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19. August 2000Peter Isenegger
Der Standard

Durchmischung aus der Retorte

Prinz Charles gilt als schärfster Kritiker moderner britischer Architektur. In Poundbury, einem neuen Stadtteil von Dorchester, hat nun der Thronfolger seine eigenen städtebaulichen Vorstellungen verwirklicht. Unser Großbritannien-Mitarbeiter Peter Isenegger hat sich in Poundbury umgesehen.

Prinz Charles gilt als schärfster Kritiker moderner britischer Architektur. In Poundbury, einem neuen Stadtteil von Dorchester, hat nun der Thronfolger seine eigenen städtebaulichen Vorstellungen verwirklicht. Unser Großbritannien-Mitarbeiter Peter Isenegger hat sich in Poundbury umgesehen.

Ich hatte den Gestank, den Verkehr, den Lärm und all das, was andere Leute in London ,das pulsierende Leben' nennen, schlicht und einfach satt", sagt der Rentner Peter Bryant. Seinen Lebensabend wollte der ehemalige Seebär, der auf Versorgungsschiffen der britischen Flotte „einen schönen Teil der Welt“ gesehen hat, an einem sauberen und friedlichen Ort verbringen. Dass er schließlich in Poundbury vor Anker ging, ist eher Zufall.

Trotz eingehender Haussuche waren die Bryants in Weymouth, einer kleinen Hafenstadt in Dorset und dem Ort ihrer ersten Wahl, nicht fündig geworden. Auf dem Nachhauseweg kamen sie durch Dorchester, einer Kleinstadt zwölf Kilometer landeinwärts. „Meine Frau entdeckte das Schild eines Häusermaklers. Wir hielten an und ließen uns eines der Häuser im neuen Stadtteil Poundbury zeigen. Auf Anhieb waren wir uns beide einig: Dieses und kein anderes Haus musste es sein.“ Die Bryants verkauften ihr Haus in London und zogen nach Poundbury. Und dort leben sie, wie in einem englischen Märchen, „happily ever after“.

„Poundbury ist ein sehr persönliches Projekt des Prinzen von Wales“, erklärt Simon Conibear, der Projektmanager von Poundbury. Es ist die Antwort von Prinz Charles auf „die Sünden der Architektur des 20. Jahrhunderts“. Der Prinz gilt als einer der schärfsten Kritiker moderner britischer Architektur. Schon Mitte der Achtzigerjahre legte er sich mit der Gilde der Architekten an, als er in einer Rede behauptete, die modernen Häuserbauer hätten „in Großbritannien mehr Schaden angerichtet als die deutsche Luftwaffe während des ganzen Zweiten Weltkrieges“.

Im südenglischen Städtchen Dorchester - in der Grafschaft Dorset gelegen - lässt nun Prinz Charles eine Siedlung ganz nach seinem städtebaulichen Gusto erstehen. Eigentlich handelt es sich um eine Erweiterung von Dorchester, das heute rund 14.000 Einwohner zählt. In verschiedenen Etappen soll in Poundbury in den nächsten beiden Dekaden Lebensraum für rund 5000 zusätzliche Einwohner geschaffen werden.

Der Prinz von Wales, der zusätzlich den Titel Herzog von Cornwall führt, ist seit alters her aufs Engste mit Dorchester verbunden. Gut 1000 Hektar Land in der Umgebung von Dorchester gehören dem Herzogtum von Cornwall. Aus den Ländereien des Herzogtums wiederum stammt - und das schon seit dem 14. Jahrhundert - die Apanage für den englischen Thronfolger. Die beträgt zur Zeit mehrere Millionen Pfund Sterling pro Jahr.

158 Hektaren seiner Dorchester-Pfründe hat der Prinz für die 1993 begonnene Stadterweiterung freigegeben. Natürlich klemmte sich Charles nicht selber hinters Reißbrett. Aber in Stadtplaner Leon Krier fand er einen Seelenverwandten, der seine Liebe zum romantischen Konservatismus - respektive seine Abneigung gegen moderne Architektur - teilt. Über 240 Häuser und Wohnungen sind in der Zwischenzeit fertiggestellt. Rund 450 Personen sind in Poundbury eingezogen.

Und wie sieht nun die städtebauliche Vision des Prinzen für das 21. Jahrhundert aus? Ungefähr so wie ein Dorf in der Grafschaft Dorset im 17. und 18. Jahrhundert. Im Dorset dieser Jahrhunderte holten sich die Schöpfer von Poundbury, das von einigen Spöttern bereits „Charlesville“ genannt wird, auch ihre Anleihen. „Jedes der erstellten Häuser in Poundbury ist anders. Allen aber ist gemeinsam, dass sie in einem Stil erbaut wurden, wie man ihn hier in der Grafschaft Dorset findet“, erläutert Simon Conibear auf unserem Rundgang durch die erste Etappe von Poundbury. Und: „Wir haben auch ganz bewusst nur Baumaterialien verwendet, die zwar nicht unbedingt aus unserer Gegend stammen, die aber von alters her in der Grafschaft Dorset verwendet wurden.“

Poundbury ist ein Retorten-Dorf. Die Gassen sind bewusst eng gehalten. Einerseits, um den Verbrauch von Land einzuschränken. Zum anderen, um den Straßenverkehr auf ein Minimum zu beschränken. „Das Konzept sieht eine Durchmischung vor. Poundbury soll nicht nur Wohnsiedlung sein, sondern auch Arbeitsplatz und Lebensraum“, erklärt Simon Conibear. Die soziale Durchmischung scheint bereits in diesem frühen Stadion recht gut geglückt zu sein. 20 Prozent aller Häuser und Wohnungen sind subventionierter sozialer Wohnungsbau. Und darauf ist Simon Conibear ganz besonders stolz: „Anders als in anderen Neubausiedlungen haben wir diese subventionierten Häuser und Wohnungen nicht in Gettos irgendwo am Rande zusammengefasst. Wir haben sie über die ganze Etappe verteilt. Was uns viele Besserwisser prophezeiten, ist nicht eingetroffen. Das Nebeneinander von Privathäusern und Sozialwohnungen hat sich nicht negativ auf die Liegenschaftspreise ausgewirkt.“ Dies führt Simon Conibear in erster Linie darauf zurück, dass die unterschiedlichen Häuser- und Wohnungstypen alle den gleichen Ausbaustandard haben. Man kann - zumindest von außen - gar nicht feststellen, wer in einer privaten Liegenschaft wohnt und wer in einer subventionierten.

Mit dem Oktogon, einem achteckigen Kaffeehaus, gibt es am Marktplatz auch einen Treffpunkt für die erste Generation von Poundbury-Einwohnern. „Das Pub gleich daneben soll noch in diesem Herbst aufgehen“, hofft Simon Conibear. Auch die Markthalle, ein auf dicken Säulen ruhendes Gemeindezentrum, wo die Bauern aus der Umgebung dereinst ihre Produkte anbieten können, ist im Rohbau fertig. Simon Conibear ist überzeugt: „All diese Einrichtungen werden die Bildung einer echten Gemeinschaft beflügeln.“

Die angestrebte Durchmischung Wohnen/Arbeiten ist hingegen noch nicht erreicht. Es gibt zwar Arbeitsplätze in Poundbury, aber die werden nicht ausschließlich von Poundbury-Bewohnern besetzt. Noch immer pendelt ein großer Teil der Einwohner zwischen Wohn- und Arbeitsort hin und her. Später, wenn einmal alle Etappen von Poundbury realisiert sein werden, so hofft Simon Conibear, werden die meisten Einwohner sowohl in Poundbury leben als auch arbeiten. Und dabei werden sie feststellen, dass man sich innerhalb von Poundbury schneller zu Fuß oder mit dem Fahrrad als mit dem Auto fortbewegt.

Gelöst ist bislang auch das Problem mit den Autos nicht. Zwar verfügen die meisten Häuser über Garagen oder Parkplätze, die meist in Hinterhöfen oder in den Hintergärten untergebracht sind. Doch die Besucher und die Bauarbeiter parken entlang der engen Straßen; was das Bild dieses musealen Dorfes doch empfindlich stört.

Und Besucher kommen viele nach Poundbury. Ihre Geister aber scheiden sich an den städtebaulichen Visionen des Thronfolgers. „Wunderhübsch“, schwärmt eine ältere Besucherin. „Ich könnte mir durchaus vorstellen, hier meinen Lebensabend zu verbringen.“

„Walt Disney wäre stolz auf Poundbury“, glaubt hingegen ein Architekt, der einen Freund und Berufskollegen hierher gebracht hat. „Mir kommt das Ganze vor, als hätte man sich ein Bilderbuch angeschaut, die schönsten Bilder ausgeschnitten und sie zu einer Collage zusammengeklebt. Das alles ist etwas zu sehr Chichi für meinen Geschmack. Queen Mary, seine Urgroßmutter, sammelte Puppenhäuser. Prinz Charles hat sich ein ganzes Puppenhäuserdorf gebaut.“

Solche Kritik allerdings lassen die Einwohner von Poundbury nicht gelten. „Am Anfang hat mich solche Kritik noch verunsichert“, sagt Peter Bryant. „Doch jetzt leben wir hier. Und Sie können in Poundbury fragen, wen Sie wollen. Die Leute, die hier leben, sind alle begeistert. Bei der Kritik der Architekten spielt womöglich noch immer verletzter Stolz eine Rolle. Und bei vielen Kritiken, die von Besuchern geäußert werden, schwingt auch etwas Neid mit.“

Für ihn hat sich das Investment in Poundbury gelohnt: „Ich glaube an die Zukunft von Poundbury. Weil es sich um klassische Häuser handelt, werden sie nicht wie andere Neubauten in zehn oder zwanzig Jahren aus der Mode sein.“ Für Peter Bryant ist Poundbury eine schmucke Erweiterung des schmucken Städtchens Dorchester.

Fühlt sich Peter Bryant gegenüber Prinz Charles zu Dank verpflichtet? „Bewusst dankbar bin ich ihm nicht“, meint er lächelnd. „Dankbar bin ich ihm für die Idee, für diese wunderbare Idee.“

„Poundbury ist der Beweis, dass es eine mögliche Alternative zum schrecklichen Schandfleck der seelenlosen und vor sich hin wuchernden Ausbreitung unserer Vorstädte gibt“, steht im Jahresbericht des Herzogtums von Cornwall. Dass Poundbury allerdings als städtebauliche Vision für das 21. Jahrundert gelten kann, dagegen verwehren sich der besuchende Architekt und dessen Freund. „Poundbury als städtebauliche Version zu bezeichnen ist ungefähr so, wie wenn man in der Wiedereinführung der Körperstrafe an unseren Schulen einen Fortschritt im Erziehungswesen sähe.“ Nach einer längeren Pause fügt sein Freund bei: „Ich bin mir ziemlich sicher, es gibt Leute, die würden auch das so sehen.“

Der Standard, Sa., 2000.08.19

11. Mai 2000Peter Isenegger
Der Standard

Moderne Kunst im alten Boilerhaus

Mit der Tate Modern am Themseufer, die heute durch die Queen offiziell eröffnet wird, erhält London ein modernes Pendant zur St. Paul's Cathedral.

Mit der Tate Modern am Themseufer, die heute durch die Queen offiziell eröffnet wird, erhält London ein modernes Pendant zur St. Paul's Cathedral.

London - „Ein Triumph“ sei die Tate Modern, beginnt Nonie Nieswand, Kritikerin des Independent, ihren Artikel über das Museum. Und Andrew Marr doppelt im Observer nach: „Wenn moderne Kunst die neue britische Religion ist, dann ist Tate's Bankside Gallery deren St. Paul's, deren neue Kathedrale.“

Das Werk der Basler Architektur-Gemeinschaft Herzog und de Meuron ist im sonst kritischen England mit Begeisterung aufgenommen worden und der Vergleich mit einer Kathedrale drängt sich tatsächlich auf. Allein schon wegen der Ausmaße der Eingangshalle: 160 Meter lang, 30 Meter hoch und 25 Meter breit. Und wir befinden uns noch nicht einmal im eigentlichen Museum.

Diese Halle verdankt die Tate Modern dem ursprünglichen Verwendungszweck des Gebäudes. Der Raum war die Turbinenhalle der 1947 britischen Architekten Sir Giles Gilbert Scott kreierten Bankside Power Station, einem Kraftwerk am Themseufer, genau gegenüber der St. Paul's Kathedrale. Scotts Kraftwerk wurde erst zu Beginn der Sechzigerjahre fertig gestellt und nach nur 18 Betriebsjahren stillgelegt.


Ein Stück Stadt

Die kathedralenähnliche Eingangshalle der neuen Tate war das Herzstück der Bankside Power Station. Dieses Herzstück wurde von Herzog & de Meuron in einer Großzügigkeit freigelegt, die in jedem Neubau als verschwenderisch empfunden würde. Es soll künftig als Raum der Begegnung, als „öffentlich zugänglicher Raum“ dienen. Denn, so meint Jacques Herzog: „Unsere Idee war es, nicht nur ein Museum, sondern auch ein Stück Stadt zu schaffen.“ Dieses Konzept erhält noch mehr Gewicht, wenn das neue Museum mit einem Fußgängersteg, der in die Gegend der St. Paul's Kathedrale führt, an das andere Themseufer angebunden wird. Der Steg, von Norman Foster entworfen, ist der erste Themse-Übergang, der seit gut 100 Jahren im Zentrum von London gebaut wird.

Das eigentliche Museum mit seinen achtzig Ausstellungsräumen ist im themseseitigen alten Boilerhaus, wo früher der Dampf für die Turbinen erzeugt wurde, untergebracht und auf drei Ebenen verteilt. Zwei davon sollen der ständigen Sammlung der Tate vorbehalten bleiben, während die dritte für Spezialausstellungen reserviert ist. Ebenso „breathtaking“ wie die Architektur selber ist die Lichtregie, mit der die Baseler ans Werk gingen: Natürliches Licht vermischt sich mit künstlichem. „Wir haben Lichtmaschinen montiert“, erklärt Jacques Herzog, „Lichtmaschinen, die uns nicht nur erlauben, die Intensität des Lichtes, sondern auch dessen Tönung zu verändern.“

„Lightbeam“ (Lichtstrahl) nennen die Architekten den zweistöckigen gläsernen Aufbau, den sie aufs Dach des Kraftwerkes gesetzt haben, um dem massiven Kamin ein horizontales Gegengewicht zu setzen. Ein Motiv, das im Inneren wiederholt wird: Die vorstehenden beleuchteten Glaserker brechen in der Eingangshalle die Dominanz der senkrechten Stahlträger.

Im lichtdurchfluteten „Lightbeam“, erläutert Harry Gugger, Juniorpartner im Basler Architekturbüro, der die Realisierung des Projekts vor Ort überwachte, die Philosophie hinter der Neugestaltung der Bankside Power Station: „Bei diesem Bauwerk handelt es sich um ein Industriegebäude mit einer ausgeprägten Aufgliederung in drei Teile. Das Turbinenhaus, das Boilerhaus und der Transformatorenraum, der zumindest für die nächste Zeit als Verteilerzentrale dienen wird, später aber dem Museum zugeschlagen werden soll.“

Und: „Energie hat in diesem Gebäude immer eine starke Rolle gespielt. Früher war Öl der wichtige Energieträger. Mit ihm wurde Dampf erzeugt und schließlich Elektrizität. Die Energie, die ein Museum in Bewegung bringt, ist das Licht.“

„Entzückt“ und vollauf zufrieden ist auch Tate-Direktor Sir Nicholas Serota, der vor zehn Jahren das brach liegende Kraftwerk für seine Zwecke entdeckt und vor dem drohenden Abbruch gerettet hat. Er will in den neuen Räumen auch ein neues Ausstellungskonzept mit dem Namen Collection 2000 verwirklichen. Die Ausstellung ist nicht mehr chronologisch, sondern thematisch geordnet. Landschaft, Stillleben, Akt und Historische Malerei: allerdings sehr weit gefasst.

Zwei Millionen Besucher erwartet die Tate Modern pro Jahr. Und mit Kosten von 134 Millionen Pfund sei die Tate Modern geradezu ein Schnäppchen, findet der „Independent“, der mit einem Blick themseabwärts schreibt: „Die Dummköpfe, welche den Millennium-Dom (Kosten über 750 Millionen Pfund, Publikumserfolg eher mäßig) sanktioniert haben, sollten sich die Tate Modern anschauen und vor Schande in den Boden versinken.“


Die Queen, die Moderne und die Anarchie

Die Tate Modern wird heute durch Queen Elizabeth II. offiziell eröffnet. Londons Polizeichef Sir John Stevens hat davor gewarnt, dass anarchistische Gruppen sich nun Königin Elizabeth II. und ihre Familie als Ziele auserwählt hätten. Die Anarchisten könnten die Eröffnung zu Ausschreitungen nutzen. Im vergangenen Juni war ein anti-kapitalistischer Marsch durch die Londoner City im Chaos versunken. Die Marschierer hatten Autos in Brand gesteckt, Bürofenster eingeworfen und gegen die anrückende Polizei gekämpft.

Der Standard, Do., 2000.05.11



verknüpfte Bauwerke
Tate Gallery of Modern Art

Presseschau 12

19. August 2000Peter Isenegger
Der Standard

Durchmischung aus der Retorte

Prinz Charles gilt als schärfster Kritiker moderner britischer Architektur. In Poundbury, einem neuen Stadtteil von Dorchester, hat nun der Thronfolger seine eigenen städtebaulichen Vorstellungen verwirklicht. Unser Großbritannien-Mitarbeiter Peter Isenegger hat sich in Poundbury umgesehen.

Prinz Charles gilt als schärfster Kritiker moderner britischer Architektur. In Poundbury, einem neuen Stadtteil von Dorchester, hat nun der Thronfolger seine eigenen städtebaulichen Vorstellungen verwirklicht. Unser Großbritannien-Mitarbeiter Peter Isenegger hat sich in Poundbury umgesehen.

Ich hatte den Gestank, den Verkehr, den Lärm und all das, was andere Leute in London ,das pulsierende Leben' nennen, schlicht und einfach satt", sagt der Rentner Peter Bryant. Seinen Lebensabend wollte der ehemalige Seebär, der auf Versorgungsschiffen der britischen Flotte „einen schönen Teil der Welt“ gesehen hat, an einem sauberen und friedlichen Ort verbringen. Dass er schließlich in Poundbury vor Anker ging, ist eher Zufall.

Trotz eingehender Haussuche waren die Bryants in Weymouth, einer kleinen Hafenstadt in Dorset und dem Ort ihrer ersten Wahl, nicht fündig geworden. Auf dem Nachhauseweg kamen sie durch Dorchester, einer Kleinstadt zwölf Kilometer landeinwärts. „Meine Frau entdeckte das Schild eines Häusermaklers. Wir hielten an und ließen uns eines der Häuser im neuen Stadtteil Poundbury zeigen. Auf Anhieb waren wir uns beide einig: Dieses und kein anderes Haus musste es sein.“ Die Bryants verkauften ihr Haus in London und zogen nach Poundbury. Und dort leben sie, wie in einem englischen Märchen, „happily ever after“.

„Poundbury ist ein sehr persönliches Projekt des Prinzen von Wales“, erklärt Simon Conibear, der Projektmanager von Poundbury. Es ist die Antwort von Prinz Charles auf „die Sünden der Architektur des 20. Jahrhunderts“. Der Prinz gilt als einer der schärfsten Kritiker moderner britischer Architektur. Schon Mitte der Achtzigerjahre legte er sich mit der Gilde der Architekten an, als er in einer Rede behauptete, die modernen Häuserbauer hätten „in Großbritannien mehr Schaden angerichtet als die deutsche Luftwaffe während des ganzen Zweiten Weltkrieges“.

Im südenglischen Städtchen Dorchester - in der Grafschaft Dorset gelegen - lässt nun Prinz Charles eine Siedlung ganz nach seinem städtebaulichen Gusto erstehen. Eigentlich handelt es sich um eine Erweiterung von Dorchester, das heute rund 14.000 Einwohner zählt. In verschiedenen Etappen soll in Poundbury in den nächsten beiden Dekaden Lebensraum für rund 5000 zusätzliche Einwohner geschaffen werden.

Der Prinz von Wales, der zusätzlich den Titel Herzog von Cornwall führt, ist seit alters her aufs Engste mit Dorchester verbunden. Gut 1000 Hektar Land in der Umgebung von Dorchester gehören dem Herzogtum von Cornwall. Aus den Ländereien des Herzogtums wiederum stammt - und das schon seit dem 14. Jahrhundert - die Apanage für den englischen Thronfolger. Die beträgt zur Zeit mehrere Millionen Pfund Sterling pro Jahr.

158 Hektaren seiner Dorchester-Pfründe hat der Prinz für die 1993 begonnene Stadterweiterung freigegeben. Natürlich klemmte sich Charles nicht selber hinters Reißbrett. Aber in Stadtplaner Leon Krier fand er einen Seelenverwandten, der seine Liebe zum romantischen Konservatismus - respektive seine Abneigung gegen moderne Architektur - teilt. Über 240 Häuser und Wohnungen sind in der Zwischenzeit fertiggestellt. Rund 450 Personen sind in Poundbury eingezogen.

Und wie sieht nun die städtebauliche Vision des Prinzen für das 21. Jahrhundert aus? Ungefähr so wie ein Dorf in der Grafschaft Dorset im 17. und 18. Jahrhundert. Im Dorset dieser Jahrhunderte holten sich die Schöpfer von Poundbury, das von einigen Spöttern bereits „Charlesville“ genannt wird, auch ihre Anleihen. „Jedes der erstellten Häuser in Poundbury ist anders. Allen aber ist gemeinsam, dass sie in einem Stil erbaut wurden, wie man ihn hier in der Grafschaft Dorset findet“, erläutert Simon Conibear auf unserem Rundgang durch die erste Etappe von Poundbury. Und: „Wir haben auch ganz bewusst nur Baumaterialien verwendet, die zwar nicht unbedingt aus unserer Gegend stammen, die aber von alters her in der Grafschaft Dorset verwendet wurden.“

Poundbury ist ein Retorten-Dorf. Die Gassen sind bewusst eng gehalten. Einerseits, um den Verbrauch von Land einzuschränken. Zum anderen, um den Straßenverkehr auf ein Minimum zu beschränken. „Das Konzept sieht eine Durchmischung vor. Poundbury soll nicht nur Wohnsiedlung sein, sondern auch Arbeitsplatz und Lebensraum“, erklärt Simon Conibear. Die soziale Durchmischung scheint bereits in diesem frühen Stadion recht gut geglückt zu sein. 20 Prozent aller Häuser und Wohnungen sind subventionierter sozialer Wohnungsbau. Und darauf ist Simon Conibear ganz besonders stolz: „Anders als in anderen Neubausiedlungen haben wir diese subventionierten Häuser und Wohnungen nicht in Gettos irgendwo am Rande zusammengefasst. Wir haben sie über die ganze Etappe verteilt. Was uns viele Besserwisser prophezeiten, ist nicht eingetroffen. Das Nebeneinander von Privathäusern und Sozialwohnungen hat sich nicht negativ auf die Liegenschaftspreise ausgewirkt.“ Dies führt Simon Conibear in erster Linie darauf zurück, dass die unterschiedlichen Häuser- und Wohnungstypen alle den gleichen Ausbaustandard haben. Man kann - zumindest von außen - gar nicht feststellen, wer in einer privaten Liegenschaft wohnt und wer in einer subventionierten.

Mit dem Oktogon, einem achteckigen Kaffeehaus, gibt es am Marktplatz auch einen Treffpunkt für die erste Generation von Poundbury-Einwohnern. „Das Pub gleich daneben soll noch in diesem Herbst aufgehen“, hofft Simon Conibear. Auch die Markthalle, ein auf dicken Säulen ruhendes Gemeindezentrum, wo die Bauern aus der Umgebung dereinst ihre Produkte anbieten können, ist im Rohbau fertig. Simon Conibear ist überzeugt: „All diese Einrichtungen werden die Bildung einer echten Gemeinschaft beflügeln.“

Die angestrebte Durchmischung Wohnen/Arbeiten ist hingegen noch nicht erreicht. Es gibt zwar Arbeitsplätze in Poundbury, aber die werden nicht ausschließlich von Poundbury-Bewohnern besetzt. Noch immer pendelt ein großer Teil der Einwohner zwischen Wohn- und Arbeitsort hin und her. Später, wenn einmal alle Etappen von Poundbury realisiert sein werden, so hofft Simon Conibear, werden die meisten Einwohner sowohl in Poundbury leben als auch arbeiten. Und dabei werden sie feststellen, dass man sich innerhalb von Poundbury schneller zu Fuß oder mit dem Fahrrad als mit dem Auto fortbewegt.

Gelöst ist bislang auch das Problem mit den Autos nicht. Zwar verfügen die meisten Häuser über Garagen oder Parkplätze, die meist in Hinterhöfen oder in den Hintergärten untergebracht sind. Doch die Besucher und die Bauarbeiter parken entlang der engen Straßen; was das Bild dieses musealen Dorfes doch empfindlich stört.

Und Besucher kommen viele nach Poundbury. Ihre Geister aber scheiden sich an den städtebaulichen Visionen des Thronfolgers. „Wunderhübsch“, schwärmt eine ältere Besucherin. „Ich könnte mir durchaus vorstellen, hier meinen Lebensabend zu verbringen.“

„Walt Disney wäre stolz auf Poundbury“, glaubt hingegen ein Architekt, der einen Freund und Berufskollegen hierher gebracht hat. „Mir kommt das Ganze vor, als hätte man sich ein Bilderbuch angeschaut, die schönsten Bilder ausgeschnitten und sie zu einer Collage zusammengeklebt. Das alles ist etwas zu sehr Chichi für meinen Geschmack. Queen Mary, seine Urgroßmutter, sammelte Puppenhäuser. Prinz Charles hat sich ein ganzes Puppenhäuserdorf gebaut.“

Solche Kritik allerdings lassen die Einwohner von Poundbury nicht gelten. „Am Anfang hat mich solche Kritik noch verunsichert“, sagt Peter Bryant. „Doch jetzt leben wir hier. Und Sie können in Poundbury fragen, wen Sie wollen. Die Leute, die hier leben, sind alle begeistert. Bei der Kritik der Architekten spielt womöglich noch immer verletzter Stolz eine Rolle. Und bei vielen Kritiken, die von Besuchern geäußert werden, schwingt auch etwas Neid mit.“

Für ihn hat sich das Investment in Poundbury gelohnt: „Ich glaube an die Zukunft von Poundbury. Weil es sich um klassische Häuser handelt, werden sie nicht wie andere Neubauten in zehn oder zwanzig Jahren aus der Mode sein.“ Für Peter Bryant ist Poundbury eine schmucke Erweiterung des schmucken Städtchens Dorchester.

Fühlt sich Peter Bryant gegenüber Prinz Charles zu Dank verpflichtet? „Bewusst dankbar bin ich ihm nicht“, meint er lächelnd. „Dankbar bin ich ihm für die Idee, für diese wunderbare Idee.“

„Poundbury ist der Beweis, dass es eine mögliche Alternative zum schrecklichen Schandfleck der seelenlosen und vor sich hin wuchernden Ausbreitung unserer Vorstädte gibt“, steht im Jahresbericht des Herzogtums von Cornwall. Dass Poundbury allerdings als städtebauliche Vision für das 21. Jahrundert gelten kann, dagegen verwehren sich der besuchende Architekt und dessen Freund. „Poundbury als städtebauliche Version zu bezeichnen ist ungefähr so, wie wenn man in der Wiedereinführung der Körperstrafe an unseren Schulen einen Fortschritt im Erziehungswesen sähe.“ Nach einer längeren Pause fügt sein Freund bei: „Ich bin mir ziemlich sicher, es gibt Leute, die würden auch das so sehen.“

Der Standard, Sa., 2000.08.19

11. Mai 2000Peter Isenegger
Der Standard

Moderne Kunst im alten Boilerhaus

Mit der Tate Modern am Themseufer, die heute durch die Queen offiziell eröffnet wird, erhält London ein modernes Pendant zur St. Paul's Cathedral.

Mit der Tate Modern am Themseufer, die heute durch die Queen offiziell eröffnet wird, erhält London ein modernes Pendant zur St. Paul's Cathedral.

London - „Ein Triumph“ sei die Tate Modern, beginnt Nonie Nieswand, Kritikerin des Independent, ihren Artikel über das Museum. Und Andrew Marr doppelt im Observer nach: „Wenn moderne Kunst die neue britische Religion ist, dann ist Tate's Bankside Gallery deren St. Paul's, deren neue Kathedrale.“

Das Werk der Basler Architektur-Gemeinschaft Herzog und de Meuron ist im sonst kritischen England mit Begeisterung aufgenommen worden und der Vergleich mit einer Kathedrale drängt sich tatsächlich auf. Allein schon wegen der Ausmaße der Eingangshalle: 160 Meter lang, 30 Meter hoch und 25 Meter breit. Und wir befinden uns noch nicht einmal im eigentlichen Museum.

Diese Halle verdankt die Tate Modern dem ursprünglichen Verwendungszweck des Gebäudes. Der Raum war die Turbinenhalle der 1947 britischen Architekten Sir Giles Gilbert Scott kreierten Bankside Power Station, einem Kraftwerk am Themseufer, genau gegenüber der St. Paul's Kathedrale. Scotts Kraftwerk wurde erst zu Beginn der Sechzigerjahre fertig gestellt und nach nur 18 Betriebsjahren stillgelegt.


Ein Stück Stadt

Die kathedralenähnliche Eingangshalle der neuen Tate war das Herzstück der Bankside Power Station. Dieses Herzstück wurde von Herzog & de Meuron in einer Großzügigkeit freigelegt, die in jedem Neubau als verschwenderisch empfunden würde. Es soll künftig als Raum der Begegnung, als „öffentlich zugänglicher Raum“ dienen. Denn, so meint Jacques Herzog: „Unsere Idee war es, nicht nur ein Museum, sondern auch ein Stück Stadt zu schaffen.“ Dieses Konzept erhält noch mehr Gewicht, wenn das neue Museum mit einem Fußgängersteg, der in die Gegend der St. Paul's Kathedrale führt, an das andere Themseufer angebunden wird. Der Steg, von Norman Foster entworfen, ist der erste Themse-Übergang, der seit gut 100 Jahren im Zentrum von London gebaut wird.

Das eigentliche Museum mit seinen achtzig Ausstellungsräumen ist im themseseitigen alten Boilerhaus, wo früher der Dampf für die Turbinen erzeugt wurde, untergebracht und auf drei Ebenen verteilt. Zwei davon sollen der ständigen Sammlung der Tate vorbehalten bleiben, während die dritte für Spezialausstellungen reserviert ist. Ebenso „breathtaking“ wie die Architektur selber ist die Lichtregie, mit der die Baseler ans Werk gingen: Natürliches Licht vermischt sich mit künstlichem. „Wir haben Lichtmaschinen montiert“, erklärt Jacques Herzog, „Lichtmaschinen, die uns nicht nur erlauben, die Intensität des Lichtes, sondern auch dessen Tönung zu verändern.“

„Lightbeam“ (Lichtstrahl) nennen die Architekten den zweistöckigen gläsernen Aufbau, den sie aufs Dach des Kraftwerkes gesetzt haben, um dem massiven Kamin ein horizontales Gegengewicht zu setzen. Ein Motiv, das im Inneren wiederholt wird: Die vorstehenden beleuchteten Glaserker brechen in der Eingangshalle die Dominanz der senkrechten Stahlträger.

Im lichtdurchfluteten „Lightbeam“, erläutert Harry Gugger, Juniorpartner im Basler Architekturbüro, der die Realisierung des Projekts vor Ort überwachte, die Philosophie hinter der Neugestaltung der Bankside Power Station: „Bei diesem Bauwerk handelt es sich um ein Industriegebäude mit einer ausgeprägten Aufgliederung in drei Teile. Das Turbinenhaus, das Boilerhaus und der Transformatorenraum, der zumindest für die nächste Zeit als Verteilerzentrale dienen wird, später aber dem Museum zugeschlagen werden soll.“

Und: „Energie hat in diesem Gebäude immer eine starke Rolle gespielt. Früher war Öl der wichtige Energieträger. Mit ihm wurde Dampf erzeugt und schließlich Elektrizität. Die Energie, die ein Museum in Bewegung bringt, ist das Licht.“

„Entzückt“ und vollauf zufrieden ist auch Tate-Direktor Sir Nicholas Serota, der vor zehn Jahren das brach liegende Kraftwerk für seine Zwecke entdeckt und vor dem drohenden Abbruch gerettet hat. Er will in den neuen Räumen auch ein neues Ausstellungskonzept mit dem Namen Collection 2000 verwirklichen. Die Ausstellung ist nicht mehr chronologisch, sondern thematisch geordnet. Landschaft, Stillleben, Akt und Historische Malerei: allerdings sehr weit gefasst.

Zwei Millionen Besucher erwartet die Tate Modern pro Jahr. Und mit Kosten von 134 Millionen Pfund sei die Tate Modern geradezu ein Schnäppchen, findet der „Independent“, der mit einem Blick themseabwärts schreibt: „Die Dummköpfe, welche den Millennium-Dom (Kosten über 750 Millionen Pfund, Publikumserfolg eher mäßig) sanktioniert haben, sollten sich die Tate Modern anschauen und vor Schande in den Boden versinken.“


Die Queen, die Moderne und die Anarchie

Die Tate Modern wird heute durch Queen Elizabeth II. offiziell eröffnet. Londons Polizeichef Sir John Stevens hat davor gewarnt, dass anarchistische Gruppen sich nun Königin Elizabeth II. und ihre Familie als Ziele auserwählt hätten. Die Anarchisten könnten die Eröffnung zu Ausschreitungen nutzen. Im vergangenen Juni war ein anti-kapitalistischer Marsch durch die Londoner City im Chaos versunken. Die Marschierer hatten Autos in Brand gesteckt, Bürofenster eingeworfen und gegen die anrückende Polizei gekämpft.

Der Standard, Do., 2000.05.11



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