Details

Mitarbeit Architektur
Michael Casey (Projektleitung), Baldauf, Burton, Castro, Christ, Cookson, Firth, Graber, Karagiannis, Krestas, Linggi, Rudolf, Salgado, Thornton, Fierro, Whittle, Zanardini, Meier
Bauherrschaft
Tate Gallery
Tragwerksplanung
Arup & Partners
Landschaftsarchitektur
Kienast Vogt Partner
Weitere Konsulent:innen
Associate Architects: Sheppard Robson + Partners, Richard Young
Maßnahme
Neubau
Planung
1995
Ausführung
1997 - 2000

Presseschau

20. November 2001Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Von Hockney bis Füssli

Die erweiterte Tate Britain zeigt ihre Schätze

Die erweiterte Tate Britain zeigt ihre Schätze

Nach einem Facelifting scheint die Tate Britain, das Zuhause der weltweit grössten Sammlung britischer Kunst, wieder auf Erfolgskurs zu sein. Die bisher grösste bauliche Veränderung seit der Gründung dieses Museums kostete 32 Millionen Pfund; mehr als die Hälfte des Geldes kam aus den Kassen der National Lottery.

Seit die Tate Modern vor eineinhalb Jahren mit einem grossen Spektakel eröffnet wurde, schien die gute alte Tate Gallery - die Tate Britain, wie sie seither heisst - zu einem Schattendasein verurteilt. Kamen im April 2000 noch 162 000 Besucher in die Tate Britain, so fiel das Total der Eintritte im Mai auf 99 000 und im Juni gar auf nur 62 000. Die Tate Modern hingegen meldete Rekordzahlen: fünf Millionen Besucher allein im ersten Jahr! War dies etwa ein Beweis dafür, dass sich die Briten unmerklich zu einer modernen europäischen Nation gewandelt hatten?

Die Tageszeitung «The Guardian», die so fragte, verwies darauf, wie schnell doch in jüngsten Jahren viele Briten ihren geliebten, schlecht gelüfteten Pubs den Rücken kehrten und zur «clientèle» neuer Cafés im kontinentalen Stil geworden seien - und eben, ähnlich habe das Inselvolk jetzt offenbar auch von Hogarth, Turner, den Präraffaeliten sowie der Bloomsbury Group genug und begehre nach der kosmopolitischen Kunst in der Tate Modern.

Schuld an dieser Entwicklung war allerdings, sieht man einmal von der als Magnet wirkenden Tate Modern ab, nicht die in der Tate Britain übrig gebliebene Sammlung, sondern vielmehr ein kleiner Bestandteil davon: nämlich eine neue, im Frühjahr 2000 vorgestellte beständige Schau. Statt chronologisch oder nach Schule waren die Werke in dieser permanenten Ausstellung nach Themen geordnet. Solche Themen, denen jeweils ein Raum gewidmet war, hiessen zum Beispiel «Private and Public», «Visionary Art», «Home and Abroad» und «City Life». Doch was hatten Bilder wie Füsslis «Titania and Bottom» und Kitais «Cecil Court» (1983/84) schon gemeinsam - ja welche neue Einsicht gewann der Besucher aus dem Hinweis, es handle sich bei diesen nebeneinander hängenden Werken ebenso um solche «urbaner» Künstler wie Gilbert und George beziehungsweise L. S. Lowry im selben Raum? Indem sie plötzlich ebenso «sexy» - wie die Tate Modern - sein wollte, erlitt die Tate Britain eine Identitätskrise; die «Sunday Times» erkor sie schliesslich, weil so schlecht besucht, zum beklagenswertesten Museum Londons.


Subtile neue Architektur

Jetzt aber lässt dieses Kunstmuseum wieder aufhorchen. Nachdem der Architekt John Miller tief in die Fundamente des alten Millbank-Gefängnisses, über denen der Komplex angelegt ist, hinuntergrub, steht die Tate Britain seit Anfang November in neuem Glanz da. Erstmals ist für Ausstellungen auch im Untergeschoss Platz vorhanden: hier, in den aus sechs Räumen bestehenden «Linbury Galleries», werden fortan temporäre Ausstellungen gezeigt. Diesen Galerien, wie auch vier neuen Räumen im darüber liegenden Stockwerk, hatte ein verborgener Innenhof weichen müssen. Weitere fünf Räume im bisherigen Nordwestflügel haben ein ihrem ursprünglichen Design angepasstes Facelifting erhalten. Völlig neu sind auf der westlichen Seite des Museums ein von der Strasse ins Untergeschoss führender Eingang sowie dahinter ein grosszügiges Foyer mit Bookshop. Last, but not least: Neu ist auch ein in seiner Schlichtheit grossartiges, von Tageslicht erhelltes Treppenhaus aus Kalkstein, das die Linbury Galleries mit dem oberen Stock verbindet; mit diesem Treppenhaus und dem Eingang - d. h. mit zwei westwärts in den Komplex schneidenden Schwerpunkten - ist es Miller gelungen, eine bisher unwandelbar wirkende Anlage auf subtile Weise neu zu orientieren.

Wohlverstanden: Weder war die Tate Britain je noch ist sie jetzt strukturell eine geschlossene Einheit. Zum Architekten Sidney Smith, nach dessen Plänen sie erbaut und 1897 als The National Gallery of British Art eröffnet wurde, lässt sich nicht viel mehr sagen, als dass er in der Gunst des Zucker-Tycoons und Kunstsammlers Henry Tate stand. Bald einmal nach diesem benannt, wurde die Tate immer dann, wenn sich neue Gönner einstellten, erweitert. So vor dem Ersten Weltkrieg für die Turner-Sammlung nach Plänen von Romaine Walker und zwanzig Jahre später, als John Russell Pope aus New York dem Bau die zentrale Kuppel aufsetzte und den Skulpturen-Galerien einen neuen Look verlieh. Dann, in den achtziger Jahren, kam mit der Clore Gallery ein Anbau von James Stirling. Doch während die Clore Gallery anders sein wollte und dies mit ihrer Fassade laut verkündet, reden jetzt die von John Miller vorgenommenen Erweiterungen im Flüsterton von der Absicht des Architekten, sich anzupassen. Miller hat seine Absicht so konsequent realisiert, dass viele Besucher kaum merken werden, wo Neu und Alt aufeinander stossen.


Chronologie, gestärkte Identität

Wie es ihr erster Name verkündete, war der Tate Britain ursprünglich eine grosse Rolle zugedacht: Hier sollte die Geschichte der britischen Kunst erzählt und zelebriert werden. Genau darauf scheinen sich jetzt die für das Museum Verantwortlichen wieder besonnen zu haben - denn was der Besucher nebst neuer Architektur zu sehen bekommt, ist unter dem Motto Collections 2002-1500 die weltweit grösste permanente Ausstellung britischer Kunst. Die unsägliche Idee von einer nach Themen geordneten Schau wurde fallengelassen, und so ist denn das, was jetzt statt die Lager die dem Publikum zugänglichen Räume füllt, chronologisch geordnet. Seit der Eröffnung der Tate Modern und jetzt mit dem Facelifting vergrösserte sich in der Tate Britain die Ausstellungsfläche um insgesamt 35 Prozent - was heisst, dass Schlüsselfiguren in der Sammlung, darunter Hogarth, Gainsborough, Blake, Constable, die Präraffaeliten, Moore, Hepworth, Bacon und Hockney, umfänglicher gezeigt werden können. Die erste, soeben eröffnete temporäre Ausstellung in den Linbury Galleries hat die viktorianische Aktmalerei zum Thema.

Wohl wundert man sich in der permanenten Ausstellung noch gelegentlich, so im achten Raum, wo Nashs «Totes Meer» in der Gesellschaft von Blake hängt, doch grossenteils verdienen die arbiträren Einfälle ein Lob. Solche Einfälle sind eine der viktorianischen Photographie eingeräumte Sektion sowie, bei der Kunst des 18. Jahrhunderts, ein mit «Britain and Italy» betitelter Raum. Die vorübergehend vorhandenen Leihgaben füllen Lücken in der Sammlung, was - will diese doch zu der Geschichte der britischen Kunst «the full picture» vermitteln - ebenfalls positiv beurteilt werden muss. Zum Beispiel hat die Tate Britain keinen Holbein, doch sind von diesem hier gegenwärtig zwei grossartige Bilder - «Lady with a Squirrel» und «Sir Henry Guildford» - zu sehen. In der Tat bedarf die Sammlung der Tate Britain der Ergänzung; wohl ist sie stark an Bildern von Turner, Blake, Stubbs und den Präraffaeliten - doch fehlt zum Beispiel irgendein vor 1816 entstandenes bildhauerisches Werk. Ebenso ist weder van Dyck noch die schottische Kunst gross vertreten.

Es ist also jetzt mit den «extraterritorialen» Holbein und van Dyck, ja mit «Britain and Italy» auch die für die Geschichte der britischen Kunst unerlässliche internationale Dimension gegeben. Die Frage ist, ob die Tate Britain nicht vielleicht Stanley Spencer - oder Sickert - einen mehr oder weniger permanenten Raum widmen sollte. Sickert zum Beispiel findet sich gegenwärtig zusammen mit der Camden Town Group, Whistler sowie anderen unter dem Motto «British Art and France 1870-1914» auf dieselben vier Wände gedrängt. Doch zu viele Fragen zu der nach dem Facelifting in ihrer Identität neu gestärkten Tate Britain würden wohl höchstens eine weitere Frage anregen - ob nämlich dieses Museum für seine Sammlung nicht noch mehr Platz hätte brauchen können.

11. April 2001Jan Tabor
Falter

Wien mitten in London

Ein Rundgang durch die in jeder Hinsicht beeindruckende Tate Modern Galerie in London und die Ausstellung „Century City“, in der leider auch Wien ein Kapitel gewidmet ist.

Ein Rundgang durch die in jeder Hinsicht beeindruckende Tate Modern Galerie in London und die Ausstellung „Century City“, in der leider auch Wien ein Kapitel gewidmet ist.

Wien wurde zwischen New York und Tokio gelegt, in die Mitte des vierten Stockes, die auch die Mitte der weitläufigen Ausstellung „Century City“ ist. Ein Ehrenplatz, meint man, steht man vor der Orientierungstafel. Mit der Tate Modern wurde im Mai 2000 das größte Museum moderner Kunst der Welt eröffnet. Vermutlich ist es auch das Museum mit dem größten Foyer überhaupt. Eine Orientierungstafel braucht man dennoch kaum: Man tritt ein und kennt sich aus. Es ist ein Museum ohne Schwellen, weder wirklichen noch mentalen. Sogar eine neue Fußgängerbrücke wurde errichtet, um das neue Museum mit St. Paul's Cathedral am anderen Ufer der Themse zu verbinden.

Die Tate Modern hat zwei Entrees. Das eine befindet sich gegenüber dieser unübertrefflich filigran-elegant konstruierten Themse-Fußgängerbrücke. Das andere, seitliche, ist der Haupteingang. So breit wie die ganze Westwand und so beschaffen, als würde die Straße in das Haus geführt - über eine riesige, flach abfallende, also rollstuhlgerechte Rampe. (Im Wiener Museum moderner Kunst - kurz Mumok - im Muqua gibt es eine vier Meter hohe Treppe, der Eingang für Rollstuhlfahrer ist irgendwo hinter ihr versteckt.) Das Tate-Foyer ist groß wie ein Flugzeughangar. Die einstige Turbinenhalle wurde leer geräumt und frei belassen. In Massen strömen die Menschen hinein und hinaus. Schüler aller Altersstufen, unzählige. (In Wiener Museen sieht man sie kaum, die Eintrittskarten sind zu teuer.) Über sechs Millionen Besucher erwartet die Tate im ersten Jahr. (Im Mumok rechnet manmit 150.000 Besucher jährlich, im ganzen Muqua mit 1,1 Millionen.)

Ein Arbeitstag in der Tate Modern, und man spürt einen Hauch von Fritz Langs „Metropolis“. Kaum Gedränge, nicht einmal im Eingangsbereich. Nur in den beiden Cafes (200 und 240 Sitzplätze) und in der Buchhandlung, obwohl sie groß ist wie ein Turnsaal. Der Eintritt ist frei, ausgenommen die Wechselausstellung, die aber trotzdem voll ist. Alles ist so geräumig hier, so großzügig bemessen! (Im Mumok ist die Decke vor der Garderobe nur 2,20 Meter hoch. Niedriger hat es die Bauordnung nicht erlaubt.)

Gleich am Eingang beginnt die Jahrhundertwende-Rückschau „Century City - Art and Culture in the modern Metropolis“. Es ist die erste Wechselausstellung nach der Eröffnung. Exemplarisch für die ganze urbane Welt des 20. Jahrhunderts werden neun Städte in „einem für sie charakteristischen Zeitabschnitt“ vorgestellt. Jedes der Städteporträts hat einen anderen - oder mehrere - Kurator, sodass sowohl die Interpretationen als auch die Gestaltungen der Ausschnitte unterschiedlich bis konträr sind - von einem schöngeistig-romantisch verschleierten Blick bis zur beinharten sozialkritischen Analyse der urbanen Lagen.

London selbst ist die Jetztzeit, 1990-2001, und der Eingangsbereich - und damit der Anfang und das Ende der Ausstellung - vorbehalten. Das wäre nicht unbedingt ein Vorteil, wäre das Konzept „City as found object“ nicht so genial: Künstler agieren in den Straßen von London; der London-Teil der Schau ist eine Fortsetzung des Draußen. Im Hineingehen wird die Wirklichkeit der Stadt zu Kunst. Beim Hinausgehen ist es umgekehrt: Die Kunst wird zur Stadt. Nach London kommt, ebenfalls in der Halle, Mumbai/Bombay („Transforming the City. 1992-2001“). Mumbai ist die am schnellsten wachsende Stadt der Welt; 1993 lebten hier zwölf Millionen Einwohner, 2005 werden es 27,5 Millionen sein. In einer Filmreportage über eine gemeinsame Demonstration von Moslem- und Hindufrauen gegen den religiös motivierten Terror hört man eine Rednerin rufen: „Our religion is humanism!“

Die Schausammlungen der zeitgenössischen Kunst sind auf zwei der sechs Besucherebenen verteilt, auf die dritte und die fünfte - zusammen 6000 Quadratmeter für permanente Ausstellungen. Dazu kommen 2400 Quadratmeter für Wechselausstellungen auf Ebene vier sowie mindestens 3000 Quadratmeter im Foyer. (Mumoks Ausstellungsfläche beträgt 5400 Quadratmeter.) Die Tate Modern geht von der üblichen Gruppierung der Exponate nach Chronologie und Ismen ab und stellt die Kunst in sachlich-inhaltlichen, kausalen beziehungsweise formalen Zusammenhängen wie „Nacktheit/Action/Körper“ oder „Geschichte/Gedächtnis/Gesellschaft“ aus. Die Öffnungen nach außen, Fenster und Loggien mit Sitzmöbeln, stellen einen unerlässlichen Zusammenhang zwischen der Großstadt und moderner Kunst her. „Die Kunst der Moderne ist die Kunst der Metropolen“, meinte Documenta-Leiter Okwui Enwezor kürzlich in einem Interview. (Im Mumok gibt es keine Ausblicke. Dort gibt es bloß kleine fensterartige Scharten - als würde sich die moderne Kunst in Wien noch immer in einem Belagerungszustand befinden. Das einzige Fenster, aus dem man hinausschauen kann, bis etwa zum Ballhausplatz hin, befindet sich im Obergeschoß, das wie ein groß geratener Dachboden zum Wäschetrocken aussieht.)

Die vierte Ebene ist denWechselausstellungen vorbehalten; sie liegen also zwischen den permanenten Schausammlungen und werden auf diese Weise integriert. Es fängt mit „Moscow 1916-1930. Revolutionary City“ an: leider nur Wohlbekanntes. „Lagos 1955-1970. Highlife in the City“, von Enwezor kuratiert, zeigt hingegen eine unbekannte Großstadtkultur zwischen Kolonialismus und Befreiung. Über „New York 1969-1974. City as Stage“, „Tokyo 1967-1973. Provoking the City“ und „Paris 1905-1915. City as Modernity“ führt die Städtereise nach „Rio 1950-1964. Rhythmic City“, wo die willkürlich aneinander gereihte und im Ganzen ungemein spannende Neun-Metropolen-Synopsis mit den „very hot Rhythms of Bossa nova“ bekömmlich und zukunftsfroh abschließt. Diese Musik ist 1950 entstanden, genau inmitten des kakophonischen Jahrhunderts. Manchmal dringen aus dem Wiener Cafe Karl Kraus' authentische Antikriegsschreie bis hierher durch.

In „Vienna 1908-1918. City in Analysis“ singt die „Lulu“ um die Wette mit Karl Kraus, der die Klagelieder aus seiner musiklosen Zeitungszitatenoper „Die letzten Tage der Menschheit“ in die Welt hinausdeklamiert. Wien liegt zwischen New York und Tokio und hängt dort wie ein zum Leben erweckter Todespatient zwischen zwei mit ihrer rebellischen Vitalität protzenden Kerlen. Weshalb, ist nicht gleich durchzuschauen, jedoch bereits in New York zu riechen. Frischer Wiener Kaffee! Der Duft der Heimat hier, in der Power Station Tate Modern! Klar: Wien, Gugelhupf, viele Zeitungen, „demolirte Literatur“, jede Menge von Dichtern und Denkern aller Art, Freud, Psychoanalyse, Libido, Lulu, Altenberg, kleine süße Mädchen, Karl Kraus, „Versuchsstation Weltuntergang“, Todessucht, Wiener Cafe um 1900.

Neben den Toiletten und neben einer großen Loggia befindet sich eine kleine Cafeteria. Sie dürfte Richard Calvocoressi und Keith Hartley, die schottischen Wien-Kuratoren, dazu inspiriert haben, in London wieder einmal ein echtes Wiener Cafe aus der Zeit nachzuempfinden - als exponat trouve sozusagen. Entsetzlich! Die Repliken des Thonet-Bugholzmöbels sind plump und unbequem. Der Kaffee ist miserabel. Keine Mehlspeisen. Keine Zeitungen.

Es ist nicht die einzige lebensnahe Rekonstruktion des Wiener Geisteslebens. Auch die legendäre, mit einem Perserteppich überworfene Couch des Professors Freud wurde aus dem Londoner Freud-Museum geholt, um eine Ecke seiner Wiener Wohnung wirklichkeitsnah nachzubilden. Die Wände rundherum sind mit Schiele-Grafiken, meist Leihgaben des Museums Leopold, regelrecht tapeziert. Sie sind so ausgewählt, dass das Wien-Bild von einer Metropole der lustvollen Nekrophilie eindrucksvoll bestätigt wird. Das Klischee der liebenswürdigen Pädophilie erhärtet die Sammlung mit Bildern kleiner süßer Mädel, die einst Peter Altenberg an der Wand seines Dauerdomizils im Hotel am Graben erfreute. Die seltsame Kollektion beeindruckt, wo immer sie als Exponat auftaucht, verlässlich. „Deine Seele, Albina, ist vollkommen wie dein geliebter Leib!“, zitiert Jörg von Uthmann genussvoll, was Altenberg unter der Aktaufnahme eines vierzehnjährigen Mädchen dichtete, und beendet seinen Bericht für Die Zeit mit dem Seufzer: „Ein Beitrag zur Sexualgeschichte: Was einem Dichter zu Beginn des Jahrhunderts nachgesehen wurde, hätte ihn, als es zu Ende ging, ins Gefängnis gebracht.“ Von Wien in London war der Mann aus Hamburg restlos begeistert. Alles andere: unverständlich.

Das masochistische Wien-Bild ist eine kulturelle Katastrophe. 1985 in Wien, in der Ausstellung „Traum und Wirklichkeit“ hergestellt, wird es seither, zerstückelt und modifiziert wie eine mumifizierte Erbsünde, herumgereicht. Die österreichische Regierung sollte ihren Kunstinstitutionen sofort untersagen, Exponate zum Thema Wien um 1900 ans Ausland zu verleihen.

Der Aufenthalt im unwirtlichen Viennese Coffee House ist dennoch ein metropolitanes Erlebnis sondergleichen. Durch das Panoramafenster blickt man auf die unwirklich erscheinende Skyline der coolsten Stadt der Welt und auf die graziös gespannte Konstruktion der Millennium Bridge. Die kongeniale Gemeinschaftsarbeit des Architekten Norman Foster, des Bildhauers Sir Anthony Caro und des Statikers Ove Arup ist allerdings ein Werk des Bausurrealismus: Die fantastische Brücke ist gesperrt, weil sie so filigran dimensioniert ist, dass sie - von Menschen oder dem Wind bewegt - lebensgefährlich zu schaukeln beginnt.

Die Schweizer Architekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron hingegen haben die Aufgabe, die funktionslos gewordene Power-Station für Elektrizität in eine Power-Station für moderne Kunst zu transformieren, vorbildlich bewältigt. Das Power Station Bankside ist ein Spätwerk von Sir Giles Gilbert Scott (1880-1960), einem der berühmtesten unter den unbekannten Architekten (er ist der Schöpfer der legendären roten Londoner Telefonhütten). Das aus dunkelroten Ziegeln gemauerte Kraftwerk war als bewusst kraftvoll gestaltete Stadtdominante gegenüber der Wren-Kathedrale überaus populär, sodass sein Umbau am Anfang ähnlich umstritten war wie die Umgestaltung der Hofstallungen in Wien.

Vorige Woche wurden Herzog & de Meuteron für Tate Modern mit dem Pritzkerpreis ausgezeichnet. Beide sind 51 Jahre alt und damit die bisher jüngsten Träger dieser Ehrung, die man als den Nobelpreis für Architektur zu bezeichnen pflegt. In Wien hat man die außerordentliche Qualität der beiden Architekten aus Basel früh erkannt. Bereits 1989 errichteten sie in Wien-Aspern, zusammen mit Adolf Krischanitz und Otto Steindle aus München, die 200 Wohnungen umfassende Reihenhaussiedlung Pilotenweg.

Wien, die Stadt in der Psychoanalyse. Beim Wiener „Jahrhundertprojekt“ Museumsquartier (Muqua) setzten die Politiker auf die bewährte Qualitätsarbeit heimischer Baukünstler und den überall beliebten alten Genius loci Wiens. Das neue Museum Leopold ist ein im Muschelkalkstein petrifizierter Ausdruck dieser Obsession. Das in dunklen Basalt gekleidete Museum moderner Kunst (Mumok) sieht so toll aus, dass sogar Lenins Mumie sich alle zehn Finger abschlecken würde.

Die Ausstellung „Century City“ läuft noch bis 29.4. in der Tate Modern, London.

20. November 2000Ursula Seibold-Bultmann
Neue Zürcher Zeitung

Im roten Auditorium

Die Tate Modern als Diskussionsforum für Architektur

Die Tate Modern als Diskussionsforum für Architektur

Seit ihrer Eröffnung im Mai dieses Jahres bietet die Tate Modern in London ein reges öffentliches Vortrags- und Konferenzprogramm, das nicht nur die bildende Kunst abdeckt. sondern auch in das Gebiet der Architektur ausgreift. Damit wird geschickt die magnetische Kraft genutzt, mit welcher der neue Museumsbau - von Herzog & de Meuron in die frühere Bankside Power Station eingefügt - das Publikum anzieht. Mit ihrem roten Auditorium im Erdgeschoss, das wie das pulsierende Herz des Hauses wirkt, sowie mit dem glasklar proportionierten East Room hoch oben über der Themse verfügt die Tate Modern über schönere Räume für Debatten über Architektur als das Royal Institute of British Architects, die Architectural Association und das Institute of Contemporary Arts (ICA) zusammengenommen.

Inhaltlich wagt sich die Tate mit solchen Veranstaltungen auf ein für sie neues Gebiet. Das naheliegende Leitthema dieses Sommers waren international bedeutende Museumsbauten der letzten Jahre: Im Rahmen einer längeren Vortragsserie sprachen pro Abend jeweils ein Museumsdirektor und ein Architekt über ihre Zusammenarbeit. Nun werden urbanistische, kommerzielle, militärische und imaginäre Konzepte von Raum im digitalen Zeitalter untersucht oder junge Architekten wie muf, die für die Regeneration der südlich der Tate Modern gelegenen Southwark Street verantwortlich sind, vorgestellt.

Hinzu kam am 11. und 12. November ein international besetztes Symposium über gemeinsames Terrain zwischen Architektur, Installationskunst und Performance, bei dem Architekten und bildende Künstler zu gleichen Teilen ihre Arbeit präsentierten. Hier ging es einerseits um die direkte Zusammenarbeit - etwa zwischen dem Architekten Heidulf Gerngross und dem Bildhauer Franz West aus Wien -, andererseits aber auch um konfliktträchtige Kontraste. Diese kamen im unmittelbaren Nebeneinander von Zaha Hadids techno-dynamischer Präsentation eigener Projekte und einem Vortrag des Londoner Künstlers Julian Maynard-Smith über das in seinen Performances ausgedrückte Misstrauen gegenüber abstrakten Raumkonzepten zutage. Einen unbekümmerten Begriff von Performance vertrat Christophe Egret, der Projektarchitekt der soeben mit dem Stirling Prize gewürdigten Peckham Library von Alsop & Störmer in London: Deren bunte gläserne Aussenwand mache für den Betrachter die Nutzung des Baus selbst zum visuellen Event. Zwar blieb der Abstraktionsgrad der Diskussionen gering, und es mangelte an einer systematischen kunst- und architekturtheoretischen Übersicht zu den angeschnittenen Themen. Aber ein Anfang ist gemacht, und man darf hoffen, dass das Tate-Architekturprogramm auf nützlichem Niveau fortgesetzt wird.

11. September 2000Der Standard

Trip-Tipp2: Coolster Platz

Das Millenniumsprojekt Tate Modern ist momentan der coolste Platz Londons. Ursprünglich hatten die Betreiber dieses neuen Museums für moderne Kunst mit...

Das Millenniumsprojekt Tate Modern ist momentan der coolste Platz Londons. Ursprünglich hatten die Betreiber dieses neuen Museums für moderne Kunst mit...

Das Millenniumsprojekt Tate Modern ist momentan der coolste Platz Londons. Ursprünglich hatten die Betreiber dieses neuen Museums für moderne Kunst mit zwei Millionen Besuchern im ersten Jahr gerechnet. Doch bereits anderthalb Monate nach der Eröffnung im Mai schlenderte die millionste Besucherin durch die Ausstellung. Und die Besucherschlangen reißen nicht ab. Das ganze Projekt - angefangen von der Leistung des Architektenteams Herzog und de Meuron über das Ausstellungskonzept bis hin zur Tatsache, dass der Eintritt frei ist - hat auch bei den Medien großen Anklang gefunden.

Im Gegensatz zum reichlich erfolglosen Millennium-Dome haben sich bei diesem Millennium-Projekt kaum Mängel gezeigt.

So lud etwa auch Ken Livingstone, der neue Londoner Bürgermeister, zu seinem Amtsantritt die Gäste lieber in die Tate Modern ein, als in den wesentlich größeren und mit über 750 Millionen Pfund auch fünf mal teureren Millennium-Dome. Bis Dezember sind auch noch zwei Sonderausstellungen zu sehen: Plastiken von Louise Bourgeois und „Between cinema and a hard place“, ein Überblick über die Kunst am Ende des 20. Jahrhunderts (Eintritt: 3 Pfund).

19. Juli 2000Doris Krumpl
Der Standard

Londons gigantische Kunstturbine

(SUBTITLE) Eine Million Besucher in knapp zwei Monaten: Die „Tate Modern“

Keine chronologische Hitparade der bildenden Künste, sondern die Verbindung von Historischem und Zeitgenössischem versucht Londons vor zwei Monaten eröffnete „Tate Modern“: Doris Krumpl sprach mit ihrem Direktor Nicholas Serota.

Keine chronologische Hitparade der bildenden Künste, sondern die Verbindung von Historischem und Zeitgenössischem versucht Londons vor zwei Monaten eröffnete „Tate Modern“: Doris Krumpl sprach mit ihrem Direktor Nicholas Serota.

London - In der ehemaligen Turbinenhalle geht es zu wie am Hauptbahnhof zur Rushhour. Schülergruppen lungern am Boden, an den Informationsschaltern drängt sich die Menge.

Eintritt zu zahlen braucht man nämlich nicht in der „Tate Modern“, die damit das in Großbritannien gepflegte demokratische Recht auf Museumsbesuch für alle prolongiert. Nicht nur die schlicht geniale Architektur der Schweizer Herzog/de Meuron setzt Maßstäbe, sondern wie das 134,5-Millionen-Pfund-Projekt Tate Modern überhaupt angegangen wurde.

Sir Nicholas Serota, Direktor der alten wie neuen Tate Gallery und mit britischem Understatement ein wohltuender, intellektueller Gegenpol zu den polternden, schenkelklopfenden US-amerikanischen Museumschefs, ist Schirmherr all dieser Aktivitäten. Bevor irgendetwas gebaut wurde, schickte er Sozialarbeiter in das südlich der Themse gelegene „no-man's land“ mit extrem hoher Arbeitslosenrate, die eine Einbindung der ansässigen Bevölkerung in Aussicht stellte.

Wie das Museum of Modern Art für die 40er/50er, das Pompidou für die 70er und das Guggenheim Bilbao für die 90er, so atmet die auf die in Orwellschem Neusprech auf Tate Modern verkürzte Gallery wirklich neuen, aber keinen Zeitgeist. Keine mit Türmchen und Fensterlein verzierte Prunk- und Protzhülle à la 80er steht da am Flussufer, sondern vielmehr ein pragmatischer, demokratischer Bau.


Massenbesuch

Und er hat, abseits der Form wie Funktion bestens vereinenden Architektur, auch noch profunden Inhalt zu bieten. Und „trotz“ des Inhalts kommen Massen, da staunt auch Sir Serota. Vor kurzem wurde der millionste Besucher gezählt, knapp zwei Monate nach der Eröffnung. Erhofft hatte man sich zwei Millionen pro Jahr.

„London entdeckt gerade, dass es einen Fluss hat“, meint Serota - und die britischen Blätter schreiben: „Take a walk on the south side.“ Das können Fußgeher auch via Millennium Bridge machen - wenn sie nicht wegen zu starkem Wackeln („wobble“) und Schwingen gesperrt ist. Ihr Architekt, Sir Norman Foster, muss sich deshalb den Neo-Namen „Sir Norman Wobble“ gefallen lassen.

Vor drei Jahren noch hätte man kein einziges Taxi in dieser Gegend gesehen, erzählt der Direktor. Ihm steht Lars Nittve als Direktor der Tate Modern zur Seite. Vor London hatte der Schwede das renommierte Lousiana Museum of Modern Art in Dänemark geleitet. Gemeinsam konzipierten sie die Schaustellung der Kollektion, die bis dato in den Depots ruhen musste.

Das Wachküssen hat sich gelohnt, so zeigt sich in der permanenten Sammlung erlesener Geschmack. Es gibt das Beste von den Besten, in solchen Größenverhältnissen präsentiert.

Nicht in chronologischer Reihenfolge stehen die Kunstwerke, sondern thematisch geordnet - quer durch die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts: Stillleben (Still Life/Object/Real Life), Landschaftsbild (Landscape/Matter/Environment), Akt (Nude/ Action/Body), sowie History/ Memory/Society. So befinden sich Halbreliefs von Matisse etwa Aquarellen von Marlene Dumas gegenüber. Oder Richard Longs steinerne Bodenskulptur Red Slate Circle neben Claude Monets Wasserlilien - ein belebender Kontrast beim Thema „Landschaft“.

„Das Museum sollte nicht etwas geschlossen Historisches sein, sondern sich um das zeitgenössische Verständnis von moderner Kunst drehen“, sagen Serota und Nittve unisono.

Diese unkonventionelle, unhierarchische Aufstellung brachte auch Kritik ein. Man wäre zu subjektiv, man sähe zu sehr die persönliche Handschrift der Kuratoren. Serota darauf: „Wo sieht man die übrigens nicht? Außerdem stellt sich die Frage: Warum muss ich als 1956 geborener Künstler immer mit Menschen ausstellen, die zwischen 1950 und 1960 geboren sind? Das ist ja wie in der Schule!“

An einem einzigen Ort kann man übrigens den Besuchermassen entkommen: Die Baustellen-Installation von Fischli/Weiss hält niemand für Kunst - alle rennen schnell daran vorbei. www.tate.org.uk

12. Mai 2000Simon Maurer
TagesAnzeiger

Mit Aikido-Strategien gegen das trutzige Backsteinmonster von London

Heute öffnet die Tate Modern in London ihre Glastüren fürs Publikum. Die Museumsarchitektur, entworfen von den Schweizern Jacques Herzog und Pierre de Meuron, setzt neue Massstäbe.

Heute öffnet die Tate Modern in London ihre Glastüren fürs Publikum. Die Museumsarchitektur, entworfen von den Schweizern Jacques Herzog und Pierre de Meuron, setzt neue Massstäbe.

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11. Mai 2000Peter Isenegger
Der Standard

Moderne Kunst im alten Boilerhaus

Mit der Tate Modern am Themseufer, die heute durch die Queen offiziell eröffnet wird, erhält London ein modernes Pendant zur St. Paul's Cathedral.

Mit der Tate Modern am Themseufer, die heute durch die Queen offiziell eröffnet wird, erhält London ein modernes Pendant zur St. Paul's Cathedral.

London - „Ein Triumph“ sei die Tate Modern, beginnt Nonie Nieswand, Kritikerin des Independent, ihren Artikel über das Museum. Und Andrew Marr doppelt im Observer nach: „Wenn moderne Kunst die neue britische Religion ist, dann ist Tate's Bankside Gallery deren St. Paul's, deren neue Kathedrale.“

Das Werk der Basler Architektur-Gemeinschaft Herzog und de Meuron ist im sonst kritischen England mit Begeisterung aufgenommen worden und der Vergleich mit einer Kathedrale drängt sich tatsächlich auf. Allein schon wegen der Ausmaße der Eingangshalle: 160 Meter lang, 30 Meter hoch und 25 Meter breit. Und wir befinden uns noch nicht einmal im eigentlichen Museum.

Diese Halle verdankt die Tate Modern dem ursprünglichen Verwendungszweck des Gebäudes. Der Raum war die Turbinenhalle der 1947 britischen Architekten Sir Giles Gilbert Scott kreierten Bankside Power Station, einem Kraftwerk am Themseufer, genau gegenüber der St. Paul's Kathedrale. Scotts Kraftwerk wurde erst zu Beginn der Sechzigerjahre fertig gestellt und nach nur 18 Betriebsjahren stillgelegt.


Ein Stück Stadt

Die kathedralenähnliche Eingangshalle der neuen Tate war das Herzstück der Bankside Power Station. Dieses Herzstück wurde von Herzog & de Meuron in einer Großzügigkeit freigelegt, die in jedem Neubau als verschwenderisch empfunden würde. Es soll künftig als Raum der Begegnung, als „öffentlich zugänglicher Raum“ dienen. Denn, so meint Jacques Herzog: „Unsere Idee war es, nicht nur ein Museum, sondern auch ein Stück Stadt zu schaffen.“ Dieses Konzept erhält noch mehr Gewicht, wenn das neue Museum mit einem Fußgängersteg, der in die Gegend der St. Paul's Kathedrale führt, an das andere Themseufer angebunden wird. Der Steg, von Norman Foster entworfen, ist der erste Themse-Übergang, der seit gut 100 Jahren im Zentrum von London gebaut wird.

Das eigentliche Museum mit seinen achtzig Ausstellungsräumen ist im themseseitigen alten Boilerhaus, wo früher der Dampf für die Turbinen erzeugt wurde, untergebracht und auf drei Ebenen verteilt. Zwei davon sollen der ständigen Sammlung der Tate vorbehalten bleiben, während die dritte für Spezialausstellungen reserviert ist. Ebenso „breathtaking“ wie die Architektur selber ist die Lichtregie, mit der die Baseler ans Werk gingen: Natürliches Licht vermischt sich mit künstlichem. „Wir haben Lichtmaschinen montiert“, erklärt Jacques Herzog, „Lichtmaschinen, die uns nicht nur erlauben, die Intensität des Lichtes, sondern auch dessen Tönung zu verändern.“

„Lightbeam“ (Lichtstrahl) nennen die Architekten den zweistöckigen gläsernen Aufbau, den sie aufs Dach des Kraftwerkes gesetzt haben, um dem massiven Kamin ein horizontales Gegengewicht zu setzen. Ein Motiv, das im Inneren wiederholt wird: Die vorstehenden beleuchteten Glaserker brechen in der Eingangshalle die Dominanz der senkrechten Stahlträger.

Im lichtdurchfluteten „Lightbeam“, erläutert Harry Gugger, Juniorpartner im Basler Architekturbüro, der die Realisierung des Projekts vor Ort überwachte, die Philosophie hinter der Neugestaltung der Bankside Power Station: „Bei diesem Bauwerk handelt es sich um ein Industriegebäude mit einer ausgeprägten Aufgliederung in drei Teile. Das Turbinenhaus, das Boilerhaus und der Transformatorenraum, der zumindest für die nächste Zeit als Verteilerzentrale dienen wird, später aber dem Museum zugeschlagen werden soll.“

Und: „Energie hat in diesem Gebäude immer eine starke Rolle gespielt. Früher war Öl der wichtige Energieträger. Mit ihm wurde Dampf erzeugt und schließlich Elektrizität. Die Energie, die ein Museum in Bewegung bringt, ist das Licht.“

„Entzückt“ und vollauf zufrieden ist auch Tate-Direktor Sir Nicholas Serota, der vor zehn Jahren das brach liegende Kraftwerk für seine Zwecke entdeckt und vor dem drohenden Abbruch gerettet hat. Er will in den neuen Räumen auch ein neues Ausstellungskonzept mit dem Namen Collection 2000 verwirklichen. Die Ausstellung ist nicht mehr chronologisch, sondern thematisch geordnet. Landschaft, Stillleben, Akt und Historische Malerei: allerdings sehr weit gefasst.

Zwei Millionen Besucher erwartet die Tate Modern pro Jahr. Und mit Kosten von 134 Millionen Pfund sei die Tate Modern geradezu ein Schnäppchen, findet der „Independent“, der mit einem Blick themseabwärts schreibt: „Die Dummköpfe, welche den Millennium-Dom (Kosten über 750 Millionen Pfund, Publikumserfolg eher mäßig) sanktioniert haben, sollten sich die Tate Modern anschauen und vor Schande in den Boden versinken.“


Die Queen, die Moderne und die Anarchie

Die Tate Modern wird heute durch Queen Elizabeth II. offiziell eröffnet. Londons Polizeichef Sir John Stevens hat davor gewarnt, dass anarchistische Gruppen sich nun Königin Elizabeth II. und ihre Familie als Ziele auserwählt hätten. Die Anarchisten könnten die Eröffnung zu Ausschreitungen nutzen. Im vergangenen Juni war ein anti-kapitalistischer Marsch durch die Londoner City im Chaos versunken. Die Marschierer hatten Autos in Brand gesteckt, Bürofenster eingeworfen und gegen die anrückende Polizei gekämpft.

11. Mai 2000Ute Woltron
Der Standard

Die Pointillisten im Olymp der Architektur

Raffinierte und unverwechselbare Architekturen haben das Baseler Büro Herzog & de Meuron zur Architektur-Trademark gemacht. Jacques Herzog und Pierre de Meuron sind quasi ein altes Architekturehepaar. Sie sind beide Jahrgang 1950, haben schon miteinander die Schule besucht, später gemeinsam an der ETH in Zürich Architektur studiert und schließlich 1978 zusammen ein Büro in Basel aufgesperrt.

Raffinierte und unverwechselbare Architekturen haben das Baseler Büro Herzog & de Meuron zur Architektur-Trademark gemacht. Jacques Herzog und Pierre de Meuron sind quasi ein altes Architekturehepaar. Sie sind beide Jahrgang 1950, haben schon miteinander die Schule besucht, später gemeinsam an der ETH in Zürich Architektur studiert und schließlich 1978 zusammen ein Büro in Basel aufgesperrt.

Die neue Tate ist, wie Jacques Herzog sagt, ihr bisher größter, wichtigster Auftrag. Museumsbauten im Allgemeinen sind zurzeit das prominenteste und bestbeachtete Beschäftigungsfeld für Architekten, der Umbau des Londoner Kraftwerks zum Kulturtempel katapultiert die beiden Schweizer denn auch elegant mit einem Kracher in das breitere internationale Architekturbewusstsein und bereitet ihnen ein Plätzchen im Architektenolymp, wo nur ganz wenige Kollegen wie etwa Frank Gehry, Rem Koolhaas oder Zaha Hadid sitzen.

Die Architekturszene selbst beäugt Herzog & de Meuron selbstverständlich schon viel länger. Die beiden fielen bereits mit eigenwilligen, ganz neuartigen Wettbewerbsentwürfen auf, als die Rektorenunterschrift auf ihrem Architekturdiplom noch frisch war, und auch die mittlerweile zahlreichen tatsächlich gebauten Projekte, so unterschiedlich sie sein mögen, tragen stets sehr deutlich den Stempel der Trademark Herzog & de Meuron.

Gebäude wie das Stellwerk auf dem Wolf in Basel, das Fabriksgebäude für den Zuckerlproduzenten Ricola oder ein Weingut im kalifornischen Nappa Valley machen klar, wie die Architektur der beiden funktioniert: Die Grundstruktur ist stets sehr einfach, sehr klar, nach allen Richtungen geradlinig und gut funktionierend.

Doch in diese selbstbewusste, sozusagen logisch und nüchtern in der Welt verankerte Gestalt weben Herzog und de Meuron überraschende zusätzliche Architekturzaubereien, die mit einfachen Mitteln aus simplen Kisten ganz magische Orte zu produzieren vermögen und dazu stets irgendwie Bezug nehmen auf Inhalt und Funktion des Gebäudes.

Die Ricola-Herberge zum Beispiel ist nichts anderes als eine schwarz gefärbte Beton-Zuckerlschachtel, doch mit ihrem zweiseitig auskragenden Flachdach und den zwei lichtdurchlässigen Polycarbonatwänden darunter wird das Gebäude im französischen Mulhouse zum optischen und atmosphärischen Bonbon. Auf die transparenten Wandscheiben ist ein sich unendlich wiederholendes, überlagerndes auf den Grundstoff Ricolascher Kräuterzuckerlkunst anspielendes Pflanzenmotiv gedruckt, das zum einen das Licht herrlich ins aquariumartige Gebäudeinnere filtert, zum anderen von jedem Betrachtungswinkel und aus jeder Betrachterdistanz ein anderes Erscheinungsbild ergibt.

Ähnlich pointillistisch und in kleinen Elementen stur repetitiv gehen die Schweizer an viele ihrer Häuser heran: Das Weingut in Kalifornien etwa setzt sich aus großen dunklen und unbehandelten Gesteinsbrocken zusammen, die lose in Stahlgitterkuben gefüllt wurden. Aus der Nähe betrachtet ergibt das eine lockere, luftdurchfächelte Angelegenheit, von der Ferne ein beeindruckendes, blickdichtes Monument.

Das Stellwerk in Basel wiederum sieht auf den ersten Blick wie eine große undurchlässige Kupferhülle aus, die horizontalen Metalllamellen, die sich um das gesamte Gebäude wickeln wie eine Kupferspule und zum einen auf die Funktion der Architektur als Stromverwalterin anspielen, zum anderen das Gebäude tatsächlich wie ein Faradayscher Käfig vor Spannungen schützen, sind allerdings in den Fensterzonen verdreht. Sie lassen tagsüber Licht und Aussicht ein, nachts leuchtet der gesamte Baukörper von innen wie eine Kupferglühbirne.

Herzog & de Meuron sind bei aller konstruktiven Glätte durchaus verspielte Architekten. Sie setzen billige, vormals verpönte Industriematerialien wie Sperrholz, Schalplatten, Asphaltpappe überraschend ein und veredeln sie durch schlichte Funktion. Der gelegentlich geäußerte Vorwurf, sie würden designte Hüllenarchitektur liefern, ist leicht widerlegbar, die Häuser funktionieren gut, und ein lustvoller Kampf gegen das von Adolf Loos vor hundert Jahren verhängte Dekorationsverbot, nach dem das Ornament ein Verbrechen sei, ist ohnehin überfällig.

Mittlerweile haben sich Jacques Herzog und Pierre de Meuron mit zwei Partnern zusammengetan. Seit 1991 ist Harry Gugger mit von der Partie, seit 1994 Christine Binswanger. Und ein weiterer Kulturbau ist in Arbeit: Für das De Young Museum der Schönen Künste im Golden Gate Park von San Francisco ist ein Neubau geplant.

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