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Presseschau

19. Mai 2006Christian Holl
TEC21

Auto-Stadt

Branding reichert Produkte mit immateriellen Werten an. Aber auch Städte profitieren von solchen symbolischen Zuweisungen und dem durch sie geprägten Image. Wie Marke und Stadt mittels Architektur in eine Wechselbeziehung treten, zeigen das Phaeno von Zaha Hadid
in Wolfsburg und das Mercedes-Benz-Museum von UN Studio in Stuttgart.

Branding reichert Produkte mit immateriellen Werten an. Aber auch Städte profitieren von solchen symbolischen Zuweisungen und dem durch sie geprägten Image. Wie Marke und Stadt mittels Architektur in eine Wechselbeziehung treten, zeigen das Phaeno von Zaha Hadid
in Wolfsburg und das Mercedes-Benz-Museum von UN Studio in Stuttgart.

Unter der Erosion ihrer wirtschaftlichen Basis, der Einheit von Bürgerschaft, Wohn- und Arbeitsort, beginnen Städte, wie Unternehmen zu agieren. Ortsansässige Firmen werden zu Kunden, wirtschaftliche Interessen werden mit grösserem Gewicht gegen das öffentliche Gemeinwohl abgewogen, mittels Klientelpolitik wird versucht, Unternehmen und zahlungskräftige Bewohner anzulocken. Das Image der Stadt wird zu einem Thema der Politik, Marketing ein wichtiges Handlungsfeld.

Es mag derartige Strategien und politische Programmierungen schon immer gegeben haben, doch bekommen die Strategien des Branding der Stadt innerhalb globaler Konkurrenz eine andere Dimension. Zudem verwischen sich die Grenzen zwischen den Sphären des Kommerzes und der Kultur. Factory Outlets, Vergnügungsparks, Shopping Malls einerseits – Fussgängerzonen, historische Rekonstruktionen, von kommerziellen Angeboten durchdrungene Museen andererseits: Bild und Kulisse, kommerzielle Stimulanz und kulturelle Bedeutungsebenen vermischen sich.

Es ist kein Wunder, dass davon die Wechselbeziehung zwischen Stadt und dem sie vielleicht am meisten prägenden Konsumgut, dem Automobil, nicht unberührt bleibt. Exemplarisch illustrieren dies die beiden jüngsten «automobilen» Architekturen: das Phaeno von Zaha Hadid in Wolfsburg und das Mercedes-Benz-Museum von UN Studio in Stuttgart.

Wolfsburg: Rampen, schräge Wände, Krater

Dabei ist das erste Projekt im direkten Sinne nicht einmal ein Gebäude für oder im Dienste des Automobils. Das Phaeno in Wolfsburg von Zaha Hadid, die sich im Wettbewerb unter 23 geladenen Architekten durchgesetzt hat, ist ein «Science Center», ein Wissenschaftsmuseum, das physikalische Phänomene in interaktiven Versuchsanordnungen erfahrbar macht. Es ist denn auch architektonisch eine Experimentierlandschaft, eine offene und dynamische Raumkonzeption aus Rampen, schrägen Wänden, Kratern, weichen Formen, fliessenden Linien, im Innern wie im Äusseren: Das aufgeständerte Bauwerk (aufgeständert auf jenen Kegelstümpfen, die im Innern als Krater die Raumfigur dramatisieren) ist auch in seinem Aussenraum zwischen Stadt und Gebäude als Kontinuum gedacht und aus der Überlagerung von Bewegungsrichtungen, Blickachsen und der Topografie entwickelt worden. Unter dem Haus entsteht zwischen den rauen Betonoberflächen ein besonders gestalteter, öffentlicher Raum. Hier, direkt am Bahnhof, ist das Phaeno als eine urbane Drehscheibe gedacht, in der zwei Stränge zusammenlaufen. Der eine ist die von Süden über den Mittellandkanal geführte Brücke. Sie verbindet das Phaeno mit der «Autostadt», einem Veranstaltungspark mit Ausstellungspavillons für die Marken des VW-Konzerns und einem speziellen Serviceangebot für die Kunden, die sich hier, in direkter Nachbarschaft zum Werk, ihren Neuwagen selbst abholen. Zur andern Seite hin führt eine zentrale Achse in die Stadt Wolfsburg hinein. Der Raum unter dem Phaeno ist dezidiert unhierarchisch konzipiert, der Haupteingang ist nur wenig gegenüber anderen, fast gleichwertigen Eingängen hervorgehoben. In den Kegelstümpfen finden sich die öffentlichen Funktionen, die diesen Raum beleben sollen: Restaurant, Bistro, Laden, Kiosk.

Das baukünstlerische Meisterwerk ist kein Geschenk der Stadt an ihre Bürger, sondern Ausdruck und Zuspitzung ihres Bemühens, sich von der Abhängigkeit des Autokonzerns, dem sie ihre Gründung von 1937 verdankt, zu lösen und als «Wissenschaftsstadt» ein neues Profil aufzubauen. Da passt es, dass das Phaeno das bislang grösste in selbstverdichtendem Beton errichtete Gebäude ist und ein spektakuläres, etwas aufdringliches Dachtragwerk aufweist, fächerförmig aus Rauten verschiedener Grösse dreidimensional aufgebaut, das die 6000 m² Ausstellungsfläche frei überspannt. Diese bautechnische Innovation ist die Entsprechung der demonstrativen Zukunftsorientierung der Gebäudefunktion. Tourismus, Event, Standortmarketing – dahin zielt letztlich das Kalkül der Stadt, die dafür 79 Mio. Euro investiert hat. Allerdings ist diese Emanzipation eine im gegenseitigen Einvernehmen, denn der Autokonzern arbeitet daran selbst mit: nach der «Autostadt» unter anderem mit einer eigenen Hochschule, dem MobilLifeCampus», die 2006 öffnet.

Nicht zum ersten Mal sucht der Konzern aus einem Wechselspiel von Stadt und Fabrik Profit zu ziehen. In Dresden hat man mit der «Gläsernen Manufaktur» von Henn Architekten die Produktion als musealen Akt inszeniert – und gleichzeitig das museale Potenzial der Stadt vereinnahmt: Besuchern werden Besichtigungen der kulturellen Sehenswürdigkeiten Dresdens gleich mit angeboten. Die Stadt wird zu einem ausgelagerten Exponat im als Museum inszenierten Montagewerk.

Stuttgart: Doppelhelix, Mythos und Geschichte

Etwas anders stellt sich die Sache in Stuttgart dar. Hier entstand «echte» Autoarchitektur. Das neue Firmenmuseum von Mercedes-Benz vor den Werkstoren liegt nicht im Stadtzentrum, nicht an einem Ort, an dem man die Architektur in den Dienst einer stadträumlichen Aufwertung normalerweise stellen wollte. Und doch formuliert das Museum gerade von hier aus diesen Anspruch: Zwischen aufgeständerter Bundesstrasse, Stadion, Veranstaltungshallen, Festplatz und Industrie gelegen, ist der Neubau schon jetzt Wahrzeichen und wird bereits in einem Atemzug mit der Stuttgarter Neuen Staatsgalerie genannt, das heisst als ein Gebäude, das Architekturgeschichte schreiben wird. Im städtebaulichen Zusammenhang sprechen Ben van Berkel und Caroline Bos von einem Leitton, der die zukünftige Entwicklung dirigieren könnte – noch im Museum verkörpert sich das Auto als Schrittmacher der Zukunft.

Die allgemeine Begeisterung wird im Zentrum des Hauses verständlich. Dort erwartet den Besucher ein fast bis unter das Dach reichender Raum von überwältigender Perspektive. Die beeindruckende Konstruktion aus Sichtbeton mit gekrümmten und geneigten Ebenen verdichtet sich zu einem intensiven Raumerlebnis. Auch hier wurde ein konstruktives Experiment gewagt und der Anspruch der technologischen Avantgarde mit dem der kulturellen verknüpft. Um die dem Entwurf zugrunde liegende Raumfigur der gegeneinander versetzten schraubenförmigen Raumfolgen in dieser Grösse zu realisieren, wurden grosse, gedrehte Hohlkastenträger ausgebildet, so genannte Twists, die in einer aus dem Brückenbau übernommenen Konstruktion an die Treppenkerne angeschlossen sind. Den grossen Aufwand für diese aussergewöhnliche Raumkonzeption illustriert am besten die Tatsache, dass ein Twist als Prototyp im Massstab 1:1 angefertigt werden musste.
Das räumliche Prinzip der Doppelhelix transformiert raffiniert die bereits vor dem Architekturwettbewerb formulierte Ausstellungskonzeption. Zwei Routen bieten dem Besucher zwei Optionen: Er kann den Weg durch die fünf Räume der «Collectionen» wählen, oder er hat die Möglichkeit, durch die chronologisch geordneten sieben Räume der Spirale zu gehen, die unter dem Begriff des «Mythos» stehen. Die Wahl ist aber nie endgültig. Immer wieder hat der Besucher die Möglichkeit, von der einen Route in die andere zu wechseln.

Im Gegensatz zu den Mythen sind die «Collectionen» nicht chronologisch geordnet, sondern fassen die Exponate thematisch (etwa unter «Helfer», «Lasten» oder «Reisen») zusammen. Diese Räume erfüllen eher die Aufgabe des Archivs, der Präsentation von gefüllten Schatzkammern.

Aufwändiger sind die Mythen inszeniert. Auf Podesten im Zentrum der Räume stehen die ausgewählten Exponate, die man, auf einer Rampe abwärts schreitend, umkreist, bevor man an sie herantreten kann. Sie sind durch die Ausstellungsgestaltung als Ausdruck ihrer Zeit interpretiert, werden aber auch als Objekte verstanden, die die Zeit geprägt haben – erst aus dieser Wechselbeziehung erwächst ja der Mythos. Eine «illustrierte Chronik» entlang der Wände greift die wichtigsten Ereignisse der Zeitgeschichte auf. Eine besondere Variante der Inszenierung der Marke: Indem die Geschichte des Automobils in der allgemeinen Historiografie verortet wird, erfüllt das Museum den pädagogischen Anspruch, Geschichte zu vermitteln – und Mercedes-Benz ist dabei deren selbstverständlicher Teil.
In den Mythosräumen wird der Blick nach aussen verwehrt, doch stellt sich über das offene Atrium die Verbindung der Räume untereinander her. Die Welt der exponierten und inszenierten Mythen ist die der Imagination, die durch den Alltag draussen nur gestört würde. Umgekehrt ist es in den Räumen der «Collectionen», hier ist der Blick nach aussen möglich, unter anderem auf die sechsspurige Bundesstrasse. Die Verortung in der Gegenwart macht die Geschichte, das Archiv zur Voraussetzung für die neue Entwicklung: Die alten «Helfer» stehen im Museum, die neuen sind im Einsatz. Die Strasse, die Stadt, zuvor der eigentliche und natürliche Ausstellungsort des Automobils, wird nun als Exponat ins Museum geholt.

Die Figur der Doppelhelix ist bei alldem mehr als ein besonderer Kniff, Kontinuität erfahrbar zu illustrieren, ist mehr als Raumfigur, die die Bewegung um die zur Ruhe gekommenen Exponate erzeugt. Sie ist Bild für die Fortsetzung dessen, was sich hier präsentiert. Die Helix ist eine prinzipiell weiterzudenkende Figur, ihr Anfang und ihr Ende sind willkürlich. Die erfolgreiche Geschichte der Marke, so die Botschaft, wird sich fortsetzen.

Fortsetzen wird sich auch die Verzahnung zwischen Kultur und Kommerz – gerade mit dem Automobil als seinem Hauptakteur. In München steht die «BMW Welt» von Coop Himmelb(l)au kurz vor der Fertigstellung, und auch in Stuttgart ist das nächste Automuseum bereits in Planung: 2007 soll das Porsche-Museum nach Plänen von Delugan Meissl eröffnet werden.



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2006|21 Auto-Architektur

28. November 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Schlafender Drache

(SUBTITLE) Zaha Hadids «Phæno Science Center» in Wolfsburg

Mit dem «Phæno Science Center» genannten Wissenschaftsmuseum von Zaha Hadid versucht Wolfsburg, das provinzielle Image der Stadt durch extravagante Architektur und eine innovative Ausstellungsinstitution zu verbessern. Ob mit dem grandiosen Bau auch der städtebaulichen Misere abgeholfen werden kann, bleibt abzuwarten.

Mit dem «Phæno Science Center» genannten Wissenschaftsmuseum von Zaha Hadid versucht Wolfsburg, das provinzielle Image der Stadt durch extravagante Architektur und eine innovative Ausstellungsinstitution zu verbessern. Ob mit dem grandiosen Bau auch der städtebaulichen Misere abgeholfen werden kann, bleibt abzuwarten.

Im Jahre 1986 hielt der erste ICE in Wolfsburg. Spätestens als dann Berlin in knapp einer Stunde Fahrzeit erreichbar wurde, ging es darum, die Jahrzehnte im Schatten der innerdeutschen Grenze gelegene Stadt neu zu positionieren. Wolfsburgs provinzielles Image resultierte aber auch aus der Tatsache, dass es der Stadt grundsätzlich an urbanen Qualitäten mangelte. Die 1938 nahe der Ortschaft Fallersleben gegründete und nach Entwürfen des österreichischen Architekten Peter Koller für 100 000 Bewohner projektierte «Stadt des KdF-Wagens» bestand bei Kriegsende aus der riesigen teilzerstörten Autofabrik, einigen versprengten Wohnvierteln sowie endlosen Barackenlagern. Wolfsburg, wie die Stadt seit 1945 heisst, wurde mit dem im Volkswagenwerk vom Band laufenden Käfer der Inbegriff des deutschen Wirtschaftswunders. Städtebaulich orientierte man sich am skandinavischen Modell einer weitläufigen, durch Grünzüge gegliederten Siedlungsstruktur von geringer Dichte. Daneben entstanden an der schon von Koller als Haupterschliessungsachse geplanten Porschestrasse die Bauten mit Zentrumsfunktion, so das integral erhaltene und vorbildlich restaurierte Kulturhaus von Alvar Aalto (1962) und das Stadttheater von Hans Scharoun (1973). Erst zwanzig Jahre später, 1994, wurde das eher grobschlächtige Kunstmuseum des Architekturbüros Schweger in das Ensemble am Südende der Porschestrasse integriert.

Städtebauliche Defizite

Die wesentliche Initiative zur Attraktivitätssteigerung der Stadt ging in den neunziger Jahren vom VW-Konzern aus. Rechtzeitig zur Expo 2000 in Hannover entstand auf der Nordseite des VW- Werk und Stadt trennenden Mittellandkanals die Autostadt, ein Themenpark mit Automuseum, Fünfsternehotel und «Markenpavillons», in welchem sich die Firmen des VW-Imperiums präsentieren. Auch wenn die Autobauer mit dem Architekten Gunter Henn nicht eben einen Visionär beauftragt hatten, erwies sich die architektonisch enttäuschende Inszenierung der Autostadt beim Publikum als so erfolgreich, dass die Stadt ihrerseits in Zugzwang geriet. Wollte man von dem Touristenstrom profitieren, so musste im Bereich des Bahnhofs etwas geschehen. Die von Billigsupermärkten und Imbissbuden flankierte Fussgängerzone der Porschestrasse steht geradezu paradigmatisch für mehrere Dezennien urbaner Fehlentwicklung. In diesem Meer von schlechtem Geschmack wirkt Aaltos Kulturhaus mit seinen bescheidenen Proportionen und einer wunderbaren Materialisierung wie eine Insel der Seligen.

Geradezu verheerend zeigte sich die Situation am «Nordkopf» - also dort, wo die Porschestrasse auf die Bahntrassees und den Mittellandkanal stösst. Nach einem nur zum Teil umgesetzten Plan des Berliner Architekturbüros Léon Wohlhage hat man in den vergangenen Jahren versucht, den ausgefransten Stadtrand im Bereich des Bahnhofsvorplatzes zu konturieren. Gelungen ist das nicht, wie die mediokren Bauten gegenüber dem denkmalgeschützten Hauptbahnhof beweisen. Inmitten architektonischer Banalität und urbanistischer Verfehlungen wirkt das am vergangenen Donnerstag eröffnete Wissenschaftsmuseum «Phæno» von Zaha Hadid wie die Botschaft aus einer anderen Welt. - Phæno ist Wolfsburgs Antwort auf die Autostadt jenseits des Kanals. Um dem VW-Themenpark etwas entgegenzusetzen, propagierte der vormalige Kulturdezernent Wolfgang Guthardt entsprechend dem City-Branding als Wissenschaftsstandort die Idee eines Science-Center. Im Zeitalter verschärfter Städtekonkurrenz und einer seit Jahren kontinuierlich sinkenden Einwohnerzahl, so das Kalkül, könnte eine derartige Institution ein positives Signal setzen. Guthardt gelang es, das Stadtparlament für die durch Sponsoren unterstützte Gesamtinvestition von 79 Millionen Euro zu gewinnen. Im Architekturwettbewerb konnte sich Anfang des Jahres 2000 Zaha Hadid durchsetzen; unter den übrigen 26 zugeladenen Teilnehmern gelangten Barkow Leibinger und Enric Miralles auf die Plätze zwei und drei.

Die in London tätige Irakerin, deren zentrifugal auseinander strebende, dekonstruktivistische Entwurfsvisionen einst als unbaubar galten, konnte in diesem Jahr nach dem BMW-Zentrumsgebäude und der Erweiterung der Ordrupgaard Collection in Kopenhagen mit Wolfsburg bereits ihr drittes Projekt einweihen. Beim Komplex des Phæno handelt es sich um ein massives Sichtbetonvolumen über dreieckigem Grundriss, das von insgesamt zehn kegelförmigen Volumina unterschiedlichen Zuschnitts in die Höhe gestemmt wird. Vom Bahnhof aus gesehen, gipfelt das Gebäude in einer expressiven Spitze, die ein wenig an das Hamburger Chilehaus erinnern mag, zur Stadt hin zeigt es sich eher als breit gelagerter Riegel, wobei die Längsausdehnung entlang der Bahngeleise 150 Meter beträgt. Durch einen der kegelförmigen Füsse gelangt man in die sieben Meter über Bodenniveau gelegene «Experimentierlandschaft», die als fliessender Raum den gesamten Körper durchzieht. - Das Ausstellungskonzept des Phæno wurde von Joe Ansel erarbeitet, der mehrere Jahrzehnte als Vizedirektor des 1969 gegründeten Exploratoriums San Francisco, der Mutter aller Wissenschaftsmuseen, tätig war. Rund 250 Experimentierstationen, die es erlauben, optische und akustische, chemische sowie physikalische Phänomene zu erproben und zu begreifen, sind im Raum verteilt. Die Exponate sind grob nach Themen wie «Energie», «Materie» oder «Mikro + Makro» gegliedert, doch ein Rundgang wird bewusst nicht vorgegeben. Man lernt, gemäss dem Credo von Ansel, am besten spielerisch und freiwillig, und man begreift mit den Händen. Bildschirme, die an allen Orten sonst als unverzichtbar erscheinen, sind aus dem Haus nahezu verbannt.

Höhlenstruktur

Zur Finanzierung seines Betriebs benötigt das Phæno 180 000 zahlende Besucher im Jahr. Ohne Zweifel taugt es auch als Mekka für Architekturinteressierte: Schlicht grandios ist das leicht aufgefächerte Vierendeel-Stahltragwerk, das die Decke zwischen den fünf tragenden Gebäudekernen des Ausstellungsgeschosses stützenfrei überspannt. Realisiert werden konnte die aufwendige Bauskulptur nur dank dem neu im Hochbau verwendeten «selbst verdichtenden Beton». In den Nischen und Kratern zwischen den Ebenen, aber auch bei den Kegelfüssen des höhlenartigen Erdgeschosses ist es gelungen, den Beton in jede denkbare Form zu zwingen, auch wenn Risse bezeugen, dass dabei die Grenzen des heute Machbaren erreicht wurden.

Vielleicht ist die Grotte des Erdgeschosses die eigentliche Herausforderung, welche die Architektin der Stadt mit auf den Weg gegeben hat. Wie sie einst genutzt werden kann, ist in diesen kalten Novembertagen, in denen sich der Schnee über die Stadt gelegt hat, noch fraglich. Ein Café, ein Restaurant, ein Atelier, ein «Ideenforum» und ein Auditorium sind in einigen der Kegelstümpfe vorgesehen; Eingangsbereich, Museumsshop und Materialschleuse werden schon benutzt. Dazwischen spannt sich ein öffentlich zugänglicher kavernenartiger Raum auf, der Ausblicke auf das VW-Kraftwerk mit seinen vier Schornsteinen jenseits des Kanals, aber auch auf den Bahnhof und die Porschestrasse freigibt. Die Höhlenstruktur schafft Perspektiven auf die Stadt - und muss dennoch erobert werden. Archaisch, fast urtümlich lagert das Phæno zwischen Autostadt und Innenstadt, und man weiss nicht so recht, ob es sich in Zukunft als steinernes Herz oder als schlafender Drache erweist, der einmal der Stadt seine feuerspeienden Nüstern entgegenrecken wird. Wer sich durch die Experimentierlandschaft bewegt, wird jedenfalls schon jetzt gelegentlich von einem Feuertornado erschreckt.

25. November 2005Axel Bojanowski
Der Standard

Wissenschafts-Ufo mit fliegendem Teppich

Heute, Freitag, wird im deutschen Wolfsburg das von Stararchitektin Zaha Hadid geplante Science Center „Phaeno“ eröffnet: ein wissenschaftlicher Vergnügungspark für Jung und Alt, in dem physikalische Phänomene begeistern sollen.

Heute, Freitag, wird im deutschen Wolfsburg das von Stararchitektin Zaha Hadid geplante Science Center „Phaeno“ eröffnet: ein wissenschaftlicher Vergnügungspark für Jung und Alt, in dem physikalische Phänomene begeistern sollen.

Es scheint, als wäre ein Raumschiff gelandet. Neben dem Hauptbahnhof in Wolfsburg thront ein geschwungenes futuristisches Betongebäude. Darin haust die „Experimentierlandschaft Phaeno“, ein Vergnügungsmuseum, das ab heute Besucher für Naturwissenschaft, vor allem für physikalische Phänomene begeistern will.

Und der Funke springt tatsächlich über - jedenfalls jede halbe Stunde. Denn in dieser Zeitspanne entzünden Techniker des neuen Wissenschaftsparks eine kleine Flamme, die schließlich als brennende Säule an die Decke schießt. Neben diesem „Feuertornado“ sollen weitere 250 Experimente das Publikum erstaunen. Das Veranstalter-Konzept „Lustvolles Lernen“ verlangt persönlichen Einsatz, bisweilen sogar körperlichen: Beim „Smack-Test“ etwa rennen die Besucher mit vollem Tempo gegen eine gepolsterte Wand. Die Wucht des Aufpralls wird gemessen, und jeder erfährt, was Airbags aushalten müssen. Das Kräftemessen gewinnen häufig Kinder gegen Erwachsene - sie sind nämlich furchtloser.

Hirnströme gemessen

Auch das „Kraftwerk“ bedeutet Anstrengung, dort erkurbelt sich jeder Besucher Strom für einen CD-Spieler, und es wird deutlich, wie viel Energie das Abspielen der Musik kostet. Doch es gilt, entspannt zu bleiben. Ansonsten hat man beim neurowissenschaftlichen Spiel „Mind Balls“ keine Chance. Dabei sitzen sich immer zwei Besucher, deren Hirnströme mit empfindlichen Sensoren gemessen werden, an einem runden Tisch gegenüber. Der an den Köpfen gemessene Strom aktiviert Magneten, die einen Ball antreiben. Der Ball rollt auf jenen Spieler zu, der unruhiger ist - und somit verliert.

Das „Phaeno“ will alles Mögliche sein: abwechslungsreich, eine Experimentierlandschaft und interaktiv - nur ja kein Museum im traditionellen Sinn. Es unterscheidet sich schon auf den ersten Blick: Die Besucher wandeln in der 9000 Quadratmeter großen Ausstellungshalle mit runden Wänden durch Höhlen und Krater, auf Balkone und Terrassen. Auf 180.000 Besucher pro Jahr hoffen die Veranstalter. Manche lockt die neue Attraktion mit ungewöhnlichen Erlebnissen wie dem Ritt auf einem „fliegenden Teppich“ - Luftkissen machen es möglich. Andere sollen mit klassischer naturwissenschaftlicher Aufklärung gelockt werden. Dabei gilt: Neugierde und Spieltrieb sind Ursprung der Erkenntnis. Die Entstehung von Wellen macht sich folglich jeder selbst an einem Wassertank begreiflich: Auf Knopfdruck lassen sich kleine Erdbeben erzeugen, die sichtbar die Wassersäule stauchen. Daraufhin rollen Tsunamis an den Beckenrand.

Weitere physikalische Gesetze stehen auf dem Plan: An Messingkugeln lässt sich mit Blitzen elektromagnetische Energie sichtbar machen. Einige Schritte weiter ergründen Besucher die Natur von Farben: Ein vermeintlich weißes Licht strahlt gegen eine Wand. Es erweist sich nach näherer Erkundung mit einem durch den Lichtkegel schwingenden Faden als Mischung aus Rot, Blau und Grün. Schulklassen können die Themen vertiefen: in drei Experimentierlabors.

Von schulischer Stringenz wollen die Veranstalter jedoch nichts wissen - sie setzen auf „emotionale Interaktivität“. Alle Sinne sollen angesprochen werden. Vielleicht erscheinen manche Experimente deshalb wie Zaubertricks. Mit dem Unterschied, dass im „Phaeno“ die Kniffe am Ende erklärt werden: An jedem Exponat hängen Erklärtafeln, zudem stehen Mitarbeiter des Science Center parat. So erfährt beispielsweise jeder, warum Gegenstände nicht immer dort sind, wo man sie wähnt - Spiegel sind im Spiel.

Für die Experimentiermeile gab die Stadt Wolfsburg gut 79 Millionen Euro aus. Die Exponate konzipierte der auf dem boomenden Gebiet der Wissenschaftsparks erfahrene US-Amerikaner Joe Ansel. Der Großteil des Geldes floss jedoch in das Aufsehen erregende Betonbauwerk, das von der Stararchitektin Zaha Hadid und dem deutschen Architekturbüro Mayer-Bährle entworfen wurde. Manche erinnert der Sockel des Kolosses mit seinen sich konisch verengenden Füßen an ein archaisches Höhlensystem. Vom Bahnhof aus gesehen, gleicht das Gebäude aber einem Ufo. Die Veranstalter hingegen hoffen, dass Besucher mit dem „Phaeno“ vor allem eines verbinden: ein schönes Erlebnis.

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