen Wirkung und zu den dreidimensionalen Übergängen, verweist auf eine aktuelle Problematik. Wenn die Informationen über das internationale Architekturgeschehen nur auf Zeitschriften oder auf schönen Bildern basieren, bleibt viel an Inhalten auf der Strecke, denn nur die gebaute Architektur ist zugleich eindeutiges und eigentliches Medium der Architektur.

Man kann daher nur davor warnen, die Bilder der Bauwerke von Stararchitekten zu plündern - wie in den siebziger und achtziger Jahren die Architekturgeschichte als Reservoir für unreflektiert und oberflächlich angewendete Stilelemente herhalten mußte. Die Rückbesinnung auf die tschechische Moderne ist jedoch richtig, da die originalen Vorbilder in der Nähe und daher „greifbar“ sind. Mit zunehmender praktischer Erfahrung der Entwerfer, und nachdem sich das Bauhandwerk etwas erholt haben wird, werden auch die Details exakter werden. Am Ende macht der wachsende kulturelle Druck sogar Investoren architektonisch lernfähig.

Spectrum, Sa., 1996.05.04



verknüpfte Bauwerke
Bankgebäude

13. April 1996Walter Zschokke
Spectrum

Geöffnet hin zum Blätterdach

Sind „coole Schweizerkäsefassaden“ das einzige mögliche Ergebnis „neuer Einfachheit“? Ernst Linsbergers Doppelwohnhaus in Krems ist ein Beispiel dafür, daß Zurückhaltung auch zu spannungsvoller Architektur führen kann.

Sind „coole Schweizerkäsefassaden“ das einzige mögliche Ergebnis „neuer Einfachheit“? Ernst Linsbergers Doppelwohnhaus in Krems ist ein Beispiel dafür, daß Zurückhaltung auch zu spannungsvoller Architektur führen kann.

Seit einiger Zeit ist es offensichtlich, daß die „neue Einfachheit“ zur Manier verkommt, sodaß die Werke der Protagonisten von jenen der Epigonen zugedeckt, wenn nicht sogar erschlagen werden. Volker Giencke, sensibler Beobachter und unter praktizierenden Architekten als Kommentator mit spitzer Feder eine Ausnahmeerscheinung, fragte kürzlich in der Fachzeitschrift „Architektur & Bauforum“, „wieweit die coole Schweizerkäsfassade der urbanen Wohn- und Bürohausbauten nicht ebenso pervers ist wie das rustikale Hochgebirgsdesign der Restaurants in Stadt und Land“. Und er folgert: „Jedenfalls ist das, was momentan in der Architekturwelt als neu und als Minimalismus oder als Purismus verkauft wird, perfider, als es der Dekonstruktivismus je sein kann.“

Damit legt er den Finger auf die kritische Stelle. Die Schwelle zum „less is a bore“ (Robert Venturis Persiflage des berühmten Diktums von Mies van der Rohe, „less is more“) ist schneller überschritten, als die aus Zeitschriften abgekupferten „Ideen“ in Bauten umgesetzt werden können. Über des Kaisers neue Kleider kann man nicht debattieren. Der frappierende Effekt des Einfachen ist nicht beliebig wiederholbar, eine diesem innewohnende Kritik an Schwulst und Überfluß nutzt sich ab.

Jene raren Beispiele dafür, daß Zurückhaltung und Reduktion zu spannungsvoller Architektur führen können, haben meist im Vorhandenen einen Sie nehmen nicht selten den Charakter eines Rahmens an, der eine Auswahl aus dem Vorgefundenen heraushebt. Ein derartiges Bauwerk habe ich kürzlich in Krems gesehen: Das von Architekt Ernst Linsberger entworfene Doppelwohnhaus liegt an einem Südhang über der Stadt, an dem in vergangenen Jahren zahlrei- che Einfamilienhäuser zwischen teilweise noch genutzten Weinberge gebaut wurden.

Die zwei sehr verschiedenen Häuser liegen übereinander auf dem von oben zugänglichen Grundstück. Der Straße zugewandt, steht unter steilem Satteldach das obere, alltäglich wirkende Haus, dessen Fassade mit sorgfältig proportionierten Öffnungen allerdings aufmerken läßt. Im Osten stößt ein kurzer Seitenflügel vor, den südseitig das kleine Obergeschoß des zweiten, unteren Hauses verlängert. Diese beiden Hausteile bilden einen einheitlichen Baukörper, der zusammen mit dem oberen Haus einen Gartenhof umschließt.

Der Hauptwohntrakt des uns interessierenden unteren Hauses zieht sich erdgeschoßig quer über die ganze Grundstücksbreite und ist südseitig durchgehend verglast. Während das Entree und das Elternzimmer mit seiner herrlichen Aussicht auf das Donautal noch im oberen Baukörper liegen, reihen sich unten Kinderzimmer, Wohnraum, Eßplatz und Küche an einen großzügigen, rückseitig anschließenden Gang mit Oberlichtdecke. Die an der vorderen Breitseite offene Schachtel ist hinten in einen Feldrain eingetieft, sodaß fast nur die Vorderfront zu sehen ist.

Das flache Dach ist mit Magerflora bewachsen; getragen wird es von einer dichten Schar schichtverleimter Holzbalken, die im Wohnraum sowohl Kontinuität als auch Rhythmus einbringen und beiläufig die Raumakustik verbessern. Von der verglasten Wand läßt sich jedes zweite Feld zur Seite schieben, sodaß zur visuellen auch eine räumliche Offenheit kommt.

So hätten wir alle „Stilelemente“ beisammen, die das Haus jener „neuen Einfachheit“ zuordenbar machen, von der eingangs die Rede war: längsquadrische Schachtel oder Kiste, emotionslose (coole) Reihung, raumhohe Fassadenöffnungen im Schachbrettversatz (gleich-gültig), durchgehender Raum mit Schiebewänden (Loft).

Aber das Haus ist mehr: Es ist mit seinem ganzen Wesen auf den davorliegenden Obstgarten bezogen, in dem alte Marillenbäume ihre Äste und Zweige zu einem luftigen Dach flechten - im Sommer schattenspendend belaubt und im Winter durchlässig für das Sonnenlicht.

Dieser Marillenhain ist ein Produkt kontinuierlicher menschlicher Pflege und der sich jährlich erneuernden Lebenskraft der Natur. Über die vielen Jahre seines Bestehens wurde er zu einem Ort mit ganz-heitlichem Charakter. Darauf und auf dessen Qualität reagiert der Entwurf für das dahinterliegende Wohnhaus. Die Reduktion auf die primäre räumliche Aussage, „nach vorne offen“, erzeugt eine polare Spannung, die jener zwischen Rahmen und Bild oder zwischen Sockel und Plastik vergleichbar sein mag, wobei das Haus die Rolle des Rahmens beziehungsweise Sokkels spielt. In dieser Hinsicht hat sich die Reduktion der architektonischen Mittel als richtig erwiesen.

Zwischen Haus und Marillengarten legte der Architekt zudem eine Art Schwellenbereich, gebildet aus einer hölzernen Plattform, die sich vor dem ganzen Wohntrakt hinzieht und unter den Schirm der Baumkronen reicht. Hier läßt sich die Ambivalenz zwischen beiden Elementen erfühlen, der Übergang von innen nach außen ist nicht hart, sondern durch die Zwischenzone moderiert. Das Glas ist Grenze zum Zwischenbereich, ähnlich der vorderen, über der Wiese schwebenden Kante der Plattform.

Weil die Einfachheit dieses Hauses nicht monomanischer Selbstzweck ist oder als modischer Effekt in den Vordergrund gerückt wurde, gewinnt das bipolare System von Garten und Haus an Kraft. Die „Einfachheit“ hat eine aus Ort und Aufgabe erarbeitete Berechtigung und wird selbstverständlich. Wer das Haus erlebt hat, braucht keine langen Erläuterungen. Es ist eine gültige Interpretation der doppelten Aufgabe, Wohnen, an dieser Stelle, zu ermöglichen. Zwar gibt es immer wieder Apologeten, die uns weismachen wollen, die Beschäftigung mit dem Ort sei passé, wer sich noch damit aufhalte, mithin hoffnungslos veraltet. Im Gegensatz dazu zeigt unser Beispiel, daß ein Teil der architektonischen Gesamtwirkung von der Umgebung mitbestimmt wird.

Gewisse Zweifel kommen allerdings auf, wenn radikal einfache, graphisch gestylte Wohnungsgrundrisse, nur mit Schiebetüren unterteilbar, auf vollkommen nutzungsneutrale Flächen reduziert, als synthetische Lofts gestapelt und emotionslos zu Wohnhausanlagen addiert werden.

Das Umerziehen künftiger Bewohner mit dem Mittel radikaler Grundrisse war bereits vor bald 70 Jahren ein Diskussionsthema: Die Siedlung Dammerstock in Karlsruhe, in konsequentem Zeilenbau und radikal funktionalistischer Manier von Otto Haesler (1880 bis 1962) errichtet, forderte die Kritik heraus.

Ein Aufsatz von Adolf Behne, 1930 in der Zeitschrift „Die Form“ erschienen, läßt sich aber ebenso auf eine Wohnanlage mit radikal disfunktionalisierten Grundrissen umlegen. Der Satz: „Hilfe, ich muß wohnen!“ oder die Frage: „Kann man per Diktatur soziologisch sein?“ bleiben eigenartigerweise gültig - wie auch ein Großteil der übrigen Argumentation. Aber welcher Architekt entwickelt seine Entwürfe nicht bloß aus den Heldentaten seiner Vorgänger, sondern auch aus deren Irrtümern und der an diesen geübten Kritik?

Das Ausschütten des Badewassers samt dem darin verbliebenen Kind ist weiterhin übliche Praxis eines sich radikal gebärdenden Avantgardismus. Abgehobene Radikalität wird beklatscht, als wären all die Kritiken daran nie geschrieben worden, als hätte Josef Frank seinen Aufsatz „Akzidentismus“ (veröffentlicht 1958) nie verfaßt. Darum: Hinter die Bücher, Architekten!

Daß es anders auch geht, bewies Alvaro Siza mit seiner Planung für das zu sanierende Quartier Schilderswijk in Den Haag, für die er mit den Bewohnern Gespräche führte. Viele dieser Bewohner haben ihre ursprünglichen kulturellen Wurzeln außerhalb Hollands. Auf Grund der gewonnenen Erkenntnisse entwickelte Siza auf der Basis des holländischen Haustyps mit direkten Zugängen zu den Wohneinheiten einen Grundriß, der sowohl für die lokale Tradition als auch für die Bedürfnisse moslemischer Bewohner günstig ist, weil er im Innern eine deutliche Trennung zwischen Wohn- und Schlafbereich vorsieht und Toilette und Küche auseinanderhält. Wie sagte schon Ernst Bloch: „Eine Geburtszange muß glatt sein, eine Zuckerzange mitnichten.“ Dazwischen liegen ein weites Feld und viel spannende Denkarbeit.

Spectrum, Sa., 1996.04.13



verknüpfte Bauwerke
Doppelwohnhaus Schatzl

23. März 1996Walter Zschokke
Spectrum

Vom Schauen und Herzeigen

Nach München und Mailand hat nun auch Wien seine Helmut-Lang-Filiale bekommen. Das zurückhaltende Raumkonzept von Gustav Pichelmann läßt die Kleider ihre Eigenwirkung entfalten.

Nach München und Mailand hat nun auch Wien seine Helmut-Lang-Filiale bekommen. Das zurückhaltende Raumkonzept von Gustav Pichelmann läßt die Kleider ihre Eigenwirkung entfalten.

Das Verhältnis von Gewand zu Gebäude ist ein grundsätzliches, handelt es sich doch bei jener ersten und dieser zweiten Hülle um primäre Bereiche menschlicher Kultur. Sowohl beim Kampf ums Dasein als auch in Form verfeinerter Weiterentwicklungen stehen beide Hüllen mit unserem Sein und Verhalten in lebendiger Wechselwirkung.

Zwischen ihnen drängt oder dehnt sich ein mehr oder weniger großer Raum. Dessen vorausschauende Bestimmung ist ebenso eine Architektenaufgabe, wie es die Gestaltung der Innenflächen dieser äußeren Hülle ist. Die näher zum Körper befindliche erste Hülle fällt dagegen in die Kompetenz der Modedesigner. Die innere Hülle schützt, kleidet, interpretiert und exponiert den darin steckenden Körper, der mit Haltung und Bewegungen seinerseits das Wesen der Bekleidung zur Wirkung bringt. In einem Geschäft für exquisite Kleider erhält die Spannung zwischen den beiden Hüllen außerordentliche Bedeutung. Beim Bewegen in diesem Zwischenraum tritt man zur Struktur und zu den Möglichkeiten einzelner Bereiche sowie zu den Oberflächen der zweiten Hülle in Beziehung. Da Kleider wegen ihrer Façon auch leer, ja sogar achtlos hingeworfen in Resonanz zum absenten Körper stehen, enthält ihre Präsentation eine mehrschichtig sinnliche Komponente, die zuweilen von feiner Erotik durchzogen oder bestimmt sein kann. Die Verkaufsphilosophie für solcherart hochwertige Produkte fordert eine angenehme, aber dennoch nicht unpragmatische Atmosphäre. Ein anspruchsvolles Publikum mag ungern unter Streß entscheiden und will beim Kauf die Initiative nicht aus der Hand geben.

So wird der Vorgang des Erwerbs neuer Kleidungsstücke von komplexen Verhaltensmustern in vielfältiger Weise, bewußt und unbewußt, bestimmt. Wie hat nun der Architekt diesen Bedürfnissen und menschlichen Verhaltensweisen Raum geschaffen? Wie das „Spielfeld“ gestaltet, das Bühne, Zuschauerraum und Hintergrund zugleich sein muß?

Von außen, von der Seilergasse her, tritt das Geschäft in der historistischen Fassade mit einem mittig liegenden Eingang und zwei hochrechteckigen Fenstern in Erscheinung. Die umgebenden Mauerflächen sind hell gestrichen, die bei Portalen üblichen signalhaften und Aufmerksamkeit heischenden Elemente aus emailliertem Glas oder anderen dauerhaften Materialien fehlen. V ier fahnenartige Stoffbahnen in einem mittleren Graugrün sind dafür zwischen Erd- und erstem Obergeschoß vertikal vor die Mauerpfeiler gespannt. Sie greifen in den Raum über dem Gehsteig vor und machen aus der Schrägsicht, etwa vom Graben her, auf das Geschäft aufmerksam. Typologisch stehen sie in der Tradition textiler Ankündigungselemente oder temporärer Architektur, in der mit wenig Aufwand ein festlicher Charakter zu erzeugen ist.

Zu viert gereiht, überlagern sie geschickt die Fassadenstruktur des bestehenden Hauses, ohne sie zu negieren, und bewirken eine eben noch spürbare, locker-harmlose Monumentalisierung des Portals.

Hinter dem Eingang erstreckt sich der Verkaufsraum in die Tiefe - beherrscht von einem langen, tischartigen Verkaufspult. Starke, zur primären Tragstruktur des Bestands gehörende Pfeiler erzeugen spannungsvolle sekundäre Raumzonen. Sie wurden vom Planer akzeptiert und mitsamt ihrer räumlichen Verdrängungswirkung in das Konzept integriert.

Im hinteren Bereich weitet sich das Geschäftslokal L-förmig in die Breite. Matt durchscheinendes Glas spannt sich über einen Lichthof, dessen platzartige Fläche unverstellt bleiben soll. Großzügig dimensionierte Wechselkabinen sind von hier aus zugänglich.

Kleiderbanause, der ich bin, versuche ich eine Annäherung an den gestalterischen Komplex über die Abschnitte im Ablauf eines Besuchs im Kleidergeschäft.

Eintreten: Zwei raumhohe Flügeltüren mit Holzrahmen und durchsichtiger Glasfüllung empfangen die Besucher. Obwohl konstruktiv bemerkenswert einfach gehalten, wirkt die große Höhe des Durchgangs nicht unpathetisch. Damit wird klargestellt, daß man soeben im Begriff ist, ein besonderes Geschäft zu betreten. Durch das Glas sind neue Kunden von innen bereits zu sehen; ihrerseits können sie schon beim Eintreten einen Überblick gewinnen. Das ist wichtig, denn sie werden rasch entscheiden müssen, ob sie links (Herrenabteilung) oder rechts (Damenkleider) gehen wollen.

Auftreten: Nach der dezent monumentalen Eingangstür ist etwas Raum gelassen für eine kurze Orientierung. Diese Schritte sind nicht vernachlässigbar, denn man bewegt sich im Blickfeld der Pole-positions beidseits des langen Verkaufspults. Hier darf man nicht kleinmütig werden, im Gegenteil: Man muß innerlich überzeugt und gefestigten Schrittes weitergehen.

Schauen: Zu beiden Seiten hängen die Kleidungsstücke, nach Farbtönen gereiht, an metallenen Stangen. Ohne größere Brüche bildet diese Anordnung ein kompaktes Bild, in das man suchenden Auges eindringen kann.

In Laden und Regalen finden sich weitere Kleidungsstücke, die teilweise in ähnlicher Art präsentiert sind, wie dies oft in Warenhäusern der Fall ist, wo man gleich ein halbes Dutzend T-Shirts kauft. Bewußt wird zeitverzögert zurückgeräumt, sodaß Laden zufällig offenstehen und den Blick auf sich ziehen oder Hemden und Blusen, die gerade keine Käufer gefunden haben, auf der Fläche des ausgedehnten Verkaufspults verbleiben, absichtslos und vom Zufall drapiert; es kommt eine Stimmung auf wie in Ateliers beim Herumprobieren. Annähern: Zwischen den Pfeilern gerät man automatisch näher an die Sachen heran. In der räumlich dichten Atmosphäre bei den Regalen und den teilweise zusätzliche Ausziehgestelle enthaltenden Pfeilervolumen kommt es zum tastenden Fühlen des Tuchs, das Vermutungen der anfänglichen Blickbeziehung verifiziert.

Auswählen: Auf der schier unendlichen Fläche des Verkaufspults können nun die verschiedenen Stücke ausgelegt werden, um zu entscheiden, in welches man probeweise schlüpfen will. Von der Dimension her erinnert das Pult an alte Verkaufskontore, auf denen die Stoffbahnen ausgerollt und abgemessen werden.

Die Oberfläche ist mit Milchglas veredelt und neutralisiert, damit sie die feinen Stoffstrukturen und Spitzen nicht konkurrenziert. Die helle Fläche zeigt an: Hier ist der Ort des Austauschs, der Markt der Waren.

Probieren: Für die Anprobe stehen Wechselkabinen zur Verfügung, die groß genug sind, daß man sich darin bewegen und den Partner hereinholen kann. Hat man hier Sicherheit gewonnen über das Gewählte, geht es hinaus auf die platzartige Ausweitung unter dem von quadratischen Sprossen durchzogenen Oberlicht.

Herzeigen: Hier kann man ausschreiten, die Wirkung des Kleides auf den eigenen Körper und seine Bewegungen nachspüren sowie beider Ausdruck im abgrundtiefen Spiegel befreundeter und konkurrierender Blicke ablesen.

Dabei lenken der sepiafarbene Boden und die ebenso dunkle, drei Viertel der Raumhöhe deckende Verkleidung von Pfeilern und Regalen den Blick auf die Gesichter des meist dunkel gekleideten Personals. Wie bei einer Pantomime werden die Augen rascher sprechen als es den Probierenden bewußt sein mag, und man wird schnell wissen, ob zu verwerfen oder zu kaufen ist.

Zahlen: Nach dem Entscheid geht es zum Abschluß des Geschäfts - ein beiläufiger Vorgang nach dem herausfordernden Auswahlverfahren. Die Kassa ist fast unscheinbar eingeschnitten in das große Verkaufspult. Zwei benachbarte Pfeiler schaffen ihr einen geschützten Raum und geben dem Ort Bedeutung.

Für diesen komplexen und variantenreichen Ablauf menschlichen Handelns bietet die Raumgestaltung von Gustav Pichelmann eine zurückhaltende, unspezifische Präsentationsebene und Hintergrundschicht. Die Maßnahmen grenzen hart an gestalterische Abstinenz, wollen offenbar nicht mehr sein als neutrale Folie, vor der das Gewand seine Geltung an sich sowie an den Körpern erlangen kann.

Pichelmann ist 1955 in Wien geboren, studierte Bauingenieurwesen und danach Architektur an der Technischen Universität. Schon 1981 entwickelte er eine eigene Praxis mit Innenausbauten und kleinen Umbauten und bewegte sich gestalterisch in der damals aktuellen Strömung der „Wiener Szene“. Wie anderen vor und nach ihm gelangen und gelingen ihm interessante Arbeiten, ohne daß er über einen offiziellen Studienabschluß verfügen würde. Ein Sachverhalt, der im angelsächsisch beeinflußten Kulturraum unproblematisch wäre, aber hierzulande von maßgebenden Kreisen, die noch immer eng denkend behandelt wird, obwohl dieselben Kreise nichts dabei finden, wenn Architekturprofessoren, die selber noch nie eine größere wissenschaftliche Arbeit verfaßt haben, Dissertationen abnehmen.

Man tut sich schwer mit den wildwachsenden Produkten, möchte alles immer unter Kontrolle halten, auch wenn es dieser Kontrolle dann an Kompetenz gebricht. Eine endlose Geschichte, nicht bloß in der Architektur. Darum ist es immer wieder erfrischend, sei es beim Bauen oder in der Mode, auf Ideen von außerhalb eines verknöchert- ständischen Denkens zu stoßen. - sogar Bauträger lernfähig?

Spectrum, Sa., 1996.03.23



verknüpfte Bauwerke
Helmut Lang - Boutique

02. März 1996Walter Zschokke
Spectrum

Rot-Weiß-Rot in größter Eile

In Neuhofen an der Ybbs ist für die Milleniumsfeier innerhalb kürzester Zeit Ernst Beneders „Ostarrichi-Kulturhof“ errichtet worden. Nach dem Ende der Ausstellung „Menschen, Mythen, Meilensteine“ wird er der Gemeinde in vielfältiger Weise dienen.

In Neuhofen an der Ybbs ist für die Milleniumsfeier innerhalb kürzester Zeit Ernst Beneders „Ostarrichi-Kulturhof“ errichtet worden. Nach dem Ende der Ausstellung „Menschen, Mythen, Meilensteine“ wird er der Gemeinde in vielfältiger Weise dienen.

An der Grenzlinie zwischen flachwelligem Alpenvorland und snowboardtauglichen Voralpenhängen liegt das Dorf Neuhofen im niederösterreichischen Mostviertel. Man erinnert sich bei der Anfahrt an das Jahreszeitenbild von Pieter Breughel, weil sich die unbelaubten Kronen der Obstbäume von den verschneiten, im Sommer landwirtschaftlich genutzten Fluren abheben. Der Flecken hat sich einen intakten Siedlungsrand bewahrt und die Ausbreitung der Einfamilienhäuser auf einen Talausgang im Südosten beschränkt.

Wie ein aufmerksames Muttertier wacht der hohe Bau einer gotischen Hallenkirche über das Dorfzentrum, dessen breitgelagerte Gasthöfe Übernachtungsstation auf der Pilgerstraße zum nahen Sonntagsberg waren. Räumlich sind sie als Vierkanter oder zumindest als Dreikanter organisiert. Der nahe Pfarrhof, in dem sich die Reste eines „festen Hauses“ verbergen - er wurde vor nicht allzu vielen Jahren um den Wirtschaftsteil reduziert und bildet jetzt einen zum Dorf offenen Winkel -, überragt gemeinsam mit der Kirche auf steil geböschter Terrasse eine vom Elzbach durchflossene Geländemulde. Südlich davon beginnen die Berge. Zwischen Pfarrhof, Gasthöfen und der vom Turm dominierten Westfront der etwas abgerückten Kirche war ein weiträumiger Bereich offengeblieben; seine Westseite wurde von dem 1980 erstellten, an ländliche Wirtschaftsgebäude gemahnenden Bauwerk der Ostarrichi-Gedenkstätte eingenommen.

Wir haben mit Neuhofen ein schmuckes Dorf vor uns, das - außer einem kleinen, leicht übermöblierten Platz mit einer besenartig zurechtgestutzten Linde - mit der angerartigen Weite der Ostarrichi-Gedenkstätte in zentraler Lage über einen großzügigen öffentlichen Bereich verfügt. Hier sollte für die 1000-Jahr-Feier der schriftlichen Erstnennung von „Ostarrichi“ eine aktualisierte Gedenkstätte und zugleich ein Mehrzweckgebäude mit Ausstellungs-, Seminar-, Club- und Tourismusräumen sowie einem Festsaal für die Gemeinde entstehen. Nach einer mißglückten ersten Planung wurde in höchster Eile ein Gutachten ausgeschrieben, das Architekt Ernst Beneder gewann. Unter enormem Zeitdruck folgten Ausführungsplanung und Baubeginn, sodaß der neue „Ostarrichi-Kulturhof“ für den zur Zeit stattfindenden Einbau der Länderausstellung „Menschen, Mythen, Meilensteine“ zeitgerecht bereitstand.

Das Konzept, das Ernst Beneder zusammen mit seiner Mitarbeiterin Anja Fischer ausgearbeitet hat, verstärkte die räumliche Wirkung des bestehenden Gedenkstättengebäudes durch einen flach quadrischen Obergeschoßaufbau, der zu Pfarrhof und Gasthöfen in räumliche Beziehung tritt und auch zur Kirche ein polares Spannungsverhältnis eingeht. Die übrige erforderliche Kubatur legte Beneder als winkelförmigen Bau unter das Terrain; zugleich schuf er einen abgesenkten Hof, der sich U- förmig nach Süden öffnet. Typologisch verwendet er dieselben volumetrischen Grundformen, wie sie in der unmittelbaren Nachbarschaft vorkommen: gedrungener Solitär, Winkelbau und Hof; die architektonische Ausformulierung als transparenter Skelettbau ist jedoch zeitgenössisch. Mit der Tieflegung bewahrt er die Weiträumigkeit der vorherigen Situation, und der abgesenkte Hof zentriert den öffentlichen Bereich in nutzungsmäßiger Hinsicht. Ein leichter Stahlsteg überspannt die offene Hofseite und durchstößt das selbständige Element einer riesigen, halbtransparenten Fläche in Rotweißrot. Dieses symbolhafte Superzeichen aus farbigen Netzen, die auf Rahmen gespannt sind, verengt die offene Ecke zwischen Kulturhof und Pfarrhofmauer. Es trennt räumlich und ist für Blicke zugleich schleierartig durchlässig, je nachdem, wie das Licht darauf fällt.

Mit den gesetzten Maßnahmen gelingt es, dem attraktiven Dorfzentrum ein weiteres Element dazuzugesellen, das strukturell und räumlich vielfältig mit der Nachbarschaft in Beziehung steht, ohne die Besonderheit der räumlichen Weite aufzugeben. Obwohl keine geschlossene Bebauung vorliegt, treten die größeren Baukörper zueinander in Beziehung, es kommt zu einer Verdichtung, die die Mitte offenläßt. Architektonisch gesehen nützt der Hauptbau den alten Mauerwerkskörper als Sockel für das mit einem Oberlichtband optisch ins Schweben versetzte Obergeschoß. Es wirkt bei heruntergelassenen Lamellenstores ebenfalls verschleiert und ist doch einsehbar, da die Wände dahinter mehrheitlich verglast sind. Prinzipiell ist das Bauwerk in mehrere vertikale Schichten geteilt - als erste schließt hinter der symbolhaften Fahne eine langgezogene Rampe an, die in das Foyer übergeht. Durch das Netz der Fahne entsteht eine subtile Blickbeziehung zum abgesenkten Hof und darüber hinweg zur Kirche.

Vom anschließenden Festsaal trennt eine raumhältige hölzerne Wand mit technischen Installationen und Stauraum. Sie steht strukturell in Beziehung mit dem erforderlichen Brandabschluß zum Stiegenhaus. Beneder wählte hier Teleskop-Hubtore, damit die räumliche Offenheit bei Normalbetrieb gewahrt bleibt. Die schwarz gestrichenen Tore sind unübersehbar, bilden aber keine Störung, sondern sind in ihrer architektonischen Wirkung integriert. Das luftige Stahlbetonskelett des Tragsystems setzt sich ins Obergeschoß fort, wo Büros und Seminarräume vorgesehen sind. Der Grundriß erlaubt auch hier eine optimale Flexibilität. Nach Südosten ist eine Terrasse vorgelagert, die mit den Lamellenstores in einen blickgeschützten Arbeitsraum unter freiem Himmel verwandelt werden kann und damit in den schwebenden Quader integriert ist.

Der im Untergeschoß über das Gelenk des Stiegenhauses anschließende Winkelbau ist für eine Dauerausstellung zur Regionalgeschichte vorgesehen. Er wird außenseitig von der Erde berührt, während die Hofseiten vollverglast sind. Als zusätzliche Lichtquelle wurde im rückseitigen Bereich ein Oberlichtstreifen über die Länge beider im rechten Winkel zueinander stehender Trakte durchgezogen. Ein gedrücktes Glasbausteingewölbe deckt ihn ab, sodaß er von oben als Grenzziehung streifenartig hervortritt. Das flache Dach des Winkelbaus ist begrünt und begehbar.

Die beiden Flanken des langen, abgewinkelten Innenraumes erhalten Tageslicht unterschiedlicher Qualität: Vorn fällt es, klare Schatten werfend, direkt ein, hinten sickert es als Streulicht durch die Glasbausteine, tropft auf die glatte Rückwand aus schön gearbeitetem Sichtbeton und wird von dieser als feiner Sprühregen in den Raum reflektiert. Die Raumzone, in der dieses Eindringen des Lichts stattfindet, ist durch eine Reihe schlanker Stützen, die eine Durchgangsbreite vor der Rückwand stehen, andeutungsweise abgetrennt. Der scharfkantige quadratische Querschnitt läßt die Stützen im Licht plastischer hervortreten. Zugleich bindet die Geometrie vertikale und horizontale Elemente stärker zusammen.

Dieser Gebäudeteil wirkt, wie für Ausstellungszwecke dienlich, neutraler und ruhiger. Weil auch der Hauptbau für die Länderausstellung 1996 vorgesehen ist, fehlen die definitiven Einbauten, damit möglichst wenig präjudiziert ist. Die Rundumverglasung und die architektonisch ausgekosteten Erschließungswege machen ihn aber zu einem öffentlichen Gebäude, das durch die klimatische Glashülle und die schleierartigen Filter der Fahnenwand und der Lamellenstores differenziert abgrenzbar ist. Besonders am Abend kommt hier die Lichtregie Beneders stark zur Geltung.

In der enorm kurzen Planungs- und Ausführungszeit hat Ernst Beneder architektonisch und organisatorisch Außerordentliches geleistet, er war oft tagelang auf der Baustelle anwesend und hat, was bei Zeitdruck selten ist, den Rahmen von 28,8 Millionen Schilling Gesamtbaukosten (inklusive Umsatzsteuer) gehalten.

Dennoch sei den Politikern ins Stammbuch geschrieben, daß es verfehlt wäre zu glauben, Zeitdruck sei gut für die Architektur; auch qualifizierte Fachleute wie Ernst Beneder können nicht pausenlos Wunder vollbringen.

Spectrum, Sa., 1996.03.02



verknüpfte Bauwerke
Ostarrichi - Kulturhof

10. Februar 1996Walter Zschokke
Spectrum

Blinde Flecken im Gewühl...

In der Masse des Gebauten finden sich da und dort blinde Flächen, die der Gestaltungswille glücklich verschont hat: die freistehenden Feuermauern. Auf ihnen kann der Blick zur Ruhe kommen.

In der Masse des Gebauten finden sich da und dort blinde Flächen, die der Gestaltungswille glücklich verschont hat: die freistehenden Feuermauern. Auf ihnen kann der Blick zur Ruhe kommen.

Manchmal wird den Augen das chaotische Gewühl der Zeichen und Signale im Dickicht der großen Städte zuviel. Der Blick ist, mit Rilke gesprochen, „so müd geworden, daß er nichts mehr hält“. Zur Erholung nehmen unsere Augen dankbar jene Bilder auf, die absolut unbedeutend sind, die nicht entziffert und interpretiert werden wollen und weder flüsternd noc schreiend nach Bedeutung heischen, weil dahinter nicht die leiseste formale Absicht steht. Wenn der Blick auf derartige „leere“ Zeichen oder ganze Flächen fällt, können die Augen sich absichtslos darauf richten, sich vom Denken des Gehirns loslösen und mit offenen Lidern nur mehr als optisches Organ wirken, ohne die Information verarbeitend weitergeben zu müssen. Nach einigen Augenblicken der Ruhe und Entspannung gleitet man dann wieder zurück in den normalen Wahrnehmungsprozeß der übrigen Umwel.

Mag sein, daß sich die Augen mit einem derartigen „Nulldurchgang“ gleichsam entleeren oder daß verbliebene Nachbedeutungen gelöscht werden. Zugleich scheinen sie sich in einer Art Eichung rückzuversichern, um sich danach im relativen Bezugssystem vielfältiger Zeichen und Zeichenkombinationen wieder gewissenhaft der Bilderübermittlung zu widmen. Wesentlich scheint mir jedenfalls, daß die Augen dabei vor der Welt nicht geschlossen werden. Denn es ist nicht das Sehen, das ausgeschaltet wird; der Verzicht betrifft den Interpretations- und Beurteilungszwang. Der Blick zum Himmel mit seinen Wolken oder auf einen nahen Wald, auf das spiegelnde oder gekräuselte Wasser eines Sees, auf einen dahinströmenden Fluß und selbst über ein breites Feld von Geleisen kommt diesem Bedürfnis nach visueller Entspannung entgegen.

Vergleichbar damit sind in der Stadt jene unverbauten Feuermauern, die von den Ungleichzeitigkeiten städtebaulicher Entwicklung fast in jeder Straße und in manchem Hof verblieben sind. Als Abschlußflächen eines Gebäudes sind sie an den Grundgrenzen hochgezogen worden und warten seither ohne Eile auf ein Anschlußbauwerk. Denn sie sind laut Bebauungsplan im Prinzip dazu vorgesehen, von einem ähnlich hohen Nachbargebäude mit einer ebensolchen geschlossenen Mauer verdeckt zu werden.

Das ist wohl der Hauptgrund, warumnie ein Gedanke an ihre Gestaltung verloren wurde und wird. Eigentlich ist es ein ausgesprochener Glücksfall, daß im städtischen Kontext derartige Flächen aufscheinen, die offen sichtbar bleiben, obwohl sie prinzipiell dafür vorgesehen sind, verdeckt werden. Sie bilden die blinden Flecken in der alles überwuchernden Schicht gestalteter Oberflächen, sie sind Orte der Ruhe im Aufmarsch der Eitelkeiten unterschiedlichster Qualität. Bei einer Feuermauer handelt es sich in keiner Weise um eine Ansichtsseite, wie es die Vorder- oder die Hinterfassade eines Hauses sind, sondern um eine nicht vorgesehene Ansicht.

Es fehlt ihr die Bekleidung, das, was die Mauer zur Fassade macht. Der Blick fällt direkt auf die Masse des verbauten Materials. Irgendwie bilden diese leeren Mauern eine Art Einschnittfläche in den normalen Lauf der Dinge, durch die das Auge wie durch einen leicht angehobenen Vorhang ins Zeitlose blicken kann. Dabei wird nichts bloßgelegt, kein Blick, der etwas Privates oder gar Peinliches freilegen würde, nicht der leiseste Anflug von Obszönität, wie er durch ungewollte Einblicke auch bei Bauwerken durchaus entstehen kann. Es läßt sich auch nicht sagen, eine Feuermauer sei aus anderen Gründen als wegen ihrer ureigensten Bestimmung - nämlich die seitliche Ausbreitung eines Brandes zu verhindern -, etwa aus gestalterischen Gründen, absichtsvoll geschlossen, womöglich gar, um einen bestimmten Effekt zu erzielen.

Im Gegenteil, völlig spannungslos setzt ihre Oberfläche an der vorderen Hauskante an und zieht sich nach hinten zur hofseitigen Kante. Meist sind die Feuermauern in einfacher Weise glatt verputzt, aber selbst wenn im Lauf der Jahre der Bewurf als Folge ungehinderter Witterungseinflüsse abgefallen und die nackte Ziegelmauer zum Vorschein gekommen sein sollte, ergibt sich keine andere, auch keine inhaltliche Aussage. Natürlich kommt es ab und zu vor, daß eine Feuermauer in gut exponierter Lage als Werbefläche genützt wird, aber das soll uns hier nicht irritieren. Die Tatsache, daß sich die gesamte Fläche problemlos als Werbeträger verwenden läßt, ohne die Botschaft im geringsten zu kommentieren oder inhaltlich zu beeinflussen, zeigt, wie bedeutungsleer sie vorher war.

Auch geometrische Muster, die aus der Verzweiflung des Horror vacui, der Angst vor der Leere, an ihrer Fläche aufgebracht werden, können der Bedeutungslosigkeit der Feuermauer nichts anhaben, genausowenig wie Rankgerüste oder Pflanzenbewuchs die erhabene Aussagelosigkeit behindern. Eine Feuermauer bleibt schlicht eine Feuermauer. Sie ist in ihrer Art ein Dauerbrenner, ein „permanent“ im Sinne von Kneissl/ Pirhofer.

Seit Jahrhunderten haben sich auch die sichtbar gebliebenen Feuermauern keinem Stildiktat gebeugt. Fast möchte man sagen, sie sind ewig, jedenfalls so ewig wie die Stadt, der sie dienen. Zwar kommt es immer wieder vor, daß eine offene Feuermauer verschwindet, weil ein altes, zweigeschoßiges Haus durch ein höheres ersetzt wird. Dafür wird andernorts wieder eine freigestellt, weil der erneuerte Bebauungsplan eine niedrigere oder gar keine Bebauung vorsieht. Aber auf die einzelnen Feuermauern kommt es nicht an. In ihrer Beliebigkeit und Anonymität sind sie austauschbar, in der Summe bleiben sie gleich. So sind paradoxerweise die ganz oder teilweise sichtbar bleibenden Feuermauern ein Indikator für die Lebendigkeit und die permanente Veränderung der Stadt.

Die durch Feuermauern akzentuierten feinmaßstäblichen Brüche im Stadtgefüge bezeichnet Hermann Czech als besonders typisch für die gründerzeitlichen Wiener Stadtviertel. Und bei seiner Volksschule an der Fuchsröhrenstraße hat er mit diesem Motiv den Turnsaaltrakt zum Spielfeld hin abgeschlossen, als Referenz zu benachbarten, bestehenden Feuermauern. Zugleich wollte er vermutlich diese Front, für deren Gestaltung es keinen Anlaß gab und in der keine Fenster erforderlich waren, einfach ungestaltet lassen. Ihr Anblick wirkt so beruhigend, daß kürzlich einige Schweizer Architekten auf Wiener Architekturreise, die ja bezüglich gestalterischer Absenz einiges gewöhnt sein müßten, schon nach zwei Minuten weiterwollten, weil sie nichts Gestaltetes zu erkennen vermochten, was ihrer Erwartungshaltung an die „Wiener Architektur“ entsprochen hätte.

Nicht sehr oft und nur unter bestimmten Bedingungen kommt es vor, daß von der gesetzlichen Regelung, daß in Feu-ermauern keine Öffnungen gemacht werden dürfen, eine Ausnahme bewilligt wird. So können, meist bis auf Widerruf, Fenster herausgebrochen werden. Aber wenn das niedrigere Gebäude davor beispielsweise unter Denkmalschutz steht oder das Nachbargrundstück überhaupt frei bleibt, kann es lange dauern, bis widerrufen wird.

Interessanterweise verliert auch die mit Öffnungen durchsetzte Feuermauer nur selten ihren spezifischen Charakter. Sie erscheint immer noch nicht als Fassade im herkömmlichen Sinn. Weil nämlich die Fenster, von innen her gedacht, in die Mauer geschnitten werden, sind sie nicht in eine gewollte Fassadenkomposition integriert. Der Zufall ist echt, nicht aufwendig absichtlich unabsichtlich geplant - damit bleibt die eingangs erwähnte Absenz von Gestaltung in der gesamten Erscheinung gewahrt. Die Wirkung der Ansicht einer solcherart befensterten Feuermauer liegt in der impliziten Kritik, die ihre nüchterne Funktionalität an akademistischen und neoakademistischen Fassadenkonzeptionen übt, deren Öffnungen nur im Hinblick auf äußerliche Bildwirksamkeit in die Fläche gesetzt sind, auf die räumliche und funktionelle Wirkung von innen nach außen jedoch wenig Rücksicht nehmen. Weil nun die Feuermauer, von ihrem Charakter her, primär nicht als Fassade wahrgenommen wird - meist wird sie sogar aus dem bewußten Blickfeld ausgeblendet -, sondern erst durch die nachträglich ausgebrochenen Öffnungen, quasi sekundär, zu einer solchen gemacht wird, stellt ihr Aussehen klar, daß die „gestalteten“ Fassaden an Vorder- und Rückseite wie eine Folie über die neutrale Mauer gezogen sind. Ihre Nichtgestaltung macht einen Sachverhalt sichtbar, der üblicherweise zugedeckt bleibt. Daß eine befensterte Feuermauer diese aufklärerische Wirkung entfalten kann, verdankt sie dem durchgängig architektonisch bedeutungsleeren Ausdruck, den die vielen über die Stadt verteilten unbefensterten Wände in ihrer Gesamtheit unverrückbar festlegen.

Vor diesem kompakten Hintergrund der Nicht-aussage gewinnt das unregelmäßig im Stadtbild auftauchende Phänomen der befensterten Feuermauer ein wenig Bedeutung und Gewicht. Es ist einfach erholsam, auf so eine Wand zu blicken. Keinen Anlaß zu spüren, in den Gehirnwindungen nach dem bekannten Architektennamen zu kramen, dessen Genie die gekonnten Unregelmäßigkeiten entsprungen sein könnten. Man braucht nicht zu denken oder zu interpretieren, darf aber schauen. Falls nun der Eindruck entstanden sein sollte, es handle sich bei diesen befensterten Feuermauern um den kommenden Ausdruck der Architekturavantgarde, muß ich die Erwartungen enttäuschen. Feuermauern anzuschauen ist Therapie, ist Erholung von den Produkten demonstrativen Architekturwollens. Außerdem kann man dabei lernen, unvoreingenommenen Blickes an Gebautes heranzutreten, ohne sofort wissen zu müssen: „gut“ oder „schlecht“. Feuermauern sind einfach da, ob mit Fenstern oder ohne.

Spectrum, Sa., 1996.02.10

20. Januar 1996Walter Zschokke
Spectrum

Vom Kitzel des Querens

Elegant wird er sich über den Wasserfall an der „Schmiedemeile“ in Ybbsitz schwingen: der Fussgängersteg von Franz Wahler - zeitgenössische Handwerkskunst, verbunden mit Ingenieurswissen.

Elegant wird er sich über den Wasserfall an der „Schmiedemeile“ in Ybbsitz schwingen: der Fussgängersteg von Franz Wahler - zeitgenössische Handwerkskunst, verbunden mit Ingenieurswissen.

Ein Fußgängersteg als Aufgabe der Ingenieurbaukunst bot schon immer etwas mehr gestalterische Freiheit als beispielsweise eine Straßenbrücke, weil die beweglichen Lasten relativ klein sind. Die geringe Breite eines Wanderpfads - 1,20 Meter reichen zum Kreuzen aus - erlaubt, so einen Steg als lineares Element auszubilden. Nur eine Fußspur ist über das Hindernis zu tragen.

Die leichtesten Brücken dieser Art waren und sind wohl die jährlich erneuerten Hängestege der Inkas aus mehrfach geflochtenen Graszöpfchen, die wundersamerweise noch heute regelmäßig an zwei oder drei Brükkenstellen in den Anden von der Bevölkerung des zu diesem Zweck vom Inkakönig angesiedelten nahen Dorfes unter Leitung eines „Brückenmeisters“ hergestellt werden. Im Himalajagebiet sind es vier Seile aus Ziegenhaar und darauf gelegte Steinplatten, die als Tragelemente dienen.

Wohl nur wenige Europäer würden sich auf solch luftigem Gespinst zwei Dutzend Meter weit über eine Schlucht und tief unten rauschende Wasser wagen. Nicht nur als Mutprobe, sondern als primäres räumliches Erlebnis bliebe einem so ein Übergang in Erinnerung. Damit ist ein Kernpunkt dieser Bauaufgabe angesprochen: Der Fußgängersteg erlaubt von allen Brücken das intensivste Wahrnehmen von Flußraum, künstlichem Weg durch die Luft, Oben und Unten, Kragen und Wagen.

Der Steg, den der deutsche Fachwerkpionier Heinrich Gerber (1832 bis 1912) bei Neuschwanstein als Teil einer Aussichtspromenade über eine Schlucht gespannt hat, ist ein frühes Meisterstück der modernen Ingenieurbaukunst. Nach der Mutter des späteren Ludwig II. Marienbrücke genannt, erlaubt sie bis heute einen herrlichen Blick auf das vom Bayernkönig ein paar Jahre später auf den Grundmauern einer Ruine erbaute Märchenschloß. So ist dieser Steg ein bewußt eingesetztes Element zur Inszenierung der Landschaft.

Stege dieser Art gibt es einige im Alpenraum, oft weit hinten in einem Tal verborgen, sodaß sie nur den Einheimischen und ein paar Bergwanderern bekannt sind. Doch wer sie begangen hat, erinnert sich an das Erlebnis des Querens, vielleicht auch des Kitzels, weil das Bauwerk unter den Tritten der Wandergruppe vibriert. Und wenn sich ein Ausblick bietet, wird auch dieser gespeichert. Die mehrfache Bedeutung verfestigt das Erinnern.

Diese kulturgeschichtlichen Wurzeln prägen, bewußt und unbewußt, ein Brückenprojekt an der „Schmiedemeile“ bei Ybbsitz, einem Abschnitt des niederösterreichischen Astes der Eisenstraße. Das Bauwerk wird von der lokalen Bevölkerung getragen und profitiert vom modernen Ingenieurwesen durch den erfahrenen Konstrukteur und Bauingenieur Oskar Graf aus Wien, der am Anfang hilfreiche Ratschläge gab. Die Vorstatik rechnete der Ybbsitzer Diplomingenieur Wilhelm Junker.

Die Initiative ergriffen hatte der junge Ybbsitzer Schlossermeister Franz Wahler, der aus berufsgeschichtlichem Interesse die Reste der ehemaligen Jubiläumsschleife erwarb, die „in der Noth“ an einer Folge von Wasserfällen bis nach dem Ersten Weltkrieg in Betrieb gestanden hatte. Die naturlandschaftlich attraktive Lage mit eingefügten frühindustriellen Betrieben, deren Reste bedeutungsschwer ins schnell wachsende Grün zurücksinken, all das ergibt einen außergewöhnlichen Ort.

Zusammen mit dem jungen Architekten Robert Schwan, der im Sommer 1995 beim Tauchen tödlich verunfallte, entwickelte Franz Wahler den Steg. Dieser schwingt sich von jenem Punkt in die Höhe, von dem aus der Wanderer den Wasserfall erstmals von nahe zu Gesicht bekommt. Eine luftige Treppe steigt zwischen zwei V-förmig auseinanderstrebenden, zum Bogen sich krümmenden Fachwerkträgern zum Scheitelpunkt hinauf, wo der Gehweg ein Stück weit flacher verläuft, um dann mit wenigen abwärts führenden Stufen wieder gewachsenen Boden zu erreichen.

Der nahezu ebene Scheitelbereich verführt zum Innehalten und Schauen. So verläuft denn die Brückenachse nicht in kürzester Richtung quer zur Klamm,sondern liegt schräg, sodaß der Raum über dem Wasserfall durchschritten werden kann und das intensivste Landschaftserlebnis möglich wird. Wem die Treppe auf der Brücke zu steil und zu filigran ist, der gelangt über einen Fußweg am festen Ufer auch ans Ziel. Dieser Steg ist in mehrfacher Hinsicht bedeutsam: im Verhältnis zur Landschaft, in seiner Filigranität, in der statisch-konstruktiven Konzeption, im Verhältnis von tragenden und dienenden Teilen und nicht zuletzt in der Tatsache, daß er als zeitgenössisches Bauwerk auch Produkt beruflichen Stolzes und des industriearchäologischen Interesses eines örtlichen Handwerksmeisters ist.

Vom gestalterischen Standpunkt ist die „doppelte“ Überhöhung des Scheitelbereichs interessant: Die Künstlichkeit des Übergangs, die wegen dessen Filigranität intensiv erlebt werden kann, verhindert nicht, daß man dennoch vollständig in der landschaftlichen Situation integriert bleibt. Zwar wird man hinaufgeführt in luftige Ausgesetztheit über dem Wasser, doch gerade zuoberst kann man den Umraum am intensivsten wirken lassen. Die kräftige Überhöhung des Scheitels gibt dem Brückenbauwerk Eigenständigkeit und Gewicht und überspielt die rein dienende Rolle; es will „höher hinaus“, aber mit welcher Eleganz!

In der Seitenansicht wird leicht erkennbar, wie wenig Material für das Tragwerk, für Gehwegplatten und Stufen sowie für das Geländer Verwendung findet: Das weitmaschige Zickzackfachwerk mit dünnstmöglichen Stäben bildet eine erste imaginäre Hülle um das feinere und engmaschigere Gespinst von Gehweg und Geländer, das den linearen Raum des Übergangs fast schleierartig unterfaßt. Wie etwas ganz Besonderes wird der Weg über dem Wasserfall gleichsam auf Fingerspitzen getragen und von Spinnwebfäden geleitet.

Das Tragwerk besteht aus dem bogenförmig geschwungenen Untergurt, einem Profilrohr von 150 mal 150 Millimetern. Von diesem aus streben die Dia-gonalen paarweise V-förmig zu den beiden Obergurten aus 80-er-Rohr. Der etwas kräftigere Untergurt mit Kastenquer-schnitt übernimmt die Torsions-beanspruchung, betont aber auch die Grundform der Bogen-brücke, während die langen Diagonalstäbe zusammen mit den Obergurten eine hohe Steifigkeit bewirken.

Im Bogenbereich werden wohl hauptsächlich Druckspannungen auftreten, die im länge-ren Schenkel des asymmetri-schen Tragwerks wechseln auf Zug im Untergurt und Druck in den beiden Obergurten. Die Spannweite ist mit 22 Metern relativ groß. Die Minimierung der Stabdimensionen konnte also nicht aus dem Handgelenk heraus erfolgen.

Wenn man die beiden wie Schmetterlingsflügel sich öffnenden Fachwerkstränge als „tragend“, die Treppe und das Geländer als „dienend“ anspricht, fällt die sorgfältige gestalterische Trennung der beiden Systeme auf: Die Stufenplatten aus Lochblech sind einerseits aufgestelzt, andererseits hängen sie an den Geländerstäben, die, dicht gereiht, fast eine Harfe abbilden. Der Handlauf wiederum wird mit einer tetraederförmigen Zwischenkonstruktion vom Obergurt und den Diagonalen auf Distanz gehalten, sodaß seine formale Eigenständigkeit gewahrt wird. Daß er außerdem vielleicht noch mithilft, den Obergurt zu versteifen, ist zumindest denkbar.

Angenehm fällt auf, wie der Übergang gleichsam unaufge-regt aus den Auflagern herauswächst. Hier wird die Kontinuität des Weges betont, der, vom feinen Stabwerk begleitet, im Fachwerk des Trägers eingebettet liegt. Dieser zwischen dienenden und tragenden Teilen liegende Maßstabssprung verleiht der Brücke über die Großform hinaus zusätzliche gestalterische Qualität.

Das Bauwerk des Schlossermeisters Franz Wahler, der einer neuen Generation handwerklicher Spezialisten anzugehören scheint, ist tatsächlich beeindruckend. Wahler nimmt nicht nur seine kulturelle Verantwortung wahr, er verfügt darüber hinaus auch über ausgezeichnete fachliche Qualifikationen und beherrscht virtuos die kreative Zusammenarbeit mit Architekt und Bauingenieur.

So wird der Steg zu einem herausragenden Ereignis an der Ybbsitzer Schmiedemeile, und er stellt die heutige Leistungsfähigkeit eines Berufsstandes unter Beweis.

Ein Detail muß am Ende freilich klargestellt werden: Die Vorlage für die Photographien und den Text bildet ein Modell im Maßstab eins zu zehn, das der Illusion eine perfekte Grundlage liefert. Der auszuführende Bau bedarf noch einiger privater Sponsoren. Die Beschaffung der notwendigen Mittel dürfte aber bei der hohen Qualität des Entwurfs wie des Modells kein unüberbrückbares Hindernis bilden.

Spectrum, Sa., 1996.01.20



verknüpfte Bauwerke
Fussgängersteg

30. Dezember 1995Walter Zschokke
Spectrum

Die Harmonie für Buxtehude

„In welchem Style sollen wir bauen?“ fragte 1828 der „Großherzogliche Badische Residenzbaumeister“ Heinrich Hübsch. Auch heute noch läßt sich über Architektur gut streiten. Ein Brief und eine Erwiderung.

„In welchem Style sollen wir bauen?“ fragte 1828 der „Großherzogliche Badische Residenzbaumeister“ Heinrich Hübsch. Auch heute noch läßt sich über Architektur gut streiten. Ein Brief und eine Erwiderung.

Der Wiener Kulturkritiker Robert Schediwy verfaßte zu meinem Beitrag vom 9. Dezember einen Leserbrief und fragte: Wären Sie bereit, sich mit ihm auf der Architekturseite auseinanderzusetzen? Da der behandelte Gegenstand komplexer Natur und kaum abschließend beantwortbar ist, sehe ich in einem Weiterführen der Diskussion eine interessante Aufgabe.

Schediwy: Beim Streit um die Erweiterung des Kremser Bauamtes geht es nicht um eine „Neuauflage“ des „Stadt-Land-Konfliktes“, sondern offenkundig um das Aufeinanderprallen zweier ästhetischer Grundkonzeptionen der Architektur, die einander auch in London, Wien oder anderen Großstädten seit Jahrzehnten nahezu unversöhnt gegenüberstehen: Eine kleine, aktive Minderheit verficht seit Loos und Le Corbusier mit viel Verve den Bruch mit den alten Bautraditionen, wettert gegen das „Geschmückte“ und gegen harmonistische Konzepte wie Bauhöhenangleichungen und Satteldächer.

Die meisten Bürger, auch viele Kunsthistoriker, sehen dagegen genau jene „Harmonie“ als positiven Wert an und stehen Sichtbeton und Flachdächern, wie sie von den „Modernen“ seit den späten zwanziger Jahren forciert wurden, ebenso kritisch gegenüber. Das gilt für Paris mit seinen beliebten traditionellen Mansardendächern ebenso wie für Buxtehude - auch wenn der Vorwurf der „engagierten Modernen“ stets dahin geht, der eigenen Bevölkerung besondere „Provinzialität“ vorzuwerfen.

Der Stadt-Land-Konflikt basiert auf Ungleichzeitigkeiten der Entwicklung und auf Differenzen des Informationsstandes. Ihrer Behauptung, es handle sich um zwei aufeinanderprallende ästhetische Grundkonzeptionen der Architektur, kann ich nicht folgen, da ich die von Ihnen umschriebene Grundkonzeption weder in der Theorie noch in wichtigen zeitgenössischen Bauwerken zu erkennen vermag.

Hingegen sehe ich im Architekturschaffen der vergangenen zehn Jahre unterschiedlichste Strömungen: Die Bauten von Hans Hollein, Gustav Peichl, Hermann Czech, Helmut Richter, Adolf Krischanitz, Rüdiger Lainer oder Michael Loudon sind in ihren Konzepten verschieden, passen aber kaum auf das von Ihnen angedeutete „ästhetische Grundkonzept“. Die Schaffenskrise der „Traditionalisten“ darf wohl nicht den „modernen“ zeitgenössischen Architekten angelastet werden. Überhaupt scheint es mir unzulässig, daß Sie die Fachdiskussion mit der allgemeinen Geschmacksdiskussion gleichsetzen.

Eine Teilnahme an einer Fachdiskussion erfordert über die oberflächlich visuelle Erfahrung hinaus eingehendere Kenntnis der Materie. Es gibt kein angeborenes Kulturverständnis, das über alles Vergangene ein sicheres Urteil gewährleistet; vielmehr führt das Ambiente, in dem man aufwächst, zu meist unbewußten Prägungen. Diese können durch das Sammeln von Erfahrungen erkannt werden, worauf die Urteilsbildung dem Gegenstand angemessener erfolgen kann. Ihr Harmoniebegriff bedarf einer Nachfrage: Offenbar geht es Ihnen bei „Harmonie“ um selektive Auswahl vertrauter Elemente und die Ausblendung all dessen, was stören könnte. Zahlreiche zeitgenössische Architekten streben nicht weniger „Harmonie“ an, aber sie versuchen, scheinbare Störfaktoren in die Gestaltung einzubeziehen, eine Balance unter Gegensätzen zu suchen, die sich nicht an oberflächlichen Stilmerkmalen oder axialen Symmetrien orientiert.

Schediwy: Die von Ihnen vorgestellten Kremser Entwürfe repräsentieren diesen Jahrhundertkonflikt, der in der Architekturgeschichte früherer Epochen keine Parallelen findet, an Hand zweier ziemlich unbedeutender Projekte.

Ihre Behauptung, es habe früher keine Auseinandersetzungen zwischen Traditionalisten und Erneuerern gegeben, ist schlicht nicht wahr. Lesen Sie nach, mit welcher Vehemenz sich Kulturschaffende 1888 gegen den Bau des Eiffelturms wandten, versuchen Sie im Gegenzug, den Parisern heute den Turm wegzunehmen. Oder schlagen wir in Heinrich Hübschs Schrift „In welchem Style sollen wir bauen?“ (1828) nach: „Die Malerei und die Bildhauerei haben in der neueren Zeit längst die todte Nachahmung der Antike verlassen. Die Architectur allein ist noch nicht mündig geworden, sie fährt fort, den antiken Styl nachzuahmen. Ein großer Theil (der Architekten) lebt in dem Glauben, daß die schönen Formen in der Architectur etwas Absolutes seien, was für alle Zeiten unverändert bleiben könne.“ In den folgenden Jahrzehnten setzte sich der Historismus gegen den Klassizismus durch. Allerdings ist von Bedeutung, daß sich erst in diesem Jahrhundert die demokratische Gesellschaft in Europa verfestigte, sodaß die Konflikte unter anderen Bedingungen ausgetragen werden.

Schediwy: Bedauerlich erscheint, daß Sie, der unter den Beiträgern der stark „ideologisierten“ „Presse“-Architekturseite bisher eher zu den Besonneneren zählte, nun auf eine denunziatorische Schimpfterminologie setzen. Da ist - angesichts der vielfach ausgezeichneten „Denkmalschutzstadt“ Krems - von „dumpfem Beharren auf einem harmonischen Stadtbild“ die Rede. Da wird, ohne die funktionale Brauchbarkeit der konkurrierenden Projekte zu erörtern, eine „fachliche“ Überforderung des Bürgers behauptet, wo es in Wahrheit um Geschmacksfragen geht. Da liest man von „kleinkrämerischen Attacken“, „Froschperspektive“ und „Zuckerguß der Heile-Welt-Ideologie“.

Sie gehen davon aus, daß die im „Spectrum“ publizierenden Architekturkritikerinnen und -kritiker alle aus derselben „ideologischen“ Schule stammen. Den Vorwurf einer Ideologisierung weise ich zurück, da ich meine Argumentation mit fachlichen und historischen Kenntnissen begründe. Bei der Vermittlung des aktuellen Baugeschehens bleiben die Urteile vorläufig; sie werden sich erst nach 50 und mehr Jahren verfestigen, unterdessen aber womöglich auch ins Gegenteil verkehrt werden. Jeder, der sich mit der Rezeptionsgeschichte von Architektur befaßt hat, kennt diesen wechselvollen Prozeß. Sie aber glauben offenbar an ein fixes Beurteilungssystem.

Soweit „Geschmack“ als unbewußte Vorliebe für diese oder jene Richtung gilt, ist eine Diskussion vielleicht wirklich unmöglich. Sobald sich aber die Gesprächspartner der eigenen Position bewußt sind und fachlich und sprachlich differenzierend in einer Diskussion mithalten können, werden auch Fragen des „Geschmacks“ - ich würde eher sagen, der Gestaltung - diskutierbar. Daß im „Spectrum“ manchmal auch Fehdehandschuhe hingeworfen werden, macht das Schreiben und Lesen nur spannender.

Schediwy: Die asketische Ästhetik, die von Teilen der Kulturelite seit Anfang dieses Jahrhunderts vertreten wird, ist gewiß eine legitime persönliche Entscheidungsmöglichkeit und ein interessantes sozialpsychologisches Phänomen: Ebenso wie die derzeit als „Uniform der Kulturprogressiven“ abzeichenartig getragene Schwarzkleidung darf eine solche Präferenz aber nicht einfach dekretiert werden. Und so wie sehr viele Menschen eben gerne „bunt“ tragen, empfinden viele den Sichtbeton von Adolf Krischanitz' neuer Kunsthalle in Krems als „gefängnishaft“ und seinen Wiener „Kunstcontainer“ nicht unbedingt als „erfrischende Abwechslung gegenüber der historischen Pracht“ rundum. „Fachargumente“ sind für solche grundsätzliche Orientierungen irrelevant.

Von den Schlenkern der Kleidermode einmal abgesehen, ist die Frage interessant, warum viele Menschen den Beton, sobald er sichtbar angewendet wird, ablehnen, sich aber nicht daran stoßen, wenn er unsichtbar als Material für Tragwerk und Wände dient. Daß Architekten derartige Widersprüche zu thematisieren versuchen, ist eines der Merkmale zeitgenössischen Architekturschaffens, das neue Ausdrucksformen sucht, um über die heutige Wirklichkeit hinausbauend Werke zu errichten, die womöglich Denkmale von übermorgen sein werden. Wie der Gestalter die Tiefen des Materials oft in innerem Ringen auszuloten sucht, darf auch ein Betrachter nach einem ersten Eindruck sich und das Werk eindringlicher befragen.

Schediwy: Es ist tief bedauerlich, daß hierzulande derzeit fast nur die F-Bewegung die kulturpolitische Vertretung jener eher harmonisierenden ästhetischen Konzepte übernimmt, die auch die Wiener Gemeindebauten der Otto-Wagner-Schule in der Zwischenkriegszeit auszeichneten.

Die F-Gruppierung arrogiert sich so im kulturpolitischen Bereich eine Repräsentationsbreite, die ihr eigentlich nicht zukommt. Und sie verstärkt die Konfliktdynamik - indem sie für alle harmonisierenden Konzepte den „Rechtsaußenvorwurf“ provoziert. Auch Beiträge wie jener von Ihnen oder von Frau Waechter-Böhm, die einmal von „bonbonfarbener Verkremserung“ sprach, tragen aber zur Aufschaukelung der Gegensätze bei.

Auch ich sehe die Schwierigkeiten, die Kluft zu überbrücken, die sich öffnet zwischen dem langsamer sich entwickelnden breiten Verständnis von bildender Kunst oder Architektur und den verschiedenen Strömungen einer enteilenden Avantgarde. Mit dieser nicht harmonisierbaren Problematik müssen Künstler und Kritiker leben und arbeiten. Indem man sich eingehend mit neuartigen Entwicklungen oder vorerst fremden Kulturen befaßt, wächst das Verständnis.

Wer sich dem Beschreiten dieses Erkenntnisweges verweigert, kann das Fremde oder Neue nicht in sein Weltbild einbauen, wird daher auch nicht zu einer Harmonie der aktuell vorhandenen Aspekte und Erscheinungen mit der jüngeren und älteren Geschichte gelangen, sondern lebenslang nach jener prästabilisierten, in eine virtuelle Vergangenheit „vor dem Sündenfall“ projizierten „Harmonie“ suchen.

Spectrum, Sa., 1995.12.30

09. Dezember 1995Walter Zschokke
Spectrum

Geburtswehen der Urbanität

Um die Pläne zur Erweiterung des Kremser Bauamts ist ein Kulturkampf entbrannt: hochwertige zeitgenössische Architektur oder dumpfes Beharren auf einem „harmonischen“ Stadtbild?

Um die Pläne zur Erweiterung des Kremser Bauamts ist ein Kulturkampf entbrannt: hochwertige zeitgenössische Architektur oder dumpfes Beharren auf einem „harmonischen“ Stadtbild?

Wenn die Metropole Wien ihre Rolle in der europäischen Städtekonkurrenz unter anderem mit interessanter zeitgenössischer Architektur erfolgreich zu festigen versteht, warum sollten die niederösterreichischen Städte in der landesweiten Konkurrenz da hintanstehen – das dachten sich wohl der weltoffene Bürgermeister Erich Grabner und sein initiativer Baudirektor Wolfgang Krejs. Wer die Großbaustelle des Kulturbezirks in St. Pölten gesehen hat, weiß, daß die Auseinandersetzung um die vorderen Plätze im Rennen um zeitgenössische Kulturpräsenz intensiv und hart ist. Das Projekt „Kunst.Halle.Krems“ war Anfang der neunziger Jahre ein früher Glückstreffer. Die schwierige Situation bewältigte damals Adolf Krischanitz am besten. Heute ist der Bau ein Grundpfeiler der zeitgenössischen Architektur in Krems.

Krischanitz' Entwurf für ein kleines Bürogebäude zur Erweiterung des Kremser Bauamts mit nicht einmal 400 Quadratmeter Nutzfläche und einer Bausumme von vier bis fünf Millionen Schilling hat nun die lokale F-Bewegung unter Ausnützung der politischen Großwetterlage zum Anlaß genommen, einen Kulturkampf vom Zaun zu brechen. Dazu ist zu sagen, daß diese Art der Auseinandersetzung uralt ist. Immer wieder mußten sich neue Formen gegen dumpfes Beharren und gegen willentliches Unverständnis durchsetzen. Das galt für den Klassizismus gegenüber dem Barock wie für die Neorenaissance Gottfried Sempers gegen den dritten Aufguß des Rokoko in der Restaurationszeit; Jugendstil und Vormoderne standen, nicht zuletzt in Wien, unter dem Druck des eklektizistisch verknöcherten Akademismus.

Die meisten Kämpfe dieser Art fanden unter vordemokratischen Verhältnissen statt. Der private, nicht von tieferer Architekturkenntnis getrübte Geschmack eines Herrschers war maßgebend; oder, was schwerer wog, die Mißgunst einer mittelmäßigen Architektenclique, die sich unter der Führung des Malerarchitekten und „Rassentheoretikers“ Paul Schultze-Naumburg den Nationalsozialisten anbiederte und gegen angeblich „entartete“ Bauformen – wie die Bauhausarchitektur – vorging.

Tatsache ist, daß auch in einer von der Distanz der Jahre geklärten Rückschau nur in den wenigsten Fällen die von den Innovationsgegnern durchgesetzten Projekte einen wesentlichen Platz in der Architekturgeschichte beanspruchen konnten. So macht denn das von den Kremser Freiheitlichen gerühmte Projekt des örtlichen Hochbauamtsleiters im Ruhestand keine Ausnahme. Es erinnert eher an die „Stuttgarter Schule“ der dreißiger Jahre unter Paul Schmitthenner denn an historische Kremser Bauten. Dennoch würde man es – einmal errichtet – als schwachen Versuch erkennen, vergangene Stilformen mit untauglichen Mitteln wieder herbeizwingen zu wollen.

Denn seither haben sich die Arbeitsweisen und Materialien auf der Baustelle derart verändert, daß selbst bei einem guten Projekt das Herkunftsjahr sofort erkennbar würde. In seiner naiv anbiedernden Art würde es die wirklich alten Bauwerke der Nachbarschaft verunglimpfen. Den Bauten der Baumeister aus dem 18. und 19. Jahrhundert wird man nicht gerecht, indem man sie ungeschickt nachzuahmen versucht, sondern nur, indem man ihrer historischen Qualität heutige Qualität zur Seite stellt. Der Bau von Adolf Krischanitz hätte vor allem folgende Aussage gemacht: „Hier wurde Mitte der neunziger Jahre ein kleines Bürogebäude errichtet. Die gestalterischen Mittel sind minimiert, wie es in dieser Zeit von vielen Architekten angestrebt wurde.“ Daß der Architekt mit diesem Bau „sich selbst verwirklichen“ wollte und angeblich „das große Geld wittert“, sind Unterstellungen der Kremser Kulturkämpfer.

Der Anlaß ist relativ geringfügig. Doch die Art, wie die Auseinandersetzung geführt wird, die versuchten Untergriffe und die fehlende Bereitschaft, sich mit dem Bauschaffen unserer Zeit wirklich zu befassen, verlangen ein prinzipielles Eingehen auf den gesamten Komplex politischer (Un-)Kultur. Das Verhältnis von Architektur und moderner Demokratie ist jung und nicht so leicht zu durchleuchten. Der Gestaltungsakt als solcher ist in populistischer Weise nicht demokratisierbar, weil er Ausdruck ist von hochgradiger Durchdringung des Problems in technischer, funktioneller und ästhetischer Hinsicht. Die projektspezifische, aktive Sachkompetenz beschränkt sich auf die kleine, mit der Aufgabe unmittelbar befaßte Gruppe von Fachleuten. Allerdings ist es möglich, den Vorgang nachvollziehbar zu machen, sodaß er von Menschen mit entsprechender passiver Sachkompetenz und einer unkomplizierten Bereitschaft, sich von vorerst Ungewohntem nicht erschrecken zu lassen, verstanden werden kann.

Die Überforderung des einzelnen Bürgers durch die komplexen Sachgeschäfte wurde im Lauf der Weiterentwicklung der Demokratie erkannt, weshalb im Normalfall die gewählten Volksvertreter diese Arbeit leisten. Da diese in technischen wie in künstlerischen Disziplinen, zu denen im doppelten Sinn auch die Architektur gehört, überfordert sind, wurden Fachbeiräte ins Leben gerufen. Waren es vorerst die großen Landeshauptstädte, versuchen seit kurzem auch Mittelstädte diese Art der kompetenten Entscheidungsfindung zu nützen.

Freilich: Weil adäquat besetzte Fachbeiräte höhere Ansprüche stellen, als die lokale „Gemütlichkeit“ bisher zuließ, werden sie von einheimischer Seite gern ins Visier genommen. Doch gerade aus demokratiepolitischen Gründen wird darauf geachtet, daß die Fachbeiratsmitglieder nicht aus derselben Stadt kommen und in der fraglichen Zeit dort auch keine Bauaufträge bearbeiten.

Aber demokratische Verfahren kosten etwas. Die qualifizierten Köpfe eines Fachbeirats oder einer Jury konnten ihre Fachkompetenz nicht in der Shopping City Süd billig einkaufen. Polemische Anwürfe seitens der freiheitlichen Kulturkämpfer gegen „Experten aus Wien“ und unterschwellige Akademikerfeindlichkeit verweisen auf einen Konflikt, der mit zunehmender Urbanisierung auch der Landstädte neuerlich aufbricht: Architektur entspringt urbaner, ja großstädtischer Kultur. Deswegen ist das traditionelle Bauen nicht etwa „primitiv“, aber der direkte Zugang ist heute versperrt, weil der Weg der Erkenntnis nicht rückwärts gegangen werden kann.

Was in Krems zutage tritt, ist eine Neuauflage des Stadt-Land-Konflikts, bei dem sich die Verteidiger eines angeblich harmonischen Stadtbildes in ihrer ahistorischen und provinziellen Haltung sonnen. Eine barocke Fassade neben einer gotisch bestimmten wirkt nur scheinbar harmonisch, weil der Alterswert und die Gewöhnung der Einheimischen die strukturellen Unterschiede übertünchen. Erst wenn diese beiden Faktoren analytisch ausgeklammert werden, kann man zur städtebaulich-architektonischen Qualität vordringen, die damit diskutierbar und vergleichbar wird. Dann wird man auch merken, daß entwicklungsbedingte Brüche das Stadtbild erst interessant machen.

Hat man dagegen je gehört, daß sich „(Volks-)Bewegungen“ gegen das jeweils neueste Design der Automobile richten? Daß Autos zum Schutz des „harmonischen“ Bildes nach Jahrgängen oder Farben zu parken seien? Es zeigt sich, daß die „Kulturkämpfer“ sektoriell blind sind, daß sie willkürlich den anspruchsvollen Bereich der Architektur als Feld für unsachlich geführte Auseinandersetzungen gewählt haben, weil sie sich davon wahltaktische Vorteile erhoffen. Die Relativierung des Gegensatzes Stadt – Land durch die Omnipräsenz elektronischer Medien kann durch populistische Angriffe auf zeitgenössische Bauwerke nicht rückgängig gemacht werden. Auch wenn man die Gründe für die Verunsicherung anerkennt, der Weg kann nur über die Aneignung von Kompetenz führen. Diesem Zweck dient die auch in Niederösterreich in Gang gekommene Vermittlungsarbeit in Sachen Architekturkultur.

Die Auseinandersetzung mit Architektur erfordert ein genaues, lang geübtes Hinschauen. Wenn das Auge „sich beleidigt fühlt“, weil das Gehirn nicht auf dem heute möglichen Erkenntnisstand bezüglich Architektur angelangt ist, muß nicht unbedingt das anvisierte Gebäude daran schuld sein.

Das in den vergangenen zwei Jahrzehnten in Österreich erreichte Niveau in der Architektur hat kürzlich im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt die gebührende Anerkennung gefunden. Mit dabei war neben anderen Bauwerken auch die „Kunst.Halle.Krems“. Eine kleinkrämerische Attacke auf diesen Erfolg aus der Froschperspektive des synthetischen Dorfes, verstärkt mit dem Zuckerguß der „Heile-Welt-Ideologie“, zeugt von einem vorsätzlich eingeschränkten Horizont. Diese Art der Polemik ist einer spannungsvollen Kulturentwicklung kaum förderlich.

Spectrum, Sa., 1995.12.09

28. Oktober 1995Walter Zschokke
Spectrum

Alle Zeiten im Gespräch

Ein über Jahrhunderte gewachsenes Gebäudekonglomerat in Waidhofen an der Ybbs wird seit mehr als 70 Jahren als Rathaus genutzt. Architekt Ernst Beneder hat es für unsere Zeit neu interpretiert und adaptiert.

Ein über Jahrhunderte gewachsenes Gebäudekonglomerat in Waidhofen an der Ybbs wird seit mehr als 70 Jahren als Rathaus genutzt. Architekt Ernst Beneder hat es für unsere Zeit neu interpretiert und adaptiert.

Waidhofen an der Ybbs: mittelalterliche Stadtstruktur, die von mehreren Erweiterungen zeugt. Zwei langgezogene Plätze – der Obere und der Untere Stadtplatz – liegen parallel, verbunden durch die breite Gasse des Fischmarkts, sodaß die öffentlichen Räume ein H bilden. Am oberen Abschluß des Fischmarkts steht der hohe Stadtturm, ehemals Teil des ältesten Befestigungsgürtels, der nun, mitten in der Altstadt, als Gelenk zwischen Fischmarkt und Oberem Stadtplatz wirkt.

Ein erstes, mit einer „Reiche“ an den Turm anschließendes Haus wirkte im 14. Jahrhundert wohl recht stattlich, mit den drei breiten Fensterachsen, im Erdgeschoß einer überwölbten Halle und darüber einem Saal mit geschnitzter Tramdecke. Dahinter ein Zwischentrakt, anfangs vielleicht einmal Hof oder „Stiegenhaus“, und anschließend ein Hinterhaus. Man findet diese Typologie in den meisten mittelalterlichen Stadtgrundrissen Mitteleuropas, wo auf schmalen gotischen Parzellen jeweils Vorder- und Hinterhaus stehen, mit einem Hof und dem Stiegenaufgang dazwischen.

An den beiden Häusern vorbei führte ein Durchgang in den dahinterliegenden Wirtschaftshof. Neben dem Durchgang, der mit kleinen Wagen und Pferden wohl auch durchfahren werden konnte, schloß ein zweites, etwas bescheideneres und daher schmäleres Haus von ähnlicher Struktur an: Vorder- und Hinterhaus, dazwischen ein enger Hof mit Treppe. Heute werden das breite und das schmale Haus von einem einzigen großen, giebelständigen Dach überdeckt. Sie bilden zusammen das nunmehrige Rathaus. Die Rückfassade zum Wirtschaftshof, nach Südwesten gerichtet, besaß seit gotischer Zeit eine Arkadenreihe mit Loggien.

Der Wirtschaftshof erhielt später einen Seitenflügel mit kappenüberwölbten Stallungen. Keine Frage, daß alle paar Jahrzehnte, bis in die neueste Zeit, immer wieder etwas um- und angebaut wurde. Gleichsam als Krönung wurde den beiden Hinterhäusern im frühen 19. Jahrhundert als zweites Obergeschoß ein querliegender Theatersaal mit lauschigen Seitenlogen aufgesattelt.

Die beiden gotischen Häuser dienten anfangs als bürgerliche Wohnhäuser und offenbar als Weinschank. Zuletzt war das kaum mehr zu entwirrende Konglomerat das Gasthaus „Zum roten Krebs“. Ab 1922 erfolgte die Umnutzung zum Rathaus. 1941/42 wurde der Wirtschaftshof in schwerfälligem Stil zu einem mehrgeschoßigen Arkadenhof ausgebaut. Natürlich wurden auch die Fassaden ohne Ansehen der dahinterliegenden Räume „gleichgeschaltet“, sodaß Fensterbrüstungen plötzlich sehr hoch oder sehr niedrig liegen, weil sich hinter der regulierten Fassade noch immer Hausteile aus verschiedenen Zeiten und mit wechselnden Bauhöhen befinden. In den fünfziger Jahren erfolgte dann eine weitere Aufstockung der westlichen Gebäudeflügel um den ehemaligen Wirtschaftshof.

Ernst Beneder, in Waidhofen aufgewachsen, in Fachkreisen bekannt durch seine klaren Neubauten und einen subtilen Turmaufbau, hatte bei dem Wettbewerb für ein Sanierungskonzept des Rathauskomplexes die Formulierung vom „offenen Rathaus“ gewählt, eine, wie er schreibt, „doppelte Herausforderung und mehr als eine sprachliche und architektonische Metapher. Einerseits im Sinne eines offenen, ,geöffneten', einladenden Hauses, andererseits erfordert gerade das ,offene' Gespräch mit dem Amt auch eine bauliche Zone der Vertrautheit und Diskretion.“

Nach dem ersten Preis im Wettbewerb fing die Arbeit erst richtig an. Der Schwierigkeiten waren viele: Da war die völlig verbaute und überalterte Bausubstanz; da war ein Gebäudekomplex, der nicht als Rathaus gebaut, sondern nur als solches genutzt wurde. Obwohl kein Repräsentationsgebäude, enthielt es mehrere große, attraktive und schützenswerte Räume, aber die Struktur war unklar geworden und da und dort von Engpässen und funktionalen Pfropfen durchsetzt. Zusammen mit seiner Mitarbeiterin Anja Fischer machte sich Ernst Beneder an die Arbeit; die letzten Monate, wie bei einer derart komplexen Aufgabe nicht verwunderlich, waren sie die meiste Zeit auf der Baustelle.

Von außen sieht man dem Gebäude nichts an. Im Inneren jedoch mußten unendlich viele kleinkrämerische Einbauten entfernt werden, um dem Konzept „offenes Rathaus“ Raum zu schaffen. Zu den strukturell wesentlichen neuen Elemente zählt ein Lift, der im ehemaligen Hof des schmäleren Hausteils steht und bis ins Dachgeschoß reicht. Er greift zwischen die beiden

Hauptträger eines räumlichen Fachwerks, das wie eine Brücke im dritten Obergeschoß, quer, wie der alte Theatersaal, von Feuermauer zu Feuermauer gespannt ist. &&gDieses trägt und enthält das neuerrichtete Dachgeschoß, mußte aber bis in die Fundamente auf neuen Betonscheiben abgestützt werden. Das Tragwerk selbst ist aus schichtverleimtem Fichtenholz, dimensioniert auf Abbrand, und kann daher sichtbar bleiben. Holz war aus Gründen der Materialkontinuität erwünscht.

Ein weiteres wesentliches neues Element ist ein gläsernes Pultdach über dem Arkadenhof im hinteren Gebäudebereich. Es liegt eingetieft und nach Norden geneigt, sodaß es weder von den nahen Höhen eingesehen werden kann, noch als unerwünschte Sonnenfalle wirkt.

Schier unlösbar schien das Problem der Treppen. Eine enge, abgewinkelte Mauerstiege führte vom Erdgeschoßdurchgang ins erste Obergeschoß; dort ging es im anderen Hausteil spiegelgleich weiter und wieder abgewinkelt zum aufgesattelten Theatersaal hinauf. Offenbar ist nie etwas passiert, und zu keiner Zeit mußten sich Menschen in Panik durch diesen engen Stiegenschlauch drängen.

Hier reagierte Beneder mit einem Befreiungsschlag. Er brach das Deckengewölbe über dem hinteren Teil des Durchganges weg und legte einen geraden Treppenlauf, leicht aus der Gangachse ausscherend, in den Raum. Wenn man vom Haupteingang am Oberen Stadtplatz kommt – in unserer Schnittperspektive von links –, laden die ersten Stufen freundlich zum Hinaufsteigen ein.

Oben führt ein schmaler Steg wieder zurück, dann dreht die Richtung um 90 Grad, damit man am Saal vorbeikommt. Neben dem Steg und den Stiegenläufen bleiben lange Lichtschlitze offen, und nach oben weitet sich der Raum bis zu dem oberseitig verglasten Raumfachwerk des Dachträgers. Damit gelingt es, Licht auch in diesen engen ehemaligen Hofbereich zu holen. In Schrägsicht ergeben sich gewagte Durchblicke, die zum Tageslicht greifen. Die konsequente Verwendung von Glas für die Geländer ermöglicht eine hohe Transparenz, sodaß die ehemals düster-gedrückte und bescheidene Stimmung im Hausgang einer luftigen Hallenatmosphäre gewichen ist.

Auch im hinteren Bereich war ein Treppenlauf aus dem Erdgeschoß hinauf neu anzulegen, denn die zweiläufige Stiege aus den fünfziger Jahren begann erst im ersten Stock. Nachdem die Erschließung geklärt war, ging es um die Optimierung der durchaus vorhandenen repräsentativen Räumlichkeiten, wobei die Nutzfläche nahezu verdoppelt werden konnte. Die gewölbte Halle im Erdgeschoß des größeren Vorderhausteils wurde zum Trauungssaal. Obwohl die Formensprache der Möbel zeitgemäß ist, bleibt durch die Anordnung der Bänke vor den Fenstern und in seitlichen Nischen ein Rest der Raumstimmung gewahrt, wie sie im Gasthaus früher einmal bestanden haben mag.

Darüber liegt der Saal mit der geschnitzten Tramdecke. Die Entfernung einer Zwischenwand erlaubt wieder den Blick auf den dreiteiligen Plafond, ein gediegener Sitzungssaal ist entstanden.

In einem anschließenden, tonnenüberwölbten kleinen Raum legten Restauratoren ein Fresko frei, auf dem für Kenner der örtlichen Verhältnisse Waidhofen im 16. Jahrhundert deutlich zu erkennen ist.

Der große Sitzungssaal fand im zweiten Obergeschoß, im ehemaligen Theatersaal, Platz, dessen biedermeierliche Stimmung gewahrt wurde. Der rückwärtige Teil um den arkadierten Lichthof weist zahlreiche schöne, helle Büroräumlichkeiten auf. Im Erdgeschoß findet man den Bürgerservice und die Information – dort sind daher die meisten Besucherbewegungen zu erwarten. Je höher man hinaufsteigt, desto heller und luftiger wird die Raumstimmung, und durch das Lichthofdach blickt der Helm des Stadtturms grüßend herein.

Über dem großen Sitzungssaal, unter dem hohen, querstehenden Walmdach, konnte noch ein Mehrzwecksaal eingerichtet werden. Aus dieser Höhe bieten sich durch die Gaupen in Schrägsicht schöne Ausblicke auf die Dächer der Bürgerhäuser, auf die nahen, grünen Talflanken und natürlich auf die Türme naher Kirchen; nicht weit entfernt erkennt man auch den vor ein paar Jahren durch Ernst Beneder ausgebauten Turmsockel.
Die Möblierung ist zeitgenössisch; viel helles Birkensperrholz wurde verwendet. Leichte Trennwände kamen von der Stange aus dem nahen bene -Werk. Andere sind als verschiebbare Gestelle ausgebildet und sichern Flexibilität.

Es war sehr viel an dienender, unspektakulärer, aber dennoch anspruchsvoller Architektenarbeit zu leisten. Auf allen Ebenen hat Ernst Beneder Augenmaß bewiesen und Angemessenheit bewahrt. Er hat sich nicht unnötig in Szene gesetzt. Trotzdem hat er sich nicht verleugnen müssen. Daß die Kosten im Rahmen geblieben sind, paßt gut dazu.

Insgesamt hat eine Transmutation stattgefunden: Die Stimmung ist rundum zeitgenössisch, bleibt aber mit jeder vertretenen Epoche der Vergangenheit im Gespräch.

Spectrum, Sa., 1995.10.28



verknüpfte Bauwerke
Rathaus Waidhofen - Umbau

14. Oktober 1995Walter Zschokke
Spectrum

Köpfe, Bauten, Bild und Ton

Als Giorgio Vasari 1550 die erste Auflage seiner Lebensbeschreibungen von Künstlern der Renaissance herausgab, war der Buchdruck knappe 100 Jahre alt....

Als Giorgio Vasari 1550 die erste Auflage seiner Lebensbeschreibungen von Künstlern der Renaissance herausgab, war der Buchdruck knappe 100 Jahre alt....

Als Giorgio Vasari 1550 die erste Auflage seiner Lebensbeschreibungen von Künstlern der Renaissance herausgab, war der Buchdruck knappe 100 Jahre alt. Eine zweite, stark erweiterte Ausgabe folgte 1568. Vasaris Medium war die Sprache in Schriftform, sein Kanal war das Buch. Abbildungen waren darin wegen der hohen reproduktionstechnischen Hürden keine enthalten. Die Kenntnis der Werke der Renaissance wurde beim Leser vorausgesetzt. Die Schrift hatte eindeutig Vorrang. Ob es sich dabei um Literatur handelt, dürfen wir in Zweifel ziehen. Das Werk ist vielmehr als Sachbuch einzustufen, wurde aber nichtsdestoweniger in den vier Jahrhunderten seit seinem Erscheinen zu einem Bestseller. Soweit die Alten.

Der Aderlaß, den die österreichische Architektur der Moderne in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts als Folge erzwungener Emigration erleiden mußte, hat sich bis weit in die fünfziger und sechziger Jahre hinein ausgewirkt. Die Ausstellung „Visionäre & Vertriebene“, erarbeitet von Matthias Boeckl, Otto Kapfinger und Adolph Stiller, die im Frühjahr in der Wiener Kunsthalle zu sehen war, hat das Ausmaß des Verlustes aufgezeigt und die Qualität der exilierten Fachleute belegt. Auch wenn einige – wie Rudolf M. Schindler, Richard Neutra oder Friedrich Kiesler – schon vor 1930 die mitteleuropäische Enge mit den weiträumigen USA vertauscht hatten, lag das Schwergewicht der Ausstellung doch bei jenen Architekten, die in den späten dreißiger Jahren das angeschlossene Österreich verlassen mußten. Bekannte Namen wie Felix Augenfeld, Josef Frank, Viktor Gruen, Bernard Rudofsky und Oskar Wlach gehören zu dieser Gruppe.

Es handelt sich bei dieser Phase österreichischer Kulturgeschichte um äußerst komplexe Inhalte: politische Geschichte, Lebenswege und die Werke der Protagonisten. Gebautes und Projektiertes bilden ein dichtes Gewebe. Dazu kommt die bekannte Problematik des Architektur-Ausstellens, bei der mit Plänen, Photographien und Modellen weitere Medien beigezogen werden müssen, sodaß der Besucher in die Lage versetzt wird, sich das gebaute Original vorzustellen. Die Ausstellung erreichte ein außerordentlich hohes Niveau, das von einem Katalog nur teilweise konserviert und für die Nachwelt erhalten werden kann.

Schon in der Kunsthalle war daher eine Multimediaproduktion über die Biographien der wichtigsten Köpfe in der Ausstellung zu sehen gewesen. Nach weiterer Überarbeitung ist nun eine CD-ROM unter dem Titel „Visionäre im Exil“ für Macintosh oder für Windows erhältlich. Wer sich nun vor das Bildschirmfenster begibt, kann durch dieses in ein unübersehbares Labyrinth aufbereiteter Fakten, Bilder und Texte hineinsteigen. Erst nach mehrmaligem Durchstreifen und nach einigen verklickten Stunden werden einem die Dimensionen gegenwärtig. In jedem Fall hat man sehr viel erfahren, Quervermerke registrieren und vor allem nach Lust und Interesse dieser oder jener Spur nachgehen und so ein eigenes Wegsystem durch den Materialberg legen können, sodaß ein zufriedenes Forschergefühl aufkommt: Man sucht, vermutet, stößt auf neue Fakten und auf spezielle Formen der Präsentation. Dabei überlagern sich Geschriebenes, Gesprochenes, Bilder, Pläne und dazupassende Musik.

Wenn man etwas Bestimmtes sucht, gibt es Register für Historie, Namen und Bauwerke. Gleich einem imaginären Gebäude, einem Gedankengebäude eben, läßt sich in der Multimediaproduktion herumspazieren, Wiederholungen und Schlaufen oder Abkürzungen und direkte Wege sind nebeneinander möglich. Man kann beliebig auswählen und ist nach fünf Minuten mit den meisten Interaktionsregeln vertraut, sodaß die Inhalte hinter der Programmstruktur greifbar werden.

Das anspruchsvolle und komplexe Thema aufzuarbeiten und multimedial umzusetzen war eine Riesenarbeit. Die eingangs genannte Forschergruppe Boeckl, Kapfinger, Stiller lieferte Inhalte, die Umsetzung wurde von einem jungen Team, das sich in der Firma „Science Wonder Productions“ zusammengeschlossen hat, in vielen und langen Wochen erarbeitet. Michael Perin-Wogenburg, Wolfgang Oblasser und Stefanie Sachweh sind alle unter 30 Jahre jung und kommen von anderen Fachgebieten als der Architektur oder der Informatik. Insofern sind sie „Wilde“, engagierte Autodidakten, die sich über verschiedene Projekte in die Welt der Multimediaproduktion eingearbeitet haben. Perin-Wogenburg kommt von der Malerei her, Oblasser studierte Japanologie und Ethnologie, Stefanie Sachweh schloß die Meisterklasse für Modedesign ab.

Diese Mischung garantierte eine interessante und formal anspruchsvolle gestalterische Umsetzung. Neben der Programmierarbeit und der Digitalisierung von Bild und Ton benötigte das Team auch Sprecher für die Texte, die in ihrer kompakten Form nur von einem Formulierer vom Format eines Otto Kapfinger zu bewältigen waren. Weitere Bildquellen mußten erschlossen, die Rechte gesichert werden, und es galt, passende Begleitmusik zu finden.

Dabei zeigt es sich, daß das Bemühen um individuelle Darstellung der jeweiligen Lebensläufe es absolut verbietet, mit Klischees zu arbeiten, weil dies beim mehrmaligen Durchgehen für die Benützer rasch ärgerlich würde. Die umfangreiche Arbeit ist zu vergleichen mit dem Aufwand für einen Film oder für eine Theaterinszenierung. Jeder Vergleich und jedes Beispiel, das man erwähnen will, verlangen nach einem Bild und einem erklärenden Text. Bei der Fülle des Materials gerät man auch bald einmal an die Grenzen des Speichermediums. Man muß auswählen, kürzen und verknappen, darf aber nicht flach werden, sondern muß dicht bleiben, denn der Benützer will nicht belehrt, sondern informiert und unterhalten werden.

Damit ist die Multimediaproduktion auf CD-ROM viel mehr als ein Sachbuch im Sinne der eingangs genannten Viten von Vasari. Es handelt sich um eine neue Medienkategorie, deren Qualitätskriterien noch in Entwicklung begriffen sind. Doch läßt sich jetzt schon sagen, daß sehr viel hochqualifizierte Arbeit hineingesteckt werden muß. Obwohl der Benützer frei im Labyrinth vernetzter Fakten herumspazieren kann, muß eine Art Regie dafür sorgen, daß Rhythmus und Abläufe ihren spezifischen Charakter erhalten, daß Brüche oder gleitende Übergänge aus inhaltlichen Gründen erfolgen und nicht wegen Wechseln in der Bearbeitergruppe. Daß solcher Aufwand kostet, wird jedem klar. Der silbern glänzenden CD-Scheibe ist dies nicht anzusehen.

Es wird jeweils genau zu überlegen sein, ob ein Stoff für die Umsetzung in eine Multimediaproduktion geeignet ist und ob genügend Material für eine audiovisuelle Umsetzung vorliegt. Man würde einem Bild anmerken, daß es nicht das richtige ist, daß es nur als Platzhalter dient für ein anderes, das nicht ausgeforscht werden konnte. Nichts ist peinlicher als leeres Gerede, weil der Texter den Sachverhalt nicht begriffen hat oder unfähig war, die Inhalte auf die nötige Knappheit zu verdichten. Ärgerlich, wenn Musik zum lästigen Gedudel wird, das man gern ausblenden möchte.

Gemessen an diesen drohenden Klippen und Untiefen ist das wissenschaftlich von Otto Kapfinger angeleitete Team Perin-Wogenburg – Oblasser – Sachweh von „Science Wonder Productions“, unterstützt von zahlreichen Mitarbeitern und Helfern, sehr tief in das Gebiet der neuen Kommunikationsform vorgedrungen, hat ein erstaunlich reifes Produkt erzeugt und eine Qualitätsmarke vorgegeben.

Wenn jetzt die CD-ROM „Visionäre im Exil“ an der Buchmesse in Frankfurt auf den Markt kommt, stellt sich sofort die Frage, ob diese neue Form das Buch, zuvorderst das Sachbuch, ersetzen wird. Natürlich nicht, es scheint einer der Grundirrtümer der linearen Fortschrittsideologie des 20. Jahrhunderts zu sein, daß das Neue das Bestehende restlos verdrängen wird. So behauptete Richard Buckminster Fuller, das Flugzeug habe die Eisenbahn aus dem Feld geschlagen und die Rakete würde das Flugzeug ersetzen, was Unsinn ist. Warum holt man die Zigaretten in der Trafik ums Eck immer noch zu Fuß, warum rentiert die Eisenbahn auf den Hauptstrecken, und wie bitte ist der Fahrradboom des letzten Jahrzehnts zu erklären?

Der Lauf der kulturellen und technischen Entwicklungen ist unstetiger, komplexer, widersprüchlicher und mehrspuriger, als selbst eine Multimediaproduktion es widerzuspiegeln vermag. Doch für das Verständnis und die Vermittlung dieser mehrdeutigen Vorgänge, der Ungleichzeitigkeiten und Unstetigkeiten scheint das Multimediale das geeignete Mittel, das zusätzlich zum bisherigen Instrumentarium genutzt werden kann. Es ist das mehrfach wirksame Gegenmittel gegen Simplifizierer, eindimensional denkende Sturschädel und gleichschalterische Demagogen. Denn bei intelligenter Bearbeitung bietet es Wahlfreiheit und beliebige Vertiefungsmöglichkeiten.

Und es wird auf der Produzentenseite selektierend wirken. Nur wer die komplexe Klaviatur mehrerer Medien beherrscht, kann Spielmacher werden; die andern werden scheitern. Damit wird eine breite Bildung erforderlich – in sprachlichen, bildnerischen und technisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen. Selbst wenn im Team gearbeitet wird, wachsen die Anforderungen an den einzelnen. So kann der flache Bildschirm zum Fenster werden in eine anspruchsvolle und spannende Zukunft kultureller Erkenntnis- und Vermittlungstätigkeit.

Spectrum, Sa., 1995.10.14

01. Oktober 1995Walter Zschokke
newroom

Bauen in der Landschaft

In seiner Wiener Zeit an der Architekturabteilung der k.u.k. Kunstgewerbeschule, der heutigen Hochschule für angewandte Kunst, entwarf Heinrich Tessenow...

In seiner Wiener Zeit an der Architekturabteilung der k.u.k. Kunstgewerbeschule, der heutigen Hochschule für angewandte Kunst, entwarf Heinrich Tessenow...

In seiner Wiener Zeit an der Architekturabteilung der k.u.k. Kunstgewerbeschule, der heutigen Hochschule für angewandte Kunst, entwarf Heinrich Tessenow (1870-1950) ein Wohnhaus für Friedrich Böhler, den kunstbeflissenen Sproß einer Wiener Industriellenfamilie. Das 1916-17 in Oberalpina bei St. Moritz errichtete Gebäude wurde vor wenigen Jahren zerstört, als Opfer seines letzten Eigentümers, dessen Architekten und einer desinteressierten Bevölkerung.

In der noch weitgehend alpwirtschaftlich genutzten Landschaft bildete das Haus eine Setzung abseits der ersten touristisch entwickelten Siedlungen. Kräftige, polygonal abgewinkelte Mauern unter einem die Hangneigung paraphrasierenden Schindeldach umfaßten einen rational kreuzförmig organisierten Grundriß. Stolz und unnahbar, wie eine der zahlreichen Burganlagen im alpinen Raum, saß das Bauwerk im Hang, ein schutzbietender Rückzugsort, dessen Terrasse auf einer Stützmauer hoch über der Alpwiese ansetzte. Ein Pionierbau, dazu ausersehen Wind und Wetter zu trotzen. Obwohl aus dem norddeutschen Flachland stammend, hat Tessenow dem damaligen Verständnis für ein Bauen in naturnaher alpiner Landschaft sprechende Form verliehen.

Anfang der dreißiger Jahre, als die Wintersport- und Wanderbewegung den Ober- und Mittelschichten ein Naheverhältnis zu Landschaft und Topographie ermöglicht hatte, fiel das Trotzige weg. Sowohl Lois Welzenbacher (1889-1955), der seine Lehrjahre bei Theodor Fischer in München genutzt hatte, als auch Ernst Anton Plischke (1903-92) treten in ihren Bauten mit der Geländemodulation und der Umgebung wesentlich stärker in Beziehung.

Das Haus Heyrovsky bei Zell am See, von Lois Welzenbacher 1932 erbaut, strebt mit seiner rund geschwungenen Front aus dem steilen Wiesenbord; im unteren Geschoß öffnen sich die Wohnräume auf eine kleine Terrasse, die alsbald in die Wiese übergeht. Der schlanke Balkon im Obergeschoß zieht sich um die Hauptfront, bis er auf den gewachsenen Boden trifft, von dem aus er auch betreten werden kann, so daß eine enge funktionelle Beziehung zur nahen Almwiese möglich wird. Von jedem der Zimmer bietet sich wegen der Fassadenkrümmung ein anderer Fensterblick, womit der prächtigen Aussicht über den See und auf die dahinter aufsteigenden Berge Rechnung getragen wird.

Ähnlich verhält es sich mit dem Haus am Attersee, das Plischke 1933 errichtete. In der etwas sanfteren Topographie bot sich eine Hügelkuppe als Bauplatz an, auf der das leichte, von Plischkes Amerikaerfahrung zeugende Holzskelett punktuell abgestützt ist. Die Flanken des Gebäudes schwenken, den Höhenlinien folgend, in stumpfen Winkeln nach hinten. Eine dünne Dachplatte wird von schlanken Rundstützen getragen und beschirmt das wie daruntergeschoben wirkende Volumen der Wohnräume, die von einem durchgehenden Bandfenster zusammengefaßt werden. Die Heuwiese tritt unmittelbar an das Gebäude heran, von den Wohnräumen führen Türen direkt ins Freie.

Hinter diesen beiden Bauwerken steht das Ideal einer neu gewonnenen Naturverbundenheit; abgehobener Stolz wird ersetzt durch Lebensfreude, und das Schutzbedürfnis weicht einer selbstbewußten Weltoffenheit. Die moderne, zeitgemäße Luftigkeit und Leichtigkeit wird unterstützt durch die Verwendung des Baustoffs Holz, der zwar als traditionell ländliches und naturverbundenes Material gilt, durch die dematerialisierende Wirkung der weißen Farbe jedoch relativiert und nurmehr in der Struktur betont wird. Das „Bauen in der Landschaft“, das weiterhin als primäre bauliche Setzung in einer von landwirtschaftlicher Tätigkeit geprägten Umgebung verstanden wird, verzichtet auf heroische Gebärden; die Natur erscheint nicht mehr ganz so wild, daß sie „bezwungen“ oder „beherrscht“ werden müßte. Selbst in prächtiger, aussichtsreicher Lage drängt sich die Architektur nicht in den Vordergrund, sondern wirkt gleichsam beiläufig. Innerarchitektonische Fragen haben Vorrang: das Verhältnis von Dach zu Volumen, von Öffnung zu Wand, von innen nach außen. Zugleich wird das Einfangen der Aussicht zum wesentlichen Thema; um diesen Zweck zu erfüllen, wird das Gebäude fast zum dienenden Gerät. Der Umraum wird bildhaft in die Zimmer des Hauses hereingeholt. Das Vorgehen tendiert dabei zum Aufheben des Gegensatzes innen - außen. Die Blicke aus den Fenstertüren, die ein Segment der Aussicht rahmen, werden zu Vorstufen des Rundblicks vom Balkon oder von der Terrasse, wo das gesamte Landschaftspanorama zur Verfügung steht.

Im August 1935 erfolgte die Fertigstellung der Großglockner Hochalpenstraße, geplant und errichtet unter der Leitung des Bauingenieurs Franz Wallack (1887-1966). Die großzügige Linienführung verzichtet auf die sonst zahlreichen, dicht gesetzten und engen Kehren, so daß die Fahrt sich flüssiger entwickeln kann und die Beziehung der Fahrzeuginsassen zur umgebenden Bergwelt sich geruhsamer gestaltet. Die ursprüngliche Schotterstraße wies bergseits eine flache, mit Steinplatten ausgekleidete Rinne auf, talseits begleiteten schräggestellte Wehrsteine den Straßenrand, der fast gleitend in den Moränenschotter überging. Der Bewuchs der anschließenden Almwiesen wurde intensiv gepflegt, so daß die Alpenflora in Straßennähe besonders gut zur Geltung kam. Im Zuge der vermehrten Automobilisierung, der Asphaltierung und der Begrenzung des Straßenrandes mit Leitplanken ist die ursprüngliche Konzeption des sanften Übergangs härter geworden. Der spezifische Charakter der kontinuierlichen Linienführung mit insgesamt nur 27 Kehren, der die Glocknerstraße von anderen Alpenpaßstraßen unterscheidet, wird in Motorradfahrerkreisen jedoch bis heute geschätzt.

Nach der kriegsbedingten Unterbrechung und der Wiederaufbauzeit dauerte es noch einige Jahre, bis auch die Architekturkultur wieder begann, sich in die Breite zu entwickeln. Mit der spürbar werdenden Zersiedelung veränderte sich die Haltung der engagierten Architekten, sie bemühten sich um stärkere Zurückhaltung, wenn sie für die freie Landschaft entwarfen. Bei seinem Projekt für ein Wohnhaus in St. Margarethen im Burgenland, das 1969 fertiggestellt wurde, nahm Roland Rainer (*1910) materialmäßig und strukturell Bezug auf die umgebende Landschaft. Die Steine für die Mauern des lagerhaft konzipierten Hauses stammen aus dem nahen Steinbruch, und da und dort stößt dasselbe Material auch durch die dünne Vegetationsschicht. Von weitem sieht die Anlage aus wie eine lokale Verdichtung von Weinbergmauern. Nur die Vertikale des Kamins signalisiert den Herd und damit die Behausung. Aus der Nähe stellt man fest, daß die Mauern kräftige, horizontale Dächer aus Stahlbeton tragen. Den geschlossenen Räumen sind mehrere hofartige Außenräume zugeordnet, die unterschiedlich stark definiert sind. Zahlreiche Maulbeer- und Mandelbäume umgürten das Gebäude mit einer weiteren Übergangszone. Damit wird die Wirkung der architektonischen Setzung noch weiter reduziert, als sie es aufgrund der Gliederung und der zurückhaltend-kargen Formensprache schon ist. Die Einbettung dieses Hauses in die Landschaft erfolgt über mehrere schleierartige Schichten, die seine Präsenz bereits auf kurze Distanz ausblenden, ähnlich der Wirkung der Hecke an Dornröschens Schloß.

In vergleichbarer Weise hat Ernst Hiesmayr (*1920) ein Wohnhaus in einen sanften Südhang der Wachau hineinkomponiert, das 1968 ausgeführt wurde. Die Rückseite ist vollständig eingegraben, nach vorn öffnen sich große Schiebefenster in eine hofartige Vorzone, die von niedrigen Anschüttungen flankiert wird. Über den einen dieser beiden Hügel zieht sich die Geländekontur hinauf bis zum flachen, grün bewachsenen Dach. Nur im Wohnraum, über dem runden Eßtisch wölbt sich die Decke nach oben und kulminiert in einer Lichtkuppel, die den darunterliegenden Bereich vor den anderen auszeichnet. Der Rückzug auf die Wohnhöhle, aus der nur ein paar wenige Fenster zwischen dem Bewuchs herausblinzeln, bezeichnet eine Haltung, die in der geschützten Landschaft ein Minimum an materieller Präsenz anstrebt, ohne dabei eine Einbuße an architektonischer Qualität zu erleiden. Die Formensprache bleibt nüchtern modern, für Gemütlichkeit sorgen die Bewohner selbst. Dieses Wohnhaus bezeichnet vielleicht einen Umkehrpunkt im Architekturgeschehen, denn das nächste Gebäude, das den Betrachter ob seiner Positionierung im Gelände faszinierte und rasch einen hohen Bekanntheitsgrad erlangte, war von ganz anderer Art.

Manfred Kovatsch (*1940) setzte den einfachen Holzbau für ein Sommerhaus giebelständig in eine steile Heuwiese hoch über dem Ossiacher See. 1975-77 errichtet, provozierte das helle Lärchenholz ein Jahr lang die Gemüter - bis es abgewittert war. Unter seinem schlanken, weit vorstehenden Satteldach scheint das Bauwerk fast aus dem Steilhang herauszuspringen. Als Steigerung bietet sich am äußersten Eck noch ein um 45° verdrehter, pavillonartiger Sitzplatz an. Die Neigung des Hanges wird im Innern des Gebäudes aufgenommen und über die Geschoße noch gesteigert. Von außen reicht die Heuwiese bis hart an die bretterverschalten Wände, und die seitlichen Zugangsmöglichkeiten sind bescheiden. Die Positionierung ist selbstbewußt und weit stärker wirksam als jene landwirtschaftlicher Gebäude, wird aber, wie bei diesen, durch das verwitterungsfreundliche Material Holz in der Präsenz relativiert.

Mit dem Wiedererstarken der Rolle der Architektur in der Gesamtkultur stießen auch kleinere und größere Ingenieurbauwerke wieder auf vermehrte gestalterische Zuwendung. Die Erdefunkstelle Aflenz, die Gustav Peichl (*1928) in der Obersteiermark 1976-79 errichtete, ist grundsätzlich derselben Haltung verpflichtet, wie sie die Häuser Rainers und Hiesmayrs vertreten. Die wesentlich mächtigere Anlage entwickelt sich unter dem ausgedehnten Teppich der Almwiese, die da und dort eingeschnitten ist, wo Licht und Luft gewünscht sind. Die höhenversetzten Schnittränder werden dabei von weißen Mauern auseinandergehalten. Nur Stirnseiten sind sichtbar, die niedrigen Fassaden liegen oft hinter einer Stützenreihe im Schatten des Grasdachs. Einerseits gelingt es auf diese Weise, die Präsenz der Diensträumlichkeiten im dünnbebauten Hochtal fast auszublenden, andererseits erlangen die riesigen Schirmantennen, die als einzige - objekthaft wie Pilze - aus der Wiese herausragen, mehr autonome Wirkung. Was aus technischen Gründen über der Erde sein muß, wird stolz gezeigt, alles andere bleibt unter dem Wiesengrün verborgen.

Die gestalterische Komponente erhält sogar bei den scheinbar reinen Ingenieurwerken des Wasserbaus mehr Gewicht: Der Kulturtechniker und Architekt Max Rieder (*1957) errichtete 1991 hinter Grödig bei Salzburg in der Königseer Ache das Kleinkraftwerk „Hangenden Stein“, das die dort vorhandene Geländestufe nützt. Eine lange Mauer scheidet den Oberwasserkanal vom Altwasser. Die Aggregate der hydroelektrischen Anlage bilden zusammen mit den anderen Elementen des Werks eine plastische Installation im Flußbett. Natürlich sind sämtliche Teile ingenieurmäßig bestimmt, aber darüber hinaus sind vorhandene Freiheitsgrade für die räumliche Komposition genutzt. Die ganze Anlage tritt mit der Landschaft in Beziehung, wie dies bei großen Felsblöcken der Fall ist.

Die jüngste Gruppe von Bauwerken beginnt mit der unmittelbaren Umgebung ein intensives räumliches Dialogverhältnis, in dessen Folge das Gebäude sowohl seine Selbständigkeit bewahrt als auch in Teilen in die Landschaft übergeht und von deren Elementen mitbestimmt wird.

In eine Waldlichtung bei Wiener Neustadt hat Rudolf Prohazka (*1947) ein 1993 fertiggestelltes Haus hineinkomponiert. Den Kern eines Vorgängerbaus, eine alte Holzhütte, integrierte er in den Neubau. Ebenso fanden die in Naturstein gemauerten Elemente wie Kamin und Stützmauern weitere Verwendung. Die Schlafräume sind als weiße, weitgehend geschlossene Volumen konzipiert, dazwischen grenzen Glaswände die Wohnräume klimatisch vom Umraum ab. Von der Waldwiese führt eine Treppe auf das begehbare Dach, das somit Teil der lokalen Topographie wird, von der der Blick durch die benachbarten Hochstämme in die nahen Baumkronen hinausgreift.

In einer Hanglage an der Südflanke eines waldreichen Tales hinter Klosterneuburg plante Franziska Ullmann (*1950) das Wohnhaus für eine Geschäftsfrau, das 1993 fertiggestellt wurde. Auf dem sockelartigen Untergeschoß mit der Breitseite zum Tal ist ein bergender Baukörper aufgelagert. Er deckt einen kleinen, offenen Vorbereich, eine „Winterterrasse“, die nach Süden orientiert ist und Ankommende freundlich empfängt. Hangseits hinter dem Haus liegt eine zweite Terrasse, die, privater und für die warme Jahreszeit gedacht, an den anderen drei Seiten von den Bäumen des nahen Waldes gefaßt wird. Der Wohnraum im Obergeschoß weist nach Süden, mit Blick zum dicht bewaldeten Gegenhang, ein überbreites Fenster auf, das fast den ganzen Wald und darüber noch einen Streifen Himmel einfängt. Der Rückzugs- und Ausblicksraum tritt nach außen als ordnender Baukörper auf, dessen Verhältnis zur Landschaft mehrdeutig ist und sich auf verschiedene Maßstabsebenen bezieht.

Mit dem 1994 errichteten Kleinhaus am Ufer eines Ausees bei Blindenmarkt/Niederösterreich treibt Ernst Beneder (*1958) den doppeldeutigen Landschaftsbezug ein Stück weiter. Ein einfacher quadrischer Baukörper balanciert landseitig auf einem Unterbau und kragt mit der Vorderseite über das Wasser aus. Die Lage des Bauwerks in der Gabelung einer den See begleitenden Straße ist präzis abgezirkelt und das Verhältnis zur nahen Vertikalen des Transformatorenturms ist bewußt einkalkuliert. So tritt das Bauwerk zum Umraum in ein dialogisches Verhältnis und bildet einen integrierenden Teil des gesamten Ambientes. Von innen wird der Blick dagegen von den geschlossenen Seitenwänden durch die raumhohen Glasschiebefenster über den See auf einen Ausschnitt des baumbestandenen gegenüberliegenden Ufers gelenkt. Diese Aussicht ist äußerst selektiv. Mit seiner starken räumlichen Definiertheit bietet das Haus ein hohes Maß an Geborgenheit.

Die mehrschichtige Kommunikation mit natürlichen und künstlichen Elementen der umgebenden Landschaft und mit einer raumbildenden und raumabstrahlenden Nachbarschaft erzeugt eine vielfältig vernetzte Situation. Sowohl Lage und Ausrichtung beziehen sich auf das Umfeld, unterstützt von sekundären Elementen. Klare, einfache Volumen ordnen die Außenräume. Die Aussicht bildet nur einen Teilaspekt, dem das Schutzbedürfnis zur Seite steht. Die Beziehung zur Landschaft erlangt den Charakter von Gesten. Damit werden beim architektonischen Ausdruck eine klare Aussage und eine präzise Wirkung mit ansprechender Offenheit verknüpft.

newroom, So., 1995.10.01

22. Juli 1995Walter Zschokke
Spectrum

Die Sechziger: War da was?

Klare Formen und die Verwendung von Stahlbeton kennzeichnen die Bauten der sechziger Jahre. In den Werken des Wiener Architekten Karl Mang zeigt sich der künstliche Stein mit Blähtonzuschlag von der freundlichen Seite.

Klare Formen und die Verwendung von Stahlbeton kennzeichnen die Bauten der sechziger Jahre. In den Werken des Wiener Architekten Karl Mang zeigt sich der künstliche Stein mit Blähtonzuschlag von der freundlichen Seite.

Die zeitliche Einteilung der Geschichte nach Jahrhunderten und Jahrzehnten ist ungenau und oft falsch, aber sie ist praktisch im Sinne einer vorläufigen Benennung. Zwar halten sich Epochen und Entwicklungsphasen nicht an runde Jahreszahlen, aber wenn man weiß, was darunter zu verstehen ist, bieten Jahrzehntbezeichnungen eine neutrale Chiffre für die grobe Strukturierung der jüngst zurückliegenden Kultur- und Kunstgeschichte.

Mit dem, was die fünfziger Jahre ausmachen könnten, hat man sich mittlerweile angefreundet. Das „Daisy-Service“ aus Lilienfelder Porzellan hat seinen festen Platz in zahlreichen privaten Sammlungen, und der Stadthallenstuhl von Roland Rainer findet wieder Produzenten und Abnehmer. Nun aber die sechziger Jahre, war da überhaupt etwas Nennenswertes los? Betrachten wir die Masse des Gebauten, so können wir feststellen, daß ein unbedarfter Bauwirtschaftsfunktionalismus vorherrscht, dessen Qualitätskriterien sich in einer vereinfachten, weil gewinnträchtigen baulichen Herstellung erschöpfen.

Wir treffen in dieser Zeit auf das Bauen mit vorgefertigten Elementen, vornehmlich aus Beton. Überhaupt fand dieses Material in den sechziger Jahren eine ungeheure Verbreitung, sodaß es den Menschen bald zuviel und der Beton zum Inbegriff des Unveränderlichen, zum Symbol einer fortschreitenden Naturzerstörung wurde. „Zubetonieren“ lautete ein vorwurfsvoll gemeintes Schlagwort, das aber bereits zu den siebziger Jahren gehört, denn die Sechziger waren noch unbedarft grenzenlos und hoffnungsfroh.

Für die sechziger Jahre steht beispielsweise die Kugelkopfschreibmaschine von IBM, ein technisches Wunderwerk, bei dem Typenwahl und Anschlag mit ein und demselben Teil erfolgte, eben jenem Kugelkopf, und das alles mit ungeheurer Genauigkeit und Schnelligkeit. Spätere Modelle trennten diesen Vorgang wieder. Der Typenradschreibmaschine fehlte allerdings das faszinierende Moment der Letternkugel. (Und wer redet heute noch von den Typenradschreibmaschinen, wo es Laserdrucker gibt!) Die sechziger Jahre dürften jedenfalls als die Kugelkopf-Zeit in die Geschichte eingehen, als Inbegriff eines Denkens, das die Probleme mit einer einfach wirkenden, technisch anspruchsvollen Lösung in einem einzigen Punkt fokussierte. So gesehen hätte dieser Zeitabschnitt 1969 mit der erstmaligen Landung von Menschen auf der Mondkugel bereits seine Erfüllung gefunden.

Aber, wird man sich fragen, was hat das alles mit Architektur zu tun? Spezifische Denkmuster treten in der Regel zeitgleich in allen gestalterischen Disziplinen auf. In der Architektur galt die Faszination klaren Formen wie Quadrat und Kreis oder Kugel, Buckminster Fuller und seine geodätische Kuppel für die Weltausstellung 1967 in Montreal gehören dazu, wobei die Großform der Kugel die komplizierte Detailkonstruktion überstrahlte.

Das Prinzip der Königsidee – der Lösung aus einem Punkt oder jener mit einem einzigen Material – scheint auch beim Material Beton beziehungsweise beim Verfahren Stahlbeton enthalten: Man baut eine Schalung, gibt die erforderliche Armierung hinein und gießt das Ganze aus. Fertig. So wurden zahlreiche Dutzendbauwerke errichtet, aber auch einige außerordentlich interessante, etwa das Seelsorgezentrum in Steyr-Ennsleiten der Arbeitsgruppe 4 (Wilhelm Holzbauer, Friedrich Kurrent und Johannes Spalt) und Johann Georg Gsteus, 1958 bis 1961, oder das Clima-Villenhotel in Wien-Nußdorf von Ernst Hiesmayr, 1966. Bei diesen beiden Projekten ging die Plastizität des Baumaterials vor dem Erhärten in der plastischen Wirkung des fertigen Bauwerks und seiner Teile auf.

Aber die einschichtige Betonwand hat bauphysikalisch betrachtet schwache Wärmedämmwerte und fühlt sich kalt an. Hier hat der Wiener Architekt Karl Mang zusammen mit seiner Partnerin, Eva Mang-Frimmel, Pionierarbeit geleistet, indem er zwei Bauwerke aus Leca-Beton errichtete: eines als Atelierkomplex für die oberösterreichische Künstlerin Lydia Roppolt, das andere für sich selbst. Bei dieser Bauweise wird dem Zement-Wasser-Gemisch – statt Kies und Sand – Blähton in verschiedenen Kornabstufungen beigemischt. Allerdings ist die Verarbeitung anspruchsvoll. Ist ein handwerklich perfekter Sichtbeton schon schwer zu bekommen, wächst bei Leca-Beton die Gefahr von Kiesnestern; und wenn zu lange verdichtet wurde, geht der Dämmeffekt verloren. Aber der Ertrag einer sorgfältigen Arbeit ist die einschichtige, Masse bedeutende Wand aus Beton mit klassischer Sichtbetonoberfläche, „frisch aus der Packung“, aber darüber hinaus wärmedämmend und oberflächenwarm.

Karl Mang ist der Architekturpublizistik nicht unbekannt. 1922 geboren, wurde sein Architekturstudium vom Krieg durchkreuzt. In dieser Zeit konnte er dennoch auf seinen Patrouillen mit Schiern in Finnland tiefe Landschaftserfahrungen sammeln. Es folgte eine schwere Verwundung. In der Genesungszeit belegte er ein Semester an der Technischen Hochschule Wien; schließlich mußte er noch einmal einrücken. Danach folgten das Studium und eine Assistentenzeit bei Friedrich Lehmann. Mang gehört daher nicht zur Holzmeister-Schule, die in Wien wesentlich wurde. Ein längerer Romaufenthalt mit kargem Stipendium ermöglichte ihm eine räumliche und inhaltliche Befreiung. Neben weiterer Lehrtätigkeit publizierte Karl Mang die Resultate seiner Forschungen in Buchform: „Die Geschichte des modernen Möbels“ und „Thonet Bugholzmöbel“.

Auf großes Interesse stieß die von Mang initiierte Ausstellung über die Shaker, die er zusammen mit Wend Fischer für die Neue Sammlung München erarbeitete und die an mehreren Orten gezeigt wurde, darunter auch im Centre Pompidou und in anderen renommierten Museen. Später war es die Ausstellung „1800 bis 1900 – Moderne Vergangenheit“, in der die Kontinuität einer einfachen und unaufgeregten Architektur für Europa nachgewiesen wird. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Shakerkultur und mit den einfachen Bauten bürgerlich-klassischer Tradition sowie Reiseerfahrungen in Japan ließen bei Karl Mang das Engagement für eine „Architektur der Stille“ heranwachsen.

Dafür sind die beiden Leca-Betonbauten ausgezeichnete Beispiele: Das Atelierhaus Lydia Roppolt entwickelt sich, ausgehend von einem ländlichen Haus aus der Zeit der Jahrhundertwende, den sanft abfallenden Wiesenrain hinunter. Als erstes liegt linker Hand in nächster Nähe das Volumen einer Garage, dann rechts ein zweites Volumen mit einem minimierten Wohnteil und als Abschluß ein drittes mit dem Atelierraum. Die Pultdächer auf den quadratischen Grundrissen steigen wechselnd von links und rechts zu Weg und Entwicklungsachse in der Mitte an. Der Boden des Ateliers liegt sechs Stufen tiefer, die gefühlsmäßige Beziehung des oberen Volumens setzt, ausgehend von der Augenhöhe eines Menschen, in der Hälfte des unteren, fast kubischen Volumens an. Man erhält daher zuerst einen Überblick, bevor man in den Hauptraum eintaucht.

Im Garten stehen die in den drei Jahrzehnten gewachsenen Bäume nahe an den klaren Baukörpern, der Rasengrund stößt an den Sichtbeton, der die Maserungen der Schalbretter zeigt. Er ist in bestem Zustand. Dieselbe Oberflächenqualität finden wir auch auf der Innenseite, natürliches Zementgrau dämpft das Licht wie in einer Natursteinhütte im Alpenraum. Der künstliche Stein spielt seine bergende Kraft aus, die Öffnungen wirken wie herausgeschnitten; präzis stellen sie mit Ausblicken die Beziehung zum Umraum her.

Es ist eine ruhige, eindeutige Architektur, die sich auf das theoretisch einfache Verfahren des Leca-Betons stützt. Wenige, unkomplizierte Details reichen aus; der künstliche Stein zeigt sich von der freundlichen Seite. Diese Art von Harmonie gehört noch in die Zeit vor der kritischen Schwelle 1968/1973, nach der die „grenzenlosen“ sechziger Jahre aus und vorbei waren.

Spectrum, Sa., 1995.07.22

03. Juni 1995Walter Zschokke
Spectrum

Schwimmen im täglichen Zeitstrom

Eine Stadt nimmt das Faktum, daß vor 50 Jahren ein verheerender Krieg zu Ende gegangen ist, zum Anlaß, diese fünf Jahrzehnte, konkreter: deren Alltag, unter die Lupe zu nehmen und noch einmal in die Auslage zu stellen.

Eine Stadt nimmt das Faktum, daß vor 50 Jahren ein verheerender Krieg zu Ende gegangen ist, zum Anlaß, diese fünf Jahrzehnte, konkreter: deren Alltag, unter die Lupe zu nehmen und noch einmal in die Auslage zu stellen.

Die Klarheit, mit der uns Fernand Braudel, der große französische Historiker, einen Sachverhalt erläutert, im Original zu genießen, rechtfertigt ein langes Zitat, denn wer hat das Vorwort zum ersten Band von Braudels Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts gelesen – und wer von denen, die es gelesen haben, hat es noch in Erinnerung?

„Alltag ist gleichbedeutend mit winzigen Fakten, die räumlich und zeitlich kaum ins Gewicht fallen. Je enger der Blickwinkel, desto besser die Aussicht, in den eigentlichen Bereich des materiellen Lebens vorzustoßen: Die großen Durchzieher informieren über den Fernhandel, über die Wirtschaftssysteme der Staaten und Städte. Engt man dagegen den beobachteten Zeitraum auf winzige Spannen ein, landet man entweder beim Ereignis oder beim Alltäglichen. Das Ereignis beansprucht für sich Einmaligkeit, das Alltägliche wiederholt sich und wird durch die Wiederholung zum Allgemeingültigen oder, richtiger, zur Struktur.“

Soweit Braudel. Dieser Alltag ist nun Gegenstand einer Ausstellung in Villach, die unter dem Titel „Zeitspirale – Alltagskultur in Villach“ die ehemaligen Gebäude der Oberkärntner Molkerei vor dem geplanten Abbruch noch einmal nutzt und bis 30. Juni zum Besuchen einlädt.

Alltag, das ist nicht nur Fron. Das Kultivieren alltäglicher Verrichtungen bietet manche Freude; auch wenn nicht unbedingt Kunst resultiert, so doch da und dort Lebenskunst. Sich dessen zu erinnern erheitert gar manchem das Gemüt. Methodisches Erinnern sieht sich mit verschiedenen Problemen konfrontiert: Im nachhinein ist man immer klüger; man beurteilt weiter zurückliegende Verhältnisse im Wissen um die späteren Ereignisse und verschiebt dadurch die Proportionen. Frühe Ereignisse werden von späteren Begebenheiten verdeckt, andere, unwichtig scheinende, vergessen, dritte, unangenehme oder peinliche, schlicht verdrängt. Die Erinnerung verklärt und schönt das Vergangene, denn wie sollte der einzelne mit der Last der ganzen Geschichte und all seiner Geschichten auf die Dauer leben können. Doch was dem Individuum nachgesehen werden mag, ist für die Gemeinschaft in Abschnitten eine wiederkehrende Aufgabe. Und da provozieren Gegenstände eher ein spontanes, direktes Erinnern, als es selbst Lichtbilder oder gar wohlgesetzte Worte zu tun vermögen.

Das Ausstellen und In-Beziehung-Setzen von Gegenständen des täglichen Gebrauchs schafft eine Stimmung, die vielleicht an Rührung grenzen mag, aber in diesem Zustand meldet sich Vergessenes, und der Kopf akzeptiert auch Verdrängtes, auf daß es bewußt neu geordnet werden kann, um dann abgelegt zu werden. Ausstellen heißt immer Teile für ein größeres Ganzes herzeigen, heißt auswählen müssen, was sowohl ein Auszeichnen und zugleich ein Weglassen bedeutet.

Dieser Aufgabe stellte sich ein Team, das vielleicht nicht zufällig aus drei Frauen bestand. Unter der Leitung der erfahrenen Kulturvermittlerin Elis Zedrosser erarbeitete die Dreiergruppe, der die Künstlerin und Museumswissenschaftlerin Barbara Putz-Plecko und die Architektin Sonja Gasparin angehörten, ein umfangreiches Konzept, das von Sonja Gasparin gestalterisch umgesetzt wurde.

Als Ausstellungsräumlichkeiten stehen die einen Winkel bildenden, zweigeschoßigen Trakte eines Verarbeitungsbetriebs der Molkereibranche zur Verfügung. Das Äußere ist von gediegener Belanglosigkeit, weder schön noch häßlich, ausgeführt mit den baulichen Mitteln, aus denen simple Einfamilienhäuser errichtet werden, aber hier in emotionsloser Aneinanderreihung angewendet. Im Innern rohe Ziegelmauern, roher Betonboden, rohe Elementdecken. Dieses Rohe, Ungehobelte diente der Gestalterin als Hintergrund, vor dem sie thematische Sequenzen arrangierte. Ohne viel Aufwand ergab sich damit ein Kontinuum, das hier betont, dort reduziert, an mancher Stelle zurückgedrängt wurde.

Der Zugang führt über eine lange Rampe ins erste Obergeschoß. Diese vereint Signalwirkung und Notwendigkeit, denn sie erlaubt auch Rollstuhlfahrern die Einfahrt ohne fremde Hilfe. Den Einstieg ins Thema bilden Trümmer und Schutt, zählte doch Villach zu den am stärksten zerstörten Städten Österreichs. An Hand des Warenkorbs von damals und jenes von heute wird die zurückgelegte Entwicklungsspanne aufgezeigt: Was war Brot 1945, was verstehen wir heute darunter?

Eine derart ausgedehnte Schau, die sich über 1300 Quadratmeter erstreckt, kann nicht ohne Unterbrechung durchwandert werden. Aus der Fülle des präsentierten Materials stechen fünf gartenhausgroße, farbige Boxen hervor, die als Stichtag-Kojen jeweils den 11. Mai der Jahre 1951, 1961, 1971, 1981 und 1991 medial evozieren. Sie geben einen Rhythmus vor, sind optische und inhaltliche Stufenbilder, welche die Veränderung pro Zeiteinheit anzeigen. Ihre wechselnden Farbkombinationen bieten Ansatz zu einer raumzeitlichen Orientierung im Ausstellungsablauf, der den Besucher da und dort derart fesselt, daß er im Zeitstrom mitzuschwimmen meint.

Die Masse des Materials stammt nicht vordringlich aus Museen, sondern ist meist direkt aus dem Leben gegriffen. Individuell konkrete Ungleichzeitigkeiten – da der Geschäftseinbau eines gerade geschlossenen Lebensmittelladens, in dem Geselchtes und Dauerwurstwaren die richtige Duftnote beisteuern, dort eine alte Waschküche, in der an die harte Fron des Waschtags, eine heute kaum mehr vorstellbare Belastung der Hausfrauen, erinnert wird.

Und wer als Bub der gehetzten Mutter in der Früh, vor der Schule, noch den Wäscheofen angefeuert hat, wird auch als Mann schlagartig in die Erinnerungsspirale hineingezogen. Dabei stellt man fest, daß der Alltag in Mitteleuropa überall irgendwie verwandt ist. Es hängt nicht an einzelnen Exponaten, sondern an den überall gleichen oder ähnlichen Verrichtungen, die aus den Dingen des täglichen Gebrauchs sprechen, die über jahrelanges Arbeiten gleichsam auf die Gegenstände übergegangen sind, sodaß diese Gegenstände zu uns sprechen wie ein Buch.

Die Umsetzung – das heißt die Antwort auf die Frage: Wie nehme ich als Gestalterin die Besucher bei der Hand? – arbeitet mit „Originalexponaten“, die aus den Haushalten und den anderen Lebensbereichen der Villacher stammen.

Da und dort hat die Gestalterin nicht selbst zu arrangieren versucht, sondern, etwa im Falle der Schaufensterdekoration eines Wäschegeschäfts, die Dekorateurin des örtlichen Kaufhauses beigezogen. Damit sind „Originalpräsentationen“ entstanden und gelungen, die kein Ausstellungsgestalter zu planen vermöchte: Die Fülle der Auslagen, wie sie von der mediterranen Kultur gepflegt wird, der Brauch, alles zu zeigen, was im Geschäft zu kaufen ist, hat sich vor Jahrhunderten bis an den Alpensüdfuß vorgearbeitet und bildet dort einen Teil der bodenständigen Kultur.

Zwischen den Themenbereichen finden sich größere Einzelinstallationen: beispielsweise ein Rundbau mit dem Panorama von Villach, vom Stadtpfarrturm gesehen; dem Problem „Blind sein in der Stadt“ ist ein der Gehörschnecke nachempfundener, dunkler Raum gewidmet, in dem die Stadt nur durch ihre Geräusche präsent ist.

Wer des Flanierens, des Schauens und des staunenden Erinnerns müde ist, kann sich in mehreren, auf den gesamten Bereich verteilten „Sitzecken“ etwas zurückziehen, die Tageszeitung des Stichtags in kopierter Form lesen oder in der einen, etwas größeren Ruhezone, einem Café, dem Musikautomaten die verschiedensten Schlager aus fünf Jahrzehnten entlocken. Die erste dieser Rückzugnischen ist mit Bänken aus Eisenbahnabteilen gestaltet. Sie erinnert uns auch daran, daß früher viel mehr Reisen mit dem Zug unternommen wurden, daß der Reiseradius viel kleiner war.

Eine weitere Rauminstallation gilt einem Kinderzimmer, das halb im Stil der vierziger Jahre, halb in dem der neunziger Jahre eingerichtet ist. Daß in den Vierzigern zwei bis drei Kinder ein Zimmer teilten, bleibt nicht unerwähnt.

Neben den materiellen Dingen galt das Interesse der Konzeptorinnen und der Gestalterin auch Persönlichkeiten der Stadt Villach, deren Meriten nicht offizieller Art waren, sondern durch die Art ihrer Lebensweise gewachsen sind. Auffallend darunter der immer in kurzen Hosen und barfuß gehende Josef Kaus, der seine Tageskommentare in knapper, poetischer Form niederschrieb. Er tat dies auf einer Schreibmaschine mit schwarzrotem Farbband, solcherart eine eigenwillige, aber sehr interessante typographische Wirkung hervorrufend.

Zum Ausklang tritt der Besucher in Konfrontation mit den lebensgroßen Photographien dieser Ausnahmepersönlichkeiten. Persönlichkeiten, die dennoch zum Anfassen waren und sind, keine übersteigerten, überdimensional großen Helden, die dem Normalmenschen jeden Mut zur Selbstentfaltung nehmen. Die Konfrontation „Ich – Du“, die Frage „Wer bin ich eigentlich selber?“, die sich der Besucher, die Besucherin stellen mag, wird so nicht zum Zwang, sondern zu einem spielerischen Ausflug. Villach und diese Ausstellung sind jedenfalls eine Reise wert.

Die Ausstellung „Zeitspirale – Alltagskultur in Villach“ ist noch bis 30. Juni 1995 in den ehemaligen Gebäuden der Oberkärntner Molkerei, Villach, zu sehen.

Spectrum, Sa., 1995.06.03

13. Mai 1995Walter Zschokke
Spectrum

Kisten im Kontext

Die Wiener Architekturszene steht in dem Ruf, spezifische Aufgaben immer etwas komplexer und hintergründiger als andere zu interpretieren und zu bewältigen. Doch wie hält sie es mit der aktuellen Strömung der „Neuen Einfachheit“? Zwei Beispiele.

Die Wiener Architekturszene steht in dem Ruf, spezifische Aufgaben immer etwas komplexer und hintergründiger als andere zu interpretieren und zu bewältigen. Doch wie hält sie es mit der aktuellen Strömung der „Neuen Einfachheit“? Zwei Beispiele.

Nicht immer sind es ausgeführte Projekte, an denen die neuesten Tendenzen ablesbar werden. Oft ist es das kulturseismische Instrument des Architektenwettbewerbs, wo sich Entwicklungen – nicht selten bei zweit- oder drittgereihten Projekten – bemerkbar machen. Denn weil das Neue meist auch etwas fremd wirkt, kommt es nicht immer dazu, daß sich eine Mehrheit des Preisgerichts dafür zu begeistern vermag. Dem aufmerksamen Beobachter aber bieten die jeweils interessantesten Arbeiten aus mehreren Verfahren ein signifikantes Anschauungsmaterial für einen Blick in die Zukunft. Während vor allem die aus der deutschsprachigen Schweiz stammenden Vertreter der „Neuen Einfachheit“ stark objektfixiert entwerfen und meist auch ziemlich detailverliebt agieren, was von den Epigonen des In- und Auslands in der Art einer zweiten Ableitung verflachend kopiert wird, hat sich in Wien eine an mehreren Bauten und Projekten feststellbare zeitgenössische Strömung herausgebildet, die zwar ebenfalls mit einfachen geometrischen Körpern arbeitet, aber sowohl deren Stellung im Raum als auch ihr Verhältnis zu näheren und ferneren Nachbarbaukörpern exakt zu bestimmen trachtet. Ein erstes gebautes Beispiel ist die Kunsthalle Krems von Adolf Krischanitz.

Weniger ins Bewußtsein gerückt sind zwei Wettbewerbsprojekte, die Ende 1994 für ein mit einem Supermarkt kombiniertes Kirchgemeindezentrum in Hörbranz, Vorarlberg, und Anfang 1995 für das Jüdische Museum in Wien ausgearbeitet wurden. Beide zeigen den genannten Umgang mit einfachen Körpern, die in ein spezifisches Verhältnis zum Umraum treten, in sehr ausgeprägter Form.

Hörbranz ist eine große Gemeinde nördlich von Bregenz. Auch im Dorfzentrum stehen die Gebäude in einem lockeren Gefüge, sodaß die öffentlichen Räume nicht durch die Platzwände aneinandergereihter Fassaden gebildet werden, sondern von der räumlichen Abstrahlung der Einzelgebäude gleichsam magnetfeldartig definiert sind. Mitten durch die unverstellte Weite ziehen sich die linearen Elemente Straße und Bach, die als Leiter von Strömen (Wasser, Verkehr) ebenfalls ein imaginäres Feld erzeugen können. In diese heterogene Situation war ein Supermarkt und ein Kirchgemeindezentrum mit Pfarrsaal und Jugendräumen einzuplanen. Der dreieckförmige, angerartige obere Kirchplatz, im Westen vom Kirchturm überragt, im Norden von der Bundesstraße tangiert und nach Osten bei leicht ansteigendem Terrain eher auslaufend, erhielt mit zwei präzisen Setzungen eine unverwechselbare Identität.

Das Wiener Atelier „Stoß im Himmel“, das sich aus den jungen Architekten Robert Felber, Mark Gilbert, Claus Prokop, Stefan Rudolf und Manfred Schluderbacher zusammensetzt, zeichnet für das Projekt verantwortlich, das zum Sieger gekürt wurde. Nach Osten schließen die Architekten den Platzbereich mit dem breitgelagerten Volumen für den Supermarkt ab. Mitten in den Freiraum wurde nun der längliche, schmal-hohe Quader für das Pfarrsaalgebäude plaziert. Seine Ausrichtung zielt nach Westen, an der Kirche vorbei, in den Längsraum der Bundesstraße. Wenn man nun von unten her auf dieser Straße in das Dorfzentrum fährt, tritt einem das Kirchgemeindezentrum mit seiner Stirnseite entgegen, es bremst den Verkehrsansturm, läßt ihn aber dennoch ungehindert links vorbei.

Mit seiner ausgewogenen Stellung gelingt es dem einfachen Quader im Verein mit den anderen Gebäuden, einen westlichen Platzteil auszugliedern, der, vom Kirchturm dominiert, sowohl Ruhe und etwas Weihe als auch Geborgenheit vermittelt. Der Pfarrsaal, im Obergeschoß an der Stirnseite gelegen, tritt dazu in ein besonderes Verhältnis: Er bildet den eigentlichen Kern der räumlichen Verdichtung, umgekehrt ergibt sich von dort aus ein attraktiver Blick die Dorfstraße hinunter.

An der breiten Südseite des Bauwerks liegt der Eingang. Davor bleibt Raum für fröhliche Anlässe der Dorfgemeinschaft, die Stimmung ist weltlicher und erträgt im Alltag auch geparkte Autos. Ostseitig schließt der Vorbereich des Supermarkts an, wo wochentags geschäftiges Hin und Her viel Platz erfordert.

Obwohl der Baukörper eine einfache Kistenform aufweist, ist sein Größe, seine Stellung und Ausrichtung sowie seine Proportionierung derart präzis auf die vielgestaltige Umgebung abgestimmt, daß sinnvolle Räume und Zonen für entsprechende Nutzungen entstehen. Von schlichter geometrischer Gestalt, tritt der Körper trotzdem in architektonische Kommunikation mit den Nachbarbauten. Derselbe Körper könnte an anderer Stelle beziehungslos und stumm, ja autistisch isoliert wirken. Dies zeigt, daß architektonische Wirkung nie nur vom Objekt ausgeht, sondern sich immer im Wechselspiel mit dem Kontext ergibt.

Das zweite Beispiel ist der Entwurf für das Jüdische Museum in Wien von Ursula Klingan und Andrea Konzett. Ihr Wettbewerbsbeitrag unterlag vor allem aus Kostengründen dem klugen Low-budget-Projekt von „Eichinger oder Knechtl“. Die architektonische Qualität der Arbeit war nie in Zweifel gezogen worden.

Das ehemalige Palais Eskeles in der Dorotheergasse 11 gehört nicht zu den großartigen Wiener Adelspalästen. Der Grundriß verrät, daß bei seiner Entstehung drei oder gar vier gotische Häuser zusammengefaßt wurden, denen man eine vereinheitlichende Fassade applizierte – früher ein normaler, kostensparender Vorgang, durch den möglichst viel bauliche Altsubstanz bewahrt werden konnte. Im Verlauf der wechselhaften Geschichte blieb vom ehemaligen Ausbau nur wenig erhalten. Für die Nutzung als Jüdisches Museum sollte das Gebäude daher nach Möglichkeit erweitert und aufgewertet werden. Die zur selben Generation wie „Stoß im Himmel“ gehörenden Architektinnen Ursula Klingan und Andrea Konzett passen ihren schachtelartigen Neubauteil von oben in den Hof ein, sodaß rundherum zirka 60 Zentimeter Schlupf offen bleiben. Die Leichtbaukonstruktion in Stahl wird von den Hofmauern getragen. Der Boden des Quaders bildet die Decke eines zwei Stockwerke hohen Raumes im Eingangsgeschoß.

Diesmal tritt die geometrisch exakte Quaderform in einen räumlich sehr engen Kontakt zur Nachbarschaft, es bleibt nur eine schmale Lichtfuge offen. Zum Erdboden hält der autonome Körper einen größeren Abstand, sodaß ein repräsentativer Raum entstehen kann. Sowohl aus betrieblich-funktionellen Gründen als auch zum Erleben dieses Raumes quert ihn im hinteren Bereich ein Steg in der Höhe des ersten Obergeschoßes. Mit dieser konzeptuellen Maßnahme gelingt es, dem Palais eine architektonische Mitte zu geben und es damit entscheidend aufzuwerten. Obwohl Alt und Neu in ihrem architektonischen Ausdruck deutlich verschieden sind, erzeugen die beiden Teilsysteme ohne Identitätsverlust gemeinsam einen neuen Binnenraum von hoher gestalterischer Qualität.

In Summe betrachtet, weisen die kargen Kisten, die ihren geistigen Ursprung in Wien haben, eine spezifische Eigenart auf: Sie sind kommunikativ. Ihre Entwerfer sind offenbar nicht zuvörderst an einem modischen Effekt interessiert, obwohl sie punkto Aktualität durchaus mithalten können, sondern sie befassen sich mit den neu entstehenden Räumen und Zwischenräumen sowie mit den möglichen Aktivitäten in diesen Bereichen.

Diese Haltung bezieht ihr Qualitätsstreben aus der schon seit Jahrzehnten geführten Wiener Architekturdiskussion. Damit erweist sich Wien auf dem Architektursektor als echte Metropole, in der sich die Architekturpraxis ständig auf hohem Niveau weiterentwickelt.

Anders als bei lokalen Konjunkturen in der Provinz, die nach fünf, zehn Jahren bis auf ein paar Ausnahmefiguren wieder einschlafen, hält ein engagierter Nachwuchs die Wiener Szene lebendig. Zusammen mit der Tradition einer differenzierten Betrachtungsweise bildet dies den Treibstoff für den Fortbestand einer hohen Architekturkultur. Dies gilt selbst dann, wenn nicht jedes gute Projekt auch ausgeführt wird.

Spectrum, Sa., 1995.05.13

25. März 1995Walter Zschokke
Spectrum

Andere haben das nicht

Die einen streiten, die anderen bauen einfach – eine Kunsthalle zum Beispiel. Krems ließ die seine von Adolf Krischanitz planen. Funktionell ist sie geworden, schlicht und elegant.

Die einen streiten, die anderen bauen einfach – eine Kunsthalle zum Beispiel. Krems ließ die seine von Adolf Krischanitz planen. Funktionell ist sie geworden, schlicht und elegant.

Es war eine große Jury, die vor bald drei Jahren in einem Gutachterverfahren unter sechs Projekten einstimmig eines als das beste erkor. Namen wie Friedrich Achleitner, Peter Baum, Hermann Czech und Werner Hofmann gaben der Entscheidung Gewicht. Adolf Krischanitz, assistiert von seinen langjährigen Mitarbeitern Jürg Meister und Gerhard Schlager, sollte die neue Kunsthalle in Krems bauen. Am 31. März wird die Halle mit einem Tag der offenen Tür vorgestellt, im Mai wird mit einer von Werner Hofmann konzipierten Ausstellung eröffnet.

Als Standort der neuen Kremser Kunsthalle war die alte Tabakfabrik vor dem Kremser Tor der Steiner Altstadt auserkoren worden. Sie besetzt seit eineinhalb Jahrhunderten an der Steiner Landstraße ein Eckgrundstück, dessen linker Rand von einer Verbindungsstraße definiert wird, die nach Norden führt. Das zweigeschoßige, breitgelagerte Gebäude blickt mit 17 Fensterachsen über eine von Straßenanlagen besetzte Fläche auf die Donau, der den Namen „Franz-Zeller-Platz“ trägt. Im kommenden Jahr soll eine Tankstelle abgesiedelt und ein öffentlicher Raum geschaffen werden, der diesen Namen verdient. Denn Krems ist stolz auf seine neue Kunsthalle.

Der im Grundriß winkelförmige Altbau schloß an der Rückseite einen Hof von zirka 27 mal 32 Meter ein. Um die anderen beiden Hofwände zieht sich die hohe Gefängnismauer, überragt von einem Wachturm. Zu dieser Mauer müssen bauliche Anlagen fünf Meter Abstand einhalten. Damit war der Spielraum für einen Neubau definiert. Im Innern wies der in mehreren Etappen erstellte Bau im Erdgeschoß eine von gedrungenen, geböschten Pfeilern getragene Halle auf. Darüber lag ein Fabrikationssaal, von einer Doppelreihe schlanker Holzsäulen durchzogen, die im neueren Flügel in gleicher Reihung aufgestellt, aber aus Gußeisen gefertigt waren. Der nach hinten anschließende Gebäudeflügel wies kleinere, von starken Mauern umschlossene Räume auf. Der Bauzustand war nicht besonders gut, da und dort leckte das Dach, es war höchste Zeit, daß etwas gegen den weiteren Zerfall unternommen wurde.

Das Konzept von Adolf Krischanitz sah vor, den Altbau in seiner Struktur weitgehend zu erhalten und im Hofbereich zu bauen. Im Neubauteil sollte auch das Raumklima, an das Konservatoren und Leihgeber heutzutage hohe Ansprüche stellen, besser kontrolliert werden können. Mit dieser grundlegenden Idee ergab sich von Anfang an eine klare Ordnung, die versprach, ökonomisch günstig zu werden.

Die Umsetzung erscheint fast simpel: Eine längliche Box steht im größtmöglichen Abstand zum Vordertrakt im Hof. Sie enthält auf halber Geschoßhöhe den neuen Ausstellungsraum mit einer Lichtdecke, die von hochliegenden längsseitigen Fensterbändern mit Tageslicht versorgt wird. Im Souterrain der Box ist ein gestufter Vortragssaal untergebracht. Beide Ebenen werden vom Straßentrakt her zur Rechten mit einer Rampenanlage erschlossen, deren dritter Lauf das Obergeschoß erreicht.

Zur Linken ist dem rückwärtigen Flügel des Altbaus ein zweigeschoßiger Servicegang vorgelegt. Dem langgestreckten Hauptbau an der Steinerstraße wurde also ein kleiner Neubautrakt zugesellt, der mit der Rampenanlage und dem Servicegang U-förmig einen 18 mal 14 Meter messenden glasgedeckten Innenhof umschließt. Die vierte Seite wird von der Rückfassade des Straßentrakts gebildet.

Mit dieser Konzeption gelingt es, mit den Neubauteilen unter der rückseitigen Trauflinie zu bleiben, nur die Box, weil Abstand haltend, kann mit dem Oberlichtgaden über diese Höhe hinausreichen. Das klar formulierte Konzept läßt folgende Räume und Raumgruppen entstehen: Im Straßentrakt die Pfeilerhalle des Eingangsbereichs mit Kasse, Shop, Café und Nebenräumen; dahinter der Innenhof, flankiert von der Rampenanlage und als Abschluß der Ausstellungsraum in der Box. Im Obergeschoß liegen vorn zwei Ausstellungssäle. Den Anschluß zum rückwärtigen Flügel bildet eine Treppe und daran schließen weitere Ausstellungsräume. Anlieferung und Lager sind darunter im Erdgeschoß angeordnet, ein Transportaufzug dient der Vertikalbeziehung.

Die Pfeilerhalle wird dominiert von den gemauerten, verputzten, pylonartig geböschten Stützen, deren Stärke in der Längsrichtung der halben Gewölbespannweite und in der Querrichtung, wo sie etwas größer ist, einem Viertel entspricht. Im Altbestand hatten diese Pfeiler mit den rundgewetzten Kanten eine enorme Raumverdrängung. Nun sind sie mit scharfen Kanten versehen; die geometrische Abstraktion macht sie leichter, der Zwischenraum erscheint weiter. Die fast bedrängende Situation ist relativiert.

Der Innenhof ist an zwei Seiten, vor Servicegang und Box, von Sichtbetonwänden begrenzt. Zur Rampenanlage filtern Betonstützen und schräg eingesetzte Glastafeln den Raum. Schlanke Betonträger überspannen parallel zum Straßentrakt den Hof, sie sind nur im Neubaubereich auf der Mauer vor dem Dienstgang und auf den Stützen vor den Rampen aufgelagert, der Altbau bleibt unbelastet.

Damit betonen sie die Unterscheidung von neu und alt. Die ehemaligen Fenster der Hoffassade erscheinen als großblockig ausgemauerte, unverputzte Felder, aber gestrichen in der Wandfarbe. Eine sehr subtile Erinnerung an den früheren Zustand. Der Sichtbeton, ausgeführt von einer mittelgroßen niederösterreichischen Baufirma, ist von hoher Qualität. Die fertige Oberfläche vermittelt zurückhaltende Lebendigkeit.

Natürlich dient der Hof auch als Ausstellungsraum; die siebbedruckten Gläser filtern bereits 60 Prozent des Sonnenlichts, um UV-Schäden an Kunstwerken zu vermeiden. Die Rampenanlage bildet ein wichtiges Element: Sie ist explizit „Weg“. Zugleich findet schleifend die Niveauveränderung statt, wobei der Blick zum Hof durch den Stützenrechen von allen drei Läufen aus möglich ist. Man ist getrennt und hat dennoch Anteil am großen Binnenraum. Auch hier wieder Beton mit fast samtiger Oberfläche. Ein feiner Handlauf, metallener Rundstab an gekantetem Blech, die Farbe fast Ton in Ton mit dem Beton.

Die Rampe bildet den Raum für die Passegiata, das Gehen zwischen den Stationen der Kunstbetrachtung. Der Ausstellungsraum in der Box ist unspezifisch weiß, mit matter Lichtdecke. Am Boden kein hölzernes Parkett sondern glatt gestrichener Betonestrich, gespachtelt, von mildem Grau. Der Raum ist hoch und lang. Grundrißproportionen etwa zwei zu fünf, nur geringfügig breiter als hoch.

Dieser Raum stellt Anforderungen, seine Möglichkeiten sind erst im Verlauf der Ausstellungstätigkeit auslotbar. Unbespielt zeigt er nur seinen unspezifischen Charakter, wie dies einer Kunsthalle ziemt. Die Farben im Innern sind – neben dem Weiß der Bilderwände – fein abgestufte Grautöne. Es entsteht eine zurückhaltende Raumstimmung in Erwartung wechselnder Kunstpräsentationen.

Oben, in den beiden großen Ausstellungssälen, entsteht durch die vielen Fensteröffnungen und die auf die Zwischenfensterpfeiler bezogenen Säulenpaare eine helle und zugleich gebundene Stimmung. Der ehemalige Produktionsraum ist weiterhin präsent; das schmalere Mittelfeld der dreischiffigen Halle wirkt deutlich profanierend. Beim Rückweg ergeben sich die Schritte auf der schiefen Ebene der Rampe fast von allein. So also hat der Architekt konkretisiert, was dem Preisgericht damals als abstraktes Versprechen in Planform und in einem maßstäblichem Modell vorlag. Krems und damit auch Niederösterreich besitzt nun eine Kunsthalle, die wegen ihrer Unterteilbarkeit viele Möglichkeiten für Ausstellungen anbietet: Der räumliche Rahmen kann alt oder neu, von stofflich-schwer zu dematerialisiert-leicht oder von mittel bis groß sein. Die Baustruktur weist mehrere architektonisch-räumliche Grundkonfiguration auf, die sehr ruhig und gelassen daherkommen und damit der Kunst einen guten Rückhalt bieten werden. Adolf Krischanitz ist hier eines seiner besten Werke gelungen.

Nach dem Hinaustreten ein Blick zurück. Nichts deutet von außen auf den Zubau im Hof hin, die historistischen Mauern sind gelb, die Fenster außen braun gestrichen. Farbtöne aus der Welt des Tabaks.

Spectrum, Sa., 1995.03.25



verknüpfte Bauwerke
Kunst.Halle.Krems

11. Februar 1995Walter Zschokke
Spectrum

Bibliothek, Halle, Hain: Schule zum Leben

Nicht nur Wien baut attraktive Schulhäuser. Peter Riepl und Thomas Moser haben das Welser Gymnasium an der Wallererstraße erweitert und völlig verändert. Ein Lokalaugenschein.

Nicht nur Wien baut attraktive Schulhäuser. Peter Riepl und Thomas Moser haben das Welser Gymnasium an der Wallererstraße erweitert und völlig verändert. Ein Lokalaugenschein.

Die neue Schulbibliothek befindet sich in einer lichten Halle. Ein Hain aus schlanken Rundstützen trägt die betonierte Decke. Der zweigeschoßige Raum ist zugleich Eingangshalle und Verbindungsgelenk zum etwa 30 Jahre alten Bestand. Peter Ripl und Thomas Moser, ein Architektenteam mit Standorten in Linz und Innsbruck, zeichnen für die Erweiterung und Erneuerung des Gymnasiums an der Welser Wallererstraße verantwortlich.

Bibliothek, Hain und Halle; mit diesen Begriffen wird eine Stimmung eingefangen, die grundsätzlich positiv besetzt ist. Bibliothek, das ist auch im Zeitalter von Bildschirm, Festplatte und CD-ROM ein Hort des Wissens wie der Träume, der breiten Information wie der spannenden Unterhaltung. Wird man demnächst Krimis oder Liebesgeschichten am Bildschirm lesen ? Wohl kaum. Das Buch bleibt als ruhiges Gegenüber in der spezifischen Stimmung der Lektüre erhalten, und damit bleibt auch die Bibliothek bewahrt. Zwar gibt es immer wieder jene selbst ernannten Avantgardisten, die das Ende des Buches prophezeien, doch das sind grobe Vereinfacher komplexer soziokultureller Prozesse. Eine Bücherei ist Kulturspeicher, und sie hat Raumbedarf. Und zwar nicht irgendein Zimmer, sondern „Raum“. Wenn aber „Raum“ gefordert ist, heißt das immer Architektur. Diese Forderung reicht vom Prunksaal der Nationalbibliothek über den Lesesaal von St. Geneviève in Paris bis zur braven Schulbibliothek und ist auch in letzterem Fall in angemessener Weise zu erfüllen.

Nun aber die Halle: Eine Halle meint unter anderem auch einen Raum mit außergewöhnlicher Raumhöhe. Das Wort hat einen festlichen Klang. Hallen sind meist halböffentlich, sie dienen verschiedensten Veranstaltungen. „Halle“, das ist herrschaftlich. Wie bieder tönt daneben das Wort Saal. Nun aber Halle und Hain. Ein Hain wird gebildet aus einer Gruppe meist hochstämmiger Bäume in lockerer nicht unbedingt geometrischer Anordnung, aber mit einem dichten Blätterdach, wo die Sonne nur durchblinzelt, wenn ein Windstoß die Zweige bauscht. Hatte nicht die Schule von Athen in einem kühlen Hain ihren Ort ? Mit dem Stützenhain in der Halle wird ein positives Bild transportiert. Der anspruchsvolle Empfang gilt Schülern und Lehrern. Doch zurück zur Schule in Wels, deren Eingangshalle und Bibliothek den geistigen Vorfrühlingsspaziergang provoziert hat. In einer lockeren Vorstadtbebauung, zwischen Wohnanlagen und Einfamilienhäusern, war in den sechsziger Jahren neben einer bestehenden Schule ein gestalterisch und baulich sparsamer Neubau errichtet worden. Zweihüftig an einem Gang angeordnete Klassenzimmer weisen einen eher längsrechteckigen Zuschnitt auf. Am nordwestlichen Kopf setzt quer eine Turnhalle mit knappen Nebenräumen an. Damals war das Land soeben aus dem Gröbsten heraus. Wachsende Kinderzahlen verlangten eiligst nach mehr Schulraum. Schnell und kostengünstig hieß die Losung.

Das vielleicht dreißig Jahre alte Bauwerk ist weder häßlich noch schön. Es ist konstruktiv soweit in Ordnung, doch wurde aus heutiger Sicht eine wärmetechnische Nachrüstung nötig, vom Platzmangel ganz zu schweigen. Der voriges Jahr fertiggestellte Zubau umfaßt daher ungefähr gleichviel umbauten Raum wie der Bestand. Von den Nutzungen her wurde aus der ehemaligen Dependence eine selbständige Schule mit Mehrzweckaula, Musikzimmer, Klassenräumen für den naturwissenschaftlichen Unterricht (sogenannte Sonderklassen), zwei Turnhallen sowie natürlich den Büros für die Schuldirektion. Der von der bestehenden Turnhalle gebildete Ansatz zu einem Winkel wurde verstärkt, sodaß dem zweigeschossigen Altbau ein dreigeschossiger Neubauflügel entspricht. In dem nach Süden geöffneten Winkel steht ein mächtiger Solitärbaukörper von der Form eines Kegelstumpfs. Er enthält die Aula, die mit der eingangs genannten Halle in Verbindung steht. Im Obergeschoß liegt der Musikvortragsraum. Er ist über zwei Stahlbetonscheiben in den nach oben kegelförmig abnehmenden Raum gehängt. An allen vier Seiten sind die flach segmentförmigen Resträume einsehbar. Vorn und hinten gehören sie zum Luftraum der Aula und lassen von oben her das Tageslicht über den schalungsrohen Beton streifen, der dadurch dramatisch-plastisch hervortritt. An der dritten Seite erscheint dieser Restraum als vom Kegelmantel eingehüllter Außenbereich, der durch schmalhohe Öffnungen von der Pausenfläche her betretbar ist. Das räumliche Erlebnis mit der hochliegenden Öffnung zum Himmel ist ungewohnt-spannungsvoll. An der vierten Seite schließt die Halle an mit einem breiten Zugang zum Musikraum im ersten Obergeschoß. Dennoch weist der spezifische, konische Innenraum eine hohe typologisch-räumliche Geschlossenheit auf. Er ist etwas Besonderes und verleiht der Schule Identität. Vom Hof her zeigt sich ein relativiertes Bild. Eine Außentreppe windet sich spiralig am Kegelmantel hinauf und verbindet die Pausenflächen auf dem Dach mit jener zu ebener Erde. Die offensichtliche Besteigbarkeit bringt den sonst abweisend wirkenden Baukörper auf sympathische Weise näher. Auf dem Dach des Kegels und im Hof sind verschiedene Bereiche geschaffen worden, in denen sich Schülergruppen in der Pause sowie vor und nach den Schulstunden aufhalten können, auch dem Bewegungsbedürfnis wird mit den Wegen und Stiegen Rechnung getragen.

Das Äußere des Schulneubaus ist mit Alu-Blech verkleidet; nur da und dort blitzen verputzte Mauerflächen in Zimtfarbe hervor wie das Wams unter den Metallplatten eines Harnischs. Noch ist das Blech metallen glatt und glänzend, doch es soll mit der Zeit Patina ansetzen und als Folge der Dilatation bei Temperaturwechseln einen viel lebendigeren Oberflächencharakter erhalten. Vielleicht reflektiert es bald schillernd wie ein Fischleib. Der Altbau, vorher in Blau und Grau, erhielt einen ebenfalls zimtfarbenen Außenanstrich, was die beiden Teile nun dezent zusammenbindet. Im Innern folgt die Erschließung den Vorgaben des großen Winkels der Gesamtanlage. Die Stichgänge zu den Klassenzimmern werden da und dort unterbrochen von räumlichen Ausweitungen, Zonen für den kurzen Aufenthalt, für das Zusammenstehen in kleinen Gesprächsgruppen zwischen den Schulstunden. Damit sind an dieser Schule zahlreiche potentielle Orte der Interaktion geschaffen worden. Denn mindestens so wichtig wie das Lernen in den Klassenzimmern ist in einer Schule das gesellschaftliche Leben der Schüler untereinander in kleinen und größeren Gruppen. Während Erwachsene oft mühsam und wiederholt vergeblich den Schülern den Stoff zu erläutern und in der Not einzutrichtern versuchen, verläuft die Vermittlung unter den Schülern ganz leicht. Hier verbreiten sich Neuigkeiten, Erkenntnisse, Verhaltensweisen und Moden blitzschnell und ohne Nachhilfestunden. Diese wichtige soziokulturelle Nebenfunktion hat einen nicht eindeutig faßbaren Raumbedarf. In einem konsequent durchfunktionalisierten Grundriß werden wir diese Freiräume nicht mehr finden, weil sie in keinem Raumprogramm erwähnt und beziffert sind. Es liegt am Ermessensspielraum des Architekten und der beauftragenden Behörde, ob derartige Zwischenräume entstehen. Für das Erleben der Schule durch die jungen Menschen sind sie jedoch von vitaler Bedeutung. In unspezifischen Nischen dieser Art kann sich womöglich so etwas wie ein Heimatgefühl ansiedeln. Man wird mir jetzt entgegenhalten, es komme alles auf die Lehrer und ihren Unterrichtsstil an. Dem ist zu erwidern, daß ein Schulgebäude mit positiven Raumstimmungen einen guten Unterricht sicher nicht erzwingen kann. Ein Bauwerk aber, das räumlich armselig ist, kann sich durchaus erschwerend auswirken und auf die Gesamtstimmung drücken. Außerdem ist „Schule“ immer eine Interaktion von Lehrenden und Lernenden. Die Verantwortung des Lernens liegt bei beiden Seiten. Der wechselvolle Prozeß von Geben und Nehmen ist anspruchsvoll und kann kaum abschließend definiert werden. Gebäude für derart offene und nicht mechanische Prozesse müssen „Luft“ beziehungsweise „Zwischenräume“ aufweisen. Dies zeigt sich nicht allein von außen. Den klaren geometrischen Formen der von uns betrachteten Schule ist jedenfalls ein Innenleben eingeschrieben, das insgesamt anregend wirkt.

Nach einem kurzen Rundgang kommen wir zurück in die hohe Halle mit ihren schlanken Vertikalen. Durch die seitliche Glaswand fällt das Tageslicht. Ein schlanker Steg spannt sich davor; er wird fast unmerklich über Konsolen von einer Doppelreihe der Stützen getragen. Daneben zieht sich eine Kaskadentreppe in die Obergeschoße, ihre seitlichen Brüstungen tragen statisch aktiv die Treppenläufe. Hier sind die Konsolen an den Rundstützen etwas kräftiger ausgefallen, vermutlich eine Maßnahme gegen Schwingungen oder zur Übertragung der Schubkräfte in die Seitenwangen. Doch der Raum wird davon in seiner Qualität nicht beeinträchtigt. Er strahlt Ruhe und durchaus auch Würde aus. Dies wird sich gewiß ändern, wenn die Schüler über Treppen und Steg tollen. Allerdings wage ich zu behaupten, daß nicht wenige sich in zwei, drei Jahrzehnten ob seiner dichten architektonischen Stimmung gern an das Schulgebäude erinnern werden.

Spectrum, Sa., 1995.02.11



verknüpfte Bauwerke
Gymnasium

21. Januar 1995Walter Zschokke
Spectrum

Dann wissen wir mehr

Zwei Häuser, in denen sich zufrieden leben läßt, eines im Burgenland, eines in Niederösterreich. Zwei Beweise dafür, daß die gängigen Kriterien zur Beurteilung von heutiger Architektur nicht mehr greifen.

Zwei Häuser, in denen sich zufrieden leben läßt, eines im Burgenland, eines in Niederösterreich. Zwei Beweise dafür, daß die gängigen Kriterien zur Beurteilung von heutiger Architektur nicht mehr greifen.

Kobersdorf im Burgenland: An der Rückseite von an der Straße aufgereihten Handtuchgrundstücken, dehnt sich ein großer Garten, der von einer norddeutsch aufgemachten Kleinvilla beherrscht wurde. Teile davon sind noch erhalten, wurden aber einem derart intensiven Transformationsprozeß unterworfen und einem vielgestaltigen größeren Ganzen einverleibt, daß ein Betrachter ohne eingehende Aufklärung nicht erkennen wird, welche Teile des vor ihm stehenden völlig neuen Hauses vom vorhergehenden stammen. Aber das ist auch nicht so wichtig.

Das angesprochene neue Haus dient einem Arzt, der seine Praxis im vorgelagerten, eingeschossigen Gebäudeteil eingerichtet hat. Urheber der stark plastischen Verformung ist der Architekt Otmar Hasler; 1955 geboren und im Burgenland aufgewachsen, hat an der Wiener TU studiert und verbrachte seine Praxiszeit im Büro von Luigi Blau und in den Ateliers von Hans Hollein und Heinz Tesar.

Der komplexe Ansatz des Neubaus sieht für den Patienten oder den Besucher, der zwischen zwei landwirtschaftlichen Ökonomiegebäuden hindurch in einer trompetenartigen Verengung auf das Gebäude zustrebt, folgendermaßen aus: Im Vordergrund steht der „Zweckbau“ für die therapeutische Praxis, dahinter türmt sich unter breit auskragendem Dach ein drei Geschoße hoher Teil des Wohnhauses, den ein zweigeschoßiger Körper anschneidet, welcher in Querrichtung daran angefügt ist.

Die kubischen Gebäudeteile scheinen sich um ein imaginäres Zentrum zu entwickeln, das sich als von der Gartenseite her zugänglicher, intimer Hof erweist. Aus diesem „Innenraum“, der zum Außenraum seitlich und nach oben Verbindung hält, stößt, einer Nadel gleich, der schlanke Kamin in die Höhe und markiert den virtuellen Drehpunkt. Wir haben also ineinandergreifende Volumen und eine fast spiralig eindrehende, dynamische Abfolge der Baukörper vor uns.

Die beiden Häuser beweisen, daß heutzutage Stilmerkmale für die qualitative Beurteilung und zeitliche Einordnung von Architektur untauglich sind. Der Betrachter muß sich tiefer einlassen.

Obwohl jetzt der Eindruck entstehen könnte, es handle sich um ein betont formalistisches und womöglich unpraktisches Gebäude, ist das Gegenteil der Fall. Nicht nur die innere Organisation, auch der äußere Ausdruck ist eindeutig und leicht verständlich. Dem Patienten öffnet sich breit ein Fensterband neben der Eingangstüre, welche zwischen einen kräftig nach vorn drängenden Mauerwinkel und einen containerartig in das Gebäude eingeschobenen, niedrigeren Baukörper gespannt sind. Hinter dem Glas liegt der Wartebereich, an den die Untersuchungs- und Therapieräume anschließen. Der genannte „Container“ zur Linken bildet ein Übergangselement. Von der Praxis und vom Wohnhaus her zugänglich, enthält er das Arztbüro, das auch als zweite Ordination dient. Wenn wir die beiden Häuser nebeneinanderhalten, finden wir zwei Haltungen, die beide nicht an sich „gut“ oder „schlecht“ sind, sondern ihre Bestätigung im Durcharbeitungsgrad finden.

Der aus dem Gebäude vorstoßende würfelartige Containerkopf schirmt den
Eingang zum Wohnhaus ab. Der private Besucher gelangt durch den Eingang in das erhalten gebliebene Stiegenhaus des Vorgängerbauwerks, wo eine hübsche alte Lärchenholztreppe den Betrachter ein erstes Mal auf den Transformationsprozeß hinweist. Das Erdgeschoß enthält eine weiträumige Küche und einen großzügigen Wohnraum mit Klaviernische.

Über die hölzernen Stufen steigt man ins Obergeschoß in einen gläsernen Wintergarten, der, nach Süden orientiert, als Sonnenfänger dient. Von hier gelangt man in einen zweiten, privateren Wohnraum oder in einen Gang, an dem die Schlafzimmer und das Bad liegen. Der Weg zum zweiten Obergeschoß windet sich nun um das Bad herum; man gelangt in einen Freizeitraum hinauf, der sich mit breiten Fensterwänden nach Süden und Osten öffnet, sowie auf die große Terrasse, die hinter einer schützenden Mauerbrüstung liegt.

Öffentlichkeit und Privatheit sind an diesem Bauwerk fein dosiert und über mehrere Schritte abgestuft zugänglich. Ein bißchen geheimnisvoll ist das Gebäude auch, aber nie abweisend, sondern ansprechend. Die baulichen Vorgaben überspielend, erlaubte ein sehr freier, aber dennoch disziplinierter Entwurfsvorgang eine reichhaltige Entwicklung zu einem spannenden räumlichen Gefüge, das in der Wiener Tradition des spielerischen Umgangs mit Raum steht.

Die Konstruktion ist durchaus beherrscht, drängt sich aber nicht in den Vordergrund. Die Oberflächen sind meist glatt und oft mit Farbe dematerialisiert. Nur die Dachkonstruktion in Holz zeigt den konstruktiven Aufbau: Träger und Platte, beides so luftig, als wären sie nur leicht aufgelegt und könnten jederzeit wegfliegen. Das formale Wollen manifestiert sich deutlich hinter dem Produkt, und doch ist die Form nie absolut, sie wird jeweils soweit verändert, daß das angenehme Wohnen vorgeht.

Hintersdorf in Niederösterreich: Mit einer ganz anderen, nicht minder engagierten Haltung ist hier ein völlig neues Einfamilienhaus errichtet worden. Für den Entwurf zeichnen die Architekten Christa Prantl und Alexander Runser verantwortlich. 1960 beziehungsweise 1955 geboren und Absolventen der TU, nennen sie ihr Werk „Haus am Hang“. Auf einer langen Handtuchparzelle stehend, nimmt es mit seiner geschlossenen Längsrechteckform darauf Bezug.

Zuerst, denke ich, war die Idee des Daches: ein langes, von keiner Gaupe gestörtes Satteldach mit ortsüblicher (!) Neigung. Das Prinzip des Schirmens ist in den Vordergrund gerückt. Diese Rolle wird betont mit den je zwei Stützen an den Stirnseiten. Obwohl dazwischen noch diverse vertikal tragende Elemente im Einsatz stehen, bewirkt das durchgehende Fensterband, daß die vier Stützen und das Dach zu einem primären Teil der formalen Gesamtkonzeption werden. Doch fragt man sich, ob dann die Dachwasserrohre nicht zu diesem Teil gehören sollten und deshalb eher an den Stützen herunterkommen müßten?

Man sieht, wie bei nach Klarheit strebenden Konzepten Nebensächlichkeiten rasch störend wirken können. Die Stützen sind – natürlich nur optisch – auf der kragenden Platte aus Balken und Brettern aufgestützt, die das Haus an drei Seiten umgibt. Mit dieser floßartigen Platte wird die Beziehung zum Boden verschattet, und man könnte durchaus das Bild eines sanft gestrandeten Hausfloßes assoziieren. Das Haus als Familienschiff, als Arche, die mit dem Hang nur über jenes fast zufällige Aufsitzen – wie nach einer Flut – in Verbindung tritt. In diesem „Anlegen“ ist auch das Vorübergehende enthalten, das sich im Haus selbst widerspiegelt, indem es prinzipiell demontierbar und wiederverwertbar ist.

Unter das lange Dach ist ein rechteckiger Mauerschirm gestellt, der da und dort von Fenstern durchbrochen, dennoch die Form eines langen Prismas behält. Sein Inneres wird von zwei Nebenraumkernen in drei Haupträume geteilt, eine Struktur, die vom Keller bis zum Obergeschoß durchgeht. Im Mittelbereich liegt jeweils ein großer, dielenartiger Raum, an dessen einer Seite die einläufige Stiege hochzieht. Nach Westen blicken die Wohnküche und das darüberliegende Elternzimmer; nach Osten schauen auf jedem Geschoß je zwei kleinere Zimmer mit immer noch 15 Quadratmetern Fläche.

In allen Obergeschoßräumen verfügt man über die herrliche Rundsicht durch das Fensterband. Auf der Südseite, die auf unserem Bild zu sehen ist, durchbricht der Wohnraum mit einem gläsernen Kasten den Mauerschirm und öffnet sich zur Mittagssonne. Das Dächlein wird nach hinten gezogen, um den Eingang zu schirmen. Dies ist vielleicht die einzige größere Ausnahme von der obsessiven Strenge, mit der der Grundriß organisiert ist. Er geht aus von einem Meternetz, das sich noch in der Schalung der Sichtbetonwände abbildet.

Es gibt sehr viel Gewolltes an diesem Haus, da und dort scheint es fast zu viel, sodaß sich ideomorphe Konzeptteile in die Quere zu kommen drohen. Die Großzügigkeit, mit der die Räume zugeschnitten sind, und die alternativen Zugangsmöglichkeiten geben den Bewohnern aber jene Freiheitsgrade zurück, die sich die Architekten versagt haben. Denn sie hatten sich selbstgestellte Bedingungen aufgeladen, von denen andere keine Ahnung haben. Da und dort blitzt das abstrakte Architekturwollen durch die Ritzen der gebauten Hülle und zeugt von der Bereitschaft, an selbstbestimmten Aufgabenstellungen zu wachsen.

Es ist hier auch von einem glücklichen Zusammentreffen mit einer innovationsbereiten Bauherrschaft zu reden, die mit dem Projekt mitging und auch den Hickhack mit einer engherzigen Baubehörde durchstand. Wobei der niederösterreichischen Ortsbildpflege ein Kränzchen zu winden ist, denn sie hat das Projekt zweimal mit Gutachten gestützt.

Wenn wir nun die beiden Häuser, in denen sich zufrieden leben läßt, nebeneinanderhalten, finden wir zwei Haltungen, die in der Architektur schon immer gleichzeitig bestanden haben. Beide sind sie nicht an sich „gut“ oder „schlecht“, sondern finden ihre Bestätigung im Durcharbeitungsgrad. Beide Haltungen tragen in sich das Risiko des Scheiterns wie die Aussicht auf durchschlagenden Erfolg. Sie beweisen, daß heutzutage Stilmerkmale für eine zeitliche Zuordnung oder eine qualitative Einstufung untauglich sind. Der Betrachter muß sich tiefer einlassen. Ein kurzer Blick reicht nicht aus. Und in zehn Jahren wissen wir wieder mehr.

Spectrum, Sa., 1995.01.21



verknüpfte Bauwerke
Haus am Hang

Profil

Studium der Architektur an der ETH; Baupraxis. 1977-85 Assistent bei Prof. A.M.Vogt und Doktorat in Architekturgeschichte an der ETH Zürich. Lebte seit 1985 in Wien und arbeitete auf dem Gebiet der Architektur als Entwerfer, Historiker, Kritiker, Kurator und Austellungsmacher.

Seit 1989 gemeinsames Atelier mit Architekt Walter Hans Michl in Wien: Möbeldesign, Bau- und Wettbewerbsprojekte, Wettbewerbsorganisationen, Juryteilnahmen, städtebauliche Konzepte.

Bauten: Stadthaus in Wien-Neubau, Kirchenzentrum St.Benedikt in Wien-Simmering. Konzept und wissenschaftliche Leitung für die Steirische Landesausstellung 1995, „Holzzeit“ und Initiierung der „Murauer Werkstätten“ (mit Franziska Ullmann, Wien).

Buchpublikationen u.a. über Adolf Krischanitz, Gustav Peichl, Boris Podrecca. Regelmäßige Architekturkritik im Spectrum (Die Presse, Wien) sowie Beiträge in Fachzeitschriften und Ausstellungskatalogen.

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