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Texte

11. April 2021Stanislaus von Moos
Neue Zürcher Zeitung

Der Blossfeldt-Effekt: Ornament ist kein Verbrechen

Er war nicht einmal Fotograf und wurde für seine Bilder berühmt: Karl Blossfeldts Pflanzenmotive haben Kunst und Architektur des 20. Jahrhunderts inspiriert.

Er war nicht einmal Fotograf und wurde für seine Bilder berühmt: Karl Blossfeldts Pflanzenmotive haben Kunst und Architektur des 20. Jahrhunderts inspiriert.

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10. Februar 2017Stanislaus von Moos
Neue Zürcher Zeitung

In die Wolken gebaut

Yvonne Farrell und Shelley McNamara vom irischen Büro Grafton Architects proben in Lima die Utopie

Yvonne Farrell und Shelley McNamara vom irischen Büro Grafton Architects proben in Lima die Utopie

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verknüpfte Bauwerke
Universidad de Ingeniería & Tecnología (UTEC)

07. August 2015Stanislaus von Moos
Neue Zürcher Zeitung

Die «Neue Stadt» auf dem Seziertisch

Hans Erni malte 1941 das «Tagebuchblatt eines Urbanisten». Mit diesem Bild gelang ihm wohl die einzige künstlerische Interpretation des funktionalistischen Städtebaus, der gerade neu erforscht wird.

Hans Erni malte 1941 das «Tagebuchblatt eines Urbanisten». Mit diesem Bild gelang ihm wohl die einzige künstlerische Interpretation des funktionalistischen Städtebaus, der gerade neu erforscht wird.

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05. Juni 2015Stanislaus von Moos
Neue Zürcher Zeitung

Baukunst, Industrie und Staatsräson

Macht ist unerlässlich für die Realisierung grosser Pläne. Entsprechend unbekümmert suchten manche Architekten deren Nähe. Gilt das auch noch für Le Corbusier als Städteplaner von Chandigarh?

Macht ist unerlässlich für die Realisierung grosser Pläne. Entsprechend unbekümmert suchten manche Architekten deren Nähe. Gilt das auch noch für Le Corbusier als Städteplaner von Chandigarh?

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16. Januar 2015Stanislaus von Moos
Neue Zürcher Zeitung

Die Stadt als Landschaft

Wer darf oder muss sogar in einer Republik städtebauliche Dominanz markieren? Der unlängst veröffentlichte Masterplan für das Zürcher Hochschulquartier geht davon aus, dass die bestehende Skyline Zürichs unantastbar sei. Anders sah dies Max Frisch, der 1953 mit seinem Physik-Turm ein Zeichen setzen wollte.

Wer darf oder muss sogar in einer Republik städtebauliche Dominanz markieren? Der unlängst veröffentlichte Masterplan für das Zürcher Hochschulquartier geht davon aus, dass die bestehende Skyline Zürichs unantastbar sei. Anders sah dies Max Frisch, der 1953 mit seinem Physik-Turm ein Zeichen setzen wollte.

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30. September 2010Stanislaus von Moos
TagesAnzeiger

Der böse Le Corbusier

Die UBS hat eine Kampagne mit ihm gestoppt. Verlangt wird sogar, dass sein Konterfei von der Zehnernote verschwindet. Ist der berühmte Schweizer Architekt wirklich untragbar?

Die UBS hat eine Kampagne mit ihm gestoppt. Verlangt wird sogar, dass sein Konterfei von der Zehnernote verschwindet. Ist der berühmte Schweizer Architekt wirklich untragbar?

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verknüpfte Akteure
Le Corbusier

13. August 2009Stanislaus von Moos
Neue Zürcher Zeitung

Vom Feuerwerk im Museum

Eine der Hauptaufgaben von Museen ist die Sammlungspräsentation. Daneben veranstalten viele von ihnen auch temporäre Ausstellungen. Doch seit einigen Jahren versuchen immer mehr Häuser mit spektakulären «Dauerausstellungen», die meist von Architekten oder Designern gestaltet werden, auf sich aufmerksam zu machen. Eine fragwürdige Entwicklung.

Eine der Hauptaufgaben von Museen ist die Sammlungspräsentation. Daneben veranstalten viele von ihnen auch temporäre Ausstellungen. Doch seit einigen Jahren versuchen immer mehr Häuser mit spektakulären «Dauerausstellungen», die meist von Architekten oder Designern gestaltet werden, auf sich aufmerksam zu machen. Eine fragwürdige Entwicklung.

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26. April 2008Stanislaus von Moos
Neue Zürcher Zeitung

Kalter Krieg und Neue Stadt

Die Architektur der fünfziger Jahre ist seit längerem ein Sujet, das interessiert. Die Frage nach den politischen Kontexten des damaligen kulturellen Aufbruchs gleicht aber einem hartnäckigen Tabu.

Die Architektur der fünfziger Jahre ist seit längerem ein Sujet, das interessiert. Die Frage nach den politischen Kontexten des damaligen kulturellen Aufbruchs gleicht aber einem hartnäckigen Tabu.

1948 äusserte Max Frisch die Vermutung, hinter der akuten «Spannung zwischen Ost und West» verberge sich ein historisch bedeutsamer Konflikt: jener zwischen Reich und Arm, Nord und Süd. Als Architekt kam er des Öftern auch auf einen weiteren Spannungsherd zu sprechen, der sich mit dem Ost-West-Syndrom in verworrener Form überschneidet, ohne sich mit ihm zu decken: die Opposition zwischen einer «demokratischen» Architektur, die sich, grob gesprochen, am wissenschaftlichen Denken und an der künstlerischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts orientiert, und einer «staatsrepräsentativen», die ausgezogen ist, die Tradition des Klassizismus fortzusetzen.

Vielleicht ist der «Kalte Krieg» eine tatsächlich unbeholfene Umschreibung der kulturellen und politischen Realität jener Zeit. Aber reicht diese Feststellung aus, um die Architektur und Kunst der Nachkriegszeit in der Schweiz kennerschaftlich zu botanisieren, zu restaurieren und in Ausstellungen aufzubereiten, als hätte es diesen Kontext gar nicht gegeben? Unter Historikern der Nachkriegszeit ist das Thema nicht neu. So hielt der Medienhistoriker Kurt Imhof 1996 fest: «Kaum ein anderes Konstrukt hat die Welt in vergleichbarer Weise beherrscht und gestaltet wie der Ost-West-Dualismus. Er durchdrang das politische Denken und Handeln mehrerer Generationen (. . .) und trieb sich selbst auf die Spitze durch das Gegengleiche im Gleichen: dem Östlichen im Westen und dem Westlichen im Osten, d. h. dem drohenden, allseitigen, potenziellen oder virulenten Verrat der Agenten und – dem Feind in den eigenen Reihen.»

Grenzgänger

Die Gründe, um derentwillen das Wetterleuchten des Kalten Kriegs vom Radar der Kunst- und Architekturgeschichte bisher kaum wahrgenommen wurde, sind in dem zitierten Text zumindest angedeutet. Nämlich dort, wo er von «Agenten» und «fünften Kolonnen» spricht und damit durchblicken lässt, dass einer jeden Exkursion auf dieses Terrain der unappetitliche Beigeschmack der Spitzelei anhaftet. Was geht es die Leute schliesslich an, was ein Künstler von der Weltpolitik dachte, als er eine Leinwand mit gestischen Spritzern und Farbsträhnen überdeckte? Und was tut es zur Sache, wer solche Bilder kaufte bzw. in Ausstellungen und in Museen zeigte und aus welchem Grund? Amerikanische Kunstkritiker wie Eva Cockcroft, Max Kozloff oder Serge Guilbaut sind inzwischen gerade solchen Fragen lustvoll nachgegangen und haben auch aufgezeigt, wie Kunst, gerade dadurch, dass sie sich als apolitisch definiert, im Zeichen des Kalten Krieges massiv zum Politikum werden konnte.

Max Frisch illustriert die vertrackte kulturelle Logik des Kalten Krieges schillernder als irgendein anderer Zeitgenosse: als Person, als Schriftsteller, als Grenzgänger auf Reisen, als «Citoyen», als Architekt – und nicht zuletzt als Objekt kleinbürgerlicher oder auch professoraler Projektionen in Sachen der korrekten staatsbürgerlichen «Einstellung». «Jetzt bin ich da, empfinde es einmal mehr als meine Aufgabe, das Hier zu sehen und das Dort zu wissen, immer beides zusammen; als eine überall gleiche Aufgabe», schrieb er 1948 am Rande des «Congrès mondial des intellectuels pour la paix» in Wrocław ins Tagebuch. Als die Fama von Frischs Teilnahme an diesem Treffen in Zürich ruchbar wurde, blieb sie an ihm haften wie ein Brandmal (anderen, wie etwa dem Kunstmaler Hans Erni, ruinierte sie die Karriere). Dass Frisch im Tagebuch vor allem den Zumutungen sozialistisch-realistischer Kulturpolitik ätzenden Spott angedeihen liess, änderte nichts an dem Rumoren bei vielen Daheimgebliebenen, dass es in einem solchen Fall konsequent wäre, das Köfferchen zu packen. Frisch ging wenig später. Statt «Moskau einfach» wählte er freilich «New York retour».

Für Frisch erwies sich die Entdeckung Amerikas als Beginn einer Neukonzeption seiner selbst als Schriftsteller, als Architekt und wohl auch als kritischer «Citoyen». Und für die Rockefeller Foundation, die sein Stipendium ausgerichtet hatte (wo liefen die Fäden des amerikanischen Kulturexports damals zusammen, wenn nicht gerade dort?), war Frisch mindestens ein glücklicher Fischfang. «Stiller» war (neben «Homo faber») das gewichtigste Resultat des Amerikaaufenthalts. Banal resümiert, handelt es sich um den fiktiven Lebensbericht eines Bildhauers, der – zurück in Europa – nicht mehr im Gefängnis seiner früheren Identität gefesselt bleiben will. Dass der Plot nicht aus der Luft gegriffen war, zeigt sich daran, dass Frisch damals auch seine reale Person einer analogen Neubestimmung unterzog – oder doch seine Identität als «Schweizerarchitekt».

Ausgezogen als Baumeister in der Tradition der Landi, mit dem Zürcher Freibad Letzigraben (1942–49) durch und durch dem «Erfolgsmodell eines aufgeklärten helvetischen Regionalismus» verpflichtet (Bruno Maurer), kehrt er aus Amerika zurück als einer, der den Anschluss an den «internationalen Stil» einer grossstädtisch, gläsern und stählern gestimmten Moderne gefunden hat. Das soeben fertiggestellte Uno-Gebäude mit seiner lakonischen Scheibenform oder das Lever House an der Park Avenue in New York waren die Vorbilder. Die Weichen für das Eintauchen in das Abenteuer der «Neuen Stadt» waren gestellt.
Achtung: die Schweiz

Im ersten Satz von «achtung: die Schweiz» (1954) heisst es: «Wir stehen, wie bekannt, in einer Auseinandersetzung zwischen zwei Welten, zwischen Ost und West, zwischen – sagt man – Kommunismus und Kapitalismus. Man bezeichnet es als Kalten Krieg, was seit Jahren stattfindet. Das Grossartige an diesem Kampf (wir übersehen nicht die Unsumme von leidenden Opfern) besteht darin, dass er uns vor die wesentlichen Fragen unserer menschlichen Existenz stellt.» Dem schmalen Bändchen gelang es, wie man weiss, die gebaute bzw. die zu bauende Umwelt wie über Nacht in den Mittelpunkt einer landesweiten Debatte zu rücken. Dass darin, wie wohl kaum je zuvor und danach, das ganze Spektrum der politischen Verdächtigung und Vorverurteilung von rechts und von links in Stellung gebracht wurde, mag nicht zuletzt an dem vollmundigen Ingress liegen. In der NZZ fragte Ernst Bieri bedeutungsschwer und mit unzweideutig implizierter Antwort, aus «welchem Urschlamm diese Blasen» wohl aufgestiegen sein mögen. Jakob Bührer hinwiederum erinnerte daran, dass eine «neue Stadt» wie jede andere architektonische Utopie am wirklichen Ziel des dringlich erforderlichen gesellschaftlichen Umbaus von innen heraus vorbeigedacht sei.

Der Effekt des Tohuwabohus war im Grunde voraussehbar. Kurzfristig wurde gar nichts entschieden, während längerfristig eine Mehrzahl der im Vorschlag implizierten Postulate entlang der Peristaltik von wirtschaftlichen Erfolgszwängen und sozialdemokratischen Wohlfahrtsansprüchen ohne viel Aufhebens in die Wirklichkeit der Gross-Agglomeration Schweiz übergeführt wurde.

Unter den schweizerischen Entdeckern Amerikas war Frisch ein Nachzügler. Mehr als zehn Jahre vor ihm hatte Sigfried Giedion, Mitbegründer und Sekretär der Internationalen Kongresse für Neues Bauen (CIAM), damit begonnen, die Kulturgeschichte des «Homo faber» im Zeitalter der Industrialisierung aufzuzeichnen (in zwei Stufen: «Space, Time and Architecture», 1941, und «Mechanization Takes Command», 1948). Hatte er in früheren Jahren die ästhetische Revolution der Moderne noch selbstverständlich mit der politischen verknüpft und den Aufbruch in die Moderne gerade auch von der UdSSR erwartet, so erlosch die «Mystik der UdSSR» wie über Nacht, als die offizielle Sowjetunion 1933 der Moderne den Rücken kehrte. Fünf Jahre später, 1938, zog er nach Amerika, wo innerhalb von wenigen Jahren die erwähnten Bücher entstanden. Und wiederum nur wenig später begannen die Schweizer Architektenfreunde ihre Antennen ihrerseits nach der Neuen Welt auszurichten.

Der immer deutlicher absehbare Ausgang des Weltkriegs tat das Seine. Alfred Roth und Max Bill etwa schickten sich an, von der Schweiz aus den Wiederaufbau Europas in Gang zu bringen und so die «Neue Architektur» unter der Ägide der neuen Weltmacht zum Triumph zu führen. Andere hinwiederum entdeckten Amerika vor dem Hintergrund der «geistigen Landesverteidigung» – des schweizerischen New Deal. Zu diesen gehörte Max Frisch. Der ehemalige Landi-Direktor Armin Meili war ihm vorausgegangen. Einem Taxichauffeur in Manhattan, wo er damals das Schweizer Reisebüro einrichtete, bekannte er 1949, dass ihm die lapidare Scheibenform des zu diesem Zeitpunkt noch unvollendeten Uno-Gebäudes besser gefalle als alle filigranen Wolkenkratzer New Yorks zusammen. Wenig später fand die Begeisterung ihr Echo in Meilis Vorschlägen für die städtebauliche Zukunft der Cityrandgebiete von Zürich. Und ausserdem in einer ganzen Serie von Projekten Max Frischs.

Vielleicht waren Projekte dieser Art sogar allzu sehr im Denkmuster der Charta von Athen und in den formalen Konventionen ihrer Vordenker Mies van der Rohe, Gropius und Le Corbusier befangen. Ohne das Wirken der CIAM ist die Mythologie der «Neuen Stadt» jedenfalls nicht zu verstehen. Vordergründig waren die linken Ideale und Illusionen der zwanziger Jahre längst verflogen, als die CIAM nach 1945 ihre Arbeit wieder aufnahmen. Plötzlich zeigte es sich jedoch, dass eine scheinbar so unpolitische Frage wie die nach der Zusammenarbeit von Architekten mit Bildhauern und Malern ausreichte, um die Abgründe politischer und kulturpolitischer Divergenzen wieder aufbrechen zu lassen. An den Kongressen von Bridgwater (1947) und Bergamo (1949) hatten sich in dieser Sache «realistische», an Volksfront-Ideen orientierte Positionen zu Wort gemeldet. Viel Gehör fanden sie bei der Zürcher Zentrale zunächst nicht. Hans Schmidt und Mart Stam, seit dem Gründungsjahr 1928 die linken Ideologen innerhalb der Kongresse (der Letztere leitete inzwischen die Staatliche Kunstakademie in Dresden), spielten sogar mit dem Gedanken einer Sezession.

Architektur und Gemeinschaft

In einem von der englischen CIAM-Sektion im Hinblick auf die Tagung in Bridgwater ausgearbeiteten Fragebogen wird die Frage aufgeworfen, ob es nicht an der Zeit sei, dass der Architekt «dem symbolischen oder allusiven Aspekt in der Architektur im Gegensatz zu ihren abstrakten ästhetischen Qualitäten» besonderes Augenmerk schenke. J. M. Richards, der den Kongress vorbereitet hatte, moniert, dass sich die CIAM-Ideale in den meisten am Kongress vertretenen Ländern einer visuellen Sprache bedienten, die vom «Mann auf der Strasse» weder akzeptiert noch verstanden werde. Und Helena Syrkus, die Delegierte Polens, doppelte nach: «Wir haben keine aufrichtige Haltung gegenüber den Menschen, für die wir bauen. Die Kunst gehört den Menschen, und sie muss für sie verständlich sein.» Und weiter zum Thema Geschichte: «Wir von den CIAM müssen unsere Haltung überdenken. Das Bauhaus liegt ebenso weit hinter uns wie Scamozzi.»

Nachdem die ideologischen Sturmböen wieder abgeflaut und die Versuche, den sozialistischen Realismus ins Spektrum der CIAM-Debatten einzubeziehen, erfolgreich zum Schweigen gebracht worden waren, machte sich Giedion daran, von Zürich aus seine eigene Bilanz aus den gemachten Erfahrungen zu ziehen. Das Resultat ist ein Patchwork architektur- und kunstkritischer Miszellen – und zugleich auch eine Art Variation zu Frischs Anspruch, «das Hier zu sehen und das Dort zu wissen, immer beides zusammen; als eine überall gleiche Aufgabe». Die Rede ist von «Architektur und Gemeinschaft» (1956). Unerbittlich der künstlerischen Moderne verpflichtet und insofern einer Haltung, die auf die Autonomie künstlerischen Tuns pocht, formuliert das Buch eine Botschaft, die, obzwar westlich verankert, doch auch jenseits des Eisernen Vorhangs akzeptabel sein sollte. Entsprechend kunstvoll ist es in die Dialektik des Kalten Kriegs verstrickt. Das Amerika des «internationalen Stils», das Roth, Bill, Meili, Frisch und andere noch wenige Jahre früher fasziniert hatte, ist allerdings wieder aus dem Gesichtsfeld verschwunden.

Hatte das «Autorenkollektiv» Frisch/Burckhardt/Kutter die Stadt als politisches Projekt definiert, wenn auch als eines zwischen (oder über) den Fronten, so erscheint sie bei Giedion als ein ästhetisches und als ein solches der Humanität. Nicht zufällig werden die Übeltaten historisierender Monumentalplastik nicht anhand der notorischen sowjetischen Beispiele illustriert, sondern anhand eines so abgelegenen Sujets wie des Vigeland-Parks in Oslo. Und jene der architektonischen «Pseudomentalität» nicht anhand der Moskauer Lemonossow-Universität, sondern anhand einer Kolonnade aus Nazideutschland und einer solchen aus dem amerikanischen New Deal.

und die Gegenseite

1951, im Jahr von Frischs Abreise nach New York, führte der Kunstwissenschafter Konrad Farner eine Gruppe von Schweizer Kommunisten nach Moskau und zeigte ihnen dort, was an Städtebau und Sozialleistungen im Grossreich Stalins alles geleistet worden war. Er dokumentierte den Besuch in einem wohl doch etwas optimistischen Reisebericht, der das Gesehene zusammenfasst und auch mit der Situation in der Schweiz vergleicht. Die ringförmig um das Zentrum gruppierten Moskauer Hochhaustürme erinnern ihn sogar an Meilis Idee von Hochhäusern am Zürcher Cityrand («Moskau. Tagebuch eines Schweizers», 1951). Wer, ausser die Teilnehmer, mochte die Publikation zur Kenntnis genommen haben? Ein Publikum für Texte, die anders als entsetzt über die offizielle Kultur der Sowjetunion berichteten, gab es damals in der Schweiz kaum. Das änderte sich erst später. 1954, zwei Jahre vor der inzwischen unaufschiebbar gewordenen Selbstauflösung der CIAM, unternahm ein Architekturstudent aus Mailand namens Aldo Rossi seinerseits eine Reise in die UdSSR.

Für den jungen Rossi wurde Moskau, die gebaute Verkörperung von allem und jedem, was der liebe Gott der modernen Architektur verboten hatte, zur Erleuchtung: «Von Russland liebte ich alles, die alten Städte gleichermassen wie den sozialistischen Realismus, die Leute und die Landschaft.» Und weiter: «Das Interesse für den sozialistischen Realismus diente mir dazu, mich von der ganzen kleinbürgerlichen Kultur der modernen Architektur zu befreien: Ich zog die Alternative der grossen Strassen Moskaus vor, die weiche und provozierende Architektur der Metro und der Universität auf den Leninhügeln.» Das Gericht der Postmoderne kündigte sich an. Nicht wenig von der Kritik, die in den siebziger Jahren (als Rossi an der ETH in Zürich lehrte) in Westeuropa über die Moderne hereinbrach, war schon in den fünfziger Jahren formuliert worden – der Kalte Krieg hatte sie lediglich unter Verschluss gehalten.

[ Stanislaus von Moos ist Professor für moderne und zeitgenössische Kunst an der Universität Zürich. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2008.04.26

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Presseschau 12

11. April 2021Stanislaus von Moos
Neue Zürcher Zeitung

Der Blossfeldt-Effekt: Ornament ist kein Verbrechen

Er war nicht einmal Fotograf und wurde für seine Bilder berühmt: Karl Blossfeldts Pflanzenmotive haben Kunst und Architektur des 20. Jahrhunderts inspiriert.

Er war nicht einmal Fotograf und wurde für seine Bilder berühmt: Karl Blossfeldts Pflanzenmotive haben Kunst und Architektur des 20. Jahrhunderts inspiriert.

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10. Februar 2017Stanislaus von Moos
Neue Zürcher Zeitung

In die Wolken gebaut

Yvonne Farrell und Shelley McNamara vom irischen Büro Grafton Architects proben in Lima die Utopie

Yvonne Farrell und Shelley McNamara vom irischen Büro Grafton Architects proben in Lima die Utopie

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verknüpfte Bauwerke
Universidad de Ingeniería & Tecnología (UTEC)

07. August 2015Stanislaus von Moos
Neue Zürcher Zeitung

Die «Neue Stadt» auf dem Seziertisch

Hans Erni malte 1941 das «Tagebuchblatt eines Urbanisten». Mit diesem Bild gelang ihm wohl die einzige künstlerische Interpretation des funktionalistischen Städtebaus, der gerade neu erforscht wird.

Hans Erni malte 1941 das «Tagebuchblatt eines Urbanisten». Mit diesem Bild gelang ihm wohl die einzige künstlerische Interpretation des funktionalistischen Städtebaus, der gerade neu erforscht wird.

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05. Juni 2015Stanislaus von Moos
Neue Zürcher Zeitung

Baukunst, Industrie und Staatsräson

Macht ist unerlässlich für die Realisierung grosser Pläne. Entsprechend unbekümmert suchten manche Architekten deren Nähe. Gilt das auch noch für Le Corbusier als Städteplaner von Chandigarh?

Macht ist unerlässlich für die Realisierung grosser Pläne. Entsprechend unbekümmert suchten manche Architekten deren Nähe. Gilt das auch noch für Le Corbusier als Städteplaner von Chandigarh?

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16. Januar 2015Stanislaus von Moos
Neue Zürcher Zeitung

Die Stadt als Landschaft

Wer darf oder muss sogar in einer Republik städtebauliche Dominanz markieren? Der unlängst veröffentlichte Masterplan für das Zürcher Hochschulquartier geht davon aus, dass die bestehende Skyline Zürichs unantastbar sei. Anders sah dies Max Frisch, der 1953 mit seinem Physik-Turm ein Zeichen setzen wollte.

Wer darf oder muss sogar in einer Republik städtebauliche Dominanz markieren? Der unlängst veröffentlichte Masterplan für das Zürcher Hochschulquartier geht davon aus, dass die bestehende Skyline Zürichs unantastbar sei. Anders sah dies Max Frisch, der 1953 mit seinem Physik-Turm ein Zeichen setzen wollte.

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30. September 2010Stanislaus von Moos
TagesAnzeiger

Der böse Le Corbusier

Die UBS hat eine Kampagne mit ihm gestoppt. Verlangt wird sogar, dass sein Konterfei von der Zehnernote verschwindet. Ist der berühmte Schweizer Architekt wirklich untragbar?

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verknüpfte Akteure
Le Corbusier

13. August 2009Stanislaus von Moos
Neue Zürcher Zeitung

Vom Feuerwerk im Museum

Eine der Hauptaufgaben von Museen ist die Sammlungspräsentation. Daneben veranstalten viele von ihnen auch temporäre Ausstellungen. Doch seit einigen Jahren versuchen immer mehr Häuser mit spektakulären «Dauerausstellungen», die meist von Architekten oder Designern gestaltet werden, auf sich aufmerksam zu machen. Eine fragwürdige Entwicklung.

Eine der Hauptaufgaben von Museen ist die Sammlungspräsentation. Daneben veranstalten viele von ihnen auch temporäre Ausstellungen. Doch seit einigen Jahren versuchen immer mehr Häuser mit spektakulären «Dauerausstellungen», die meist von Architekten oder Designern gestaltet werden, auf sich aufmerksam zu machen. Eine fragwürdige Entwicklung.

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26. April 2008Stanislaus von Moos
Neue Zürcher Zeitung

Kalter Krieg und Neue Stadt

Die Architektur der fünfziger Jahre ist seit längerem ein Sujet, das interessiert. Die Frage nach den politischen Kontexten des damaligen kulturellen Aufbruchs gleicht aber einem hartnäckigen Tabu.

Die Architektur der fünfziger Jahre ist seit längerem ein Sujet, das interessiert. Die Frage nach den politischen Kontexten des damaligen kulturellen Aufbruchs gleicht aber einem hartnäckigen Tabu.

1948 äusserte Max Frisch die Vermutung, hinter der akuten «Spannung zwischen Ost und West» verberge sich ein historisch bedeutsamer Konflikt: jener zwischen Reich und Arm, Nord und Süd. Als Architekt kam er des Öftern auch auf einen weiteren Spannungsherd zu sprechen, der sich mit dem Ost-West-Syndrom in verworrener Form überschneidet, ohne sich mit ihm zu decken: die Opposition zwischen einer «demokratischen» Architektur, die sich, grob gesprochen, am wissenschaftlichen Denken und an der künstlerischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts orientiert, und einer «staatsrepräsentativen», die ausgezogen ist, die Tradition des Klassizismus fortzusetzen.

Vielleicht ist der «Kalte Krieg» eine tatsächlich unbeholfene Umschreibung der kulturellen und politischen Realität jener Zeit. Aber reicht diese Feststellung aus, um die Architektur und Kunst der Nachkriegszeit in der Schweiz kennerschaftlich zu botanisieren, zu restaurieren und in Ausstellungen aufzubereiten, als hätte es diesen Kontext gar nicht gegeben? Unter Historikern der Nachkriegszeit ist das Thema nicht neu. So hielt der Medienhistoriker Kurt Imhof 1996 fest: «Kaum ein anderes Konstrukt hat die Welt in vergleichbarer Weise beherrscht und gestaltet wie der Ost-West-Dualismus. Er durchdrang das politische Denken und Handeln mehrerer Generationen (. . .) und trieb sich selbst auf die Spitze durch das Gegengleiche im Gleichen: dem Östlichen im Westen und dem Westlichen im Osten, d. h. dem drohenden, allseitigen, potenziellen oder virulenten Verrat der Agenten und – dem Feind in den eigenen Reihen.»

Grenzgänger

Die Gründe, um derentwillen das Wetterleuchten des Kalten Kriegs vom Radar der Kunst- und Architekturgeschichte bisher kaum wahrgenommen wurde, sind in dem zitierten Text zumindest angedeutet. Nämlich dort, wo er von «Agenten» und «fünften Kolonnen» spricht und damit durchblicken lässt, dass einer jeden Exkursion auf dieses Terrain der unappetitliche Beigeschmack der Spitzelei anhaftet. Was geht es die Leute schliesslich an, was ein Künstler von der Weltpolitik dachte, als er eine Leinwand mit gestischen Spritzern und Farbsträhnen überdeckte? Und was tut es zur Sache, wer solche Bilder kaufte bzw. in Ausstellungen und in Museen zeigte und aus welchem Grund? Amerikanische Kunstkritiker wie Eva Cockcroft, Max Kozloff oder Serge Guilbaut sind inzwischen gerade solchen Fragen lustvoll nachgegangen und haben auch aufgezeigt, wie Kunst, gerade dadurch, dass sie sich als apolitisch definiert, im Zeichen des Kalten Krieges massiv zum Politikum werden konnte.

Max Frisch illustriert die vertrackte kulturelle Logik des Kalten Krieges schillernder als irgendein anderer Zeitgenosse: als Person, als Schriftsteller, als Grenzgänger auf Reisen, als «Citoyen», als Architekt – und nicht zuletzt als Objekt kleinbürgerlicher oder auch professoraler Projektionen in Sachen der korrekten staatsbürgerlichen «Einstellung». «Jetzt bin ich da, empfinde es einmal mehr als meine Aufgabe, das Hier zu sehen und das Dort zu wissen, immer beides zusammen; als eine überall gleiche Aufgabe», schrieb er 1948 am Rande des «Congrès mondial des intellectuels pour la paix» in Wrocław ins Tagebuch. Als die Fama von Frischs Teilnahme an diesem Treffen in Zürich ruchbar wurde, blieb sie an ihm haften wie ein Brandmal (anderen, wie etwa dem Kunstmaler Hans Erni, ruinierte sie die Karriere). Dass Frisch im Tagebuch vor allem den Zumutungen sozialistisch-realistischer Kulturpolitik ätzenden Spott angedeihen liess, änderte nichts an dem Rumoren bei vielen Daheimgebliebenen, dass es in einem solchen Fall konsequent wäre, das Köfferchen zu packen. Frisch ging wenig später. Statt «Moskau einfach» wählte er freilich «New York retour».

Für Frisch erwies sich die Entdeckung Amerikas als Beginn einer Neukonzeption seiner selbst als Schriftsteller, als Architekt und wohl auch als kritischer «Citoyen». Und für die Rockefeller Foundation, die sein Stipendium ausgerichtet hatte (wo liefen die Fäden des amerikanischen Kulturexports damals zusammen, wenn nicht gerade dort?), war Frisch mindestens ein glücklicher Fischfang. «Stiller» war (neben «Homo faber») das gewichtigste Resultat des Amerikaaufenthalts. Banal resümiert, handelt es sich um den fiktiven Lebensbericht eines Bildhauers, der – zurück in Europa – nicht mehr im Gefängnis seiner früheren Identität gefesselt bleiben will. Dass der Plot nicht aus der Luft gegriffen war, zeigt sich daran, dass Frisch damals auch seine reale Person einer analogen Neubestimmung unterzog – oder doch seine Identität als «Schweizerarchitekt».

Ausgezogen als Baumeister in der Tradition der Landi, mit dem Zürcher Freibad Letzigraben (1942–49) durch und durch dem «Erfolgsmodell eines aufgeklärten helvetischen Regionalismus» verpflichtet (Bruno Maurer), kehrt er aus Amerika zurück als einer, der den Anschluss an den «internationalen Stil» einer grossstädtisch, gläsern und stählern gestimmten Moderne gefunden hat. Das soeben fertiggestellte Uno-Gebäude mit seiner lakonischen Scheibenform oder das Lever House an der Park Avenue in New York waren die Vorbilder. Die Weichen für das Eintauchen in das Abenteuer der «Neuen Stadt» waren gestellt.
Achtung: die Schweiz

Im ersten Satz von «achtung: die Schweiz» (1954) heisst es: «Wir stehen, wie bekannt, in einer Auseinandersetzung zwischen zwei Welten, zwischen Ost und West, zwischen – sagt man – Kommunismus und Kapitalismus. Man bezeichnet es als Kalten Krieg, was seit Jahren stattfindet. Das Grossartige an diesem Kampf (wir übersehen nicht die Unsumme von leidenden Opfern) besteht darin, dass er uns vor die wesentlichen Fragen unserer menschlichen Existenz stellt.» Dem schmalen Bändchen gelang es, wie man weiss, die gebaute bzw. die zu bauende Umwelt wie über Nacht in den Mittelpunkt einer landesweiten Debatte zu rücken. Dass darin, wie wohl kaum je zuvor und danach, das ganze Spektrum der politischen Verdächtigung und Vorverurteilung von rechts und von links in Stellung gebracht wurde, mag nicht zuletzt an dem vollmundigen Ingress liegen. In der NZZ fragte Ernst Bieri bedeutungsschwer und mit unzweideutig implizierter Antwort, aus «welchem Urschlamm diese Blasen» wohl aufgestiegen sein mögen. Jakob Bührer hinwiederum erinnerte daran, dass eine «neue Stadt» wie jede andere architektonische Utopie am wirklichen Ziel des dringlich erforderlichen gesellschaftlichen Umbaus von innen heraus vorbeigedacht sei.

Der Effekt des Tohuwabohus war im Grunde voraussehbar. Kurzfristig wurde gar nichts entschieden, während längerfristig eine Mehrzahl der im Vorschlag implizierten Postulate entlang der Peristaltik von wirtschaftlichen Erfolgszwängen und sozialdemokratischen Wohlfahrtsansprüchen ohne viel Aufhebens in die Wirklichkeit der Gross-Agglomeration Schweiz übergeführt wurde.

Unter den schweizerischen Entdeckern Amerikas war Frisch ein Nachzügler. Mehr als zehn Jahre vor ihm hatte Sigfried Giedion, Mitbegründer und Sekretär der Internationalen Kongresse für Neues Bauen (CIAM), damit begonnen, die Kulturgeschichte des «Homo faber» im Zeitalter der Industrialisierung aufzuzeichnen (in zwei Stufen: «Space, Time and Architecture», 1941, und «Mechanization Takes Command», 1948). Hatte er in früheren Jahren die ästhetische Revolution der Moderne noch selbstverständlich mit der politischen verknüpft und den Aufbruch in die Moderne gerade auch von der UdSSR erwartet, so erlosch die «Mystik der UdSSR» wie über Nacht, als die offizielle Sowjetunion 1933 der Moderne den Rücken kehrte. Fünf Jahre später, 1938, zog er nach Amerika, wo innerhalb von wenigen Jahren die erwähnten Bücher entstanden. Und wiederum nur wenig später begannen die Schweizer Architektenfreunde ihre Antennen ihrerseits nach der Neuen Welt auszurichten.

Der immer deutlicher absehbare Ausgang des Weltkriegs tat das Seine. Alfred Roth und Max Bill etwa schickten sich an, von der Schweiz aus den Wiederaufbau Europas in Gang zu bringen und so die «Neue Architektur» unter der Ägide der neuen Weltmacht zum Triumph zu führen. Andere hinwiederum entdeckten Amerika vor dem Hintergrund der «geistigen Landesverteidigung» – des schweizerischen New Deal. Zu diesen gehörte Max Frisch. Der ehemalige Landi-Direktor Armin Meili war ihm vorausgegangen. Einem Taxichauffeur in Manhattan, wo er damals das Schweizer Reisebüro einrichtete, bekannte er 1949, dass ihm die lapidare Scheibenform des zu diesem Zeitpunkt noch unvollendeten Uno-Gebäudes besser gefalle als alle filigranen Wolkenkratzer New Yorks zusammen. Wenig später fand die Begeisterung ihr Echo in Meilis Vorschlägen für die städtebauliche Zukunft der Cityrandgebiete von Zürich. Und ausserdem in einer ganzen Serie von Projekten Max Frischs.

Vielleicht waren Projekte dieser Art sogar allzu sehr im Denkmuster der Charta von Athen und in den formalen Konventionen ihrer Vordenker Mies van der Rohe, Gropius und Le Corbusier befangen. Ohne das Wirken der CIAM ist die Mythologie der «Neuen Stadt» jedenfalls nicht zu verstehen. Vordergründig waren die linken Ideale und Illusionen der zwanziger Jahre längst verflogen, als die CIAM nach 1945 ihre Arbeit wieder aufnahmen. Plötzlich zeigte es sich jedoch, dass eine scheinbar so unpolitische Frage wie die nach der Zusammenarbeit von Architekten mit Bildhauern und Malern ausreichte, um die Abgründe politischer und kulturpolitischer Divergenzen wieder aufbrechen zu lassen. An den Kongressen von Bridgwater (1947) und Bergamo (1949) hatten sich in dieser Sache «realistische», an Volksfront-Ideen orientierte Positionen zu Wort gemeldet. Viel Gehör fanden sie bei der Zürcher Zentrale zunächst nicht. Hans Schmidt und Mart Stam, seit dem Gründungsjahr 1928 die linken Ideologen innerhalb der Kongresse (der Letztere leitete inzwischen die Staatliche Kunstakademie in Dresden), spielten sogar mit dem Gedanken einer Sezession.

Architektur und Gemeinschaft

In einem von der englischen CIAM-Sektion im Hinblick auf die Tagung in Bridgwater ausgearbeiteten Fragebogen wird die Frage aufgeworfen, ob es nicht an der Zeit sei, dass der Architekt «dem symbolischen oder allusiven Aspekt in der Architektur im Gegensatz zu ihren abstrakten ästhetischen Qualitäten» besonderes Augenmerk schenke. J. M. Richards, der den Kongress vorbereitet hatte, moniert, dass sich die CIAM-Ideale in den meisten am Kongress vertretenen Ländern einer visuellen Sprache bedienten, die vom «Mann auf der Strasse» weder akzeptiert noch verstanden werde. Und Helena Syrkus, die Delegierte Polens, doppelte nach: «Wir haben keine aufrichtige Haltung gegenüber den Menschen, für die wir bauen. Die Kunst gehört den Menschen, und sie muss für sie verständlich sein.» Und weiter zum Thema Geschichte: «Wir von den CIAM müssen unsere Haltung überdenken. Das Bauhaus liegt ebenso weit hinter uns wie Scamozzi.»

Nachdem die ideologischen Sturmböen wieder abgeflaut und die Versuche, den sozialistischen Realismus ins Spektrum der CIAM-Debatten einzubeziehen, erfolgreich zum Schweigen gebracht worden waren, machte sich Giedion daran, von Zürich aus seine eigene Bilanz aus den gemachten Erfahrungen zu ziehen. Das Resultat ist ein Patchwork architektur- und kunstkritischer Miszellen – und zugleich auch eine Art Variation zu Frischs Anspruch, «das Hier zu sehen und das Dort zu wissen, immer beides zusammen; als eine überall gleiche Aufgabe». Die Rede ist von «Architektur und Gemeinschaft» (1956). Unerbittlich der künstlerischen Moderne verpflichtet und insofern einer Haltung, die auf die Autonomie künstlerischen Tuns pocht, formuliert das Buch eine Botschaft, die, obzwar westlich verankert, doch auch jenseits des Eisernen Vorhangs akzeptabel sein sollte. Entsprechend kunstvoll ist es in die Dialektik des Kalten Kriegs verstrickt. Das Amerika des «internationalen Stils», das Roth, Bill, Meili, Frisch und andere noch wenige Jahre früher fasziniert hatte, ist allerdings wieder aus dem Gesichtsfeld verschwunden.

Hatte das «Autorenkollektiv» Frisch/Burckhardt/Kutter die Stadt als politisches Projekt definiert, wenn auch als eines zwischen (oder über) den Fronten, so erscheint sie bei Giedion als ein ästhetisches und als ein solches der Humanität. Nicht zufällig werden die Übeltaten historisierender Monumentalplastik nicht anhand der notorischen sowjetischen Beispiele illustriert, sondern anhand eines so abgelegenen Sujets wie des Vigeland-Parks in Oslo. Und jene der architektonischen «Pseudomentalität» nicht anhand der Moskauer Lemonossow-Universität, sondern anhand einer Kolonnade aus Nazideutschland und einer solchen aus dem amerikanischen New Deal.

und die Gegenseite

1951, im Jahr von Frischs Abreise nach New York, führte der Kunstwissenschafter Konrad Farner eine Gruppe von Schweizer Kommunisten nach Moskau und zeigte ihnen dort, was an Städtebau und Sozialleistungen im Grossreich Stalins alles geleistet worden war. Er dokumentierte den Besuch in einem wohl doch etwas optimistischen Reisebericht, der das Gesehene zusammenfasst und auch mit der Situation in der Schweiz vergleicht. Die ringförmig um das Zentrum gruppierten Moskauer Hochhaustürme erinnern ihn sogar an Meilis Idee von Hochhäusern am Zürcher Cityrand («Moskau. Tagebuch eines Schweizers», 1951). Wer, ausser die Teilnehmer, mochte die Publikation zur Kenntnis genommen haben? Ein Publikum für Texte, die anders als entsetzt über die offizielle Kultur der Sowjetunion berichteten, gab es damals in der Schweiz kaum. Das änderte sich erst später. 1954, zwei Jahre vor der inzwischen unaufschiebbar gewordenen Selbstauflösung der CIAM, unternahm ein Architekturstudent aus Mailand namens Aldo Rossi seinerseits eine Reise in die UdSSR.

Für den jungen Rossi wurde Moskau, die gebaute Verkörperung von allem und jedem, was der liebe Gott der modernen Architektur verboten hatte, zur Erleuchtung: «Von Russland liebte ich alles, die alten Städte gleichermassen wie den sozialistischen Realismus, die Leute und die Landschaft.» Und weiter: «Das Interesse für den sozialistischen Realismus diente mir dazu, mich von der ganzen kleinbürgerlichen Kultur der modernen Architektur zu befreien: Ich zog die Alternative der grossen Strassen Moskaus vor, die weiche und provozierende Architektur der Metro und der Universität auf den Leninhügeln.» Das Gericht der Postmoderne kündigte sich an. Nicht wenig von der Kritik, die in den siebziger Jahren (als Rossi an der ETH in Zürich lehrte) in Westeuropa über die Moderne hereinbrach, war schon in den fünfziger Jahren formuliert worden – der Kalte Krieg hatte sie lediglich unter Verschluss gehalten.

[ Stanislaus von Moos ist Professor für moderne und zeitgenössische Kunst an der Universität Zürich. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2008.04.26

22. September 2007Stanislaus von Moos
Neue Zürcher Zeitung

Rhetorik der Baustelle

Wir leben in einer Zeit überhandnehmender Ruinenbilder. In den Medien werden Städte und Bauten vor allem dann abgebildet, wenn es Schaden zu melden gibt: Explosionen, Feuersbrünste oder Überschwemmungen interessieren ebenso wie Zerstörungen durch Krieg und Terror. Es gibt aber auch die umgekehrte, ins Optimistische gewendete «Ruinenästhetik» der Rohbauten, die von Aufbau und wirtschaftlicher Dynamik künden.

Wir leben in einer Zeit überhandnehmender Ruinenbilder. In den Medien werden Städte und Bauten vor allem dann abgebildet, wenn es Schaden zu melden gibt: Explosionen, Feuersbrünste oder Überschwemmungen interessieren ebenso wie Zerstörungen durch Krieg und Terror. Es gibt aber auch die umgekehrte, ins Optimistische gewendete «Ruinenästhetik» der Rohbauten, die von Aufbau und wirtschaftlicher Dynamik künden.

Der alltäglichen Ästhetik des Katastrophalen, wie wir sie von Erdbeben, Flutkatastrophen oder Terroranschlägen her kennen, stehen Bilder von umgekehrten «Ruinen», von Rohbauten und Bauprovisorien entgegen, die von Zukunftsoptimismus zeugen. Die Stadt erscheint in solchen Bildern als gigantische Werkstatt. Architekten lieben solche Bilder. In Louis Kahns Büro in Philadelphia hing Piranesis berühmte Rekonstruktion des Campo Marzio. Rom ist auf diesem Blatt gleichzeitig als Zeugnis des eigenen Verfalls und als utopische Fiktion vergegenwärtigt. Für Kahn stand fest, dass sich Architektur irgendwo zwischen den beiden Polen der Ruine und der Utopie definiert, definieren muss. Während seines Aufenthalts an der American Academy in Rom, 1950/51, faszinierte ihn daher wenig so sehr wie die Ruinen von Rom und der Campagna.

Bilder Des Turmbaus zu Babel

Die Ambivalenz der Ruine als Bauplatz (und umgekehrt des Bauplatzes als Ruine) ist freilich keine Erfindung Kahns. Ihre Vorgeschichte reicht auch weit hinter Piranesi zurück – mindestens bis ins 16. Jahrhundert. Die Ikonografie des Turms zu Babel gibt nützliche Aufschlüsse. Allein im 16. und 17. Jahrhundert gehen die Abwandlungen dieses Themas in die Tausende: Zwei der berühmtesten davon hat Pieter Bruegel d. Ä. gemalt. Sie hängen im Kunsthistorischen Museum in Wien und im Museum Boymans van Beunigen in Rotterdam. Das eine Bild zeigt den babylonischen Stufenturm unvollendet, im Aufbau begriffen, von Gerüsten, Kranen, Baracken, Backsteinbrennereien umstellt, mit einer erst im Rohbau ausgeführten Turmspitze. Ein Menschenwerk von kolossalen Ausmassen – die Spitze des Baus, von einer vorbeiziehenden Wolkenbank teilweise verdeckt, liegt schon fast ausserhalb des Blickfeldes. So gross ist der Turm, dass sich die Arbeiter an diesem Bau wie ein Volk von Ameisen zu schaffen machen. Die Baumaschinen und die Segelschiffe im Hafen überleben in dieser Nachbarschaft nur gerade als Miniatur.

Auf dem anderen, kleineren Bild hingegen, das sich in Rotterdam befindet, ist der Turm bis auf die noch unvollendete Spitze fertig gestellt. Die Gerüste und Baracken sind abgeräumt, eine Baustellenbesichtigung wie auf dem Wiener Bild, wo ein Potentat mit grossem Gefolge zur Inspektion erscheint, findet keine mehr statt.

Bis heute gibt es keine wirkliche Klarheit darüber, was genau die eine oder andere Fassung bedeutet bzw. wie man den offensichtlichen Unterschied zwischen den beiden Fassungen zu verstehen hat. Weder im einen noch im anderen Fall liefert die Bibelstelle, in der vom babylonischen Turmbau und von der Verwirrung der Sprachen die Rede ist, die Gott als Strafe für das vermessene Projekt über die Erbauer verhängt hat, eine ausreichende Erklärung. Zwar scheint nichts näher zu liegen, als das «Non-Finito» des Turms «biblisch» zu deuten. Steven Mansbach versteht die Wiener Fassung, also jene, die den Turm als gigantische Baustelle gibt, noch 1982 als «Mahnbild». Er erkennt im Non-Finito das Indiz der gescheiterten Hybris. Ganz im Gegensatz zur Rotterdamer Fassung. In diesem Bild, so Mansbach, habe Bruegel nicht das Scheitern einer gesellschaftlichen Utopie dargestellt, sondern ihr Gelingen. Der Turm sei hier gewissermassen post-biblisch umgedeutet zum Symbol einer idealen Gemeinschaft. Und hier liegt genau der Punkt, wo neuere Deutungen von Bruegels Bild ihre Zweifel geltend machen.

Die Götterdämmerung des Plans

Die Zuordnung des Wiener «Prozessbildes» mit der Idee der Hybris und des «fertig gestellten» Turms mit der Idee der idealen Gemeinschaft erscheint ihnen fragwürdig. Sie schlagen gerade die umgekehrte Zuordnung vor: In der Vergegenwärtigung des Aufbauprozesses erkennen sie eine Metapher für die Vitalität und die Prosperität einer an der langen Leine geführten, im Grunde dörflich strukturierten Gesellschaft. Statt vom nahen Weltende kündet der ins Stocken geratene Aufbau des riesigen Turms, nach dieser Lesart, vom Triumph technischen Wissens und baukünstlerischer Fertigkeit über die leblose Natur: als eine vorweggenommene Apotheose der Polytechnik. Das Rotterdamer Bild sei demgegenüber gerade nicht als Inbegriff eines gesellschaftlichen Idealzustands anzusehen, sondern als finstere Metapher einer bürokratisch verwalteten Gesellschaft. Der Turm zu Babel als Metapher, letztlich, für den Prozess der Zivilisation? Für die Verwandlung von Natur in Kultur?

Die Vorstellungen davon, wie eine ideale Stadt und darüber hinaus eine ideale Gemeinschaft aussieht bzw. aussehen müsste, haben sich in den letzten Jahren rasant verändert. Speziell unter Architekten. Für eine Mehrheit von ihnen wäre heute die Idee, eine ideale Stadt bzw. eine ideale Gemeinschaft in eine kompakte architektonische Form zu pressen, in der Praxis undenkbar. Selbst die kunsthistorischen Deutungen des Babelbildes von Bruegel sind, wie soeben angedeutet, in den Sog dieses Bewusstseinswandels geraten. Wenn nicht alles täuscht, ist andererseits das Non-Finito, die permanente Metamorphose als ästhetische Kategorie im Städtebau, bzw. die Fähigkeit zum Non-Finito als Qualitätskriterium im Städtebau ein relatives Novum. 1931 war das real gebaute Algier des 19. Jahrhunderts für Le Corbusier ein heilloses Geschwür, dessen «désordre effrayant» in Anbetracht der «impossibilité de se développer entre la falaise et la mer» nur darauf wartete, mittels der Radikalkur des «Plan Obus» mit Stumpf und Stiel ausgerottet zu werden.

Knapp vierzig Jahre später haben dann die Architekten damit angefangen, die Klagebrille in Anbetracht der «real gebauten Stadt» abzulegen und die Lernbrille aufzusetzen. Kurz nach 1970, nachdem Venturi, Scott Brown und Izenour mit «Learning from Las Vegas» das Startsignal gegeben hatten, wurde immer entschiedener das Prozesshafte des Phänomens urbaner Besiedlung ins Blickfeld genommen. Man begann «städtebauliche Porträts» zu entwerfen. Am vorläufigen Ende dieser Entwicklung stehen die «Wetterkarten» zur «Siedlungsmeteorologie» des Landes in der Publikation des ETH-Studios Basel («Die Schweiz, ein städtebauliches Porträt», 2006). Hier haben Architekten ein Inventar energetischer Kraftlinien zur Besiedlungsdynamik des Landes erarbeitet und sozioökologische Lackmustests vorgenommen, die nicht festgelegte urbane Räume oder architektonische Konfigurationen dokumentieren, sondern etwas, was primär gar keine physische Qualitäten aufweist. Und was sich permanent im Fluss befindet.

Brasilia und Chandigarh

In letzter Zeit ist viel von der «Ikonizität» von Architektur die Rede: von der Art und Weise, wie Bilder von Architektur und Stadt entstehen und welche Rolle sie im Haushalt der visuellen Kommunikation spielen – auch davon, ob (und wenn ja, wie) diese Bilder wieder auf die Baukunst zurückwirken. Neue Städte – zumal Hauptstädte junger Nationen – waren immer Bauprojekte und Medienkampagnen in einem. Chandigarh und Brasilia, die zwei exponiertesten Beispiele von ab ovo geplanten Gründungsstädten des 20. Jahrhunderts, bieten besonders reichhaltiges Beweismaterial für diese These. Ist es ein Zufall, dass sich ein beträchtlicher Teil der Mediatisierung von Chandigarh und Brasilia darauf konzentriert hat, diese Orte als gigantische Baustellen zu dokumentieren; als Bühnen, auf denen sich in vielfältigster Form ein Drama spektakulär inszenierter Arbeitsleistung abspielte? Man denke an die Aufnahmen Marcel Gautherots. Die berühmtesten und auch am meisten reproduzierten unter ihnen zeigen nicht fertig gestellte Bauten, sondern zyklopische Baustellen, ätherisch verzaubert als Lichterscheinungen im Wüstensand.

War die Mediatisierung der Baustelle Brasilia Sache der Regierung, so liefen die Fäden der Mediatisierung von Chandigarh im Atelier Le Corbusiers zusammen – entsprechend der zweiten Natur des Büros als einer eigentlichen Bildagentur der architektonischen Modernität. Der vor wenigen Monaten verstorbene Lucien Hervé zum Beispiel steuerte Bilder bei, die Qualitäten der im Entstehen begriffenen Architektur in die Sprache einer konstruktiven (konstruktivistischen?) Fotografie übersetzen. Statt Baukunst lediglich zu illustrieren, paraphrasieren sie sie in einer autonom gewordenen Bildsprache aus kontrastierend interagierenden Fragmenten.

Gewisse Medialisierungsprojekte blieben mangels Interesse im Entwurf stecken. Das interessanteste unter ihnen stammt von Ernst Scheidegger. Er trat 1956 an Hans Girsberger heran mit dem Plan, eine Reihe von Fotobüchern zur Baugeschichte von Chandigarh herauszugeben. Ein erster Band liegt als fertig geklebtes Layout vor. Die darin zusammengestellten Bilddokumente zur Entstehung von Chandigarh sind nicht nur ethnografische Dokumente aus erster Hand, sie dokumentieren darüber hinaus eine Faszination des Provisoriums, des Fragments und – so paradox es klingen mag – der Ruine. Scheideggers Bild des Sekretariats mit dem Hohen Gericht im Hintergrund liesse sich im Blick auf Piranesi als eine «umgekehrte Ruine» beschreiben – analog zu den Industrielandschaften New Jerseys, die Robert Smithson um 1960 als «Ruins in reverse» beschrieben hatte.

Pieter Bruegel d. Ä. ist kein abwegiger Schlüssel zur modernen Rhetorik der Baustelle. Ein Haus, das um einen Felsen herum gebaut wird bzw. geradezu aus dem Felsen herauszuwachsen scheint, wobei aus dem Felsen gleich noch Wasser sprudelt, als hätte Moses mit seinem Stock darauf geschlagen: Wo, in der modernen Architektur, hat man schon so etwas gesehen? – Selbstverständlich bei Frank Lloyd Wright (Fallingwater, 1935). Der Unterschied besteht darin, dass der Felsen bei Bruegel im Prozess des Ausbaus abgetragen, gewissermassen verdaut, dem Stoffwechsel der Zivilisation unterworfen und in einen anderen Aggregatszustand – Haustein, Backstein und Mörtel – übergeführt wird, während er bei Wright so, wie er gewachsen ist, wie in einer kostbaren Fassung erhalten und gerahmt wird. Hier wird Natur nicht «neutralisiert», hier wird sie unbehauen, in ihrer ganzen Rohheit in den Bau integriert.

«Into the Nature of Materials» lautet Wrights Schlagwort, doch was versteckte sich dahinter? Ein biologischer Befund? Eine Sache der Materialkunde? Fraglos ist nur, dass das Phantom «Materialechtheit» einen der grossen Architektenmythen der Moderne verkörpert. Dies vielleicht nicht zuletzt deshalb, weil Wright sie so eindrücklich beschworen hat. Etwa, als er die Felshöcker in der Nähe seines Wohnorts Spring Green, Wisconsin, beschrieb, Felshöcker, die ein Gletscher in der Vorzeit reingewaschen hat und in deren Umgebung sich heute (wie zufällig!) riesige Kiesgruben befinden. Wright schreibt weiter von Kieselhaufen, von Zementfabriken, die den Schotter zu jenem «magischen Staub» zermalmen, «der meiner Vision Form gibt». Dann wendet er sich dem Holz zu und sieht in den Schindeln und Brettern den Wald, gefällt und zerkleinert nach dem Architektenmass von Fuss und Inch . . . Ergo ist «The Nature of Materials» in allererster Linie die Eigenschaft der Materialien, dem Schöpfer-Architekten zu Diensten zu sein.

Fragment und «offene Form»

«Baustelle»? – In der Architektur hat die Ästhetik des Fragments, des Non-Finito, der «offenen Form», die das Stadium ihrer Vollendung entweder längst hinter sich gelassen oder noch gar nicht erreicht hat, eine lange Tradition (Dalibor Vesely, Neil Levine u. a. haben darüber geforscht). Joseph Gandys Darstellung von Sir John Soanes Projekt für die Bank of England in London (1830) ist nur ein besonders naheliegendes Beispiel unter vielen. Indem Soane (bzw. Gandy) das Projekt in einem möglichen künftigen Zustand des Verfalls zeigt, bettet er es in den grossen erdgeschichtlichen Zusammenhang von Aufstieg und Fall der Kulturen. Doch hat das Unterfangen auch eine pragmatische Komponente. Zwar evoziert der vorweggenommene Zerfall der Anlage die Hinfälligkeit von Menschenwerk überhaupt und ist insofern auch ein Stück Vanitas- und Melancholie-Metaphorik in der Tradition des 18. Jahrhunderts.

Gleichzeitig gibt es dem Betrachter aber auch Einblick in die konkrete Materialität und in die konstruktive und tektonische Faktur dieses Baus: Die fiktive Zerstörung wird so zu einem Modus der didaktischen Explikation der Art und Weise, wie das Gemäuer und wie die Gewölbe, aus denen sich der Komplex zusammensetzt, konkret gemacht sind. Die Ruine wird so zum didaktischen Präparat, zum Demonstrationsobjekt baukünstlerischer Tektonik. Vor dem Hintergrund von Soane liesse sich auch über den tieferen Sinn des «ruinösen» Charakters von Chandigarh spekulieren.

Dass Ruinen nicht nur Zerfall dokumentieren, sondern im Zerfall auch ihren Anfang offenbaren und insofern den Anfang von Architektur überhaupt, das ist beinah eine Generallinie der modernen Architektur – speziell natürlich dann, wenn man Louis Kahn dazurechnet. Um 1950, ausgerechnet zu einer Zeit, als Europa damit beschäftigt war, den Schutt der beschädigten oder zerstörten Städte aus dem Weg zu räumen, scheint Kahn die Ruine als Versprechen entdeckt zu haben. Fertig gestellte Bauten hätten es in sich, uns etwas über das Abenteuer ihrer Faktur erzählen zu wollen, schreibt er. Doch seien sie durch die Zeichen sich überlagernder Nutzungen daran gehindert, das auch wirklich zu tun. Erst wenn der Gebrauch erloschen sei, könne die Architektur wieder zu sich selbst kommen: «But when its use is spent and it becomes a ruin, the wonder of its beginnings appears again.» Das Ziel von Baukunst müsse es demzufolge sein, dieses Wunder des tektonischen Anfangs im konkreten Bauwerk so deutlich in Erscheinung treten zu lassen, dass die anderen Charakteristiken – die Wohnfunktion, die Lebensform, die Darstellung staatlicher oder anderer Autorität mit Hilfe stilistischer oder typologischer Anleihen – dagegen an Bildmacht gar nichts mehr aufzubieten haben.

Das Resultat sind, eben, die «orphischen Urworte» der Architektur des späten Louis Kahn (Adolf Max Vogt): die vermutlich präzisesten Aktualisierungen der Idee vom «Rohbau», die in der Architektur des 20. Jahrhunderts versucht worden sind. Das Parlament von Dacca, die Universität von Ahmedabad, die Bibliothek der Exeter Prep School im Norden von Massachusetts: In allen diesen Bauten ist der Gegensatz von Rohbau und Ausbau aufgehoben, fallen die beiden Zustände in exemplarischer Weise zusammen.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2007.09.22

07. September 2002Stanislaus von Moos
Der Standard

Wenn die Kunst vom Leben eingeholt wird

Architektur und Terrorismus bedienen sich ähnlicher Bilder, um Politik sichtbar zu machen

Architektur und Terrorismus bedienen sich ähnlicher Bilder, um Politik sichtbar zu machen

Das Stichwort hat der Komponist Karlheinz Stockhausen gegeben, als er über die Explosion vom 11. September sagte, es handle sich um „das größte Kunstwerk, das es je gegeben hat“. Der Ausspruch hatte bekanntlich die Annullierung eines für den gleichen Abend in Hamburg geplanten Konzerts zur Folge, und die Reaktionen waren, wie man in den Zeitungen lesen konnte, dergestalt, dass sich der Komponist gleichentags für die Entgleisung entschuldigte. Was aber war wirklich passiert? Da hatte einer eine radikale Formel gefunden für das, was viele im Angesicht der Katastrophe nicht auszusprechen wagten, obwohl der Gedanke nicht wenigen zu schaffen gemacht haben dürfte. Nämlich, dass das Spektakel der in Feuer und Rauch explodierenden und dann in sich selbst zusammensinkenden Türme die Welt nicht nur für Tage und Wochen in Bann schlug, sondern dass diese Bilder in ihrer Farbenpracht in gespenstischer Weise „schön“ waren wie ein Naturschauspiel. Oder aber, mit den hinzutretenden Pathosfiguren der entsetzten Passanten oder des Teufels, dessen Gesicht einige in der über den Türmen aufsteigenden Rauchformation erkannt haben wollen, wie die Übersetzung einer mittelalterlichen Darstellung des Jüngsten Gerichts.
Nichts liegt näher als der Verdacht, die Wahl des Objekts, die Wahl des Vorgehens, die Wahl der Tageszeit, dass das alles Teil einer präzise aufgebauten Dramaturgie war. Zumal der strahlende Vormittag die beste Garantie dafür bot, dass die amerikanischen Medien das Ereignis in den prächtigsten Farben weltweit veröffentlichen würden. Ganz zu schweigen vom Timing: von der wirkungsvollen Staffelung der Ereignisse, das heißt von der Tatsache, dass zwischen dem ersten und dem zweiten „Einschuss“ gerade die Zeitspanne anberaumt wurde, die nötig war, um die Fernsehkameras in Stellung zu bringen, respektive dem Betrachter zu erlauben, es sich im Lehnstuhl vor dem Fernsehschirm bequem zu machen.
Oft sagen die Bilder und erst recht die Art, wie sie von Zeitungen und Zeitschriften bearbeitet und grafisch inszeniert werden, in der Tat mehr aus über die darin reflektierten Bilder und Vorstellungen heroischen Scheiterns oder kühnen Aufbruchs als über den Zustand von „Ground Zero“ selbst. Nicht selten fällt es schwer, in Anbetracht des Geschiebes der geborstenen, schräg angehobenen Stahlträger des World Trade Centers nicht an die aufgestauten Eisbrocken auf Caspar David Friedrichs „Gescheiterter Hoffnung“ zu denken. Dann wieder erscheint das aufgepflanzte Sternenbanner über den Ruinen wie eine Projektion von Delacroix' „La liberté guidant le peuple“.

Kurt Forster beschreibt in seinem Aufsatz „Monuments to the City“, wie in der Geschichte Einzelbauten die Rolle zugewachsen ist, die Identität ganzer Städte, ja darüber hinaus ganzer Gesellschaften zu verkörpern. Forster zeigt etwa das Haus des Romulus auf dem Kapitol in Rom: eine kleine Holzhütte, während der ganzen römischen Antike zahllose Male restauriert und wieder aufgebaut als Denkmal des Stadt- und Staatsgründers Romulus. Ein Haus, das die Gründungsgeschichte der Stadt verkörpert.

Es gibt auch andere Typen von Stadtmonumenten. Lediglich versuchte Symbolprägungen zum Beispiel, wie Loos' berühmter Vorschlag, Chicago als Stadt in Gestalt eines Wolkenkratzers zu symbolisieren, der die Form einer dorischen Säule hat (Chicago Tribune Wettbewerb, 1922). Die Idee wurde nicht realisiert; es blieb bei der interessanten Hypothese. Wie wird ein Bauwerk zum Stadtmonument? Am ehesten dürfte es Bauten gelingen, die mit einem Superlativ in Verbindung gebracht werden können. Das älteste, das höchste, das merkwürdigste und ungewöhnlichste Gebäude hat immer gute Aussichten, zum Stadt-Logo zu werden. So besehen war es wohl unausweichlich, dass das World Trade Center, das höchste Gebäude von New York, einmal gebaut, zur symbolischen Verkörperung der Stadt werden würde, zumindest auf Souvenirtellern, Aschenbechern und T-Shirts, fast gleichberechtigt neben der Freiheitsstatue.

Die Verdoppelung, die alles Übrige massiv übertreffende Höhe, ferner die radikal abstrakte Form der beiden über quadratischem Grundriss aufsteigenden Prismen schienen es gewissermaßen mit der Stadt als Ganzes aufnehmen zu wollen; sie schweißten die Stadt selbst oder doch zumindest Lower Manhattan zum Bild zusammen - ähnlich wie die Türme Asinelli und Garisenda Bologna zum Kürzel einer mittelalterlichen Stadt zusammenfassten. Mit dem 11. September hat sich New York dann wieder zu jenem charakteristischen diffusen Bild der nach links und rechts fast endlos ausufernden „Fieberkurve“ zerbröselt, das Le Corbusier in den Dreißigerjahren angetroffen und gegeißelt hatte. Was jedoch die beiden Türme anbelangt, so wurden sie gewissermaßen im Einsturz „nationalisiert“: Als Einstürzende oder Gefallene waren sie plötzlich nicht mehr bloß Symbole von New York, sondern ganz einfach die Verkörperungen Amerikas schlechthin geworden und standen nun, da sie eingestürzt waren, für „Freedom“, „American Values“ und den „American Way of Life“. Immerhin hatte es kurz nach dem 11. September auch andere, wohl zutreffendere Interpretationen gegeben, etwa jene von BBC, die die fraglichen Türme in einer ersten Reaktion als herausragende Symbole der finanziellen und militärischen Macht der USA interpretierten. Trotzdem, auch der Zürcher Tagesanzeiger übernahm demgegenüber spontan die Sichtweise des amerikanischen Präsidenten und stellte die ersten Reportagen unter den Titel „Angriff auf Amerika“. Das „Herz Amerikas“ sei getroffen worden, titelte selbst Libération, Paris. Als hätte sich die Weltpresse verschworen, den militärischen Schlag gegen Afghanistan unvermeidlich erscheinen zu lassen. Wie man weiß, hat dieser Krieg wesentlich mehr Opfer gefordert als der 11. September, der ihn auslöste.

Nach der erfolgreichen Nationalisierung der Türme schien es dann für die Wiedergutmachung in situ gar keinen anderen Weg zu geben als den der möglichst originalgetreuen Rekonstruktion. Und nun konnte man ernsthafte Architekten und Architekturkritiker bei der Forderung ertappen, das World Trade Center müsse unverzüglich wieder aufgebaut werden. Nachdem Mayor Giuliani wenige Tage nach der Katastrophe die „Rekonstruktion“ der beiden Türme angekündigt hatte (eine Idee, von der er noch während seiner Amtszeit zum Glück wieder abgewichen ist), wusste zum Beispiel die Neue Zürcher Zeitung zu berichten, dieser Entscheid sei von vielen New Yorkern wie eine „Befreiung“ empfunden worden. Aus Gründen der Vernunft wie auch aus Gründen der Pietät komme nur eine nach neuesten technischen Erkenntnissen ausgeführte mimetische Rekonstruktion infrage. Denn nur die wieder errichteten Zwillingstürme werden alle Erinnerungsfunktionen erfüllen können und gleichzeitig in der Lage sein, den Terroristen zu zeigen, dass die freie Gesellschaft sich nicht in die Knie zwingen lässt.

Innerhalb kürzester Zeit (das heißt pünktlich genug, um noch in der einschlägigen New York Verdana-Ausgabe vom 23. September berücksichtigt zu werden) meldete sich dann die Crème der amerikanischen Kunst- und Architekturszene zu Wort. Immerhin begann jetzt die Front derer, die eine integrale Rekonstruktion wünschten, langsam zu bröckeln. Peter Eisenman freilich meinte, man solle in Anbetracht der Tatsache, dass „die Werte und die Kultur des Westens“ angegriffen seien, nicht zögern, erneut so hoch zu bauen wie die zerstörten Türme. Renzo Piano und Richard Meier fanden, dass zwar eine mimetische Rekonstruktion nicht infrage komme, dass jedoch etwas gebaut werden müsse, was „ein ebenso mächtiges Symbol abgeben würde, wie es die World Trade Towers taten“. James Turrell, der Bildhauer, schrieb, dass die wieder aufgebauten Türme noch höher werden müssten, als die alten es gewesen seien; auch Robert Stern, Philip Johnson und last but not least Bernard Tschumi plädierten für einen Wiederaufbau (Johnson, weil es gelte, den Terroristen zu zeigen, dass alles, was sie zerstören, wieder errichtet wird). Am weitesten ging Hyman Brown, einer der Ingenieure des WTC, der eine mimetisch exakte Rekonstruktion verlangte und darüber hinaus eine Aufstockung um 30 Stockwerke (die Türme würden so statt 415 etwa 535 Meter hoch). Die meisten Künstler haben auf das Ereignis um einiges nachdenklicher reagiert und damit die unverdrossene Megalomanie der Architekten erst recht bloßgestellt: etwa wenn sie ein sternförmiges Denkmal vorschlagen (wie Louise Bourgeois) oder einfach die Freihaltung des gesamten Terrains (wie Joel Shapiro) oder einen meditativen Park (wie John Baldessari). Der Kunsthistoriker Robert Rosenblum meinte, er könnte sich ein leeres Phantomgebäude in der Form der Twin Towers vorstellen (Venturis Franklin Court in Philadelphia mag ihm dabei vor Augen gestanden haben). Der Vorschlag der Künstler Paul Myoda und Julina La Verdier zielt in eine ähnliche Richtung: Sie regten an, anstelle der beiden Türme mittels Scheinwerfern eine Lichterscheinung in den Luftraum zu projizieren. Ein ähnliches Projekt wurde am Gedenktag sechs Monate nach dem Unglück als temporäre Installation realisiert.

In der Tat: Wie kann eine Rekonstruktion aussehen in einer Zeit, wo das, was rekonstruiert werden soll, entweder nicht rekonstruierbar ist, weil es etwa den Konsens der Öffentlichkeit nicht mehr findet? Kann sie einen anderen Weg einschlagen als den, Präsenz durch inszenierte Absenz zu markieren, Monumentalität durch erklärte Negation des Monuments? Spätestens zu dem Zeitpunkt, als deutlich wurde, dass die Grundeigentümer genauso wie der Gouverneur des Staates New York entschlossen waren, über „Ground Zero“ die verlorene kolossale Dichte von Büronutzung wiederherzustellen, wurden solche Vorstellungen zur Makulatur.
Was passiert, wenn die Kunst vom Leben eingeholt wird? Wenn Möglichkeiten, die man sich nur auf dem Umweg über die Fiktion vorzustellen vermochte, plötzlich zur Realität werden? Das Resultat sind Wahrnehmungsverschiebungen, konkret: eine veränderte Sicht auf vertraute Dinge. Eine bestimmte Art von Sensibilität wird geschärft, andere Arten werden abgestumpft. Ästhetik tritt in den Hintergrund, dafür treten die elementaren Beweggründe des Bauens ins Bewusstsein: Fragen der Sicherheit (man weiß heute, dass sie im Falle der Twin Towers massiv vernachlässigt wurden). Außerdem die erbarmungslos politische Natur der gebauten Umwelt. Ein Automatismus der Revision und der Ausblendung des für real Erachteten setzt sich in Gang. Man erlebt es an sich selber: zum Beispiel anhand des zufällig herausgegriffenen Projekts von Frank Gehry für den neuen Hauptsitz der New York Verdana in New York. Im Jahre 2000 hat die New York Verdana dem Projekt einen Entwurf von Renzo Piano vorgezogen. Dieser soll jetzt auch realisiert werden. Bis Anfang September 2001 mochte man das beklagen. In der Ausgabe vom 16. Juli von The New Republic konnte Martin Filler noch schreiben, es handle sich bei dem Projekt um „easily the most exciting high-rise scheme in recent memory“. Hätte er das zwei Monate später auch noch so gesehen? Zumindest in den ersten Wochen nach dem 11. September, als die Bilder vom Einsturz noch in den Köpfen steckten, war schon die Modellaufnahme ein schwer erträglicher Anblick.

Was passiert, wenn die Kunst von der Geschichte eingeholt wird? Von Architektenseite, vonseiten der Architekturkritik, sind nur wenig existenzielle Erschütterungen zu vermelden. Vielleicht haben die Filmwissenschafter mehr Erfahrung mit einer solchen Frage. „Le cinéma rattrapé par l'histoire“ ist das Thema der Oktobernummer der Cahiers du Cinéma (2001). Man hat es auch anderswo gelesen: Hollywood zieht unter dem Eindruck der Ereignisse gewisse Filme zurück (wenigstens vorläufig). So Warner Bros., etwa „Collateral Damage“ mit Arnold Schwarzenegger, der am 5. Oktober 2001 hätte lanciert werden sollen („aus Respekt für die Opfer und ihre Familien“, wie es hieß); Sony wiederum zog für einige Monate „Spider Man“ zurück, einen Thriller, in dem ein Helikopter vorkommt, der sich in einem zwischen den beiden Türmen des World Trade Centers gespannten Netz verfängt. []

Stanislaus von Moos ist Ordinarius für moderne und zeitgenössische Kunst an der Universität Zürich. Der von uns stark gekürzte Artikel ist in voller Länge in der Zeitschrift „Baumeister“, Nr. 9, September 2002 beim Münchner Callwey Verlag greifbar (0049 89 43 60 05-0).

Der Standard, Sa., 2002.09.07

06. November 1999Stanislaus von Moos
Neue Zürcher Zeitung

San Carlino als provisorisches Monument

Anlässlich des 400. Geburtstags des Tessiner Architekten Francesco Borromini konstruierte Mario Botta als Ergänzung der Borromini-Ausstellung im Museo Cantonale d'Arte von Lugano ein Modell im Massstab 1:1 der römischen Kirche San Carlino alle Quattro Fontane. Nicht zum erstenmal rührt er mit einer seiner Erfindungen Bodensatz symbolischer Atavismen auf.

Anlässlich des 400. Geburtstags des Tessiner Architekten Francesco Borromini konstruierte Mario Botta als Ergänzung der Borromini-Ausstellung im Museo Cantonale d'Arte von Lugano ein Modell im Massstab 1:1 der römischen Kirche San Carlino alle Quattro Fontane. Nicht zum erstenmal rührt er mit einer seiner Erfindungen Bodensatz symbolischer Atavismen auf.

Handelt es sich beim hölzernen «San Carlino» an der Rivetta Tell in Lugano um eine Festdekoration? Einen gebauten Capriccio in der Tradition Canalettos oder Guardis? Oder ist das prächtige Architekturmodell (Massstab 1:1) vor allem eine PR-Aktion des Verkehrsvereins? - Eine merkwürdige Koalition der Themen und der Interessen ist jedenfalls im Spiel: eine vielleicht gefährliche Leidenschaft für Möglichkeiten und Grenzen architektonischer Monumentalität heute sowie, damit verbunden, das Ansinnen, mit Städtebau aufs Wasser auszuweichen, da das schweizerische Festland dafür offenbar keine Spielräume mehr bietet. Anlass ist der 400. Geburtstag von Francesco Borromini, geboren am 27. September 1599 in Bissone, und Initiant ist Mario Botta.


Disney-Verdacht

Die mächtige Holzkonstruktion, über einer Plattform von 22×22 m aufgebaut, 33 m hoch, 350 Tonnen schwer, mit einem Stahlskelett als Kern, ist zunächst Teil des allestimento der Ausstellung, die noch bis zum 14. November im nahen Museo Cantonale d'Arte gezeigt wird: «Francesco Borromini. L'opera giovanile». Sie illustriert live deren thematischen Schwerpunkt - die Kirche S. Carlo alle Quattro Fontane in Rom (1638-1641) als Schlusspunkt und Apotheose des Frühwerks dieses überragenden Tessiner Meisters. Und ist zugleich eine Demonstration modernster elektronischer Verfahren der Bauaufnahme und der archäologischen Rekonstruktion, wie sie an der Università della Svizzera italiana praktiziert wird, d. h. an der Accademia di Architettura in Mendrisio. 40 000 Pläne waren erforderlich, bevor man im elektronisch gesteuerten Sägewerk mit dem Zuschneiden der 660 übereinander aufzuschichtenden Bretterlagen von je 5 Zentimeter Stärke begann. Mit den 400 Kubikmetern Tannenholz, die zu seiner Realisierung benötigt wurden, ist «San Carlino» der grösste jemals im Tessin erbaute Holzbau.

Wie kaum anders zu erwarten, war das Vorhaben im Tessin bereits Monate vor Baubeginn vom Disney-Verdacht eingeholt worden. Tita Carloni, der ebenso kultivierte wie scharfzüngige Spiritus rector des Tessiner Architekturgewissens, ging gar so weit, das Projekt seines ehemaligen Schülers auf Grund des ephemeren Charakters mit dem (übrigens durchaus nicht als ephemer konzipierten) «Casinò Admiral» in Mendrisio gleichzustellen, einem offenbar für viele Architekten besonders argen Stachel im Fleisch der Tessiner Architektur: «Jedermann kennt die spätkaiserzeitliche Fassade des neuen Teatro Admiral. An der Tragstruktur aus Eisen sind wie über Nacht vorfabrizierte Elemente in rosa-gelblich eingefärbtem Zement angebracht worden. Die Kapitelle sind aus vergoldetem Plastik. Die Pferde, der Rennwagen, die Zenturionen sind in patiniertem Glaskunstharz und heben sich vor dem feierlichen Hintergrund von Ventilatoren und Abluftschächten ab wie diese vor dem suggestiven Panorama der Felsen des Generoso» («Corriere del Ticino», 3. Februar 1999).

Und wie sehr sich jetzt plötzlich alle bemühen, Borromini von den Niederungen touristischer Vermarktung fernzuhalten (mit dem Virgilio Gilardoni zugeschriebenen Argument: «Chi vuol vedere Borromini vada a Roma. Vedrà Borromini ed altro!»). Längst ist auch die Jagd auf die «Missverständnisse» freigegeben, die durch das Luganeser Projekt bezüglich Borromini beim bildungsbeflissenen Publikum angeblich kolportiert werden. Durch die «Rekonstruktion» im See werde Borrominis Kirche aus ihrem urbanen Kontext herausgelöst und durch die Halbierung in ein frontales, statisches und szenographisches Bild gepresst. Die dynamische Beziehung von Innenraum und Aussenform des Baus werde durch den kubischen Mantel von Bottas «Präparat» in unzulässiger Weise verunklärt. Ausserdem wird daran erinnert, wie sehr dies alles den Eindruck verfälsche, den man in situ empfängt: wo sich San Carlino, bedingt durch die Engführung der Strassen, in der Tat nur der Übereckansicht darbietet usw. . . . Als ob eine «Rekonstruktion» von Borrominis Kirche, die solchen Argumenten standhalten würde, anders vorstellbar wäre als in der Form einer banalen historistischen Replik, vermutlich massiv miniaturisiert, um auf begrenztem Terrain mindestens Ansätze des städtebaulichen Kontexts einbegreifen zu können . . .


Lehrgarten und Festarchitektur

Der Festakt anlässlich der Eröffnung der Ausstellung «Il giovane Borromini» im Museo Cantonale d'Arte musste zwar kurzfristig vom Podium des «San Carlino» ins Innere des nahen Palazzo dei Congressi verlegt werden: des strömenden Regens wegen, und weil eine Gruppe von Manifestanten zu Füssen des Telldenkmals von Vincenzo Vela mit einem Lautsprecherwagen das Gehör und mit Transparenten die Aufmerksamkeit in Beschlag zu nehmen verstanden (von «Lohndumping» war u. a. die Rede; in der Tat war das Projekt seitens der Stadt Lugano nur im Rahmen eines Arbeitslosenprogramms finanzierbar gewesen). An offizielle Reden auf der Plattform war unter diesen Umständen nicht zu denken. Dieweil gruppierten sich im Park der Villa Ciani die ersten Touristen vor der über dem Wasser schwebenden Kaaba zum Erinnerungsbild.

In einer prompt erschienenen Monographie (Borromini sul Lago, Skira Mailand/Genf, 1999) insistiert der Architekt auf dem Charakter des Projekts als «szenographischer Konstruktion», die ihre raison d'être in sich selbst findet und nicht im Endziel einer Illusion. Einer Konstruktion, die keine anderen Absichten verfolgt als jene, die «mit ihrem Wesen als Architektur zusammenhängt und mit der Art, wie diese sich als ein Instrument konstituiert, zum Zweck, den Raum zu organisieren.» - Nur wenige Kilometer von «Swissminiatur» entfernt, liegt es trotzdem nahe, dem Phänomen der architektonischen «Rekonstruktion» und den Unabänderlichkeiten von deren Beziehung zur Erinnerungs- und Freizeitkultur von heute nachzugrübeln. Natürlich hat Bottas Projekt als didaktisches Präparat und als ephemere Festdekoration mit alledem mehr als nur zufällig zu tun.

Allerdings wird hier das, worauf es bei der Scheinarchitektur im Lehrgarten ankommt, mit Absicht vermieden: die Illusion einer möglichst täuschenden Originaltreue. Wo das «Imagineering» der Freizeitkultur sich bemüht, die architektonische Epidermis und die Bauornamentik möglichst täuschend zu imitieren, da schichtet Botta einen gigantischen Stapel von Holztafeln auf, und zwar so, dass zwischen den einzelnen Lagen ein kleiner Abstand frei bleibt. Dadurch prägt sich dem Betrachter der Modellcharakter derart nachhaltig ein, dass eine «Täuschung» gar nicht aufkommen kann. Wie der Restaurator in Teilen des Bildes, die verloren sind, die Technik des rigatino einsetzt, um den Abstand zwischen der heute gegebenen Bildfläche und unserer Vorstellung davon, wie das Bild einmal ausgesehen hat, zu überbrücken, so bedient sich Botta einer abenteuerlichen Mischung von Computer-Know-how und Zimmermannstechnik, um das Original sowohl dreidimensional abzubilden als auch zu verfremden. Das Resultat ist infolgedessen keine «Kopie», sondern ein didaktisches Präparat.

Wobei der «Cube» (schwarz und halbiert, im Gegensatz zum weissen und kompletten Cube von Sol LeWitt) so arrangiert ist, dass sich der goldschimmernde nicchione mit seinem Vorplatz westwärts, gegen die gründerzeitliche Rivetta Tell hin öffnet, während die Rückseite vom Park der Villa Ciani mitsamt der aufgesetzten halbierten Kuppellaterne als eine minimalistische folie am Rande des englischen Gartens in Erscheinung tritt. Dank Bottas siebentem Sinn für lapidare urbanistische Wirkung ist so das Seeufer von Lugano mit sich selbst ins reine gekommen.


Monumentalität und das «Botta-Zelt»

Mario Bottas Hang zum Monumentalen hat dem Tessin und darüber hinaus der Weltarchitektur nicht wenige markante und zugleich eigenartig konzepthaft, abstrakt gebliebene Bauten geschenkt. Eine auf 1600 m ü. M. im Berghang verankerte Aussichtsplattform mit, in die Substruktion verstaut, einer Kapelle auf dem Monte Tamaro. Grosse, lotrecht aufgemauerte oder schräg zur Seite geneigte und oben gekappte Mauerkegel oder -zylinder über riesigen Prismen aus Backstein oder Granit als Kathedralen oder Pfarrkirchen im Maggiatal, in Evry oder in Pordenone bzw. als Museum für moderne Kunst in San Francisco. Ausserdem ganze Quartiere aus wuchtigen Corporate Headquarters in Lugano (Gotthardbank) oder in Bellinzona (Basler Versicherung, Swisscom). Und weitere stolze Verwaltungsbauten in Dortmund, Basel und anderswo.

Thematisch, als verkapptes Nationalmonument, und in seinem Charakter als Provisorium knüpft «San Carlino» jedoch vor allem an eine unter den Realisierungen dieses Architekten an: das «Botta-Zelt» (1991). Wer erinnert sich nicht! Seit der Bundeshauskuppel kam die Schweizer Architektur nicht mehr näher an das ja nicht ganz unproblematische Ideal eines Nationaldoms heran. Erstmals in Bellinzona aufgestellt, wanderte die Zelt-Kalotte u. a. nach Sils Maria, Brunnen und Hannover als ambulanter Festplatz für eine Vielzahl der offiziellen Veranstaltungen in dem an Kunst- und Architektur im übrigen ja armen Gedenkjahr. Als Silhouette bilden die radial angeordneten Fachwerkträger des Zelts einen Halbkreis. Die Träger (13 an der Zahl; wie anders hätten sich die erforderlichen 26 Flaggen der Kantone und Halbkantone daran festmachen lassen?) zeichnen die Form einer Kuppelschale in den Luftraum. Darüber aufgepflanzt folgt eine Art kolossaler Laterne, gemacht aus Fahnenstangen. Kuppel und Tambour sind nicht in Stein gebaut, sondern als ephemere Zeichen evoziert; das Zeltdach selbst ist, wie jedes Zirkuszelt, in der Form eines polygonal gebrochenen Kegels unten an den Trägern befestigt. Ein Fest der Wappen und Standarten: nur dass Botta den Fahnenstangenwald im Bild des Peripteros fasst, der über der Quasi-Halbkugelkalotte aufsteigt und so bei den Eingeweihten die Erinnerung an das Pantheon mit jener an den Tempel der Fortuna Virilis verknüpft. Dies alles im Massstab der Miniatur, in der Form eines baulichen Provisoriums; als - allerdings kostspielige - Billigausgabe eines nationalen Memorials. (Dass der Ernstfall eines Nationalmonuments, z. B. in Gestalt eines neuen Bundeshauses - ein solches hätte Botta ja auch gern gebaut -, zu diesem Zeitpunkt ausserhalb der Reichweite lag, gehört zu den Unabänderlichkeiten des schweizerischen Pragmatismus . . .)


Nationalidee und das Gewissen

Mit dem transportablen Rundbau wäre es Botta um ein Haar gelungen, der später dann diagnostizierten «Havarie» der offiziellen schweizerischen Erinnerungspolitik (Jakob Tanner) vorzubeugen. Die Kunst und die Architektur unseres Jahrhunderts scheinen die Vorstellung endgültig festgelegter «Gedächtnisorte» (Pierre Nora) mitsamt den dazugehörigen Inhalten ad acta gelegt zu haben. Man weiss nicht mehr, woran man diese Gedächtnisorte als solche erkennen kann; im Zeitalter des privatisierten Gewissens vermag ein Steinhaufen, eine Schiefertafel mit runenartigen Kreidezeichen zum metaphysischen Richtwert zu werden. Und dies trotz oder gerade wegen der nicht wenigen Versuche der dreissiger Jahre, das öffentliche Bewusstsein noch einmal an die überlieferten Figuren nationaler Identität zurückzubinden: Albert Speer und seine zum Glück dann doch nicht realisierten Kolossalbauten für «Germania», alias Berlin, oder Mussolinis Terza Roma sind lediglich die eklatantesten Beispiele.

Jede offizielle «Gedächtniskultur» hat seither das Problem, Analogien mit solchen Unternehmungen à tout prix vermeiden zu müssen. Das gilt auch für die Schweiz. Was ist ihre vielbeschworene «Identitätskrise», wenn nicht das Abbild ihrer Unfähigkeit, nationale Identität überhaupt heute noch vorzustellen jenseits der patriotischen Klischees einerseits und der politischen Selbstzerknirschung andererseits! Mit der fast unverfroren evozierten Sakralität und Monumentalität seines Zelts hat Botta den Versuch unternommen, an eine lange Zeit für definitiv unterbrochen gehaltene Tradition anzuknüpfen. Dass die Aura des Orts, der als Rahmen für die erste Aufstellung diente, den feierlichen und offiziellen Charakter der nationalen Feierstunde vom 1. August 1991 noch untermauerte - buchstäblich! -, ist eine Sache für sich. In den 1980iger Jahren eben erst einer umfassenden Restaurierung und Renovation unterzogen, ist das Castelgrande in Bellinzona als ehemaliger Sitz der Visconti-Fürsten und später der Vögte aus der Innerschweiz ein Baukomplex von höchster historischer und auch beträchtlicher architektonischer Brisanz.


Die «Berufung zum Sakralen»

Nicht zufällig hielt Werner Oechslin unlängst dem Trend der heutigen Architektur, sich mit der Erledigung alltäglicher Probleme zufriedenzugeben, Bottas «Berufung zum Sakralen und Monumentalen» entgegen («La vocazione di Mario Botta per il sacro e il monumentale», 1997). In der Tat: diese Radikalität im Zeichensetzen, diese Entschlossenheit zum Lapidaren, diese hochgemut inszenierten Synthesen von zisterziensischer Armut und boulléescher Absolutheit . . . Das Vertrauen ins vermeintlich noch intakte oder doch wenigstens als Ideal rückbaubare Kulturganze! Welch eine Bildersprache der «Solidität» (= firmitas), der «Dauer», der «zukunftsgerichteten Archaik» - in dieser Epoche der ins Wanken geratenen oder sich multikulturell und multimedial verflüchtigenden Werte!

Unerbittlich führt die Erfolgsgeschichte Botta der Spur einer konservativen Kulturkritik entlang; wie anders wäre denn auch ihre ungeheure Breitenwirkung in unserem «Fin de siècle» zu erklären, gerade auch in der Schweiz? Die Tatsache, dass Bottas Name seit dem Bau des Basler Jean- Tinguely-Museums inzwischen unauslöschlich mit demjenigen des abgesprungenen Uhrmachers unter den Schweizer Kunstfürsten der Nachkriegszeit gekoppelt ist, stellt nur scheinbar einen Widerspruch dar. In Wirklichkeit gibt sie dem Phänomen zusätzliches Relief. Botta und Tinguely: der Rückgriff auf die euklidischen Gewissheiten einer modernen Archaik und die Grenzaufhebung zwischen Kunst, Hokuspokus, Mystik und Klamauk - das sind innerhalb der Schweizer Kunst der letzten Jahrzehnte die komplementären Aspekte einer wenn auch nicht als solche deklarierten katholischen Kulturoffensive . . .

Bottas Bauten sind Bekenntnisse, gebaute Predigten, und sie sind andererseits nicht immer gleichermassen geglückte Häuser, Plätze, Versammlungs- und Arbeitsstätten. Gerade deshalb gehören die beiden grossen Provisorien in seinem bisherigen Werk, das «Botta-Zelt» und «San Carlino», zu den Höhepunkten - ein bedenkenswertes Paradox im Rahmen eines so emphatisch auf «Dauer» eingeschworenen Architekturglaubens! Ausserdem (und hier liegt das Maliziöse seiner Aktualität) ist der «Borromini sul Lago» natürlich auch ein Vorgriff auf alle Arteplages, die die Zukunft noch bringen mag (oder auch nicht). Oder soll man sich damit begnügen, von einem geglückten Bühnenbild zu sprechen: Velas Tell vor dem Hintergrund des halbierten, abends im Trompetengold glänzenden «San Carlino» aus Holz: ein Stück inszenierter Eidgenossenschaft, frei nach Rossini! - Höchste Zeit, die Nörglerpfeile in den Köcher zu stecken. Wer hier nicht staunt und Beifall spendet, dem ist wohl auch mit dem «echten» San Carlino nicht zu helfen.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 1999.11.06

Profil

Kunsthistoriker, Verfasser von Büchern u.a. über Le Corbusier, italienische Architektur der Renaissance, die Architektur von Venturi, Scott Brown & Associates sowie zur Designgeschichte der Schweiz. Unterrichtet als Professor für moderne Kunst an der Universität Zürich.

Publikationen

SvM, Karin Gimmi, Christof Kübler, Bruno Maurer, Robin Rehm, Klaus Spechtenhauser, Martino Stierli, Stefanie Wenzler, gta Verlag

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