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Bauwerke

Artikel 12

16. Juli 2010Myrta Köhler
Der Standard

„Sauber denken, klar handeln“

Er war der Architekt, der das Bild Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg so stark prägte wie kaum ein anderer: Egon Eiermann. Zu seinem 40. Todestag: ein Schaffensporträt.

Er war der Architekt, der das Bild Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg so stark prägte wie kaum ein anderer: Egon Eiermann. Zu seinem 40. Todestag: ein Schaffensporträt.

Ein Architekt, der verlangt, dass seine eigenen Bauten abgerissen werden - das scheint wider die Natur. Egon Eiermann formuliert mit seinen Anforderungen an die moderne Architektur einen neuen Ansatz: Nichts ist für die Ewigkeit gebaut. Als Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg gefordert ist, sich neu zu positionieren, hat die Architektur in Eiermann bereits seit Jahren einen Wegbereiter. Den Bruch mit der Traditionshörigkeit, den Mies van der Rohe und Gropius vollzogen haben, will die folgende Generation ausbauen. Wie Eero Saarinen in den USA und Arne Jacobsen in Dänemark strebt Eiermann in Deutschland entgegen der neoklassizistischen Monumentalität des NS-Regimes nach Licht und Leichtigkeit: Die zweite Moderne hat begonnen.

Eiermanns Postulat von der Vergänglichkeit setzt voraus, dass der Architekt den Abriss eines Gebäudes von Anfang an mit einplant und nach Möglichkeit wiederverwertbare Materialien einsetzt. Wie kein anderer zu seiner Zeit klassifiziert Eiermann damit das „Haus als Maschine“ und Nutzobjekt. Obwohl Eiermann den Abriss bereits in der Planungsphase antizipiert, ist er weit davon entfernt, die Bedeutung seines Werkes zu schmälern. Ganz im Gegenteil legt er in der Bearbeitung seiner Aufträge größten Perfektionismus an den Tag.

Egon Eiermann wird am 29. September 1904 in Neuendorf bei Berlin geboren. Vorbilder für sein architektonisches Wirken sind der verehrte Lehrer Hans Poelzig und Mies van der Rohe, als dessen Adept Eiermann aufgrund seiner kubischen Baukörper fälschlicherweise oft bezeichnet wird: Eiermann setzt aber nicht nur Glas und Stahl, sondern auch Holz, Stein und Sichtmauerwerk ein.

Ähnlich wie Poelzig betont Eiermann „die vollkommene Verschmelzung des Außen und Innen“ . Das erreicht er im Wohnhausbau (Wohnhaus Hardenberg, Wohnhaus Steingroever) in der Verbindung von Haus und Garten durch Berankung oder die Fortsetzung der Außenfliesen im Inneren. „Bauen ist im Grunde eine entsetzliche Sache, weil wir Gottes schöne Natur ramponieren“ , so Eiermann. Umso wichtiger ist für ihn die Kohärenz des Gebauten als „räumlichkonstruktiver Organismus“ . Das Entwerfen idealer Behausungen ist für Eiermann nobelste Aufgabe des Architekten - sie macht bis in die 1930er-Jahre den weitaus größten Teil seiner Arbeit aus. Doch es fehlen die großen, die bedeutenden Aufträge - sie kommen mit den Nazis. Vor und während des Krieges entwirft Eiermann eine Fülle an Industriegebäuden und eine Kaserne bei Rathenow. So zahlreich sind die Aufträge, dass Eiermann der Einberufung zum Heer entgeht.

Die Zwiespältigkeit seiner Situation ist ihm wohl bewusst: Er tröstet sich damit, dass er kein Parteimitglied ist und sich dem Ästhetik-Diktat des Regimes nur in den seltensten Fällen unterwirft - unverhohlen kritisiert er die NS-Architektur wegen ihrer „falschen Monumentalität“ . Bei Albert Speer stoßen denn auch seine Vorstellungen einer modernen Architektur des Öfteren auf Ablehnung, doch die allgemeine Aufmerksamkeit ist nun gesichert. Sie wächst, als Eiermann und Sep Ruf beauftragt werden, den Deutschen Pavillon für die Weltausstellung in Brüssel (1958) zu entwerfen.

Wohnhäuser, Industriebauten, und Architektur für den Augenblick - mit all diesen Aufgaben kann er sich identifizieren, sogar als Möbeldesigner macht er sich einen Namen. Sein späteres Werk umfasst auch eine ansehnliche Anzahl - von ihm ungeliebter - reiner Verwaltungsbauten. Die Anerkennung für den Deutschen Pavillon verschafft ihm den Auftrag für die Errichtung des Kanzleigebäudes der Deutschen Botschaft in Washington (1958- 1964). Es folgen der „Lange Eugen“ , das Abgeordneten Hochhaus des Bundestages in Bonn (1965-69), die Hauptverwaltung der IBM-Deutschland GmbH in Stuttgart Vaihingen (1967-72) und das Verwaltungs- und Ausbildungszentrum der Deutschen Olivetti in Frankfurt am Main (1968-72) - letztere zwei Projekte wurden posthum nach seinem Tod am 19. Juli 1970 vollendet.

Schon beim Fabrikbau war Eiermann bestrebt, einen menschenwürdigen Arbeitsplatz zu schaffen - bei den Büroräumlichkeiten verfolgt er ein ähnliches Prinzip. Unterschiedlich große Räume stellen seiner Meinung nach eine ungerechte Bevorzugung Einzelner dar, er favorisiert das Großraumbüro. Auftragsbedingt muss er immer wieder seinen Abscheu gegen Hochhäuser überwinden - die waagrechte Strukturierung flacher Gebäude signalisiert in seinen Augen den Ausgleich sozialer Unterschiede - doch tut er sein Möglichstes, um die strengen, dominanten Silhouetten zu mildern.

Im Bauen gibt es keine Revolution, nur kontinuierliche Optimierungen - davon war Eiermann überzeugt. Deshalb ist sein Werk erstaunlich homogen, ein Bruch nicht erkennbar. Vereinfachung ist sein Ziel, „sauber denken und klar handeln“ sein Motto. „Weglassen und noch mal Weglassen bedeutet die Gewähr des größeren Eindrucks“ , schreibt er 1957. Die Überreste der alten Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche würde er am liebsten beseitigen, als er mit einem Neubau (1959-63) beauftragt wird: Die Mehrheit der Berliner entscheidet anders. Nun wird der „Hohle Zahn“ flankiert von Stahlskelettkonstruktionen mit Beton-Glas-Wänden, Oktogon und Glockenturm wurden als „Puderdose und Lippenstift“ zum Signum West-Berlins. Schon zu Lebzeiten befürchtete Eiermann, dass man ihn einmal für die Leistung in Erinnerung behalten würde, auf welche er am wenigsten stolz war: die Eiermann-Kachel, die als Vorhangfassade an den kastenförmigen Horten-Warenhäusern jahrzehntelang das Erscheinungsbild deutscher Städte prägte.

Denkmalschützer kämpfen heute - trotz Schäden am Material - entschlossener für Eiermanns Bauten als er selbst: Zahlreiche Gebäude - die Olivetti-Türme, die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche oder der „Lange Eugen“ - bleiben nun der Nachwelt erhalten. Seine Bauwerke kombinieren die Emanzipation von überkommenen Stilen mit dem Bemühen um einen sozialen Mehrwert. Wie kaum ein anderer prägt Eiermann in dieser Hinsicht das Gesicht des Nachkriegsdeutschlands - mehr als nur vorübergehend.

09. Oktober 2004Der Standard

Einflussräume

Sein immenser Einfluss auf die österreichische Nachkriegsarchitektur besteht darin, dass er etwas nicht getan hat. Egon Eiermann war angefragt, die Architekturklasse...

Sein immenser Einfluss auf die österreichische Nachkriegsarchitektur besteht darin, dass er etwas nicht getan hat. Egon Eiermann war angefragt, die Architekturklasse...

Sein immenser Einfluss auf die österreichische Nachkriegsarchitektur besteht darin, dass er etwas nicht getan hat. Egon Eiermann war angefragt, die Architekturklasse der Salzburger Sommerakademie des Jahres 1956 zu übernehmen, sagte aber ab und empfahl stattdessen Konrad Wachsmann. Der schon zu Lebzeiten legendäre Wachsmann kam aus Kalifornien angereist und brachte einer ganzen Generation österreichischer Architekten bei, dass Konstruktionen auch von utopischer Kraft sein können. Der im Vergleich etwas bodenständigere Konstrukteur Eiermann hingegen blieb in Karlsruhe, wo er eine der wichtigsten Architekturklassen leitete. In seinem Büro entstanden einige für das bundesdeutsche Nachkriegsarchitekturbewusstsein entscheidende Bauten, wie etwa die Berliner Gedächtniskirche (links) oder die filigranen Pavillons auf der Brüsseler Weltausstellung 1958. Zu Eiermanns einhundertstem Geburtstag ist nun in der Städtischen Galerie Karlsruhe eine Ausstellung entstanden, die von einem schönen Katalog begleitet wird (Egon Eiermann, 1904-1970, Verlag Hatje-Cantz, 224 Seiten, € 39,80). Aber Vorsicht!: „Das Werk geht in die Hände der Kunstwissenschaft über . . . Das hat nicht mehr viel mit der Architektur zu tun, um die Architekten sich kümmern.“ Schreibt Arno Lederer, der mit Bauten wie dem Salem International College und immer wieder auch mit Texten in der im Umfeld seines Lehrstuhls in Karlsruhe erscheinenden Zeitung mit dem wunderbaren Titel ach, Egon frisches Blut in die deutsche Architekturszene gebracht hat. Sitzen dort die legitimen Erben Eiermanns? Die textfreudige, auf Bilder weit gehend verzichtende Gestaltung im Zeitungsformat jedenfalls hätte Egon sicher gefallen, der sich so praktischen Dingen wie dem Architektenoverall gewidmet hat. Das Abo von 6 Ausgaben pro Jahr kostet 23 Euro, Info: www.bleiwerke.de/egon. Dort sind auch Leseproben von ach, Egon abgelegt. Vielleicht gelingt es ja noch einmal, Einfluss auf die österreichische Architektur zu nehmen.

25. September 2004Sonja Hildebrand
Neue Zürcher Zeitung

Eine deutsche Architektenkarriere

Egon Eiermann, dessen Geburtstag sich am 29. September zum hundertsten Mal jährt, dominierte als Architekt und Professor zwei Jahrzehnte lang das bundesdeutsche Baugeschehen. Sein seit Ende der zwanziger Jahre entstandenes Werk galt und gilt als Ausweis einer «Kontinuität der Moderne» vor und nach dem Zweiten Weltkrieg.

Egon Eiermann, dessen Geburtstag sich am 29. September zum hundertsten Mal jährt, dominierte als Architekt und Professor zwei Jahrzehnte lang das bundesdeutsche Baugeschehen. Sein seit Ende der zwanziger Jahre entstandenes Werk galt und gilt als Ausweis einer «Kontinuität der Moderne» vor und nach dem Zweiten Weltkrieg.

Egon Eiermann, 1904 bei Potsdam geboren, gehört zur zweiten Generation der Moderne. Vielleicht war es dieser Umstand, der es ihm erlaubte, schon als junger Mann einen differenzierten Blick auf die moderne Architektur zu entwickeln. Als er Ende der zwanziger Jahre seine Berufspraxis begann, hatte das Neue Bauen jedenfalls in Publizisten wie Adolf Behne oder Peter Meyer auch in den eigenen Reihen seine kritischen Begleiter gefunden. Für Eiermann wurde Hans Poelzig prägend. Sein Lehrer an der Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg hatte sich stets eine eigenständige Position zwischen den Lagern der «Konservativen» und «Modernen» bewahrt.

Moderne Grundhaltung

Ganz zeittypisch vertrat Eiermann damals seine Position nicht als Einzelkämpfer, sondern gründete 1926 zusammen mit Kommilitonen die «Gruppe junger Architekten», deren Publizist Julius Posener war. Was man nicht wollte, war eine plakative Modernität um ihrer selbst willen, eine unreflektierte, nur modische Verwendung moderner Signete. Von der Integration fachfremder Wissenschaften wie der Soziologie oder der Hygiene in den Entwurfsprozess hielt man ebenfalls wenig: «Wir waren der Meinung, dass der Architekt in erster Linie die Bedingungen des Bauens kennen muss: des (handwerklichen) Bau- Vorgangs sowie der Umwelt und der Nutzung.»

Eiermann begann 1928 als angestellter Architekt. Doch weder im Hamburger Baubüro der Karstadt AG noch bei den Berliner Elektrizitätswerken hielt es ihn lang. Schon 1930 machte er sich in Berlin selbständig; bis 1934 teilte er das Büro mit seinem Studienfreund Fritz Jaenecke. Eiermanns Erstling, das Umspannwerk Berlin- Steglitz, fand unter anderem 1931 in Heinz Johannes' Führer zum «Neuen Bauen in Berlin» Aufnahme. Vom Bauhaus schickte Mies van der Rohe seine Studentinnen und Studenten 1932 beim nahe gelegenen Haus Hesse vorbei, Eiermanns und Jaeneckes frühem Kabinettstück im Süden Berlins. Noch 1934 wurde dieser eingeschossige Flachdachbau mit der im Prüssverband gemauerten Sichtziegelfassade und einer Vielzahl an räumlichen Bezügen in der Fachpresse als beispielhafte «Verwirklichung eines zeitgemässen geistigen und materiellen Wesensgehaltes» gelobt, in dessen Mittelpunkt der Mensch stehe. Mit wenigen Ausnahmen zeigen alle Bauten Eiermanns dieser Jahre eine moderne Grundhaltung ohne Zug ins Extreme, die ihm nach der nationalsozialistischen Machtübernahme das Weiterbauen erleichterte.

Bauen im dritten Reich

In der Literatur wird Eiermanns Berliner Zeit bis 1945 zwar oft marginalisiert; für sein Selbstverständnis und seine öffentliche Wahrnehmung vor und unmittelbar nach 1945 besass sie indessen ein nicht zu unterschätzendes Gewicht. Gerade in diesen Jahren manifestierte sich Eiermanns Arbeitsethos besonders deutlich. Sein Freund, Berliner Mitarbeiter und Karlsruher Kollege Rudolf Büchner hat es so beschrieben: «Mensch und Architekt Egon Eiermann? Beides lässt sich gerade bei ihm nicht trennen. Der Mensch war immer zugleich Architekt, und zwar mit Leidenschaft und Besessenheit und stets mit kontrollierender Strenge sich selbst gegenüber.» Der (gute) Mensch definierte sich über die (gute) Arbeit. Dass die Mitmenschen de facto dabei aus dem Fokus geraten konnten, lag auch an der Logik des diktatorischen nationalsozialistischen Systems und des Krieges. Seine Mitarbeiter ermahnte Eiermann noch im Februar 1945 zum rechtzeitigen Arbeitsbeginn: «Jetzt aber ist der Zeitpunkt gekommen, wo ich mich von jedem trennen werde, bei dem private Neigungen und Wünsche den Beweis erbringen, dass er diese für wichtiger hält als die Arbeit im Büro.»

Die Einfamilienhäuser, die bis 1942 in Berlin und dessen Umland entstanden, zeigten trotz nunmehr (flach) geneigten Dächern eine klare Kubatur der oft asymmetrisch ausgebildeten Baukörper, betont flächige Fassaden und eine enge Verzahnung mit der umgebenden Natur. Während Eiermann in der äusseren Erscheinung seiner Bauten explizit landschaftsgebundene oder gar historisierende Formen vermied, forcierte er im Innern mitunter ein rustikales Erscheinungsbild. Öffentliche Anbiederung an den verordneten Zeitgeschmack war das nicht.

Das grösste Potenzial für die Zukunft schuf sich Eiermann mit den Industriebauten, deren Planung ab 1936 zunehmend seinen Büroalltag bestimmte. Dass er auf diesem Feld reüssieren konnte, lag teils an der nationalsozialistischen Rüstungs- und Wirtschaftspolitik, teils an den gestalterischen Möglichkeiten, die die Diktatur dort erlaubte. Die von den Industriearchitekten nach 1945 für sich in Anspruch genommene politikfreie «Nische Industriebau» hat es dagegen bekanntlich nicht gegeben. Auch Eiermanns formal und funktional konsequent modern gestaltete Fabrikgebäude wie der 1939 entstandene Stahlbetonskelettbau der «Total»-Werke in Apolda mit seinem markanten Dachgarten wurden bis in die Kriegsjahre hinein öffentlich wahrgenommen.

Eiermann war kein Freund der offiziellen Repräsentationsarchitektur; sein Verriss der Beiträge zum Dessauer Theaterwettbewerb von 1935 ist berühmt. Das bedeutete aber nicht, dass er grundsätzlich keine öffentlichen Aufträge annahm. Seine politisch brisanteste Arbeit ist die Gestaltung der «Leistungsschau» der staatlichen Propagandaausstellung «Gebt mir vier Jahre Zeit!», die 1937 auf dem Berliner Messegelände gezeigt wurde. Den Auftrag hatte Eiermann Ende 1936 nach einem eingeladenen Wettbewerb vom Propagandaministerium erhalten. - Dank seinem Einstieg in den Industriebau blieb Eiermann auch in den Kriegsjahren gut beschäftigt. Bei Kriegsende leitete er Baustellen im gesamten Reich einschliesslich der annektierten Ostgebiete. Die Bandbreite seiner Projekte reichte von Behelfsunterkünften bis zur Planung einer ganzen Stadt mit Flugfeld und ausgedehntem Industriequartier im Auftrag des Reichsluftfahrtministeriums.

Von Berlin nach Karlsruhe

Als Eiermanns Berliner Zeit im April 1945 mit der Flucht nach Buchen im Odenwald, der Heimatstadt seines Vaters, endete, war er ein bekannter Architekt. Die funktionelle und propagandistische Einbindung einiger seiner Arbeiten in die nationalsozialistische Politik und Kriegswirtschaft blieb in der Regel ausgeblendet. Dies dürfte umso leichter gefallen sein, als Eiermann - anders etwa als Peter Behrens - keine öffentlichen Prachtbauten entworfen hatte. Das sichtbarste Zeichen von Eiermanns deutschlandweiter Anerkennung war die schnelle akademische Karriere, die sich gleich nach Kriegsende mit Angeboten aus Weimar, Berlin, Darmstadt, Hannover und Karlsruhe anbahnte. Im April 1947 wurde Eiermann als «Persönlichkeit grösster praktischer Bauerfahrung auf dem Gebiete der modernen Baumethoden, zugleich aber regster geistiger Lebendigkeit und Verknüpfung mit allen andern kulturellen Strömungen unserer Zeit» nach Karlsruhe berufen. Dorthin verlegte er 1948 auch sein Büro, das er bis 1965 gemeinsam mit seinem Berliner Mitarbeiter Robert Hilgers betrieb. Eiermann blieb bis in die sechziger Jahre hinein die dominierende Persönlichkeit der Architekturfakultät. Dank ihm wurde Karlsruhe zum Zentrum der modernen Architekturlehre in Deutschland. Seine Schüler sind zahlreich. Einer der heute berühmtesten, Oswald Mathias Ungers, erwarb schon 1950 das Diplom; danach ging er eigene Wege.

Was moderne Architektur nach dem politischen Neuanfang sein und leisten sollte, hat Eiermann, der eigentlich die Praxis der theoretischen Grundlegung vorzog, in den Jahren um 1950 mehrfach bekundet: als Teilnehmer der Darmstädter Gespräche, als Mitarbeiter der damals renommiertesten deutschen Architekturzeitschrift «Baukunst und Werkform» oder auch in Provinzblättern, wo er über den «Wiederaufbau auf dem Lande», die Notwendigkeit einer Bodenreform oder die Schweizer Wanderausstellung «USA baut» schrieb. Eiermann verstand sich als Garant der «Kontinuität der Moderne», einer Moderne, die jetzt auch für Humanität, Völkerverbindung, Freiheit und Demokratie stand.

Bis Anfang der fünfziger Jahre blieb die Industriearchitektur Eiermanns wichtigste Domäne. 1951 wurde mit der Taschentuchweberei in Blumberg im Südschwarzwald einer seiner konstruktiv und in der architektonischen Gestaltung innovativsten Bauten fertig gestellt. Mit Blumberg und anderen Bauten dieser Jahre trug Eiermann massgeblich zum Anschluss der jungen Bundesrepublik an die internationale Moderne bei. Erstmals blickte das Ausland wieder wohlwollend auf Deutschland. Die Schweizer Architekturzeitschrift «Werk» rechnete die Blumberger Fabrik 1952 «zum Besten, was Westdeutschland seit dem Kriege an Bauten hervorgebracht hat». Heute zählt das frühe Lob indessen nicht mehr viel: Die hervorragend proportionierte Halle mit der Wellasbestzement-Fassade steht seit 1995 leer und ist in ihrem Bestand akut gefährdet.

Meister der Stahlarchitektur

Mit der «Wirtschaftswunderzeit» wurde der Verwaltungs- und Geschäftshausbau zu Eiermanns täglichem Brot. Die Führung auf diesem Gebiet musste er sich in Deutschland nur mit Paul Schneider-Esleben teilen. Eiermann, dem architektonische Ordnung und die «knappe Form» als Äusserungen von Bescheidenheit und Rücksichtnahme galten, entwickelte sich zum Meister der an Mies van der Rohe geschulten Stahlarchitektur. Dem «formlosen Beton» und den plastisch-expressiven «Experimenten» Le Corbusiers oder Hans Scharouns setzte Eiermann Formstrenge und die Visualisierung der betont schlanken Konstruktionen entgegen.

Zu seinen Markenzeichen wurde die beim Warenhaus Merkur in Reutlingen 1952/53 erstmals realisierte zweite Fassadenschicht aus Umgängen, Gestängen und Sonnenschutzvorrichtungen, die auch grosse Bauten leicht und elegant erscheinen lässt. Mit Eiermanns Namen sind aber auch die uniformen Fassadenschürzen aus keramischen Wabenelementen verbunden, die zum ungeliebten Signet der Horten-Kaufhäuser wurden. Aus Eiermanns Büro stammen letztlich nur zwei der später zahlreich wiederholten «HortenWaben»: das Warenhaus Horten in Heidelberg (1958-62) und sein Stuttgarter Gegenstück (1951-60), für dessen Bau Eiermann den Abriss von Erich Mendelsohns Inkunabel der modernen Kaufhausarchitektur, des 1928 eröffneten Schocken-Kaufhauses, hinnahm.

Umgang mit dem Baubestand

Was Eiermann bei Mendelsohn Überwindung gekostet hatte, fiel ihm bei einem Monument des Kaiserreichs nicht schwer: Die Ruine der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche gab er in seinen Wettbewerbsentwürfen von 1956/57 mit voller Überzeugung zum Abriss frei. Doch wo der Geldwert keine Rolle spielte, konnte der Symbolwert seine ganze Kraft entfalten. Während die Kritik in Stuttgart ins Leere gelaufen war, führte sie in Berlin zu einer Korrektur der Bauaufgabe. Infolge der öffentlichen Proteststürme schrieb der Bauherr schliesslich den Erhalt der Turmruine vor. Um diese herum gruppierte Eiermann die vier Einzelbauten von Kirche, Sakristei, Kapelle und neuem Turm auf gemeinsamem Podest zu einem sorgfältig austarierten Ensemble, das nicht nur dem westlichen Zentrum einen Fixpunkt gab, sondern auch der Stadt ein neues Wahrzeichen. Einen eigenen Ausdruck entfalteten die aus wabenartigen Betonelementen aufgebauten Aussenwände der Kirche. Während die Wabenfassaden der Kaufhäuser die Aufgabe hatten, die ungestalteten Aussenwände zu kaschieren, sind sie bei der Gedächtniskirche wie auch bei Eiermanns kleinem Meisterwerk der Matthäuskirche in Pforzheim (1952-56) als diaphane Wände zwischen die sichtbare Skelettkonstruktion gespannt. In den fünfziger und sechziger Jahren umfasste Eiermanns Planungsradius das gesamte Bundesgebiet. Darüber hinaus gelangte er zwar kaum je, sein Renommee aber überstrahlte die Landesgrenzen weit. Dies verdankte er nicht zuletzt jenen Projekten, die er als Architekt der Bundesrepublik verwirklichen konnte - allen voran der zusammen mit Sep Ruf ausgeführten Pavillongruppe auf der Weltausstellung in Brüssel und dem 1958-64 realisierten Kanzleigebäude der Deutschen Botschaft in Washington.

Die über dunklen Sockeln gleichsam schwebenden gläsernen Würfel in Brüssel wurden zum Symbol des demokratischen Deutschland, das sich 1958 erstmals wieder im Kreis der «freien Welt» präsentieren durfte. Als «demokratische Architektur» verstand Eiermann auch das mit mehreren amerikanischen Preisen ausgezeichnete Washingtoner Botschaftsgebäude, dessen langgestreckter Baukörper sich wie ein Hochseedampfer in das abfallende Terrain schiebt. Was Eiermann als Gegenbild zur «alten machtverkündenden Vertikalströmung» verstand, stellte Ungers dreissig Jahre später wieder in Frage: Er gestaltete die benachbarte, 1995 eingeweihte Botschafterresidenz als klassizistische «Säulenbotschaft».

Eiermann blieb auch in den Jahren des boomenden Betonbaus ein Meister der Stahlarchitektur. Die Bauten seiner letzten Lebensjahre waren bereits in ihrer Entstehungszeit Klassiker. So erscheint es nur folgerichtig, dass er noch kurz vor seinem Tod als Nachfolger Mies van der Rohes in den Orden Pour le Mérite gewählt wurde. Dass sich Klassik immer auch mit Innovation und geradezu spielerischer Leichtigkeit verbinden konnte, führte Eiermann zuletzt mit den erst postum fertig gestellten Olivetti-Türmen vor. Sie gehören immer noch zum Besten, was das in letzter Zeit nicht sehr Eiermann-freundliche Frankfurt - man erinnere sich an den Abriss von Eiermanns Hochtief-Gebäude im letzten Jahr (NZZ 12. 9. 03) - den an Architektur Interessierten zu bieten hat.

25. September 2004Jürgen Tietz
Neue Zürcher Zeitung

Blauer Raum der Stille

Egon Eiermann als Meister der Sakralarchitektur

Egon Eiermann als Meister der Sakralarchitektur

Als Point de vue des Kurfürstendamms verkörperte die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche bis zur Wende 1989 symbolhaft die Geschichte der geteilten Stadt. Die von Egon Eiermann entworfene Kirche tritt in einen Dialog mit der Ruine des Turms der kriegszerstörten Gedächtniskirche von Franz Schwechten. Der Neubau der Gedächtniskirche war zwar nicht Eiermanns erster Sakralbau. Er ist jedoch bis heute derjenige, der die grösste öffentliche Resonanz hervorruft. Bereits kurz nach ihrer Einweihung im Dezember 1961 war die Kirche «jeden Tag so überfüllt, dass fünf Gottesdienste gehalten werden», schrieb Eiermann an einen Freund. Schnell erlangte sie den Status eines Westberliner Wahrzeichens. Auch für den Architekten kam ihr eine Schlüsselrolle zu: «Mein Lebenswerk ist diese Kirche.»

Mit der 1952-56 errichteten Matthäuskirche in Pforzheim verwirklichte Eiermann seinen ersten Sakralbau, der auch für seinen Berliner Entwurf beispielgebend werden sollte. Das Betonskelett der von einem einfachen Satteldach abgeschlossenen Pforzheimer Kirche wurde mit Beton-Glas- Steinen ausgefacht. Obwohl die von Eiermann verwendeten Architekturelemente dem zeitgenössischen Industriebau verpflichtet waren, entstand dennoch ein «leuchtender Schrein in der Landschaft» (Eiermann), dessen Innenraum eine ganz eigene poetische Note entfaltet.

Betonwaben

Dabei kommt der Wirkung des Lichts - genauso wie später in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche - eine besondere Bedeutung zu. Mit den Fassaden aus Betonwaben formulierte Eiermann in beiden Städten eine zeitgemässe Lösung für den Sakralbau, die später von zahlreichen Architekten aufgenommen wurde. Eiermann selbst nahm das Motiv 1964 bei seinem Entwurf für eine evangelische Kirche im ehemaligen Konzentrationslager Dachau erneut auf. Dabei konnte er sich auf frühere Vorbilder der modernen europäischen Kirchenbaukunst stützen wie Auguste Perrets Notre Dame in Le Raincy (1922/23) oder St. Antonius von Karl Moser in Basel (1926/27). Gleichwohl gewann Eiermanns Berliner Kirche während des langen Planungsprozesses eine ganz eigene Qualität. In seinem ersten Wettbewerbsbeitrag von 1956 war der Architekt noch davon ausgegangen, die Verkehrsinsel des Breitscheidplatzes von der Ruine des Altbaus zu befreien und eine vollständig neue Kirche zu schaffen. Dabei zeigte der von ihm vorgeschlagene kubische Baukörper mit Satteldach eine deutliche Anlehnung an die Pforzheimer Matthäuskirche. Auf einem Podest um drei Stufen aus dem Alltagsgeschehen herausgehoben, sollte die Kirche von einem Uhr- und einem Glockenturm sowie einer Kapelle begleitet werden. Ein Alternativentwurf Eiermanns sah demgegenüber eine freie Komposition aus runden Baukörpern vor, die auf sechseckigen Podesten angeordnet werden sollten.

Entwurfsphasen

Beide Entwürfe fanden ihre Entsprechung in zeitnahen Projekten Eiermanns, in denen er - erwähnt sei der Wettbewerb für die Hochschule für Sozialwissenschaften in Linz von 1958 - eine geometrische Komposition meist pavillonartiger Bauvolumen vorschlug. Diese sind auf einer grossflächigen Plattform angeordnet, wie dies bereits Mies van der Rohe bei verschiedenen Entwürfen bis hin zur Berliner Neuen Nationalgalerie gezeigt hatte. Aber auch die runden und zylindrischen Volumen haben in Eiermanns Werk einen Platz. Dies veranschaulicht sein Wettbewerbsbeitrag von 1958/59 für ein Stadttheater in Luxemburg. Desgleichen spielten auch bei seinen Entwürfen für Sakralbauten runde Baukörper eine Rolle. So bei den Projekten für ein Gemeindezentrum in Baden-Baden (1953) oder dem Wettbewerb für die Johanniskirche in Mühlheim/Ruhr (1960).

Eiermanns beide Entwürfe für die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche fanden zwar die Zustimmung der Wettbewerbsjury und der Kirchenleitung, jedoch nicht die der Öffentlichkeit, die für die Bewahrung der Turmruine eintrat. Doch auch in der Überarbeitung seines Projektes sah Eiermann 1957 noch nicht die Erhaltung der Ruine vor. Dass sich Eiermann so lange der Einbeziehung des alten Turms widersetzt hat, erstaunt angesichts der Tatsache, dass er sich bereits 1953 im Fall der Hamburger St.-Nicolai-Kirche mit der Ergänzung einer kriegszerstörten Kirche auseinandergesetzt hatte.

Doch erst der Zwiespalt zwischen Bewahrung der Ruine und ergänzendem Neubau führte zur endgültigen Lösung. Beim ausgeführten Bau fasste Eiermann die Turmruine durch die Neubauten ein. Den pantheonartigen Rundbau, den er als Alternativvorschlag unterbreitet hatte, verwandelte er dabei in ein Achteck - und griff damit ebenfalls auf eine seit dem Mittelalter verwendete Würdeformel für Sakralbauten zurück. Dem Oktogon antworten auf der anderen Seite der Turmruine eine flache Kapelle und der auf sechseckigem Grundriss errichtete Glockenturm. Besonders im Gegenüber der beiden Türme wurde ein Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart in Gang gesetzt, der bis heute andauert.

Nach wie vor gehört die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu den bedeutenden architektonischen Sehenswürdigkeiten Berlins. Ein Erfolg, der nur wenigen Bauten der sechziger Jahre beschieden ist. Gründe dafür sind die prominente Lage des Bauwerks und der Mahnmalcharakter der Ruine, auch wenn deren goldschimmernde Mosaiken inzwischen allzu aufgeputzt wirken. Doch die Bedeutung des Ensembles liegt vor allem in Eiermanns Bauten selbst, besonders in dem achteckigen Kirchenraum: Über einem hohen Sockelbereich, der durch einen breiten Stahlträger abgeschlossen wird, erhebt sich die doppelwandige Betonwabenkonstruktion. Strahler zwischen den beiden Wänden sorgen dafür, dass die von dem Glasmaler Gabriel Loire aus Chartres geschaffenen Fenster bei Tag wie bei Nacht ihre besondere Leuchtkraft entfalten können. Die mystische Wirkung des halbdunklen blauen Lichts wird durch einige rote und grüne Einsprengsel noch gesteigert. Zudem sorgt die doppelte Wandkonstruktion dafür, dass im Inneren der Kirche Ruhe herrscht und das geschäftige Treiben der City-West nicht eindringen kann.

Raumwirkung

Mit der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche hat Eiermann ein Gesamtkunstwerk geschaffen, in dem vom Taufbecken über den Altar bis zum Stuhl jedes Detail auf einen Entwurf von ihm zurückgeht. Die einheitliche Wirkung der Kirche wird nur von der schwebenden Christusfigur des Münchner Bildhauers Karl Hemmeter durchbrochen - die Eiermann nicht mochte. An ihrer Stelle hatte er ein schlichtes Metallkreuz vorgesehen, das jedoch nur kurze Zeit über dem Altar hängen blieb. - Obwohl die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche einen festen Ankerpunkt in der Berliner Sakral- und Architekturlandschaft bildet, droht ihr dennoch Ungemach: Von den Bauten der fünfziger und sechziger Jahre, die den Breitscheidplatz harmonisch einfassen, soll nun das denkmalgeschützte Schimmelpfeng-Haus weichen. Stattdessen - so die Planung - sind zwei Hochhäuser an der nahen Kantstrasse geplant. Sie würden nicht nur zu einer Verschattung der Kirche führen - und sie so eines wichtigen Teils ihres einzigartigen Charakters berauben. Eiermanns Hauptwerk drohte auch zwischen den geplanten Hochhäusern zu verzwergen, ein Schicksal, das sein Bonner Abgeordnetenhochhaus zu Füssen des Telekom-Towers bereits ereilt hat.

25. September 2004Karin Leydecker
Neue Zürcher Zeitung

Kontinuität der Moderne

Zur Aktualität von Egon Eiermanns Schaffen

Zur Aktualität von Egon Eiermanns Schaffen

Als einer der Grossen der deutschen Nachkriegsarchitektur gehörte Egon Eiermann nicht zu den stromlinienförmigen Ja-Sagern. Vielmehr machte sich der Verfechter einer funktionalen Ästhetik einen Namen als streitbarer Prophet der «konstruktiven Klarheit» und als charismatischer Lehrer. Wenn nun die Städtische Galerie Karlsruhe den 100. Geburtstag von Eiermann mit einer grossen Gesamtschau zu Leben und Werk des Architekten feiert (NZZ 21. 9. 04), so scheint die Ausstellung eine zaghafte Revision des Bildes eines technokratisch geprägten Baukünstlers einzuleiten. Ein wichtiges Indiz dafür ist die Neufixierung auf den etwas ungeschickt gewählten Begriff des «rustikalen Funktionalismus». Diese Rustikalität zielt primär auf Eiermanns Wohnungsbau, der trotz gestalterischer Reduktion einen gemässigten, fast skandinavisch anmutenden Weg geht: Pult- und Satteldächer über strengen Kuben, geschlämmte Fassaden, Sichtmauerwerk und grün berankte Wände. Auffallend ist die subtile Durchdringung von Natur und Architektur, die Eiermann durch die meisterhafte Wegführung und die Schichtung des Raumes erzielt.

Gerade im Wohnbau war sich Eiermann sehr wohl der «sinnlich-sittlichen Wirkung» von Farbe und der haptischen Qualitäten von Holz, Leder und geflochtenem Rohr bewusst. Er hatte keine Angst vor Rot, Blau und Gelb, experimentierte mit Selbstbaumöbeln und schuf mit seinen heute wieder brandaktuellen «Eierkörben» Luxusobjekte zum Entspannen. Obwohl Eiermann nie von der Ganzheitlichkeit seiner Schöpfungen sprach, gehörte die Möblierung für ihn zum baukünstlerischen Gesamtkonzept eines Hauses. Anders als viele seiner Kollegen entwarf er praktische Möbel für das ganz normale Leben. Vieles war multifunktional und leicht demontierbar. Solche Eigenschaften weiss der Wohnnomade von heute zu schätzen. Sicherlich war Eiermann kein deutscher Eames, denn trotz allen Ähnlichkeiten bilden seine Möbel ein eigenes technisches und ästhetisches Universum. Eiermann schuf Allgemeingültiges, während Ray und Charles Eames revolutionäre Modelle kreierten.

Als Architekt lässt sich Eiermann nicht länger auf das von den Industriebauten geprägte Bild kühler Sachlichkeit in Stahl und Glas reduzieren. Heute betrachtet die Rezeptionsästhetik vor allem die Materialexperimente mit neuem Blick. Bedeutsam sind nicht nur jene Versuche, bei denen Eiermann durch Reduktion des Materials bis an die Grenze des konstruktiv Machbaren vordringt; wichtiger sind seine bis heute wissenschaftlich noch kaum bearbeiteten Experimentierfelder im Bereich des Optischen und Haptischen. Dazu gehören die «Lichtsteine» seiner Kirchenwände oder die Materialität von Hülle und Schichtung. In diesem Kontext erscheinen auch die massiven Vorhangfassaden aus Keramik-Formsteinen von Eiermanns Kaufhäusern in neuem Licht. Für den Architekturkritiker Wolfgang Pehnt war diese Allover-Verkleidung der einzige Grund, «Eiermann nicht zu lieben», und viele, welche einst die Mode der hermetischen Hüllen erlebt haben, werden ihm zustimmen. Aber jüngere Architekten, die sich unbelastet der Formenwelt der siebziger Jahre nähern und darüber hinaus von Herzog & de Meurons meditativen Exkursen zur Haut geprägt sind, entdecken hier ein reiches Wahrnehmungspotenzial.

21. September 2004Mathias Remmele
Neue Zürcher Zeitung

Formale Eleganz und funktionale Klarheit

Aus Anlass des 100. Geburtstags feiert Karlsruhe mit Egon Eiermann (1904-1970) einen der bedeutendsten und einflussreichsten Architekten Nachkriegsdeutschlands. Die überzeugende Retrospektive beweist einmal mehr, dass Eiermanns Ruhm zu Recht in der Synthese von technischer Vollendung und künstlerischer Qualität begründet ist.

Aus Anlass des 100. Geburtstags feiert Karlsruhe mit Egon Eiermann (1904-1970) einen der bedeutendsten und einflussreichsten Architekten Nachkriegsdeutschlands. Die überzeugende Retrospektive beweist einmal mehr, dass Eiermanns Ruhm zu Recht in der Synthese von technischer Vollendung und künstlerischer Qualität begründet ist.

Mitte der fünfziger Jahre sah Egon Eiermann (1904-1970), einer der bedeutendsten und einflussreichsten Architekten Nachkriegsdeutschlands, sein berufliches Selbstverständnis in der Aufgabe, die Architektur der Moderne «in den Zustand des technisch höchst Vollendeten hinaufzuheben». Diese Sicht zeugt von nüchternem Realitätssinn, von Selbstbescheidung und zugleich von grossem Ehrgeiz. Die Erkenntnis, dass die «geistige», sprich ideologische und formale Grundlage der Moderne bereits gelegt worden sei und es für die Generation der Nachgeborenen jetzt darauf ankomme, das Neue Bauen in technischer - und d. h. für ihn vor allem: in konstruktiver und funktionaler - Hinsicht zu perfektionieren, hat seine Entwicklung bestimmt. Die Forderung nach funktionaler Klarheit, formaler Einfachheit, konstruktiver Wahrheit und sorgfältiger Detaillierung der Bauten, für die er zeit seines Lebens eintrat, leitete Eiermann aber nicht allein von dieser Erkenntnis ab, sondern auch aus seinem persönlichen Anspruch, «anständig mit Menschen und Material» umzugehen. Er selbst ist diesen Forderungen in vorbildlicher Weise gerecht geworden. Das bezeugt sein vielfältiges Werk, das neben Architektur auch Interieurs, Möbel und Einrichtungsgegenstände umfasst. Sein Ruhm liegt aber vor allem in der Synthese von technischer Vollendung und künstlerischer Qualität begründet, die sich in einem untrüglichen Sinn für spannungsreiche Proportionen, für Material- und Formzusammenklänge offenbart.

Formale Kontinuität

Aus Anlass des 100. Geburtstags von Eiermann widmet das Südwestdeutsche Archiv für Architektur und Ingenieurbau in Kooperation mit der Städtischen Galerie Karlsruhe und dem Bauhaus- Archiv Berlin dem Baumeister jetzt eine umfangreiche Retrospektive, die nacheinander in Karlsruhe und Berlin, den wichtigsten Stätten seines Wirkens, gezeigt wird. Die von einem Team unter der Leitung von Annemarie Jaeggi konzipierte Schau steht unter dem Motto «Die Kontinuität der Moderne». Gemeint sind damit der architekturgeschichtliche Kontext, in den sich sein Werk einordnet, und die formale Kontinuität im Werk selbst, die bei einem deutschen Architekten dieser Generation keineswegs selbstverständlich ist.

Denn wenige Jahre nachdem Eiermann, der sein Architekturstudium bei Hans Poelzig in Berlin absolviert hatte, sein eigenes Büro eröffnet hatte, kamen mit den Nazis erklärte Gegner der Moderne an die Macht. In der Folgezeit fand Eiermann im privaten Wohnungsbau und im Industriebau Bereiche, in denen er seinen gestalterischen Vorstellungen weitgehend treu bleiben konnte. Zu den bemerkenswerten Höhepunkten seines Frühwerkes, die in der Ausstellung gezeigt werden, gehören das Haus Matthies in Potsdam (1936/37), das Haus Vollberg in Berlin (1938-42) sowie die wegweisende Erweiterung eines Fabrikgebäudes in Apolda (1938/39). Aber auch wenn Eiermann trotz seinem brennenden beruflichen Ehrgeiz der Versuchung widerstand, in Nazideutschland prestigeträchtige Grossaufträge zu akquirieren, wurde er durch die Mitarbeit an einer Propagandaschau des Regimes und durch Planungen für Rüstungsbetriebe während des Krieges zu einem «Kollaborateur wider Willen», wie ihn der Architekturhistoriker Werner Durth jüngst charakterisierte.

Seine grosse, auch international beachtete Karriere setzte indessen nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Bereits 1947 erfolgte die Berufung an die Technische Hochschule Karlsruhe, wo Eiermann bis zu seinem frühen Tod im Jahre 1970 als ebenso engagierter wie charismatischer Lehrer wirkte und sich schon nach wenigen Jahren zur zentralen Figur der «Karlsruher Schule» entwickelte. Parallel zu seiner Lehrtätigkeit betrieb er ein erfolgreiches Büro, in dem viele Meisterwerke entstanden. Dazu zählen etwa die Taschentuchweberei in Blumberg, der Deutsche Pavillon auf der Weltausstellung von 1958 in Brüssel, den Eiermann zusammen mit Sep Ruf entworfen hat, die Kaiser- Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin, die Häuser Hardenberg und Eiermann in Baden-Baden, der riesige Gebäudekomplex für den Neckermann- Versand in Frankfurt am Main, das Kanzleigebäude der bundesdeutschen Botschaft in Washington, das als «Langer Eugen» bekannte Abgeordneten-Hochhaus in Bonn, die Hauptverwaltung von IBM Deutschland in Stuttgart und schliesslich die zeichenhaften Olivetti-Doppeltürme in Frankfurt am Main.

Überzeugende Retrospektive

Die im Lichthof 10 des Karlsruher ZKM-Hallenbaues präsentierte Eiermann-Ausstellung verzichtet bewusst auf eine spektakuläre Inszenierung. Sie überzeugt durch ihre klare Struktur und eine überlegte Beschränkung auf 28 Projekte, die geordnet nach Bauaufgaben gezeigt werden. Ein langes, diagonal in den Raum gestelltes Podest nimmt die dreidimensionalen Objekte auf. Flankiert wird es von dazu rechtwinklig placierten, hohen Stellagen, die eine kojenartige Struktur bilden und als Träger der zweidimensionalen Dokumente dienen. Dabei wirkt sich die Vielfalt von Eiermanns Schaffen für die Präsentation sehr positiv aus. Denn die Kombination von zwei- und dreidimensionalem Ausstellungsgut - hier Skizzen, Planzeichnungen, Fotografien und schriftliche Quellen, dort Modelle, Möbel, Leuchten, Einrichtungsgegenstände und Architekturelementen - trägt wesentlich zu ihrer Lebendigkeit bei und ergibt in den meisten Fällen ein abgerundetes Bild der behandelten Projekte. Merkwürdig nur, dass ausgerechnet der Eiermann-Tisch, der berühmteste Design-Entwurf des Meisters, der sich in Gestalterkreisen einer bis heute ungebrochenen Popularität erfreut, hier fehlt.

Der Katalog - er enthält eine Reihe von Aufsätzen, die sich mit verschiedenen Aspekten von Eiermanns Werk auseinandersetzen, sowie detaillierte Beschreibungen von 24 ausgewählten Arbeiten - ist ein ebenso nützliches wie erhellendes Begleitbuch zur Ausstellung. Allerdings spiegelt er ungewollt die beschränkten finanziellen Mittel, die den Ausstellungsmachern zur Verfügung standen. Denn leider entsprechen die meist kleinformatigen Abbildungen in keiner Weise dem Rang der dargestellten Objekte.

Bis 9. Januar 2005 in Karlsruhe, anschliessend in Berlin. Katalog: Egon Eiermann (1904-1970). Die Kontinuität der Moderne. Hrsg. Annemarie Jaeggi. Hatje-Cantz-Verlag, Ostfildern-Ruit 2004. 224 S., Fr. 75.- (Euro 24.- in der Ausstellung).

Profil

1923 – 1927 Architekturstudium an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg
Seit 1930 selbständiger Architekt
1930 – 1934 Bürogemeinschaft mit Fritz Jaenecke
1946 – 1966 Bürogemeinschaft mit Robert Hilgers
1947 Berufung auf den Lehrstuhl für Baugestaltung und Entwerfen an der Fakultät für Architektur der Technischen Hochschule Karlsruhe
1970 Emeritierung

Publikationen

Egon Eiermann (1904-1970), Annemarie Jaeggi, Hatje Cantz Verlag

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