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17. Dezember 2012Anh-Linh Ngo
ARCH+

Folly for a Flyover

Das temporäre Projekt Folly for a Flyover unter der Autobahnbrücke der A12 im Londoner Viertel Hackney Wick war im Sommer 2011 Standort eines sechswöchigen...

Das temporäre Projekt Folly for a Flyover unter der Autobahnbrücke der A12 im Londoner Viertel Hackney Wick war im Sommer 2011 Standort eines sechswöchigen...

Das temporäre Projekt Folly for a Flyover unter der Autobahnbrücke der A12 im Londoner Viertel Hackney Wick war im Sommer 2011 Standort eines sechswöchigen Programms mit Performances, Theateraufführungen und Filmvorführungen. Es war Teil des Create Festivals und verwandelte diesen betonüberwölbten Nicht-Ort am Lea Navigation Canal in der Nähe des Olympischen Parks in einen beliebten öffentlichen Raum. Tagsüber bildete ein überdachtes Café einen Treffpunkt für Anwohner und Besucher, nachts bot eine Tribüne unter den Fahrbahnen einen geschützten Ort für die Vorführungen.

Der Titel des Projekts nimmt Bezug auf die follies genannten Staffagearchitekturen in den englischen Landschaftsgärten des 18. Jahrhunderts, die häufig in Form von fingierten einfachen Bauernhäusern, antiken Ruinen und ähnlichem angelegt waren. Assemble entwickelte mit dem Verfremdungseffekt, der sich durch die Anlage der Installation im Stil eines traditionellen Backsteinhauses einstellt, ein Narrativ für diesen unwirtlichen Ort. Das Gebäude konnte den Eindruck erwecken, man habe es beim Bau der Autobahnbrücke (flyover) unter den mächtigen Fahrbahnen stehengelassen. Tatsächlich bestand das Häuschen jedoch aus recycelten, in Ziegelgröße geschnittenen Holzblöcken und imitierte mit seiner Erscheinung das klassische Ziegelmauerwerk der Bebauung im benachbarten Hackney Wick. Wegen der ephemeren Natur des Projektes wurde von Anfang an eine Strategie entwickelt, wie die eingesetzten Materialien nach dem Abbau wiederverwendet werden könnten. Alle Komponenten wurden entweder an den Ursprungsort zurückgegeben oder fanden eine neue Anwendung in der Umgebung. So wurden die Holzziegel in der benachbarten Gainsborough School für Pflanzenbehälter und Spiele recycelt.

Beim dargestellten Text handelt es sich um eine Kurzfassung.
Vollständigen Artikel ansehen. (http://www.archplus.net/home/archiv/artikel/46,3940,1,0.html)

ARCH+, Mo., 2012.12.17



verknüpfte Zeitschriften
ARCH+ 209 Kapital(e) London

02. November 2011Anh-Linh Ngo
Cornelia Escher
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Nagelhaus Zürich

Anfang 2007 lobte die Stadt Zürich einen Wettbewerb zur Neugestaltung des Escher-Wyss-Platzes aus, der die Wiederbelebung dieses städtischen „Unortes“...

Anfang 2007 lobte die Stadt Zürich einen Wettbewerb zur Neugestaltung des Escher-Wyss-Platzes aus, der die Wiederbelebung dieses städtischen „Unortes“...

Anfang 2007 lobte die Stadt Zürich einen Wettbewerb zur Neugestaltung des Escher-Wyss-Platzes aus, der die Wiederbelebung dieses städtischen „Unortes“ unter dem Viadukt der Hardbrücke zum Ziel hatte. Das prämierte Konzept – eine Zusammenarbeit des Berliner Künstlers Thomas Demand mit dem Londoner Architekturbüro Caruso St. John – schlägt unter dem Viadukt zwei Gebäude vor, die als „archäologische Fragmente“ auf die einst kleinteilige Bebauung an diesem Ort vor dem Bau der Hochtrasse in den 1960er Jahren verweisen.

Eine inhaltliche Aufladung erfährt das Projekt durch die Referenz an das Nagelhaus in der chinesischen Metropole Chongqing, welches vor einigen Jahren in der internationalen Presse für Aufsehen sorgte. Hier hatte der hartnäckige Widerstand der Besitzer gegen des Abriß eines ganzen Stadtviertels durch Immobilienentwickler ein einzelnes Haus isoliert in der ansonsten leergeräumten Fläche stehen lassen. Der Begriff Nagelhaus hat sich in China aus den Protesten einzelner Hauseigentümer gegen großangelegte Neubauplanungen entwickelt: Das stehen gebliebene Gebäude wird mit einem Nagel verglichen, der in einem harten Stück Holz steckt und nicht entfernt werden kann.

Für das Züricher Nagelhaus greifen Demand/Caruso St. John nicht nur die Nutzung des Referenzgebäudes in Chongqing auf. Entstehen sollte auch ein materialisiertes Nachbild des Ereignisses, dessen abstrahierte und geglättete Haut nicht das Originalgebäude, sondern das mediale Bild reproduziert und dem Platz auf symbolischer Ebene ein Quentchen widerborstiger Urbanität injiziert.

Über die funktionale und stadträumliche Intention des Projekts zur Belebung eines stadträumlich problematischen Areals legen sich eine Auseinandersetzung mit der Thematik von Kopie und Original, von Reproduktion und Rekonstruktion, wie sie Thomas Demand in seiner Kunst thematisiert. Der Verweis auf ein mediales Monument individuellen politischen Handelns erhielt durch die politische Realität eine nicht intendierten Pointe: Das Projekt kam aufgrund einer Volksabstimmung zu Fall, in deren Verlauf die Schweizerische Volkspartei (SVP) das Haus mit dem polemischen Spruch „7 Millionen für a Schissi“ plakativ auf dessen Funktion als Toilettenhäuschen reduziert hatte.

ARCH+, Mi., 2011.11.02



verknüpfte Zeitschriften
ARCH+ 204 Krise der Repräsentation

02. November 2011Anh-Linh Ngo
Diana Bico
ARCH+

Fallstudie Hamburg Gängeviertel

Die Gängeviertel

Die wegen ihrer engen, verwinkelten Gassen als Gängeviertel bezeichneten Arbeiterquartiere sind die charakteristische innerstädtische...

Die Gängeviertel

Die wegen ihrer engen, verwinkelten Gassen als Gängeviertel bezeichneten Arbeiterquartiere sind die charakteristische innerstädtische...

Die Gängeviertel

Die wegen ihrer engen, verwinkelten Gassen als Gängeviertel bezeichneten Arbeiterquartiere sind die charakteristische innerstädtische Siedlungsform des historischen Hamburgs. Aus sozialen und politischen Erwägungen heraus werden diese kleinteiligen Strukturen ab den 1890er Jahren in verschiedenen Sanierungsprogrammen nach und nach durch eine zeitgemäße Bebauung ersetzt. Spätestens nach den Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg ist von dem historischen Stadtgewebe nur noch wenig erhalten. Die letzte zusammenhängende Gängebebauung wird in den 1960er Jahren beseitigt. Heute existieren nur noch wenige Fragmente; eines der Größten – schlicht als das Gängeviertel bekannt – befindet sich zwischen Valentinskamp und Speckstraße in der Hamburger Neustadt.

Hamburger Hausbesetzungsszene

Seit vierzig Jahren werden in Hamburg Häuser illegal besetzt – anfangs vor allem zur Eigennutzung, später auch als politisches Instrument, um auf die Wohnungsnot und den Mangel an sozialen Einrichtungen hinzuweisen oder auch als generelle Kampfansage gegen die Macht des Staates und der Investoren. Dabei präsentieren sich die Besetzer einerseits bewusst militant, andererseits werben sie um Verständnis und Solidarität in der Bevölkerung.

Die ereignisreiche Squatting-Dekade der 80er beginnt mit mehreren eher unpolitischen Hausbesetzungen in Altona-Altstadt, Eimsbüttel und St. Pauli, die alle gemäß der sogenannten Pawelczyk-Doktrin binnen eines Tages von der Polizei beendet werden. Ab Mitte der Achtziger verfolgen die Besetzungen immer häufiger politische Ziele: den Schutz historisch-wertvoller Gebäude und die Errichtung von sozio-kulturellen Stadtteilzentren. Die Akzeptanz in der Bevölkerung wächst, auch offizielle Körperschaften wie etwa die Denkmalpflegebehörde stützen diese symbolischen Besetzungen.

Verhandlungen zwischen Politikern, Eigentümern und Aktivisten finden immer häufiger statt und münden sporadisch in legalisierte Wohnprojekte. Auch die viel beachtete Besetzung der Hafenstraße, die nach einem jahrelangen Wechselspiel aus „Barrikaden-Tagen“ und Verhandlungen 1995 an die eigens gegründete Genossenschaft Alternative am Elbufer verkauft werden.

Eine weitere aufmerksam verfolgte Hausbesetzung spielt sich seit den späten 1980ern im Schanzenviertel ab, wo ein Investor ein altes Theater zu einer Oper ausbauen will. Das Bauprojekt scheitert und das historische Theatergebäude wird besetzt. Seither dient es unter dem Namen Rote Flora als autonomes Stadtteilzentrum, in dessen sich gentrifizierenden Umfeld es jährlich zu politischen Protesten und diffusen Krawallaktionen kommt. 2001 verkauft die Stadt das Gebäude an den Hamburger Immobilienkaufmann Klausmartin Kretschmer. Der Wert des Gebäude ist seitdem um das Hundertfache gestiegen.

In den 90ern wird der Umgang mit den Hausbesetzern deutlich verschärft. Die Besetzungen werden rasch aufgelöst, die betroffenen Gebäude abgerissen und die Grundstücke neu bebaut. Nach einer mehr als zehnjährigen Pause löst die Besetzung des Gängeviertels 2009 wieder eine Reihe von Squatting-Aktionen aus.

Bambule

Parallel zu den Hausbesetzungen finden auch illegale Grundstücksbelegungen durch Bauwagen-Gruppen statt. Teilweise sind die mobilen Besetzungen politisch motiviert und eine Protestform gegen hohe Mieten. Die aufsehenerregendste Räumung, angeordnet vom Innensenator Ronald Schill (Schill-Partei), ereignet sich 2002 auf dem Wagenplatz Bambule im Karolinenviertel.

Hamburger Stadtentwicklung

Die Hamburger Stadtplanung konzentriert sich seit den späten 1990er Jahren vor allem auf Leuchtturmprojekte. 1997 wird das Projekt HafenCity beschlossen und drei Jahre später in einem Masterplan konkretisiert. Das Konzept sieht die Transformation des zentral gelegenen Hafenareals in einen exklusiven Stadtteil vor und setzt eine umfassende Stadtentwicklung in Gang. Im Rahmen des Leitbilds Wachsende Stadt verfolgt der Senat neben der HafenCity weitere Großprojekte wie die IBA/IGA Wilhelmsburg, die Entwicklung Harburgs und die Aufwertung innerstädtischer Bereiche. Die Planungen zielen darauf ab, Hamburg für junge, hochqualifizierte, kreative Arbeitnehmer und vielversprechende Unternehmen attraktiv zu machen und die Innenentwicklung der Stadt massiv voranzutreiben. Ein offensives Marketing verdeutlicht diesen unternehmerischen Stadtentwicklungsansatz.

Recht auf Stadt

Die Wachsende Stadt ruft jedoch auch wachsenden Widerstand hervor. Immer mehr Menschen sehen sich von diesen Planungen für Privilegierte benachteiligt und fühlen sich von der Politik nicht repräsentiert, was sie in zahlreichen Demonstrationen zum Ausdruck bringen. Mit den Jahren formiert sich unter dem Slogan „Recht auf Stadt“ (Henri Lefebvre) ein Netzwerk aus unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten.

Kulturschaffende stellen sich seit langem auf ein Nomadendasein ein. Aufgrund steigender Mieten müssen sie alle Jahre ihre Arbeitsplätze und Behausungen wechseln und werden immer mehr aus innerstädtischen Lagen verdrängt (Gentrifizierungsprozess). Diese prekären Arbeitsbedingungen stehen im Gegensatz zum vom Senat verfolgten Leitbild der Creative City (Richard Florida), das die Bedeutung von Talent, Toleranz, Vielseitigkeit und Kreativität für die Stadtentwicklung betont.

Creative City

Richard Florida: „Wenn man sich ansieht, was das Ausmaß der Innovation antreibt oder die Höhe des Wirtschaftswachstums und des Wohlstands, dann zeigt sich, dass Orte mit einem vergleichsweise höheren Anteil an der kreativen Klasse auch höheres Wirtschaftswachstum haben, höhere Einnahmen, höhere Löhne, mehr Innovation.“
Richard Florida, The Rise of the Creative Class

Not in our name

Die Vermarktung der Kultur und die Instrumentalisierung von Kreativen für die Aufwertung von Stadtteilen kritisiert das 2009 erscheinende Manifest „Not In Our Name, Marke Hamburg!“. Darin kritisieren prominente Künstler die neoliberale Stadtentwicklung und ihre zugewiesene Rolle in dem „Unternehmen Stadt“.

Komm in die Gänge

Nach jahrelanger Vernachlässigung wird die zum Teil denkmalgeschützte Gängeviertelbebauung 2008 an das niederländische Unternehmen Hanzevast verkauft. Die Kündigung aller Mietverträge und die geplanten Abrissarbeiten führen im August 2009 zu einer Besetzung des Gängeviertels durch Kulturschaffende u.a. Fortan wird das Viertel von einer Genossenschaft dauerhaft und medienwirksam mit Ausstellungen, Konzerten und Performances bespielt. Mit prominenter Unterstützung gelingt es der Initiative, die Stadt in zahlreichen Protestaktionen und Verhandlungen dazu zu bewegen, das Grundstück zurückzukaufen und die Besetzung zu dulden. Im September 2011 unterzeichnen die Stadt und die Aktivisten ein Kooperationsabkommen zur Sanierung des Gebiets.

Das Gängeviertel wird bis auf weiteres von der Initiative selbstorganisiert verwaltet.

Erweiterte urbanistische Praxis

Die gemeinsame Sorge um eine verfehlte Stadtentwicklungspolitik (Privatisierung, Gentrifizierung), die zudem vermehrt Kunst und Kreativwirtschaft instrumentalisiert, hat in den letzten Jahren Bündnisse initiiert, die teilweise an stadtpolitische Bewegungen aus den 70er-Jahren erinnern. Man glaubt wieder an die Macht des Protestes. Mischt sich ein, nimmt Stellung, stellt Forderungen. Das Besondere dabei ist, dass die neue Generation über ausgeprägte mediale und ökonomische Kompetenzen verfügt, zudem ist sie es gewohnt, in temporären transdisziplinären Bündnissen zu operieren.

Diese Kompetenzen sind wichtige Voraussetzungen für den Erfolg des Protestes: Sie ermöglichen es, öffentliche Unterstützung zu gewinnen, indem Wahlmöglichkeiten aufgezeigt und tragfähige ökonomische Konzepte angeboten werden (eine unerlässliche Voraussetzung angesichts der Kassenlage der öffentlichen Haushalte). Nach dem Motto „Souverän ist, wer über Grund und Boden verfügt“ wurden alternative Entwicklungsmodelle wie Baugruppen, Syndikatshäuser, Genossenschaften oder alternative Eigentumstitel wie das Erbbaurecht erprobt, um andere Stadtkonzepte und Mischungsverhältnisse von Wohnen und Arbeiten, von Kunst und Gewerbe umzusetzen. Diese Initiativen lassen sich vor diesem Hintergrund als eine erweiterte urbanistische Praxis verstehen.

ARCH+, Mi., 2011.11.02



verknüpfte Zeitschriften
ARCH+ 204 Krise der Repräsentation

20. April 2008Anh-Linh Ngo
ARCH+

Von triebgesteuerten Überzeugungstätern, Nerds und Pornografie

Anh-Linh Ngo: Sie sind als Zeitschriftengestalter mit Titeln wie brand eins, Kid’s wear oder zuletzt 032c bekannt geworden. Darüber hinaus sind Sie in...

Anh-Linh Ngo: Sie sind als Zeitschriftengestalter mit Titeln wie brand eins, Kid’s wear oder zuletzt 032c bekannt geworden. Darüber hinaus sind Sie in...

Anh-Linh Ngo: Sie sind als Zeitschriftengestalter mit Titeln wie brand eins, Kid’s wear oder zuletzt 032c bekannt geworden. Darüber hinaus sind Sie in ganz unterschiedlichen Disziplinen zuhause, mit Apart haben Sie früh in Ihrer Laufbahn selber eine Zeitschrift gemacht, Ihr Tätigkeitsfeld erstreckt sich zudem auf Kunst, Fotografie, Werbung sowie Strategie- und Branding-Beratung für Firmen. Ihr Büro funktioniert eigentlich wie eine Agentur. Wie gehen Sie mit diesen Unterschieden um?

Mike Meiré: Ich habe für mich erkannt, dass ich einer transversalen Kultur angehöre, die sich quer zur funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft bewegt. Ich stelle mich aktiv diesem Zerfließen und dem Ineinanderfließen der kreativen Disziplinen. Wir erleben heute das Phänomen, dass Mode, Design, Musik, Architektur zusammenkommen und man daraus etwas Eigenes generieren kann. Als Gestalter befinde ich mich in der paradoxen Situation, dass ich eher kuratiere als gestalte. brand eins als Wirtschaftszeitschrift macht mir großen Spaß, weil wir es geschafft haben, Wirtschaft als elementare Kraft der Gesellschaft anders als gewohnt zu vermitteln. Ich arbeite da seit vielen Jahren mit einer Redaktion zusammen, die manchmal richtig „hardcore“ redet, man merkt, dass es ihnen um Aufklärung geht. Bei Kid’s wear haben wir es mit einer anderen visuellen und inhaltlichen Kultur zu tun, die ganz andere Schwingungen produziert. Zuletzt kam 032c dazu, wo es um so unterschiedliche Felder wie Politik, Fashion, Kunst und Design geht. Ich achte bei Anfragen für die Gestaltung einer Zeitschrift sehr darauf, aus welchem kulturellen Bereich diese kommt, und im Falle von Arch hat mich das Thema Architektur sofort angesprochen.

ALN: Wie ist Ihr Verhältnis zur Architektur?

MM: Ich habe im Laufe der Zeit festgestellt, dass sich meine Interessen um die drei Begriffe Spirit, Speed und Space drehen. Das ist eine alberne Alliteration, aber diese Formel umreißt ganz gut, worum es mir bei den unterschiedlichen Aufgaben geht: die Haltung, die hinter den Inhalten steht, das Tempo, das diese Inhalte im kulturellen Kontext brauchen, wobei es die ganze Bandbreite von Be- und Entschleunigung umfasst, je nach dem, was richtig ist. Und nicht zuletzt habe ich gespürt, dass ich extrem sensibel gegenüber Räumen reagiere. Ich glaube daran, dass Räume durch ihre physische Präsenz unser Denken beeinflussen, das ist für mich das Interessante an Architektur. Der freie Raum hier in der Factory regt mich zum freien Denken an. Wenn man immer in kleinen Nischen sitzt, dann denkt man vielleicht auch immer in kleinen Nischen. Man sagt ja, dass wir zuerst unsere Häuser formen, dann formen sie uns ...

ALN: Winston Churchill: „We shape our buildings; thereafter they shape us.“

MM: Genau. Ich glaube, dass das zum Teil stimmt. Ich habe es gemerkt, als ich in Tokio war und das Prada-Gebäude von Herzog & de Meuron besucht habe. Ich dachte, ich würde das Gebäude kennen, weil ich es in unzähligen Publikationen gesehen habe. Aber wenn man physisch anwesend ist, dann ist das etwas ganz anderes. Das Gleiche passiert in der Kunst, man kennt die Abbildungen, aber wenn man im Museum vor den Bildern steht, entwickeln sie eine Aura. Ich glaube, dass Räume deshalb für mich wichtig sind, weil sie der real fassbare Kontext für eine Empfindung sind. Leider sind wir in Deutschland ganz gut in mittelmäßiger, uninspirierter „Telekomarchitektur“. Das Problem mit mittelmäßiger Architektur ist ja nicht, dass sie hässlich ist. Es ist vielmehr, dass wir um diesen Raum der Möglichkeiten beraubt werden, der uns daran erinnert, welches Potential in uns Menschen schlummert. Darin sehe ich auch die wahre Pflicht der Architektur, sie ist ein physisches Momentum, das uns kurz aus der effizient funktionierenden Alltagsstruktur entrückt. Wir haben allerdings zu wenige moderne, zukunftsorientierte Räume, die uns diese mögliche Erfahrung vermitteln.

ALN: Sie sprechen damit ein tiefgreifendes Problem an, das mit der spezifisch deutschen Auseinandersetzung mit der Moderne zu tun hat und weit in die Nachkriegszeit zurückreicht, wie es Thilo Hilpert in seinem Beitrag „Land ohne Avantgarde“ analysiert hat. Was mir jedoch auffällt, ist, dass Sie den Begriff modern sehr häufig benutzen. Was bedeutet es für Sie, modern zu sein? Ich frage auch deshalb, weil es das Selbstverständnis von Arch berührt. Wir sehen uns im Sinne von Habermas als Teil einer unvollendeten Moderne, wobei Moderne als Bewegung, als Projekt, an dem es zu arbeiten gilt, und nicht als Stil zu verstehen ist. Otl Aicher, der lange Zeit das Erscheinungsbild von Arch bestimmt hat, sprach von einer „anderen Moderne“. Es gibt also ganz unterschiedliche Konnotationen. Was heißt es heute, modern zu sein angesichts großer antimoderner Tendenzen in der Gesellschaft?

MM: Ich denke, es ist wichtig, sich zu vergewissern, woher man kommt. Ich habe mich sehr früh, vielleicht mit 17, für das Bauhaus interessiert. Ich habe versucht, diese Ideen mit meiner eigenen Zeitschrift Apart in die Gegenwart zu überführen. Modern zu sein bedeutete für mich damals, dass ich mir eine eigene Kultur schaffen kann, eine Kultur, in der ich meine eigene Typografie entwickle, meine eigene Zeitschrift mache, in der ich über Dinge berichte, die mich interessieren. Wenn man es verallgemeinern will, so geht es letztlich um Architektur, also darum Räume zu bauen, eine Welt zu erschaffen, in der man sein eigenes „Theatrum“ gestaltet, wobei alles von einer nach vorne gerichteten DNA durchzogen ist.
Ich habe allerdings irgendwann gemerkt, dass ich in dem „Bauhaus-Gebäude“ gefangen war. Vor allem in den 80ern, als ich mir das Diktat auferlegt habe, nur mit einer Schrift, mit der Neuen Helvetica, zu arbeiten. Es ging nicht darum, mich zu disziplinieren. Es ist nur manchmal hilfreich, wenn man sich in seinen Möglichkeiten limitiert, gerade wenn man glaubt, man sei kreativ. Innerhalb dieser selbst gesteckten Limitierung kann man dann versuchen, Überraschungen zu produzieren. Man denkt dann nicht mehr über den Wechsel einer Schrift nach, sondern eher darüber, ob man groß oder klein schreibt, die Schrift mittig, links- oder rechtsbündig setzt, was man mit dem Spacing, was mit dem Durchschuss macht.
Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Das war eine gute Schule, aber ich habe auch gemerkt, dass es eine Sollbruchstelle braucht, und diese Sollbruchstelle ist der moderne Aspekt der heutigen Zeit. Ich glaube, heute modern zu sein bedeutet, die Sollbruchstelle auszuhalten. Es ist die Erkenntnis, dass das Leben nicht nach einer Agenda funktioniert. Modern benutze ich im Sinne von progressiv. Wir leben schließlich nicht von der Vergangenheit, sondern von der Zukunft. Dennoch müssen wir zurückschauen, weil wir eine Herkunft haben. Aber diese Herkunft unterliegt immer einer Transformation. Ein gutes Beispiel aus der zeitgenössischen Kunst ist die Neo-Moderne, die diesen Rückgriff auf die Moderne wagt, aber eigentlich implizit das Scheitern dieser Utopie zum Thema macht. Ruinöse Malerei nennt beispielsweise der Maler Alexander Lieck seine Bilder, die sich auf die konstruktive Avantgarde bezieht. Er benutzt die Moderne als Matrix der Vergangenheit, um darüber wieder andere Schichten zu legen.

ALN: Was können wir durch den Rückblick lernen? Dieses Heft ist ja ein solcher Rückblick, der in die Zukunft gerichtet ist.

MM: Wir haben natürlich den Vorteil, dass wir heute zurückblicken und aus den Fehlern der Vergangenheit lernen können. Ich glaube, dass Leute wie Otl Aicher in ihrem zeitlichen Kontext eher die Aufgabe hatten, Qualität sichtbar zu machen. Sie sind aber manchmal Opfer ihrer eigenen Ideologie geworden, weil sie Dinge zu sehr manifestieren, festschreiben wollten. Im Gegensatz zu früher muss man heute nicht mehr Qualität sichtbar machen. Es geht heute eher darum, eine Haltung auszudrücken. Denn wir orientieren uns heute mehr an Haltungen, die selbstverständlich mit einer Qualität gekoppelt sein müssen, aber man muss sie nicht mehr rein formal betrachten. Deshalb arbeite ich in unterschiedlichen Stilen, immer aus dem Kern einer Sache heraus, und das nenne ich „Ästhetik für Substanz“. Ich glaube, als Gestalter befindet man sich heute in der Rolle eines Agenten, der spüren muss, für welche Unternehmung es welcher kulturellen Codes bedarf, die es dann zu visualisieren gilt. Allerdings ist das Produkt nur dann glaubwürdig, wenn diejenigen, die den Inhalt machen, sprich die Redaktion, tatsächlich diese Kultur auch ein Stück weit nachvollziehbar leben kann. Wenn das zutrifft, hat man als Gestalter dann das Glück, etwas zu produzieren, das kulturelle Relevanz besitzt.

ALN: Vielleicht bedarf es einer gewissen Radikalität, um kulturelle Relevanz zu erzeugen. Damit sind wir bei der Frage angelangt, die Sie vorhin kurz angeschnitten haben und die wir in diesem Heft implizit behandeln, nämlich warum seit geraumer Zeit im Bereich der Architektur, ganz anders als in der Kunst, kaum relevante Impulse von Deutschland ausgegangen sind. Diese Situation spiegelt sich in der Medienlandschaft wider. Wenn wir die Zeitleiste der „Radikalen Architektur der kleinen Zeitschriften 196X–197X“ in diesem Heft betrachten, dann fällt auf, dass im Gegensatz zu Ländern wie England, Italien, Spanien, Österreich, Amerika oder Frankreich, also Länder, die kontinuierlich wichtige Beiträge geliefert haben und liefern, in Deutschland eine solche Entfaltung an Publikationsformaten und Inhalten ausgeblieben ist. Arch bildet darin die einsame Ausnahme. Fern von jeglicher Arroganz kann man darin das Fehlen eines Diskurses ablesen, unter der die deutsche Architektur, aber auch Arch , strukturell leidet. Die Synopse zeigt symptomatisch das, was man als Radikalitätsdefizit im diskursiven Sinne nennen könnte.
Sie haben daran angeknüpft und ein Konzept erarbeitet, das Sie als „visuell konsequente Radikalisierung des Inhalts“ beschreiben. Wie sieht heute die „radikale Architektur“ einer kleinen Zeitschrift aus, Architektur im doppeldeutigen Sinne als Aufbau der Zeitschrift und als Architektur, die darin abgebildet wird.

MM: Es ist natürlich als Deutscher besonders schwierig, von Radikalisierung zu sprechen. Das kann schnell missverstanden werden. Aber ich denke, wir haben keine andere Chance. Wir leben heute in einer unglaublichen Marketingwelt. Ich habe in den letzten 20 Jahren hautnah mitbekommen, wie Marken aufgebaut werden, wie sie sich bestimmter kultureller Codes bemächtigen. Ich habe ja selbst meinen Teil dazu beigetragen. Wir sind aber an einem Punkt angelangt, wo man das Gefühl der Gleichmacherei nicht mehr loswird. Im Zuge der Globalisierung setzt sich so etwas wie ein internationaler Stil durch, ein geschmäcklerischer Minimalismus. Wenn ich heute von Radikalisierung spreche, dann meine ich das eigentlich eher im Sinne von Josef Beuys als Aufruf zur Alternative. Wir haben zu viel vom Ewiggleichen, was es braucht, ist ein Unterschied, der einen Unterschied macht. Und ich glaube, den kriegen wir in dieser weichgespülten Medienkultur nicht. Wir brauchen wieder eine bestimmte Form von Antiperfektionismus. Ich möchte nicht professionell sein, ich möchte stattdessen das Charismatische ausarbeiten. Ich versuche eher das radikale Moment darin zu definieren, dass es den Charakter des Andersartigen zulässt.

ALN: Was heißt das konkret für das Redesign?

MM: Nachdem wir die alten Hefte durchgesehen haben, habe ich mich gefragt, warum ich die Relevanz, die diese Zeitschrift inhaltlich in der Szene hat, nicht fühlen kann? Ich bin ja kein Typograf im klassischen Sinne wie Erik Spiekermann oder Neville Brody, aber ich hatte das Gefühl, dass es damit zusammenhängt, dass die Rotis, die an sich eine wunderschöne Schrift ist, heutzutage eine solche Corporate-Typografie geworden ist, dass sie für mich unweigerlich nicht nach einer Alternative aussieht, sondern den Eindruck eines weiteren Corporate-Magazins vermittelt. Sie mag ursprünglich eine andere Intention gehabt haben, aber die Wahrnehmung hat sich gewandelt, so dass das Schriftbild der Rotis für Arch kontraproduktiv geworden ist.
Gerade in der heutigen Marketingwelt, in der Nischen besetzt werden, um nur ein weiteres Marketingprodukt zu kreieren, brauchen wir mehr denn je den Idealismus von einzelnen Überzeugungstätern, die eine Alternative anbieten. Ich habe auch deshalb spontan zugesagt, weil ich glaube, dass ich es bei Arch mit einer solchen Truppe von echten Überzeugungstätern zu tun habe, die so viel Idealismus und einen großen wichtigen Teil ihrer Lebenszeit dafür einbringen. Deswegen wollte ich bei dem Redesign von Arch wieder zurück zu den Wurzeln, aber nicht in einem nostalgischen Sinne. Vielmehr um an den Punkt anzuknüpfen, wo ein Bewusstsein, ein Sendungsbewusstsein aufgekommen ist, das sich in Form einer Zeitschrift verselbständigt hat. Die erste Ausgabe vor genau 40 Jahren in ihrem konsequenten Schwarz-weiß-Design mit dem klaren Arch Logo hatte die Form eines Manifestes. Ich sehe in Arch nicht nur Architektur, sondern auch den Archetyp, daher wollte ich wieder etwas Archetypisches schaffen, aber in einem heutigen Sinne, in der heutigen Zeit.
Die meisten Architekturzeitschriften sind heute hyperprofessionell gemacht, dadurch werden sie aber auch Opfer ihrer eigenen Professionalität in der Darstellung. Alles sieht super aus, fantastische Bilder, beste Geschichten, aber man kriegt gar nicht mehr mit, was das Anliegen ist. Dadurch wird alles redundant, ist nur noch Geräusch, wenn auch schönes Geräusch. Aber was ich wollte, um in dieser Metapher zu bleiben, ist, Arch durch die Gestaltung wieder zu seiner ursprünglichen Sprache zu verhelfen. Und deswegen wollte ich weg von den Rotis-Konditionierungen im Sinne eines Corporate-Magazins, um wieder deutlich zu machen, dass es hier um eine Form von Anarchie geht. Eine gewisse Rohheit, eine Ungeschliffenheit, die nicht vordergründig zu gefallen versucht. Mit brand eins habe ich so etwas wie eine klassische Schönheit des Feuilletons definiert, was mir nach wie vor wichtig ist, denn ich glaube weiterhin an die Kraft der Schönheit. Aber ich glaube auch, nachdem heute alles schön aussehen kann, wird diejenige Schönheit immer wichtiger, die sich erst auf dem zweiten Blick erschließt. Wenn man als Leser dieses Heft wirklich durchgearbeitet hat, wird man erkennen, wie wertvoll es geworden ist; durch die Aneignung entsteht so etwas wie eine Kostbarkeit. Man muss heute eher ein antizyklisches Gestaltungsverhalten an den Tag legen, das jetzt mit dem Label „Ugly“ versehen worden ist, aber um Hässlichkeit geht es gar nicht, sondern im Falle von Arch ist es dieses brutale Bekenntnis zum Inhalt.

ALN: Wie haben Sie dieses Bekenntnis in die Gestaltung übersetzt?

MM: Indem ich die Typo fast bis zum Rand ausgedehnt habe. Das heißt, ich möchte so wenig Weißraum wie möglich haben, weil jede Seite wichtig ist; deswegen muss die Seite von oben bis unten vollgeschrieben sein. Oder die Seiten müssen mit Bildern gefüllt sein. Ich bin davon überzeugt, dass schöner, ausbalancierter Weißraum heute von mündigen Lesern als Design-Geste gelesen wird. Und ich finde, jetzt ist mal Schluss mit Design. Wir brauchen erstmal wieder Aufrichtigkeit. Also keine Verschönerung, keine Make-up-Prozesse mehr, das meine ich mit „Ästhetik für Substanz“. Diese Substanz muss natürlich geliefert werden, und da gibt es nicht viele. Arch gehört zu den wenigen, die Substanz liefern. Dementsprechend macht es auch Spaß, das Ganze so umzudrehen, weil ich weiß, dass es nicht darum geht, Grauwerte zu strukturieren, sondern Dringlichkeit zu gestalten.
Arch ist aber auch kein Museum, wir schauen nicht nostalgisch zurück, daher bringen wir bewusst die vielen Faksimiles, die wir als Beweisführung für die These der radikalen kleinen Zeitschrift haben, nicht mit einem weißen Passepartout und stellen sie dadurch auf einen Sockel, sondern wir zoomen rein, wir sind respektlos im Umgang mit ihnen. Ich möchte diese vermeintliche Feinheit ausblenden, ich möchte, dass es wirklich into your face ist oder besser into your soul bzw. into your brain. Es muss also unmittelbar, direkt sein. Ich glaube, dass auch Architektur so funktionieren muss, sie darf nicht kalkuliert erscheinen. Beim Design habe ich zu häufig das Gefühl, dass alles bis ins Kleinste kalkuliert ist. Das Problem ist doch, dass heute alles einer Absicht folgt. Und diese Absicht wird vorgegeben, sie ist das Ergebnis eines Businessplans. Was ich wieder einfordere, ist Absichtslosigkeit.

ALN: Genauso hat Baudrillard Radikalität einmal definiert: „losgelöst von aller Bedeutung, aller Finalität, aller Kausalität“. Etwas, das über sich hinausweist, das nicht ein bestimmtes vorgegebenes Programm zu erfüllen oder die Realität widerzuspiegeln versucht. – Was hat es mit dem schwarzen Balken auf sich, der sich auf jeder Seite wiederholt?

MM: Der schwarze Balken, der oben auf der Seite steht, stellt ein solches radikales Moment dar. Man kann ihn irgendwie stilistisch lesen, aber er ist einfach eine Konstante, die sich ganz radikal oder stoisch über jede Seite durchquält. Es würde ja reichen, den Balken lediglich auf der ersten Seite einer Rubrik einzusetzen und dazwischen nicht zu wiederholen. Nein, er ist wie ein Stempel, wie ein Gütesiegel, noch mal drauf, noch mal drauf und noch mal drauf. Ansonsten ist die Gestaltung möglichst schwarz-weiß und ungeschönt, Dinge sind grob wie mit der Nagelschere freigestellt. Schließlich geht es nicht um Perfektion, auch nicht darum, einen Preis für die beste Lithografie zu bekommen, sondern es geht um einen Moment aufrichtiger Auseinandersetzung, darum, das Zeitschriftenmachen als eine Art Schöpfungsprozess zu zeigen. Und am Ende dokumentiert das Heft an sich diesen Findungsprozess, diese Auseinandersetzung. Wir knüpfen damit an jenen Moment an, als Menschen zusammenkamen, die nichts über das Magazinmachen wussten, aber wussten, sie mussten der Welt etwas mitteilen. Und dieses Gefühl, diese Dringlichkeit möchte ich im Design spürbar machen.

ALN: Diese Dringlichkeit umschreiben Sie mit dem Begriff des Manifestes. Sie sagten, Arch müsse die Sprache eines Manifestes sprechen. Nur wissen wir allzu gut, dass die Zeit des Manifestes vorbei ist. Stattdessen haben wir es heute mit „passiven Manifesten“ zu tun, wie es Rem Koolhaas während des Interview-Marathons formuliert hat. Diese Erkenntnis durchzog wie ein roter Faden viele Gespräche, die er und Hans Ulrich Obrist im Rahmen der Teilnahme von Arch am Zeitschriftenprojekt der documenta 12 geführt haben. „Passives Manifest“ heißt, dass es heute nicht darum geht, irgendeine Überzeugung oder Eingebung zu verkünden, sondern aus der sehr genauen Beobachtung der Wirklichkeit heraus Dinge so zu verdichten, dass sie den Charakter eines Manifestes annehmen.

MM: Das ist eine perfekte Beschreibung dessen, was wir wollten. Ein Manifest als hoch verdichtetes Angebot. Das Radikale dabei ist, dass wir es so verdichten, dass man die härtere Gangart spürt. Man kriegt heute ja praktisch jedes Design hinterher geworfen, alles ist verfügbar, deswegen hat der Biedermeier tausend Möglichkeiten, sich zu tarnen.

ALN: Damit sprechen Sie ein inhaltliches Problem der Medien an. Aber es gibt daneben auch eine medientheoretische Ebene, die wir im Heft mit dem Exkurs „Buchdruck“ beleuchtet haben. Die These lautet, dass, um es mit Victor Hugo zu sagen, „der menschliche Gedanke mit der Änderung seiner Form auch die Ausdrucksweise ändern werde.“ Das bedeutet, wenn sich die Medien, mit denen wir unsere Gedanken ausdrücken, ändern, unsere Art zu denken sich ebenfalls ändern wird. Wir haben den Bogen bewusst weit gespannt, angefangen bei der einschneidenden medientechnischen Revolution des Buchdrucks, über die 20er Jahre hin zu der Blüte der kleinen Zeitschriften in den 60er und 70er Jahren, die als eine Reaktion auf neue Möglichkeiten im Printbereich gelesen werden kann. Die Digitalisierung haben wir nicht behandelt, weil wir in den kommenden Heften darauf eingehen wollen. Wie denken Sie werden sich die digitalen Medien auf das Zeitschriftenmachen auswirken?

MM: Ich glaube, die ewige Diskussion darum, dass die digitalen Medien die Zeitschriften plattmachen werden, hat sich erübrigt. Ich glaube sogar, dass die Zeitschriften dadurch noch kostbarer geworden sind. Das Medium ist ein Traum, die haptische Qualität, das Knistern beim Blättern, der Duft. Andererseits besteht die digitale Möglichkeit darin, dass man heute ohne viel Aufwand Zeitschriften selber machen kann. Es geht schneller, professioneller im technischen Sinne.

ALN: Es bestehen somit eigentliche ideale Voraussetzungen für das, was in den 60ern und 70ern passiert ist.

MM: Ja, die Chance der digitalen Medien besteht gerade in ihrer schnellen Machbarkeit. Aber derzeit ist das meiste absolut belanglos, die Sachen sind zwar super gestaltet, kommen wichtig daher, aber es sind vorwiegend frisierte PR-Texte. Man muss richtig suchen bis man Dinge entdeckt, wo das Visuelle und der Inhalt eine fruchtbare Verbindung eingehen. Das Problem ist, dass die Leute zu wenig wagen. Alles sieht toll aus, weil man heute alles toll aussehen lassen kann. Aber das ist alles nur Make-up. Ich glaube, das Grundproblem liegt darin, dass es nur ganz wenige Überzeugungstäter in den Redaktionen gibt, die eine Idee, eine Haltung haben, für die sie auch einstehen. Das ist sicherlich auch ein Problem der Verlage, die einfach Geld verdienen wollen. Nicht, dass man nicht Geld verdienen will, aber man muss erstmal eine Idee haben, man muss eine Haltung gegenüber den Dingen entwickeln, die in der Welt passieren. Mitte der 90er habe ich drei Jahre mit Peter Saville das Joint Venture „The Apartment“ in London gehabt. Wir haben kaum gearbeitet, wir saßen immerzu auf dem Sofa und haben geredet. Das ist auch eine wahnsinnige Qualität von Saville, dass man sich erst einmal über die Dinge im Klaren sein muss, bevor man beginnt. Es geht um Stoßrichtungen, um Intensität. Wir haben heute zu viele talentierte Tuner. Ich glaube, Talent ist das geringste Problem, das wir in Deutschland haben, vielmehr ist es ein Fehlen an historisch verwurzelter Haltung, an radikalem Engagement, um Dinge zu erschaffen, die für den Diskurs relevant sind. Dinge, die die richtige Schwingung haben. Manchmal ist diese Schwingung richtig gefährlich, vielen vielleicht zu gefährlich.

ALN: Ihr Verhältnis zur Typografie ist ...

MM: ... konzeptionell, absolut konzeptionell. Ich bin kein klassischer Typograf.

ALN: Abgesehen davon, dass die Futura in der ersten Arch benutzt wurde, gibt es für Sie andere Gründe, sie jetzt mit der Times wieder einzuführen?

MM: Das führt uns wieder zu der Frage zurück: Was heißt heute modern? Ich arbeite in der Regel mit drei, vier Schrifttypen, darunter die Helvetica oder die Futura als Grotesk. Für mich steht die Futura nicht allein wegen ihres Namens für Modernität. Was ich an ihr mag, ist, dass sie so geometrisch aufgebaut, so konstruiert ist. Auch die Moderne ist ja eine Kopfgeburt, ein Konstrukt. Die Futura besitzt eine Reinheit, die ich wieder entdecke. Das sieht man zum Beispiel ganz gut am kleinen a. Bei der Helvetica hat man einen Bogen drüber und einen kleinen Bauch, bei der Futura lediglich einen Kreis und einen Strich. Die Futura ist im Grunde eine Architekturschrift. Sie hat mehr Rückgrat. Ihre Gangart ist linearer, radikaler als die Helvetica.
Und wenn sich Dinge für mich noch auf einer Gedanken- oder Theorieebene befinden, dann arbeite ich gerne mit einer Schreibmaschinenschrift, also der Courier. Und wenn ich den Leser feuilletonistisch zum Lesen verführen, ihn auf eine andere Ebene überführen möchte, damit er sich in der Geschichte verliert, dann kommt die Times als Serif zum Einsatz, weil sie den Duktus eines Buches vermittelt. Aber Arch ist kein Buch, und die Courier würde auch nicht funktionieren. Die Futura gibt dem Layout eine gewisse Gradlinigkeit, die aber durch eine gewisse Rotzigkeit gestört wird. Wir werfen immer wieder Sand ins Getriebe. Das sind beispielsweise die Faksimiles, die teilweise unscharf sind, teilweise nicht perfekt, teilweise angegilbt, die bewusst in dieses strenge Raster gepresst werden. Das ist die Sollbruchstelle, die Komplexität der Gegenwart, von der ich gesprochen habe. Ich möchte die Dringlichkeit von Pornoseiten, in dem Sinne, dass ich das Triebgesteuerte zum Thema machen möchte.

ALN: Wie verbindet sich das mit einer theoretischen Zeitschrift?

MM: Was mich an Arch interessiert, ist nicht in erster Linie die Intellektualität, sondern dass die Redaktion sich ihren Trieben stellt. Sie trägt diesen Wahn in sich, alles akribisch aufzuklären, zu hinterfragen, das ist eigentlich irre, das ist so nerdy, aber das ist so kostbar, weil es Arch von anderen unterscheidet. Wenn wir nach Beuys alle Künstler sind, wenn Steve Jobs uns alle ein Laptop gegeben hat, dann können wir alle alles machen, wo ist der Unterschied?

ALN: Da wären wir wieder bei Peter Saville: „Das Einzige, was es noch nicht gab, ist man selbst.“

MM: Genau, dann ist man als befreites oder als lustgeplagtes Individuum gefordert, man kann dann seine Triebe ausleben oder sich ihnen stellen. Wir leben in einer Kulturgesellschaft und wir machen diese Kultur. Diejenigen, die sich nicht bewusst einbringen, werden letztlich Opfer ihrer eigenen Untätigkeit.

ARCH+, So., 2008.04.20



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ARCH+ 186/187 Radikale Architektur

21. Mai 2007Anh-Linh Ngo
ARCH+

Vom Unitären zum Situativen Urbanismus

Als im Mai 2005 die Ergebnisse des Shrinking Cities Wettbewerbs in archplus 173 vorgestellt wurden, konstatierten wir eine Wende in der Planungspraxis, die sich bereits in den beiden Ausgaben zur Off-Architektur (166/167) herauskristallisiert hat. Diese Wende ließe sich kurz als eine Bewegung weg von statischen Planungs- und Arbeitsweisen hin zu kleinteilig individuellen und offen performativen Strategien umreißen. Diese Veränderung spiegelt eine Machtverschiebung im Gefüge der an der Raumproduktion Beteiligten wider, denn nichts anderes bedeutet es, wenn gegenwärtig der einzelne Akteur und sein Umgang mit dem Vorgefundenen eine neue Wertschätzung erfährt.
Dieser gesellschaftspolitische Ansatz erlaubt es, das kreative Spannungsfeld zu beschreiben, das sich, um mit Foucault zu sprechen, in den Handlungsräumen der Individuen zwischen Selbst- und Herrschaftstechnologien eröffnet.

Das Thema hat uns nicht wieder losgelassen. Es stellt sich nämlich die Frage, woher und warum mit solcher Vehemenz und warum gerade jetzt Strategien zum Vorschein kommen, die uns einerseits neu, anderseits sehr vertraut vorkommen.

Vertraut, weil von Partizipation, von Selbstermächtigung, von Ermöglichung seit den 1960er Jahren die Rede ist. Vertraut auch, weil diese Strategien Teil der politischen Geschichte dieser Zeitschrift sind. Trotz allen Unkenrufen deutet vieles daraufhin, dass Politik wieder en vogue ist – und zwar Politik im performativen, prozess- und handlungsorientierten und nicht im institutionellen Sinne (siehe Urban Catalyst zu temporären Nutzungen (S. 84) und Fezer/Heydens kritische Betrachtung partizipativer Planungstraditionen (S. 92). Damit laufen die allfälligen Vorwürfe ins Leere, es handele sich um „subpolitische“ und „subplanerische“ Scheingefechte, wenn Planer nicht mehr Pläne zeichnen, sondern sich als Initiatoren, als Anwälte für die Aneignung von Raum verstehen.
Die Umgehung des institutionellen Gefüges dient nämlich dazu, direkt und performativ auf den gesellschaftichen Raum einzuwirken.

Als im Mai 2005 die Ergebnisse des Shrinking Cities Wettbewerbs in archplus 173 vorgestellt wurden, konstatierten wir eine Wende in der Planungspraxis, die sich bereits in den beiden Ausgaben zur Off-Architektur (166/167) herauskristallisiert hat. Diese Wende ließe sich kurz als eine Bewegung weg von statischen Planungs- und Arbeitsweisen hin zu kleinteilig individuellen und offen performativen Strategien umreißen. Diese Veränderung spiegelt eine Machtverschiebung im Gefüge der an der Raumproduktion Beteiligten wider, denn nichts anderes bedeutet es, wenn gegenwärtig der einzelne Akteur und sein Umgang mit dem Vorgefundenen eine neue Wertschätzung erfährt.
Dieser gesellschaftspolitische Ansatz erlaubt es, das kreative Spannungsfeld zu beschreiben, das sich, um mit Foucault zu sprechen, in den Handlungsräumen der Individuen zwischen Selbst- und Herrschaftstechnologien eröffnet.

Das Thema hat uns nicht wieder losgelassen. Es stellt sich nämlich die Frage, woher und warum mit solcher Vehemenz und warum gerade jetzt Strategien zum Vorschein kommen, die uns einerseits neu, anderseits sehr vertraut vorkommen.

Vertraut, weil von Partizipation, von Selbstermächtigung, von Ermöglichung seit den 1960er Jahren die Rede ist. Vertraut auch, weil diese Strategien Teil der politischen Geschichte dieser Zeitschrift sind. Trotz allen Unkenrufen deutet vieles daraufhin, dass Politik wieder en vogue ist – und zwar Politik im performativen, prozess- und handlungsorientierten und nicht im institutionellen Sinne (siehe Urban Catalyst zu temporären Nutzungen (S. 84) und Fezer/Heydens kritische Betrachtung partizipativer Planungstraditionen (S. 92). Damit laufen die allfälligen Vorwürfe ins Leere, es handele sich um „subpolitische“ und „subplanerische“ Scheingefechte, wenn Planer nicht mehr Pläne zeichnen, sondern sich als Initiatoren, als Anwälte für die Aneignung von Raum verstehen.
Die Umgehung des institutionellen Gefüges dient nämlich dazu, direkt und performativ auf den gesellschaftichen Raum einzuwirken.



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archplus 183 Situativer Urbanismus

Architektur oder Revolution*

Mit dieser Ausgabe setzen wir nach archplus 179 „Oswald Mathias Ungers. Berliner Vorlesungen 1964/65“ die Auseinandersetzung mit Ungers’ Lehrkonzept fort....

Mit dieser Ausgabe setzen wir nach archplus 179 „Oswald Mathias Ungers. Berliner Vorlesungen 1964/65“ die Auseinandersetzung mit Ungers’ Lehrkonzept fort....

Mit dieser Ausgabe setzen wir nach archplus 179 „Oswald Mathias Ungers. Berliner Vorlesungen 1964/65“ die Auseinandersetzung mit Ungers’ Lehrkonzept fort. Während die Berliner Vorlesungen den theoretisch-methodischen Ansatz seiner frühen Lehrtätigkeit aufzeigen, gibt das vorliegende Heft einen zu den Vorlesungen komplementären Überblick über seine praktisch-schöpferische Lehrauffassung, die in unzähligen Projekten und vor allem in den berühmten Veröffentlichungen zur Architektur ihren Ausdruck fanden. Den Reichtum der explizit als Materialsammlung angelegten Ausgabe verdanken wir der exzellenten Arbeit von Erika Mühlthaler, die als Gastredakteurin ihren zur Ausstellung „Lernen von O. M. Ungers“ an der TU Berlin erschienenen Katalog in einer von uns leicht gekürzten und redigierten Fassung erneut herausgibt.

Warum in kurzer Folge zwei Ausgaben zu Ungers? Es geht uns ausdrücklich nicht um einen wie auch immer gearteten Personenkult. Vielmehr erlaubt es die unvergleichliche Materialsammlung, von den Wochenaufgaben bis zu den Diplomarbeiten zu verfolgen, was es heißt, in der Architektur nicht nur die Kunst zu sehen, „Bindungen“ einzugehen – ein Architekturbegriff, der Regelhaftigkeit einfordert –, sondern auch, was es bedeutet, den Ort selbst zum Gegenstand des Studiums zu machen, sich mit der Stadt auseinander zu setzen.1 Berlin ist seit Ungers Thema. Thema ist aber nicht nur die Stadt selbst, sondern an Berlin ist auch die Hoffnung geknüpft, dass von hier aus eine Erneuerung der Architektur ausgehen könnte.

Und sie tat es auch. Wenn auch in einem ganz anderen Sinne als erwartet. Es scheint in der deutschen Architekturgeschichte immer wieder Schichten zu geben, die zunächst verdrängt und erst über den Umweg einer Rezeption von Außen in ihrer ungeheuer anregenden Bedeutung wahrgenommen werden können. Die „Berliner Geschichte(n)“ von Rem Koolhaas in dieser Ausgabe belegen es. (S. 68) Das dialektische Verhältnis zwischen Ungers und Koolhaas ist jedoch zugleich ein gutes Beispiel dafür, was „Lernen von Ungers“ tatsächlich bedeuten könnte. Für den jungen Koolhaas waren die Berliner Studentenarbeiten nicht nur ausschlaggebend für seine Entscheidung, Ungers nach Cornell zu folgen, sondern sie eröffneten ihm auch ein Spektrum von Ideen, die er aufgriff, methodisch weiterentwickelte und in verschiedenen Projekten vervollkommnete, während die deutschen Schüler, die einen Richtungswechsel einzuläuten schienen, lediglich eine Hoffnung auf die Zukunft blieben. Statt die Offenheit des Ungersschen Denkraums als Anregung für eine eigenständige Weiterentwicklung der Architektur zu nutzen, herrschen in Deutschland allzu häufig einseitige Interpretation, Besitzansprüche und Epigonentum vor.

Was sind die Gründe für das Misslingen des Berliner Experiments? Als Begründung wird an dieser Stelle immer das Destruktionspotential der Studentenbewegung angeführt und die
68er dafür verantwortlich gemacht, dass die Rückeroberung des Bauens durch die Ungerssche Lehre so jäh endete. Ein Argument, so falsch wie richtig.2 Der Einbruch des Politischen erweiterte, veränderte aber auch das Verständnis von Architektur und Gesellschaft grundsätzlich. „Architektur und Gesellschaft“ hieß auch das erste Seminar der Kritischen Universität an der TUB. Es war der erste Schritt zu einer, wenn auch anfänglich äußerst abstrakten, kritisch-historischen Aufarbeitung der unterdrückten Seite der Moderne, nämlich ihre sozialrevolutionäre und sozialreformerische Geschichte, die es später erlauben sollte, sich dem Verhältnis von Architektur und Gesellschaft konkreter zu nähern. In den 1960er Jahren war es noch ein sich gegenseitig ausschließendes Verhältnis, das damals nur einseitig zu lösen war: Revolution oder Architektur.

ARCH+, Di., 2007.01.09



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archplus 181/182 Lernen von O. M. Ungers

08. September 2006Stephan Becker
Anh-Linh Ngo
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Innenleben des Städtischen

Insideout – ein Tanztheaterstück von Sasha Waltz & Guests

Insideout – ein Tanztheaterstück von Sasha Waltz & Guests

Das Tanztheaterstück „insideout“ von Sasha Waltz kann als eine Parabel für das Leben in der Moderne gelesen werden. Dieses Leben, das Georg Simmel prototypisch in der Großstadt verwirklicht sieht, wirft permanent Fragen nach dem Verhältnis von historischem Erbe, Herkunft und Identität, gesellschaftlichen und individuellen Werten sowie deren Gegensätzlichkeiten und Widersprüche auf, die ganz spezifische Lebensstile und Identitäten prägen. Insofern lässt sich „insideout“ auch als Erzählung über die Stadt auffassen: das persönliche Leben als Triebfeder des Gemeinsamen, das in unzähligen Abmachungen immer wieder neu entstehen muss.

Dementsprechend waren der Ausgangspunkt des Stücks die autobiografischen Erfahrungen der einzelnen Mitglieder der Compagnie. In persönlichen Interviews konnten sich die Darsteller mit ihrer Herkunft und ihren Hintergründen in die künstlerische Entstehung des Stücks einbringen. Die Geschehnisse auf der Bühne folgen auf sehr persönliche Weise dieser Mikrohistorie und widersetzen sich in ihrer Vielfältigkeit der Vereinnahmung durch eine kohärente Erzählung. Folgerichtig entwickelt sich das Stück choreografisch zeitgleich in allen Räumen des Bühnenraums und der Fokus wird nur minimal geführt. Lediglich in der Ferne scheint es eine Dramaturgie zu geben, deren Auswirkungen wie Schockwellen in den Handlungen der Akteure sichtbar werden. Doch gerade durch diesen Abstand zum eigentlichen Ursprung treffen sich die Elemente und verdichten sich die Geschehnisse: Alles scheint nicht nur aufgrund willkürlicher Nähe, sondern durch subtile Bedeutungen verknüpft zu sein. So werden in den persönlichen Hintergründen der Schauspieler auch grundsätzliche Ideen vom Zusammenleben sichtbar und gerade im dichten Geflecht gegenseitiger Bezüge liegt das städtische Moment von insideout.

Das Fragmentarische und die Vielschichtigkeit des Lebens spiegeln sich in dem atmosphärisch dichten Bühnenkonzept von Sasha Waltz und Thomas Schenk. Die Intensität des Stücks entsteht somit auch aus dem Bühnenraum selbst, der analog zu den vielfältigen Erfahrungen der Darsteller eine Vielzahl von Räumen mit ganz unterschiedlichen atmosphärischen Qualitäten bietet. Gleich einem Flaneur durchwandert der Zuschauer die Raumbühne, die wie eine Stadt mit engen Gassen, Treppen, intimen Räumen und offenen Plätzen angelegt ist. So gibt es die Weite des Blicks, durch den die architektonischen Fragmente zu modernen Gebäuden zu werden scheinen, die dank großer Fenster Einblicke in ihre Innenräume gewähren. Zugleich verengt sich der Raum an anderer Stelle und wird fast dörflich in der Ansammlung kleinerer, verschlossener Objekte. Der Besucher ist eingeladen, sich das Geschehen selbst zu erschließen und sich frei zwischen der Architektur und den Darstellern zu bewegen.

Die unterschiedlichen räumlichen Konfigurationen wirken sich unterschiedlich auf die Rolle aus, die der Zuschauer dabei einnimmt: Der unbeteiligte Flaneur in den Gassen wird in den meist nur wenige Menschen fassenden Architekturen durch offene Schlitze und Fenster zum unerbittlichen Voyeur. In solchen Momenten wird er im Wortsinne der Eindringlichkeit seiner eigenen Rolle bewusst und die Grenze zwischen Anteilnahme, blasierter Gleichgültigkeit und schmerzhafter Intimität wird fließend: auch das ein zentrales urbanes Motiv. Trotzdem, die fast archetypischen Raumkonfigurationen bleiben niemals abstrakt, sondern bekommen in den biografischen Aspekten des Stücks und den Bewegungen der Darsteller eine große Unmittelbarkeit.

Die Nähe des Bühnenbildes zu tatsächlich gelebten städtischen Räumen ermöglicht den Besuchern immer wieder neue Zugänge, zwingt zugleich aber auch dazu, sich in Relationen zu diesen Konfigurationen zu setzen. Denn anders als sonst im Theater verschwindet der Besucher nicht in der Neutralität der Masse des Zuschauerraums, sondern bleibt Individuum, ohne dass das Stück zu einem peinlichen Mitmachtheater wird. Schnell entstehen so eigene räumliche Vorlieben und die Besucher beginnen in dem Wunsch, das Geschehen zu begreifen, ihre eigenen Choreografien zu entwickeln. Sie folgen mit der Architektur den Wechseln von innen nach außen, von privat und öffentlich, von Intimität und Offenheit. Im Zusammenspiel der intimen Komplexität der Stadtfragmente und den individuellen und persönlichen Bewegungen sowohl der Darsteller wie auch der Zuschauer entfaltet sich die große Wirksamkeit des Stücks, die darin besteht, für einen Moment die Dynamik unter der Oberfläche der üblichen Konventionen des städtischen Zusammenlebens spürbar zu machen.

ARCH+, Fr., 2006.09.08



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Die Berliner Vorlesungen von Oswald Mathias Ungers

Mit dieser Ausgabe veröffentlichen wir zum ersten Mal die Berliner Vorlesungen von Oswald Mathias Ungers aus den Jahren 1964–65. Sie sind mittlerweile...

Mit dieser Ausgabe veröffentlichen wir zum ersten Mal die Berliner Vorlesungen von Oswald Mathias Ungers aus den Jahren 1964–65. Sie sind mittlerweile...

Mit dieser Ausgabe veröffentlichen wir zum ersten Mal die Berliner Vorlesungen von Oswald Mathias Ungers aus den Jahren 1964–65. Sie sind mittlerweile legendär. Im internationalen Kontext kann man sie in eine Reihe mit solch bedeutenden Schriften wie „Die Architektur der Stadt“ von Aldo Rossi und „Komplexität und Widerspruch in der Architektur“ von Robert Venturi stellen. Während letztere das Verständnis von Stadt und Architektur zu verändern suchten, versuchte Ungers in der Umbruchzeit der 1950er und 1960er Jahre, die Architekturlehre neu zu begründen. Das Thema der Vorlesungen ist zwar auf das Museum beschränkt, es hätte jedoch auch jedes andere Thema sein können, da OMU typologisch-morphologisch argumentiert. Aus diesem Grunde formulieren die Vorlesungen jenseits der thematischen Bindung ein architektonisches Denken, das Allgemeingültigkeit beansprucht.
OMU entwickelt mit den Vorlesungen eine Art Grundrisstypologie, die er in der Hauptsache auf formal-ästhetische, d.h. in diesem Kontext architektonisch-strukturelle Aspekte konzentriert. Dabei bedient er sich der in den Kunstwissenschaften verbreiteten kompara-tistischen Methode, wie sie z.B. in der vergleichenden Bildbetrachtung zur Anwendung kommt. Mit dem Mittel der morphologischen Reihung sucht OMU die Kompositionsregeln der einzelnen Bauwerke in eine synoptische allgemeine Betrachtung einzubinden und Entwicklungslinien herauszuarbeiten. Diesen Aspekt haben wir mit ausklappbaren Grundrisstableaux und analytischen Zeichnungen nachvollzogen, die als Lesehilfe dienen sollen. Exkurse zu einzelnen kunsthistorischen Aspekten begleiten die Ausführungen und dienen der Vertiefung des Verständnisses, ohne den Anspruch zu erheben, kunsthistorisch korrekt zu argumentieren. Im Gegenteil, OMU geht mit dem Material ausgesprochen virtuos und frei um, was von einer großen Souveränität und einem freien Denken zeugt.

Die Vorlesungen sind nach dispositiven, räumlichen Kriterien strukturiert und untersuchen, ob die Räume koordiniert, subordiniert, kontinuierlich ineinander übergehen oder durch einen Korridor verbunden werden. Damit stellt OMU die Frage nach den Regeln der Raumdisposition in den Mittelpunkt, für die Robin Evans erst viel später mit „Menschen, Türen, Korridoren“ die historische Rechtfertigung liefern sollte.
OMU verfolgt mit diesem Ansatz etwas, was in den 1960er Jahren vollständig unzeitgemäß war: nach der Regelhaftigkeit von Architektur zu fragen, mehr noch, in der Architektur „die Kunst (zu sehen), Bindungen zu schaffen.“ (vgl. Antrittsvorlesung S. 12 ff.) Er sucht die Architektur nicht nur vom Bauen, sondern auch von der Baukunst abzugrenzen und als eine Disziplin zu etablieren, die weder im Zweck noch in der Idee aufgeht, sondern zwischen den beiden Polen des architektonischen Schaffens vermittelt. vermittelt. In der Kompositionslehre als Entwurfsinstrument meint er diesen Mittelweg gefunden zu haben. Und so ist es nur folgerichtig, dass er den Vorlesungszyklus zum Museum mit einer Vorlesung zum architektonischen Regelwerk eröffnet, während die anschließenden Vorlesungen einzelne Dispositionen diskutieren.
Um zu zeigen, wie sich die Architekturlehre vom OMU ausgewirkt hat, haben wir den Vorlesungszyklus um eine Auswahl von beispielhaften Studentenarbeiten erweitert, die durch die legendären „Veröffentlichungen zur Architektur“ des Lehrstuhls einen größeren Kreis erreicht und namhafte Architektenbiographien wie jene von Rem Koolhaas beeinflusst haben.

Im Gespräch mit Rem Koolhaas und Hans-Ulrich Obrist in diesem Heft (S. 6 ff.) beklagt sich OMU bitter über das jähe Ende seiner Berliner Jahre. Er hatte einen Kongress zur Architekturtheorie mit internationaler Beteiligung geplant, der „in einer Katastrophe (endete)“, wie er heute resümiert. Die Studenten entrollten zur Schlussdiskussion ein Transparent mit der Aufschrift: „Alle Häuser sind schön – hört auf zu bauen.“ OMU sah in dieser Aufforderung einen Angriff auf seinen Versuch, „in die Architektur in Deutschland wieder Intelligenz, Nachdenklichkeit und Kreativität hinein(zu)bringen“.
Während er mit einer noch heute in den Publikationen spürbaren Neugierde, Offenheit und Experimentierfreude an der Rückeroberung des Bauens für die Architektur arbeitete, schickten sich die Studenten an, den Aufstand zu proben. Rem Koolhaas trifft diesen Punkt, wenn er nach der Spannung fragt zwischen der zeitgleichen Wiederentdeckung von Schinkel als dem eklektischen Genie des 19. Jahrhunderts und den nicht weniger eklektischen politischen Maskeraden an der TU Berlin. Und in der Tat ging die vom Establishment gefürchtete „Gefahr“ weniger von den revolutionären Maskeraden aus als vielmehr von den kulturrevolutionären Elementen, die die Studentenbewegung mittransportierte. Als Gegenkultur gelang es der Studentenbewegung, in die Gesellschaft einzuwirken und andere soziale Schichten zu ergreifen. Und obwohl sie politisch nie das studentische Milieu überwand, ließ sie die Lebenspraxen explodieren, auf denen neben der bürgerlichen Gesellschaft auch das Studium selbst basierte. Anders ausgedrückt: Mit der Studentenbewegung zeichneten sich, wenn auch politisch verklärt, schon die konsumistischen Lebensmodelle der sich anbahnenden Massengesellschaft ab, während die Architekturlehre von Ungers noch auf das humanistische Bildungsideal der bürgerlichen Gesellschaft zurückging und damit fast zu einem Fremdkörper wurde in den politischen Auseinandersetzungen. In diesen Konflikten mit wechselnden Fronten liegt u.E. der Grund für das Scheitern von OMU an der TU Berlin.

On The Eve of Destruction ...

Diese politischen Auseinandersetzungen sind nur vor dem Hintergrund einer größeren Krise zu verstehen. Denn das Projekt der Moderne schien in den 1960er Jahren an einen Wendepunkt gelangt zu sein. Der anti-klassische Impuls, der die Moderne seit Anbeginn des Jahrhunderts antrieb, nämlich die Kunst in die Lebenspraxis zu überführen, war offensichtlich verbraucht, mehr noch, die allgegenwärtige Banalität der zum Bauwirtschaftsfunktionalismus herunter gekommenen Moderne erübrigte jeden Hinweis auf ihre ganz anderen Ursprünge. Die Krise war da und nicht mehr zu verleugnen. Wie man sich zu ihr verhielt, war auch eine Frage, wie man zu Oswald Mathias Ungers stand. Kündigte die Krise das Ende des Anti-Klassizismus der Moderne an und den Beginn einer neuen Architektur mit OMU als einem ihrer Protagonisten, wie es Heinrich Klotz mit der „Revision der Moderne“ einforderte, oder barg die Krise auch andere Möglichkeiten?

Die Zeit schien damals beiden Positionen Recht zu geben. Der schon totgesagte Anti-Klassizismus der Moderne erlebte eine erste wissenschaftliche Renaissance durch die Aufarbeitung der heroischen Moderne. Die historisch kritische Revision der Moderne setzte mit den Arbeiten von Giulio Argan mit „Gropius und das Bauhaus“ und Manfredo Tafuri mit „Projekt und Utopie“, sowie grundsätzlich mit der Zeitschrift Casabella continuità ein. Aber auch die politischen Auseinandersetzungen begannen in den Fachdiskurs einzugreifen, wo sie zu heftigen Verwerfungen führten. Sie zielten auf ein verändertes Verständnis von Planung und wurden getragen von der Hoffnung auf eine neue Planungskultur.
Nach einer wechselvollen Geschichte von Niederlagen und erst langfristig sich auswirkenden Erfolgen hat sich die Hoffnung auf eine neue Planungskultur bis heute nicht erfüllt. Die Entgrenzung in die Sozialwissenschaften und mit ihr der Traum nach Verwissenschaftlichung der Architektur, den auch diese Zeitschrift mitgetragen hat, ist grundsätzlich gescheitert, während die Öffnung des Planungsprozesses für neue Koalitionen bis in die Gegenwart fortwirkt. (vgl. hierzu archplus 173 Shrinking Cities, Mai 2005).

Die klassizistische Wende

Demgegenüber setzte sich der Klassizismus der Moderne auf breiter Front durch. Er verwies seinen gegenkulturellen Widerpart in die Randbereiche der Planungs- und Politikwissenschaften, über die er erst heute, angesichts der Governancedebatte, wieder in die Disziplin zurück zu strahlen beginnt. Die Kritik am Anti-Klassizismus beherrschte die Debatte, mehr noch, er wurde als Grund für das Scheitern der Moderne überhaupt denunziert, verstärkt noch durch das sich abzeichnende Ende des „realen Sozialismus“, das dazu verführte, die Moderne mit dem gescheiterten Menschenexperiment gleich zu setzen.

Einen Ausweg aus der Krise sah man in einer „reflexiven Modernisierung“ (Ulrich Beck). Und meinte damit, dass die Moderne sich aus sich selbst heraus modernisieren muss, indem sie sich zu sich selbst in Beziehung setzt. Und so kann man folgerichtig die reflexive Wende der Architektur mit den ersten Schritten zur Historisierung der Moderne in den 1950er Jahren datieren. Neben Argan und Tafuri sollte der Beitrag von Colin Rowe für die weitere Entwicklung so bedeutsam werden. Während sich die italienische Debatte um eine kritisch historische Aufarbeitung der heroischen Moderne bemühte, und mit Tafuri das Scheitern des gesellschaftspolitischen Projekts der Moderne einklagte, suchte Rowe andere Wege einzuschlagen. Anhand verschiedener Studien, am bekanntesten ist diejenige zum Transparenzbegriff geworden, suchte Rowe die Moderne als einen Formalismus zu charakterisieren, der nach bestimmten Regeln funktioniert. Mit dieser Bloßstellung verliert die Moderne ihren eindeutigen Charakter als eine Bewegung mit offenem Ende, die, wie der Benjaminsche Engel, durch den Sturm des Fortschritts angetrieben, der Utopie einer neuen Gesellschaft entgegenschreitet. Eine Bewegung, die sich durch die Ausrichtung der Aufgabe am Sozialutopischen, der Konstruktion am technisch Neuen, des Materials am technologisch Möglichen definiert. Colin Rowe öffnete damit die Tür zur Moderne als einem eigenständigen, aber auch historischen Stil und korrigierte dadurch stillschweigend zwei moderne Glaubenssätze: ihren Bewegungscharakter und ihren Traditionsbruch, also mehr zu sein als nouveau und ein bloßer Formalismus.
Dieser Angriff auf die Modernität der Moderne legte die Grundlinien fest, innerhalb derer sich die weitere Diskussion bewegen sollte. Mit Rowe deutete sich eine Richtung an, die bis heute um die Vorherrschaft streitet. Zum einem wurde dadurch die gesuchte Beziehung zur Gesellschaft getilgt. Architektur wird von nun an (oder wieder) als ein ausschließlich architektonisches Phänomen gesehen. Und zum anderen ordnete man sich in die überkommenen Traditionen ein, zu denen nunmehr auch die Moderne zählt, und sieht den Referenzraum der Architektur in der Architekturgeschichte und nicht mehr in den vorgreifenden Welten des Maschinenzeitalters oder heute der Wissensgesellschaft. Die Architekturgeschichte gewinnt dadurch eine besondere Bedeutung als vornehmer und vordringlicher Bezugspunkt des Entwerfens. Nicht, dass damit einem neuen Historizismus das Wort geredet würde, wie es vereinzelte Irrläufer wie Leon Krier tun, Geschichte wird vielmehr im Malrauxschen Sinne zum imaginären Museum, zum Referenzraum des Entwurfs.

OMU

Ungers Postulat, dass „das Thema und der Inhalt der Architektur nur die Architektur selbst sein kann“, legt zwar nahe, ihn als Beleg für den Anspruch der Architektur nach Autonomie heranzuziehen, aber er erschließt sich erst richtig, wenn man beide Seiten des Arguments reflexiv aufeinander bezieht, das gesuchte Thema einerseits, die Architekturgeschichte als sein Referenzraum andererseits.
Welche Möglichkeiten dieses Verständnis von Architekturgeschichte eröffnet, sei an einem Beispiel demonstriert, auf das OMU immer wieder zurückkommt: Schloss Glienicke von Karl Friedrich Schinkel. „Man sieht im Park eine Anzahl verstreut liegender Baumstümpfe, Fragmente in der Landschaft. Man geht weiter und entdeckt Fragmente behauenen Steins, die herumliegen, dann ein Arrangement von fragmentierten Säulenkapitellen und Basen, dann eine Wand, die aus Fragmenten zusammengesetzt ist, und schließlich einen Gebäudekomplex, der wie aus Fragmenten kombiniert erscheint: ein florentinisches Landhaus, ein Renaissancepalast und ein klassizistischer Schloßbau.“ OMU verweist auf Glienicke, weil es „ein Spektrum von Interpretationen des gleichen Themas“ demonstriert. Dieses morphologische Kontinuum von der Landschaft mit Fragmenten bis zur Architektur aus Fragmenten ist das Vorbild seiner Entwürfe und der Referenzraum seines architektonischen Denkens – sein „retroaktives Manifest“, wie Rem Koolhaas treffend bemerkt.

Welche Möglichkeiten dieses Verständnis von Architekturgeschichte eröffnet, sei an einem Beispiel demonstriert, auf das OMU immer wieder zurückkommt: Schloss Glienicke von Karl Friedrich Schinkel. „Man sieht im Park eine Anzahl verstreut liegender Baumstümpfe, Fragmente in der Landschaft. Man geht weiter und entdeckt Fragmente behauenen Steins, die herumliegen, dann ein Arrangement von fragmentierten Säulenkapitellen und Basen, dann eine Wand, die aus Fragmenten zusammengesetzt ist, und schließlich einen Gebäudekomplex, der wie aus Fragmenten kombiniert erscheint: ein florentinisches Landhaus, ein Renaissancepalast und ein klassizistischer Schloßbau.“ OMU verweist auf Glienicke, weil es „ein Spektrum von Interpretationen des gleichen Themas“ demonstriert. Dieses morphologische Kontinuum von der Landschaft mit Fragmenten bis zur Architektur aus Fragmenten ist das Vorbild seiner Entwürfe und der Referenzraum seines architektonischen Denkens – sein „retroaktives Manifest“, wie Rem Koolhaas treffend bemerkt.

In seinen Entwürfen hat Ungers das Prinzip des morphologischen Kontinuums verwandt, um einen Dynamismus der Form zu gewinnen, den man historisch vom deutschen Expressionismus, beispielsweise von Erich Mendelsohn, und gegenwärtig von der Blobarchitektur kennt. Nur lösen sich bei ihm die Übergänge zwischen den Formen nicht auf, sondern die Fragmente zeigen gerade aufgrund ihrer Fragmentarität die Mannigfaltigkeit an Möglichkeiten auf, ein Thema zu entwickeln.
OMU hat diesen Ansatz „Thematisierung der Architektur“ genannt und unter diesem Titel auch eine Studie publiziert, die deren Chancen und Grenzen aufzeigt. Mit der morphologischen Reihe gelingt es ihm ein neues Entwurfsinstrument zu entwickeln, das repetitiv und nicht seriell ist, und das die Mannigfaltigkeit an Bedeutungen zeigt, die ein architektonisches Element annehmen kann: etwa die Wand im Entwurf zum Museum Morsbroich in Leverkusen: „Die Raumfolge in diesem Wandgebäude durchläuft eine stufenweise morphologische Transformation von allseitig geschlossenen Zellen über nischenartige Öffnungen und Galerie-Einbauten bis zu einem in Stützen aufgelösten Gerüst, das sich in einem Baumraster fortsetzt, der schließlich in eine vorhandene Baumgruppe übergeht. So werden in diesem Gebäude zwei Kontraste – auf der einen Seite der als Zelle konzipierte künstliche Raum und auf der anderen Seite die natürlich gewachsene Baumgruppe – durch das Mittel der räumlichen Transformation in einem Konzept zusammengefaßt.“ Die Wand wird zu einer kontinuierlichen Form und in diesem Sinne zu einem architektonischen Ereignis. Damit gelingt es OMU analog zu Schinkel die architektonischen Elemente neu zu ordnen und morphologisch zu entfalten, nur macht Ungers den in Glienicke lediglich angedeuteten Zusammenhang explizit. Während die Grenzen dieses Ansatzes dort liegen, wo die neue architektonische Ordnung, nach Jacques Rancière die neue Form von Sichtbarmachung (vgl. archplus 178 Die Produktion von Präsenz, Juni 2006), den architektonischen Raum verlassen und in die Lebenspraxis übergreifen müsste, sie ordnend, gestaltend, in jedem Fall in sie eingreifend. Aber genau das findet nicht statt. Der Abstand zwischen Architektur und Gesellschaft, auf den Ungers beharrlich verweist, bleibt gewahrt.
Hatte der Anti-Klassizismus immer eine gewisse Formlosigkeit kultiviert, besonders in den 1960er Jahren, so sein Widerpart einen Hang zur Selbstgenügsamkeit, gerade was gesellschaftspolitische Fragen betrifft. Denn interessant wäre es doch gewesen, das „Beweglich-werden“ des architektonischen Denkens auf die Fragen zu beziehen, die seiner bedürfen, beispielsweise auf die Frage des Wohnens. Ungers hat es früh mit dem Entwurf für das Studentenheim in Enschede versucht. Hier wäre anzuknüpfen. Warum ist das nicht geschehen? Das liegt z.T. daran, dass sich unterschiedliche Milieus mit gegenseitigen Bornierungen gegenüberstehen, die einen Ideentransfer so gut wie ausschließen. Vielleicht können wir sie mit dieser Ausgabe ein Stück weit abtragen helfen und das architektonische und städtebauliche Denken, das hierin eindrücklich formuliert ist, als Teil unserer Tradition begreifen und weiterentwickeln.

Die hier kurz skizzierten Auseinandersetzungen zwischen Anti-Klassizisten und Klassizisten sind in ihren Verwerfungen fast noch handgreiflich gegenwärtig. Während Ungers’ erste Schülergeneration, abgesehen von wenigen Ausnahmen, an den Widersprüchen dieser Kämpfe gescheitert ist, ist die zweite Generation seiner Schüler heute der Träger der klassizistischen Wende der Architektur. Und OMU? Er sucht weiterhin durch Architekturexperimente oder Laborversuche, wie jüngst mit dem „Haus ohne Eigenschaften“, unbeirrt seinen Weg zu gehen. Bei diesem Projekt wurde alles „subtrahiert auf den absoluten Kern der Abstraktion. Weiter geht es nicht mehr.“ Mit diesen Worten umreißt OMU den Manifestcharakter des „Hauses ohne Eigenschaften“, das ein klassisches, anti-klassizistisches Manifest ist, das sich gleichwohl klassizistischer Elemente bedient was die Gliederung der Fassade, das Verhältnis zur Natur etc. betrifft. Dieses Beispiel haben wir zitiert, um zu zeigen, das es OMU bei der Architekturlehre, bei seinen Projekten und Bauten, unabhängig davon, welchen Fronten er sich zurechnet oder zugerechnet wird, darum geht, die herkömmlichen Grenzen zu verschieben – das zeichnet seine Größe aus.

ARCH+, Di., 2006.07.04



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archplus 179 O.M. Ungers Architekturlehre

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Presseschau 12

17. Dezember 2012Anh-Linh Ngo
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Folly for a Flyover

Das temporäre Projekt Folly for a Flyover unter der Autobahnbrücke der A12 im Londoner Viertel Hackney Wick war im Sommer 2011 Standort eines sechswöchigen...

Das temporäre Projekt Folly for a Flyover unter der Autobahnbrücke der A12 im Londoner Viertel Hackney Wick war im Sommer 2011 Standort eines sechswöchigen...

Das temporäre Projekt Folly for a Flyover unter der Autobahnbrücke der A12 im Londoner Viertel Hackney Wick war im Sommer 2011 Standort eines sechswöchigen Programms mit Performances, Theateraufführungen und Filmvorführungen. Es war Teil des Create Festivals und verwandelte diesen betonüberwölbten Nicht-Ort am Lea Navigation Canal in der Nähe des Olympischen Parks in einen beliebten öffentlichen Raum. Tagsüber bildete ein überdachtes Café einen Treffpunkt für Anwohner und Besucher, nachts bot eine Tribüne unter den Fahrbahnen einen geschützten Ort für die Vorführungen.

Der Titel des Projekts nimmt Bezug auf die follies genannten Staffagearchitekturen in den englischen Landschaftsgärten des 18. Jahrhunderts, die häufig in Form von fingierten einfachen Bauernhäusern, antiken Ruinen und ähnlichem angelegt waren. Assemble entwickelte mit dem Verfremdungseffekt, der sich durch die Anlage der Installation im Stil eines traditionellen Backsteinhauses einstellt, ein Narrativ für diesen unwirtlichen Ort. Das Gebäude konnte den Eindruck erwecken, man habe es beim Bau der Autobahnbrücke (flyover) unter den mächtigen Fahrbahnen stehengelassen. Tatsächlich bestand das Häuschen jedoch aus recycelten, in Ziegelgröße geschnittenen Holzblöcken und imitierte mit seiner Erscheinung das klassische Ziegelmauerwerk der Bebauung im benachbarten Hackney Wick. Wegen der ephemeren Natur des Projektes wurde von Anfang an eine Strategie entwickelt, wie die eingesetzten Materialien nach dem Abbau wiederverwendet werden könnten. Alle Komponenten wurden entweder an den Ursprungsort zurückgegeben oder fanden eine neue Anwendung in der Umgebung. So wurden die Holzziegel in der benachbarten Gainsborough School für Pflanzenbehälter und Spiele recycelt.

Beim dargestellten Text handelt es sich um eine Kurzfassung.
Vollständigen Artikel ansehen. (http://www.archplus.net/home/archiv/artikel/46,3940,1,0.html)

ARCH+, Mo., 2012.12.17



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ARCH+ 209 Kapital(e) London

02. November 2011Anh-Linh Ngo
Cornelia Escher
ARCH+

Nagelhaus Zürich

Anfang 2007 lobte die Stadt Zürich einen Wettbewerb zur Neugestaltung des Escher-Wyss-Platzes aus, der die Wiederbelebung dieses städtischen „Unortes“...

Anfang 2007 lobte die Stadt Zürich einen Wettbewerb zur Neugestaltung des Escher-Wyss-Platzes aus, der die Wiederbelebung dieses städtischen „Unortes“...

Anfang 2007 lobte die Stadt Zürich einen Wettbewerb zur Neugestaltung des Escher-Wyss-Platzes aus, der die Wiederbelebung dieses städtischen „Unortes“ unter dem Viadukt der Hardbrücke zum Ziel hatte. Das prämierte Konzept – eine Zusammenarbeit des Berliner Künstlers Thomas Demand mit dem Londoner Architekturbüro Caruso St. John – schlägt unter dem Viadukt zwei Gebäude vor, die als „archäologische Fragmente“ auf die einst kleinteilige Bebauung an diesem Ort vor dem Bau der Hochtrasse in den 1960er Jahren verweisen.

Eine inhaltliche Aufladung erfährt das Projekt durch die Referenz an das Nagelhaus in der chinesischen Metropole Chongqing, welches vor einigen Jahren in der internationalen Presse für Aufsehen sorgte. Hier hatte der hartnäckige Widerstand der Besitzer gegen des Abriß eines ganzen Stadtviertels durch Immobilienentwickler ein einzelnes Haus isoliert in der ansonsten leergeräumten Fläche stehen lassen. Der Begriff Nagelhaus hat sich in China aus den Protesten einzelner Hauseigentümer gegen großangelegte Neubauplanungen entwickelt: Das stehen gebliebene Gebäude wird mit einem Nagel verglichen, der in einem harten Stück Holz steckt und nicht entfernt werden kann.

Für das Züricher Nagelhaus greifen Demand/Caruso St. John nicht nur die Nutzung des Referenzgebäudes in Chongqing auf. Entstehen sollte auch ein materialisiertes Nachbild des Ereignisses, dessen abstrahierte und geglättete Haut nicht das Originalgebäude, sondern das mediale Bild reproduziert und dem Platz auf symbolischer Ebene ein Quentchen widerborstiger Urbanität injiziert.

Über die funktionale und stadträumliche Intention des Projekts zur Belebung eines stadträumlich problematischen Areals legen sich eine Auseinandersetzung mit der Thematik von Kopie und Original, von Reproduktion und Rekonstruktion, wie sie Thomas Demand in seiner Kunst thematisiert. Der Verweis auf ein mediales Monument individuellen politischen Handelns erhielt durch die politische Realität eine nicht intendierten Pointe: Das Projekt kam aufgrund einer Volksabstimmung zu Fall, in deren Verlauf die Schweizerische Volkspartei (SVP) das Haus mit dem polemischen Spruch „7 Millionen für a Schissi“ plakativ auf dessen Funktion als Toilettenhäuschen reduziert hatte.

ARCH+, Mi., 2011.11.02



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ARCH+ 204 Krise der Repräsentation

02. November 2011Anh-Linh Ngo
Diana Bico
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Fallstudie Hamburg Gängeviertel

Die Gängeviertel

Die wegen ihrer engen, verwinkelten Gassen als Gängeviertel bezeichneten Arbeiterquartiere sind die charakteristische innerstädtische...

Die Gängeviertel

Die wegen ihrer engen, verwinkelten Gassen als Gängeviertel bezeichneten Arbeiterquartiere sind die charakteristische innerstädtische...

Die Gängeviertel

Die wegen ihrer engen, verwinkelten Gassen als Gängeviertel bezeichneten Arbeiterquartiere sind die charakteristische innerstädtische Siedlungsform des historischen Hamburgs. Aus sozialen und politischen Erwägungen heraus werden diese kleinteiligen Strukturen ab den 1890er Jahren in verschiedenen Sanierungsprogrammen nach und nach durch eine zeitgemäße Bebauung ersetzt. Spätestens nach den Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg ist von dem historischen Stadtgewebe nur noch wenig erhalten. Die letzte zusammenhängende Gängebebauung wird in den 1960er Jahren beseitigt. Heute existieren nur noch wenige Fragmente; eines der Größten – schlicht als das Gängeviertel bekannt – befindet sich zwischen Valentinskamp und Speckstraße in der Hamburger Neustadt.

Hamburger Hausbesetzungsszene

Seit vierzig Jahren werden in Hamburg Häuser illegal besetzt – anfangs vor allem zur Eigennutzung, später auch als politisches Instrument, um auf die Wohnungsnot und den Mangel an sozialen Einrichtungen hinzuweisen oder auch als generelle Kampfansage gegen die Macht des Staates und der Investoren. Dabei präsentieren sich die Besetzer einerseits bewusst militant, andererseits werben sie um Verständnis und Solidarität in der Bevölkerung.

Die ereignisreiche Squatting-Dekade der 80er beginnt mit mehreren eher unpolitischen Hausbesetzungen in Altona-Altstadt, Eimsbüttel und St. Pauli, die alle gemäß der sogenannten Pawelczyk-Doktrin binnen eines Tages von der Polizei beendet werden. Ab Mitte der Achtziger verfolgen die Besetzungen immer häufiger politische Ziele: den Schutz historisch-wertvoller Gebäude und die Errichtung von sozio-kulturellen Stadtteilzentren. Die Akzeptanz in der Bevölkerung wächst, auch offizielle Körperschaften wie etwa die Denkmalpflegebehörde stützen diese symbolischen Besetzungen.

Verhandlungen zwischen Politikern, Eigentümern und Aktivisten finden immer häufiger statt und münden sporadisch in legalisierte Wohnprojekte. Auch die viel beachtete Besetzung der Hafenstraße, die nach einem jahrelangen Wechselspiel aus „Barrikaden-Tagen“ und Verhandlungen 1995 an die eigens gegründete Genossenschaft Alternative am Elbufer verkauft werden.

Eine weitere aufmerksam verfolgte Hausbesetzung spielt sich seit den späten 1980ern im Schanzenviertel ab, wo ein Investor ein altes Theater zu einer Oper ausbauen will. Das Bauprojekt scheitert und das historische Theatergebäude wird besetzt. Seither dient es unter dem Namen Rote Flora als autonomes Stadtteilzentrum, in dessen sich gentrifizierenden Umfeld es jährlich zu politischen Protesten und diffusen Krawallaktionen kommt. 2001 verkauft die Stadt das Gebäude an den Hamburger Immobilienkaufmann Klausmartin Kretschmer. Der Wert des Gebäude ist seitdem um das Hundertfache gestiegen.

In den 90ern wird der Umgang mit den Hausbesetzern deutlich verschärft. Die Besetzungen werden rasch aufgelöst, die betroffenen Gebäude abgerissen und die Grundstücke neu bebaut. Nach einer mehr als zehnjährigen Pause löst die Besetzung des Gängeviertels 2009 wieder eine Reihe von Squatting-Aktionen aus.

Bambule

Parallel zu den Hausbesetzungen finden auch illegale Grundstücksbelegungen durch Bauwagen-Gruppen statt. Teilweise sind die mobilen Besetzungen politisch motiviert und eine Protestform gegen hohe Mieten. Die aufsehenerregendste Räumung, angeordnet vom Innensenator Ronald Schill (Schill-Partei), ereignet sich 2002 auf dem Wagenplatz Bambule im Karolinenviertel.

Hamburger Stadtentwicklung

Die Hamburger Stadtplanung konzentriert sich seit den späten 1990er Jahren vor allem auf Leuchtturmprojekte. 1997 wird das Projekt HafenCity beschlossen und drei Jahre später in einem Masterplan konkretisiert. Das Konzept sieht die Transformation des zentral gelegenen Hafenareals in einen exklusiven Stadtteil vor und setzt eine umfassende Stadtentwicklung in Gang. Im Rahmen des Leitbilds Wachsende Stadt verfolgt der Senat neben der HafenCity weitere Großprojekte wie die IBA/IGA Wilhelmsburg, die Entwicklung Harburgs und die Aufwertung innerstädtischer Bereiche. Die Planungen zielen darauf ab, Hamburg für junge, hochqualifizierte, kreative Arbeitnehmer und vielversprechende Unternehmen attraktiv zu machen und die Innenentwicklung der Stadt massiv voranzutreiben. Ein offensives Marketing verdeutlicht diesen unternehmerischen Stadtentwicklungsansatz.

Recht auf Stadt

Die Wachsende Stadt ruft jedoch auch wachsenden Widerstand hervor. Immer mehr Menschen sehen sich von diesen Planungen für Privilegierte benachteiligt und fühlen sich von der Politik nicht repräsentiert, was sie in zahlreichen Demonstrationen zum Ausdruck bringen. Mit den Jahren formiert sich unter dem Slogan „Recht auf Stadt“ (Henri Lefebvre) ein Netzwerk aus unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten.

Kulturschaffende stellen sich seit langem auf ein Nomadendasein ein. Aufgrund steigender Mieten müssen sie alle Jahre ihre Arbeitsplätze und Behausungen wechseln und werden immer mehr aus innerstädtischen Lagen verdrängt (Gentrifizierungsprozess). Diese prekären Arbeitsbedingungen stehen im Gegensatz zum vom Senat verfolgten Leitbild der Creative City (Richard Florida), das die Bedeutung von Talent, Toleranz, Vielseitigkeit und Kreativität für die Stadtentwicklung betont.

Creative City

Richard Florida: „Wenn man sich ansieht, was das Ausmaß der Innovation antreibt oder die Höhe des Wirtschaftswachstums und des Wohlstands, dann zeigt sich, dass Orte mit einem vergleichsweise höheren Anteil an der kreativen Klasse auch höheres Wirtschaftswachstum haben, höhere Einnahmen, höhere Löhne, mehr Innovation.“
Richard Florida, The Rise of the Creative Class

Not in our name

Die Vermarktung der Kultur und die Instrumentalisierung von Kreativen für die Aufwertung von Stadtteilen kritisiert das 2009 erscheinende Manifest „Not In Our Name, Marke Hamburg!“. Darin kritisieren prominente Künstler die neoliberale Stadtentwicklung und ihre zugewiesene Rolle in dem „Unternehmen Stadt“.

Komm in die Gänge

Nach jahrelanger Vernachlässigung wird die zum Teil denkmalgeschützte Gängeviertelbebauung 2008 an das niederländische Unternehmen Hanzevast verkauft. Die Kündigung aller Mietverträge und die geplanten Abrissarbeiten führen im August 2009 zu einer Besetzung des Gängeviertels durch Kulturschaffende u.a. Fortan wird das Viertel von einer Genossenschaft dauerhaft und medienwirksam mit Ausstellungen, Konzerten und Performances bespielt. Mit prominenter Unterstützung gelingt es der Initiative, die Stadt in zahlreichen Protestaktionen und Verhandlungen dazu zu bewegen, das Grundstück zurückzukaufen und die Besetzung zu dulden. Im September 2011 unterzeichnen die Stadt und die Aktivisten ein Kooperationsabkommen zur Sanierung des Gebiets.

Das Gängeviertel wird bis auf weiteres von der Initiative selbstorganisiert verwaltet.

Erweiterte urbanistische Praxis

Die gemeinsame Sorge um eine verfehlte Stadtentwicklungspolitik (Privatisierung, Gentrifizierung), die zudem vermehrt Kunst und Kreativwirtschaft instrumentalisiert, hat in den letzten Jahren Bündnisse initiiert, die teilweise an stadtpolitische Bewegungen aus den 70er-Jahren erinnern. Man glaubt wieder an die Macht des Protestes. Mischt sich ein, nimmt Stellung, stellt Forderungen. Das Besondere dabei ist, dass die neue Generation über ausgeprägte mediale und ökonomische Kompetenzen verfügt, zudem ist sie es gewohnt, in temporären transdisziplinären Bündnissen zu operieren.

Diese Kompetenzen sind wichtige Voraussetzungen für den Erfolg des Protestes: Sie ermöglichen es, öffentliche Unterstützung zu gewinnen, indem Wahlmöglichkeiten aufgezeigt und tragfähige ökonomische Konzepte angeboten werden (eine unerlässliche Voraussetzung angesichts der Kassenlage der öffentlichen Haushalte). Nach dem Motto „Souverän ist, wer über Grund und Boden verfügt“ wurden alternative Entwicklungsmodelle wie Baugruppen, Syndikatshäuser, Genossenschaften oder alternative Eigentumstitel wie das Erbbaurecht erprobt, um andere Stadtkonzepte und Mischungsverhältnisse von Wohnen und Arbeiten, von Kunst und Gewerbe umzusetzen. Diese Initiativen lassen sich vor diesem Hintergrund als eine erweiterte urbanistische Praxis verstehen.

ARCH+, Mi., 2011.11.02



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ARCH+ 204 Krise der Repräsentation

20. April 2008Anh-Linh Ngo
ARCH+

Von triebgesteuerten Überzeugungstätern, Nerds und Pornografie

Anh-Linh Ngo: Sie sind als Zeitschriftengestalter mit Titeln wie brand eins, Kid’s wear oder zuletzt 032c bekannt geworden. Darüber hinaus sind Sie in...

Anh-Linh Ngo: Sie sind als Zeitschriftengestalter mit Titeln wie brand eins, Kid’s wear oder zuletzt 032c bekannt geworden. Darüber hinaus sind Sie in...

Anh-Linh Ngo: Sie sind als Zeitschriftengestalter mit Titeln wie brand eins, Kid’s wear oder zuletzt 032c bekannt geworden. Darüber hinaus sind Sie in ganz unterschiedlichen Disziplinen zuhause, mit Apart haben Sie früh in Ihrer Laufbahn selber eine Zeitschrift gemacht, Ihr Tätigkeitsfeld erstreckt sich zudem auf Kunst, Fotografie, Werbung sowie Strategie- und Branding-Beratung für Firmen. Ihr Büro funktioniert eigentlich wie eine Agentur. Wie gehen Sie mit diesen Unterschieden um?

Mike Meiré: Ich habe für mich erkannt, dass ich einer transversalen Kultur angehöre, die sich quer zur funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft bewegt. Ich stelle mich aktiv diesem Zerfließen und dem Ineinanderfließen der kreativen Disziplinen. Wir erleben heute das Phänomen, dass Mode, Design, Musik, Architektur zusammenkommen und man daraus etwas Eigenes generieren kann. Als Gestalter befinde ich mich in der paradoxen Situation, dass ich eher kuratiere als gestalte. brand eins als Wirtschaftszeitschrift macht mir großen Spaß, weil wir es geschafft haben, Wirtschaft als elementare Kraft der Gesellschaft anders als gewohnt zu vermitteln. Ich arbeite da seit vielen Jahren mit einer Redaktion zusammen, die manchmal richtig „hardcore“ redet, man merkt, dass es ihnen um Aufklärung geht. Bei Kid’s wear haben wir es mit einer anderen visuellen und inhaltlichen Kultur zu tun, die ganz andere Schwingungen produziert. Zuletzt kam 032c dazu, wo es um so unterschiedliche Felder wie Politik, Fashion, Kunst und Design geht. Ich achte bei Anfragen für die Gestaltung einer Zeitschrift sehr darauf, aus welchem kulturellen Bereich diese kommt, und im Falle von Arch hat mich das Thema Architektur sofort angesprochen.

ALN: Wie ist Ihr Verhältnis zur Architektur?

MM: Ich habe im Laufe der Zeit festgestellt, dass sich meine Interessen um die drei Begriffe Spirit, Speed und Space drehen. Das ist eine alberne Alliteration, aber diese Formel umreißt ganz gut, worum es mir bei den unterschiedlichen Aufgaben geht: die Haltung, die hinter den Inhalten steht, das Tempo, das diese Inhalte im kulturellen Kontext brauchen, wobei es die ganze Bandbreite von Be- und Entschleunigung umfasst, je nach dem, was richtig ist. Und nicht zuletzt habe ich gespürt, dass ich extrem sensibel gegenüber Räumen reagiere. Ich glaube daran, dass Räume durch ihre physische Präsenz unser Denken beeinflussen, das ist für mich das Interessante an Architektur. Der freie Raum hier in der Factory regt mich zum freien Denken an. Wenn man immer in kleinen Nischen sitzt, dann denkt man vielleicht auch immer in kleinen Nischen. Man sagt ja, dass wir zuerst unsere Häuser formen, dann formen sie uns ...

ALN: Winston Churchill: „We shape our buildings; thereafter they shape us.“

MM: Genau. Ich glaube, dass das zum Teil stimmt. Ich habe es gemerkt, als ich in Tokio war und das Prada-Gebäude von Herzog & de Meuron besucht habe. Ich dachte, ich würde das Gebäude kennen, weil ich es in unzähligen Publikationen gesehen habe. Aber wenn man physisch anwesend ist, dann ist das etwas ganz anderes. Das Gleiche passiert in der Kunst, man kennt die Abbildungen, aber wenn man im Museum vor den Bildern steht, entwickeln sie eine Aura. Ich glaube, dass Räume deshalb für mich wichtig sind, weil sie der real fassbare Kontext für eine Empfindung sind. Leider sind wir in Deutschland ganz gut in mittelmäßiger, uninspirierter „Telekomarchitektur“. Das Problem mit mittelmäßiger Architektur ist ja nicht, dass sie hässlich ist. Es ist vielmehr, dass wir um diesen Raum der Möglichkeiten beraubt werden, der uns daran erinnert, welches Potential in uns Menschen schlummert. Darin sehe ich auch die wahre Pflicht der Architektur, sie ist ein physisches Momentum, das uns kurz aus der effizient funktionierenden Alltagsstruktur entrückt. Wir haben allerdings zu wenige moderne, zukunftsorientierte Räume, die uns diese mögliche Erfahrung vermitteln.

ALN: Sie sprechen damit ein tiefgreifendes Problem an, das mit der spezifisch deutschen Auseinandersetzung mit der Moderne zu tun hat und weit in die Nachkriegszeit zurückreicht, wie es Thilo Hilpert in seinem Beitrag „Land ohne Avantgarde“ analysiert hat. Was mir jedoch auffällt, ist, dass Sie den Begriff modern sehr häufig benutzen. Was bedeutet es für Sie, modern zu sein? Ich frage auch deshalb, weil es das Selbstverständnis von Arch berührt. Wir sehen uns im Sinne von Habermas als Teil einer unvollendeten Moderne, wobei Moderne als Bewegung, als Projekt, an dem es zu arbeiten gilt, und nicht als Stil zu verstehen ist. Otl Aicher, der lange Zeit das Erscheinungsbild von Arch bestimmt hat, sprach von einer „anderen Moderne“. Es gibt also ganz unterschiedliche Konnotationen. Was heißt es heute, modern zu sein angesichts großer antimoderner Tendenzen in der Gesellschaft?

MM: Ich denke, es ist wichtig, sich zu vergewissern, woher man kommt. Ich habe mich sehr früh, vielleicht mit 17, für das Bauhaus interessiert. Ich habe versucht, diese Ideen mit meiner eigenen Zeitschrift Apart in die Gegenwart zu überführen. Modern zu sein bedeutete für mich damals, dass ich mir eine eigene Kultur schaffen kann, eine Kultur, in der ich meine eigene Typografie entwickle, meine eigene Zeitschrift mache, in der ich über Dinge berichte, die mich interessieren. Wenn man es verallgemeinern will, so geht es letztlich um Architektur, also darum Räume zu bauen, eine Welt zu erschaffen, in der man sein eigenes „Theatrum“ gestaltet, wobei alles von einer nach vorne gerichteten DNA durchzogen ist.
Ich habe allerdings irgendwann gemerkt, dass ich in dem „Bauhaus-Gebäude“ gefangen war. Vor allem in den 80ern, als ich mir das Diktat auferlegt habe, nur mit einer Schrift, mit der Neuen Helvetica, zu arbeiten. Es ging nicht darum, mich zu disziplinieren. Es ist nur manchmal hilfreich, wenn man sich in seinen Möglichkeiten limitiert, gerade wenn man glaubt, man sei kreativ. Innerhalb dieser selbst gesteckten Limitierung kann man dann versuchen, Überraschungen zu produzieren. Man denkt dann nicht mehr über den Wechsel einer Schrift nach, sondern eher darüber, ob man groß oder klein schreibt, die Schrift mittig, links- oder rechtsbündig setzt, was man mit dem Spacing, was mit dem Durchschuss macht.
Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Das war eine gute Schule, aber ich habe auch gemerkt, dass es eine Sollbruchstelle braucht, und diese Sollbruchstelle ist der moderne Aspekt der heutigen Zeit. Ich glaube, heute modern zu sein bedeutet, die Sollbruchstelle auszuhalten. Es ist die Erkenntnis, dass das Leben nicht nach einer Agenda funktioniert. Modern benutze ich im Sinne von progressiv. Wir leben schließlich nicht von der Vergangenheit, sondern von der Zukunft. Dennoch müssen wir zurückschauen, weil wir eine Herkunft haben. Aber diese Herkunft unterliegt immer einer Transformation. Ein gutes Beispiel aus der zeitgenössischen Kunst ist die Neo-Moderne, die diesen Rückgriff auf die Moderne wagt, aber eigentlich implizit das Scheitern dieser Utopie zum Thema macht. Ruinöse Malerei nennt beispielsweise der Maler Alexander Lieck seine Bilder, die sich auf die konstruktive Avantgarde bezieht. Er benutzt die Moderne als Matrix der Vergangenheit, um darüber wieder andere Schichten zu legen.

ALN: Was können wir durch den Rückblick lernen? Dieses Heft ist ja ein solcher Rückblick, der in die Zukunft gerichtet ist.

MM: Wir haben natürlich den Vorteil, dass wir heute zurückblicken und aus den Fehlern der Vergangenheit lernen können. Ich glaube, dass Leute wie Otl Aicher in ihrem zeitlichen Kontext eher die Aufgabe hatten, Qualität sichtbar zu machen. Sie sind aber manchmal Opfer ihrer eigenen Ideologie geworden, weil sie Dinge zu sehr manifestieren, festschreiben wollten. Im Gegensatz zu früher muss man heute nicht mehr Qualität sichtbar machen. Es geht heute eher darum, eine Haltung auszudrücken. Denn wir orientieren uns heute mehr an Haltungen, die selbstverständlich mit einer Qualität gekoppelt sein müssen, aber man muss sie nicht mehr rein formal betrachten. Deshalb arbeite ich in unterschiedlichen Stilen, immer aus dem Kern einer Sache heraus, und das nenne ich „Ästhetik für Substanz“. Ich glaube, als Gestalter befindet man sich heute in der Rolle eines Agenten, der spüren muss, für welche Unternehmung es welcher kulturellen Codes bedarf, die es dann zu visualisieren gilt. Allerdings ist das Produkt nur dann glaubwürdig, wenn diejenigen, die den Inhalt machen, sprich die Redaktion, tatsächlich diese Kultur auch ein Stück weit nachvollziehbar leben kann. Wenn das zutrifft, hat man als Gestalter dann das Glück, etwas zu produzieren, das kulturelle Relevanz besitzt.

ALN: Vielleicht bedarf es einer gewissen Radikalität, um kulturelle Relevanz zu erzeugen. Damit sind wir bei der Frage angelangt, die Sie vorhin kurz angeschnitten haben und die wir in diesem Heft implizit behandeln, nämlich warum seit geraumer Zeit im Bereich der Architektur, ganz anders als in der Kunst, kaum relevante Impulse von Deutschland ausgegangen sind. Diese Situation spiegelt sich in der Medienlandschaft wider. Wenn wir die Zeitleiste der „Radikalen Architektur der kleinen Zeitschriften 196X–197X“ in diesem Heft betrachten, dann fällt auf, dass im Gegensatz zu Ländern wie England, Italien, Spanien, Österreich, Amerika oder Frankreich, also Länder, die kontinuierlich wichtige Beiträge geliefert haben und liefern, in Deutschland eine solche Entfaltung an Publikationsformaten und Inhalten ausgeblieben ist. Arch bildet darin die einsame Ausnahme. Fern von jeglicher Arroganz kann man darin das Fehlen eines Diskurses ablesen, unter der die deutsche Architektur, aber auch Arch , strukturell leidet. Die Synopse zeigt symptomatisch das, was man als Radikalitätsdefizit im diskursiven Sinne nennen könnte.
Sie haben daran angeknüpft und ein Konzept erarbeitet, das Sie als „visuell konsequente Radikalisierung des Inhalts“ beschreiben. Wie sieht heute die „radikale Architektur“ einer kleinen Zeitschrift aus, Architektur im doppeldeutigen Sinne als Aufbau der Zeitschrift und als Architektur, die darin abgebildet wird.

MM: Es ist natürlich als Deutscher besonders schwierig, von Radikalisierung zu sprechen. Das kann schnell missverstanden werden. Aber ich denke, wir haben keine andere Chance. Wir leben heute in einer unglaublichen Marketingwelt. Ich habe in den letzten 20 Jahren hautnah mitbekommen, wie Marken aufgebaut werden, wie sie sich bestimmter kultureller Codes bemächtigen. Ich habe ja selbst meinen Teil dazu beigetragen. Wir sind aber an einem Punkt angelangt, wo man das Gefühl der Gleichmacherei nicht mehr loswird. Im Zuge der Globalisierung setzt sich so etwas wie ein internationaler Stil durch, ein geschmäcklerischer Minimalismus. Wenn ich heute von Radikalisierung spreche, dann meine ich das eigentlich eher im Sinne von Josef Beuys als Aufruf zur Alternative. Wir haben zu viel vom Ewiggleichen, was es braucht, ist ein Unterschied, der einen Unterschied macht. Und ich glaube, den kriegen wir in dieser weichgespülten Medienkultur nicht. Wir brauchen wieder eine bestimmte Form von Antiperfektionismus. Ich möchte nicht professionell sein, ich möchte stattdessen das Charismatische ausarbeiten. Ich versuche eher das radikale Moment darin zu definieren, dass es den Charakter des Andersartigen zulässt.

ALN: Was heißt das konkret für das Redesign?

MM: Nachdem wir die alten Hefte durchgesehen haben, habe ich mich gefragt, warum ich die Relevanz, die diese Zeitschrift inhaltlich in der Szene hat, nicht fühlen kann? Ich bin ja kein Typograf im klassischen Sinne wie Erik Spiekermann oder Neville Brody, aber ich hatte das Gefühl, dass es damit zusammenhängt, dass die Rotis, die an sich eine wunderschöne Schrift ist, heutzutage eine solche Corporate-Typografie geworden ist, dass sie für mich unweigerlich nicht nach einer Alternative aussieht, sondern den Eindruck eines weiteren Corporate-Magazins vermittelt. Sie mag ursprünglich eine andere Intention gehabt haben, aber die Wahrnehmung hat sich gewandelt, so dass das Schriftbild der Rotis für Arch kontraproduktiv geworden ist.
Gerade in der heutigen Marketingwelt, in der Nischen besetzt werden, um nur ein weiteres Marketingprodukt zu kreieren, brauchen wir mehr denn je den Idealismus von einzelnen Überzeugungstätern, die eine Alternative anbieten. Ich habe auch deshalb spontan zugesagt, weil ich glaube, dass ich es bei Arch mit einer solchen Truppe von echten Überzeugungstätern zu tun habe, die so viel Idealismus und einen großen wichtigen Teil ihrer Lebenszeit dafür einbringen. Deswegen wollte ich bei dem Redesign von Arch wieder zurück zu den Wurzeln, aber nicht in einem nostalgischen Sinne. Vielmehr um an den Punkt anzuknüpfen, wo ein Bewusstsein, ein Sendungsbewusstsein aufgekommen ist, das sich in Form einer Zeitschrift verselbständigt hat. Die erste Ausgabe vor genau 40 Jahren in ihrem konsequenten Schwarz-weiß-Design mit dem klaren Arch Logo hatte die Form eines Manifestes. Ich sehe in Arch nicht nur Architektur, sondern auch den Archetyp, daher wollte ich wieder etwas Archetypisches schaffen, aber in einem heutigen Sinne, in der heutigen Zeit.
Die meisten Architekturzeitschriften sind heute hyperprofessionell gemacht, dadurch werden sie aber auch Opfer ihrer eigenen Professionalität in der Darstellung. Alles sieht super aus, fantastische Bilder, beste Geschichten, aber man kriegt gar nicht mehr mit, was das Anliegen ist. Dadurch wird alles redundant, ist nur noch Geräusch, wenn auch schönes Geräusch. Aber was ich wollte, um in dieser Metapher zu bleiben, ist, Arch durch die Gestaltung wieder zu seiner ursprünglichen Sprache zu verhelfen. Und deswegen wollte ich weg von den Rotis-Konditionierungen im Sinne eines Corporate-Magazins, um wieder deutlich zu machen, dass es hier um eine Form von Anarchie geht. Eine gewisse Rohheit, eine Ungeschliffenheit, die nicht vordergründig zu gefallen versucht. Mit brand eins habe ich so etwas wie eine klassische Schönheit des Feuilletons definiert, was mir nach wie vor wichtig ist, denn ich glaube weiterhin an die Kraft der Schönheit. Aber ich glaube auch, nachdem heute alles schön aussehen kann, wird diejenige Schönheit immer wichtiger, die sich erst auf dem zweiten Blick erschließt. Wenn man als Leser dieses Heft wirklich durchgearbeitet hat, wird man erkennen, wie wertvoll es geworden ist; durch die Aneignung entsteht so etwas wie eine Kostbarkeit. Man muss heute eher ein antizyklisches Gestaltungsverhalten an den Tag legen, das jetzt mit dem Label „Ugly“ versehen worden ist, aber um Hässlichkeit geht es gar nicht, sondern im Falle von Arch ist es dieses brutale Bekenntnis zum Inhalt.

ALN: Wie haben Sie dieses Bekenntnis in die Gestaltung übersetzt?

MM: Indem ich die Typo fast bis zum Rand ausgedehnt habe. Das heißt, ich möchte so wenig Weißraum wie möglich haben, weil jede Seite wichtig ist; deswegen muss die Seite von oben bis unten vollgeschrieben sein. Oder die Seiten müssen mit Bildern gefüllt sein. Ich bin davon überzeugt, dass schöner, ausbalancierter Weißraum heute von mündigen Lesern als Design-Geste gelesen wird. Und ich finde, jetzt ist mal Schluss mit Design. Wir brauchen erstmal wieder Aufrichtigkeit. Also keine Verschönerung, keine Make-up-Prozesse mehr, das meine ich mit „Ästhetik für Substanz“. Diese Substanz muss natürlich geliefert werden, und da gibt es nicht viele. Arch gehört zu den wenigen, die Substanz liefern. Dementsprechend macht es auch Spaß, das Ganze so umzudrehen, weil ich weiß, dass es nicht darum geht, Grauwerte zu strukturieren, sondern Dringlichkeit zu gestalten.
Arch ist aber auch kein Museum, wir schauen nicht nostalgisch zurück, daher bringen wir bewusst die vielen Faksimiles, die wir als Beweisführung für die These der radikalen kleinen Zeitschrift haben, nicht mit einem weißen Passepartout und stellen sie dadurch auf einen Sockel, sondern wir zoomen rein, wir sind respektlos im Umgang mit ihnen. Ich möchte diese vermeintliche Feinheit ausblenden, ich möchte, dass es wirklich into your face ist oder besser into your soul bzw. into your brain. Es muss also unmittelbar, direkt sein. Ich glaube, dass auch Architektur so funktionieren muss, sie darf nicht kalkuliert erscheinen. Beim Design habe ich zu häufig das Gefühl, dass alles bis ins Kleinste kalkuliert ist. Das Problem ist doch, dass heute alles einer Absicht folgt. Und diese Absicht wird vorgegeben, sie ist das Ergebnis eines Businessplans. Was ich wieder einfordere, ist Absichtslosigkeit.

ALN: Genauso hat Baudrillard Radikalität einmal definiert: „losgelöst von aller Bedeutung, aller Finalität, aller Kausalität“. Etwas, das über sich hinausweist, das nicht ein bestimmtes vorgegebenes Programm zu erfüllen oder die Realität widerzuspiegeln versucht. – Was hat es mit dem schwarzen Balken auf sich, der sich auf jeder Seite wiederholt?

MM: Der schwarze Balken, der oben auf der Seite steht, stellt ein solches radikales Moment dar. Man kann ihn irgendwie stilistisch lesen, aber er ist einfach eine Konstante, die sich ganz radikal oder stoisch über jede Seite durchquält. Es würde ja reichen, den Balken lediglich auf der ersten Seite einer Rubrik einzusetzen und dazwischen nicht zu wiederholen. Nein, er ist wie ein Stempel, wie ein Gütesiegel, noch mal drauf, noch mal drauf und noch mal drauf. Ansonsten ist die Gestaltung möglichst schwarz-weiß und ungeschönt, Dinge sind grob wie mit der Nagelschere freigestellt. Schließlich geht es nicht um Perfektion, auch nicht darum, einen Preis für die beste Lithografie zu bekommen, sondern es geht um einen Moment aufrichtiger Auseinandersetzung, darum, das Zeitschriftenmachen als eine Art Schöpfungsprozess zu zeigen. Und am Ende dokumentiert das Heft an sich diesen Findungsprozess, diese Auseinandersetzung. Wir knüpfen damit an jenen Moment an, als Menschen zusammenkamen, die nichts über das Magazinmachen wussten, aber wussten, sie mussten der Welt etwas mitteilen. Und dieses Gefühl, diese Dringlichkeit möchte ich im Design spürbar machen.

ALN: Diese Dringlichkeit umschreiben Sie mit dem Begriff des Manifestes. Sie sagten, Arch müsse die Sprache eines Manifestes sprechen. Nur wissen wir allzu gut, dass die Zeit des Manifestes vorbei ist. Stattdessen haben wir es heute mit „passiven Manifesten“ zu tun, wie es Rem Koolhaas während des Interview-Marathons formuliert hat. Diese Erkenntnis durchzog wie ein roter Faden viele Gespräche, die er und Hans Ulrich Obrist im Rahmen der Teilnahme von Arch am Zeitschriftenprojekt der documenta 12 geführt haben. „Passives Manifest“ heißt, dass es heute nicht darum geht, irgendeine Überzeugung oder Eingebung zu verkünden, sondern aus der sehr genauen Beobachtung der Wirklichkeit heraus Dinge so zu verdichten, dass sie den Charakter eines Manifestes annehmen.

MM: Das ist eine perfekte Beschreibung dessen, was wir wollten. Ein Manifest als hoch verdichtetes Angebot. Das Radikale dabei ist, dass wir es so verdichten, dass man die härtere Gangart spürt. Man kriegt heute ja praktisch jedes Design hinterher geworfen, alles ist verfügbar, deswegen hat der Biedermeier tausend Möglichkeiten, sich zu tarnen.

ALN: Damit sprechen Sie ein inhaltliches Problem der Medien an. Aber es gibt daneben auch eine medientheoretische Ebene, die wir im Heft mit dem Exkurs „Buchdruck“ beleuchtet haben. Die These lautet, dass, um es mit Victor Hugo zu sagen, „der menschliche Gedanke mit der Änderung seiner Form auch die Ausdrucksweise ändern werde.“ Das bedeutet, wenn sich die Medien, mit denen wir unsere Gedanken ausdrücken, ändern, unsere Art zu denken sich ebenfalls ändern wird. Wir haben den Bogen bewusst weit gespannt, angefangen bei der einschneidenden medientechnischen Revolution des Buchdrucks, über die 20er Jahre hin zu der Blüte der kleinen Zeitschriften in den 60er und 70er Jahren, die als eine Reaktion auf neue Möglichkeiten im Printbereich gelesen werden kann. Die Digitalisierung haben wir nicht behandelt, weil wir in den kommenden Heften darauf eingehen wollen. Wie denken Sie werden sich die digitalen Medien auf das Zeitschriftenmachen auswirken?

MM: Ich glaube, die ewige Diskussion darum, dass die digitalen Medien die Zeitschriften plattmachen werden, hat sich erübrigt. Ich glaube sogar, dass die Zeitschriften dadurch noch kostbarer geworden sind. Das Medium ist ein Traum, die haptische Qualität, das Knistern beim Blättern, der Duft. Andererseits besteht die digitale Möglichkeit darin, dass man heute ohne viel Aufwand Zeitschriften selber machen kann. Es geht schneller, professioneller im technischen Sinne.

ALN: Es bestehen somit eigentliche ideale Voraussetzungen für das, was in den 60ern und 70ern passiert ist.

MM: Ja, die Chance der digitalen Medien besteht gerade in ihrer schnellen Machbarkeit. Aber derzeit ist das meiste absolut belanglos, die Sachen sind zwar super gestaltet, kommen wichtig daher, aber es sind vorwiegend frisierte PR-Texte. Man muss richtig suchen bis man Dinge entdeckt, wo das Visuelle und der Inhalt eine fruchtbare Verbindung eingehen. Das Problem ist, dass die Leute zu wenig wagen. Alles sieht toll aus, weil man heute alles toll aussehen lassen kann. Aber das ist alles nur Make-up. Ich glaube, das Grundproblem liegt darin, dass es nur ganz wenige Überzeugungstäter in den Redaktionen gibt, die eine Idee, eine Haltung haben, für die sie auch einstehen. Das ist sicherlich auch ein Problem der Verlage, die einfach Geld verdienen wollen. Nicht, dass man nicht Geld verdienen will, aber man muss erstmal eine Idee haben, man muss eine Haltung gegenüber den Dingen entwickeln, die in der Welt passieren. Mitte der 90er habe ich drei Jahre mit Peter Saville das Joint Venture „The Apartment“ in London gehabt. Wir haben kaum gearbeitet, wir saßen immerzu auf dem Sofa und haben geredet. Das ist auch eine wahnsinnige Qualität von Saville, dass man sich erst einmal über die Dinge im Klaren sein muss, bevor man beginnt. Es geht um Stoßrichtungen, um Intensität. Wir haben heute zu viele talentierte Tuner. Ich glaube, Talent ist das geringste Problem, das wir in Deutschland haben, vielmehr ist es ein Fehlen an historisch verwurzelter Haltung, an radikalem Engagement, um Dinge zu erschaffen, die für den Diskurs relevant sind. Dinge, die die richtige Schwingung haben. Manchmal ist diese Schwingung richtig gefährlich, vielen vielleicht zu gefährlich.

ALN: Ihr Verhältnis zur Typografie ist ...

MM: ... konzeptionell, absolut konzeptionell. Ich bin kein klassischer Typograf.

ALN: Abgesehen davon, dass die Futura in der ersten Arch benutzt wurde, gibt es für Sie andere Gründe, sie jetzt mit der Times wieder einzuführen?

MM: Das führt uns wieder zu der Frage zurück: Was heißt heute modern? Ich arbeite in der Regel mit drei, vier Schrifttypen, darunter die Helvetica oder die Futura als Grotesk. Für mich steht die Futura nicht allein wegen ihres Namens für Modernität. Was ich an ihr mag, ist, dass sie so geometrisch aufgebaut, so konstruiert ist. Auch die Moderne ist ja eine Kopfgeburt, ein Konstrukt. Die Futura besitzt eine Reinheit, die ich wieder entdecke. Das sieht man zum Beispiel ganz gut am kleinen a. Bei der Helvetica hat man einen Bogen drüber und einen kleinen Bauch, bei der Futura lediglich einen Kreis und einen Strich. Die Futura ist im Grunde eine Architekturschrift. Sie hat mehr Rückgrat. Ihre Gangart ist linearer, radikaler als die Helvetica.
Und wenn sich Dinge für mich noch auf einer Gedanken- oder Theorieebene befinden, dann arbeite ich gerne mit einer Schreibmaschinenschrift, also der Courier. Und wenn ich den Leser feuilletonistisch zum Lesen verführen, ihn auf eine andere Ebene überführen möchte, damit er sich in der Geschichte verliert, dann kommt die Times als Serif zum Einsatz, weil sie den Duktus eines Buches vermittelt. Aber Arch ist kein Buch, und die Courier würde auch nicht funktionieren. Die Futura gibt dem Layout eine gewisse Gradlinigkeit, die aber durch eine gewisse Rotzigkeit gestört wird. Wir werfen immer wieder Sand ins Getriebe. Das sind beispielsweise die Faksimiles, die teilweise unscharf sind, teilweise nicht perfekt, teilweise angegilbt, die bewusst in dieses strenge Raster gepresst werden. Das ist die Sollbruchstelle, die Komplexität der Gegenwart, von der ich gesprochen habe. Ich möchte die Dringlichkeit von Pornoseiten, in dem Sinne, dass ich das Triebgesteuerte zum Thema machen möchte.

ALN: Wie verbindet sich das mit einer theoretischen Zeitschrift?

MM: Was mich an Arch interessiert, ist nicht in erster Linie die Intellektualität, sondern dass die Redaktion sich ihren Trieben stellt. Sie trägt diesen Wahn in sich, alles akribisch aufzuklären, zu hinterfragen, das ist eigentlich irre, das ist so nerdy, aber das ist so kostbar, weil es Arch von anderen unterscheidet. Wenn wir nach Beuys alle Künstler sind, wenn Steve Jobs uns alle ein Laptop gegeben hat, dann können wir alle alles machen, wo ist der Unterschied?

ALN: Da wären wir wieder bei Peter Saville: „Das Einzige, was es noch nicht gab, ist man selbst.“

MM: Genau, dann ist man als befreites oder als lustgeplagtes Individuum gefordert, man kann dann seine Triebe ausleben oder sich ihnen stellen. Wir leben in einer Kulturgesellschaft und wir machen diese Kultur. Diejenigen, die sich nicht bewusst einbringen, werden letztlich Opfer ihrer eigenen Untätigkeit.

ARCH+, So., 2008.04.20



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ARCH+ 186/187 Radikale Architektur

21. Mai 2007Anh-Linh Ngo
ARCH+

Vom Unitären zum Situativen Urbanismus

Als im Mai 2005 die Ergebnisse des Shrinking Cities Wettbewerbs in archplus 173 vorgestellt wurden, konstatierten wir eine Wende in der Planungspraxis, die sich bereits in den beiden Ausgaben zur Off-Architektur (166/167) herauskristallisiert hat. Diese Wende ließe sich kurz als eine Bewegung weg von statischen Planungs- und Arbeitsweisen hin zu kleinteilig individuellen und offen performativen Strategien umreißen. Diese Veränderung spiegelt eine Machtverschiebung im Gefüge der an der Raumproduktion Beteiligten wider, denn nichts anderes bedeutet es, wenn gegenwärtig der einzelne Akteur und sein Umgang mit dem Vorgefundenen eine neue Wertschätzung erfährt.
Dieser gesellschaftspolitische Ansatz erlaubt es, das kreative Spannungsfeld zu beschreiben, das sich, um mit Foucault zu sprechen, in den Handlungsräumen der Individuen zwischen Selbst- und Herrschaftstechnologien eröffnet.

Das Thema hat uns nicht wieder losgelassen. Es stellt sich nämlich die Frage, woher und warum mit solcher Vehemenz und warum gerade jetzt Strategien zum Vorschein kommen, die uns einerseits neu, anderseits sehr vertraut vorkommen.

Vertraut, weil von Partizipation, von Selbstermächtigung, von Ermöglichung seit den 1960er Jahren die Rede ist. Vertraut auch, weil diese Strategien Teil der politischen Geschichte dieser Zeitschrift sind. Trotz allen Unkenrufen deutet vieles daraufhin, dass Politik wieder en vogue ist – und zwar Politik im performativen, prozess- und handlungsorientierten und nicht im institutionellen Sinne (siehe Urban Catalyst zu temporären Nutzungen (S. 84) und Fezer/Heydens kritische Betrachtung partizipativer Planungstraditionen (S. 92). Damit laufen die allfälligen Vorwürfe ins Leere, es handele sich um „subpolitische“ und „subplanerische“ Scheingefechte, wenn Planer nicht mehr Pläne zeichnen, sondern sich als Initiatoren, als Anwälte für die Aneignung von Raum verstehen.
Die Umgehung des institutionellen Gefüges dient nämlich dazu, direkt und performativ auf den gesellschaftichen Raum einzuwirken.

Als im Mai 2005 die Ergebnisse des Shrinking Cities Wettbewerbs in archplus 173 vorgestellt wurden, konstatierten wir eine Wende in der Planungspraxis, die sich bereits in den beiden Ausgaben zur Off-Architektur (166/167) herauskristallisiert hat. Diese Wende ließe sich kurz als eine Bewegung weg von statischen Planungs- und Arbeitsweisen hin zu kleinteilig individuellen und offen performativen Strategien umreißen. Diese Veränderung spiegelt eine Machtverschiebung im Gefüge der an der Raumproduktion Beteiligten wider, denn nichts anderes bedeutet es, wenn gegenwärtig der einzelne Akteur und sein Umgang mit dem Vorgefundenen eine neue Wertschätzung erfährt.
Dieser gesellschaftspolitische Ansatz erlaubt es, das kreative Spannungsfeld zu beschreiben, das sich, um mit Foucault zu sprechen, in den Handlungsräumen der Individuen zwischen Selbst- und Herrschaftstechnologien eröffnet.

Das Thema hat uns nicht wieder losgelassen. Es stellt sich nämlich die Frage, woher und warum mit solcher Vehemenz und warum gerade jetzt Strategien zum Vorschein kommen, die uns einerseits neu, anderseits sehr vertraut vorkommen.

Vertraut, weil von Partizipation, von Selbstermächtigung, von Ermöglichung seit den 1960er Jahren die Rede ist. Vertraut auch, weil diese Strategien Teil der politischen Geschichte dieser Zeitschrift sind. Trotz allen Unkenrufen deutet vieles daraufhin, dass Politik wieder en vogue ist – und zwar Politik im performativen, prozess- und handlungsorientierten und nicht im institutionellen Sinne (siehe Urban Catalyst zu temporären Nutzungen (S. 84) und Fezer/Heydens kritische Betrachtung partizipativer Planungstraditionen (S. 92). Damit laufen die allfälligen Vorwürfe ins Leere, es handele sich um „subpolitische“ und „subplanerische“ Scheingefechte, wenn Planer nicht mehr Pläne zeichnen, sondern sich als Initiatoren, als Anwälte für die Aneignung von Raum verstehen.
Die Umgehung des institutionellen Gefüges dient nämlich dazu, direkt und performativ auf den gesellschaftichen Raum einzuwirken.



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archplus 183 Situativer Urbanismus

Architektur oder Revolution*

Mit dieser Ausgabe setzen wir nach archplus 179 „Oswald Mathias Ungers. Berliner Vorlesungen 1964/65“ die Auseinandersetzung mit Ungers’ Lehrkonzept fort....

Mit dieser Ausgabe setzen wir nach archplus 179 „Oswald Mathias Ungers. Berliner Vorlesungen 1964/65“ die Auseinandersetzung mit Ungers’ Lehrkonzept fort....

Mit dieser Ausgabe setzen wir nach archplus 179 „Oswald Mathias Ungers. Berliner Vorlesungen 1964/65“ die Auseinandersetzung mit Ungers’ Lehrkonzept fort. Während die Berliner Vorlesungen den theoretisch-methodischen Ansatz seiner frühen Lehrtätigkeit aufzeigen, gibt das vorliegende Heft einen zu den Vorlesungen komplementären Überblick über seine praktisch-schöpferische Lehrauffassung, die in unzähligen Projekten und vor allem in den berühmten Veröffentlichungen zur Architektur ihren Ausdruck fanden. Den Reichtum der explizit als Materialsammlung angelegten Ausgabe verdanken wir der exzellenten Arbeit von Erika Mühlthaler, die als Gastredakteurin ihren zur Ausstellung „Lernen von O. M. Ungers“ an der TU Berlin erschienenen Katalog in einer von uns leicht gekürzten und redigierten Fassung erneut herausgibt.

Warum in kurzer Folge zwei Ausgaben zu Ungers? Es geht uns ausdrücklich nicht um einen wie auch immer gearteten Personenkult. Vielmehr erlaubt es die unvergleichliche Materialsammlung, von den Wochenaufgaben bis zu den Diplomarbeiten zu verfolgen, was es heißt, in der Architektur nicht nur die Kunst zu sehen, „Bindungen“ einzugehen – ein Architekturbegriff, der Regelhaftigkeit einfordert –, sondern auch, was es bedeutet, den Ort selbst zum Gegenstand des Studiums zu machen, sich mit der Stadt auseinander zu setzen.1 Berlin ist seit Ungers Thema. Thema ist aber nicht nur die Stadt selbst, sondern an Berlin ist auch die Hoffnung geknüpft, dass von hier aus eine Erneuerung der Architektur ausgehen könnte.

Und sie tat es auch. Wenn auch in einem ganz anderen Sinne als erwartet. Es scheint in der deutschen Architekturgeschichte immer wieder Schichten zu geben, die zunächst verdrängt und erst über den Umweg einer Rezeption von Außen in ihrer ungeheuer anregenden Bedeutung wahrgenommen werden können. Die „Berliner Geschichte(n)“ von Rem Koolhaas in dieser Ausgabe belegen es. (S. 68) Das dialektische Verhältnis zwischen Ungers und Koolhaas ist jedoch zugleich ein gutes Beispiel dafür, was „Lernen von Ungers“ tatsächlich bedeuten könnte. Für den jungen Koolhaas waren die Berliner Studentenarbeiten nicht nur ausschlaggebend für seine Entscheidung, Ungers nach Cornell zu folgen, sondern sie eröffneten ihm auch ein Spektrum von Ideen, die er aufgriff, methodisch weiterentwickelte und in verschiedenen Projekten vervollkommnete, während die deutschen Schüler, die einen Richtungswechsel einzuläuten schienen, lediglich eine Hoffnung auf die Zukunft blieben. Statt die Offenheit des Ungersschen Denkraums als Anregung für eine eigenständige Weiterentwicklung der Architektur zu nutzen, herrschen in Deutschland allzu häufig einseitige Interpretation, Besitzansprüche und Epigonentum vor.

Was sind die Gründe für das Misslingen des Berliner Experiments? Als Begründung wird an dieser Stelle immer das Destruktionspotential der Studentenbewegung angeführt und die
68er dafür verantwortlich gemacht, dass die Rückeroberung des Bauens durch die Ungerssche Lehre so jäh endete. Ein Argument, so falsch wie richtig.2 Der Einbruch des Politischen erweiterte, veränderte aber auch das Verständnis von Architektur und Gesellschaft grundsätzlich. „Architektur und Gesellschaft“ hieß auch das erste Seminar der Kritischen Universität an der TUB. Es war der erste Schritt zu einer, wenn auch anfänglich äußerst abstrakten, kritisch-historischen Aufarbeitung der unterdrückten Seite der Moderne, nämlich ihre sozialrevolutionäre und sozialreformerische Geschichte, die es später erlauben sollte, sich dem Verhältnis von Architektur und Gesellschaft konkreter zu nähern. In den 1960er Jahren war es noch ein sich gegenseitig ausschließendes Verhältnis, das damals nur einseitig zu lösen war: Revolution oder Architektur.

ARCH+, Di., 2007.01.09



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archplus 181/182 Lernen von O. M. Ungers

08. September 2006Stephan Becker
Anh-Linh Ngo
ARCH+

Innenleben des Städtischen

Insideout – ein Tanztheaterstück von Sasha Waltz & Guests

Insideout – ein Tanztheaterstück von Sasha Waltz & Guests

Das Tanztheaterstück „insideout“ von Sasha Waltz kann als eine Parabel für das Leben in der Moderne gelesen werden. Dieses Leben, das Georg Simmel prototypisch in der Großstadt verwirklicht sieht, wirft permanent Fragen nach dem Verhältnis von historischem Erbe, Herkunft und Identität, gesellschaftlichen und individuellen Werten sowie deren Gegensätzlichkeiten und Widersprüche auf, die ganz spezifische Lebensstile und Identitäten prägen. Insofern lässt sich „insideout“ auch als Erzählung über die Stadt auffassen: das persönliche Leben als Triebfeder des Gemeinsamen, das in unzähligen Abmachungen immer wieder neu entstehen muss.

Dementsprechend waren der Ausgangspunkt des Stücks die autobiografischen Erfahrungen der einzelnen Mitglieder der Compagnie. In persönlichen Interviews konnten sich die Darsteller mit ihrer Herkunft und ihren Hintergründen in die künstlerische Entstehung des Stücks einbringen. Die Geschehnisse auf der Bühne folgen auf sehr persönliche Weise dieser Mikrohistorie und widersetzen sich in ihrer Vielfältigkeit der Vereinnahmung durch eine kohärente Erzählung. Folgerichtig entwickelt sich das Stück choreografisch zeitgleich in allen Räumen des Bühnenraums und der Fokus wird nur minimal geführt. Lediglich in der Ferne scheint es eine Dramaturgie zu geben, deren Auswirkungen wie Schockwellen in den Handlungen der Akteure sichtbar werden. Doch gerade durch diesen Abstand zum eigentlichen Ursprung treffen sich die Elemente und verdichten sich die Geschehnisse: Alles scheint nicht nur aufgrund willkürlicher Nähe, sondern durch subtile Bedeutungen verknüpft zu sein. So werden in den persönlichen Hintergründen der Schauspieler auch grundsätzliche Ideen vom Zusammenleben sichtbar und gerade im dichten Geflecht gegenseitiger Bezüge liegt das städtische Moment von insideout.

Das Fragmentarische und die Vielschichtigkeit des Lebens spiegeln sich in dem atmosphärisch dichten Bühnenkonzept von Sasha Waltz und Thomas Schenk. Die Intensität des Stücks entsteht somit auch aus dem Bühnenraum selbst, der analog zu den vielfältigen Erfahrungen der Darsteller eine Vielzahl von Räumen mit ganz unterschiedlichen atmosphärischen Qualitäten bietet. Gleich einem Flaneur durchwandert der Zuschauer die Raumbühne, die wie eine Stadt mit engen Gassen, Treppen, intimen Räumen und offenen Plätzen angelegt ist. So gibt es die Weite des Blicks, durch den die architektonischen Fragmente zu modernen Gebäuden zu werden scheinen, die dank großer Fenster Einblicke in ihre Innenräume gewähren. Zugleich verengt sich der Raum an anderer Stelle und wird fast dörflich in der Ansammlung kleinerer, verschlossener Objekte. Der Besucher ist eingeladen, sich das Geschehen selbst zu erschließen und sich frei zwischen der Architektur und den Darstellern zu bewegen.

Die unterschiedlichen räumlichen Konfigurationen wirken sich unterschiedlich auf die Rolle aus, die der Zuschauer dabei einnimmt: Der unbeteiligte Flaneur in den Gassen wird in den meist nur wenige Menschen fassenden Architekturen durch offene Schlitze und Fenster zum unerbittlichen Voyeur. In solchen Momenten wird er im Wortsinne der Eindringlichkeit seiner eigenen Rolle bewusst und die Grenze zwischen Anteilnahme, blasierter Gleichgültigkeit und schmerzhafter Intimität wird fließend: auch das ein zentrales urbanes Motiv. Trotzdem, die fast archetypischen Raumkonfigurationen bleiben niemals abstrakt, sondern bekommen in den biografischen Aspekten des Stücks und den Bewegungen der Darsteller eine große Unmittelbarkeit.

Die Nähe des Bühnenbildes zu tatsächlich gelebten städtischen Räumen ermöglicht den Besuchern immer wieder neue Zugänge, zwingt zugleich aber auch dazu, sich in Relationen zu diesen Konfigurationen zu setzen. Denn anders als sonst im Theater verschwindet der Besucher nicht in der Neutralität der Masse des Zuschauerraums, sondern bleibt Individuum, ohne dass das Stück zu einem peinlichen Mitmachtheater wird. Schnell entstehen so eigene räumliche Vorlieben und die Besucher beginnen in dem Wunsch, das Geschehen zu begreifen, ihre eigenen Choreografien zu entwickeln. Sie folgen mit der Architektur den Wechseln von innen nach außen, von privat und öffentlich, von Intimität und Offenheit. Im Zusammenspiel der intimen Komplexität der Stadtfragmente und den individuellen und persönlichen Bewegungen sowohl der Darsteller wie auch der Zuschauer entfaltet sich die große Wirksamkeit des Stücks, die darin besteht, für einen Moment die Dynamik unter der Oberfläche der üblichen Konventionen des städtischen Zusammenlebens spürbar zu machen.

ARCH+, Fr., 2006.09.08



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archplus 180 convertible city

Die Berliner Vorlesungen von Oswald Mathias Ungers

Mit dieser Ausgabe veröffentlichen wir zum ersten Mal die Berliner Vorlesungen von Oswald Mathias Ungers aus den Jahren 1964–65. Sie sind mittlerweile...

Mit dieser Ausgabe veröffentlichen wir zum ersten Mal die Berliner Vorlesungen von Oswald Mathias Ungers aus den Jahren 1964–65. Sie sind mittlerweile...

Mit dieser Ausgabe veröffentlichen wir zum ersten Mal die Berliner Vorlesungen von Oswald Mathias Ungers aus den Jahren 1964–65. Sie sind mittlerweile legendär. Im internationalen Kontext kann man sie in eine Reihe mit solch bedeutenden Schriften wie „Die Architektur der Stadt“ von Aldo Rossi und „Komplexität und Widerspruch in der Architektur“ von Robert Venturi stellen. Während letztere das Verständnis von Stadt und Architektur zu verändern suchten, versuchte Ungers in der Umbruchzeit der 1950er und 1960er Jahre, die Architekturlehre neu zu begründen. Das Thema der Vorlesungen ist zwar auf das Museum beschränkt, es hätte jedoch auch jedes andere Thema sein können, da OMU typologisch-morphologisch argumentiert. Aus diesem Grunde formulieren die Vorlesungen jenseits der thematischen Bindung ein architektonisches Denken, das Allgemeingültigkeit beansprucht.
OMU entwickelt mit den Vorlesungen eine Art Grundrisstypologie, die er in der Hauptsache auf formal-ästhetische, d.h. in diesem Kontext architektonisch-strukturelle Aspekte konzentriert. Dabei bedient er sich der in den Kunstwissenschaften verbreiteten kompara-tistischen Methode, wie sie z.B. in der vergleichenden Bildbetrachtung zur Anwendung kommt. Mit dem Mittel der morphologischen Reihung sucht OMU die Kompositionsregeln der einzelnen Bauwerke in eine synoptische allgemeine Betrachtung einzubinden und Entwicklungslinien herauszuarbeiten. Diesen Aspekt haben wir mit ausklappbaren Grundrisstableaux und analytischen Zeichnungen nachvollzogen, die als Lesehilfe dienen sollen. Exkurse zu einzelnen kunsthistorischen Aspekten begleiten die Ausführungen und dienen der Vertiefung des Verständnisses, ohne den Anspruch zu erheben, kunsthistorisch korrekt zu argumentieren. Im Gegenteil, OMU geht mit dem Material ausgesprochen virtuos und frei um, was von einer großen Souveränität und einem freien Denken zeugt.

Die Vorlesungen sind nach dispositiven, räumlichen Kriterien strukturiert und untersuchen, ob die Räume koordiniert, subordiniert, kontinuierlich ineinander übergehen oder durch einen Korridor verbunden werden. Damit stellt OMU die Frage nach den Regeln der Raumdisposition in den Mittelpunkt, für die Robin Evans erst viel später mit „Menschen, Türen, Korridoren“ die historische Rechtfertigung liefern sollte.
OMU verfolgt mit diesem Ansatz etwas, was in den 1960er Jahren vollständig unzeitgemäß war: nach der Regelhaftigkeit von Architektur zu fragen, mehr noch, in der Architektur „die Kunst (zu sehen), Bindungen zu schaffen.“ (vgl. Antrittsvorlesung S. 12 ff.) Er sucht die Architektur nicht nur vom Bauen, sondern auch von der Baukunst abzugrenzen und als eine Disziplin zu etablieren, die weder im Zweck noch in der Idee aufgeht, sondern zwischen den beiden Polen des architektonischen Schaffens vermittelt. vermittelt. In der Kompositionslehre als Entwurfsinstrument meint er diesen Mittelweg gefunden zu haben. Und so ist es nur folgerichtig, dass er den Vorlesungszyklus zum Museum mit einer Vorlesung zum architektonischen Regelwerk eröffnet, während die anschließenden Vorlesungen einzelne Dispositionen diskutieren.
Um zu zeigen, wie sich die Architekturlehre vom OMU ausgewirkt hat, haben wir den Vorlesungszyklus um eine Auswahl von beispielhaften Studentenarbeiten erweitert, die durch die legendären „Veröffentlichungen zur Architektur“ des Lehrstuhls einen größeren Kreis erreicht und namhafte Architektenbiographien wie jene von Rem Koolhaas beeinflusst haben.

Im Gespräch mit Rem Koolhaas und Hans-Ulrich Obrist in diesem Heft (S. 6 ff.) beklagt sich OMU bitter über das jähe Ende seiner Berliner Jahre. Er hatte einen Kongress zur Architekturtheorie mit internationaler Beteiligung geplant, der „in einer Katastrophe (endete)“, wie er heute resümiert. Die Studenten entrollten zur Schlussdiskussion ein Transparent mit der Aufschrift: „Alle Häuser sind schön – hört auf zu bauen.“ OMU sah in dieser Aufforderung einen Angriff auf seinen Versuch, „in die Architektur in Deutschland wieder Intelligenz, Nachdenklichkeit und Kreativität hinein(zu)bringen“.
Während er mit einer noch heute in den Publikationen spürbaren Neugierde, Offenheit und Experimentierfreude an der Rückeroberung des Bauens für die Architektur arbeitete, schickten sich die Studenten an, den Aufstand zu proben. Rem Koolhaas trifft diesen Punkt, wenn er nach der Spannung fragt zwischen der zeitgleichen Wiederentdeckung von Schinkel als dem eklektischen Genie des 19. Jahrhunderts und den nicht weniger eklektischen politischen Maskeraden an der TU Berlin. Und in der Tat ging die vom Establishment gefürchtete „Gefahr“ weniger von den revolutionären Maskeraden aus als vielmehr von den kulturrevolutionären Elementen, die die Studentenbewegung mittransportierte. Als Gegenkultur gelang es der Studentenbewegung, in die Gesellschaft einzuwirken und andere soziale Schichten zu ergreifen. Und obwohl sie politisch nie das studentische Milieu überwand, ließ sie die Lebenspraxen explodieren, auf denen neben der bürgerlichen Gesellschaft auch das Studium selbst basierte. Anders ausgedrückt: Mit der Studentenbewegung zeichneten sich, wenn auch politisch verklärt, schon die konsumistischen Lebensmodelle der sich anbahnenden Massengesellschaft ab, während die Architekturlehre von Ungers noch auf das humanistische Bildungsideal der bürgerlichen Gesellschaft zurückging und damit fast zu einem Fremdkörper wurde in den politischen Auseinandersetzungen. In diesen Konflikten mit wechselnden Fronten liegt u.E. der Grund für das Scheitern von OMU an der TU Berlin.

On The Eve of Destruction ...

Diese politischen Auseinandersetzungen sind nur vor dem Hintergrund einer größeren Krise zu verstehen. Denn das Projekt der Moderne schien in den 1960er Jahren an einen Wendepunkt gelangt zu sein. Der anti-klassische Impuls, der die Moderne seit Anbeginn des Jahrhunderts antrieb, nämlich die Kunst in die Lebenspraxis zu überführen, war offensichtlich verbraucht, mehr noch, die allgegenwärtige Banalität der zum Bauwirtschaftsfunktionalismus herunter gekommenen Moderne erübrigte jeden Hinweis auf ihre ganz anderen Ursprünge. Die Krise war da und nicht mehr zu verleugnen. Wie man sich zu ihr verhielt, war auch eine Frage, wie man zu Oswald Mathias Ungers stand. Kündigte die Krise das Ende des Anti-Klassizismus der Moderne an und den Beginn einer neuen Architektur mit OMU als einem ihrer Protagonisten, wie es Heinrich Klotz mit der „Revision der Moderne“ einforderte, oder barg die Krise auch andere Möglichkeiten?

Die Zeit schien damals beiden Positionen Recht zu geben. Der schon totgesagte Anti-Klassizismus der Moderne erlebte eine erste wissenschaftliche Renaissance durch die Aufarbeitung der heroischen Moderne. Die historisch kritische Revision der Moderne setzte mit den Arbeiten von Giulio Argan mit „Gropius und das Bauhaus“ und Manfredo Tafuri mit „Projekt und Utopie“, sowie grundsätzlich mit der Zeitschrift Casabella continuità ein. Aber auch die politischen Auseinandersetzungen begannen in den Fachdiskurs einzugreifen, wo sie zu heftigen Verwerfungen führten. Sie zielten auf ein verändertes Verständnis von Planung und wurden getragen von der Hoffnung auf eine neue Planungskultur.
Nach einer wechselvollen Geschichte von Niederlagen und erst langfristig sich auswirkenden Erfolgen hat sich die Hoffnung auf eine neue Planungskultur bis heute nicht erfüllt. Die Entgrenzung in die Sozialwissenschaften und mit ihr der Traum nach Verwissenschaftlichung der Architektur, den auch diese Zeitschrift mitgetragen hat, ist grundsätzlich gescheitert, während die Öffnung des Planungsprozesses für neue Koalitionen bis in die Gegenwart fortwirkt. (vgl. hierzu archplus 173 Shrinking Cities, Mai 2005).

Die klassizistische Wende

Demgegenüber setzte sich der Klassizismus der Moderne auf breiter Front durch. Er verwies seinen gegenkulturellen Widerpart in die Randbereiche der Planungs- und Politikwissenschaften, über die er erst heute, angesichts der Governancedebatte, wieder in die Disziplin zurück zu strahlen beginnt. Die Kritik am Anti-Klassizismus beherrschte die Debatte, mehr noch, er wurde als Grund für das Scheitern der Moderne überhaupt denunziert, verstärkt noch durch das sich abzeichnende Ende des „realen Sozialismus“, das dazu verführte, die Moderne mit dem gescheiterten Menschenexperiment gleich zu setzen.

Einen Ausweg aus der Krise sah man in einer „reflexiven Modernisierung“ (Ulrich Beck). Und meinte damit, dass die Moderne sich aus sich selbst heraus modernisieren muss, indem sie sich zu sich selbst in Beziehung setzt. Und so kann man folgerichtig die reflexive Wende der Architektur mit den ersten Schritten zur Historisierung der Moderne in den 1950er Jahren datieren. Neben Argan und Tafuri sollte der Beitrag von Colin Rowe für die weitere Entwicklung so bedeutsam werden. Während sich die italienische Debatte um eine kritisch historische Aufarbeitung der heroischen Moderne bemühte, und mit Tafuri das Scheitern des gesellschaftspolitischen Projekts der Moderne einklagte, suchte Rowe andere Wege einzuschlagen. Anhand verschiedener Studien, am bekanntesten ist diejenige zum Transparenzbegriff geworden, suchte Rowe die Moderne als einen Formalismus zu charakterisieren, der nach bestimmten Regeln funktioniert. Mit dieser Bloßstellung verliert die Moderne ihren eindeutigen Charakter als eine Bewegung mit offenem Ende, die, wie der Benjaminsche Engel, durch den Sturm des Fortschritts angetrieben, der Utopie einer neuen Gesellschaft entgegenschreitet. Eine Bewegung, die sich durch die Ausrichtung der Aufgabe am Sozialutopischen, der Konstruktion am technisch Neuen, des Materials am technologisch Möglichen definiert. Colin Rowe öffnete damit die Tür zur Moderne als einem eigenständigen, aber auch historischen Stil und korrigierte dadurch stillschweigend zwei moderne Glaubenssätze: ihren Bewegungscharakter und ihren Traditionsbruch, also mehr zu sein als nouveau und ein bloßer Formalismus.
Dieser Angriff auf die Modernität der Moderne legte die Grundlinien fest, innerhalb derer sich die weitere Diskussion bewegen sollte. Mit Rowe deutete sich eine Richtung an, die bis heute um die Vorherrschaft streitet. Zum einem wurde dadurch die gesuchte Beziehung zur Gesellschaft getilgt. Architektur wird von nun an (oder wieder) als ein ausschließlich architektonisches Phänomen gesehen. Und zum anderen ordnete man sich in die überkommenen Traditionen ein, zu denen nunmehr auch die Moderne zählt, und sieht den Referenzraum der Architektur in der Architekturgeschichte und nicht mehr in den vorgreifenden Welten des Maschinenzeitalters oder heute der Wissensgesellschaft. Die Architekturgeschichte gewinnt dadurch eine besondere Bedeutung als vornehmer und vordringlicher Bezugspunkt des Entwerfens. Nicht, dass damit einem neuen Historizismus das Wort geredet würde, wie es vereinzelte Irrläufer wie Leon Krier tun, Geschichte wird vielmehr im Malrauxschen Sinne zum imaginären Museum, zum Referenzraum des Entwurfs.

OMU

Ungers Postulat, dass „das Thema und der Inhalt der Architektur nur die Architektur selbst sein kann“, legt zwar nahe, ihn als Beleg für den Anspruch der Architektur nach Autonomie heranzuziehen, aber er erschließt sich erst richtig, wenn man beide Seiten des Arguments reflexiv aufeinander bezieht, das gesuchte Thema einerseits, die Architekturgeschichte als sein Referenzraum andererseits.
Welche Möglichkeiten dieses Verständnis von Architekturgeschichte eröffnet, sei an einem Beispiel demonstriert, auf das OMU immer wieder zurückkommt: Schloss Glienicke von Karl Friedrich Schinkel. „Man sieht im Park eine Anzahl verstreut liegender Baumstümpfe, Fragmente in der Landschaft. Man geht weiter und entdeckt Fragmente behauenen Steins, die herumliegen, dann ein Arrangement von fragmentierten Säulenkapitellen und Basen, dann eine Wand, die aus Fragmenten zusammengesetzt ist, und schließlich einen Gebäudekomplex, der wie aus Fragmenten kombiniert erscheint: ein florentinisches Landhaus, ein Renaissancepalast und ein klassizistischer Schloßbau.“ OMU verweist auf Glienicke, weil es „ein Spektrum von Interpretationen des gleichen Themas“ demonstriert. Dieses morphologische Kontinuum von der Landschaft mit Fragmenten bis zur Architektur aus Fragmenten ist das Vorbild seiner Entwürfe und der Referenzraum seines architektonischen Denkens – sein „retroaktives Manifest“, wie Rem Koolhaas treffend bemerkt.

Welche Möglichkeiten dieses Verständnis von Architekturgeschichte eröffnet, sei an einem Beispiel demonstriert, auf das OMU immer wieder zurückkommt: Schloss Glienicke von Karl Friedrich Schinkel. „Man sieht im Park eine Anzahl verstreut liegender Baumstümpfe, Fragmente in der Landschaft. Man geht weiter und entdeckt Fragmente behauenen Steins, die herumliegen, dann ein Arrangement von fragmentierten Säulenkapitellen und Basen, dann eine Wand, die aus Fragmenten zusammengesetzt ist, und schließlich einen Gebäudekomplex, der wie aus Fragmenten kombiniert erscheint: ein florentinisches Landhaus, ein Renaissancepalast und ein klassizistischer Schloßbau.“ OMU verweist auf Glienicke, weil es „ein Spektrum von Interpretationen des gleichen Themas“ demonstriert. Dieses morphologische Kontinuum von der Landschaft mit Fragmenten bis zur Architektur aus Fragmenten ist das Vorbild seiner Entwürfe und der Referenzraum seines architektonischen Denkens – sein „retroaktives Manifest“, wie Rem Koolhaas treffend bemerkt.

In seinen Entwürfen hat Ungers das Prinzip des morphologischen Kontinuums verwandt, um einen Dynamismus der Form zu gewinnen, den man historisch vom deutschen Expressionismus, beispielsweise von Erich Mendelsohn, und gegenwärtig von der Blobarchitektur kennt. Nur lösen sich bei ihm die Übergänge zwischen den Formen nicht auf, sondern die Fragmente zeigen gerade aufgrund ihrer Fragmentarität die Mannigfaltigkeit an Möglichkeiten auf, ein Thema zu entwickeln.
OMU hat diesen Ansatz „Thematisierung der Architektur“ genannt und unter diesem Titel auch eine Studie publiziert, die deren Chancen und Grenzen aufzeigt. Mit der morphologischen Reihe gelingt es ihm ein neues Entwurfsinstrument zu entwickeln, das repetitiv und nicht seriell ist, und das die Mannigfaltigkeit an Bedeutungen zeigt, die ein architektonisches Element annehmen kann: etwa die Wand im Entwurf zum Museum Morsbroich in Leverkusen: „Die Raumfolge in diesem Wandgebäude durchläuft eine stufenweise morphologische Transformation von allseitig geschlossenen Zellen über nischenartige Öffnungen und Galerie-Einbauten bis zu einem in Stützen aufgelösten Gerüst, das sich in einem Baumraster fortsetzt, der schließlich in eine vorhandene Baumgruppe übergeht. So werden in diesem Gebäude zwei Kontraste – auf der einen Seite der als Zelle konzipierte künstliche Raum und auf der anderen Seite die natürlich gewachsene Baumgruppe – durch das Mittel der räumlichen Transformation in einem Konzept zusammengefaßt.“ Die Wand wird zu einer kontinuierlichen Form und in diesem Sinne zu einem architektonischen Ereignis. Damit gelingt es OMU analog zu Schinkel die architektonischen Elemente neu zu ordnen und morphologisch zu entfalten, nur macht Ungers den in Glienicke lediglich angedeuteten Zusammenhang explizit. Während die Grenzen dieses Ansatzes dort liegen, wo die neue architektonische Ordnung, nach Jacques Rancière die neue Form von Sichtbarmachung (vgl. archplus 178 Die Produktion von Präsenz, Juni 2006), den architektonischen Raum verlassen und in die Lebenspraxis übergreifen müsste, sie ordnend, gestaltend, in jedem Fall in sie eingreifend. Aber genau das findet nicht statt. Der Abstand zwischen Architektur und Gesellschaft, auf den Ungers beharrlich verweist, bleibt gewahrt.
Hatte der Anti-Klassizismus immer eine gewisse Formlosigkeit kultiviert, besonders in den 1960er Jahren, so sein Widerpart einen Hang zur Selbstgenügsamkeit, gerade was gesellschaftspolitische Fragen betrifft. Denn interessant wäre es doch gewesen, das „Beweglich-werden“ des architektonischen Denkens auf die Fragen zu beziehen, die seiner bedürfen, beispielsweise auf die Frage des Wohnens. Ungers hat es früh mit dem Entwurf für das Studentenheim in Enschede versucht. Hier wäre anzuknüpfen. Warum ist das nicht geschehen? Das liegt z.T. daran, dass sich unterschiedliche Milieus mit gegenseitigen Bornierungen gegenüberstehen, die einen Ideentransfer so gut wie ausschließen. Vielleicht können wir sie mit dieser Ausgabe ein Stück weit abtragen helfen und das architektonische und städtebauliche Denken, das hierin eindrücklich formuliert ist, als Teil unserer Tradition begreifen und weiterentwickeln.

Die hier kurz skizzierten Auseinandersetzungen zwischen Anti-Klassizisten und Klassizisten sind in ihren Verwerfungen fast noch handgreiflich gegenwärtig. Während Ungers’ erste Schülergeneration, abgesehen von wenigen Ausnahmen, an den Widersprüchen dieser Kämpfe gescheitert ist, ist die zweite Generation seiner Schüler heute der Träger der klassizistischen Wende der Architektur. Und OMU? Er sucht weiterhin durch Architekturexperimente oder Laborversuche, wie jüngst mit dem „Haus ohne Eigenschaften“, unbeirrt seinen Weg zu gehen. Bei diesem Projekt wurde alles „subtrahiert auf den absoluten Kern der Abstraktion. Weiter geht es nicht mehr.“ Mit diesen Worten umreißt OMU den Manifestcharakter des „Hauses ohne Eigenschaften“, das ein klassisches, anti-klassizistisches Manifest ist, das sich gleichwohl klassizistischer Elemente bedient was die Gliederung der Fassade, das Verhältnis zur Natur etc. betrifft. Dieses Beispiel haben wir zitiert, um zu zeigen, das es OMU bei der Architekturlehre, bei seinen Projekten und Bauten, unabhängig davon, welchen Fronten er sich zurechnet oder zugerechnet wird, darum geht, die herkömmlichen Grenzen zu verschieben – das zeichnet seine Größe aus.

ARCH+, Di., 2006.07.04



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archplus 179 O.M. Ungers Architekturlehre

Die Produktion von Präsenz

Kritik
Sieg der Theorie
Schön war die Zeit. Die Architekturtheorie konnte aus dem Vollen schöpfen, als das Projekt der Moderne in den 1960er Jahren in...

Kritik
Sieg der Theorie
Schön war die Zeit. Die Architekturtheorie konnte aus dem Vollen schöpfen, als das Projekt der Moderne in den 1960er Jahren in...

Kritik
Sieg der Theorie
Schön war die Zeit. Die Architekturtheorie konnte aus dem Vollen schöpfen, als das Projekt der Moderne in den 1960er Jahren in eine „Legitimationskrise“[1] geriet und die Disziplin sich neu vergewissern musste. Die Sinnkrise bot die Möglichkeit, den kanonisch erstarrten Architekturdiskurs an zeitgenössischen gesellschaftlichen und kulturellen Diskursen neu auszurichten und Architekturtheorie im Sinne einer eigenständigen wissenschaftlichen Praxis jenseits der Architekturgeschichte zu begründen.[2] Über das Instrument einer „kritischen Theorie“ sollte das Projekt der Moderne einer Revision unterzogen und „kritisch“ fortgeführt werden. Da die Architektur bisher keine eigenen Instrumente einer Selbstkritik entwickelt hatte, lag daher nichts näher, als beispielsweise Anleihen zu nehmen an der „Kritischen Theorie“ der Frankfurter Schule, oder am Kanon der marxistischen Ideologie-Kritik, wie sie Manfredo Tafuri[3] in den Architekturdiskurs einführte, hielten sie doch Werkzeuge einer politischen Kritik der Architektur bereit. Darüber hinaus gewannen in den folgenden drei Jahrzehnten vor allem in Amerika andere außerdisziplinäre Fragestellungen in der Theorieentwicklung an Bedeutung: So wechselten sich in schneller Folge sprach- und sozialwissenschaftliche, psychoanalytische sowie philosophische Paradigmen wie Semiotik und Strukturalismus, Postmodernismus und Poststrukturalismus ab, von der Phänomenologie und den Naturwissenschaften ganz zu schweigen. Es sah alles nach einem Siegeszug der Theorie aus.

Einerseits gewann die Architektur(theorie) durch die oben beschriebene Öffnung an kultureller Relevanz und wurde interdisziplinär, da sie „auf Augenhöhe“ mit den anderen Disziplinen verkehren konnte. Andererseits geriet sie mit ihrem Anschluss an andere kulturelle Strömungen zugleich unter Druck, ihre Autonomie unter Beweis stellen zu müssen. Infolgedessen entwickelte sich an den amerikanischen Hochschulen ein selbstreferentieller Diskurs, der spätestens seit dem IAUS von Peter Eisenman mit den Zeitschriften Opposition, Skyline, später ohne Institut, aber mit eigenem Büro und mit der Zeitschrift ANY und den ANY Konferenzen für mehrere Jahrzehnte beherrscht wurde. Den amerikanischen, durch den Theoriehunger der 1960er Jahre geprägten, z.T. aus Europa exilierten Intellektuellen und Eisenman ist es zu verdanken, dass sich eine äußerst einflussreiche amerikanische Architekturtheorie entwickeln konnte, die die in Europa abgebrochenen Ansätze zu einem eigenständigem Theoriegebäude ausbaute. Im Unterschied zu Europa basiert diese Entwicklung auf einem linguistic turn, während die zeitgleichen Entwicklungen in Europa auf einen spatial turn hinauslaufen, mit dem Typus als raumstiftende Kategorie.

Beispielhaft für die Wendung der amerikanischen Architekturtheorie zu einem linguistisch fundierten Theoriegebäude ist Eisenmans 1979 geschriebener Essay „Aspekte der Moderne. Die Maison Dom-ino und das selbstreferentielle Zeichen“. Dieser Essay ist eine Auseinandersetzung mit Le Corbusiers berühmtem Maison Dom-ino. Dieses Konstruktionsschema interpretiert Eisenman nicht als Gerüst eines Wohnhauses, sondern als ein Zeichen, das unabhängig von allen Fragen der Funktion oder Konstruktion autonom fungiert. Sah Colin Rowe im Konstruktionsschema der Maison Dom-ino noch das klassische Diagramm des horizontal geschichteten, frei fließenden Raums der Moderne, so Eisenman nur noch das Emblem „moderne(r) oder selbstreferentielle(r) Zeichenhaftigkeit“.[4]
Mit diesem linguistic turn der Architekturtheorie, den er später erweitern wird um die generative Grammatik (Chomsky), Phänomenologie (Husserl), Philosophie (Derrida), ist der Grundstein gelegt für den Siegeszug der amerikanischen Architekturtheorie seit den 1980er Jahren.

Tod der Theorie

Zu welchem Preis dieser Sieg errungen wurde, zeigte sich erst nach und nach. Indem Eisenman durch Anleihen aus linguistischen Theorien eine „kritische Architektur“ als rein intertextuelles System, eine „Architektur über Architektur“ propagierte und K. Michael Hays unter Rückgriff auf die Tradition der „Kritischen Theorie“ eine „dialektische Argumentation für eine Autonomie der Disziplin gegenüber den sie erzeugenden gesellschaftlichen Bedingungen“ entwickelte[5], konnten sie eine Autonomie der Disziplin gegenüber der Gesellschaft behaupten. Dies hatte zur Folge, dass die „kritische Architektur“ zwar die gesellschaftlichen (Fehl-)Entwicklungen kommentieren bzw. „indizieren“ konnte, dafür jedoch jeglicher Möglichkeit unmittelbarer Einflussnahme beraubt und infolgedessen marginalisiert wurde.

Das Karussell der Theorie drehte sich derart schnell, dass viele Architekten, die nur auf der Suche nach einer passenden Entwurfstheorie für ihren praktischen Alltag waren, sich schwindelig abwandten - ernüchtert und enttäuscht, dass diese schönen Theorien sich nicht unmittelbar in die Praxis „umsetzen“ ließen. Wie ein neues Spielzeug, das zu komplex ist und nur erratisch funktioniert, wird die Theorie von vielen seitdem mit Nichtbeachtung gestraft. Zudem scheint es, als habe sich die Theorie in dieser rasanten Entwicklung selbst verausgabt.

Das langsame Sterben der Theorie wurde anfänglich von der spielerisch bunten Programmatik holländischer Prägung überdeckt. Erst nachdem auch SuperDutch seine Zugkraft verlor, trat die Sprachlosigkeit des grauen Theoriealltags vollends ins Bewusstsein: Eine bleierne Begriffs- und Theoriemüdigkeit hat sich über den Architekturdiskurs gelegt. Mit der Abwendung von den linguistischen Leitbildern der 1970er und 80er Jahre ging der Abschied von der „kritischen Theorie“ einher.

Diese amerikanisch dominierte, jedoch dezidiert auf europäische Diskurstraditionen aufbauende Theorieproduktion wurde mit dem Milleniumswechsel zu Gunsten eines genuin amerikanischen Projekts aufgegeben: Die Wiederentdeckung des Pragmatismus als eigenständige amerikanische Philosophie war gewissermaßen die Geburtsstunde einer jüngeren Theoretikergeneration, die sich damit aus der Umklammerung des von Peter Eisenman und Co. über Jahrzehnte beherrschten, kritischen Diskurses befreien konnte.[6]

Post-Kritik

Get down and dirty
Diese Kontroverse um die so genannte Post-Kritik ist jedoch nicht nur ein akademischer Generationskonflikt. Sie spiegelt vielmehr das Unbehagen einer jüngeren Generation wider, die in der Gleichsetzung der Architektur mit Widerstand und Negation eine für sie nicht hinnehmbare Einschränkung der Praxis sieht. Diese Generation wirft den Protagonisten des kritischen Projekts vor, mit ihrer Haltung die Kluft zwischen Theorie und Praxis vertieft und damit die beschriebene Marginalisierung vorangetrieben zu haben, da die „kritische Architektur“ freiwillig wichtige gesellschaftliche Felder, wie die Beschäftigung mit der Konsumwelt, preisgegebenen habe. So betrachtet waren die Debatten um den (Neo-)Pragmatismus[7] lediglich „Lockerungsübungen“ und Vorboten einer Polemik um "das Ende der „kritischen Architektur“ [...], die bis zur Prophetie vom Ende der Theorie reichen."[8] Mit der nun von Robert Somol und Sarah Whiting ausgerufenen „projektiven Architektur“[9], die statt auf Kritik auf Praxis, d.h. auf Projekt, Wirkung und Performanz ausgerichtet ist, wird dieser Pragmatismus in ein architektonisches Programm überführt.

Vom europäischen Standpunkt aus betrachtet handelt es sich um eine typische, hoch elitäre Ostküstendebatte, die jedoch eine gewisse Ambivalenz besitzt: Die Texte changieren im Ton zwischen akademischem Diskurs und Bezügen zur Populärkultur. Diese Verweise auf die Popkultur, auf Kino, Musik und Fernsehen signalisieren den Wunsch, den Elfenbeinturm der Theorie zu verlassen und sich stärker auf die Alltagswelt einzulassen, sich die Hände schmutzig zu machen.

Wie schnell deutlich wird, geht es den Protagonisten dieser Debatte also nicht darum, die Theorie ad acta zu legen, sondern den performativen Charakter der Architektur wieder in den Mittelpunkt zu stellen. Oder anders gesagt: Es erfolgt eine Verschiebung vom Was der Repräsentation hin zum Wie der Präsentation. Genau hier rührt die Debatte im Kern an ein wiederkehrendes programmatisches Grundproblem: Der Widerstreit zwischen Theorie und Praxis, Ratio und Gefühl, Repräsentation und Präsenz, Sinn und Performanz oder zeitgenössischer: „hot“ und „cool“[10].

Konjunktur des „Affektiven“

Es ist eine alte Kontroverse, deren theoretische Ausformulierung man bis ins 18. Jahrhundert zurück verfolgen kann. Im Grunde lässt sich diese Auseinandersetzung auf die Dualität von Geist und Körper, von „Abstraktion und Einfühlung“[11] zurückführen, auf das Ungenügen, das angesichts der Moderne immer wieder beklagt wurde: die einseitige Bevorzugung des abstrakten Verstands. Der Philosoph Jürgen Safranski fasst dieses Ungenügen in seiner Schiller-Biographie prägnant in den Satz: "Aufklärung und Wissenschaft haben sich bloß als „theoretische Kultur“ erwiesen, eine äußerliche Angelegenheit für „innerliche Barbaren“."[12] Für Safranski stellt Schillers Abhandlung „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ in diesem Kontext gar ein „Gründungsdokument einer Theorie der Moderne“ dar. In der Schrift gehe es vor allem „um die Lokalisierung des Ästhetischen im gesellschaftlichen Zusammenhang und damit auch um die Bedingungen und Möglichkeiten der Lebenskunst in der Moderne.“[13] Und diese Lebenskunst ist nur in der Versöhnung von Ratio und Gefühl zu erreichen, durch eine Erkenntnis, die „eingehüllt ist ins Gefühl“. Diese gesellschaftliche Verortung des Ästhetischen, des Ausdrucks und der Wirkung ist heute, in einer Welt, die das Ästhetische zum Paradigma erhoben zu haben scheint, aktueller denn je: "Die ästhetische Welt ist nicht nur ein Übungsgelände für die Verfeinerung und Veredelung der Empfindungen, sondern sie ist der Ort, wo der Mensch explizit erfährt, was er implizit immer schon ist: der „homo ludens“"[14]

In dieser Entwicklungslinie betrachtet ist es nicht verwunderlich, dass einer der Schlüsselbegriffe in der post-criticality-Debatte die „Sensibilität“ ist, ein Begriff, der einem ganzen Zeitalter seinen Namen geliehen hat: das Zeitalter der Empfindsamkeit. Denn in dieser Epoche wurde das Gefühl als Medium konzipiert, das zwischen einer „Sensibilité morale“ und „Sensibilité physique“ vermitteln sollte, um den Graben zwischen Geist und Körper zu überbrücken.[15]

Ist diese Sensibilität vielleicht auch geeignet, um die „Entfremdung“, die durch die etablierte Arbeitsteilung zwischen Theorie und Praxis in der Architektur entstand, zu überwinden?

Gegenwärtig kann man wieder eine regelrechte „Konjunktur des Affektiven“[16] nicht nur innerhalb der Architektur, sondern als allgemeinen gesellschaftlichen Trend feststellen: In der Kunst, den Kulturwissenschaften und Medien, selbst in den Wissenschaften spielt die Erforschung der Affekte eine große Rolle. Die Hinwendung zu den Affekten spiegelt die Sehnsucht wider, über die ästhetische Wahrnehmung einen basalen Zugang zur Welt zu erschließen. Für die Architektur bedeutet das, dass statt einer reflexiven/kritischen und interpretierenden Praxis die Wirkung von Architektur wieder in den Vordergrund tritt, und zwar Wirkung in dem Sinne, dass die Architektur fähig ist, (alternative) Lebensentwürfe zu projektieren. Über die Effekte, die wiederum Affekte produzieren, soll Architektur unmittelbar und nicht über den Umweg der Sinndeutung wirken. Damit ist natürlich ein ganzer Bündel architektonischer Mittel bereits impliziert: Materialität, Performanz, Körperwahrnehmung, Taktilität, Stimmung, Sinnlichkeit, Sensibilität und nicht zuletzt Atmosphäre.

Atmosphäre

Die Atmosphäre als allumfassende, weil diffuse Kategorie wird in diesem Kontext gerne bemüht. Sie bietet in ihrer Unbestimmtheit einen Raum für Projektionen, der viele Sehnsüchte befriedigt. Denn die „atmosphärische Interaktion“ scheint als eine vorbewusste, prä-sprachliche, kognitive Reaktion, die beim Affekt ansetzt, für eine „konzeptionelle Einbeziehung der Wahrnehmung und Vorstellungswelt des Betrachters“[17] immer schon besonders geeignet. Seit jeher wurde diese „Einbeziehung“ vor allem als Herrschaftsinstrument erfolgreich angewandt: So bedienen sich Religion und Politik seit Jahrtausenden der Atmosphäre der Sakralität und der Macht. Neu an dem Interesse am Atmosphärischen ist der emanzipatorische Aspekt, der dabei in den Vordergrund rückt. So treten die Protagonisten der Post-Criticality für die „Produktion von individuellen, mehrdeutigen und synästhetischen Rezeptionsmöglichkeiten“ ein.[18] Statt wie gewöhnlich das Atmosphärische als Beiwerk und dekorative Ausmalung aufzufassen, wird das identitätsstiftende Potential von Atmosphären, Geist und Wesen einer Lebensverfassung transportieren zu können, angesprochen.

Genau an diesem Punkt gewinnt das Atmosphärische an sozialer Prägnanz: „Atmosphären haben, da sie innerhalb der westlichen, visuell dominierten Kultur beiläufig wirken, authentifizierende Funktionen (übernommen).“[19] In einer Welt, die in Subkulturen zerfallen ist, gewinnt das Authentische, das eine Aura der Dinge zu vermitteln in der Lage ist, immer mehr an Bedeutung. Daher besitzt das Atmosphärische für den Philosophen Reinhard Knodt ein wichtiges gesellschaftliches Potential, das er in einer Art „atmosphärische Kompetenz“ verortet: „Diese ist eine wichtige Verständnisbasis für Gemeinsamkeit in einer Weltkultur der subkulturellen Differenz.“ In der Atmosphäre besitzt die Architektur demnach ein Kommunikationsmittel, das einer übergreifenden und einbeziehenden Verständigung dienen kann, da „jedermann im Alltag [...] in einem gewissen Maß über diese Kompetenz (verfügt).“[20]

Auch wenn das Potential des Atmosphärischen gerade in der Abwesenheit verbindlicher ästhetischer Kategorien besteht, was es zugleich so schwierig macht, darüber zu diskutieren, ist dieses optimistische Konzept von Atmosphären durchaus fraglich. Denn wie die (Architektur-)Geschichte zeigt, lassen sich Atmosphären nicht nur als Herrschaftsinstrument vereinnahmen, sie sind darüber hinaus keineswegs so voraussetzungslos und inkludierend, wie dies häufig angenommen wird, sondern beruhen ihrerseits wiederum auf kulturellen Konventionen, die sehr wohl eine „Entschlüsselungsleistung“ voraussetzen.[21]

Produktion von Präsenz

Es wäre daher treffender und erhellender, statt von Atmosphären zu raunen, mit Hans Ulrich Gumbrecht von der „Produktion von Präsenz“ zu sprechen: Präsenz im Sinne einer Diesseitigkeit, einer „affektiven“ Körperlichkeit. In diese Richtung zielt Gumbrecht, wenn er in seinem Buch „Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz“ die Dichotomie „Sinnkultur“ versus „Präsenzkultur“ zugunsten einer stärkeren Berücksichtigung der Präsenz auflösen möchte. Denn nach Gumbrecht habe die westliche Diskurstradition zu lange zu einseitig auf die hermeneutische Methode, d.h. auf die kritische Diskussion von Begriffen und deren Interpretation gesetzt und dabei das ästhetische Erleben als Grundkonstante menschlichen Daseins verdrängt, so dass uns der sinnliche Zugang zur Welt größtenteils abhanden gekommen sei.

Mit dem Begriff der Präsenz werden Körper und Sinne wieder in den theoretischen Diskurs eingeführt. Die damit verbundene „Relativierung der (Wort-)Sprache zugunsten anderer Kommunikationsformen“ führt nach der Kulturwissenschaftlerin Marie-Louise Angerer zu einer "doppelte(n) erkenntnistheoretische(n) Umkehrung: von der Frontalposition des „Gegenüber“ (Buch, Theater) zum „Eintauchen“. [...] Das Eintauchen und Hineingezogenwerden gehört zu den interessantesten Neuerscheinungen: Es führt zu einem „Ende der Theorie“ und der sie begleitenden Distanz".[22]

Genau auf die Überwindung dieser Distanz gehen alle Bemühungen der Debatte um Post-Criticality. Wenn Robert Somol und Sarah Whiting in ihrem Manifest den Gegensatz „hot“ versus „cool“ aufstellen und das Performative der Architektur herausstellen, wenn Sylvia Lavin die Architekturtheorie im Sinne eines „Criticism“ neu begründen möchte und das Verhältnis des Kritikers zum Gestalter als ein Liebesverhältnis beschreibt und dabei eine „critique passionée“ einfordert, dann zielen sie auf eine Nähe, ein Involviertsein, eine Zeitgenossenschaft, die charakteristisch ist für diese Bestrebungen. Leidenschaft wird der Kühle der analytischen Kritik vorgezogen, auch wenn man sich damit angreifbar macht.[23] Nur in diesem Sinne und nicht politisch ist die Abwendung von der „Kritik“ gemeint, denn man kann die meisten Protagonisten dem aufgeklärten liberalen Lager zurechnen, die alternative Lebensentwürfe projektieren möchten, statt nur die gesellschaftlichen Bedingungen zu kritisieren. Und nur in diesem Sinne kann man auch den Beteuerungen Glauben schenken, dass Atmosphären „soziale Möglichkeiten“ beinhalten.[24]

Das Prinzip der Immersion

Wie diese Distanz mittels einer Produktion von Präsenz überwunden werden kann, hat Angerer mit den Stichworten „Eintauchen und Hineingezogenwerden“ angedeutet: Sie sind der Schlüssel für die Schaffung von immersiven Environments. Angerer benennt damit zugleich das Besondere der „architektonischen Betrachtungsweise“, wie sie der Kunsthistoriker Dagobert Frey in seinem berühmten Essay „Wesensbestimmung der Architektur“ aus dem Jahre 1925 ausgearbeitet hat. Nach Frey liegt das Wesen der Künste nicht in abstrakten kunsthistorischen Systemen, sondern in der Art und Weise, wie wir sie ästhetisch betrachten. Innerhalb einer Fülle von ästhetischen Betrachtungsweisen wie malerisch oder plastisch ist die „architektonische Betrachtungsweise“ lediglich eine Modalität des ästhetischen Erlebens neben anderen, die sich durch ein spezifisches einschließendes Wirklichkeitsverhältnis auszeichnet. Mit der „architektonischen Betrachtungsweise“ wird also ein ästhetischer Vorgang beschrieben, den wir heute zeitgemäß mit Immersion umschreiben würden.

In dem Sinne ist Architektur nach Peter Sloterdijk „vor allem anderen Immersionsgestaltung“[25] und Architekten machen nichts anderes als In-Theorie.[26] Auch für Sloterdijk steht dabei das Gefühl im Mittelpunkt, denn es gehe „beim Häuserbauen um ein Problem der Liebe“. Architektur sei ein Ort, an dem man sich „total“ öffnen und hingeben müsse: „Der Totalitarismus der Architektur ist ein Totalitarismus der Liebe, der Raumliebe, der Hingerissenheit durch das, was uns nicht nur gegenüber ist, sondern uns wie eine Hülle umgibt.“[27] Dieses „topophile Gefühl“[28] sei Voraussetzung dafür, dass der Mensch sich entgrenzen und in künstliche Environments eintauchen kann. Immersion ist daher eine Technik der Entgrenzung, gewissermaßen „ein Entrahmungsverfahren für Bilder und Anblicke“[29].

„Doch was, wenn wir Bilder nicht mehr als getrennt von unserem Körper wahrnehmen können, sondern wenn wir in die Bilder hinein gezogen werden?“, fragt Marie-Louise Angerer zu recht. Was, „wenn diese Bilder die repräsentative Ebene umgehen und auf den präsprachlichen Körper einwirken“? Genau hier greift für Angerer der Affektbegriff, da "der affektive Körper als „framer“ der nicht mehr gerahmten Bilder besonders gefragt" sei.[30] Hier schließt sich der Kreis: Sloterdijks „Entrahmungsverfahren“ produziert also immersive Umwelten, die am Ende auf den Körper als „Rahmen“, als Wahrnehmungsinstrument angewiesen sind.

Ausblick auf eine projektive Architektur
Und die Moral der Geschichte? Wie lässt sich aus all dem ein „Projekt“ ableiten? Lassen wir die Theoretiker noch einmal zu Wort kommen, bevor die Praktiker sich ans Werk machen dürfen. Was die Moral betrifft, ist Sloterdijk auch hier um keine Antwort verlegen: „Zur Ethik der Raumerzeugung gehört die Verantwortung für die Atmosphäre.“[31] Eine Ethik ist sicherlich ein solides Fundament für ein avanciertes Projekt, darauf lässt sich bauen. Fragt sich nur mit welchen Mitteln und zu welchem Zweck?

Zwei der zentralen Begriffe der Diskussion, nämlich „projektiv“ und „performativ“, geben zumindest einen Hinweis auf die Richtung: „Das Adjektiv projective bietet hierbei ähnliche Assoziationen wie im Deutschen: es bezieht sich sowohl auf Projektion, also ein bildgebendes Verfahren (...), als auch auf Projekt, also Plan, Entwurf oder Vorhaben für die Zukunft.“[32] Mit der Ausrichtung am Plan greifen Somol/Whiting eine Richtung der Architektur auf, die auf den russischen Konstruktivismus zurückgeht und über Rem Koolhaas in die Gegenwart ausstrahlt: den Plan als sozialen Kondensator zu begreifen, als eine Disposition, die zu unvorhergesehenen Verhaltensweisen anregen und damit neue Lebensformen umschreiben und hervorbringen kann. Dieses Verständnis hatte Koolhaas in Delirious New York anhand der Beschreibung des Downtown Athletic Clubs zu reaktivieren versucht.

Und gerade wenn es darum geht, neue, auch unvorhergesehene Verhaltensweisen anzuregen, vielleicht sogar anzustiften, kommt die Performanz als zweiter zentraler Begriff der Diskussion zum Tragen. Denn schließlich ging es dem Konstruktivismus letztlich um die Überzeugungskraft des avantgardistischen Plans, welche eine Modellierung des Neuen Menschen nach einem utopischen Menschenbild und dessen Alltag nach vorgreifenden Lebensformen gewährleisten sollte. Der Plan war die konkrete Utopie, die Projektion in die Zukunft und die geplante Welt der soziale Kondensator.

Statt jedoch die gescheiterten Utopien des 20. Jahrhunderts zwanghaft zu wiederholen oder sich gar grundsätzlich vom Projekt der Moderne zu verabschieden und sein Heil in einem neuen Formalismus, welcher Provenienz auch immer, zu suchen, will die „projektive Architektur“ performativ nach vorne denken. Projektiv meint demnach Projekt und Projektion, wie man in Anspielung auf Manfredo Tafuri sagen könnte, und nicht mehr progetto e utopia. Doch was bedeutet es gegenwärtig, den Plan performativ in die Zukunft zu verlängern, wenn uns der Glaube in lineare Projektionen abhanden gekommen ist?

Somol/Whiting und Co. bleiben hier eigenartig strategisch diffus. Ohne sich weiter zu positionieren, wechseln sie das Schlachtfeld und eröffnen einen neuen Schauplatz der Auseinandersetzung: Im Visier ist nicht mehr der Sozialkörper des Menschen, wie er durch gesellschaftspolitische Strukturen definiert und geformt wird, sondern die Modellierung seines realen Körpers, dem sie sich unter dem Aspekt der Emotionen, Affekte und Empfindungen zu nähern versuchen. Zielte der russische Konstruktivismus auf den Sozialkörper des Menschen, so suchen sie einen unmittelbareren Zugang und den direkten Zugriff von den Effekten auf die Affekte. Dieses neue Terrain, das sich z.T. mit der Werbung, der Werbephotographie, dem Werbefilm überschneidet, soll hier für eine politische Debatte gewonnen werden, um Gesellschaftspolitik durch eine „Politik am Körper“[33] zu ergänzen. Doch wie kann diese Politik aussehen und wie kann die Architektur hierbei eingreifen - das wären wohl die Fragen, um die es gehen müsste, gerade auch im Hinblick auf die allseitige Kritik. Und vielleicht ist es darum gerade an dieser Stelle, mit Blick auf die fehlenden Antworten, auch Zeit für fruchtbare Missverständnisse.

Politik am Körper

Die Debatte um Post-Criticality erscheint bisher als eine durch und durch amerikanische Angelegenheit, scheinbar leicht zu erklären aus den Bedingungen eines akademischen Architekturdiskurses, im Gegensatz zu der europäischen Tradition, wo an den Universitäten vorwiegend Praktiker lehren und die Verknüpfung von Theorie und Praxis immer schon zu Gunsten der Praxis ausgefallen ist. Damit hängt auch die eingangs erwähnte Theoriemüdigkeit zusammen: immer weniger Studenten und Architekten an den Universitäten scheinen bereit für eine kritische Auseinandersetzung mit ihrer Disziplin und bevorzugen dagegen eine immer stärkere Ausrichtung auf die Praxis. Aus diesem Blickwinkel, und das ist eben das möglicherweise produktive Missverständnis, erscheint nun die Debatte um die Post-Criticality in gewisser Weise nicht als ein Weniger sondern ein Mehr an Theorie: eben als eine Möglichkeit, die Praxis wieder stärker an einen theoretischen Diskurs anzubinden, gerade durch die Fokussierung auf die affektiven Aspekte der Architektur. Denn nur wenn es den Vertretern der Post-Criticality gelingt, das Gerede von möglichen alternativen Lebensentwürfen auch tatsächlich in einem Projekt zu benennen, wird es sinnvoll sein, die kritische Position hinter sich zu lassen und sich im Sinne der affektiven, unbewussten Qualitäten der Architektur wieder stärker politisch im Sinne einer „Politik am Körper“ einzumischen.

Diese „Politik am Körper“ sucht über die Effekte, die Affekte steuern, einen unmittelbaren Zugang zum Menschen und nicht mehr mittelbar über den Umweg hermeneutischer Interpretationen. Damit zeichnet sich ein Architekturkonzept ab, das um drei ineinander verschachtelte Begriffe kreist, nämlich projektiv, performativ und affektiv. Auf Seiten der Architektur gewinnen dadurch Fragen der Materialität, Textur, Atmosphäre eine gänzlich neue und neu zu diskutierende Bedeutung, während es auf Seiten der Benutzer die Fragen der Kontextualisierung, historisch die Fragen der Empfindsamkeit sind. Mit der Möglichkeit einer neuen sozialen Relevanz erwächst jedoch zugleich die Gefahr einer Architektur der materialen Verführung, oder abgeschwächter, der materialen Wirkung. Eine Gefahr, die in ihrer Affektsteuerung und ihrer Nähe zu den „heimlichen Verführern“[]aus Werbung, Marketing und behaviourism liegt.

Nun kann man einwenden, dass die Moderne immer schon eine bestimmte Form von „Politik am Körper“ war. Sieht man nämlich in der Politik mehr als Machtkämpfe, und im Politischen einen Konflikt um die Schaffung oder Verweigerung von Einfluss - im Rancièreschen Sinne eine Bühne der Sichtbarmachung -, dann kann man beispielsweise die Auseinandersetzung um die Frankfurter Küche durchaus politisch führen, gerade weil sie Politik ausschließlich als eine raum-zeitliche Frage thematisiert. Gemeinhin wird die Frankfurter Küche entweder als ein Beispiel für die Anwendung des Taylorismus in der Architektur kritisiert oder als eines für die Emanzipation der Frau verteidigt. Beide Positionen übersehen paradoxerweise ihre architektur-räumlichen Folgen, was die Ordnung des Wohnens im Ganzen wie der Küche im Einzelnen betrifft. Die Kritik an der Abkehr von der Wohnküche zugunsten einer funktionalen Serviceeinheit vernachlässigt, dass erst mit dieser neuen Ordnung der Dinge im Kleinen die Ordnung der Dinge im Großen in Form des freien Grundrisses möglich wurde. Also nicht Fragen der Emanzipation der Frau von unnötiger Hausarbeit durch die Mechanisierung der Hausarbeit machen das, zugegeben Zeittypische der Politik der Architektur aus, sondern die Beziehung zwischen Architektur und Gesellschaft, die im Fall der Frankfurter Küche zu neuen Raumdispositionen und somit zu neuen Lebensformen und -räumen führte.

Diese „Politik am Körper“ konstituiert somit eine neue Ordnung der Dinge - Wahrnehmungsweisen, die nicht mehr differenzieren nach Innen und Außen, Raumdispositionen, die nicht mehr unterscheiden nach Privatheit und Öffentlichkeit und Zeitvorstellungen, die nicht mehr gerichtet sind. Nur dass der Unterschied heute darin besteht, dass es nicht mehr um ideale Sozialkörper, sondern um konkrete Körper geht. Auch haben sich die Techniken des Zugriffs soweit ausdifferenziert, dass eine ganz andere Art von individueller Modellierung möglich wird, die auch dem Individuum einen größeren Spielraum lässt.[34]

An dieser Stelle können wir noch einmal Marie-Louise Angerer bemühen, für die die Neuen Medien und die viel beschworene „digitale Revolution“ eine, sagen wir, „affektive Wende“ eingeleitet haben. Was zunächst paradox erscheint, erweist sich bei näherer Betrachtung als eigentlicher Paradigmenwechsel unserer Zeit. Denn erst mittels der technischen Entwicklung sind wir in der Lage, Subjektivität auf „radikalste Weise“ zu erleben: "Denn in der Tat war es die „digitale Revolution“, die den Umschwung von der Sprache hin zum Affekt und Gefühl eingeläutet hat. Von Taktilität war von Anfang an die Rede, von Augenblicklichkeit, Unmittelbarkeit, von der Auflösung von Zeit und Raum [...]. Herrliche Zeiten stünden bevor, weil wir uns endlich von all diesen poststrukturalistischen Denkern verabschieden könnten: Ihre Theorien würden uns nämlich im Netz leibhaftig begegnen."[35]

So gesehen ist der zu Beginn ausgestellte Totenschein für die Theorie ungültig. Nicht der Tod der Theorie ist also zu beklagen, vielmehr deren Aufgehen in der Praxis, deren Performanz gilt es zu feiern.

ARCH+, Do., 2006.06.15



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