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23. Juni 2008Martin Hablesreiter
TEC21

Kalorienherz der Stadt

Die Stadt besteht nicht aus Architektur allein. Ohne eine ausreichende Kalorienversorgung sind Städte und Urbanität nicht denkbar. Das Essen prägt wesentlich die Stadtgestalt – mit Bauten für die Aufbereitung und Verteilung der Nahrung, vor allem aber, weil das Essen immer und überall als Kultur verstanden und entsprechend architektonisch inszeniert, gestaltet und überhöht wurde. Ein historischer Abriss zur Beziehung zwischen Essen, Kultur und Stadt.

Die Stadt besteht nicht aus Architektur allein. Ohne eine ausreichende Kalorienversorgung sind Städte und Urbanität nicht denkbar. Das Essen prägt wesentlich die Stadtgestalt – mit Bauten für die Aufbereitung und Verteilung der Nahrung, vor allem aber, weil das Essen immer und überall als Kultur verstanden und entsprechend architektonisch inszeniert, gestaltet und überhöht wurde. Ein historischer Abriss zur Beziehung zwischen Essen, Kultur und Stadt.

Der kreative Umgang mit Essbarem ist wahrscheinlich ebenso alt wie der Drang des Menschen, Kunst zu schaffen. Allerdings wird im Gegensatz zum Kunstwerk die Nahrung aufgegessen und taugt nicht als bleibendes Zeugnis der Menschheitsgeschichte (vgl. Bild 2). Dennoch hat der gestalterische Umgang mit lebenserhaltenden Kalorien die Entwicklung der Menschheit massiv beeinflusst. Sowohl kulturelle Faktoren als auch pragmatische Denkweisen bei der Nahrungsgestaltung spielten und spielen eine entscheidende Rolle bei der Evolution. Der Paläoanthropologe Richard Leakey schrieb dazu: «Zwar enthielt die Kost der Hominiden mehr Fleisch als die ihrer nichthominiden Verwandten, (…) aber die entscheidende Abweichung war die ganz neue Verhaltensweise, Nahrung zu suchen, um sie erst später zu verzehren, sowie der Verzehr in der Gruppe. Die unmittelbare Konsequenz einer solchen Ordnung dürfte gewesen sein, dass die bereits unter den höheren Primaten wohlentwickelten sozialen Wechselbeziehungen noch weiter verstärkt wurden.»[2] Die Ernährung wird vom Menschen als kultureller Akt begriffen, der Hierarchien festlegt, den Jahresablauf strukturiert und Gemeinschaften eine Identität verschafft. Der Schritt von der individuellen «Hand in den Mund» zum zivilisierten Erzeugen und Aufteilen war eine bahnbrechende kulturelle Leistung: Erst das Wissen und die Fähigkeit, Nahrung zu produzieren, zu lagern, zu transportieren und zu verteilen, führte in der neolithischen Revolution zum Sesshaftwerden der Menschen, zum Bau fester Gebäude (Speicher), zur Entwicklung grösserer Gemeinschaften und letztlich zur Entstehung von Städten.

Die Kultur der Ernährung als urbaner Faktor

Die Formen und Arten der Ernährung definieren seit je den kulturellen Zusammenhalt urbanen Lebens. Bis heute werden beispielsweise zu bestimmten Anlässen Feste mit speziellen Speisen gefeiert. Bis heute entnehmen Gemeinschaften einen Teil ihrer Identität ihren Nahrungsvorlieben und grenzen sich damit bewusst von anderen Kulturen ab. Dazu zählen religiöse Tabus und Vorschriften genauso wie der Ekel gegenüber fremden Ernährungsformen.

Damit gleicht die Art der Ernährung der metaphorischen Bedeutung von Architektur, ist doch die gebaute Stadt ein kultureller Ausdruck des Zusammenlebens. Auch die formale Sprache einer Stadt und ihrer Gebäude vermittelt Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Sowohl das architektonische Erscheinungsbild als auch die rituelle Auseinandersetzung mit dem Stadtraum, etwa in Form von Festen oder Prozessionen, verhelfen der urbanen Gemeinschaft zu einer spezifischen Identität und einer kulturellen Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Hierarchie und soziale Ordnung werden mit Hilfe von Architektur und Stadtplanung immer wieder manifestiert.

Kirchen und Kathedralen gehören zu den bedeutsamsten Bauten Europas und sind ein essenzieller Bestandteil städtischer Identität. Sie markieren die städtischen Zentren und erfüllen – aus kulturanthropologischer Sicht – die Funktion eines «rituellen Restaurants»: Das von Athenaios angesprochene Menschenopfer (vgl. Kasten) findet noch immer symbolisch in Form der christlichen Liturgie statt. Die Teilnehmer von Messen teilen und verspeisen gemeinsam den Leib ihres Religionsgründers und trinken sein Blut. Die Kirchenarchitektur, die einen für die Elemente der Liturgie zweckdienlichen Raum schafft und diese gleichzeitig inszeniert und überhöht, ist das Resultat einer kultischen Handlung, die direkt mit der gemeinsamen Aufnahme von Nahrung zusammenhängt.

Doch selbst im mittlerweile atheistisch geprägten kapitalistischen Europa treten identitätsstiftende Architektur und Nahrungsgestaltung in trauter Gemeinsamkeit auf den Plan. Nicht allein die Gesellschaften, sondern ganze Städte definieren sich über die Nahrung, wie etwa die sogenannten «Spezialitätenküchen» zeigen. Speziell gestaltete Esswaren wie das Wiener Schnitzel oder Zürcher Geschnetzeltes sind vergleichbar mit Wappentieren oder den gebauten Wahrzeichen der Städte. Auch das jeweilige Sortiment an Essbarem, an Zutaten, Gerichten und Geschmäckern gehört zum Aufputz städtischer Gesellschaften, wie Kathedralen, Gräber und andere Architekturen. Davon abgesehen ist es guter urbaner Ton, mit einer Überfülle an Esswaren und deren Gestaltungsmöglichkeiten zu protzen. Während Brüssel, Turin oder Zürich berühmt sind für ihre Schokoladenvariationen, sind in Wien die «disneyeske» Darbietung von Nahrung auf dem Naschmarkt oder das Schaufenster des Hofzuckerbäckers Demel, wo in kurios-dekadenter Gestaltungswut alle nur erdenklichen Formen aus Zuckerwerk nachgestellt werden, bedeutende Delikatessenattraktionen. Gemeinschaften grenzen sich durch Vorlieben und Abneigungen bei der Aufnahme von Nahrung ab. Dieser kulturelle Faktor definiert auch einen entscheidenden Teil pragmatischer, urbaner Infrastruktur: So verlangt etwa das hinduistisch geprägte Chennai im Süden Indiens nach perfekter Distribution verschiedenster Gemüse und vegetarischer Gerichte, während das Kalorienherz Tokios der weltgrösste Fischmarkt in Tsukiji ist und multiethnische Städte wie London oder New York möglichst grosse Nahrungsvielfalt bieten müssen. Die logistischen Anforderungen an die Infrastruktur dieser Metropolen sind enorm in Anbetracht des Bedarfs an biologischer, koscherer, geschächteter oder vegetarischer Nahrung. Das Essen muss zu städtischen Verteilerposten geliefert, gelagert, gekühlt, verteilt, zubereitet und endlich in entsprechender Form und passendem Rahmen verzehrt werden. Erst das gezielte Zusammenspiel von Architektur und Nahrungsangebot in gestalteten Zonen vermittelt die Identität einer Stadt. Dabei sind sowohl Versorgung (Märkte, Kleinhandel, Supermarkt) als auch Konsumation (Wohnung, Restaurant, Take-away) essenzieller Bestandteil der räumlichen Struktur und des gesellschaftlichen Wertekodex. So sind heute die Versorgungszonen im städtischen Gefüge – ursprünglich übel riechende Areale voller Logistik, Schweiss und Blut – viel besuchte Touristenattraktionen.

Städtische Versorgung in der Antike

Die Gründungen der ersten nichtbäuerlichen Gesellschaften in Babylon oder Theben waren erst möglich, als man die Logistik der Versorgung im Griff hatte. Ehe an die Errichtung architektonischer Wunder in Mesopotamien und Ägypten gedacht werden konnte, musste die organisierte, «industrialisierte» Herstellung von Brot und Bier zur Versorgung einer grossen Zahl von Bauarbeitern und Stadtbewohnern gelöst sein.

Später entfaltete sich auch die Macht Roms und Konstantinopels unter anderem dank ihrer perfekten Versorgung. Im alten Rom waren die Stadtverwaltung und unzählige «Take-away»- Restaurants für die Ernährung der Bevölkerung verantwortlich, da nur wenige, sehr reiche Haushalte überhaupt über eigene Küchen verfügten. Die Auswirkungen auf das damalige Stadtbild und die urbane Struktur sind leider noch unzureichend erforscht. Kulturhistorisch werden heute die «Circenses» in Form der Kolosseumsruine als Denkmal verehrt, doch ohne «Panem» wäre Rom in sozialem Unfrieden untergegangen. Zweitausend Jahre vor der Erfindung von Kühlschrank, Supermarkt und Lastwagen waren die Römer in der Lage, ihre Millionenstadt und eine schlagkräftige Armee ausreichend zu ernähren. Während der Frühphase des Römischen Reichs belieferte Sizilien die Hauptstadt mit lebensnotwendigem Korn, bis Ägypten erobert und zur Kornkammer des Reichs wurde. Riesige Mengen an Weizen wurden nach Ostia verschifft, dort in Lagerhäusern gelagert, in zentralen Herstellungsbetrieben zu Brot verarbeitet, das gratis an die Bevölkerung verteilt wurde. Erst die Unterbrechung der «Lebensader» Ostia–Rom ermöglichte den Germanen die Eroberung der Ewigen Stadt.

Essen im Mittelalter

Auf den Untergang des Römischen Reichs folgte ein langer Dämmerschlaf der europäischen Städte. Vergleichsweise kleine, stark befestigte Orte dominierten für Jahrhunderte das urbane Erscheinungsbild des Kontinents, und sie wurden auch anders versorgt als die antiken Vorgänger. Im ausgehenden Mittelalter regten sich ausserdem erste Formen des Kapitalismus, und daraus resultierten soziale Strukturierungen des Stadtraums: Die Lebensmittel wurden von den Bauern der Umgebung auf sogenannten Wochenmärkten angeboten, die nach ihrem Angebot getrennt waren. Die Segregation in Fleisch-, Gemüse-, Wildbretoder Fischmärkte definierte das Erscheinungs- und Geruchsbild städtischer Zonen und legte damit auch Hierarchien fest. So ist es beispielsweise kein Zufall, dass das westwindexponierte Wien seine fleischverarbeitenden Betriebe im äussersten Osten der Stadt ansiedelte und sich ein bis heute existierendes soziales West-Ost-Gefälle ausbildete, da sich wohlhabende Familien nicht in der Nähe «bäuerlichen Pöbels» oder «riechender Fleischergesellen» niederliessen. Im Unterschied zur Antike wurde im Mittelalter zu Hause gegessen. Die mittelalterliche Lebensgemeinschaft, bestehend aus Familie, Gesellen und Dienstboten, hatte den Ort ihres Zusammenhalts am gemeinsamen Esstisch, die Aufgabe der Verköstigung oblag der Hausfrau oder den Mägden. Erst die industrielle Revolution erschütterte dieses System aus kleinen Versorgungsgemeinschaften.

Industrielle Revolution

Das drastische Wachstum der Städte, der schnelle Zuzug tausender Industriearbeiter und die Notwendigkeit, zur Sicherung des Überlebens alle Familienmitglieder in die Fabrik zu schicken, provozierten neuartige Formen der Ernährung. Eine Arbeiterfamilie konnte sich wegen der extrem niedrigen Löhne die kochende Frau am Herd schlichtweg nicht leisten. Kantinen existierten zunächst kaum und boten kaum ausreichend Nahrung an. Auf diese Situation reagierten erfindungsreiche und geschäftstüchtige Männer wie Justus von Liebig, Julius Maggi und Henry Nestlé. Liebig kreierte den Fleischextrakt, eine stärkende Nahrung für die Massen. Maggi erfand gemeinsam mit dem Arzt Fridolin Schuler Methoden zur kostengünstigen, industriellen Herstellung nahrhafter Hülsenfruchtgerichte für Fabrikarbeiter und prägte den Spruch: «Wer schneller arbeitet, muss auch schneller essen.» Henry Nestlé nutzte Liebigs Analyse der Muttermilch und entwickelte daraus unter dem Namen «Henri Nestlés Kindermehl» das Milchpulver. Diese drei Produkte stehen exemplarisch für die radikale Industrialisierung der Nahrungsmittelversorgung. In und um Chicago entstanden zu dieser Zeit riesige, nach industriellen Gesichtspunkten funktionierende Schlachthöfe, die den Fleischbedarf der US-Metropolen decken konnten. Dort, und nicht in Henry Fords Autofabrik, haben die ersten Fliessbänder ihre Arbeit aufgenommen.

Nestlé und seine Kollegen ermöglichten die Versorgung der arbeitenden Massen und erreichten damit wiederum die Vergrösserung von Industrie und Metropole. Billigst hergestellte Nahrung, die obendrein kaum Kochaufwand erforderte, und effiziente Kalorienproduktion sicherten das wirtschaftliche und das urbane Wachstum. Notwendig war auch die Entwicklung von Gerichten, die in die Fabrik mitgebracht und dort einfach verzehrt werden konnten. Die heutigen Snacks und Fertiggerichte sind eine Spätfolge der Ernährungssituation in der frühen Industriegesellschaft. Fastfood ist deshalb in früh und stark industrialisierten Ländern wie England oder Deutschland tiefer verwurzelt als in Ländern wie Österreich und der Schweiz, wo ländliche und industrielle Lebensformen länger nebeneinander oder in Mischformen existierten und deshalb lokale Kochtraditionen stärker erhalten bleiben konnten.

Arbeiter und Angestellte wohnten nicht mehr bei ihren Arbeitgebern, sondern in der eigenen Wohnung. Der Trend zum Kleinfamilienhaushalt setzte sich im 20. Jahrhundert fort und prägte die weitere städtebauliche Entwicklung und die Ausgestaltung der Ernährungskultur. Die Erfindung des Kühlschranks erlaubte es, nicht mehr täglich einkaufen zu müssen. Da damit eine direkte Nähe zu Nahrungsquellen wie Märkten oder Läden nicht mehr entscheidend war, wuchsen die Distanzen zwischen Versorgern und Haushalten. So erlaubte der Kühlschrank die räumliche Ausbreitung der Städte. Der Kühlschrank, neue Konservier- und Lagermethoden, die Entwicklung des Autos und schliesslich die Einführung des Supermarktes als umfassender Nahversorger für motorisierte Kunden mündeten in der Ausbildung riesiger, suburbaner Ansammlungen von Einfamilienhäusern. Schlossen sich einst Menschen zu engen städtischen Räumen zusammen, um mit kurzen Wegen die Effizienz zu steigern, so erlaubte nun modernes Food Design eine distanzierte Behausungsform – eine «antidichte » Stadt.

Was bringt die Zukunft?

Trotz all diesen Zusammenhängen scheint sich die westliche Gesellschaft kaum für die Versorgung mit Nahrung zu interessieren. Architekten reden zwar gern übers Kochen und lieben schicke Restaurants, planen aber immer noch häufig Küchen wie in den 1950er- Jahren und schreiben bei städtebaulichen Planungen lediglich das Stichwort «Nahversorger » in den bunten Plan. Beinahe unbemerkt beeinflusst unterdessen der Lebensmittelhandel als Verteiler von Food Design Alltag und Lebensstil. Kaum wahrgenommen arbeiten Entwicklungsabteilungen von Nahrungsmittelkonzernen an perfekt angepassten Essensformen für alle nur denkbaren Lebenssituationen. Möglicherweise werden in nicht allzu ferner Zukunft Lebensmittel in Tanks an den Stadträndern gezüchtet. Schon heute spricht die Industrie von «taylor made food», von Produkten etwa, deren Bestandteile auf Wunsch des Konsumenten im Supermarkt maschinell gemixt werden, nach dem Motto: «Ich hätte gerne ein Joghurt mit 1.5 % Fett, 25 Erdbeerstückchen, 5 Mandeln, 1 Gramm Vanille und Crèmigkeitsfaktor 5.» Parallel dazu entwickelt sich das Internetshopping.

Einige der erwähnten Entwicklungen gehen sicher weiter, doch gibt es auch Gegentrends: Die fortschreitende Industrialisierung der Produktion (mit hors-sol, also bodenunabhängig produzierter Nahrung und Functional Food) wird von einem neuen Interesse für biologischen Anbau und traditionelle Sorten begleitet; der Globalisierung der Nahrungsmittelversorgung steht ein neues Interesse an lokalen Küchentraditionen gegenüber. Auch die Individualisierung geht weiter, doch die steigende Zahl Einpersonenhaushalte in unseren Städten – diese Prognose darf man wohl mit einiger Sicherheit wagen – wird die soziale Tradition einer urbanen Gastrokultur nicht gefährden, eher im Gegenteil. Was immer sich durchsetzen wird: Jede Situation, in der gegessen wird, ist direkt oder indirekt mit Architektur, Städtebau und Produktdesign verbunden. Es ist die Aufgabe der Architekturschaffenden, Ausdrucksformen für die Versorgung, Herstellung und den Verzehr von Nahrung zu gestalten.


Deipnosophistai - Das Gelehrtenmahl

«Als noch Kannibalismus und zahlreiche andere Übel herrschten, trat ein gewisser – und alles andere als törichter – Mann auf den Plan, der als erster dazu überging, das Opferfleisch zu rösten. Und weil es um so vieles besser als (rohes) Menschenfleisch schmeckte, liess man davon ab, einander zu verspeisen, und bereitete fortan die geopferten Tiere auf ebendiese Weise zu. Durch die genussvolle Erfahrung belehrt, experimentierte man weiter und kam zur Kochkunst. (...) Nachdem eine gewisse Zeit verstrichen war, gelang schliesslich die Entdeckung des Wurstens. Sein Erfinder kochte ein Zicklein, zerlegte es, setzte eine Süssspeise, dann, dem Auge nicht sichtbar, mit viel Geschick einen Fisch zu und rundete das Ganze zum Schluss mit Zugaben von Gemüsen, reichlich gepökeltem Fisch, Grütze und Honig ab. Und als alle auch aufgehört hatten, das Fleisch der verstorbenen Menschen zu essen, verstärkte sich in ihnen, der Genüsse wegen, von denen ich spreche, der Wunsch zusammenzuleben, so dass alsbald die ersten Lokalgemeinschaften, dann – alles, wie gesagt, infolge der Kochkunst! – ganze Städte entstanden.»[1]
Athenaios, griechischer Schriftsteller im 3. Jh. n. Chr., über die untrennbare Verbindung von Nahrungsmittelversorgung und Urbanität

Anmerkungen
[1] Claus Friedrich: Athenaios. Das Gelehrtenmahl. Anton Hiersemann Verlag, Stuttgart, 1998
[2] Richard Leakey: Die Suche nach dem Menschen. Umschau-Verlag, Frankfurt a. M., 1981, S. 94

TEC21, Mo., 2008.06.23



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2008|26 Urban Essen

02. Dezember 2005Sonja Stummerer
Martin Hablesreiter
Neue Zürcher Zeitung

Schwebender Wasserkörper

Ein Strandbad am Kalterersee

Ein Strandbad am Kalterersee

Ende der sechziger Jahre interpretierten junge Wiener wie Hans Hollein, Wolf Prix oder Raimund Abraham die Architektur als Illusion, Ritual und Kunstwerk. Nun führt eine neue Generation die Visionen der einstigen Avantgardisten fort. So versuchen Marie-Therese Harnoncourt und Ernst J. Fuchs seit der Gründung ihres Ateliers «the next ENTERprise» vor fünf Jahren, neue Ideen aktionistisch, konzeptionell oder architektonisch umzusetzen. Beeinflusst von der Fernsehserie «Raumschiff Enterprise», begreifen die 1967 und 1963 geborenen Baukünstler Architektur nicht als Umsetzung baulicher Massnahmen, sondern als Illusion und Experiment.

Bekanntheit erlangte das Team mit der «Hirnsegel» genannten Installation eines temporären Kunstraums unter einer Eisenbahnbrücke, für die es 1997 mit dem Preis für experimentelle Tendenzen in der Architektur ausgezeichnet wurde. Sein bisher überzeugendster Entwurf steht nun kurz vor der Fertigstellung: Es handelt sich um eine Schwimmbadanlage am Kalterersee in Südtirol, die im Frühjahr 2006 eröffnet werden soll.

Als Entwurfsgrundlage dient den beiden Architekten eine Interpretation der pittoresken Umgebung als touristische Erlebniswelt. Deshalb konzipierten sie eine bewusst artifizielle Badewelt, für die sie gleichsam einen Teil des Sees an Land «verlegen». Zudem heben sie die Schwimmbecken so vom Boden ab, dass die Landschaft in Form einer Liegewiese unter den schwebenden Bassins durchfliessen kann. «Wir wollten den See zum Fliegen bringen», meinen Harnoncourt und Fuchs dazu. Die Wasserkörper lagern auf räumlich ausgebildeten Betonstützen, deren Inneres zu Grotten mutiert und einen Whirlpool sowie einen «Regenraum» mit Duschen beherbergt. Das Wechselspiel zwischen menschlicher Intervention und vorgefundener Natur pflegen die Baukünstler bis ins Detail. Widerstandsfähiges Moos soll die Oberflächen der Betonlandschaft überziehen und so die haptische Komponente des Entwurfs unterstreichen. Wie die Avantgardisten der sechziger Jahre versucht auch «the next ENTERprise» den Grenzbereich zwischen Experiment und Realität für sich auszuloten.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.12.02



verknüpfte Bauwerke
Seebad Kaltern

01. Oktober 2004Sonja Stummerer
Martin Hablesreiter
Neue Zürcher Zeitung

Schwebender Kubus

Eine Villa der Wiener Gruppe Querkraft

Eine Villa der Wiener Gruppe Querkraft

Im März dieses Jahres zeichnete das britische Architekturmagazin «Building Design» die vier gut vierzigjährigen Architekten Jakob Dunkl, Gerd Erhartt, Peter Sapp und Michael Zinner von der österreichischen Architektengruppe Querkraft mit dem Young Architects of the Year Award 2004 aus. Die Jury würdigte die unkonventionelle Architekturauffassung des Teams, von der auch das kürzlich fertig gestellte Haus DRA in Wien zeugt. Die dreigeschossige Villa schwebt - für das Auge irritierend - über dem Abgrund eines steil abfallenden Grundstücks. Wie ein Würfel, der jeden Moment nach unten zu kippen droht, haftet der strenge Kubus mit minimalem Bodenkontakt an den Hängen des Wiener Waldes.

Die extreme Topographie und die gesetzlich vorgeschriebene Zentrierung des Gebäudes auf der kleinen Parzelle veranlassten die Architekten von Querkraft, das Bauvolumen vom Gelände abzuheben und über den Garten kragen zu lassen. Dadurch verhindern sie die Entstehung eines schmalen, umlaufenden Grünstreifens zugunsten einer überdachten Freifläche. Die eher konventionelle Ausformulierung der Innenräume lenkt die Aufmerksamkeit auf die eigentliche Qualität des Projektes. Diese liegt weniger in der Hinterfragung herkömmlicher Wohnkonzepte als vielmehr in der selbstbewussten und prägnanten Positionierung des Baukörpers im topographischen Umfeld. Nicht die Schaffung zusätzlicher Gartenfläche, sondern die Verweigerung, sich den landschaftlichen Gegebenheiten unterzuordnen, erzeugt die Spannung dieses Entwurfes. Das klassische Thema «Haus am Hang» erfährt dabei eine reizvolle Variation. Als konventioneller Geschossbau würde das Haus DRA in der Ebene wohl kaum Aufsehen erregen, gerade aber die Anwendung der scheinbar falschen Typologie am konkreten Ort macht das Gebäude zu einem markanten architektonischen Zeichen. Der Erfolg der vier jungen Baukünstler gibt ihrem Anspruch, durch das Zusammenspiel von herkömmlichen und unorthodoxen Entwurfselementen Ambivalenz zu erzeugen, Recht: Die aufstrebenden Querdenker vertreten noch bis zum 7. November Österreich zusammen mit anderen Baukünstlern an der Architekturbiennale in Venedig.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2004.10.01



verknüpfte Bauwerke
Haus DRA

07. Mai 2004Sonja Stummerer
Martin Hablesreiter
Neue Zürcher Zeitung

Urbane Wohnlandschaft

Ein Wiener Dachaufbau von Delugan & Meissl

Ein Wiener Dachaufbau von Delugan & Meissl

Der Umgang mit historischer Bausubstanz führt in Wien immer wieder zu heftigen Diskussionen. Der Um- oder Ausbau alter Fassaden und geschichtsträchtiger Gemäuer verlangt nach Meinung vieler besondere Sorgfalt. Die Stadtväter unterstützten diese Ansicht mit der Schaffung strenger Baurichtlinien. Geht es nach dem Gesetzgeber, so sollte zeitgenössische Architektur möglichst unauffällig hinter den bestehenden Gebäuden zurücktreten. Dagegen verstösst nun ein Dachausbau von Elke Delugan-Meissl und Roman Delugan. Die beiden Architekten, die seit nunmehr zehn Jahren den kommunalen Wohnbau der Donaumetropole revolutionieren, entwarfen eine Struktur aus Aluminium und Glas, welche sie als «Umsetzung der unterschiedlichen Geschwindigkeiten von Bewohnern und Umfeld» beschreiben. Die mehrschichtige Hülle, die den Aussenraum in die Wohnung zu saugen scheint, setzt auf Tiefenwirkung und Lichteinfall. Schräg verlaufende Brüstungen und eine schwebende Gaube thematisieren die Wechselwirkung von Intimität und Öffentlichkeit und erzielen gleichzeitig einen dynamischen Effekt.

Doch der ebenso spektakuläre wie gewagte Aufbau aus Metall und Glas hat - typisch wienerisch - auch eine durchaus humoristische Komponente. Im Inneren der Wohnung treiben unzählige silberglänzende Knöpfe, mit denen von den Lüftungsklappen über die Jalousien und den Videoscreen bis hin zur Klimaanlage alles betätigt werden kann, das nicht immer ganz ernsthafte Spiel von Ruhe und Bewegung auf die Spitze. Diese Technologieverliebtheit erinnert wie die gewählte Formensprache an Filmszenen, in denen James Bond seine Widersacher mit raffinierten Geräten in Schach zu halten pflegt.

Das Design jedes Details dieser Architektur ordnet sich dem Gesamtkonzept unter. Veränderbarkeit und Flexibilität sind auf ein Mindestmass reduziert. Um jeden potenziellen Störfaktor auszuschliessen, sind selbst die meisten Möbel fest im Raum verankert. Die Aussenhaut fungiert also gleichsam als Rahmen der zu Immobilien gewordenen Einrichtungsgegenstände. Selbst das Bett schwebt unverrückbar im Schlafzimmer. Delugan spricht vom städtebaulich orientierten Bett, denn die Richtung des Möbelstücks folgt nicht den Wänden des Raumes, sondern den urbanen Achsen der Umgebung. Die unmittelbar an das Bett anschliessende Badewanne, die den Übergang von Schlaf- zu Waschraum manifestiert, verdeutlicht diese Entwurfsidee.

Sämtliche Elemente der Wohnung scheinen bis ins letzte Detail durchdacht und gestaltet zu sein. Kein unnötiges Dekorationsobjekt, kein Kunstwerk stört die perfekte Aufmachung dieses auf den ersten Blick unpersönlichen Refugiums. Kein Buchrücken, kein privater Gegenstand erlaubt dem Besucher schnelle Rückschlüsse auf den sozialen Status, den Beruf oder die Lebensweise der drei Bewohner. So wird der Raum an sich zum einzigen Repräsentationsobjekt, das Apartment zum scheinbar einzigen Besitztum, während die Gegenstände des täglichen Lebens hinter ungezählten Türen verschwinden. Mit seiner «idealistischen» Forderung, architektonische Konzeptionen auch im privaten Wohnalltag konsequent weiterzuleben, schuf sich das Duo eine gebaute Visitenkarte, in der die Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben verschwimmen. Dennoch dient dieses aussergewöhnliche Penthouse nicht allein der Selbstdarstellung zweier Architekten, sondern auch dem Fortgang einer kulturellen Debatte. Delugan & Meissl verweisen mit ihrem Entwurf auf die Notwendigkeit, den Raum immer wieder neu zu erforschen.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2004.05.07



verknüpfte Bauwerke
Ray 1

07. Juni 2002Martin Hablesreiter
Neue Zürcher Zeitung

Eine Stadt setzt auf das Fremde

Die japanische Hafenstadt Yokohama ist stolz auf ihre Weltoffenheit. Diese spiegelt sich vermehrt auch in der Architektur. So wurde das jüngste Wahrzeichen der Stadt, der im Hinblick auf die Fussball-WM in Auftrag gegebene Osanbashi Pier, vom jungen Londoner Architekturbüro Foreign Office Architects (FOA) errichtet.

Die japanische Hafenstadt Yokohama ist stolz auf ihre Weltoffenheit. Diese spiegelt sich vermehrt auch in der Architektur. So wurde das jüngste Wahrzeichen der Stadt, der im Hinblick auf die Fussball-WM in Auftrag gegebene Osanbashi Pier, vom jungen Londoner Architekturbüro Foreign Office Architects (FOA) errichtet.

Am 30. Juni 2002 werden gut 70 000 Menschen live im International Stadium von Yokohama das Finale der Fussball-WM zusammen mit Millionen von Zuschauern vor den Fernsehbildschirmen mitverfolgen. Dass dieses Grossereignis in der Nachbarstadt von Tokio und nicht in der Hauptstadt stattfindet, lenkt das Interesse auf die drei Millionen Einwohner zählende Metropole. Yokohama spielt eine Sonderrolle seit dem Aufstieg des ehemaligen Fischerdörfchens zum bedeutendsten Hafen Japans, der um 1850 einsetzte. Der Einfluss fremder Kulturen prägt noch heute das Stadtbild. Dieses ist wie nirgends sonst auf dem Archipel von der europäischen Architektur des 19. Jahrhunderts geprägt. Yokohamas Stadtväter sind nach wie vor darauf bedacht, den Ruf einer modernen, internationalen Metropole zu bewahren. So steht der alten Uferpromenade mit ihren ehrwürdigen, an Pariser Vorbilder erinnernden Hotels heute eine neue Küstenlinie mit Hochhäusern, Einkaufszentren und dem höchsten Gebäude Japans gegenüber. Hier soll das ehrgeizige, Minato Mirai 21 - Hafen der Zukunft 21 - genannte Projekt entstehen, das auf neu gewonnenem Land dereinst Arbeitsplätze für 190 000 Menschen bieten soll.


Zukunftsweisende Architektur

Rechtzeitig zur Weltmeisterschaft konnte am 30. Mai ein neuer Passagierterminal für den Fährverkehr mit Südkorea eröffnet werden, der in den nächsten Wochen vor allem dem Transport der Fussballfans zwischen den Austragungsorten dienen wird. Der neue, Osanbashi Pier genannte Terminal mit seinen aussergewöhnlichen Formen soll Yokohamas architektonisches Wahrzeichen werden, ganz ähnlich wie Jørn Utzons Opernhaus in Sidney. Schon das Ergebnis des anonymen Architekturwettbewerbs von 1995 war eine Sensation. Das bis dahin unbekannte Londoner Büro FOA gewann gegen internationale Stars wie Kazuyo Sejima oder das Team von Future Systems. Die 1965 geborene Iranerin Fashid Moussavi und der zwei Jahre ältere Spanier Alejandro Zaera- Polo hatten gerade ihre Bürogemeinschaft gegründet und an der renommierten Architectural Association in London zu lehren begonnen, als sie der Wettbewerbsentscheid plötzlich ins Rampenlicht rückte. Der Juryvorsitzende Arata Isozaki, ein Altmeister der japanischen Architekturszene, zeigte sich sogleich überzeugt vom Ansatz des jungen Teams, den Computer in den Entwurfsprozess einzubeziehen und damit geometrische Formen zu entwickeln, die bis dato für unrealisierbar gegolten hatten.

Der zukunftsweisende Einsatz des Computers war als Auswahlkriterium ebenso entscheidend wie der Wunsch der Stadt Yokohama, mit einem architektonischen Zeichen ihre Rolle als internationales Zentrum zu unterstreichen. Isozaki selbst soll beim Öffnen des Verfasserbriefes entzückt gewesen sein, dass der Name des Siegerteams FOA - Foreign Office Architects - lautete. In einer Zeit, in der Fremdenfeindlichkeit wieder salonfähig zu werden droht, entschieden sich zwei fremde Architekten in London, ihre gesellschaftliche Randposition gezielt für die Benennung ihres Büros zu verwenden. Der wohl auch ironisch verstandene Name hat sich als glückliches Omen erwiesen, denn in der Stadt Yokohama hat FOA eine Auftraggeberin gefunden, die das Fremde als Qualität betrachtet. Sowohl für FOA als auch für die Bauherrschaft hat die bewusste Aufnahme von äusseren Einflüssen besondere Bedeutung. Das Fremde und das Fremdsein werden gesucht, um daraus genau das zu schöpfen, was in Europa gerne als Trend bezeichnet wird. Insofern benützten die Architekten und die Klientin einander gegenseitig, um ihre jeweilige Position perfekt einzubringen.


Architektur als Landschaft

In einem vor kurzem geführten Gespräch mit Alejandro Zaera-Polo meinte dieser, Fashid Moussavi und er hätten den Nerv der Zeit im exakt richtigen Moment getroffen. In der Tat enthielt der Entwurf von FOA konzeptuelle Komponenten, die 1995 gerade den Diskurs in zukunftsorientierten Architektenkreisen bestimmten. Der Einsatz des Computers, Analysen der Bewegungen der künftigen Benutzer oder auch die Gestaltung von urbanen Landschaften galten damals als ebenso neu wie trendy.

In Yokohama hat die Offenheit gegenüber dem Fremden Tradition, wurde doch in dieser Stadt nach jahrhundertelanger Isolation der erste internationale Hafen Japans eröffnet. Gesandte und Geschäftsleute aus dem Westen lebten hier neben Seidenhändlern aus China. Noch heute befindet sich die grösste Chinatown Japans im ehemaligen Ausländerviertel. Aber auch das unweit davon gelegene höchste Gebäude des Landes, eine Arbeit des Amerikaners Hugh Stubbins, zeugt von der immer wieder praktizierten Extravertiertheit der Stadt. Internationale Einflüsse und Bauten ausländischer Architekten sind in Japan immer noch etwas Besonderes. Doch in Yokohama kennt man keine Berührungsängste.

Die Küstenlinie, an der nun der Passagierterminal von FOA liegt, ist schon seit längerem ein Ort des Staunens, weil man urbane Imagepflege in Japan nur selten findet. Im Fall von Yokohama aber spielt sie eine wesentliche Rolle. Sonntag für Sonntag kommen Menschenmassen aus dem benachbarten Tokio, um zu flanieren und um sich umzusehen. Wirkt die Szenerie aus Shopping- Center, Vergnügungspark und internationalen Hotels auf europäische Betrachter eher gewöhnlich, so ist sie für Japaner in dieser Art etwas Besonderes. Allerdings sind sie sich der Vergänglichkeit dieses Stadtbildes bewusst. Denn da die derzeitige architektonische Ufergestaltung dem Diktat des Marktes folgt, ist es durchaus möglich, dass sie sich in zehn Jahren ganz anders präsentieren wird.


Internationale Resonanz

Selbstverständlich will sich Zaera-Polo von dieser Art Stadtraum abgrenzen, doch eine Verwandtschaft im Geiste bleibt. Jede Art von Einfluss wird aufgesogen und sofort umgesetzt, denn Flexibilität ist wichtig, um den Anforderungen der Zeit zu entsprechen. Die beiden Architekten sind seit langem in Bewegung, haben in Amerika und London studiert, bei Koolhaas in Rotterdam gearbeitet, und Zaera-Polo beharrt mit Nachdruck darauf, keine ersichtlichen spanischen Einflüsse in seiner Arbeit zu haben. Als Erste einer ganzen Architektengeneration waren Foreign Office Architects in der Lage, ihre Ideen in einem derart grossen Massstab umzusetzen, und man darf gespannt sein, ob das Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen der weltoffenen Stadtregierung Yokohamas und den fremden Jungstars auch nach Ende der Fussball-WM die gewünschte internationale Resonanz bringen wird.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2002.06.07



verknüpfte Bauwerke
Yokohama International Port Terminal

12. März 2002Martin Hablesreiter
Neue Zürcher Zeitung

Eine Laterna magica in der Ginza

Fast jeder kennt sie als eine der teuersten Gegenden der Welt: die Ginza in Tokio. Das vornehme Einkaufsviertel steht seit langem für Luxus, Tradition...

Fast jeder kennt sie als eine der teuersten Gegenden der Welt: die Ginza in Tokio. Das vornehme Einkaufsviertel steht seit langem für Luxus, Tradition...

Fast jeder kennt sie als eine der teuersten Gegenden der Welt: die Ginza in Tokio. Das vornehme Einkaufsviertel steht seit langem für Luxus, Tradition und grosse Marken. Der Wirtschaftsboom der achtziger Jahre liess in diesem Quartier Tokios die Bodenpreise derart in die Höhe schnellen, dass nur japanische Unternehmen in der Lage waren, hier zu bauen. Die begehrten ausländischen Produkte hingegen wurden in den vielen Nobelkaufhäusern angeboten. Der Zusammenbruch der «Bubble Economy» machte den teuren Boden nun auch für internationale Firmen wieder erschwinglich. Hermès leistete sich als bislang erstes und einziges europäisches Modehaus den Luxus, in der Ginza einen Repräsentationsbau zu errichten. Mit Entwurf und Planung des 13-stöckigen Gebäudes wurde Italiens Stararchitekt Renzo Piano beauftragt.

Der Umstand, dass kein anderes europäisches Designerlabel ein eigenes Haus in der Ginza unterhält, scheint unverständlich in Anbetracht von Prestige und Charakteristik dieses Stadtteils. Trotz der Nähe zum kaiserlichen Palast und den vielen japanischen Geschäften ist ein Grossteil des Warenangebots westlich orientiert. Traditionelle Kimonos werden neben Schweizer Chronometern, handgeschöpftes Papier wird neben französischen Schuhen verkauft. Die edelsten westlichen Produkte werden in der Ginza angeboten, denn der Stadtteil verstand sich schon immer als kommerzielles Tor zum Westen. Hier wurden neue Errungenschaften aus Übersee vorgestellt und dem japanischen Publikum schmackhaft gemacht. Selbst die Abwicklung der Geschäfte war und ist hier für japanische Kunden ungewöhnlich. So entstand in der Ginza einst das erste Kaufhaus Japans, in dem das Betreten ohne das obligatorische Ausziehen der Schuhe möglich war, und ein junger Pharmazeut eröffnete hier die erste westliche Apotheke des Landes. Aus dieser sollte später der Weltkonzern Shiseido entstehen, der sich erst kürzlich vom Spanier Ricardo Bofill das repräsentative Ginza Shiseido Building errichten liess.

Die Ginza war immer schon ein Ort des Staunens und der Attraktionen. Auf die daraus hervorgehende Erwartungshaltung antwortete Renzo Piano mit einer spektakulären Fassade aus speziell angefertigten Glasbausteinen. Dabei verfremdete er den in den sechziger Jahren so beliebten Baustoff bewusst, indem er ihn vor das Gebäude hängte und so einen gelungenen Kommentar zur Geschichte und zum gegenwärtigen Erscheinungsbild der Ginza schuf. Die Verwendung von Glasziegeln kann als historisches Zitat verstanden werden, war doch die Ginza das erste Viertel Tokios, dessen Häuser aus Ziegeln gebaut wurden. In Japan, wo der Holzbau eine lange Tradition hat, erhielten die nach englischem Vorbild ausgeführten Strassenzüge bald den Spitznamen «Bricktown».

Der neue Flagship-Store von Hermès besticht wegen dieser Fassade und besitzt mit ihr einen würdigen Werbescreen. Die aufwendige und doch schlichte Glashaut kontrastiert angenehm mit dem bunten Flimmern der leinwandgrossen Bildschirme an den umliegenden Gebäudefronten. Der feine Raster der Steine und die optische Verzerrung schaffen eine mysteriöse Hülle, die vieles verbirgt und alles Dahinterliegende zum Objekt der Begierde erhebt. Die kraftvolle Wirkung der Fassade wird bei Einbruch der Dunkelheit noch verstärkt, wenn warmes Licht gleichmässig aus dem Inneren des Gebäudes dringt. Das Geschäftshaus verwandelt sich damit in ein freundlich leuchtendes Objekt am Eingang der Ginza. Eine magische Laterne soll es sein, sagt Hermès und erinnert damit an den fernöstlichen Brauch, die Pforten von Restaurants und Geschäften mit Lampions zu schmücken. Piano gelingt es, die Metapher der magischen Laterne, die die Traditionen der Ginza und des Standorts Japan mit jenen des Modehauses vereinen soll, in ein modernes Kostüm zu kleiden.

Leider kommt dieser Hang zur Tradition im Inneren des Gebäudes auf ganz andere Weise zum Tragen. Das Interieur wurde nämlich nicht von Piano, sondern von Rena Dumas, der Gattin von Hermès-Chef Jean-Louis Dumas, gestaltet. Zeitlos elegant soll das gediegene Ambiente der Verkaufsräume wohl sein, doch leider ist es nur aussergewöhnlich langweilig. Die Einmaligkeit der Aussenhülle wird im Inneren von einer Austauschbarkeit abgelöst, die den Kunden nicht mehr klar erkennen lässt, ob er sich in Paris, New York oder Tokio befindet. Die Fassadenarchitektur wird als augenfälliges Aushängeschild genutzt, um die Präsenz der Marke zu signalisieren, der Name und das Können des Stararchitekten als Werbeträger. Die Enttäuschung beim Betreten des attraktiven Bauwerks ist gross. Es erweckt den Eindruck, als sei der Architekt nur noch als imageträchtiger Fassadenmacher und - gleich einem Supermodel - als teurer Botschafter einer Marketingstrategie engagiert worden.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2002.03.12



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Maison Hermès

Publikationen

Presseschau 12

23. Juni 2008Martin Hablesreiter
TEC21

Kalorienherz der Stadt

Die Stadt besteht nicht aus Architektur allein. Ohne eine ausreichende Kalorienversorgung sind Städte und Urbanität nicht denkbar. Das Essen prägt wesentlich die Stadtgestalt – mit Bauten für die Aufbereitung und Verteilung der Nahrung, vor allem aber, weil das Essen immer und überall als Kultur verstanden und entsprechend architektonisch inszeniert, gestaltet und überhöht wurde. Ein historischer Abriss zur Beziehung zwischen Essen, Kultur und Stadt.

Die Stadt besteht nicht aus Architektur allein. Ohne eine ausreichende Kalorienversorgung sind Städte und Urbanität nicht denkbar. Das Essen prägt wesentlich die Stadtgestalt – mit Bauten für die Aufbereitung und Verteilung der Nahrung, vor allem aber, weil das Essen immer und überall als Kultur verstanden und entsprechend architektonisch inszeniert, gestaltet und überhöht wurde. Ein historischer Abriss zur Beziehung zwischen Essen, Kultur und Stadt.

Der kreative Umgang mit Essbarem ist wahrscheinlich ebenso alt wie der Drang des Menschen, Kunst zu schaffen. Allerdings wird im Gegensatz zum Kunstwerk die Nahrung aufgegessen und taugt nicht als bleibendes Zeugnis der Menschheitsgeschichte (vgl. Bild 2). Dennoch hat der gestalterische Umgang mit lebenserhaltenden Kalorien die Entwicklung der Menschheit massiv beeinflusst. Sowohl kulturelle Faktoren als auch pragmatische Denkweisen bei der Nahrungsgestaltung spielten und spielen eine entscheidende Rolle bei der Evolution. Der Paläoanthropologe Richard Leakey schrieb dazu: «Zwar enthielt die Kost der Hominiden mehr Fleisch als die ihrer nichthominiden Verwandten, (…) aber die entscheidende Abweichung war die ganz neue Verhaltensweise, Nahrung zu suchen, um sie erst später zu verzehren, sowie der Verzehr in der Gruppe. Die unmittelbare Konsequenz einer solchen Ordnung dürfte gewesen sein, dass die bereits unter den höheren Primaten wohlentwickelten sozialen Wechselbeziehungen noch weiter verstärkt wurden.»[2] Die Ernährung wird vom Menschen als kultureller Akt begriffen, der Hierarchien festlegt, den Jahresablauf strukturiert und Gemeinschaften eine Identität verschafft. Der Schritt von der individuellen «Hand in den Mund» zum zivilisierten Erzeugen und Aufteilen war eine bahnbrechende kulturelle Leistung: Erst das Wissen und die Fähigkeit, Nahrung zu produzieren, zu lagern, zu transportieren und zu verteilen, führte in der neolithischen Revolution zum Sesshaftwerden der Menschen, zum Bau fester Gebäude (Speicher), zur Entwicklung grösserer Gemeinschaften und letztlich zur Entstehung von Städten.

Die Kultur der Ernährung als urbaner Faktor

Die Formen und Arten der Ernährung definieren seit je den kulturellen Zusammenhalt urbanen Lebens. Bis heute werden beispielsweise zu bestimmten Anlässen Feste mit speziellen Speisen gefeiert. Bis heute entnehmen Gemeinschaften einen Teil ihrer Identität ihren Nahrungsvorlieben und grenzen sich damit bewusst von anderen Kulturen ab. Dazu zählen religiöse Tabus und Vorschriften genauso wie der Ekel gegenüber fremden Ernährungsformen.

Damit gleicht die Art der Ernährung der metaphorischen Bedeutung von Architektur, ist doch die gebaute Stadt ein kultureller Ausdruck des Zusammenlebens. Auch die formale Sprache einer Stadt und ihrer Gebäude vermittelt Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Sowohl das architektonische Erscheinungsbild als auch die rituelle Auseinandersetzung mit dem Stadtraum, etwa in Form von Festen oder Prozessionen, verhelfen der urbanen Gemeinschaft zu einer spezifischen Identität und einer kulturellen Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Hierarchie und soziale Ordnung werden mit Hilfe von Architektur und Stadtplanung immer wieder manifestiert.

Kirchen und Kathedralen gehören zu den bedeutsamsten Bauten Europas und sind ein essenzieller Bestandteil städtischer Identität. Sie markieren die städtischen Zentren und erfüllen – aus kulturanthropologischer Sicht – die Funktion eines «rituellen Restaurants»: Das von Athenaios angesprochene Menschenopfer (vgl. Kasten) findet noch immer symbolisch in Form der christlichen Liturgie statt. Die Teilnehmer von Messen teilen und verspeisen gemeinsam den Leib ihres Religionsgründers und trinken sein Blut. Die Kirchenarchitektur, die einen für die Elemente der Liturgie zweckdienlichen Raum schafft und diese gleichzeitig inszeniert und überhöht, ist das Resultat einer kultischen Handlung, die direkt mit der gemeinsamen Aufnahme von Nahrung zusammenhängt.

Doch selbst im mittlerweile atheistisch geprägten kapitalistischen Europa treten identitätsstiftende Architektur und Nahrungsgestaltung in trauter Gemeinsamkeit auf den Plan. Nicht allein die Gesellschaften, sondern ganze Städte definieren sich über die Nahrung, wie etwa die sogenannten «Spezialitätenküchen» zeigen. Speziell gestaltete Esswaren wie das Wiener Schnitzel oder Zürcher Geschnetzeltes sind vergleichbar mit Wappentieren oder den gebauten Wahrzeichen der Städte. Auch das jeweilige Sortiment an Essbarem, an Zutaten, Gerichten und Geschmäckern gehört zum Aufputz städtischer Gesellschaften, wie Kathedralen, Gräber und andere Architekturen. Davon abgesehen ist es guter urbaner Ton, mit einer Überfülle an Esswaren und deren Gestaltungsmöglichkeiten zu protzen. Während Brüssel, Turin oder Zürich berühmt sind für ihre Schokoladenvariationen, sind in Wien die «disneyeske» Darbietung von Nahrung auf dem Naschmarkt oder das Schaufenster des Hofzuckerbäckers Demel, wo in kurios-dekadenter Gestaltungswut alle nur erdenklichen Formen aus Zuckerwerk nachgestellt werden, bedeutende Delikatessenattraktionen. Gemeinschaften grenzen sich durch Vorlieben und Abneigungen bei der Aufnahme von Nahrung ab. Dieser kulturelle Faktor definiert auch einen entscheidenden Teil pragmatischer, urbaner Infrastruktur: So verlangt etwa das hinduistisch geprägte Chennai im Süden Indiens nach perfekter Distribution verschiedenster Gemüse und vegetarischer Gerichte, während das Kalorienherz Tokios der weltgrösste Fischmarkt in Tsukiji ist und multiethnische Städte wie London oder New York möglichst grosse Nahrungsvielfalt bieten müssen. Die logistischen Anforderungen an die Infrastruktur dieser Metropolen sind enorm in Anbetracht des Bedarfs an biologischer, koscherer, geschächteter oder vegetarischer Nahrung. Das Essen muss zu städtischen Verteilerposten geliefert, gelagert, gekühlt, verteilt, zubereitet und endlich in entsprechender Form und passendem Rahmen verzehrt werden. Erst das gezielte Zusammenspiel von Architektur und Nahrungsangebot in gestalteten Zonen vermittelt die Identität einer Stadt. Dabei sind sowohl Versorgung (Märkte, Kleinhandel, Supermarkt) als auch Konsumation (Wohnung, Restaurant, Take-away) essenzieller Bestandteil der räumlichen Struktur und des gesellschaftlichen Wertekodex. So sind heute die Versorgungszonen im städtischen Gefüge – ursprünglich übel riechende Areale voller Logistik, Schweiss und Blut – viel besuchte Touristenattraktionen.

Städtische Versorgung in der Antike

Die Gründungen der ersten nichtbäuerlichen Gesellschaften in Babylon oder Theben waren erst möglich, als man die Logistik der Versorgung im Griff hatte. Ehe an die Errichtung architektonischer Wunder in Mesopotamien und Ägypten gedacht werden konnte, musste die organisierte, «industrialisierte» Herstellung von Brot und Bier zur Versorgung einer grossen Zahl von Bauarbeitern und Stadtbewohnern gelöst sein.

Später entfaltete sich auch die Macht Roms und Konstantinopels unter anderem dank ihrer perfekten Versorgung. Im alten Rom waren die Stadtverwaltung und unzählige «Take-away»- Restaurants für die Ernährung der Bevölkerung verantwortlich, da nur wenige, sehr reiche Haushalte überhaupt über eigene Küchen verfügten. Die Auswirkungen auf das damalige Stadtbild und die urbane Struktur sind leider noch unzureichend erforscht. Kulturhistorisch werden heute die «Circenses» in Form der Kolosseumsruine als Denkmal verehrt, doch ohne «Panem» wäre Rom in sozialem Unfrieden untergegangen. Zweitausend Jahre vor der Erfindung von Kühlschrank, Supermarkt und Lastwagen waren die Römer in der Lage, ihre Millionenstadt und eine schlagkräftige Armee ausreichend zu ernähren. Während der Frühphase des Römischen Reichs belieferte Sizilien die Hauptstadt mit lebensnotwendigem Korn, bis Ägypten erobert und zur Kornkammer des Reichs wurde. Riesige Mengen an Weizen wurden nach Ostia verschifft, dort in Lagerhäusern gelagert, in zentralen Herstellungsbetrieben zu Brot verarbeitet, das gratis an die Bevölkerung verteilt wurde. Erst die Unterbrechung der «Lebensader» Ostia–Rom ermöglichte den Germanen die Eroberung der Ewigen Stadt.

Essen im Mittelalter

Auf den Untergang des Römischen Reichs folgte ein langer Dämmerschlaf der europäischen Städte. Vergleichsweise kleine, stark befestigte Orte dominierten für Jahrhunderte das urbane Erscheinungsbild des Kontinents, und sie wurden auch anders versorgt als die antiken Vorgänger. Im ausgehenden Mittelalter regten sich ausserdem erste Formen des Kapitalismus, und daraus resultierten soziale Strukturierungen des Stadtraums: Die Lebensmittel wurden von den Bauern der Umgebung auf sogenannten Wochenmärkten angeboten, die nach ihrem Angebot getrennt waren. Die Segregation in Fleisch-, Gemüse-, Wildbretoder Fischmärkte definierte das Erscheinungs- und Geruchsbild städtischer Zonen und legte damit auch Hierarchien fest. So ist es beispielsweise kein Zufall, dass das westwindexponierte Wien seine fleischverarbeitenden Betriebe im äussersten Osten der Stadt ansiedelte und sich ein bis heute existierendes soziales West-Ost-Gefälle ausbildete, da sich wohlhabende Familien nicht in der Nähe «bäuerlichen Pöbels» oder «riechender Fleischergesellen» niederliessen. Im Unterschied zur Antike wurde im Mittelalter zu Hause gegessen. Die mittelalterliche Lebensgemeinschaft, bestehend aus Familie, Gesellen und Dienstboten, hatte den Ort ihres Zusammenhalts am gemeinsamen Esstisch, die Aufgabe der Verköstigung oblag der Hausfrau oder den Mägden. Erst die industrielle Revolution erschütterte dieses System aus kleinen Versorgungsgemeinschaften.

Industrielle Revolution

Das drastische Wachstum der Städte, der schnelle Zuzug tausender Industriearbeiter und die Notwendigkeit, zur Sicherung des Überlebens alle Familienmitglieder in die Fabrik zu schicken, provozierten neuartige Formen der Ernährung. Eine Arbeiterfamilie konnte sich wegen der extrem niedrigen Löhne die kochende Frau am Herd schlichtweg nicht leisten. Kantinen existierten zunächst kaum und boten kaum ausreichend Nahrung an. Auf diese Situation reagierten erfindungsreiche und geschäftstüchtige Männer wie Justus von Liebig, Julius Maggi und Henry Nestlé. Liebig kreierte den Fleischextrakt, eine stärkende Nahrung für die Massen. Maggi erfand gemeinsam mit dem Arzt Fridolin Schuler Methoden zur kostengünstigen, industriellen Herstellung nahrhafter Hülsenfruchtgerichte für Fabrikarbeiter und prägte den Spruch: «Wer schneller arbeitet, muss auch schneller essen.» Henry Nestlé nutzte Liebigs Analyse der Muttermilch und entwickelte daraus unter dem Namen «Henri Nestlés Kindermehl» das Milchpulver. Diese drei Produkte stehen exemplarisch für die radikale Industrialisierung der Nahrungsmittelversorgung. In und um Chicago entstanden zu dieser Zeit riesige, nach industriellen Gesichtspunkten funktionierende Schlachthöfe, die den Fleischbedarf der US-Metropolen decken konnten. Dort, und nicht in Henry Fords Autofabrik, haben die ersten Fliessbänder ihre Arbeit aufgenommen.

Nestlé und seine Kollegen ermöglichten die Versorgung der arbeitenden Massen und erreichten damit wiederum die Vergrösserung von Industrie und Metropole. Billigst hergestellte Nahrung, die obendrein kaum Kochaufwand erforderte, und effiziente Kalorienproduktion sicherten das wirtschaftliche und das urbane Wachstum. Notwendig war auch die Entwicklung von Gerichten, die in die Fabrik mitgebracht und dort einfach verzehrt werden konnten. Die heutigen Snacks und Fertiggerichte sind eine Spätfolge der Ernährungssituation in der frühen Industriegesellschaft. Fastfood ist deshalb in früh und stark industrialisierten Ländern wie England oder Deutschland tiefer verwurzelt als in Ländern wie Österreich und der Schweiz, wo ländliche und industrielle Lebensformen länger nebeneinander oder in Mischformen existierten und deshalb lokale Kochtraditionen stärker erhalten bleiben konnten.

Arbeiter und Angestellte wohnten nicht mehr bei ihren Arbeitgebern, sondern in der eigenen Wohnung. Der Trend zum Kleinfamilienhaushalt setzte sich im 20. Jahrhundert fort und prägte die weitere städtebauliche Entwicklung und die Ausgestaltung der Ernährungskultur. Die Erfindung des Kühlschranks erlaubte es, nicht mehr täglich einkaufen zu müssen. Da damit eine direkte Nähe zu Nahrungsquellen wie Märkten oder Läden nicht mehr entscheidend war, wuchsen die Distanzen zwischen Versorgern und Haushalten. So erlaubte der Kühlschrank die räumliche Ausbreitung der Städte. Der Kühlschrank, neue Konservier- und Lagermethoden, die Entwicklung des Autos und schliesslich die Einführung des Supermarktes als umfassender Nahversorger für motorisierte Kunden mündeten in der Ausbildung riesiger, suburbaner Ansammlungen von Einfamilienhäusern. Schlossen sich einst Menschen zu engen städtischen Räumen zusammen, um mit kurzen Wegen die Effizienz zu steigern, so erlaubte nun modernes Food Design eine distanzierte Behausungsform – eine «antidichte » Stadt.

Was bringt die Zukunft?

Trotz all diesen Zusammenhängen scheint sich die westliche Gesellschaft kaum für die Versorgung mit Nahrung zu interessieren. Architekten reden zwar gern übers Kochen und lieben schicke Restaurants, planen aber immer noch häufig Küchen wie in den 1950er- Jahren und schreiben bei städtebaulichen Planungen lediglich das Stichwort «Nahversorger » in den bunten Plan. Beinahe unbemerkt beeinflusst unterdessen der Lebensmittelhandel als Verteiler von Food Design Alltag und Lebensstil. Kaum wahrgenommen arbeiten Entwicklungsabteilungen von Nahrungsmittelkonzernen an perfekt angepassten Essensformen für alle nur denkbaren Lebenssituationen. Möglicherweise werden in nicht allzu ferner Zukunft Lebensmittel in Tanks an den Stadträndern gezüchtet. Schon heute spricht die Industrie von «taylor made food», von Produkten etwa, deren Bestandteile auf Wunsch des Konsumenten im Supermarkt maschinell gemixt werden, nach dem Motto: «Ich hätte gerne ein Joghurt mit 1.5 % Fett, 25 Erdbeerstückchen, 5 Mandeln, 1 Gramm Vanille und Crèmigkeitsfaktor 5.» Parallel dazu entwickelt sich das Internetshopping.

Einige der erwähnten Entwicklungen gehen sicher weiter, doch gibt es auch Gegentrends: Die fortschreitende Industrialisierung der Produktion (mit hors-sol, also bodenunabhängig produzierter Nahrung und Functional Food) wird von einem neuen Interesse für biologischen Anbau und traditionelle Sorten begleitet; der Globalisierung der Nahrungsmittelversorgung steht ein neues Interesse an lokalen Küchentraditionen gegenüber. Auch die Individualisierung geht weiter, doch die steigende Zahl Einpersonenhaushalte in unseren Städten – diese Prognose darf man wohl mit einiger Sicherheit wagen – wird die soziale Tradition einer urbanen Gastrokultur nicht gefährden, eher im Gegenteil. Was immer sich durchsetzen wird: Jede Situation, in der gegessen wird, ist direkt oder indirekt mit Architektur, Städtebau und Produktdesign verbunden. Es ist die Aufgabe der Architekturschaffenden, Ausdrucksformen für die Versorgung, Herstellung und den Verzehr von Nahrung zu gestalten.


Deipnosophistai - Das Gelehrtenmahl

«Als noch Kannibalismus und zahlreiche andere Übel herrschten, trat ein gewisser – und alles andere als törichter – Mann auf den Plan, der als erster dazu überging, das Opferfleisch zu rösten. Und weil es um so vieles besser als (rohes) Menschenfleisch schmeckte, liess man davon ab, einander zu verspeisen, und bereitete fortan die geopferten Tiere auf ebendiese Weise zu. Durch die genussvolle Erfahrung belehrt, experimentierte man weiter und kam zur Kochkunst. (...) Nachdem eine gewisse Zeit verstrichen war, gelang schliesslich die Entdeckung des Wurstens. Sein Erfinder kochte ein Zicklein, zerlegte es, setzte eine Süssspeise, dann, dem Auge nicht sichtbar, mit viel Geschick einen Fisch zu und rundete das Ganze zum Schluss mit Zugaben von Gemüsen, reichlich gepökeltem Fisch, Grütze und Honig ab. Und als alle auch aufgehört hatten, das Fleisch der verstorbenen Menschen zu essen, verstärkte sich in ihnen, der Genüsse wegen, von denen ich spreche, der Wunsch zusammenzuleben, so dass alsbald die ersten Lokalgemeinschaften, dann – alles, wie gesagt, infolge der Kochkunst! – ganze Städte entstanden.»[1]
Athenaios, griechischer Schriftsteller im 3. Jh. n. Chr., über die untrennbare Verbindung von Nahrungsmittelversorgung und Urbanität

Anmerkungen
[1] Claus Friedrich: Athenaios. Das Gelehrtenmahl. Anton Hiersemann Verlag, Stuttgart, 1998
[2] Richard Leakey: Die Suche nach dem Menschen. Umschau-Verlag, Frankfurt a. M., 1981, S. 94

TEC21, Mo., 2008.06.23



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2008|26 Urban Essen

02. Dezember 2005Sonja Stummerer
Martin Hablesreiter
Neue Zürcher Zeitung

Schwebender Wasserkörper

Ein Strandbad am Kalterersee

Ein Strandbad am Kalterersee

Ende der sechziger Jahre interpretierten junge Wiener wie Hans Hollein, Wolf Prix oder Raimund Abraham die Architektur als Illusion, Ritual und Kunstwerk. Nun führt eine neue Generation die Visionen der einstigen Avantgardisten fort. So versuchen Marie-Therese Harnoncourt und Ernst J. Fuchs seit der Gründung ihres Ateliers «the next ENTERprise» vor fünf Jahren, neue Ideen aktionistisch, konzeptionell oder architektonisch umzusetzen. Beeinflusst von der Fernsehserie «Raumschiff Enterprise», begreifen die 1967 und 1963 geborenen Baukünstler Architektur nicht als Umsetzung baulicher Massnahmen, sondern als Illusion und Experiment.

Bekanntheit erlangte das Team mit der «Hirnsegel» genannten Installation eines temporären Kunstraums unter einer Eisenbahnbrücke, für die es 1997 mit dem Preis für experimentelle Tendenzen in der Architektur ausgezeichnet wurde. Sein bisher überzeugendster Entwurf steht nun kurz vor der Fertigstellung: Es handelt sich um eine Schwimmbadanlage am Kalterersee in Südtirol, die im Frühjahr 2006 eröffnet werden soll.

Als Entwurfsgrundlage dient den beiden Architekten eine Interpretation der pittoresken Umgebung als touristische Erlebniswelt. Deshalb konzipierten sie eine bewusst artifizielle Badewelt, für die sie gleichsam einen Teil des Sees an Land «verlegen». Zudem heben sie die Schwimmbecken so vom Boden ab, dass die Landschaft in Form einer Liegewiese unter den schwebenden Bassins durchfliessen kann. «Wir wollten den See zum Fliegen bringen», meinen Harnoncourt und Fuchs dazu. Die Wasserkörper lagern auf räumlich ausgebildeten Betonstützen, deren Inneres zu Grotten mutiert und einen Whirlpool sowie einen «Regenraum» mit Duschen beherbergt. Das Wechselspiel zwischen menschlicher Intervention und vorgefundener Natur pflegen die Baukünstler bis ins Detail. Widerstandsfähiges Moos soll die Oberflächen der Betonlandschaft überziehen und so die haptische Komponente des Entwurfs unterstreichen. Wie die Avantgardisten der sechziger Jahre versucht auch «the next ENTERprise» den Grenzbereich zwischen Experiment und Realität für sich auszuloten.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.12.02



verknüpfte Bauwerke
Seebad Kaltern

01. Oktober 2004Sonja Stummerer
Martin Hablesreiter
Neue Zürcher Zeitung

Schwebender Kubus

Eine Villa der Wiener Gruppe Querkraft

Eine Villa der Wiener Gruppe Querkraft

Im März dieses Jahres zeichnete das britische Architekturmagazin «Building Design» die vier gut vierzigjährigen Architekten Jakob Dunkl, Gerd Erhartt, Peter Sapp und Michael Zinner von der österreichischen Architektengruppe Querkraft mit dem Young Architects of the Year Award 2004 aus. Die Jury würdigte die unkonventionelle Architekturauffassung des Teams, von der auch das kürzlich fertig gestellte Haus DRA in Wien zeugt. Die dreigeschossige Villa schwebt - für das Auge irritierend - über dem Abgrund eines steil abfallenden Grundstücks. Wie ein Würfel, der jeden Moment nach unten zu kippen droht, haftet der strenge Kubus mit minimalem Bodenkontakt an den Hängen des Wiener Waldes.

Die extreme Topographie und die gesetzlich vorgeschriebene Zentrierung des Gebäudes auf der kleinen Parzelle veranlassten die Architekten von Querkraft, das Bauvolumen vom Gelände abzuheben und über den Garten kragen zu lassen. Dadurch verhindern sie die Entstehung eines schmalen, umlaufenden Grünstreifens zugunsten einer überdachten Freifläche. Die eher konventionelle Ausformulierung der Innenräume lenkt die Aufmerksamkeit auf die eigentliche Qualität des Projektes. Diese liegt weniger in der Hinterfragung herkömmlicher Wohnkonzepte als vielmehr in der selbstbewussten und prägnanten Positionierung des Baukörpers im topographischen Umfeld. Nicht die Schaffung zusätzlicher Gartenfläche, sondern die Verweigerung, sich den landschaftlichen Gegebenheiten unterzuordnen, erzeugt die Spannung dieses Entwurfes. Das klassische Thema «Haus am Hang» erfährt dabei eine reizvolle Variation. Als konventioneller Geschossbau würde das Haus DRA in der Ebene wohl kaum Aufsehen erregen, gerade aber die Anwendung der scheinbar falschen Typologie am konkreten Ort macht das Gebäude zu einem markanten architektonischen Zeichen. Der Erfolg der vier jungen Baukünstler gibt ihrem Anspruch, durch das Zusammenspiel von herkömmlichen und unorthodoxen Entwurfselementen Ambivalenz zu erzeugen, Recht: Die aufstrebenden Querdenker vertreten noch bis zum 7. November Österreich zusammen mit anderen Baukünstlern an der Architekturbiennale in Venedig.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2004.10.01



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Haus DRA

07. Mai 2004Sonja Stummerer
Martin Hablesreiter
Neue Zürcher Zeitung

Urbane Wohnlandschaft

Ein Wiener Dachaufbau von Delugan & Meissl

Ein Wiener Dachaufbau von Delugan & Meissl

Der Umgang mit historischer Bausubstanz führt in Wien immer wieder zu heftigen Diskussionen. Der Um- oder Ausbau alter Fassaden und geschichtsträchtiger Gemäuer verlangt nach Meinung vieler besondere Sorgfalt. Die Stadtväter unterstützten diese Ansicht mit der Schaffung strenger Baurichtlinien. Geht es nach dem Gesetzgeber, so sollte zeitgenössische Architektur möglichst unauffällig hinter den bestehenden Gebäuden zurücktreten. Dagegen verstösst nun ein Dachausbau von Elke Delugan-Meissl und Roman Delugan. Die beiden Architekten, die seit nunmehr zehn Jahren den kommunalen Wohnbau der Donaumetropole revolutionieren, entwarfen eine Struktur aus Aluminium und Glas, welche sie als «Umsetzung der unterschiedlichen Geschwindigkeiten von Bewohnern und Umfeld» beschreiben. Die mehrschichtige Hülle, die den Aussenraum in die Wohnung zu saugen scheint, setzt auf Tiefenwirkung und Lichteinfall. Schräg verlaufende Brüstungen und eine schwebende Gaube thematisieren die Wechselwirkung von Intimität und Öffentlichkeit und erzielen gleichzeitig einen dynamischen Effekt.

Doch der ebenso spektakuläre wie gewagte Aufbau aus Metall und Glas hat - typisch wienerisch - auch eine durchaus humoristische Komponente. Im Inneren der Wohnung treiben unzählige silberglänzende Knöpfe, mit denen von den Lüftungsklappen über die Jalousien und den Videoscreen bis hin zur Klimaanlage alles betätigt werden kann, das nicht immer ganz ernsthafte Spiel von Ruhe und Bewegung auf die Spitze. Diese Technologieverliebtheit erinnert wie die gewählte Formensprache an Filmszenen, in denen James Bond seine Widersacher mit raffinierten Geräten in Schach zu halten pflegt.

Das Design jedes Details dieser Architektur ordnet sich dem Gesamtkonzept unter. Veränderbarkeit und Flexibilität sind auf ein Mindestmass reduziert. Um jeden potenziellen Störfaktor auszuschliessen, sind selbst die meisten Möbel fest im Raum verankert. Die Aussenhaut fungiert also gleichsam als Rahmen der zu Immobilien gewordenen Einrichtungsgegenstände. Selbst das Bett schwebt unverrückbar im Schlafzimmer. Delugan spricht vom städtebaulich orientierten Bett, denn die Richtung des Möbelstücks folgt nicht den Wänden des Raumes, sondern den urbanen Achsen der Umgebung. Die unmittelbar an das Bett anschliessende Badewanne, die den Übergang von Schlaf- zu Waschraum manifestiert, verdeutlicht diese Entwurfsidee.

Sämtliche Elemente der Wohnung scheinen bis ins letzte Detail durchdacht und gestaltet zu sein. Kein unnötiges Dekorationsobjekt, kein Kunstwerk stört die perfekte Aufmachung dieses auf den ersten Blick unpersönlichen Refugiums. Kein Buchrücken, kein privater Gegenstand erlaubt dem Besucher schnelle Rückschlüsse auf den sozialen Status, den Beruf oder die Lebensweise der drei Bewohner. So wird der Raum an sich zum einzigen Repräsentationsobjekt, das Apartment zum scheinbar einzigen Besitztum, während die Gegenstände des täglichen Lebens hinter ungezählten Türen verschwinden. Mit seiner «idealistischen» Forderung, architektonische Konzeptionen auch im privaten Wohnalltag konsequent weiterzuleben, schuf sich das Duo eine gebaute Visitenkarte, in der die Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben verschwimmen. Dennoch dient dieses aussergewöhnliche Penthouse nicht allein der Selbstdarstellung zweier Architekten, sondern auch dem Fortgang einer kulturellen Debatte. Delugan & Meissl verweisen mit ihrem Entwurf auf die Notwendigkeit, den Raum immer wieder neu zu erforschen.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2004.05.07



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Ray 1

07. Juni 2002Martin Hablesreiter
Neue Zürcher Zeitung

Eine Stadt setzt auf das Fremde

Die japanische Hafenstadt Yokohama ist stolz auf ihre Weltoffenheit. Diese spiegelt sich vermehrt auch in der Architektur. So wurde das jüngste Wahrzeichen der Stadt, der im Hinblick auf die Fussball-WM in Auftrag gegebene Osanbashi Pier, vom jungen Londoner Architekturbüro Foreign Office Architects (FOA) errichtet.

Die japanische Hafenstadt Yokohama ist stolz auf ihre Weltoffenheit. Diese spiegelt sich vermehrt auch in der Architektur. So wurde das jüngste Wahrzeichen der Stadt, der im Hinblick auf die Fussball-WM in Auftrag gegebene Osanbashi Pier, vom jungen Londoner Architekturbüro Foreign Office Architects (FOA) errichtet.

Am 30. Juni 2002 werden gut 70 000 Menschen live im International Stadium von Yokohama das Finale der Fussball-WM zusammen mit Millionen von Zuschauern vor den Fernsehbildschirmen mitverfolgen. Dass dieses Grossereignis in der Nachbarstadt von Tokio und nicht in der Hauptstadt stattfindet, lenkt das Interesse auf die drei Millionen Einwohner zählende Metropole. Yokohama spielt eine Sonderrolle seit dem Aufstieg des ehemaligen Fischerdörfchens zum bedeutendsten Hafen Japans, der um 1850 einsetzte. Der Einfluss fremder Kulturen prägt noch heute das Stadtbild. Dieses ist wie nirgends sonst auf dem Archipel von der europäischen Architektur des 19. Jahrhunderts geprägt. Yokohamas Stadtväter sind nach wie vor darauf bedacht, den Ruf einer modernen, internationalen Metropole zu bewahren. So steht der alten Uferpromenade mit ihren ehrwürdigen, an Pariser Vorbilder erinnernden Hotels heute eine neue Küstenlinie mit Hochhäusern, Einkaufszentren und dem höchsten Gebäude Japans gegenüber. Hier soll das ehrgeizige, Minato Mirai 21 - Hafen der Zukunft 21 - genannte Projekt entstehen, das auf neu gewonnenem Land dereinst Arbeitsplätze für 190 000 Menschen bieten soll.


Zukunftsweisende Architektur

Rechtzeitig zur Weltmeisterschaft konnte am 30. Mai ein neuer Passagierterminal für den Fährverkehr mit Südkorea eröffnet werden, der in den nächsten Wochen vor allem dem Transport der Fussballfans zwischen den Austragungsorten dienen wird. Der neue, Osanbashi Pier genannte Terminal mit seinen aussergewöhnlichen Formen soll Yokohamas architektonisches Wahrzeichen werden, ganz ähnlich wie Jørn Utzons Opernhaus in Sidney. Schon das Ergebnis des anonymen Architekturwettbewerbs von 1995 war eine Sensation. Das bis dahin unbekannte Londoner Büro FOA gewann gegen internationale Stars wie Kazuyo Sejima oder das Team von Future Systems. Die 1965 geborene Iranerin Fashid Moussavi und der zwei Jahre ältere Spanier Alejandro Zaera- Polo hatten gerade ihre Bürogemeinschaft gegründet und an der renommierten Architectural Association in London zu lehren begonnen, als sie der Wettbewerbsentscheid plötzlich ins Rampenlicht rückte. Der Juryvorsitzende Arata Isozaki, ein Altmeister der japanischen Architekturszene, zeigte sich sogleich überzeugt vom Ansatz des jungen Teams, den Computer in den Entwurfsprozess einzubeziehen und damit geometrische Formen zu entwickeln, die bis dato für unrealisierbar gegolten hatten.

Der zukunftsweisende Einsatz des Computers war als Auswahlkriterium ebenso entscheidend wie der Wunsch der Stadt Yokohama, mit einem architektonischen Zeichen ihre Rolle als internationales Zentrum zu unterstreichen. Isozaki selbst soll beim Öffnen des Verfasserbriefes entzückt gewesen sein, dass der Name des Siegerteams FOA - Foreign Office Architects - lautete. In einer Zeit, in der Fremdenfeindlichkeit wieder salonfähig zu werden droht, entschieden sich zwei fremde Architekten in London, ihre gesellschaftliche Randposition gezielt für die Benennung ihres Büros zu verwenden. Der wohl auch ironisch verstandene Name hat sich als glückliches Omen erwiesen, denn in der Stadt Yokohama hat FOA eine Auftraggeberin gefunden, die das Fremde als Qualität betrachtet. Sowohl für FOA als auch für die Bauherrschaft hat die bewusste Aufnahme von äusseren Einflüssen besondere Bedeutung. Das Fremde und das Fremdsein werden gesucht, um daraus genau das zu schöpfen, was in Europa gerne als Trend bezeichnet wird. Insofern benützten die Architekten und die Klientin einander gegenseitig, um ihre jeweilige Position perfekt einzubringen.


Architektur als Landschaft

In einem vor kurzem geführten Gespräch mit Alejandro Zaera-Polo meinte dieser, Fashid Moussavi und er hätten den Nerv der Zeit im exakt richtigen Moment getroffen. In der Tat enthielt der Entwurf von FOA konzeptuelle Komponenten, die 1995 gerade den Diskurs in zukunftsorientierten Architektenkreisen bestimmten. Der Einsatz des Computers, Analysen der Bewegungen der künftigen Benutzer oder auch die Gestaltung von urbanen Landschaften galten damals als ebenso neu wie trendy.

In Yokohama hat die Offenheit gegenüber dem Fremden Tradition, wurde doch in dieser Stadt nach jahrhundertelanger Isolation der erste internationale Hafen Japans eröffnet. Gesandte und Geschäftsleute aus dem Westen lebten hier neben Seidenhändlern aus China. Noch heute befindet sich die grösste Chinatown Japans im ehemaligen Ausländerviertel. Aber auch das unweit davon gelegene höchste Gebäude des Landes, eine Arbeit des Amerikaners Hugh Stubbins, zeugt von der immer wieder praktizierten Extravertiertheit der Stadt. Internationale Einflüsse und Bauten ausländischer Architekten sind in Japan immer noch etwas Besonderes. Doch in Yokohama kennt man keine Berührungsängste.

Die Küstenlinie, an der nun der Passagierterminal von FOA liegt, ist schon seit längerem ein Ort des Staunens, weil man urbane Imagepflege in Japan nur selten findet. Im Fall von Yokohama aber spielt sie eine wesentliche Rolle. Sonntag für Sonntag kommen Menschenmassen aus dem benachbarten Tokio, um zu flanieren und um sich umzusehen. Wirkt die Szenerie aus Shopping- Center, Vergnügungspark und internationalen Hotels auf europäische Betrachter eher gewöhnlich, so ist sie für Japaner in dieser Art etwas Besonderes. Allerdings sind sie sich der Vergänglichkeit dieses Stadtbildes bewusst. Denn da die derzeitige architektonische Ufergestaltung dem Diktat des Marktes folgt, ist es durchaus möglich, dass sie sich in zehn Jahren ganz anders präsentieren wird.


Internationale Resonanz

Selbstverständlich will sich Zaera-Polo von dieser Art Stadtraum abgrenzen, doch eine Verwandtschaft im Geiste bleibt. Jede Art von Einfluss wird aufgesogen und sofort umgesetzt, denn Flexibilität ist wichtig, um den Anforderungen der Zeit zu entsprechen. Die beiden Architekten sind seit langem in Bewegung, haben in Amerika und London studiert, bei Koolhaas in Rotterdam gearbeitet, und Zaera-Polo beharrt mit Nachdruck darauf, keine ersichtlichen spanischen Einflüsse in seiner Arbeit zu haben. Als Erste einer ganzen Architektengeneration waren Foreign Office Architects in der Lage, ihre Ideen in einem derart grossen Massstab umzusetzen, und man darf gespannt sein, ob das Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen der weltoffenen Stadtregierung Yokohamas und den fremden Jungstars auch nach Ende der Fussball-WM die gewünschte internationale Resonanz bringen wird.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2002.06.07



verknüpfte Bauwerke
Yokohama International Port Terminal

12. März 2002Martin Hablesreiter
Neue Zürcher Zeitung

Eine Laterna magica in der Ginza

Fast jeder kennt sie als eine der teuersten Gegenden der Welt: die Ginza in Tokio. Das vornehme Einkaufsviertel steht seit langem für Luxus, Tradition...

Fast jeder kennt sie als eine der teuersten Gegenden der Welt: die Ginza in Tokio. Das vornehme Einkaufsviertel steht seit langem für Luxus, Tradition...

Fast jeder kennt sie als eine der teuersten Gegenden der Welt: die Ginza in Tokio. Das vornehme Einkaufsviertel steht seit langem für Luxus, Tradition und grosse Marken. Der Wirtschaftsboom der achtziger Jahre liess in diesem Quartier Tokios die Bodenpreise derart in die Höhe schnellen, dass nur japanische Unternehmen in der Lage waren, hier zu bauen. Die begehrten ausländischen Produkte hingegen wurden in den vielen Nobelkaufhäusern angeboten. Der Zusammenbruch der «Bubble Economy» machte den teuren Boden nun auch für internationale Firmen wieder erschwinglich. Hermès leistete sich als bislang erstes und einziges europäisches Modehaus den Luxus, in der Ginza einen Repräsentationsbau zu errichten. Mit Entwurf und Planung des 13-stöckigen Gebäudes wurde Italiens Stararchitekt Renzo Piano beauftragt.

Der Umstand, dass kein anderes europäisches Designerlabel ein eigenes Haus in der Ginza unterhält, scheint unverständlich in Anbetracht von Prestige und Charakteristik dieses Stadtteils. Trotz der Nähe zum kaiserlichen Palast und den vielen japanischen Geschäften ist ein Grossteil des Warenangebots westlich orientiert. Traditionelle Kimonos werden neben Schweizer Chronometern, handgeschöpftes Papier wird neben französischen Schuhen verkauft. Die edelsten westlichen Produkte werden in der Ginza angeboten, denn der Stadtteil verstand sich schon immer als kommerzielles Tor zum Westen. Hier wurden neue Errungenschaften aus Übersee vorgestellt und dem japanischen Publikum schmackhaft gemacht. Selbst die Abwicklung der Geschäfte war und ist hier für japanische Kunden ungewöhnlich. So entstand in der Ginza einst das erste Kaufhaus Japans, in dem das Betreten ohne das obligatorische Ausziehen der Schuhe möglich war, und ein junger Pharmazeut eröffnete hier die erste westliche Apotheke des Landes. Aus dieser sollte später der Weltkonzern Shiseido entstehen, der sich erst kürzlich vom Spanier Ricardo Bofill das repräsentative Ginza Shiseido Building errichten liess.

Die Ginza war immer schon ein Ort des Staunens und der Attraktionen. Auf die daraus hervorgehende Erwartungshaltung antwortete Renzo Piano mit einer spektakulären Fassade aus speziell angefertigten Glasbausteinen. Dabei verfremdete er den in den sechziger Jahren so beliebten Baustoff bewusst, indem er ihn vor das Gebäude hängte und so einen gelungenen Kommentar zur Geschichte und zum gegenwärtigen Erscheinungsbild der Ginza schuf. Die Verwendung von Glasziegeln kann als historisches Zitat verstanden werden, war doch die Ginza das erste Viertel Tokios, dessen Häuser aus Ziegeln gebaut wurden. In Japan, wo der Holzbau eine lange Tradition hat, erhielten die nach englischem Vorbild ausgeführten Strassenzüge bald den Spitznamen «Bricktown».

Der neue Flagship-Store von Hermès besticht wegen dieser Fassade und besitzt mit ihr einen würdigen Werbescreen. Die aufwendige und doch schlichte Glashaut kontrastiert angenehm mit dem bunten Flimmern der leinwandgrossen Bildschirme an den umliegenden Gebäudefronten. Der feine Raster der Steine und die optische Verzerrung schaffen eine mysteriöse Hülle, die vieles verbirgt und alles Dahinterliegende zum Objekt der Begierde erhebt. Die kraftvolle Wirkung der Fassade wird bei Einbruch der Dunkelheit noch verstärkt, wenn warmes Licht gleichmässig aus dem Inneren des Gebäudes dringt. Das Geschäftshaus verwandelt sich damit in ein freundlich leuchtendes Objekt am Eingang der Ginza. Eine magische Laterne soll es sein, sagt Hermès und erinnert damit an den fernöstlichen Brauch, die Pforten von Restaurants und Geschäften mit Lampions zu schmücken. Piano gelingt es, die Metapher der magischen Laterne, die die Traditionen der Ginza und des Standorts Japan mit jenen des Modehauses vereinen soll, in ein modernes Kostüm zu kleiden.

Leider kommt dieser Hang zur Tradition im Inneren des Gebäudes auf ganz andere Weise zum Tragen. Das Interieur wurde nämlich nicht von Piano, sondern von Rena Dumas, der Gattin von Hermès-Chef Jean-Louis Dumas, gestaltet. Zeitlos elegant soll das gediegene Ambiente der Verkaufsräume wohl sein, doch leider ist es nur aussergewöhnlich langweilig. Die Einmaligkeit der Aussenhülle wird im Inneren von einer Austauschbarkeit abgelöst, die den Kunden nicht mehr klar erkennen lässt, ob er sich in Paris, New York oder Tokio befindet. Die Fassadenarchitektur wird als augenfälliges Aushängeschild genutzt, um die Präsenz der Marke zu signalisieren, der Name und das Können des Stararchitekten als Werbeträger. Die Enttäuschung beim Betreten des attraktiven Bauwerks ist gross. Es erweckt den Eindruck, als sei der Architekt nur noch als imageträchtiger Fassadenmacher und - gleich einem Supermodel - als teurer Botschafter einer Marketingstrategie engagiert worden.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2002.03.12



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