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05. Oktober 2021Mathias Remmele
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Feines Linienspiel

Eine Schulsporthalle im sächsischen Döbeln präsentiert sich als rundherum gelungene Lösung für eine nicht sonderlich spannend erscheinende Bauaufgabe. Das von BURUCKERBARNIKOL Architekten realisierte Projekt ‧überzeugt durch eine klare Grundrisslösung und eine unkonventionelle Fassade. Den stärksten Eindruck aber hinterlässt die Gestaltung der Halle.

Eine Schulsporthalle im sächsischen Döbeln präsentiert sich als rundherum gelungene Lösung für eine nicht sonderlich spannend erscheinende Bauaufgabe. Das von BURUCKERBARNIKOL Architekten realisierte Projekt ‧überzeugt durch eine klare Grundrisslösung und eine unkonventionelle Fassade. Den stärksten Eindruck aber hinterlässt die Gestaltung der Halle.

Sagen wir mal so: Eine Schulsporthalle in einer kleinen deutschen Provinzstadt – für ein junges, in gestalterischer Hinsicht ambitioniertes Architekturbüro ist das alles andere als eine Traumaufgabe. Man denke nur an die vielen, vielen Normen, die es bei einem solchen Projekt penibel zu erfüllen gilt. Man denke an die knappen Budgets, die es regelmäßig erschweren, von Standardlösungen abzuweichen. Man denke an Baubehörden und kommunale Entscheidungsträger, für die baukünstlerische Fragen dabei, wenn überhaupt, nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Ein junges Büro freilich, das wie BURUCKERBARNIKOL Architekten aus Dresden und Erfurt die Strategie verfolgt, sich über öffentliche Wettbewerbe zu profilieren, darf bei der Auswahl der Projekte nicht pingelig sein. Im Übrigen gilt wie immer: jede Beschränkung ist Herausforderung und Chance zugleich.

In Döbeln, einer Kleinstadt in Mittelsachsen, so ungefähr zwischen Leipzig, Dresden und Chemnitz gelegen, entstand in den 80er Jahren auf einem Hügel oberhalb des historischen Stadtzentrums eine jener Plattenbausiedlungen, die auf dem Gebiet der früheren DDR unweigerlich zum Weichbild jeder Kommune gehören: Döbeln-Nord. Wie üblich ergänzten Nahversorgungseinrichtungen – Kaufhalle, Schule und Kitas – die Zeilenbauten des Wohngebiets, das in den letzten Jahren eine Nachverdichtung durch Einfamilienhäuser erlebte. Der damit einhergehende Bevölkerungszuwachs machte den Neubau einer Zweifeldsporthalle mit Mehrzwecksaal erforderlich. BURUCKERBARNIKOL gewannen den 2016 dafür ausgeschriebenen Wettbewerb. Im vergangenen Spätsommer konnte die für den Schul- und Vereinssport gleichermaßen benötigte Halle fertiggestellt werden.

Kupferfarbenes Blechkleid

Für das Projekt stand zwischen Schulzentrum »Am Holländer«, Kitagärten und ehemaliger Kaufhalle ein recht großes, fußläufig gut erreichbares Baufeld zur Verfügung. Die Architekten entschlossen sich daher, das gesamte Raumprogramm ebenerdig zu organisieren. Das vereinfacht die Wegführung, erleichtert die Barrierefreiheit und verringert durch den Wegfall von Treppen und Aufzügen die Kosten. Der annähernd quadratische Baukörper setzt sich jeweils hälftig aus der hohen Zweifeldhalle und einem deutlich niedrigeren Gebäudeteil zusammen, in dem der Mehrzwecksaal, das Foyer sowie die Funktions- und Nebenräume untergebracht sind. Geschickt nutzten die Architekten die leichte Hanglage des Areals, um das Volumen der Halle optisch zu verkleinern, in dem sie diese zu etwa einem Drittel im Erdreich verbargen. Nach außen hin tritt das Gebäude als einmal abgestufter, weitgehend geschlossener, kupferfarbener Körper in Erscheinung. Erst beim Näherkommen offenbart sich: Feine Vertikallinien in unregelmäßigen Abständen, die durch Abkantungen entstanden, beleben die aus Alublech gefertigte Fassadenhaut.

Um den höheren Teil des Gebäudes herum ist diese Haut perforiert. Dahinter liegt ein umlaufendes, die Sporthalle erhellendes Fensterband, das sich je nach Tageszeit und Lichtsituation verschieden deutlich abzeichnet.

Die feine Linienstruktur der Fassade mag v. a. als Schmuckelement wahrgenommen werden, tatsächlich repräsentiert sie, wie später in der Sporthalle selbst offenbar wird, das gestalterische Leitmotiv des Projekts – die Architekten ließen sich dabei von den Markierungslinien eines Sportfelds inspirieren. Mit der Linienstruktur der Fassadenhaut verbinden sich aber auch konstruktive, ökologische und ökonomische Vorteile: Die Abkantungen sorgen für eine Aussteifung der Alupaneele und ermöglichen so den Einsatz vergleichsweise dünner Bleche.

Ein lang gezogener, mehrere Meter tiefer Einschnitt an der Ostfassade markiert unmissverständlich den Eingang und bietet sich gleichzeitig als wettergeschützte Wartezone an. Von hier aus betritt man das nach außen hin flächig verglaste und entsprechend helle Foyer, das v. a. als Verteilerzone dient und – unvermeidbar bei einer Sporthalle – zur Präsentation der Pokal-Sammlung. Vom Eingangsfoyer abgesehen, besitzt nur die zu den benachbarten Kitagärten ausgerichtete Mehrzweckhalle eine Fensterfront, die direkte Ein- und Ausblicke ermöglicht. Umkleiden und Sanitärräume erhalten Tageslicht über Oberlichter. Die übrigen Funktions- und Technikräume kommen ohne natürliche Lichtquelle aus.

Direkt rechts neben dem Foyer liegt der quadratisch geschnittene Mehrzwecksaal. Er dient als Bewegungsraum für die Kitas und wird ansonsten u. a. von einem ortsansässigen Judo-Verein zu Trainingszwecken genutzt. Alle weiteren Räume werden über zwei Korridore erschlossen, die, im Foyer beginnend, vorbei an Umkleiden, Sanitär- und Technikräumen, zur Zweifeldsporthalle führen. Die Lage der Korridore wurde so gewählt, dass im Fall einer Teilung, beide Hallenhälften jeweils separat erreicht werden können.

Schichten und Linien

Während die Gestaltung des Foyers, der Korridore und Funktionsräume zwar durchdacht, aber demonstrativ einfach und zweckmäßig erscheint, bezeugen die beiden Hallenräume die kreative Kompetenz der Architekten. Sie sind in jeder Hinsicht die Herzstücke des Gebäudes. Beide präsentieren sich einerseits sachlich-nüchtern und aufgeräumt, wissen aber andererseits durch eine ungewöhnlich warm wirkende Atmosphäre für sich einzunehmen. Das liegt wesentlich an der Materialisierung und der Farbwahl, die ein Schichtenmodell erkennen lässt. Ins Auge fällt zunächst der fugenlose, magentafarbene Bodenbelag – ein PU-beschichteter Sportboden, der als besonders robust und langlebig gilt. Für die umlaufenden, etwa 2 m hohen Prallwände, die den Hallenraum begrenzen und sowohl dem Unfallschutz als auch der Schallabsorption dienen, wählten die Architekten einen auch haptisch angenehmen Textilbezug, dessen Grauton fein auf die Bodenfarbe abgestimmt ist und sich zugleich von der darüberliegenden weißen Wandfläche abhebt.

Im Mehrzwecksaal folgt als nächste Schicht das hölzerne Dachtragwerk, eine quadratisch strukturierte Holzbinderkonstruktion, deren honigfarbener Ton dem Raum eine fast wohnliche Note verleiht. Dazu passt wiederum der dunkel-auberginefarbene Anstrich der Trapezblech-Decke, der das Farbkonzept des Saals komplettiert.

Noch eindrücklicher und gleichsam reichhaltiger ist die Komposition in der großen Sporthalle. Denn oberhalb des Wandstreifens schließt sich hier ein helles Fensterband an, das zwischen den bemerkenswert schlanken Holzbindern fast bis zur Decke reicht.

Es sorgt zumindest bei günstigen Wetterbedingungen für eine gute natürliche Belichtung der Halle und lässt ihre Decke dann wunderbar leicht erscheinen. Blendeffekte bei starker Sonneneinstrahlung können dank der perforierten äußeren Blechhaut vermieden werden. Die bereits von der Fassade her bekannte feine vertikale Linienstruktur tritt hier als rhythmisches Gestaltungsmotiv wieder auf und findet in der Deckenkonstruktion – in Form der Holzträger und der zwischen ihnen verlaufenden linearen Kunstlichtbänder – ihre Fortsetzung. Ein originelles und gekonntes Linienspiel, das der Halle eine fast schon elegante Anmutung verleiht. Es ist eine Freude, das anzuschauen.

db, Di., 2021.10.05



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db 2021|10 Sport

09. März 2021Mathias Remmele
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Rau und fein

Eigenständig, selbstbewusst und vielleicht ein wenig provozierend behauptet das Haus K seinen Platz in einem in gestalterischer Hinsicht ganz anders ausgerichteten Quartier. Putz spielt – nicht zuletzt im gelungenen Zusammenklang mit anderen Materialien – eine für die Erscheinung des Hauses entscheidende Rolle. Das gilt für die Fassade ebenso wie für die Innenräume.

Eigenständig, selbstbewusst und vielleicht ein wenig provozierend behauptet das Haus K seinen Platz in einem in gestalterischer Hinsicht ganz anders ausgerichteten Quartier. Putz spielt – nicht zuletzt im gelungenen Zusammenklang mit anderen Materialien – eine für die Erscheinung des Hauses entscheidende Rolle. Das gilt für die Fassade ebenso wie für die Innenräume.

Das Allerbeste an diesem bemerkenswerten Haus – oder sagen wir so: das, was am Ende den stärksten Eindruck machte beim Rezensenten – ist seine Entstehungsgeschichte. Sie liest sich fast wie aus der guten alten Zeit: Ein junges Paar (sie selbst Architektin ohne entwerferische Ambitionen, er Maschinenbauer) erbt von der Großmutter ein Grundstück, möchte dort bauen und sucht mit Bedacht die passenden Architekten zur Umsetzung seiner ziemlich konkreten Pläne. Man sieht sich um, entdeckt ein junges Berliner Architekturbüro namens PAC (Project Architecture Company), das mit interessanten Wohnhäusern von sich reden gemacht hatte. Am Tag der Architektur, als eines dieser Projekte besichtigt werden konnte, nimmt man Kontakt auf. Auf Anhieb entsteht eine Verbindung, man trifft sich wieder, man redet und entscheidet schließlich, das Projekt »Haus K« gemeinsam zu wagen. Betonung liegt auf gemeinsam, denn was dann etwa zwei Jahre später fertig wurde, ist im besten Sinn ein Gemeinschaftswerk: Geboren aus den Wünschen und Ideen der Bauherrschaft – realisiert mit den Ideen, dem Know-How und den Problemlösungskompetenzen der Architekten. Am Ende steht da ein maßgeschneidertes Haus, das eine junge Familie beglückt. Ein Haus, das den Architekten als Referenzobjekt dient und – das ist ja keine Selbstverständlichkeit – den Glauben an die Sinnhaftigkeit ihres beruflichen Tuns stärkt. Ein Haus, das beispielhaft die alte Binsenweisheit illustriert, nach der überzeugende ­Architektur nur im Zusammenspiel von Architekt und Bauherrschaft entsteht. Ein Haus schließlich, das in Zeiten, in denen gefühlt etwa 98 % der neuen Einfamilienhäuser von der Stange kommen, wie ein flammendes Plädoyer für »Architektenhäuser« wirkt.

Ein Wunschhaus nach Maß

Bernau bei Berlin, eine nur wenige Kilometer nordöstlich der Hauptstadt gelegene Kleinstadt mit S-Bahn-Anschluss, gehört zu jenen Speckgürtel-Orten, über die man wirklich nicht viele Worte verlieren möchte. Auf der Landkarte der Architektur jedenfalls ist sie zu Recht ein weitgehend weißer Fleck – wenn man von der als »Bauhausdenkmal« beworbenen, ganz wunderbaren Bundesschule von Hannes Meyer einmal absieht. Hier also, an einer der Chausseen, die aus der Stadt hinaus und zum nächsten Dorf führen, steht das Haus K. Drum herum – freundlich formuliert – belanglose Einfamilien- und kleine Mehrfamilienhäuser, die meisten aus DDR-Zeiten, einige älter, ein paar neueren Datums, viele mit allerlei Anbauten und Aufhübschungen gesegnet – kurzum, die Lage ist alles andere als traumhaft, aber angesichts der mittlerweile auch in Bernau horrenden Baulandpreise und der familiär-emotionalen Verbindung zum Grundstück fand man, es sei doch der richtige Platz für das Wunschhaus der jungen Familie. Das von der Großmutter geerbte Fertighaus aus den 60er Jahren, das darauf stand, war nicht zu retten. Und der Keller vermochte keinen Neubau zu tragen.

Recht detailreich und entschieden war das Idealbild, das dem Paar für den Neubau vor Augen stand: Ein formal schlichtes, modernistisches Haus sollte es sein, ein kompakter Baukörper mit Flachdach und riesigen, stockwerkhohen Fensteröffnungen und am liebsten aus Sichtbeton, gerade so sauber und schön, wie man ihn aus der Schweiz kennt. Sodann ein weitgehend offener Grundriss, eine Galerie zwischen Wohnzimmer und Obergeschoss und kein abgetrenntes Entree zwischen Haustür und Wohnbereich. Wie ein Blick aufs und ins Haus K schnell offenbart, konnten viele, ja fast alle dieser Vorstellungen tatsächlich umgesetzt werden. Die wenigen Abweichungen von den ursprünglichen Vorstellungen – es sind im Wesentlichen nur zwei – gehen auf eine Entwurfsidee der Architekten bzw. auf die Limitierung des Baubudgets zurück. Sie sind freilich erheblich für die Erscheinung des Hauses.

Sechseck statt Rechteck

Die eine Abweichung betrifft die Grundform des Gebäudes. Wenn der Baukörper heute statt auf einem Rechteck auf einem Sechseck basiert, was dem Bau einen ganz eigenständigen Ausdruck verleiht, so wurde das durch den ebenso banalen wie nachvollziehbaren Wunsch der Bauherrschaft angeregt, von ihrem Schlafzimmer aus nicht direkt auf das (wenig reizvolle) Nachbarhaus blicken zu müssen. Zur Lösung des Problems schlugen PAC Architekten vor, die Fensterwand leicht nach außen zu kippen, um so der Blickachse eine ins Grüne abweichende Richtung zu geben. Die Idee mit dem leichten Knick in der einen Längsfassade des Baukörpers hatte Folgen: Würde man diesen Knick an der diagonal gegenüberliegenden Seite des Hauses wiederholen, entstände da ganz zwanglos eine Geste, die auf den Eingang hinweist und ­seine Platzierung rechtfertigt. Noch überzeugender fallen die Konsequenzen des Doppelknicks für den Grundriss und die Raumwirkung aus. Im EG, wo sich Essbereich, Küche, Wohnraum und Flur um einen »Kern« aus Technikraum, Gäste-WC, Garderobe und Treppe herum gruppieren, sorgen die schräg verlaufenden Außenwände für eine angenehme Dynamisierung des Raums, der zugleich viel großzügiger erscheint, als man es in Anbetracht seiner bescheidenen Grundfläche erwarten würde. Verstärkt, um nicht zu sagen, potenziert wird dieser optische Effekt durch die großen raumhohen Fensteröffnungen. Ihre Wirkung, die sich durch die Fotografien leider nicht wirklich transportiert, ist schlicht großartig.

Die zweite Abweichung von den ursprünglichen Wünschen betrifft die Materialisierung bzw. Konstruktion des Hauses. Ganz aus Dämmbeton hatten sich die Bauherren ihr Eigenheim erträumt. Nicht zu bezahlen, wussten die Architekten und davon einmal abgesehen: in der gewünschten Qualität von berlin-brandenburgischen Baufirmen selbst mit viel Geld praktisch nicht zu bekommen. Putz, so lautete ihr Alternativvorschlag: ökonomischer und ästhetisch gerade so schön, womöglich sogar noch interessanter, weil vielseitig in seinen Möglichkeiten. Man ließ sich überzeugen, und so blieben vom Sichtbeton gerade noch die Bodenplatte, der Gebäudekern und die Geschossdecken übrig. Recht rau fallen diese Ortbeton-Oberflächen aus, ehrlich – wenn man so sagen will – und voller Spuren eher nachlässig betriebenen Handwerks (eindrücklich und amüsant sind die Schuhsohlen-Abdrücke, die da und dort unabsichtlich für eine halbe Ewigkeit konserviert wurden). In wohltuendem Kontrast dazu steht der feingefilzte, seidig-glatte Gipsputz der weiß gestrichenen Innenwände, der den Räumen im Zusammenspiel mit dem geölten Eschenholz-Parkett eine wohnlich-warme Atmosphäre verleiht. Die tragenden, in Kalksteinmauerwerk ausgeführten Außenwände des Hauses wurden, ebenso wie die Stirnseiten der Geschossdecken, mit mineralischen Dämmplatten eingekleidet. Auf Unterputz und Armierung folgt als äußere Gebäudehaut ein durchgefärbter mineralischer Außenputz, bei dem man sich für einen warmen, hellen Grauton entschied. Das passt zum schlicht-nüchternen Stil des Hauses und ist vielleicht auch als kleine Reminiszenz an den Beton zu lesen. Bemerkenswert ist aber v. a. die vertikal ausgerichtete Besenstrich-Struktur des Putzes, die mitsamt ihren kleinen Unregelmäßigkeiten auf die Handwerklichkeit verweist und der Gebäudehülle, aus der Distanz betrachtet, eine fast samtene Anmutung verleiht. Und so wiederholt sich an der Putzoberfläche der Fassade das leitmotivische Wechselspiel von rau und fein, das schon die Oberflächengestaltung der Innenräume charakterisiert.

db, Di., 2021.03.09



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06. April 2020Mathias Remmele
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Urbane Dorfidylle

Mit einem vielfältigen Wohnungsangebot samt Kindergarten, durchdachten Grundrissen und einer das Wohnquartier bereichernden städtebaulichen Lösung kann das zweiteilige Projekt als Vorbild für einen zeitgemäßen, sozial ausgerichteten städtischen Wohnungsbau dienen. Das V-förmig tief ins Blockinnere hineingreifende Holz-Wohngebäude bildet eine halböffentliche Zone, die viele Möglichkeiten der Aneignung eröffnet.

Mit einem vielfältigen Wohnungsangebot samt Kindergarten, durchdachten Grundrissen und einer das Wohnquartier bereichernden städtebaulichen Lösung kann das zweiteilige Projekt als Vorbild für einen zeitgemäßen, sozial ausgerichteten städtischen Wohnungsbau dienen. Das V-förmig tief ins Blockinnere hineingreifende Holz-Wohngebäude bildet eine halböffentliche Zone, die viele Möglichkeiten der Aneignung eröffnet.

Selbst in der wohlhabenden Schweiz mit ihren vergleichsweise fürstlich anmutenden Durchschnittsverdiensten ist bezahlbarer Wohnraum für Menschen mit mittlerem und niedrigem Einkommen immer schwieriger zu finden. Das gilt besonders für die wirtschaftlich prosperierenden Großstädte.

Im politisch rot-grün dominierten Stadtkanton Basel versucht man dieser Entwicklung mit einem öffentlichen Wohnungsbauprogramm entgegenzu­steuern. Vor diesem Hintergrund ist die Wohnüberbauung Maiengasse zu sehen, die von der Stadt selbst finanziert und verwaltet wird.

In einem westlich der Altstadt gelegenen, ruhigen Wohnquartier, das im 19. Jahrhundert entstanden war, verfügte die Stadt über ein rund 4 400 m² großes Grundstück. Es zieht sich entlang der Maiengasse, nimmt den gesamten Hofraum des Baublocks ein und umfasst außerdem eine Parzelle an der Hebelstraße. Auf dem Areal war bis Anfang dieses Jahrhunderts ein städtischer Werkhof ansässig, dessen heterogene Bauten – u. a. ein großer hölzerner Schuppen – einer Wohnbebauung weichen sollten. Für das Projekt, zu dem neben Mietwohnungen auch zwei Kindergärten gehören, wurde 2013 ein ­offener Architekturwettbewerb ausgelobt. Gefordert war dabei ein Mehrgenerationenhaus mit einem vielfältigen Wohnungsangebot im mittleren Preissegment – für jüngere und ältere Kleinhaushalte ebenso wie für Familien mit Kindern. Die Erschwinglichkeit der Mieten galt es durch entsprechend ökonomische Bebauungskonzepte sicherzustellen. Unter den insgesamt 46 Einreichungen hat sich zurecht das vom Zürcher Büro Esch Sintzel Architekten vorgeschlagene Projekt durchgesetzt, das nach knapp dreijähriger Bauzeit ­fertiggestellt werden konnte.

Sensibler Städtebau

Die Grundlage für den siegreichen Entwurf bildete eine sorgfältige Analyse der vorgefundenen städtebaulichen Situation sowie eine feinfühlige und durchdachte Interpretation der Wettbewerbsintention. Für die Parzelle an der Hebelstraße schlugen Esch Sintzel die Schließung des Blockrands vor. Für den deutlich größeren Grundstücksteil hin­gegen, der sich von der Maiengasse aus ins Blockinnere erstreckt, suchten sie eine andere Lösung. Statt auch hier den Blockrand zu schließen, entwickelten sie eine einfache Großform, die das Grundstück klug nutzt und zugleich den Stadtraum bereichert: einen V-förmigen Baukörper, der sich zum Straßenraum hin öffnet und so eine halböffentliche, gassenartige Platzanlage entstehen lässt. Damit passt sich der Entwurf zwanglos in das offene und eher informelle Stadtgefüge ein, das die Maiengasse charakterisiert. Der zwischen dem neuen Hofgebäude und der bestehenden Blockrandbebauung entstandene Raum wird als geschützter Spielplatz für die Kindergärten und als Gartenraum für die Mieter genutzt. Der halböffentliche Charakter des Hofs wird durch eine bewusste Platzierung der Kindergärten im Scheitelpunkt des Neubaus hervorgehoben.

Die städtebaulich begründete Zweiteilung des Projekts akzentuierten die Architekten, indem sie die beiden Neubauten auch in formaler und baukonstruktiver Hinsicht unterschiedlich konzipierten. Während das fünfstöckige Wohnhaus an der Hebelstraße als konventioneller Massivbau ausgeführt wurde, präsentiert sich das dreistöckige Hofgebäude als Holzbau. Bei dieser Entscheidung spielten, wie Projektleiter Marco Rickenbacher bekennt, ökologische Ziele eine untergeordnete Rolle – 2013 stand das Thema Klima noch nicht so im Fokus wie heute. Inspirierend sei vielmehr ein alter Holzschuppen gewesen, der früher im Zentrum des städtischen Werkhofs stand. Diese Reminiszenz an die spezifische Geschichte des Orts wirkt nicht zuletzt deshalb plausibel, weil sie dem kleinteiligen, beinahe schon dörflichen Charakter des Blockinnern angemessen ist.

Durchdachte und zeitgemäße Grundrisslösungen

Das Teilprojekt in der Hebelstraße ist zweifellos ein gelungenes städtisches Wohnhaus, das sich durch gestalterische Anklänge an die spätmoderne Architektur der 60er Jahre auszeichnet, wie auch durch spannungsvolle Raumverdichtungen und -weitungen, die sich in den 16 Wohneinheiten (inkl. einer Atelier-Wohnung) aus der Ausdrehung einzelner Raumsequenzen aus der Orthogonalität heraus ergeben. Dennoch bildet das Gebäude mit 39 Wohneinheiten im Hof das eigentliche Herzstück des Projekts. Ein geglückter Städtebau ist das eine. Die einmal gefundene Gebäudeform sinnvoll mit Leben zu füllen das andere. Die Architekten standen vor der Herausforderung, die vom Auslober geforderte Vielfalt der Wohnungsgrößen – die Bandbreite reicht von 1,5 bis zu 6,5 Zimmer – in den V-förmigen Baukörper des Hofgebäudes zu integrieren. Man ahnt, welche Puzzelei das bedeutete und staunt, wie gut es gelang. Marco Rickenbacher und sein Entwurfsteam fanden eine Lösung, indem sie den gesamten Baukörper gleichsam zonierten: In den Kopfbauten zur Gasse sind über drei Stockwerke mittelgroße Wohnungen mit 2,5 und 3,5 Zimmern untergebracht. In den Schenkeln befinden sich jeweils vier reihenhausartig angeordnete Maisonettewohnungen mit 4,5 Zimmern, die EG und 1. OG umfassen. Im 2. OG ist jeweils Raum für zwei große Wohnungen mit 5,5 bzw. 6,5 Zimmern. Im Scheitel des Hofgebäudes liegen im EG die Räume der beiden Kindergärten. Darüber bleibt Platz für kleine und mittelgroße Wohnungen mit 1,5, 2,5 und 3,5 Zimmern. Sämtliche Wohnungen verfügen entweder über eine Loggia oder eine Terrasse. Den Maisonettes ist jeweils ein privater Gartenbereich an der Rückseite des Hauses zugeordnet.

Die Wohnungen als Ganzes, aber auch die einzelnen Räume sind eher knapp bemessen, um auf diese Weise die Wirtschaftlichkeit der Anlage zu sichern. Umso wichtiger war es die Verkehrsflächen klein zu halten und für eine optimale Nutzung des vorhandenen Raums zu sorgen. Relativ geringe Unterschiede in den Raumgrößen ermöglichen innerhalb der einzelnen Wohneinheiten einen flexiblen Gebrauch je nach individuellen Bedürfnissen und Lebensformen. In vielen Wohnungen lässt sich der Wohnraum – etwa bei Nutzung durch eine WG – von der Wohnküche abtrennen und steht dann als weiterer Individualraum zur Verfügung.

Die Ausstattung ist einfach, aber solide und geschmackvoll. Bodenbeläge aus geöltem Eichenparkett sorgen für eine wohnliche Atmosphäre. Vor den Küchenzeilen und im Eingangsbereich wurden dazu passende rote Tonfliesen verlegt. Die weißen Innenwände bestehen aus Hartfaserplatten. Als Holzbau tritt das Gebäude im Innern nur an den Decken mit ihren offenen Balkenlagen in Erscheinung. Die Raumhöhe bis zur Unterkante der Balken beträgt 2,50 m; in den Zwischenräumen erreicht sie 2,76 m. Die Bauausführung ist, wie in der Schweiz üblich, von herausragender Qualität und trägt nicht unwesentlich zum positiven Gesamteindruck bei.

Klassischer Skelettbau

Baukonstruktiv betrachtet ist das Hofgebäude ein klassischer Skelettbau aus Holz. Vier Stahlbetonkerne, die Treppen und Aufzüge aufnehmen, dienen der Erschließung der Geschosswohnungen, steifen die Konstruktion aus und tragen den Brandschutzbestimmungen Rechnung. Das Raster von Stützen und Trägern verleiht dem gesamten Gebäude und den Wohnungsgrundrissen eine klare Struktur. Es ermöglicht darüber hinaus ein hohes Maß an rationeller Vorfertigung. Leichtbauwände erlauben vielfach eine spätere Änderung des Grundrisses ohne Eingriff ins Tragwerk. Die ökologischen Vorteile des Holzbaus muss man heute nicht mehr herausstreichen. Um den Schallschutz sowohl in horizontaler als auch in vertikaler Richtung zu garantieren, wurden einige Anstrengungen v. a. in Bezug auf die Schallentkopplung von Materialstößen und zwischen den einzelnen Wohneinheiten unternommen.

Nach außen hin zeigt sich das Hofgebäude unmissverständlich als Holzbau – straßenseitig sowie an der Stirnseite des Hofplatzes durch die sichtbaren Primärträger und die zumindest in den Loggien deutlich erkennbaren Deckenbalken; an den Hofseiten durch eine Holzverschalung mit vertikaler Lattung, die immer dort, wo sie von geschosshohen Fensteröffnungen unterbrochen wird, wiederum einen (diesmal seitlichen) Blick auf die Primärträger freigibt. Noch deutlicher verweisen hier freilich die hölzernen »Säulen« vor den im EG aus der Fassadenflucht zurückspringenden Eingangsveranden der Maisonette-Wohnungen auf den Holzbau.

Diese von CNC-Maschinen bearbeiteten Stützen, die sich – von oben nach unten betrachtet – von einem quadratischen Querschnitt allmählich zum optisch rund wirkenden 32-Eck entwickeln, sind ein gestalterisches Detail, das der sonst recht nüchternen Erscheinung des Gebäudes eine eigentümlich verspielte und – wenn man so will – heimelige Note verleiht. Zugleich sind es diese Stützen, die auf eine weitere, nahegelegene Referenz des Hofgebäudes verweisen: das 1987/88 erbaute hölzerne Wohnhaus im Hof, das zu den besten Frühwerken von Herzog & de Meuron gehört.

db, Mo., 2020.04.06



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db 2020|04 Wohnen

14. Oktober 2019Mathias Remmele
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Eine vergebene Chance

Einst ein Symbol für die unbewältigten Probleme der Migration und das Scheitern der Schulform Hauptschule hat sich die Berliner Rütli Schule, die heute unter dem Namen Campus Rütli firmiert, zu einem pädagogischen und sozialen Vorzeigeprojekt entwickelt. Die Neubauten auf dem Campus aber, die in achtjähriger (!) Planungs- und Bauzeit entstanden, sind eher eine Enttäuschung.

Einst ein Symbol für die unbewältigten Probleme der Migration und das Scheitern der Schulform Hauptschule hat sich die Berliner Rütli Schule, die heute unter dem Namen Campus Rütli firmiert, zu einem pädagogischen und sozialen Vorzeigeprojekt entwickelt. Die Neubauten auf dem Campus aber, die in achtjähriger (!) Planungs- und Bauzeit entstanden, sind eher eine Enttäuschung.

Es war ein Brief, der die Rütli-Schule im Jahr 2006 bundesweit in die Schlagzeilen brachte. Geschrieben hatte ihn das heillos überforderte Lehrerkollegium, der im nördlichen Teil des Berliner Bezirks Neukölln gelegenen Hauptschule. Berichtet wurde darin zum einen von der wachsenden Gewalttätigkeit und Disziplinlosigkeit einer Schülerschaft, die zu über 80 % aus Familien mit Migrationshintergrund stammte. Zum anderen aber auch von der Perspektivlosigkeit der Jugendlichen, die sich in ihrer Lernunwilligkeit spiegele und das offensichtliche Scheitern der Schulform Hauptschule belege. Beklagt wurde daneben die extrem mangelhafte personelle Ausstattung der Schule sowie die fehlende Sprachkompetenz für eine effektive Kommunikation mit den Eltern. Der »Brandbrief« machte die Rütli-Schule zu einem Symbol für die unbewältigten Probleme der Migration sowie für das Versagen der Berliner Schul- und Innenverwaltung. Das von ihm ausgelöste mediale Echo zwang die Politik zum Handeln. Dabei war klar, dass die hier aufgetretenen Probleme nicht allein mit schulischen Mitteln zu lösen waren.

Neuartiges Bildungskonzept

Bereits 2007 wurde auf Bezirksebene die Idee zu einem »Campus Rütli« entwickelt, die wesentlich darin bestand, ein neues, umfassendes Bildungskonzept zu erarbeiten und dies mit der Schaffung eines in den Kiez ausstrahlenden Sozialraums zu verbinden, in dem alle irgendwie betroffenen und beteiligten Akteure zusammenkommen und -wirken sollten.

Konzipiert wurde das »Campus Rütli CR2« getaufte Modellprojekt dezidiert als »sozialer Erlebnisraum«, der in seinen Modulen »einheitliche Bildungsbiographien von der Kindertagesstätte bis zum Eintritt in die Berufsausbildung« ermöglichen sollte und alle schulischen Abschlüsse bietet.

Ein erster Schritt zur Realisierung des Konzepts war der 2008/09 erfolgte Zusammenschluss der Rütli-Hauptschule, der Heinrich-Heine-Realschule (die sich bisher ein Schulgebäude teilten) sowie der wenige Blocks entfernten Franz-Schubert-Grundschule zur Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli. 2011 wurde eine gymnasiale Oberstufe geschaffen, die sich seither wachsender Beliebtheit erfreut. Zwei Kindertagesstätten sowie der Kinder- und Jugendclub an der Rütlistraße, die in unmittelbarer Nachbarschaft liegen, wurden organisatorisch mit der Gemeinschaftsschule verkoppelt. 2012 konnte die vom Berliner Büro plus 4930 entworfene Quartierssporthalle fertiggestellt und als erster Neubau in den Campus integriert werden.

Das ambitionierte Konzept des Campus, aus dem sich ein erheblicher Raumbedarf ergab, hätte nicht entstehen bzw. realisiert werden können, wären an seinem Standort nicht glücklicherweise bereits große Flächen beiderseits der namensgebenden Rütlistraße im Besitz der öffentlichen Hand gewesen. Einer Autowerkstatt und einer Kleingartenkolonie, die bisher Teile des Areals nutzten, konnte kurzfristig gekündigt werden. So stand also genügend Platz für die notwendige baulichen Ergänzung des Campus zur Verfügung, der insgesamt eine Fläche von fast 5 ha umfasst. Im Einzelnen ging es dabei um eine Erweiterung des Schulhauses (zur Integration der Grundschule), ein Werkstattgebäude (für das Unterrichtsmodul Werkstatt, Arbeit, Technik), eine Erweiterung der Mensa sowie um ein Stadtteilzentrum (mit Räumlichkeiten für Elterncafé, Campusverwaltung, Pädagogische Werkstatt, Jugendamt, Zahnärztlicher Dienst und Volkshochschule Neukölln).

Für diese Neubauvorhaben wurde 2011 ein Realisierungswettbewerb lanciert, den das Büro Schulz und Schulz Architekten aus Leipzig gewann. Die Bauarbeiten begannen 2015. Mittlerweile sind das Werkstattgebäude und das Stadtteilzentrum vollendet. Der Schulerweiterungsbau kann möglicherweise in diesem Schuljahr bezogen werden, während die neue Mensa erst im kommenden Jahr fertig sein dürfte. Die Bauarbeiten auf dem Campus werden freilich noch eine Weile andauern: ab dem nächsten Jahr steht eine Grundsanierung des Altbaus an.

Überzeugender Städtebau und nüchtern-kühle Architektur

Zu den überzeugenden Qualitäten des Entwurfs von Schulz und Schulz gehört die damit verbundene städtebauliche Lösung. Quasi als Herzstück des Campus schlugen sie am Treffpunkt der Erschließungsachsen – der in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Rütlistraße und der von Osten auf den Campus führende Ossastraße – eine zentral gelegene Platzanlage vor. Definiert und begrenzt wird sie einerseits vom winkelförmig angelegten, viergeschossigen Neubautrakt der Gemeinschaftsschule, dessen einer Flügel direkt an die nördliche Brandmauer der Bestandsschule anschließt, und andererseits vom diagonal gegenüberliegenden, zweigeschossigen Stadtteilzentrum, das ebenfalls einen winkelförmigen Baukörper aufweist. Das Werkstattgebäude verlegten die Architekten in den nördlichen Teil des Campus, in die Nachbarschaft zur Quatierssporthalle. Auch dieses, nur eingeschossige Gebäude besitzt einen winkelförmigen, in diesem Fall aber vom Straßenraum abgewandten Grundriss. Abweichend von diesem Schema haben Schulz und Schulz die Mensa-Erweiterung als achteckigen Pavillon entworfen und aus funktionalen Gründen (Verbindung zur bestehenden Schulküche) etwas versteckt hinter dem Altbau der Schule platziert.

Gestalterisch präsentieren sich die Neubauten mit ihren Betonfertigteil- und Putzfassaden – von der Mensa einmal ausdrücklich abgesehen – als denkbar nüchterne Zweckbauten. Man könnte ihre Anmutung, je nach Temperament, als kühl-sachlich, als unambitioniert oder als erschreckend uninspiriert beschreiben. Und es dürfte Leute geben, die angesichts dieser Fassaden eher an ein Finanzamt oder irgendeine andere Behörde als an eine Schule denken. So oder so, als Einladung zur positiven Identifikation der Nutzer mit den Campus-Neubauten wird man diese Fassaden schwerlich interpretieren – als Einladung an Graffiti-Sprayer hingegen schon. Darauf lässt sich wetten.

In ihrem überaus wortreichen Erläuterungstext erklären die Architekten »die zurücknehmende Gestaltung der Erweiterungsbauten« damit, dass sie »einen übergeordneten Campuscharakter« stärke und »das heterogene Erscheinungsbild in eine ausgeglichene, homogene Bildungslandschaft« überführe. Worin der Vorteil von »Homogenität« für den Campus liegen sollte, erschließt sich daraus nicht. Abgesehen davon ist und bleibt der Campus ein sehr heterogenes Gebäudekonglomerat. Man muss sagen: glücklicherweise!

Konventionell oder wegweisend?

Ein Blick ins Innere der Neubauten offenbart, dass Schulz und Schulz Architekten auch räumlich und grundrisstechnisch ihr Heil fast immer (die noch unvollendete Mensa bildet die Ausnahme) in durch und durch konventionellen Lösungen suchten. In ihrem Erläuterungstext heißt es zwar, »die Organisation der Raumstrukturen« ziele »auf die Belebung eines positiv besetzten Lebensumfelds, aus dem eine kreative und motivierende Lernatmosphäre resultiert«. Wie dieses Wunder gelingen soll, bleibt aber offen.

Cordula Heckmann, die engagierte, langjährige Direktorin der Schule und Campus-Leiterin, ist in erster Linie glücklich, dass die drängenden Raumbedürfnisse endlich erfüllt werden. Die gestalterische Qualität der Neubauten mag sie nicht kommentieren. Über den Erweiterungsbau der Schule aber meint sie, dass »das Modell Flurschule«, wie es hier realisiert wurde, »heutzutage schon für einen eher konservativen Ansatz« stehe, was aber der sozialräumlichen Idee, die sich im zentralen Campusplatz zeige, geschuldet sei.

Bemerkenswert übrigens, wie wenig sie und ihr Kollegium oder auch die Schülerschaft in die Planungen involviert waren. Die Bauherrschaft lag nicht bei der Schule, sondern beim Stadtbezirk.

Angesichts dieses Befunds stellt sich (wieder einmal) die Frage, was Architektur leisten kann und auch leisten muss, um ein bildungs- und sozialpolitisches Modellprojekt wie den Campus Rütli in seinen begrüßenswerten Zielsetzungen zu unterstützen und um ihm eine adäquate bauliche Form zu verleihen.

Schulz und Schulz Architekten haben für den Campus eine pragmatische und zumindest auf den ersten Blick zweckdienliche architektonische Lösung entwickelt. Und womöglich haben sie angesichts eines knappen Budgets, auch was Bauqualität und Materialwahl betrifft, herausgeholt, was herauszuholen war. Und sicher, Schüler- und Lehrerschaft erhalten neue, helle und zeitgemäß ausgestattete Klassenzimmer, über die sie sich natürlich freuen.

Die Konventionalität ihrer Lösung aber, die schon bei einer »normalen« Schule unbefriedigend wäre, ist bei einem Modellprojekt wie dem Campus Rütli enttäuschend. Wo, wenn nicht bei dieser Gelegenheit hätte die Chance bestanden Neues auszuloten und eine wegweisende Gestaltung zu entwickeln? Die Neubauten auf dem Campus Rütli aber sind nicht nur nicht wegweisend, sondern sie bleiben, wie etwa der Blick nach Skandinavien und nach Finnland offenbart, auch hinter dem zurück, was anderenorts hinsichtlich inspirierender Lernräume bereits erfolgreich umgesetzt wurde. Das mag auch etwas mit Geld zu tun haben – die Ausgaben für Bildung sind in Deutschland im europäischen Vergleich noch immer beschämend niedrig –, aber das ist keine Entschuldigung für eine weitgehend ideenlose Gestaltung.

Abschließend – weil das einfach nicht unkommentiert bleiben darf – ein Wort zum in städtebaulicher Hinsicht so überzeugenden zentrale Campus-Platz, der ja gewissermaßen als Herzstück und Visitenkarte des Areals gedacht war. Stefan Bernard Landschaftsarchitekten haben dafür einen wahrlich atemberaubenden Entwurf vorgelegt: zu rund 80 % präsentiert sich der großzügige Platz jetzt als graue Asphaltfläche! Jenseits aller ästhetischen Empfindungen ist das im Jahr 2019 eine völlig indiskutable Idee. Wem angesichts der berechtigten Forderung nach einer Verbesserung des städtischen Mikroklimas durch Begrünung – die nach dem zweiten Hitzesommer in Folge immer dringender erhobenen wird – und vor dem Hintergrund der schon längst bekannten Problematik der Flächenversiegelung nichts anderes einfällt, als einen solchen Platz ohne sachliche Notwendigkeit in eine öde Asphaltwüste zu verwandeln, der sollte einmal ernsthaft sein berufliches Selbstverständnis hinterfragen. Das gilt auch für die zuständigen Ämter, die eine solche »Lösung« genehmigt und finanziert haben.

db, Mo., 2019.10.14



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db 2019|10 Berlin

16. September 2019Mathias Remmele
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Mitten im Draußen

Am Rand eines kleinen Dorfs in Ostholstein entstand inmitten eines prächtigen Gartens ein bemerkenswerter Alterswohnsitz, der durch seine räumliche Vielfalt und seine enge Verzahnung mit der Umgebung überzeugt. Das Haus reflektiert dabei sowohl die individuellen Bedürfnisse der Bauherrschaft als auch die spezifische Baugeschichte des Orts.

Am Rand eines kleinen Dorfs in Ostholstein entstand inmitten eines prächtigen Gartens ein bemerkenswerter Alterswohnsitz, der durch seine räumliche Vielfalt und seine enge Verzahnung mit der Umgebung überzeugt. Das Haus reflektiert dabei sowohl die individuellen Bedürfnisse der Bauherrschaft als auch die spezifische Baugeschichte des Orts.

Als ein Altenteil-Haus im ursprünglichen Wortsinn wird man das Haus, das sich das Ehepaar J vor Kurzem am Rand eines kleinen Dorfs bei Eutin im ­malerischen Ostholstein erbaut hat, nicht bezeichnen wollen – auch wenn es zunächst ganz danach aussieht. Denn der Umzug vom großen, vor langer Zeit als Erbe übernommenen alten Bauernhaus in den gleich daneben liegenden, vergleichsweise klein dimensionierten Neubau hat nichts mit der Übergabe des Hofs an die nachfolgende Generation zu tun. Bereits das Bauherrenpaar hat seinen Lebensunterhalt nicht mehr in der Landwirtschaft verdient und von seinen Kindern ist keines in das nun frei gewordene Haupthaus eingezogen. Es waren von daher keine wirtschaftlichen, sondern vor allem praktische Erwägungen, die zum Bau dieses Alterswohnsitzes führten: Das Bauernhaus war schlicht zu groß für zwei und – auf lange Sicht – eben auch nicht altersgerecht.

Zuerst gab es die Idee, ein einfaches Wirtschaftsgebäude, das in den 50er Jahren anstelle einer abgebrannten Scheune errichtet worden war, zu Wohn­zwecken umzubauen. Gutachter rieten jedoch wegen der schlechten Bausubstanz davon ab. So musste es also ersatzweise ein Neubau werden. Schon aus baurechtlichen Gründen wäre jedoch auch für ihn auf dem weitläufigen Grundstück kaum ein anderer Standort als der des Bestandsgebäudes infrage gekommen.

Nach Mass

Geräumig, hell und mit vielen Ausblicken in den Garten und die umgebende Landschaft – das waren die zentralen Wünsche an den Neubau, für den man ein ebenso detailliertes, wie individuelles Raumprogramm entwickelte: eine offene Küche als Herzstück des Hauses, groß genug um Familie und Freunde zu bewirten; ein eher kleineres Wohnzimmer; ein verandaartiges Gartenzimmer, ein großes Schlaf-, Arbeits- und Bibliothekszimmer für ihn; ein kleineres Zimmer für sie; zwei Bäder, eines davon mit Tageslicht und Ausblick in den Garten; eine Waschküche mit direktem Zugang zum Garten; ein als Vielzweckraum nutzbares Gästezimmer; ein geschützter Stellplatz fürs Auto; schließlich Wandflächen für Bücherregale und viel Stauraum in Form von Einbauschränken.

So klar die Vorstellungen der Bauherrschaft hinsichtlich des Raumprogramms waren, so offen zeigte man sich hinsichtlich der formalen Umsetzung. Auch eine dezidiert moderne Lösung sollte möglich sein. Für den Entwurf wandte man sich auf Empfehlung an WEGENER ARCHITEKTEN aus dem nahegelegenen Neustadt in Holstein. Vorwiegend mit Bauen im Bestand beschäftigt, bedeutete das Projekt für Joachim Wegener und sein Team trotz seiner überschaubaren Dimension durchaus eine Herausforderung. Die intensive Arbeit am Entwurf erhielt die entscheidenden Impulse durch eine Fotografie der Scheune, die einst hier gestanden hatte. Der historische Zweiständerbau inspirierte den Neubau gleich auf mehreren Ebenen. Das gilt für das einseitig angeschleppte Dach des Hauses ebenso wie für den eingeschnittenen Stichbogen der Südfassade, der quasi das Scheunentor zitiert. Auch die dreischiffige Grundriss-Struktur des Neubaus lässt sich als Referenz an den Vor-Vorgängerbau lesen.

Mit seinem Krüppelwalmdach, seiner klaren Kubatur und nicht zuletzt mit seiner weißen Putzfassade fügt sich der niedrige, ebenerdige Neubau fast wie ein Familienabkömmling in das vom stattlichen alten Bauernhaus dominierte Hofensemble ein – ohne dabei historistisch oder gar folkloristisch zu wirken. Die für die Gegend eher untypische Putzfassade verdankt der Altbau übrigens einem früheren Besitzer, der ihm damit Ende des 19. Jahrhunderts ein bürgerlich-repräsentatives Aussehen verleihen wollte. Aber nicht nur in den Baubestand integriert sich das Haus auf gelungene Weise. Mit seinem gedrungenen, breit gelagerten Baukörper und seiner auffällig flachen Dachneigung passt es sich auch wie selbstverständlich in die von sanften Hügeln geprägte ostholsteinische Landschaft ein, mit der es wegen seiner dörflichen Randlage in direkter Verbindung steht.

Durch die Küche

Den konzeptionellen und räumlichen Mittelpunkt des Hauses bildet die ­Küche. Hervorgehoben durch ihre Größe, ihre Höhe (bis unters Dach) und ihre Helligkeit vermittelt sie nicht zuletzt dank ihrer zum Garten hin aus­gerichteten, verglasten Südfront, die den vorgelagerten, überdachten Terrassenraum optisch ins Haus hereinholt, einen weiten, großzügigen Eindruck.

Während die Terrasse, das Wohnzimmer, das Gartenzimmer, die Waschküche und die über eine schmale Treppe erreichbare Lesegalerie sowie das daran angrenzende Gästezimmer direkt von der Küche aus erschlossen werden, führen zwei sie flankierende Gänge zu den übrigen Räumen des Hauses – dem Entree, den Bädern und den Schlafzimmern. An ihrem Ende liegt ein weiterer, vergleichsweise intimer Raum, der über seine nach Norden hin ausgerichtete Glasfront, vor der eine zweite Terrasse liegt, einen weiten Blick in die Landschaft ermöglicht. Ein idealer Platz zum Lesen, Schreiben, Nachdenken und für ruhige Gespräche.

Wie im Garten

Dass der überaus sorgfältig angelegte und hingebungsvoll gepflegte Garten im Leben der Bauherrschaft eine herausragende Rolle spielt, offenbart sich einem aufmerksamen Besucher schon beim Betreten des Grundstücks. Auch für die Gestalt des Hauses und den Charakter seiner Innenräume war diese Gartenleidenschaft mitentscheidend. Der starke Bezug zum Garten und zur umgebenden Landschaft ist – vom innenliegenden Bad und dem Entree einmal abgesehen – überall im Haus spürbar. Das gilt in besonderem Maß für die großflächig verglasten Bereiche vor der südlichen und nördlichen Terrasse. Es gilt aber auch für drei der vier an den Hausecken situierten Räume – Wohnzimmer, Gartenzimmer und eines der Schlafzimmer –, in denen die Fenster ­jeweils übereck gezogen wurden. Im Gartenzimmer ­genießt man gar einen dreiseitigen Ausblick. Die schlichte, betont ruhige ­Gestaltung der Innenräume, die mit ihren weißen Putzwänden, den ebenfalls weißen Einbauschränken und den hellen Douglasien-Dielen fast etwas skandinavisch anmuten, tut ein Übriges, um die Aufmerksamkeit auf den Außenraum und das jahreszeitlich wechselnde Farbspiel der Natur zu lenken.

Eine solide, langlebige Konstruktion und die Verwendung schadstoffarmer Materialien, das war bei der Planung dieses Hauses sowohl der Bauherrschaft als auch dem Architekten ein wichtiges Anliegen. Die tragenden Wände wurden aus 36,5 cm dicken, hochdämmenden Ziegelsteinen aufgemauert und sowohl außen wie innen verputzt. Für die Dämmung des Dachs und der Dielenböden nutzte man Zellulosefasern. Für die Doppelstehfalz-Blecheindeckung des Dachs entschied man sich in erster Linie aufgrund der geringen Neigung. Hinsichtlich der Heizung und der Warmwasserbereitung griff man auf eine solarunterstützte Brennwerttherme zurück. Zwei kleine Kaminöfen stehen als ­zusätzliche bzw. alternative Wärmelieferanten zu Verfügung.

So solide, durchdacht und sachlich angemessen wie diese bautechnischen Merkmale, wirkt Haus J auch als Gesamtprojekt betrachtet: Ein Alterswohnsitz nach Maß, durchaus zeitgenössisch in seiner Erscheinung, zugleich aber tief verwurzelt in der Geschichte seines Standorts und der ostholsteinischen Landschaft.

db, Mo., 2019.09.16



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db 2019|09 Im Norden

04. April 2019Mathias Remmele
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Ganz schön bunt

The Student Hotel, eine junge Hotelkette mit außergewöhnlichem Geschäftsmodell und auffällig farbenfrohem Corporate Design spricht gezielt eine junge, studen­tische Klientel an. Die erste Dependance in Deutschland nutzt einen geschichtsträchtigen Standort – das einstige Interhotel Lilienstein an der Prager Straße in Dresden – und punktet mit erschwinglichen Semesterzimmern und Coworking Spaces in familiärer Atmosphäre.

The Student Hotel, eine junge Hotelkette mit außergewöhnlichem Geschäftsmodell und auffällig farbenfrohem Corporate Design spricht gezielt eine junge, studen­tische Klientel an. Die erste Dependance in Deutschland nutzt einen geschichtsträchtigen Standort – das einstige Interhotel Lilienstein an der Prager Straße in Dresden – und punktet mit erschwinglichen Semesterzimmern und Coworking Spaces in familiärer Atmosphäre.

Die Prager Straße gehört, auch wenn sie nicht gerade als touristisches Highlight gilt, zu den prominenten Adressen der sächsischen Hauptstadt. Das hat sowohl mit ihrer Lage im Stadtgefüge als Verbindung zwischen historischem Zentrum und Hauptbahnhof zu tun als auch mit ihrer bewegten Geschichte: Mitte des 19. Jahrhunderts angelegt, entwickelte sie sich bald zur wichtigsten Einkaufs- und Vergnügungsstraße Dresdens. Von der gründerzeitlichen Pracht blieb nach dem Bomberangriff vom Februar 1945 kaum mehr als die Erinnerung. Durch die 50er Jahre erstreckten sich beiderseits der Prager Straße riesige Brachflächen.

Städtebauliche Modellanlage

Erst Anfang der 60er Jahre begann die Wiederaufbauplanung. Im Geist der internationalen Nachkriegsmoderne und nach dem Vorbild der »Lijnbaan« in Rotterdam sollte hier die erste Fußgängerzone Ostdeutschlands entstehen, flankiert von Wohnbauten, Geschäften, gastronomischen Einrichtungen und Hotels. Das Herzstück des im Wesentlichen 1965-78 erbauten Ensembles, das als Modell des sozialistischen Städtebaus propagiert wurde, bildete ein zwölfgeschossiges, 250 m langes Wohnhaus, das die Ostseite der Prager Straße einnahm und ein gegenüber platzierter, dreiteiliger Hotelkomplex »in Kammstellung zur Straße«, wie es in einem bauzeitlichen Bericht heißt. Komplementiert wurde das zu DDR-Zeiten unvollendet gebliebene Gebiet durch ein weiteres Hotel, ein Großrestaurant, ein Rundkino sowie ein Zentrum-Warenhaus.

Während sich die Straße in den 70er und 80er Jahren als Flanierboulevard großer Beliebtheit erfreute, wurde das Stadtgebiet nach der Wende aus vielfältigen Gründen sowohl in der Fachwelt als auch in der Öffentlichkeit kritisch bewertet und unter allgemeiner Geringschätzung der Nachkriegsmoderne und der gestalterischen Qualität im Detail v. a. durch die Verengung des Straßenraums nach dem Vorbild der »alten europäischen Stadt« mit austausch­baren Um- und Neubauten stark verändert. Der städtebauliche Kern – die in Plattenbauweise errichteten Hotelbauten und das Wohnhaus »Prager Zeile« – blieb hingegen, wenn auch in veränderter Form, erhalten.

Der 1969 eröffnete Hotel- und Gaststättenkomplex »Interhotel Prager Straße«, der in seinen drei gleichartig gestalteten Bettenhochhäusern (die nach berühmten Felsen im nahegelegenen Elbsandsteingebirge Bastei, Königstein und Lilienstein getauft wurden) insgesamt 918 Zimmer anbot, wird seit 1992 von der Hotelkette Ibis weiter betrieben. Von einer Neumöblierung der ­Zimmer, einer Modernisierung der Sanitäranlagen und einer 2005 erfolgten Instandsetzung der Fassaden abgesehen, hat sich am Hotelkomplex über die Jahre hin erstaunlich wenig verändert.
Nach mehrfachem Besitzerwechsel aber wurde das Haus Lilienstein 2016 allerdings geschlossen. 2017 ist es von der niederländischen Hotel-Gruppe erworben, dann umgebaut und als »The Student Hotel« neu eröffnet worden – als erstes Haus dieser expandierenden Kette in Deutschland. Die Standortwahl überzeugt durch die Nähe zu Altstadt, Bahnhof und Technischer Universität noch weiter südlich. Von außen betrachtet erscheint das ehemalige Haus Lilienstein – von der auf Betreiben der Denkmalbehörde recht dezenten neuen Beschriftung einmal abgesehen – wenig verändert. Im Innern aber geht es jetzt umso bunter zu.

Neuartiges Geschäftsmodell

»Boutique Hotel trifft Studentenwohnheim« so charakterisiert Charlie MacGregor, Gründer und CEO von The Student Hotel, das grundlegende Konzept der jungen Hotelkette, die 2016 in Amsterdam ihr erstes Haus eröffnete. Was sich als Geschäftsmodell zunächst merkwürdig anhören mag, ­gewinnt bei näherem Hinsehen an Plausibilität. Die Idee, eine zeitgemäße Unterkunft für Studierende zu schaffen und diese mit einem trendigen Business Hotel zu verbinden, basiert auf der Annahme, dass beide Seiten etwas davon haben.

Das Hotel profitiert vom Flair des studentischen Lebensgefühls, das Studentenwohnheim von den Annehmlichkeiten, die ein Business Hotel heutzutage bieten muss. So lassen sich zentrale Infrastrukturen doppelt nutzen und die höheren Margen des Hotels auf den Gesamtbetrieb umlegen, zumal die Studierenden über Angehörige und Freunde weitere Frequenz bringen.

Als Standorte wählt The Student Hotel, wo immer möglich, gut gelegene ­Bestandsbauten in angesagten europäischen Großstädten, die mit relativ überschaubarem Aufwand nach Bedürfnissen der Kette umgestaltet werden können. In diesen Städten ist der Immobilienmarkt meist angespannt und hochpreisig – ein denkbar schlechtes Pflaster für Studierende, v. a. für Erst­semester, Austauschstudenten und Ausländer, die die Sprache nicht gut beherrschen, die lokalen Spielregeln nicht kennen und auf kein Netzwerk zurückgreifen können. Für diese seit Jahren wachsende Gruppe hat The Student Hotel ein attraktives Angebot geschnürt: Ein modern und niveauvoll möbliertes Zimmer, gut ausgestattete Gemeinschaftsküche, freien WLAN-Zugang, hauseigenes Fitnessstudio, Waschsalon, ruhige Studierräume, großzügige Loungebereiche, das Versprechen von Community und Sicherheit – ein Faktor, der für die zahlenden, insgeheim besorgten Eltern ins Gewicht fallen dürfte. In Dresden, wo die Wohnungspreise noch recht moderat sind, werden dafür im Monat rund 450 Euro fällig, wobei die Dauer des Aufenthalts, wie in allen Student Hotels, auf zwei Semester begrenzt ist. Die normalen Hotelzimmer sind, je nach Nachfrage, ab 64 Euro zu haben. Um die ökonomische Basis des Hauses zu stärken wurden im 1. OG ein Coworking Space und separat mietbare Seminarräume eingerichtet. Ein Angebot, das in Dresden gut angenommen wird und nebenbei die lokale Verflechtung des Hauses fördern soll.

Bunt und retro

Auf das Branding der Marke und die innenarchitektonische Gestaltung der Häuser hat man bei The Student Hotel von Anfang an größten Wert gelegt. Für beide Aufgaben engagierte man anfangs die Amsterdamer Design-Agentur »...,staat«. Das von ihr erarbeitete Gestaltungskonzept wird mittlerweile von einer hauseigenen Design-Abteilung umgesetzt und weiterentwickelt. Die Marke will jung, frisch und unkonventionell wirken, dabei aber Professionalität und Seriosität ausstrahlen und die Grundpfeiler des Konzepts – »comfort, convenience & community« – auf allen Ebenen transportieren. Angesichts eines begrenzten Budgets setzt man konsequent auf preiswerte, aber effektvolle Gestaltungsmittel. So spielt Farbe sowohl im Erscheinungsbild des Hotels als auch im Interieur, wo sie großflächig und in meist kräftigen Tönen zum Einsatz kommt, eine zentrale Rolle. Die Frische und Lebenslust, die sie transportiert, entspricht dem Selbstverständnis des Hauses und trägt zum informellen Charakter des Ambientes bei. Das vielgestaltige Design des Student Hotels, das deutliche Anleihen bei der Jugendkultur macht, ist als Collage angelegt, als Patchwork aus neu und alt, High und Low, gediegen und improvisiert. Die Möblierung bewegt sich stilistisch, qualitativ und preislich auf gehobenem Ikea-Niveau. Aufgewertet aber wird das Ganze durch die Integration von ausgewähltem Vintage-Design, das einen dezidierten Retro-Charme verbreitet.

Vergebene und genutzte Chancen

Bei der Umgestaltung des Dresdner Hauses ließ man die Zellenstruktur der Zimmergeschosse unangetastet. Eher klein erscheinen daher aus heutiger Perspektive die Zimmer. Aus der Ibis-Ära des Hotels übernahm man die Bäder und die Einbauschränke, wobei letztere durch neue Oberflächen aufgewertet wurden. Das ist, schon aus Gründen der Nachhaltigkeit, verständlich und ­begrüßenswert. Im EG und im Keller, wo die gemeinschaftlich genutzten Räume liegen, hat man das Haus hingegen bis auf die Tragstruktur entkleidet und grundlegend neu gestaltet. Die größte Herausforderung für die Innenarchitekten bestand darin, das umfangreiche Raumprogramm – Café-Bistro, Rezeption, Lobby-Lounge, Frühstücksraum und Gemeinschaftsküche für die Dauermieter – in den schmalen, langgezogenen Grundriss des Gebäudes einzupassen. Das gelang zwar leidlich, aber da und dort wirken die Räumlichkeiten doch etwas beengt und vollgestopft.

Bei der Gestaltung des Interieurs ließ sich die Design-Abteilung des Hotels nach eigenen Aussagen vom Dresdner Kraftwerk Mitte inspirieren, einem 1994 stillgelegten Kraftwerk, das mittlerweile zum Kulturzentrum umgenutzt wurde. Das kommt recht plakativ in Wandverkleidungen der Lobby zum Ausdruck, die großen Schalttafeln bzw. Kontrollpaneelen nachempfunden wurden. Von einer über ein derartiges Styling hinausgehenden Beschäftigung mit dem Genius loci, der besonderen Geschichte des Standorts oder mit der 60er Jahre-Gestaltung des ehemaligen Interhotels ist nichts zu spüren – vielleicht eine vertane Chance. Erkannt aber haben die Planer von The Student Hotel das Potenzial der Dachterrasse, die anders als bei den baugleichen Nachbarhotels, ab diesem Frühjahr gastronomisch genutzt werden soll. Herrlich und wirklich cool ist der Blick, der sich von dort oben über Dresden und das Umland bietet.

db, Do., 2019.04.04



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01. September 2017Mathias Remmele
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Der gerahmte Blick

Die Lage ist, das lässt sich nicht anders sagen, einfach traumhaft. Man stelle sich ein rund 2 ha großes, direkt am See gelegenes Grundstück vor, das so...

Die Lage ist, das lässt sich nicht anders sagen, einfach traumhaft. Man stelle sich ein rund 2 ha großes, direkt am See gelegenes Grundstück vor, das so...

Die Lage ist, das lässt sich nicht anders sagen, einfach traumhaft. Man stelle sich ein rund 2 ha großes, direkt am See gelegenes Grundstück vor, das so ungefähr alles in sich vereint, was die Uckermark an landschaftlichen Reizen zu bieten hat: einen verträumten, von Schilf und alten Bäumen gesäumten See, eine sanft geschwungene Topografie, eine große Wiese, ein Wäldchen und – gewissermaßen als i-Tüpfelchen – eine kleine Kirschbaumplantage.

»Verwunschene Wiese«

An diesem herrlichen Ort konnte der Berliner Architekt Thomas Kröger jüngst für eine ebenfalls in Berlin lebende Künstlerin und Galeristin ein ­Wochenend- und Ferienhaus realisieren, das – zumindest beim ersten Hinsehen – überrascht und ein wenig wunderlich erscheint. Was hat es für ein merkwürdiges Dach? Hoch, spitz zulaufend und mehrfach gefaltet ist es, gedeckt mit hell schimmernden, rautenförmigen Aluminiumschindeln. So sitzt es mit auffällig großem Überstand und einer merkwürdig gezackten Traufe wie ein etwas überdimensionierter Hut auf dem kleinen, einstöckigen Baukörper. Das Ganze hat etwas zeltartiges, erinnert einen ganz unwillkürlich an einen Pavillon im Park, an ein Lusthäuschen in einem großen, alten Garten – so wie etwa das Chinesische Haus im Park von Sanssouci, das nebenbei bemerkt auch ein Blechdach besitzt. Mit dieser Assoziation ist man schon auf der richtigen Fährte und doch verlangt die merkwürdige Form des Hauses nach Erklärung. Dies umso mehr, als Thomas Kröger, der in der Uckermark schon einige gelungene Häuser entworfen hat, sonst nicht zur Extravaganz neigt, sondern eher einem kontextbezogenen Bauen verpflichtet ist. Zu seinem jüngsten Werk bekennt er mit entwaffnendem Charme, er habe diesen Ort so besonders gefunden, dass er »dort einfach kein klassisches Haus ­denken« konnte, denn man hätte damit »die verwunschene Wiese so böse ­besetzt«. Das klingt jetzt fast ein wenig esoterisch. Vor Ort aber wirkt das mehr als plausibel. Vor diesem Hintergrund jedenfalls habe man »nach Typologien mit eher temporärem Charakter« gesucht und sei dabei auf eine alte Fotografie gestoßen, die einen Tanzpavillon in einem Münchner Park zeigte. Mit diesem Bild ließ sich arbeiten.

Punktgenau

Wenn nun aber die Naturschönheit der Lage zum Ausgangspunkt des Entwurfs gemacht werden sollte, brauchte es mehr als eine inspirierende Typo­logie. Kröger erinnerte sich an die Erkenntnis, dass ein (architektonisch) gerahmter Blick die Wahrnehmung der Umgebung fokussieren und intensi­vieren kann. Entsprechend richtete er den Entwurf konsequent auf die beiden ­visuellen Hauptattraktionen des Grundstücks – den Kirschhain und den See – aus. Und die liegen, wie es der schöne Zufall so will, ziemlich genau um 60° zueinander verdreht. Daraus entwickelte sich die hexagonale Grundrissform des Hauses mit ihrer regelmäßigen Abfolge von offenen und geschlossenen Seitenflächen, die sich wiederum gut mit dem Bild des Tanzpavillons verbinden ließ. Das Konzept des gerahmten Blicks hätte freilich viel von seiner Wirkungsmacht verloren, wenn die Genehmigungsbehörden es nicht erlaubt hätten, das Haus an der idealen Stelle zu errichten: unmittelbar am Rand des Kirschhains und genau an dem Punkt, von dem aus sich das Grundstück zum See hin neigt.

Der Effekt von Standortwahl und Blickfokussierung im Innern des Hauses ist ebenso verblüffend wie zwingend. Im Essbereich, der sich durch vom Boden bis unter die Dachkante reichende, vertikal gegliederte Fenster zum Kirschgarten hin öffnet, wirkt es, als sitze man förmlich zwischen den Kirschbäumen. Vom Wohnzimmer aus, wo der Blick auf die Ferne eingestellt wird, bietet sich durch ebensolche Fenster ein herrliches Postkarten-Panorama auf Wiese, Wald und See.

Die dritte »offene« Seite des Hauses, an der der Eingang liegt, fällt dagegen deutlich ab. Der Aus- und Einblick ist hier durch Einbauschränke und eine Treppe bis auf einen eher schmalen Zugang in den Wohnraum gleich wieder zugebaut. Funktional ist das verständlich, trotzdem offenbart sich hier eine kleine Schwäche des Entwurfskonzepts.

Überschaubar

Die Bauherrin wünschte sich das Wochenendhaus als informellen und intimen Rückzugsort für sich, ihren Partner und zwei Kinder. Entsprechend einfach ist das Raumprogramm. Im EG liegt neben dem Essbereich mit angegliederter Küchenzeile das Wohnzimmer, das ideell und grundrisstechnisch den Mittelpunkt des Hauses einnimmt.

Es mündet gleichsam in eine seewärts gelegene Terrasse, die dank der hinter die Fluchtlinie des Hauses zurückgezo­genen Fensterfront zu einem guten Teil überdacht ist. Zwei kleine Kinderschlafzimmer und ein Bad liegen hinter den drei geschlossenen Außenwänden des Hauses und weisen jeweils einen trapezförmigen Grundriss auf.
Eine schmale Holztreppe, die durch eine im Eingangsbereich liegende Tür erreichbar ist, führt ins obere Geschoss, das vom Elternschlafraum beherrscht wird. Ein winziges Bad und zwei begehbare Schrankräume flankieren den von zwei Oberlichtern erhellten, wiederum hexagonal geschnittenen Raum, der dank seiner hohen, kristallin ausgeformten Decke großzügiger wirkt, als es der Grundriss vermuten lässt. Das große, bis zur Dachspitze reichende Oberlicht übrigens war ein Wunsch der Bauherrschaft. Sie wollte vom Bett aus gern in den nächtlichen Sternenhimmel blicken, der in der dünn besiedelten Uckermark bekanntlich besonders hell erstrahlt. Wie schön muss das sein!

Das mit Erdwärme beheizte Haus steht auf einer Betonplatte, die einen geringen Niveauunterschied im Baugrund nachvollzieht. Das Haus wird ebenerdig betreten, zum Wohnraum geht es zwei Stufen hinunter und zum Essbereich wieder eine Stufe nach oben. Das stellt sicher, dass der Innenraum sich visuell stets bruchlos in den Außenraum erweitert. Gleichzeitig definieren die Stufen auf dezente Weise die Grenzen der verschiedenen Raumzonen.

Vom Sockel abgesehen, ist der Bau als Holztafelkonstruktion errichtet. Als Holzbau tritt er aber allenfalls an der Fassade in Erscheinung, die das Bild ­einer klassischen Leistenschalung evoziert. Tatsächlich sind die dünnen, weiß gestrichenen Holzlatten aber auf großflächige schwarze Wandplatten ­geschraubt. Ihre Funktion ist also rein dekorativer Natur. So oder so, das Bild passt zum Pavillon-Charakter des Hauses und die filigran anmutende Vertikalstruktur der hellen Latten lässt die Wandkonstruktion ganz leicht erscheinen. Ob es notwendig war, die Fensteröffnungen des Badezimmers und der Kinderzimmer hinter diesem Stabwerk zu verstecken, kann man dahingestellt sein lassen.

Den großen Dachüberstand erklärt Kröger mit Vorbildern aus der traditionellen Architektur Japans und Chinas. Das von der Dachkante heruntertropfende Regenwasser bildet gleichsam einen feinen Wasservorhang um den Bau. Abgesehen von diesem sicher poetischen Bild hätte eine breite Dachrinne eben einfach nicht zur dünnen Blechhaut des Dachs gepasst.

Zur Qualität dieses Hauses trägt Krögers Sensibilität für Materialien, Farben und Oberflächen sowie seine Sorgfalt im Detail bei, die sich nicht zuletzt in den Einbaumöbeln auf überzeugende Weise manifestiert. Während die Hauptwohnräume weiß gehalten sind, setzt der Architekt in den Bädern und Kinderzimmern farbige Akzente, die die heiter unbeschwerte Stimmung dieses Rückzugsorts fürs Wochenende unterstreichen.

db, Fr., 2017.09.01



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db 2017|09 Rückzugsorte

18. Januar 2015Mathias Remmele
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Hochschule für Gestaltung Ulm

Auch wenn hier längst keine Studenten mehr ein und aus gehen – am Gebäude der HfG Ulm hat sich auch nach der 2014 abgeschlossenen zweiten Generalsanierung kaum etwas verändert. Selbst mit Dachdämmung, isolierverglasten Fenstern und neuen Nutzern erscheint der in den frühen Nachkriegsjahren von Max Bill entworfene Stahlbetonskelettbau so zeitlos und pragmatisch wie eh und je.

Auch wenn hier längst keine Studenten mehr ein und aus gehen – am Gebäude der HfG Ulm hat sich auch nach der 2014 abgeschlossenen zweiten Generalsanierung kaum etwas verändert. Selbst mit Dachdämmung, isolierverglasten Fenstern und neuen Nutzern erscheint der in den frühen Nachkriegsjahren von Max Bill entworfene Stahlbetonskelettbau so zeitlos und pragmatisch wie eh und je.

Wer das HfG-Gebäude sehen will, muss »auf den Kuhberg« – eine landschaftlich reizvolle Anhöhe an der südlichen Stadtgrenze von Ulm steigen. Dort präsentiert sich der seit Ende der 70er Jahre denkmalgeschützte Hochschulkomplex als Ensemble aus flachgedeckten Sichtbeton-Baukörpern mit großzügigen fassadenbündigen Fensteröffnungen. Überaus schlicht wirkt dieser berühmte Bau, der seine Zweckbestimmung nach außen nicht sofort zu erkennen gibt.

Den vielleicht stärksten Eindruck vermittelt das Gebäude aus heutiger Perspektive durch seine Zeitbeständigkeit. Gewiss, die Sichtbetonfassade zeigt die typischen Alterungserscheinungen. Davon abgesehen aber entzieht sie sich erfolgreich einer sicheren Datierung. Wüsste man nicht, um was es sich bei diesem Komplex handelt und wann er entstand, käme man wohl kaum auf das stolze Alter von 60 Jahren. Der Architektur des HfG-Gebäudes mangelt es – zumindest von außen betrachtet – fast vollständig an Zeitkolorit. Das erklärt die überraschende Frische ihrer Erscheinung. Man darf und muss das als Ausweis außerordentlicher Qualität werten.

Architektur im Schatten der Institution

Die von Inge Scholl und Otl Aicher initiierte und durch die Kooperation mit Max Bill gestalterisch ausgerichtete Ulmer Hochschule hat längst einen legendären Ruf. Sie sollte einen Beitrag zum demokratischen Aufbau Deutschlands nach der Nazi-Diktatur leisten und übte dabei – völlig unbestritten und oft beschrieben – einen prägenden Einfluss auf die Entwicklung des bundesrepublikanischen Designs aus. Dem von Max Bill entworfenen, 1953-55 errichteten Hochschulgebäude blieb trotz aller Wertschätzung eine vergleichbare Bedeutung versagt. Anders als etwa das Bauhaus in Dessau, das auch aufgrund seiner Architektur ikonischen Charakter hat, stand und steht das HfG- Gebäude bis heute immer im Schatten der Institution. Nüchtern-funktional bis hin zur Sprödigkeit verweigert es sich konsequent jeder Repräsentativität. Das war durchaus im Sinn der Hochschul-Initiatoren, die nach den Erfahrungen der Nazi-Zeit und in strikter Abgrenzung davon, jede Form von Pathos radikal ablehnten.

Bei der Konzeption der Hochschule wurde bewusst (und mit dem Segen von Altmeister Gropius) an das Modell des Bauhauses angeknüpft. Das sollte nicht zuletzt in der Architektur des Gebäudes zum Ausdruck kommen, das gleichsam ein Bekenntnis zur funktionalistischen Moderne kommunizierte. Vorbild bzw. Inspirationsquelle für das Ulmer Schulgebäude war aber weniger das Dessauer Bauhaus, als vielmehr eine andere, weit weniger bekannte Bauhaus-Architektur: die in der Nähe von Bernau bei Berlin gelegene Bundesschule des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, die der Schweizer Bauhaus-Direktor Hannes Meyer just zu der Zeit entwarf als Max Bill gerade in Dessau studierte. Von Meyer übernahm Bill nicht nur den formalen Purismus. Auch in der städtebaulichen Gliederung des Schulkomplexes und in seiner bemerkenswert gut gelungenen Einpassung in die Landschaft gibt es augenfällige Parallelen zwischen den beiden Projekten.

»Programm wird Bau« – unter diesem Motto wurde die Baugeschichte der Ulmer HfG geschrieben. Mit Recht, denn der Entwurf des Schulgebäudes, an dem Otl Aicher wohl einen wesentlichen Anteil hatte, war durch und durch programmatisch. Er war zugleich aber auch hochgradig pragmatisch. Die Kargheit des in Stahlbetonskelettbauweise errichteten Gebäudes verweist nicht nur auf gestalterische Ideale, sondern ist wesentlich durch die sehr knapp bemessenen finanziellen Mittel bedingt, die dafür nur wenige Jahre nach dem Ende des verheerenden Zweiten Weltkriegs zur Verfügung standen.

Wechselnde Nutzer nach Schliessung der HfG 1968

Die für die sehr überschaubare Zahl von rund 150 Studierenden geplante Hochschule umfasste ursprünglich Werkstätten, Unterrichtsräume, Bibliothek, Verwaltung, Aula und Mensa (inklusive der für den Betrieb notwendigen Funktionsräume), daneben noch Ateliers und Studentenwohnheime sowie separate Lehrerhäuser. Vieles davon ist – obwohl das Gebäude nur 13 Jahre seiner ursprünglichen Bestimmung gemäß genutzt wurde – bis heute weitgehend unverändert erhalten. Als die HfG nach Streichung von Landeszuschüssen den Lehrbetrieb 1968 einstellen musste, stand die Schule zunächst einige Jahre leer. 1974 zog dann die Universität Ulm mit den Abteilungen Psychotherapie und psychosomatische Medizin als Mieterin ein. Die Umnutzung machte Umbauten notwendig, die v. a. den ehemaligen Werkstatttrakt betrafen, der eine deutlich kleinteiligere Struktur erhielt.

Nach dem Auszug der Universität vor fünf Jahren war die Stiftung HfG Ulm als Eigentümerin des Gebäudes gezwungen, ein neues, finanziell tragfähiges und dem Baudenkmal entsprechendes Nutzungskonzept zu erarbeiten. Resultat war das mittlerweile umgesetzte Drei-Säulen-Modell. Ankermieter ist heute das von der Stadt Ulm getragene HfG-Archiv, das einen erheblichen Teil des Werkstatttrakts einnimmt und dort auch über Ausstellungsflächen verfügt. Die zweite Säule sind gewerbliche Mieter, deren Tätigkeit einen Bezug zum Thema Gestaltung erkennen lässt. Dafür stehen Flächen verschiedener Größe im Werkstatt- sowie im Unterrichts- und Verwaltungstrakt zur Verfügung. Die dritte Säule bilden Räumlichkeiten, die für Tagungen und Feierlichkeiten (auch privater Natur) temporär vermietet werden – so etwa die Aula, die Mensa oder der original erhaltene kleine Hörsaal.

Authentizität durch Pragmatismus

Das HfG-Gebäude hat seit seiner Fertigstellung zwei Sanierungsphasen durchlebt. Für die erste im Jahr 1976 zeichnete der Architekt Fred Hochstrasser verantwortlich, der beim Bau der Schule einst die Bauleitung innegehabt hatte. Den Kritikern seiner Eingriffe in die ursprüngliche Struktur des Gebäudes, die er mit veränderten Nutzungsansprüchen erklären konnte, hielt er den bemerkenswerten Satz entgegen: »Mit Ideologie können Sie kein Gebäude erhalten.«

Die zweite Sanierungsphase, die 2009 begann und im Frühjahr 2014 abgeschlossen wurde, stand unter der Leitung von Adrian Hochstrasser, einem Sohn von Fred Hochstrasser. In enger Absprache mit der Denkmalbehörde hat er diese Aufgabe souverän gelöst. Dabei gelang es ihm, unvermeidbare bauliche Eingriffe – wie etwa die Schaffung eines Eingangsbereichs für das Archiv oder den Einbau eines Besucheraufzugs – dem Bestand stilistisch anzupassen und zugleich als heutige Ergänzung kenntlich zu machen. Zur notwendigen energetischen Ertüchtigung wurden die Dächer gedämmt und das Fensterglas erneuert (auf weitergehende Dämmungen wurde aus Denkmalschutzgründen verzichtet). Der Einbau von bläulich schimmernden Thermoglasscheiben, die der sommerlichen Überhitzung der Innenräume vorbeugen – ein chronisches Problem des Bill-Gebäudes – hat zwischenzeitlich für erheblichen Wirbel gesorgt. Assistiert von einem ehemaligen Direktor des Dessauer Bauhauses schlugen HfG-Veteranen, die das architektonische Erbe in Gefahr wähnten, in schrillen Tönen Alarm. Nach dem Einbau dieser Fenstergläser haben sich die Wogen schnell geglättet. Das Gebäude mag in seiner Erscheinung geringfügig verändert sein, der Denkmalwert ist dadurch allenfalls marginal gemindert. Pragmatismus hat eben Tradition in Ulm.

db, So., 2015.01.18



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db 2015|01-02 Bildungsbauten

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Presseschau 12

05. Oktober 2021Mathias Remmele
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Feines Linienspiel

Eine Schulsporthalle im sächsischen Döbeln präsentiert sich als rundherum gelungene Lösung für eine nicht sonderlich spannend erscheinende Bauaufgabe. Das von BURUCKERBARNIKOL Architekten realisierte Projekt ‧überzeugt durch eine klare Grundrisslösung und eine unkonventionelle Fassade. Den stärksten Eindruck aber hinterlässt die Gestaltung der Halle.

Eine Schulsporthalle im sächsischen Döbeln präsentiert sich als rundherum gelungene Lösung für eine nicht sonderlich spannend erscheinende Bauaufgabe. Das von BURUCKERBARNIKOL Architekten realisierte Projekt ‧überzeugt durch eine klare Grundrisslösung und eine unkonventionelle Fassade. Den stärksten Eindruck aber hinterlässt die Gestaltung der Halle.

Sagen wir mal so: Eine Schulsporthalle in einer kleinen deutschen Provinzstadt – für ein junges, in gestalterischer Hinsicht ambitioniertes Architekturbüro ist das alles andere als eine Traumaufgabe. Man denke nur an die vielen, vielen Normen, die es bei einem solchen Projekt penibel zu erfüllen gilt. Man denke an die knappen Budgets, die es regelmäßig erschweren, von Standardlösungen abzuweichen. Man denke an Baubehörden und kommunale Entscheidungsträger, für die baukünstlerische Fragen dabei, wenn überhaupt, nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Ein junges Büro freilich, das wie BURUCKERBARNIKOL Architekten aus Dresden und Erfurt die Strategie verfolgt, sich über öffentliche Wettbewerbe zu profilieren, darf bei der Auswahl der Projekte nicht pingelig sein. Im Übrigen gilt wie immer: jede Beschränkung ist Herausforderung und Chance zugleich.

In Döbeln, einer Kleinstadt in Mittelsachsen, so ungefähr zwischen Leipzig, Dresden und Chemnitz gelegen, entstand in den 80er Jahren auf einem Hügel oberhalb des historischen Stadtzentrums eine jener Plattenbausiedlungen, die auf dem Gebiet der früheren DDR unweigerlich zum Weichbild jeder Kommune gehören: Döbeln-Nord. Wie üblich ergänzten Nahversorgungseinrichtungen – Kaufhalle, Schule und Kitas – die Zeilenbauten des Wohngebiets, das in den letzten Jahren eine Nachverdichtung durch Einfamilienhäuser erlebte. Der damit einhergehende Bevölkerungszuwachs machte den Neubau einer Zweifeldsporthalle mit Mehrzwecksaal erforderlich. BURUCKERBARNIKOL gewannen den 2016 dafür ausgeschriebenen Wettbewerb. Im vergangenen Spätsommer konnte die für den Schul- und Vereinssport gleichermaßen benötigte Halle fertiggestellt werden.

Kupferfarbenes Blechkleid

Für das Projekt stand zwischen Schulzentrum »Am Holländer«, Kitagärten und ehemaliger Kaufhalle ein recht großes, fußläufig gut erreichbares Baufeld zur Verfügung. Die Architekten entschlossen sich daher, das gesamte Raumprogramm ebenerdig zu organisieren. Das vereinfacht die Wegführung, erleichtert die Barrierefreiheit und verringert durch den Wegfall von Treppen und Aufzügen die Kosten. Der annähernd quadratische Baukörper setzt sich jeweils hälftig aus der hohen Zweifeldhalle und einem deutlich niedrigeren Gebäudeteil zusammen, in dem der Mehrzwecksaal, das Foyer sowie die Funktions- und Nebenräume untergebracht sind. Geschickt nutzten die Architekten die leichte Hanglage des Areals, um das Volumen der Halle optisch zu verkleinern, in dem sie diese zu etwa einem Drittel im Erdreich verbargen. Nach außen hin tritt das Gebäude als einmal abgestufter, weitgehend geschlossener, kupferfarbener Körper in Erscheinung. Erst beim Näherkommen offenbart sich: Feine Vertikallinien in unregelmäßigen Abständen, die durch Abkantungen entstanden, beleben die aus Alublech gefertigte Fassadenhaut.

Um den höheren Teil des Gebäudes herum ist diese Haut perforiert. Dahinter liegt ein umlaufendes, die Sporthalle erhellendes Fensterband, das sich je nach Tageszeit und Lichtsituation verschieden deutlich abzeichnet.

Die feine Linienstruktur der Fassade mag v. a. als Schmuckelement wahrgenommen werden, tatsächlich repräsentiert sie, wie später in der Sporthalle selbst offenbar wird, das gestalterische Leitmotiv des Projekts – die Architekten ließen sich dabei von den Markierungslinien eines Sportfelds inspirieren. Mit der Linienstruktur der Fassadenhaut verbinden sich aber auch konstruktive, ökologische und ökonomische Vorteile: Die Abkantungen sorgen für eine Aussteifung der Alupaneele und ermöglichen so den Einsatz vergleichsweise dünner Bleche.

Ein lang gezogener, mehrere Meter tiefer Einschnitt an der Ostfassade markiert unmissverständlich den Eingang und bietet sich gleichzeitig als wettergeschützte Wartezone an. Von hier aus betritt man das nach außen hin flächig verglaste und entsprechend helle Foyer, das v. a. als Verteilerzone dient und – unvermeidbar bei einer Sporthalle – zur Präsentation der Pokal-Sammlung. Vom Eingangsfoyer abgesehen, besitzt nur die zu den benachbarten Kitagärten ausgerichtete Mehrzweckhalle eine Fensterfront, die direkte Ein- und Ausblicke ermöglicht. Umkleiden und Sanitärräume erhalten Tageslicht über Oberlichter. Die übrigen Funktions- und Technikräume kommen ohne natürliche Lichtquelle aus.

Direkt rechts neben dem Foyer liegt der quadratisch geschnittene Mehrzwecksaal. Er dient als Bewegungsraum für die Kitas und wird ansonsten u. a. von einem ortsansässigen Judo-Verein zu Trainingszwecken genutzt. Alle weiteren Räume werden über zwei Korridore erschlossen, die, im Foyer beginnend, vorbei an Umkleiden, Sanitär- und Technikräumen, zur Zweifeldsporthalle führen. Die Lage der Korridore wurde so gewählt, dass im Fall einer Teilung, beide Hallenhälften jeweils separat erreicht werden können.

Schichten und Linien

Während die Gestaltung des Foyers, der Korridore und Funktionsräume zwar durchdacht, aber demonstrativ einfach und zweckmäßig erscheint, bezeugen die beiden Hallenräume die kreative Kompetenz der Architekten. Sie sind in jeder Hinsicht die Herzstücke des Gebäudes. Beide präsentieren sich einerseits sachlich-nüchtern und aufgeräumt, wissen aber andererseits durch eine ungewöhnlich warm wirkende Atmosphäre für sich einzunehmen. Das liegt wesentlich an der Materialisierung und der Farbwahl, die ein Schichtenmodell erkennen lässt. Ins Auge fällt zunächst der fugenlose, magentafarbene Bodenbelag – ein PU-beschichteter Sportboden, der als besonders robust und langlebig gilt. Für die umlaufenden, etwa 2 m hohen Prallwände, die den Hallenraum begrenzen und sowohl dem Unfallschutz als auch der Schallabsorption dienen, wählten die Architekten einen auch haptisch angenehmen Textilbezug, dessen Grauton fein auf die Bodenfarbe abgestimmt ist und sich zugleich von der darüberliegenden weißen Wandfläche abhebt.

Im Mehrzwecksaal folgt als nächste Schicht das hölzerne Dachtragwerk, eine quadratisch strukturierte Holzbinderkonstruktion, deren honigfarbener Ton dem Raum eine fast wohnliche Note verleiht. Dazu passt wiederum der dunkel-auberginefarbene Anstrich der Trapezblech-Decke, der das Farbkonzept des Saals komplettiert.

Noch eindrücklicher und gleichsam reichhaltiger ist die Komposition in der großen Sporthalle. Denn oberhalb des Wandstreifens schließt sich hier ein helles Fensterband an, das zwischen den bemerkenswert schlanken Holzbindern fast bis zur Decke reicht.

Es sorgt zumindest bei günstigen Wetterbedingungen für eine gute natürliche Belichtung der Halle und lässt ihre Decke dann wunderbar leicht erscheinen. Blendeffekte bei starker Sonneneinstrahlung können dank der perforierten äußeren Blechhaut vermieden werden. Die bereits von der Fassade her bekannte feine vertikale Linienstruktur tritt hier als rhythmisches Gestaltungsmotiv wieder auf und findet in der Deckenkonstruktion – in Form der Holzträger und der zwischen ihnen verlaufenden linearen Kunstlichtbänder – ihre Fortsetzung. Ein originelles und gekonntes Linienspiel, das der Halle eine fast schon elegante Anmutung verleiht. Es ist eine Freude, das anzuschauen.

db, Di., 2021.10.05



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09. März 2021Mathias Remmele
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Rau und fein

Eigenständig, selbstbewusst und vielleicht ein wenig provozierend behauptet das Haus K seinen Platz in einem in gestalterischer Hinsicht ganz anders ausgerichteten Quartier. Putz spielt – nicht zuletzt im gelungenen Zusammenklang mit anderen Materialien – eine für die Erscheinung des Hauses entscheidende Rolle. Das gilt für die Fassade ebenso wie für die Innenräume.

Eigenständig, selbstbewusst und vielleicht ein wenig provozierend behauptet das Haus K seinen Platz in einem in gestalterischer Hinsicht ganz anders ausgerichteten Quartier. Putz spielt – nicht zuletzt im gelungenen Zusammenklang mit anderen Materialien – eine für die Erscheinung des Hauses entscheidende Rolle. Das gilt für die Fassade ebenso wie für die Innenräume.

Das Allerbeste an diesem bemerkenswerten Haus – oder sagen wir so: das, was am Ende den stärksten Eindruck machte beim Rezensenten – ist seine Entstehungsgeschichte. Sie liest sich fast wie aus der guten alten Zeit: Ein junges Paar (sie selbst Architektin ohne entwerferische Ambitionen, er Maschinenbauer) erbt von der Großmutter ein Grundstück, möchte dort bauen und sucht mit Bedacht die passenden Architekten zur Umsetzung seiner ziemlich konkreten Pläne. Man sieht sich um, entdeckt ein junges Berliner Architekturbüro namens PAC (Project Architecture Company), das mit interessanten Wohnhäusern von sich reden gemacht hatte. Am Tag der Architektur, als eines dieser Projekte besichtigt werden konnte, nimmt man Kontakt auf. Auf Anhieb entsteht eine Verbindung, man trifft sich wieder, man redet und entscheidet schließlich, das Projekt »Haus K« gemeinsam zu wagen. Betonung liegt auf gemeinsam, denn was dann etwa zwei Jahre später fertig wurde, ist im besten Sinn ein Gemeinschaftswerk: Geboren aus den Wünschen und Ideen der Bauherrschaft – realisiert mit den Ideen, dem Know-How und den Problemlösungskompetenzen der Architekten. Am Ende steht da ein maßgeschneidertes Haus, das eine junge Familie beglückt. Ein Haus, das den Architekten als Referenzobjekt dient und – das ist ja keine Selbstverständlichkeit – den Glauben an die Sinnhaftigkeit ihres beruflichen Tuns stärkt. Ein Haus, das beispielhaft die alte Binsenweisheit illustriert, nach der überzeugende ­Architektur nur im Zusammenspiel von Architekt und Bauherrschaft entsteht. Ein Haus schließlich, das in Zeiten, in denen gefühlt etwa 98 % der neuen Einfamilienhäuser von der Stange kommen, wie ein flammendes Plädoyer für »Architektenhäuser« wirkt.

Ein Wunschhaus nach Maß

Bernau bei Berlin, eine nur wenige Kilometer nordöstlich der Hauptstadt gelegene Kleinstadt mit S-Bahn-Anschluss, gehört zu jenen Speckgürtel-Orten, über die man wirklich nicht viele Worte verlieren möchte. Auf der Landkarte der Architektur jedenfalls ist sie zu Recht ein weitgehend weißer Fleck – wenn man von der als »Bauhausdenkmal« beworbenen, ganz wunderbaren Bundesschule von Hannes Meyer einmal absieht. Hier also, an einer der Chausseen, die aus der Stadt hinaus und zum nächsten Dorf führen, steht das Haus K. Drum herum – freundlich formuliert – belanglose Einfamilien- und kleine Mehrfamilienhäuser, die meisten aus DDR-Zeiten, einige älter, ein paar neueren Datums, viele mit allerlei Anbauten und Aufhübschungen gesegnet – kurzum, die Lage ist alles andere als traumhaft, aber angesichts der mittlerweile auch in Bernau horrenden Baulandpreise und der familiär-emotionalen Verbindung zum Grundstück fand man, es sei doch der richtige Platz für das Wunschhaus der jungen Familie. Das von der Großmutter geerbte Fertighaus aus den 60er Jahren, das darauf stand, war nicht zu retten. Und der Keller vermochte keinen Neubau zu tragen.

Recht detailreich und entschieden war das Idealbild, das dem Paar für den Neubau vor Augen stand: Ein formal schlichtes, modernistisches Haus sollte es sein, ein kompakter Baukörper mit Flachdach und riesigen, stockwerkhohen Fensteröffnungen und am liebsten aus Sichtbeton, gerade so sauber und schön, wie man ihn aus der Schweiz kennt. Sodann ein weitgehend offener Grundriss, eine Galerie zwischen Wohnzimmer und Obergeschoss und kein abgetrenntes Entree zwischen Haustür und Wohnbereich. Wie ein Blick aufs und ins Haus K schnell offenbart, konnten viele, ja fast alle dieser Vorstellungen tatsächlich umgesetzt werden. Die wenigen Abweichungen von den ursprünglichen Vorstellungen – es sind im Wesentlichen nur zwei – gehen auf eine Entwurfsidee der Architekten bzw. auf die Limitierung des Baubudgets zurück. Sie sind freilich erheblich für die Erscheinung des Hauses.

Sechseck statt Rechteck

Die eine Abweichung betrifft die Grundform des Gebäudes. Wenn der Baukörper heute statt auf einem Rechteck auf einem Sechseck basiert, was dem Bau einen ganz eigenständigen Ausdruck verleiht, so wurde das durch den ebenso banalen wie nachvollziehbaren Wunsch der Bauherrschaft angeregt, von ihrem Schlafzimmer aus nicht direkt auf das (wenig reizvolle) Nachbarhaus blicken zu müssen. Zur Lösung des Problems schlugen PAC Architekten vor, die Fensterwand leicht nach außen zu kippen, um so der Blickachse eine ins Grüne abweichende Richtung zu geben. Die Idee mit dem leichten Knick in der einen Längsfassade des Baukörpers hatte Folgen: Würde man diesen Knick an der diagonal gegenüberliegenden Seite des Hauses wiederholen, entstände da ganz zwanglos eine Geste, die auf den Eingang hinweist und ­seine Platzierung rechtfertigt. Noch überzeugender fallen die Konsequenzen des Doppelknicks für den Grundriss und die Raumwirkung aus. Im EG, wo sich Essbereich, Küche, Wohnraum und Flur um einen »Kern« aus Technikraum, Gäste-WC, Garderobe und Treppe herum gruppieren, sorgen die schräg verlaufenden Außenwände für eine angenehme Dynamisierung des Raums, der zugleich viel großzügiger erscheint, als man es in Anbetracht seiner bescheidenen Grundfläche erwarten würde. Verstärkt, um nicht zu sagen, potenziert wird dieser optische Effekt durch die großen raumhohen Fensteröffnungen. Ihre Wirkung, die sich durch die Fotografien leider nicht wirklich transportiert, ist schlicht großartig.

Die zweite Abweichung von den ursprünglichen Wünschen betrifft die Materialisierung bzw. Konstruktion des Hauses. Ganz aus Dämmbeton hatten sich die Bauherren ihr Eigenheim erträumt. Nicht zu bezahlen, wussten die Architekten und davon einmal abgesehen: in der gewünschten Qualität von berlin-brandenburgischen Baufirmen selbst mit viel Geld praktisch nicht zu bekommen. Putz, so lautete ihr Alternativvorschlag: ökonomischer und ästhetisch gerade so schön, womöglich sogar noch interessanter, weil vielseitig in seinen Möglichkeiten. Man ließ sich überzeugen, und so blieben vom Sichtbeton gerade noch die Bodenplatte, der Gebäudekern und die Geschossdecken übrig. Recht rau fallen diese Ortbeton-Oberflächen aus, ehrlich – wenn man so sagen will – und voller Spuren eher nachlässig betriebenen Handwerks (eindrücklich und amüsant sind die Schuhsohlen-Abdrücke, die da und dort unabsichtlich für eine halbe Ewigkeit konserviert wurden). In wohltuendem Kontrast dazu steht der feingefilzte, seidig-glatte Gipsputz der weiß gestrichenen Innenwände, der den Räumen im Zusammenspiel mit dem geölten Eschenholz-Parkett eine wohnlich-warme Atmosphäre verleiht. Die tragenden, in Kalksteinmauerwerk ausgeführten Außenwände des Hauses wurden, ebenso wie die Stirnseiten der Geschossdecken, mit mineralischen Dämmplatten eingekleidet. Auf Unterputz und Armierung folgt als äußere Gebäudehaut ein durchgefärbter mineralischer Außenputz, bei dem man sich für einen warmen, hellen Grauton entschied. Das passt zum schlicht-nüchternen Stil des Hauses und ist vielleicht auch als kleine Reminiszenz an den Beton zu lesen. Bemerkenswert ist aber v. a. die vertikal ausgerichtete Besenstrich-Struktur des Putzes, die mitsamt ihren kleinen Unregelmäßigkeiten auf die Handwerklichkeit verweist und der Gebäudehülle, aus der Distanz betrachtet, eine fast samtene Anmutung verleiht. Und so wiederholt sich an der Putzoberfläche der Fassade das leitmotivische Wechselspiel von rau und fein, das schon die Oberflächengestaltung der Innenräume charakterisiert.

db, Di., 2021.03.09



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06. April 2020Mathias Remmele
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Urbane Dorfidylle

Mit einem vielfältigen Wohnungsangebot samt Kindergarten, durchdachten Grundrissen und einer das Wohnquartier bereichernden städtebaulichen Lösung kann das zweiteilige Projekt als Vorbild für einen zeitgemäßen, sozial ausgerichteten städtischen Wohnungsbau dienen. Das V-förmig tief ins Blockinnere hineingreifende Holz-Wohngebäude bildet eine halböffentliche Zone, die viele Möglichkeiten der Aneignung eröffnet.

Mit einem vielfältigen Wohnungsangebot samt Kindergarten, durchdachten Grundrissen und einer das Wohnquartier bereichernden städtebaulichen Lösung kann das zweiteilige Projekt als Vorbild für einen zeitgemäßen, sozial ausgerichteten städtischen Wohnungsbau dienen. Das V-förmig tief ins Blockinnere hineingreifende Holz-Wohngebäude bildet eine halböffentliche Zone, die viele Möglichkeiten der Aneignung eröffnet.

Selbst in der wohlhabenden Schweiz mit ihren vergleichsweise fürstlich anmutenden Durchschnittsverdiensten ist bezahlbarer Wohnraum für Menschen mit mittlerem und niedrigem Einkommen immer schwieriger zu finden. Das gilt besonders für die wirtschaftlich prosperierenden Großstädte.

Im politisch rot-grün dominierten Stadtkanton Basel versucht man dieser Entwicklung mit einem öffentlichen Wohnungsbauprogramm entgegenzu­steuern. Vor diesem Hintergrund ist die Wohnüberbauung Maiengasse zu sehen, die von der Stadt selbst finanziert und verwaltet wird.

In einem westlich der Altstadt gelegenen, ruhigen Wohnquartier, das im 19. Jahrhundert entstanden war, verfügte die Stadt über ein rund 4 400 m² großes Grundstück. Es zieht sich entlang der Maiengasse, nimmt den gesamten Hofraum des Baublocks ein und umfasst außerdem eine Parzelle an der Hebelstraße. Auf dem Areal war bis Anfang dieses Jahrhunderts ein städtischer Werkhof ansässig, dessen heterogene Bauten – u. a. ein großer hölzerner Schuppen – einer Wohnbebauung weichen sollten. Für das Projekt, zu dem neben Mietwohnungen auch zwei Kindergärten gehören, wurde 2013 ein ­offener Architekturwettbewerb ausgelobt. Gefordert war dabei ein Mehrgenerationenhaus mit einem vielfältigen Wohnungsangebot im mittleren Preissegment – für jüngere und ältere Kleinhaushalte ebenso wie für Familien mit Kindern. Die Erschwinglichkeit der Mieten galt es durch entsprechend ökonomische Bebauungskonzepte sicherzustellen. Unter den insgesamt 46 Einreichungen hat sich zurecht das vom Zürcher Büro Esch Sintzel Architekten vorgeschlagene Projekt durchgesetzt, das nach knapp dreijähriger Bauzeit ­fertiggestellt werden konnte.

Sensibler Städtebau

Die Grundlage für den siegreichen Entwurf bildete eine sorgfältige Analyse der vorgefundenen städtebaulichen Situation sowie eine feinfühlige und durchdachte Interpretation der Wettbewerbsintention. Für die Parzelle an der Hebelstraße schlugen Esch Sintzel die Schließung des Blockrands vor. Für den deutlich größeren Grundstücksteil hin­gegen, der sich von der Maiengasse aus ins Blockinnere erstreckt, suchten sie eine andere Lösung. Statt auch hier den Blockrand zu schließen, entwickelten sie eine einfache Großform, die das Grundstück klug nutzt und zugleich den Stadtraum bereichert: einen V-förmigen Baukörper, der sich zum Straßenraum hin öffnet und so eine halböffentliche, gassenartige Platzanlage entstehen lässt. Damit passt sich der Entwurf zwanglos in das offene und eher informelle Stadtgefüge ein, das die Maiengasse charakterisiert. Der zwischen dem neuen Hofgebäude und der bestehenden Blockrandbebauung entstandene Raum wird als geschützter Spielplatz für die Kindergärten und als Gartenraum für die Mieter genutzt. Der halböffentliche Charakter des Hofs wird durch eine bewusste Platzierung der Kindergärten im Scheitelpunkt des Neubaus hervorgehoben.

Die städtebaulich begründete Zweiteilung des Projekts akzentuierten die Architekten, indem sie die beiden Neubauten auch in formaler und baukonstruktiver Hinsicht unterschiedlich konzipierten. Während das fünfstöckige Wohnhaus an der Hebelstraße als konventioneller Massivbau ausgeführt wurde, präsentiert sich das dreistöckige Hofgebäude als Holzbau. Bei dieser Entscheidung spielten, wie Projektleiter Marco Rickenbacher bekennt, ökologische Ziele eine untergeordnete Rolle – 2013 stand das Thema Klima noch nicht so im Fokus wie heute. Inspirierend sei vielmehr ein alter Holzschuppen gewesen, der früher im Zentrum des städtischen Werkhofs stand. Diese Reminiszenz an die spezifische Geschichte des Orts wirkt nicht zuletzt deshalb plausibel, weil sie dem kleinteiligen, beinahe schon dörflichen Charakter des Blockinnern angemessen ist.

Durchdachte und zeitgemäße Grundrisslösungen

Das Teilprojekt in der Hebelstraße ist zweifellos ein gelungenes städtisches Wohnhaus, das sich durch gestalterische Anklänge an die spätmoderne Architektur der 60er Jahre auszeichnet, wie auch durch spannungsvolle Raumverdichtungen und -weitungen, die sich in den 16 Wohneinheiten (inkl. einer Atelier-Wohnung) aus der Ausdrehung einzelner Raumsequenzen aus der Orthogonalität heraus ergeben. Dennoch bildet das Gebäude mit 39 Wohneinheiten im Hof das eigentliche Herzstück des Projekts. Ein geglückter Städtebau ist das eine. Die einmal gefundene Gebäudeform sinnvoll mit Leben zu füllen das andere. Die Architekten standen vor der Herausforderung, die vom Auslober geforderte Vielfalt der Wohnungsgrößen – die Bandbreite reicht von 1,5 bis zu 6,5 Zimmer – in den V-förmigen Baukörper des Hofgebäudes zu integrieren. Man ahnt, welche Puzzelei das bedeutete und staunt, wie gut es gelang. Marco Rickenbacher und sein Entwurfsteam fanden eine Lösung, indem sie den gesamten Baukörper gleichsam zonierten: In den Kopfbauten zur Gasse sind über drei Stockwerke mittelgroße Wohnungen mit 2,5 und 3,5 Zimmern untergebracht. In den Schenkeln befinden sich jeweils vier reihenhausartig angeordnete Maisonettewohnungen mit 4,5 Zimmern, die EG und 1. OG umfassen. Im 2. OG ist jeweils Raum für zwei große Wohnungen mit 5,5 bzw. 6,5 Zimmern. Im Scheitel des Hofgebäudes liegen im EG die Räume der beiden Kindergärten. Darüber bleibt Platz für kleine und mittelgroße Wohnungen mit 1,5, 2,5 und 3,5 Zimmern. Sämtliche Wohnungen verfügen entweder über eine Loggia oder eine Terrasse. Den Maisonettes ist jeweils ein privater Gartenbereich an der Rückseite des Hauses zugeordnet.

Die Wohnungen als Ganzes, aber auch die einzelnen Räume sind eher knapp bemessen, um auf diese Weise die Wirtschaftlichkeit der Anlage zu sichern. Umso wichtiger war es die Verkehrsflächen klein zu halten und für eine optimale Nutzung des vorhandenen Raums zu sorgen. Relativ geringe Unterschiede in den Raumgrößen ermöglichen innerhalb der einzelnen Wohneinheiten einen flexiblen Gebrauch je nach individuellen Bedürfnissen und Lebensformen. In vielen Wohnungen lässt sich der Wohnraum – etwa bei Nutzung durch eine WG – von der Wohnküche abtrennen und steht dann als weiterer Individualraum zur Verfügung.

Die Ausstattung ist einfach, aber solide und geschmackvoll. Bodenbeläge aus geöltem Eichenparkett sorgen für eine wohnliche Atmosphäre. Vor den Küchenzeilen und im Eingangsbereich wurden dazu passende rote Tonfliesen verlegt. Die weißen Innenwände bestehen aus Hartfaserplatten. Als Holzbau tritt das Gebäude im Innern nur an den Decken mit ihren offenen Balkenlagen in Erscheinung. Die Raumhöhe bis zur Unterkante der Balken beträgt 2,50 m; in den Zwischenräumen erreicht sie 2,76 m. Die Bauausführung ist, wie in der Schweiz üblich, von herausragender Qualität und trägt nicht unwesentlich zum positiven Gesamteindruck bei.

Klassischer Skelettbau

Baukonstruktiv betrachtet ist das Hofgebäude ein klassischer Skelettbau aus Holz. Vier Stahlbetonkerne, die Treppen und Aufzüge aufnehmen, dienen der Erschließung der Geschosswohnungen, steifen die Konstruktion aus und tragen den Brandschutzbestimmungen Rechnung. Das Raster von Stützen und Trägern verleiht dem gesamten Gebäude und den Wohnungsgrundrissen eine klare Struktur. Es ermöglicht darüber hinaus ein hohes Maß an rationeller Vorfertigung. Leichtbauwände erlauben vielfach eine spätere Änderung des Grundrisses ohne Eingriff ins Tragwerk. Die ökologischen Vorteile des Holzbaus muss man heute nicht mehr herausstreichen. Um den Schallschutz sowohl in horizontaler als auch in vertikaler Richtung zu garantieren, wurden einige Anstrengungen v. a. in Bezug auf die Schallentkopplung von Materialstößen und zwischen den einzelnen Wohneinheiten unternommen.

Nach außen hin zeigt sich das Hofgebäude unmissverständlich als Holzbau – straßenseitig sowie an der Stirnseite des Hofplatzes durch die sichtbaren Primärträger und die zumindest in den Loggien deutlich erkennbaren Deckenbalken; an den Hofseiten durch eine Holzverschalung mit vertikaler Lattung, die immer dort, wo sie von geschosshohen Fensteröffnungen unterbrochen wird, wiederum einen (diesmal seitlichen) Blick auf die Primärträger freigibt. Noch deutlicher verweisen hier freilich die hölzernen »Säulen« vor den im EG aus der Fassadenflucht zurückspringenden Eingangsveranden der Maisonette-Wohnungen auf den Holzbau.

Diese von CNC-Maschinen bearbeiteten Stützen, die sich – von oben nach unten betrachtet – von einem quadratischen Querschnitt allmählich zum optisch rund wirkenden 32-Eck entwickeln, sind ein gestalterisches Detail, das der sonst recht nüchternen Erscheinung des Gebäudes eine eigentümlich verspielte und – wenn man so will – heimelige Note verleiht. Zugleich sind es diese Stützen, die auf eine weitere, nahegelegene Referenz des Hofgebäudes verweisen: das 1987/88 erbaute hölzerne Wohnhaus im Hof, das zu den besten Frühwerken von Herzog & de Meuron gehört.

db, Mo., 2020.04.06



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db 2020|04 Wohnen

14. Oktober 2019Mathias Remmele
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Eine vergebene Chance

Einst ein Symbol für die unbewältigten Probleme der Migration und das Scheitern der Schulform Hauptschule hat sich die Berliner Rütli Schule, die heute unter dem Namen Campus Rütli firmiert, zu einem pädagogischen und sozialen Vorzeigeprojekt entwickelt. Die Neubauten auf dem Campus aber, die in achtjähriger (!) Planungs- und Bauzeit entstanden, sind eher eine Enttäuschung.

Einst ein Symbol für die unbewältigten Probleme der Migration und das Scheitern der Schulform Hauptschule hat sich die Berliner Rütli Schule, die heute unter dem Namen Campus Rütli firmiert, zu einem pädagogischen und sozialen Vorzeigeprojekt entwickelt. Die Neubauten auf dem Campus aber, die in achtjähriger (!) Planungs- und Bauzeit entstanden, sind eher eine Enttäuschung.

Es war ein Brief, der die Rütli-Schule im Jahr 2006 bundesweit in die Schlagzeilen brachte. Geschrieben hatte ihn das heillos überforderte Lehrerkollegium, der im nördlichen Teil des Berliner Bezirks Neukölln gelegenen Hauptschule. Berichtet wurde darin zum einen von der wachsenden Gewalttätigkeit und Disziplinlosigkeit einer Schülerschaft, die zu über 80 % aus Familien mit Migrationshintergrund stammte. Zum anderen aber auch von der Perspektivlosigkeit der Jugendlichen, die sich in ihrer Lernunwilligkeit spiegele und das offensichtliche Scheitern der Schulform Hauptschule belege. Beklagt wurde daneben die extrem mangelhafte personelle Ausstattung der Schule sowie die fehlende Sprachkompetenz für eine effektive Kommunikation mit den Eltern. Der »Brandbrief« machte die Rütli-Schule zu einem Symbol für die unbewältigten Probleme der Migration sowie für das Versagen der Berliner Schul- und Innenverwaltung. Das von ihm ausgelöste mediale Echo zwang die Politik zum Handeln. Dabei war klar, dass die hier aufgetretenen Probleme nicht allein mit schulischen Mitteln zu lösen waren.

Neuartiges Bildungskonzept

Bereits 2007 wurde auf Bezirksebene die Idee zu einem »Campus Rütli« entwickelt, die wesentlich darin bestand, ein neues, umfassendes Bildungskonzept zu erarbeiten und dies mit der Schaffung eines in den Kiez ausstrahlenden Sozialraums zu verbinden, in dem alle irgendwie betroffenen und beteiligten Akteure zusammenkommen und -wirken sollten.

Konzipiert wurde das »Campus Rütli CR2« getaufte Modellprojekt dezidiert als »sozialer Erlebnisraum«, der in seinen Modulen »einheitliche Bildungsbiographien von der Kindertagesstätte bis zum Eintritt in die Berufsausbildung« ermöglichen sollte und alle schulischen Abschlüsse bietet.

Ein erster Schritt zur Realisierung des Konzepts war der 2008/09 erfolgte Zusammenschluss der Rütli-Hauptschule, der Heinrich-Heine-Realschule (die sich bisher ein Schulgebäude teilten) sowie der wenige Blocks entfernten Franz-Schubert-Grundschule zur Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli. 2011 wurde eine gymnasiale Oberstufe geschaffen, die sich seither wachsender Beliebtheit erfreut. Zwei Kindertagesstätten sowie der Kinder- und Jugendclub an der Rütlistraße, die in unmittelbarer Nachbarschaft liegen, wurden organisatorisch mit der Gemeinschaftsschule verkoppelt. 2012 konnte die vom Berliner Büro plus 4930 entworfene Quartierssporthalle fertiggestellt und als erster Neubau in den Campus integriert werden.

Das ambitionierte Konzept des Campus, aus dem sich ein erheblicher Raumbedarf ergab, hätte nicht entstehen bzw. realisiert werden können, wären an seinem Standort nicht glücklicherweise bereits große Flächen beiderseits der namensgebenden Rütlistraße im Besitz der öffentlichen Hand gewesen. Einer Autowerkstatt und einer Kleingartenkolonie, die bisher Teile des Areals nutzten, konnte kurzfristig gekündigt werden. So stand also genügend Platz für die notwendige baulichen Ergänzung des Campus zur Verfügung, der insgesamt eine Fläche von fast 5 ha umfasst. Im Einzelnen ging es dabei um eine Erweiterung des Schulhauses (zur Integration der Grundschule), ein Werkstattgebäude (für das Unterrichtsmodul Werkstatt, Arbeit, Technik), eine Erweiterung der Mensa sowie um ein Stadtteilzentrum (mit Räumlichkeiten für Elterncafé, Campusverwaltung, Pädagogische Werkstatt, Jugendamt, Zahnärztlicher Dienst und Volkshochschule Neukölln).

Für diese Neubauvorhaben wurde 2011 ein Realisierungswettbewerb lanciert, den das Büro Schulz und Schulz Architekten aus Leipzig gewann. Die Bauarbeiten begannen 2015. Mittlerweile sind das Werkstattgebäude und das Stadtteilzentrum vollendet. Der Schulerweiterungsbau kann möglicherweise in diesem Schuljahr bezogen werden, während die neue Mensa erst im kommenden Jahr fertig sein dürfte. Die Bauarbeiten auf dem Campus werden freilich noch eine Weile andauern: ab dem nächsten Jahr steht eine Grundsanierung des Altbaus an.

Überzeugender Städtebau und nüchtern-kühle Architektur

Zu den überzeugenden Qualitäten des Entwurfs von Schulz und Schulz gehört die damit verbundene städtebauliche Lösung. Quasi als Herzstück des Campus schlugen sie am Treffpunkt der Erschließungsachsen – der in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Rütlistraße und der von Osten auf den Campus führende Ossastraße – eine zentral gelegene Platzanlage vor. Definiert und begrenzt wird sie einerseits vom winkelförmig angelegten, viergeschossigen Neubautrakt der Gemeinschaftsschule, dessen einer Flügel direkt an die nördliche Brandmauer der Bestandsschule anschließt, und andererseits vom diagonal gegenüberliegenden, zweigeschossigen Stadtteilzentrum, das ebenfalls einen winkelförmigen Baukörper aufweist. Das Werkstattgebäude verlegten die Architekten in den nördlichen Teil des Campus, in die Nachbarschaft zur Quatierssporthalle. Auch dieses, nur eingeschossige Gebäude besitzt einen winkelförmigen, in diesem Fall aber vom Straßenraum abgewandten Grundriss. Abweichend von diesem Schema haben Schulz und Schulz die Mensa-Erweiterung als achteckigen Pavillon entworfen und aus funktionalen Gründen (Verbindung zur bestehenden Schulküche) etwas versteckt hinter dem Altbau der Schule platziert.

Gestalterisch präsentieren sich die Neubauten mit ihren Betonfertigteil- und Putzfassaden – von der Mensa einmal ausdrücklich abgesehen – als denkbar nüchterne Zweckbauten. Man könnte ihre Anmutung, je nach Temperament, als kühl-sachlich, als unambitioniert oder als erschreckend uninspiriert beschreiben. Und es dürfte Leute geben, die angesichts dieser Fassaden eher an ein Finanzamt oder irgendeine andere Behörde als an eine Schule denken. So oder so, als Einladung zur positiven Identifikation der Nutzer mit den Campus-Neubauten wird man diese Fassaden schwerlich interpretieren – als Einladung an Graffiti-Sprayer hingegen schon. Darauf lässt sich wetten.

In ihrem überaus wortreichen Erläuterungstext erklären die Architekten »die zurücknehmende Gestaltung der Erweiterungsbauten« damit, dass sie »einen übergeordneten Campuscharakter« stärke und »das heterogene Erscheinungsbild in eine ausgeglichene, homogene Bildungslandschaft« überführe. Worin der Vorteil von »Homogenität« für den Campus liegen sollte, erschließt sich daraus nicht. Abgesehen davon ist und bleibt der Campus ein sehr heterogenes Gebäudekonglomerat. Man muss sagen: glücklicherweise!

Konventionell oder wegweisend?

Ein Blick ins Innere der Neubauten offenbart, dass Schulz und Schulz Architekten auch räumlich und grundrisstechnisch ihr Heil fast immer (die noch unvollendete Mensa bildet die Ausnahme) in durch und durch konventionellen Lösungen suchten. In ihrem Erläuterungstext heißt es zwar, »die Organisation der Raumstrukturen« ziele »auf die Belebung eines positiv besetzten Lebensumfelds, aus dem eine kreative und motivierende Lernatmosphäre resultiert«. Wie dieses Wunder gelingen soll, bleibt aber offen.

Cordula Heckmann, die engagierte, langjährige Direktorin der Schule und Campus-Leiterin, ist in erster Linie glücklich, dass die drängenden Raumbedürfnisse endlich erfüllt werden. Die gestalterische Qualität der Neubauten mag sie nicht kommentieren. Über den Erweiterungsbau der Schule aber meint sie, dass »das Modell Flurschule«, wie es hier realisiert wurde, »heutzutage schon für einen eher konservativen Ansatz« stehe, was aber der sozialräumlichen Idee, die sich im zentralen Campusplatz zeige, geschuldet sei.

Bemerkenswert übrigens, wie wenig sie und ihr Kollegium oder auch die Schülerschaft in die Planungen involviert waren. Die Bauherrschaft lag nicht bei der Schule, sondern beim Stadtbezirk.

Angesichts dieses Befunds stellt sich (wieder einmal) die Frage, was Architektur leisten kann und auch leisten muss, um ein bildungs- und sozialpolitisches Modellprojekt wie den Campus Rütli in seinen begrüßenswerten Zielsetzungen zu unterstützen und um ihm eine adäquate bauliche Form zu verleihen.

Schulz und Schulz Architekten haben für den Campus eine pragmatische und zumindest auf den ersten Blick zweckdienliche architektonische Lösung entwickelt. Und womöglich haben sie angesichts eines knappen Budgets, auch was Bauqualität und Materialwahl betrifft, herausgeholt, was herauszuholen war. Und sicher, Schüler- und Lehrerschaft erhalten neue, helle und zeitgemäß ausgestattete Klassenzimmer, über die sie sich natürlich freuen.

Die Konventionalität ihrer Lösung aber, die schon bei einer »normalen« Schule unbefriedigend wäre, ist bei einem Modellprojekt wie dem Campus Rütli enttäuschend. Wo, wenn nicht bei dieser Gelegenheit hätte die Chance bestanden Neues auszuloten und eine wegweisende Gestaltung zu entwickeln? Die Neubauten auf dem Campus Rütli aber sind nicht nur nicht wegweisend, sondern sie bleiben, wie etwa der Blick nach Skandinavien und nach Finnland offenbart, auch hinter dem zurück, was anderenorts hinsichtlich inspirierender Lernräume bereits erfolgreich umgesetzt wurde. Das mag auch etwas mit Geld zu tun haben – die Ausgaben für Bildung sind in Deutschland im europäischen Vergleich noch immer beschämend niedrig –, aber das ist keine Entschuldigung für eine weitgehend ideenlose Gestaltung.

Abschließend – weil das einfach nicht unkommentiert bleiben darf – ein Wort zum in städtebaulicher Hinsicht so überzeugenden zentrale Campus-Platz, der ja gewissermaßen als Herzstück und Visitenkarte des Areals gedacht war. Stefan Bernard Landschaftsarchitekten haben dafür einen wahrlich atemberaubenden Entwurf vorgelegt: zu rund 80 % präsentiert sich der großzügige Platz jetzt als graue Asphaltfläche! Jenseits aller ästhetischen Empfindungen ist das im Jahr 2019 eine völlig indiskutable Idee. Wem angesichts der berechtigten Forderung nach einer Verbesserung des städtischen Mikroklimas durch Begrünung – die nach dem zweiten Hitzesommer in Folge immer dringender erhobenen wird – und vor dem Hintergrund der schon längst bekannten Problematik der Flächenversiegelung nichts anderes einfällt, als einen solchen Platz ohne sachliche Notwendigkeit in eine öde Asphaltwüste zu verwandeln, der sollte einmal ernsthaft sein berufliches Selbstverständnis hinterfragen. Das gilt auch für die zuständigen Ämter, die eine solche »Lösung« genehmigt und finanziert haben.

db, Mo., 2019.10.14



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db 2019|10 Berlin

16. September 2019Mathias Remmele
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Mitten im Draußen

Am Rand eines kleinen Dorfs in Ostholstein entstand inmitten eines prächtigen Gartens ein bemerkenswerter Alterswohnsitz, der durch seine räumliche Vielfalt und seine enge Verzahnung mit der Umgebung überzeugt. Das Haus reflektiert dabei sowohl die individuellen Bedürfnisse der Bauherrschaft als auch die spezifische Baugeschichte des Orts.

Am Rand eines kleinen Dorfs in Ostholstein entstand inmitten eines prächtigen Gartens ein bemerkenswerter Alterswohnsitz, der durch seine räumliche Vielfalt und seine enge Verzahnung mit der Umgebung überzeugt. Das Haus reflektiert dabei sowohl die individuellen Bedürfnisse der Bauherrschaft als auch die spezifische Baugeschichte des Orts.

Als ein Altenteil-Haus im ursprünglichen Wortsinn wird man das Haus, das sich das Ehepaar J vor Kurzem am Rand eines kleinen Dorfs bei Eutin im ­malerischen Ostholstein erbaut hat, nicht bezeichnen wollen – auch wenn es zunächst ganz danach aussieht. Denn der Umzug vom großen, vor langer Zeit als Erbe übernommenen alten Bauernhaus in den gleich daneben liegenden, vergleichsweise klein dimensionierten Neubau hat nichts mit der Übergabe des Hofs an die nachfolgende Generation zu tun. Bereits das Bauherrenpaar hat seinen Lebensunterhalt nicht mehr in der Landwirtschaft verdient und von seinen Kindern ist keines in das nun frei gewordene Haupthaus eingezogen. Es waren von daher keine wirtschaftlichen, sondern vor allem praktische Erwägungen, die zum Bau dieses Alterswohnsitzes führten: Das Bauernhaus war schlicht zu groß für zwei und – auf lange Sicht – eben auch nicht altersgerecht.

Zuerst gab es die Idee, ein einfaches Wirtschaftsgebäude, das in den 50er Jahren anstelle einer abgebrannten Scheune errichtet worden war, zu Wohn­zwecken umzubauen. Gutachter rieten jedoch wegen der schlechten Bausubstanz davon ab. So musste es also ersatzweise ein Neubau werden. Schon aus baurechtlichen Gründen wäre jedoch auch für ihn auf dem weitläufigen Grundstück kaum ein anderer Standort als der des Bestandsgebäudes infrage gekommen.

Nach Mass

Geräumig, hell und mit vielen Ausblicken in den Garten und die umgebende Landschaft – das waren die zentralen Wünsche an den Neubau, für den man ein ebenso detailliertes, wie individuelles Raumprogramm entwickelte: eine offene Küche als Herzstück des Hauses, groß genug um Familie und Freunde zu bewirten; ein eher kleineres Wohnzimmer; ein verandaartiges Gartenzimmer, ein großes Schlaf-, Arbeits- und Bibliothekszimmer für ihn; ein kleineres Zimmer für sie; zwei Bäder, eines davon mit Tageslicht und Ausblick in den Garten; eine Waschküche mit direktem Zugang zum Garten; ein als Vielzweckraum nutzbares Gästezimmer; ein geschützter Stellplatz fürs Auto; schließlich Wandflächen für Bücherregale und viel Stauraum in Form von Einbauschränken.

So klar die Vorstellungen der Bauherrschaft hinsichtlich des Raumprogramms waren, so offen zeigte man sich hinsichtlich der formalen Umsetzung. Auch eine dezidiert moderne Lösung sollte möglich sein. Für den Entwurf wandte man sich auf Empfehlung an WEGENER ARCHITEKTEN aus dem nahegelegenen Neustadt in Holstein. Vorwiegend mit Bauen im Bestand beschäftigt, bedeutete das Projekt für Joachim Wegener und sein Team trotz seiner überschaubaren Dimension durchaus eine Herausforderung. Die intensive Arbeit am Entwurf erhielt die entscheidenden Impulse durch eine Fotografie der Scheune, die einst hier gestanden hatte. Der historische Zweiständerbau inspirierte den Neubau gleich auf mehreren Ebenen. Das gilt für das einseitig angeschleppte Dach des Hauses ebenso wie für den eingeschnittenen Stichbogen der Südfassade, der quasi das Scheunentor zitiert. Auch die dreischiffige Grundriss-Struktur des Neubaus lässt sich als Referenz an den Vor-Vorgängerbau lesen.

Mit seinem Krüppelwalmdach, seiner klaren Kubatur und nicht zuletzt mit seiner weißen Putzfassade fügt sich der niedrige, ebenerdige Neubau fast wie ein Familienabkömmling in das vom stattlichen alten Bauernhaus dominierte Hofensemble ein – ohne dabei historistisch oder gar folkloristisch zu wirken. Die für die Gegend eher untypische Putzfassade verdankt der Altbau übrigens einem früheren Besitzer, der ihm damit Ende des 19. Jahrhunderts ein bürgerlich-repräsentatives Aussehen verleihen wollte. Aber nicht nur in den Baubestand integriert sich das Haus auf gelungene Weise. Mit seinem gedrungenen, breit gelagerten Baukörper und seiner auffällig flachen Dachneigung passt es sich auch wie selbstverständlich in die von sanften Hügeln geprägte ostholsteinische Landschaft ein, mit der es wegen seiner dörflichen Randlage in direkter Verbindung steht.

Durch die Küche

Den konzeptionellen und räumlichen Mittelpunkt des Hauses bildet die ­Küche. Hervorgehoben durch ihre Größe, ihre Höhe (bis unters Dach) und ihre Helligkeit vermittelt sie nicht zuletzt dank ihrer zum Garten hin aus­gerichteten, verglasten Südfront, die den vorgelagerten, überdachten Terrassenraum optisch ins Haus hereinholt, einen weiten, großzügigen Eindruck.

Während die Terrasse, das Wohnzimmer, das Gartenzimmer, die Waschküche und die über eine schmale Treppe erreichbare Lesegalerie sowie das daran angrenzende Gästezimmer direkt von der Küche aus erschlossen werden, führen zwei sie flankierende Gänge zu den übrigen Räumen des Hauses – dem Entree, den Bädern und den Schlafzimmern. An ihrem Ende liegt ein weiterer, vergleichsweise intimer Raum, der über seine nach Norden hin ausgerichtete Glasfront, vor der eine zweite Terrasse liegt, einen weiten Blick in die Landschaft ermöglicht. Ein idealer Platz zum Lesen, Schreiben, Nachdenken und für ruhige Gespräche.

Wie im Garten

Dass der überaus sorgfältig angelegte und hingebungsvoll gepflegte Garten im Leben der Bauherrschaft eine herausragende Rolle spielt, offenbart sich einem aufmerksamen Besucher schon beim Betreten des Grundstücks. Auch für die Gestalt des Hauses und den Charakter seiner Innenräume war diese Gartenleidenschaft mitentscheidend. Der starke Bezug zum Garten und zur umgebenden Landschaft ist – vom innenliegenden Bad und dem Entree einmal abgesehen – überall im Haus spürbar. Das gilt in besonderem Maß für die großflächig verglasten Bereiche vor der südlichen und nördlichen Terrasse. Es gilt aber auch für drei der vier an den Hausecken situierten Räume – Wohnzimmer, Gartenzimmer und eines der Schlafzimmer –, in denen die Fenster ­jeweils übereck gezogen wurden. Im Gartenzimmer ­genießt man gar einen dreiseitigen Ausblick. Die schlichte, betont ruhige ­Gestaltung der Innenräume, die mit ihren weißen Putzwänden, den ebenfalls weißen Einbauschränken und den hellen Douglasien-Dielen fast etwas skandinavisch anmuten, tut ein Übriges, um die Aufmerksamkeit auf den Außenraum und das jahreszeitlich wechselnde Farbspiel der Natur zu lenken.

Eine solide, langlebige Konstruktion und die Verwendung schadstoffarmer Materialien, das war bei der Planung dieses Hauses sowohl der Bauherrschaft als auch dem Architekten ein wichtiges Anliegen. Die tragenden Wände wurden aus 36,5 cm dicken, hochdämmenden Ziegelsteinen aufgemauert und sowohl außen wie innen verputzt. Für die Dämmung des Dachs und der Dielenböden nutzte man Zellulosefasern. Für die Doppelstehfalz-Blecheindeckung des Dachs entschied man sich in erster Linie aufgrund der geringen Neigung. Hinsichtlich der Heizung und der Warmwasserbereitung griff man auf eine solarunterstützte Brennwerttherme zurück. Zwei kleine Kaminöfen stehen als ­zusätzliche bzw. alternative Wärmelieferanten zu Verfügung.

So solide, durchdacht und sachlich angemessen wie diese bautechnischen Merkmale, wirkt Haus J auch als Gesamtprojekt betrachtet: Ein Alterswohnsitz nach Maß, durchaus zeitgenössisch in seiner Erscheinung, zugleich aber tief verwurzelt in der Geschichte seines Standorts und der ostholsteinischen Landschaft.

db, Mo., 2019.09.16



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db 2019|09 Im Norden

04. April 2019Mathias Remmele
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Ganz schön bunt

The Student Hotel, eine junge Hotelkette mit außergewöhnlichem Geschäftsmodell und auffällig farbenfrohem Corporate Design spricht gezielt eine junge, studen­tische Klientel an. Die erste Dependance in Deutschland nutzt einen geschichtsträchtigen Standort – das einstige Interhotel Lilienstein an der Prager Straße in Dresden – und punktet mit erschwinglichen Semesterzimmern und Coworking Spaces in familiärer Atmosphäre.

The Student Hotel, eine junge Hotelkette mit außergewöhnlichem Geschäftsmodell und auffällig farbenfrohem Corporate Design spricht gezielt eine junge, studen­tische Klientel an. Die erste Dependance in Deutschland nutzt einen geschichtsträchtigen Standort – das einstige Interhotel Lilienstein an der Prager Straße in Dresden – und punktet mit erschwinglichen Semesterzimmern und Coworking Spaces in familiärer Atmosphäre.

Die Prager Straße gehört, auch wenn sie nicht gerade als touristisches Highlight gilt, zu den prominenten Adressen der sächsischen Hauptstadt. Das hat sowohl mit ihrer Lage im Stadtgefüge als Verbindung zwischen historischem Zentrum und Hauptbahnhof zu tun als auch mit ihrer bewegten Geschichte: Mitte des 19. Jahrhunderts angelegt, entwickelte sie sich bald zur wichtigsten Einkaufs- und Vergnügungsstraße Dresdens. Von der gründerzeitlichen Pracht blieb nach dem Bomberangriff vom Februar 1945 kaum mehr als die Erinnerung. Durch die 50er Jahre erstreckten sich beiderseits der Prager Straße riesige Brachflächen.

Städtebauliche Modellanlage

Erst Anfang der 60er Jahre begann die Wiederaufbauplanung. Im Geist der internationalen Nachkriegsmoderne und nach dem Vorbild der »Lijnbaan« in Rotterdam sollte hier die erste Fußgängerzone Ostdeutschlands entstehen, flankiert von Wohnbauten, Geschäften, gastronomischen Einrichtungen und Hotels. Das Herzstück des im Wesentlichen 1965-78 erbauten Ensembles, das als Modell des sozialistischen Städtebaus propagiert wurde, bildete ein zwölfgeschossiges, 250 m langes Wohnhaus, das die Ostseite der Prager Straße einnahm und ein gegenüber platzierter, dreiteiliger Hotelkomplex »in Kammstellung zur Straße«, wie es in einem bauzeitlichen Bericht heißt. Komplementiert wurde das zu DDR-Zeiten unvollendet gebliebene Gebiet durch ein weiteres Hotel, ein Großrestaurant, ein Rundkino sowie ein Zentrum-Warenhaus.

Während sich die Straße in den 70er und 80er Jahren als Flanierboulevard großer Beliebtheit erfreute, wurde das Stadtgebiet nach der Wende aus vielfältigen Gründen sowohl in der Fachwelt als auch in der Öffentlichkeit kritisch bewertet und unter allgemeiner Geringschätzung der Nachkriegsmoderne und der gestalterischen Qualität im Detail v. a. durch die Verengung des Straßenraums nach dem Vorbild der »alten europäischen Stadt« mit austausch­baren Um- und Neubauten stark verändert. Der städtebauliche Kern – die in Plattenbauweise errichteten Hotelbauten und das Wohnhaus »Prager Zeile« – blieb hingegen, wenn auch in veränderter Form, erhalten.

Der 1969 eröffnete Hotel- und Gaststättenkomplex »Interhotel Prager Straße«, der in seinen drei gleichartig gestalteten Bettenhochhäusern (die nach berühmten Felsen im nahegelegenen Elbsandsteingebirge Bastei, Königstein und Lilienstein getauft wurden) insgesamt 918 Zimmer anbot, wird seit 1992 von der Hotelkette Ibis weiter betrieben. Von einer Neumöblierung der ­Zimmer, einer Modernisierung der Sanitäranlagen und einer 2005 erfolgten Instandsetzung der Fassaden abgesehen, hat sich am Hotelkomplex über die Jahre hin erstaunlich wenig verändert.
Nach mehrfachem Besitzerwechsel aber wurde das Haus Lilienstein 2016 allerdings geschlossen. 2017 ist es von der niederländischen Hotel-Gruppe erworben, dann umgebaut und als »The Student Hotel« neu eröffnet worden – als erstes Haus dieser expandierenden Kette in Deutschland. Die Standortwahl überzeugt durch die Nähe zu Altstadt, Bahnhof und Technischer Universität noch weiter südlich. Von außen betrachtet erscheint das ehemalige Haus Lilienstein – von der auf Betreiben der Denkmalbehörde recht dezenten neuen Beschriftung einmal abgesehen – wenig verändert. Im Innern aber geht es jetzt umso bunter zu.

Neuartiges Geschäftsmodell

»Boutique Hotel trifft Studentenwohnheim« so charakterisiert Charlie MacGregor, Gründer und CEO von The Student Hotel, das grundlegende Konzept der jungen Hotelkette, die 2016 in Amsterdam ihr erstes Haus eröffnete. Was sich als Geschäftsmodell zunächst merkwürdig anhören mag, ­gewinnt bei näherem Hinsehen an Plausibilität. Die Idee, eine zeitgemäße Unterkunft für Studierende zu schaffen und diese mit einem trendigen Business Hotel zu verbinden, basiert auf der Annahme, dass beide Seiten etwas davon haben.

Das Hotel profitiert vom Flair des studentischen Lebensgefühls, das Studentenwohnheim von den Annehmlichkeiten, die ein Business Hotel heutzutage bieten muss. So lassen sich zentrale Infrastrukturen doppelt nutzen und die höheren Margen des Hotels auf den Gesamtbetrieb umlegen, zumal die Studierenden über Angehörige und Freunde weitere Frequenz bringen.

Als Standorte wählt The Student Hotel, wo immer möglich, gut gelegene ­Bestandsbauten in angesagten europäischen Großstädten, die mit relativ überschaubarem Aufwand nach Bedürfnissen der Kette umgestaltet werden können. In diesen Städten ist der Immobilienmarkt meist angespannt und hochpreisig – ein denkbar schlechtes Pflaster für Studierende, v. a. für Erst­semester, Austauschstudenten und Ausländer, die die Sprache nicht gut beherrschen, die lokalen Spielregeln nicht kennen und auf kein Netzwerk zurückgreifen können. Für diese seit Jahren wachsende Gruppe hat The Student Hotel ein attraktives Angebot geschnürt: Ein modern und niveauvoll möbliertes Zimmer, gut ausgestattete Gemeinschaftsküche, freien WLAN-Zugang, hauseigenes Fitnessstudio, Waschsalon, ruhige Studierräume, großzügige Loungebereiche, das Versprechen von Community und Sicherheit – ein Faktor, der für die zahlenden, insgeheim besorgten Eltern ins Gewicht fallen dürfte. In Dresden, wo die Wohnungspreise noch recht moderat sind, werden dafür im Monat rund 450 Euro fällig, wobei die Dauer des Aufenthalts, wie in allen Student Hotels, auf zwei Semester begrenzt ist. Die normalen Hotelzimmer sind, je nach Nachfrage, ab 64 Euro zu haben. Um die ökonomische Basis des Hauses zu stärken wurden im 1. OG ein Coworking Space und separat mietbare Seminarräume eingerichtet. Ein Angebot, das in Dresden gut angenommen wird und nebenbei die lokale Verflechtung des Hauses fördern soll.

Bunt und retro

Auf das Branding der Marke und die innenarchitektonische Gestaltung der Häuser hat man bei The Student Hotel von Anfang an größten Wert gelegt. Für beide Aufgaben engagierte man anfangs die Amsterdamer Design-Agentur »...,staat«. Das von ihr erarbeitete Gestaltungskonzept wird mittlerweile von einer hauseigenen Design-Abteilung umgesetzt und weiterentwickelt. Die Marke will jung, frisch und unkonventionell wirken, dabei aber Professionalität und Seriosität ausstrahlen und die Grundpfeiler des Konzepts – »comfort, convenience & community« – auf allen Ebenen transportieren. Angesichts eines begrenzten Budgets setzt man konsequent auf preiswerte, aber effektvolle Gestaltungsmittel. So spielt Farbe sowohl im Erscheinungsbild des Hotels als auch im Interieur, wo sie großflächig und in meist kräftigen Tönen zum Einsatz kommt, eine zentrale Rolle. Die Frische und Lebenslust, die sie transportiert, entspricht dem Selbstverständnis des Hauses und trägt zum informellen Charakter des Ambientes bei. Das vielgestaltige Design des Student Hotels, das deutliche Anleihen bei der Jugendkultur macht, ist als Collage angelegt, als Patchwork aus neu und alt, High und Low, gediegen und improvisiert. Die Möblierung bewegt sich stilistisch, qualitativ und preislich auf gehobenem Ikea-Niveau. Aufgewertet aber wird das Ganze durch die Integration von ausgewähltem Vintage-Design, das einen dezidierten Retro-Charme verbreitet.

Vergebene und genutzte Chancen

Bei der Umgestaltung des Dresdner Hauses ließ man die Zellenstruktur der Zimmergeschosse unangetastet. Eher klein erscheinen daher aus heutiger Perspektive die Zimmer. Aus der Ibis-Ära des Hotels übernahm man die Bäder und die Einbauschränke, wobei letztere durch neue Oberflächen aufgewertet wurden. Das ist, schon aus Gründen der Nachhaltigkeit, verständlich und ­begrüßenswert. Im EG und im Keller, wo die gemeinschaftlich genutzten Räume liegen, hat man das Haus hingegen bis auf die Tragstruktur entkleidet und grundlegend neu gestaltet. Die größte Herausforderung für die Innenarchitekten bestand darin, das umfangreiche Raumprogramm – Café-Bistro, Rezeption, Lobby-Lounge, Frühstücksraum und Gemeinschaftsküche für die Dauermieter – in den schmalen, langgezogenen Grundriss des Gebäudes einzupassen. Das gelang zwar leidlich, aber da und dort wirken die Räumlichkeiten doch etwas beengt und vollgestopft.

Bei der Gestaltung des Interieurs ließ sich die Design-Abteilung des Hotels nach eigenen Aussagen vom Dresdner Kraftwerk Mitte inspirieren, einem 1994 stillgelegten Kraftwerk, das mittlerweile zum Kulturzentrum umgenutzt wurde. Das kommt recht plakativ in Wandverkleidungen der Lobby zum Ausdruck, die großen Schalttafeln bzw. Kontrollpaneelen nachempfunden wurden. Von einer über ein derartiges Styling hinausgehenden Beschäftigung mit dem Genius loci, der besonderen Geschichte des Standorts oder mit der 60er Jahre-Gestaltung des ehemaligen Interhotels ist nichts zu spüren – vielleicht eine vertane Chance. Erkannt aber haben die Planer von The Student Hotel das Potenzial der Dachterrasse, die anders als bei den baugleichen Nachbarhotels, ab diesem Frühjahr gastronomisch genutzt werden soll. Herrlich und wirklich cool ist der Blick, der sich von dort oben über Dresden und das Umland bietet.

db, Do., 2019.04.04



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01. September 2017Mathias Remmele
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Der gerahmte Blick

Die Lage ist, das lässt sich nicht anders sagen, einfach traumhaft. Man stelle sich ein rund 2 ha großes, direkt am See gelegenes Grundstück vor, das so...

Die Lage ist, das lässt sich nicht anders sagen, einfach traumhaft. Man stelle sich ein rund 2 ha großes, direkt am See gelegenes Grundstück vor, das so...

Die Lage ist, das lässt sich nicht anders sagen, einfach traumhaft. Man stelle sich ein rund 2 ha großes, direkt am See gelegenes Grundstück vor, das so ungefähr alles in sich vereint, was die Uckermark an landschaftlichen Reizen zu bieten hat: einen verträumten, von Schilf und alten Bäumen gesäumten See, eine sanft geschwungene Topografie, eine große Wiese, ein Wäldchen und – gewissermaßen als i-Tüpfelchen – eine kleine Kirschbaumplantage.

»Verwunschene Wiese«

An diesem herrlichen Ort konnte der Berliner Architekt Thomas Kröger jüngst für eine ebenfalls in Berlin lebende Künstlerin und Galeristin ein ­Wochenend- und Ferienhaus realisieren, das – zumindest beim ersten Hinsehen – überrascht und ein wenig wunderlich erscheint. Was hat es für ein merkwürdiges Dach? Hoch, spitz zulaufend und mehrfach gefaltet ist es, gedeckt mit hell schimmernden, rautenförmigen Aluminiumschindeln. So sitzt es mit auffällig großem Überstand und einer merkwürdig gezackten Traufe wie ein etwas überdimensionierter Hut auf dem kleinen, einstöckigen Baukörper. Das Ganze hat etwas zeltartiges, erinnert einen ganz unwillkürlich an einen Pavillon im Park, an ein Lusthäuschen in einem großen, alten Garten – so wie etwa das Chinesische Haus im Park von Sanssouci, das nebenbei bemerkt auch ein Blechdach besitzt. Mit dieser Assoziation ist man schon auf der richtigen Fährte und doch verlangt die merkwürdige Form des Hauses nach Erklärung. Dies umso mehr, als Thomas Kröger, der in der Uckermark schon einige gelungene Häuser entworfen hat, sonst nicht zur Extravaganz neigt, sondern eher einem kontextbezogenen Bauen verpflichtet ist. Zu seinem jüngsten Werk bekennt er mit entwaffnendem Charme, er habe diesen Ort so besonders gefunden, dass er »dort einfach kein klassisches Haus ­denken« konnte, denn man hätte damit »die verwunschene Wiese so böse ­besetzt«. Das klingt jetzt fast ein wenig esoterisch. Vor Ort aber wirkt das mehr als plausibel. Vor diesem Hintergrund jedenfalls habe man »nach Typologien mit eher temporärem Charakter« gesucht und sei dabei auf eine alte Fotografie gestoßen, die einen Tanzpavillon in einem Münchner Park zeigte. Mit diesem Bild ließ sich arbeiten.

Punktgenau

Wenn nun aber die Naturschönheit der Lage zum Ausgangspunkt des Entwurfs gemacht werden sollte, brauchte es mehr als eine inspirierende Typo­logie. Kröger erinnerte sich an die Erkenntnis, dass ein (architektonisch) gerahmter Blick die Wahrnehmung der Umgebung fokussieren und intensi­vieren kann. Entsprechend richtete er den Entwurf konsequent auf die beiden ­visuellen Hauptattraktionen des Grundstücks – den Kirschhain und den See – aus. Und die liegen, wie es der schöne Zufall so will, ziemlich genau um 60° zueinander verdreht. Daraus entwickelte sich die hexagonale Grundrissform des Hauses mit ihrer regelmäßigen Abfolge von offenen und geschlossenen Seitenflächen, die sich wiederum gut mit dem Bild des Tanzpavillons verbinden ließ. Das Konzept des gerahmten Blicks hätte freilich viel von seiner Wirkungsmacht verloren, wenn die Genehmigungsbehörden es nicht erlaubt hätten, das Haus an der idealen Stelle zu errichten: unmittelbar am Rand des Kirschhains und genau an dem Punkt, von dem aus sich das Grundstück zum See hin neigt.

Der Effekt von Standortwahl und Blickfokussierung im Innern des Hauses ist ebenso verblüffend wie zwingend. Im Essbereich, der sich durch vom Boden bis unter die Dachkante reichende, vertikal gegliederte Fenster zum Kirschgarten hin öffnet, wirkt es, als sitze man förmlich zwischen den Kirschbäumen. Vom Wohnzimmer aus, wo der Blick auf die Ferne eingestellt wird, bietet sich durch ebensolche Fenster ein herrliches Postkarten-Panorama auf Wiese, Wald und See.

Die dritte »offene« Seite des Hauses, an der der Eingang liegt, fällt dagegen deutlich ab. Der Aus- und Einblick ist hier durch Einbauschränke und eine Treppe bis auf einen eher schmalen Zugang in den Wohnraum gleich wieder zugebaut. Funktional ist das verständlich, trotzdem offenbart sich hier eine kleine Schwäche des Entwurfskonzepts.

Überschaubar

Die Bauherrin wünschte sich das Wochenendhaus als informellen und intimen Rückzugsort für sich, ihren Partner und zwei Kinder. Entsprechend einfach ist das Raumprogramm. Im EG liegt neben dem Essbereich mit angegliederter Küchenzeile das Wohnzimmer, das ideell und grundrisstechnisch den Mittelpunkt des Hauses einnimmt.

Es mündet gleichsam in eine seewärts gelegene Terrasse, die dank der hinter die Fluchtlinie des Hauses zurückgezo­genen Fensterfront zu einem guten Teil überdacht ist. Zwei kleine Kinderschlafzimmer und ein Bad liegen hinter den drei geschlossenen Außenwänden des Hauses und weisen jeweils einen trapezförmigen Grundriss auf.
Eine schmale Holztreppe, die durch eine im Eingangsbereich liegende Tür erreichbar ist, führt ins obere Geschoss, das vom Elternschlafraum beherrscht wird. Ein winziges Bad und zwei begehbare Schrankräume flankieren den von zwei Oberlichtern erhellten, wiederum hexagonal geschnittenen Raum, der dank seiner hohen, kristallin ausgeformten Decke großzügiger wirkt, als es der Grundriss vermuten lässt. Das große, bis zur Dachspitze reichende Oberlicht übrigens war ein Wunsch der Bauherrschaft. Sie wollte vom Bett aus gern in den nächtlichen Sternenhimmel blicken, der in der dünn besiedelten Uckermark bekanntlich besonders hell erstrahlt. Wie schön muss das sein!

Das mit Erdwärme beheizte Haus steht auf einer Betonplatte, die einen geringen Niveauunterschied im Baugrund nachvollzieht. Das Haus wird ebenerdig betreten, zum Wohnraum geht es zwei Stufen hinunter und zum Essbereich wieder eine Stufe nach oben. Das stellt sicher, dass der Innenraum sich visuell stets bruchlos in den Außenraum erweitert. Gleichzeitig definieren die Stufen auf dezente Weise die Grenzen der verschiedenen Raumzonen.

Vom Sockel abgesehen, ist der Bau als Holztafelkonstruktion errichtet. Als Holzbau tritt er aber allenfalls an der Fassade in Erscheinung, die das Bild ­einer klassischen Leistenschalung evoziert. Tatsächlich sind die dünnen, weiß gestrichenen Holzlatten aber auf großflächige schwarze Wandplatten ­geschraubt. Ihre Funktion ist also rein dekorativer Natur. So oder so, das Bild passt zum Pavillon-Charakter des Hauses und die filigran anmutende Vertikalstruktur der hellen Latten lässt die Wandkonstruktion ganz leicht erscheinen. Ob es notwendig war, die Fensteröffnungen des Badezimmers und der Kinderzimmer hinter diesem Stabwerk zu verstecken, kann man dahingestellt sein lassen.

Den großen Dachüberstand erklärt Kröger mit Vorbildern aus der traditionellen Architektur Japans und Chinas. Das von der Dachkante heruntertropfende Regenwasser bildet gleichsam einen feinen Wasservorhang um den Bau. Abgesehen von diesem sicher poetischen Bild hätte eine breite Dachrinne eben einfach nicht zur dünnen Blechhaut des Dachs gepasst.

Zur Qualität dieses Hauses trägt Krögers Sensibilität für Materialien, Farben und Oberflächen sowie seine Sorgfalt im Detail bei, die sich nicht zuletzt in den Einbaumöbeln auf überzeugende Weise manifestiert. Während die Hauptwohnräume weiß gehalten sind, setzt der Architekt in den Bädern und Kinderzimmern farbige Akzente, die die heiter unbeschwerte Stimmung dieses Rückzugsorts fürs Wochenende unterstreichen.

db, Fr., 2017.09.01



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18. Januar 2015Mathias Remmele
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Hochschule für Gestaltung Ulm

Auch wenn hier längst keine Studenten mehr ein und aus gehen – am Gebäude der HfG Ulm hat sich auch nach der 2014 abgeschlossenen zweiten Generalsanierung kaum etwas verändert. Selbst mit Dachdämmung, isolierverglasten Fenstern und neuen Nutzern erscheint der in den frühen Nachkriegsjahren von Max Bill entworfene Stahlbetonskelettbau so zeitlos und pragmatisch wie eh und je.

Auch wenn hier längst keine Studenten mehr ein und aus gehen – am Gebäude der HfG Ulm hat sich auch nach der 2014 abgeschlossenen zweiten Generalsanierung kaum etwas verändert. Selbst mit Dachdämmung, isolierverglasten Fenstern und neuen Nutzern erscheint der in den frühen Nachkriegsjahren von Max Bill entworfene Stahlbetonskelettbau so zeitlos und pragmatisch wie eh und je.

Wer das HfG-Gebäude sehen will, muss »auf den Kuhberg« – eine landschaftlich reizvolle Anhöhe an der südlichen Stadtgrenze von Ulm steigen. Dort präsentiert sich der seit Ende der 70er Jahre denkmalgeschützte Hochschulkomplex als Ensemble aus flachgedeckten Sichtbeton-Baukörpern mit großzügigen fassadenbündigen Fensteröffnungen. Überaus schlicht wirkt dieser berühmte Bau, der seine Zweckbestimmung nach außen nicht sofort zu erkennen gibt.

Den vielleicht stärksten Eindruck vermittelt das Gebäude aus heutiger Perspektive durch seine Zeitbeständigkeit. Gewiss, die Sichtbetonfassade zeigt die typischen Alterungserscheinungen. Davon abgesehen aber entzieht sie sich erfolgreich einer sicheren Datierung. Wüsste man nicht, um was es sich bei diesem Komplex handelt und wann er entstand, käme man wohl kaum auf das stolze Alter von 60 Jahren. Der Architektur des HfG-Gebäudes mangelt es – zumindest von außen betrachtet – fast vollständig an Zeitkolorit. Das erklärt die überraschende Frische ihrer Erscheinung. Man darf und muss das als Ausweis außerordentlicher Qualität werten.

Architektur im Schatten der Institution

Die von Inge Scholl und Otl Aicher initiierte und durch die Kooperation mit Max Bill gestalterisch ausgerichtete Ulmer Hochschule hat längst einen legendären Ruf. Sie sollte einen Beitrag zum demokratischen Aufbau Deutschlands nach der Nazi-Diktatur leisten und übte dabei – völlig unbestritten und oft beschrieben – einen prägenden Einfluss auf die Entwicklung des bundesrepublikanischen Designs aus. Dem von Max Bill entworfenen, 1953-55 errichteten Hochschulgebäude blieb trotz aller Wertschätzung eine vergleichbare Bedeutung versagt. Anders als etwa das Bauhaus in Dessau, das auch aufgrund seiner Architektur ikonischen Charakter hat, stand und steht das HfG- Gebäude bis heute immer im Schatten der Institution. Nüchtern-funktional bis hin zur Sprödigkeit verweigert es sich konsequent jeder Repräsentativität. Das war durchaus im Sinn der Hochschul-Initiatoren, die nach den Erfahrungen der Nazi-Zeit und in strikter Abgrenzung davon, jede Form von Pathos radikal ablehnten.

Bei der Konzeption der Hochschule wurde bewusst (und mit dem Segen von Altmeister Gropius) an das Modell des Bauhauses angeknüpft. Das sollte nicht zuletzt in der Architektur des Gebäudes zum Ausdruck kommen, das gleichsam ein Bekenntnis zur funktionalistischen Moderne kommunizierte. Vorbild bzw. Inspirationsquelle für das Ulmer Schulgebäude war aber weniger das Dessauer Bauhaus, als vielmehr eine andere, weit weniger bekannte Bauhaus-Architektur: die in der Nähe von Bernau bei Berlin gelegene Bundesschule des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, die der Schweizer Bauhaus-Direktor Hannes Meyer just zu der Zeit entwarf als Max Bill gerade in Dessau studierte. Von Meyer übernahm Bill nicht nur den formalen Purismus. Auch in der städtebaulichen Gliederung des Schulkomplexes und in seiner bemerkenswert gut gelungenen Einpassung in die Landschaft gibt es augenfällige Parallelen zwischen den beiden Projekten.

»Programm wird Bau« – unter diesem Motto wurde die Baugeschichte der Ulmer HfG geschrieben. Mit Recht, denn der Entwurf des Schulgebäudes, an dem Otl Aicher wohl einen wesentlichen Anteil hatte, war durch und durch programmatisch. Er war zugleich aber auch hochgradig pragmatisch. Die Kargheit des in Stahlbetonskelettbauweise errichteten Gebäudes verweist nicht nur auf gestalterische Ideale, sondern ist wesentlich durch die sehr knapp bemessenen finanziellen Mittel bedingt, die dafür nur wenige Jahre nach dem Ende des verheerenden Zweiten Weltkriegs zur Verfügung standen.

Wechselnde Nutzer nach Schliessung der HfG 1968

Die für die sehr überschaubare Zahl von rund 150 Studierenden geplante Hochschule umfasste ursprünglich Werkstätten, Unterrichtsräume, Bibliothek, Verwaltung, Aula und Mensa (inklusive der für den Betrieb notwendigen Funktionsräume), daneben noch Ateliers und Studentenwohnheime sowie separate Lehrerhäuser. Vieles davon ist – obwohl das Gebäude nur 13 Jahre seiner ursprünglichen Bestimmung gemäß genutzt wurde – bis heute weitgehend unverändert erhalten. Als die HfG nach Streichung von Landeszuschüssen den Lehrbetrieb 1968 einstellen musste, stand die Schule zunächst einige Jahre leer. 1974 zog dann die Universität Ulm mit den Abteilungen Psychotherapie und psychosomatische Medizin als Mieterin ein. Die Umnutzung machte Umbauten notwendig, die v. a. den ehemaligen Werkstatttrakt betrafen, der eine deutlich kleinteiligere Struktur erhielt.

Nach dem Auszug der Universität vor fünf Jahren war die Stiftung HfG Ulm als Eigentümerin des Gebäudes gezwungen, ein neues, finanziell tragfähiges und dem Baudenkmal entsprechendes Nutzungskonzept zu erarbeiten. Resultat war das mittlerweile umgesetzte Drei-Säulen-Modell. Ankermieter ist heute das von der Stadt Ulm getragene HfG-Archiv, das einen erheblichen Teil des Werkstatttrakts einnimmt und dort auch über Ausstellungsflächen verfügt. Die zweite Säule sind gewerbliche Mieter, deren Tätigkeit einen Bezug zum Thema Gestaltung erkennen lässt. Dafür stehen Flächen verschiedener Größe im Werkstatt- sowie im Unterrichts- und Verwaltungstrakt zur Verfügung. Die dritte Säule bilden Räumlichkeiten, die für Tagungen und Feierlichkeiten (auch privater Natur) temporär vermietet werden – so etwa die Aula, die Mensa oder der original erhaltene kleine Hörsaal.

Authentizität durch Pragmatismus

Das HfG-Gebäude hat seit seiner Fertigstellung zwei Sanierungsphasen durchlebt. Für die erste im Jahr 1976 zeichnete der Architekt Fred Hochstrasser verantwortlich, der beim Bau der Schule einst die Bauleitung innegehabt hatte. Den Kritikern seiner Eingriffe in die ursprüngliche Struktur des Gebäudes, die er mit veränderten Nutzungsansprüchen erklären konnte, hielt er den bemerkenswerten Satz entgegen: »Mit Ideologie können Sie kein Gebäude erhalten.«

Die zweite Sanierungsphase, die 2009 begann und im Frühjahr 2014 abgeschlossen wurde, stand unter der Leitung von Adrian Hochstrasser, einem Sohn von Fred Hochstrasser. In enger Absprache mit der Denkmalbehörde hat er diese Aufgabe souverän gelöst. Dabei gelang es ihm, unvermeidbare bauliche Eingriffe – wie etwa die Schaffung eines Eingangsbereichs für das Archiv oder den Einbau eines Besucheraufzugs – dem Bestand stilistisch anzupassen und zugleich als heutige Ergänzung kenntlich zu machen. Zur notwendigen energetischen Ertüchtigung wurden die Dächer gedämmt und das Fensterglas erneuert (auf weitergehende Dämmungen wurde aus Denkmalschutzgründen verzichtet). Der Einbau von bläulich schimmernden Thermoglasscheiben, die der sommerlichen Überhitzung der Innenräume vorbeugen – ein chronisches Problem des Bill-Gebäudes – hat zwischenzeitlich für erheblichen Wirbel gesorgt. Assistiert von einem ehemaligen Direktor des Dessauer Bauhauses schlugen HfG-Veteranen, die das architektonische Erbe in Gefahr wähnten, in schrillen Tönen Alarm. Nach dem Einbau dieser Fenstergläser haben sich die Wogen schnell geglättet. Das Gebäude mag in seiner Erscheinung geringfügig verändert sein, der Denkmalwert ist dadurch allenfalls marginal gemindert. Pragmatismus hat eben Tradition in Ulm.

db, So., 2015.01.18



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db 2015|01-02 Bildungsbauten

03. März 2014Mathias Remmele
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Eine heitere Verführung

Vor die Aufgabe gestellt, ein bemerkenswertes historisches Laden-Interieur um einen modernen Teil zu erweitern, entwickelte die Innenarchitektin Frédérique Desvaux auf kleinem Raum und mit geringen Mitteln Gestaltungslösungen, die durch Funktionalität und heitere Poesie gleichermaßen beeindrucken.

Vor die Aufgabe gestellt, ein bemerkenswertes historisches Laden-Interieur um einen modernen Teil zu erweitern, entwickelte die Innenarchitektin Frédérique Desvaux auf kleinem Raum und mit geringen Mitteln Gestaltungslösungen, die durch Funktionalität und heitere Poesie gleichermaßen beeindrucken.

Eigentlich – also unter rein ökonomischen Gesichtspunkten – hätte man Martin Hesse dringend abraten müssen, diesen Laden zu mieten. Wo doch im Einzelhandel bezüglich der Standortwahl die eherne Regel gilt: Lage, Lage und nochmals Lage! Und die Lage, Varziner Straße in Berlin-Friedenau, einem Quartier ohne nennenswerte Laufkundschaft, war für einen Schokoladenladen mit Coffee-Shop alles andere als vielversprechend. Herr Hesse aber war einfach begeistert von diesem Laden, in dem sich einst eine Filiale der berühmten Berliner Zigarren-Handlung Loeser & Wolf befunden hatte, deren rund 100 Jahre alte, originale Einrichtung hier wie durch ein Wunder erhalten geblieben ist. Man kann das verstehen. Die dunklen, wandhohen Holzregale samt vorgelagerten Verkaufstresen, reich verziert mit gründerzeitlichem Dekor erleihen dem Ecklokal tatsächlich eine unnachahmliche, herrlich nostalgische Atmosphäre.

Ob es dem besonderen Ambiente des Geschäfts, dem Charme des Betreibers, der Qualität seines Angebots oder dem demografischen Wandel im Kiez (der von einem zunehmend jüngeren Publikum belebt wird) geschuldet ist, dass Hesses Geschäft mit dem Namen »Süßkramdealer« trotz problematischer Lage floriert – wir können es dahingestellt sein lassen. Als sich dann vor ein paar Jahren die Möglichkeit eröffnete, einen direkt benachbarten Laden anzumieten, zögerte Hesse nicht lange. Er ergriff die Chance, durch eine räumliche Erweiterung seine Angebotspalette zu vergrößern: um ein kleines Café und um Verkaufsflächen für Accessoires (Kochbücher, ausgewähltes Geschirr, Nippes, Geschenkpapier, etc.).

Im Gegensatz zum bestehenden Geschäft war der neue Laden freilich so leer, wie es Ladenlokale normalerweise eben sind, und Herr Hesse erkannte klug, dass er für eine in sich stimmige Einrichtung professioneller Unterstützung bedürfe. Er fand sie bei der in München ansässigen Innenarchitektin Frédérique Desvaux. Die Vorgabe für die Gestaltung war knapp und präzise: kleines Budget, möglichst viele Sitzplätze für das Café auf kleinem Raum, Präsentationsmöbel, die für spezifische Warengruppen – etwa Bücher und Geschenkpapiere – geeignet sind, sowie eine gestalterische Verbindung zwischen Alt und Neu ohne stilistische Anbiederung an den historischen Teil des Geschäfts.

Das auf Grundlage und unter Beachtung dieses Briefings von Desvaux entwickelte Interieur überzeugt auf ganzer Linie. Es ist konzeptionell schlüssig, funktional durchdacht, unprätentiös und doch ganz eigenständig. V. a. aber verströmt es eine heiter-unbeschwerte Atmosphäre, die dem Süßkramdealer weitere Sympathiewerte beschert.

Als gestalterisches Bindeglied zwischen historischem und modernem Teil des Ladens dienen die wandhohen Regale und das ihnen gemeinsame Prinzip der Schichtung und der raumdefinierenden Wirkung. Das dunkelbraune Mahagoni- und Eichenholz im ehemaligen Zigarren-Laden kontrastiert im neuen Teil mit L-förmigen Regaltablaren aus dünnem, weiß gespritzten Stahlblech, die gegenüber den massiven und reich verzierten historistischen Möbeln denkbar schlicht und fein erscheinen. Ihre Tiefe, ihr Abstand und ihr Neigungswinkel variieren je nach der zu präsentierenden Warengruppe. Auf spielerische, grafisch ansprechende Weise tragen die Tablare so zu einer lebendigen Rhythmisierung der Wandflächen bei.

Für die Einrichtung des Cafés ließ sich die Innenarchitektin von einem typischen, von ihr und Hesse gleichermaßen geschätzten Confiserie-Produkt inspirieren: dem Macaron. Die runde Form dieses Kleingebäcks und die dafür charakteristische pastellige Farbigkeit tauchen als Motive in mannigfachen Variationen auf: bei den Sitzhockern, den Gebäck-Etageren auf dem Kuchenbuffet, den eigens entworfenen zierlichen Beistelltischchen und nicht zuletzt bei den großen bunten Knöpfen, die in scheinbar zufälliger Anordnung die Rückenpolster der Sitzbänke zieren und einen unwillkürlich an Smarties oder Konfetti erinnern.

Schlank, fein und schlicht, wie die gesamte Gestaltung des Raums wirken auch die schmalen Café-Tische mit ihrem filigranen, weißen Metalluntergestellen, die Desvaux eigens für den knapp bemessenen Raum entwarf und nun eventuell in Serienproduktion bringen kann. Von entscheidender Bedeutung für die Wirkung des Cafés, für den Eindruck von Leichtigkeit und Heiterkeit, den es vermittelt – v. a. aber im Gegensatz zum historischen Teil, der damit verglichen altväterlich ernst und vielleicht etwas schwerfällig erscheinen mag – sind die Leuchten-Cluster, die in fein austarierter Unordnung von der Decke baumeln. Einfacher und poetischer als mit diesen nackten Glühbirnen verschiedener Größe, die gruppenweise an farbigen textilummantelten Kabeln hängen, lässt sich ein Raum schwerlich beleuchten.

Alles in allem ist im Süßkramladen eine gestalterische Lösung gelungen, die bei aller demonstrativen Verspieltheit voll sinnfälliger Ideen steckt und dabei die mit dem Projekt verbundenen Beschränkungen – kleiner Raum, kleines Budget – souverän vergessen lässt.

db, Mo., 2014.03.03



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db 2014|03 Lebensmittel

01. Juli 2013Mathias Remmele
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Die Macht der Zurückhaltung

Formale Reduktion und Zurückhaltung bedeuten nicht zwangsläufig Unscheinbarkeit. Das zeigt das Büro Heide & von Beckerath mit einem Mehrfamilienhaus in der Berliner Flottwellstraße. Der Neubau steht in der Tradition der Moderne und ist gleichwohl auf der Höhe der Zeit.

Formale Reduktion und Zurückhaltung bedeuten nicht zwangsläufig Unscheinbarkeit. Das zeigt das Büro Heide & von Beckerath mit einem Mehrfamilienhaus in der Berliner Flottwellstraße. Der Neubau steht in der Tradition der Moderne und ist gleichwohl auf der Höhe der Zeit.

Mit größter Selbstverständlichkeit besetzt dieses Haus seinen Ort. Gelassen, in sich ruhend, gerade so, als wisse es um seine besonderen Qualitäten und bräuchte sie eben deshalb nicht in die Welt hinausposaunen. Als Neubau erkenntlich und in seiner Erscheinung entschieden heutig, steht das Gebäude mit seiner klar gegliederten und formal bewusst zurückhaltenden Fassade unverkennbar in der Tradition der Moderne. Mies van der Rohe, dessen Büro sich einst um die Ecke befand, hätte mit großer Wahrscheinlichkeit seine Freude daran gehabt: An der farblich akzentuierten vertikalen Zweiteilung dieses Hauses, an der stockwerkshohen Verglasung der Wohnungen, an den hellgrauen Vorhängen, die bei Bedarf für Beschattung und Sichtschutz sorgen, an den die gesamte Wohnungsbreite einnehmenden Balkonen, an deren denkbar einfachen, wunderbar filigranen Metallbrüstungen und überhaupt an dem nüchtern-sachlichen und doch kraftvollen Auftritt des vergleichsweise schmalen Gebäudes.

Ihm wären mit Sicherheit auch die Stufen aufgefallen, mit denen sich die nicht sonderlich weit auskragenden Balkone zum Straßenraum abtreppen (linke Hausseite) bzw. ansteigen (rechte Hausseite). Ob Mies aus diesen ungewöhnlichen »Split-Level«-Balkonen auch auf die innere Struktur des Hauses geschlossen hätte, wo das Motiv eine zentrale Rolle spielt, dürfen wir dahingestellt sein lassen. Wir begnügen uns vorerst mit der Feststellung, dass einem leidlich sensiblen, aufmerksamen Beobachter spätestens bei diesem gestalterischen Detail auffallen wird, dass es mit diesem Wohnhaus, bei aller demonstrativ zur Schau getragenen Normalität womöglich doch etwas Besonderes auf sich hat. Zur Wahrnehmung seiner überdurchschnittlichen gestalterischen Qualität würde im Zweifelsfall auch ein Blick auf die fast zeitgleich entstandene Nachbarbebauung genügen.

Abseitig und zentral

Die Flottwellstraße, in der das Haus steht, gehört nicht zu den prominenten Adressen Berlins und darf dennoch zu den sehr guten innerstädtischen Wohnlagen gezählt werden. In fußläufiger Entfernung zum Potsdamer Platz und zum Kulturforum lebt man hier ganz nah an den Verlockungen des Großstadttrubels und doch weit genug von seinen Zumutungen entfernt. Südlich des Landwehrkanals und parallel zur (längst wieder hippen) Potsdamer Straße gelegen, gehörte die Straße jahrzehntelang zu jenen für Berlin typischen, halb vergessenen Nachkriegsbrachen, die ungeachtet ihrer Zentrumsnähe als völlig abseitig wahrgenommen wurden. Das hat sich erst in jüngster Vergangenheit geändert und mag auch mit der Fertigstellung des Parks am Gleisdreieck (s. db 3/2012, S. 25) in unmittelbarer Nachbarschaft zusammenhängen. Denn die auf dem ehemaligen Areal des Anhalter- und Potsdamer Güterbahnhofs realisierte, kürzlich eröffnete Grünanlage hat wesentlich dazu beigetragen, das Interesse von Planern und Investoren auf das Quartier und seine Qualitäten zu lenken.

Für den Neubau der Flottwellstraße Nr. 2, der sich übrigens ohne Federlesen an die städtebauliche Vorgabe der Blockrandbebauung hält, zeichnet das in Berlin ansässige Büro Heide & von Beckerath verantwortlich – und das in zweifacher Hinsicht. »Flottwell Zwei«, wie das Projekt intern getauft wurde, entstand zwar offiziell im Rahmen einer Baugemeinschaft. Tatsächlich waren bei diesem Wohnhaus die Architekten über ihre planerische Leistungen hinaus auch als Projektentwickler tätig. Wie genau es dabei um die finanziellen bzw. wirtschaftlichen Dinge bestellt war, haben wir nicht eruiert und es tut hier auch weiter nichts zur Sache. Bemerkenswert aber bleibt, dass die Architekten selbst die nur 418 m² große Parzelle entdeckten, ihr Potenzial erkannten und das Grundstück in einem Bieterverfahren vom Land Berlin erstehen konnten; dass sie danach ein außergewöhnliches und ambitioniertes Konzept für die Wohnungen entwickelten und auf eigenes Risiko umsetzten. Schließlich, dass sie damit offensichtlich die Bedürfnisse einer genügend großen Nutzer- bzw. Käufergruppe trafen und das Projekt zumindest mit so großem Erfolg zu Ende führen konnten, dass sie nun an weiteren derartigen Vorhaben arbeiten.

Kompakt und flexibel

Was das schlichte Äußere des Hauses auch dem aufmerksamsten Betrachter nicht enthüllt, ja was es mit seiner scheinbaren Normalität fast schon verschleiert, ist sein komplexes, erstaunlich variantenreiches Innenleben. Denn anders als es die Fassade suggeriert, fallen die dahinter liegenden Wohnungen in Größe und Zuschnitt unterschiedlich aus. Dazu trägt der bereits erwähnte Split-Level wesentlich bei, denn er erlaubt es, die zueinander versetzten Wohnebenen in unterschiedlicher Weise miteinander zu verknüpfen. So entwickelten die Architekten für das Haus ursprünglich nicht weniger als acht Wohnungstypen. Die Palette reichte vom Ein-Zimmer-Apartment mit gerade einmal 32 m² bis hin zu einer sich über drei Geschosse bzw. sechs Ebenen erstreckenden Wohneinheit mit einer Grundfläche von 273 m². Realisiert wurden am Ende aber nur fünf Varianten. Die größten Wohnungen weisen dabei eine Fläche von 145 m² auf, die sich über drei Ebenen verteilen. Das fertige Haus besteht aus 12 getrennten Wohneinheiten. Hinzu kommt ein gewerblich genutztes Studio im EG.

Als zentrale Zielsetzung der Grundrissentwicklung benennen die Architekten die Kombination von Kompaktheit und Flexibilität. Die Wohnungen wurden zu diesem Zweck in drei Bereiche eingeteilt, die grundsätzlich in einem räumlich offenen Verhältnis zueinander stehen, bei Bedarf aber durch mehrteilige, raumhohe Schiebetüren voneinander getrennt werden können. Der Bereich, der nach Osten, zur Straße hin liegt und dort vom Balkon begrenzt wird, dient idealerweise dem gemeinschaftlichen Wohnen. In der Mitte der Grundrisse, befindet sich die offen konzipierte Küche und das Badezimmer. Der nach Westen und damit zum ruhigen Hofraum hin orientierte Bereich schließlich nimmt die Schlafräume auf, die sich anstelle eines vollwertigen Balkons mit einem schmalen Austritt begnügen müssen. Geschosshohe Fenster auch an der rückwärtigen Fassade garantieren trotz einer Gebäudetiefe von 16 m dabei eine gute natürliche Belichtung auch des mittleren Bereichs.

Zur optionalen Ausstattung des Hauses gehören modular konzipierte Einbauküchen und Einbau-Wandschränke. In ihrer geradlinigen Schlichtheit und formalen Zurückhaltung korrespondieren sie glücklich mit dem äußeren Erscheinungsbild des Gebäudes. Und außen wie innen sind es die Details – bei den Einbaumöbeln etwa die Griffeinkerbung der Schranktüren – an denen sich die Qualität der Gestaltung manifestiert.

Zum Understatement und zur formalen Zurückhaltung, die dieses Wohnbauprojekt kennzeichnen, gehört auch das Farbkonzept. Von den Holzböden und hölzernen Einbauten abgesehen, beschränkt sich die Farbigkeit auf Schwarz, Weiß und diverse warme Grautöne. Das erscheint geschmackvoll und in sich schlüssig, wirkt aber, zumindest auf den Fotografien der noch leeren Wohnungen, bisweilen auch reichlich kühl. Energetisch beschreitet das Projekt keine neuen Wege. Durch den Anschluss an die Fernwärmeversorgung, den kompakten Baukörper und eine gute Dämmung der Fassade (verputztes WDVS und Dreifach-Verglasungen) konnten die Anforderungen der seit 2009 gültigen Energieeinsparverordnung um 30 % unterschritten werden. Aufgrund der aussteifenden Wirkung der gestaffelten Geschossdecken konnten überdies einige der Wände der Mischkonstruktion (Stahlbeton und Mauerwerk) ressourcenschonend schlank dimensioniert werden. Das ist nach Ansicht der Architekten ökologisch befriedigend und für die Bewohner ein handfester ökonomischer Vorteil. Es ist relativ offensichtlich und legitim, dass der Fokus des Projekts nicht auf diesem Feld lag.

In Zeiten wie heute, da der Wohnungsbau in der Berliner Innenstadt entweder durch billige Investoren-Architektur oder durch meist schales Luxusgehabe in den verschiedensten formalen Spielarten geprägt wird, ist ein Projekt wie Flottwell Zwei eine wohltuende Ausnahme. Es wäre gut für die Stadt, wenn der hier zum Ausdruck kommende Geist der gestalterischen Zurückhaltung und der entspannten Selbstverständlichkeit Schule machen würde.

db, Mo., 2013.07.01



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db 2013|07-08 Dezent

01. Oktober 2012Mathias Remmele
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Differenziertes Raumangebot

Für ein Unternehmen der Medizintechnologie entwarfen WeberWürschinger Architekten Büros, die Seriosität und Modernität zugleich ausstrahlen. In einem Bestandsgebäude konnte ein differenziertes Rauman- gebot realisiert werden, das den Bedürfnissen der Belegschaft entspricht.

Für ein Unternehmen der Medizintechnologie entwarfen WeberWürschinger Architekten Büros, die Seriosität und Modernität zugleich ausstrahlen. In einem Bestandsgebäude konnte ein differenziertes Rauman- gebot realisiert werden, das den Bedürfnissen der Belegschaft entspricht.

Der Graue Star, in der Fachsprache Katarakt genannt, ist eine vorwiegend altersbedingte Eintrübung der natürlichen Augenlinse, die zu einem Verlust der Sehschärfe, zu eingeschränkter räumlicher Wahrnehmung und zu einer deutlichen Reduktion der Farbwahrnehmung führt. Behandelt wird diese verbrei- tete Erkrankung heute mithilfe der sogenannten Intraokularlinsen – künstliche Linsen, die operativ ins Auge implantiert werden. Ein renommierter Hersteller dieser medizintechnischen Hightech-Produkte ist die Carl Zeiss Meditec. Das expandierende Unternehmen, bisher im brandenburgischen Henningsdorf ansässig, bezog im Januar dieses Jahres einen neuen Standort im Berlinbiotechpark. Dieser, auf Firmen aus dem Bereich Life Science spezialisierte, nicht weit vom Charlottenburger Schlosspark gelegene Gewerbepark, einst ein Betriebsgelände des Berliner Pharma-Konzerns Schering, bot dem Unternehmen die Möglichkeit, seine bis dato in getrennten Gebäuden untergebrachten Abteilungen unter einem Dach zu vereinen. Produktion (unter Reinraumbedingungen), Forschung und Verwaltung fanden hier, in einem nach den Bedürfnissen des neuen Nutzers umgebauten Bestandsgebäude Platz.

Das Büro als Visitenkarte

Mit der Gestaltung der beiden aus logistischen Gründen (direkte Verbindung zum Produktionstrakt) über zwei Stockwerke voneinander getrennten Büroetagen für rund 80 Mitarbeiter wurde das in Berlin ansässige Büro WeberWürschinger Architekten beauftragt. Gefordert war ein Arbeitsumfeld, das sich durch Offenheit und Transparenz auszeichnen und die interne Kommunikation befördern sollte. Dabei galt es, strenge Konzernvorgaben hinsichtlich Flächeneffizienz und Möblierungskosten einzuhalten. Im Verständnis von WeberWürschinger Architekten, die im Bereich Bürogestaltung einschlägige Erfahrungen vorweisen können, hängt die Glaubwürdigkeit eines Unternehmens und seiner Produkte entscheidend von einem Einklang zwischen den kommunizierten Werten und den vielfältigen Erscheinungsweisen einer Firma ab. Der (Innen-)Architektur kommt dabei eine bedeutende Rolle zu, denn in der Gestaltungsqualität der Arbeitsplätze spiegelt sich – nach außen ebenso wie nach innen – die Wertschätzung des Unternehmens für seine Belegschaft unmittelbar wider. Von dieser Überzeugung ausgehend und auf der Basis intensiver Gespräche mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, bei denen es um das Verständnis der internen Arbeitsabläufe und um die Abklärung von Bedürfnissen hinsichtlich des konkreten Arbeitsplatzes ging, entwickelten die Architekten einen Lösungsansatz, der mit einem deutlich differenzierten räumlichen und atmosphärischen Angebot aufwartet. Dabei gelang es, zentrale Themen der Gestaltung, wie etwa der Umgang mit Licht und Farbe, aus dem Tätigkeitsfeld des Unternehmens zu generieren.

Spaces, Spots und Rooms

Im Kern sieht ihr Entwurf für die langrechteckig geformten, durch eine zentrale Stützenreihe geteilten Büroetagen die Aufgliederung in drei sich entlang der Längsachse entfaltenden Raumzonen vor. Als »Spaces«, »Spots« und »Rooms« bezeichnet, setzen sich diese Zonen hinsichtlich ihrer binnenräumlichen Struktur und ihrer gestalterischen Ausformulierung klar voneinander ab. Die an der Nordseite der Etagen gelegenen Spaces sind als »öffentlicher« und entsprechend als betont offener und heller Bereich konzipiert. Zwischen den linear angeordneten Tischgruppen für jeweils sechs Mitarbeiter stehen halb- hohe Aktenschränke, die dieser Raumzone eine gleichmäßige, kojenartige Struktur verleihen. Die mit verschiedenfarbigen Textilpaneelen bespannten Schranktüren, die sich nach oben aufschieben lassen, verstärken die Segmentierung des Raums und brechen zugleich, da in der Regel nicht alle Türen gleichzeitig geöffnet sind, zumindest optisch die Gleichförmigkeit der sonst recht klassisch-rigiden Büro-Ordnung. Unterstützt wird dieser Effekt durch die sorgfältig ausgewählten Farben der Textilpaneele. Die hier verwendeten Blau- und Grüntöne entwickeln eine unaufgeregte Präsenz im Raum und sorgen für eine lebendige und dennoch sachlich-nüchterne Anmutung. Die mittlere Zone der Büroetage wird von den Spots eingenommen. Dabei handelt es sich um kreisrunde, raumbildende Möbelelemente, die sich hinsichtlich ihres Durchmessers, ihrer Höhe, ihres Öffnungsgrads, ihrer räumlichen Ausrichtung und ihrer Nutzung unterscheiden. Während die niedrigen Rauminseln etwa als Empfangstresen oder als Teeküche dienen, bieten sich die höheren Spots als quasi halböffentliche, temporär genutzte Rückzugsorte an: für die Arbeit allein oder in kleinen Gruppen, für Besprechungen und Präsentationen mit maximal acht Personen. Gemeinsam ist den Spots, ihre weiße, konkav geformte Außenhaut, die aus einer mittels LED-Bändern hinterleuchteten Kunststoffbespannung besteht. Sie verleiht den Inseln eine optische Leichtigkeit, die durch die Schattenfugen am Boden noch hervorgehoben wird. Wer mag, kann in der konkaven gewölbten Haut auch einen gestalterischen Bezug zum Produkt des Unternehmens erkennen. Die scheinbar spielerische Anordnung der Spots im Raum betont ihren eher informellen Charakter und bringt zugleich ein heiter-beschwingtes Moment in die Gestaltung ein.

Die Südseite der Büroetage wird von den Rooms eingenommen. Dabei handelt es sich um geschlossene Einzel- und Gruppenbüros, die hinter einer leicht gezackten, mit Nussbaumfurnier vertäfelten Wand liegen. Auf Wunsch der Belegschaft angelegt, repräsentieren diese nach Bedarf und auf Zeit vergebenen Räume den »privaten« Bereich innerhalb des Gesamtkonzepts. In markantem Gegensatz zu den Spaces herrschen in den Rooms gedämpftes Licht und dunklere, eher gedeckte Farben vor. Das erzeugt eine introvertierte, ruhige Atmosphäre, die einen idealen Rahmen für konzentrierte Arbeit bildet.

Auf der Grundlage eines klaren, mit großer Konsequenz umgesetzten Konzepts entstand hier eine offene, kommunikative Bürowelt, die sich durch atmosphärische Vielfalt und ein abwechslungsreiches Raumangebot auszeichnet. Die positive Reaktion sowohl der Bauherren als auch der Belegschaft bestätigen die Qualität des Ansatzes. Ästhetisch auf der Höhe der Zeit, gelang es den Architekten auf überzeugende Weise, den Eindruck von Seriosität und Modernität miteinander zu verbinden. Ohne auf Elemente einer klassischen CI zurückzugreifen, schufen sie einen Ort mit hohem Identifikationspotenzial und repräsentativer Ausstrahlung – im besten Sinn eine Visitenkarte des Unternehmens.

db, Mo., 2012.10.01



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db 2012|10 Arbeitswelten

04. Mai 2011Mathias Remmele
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Kühner Einschnitt

Bei der Revitalisierung der einst für die Textildruckerei Pausa in Mössingen errichteten Tonnenhalle ist es in vorbildlicher Weise gelungen, Denkmalschutz, zeitgemäße Architektur und heutige Nutzungsansprüche unter einen Hut zu bekommen.

Bei der Revitalisierung der einst für die Textildruckerei Pausa in Mössingen errichteten Tonnenhalle ist es in vorbildlicher Weise gelungen, Denkmalschutz, zeitgemäße Architektur und heutige Nutzungsansprüche unter einen Hut zu bekommen.

Um Mössingen zu kennen, muss man schon recht vertraut mit der schwäbischen Provinz sein– oder aber etwas von Textildesign verstehen. Denn dann weiß man, dass in dieser 15 km südlich von Tübingen, recht malerisch am Fuß der Schwäbischen Alb gelegenen Kleinstadt lange Zeit eine der feinsten Adressen der deutschen Textilindustrie ihren Sitz hatte: die Pausa AG. Internationale Bedeutung erreichte das vorwiegend im Bereich des Textildrucks tätige Unternehmen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – einerseits durch seine drucktechnischen Innovationen, andererseits durch seine Zusammenarbeit mit wichtigen zeitgenössischen Künstlern und Designern. Auch in der Firmenarchitektur spiegelte sich das anspruchsvolle gestalterische Selbstverständnis des Unternehmens wider. Zwischen 1950 und 1962 entwarf und realisierte der in Stuttgart ansässige Architekt Manfred Lehmbruck – ein Sohn des Bildhauers Wilhelm Lehmbruck und einer der bedeutendsten Vertreter der Nachkriegsmoderne im deutschen Südwesten – für die Pausa AG einen aus zwei Fabrikationshallen, Kesselhaus, Werkstätten und Verwaltungsbau bestehenden Firmensitz. Dieses modernistische Gebäudeensemble, das einen herausragenden Beitrag zur Industriearchitektur der 50er Jahre darstellt, hat sich bis heute weitgehend unverändert erhalten.

Nach der Insolvenz der Pausa AG im Jahr 2004 und der wenig später erfolgten Unterschutzstellung der Firmenbauten durch die Denkmalbehörde erwarb die Stadt Mössingen das Areal. Über die künftige Nutzung des Pausa-Quartiers, das zwischenzeitlich in ein Fachmarkt-Zentrum umgewandelt zu werden drohte, entspann sich bald eine intensive Diskussion. Beraten von dem auf städtebauliche Problemlagen und Konversionsflächen spezialisierten Büro Baldauf Architekten aus Stuttgart entschloss man sich schließlich, die Revitalisierung des Areals schrittweise anzugehen und mit der sogenannten Tonnenhalle zu beginnen. Verschiedene Nutzungsszenarien wurden durchgespielt, bevor ein wirtschaftlich tragfähiges und dem kulturellen Stellenwert des Gebäudes adäquates Konzept entstand. Neue Hauptnutzerin des Industriebaus sollte die Stadtbücherei werden; Büroflächen für die Diakonie-/Sozialstation sowie den Regionalverband Neckar-Alb kamen hinzu. Eine großzügig bemessene Gewerbefläche komplettierte den Nutzungsmix, der die Planungsgrundlage für die Umbau- und Sanierungsmaßnahmen bildete. Nach einem Entwurf von Baldauf Architekten begannen 2008 die umfangreichen, rund 11 Mio. Euro teuren Bauarbeiten. Im Februar diesen Jahres konnte das Gebäude seinen neuen Nutzern übergeben werden.

Deckenschnitt als Problemlösung

Die 1950/51 errichtete Tonnenhalle war der erste Bau, den Manfred Lehmbruck für die Pausa realisierte. Seinen Namen verdankt das knapp 80 m lange und fast 30 m breite, zwei Stockwerke umfassende Fabrikationsgebäude seiner markanten Dachkonstruktion, die aus neun in Beton gegossenen Tonnenschalen besteht. Die von nur einer mittig angeordneten Stützenreihe durchzogene Halle nimmt das gesamte obere Stockwerk des Gebäudes ein. In diesem, dank großzügiger Oberlichter und seitlichen Fensterbändern lichtdurchfluteten Raum, standen einst dicht gedrängt die bis zu 65 m langen Drucktische, die das Herzstück der Pausa-Produktion ausmachten. Im EG befanden sich die Farbküche und einige Atelierräumlichkeiten. Der Rest der Fläche wurde als Lagerraum für Farben, Drucksiebe und sonstige Materialien genutzt.

Während es für die Umnutzung der hellen, räumlich überaus reizvollen Tonnenhalle zahlreiche Optionen gab, bereitete das niedrige EG, den Planern einiges Kopfzerbrechen. Denn nur in den Randzonen kam durch die seitlichen Fensterbänder ausreichend Tageslicht ins Innere des Gebäudes.

Um dieses Kardinalproblem zu lösen, entwickelte das Projektteam von Baldauf Architekten die kühne Idee, die Decke des EG entlang der zentralen Stützenreihe über eine Länge von rund 50 m und eine Breite von etwa 6 m herauszuschneiden. Dieser gleichsam chirurgische Eingriff in den Baukörper – der als solcher im Gebäude selbst ablesbar bleibt – erweist sich als funktionaler und gestalterischer Glücksfall, der die Zukunftsfähigkeit des Gebäudes sichert, ohne dabei seinen Denkmalwert zu schmälern. Der Deckenschnitt bringt einerseits Tageslicht in die bisher düstere Kernzone des EG, das sich auf diese Weise vom dunklen Gelass zum großzügigen Foyer wandelt, andererseits ermöglichte er die Anlage einer rund 30 m langen Rampe zur Erschließung des OG, in dessen nördlicher Hälfte jetzt die Stadtbücherei eine neue Heimat gefunden hat. Der Südteil der ehemaligen Produktionshalle ist als Gewerbefläche ausgewiesen. Die neu eingezogenen gläsernen Wände, die diese beiden Bereiche voneinander trennen, sorgen dafür, dass die visuelle Einheit des Raums in seinen ursprünglichen Dimensionen erhalten bleibt.

Die Grundrissplanung für das EG fiel denkbar einfach und sachlich überzeugend aus. Die Büros für die Diakonie-/Sozialstation und den Regionalverband nehmen die gut belichteten Längsseiten des Gebäudes ein. Daneben bleibt Platz für einen Vortragsraum und für die original erhaltene, durch eine Glaswand geschützte alte Farbküche, die auf die industrielle Vorgeschichte der Tonnenhalle verweist. Die Funktionsräume und die sekundäre Erschließung wurden an die Schmalseiten des EG gerückt, dessen zentraler Bereich jetzt als großes Foyer dient. Dieser Raum hat – nicht zuletzt dank seiner gestalterischen Ausformulierung – einen durchaus repräsentativen Charakter und bietet sich auch für Veranstaltungen wie etwa Empfänge oder kleine Ausstellungen an. Das beherrschende architektonische Element ist hier die bis auf eine V-förmige Betonstütze freitragende Rampe mit ihrer markanten, rot gestrichenen Stahlbrüstung, die sich im OG als Geländer fortsetzt. Wer möchte, darf dieses schmale Stahlband als gestalterische Anspielung auf die langen Stoffbahnen lesen, die in der Tonnenhalle einst bedruckt wurden.

Während im Innern des Gebäudes der strukturelle Eingriff direkt thematisiert wird, zeigt sich die Halle an ihren beiden Breitseiten mit der charakteristisch geschwungenen Dachkante weitgehend unverändert in ihrer (wieder hergestellten) ursprünglichen Farbfassung (s. S. 25). Nur an den Stirnseiten, die nicht unter Schutz standen, wird die Umnutzung des Gebäudes auch äußerlich sichtbar. An der Westfassade fällt der bis zum Boden verglaste, aus dem Gebäudevolumen auskragenden »Leseerker« der Stadtbücherei ins Auge. Mit ihm korrespondiert an der Ostfassade das deutlich größere »Panoramafenster«. Durch seine riesige, zweigeteilte Glasscheibe erlaubt es einen Ausblick, der über den wenig attraktiven Parkplatz des direkt benachbarten Drogeriemarkts hinweg bis auf die Berge der Schwäbischen Alb reicht. Zugleich ermöglicht dieses dezidiert zeitgenössisch anmutende »Schau-Fenster«, vor allem bei Nacht, einen spannenden Einblick ins Innere des Gebäudes.

Starkes Konzept und fruchtbare Kooperation

Das Bauen im denkmalgeschützen Bestand gleicht einer Gratwanderung. Auf der einen Seite gibt es den Imperativ des Denkmalschutzes, die originale Substanz soweit irgend möglich zu erhalten und sichtbar zu machen, auf der anderen Seite gilt es den heute gültigen Vorschriften hinsichtlich Gebäudesicherheit bzw. Klimaschutz gerecht zu werden und die legitimen Bedürfnisse künftiger Nutzer zu berücksichtigen. Schließlich ist mit einem in der Regel beschränkten Budget zu planen. Angesichts dieser komplexen Gemengelage kann ein Projekt nur dann auf überzeugende Weise gelingen, wenn ein klares, in sich stringentes architektonisches Konzept vorliegt und alle an einem solchen Bau Beteiligten – die Bauherrschaft, der Denkmalschutz, die Genehmigungsbehörden, die Fachplaner und nicht zuletzt die ausführenden Handwerksbetriebe – mit Engagement und der Bereitschaft zu ungewöhnlichen Lösungen an einem Strang ziehen. All dies war in Mössingen beim Umbau der Tonnenhalle gegeben und ist am fertigen Gebäude anhand zahlloser Details ablesbar. Dabei war es für das stimmige Erscheinungsbild dieses Projekts sehr vorteilhaft, dass Michael Frank auch für die Innenarchitektur und Möblierung verantwortlich zeichnete. Nur so konnte es gelingen das Materialkonzept (Grundsatz: alte Bauteile mit einer rauen, belebten Struktur; alle neuen Elemente mit glatter, scharfkantiger Struktur), das Farbkonzept (vorherrschender Farbdreiklang aus Weiss, Schwarz und Silbergrau; Pausa-Blau für einige historische Details, Rot für die Rampenbrüstung) und das Lichtkonzept (Grundbeleuchtung jeweils durch »Lichtlinien«), die dem Gebäude heute sein Gepräge geben, wirkungsvoll umzusetzen.

Gebäudeenergetische Maßnahmen – etwa der Einbau von Thermoglasscheiben und eine effektive Dämmung der dünnwandigen Betonschalen des Daches – beeinträchtigen das Erscheinungsbild des Baudenkmals ebenso wenig wie die notwendige Installation einer leistungsstarken Entrauchungsanlage. Im Ergebnis präsentiert sich die Tonnenhalle jetzt als ein zeitgenössischer Bau mit industrieller Vergangenheit, in dem Alt und Neu in einem spannungsvollen, aber stets harmonischen Dialog stehen. Der erste Schritt zur Wiederbelebung des Pausa-Quartiers – und damit zur Erhaltung eines bedeutenden Zeugnisses der Industriekultur – ist auf vorbildliche Weise gelungen. Was mit den übrigen Pausa-Bauten geschieht, steht zurzeit noch nicht definitiv fest. Sollte es in Mössingen auf einem vergleichbaren konzeptionellen und gestalterischen Niveau weitergehen, wird alles gut.

db, Mi., 2011.05.04



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db 2011|05 Respekt und Perspektive

17. August 2010Mathias Remmele
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Bizarre Stadtreparatur

Ebenso Skulptur wie Gebäude, wurde das »L40« auf eine spezielle Nutzergruppe zugeschnitten: Sammler finden darin Räume, die genügend Wände, ausreichend Höhe und das richtige Licht bieten, um Kunstwerke zu präsentieren und mit ihnen zu wohnen. Zugleich ist die skurrile Erscheinung ein Stück kluge Stadtreparatur an einem Ort in Berlin Mitte, der vorher eigentlich nicht bewohnbar schien.

Ebenso Skulptur wie Gebäude, wurde das »L40« auf eine spezielle Nutzergruppe zugeschnitten: Sammler finden darin Räume, die genügend Wände, ausreichend Höhe und das richtige Licht bieten, um Kunstwerke zu präsentieren und mit ihnen zu wohnen. Zugleich ist die skurrile Erscheinung ein Stück kluge Stadtreparatur an einem Ort in Berlin Mitte, der vorher eigentlich nicht bewohnbar schien.

Dunkel, scharfkantig und seltsam zerklüftet steht es da, dieses Haus. Bald wirkt es düster-geheimnisvoll mit seinen schwarz pigmentierten Sichtbetonfassaden und den großen geschlossenen Wandflächen.

Bald erscheint es fast leicht und offenherzig dank seiner weiten Auskragungen und seiner großzügigen, zu langen Bändern zusammengefassten Fenster. Nicht einfach zu sagen, was es eigentlich sein soll, dieses Bauwerk. Nur dass es selbstbewusst und Aufmerksamkeit heischend seinen zu drei Seiten von Straßen begrenzten Platz besetzt. Erst bei genauerer Betrachtung entpuppt sich das zwischen Linien-, Rosa-Luxemburg- und Torstraße gelegene Gebäude, das unter dem Namen L40 firmiert, als Wohnhaus – als ein besonderes freilich, in fast jeder Hinsicht.

Erdacht vom Architekten Roger Bundschuh und der Künstlerin Cosima von Bonin, planerisch umgesetzt und realisiert vom in Berlin ansässigen Büro BundschuhBaumhauer (seit Kurzem: Bundschuh Architekten), wurde das Wohngebäude auf die Bedürfnisse einer ganz spezifischen Zielgruppe hin konzipiert: auf Kunstsammler, die mit ihrer Kunst leben und auch im Alltag das Unkonventionelle schätzen.

Kerbe für mehr Licht, Schaum gegen Lärm

Die Besonderheiten des L40 fangen bereits mit dem Grundstück an. Die mit rund 440 m² für Berliner Verhältnisse kleine, unregelmäßig geschnittene Parzelle ist historisch, wurde aber vor Kurzem noch als Straße genutzt. Ihre Wiederauferstehung als Bauplatz verdankt sie der behutsamen Stadtreparatur (Planwerk Innenstadt), in deren Rahmen man, nicht zuletzt mit dem Ziel der Verkehrsberuhigung, den alten Verlauf der Rosa-Luxemburg- Straße wiederherstellte. Die Vorgabe für die Neubebauung des Areals lautete auf Schließung des um einen klein dimensionierten Hof gruppierten Häuserblocks und auf Einhaltung der städtebaulichen Raumkanten. Um nun den Hofraum nicht wieder zu einem jener lichtlosen Schächte werden zu lassen, für die das »steinerne Berlin« einst berüchtigt war, entschieden sich die Architekten, dem Baukörper zur Rosa-Luxemburg-Straße hin jene charakteristische Einkerbung zu verleihen, die wesentlich zu seinem expressiven Charakter beiträgt.

Das bringt im Zusammenspiel mit der verglasten Zone im EG und 1. OG Licht in den Hof und lässt nebenbei Dachterrassen für zwei Mietparteien entstehen.

Aus einer weiteren Besonderheit – der exponierten städtebaulichen Lage der Parzelle – ergaben sich hingegen Probleme, die nur mit Hilfe der Technik gelöst werden konnten. Das L40 steht an einer verkehrsreichen und entsprechend lärmbelasteten Ecke. Da ist nicht nur der Autoverkehr auf der mehrspurigen, stark befahrenen und auch noch als Tram-Trasse dienenden Torstraße, von der just hier die ebenfalls stark frequentierte Schönhauser Allee abzweigt. Da gibt es außerdem, um die Lärmkatastrophe perfekt zu machen, die unterhalb der Rosa-Luxemburg-Straße verlaufende U-Bahn-Linie, die regelmäßig für Erschütterungen sorgt. Gegen diese akustischen und seismischen Zumutungen wurde eine kostspielige elastische Gebäudelagerung realisiert: Das L40 ist also nicht fix mit dem Untergrund verbunden, sondern steht in einer mit Polyurethanschaummatten ausgekleideten Wanne. Den Rest besorgen optimal schallisolierte Fenster.

Wohnen wie im Aquarium

Der Effekt ist verblüffend. Aus den Wohnungen blickt man auf den pulsierenden Großstadtverkehr, der visuell eine ungeheure Präsenz entwickelt und dabei, wie im Stummfilm, völlig lautlos an einem vorbei zu rollen scheint. Gar nicht besonders hingegen sind die Gewerberäume im EG und 1. OG sieht man von den verzerrten Grundrissen, die sich weitgehend aus dem Zuschnitt des Grundstücks ergeben, einmal ab. Ganz anders ist es um die insgesamt acht Wohnungen bestellt: Zwischen 70 und 215 m² groß, bieten sie räumliche Qualitäten und Grundrisslösungen, die man nicht so schnell findet.

Die Kunstsammler-Menschen, die sie bewohnen sollen, das sei vorausgeschickt, sind idealerweise Singles, oder sie leben – wie auch immer verpartnert – zu zweit. Für größere Haushalte (Kinder oder dergleichen) fehlen weniger die Flächen als vielmehr die Räumlichkeiten.

Zum Konzept der Sammlerwohnungen gehören zum einen die großen, geschlossenen Wandflächen, die den Räumen immer wieder eine galerieartige Anmutung verleihen – vor allem in den Wohnungen, die partiell über Oberlichtbänder erhellt werden –, zum anderen aber auch eine klare Differenzierung von (halb-)öffentlich-extrovertierten und privaten, introvertierten Situationen. Während zur letzteren Kategorie vor allem die Schlafräume zählen, die fast immer zum Hof oder zur eher ruhigen Linienstraße hin orientiert sind, liegen die sich nach außen öffnenden Wohnküchen und die eigentlichen Wohnzimmerzonen in der Regel zur Rosa-Luxemburg-Straße hin. Über raumhohe Fenster oder lange Fensterbänder wird hier der Bezug zur umgebenden Stadt gesucht. Dabei korrespondiert der großzügige Ausblick, zumindest bei Nacht, mit einem ebenso großzügigen Einblick in die Wohnungen. Mit anderen Worten, das L40 ist ein Haus für Leute, die nicht nur ihre Kunst gerne anschauen und herzeigen, sondern auch Spaß daran haben, sich selbst und ihr Alltagsleben zumindest partiell auszustellen.

Buhlen um die Gunst der Wenigen

Was sonst noch Erwähnung finden sollte: Die beeindruckende Raumhöhe, die Altbauniveau erreicht und durch extrem hohe Türöffnungen betont wird. Loggien und/oder Dachterrassen, die man gern hätte. Ein schönes, sich immer wieder trichterförmig verengendes Treppenhaus. Die gehobene, durchweg geschmackvolle Ausstattung, die ihren Preis haben wird. Freilich, über Gelddinge mag die Bauherrschaft keine Auskünfte geben.

Haustechnisch bietet das Haus dabei nur Standard: Fußbodenheizung und Warmwassernetz werden konventionell von einer Gastherme gespeist. Schon ungewöhnlicher ist die Konstruktion der Außenwände: Auf Ortbeton als Tragstruktur folgen 80 mm Kerndämmung und eine vorgehängte Schale aus eingefärbtem Leichtbeton (s. Detailbogen ab S. 86).

Die am meisten diskutierte und auffälligste Besonderheit des L40 betrifft seine formale Erscheinung. Die erklärt sich partiell durch die städtebauliche Situation und die intendierte Nutzung. Wenn Roger Bundschuh in diesem Zusammenhang von einer betont anti-bürgerlichen Ästhetik spricht, die durchaus provokativen Charakter haben soll, bezieht er das wohl kaum auf die Gestalt des Baukörpers, denn hier sind die Bezüge zum Formenvokabular des Russischen Konstruktivismus und der Klassischen Moderne zu offensichtlich, um öffentliches Ärgernis zu erregen. Möglicher Stein des Anstoßes ist vielmehr die Fassadenfarbe, für die es in diesem Fall keine rationale Erklärung gibt. Schwarz erregt eben manche Gemüter. Andere mögen es.

Wir finden, das Schwarz passt hier gut ins Programm – nicht allein weil es gewisse Klischees bedient, sondern weil das L40 ja grundsätzlich kein gefälliges Haus sein will. Es buhlt nicht um das Lob der Vielen, sondern setzt auf die Bewunderung der Wenigen, die seine Eigenart zu schätzen und zu nutzen wissen. Man mag es auf der ästhetischen Ebene kritisieren und seine Konzeption als elitär-individualistisch brandmarken. Die Konsequenz und formale Stimmigkeit aber, mit der hier ein besonderes Programm umgesetzt wurde, erscheint vorbildlich. Das L40 ist vielleicht ein Sonderling, aber kein Störenfried. Es fügt sich, eigene Akzente setzend, hervorragend ein in jenen stilistischen Mix, der Berlin über weite Strecken prägt und zu einem architektonisch spannenden Ort macht.

db, Di., 2010.08.17



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db 2010|08 Wohnlabor Berlin

09. Februar 2010Mathias Remmele
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Schmuckhaut vom Baumarkt

Der enge Kostenrahmen machte es den Architekten nicht leicht, dem disparaten Umfeld etwas Wertigkeit zukommen zu lassen. Mit der dreidimensionalen Struktur von Aluminium-Streckmetalltafeln belebten sie die großen Fassadenflächen des Baukörpers. Sie erscheinen je nach Blickwinkel durchscheinend oder metallisch reflektierend. Zu Kreissegmenten gebogene Platten bringen zusätzlich Bewegung in die Fläche der Längsseite. Der Versuch, mit wenig viel zu erreichen, ist nicht in aller Konsequenz erfolgreich verlaufen.

Der enge Kostenrahmen machte es den Architekten nicht leicht, dem disparaten Umfeld etwas Wertigkeit zukommen zu lassen. Mit der dreidimensionalen Struktur von Aluminium-Streckmetalltafeln belebten sie die großen Fassadenflächen des Baukörpers. Sie erscheinen je nach Blickwinkel durchscheinend oder metallisch reflektierend. Zu Kreissegmenten gebogene Platten bringen zusätzlich Bewegung in die Fläche der Längsseite. Der Versuch, mit wenig viel zu erreichen, ist nicht in aller Konsequenz erfolgreich verlaufen.

Eine Dreifeldhalle gemäß DIN 18032 gehört wahrlich nicht zu den attraktivsten und prestigeträchtigsten Aufgaben des Architektenberufs. Um so weniger, wenn eine solche Funktionskiste mit minimalem Budget und an einer verkehrsreichen innerstädtischen Einfallstraße zu realisieren ist. Im Normalfall wird dafür, ohne besondere gestalterische Energie aufzuwenden, eine pragmatisch-praktische Lösung gesucht.

Eine Ausnahme von dieser Regel bildet die Dreifeldhalle »Reiferbahn«, die das dort ansässige Architekturbüro jäger jäger in der Mecklenburg-Vorpommerschen Landeshauptstadt Schwerin errichtete. Denn hier ist, trotz Vorgabenkorsett und karger Finanzen eine Sporthalle entstanden, die, zumindest in ihrer äußeren Erscheinung, nicht nach der Norm geraten ist.

Damit ist freilich schon angedeutet, dass sich das Interesse an diesem Bau auf die Fassade konzentriert und über das Innere der Halle nicht viele Worte zu verlieren sind. Programmflächen, Materialeigenschaften und Belichtung – hier ist vieles durch die DIN geregelt und entsprechend ausgeführt. Erwähnenswert ist neben der kleinen, karg gestalteten Besuchertribüne für exakt 199 Zuschauer, die sich oberhalb der Geräteräume befindet, das Eingangsfoyer. Seitlich aus dem Gebäudevolumen herausragend, ist es als kleine, doppelstöckige Halle ausgeführt. Ebenerdig sind von hier aus die Umkleiden erreichbar, eine einläufige Treppe erschließt die Besuchertribüne. Der Raum, der durch seine ungewöhnlichen, aber ansprechenden Proportionen gefällt, ist so dimensioniert, dass er auch für kleinere Empfänge und Feiern genutzt werden kann.

Dynamisches Erscheinungsbild

Die vom nahe gelegenen Gymnasium Fridericianum für den Schulsport und auch vom Sportverein Grün-Weiß Schwerin genutzte Halle liegt an der Reiferbahn, einer, an der Bahntrasse entlang führenden, innerstädtischen Erschließungsstraße, die vorwiegend dem Autoverkehr dient und nicht nur deshalb jeglichen Charme vermissen lässt. Die städtebauliche Situation zwischen der Straße, der Rückseite einer zur Wohnanlage umgebauten alten Kaserne und den Hinterhäusern der Wallstraße schien den Architekten dabei so hoffnungslos, dass sie die Halle demonstrativ als kubischen Solitär auf das dafür vorgesehene Areal platzierten. Um sie in diesem disparaten Umfeld dennoch hervorzuheben, entschlossen sie sich, den kantigen, auf die Reiferbahn ausgerichteten Baukörper in eine auffällige, weil außergewöhnliche Hülle zu stecken – in ein Kleid aus schimmernden Aluminium-Streckmetall-Tafeln. Während sich diese horizontal geschichtete Metallhaut an den geschlossenen Seiten sowie an der Rückfassade der Halle als plane Fläche präsentiert, wölbt sie sich auf der Schauseite zur Straße hin in einer gleichmäßig rhythmisierten Wellenbewegung auf. Vorgegeben wird der Rhythmus durch schmale, hochrechteckige Fensteröffnungen, die, in mehreren Reihen übereinander und jeweils zueinander versetzt, die Fassade rasterförmig gliedern. Fast macht es den Eindruck, als hätten die opaken Fensterschlitze, um sich Platz zu schaffen, die Metallplatten zusammengeschoben und dadurch deren nach außen gerichtete Wölbung verursacht. Die optische Wirkung der asymmetrisch ausgebildeten konvexen Ausbuchtungen der Streckmetall-Tafeln, die der Fassade zugleich Plastizität und Dynamik verleihen, ist beachtlich. Geschickt verstanden es die Architekten die strukturelle Besonderheit des Streckmetalls zu nutzen: Wer das Gebäude betrachtet, sieht, je nach Perspektive, mal eine weitgehend geschlossene, das Licht reflektierende, mal eine semi-transparente Metallhaut, die den Blick auf die darunter liegenden tragenden Außenwände freigibt. Und wer an der Halle vorbeigeht, dem mag es vorkommen, als ob quasi die gesamte Gebäudehülle dynamisiert sei und jede Bewegung nachvollziehe. Das ist ein schöner Effekt, ebenso schön wie die Reflexion des Sonnenlichts auf der silbrig glänzenden Aluminiumhaut, die das Gebäude bisweilen überaus kostbar erscheinen lässt.

Freilich, auch in Schwerin scheint nicht alle Tage die Sonne. Und so ist es gerade die industrielle Anmutung des Streckmetalls, die einerseits den Architekten faszinierte und zur Wahl dieses Materials anregte, die andererseits aber auch dazu führt, dass die Sporthallenhaut (vor allem an den drei Gebäudeseiten, an denen die Metalltafeln eine ebene Oberfläche bilden) abhängig vom Blickwinkel und den Lichtverhältnissen ungefähr die gleiche ästhetische Wertigkeit vermittelt wie eine billige Baumarktfassade. Der Sporthalle mit Hilfe der Metallhülle etwas vom Charakter eines Gewerbebaus zu verleihen, um auf diese Weise die solitäre Sonderstellung des Gebäudes zu betonen, erweist sich also als zweischneidige Maßnahme. Das wiegt umso schwerer, als die Streckmetall-Haut der Halle rein als »Schmuckkleid« ohne weitere Funktion konzipiert ist. Akustisch oder bauphysikalisch bleibt sie ebenso wirkungslos wie als »Schutzschild«. Zwar haben Sprayer wenig Freude am Streckmetall, gegen einen Vandalismus der gröberen Sorte ist das Material aber nicht gefeit, wie vor Ort die zahlreichen unschönen Trittdellen im unteren Bereich der Fassaden bezeugen.

Wenn es richtig ist, dass sich die Qualität eines gestalterischen Produkts an den Detaillösungen erweist, vermag die Fassade der Sporthalle auch in dieser Hinsicht nicht immer zu überzeugen: Da ist etwa die bei genauer Betrachtung recht auffällige, von unten nach oben mit jeder Reihe zunehmende Größe der Öffnungen in den Metalltafeln, die eigentlich dem Zweck dienen sollte, die Fassadenhaut optisch möglichst homogen erscheinen zu lassen. Die feinen Übergänge in der Öffnungsweite, die dafür notwendig gewesen wären, ließen sich aber mit den Standard-Tafeln, die aus Budgetgründen verbaut werden mussten, nicht erreichen. Jetzt entfalten die unterschiedlichen Maschenweiten der Streckmetallpaneele leider eine eher gegenteilige Wirkung.

Da sind die Ecken der Straßenfront, wo die Aufwölbungen der Metallpaneele genau an der Stelle abbrechen, an der der Fassadenraster nicht mehr aufgeht und man den Eindruck gewinnt, als hätten sich die Architekten hier vorschnell mit der einfachsten Lösung zufrieden gegeben. Da ist die unterste Reihe der gewölbten Bleche, die aufgrund des leicht abschüssigen Geländes zum Teil stark angeschnitten werden mussten. Da sind schließlich die fünf versetzt übereinander gestaffelten Fensterreihen der Hauptfassade, die von außen betrachtet zwar ein grafisch ansprechendes Bild abgeben, aber fast zur Hälfte nur der Fassadengrafik dienen, weil ein großer Teil hinter der Dachkonstruktion bzw. hinter der die Spielfläche begrenzenden Prellwand verborgen liegt. Ein zwiespältiger Eindruck also, den dieses an sich ambitionierte Projekt am Ende hinterlässt.

db, Di., 2010.02.09



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db 2010|02 Material wirkt

05. August 2009Mathias Remmele
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Fassaden - Patchwork

Was ist - nicht nur in Berlin - über das Schützenstraßenquartier und die Begleitumstände seiner Entstehung Mitte der neunziger Jahre nicht geredet, gerätselt und diskutiert worden?! Aus heutiger Sicht kommt einem das kaum noch nachvollziehbar, ja seltsam surreal vor. Wir erinnern uns in diesem Zusammenhang mühsam an ein paar Stichworte: »kritische Rekonstruktion« zum Beispiel, »Block und Parzelle« oder »Europäische Stadt« - und ermessen sogleich, wie sehr das alles schon Geschichte ist: vorbei, verweht, vergessen. Ganz entspannt lässt sich das Quartier heute betrachten.

Was ist - nicht nur in Berlin - über das Schützenstraßenquartier und die Begleitumstände seiner Entstehung Mitte der neunziger Jahre nicht geredet, gerätselt und diskutiert worden?! Aus heutiger Sicht kommt einem das kaum noch nachvollziehbar, ja seltsam surreal vor. Wir erinnern uns in diesem Zusammenhang mühsam an ein paar Stichworte: »kritische Rekonstruktion« zum Beispiel, »Block und Parzelle« oder »Europäische Stadt« - und ermessen sogleich, wie sehr das alles schon Geschichte ist: vorbei, verweht, vergessen. Ganz entspannt lässt sich das Quartier heute betrachten.

Zugegeben, Gebäude, die ein Alter von zehn bis 25 Jahren erreicht haben, haben es grundsätzlich schwer. Ihr Neuigkeitswert ist längst aufgebraucht und für eine Wiederentdeckung - unter welchem Vorzeichen auch immer - ist es entschieden zu früh. Im besten Fall betrachtet man sie wie gute alte Bekannte, für gewöhnlich aber würdigt man sie nach einer Weile nicht einmal mehr eines Blickes. Das ist der Lauf der Dinge und eigentlich nicht weiter zu beklagen - jedenfalls solange diese menschliche Ignoranz nicht zu vorschnellen, irreparablen Abrissentscheidungen führt. Es gibt freilich Beispiele, bei denen zwischen anfänglicher Beachtung und dem späteren In-Vergessenheit-Geraten ein solches Missverhältnis besteht, dass man es schon fast tragisch nennen möchte. Zu diesen Bauten zählt Aldo Rossis Quartier Schützenstraße in Berlin.

Aldo Rossi, der in den achtziger Jahren den europäischen Diskurs über Architektur und Städtebau durch seine Bauten und vielleicht noch mehr durch seine Lehre und seine Schriften, beeinflusst hat wie kaum ein anderer, war ein Advokat der vormodernen Stadt und deren gewachsener Strukturen. Im (West-)Berlin der IBA-Zeit fielen seine Ideen auf besonders fruchtbaren Boden. Sein Plädoyer für eine Rückkehr zu Block und Parzelle, für ein Bauen, dass die Geschichte des Ortes reflektiert, hatte hier eine unbestreitbar nachhaltige Wirkung. So zeitgemäß und zukunftsweisend das einmal gewesen sein mochte, so rückwärtsgewandt und kleinmütig erschienen diese Ideen in der dogmatischen Verengung, die sie im wiedervereinigten Berlin erfuhren - auch wenn man Rossi dafür nicht verantwortlich machen möchte. Das Quartier Schützenstraße fand in den neunziger Jahren deshalb so großes Interesse, weil der Meister hier beispielhaft vorführen konnte, wie es seiner Meinung nach aussehen sollte in der neuen alten Mitte Berlins.

Das Areal, ein Stück Mauerstreifen-Niemandsland mit kümmerlichen Resten gründerzeitlicher Bebauung, aber immerhin ein kompletter Block zwischen Schützen-, Charlotten-, Markgrafen- und Zimmerstraße, schien wie geschaffen für ein programmatisches Projekt. Hinzu kam, dass der vorwiegend aus Bürohäusern bestehende Neubau über Nacht quasi zu Rossis Berliner Vermächtnis wurde. Denn noch ehe der Komplex ganz vollendet war, starb Rossi an den Folgen eines Autounfalls und die beiden anderen Großprojekte, die er ebenfalls mit den aus München stammenden Immobilien-Entwicklern Peter und Isolde Kottmair noch hatte realisieren wollen - ein Bürokomplex an der Landsberger Allee und die Neubebauung des Wertheim-Areals am Leipziger Platz - zerschlugen sich. Ebenso überraschend wie die Kottmairs nach der Wende in Berlin aufgetaucht waren, ebenso schnell und spurlos waren sie auch wieder verschwunden. Von den Aufsehen erregenden Rossi-Plänen blieb nicht mehr als eine halbfertige Investitionsruine an der Landsberger Allee.

Typisch berlinisch?

Als »Hommage an die typische Berliner Architektur des ausgehenden 19. Jahrhunderts« hat Rossi selbst sein Projekt Quartier Schützenstraße beschrieben. Seine Behauptung, hier besonders »berlinerisch« zu bauen, überzeugte freilich allenfalls in städtebaulicher Hinsicht. Die Anleihen an die dichte Blockbebauung der Mietskasernenstadt mit ihren zu klein geratenen Hinterhöfen sind genau so offensichtlich, wie die Tatsache, dass er damit vor allem den Verwertungsinteressen des Investors entgegenkam. Ansonsten präsentiert sich der Bau, der selbst die Anhänger von Rossis Architektur nicht zur Begeisterung hinriss, als eine merkwürdige Collage aus (mehr oder minder) archetypischen Hausformen und Architekturelementen, aus Materialien und Farben, die viel über Rossis ästhetische Vorstellungen aussagen, mit Berlin aber herzlich wenig zu tun haben. Das wäre nicht weiter tragisch, wenn das Ergebnis der Collage in sich stimmig wäre. Doch der Bau offenbart ein Problem, das sich an vielen Projekten Rossis ablesen lässt: Was auf seinen schönen Architekturzeichnungen immer so pittoresk und lebendig aussieht, wirkt gebaut seltsam steril, akademisch, ungelenk und leblos. So kam es, dass Rossis Quartier Schützenstraße lange Zeit als ein etwas grillenhafter Fremdling wahrgenommen wurde, der mehr Fragen aufwarf als er beantwortete. Was sollte das Bemühen um formale Vielfalt zur Untermauerung der in mehreren Fällen vorgetäuschten Parzellenstruktur, wenn doch die Handschrift des Entwerfers jeweils überdeutlich zu Tage tritt (die zwei Fassaden, die aus dem Rahmen fallen, sind nicht von Rossi)? Welchen Sinn macht die aufwendige 1:1 Kopie der Hoffassade des Palazzo Farnese in der Schützenstraße?

Und schließlich: Warum hat man hier so viel gestalterische Energie auf die Fassaden und so wenig Esprit auf die dahinter liegenden Räume verwendet? Uns bleibt das nach all den Jahren, die der Komplex nun dasteht, so rätselhaft wie eh und je.

Büros, Einzelhandel, Gastronomie und ein Hotel

Das Quartier Schützenstraße gehört zu jenen Projekten, die ohne den euphorisch-spekulativen Nachwende-Bauboom nicht entstanden wären. Pech für den Bau, dass er dann ausgerechnet zu jener Zeit fertiggestellt wurde, als die Berliner Blütenträume vom schnellen Wachstum geplatzt waren und viele Bürobauten außerhalb der Spitzenlagen sich kaum mehr vermieten ließen.

Der Rossi-Block hatte - seiner prominenten Architektur zum Trotz - lange unter chronischem Leerstand zu leiden. Viele Jahre fuhr man dort an leeren Ladenfronten und an den blinden Fenstern der Büroetagen vorbei. Mit dem GSW-Hochhaus von Sauerbruch Huttton (in dessen Schatten der Rossi-Bau buchstäblich steht) und vor allem mit den Büroneubauten auf dem nahe gelegenen Springer-Areal kam dann nach der Jahrtausendwende allmählich Leben in das Viertel. Auch das Quartier Schützenstraße hat davon profitiert. Heute sind die Büroflächen mehrheitlich vermietet. Manche Etagen aber befinden sich noch immer im Rohbauzustand. Die Läden sind belegt mit Einzelhandel und Gastronomie. Man lebt in erster Linie von den Bedürfnissen der Büromenschen, denn von den Touristenströmen am Checkpoint Charlie, der nur einen Block entfernt liegt, kann man allenfalls am Rande profitieren und am Abend sind die Bürgersteige hier schon früh hochgeklappt. Der wichtigste Nutzer ist das zur Accor-Gruppe gehörende Hotel Mercure. 2001 eröffnet, verzeichnet es mit seinen 135 Zimmern (20 davon sind als Dauerappartements ausgelegt) trotz wachsender Konkurrenz im unmittelbaren Umfeld, steigende Auslastungszahlen. Vor allem Geschäftsreisende schätzen das Haus wegen seiner zentralen aber ruhigen Lage und weil die Zimmer mit dreißig bis fünfzig Quadratmetern Grundfläche außergewöhnlich groß geraten sind. Das Hotel liegt an einem der beiden großen Höfe, die den Block im Innern strukturieren. Der öffentlich zugängliche Garten, mittlerweile gut eingewachsen, ist, ganz wie es Rossi imaginiert haben mag, eine grüne Oase geworden und trägt zum Reiz des Hauses nicht wenig bei.

Was die Bausubstanz angeht, gab es bisher keine Probleme, die aus dem Rahmen des Üblichen fallen. Die Fassaden, die regelmäßig gereinigt werden, sehen knapp eineinhalb Jahrzehnte nach ihrer Fertigstellung noch ordentlich aus. Bisweilen sind die Farben etwas verblasst. Besonders deutlich ist das an den grünen und roten Aluminiumpaneelen in der Zimmerstraße zu sehen, die der Mittagssonne ausgesetzt sind. Dass sie ohne Pflege in Würde altern würden, stand nicht zu erwarten.

Wer heute am Quartier vorbeikommt, wird feststellen, dass aus dem Fremdling von einst, am Ende doch ein fast normales Stück Stadt geworden ist. Ein wenig anders als die anderen mutet der scheinbar kleinteilig strukturierte, durch seine leuchtenden Fassadenfarben auffällige Block zwar an, doch im mittlerweile kompakt bebauten Viertel nördlich der Kochstraße, fällt das weniger ins Gewicht als in den ersten Jahren nach der Fertigstellung. Für die Einen ist der Bau eine nicht unwillkommene Abwechslung inmitten größtenteils völlig charakterloser Investorenarchitektur, für die Anderen immer noch ein eher missglückter Versuch origineller Fassadengestaltung. Aufregen aber kann das heute keinen mehr. Womöglich wäre es Rossi gerade recht so.

db, Mi., 2009.08.05



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db 2009|08 Die Neunziger

02. Oktober 2007Mathias Remmele
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Fassadenraum

Das Büro Unsangdong Architekten wurde im Jahr 2001 von Jang Yoon Gyoo und Shin Chang Hoon gegründet. Unter den in diesem Heft vorgestellten Architekten sind sie die einzigen, die Korea weder zum Studium, noch zu einem beruflichen Engagement verlassen haben. Dennoch begreifen sie sich, wie ihre stets konzeptgeleiteten Projekte zeigen, als Teil der internationalen Architektur-Avantgarde. Außer durch ihre Bauten haben sie sich auch als Ausstellungsdesigner, Architekturtheoretiker und Galeristen hervorgetan.

Das Büro Unsangdong Architekten wurde im Jahr 2001 von Jang Yoon Gyoo und Shin Chang Hoon gegründet. Unter den in diesem Heft vorgestellten Architekten sind sie die einzigen, die Korea weder zum Studium, noch zu einem beruflichen Engagement verlassen haben. Dennoch begreifen sie sich, wie ihre stets konzeptgeleiteten Projekte zeigen, als Teil der internationalen Architektur-Avantgarde. Außer durch ihre Bauten haben sie sich auch als Ausstellungsdesigner, Architekturtheoretiker und Galeristen hervorgetan.

Am Südufer des gewaltigen Han-Flusses, der Seoul in zwei ungleiche Hälften teilt, liegt der Stadtteil Gangnam-Gu – heute das wichtigste Geschäftzentrum der koreanischen Mega-Metropole. Während entlang der breiten Hauptstraßen Bürohochhäuser, riesige Hotelkästen und Kaufhäuser das Bild des Viertels prägen, haben sich in den engen, heterogen bebauten Seitenstraßen oft schicke Boutiquen, Möbelgeschäfte, Galerien, Restaurants, Kaffeehäuser und (Karaoke-)Bars angesiedelt. Auch als Wohngegend ist dieses Viertel aufgrund seiner zentralen Lage sehr beliebt – und entsprechend teuer. Inmitten eines der eng bebauten Stadtquartiere von Gangnam-Gu erhebt sich, seine unmittelbaren Nachbarn deutlich überragend, ein siebenstöckiges Gebäude, dessen skulptural und gleichzeitig rätselhaft anmutende äußere Erscheinung die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Seine Hauptfassade präsentiert sich als Abfolge von fünf unregelmäßig geformten, vertikalen Sichtbetonstreifen, die durch schmale Schlitze voneinander getrennt sind. Bald lotrecht verlaufend, bald stumpfkantig vor- und zurückschwingend verleihen diese Streifen der Fassade trotz ihrer augenscheinlichen Schwere und Massivität eine eigentümliche Dynamik. Was sich hinter diesem geschlitzten und in Bewegung geratenen Betonteppich verbirgt und was er überhaupt soll, bleibt zunächst im wortwörtlichen Sinn im Dunkeln. Erst wenn man sich dem Gebäude von seinen Schmalseiten her nähert, erkennt man, dass die Fassadenstreifen dem eigentlichen Baukörper vorgelagert sind und sich dazwischen ein schmaler, kaminartiger Raum entfaltet. Dann dauert es nicht mehr lange und man entdeckt die großen Lettern »Yeh Gallery« und realisiert, dass die Hauptnutzerin dieses Gebäudes eine Kunstgalerie ist – ein möglicher Erklärungsansatz für die ungewöhnliche raumhaltige Fassade.

Das Konzept einer »Verräumlichung der Haut« ...

Unsangdong Architekten entwarfen dieses 2006 fertiggestellte Geschäftshaus im Auftrag der Galerie Yeh, die darin zwei Geschosse bezogen hat. Für die Entwurfsgenese war der Kunstbezug von daher ein naheliegender Ausgangspunkt. Dies gilt umso mehr, als die Architekten selbst in ihrer Arbeit immer wieder eine außergewöhnlich enge Beziehung zur zeitgenössischen Kunst suchen. Seit 2003 betreiben sie die auf experimentelle und konzeptionelle Kunst spezialisierte Galerie JungMiSo, mit der sie die Grenzbereiche zwischen verschiedenen Sparten der künstlerischen Gestaltung ausloten möchten.

Als eine Art »städtische Leinwand« (urban canvas), als aufsehenerregende, riesige Projektionsfläche und als experimentelles Kunstwerk wollen sie die Fassade der Yeh Gallery verstanden wissen. Ihr liegt ein reichlich komplexes und nicht in allen Teilen leicht nachvollziehbares Konzept zugrunde, das Unsangdong Architekten als »Verräumlichung der Haut« (Spatialization of Skin) bezeichnen. Die Formel, nach der sie den Entwurf in einem aufwändigen Prozess generierten, hieß entsprechend »Haut plus Struktur«, »Haut plus Raum« und »Haut plus Programm«. Als wichtigstes formales Motiv diente ihnen die Faltung. Das Ziel, das sie erreichen wollten, war kein geringeres als eine »neue Generation von Raum« zu kreieren.

... und seine Umsetzung

Wie die räumliche und funktionale Aufladung der Haut gelang. Dies offenbart ein genauerer Blick in die Zone hinter den Fassadenstreifen. Sie präsentiert sich über weite Strecken als schmaler, hoher Hohlraum, der da und dort von Doppel-T-Trägern oder von stegartigen, mit einem Geländer abgesicherten Austritten durchbrochen wird. Hinter einem der Fassadenstreifen aber tut sich etwas anderes: Hier sieht es aus, als habe sich das Innere des Hauses quasi in den Hohlraum hineingestülpt. Die erkerartigen Räume, die dadurch auf jedem Stockwerk entstehen – sie liegen genau dort, wo im eigentlichen Baukörper das Treppenhaus verläuft – sind an ihren äußeren Ecken jeweils verglast. Auf diese Weise bietet sich von hier aus ein Blick in den Hohlraum und, durch die schmalen Schlitze zwischen den Fassadenstreifen, auf die Umgebung. Ein stärkeres räumliches Erlebnis bieten die stegartigen Austritte, von denen es vom zweiten Obergeschoss an aufwärts pro Etage jeweils zwei gibt. Über die Aufenthaltsqualität im Fassaden(zwischen)raum mag man geteilter Meinung sein. Bei einem Besuch des Gebäudes gewinnt man den Eindruck, als würde er weniger intensiv und weniger fantasievoll genutzt als von den Architekten ursprünglich konzipiert und erhofft – nämlich vor allem für kurze Zigarettenpausen. So ungewöhnlich und bisweilen spektakulär die Ausblicke sein mögen, die sich von hier aus ergeben, insgesamt wirkt die innere Fassadenzone eben doch zu düster und zu beengt, als dass man sich auf Dauer dort wohlfühlen würde. Der ästhetischen Wirkung von Unsangdongs Raum-Fassaden-Erfindung tut das freilich keinen Abbruch. Wer immer das Gebäude betreten möchte, muss jene merkwürdige Zwischenzone passieren, in welcher der Blick, unwillkürlich einer kaminartigen Sogwirkung folgend, nach oben abgelenkt wird in eine Sphäre, die unsere räumliche Erfahrung herausfordert und unsere Vorstellung von dem, was eine Fassade ist, in Frage stellt.

Weit weniger spektakulär als der Fassadenbereich präsentiert sich das Innenleben des Gebäudes. Erdgeschoss und erstes Obergeschoss beherbergen die Kunstgalerie der Bauherrin. Die Ausstellungsräume sind deutlich höher als die übrigen Nutzgeschosse und durch eine interne Treppe miteinander verbunden. Der Innenausbau erscheint denkbar nüchtern: Betonboden, weiße Putzwände und eine von Unterzügen strukturierte Sichtbetondecke unter der direkt sichtbar die Klimainstallationen verlaufen. Aufmerksamkeit erregt hier einzig die über beide Galeriegeschosse reichende »schwebende« Sichtbetonwand, hinter der sich die in den oberen Ausstellungsraum führende Treppe verbirgt.

Die Räume im zweiten bis fünften Obergeschoss, die wahlweise als Büro oder als Laden genutzt werden können, sind um den fassadenseitig situierten Erschließungs- und Versorgungskern herum organisiert. Die Nutzfläche nimmt hier entsprechend der sich nach oben hin zuspitzenden Gebäudeform von Stockwerk zu Stockwerk langsam ab. Ein eindrückliches Raumerlebnis bietet erst wieder das Dachgeschoss mit seinen überhohen Decken und dem weiten Blick über die Stadtlandschaft.

Zu den chronischen Problemen einer auf elaborierten Konzepten basierenden Architektur gehört es, dass die gebaute Realität den theoretisch und plangrafisch formulierten Idealen nur selten entspricht. Zu den Vorzügen der konzeptgeleiteten Architektur gehört es, dass ihr auf zahlreichen Ebenen ein großes Innovationspotenzial innewohnt, das dazu angetan ist, die Entwicklung der Baukunst voranzubringen. Die Yeh Gallery von Unsangdong Architekten darf als Beispiel für beide Fälle gelten. Man mag bezweifeln, dass hier eine »neue Generation von Raum« geschaffen wurde, aber man kommt nicht umhin festzustellen, dass hier eine neuartige und spannende Fassade mit räumlicher Tiefenwirkung entstanden ist, die eine große ästhetische Anziehungskraft entfaltet. Und das ist doch schon verdammt viel.

db, Di., 2007.10.02



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Geschäftshaus mit Galerie Yeh



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db 2007|10 Korea

02. Oktober 2007Mathias Remmele
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Subversives Raumwunder

Der Architekt Cho Minsuk gehört zu den führenden Vertretern der jungen koreanischen Architekturszene. Nach seinem Studium an der Yonsei University in Seoul und der Columbia University in New York arbeitete er zunächst in verschiedenen Büros, unter anderem bei OMA/Rem Koolhaas in Rotterdam, ehe er sich 1998 in New York selbstständig machte. Gemeinsam mit Park Kisu gründete er 2003 in Seoul das Büro Mass Studies, das mit seinen avantgardistischen Projekten bald weit über Koreas Grenzen hinaus Aufmerksamkeit erregte.

Der Architekt Cho Minsuk gehört zu den führenden Vertretern der jungen koreanischen Architekturszene. Nach seinem Studium an der Yonsei University in Seoul und der Columbia University in New York arbeitete er zunächst in verschiedenen Büros, unter anderem bei OMA/Rem Koolhaas in Rotterdam, ehe er sich 1998 in New York selbstständig machte. Gemeinsam mit Park Kisu gründete er 2003 in Seoul das Büro Mass Studies, das mit seinen avantgardistischen Projekten bald weit über Koreas Grenzen hinaus Aufmerksamkeit erregte.

So grauenhaft einem aus mitteleuropäischer Perspektive die mitunter riesigen Wohnblocks, die heute das Bild der koreanischen Städte prägen, in gestalterischer und städtebaulicher Hinsicht auch erscheinen mögen – sie gehören zur architektonischen Realität des Landes, ja sie sind ein Teil seiner kulturellen Identität. Kein anderer Architekt in Korea hat sich so intensiv und kritisch mit dem Phänomen dieser Wohnungetüme auseinandergesetzt wie Cho Minsuk, der sie ebenso spöttisch wie treffend als »Hilbersheimer« bezeichnet. Die Zahlen, die er präsentiert, um die Bedeutung dieser Architektur- und Wohnform für die koreanische Gesellschaft zu illustrieren, sprechen für sich: noch 1990 haben erst 30 Prozent aller Südkoreaner in einem Apartmenthaus gelebt, 2006 waren es bereits 70 Prozent. Diese Ziffern belegen einerseits die schier unglaubliche Dynamik des koreanischen Wohnungsbausektors, sie deuten andererseits auf eine allmählich absehbare Sättigung des Marktes hin. Manche Beobachter meinen freilich, der Boom werde noch sehr lange anhalten, denn mittlerweile hat man damit begonnen, die ersten, aus den sechziger und siebziger Jahren stammenden Apartmenthäuser abzureißen und durch modernere Anlagen zu ersetzen. Der Bau (zunehmend luxuriöser) Großsiedlungen mit Hunderten, ja Tausenden von Eigentumswohnungen verspricht weiterhin ein gutes Geschäft zu sein; für ihre Vermarktung allerdings muss mehr getan werden als in den letzten Jahrzehnten. Das ist der wesentliche Grund, weshalb die großen, landesweit agierenden Baugesellschaften, die solche Siedlungen entwickeln, errichten und verkaufen, mehr und mehr in Branding-Maßnahmen investieren.

Ein faustischer Pakt

Vor diesem Hintergrund ist die von Cho Minsuk entworfene Xi Gallery in Busan zu sehen. Denn es handelt sich hier nicht etwa um eine im Kunstbereich tätige Galerie, sondern – zumindest im Kern – um den Showroom einer der großen Baugesellschaften. Ein Gebäude also, in dem das Unternehmen seine Produkte in Form von Musterwohnungen der interessierten Öffentlichkeit vorstellen und verkaufen möchte. Bei der Xi Gallery und einigen artverwandten Projekten, die in jüngster Zeit entstanden sind, geht es nicht mehr allein um den Vertrieb. Um die Attraktivität der Showrooms zu steigern, werden sie mit Zusatzfunktionen aufgeladen – in der Regel kultureller und gastronomischer Art. Das Bauunternehmen tritt dabei als Sponsor auf und lockt so ein größeres Publikum in sein Haus. Das wiederum soll sich positiv auf den »Brand« auswirken; man kennt diese Art von Marketing-Konzept. Bemerkenswert, dass sich die Baugesellschaften, die sich bisher herzlich wenig um die architektonische Qualität ihre Produkte gekümmert haben, auf einmal gezwungen sehen, mit kreativen Kräften zu arbeiten. Für die Architekten wiederum ist die Zusammenarbeit mit den Baugesellschaften ein heißes Eisen, da sie hier mit ihrer Arbeit zur Verbreitung von Bauten beitragen sollen, die ihren eigenen Ansprüchen und Vorstellungen meist diametral gegenüberstehen. Nicht ohne Grund spricht Cho Minsuk bei diesem Projekt von einem »faustischen Pakt« auf den er sich eingelassen habe.

Eine abstrakte Landschaft

Die Xi Gallery liegt an der mehrspurigen Hauptstraße eines heterogen bebauten, eher peripheren Stadtquartiers von Busan, der zweitgrößten Stadt Koreas. Zwischen belanglosen Wohn- und Geschäftshäusern ist bereits die ebenso ungewöhnliche wie rätselhafte äußere Erscheinung des Neubaus dazu angetan, die Aufmerksamkeit der Passanten zu erregen. Zunächst nimmt man einen unregelmäßig geformten, kompakten Baukörper von erheblichen Dimensionen wahr, der auskragend auf einem teilbegrünten Sockel sitzt. Dass er trotz seines Volumens keinesweg bedrückend schwer wirkt, verdankt er seiner hellen Farbigkeit und vor allem seiner transluzenten, aus vertikal ausgerichteten Luftkissen bestehenden Fassade. Sie ist das Erkennungszeichen dieses Gebäudes, das vor allem bei Dunkelheit, wenn die Luftkissenfassade von innen beleuchtet in wechselnden Farben erstrahlt, weithin sichtbar ist. Während der kompakte, auf einem annährend quadratischen Grundriss basierende Baukörper wenig über seine mögliche Nutzung verrät, lässt er keinen Zweifel daran aufkommen, wo sich sein Eingang befindet und dass er von vielen Menschen betreten werden will: Eine großzügige, sich nach oben hin verbreiternde Freitreppe markiert an einer straßenseitigen Gebäudeecke den verglasten Haupteingang, über dem das luftkissenverkleidete Volumen in einer dramatischen Geste nach oben schwingt.

Für die Xi Gallery konnte Mass Studies eine klare dreiteilige Gliederung entwickeln: zu unterst eine Sockelzone mit Parkhaus, Lager- und Technikräumen, darauf eine mittlere Ebene mit den gemeinnützig-kulturellen Sondernutzungen, die das Bauwerk für die Allgemeinheit attraktiv machen sollen und zu oberst, in dem mit Luftkissen verkleideten Teil, der Ausstellungsbereich der Baugesellschaft – eine mit einer großen Messehalle vergleichbare, offene Raumstruktur, in die Musterwohnungen eingebaut werden.

Im Zentrum des Gebäudes und der entwerferischen Anstrengungen steht also nicht der Showroom, sondern der Bereich, in dem sich der Bauherr als freimütiger Gastgeber und kultureller Wohltäter präsentiert.

Ein einfaches Landschaftsmotiv hat die Gestaltung der mittleren Ebene inspiriert. Cho Minsuk spricht von einem Tal zwischen zwei Bergen. Das Tal ist die diagonale Hauptachse durch das Gebäude, deren Richtung schon durch die Freitreppe am Außenbau vorgegeben ist. An ihrem, dem Haupteingang gegenüberliegenden Ende erreichen die Besucher eine Fläche für Wechselausstellungen und einen Veranstaltungssaal, der für Vorträge, Filmvorführungen aber auch kleinere Musik- oder Theaterdarbietungen geeignet ist. Auch die dezent im hinteren Teil des Gebäudes situierten Büros und Verkaufsräume der Wohnungsbaugesellschaft werden von hier aus erschlossen. Rechts und links der Hauptachse erheben sich die »Berge«. In ihrem Inneren, das über tiefe Einschnitte in den Berg-Flanken erreichbar ist, befinden sich Räumlichkeiten für eine Koch- und eine Yoga-Schule sowie ein Spielbereich für Kinder. Die Berge sind als komplexe geometrische Körper geformt, deren verschieden geschnittenen Außenflächen auf die vielfältigste Weise gestaltet und genutzt werden. Mal sind die Flanken mit Kakteen bepflanzt, mal werden sie für Wasserspiele genutzt, mal weisen sie eine treppenartige Struktur auf, die sich als Ruheplatz und bei Bedarf auch als Zuschauertribüne anbietet.

Unvergleichliches Raumkontinuum

Eine ganze Reihe von »regulären« Treppen und Rolltreppen erschließen den Besuchern die Berggipfel, von denen aus sowohl der Wohnungs-Showroom im Obergeschoss als auch ein weiterer Veranstaltungssaal erreichbar sind, dessen Volumen quasi als umgekehrter Berg in den Luftraum über der Zentralachse hineinragt. Ähnlich komplex geformt wie die das Tal flankierenden Berge sorgt er im Zusammenspiel mit ihnen im Innern der Xi Gallery für jenes ungemein komplexe Raumkontinuum, das jeden Besuch des Gebäudes zu einem unvergleichlichen Erlebnis macht. Wer das Gebäude durchwandert – und dazu packt einen beim Betreten sogleich die Lust – bemerkt, wie sich der Raum Schritt für Schritt verändert, wie er sich verengt und wieder weitet, sich immer wieder neue Perspektiven ergeben, sich die Atmosphäre je nach Licht und in Abhängigkeit von den jeweils vorherrschenden Materialien und Farben wandelt. Das ist ein Vergnügen sondergleichen und eine bewundernswerte entwerferische Meisterleistung, die umso mehr erstaunt, wenn man bedenkt, in welch sagenhaftem Tempo dieser rund 50 Mio $ teure Bau geplant und errichtet wurde: Die Entwurfsphase dauerte gerade einmal von November 2006 bis März dieses Jahres. Und die Bauarbeiten, die im gleichen Monat begannen, konnten schon im August weitgehend abgeschlossen wurden.

Mass Studies haben in der Xi Gallery ein gestalterisches Feuerwerk gezündet, das seinen Besuchern eindrücklich vor Augen führt, was Architektur kann, über welche räumlichen Möglichkeiten sie verfügt, was sich mit Material und mit Farben alles machen lässt. Man kann das als subversive erzieherische Maßnahme begreifen, denn wie fad und geistlos müssen den Besuchern nach diesem Erlebnis die Stangenwaren im Showroom der Wohnungsbaugesellschaft erscheinen.

db, Di., 2007.10.02



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Ausstellungsgebäude einer Wohnungsbaugesellschaft



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db 2007|10 Korea

09. April 2006Mathias Remmele
db

Aus einem Guss

Anhand des Panton-Stuhls, einem der bekanntesten Kunststoffmöbel der Designgeschichte, vollziehen wir einige Stationen der Entwicklungsgeschichte des Kunststoffs nach. Der formal und konstruktiv gewagte Entwurf, der 1968 in Serie ging und das Ergebnis einer langjährigen Entwicklungsarbeit ist, steht beispielhaft für die Möglichkeiten von Kunststoff. Ein mehrfacher Wechsel des Materials und der Herstellungstechnik machten jeweils eine formale Modifikation des Stuhls notwendig. Parallel zur Geschichte des Panton-Stuhls betrachten wir Anwendungsbeispiele von Kunststoff in der Architektur.

Anhand des Panton-Stuhls, einem der bekanntesten Kunststoffmöbel der Designgeschichte, vollziehen wir einige Stationen der Entwicklungsgeschichte des Kunststoffs nach. Der formal und konstruktiv gewagte Entwurf, der 1968 in Serie ging und das Ergebnis einer langjährigen Entwicklungsarbeit ist, steht beispielhaft für die Möglichkeiten von Kunststoff. Ein mehrfacher Wechsel des Materials und der Herstellungstechnik machten jeweils eine formale Modifikation des Stuhls notwendig. Parallel zur Geschichte des Panton-Stuhls betrachten wir Anwendungsbeispiele von Kunststoff in der Architektur.

Als der Panton-Stuhl Ende der sechziger Jahre endlich auf den Markt kam, erregte er beim Publikum sogleich eine ungewöhnliche Aufmerksamkeit. Dieser Stuhl war einfach anders. Statt Beinen hatte er diese nie gesehene, konvex gebogene, lange Schleppe, die dem Boden zu entwachsen schien. Darüber wölbte sich, in kühnem Schwung und bedenklich weit auskragend, eine körpergerecht geformte Sitzschale, die sich ohne Unterbrechung und wie durch einen plötzlichen Richtungswechsel aus der Schleppe heraus entwickelte. Abgesehen von dieser konstruktiven Besonderheit überzeugte der Stuhl auch in ästhetischer Hinsicht: durch seinen skulpturalen Charakter, durch seine sanft fließenden Konturen, die Eleganz und Dynamik ausstrahlten und Assoziationen an den weiblichen Körper provozierten. Seinen heutigen Status als eine der bekanntesten Design-Ikonen des 20. Jahrhunderts aber verdankt der vom dänischen Designer Verner Panton (1926-1998) entworfene und nach ihm benannte Stuhl nicht allein seinen extravaganten formalen Qualitäten. Was ihn Ende der sechziger Jahre so spektakulär erscheinen ließ und ihn heute in designhistorischer Perspektive bedeutsam macht, ist etwas anderes: Der Panton-Stuhl war der erste aus einem Stück gefertigte Kunststoffstuhl der Möbelgeschichte, er nutzte die Möglichkeiten dieses Materials konsequent und bis an die Grenze des seinerzeit technisch Realisierbaren. Mit ihm erfüllte sich, wovon schon Generationen von Designern geträumt hatten: der Stuhl aus einem Guss. Er ist darüber hinaus ein Symbol für den Siegeszug von Kunststoffmaterialien in der Möbelindustrie, der 1950 mit den Schalenstühlen von Charles und Ray Eames begann, in den sechziger Jahren seinen ersten Höhepunkt erreichte, in den siebziger Jahren nach der Ölkrise schwere Rückschläge erlitt und seit den Neunzigern einen bis heute anhaltenden neuen Boom erlebt.

Entwurf und Entwicklung Der Panton-Stuhl ist das Ergebnis eines langjährigen Entwurfs- und Entwicklungsprozesses. Bereits Mitte der fünfziger Jahre hat sich Panton nachweislich mit der Idee eines freischwingenden Stuhls aus einem einzigen Material befasst - vorläufig auf der Ebene der Entwurfszeichnung und ohne eine präzise Vorstellung bezüglich des Materials. Kurze Zeit später beschäftigte er sich im Zusammenhang mit seiner ersten eigenen Möbelkollektion intensiv mit den damals neuen Kunststoffmaterialien und den gestalterischen Möglichkeiten, die sie dem Designer boten. Die Faszination dieser Werkstoffgruppe lag für Panton in der scheinbar unbegrenzten Modellierbarkeit des Materials und in ihrer Tauglichkeit für die Entwicklung industrieller Serienprodukte. Um 1960 konkretisierte sich seine mittlerweile formal modifizierte Stuhlidee in einem nicht gebrauchsfähigen 1:1 Modell aus tiefgezogenem Polystyron. Es diente dem Designer bei seiner Suche nach einem Produzenten, der an die Realisierbarkeit seines Entwurfs glaubte und bereit war, die finanziellen Risiken der noch notwendigen Entwicklungsarbeiten zu tragen. Es sollte Jahre dauern, bis Panton in Willi Fehlbaum einen industriellen Partner fand, der reges Interesse an seinem Entwurf zeigte. Der Basler Unternehmer, der damals Möbel der amerikanischen Firma Herman Miller (vor allem Charles und Ray Eames und George Nelson) in Lizenz produzierte, und entsprechend über große Erfahrungen im Umgang mit glasfaserverstärktem Polyester verfügte, entschloss sich Mitte der sechziger Jahre die Produktion des Stuhls zu wagen.

Während einer intensiven Arbeitsphase entstanden zwischen 1965 und 67 in enger Kooperation zwischen Panton und der Entwicklungsabteilung von Herman Miller/Vitra in Weil am Rhein in kurzer Folge etwa zehn Versuchsmodelle des Stuhls aus handlaminiertem, glasfaserverstärktem Polyester. Am Ende dieser Versuchsreihe, deren Ziel es war, die Vorstellungen des Designers mit den Möglichkeiten des Materials und den produktionstechnischen Erfordernissen in Einklang zu bringen, hatte der Panton-Stuhl seine Form gefunden. 1967 konnte er in einer kleinen Vor-Serie (ca. 100 - 150 Stück) aus kalt gepresstem, glasfaserverstärktem Polyester hergestellt werden. Im Januar 1968 folgte dann sein erster großer Auftritt auf der Kölner Möbelmesse.

Ein Stuhl in vier Versionen Pantons formal und konstruktiv gewagte Stuhlidee hatte sich also realisieren lassen. Trotz dieses Erfolgs bestand jedoch kein Grund, sich mit dem Erreichten zufrieden zu geben. Das Verfahren, in dem die erste Version des Stuhls hergestellt wurde, war aufwändig und teuer. Der Stuhlrohling musste nach dem Pressen in Handarbeit gespachtelt, geschliffen und lackiert werden. Die Produktion größerer Stückzahlen, mit der sich die bald abzeichnende Nachfrage hätte befriedigen lassen, konnte so nicht bewältigt werden. Panton selbst störte neben dem erheblichen Gewicht des Stuhls seine nicht ganz ebenmäßige Oberflächenstruktur.

Eine Lösung der Probleme suchte man im Wechsel des Materials. Der von der Firma Bayer produzierte und unter dem Markenname „Baydur“ vertriebene Duroplast-Werkstoff Polyurethan-Hartschaum schien geeignet, die Herstellung des Panton-Stuhls wesentlich zu vereinfachen. Nach einer Testphase begann 1968 die eigentliche Serienfertigung des Stuhls aus diesem Material. Das hierbei angewandte Gussverfahren erlaubte zwar die rationelle Produktion größerer Stückzahlen, eine preistreibende handwerkliche Nachbearbeitung - der aufgeschäumte Rohling musste wiederum geschliffen, gespachtelt und lackiert werden - ließ sich jedoch nicht vermeiden. Rein ästhetisch aber überzeugte die zweite Version des Panton-Stuhls: Das Material erlaubte eine schlanke Linienführung, die fein modellierten Kanten und die je nach konstruktiver Belastung unterschiedlichen Wandstärken unterstützten den skulpturalen Charakter des Stuhls, der auch durch die Lichtreflexe auf der völlig ebenmäßigen, glänzend lackierten Oberfläche betont wurde. Es war ein Zeichen für die Innovationsfreude des Unternehmens und für die Hartnäckigkeit des Designers, der ein wohlfeiles Industrieprodukt wünschte, dass man weiter an einer Optimierung der Stuhlherstellung arbeitete. Zwei Jahre nach dem Beginn der Serienfertigung glaubte man, den perfekten Werkstoff für den Stuhl gefunden zu haben. Das von der Firma BASF entwickelte Thermoplast Polystyrol (vertrieben unter dem Markenname „Luran-S“) versprach beste Materialeigenschaften und ließ sich im rationellen Spritzgussverfahren verarbeiten. Der aus einem bereits gefärbten Plastikgranulat hergestellte Stuhl benötigte nach dem Entgraten (Lösen aus der Form) keine weitere Behandlung. Der Wechsel des Materials und der Herstellungstechnik verlangte allerdings eine erhebliche formale Modifikation des Stuhls. Da damals im Spritzguss nur eine durchgehende Wandstärke möglich war, mussten seine konstruktiv kritischen Partien verstärkt werden. Der Stuhl erhielt eine deutlich breitere seitliche Kante, vor allem aber wurde der Übergang von Fuß und Sitzfläche, der besonders hohen Belastungen ausgesetzt ist, durch an der Unterseite eingezogene Rippen versteift. Sie sind das auffälligste Merkmal der dritten, zwischen 1971 und 79 gefertigten Version des Stuhls.

Das Material Polystyrol erwies sich bald als weit weniger alterungs- und witterungsbeständig als ursprünglich angenommen. Um 1974 kam es bei den Stühlen vereinzelt zu Brüchen. Zwar versuchte man seit 1975, durch eine nochmalige Verstärkung des Materials die Probleme in den Griff zu bekommen, doch das Vertrauen in den Werkstoff war nachhaltig und zu Recht erschüttert. Ende der siebziger Jahre häuften sich die Reklamationen über gebrochene Stühle und dem Hersteller drohte durch das einstige Vorzeigeprodukt ein ernsthafter Imageschaden. Sinkende Verkaufszahlen, die nicht zuletzt auf ein gewandeltes Image der Kunststoffmöbel zurückzuführen waren, die jetzt als billig und unökologisch galten, führten 1979 schließlich zur Einstellung der Produktion.

Als Panton 1983 wieder einen Hersteller für seinen Stuhl gefunden hatte, griff man erneut auf den relativ arbeitsintensiven, dafür aber bewährten Werkstoff Polyurethan-Hartschaum (PU) zurück. Formal unterscheidet sich diese zweite PU-Variante des Stuhls, abgesehen von der in die Schleppe eingeprägten Signatur Verner Pantons, kaum von der zwischen 1968 und 71 produzierten Version.

Gegen Ende der neunziger Jahre gaben technische Fortschritte in der Kunststoffverarbeitung - insbesondere eine Verfeinerung der Spritzgusstechnik, in der jetzt auch unterschiedliche Wandstärken realisiert werden können - Anlass, eine nochmalige Weiterentwicklung des Stuhls zu bedenken. In Zusammenarbeit mit Panton entstand so die vierte und letzte vom Designer autorisierte Version seines Stuhls aus glasfaserverstärktem Polypropylen. Sowohl herstellungstechnisch als auch formal knüpft die Polypropylen-Variante des Stuhls an die von 1971-79 produzierte Version aus Polystyrol an. Ein wesentlicher Unterschied ist aber die matte Oberfläche, die der Kratzempfindlichkeit des relativ weichen Materials geschuldet ist. Mit diesem Modell, das Vitra 1999 auf den Markt brachte, konnte - mehr als 30 Jahre nach Beginn der Serienfertigung - erstmals eines der wesentlichen Ziele des Designers verwirklicht werden: der Kunststoffstuhl als preiswertes Industrieprodukt.

Kunststoffbauten I

Französisches Schneckenhaus
Das von Ionel Schein und Yan Magnat 1956 als Musterbau für die Exposition des Arts Menager in Paris konzipierte „Schneckenhaus“ sollte auf einer Fläche von 90 m die Tauglichkeit verschiedener Kunststoffe für den Bau von Einfamilienhäusern demonstrieren. Das eingeschossige Gebäude bestand nicht nur konstruktiv aus glasfaserverstärktem Polyester, sondern war auch mit Einbaumöbeln aus diesem Material ausgestattet.

Monsanto-House
Das von einem Architekten- und Ingenieur-Team am Massachusetts Institute of Technology 1957 entwickelte Monsanto-House ist als Prototyp eines „House of the Future“ konzipiert worden. Zur angestrebten Serienfertigung ist es aus Kostengründen nicht gekommen, obwohl die aus schalenförmig gekrümmten Sandwich-Elemente (Wände aus glasfaserverstärktem Polyester und Dämmung aus Polyurethan-Hartschaum mit Einlagen aus Papierwaben) erhebliches Aufsehen erregten. Das Monsanto-House demonstrierte mit seinen weit auskragenden Waben die konstruktive Leistungsfähigkeit des Kunststoffs und nahm mit seinen abgerundeten Formen die Soft-Edge-Ästhetik der siebziger Jahre vorweg. Das Muster-Wohnhaus gehörte bis zu seinem Abriss 1967 zu den Attraktionen des Disneyland Parks.

Kunststoff-Kugelhaus
Das von Egon Brütsch 1960 konstruierte Kunststoff-Kugelhaus entwickelt sich über einer Grundfläche von nur 13 m und ist als Gartenlaube bzw. Mini-Wochenendhaus konzipiert. Die vertikal gegliederte Schale besteht aus einer äußeren Schicht aus glasfaserverstärktem Polyester, einer Dämmung aus Polystyrol- und Polyurethan-Schaum sowie aus einer textilen Bespannung im Innern.

Überdachung Tankstelle Thun
Für die Überdachung einer Tankstelle in Thun entwickelte der Schweizer Architekt und Ingenieur Heinz Isler 1960 eine wabenartig aufgebaute Sandwichplatte aus glasfaserverstärktem Polyester. Das 14 m x 22 m x 0,5 m messende, auf acht Stahlstützen ruhende Dach überzeugte durch seine Lichtdurchlässigkeit und sein geringes Gewicht.

Kunststoffbauten II

Fg 2000
Bei dem 1968 erstmals realisierten fg 2000 handelt es sich um ein von Wolfgang Feierbach entwickeltes und hergestelltes Bausystem für Einfamilienhäuser. Die formal zurückhaltende, modular aufgebaute Konstruktion besteht aus aufeinander abgestimmten, in Sandwich-Bauweise hergestellten Wand- und Dachelementen, aus denen sich ein zwar relativ konventionelles, aber dafür effizientes und rationelles Rahmentragwerk bilden lässt. Das fg 2000 gehört zu den ausgereiften und auch kommerziell erfolgreichen Kunststoffhäusern.

Rondo
Das von den Schweizer Architekten Casoni & Casoni 1969 für die Serienproduktion konzipierte Wochenendhaus Rondo greift die bei den frühen Kunststoffhäusern beliebte Pillenform auf. Die auf Stahlstützen stehende Konstruktion besteht aus doppelwandigen Schalen aus glasfaserverstärktem Polyesterharz, die mit Polyurethan-Hartschaum gedämmt sind.

Busstation Hoofdoorp
Die bei Amsterdam gelegene, 2003 von NIO architecten aus Rotterdam entworfene Station ist ein monolithischer Baukörper, der mit seiner Form Blickachsen und den Wegverlauf der Wartenden aufnimmt. Das Gebäude ist ausschließlich aus Polystyrol-Schaum errichtet, das einen massiven Kern bildet und mit mattem Polyesterharz witterungsbeständig laminiert ist;
eine Technik, die der Surfbrettfertigung entlehnt wurde. Die Station ist derzeit das größte Gebäude aus Kunststoff.

Prada Shop
Für die Innengestaltung des Prada Shops in Los Angeles (2004) entwickelte die Architektengruppe OMA eine neue Substanz namens foam. Sie besteht aus gegossenem Polyurethan (PUR-Schaum). Das Erscheinungsbild dieses steifen Schaums ist normalem Spülmittelschaum nachempfunden. Hunderte von Prototypen waren notwendig, um ein befriedigendes Ergebnis, das auch die Anforderungen des Brandschutzes erfüllt, zu erzielen.

db, So., 2006.04.09



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db 2006|04 Kunststoff-Konstrukte

29. Dezember 2004Mathias Remmele
Neue Zürcher Zeitung

Nordisch wohnen

Die zahlreichen Möbel, Leuchten und Glasobjekte, die der finnische Architekt Alvar Aalto (1898-1976) im Laufe seiner langen Karriere entworfen hat, erregen...

Die zahlreichen Möbel, Leuchten und Glasobjekte, die der finnische Architekt Alvar Aalto (1898-1976) im Laufe seiner langen Karriere entworfen hat, erregen...

Die zahlreichen Möbel, Leuchten und Glasobjekte, die der finnische Architekt Alvar Aalto (1898-1976) im Laufe seiner langen Karriere entworfen hat, erregen seit langem Aufmerksamkeit und Bewunderung. Und doch stand bisher sein herausragender Beitrag zur Designgeschichte, der oft von der engen Zusammenarbeit mit Aaltos erster Frau Aino profitierte, in Publikationen und Ausstellungen meist im Schatten seiner berühmten Bauten. Dabei gehörten die Aaltos - neben Marcel Breuer und Charles und Ray Eames - zu den innovativsten Gestaltern des 20. Jahrhunderts. Sie waren es nämlich, die das Material Holz für die Moderne «entdeckten» und in der europäischen Avantgarde salonfähig machten. Ihre in den dreissiger Jahren entworfenen Möbel aus zweidimensional verformtem Schicht- und Sperrholz, von denen viele noch immer hergestellt werden, stellten damals produktionstechnische Meisterleistungen dar, welche das gestalterische Vokabular der Moderne um organisch anmutende Formen erweiterten. Allein schon mit diesen Arbeiten haben die Aaltos die Entwicklung der westlichen Wohnkultur bis heute nachhaltig beeinflusst. Ähnliches gilt für ihr Leuchten- und Glasdesign, das sich, man denke nur an die Savoy-Vasen, einer ungebrochenen Popularität erfreut.

Derzeit lädt nun die Kunsthalle Bielefeld unter dem etwas merkwürdigen Titel «Alvar und Aino Aalto - Möbel und Design» (merkwürdig, weil Möbel im Allgemeinen auch zum Design gerechnet werden) ein zu Begegnung und Auseinandersetzung mit diesem Bereich im Schaffen der Aaltos. Die materielle Grundlage für die Ausstellung bildet die hochkarätige, seit etwa 1980 zusammengetragene Design- und Kunstgewerbesammlung des Zürcher Galeristenpaares Christina und Bruno Bischofberger. So umfassend wie jetzt in Bielefeld ist das Design der Aaltos in Mitteleuropa bisher noch nie gezeigt worden. Im Bereich der Möbel reicht das Spektrum vom Frühwerk, das stilistisch noch dem nordischen Klassizismus verpflichtet war, über die klassisch modernen Stücke der dreissiger Jahre bis hin zu den im Rückgriff auf eine eher traditionelle Formensprache entworfenen Hockern, Stühlen und Sesseln der späten vierziger und fünfziger Jahre. Bei den Leuchten sind die meisten der in Serie produzierten Entwürfe zu sehen, und die Aalto-Glaskollektion der Bischofbergers dürfte ausserhalb von Finnland einmalig sein. Den Höhepunkt der Ausstellung markiert aber die komplette Möblierung und Ausstattung eines Patientenzimmers aus dem 1932 vollendeten Lungensanatorium Paimio, ein funktionalistisches Meisterwerk, mit dem Aalto international bekannt wurde. Ergänzt werden die weit über 200 Objekte durch Zeichnungen, Pläne und Fotografien aus dem Bestand des Alvar- Aalto-Museums in Jyväskylä.

Wenn die Bielefelder Schau trotz der Fülle und Qualität der Exponate nicht restlos zu überzeugen vermag, so liegt dies vor allem an der Präsentation und der didaktischen Aufbereitung des Materials. So macht es den Eindruck, als sei die Kunsthalle mit dem ihr fremden designgeschichtlichen Thema letztlich überfordert gewesen. Das zeigt sich etwa bei den oft fehlerhaften und unbeholfen formulierten Wandtexten oder bei der Präsentation der Leuchten. Seltsam leblos und unbeseelt baumeln deren blecherne Korpusse, ihres Leuchtmittels beraubt, von der Decke. Da ist nichts zu ahnen von jener poetischen Lichtqualität, die diese Aalto-Entwürfe erst so einzigartig macht.

[ Bis 27. Februar 2005. Der Katalog wird voraussichtlich im Laufe des Januars erscheinen. ]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2004.12.29

25. September 2004Mathias Remmele
Neue Zürcher Zeitung

Die Haltung der Zurückhaltung

Mit dem deutschen Beitrag zur Brüsseler Weltausstellung gelang den Architekten Egon Eiermann und Sep Ruf 1958 nicht nur ein formalästhetisches Meisterwerk, das zu den Glanzstücken ihres jeweiligen Œuvre gehört, sondern auch ein bemerkenswertes Stück architektonischer Diplomatie. Ihr international gelobter Pavillon ist in jeder Hinsicht als gebaute Antithese zur faschistischen Repräsentationsarchitektur lesbar.

Mit dem deutschen Beitrag zur Brüsseler Weltausstellung gelang den Architekten Egon Eiermann und Sep Ruf 1958 nicht nur ein formalästhetisches Meisterwerk, das zu den Glanzstücken ihres jeweiligen Œuvre gehört, sondern auch ein bemerkenswertes Stück architektonischer Diplomatie. Ihr international gelobter Pavillon ist in jeder Hinsicht als gebaute Antithese zur faschistischen Repräsentationsarchitektur lesbar.

Es war, wenn man es recht bedenkt, eine ungemein grossmütige Geste der belgischen Regierung, die Bundesrepublik Deutschland 1954, nur gerade neun Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des Völkermords, zur Teilnahme an der für das Jahr 1958 geplanten Weltausstellung nach Brüssel einzuladen. In der provisorischen Hauptstadt Bonn war man sich der politischen Dimension dieser Geste wohl bewusst. Der in Aussicht gestellte erste internationale Auftritt nach der Befreiung vom Naziregime bot der jungen Bundesrepublik die Chance, sich wieder als demokratischer Staat und normales Mitglied der Völkergemeinschaft zu präsentieren. Zugleich aber schien der heikle Charakter dieser symbolträchtigen Mission die Verantwortlichen zu verunsichern. Erst nach einem Jahr wurde die Einladung offiziell angenommen, und die Vorbereitungen konnten beginnen.

Transparenz

In Brüssel stand den Planern ein landschaftlich reizvolles, parkartiges Gelände mit altem Baumbestand zur Verfügung. Mit dem Entwurf der Ausstellungsbauten betraute man nach einem Auswahlverfahren die Architekten Egon Eiermann aus Karlsruhe und Sep Ruf aus München, die zunächst eigenständige Vorprojekte eingereicht hatten. Ihr jeweiliger Anteil an der gemeinsamen Planung ist relativ eindeutig: Während Rufs Beitrag vor allem in der für den Gesamteindruck des Projektes wesentlichen städtebaulichen Konzeption liegt, zeichnete Eiermann für die Fassadengestaltung, die Detaillierung und die Möblierung der Gebäude verantwortlich, soweit diese nicht zur Ausstellung selbst gehörte.

Die Ausstellungsbauten bestanden aus insgesamt acht separaten Pavillons auf jeweils quadratischem Grundriss, die durch offene, aber überdeckte Stege miteinander verbunden waren. Die unterschiedlich dimensionierten, flachgedeckten Baukörper (vier kleine und vier grössere) enthielten jeweils zwei bzw. drei Geschosse und wurden so auf dem Grundstück verteilt, dass eine zentral gelegene, hofartige Platzanlage entstand, deren Gestaltung der Gartenarchitekt Walter Rossow übernahm. Alle Gebäude waren im Grund- und im Aufriss auf ein einheitliches Rastermass bezogen und als Stahlkonstruktionen mit weit auskragenden Deckenplatten ausgeführt. Die von den Gebäudekanten zurückversetzten Wände bestanden vollständig aus Glas, wobei zwischen Decken und Glaswänden jeweils ein horizontaler Spalt blieb, um die natürliche Durchlüftung der Räume zu ermöglichen. Die äusserste Fassadenschicht bildete ein filigranes Stabwerk aus weiss gestrichenen Stahlstangen, hinter denen bei Bedarf Sonnenschutzstoren heruntergelassen werden konnten - ein typisches Element Eiermannscher Fassadengestaltung.

Über die politische Dimension ihres Brüsseler Planungsauftrages waren sich Eiermann und Ruf von Anfang an im Klaren. Für sie bestand die Herausforderung darin, nach den schrecklichen Ereignissen der jüngeren Geschichte den «richtigen Ton zu treffen», um den politischen und kulturellen Paradigmenwechsel in Deutschland zum Ausdruck zu bringen. Die formale Reduktion, eine Gestaltung nach dem Motto «Weglassen und noch mal weglassen», bot sich dafür als Königsweg an. Als Leitbild kam allenfalls der Miessche Barcelona-Pavillon von 1929 in Frage. Als explizites Gegenbild aber stand der Pavillon fest, den Eiermanns Studienkollege und Gegenspieler Albert Speer 1937 für die Nazis in Paris errichtet hatte. Von diesem neuklassizistischen Monstrum, das wie kaum ein zweites Gebäude die «Baukunst des Dritten Reiches» verkörperte, galt es sich abzusetzen.

Fast scheint es, als hätten Eiermann und Ruf planmässig sämtliche Gestaltungsprinzipien, die dem Speerschen Pavillon zugrunde lagen, in Brüssel in ihr Gegenteil verkehrt: Dominierte in Paris die Vertikale, betonte man in Brüssel die Horizontale. Gab sich der Speer-Bau weitgehend verschlossen, realisierten Eiermann und Ruf ein Maximum an Transparenz. Hatte der mit Natursteinplatten verkleidete Bau in Paris voluminös und schwer gewirkt, beeindruckte der Brüsseler Komplex durch Leichtigkeit und harmonische Proportionen. Versuchte Speer mit Pomp Eindruck zu schinden, setzten Eiermann und Ruf auf nüchterne Eleganz. Verströmte der Nazi-Pavillon eine Aura von weihevollem Ernst, verbreitete der bundesrepublikanische Bau eine heiter-gelöste Stimmung. Nahm der Pariser Bau keinen Bezug zur Umgebung - ausser zum gegenüber placierten sowjetischen Pavillon, den es zu übertrumpfen galt -, so waren die Brüsseler Bauten sensibel in die Parklandschaft integriert worden.

Die Reaktionen auf den Pavillon fielen, vor allem im Ausland, durchweg positiv aus. Der «Figaro» etwa meinte, dass «die Deutschen mit einer Zartheit des Empfindens, mit einer ganz pariserischen Grazie einen Pavillon von beispielhafter Nüchternheit erbaut» haben. Mit diesem Bau sei man «zurückgekehrt vom Kolossalen in den ruhigen Garten der klugen Kinder Europas». Die Londoner «Times» bezeichnete den Pavillon als den elegantesten der ganzen Ausstellung und stellte fest, «in ihm sind alle Qualitäten der Leichtigkeit und Transparenz, die zum Stil dieser Architektur gehören, voll ausgeschöpft». Die «Architectural Review», das führende Fachblatt in Grossbritannien, nannte den westdeutschen Pavillon «the most sophisticated work of architecture in the exhibition» und lobte dabei vor allem die Eleganz der Stahlkonstruktion, die vollendet gestalteten Details, die sorgfältige Materialwahl und die Poesie der Transparenz.

Repräsentation

In Deutschland selbst war das Lob nicht ganz so einhellig. Die politisch korrekte «Haltung der Zurückhaltung», von der Ernst Johan in der Werkbundzeitschrift «Werk und Zeit» schrieb, provozierte Spötter zu der Aussage, in Brüssel sei es wohl vor allem um die Darstellung des «bundesdeutschen Musterknaben» gegangen. Die Kritik richtete sich auch gegen die Architektur, deren Formvollendung zwar anerkannt wurde, deren Reduktion aber manch einem Beobachter «zu simpel» und «phantasielos» vorkam.

Obwohl Eiermann und Ruf die Pavillonbauten bewusst demontierbar geplant hatten und lange über eine Nachnutzung diskutiert wurde, kam es am Ende - wie bei dieser Art von Ausstellungsarchitektur meist üblich - zu Abriss und Verschrottung. Einzig die Zugangsbrücke mit ihrem hohen Stahlpylon blieb erhalten. Sie fand als «Zoobrücke» in Duisburg eine neue Verwendung. Für die Architekten hat sich der Erfolg in Brüssel in der Folgezeit mehrfach ausgezahlt. Ruf konnte 1959 die amerikanische Botschaft in Bonn-Bad Godesberg entwerfen und 1963-65 den als repräsentativen Wohnsitz des Bundeskanzlers konzipierten «Kanzler-Bungalow». Eiermann wurde gar so etwas wie der inoffizielle «Baumeister der Bonner Republik». Zu seinen wichtigsten Arbeiten in diesem Zusammenhang zählen das errichtete Kanzleigebäude der deutschen Botschaft in Washington (1961-63) und das nach langem innenpolitischem Tauziehen von 1965 bis 1968 erbaute und unter dem Namen «Langer Eugen» bekannte Hochhaus für die Abgeordneten des Bundestages in Bonn, das Teil einer umfassenderen, jedoch nicht ausgeführten Planung war. Bei einem weiteren, für die internationale Repräsentation der Bundesrepublik wichtigen Bauprojekt war Eiermann, wenn auch nur indirekt, beteiligt: Bei den Münchner Olympiabauten half er als Mitglied der Wettbewerbsjury am Ende seiner Karriere mit, den visionären Entwurf von Günter Behnisch und Frei Otto durchzusetzen.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2004.09.25



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Deutscher Pavillon Weltausstellung Brüssel

21. September 2004Mathias Remmele
Neue Zürcher Zeitung

Formale Eleganz und funktionale Klarheit

Aus Anlass des 100. Geburtstags feiert Karlsruhe mit Egon Eiermann (1904-1970) einen der bedeutendsten und einflussreichsten Architekten Nachkriegsdeutschlands. Die überzeugende Retrospektive beweist einmal mehr, dass Eiermanns Ruhm zu Recht in der Synthese von technischer Vollendung und künstlerischer Qualität begründet ist.

Aus Anlass des 100. Geburtstags feiert Karlsruhe mit Egon Eiermann (1904-1970) einen der bedeutendsten und einflussreichsten Architekten Nachkriegsdeutschlands. Die überzeugende Retrospektive beweist einmal mehr, dass Eiermanns Ruhm zu Recht in der Synthese von technischer Vollendung und künstlerischer Qualität begründet ist.

Mitte der fünfziger Jahre sah Egon Eiermann (1904-1970), einer der bedeutendsten und einflussreichsten Architekten Nachkriegsdeutschlands, sein berufliches Selbstverständnis in der Aufgabe, die Architektur der Moderne «in den Zustand des technisch höchst Vollendeten hinaufzuheben». Diese Sicht zeugt von nüchternem Realitätssinn, von Selbstbescheidung und zugleich von grossem Ehrgeiz. Die Erkenntnis, dass die «geistige», sprich ideologische und formale Grundlage der Moderne bereits gelegt worden sei und es für die Generation der Nachgeborenen jetzt darauf ankomme, das Neue Bauen in technischer - und d. h. für ihn vor allem: in konstruktiver und funktionaler - Hinsicht zu perfektionieren, hat seine Entwicklung bestimmt. Die Forderung nach funktionaler Klarheit, formaler Einfachheit, konstruktiver Wahrheit und sorgfältiger Detaillierung der Bauten, für die er zeit seines Lebens eintrat, leitete Eiermann aber nicht allein von dieser Erkenntnis ab, sondern auch aus seinem persönlichen Anspruch, «anständig mit Menschen und Material» umzugehen. Er selbst ist diesen Forderungen in vorbildlicher Weise gerecht geworden. Das bezeugt sein vielfältiges Werk, das neben Architektur auch Interieurs, Möbel und Einrichtungsgegenstände umfasst. Sein Ruhm liegt aber vor allem in der Synthese von technischer Vollendung und künstlerischer Qualität begründet, die sich in einem untrüglichen Sinn für spannungsreiche Proportionen, für Material- und Formzusammenklänge offenbart.

Formale Kontinuität

Aus Anlass des 100. Geburtstags von Eiermann widmet das Südwestdeutsche Archiv für Architektur und Ingenieurbau in Kooperation mit der Städtischen Galerie Karlsruhe und dem Bauhaus- Archiv Berlin dem Baumeister jetzt eine umfangreiche Retrospektive, die nacheinander in Karlsruhe und Berlin, den wichtigsten Stätten seines Wirkens, gezeigt wird. Die von einem Team unter der Leitung von Annemarie Jaeggi konzipierte Schau steht unter dem Motto «Die Kontinuität der Moderne». Gemeint sind damit der architekturgeschichtliche Kontext, in den sich sein Werk einordnet, und die formale Kontinuität im Werk selbst, die bei einem deutschen Architekten dieser Generation keineswegs selbstverständlich ist.

Denn wenige Jahre nachdem Eiermann, der sein Architekturstudium bei Hans Poelzig in Berlin absolviert hatte, sein eigenes Büro eröffnet hatte, kamen mit den Nazis erklärte Gegner der Moderne an die Macht. In der Folgezeit fand Eiermann im privaten Wohnungsbau und im Industriebau Bereiche, in denen er seinen gestalterischen Vorstellungen weitgehend treu bleiben konnte. Zu den bemerkenswerten Höhepunkten seines Frühwerkes, die in der Ausstellung gezeigt werden, gehören das Haus Matthies in Potsdam (1936/37), das Haus Vollberg in Berlin (1938-42) sowie die wegweisende Erweiterung eines Fabrikgebäudes in Apolda (1938/39). Aber auch wenn Eiermann trotz seinem brennenden beruflichen Ehrgeiz der Versuchung widerstand, in Nazideutschland prestigeträchtige Grossaufträge zu akquirieren, wurde er durch die Mitarbeit an einer Propagandaschau des Regimes und durch Planungen für Rüstungsbetriebe während des Krieges zu einem «Kollaborateur wider Willen», wie ihn der Architekturhistoriker Werner Durth jüngst charakterisierte.

Seine grosse, auch international beachtete Karriere setzte indessen nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Bereits 1947 erfolgte die Berufung an die Technische Hochschule Karlsruhe, wo Eiermann bis zu seinem frühen Tod im Jahre 1970 als ebenso engagierter wie charismatischer Lehrer wirkte und sich schon nach wenigen Jahren zur zentralen Figur der «Karlsruher Schule» entwickelte. Parallel zu seiner Lehrtätigkeit betrieb er ein erfolgreiches Büro, in dem viele Meisterwerke entstanden. Dazu zählen etwa die Taschentuchweberei in Blumberg, der Deutsche Pavillon auf der Weltausstellung von 1958 in Brüssel, den Eiermann zusammen mit Sep Ruf entworfen hat, die Kaiser- Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin, die Häuser Hardenberg und Eiermann in Baden-Baden, der riesige Gebäudekomplex für den Neckermann- Versand in Frankfurt am Main, das Kanzleigebäude der bundesdeutschen Botschaft in Washington, das als «Langer Eugen» bekannte Abgeordneten-Hochhaus in Bonn, die Hauptverwaltung von IBM Deutschland in Stuttgart und schliesslich die zeichenhaften Olivetti-Doppeltürme in Frankfurt am Main.

Überzeugende Retrospektive

Die im Lichthof 10 des Karlsruher ZKM-Hallenbaues präsentierte Eiermann-Ausstellung verzichtet bewusst auf eine spektakuläre Inszenierung. Sie überzeugt durch ihre klare Struktur und eine überlegte Beschränkung auf 28 Projekte, die geordnet nach Bauaufgaben gezeigt werden. Ein langes, diagonal in den Raum gestelltes Podest nimmt die dreidimensionalen Objekte auf. Flankiert wird es von dazu rechtwinklig placierten, hohen Stellagen, die eine kojenartige Struktur bilden und als Träger der zweidimensionalen Dokumente dienen. Dabei wirkt sich die Vielfalt von Eiermanns Schaffen für die Präsentation sehr positiv aus. Denn die Kombination von zwei- und dreidimensionalem Ausstellungsgut - hier Skizzen, Planzeichnungen, Fotografien und schriftliche Quellen, dort Modelle, Möbel, Leuchten, Einrichtungsgegenstände und Architekturelementen - trägt wesentlich zu ihrer Lebendigkeit bei und ergibt in den meisten Fällen ein abgerundetes Bild der behandelten Projekte. Merkwürdig nur, dass ausgerechnet der Eiermann-Tisch, der berühmteste Design-Entwurf des Meisters, der sich in Gestalterkreisen einer bis heute ungebrochenen Popularität erfreut, hier fehlt.

Der Katalog - er enthält eine Reihe von Aufsätzen, die sich mit verschiedenen Aspekten von Eiermanns Werk auseinandersetzen, sowie detaillierte Beschreibungen von 24 ausgewählten Arbeiten - ist ein ebenso nützliches wie erhellendes Begleitbuch zur Ausstellung. Allerdings spiegelt er ungewollt die beschränkten finanziellen Mittel, die den Ausstellungsmachern zur Verfügung standen. Denn leider entsprechen die meist kleinformatigen Abbildungen in keiner Weise dem Rang der dargestellten Objekte.

Bis 9. Januar 2005 in Karlsruhe, anschliessend in Berlin. Katalog: Egon Eiermann (1904-1970). Die Kontinuität der Moderne. Hrsg. Annemarie Jaeggi. Hatje-Cantz-Verlag, Ostfildern-Ruit 2004. 224 S., Fr. 75.- (Euro 24.- in der Ausstellung).

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2004.09.21



verknüpfte Akteure
Eiermann Egon

06. November 2002Mathias Remmele
Neue Zürcher Zeitung

Gesamtkunstwerk als Leitmotiv

Als Höhepunkt des Veranstaltungsreigens, mit dem Dänemark den 100. Geburtstag des 1971 verstorbenen Architekten und Designers Arne Jacobsen feiert, präsentiert jetzt das Louisiana Museum sein Werk in einer grossen Retrospektive, der es auf überzeugende Weise gelingt, seinen umfassenden Gestaltungswillen zu dokumentieren.

Als Höhepunkt des Veranstaltungsreigens, mit dem Dänemark den 100. Geburtstag des 1971 verstorbenen Architekten und Designers Arne Jacobsen feiert, präsentiert jetzt das Louisiana Museum sein Werk in einer grossen Retrospektive, der es auf überzeugende Weise gelingt, seinen umfassenden Gestaltungswillen zu dokumentieren.

In der an bedeutenden Gestalten wahrlich nicht armen Architektur- und Designgeschichte Dänemarks nimmt Arne Jacobsen eine einmalige Sonderstellung ein. Durch seine zahlreichen prominenten Bauten, vor allem aber durch sein weit gefächertes und bis heute äusserst populäres Schaffen als Designer ist «AJ», wie er in seiner Heimat oft genannt wird, zu einer Art nationaler Identifikationsfigur aufgestiegen. Mit einiger Spannung hat man daher, nicht nur in Dänemark, die dem Meister gewidmete Jubiläums-Retrospektive erwartet, für die das Louisiana Museum in Humlebæk einen trefflichen Rahmen bietet - atmet doch der malerisch an der Meerenge zwischen Dänemark und Schweden gelegene Museumskomplex formal und durch seine harmonische Einbettung in die umgebende Parklandschaft den Geist Jacobsens.


Überzeugendes Konzept

Die Ausstellungsmacher standen bei der Vorbereitung der Retrospektive vor der schwierigen Aufgabe, aus der enormen Fülle einer aussergewöhnlich fruchtbaren, fast fünf Jahrzehnte umfassenden Gestalterkarriere eine sachlich überzeugende, für das Publikum bewältigbare und zugleich repräsentative Auswahl zu treffen. Der Kurator Kjeld Kjeldsen fand, unterstützt von den beiden Experten Carsten Thau und Kjeld Vindum, die vor wenigen Jahren eine sehr umfangreiche Jacobsen-Monographie vorgelegt hatten, für dieses Problem eine hervorragende Lösung. Um der Retrospektive eine Struktur zu geben, haben sie sich die staunenswerte Vielseitigkeit von Jakobsens Schaffen zunutze gemacht. Sein unbändiger Gestaltungswillen, der über Architektur und Design hinaus bis in die Garten- und Landschaftsplanung reichte, offenbart einen unwiderlegbaren Drang zum Gesamtkunstwerk, der gleichsam als Leitfaden für die Betrachtung seines Œuvres dienen kann. Dies erscheint schon deshalb sinnvoll, weil ein erheblicher Teil von Jacobsens Design im Zusammenhang mit konkreten Bauaufgaben entstand. Das Konzept des Gesamtkunstwerkes trägt also von der Sache her, und es erlaubt zugleich eine Fokussierung auf diejenigen Projekte Jacobsens, in denen es besonders deutlich zum Ausdruck kommt - und das sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auch seine wichtigsten und bekanntesten Werke.

Die Ausstellung, die übrigens auch die unabhängig von einer architektonischen Aufgabe entstandenen Designentwürfe wie etwa die Vola- Armaturen, die Gefässe der Cylinda-Line oder die oft mit floralen Motiven gestalteten Textilien zeigt, vermag ihr Publikum durch eine klare Gliederung (zu der die Ausstellungsarchitektur von Elisabeth Topsøe-Jensen einen wichtigen Beitrag liefert) und die Vielfalt der präsentierten Objekte zu fesseln. Das Spektrum reicht dabei von Skizzen über Pläne, aquarellierte Perspektiven, Modelle, historische und neuere Photographien und Designarbeiten bis hin zu Dia- und Videoprojektionen sowie Computeranimationen.


Das «SAS»-Hotel als Höhepunkt

Die dreigeteilte Schau beginnt ganz unspektakulär mit einer Auswahl von Aquarellen und Photographien Jacobsens. Diese Bilder bezeugen sein malerisches Talent (das er, wie sich später zeigen wird, auch für seine Entwurfspräsentationen fruchtbar machte), sie dokumentieren seine Auseinandersetzung mit Formen und Farben, und sie offenbaren zugleich einige seiner Inspirationsquellen. Anschliessend vermitteln dann ausgewählte, in chronologischer Ordnung präsentierte Designobjekte und Architekturmodelle einen ersten Eindruck von der Bandbreite und der stilistischen Entwicklung seines Werkes.

Nach dieser überblicksartigen Einführung folgt der Hauptteil der Ausstellung, in dem, anhand von einigen zentralen Werkkomplexen, beispielhaft das Zusammenspiel von Architektur und Design illustriert wird. Den Anfang machen die in den dreissiger Jahren im Stil der weissen Moderne errichteten Bauten auf dem nördlich von Kopenhagen gelegenen Bellevue-Areal (ein Strandbad, ein Theater mit Restauranttrakt, ein Mietshauskomplex und eine Tankstelle), für die Jacobsen teilweise auch das Interieur entwarf. Es folgen die beiden kurze Zeit später entstandenen Rathäuser von Århus und Søllerød, die ihm erstmals die Chance boten, seine umfassenden gestalterischen Vorstellungen in einem repräsentativen Rahmen zu verwirklichen. Während bei diesen vor dem Zweiten Weltkrieg realisierten Projekten die Auseinandersetzung Jacobsens mit den Arbeiten von Gunnar Asplund evident wird, bezeugen die in der Nachkriegszeit entstandenen Arbeiten die fruchtbare Beschäftigung mit amerikanischen Vorbildern. Dies zeigt sich etwa in den Planungen für das «SAS»-Hotel in Kopenhagen, die unbestritten einen kreativen Höhepunkt in Jacobsens Schaffen markieren und in der Ausstellung einen entsprechend breiten Raum einnehmen.


Die Frage nach der Aktualität

Rein architektonisch mag das in der reduzierten Formensprache der Nachkriegsmoderne zwischen 1955 und 1960 im Zentrum der dänischen Hauptstadt erbaute Hotel nicht als wegweisend gelten - zu offensichtlich ist die Kombination von Hochhaus-Scheibe und flacher, zweigeschossiger Sockelplatte vom Lever-Building in New York inspiriert. Die Fülle, Qualität und Originalität der für dieses Projekt entstandenen Designentwürfe, zu denen so berühmte Sitzmöbel wie das Ei und der Schwan gehören, ist aber bis heute kaum übertroffen worden. Das «SAS»-Hotel, das gestalterisch von der Spannung zwischen einer formal reduzierten, meist streng orthogonal organisierten Architektur und dem dynamischen Schwung und der Exaltiertheit seines Interieurs lebt, ist, wie die Ausstellung eindrücklich beweist, ein Gesamtkunstwerk par excellence.

Diese gestalterische Höhe vermochte Jacobsen in seinem Spätwerk nur bedingt zu halten. Am ehesten gelang ihm dies beim zwischen 1959 und 1964 realisierten St. Catherine's College in Oxford. Es ist, nicht zuletzt dank seinem Garten, aus heutiger Sicht der letzte geglückte Gesamtentwurf des Meisters. Die in den späten sechziger Jahren erbaute dänische Nationalbank hingegen vermag zwar durch architektonische Details wie etwa die filigrane, ungemein elegante Treppe im Besucherfoyer zu gefallen, städtebaulich aber ist dieser hermetische Bau, trotz seinen harmonischen Proportionen, ein Problemfall.

Der dritte und abschliessende Teil der Ausstellung versucht eine Annäherung an Jacobsen aus zeitgenössischer Perspektive. Das Louisiana Museum hat drei international bekannte Architekturbüros zu einer Auseinandersetzung mit seinem Werk eingeladen: Gigon Guyer aus Zürich, Dominique Perrault aus Paris und Sejima/Nishizawa vom japanischen Büro SANAA. So lobenswert es ist, bei einer derartigen Jubiläumsschau die Frage nach der Aktualität und der bleibenden Relevanz des präsentierten Werkes zu stellen, und so bemerkenswert es erscheint, dass man in Dänemark die Antwort auf diese Frage ausländischen Interpreten überlässt: Die Auswahl der eingeladenen Büros (warum übrigens nur Architekten?) wirkt leider ebenso wenig zwingend wie die vorgestellten Ergebnisse ihrer Auseinandersetzung mit Jacobsen. Eine Ausnahme macht das Duo SANAA. Es placierte in den für seinen Ausblick auf den Park berühmten Giacometti-Raum des Museums einen grossen Plexiglaszylinder, in dessen Wände freie organische Formen reliefartig eingeschrieben sind. Das Objekt evoziert Leichtigkeit und Transparenz. Wer hindurchblickt, sieht skurril verzerrte Bilder - gerade so, als habe sich die Welt verflüssigt. Rauminstallation und Kunstwerk in einem, vermag dieser Zylinder für sich allein zu stehen. Zugleich aber kann er als Kommentar zu Jacobsen gelesen werden, der zwischen strenger Geometrie und organischer Form keinen Widerspruch sah.


[Die Ausstellung «Arne Jacobsen - Absolut modern» im Louisiana Museum in Humlebæk dauert bis zum 12. Januar 2003.]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2002.11.06

24. Oktober 2000Mathias Remmele
Neue Zürcher Zeitung

Hanseatisches Bauen

Das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe, das jüngst einen vom Architekturbüro Alsop & Störmer geplanten Erweiterungsbau beziehen konnte, zeigt derzeit eine Ausstellung über den hanseatischen Architekten Alexis de Chateauneuf (1799-1853), in der dieser Baumeister als ein «Neuerer auf dem Weg zur Moderne» vorgestellt wird.

Das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe, das jüngst einen vom Architekturbüro Alsop & Störmer geplanten Erweiterungsbau beziehen konnte, zeigt derzeit eine Ausstellung über den hanseatischen Architekten Alexis de Chateauneuf (1799-1853), in der dieser Baumeister als ein «Neuerer auf dem Weg zur Moderne» vorgestellt wird.

Es ist eine Binsenwahrheit, dass man in Hamburg von vordergründigem Renommiergehabe nicht viel hält. Bisweilen zeigt sich das auch beim Bauen. Die Erweiterung des dortigen Museums für Kunst und Gewerbe, für deren Einweihung jüngst der Hamburger Architektursommer einen passenden Rahmen abgab, ist dafür ein vorzügliches Beispiel. Denn der nach seinen privaten Stiftern als Schümann-Flügel benannte Neubau gibt sich nicht nur formal einfach und auf seine Ausstellungszwecke hin konzipiert - er ist nachgerade unsichtbar. Von aussen zumindest, liegt er doch in einem der beiden Innenhöfe des 1877 als Gewerbeschule mit kleiner Schausammlung errichteten Gebäudes versteckt. Ein gebauter Beweis für hanseatisches Understatement und für das Fortbestehen des bürgerlichen Mäzenatentums.

Man kann die Sache indessen auch anders sehen. Der Umstand, dass das Museum seit Anfang des 20. Jahrhunderts bei den Stadtvätern einen immer dringlicheren Raumbedarf anmeldete, der erst jetzt mit privater Hilfe befriedigt werden konnte, legt die Vermutung nahe, die sprichwörtliche Pfeffersack-Mentalität sei in Hamburg noch nicht überwunden. Und hätte man einen Erweiterungsbau nicht auch als Chance nutzen können, um - was ja so unsinnig nicht wäre - nach aussen ein Zeichen zu setzen und damit die Attraktivität des Museums zu steigern?

Gut bespielbarer Erweiterungstrakt

Die Museumsleitung jedenfalls ist überglücklich, endlich die ärgste Raumnot überwunden zu haben. Der mit dem Anbau beauftragte Hamburger Architekt Jan Störmer und sein Londoner Partner Will Alsop schufen zwar kein atemberaubendes Juwel, wohl aber einen sehr ordentlichen, gut bespielbaren Gebäudetrakt, der - auch das ist ja beileibe keine Selbstverständlichkeit - vom Respekt gegenüber dem Bestand zeugt. Der L-förmige Neubau nimmt bei einer Fläche von rund 4500 m² vor allem eine dem Museum jüngst übereignete Sammlung historischer Tasteninstrumente auf. Daneben bietet er Raum für die Bibliothek, das Restaurant, ein grosszügiges Vestibül und das «Forum Gestaltung», wo von nun an in wechselnden Präsentationen neue Design-Tendenzen aufgezeigt werden sollen.

Spannender als der Neubau mag dem architekturinteressierten Publikum freilich die Sonderschau erscheinen, die das Museum derzeit dem Werk des hauptsächlich in Hamburg tätigen Architekten Alexis de Chateauneuf (1799-1853) widmet. Sein Name dürfte zwar selbst in der Hansestadt nur wenigen geläufig sein, doch es gibt einen hervorragenden Anknüpfungspunkt: Wer je auf dem Hamburger Rathausmarkt stand und von dort Richtung Jungfernstieg und Binnenalster blickte, wird sich an jene malerischen Arkadenreihe entlang der Kleinen Alster erinnern, die der Hansestadt an dieser Stelle ein fast schon mediterranes Flair verleiht. Die Alsterarkaden sind zweifellos das bekannteste Werk im umfangreichen und vielfältigen Schaffen Chateauneufs, den die Ausstellungsmacher als einen «der bedeutendsten Neuerer der europäischen Architektur auf dem Weg zur Moderne» vorstellen möchten. Eine Einschätzung, die zunächst überraschen mag, für die man aber mit Fritz Schumacher einen prominenten Kronzeugen vorweisen kann.

Schumacher bezeichnete den Baumeister in seiner Schrift «Strömungen in deutscher Baukunst seit 1800» als «die wohl einzige architektonische Persönlichkeit, die in der Jahrhundertmitte mit Semper an Begabung wetteifern kann». Auch die Ehrenmitgliedschaft im Royal Institute of British Architects, die man Chateauneuf im Jahre 1835, übrigens gemeinsam mit keinen Geringeren als Karl Friedrich Schinkel und Leo von Klenze, antrug, ist ein starkes Indiz für die Wertschätzung, die dem Architekten selbst auf internationaler Ebene von verständigen Zeitgenossen zuteil wurde. Wenn Chateauneufs architekturgeschichtliche Bedeutung trotz seinem entwerferischen Talent, für das in der Ausstellung zahlreiche Proben zu sehen sind, nicht an die von Semper heranreicht, so dürfte dafür, abgesehen von seiner kürzeren Lebenszeit, eine Mischung aus ungünstigen äusseren Bedingungen und persönlichen Unzulänglichkeiten verantwortlich sein.

Katastrophe als Wendepunkt

Chateauneuf, Spross eines französischen Emigranten und einer Hamburgerin, wuchs in der Hansestadt auf. Seine Ausbildung, der eine Zimmermannslehre vorausging, erhielt er während eines dreijährigen Studiums beim Karlsruher Klassizisten Friedrich Weinbrenner. Bevor er sich anschliessend als Privatarchitekt in seiner Heimatstadt niederliess, unternahm er ausgedehnte Bildungsreisen, die ihn nicht nur nach Italien, sondern auch nach Lübeck führten, wo er sich intensiv mit der Backsteingotik beschäftigte. In Hamburg entwickelte sich Chateauneuf innerhalb weniger Jahre zu einer wichtigen Figur im städtischen Kulturleben. Da seine Bemühungen um grosse öffentliche Bauaufträge für längere Zeit vergeblich blieben, musste er sich zunächst mit wenig spektakulären Aufträgen begnügen. Unter seinen frühen Bauten sind vor allem die 1826 aus unverputzten Backsteinen errichteten Stadthäuser bemerkenswert, mit denen er die folgenreiche Renaissance dieses Baumaterials in der Hansestadt einläutete. Ein erster Markstein in seinem Schaffen bedeutete die 1836 fertiggestellte Stadtvilla Abendroth. Für diesen noblen, viel beachteten Bau am Jungfernstieg entwarf Chateauneuf auch das gesamte Interieur. Dabei blieb er jedoch, im Gegensatz zu seiner Architektur, für die er in ganz undogmatischer Weise Elemente anderer historischer Stilepochen, insbesondere der Gotik und der Renaissance, benutzte, dem Formenvokabular des Klassizismus verpflichtet.

Aus Frustration über seine unbefriedigende berufliche Situation verliess Chateauneuf 1838 Hamburg und versuchte einen Neuanfang in London. Doch trotz einigen Achtungserfolgen, etwa einem 2. Preis beim Wettbewerb für die Londoner Börse, gelang es ihm nicht, dort dauerhaft Fuss zu fassen. Den Wendepunkt in seiner Karriere verdankte Chateauneuf schliesslich einer Katastrophe. Ein Grossbrand zerstörte 1842 erhebliche Teile der Hamburger Innenstadt. In der darauf folgenden Wiederaufbauphase erlangte Chateauneuf als Städtebauer und Architekt einen massgeblichen Einfluss auf die Neugestaltung der Stadt. Er wurde zum Vorsitzenden der «Technischen Kommission» ernannt, die die Bauplanungen leitete, und konnte in dieser Funktion seinen Entwurf für das noch immer bestehende städtebauliche Ensemble um Börse und Rathaus durchsetzen. Als Privatarchitekt erhielt er Aufträge für die Alsterarkaden, die nahe gelegene alte Stadtpost und den Wiederaufbau der Petrikirche.

Nach den kurzen Hamburger Boomjahren konnte sich Chateauneuf in Oslo als Kirchenbauer noch einmal hervortun, ehe er, ausgebrannt und geistig zerrüttet, bereits 1853 verstarb. Nach jahrzehntelanger Missachtung wird sein durch Abrisswut und Kriegszerstörung dezimiertes Bauerbe heute an allen Orten seines Wirkens gepflegt. - Die thematisch, nach Baugattungen und wichtigen Einzelprojekten gegliederte Schau, deren Aufmachung etwas traditionell, in diesem Rahmen aber durchaus überzeugend ausfällt, präsentiert eine Vielzahl von Dokumenten zu annähernd 100 Arbeiten Chateauneufs. Neben kolorierten Zeichnungen, Plänen und Skizzenblättern vermitteln eigens angefertigte Modelle einen Eindruck von den bedeutendsten Bauten und Entwürfen.

Zu den Höhepunkten der von David Klemm zusammengestellten Schau zählen zwei im Museum original erhaltene beziehungsweise nach dem originalen Vorbild rekonstruierte Interieurs, die hier für einmal in einem neuen Licht zu erleben sind: ein kleines Kabinett aus dem Landhaus Sieveking und das berühmte, ganz offensichtlich von Schinkel inspirierte Balkonzimmer aus der Villa Abendroth. Die Begleitpublikation zur Ausstellung enthält ausser einer Reihe von Aufsätzen ein komplettes Werkverzeichnis.

[ Bis 19. November. Katalog: Alexis de Chateauneuf (1799- 1853). Architekt in Hamburg, London und Oslo. Hrsg. von David Klemm und Hartmut Frank. Verlag Dölling und Galitz, Hamburg 2000. 336 S., DM 48.- (in der Ausstellung). ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2000.10.24



verknüpfte Bauwerke
Museum für Kunst und Gewerbe - Schümann-Flügel

20. September 2000Mathias Remmele
Neue Zürcher Zeitung

Visualisierung des Zerstörten

Virtuelle Rekonstruktionen deutscher Synagogen in Bonn

Virtuelle Rekonstruktionen deutscher Synagogen in Bonn

Als ein bedeutsames Datum in der Geschichte der Entrechtung und Verfolgung der Juden in Deutschland sind die Pogrome vom 9. und 10. November 1938 im historischen Gedächtnis der Deutschen verankert. Der brutale Terror wurde von einem beispiellosen Akt kultureller Barbarei begleitet: Dem zentral gesteuerten, von SA-Männern und dem sympathisierenden Mob ausgeführten Zerstörungswerk fielen in der «Reichskristallnacht» die Hälfte der rund 2800 Synagogen und Bethäuser in Deutschland zum Opfer. Viele dieser Bauwerke haben das Bild von Städten und Dörfern wesentlich mitgeprägt und damit Zeugnis abgelegt vom jüdischen Leben in Deutschland. Sie verdienen aber auch unter architekturhistorischen Gesichtspunkten Beachtung. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang nur die nach Plänen von Gottfried Semper 1838-1840 errichtete Synagoge in Dresden. An die systematische Zerstörung der Synagogen, die bereits vor dem November 1938 einsetzte, während des Weltkriegs weiterging und sogar in der Nachkriegszeit noch eine Fortsetzung fand, erinnern heute vielerorts nur mehr Gedenktafeln. Aus dem Bewusstsein der Menschen sind sie weitgehend verschwunden.

Eine in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn präsentierte Ausstellung mit dem Titel «Synagogen in Deutschland - eine virtuelle Rekonstruktion» rückt nun die verlorenen Bauwerke ins Zentrum der Betrachtung. Die von einem Team aus Dozenten und Studenten der Technischen Universität Darmstadt seit Jahren mit grossem Engagement vorbereitete Schau stellt insgesamt 14 grosse Synagogenbauten vor, die die Bedeutung, Bandbreite und Vielfalt der jüdischen Sakralarchitektur in Deutschland beispielhaft dokumentieren. Bemerkenswert an der Bonner Ausstellung ist vor allem die neuartige Darstellungsform. Gezeigt werden - teils als Videoanimation, teils als Diaprojektion - virtuelle Rekonstruktionen der Gebäude. Diese mit den Mitteln avancierter Computertechnik und hoch entwickelter CAD-Software erzeugten künstlichen Bilder, die sich bisweilen von realen Photographien oder Filmen kaum mehr unterscheiden lassen, entwickeln eine erstaunliche Überzeugungskraft. Sie veranschaulichen, besser als es die wenigen Originaldokumente (historische Photographien und Pläne) könnten, diese herausragenden Kulturgüter, deren Verlust hier beklagt wird. Gleichzeitig sind diese Bilder und die durch sie transportierten Informationen auch einem Publikum unmittelbar zugänglich, das mit dem eher spröden Archivmaterial - das freilich als wesentliche Grundlage für die virtuellen Rekonstruktionen in der Ausstellung ebenfalls seinen Platz hat - wenig anzufangen wüsste.

Die Bonner Schau präsentiert ein «work in progress». Das Projekt - entstanden unter dem Eindruck des Brandanschlags auf die Lübecker Synagoge von 1994 - wird fortgesetzt, auch in der Ausstellung selbst, wo zwei Studenten an ihren Rechnern den aufwendigen Rekonstruktionsprozess selbst vorführen. Eine der wesentlichen Zielsetzungen ist dabei die Zusammenführung und Verdichtung des Wissens über die zerstörten Synagogen. Angesichts der oft nur lückenhaften Dokumentation der Bauten durch Pläne und Fotos - die Nazis vernichteten in zahlreichen Fällen nicht nur die Gebäude selbst, sondern auch die dazugehörigen Bauakten und Dokumente - war und ist man während der Arbeit an den Rekonstruktionen auf die Hinweise und Beschreibungen noch lebender Zeitzeugen angewiesen. Die mit ihrer Hilfe entstehenden Bilder, die bewusst nur als Annäherungen an die Realität verstanden werden, sind eine Chance, das Gedächtnis dieser Menschen und das Gedenken an das unwiederbringlich Zerstörte zu bewahren. Nach den Vorstellungen der Darmstädter Projektleiter sind die computergenerierten virtuellen Rekonstruktionen der Synagogen schliesslich auch ein Weg, die digitalen Technologien und speziell das Internet der Erinnerungskultur dienstbar zu machen. Die Entwicklung immaterieller, den Bedingungen und Möglichkeiten der neuen Medien angepasster Gedenkstätten scheint in der Tat eine zukunftsweisende Aufgabe.


[Bis 1. Oktober. Katalog: Synagogen in Deutschland - eine virtuelle Rekonstruktion. Hrsg. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2000. 79 S., DM 10.-. Unter www.cad.architektur.tu-darmstadt.de sind zusätzliche Informationen abrufbar. ]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2000.09.20

15. September 2000Mathias Remmele
Neue Zürcher Zeitung

Abseitsfalle

Eine Design-Ausstellung in Bonn

Eine Design-Ausstellung in Bonn

Bereits der Titel klingt etwas verdächtig: «Design: 4:3 - fünfzig Jahre italienisches und deutsches Design», so heisst eine als «historischer Überblick» angelegte Schau, die derzeit in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn gezeigt wird. 4:3, muss man wissen, lautete das Ergebnis eines legendären Fussballspiels zwischen der italienischen und der deutschen Nationalmannschaft bei der WM von 1970 in Mexiko. Das hat zwar direkt nichts mit Design zu tun, soll aber einen neuen und originellen Zugriff auf das Thema andeuten.

So fragwürdig wie ihr Titel mit seiner an den Haaren herbeigezogenen Parallelisierung von Fussball und Design, so kläglich, uninspiriert und letztlich konzeptionslos ist die Ausstellung selbst. Zentrales Element der Präsentation sind kreisförmige Podeste unterschiedlichen Durchmessers, auf denen die berühmtesten Designer der beiden Länder - offensichtlich nach eigenem Gutdünken - ihr Werk bzw. Teile davon zeigen dürfen. Autistische Inseln, die beziehungslos im Raum stehen und vor allem die Planlosigkeit dieser Schau zeigen. Es hätte eines ausgefeilten didaktischen Zugriffs und einer sorgfältigen Auswahl der Objekte bedurft, um die Themenstellung, die sich ja keineswegs aufdrängt, überhaupt plausibel erscheinen zu lassen.

Wer hier Aufklärung sucht über Parallelen, Unterschiede und gegenseitige Beeinflussung in der Designentwicklung der beiden Länder, wird mit einer Materialansammlung ohne Sinn und Zweck konfrontiert, die allenfalls einen oberflächlichen Objektfetischismus zu befriedigen vermag. Das Ganze erscheint nicht weiter verwunderlich, wenn man liest, dass der Kurator dieser Show, Michael Erlhoff, in der Einleitung des Kataloges schreibt: «Entgegengesetzt landläufiger öffentlicher Meinung ist Design gar nicht ausstellbar, oder es besteht zumindest die Gefahr, dass es in einer Ausstellung zum puren Spektakel verkommt.» In Bonn hat man es tatsächlich geschafft, diese - freilich völlig unhaltbare - These plausibel erscheinen zu lassen.


[Die Ausstellung dauert bis 12. November. Katalog: 4:3 - fünfzig Jahre italienisches und deutsches Design. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2000. 320 S., DM 49.- (in der Ausstellung).]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2000.09.15

04. März 1999Mathias Remmele
Neue Zürcher Zeitung

Architektur des Neubeginns

Für die Baugeschichte Mannheims spielen die fünfziger Jahre eine kaum zu unterschätzende Rolle. Denn nach den verheerenden Zerstörungen des Weltkrieges...

Für die Baugeschichte Mannheims spielen die fünfziger Jahre eine kaum zu unterschätzende Rolle. Denn nach den verheerenden Zerstörungen des Weltkrieges...

Für die Baugeschichte Mannheims spielen die fünfziger Jahre eine kaum zu unterschätzende Rolle. Denn nach den verheerenden Zerstörungen des Weltkrieges erhielt die nordbadische Industriemetropole in jener Wiederaufbauzeit – wie andere deutsche Grossstädte auch – ein neues Gepräge, das ihr Erscheinungsbild bis heute nachhaltig bestimmt. Eine Veranstaltungsreihe zur Kunst und Kultur der fünfziger Jahre im Rhein- Neckar-Dreieck bietet nun die Gelegenheit, Architektur und Städtebau dieser Zeit in einer Ausstellung zu thematisieren. Die Ausstellungshalle der Mannheimer Handwerkskammer, eines qualitätvollen Beispiels der Nachkriegsarchitektur, ist ein passender Ort für die von Andreas Schenk und Sandra Wagner im Auftrag des Stadtarchivs Mannheim und des Mannheimer Architektur- und Bauarchivs zusammengestellte Schau. Sie dokumentiert mit Hilfe von Zeichnungen, Photographien und Modellen das Baugeschehen des Jahrzehnts in all seinen Facetten und beweist einmal mehr, dass die lange Zeit verbreitete Geringschätzung der Epoche einer differenzierteren Betrachtungsweise Platz gemacht hat.

Von gravierenden Eingriffen in die überkommene Stadtstruktur, wie sie während der Nachkriegszeit vor allem unter verkehrsplanerischen Gesichtspunkten in vielen deutschen Städten vorgenommen wurden, blieb Mannheim trotz der weitgehenden Zerstörung seiner Innenstadt verschont. Die rationalistische, aus der Barockzeit stammende Stadtanlage mit ihrem charakteristischen schachbrettartigen Strassenraster liess sich mit den urbanistischen Idealen der Zeit vereinbaren. Die kleinteilige Parzellierung der als «Quadrate» benannten innerstädtischen Baublöcke freilich gab man zugunsten von einheitlich gestalteten Grossformen auf.

Zu den dringendsten Bauaufgaben der Epoche zählte zweifellos der Wohnungsbau. Während hier die Linderung der Wohnungsnot im Vordergrund stand und gestalterischen Aspekten meist eine untergeordnete Bedeutung zukam, zeigt sich die vielgerühmte Eleganz der Fünfziger-Jahre- Architektur an einigen Geschäfts- und Verwaltungsbauten. Die von Gustav Geyer erbauten ÖVA-Passagen etwa legen davon noch heute Zeugnis ab, während das von Hans Soll entworfene, von einem Flugdach bekrönte Hansa-Kaufhaus leider bis zur Unkenntlichkeit verändert wurde. Künstlerisch ambitionierten Architekten bot in der Wiederaufbauphase vor allem der Sakralbau ein Betätigungsfeld. Zwei Schüler Egon Eiermanns, die auch in der Folgezeit die jüngere Mannheimer Baugeschichte entscheidend mitprägten, setzten in diesem Bereich neue Massstäbe: Carlfried Mutschlers Pfingstbergkirche und Helmut Striffler Trinitatiskirche fanden zu Recht auch überregionale Beachtung.

Gar internationales Aufsehen hätte Mannheim mit der prestigeträchtigsten Bauaufgabe, die es in den Jahren nach dem Weltkrieg zu vergeben hatte, erregen können. Kein geringerer als Ludwig Mies van der Rohe beteiligte sich 1952 an dem Wettbewerb für den Neubau des traditionsreichen Nationaltheaters. Sein Entwurf, eine ebenso elegante wie gewagte Glas-Stahl-Konstruktion, würde heute zweifellos zu den Ikonen der Moderne zählen und der Stadt am Zusammenfluss von Rhein und Neckar Scharen von Architekturtouristen bescheren. Doch den Stadtvätern fehlte es damals an Mut, und der Auftrag ging an den vergleichsweise unbekannten Architekten Gerhard Weber aus Frankfurt. Sein Theater vermag seither weder die Mannheimer noch ihre Gäste so recht zu begeistern. (Bis 13. März)

[Andreas Schenk, Sandra Wagner: Eine neue Stadt muss her! Architektur und Städtebau der fünfziger Jahre in Mannheim. Lukas-Verlag, Berlin 1999. 120 S., DM 25.]

Neue Zürcher Zeitung, Do., 1999.03.04

05. Februar 1999Mathias Remmele
Neue Zürcher Zeitung

Wie ein Monolith

In den vergangenen Jahren erregten Schulneubauten im Kanton Graubünden mehrfach überregionale Aufmerksamkeit. In Paspels setzte Valerio Olgiati diese Reihe mit einem Meisterwerk fort. Der demonstrativen formalen Kargheit des Gebäudes steht eine ausgefeilte Grundrisslösung gegenüber, die zu überraschenden Raumsituationen führt.

In den vergangenen Jahren erregten Schulneubauten im Kanton Graubünden mehrfach überregionale Aufmerksamkeit. In Paspels setzte Valerio Olgiati diese Reihe mit einem Meisterwerk fort. Der demonstrativen formalen Kargheit des Gebäudes steht eine ausgefeilte Grundrisslösung gegenüber, die zu überraschenden Raumsituationen führt.

Im Domleschg, nicht weit von Thusis, doch abseits der Hauptroute Chur-San Bernardino, liegt, am Südwesthang des Hinterrheintals, das kleine Dorf Paspels. Dort steht, ganz oben, am Randes des Ortes, wo die Felder und Wiesen beginnen, die neue Schule. Ein Solitär, der absichtsvoll Distanz hält zum benachbarten alten Schulhauskomplex, mit dem ihn bloss ein unterirdischer Gang verbindet. Ein rechter Brocken ist dieser Neubau. Ein Monolith, ein scharfkantiger Betonquader, der unvermittelt drei Stockwerke hoch aus dem Acker ragt - sehr für sich stehend, ganz in sich ruhend. Wie ein Fremdling wirkt er freilich nicht. Bereits sein Pultdach weist, exakt der Neigung des Hanges folgend, auf Ortsverbundenheit hin. Und bald einmal weckt seine monolithische Form Assoziationen an jene trutzigen Steinbauten, die man da und dort im Bündnerland findet. Oder, noch naheliegender, an die Burgen des Domleschg, die den mächtigen, seitlich aus dem Gebäudekörper ragenden Wasserspeier inspiriert zu haben scheinen, über den das gesamte Dach entwässert wird. Auch die rauhen Sichtbetonfassaden, auf denen sich deutlich die Spuren der Schalungsbretter abzeichnen, passen in diesen Kontext. Belebt werden ihre Flächen durch teils bündige, teils leicht vertiefte Fensteröffnungen, die in dunklen, auffällig breiten Bronzerahmen stecken. Die Grösse der Fenster deutet auf die Dimension der dahinterliegenden Räume, ihre spannungsreiche, stockwerkweise gegeneinander versetzte Anordnung lässt eine innere Regelhaftigkeit vermuten. Von aussen betrachtet, bleibt diese aber ebenso undurchsichtig wie die Nutzung des Gebäudes, dessen nach Südwesten, zum Dorf hin liegende Eingangsfassade eher an die strenge Würde eines alten Palazzo als an eine Schule erinnert.

Verzogen und verdreht

Wer den mittig angeordneten, durch ein schlichtes Vordach deutlich markierten Eingang passiert, gelangt zunächst in einen eher spärlich beleuchteten, spartanisch anmutenden Flur. Flankiert von fensterlosen Sanitär-, Lager- und Versammlungsräumen, nimmt dieser die gesamte Gebäudetiefe ein und dient, mit schlichten Holzbänken möbliert, als Garderobe. Eine breite, fast unmerklich aus der Achse verschobene Treppe führt in die beiden Obergeschosse, wo der Bau erst seine wesentlichen, auf einer raffinierten Grundrisslösung beruhenden Qualitäten auszuspielen beginnt. Dem Grundriss liegt die Figur eines Quadrates zugrunde. In seinen Ecken placierte der Architekt die Räume, die es pro Stockwerk unterzubringen galt: drei Klassenzimmer sowie einen deutlich kleiner bemessenen Vorbereitungsraum für die Lehrkräfte. Durch diese Anordnung ergab sich ein annähernd kreuzförmiger, jeweils bis an die Aussenwände des Gebäudes reichender Erschliessungsraum, der sich neben den schmalen Lehrerzimmern zu einem internen Pausenbereich ausweitet.

Interessant wurde diese einfache Grundrissfigur freilich erst durch einen fein kalkulierten Kunstgriff. Olgiati nämlich verzerrte das Quadrat. Er zog und stauchte so lange an seinen Ecken, bis sie allesamt leicht vom rechten Winkel abwichen. Im Höchstfall zwar nur um - von aussen kaum wahrnehmbare - fünf Grad, doch das genügt, um das innere Raumgefüge merklich aus den Fugen geraten zu lassen. Die zuvor parallelen Seitenwände der auf den Mittelpunkt des Gebäudes ausgerichteten Stichgänge, die sich nun bald verengen, bald auseinanderstreben, dynamisieren den Raum zwischen den Klassenzimmern. Durch diese scheinbar simple, tatsächlich aber äusserst ausgefeilte Grundrissmanipulation entsteht in den Fluren der Schule eine ungewöhnliche, irritierende, ja fast geheimnisvolle Raumsituation. Die Einheitlichkeit des Materials (Boden, Wände und Decke sind aus Beton) und die Belichtung - von allen vier Gebäudeseiten fliesst, je nach Tages- und Jahreszeit wechselnd, durch grosse Fenster die Helligkeit ein - steigern die Wirkung dieser Rauminszenierung erheblich.

Doch statt den aus dem verzogenen Grundriss resultierenden Effekt in den beiden prinzipiell gleichartig aufgebauten Obergeschossen einfach nur zu wiederholen, sann Olgiati nach einer Variationsmöglichkeit. Er fand sie, indem er die Lage und Ausrichtung der Klassenzimmer und des Vorbereitungsraumes veränderte. Der Grundriss des zweiten Obergeschosses erscheint so gegenüber dem des ersten gleichsam wie verdreht. Während im Inneren des Gebäudes eine Reprise der Raum- und Lichtkonstellation mit umgekehrten Vorzeichen stattfindet, spiegelt sich die Drehbewegung an der Fassade in der stockwerkweise versetzten Fensteranordnung.

Architektonische Recherche

In einem markanten Gegensatz zur kargen, vom kühlen Beton geprägten Atmosphäre der Flure präsentieren sich die innen zur Gänze mit Lärchenholzbrettern verkleideten - oder sollte man sagen: ausgefütterten - Klassenzimmer fast so heimelig wie alte Bündnerstuben. In diesen Holzkisten wirken Wandtafel, Waschbecken, Leuchtstoffröhren und Möbel wie temporäre Applikationen, die die Geschlossenheit des Raumes so wenig wie nur irgend möglich stören sollen. Ihren Hauptreiz aber verdanken die Schulstuben ihren Öffnungen. Ein die gesamte Breitseite des Raumes einnehmendes, zu Boden und Decke im gleichen Abstand verlaufendes Fensterband ermöglicht einen ungestörten und weiten, gleichwohl gerichteten Ausblick, der auf seine Weise die Verbundenheit der Schule mit ihrer Umgebung und der Natur betont.

Wie beträchtlich sich die Impression eines Panoramablickes durch Rahmung und Fokussierung noch steigern lässt, hat zuletzt Jean Nouvel in Luzern gezeigt. In Paspels, im unteren Pausenbereich der Schule, beweist Olgiati, dass auch er diesen Effekt zu nutzen weiss. Mit fast schon physischer Intensität dringt hier das Bild des hinter dem Haus sanft ansteigenden Hanges durch ein mannshohes, breitgelagertes Fenster ins Innere.

Valerio Olgiati, der sich mit der Schule in Paspels gewissermassen in die erste Liga der Schweizer Gegenwartsarchitektur katapultierte, unternahm hier eine neue, womöglich zukunftsweisende architektonische Recherche. Angesichts eines schmalen Budgets arbeitete er - sieht man von dem «Luxus» der bronzenen Fensterrahmen einmal ab - ausschliesslich mit einfachen, der Architektur ureigensten Mitteln, mit Material, Raum und Licht. Im Mittelpunkt seines Interesses aber stand die Struktur des Gebäudes selbst, das Gefüge der Räume und die ihr innewohnende Logik. Die folgenreichen Grundrissmanipulationen, die das wichtigste Ergebnis seiner Untersuchung darstellen, rühren an die konventionelle Wahrnehmung und erschüttern herkömmliche Erwartungshaltungen. Sie sind der Auslöser für jene Irritation, die Paspels so faszinierend macht. Daneben erscheint es fast schon zweitrangig, dass Olgiati in der Schule die Qualität der wenigen eingesetzten Materialien bis zum äussersten ausreizt, dass er sich meisterlich auf das Arbeiten mit «Bildern» versteht und dabei sowohl regionale als auch internationale Anregungen zu einer in sich stimmigen und ihrerseits bildmächtigen Synthese zu verbinden weiss.

Kaum zu entkräften ist freilich der Einwand, dem Architekten sei bisweilen die ästhetische Wirkung seiner Raumschöpfung wichtiger gewesen als praktische Erwägungen und die Bedürfnisse der Nutzer. Über die Menschenfreundlichkeit der fast unentrinnbaren Betonwelt in den Fluren der Schule und ihre akustischen Zumutungen jedenfalls liesse sich trefflich streiten. Aus Paspels hört man indessen keine lauten Klagen. Selbst Skeptiker, heisst es, zollten der neuen Schule Respekt. Dass ein so innovativer und unkonventioneller Bau hier überhaupt realisiert werden konnte, spricht für das im Bündnerland praktizierte Wettbewerbswesen, für die Offenheit der Bergler und die Überzeugungskraft des Architekten.

[Vor kurzem erschien eine Publikation über die Schule: Valerio Olgiati: Paspels. Edition Dino Simonett, Zürich 1998. 64 S., Fr. 48.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1999.02.05



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