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09. Juni 2008Evelyn C. Frisch
Steeldoc

Demarkationslinie zwischen Himmel und Erde

Der Bauplatz ist ungewöhnlich. Das Flachdach eines Wiener Bürogebäudes haben die Architekten Degulan Meissl lediglich gepachtet und darauf eine gefaltete Raumskulptur als «Haus auf dem Haus» gebaut. Ebenso ungewöhnlich ist der schwebende Raumeindruck, der durch die stützenfreien Spannweiten des Stahlfachwerks erreicht wird. James Bond lässt grüssen.

Der Bauplatz ist ungewöhnlich. Das Flachdach eines Wiener Bürogebäudes haben die Architekten Degulan Meissl lediglich gepachtet und darauf eine gefaltete Raumskulptur als «Haus auf dem Haus» gebaut. Ebenso ungewöhnlich ist der schwebende Raumeindruck, der durch die stützenfreien Spannweiten des Stahlfachwerks erreicht wird. James Bond lässt grüssen.

Die Aufstockung ist von der Strasse her kaum wahrnehmbar und erfüllt wider Erwarten die strengen Bauvorschriften für Flachdachaufbauten der Stadt. Ein Bürogebäude aus den 60er Jahren hat damit einen dynamischen Abschluss erhalten, eine Art extravaganten Hut, der die Begegnung zwischen alt und neu, zwischen statischem Körper und dynamischer Form zelebriert. Der Neubau führt die Giebellinie zwischen den beiden angrenzenden Häusern fort und schliesst gewissermassen eine Baulücke. Dabei schafft er durch seine Faltung und Raumstaffelung eine durchlässige Grenze zwischen dem strengen Altbau und dem bewegten Wiener Stadthimmel. Obwohl der Entwurf baurechtlich als Flachdachaufbau gilt, konnte in Abstimmung mit der Baubehörde eine neue Interpretation gefunden werden. Die strassenseitige Auskragung des Gebäudes ist zum Beispiel aus baurechtlicher Sicht eine Gaube.

Die Grundfigur von Ray1 basiert auf der längsrechteckigen Form des Sockelbauwerks. Daraus entwickelt sich ein Baukörper von skulpturalem Charakter. Der Zugang erfolgt über den knapp sechs Meter aus der hofseitigen Gebäudefront auskragenden Kubus, der achsversetzt auf dem Treppenhaus-Risalit sitzt. Ein lang gestreckter, mit flachen Treppen langsam ansteigender Gang führt in den loftartigen Wohnbereich, der sich als Raumkontinuum fliessend nach oben entwickelt. Die plastische Gestaltung der Aussenhaut schafft auch im Innenraum Zonen mit verschiedener Wertigkeit. Nischen und Möbel entwickeln sich direkt aus dem Formenverlauf der Architektur heraus und schaffen einen fliessenden Übergang von äusserer Hülle zu innerer Wohn-Landschaft. Der weiträumige Wohnbereich mit der zentralen Küche liegt etwa einen Meter höher als die separierten Schlafzonen. Eine grosse, lederbezogene Liegelandschaft öffnet sich in einer über die Grundstücksgrenzen expandierenden Gebäudefaltung. Sie liegt über die ganze Breite vollständig auf tragendem Glas auf und scheint so vom Boden losgelöst zu schweben.

Eine Eckverglasung lässt sich vollständig zur Terrasse hin öffnen und erweitert damit den Wohnbereich um einen spektakulären Aussenraum. Der Terrasse ist ein schmales, mit Sitzstufen versehenes Bassin vorgelagert, so dass auf ein Geländer verzichtet werden konnte. So entsteht eine harmonische Verbindung von ruhendem Ort und räumlicher Bewegung.

Um auf das Tragwerk des Altbaus reagieren zu können, wurde die Aufstockung als Stahlskelettbau realisiert. Durch ein homogen verdichtetes Stahlrohrsystem werden die Lasten über die gesamte Fläche gleichmässig verteilt und vor allem über die Giebelwände in den Altbestand eingeleitet. Die entwurfsimmanenten Faltungen der Dachlandschaft führen zu einem weitgehend stützenfreien Raumfluss.

Für Haus Ray 1, das seinen Namen der Bauherrentochter verdankt, gab es weder ökonomische Restriktionen noch ideelle Einschränkungen, da die Architekten ihre eigenen Bauherrn waren. Ein umfassendes Ineinanderwirken von Tragwerksplanung und Entwurfskonzept führte zu dieser Architektur als Stadt-Landschaft.



verknüpfte Zeitschriften
steeldoc 2008/01 Urbane Verdichtung

07. Mai 2004Sonja Stummerer
Martin Hablesreiter
Neue Zürcher Zeitung

Urbane Wohnlandschaft

Ein Wiener Dachaufbau von Delugan & Meissl

Ein Wiener Dachaufbau von Delugan & Meissl

Der Umgang mit historischer Bausubstanz führt in Wien immer wieder zu heftigen Diskussionen. Der Um- oder Ausbau alter Fassaden und geschichtsträchtiger Gemäuer verlangt nach Meinung vieler besondere Sorgfalt. Die Stadtväter unterstützten diese Ansicht mit der Schaffung strenger Baurichtlinien. Geht es nach dem Gesetzgeber, so sollte zeitgenössische Architektur möglichst unauffällig hinter den bestehenden Gebäuden zurücktreten. Dagegen verstösst nun ein Dachausbau von Elke Delugan-Meissl und Roman Delugan. Die beiden Architekten, die seit nunmehr zehn Jahren den kommunalen Wohnbau der Donaumetropole revolutionieren, entwarfen eine Struktur aus Aluminium und Glas, welche sie als «Umsetzung der unterschiedlichen Geschwindigkeiten von Bewohnern und Umfeld» beschreiben. Die mehrschichtige Hülle, die den Aussenraum in die Wohnung zu saugen scheint, setzt auf Tiefenwirkung und Lichteinfall. Schräg verlaufende Brüstungen und eine schwebende Gaube thematisieren die Wechselwirkung von Intimität und Öffentlichkeit und erzielen gleichzeitig einen dynamischen Effekt.

Doch der ebenso spektakuläre wie gewagte Aufbau aus Metall und Glas hat - typisch wienerisch - auch eine durchaus humoristische Komponente. Im Inneren der Wohnung treiben unzählige silberglänzende Knöpfe, mit denen von den Lüftungsklappen über die Jalousien und den Videoscreen bis hin zur Klimaanlage alles betätigt werden kann, das nicht immer ganz ernsthafte Spiel von Ruhe und Bewegung auf die Spitze. Diese Technologieverliebtheit erinnert wie die gewählte Formensprache an Filmszenen, in denen James Bond seine Widersacher mit raffinierten Geräten in Schach zu halten pflegt.

Das Design jedes Details dieser Architektur ordnet sich dem Gesamtkonzept unter. Veränderbarkeit und Flexibilität sind auf ein Mindestmass reduziert. Um jeden potenziellen Störfaktor auszuschliessen, sind selbst die meisten Möbel fest im Raum verankert. Die Aussenhaut fungiert also gleichsam als Rahmen der zu Immobilien gewordenen Einrichtungsgegenstände. Selbst das Bett schwebt unverrückbar im Schlafzimmer. Delugan spricht vom städtebaulich orientierten Bett, denn die Richtung des Möbelstücks folgt nicht den Wänden des Raumes, sondern den urbanen Achsen der Umgebung. Die unmittelbar an das Bett anschliessende Badewanne, die den Übergang von Schlaf- zu Waschraum manifestiert, verdeutlicht diese Entwurfsidee.

Sämtliche Elemente der Wohnung scheinen bis ins letzte Detail durchdacht und gestaltet zu sein. Kein unnötiges Dekorationsobjekt, kein Kunstwerk stört die perfekte Aufmachung dieses auf den ersten Blick unpersönlichen Refugiums. Kein Buchrücken, kein privater Gegenstand erlaubt dem Besucher schnelle Rückschlüsse auf den sozialen Status, den Beruf oder die Lebensweise der drei Bewohner. So wird der Raum an sich zum einzigen Repräsentationsobjekt, das Apartment zum scheinbar einzigen Besitztum, während die Gegenstände des täglichen Lebens hinter ungezählten Türen verschwinden. Mit seiner «idealistischen» Forderung, architektonische Konzeptionen auch im privaten Wohnalltag konsequent weiterzuleben, schuf sich das Duo eine gebaute Visitenkarte, in der die Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben verschwimmen. Dennoch dient dieses aussergewöhnliche Penthouse nicht allein der Selbstdarstellung zweier Architekten, sondern auch dem Fortgang einer kulturellen Debatte. Delugan & Meissl verweisen mit ihrem Entwurf auf die Notwendigkeit, den Raum immer wieder neu zu erforschen.

27. Dezember 2003Liesbeth Waechter-Böhm
Spectrum

Auf und davon!

Vis-à-vis ihrem Büro am Wiener Mittersteig haben Elke und Roman Delugan ihre Architekturauffassung so pur wie sonst nirgends umgesetzt: in ihrem eigenen Haus - mit dem sie die Grenzen des Machbaren wieder ein bisschen hinausgeschoben haben.

Vis-à-vis ihrem Büro am Wiener Mittersteig haben Elke und Roman Delugan ihre Architekturauffassung so pur wie sonst nirgends umgesetzt: in ihrem eigenen Haus - mit dem sie die Grenzen des Machbaren wieder ein bisschen hinausgeschoben haben.

Das Haus auf dem Haus war immer schon eine spannende Bauaufgabe. Früher sagte man Penthouse dazu, und ein Hauch von Luxus schwang dabei mit. Elke und Roman Delugan lassen diesen Amerikanismus weg und sprechen ganz schlicht von ihrem Haus, dabei schauen sie aus den Räumen des Architekturbüros Delugan- Meissl am Wiener Mittersteig Richtung Dachaufbau auf einem Bürohaus gegenüber, und weil es schon dunkel wird, sehen wir im erleuchteten Innenraum, allerdings abgeschirmt durch einen mächtigen Balken, zwei zarte Beinchen, die sich mit Schwung abwärts bewegen. „Das ist unsere Tochter“, lächelt Roman Delugan: „Sie rutscht auf der Schräge.“

Was es mit dieser Schräge auf sich hat, das sehe ich dann später. Zunächst bewundere ich die Rasanz, die Schnittigkeit der großen Linien, die den Auftritt dieses Hauses auf dem Haus nach außen charakterisieren.

Man muss hier wirklich vor allem von Linien, von räumlichen Linien reden, denn das eigentliche Bauvolumen ist durch den minutiös kalkulierten, großzügigen Einsatz von Glas so zergliedert, dass die „festen“ Bestandteile ganz in den Hintergrund
treten. Wenn man so auf dem Balkon des Büros steht und hinüber schaut, dann schießt der erwähnte mächtige Balken über die Breitseite des Bürohauses hinweg - wirklich überrascht wäre ich nicht gewesen, wenn das ganze Ding, das irgendwie so „dachverbunden“ aufsitzt, plötzlich doch abgehoben hätte.

Tatsächlich haben die Delugans in diesem Haus ihre persönliche Architekturauffassung so pur wie sonst nirgends
umgesetzt. Außen waren sie durch die engen Wiener Bauvorschriften limitiert, aber solche Regeln tun architektonischen Lösungen im Allgemeinen gut. Innen konnten sie alles auf die privatesten Ansprüche maßschneidern.

Konstruktiv war das Unternehmen natürlich happig: Es ging darum, mit dem auszukommen, was der Bestand statisch anzubieten hatte. Das allerdings wurde optimal ausgenutzt, und so sind jetzt ungefähr 52 Tonnen Stahl auf dem Flachdach verbaut. Es gibt eine Sechs-Meter-Auskragung Richtung Hof, und es gibt im Innenraum tatsächlich nur eine einzige
tragende Stütze: Es waren also gewaltige Spannweiten zu bewältigen. Es gibt andererseits im Wohnbereich eine scheinbar schwebende Liegelandschaft, da ist das Glas an der Fassade tragend.

Ich beschreibe am besten den Weg durch das Haus: Man verlässt den Aufzug, geht ein paar Stufen hinauf zur
eigentlichen Wohnungstür und steht dann vor einem langen, schräg ansteigenden Vorraum, links raumhoch verglast, rechts eine lange Schrankwand. Die Delugans haben fast das ganze Mobiliar selbst entworfen, also auch diese Schrankwand. Und die schuppt sich höchst attraktiv hinauf zum Wohnraum, weil die schmalen Schranktüren keine Griffe haben, sondern die ganze Tür ist jeweils durch eine Außenwölbung verformt, so dass man sie öffnen kann. Alles weiß. Und auf dem Boden afrikanische Kirsche in einem tiefen, saftigen, warmen Braunton. Das zieht sich übrigens durch das gesamte Haus.

Man könnte das Ganze als Loftkonzept beschreiben, umgeben von Terrassen, die sich aus dem vorgeschriebenen 45-Grad-Rücksprung für Dachaufbauten ergeben (nebenbei angemerkt: Eine dieser Terrassen ist ausgesprochen bemerkenswert abgesichert: nicht durch eine Brüstung, sondern durch ein Wasserbecken).

Der Loftraum selbst ist höhenmäßig differenziert: Man kommt hinein, und links geht es zum Privatbereich der
Tochter, rechts sitzt etwas höher die Schaltstelle der offenen Küche. Da gibt es ein paar Stufen, dann steht man
wirklich mitten drin in der Küche, also zwischen Wandverbau und offenem Tresen, der aber als eine Art Raumskulptur
formuliert ist: Er wächst schräg aus dem Boden - in dieser Schräge ist auch die Schaltstation für die ausgeklügelte Beleuchtung et cetera -, dann geht er gerade weiter, und schließlich macht er sich schräg nach oben gewissermaßen
auf und davon. Diesem Niveausprung ist auch jene Schräge (oder Rampe) zugeordnet, auf der ich von vis-à-vis das Töchterlein habe rutschen sehen. Da oben ist dann die große, gepolsterte und mit Leder bespannte Liegewiese.

Eine völlig transparente Regalwand trennt diese Liegewiese von einem ganz besonderen, höher gelegenen Sitzplatz -in der sogenannten Gaube -, zu dem man stufenlos einen etwa 50 Zentimeter messenden Höhensprung überwinden muss. Der Esstisch, im rechten Winkel um die hofseitige Terrasse gelegen, ist wieder völlig im Raum- und Niveaufluss
des Lofts angeordnet.

Es gibt hier natürlich auch alles, was man alltäglich braucht: Das fängt beim Wirtschaftsraum an und hört beim Gästeklosett auf. Und das Schlafzimmer samt Badezimmer ist selbstverständlich separiert - freilich durch ein unheimlich zügiges Einbaumöbel charakterisiert, das vom Bett über das Bad et cetera alles in eins fasst. Und das Bett ist „städtebaulich“ ausgerichtet: Es steht schräg vor einer Glaswand mit dem Ausblick auf das schönste Panorama von Wien.

Man müsste bei diesem Haus jede Firma, die dazu beigetragen hat, extra erwähnen. Denn jede hat Außergewöhnliches geleistet. Für alle war es nicht nur eine Herausforderung auf dem Papier, sondern etwas, was die Grenzen des Machbaren wieder ein bisschen hinausgeschoben hat.

Aber bei aller Bewunderung für die Fugenlosigkeit des Zusammentreffens unterschiedlicher Materialien, für die unheimlich differenzierte Behandlung der verschiedenen Oberflächen, für die absolut detailgenaue Arbeit aller Beteiligten - der große Wurf liegt im Entwurf. Die Logik, mit der die Delugans die „Kraftlinien“ ihres Hauses von außen nach innen und wieder nach außen entwickeln, das ist die eigentliche Sensation.

Abgesehen von Glas besteht die Hülle des Hauses aus Alucobond. Das Dach ist in diesem Material ausgeführt, aber zum Beispiel auch der Balken, der den Innenraum abschirmt zum gegenüber liegenden Büro. Dieser Balken berührt aber auch den Innenraum. Und da hat er dann auch innen eine Alucobond-Oberfläche. Das ist äußerst konsequent und eindrucksvoll. Und das gibt dem Haus bei aller Materialeinheitlichkeit und Detailarmut auch eine unübertreffliche Komplexität.

Es ist ein Haus für Lifestyle-Magazine im besten Wortsinn. Es ist auf einen bestimmten Lebensstil zugeschnitten (der ganz und gar nichts mit irgendeiner Art von schicker Lebensführung zu tun hat - das ist zu unterstreichen): auf den Lebensstil von Leuten, denen der Beruf auch Berufung ist und die sich eine private Insel gebaut haben; für sich selbst, für die Tochter, für Freunde. Eine ideale Lösung, dass die wirkliche Arbeitsstätte gleich gegenüber liegt. Und eine tägliche Bestätigung der eigenen Haltung beim Blick hinüber.

23. August 2003Ute Woltron
Der Standard

Bravo, bravissimo

Aufgemerkt: Dieses Haus auf dem Dach wird international Aufsehen erregen. Was aber wichtiger ist: Hier entstand ein Stück perfekter Architektur - und reinen Herzens kann man solches nicht oft behaupten. Das eigene Haus der Architekten Roman Delugan und Elke Meissl über den Dächern Wiens.

Aufgemerkt: Dieses Haus auf dem Dach wird international Aufsehen erregen. Was aber wichtiger ist: Hier entstand ein Stück perfekter Architektur - und reinen Herzens kann man solches nicht oft behaupten. Das eigene Haus der Architekten Roman Delugan und Elke Meissl über den Dächern Wiens.

Roman Delugan und Elke Meissl trinken Campari-Soda, unter anderem weil es in Wien gerade heißer ist als in Süditalien. Das belebende Rot steht den beiden gut, sie wirken einigermaßen ermattet, so als ob sie eine gemeinschaftliche Geburt hinter sich hätten. Was voll den Tatsachen entspricht.

Man sitzt luftig hoch über den Dächern der Bundeshauptstadt. Rundherum in Spielzeuggröße deren Elemente: Flaktürme, Mariahilfer Graben, Votivkirche, AKH. Man bekommt von hier heroben Lust, die Bauteile aufzugreifen, zu durchmischen, eine neue Variante dieser Metropole aufzubauen. Architektur und Städtebau werden scheinbar leichte, spritzige Angelegenheiten.

Campari-Soda hilft bei solchen Spielereien natürlich, und hilfreich ist auch das ungeheuerliche Gehäuse, in dem man sich gerade befindet, aus dem man hinunterlugt auf die schöne Stadt, weil es selbst eine Fingerübung der Leichtigkeit und Lässigkeit ist. Ein mikroskopischer Baustein feinster Schleifart, der sich perfekt in das System des großen Schemas Stadt einpasst.

Doch zuerst der Mikroblick von unten: vierter Bezirk, Mittersteig, ein Haus aus den 60er-Jahren. Man kann es sich vorstellen, es handelt sich um eine kahle Angelegenheit der Vernunft und, quasi kristallografisch gesprochen, des dreifachen rechten Winkels. Auf diesem kubischen, vormals flach gedeckten System lagert neuerdings eine vielwinkelige architektonische Flunder. Ein stählernes Skelett, mit Aluhaut über-, von eleganten Räumen fließend durchzogen. Unverständlich und amorph auf den ersten Blick, doch bei näherer Betrachtung in sich derartig logisch, dass es ein seltenes Vergnügen ist.

Man erreicht das Innenleben des Hauses auf dem Haus über einen im letzten Geschoß auskragenden Stiegenhausblock und betritt sodann den Villenaufbau durch einen langen, schmalen und sanft ansteigenden Trichtergang. Der öffnet sich zu einem wogenden Räumemeer, dessen Klippen, Kanten, Ufer die Produkte der übergeordneten abschleifenden Kräfte der Architektur sind, die da wären: die Bedürfnisse der drei Benutzer, die technischen Vorgaben der Bebauungsgesetze;,die natürlichen Regeln der über das Firmament ziehenden Sonne, die unerhörten Blickbezüge auf die zu Füßen liegende Stadt - und das Ganze sozusagen gewürzt mit dem Salz der Architektur, nämlich dem unbedingten Willen zur Perfektion auch noch im allerletzten Detail.

Dieses Haus kommt so gut wie ohne Möbel aus, denn es ist in sich Möbel. Das beginnt bereits im Eingangsbereich, wo sich eine Wand lindwurmartig schuppt, weil sich dahinter Schränke befinden. Die Schuppenwölbungen sind die Schranktürgriffe. Das setzt sich fort im Hauptraum dahinter, der sich in zwei Ebenen über die gesamte Hauslänge zieht. Hinten und vorne Glas, eine zweizeilige Küche ist eingeschoben, eine Zeile scheint zu fliegen, die andere klebt an der Außenwand. Geschickte Niveauschachtelungen (und statisch-konstruktive Raffinessen, berechnet von den kreativen „Werkraum“-Konstrukteuren) erzeugen ein dynamisches, trotzdem entspanntes Raumklima. Gläserner Durchblick überall - das Glas hier ist nicht nur Fenster, sondern auch tragendes Element. Zum Beispiel im Bereich unter einer großen schwarzledernen Liegelandschaft, die ebenfalls zu schweben scheint.

Roman Delugan und Elke Meissl nehmen ihren Campari-Spritzer im Moment noch einen Niveausprung höher am Essplatz ein. Zwei enorme Glasschiebetüren übers Eck sind geöffnet, die Terrasse davor wird zum Wohnzimmerelement, aber wo endet der Raum eigentlich? Keine Brüstung, kein Geländer, nur Blick in Sicht. Wie das funktioniert? Ein langes, schmales Nirosta-Schwimmbecken zieht sich hier über die gesamte Terrassenlänge, das Wasser leckt über die Kante, es wird unsichtbar in einer Saumrinne aufgefangen und den filternden Qualitäten einer verborgenen Anlage zugeführt - die Brüstung liegt unter Wasser.

Das Verbergen funktioniert überhaupt prächtig in diesem Haus: Die meisten Wände sind, wie im Vorraumbereich, zugleich unsichtbare Schränke. Türen verschwinden auf Rollen in Wänden. Dort wo sie sich herkömmlich drehen lassen, wurden die Beschläge unsichtbar versenkt. Schalter und Stecker wurden aufs Minimum reduziert, Lichtknöpfe mitunter Cent-klein in Stahlplättchen ausgeführt. Die gesamte Technik ist unter dem 90-Zentimeter-Niveausprung untergebracht, durch stählerne Düsen bläst Kühle in die Räume.

Zwei Schlafzimmer hat das Haus, eines für die Eltern, eines für das Kind. Die beiden Badezimmer sind integriert und designerische Meisterstücke für sich. Das Elternbad beispielsweise ist ein monolithischer schneeweißer Kunststoffblock samt Wanne, Becken, versenkten Lichtbändern, von hinten erleuchteten Screens. In der weißen Wand, noch einmal, Stauraum zum Saufüttern, aber keine Griffe, alles öffnet sich auf sanften Druck.

Das elterliche Bett (schneeweiß, was sonst?) wächst schräg aus der vollverglasten Außenwand, auf dass der Blick auf die Stadt im richtigen Winkel erfolge. Wer sogar seine Ruhestätte städtebaulich aufbereitet, hat lang und gründlich nachgedacht. Dahinter stecken ein Jahr Planung, ein Jahr Bauzeit und noch ein paar lange Monate peniblen Innenausbaus, weil sogar das Ablageregal, einem Eigenentwurf folgend, mehrere Tischlergenerationen fast dem Wahnsinn anheim gab. Auch das Regal ist schneeweiß, denn Weiß, Kirschholzrot, Schwarz sind die Farben, mit denen umgegangen wurde.

Mit diesem Haus über dem Mittersteig haben sich die Architekten, wie man so schön sagt, selbst verwirklicht und ihren architektonischen Grundsätzen das eigene Denkmal gesetzt. Von den dazu nötigen Geldern will man lieber nicht reden, der Preis der Arbeit dürfte aber entgolten werden: Delugan und Meissl sind junge, nichtsdestotrotz bereits jetzt international vom Fachpublikum beachtete Architekten. Dieses raffinierte und außergewöhnliche Projekt wird unweigerlich durch die internationale Medienlandschaft reisen, erste Architekturtouristen stellten sich bereits ein, bevor das Ding überhaupt fertig war.

Zum Abschluss eine kleine Reminiszenz: Vor nunmehr einigen Jahrzehnten baute ein einzelgängerischer Architektureigenbrötler namens John Lautner für kalifornische Millionäre ein paar Villen, die zu den bezauberndsten Architekturspielereien der Welt gehören. Sie waren weniger dem Intellekt als dem Solarplexus verpflichtet und räumlich atemberaubend. All die klugen Architekturspielereien der jüngeren Vergangenheit, mit Möbiusschleifen, Computerblasen et cetera, können diesen herrlichen, zugegebenermaßen unglaublich teuren Häusern bis heute nicht das Wasser reichen. Delugan und Meissl haben mit ihrem Entwurf zumindest eine thematische Annäherung geschafft, und dass Lautner einer ihrer Lieblinge ist, lässt sich am Schwimmbeckenrand ablesen. Nach langer Zeit ausnahmsweise wieder einmal ein sinnvoller, gleichwohl modifizierter US-Import. Bravissimo, und weiter so!

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