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29. Mai 2015Arthur Rüegg
TEC21

Schöpferisches Destillat

Das Centre Le Corbusier / Museum Heidi Weber bietet einen erstaunlich homogenen Querschnitt durch Le Corbusiers Experimente bei Möblierung und Innenausbau. Der Bau belegt seine Fähigkeit, zeitliche Abfolgen, thematische Bindungen und räumliche Trennungen zu durchbrechen und heterogene Elemente zu einem neuen Ganzen zu verschmelzen.

Das Centre Le Corbusier / Museum Heidi Weber bietet einen erstaunlich homogenen Querschnitt durch Le Corbusiers Experimente bei Möblierung und Innenausbau. Der Bau belegt seine Fähigkeit, zeitliche Abfolgen, thematische Bindungen und räumliche Trennungen zu durchbrechen und heterogene Elemente zu einem neuen Ganzen zu verschmelzen.

Der scheinbar aus vielen farbigen Klötzchen zusammengesetzte Pavillon am Zürichhorn ist kein reiner Ausstellungsbau. Bei näherer Betrachtung ist die von zwei Stahlschirmen überspannte Bauplastik eine frei geformte Version jener paradigmatischen Duplexwohnung, die Le Corbusier (1887–1965) 1920 unter der Bezeichnung «Citrohan» ein erstes Mal formuliert und dann – bis hin zu den Unités d’habitation der 1950er-Jahre – immer wieder variiert hat. Heute noch erinnern die offene Kleinküche mit dem zugeordneten niedrigen Wohnbereich und die zweigeschossige Halle des Pavillons an den Topos des Pariser Atelierhauses, der der Maison Citrohan zugrundeliegt. Zudem zeigt die erste Baueingabe vom Dezember 1961 nicht nur individuell auf die Innenräume bezogene Fensteröffnungen, sondern im Obergeschoss auch zwei komplett eingerichtete Schlafzimmer mit Bädern, Ankleiden und Boudoir. Selbst als sich der zunächst vorgesehene Betonbau zum vorfabrizierten Stahlbau gemausert hatte, zeichnete Le Corbusier dieses Arrangement nochmals eigenhändig im Massstab 1:20, doch wurde es noch zu seinen Lebzeiten zugunsten offener Ausstellungsflächen aufgegeben.

Intertextualität

Das ausgeführte «Maison d’Homme» – so die Bezeichnung Le Corbusiers – ist demnach ein im Massstab eines Wohnhauses mithilfe des von ihm entwickelten Masssystems «Modulor» proportioniertes Demonstrations­objekt, in dem sowohl das Potenzial einer elementaren Vorfabrikation ausgelotet wird als auch jenes der Plastik, der Malerei, der Tapisserie, der Grafik, der Fotografie und nota bene des Mobiliars. Die Einrichtungsfrage hatte für die Bauherrin Heidi Weber einen hohen Stellen­wert. In ihrer Galerie «Mezzanin» hatte sie seit 1958 nicht nur der künstlerischen Produktion Le Corbusiers Raum geboten, sondern von Anfang an auch die Reedition der vier ikonischen Stahlrohrsitzmöbel aus den Jahren 1928/29 vorangetrieben: des «fauteuil à dossier basculant», der beiden Modelle des «fauteuil grand confort» und der «chaise longue basculante». Seit 1960 schwebte der Innenarchitektin – nach eigenem Bekunden – vor, «dass man alle seine Schöpfungen in einem von ihm geschaffenen Zentrum zusammenfassen sollte».[1]

Dass der Pavillon auch im Innern den Stempel Le Corbusiers trägt, ist keineswegs selbstverständlich, starb er doch im August 1965 mitten in der Ausführungsphase. Zwar konnte er noch die Detaillierung der «inneren Haut» festlegen – modulare Paneele aus Eichensperrholz, ergänzt mit massiven Simsen, Tischen, Tablaren und grossen Drehtüren; selbst der angeschrägte Tisch im «Cabinet de travail» des Erdgeschosses ist auf seinen Skizzen erkennbar –, doch mussten viele Fragen offen bleiben.

Glücklicherweise hatte er zwischen 1950 und 1960 nochmals versucht, sein gesamtes entwerferisches Instrumentarium in eine kohärente Form zu bringen – vom Massregler «Modulor» (1950) und der Farbenkla­viatur «Salubra 2» (1959) über eine durchnummerierte Reihe von Beleuchtungskörpern (1949–1955), eine vor­fabrizierbare Sanitärlinie (1957–1960) und eine standardisierte offene Küche (mit Charlotte Perriand) bis hin zu einem vollständigen Holzmöbelprogramm (1952/ 1955) und zum künstlerischen Schmuck der Wohnräume (mit den Tapisseries Muralnomad). Selbst die Re­edition der Möbelklassiker von 1928/29 hatte er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg an die Hand nehmen wollen; auch diese Absicht zeugt von seiner Gewohnheit, Ideen, Erfindungen und Entwurfstandards von einem Projekt zum anderen zu übertragen und über lange Zeiträume hinweg weiterzuentwickeln.[02] Die langjährigen Mitarbeiter Alain Tavès und Robert Rebutato waren mit Theorie und Praxis des Meisters bestens vertraut, als sie zwischen September 1966 und Mai 1967 ihre minutiösen Ausführungspläne für das Mobiliar und die Beleuchtungskörper des Pavillons zeichneten.

Musterhaus und Ausstellungsbau

Auf den zeitgenössischen Aufnahmen des Zürcher Fotografen Jürg Gasser ist nahe der in ein Raummodul eingeschriebenen Chromstahlküche ein langer Esstisch zu erkennen, der an die ursprüngliche Bestimmung dieses Bereichs erinnerte.[3] Die auf zwei Gussfüssen aufgelagerte, in der Fläche leicht eingetiefte Marmorplatte mit dem schmalen Rand weist ihn als Nachbau von Le Corbusiers eigenem Esstisch aus, der sich seit 1934 in der Wohnung 24, rue Nungesser-et-Coli in Paris befindet. Die schwarz gestrichenen Bugholzfauteuils – seit 1925 ein fester Bestandteil von Le Corbusiers Essräumen – stehen heute an den rustikalen Salontischchen, die Heidi Weber nach einem Plan Le Corbusiers bereits 1959 für die Galerie «Mezzanin» hatte anfertigen lassen. Auch die Spur dieses Entwurfs führt in Le Corbusiers Wohnung zurück, zu jener «table basse», für die er anfangs der 1940er-Jahre bei einem Holzhändler im Faubourg Saint-Antoine eine schön geformte Baumscheibe ausgesucht hatte. Ein Winkel aus mit grünen Polstern versehenen «Banquettes LC» (so die Bezeichnung auf dem Ausführungsplan vom 18.10.1966) grenzt den «Wohnbereich» ab. Weitere Bankelemente finden sich in den eigentlichen Ausstellungszonen, ergänzt mit den legendären Tabourets Le Corbusiers aus dessen Ferien­hütte in Roquebrune-Cap-Martin (1952).

Faszination der Maschinen

Auch die Beleuchtung stammt teilweise aus dem Repertoire Le Corbusiers. Neben den damals neuartigen, auf Lichtschienen an den Decken befestigten Spots fallen an den Wänden die um 1954 entwickelten Rinnenleuchten des Typs LC II auf. Mit ihrer prallen Körperlichkeit bilden sie einen starken Kontrast zu den flächigen Sperrholzpaneelen. Im doppelgeschossigen «Atelier» stand lange Zeit ein noch expressiverer Beleuchtungsapparat des Typs LC I – eine monumentale, den spezifischen Gebrauch überhöhende Skulptur, die 1951/52 für die Ladenstrasse der Unité d’habitation von Marseille entwickelt worden war. In ihrem geräthaften Charakter den Leuchten verwandt, akzentuierten auch einige ­«fauteuils grand confort» und die mit schönen Fellen bespannten «fauteuils à dossier basculant» aus der Produktion Heidi Webers die Ausstellungsbereiche, die entfernt an die Ästhetik der Hochseedampfer erinnern.


Anmerkungen:
[01] Heidi Weber, Dokumentation über das Centre Le Corbusier, herausgegeben anlässlich der Einweihung (15.7.1967), Privatdruck Heidi Weber, 1967
[02] Arthur Rüegg, Le Corbusier – Möbel und Interieurs 1905–1965, Zürich: Scheidegger&Spiess 2012.
[03] Der Tisch fehlt heute. Vgl. die Publikation von Catherine Dumont d’Ayot und Tim Benton, «Le Corbusiers Pavillon für Zürich. Modell und Prototyp eines idealen Ausstellungsraums», Zürich: Institut für Denkmalpflege und Bauforschung/Lars Müller Publishers 2013 (vgl. Buchhinweis unten), bezüglich des Tischs S. 208/209. Siehe auch die farbigen Aufnahmen im Dokumentarfilm von Fredi M. Murer und Jürg Gasser, «Centre Le Corbusier. Das letzte Bauwerk von Le Corbusier», realisiert zwischen 1965 und 1967, produziert von Heidi Weber mit Unterstützung des Bundesamts für Kultur. Weiterführende Literatur Catherine Dumont d’Ayot/Tim Benton: Le Corbusiers Pavillon für Zürich, 2013, 224 S., 48 Fr., ISBN 978-3-03778-293-4 Heidi Weber Foundation (Hg.): Heidi Weber – 50 Years Ambassador for Le Corbusier. 2009, 208 S., 109.95 Fr., ISBN 978-3-7643-8963-5

TEC21, Fr., 2015.05.29



verknüpfte Bauwerke
Pavillon Le Corbusier



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2015|22 Der letzte Corbusier

14. September 2014Arthur Rüegg
TEC21

Leben mit der Moderne

Die Siedlung an der Leimenegg­strasse war nicht die erste moderne Siedlung der Schweiz – auch nicht die am meisten beachtete. Doch das Zusammenspiel von Raum und Ausstattung war einmalig.

Die Siedlung an der Leimenegg­strasse war nicht die erste moderne Siedlung der Schweiz – auch nicht die am meisten beachtete. Doch das Zusammenspiel von Raum und Ausstattung war einmalig.

Von 1926 bis etwa 1933 betrieben Hermann Siegrist (1894–1978) und Hannibal Naef (1902–1979) zusammen ein Architekturbüro in Winterthur. Trotz ihrem Studium bei Karl Moser zählten sie nicht zur umtriebigen Avantgarde des Zürcher CIAM Kreises. Nach ein paar Wettbewerben erhielt Siegrist, selbst Sohn eines Architekten, zwei Aufträge für Ladenumbauten (1930) und einen weiteren für ein Holzhaus (1931). Die spektakuläre Lichtarchi tektur des Bata Schuhladens zwischen Marktgasse und Stadthausstrasse in Winterthur legte den Grundstein zu Naefs späterer Tätigkeit für die Bata Kolonie in Möhlin. Naef selbst beteiligte sich an allen wichtigen Wettbewerben jener Zeit – von der Landesbibliothek in Bern (1927) über den Völkerbund in Genf (1927), das Kunstmuseum Basel (1928) bis zum Kantonsspital Zürich (1933).[1]

Die Zusammenarbeit erzeugte kaum Synergien (und wurde in den späteren Lebensläufen unterschla gen), doch teilten die beiden einen erlesenen Geschmack in Sachen Lebensstil. Naef, Spross einer vermögenden Industriellenfamilie, richtete sich 1931 mit den exklusivsten deutschen und französischen Stahlrohrmöbeln ein. Siegrist seinerseits gelang es 1932, noch vor Auflösung der Arbeitsgemeinschaft, mit sieben «zusammengebauten Einfamilienhäusern» in der Leimenegg einen unübersehbaren Meilenstein des Neuen Bauens zu set zen und aus seinem eigenen Eckhaus ein Musterbeispiel zeitgenössischer Schweizer Wohnkultur zu machen.[2]

Ein Punkt und ein Gedankenstrich

Siegrists Doppelhaus und die fünf Reihenhäuser er schienen einem zeitgenössischen Kommentator aus der Vogelschau «als Punkt und als Gedankenstrich im offe­nen bunten Buch der Winterthurer Siedelungsgeschichte» – nicht zuletzt in symbolischer Hinsicht: «Hier wird markiert, dass ein Satzgefüge zu Ende ist und ein frischer Gedanke in neuem Satz nach Ausdruck drängt.»[3]

Die Aussage ist erstaunlich, war doch der Stadtplan von Winterthur bereits mit einer Vielzahl markanter Wohnzeilen tätowiert.

Dass Siegrists Wurf auffiel wie ein Papagei, war wohl weniger dem Zeilenbau als der architektonischen Provokation zu verdanken. Im Gegensatz zu Ernst Jungs, Hans Bernoullis, Franz Scheiblers und Adolf Kellermüllers Bauten – und selbst zur benachbarten Flachdachsiedlung «Stadtrain» von Keller­ müller & Hofmann – besitzt das Äussere der Leimen­egg Bauten manifestartigen Charakter. Überlange Fensterschlitze zeigen die Fassade als nichttragende, kartonartige Membran; durch das zusätzliche Aufschneiden der Gebäudeecken werden die Reihen­häuser zu einem übergeordneten Ganzen zusammen gefasst. Das auffallendste Merkmal für avantgardistisches Bauen und Wohnen liefern die subtil durch gebildeten Dachgärten. Zwar war diese Dach ausbildung seit dem 1929 publizierten Vorprojekt der Werkbundsiedlung Neubühl auch in der Schweiz keine revolutionäre Neuerung mehr; Siegrists Formulierung erinnert jedoch weit mehr an das grosse Vorbild Le Corbusier als ans Neubühl (in der Tat hatte er 1927 während eines Besuchs der Weissenhofsiedlung nur Augen für die beiden Bauten von Le Corbusier und Pierre Jeanneret gehabt). Es ist nachvollziehbar, dass seine idealistische oder «poetische» – das Utilitäre dezidiert sprengende – Ambition in Winterthur auf Befremden und vehemente Ablehnung stiess. Allerdings war Siegrist keineswegs ein Formalist, sondern wusste die Errungenschaften Le Corbusiers und des Bauhauses mit einer eigenständigen, sensiblen und durchaus innovativen Detaillie rung vernünftig umzusetzen. Auffallend sind die in der Gebäudeecke verleimten, enormen Scheiben der Doppelverglasung, die die Jahrzehnte unbeschadet überstanden haben. Für die Konstruktion der Aussenwände verwendete er – anders als Le Corbusier auf dem Weis­senhof – Sichtbeton, den er aussen mit einem hellen Anstrich in Mineralfarbe versah und dadurch entmaterialisierte.

Ein besonderer Glücksfall

Im Innern des Hauses Siegrist besticht das von oben belichtete offene Treppenhaus, in dem auf einer angewendelten Treppe mit Sperrholzbrüstungen eine eiserne Fertig-Wendeltreppe aufgesattelt ist. Der auf knappstem Raum entfaltete räumliche Luxus genügt, um dem Haus eine räumliche Identität zu geben und den vertikalen Aufbau bis zum Dachgarten hinauf sinnlich erfahrbar zu machen. Trotz aller Kompaktheit ging es Siegrist keineswegs um eine Auseinandersetzung mit dem Bauen für das Existenzminimum, sondern um einen für den aufgeklärten Mittelstand bestimmten Versuch zum modernen Wohnen in der Stadt, wie es die eleganten Pariser Stadtvillen verkörperten (etwa die Villa Cook von Le Corbusier, 1926). Entscheidend für die aussergewöhnliche Bedeutung des Hauses Siegrist war allerdings die vollkommene Ergänzung durch die Einrichtung der Wohnbedarf AG Zürich. Die 1931 im Zusammenhang mit der Möblierung der Werkbund­siedlung Neubühl aus dem Zürcher CIAM- und SWB Kreis hervorgegangene «zentralstelle für den zeitgenössischen wohnbedarf» hatte zusammen mit Moser, Haefeli, Steiger, Giedion, Roth, Egli sowie Aalto innerhalb kürzester Zeit eine komplette, homogen wirkende Linie von multifunktionalen Stahlrohrmodellen zu­ sammengestellt. Die Bildhauerin Rosa Studer-Koch – sie hatte Siegrist für die Dachterrasse ein Pferderelief geliefert – vermittelte den Kontakt, und die Zürcher machten die Wohnhäuser am Leimenegg sofort zur eigenen Sache. Im Oktober 1932 kam es zu einer etwa einwöchigen Ausstellung, die das ganze Sortiment inklusive der eben fertig gestellten Indi-Leuchte ver sammelte – ein Ereignis, das durch den Wobag Hausfotografen Hans Finsler festgehalten wurde. Das Ehepaar Siegrist verkaufte umgehend seine Aussteuer und erwarb das gesamte Ausstellungsinventar.[4]

Dieses einzigartige Dokument des «befreiten Wohnens» blieb ein halbes Jahrhundert lang – bis zum altersbedingten Wegzug von Tamara Siegrist Solnzeva 1985 – in unveränderter Form erhalten.


Anmerkungen:
[01] Vgl. Ruggero Tropeano, «Hans Hugo Hannibal Naef, 1902–1979», in: Die Bata Kolonie in Möhlin, Ausstellungskatalog Architekturmuseum Basel, 1992. Für den Wettbewerb des Kantonsspitals Zürich arbeitete Naef mit Max Haefeli sen. und Alfred Mürset zusammen.
[02] Vgl. die ausführliche Monografie von Arthur Rüegg und Ruggero Tropeano (Hg.), Hermann Siegrist – Siedlung Leimenegg, mit Biografie und Werkverzeichnis von Katharina Medici Mall und Aufnahmeplänen von Mike Guyer, Rudolf Moser, Meinrad Morger und Aldo Nolli, ETH Zürich: Professur Schnebli, 1982.
[03] K., «Ein Punkt und ein Gedankenstrich», in: Die Wohnkolonie am Leimenegg, Sonderbeilage zu Der Landbote, 20.10.1932.
[04] Das Mobiliar befindet sich heute als Donation von Ruggero Tropeano und Arthur Rüegg in der Design Sammlung des Museums für Gestaltung Zürich

TEC21, So., 2014.09.14



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2014|37 Ikonisierte Moderne

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Bauwerke

Presseschau 12

29. Mai 2015Arthur Rüegg
TEC21

Schöpferisches Destillat

Das Centre Le Corbusier / Museum Heidi Weber bietet einen erstaunlich homogenen Querschnitt durch Le Corbusiers Experimente bei Möblierung und Innenausbau. Der Bau belegt seine Fähigkeit, zeitliche Abfolgen, thematische Bindungen und räumliche Trennungen zu durchbrechen und heterogene Elemente zu einem neuen Ganzen zu verschmelzen.

Das Centre Le Corbusier / Museum Heidi Weber bietet einen erstaunlich homogenen Querschnitt durch Le Corbusiers Experimente bei Möblierung und Innenausbau. Der Bau belegt seine Fähigkeit, zeitliche Abfolgen, thematische Bindungen und räumliche Trennungen zu durchbrechen und heterogene Elemente zu einem neuen Ganzen zu verschmelzen.

Der scheinbar aus vielen farbigen Klötzchen zusammengesetzte Pavillon am Zürichhorn ist kein reiner Ausstellungsbau. Bei näherer Betrachtung ist die von zwei Stahlschirmen überspannte Bauplastik eine frei geformte Version jener paradigmatischen Duplexwohnung, die Le Corbusier (1887–1965) 1920 unter der Bezeichnung «Citrohan» ein erstes Mal formuliert und dann – bis hin zu den Unités d’habitation der 1950er-Jahre – immer wieder variiert hat. Heute noch erinnern die offene Kleinküche mit dem zugeordneten niedrigen Wohnbereich und die zweigeschossige Halle des Pavillons an den Topos des Pariser Atelierhauses, der der Maison Citrohan zugrundeliegt. Zudem zeigt die erste Baueingabe vom Dezember 1961 nicht nur individuell auf die Innenräume bezogene Fensteröffnungen, sondern im Obergeschoss auch zwei komplett eingerichtete Schlafzimmer mit Bädern, Ankleiden und Boudoir. Selbst als sich der zunächst vorgesehene Betonbau zum vorfabrizierten Stahlbau gemausert hatte, zeichnete Le Corbusier dieses Arrangement nochmals eigenhändig im Massstab 1:20, doch wurde es noch zu seinen Lebzeiten zugunsten offener Ausstellungsflächen aufgegeben.

Intertextualität

Das ausgeführte «Maison d’Homme» – so die Bezeichnung Le Corbusiers – ist demnach ein im Massstab eines Wohnhauses mithilfe des von ihm entwickelten Masssystems «Modulor» proportioniertes Demonstrations­objekt, in dem sowohl das Potenzial einer elementaren Vorfabrikation ausgelotet wird als auch jenes der Plastik, der Malerei, der Tapisserie, der Grafik, der Fotografie und nota bene des Mobiliars. Die Einrichtungsfrage hatte für die Bauherrin Heidi Weber einen hohen Stellen­wert. In ihrer Galerie «Mezzanin» hatte sie seit 1958 nicht nur der künstlerischen Produktion Le Corbusiers Raum geboten, sondern von Anfang an auch die Reedition der vier ikonischen Stahlrohrsitzmöbel aus den Jahren 1928/29 vorangetrieben: des «fauteuil à dossier basculant», der beiden Modelle des «fauteuil grand confort» und der «chaise longue basculante». Seit 1960 schwebte der Innenarchitektin – nach eigenem Bekunden – vor, «dass man alle seine Schöpfungen in einem von ihm geschaffenen Zentrum zusammenfassen sollte».[1]

Dass der Pavillon auch im Innern den Stempel Le Corbusiers trägt, ist keineswegs selbstverständlich, starb er doch im August 1965 mitten in der Ausführungsphase. Zwar konnte er noch die Detaillierung der «inneren Haut» festlegen – modulare Paneele aus Eichensperrholz, ergänzt mit massiven Simsen, Tischen, Tablaren und grossen Drehtüren; selbst der angeschrägte Tisch im «Cabinet de travail» des Erdgeschosses ist auf seinen Skizzen erkennbar –, doch mussten viele Fragen offen bleiben.

Glücklicherweise hatte er zwischen 1950 und 1960 nochmals versucht, sein gesamtes entwerferisches Instrumentarium in eine kohärente Form zu bringen – vom Massregler «Modulor» (1950) und der Farbenkla­viatur «Salubra 2» (1959) über eine durchnummerierte Reihe von Beleuchtungskörpern (1949–1955), eine vor­fabrizierbare Sanitärlinie (1957–1960) und eine standardisierte offene Küche (mit Charlotte Perriand) bis hin zu einem vollständigen Holzmöbelprogramm (1952/ 1955) und zum künstlerischen Schmuck der Wohnräume (mit den Tapisseries Muralnomad). Selbst die Re­edition der Möbelklassiker von 1928/29 hatte er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg an die Hand nehmen wollen; auch diese Absicht zeugt von seiner Gewohnheit, Ideen, Erfindungen und Entwurfstandards von einem Projekt zum anderen zu übertragen und über lange Zeiträume hinweg weiterzuentwickeln.[02] Die langjährigen Mitarbeiter Alain Tavès und Robert Rebutato waren mit Theorie und Praxis des Meisters bestens vertraut, als sie zwischen September 1966 und Mai 1967 ihre minutiösen Ausführungspläne für das Mobiliar und die Beleuchtungskörper des Pavillons zeichneten.

Musterhaus und Ausstellungsbau

Auf den zeitgenössischen Aufnahmen des Zürcher Fotografen Jürg Gasser ist nahe der in ein Raummodul eingeschriebenen Chromstahlküche ein langer Esstisch zu erkennen, der an die ursprüngliche Bestimmung dieses Bereichs erinnerte.[3] Die auf zwei Gussfüssen aufgelagerte, in der Fläche leicht eingetiefte Marmorplatte mit dem schmalen Rand weist ihn als Nachbau von Le Corbusiers eigenem Esstisch aus, der sich seit 1934 in der Wohnung 24, rue Nungesser-et-Coli in Paris befindet. Die schwarz gestrichenen Bugholzfauteuils – seit 1925 ein fester Bestandteil von Le Corbusiers Essräumen – stehen heute an den rustikalen Salontischchen, die Heidi Weber nach einem Plan Le Corbusiers bereits 1959 für die Galerie «Mezzanin» hatte anfertigen lassen. Auch die Spur dieses Entwurfs führt in Le Corbusiers Wohnung zurück, zu jener «table basse», für die er anfangs der 1940er-Jahre bei einem Holzhändler im Faubourg Saint-Antoine eine schön geformte Baumscheibe ausgesucht hatte. Ein Winkel aus mit grünen Polstern versehenen «Banquettes LC» (so die Bezeichnung auf dem Ausführungsplan vom 18.10.1966) grenzt den «Wohnbereich» ab. Weitere Bankelemente finden sich in den eigentlichen Ausstellungszonen, ergänzt mit den legendären Tabourets Le Corbusiers aus dessen Ferien­hütte in Roquebrune-Cap-Martin (1952).

Faszination der Maschinen

Auch die Beleuchtung stammt teilweise aus dem Repertoire Le Corbusiers. Neben den damals neuartigen, auf Lichtschienen an den Decken befestigten Spots fallen an den Wänden die um 1954 entwickelten Rinnenleuchten des Typs LC II auf. Mit ihrer prallen Körperlichkeit bilden sie einen starken Kontrast zu den flächigen Sperrholzpaneelen. Im doppelgeschossigen «Atelier» stand lange Zeit ein noch expressiverer Beleuchtungsapparat des Typs LC I – eine monumentale, den spezifischen Gebrauch überhöhende Skulptur, die 1951/52 für die Ladenstrasse der Unité d’habitation von Marseille entwickelt worden war. In ihrem geräthaften Charakter den Leuchten verwandt, akzentuierten auch einige ­«fauteuils grand confort» und die mit schönen Fellen bespannten «fauteuils à dossier basculant» aus der Produktion Heidi Webers die Ausstellungsbereiche, die entfernt an die Ästhetik der Hochseedampfer erinnern.


Anmerkungen:
[01] Heidi Weber, Dokumentation über das Centre Le Corbusier, herausgegeben anlässlich der Einweihung (15.7.1967), Privatdruck Heidi Weber, 1967
[02] Arthur Rüegg, Le Corbusier – Möbel und Interieurs 1905–1965, Zürich: Scheidegger&Spiess 2012.
[03] Der Tisch fehlt heute. Vgl. die Publikation von Catherine Dumont d’Ayot und Tim Benton, «Le Corbusiers Pavillon für Zürich. Modell und Prototyp eines idealen Ausstellungsraums», Zürich: Institut für Denkmalpflege und Bauforschung/Lars Müller Publishers 2013 (vgl. Buchhinweis unten), bezüglich des Tischs S. 208/209. Siehe auch die farbigen Aufnahmen im Dokumentarfilm von Fredi M. Murer und Jürg Gasser, «Centre Le Corbusier. Das letzte Bauwerk von Le Corbusier», realisiert zwischen 1965 und 1967, produziert von Heidi Weber mit Unterstützung des Bundesamts für Kultur. Weiterführende Literatur Catherine Dumont d’Ayot/Tim Benton: Le Corbusiers Pavillon für Zürich, 2013, 224 S., 48 Fr., ISBN 978-3-03778-293-4 Heidi Weber Foundation (Hg.): Heidi Weber – 50 Years Ambassador for Le Corbusier. 2009, 208 S., 109.95 Fr., ISBN 978-3-7643-8963-5

TEC21, Fr., 2015.05.29



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Pavillon Le Corbusier



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TEC21 2015|22 Der letzte Corbusier

14. September 2014Arthur Rüegg
TEC21

Leben mit der Moderne

Die Siedlung an der Leimenegg­strasse war nicht die erste moderne Siedlung der Schweiz – auch nicht die am meisten beachtete. Doch das Zusammenspiel von Raum und Ausstattung war einmalig.

Die Siedlung an der Leimenegg­strasse war nicht die erste moderne Siedlung der Schweiz – auch nicht die am meisten beachtete. Doch das Zusammenspiel von Raum und Ausstattung war einmalig.

Von 1926 bis etwa 1933 betrieben Hermann Siegrist (1894–1978) und Hannibal Naef (1902–1979) zusammen ein Architekturbüro in Winterthur. Trotz ihrem Studium bei Karl Moser zählten sie nicht zur umtriebigen Avantgarde des Zürcher CIAM Kreises. Nach ein paar Wettbewerben erhielt Siegrist, selbst Sohn eines Architekten, zwei Aufträge für Ladenumbauten (1930) und einen weiteren für ein Holzhaus (1931). Die spektakuläre Lichtarchi tektur des Bata Schuhladens zwischen Marktgasse und Stadthausstrasse in Winterthur legte den Grundstein zu Naefs späterer Tätigkeit für die Bata Kolonie in Möhlin. Naef selbst beteiligte sich an allen wichtigen Wettbewerben jener Zeit – von der Landesbibliothek in Bern (1927) über den Völkerbund in Genf (1927), das Kunstmuseum Basel (1928) bis zum Kantonsspital Zürich (1933).[1]

Die Zusammenarbeit erzeugte kaum Synergien (und wurde in den späteren Lebensläufen unterschla gen), doch teilten die beiden einen erlesenen Geschmack in Sachen Lebensstil. Naef, Spross einer vermögenden Industriellenfamilie, richtete sich 1931 mit den exklusivsten deutschen und französischen Stahlrohrmöbeln ein. Siegrist seinerseits gelang es 1932, noch vor Auflösung der Arbeitsgemeinschaft, mit sieben «zusammengebauten Einfamilienhäusern» in der Leimenegg einen unübersehbaren Meilenstein des Neuen Bauens zu set zen und aus seinem eigenen Eckhaus ein Musterbeispiel zeitgenössischer Schweizer Wohnkultur zu machen.[2]

Ein Punkt und ein Gedankenstrich

Siegrists Doppelhaus und die fünf Reihenhäuser er schienen einem zeitgenössischen Kommentator aus der Vogelschau «als Punkt und als Gedankenstrich im offe­nen bunten Buch der Winterthurer Siedelungsgeschichte» – nicht zuletzt in symbolischer Hinsicht: «Hier wird markiert, dass ein Satzgefüge zu Ende ist und ein frischer Gedanke in neuem Satz nach Ausdruck drängt.»[3]

Die Aussage ist erstaunlich, war doch der Stadtplan von Winterthur bereits mit einer Vielzahl markanter Wohnzeilen tätowiert.

Dass Siegrists Wurf auffiel wie ein Papagei, war wohl weniger dem Zeilenbau als der architektonischen Provokation zu verdanken. Im Gegensatz zu Ernst Jungs, Hans Bernoullis, Franz Scheiblers und Adolf Kellermüllers Bauten – und selbst zur benachbarten Flachdachsiedlung «Stadtrain» von Keller­ müller & Hofmann – besitzt das Äussere der Leimen­egg Bauten manifestartigen Charakter. Überlange Fensterschlitze zeigen die Fassade als nichttragende, kartonartige Membran; durch das zusätzliche Aufschneiden der Gebäudeecken werden die Reihen­häuser zu einem übergeordneten Ganzen zusammen gefasst. Das auffallendste Merkmal für avantgardistisches Bauen und Wohnen liefern die subtil durch gebildeten Dachgärten. Zwar war diese Dach ausbildung seit dem 1929 publizierten Vorprojekt der Werkbundsiedlung Neubühl auch in der Schweiz keine revolutionäre Neuerung mehr; Siegrists Formulierung erinnert jedoch weit mehr an das grosse Vorbild Le Corbusier als ans Neubühl (in der Tat hatte er 1927 während eines Besuchs der Weissenhofsiedlung nur Augen für die beiden Bauten von Le Corbusier und Pierre Jeanneret gehabt). Es ist nachvollziehbar, dass seine idealistische oder «poetische» – das Utilitäre dezidiert sprengende – Ambition in Winterthur auf Befremden und vehemente Ablehnung stiess. Allerdings war Siegrist keineswegs ein Formalist, sondern wusste die Errungenschaften Le Corbusiers und des Bauhauses mit einer eigenständigen, sensiblen und durchaus innovativen Detaillie rung vernünftig umzusetzen. Auffallend sind die in der Gebäudeecke verleimten, enormen Scheiben der Doppelverglasung, die die Jahrzehnte unbeschadet überstanden haben. Für die Konstruktion der Aussenwände verwendete er – anders als Le Corbusier auf dem Weis­senhof – Sichtbeton, den er aussen mit einem hellen Anstrich in Mineralfarbe versah und dadurch entmaterialisierte.

Ein besonderer Glücksfall

Im Innern des Hauses Siegrist besticht das von oben belichtete offene Treppenhaus, in dem auf einer angewendelten Treppe mit Sperrholzbrüstungen eine eiserne Fertig-Wendeltreppe aufgesattelt ist. Der auf knappstem Raum entfaltete räumliche Luxus genügt, um dem Haus eine räumliche Identität zu geben und den vertikalen Aufbau bis zum Dachgarten hinauf sinnlich erfahrbar zu machen. Trotz aller Kompaktheit ging es Siegrist keineswegs um eine Auseinandersetzung mit dem Bauen für das Existenzminimum, sondern um einen für den aufgeklärten Mittelstand bestimmten Versuch zum modernen Wohnen in der Stadt, wie es die eleganten Pariser Stadtvillen verkörperten (etwa die Villa Cook von Le Corbusier, 1926). Entscheidend für die aussergewöhnliche Bedeutung des Hauses Siegrist war allerdings die vollkommene Ergänzung durch die Einrichtung der Wohnbedarf AG Zürich. Die 1931 im Zusammenhang mit der Möblierung der Werkbund­siedlung Neubühl aus dem Zürcher CIAM- und SWB Kreis hervorgegangene «zentralstelle für den zeitgenössischen wohnbedarf» hatte zusammen mit Moser, Haefeli, Steiger, Giedion, Roth, Egli sowie Aalto innerhalb kürzester Zeit eine komplette, homogen wirkende Linie von multifunktionalen Stahlrohrmodellen zu­ sammengestellt. Die Bildhauerin Rosa Studer-Koch – sie hatte Siegrist für die Dachterrasse ein Pferderelief geliefert – vermittelte den Kontakt, und die Zürcher machten die Wohnhäuser am Leimenegg sofort zur eigenen Sache. Im Oktober 1932 kam es zu einer etwa einwöchigen Ausstellung, die das ganze Sortiment inklusive der eben fertig gestellten Indi-Leuchte ver sammelte – ein Ereignis, das durch den Wobag Hausfotografen Hans Finsler festgehalten wurde. Das Ehepaar Siegrist verkaufte umgehend seine Aussteuer und erwarb das gesamte Ausstellungsinventar.[4]

Dieses einzigartige Dokument des «befreiten Wohnens» blieb ein halbes Jahrhundert lang – bis zum altersbedingten Wegzug von Tamara Siegrist Solnzeva 1985 – in unveränderter Form erhalten.


Anmerkungen:
[01] Vgl. Ruggero Tropeano, «Hans Hugo Hannibal Naef, 1902–1979», in: Die Bata Kolonie in Möhlin, Ausstellungskatalog Architekturmuseum Basel, 1992. Für den Wettbewerb des Kantonsspitals Zürich arbeitete Naef mit Max Haefeli sen. und Alfred Mürset zusammen.
[02] Vgl. die ausführliche Monografie von Arthur Rüegg und Ruggero Tropeano (Hg.), Hermann Siegrist – Siedlung Leimenegg, mit Biografie und Werkverzeichnis von Katharina Medici Mall und Aufnahmeplänen von Mike Guyer, Rudolf Moser, Meinrad Morger und Aldo Nolli, ETH Zürich: Professur Schnebli, 1982.
[03] K., «Ein Punkt und ein Gedankenstrich», in: Die Wohnkolonie am Leimenegg, Sonderbeilage zu Der Landbote, 20.10.1932.
[04] Das Mobiliar befindet sich heute als Donation von Ruggero Tropeano und Arthur Rüegg in der Design Sammlung des Museums für Gestaltung Zürich

TEC21, So., 2014.09.14



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TEC21 2014|37 Ikonisierte Moderne

Profil

1961 – 1967 Architekturstudium der Architektur von in Zürich.
Praxis in Zürich, Paris, Bosten, USA.
Seit 1971 Architekturbüro in Zürich (bis 1998: ARCOOP - Ueli Marbach und Arthur Rüegg).

Lehrtätigkeit

1991 – 2007 Ordentlicher Professor für Architektur und Konstruktion an der ETH Zürich

Publikationen

1997 Herausgeber von Le Corbusier - Polychromie architecturale und
2002 Schweizer Möbel und Interieurs im 20.Jahrhundert.

In nextroom dokumentiert:
Museums- und Bibliotheksgebäude Winterthur, Departement Kulturelles und Dienste der Stadt Winterthur, Silvio Schmed, Arthur Rüegg, gta Verlag

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