Editorial

Die Ausgabe versammelt eine exemplarische Auswahl neuerer Konzepte und Wohnungsbauprojekte aus Tokio, die durch zwei Eigenheiten auffallen: zum einen die Radikalität der Wohnkonzepte, zum anderen ein sich veränderndes Verhältnis zur Stadt, das sowohl die Ebene der Wahrnehmung als des Gebrauchs betrifft.

So sieht eine jüngere Generation von Architekten wie Sou Fujimoto, Akihisa Hirata oder Junya Ishigami die Architektur als etwas absolut Autonomes an, das zunächst eine Umwelt schaffen soll, die der Mensch dann wie eine Höhle in Besitz nimmt und bewohnt. Das Credo des Funktionalismus „form follows function“ wird von ihnen nicht mehr als lineare Kausalkette mit der Funktion als Wirkungsgrund gesehen, sondern als wechselseitige Beziehung, die es erlaubt, dass beide Seiten dieses Verhältnisses zum Tragen kommen.

In dieser Perspektive, die man als „heuristischer Funktionalismus“ bezeichnen könnte, wird die Architektur nicht mehr für eine bestimmte Funktion entworfen, sondern soll aufgrund ihrer physischen Ausprägung eine bestimmte Art von Nutzung initiieren, aber nicht vorgeben. Ein interessanter Nebenaspekt, der sich dabei ergibt, ist die Tatsache, dass sich dadurch der absolut gesetzte Anspruch des Menschen auf Komfort relativieren lässt, der uns im Hinblick auf unser Verhältnis zur städtischen und natürlichen Umwelt in eine Sackgasse geführt hat. So weist das Heft über Tokio hinaus auf eine zukünftige Umwelt-Architektur, die vom Ende des „anthropischen Prinzips“ (Wolfgang Welsch) kündet.

Welche Schlüsse lassen sich darüber hinaus aus den vorgestellten japanischen Wohnbauten für europäische Architekten ziehen? Können wir nur mit Staunen die Radikalität der Projekte gourmethaft genießen und ansonsten achselzuckend darauf verweisen, dass bei uns ja ganz andere bautechnische Standards und klimatische Bedingungen herrschten? Dass es bei uns keine Bauherren gäbe, die solche Experimente eingehen würden? Die es in Kauf nähmen, die sichere Komfortzone zu verlassen, um ein anderes Leben zu führen? Sicherlich sind diese Einwände nicht ganz von der Hand zu weisen, aber sie dienen meist auch dazu, wieder ungestört zur Tagesordnung übergehen zu können. Das vorliegende Heft verfolgt daher das Ziel, das kreative Potenzial herauszuarbeiten, das in den vorgestellten Lösungen steckt und zum Weiterdenken anzuregen. Denn die Freiheit, die all diese Projekte auszeichnet, entsteht erst durch das Infragestellen vermeintlich eherner Gesetze und Gewohnheiten und in der Auseinandersetzung mit dem Alltäglichen und Vorgefundenen.


ARCH features 14
Mit dem Thema des Alltäglichen und Vorgefundenen beschäftigt sich auch der deutsche Beitrag zur 13. Architekturbiennale in Venedig, den wir in dieser Ausgabe exklusiv zur Eröffnung der Biennale umfassend darstellen. In einem ausführlichen Gespräch mit dem verantwortlichen Team – Muck Petzet, Konstantin Grcic, Erica Overmeer und Florian Heilmeyer – haben wir das Konzept „Reduce/Reuse/Recycle“ inhaltlich kontextualisiert und diskutiert.

Beim dargestellten Text handelt es sich um eine Kurzfassung.
Vollständigen Artikel ansehen. (http://www.archplus.net/home/archiv/artikel/46,3871,1,0.html)

Inhalt

02 Metabolismus: Die Bewegung des Last Minute-Opfers
Stephan Trüby

06 Brutalismus als Symptom. Japanische Architektur nach 1950
Jörg Gleiter

10 Terunobu Fujimoris Architektur der „Primitive-Garde“
Michaela Busenkell

11 Brutalismus – eine Phantomdebatte?
Florian Dreher, Annelen Schmidt

12 Pack’s an-Städtebau
Angelika Schnell

13 ARCH features 13: Wenn schon bauen, dann als Herausforderung
Peter Strobel

14 A Green Archipelago. Eine Ausstellung von Isa Melsheimer
Anh-Linh Ngo

16 ONLINE: Literatur zum Thema / PRINT: Autorenverzeichnis


Tokio: Die Stadt bewohnen

20 Editorial
Manfred Speidel im Gespräch mit Nikolaus Kuhnert und Anh-Linh Ngo

26 Learning from Tokyo
Markus Schaefer, Hiromi Hosoya

30 Metabolismus der Zwischenräume. Neue Typologien des Wohnens in Tokio
Yoshiharu Tsukamoto

35 Vier Gedanken zum Atelier Bow-Wow
Matthias Sauerbruch

36 Streifzüge durch den städtischen Alltag
Ioanna Angelidou


Primitive Future
46 Projekt: Tower House. Ein Vorläufer der Minihäuser in Tokio
Takamitsu Azuma

52 Bewohnte Naturen. Ioanna Angelidou im Gespräch mit Kumiko Inui
Kumiko Inui

56 Projekt: Apartment I
Kumiko Inui

60 Projekt: Garden & House. Haus mit hängenden Gärten
Ryue Nishizawa

66 Die Architektur der primitiven Zukunft
Sou Fujimoto

72 Projekt: House NA. Ein Haus wie ein Baum
Sou Fujimoto

76 Tangling. Plädoyer für eine neue Architektur der Verflechtung
Akihisa Hirata

80 Studien: Gallery S, Tree-Ness House, Tree-Ness City
Akihisa Hirata

82 Projekt: Coil. Spiralhaus
Akihisa Hirata

88 Projekt: Prism Liquid
Akihisa Hirata


Culture of Access
94 Tokio. Von der Zugangsökonomie zur kollaborativen Stadt
Stefan Gruber

100 Local Community Area. Kommunale Wohngruppen versus Einfamilienhaus
Riken Yamamoto

102 Projekt: Local Community Area
Riken Yamamoto

106 Projekt: Shinonome Canal Court CODAN Block 1
Riken Yamamoto

110 Projekt: Moriyama House
Ryue Nishizawa

116 Negotiating Boundaries
Johanna Meyer-Grohbrügge, Sam Chermayeff

118 Projekt: Okurayama Apartments
Kazuyo Sejima

122 Projekt: Yokohama Apartment
ON design

126 Das Ende des „Anthropischen Prinzips“.
Junya Ishigami im Gespräch mit Anh-Linh Ngo

128 Projekt: Group House. Seniorenwohnheim
Junya Ishigami

134 Home for All: Nach der Katastrophe. Die Rückkehr zum Wesentlichen
Julian Worrall
Projekte von Kazuyo Sejima + Ryue Nishizawa / SANAA; Kengo Kuma; Riken Yamamoto


New Standards
142 Privatheit des Hauses und Dynamik der Straße
Giovanna Borasi

146 Projekt: House A
Ryue Nishizawa

152 Projekt: House N. Ein Haus wie eine Wolke
Sou Fujimoto

156 Projekt: House in Sakuradai
Go Hasegawa

162 Projekt: Apartment in Nerima
Go Hasegawa

168 Einschränkung als Herausforderung. Wohnungsbaustandards in Japan und Europa
Jeanette Kunsmann

170 Die Architektur der differenziert-temperierten Umwelt. Das Projekt „Antivilla“ von Brandlhuber
Brandlhuber


ARCH features 14
172 Reduce/Reuse/Recycle
Muck Petzet, Konstantin Grcic, Erica Overmeer und Florian Heilmeyer
im Gespräch mit Nikolaus Kuhnert und Anh-Linh Ngo

Learning from Tokyo

Im März diesen Jahres fanden ein Symposium und eine Ausstellung mit dem Titel „Learning from Tokyo“ statt, bei denen neue, innerstädtische Wohnbauten junger, innovativer Architekturbüros aus Japan vorgestellt und diskutiert wurden. Die Ausstellung, deren Projektauswahl zum Teil in diesem Heft wiedergegeben und mit weiteren Beispielen ergänzt ist, zeigte die Qualität und Vielfalt an Wohnraum, die auf kleinen und kleinsten Grundstücken mit geringen Budgets im Zentrum einer Stadt wie Tokio geschaffen werden konnten. Das Symposium stellte einige der Protagonisten dieser neuen Generation japanischer Architekten vor und ermöglichte einen Dialog mit Schweizer Architekten, Planern, Vertretern der Stadtverwaltung von Zürich und der interessierten Öffentlichkeit.

Der aktuelle Grund des Symposiums war die derzeitige rege Diskussion über städtische Dichte in Zürich. Stadt und Region Zürich wachsen. Um das selbstauferlegte Ziel eines nachhaltigen Wachstums zu erreichen, sollen sie verdichtet werden. Aber was bedeutet städtische Dichte und wie kann sie mit der hohen Lebensqualität Zürichs in Einklang gebracht werden? Denn bereits jetzt bildet sich politischer Widerstand gegen das Wachstum – protektionistisch mit Vorbehalten gegen Zuwanderung und ökologisch mit Argumenten gegen Größe und Dichte an sich. Die Stadt Tokio ist fast viermal dichter besiedelt als die Stadt Zürich, der Großraum Tokio hat 16-mal mehr Einwohner als die Metropolitanregion Zürich. Dennoch gilt Tokio als Stadt mit sehr hoher Lebensqualität. Ausgehend von aktuellen Wohnbauprojekten japanischer Architekten wollten wir der Frage nach räumlicher und funktionaler Qualität nachgehen und beim kleinen Maßstab beginnend auch den großen Maßstab, das Stadtverständnis der beiden Kulturen beleuchten. Damit erhält die Gegenüberstellung eine Bedeutung über das Fallbeispiel Tokio hinaus. es geht schlussendlich um den Vergleich des traditionellen Modells der europäischen Stadt und seiner Unterscheidung von historischem Kern und Peripherie, und Tokio, das als ganzes eine Art Stadt gewordene Peripherie darstellt. Es geht um Denkmodelle und Arbeitsmethoden der Architekten und Städtebauer in ihrem jeweiligen spezifischen Kontext und es geht um Zukunftsfähigkeit, die Fähigkeit, auf sich abzeichnende Entwicklungen elastisch zu reagieren.

10. September 2012 Markus Schaefer, Hiromi Hosoya

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Vier Gedanken zum Atelier Bow-Wow

(SUBTITLE) 01 Zwischenraum

Das Atelier Bow-Wow wurde 1992 von Momoya Kaijima und Yoshiharu Tsukamoto gegründet, nachdem diese ihr Studium am Tokyo Institute of Technology und an der ETH Zürich bzw. der Ecole d'Architecture Belleville in Paris abgeschlossen hatten. Um das Jahr 2000 machte sich das Atelier Bow-Wow mit seinen Architekturführern einen Namen, welche die Alltagspoesie der dichten Stadtlandschaft von Tokio entfalten. Seither hat das Büro etwa 40, größtenteils sehr kleine Häuser gebaut. Diese Miniaturhäuser fügen sich in die Zwischenräume der städtischen, in manchen Fällen auch ländlichen Umwelt ein, die sie im physischen wie im kulturellen Sinne bewohnen. Sie etablieren sich in den engen Lücken zwischen unspektakulären Gebäuden der 40er, 60er und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts und nehmen einen Raum zwischen gesetzlicher und technischer Restriktion und sozialer und kultureller Konvention ein.

Trotz maximaler Einschränkungen sind die entstehenden architektonischen Figuren sehr einfallsreich. Atelier Bow-Wow bringt aus dem Gewöhnlichen überraschend Idiosynkratisches hervor; sie können die Banalität des Alltäglichen mit einer ebenso liebevollen wie ungewöhnlichen Qualität aufladen. Sie schrecken nicht davor zurück, Materialien direkt aus dem Baumarkt zu verwenden, da sie gängige Bautechniken verwenden, doch ihre Vorschläge sind alles andere als vorhersagbar. Auch wenn ihre Haltung stärker von den Smithsons als von Tadao Ando inspiriert ist, ist ihre Praxis im Wesentlichen japanisch und scheint auch fest in den Kontext des japanischen Lebens eingebettet zu sein. Diese Praxis bringen sie nun im Rahmen des BMW Guggenheim Labs auch nach Berlin: Dies ist offenkundig ein Experiment und wirft die Frage auf, ob sich diese Beziehung von Verhalten und architektonischer Form auch umkehren lässt, d. h. ob die Füllung imstande sein wird, eine passende Lücke zu finden oder gar zu erzeugen.

10. September 2012 Matthias Sauerbruch

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Studien: Gallery S, Tree-Ness House, Tree-Ness City

(SUBTITLE) Gallery S (Studie)

Mit dem Prinzip der Faltung will Hirata die Architektur vom reinen Aneinanderreihen und Stapeln von Funktionen wegführen und fließende, scheinbar natürlich gewachsene Raumkompositionen erschaffen, die das Gebäude und seine Nutzer mit der Umwelt interagieren lassen.

Tree-Ness House (Studie)

Wie beim Projekt Gallery S wird beim Entwurf eines baumartigen Hauses (tree-ness house) das generative Prinzip der Oberflächenmaximierung in einem größeren Maßstab angewendet.

Tree­ness City

Mit dem Entwurf einer baumartigen Stadt (tree-ness city) vollzieht Hirata einen weiteren Maßstabssprung.

10. September 2012 Akihisa Hirata

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