Editorial

Mit der Umstellung des Architekturstudiums auf Bachelor und Master ist die Architekturlehre in den letzten Jahren wieder verstärkt zum Thema geworden. Was bei den Diskussionen immer wieder erstaunt, ist, dass der Systemwechsel kaum als Chance wahrgenommen wird, das vor sich hindümpelnde Lehr- und Lernkonzept grundsätzlich in Frage zustellen und nach Impulsen für eine Neuausrichtung der Architekturausbildung zu suchen. Strukturen statt Inhalte wurden über Jahre hinweg diskutiert, bis sich alle erschöpft eher der Bestands- als der Zukunftssicherung zuwandten. Dabei gab es in den 50ern und 60ern gerade in Deutschland interessante Entwicklungen (hfg/Ulm, Ungers/Berlin), die maßgeblich waren und eine internationale Ausstrahlung besaßen. An diese Traditionen anzuknüpfen und sie weiterzuentwickeln wäre eine Zukunftsaufgabe. An dem besonderen Beispiel der Berliner Lehrzeit Oswald Mathias Ungers’ möchte archplus einen Beitrag zur Diskussion leisten und sie zugleich aus dieser Geschichtsvergessenheit herausführen.

Mit der kommenden archplus 181/182 „Lernen von O. M. Ungers“ setzen wir nach archplus 179 „Oswald Mathias Ungers. Berliner Vorlesungen 1964/65“ die Auseinandersetzung mit dessen Lehrkonzept fort. Während die Berliner Vorlesungen den theoretisch-methodischen Ansatz seiner frühen Lehrtätigkeit aufzeigen, gibt das kommende Heft einen zu den Vorlesungen komplementären Überblick über seine praktisch-schöpferische Lehrauffassung, die in unzähligen Projekten und vor allem in den berühmten „Veröffentlichungen zur Architektur“ ihren Ausdruck fanden. Die als Anthologie konzipierte Ausgabe (Gastredaktion: Erika Mühlthaler) gibt erstmals einen vollständigen Überblick über alle Publikationen des Ungers-Lehrstuhls an der TU Berlin der 60er Jahre. Mit Staunen erinnert sich Rem Koolhaas in seinem Beitrag noch heute daran, wie er Anfang der 70er die kurz VzA genannten Hefte in einem Berliner Buchladen entdeckte.

Warum in kurzer Folge zwei Ausgaben zu Ungers? Es geht uns ausdrücklich nicht um einen wie auch immer gearteten Personenkult. Vielmehr ermöglicht es die unvergleichliche Materialsammlung beider Ausgaben, sich von einer Zeit inspirieren zu lassen, in der die intellektuelle Offenheit Maßstab für eine ganze Generation war. Die unglaublich positive Resonanz auf die Berliner Vorlesungen, die innerhalb kürzester Zeit vergriffen sind und nun in einer zweiten korrigierten Fassung aufgelegt wurden, hat uns dazu ermutigt, diese fast in Vergessenheit geratene Periode weiter aufzuarbeiten. Nikolaus Kuhnert, Anh-Linh Ngo, Martin Luce mit Carolin Kleist

Inhalt

11 Architektur oder Revolution* / Nikolaus Kuhnert, Anh-Linh Ngo, Martin Luce, Carolin Kleist
12 Chronologie / Erika Mühlthaler
15 Lernen von O.M. Ungers / Erika Mühlthaler
22 Haus Belvederestraße / Oswald Mathias Ungers
30 Berufungsvortrag / Oswald Mathias Ungers
46 Fragen und Antworten / db Deutsche Bauzeitschrift
48 Umfrage zur Architektenausbildung / Oswald Mathias Ungers
51 Vorwort Berlin 1995 / Oswald Mathias Ungers
52 Köln-Zollstock Grünzug Süd / Oswald Mathias Ungers
58 Berlin-Lichterfelde 4. Ring / Oswald Mathias Ungers
61 Im Gespräch mit Jürgen Sawade* / Erika Mühlthaler, Jürgen Sawade
63 Im Gespräch mit Joachim Schlandt / Erika Mühlthaler, Joachim Schlandt
68 Berliner Geschichte(n) / Rem Koolhaas
70 Symposion 1964 / Oswald Mathias Ungers, Fritz Eggeling
74 Wochenaufgaben 1965 - VzA 01 / Oswald Mathias Ungers, Eckhart Reissinger, Ulrich Flemming
82 Without Rethoric - VzA 02 / Peter Smithson
84 Team X Treffen - VzA 03 / Oswald Mathias Ungers, Ulrich Flemming, Hartmut Schmetzer, Arnulf Rainer, Aldo van Eyck, Herman Hertzberger, Hans Hollein, Jerzy Soltan, John Voelcker, Stefan Wewerka
86 Schnellstraßen und Gebäude - VzA 04 / Oswald Mathias Ungers, Volker Sayn
88 Großformen im Wohnungsbau - VzA 05 / Oswald Mathias Ungers, Ulrich Flemming, Hartmut Schmetzer
90 Schwarze Architektur - VzA 06 / Oswald Mathias Ungers, Arnulf Rainer, Stefan Wewerka
92 Kristallpalast - VzA 07 / Oswald Mathias Ungers, Ulrich Flemming
94 Plätze und Straßen - VzA 08 / Oswald Mathias Ungers, Volker Sayn, Eckhart Reissinger
96 Gutachten Ruhwald - VzA 09 / Oswald Mathias Ungers, Guido Ast
98 Wohnen am Park - VzA 10 / Oswald Mathias Ungers, Volker Sayn
102 Rupenhorn / Oswald Mathias Ungers, Gisa Rothe
103 Bauten der Havellandschaft / Gisa Rothe
104 Städtebauliche Untersuchung Paderborn - VzA 11 / Oswald Mathias Ungers, Michael Wegener
108 Verkehrsband Spree - VzA 12 / Oswald Mathias Ungers, Jörg Pampe, Rolf Eggeling
110 Verabschiedung der Diplomanden 1967 / Oswald Mathias Ungers
112 Beitrag zur Planetarisierung der Erde - VzA 13 / Oswald Mathias Ungers, Volker Sayn
115 Bindungen / Michael Wegener
118 Studenten-Unruhen* / Oswald Mathias Ungers, Anrisse
122 Architekturtheorie - VzA 14 / Oswald Mathias Ungers, Jörg Pampe
124 Entwürfe für eine Gesamtoberschule - VzA 15 / Oswald Mathias Ungers, Joachim Schlandt, Bernd Robert Jansen
126 Die Wuppertaler Schwebebahn - VzA 16 / Oswald Mathias Ungers, Adolf Neunhäuser, Ulrich Flemming, Volker Sayn
128 Wohnungssysteme in Stahl - VzA 17 / Oswald Mathias Ungers, Dieter Frowein, Horst Reichert, Jürgen Sawade
132 Ithaca, N.Y. - VzA 18 / Oswald Mathias Ungers, Stephen Katz, Uwe Evers
134 Wohnbebauungen - VzA 19* / Oswald Mathias Ungers, Gisa Suhr
140 Mies van der Rohe - VzA 20 / Oswald Mathias Ungers, Alison Smithson, Peter Smithson, Peter, Jörg Pampe
142 Schnellbahn und Gebäude - VzA 21 / Oswald Mathias Ungers, Bernd Kraneis, Hartmut Schmetzer, Ulrich Flemming
146 Wohnungssysteme in Großtafeln - VzA 22 / Oswald Mathias Ungers, Michael Wegener, Joachim Schlandt, Heinrich Busse, Heinrich, Falk Dürr, Frank Pasche
148 Die Wiener Superblocks - VzA 23 / Oswald Mathias Ungers, Joachim Schlandt, Ulrich Flemming
150 Wohnungssysteme in Raumzellen - VzA 24 / Oswald Mathias Ungers, Heidede Becker, Ulrich Flemming
152 Berlin 1995 - VzA 25 / Oswald Mathias Ungers, Uwe Evers
154 Blocksanierung und Parken - VzA 26 / Oswald Mathias Ungers, Claas Corte, Uwe Evers, Horst Reichert, Jürgen Sawade
156 Berliner Brandwände - VzA 27 / Oswald Mathias Ungers, Jürgen Sawade, Jörg Pampe
158 Lysander / Oswald Mathias Ungers, Tilman Heyde, Stephen Katz
162 Gotham City / Oswald Mathias Ungers, Arthur Ovaska
170 Designing and Thinking with Images... / Oswald Mathias Ungers
172 Urban Villa / Oswald Mathias Ungers, Hans Kollhoff, Arthur Ovaska, Liselott Ungers
174 Urban Garden / Oswald Mathias Ungers, Arthur Ovaska, Liselotte Ungers, Hans Kollhoff
176 Stadt in der Stadt / Oswald Mathias Ungers, Liselotte Ungers, Peter Riemann, Hans Kollhoff, Rem Koolhaas

Architektur oder Revolution*

Mit dieser Ausgabe setzen wir nach archplus 179 „Oswald Mathias Ungers. Berliner Vorlesungen 1964/65“ die Auseinandersetzung mit Ungers’ Lehrkonzept fort. Während die Berliner Vorlesungen den theoretisch-methodischen Ansatz seiner frühen Lehrtätigkeit aufzeigen, gibt das vorliegende Heft einen zu den Vorlesungen komplementären Überblick über seine praktisch-schöpferische Lehrauffassung, die in unzähligen Projekten und vor allem in den berühmten Veröffentlichungen zur Architektur ihren Ausdruck fanden. Den Reichtum der explizit als Materialsammlung angelegten Ausgabe verdanken wir der exzellenten Arbeit von Erika Mühlthaler, die als Gastredakteurin ihren zur Ausstellung „Lernen von O. M. Ungers“ an der TU Berlin erschienenen Katalog in einer von uns leicht gekürzten und redigierten Fassung erneut herausgibt.

Warum in kurzer Folge zwei Ausgaben zu Ungers? Es geht uns ausdrücklich nicht um einen wie auch immer gearteten Personenkult. Vielmehr erlaubt es die unvergleichliche Materialsammlung, von den Wochenaufgaben bis zu den Diplomarbeiten zu verfolgen, was es heißt, in der Architektur nicht nur die Kunst zu sehen, „Bindungen“ einzugehen – ein Architekturbegriff, der Regelhaftigkeit einfordert –, sondern auch, was es bedeutet, den Ort selbst zum Gegenstand des Studiums zu machen, sich mit der Stadt auseinander zu setzen.1 Berlin ist seit Ungers Thema. Thema ist aber nicht nur die Stadt selbst, sondern an Berlin ist auch die Hoffnung geknüpft, dass von hier aus eine Erneuerung der Architektur ausgehen könnte.

Und sie tat es auch. Wenn auch in einem ganz anderen Sinne als erwartet. Es scheint in der deutschen Architekturgeschichte immer wieder Schichten zu geben, die zunächst verdrängt und erst über den Umweg einer Rezeption von Außen in ihrer ungeheuer anregenden Bedeutung wahrgenommen werden können. Die „Berliner Geschichte(n)“ von Rem Koolhaas in dieser Ausgabe belegen es. (S. 68) Das dialektische Verhältnis zwischen Ungers und Koolhaas ist jedoch zugleich ein gutes Beispiel dafür, was „Lernen von Ungers“ tatsächlich bedeuten könnte. Für den jungen Koolhaas waren die Berliner Studentenarbeiten nicht nur ausschlaggebend für seine Entscheidung, Ungers nach Cornell zu folgen, sondern sie eröffneten ihm auch ein Spektrum von Ideen, die er aufgriff, methodisch weiterentwickelte und in verschiedenen Projekten vervollkommnete, während die deutschen Schüler, die einen Richtungswechsel einzuläuten schienen, lediglich eine Hoffnung auf die Zukunft blieben. Statt die Offenheit des Ungersschen Denkraums als Anregung für eine eigenständige Weiterentwicklung der Architektur zu nutzen, herrschen in Deutschland allzu häufig einseitige Interpretation, Besitzansprüche und Epigonentum vor.

Was sind die Gründe für das Misslingen des Berliner Experiments? Als Begründung wird an dieser Stelle immer das Destruktionspotential der Studentenbewegung angeführt und die
68er dafür verantwortlich gemacht, dass die Rückeroberung des Bauens durch die Ungerssche Lehre so jäh endete. Ein Argument, so falsch wie richtig.2 Der Einbruch des Politischen erweiterte, veränderte aber auch das Verständnis von Architektur und Gesellschaft grundsätzlich. „Architektur und Gesellschaft“ hieß auch das erste Seminar der Kritischen Universität an der TUB. Es war der erste Schritt zu einer, wenn auch anfänglich äußerst abstrakten, kritisch-historischen Aufarbeitung der unterdrückten Seite der Moderne, nämlich ihre sozialrevolutionäre und sozialreformerische Geschichte, die es später erlauben sollte, sich dem Verhältnis von Architektur und Gesellschaft konkreter zu nähern. In den 1960er Jahren war es noch ein sich gegenseitig ausschließendes Verhältnis, das damals nur einseitig zu lösen war: Revolution oder Architektur.

ARCH+, Di., 2007.01.09

09. Januar 2007 Nikolaus Kuhnert, Martin Luce, Anh-Linh Ngo

Im Gespräch mit Jürgen Sawade

(SUBTITLE) Zu den Wochenaufgaben

Mühlthaler: Mit den Wochenaufgaben begann Ungers seine Berliner Lehrzeit. Neu war nicht der Aufgabentypus, denn Kurzentwürfe hat es auch an benachbarten Lehrstühlen schon gegeben, aber die Art und Weise der inhaltlichen Konzeption. Wie kam Ungers zu dieser didaktischen Konzeption?

Sawade: Ungers entwickelte seine Wochenaufgaben als Reaktion auf die ersten Entwurfsarbeiten, die ihm vorgelegt wurden. Die Studenten zu der Zeit entwarfen illustre Geschichten im Grünen. Sie wussten aber nicht, was ein Skelettbau, was ein Scheibenbau und was ein Massivbau ist. Ungers erkannte, daß er die Defizite ausgleichen mußte, um systematisch weiterarbeiten zu können. Er wollte die Arbeit der Studenten strukturieren und systematisieren. Daraufhin haben wir Wochenwettbewerbe zu den oben genannten Themen gemacht. Die Strukturierung, eine der wesentlichen Aufgaben der Architektur, war den Studenten bis dato nicht bewußt. Ungers Versuch zielte nun darauf, daß die Studenten exemplarisch in verschiedenen idealisierten, man könnte auch sagen konzeptionellen Tragwerksstrukturen denken lernen mussten. Damit hat er die Entwurfsarbeit angekurbelt und die Studenten sauber in Kategorien denken lassen, indem sie nun wirklich wussten, was ist ein Skelett, was sind Scheiben, was also ist Plattenbauweise und was ist dagegen Massivbau. Und dann fingen die Seminare an.

Mühlthaler: Was können Sie zur Idee der Aufgabenstellung sagen?

Sawade: Die Wochenaufgaben sind typisch für Ungers. Ausgehend vom Einfamilienhausbeispiel entwickelten wir eine konzeptionelle Skizze. Um zu vermeiden, daß die Studenten, wie er sagte, die banalsten und schönsten Dinge dann einfach abkupfern würden, entschied er, das Programm oder die Aufgabenstellung zu modifizieren: Der Eingang sollte zum Beispiel in einer Höhe von 4,50 m liegen. Das machte es schwer, nicht selbstständig über die Entwurfsaufgabe nachzudenken und zu entwerfen und ließ keine Routine aufkommen. Die Ergebnisse der Arbeiten waren ja dann auch etwas verrückt. Und trotzdem diszipliniert.

Mühlthaler: Ungers begann 1963 sein Entwurfsseminar mit Aufgabenstellungen für kleine Einfamilienhäuser, und entwickelte Anfang der 70er Jahre Szenarien für Siedlungs- und Stadtgründung für bis zu 100.000 Einwohnern. Welchen Einfluß hat die Aufgabenstellung auf das Entwerfen?

Sawade: Die Studenten sollten in einer Woche keine Riesenprojekte absolvieren. Ein kleines Stück Architektur macht genauso viel Arbeit, ist aber überschaubarer und führt ebenso zu interessanten Ergebnissen. Es ging in den Wochenaufgaben darum, die Studenten in Systematik und konzeptionellem Denken zu trainieren: das mehr oder minder gleiche Grundrissprogramm mit unterschiedlichen funktionalen Auflagen sollte in Skelettbauweise, als Scheibenbau oder Massivbau beziehungsweise in Kombinationen entwurflich umgesetzt werden. Es waren nicht nur die berühmten 10% Imagination nötig, sondern auch die 90% Transpiration, die die Studenten bis dahin immer vergessen hatten.

Mühlthaler: Wie verliefen die Präsentationen? Waren alle daran beteiligt?

Sawade: Ja, alle. Coram publico. Das hatte Ungers sehr schnell eingeführt. In seinen Seminaren waren etwa 15-25 Studenten. Bei Präsentationen musste jeder Student sein Konzept im Beisein aller vortragen, so dass wir bei den Besprechungen nicht immer bei Null anfangen mussten, sondern auf den Kritiken der vorangegangenen Arbeiten aufbauen konnten.
Die Studenten lernten nicht nur durch die Kritik an Ihrer Arbeit, sondern sahen 25 verschiedene Konzepte. Das gleiche Präsentationsmodell habe ich dann selbst mit 50 Studenten in Dortmund praktiziert. Präsenzpflicht!
In den Ungers-Seminaren nach den Wochenaufgaben haben die Teilnehmer dann beispielsweise Wohnungssysteme in Stahl bearbeitet, andere Wohnungssysteme in Großtafelbauweise.
Neben der konzeptionellen Bearbeitung der Entwürfe, hatte ich die Seminare büromäßig organisiert, von morgens um neun bis nachmittags um fünf, alle zeichneten von Anfang an in den gleichen Strichstärken und fortlaufend wurde an einem gemeinsamen Layout gearbeitet. Am Ende gingen die Studenten dann mit einer Publikation aus dem Seminar. Und das war natürlich toll! Die hatten plötzlich etwas in der Hand, mit dem man arbeiten konnte. Ich war damals auch sehr interessiert daran, die Realität in die Hochschule zu holen. Um die Schere zwischen Realität und Studium zu schließen oder schließen zu helfen, hatte ich bei der Bearbeitung der Wohnungssysteme in Stahl Fachingenieure von Krupp Stahlbau und von Otis eingeladen. Die kamen und diskutierten mit uns.
Auch bei dem Thema sozialer Wohnungsbau wollten wir uns mit der Realität auseinandersetzen und neue Ideen entwickeln. Wohnen und Schlafen wollten wir austauschbar machen, Schiebeelemente planen und so weiter. Wir wollten das Programm des Sozialen Wohnungsbaus sozusagen von Schematismus und Doktrinen befreien, Raumgrößen auflösen und flexibler machen. Das war eigentlich unsere Aufgabe.
Oder später, als wir anfingen, Berlin zu überbauen und Gespräche hatten mit den Senatsbaudirektoren.
Das waren, würde ich sagen, Sternstunden auch der TU, als anerkannt wurde, dass es gut ist, wenn die Hochschule den intellektuellen Freiraum, den sie hat, der Stadt zur Verfügung stellt. Deshalb haben wir auch versucht, Gutachten an die Hochschule zu holen. Die Lehre war eigentlich eine Mischung aus Grundlehre und Vision. Wir haben nur auf Berliner Grundstücken gearbeitet. Durch die Kooperation mit der Stadt, mit Einladungen an Fachingenieure und Berliner Institutionen zu Vorträgen und in der Auswahl realistischer Grundstücke haben wir an der Hochschule versucht, Studenten die Realität nahe zu bringen. Ungers hat alles dafür getan. Wir waren der Meinung, nur so sind sie auch nachher in der Lage, realistische Projekte zu machen.

Mühlthaler: Welche Bedeutung hatte die Praxis für die Ungers‘ Lehrkonzept? Kann man sagen, daß Ungers Entwurfsunterricht auf die Praxis des Entwerfens ausgerichtet war?

Sawade: Ja sicher, das war das A und O. Die Studenten wollten ja auch alle Architekten werden, sie wollten raus und entwerfen und bauen. Das ist die große Vision von allen. Und die einen schaffen es und die anderen schaffen es nicht. Und die anderen begreifen, dass sie große Entwerfer sind, und andere gehen andere Wege. Die Bandbreite der Architekten kann man ja alleine bei uns sehen. Der eine wird Direktor des Archäologischen Instituts in Athen,ein anderer wird Lektor oder schreibt Bücher und der nächste geht in die Forschung oder macht Verkehrsplanung. Also die Bandbreite der Architektur ist ja offensichtlich so groß dass man eine ganze Menge damit machen kann. Aber das, was Ungers auszeichnete, das war seine Entwurfslehre.

ARCH+, Di., 2007.01.09

09. Januar 2007 Erika Mühlthaler



verknüpfte Akteure
Sawade Jürgen

Studenten-Unruhen

(SUBTITLE) Ursache oder Indiz sich anbahnender Umwälzungen?

ANRISSE – Gespräch mit dem Dekan der Fakultät für Architektur, O.M. Ungers

ANRISSE: Eine provokative These besagt, die starke Solidarisierung besonders seitens der TU-Studentenschaft mit den Trägern und Teilnehmern der Demonstration vom 2.6. sei unter anderem darauf zurückzuführen, daß infolge der günstigen örtlichen Gelegenheiten viele TU-Studenten ihr Informationsbedürfnis befriedigen wollten, und dabei in die von der Polizei offensichtlich gesuchte Konfrontation geraten seien – was stimmt daran?

O.M.Ungers: Das Motiv der Neugier mag einige Studenten bewogen haben, an der Demonstration am 2. Juni teilzunehmen. Teilweise war es Informationsbedürfnis und – auch das läßt sich nicht ausschließen – eine gewisse Sensationslust. Die informationsbedürftigen, die neugierigen und sensationshungrigen Studenten waren jedoch in der Minderzahl. Der weitaus größte Teil beteiligte sich nach meinen Beobachtungen an der Demonstration aus einem politischen Engagement heraus. Man kann diesen politisch engagierten Studenten nicht ohne weiteres Mitläufertum oder gar blinde Abhängigkeit von kleineren sogenannten radikalen Gruppen vorwerfen. Ein solcher Vorwurf ist zu billig und verkennt die kritische Wachsamkeit und politische Hellhörigkeit der meisten Studenten. Außerdem muß in einer freien Gesellschaftsordnung auch der Einfluß selbst extremer Gruppen hingenommen werden, so lange nicht die Grundregeln der Gesellschaft verletzt werden.
Die in der Demonstration gezeigte politische Haltung wandte sich einerseits gegen einen Herrscher, der sein Volk mit diktatorischen Methoden regiert, wie in durchaus substantiierten, von den Studenten verfaßten Berichten nachgewiesen wurde, und andererseits gegen die in diesem Fall gewiß übertriebene Form eines Staatsbesuchs. Beides mußte zu Protesten herausfordern.
Wie ich mich selbst überzeugen konnte, hat die Polizei durch bewußte Provokation, wie beispielsweise das Einfahren der sogenannten Jubelperser vor die Oper – die später auch als Schläger auf die Studenten losgelassen wurden – die Konfrontation gesucht. Man hatte den Eindruck, hier sollte in einer Denkzettelaktion ein abschreckendes Exempel statuiert werden.

ANRISSE: Was bewirkte die Bewußtseinsänderung auch in der Professorenschaft, die diese veranlaßte, sich institutionell – durch Erklärung des Akademischen Senats – wie auch personell – durch Ansprachen von der versammelten Studentenschaft – mit dem studentischen Aufbegehren gegen das Vorgehen der Polizei wie gegen das dieses Vorgehen deckende politische Verhalten der Exekutive solidarisch zu erklären?

O.M.Ungers: Man darf hier nicht von einer Bewußtseinsänderung in der Professorenschaft sprechen. Einer solchen hat es im einzelnen nicht bedurft. Es ist selbstverständlich für jedermann - und nicht nur für Professoren – daß man sich gegen brutale Gewaltanwendung und Menschenmißhandlung wendet. Diese Symptome ließ das Verhalten der Polizei gegenüber den demonstrierenden Studenten vor der Oper am 2. Juni 67 erkennen. Eine Solidaritätserklärung ist deshalb nicht eine Frage der Gruppenzugehörigkeit noch der Zivilcourage, sondern ganz einfach eine notwendige ethische Haltung innerhalb einer demokratischen Gesellschaftsordnung.

ANRISSE: Spätestens seit der SPIEGEL-Affäre wissen wir, daß der Bestand einer demokratisch-republikanischen Verfassung noch nicht unbedingte Gewähr für die Kongruenz von Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit verbürgt. Korrektive bei ihrem Auseinanderklaffen wären zunächst die etablierte Opposition, sodann die Öffentlichkeit, sprich Presse. Ist der Studentenprotest nicht Anmaßung?

O.M.Ungers: Verfolgt man aufmerksam die Entscheidungen der politischen Gremien, so ist man nicht nur enttäuscht über deren Wirkungslosigkeit. Mit Besorgnis stellt man fest, daß immer mehr politische Tabus entstehen und sich allmählich eine Erstarrung der politischen Aktivität ausbreitet, die zu katastrophalen Auswirkungen führen kann. Ein kritischer Protest gegen die Selbstherrlichkeit und Selbstgenügsamkeit politischer Instanzen, von welcher Seite auch immer, ist ein unbedingt notwendiges Korrektiv und für die Existenz einer demokratischen Gesellschaftsordnung lebenswichtig. Gerade wenn ein Großteil der öffentlichen Institutionen als kritischer Partner versagt, wie das besonders in unserer unmittelbaren Umgebung der Fall zu sein scheint, ist es nicht Anmaßung, sondern Verpflichtung der Studenten, zu protestieren. Hieraus sollte man jedoch nicht einen Selbstzweck ableiten. Ein Protest, der ohne Inhalt und Form vorgetragen wird, ist sinnlos. Den Studenten muß man sowohl die Berechtigung als auch die Möglichkeit zugestehen, den Weg des Protests als ein legitimes politisches Mittel zu wählen.

ANRISSE: Churchill soll einmal gesagt haben: Wer mit zwanzig nicht Sozialist ist, hat kein Herz, wer es mit dreißig noch ist, keinen Verstand. Viele loben das jugendlich-moralische Engagement des Studenten, noch mehr tadeln jedoch die einseitige politische Richtung, in welcher es sich manifestiert. Wo sehen Sie das Hauptmotiv für die Bereitschaft, sich politisch zu engagieren?

Zu allen Zeiten hatten die Hochschulen begrenzten Ausschnittcharakter, in der sich die verschiedenen geistigen Strömungen der Gesellschaft widerspiegeln. Insofern ist die Hochschule zwangsläufig auch politisch. Desinteresse, Lethargie, Unengagiertheit sind genausogut, wenn auch nur negative, politische Verhaltensweisen wie das Umgekehrte. Das Unbehagen an bestehenden Zuständen in den Hochschulen, wie auch in der Gesellschaft, ist eines der Motive für das politische Engagement des Akademikers. Das andere, unmittelbar damit zusammenhängende ist das Gefühl des Nichtverstandenwerdens in einer Institution, die den veränderten Verhältnissen (Massenprobleme) nicht voll gerecht wird und die man deshalb zu reformieren wünscht. Je größer das Mißverhältnis zwischen Hochschule und Student wird, umso mehr wird er in eine extreme Haltung gedrängt. In seiner Rolle als dem unmittelbar Betroffenen liegt das politische Engagement, das durchaus legitim ist.

ANRISSE: Der Student sieht sich zwei Forderungen gegenüber: 1 „Die Distanzierung von der Linken muß endlich aufhören!“ (E. Krippendorf am 24.1.67 im HE 101). 2 „Es gibt eine Grenze für die politische Betätigung, wo die demokratische Toleranz aufhört…“ (sinngemäß W. Tromp am 12.6.67 im EB 301). Der heutige Student, wehrfähig ab 18, beansprucht politische Mündigkeit. Hat er im Universitätsbereich genügend Spielraum zur Entwicklung eines autonomen politischen Urteils?

O.M.Ungers: Wenn die Universität Modellcharakter hat und haben soll, darf der Spielraum für die Entwicklung eines autonomen politischen Urteils nicht mehr eingeschränkt sein als auch in der übrigen Gesellschaft. Die Forderung nach einer Distanzierung von der sogenannten Linken bedeutet letzten Endes eine politische Reglementierung; es ist deshalb ein nicht zu vertretender Standpunkt. Es wird allzu leicht verkannt, daß unsere Gesellschaft gezwungen ist, in einem ständigen Konflikt zu leben, der sich realiter nicht beseitigen lässt und auch nicht beseitigt werden sollte, am allerwenigsten durch Maßnahmen, die auf einer Ideologie basieren.

ANRISSE: Welche Möglichkeiten und Wege sehen Sie, den akademischen Nachwuchs auf den verschiedenen Ausbildungsstufen verantwortlich an der kontinuierlichen Ausgestaltung einer Universität der Zukunft zu beteiligen? Konkret: Läßt sich durch vorwegnehmende Zugeständnisse an die Studentenund Assistentenschaft eine Zuspitzung der Interessengegensätze zwischen Studenten und Professoren im Sinne eines syndikalischen Selbstverständnisses umgehen?

O.M.Ungers: Aus meiner Sicht möchte ich drei Reformmöglichkeiten nennen: 1 die pragmatische Reform, 2 die diktierte Reform und 3 die gewaltsame Veränderung. Der pragmatische Weg kann mit Professoren und Studenten gemeinsam begangen werden.
Er bringt wertvolle Erfahrungen und Ergebnisse im einzelnen, die exemplarische Auswirkungen haben und so allmählich eine Umstrukturierung der Institution zur Folge haben können. Dieser Weg ist langwierig, aber aussichtsreich, und von großer Effizienz. Es verlangt die Bereitschaft zur Kooperation und vor allem Verständnis auf beiden Seiten. Es ist eine Art Reform von innen heraus. Hiermit ist nicht gemeint eine einseitige Kompromissbereitschaft oder ein Überspielen der aufgetretenen Spannungen.

Als zweites ergibt sich die Möglichkeit einer geplanten, von außerhalb stehenden Instanzen vorgeschriebenen Reform. Hierbei lassen sich, was den allgemeinen Status anbetrifft, relativ schnell Veränderungen erzielen. Zu weitgehende Vorschriften jedoch führen zu Verfahrensstreitigkeiten und Kompetenzschwierigkeiten und schließlich zur Blockierung jeglicher Reformbewegung. Gleichzeitig liegt aber in der geplanten Reform die Gefahr einer diktierten Reform. Endprodukt einer solchen Entwicklung ist eine Staatsuniversität, die in allen Einzelheiten reglementiert und bis ins Kleinste gesteuert wird, vielleicht funktionstüchtig, aber aus Gründen der freiheitlichen geistigen Existenz indiskutabel.
Eine dritte Reformmöglichkeit liegt in der gewaltsamen Veränderung mit den Mitteln einer offenen Revolte. Der Gedanke, unbrauchbare Einrichtungen abzuschaffen, um neuen Platz zu machen, ist in der Geschichte auf allen Ebenen – Natur, Religion, Kunst, Technik, Politik – nicht unbekannt. Es war oft – wie die Beispiele zeigen – der einzig wirkungsvolle Weg. Ein gewaltsamer Umbruch ist aber erst dann möglich und sinnvoll, wenn Ziele und Strategie zumindest den Initatoren bekannt sind und wenn feststeht, daß alle anderen Mittel zur Durchsetzung der Forderungen versagt haben. Zielloses Revoltieren, Revolte um ihrer selbst willen, ist Nonsens, romantische Stenka-Rasin-Mentalität und unverantwortliches Indianerspiel. Daß reformiert werden muß, ist allen wirklich Beteiligten klar. Der einzig richtige Weg läßt sich schwer benennen. Man sollte eine Reform nicht allzu abstrakt sehen, weil man sonst Gefahr läuft, das Eigentliche aus dem Auge zu verlieren. Faktische und rationelle Gründe sprechen dafür, daß eine modifizierte abgestufte Reform die wirkungsvollste ist.

ARCH+, Di., 2007.01.09

09. Januar 2007



verknüpfte Akteure
Ungers Oswald Mathias

4 | 3 | 2 | 1