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29. Dezember 2012Myrta Köhler
Spectrum

Schere. Stein? Papier!

Dass Papierarchitektur mehr ist als „simpler“ Modellbau, beweisen derzeit fünf Künstler in der Ausstellung „Architectures de papier“. Ein Besuch in Paris.

Dass Papierarchitektur mehr ist als „simpler“ Modellbau, beweisen derzeit fünf Künstler in der Ausstellung „Architectures de papier“. Ein Besuch in Paris.

Bereits im sechsten Jahrhundert verbreitete sich in China Jianzhi,die älteste Form der Papierschneidekunst. Seither entstand in Kulturen rund um die Welt eine Vielzahl unterschiedlicher Traditionen, von Kiri-e und Kirigami in Japan bis hin zu Papel picado in Mexiko. Oft wurden ganze Geschichten mit den Mitteln dieser Volkskunst erzählt. In Europa entwickelte sich mit dem späten 17. Jahrhundert ein Schwerpunkt des Bauens mit Papier: Eigens gefertigte Bastelbögen erlaubten es Kindern, berühmte Bauwerke nachzubilden. Die Pädagogen der Aufklärung förderten solche konstruktiven Spiele ebenfalls, und noch später, in den 1920er-Jahren, ließen Josef Albers und László Moholy-Nagy ihre Studenten am Bauhaus Konstruktionsaufgaben mit Papier und Schere lösen. Die Faszination des empfindlichen Materials ist bis heute lebendig – nicht nur unter Kindern.

Solide Strukturen wie Häuser und Städte werden von zeitgenössischen Künstlern auf unterschiedliche Art „zu Papier gebracht“. Die Schwäche des Werkstoffs ist dabei zugleich seine Stärke. Die Fragilität des Materials assoziiert Bilder aus dem Bereich des Traums und der Fantasie – Welten, die in Schatten und Silhouetten ihren Ausdruck finden. Bei Stéphanie Becks Installation „Aviary“ handelt es sich auf den ersten Blick um ein relativ einfaches, stilisiertes Stadtpanorama: Wohnhäuser, Kräne und eine Brücke, geformt aus weißem Papier. Bei näherer Betrachtung setzt sich diese „Stadt“ aber aus Vogelkäfigen zusammen: In dem entstehenden Schattentheater übernehmen Vögel die Rolle der Menschen.

Scherenschnitte werden seit dem 16. Jahrhundert traditionell aus schwarzem Papier gefertigt. Italo Calvinos Buch „Die unsichtbaren Städte“ aus dem Jahr 1972 inspirierte Béatrice Coron zu einer gleichnamigen Serie („Invisible Cities“, 2008), bestehend aus drei mehr als acht Meter langen Papierbahnen. Coron wollte Calvinos Fantasiestädte in einem zeitgenössischen Kontext abbilden. Die Arbeiten zeigen unterschiedliche Versionen einer im Umbruch befindlichen Welt: Tatsächlich erinnert das Format an eine Weltkarte, auf der jeder Ort mit jedem anderen verknüpft ist. Auch Mathilde Nivet arbeitet mit schwarzem Papier: Ihre Häuserfassaden („Shadow City“) winden sich als ziehharmonikaförmige Standbilder durch den Raum – die einzelnen Gebäude werden dabei ausschließlich durch ihre Fenster charakterisiert.

Noch komplexere Schnitt- und Falttechnik demonstrieren die Werke von Ingrid Siliakus. Aus einem einzigen Blatt Papier entstehen das Chrysler Building in New York, das Guggenheim Museum in Bilbao und ganze Fantasiestädte: Origami-Architektur ist das Spezialgebiet der niederländischen Künstlerin. Entwickelt wurde die Kunstform in den frühen 1980er-Jahren von dem japanischen Architekten und Professor Masahiro Chatani. Nachdem sie seine Werke einige Jahre lang studiert hatte, begann Siliakus mit eigenen Projekten: Als Inspiration dienen ihr vorzugsweise Bauwerke von Architekten wie Hendrik Petrus Berlage und Antoni Gaudi, aber auch abstrakte Skulpturen à la M.C. Escher.

Anders als bei der herkömmlichen Origami-Technik, bei der Schnitte üblicherweise tabu sind, ist die Origami-Architektur ein Zusammenspiel aus Schneiden und Falten. Präzise Schnitte ermöglichen das Herausklappen der gewünschten Teile. Dieser Vorgang kann auf unendlich vielen Ebenen fortgesetzt werden, sodass verschachtelte Strukturen mit einer perspektivisch korrekten Dreidimensionalität entstehen; um den Werken Stabilität zu verleihen, arbeitet Siliakus mit Papierstärken von 160 bis 300 Gramm. Der Entstehungsprozess kommt für die Künstlerin dem Bauen gleich: Schicht für Schicht wird das Gebäude erschaffen, gleichsam aus dem Papier herausgelöst. Einem fertigen Objekt gehen mindestens zwanzig Prototypen voraus, viele Stunden höchster Konzentration: „Die Arbeit mit dem Papier zwingt mich zur Bescheidenheit“, meint Siliakus. „Das Medium hat einen eigenen Charakter, die Arbeit erfordert meditative Präzision.“

Das selbst erklärte Ziel maßstabgetreuer Abbildung bricht Peter Callesen ganz bewusst auf. Der dänische Künstler fertigt neben Papierschnitten auch – mitunter raumfüllende – Installationen an, die häufig Träume, Märchen oder schlicht Unmögliches zum Thema haben. Grundlage dieser Installationen ist häufig das „Morphem“ der Papierindustrie: Das schlichte A4-Blatt „ist heutzutage wahrscheinlich das gebräuchlichste Medium für die Speicherung von Information – deshalb nehmen wir seine Materialität kaum noch wahr“, meint Callesen. „Ich habe das Gefühl, dass wir alle mit diesem Papier etwas verbinden, gleichzeitig ist das A4-Blatt neutral und wartet darauf, mit unterschiedlichsten Bedeutungen versehen zu werden. Das dünne weiße Papier verleiht den Papierskulpturen eine Zerbrechlichkeit, die die tragischen und romantischen Themen meiner Arbeiten unterstreicht.“

Den in Paris ausgestellten „paper cut sculptures“ attestiert Callesen sogar eine religiöse Ebene. Die Atmosphäre einer „anderen“ Wirklichkeit entsteht hier nicht aus Schattenspielen, wie bei Beck oder Nivet, sondern aus der Spannung zwischen Dimensionen. Flache Papierbögen vollziehen die fast magische Transformation in eine dreidimensionale Realität: Die ausgeschnittene Form einer Burg wird zum Grundstück des entsprechenden Papiermodells („Icecastle“, 2012), über die Umrisse einer Kathedralenfront ragen die zerstörten Überreste der Fassade empor („Erected Ruin“, 2007). Das Grundstück hinterlässt jeweils eine Leere, die von dem dreidimensionalen Objekt nur teilweise gefüllt wird, der es aber dennoch verhaftet bleibt. Der intuitive Versuch des Betrachters, Ausgangsmaterial und Endprodukt in Deckung zu bringen, resultiert in der Faszination einer visuellen Spannung – und einem Hauch von Melancholie.

Spectrum, Sa., 2012.12.29

01. September 2012Myrta Köhler
Spectrum

Text und Haus

Eine Kathedrale, die wichtiger ist als das Zentrum von Paris, eine Bibliothek, die dem weit aufgerissenen Maul eines Monsters ähnelt: Derlei Assoziationen entstammen der interdisziplinären Beziehung namens „Literarchitektur“. Über Erzählungen und Gebäude.

Eine Kathedrale, die wichtiger ist als das Zentrum von Paris, eine Bibliothek, die dem weit aufgerissenen Maul eines Monsters ähnelt: Derlei Assoziationen entstammen der interdisziplinären Beziehung namens „Literarchitektur“. Über Erzählungen und Gebäude.

Das Buch wird das Gebäude töten.“ In seinem Roman „Notre-Dame von Paris“ (1831) argumentiert Victor Hugo, dass die Erfindung des Buchdrucks das Schicksal der Baukunst besiegelte. Liest man das Werk als Plädoyer für den Erhalt gotischer Architektur, überrascht es nicht, dass nur wenig später eine regelrechte Restaurierungsbewegung einsetzte – ihr wichtigster Vertreter, Eugène Viollet-le-Duc, übernahm unter anderem die Arbeiten an der Notre-Dame von Paris. Der gleichnamige Roman ist nur ein Beispiel für die fruchtbare Wechselbeziehung zwischen Literatur und Architektur.

In Hugos Text ist die Kathedrale weit mehr als das Zentrum von Paris: Sie bildet den Dreh- und Angelpunkt der gesamten Erzählung. Das Schicksal der Protagonisten ist untrennbar mit dem Gebäude verknüpft – allen voran das des Quasimodo, der als Kind in der Kirche ausgesetzt wird und hier unter der Obhut des Erzdechanten aufwächst.

In der englischsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts finden sich ebenfalls zahlreiche detaillierte Schilderungen der Beziehung zwischen Gebäuden und ihren Bewohnern. Das gilt besonders für Werke der damals populären Schauerliteratur wie Edgar Allan Poes „The Fall of the House of Usher“ oder Nathaniel Hawthornes „The House of the Seven Gables“ (das „Gothic revival“ hatte eine entsprechende Literatur hervorgebracht), aber auch für Erzählungen von Charles Dickens oder den Roman „Portrait of a Lady“ (1881) von Henry James. Die Leser erleben das Gebäude „in- und auswendig“: Sei es unheimlich, gemütlich, oder einschüchternd – es besteht immer eine persönliche Beziehung.

Dieses persönliche Attribut spricht James den Wolkenkratzern ab, die um die Jahrhundertwende die amerikanischen Metropolen erobern. Im Jahr 1904, nach 20-jährigem Europa-Aufenthalt nach New York zurückgekehrt, muss er den Schock der Vertikalität erst verdauen. Sein Geburtshaus am Washington Square ist einem Wolkenkratzer gewichen, der neugotische Turm von Trinity Church verschwindet zwischen weit höheren Türmen – in seinem Essay „The American Scene“ bezeichnet er sie als „monsters of the mere market“. Wolkenkratzer sind die neuen Kathedralen, und die neue Religion ist die des Geldes. Die Gebäude sind unnahbar, dem Schriftsteller bleibt nur übrig, sie von außen zu bestaunen.

Autoren wie John Dos Passos, selbst ausgebildeter und, nach eigenen Aussagen, „frustrierter“ Architekt, fanden eine neue Sprache für die Abbildung dieser veränderten Stadt: „Manhattan Transfer“ (1925) und die „U.S.A. Trilogy“ schildern Manhattan alsCollage aus flüchtigen Eindrücken. Charaktere tauchen auf und verschwinden, wie Passanten – eine durchgehende Handlung oder Protagonisten im herkömmlichen Sinne gibt es nicht. Die bruchstückhafte Erzählweise erinnert an expressionistische Bilder jener Zeit: Zeitungsausschnitte wechseln mit kurzen Szenen und Werbetexten, Headlines und Reklametafeln strukturieren die Stadt, Manhattan zerfällt in eine „city of scrambled alphabets“.

James beschrieb Trinity Church als den tragischen Fall einer modernen Welt, in der die kapitalistische Zerstörung über alle Aspekte sozialen Lebens hinauswächst. Im Bestreben, die soziale Komponente in seine Bauten zu integrieren, orientierte sich der finnische Architekt Alvar Aalto (1898–1976) an Europa. Inspiration fand er bei seinen großen Vorbildern, den Schriftstellern August Strindberg und Anatole France: Dessen Schilderung der europäischen Stadt diente Aalto als Modell für erfolgreiches gemeinschaftliches Zusammenleben. Zahlreiche kulturelle Gebäude wie die Finlandia-Halle in Helsinki oder das Opernhaus in Essen gehen auf seine Entwürfe zurück.

Auch der amerikanische Architekt Louis I. Kahn (1901–1974) hatte ein Faible für Erzählungen. Seine Bibliothek umfasst neben den Werken Dickens zahlreiche Märchenbände: Nach eigenen Aussagen hatte er immer den Wunsch gehabt, Märchen zu illustrieren, und Architektur schien ihm das geeignete Mittel, die Welt zu verzaubern. Laut Darren R. Deane (Manchester School of Architecture) zitieren Kahns Gebäude das Formenrepertoire verwunschener Orte, die er besucht hatte: So assoziiert er die kreisförmigen Strukturen der Exeter Bibliothek (1967–1972) mit dem aufgerissenen Mund des Monsters im Park der Ungeheuer bei Bomarzo in Italien. Posthum entsteht derzeitnach Kahns Entwürfen auf Roosevelt Island (New York) der Four Freedoms Park – er soll im heurigen Herbst eröffnet werden.

Sowohl Gebäude als auch Geschichten können uns verzaubern: Beide bieten Raum, sich darin zu bewegen, sich darin zu verlieren. Die Beziehung zwischen dem Phänomen Raum und der menschlichen Fantasie macht Gaston Bachelard zum Thema seiner Poetik des Raumes (1957), und der amerikanische Architekt John Hejduk (1929–2000) erwähnt verschiedentlich die zweifache Bedeutung des Begriffes „fabricate“, der die Fertigung von Bauteilen ebenso bezeichnet wie das Fabulieren.

Diese Doppelbedeutung diente als Grundlage für ein unlängst realisiertes Projekt im Story Museum in Oxford (Großbritannien). Das Museum, das sich der Vermittlung von Wissen mithilfe von Geschichten widmet, lud anlässlich der Renovierung des Gebäudes eine Gruppe von Architekturstudenten ein, die Räumlichkeiten neu zu interpretieren. Die Mitwirkenden verfassten zunächst eine Serie von Kurzgeschichten, die sie anschließend in Objekte wie Einrichtungsgegenstände und andere Objekte „übersetzten“. Im Rahmen eines zweiten Projektes entstanden Modelle für einen „Storytelling Tower“ als Beispiele für erzählten Raum.

Ein anderes Museum vollendet in größerem Maßstab die Transformation von der literarischen Vorlage in die Realität: In seinem Roman „Museum der Unschuld“ aus dem Jahr 2008 erzählt Orhan Pamuk die Geschichte einer tragischen Liebe, die damit endet, dass der Protagonist Kemal seiner verstorbenen Geliebten Füsun ein Museum errichtet. Pamuk, „der auf der Suche nach der melancholischen Seele seiner Heimatstadt neue Sinnbilder für Streit und Verflechtung der Kulturen gefunden hat“ (Schwedische Akademie), hatte im Jahr 2006 den Nobelpreis für Literatur erhalten. Auch die Geschichte von Kemal und Füsun spielt in Istanbul; die labyrinthischen Sätze und die architektonische Struktur des Textes verweisen auf Pamuks eigene Biografie: Seine Ausbildung zum Architekten hatte er abgebrochen, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Beide Interessen verschmelzen, aus Fiktion wird Wirklichkeit: Unlängst eröffnete Pamuk sein „Museum der Unschuld“ in Istanbul. Es ist weltweit das erste Museum, das einen Roman visualisiert.

Spectrum, Sa., 2012.09.01

16. Juli 2010Myrta Köhler
Der Standard

„Sauber denken, klar handeln“

Er war der Architekt, der das Bild Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg so stark prägte wie kaum ein anderer: Egon Eiermann. Zu seinem 40. Todestag: ein Schaffensporträt.

Er war der Architekt, der das Bild Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg so stark prägte wie kaum ein anderer: Egon Eiermann. Zu seinem 40. Todestag: ein Schaffensporträt.

Ein Architekt, der verlangt, dass seine eigenen Bauten abgerissen werden - das scheint wider die Natur. Egon Eiermann formuliert mit seinen Anforderungen an die moderne Architektur einen neuen Ansatz: Nichts ist für die Ewigkeit gebaut. Als Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg gefordert ist, sich neu zu positionieren, hat die Architektur in Eiermann bereits seit Jahren einen Wegbereiter. Den Bruch mit der Traditionshörigkeit, den Mies van der Rohe und Gropius vollzogen haben, will die folgende Generation ausbauen. Wie Eero Saarinen in den USA und Arne Jacobsen in Dänemark strebt Eiermann in Deutschland entgegen der neoklassizistischen Monumentalität des NS-Regimes nach Licht und Leichtigkeit: Die zweite Moderne hat begonnen.

Eiermanns Postulat von der Vergänglichkeit setzt voraus, dass der Architekt den Abriss eines Gebäudes von Anfang an mit einplant und nach Möglichkeit wiederverwertbare Materialien einsetzt. Wie kein anderer zu seiner Zeit klassifiziert Eiermann damit das „Haus als Maschine“ und Nutzobjekt. Obwohl Eiermann den Abriss bereits in der Planungsphase antizipiert, ist er weit davon entfernt, die Bedeutung seines Werkes zu schmälern. Ganz im Gegenteil legt er in der Bearbeitung seiner Aufträge größten Perfektionismus an den Tag.

Egon Eiermann wird am 29. September 1904 in Neuendorf bei Berlin geboren. Vorbilder für sein architektonisches Wirken sind der verehrte Lehrer Hans Poelzig und Mies van der Rohe, als dessen Adept Eiermann aufgrund seiner kubischen Baukörper fälschlicherweise oft bezeichnet wird: Eiermann setzt aber nicht nur Glas und Stahl, sondern auch Holz, Stein und Sichtmauerwerk ein.

Ähnlich wie Poelzig betont Eiermann „die vollkommene Verschmelzung des Außen und Innen“ . Das erreicht er im Wohnhausbau (Wohnhaus Hardenberg, Wohnhaus Steingroever) in der Verbindung von Haus und Garten durch Berankung oder die Fortsetzung der Außenfliesen im Inneren. „Bauen ist im Grunde eine entsetzliche Sache, weil wir Gottes schöne Natur ramponieren“ , so Eiermann. Umso wichtiger ist für ihn die Kohärenz des Gebauten als „räumlichkonstruktiver Organismus“ . Das Entwerfen idealer Behausungen ist für Eiermann nobelste Aufgabe des Architekten - sie macht bis in die 1930er-Jahre den weitaus größten Teil seiner Arbeit aus. Doch es fehlen die großen, die bedeutenden Aufträge - sie kommen mit den Nazis. Vor und während des Krieges entwirft Eiermann eine Fülle an Industriegebäuden und eine Kaserne bei Rathenow. So zahlreich sind die Aufträge, dass Eiermann der Einberufung zum Heer entgeht.

Die Zwiespältigkeit seiner Situation ist ihm wohl bewusst: Er tröstet sich damit, dass er kein Parteimitglied ist und sich dem Ästhetik-Diktat des Regimes nur in den seltensten Fällen unterwirft - unverhohlen kritisiert er die NS-Architektur wegen ihrer „falschen Monumentalität“ . Bei Albert Speer stoßen denn auch seine Vorstellungen einer modernen Architektur des Öfteren auf Ablehnung, doch die allgemeine Aufmerksamkeit ist nun gesichert. Sie wächst, als Eiermann und Sep Ruf beauftragt werden, den Deutschen Pavillon für die Weltausstellung in Brüssel (1958) zu entwerfen.

Wohnhäuser, Industriebauten, und Architektur für den Augenblick - mit all diesen Aufgaben kann er sich identifizieren, sogar als Möbeldesigner macht er sich einen Namen. Sein späteres Werk umfasst auch eine ansehnliche Anzahl - von ihm ungeliebter - reiner Verwaltungsbauten. Die Anerkennung für den Deutschen Pavillon verschafft ihm den Auftrag für die Errichtung des Kanzleigebäudes der Deutschen Botschaft in Washington (1958- 1964). Es folgen der „Lange Eugen“ , das Abgeordneten Hochhaus des Bundestages in Bonn (1965-69), die Hauptverwaltung der IBM-Deutschland GmbH in Stuttgart Vaihingen (1967-72) und das Verwaltungs- und Ausbildungszentrum der Deutschen Olivetti in Frankfurt am Main (1968-72) - letztere zwei Projekte wurden posthum nach seinem Tod am 19. Juli 1970 vollendet.

Schon beim Fabrikbau war Eiermann bestrebt, einen menschenwürdigen Arbeitsplatz zu schaffen - bei den Büroräumlichkeiten verfolgt er ein ähnliches Prinzip. Unterschiedlich große Räume stellen seiner Meinung nach eine ungerechte Bevorzugung Einzelner dar, er favorisiert das Großraumbüro. Auftragsbedingt muss er immer wieder seinen Abscheu gegen Hochhäuser überwinden - die waagrechte Strukturierung flacher Gebäude signalisiert in seinen Augen den Ausgleich sozialer Unterschiede - doch tut er sein Möglichstes, um die strengen, dominanten Silhouetten zu mildern.

Im Bauen gibt es keine Revolution, nur kontinuierliche Optimierungen - davon war Eiermann überzeugt. Deshalb ist sein Werk erstaunlich homogen, ein Bruch nicht erkennbar. Vereinfachung ist sein Ziel, „sauber denken und klar handeln“ sein Motto. „Weglassen und noch mal Weglassen bedeutet die Gewähr des größeren Eindrucks“ , schreibt er 1957. Die Überreste der alten Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche würde er am liebsten beseitigen, als er mit einem Neubau (1959-63) beauftragt wird: Die Mehrheit der Berliner entscheidet anders. Nun wird der „Hohle Zahn“ flankiert von Stahlskelettkonstruktionen mit Beton-Glas-Wänden, Oktogon und Glockenturm wurden als „Puderdose und Lippenstift“ zum Signum West-Berlins. Schon zu Lebzeiten befürchtete Eiermann, dass man ihn einmal für die Leistung in Erinnerung behalten würde, auf welche er am wenigsten stolz war: die Eiermann-Kachel, die als Vorhangfassade an den kastenförmigen Horten-Warenhäusern jahrzehntelang das Erscheinungsbild deutscher Städte prägte.

Denkmalschützer kämpfen heute - trotz Schäden am Material - entschlossener für Eiermanns Bauten als er selbst: Zahlreiche Gebäude - die Olivetti-Türme, die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche oder der „Lange Eugen“ - bleiben nun der Nachwelt erhalten. Seine Bauwerke kombinieren die Emanzipation von überkommenen Stilen mit dem Bemühen um einen sozialen Mehrwert. Wie kaum ein anderer prägt Eiermann in dieser Hinsicht das Gesicht des Nachkriegsdeutschlands - mehr als nur vorübergehend.

Der Standard, Fr., 2010.07.16



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Eiermann Egon

Presseschau 12

29. Dezember 2012Myrta Köhler
Spectrum

Schere. Stein? Papier!

Dass Papierarchitektur mehr ist als „simpler“ Modellbau, beweisen derzeit fünf Künstler in der Ausstellung „Architectures de papier“. Ein Besuch in Paris.

Dass Papierarchitektur mehr ist als „simpler“ Modellbau, beweisen derzeit fünf Künstler in der Ausstellung „Architectures de papier“. Ein Besuch in Paris.

Bereits im sechsten Jahrhundert verbreitete sich in China Jianzhi,die älteste Form der Papierschneidekunst. Seither entstand in Kulturen rund um die Welt eine Vielzahl unterschiedlicher Traditionen, von Kiri-e und Kirigami in Japan bis hin zu Papel picado in Mexiko. Oft wurden ganze Geschichten mit den Mitteln dieser Volkskunst erzählt. In Europa entwickelte sich mit dem späten 17. Jahrhundert ein Schwerpunkt des Bauens mit Papier: Eigens gefertigte Bastelbögen erlaubten es Kindern, berühmte Bauwerke nachzubilden. Die Pädagogen der Aufklärung förderten solche konstruktiven Spiele ebenfalls, und noch später, in den 1920er-Jahren, ließen Josef Albers und László Moholy-Nagy ihre Studenten am Bauhaus Konstruktionsaufgaben mit Papier und Schere lösen. Die Faszination des empfindlichen Materials ist bis heute lebendig – nicht nur unter Kindern.

Solide Strukturen wie Häuser und Städte werden von zeitgenössischen Künstlern auf unterschiedliche Art „zu Papier gebracht“. Die Schwäche des Werkstoffs ist dabei zugleich seine Stärke. Die Fragilität des Materials assoziiert Bilder aus dem Bereich des Traums und der Fantasie – Welten, die in Schatten und Silhouetten ihren Ausdruck finden. Bei Stéphanie Becks Installation „Aviary“ handelt es sich auf den ersten Blick um ein relativ einfaches, stilisiertes Stadtpanorama: Wohnhäuser, Kräne und eine Brücke, geformt aus weißem Papier. Bei näherer Betrachtung setzt sich diese „Stadt“ aber aus Vogelkäfigen zusammen: In dem entstehenden Schattentheater übernehmen Vögel die Rolle der Menschen.

Scherenschnitte werden seit dem 16. Jahrhundert traditionell aus schwarzem Papier gefertigt. Italo Calvinos Buch „Die unsichtbaren Städte“ aus dem Jahr 1972 inspirierte Béatrice Coron zu einer gleichnamigen Serie („Invisible Cities“, 2008), bestehend aus drei mehr als acht Meter langen Papierbahnen. Coron wollte Calvinos Fantasiestädte in einem zeitgenössischen Kontext abbilden. Die Arbeiten zeigen unterschiedliche Versionen einer im Umbruch befindlichen Welt: Tatsächlich erinnert das Format an eine Weltkarte, auf der jeder Ort mit jedem anderen verknüpft ist. Auch Mathilde Nivet arbeitet mit schwarzem Papier: Ihre Häuserfassaden („Shadow City“) winden sich als ziehharmonikaförmige Standbilder durch den Raum – die einzelnen Gebäude werden dabei ausschließlich durch ihre Fenster charakterisiert.

Noch komplexere Schnitt- und Falttechnik demonstrieren die Werke von Ingrid Siliakus. Aus einem einzigen Blatt Papier entstehen das Chrysler Building in New York, das Guggenheim Museum in Bilbao und ganze Fantasiestädte: Origami-Architektur ist das Spezialgebiet der niederländischen Künstlerin. Entwickelt wurde die Kunstform in den frühen 1980er-Jahren von dem japanischen Architekten und Professor Masahiro Chatani. Nachdem sie seine Werke einige Jahre lang studiert hatte, begann Siliakus mit eigenen Projekten: Als Inspiration dienen ihr vorzugsweise Bauwerke von Architekten wie Hendrik Petrus Berlage und Antoni Gaudi, aber auch abstrakte Skulpturen à la M.C. Escher.

Anders als bei der herkömmlichen Origami-Technik, bei der Schnitte üblicherweise tabu sind, ist die Origami-Architektur ein Zusammenspiel aus Schneiden und Falten. Präzise Schnitte ermöglichen das Herausklappen der gewünschten Teile. Dieser Vorgang kann auf unendlich vielen Ebenen fortgesetzt werden, sodass verschachtelte Strukturen mit einer perspektivisch korrekten Dreidimensionalität entstehen; um den Werken Stabilität zu verleihen, arbeitet Siliakus mit Papierstärken von 160 bis 300 Gramm. Der Entstehungsprozess kommt für die Künstlerin dem Bauen gleich: Schicht für Schicht wird das Gebäude erschaffen, gleichsam aus dem Papier herausgelöst. Einem fertigen Objekt gehen mindestens zwanzig Prototypen voraus, viele Stunden höchster Konzentration: „Die Arbeit mit dem Papier zwingt mich zur Bescheidenheit“, meint Siliakus. „Das Medium hat einen eigenen Charakter, die Arbeit erfordert meditative Präzision.“

Das selbst erklärte Ziel maßstabgetreuer Abbildung bricht Peter Callesen ganz bewusst auf. Der dänische Künstler fertigt neben Papierschnitten auch – mitunter raumfüllende – Installationen an, die häufig Träume, Märchen oder schlicht Unmögliches zum Thema haben. Grundlage dieser Installationen ist häufig das „Morphem“ der Papierindustrie: Das schlichte A4-Blatt „ist heutzutage wahrscheinlich das gebräuchlichste Medium für die Speicherung von Information – deshalb nehmen wir seine Materialität kaum noch wahr“, meint Callesen. „Ich habe das Gefühl, dass wir alle mit diesem Papier etwas verbinden, gleichzeitig ist das A4-Blatt neutral und wartet darauf, mit unterschiedlichsten Bedeutungen versehen zu werden. Das dünne weiße Papier verleiht den Papierskulpturen eine Zerbrechlichkeit, die die tragischen und romantischen Themen meiner Arbeiten unterstreicht.“

Den in Paris ausgestellten „paper cut sculptures“ attestiert Callesen sogar eine religiöse Ebene. Die Atmosphäre einer „anderen“ Wirklichkeit entsteht hier nicht aus Schattenspielen, wie bei Beck oder Nivet, sondern aus der Spannung zwischen Dimensionen. Flache Papierbögen vollziehen die fast magische Transformation in eine dreidimensionale Realität: Die ausgeschnittene Form einer Burg wird zum Grundstück des entsprechenden Papiermodells („Icecastle“, 2012), über die Umrisse einer Kathedralenfront ragen die zerstörten Überreste der Fassade empor („Erected Ruin“, 2007). Das Grundstück hinterlässt jeweils eine Leere, die von dem dreidimensionalen Objekt nur teilweise gefüllt wird, der es aber dennoch verhaftet bleibt. Der intuitive Versuch des Betrachters, Ausgangsmaterial und Endprodukt in Deckung zu bringen, resultiert in der Faszination einer visuellen Spannung – und einem Hauch von Melancholie.

Spectrum, Sa., 2012.12.29

01. September 2012Myrta Köhler
Spectrum

Text und Haus

Eine Kathedrale, die wichtiger ist als das Zentrum von Paris, eine Bibliothek, die dem weit aufgerissenen Maul eines Monsters ähnelt: Derlei Assoziationen entstammen der interdisziplinären Beziehung namens „Literarchitektur“. Über Erzählungen und Gebäude.

Eine Kathedrale, die wichtiger ist als das Zentrum von Paris, eine Bibliothek, die dem weit aufgerissenen Maul eines Monsters ähnelt: Derlei Assoziationen entstammen der interdisziplinären Beziehung namens „Literarchitektur“. Über Erzählungen und Gebäude.

Das Buch wird das Gebäude töten.“ In seinem Roman „Notre-Dame von Paris“ (1831) argumentiert Victor Hugo, dass die Erfindung des Buchdrucks das Schicksal der Baukunst besiegelte. Liest man das Werk als Plädoyer für den Erhalt gotischer Architektur, überrascht es nicht, dass nur wenig später eine regelrechte Restaurierungsbewegung einsetzte – ihr wichtigster Vertreter, Eugène Viollet-le-Duc, übernahm unter anderem die Arbeiten an der Notre-Dame von Paris. Der gleichnamige Roman ist nur ein Beispiel für die fruchtbare Wechselbeziehung zwischen Literatur und Architektur.

In Hugos Text ist die Kathedrale weit mehr als das Zentrum von Paris: Sie bildet den Dreh- und Angelpunkt der gesamten Erzählung. Das Schicksal der Protagonisten ist untrennbar mit dem Gebäude verknüpft – allen voran das des Quasimodo, der als Kind in der Kirche ausgesetzt wird und hier unter der Obhut des Erzdechanten aufwächst.

In der englischsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts finden sich ebenfalls zahlreiche detaillierte Schilderungen der Beziehung zwischen Gebäuden und ihren Bewohnern. Das gilt besonders für Werke der damals populären Schauerliteratur wie Edgar Allan Poes „The Fall of the House of Usher“ oder Nathaniel Hawthornes „The House of the Seven Gables“ (das „Gothic revival“ hatte eine entsprechende Literatur hervorgebracht), aber auch für Erzählungen von Charles Dickens oder den Roman „Portrait of a Lady“ (1881) von Henry James. Die Leser erleben das Gebäude „in- und auswendig“: Sei es unheimlich, gemütlich, oder einschüchternd – es besteht immer eine persönliche Beziehung.

Dieses persönliche Attribut spricht James den Wolkenkratzern ab, die um die Jahrhundertwende die amerikanischen Metropolen erobern. Im Jahr 1904, nach 20-jährigem Europa-Aufenthalt nach New York zurückgekehrt, muss er den Schock der Vertikalität erst verdauen. Sein Geburtshaus am Washington Square ist einem Wolkenkratzer gewichen, der neugotische Turm von Trinity Church verschwindet zwischen weit höheren Türmen – in seinem Essay „The American Scene“ bezeichnet er sie als „monsters of the mere market“. Wolkenkratzer sind die neuen Kathedralen, und die neue Religion ist die des Geldes. Die Gebäude sind unnahbar, dem Schriftsteller bleibt nur übrig, sie von außen zu bestaunen.

Autoren wie John Dos Passos, selbst ausgebildeter und, nach eigenen Aussagen, „frustrierter“ Architekt, fanden eine neue Sprache für die Abbildung dieser veränderten Stadt: „Manhattan Transfer“ (1925) und die „U.S.A. Trilogy“ schildern Manhattan alsCollage aus flüchtigen Eindrücken. Charaktere tauchen auf und verschwinden, wie Passanten – eine durchgehende Handlung oder Protagonisten im herkömmlichen Sinne gibt es nicht. Die bruchstückhafte Erzählweise erinnert an expressionistische Bilder jener Zeit: Zeitungsausschnitte wechseln mit kurzen Szenen und Werbetexten, Headlines und Reklametafeln strukturieren die Stadt, Manhattan zerfällt in eine „city of scrambled alphabets“.

James beschrieb Trinity Church als den tragischen Fall einer modernen Welt, in der die kapitalistische Zerstörung über alle Aspekte sozialen Lebens hinauswächst. Im Bestreben, die soziale Komponente in seine Bauten zu integrieren, orientierte sich der finnische Architekt Alvar Aalto (1898–1976) an Europa. Inspiration fand er bei seinen großen Vorbildern, den Schriftstellern August Strindberg und Anatole France: Dessen Schilderung der europäischen Stadt diente Aalto als Modell für erfolgreiches gemeinschaftliches Zusammenleben. Zahlreiche kulturelle Gebäude wie die Finlandia-Halle in Helsinki oder das Opernhaus in Essen gehen auf seine Entwürfe zurück.

Auch der amerikanische Architekt Louis I. Kahn (1901–1974) hatte ein Faible für Erzählungen. Seine Bibliothek umfasst neben den Werken Dickens zahlreiche Märchenbände: Nach eigenen Aussagen hatte er immer den Wunsch gehabt, Märchen zu illustrieren, und Architektur schien ihm das geeignete Mittel, die Welt zu verzaubern. Laut Darren R. Deane (Manchester School of Architecture) zitieren Kahns Gebäude das Formenrepertoire verwunschener Orte, die er besucht hatte: So assoziiert er die kreisförmigen Strukturen der Exeter Bibliothek (1967–1972) mit dem aufgerissenen Mund des Monsters im Park der Ungeheuer bei Bomarzo in Italien. Posthum entsteht derzeitnach Kahns Entwürfen auf Roosevelt Island (New York) der Four Freedoms Park – er soll im heurigen Herbst eröffnet werden.

Sowohl Gebäude als auch Geschichten können uns verzaubern: Beide bieten Raum, sich darin zu bewegen, sich darin zu verlieren. Die Beziehung zwischen dem Phänomen Raum und der menschlichen Fantasie macht Gaston Bachelard zum Thema seiner Poetik des Raumes (1957), und der amerikanische Architekt John Hejduk (1929–2000) erwähnt verschiedentlich die zweifache Bedeutung des Begriffes „fabricate“, der die Fertigung von Bauteilen ebenso bezeichnet wie das Fabulieren.

Diese Doppelbedeutung diente als Grundlage für ein unlängst realisiertes Projekt im Story Museum in Oxford (Großbritannien). Das Museum, das sich der Vermittlung von Wissen mithilfe von Geschichten widmet, lud anlässlich der Renovierung des Gebäudes eine Gruppe von Architekturstudenten ein, die Räumlichkeiten neu zu interpretieren. Die Mitwirkenden verfassten zunächst eine Serie von Kurzgeschichten, die sie anschließend in Objekte wie Einrichtungsgegenstände und andere Objekte „übersetzten“. Im Rahmen eines zweiten Projektes entstanden Modelle für einen „Storytelling Tower“ als Beispiele für erzählten Raum.

Ein anderes Museum vollendet in größerem Maßstab die Transformation von der literarischen Vorlage in die Realität: In seinem Roman „Museum der Unschuld“ aus dem Jahr 2008 erzählt Orhan Pamuk die Geschichte einer tragischen Liebe, die damit endet, dass der Protagonist Kemal seiner verstorbenen Geliebten Füsun ein Museum errichtet. Pamuk, „der auf der Suche nach der melancholischen Seele seiner Heimatstadt neue Sinnbilder für Streit und Verflechtung der Kulturen gefunden hat“ (Schwedische Akademie), hatte im Jahr 2006 den Nobelpreis für Literatur erhalten. Auch die Geschichte von Kemal und Füsun spielt in Istanbul; die labyrinthischen Sätze und die architektonische Struktur des Textes verweisen auf Pamuks eigene Biografie: Seine Ausbildung zum Architekten hatte er abgebrochen, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Beide Interessen verschmelzen, aus Fiktion wird Wirklichkeit: Unlängst eröffnete Pamuk sein „Museum der Unschuld“ in Istanbul. Es ist weltweit das erste Museum, das einen Roman visualisiert.

Spectrum, Sa., 2012.09.01

16. Juli 2010Myrta Köhler
Der Standard

„Sauber denken, klar handeln“

Er war der Architekt, der das Bild Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg so stark prägte wie kaum ein anderer: Egon Eiermann. Zu seinem 40. Todestag: ein Schaffensporträt.

Er war der Architekt, der das Bild Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg so stark prägte wie kaum ein anderer: Egon Eiermann. Zu seinem 40. Todestag: ein Schaffensporträt.

Ein Architekt, der verlangt, dass seine eigenen Bauten abgerissen werden - das scheint wider die Natur. Egon Eiermann formuliert mit seinen Anforderungen an die moderne Architektur einen neuen Ansatz: Nichts ist für die Ewigkeit gebaut. Als Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg gefordert ist, sich neu zu positionieren, hat die Architektur in Eiermann bereits seit Jahren einen Wegbereiter. Den Bruch mit der Traditionshörigkeit, den Mies van der Rohe und Gropius vollzogen haben, will die folgende Generation ausbauen. Wie Eero Saarinen in den USA und Arne Jacobsen in Dänemark strebt Eiermann in Deutschland entgegen der neoklassizistischen Monumentalität des NS-Regimes nach Licht und Leichtigkeit: Die zweite Moderne hat begonnen.

Eiermanns Postulat von der Vergänglichkeit setzt voraus, dass der Architekt den Abriss eines Gebäudes von Anfang an mit einplant und nach Möglichkeit wiederverwertbare Materialien einsetzt. Wie kein anderer zu seiner Zeit klassifiziert Eiermann damit das „Haus als Maschine“ und Nutzobjekt. Obwohl Eiermann den Abriss bereits in der Planungsphase antizipiert, ist er weit davon entfernt, die Bedeutung seines Werkes zu schmälern. Ganz im Gegenteil legt er in der Bearbeitung seiner Aufträge größten Perfektionismus an den Tag.

Egon Eiermann wird am 29. September 1904 in Neuendorf bei Berlin geboren. Vorbilder für sein architektonisches Wirken sind der verehrte Lehrer Hans Poelzig und Mies van der Rohe, als dessen Adept Eiermann aufgrund seiner kubischen Baukörper fälschlicherweise oft bezeichnet wird: Eiermann setzt aber nicht nur Glas und Stahl, sondern auch Holz, Stein und Sichtmauerwerk ein.

Ähnlich wie Poelzig betont Eiermann „die vollkommene Verschmelzung des Außen und Innen“ . Das erreicht er im Wohnhausbau (Wohnhaus Hardenberg, Wohnhaus Steingroever) in der Verbindung von Haus und Garten durch Berankung oder die Fortsetzung der Außenfliesen im Inneren. „Bauen ist im Grunde eine entsetzliche Sache, weil wir Gottes schöne Natur ramponieren“ , so Eiermann. Umso wichtiger ist für ihn die Kohärenz des Gebauten als „räumlichkonstruktiver Organismus“ . Das Entwerfen idealer Behausungen ist für Eiermann nobelste Aufgabe des Architekten - sie macht bis in die 1930er-Jahre den weitaus größten Teil seiner Arbeit aus. Doch es fehlen die großen, die bedeutenden Aufträge - sie kommen mit den Nazis. Vor und während des Krieges entwirft Eiermann eine Fülle an Industriegebäuden und eine Kaserne bei Rathenow. So zahlreich sind die Aufträge, dass Eiermann der Einberufung zum Heer entgeht.

Die Zwiespältigkeit seiner Situation ist ihm wohl bewusst: Er tröstet sich damit, dass er kein Parteimitglied ist und sich dem Ästhetik-Diktat des Regimes nur in den seltensten Fällen unterwirft - unverhohlen kritisiert er die NS-Architektur wegen ihrer „falschen Monumentalität“ . Bei Albert Speer stoßen denn auch seine Vorstellungen einer modernen Architektur des Öfteren auf Ablehnung, doch die allgemeine Aufmerksamkeit ist nun gesichert. Sie wächst, als Eiermann und Sep Ruf beauftragt werden, den Deutschen Pavillon für die Weltausstellung in Brüssel (1958) zu entwerfen.

Wohnhäuser, Industriebauten, und Architektur für den Augenblick - mit all diesen Aufgaben kann er sich identifizieren, sogar als Möbeldesigner macht er sich einen Namen. Sein späteres Werk umfasst auch eine ansehnliche Anzahl - von ihm ungeliebter - reiner Verwaltungsbauten. Die Anerkennung für den Deutschen Pavillon verschafft ihm den Auftrag für die Errichtung des Kanzleigebäudes der Deutschen Botschaft in Washington (1958- 1964). Es folgen der „Lange Eugen“ , das Abgeordneten Hochhaus des Bundestages in Bonn (1965-69), die Hauptverwaltung der IBM-Deutschland GmbH in Stuttgart Vaihingen (1967-72) und das Verwaltungs- und Ausbildungszentrum der Deutschen Olivetti in Frankfurt am Main (1968-72) - letztere zwei Projekte wurden posthum nach seinem Tod am 19. Juli 1970 vollendet.

Schon beim Fabrikbau war Eiermann bestrebt, einen menschenwürdigen Arbeitsplatz zu schaffen - bei den Büroräumlichkeiten verfolgt er ein ähnliches Prinzip. Unterschiedlich große Räume stellen seiner Meinung nach eine ungerechte Bevorzugung Einzelner dar, er favorisiert das Großraumbüro. Auftragsbedingt muss er immer wieder seinen Abscheu gegen Hochhäuser überwinden - die waagrechte Strukturierung flacher Gebäude signalisiert in seinen Augen den Ausgleich sozialer Unterschiede - doch tut er sein Möglichstes, um die strengen, dominanten Silhouetten zu mildern.

Im Bauen gibt es keine Revolution, nur kontinuierliche Optimierungen - davon war Eiermann überzeugt. Deshalb ist sein Werk erstaunlich homogen, ein Bruch nicht erkennbar. Vereinfachung ist sein Ziel, „sauber denken und klar handeln“ sein Motto. „Weglassen und noch mal Weglassen bedeutet die Gewähr des größeren Eindrucks“ , schreibt er 1957. Die Überreste der alten Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche würde er am liebsten beseitigen, als er mit einem Neubau (1959-63) beauftragt wird: Die Mehrheit der Berliner entscheidet anders. Nun wird der „Hohle Zahn“ flankiert von Stahlskelettkonstruktionen mit Beton-Glas-Wänden, Oktogon und Glockenturm wurden als „Puderdose und Lippenstift“ zum Signum West-Berlins. Schon zu Lebzeiten befürchtete Eiermann, dass man ihn einmal für die Leistung in Erinnerung behalten würde, auf welche er am wenigsten stolz war: die Eiermann-Kachel, die als Vorhangfassade an den kastenförmigen Horten-Warenhäusern jahrzehntelang das Erscheinungsbild deutscher Städte prägte.

Denkmalschützer kämpfen heute - trotz Schäden am Material - entschlossener für Eiermanns Bauten als er selbst: Zahlreiche Gebäude - die Olivetti-Türme, die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche oder der „Lange Eugen“ - bleiben nun der Nachwelt erhalten. Seine Bauwerke kombinieren die Emanzipation von überkommenen Stilen mit dem Bemühen um einen sozialen Mehrwert. Wie kaum ein anderer prägt Eiermann in dieser Hinsicht das Gesicht des Nachkriegsdeutschlands - mehr als nur vorübergehend.

Der Standard, Fr., 2010.07.16



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