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06. September 2013Jürg Conzett
TEC21

Vom Stahl zum Beton

Viele Konstruktionen Nervis greifen formal auf Ingenieurformen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurück, wie der Bauingenieur Jürg Conzett erläutert. Nervi arbeitete oft wie ein historistischer Architekt mit Zitaten oder Anspielungen, nur benutzte er als Formenschatz die Werke von Ingenieuren.

Viele Konstruktionen Nervis greifen formal auf Ingenieurformen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurück, wie der Bauingenieur Jürg Conzett erläutert. Nervi arbeitete oft wie ein historistischer Architekt mit Zitaten oder Anspielungen, nur benutzte er als Formenschatz die Werke von Ingenieuren.

Die Baustatik ist erst wenige hundert Jahre alt. Sie kann Ingenieuren dazu dienen, die Sicherheit und Leistungsfähigkeit gegebener Formen zu verbessern. Mit diesem Instrument können sie neue, intuitiv nicht unbedingt verständliche Formen schaffen. Doch viele Entwicklungen in der Konstruktionsgeschichte waren zunächst Extrapolationen bekannter Formen auf andere Materialien oder Verfeinerungen bestehender Konzepte. So waren Henri Labroustes Pariser Bibliotheken (1843–1868) innovativ in der Verwendung des Eisens und der dadurch entstehenden neuen Proportionen, die Grundformen seiner Bauten zeigten aber offensichtliche Bezüge zu historischen Bauten aus Stein und Holz (Abb. 01).

Ein Gegenbeispiel für eine neue Form war die «Kegelschale», die Sir Christopher Wren in der St. Paul’s Cathedral (erbaut von 1666 bis 1708) konstruierte: «[…] the design must be regulated by the art of statics» bemerkte er. Wir wissen nicht genau, wie er beim Entwurf dieses Baus vorging. Die Schöpfung dieser neuen Form setzte Wissen über die Gleichgewichtsverhältnisse in räumlichen Gebilden voraus. Im Gegensatz dazu waren Anwendungen der statischen Theorie zur Bestimmung der idealen Form von Gewölben mithilfe von Seilpolygonen eher eine Bestätigung und Präzisierung des bereits vorhandenen Wissens.

Fachwerke als Vorbilder

Eine Neuschöpfung des 19. Jahrhunderts war der «Schwedlerträger» (Abb. 02), ein Fachwerk, dessen gebauchter Obergurt so geformt war, dass in den Diagonalen nur Zugkräfte auftreten – was Material einsparte. Die Form des Schwedlerträgers ist intuitiv nicht zu verstehen, sondern setzt genaue Kenntnisse der statischen Verhältnisse in Fachwerkträgern voraus. Seine bedeutendste Anwendung fand er in weitgespannten Eisenbahnbrücken; für Hochbauten hingegen brachte er keine Vorteile. Die Architekten des 19. Jahrhunderts taten sich meist schwer mit Stahlfachwerken, die eine Hauptaufgabe der damaligen Ingenieure bildeten. Wenige Ausnahmen bestätigten die Regel: Jules Astruc benutzte sichtbare Fachwerke in der Kirche Notre-Dame-du-Travail (Paris, 1902), und Victor Horta feierte die ästhetische Wirkung einer fachwerkförmigen Rahmenkonstruktion in der Maison du Peuple in Brüssel (1899). Dramatisch war die Wirkung der halb gezeigten Fachwerkträger im Zürcher Hallenstadion von Karl Egender und Robert Naef (1939), der damals weitestgespannten Halle Europas (Abb. 03). Alle diese Bauten sind interessanterweise als Orte der Arbeiterbewegung bekannt geworden. Für bürgerliche Bauaufgaben erinnerte das Stahlfachwerk offenbar zu stark an Industrie.

Zitate und Anspielungen in Beton

Nach dem Zweiten Weltkrieg verschwand diese soziale Konnotation der Fachwerke. Mies van der Rohes Convention Hall (IIT, 1954–1956) war frei von derartigen Zuordnungen. und auch Nervis betonierte Fachwerke waren einfach unerhörte, neuartige Bauwerke. Dabei machte Nervi etwas durchaus Ähnliches wie Labrouste: Er wechselte das Material einer bereits bekannten Form. Kein anderer Ingenieur hatte sich derart intensiv mit Fachwerken aus Beton auseinandergesetzt. In Nervis Busterminal von 1963 an der George Washington Bridge in New York erhielten die relativ konventionellen Dreiecksfachwerke des Dachs eine neue, noch unbekannte Wirkung durch ihre Ausführung in Beton, ihre Funktion als Lichtspender und ihr spannungsvolles Verhältnis zu den Stahlfachwerken der Pylone der grossartigen Hängebrücke von Othmar Ammann von 1931 (Abb. 04).

Oft bezog sich Nervi auf formale Muster der Ingenieurgeschichte, was für sein Schaffen charakteristisch war. Im Gegensatz zu Robert Maillart, der versuchte, sich von Formen der Vergangenheit zu lösen, arbeitete Nervi wie ein historisierender Architekt mit Zitaten oder Anspielungen – nur benutzte er als Formenschatz nicht die griechische Klassik, sondern Konstruktionstypen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Deutlich wurde dies in seinem Entwurf für die Brücke über die Meerenge von Messina von 1969 (Abb. 05). Im Unterbau erschien das Vorbild der russischen Türme, die seit Schuchows Fernsehturm in Moskau von 1922 international bekannt waren, darauf standen verspannte Rohrstützen in der Art Ivan Leonidovs. Dieser Brückenentwurf war eine Collage aus Elementen des russischen Konstruktivismus, die Nervi in Beton übersetzte. Das Konstruktionskonzept der Türme bot ingenieurmässig keine Vorteile – es wäre mit den vielen Kabeln und geneigten Tragebenen schwierig zu bauen gewesen. Aber dies interessierte Nervi hier weniger, vielmehr war dieser Entwurf ein Manifest für eine Ingenieurklassik, entstanden aus Formen, die erst Ingenieure mithilfe der statischen Theorie entwickeln konnten. Die architektonische Grundhaltung der Brücke war den burgenartigen Portalen der wilhelminischen Rheinbrücken verwandt. Der wesentliche Unterschied war, dass das Pathos hier mit formalen Mitteln des Ingenieurbaus, nicht der Architektur erzeugt wurde.

Rippen und andere Ornamente

In den «isostatischen Rippendecken» folgten die Rippen den Richtungen der Hauptmomente einer konstant starken Platte. Statisch war diese Rippenanordnung nicht notwendig, denn in einer Rippendecke folgen die Momente zwangsläufig der Richtung der Rippen; der Ingenieur ist frei in ihrer Anordnung. Die Entscheidung Nervis war nicht nur statisch, sondern auch ornamental begründet. In der Wahl ingenieurmässiger Formen für Repräsentationszwecke stand Nervi nicht allein. Der rationalistische Architekt Giuseppe Terragni versah die hängenden Fassaden seines Wettbewerbsentwurfs von 1934–1937 für den römischen Palazzo Littorio mit Edelstahlbändern in der Richtung der Hauptspannungstrajektorien: Anwendungen der Baustatik lieferten Formen für die italienische Moderne.

Nervis Drang nach einem über das Pragmatische hinausweisenden Ausdruck der Ingenieurarbeit zeigte sich auch in der von 1961 bis 1964 erbauten Papierfabrik «Cartiera Burgo» bei Mantova: Der Wunsch nach einer stützenfreien Halle wäre mit einer leichten, quer über den Raum gespannten Dachkonstruktion einfach zu befriedigen gewesen; doch Nervi hängte das Dach an ein längs laufendes hängebrückenartiges Tragwerk, dessen zwei betonierte Pylone sich schräg der Resultierenden der Tragketten entgegenstemmten: ein weithin sichtbares, wunderbares Zeichen für die Fabrik und die bildnerische Kraft der Ingenieure.

Bild, Modell und Wirklichkeit sind nicht dasselbe

Dass Form und statische Funktion bei Nervi bisweilen auch auseinanderklafften, zeigt die Halbkuppel des Turiner Ausstellungsgebäudes Salone Principale (1948–1949). Die von unten sichtbaren Rippen waren in der Art einer Schwedlerkuppel radial auf den zentralen Punkt im Scheitel ausgerichtet. Da es sich aber um eine Halbkuppel handelte, fehlte diesen im Normalfall auf Druck wirkenden Rippen der kraftausgleichende Gegenpart. Tatsächlich war die Tragwirkung der Halbkuppel jener einer Schar paralleler Ringe wachsender Spannweite quer zur Gebäudeachse vergleichbar. Die Rippen übernahmen eine aussteifende Funktion, die jedoch mit der durch ihre Richtung suggerierten Wirkungsweise wenig zu tun hatte. Interessant war, wie Nervi diese Diskrepanz mit einem breiten glatten «Gurtbogen» zwischen Halle und Halbkuppel sozusagen abfederte; bis zu einem gewissen Grad wäre dieser durchaus in der Lage, einen längs gerichteten Horizontalschub der gebündelten Rippen aufzunehmen. Nervis Werke lebten von der Spannung zwischen Bild, statischem Modell und nicht immer klar erfassbarer Wirklichkeit; diese Spannung ist eine der Qualitäten, die in der Auseinandersetzung mit seinem Werk faszinieren.

TEC21, Fr., 2013.09.06



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2013|37 Pier Luigi Nervi

11. Januar 2010Jürg Conzett
Steeldoc

Geflügelte Schwere

In einer grosszügigen Geste spannen sich drei weit auskragende Dachflügel über die Haltestelle der Glattalbahn am Zürcher Flughafen. In einer facettenreichen Verschränkung von Form und Licht begleiten sie den Reisenden auf seinem Weg bis zum Flughafeneingang. Dem Ort verleihen die körperhaften Kragarme ein spannungsvolles, urbanes Gesicht.

In einer grosszügigen Geste spannen sich drei weit auskragende Dachflügel über die Haltestelle der Glattalbahn am Zürcher Flughafen. In einer facettenreichen Verschränkung von Form und Licht begleiten sie den Reisenden auf seinem Weg bis zum Flughafeneingang. Dem Ort verleihen die körperhaften Kragarme ein spannungsvolles, urbanes Gesicht.

Steigt man am Flughafen Zürich aus dem Tram, erscheint das neue Perrondach angenehm unaufdringlich. Als schmaler Streifen erstreckt es sich zwischen Strassenstützmauer und Bahnsteigkante relativ niedrig über den Reisenden und schützt sie dadurch vor Regen und Schnee. Seitliche Stützen fehlen und der Blick wendet sich ungehindert nach links auf den weiträumigen Platz und zu dem in einer einladenden Geste schräg hochgeklappten und im Grundriss kreissegmentförmig geschwungenen älteren Dach über den Bushaltestellen. Grosszügig ist diese Anlage und sie weist ungewohnte Dimensionen auf, die zu einem internationalen Flughafen passen. Ein weiterer schmaler Dachstreifen führt quer über die Schienen unter das bestehende Dach zum Eingang in den Flughafen. Erst jetzt, wenn man sich umdreht, erkennt man die wahre Grösse der neuen Konstruktionen: Die scheinbare Leichtigkeit der durchsichtigen Dachflächen wird möglich dank mächtiger stählerner Kastenträger, die bei den Perrons jeweils seitlich über den Dachkanten liegen und daher von unten wenig auffallen. Vom Flughafengebäude aus gesehen verbindet sich die Anlage mit der langen Strassenstützmauer und rahmt ihre zentrale, nach Kloten hin führende Öffnung ein.

Zum einen ist die Konstruktion äusserst pragmatisch, ihre Grundfläche ist minimiert und reicht gerade aus, um Menschen im Trockenen vom Bahnsteig in den Flughafen zu führen. Diese vordergründige Bescheidenheit steht in einer Spannung zu den gewaltigen Auskragungen der Dachträger von über dreissig Metern. Was aus der Fernsicht den Massstab der umliegenden Bauwerke aufnimmt, sorgt aus der Nähe paradoxerweise dafür, dass die weitgespannten Dächer weit weniger präsent sind, als wenn sie durch sich wiederholende Stützenfolgen ständige Aufmerksamkeit einfordern würden.

Auskragende Kastenträger aus Stahl

Das Tragwerk besteht aus Stahl. Ein grosser Vorteil dieser Bauweise ist die Vorfertigung im Werk und die kurze Montagezeit auf dem durch den ständigen Bus- und Fussgängerverkehr stark belebten Areal. Das Gewicht des Stahlbaus ist vergleichsweise gering, daher genügen einfache Fundationen im teilweise unterbauten Gebiet; auch passen die Stahlträger gut zum bestehenden Bushofdach. Die beiden Perrondächer tragen an den zur Mitte hin liegenden Enden ihrer Auskragungen den dritten, zu ihnen quer verlaufenden Träger. Die Lager dieses Trägers sind jeweils in eine Richtung beweglich, um gegenseitige Zwängungen aus Temperaturdehnungen zu vermeiden. Der dritte Träger wirkt statisch als einseitig eingespannter Balken mit einfachem Auflager.

Bemerkenswert ist die technisch wie architektonisch sorgfältige Detaillierung der Konstruktion. Die Blechstärke der geschweissten Hohlkastenträger wurde aus gestalterischen Gründen so gewählt, dass die beim Schweissen unvermeidliche Beulung der Stehbleche gering bleibt. Weil die Aussteifungsrippen im Innern der Kasten im Abstand der Querträger angeordnet sind, gibt das Bild der Beulungen die Ordnung der Sekundärstruktur wieder. Die vom Hauptträger «figurativ » abgesetzten Querträger dienen neben ihrer Tragfunktion auch als Wasserrinnen, überdies versteifen sie als Elemente eines liegenden Vierendeelträgers die schlanken Hauptträger gegen horizontale Windeinwirkungen. Die nicht direkt sichtbare Dachhaut besteht aus kostengünstigen transluzentenWellplatten; die Untersicht und eigentlich wahrnehmbare Dachfläche wird aus ebenfalls lichtdurchlässigen, von den Querträgern abgehängten, tuchartigen Streckmetalltafeln gebildet.

Anerkennung Prix Acier 2009

Die Überdachung ergänzt das Gesamterscheinungsbild des Flughafeneingangs mit dem Bushof (Prix Acier 2005) durch eine erkennbare Eigenständigkeit. Der skulpturale Charakter und eine gewisse schlichte Schwere kontrastieren mit den extremen Auskragungen der Flügel und verdeutlichen damit, dass hier Stahl trägt. Dem Bushofdach ordnet sich diese Dachstruktur zwar unter, bildet jedoch als Bindeglied zur gegenüberliegenden massiven Stützmauer der Strasse eine angemessene repräsentative Identität. Die Jury des Prix Acier 2009 würdigte die einprägsame formale Umsetzung dieser grosszügigen, körperhaften Konstruktion, welche die Statik spüren lässt und für eine hohe Aufenthaltsqualität für Wartende sorgt.

Steeldoc, Mo., 2010.01.11



verknüpfte Zeitschriften
steeldoc 2009/04 Verkehr und Transit

10. April 2007Jürg Conzett
TEC21

Bauingenieurwettbewerbe im Hochbau

Der Bauingenieurwettbewerb kann im Hochbau für alle Betei­ligten interessante Resultate liefern. Unter «Bauingenieurwettbewerb» ist nicht der klassische Ingenieurwettbewerb, etwa für Brücken, zu verstehen, sondern ein kürzeres, vielfältiges und anpassungsfähiges Verfahren, das sich im Hochbau zwischen die «Team-Wettbewerbe» und die «Submissionsverfahren mit Konzepteingabe» einreiht.

Der Bauingenieurwettbewerb kann im Hochbau für alle Betei­ligten interessante Resultate liefern. Unter «Bauingenieurwettbewerb» ist nicht der klassische Ingenieurwettbewerb, etwa für Brücken, zu verstehen, sondern ein kürzeres, vielfältiges und anpassungsfähiges Verfahren, das sich im Hochbau zwischen die «Team-Wettbewerbe» und die «Submissionsverfahren mit Konzepteingabe» einreiht.

Der Team-Wettbewerb ist für Aufgaben geeignet, bei denen die Zusammenarbeit zwischen Architekt und Bauingenieur von Anfang an stattfinden muss, beispielsweise für grosse Sportstadien. Bei Bauvorhaben von hauptsächlich städtebaulich-architektonischer Bedeutung besitzt der Team-Wettbewerb aber auch Nachteile, denn es gibt in der Regel mehr teilnahmewillige Architekten als Ingenieure. Das heisst, die Gruppenbildung beruht darauf, wer am schnellsten auf die Ankündigung eines Verfahrens reagiert. Sie wird dadurch zumindest teilweise zufällig, und die Bauingenieure wirken ungewollt als Selektionsinstrument für die Architekten. Umgekehrt besitzen in diesen Fällen Fragen der Tragkonstruktion bei der Beurteilung eher eine beiläufige Bedeutung, und es findet dadurch keine eigentliche Selektion der Ingenieure statt. Bei kleineren Aufträgen ist das Submissionsverfahren mit Konzepteingabe zwar besser als die reine Honorarsubmission; es birgt in sich jedoch die Gefahr einer gewissen Oberflächlichkeit, da die Beurteilung üblicherweise nicht durch eine Jury erfolgt.

Der Bauingenieurwettbewerb im Hochbau kann etwa anschliessend an einen erfolgreichen Architekturwettbewerb durchgeführt werden. Das Interessante an diesem Verfahren ist, dass sich die Beteiligten (Bauherrschaften, Architekten, Jury) für eine bestimmte Zeit im Planungsprozess gezielt Fragen der Tragwerksgestaltung zuwenden. Selten werden sonst Fragen der Leistungsfähigkeit unterschiedlicher konstruktiver Lösungen und der Wechselwirkung zwischen Tragwerk und Architektur derart intensiv diskutiert wie während der Beurteilung eines Bauingenieurwettbewerbs. Natürlich ist der Erfolg dieses Verfahrens an bestimmte Voraussetzungen gebunden: Das zugrunde liegende architektonische Konzept muss ein sinnvolles Tragwerk überhaupt ermöglichen, und aus den Resultaten des Bauingenieurwettbewerbs sind Rückwirkungen auf das architektonische Konzept zu erwarten, was von Bauherrschaft und Architekt eine entsprechende Offenheit verlangt.
Nach meiner Erfahrung handelt es sich bei dieser Form des Bauingenieurwettbewerbs noch nicht um ein allgemein bekanntes und anerkanntes Verfahren. Das hat einerseits mit dessen Zeitbedarf zu tun, andererseits aber auch mit dem immer noch verbreiteten Berufsbild des Ingenieurs als «Rechner». Der Bauingenieurwettbewerb ist ein überzeugendes Mittel, diesem Vorurteil entgegenzutreten – mich hat jedesmal die Vielfalt der eingegebenen Lösungsvorschläge selbst bei anscheinend einfachen Aufgaben überrascht. Tatsächlich ist der mögliche Anwendungsbereich für Bau­ingenieurwettbewerbe vielfältig. Das Verfahren ist sehr gut auch für kleinere Aufgaben geeignet, und gerade hier könnte es einen Beitrag dazu leisten, die Wahl von Bauingenieuren nach qualitativen Auswahlkriterien wieder zur Regel werden zu lassen, denn kleinere Aufträge sind das tägliche Brot.

Schulhaus Oescher, Zollikon
Für das Schulhaus Oescher in Zollikon wurden sieben Ingenieurbüros eingeladen, aufgrund der Architektenpläne im Massstab 1:200 konzeptionelle Vorschläge für ein sinnvolles Tragwerk zu unterbreiten. Die Jury bestand aus vier Bauherrschaftsvertretern, dem Architekten und einem externen Bauingenieur. Sie verglich die Eingaben einerseits hinsichtlich technischer Qualität, Wirtschaftlichkeit und architektonischen Potenzials. Andererseits wurden auch die Honorarofferte und die Referenzen der Bewerber mitbeurteilt. Die Gewichtung erfolgte mit 45 % für die konzeptionelle Qualität, 30 % für die Referenzen und 25 % für die Honorarofferte. Zur Beurteilung der architektonischen Wirkung liess die Jury von allen Vorschlägen Kartonmodelle erstellen. Den ersten Rang erzielte ein statisches Konzept, das aus einer Skelettkonstruktion bestand, deren Decken dank mittragenden ­Brüstungen in den Ecken weit auskragen. Es entsprach dem gewünschten architektonischen Ausdruck nach einem schwebenden Baukörper mit grossen Öffnungen und war gleichzeitig eine vergleichsweise wirtschaftliche Lösung.

Geschäftshaus Würth, Chur
Ein ähnliches Verfahren wurde für die Vergabe der Bauingenieurarbeiten für das Geschäftshaus der Würth Holding in Chur gewählt. Hier lud man drei Ingenieurbüros ein, konzeptionelle Vorschläge für ein Tragwerk zu unterbreiten. Wiederum dienten Architektenpläne im Massstab 1:200 als Grundlage. Das Preisgericht bestand aus einem Bauherrschaftsvertreter, dem Architekten und einem externen Bauingenieur. Bewertet wurden Konzept, Referenzen und Honorarofferte, eine Gewichtung wurde nicht formuliert. Die nicht beauftragten Ingenieurbüros erhielten eine Entschädigung zwischen 1000 und 3000 Franken. Besonders interessant war bei diesem Bauingenieurwettbewerb, dass das siegreiche statische Konzept zu einer Projektänderung bei den Architekten führte. Die Idee, die beiden Gebäudekerne mit weitgespannten Unterzügen stützenfrei zu verbinden, machte die einzelnen Geschossdecken voneinander unabhängig. Dadurch konnten die Deckenränder des zentralen Lichthofs unterschiedlich weit ausgekragt werden, was dazu führte, dass die einzelnen Stockwerke nun ganz unterschiedliche Raumeindrücke und Lichtstimmungen erhalten – eine architektonische Qualität, die erst aufgrund der Resultate des Bauingenieurwettbewerbs entdeckt und ermöglicht wurde.

Tivoli-Areal, Chur
Es gelang, die Besitzerin der Wohnhäuser des Tivoli-Areals in Chur davon zu überzeugen, dass ein Bauingenieurwettbewerb selbst für Wohnungsumbauten sinnvoll durchgeführt werden könne. Fünf Bauingenieurbüros wurden eingeladen, Vorschläge für die Ergänzung der bestehenden Decken im Bereich aufzuhebender Treppenhäuser einzureichen. Abgegeben wurden Pläne im Massstab 1:50 der bestehenden Konstruktion. Mitgeliefert wurden standardisierte, hinsichtlich Schalldurchgang vom Bauphysiker geprüfte Bodenaufbauten, die fallweise für massive oder leichte Deckenkonstruktionen verwendet werden sollten. Die Jury bestand aus zwei Bauherrschaftsvertretern, dem Architekten und einem externen Bauingenieur. Bewertet wurden die Vorschläge und die Referenzen ohne explizit formulierte Gewichtung, das Honorar wurde gemäss Ausschreibung erst nach dem Verfahren aufgrund des SIA-Leistungsmodells ausgehandelt. Sämtliche Teilnehmer erhielten eine Entschädigung von 2500 Franken. Die vermeintlich alltägliche Aufgabenstellung brachte fünf ganz unterschiedliche Lösungsansätze zu Tage, die sowohl monolithisch ergänzte und verzahnte Betonplatten wie auch Stahlträgerroste oder neue Holzbalkenlagen umfassten. Die Kosten der Vorschläge variierten pro Wohnungseinheit zwischen 5000 und 7600 Franken, was angesichts der zahlreichen Wohnungen den Wettbewerb für die Bauherrin schon aus wirtschaftlichen Gründen rechtfertigte. Mit beurteilt wurden die Konsequenzen der verschiedenen Vorschläge im Hinblick auf die Gestaltung der jeweiligen Bauabläufe.

Bundesverwaltungsgericht, St. Gallen
Für den Neubau des Bundesverwaltungsgerichts in St. Gallen wurde aus Gründen der Planungstermine gleich nach dem Architekturwettbewerb ein «Konzept-Bauingenieur» bestimmt, der im Rahmen seines Auftrags auch einen Bauingenieur-Leistungswettbewerb mitorganisierte. Der Kern des Leistungswettbewerbs bestand aus abzuliefernden Bemessungsproben von Betonbauteilen, deren Abmessungen bereits zuvor vom Konzeptingenieur festgelegt wurden. Die Teilnehmer hatten für die schlanken Decken die Vorspannung und die schlaffe Bewehrung zu bemessen. Weiter waren Vorschläge zur konstruktiven Durchbildung der aussen liegenden Fassadenstützen mit ihren Anschlüssen einzureichen. Daneben waren Erfahrungsnachweise anhand von Referenzen und das Honorarangebot gefordert. Das Beurteilungsgremium bestand aus zwei Bauherrschaftsvertretern (Architekten), dem projektierenden Architekten, dem Konzeptingenieur und einem weiteren externen Bauingenieur. Beurteilt wurden die Bemessungsproben (mit 50 % Gewicht) ausschliesslich vom Konzept- und dem zweiten externen Bauingenieur, die Referenzen (mit 30 % Gewicht) und die Honorarofferte (mit 20 % Gewicht) vom gesamten Beurteilungsgremium. Der Wettbewerb war offen, es erfolgten zehn Eingaben. Überraschend war wiederum die Bandbreite der vorgeschlagenen Bemessungslösungen, die von formtreuen Vorspannungen bis zu dicht bewehrten, nicht vorgespannten Decken reichte. Ähnliche Unterschiede zeigten sich bei der Bearbeitung der Stützen. Die Spanne der Kosten der Vorschläge für Vorspannung und Bewehrung schwankte zwischen 100 und 214%.
Die hier vorgestellten Verfahren betreffen Situationen, in denen üblicherweise keine Wettbewerbe durchgeführt werden. Sie weiten damit das Wettbewerbswesen auf bisher eher unerschlossene Gebiete aus. Ich wage zu behaupten, dass damit bei den Bauherrschaften eine gewisse Aufklärung über die Vielfältigkeit der Bauingenieurarbeit stattgefunden hat.

TEC21, Di., 2007.04.10



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2007|15 Kulturgut Wettbewerbe

04. März 2003Jürg Conzett
Neue Zürcher Zeitung

Abenteuer Konstruktion

Heinz Hossdorf und die Kunst des Bauingenieurs

Heinz Hossdorf und die Kunst des Bauingenieurs

Den herausragenden Qualitäten seines Lebenswerks, seiner Vielseitigkeit und seinem unkonventionellen Denken zum Trotz ist der Bauingenieur Heinz Hossdorf bisher von einer breiten Öffentlichkeit nicht in dem ihm zustehenden Mass wahrgenommen worden. Sein Buch «Das Erlebnis Ingenieur zu sein» bietet nun die Möglichkeit, sich mit seinem Werk gründlich auseinanderzusetzen. Im ersten Teil, überschrieben mit «Baukonstruktionen», werden vierzehn ausgeführte Bauten vorgestellt, darunter die Goldzack-Werke in Gossau, der Pavillon «Les échanges» der Expo 64 in Lausanne und das bis in die Freitreppen virtuos durchgestaltete Betonwerk in Gunzgen. Anschliessend erklärt Hossdorf die formale und materialgerechte Umsetzung statischer Konzepte. Bei räumlichen Gebilden wie Schalenkonstruktionen besteht keine eindeutige Beziehung zwischen leistungsfähigster Form und Beanspruchung. Die dadurch mögliche Vielfalt der letztlich intuitiven Formfindung fasziniert Hossdorf, und deshalb liebt er komplexe räumliche Tragwerke. Um diese realisieren zu können, muss er seine technischen Hilfsmittel über die Grenzen der ebenen Stabstatik hinaus erweitern.


Assoziative Lösungsvorschläge

Ab den fünfziger Jahren beginnt er, sein Laboratorium für Modellstatik aufzubauen. Der Einbezug des Computers führt später zur Hossdorf'schen Hybridstatik, bei der Messungen an Modellen mit elektronischer Datenverarbeitung verknüpft werden. Die Geschichte des Versuchslabors mit all den eigens dafür entwickelten Maschinen und Geräten bildet den zweiten, mit «Entwurfswerkzeuge» überschriebenen Teil des Buches. Ein abschliessendes Kapitel über Hossdorfs spätere Forschungstätigkeit zur Computermodellierung der gegenständlichen Welt ist vom Physiker und Informatiker Peter Dietz verfasst worden.

Bereits bei einem Tragwerk geringer Komplexität ist die Form das Ergebnis einer persönlichen Interpretation des Problems und damit eine individuelle Wahl. Der Entscheid für ein statisches System wird durch die Vorstellungswelt des Entwerfenden geprägt, und diese ist Quelle assoziativer Lösungsvorschläge, die anschliessend auf ihre Tauglichkeit überprüft werden müssen. Damit distanziert sich Hossdorf von der üblichen Anschauung, dass Bauingenieurarbeit vorwiegend rational determiniert sei, einer Haltung, die innerhalb der Zunft auch deshalb weit verbreitet ist, weil sie ihren Vertretern Macht aus der angeblich unbestechlichen Berechenbarkeit verleiht. Erfrischend ist auch, wie Hossdorf die gegenwärtig modischen organischen Analogien zwischen Tragwerk und Formen der Tier- und Pflanzenwelt als untauglich bezeichnet und die Bedeutung der Idealformen der anorganischen Welt (wie aufgelegte Tropfen usw.) auf diejenige von Denkanstössen begrenzt.

Aus der historischen Tatsache, dass Ingenieurtheorien in der Regel post festum entstanden sind, schliesst er, dass auch der Seitenblick auf eine zufällige und limitierte Sammlung von bereits bestehenden Tragwerkstypologien wenig leistungsfähig sei. Von zentraler Bedeutung hingegen ist ihm die taktile Wahrnehmung, die für den Konstrukteur weit lebenswichtiger als der Sehsinn sei, und er weist darauf hin, dass ein Kleinkind, dessen Drang zum Aufschlitzen, Aufbrechen und Kaputtmachen unterbunden werde, später nie einen intuitiven Bezug zur physischen Wesensart der Materie entwickeln könne.


Ingenieur im umfassendsten Sinn

Für Hossdorfs Arbeitsweise ebenfalls bezeichnend ist sein unbefangener Umgang mit «Störungen»; seine Werke sind nicht idealistisch im Sinn einer «reinen Form», die der Konfrontation mit der brutalen Realität ausweicht. Vielmehr empfindet Hossdorf geradezu Freude daran, die Robustheit und Anpassungsfähigkeit seiner Systeme in der rauen Wirklichkeit zu erproben und sich von widrigen Umständen inspirieren zu lassen. So ist die Zugschale des Stadttheaters Basel an ihrem unteren Rand nur punktuell gehalten. Das heisst, zwischen diesen Verankerungsstellen gibt es Dachpartien, die spannungslos und damit schlaff sind. Genau da schlitzt nun Hossdorf die Schale auf, fixiert die dadurch entstandenen Streifen auf verschiedenen Höhen und füllt die dazwischenliegenden vertikalen Zwickel mit Betonstreifen, die statisch als kurze, in der Aussenwand eingespannte Kragarme wirken und damit die schlaffen Schalenteile wirkungsvoll versteifen.

Als Zugabe ergeben sich daraus neue, unerwartete Möglichkeiten der Raumbelichtung, und ein scheinbarer Nachteil des ursprünglich gewählten Konzepts wird im Lauf der Arbeit in eine raffinierte und überzeugende Lösung umgemünzt, denn Hossdorf ist Ingenieur im umfassendsten Sinn dieses Begriffs. Auf einzigartige Weise vereint er schöpferisches Entwerfen auf dem gesamten Feld des konstruktiven Ingenieurbaus mit scharfsinniger statischer Analyse. Hossdorfs Buch verdient eine genaue Lektüre.


[Heinz Hossdorf: Das Erlebnis Ingenieur zu sein. Mit einem Beitrag von Peter Dietz und einem Vorwort von José Antonio Torroja. Birkhäuser-Verlag, Basel 2003. 272 S., Fr. 88.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2003.03.04

Publikationen

Bauwerke

Artikel 12

15. Juli 2001Walter Zschokke
zuschnitt

Grundsätzlich interessiert uns alles, was mit Konstruktion zu tun hat.

Jürg Conzett und seine Partner Gianfranco Bronzini sowie Patrick Gartmann machen Konstruktionsentwürfe. Sie bezeichnen sich nicht als »Statiker«, obwohl sie das natürlich auch sind, aber die Statik ist für sie ein Teilgebiet. Der deutsche Ausdruck »Tragwerksplaner« passt besser für ihre umfassende Tätigkeit.

Jürg Conzett und seine Partner Gianfranco Bronzini sowie Patrick Gartmann machen Konstruktionsentwürfe. Sie bezeichnen sich nicht als »Statiker«, obwohl sie das natürlich auch sind, aber die Statik ist für sie ein Teilgebiet. Der deutsche Ausdruck »Tragwerksplaner« passt besser für ihre umfassende Tätigkeit.

In einem entsprechenden Rahmen soll auch ihre Beschäftigung mit Holz gesehen werden. Sie sehen sich nicht nur als Spezialisten für ein bestimmtes Material oder eine bestimmte Bauweise, sondern decken innerhalb eines größeren Bereichs alle Gebiete ab, damit ein Geschäftspartner sicher sein kann, dass sie ohne Scheuklappen nach dem angemessenen Material suchen. Sie sind aber überzeugt, dass aus dieser Haltung insbesondere für den Holzbau die Möglichkeit ungewöhnlicher Tragwerke oder die Kombination mit anderen Materialien besser erwachsen kann, als wenn sie sich zu direkt auf holzspezifische Aspekte festlegen würden.

Zschokke: Ihr seid also Tragwerksplaner und habt regelmäßig mit Architekten zu tun. Manchmal habt ihr aber auch ohne Architekten gearbeitet. Wie gestaltet sich das Verhältnis zu den Architekten?

Gartmann: Es ist immer eine Zusammenarbeit und oft eine Entwicklung. Aus einem Ineinanderarbeiten der Sichtweisen von Architekten einerseits und Bauingenieuren andererseits entwickelt sich im Verlauf der Diskussion ein interessantes und gutes Projekt. Beide tragen mit Vorschlägen zum Gelingen bei und suchen gemeinsam nach Lösungen.

Zschokke: Und wie läuft eine derartige Zusammenarbeit ab?

Gartmann: Oft steht eine Idee im Vordergrund. Dieter Schwarz, ein Architekt beispielsweise, baut Nullenergiehäuser. Um Kosten zu sparen, errichtet er die Gebäude aus Holz, benötigt aber auch Speichermasse im Gebäude. In einem Fall machten wir eine Holz-Betonverbundkonstruktion, bei der der Beton die Decke aussteift, zugleich aber als Wärmespeicher wirkt. Beim zweiten Haus wendeten wir eine spezielle Verglasung mit Paraffin im Glas als Wärmespeicher an.

Conzett: Bei der Zusammenarbeit mit Architekten steht für mich das Ziel, eine Übereinstimmung von Architektur und Ingenieurbau in einem Bauwerk zu erreichen, weit vorne. Es ist letztlich auch dasselbe. Es ist meine Überzeugung, dass die Trennung in zwei Berufsgruppen zwar historisch ist, aber deshalb nicht weiter geführt werden muss. Ich persönlich kann gar nicht trennen.

Zschokke: Das Produkt, das Bauwerk wäre also in jedem Fall Architektur?

Conzett: Und zugleich ist es auch Konstruktion. Ich habe kürzlich bei Gottfried Semper nachgelesen, für ihn war es das griechische Ideal, und ich denke, dass dies immer noch gilt. Nämlich, dass der Ausdruck eines Gebäudes und die strukturelle Kernform so stark miteinander verwoben sind, dass sie nicht getrennt werden können. Für uns heißt das, dass wir nur mit Architekten zusammenarbeiten können, die sich für Konstruktion interessieren.

Conzett: Generell finde ich es interessant, in einem Team zu arbeiten, aber das betrifft nicht nur Architekten, es betrifft auch Teams mit Ingenieuren oder Unternehmern. Die Voraussetzung, dass sie gern zusammenarbeiten und eine entsprechende Offenheit haben, ist charakterlich bedingt und macht die Arbeit im Team anregend. Auf der anderen Seite braucht es ab und zu auch die eigene Verantwortung als Ingenieur, sonst verlernt man das. Es braucht eben eine gesunde Mischung. Man muss sich ab und zu ins Kämmerlein zurückziehen und ganz allein sein können.

Zschokke: Wie hat sich damals beim Murauer Steg die Zusammenarbeit entwickelt, aus der das Projekt entstanden ist?

Conzett: Wir haben gearbeitet wie in einem gemeinsamen Büro. Ich arbeite gerne über längere Zeiträume mit denselben Menschen zusammen. Je besser man sich kennt, desto reibungsloser verläuft die Arbeit. Anton Kaufmann hat bei dieser Brücke auch eine äußerst wichtige Rolle gespielt, weil er auch die Möglichkeiten als Hersteller gesehen hat. Er hat Vorschläge gemacht, etwa für die nagelpressverleimten Gurtungen. Das war ein wichtiger Beitrag für das Gelingen.

Zschokke: Wie ist es aber zu diesem stark raumbildenden Tragwerk gekommen? Kam das daher, weil gefordert war, dass der Steg überdacht sein müsse, oder war es eine städtebaulich architektonische Überlegung, oder war es ein interessantes Tragwerkskonzept, aus dem dann die Gestalt entwickelt worden ist?

Conzett: Das kann man nicht auseinanderdividieren und wie in einem Ablaufdiagramm darstellen. Man sitzt zusammen, man probiert aus, man skizziert, man denkt nach, man verwirft, man fängt nochmals an, bis am Schluss etwas da ist, das eben gleichzeitig Architektur ist und ein Ingenieurbauwerk. Und bei dieser Fuß- und Radwegbrücke über die Mur ist das weitgehend gelungen.

Zschokke: Der Traversina-Steg ist anders, man geht nicht durch das Tragwerk hindurch, der Weg verläuft über dem Tragwerk. Was unterscheidet diesen Steg von jenem in Murau?

Conzett: Man sieht natürlich auf einen Blick, der Traversina-Steg ist extrem leicht und die Murauer Brücke ist schwer. Das ist ein vordergründiger Unterschied, denn es gibt mehrere Gemeinsamkeiten. Etwa das Thema des Zentralträgers. In Murau bilden die mittigen Gurte das langlebige Grundelement. Beim Traversina-Steg liegt der Druckgurt ebenfalls in der Mitte und wird durch den Gehweg geschützt. Derselbe Gedankengang äußert sich formal auf verschiedene Weise. Der Umgang mit Torsion war bei beiden Brücken extrem. So ist es auch beim Traversina-Steg nicht so, dass man über der Konstruktion geht, sondern man befindet sich noch dazwischen, denn die Wandscheiben der Geländer sind auch Teil der Statur. Auch der Traversina-Steg ist eine Auseinandersetzung mit Raum, es ist natürlich ein anderer Raum von der Topographie her, aber die Themen sind eng verwandt.
Zschokke In Murau haben wir aber ein Dach und eine Verschalung. Wie erfolgt nun der konstruktive Holzschutz beim Traversina-Steg?

Conzett: Also der Druckgurt ist durch den Gehweg geschützt. Und die übrigen Teile sind auswechselbar. Das war der Grund für vierteilige Streben. Bei diesen Streben kann man die Teilstäbe demontieren und wieder montieren, ohne dass Hilfsmaßnahmen nötig wären. Ebenso gilt dies für die Geländer. Sie sind - wenn die Brücke nicht gerade extrem belastet ist - auswechselbar. Das geschieht relativ einfach. Die lebenswichtigen Teile der Brücke sind bestens geschützt und müssen nie ausgewechselt werden, während die sekundären Teile leicht ausgewechselt werden können.
Vom Prinzip her ist es in Murau ähnlich, es gibt eine Hierarchie der Teile: die Gurte und die Schubscheiben liegen in der Mitte, die kann man natürlich nicht ersetzen, aber die Geländer, sogar die Querträger der Gehfläche wären ohne weiteres auswechselbar, wenn dies nötig werden sollte. Aber sie sind durch das Dach geschützt und aus geeignetem Holz, aus Lärche, sodass das in dieser Generation nicht nötig werden sollte.

Zschokke: Auf was für eine Lebenszeit wäre der Traversina- Steg, ohne die geologischen Ausnahmeverhältnisse und den Bergsturz einzubeziehen, ausgelegt gewesen?

Conzett: Man kann vielleicht die Silser Brücke (bei Thusis) von Richard Coray als Vergleich beiziehen, bei der Geländerteile und andere exponierte Teile im Abstand von zwanzig, dreißig Jahren ausgewechselt wurden. Aber die Pylone, die primären Elemente der Hängekonstruktion sind viel stärker der Witterung ausgesetzt als der Obergurt des Traversina- Stegs. Die Originalteile hat man dort etwa nach 70 Jahren ersetzt.

Zschokke: Das hieße, dass der Traversina-Steg ein Menschenalter gut überstehen hätte können, wenn er nicht durch den Murengang weggerissen worden wäre.

Conzett: Sicher.

Zschokke: Als Ersatz des weggerissenen Traversina- Stegs gibt es ein neues Konzept. Ist das so, weil die Brückenstelle neu gewählt werden musste, oder weil euer Forschungsinteresse sich gewandelt hat und ihr etwas Neues ausprobieren wollt, oder sind es Bedenken zum damaligen Konzept?

Conzett: Im ersten Moment wollten wir alle die Brücke wieder bauen, so wie sie gewesen ist. Das ist verständlich. Allerdings möchte man soetwas nicht ein zweites Mal erleben. Wir dachten daran, die Brückenstelle mit einer Verbauung zu sichern. Es zeigte sich aber, dass die Verbauung sehr teuer geworden wäre und dennoch keinen absoluten Schutz geboten hätte. Dann kam dazu ein ethischer Aspekt. Es ist ein touristisches Projekt, es ist keine Straße. Man kann nicht sagen: die Leute haben keinen anderen Weg und müssen da durch gehen. Nein, sie müssen nicht dort durchgehen, man lockt sie fast dorthin. Daher ist es nicht zu verantworten, eine Stelle, die man als gefährlich erkannt hat, weiterhin zu bebauen und betreten zu lassen. Es wäre kaum angemessen, vergleichbare Verbauungsmaßnahmen zu treffen, wie für eine Autobahn. Ein starker Reiz des Bauwerks war die Filigranität in einer wilden Landschaft. Dieser Reiz ginge verloren, wenn die Schutzbauten die gleiche Größenordnung wie die Brücke erreichen würden. Aus diesen Überlegungen sind wir zum Schluss gekommen, dass es dort keine Brücke mehr geben kann. Wir müssen aus dem, was geschehen ist, die Lehren ziehen. Wir verschieben die Brücke talwärts, bis zu einem Standort, von dem wir wissen, er kann nicht mehr von einem Felssturz getroffen werden. Das erfordert ein anderes Brückenkonzept, weil das Problem sich anders stellt, und die Spannweite etwas größer ist. Das heißt aber nicht, dass wir an einem anderen Ort, wo der Typ des Traversina-Stegs hinpassen würde, ihn nicht noch einmal bauen würden.

Zschokke: Die Kombination von Materialien ist ja sehr interessant, etwa von Holz und Stahl oder von Holz und Beton. Wir haben vorher von der Möglichkeit gehört, den Beton als Speichermasse zu verwenden. Wie steht es mit den Möglichkeiten, Beton konstruktiv mit Holz zu kombinieren? Denn es gibt die Möglichkeit, den Beton auch tragen, das heißt statisch wirksam werden zu lassen.

Bronzini: Wir versuchten das soeben mit einem Projekt im Valsertal, bei »Peiden-Bad«, der Abzweigung ins Lugnetz aufzuzeigen. Eine alte, schon sehr baufällige Eisenbrücke musste ersetzt werden. Und die Lasten wurden erhöht. Die Gemeinde möchte grundsätzlich eigenes Holz einsetzen, weil sie es nahezu gratis liefern könnte. Wir haben ein Sprengwerk aus Holz vorgeschlagen, und darüber, auch als Schutz, eine Fahrbahnplatte aus Beton mit Geländern, möglicherweise aus Holz. Wir haben mit einer konventionellen Betonvariante verglichen und es zeigte sich, dass die beiden preislich etwa gleichwertig sind und gute Chancen bestehen, jene mit Holz auszuführen.

Zschokke: Wie funktioniert das Zusammenwirken von Holz und Beton? Ich nehme an, die Betonplatte wird statisch auch eine Rolle spielen.

Bronzini: Selbstverständlich. Wir haben ein Sprengwerk, wieder zentral, wie beim Traversina-Steg oder bei der Murauer Brücke, das gut geschützt ist. Dieses Sprengwerk trägt die Eigenlasten. Dann haben wir darüber eine Platte, die dreimal breiter ist. Diese Platte muss helfen, die exzentrische Belastung, die Torsionsbeanspruchungen, die aus dem Verkehr entstehen können, zu übernehmen, wobei Platte und Randabschlüsse die Kräfte an die Widerlager abgeben. Einen Verbund benötigen wir in diesem Fall nicht. Das Sprengwerk bietet zusätzliche Unterstützungen. Darüber verläuft die vorgespannte Fahrbahnplatte aus Beton.

Conzett: Für das Konzept dieser Brücke sprachen auch montagetechnische Gründe. Wir wollten eine Art verlorene Schalung unter dem Beton einsetzen, die aber kein eigenes Gerüst benötigt. Sie läuft quer durch und ist vom Betonunterbau getrennt, sodass eine Schubverbindung relativ schwierig gewesen wäre. Es war uns wichtiger, dass die Montage einfach und rasch ablaufen kann, da die Straße nur für kurze Zeit gesperrt werden darf. Daher ist kein Verbund vorhanden. Er hätte aber auch nicht viel genützt. Das sind immer individuelle Entscheidungen, so dass man nicht generell sagen kann, der Verbund ist ein Allheilmittel und wird dann womöglich zu teuer. Diese Überlegungen sind Teil des Konstruktionsentwurfs und das ist eben ein Entwurf…

Bronzini: …für eine normale Straßenbrücke für Fahrzeuge von 28 Tonnen.

Conzett: Grundsätzlich interessiert uns alles, was mit Konstruktion zu tun hat. Aber wir haben festgestellt, dass in unserem Kanton in vielen Gemeinden die Verwendung von Massivholz - möglichst direkt aus dem gemeindeeigenen Wald - eine äußerst günstige Variante darstellt, die häufig nicht bedacht wird, weil sie zu wenig hightech-mäßig daherkommt. Das finden wir einerseits interessant. Andererseits machen wir natürlich auch gerne ein Hightech- Objekt, wenn es uns sinnvoll erscheint. Das kommt ganz auf die Umstände an. Aber ich finde, auch in den herkömmlichen, simplen Strukturen kann ein großes Potenzial an Faszination stecken, wenn man sie mit spezifischer Konsequenz behandelt. Es ist nicht immer nötig, neu zu erfinden. Mich persönlich interessiert es, aus gewöhnlichen Dingen etwas Sinnvolles zu machen, und das Komplizierte auf eine elementare Grundlage zurück zu führen.


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Bronzini Gianfranco
Gartmann Patrick



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zuschnitt 02 Brücken bauen

Presseschau 12

06. September 2013Jürg Conzett
TEC21

Vom Stahl zum Beton

Viele Konstruktionen Nervis greifen formal auf Ingenieurformen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurück, wie der Bauingenieur Jürg Conzett erläutert. Nervi arbeitete oft wie ein historistischer Architekt mit Zitaten oder Anspielungen, nur benutzte er als Formenschatz die Werke von Ingenieuren.

Viele Konstruktionen Nervis greifen formal auf Ingenieurformen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurück, wie der Bauingenieur Jürg Conzett erläutert. Nervi arbeitete oft wie ein historistischer Architekt mit Zitaten oder Anspielungen, nur benutzte er als Formenschatz die Werke von Ingenieuren.

Die Baustatik ist erst wenige hundert Jahre alt. Sie kann Ingenieuren dazu dienen, die Sicherheit und Leistungsfähigkeit gegebener Formen zu verbessern. Mit diesem Instrument können sie neue, intuitiv nicht unbedingt verständliche Formen schaffen. Doch viele Entwicklungen in der Konstruktionsgeschichte waren zunächst Extrapolationen bekannter Formen auf andere Materialien oder Verfeinerungen bestehender Konzepte. So waren Henri Labroustes Pariser Bibliotheken (1843–1868) innovativ in der Verwendung des Eisens und der dadurch entstehenden neuen Proportionen, die Grundformen seiner Bauten zeigten aber offensichtliche Bezüge zu historischen Bauten aus Stein und Holz (Abb. 01).

Ein Gegenbeispiel für eine neue Form war die «Kegelschale», die Sir Christopher Wren in der St. Paul’s Cathedral (erbaut von 1666 bis 1708) konstruierte: «[…] the design must be regulated by the art of statics» bemerkte er. Wir wissen nicht genau, wie er beim Entwurf dieses Baus vorging. Die Schöpfung dieser neuen Form setzte Wissen über die Gleichgewichtsverhältnisse in räumlichen Gebilden voraus. Im Gegensatz dazu waren Anwendungen der statischen Theorie zur Bestimmung der idealen Form von Gewölben mithilfe von Seilpolygonen eher eine Bestätigung und Präzisierung des bereits vorhandenen Wissens.

Fachwerke als Vorbilder

Eine Neuschöpfung des 19. Jahrhunderts war der «Schwedlerträger» (Abb. 02), ein Fachwerk, dessen gebauchter Obergurt so geformt war, dass in den Diagonalen nur Zugkräfte auftreten – was Material einsparte. Die Form des Schwedlerträgers ist intuitiv nicht zu verstehen, sondern setzt genaue Kenntnisse der statischen Verhältnisse in Fachwerkträgern voraus. Seine bedeutendste Anwendung fand er in weitgespannten Eisenbahnbrücken; für Hochbauten hingegen brachte er keine Vorteile. Die Architekten des 19. Jahrhunderts taten sich meist schwer mit Stahlfachwerken, die eine Hauptaufgabe der damaligen Ingenieure bildeten. Wenige Ausnahmen bestätigten die Regel: Jules Astruc benutzte sichtbare Fachwerke in der Kirche Notre-Dame-du-Travail (Paris, 1902), und Victor Horta feierte die ästhetische Wirkung einer fachwerkförmigen Rahmenkonstruktion in der Maison du Peuple in Brüssel (1899). Dramatisch war die Wirkung der halb gezeigten Fachwerkträger im Zürcher Hallenstadion von Karl Egender und Robert Naef (1939), der damals weitestgespannten Halle Europas (Abb. 03). Alle diese Bauten sind interessanterweise als Orte der Arbeiterbewegung bekannt geworden. Für bürgerliche Bauaufgaben erinnerte das Stahlfachwerk offenbar zu stark an Industrie.

Zitate und Anspielungen in Beton

Nach dem Zweiten Weltkrieg verschwand diese soziale Konnotation der Fachwerke. Mies van der Rohes Convention Hall (IIT, 1954–1956) war frei von derartigen Zuordnungen. und auch Nervis betonierte Fachwerke waren einfach unerhörte, neuartige Bauwerke. Dabei machte Nervi etwas durchaus Ähnliches wie Labrouste: Er wechselte das Material einer bereits bekannten Form. Kein anderer Ingenieur hatte sich derart intensiv mit Fachwerken aus Beton auseinandergesetzt. In Nervis Busterminal von 1963 an der George Washington Bridge in New York erhielten die relativ konventionellen Dreiecksfachwerke des Dachs eine neue, noch unbekannte Wirkung durch ihre Ausführung in Beton, ihre Funktion als Lichtspender und ihr spannungsvolles Verhältnis zu den Stahlfachwerken der Pylone der grossartigen Hängebrücke von Othmar Ammann von 1931 (Abb. 04).

Oft bezog sich Nervi auf formale Muster der Ingenieurgeschichte, was für sein Schaffen charakteristisch war. Im Gegensatz zu Robert Maillart, der versuchte, sich von Formen der Vergangenheit zu lösen, arbeitete Nervi wie ein historisierender Architekt mit Zitaten oder Anspielungen – nur benutzte er als Formenschatz nicht die griechische Klassik, sondern Konstruktionstypen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Deutlich wurde dies in seinem Entwurf für die Brücke über die Meerenge von Messina von 1969 (Abb. 05). Im Unterbau erschien das Vorbild der russischen Türme, die seit Schuchows Fernsehturm in Moskau von 1922 international bekannt waren, darauf standen verspannte Rohrstützen in der Art Ivan Leonidovs. Dieser Brückenentwurf war eine Collage aus Elementen des russischen Konstruktivismus, die Nervi in Beton übersetzte. Das Konstruktionskonzept der Türme bot ingenieurmässig keine Vorteile – es wäre mit den vielen Kabeln und geneigten Tragebenen schwierig zu bauen gewesen. Aber dies interessierte Nervi hier weniger, vielmehr war dieser Entwurf ein Manifest für eine Ingenieurklassik, entstanden aus Formen, die erst Ingenieure mithilfe der statischen Theorie entwickeln konnten. Die architektonische Grundhaltung der Brücke war den burgenartigen Portalen der wilhelminischen Rheinbrücken verwandt. Der wesentliche Unterschied war, dass das Pathos hier mit formalen Mitteln des Ingenieurbaus, nicht der Architektur erzeugt wurde.

Rippen und andere Ornamente

In den «isostatischen Rippendecken» folgten die Rippen den Richtungen der Hauptmomente einer konstant starken Platte. Statisch war diese Rippenanordnung nicht notwendig, denn in einer Rippendecke folgen die Momente zwangsläufig der Richtung der Rippen; der Ingenieur ist frei in ihrer Anordnung. Die Entscheidung Nervis war nicht nur statisch, sondern auch ornamental begründet. In der Wahl ingenieurmässiger Formen für Repräsentationszwecke stand Nervi nicht allein. Der rationalistische Architekt Giuseppe Terragni versah die hängenden Fassaden seines Wettbewerbsentwurfs von 1934–1937 für den römischen Palazzo Littorio mit Edelstahlbändern in der Richtung der Hauptspannungstrajektorien: Anwendungen der Baustatik lieferten Formen für die italienische Moderne.

Nervis Drang nach einem über das Pragmatische hinausweisenden Ausdruck der Ingenieurarbeit zeigte sich auch in der von 1961 bis 1964 erbauten Papierfabrik «Cartiera Burgo» bei Mantova: Der Wunsch nach einer stützenfreien Halle wäre mit einer leichten, quer über den Raum gespannten Dachkonstruktion einfach zu befriedigen gewesen; doch Nervi hängte das Dach an ein längs laufendes hängebrückenartiges Tragwerk, dessen zwei betonierte Pylone sich schräg der Resultierenden der Tragketten entgegenstemmten: ein weithin sichtbares, wunderbares Zeichen für die Fabrik und die bildnerische Kraft der Ingenieure.

Bild, Modell und Wirklichkeit sind nicht dasselbe

Dass Form und statische Funktion bei Nervi bisweilen auch auseinanderklafften, zeigt die Halbkuppel des Turiner Ausstellungsgebäudes Salone Principale (1948–1949). Die von unten sichtbaren Rippen waren in der Art einer Schwedlerkuppel radial auf den zentralen Punkt im Scheitel ausgerichtet. Da es sich aber um eine Halbkuppel handelte, fehlte diesen im Normalfall auf Druck wirkenden Rippen der kraftausgleichende Gegenpart. Tatsächlich war die Tragwirkung der Halbkuppel jener einer Schar paralleler Ringe wachsender Spannweite quer zur Gebäudeachse vergleichbar. Die Rippen übernahmen eine aussteifende Funktion, die jedoch mit der durch ihre Richtung suggerierten Wirkungsweise wenig zu tun hatte. Interessant war, wie Nervi diese Diskrepanz mit einem breiten glatten «Gurtbogen» zwischen Halle und Halbkuppel sozusagen abfederte; bis zu einem gewissen Grad wäre dieser durchaus in der Lage, einen längs gerichteten Horizontalschub der gebündelten Rippen aufzunehmen. Nervis Werke lebten von der Spannung zwischen Bild, statischem Modell und nicht immer klar erfassbarer Wirklichkeit; diese Spannung ist eine der Qualitäten, die in der Auseinandersetzung mit seinem Werk faszinieren.

TEC21, Fr., 2013.09.06



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TEC21 2013|37 Pier Luigi Nervi

11. Januar 2010Jürg Conzett
Steeldoc

Geflügelte Schwere

In einer grosszügigen Geste spannen sich drei weit auskragende Dachflügel über die Haltestelle der Glattalbahn am Zürcher Flughafen. In einer facettenreichen Verschränkung von Form und Licht begleiten sie den Reisenden auf seinem Weg bis zum Flughafeneingang. Dem Ort verleihen die körperhaften Kragarme ein spannungsvolles, urbanes Gesicht.

In einer grosszügigen Geste spannen sich drei weit auskragende Dachflügel über die Haltestelle der Glattalbahn am Zürcher Flughafen. In einer facettenreichen Verschränkung von Form und Licht begleiten sie den Reisenden auf seinem Weg bis zum Flughafeneingang. Dem Ort verleihen die körperhaften Kragarme ein spannungsvolles, urbanes Gesicht.

Steigt man am Flughafen Zürich aus dem Tram, erscheint das neue Perrondach angenehm unaufdringlich. Als schmaler Streifen erstreckt es sich zwischen Strassenstützmauer und Bahnsteigkante relativ niedrig über den Reisenden und schützt sie dadurch vor Regen und Schnee. Seitliche Stützen fehlen und der Blick wendet sich ungehindert nach links auf den weiträumigen Platz und zu dem in einer einladenden Geste schräg hochgeklappten und im Grundriss kreissegmentförmig geschwungenen älteren Dach über den Bushaltestellen. Grosszügig ist diese Anlage und sie weist ungewohnte Dimensionen auf, die zu einem internationalen Flughafen passen. Ein weiterer schmaler Dachstreifen führt quer über die Schienen unter das bestehende Dach zum Eingang in den Flughafen. Erst jetzt, wenn man sich umdreht, erkennt man die wahre Grösse der neuen Konstruktionen: Die scheinbare Leichtigkeit der durchsichtigen Dachflächen wird möglich dank mächtiger stählerner Kastenträger, die bei den Perrons jeweils seitlich über den Dachkanten liegen und daher von unten wenig auffallen. Vom Flughafengebäude aus gesehen verbindet sich die Anlage mit der langen Strassenstützmauer und rahmt ihre zentrale, nach Kloten hin führende Öffnung ein.

Zum einen ist die Konstruktion äusserst pragmatisch, ihre Grundfläche ist minimiert und reicht gerade aus, um Menschen im Trockenen vom Bahnsteig in den Flughafen zu führen. Diese vordergründige Bescheidenheit steht in einer Spannung zu den gewaltigen Auskragungen der Dachträger von über dreissig Metern. Was aus der Fernsicht den Massstab der umliegenden Bauwerke aufnimmt, sorgt aus der Nähe paradoxerweise dafür, dass die weitgespannten Dächer weit weniger präsent sind, als wenn sie durch sich wiederholende Stützenfolgen ständige Aufmerksamkeit einfordern würden.

Auskragende Kastenträger aus Stahl

Das Tragwerk besteht aus Stahl. Ein grosser Vorteil dieser Bauweise ist die Vorfertigung im Werk und die kurze Montagezeit auf dem durch den ständigen Bus- und Fussgängerverkehr stark belebten Areal. Das Gewicht des Stahlbaus ist vergleichsweise gering, daher genügen einfache Fundationen im teilweise unterbauten Gebiet; auch passen die Stahlträger gut zum bestehenden Bushofdach. Die beiden Perrondächer tragen an den zur Mitte hin liegenden Enden ihrer Auskragungen den dritten, zu ihnen quer verlaufenden Träger. Die Lager dieses Trägers sind jeweils in eine Richtung beweglich, um gegenseitige Zwängungen aus Temperaturdehnungen zu vermeiden. Der dritte Träger wirkt statisch als einseitig eingespannter Balken mit einfachem Auflager.

Bemerkenswert ist die technisch wie architektonisch sorgfältige Detaillierung der Konstruktion. Die Blechstärke der geschweissten Hohlkastenträger wurde aus gestalterischen Gründen so gewählt, dass die beim Schweissen unvermeidliche Beulung der Stehbleche gering bleibt. Weil die Aussteifungsrippen im Innern der Kasten im Abstand der Querträger angeordnet sind, gibt das Bild der Beulungen die Ordnung der Sekundärstruktur wieder. Die vom Hauptträger «figurativ » abgesetzten Querträger dienen neben ihrer Tragfunktion auch als Wasserrinnen, überdies versteifen sie als Elemente eines liegenden Vierendeelträgers die schlanken Hauptträger gegen horizontale Windeinwirkungen. Die nicht direkt sichtbare Dachhaut besteht aus kostengünstigen transluzentenWellplatten; die Untersicht und eigentlich wahrnehmbare Dachfläche wird aus ebenfalls lichtdurchlässigen, von den Querträgern abgehängten, tuchartigen Streckmetalltafeln gebildet.

Anerkennung Prix Acier 2009

Die Überdachung ergänzt das Gesamterscheinungsbild des Flughafeneingangs mit dem Bushof (Prix Acier 2005) durch eine erkennbare Eigenständigkeit. Der skulpturale Charakter und eine gewisse schlichte Schwere kontrastieren mit den extremen Auskragungen der Flügel und verdeutlichen damit, dass hier Stahl trägt. Dem Bushofdach ordnet sich diese Dachstruktur zwar unter, bildet jedoch als Bindeglied zur gegenüberliegenden massiven Stützmauer der Strasse eine angemessene repräsentative Identität. Die Jury des Prix Acier 2009 würdigte die einprägsame formale Umsetzung dieser grosszügigen, körperhaften Konstruktion, welche die Statik spüren lässt und für eine hohe Aufenthaltsqualität für Wartende sorgt.

Steeldoc, Mo., 2010.01.11



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steeldoc 2009/04 Verkehr und Transit

10. April 2007Jürg Conzett
TEC21

Bauingenieurwettbewerbe im Hochbau

Der Bauingenieurwettbewerb kann im Hochbau für alle Betei­ligten interessante Resultate liefern. Unter «Bauingenieurwettbewerb» ist nicht der klassische Ingenieurwettbewerb, etwa für Brücken, zu verstehen, sondern ein kürzeres, vielfältiges und anpassungsfähiges Verfahren, das sich im Hochbau zwischen die «Team-Wettbewerbe» und die «Submissionsverfahren mit Konzepteingabe» einreiht.

Der Bauingenieurwettbewerb kann im Hochbau für alle Betei­ligten interessante Resultate liefern. Unter «Bauingenieurwettbewerb» ist nicht der klassische Ingenieurwettbewerb, etwa für Brücken, zu verstehen, sondern ein kürzeres, vielfältiges und anpassungsfähiges Verfahren, das sich im Hochbau zwischen die «Team-Wettbewerbe» und die «Submissionsverfahren mit Konzepteingabe» einreiht.

Der Team-Wettbewerb ist für Aufgaben geeignet, bei denen die Zusammenarbeit zwischen Architekt und Bauingenieur von Anfang an stattfinden muss, beispielsweise für grosse Sportstadien. Bei Bauvorhaben von hauptsächlich städtebaulich-architektonischer Bedeutung besitzt der Team-Wettbewerb aber auch Nachteile, denn es gibt in der Regel mehr teilnahmewillige Architekten als Ingenieure. Das heisst, die Gruppenbildung beruht darauf, wer am schnellsten auf die Ankündigung eines Verfahrens reagiert. Sie wird dadurch zumindest teilweise zufällig, und die Bauingenieure wirken ungewollt als Selektionsinstrument für die Architekten. Umgekehrt besitzen in diesen Fällen Fragen der Tragkonstruktion bei der Beurteilung eher eine beiläufige Bedeutung, und es findet dadurch keine eigentliche Selektion der Ingenieure statt. Bei kleineren Aufträgen ist das Submissionsverfahren mit Konzepteingabe zwar besser als die reine Honorarsubmission; es birgt in sich jedoch die Gefahr einer gewissen Oberflächlichkeit, da die Beurteilung üblicherweise nicht durch eine Jury erfolgt.

Der Bauingenieurwettbewerb im Hochbau kann etwa anschliessend an einen erfolgreichen Architekturwettbewerb durchgeführt werden. Das Interessante an diesem Verfahren ist, dass sich die Beteiligten (Bauherrschaften, Architekten, Jury) für eine bestimmte Zeit im Planungsprozess gezielt Fragen der Tragwerksgestaltung zuwenden. Selten werden sonst Fragen der Leistungsfähigkeit unterschiedlicher konstruktiver Lösungen und der Wechselwirkung zwischen Tragwerk und Architektur derart intensiv diskutiert wie während der Beurteilung eines Bauingenieurwettbewerbs. Natürlich ist der Erfolg dieses Verfahrens an bestimmte Voraussetzungen gebunden: Das zugrunde liegende architektonische Konzept muss ein sinnvolles Tragwerk überhaupt ermöglichen, und aus den Resultaten des Bauingenieurwettbewerbs sind Rückwirkungen auf das architektonische Konzept zu erwarten, was von Bauherrschaft und Architekt eine entsprechende Offenheit verlangt.
Nach meiner Erfahrung handelt es sich bei dieser Form des Bauingenieurwettbewerbs noch nicht um ein allgemein bekanntes und anerkanntes Verfahren. Das hat einerseits mit dessen Zeitbedarf zu tun, andererseits aber auch mit dem immer noch verbreiteten Berufsbild des Ingenieurs als «Rechner». Der Bauingenieurwettbewerb ist ein überzeugendes Mittel, diesem Vorurteil entgegenzutreten – mich hat jedesmal die Vielfalt der eingegebenen Lösungsvorschläge selbst bei anscheinend einfachen Aufgaben überrascht. Tatsächlich ist der mögliche Anwendungsbereich für Bau­ingenieurwettbewerbe vielfältig. Das Verfahren ist sehr gut auch für kleinere Aufgaben geeignet, und gerade hier könnte es einen Beitrag dazu leisten, die Wahl von Bauingenieuren nach qualitativen Auswahlkriterien wieder zur Regel werden zu lassen, denn kleinere Aufträge sind das tägliche Brot.

Schulhaus Oescher, Zollikon
Für das Schulhaus Oescher in Zollikon wurden sieben Ingenieurbüros eingeladen, aufgrund der Architektenpläne im Massstab 1:200 konzeptionelle Vorschläge für ein sinnvolles Tragwerk zu unterbreiten. Die Jury bestand aus vier Bauherrschaftsvertretern, dem Architekten und einem externen Bauingenieur. Sie verglich die Eingaben einerseits hinsichtlich technischer Qualität, Wirtschaftlichkeit und architektonischen Potenzials. Andererseits wurden auch die Honorarofferte und die Referenzen der Bewerber mitbeurteilt. Die Gewichtung erfolgte mit 45 % für die konzeptionelle Qualität, 30 % für die Referenzen und 25 % für die Honorarofferte. Zur Beurteilung der architektonischen Wirkung liess die Jury von allen Vorschlägen Kartonmodelle erstellen. Den ersten Rang erzielte ein statisches Konzept, das aus einer Skelettkonstruktion bestand, deren Decken dank mittragenden ­Brüstungen in den Ecken weit auskragen. Es entsprach dem gewünschten architektonischen Ausdruck nach einem schwebenden Baukörper mit grossen Öffnungen und war gleichzeitig eine vergleichsweise wirtschaftliche Lösung.

Geschäftshaus Würth, Chur
Ein ähnliches Verfahren wurde für die Vergabe der Bauingenieurarbeiten für das Geschäftshaus der Würth Holding in Chur gewählt. Hier lud man drei Ingenieurbüros ein, konzeptionelle Vorschläge für ein Tragwerk zu unterbreiten. Wiederum dienten Architektenpläne im Massstab 1:200 als Grundlage. Das Preisgericht bestand aus einem Bauherrschaftsvertreter, dem Architekten und einem externen Bauingenieur. Bewertet wurden Konzept, Referenzen und Honorarofferte, eine Gewichtung wurde nicht formuliert. Die nicht beauftragten Ingenieurbüros erhielten eine Entschädigung zwischen 1000 und 3000 Franken. Besonders interessant war bei diesem Bauingenieurwettbewerb, dass das siegreiche statische Konzept zu einer Projektänderung bei den Architekten führte. Die Idee, die beiden Gebäudekerne mit weitgespannten Unterzügen stützenfrei zu verbinden, machte die einzelnen Geschossdecken voneinander unabhängig. Dadurch konnten die Deckenränder des zentralen Lichthofs unterschiedlich weit ausgekragt werden, was dazu führte, dass die einzelnen Stockwerke nun ganz unterschiedliche Raumeindrücke und Lichtstimmungen erhalten – eine architektonische Qualität, die erst aufgrund der Resultate des Bauingenieurwettbewerbs entdeckt und ermöglicht wurde.

Tivoli-Areal, Chur
Es gelang, die Besitzerin der Wohnhäuser des Tivoli-Areals in Chur davon zu überzeugen, dass ein Bauingenieurwettbewerb selbst für Wohnungsumbauten sinnvoll durchgeführt werden könne. Fünf Bauingenieurbüros wurden eingeladen, Vorschläge für die Ergänzung der bestehenden Decken im Bereich aufzuhebender Treppenhäuser einzureichen. Abgegeben wurden Pläne im Massstab 1:50 der bestehenden Konstruktion. Mitgeliefert wurden standardisierte, hinsichtlich Schalldurchgang vom Bauphysiker geprüfte Bodenaufbauten, die fallweise für massive oder leichte Deckenkonstruktionen verwendet werden sollten. Die Jury bestand aus zwei Bauherrschaftsvertretern, dem Architekten und einem externen Bauingenieur. Bewertet wurden die Vorschläge und die Referenzen ohne explizit formulierte Gewichtung, das Honorar wurde gemäss Ausschreibung erst nach dem Verfahren aufgrund des SIA-Leistungsmodells ausgehandelt. Sämtliche Teilnehmer erhielten eine Entschädigung von 2500 Franken. Die vermeintlich alltägliche Aufgabenstellung brachte fünf ganz unterschiedliche Lösungsansätze zu Tage, die sowohl monolithisch ergänzte und verzahnte Betonplatten wie auch Stahlträgerroste oder neue Holzbalkenlagen umfassten. Die Kosten der Vorschläge variierten pro Wohnungseinheit zwischen 5000 und 7600 Franken, was angesichts der zahlreichen Wohnungen den Wettbewerb für die Bauherrin schon aus wirtschaftlichen Gründen rechtfertigte. Mit beurteilt wurden die Konsequenzen der verschiedenen Vorschläge im Hinblick auf die Gestaltung der jeweiligen Bauabläufe.

Bundesverwaltungsgericht, St. Gallen
Für den Neubau des Bundesverwaltungsgerichts in St. Gallen wurde aus Gründen der Planungstermine gleich nach dem Architekturwettbewerb ein «Konzept-Bauingenieur» bestimmt, der im Rahmen seines Auftrags auch einen Bauingenieur-Leistungswettbewerb mitorganisierte. Der Kern des Leistungswettbewerbs bestand aus abzuliefernden Bemessungsproben von Betonbauteilen, deren Abmessungen bereits zuvor vom Konzeptingenieur festgelegt wurden. Die Teilnehmer hatten für die schlanken Decken die Vorspannung und die schlaffe Bewehrung zu bemessen. Weiter waren Vorschläge zur konstruktiven Durchbildung der aussen liegenden Fassadenstützen mit ihren Anschlüssen einzureichen. Daneben waren Erfahrungsnachweise anhand von Referenzen und das Honorarangebot gefordert. Das Beurteilungsgremium bestand aus zwei Bauherrschaftsvertretern (Architekten), dem projektierenden Architekten, dem Konzeptingenieur und einem weiteren externen Bauingenieur. Beurteilt wurden die Bemessungsproben (mit 50 % Gewicht) ausschliesslich vom Konzept- und dem zweiten externen Bauingenieur, die Referenzen (mit 30 % Gewicht) und die Honorarofferte (mit 20 % Gewicht) vom gesamten Beurteilungsgremium. Der Wettbewerb war offen, es erfolgten zehn Eingaben. Überraschend war wiederum die Bandbreite der vorgeschlagenen Bemessungslösungen, die von formtreuen Vorspannungen bis zu dicht bewehrten, nicht vorgespannten Decken reichte. Ähnliche Unterschiede zeigten sich bei der Bearbeitung der Stützen. Die Spanne der Kosten der Vorschläge für Vorspannung und Bewehrung schwankte zwischen 100 und 214%.
Die hier vorgestellten Verfahren betreffen Situationen, in denen üblicherweise keine Wettbewerbe durchgeführt werden. Sie weiten damit das Wettbewerbswesen auf bisher eher unerschlossene Gebiete aus. Ich wage zu behaupten, dass damit bei den Bauherrschaften eine gewisse Aufklärung über die Vielfältigkeit der Bauingenieurarbeit stattgefunden hat.

TEC21, Di., 2007.04.10



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tec21 2007|15 Kulturgut Wettbewerbe

04. März 2003Jürg Conzett
Neue Zürcher Zeitung

Abenteuer Konstruktion

Heinz Hossdorf und die Kunst des Bauingenieurs

Heinz Hossdorf und die Kunst des Bauingenieurs

Den herausragenden Qualitäten seines Lebenswerks, seiner Vielseitigkeit und seinem unkonventionellen Denken zum Trotz ist der Bauingenieur Heinz Hossdorf bisher von einer breiten Öffentlichkeit nicht in dem ihm zustehenden Mass wahrgenommen worden. Sein Buch «Das Erlebnis Ingenieur zu sein» bietet nun die Möglichkeit, sich mit seinem Werk gründlich auseinanderzusetzen. Im ersten Teil, überschrieben mit «Baukonstruktionen», werden vierzehn ausgeführte Bauten vorgestellt, darunter die Goldzack-Werke in Gossau, der Pavillon «Les échanges» der Expo 64 in Lausanne und das bis in die Freitreppen virtuos durchgestaltete Betonwerk in Gunzgen. Anschliessend erklärt Hossdorf die formale und materialgerechte Umsetzung statischer Konzepte. Bei räumlichen Gebilden wie Schalenkonstruktionen besteht keine eindeutige Beziehung zwischen leistungsfähigster Form und Beanspruchung. Die dadurch mögliche Vielfalt der letztlich intuitiven Formfindung fasziniert Hossdorf, und deshalb liebt er komplexe räumliche Tragwerke. Um diese realisieren zu können, muss er seine technischen Hilfsmittel über die Grenzen der ebenen Stabstatik hinaus erweitern.


Assoziative Lösungsvorschläge

Ab den fünfziger Jahren beginnt er, sein Laboratorium für Modellstatik aufzubauen. Der Einbezug des Computers führt später zur Hossdorf'schen Hybridstatik, bei der Messungen an Modellen mit elektronischer Datenverarbeitung verknüpft werden. Die Geschichte des Versuchslabors mit all den eigens dafür entwickelten Maschinen und Geräten bildet den zweiten, mit «Entwurfswerkzeuge» überschriebenen Teil des Buches. Ein abschliessendes Kapitel über Hossdorfs spätere Forschungstätigkeit zur Computermodellierung der gegenständlichen Welt ist vom Physiker und Informatiker Peter Dietz verfasst worden.

Bereits bei einem Tragwerk geringer Komplexität ist die Form das Ergebnis einer persönlichen Interpretation des Problems und damit eine individuelle Wahl. Der Entscheid für ein statisches System wird durch die Vorstellungswelt des Entwerfenden geprägt, und diese ist Quelle assoziativer Lösungsvorschläge, die anschliessend auf ihre Tauglichkeit überprüft werden müssen. Damit distanziert sich Hossdorf von der üblichen Anschauung, dass Bauingenieurarbeit vorwiegend rational determiniert sei, einer Haltung, die innerhalb der Zunft auch deshalb weit verbreitet ist, weil sie ihren Vertretern Macht aus der angeblich unbestechlichen Berechenbarkeit verleiht. Erfrischend ist auch, wie Hossdorf die gegenwärtig modischen organischen Analogien zwischen Tragwerk und Formen der Tier- und Pflanzenwelt als untauglich bezeichnet und die Bedeutung der Idealformen der anorganischen Welt (wie aufgelegte Tropfen usw.) auf diejenige von Denkanstössen begrenzt.

Aus der historischen Tatsache, dass Ingenieurtheorien in der Regel post festum entstanden sind, schliesst er, dass auch der Seitenblick auf eine zufällige und limitierte Sammlung von bereits bestehenden Tragwerkstypologien wenig leistungsfähig sei. Von zentraler Bedeutung hingegen ist ihm die taktile Wahrnehmung, die für den Konstrukteur weit lebenswichtiger als der Sehsinn sei, und er weist darauf hin, dass ein Kleinkind, dessen Drang zum Aufschlitzen, Aufbrechen und Kaputtmachen unterbunden werde, später nie einen intuitiven Bezug zur physischen Wesensart der Materie entwickeln könne.


Ingenieur im umfassendsten Sinn

Für Hossdorfs Arbeitsweise ebenfalls bezeichnend ist sein unbefangener Umgang mit «Störungen»; seine Werke sind nicht idealistisch im Sinn einer «reinen Form», die der Konfrontation mit der brutalen Realität ausweicht. Vielmehr empfindet Hossdorf geradezu Freude daran, die Robustheit und Anpassungsfähigkeit seiner Systeme in der rauen Wirklichkeit zu erproben und sich von widrigen Umständen inspirieren zu lassen. So ist die Zugschale des Stadttheaters Basel an ihrem unteren Rand nur punktuell gehalten. Das heisst, zwischen diesen Verankerungsstellen gibt es Dachpartien, die spannungslos und damit schlaff sind. Genau da schlitzt nun Hossdorf die Schale auf, fixiert die dadurch entstandenen Streifen auf verschiedenen Höhen und füllt die dazwischenliegenden vertikalen Zwickel mit Betonstreifen, die statisch als kurze, in der Aussenwand eingespannte Kragarme wirken und damit die schlaffen Schalenteile wirkungsvoll versteifen.

Als Zugabe ergeben sich daraus neue, unerwartete Möglichkeiten der Raumbelichtung, und ein scheinbarer Nachteil des ursprünglich gewählten Konzepts wird im Lauf der Arbeit in eine raffinierte und überzeugende Lösung umgemünzt, denn Hossdorf ist Ingenieur im umfassendsten Sinn dieses Begriffs. Auf einzigartige Weise vereint er schöpferisches Entwerfen auf dem gesamten Feld des konstruktiven Ingenieurbaus mit scharfsinniger statischer Analyse. Hossdorfs Buch verdient eine genaue Lektüre.


[Heinz Hossdorf: Das Erlebnis Ingenieur zu sein. Mit einem Beitrag von Peter Dietz und einem Vorwort von José Antonio Torroja. Birkhäuser-Verlag, Basel 2003. 272 S., Fr. 88.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2003.03.04

Profil

Studium an der EPF Lausanne und an der ETH Zürich

Lehrtätigkeit

Seit 1985 Dozent für Holzbau an der Hochschule für Technik und Architektur, HTA Chur
Seit 1998 Abteilungsleiter Bau an der HTA Chur

Publikationen

Landschaft und Kunstbauten, Bundesamt für Kultur (BAK), Bern, Scheidegger & Spiess
Architecture in Switzerland, SRG SSR idée suisse, Hochparterre AG, Presence Switzerland PRS

Auszeichnungen

1999 Großer Preis für Alpine Architektur Sexten

In nextroom dokumentiert:
Neues Bauen in den Alpen 2006, Auszeichnung, Neuer Traversina-Steg

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