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16. September 2008Andrea Deplazes
zuschnitt

Struktur und Form – zur Platten-Tektonik im Holzmassivbau

In den letzten Jahren sind Entwicklungen von Systemen und Halbfabrikaten in Gang gekommen, die alles ausser Kraft setzen, was bisher an tektonischen Grundlagen...

In den letzten Jahren sind Entwicklungen von Systemen und Halbfabrikaten in Gang gekommen, die alles ausser Kraft setzen, was bisher an tektonischen Grundlagen...

In den letzten Jahren sind Entwicklungen von Systemen und Halbfabrikaten in Gang gekommen, die alles ausser Kraft setzen, was bisher an tektonischen Grundlagen des Holzbaus Praxis und Lehre war. Tatsächlich wirkt der »klassische Holzrahmenbau der Neunzigerjahre«, der den Aufbruch in das »freie«, nicht modulare Feld des präfabrizierten Holzbaus mustergültig vordemonstrierte, heute bereits anachronistisch.

Es ist wohl kein Zufall, dass sich die neuesten Holzbauweisen in Zentraleuropa und Skandinavien herausgebildet haben, in Ländern also, die auf die wirtschaftliche Förderung der Ressource Holz setzen müssen. Um die Stagnation des traditionellen Holzbaus überwinden zu können, sind sie auf Innovationen angewiesen, die geeignet sind, Marktanteile aus dem Bereich des Massivbaus zu erkämpfen.

Formungsdefizit neuer Technologien

Das steigende Interesse an neuen Holzbautechnologien lässt nun die These zu, dass wohl zum ersten Mal in der Architekturgeschichte tendenziell eine Entwicklung vom Massivbau zum Holzbau stattfindet. Nehmen wir als Beispiel die »Stoffwechseltheorie« von Semper, die sich weniger mit der Bautechnik selbst als mit ihren Auswirkungen auf den architektonischen Formenausdruck im Moment des Wechsels von der Tektonik zur Stereotomie befasst, eine Art Übertragung des Holzbaus auf den Massivbau, oder die ersten Stahlbetonstrukturen von Hennebique, die noch ganz dem tektonischen Gefüge von Holzbauten verpflichtet sind: Erst nach einer gewissen Gewöhnungszeit sind danach durch Robert Maillart die immanenten Prinzipien von Stahlbetonstrukturen entwickelt worden. Damit findet eine Inversion der »Kunstform« in die »Kernform« (Carl Bötticher) statt, was den Schluss zulässt, dass sich die systemimmanenten Formungskriterien neuer Technologien erst durch Überwindung kulturpermanenter Bilder herausbilden.

Suche nach einer adäquaten Struktur und Form

Wenn der klassische Rahmenbau also eine Zwischenform in der Entwicklung darstellt, wie sieht dann die der aktuellen Holzbautechnologie immanente und adäquate Struktur und Form aus?

Um dem nachzugehen, müssen wir uns erst den Weg der Holzverarbeitung vor Augen führen, die durch eine absteigende Abfolge gekennzeichnet ist. Jeder Stufe der Zerkleinerung entspricht eine gegenläufige des Zusammensetzens, des Neuformierens, zur Hauptsache in Form von Platten und Scheiben. Und jedes Mal ist die Verleimung die konstituierende und konsistierende Technologie. Hier liegt der Grund, weshalb sich in der nachfolgenden Bearbeitung der Halbfabrikate eine erstaunliche Geschmeidigkeit des Materials abzeichnet, das sich beinahe widerstandslos jedem formenden Zugriff – dem CNC-gesteuerten Fräsenkopf, der Roboting-Bearbeitung – ergibt. Der Begriff modellieren trifft hier durchaus zu, denn es werden nicht nur komplexe Schnittmuster, sondern auch plastische Formungen ausgeführt, die über ihre Oberflächenabwicklung rechnerisch definiert und bearbeitet werden können.

Rückwirkung der CAD-Programmierung auf den Entwurf

Die Projektierung mit CAD-Programmen ist heute Standard. Daran schliesst sich die Datenlinie nahtlos an, sodass sich die Art und Weise der Planbearbeitung am Bildschirm unabhängig von der klassischen Bautechnik, z. B. des Holzbaus, rückkoppelnd auf die Tektonik des Bauwerks auswirken muss. Es werden nichtmodulare, objektspezifische Bauteile erzeugt. Oder anders gesagt: Das konkrete architektonische Projekt wird in handhabbare Elemente zerlegt, über die Datenlinie in Produktion geschickt und auf der Baustelle wieder zum Bauwerk zusammengefügt. Diese Art der Platten-Tektonik und des baulichen Gefüges von Geschoss-Schichtung oder Element-Stapelung ist im Massivbau längst Alltag, im Holzbau provoziert sie neue Konstruktions- und Bauverfahren.

Kartonmodell in der Dimension eines Bauwerkes

Das neue »Grundelement« ist nun konsequenterweise die Platte, nicht mehr der Stab. Sie besteht aus drei und mehr Lagen kreuzweise verleimter Schichten von Schnittholz. Dieses »Überkreuz-Verweben« verleiht ihr hohe Festigkeit und Steifigkeit und damit statische Scheibenwirkung. Sie ist richtungsneutral oder besser »richtungsindifferent« und kann theoretisch in beliebiger Dimension endlos produziert werden. Diese Voraussetzungen wirken sich im aktuellen Holzbau aus: Platten-Tektonik und dünnwandige Scheiben verhalten sich im Massstab 1:1 wie Kartonage, als ob ein Kartonmodell in die Dimension eines Bauwerks transponiert worden wäre. Das betrifft nicht nur die physische Wahrnehmung. Offensichtlicher wird dies beim Umgang mit Öffnungen: Scheinbar beliebig in die Scheiben gestanzt oder aus ihnen herausgeschnitten, wie mit dem Cutter aus dem Karton, wird die unglaubliche Resistenz der Platten-Tektonik am Bauwerk sichtbar.

Weg vom hölzernen Vorbild

Wenn man die Platten-Tektonik und die Technik der Fassadenhaut ohne Hinterlüftung weiterverfolgt, entdeckt man unweigerlich, dass sich der aktuelle Holzbau in zweierlei Hinsicht von seinem »hölzernen Vorbild« löst: Zum einen sind heute zahlreiche holzfremde Fassadenbeplankungen verfügbar. Der Holzbau verbirgt sich also hinter anderen Materialien, deren Vorzüge grosse Flächen mit wenigen Fugen und dünne Materialstärken sind.

Die zweite Tendenz ist noch interessanter: Die Platten-Tektonik des aktuellen Holzbaus wird ausschliesslich strukturell gelesen werden, und nicht mehr materiell. Was im Vorfeld als Kartonage bezeichnet wurde, das wird sich architektonisch in der Abstraktion äussern. Holzplatten werden als »Kunststoff« eine ähnliche Position einnehmen wie der homogene Beton im Massivbau, der strukturell alle tektonischen Elemente eines Bauwerks besetzen kann, ohne jemals materiell zum Ausdruck zu gelangen.

[ Dieser Beitrag ist die gekürzte und überarbeitete Fassung des Textes »Indifferent, synthetisch, abstrakt – Kunststoff. Präfabrikationstechnologie im Holzbau: aktuelle Situation und Prognose«, erschienen in »werk, bauen + wohnen« 1|2 2001 ]

zuschnitt, Di., 2008.09.16



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Bauwerke

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12. Juni 2009Judit Solt
TEC21

«Nachhaltigkeit ist keine gesonderte Disziplin»

Fünf Jahre nach der Bologna-Reform plädiert der SIA für eine Stärkung des dualen Bildungssystems in den Bereichen Architektur und Ingenieurwesen. Andrea Deplazes, Präsident der Bildungskommission des SIA und Professor für Architektur und Konstruktion an der ETH Zürich, erläutert die Gründe für dieses Engagement – und warum gerade das duale Bildungssystem besonders geeignet wäre, qualifi zierte Fachleute hervorzubringen, die einen Beitrag zur nachhaltigen Gestaltung des Lebensraums leisten können.

Fünf Jahre nach der Bologna-Reform plädiert der SIA für eine Stärkung des dualen Bildungssystems in den Bereichen Architektur und Ingenieurwesen. Andrea Deplazes, Präsident der Bildungskommission des SIA und Professor für Architektur und Konstruktion an der ETH Zürich, erläutert die Gründe für dieses Engagement – und warum gerade das duale Bildungssystem besonders geeignet wäre, qualifi zierte Fachleute hervorzubringen, die einen Beitrag zur nachhaltigen Gestaltung des Lebensraums leisten können.

Judit Solt: Im April dieses Jahres hat der SIA das Positionspapier «Bildung für eine nachhaltige Gestaltung des Lebensraums» mit fünf Forderungen zur Bildung in Architektur und Ingenieurwissenschaften veröffentlicht (vgl. Kasten S. 19). Was soll damit erreicht werden?

Andrea Deplazes: Wir wollen eine Debatte darüber auslösen, was die Ausbildung in diesen Berufsgruppen leisten soll, sei es auf universitärer oder Fachhochschulstufe. In der Bildungskommission des SIA, die die Sicht der Berufspraxis einnimmt, sind deshalb mit den Berufsgruppen Architektur und Ingenieurwesen auch die Hoch- und Fachhochschulen vertreten. Wir haben festgestellt, dass noch viele Fragen offen sind. Beispielsweise gibt es unter den Ingenieuren noch grundsätzliche Differenzen in Bezug auf die Berufsbefähigung nach der Ausbildung. Während sich die Architektinnen und Architekten einig sind, dass eine ernsthafte Ausbildung im Rahmen eines Bachelor-Programms allein nicht zu leisten ist, gibt es beiden Ingenieurinnen und Ingenieuren unterschiedliche Positionen. Einige sind der Meinung, eine dreijährige Ausbildung sei geeignet, um qualifizierten Nachwuchs zu formen, denn Berufseinsteiger würden in den Büros ohnehin weiter ausgebildet; andere finden, dass eine gute Ausbildung über das Technische hinaus- und ins Konzeptionelle hineingehen müsse und daher länger dauern würde. Hier muss jede Disziplin eine Haltung finden. Dass eine Ausbildung in drei oder fünf Jahren alles vermitteln kann, ist ohnehin eine Illusion; wir lernen ein Leben lang weiter, nur schon deshalb, weil die Zeit nicht stillsteht und Dinge sich laufend ändern. Wichtig ist die Entscheidung, welches Wissen am Ende einer Ausbildung im Minimum vorhanden sein muss, damit die Berufsbefähigung gegeben ist. Ein ebenso zentrales Thema ist dann folgerichtig der Ausbau eines attraktiven Weiterbildungsangebots: Fachleute aus der Praxis sollen auch nach dem Master die Möglichkeit haben, sich neues Wissen anzueignen. Das wäre eine attraktive, vielleicht sogar lukrative Aufgabe für die Schulen.

Judit Solt: Fünf Jahre nach der Einführung der Bologna-Reform herrscht eine gewisse Ernüchterung: Die ursprüngliche Hauptaufgabe der Fachhochschulen, Baufachleute mit Kernkompetenz in der Ausführung zu formen, wurde zugunsten einer theoretischeren Ausbildung relativiert. Nun werden Stimmen laut, die eine Angleichung der Fachhochschulen an die Universitäten hinterfragen. Das Positionspapier bringt diese Bedenken auf den Punkt: Es spricht sich unmissverständlich für das duale Bildungssystem aus und fordert eine komplementäre Differenzierung zwischen den Bildungsgängen.

Andrea Deplazes: Vor der Bologna-Reform gab es keinen dringenden Anlass, das duale Bildungssystem infrage zu stellen. Beide Bildungswege – der universitäre und jener über Handwerk, Lehre und die damaligen HTL – haben sehr gut funktioniert und sich perfekt ergänzt. Entsprechend hatten die Universitäten und die HTL klare Profile: Überspitzt formuliert bildeten die einen Theoretiker, Forscher oder Entwerfende aus, die anderen Praktiker. Diese Rollenteilung wurde in der öffentlichen Wahrnehmung teilweise auf ein holzschnitt-artiges Modell mit fragwürdigen Klischees reduziert. Doch im Grundsatz war sie sinnvoll.
Heutzutage kommt es ja kaum noch vor, dass eine einzige Person für alle Projektphasen – Konzeption, Ausführungs planung, Ausführung – allein zuständig ist; umso wichtiger ist daher, dass innerhalb des gleichen Berufes unterschiedliche, sich ergänzende Ausbildungsschwerpunkte kompetent vertreten sind.
Ich bin überzeugt, dass die hohe Qualität der Schweizer Baukultur unter anderem dem dualen Bildungssystem zu verdanken ist. Es ist ein Grund dafür, dass Schweizer Architekten und Ingenieure nicht nur als Ideenlieferanten in Thinktanks sitzen, wie das zum Beispiel in den USA der Fall ist, wo die Fachleute ihre Kernkompetenz längst eingebüsst haben. Dass sie die Übersetzung ihrer Projekte bis in die Realisierung und sogar darüber hinaus verfolgen können und wollen, sichert die Kohärenz, die Kontinuität und ebendiese Qualität langfristig. Mit Kernkompetenz meine ich die unauflösliche Wechselbeziehung von Entwurf, Konstruktion und Integration von Fachdisziplinen (E+K+I). In allen diesen Kernbereichen sind aber auch Schwächen in den aktuellen Ausbildungs gängen festzustellen, und das betrifft nicht nur die Fachhochschulen, sondern durchaus und im gleichen Mass auch die Universitäten.

Judit Solt: Hat die Bologna-Reform die Fachhochschulen besonders stark getroffen?

Andrea Deplazes: Leider sind die Fachhochschulen durch Bologna noch zusätzlich unter Druck geraten. Denn Bologna ist ein EU-Programm im universitären Bereich, das kein duales Bildungssystem kennt. In der Schweiz ging diese Tatsache im Eifer der Bologna-Etablierung offenbar unter. Seither stehen die Fachhochschulen unter latentem Druck, sich tendenziell in Richtung von Hochschulen entwickeln zu müssen. Die Akademisierung der Fachhochschulen hat diese jedoch nicht aufgewertet, sondern lediglich ihr Profil geschwächt. Nun müssen wir, aus Sicht der Berufspraxis, ernsthaft über die Stärkung der Fachhochschulen nachdenken. Es gibt jedoch Interessenkonflikte: Die gegenwärtige Entwicklung der Fachhochschulen hängt stark von ihrer Förderung durch die einzelnen Kantone ab, und deren bildungspolitische Ziele stimmen nicht ohne Weiteres mit den Schwerpunktsetzungen der Berufsverbände überein. Drängende Fragen – etwa in Bezug auf die Qualitätssicherung, die Förderung von Studiengängen nach Massgabe von praxisorientierten Inhalten oder das Angebot von Masterstudiengängen – sind weiterhin ungelöst. Selbstverständlich betrifft das nicht alle Fachhochschulen in gleichem Mass. Tendenziell konnten sich die Fachhochschulen finanzstarker Kantone besser mit der neuen Situation arrangieren.

Judit Solt: War diese Verunklärung des dualen Bildungssystems eine zwingende Folge der Bologna- Reform, oder hätte sie vermieden werden können?

Andrea Deplazes: Selbstverständlich hätte sie vermieden werden können. Dafür hätte man allerdings vorher überlegen müssen, was die eigentlichen Ziele unseres dualen Bildungssystems sind. Dieser Aufgabe widmet sich im Nachhinein nun der sogenannte Architekturrat, der auf Initiative der Schulen gegründet wurde und sich aus Vertretern der Hochschulen, der Fachhochschulen und des SIA (vgl. TEC21 3-4/2009) zusammensetzt. Ein entsprechender Rat im Ingenieurbereich wäre möglicherweise ebenso wünschenswert. Der Architekturrat versucht, gemeinsam zu einer Klärung der Ausbildungsschwerpunkte zu gelangen. Diese gilt es so zu legen, dass sich die Kompetenzbereiche der verschiedenen Ausbildungsgänge ergänzen: Sofern nämlich eine hinreichende Schnittmenge gegeben ist, können Fachleute miteinander kommunizieren und ihre spezifischen Fähigkeiten koordiniert ins Spiel bringen. Gerade bei der zentralen Frage nach dem Stellenwert von Generalisten- und Spezialistentum vertreten Ingenieure und Architekten divergierende Auffassungen. Im Ingenieurwesen können Gebiete wie Geomatik, Tief- und Hochbau in gewissen Fällen so klar getrennt werden, dass sie nur noch in den physikalisch-mechanischen Grundlagen Gemeinsamkeiten aufweisen und tatsächlich unterschiedliche Disziplinen darstellen. Im Gegensatz dazu sind sich Architektinnen und Architekten tendenziell einig, dass die Architekturausbildung immer den ganzen Bau als komplexes Gesamtsystem berücksichtigen muss – vergleichbar mit dem Medizinstudium, das sich anfangs auf den ganzen Menschen konzentriert und erstspäter eine Spezialisierung zulässt. – Es wäre schon ein grossartiger Fortschritt, wenn wir uns im Grundsatz auf dieses komplementäre, duale Bildungsmodell einigen könnten!

Judit Solt: Sollen die Fachhochschulen demnach Fachleute ausbilden, die auf die Ausführung spezialisiert sind?

Andrea Deplazes: Ja und nein: Es kommt darauf an, was wir unter Spezialisierung verstehen. Sind Spezialisten Leute, denen jegliches Grundlagenwissen fehlt und die nur von einem eng abgesteckten Gebiet etwas verstehen? Oder sind es Generalisten, die ihre Kompetenz fachspezifisch vertieft haben? Sprechen wir von einer Atomisierung des Wissens oder von der Setzung gezielter Schwerpunkte? Meiner Meinung nach sollten die Ausbildungsgänge – der konzeptbetonte der Universitäten und der ausführungsbetonte der Fachhochschulen – zusammen ein Gesamtes ergeben. Im Zentrum steht darum bei beiden nach wie vor die Stärkung der Kernkompetenz (E+K+I), nur mit jeweils unterschiedlichen, gegenseitig ausbalancierten Schwerpunkten. Dabei müssen die Schwerpunkte so gelegt werden, dass es eine hinreichend grosse Überlappung gibt. Die aktuelle Umsetzung der Bologna-Reform gefährdet jedoch den Aufbau dieses komplexen, verknüpften Wissens, weil sie tendenziell die Zergliederung der Studiengänge in unabhängige Leistungsmodule fördert. Doch Inhalte, die entkoppelt sind und die man nicht mehr zueinander in Bezug setzen kann, sind wertlos.

Judit Solt: Zeichnen sich in der Praxis bereits erste Folgen dieser Schwächung des dualen Bildungssystems ab?

Andrea Deplazes: Katastrophale Folgen zeigen sich schon jetzt am Beispiel Bauleitung. Frühere HTL-Absolventinnen und -Absolventen hatten ein breites Grundwissen darüber, wie man ein Projekt in Baureife überführt und realisiert; dank diesen umfassenden Kenntnissen waren sie geradezu dafür prädestiniert, sich auf den äusserst anspruchsvollen Beruf des Bauleiters, der Bauleiterin zu spezialisieren. Mit der Akademisierung haben viele Fachhochschulen diese Kompetenz abgegeben, und es stellt sich die Frage, wo zukünftige Bauleiterinnen und Bauleiter ausgebildet werden sollen.
Die höhere Berufsbildung hat das Vakuum erkannt und bietet entsprechende Lehrgänge an. Doch kann man diesen verantwortungsvollen Beruf erlernen, indem man eine Lehre absolviert und anschliessend eine Bauleiterschule besucht? Eine Schnellbleiche in Kostenund Zeitmanagement nützt doch nichts, solange das Verständnis für die konzeptionellen Grundlagen fehlt. Wenn man den inneren Zusammenhang eines Projekts, seine Abhängigkeiten, Hierarchien und Prozessfolgen nicht kennt, kann man es nicht erfolgreich abwickeln, jedenfalls nicht im Sinne einer nachhaltigen Gestaltung unserer Umwelt. Man scheint schlicht vergessen zu haben, dass die Realisierung eines Bauprojekts – die gemäss SIA 102 beziehungsweise SIA 103 einen beträchtlichen Anteil des Auftragsvolumens ausmacht – eine ebenso wertvolle Leistung darstellt wie die vorangehenden konzeptionellen Phasen. Die Verknüpfung von konzeptionellen, organisatorischen, strukturellen und materiellen Zusammenhängen ist äusserst anspruchsvoll. Die Vermittlung der bauleiterischen Kompetenz muss daher zwingend wieder zurück auf die Stufe der Fachhochschulen angehoben werden.

Judit Solt: Inwiefern hat das alles mit der nachhaltigen Gestaltung des Lebensraums zu tun?

Andrea Deplazes: Nachhaltiges Bauen ist keine Disziplin, die man gesondert erlernen kann. Man muss die Interaktion verschiedener Einflüsse verstehen und steuern können. Einzelne Parameter separat zu betrachten, genügt nicht – Zusammenhänge sind eben nur dann sinnvoll, wenn sie wirklich zusammenhängen. Es braucht also Fachleute, die über ein breit abgestütztes Wissen verfügen und die Fähigkeit mitbringen, sich mit einem komplexen Beziehungsgeflecht auseinanderzusetzen. Erst dann kann man definieren, in welchem Sinn ein Gebäude nachhaltig sein soll: Oft müssen widersprüchliche Zielsetzungen – etwa energetische versus kulturelle Nachhaltigkeit – gegeneinander abgewogen werden. Ob etwas nachhaltig ist oder nicht, muss daher unter vielen Gesichtspunkten verhandelt werden. Leider wird derBegriff Nachhaltigkeit heute fast nur noch inflationär, ideologisch oder propagandistisch, eingesetzt. Das behindert oft die klare Formulierung der Zielsetzungen und der Wege, diese zu erreichen.

Judit Solt: Mit der Definition von Standards und Labels wird diese Komplexität auf handhabbare Grössen reduziert. Das hat Vorteile, wirft aber auch Fragen auf. Zum einen sind Labels teilweise an wirtschaftliche Interessen von Herstellerfirmen gebunden und erfordern eine technische Aufrüstung von Bauten, die nicht in jedem Fall erforderlich gewesen wäre. Zum anderen sind Standards naturgemäss starr und auf wenige Aspekte beschränkt; damit werden innovative Lösungen, die zwar nachhaltig sind, die Bedingungen für eine Zertifizierung aber nicht erfüllen, von vornherein ausgeschlossen. Beides lässt die politische Förderung solcher Festlegungen fragwürdig erscheinen.

Andrea Deplazes: Standards und Normen sind politische Lenkungsinstrumente und als solche gute Mittel, um Anliegen in der Praxis breit durchzusetzen. Entscheidend ist aber auch hier, dass man sich zuerst über das Anliegen Klarheit verschafft und sich erst dann mit den Mitteln beschäftigt. Festzulegen ist das Ziel – ob man auch die Wege dahin festlegen muss, bezweifle ich sehr. Wenn die Erfüllung von Standards die einzige Möglichkeit ist, ein Gebäude bewilligungs fähig und nachhaltig fit zu machen, ist der Fortschritt zu Ende: Standards legen Grenzen und Leitplanken fest, Forschung aber heisst, Grenzen zu verschieben und Leitplanken auseinanderzuwuchten. Universitäten und Fachhochschulen betreiben zum Beispiel wertvolle Forschung zum Thema Energieeffizienz, die man nicht einfach in Standards verpacken kann.

Judit Solt: In welche Richtung tendiert die entsprechende Forschung an der ETH?

Andrea Deplazes: Im Bereich Energieeffizienz beispielsweise wird mit einem Simulationsprogramm gearbeitet, das von Anfang an im Entwurf einsetzbar ist und sehr schnell Auskunft über die Implikationen einer Änderung geben kann – etwa über die energetischen Konsequenzen einer Variation des Fassadenöffnungsgrads oder eines veränderten Fassadenaufbaus. Dieses Tool liefert ad hoc Informationen, die früher wochenlang berechnet werden mussten, und verleiht der Zeichnung eine neue Wertigkeit. Dabei ist es nicht ideologisch besetzt: Es schreibt also nicht vor, man dürfe die Dämmung nicht weglassen, sondern sagt nur, welche bauphysikalischen und energetischen Folgen das hätte. Die Wertung liegt beim Entwerfenden; er oder sie legt fest, welche Eigenschaften des Gebäudes verändert werden sollen, damit es die erwünschte Energiebilanz aufweist. Im Gegensatz zu Standards, die jeden Parameter festlegen, kann hier gezielt und projektspezifisch operiert werden. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass eine historische Backsteinmauer bei einer Sanierung nicht unbedingt gedämmt werden muss, wenn die gewünschte Gesamtwirkung auch anders erreicht werden kann. Mit solchen Instrumenten arbeiten die Studierenden heute gern und ganz selbstverständlich; ich bin zuversichtlich, dass sie sich sehr bald schon in der Praxis etablieren werden.
Standards sollen dem aktuellen Forschungsstand folgen, nicht umgekehrt. Wir dürfen nicht vergessen, dass auch Forschung in einem Wettbewerbsumfeld geschieht. Es ist lebenswichtig, dass gute Ideen und neue Verfahren möglichst ungehindert ihren Weg in die Praxis finden. Und ebenso zentral ist, dass sich auch in der Forschung die Rollen der unterschiedlichen Schulen stärker ausprägen: Die Universitäten näher bei der Grundlagen-, die Fachhochschulen eher bei der angewandten Forschung. Einmal mehr: Wir müssen das duale Bildungssystem, das wir jahrzehntelang erfolgreich gepflegt haben, innerhalb des Bologna-Gerüstes wieder neu aufbauen. Es zu vernachlässigen, war ein fundamentaler Fehler.


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„Gefahr der Vermischung“

Das duale Bildungssystem hat bisher in der Praxis funktioniert. Welche Auswirkungen die Bologna-Reform auf die Ausbildung der Architekten hat und was dies für die Zukunft für die Berufsbefähigung und Registrierung bedeutet, erläutern der Vorsteher des Departements für Architektur an der ETH, Andrea Deplazes, und Sacha Menz, Vorsitzender der Unterrichtskommission D-ARCH. Die Unterschiede zwischen der universitären Lehre und derjenigen der Fachhochschule sollen dabei bestehen bleiben.

Das duale Bildungssystem hat bisher in der Praxis funktioniert. Welche Auswirkungen die Bologna-Reform auf die Ausbildung der Architekten hat und was dies für die Zukunft für die Berufsbefähigung und Registrierung bedeutet, erläutern der Vorsteher des Departements für Architektur an der ETH, Andrea Deplazes, und Sacha Menz, Vorsitzender der Unterrichtskommission D-ARCH. Die Unterschiede zwischen der universitären Lehre und derjenigen der Fachhochschule sollen dabei bestehen bleiben.

Wie haben Sie die Bologna-Reform umgesetzt?

Deplazes: Wir haben das Verdikt der Bologna-Reform dazu genutzt, eine Studienreform durchzuführen. Das hat dazu geführt, dass wir auf ein ‹1+2+2›-Modell umgestellt haben. Das ursprüngliche Studium von vier Jahren, das jetzt insgesamt fünf Jahre dauert, wurde also auf drei Jahre Grundlagenausbildung (Bachelor) komprimiert und mit zwei Jahren Master-Studium (inkl. Thesis-Semester) ergänzt. Das erste Jahr mit dem Grundkurs und die folgenden beiden Jahre Aufbaukurs enthalten alle obligatorischen Fächer und Vorlesungen, obwohl wir überzeugt sind, dass eine vollständige Ausbildung zum Architekten grundsätzlich fünf Jahre dauert. In den ersten drei Jahren müssen die Studenten zusätzlich ein halbes Jahr Praktikum absolvieren. Der Master beinhaltet ein weiteres halbes Jahr Praktikum, ist im Unterschied zum Bachelor aber sehr frei gehalten und mit wenigen obligatorischen Fächern belastet, denn die Idee ist, dass man sich sein Curriculum selbst zusammenstellen kann. Am Schluss bieten wir dann aber einen einheitlichen Master of Architecture and Urban Design an, denn egal, ob sich jemand mehr auf Theorie, Städteplanung oder Technologie stützt, für alle ist der Entwurf obligatorisches und durchgängiges Programm. Die Architekturausbildung ist und bleibt auf das holistische Verständnis der Architektur vom einzelnen Projekt bis zum Städtebau und die Fähigkeit zu konzeptionellem und integrativem Denken und Handeln ausgerichtet.

Was kann der Architekt ETH Bachelor nach seinem Abschluss machen?

Menz: Wir begreifen den Bachelor/Master als ganzheitliches System. Die Basis des Bachelors ist ein interdisziplinäres Arbeiten, was gleichzeitig auch die Stärke der ETH ist, denn wir können ein breites Spektrum an Disziplinen anbieten. Dies ist der wesentliche Unterschied zwischen der universitären Ausbildung und derjenigen der Fachhochschulen. Der zweite Unterschied ist derjenige der Forschung: Es gibt zum einen Grundlagenforschung, wie sie zum Beispiel das ETH-Studio Basel betreibt, und die spezialisierte angewandte Forschung, also zum Beispiel Entwicklung neuer technischer Systeme, die an den Fachhochschulen allerdings auch bearbeitet werden.

Sind bei der Interdisziplinarität die Bauingenieure mitgemeint?

Menz: Das kann man leicht beantworten, auch wenn das alles noch nicht in Stein gemeisselt ist, denn die Qualität einer Schule ist ja auch, dass sie sich wandeln und den veränderten Bedingungen anpassen kann. Momentan ist es so, dass wir Bautechnologie und Bautechnik sowie Konstruktion nahe am Entwurf verankert haben.

Deplazes: Ganz konkret haben wir zwei Tragwerksprofessuren am Institut für Hochbautechnik, wir arbeiten zudem mit dem Institut für Baustoffkunde und Baukonstruktion zusammen, das am Departement der Bauingenieure platziert ist, und über die Bauphysikprofessur haben wir auch die entsprechenden Bereiche an der Empa inne. Das Departement für Architektur
ist eine vielgliedrige Angelegenheit, keine Monokultur. Man kann darum nicht von Spezialistentum sprechen, sondern von der hinreichenden Vollständigkeit...

Was ist der Unterschied zur Accademia di Architettura Mendrisio oder der EPFL?

Deplazes: Warum es drei verschiedene Schulen sind, hat politische und geografische Gründe. Warum wir das tun, was wir tun, hängt damit zusammen, dass unsere Hochschulausrichtung über lange Zeit geprägt und gefestigt wurde. Im Unterschied zu den amerikanischen Hochschulen ist der Architekt noch ein Architekt in der Praxis. In den USA ist er nur noch in der Innenarchitektur tätig. Dort richtet sich das Interesse an den Universitäten folglich dann eher auf die Theorie oder zum Beispiel Computing. Vor diesem Hintergrund sind wir natürlich bestrebt, unsere Position auch international weiter auszubauen. Mit Lausanne verbindet uns die Schwester ETH. Die Architekturabteilung der EPFL, das ENAC, ist in sich jedoch ganz anders gegliedert als das Departement für Architektur. Wir haben eine Kollaboration mit den Ingenieuren, sind aber keine so genannte ‹School›. Beim ENAC, der Abteilung für Architektur, Ingenieur- und Umweltwissenschaften der EPFL, liegen die Gewichtungen anders, dort ist der Ingenieurbereich breiter. Unser Departement, das bis vor kurzem das grösste an der ETHZ war, hat jetzt
rund 1430 Studierende. Das sind fast so viele wie in Lausanne, Mendrisio und allen Architektur-FH zusammengenommen.

Ist denn der Bachelor überall gleich, das heisst ein Übertritt in den Master einer anderen Uni unproblematisch?

Menz: Nein, jede universitäre Schule macht das auf ihre Art und Weise. Dies ist ein grosser Vorteil der Schweiz, denn auf sehr kleinem Raum haben wir drei kulturell unterschiedliche Hochschulen und damit ein anderes Denken. Die Konvention zwischen den Hochschulen ist, dass man zwischen ihnen wechseln kann, man akzeptiert gegenseitig seine Leistungen.

Deplazes: Es ist aber etwas anderes, wenn die Bachelor- Studenten aus dem internationalen Bereich kommen, da ist es entscheidend, welche Akkreditierung die Partnerschule hat. Es wird sicher so sein, dass es, wie teilweise schon bestehend, eine Art ‹idea league› geben wird, in der durch den Austausch und die Erfahrung der Übertritt einfacher sein wird. Schwieriger wird es bei Universitäten, die weniger Profil entwickelt haben und nicht bekannt sind. Da stellt sich dann die Frage, ob die Gleichwertigkeit vorhanden ist. Wenn nicht, werden wir Ergänzungen verlangen. Wir werden dies jedoch im Bachelor verlangen, damit nicht der Master-Kurs blockiert wird, nur weil noch Kurse nachträglich absolviert werden müssen. Das ist eine Sache des Einspielens, denn wir können jetzt viel theoretisieren, aber die ersten Master-Abgänger werden wir erst in drei Jahren haben, wir sind jetzt nämlich im zweiten Jahr Bachelor.
Mit den ETCS-Punkten hat man zwar ein gemeinsames Bewertungssystem, doch es ist wie bei der Währung, zum Beispiel dem Euro, bei der es darum geht, welche Kaufkraft in welchem EU-Staat man damit hat. Das ist ein politisches Problem, denn die Politiker haben dieses Problem so weit gar nicht zu Ende gedacht, das muss jetzt geschehen, und da müssen die Schulen mitreden. Deswegen ist es wichtig, welche Akkreditierungsstellen es gibt. In Deutschland ist zum Beispiel eine offizielle Akkreditierungsstelle benannt worden. Die Frage stellt sich sofort: Inwiefern hat diese zentrale Stelle die Kompetenz zur Beurteilung der Studienqualität im In- und Ausland?

Menz: Der Bachelor ist ein schulischer Abschluss, nicht ein Berufstitel. Wenn man die Schule vorzeitig verlässt, hat man wenigstens einen Schulabschluss. Der MasterAbschluss ist jedoch eine Akkreditierung auf schulischer Ebene. Diejenigen, die den Master-Abschluss haben, müssen beim Eintritt in die Berufslaufbahn unterstützt werden, indem sie sich im Register eintragen lassen können. Heute haben unsere Abgänger, die im Ausland arbeiten wollen, einige Schwierigkeiten zu überwinden. Das REG, Register für Architekten und Ingnieure, soll die Triagenfunktion übernehmen, um die Qualifizierung von Master-Abschlüssen im EU-Raum zu regeln.

Sie sprechen von Grundlagenforschung und anwendungsorientierter Forschung. Letztere beansprucht auch die FH für sich. Wie sieht die Zukunft aus?

Deplazes: Dass wir jetzt versuchen, Grundlagenforschung und anwendungsorientierte Forschung zwischen den Unis und den FH aufzuteilen, liegt daran, dass mit der Bologna-Reform etwas aufgebrochen worden ist, das vorher selbstverständlich war. Im Grundsatz ist das unsinnig und nur insofern zu verstehen, als die Profile der Schulen zuhanden der Schulpolitik geklärt sein wollen. Vorher wusste man noch genau, was die HTL sind und können und wollen. Je nach Argumentation hat man das eine oder andere Vorurteil hochstilisiert, beispielsweise dass die ETH-Absolventen kopflastig seien und keinen Nagel einschlagen könnten - Aussagen, die so platt noch nie haltbar waren.
Jetzt sind durch die Struktur des dualen Bildungssystems die Fachhochschulen unter Druck geraten. Bei uns ging es mehr darum, die bestehenden Studiengänge in einem neuen Gefäss zu überprüfen. Die FH werden jedoch plötzlich an Systemen gemessen, die die Universitäten schon lange etabliert haben. Das heisst, sie müssen die Struktur Master/Bachelor einführen, was die Studienzeit an den FH markant verlängert, und gleichzeitig noch forschen. Da stellt sich natürlich sofort die Frage nach der Grösse der Studiengänge und den Ressourcen, die dafür freigemacht werden können. Daraus ist ein Problem entstanden, das bei den FH zur Flucht in spezifische Profilierungen geführt hat, mit manchmal abenteuerlichen Curricula. Sie sind aus einer Qualitätssituation in eine Unsicherheitssituation geworfen worden. Man muss hier einmal deutlich sagen, dass wenn man das duale Bildungssystem in der Schweiz weiterhin behalten will, man auch die beiden Schultypen sinnvoll weiterentwickeln muss - mit der Betonung auf sinnvoll. Holzschnittartige Lösungen lassen sich zwar prächtig kommunizieren, führen aber voll an den Bedürfnissen der Schulen vorbei. Das duale Bildungssystem will ja den gymnasialen Bildungsweg oder den Weg der Berufslehre und der Fachhochschule fördern.
Daraus folgt aber auch, dass das duale System nicht unterlaufen werden darf, indem die Kreuzung Matura - Bachelor FH - Master ETH zum Programm gemacht wird.

Menz: Warum sollen wir uns künstlich auf einen Bereich beschränken? Es gibt ja die Diskussion, ob die FH eher den Bachelor anbieten sollen und die ETH den Master - wenn man damit die Kompatibilität meint, dann bin ich dagegen, denn damit wären die FH der Vorhof der ETH und das duale Bildungssystem wäre in Frage gestellt. Eine Gefahr wäre, wenn es zu einer Vermischung kommen würde und die Fachhochschulen dazu gedrängt würden, zu Mini-ETH zu werden.
Wenn man die Bürostruktur in der Schweiz anschaut, stellt man fest, dass es ein ausgewogenes Mittel an Mitarbeitern gibt, die einen FH- oder universitären Abschluss haben. Das ist offensichtlich etwas, was in der Praxis sehr geschätzt wird. In Deutschland beispielsweise ist das anders. Hier weichen viele Studierende durch die Zulassungsbedingungen an den
deutschen Universitäten an die FH aus. Die ursprüngliche Idee der FH wird dadurch aufgeweicht. Deswegen braucht es eine klare, aber kluge Differenzierung in der Schweiz.

Deplazes: Was bei den ETH dazukommt, sind die Graduate Schools. Dies wird in Zukunft grösseres Gewicht haben. Die Frage ist hier noch, wann und wie Doktoratsstudierende ihr Studium antreten. Für die FH hingegen wäre es eine grosse Chance, berufsbegleitende Master of Advanced Studies anzubieten, weil hier sowieso eine Spezialisierung stattfindet. Das, was wir in fünf Jahren an Architektur ausbilden können, ist ja nicht das Maximum, sondern das Gegenteil, es ist das minimal Notwendige, um eine Architekturausbildung überhaupt seriös und gerade hinreichend vollständig durchzuführen. Alles, was darüber hinausgeht, muss man im Nachtrag machen. Auch der SIA beispielsweise ist ja an der Frage des Life-long Learning höchst interessiert.

Welche Neuerung gibt es gegenüber früher, oder ist es der alte Wein in neuen Schläuchen?

Deplazes: Wir haben festgestellt, dass in der Praxis die Komplexität der Zusammenarbeit zugenommen hat. Die Studierenden können nicht automatisch das, was sie in den Fachbereichen der Institute in Vorlesungen erwerben, in die eigene Entwurfarbeit einbringen - beziehungsweise weil die Komplexität hoch ist, hat man die Tendenz, die verschiedenen Ebenen zu vereinfachen, indem man weglässt, was man nicht verinnerlicht hat. Wir möchten dem entgegenwirken, weil das interdisziplinäre Verstehen der Zusammenhänge überhaupt eine Voraussetzung für das Entwerfen ist.

Menz: Wir haben deswegen ein Programm ins Leben gerufen: Entwurf mit integrierten Disziplinen (E+I). Ein Entwurfsprofessor, der normalerweise die Semesteraufgabe stellt, muss in Zukunft mit einem oder zwei Fachprofessoren zusammenarbeiten, um bestimmte Schwerpunkte mit in den Entwurf zu integrieren. Wir machen das zwar nicht wie in der Praxis, wo alle möglichen Anliegen auf einen einpreschen, sondern wir versuchen, quasi einen architektonischen Flugsimulator einzubauen, um den Studierenden ein gezieltes Training mit Schwerpunkten anzubieten, wie man mit solchen Fragen umgehen kann. In den ersten sechs Semestern müssen die Studierenden drei integrierte Entwürfe machen, im Master sind dann alle Entwürfe integriert. Das heisst, mindestens eine Disziplin ist zusätzlich dabei. Was wir ausserdem noch hinzugefügt haben, ist das neunte Semester (also das vor dem Masterentwuf) als Schwerpunktsemester. Das könnte dann auch das Sprungbrett in die Graduiertenkollege sein und zu selbstständigeren Arbeiten bzw. mehr freien Semesterarbeiten der Studierenden führen.

Deplazes: Wir wünschen uns am Ende eigentlich gute Autodidakten. Man muss die Studierenden mit Begabung animieren und begeistern. Das geht natürlich nicht bei allen 1430 Studierenden, wenn man es bei der Hälfte schafft, hat man schon viel erreicht.

Was sind die Vor - und Nachteile des neuen Systems?

Deplazes: Die interne Studienreform, die wir im Rahmen des Bologna-Prozesses auslösen konnten, bringt uns letzlich mehr als der eigentliche Bologna-Prozess. In den zwei Bachelor-Jahren haben wir allerdings festgestellt, dass der Druck enorm zugenommen hat. Wir hoffen, dass damit nicht die talentiertesten Studierenden, die vielleicht nicht immer auch die robustesten sind, auf der Strecke bleiben. Wir wollen nicht durch Überforderung demotivieren. Der Vorteil aber ist, dass wir nach drei Jahren Leute mit einer soliden Grundausbildung haben und dass die Master-Studierenden vom universitären Studium profitieren können, denn das war früher nicht so, es war ziemlich verschult. Die Frage ist, ob jemand, der drei Jahre mit Wissen überhäuft wird, nachher mit der Freiheit umgehen und das Gelernte kreativ im Master umsetzen kann.


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tec21 2006|23 Bachelor/Master

Presseschau 12

16. September 2008Andrea Deplazes
zuschnitt

Struktur und Form – zur Platten-Tektonik im Holzmassivbau

In den letzten Jahren sind Entwicklungen von Systemen und Halbfabrikaten in Gang gekommen, die alles ausser Kraft setzen, was bisher an tektonischen Grundlagen...

In den letzten Jahren sind Entwicklungen von Systemen und Halbfabrikaten in Gang gekommen, die alles ausser Kraft setzen, was bisher an tektonischen Grundlagen...

In den letzten Jahren sind Entwicklungen von Systemen und Halbfabrikaten in Gang gekommen, die alles ausser Kraft setzen, was bisher an tektonischen Grundlagen des Holzbaus Praxis und Lehre war. Tatsächlich wirkt der »klassische Holzrahmenbau der Neunzigerjahre«, der den Aufbruch in das »freie«, nicht modulare Feld des präfabrizierten Holzbaus mustergültig vordemonstrierte, heute bereits anachronistisch.

Es ist wohl kein Zufall, dass sich die neuesten Holzbauweisen in Zentraleuropa und Skandinavien herausgebildet haben, in Ländern also, die auf die wirtschaftliche Förderung der Ressource Holz setzen müssen. Um die Stagnation des traditionellen Holzbaus überwinden zu können, sind sie auf Innovationen angewiesen, die geeignet sind, Marktanteile aus dem Bereich des Massivbaus zu erkämpfen.

Formungsdefizit neuer Technologien

Das steigende Interesse an neuen Holzbautechnologien lässt nun die These zu, dass wohl zum ersten Mal in der Architekturgeschichte tendenziell eine Entwicklung vom Massivbau zum Holzbau stattfindet. Nehmen wir als Beispiel die »Stoffwechseltheorie« von Semper, die sich weniger mit der Bautechnik selbst als mit ihren Auswirkungen auf den architektonischen Formenausdruck im Moment des Wechsels von der Tektonik zur Stereotomie befasst, eine Art Übertragung des Holzbaus auf den Massivbau, oder die ersten Stahlbetonstrukturen von Hennebique, die noch ganz dem tektonischen Gefüge von Holzbauten verpflichtet sind: Erst nach einer gewissen Gewöhnungszeit sind danach durch Robert Maillart die immanenten Prinzipien von Stahlbetonstrukturen entwickelt worden. Damit findet eine Inversion der »Kunstform« in die »Kernform« (Carl Bötticher) statt, was den Schluss zulässt, dass sich die systemimmanenten Formungskriterien neuer Technologien erst durch Überwindung kulturpermanenter Bilder herausbilden.

Suche nach einer adäquaten Struktur und Form

Wenn der klassische Rahmenbau also eine Zwischenform in der Entwicklung darstellt, wie sieht dann die der aktuellen Holzbautechnologie immanente und adäquate Struktur und Form aus?

Um dem nachzugehen, müssen wir uns erst den Weg der Holzverarbeitung vor Augen führen, die durch eine absteigende Abfolge gekennzeichnet ist. Jeder Stufe der Zerkleinerung entspricht eine gegenläufige des Zusammensetzens, des Neuformierens, zur Hauptsache in Form von Platten und Scheiben. Und jedes Mal ist die Verleimung die konstituierende und konsistierende Technologie. Hier liegt der Grund, weshalb sich in der nachfolgenden Bearbeitung der Halbfabrikate eine erstaunliche Geschmeidigkeit des Materials abzeichnet, das sich beinahe widerstandslos jedem formenden Zugriff – dem CNC-gesteuerten Fräsenkopf, der Roboting-Bearbeitung – ergibt. Der Begriff modellieren trifft hier durchaus zu, denn es werden nicht nur komplexe Schnittmuster, sondern auch plastische Formungen ausgeführt, die über ihre Oberflächenabwicklung rechnerisch definiert und bearbeitet werden können.

Rückwirkung der CAD-Programmierung auf den Entwurf

Die Projektierung mit CAD-Programmen ist heute Standard. Daran schliesst sich die Datenlinie nahtlos an, sodass sich die Art und Weise der Planbearbeitung am Bildschirm unabhängig von der klassischen Bautechnik, z. B. des Holzbaus, rückkoppelnd auf die Tektonik des Bauwerks auswirken muss. Es werden nichtmodulare, objektspezifische Bauteile erzeugt. Oder anders gesagt: Das konkrete architektonische Projekt wird in handhabbare Elemente zerlegt, über die Datenlinie in Produktion geschickt und auf der Baustelle wieder zum Bauwerk zusammengefügt. Diese Art der Platten-Tektonik und des baulichen Gefüges von Geschoss-Schichtung oder Element-Stapelung ist im Massivbau längst Alltag, im Holzbau provoziert sie neue Konstruktions- und Bauverfahren.

Kartonmodell in der Dimension eines Bauwerkes

Das neue »Grundelement« ist nun konsequenterweise die Platte, nicht mehr der Stab. Sie besteht aus drei und mehr Lagen kreuzweise verleimter Schichten von Schnittholz. Dieses »Überkreuz-Verweben« verleiht ihr hohe Festigkeit und Steifigkeit und damit statische Scheibenwirkung. Sie ist richtungsneutral oder besser »richtungsindifferent« und kann theoretisch in beliebiger Dimension endlos produziert werden. Diese Voraussetzungen wirken sich im aktuellen Holzbau aus: Platten-Tektonik und dünnwandige Scheiben verhalten sich im Massstab 1:1 wie Kartonage, als ob ein Kartonmodell in die Dimension eines Bauwerks transponiert worden wäre. Das betrifft nicht nur die physische Wahrnehmung. Offensichtlicher wird dies beim Umgang mit Öffnungen: Scheinbar beliebig in die Scheiben gestanzt oder aus ihnen herausgeschnitten, wie mit dem Cutter aus dem Karton, wird die unglaubliche Resistenz der Platten-Tektonik am Bauwerk sichtbar.

Weg vom hölzernen Vorbild

Wenn man die Platten-Tektonik und die Technik der Fassadenhaut ohne Hinterlüftung weiterverfolgt, entdeckt man unweigerlich, dass sich der aktuelle Holzbau in zweierlei Hinsicht von seinem »hölzernen Vorbild« löst: Zum einen sind heute zahlreiche holzfremde Fassadenbeplankungen verfügbar. Der Holzbau verbirgt sich also hinter anderen Materialien, deren Vorzüge grosse Flächen mit wenigen Fugen und dünne Materialstärken sind.

Die zweite Tendenz ist noch interessanter: Die Platten-Tektonik des aktuellen Holzbaus wird ausschliesslich strukturell gelesen werden, und nicht mehr materiell. Was im Vorfeld als Kartonage bezeichnet wurde, das wird sich architektonisch in der Abstraktion äussern. Holzplatten werden als »Kunststoff« eine ähnliche Position einnehmen wie der homogene Beton im Massivbau, der strukturell alle tektonischen Elemente eines Bauwerks besetzen kann, ohne jemals materiell zum Ausdruck zu gelangen.

[ Dieser Beitrag ist die gekürzte und überarbeitete Fassung des Textes »Indifferent, synthetisch, abstrakt – Kunststoff. Präfabrikationstechnologie im Holzbau: aktuelle Situation und Prognose«, erschienen in »werk, bauen + wohnen« 1|2 2001 ]

zuschnitt, Di., 2008.09.16



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Profil

Architekturstudium an der ETH in Zürich, 1988 Diplom bei Fabio Reinhardt
Seit 1988 gemeinsames Büro mit Valentin Bearth in Chur

Lehrtätigkeit

Seit 1997 Professor für Architektur und Konstruktion an der ETH Zürich
2005 – 2007 Vor­ste­her des De­par­te­ments für Ar­chi­tek­tur, ETH Zü­rich

Auszeichnungen

Constructive Alps 2022, Anerkennung, Mehrzweckgebäude Fläsch
Constructive Alps 2017, Anerkennung, Bundesstrafgericht
Balthasar-Neumann-Preis 2008, Anerkennung, Weingut Gantenbein
Brick Award 2008, Preisträger, Weingut Gantenbein

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