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26. April 2019Paul Knüsel
TEC21

Ein Wasserschloss mit «Trockenregionen»

Wie setzt der Klimawandel dem Wasserreichtum in der Schweiz zu? Zwar sprudeln Grundwasser und Quellen auch in Trockenzeiten munter weiter. Dennoch sind saisonale und regionale Engpässe zu erwarten. Die Infrastruktur und die Bewirtschaftung der öffentlichen Trinkwasserversorgung müssen zwingend verbessert werden.

Wie setzt der Klimawandel dem Wasserreichtum in der Schweiz zu? Zwar sprudeln Grundwasser und Quellen auch in Trockenzeiten munter weiter. Dennoch sind saisonale und regionale Engpässe zu erwarten. Die Infrastruktur und die Bewirtschaftung der öffentlichen Trinkwasserversorgung müssen zwingend verbessert werden.

Die Erinnerung an die letztjährige Hitzewelle treibt den Schweiss noch heute auf die Stirn: Das Thermometer kletterte wiederholt über 35  °C und sank in einigen Städten wochenlang selbst in der Nacht nicht unter 20  °C. Der nationale Wetterdienst registrierte 2018 den wärmsten je ge­messenen Sommer und den höchsten Jahresmittelwert. Das unmittelbare Empfinden, wie heiss es werden kann, stimmt mit den Messungen der Klimaforscher also überein. Nicht so einfach nachvollziehbar ist hingegen, wie sich der Treibhauseffekt auf den Niederschlag auswirkt. Von Januar bis Dezember 2018 schlug das Pendel heftig nach oben und ebenso stark nach unten aus.

Im Winter fiel Schnee in noch nie gemessener Menge auf die ­Walliser und Bündner Berge. Auch im Mittelland war es in der kalten Jahreszeit ausgesprochen nass. Viele Grundwasservorkommen waren reichlich gefüllt, als zur ­Hitzewelle eine monatelange Trockenheit dazu kam. In vielen Regionen sank der Grundwasserspiegel trotzdem auf ungewohnt tiefes Niveau. Am stärksten betroffen war die Ostschweiz: Hier sank die Niederschlagsmenge gegenüber einem Normaljahr um 40 %.

Die Schweiz ist das Wasserschloss Europas; der Regen sowie die Schnee- und Gletscherschmelze verteilen sich via Inn, Ticino, Rhone, Doubs und Rhein über den ganzen Kontinent. Der Abfluss ist derart üppig, dass auch die inländische Wasserversorgung ausreichend profitiert. Die zahlreichen Quellen, Grundwasserströme und Seen werden auch angesichts des Klimawandels kaum versiegen. Dennoch dürfte der Wassernutzungskreislauf ins Stocken geraten, weil Angebot und Nachfrage räumlich und zeitlich auseinanderdriften.

Reserven und Gewissheiten schwinden

Das Dargebot gleicht einem komfortablen Überfluss: Nur etwa 10 % des Grundwassers wird effektiv genutzt. Und die meisten Trinkwasserpumpen können bei Bedarf das Doppelte liefern. Allerdings sind diese Gewissheiten seit 2003, ebenso wie die tatsächlichen Reserven, zumindest temporär am Schwinden. Inzwischen bleibt der Regen jedes vierte Jahr in irgendeiner Region wochen- bis monatelang aus. An öffentliche Aufrufe zum sparsamen Umgang mit Wasser hat man sich bereits gewöhnt. Und dass die Trinkwasserversorgung einiger Gemeinden vorübergehend per Tankwagen sichergestellt wird, ist auch nicht mehr ungewöhnlich.

Hydrologen erwarten tatsächlich einen Rückgang der Reserven, unter anderem weil die Gletscher schrumpfen. Quellen im gebirgigen Karst und Grundwasser, das im Schotterbett unter den Tälern hindurchfliesst, werden in den folgenden Jahrzehnten bis zu 20 % Ergiebigkeit verlieren. Kommen längere Trockenzeiten hinzu, kann dies etlichen Regionen in den Voralpen oder im Jura prekäre Versorgungslagen bescheren. Dennoch wissen viele Gemeinden nicht, woher sie das Wasser beziehen sollen, wenn nicht aus den bislang sprudelnden Quellen. Die Bergkantone decken sich zu 80 % damit ein; ansonsten wird Trinkwasser mehrheitlich aus dem Grundwasser hochgepumpt. Als dritte Versorgungsvariante steht Seewasser zur Verfügung. Jeder fünfte Liter Trinkwasser wird in der Schweiz daraus aufbereitet. Die Bezugsquellen und das hydrologische Einzugsgebiet bestimmen deshalb, auf welche Dargebotsschwankungen man sich lokal und regional gefasst machen muss.

Nicht überall sind das Knappheitsrisiko und die gefährdeten Orte bekannt. Immer noch scheinen manche unvorbereitet auf die nächste Trockenphase zu warten. Weil die Trink- und Brauchwasserversorgung eine kommunale Aufgabe ist, fehlt eine generelle Übersicht. Der Wissensstand der Verantwortlichen, die in Gemeinden, Genossenschaften oder Korporationen arbeiten, ist höchst unterschiedlich. Auch darum fühlte sich der Bund berufen, auf abschätzbare Veränderungen in regionalen Wasserkreisläufen aufmerksam zu machen. Und siehe da: Einige Kantone haben potenzielle ­«Trockenregionen» entdeckt.

Überforderte Versorgungsinfrastruktur?

Eine Ersterkundung hat man inzwischen in der Urschweiz durchgeführt. Für die weitläufige Region rund um den Vierwaldstättersee hat ein nationales Pilot­projekt überprüft, wo Wasser knapp werden kann. Die Analyse der 59 Gemeinden – von der Stadt Luzern bis zum Urner Bergdorf Realp – liefert wenig Grund, Alarm zu schlagen. Doch periphere Lagen sollten aufhorchen: Weil entlegene Gemeinden wassertechnisch meistens autonom funktionieren, können lokale Versorgungsengpässe auftreten. Grund dafür sind aber nicht nur die Lage oder fehlende Ausweichvarianten, sondern auch eine steigende Wassernachfrage. Zwar zählen die Schweizer Haushalte zu den sparsamsten in Europa. Und zudem sinkt der Konsum kontinuierlich, wie der Schweizerische Verband des Gas- und Wasserfachs jährlich ausweist. Doch sobald es heiss wird und der Regen ausbleibt, steigt der Durchfluss in bestehenden Anschlüssen. Aber es kommen auch neue Ansprüche dazu: In Landwirtschaftsregionen sind Äcker, Wiesland, Obstplantagen und Rebberge zu bewässern. Und in wachsenden Agglomerationen nimmt mit der Bevölkerung auch der Grund- und Trinkwasserverbrauch zu. Erste Kantone wie Thurgau oder Luzern warnen aufgrund eigener quantitativer Abschätzungen: «Die Bevölkerungsentwicklung und das tendenziell rückläufige Dargebot werden potenzielle Engpässe zunehmend verschärfen.»[1]

Hat das Hitzejahr 2003 die Umweltbehörden erstmals aufgerüttelt, war die Überraschung über die letztjährige Trockenheit eigentlich unberechtigt. Zudem weiss man seit 2014, wie die «Zukunftsstrategie zur Sicherung der Ressource Wasser» in der Schweiz aussehen soll. Formuliert hat sie das Nationale Forschungsprogramm 61 «Nachhaltige Wassernutzung in der Schweiz». Die zentrale Erkenntnis ist wie so oft: Es gibt noch viel zu tun; auf fast alle Regionen kommen neue Aufgaben zur Vorsorge zu. Verknappt der Klimawandel die Wasserressourcen, verschärft der wachsende Nutzungsdruck das Versorgungsproblem. Einiges wirkt hausgemacht, etwa in Tourismusgebieten, deren Wasserbedarf für das Beschneien von Skipisten steigt. Oder überall dort, wo das Siedlungswachstum bestehende Trinkwasserfassungen verdrängt. Das NFP 61 schätzt, dass jede zweite Gemeinde bereits Schutzzonen überbauen liess, ohne die eine Grundwasserpumpstation rechtlich als nicht gesichert gilt. Solche Versäumnisse in der Siedlungsplanung sind aber schweizweit ein Problem (vgl. «Trinkwasser im Dichtestress», S. 27). Die Gefahr droht, dass sich Gemeinden selbst den sicheren Zugang zu den eigenen Wasserressourcen versperren.

Regionale Eingriffe in den Kreislauf

Auch anderswo greift der Mensch über Gebühr in den natürlichen Wasserkreislauf ein. Die Siedlungsentwässerung und die Abwasserreinigung beeinflussen die Hydrologie vieler Regionen. Im Basel­biet hat man untersucht, wie viel Wasser zur Speisung der natürlichen Reserve fehlt, weil es nicht mehr an Ort und Stelle versickern kann. Und eine regio­nale ARA stört das natürliche Einspeisen von Wasser in den Untergrund stärker als ein dezentrales Abwassersystem. Technische Massnahmen wie künstliche Filter für leicht verschmutztes Meteorwasser können durchaus Abhilfe schaffen. Doch damit sich Gemeinden überhaupt einen Überblick über die hydrologischen Verhältnisse ihrer Umgebung verschaffen können, braucht es übergeordnete Planungsinstrumente. Ein solches ist die Generelle Wasserversorgungsplanung (GWP); nur ist sie nicht überall bekannt. Einzelne Kantone vernachlässigen zudem ihre Aufsichtspflicht.[1] Auf der Strecke bleibt eine angemessene Vorsorge und die Gewähr einer jederzeit funktionierenden, flächendeckenden Versorgungssicherheit.

Nur: Fast 3000 Organisationen kümmern sich um die Trinkwasserversorgung der Haushalte und Gewerbebetriebe in der Schweiz, mehr als es Gemeinden gibt. Diese Verzettelung ist unproblematisch, solange jede auf Nachfrageschwankungen unmittelbar reagieren kann. Doch ein einziger Anschluss an das Grundwasser bedeutet in regenarmen Wochen: Es fehlen Ausweichvarianten. Gewässerexperten raten deshalb zur übergeordneten Vernetzung, die ganze Regionen mit neuen unterirdischen Trinkwasserleitungen verbinden soll. Grenzüberschreitende Wasseranschlüsse helfen, lokale Trockenperioden zu überbrücken. Denn die Wasserverknappung wird dort zum Verteilproblem, wo die Versorgungsinfrastruktur dezentral, isoliert und ohne Redundanz organisiert ist. Auf eine Verbesserung dieses strukturellen Handicaps zielt das Bundesprojekt «Sichere Wasserversorgung 2025» ab. Für das nachhaltige Wasserressourcenmanagement sind sowohl die Ressourcen als auch die Infrastruktur zu überprüfen.

Der Blick in die Landschaft beweist, dass es einen regen Zuwachs an Grundwasserpumpwerken für regionale Bedürfnisse gibt und einzelne Neubauten auch architektonischen Ansprüchen genügen können. Von den Vorteilen eines grossräumigen Verteilnetzes profitiert etwa die Agglomeration Zürich: Die angeschlossenen Gemeinden greifen bei zeitweise versiegenden Quellen gern auf das reichliche Wasserangebot der Stadt Zürich zurück. Denn deren Versorgungskapazität wird wesentlich vom Zürichsee bestimmt.

Seewasser als teure Alternative

Nicht nur die grösste Stadt der Schweiz, auch Luzern, Genf oder Neuchâtel decken weit über die Hälfte ihres Eigenbedarfs mit Wasser der angrenzenden Seen. Vor 80 Jahren entstanden die ersten Seewasserwerke zur Trinkwasseraufbereitung. Inzwischen ist der Anteil schweizweit auf 19 % gestiegen. Auch hier sind weitere Vorhaben in Planung, um saubere Oberflächengewässer als fast unerschöpfliche Trinkwasserreservoire zu erschliessen. Dennoch ist die hygienische Aufbereitung im Vergleich zu Grund- und Quellwasser bedeutend aufwendiger. Zudem hat der Hitzesommer 2003 auch die Seewasserversorger überrascht: Nicht die Menge war das Problem, sondern der Sauerstoffgehalt des ungewöhnlich warmen Wassers sank. Aus welcher Tiefe es abgepumpt wird, bestimmt daher die Qualität der Ressource wesentlich mit.

Die Schweiz bleibt trotz Klimawandel und Gletscherschmelze ein Wasserschloss; der nasse Rohstoff wird kaum versiegen. Trotzdem werden sich saisonale und regionale Wasserbilanzen stark verändern. Damit haben sich die Kantone und Gemeinden zwingend auseinanderzusetzen. Wenn der Regen über Tage, Wochen oder Monate ausbleiben sollte, darf dies mittelfristig keinen Trinkwasserverantwortlichen mehr ins Schwitzen bringen.


Quellen:
[01] Regierungsrat Kanton Luzern, Antwort auf parlamentarische Vorstösse Februar 2019.
[02] Nationales Forschungsprogramm 61 «Nachhaltige Wassernutzung in der Schweiz», SNF 2014 (www.nfp61.ch).
[03] Bundesamt für Umwelt: Wasserressourcenmanagement mit Fallstudien (www.bafu.admin.ch).

TEC21, Fr., 2019.04.26



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TEC21 2019|16-17 Trinkwasser: Der Kreislauf stockt

26. April 2019Paul Knüsel
TEC21

Trinkwasser im Dichtestress

Der Bund schlägt Alarm: Hunderte Grundwasserbrunnen sind von der Stilllegung bedroht, weil sie ungenügend geschützt sind. Die Raumplanung hat zu wenig aufgepasst. Der Kanton Solothurn will nun Gegensteuer geben.

Der Bund schlägt Alarm: Hunderte Grundwasserbrunnen sind von der Stilllegung bedroht, weil sie ungenügend geschützt sind. Die Raumplanung hat zu wenig aufgepasst. Der Kanton Solothurn will nun Gegensteuer geben.

Oensingen ist beileibe nicht der Motor der Schweiz, aber ein Zahnrad, das läuft und läuft. Im fleissigen Dorf, eingeklemmt zwischen Autobahn A2 und Jurahügeln, verkehren fast so viele Arbeiter wie ständige Einwohner. Auch deshalb übertrifft die 6000-Seelen-Gemeinde das nationale Bruttoinlandprodukt um 35 %. Für die «Hauptstadtregion Schweiz», die das westliche Mittelland umfasst, ist Oensingen ein «Top-Entwicklungsstandort». Dumm nur, dass man sich dort eben selbst das Wasser abzugraben scheint. Nicht, was die wirtschaftliche Leistung betrifft, sondern im wahrsten Sinn des Worts: Das Grundwasserpumpwerk Moos, das sämtliches Trink- und Brauchwasser für die Haus­halte und Firmen liefern muss, wird vor allem von ­Letzteren bedrohlich eingekreist. Es steht mitten in einem fast 1 km2 grossen Gewerbegebiet, was für Gewässerexperten eine Art Tabubruch ist. Vor 50 Jahren wurde die Pumpstation auf Ackerland weit ausserhalb des Siedlungsgebiets gebaut. Jetzt ist es eingekesselt: Die Anlage, die sauberes Grundwasser aus 30 m Tiefe an die Erdoberfläche holt, ist sogar akut bedroht. Das kantonale Amt für Umwelt verlangt von der Gemeinde inzwischen, die Wasserbeschaffung so schnell wie ­möglich besser abzusichern und nach Alternativen zu suchen. Wir befragten den kantonalen Experten.

TEC21: Herr Hug, warum darf das Pumpwerk Moos nicht weiterhin Grundwasser fördern?

Rainer Hug: Wasser liefert der Brunnen effektiv genug, und auch die Qualität ist bislang nicht zu beanstanden. Doch das Problem ist: Das Einzugsgebiet der Fassung ist zu wenig gut geschützt.

Warum nicht?

Die Fassung liegt mitten in einer Industriezone, und rundherum ist praktisch alles überbaut. Damit steigt das Risiko, dass das Grundwasser unmittelbar verunreinigt werden kann. Gefährlich sind etwa Heizöltanks oder Betriebs­tank­stellen; bei Lecks oder anderen Zwischenfällen kann Öl oder Benzin in den Untergrund versickern. Noch problematischer sind die benachbarten Abwasser­leitungen: Falls diese undicht werden, können sie das Grundwasser lange Zeit unbemerkt verschmutzen.

Werden gesetzliche Regeln nicht beachtet?

Die Gewässerschutzverordnung schreibt für jede Pumpstation einen Umkreis von mindestens 100 m vor, der frei von Bauten und Anlagen zu halten ist. Dieser Sicherheitsabstand wird mit den Grundwasserschutzzonen 1 und 2 festgelegt. Er muss noch grösser sein, wenn das Grundwasser nicht mindestens zehn Tage braucht, um vom Rand der Freihaltezone bis zur Pumpfassung zu fliessen. In dieser Zeit soll der Boden eventuelle Verunreinigungen filtern oder bakteriell abbauen können.

Was kann die Gemeinde jetzt tun?

Zum einen soll die Gemeinde künftig das Wasser in der Fassung und im nahen Einzugsgebiet kontinuierlich auf potenzielle Schadstoffe über­wachen. Zum anderen muss sie sich auf ein zweites Standbein für die Wasserbeschaffung abstützen können, etwa indem sie sich an einer bestehenden, gut geschützten Grundwasserfassung anschliesst. In der Nachbarschaft stehen beispielsweise leis­tungs­­fähige und nahezu konfliktfreie Fassungen mit Reserven für einen Anschluss bereit.

Muss die eigene Fassung nicht aufgehoben werden?

Oensingen hat eine Frist von zehn Jahren erhalten. Ab dann darf das Pumpwerk Moos nur noch reduziert benutzt werden. Und ab dann soll das Werk bei einer Verunreinigung vom Netz genommen werden können, ohne die Versorgung der Gemeinde einschränken zu müssen. Trotzdem muss die ­Ge­meinde die Grundwasserschutzzone nun so weit möglich an die gesetzlichen Vorgaben anpassen. Kann die 100-m-Regel nicht eingehalten werden, braucht es andere, verschärfte Schutzmassnahmen.

Warum muss das nicht schneller gehen?

Rechtlich ist die Situation sogar so: Die Konzession für die Grundwassernutzung läuft erst 2040 ab. Den Schutzstandard jetzt schon zu aktua­lisieren war das Resultat von Verhandlungen zwischen dem Kanton und der Gemeinde. Da nun die letzten Flächen in der Schutzzone S3 überbaut ­wer­den sollen, musste der Kanton intervenieren. Die hydrogeologischen Bedingungen an diesem Standort entschärfen das Problem aber ein wenig: Der Grundwasserträger befindet sich im Vergleich zu anderen Fassungen weit unten. Dank der mächtigen Schutzschicht ist das Grundwasser von Oensingen besser geschützt, was uns Zeit für die Umsetzung gibt.

Ist Oensingen ein Spezialfall?

Leider nein, sondern beispielhaft für ein halbes Dutzend Trinkwasserfassungen im Kanton Solothurn. Die Ausdehnung des Siedlungsraums und der Bau von Verkehrsinfrastruktur wie Strassen und Tunnels setzen den Schutz der bestehenden Versorgung unter grossen Druck. Dass eine Grundwasserschutzzone S2 überbaut ist oder sich mit rechtmässigen Bauzonen überlagert, trifft jedoch für viele Gemeinden im gesamten Schweizer Mittelland zu.

Jede fünfte Anlage ist in Gefahr

Mindestens so langsam, wie Wasser durch den Boden sickert, so viel Zeit braucht es, bis Warnungen vor steigendem Nutzungsdruck an die Öffentlichkeit dringen. Vor 20 Jah­ren trat die nationale Gewässerschutzverordnung in Kraft, die alle Pumpstandorte angemessen schützen und weiträumige Schutzzonen vorschreiben soll. Ende 2018 liess der Vollzugsbericht des Bundesamts für Umwelt (Bafu) aufhorchen. Die befragten ­kantonalen Fachstellen beklagten sich über «schwerwiegende Konflikte» und «unzulängliche Zonenausscheidungen» in den Gemeinden.[1] Die Angaben liefern weitere Details zu diesem Versäumnis: Mehr als ein Drittel der Trinkwasserfassungen hält die rechtlichen Vor­gaben nicht ein. Und mindestens jede fünfte Anlage braucht zusätzliche Schutzvorkehrungen, um von einer sicheren Versorgung sprechen zu dürfen.

Allein der Kanton Bern musste in den vergangenen Jahren über 100 Fassungsgebiete aufheben und 350 Einzelfassungen stilllegen. Der Konflikt mit der Raumplanung hat gemäss dem Fachverband SVGW dazu geführt, dass fast jeder dritte Wasserversorger in den letzten 20 Jahren ein Fassungsgebiet schliessen musste. Doch die Kantone sind weiterhin ratlos, wie sie von den Gemeinden rechtskonformen Zustand einfordern können. In der Umfrage teilen sie dem Bafu zudem mit: «In dicht besiedelten Regionen ist es äusserst schwierig, geeignete Ersatzstandorte zu finden.»

Herr Hug, wie sieht die Situation in Solothurn aus: Wie viele Reservestandorte stehen zur Verfügung?

Auch bei uns ist der Raum knapp. Der Kanton Solothurn verfügt über drei grosse Grundwasservorkommen, die zu den grössten im Mittelland gehören. Trotz Wasserreichtum wird es zunehmend schwierig, freie Räume für die Trinkwasserproduktion zu finden. Zwischen Olten und Aarau setzt der Kanton nun mit 20 Gemeinden einen regionalen Wasserversorgungsplan um. Dort werden über 60 000 Menschen aus zehn Grundwasserfassungen versorgt. Vier davon müssen stillgelegt werden. Wir konnten zwei Ersatzstandorte bestimmen. Auch in diesem Raum verunmöglichen bereits überbaute Flächen oder ein im Bau befindlicher Eisenbahntunnel weitere Optionen.

Kann dies Versorgungsengpässe verursachen?

Wir haben kein quantitatives Problem; nicht einmal im trockenen Sommer 2018. In vielen Fassungen werden jeweils nur 30 bis 40 % des Dargebots effektiv ausgeschöpft. Das Problem ist, zusätzliche freie Nutzungsräume zu finden und nachhaltig zu schützen. Die jetzige Infrastruktur hat genug Reserve; Anschlüsse für Nachbargemeinden sind an vielen Orten möglich. Wir empfehlen deshalb, eher neue Leitungen zu bauen als neue Fassungen. Aber wichtig ist, dass jede Gemeinde ein zweites Standbein in der Trinkwasserversorgung aufbauen kann.

Was heisst das?

Dazu werden zwei Anschlüsse benötigt, an jeweils hydrogeologisch möglichst voneinander getrennte Grundwasservorkommen. Eine sichere Versorgungsinfrastruktur besteht daher aus zwei unabhängigen Pumpwerken und Einspeiseorten. Diese Versicherungs- und Vorsorgelösung lässt sich oft mit einer Regionalisierung verbinden. Doch häufig bremsen politische Befindlichkeiten eine Vernetzung. Die Wasserversorgung ist historisch kleinräumig gewachsen. Eine übergeordnete Planung kann schnell Widerstände provozieren. Die Gründe, warum man sich vernetzen soll, verstehen nicht alle Gemeinden. Erwidert wird: Wir haben sauberes Wasser und bezahlen wenig dafür. Warum soll man daran etwas ändern?

Hat der Kanton keine hoheitlichen Befugnisse?

Konzessionserneuerungen sind wichtige Hebel, um den Ersatz von schlecht geschützte Fas­sun­gen voranzutreiben oder die Vernetzung zu ver­bessern. Der Kanton kann selbst zwar regionale Versorgungsplanungen durchführen. Diese sind aber nur Leitplanken für neue Grundwasserfassungen und Verbundsleitungen. Die Umsetzung ist Sache der Gemeinden oder anderer öffentlicher Versorger.

Und was kostet das? Die Antwort geben wir hier selbst. Tatsächlich wird die öffentliche Wasserversorgung verursachergerecht finanziert. Aufgrund von Schätzungen geht man davon aus, dass derzeit rund 100 Franken pro Einwohner für die Erneuerung und den Ausbau der Infrastruktur jährlich investiert werden; ebenso viel wie für Unterhalt und Betrieb. Man rechnet auch mit einer ­Verdoppelung des Mittelbedarfs: Mittelfristig ist über eine Milliarde Franken pro Jahr für die Netz­erweiterungen bereitzustellen. Oensingen rechnet selbst mit einem höheren Aufwand und hat die kommunalen Wasserzinsen bereits 2018 erhöht.


Anmerkung:
[01] Schutz der Grundwasserfassungen in der Schweiz – Stand des Vollzugs, Bafu 2018.

TEC21, Fr., 2019.04.26



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TEC21 2019|16-17 Trinkwasser: Der Kreislauf stockt

Ein schmaler Pfad für mehr Natur

Das Naturschutzgebiet Hopfräben liegt am Ufer des Vierwaldstättersees, der Zugang zum Wasser ist teilweise verbaut. Die Renaturierung des Verlandungsbereichs wurde mit einer Schutzplanung für das dahinter liegende Flachmoor kombiniert.

Das Naturschutzgebiet Hopfräben liegt am Ufer des Vierwaldstättersees, der Zugang zum Wasser ist teilweise verbaut. Die Renaturierung des Verlandungsbereichs wurde mit einer Schutzplanung für das dahinter liegende Flachmoor kombiniert.

Schwyz ist ein Voralpen- und Moorkanton. Wohl am bekanntesten ist Rothenthurm. Diese Hochmoorlandschaft hatte die Schweiz vor 31 Jahren zur Annahme des Moorschutzartikels verleitet. Seither sammelt die kantonale Umweltbehörde wichtige Erfahrungen, wie das strenge Gesetz für Eigen­tümer, Nutzer und Besucher verbindlich umgesetzt ­werden kann. Im Moor darf an sich nichts verändert werden, und auch die Zugänglichkeiten sind zu beschränken. Verbote funktionieren aber nicht immer. Gemäss Remo Bianchi vom Amt für Natur, Jagd und Fische­rei des Kantons Schwyz werden Lösungen häufig besser akzeptiert, wenn sie auch gegensätzliche Ansprüche verbinden. «Konkret heisst das: Zwischen Naturschutz und Naherholung gilt es einen Ausgleich zu finden.» Auch im Hopfräben direkt neben dem Siedlungsgebiet von Brunnen wird nun ein solcher Spagat geübt.

Grossräumlich ist der Standort eine der wenigen Flachuferzonen am Vierwaldstättersee. Im Kern enthält diese Landzunge ein Streuried als letzten Rest des Muota­deltas. Das Areal steht auf der Liste der Flachmoore von nationaler Bedeutung. Es ist bäuerliches Grundeigentum und wird standorttypisch genutzt und gepflegt. Die knapp sieben Fussballfelder grosse Fläche besticht durch ihre ökologische Qualität: Sauergräser, Schilfgürtel und Wasserpflanzen bilden die ökologisch wertvolle Vegetation; Fische, Wasservögel und Amphibien profitieren von der Verlandungszone, so gut es eben geht.

Denn wie der Augenschein vor Ort verrät, drängt der Mensch bis hart an den Rand. Das Feuchtbiotop wird von Gewerbe- und Erholungsinteressen in die Zange genommen. Im Norden und Süden steckt je ein Campingplatz den Schutzperimeter ab. Im Nordwesten bildet eine öffentliche Badeanstalt die künstliche Grenze. Und auch eine Kieswaschanlage gehört zur einengenden Nachbarschaft. Einen Puffer, der Raum für die natürliche Dynamik bieten würde, gibt es kaum. Doch auch für Wanderer, Biker und Hundefreunde ist das Muotadelta attraktiv. Örtliche Hängegleiterschulen peilen eine nahe gelegene Landewiese an. Fussgänger suchen derweil eine Abkürzung dem Vierwaldstättersee entlang. Misslungene Anflugmanöver und Trampelpfade hinterlassen mehr als nur temporäre Spuren im empfindlichen Feuchtgebiet.

Im Einzelnen und in der Summe sind die Störungen für die besondere Flora und Fauna uner­träglich und unkontrollierbar geworden. Um weitere Konflikte zu verhindern, hat die Kantonsbehörde vor zweieinhalb Jahren einen Schutzplan in Kraft gesetzt. Die einvernehmliche Lösung mit Grundeigentümern, Nachbarn und der Gemeinde wartet nun auf den Abschluss ihrer Umsetzung. Ausstehend ist die Bewilligung dreier Einzelprojekte, die gemeinsam der ökologi­schen Aufwertung von Uferzone und Flachmoor dienen.

Widerstand an den Grenzen

Die ersten Schritte zum Schutz des Feuchtstandorts unternahm die Gemeinde Ingenbohl vor fast einem halben Jahrhundert. Aber erst 2011 wurde die Dringlichkeit der Angelegenheit erhöht. Bis 2016 verhandelten die Behörden von Brunnen und des Kantons Schwyz mit Eigentümern und Nutzern über eine Neuordnung des räumlichen Geflechts. Eine ökologische Bewirtschaftung mit Düngerverbot wurde nie infrage gestellt. Die härteren Nüsse waren an den bisherigen Grenzen zu knacken: Weil die Schwyzer Behörde den Abstand zwischen Flachmoor und Erholungsnutzung vergrössern wollte, sprach man mit den Nachbarn über eine Umlegung der Campingplätze westlich und östlich des Biotops. Einer wehrte sich juristisch dagegen. Ohne Erfolg: Das Bundesgericht lehnte die Beschwerde ab.[1]

Anfang 2016 setzte der Kanton Schwyz den neuen Nutzungsplan Hopfräben in Kraft. Im Osten muss der Zeltplatz Flächen für eine Pufferzone freigeben. Im Gegenzug wird das davor liegende Seeufer zu einem attraktiven Badeplatz umgestaltet. Ein Sichtschutz und ein kleines Fliessgewässer sollen den öffentlichen Bereich vom Flachmoorperimeter abtrennen. Denn ennet dieser neuen Grenze erhält die Natur nun Vorrang. ­Dafür muss das harte Seeufer aber aufgeweicht werden.

Aktuell schützt ein künstlicher Damm aus Abbruchmaterial das natürliche Hinterland; dieser wird gemäss Renaturierungsprojekt durch einen Überflutungsbereich mit Graben und Teich ersetzt. Danach soll ein künstliches Unterwasserriff 25 m seeseitig der heutigen Uferkante den Wellenbelastungen standhalten und trotzdem dynamische Umlagerungsprozesse ermöglichen. Seine Oberkante liegt 20 cm unter dem Mittelwasserspiegel, sie soll die anlaufenden Wellen brechen und zugleich in der Flachwasserzone verhindern, dass das Moorufer erodiert. Je nach Wasserstand, Wellen- und Windsituation wirkt das Riff unterschiedlich. Die Ingenieure dimensionieren es mithilfe von Wellenmodellierungen und binden es im Untergrund ein, damit es selbst nicht erodiert oder von den Wellen zerstört wird.

Dank dem Dammrückbau wird die Verbindung zwischen Moor und See wiederhergestellt, und beide Ökosysteme werden vernetzt: Wasservögel, Fische und Amphibien finden im verzahnten Ufer zusätzliche Brut- und Laichplätze. Auf dem Wasser ist zudem ein 200 m breiter Streifen mit Bojen markiert; das Seeufer vor dem Hopfräben ist für Schwimmer und für das Befahren oder Ankern mit Booten neuerdings tabu.

Die Natur am Ufer gewinnt

Die Abflachung des Ufers wird auch in den Bereichen fortgesetzt, die als kommunale Badezone zugänglich sein werden. Hierfür werden massive Steinblöcke entfernt, um flache Strände und Kiesbuchten ausbilden zu können. Damit die uferparallele Strömung das Mate­rial des neugestalteten Abschnitts nicht verfrachtet und dieses den Einlauf des Hechtgrabens verstopft, werden Umlenkbuhnen rechtwinklig zum Ufer bis in eine Was­ser­tiefe von 2.5 m gezogen.

Während die Natur am Ufer gewinnt, steht am Nordrand der Flachmoorparzelle die Naherholung im Vordergrund. Die kantonale Schutzplanung sieht hier einen neuen Wanderweg vor, der mehrheitlich durch die Pufferzone und teilweise über den Rand des Streurieds führt. Den Hopfräbenweg hiess das Bundesgericht in Lausanne gut. In der Urteilsbegründung wurde die Strategie anerkannt, die sich die Schwyzer Planungsbehörde zur Entflechtung der Nutzungen ausgedacht hatte. Der schmale Moorpfad soll weitere Störungen vermeiden und eine «schutzverträgliche Besucherlenkung» ermöglichen. Vorgesehen ist ein Weg auf Holzprügeln und mit Kiesab­deckung, der höchstens 1.4 m breit ist. Als Sichtschutz für die Vögel auf der Riedfläche können halboffene Palisaden oder Sträucher dienen.

Aktive Beteiligung, hängige Beschwerde

Der Hopfräben hat eine lange Geschichte. Das bezieht sich auf die natürliche Entstehung und inzwischen auch auf die Anerkennung der ökologischen Werte: Bereits im frühen Mittelalter wird die Verlandungszone urkundlich erwähnt. Ab dem 16. Jahrhundert wird sie sogar zum Fischereischongebiet erklärt. Und Ende des letzten Jahrhunderts setzt sich die Besorgnis durch, dass der Rest der einstigen Moorfläche besseren Schutz verdiene.

Inzwischen beteiligen sich weitere Kreise aktiv an der Aufwertung des naturnahen Standorts: Das Elektrizitätswerk des Bezirks Schwyz will hier verfügbaren Raum nutzen für einen ökologischen Ausgleich zur Wasserkraftgewinnung an der benachbarten ­Muota. Eine zusätzliche Gewässerrinne in der Moorpufferzone soll dem seltenen Bachneunauge neue Laichplätze bieten.

Und am Ufer könnte eine Bucht dem Hecht als Rückzugsort dienen. Beide Eingriffe würden gleichzeitig eine Trennlinie zwischen öffentlichem Seeufer und Biotop bilden. Das Konglomerat an baulichen Massnahmen wird dazu führen, dass der Flora und Fauna sowie dem Menschen eigene Nutzungsräume zugewiesen werden.

Insofern scheint ein glückliches Ende vieler ­Bemühungen in Sicht; gut ist es, trotz ausdiskutierten Projekten und zur Genehmigung eingereichten Plänen, aber noch nicht. Abermals steht die Bereinigung eines juristischen Streits aus. Die Schwyzer Umweltorganisationen wehren sich gegen den Abbruch eines alten Badehauses am Aufwertungsufer; auch der Kanton rügt die Gemeinde deswegen. Ein gültiger Entscheid dazu steht aber noch aus, weswegen auch die Baubewilligung sistiert ist. Klarheit herrscht hingegen, was am Ufer vor dem Flachmoor geschehen darf: Um die Fauna vor äusseren, physischen und visuellen Störungen besser abzuschirmen, muss nun auch hier ein Sichtschutz erstellt werden, dessen Höhe sich an Standards in anderen Naturschutzgebieten orientiert. Diesen Vorschlag der Naturschutzorganisationen hat die kommunale Bewilligungsbehörde als Zusatzauflage akzeptiert. Somit stünde der baldigen Aufwertung des Flachmoors Hopfräben inklusive Ufer nichts mehr im Weg.


Anmerkung:
[01] Bundesgerichtsentscheid (BGer) 1C_222/2015 vom 26. Januar 2016.

TEC21, Fr., 2018.11.23



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TEC21 2018|47 Dynamik am Seeufer

«Die Natur vor sich selber schützen»

Am Seeufer von Brunnen in der Gemeinde Ingenbohl wird geplant und gebaut. Die Projektbeteiligten tauschen sich aus über Ansprüche, die sie zu erfüllen, und über Interessen, die sie zu vertreten haben. Wo waren und sind die Hürden, was wünscht man sich am Seeufer, und was ist unmöglich zu realisieren?

Am Seeufer von Brunnen in der Gemeinde Ingenbohl wird geplant und gebaut. Die Projektbeteiligten tauschen sich aus über Ansprüche, die sie zu erfüllen, und über Interessen, die sie zu vertreten haben. Wo waren und sind die Hürden, was wünscht man sich am Seeufer, und was ist unmöglich zu realisieren?

TEC21: Sie haben am Seeufer des siedlungsdichten Raums von Brunnen gebaut (vgl. «Die Promenade am See»), und Sie planen bauliche Aufwertungsmassnahmen rund um ein benachbartes Naturschutz­gebiet, das Flachmoor Hopfräben (vgl. «Ein schmaler Pfad für mehr Natur»). Zwei sehr gegensätzliche Gebiete am Seeufer mit unterschiedlichen Anforderungen an die Eingriffskonzepte. Ohne ins Detail zu gehen, ist ihnen aber ein langjähriger Planungs­prozess gemeinsam.
Albert Auf der Maur: Das ist in der Tat so. Verbauungen am Seeufer dauern lang – in unserem Fall dauert die Planung bereits Jahrzehnte. Die erste Etappe in Brunnen ist nun aber umgesetzt. Beim Hopfräben sind wir noch in der Planung.
Beat Schuler: Kernelement ist der Zugang zum Wasser. Insgesamt sollen beide Orte an Attraktivität gewinnen und trotzdem den Sicherheits- und ökologischen Anforderungen entsprechen.
Richard Staubli: Wir sind oft bei Seeufer­planungen involviert und bemerken, dass nicht unbedingt der schlechte Zustand beispielsweise von ­Hafenmauern der Auslöser für eine Erneuerung ist, sondern im Siedlungsgebiet vielmehr der Nutzungs­druck durch die Bevölkerung. Um 1900 baute man an vielen städtischen Uferbereichen Prome­naden rund 2 m über dem Seespiegel. Man flanier­te, hatte aber keinen eigentlichen Bezug zum Wasser. Heute wird gerade dieser Punkt zum Thema. Die Be­völkerung möchte näher ans Wasser. Nicht nur an Seen, auch an Flüssen. Die Uferanlagen sind an schönen Tagen teilweise so rege genutzt, dass man sie erweitern und attraktiver gestalten möchte. Bei einem Eingriff ist man mit den bestehenden, 50 bis 100 Jahre alten Strukturen konfrontiert und ent­sprechend mit den Werten, die es zu erhalten gilt. Andererseits ist ein Grossteil der See- und Fluss­ufer in der Schweiz künstlich verbaut, und man ist bestrebt, solche Uferzonen wo möglich zu renaturieren.

TEC21: Steht die Zugänglichkeit zum Wasser denn nicht im Widerspruch zu Sicherheitsfragen?
Albert Auf der Maur: Das war in der Tat der grosse Dis­kussionspunkt für die lokale Bevölkerung. Die Ufer­promenade ist exponiert. Ein Föhnsturm am Quai bedeutet, alle Kursschiffe ­fahren in den Föhn­hafen, und die Wellen schwappen bis über die Kantons­strasse. Baumstämme und Holz werden in Massen an­geschwemmt. Die erste Erneuerungs­etappe der Ufer­zone im Siedlungsbereich von Brunnen aber schafft Zugänglichkeit und ist sicher zugleich. Die Sicher­heit von früher ist auch heute noch gewährleistet.
Richard Staubli: Es gibt verschiedene Arten von Sicherheit. Für den Ingenieur ist gewiss die Tragsicherheit der Bauwerke wichtig. Im Wasser sind Bauwerke über längere Zeiträume wenig belastet, doch plötzlich treten bei Sturm Spitzenbelastungen auf. Das Bauwerk sollte auf die­se Extreme ausgelegt sein und ­keinen Schaden nehmen. Welche Wellen kom­men mit welcher Jährlichkeit aus welcher Richtung? Wenn wir das Bauwerk entsprechend dimensionieren, müssen wir unter Umständen relativ harte Verbau­ungen einplanen. Das steht aber mit ökologischen As­pekten im Konflikt – insbesondere in einem ökologisch wertvollen Raum wie den Uferzonen. Zudem gilt es die Sicherheit der Bevölkerung zu beachten. Wie na­h darf der Mensch – insbesondere das Kind – ans Wasser? Braucht es ein Geländer? Die politische Behörde muss die verschiedenen Ansprüche abwägen und entscheiden, welche Risiken sie übernehmen kann.
Stephanie Matthias: Speziell die Frage, ob es ein Geländer benötigt, ist individuell zu beurteilen. Bei Rampenabgängen gewährleistet dieses die Absturzsicherheit. An der Uferkante von Brunnen ist die ­­Absturzhöhe allerdings so gering, dass man sich bewusst gegen ein Geländer entschieden hat.

TEC21: Wie werden die ökologischen Aspekte berücksichtigt?
Kuno von Wattenwyl: Die Fischereigesetzgebung ist besorgt um Fisch, Krebs und Fischnährtiere – also alles, was Fische fressen – und um deren Lebens­raum. Bei Verbauungen und auch bei der ­Neugestaltung von Verbauungen fordert sie eine ökologische Verbesserung dieses Lebensraums. Dabei weiss man: Kiesstrände oder Flachuferzonen, even­tuell mit Schilf bepflanzt, sind ökologisch viel wert­voller als ein harter Abschluss durch eine Mauer. Meine erste As­­so­ziation zum gestalterischen Plan, das Wasser am Ufer von Brunnen erlebbar zu machen, war daher ein Kies­strand. Man kann direkt ans Wasser gehen, sieht vielleicht einen Fisch, kann Steine ins Wasser werfen, zugleich wird aber auch der Fisch­lebensraum aufgewertet. Doch diese vielleicht naive Vorstellung stiess auf ­Widerstand. Daher war zu ­verhandeln, welche Aufwertungsmassnahmen den ökologischen Zustand tatsächlich verbessern können.

TEC21: Welche Aufwertungsmassnahmen sind das?
Kuno von Wattenwyl: Grundsätzlich können das unterschiedliche Massnahmen sein. Sie reichen vom totalen Rückbau der Ufermauer über die Schaffung neuer Laichplätze und einer neuen Uferbestockung bis zum Anlegen einzelner Fischunterstände. In Brunnen hat man sich für eine Treppe entschieden, die ins Wasser reicht und hohl ist. Der Hohlraum – ein ­Fischunterstand – ist für aquatische Lebewesen erreichbar. Das ist aber eine Kompromisslösung, weil damit der vorhandene aquatische Lebensraum nur minimal aufgewertet wird.
Richard Staubli: Die Schüttung eines grossflächigen Flachstrands wäre aufgrund des steil abfallenden Seegrunds nicht möglich gewesen, ohne die Stabilität des Geländes zu beeinträchtigen. Uferzonen in städtischen Gebieten bergen diesen typischen Konflikt zwischen verschiedensten Interessen. Einerseits haben wir den Menschen, der das Gebiet nutzen möchte und mit seinen Verbauungen und Nutzungen die Ökologie stört. Andererseits sollen wir die Öko­logie verbessern.
Stephanie Matthias: Auch an die Schifffahrt mussten wir denken. So wollte man auf keinen Fall badende Gäste in der Nähe des Anlegestegs. Ein Badeverbot ist aber schwierig umzusetzen, wenn der Strand zum Baden einlädt. Eine Badestelle ist nun etwas ausserhalb der Quaizone, im Umfeld des Naturschutzgebiets Hopf­räben, vorgesehen.
Kuno von Wattenwyl: Ein Knackpunkt ist auch, dass Flachuferverbauungen mehr Platz an Land ­benötigen. Und dieser war beim vorliegenden Projekt schlicht nicht vorhanden.

TEC21: Auf welche Variante konnte man sich einigen?
Kuno von Wattenwyl: Für die harte Verbauung im Siedlungsraum bediente man sich eines Kunst­griffs: Dem Projekt wurde eine nahe gelegene­ Aufwertungsmassnahme am See zugeschlagen. In der Bewilligungspraxis ist es nicht verboten, Aus­­gleichsmassnahmen ausserhalb des eigentlichen Projektperi­meters umzusetzen. Allerdings ist eine naturräumli­che Nähe zum Projekt sinnstiftender als eine weit entfernte Ausgleichsmassnahme.

TEC21: Oft wirken ökologische Massnahmen aufgesetzt ­beziehungsweise kommen zu einem späten Zeitpunkt hinzu. Sind sie denn nicht gestalterisch in die Architekturplanung eingebunden?
Richard Staubli: Bei Projekten dieser Grössenordnung werden Wettbewerbe für Architektur oder Landschaftsarchitektur durchgeführt. Im Siedlungsgebiet sind es städtebauliche und architektonische Überlegungen, die zur Gestaltung führen; das Projekt basiert weniger oder kaum auf ökologischen Aspekten. Erst nachträglich beginnt man örtliche Massnahmen wie Fischnischen oder Blocksteine anzuordnen. Der gestalterische Spielraum für solche späteren Einzelmassnahmen im Gesamtkonzept ist klein. Hier müss­te man ansetzen und die ökologischen Gesichtspunkte bereits frühzeitig in den Wettbewerb einbringen.
Kuno von Wattenwyl: Entwickelt man ein technisches Bauwerk und baut am Schluss die Ökologie ein, die ebenso notwendig ist, dann sieht das Projekt aus ökologischer Sicht ganz anders aus, als wenn man es als Ökologieprojekt beginnt und nachher die Hochwassersicherheit einbaut. Es war hier kein wirkliches Ökologie-, Renaturierungs- oder – was es eigentlich hätte sein sollen – Revitalisierungsprojekt.
Sandro Betschart: Aus Sicht des Gewässerschutzes war der erweiterte Perimeter durchaus ­zweckerfüllend. Denn es ist schwierig, den Raum in städtischen Gebieten so aufzuwerten, dass er der Natur stark dient. Es liegt an uns Verantwortlichen, sich auf einen Kompromiss einzulassen und zu ­schauen, wo es sich lohnt zu kämpfen. Die Seeufer­verbauungen im Zentrum von Brunnen und im ­naturnahen Gebiet Hopfräben bilden daher sich gut ergänzende Gegensätze.
Albert Auf der Maur: Diese Kombination wurde auch möglich, weil Gemeinde und Kanton eng zusammengearbeitet haben.
Stephanie Matthias: Allerdings war es Zufall, dass die jahrzehntelangen und aufwendigen Planungspro­zesse der beiden an und für sich getrennten Projekte zeitlich schliesslich zusammengefallen sind.

TEC21: Die Uferverbauung beim Flachmoor Hopfräben ist erst noch in Planung.
Stephanie Matthias: Das Projekt nahm seinen Anfang vor 40 Jahren. Wie die Uferzone in Brunnen ist auch die Landzunge vor dem Hopfräben künstlich aufgeschüttet worden. Dieses Gebiet war immer ein beliebter Rückzugsort für die Bevölkerung. Nun ist ­ge­plant, dass knapp 100 m des öffentlich zugänglichen Damms zurückgebaut werden, um das geschützte Flachmoor mit dem offenen Gewässer aquatisch wieder zu vernetzen. Für die Bevölkerung sollen Badebuchten erstellt werden, und zudem wird eine grössere Liegewiese geschaffen. Mit einer konsequenten Besucherlenkung trennt man Naturschutzgebiet und öffentliche Nutzung.
Albert Auf der Maur: Aber Nachbarn und Schutz­organisationen werden Einsprachen machen.
Stephanie Matthias: Wir führen bereits Einigungs­gespräche. Die Interessen des Menschen und der Ökologie widersprechen sich: Camping, Erschliessung der Ufer, Kieswerk, Kiesgewinnung bei der Muotamün­dung, Flachmoor und so weiter. Der bereits in Kraft gesetzte Teilzonenplan hilft, die Interessen gegeneinander abzuwägen. Zusammen mit dem Nutzungsplan und der Schutzverordnung ist es dieser Abwägung und einer guten Kommunikation zu verdanken, dass wir das Projekt überhaupt umsetzen können.

TEC21: Kann man trotz der künstlichen Verbauung an ­beiden Orten von guten ökologischen Beispielen ­sprechen?
Sandro Betschart: Durchaus. Wir haben die Situa­tion sicher nicht verschlechtert. Der Dialog fand statt, und die unterschiedlichen Disziplinen haben sich ausgetauscht. Früh miteinander reden heisst früh selber denken und eruieren, wie man die einzelnen Fach­aspekte in das Projekt konstruktiv einbinden kann.
Richard Staubli: Auch in der naturnahen Zone müssen wir verhindern, dass das Ufer durch Wellen weg­erodiert wird. Aus Sicht der Wellenbelastung finden wir beim Hopfräben eine ähnliche Ausgangslage vor wie am Quai von Brunnen. Es handelt sich um eine exponierte Lage mit einer starken Wellenbelastung bei Sturm. Aber während wir bei der Seeufer­gestaltung in Brunnen eine harte Kante dagegen ­setzen, nutzen wir im Hopfräben weichere und naturnähere Mittel. Mit einem vorgelagerten Riff werden ein Teil der Wellenenergie vernichtet und die Ufer­zone geschützt.
Kuno von Wattenwyl: Es ist eine schizophrene ­Situation. Man schützt die Natur vor sich selber, weil man sie vorher so eingeengt hat, dass sie sich nicht mehr ausbreiten kann. Wir haben der Natur die Dynamik weggenommen.

TEC21: Wie stehen die Erfolgsaussichten?
Kuno von Wattenwyl: Ob es ein Erfolg wird, ist gar nicht so einfach zu sagen. Beim Hopfräben besteht die Möglichkeit einer Erfolgskontrolle. Bei der Verbau­ung im Zentrum von Brunnen gibt es weder Vor- noch Nachaufnahmen – das war damals noch nicht not­wen­dig. Es wäre mir für weitere Projekte ein wichtiges Anliegen, dass das Ziel der ökologischen Aufwertung definiert wird. Dazu gehören entsprechende Massnahmen und messbare Indikatoren. Bei Aufwertungen ist es wichtig, kleine Strukturen für die Flora und Fauna zu schaffen.
Richard Staubli: Wir Ingenieure verfassen für unsere Projekte jeweils eine Nutzungsvereinbarung. Darin ist zum Beispiel festgehalten, wie weit das Seeufer erodieren darf. Auch in der Ökologie sind solche klaren Zielvereinbarungen wichtig; sie sollten dann mit einem Monitoring überprüft werden.

TEC21, Fr., 2018.11.23



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09. November 2018Paul Knüsel
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Der nächste Nachhaltigkeitshype?

Strom an Gebäuden zu produzieren und möglichst viel davon vor Ort selbst zu konsumieren ist ein häufig geäusserter Bauherrenwunsch. Die Planung solcher Projekte bietet Gelegenheiten zu flexiblen Lösungsansätzen. Doch das Eigenverbrauchsmodell birgt auch Risiken.

Strom an Gebäuden zu produzieren und möglichst viel davon vor Ort selbst zu konsumieren ist ein häufig geäusserter Bauherrenwunsch. Die Planung solcher Projekte bietet Gelegenheiten zu flexiblen Lösungsansätzen. Doch das Eigenverbrauchsmodell birgt auch Risiken.

Seit Anfang Jahr hat der Bund einen Systemwechsel zur Förderung von Solarstrom vorgenommen: Die Energie soll lokal erzeugt und zu einem möglichst hohen Anteil auch vor Ort konsumiert werden. Der Eigenverbrauch ist als nächster Schritt zum dezentralen Energiesystem gedacht und funktioniert am besten im Siedlungsraum. Mit öffentlichen Subventionen darf nurmehr rechnen, wer den Ertrag seiner Solaranlagen selbst konsumiert oder ihn den unmittelbaren Nachbarn zum Bezug zur Verfügung stellen kann.

Was im Heer der Einfamilienhäuser seinen Anfang nahm, will der Staat verstärkt auf Wohnareale oder ganze Stadtquartiere übertragen. Die Bewohnerschaft und auch Gewerbemieter von Neubausiedlungen organisieren sich dafür zu Eigenverbrauchsgemeinschaften, aus eigenem Antrieb oder auf Veranlassung der Eigentümerschaft. Als Anreiz winkt nicht nur Fördergeld vom Staat, sondern auch ein lukratives Nebengeschäft: Der Zusammenschluss zum Eigenverbrauch (ZEV) bezahlt weniger für den eigenen Solarstrom als für den Bezug aus dem öffentlichen Netz.

Im Umkehrschluss ist dies die Grundvoraussetzung für den Erfolg der ZEV-Offensive: Nur wer auf den eigenen Dächern oder auch Fassaden Strom billiger produzieren kann als die Produkte von Stadt- und Regionalwerken, kommt mit den Mietenden ins Geschäft. Gewissermassen wird so das Geschäftsmodell «Eigenverbrauch» zu einer lokalen Konkurrenz für kommunale Energieversorgungsunternehmen.

Testfeld für dezentrales Energiesystem

Eine wichtige Frage ist, ob die Spiesse im neuen Markt um den Hausanschluss gleich lang sind. Denn ein Eigenverbrauchsanbieter muss kein Entgelt für die Netznutzung verlangen; im Vergleich dazu besteht der offizielle Stromtarif eines öffentlichen Versorgungsunternehmens aus gut einem Drittel Energiekosten und einem fast doppelt so hohen Netzanteil. Derzeit schätzen Branchenkenner, dass die Preislimite für den eigenen Solarstrom bei 15 Rp./kWh liegt. In der Schweiz liefern die lokalen Energiewerke den Haushaltsstrom aktuell für 18 bis 25 Rp./kWh an die Netzbezüger. Die Initianten junger ZEV-Projekte rechnen mit Amortisationszeiten von rund 20 Jahren.[1] Viel hängt davon ab, wie hoch der Eigenverbrauch effektiv ausfallen wird.

Auch hierzu gibt es erst Prognosen: Eine Mindestquote von 40 % dürfte in vielen Regionen ausreichen. Der Verband unabhängiger Energieerzeuger warnt aber davor, dass selbst ein 60%iger Eigenverbrauch nicht überall einen wirtschaftlichen ZEV-Betrieb garantiert. Ebenso wirken sich die Entwicklung der Strompreise und Tarifsysteme sowie die bevorstehende Marktliberalisierung auf die Wirtschaftlichkeit aus. Die staatliche Förderung des Eigenverbrauchsmodells soll diese Unsicherheiten jedoch überwinden helfen. Deshalb ist mit einer steigenden Zahl von ZEV-Gemeinschaften zu rechnen, vor allem im Zusammenhang mit grösseren Neubauvorhaben. Einige sind nun ein Testfeld für dezentrale Energiesysteme; auf Ebene Quartier, Gemeinde oder Stadt hat sich das Modell aber noch zu beweisen.
Höhere Gebäudevielfalt, flexible Bebauung

Wo immer ein derart lokal vernetzter Beitrag an die CO2-arme Stromversorgung gewünscht ist, werden sich auch die Bebauungs- und Planungsinhalte verändern. Zuallererst benötigt man Flächen für Photovoltaikmodule, nun aber auch eine interne Verteilnetz- und Speicherinfrastruktur, bestehend aus kleinen oder grossen Batterien. Weitere Zusatzkomponenten sind digitale Stromzähler, eventuell eine Trafostation und allfällige Ladestationen für E-Fahrzeuge. Demzufolge werden Elektro- und Energieingenieure, die sich mit solchen Schnittstellen auskennen, für jedes Planungsteam unverzichtbar.

Doch das Eigenverbrauchsthema kann auch die architektonische Entwurfsstrategie prägen: Energetisch vernetzte Areale vergrössern den Spielraum für die Gebäudevielfalt und erhöhen die Flexibilität. Anstatt jedes einzelne Haus für die Energieproduktion zu optimieren respektive zur Energiemaschine zu trimmen, können die jeweiligen Möglichkeiten nutzungs- und standortbezogen sowie gestalterisch abgewogen werden. Auch städtebaulich darf das Gemeinschaftsthema inspirierend wirken. Ob das Geschäftsmodell «Eigenverbrauchsgemeinschaft» eventuell sogar den sozialen Zusammenhalt in einem vernetzten Energiequartier oder -dorf stärken wird?

Den ökologischen und unternehmerischen Chancen stehen allerdings Risiken gegenüber. Der Eigenverbrauchsmarkt lockt neue Anbieter und Dienstleister an, die sich noch zu bewähren haben.

Ebenso müssen die verfügbaren technischen Systeme erst den Dauerhaftigkeitsbeweis erbringen. Einheitliche Standards oder austauschbare Schnittstellen sind daher zwingend zu beachten. Und bei der Speichertechnologie interessiert ebenfalls, was die Anfangseuphorie hervorbringen kann.

Damit Eigenverbrauchsareale nachhaltig funktionieren, dürfen sie den Lebenszyklus neuer Komponenten nicht ignorieren. Marktübliche Batterien und Akkus leben, abhängig von der Ladehäufigkeit, bisher 10 bis 15 Jahre. Was danach mit den schädlichen Wertstoffen geschieht, ist ungeklärt. Ein Recyclingkonzept für Lithium wäre aber zwingend erforderlich. Denn der wachsende Abbau der endlichen Ressource belastet die Umwelt in Ländern wie Chile heute schon massiv. Insofern gilt: Das Eigenverbrauchskonzept ist ein Einstieg in die klimafreundliche, elektrisch betriebene Smart City. Zu dieser Intelligenz gehört aber auch, die nachhaltigen Prozesse zu definieren, bevor dem Hype ein Durchbruch gelingt.


Anmerkung:
[01] Eigenverbrauch von Solarstrom in der Wirtschaft, Hintergrundbericht als Grundlage zur Erarbeitung eines Leitfadens, Bundesamt für Energie 2017.

TEC21, Fr., 2018.11.09



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09. November 2018Daniela Hochradl
Paul Knüsel
TEC21

Wo die E-City gegründet wird

Wer bislang einfach Häuser bauen liess, kann sich nun auch um die Infrastruktur für die dezentrale Stromversorgung kümmern. Verdrängen Immobilieninvestoren die Energieversorger? Oder tauchen neue Intermediäre auf?

Wer bislang einfach Häuser bauen liess, kann sich nun auch um die Infrastruktur für die dezentrale Stromversorgung kümmern. Verdrängen Immobilieninvestoren die Energieversorger? Oder tauchen neue Intermediäre auf?

Im Basler Neubauquartier Erlenmatt Ost formiert sich die bislang grösste Solarstrom-Eigenverbrauchsgemeinschaft der Schweiz. Im Endausbau, in drei bis vier Jahren, sollen rund 630 Bewohner einen grossen Teil ihres Energiebedarfs direkt von den eigenen Dächern beziehen. Auf insgesamt zwölf Mehrfamilienhäusern, die verschiedenen Stiftungen, Genossen­schaften und Hausgemeinschaften gehören (vgl. «Energie- und Soziallabor Erlenmatt Ost»), erzeugen Photovoltaikanlagen den dafür erforderlichen Solarstrom. Letzten Sommer begann der Bezug des östlichen Erlenmatt-Areals; inzwischen ist ein Drittel des Gesamtvolumens realisiert.

Im Gleichschritt wird die interne Energieversorgung auf maximale Leistung (750 kWp) und auf künftige Jahreserträge von etwa 750 000 kWh Strom ausgebaut. Über ein Jahr bilanziert soll die Produk­tionsmenge etwa 40 % des Bedarfs vor Ort abdecken; möglichst viel des eigenen Ertrags ist selbst zu konsumieren, ohne Lieferumweg über das öffentliche Stromnetz (vgl. «ZEV: Eigenverbrauch oder Selbstversorgung?», Kasten unten).

Bisher lassen sich Produk­tion und Konsum von Solarstrom in Erlenmatt Ost zeitlich gut aufeinander abstimmen: Aktuell werden nur knapp 20 % exportiert; mit dem weiteren Ausbau der Überbauung und der Solaranlagen wird sich dieser Exportanteil aber wohl verdoppeln. Das ist die Krux für viele Eigenverbrauchsgemeinschaften: Allein mit der Erhöhung des selbst erzeugten Stromertrags schwindet der Anteil des Selbstkonsums, ausser man ergänzt das lokale ­Versorgungssystem mit einem Speicher, entweder in einzelnen Gebäuden oder durch ein Andocken an die Elektro­mobilität (vgl. «Geteilte E-Mobilität»).

Bei PV-Anlagen in Einfamilienhäusern, die tagsüber wenig Strom verbrauchen, lassen sich in der Regel Eigenverbrauchsquoten unter 30 % erreichen. Wird zusätzlich eine Wärmepumpe als Heizsystem betrieben, lässt sich dieser Anteil auf etwa 50 % steigern. Zur weitergehenden Optimierung sind Batteriespeicher erforderlich, die den Tagesertrag für den Konsum am Abend und in der Nacht verfügbar machen.

Netztechnisch und wirtschaftlich sinnvoller wäre aber eine zeitgleiche Stromlieferung an Nachbarn, die allenfalls derselben ZEV-Gemeinschaft angeschlossen sind. In gemischt genutzten Arealen lässt sich die Eigenverbrauchsquote durchaus auf 100 % erhöhen, wenn Wohnsiedlungen mit Gewerbebetrieben energetisch zusammengeschlossen sind. Deren jeweilige Verbrauchsprofile sollten sich dabei zeitlich ergänzen. Ideal sind Abnehmer in unmittelbarer Nachbarschaft, die die selbst erzeugte Energie jeweils in der Überschussperiode verbrauchen können.

Erproben von Komponenten und Systemen

Sowohl die angewandte Energie- und Bauforschung als auch Energieversorger haben in Pilot- und Demonstrationsprojekten begonnen, die dafür benötigten Komponenten, Technologien und Systeme auf der Ebene einzelner Gebäude oder Quartiere zu erproben. Absehbar ist auch, dass neue Marktteilnehmer auftreten und sich neue Wertschöpfungsketten um solche Energiehubs bilden werden. Sie fordern das bisherige Businessmodell der zentral organisierten Energieversorger heraus.

Erkennbar wird dies auch an der Organisation des Eigenverbrauchsmodells in Erlenmatt Ost: Anstelle des städtischen Energieversorgers beliefert eine externe Energiegenossenschaft die Erlenmatt-Bewohner mit Strom. Sie realisiert und betreibt die Solaranlage auf eigenes unternehmerisches Risiko; zudem ist sie auch der lokale Wärmeproduzent, der das gesamte Ostareal mit Energie für die Gebäudeheizung und das Warmwasser versorgt. Daher fliesst der Grossteil des vor Ort erzeugten Solarstroms in deren Wärmezentrale, damit dort die Wärmepumpen angetrieben werden. Die Stromüberschüsse werden an die Bewohner und die Gewerbemieter der Basler Arealüberbauung zu einem günstigen Preis verkauft.

Das Eigenverbrauchsmodell beruht auf einem Gegengeschäft: Weil die Arealgemeinschaft für den Eigenstrom nicht mehr oder sogar weniger bezahlt als für importierten Netzstrom, steht dem Anbieter eine Anschlusspflicht zu. In Erlenmatt Ost lauten die Zahlen: Die Stromlieferantin, die ADEV-Energiegenossenschaft, verrechnete der Eigenverbrauchsgemeinschaft anfangs rund 18 Rp./kWh, was dem Haushaltstarif in der Stadt Basel entspricht. Aber bereits für das laufende Jahr hat der Intermediär den Tarif gesenkt. Um wie viel, kann er erst nach Ablauf des Produktionsjahrs 2018 sagen. Doch die aktuelle Benchmark für dezentral erzeugten Solarstrom liegt schweizweit bei rund 15 Rp./kWh (vgl. «Der nächste Nachhaltigkeitshype?»). Die Bewohner von Erlenmatt Ost konsumieren daher nicht nur klimafreundlichere, sondern auch preisgünstigere Energie als der Durchschnitt der Schweizer Bevölkerung.

Eigenverbrauch bei 100 %

Im Zürcher Stadtkreis 6, beim Schaffhauserplatz, ist eine vergleichbare, etwas kleinere Solarzelle aktiv. Das vom Architekturbüro Viridén + Partner sanierte Mehrfamilienhaus (vgl. «Es blinkt in alle vier Himmelsrichtungen», TEC21 48/2017) ist ebenfalls eine Eigenver­brauchsgemeinschaft. Der eigene Strom wird auf dem Dach und an den vier Gebäudefassaden produziert. Der Anlagenbetreiber ist hier gleichzeitig der Immobilien­investor.

Das städtische Elektrizitätswerk begleitet dieses Demonstrationsprojekt mit Fokus auf Technik und ­Netzstabilität. Zu untersuchen ist, wie sich Ertrags- und Einspeiseschwankungen sowie Leistungsspitzen auf die Spannung im Stromnetz des Quartiers auswirken werden. Die Hypothese lautet: Lassen sich die lokalen Einspeise-Peaks im dezentralen Energiesystem optimal steuern, kann auf einen Ausbau der Anschlusskapazitäten verzichtet werden. Die gebäudeintegrierte PV-Anlage im Zürcher Wohnhaus ist für solche Analysen besonders interessant: Die Leistungsgrösse ist im ­städtischen Umfeld bisher einmalig.

Das Elektrizitätswerk der Stadt Zürich (ewz) will weitere Erfahrungen sammeln; für die Betriebsperiode 2017/2018 liegt bereits eine Zwischenbilanz vor: Seit Anfang Jahr wird ein 150-kWh-Akkumulator eingesetzt; das Vorjahr liefert die Vergleichswerte ohne Batterie. Dank dem Speicher wurde im Sommer eine Eigenverbrauchsquote von ­fast 100 % erreicht; im Herbst sank sie auf etwa 60 %. Mit dem Speicher lässt sich der Stromkonsum auf die Nachtstunden für die Warmwasseraufbereitung ­verschieben. Als Jahresdurchschnitt prognostiziert das ewz etwa 70 %.

Eine weitere Erkenntnis ist: Der Produktionsverlauf am Zürcher Sonnenkraftwerk unterscheidet sich von Gebäuden, die nur auf dem Dach mit Solaranlagen versehen sind. Im Vergleich zur ausschliesslichen ­Produktion auf dem Dach verschiebt sich die Strom­produktion dank der PV-Fassade um 5 bis 7 % ins Winterhalbjahr. Dies kann den Eigenverbrauch erhöhen. Aber ebenso wäre dann ein Einspeisen der Energie in lokale Verteilnetze interessant. In der kalten Saison wird generell Strom in die Schweiz importiert.

Auch anderenorts führen regionale und kommu­nale Stromversorger Tests mit Speichersystemen (vgl. TEC21 14–15/2017 «Elektrische Energie speichern») in unterschiedlichen Grössenordnungen durch. Batterien können einem einzelnen Gebäude zugeordnet werden oder einer kleineren Einheit im öffentlichen Verteilnetz, einer ZEV-Gemeinschaft oder einem Quartier. Eine andere Skala hat das Elektrizitätswerk des Kantons Zürich gewählt. Ein 18-MW-Speicher, die grösste Batterie der Schweiz, stabilisiert die Netzspannung und könnte zwei sparsame Haushalte ein Jahr lang mit Strom beliefern.

Eine interessante Speichervariante ist die Kopplung von Gebäude und Elektromobilität (vgl. «Geteilte E-Mobilität»). Sie wird auch im Basler ZEV-Verbund erprobt. Ein Forschungsprojekt, gemeinsam mit Hochschulen, soll zeigen, inwieweit der in Autobatterien gespeicherte Solarstrom nicht nur zum Fahren am Tag eingesetzt werden, sondern auch den Eigenverbrauch der Siedlung abends und in der Nacht erhöhen kann.

TEC21, Fr., 2018.11.09



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09. November 2018Paul Knüsel
TEC21

Energie- und Soziallabor Erlenmatt Ost

Im östlichen Teil des ehemaligen Güterbahnhofareals Erlenmatt in Basel Nord realisiert die Stiftung Habitat eine mehr­teilige Überbauung mit unterschiedlichen Wohnformen sowie Gewerbe- und Dienstleistungsflächen. Auf drei Bau­feldern mit einer Gesamtfläche von knapp 3 ha werden 13 Wohnhäuser für rund 630 Menschen erstellt. Ein Drittel der Neubauten ist inzwischen fertiggestellt und bewohnt.

Im östlichen Teil des ehemaligen Güterbahnhofareals Erlenmatt in Basel Nord realisiert die Stiftung Habitat eine mehr­teilige Überbauung mit unterschiedlichen Wohnformen sowie Gewerbe- und Dienstleistungsflächen. Auf drei Bau­feldern mit einer Gesamtfläche von knapp 3 ha werden 13 Wohnhäuser für rund 630 Menschen erstellt. Ein Drittel der Neubauten ist inzwischen fertiggestellt und bewohnt.

Ausgehend von einem städtebaulichen Konzept für die keilförmige Fläche werden die Hausprojekte einzeln von jeweils ausgewählten Baugruppen, Genossenschaften und anderen selbst organisierten Körperschaften respektive verschiedenen Architekturbüros realisiert. Die Energieversorgung ist gemeinsam organisiert: Strom und Wärme werden aus lokalen Energiequellen gewonnen: die Sonne für die elektrische Energie und das Grundwasser als niederwertiger Wärmeträger.

Die Stiftung Habitat hat sich bei der sozialen Durchmischung und für die Nachhaltigkeit ebenfalls um einen verbindenden Rahmen bemüht; eine Zertifizierung mit einem Gebäude- oder Quartierlabel ist nicht im Gespräch. Die selbst formulierten Ziele werden aber bis 2019 im Rahmen eines Pilot- und Demonstrationsprojekts periodisch überprüft.

TEC21, Fr., 2018.11.09



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28. September 2018Viola John
Paul Knüsel
TEC21

«Eine Kultur des Abwägens»

Architektur und Städtebau erhalten erstmals Nachhaltigkeitsnoten. Eine externe Fachjury nimmt dazu eine unabhängige Bewertung von SNBS-Projekten vor. Raphael Frei, Mitglied von pool Architekten, war an der Entwicklung beteiligt und erklärt das neuartige Verfahren.

Architektur und Städtebau erhalten erstmals Nachhaltigkeitsnoten. Eine externe Fachjury nimmt dazu eine unabhängige Bewertung von SNBS-Projekten vor. Raphael Frei, Mitglied von pool Architekten, war an der Entwicklung beteiligt und erklärt das neuartige Verfahren.

TEC21: Herr Frei, zertifizierte Ökobauten werden oft als unschön beurteilt. Kann der Standard nachhaltiges Bauen Schweiz zur Verbesserung architektonischer Qualitäten (vgl. TEC21 43/2016) beitragen?
Raphael Frei: Das zentrale Anliegen des ­Nachhaltigkeitsstandards SNBS ist, neben den klassischen ökologischen Kriterien nun auch soziale und baukulturelle Aspekte zu berücksichtigen und sie in die Beurteilung eines Gebäudekonzepts zu integrieren. In diesem Sinn ist der Beurteilungsraster um­fassend: Er erkennt und erfasst auch nicht messbare Aspekte, unter anderem soziale und städtebauliche Qualitäten eines Projekts.

TEC21: Was muss ein Projekt leisten, um gute Architektur­noten zu bekommen?
Raphael Frei: Die städtebaulichen und architektonischen Aspekte sind unmittelbarer Teil der gesellschaft­lichen Nachhaltigkeitsdimension: Wie lebendig ist ein Quartier? Wie sind die Gebäude genutzt? Wie ­robust sind die bestehenden Strukturen? Lassen Sie mich dies anhand der geplanten Erneuerung der Grosssiedlung Telli in Aarau erklären, für die der SNBS angewandt werden soll. Um das charakteristische Aussenbild oder die passenden Wohnungsgrundrisse nicht allzu sehr zu verändern, hält man sich bei der Eingriffstiefe zurück. Energetische Verbesserungen an der Gebäudehülle lassen sich gleichwohl er­zielen. Die Beurteilung der bestehenden, gemischten Sockelnutzung und des grosszügigen grünen Aussenraums fällt ebenfalls positiv aus.[1] Für die Erneuerung heisst das: Die positiven Bestandseigenschaften sind zu erhalten und allenfalls zu stärken.

TEC21: Aber verspielt man so nicht die Option, verfügbare Raumreserven zu nutzen und Erneuerungsstandorte bei Bedarf zu verdichten?
Raphael Frei: Die Beurteilung nach den SNBS-Kriterien führt eben dazu, dass ein Verdichtungsvorhaben nicht nur quantitativ, sondern vor allem auch quali­tativ diskutiert wird. Dies entspricht der Strategie des Bundes zur Nachhaltigen Entwicklung, die ein wei­test­mögliches Erhalten des baukulturellen Erbes und seine qualitativ hochstehende Erneuerung ­fordert. Die SNBS-Zertifizierung weitet deshalb den Projek­t­fokus aus, etwa von einer klassischen Energieoptimierung zu anderen sozialen und architek­tonischen Aspekten. Das macht diese Nachhaltigkeitsbewertung für Architekten erst interessant: Sie pflegt die Kultur des Abwägens und fördert das ­Bewusstsein, dass unterschiedliche Aspekte miteinander zu ­verknüpfen sind.

TEC21: Die spezifische Beurteilung der architektonischen und städtebaulichen Qualitäten ist ein neuartiger Bestandteil der Zertifizierung. Wie funktioniert ­dieses Verfahren, zumal es sich um eine Bewertung von schlecht messbaren Eigenschaften handelt?
Raphael Frei: Ein Projekt, das in einem Wettbewerb nach SIA-Regeln ausgewählt worden ist, benötigt kein weiteres Urteil für das Zertifikat. Auch ein vergleichbares Gutachterverfahren ohne SIA-Kriterien wird anerkannt; allerdings werden die Qualität und Unabhängigkeit der Fachjury geprüft. Nur für den Fall eines Direktauftrags findet eine nachträg­liche Begutachtung durch SNBS-Experten statt, die ihrerseits Architekten sind. Die Kriterien sind mehr oder weniger dieselben wie bei Wettbewerbs­jurierungen. Die Bewertung wird schriftlich dokumentiert und mit punktuellen Verbesserungsempfehlungen ergänzt. Sie stellt somit eine unabhängige Qua­litätsbeurteilung und kein Gefälligkeitsgutachten dar.

TEC21: Sind die Experten speziell ausgebildet?
Raphael Frei: Die Zertifizierungsstelle bietet nur Architekten auf, die Erfahrungen als Jurymitglied oder ­Wettbewerbsteilnehmer besitzen. Weitere Kriterien sind eine Mitgliedschaft beim Bund Schweizer Architekten (BSA) oder Bund Schweizer Landschaftsarchitekten (BSLA). Ein Begutachter darf nicht we­niger erfahren sein als die zu beurteilenden Projektverfasser. Erwartet wird auch, dass er sich bei Bedarf einen eigenen Eindruck vor Ort verschaffen kann.

TEC21: Wie gut funktioniert das neue Bewertungssystem?
Raphael Frei: Bei Projekten aus einem Direktauftrag ist die Architektur oft das Resultat von Zwängen und Entscheidungen, die aus dem Prozess heraus begründet sind. Da eine architektonische Beurteilung explizit fehlt, sind hohe Qualitäten nicht zwingend vorauszusetzen. Die bisherigen Einblicke bestätigen dies; ungenügende Noten sind in der ersten Zertifizierungs­runde nicht selten. Die Begutachtung ist zwar sehr streng. Aber Projektverfasser sollen dies nicht so verstehen, dass sie schlechte Arbeit abgeliefert hätten. Die Kritikpunkte setzen vor allem dort an, wo die Pro­jektschwerpunkte das gestalterische Element ver­missen und sich somit verbessern lassen.

TEC21: Wie gehen Projektverfasser damit um?
Raphael Frei: Wir stecken in der Anfangsphase und sammeln weitere Erfahrungen. Eine Schwierigkeit ist, die Dokumentation der Projekte analog zum Wettbewerbs­verfahren mit Plänen und Modellen einzufordern. Unter den Beteiligten ist man jedoch sehr offen, auch für Kritik, zumal sie die Position des Projektverfassers oft stärken kann. Es geht meistens um eine gestal­terische Integration von technischen Konzepten, die Verknüpfung mit sozialen Themen oder schlicht um die räumliche, typologische Qualität von Grundrissen.

TEC21: Wie ist das Echo unter Architekten?
Raphael Frei: Der BSA rührt die Werbetrommel für die Zertifizierung und hofft, dass sich gute und renommierte Architektinnen und Architekten damit aus­einandersetzen. Ein erstes Stimmungsbild ist: ­Der Standard ist eine sinnvolle Alternative zu Gebäude­labels, die nur eindimensional auf energetische Themen ausgerichtet sind. Der erweiterte Be­urteilungsraster führt solche Einzelaspekte zu einem Ganzen zusammen und ermöglicht ein umfassendes Bild über mögliche Zielkonflikte. Das ist ein willkommener Gegentrend zur aktuellen Fragmentierung: Architekten fällt es schwer, im wachsenden Dschungel aus baulichen Anforderungen und Normen überhaupt noch konsistente Lösungen zu finden.

TEC21: Der Standard will besser sein als die Gesetze. Wie kann er trotzdem zur Verbesserung der Entwurfs­arbeit beitragen?
Raphael Frei: Gegenwärtig verdammen die vielen Anforderungen die Architekten zum Reagieren. In der Pro­jektierung suchen sie oft den jeweils kleinsten gemeinsamen Nenner des Machbaren und stellen am Ende fest, dass die Kosten steigen. Besser ist aber, die unterschiedlichen Umsetzungsthemen und An­forderungen frühzeitig zusammenzuführen. Der Zertifizierungsprozess und der Bewertungsraster können Ordnung schaffen. So lassen sich Zielkonflikte, Zusammenhänge und Spielräume erkennen, die man sonst nicht entdeckt hätte. Zu Beginn einer Zertifizierung muss daher – aus formalen Gründen – ein Pflichtenheft mit Projektzielen formuliert werden.

TEC21: Stärkt der Standard die Position des Architekten?
Raphael Frei: Das ist eigentlich unser Ziel. Der Architekt kann seine Kompetenzen mithilfe des Bewertungs­rasters erhöhen. Er muss das Wissen zurückholen und darf es nicht vollumfänglich an Spezialisten delegieren. Allein der Informationsgewinn aus einer engen Zusammenarbeit mit andern Fachdisziplinen verbessert seine Verhandlungsbasis gegenüber der Bauträgerschaft und der Behörde. Ohne diesen Wissensvorsprung kann man eigentlich nirgends bauen.


Anmerkung:
[01] Muster oder Komposition? Sanierung Telli-Hoch­häuser, wbw 1/2 2018.

TEC21, Fr., 2018.09.28



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TEC21 2018|39 SNBS – Stren­ges Ras­ter, fle­xi­ble An­wen­dung

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Presseschau 12

26. April 2019Paul Knüsel
TEC21

Ein Wasserschloss mit «Trockenregionen»

Wie setzt der Klimawandel dem Wasserreichtum in der Schweiz zu? Zwar sprudeln Grundwasser und Quellen auch in Trockenzeiten munter weiter. Dennoch sind saisonale und regionale Engpässe zu erwarten. Die Infrastruktur und die Bewirtschaftung der öffentlichen Trinkwasserversorgung müssen zwingend verbessert werden.

Wie setzt der Klimawandel dem Wasserreichtum in der Schweiz zu? Zwar sprudeln Grundwasser und Quellen auch in Trockenzeiten munter weiter. Dennoch sind saisonale und regionale Engpässe zu erwarten. Die Infrastruktur und die Bewirtschaftung der öffentlichen Trinkwasserversorgung müssen zwingend verbessert werden.

Die Erinnerung an die letztjährige Hitzewelle treibt den Schweiss noch heute auf die Stirn: Das Thermometer kletterte wiederholt über 35  °C und sank in einigen Städten wochenlang selbst in der Nacht nicht unter 20  °C. Der nationale Wetterdienst registrierte 2018 den wärmsten je ge­messenen Sommer und den höchsten Jahresmittelwert. Das unmittelbare Empfinden, wie heiss es werden kann, stimmt mit den Messungen der Klimaforscher also überein. Nicht so einfach nachvollziehbar ist hingegen, wie sich der Treibhauseffekt auf den Niederschlag auswirkt. Von Januar bis Dezember 2018 schlug das Pendel heftig nach oben und ebenso stark nach unten aus.

Im Winter fiel Schnee in noch nie gemessener Menge auf die ­Walliser und Bündner Berge. Auch im Mittelland war es in der kalten Jahreszeit ausgesprochen nass. Viele Grundwasservorkommen waren reichlich gefüllt, als zur ­Hitzewelle eine monatelange Trockenheit dazu kam. In vielen Regionen sank der Grundwasserspiegel trotzdem auf ungewohnt tiefes Niveau. Am stärksten betroffen war die Ostschweiz: Hier sank die Niederschlagsmenge gegenüber einem Normaljahr um 40 %.

Die Schweiz ist das Wasserschloss Europas; der Regen sowie die Schnee- und Gletscherschmelze verteilen sich via Inn, Ticino, Rhone, Doubs und Rhein über den ganzen Kontinent. Der Abfluss ist derart üppig, dass auch die inländische Wasserversorgung ausreichend profitiert. Die zahlreichen Quellen, Grundwasserströme und Seen werden auch angesichts des Klimawandels kaum versiegen. Dennoch dürfte der Wassernutzungskreislauf ins Stocken geraten, weil Angebot und Nachfrage räumlich und zeitlich auseinanderdriften.

Reserven und Gewissheiten schwinden

Das Dargebot gleicht einem komfortablen Überfluss: Nur etwa 10 % des Grundwassers wird effektiv genutzt. Und die meisten Trinkwasserpumpen können bei Bedarf das Doppelte liefern. Allerdings sind diese Gewissheiten seit 2003, ebenso wie die tatsächlichen Reserven, zumindest temporär am Schwinden. Inzwischen bleibt der Regen jedes vierte Jahr in irgendeiner Region wochen- bis monatelang aus. An öffentliche Aufrufe zum sparsamen Umgang mit Wasser hat man sich bereits gewöhnt. Und dass die Trinkwasserversorgung einiger Gemeinden vorübergehend per Tankwagen sichergestellt wird, ist auch nicht mehr ungewöhnlich.

Hydrologen erwarten tatsächlich einen Rückgang der Reserven, unter anderem weil die Gletscher schrumpfen. Quellen im gebirgigen Karst und Grundwasser, das im Schotterbett unter den Tälern hindurchfliesst, werden in den folgenden Jahrzehnten bis zu 20 % Ergiebigkeit verlieren. Kommen längere Trockenzeiten hinzu, kann dies etlichen Regionen in den Voralpen oder im Jura prekäre Versorgungslagen bescheren. Dennoch wissen viele Gemeinden nicht, woher sie das Wasser beziehen sollen, wenn nicht aus den bislang sprudelnden Quellen. Die Bergkantone decken sich zu 80 % damit ein; ansonsten wird Trinkwasser mehrheitlich aus dem Grundwasser hochgepumpt. Als dritte Versorgungsvariante steht Seewasser zur Verfügung. Jeder fünfte Liter Trinkwasser wird in der Schweiz daraus aufbereitet. Die Bezugsquellen und das hydrologische Einzugsgebiet bestimmen deshalb, auf welche Dargebotsschwankungen man sich lokal und regional gefasst machen muss.

Nicht überall sind das Knappheitsrisiko und die gefährdeten Orte bekannt. Immer noch scheinen manche unvorbereitet auf die nächste Trockenphase zu warten. Weil die Trink- und Brauchwasserversorgung eine kommunale Aufgabe ist, fehlt eine generelle Übersicht. Der Wissensstand der Verantwortlichen, die in Gemeinden, Genossenschaften oder Korporationen arbeiten, ist höchst unterschiedlich. Auch darum fühlte sich der Bund berufen, auf abschätzbare Veränderungen in regionalen Wasserkreisläufen aufmerksam zu machen. Und siehe da: Einige Kantone haben potenzielle ­«Trockenregionen» entdeckt.

Überforderte Versorgungsinfrastruktur?

Eine Ersterkundung hat man inzwischen in der Urschweiz durchgeführt. Für die weitläufige Region rund um den Vierwaldstättersee hat ein nationales Pilot­projekt überprüft, wo Wasser knapp werden kann. Die Analyse der 59 Gemeinden – von der Stadt Luzern bis zum Urner Bergdorf Realp – liefert wenig Grund, Alarm zu schlagen. Doch periphere Lagen sollten aufhorchen: Weil entlegene Gemeinden wassertechnisch meistens autonom funktionieren, können lokale Versorgungsengpässe auftreten. Grund dafür sind aber nicht nur die Lage oder fehlende Ausweichvarianten, sondern auch eine steigende Wassernachfrage. Zwar zählen die Schweizer Haushalte zu den sparsamsten in Europa. Und zudem sinkt der Konsum kontinuierlich, wie der Schweizerische Verband des Gas- und Wasserfachs jährlich ausweist. Doch sobald es heiss wird und der Regen ausbleibt, steigt der Durchfluss in bestehenden Anschlüssen. Aber es kommen auch neue Ansprüche dazu: In Landwirtschaftsregionen sind Äcker, Wiesland, Obstplantagen und Rebberge zu bewässern. Und in wachsenden Agglomerationen nimmt mit der Bevölkerung auch der Grund- und Trinkwasserverbrauch zu. Erste Kantone wie Thurgau oder Luzern warnen aufgrund eigener quantitativer Abschätzungen: «Die Bevölkerungsentwicklung und das tendenziell rückläufige Dargebot werden potenzielle Engpässe zunehmend verschärfen.»[1]

Hat das Hitzejahr 2003 die Umweltbehörden erstmals aufgerüttelt, war die Überraschung über die letztjährige Trockenheit eigentlich unberechtigt. Zudem weiss man seit 2014, wie die «Zukunftsstrategie zur Sicherung der Ressource Wasser» in der Schweiz aussehen soll. Formuliert hat sie das Nationale Forschungsprogramm 61 «Nachhaltige Wassernutzung in der Schweiz». Die zentrale Erkenntnis ist wie so oft: Es gibt noch viel zu tun; auf fast alle Regionen kommen neue Aufgaben zur Vorsorge zu. Verknappt der Klimawandel die Wasserressourcen, verschärft der wachsende Nutzungsdruck das Versorgungsproblem. Einiges wirkt hausgemacht, etwa in Tourismusgebieten, deren Wasserbedarf für das Beschneien von Skipisten steigt. Oder überall dort, wo das Siedlungswachstum bestehende Trinkwasserfassungen verdrängt. Das NFP 61 schätzt, dass jede zweite Gemeinde bereits Schutzzonen überbauen liess, ohne die eine Grundwasserpumpstation rechtlich als nicht gesichert gilt. Solche Versäumnisse in der Siedlungsplanung sind aber schweizweit ein Problem (vgl. «Trinkwasser im Dichtestress», S. 27). Die Gefahr droht, dass sich Gemeinden selbst den sicheren Zugang zu den eigenen Wasserressourcen versperren.

Regionale Eingriffe in den Kreislauf

Auch anderswo greift der Mensch über Gebühr in den natürlichen Wasserkreislauf ein. Die Siedlungsentwässerung und die Abwasserreinigung beeinflussen die Hydrologie vieler Regionen. Im Basel­biet hat man untersucht, wie viel Wasser zur Speisung der natürlichen Reserve fehlt, weil es nicht mehr an Ort und Stelle versickern kann. Und eine regio­nale ARA stört das natürliche Einspeisen von Wasser in den Untergrund stärker als ein dezentrales Abwassersystem. Technische Massnahmen wie künstliche Filter für leicht verschmutztes Meteorwasser können durchaus Abhilfe schaffen. Doch damit sich Gemeinden überhaupt einen Überblick über die hydrologischen Verhältnisse ihrer Umgebung verschaffen können, braucht es übergeordnete Planungsinstrumente. Ein solches ist die Generelle Wasserversorgungsplanung (GWP); nur ist sie nicht überall bekannt. Einzelne Kantone vernachlässigen zudem ihre Aufsichtspflicht.[1] Auf der Strecke bleibt eine angemessene Vorsorge und die Gewähr einer jederzeit funktionierenden, flächendeckenden Versorgungssicherheit.

Nur: Fast 3000 Organisationen kümmern sich um die Trinkwasserversorgung der Haushalte und Gewerbebetriebe in der Schweiz, mehr als es Gemeinden gibt. Diese Verzettelung ist unproblematisch, solange jede auf Nachfrageschwankungen unmittelbar reagieren kann. Doch ein einziger Anschluss an das Grundwasser bedeutet in regenarmen Wochen: Es fehlen Ausweichvarianten. Gewässerexperten raten deshalb zur übergeordneten Vernetzung, die ganze Regionen mit neuen unterirdischen Trinkwasserleitungen verbinden soll. Grenzüberschreitende Wasseranschlüsse helfen, lokale Trockenperioden zu überbrücken. Denn die Wasserverknappung wird dort zum Verteilproblem, wo die Versorgungsinfrastruktur dezentral, isoliert und ohne Redundanz organisiert ist. Auf eine Verbesserung dieses strukturellen Handicaps zielt das Bundesprojekt «Sichere Wasserversorgung 2025» ab. Für das nachhaltige Wasserressourcenmanagement sind sowohl die Ressourcen als auch die Infrastruktur zu überprüfen.

Der Blick in die Landschaft beweist, dass es einen regen Zuwachs an Grundwasserpumpwerken für regionale Bedürfnisse gibt und einzelne Neubauten auch architektonischen Ansprüchen genügen können. Von den Vorteilen eines grossräumigen Verteilnetzes profitiert etwa die Agglomeration Zürich: Die angeschlossenen Gemeinden greifen bei zeitweise versiegenden Quellen gern auf das reichliche Wasserangebot der Stadt Zürich zurück. Denn deren Versorgungskapazität wird wesentlich vom Zürichsee bestimmt.

Seewasser als teure Alternative

Nicht nur die grösste Stadt der Schweiz, auch Luzern, Genf oder Neuchâtel decken weit über die Hälfte ihres Eigenbedarfs mit Wasser der angrenzenden Seen. Vor 80 Jahren entstanden die ersten Seewasserwerke zur Trinkwasseraufbereitung. Inzwischen ist der Anteil schweizweit auf 19 % gestiegen. Auch hier sind weitere Vorhaben in Planung, um saubere Oberflächengewässer als fast unerschöpfliche Trinkwasserreservoire zu erschliessen. Dennoch ist die hygienische Aufbereitung im Vergleich zu Grund- und Quellwasser bedeutend aufwendiger. Zudem hat der Hitzesommer 2003 auch die Seewasserversorger überrascht: Nicht die Menge war das Problem, sondern der Sauerstoffgehalt des ungewöhnlich warmen Wassers sank. Aus welcher Tiefe es abgepumpt wird, bestimmt daher die Qualität der Ressource wesentlich mit.

Die Schweiz bleibt trotz Klimawandel und Gletscherschmelze ein Wasserschloss; der nasse Rohstoff wird kaum versiegen. Trotzdem werden sich saisonale und regionale Wasserbilanzen stark verändern. Damit haben sich die Kantone und Gemeinden zwingend auseinanderzusetzen. Wenn der Regen über Tage, Wochen oder Monate ausbleiben sollte, darf dies mittelfristig keinen Trinkwasserverantwortlichen mehr ins Schwitzen bringen.


Quellen:
[01] Regierungsrat Kanton Luzern, Antwort auf parlamentarische Vorstösse Februar 2019.
[02] Nationales Forschungsprogramm 61 «Nachhaltige Wassernutzung in der Schweiz», SNF 2014 (www.nfp61.ch).
[03] Bundesamt für Umwelt: Wasserressourcenmanagement mit Fallstudien (www.bafu.admin.ch).

TEC21, Fr., 2019.04.26



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TEC21 2019|16-17 Trinkwasser: Der Kreislauf stockt

26. April 2019Paul Knüsel
TEC21

Trinkwasser im Dichtestress

Der Bund schlägt Alarm: Hunderte Grundwasserbrunnen sind von der Stilllegung bedroht, weil sie ungenügend geschützt sind. Die Raumplanung hat zu wenig aufgepasst. Der Kanton Solothurn will nun Gegensteuer geben.

Der Bund schlägt Alarm: Hunderte Grundwasserbrunnen sind von der Stilllegung bedroht, weil sie ungenügend geschützt sind. Die Raumplanung hat zu wenig aufgepasst. Der Kanton Solothurn will nun Gegensteuer geben.

Oensingen ist beileibe nicht der Motor der Schweiz, aber ein Zahnrad, das läuft und läuft. Im fleissigen Dorf, eingeklemmt zwischen Autobahn A2 und Jurahügeln, verkehren fast so viele Arbeiter wie ständige Einwohner. Auch deshalb übertrifft die 6000-Seelen-Gemeinde das nationale Bruttoinlandprodukt um 35 %. Für die «Hauptstadtregion Schweiz», die das westliche Mittelland umfasst, ist Oensingen ein «Top-Entwicklungsstandort». Dumm nur, dass man sich dort eben selbst das Wasser abzugraben scheint. Nicht, was die wirtschaftliche Leistung betrifft, sondern im wahrsten Sinn des Worts: Das Grundwasserpumpwerk Moos, das sämtliches Trink- und Brauchwasser für die Haus­halte und Firmen liefern muss, wird vor allem von ­Letzteren bedrohlich eingekreist. Es steht mitten in einem fast 1 km2 grossen Gewerbegebiet, was für Gewässerexperten eine Art Tabubruch ist. Vor 50 Jahren wurde die Pumpstation auf Ackerland weit ausserhalb des Siedlungsgebiets gebaut. Jetzt ist es eingekesselt: Die Anlage, die sauberes Grundwasser aus 30 m Tiefe an die Erdoberfläche holt, ist sogar akut bedroht. Das kantonale Amt für Umwelt verlangt von der Gemeinde inzwischen, die Wasserbeschaffung so schnell wie ­möglich besser abzusichern und nach Alternativen zu suchen. Wir befragten den kantonalen Experten.

TEC21: Herr Hug, warum darf das Pumpwerk Moos nicht weiterhin Grundwasser fördern?

Rainer Hug: Wasser liefert der Brunnen effektiv genug, und auch die Qualität ist bislang nicht zu beanstanden. Doch das Problem ist: Das Einzugsgebiet der Fassung ist zu wenig gut geschützt.

Warum nicht?

Die Fassung liegt mitten in einer Industriezone, und rundherum ist praktisch alles überbaut. Damit steigt das Risiko, dass das Grundwasser unmittelbar verunreinigt werden kann. Gefährlich sind etwa Heizöltanks oder Betriebs­tank­stellen; bei Lecks oder anderen Zwischenfällen kann Öl oder Benzin in den Untergrund versickern. Noch problematischer sind die benachbarten Abwasser­leitungen: Falls diese undicht werden, können sie das Grundwasser lange Zeit unbemerkt verschmutzen.

Werden gesetzliche Regeln nicht beachtet?

Die Gewässerschutzverordnung schreibt für jede Pumpstation einen Umkreis von mindestens 100 m vor, der frei von Bauten und Anlagen zu halten ist. Dieser Sicherheitsabstand wird mit den Grundwasserschutzzonen 1 und 2 festgelegt. Er muss noch grösser sein, wenn das Grundwasser nicht mindestens zehn Tage braucht, um vom Rand der Freihaltezone bis zur Pumpfassung zu fliessen. In dieser Zeit soll der Boden eventuelle Verunreinigungen filtern oder bakteriell abbauen können.

Was kann die Gemeinde jetzt tun?

Zum einen soll die Gemeinde künftig das Wasser in der Fassung und im nahen Einzugsgebiet kontinuierlich auf potenzielle Schadstoffe über­wachen. Zum anderen muss sie sich auf ein zweites Standbein für die Wasserbeschaffung abstützen können, etwa indem sie sich an einer bestehenden, gut geschützten Grundwasserfassung anschliesst. In der Nachbarschaft stehen beispielsweise leis­tungs­­fähige und nahezu konfliktfreie Fassungen mit Reserven für einen Anschluss bereit.

Muss die eigene Fassung nicht aufgehoben werden?

Oensingen hat eine Frist von zehn Jahren erhalten. Ab dann darf das Pumpwerk Moos nur noch reduziert benutzt werden. Und ab dann soll das Werk bei einer Verunreinigung vom Netz genommen werden können, ohne die Versorgung der Gemeinde einschränken zu müssen. Trotzdem muss die ­Ge­meinde die Grundwasserschutzzone nun so weit möglich an die gesetzlichen Vorgaben anpassen. Kann die 100-m-Regel nicht eingehalten werden, braucht es andere, verschärfte Schutzmassnahmen.

Warum muss das nicht schneller gehen?

Rechtlich ist die Situation sogar so: Die Konzession für die Grundwassernutzung läuft erst 2040 ab. Den Schutzstandard jetzt schon zu aktua­lisieren war das Resultat von Verhandlungen zwischen dem Kanton und der Gemeinde. Da nun die letzten Flächen in der Schutzzone S3 überbaut ­wer­den sollen, musste der Kanton intervenieren. Die hydrogeologischen Bedingungen an diesem Standort entschärfen das Problem aber ein wenig: Der Grundwasserträger befindet sich im Vergleich zu anderen Fassungen weit unten. Dank der mächtigen Schutzschicht ist das Grundwasser von Oensingen besser geschützt, was uns Zeit für die Umsetzung gibt.

Ist Oensingen ein Spezialfall?

Leider nein, sondern beispielhaft für ein halbes Dutzend Trinkwasserfassungen im Kanton Solothurn. Die Ausdehnung des Siedlungsraums und der Bau von Verkehrsinfrastruktur wie Strassen und Tunnels setzen den Schutz der bestehenden Versorgung unter grossen Druck. Dass eine Grundwasserschutzzone S2 überbaut ist oder sich mit rechtmässigen Bauzonen überlagert, trifft jedoch für viele Gemeinden im gesamten Schweizer Mittelland zu.

Jede fünfte Anlage ist in Gefahr

Mindestens so langsam, wie Wasser durch den Boden sickert, so viel Zeit braucht es, bis Warnungen vor steigendem Nutzungsdruck an die Öffentlichkeit dringen. Vor 20 Jah­ren trat die nationale Gewässerschutzverordnung in Kraft, die alle Pumpstandorte angemessen schützen und weiträumige Schutzzonen vorschreiben soll. Ende 2018 liess der Vollzugsbericht des Bundesamts für Umwelt (Bafu) aufhorchen. Die befragten ­kantonalen Fachstellen beklagten sich über «schwerwiegende Konflikte» und «unzulängliche Zonenausscheidungen» in den Gemeinden.[1] Die Angaben liefern weitere Details zu diesem Versäumnis: Mehr als ein Drittel der Trinkwasserfassungen hält die rechtlichen Vor­gaben nicht ein. Und mindestens jede fünfte Anlage braucht zusätzliche Schutzvorkehrungen, um von einer sicheren Versorgung sprechen zu dürfen.

Allein der Kanton Bern musste in den vergangenen Jahren über 100 Fassungsgebiete aufheben und 350 Einzelfassungen stilllegen. Der Konflikt mit der Raumplanung hat gemäss dem Fachverband SVGW dazu geführt, dass fast jeder dritte Wasserversorger in den letzten 20 Jahren ein Fassungsgebiet schliessen musste. Doch die Kantone sind weiterhin ratlos, wie sie von den Gemeinden rechtskonformen Zustand einfordern können. In der Umfrage teilen sie dem Bafu zudem mit: «In dicht besiedelten Regionen ist es äusserst schwierig, geeignete Ersatzstandorte zu finden.»

Herr Hug, wie sieht die Situation in Solothurn aus: Wie viele Reservestandorte stehen zur Verfügung?

Auch bei uns ist der Raum knapp. Der Kanton Solothurn verfügt über drei grosse Grundwasservorkommen, die zu den grössten im Mittelland gehören. Trotz Wasserreichtum wird es zunehmend schwierig, freie Räume für die Trinkwasserproduktion zu finden. Zwischen Olten und Aarau setzt der Kanton nun mit 20 Gemeinden einen regionalen Wasserversorgungsplan um. Dort werden über 60 000 Menschen aus zehn Grundwasserfassungen versorgt. Vier davon müssen stillgelegt werden. Wir konnten zwei Ersatzstandorte bestimmen. Auch in diesem Raum verunmöglichen bereits überbaute Flächen oder ein im Bau befindlicher Eisenbahntunnel weitere Optionen.

Kann dies Versorgungsengpässe verursachen?

Wir haben kein quantitatives Problem; nicht einmal im trockenen Sommer 2018. In vielen Fassungen werden jeweils nur 30 bis 40 % des Dargebots effektiv ausgeschöpft. Das Problem ist, zusätzliche freie Nutzungsräume zu finden und nachhaltig zu schützen. Die jetzige Infrastruktur hat genug Reserve; Anschlüsse für Nachbargemeinden sind an vielen Orten möglich. Wir empfehlen deshalb, eher neue Leitungen zu bauen als neue Fassungen. Aber wichtig ist, dass jede Gemeinde ein zweites Standbein in der Trinkwasserversorgung aufbauen kann.

Was heisst das?

Dazu werden zwei Anschlüsse benötigt, an jeweils hydrogeologisch möglichst voneinander getrennte Grundwasservorkommen. Eine sichere Versorgungsinfrastruktur besteht daher aus zwei unabhängigen Pumpwerken und Einspeiseorten. Diese Versicherungs- und Vorsorgelösung lässt sich oft mit einer Regionalisierung verbinden. Doch häufig bremsen politische Befindlichkeiten eine Vernetzung. Die Wasserversorgung ist historisch kleinräumig gewachsen. Eine übergeordnete Planung kann schnell Widerstände provozieren. Die Gründe, warum man sich vernetzen soll, verstehen nicht alle Gemeinden. Erwidert wird: Wir haben sauberes Wasser und bezahlen wenig dafür. Warum soll man daran etwas ändern?

Hat der Kanton keine hoheitlichen Befugnisse?

Konzessionserneuerungen sind wichtige Hebel, um den Ersatz von schlecht geschützte Fas­sun­gen voranzutreiben oder die Vernetzung zu ver­bessern. Der Kanton kann selbst zwar regionale Versorgungsplanungen durchführen. Diese sind aber nur Leitplanken für neue Grundwasserfassungen und Verbundsleitungen. Die Umsetzung ist Sache der Gemeinden oder anderer öffentlicher Versorger.

Und was kostet das? Die Antwort geben wir hier selbst. Tatsächlich wird die öffentliche Wasserversorgung verursachergerecht finanziert. Aufgrund von Schätzungen geht man davon aus, dass derzeit rund 100 Franken pro Einwohner für die Erneuerung und den Ausbau der Infrastruktur jährlich investiert werden; ebenso viel wie für Unterhalt und Betrieb. Man rechnet auch mit einer ­Verdoppelung des Mittelbedarfs: Mittelfristig ist über eine Milliarde Franken pro Jahr für die Netz­erweiterungen bereitzustellen. Oensingen rechnet selbst mit einem höheren Aufwand und hat die kommunalen Wasserzinsen bereits 2018 erhöht.


Anmerkung:
[01] Schutz der Grundwasserfassungen in der Schweiz – Stand des Vollzugs, Bafu 2018.

TEC21, Fr., 2019.04.26



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TEC21 2019|16-17 Trinkwasser: Der Kreislauf stockt

Ein schmaler Pfad für mehr Natur

Das Naturschutzgebiet Hopfräben liegt am Ufer des Vierwaldstättersees, der Zugang zum Wasser ist teilweise verbaut. Die Renaturierung des Verlandungsbereichs wurde mit einer Schutzplanung für das dahinter liegende Flachmoor kombiniert.

Das Naturschutzgebiet Hopfräben liegt am Ufer des Vierwaldstättersees, der Zugang zum Wasser ist teilweise verbaut. Die Renaturierung des Verlandungsbereichs wurde mit einer Schutzplanung für das dahinter liegende Flachmoor kombiniert.

Schwyz ist ein Voralpen- und Moorkanton. Wohl am bekanntesten ist Rothenthurm. Diese Hochmoorlandschaft hatte die Schweiz vor 31 Jahren zur Annahme des Moorschutzartikels verleitet. Seither sammelt die kantonale Umweltbehörde wichtige Erfahrungen, wie das strenge Gesetz für Eigen­tümer, Nutzer und Besucher verbindlich umgesetzt ­werden kann. Im Moor darf an sich nichts verändert werden, und auch die Zugänglichkeiten sind zu beschränken. Verbote funktionieren aber nicht immer. Gemäss Remo Bianchi vom Amt für Natur, Jagd und Fische­rei des Kantons Schwyz werden Lösungen häufig besser akzeptiert, wenn sie auch gegensätzliche Ansprüche verbinden. «Konkret heisst das: Zwischen Naturschutz und Naherholung gilt es einen Ausgleich zu finden.» Auch im Hopfräben direkt neben dem Siedlungsgebiet von Brunnen wird nun ein solcher Spagat geübt.

Grossräumlich ist der Standort eine der wenigen Flachuferzonen am Vierwaldstättersee. Im Kern enthält diese Landzunge ein Streuried als letzten Rest des Muota­deltas. Das Areal steht auf der Liste der Flachmoore von nationaler Bedeutung. Es ist bäuerliches Grundeigentum und wird standorttypisch genutzt und gepflegt. Die knapp sieben Fussballfelder grosse Fläche besticht durch ihre ökologische Qualität: Sauergräser, Schilfgürtel und Wasserpflanzen bilden die ökologisch wertvolle Vegetation; Fische, Wasservögel und Amphibien profitieren von der Verlandungszone, so gut es eben geht.

Denn wie der Augenschein vor Ort verrät, drängt der Mensch bis hart an den Rand. Das Feuchtbiotop wird von Gewerbe- und Erholungsinteressen in die Zange genommen. Im Norden und Süden steckt je ein Campingplatz den Schutzperimeter ab. Im Nordwesten bildet eine öffentliche Badeanstalt die künstliche Grenze. Und auch eine Kieswaschanlage gehört zur einengenden Nachbarschaft. Einen Puffer, der Raum für die natürliche Dynamik bieten würde, gibt es kaum. Doch auch für Wanderer, Biker und Hundefreunde ist das Muotadelta attraktiv. Örtliche Hängegleiterschulen peilen eine nahe gelegene Landewiese an. Fussgänger suchen derweil eine Abkürzung dem Vierwaldstättersee entlang. Misslungene Anflugmanöver und Trampelpfade hinterlassen mehr als nur temporäre Spuren im empfindlichen Feuchtgebiet.

Im Einzelnen und in der Summe sind die Störungen für die besondere Flora und Fauna uner­träglich und unkontrollierbar geworden. Um weitere Konflikte zu verhindern, hat die Kantonsbehörde vor zweieinhalb Jahren einen Schutzplan in Kraft gesetzt. Die einvernehmliche Lösung mit Grundeigentümern, Nachbarn und der Gemeinde wartet nun auf den Abschluss ihrer Umsetzung. Ausstehend ist die Bewilligung dreier Einzelprojekte, die gemeinsam der ökologi­schen Aufwertung von Uferzone und Flachmoor dienen.

Widerstand an den Grenzen

Die ersten Schritte zum Schutz des Feuchtstandorts unternahm die Gemeinde Ingenbohl vor fast einem halben Jahrhundert. Aber erst 2011 wurde die Dringlichkeit der Angelegenheit erhöht. Bis 2016 verhandelten die Behörden von Brunnen und des Kantons Schwyz mit Eigentümern und Nutzern über eine Neuordnung des räumlichen Geflechts. Eine ökologische Bewirtschaftung mit Düngerverbot wurde nie infrage gestellt. Die härteren Nüsse waren an den bisherigen Grenzen zu knacken: Weil die Schwyzer Behörde den Abstand zwischen Flachmoor und Erholungsnutzung vergrössern wollte, sprach man mit den Nachbarn über eine Umlegung der Campingplätze westlich und östlich des Biotops. Einer wehrte sich juristisch dagegen. Ohne Erfolg: Das Bundesgericht lehnte die Beschwerde ab.[1]

Anfang 2016 setzte der Kanton Schwyz den neuen Nutzungsplan Hopfräben in Kraft. Im Osten muss der Zeltplatz Flächen für eine Pufferzone freigeben. Im Gegenzug wird das davor liegende Seeufer zu einem attraktiven Badeplatz umgestaltet. Ein Sichtschutz und ein kleines Fliessgewässer sollen den öffentlichen Bereich vom Flachmoorperimeter abtrennen. Denn ennet dieser neuen Grenze erhält die Natur nun Vorrang. ­Dafür muss das harte Seeufer aber aufgeweicht werden.

Aktuell schützt ein künstlicher Damm aus Abbruchmaterial das natürliche Hinterland; dieser wird gemäss Renaturierungsprojekt durch einen Überflutungsbereich mit Graben und Teich ersetzt. Danach soll ein künstliches Unterwasserriff 25 m seeseitig der heutigen Uferkante den Wellenbelastungen standhalten und trotzdem dynamische Umlagerungsprozesse ermöglichen. Seine Oberkante liegt 20 cm unter dem Mittelwasserspiegel, sie soll die anlaufenden Wellen brechen und zugleich in der Flachwasserzone verhindern, dass das Moorufer erodiert. Je nach Wasserstand, Wellen- und Windsituation wirkt das Riff unterschiedlich. Die Ingenieure dimensionieren es mithilfe von Wellenmodellierungen und binden es im Untergrund ein, damit es selbst nicht erodiert oder von den Wellen zerstört wird.

Dank dem Dammrückbau wird die Verbindung zwischen Moor und See wiederhergestellt, und beide Ökosysteme werden vernetzt: Wasservögel, Fische und Amphibien finden im verzahnten Ufer zusätzliche Brut- und Laichplätze. Auf dem Wasser ist zudem ein 200 m breiter Streifen mit Bojen markiert; das Seeufer vor dem Hopfräben ist für Schwimmer und für das Befahren oder Ankern mit Booten neuerdings tabu.

Die Natur am Ufer gewinnt

Die Abflachung des Ufers wird auch in den Bereichen fortgesetzt, die als kommunale Badezone zugänglich sein werden. Hierfür werden massive Steinblöcke entfernt, um flache Strände und Kiesbuchten ausbilden zu können. Damit die uferparallele Strömung das Mate­rial des neugestalteten Abschnitts nicht verfrachtet und dieses den Einlauf des Hechtgrabens verstopft, werden Umlenkbuhnen rechtwinklig zum Ufer bis in eine Was­ser­tiefe von 2.5 m gezogen.

Während die Natur am Ufer gewinnt, steht am Nordrand der Flachmoorparzelle die Naherholung im Vordergrund. Die kantonale Schutzplanung sieht hier einen neuen Wanderweg vor, der mehrheitlich durch die Pufferzone und teilweise über den Rand des Streurieds führt. Den Hopfräbenweg hiess das Bundesgericht in Lausanne gut. In der Urteilsbegründung wurde die Strategie anerkannt, die sich die Schwyzer Planungsbehörde zur Entflechtung der Nutzungen ausgedacht hatte. Der schmale Moorpfad soll weitere Störungen vermeiden und eine «schutzverträgliche Besucherlenkung» ermöglichen. Vorgesehen ist ein Weg auf Holzprügeln und mit Kiesab­deckung, der höchstens 1.4 m breit ist. Als Sichtschutz für die Vögel auf der Riedfläche können halboffene Palisaden oder Sträucher dienen.

Aktive Beteiligung, hängige Beschwerde

Der Hopfräben hat eine lange Geschichte. Das bezieht sich auf die natürliche Entstehung und inzwischen auch auf die Anerkennung der ökologischen Werte: Bereits im frühen Mittelalter wird die Verlandungszone urkundlich erwähnt. Ab dem 16. Jahrhundert wird sie sogar zum Fischereischongebiet erklärt. Und Ende des letzten Jahrhunderts setzt sich die Besorgnis durch, dass der Rest der einstigen Moorfläche besseren Schutz verdiene.

Inzwischen beteiligen sich weitere Kreise aktiv an der Aufwertung des naturnahen Standorts: Das Elektrizitätswerk des Bezirks Schwyz will hier verfügbaren Raum nutzen für einen ökologischen Ausgleich zur Wasserkraftgewinnung an der benachbarten ­Muota. Eine zusätzliche Gewässerrinne in der Moorpufferzone soll dem seltenen Bachneunauge neue Laichplätze bieten.

Und am Ufer könnte eine Bucht dem Hecht als Rückzugsort dienen. Beide Eingriffe würden gleichzeitig eine Trennlinie zwischen öffentlichem Seeufer und Biotop bilden. Das Konglomerat an baulichen Massnahmen wird dazu führen, dass der Flora und Fauna sowie dem Menschen eigene Nutzungsräume zugewiesen werden.

Insofern scheint ein glückliches Ende vieler ­Bemühungen in Sicht; gut ist es, trotz ausdiskutierten Projekten und zur Genehmigung eingereichten Plänen, aber noch nicht. Abermals steht die Bereinigung eines juristischen Streits aus. Die Schwyzer Umweltorganisationen wehren sich gegen den Abbruch eines alten Badehauses am Aufwertungsufer; auch der Kanton rügt die Gemeinde deswegen. Ein gültiger Entscheid dazu steht aber noch aus, weswegen auch die Baubewilligung sistiert ist. Klarheit herrscht hingegen, was am Ufer vor dem Flachmoor geschehen darf: Um die Fauna vor äusseren, physischen und visuellen Störungen besser abzuschirmen, muss nun auch hier ein Sichtschutz erstellt werden, dessen Höhe sich an Standards in anderen Naturschutzgebieten orientiert. Diesen Vorschlag der Naturschutzorganisationen hat die kommunale Bewilligungsbehörde als Zusatzauflage akzeptiert. Somit stünde der baldigen Aufwertung des Flachmoors Hopfräben inklusive Ufer nichts mehr im Weg.


Anmerkung:
[01] Bundesgerichtsentscheid (BGer) 1C_222/2015 vom 26. Januar 2016.

TEC21, Fr., 2018.11.23



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TEC21 2018|47 Dynamik am Seeufer

«Die Natur vor sich selber schützen»

Am Seeufer von Brunnen in der Gemeinde Ingenbohl wird geplant und gebaut. Die Projektbeteiligten tauschen sich aus über Ansprüche, die sie zu erfüllen, und über Interessen, die sie zu vertreten haben. Wo waren und sind die Hürden, was wünscht man sich am Seeufer, und was ist unmöglich zu realisieren?

Am Seeufer von Brunnen in der Gemeinde Ingenbohl wird geplant und gebaut. Die Projektbeteiligten tauschen sich aus über Ansprüche, die sie zu erfüllen, und über Interessen, die sie zu vertreten haben. Wo waren und sind die Hürden, was wünscht man sich am Seeufer, und was ist unmöglich zu realisieren?

TEC21: Sie haben am Seeufer des siedlungsdichten Raums von Brunnen gebaut (vgl. «Die Promenade am See»), und Sie planen bauliche Aufwertungsmassnahmen rund um ein benachbartes Naturschutz­gebiet, das Flachmoor Hopfräben (vgl. «Ein schmaler Pfad für mehr Natur»). Zwei sehr gegensätzliche Gebiete am Seeufer mit unterschiedlichen Anforderungen an die Eingriffskonzepte. Ohne ins Detail zu gehen, ist ihnen aber ein langjähriger Planungs­prozess gemeinsam.
Albert Auf der Maur: Das ist in der Tat so. Verbauungen am Seeufer dauern lang – in unserem Fall dauert die Planung bereits Jahrzehnte. Die erste Etappe in Brunnen ist nun aber umgesetzt. Beim Hopfräben sind wir noch in der Planung.
Beat Schuler: Kernelement ist der Zugang zum Wasser. Insgesamt sollen beide Orte an Attraktivität gewinnen und trotzdem den Sicherheits- und ökologischen Anforderungen entsprechen.
Richard Staubli: Wir sind oft bei Seeufer­planungen involviert und bemerken, dass nicht unbedingt der schlechte Zustand beispielsweise von ­Hafenmauern der Auslöser für eine Erneuerung ist, sondern im Siedlungsgebiet vielmehr der Nutzungs­druck durch die Bevölkerung. Um 1900 baute man an vielen städtischen Uferbereichen Prome­naden rund 2 m über dem Seespiegel. Man flanier­te, hatte aber keinen eigentlichen Bezug zum Wasser. Heute wird gerade dieser Punkt zum Thema. Die Be­völkerung möchte näher ans Wasser. Nicht nur an Seen, auch an Flüssen. Die Uferanlagen sind an schönen Tagen teilweise so rege genutzt, dass man sie erweitern und attraktiver gestalten möchte. Bei einem Eingriff ist man mit den bestehenden, 50 bis 100 Jahre alten Strukturen konfrontiert und ent­sprechend mit den Werten, die es zu erhalten gilt. Andererseits ist ein Grossteil der See- und Fluss­ufer in der Schweiz künstlich verbaut, und man ist bestrebt, solche Uferzonen wo möglich zu renaturieren.

TEC21: Steht die Zugänglichkeit zum Wasser denn nicht im Widerspruch zu Sicherheitsfragen?
Albert Auf der Maur: Das war in der Tat der grosse Dis­kussionspunkt für die lokale Bevölkerung. Die Ufer­promenade ist exponiert. Ein Föhnsturm am Quai bedeutet, alle Kursschiffe ­fahren in den Föhn­hafen, und die Wellen schwappen bis über die Kantons­strasse. Baumstämme und Holz werden in Massen an­geschwemmt. Die erste Erneuerungs­etappe der Ufer­zone im Siedlungsbereich von Brunnen aber schafft Zugänglichkeit und ist sicher zugleich. Die Sicher­heit von früher ist auch heute noch gewährleistet.
Richard Staubli: Es gibt verschiedene Arten von Sicherheit. Für den Ingenieur ist gewiss die Tragsicherheit der Bauwerke wichtig. Im Wasser sind Bauwerke über längere Zeiträume wenig belastet, doch plötzlich treten bei Sturm Spitzenbelastungen auf. Das Bauwerk sollte auf die­se Extreme ausgelegt sein und ­keinen Schaden nehmen. Welche Wellen kom­men mit welcher Jährlichkeit aus welcher Richtung? Wenn wir das Bauwerk entsprechend dimensionieren, müssen wir unter Umständen relativ harte Verbau­ungen einplanen. Das steht aber mit ökologischen As­pekten im Konflikt – insbesondere in einem ökologisch wertvollen Raum wie den Uferzonen. Zudem gilt es die Sicherheit der Bevölkerung zu beachten. Wie na­h darf der Mensch – insbesondere das Kind – ans Wasser? Braucht es ein Geländer? Die politische Behörde muss die verschiedenen Ansprüche abwägen und entscheiden, welche Risiken sie übernehmen kann.
Stephanie Matthias: Speziell die Frage, ob es ein Geländer benötigt, ist individuell zu beurteilen. Bei Rampenabgängen gewährleistet dieses die Absturzsicherheit. An der Uferkante von Brunnen ist die ­­Absturzhöhe allerdings so gering, dass man sich bewusst gegen ein Geländer entschieden hat.

TEC21: Wie werden die ökologischen Aspekte berücksichtigt?
Kuno von Wattenwyl: Die Fischereigesetzgebung ist besorgt um Fisch, Krebs und Fischnährtiere – also alles, was Fische fressen – und um deren Lebens­raum. Bei Verbauungen und auch bei der ­Neugestaltung von Verbauungen fordert sie eine ökologische Verbesserung dieses Lebensraums. Dabei weiss man: Kiesstrände oder Flachuferzonen, even­tuell mit Schilf bepflanzt, sind ökologisch viel wert­voller als ein harter Abschluss durch eine Mauer. Meine erste As­­so­ziation zum gestalterischen Plan, das Wasser am Ufer von Brunnen erlebbar zu machen, war daher ein Kies­strand. Man kann direkt ans Wasser gehen, sieht vielleicht einen Fisch, kann Steine ins Wasser werfen, zugleich wird aber auch der Fisch­lebensraum aufgewertet. Doch diese vielleicht naive Vorstellung stiess auf ­Widerstand. Daher war zu ­verhandeln, welche Aufwertungsmassnahmen den ökologischen Zustand tatsächlich verbessern können.

TEC21: Welche Aufwertungsmassnahmen sind das?
Kuno von Wattenwyl: Grundsätzlich können das unterschiedliche Massnahmen sein. Sie reichen vom totalen Rückbau der Ufermauer über die Schaffung neuer Laichplätze und einer neuen Uferbestockung bis zum Anlegen einzelner Fischunterstände. In Brunnen hat man sich für eine Treppe entschieden, die ins Wasser reicht und hohl ist. Der Hohlraum – ein ­Fischunterstand – ist für aquatische Lebewesen erreichbar. Das ist aber eine Kompromisslösung, weil damit der vorhandene aquatische Lebensraum nur minimal aufgewertet wird.
Richard Staubli: Die Schüttung eines grossflächigen Flachstrands wäre aufgrund des steil abfallenden Seegrunds nicht möglich gewesen, ohne die Stabilität des Geländes zu beeinträchtigen. Uferzonen in städtischen Gebieten bergen diesen typischen Konflikt zwischen verschiedensten Interessen. Einerseits haben wir den Menschen, der das Gebiet nutzen möchte und mit seinen Verbauungen und Nutzungen die Ökologie stört. Andererseits sollen wir die Öko­logie verbessern.
Stephanie Matthias: Auch an die Schifffahrt mussten wir denken. So wollte man auf keinen Fall badende Gäste in der Nähe des Anlegestegs. Ein Badeverbot ist aber schwierig umzusetzen, wenn der Strand zum Baden einlädt. Eine Badestelle ist nun etwas ausserhalb der Quaizone, im Umfeld des Naturschutzgebiets Hopf­räben, vorgesehen.
Kuno von Wattenwyl: Ein Knackpunkt ist auch, dass Flachuferverbauungen mehr Platz an Land ­benötigen. Und dieser war beim vorliegenden Projekt schlicht nicht vorhanden.

TEC21: Auf welche Variante konnte man sich einigen?
Kuno von Wattenwyl: Für die harte Verbauung im Siedlungsraum bediente man sich eines Kunst­griffs: Dem Projekt wurde eine nahe gelegene­ Aufwertungsmassnahme am See zugeschlagen. In der Bewilligungspraxis ist es nicht verboten, Aus­­gleichsmassnahmen ausserhalb des eigentlichen Projektperi­meters umzusetzen. Allerdings ist eine naturräumli­che Nähe zum Projekt sinnstiftender als eine weit entfernte Ausgleichsmassnahme.

TEC21: Oft wirken ökologische Massnahmen aufgesetzt ­beziehungsweise kommen zu einem späten Zeitpunkt hinzu. Sind sie denn nicht gestalterisch in die Architekturplanung eingebunden?
Richard Staubli: Bei Projekten dieser Grössenordnung werden Wettbewerbe für Architektur oder Landschaftsarchitektur durchgeführt. Im Siedlungsgebiet sind es städtebauliche und architektonische Überlegungen, die zur Gestaltung führen; das Projekt basiert weniger oder kaum auf ökologischen Aspekten. Erst nachträglich beginnt man örtliche Massnahmen wie Fischnischen oder Blocksteine anzuordnen. Der gestalterische Spielraum für solche späteren Einzelmassnahmen im Gesamtkonzept ist klein. Hier müss­te man ansetzen und die ökologischen Gesichtspunkte bereits frühzeitig in den Wettbewerb einbringen.
Kuno von Wattenwyl: Entwickelt man ein technisches Bauwerk und baut am Schluss die Ökologie ein, die ebenso notwendig ist, dann sieht das Projekt aus ökologischer Sicht ganz anders aus, als wenn man es als Ökologieprojekt beginnt und nachher die Hochwassersicherheit einbaut. Es war hier kein wirkliches Ökologie-, Renaturierungs- oder – was es eigentlich hätte sein sollen – Revitalisierungsprojekt.
Sandro Betschart: Aus Sicht des Gewässerschutzes war der erweiterte Perimeter durchaus ­zweckerfüllend. Denn es ist schwierig, den Raum in städtischen Gebieten so aufzuwerten, dass er der Natur stark dient. Es liegt an uns Verantwortlichen, sich auf einen Kompromiss einzulassen und zu ­schauen, wo es sich lohnt zu kämpfen. Die Seeufer­verbauungen im Zentrum von Brunnen und im ­naturnahen Gebiet Hopfräben bilden daher sich gut ergänzende Gegensätze.
Albert Auf der Maur: Diese Kombination wurde auch möglich, weil Gemeinde und Kanton eng zusammengearbeitet haben.
Stephanie Matthias: Allerdings war es Zufall, dass die jahrzehntelangen und aufwendigen Planungspro­zesse der beiden an und für sich getrennten Projekte zeitlich schliesslich zusammengefallen sind.

TEC21: Die Uferverbauung beim Flachmoor Hopfräben ist erst noch in Planung.
Stephanie Matthias: Das Projekt nahm seinen Anfang vor 40 Jahren. Wie die Uferzone in Brunnen ist auch die Landzunge vor dem Hopfräben künstlich aufgeschüttet worden. Dieses Gebiet war immer ein beliebter Rückzugsort für die Bevölkerung. Nun ist ­ge­plant, dass knapp 100 m des öffentlich zugänglichen Damms zurückgebaut werden, um das geschützte Flachmoor mit dem offenen Gewässer aquatisch wieder zu vernetzen. Für die Bevölkerung sollen Badebuchten erstellt werden, und zudem wird eine grössere Liegewiese geschaffen. Mit einer konsequenten Besucherlenkung trennt man Naturschutzgebiet und öffentliche Nutzung.
Albert Auf der Maur: Aber Nachbarn und Schutz­organisationen werden Einsprachen machen.
Stephanie Matthias: Wir führen bereits Einigungs­gespräche. Die Interessen des Menschen und der Ökologie widersprechen sich: Camping, Erschliessung der Ufer, Kieswerk, Kiesgewinnung bei der Muotamün­dung, Flachmoor und so weiter. Der bereits in Kraft gesetzte Teilzonenplan hilft, die Interessen gegeneinander abzuwägen. Zusammen mit dem Nutzungsplan und der Schutzverordnung ist es dieser Abwägung und einer guten Kommunikation zu verdanken, dass wir das Projekt überhaupt umsetzen können.

TEC21: Kann man trotz der künstlichen Verbauung an ­beiden Orten von guten ökologischen Beispielen ­sprechen?
Sandro Betschart: Durchaus. Wir haben die Situa­tion sicher nicht verschlechtert. Der Dialog fand statt, und die unterschiedlichen Disziplinen haben sich ausgetauscht. Früh miteinander reden heisst früh selber denken und eruieren, wie man die einzelnen Fach­aspekte in das Projekt konstruktiv einbinden kann.
Richard Staubli: Auch in der naturnahen Zone müssen wir verhindern, dass das Ufer durch Wellen weg­erodiert wird. Aus Sicht der Wellenbelastung finden wir beim Hopfräben eine ähnliche Ausgangslage vor wie am Quai von Brunnen. Es handelt sich um eine exponierte Lage mit einer starken Wellenbelastung bei Sturm. Aber während wir bei der Seeufer­gestaltung in Brunnen eine harte Kante dagegen ­setzen, nutzen wir im Hopfräben weichere und naturnähere Mittel. Mit einem vorgelagerten Riff werden ein Teil der Wellenenergie vernichtet und die Ufer­zone geschützt.
Kuno von Wattenwyl: Es ist eine schizophrene ­Situation. Man schützt die Natur vor sich selber, weil man sie vorher so eingeengt hat, dass sie sich nicht mehr ausbreiten kann. Wir haben der Natur die Dynamik weggenommen.

TEC21: Wie stehen die Erfolgsaussichten?
Kuno von Wattenwyl: Ob es ein Erfolg wird, ist gar nicht so einfach zu sagen. Beim Hopfräben besteht die Möglichkeit einer Erfolgskontrolle. Bei der Verbau­ung im Zentrum von Brunnen gibt es weder Vor- noch Nachaufnahmen – das war damals noch nicht not­wen­dig. Es wäre mir für weitere Projekte ein wichtiges Anliegen, dass das Ziel der ökologischen Aufwertung definiert wird. Dazu gehören entsprechende Massnahmen und messbare Indikatoren. Bei Aufwertungen ist es wichtig, kleine Strukturen für die Flora und Fauna zu schaffen.
Richard Staubli: Wir Ingenieure verfassen für unsere Projekte jeweils eine Nutzungsvereinbarung. Darin ist zum Beispiel festgehalten, wie weit das Seeufer erodieren darf. Auch in der Ökologie sind solche klaren Zielvereinbarungen wichtig; sie sollten dann mit einem Monitoring überprüft werden.

TEC21, Fr., 2018.11.23



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09. November 2018Paul Knüsel
TEC21

Der nächste Nachhaltigkeitshype?

Strom an Gebäuden zu produzieren und möglichst viel davon vor Ort selbst zu konsumieren ist ein häufig geäusserter Bauherrenwunsch. Die Planung solcher Projekte bietet Gelegenheiten zu flexiblen Lösungsansätzen. Doch das Eigenverbrauchsmodell birgt auch Risiken.

Strom an Gebäuden zu produzieren und möglichst viel davon vor Ort selbst zu konsumieren ist ein häufig geäusserter Bauherrenwunsch. Die Planung solcher Projekte bietet Gelegenheiten zu flexiblen Lösungsansätzen. Doch das Eigenverbrauchsmodell birgt auch Risiken.

Seit Anfang Jahr hat der Bund einen Systemwechsel zur Förderung von Solarstrom vorgenommen: Die Energie soll lokal erzeugt und zu einem möglichst hohen Anteil auch vor Ort konsumiert werden. Der Eigenverbrauch ist als nächster Schritt zum dezentralen Energiesystem gedacht und funktioniert am besten im Siedlungsraum. Mit öffentlichen Subventionen darf nurmehr rechnen, wer den Ertrag seiner Solaranlagen selbst konsumiert oder ihn den unmittelbaren Nachbarn zum Bezug zur Verfügung stellen kann.

Was im Heer der Einfamilienhäuser seinen Anfang nahm, will der Staat verstärkt auf Wohnareale oder ganze Stadtquartiere übertragen. Die Bewohnerschaft und auch Gewerbemieter von Neubausiedlungen organisieren sich dafür zu Eigenverbrauchsgemeinschaften, aus eigenem Antrieb oder auf Veranlassung der Eigentümerschaft. Als Anreiz winkt nicht nur Fördergeld vom Staat, sondern auch ein lukratives Nebengeschäft: Der Zusammenschluss zum Eigenverbrauch (ZEV) bezahlt weniger für den eigenen Solarstrom als für den Bezug aus dem öffentlichen Netz.

Im Umkehrschluss ist dies die Grundvoraussetzung für den Erfolg der ZEV-Offensive: Nur wer auf den eigenen Dächern oder auch Fassaden Strom billiger produzieren kann als die Produkte von Stadt- und Regionalwerken, kommt mit den Mietenden ins Geschäft. Gewissermassen wird so das Geschäftsmodell «Eigenverbrauch» zu einer lokalen Konkurrenz für kommunale Energieversorgungsunternehmen.

Testfeld für dezentrales Energiesystem

Eine wichtige Frage ist, ob die Spiesse im neuen Markt um den Hausanschluss gleich lang sind. Denn ein Eigenverbrauchsanbieter muss kein Entgelt für die Netznutzung verlangen; im Vergleich dazu besteht der offizielle Stromtarif eines öffentlichen Versorgungsunternehmens aus gut einem Drittel Energiekosten und einem fast doppelt so hohen Netzanteil. Derzeit schätzen Branchenkenner, dass die Preislimite für den eigenen Solarstrom bei 15 Rp./kWh liegt. In der Schweiz liefern die lokalen Energiewerke den Haushaltsstrom aktuell für 18 bis 25 Rp./kWh an die Netzbezüger. Die Initianten junger ZEV-Projekte rechnen mit Amortisationszeiten von rund 20 Jahren.[1] Viel hängt davon ab, wie hoch der Eigenverbrauch effektiv ausfallen wird.

Auch hierzu gibt es erst Prognosen: Eine Mindestquote von 40 % dürfte in vielen Regionen ausreichen. Der Verband unabhängiger Energieerzeuger warnt aber davor, dass selbst ein 60%iger Eigenverbrauch nicht überall einen wirtschaftlichen ZEV-Betrieb garantiert. Ebenso wirken sich die Entwicklung der Strompreise und Tarifsysteme sowie die bevorstehende Marktliberalisierung auf die Wirtschaftlichkeit aus. Die staatliche Förderung des Eigenverbrauchsmodells soll diese Unsicherheiten jedoch überwinden helfen. Deshalb ist mit einer steigenden Zahl von ZEV-Gemeinschaften zu rechnen, vor allem im Zusammenhang mit grösseren Neubauvorhaben. Einige sind nun ein Testfeld für dezentrale Energiesysteme; auf Ebene Quartier, Gemeinde oder Stadt hat sich das Modell aber noch zu beweisen.
Höhere Gebäudevielfalt, flexible Bebauung

Wo immer ein derart lokal vernetzter Beitrag an die CO2-arme Stromversorgung gewünscht ist, werden sich auch die Bebauungs- und Planungsinhalte verändern. Zuallererst benötigt man Flächen für Photovoltaikmodule, nun aber auch eine interne Verteilnetz- und Speicherinfrastruktur, bestehend aus kleinen oder grossen Batterien. Weitere Zusatzkomponenten sind digitale Stromzähler, eventuell eine Trafostation und allfällige Ladestationen für E-Fahrzeuge. Demzufolge werden Elektro- und Energieingenieure, die sich mit solchen Schnittstellen auskennen, für jedes Planungsteam unverzichtbar.

Doch das Eigenverbrauchsthema kann auch die architektonische Entwurfsstrategie prägen: Energetisch vernetzte Areale vergrössern den Spielraum für die Gebäudevielfalt und erhöhen die Flexibilität. Anstatt jedes einzelne Haus für die Energieproduktion zu optimieren respektive zur Energiemaschine zu trimmen, können die jeweiligen Möglichkeiten nutzungs- und standortbezogen sowie gestalterisch abgewogen werden. Auch städtebaulich darf das Gemeinschaftsthema inspirierend wirken. Ob das Geschäftsmodell «Eigenverbrauchsgemeinschaft» eventuell sogar den sozialen Zusammenhalt in einem vernetzten Energiequartier oder -dorf stärken wird?

Den ökologischen und unternehmerischen Chancen stehen allerdings Risiken gegenüber. Der Eigenverbrauchsmarkt lockt neue Anbieter und Dienstleister an, die sich noch zu bewähren haben.

Ebenso müssen die verfügbaren technischen Systeme erst den Dauerhaftigkeitsbeweis erbringen. Einheitliche Standards oder austauschbare Schnittstellen sind daher zwingend zu beachten. Und bei der Speichertechnologie interessiert ebenfalls, was die Anfangseuphorie hervorbringen kann.

Damit Eigenverbrauchsareale nachhaltig funktionieren, dürfen sie den Lebenszyklus neuer Komponenten nicht ignorieren. Marktübliche Batterien und Akkus leben, abhängig von der Ladehäufigkeit, bisher 10 bis 15 Jahre. Was danach mit den schädlichen Wertstoffen geschieht, ist ungeklärt. Ein Recyclingkonzept für Lithium wäre aber zwingend erforderlich. Denn der wachsende Abbau der endlichen Ressource belastet die Umwelt in Ländern wie Chile heute schon massiv. Insofern gilt: Das Eigenverbrauchskonzept ist ein Einstieg in die klimafreundliche, elektrisch betriebene Smart City. Zu dieser Intelligenz gehört aber auch, die nachhaltigen Prozesse zu definieren, bevor dem Hype ein Durchbruch gelingt.


Anmerkung:
[01] Eigenverbrauch von Solarstrom in der Wirtschaft, Hintergrundbericht als Grundlage zur Erarbeitung eines Leitfadens, Bundesamt für Energie 2017.

TEC21, Fr., 2018.11.09



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09. November 2018Daniela Hochradl
Paul Knüsel
TEC21

Wo die E-City gegründet wird

Wer bislang einfach Häuser bauen liess, kann sich nun auch um die Infrastruktur für die dezentrale Stromversorgung kümmern. Verdrängen Immobilieninvestoren die Energieversorger? Oder tauchen neue Intermediäre auf?

Wer bislang einfach Häuser bauen liess, kann sich nun auch um die Infrastruktur für die dezentrale Stromversorgung kümmern. Verdrängen Immobilieninvestoren die Energieversorger? Oder tauchen neue Intermediäre auf?

Im Basler Neubauquartier Erlenmatt Ost formiert sich die bislang grösste Solarstrom-Eigenverbrauchsgemeinschaft der Schweiz. Im Endausbau, in drei bis vier Jahren, sollen rund 630 Bewohner einen grossen Teil ihres Energiebedarfs direkt von den eigenen Dächern beziehen. Auf insgesamt zwölf Mehrfamilienhäusern, die verschiedenen Stiftungen, Genossen­schaften und Hausgemeinschaften gehören (vgl. «Energie- und Soziallabor Erlenmatt Ost»), erzeugen Photovoltaikanlagen den dafür erforderlichen Solarstrom. Letzten Sommer begann der Bezug des östlichen Erlenmatt-Areals; inzwischen ist ein Drittel des Gesamtvolumens realisiert.

Im Gleichschritt wird die interne Energieversorgung auf maximale Leistung (750 kWp) und auf künftige Jahreserträge von etwa 750 000 kWh Strom ausgebaut. Über ein Jahr bilanziert soll die Produk­tionsmenge etwa 40 % des Bedarfs vor Ort abdecken; möglichst viel des eigenen Ertrags ist selbst zu konsumieren, ohne Lieferumweg über das öffentliche Stromnetz (vgl. «ZEV: Eigenverbrauch oder Selbstversorgung?», Kasten unten).

Bisher lassen sich Produk­tion und Konsum von Solarstrom in Erlenmatt Ost zeitlich gut aufeinander abstimmen: Aktuell werden nur knapp 20 % exportiert; mit dem weiteren Ausbau der Überbauung und der Solaranlagen wird sich dieser Exportanteil aber wohl verdoppeln. Das ist die Krux für viele Eigenverbrauchsgemeinschaften: Allein mit der Erhöhung des selbst erzeugten Stromertrags schwindet der Anteil des Selbstkonsums, ausser man ergänzt das lokale ­Versorgungssystem mit einem Speicher, entweder in einzelnen Gebäuden oder durch ein Andocken an die Elektro­mobilität (vgl. «Geteilte E-Mobilität»).

Bei PV-Anlagen in Einfamilienhäusern, die tagsüber wenig Strom verbrauchen, lassen sich in der Regel Eigenverbrauchsquoten unter 30 % erreichen. Wird zusätzlich eine Wärmepumpe als Heizsystem betrieben, lässt sich dieser Anteil auf etwa 50 % steigern. Zur weitergehenden Optimierung sind Batteriespeicher erforderlich, die den Tagesertrag für den Konsum am Abend und in der Nacht verfügbar machen.

Netztechnisch und wirtschaftlich sinnvoller wäre aber eine zeitgleiche Stromlieferung an Nachbarn, die allenfalls derselben ZEV-Gemeinschaft angeschlossen sind. In gemischt genutzten Arealen lässt sich die Eigenverbrauchsquote durchaus auf 100 % erhöhen, wenn Wohnsiedlungen mit Gewerbebetrieben energetisch zusammengeschlossen sind. Deren jeweilige Verbrauchsprofile sollten sich dabei zeitlich ergänzen. Ideal sind Abnehmer in unmittelbarer Nachbarschaft, die die selbst erzeugte Energie jeweils in der Überschussperiode verbrauchen können.

Erproben von Komponenten und Systemen

Sowohl die angewandte Energie- und Bauforschung als auch Energieversorger haben in Pilot- und Demonstrationsprojekten begonnen, die dafür benötigten Komponenten, Technologien und Systeme auf der Ebene einzelner Gebäude oder Quartiere zu erproben. Absehbar ist auch, dass neue Marktteilnehmer auftreten und sich neue Wertschöpfungsketten um solche Energiehubs bilden werden. Sie fordern das bisherige Businessmodell der zentral organisierten Energieversorger heraus.

Erkennbar wird dies auch an der Organisation des Eigenverbrauchsmodells in Erlenmatt Ost: Anstelle des städtischen Energieversorgers beliefert eine externe Energiegenossenschaft die Erlenmatt-Bewohner mit Strom. Sie realisiert und betreibt die Solaranlage auf eigenes unternehmerisches Risiko; zudem ist sie auch der lokale Wärmeproduzent, der das gesamte Ostareal mit Energie für die Gebäudeheizung und das Warmwasser versorgt. Daher fliesst der Grossteil des vor Ort erzeugten Solarstroms in deren Wärmezentrale, damit dort die Wärmepumpen angetrieben werden. Die Stromüberschüsse werden an die Bewohner und die Gewerbemieter der Basler Arealüberbauung zu einem günstigen Preis verkauft.

Das Eigenverbrauchsmodell beruht auf einem Gegengeschäft: Weil die Arealgemeinschaft für den Eigenstrom nicht mehr oder sogar weniger bezahlt als für importierten Netzstrom, steht dem Anbieter eine Anschlusspflicht zu. In Erlenmatt Ost lauten die Zahlen: Die Stromlieferantin, die ADEV-Energiegenossenschaft, verrechnete der Eigenverbrauchsgemeinschaft anfangs rund 18 Rp./kWh, was dem Haushaltstarif in der Stadt Basel entspricht. Aber bereits für das laufende Jahr hat der Intermediär den Tarif gesenkt. Um wie viel, kann er erst nach Ablauf des Produktionsjahrs 2018 sagen. Doch die aktuelle Benchmark für dezentral erzeugten Solarstrom liegt schweizweit bei rund 15 Rp./kWh (vgl. «Der nächste Nachhaltigkeitshype?»). Die Bewohner von Erlenmatt Ost konsumieren daher nicht nur klimafreundlichere, sondern auch preisgünstigere Energie als der Durchschnitt der Schweizer Bevölkerung.

Eigenverbrauch bei 100 %

Im Zürcher Stadtkreis 6, beim Schaffhauserplatz, ist eine vergleichbare, etwas kleinere Solarzelle aktiv. Das vom Architekturbüro Viridén + Partner sanierte Mehrfamilienhaus (vgl. «Es blinkt in alle vier Himmelsrichtungen», TEC21 48/2017) ist ebenfalls eine Eigenver­brauchsgemeinschaft. Der eigene Strom wird auf dem Dach und an den vier Gebäudefassaden produziert. Der Anlagenbetreiber ist hier gleichzeitig der Immobilien­investor.

Das städtische Elektrizitätswerk begleitet dieses Demonstrationsprojekt mit Fokus auf Technik und ­Netzstabilität. Zu untersuchen ist, wie sich Ertrags- und Einspeiseschwankungen sowie Leistungsspitzen auf die Spannung im Stromnetz des Quartiers auswirken werden. Die Hypothese lautet: Lassen sich die lokalen Einspeise-Peaks im dezentralen Energiesystem optimal steuern, kann auf einen Ausbau der Anschlusskapazitäten verzichtet werden. Die gebäudeintegrierte PV-Anlage im Zürcher Wohnhaus ist für solche Analysen besonders interessant: Die Leistungsgrösse ist im ­städtischen Umfeld bisher einmalig.

Das Elektrizitätswerk der Stadt Zürich (ewz) will weitere Erfahrungen sammeln; für die Betriebsperiode 2017/2018 liegt bereits eine Zwischenbilanz vor: Seit Anfang Jahr wird ein 150-kWh-Akkumulator eingesetzt; das Vorjahr liefert die Vergleichswerte ohne Batterie. Dank dem Speicher wurde im Sommer eine Eigenverbrauchsquote von ­fast 100 % erreicht; im Herbst sank sie auf etwa 60 %. Mit dem Speicher lässt sich der Stromkonsum auf die Nachtstunden für die Warmwasseraufbereitung ­verschieben. Als Jahresdurchschnitt prognostiziert das ewz etwa 70 %.

Eine weitere Erkenntnis ist: Der Produktionsverlauf am Zürcher Sonnenkraftwerk unterscheidet sich von Gebäuden, die nur auf dem Dach mit Solaranlagen versehen sind. Im Vergleich zur ausschliesslichen ­Produktion auf dem Dach verschiebt sich die Strom­produktion dank der PV-Fassade um 5 bis 7 % ins Winterhalbjahr. Dies kann den Eigenverbrauch erhöhen. Aber ebenso wäre dann ein Einspeisen der Energie in lokale Verteilnetze interessant. In der kalten Saison wird generell Strom in die Schweiz importiert.

Auch anderenorts führen regionale und kommu­nale Stromversorger Tests mit Speichersystemen (vgl. TEC21 14–15/2017 «Elektrische Energie speichern») in unterschiedlichen Grössenordnungen durch. Batterien können einem einzelnen Gebäude zugeordnet werden oder einer kleineren Einheit im öffentlichen Verteilnetz, einer ZEV-Gemeinschaft oder einem Quartier. Eine andere Skala hat das Elektrizitätswerk des Kantons Zürich gewählt. Ein 18-MW-Speicher, die grösste Batterie der Schweiz, stabilisiert die Netzspannung und könnte zwei sparsame Haushalte ein Jahr lang mit Strom beliefern.

Eine interessante Speichervariante ist die Kopplung von Gebäude und Elektromobilität (vgl. «Geteilte E-Mobilität»). Sie wird auch im Basler ZEV-Verbund erprobt. Ein Forschungsprojekt, gemeinsam mit Hochschulen, soll zeigen, inwieweit der in Autobatterien gespeicherte Solarstrom nicht nur zum Fahren am Tag eingesetzt werden, sondern auch den Eigenverbrauch der Siedlung abends und in der Nacht erhöhen kann.

TEC21, Fr., 2018.11.09



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09. November 2018Paul Knüsel
TEC21

Energie- und Soziallabor Erlenmatt Ost

Im östlichen Teil des ehemaligen Güterbahnhofareals Erlenmatt in Basel Nord realisiert die Stiftung Habitat eine mehr­teilige Überbauung mit unterschiedlichen Wohnformen sowie Gewerbe- und Dienstleistungsflächen. Auf drei Bau­feldern mit einer Gesamtfläche von knapp 3 ha werden 13 Wohnhäuser für rund 630 Menschen erstellt. Ein Drittel der Neubauten ist inzwischen fertiggestellt und bewohnt.

Im östlichen Teil des ehemaligen Güterbahnhofareals Erlenmatt in Basel Nord realisiert die Stiftung Habitat eine mehr­teilige Überbauung mit unterschiedlichen Wohnformen sowie Gewerbe- und Dienstleistungsflächen. Auf drei Bau­feldern mit einer Gesamtfläche von knapp 3 ha werden 13 Wohnhäuser für rund 630 Menschen erstellt. Ein Drittel der Neubauten ist inzwischen fertiggestellt und bewohnt.

Ausgehend von einem städtebaulichen Konzept für die keilförmige Fläche werden die Hausprojekte einzeln von jeweils ausgewählten Baugruppen, Genossenschaften und anderen selbst organisierten Körperschaften respektive verschiedenen Architekturbüros realisiert. Die Energieversorgung ist gemeinsam organisiert: Strom und Wärme werden aus lokalen Energiequellen gewonnen: die Sonne für die elektrische Energie und das Grundwasser als niederwertiger Wärmeträger.

Die Stiftung Habitat hat sich bei der sozialen Durchmischung und für die Nachhaltigkeit ebenfalls um einen verbindenden Rahmen bemüht; eine Zertifizierung mit einem Gebäude- oder Quartierlabel ist nicht im Gespräch. Die selbst formulierten Ziele werden aber bis 2019 im Rahmen eines Pilot- und Demonstrationsprojekts periodisch überprüft.

TEC21, Fr., 2018.11.09



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28. September 2018Viola John
Paul Knüsel
TEC21

«Eine Kultur des Abwägens»

Architektur und Städtebau erhalten erstmals Nachhaltigkeitsnoten. Eine externe Fachjury nimmt dazu eine unabhängige Bewertung von SNBS-Projekten vor. Raphael Frei, Mitglied von pool Architekten, war an der Entwicklung beteiligt und erklärt das neuartige Verfahren.

Architektur und Städtebau erhalten erstmals Nachhaltigkeitsnoten. Eine externe Fachjury nimmt dazu eine unabhängige Bewertung von SNBS-Projekten vor. Raphael Frei, Mitglied von pool Architekten, war an der Entwicklung beteiligt und erklärt das neuartige Verfahren.

TEC21: Herr Frei, zertifizierte Ökobauten werden oft als unschön beurteilt. Kann der Standard nachhaltiges Bauen Schweiz zur Verbesserung architektonischer Qualitäten (vgl. TEC21 43/2016) beitragen?
Raphael Frei: Das zentrale Anliegen des ­Nachhaltigkeitsstandards SNBS ist, neben den klassischen ökologischen Kriterien nun auch soziale und baukulturelle Aspekte zu berücksichtigen und sie in die Beurteilung eines Gebäudekonzepts zu integrieren. In diesem Sinn ist der Beurteilungsraster um­fassend: Er erkennt und erfasst auch nicht messbare Aspekte, unter anderem soziale und städtebauliche Qualitäten eines Projekts.

TEC21: Was muss ein Projekt leisten, um gute Architektur­noten zu bekommen?
Raphael Frei: Die städtebaulichen und architektonischen Aspekte sind unmittelbarer Teil der gesellschaft­lichen Nachhaltigkeitsdimension: Wie lebendig ist ein Quartier? Wie sind die Gebäude genutzt? Wie ­robust sind die bestehenden Strukturen? Lassen Sie mich dies anhand der geplanten Erneuerung der Grosssiedlung Telli in Aarau erklären, für die der SNBS angewandt werden soll. Um das charakteristische Aussenbild oder die passenden Wohnungsgrundrisse nicht allzu sehr zu verändern, hält man sich bei der Eingriffstiefe zurück. Energetische Verbesserungen an der Gebäudehülle lassen sich gleichwohl er­zielen. Die Beurteilung der bestehenden, gemischten Sockelnutzung und des grosszügigen grünen Aussenraums fällt ebenfalls positiv aus.[1] Für die Erneuerung heisst das: Die positiven Bestandseigenschaften sind zu erhalten und allenfalls zu stärken.

TEC21: Aber verspielt man so nicht die Option, verfügbare Raumreserven zu nutzen und Erneuerungsstandorte bei Bedarf zu verdichten?
Raphael Frei: Die Beurteilung nach den SNBS-Kriterien führt eben dazu, dass ein Verdichtungsvorhaben nicht nur quantitativ, sondern vor allem auch quali­tativ diskutiert wird. Dies entspricht der Strategie des Bundes zur Nachhaltigen Entwicklung, die ein wei­test­mögliches Erhalten des baukulturellen Erbes und seine qualitativ hochstehende Erneuerung ­fordert. Die SNBS-Zertifizierung weitet deshalb den Projek­t­fokus aus, etwa von einer klassischen Energieoptimierung zu anderen sozialen und architek­tonischen Aspekten. Das macht diese Nachhaltigkeitsbewertung für Architekten erst interessant: Sie pflegt die Kultur des Abwägens und fördert das ­Bewusstsein, dass unterschiedliche Aspekte miteinander zu ­verknüpfen sind.

TEC21: Die spezifische Beurteilung der architektonischen und städtebaulichen Qualitäten ist ein neuartiger Bestandteil der Zertifizierung. Wie funktioniert ­dieses Verfahren, zumal es sich um eine Bewertung von schlecht messbaren Eigenschaften handelt?
Raphael Frei: Ein Projekt, das in einem Wettbewerb nach SIA-Regeln ausgewählt worden ist, benötigt kein weiteres Urteil für das Zertifikat. Auch ein vergleichbares Gutachterverfahren ohne SIA-Kriterien wird anerkannt; allerdings werden die Qualität und Unabhängigkeit der Fachjury geprüft. Nur für den Fall eines Direktauftrags findet eine nachträg­liche Begutachtung durch SNBS-Experten statt, die ihrerseits Architekten sind. Die Kriterien sind mehr oder weniger dieselben wie bei Wettbewerbs­jurierungen. Die Bewertung wird schriftlich dokumentiert und mit punktuellen Verbesserungsempfehlungen ergänzt. Sie stellt somit eine unabhängige Qua­litätsbeurteilung und kein Gefälligkeitsgutachten dar.

TEC21: Sind die Experten speziell ausgebildet?
Raphael Frei: Die Zertifizierungsstelle bietet nur Architekten auf, die Erfahrungen als Jurymitglied oder ­Wettbewerbsteilnehmer besitzen. Weitere Kriterien sind eine Mitgliedschaft beim Bund Schweizer Architekten (BSA) oder Bund Schweizer Landschaftsarchitekten (BSLA). Ein Begutachter darf nicht we­niger erfahren sein als die zu beurteilenden Projektverfasser. Erwartet wird auch, dass er sich bei Bedarf einen eigenen Eindruck vor Ort verschaffen kann.

TEC21: Wie gut funktioniert das neue Bewertungssystem?
Raphael Frei: Bei Projekten aus einem Direktauftrag ist die Architektur oft das Resultat von Zwängen und Entscheidungen, die aus dem Prozess heraus begründet sind. Da eine architektonische Beurteilung explizit fehlt, sind hohe Qualitäten nicht zwingend vorauszusetzen. Die bisherigen Einblicke bestätigen dies; ungenügende Noten sind in der ersten Zertifizierungs­runde nicht selten. Die Begutachtung ist zwar sehr streng. Aber Projektverfasser sollen dies nicht so verstehen, dass sie schlechte Arbeit abgeliefert hätten. Die Kritikpunkte setzen vor allem dort an, wo die Pro­jektschwerpunkte das gestalterische Element ver­missen und sich somit verbessern lassen.

TEC21: Wie gehen Projektverfasser damit um?
Raphael Frei: Wir stecken in der Anfangsphase und sammeln weitere Erfahrungen. Eine Schwierigkeit ist, die Dokumentation der Projekte analog zum Wettbewerbs­verfahren mit Plänen und Modellen einzufordern. Unter den Beteiligten ist man jedoch sehr offen, auch für Kritik, zumal sie die Position des Projektverfassers oft stärken kann. Es geht meistens um eine gestal­terische Integration von technischen Konzepten, die Verknüpfung mit sozialen Themen oder schlicht um die räumliche, typologische Qualität von Grundrissen.

TEC21: Wie ist das Echo unter Architekten?
Raphael Frei: Der BSA rührt die Werbetrommel für die Zertifizierung und hofft, dass sich gute und renommierte Architektinnen und Architekten damit aus­einandersetzen. Ein erstes Stimmungsbild ist: ­Der Standard ist eine sinnvolle Alternative zu Gebäude­labels, die nur eindimensional auf energetische Themen ausgerichtet sind. Der erweiterte Be­urteilungsraster führt solche Einzelaspekte zu einem Ganzen zusammen und ermöglicht ein umfassendes Bild über mögliche Zielkonflikte. Das ist ein willkommener Gegentrend zur aktuellen Fragmentierung: Architekten fällt es schwer, im wachsenden Dschungel aus baulichen Anforderungen und Normen überhaupt noch konsistente Lösungen zu finden.

TEC21: Der Standard will besser sein als die Gesetze. Wie kann er trotzdem zur Verbesserung der Entwurfs­arbeit beitragen?
Raphael Frei: Gegenwärtig verdammen die vielen Anforderungen die Architekten zum Reagieren. In der Pro­jektierung suchen sie oft den jeweils kleinsten gemeinsamen Nenner des Machbaren und stellen am Ende fest, dass die Kosten steigen. Besser ist aber, die unterschiedlichen Umsetzungsthemen und An­forderungen frühzeitig zusammenzuführen. Der Zertifizierungsprozess und der Bewertungsraster können Ordnung schaffen. So lassen sich Zielkonflikte, Zusammenhänge und Spielräume erkennen, die man sonst nicht entdeckt hätte. Zu Beginn einer Zertifizierung muss daher – aus formalen Gründen – ein Pflichtenheft mit Projektzielen formuliert werden.

TEC21: Stärkt der Standard die Position des Architekten?
Raphael Frei: Das ist eigentlich unser Ziel. Der Architekt kann seine Kompetenzen mithilfe des Bewertungs­rasters erhöhen. Er muss das Wissen zurückholen und darf es nicht vollumfänglich an Spezialisten delegieren. Allein der Informationsgewinn aus einer engen Zusammenarbeit mit andern Fachdisziplinen verbessert seine Verhandlungsbasis gegenüber der Bauträgerschaft und der Behörde. Ohne diesen Wissensvorsprung kann man eigentlich nirgends bauen.


Anmerkung:
[01] Muster oder Komposition? Sanierung Telli-Hoch­häuser, wbw 1/2 2018.

TEC21, Fr., 2018.09.28



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TEC21 2018|39 SNBS – Stren­ges Ras­ter, fle­xi­ble An­wen­dung

24. August 2018Paul Knüsel
TEC21

Alternativen zum Standard gesucht

Gute Luft wollen alle. Doch uneinig ist man sich, wie und mit welchem Aufwand der systematische Austausch organisiert werden soll. Die Stadt Bern stellt nun zwei Lüftungsvarianten auf die Praxisprobe.

Gute Luft wollen alle. Doch uneinig ist man sich, wie und mit welchem Aufwand der systematische Austausch organisiert werden soll. Die Stadt Bern stellt nun zwei Lüftungsvarianten auf die Praxisprobe.

Die Luft darf es sich einfach machen: Sie flüchtet dorthin, wo es am wärmsten ist. Die Anziehungskraft der Wärme besteht aber nicht aus ihrer Behaglichkeit, sondern liegt darin, dass sie die physikalische Dichte geringer macht. Auch der Ausbreitungspfad ist vordefiniert; die Luft wählt immer den Weg des geringsten Widerstands. Will man der Strömung jedoch eine bestimmte Richtung geben oder sie anderweitig konditionieren, wird es schnell kompliziert.

Die Kontrolle des Luftwechsels ist allerdings ein Qualitätsmerkmal für hohe Energieeffizienz im Wohnungsbau. Ein regelmässiger Austausch, eine optimale Zirkulation in der Wohnung und ein Recycling der Wärme in der ausströmenden Abluft sind zentrale Anforderungselemente für das umsetzbare Lüftungskonzept. Weder die Thermodynamik noch der Nutzer sollen dem Ziel, so viel Wärme wie möglich in einem Baukörper zu halten, in die Quere kommen.

Überflüssig oder bauphysikalisches Muss?

Kontrollierte Wohnungslüftungsanlagen sind längst Marktstandard, dennoch werden sie in Bauherren- und Architekturkreisen und sogar unter Fachplanern ­häufig als notwendiges Übel wahrgenommen. Den einen ist der technische Installationsaufwand zu gross, andere kritisieren das bevormundende Funktionsprinzip. Doch so hartnäckig sich die Skepsis hält, so erfinderisch gehen Lüftungsspezialisten mittlerweile ans Werk. Immer häufiger werden vereinfachte Varianten eingebaut, weil man die Dynamik der Luft endlich besser versteht.

Eine zentrale Erkenntnis ist dabei nicht mehr ganz jung, und gleichwohl beherzigen sie erst wenige: Die Luft strömt meistens von allein durch die Wohnung. Selbst grosse und verwinkelte Räume lassen sich fast ohne aktives Zutun ausreichend durchlüften. Die Wirksamkeit einer selbstständigen «Kaskadenlüftung» wurde wiederholt wissenschaftlich erforscht.[1] Die Quintessenz dabei ist: Der technische Belüftungsaufwand lässt sich reduzieren. Antriebe oder Rohre an der Decke für die interne Verteilung braucht es ebenso wenig wie jeweils eine Frischluftzufuhr für jeden einzelnen Raum. Ein Lüftungseinlass pro Wohnung genügt, damit die Raumluft nicht übermässig mit CO2 belastet wird.

Dasselbe thermisch angeregte Kaskaden­prin­zip wird auch im Bürobau, mit der sogenannten «Raumlunge», genutzt: Ein mehrgeschossiges Atrium erlaubt der Luft eine weitgehend natürliche interne Zirkula­tion. Der Aufwand zur mechanischen Kontrolle wird dadurch deutlich reduziert.

Verzicht auf Mechanik möglich

Zurück zum Wohnungsbau: Das Spektrum der Lüftungsvarianten reicht vom automatisch gesteuerten All-in-one-Zirkulationssystem bis zum Handgriff am Fensterflügel. Innerhalb dieses Spektrums lassen sich unterschiedliche, mechanische Lüftungsanlagen individuell aus Einzelkomponenten für die Zu- und Abflüsse und die interne Luftverteilung zusammenstellen. Derzeit sehr beliebt scheinen er­wei­terte Abluftanlagen, weil auf Mechanik und viel Platz verzichtet werden kann.

In der neuen Siedlung Stöckacker Süd am Ostrand von Bern werden nun unterschiedliche Lüftungskonzepte auf die Vergleichsprobe im Wohnalltag gestellt. Die Immobilienabteilung der Stadt Bern konnte letzten Herbst die Mieter von 146 Wohnungen in der «2000-Watt-Siedlung» begrüssen (vgl. «Aufwertung mit 2000 Watt», Kasten unten). Zwei Gebäudezeilen sind mit einer kontrollierten Wohnungslüftungsanlage ausgestattet; der dritte Komplex verfügt über eine abgespeckte Anlage mit «Zuluftautomat». Die Erfahrungen aus dem Wohnalltag und dem Energiemonitoring will man für weitere öffentliche Neu- und Umbauprojekte nutzen.

Kaskadenartige Luftverteilung für alle

Die klassische, kontrollierte Lüftungsvariante ist in die Häuser «B» und «C» eingebaut; diese liegen am nächsten zur Eisenbahnlinie und sind daher besonders lärm­exponiert. Die Baukörper sind schmale Zweispänner und fast ausschliesslich als Durchschusswohnungen organisiert. Der viergeschossige Gebäudekomplex «C» am Ostrand gleicht einer Reihenhauszeile; die 5-½- bis 6-½-Zimmer-Wohnungen belegen jeweils zwei Geschosse.

Für die mechanische Belüftung ist das einerlei: Sämtliche Wohneinheiten werden zentral mit Frischluft versorgt. Die Steigschächte führen an den gefangenen Nasszellen vorbei; von dort wird die frische Luft unter der abgehängten Decke in die Wohnung geleitet. Die Zirkulation erfolgt danach frei und erreicht kaskadenartig die übrigen Räume; zusätzlich werden periphere Schlafzimmer mit einem in der Betondecke eingelegten Kanal belüftet. Die belastete Luft strömt über die Badezimmer via Steigschacht nach aussen ab. Mit einem Wärmetauscher zwischen Ab- und Zuluft können etwa 80 % der Energie zurückgewonnen werden, mit dem zusätzlichen Komforteffekt, dass die Frischluft vorgewärmt in die Wohnung einströmt. Der kontrol­lierte Luftaustausch variiert zwischen 24 und 30 m³/h. Letzterer bildet die maximale Strömungsrate, wie sie im Wohnungsbau sonst üblich ist.

Ein «Zuluftautomat» reicht aus

Das Lüftungssystem im südlichen, lang gezogenen Siedlungskomplex «A» besitzt demgegenüber nur eine aktive Komponente, auf die man sowieso nicht verzichten kann. Die Wohnungsabluft wird über die übliche Ventilations­anlage in der Nasszelle abgeführt. Zeitgleich strömt die Zuluft jeweils über eigene Fassadendurchlässe in ein Schlaf- und/oder Nebenzimmer ein. Dieser «Zuluftauto­mat» ist mit Ventil, Schalldämpfer und Filter ausgestattet, sodass die Nachströmung bei Bedarf ­kon­trolliert erfolgt. Die Luft tauscht sich ebenfalls kaskadenartig in der gesamten Wohnung aus.

Ein wesentlicher Unterschied zum konventionellen System ist: Die Luft zirkuliert stossweise, sobald die Nasszellenabluft in Betrieb genommen wird. Ein Schlitz unten an der Badezimmertür synchronisiert den Luftaustausch, wobei die Abflussrate mit 60 m³/h wesentlich höher ist als beim kontrollierten System. Eine Zeitschaltuhr sorgt für den regelmässigen Lüftungsrhythmus. Alternativ lässt sich der Abluftbetrieb über einen CO2-Sensor steuern. Entsprechende Vorgaben sind unter anderem bei Gebäudezertifizierungen zu erfüllen.

Abluftsysteme vereinfachen zwar den Installationsaufwand, sind aber im Wohnalltag durchaus störungsanfällig. Das Hauptproblem: Sie erzeugen in den Wohnräumen einen chronischen Unterdruck. Der Luftwechsel kann daher unkontrollierbare Ab- oder Zuluftströme auslösen. Ein offenes Fenster oder der Dampf­abzug in der Küche genügt, um eine unerwünschte Kon­kurrenzsituation zu verursachen. Auch im Stöck­acker macht der Luftwechsel ab und zu nicht, was von ihm erwartet wird. Weil die Ventilatoren in der Dampfhaube einen stärkeren Sog als die Nasszellenabluft erzeugen, strömt Wohnungsluft in die Küche anstatt ins Bad. Weder für die Fachplaner noch für die städtische Liegenschaftsverwaltung war dies eine Überraschung: Beim Bezug der Wohnungen wurde der Mieterschaft deshalb empfohlen, jeweils beim Kochen ein Küchenfenster zu kippen, damit die Aussenluft direkt nachströmen kann.

Neuland für Planer und Bauherrschaften

Ungeachtet des Optimierungsbedarfs im Betrieb scheint das Nachströmsystem Freunde zu finden. Im Stöckacker geht die Bestellung auf die Bauherrschaft zurück. Das beteiligte Planungsbüro hat nun selbst ein ähnliches Konzept für eine 2000-Watt-taugliche Neubausiedlung mitten in Bern vorgeschlagen. Nicht zuletzt überzeugt der reduzierte Installations- und Investitionsaufwand: «Rund ein Drittel kann gegenüber einer kontrollierten Anlage eingespart werden», sagt Marc Wüthrich, Geschäftsleiter von Gruner Roschi.

Gemäss Architekt Michael Meier darf der konstruktive und planerische Aufwand trotzdem nicht unterschätzt werden. Zum einen «beanspruchen Steigschächte immer viel Fläche, unabhängig davon, ob die Zuluft zentral erschlossen ist». Zum anderen betrat die Planergemeinschaft auch Neuland; die Planung der «2000-Watt-Siedlung Stöckacker Süd» beinhaltete eine Ökobilanzierung der technischen Installationen und der konstruktiven Bauteile. Die horizontale Luftverteilung wurde mithilfe eines Variantenstudiums bestimmt. Zur Auswahl standen unterschiedliche Deckenkon­struktionen aus Beton oder Holz. Am besten bezüglich der grauen Energie schnitt überraschenderweise der massive Vorschlag ab: eine Ortbetondecke mit reduzierter Mächtigkeit und minimiertem Bewehrungsanteil. Anstelle der sonst üblichen 24 cm genügen 18 re­spektive 20 cm dünne Schichten. Obwohl man auch hier eine technische Vereinfachung realisiert hat, haben es sich die Bauherrschaft und das Planungsteam in der Konzeptphase alles andere als einfach gemacht.


Anmerkung:
[01] Luftbewegungen in frei durchströmten Wohnräumen; AWEL Kanton Zürich 2014.

TEC21, Fr., 2018.08.24



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24. August 2018Paul Knüsel
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Genug Luft trotz wenig Budget

Die Stadt Zürich ist Pionierin des nachhaltigen Bauens und um den ökologischen Zustand der eigenen Bauten vorbildlich besorgt. Bei der Erneuerung einer städtischen Wohnsiedlung war kein ideologischer Imperativ, sondern ein pragmatischer Ansatz gefragt.

Die Stadt Zürich ist Pionierin des nachhaltigen Bauens und um den ökologischen Zustand der eigenen Bauten vorbildlich besorgt. Bei der Erneuerung einer städtischen Wohnsiedlung war kein ideologischer Imperativ, sondern ein pragmatischer Ansatz gefragt.

Wie das Paradies aussehen soll, entspringt der persönlichen Vorstellungskraft: Der Zürcher Künstler Karim Noureldin bleibt zwar im Vagen, legt aber mit seiner Wandskulptur «Up» immerhin eine Spur, wo die Suche beginnen kann. Sein Kunst-am-Bau-Projekt strebt offensichtlich nach Höherem; die fein verästelte Keramikgravur ziert seit Kurzem eine Grosssiedlung namens «Paradies» im Zürcher Stadtteil Wollishofen. Eigentümerin der erneuerten Wohnblöcke ist die Stadt, die ihrerseits klare Vorstellungen von einem besseren Leben hegt: Die 2000-Watt-Gesellschaft und ein nachhaltiger Ressourcenkonsum sind wesentliche Aspekte für den urbanen Service public; eine Steigerung der Energieperformance von älteren Immobilien wird zur unbedingten Pflicht. Aber auch die Paradies-Bewohner suchen ihren individuellen Weg ins Glück. Wohnungsgrösse und Mietzinse spielen darin wohl eine wesentlichere Rolle als die Architektur oder der ökologische Fussabdruck.

Dass das wahre Paradies nirgends existiert und die irdische Variante nur über den Kompromiss zu finden ist, dürfte sich allerdings herumgesprochen haben. Im Quartier Wollishofen gelang es jedenfalls, die unterschiedlichen Ansprüche und gegensätzlichen Vorstellungen bei der Erneuerung der städtischen Wohnsiedlung Paradies unter einen Hut zu bringen. Insofern hat sich die grosse Mehrheit der Bewohnerschaft für den Verbleib entschieden. Nach zweijährigem Umbau im bewohnten Zustand musste nur ein Drittel der Wohnungen neu vermietet werden, wobei eine Vielzahl zuvor nurmehr temporär vergeben worden war.

Doch ist die Ökologie nicht ein Kostentreiber und eigentlich unkompatibel mit sozialem Wohnungsbau? Nicht generell, bestätigt der Abschluss der Erneuerung. Die Wohnungspreise haben sich zwar fast verdoppelt: Für eine 4-½-Zi­mmer-Wohnung verlangt die Liegenschaftsverwaltung nun 1600 Franken; zuvor waren es knapp 900 Franken. Doch das ist immer noch weniger, als was für neue Genossenschaftswohnungen im selben Quartier zu bezahlen ist.
Klagen über Zugluft verstummt

Die Grosssiedlung auf dem Entlisberg wurde 1972 realisiert; die fünf Gebäudekörper, zwischen vier und acht Etagen hoch mit Blick auf die schon damals eröffnete Zürichsee-Autobahn, ist nach Plänen des Architekten Erwin Müller erbaut worden. (Besser bekannt ist die von ihm kurz danach realisierte Erweiterung am Kunsthaus Zürich.) Die erstmalige Erneuerung nach 45 Betriebsjahren packte man budgetbewusst an. Die Stadtbehörde bewilligte einen Kredit von 51 Mio. Franken zur Sanierung der knapp 200 Wohnungen, wobei die Interventionen auf konstruktive, bauphysikalische und technische Instandsetzungsarbeiten zu beschränken waren.

Trotzdem gelang auch eine punktuelle Erweiterung des Wohnraums: Auf insgesamt 26 Etagen hat man jeweils zwei Kleinwohnungen zu 4-½- oder 5-½-Zimmer-Einheiten zusammengelegt. Zudem befolgt man die Logik einer energetischen Erneuerung vorbildlich: Gelingt es, den Wärmebedarf konstruktiv zu reduzieren, lässt sich der Einsatz von erneuer­baren Energiequellen optimieren. Auf die zuvor undichte Gebäudehülle – ein einschaliges, 32 cm tiefes Mauerwerk – ist daher eine 14 cm dünne Dämmschicht aus EPS-Hartschaumplatten aufgetragen worden. Und dank der neuen, dreifach verglasten Wärmeschutzfenster beklagt sich kein Bewohner mehr über unerwünschte Zugluft.

Doch der Abdichtung nicht genug: Die Kompaktfassaden sind neuerdings begradigt und ihre hauptsächlichen Wärmebrücken losgeworden. Insbesondere die Aussenfronten haben nun keine Küchenbalkone mehr. Eine Instandsetzung der vorgehängten, korrodierten und teilweise abgekippten Konstruktionselemente wäre baulich äusserst aufwendig gewesen. Im Gegenzug sind die Fensterflächen grösser; die technisch erneuerten Küchen erhalten mehr Licht.

Dem Sparzwang waren auch die Projektverfasser, als Gewinner einer Präqualifikationsrunde, ausgesetzt. So haben Galli Rudolf Architekten ihre Pläne für die Fassadenneugestaltung mehrfach angepasst. Ursprünglich wäre eine vorgehängte Variante vorgesehen gewesen. Nun wurde eine konventionelle Kompaktfassade realisiert. Ein Deckputz schützt die dichten und gut gedämmten Aussenwände vor der Witterung. Seine raue Oberfläche tut dem ansonsten ausgeglätteten Ausdruck an den erneuerten Fassaden gut.

Weiterhin Bestand hat die abgestufte Struktur der Gebäudezeilen, die sich dem Siedlungsinnern zuwenden. Die zueinander verschobenen Quader und die loggiaartigen Balkonschichten bilden wie im Originalzustand den Rahmen für den grosszügigen grünen Innenhof. Auch die grossen Bäume und Sträucher blieben stehen. Wie von der Anwohnerschaft gewünscht, kam einzig ein grosszügiger Kinderspielplatz dazu.

Kompromiss mit Zu- und Abluftsystem

Inwendig konnten die Räumlichkeiten ebenfalls aufgewertet und die Grundrisse teilweise reorganisiert werden. In den übrigen Wohnungen hat man zumindest die Küchen und Nasszellen erneuert. Zudem sind nun alle Wohnungen mit mechanischen Lüftungsanlagen bestückt. Der Luftaustausch wird kontrolliert durch eine im Vergleich zu Standardsystemen abgespeckte Variante.

Ein zentrales Lüftungsgerät zieht frische Zuluft von aussen an; sie wird danach via Wärmetauscher und Filter in die Wohnungen gebracht. In den meisten Gebäudeeinheiten steht das zentrale Lüftungsgerät im Keller; wo die Tragstruktur keine Durchbrüche im UG erlaubte, wich man auf das Flachdach aus. Für die Organisation der Zu- respektive Abluft von oben oder unten: Die Steigleitung führt mit möglichst schlankem Querschnitt mitten durch das Haus. Über die Nasszellen wird die erwärmte und gefilterte Frischluft in den Wohnungen verteilt. Die Kanäle verstecken sich in den abgehängten Badezimmerdecken. Über einen Durchlass strömt die Luft in den Korridor ein, von wo aus sie sich thermisch bedingt in die benachbarten Räume verteilt.

Die belastete Raumluft gelangt ihrerseits über die Nasszellen und die Steigschächte nach aussen. Die Volumenstromregler sind die einzigen aktiven Lüftungskomponenten in jeder Wohnung; Abluftventilator, Wärmetauscher und Filter sind im zentralen Monobloc platziert. Der Dunstabzug in der Küche darf diesen derart kontrollierten Luftaustausch nicht stören: Der Dampf über dem Kochherd wird abgesaugt, gefiltert und bleibt in der Wohnung, dank einem marktüblichen Umluftsystem. Entwicklung und Umsetzung des Lüftungskonzepts ist dagegen das Gemeinschaftswerk von Bauherrschaft, Architekturbüro und Fachplaner.

Die gewählte Variante entspricht einem Kompromiss: Ursprünglich beabsichtigte das Amt für Hochbauten, nur den lärmbelasteten Teil der Siedlung Paradies mit einem kontrollierten System zu belüften. Der Architekt machte sich derweil dafür stark, alle Wohnungen gleich zu behandeln. Und der Lüftungsplaner schliesslich entwickelte aus diesen Ansprüchen und passend zu den räumlichen Limiten eine «kontrollierte Nasszellenlüftung». Die Raumhöhe in den Wohnungen verunmöglichte die Montage der sonst üblichen, internen Lüftungskanäle. Stattdessen wird auf das «Kaskadenprinzip» vertraut (vgl. «Alternativen zum Standard gesucht»): Die Raumluft tauscht sich von allein in den Wohnungen, mit unverändertem oder zusammengelegtem Grundriss, aus. Weder im offenen Wohn- und Essbereich noch in den übrigen Zimmern ist mit Einbussen in der Luftqualität zu rechnen. Vorausgesetzt, die Türen stehen offen. Auf Spezialdurchlässe ist bewusst verzichtet worden (vgl. «‹Lüftungskonzepte als Architekturaufgabe›»).

Mit CO2-freier Wärmequelle

Nicht nur die Bewohnerschaft, auch die Umwelt kann von der Gesamterneuerung profitieren. Der bessere Wärmeschutz wird mit einem weitgehenden Verzicht auf fossile Energieträger kombiniert. Die primäre Energiequelle ist CO2-frei; für die Heizung und die Wasser­erwärmung wird Abwärme einer benachbarten Seewasseraufbereitungsanlage genutzt. Der Spitzenbedarf wird mit einer Ölheizung abgedeckt, was einem Konsum­anteil von rund 10 % entspricht. Das hybride Versorgungssystem wird vom städtischen Elektrizitätswerk ewz betrieben. Ein lokaler Wärmebezug aus dem Untergrund wurde vorgängig geprüft. Doch für Sonden zur Gewinnung von Erdwärme war kaum Platz: Der Eisenbahntunnel zwischen Zürich und Thalwil unterquert den Siedlungsstandort.

An der Medienorientierung nach dem Bauabschluss wurde das hohe Energiesparpotenzial betont. In den 1970er-Jahren wurde der Ausgangswert auf 170 kWh/m2 gesetzt. Die baulichen und energetischen Massnahmen sollen den Konsum nun um rund zwei Drittel senken. Der rechnerische Energiekennwert für die Erneuerung von 45 kWh/m2 entspricht dem Neubau­standard. Doch wie man weiss, sind Planungsdaten mit Unsicherheiten versehen.

An anderen städtischen Liegenschaf­ten wurden nach der Erneuerung Abweichungen von +/– 30 % gemessen. In Wohnungen, die mit einem reduzierten Lüftungssystem versorgt sind, werden die normierten Energieeffizienzwerte oft deutlicher verfehlt als in solchen mit kontrollierter Wohnungslüftung.[1] Andererseits zeigt sich, dass die Fenster in mechanisch belüfteten Wohnungen grundsätzlich weniger häufig offen stehen, was die Energieverluste also reduziert.

Wie gut fällt die Gesamtbilanz der Siedlungserneuerung in Wollishofen nun effektiv aus? Als paradiesisch darf sie zwar nicht bezeichnet werden. Dennoch lassen sich deutliche Verbesserungen mit pragmatischen Mitteln und wenig Technik erreichen. Der individuelle Energieumsatz sollte sogar auf ein Viertel des Ausgangswerts sinken. Zuletzt lebten rund 400 Menschen im «Paradies»; nun sind es über 570 Bewohnerinnen und Bewohner.


Anmerkung:
[01] Reales Lüftungsverhalten in Wohnungen mit unterschiedlichen Lüftungssystemen, Amt für Hochbauten Stadt Zürich, 2012.

TEC21, Fr., 2018.08.24



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«Lüftungskonzepte als Architekturaufgabe»

Der mechanische Luftwechsel hat im Wohnungsbau eine gut 20 Jahre alte Geschichte. Ist der Einbau heutzutage zwingend? Welche Optionen vereinfachen das Planen? Zwei Fachpersonen betonen, dass die Wohnungslüftung nicht einfach den Spezialisten zu überlassen ist.

Der mechanische Luftwechsel hat im Wohnungsbau eine gut 20 Jahre alte Geschichte. Ist der Einbau heutzutage zwingend? Welche Optionen vereinfachen das Planen? Zwei Fachpersonen betonen, dass die Wohnungslüftung nicht einfach den Spezialisten zu überlassen ist.

Die Gesprächspartner:
Franz Sprecher, Leiter Fachstelle Gebäudetechnik und Energie, Amt für Hochbauten Stadt Zürich.
Heinrich Huber, Autor mehrerer Lüftungsfachbücher; Leiter Prüfstelle Gebäudetechnik, Hochschule Luzern HSLU.

TEC21: Herr Sprecher, die Erneuerung der Wohnsiedlung Paradies in der Stadt Zürich wurde auf das Wesentliche reduziert. Warum gehört der Einbau einer Lüftungsanlage dennoch dazu?
Franz Sprecher: Die Anforderung ist klar: Je weniger Raumvolumen pro Person zur Verfügung steht, umso wichtiger ist ein Lüftungskonzept. Dicht belegte Wohnungen benötigen einen wesentlich höheren und zuverlässigeren Luftwechsel als ein Loft, das nur von einer Person bewohnt ist. Je kleiner das Luftreservoir pro Person, umso grösser ist das Risiko für Feuchtigkeitsschäden, Pilzbefall und schlechte Luftqualität in einer Wohnung.

TEC21: Baulich und technisch war das Notwendigste opportun. Wie wirkt sich das auf das Lüftungssystem aus?
Franz Sprecher: Für eine konventionelle Verteilung der Zuluft gab es keinen Platz. Daher haben wir uns in der Planung vom Konzept verabschiedet, jedes einzelne Zimmer bei geschlossenem Fenster oder geschlossener Tür mit so viel Luft versorgen zu wollen, dass zwei Erwachsene acht Stunden bei einigermassen akzeptabler Luftqualität schlafen können. Die Alternative ist nun: Bleiben die Zimmertüren offen, sorgt die natürliche Raumluftströmung für ausreichend gute Luft in der ganzen Wohnung, eben auch im Schlafzimmer. Ob die Türen offen oder geschlossen sind, überlassen wir den Bewohnerinnen und Bewohnern. Für das Lüftungskonzept bringt dies den Vorteil, dass man die frische Luft nicht in jedes Zimmer bringen muss, sondern zentral in die Wohnung einführen kann. Die interne Luftverteilung hätte man zusätzlich mit einem Verbundlüfter unterstützen können. Weil die Technik damals wenig ausgereift war, haben wir in der Wohnsiedlung Paradies darauf verzichtet.

TEC21: Was sind und leisten solche Verbundlüfter?
Heinrich Huber: Verbundlüfter sind im Prinzip sehr kleine Ventilatoren, die den Luftstrom von Raum zu Raum organisieren. Sie lassen sich in Türen, Türrahmen oder Wände einbauen. Einige sind sogar so dezent designt, dass sie kaum auffallen. Ein Synonym dafür ist der «aktive Überströmer».
Franz Sprecher: Die Prototypen solcher Mini-Lüfter sind mir an zwei Orten positiv aufgefallen. Um diese einleuchtende Idee weiterzubringen, hat das Amt für Hochbauten der Stadt Zürich vor wenigen Jahren einen Wettbewerb «Aktive Überströmer» durchgeführt. In der Jury waren die Hochschule Luzern, der Verein Minergie vertreten, und dabei war auch Architekt Andreas Galli, der für die Instandsetzung der Wohnsiedlung Paradies verantwortlich war. Der «aktive Überströmer» heisst inzwischen «Verbundlüfter», weil er zwei Räume lüftungs- oder strömungstechnisch miteinander verbindet.

TEC21: Hat man schon praktische Erfahrungen gesammelt?
Franz Sprecher: Ja, es gibt gute Beispiele im Büro- und Wohnungsbau. Bereits vor fünf Jahren hat man den Verbundlüfter bei der Erneuerung einer städtischen Siedlung eingesetzt; auch dort stand eine kostenbewusste Lüftungsvariante im Vordergrund.
Heinrich Huber: Technisch sind diese Komponenten inzwischen ausgereift und bewähren sich. Der Vorteil ist: Der Erschliessungsaufwand und der Raumbedarf für die interne Luftverteilung reduzieren sich. Eine kontrollierte Wohnungslüftung kann in abgespeckter Form auf periphere Räume erweitert werden.
Franz Sprecher: Er ermöglicht zudem einen bedarfsorientierten Betrieb. Ist die Zimmertür geschlossen, dreht sich der Lüftungsventilator. Ein Kontaktsensor genügt, um die Zirkulation der gesamten Luftmenge in der Wohnung zu steuern.

TEC21: Wie wichtig ist es, dass der Nutzer bei Wohnungslüftungen selbst eingreifen kann?
Franz Sprecher: Das ist ein fundamentales Anliegen, dass Bewohner vieles selber einstellen können …
Heinrich Huber: Man darf aber niemanden überfordern. Ideal sind zwei bis drei unterschiedliche Betriebsstufen zusätzlich zur On-/Off-Funktion. Das ist für Laien schnell verständlich. Schwierig wird es, wenn die Leute selbst ausprobieren müssen, bis sie passende Einstellungen finden.
Franz Sprecher: Die Nutzerakzeptanz hängt jedoch wesentlich von der Qualität der Lüftungsanlage ab: Wenn die Luftmenge nicht stimmt, Geräusche wahrnehmbar sind oder es zieht, verstehe ich, wenn die Nutzer unzufrieden sind und beispielsweise die Durchlässe in der Wohnung abkleben.

TEC21: Energieverbrauch und Akzeptanz sind wichtige Aspekte in der Lüftungsdebatte. Der Praxistest auf dem Hunziker-Areal (vgl. «Wie gut sind die Wohnungen im Hunziker-Areal belüftet?») stellt den Lüftungssystemen unterschiedliche Zeugnisse aus. Die sogenannte Komfortlüftung schneidet bei der Differenz zwischen Erwartung und effektiver Performance schlechter ab als Abluftanlagen. Welche Schlüsse sind daraus zu ziehen?
Franz Sprecher: Einblick in die Detailberechnungen, etwa in der Planung, hatte ich keine und kann deshalb über die Unterschiede zwischen Theorie und Praxis nichts Ursächliches sagen. Aufgefallen ist mir aber, dass die Planungswerte bei den Abluftanlagen um bis zu 60 % variieren, allein weil für die einzelnen Häuser unterschiedliche Annahmen getroffen wurden. Allerdings hüte ich mich davor, von den Messwerten zum Heizenergieverbrauch auf die Effizienz der Lüftungssysteme zu schliessen. Ein solcher Zusammenhang ist wissenschaftlich alles andere als trivial herzustellen. Für den Klimaschutz ist aber nicht die Abweichung zwischen Theorie und Praxis relevant, sondern der effektive Energiekonsum. Dabei schneiden Lüftungsanlagen mit Wärmerückgewinnung besser ab als Abluftanlagen. Und wie die Analyse zeigt, sind auch die Nutzer damit zufriedener als bei alternativen Lüftungssystemen.
Heinrich Huber: Grundsätzlich überraschen mich die Monitoringresultate, weil der Stromverbrauch der Lüftungsanlagen so hoch ist. In den letzten Jahren sind Ventilatoren nämlich deutlich sparsamer geworden. In Minergiehäusern hat man ähnliche Analysen durchgeführt: Die gemessene Wärmebilanz lag ebenfalls, wie auf dem Hunziker-Areal, über dem Planungswert. Doch der Stromverbrauch für die mechanische Belüftung stimmte mit dem Planungswert ziemlich gut überein.
Franz Sprecher: Auf dem Hunziker-Areal werden lediglich vier der insgesamt 13 Häuser analysiert, sodass die Bilanz pro unterschiedliches Lüftungssystem erhoben werden kann. Darunter befinden sich auch Spezialfälle, etwas das zentral belüftete Haus mit Clusterwohnungen. Allein das Wohnzimmer muss mit rund 250 m³/h Luft versorgt werden; zwei- bis dreimal so viel Luft wie sonst für eine ganze Wohnung. Trotzdem stimmt die Gesamtbilanz auf dem Hunziker-Areal: Die Gebäudewerte erreichen ein sehr vorbildliches Niveau, was auch mit einem positiven Bewohnerverhalten zu tun hat. Ich meine daher: Ein Fenster soll man vorbehaltlos öffnen dürfen. Wir wissen aus städtischen Wohnsiedlungen: Die Fenster bleiben meistens geschlossen, wenn man mit der Luftqualität zufrieden ist.

TEC21: Ist nicht eine positive Erkenntnis aus der Studie: Abluftanlagen bieten eine Alternative zur kontrollierten Wohnungslüftung mit Wärmerückgewinnung?
Franz Sprecher: Ich stimme dem nicht zu. Positiv erscheint mir einzig, dass die Abweichung zwischen Planung und Messwert bei Abluftanlagen geringer ist und dass Abluftanlagen wenig Platz brauchen.
Heinrich Huber: Abluftanlagen verbrauchen grundsätzlich weniger Strom. Dagegen ist der Betrieb sensibler, wobei die Planung darauf nur beschränkt Einfluss nehmen kann: Abluftanlagen sind in der Regel auf Volumenströme von 20 bis 25 m³/h pro Zimmer ausgelegt. Die knappen Aussenluftdurchlässe lassen sich gar nicht anders dimensionieren.
Franz Sprecher: Ein Systementscheid soll nicht nur vom Stromverbrauch abhängig gemacht werden. Ebenso sind bauliche Aspekte, Kosten oder Komfort in Betracht zu ziehen. Deshalb darf der Fingerzeig nicht übersehen werden, der sich aus der Befragung der Hunziker-Bewohner ergibt: 40 % der Personen, die in einer Wohnung mit Abluftsystem leben, nehmen immer oder häufig einen Luftzug wahr. Im Vergleich dazu bemängeln dies nur 10 % an einer kontrollierten Wohnungslüftung.
Heinrich Huber: Abluftanlagen haben speziell bei einer Gebäudesanierung ihre Berechtigung. Gleichzeitig muss man sich bewusst sein, dass die interne Luftverteilung deutlich weniger stabil funktioniert als bei einer kontrollierten Wohnungslüftung. Ein weiterer Komfort- und Qualitätsunterschied ist, dass Zuluft mit kalter Aussentemperatur in den Raum einströmt.
Franz Sprecher: Die Planung von Abluftanlagen darf auf keinen Fall unterschätzt werden. So belüftete Wohnungen stehen unter einem gewissen Unterdruck, was zu unkontrollierten Ausbreitungswegen führen kann. Dabei besteht die Gefahr darin, dass die Zuluft nicht über die eigentliche Fassung in der Aussenwand in die Wohnung einströmt, sondern via offenes Fenster des Nachbarn und Heizungs- oder Sanitär-Steigzone. Bei der Instandsetzung von Gebäuden muss deshalb die bauliche Dichtigkeit beachtet werden. Macht die Luft nicht das, was der Planer denkt, breiten sich Fremdgerüche aus.
Heinrich Huber: Beim einem Systemvergleich sind auch die Kosten relevant. Oft werden nur die Investitionen gewichtet; der Betrieb wird dagegen vernachlässigt. Kontrolle und Wartung der Aussenluftdurchlässe bei Abluftanlagen, etwa der Filteraustausch, können allerdings einen beachtlichen Aufwand verursachen.

TEC21: Setzen sich kontrollierte Abluftanlagen dennoch durch?
Heinrich Huber: Im Wohnungsbau nimmt die Nachfrage nach Abluftanlagen mit definierter Nachströmung oder auch nach Einzelraumlüftungsgeräten anteilsmässig zu. Nach der manuellen Fensterlüftung ist die kontrollierte Wohnungslüftung mit Wärmerückgewinnung, eben die Komfortlüftung, weiterhin das verbreitetste System.
Franz Sprecher: Man kann den Wohnungsbau in der Schweiz und Europa in zwei Lager aufteilen: In der Westschweiz und in südlichen Ländern werden Abluftanlagen bevorzugt. Im Norden ist die kontrollierte Lüftung mit Wärmerückgewinnung populärer.
Heinrich Huber: Das beginnt sich zu vermischen. Vor allem die Wärmerückgewinnung findet in Frankreich immer mehr Anhänger. Gleichzeitig wächst das Interesse in Deutschland an Abluftanlagen mit kontrollierter Luftzufuhr.

TEC21: Hat sich in der Baubranche herumgesprochen, dass es zumindest ein begrenztes Spektrum an Lüftungsvarianten gibt? Und wird das auch bei der Zertifizierung von Gebäudelabels berücksichtigt?
Heinrich Huber: Das ist tatsächlich ein langsamer Prozess. Aber es wird allmählich verstanden, dass Abluftanlagen oder Einzelraumanlagen für ein gültiges Lüftungskonzept verwendet werden dürfen. Auch bei den Labels hat dieses Bewusstsein stark zugenommen, wobei der Anteil der kontrollierten Wohnungslüftung bei 95 % liegt. Die Erweiterung der Möglichkeiten ist generell zu begrüssen. Vor allem bei Erneuerungen kann dies helfen, gute und preiswerte Lösungen zu finden.
Franz Sprecher: Für das Minergie-Zertifikat wurden schon immer Abluftanlagen und sogar automatisierte Fensterlüfter akzeptiert. Solche Systeme werden beispielsweise in Schulhäusern eingesetzt.

TEC21: Aber braucht ein Einfamilienhaus im Grünen wirklich eine mechanische Lüftung, damit eine energiesparende Nutzung möglich wird?
Heinrich Huber: Diese Frage darf man sich bei der Planung solcher Häuser auf jeden Fall stellen. Reduzierte Lüftungsvarianten, die auf einem Einzelraumsystem beruhen und nur für die Nacht in Betrieb zu setzen sind, genügen für die kontrollierte Lüftung. Es stimmt schon: Minergie und die mechanische Belüftung haben im Einfamilienhaus begonnen; also in einem Bereich, in dem die Luftqualität weniger sensibel reagiert als in Geschosswohnungen.
Franz Sprecher: Eine Wärmerückgewinnung in der Lüftung hat dieselbe Aufgabe wie eine Dämmung: den Wärmeabfluss im Winter zu unterbinden respektive den Hitzeeintrag im Sommer zu verhindern. Aus energetischer Sicht kann die Lüftung ausserhalb der Heiz- und Kühlperiode eigentlich abgestellt werden. Doch ein Lüftungskonzept hat auch einen Zielkonflikt zwischen Energieverbrauch und Hygiene zu meistern. Tendenziell wird allerdings zu viel Luft umgewälzt.

TEC21: Aber an der technischen Vielfalt scheint es nicht zu mangeln, dass man gute Lösungen finden kann. Was haben Markt und Industrie an Lüftungssystemen derzeit zu bieten?
Heinrich Huber: Technisch funktioniert vieles und auch die Zahl der Produkte nimmt zu. Dennoch ist einschränkend zu sagen: Leider ist die Auswahl noch nicht derart gross, wie sie sein könnte. Bei innovativen Erweiterungsvarianten halten
sich Lieferanten oft zurück. So ist der Verbundlüfter zum Beispiel in Österreich und Deutschland am Markt viel stärker präsent als in der Schweiz. Der Planer muss auf jeden Fall einige Zeit investieren, umpassende Lüftungssysteme zu finden.

TEC21: Wie gehen Architekten und Fachplaner dabei vor?
Franz Sprecher: Konzeptphase ist ein Austausch zwischen Architekten, Nutzern und Fachplanern wichtig. Im städtischen Erneuerungsprojekt Paradies hat man unter­einander viel über den Luftbedarf gesprochen.
Heinrich Huber: Es gilt ein interdisziplinäres Grundverständnis über das Gesamtsystem Luftaustausch zu entwickeln. Selbstverständlich liefert der Fachplaner Grundlagen wie die Luftaustauschrate, und der Architekt kümmert sich um die konstruktive und räumliche Umsetzung der Steigschächte, der internen Verteilkanäle und so weiter. Doch was gelingen soll, braucht Teamarbeit und viel Liebe zum Detail.
Franz Sprecher: Mein Gesprächspartner hat an einem anderen Anlass passend formuliert: Es ist nicht Aufgabe der Spezialisten, die Belegungsform von Wohnungen mit einer Anlagendimensionierung zu definieren. Das Lüftungskonzept und die Dimensionierung sind primär architektonische Aufgaben, weil es die Nutzung wesentlich betrifft. Wenn die Architektur jedem Bewohner genügend Raumvolumen zur Verfügung stellt, braucht es aus hygienischer Sicht keine mechanische Lüftung. Die Räume sind geometrisch so zu entwerfen, dass die gesamte Luftmenge mit sinnvollen Lüftungsintervallen erneuert werden kann.

TEC21: Aber die Lüftungsnorm gibt doch vor, wie viel Frischluft zu organisieren ist?
Franz Sprecher: Die Norm beruht auf korrekten Annahmen. Demnach können zwei Personen in einem Zimmer mit geschlossenen Türen und Fenstern bei dauerhaft guter Luft übernachten. Doch gemäss eigener Erfahrung ist die Realität im Wohnalltag anders und weicht davon meistens ab. Sehr viele Lüftungsanlagen werden daher auf einer zu hohen Stufe betrieben. Die Luftaustauschrate ist zu hoch.

TEC21: Läuft in der Planung etwas falsch?
Heinrich Huber: Eigentlich nicht, die Normen lassen eine Auslegungsfreiheit zu. Nur entscheiden diese Vorgaben nicht, wann welcher Belegungsfall und Luftmengenbedarf eintreten wird.
Franz Sprecher: Eine weitere Ursache von überdimensionierten Lüftungssystemen ist: Nicht alle Planer setzen sich mit der Kaskadenlüftung ausreichend auseinander.
Heinrich Huber: Zu oft wird ein gleichzeitiges Belüften verschiedener Wohnräume eingeplant, ohne dass es in der Realität beansprucht wird. Setzt man dagegen ein Kaskadensystem ein, lässt sich dieselbe Luft wohnungsintern quasi mehrfach nutzen. Ich muss die Planer aber in Schutz nehmen. Das Dimensionierungsdilemma ist allgemein bekannt. Dennoch wählt man einen «Angstzuschlag»: Um auf der sicheren Seite zu stehen, erhält jeder Raum eine eigene Luftzufuhr. Folge ist: Man baut zu komplizierte Systeme ein; nachträgliche Optimierungen sind kaum möglich.
Franz Sprecher: Obwohl der Nutzer die Luftmenge pro Wohnung verändern kann, lässt sich der Gesamtbedarf in einem Mehrfamilienhaus zusätzlich reduzieren. Es darf davon ausgegangen werden, dass nicht alle Nutzer gleichzeitig die maximale Luftmenge anfordern. Dies reduziert den Stromverbrauch der Ventilatoren. Überdimensionierte Anlagen ziehen oft einen Rattenschwanz an Zusatzaufwand hinter sich her, der bis zu den Steigzonen zurückzuverfolgen ist. Im Gegenzug darf nicht der Eindruck entstehen, dass die Leistungsoptimierung von Lüftungsanlagen eine Budgetvariante ist. Optimierungen wie eine Leistungsreduktion oder variable Betriebseinstellungen bedeuten mehr Technik und Aufwand.

TEC21: Spricht nicht vieles dafür, die Vorgaben anzupassen?
Franz Sprecher: Effektiv wird das gemacht. Die Revision der Lüftungsnorm SIA 382/5 ist noch nicht abgeschlossen, sie soll aber den Luftvolumenaustausch in kleinen Wohnungen deutlich reduzieren. Im Vergleich zur bisherigen Praxis kann der Umsatz der Luftmenge um etwa 20 % reduziert werden. Ebenso soll das Kaskadenprinzip stärker beachtet werden, wofür weniger Verteilkanäle nötig sind. Damit werden Lüftungsanlagen vereinfacht, und die Betriebskosten sinken um 15 %.

TEC21: Warum funktioniert der Luftaustausch auch mit weniger Volumen?
Franz Sprecher: Im Wesentlichen sollen die Vorgaben für die Abluftmenge, in den Nasszellen und der Küche, gesenkt werden. Zudem wird im SIA-Merkblatt 2023 und in einer Minergie-Zertifizierung schon lang empfohlen: Nutzer sollen die Luftmenge pro Wohnung einstellen können. Oft wird aus Kostengründen darauf verzichtet und die Austauschrate nach SIA-Normwert eingestellt. Das führt zu trockener Luft im Winter und zu unnötigem Stromkonsum. Die Luftmengen in den Schlafzimmern generell zu senken wäre aber nicht zielführend. Es soll weiterhin möglich sein, in einem Zimmer mit geschlossenen Fenstern und Türen zu zweit übernachten zu können.

TEC21: Herr Huber, die Lüftungstechnik im Wohnungsbau ist eigentlich ein junges Gewerk. Sie selbst waren an der Planung eines der ersten Projekte in der Schweiz Mitte der 1990er-Jahre an einer Genossenschaftssiedlung in Riehen beteiligt. Funktioniert die Pionieranlage in Basel eigentlich noch?
Heinrich Huber: Soweit mir bekannt ist, hat man die Lüftungsgeräte inzwischen ersetzt; ihre Lebensdauer ist einem Haushaltsgerät vergleichbar. Ansonsten funktioniert die Anlage inklusive Luftverteilung problemlos. Das Konzept entspricht dem aktuellen Stand der Praxis. Zu den damaligen Errungenschaften gehörte bereits, auf gewellte Rohre für die Luftverteilung zu aus hygienischen Gründen verzichten. Auch das Lufterdregister funktioniert weiterhin einwandfrei. Seit Einführung der kontrollierten Wohnungslüftung in der Schweiz vor rund 25 Jahren haben sich die Geräte vor allem energetisch, akustisch und hygienisch verbessert.
Franz Sprecher: Auf dem Wohnungsmarkt gehört eine mechanische Belüftung inzwischen zum Standard. Die Stadt Zürich hat eine Marktanalyse für die Jahre 2015 bis 2017 durchgeführt: In neun von zehn Neubauten wird unabhängig vom Energiestandard ein mechanisches Lüftungssystem eingebaut.
Heinrich Huber: Das Zusammenspiel zwischen Markt und Technik ist interessant: Die anfänglichen Lösungen sind heute noch tauglich. Und es gibt immer noch Systeme mit bekannten Mängeln wie die trockene Luft. Das ist ein gewisser Fluch, den man nicht aus der Branche bringt. Das darf auch nicht mehr als Kinderkrankheit bezeichnet werden.

TEC21: Warum halten sich die qualitativen Mängel derart hartnäckig?
Heinrich Huber: Ein Beispiel dafür sind hygienisch problematische Fälle wie die falsche Platzierung von Aussenluftfassungen. Diese werden aber nicht von Lüftungsfachleuten verursacht, sondern sind meistens eine Folge ihrer Absenz: Man hat es unterlassen, diese beizuziehen. Andere systematische Fehler haben sich jedoch eingeschlichen, weil die klassische Lüftungsplanung zu wenig auf den Wohnungsbau eingehen kann. Die Fachleute, die an der Hochschule, etwa bei uns in Luzern ausgebildet werden, arbeiten meistens in anderen Segmenten und beschäftigen sich mit der Belüftung von Spitälern, Altersheimen, Geschäftshäusern und anderen Zweckbauten. Die grossen Ingenieurbüros ziehen sich sogar eher aus dem Wohnungsbau zurück, weil sie dem Termindruck und den geringen ökonomischen Margen ausweichen wollen.

TEC21: Worin bestehen die Differenzen bei der Lüftungsplanung von Zweckbauten respektive Wohnhäusern?
Heinrich Huber: Gewerbliche Lüftungskonzepte folgen der Logik, jeder Raum braucht eine eigene Zuluft. Der Luftbedarf in einem Büro ist fünfmal höher als im Wohnraum mit identischer Fläche. Werden diese Qualitätsunterschiede stärker als bisher in Betracht gezogen, wirkt allein dies der Tendenz entgegen, die Anlagen in Wohnungsbauten überdimensioniert auszulegen.
Franz Sprecher: Die Komfortansprüche und der Luftmengenbedarf sind sehr unterschiedlich. Lüftungsgeräusche im Schlafzimmer werden viel negativer wahrgenommen als im Büro. Eine weitere Differenz ist der Einfluss des Menschen: Seine Abwärme erzeugt selbst eine thermischen Strömung. Im Büro spielt dieser Faktor nur eine untergeordnete Rolle für die Luftverteilung.
Heinrich Huber: Das meist genannte Problem ist trockene Raumluft in beheizten Gebäuden. Eine Ursache ist, dass Planer und Installateure häufig zu hohe Luftaustauschraten bestimmen, weil sie glauben: Mehr Frischluft sei besser. Im Gegenzug ist die Hygiene, früher ein problematisches Thema, inzwischen qualitativ gleichwertig wie bei Gewerbe-, Büro- oder Wohnbauten gelöst.

TEC21: Wie innovativ sind die Hersteller und entwickeln neue Varianten und Geräte für die Lüftungstechnik?
Heinrich Huber: Zu erwarten sind Vereinfachungen bei der Regelung des Luftvolumens, die sich am Bedarf einer Wohnung oder sogar eines Zimmers orientieren. Aktuell liegt der Trend sowieso bei dezentralen Lüftungsanlagen, wobei die Technik etwa alle fünf Jahre zwischen zentralen und dezentralen Systemen hin und her pendelt. Die Ecodesign-Vorschriften der EU haben einiges ausgelöst: In den letzten vier Jahren ist der Stromverbrauch neuer Lüftungsgeräte um 20 % gesunken. Daneben erreicht die neuste Generation auch bei akustischen Kennwerten ein sehr gutes Niveau.
Franz Sprecher: Leider kümmert sich die Industrie vornehmlich um den Neubau. Daher fehlen Systemvarianten, die zu den spezifischen Gegebenheiten einer Instandsetzung passen. Denn in alten, auch sanierten Gebäuden erhöht sich die energetische Wirkung einer Lüftung mit Wärmerückgewinnung; etwa weil die Heizperiode länger ist als bei Neubauten. Auch ist das Risiko von Schimmelpilz bei Hüllen mit vielen Wärmebrücken grösser. Ebenso würde ich mir kostengünstigere Systeme wünschen.

TEC21: Wie lässt sich die technische Weiterentwicklung fördern?
Heinrich Huber: In der Schweiz wird schon seit vielen Jahren ein reger Austausch zwischen Industrie und Hochschulen gepflegt. Verbundlüfter oder die Kaskadenlüftung sind Systeme, die im Wesentlichen daraus entstanden sind und nun in ganz Europa bekannt sind. Doch allmählich wird das Marktangebot stärker von ausländischen Herstellern geprägt.
Franz Sprecher: Etwas Ähnliches ist mit dem Enthalpietauscher passiert, der zur Rückgewinnung von Feuchtigkeit in der Raumluft dient. Diese Geräte sind in Kanada entwickelt worden und haben zuerst in der Schweiz und danach in Europa Fuss gefasst.
Heinrich Huber: Auf dem internationalen Herstellermarkt ist eine Industrialisierung zu beobachten: Die Lüftungsprodukte werden standardisiert und die Systeme vorfabriziert. So wird in den Niederlanden vermehrt mit Lüftungsmodulen gearbeitet, die als Komponente einer ebenfalls vorfabrizierten Nasszelle geliefert werden.

TEC21: Das Aufkommen der Lüftungstechnik ist eng mit der Förderung einer energieeffizienten Bauweise verbunden. Die Kritik am technischen Aufwand ist seither ein steter Begleiter. Werden die übrigen haustechnischen Gewerke zu Recht davon ausgenommen?
Heinrich Huber: Eigentlich nicht, aber die Lüftungstechnik scheint grössere Debatten auszulösen. Auf Unzulänglichkeiten bei der Luftqualität reagieren die Menschen offenbar sensibler als bei der Heizwärme.
Franz Sprecher: Im Unterschied zur Raumtemperatur verfügt der Mensch über kein zuverlässiges Organ zur Beurteilung der Luftqualität. Wir merken kaum, wie die Luftqualität langsam schlechter wird. Nur wer nachträglich ein zuvor benutztes Sitzungszimmer betritt, erkennt den Unterschied. Erst dann erkennt man die Notwendigkeit eines Lüftungskonzepts. Erschwerend kommt hinzu, dass eine einzelne schlechte Lüftungsanlage in der Meinungsbildung höher gewichtet wird als viele, die gut funktionieren. Die Lüftung ist relativ neu und wird für nicht Erklärbares schnell verantwortlich gemacht. Viele Mängeldiskussionen sind aber berechtigt. Fast immer geht es dabei um die Überdimensionierung, die nicht nur Lüftungs-, sondern auch Heizungsanlagen betrifft.
Heinrich Huber: Mängel treten regelmässig auch in der übrigen Gebäudetechnik wie Heizung oder Sanitär­anlagen auf. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass die Übergabe der installierten Gebäudetechnik ungenügend organisiert ist. Oft fehlt eine Qualitätskontrolle der installierten Gebäudetechniksysteme.
Franz Sprecher: Es ist auch an uns Bauherrschaften, die Qualitätsstandards durch Inspektionen oder bei der Inbetriebsetzung verbindlich einzufordern.

TEC21, Fr., 2018.08.24



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«Lieber freiwillig als mit Zwang»

1998 wurde das erste Haus in der Schweiz mit dem Energiestandard Minergie ausgezeichnet. 20 Jahre später sind es über 46 000 Minergie-Gebäude. Was hinter dem Erfolg steht, erklären zwei Vertreter des nationalen Trägervereins.

1998 wurde das erste Haus in der Schweiz mit dem Energiestandard Minergie ausgezeichnet. 20 Jahre später sind es über 46 000 Minergie-Gebäude. Was hinter dem Erfolg steht, erklären zwei Vertreter des nationalen Trägervereins.

TEC21: Wir gratulieren dem Verein Minergie zum 20. Geburtstag. Was wünscht sich der Jubilar?
Andreas Meyer Primavesi: Qualität und Einfachheit. Die letzten Jahre waren für die Bau- und Immobilienbranche ziemlich turbulent und unter anderem von der Energiestrategie 2050, der Digitalisierung und den tiefen Zinsen geprägt. Wir wünschen uns darum nicht etwas für uns selbst, sondern für die ganze Branche: dass man die Kräfte bündelt und sich aufs Wesentliche besinnt.

TEC21: Auch für den Verein Minergie haben die letzten Jahre einige Veränderungen gebracht; 2017 hat man erstmals substanzielle Korrekturen am Gebäude­standard vorgenommen. Was zeichnet diesen heute aus?
Andreas Meyer Primavesi: Ein Minergie-Haus ist etwa ein Viertel besser in der Energie- und CO2-Bilanz als ein konventioneller Neubau. Berücksichtigt man die niedrigen Betriebs- und Nebenkosten, die günstigeren Hypothekarzinsen oder den Mehrwert einer Minergie-Liegenschaft, dann lohnt sich der Aufwand auch wirtschaftlich. Minergie ist nur unwesentlich teurer und aufwendiger zu realisieren als der Mainstream. Denn ein zentrales Anliegen ist, dass wir möglichst viele Bauträger ansprechen können. Darum ist Minergie das erfolgreichste Gebäudelabel auf dem Markt. Man hat bereits vor 20 Jahren ein Gespür für das Mach­bare entwickelt, sonst hätte es kaum überlebt.

TEC21: Wenn Sie zurückblicken: Wie hat der Verein dies erreicht?
Milton Generelli: Mit Mut zur Innovation: Vor 20 Jahren hat der Standard erstmals eine thermische Bilanz eingefordert; gesetzlich erforderlich war einzig der Qualitätsnachweis für eine gut gedämmte Gebäudehülle. Dennoch war das primäre inhaltliche Anliegen nicht die Energieetikette, sondern die Steigerung des Komforts. Dies hat damals die Akzeptanz erhöht. Energiesparen war nicht populär und wurde eher mit Verzicht in Verbindung gebracht. Darum der Claim «mehr Komfort, mehr Energieeffizienz»: Dieser war den Endkunden einfach zu vermitteln. Doch es ist mehr als nur Mar­keting. Dahinter steckt ein fachlich fundiertes Konzept, das die Anforderungen zur Nutzerbehaglichkeit und qualitativen Gebäudesubstanz kombiniert.
Andreas Meyer Primavesi: Die sportliche Vorgabe bestand darin, das energetische Niveau von Neubauten um den Faktor zwei bis drei zu unterbieten; der Standard verlangte damals einen jährlichen Heizwärmebedarf von 42 kWh/m2 für neue Wohnbauten anstelle der gesetzlich erlaubten 120 kWh/m2. Erstaunlich ist si­cher, dass trotzdem eine solche Breitenwirkung entfaltet werden konnte.
Milton Generelli: Die Messlatte war weder zu tief noch zu hoch. Es hätte strengere Lösungen gegeben, aber die wären nicht derart breitenwirksam gewesen. Es war eben nie die Absicht von Minergie, nur vorbildliche Leuchttürme zu präsentieren, die zwar alles richtig machen, aber keine Verbreitung finden.

TEC21: Welche Rolle spielen die Kantone, die wesentlich zur Gründung des Vereins beigetragen haben?
Andreas Meyer Primavesi: Das enge Zusammenspiel mit den Behörden war sogar sehr wichtig und ist ein zentraler Erfolgsaspekt. Der Standard Minergie wäre ein Nischenprodukt geblieben, hätten sich die Erfinder und die Kantone nicht einigen können. Da waren anfänglich auch Hürden zu überwinden. Richtig vorwärts ging es, als die Kantone und anschliessend auch der Bund den Standard in ihre Energiepolitik integrierten. Dadurch hat sich die Sichtbarkeit wesentlich erhöht. Inzwischen ist Minergie ein Part­nerprojekt zwischen der öffentlichen Hand und der Privatwirtschaft. Es geht darum, dass wir freiwillig etwas leisten, was sonst mit Zwang realisiert werden müsste.

TEC21: Die Zertifizierungsregeln sind im letzten Jahr erneuert worden. Nun darf ein Neubau nicht mehr fossil beheizt werden. Ist das ein Versuchsballon für die Kantone, ihre Gesetze künftig darauf auszurichten?
Andreas Meyer Primavesi: Der Verein ist sich bewusst, dass diese Vorgabe aneckt und im Markt umstritten ist. Dennoch glauben wir nicht, dass die Versorgung mit fossiler Energie Bestandteil des zukunftsfähigen Gebäudestandards sein darf. Nicht nur bei Neubauten, auch bei Sanierungen ist dies zu hinterfragen. Was die Absichten der Kantone diesbezüglich betrifft, bin ich nicht die richtige Ansprechperson. Doch was der Verein tut, ist sicher kein Zufall. Unsere Vision tra­­gen die Kantone massgeblich mit, respektive sie haben bereits bei der Formulierung mitgewirkt. Ein Zweck des Standards ist: Wir sollen nachweisen, dass ein innovatives Baukonzept technisch und ökonomisch machbar ist. Der Gesetzgeber kann dann übernehmen, was er seinerseits für machbar und nachfrageorientiert hält.
Milton Generelli: Wichtig ist, dass wir – wie schon vor 20 Jahren – mutige Impulse setzen. Die neuen Vorgaben sind darum eine logische Fortsetzung. Zentral ist, dabei die Gesamtenergieeffizienz zu betrachten, ebenso wie die Verpflichtung, die Eigenversorgung etwa mit Photovoltaik anzu­streben. Die Technik, die es dazu braucht, gibt es heute schon.

TEC21: Nicht nur die Wärme, neuerdings wird auch der Stromkonsum bei Minergie mitgezählt. Warum hat man diesen Schritt, die Gesamtenergieeffizienz zu betrachten, nicht mit weniger Vorgaben verknüpft?
Andreas Meyer Primavesi: Hätte man zum Beispiel die Anforderungen an die Gebäudehülle komplett fallen gelassen und nur noch auf die Gesamtenergiebilanz gesetzt, hätten das sicher einige als grossen Wurf wahrgenom­men. Aber daraus wären Konflikte mit den kantonalen Gesetzen und den Baunormen entstanden. Das Bewertungssystem ist jedoch so aufgebaut, dass der Zielwert für die Gesamtenergieeffizienz auf unter­schiedliche Weise erreicht werden kann. Die Qualität der Gebäudehülle, der Eigenversorgungsgrad und die gebäudetechnischen Massnahmen können unter­­einan­­der abgestimmt werden. Den zwingenden Rahmen aber setzen die gesetzlichen Anforderungen an die Gebäudehülle und den Mindestanteil an erneuerbarer Energie. Das ist ein weiterer Mehrwert unseres frei­willigen Gebäudestandards: Ein Bauträger erhält mit der Zertifizierung die Sicherheit, dass er sämtliche Vorgaben für eine Baubewilligung erfüllen kann.
Milton Generelli: Wir dürfen nicht vergessen, dass sich der Standard weitgehend auf gültige SIA-Normen abstützt und eine Absicherung bietet, dass diese Grundlagen berücksichtigt werden. Allerdings wird das Bauen immer komplizierter; zusätzliche Qualitäts­aspekte kommen dazu. Den generellen Anstieg der Komplexität darf man Minergie aber nicht zum Vorwurf machen.
Andreas Meyer Primavesi: Ein Übermass an Anforderungen wird uns immer wieder vorgeworfen. Oder es wird wiederholt kritisiert, wie wenig Freiheiten das Konzept bietet. Aber wenn wir nicht genau hinschauen, wie gut die realisierte Bauqualität und der Komfort sind, würden uns substanzielle Baumängel vorgehalten. Nur darum müssen wir jetzt zum Beispiel nicht über Schimmel in Minergie-Häusern sprechen; den gibt es nicht. Auch die Abweichungen in der Energieperformance zwischen Planung und Alltag wären weitaus grösser, als sie sind. Die erfassten Differenzen sind nüchtern betrachtet nicht so riesig. Ein Erfolgsprinzip des Gebäudestandards steckt auch in der Planungssicherheit und im Investitionsschutz.

TEC21: Vereinfachungen waren also bei der letzten Erneuerungsrunde kein Thema?
Andreas Meyer Primavesi: Selbstverständlich hinterfragen wir selbst einiges. Aktuell ist die Belüftung von sanierten Gebäuden ein internes Diskussionsthema. Auf ein Lüftungssystem verzichten oder die Anforderungen fallen lassen werden wir bestimmt nicht. Die Lüftung ist für uns immer noch das richtige Mittel zum Zweck. Aber wir denken an eine flexiblere Beurteilung und schauen, welche neuen Technologien für Anpassungen oder Vereinfachungen genutzt werden können. Wir nehmen Kritik ernst, aber wir hören lieber auf konstruktive, lösungsorientierte Beiträge als auf laute Vorwürfe.

TEC21: Wie tauscht sich der Verein mit der Fachwelt aus, um Probleme aus der Praxis in Erfahrung zu bringen?
Andreas Meyer Primavesi: Wir sind am Erfahrungsaustausch interessiert und führen in allen Regionen regelmässige Treffen mit Architekten und Fachplanern durch. Aktuelle Themen neben der Lüftung sind der sommerliche Wärmeschutz und das Monitoring des Energieverbrauchs. Wir sind uns bewusst, dass es die Balance zwischen zu detaillierten und zu vagen Anforderungen zu halten gilt.
Milton Generelli: Die Neuerungen für die Zertifizierung sind nicht im stillen Kämmerlein entwickelt worden, sondern waren Teil eines zweijährigen Vernehmlassungs- und Bereinigungsprozesses.
Andreas Meyer Primavesi: Das hilft uns. Nach den ersten zwölf Monaten und den Erfahrungen, die wir mit den neuen Zielen und Kenngrössen sammeln konnten, kann ich sagen: Sie kommen gut an.

TEC21: Aber die Pflicht zur Eigenerzeugung von Strom ist kostenrelevant. Wie viel mehr ist für ein Minergie-Haus zu investieren im Vergleich zum konventionellen Niveau?
Andreas Meyer Primavesi: Früher hat der Verein kommuniziert, dass mit Mehrkosten von rund 5 % zu rechnen sei. Doch diese Analysen treffen heute nicht mehr zu, und aktualisierte Angaben gibt es nicht. Ich gehe aber davon aus, dass sich der Mehraufwand für die Ener­gie­erzeugung positiv auf die Lebenszyklus- und Betriebskosten auswirken wird. Zudem wird der Zusatz­aufwand für die Technik entschärft, weil die Dämmanforderungen dieselben wie beim Gesetzesstandard sind. Hier ist nicht mehr zu leisten als bei allen anderen auch.
Milton Generelli: Darum setzt der Verein auf den Markt. Bei der Solartechnologie sind heute schon günstige Lösungen verfügbar. Zudem glaube ich, dass ein Minergie-Haus nicht teurer sein muss als ein konventionelles Gebäude, wenn das Gesamtkonzept von Anfang an darauf ausgerichtet ist.

TEC21: Der Standard Minergie hat sich regional unterschiedlich verbreitet. An Orten mit hoher Baudynamik wie im Raum Zürich ist der Standard ausserordentlich gut vertreten. Warum funktioniert das etwa im Tessin weniger gut?
Milton Generelli: Der Kanton hat kein generelles Problem, sondern ist nur zeitlich verzögert unterwegs. Der Gesetzgeber war beim Vollzug der Energieziele etwas im Verzug. Erst vor etwa 15 Jahren wurde die SIA Norm 380/1 für die Baubewilligung verbindlich gemacht. Mittlerweile wird auf Sensibilisierung und Weiterbildung gesetzt. Öffentliche Bauten müssen nach Minergie zertifiziert werden, und das Bauen nach Minergie wird finanziell gefördert. Zudem hat die Einführung des Standards Minergie-A, der die Stromerzeugung ins Zentrum stellt, bei den Zertifizierungen im Tessin einen eigentlichen Aufschwung gebracht.
Andreas Meyer Primavesi: Sich in der ganzen Schweiz und in allen drei Landesteilen aktiv zu bemühen, ist für den Verein Minergie sicher ein Kraftakt. Unsere Ressourcen für das Marketing sind beschränkt. Gleichzeitig können wir von der Vernetzung und den regionalen oder klimatischen Unterschieden fachlich profitieren. So kümmert sich die Agentur im Tessin in Zusammenarbeit mit der Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana (Supsi) um die angewandte Forschung, wie wir mit dem steigenden Kühlbedarf umzugehen haben. Auch bei den Vorgaben für den sommerlichen Wärmeschutz können wir so voneinander lernen.
Milton Generelli: Effektiv können wir klimatisch bedingte Einflüsse einbringen. So wissen wir, dass Minergie-Häuser im Tessin vergleichsweise weniger gut gedämmt werden müssen, im Gegenzug aber mehr Energie produzieren. Zudem bereitet uns der Sommer mit dem steigenden Kühlbedarf mehr Mühe. Wir müssen kluge Ansätze entwickeln, damit man Wohnhäuser nicht nachträglich mit Kühlaggregaten ausstatten muss.

TEC21: Einem Jubilar wünscht man immer auch ein langes Leben. Wie lang wird es Minergie noch geben?
Milton Generelli: Solange wir Innovationen setzen und die Wirtschaft antreiben können, braucht es uns.
Andreas Meyer Primavesi: Sobald die Energiestrategie 2050 erreicht ist, braucht es uns nicht mehr. Oder wenn jedes Gebäude plus/minus eine Nullbilanz besitzt. Aber die Bauwirtschaft ist träge. Darum wird es den Verein in 20 Jahren sicher noch geben.

TEC21, Fr., 2018.08.10



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Die steile Lernkurve der Energieeffizienz

Das «Haus ohne Heizung» war die Vision. Nun ist das «Haus ohne Kamin» salonfähig geworden. Ein Essay über die Annäherung zwischen Architektur und thermischer Transmission.

Das «Haus ohne Heizung» war die Vision. Nun ist das «Haus ohne Kamin» salonfähig geworden. Ein Essay über die Annäherung zwischen Architektur und thermischer Transmission.

Frankfurt am Main ist die deutsche Finanzmetropole schlechthin – und ihre Skyline mit Dutzenden Hochhäusern aus Stahl und Glas der glitzernde Beweis dafür. Einige der fast 50 Wolkenkratzer werden als Banken­zentrale, Hotel oder Wohnsitz der Reichen genutzt. Der älteste Turm gehört zum Dom, ist ziemlich genau 500 Jahre alt und 95 m hoch; der höchste, der «Commerzbank-Tower», endet erst bei 260 m. Die postmoderne Vertikale ist aber nicht die einzige städtebauliche Attraktion von «Mainhattan».

In der Altstadt wird das Mittelalter wieder zur Schau gestellt: Zwischen Dom und Römerberg ist das histo­rische Zentrum auferstanden, als hätte man das Rad der Zeit um Jahrhunderte zurückgedreht. Ein klobiger Verwaltungskomplex aus den Nachkriegsjahren musste einer Rekonstruktion des Vorkriegszustands weichen (vgl. «Zeitgemäss historisch»). Das Altstadtareal mit dem sperrigen Namen «DomRömer-Quartier» besteht nun wieder aus akkuraten Spitzgiebelhäusern und bunten Fachwerk-, Schiefer- oder Renaissancefassaden.

Die fünftgrösste Stadt Deutschlands vereint deshalb Gegensätzliches in Raum und Zeit: filigrane Himmelsstürmer im Banken- und Europaviertel sowie handwerklich solide, schnittige Retro-Architektur im Stadtzentrum. Jedes einzelne Format beeindruckt mit einer unübersehbaren Präsenz. Doch neben Lob gibt es dafür, kaum über­raschend, auch Kritik. Die hohen Kosten und die Verschleierungsarchitektur sind Aspekte, die nicht allen Urbanisten gefallen.

Frankfurt setzt aber nicht nur städtebauliche Trends, sondern fühlt sich auch dem ökologischen Zeitgeist verpflichtet. In der Energieszene ist die Metropole als inoffizielle Passivhaus-Hauptstadt Deutschlands bekannt. Die in jüngster Zeit erstellten öffentlichen Bauten erfüllen ebenso wie viele private Wohnsiedlungen allesamt höchste Vorgaben beim Energiestandard. Auch unter den Hochhäusern befinden sich qualifi­zierte Vertreter grüner Architektur.

Und sogar das neo­mittelalterliche DomRömer-Quartier ist hinter der ­Fassadenzier energetisch optimiert: Der Heizwärmebedarf der 13 Rekonstruktionshäuser variiert zwischen 13 kWh/m2 und 40 kWh/m2. Im besten Fall entspricht dies dem Niveau von Passivhäusern; im ungünstigsten wird ein Niedrigenergiestandard erreicht, vergleichbar einem Schweizer Minergie-Haus. So frei man Städtebau und Baukultur in Frankfurt inter­pretiert, so sehr beeindruckt das Selbstverständnis, wie vielfältig man selbst überdurchschnittlich spar­same Gebäude konstruieren und welch ästhetisch variable Energiehüllen man darüberstülpen kann.

Die Wahrnehmung: ein trojanisches Pferd

Eine Frankfurt wesensverwandte Stadt ist Zürich: An der Limmat wird ebenfalls mit Geld und Geist gehandelt, und auch hier mag man nicht mehr Energie verschwenden als zwingend nötig. Der Schweizer Banken­platz ist wie der deutsche ein Pionier und eine Hochburg des energieeffizienten Bauens. Anfang 1990er-Jahre hat man sich in der Innenstadt, in einem kantonalen Amtshaus, das Minergie-Label ausgedacht. Inzwischen treibt nicht nur die Stadtverwaltung ein ökologisches Bauen für die 2000-Watt-Gesellschaft voran.

Doch wäre Zürich Frankfurt, würden viele Debatten hierzulande ganz anders geführt. Denn während im Norden ein Energiesparhaus als Mittel zum Zweck dient, endliche Ressourcen einzusparen, leidet es bei uns unter einem schlechten Ruf. Die Wahrnehmung ist: Das Zertifikat wird eher als Stigma denn als gefälliges Ökodesign interpretiert. Ein Minergie-Haus gilt hierzulande schnell als architektonischer Sündenfall oder zumindest als baukultureller Sonderling.

«Zürich will Modellstadt für ökologisches Bauen werden. Bleibt die Ästhetik dabei auf der Strecke?», fragte die deutsche Wochenzeitung «Die Zeit» vor einigen Jahren. Und die NZZ wunderte sich dieses Frühjahr nach einem Besuch des Ökoquartiers «Greencity» am Südrand der Stadt: «Wollen wir so leben?» Das Bestreben, den Energieverbrauch der Bewohner und Nutzer zu senken, zwinge die Architektur in die Knie. Zwar kann der «nachhaltigste Standort der Stadt Zürich» fast sämtliche Energie- und 2000-Watt-Zertifikate vorweisen, die man erwerben kann. Dennoch gewinnt die kunsthistorisch ausgerichtete NZZ-Kritik seiner Erscheinung – massive und massige Baukörper – wenig Gutes ab.

Warum funktioniert Niedrigenergie in Frankfurt, in nostalgischer Form von Altstadthäusern oder als emporragender Protz? Und warum erkennt ein Zürcher die Ökologie in gebauter Form scheinbar nur als stylisierten Klotz? Ist das wirklich so: Verformt das ökologische Gewissen die bisherige Architektur? Oder benutzt man die Ökoetikette nicht gerne auch als faule Ausrede für mässige ästhetische Qualitäten?

Tatsächlich wird die Energieeffizienz dort zum trojanischen Pferd, wo immer sie als Alibi für rationelle, rendite­orientierte Baukonzepte herhalten muss. Denn viele Zürcher Neubauten, wie in der «Greencity» oder an der Europaallee, sind nicht nur ökobilanziert und zertifiziert, sondern mindestens ebenso akribisch auf Ökonomie getrimmte, kompakte Klumpen.

Energiestandards: objektivierbare Qualität

45 Jahre nach der Erdölkrise kämpft das energieeffiziente und klimafreundliche Bauen immer noch um seine Anerkennung. Wie die Abbildungen auf diesen Seiten zeigen, lassen sich zwar schöne Gebäude auf der Minergie-Liste finden. Trotzdem erhalten die Wegbereiter und ihre Nachfolger bis heute schlechte Stilnoten. In der Zwischenzeit ist aber einiges passiert: In 20 Jahren hat sich der Standard Minergie von einer Marketingidee zum erfolgreichsten Gebäudelabel der Schweiz entwickelt (vgl. «Lieber freiwillig als mit Zwang»).

Jeder achte Neubau ist inzwischen zertifiziert. Nicht nur in Zürich werden ganze Stadtquartiere mit Niedrig­energiestandard aus dem Boden gestampft (vgl. TEC21 14–15/2015). Die «Green Building»-Welle ist für die ­Baubranche von einem Nischenprodukt zum Wachstumstreiber geworden. Stehen aber nicht Zahlen im Vordergrund, schwindet die breite Akzeptanz. Nochmals: Sind sich der hohe Energiestandard und ein vorzeigbares Aussehen spinnefeind?

In der Beurteilung, wie gutes Ökodesign wirkt, steckt allerdings ein grosses Missverständnis. Ein Streit über Ästhetik lässt sich kontrovers, aber meistens nur subjektiv führen. Andere Aspekte der Architektur, wie der Umgang mit Ressourcen, sind dagegen objektiv nachweisbar. In der Betrachtung ambitionierter Wohnsiedlungen und Geschäftspassagen kommen sich die unterschiedlichen Perspektiven deshalb häufig in die Quere: Während Energiefachleute die Vorzüge eines Gebäudes nach Kilowattstunden und CO2-Emissionen qualifizieren, sprechen Architekten und Städtebauer lieber über Struktur, Tektonik und Form.

Eine gemeinsame Bewunderung für das Energiesparhaus scheint an den Grenzen der eigenen Disziplin zu scheitern. Bis heute versucht man vergeblich, sich gegenseitig an­zuerkennen. Es wirkt so, als habe man sich im Dämmperimeter verfangen, obwohl die ersten Exoten bereits über 30 Jahre alt sind.

Die Bauphysik: solar oder polar?

Der Graben der Unvereinbarkeit rührt auch von den Anfängen her, als Erforschung und Erprobung unkonventioneller ökologischer Baukonzepte überhaupt begannen. Die Idee, ein «Haus ohne Heizung» zu realisieren, stammt aus Nordamerika; ab den 1960er-Jahren verfolgte man sie in Skandinavien und Deutschland weiter.[1] Die ersten Solarhäuser der Schweiz folgten wenig später; sie sind nun fast 40 Jahre alt.

Anfang der 1980er-Jahre führten die Kantone erstmals Wärmedämmvorschriften ein und offizialisierten die zuvor definierten bauphysikalischen Normen. Die neuen Vorgaben stellten den damaligen Stand der Erkenntnisse allerdings auf den Kopf. Mit der Sonne zu bauen, anstatt sich gegen die Kälte abzuschirmen, war das Credo der nordamerikanischen Solararchitektur. Ein Sonnenhaus gewinnt die Strahlungsenergie passiv mit vollflächig verglasten Südfassaden und aktiv mit Luftkollektoren auf dem Dach oder an der Hauswand. Riesige Wassertanks im Keller sollten die Wärme saisonal speichern.

Das solare Bauen ist eine Antithese zur dicken Ver­packung. Dennoch spurten der Gesetzgeber und die Bürokratie auf den polaren Energiesparpfad ein.
Nicht zu vernachlässigen ist, dass die junge Geschichte des energieeffizienten Bauens eigentlich auf einer disruptiven Entwicklung beruht. Der Gebäudetyp «Solarhaus» wurde ausserhalb staatlicher Architekturakademien und öffentlicher Bauforschungsinstitute entworfen.

Stattdessen waren vielerorts Idealisten am Werk; darunter bis heute rund um die heutigen Hochburgen Zürich und Frankfurt aktive und erfolgreiche Architekten und Energieingenieure. Ihnen war jedoch bewusst, dass das Gebäude der Zukunft eine heikle Gratwanderung zu bewältigen hat. Teilweise gegensätzliche und sogar widersprüchliche Experimente, von solar zu polar, wurden vor rund zwei Jahrzehnten dazu präsentiert. Daraus entstand ein Wettstreit zwischen extrovertierten Sonnenfängern und introvertierten Verpackungskünstlern, der einige Architekturrepräsentanten irritierte. Die Zeitschrift Hochparterre berichtete eher skeptisch über die «solaren Urhütten».

Derweil beklagte man auf akademischer Ebene das «Splitting der Fassade»: Die Aussenwand wurde zur thermischen Zwiebel und die ungewohnte Dämmschicht sogar mächtiger als die massive Tragstruktur. Derweil schrumpfte die dünne Fassadenhaut zum Dekor. Die populäre monolithische Bauweise, vom Gründerhaus mit Sandstein bis zum modernistischen Betonbau, schien plötzlich der neuen Qualitätsgrösse «Wärmedämmperimeter» zum Opfer zu fallen.

Der Erfolg: ein Beitrag zur Klimapolitik

Aber worum geht es denn eigentlich? An sich darum, dass man in der Gebäudenutzung viel Energie einsparen kann. Damit ausreichend Warmwasser und angenehme Raumtemperaturen zur Verfügung stehen, kann der spezifische Wärmebedarf mehr als 20, knapp 5 oder nur 1 ½ Liter Heizöläquivalent pro m2 betragen. Ein Gebäude, kurz vor der Erdölkrise in den 1970er-Jahren erstellt, verbraucht viermal mehr als ein aktueller Neubau.

In weniger als zwei Generationen ist aus der Energieschleuder Haus – mit 22 Liter Heizöläquivalent – ein Spitzenreiter auf der Effizienzskala geworden. Das Gesetz erlaubt aktuell nur noch 4.8 l. Beim Minergie-­Zertifikat sind es 3.5 l; für den Passivhausstandard nochmals 2 l weniger. Würde ein Autohersteller dieselben Erfolge vorweisen wollen, dürfte ein Mittelklassewagen nurmehr 3 Liter Benzin pro 100 km verbrauchen. Neue Autos schlucken durchschnittlich dreimal so viel.

Als vor über 40 Jahren das Erdöl verknappt wurde, sorgte man sich zuerst um den freien Verkehr. 1973 waren die Autobahnen auf Anordnung des Bundes an drei Sonntagen gesperrt. Danach hat sich der Gesetzgeber stärker auf den baulichen Wärmeschutz konzentriert; dessen Fortschritte haben die motorisierte Mobilität inzwischen weit überholt. Entsprechend positiv meldet sich der Kanton Zürich zu Wort: «Der gesamte Wärmebedarf geht seit zehn Jahren stetig zurück.»[2]

Und auch für die nationale Treibhausbilanz ist die Energieeffizienz beim Bau eine seltene Erfolgsgeschichte. «Obwohl die beheizte Fläche zwischen 1990 und 2016 um 39 % zugenommen hat, sanken die Emissionen aus Heizung und Warmwasseraufbereitung in Wohn- und Gewerbegebäuden um etwa ein Viertel», lobt das Bundesamt für Umwelt den Gebäudesektor im aktuellen Klimabericht. Diese Bilanz bietet sowohl dem Wachstum der Energiebezugsfläche als auch der Marktdynamik überraschenderweise die Stirn. Die Preise für fossile Brennstoffe haben sich in den letzten 20 Jahren nur geringfügig erhöht, weit weniger als prognostiziert.

Die Transmission: wie dicht und kompakt?

Den grossen Fortschritten der letzten Jahrzehnte zum Trotz: Das Haus ohne Heizung erweist sich als Illusion. Während die Pioniersolarhäuser in Nordamerika selbst im Winter reichlich besonnt werden, ist das Klima Mitteleuropas dafür an kalten Tagen zu düster. So wurde an Testobjekten in Skandinavien und Deutschland erstmals ein Mittelweg zwischen Gewinnmaximierung und Verlustminimierung erprobt. Die Schnittmenge aus «solar» und «polar» war das Resultat dieser thermischen Mengenlehre. Die Fensterfront nach Süden blieb offen, wurde aber durch eine Hülle aus drei gut gedämmten, massiven Fassaden ergänzt.

Diesen Ausgleich verbinden das Minergie-Konzept und andere Energiesparhäuser bis heute: möglichst viel Sonneneinstrahlung für den passiven Energie­gewinn und eine gute Dämmung gegen unnötige Wärmeabflüsse. Mit zusätzlichen geometrischen Interventionen schraubt man den Energiebedarf weiter zurück: Der Würfel ist nach der Kugel die zweitbeste thermodynamische Form, um einen Baukörper mit so wenig Energie wie möglich zu beheizen.

Das kompakte Gebäude, mit minimaler Hüllfläche im Verhältnis zum Volumen, ist das architektonische Pendant. In den meisten Lehrbüchern zum energieeffizienten Bauen wird beschrieben, dass das Haus, das ohne Kamin auskommen soll, auch auf die bisherige Vielfalt an Konstruktionsformen verzichten muss. Denn erst kompakte, gut gedämmte Hüllen bieten Gewähr, dass erneuerbare Energieträger mit geringer Leistungskraft die fossilen Brennstoffe verdrängen können. Das kistenförmige Gebäude ist so zum Bild für die gestalterische Auszehrung durch das klimafreundliche Bauen geworden.

Die Assemblage: Die Architektur lernt

Der konstruktive Gewinner des energieeffizienten Bauens ist das additive Bauen, namentlich Wärmedämmverbundsysteme oder ähnliche Kompaktfassaden­varianten. Begradigte Fassaden und ultraschlanke ­Hartschaumdämmschichten sind darum bei energie­effizienten Häusern sehr häufig anzutreffen – aber ebenso oft bei kostenreduzierten, rationellen Bauten.

Manches erinnert allerdings an die Wegwerfmentalität: Hochleistungsdämmprodukte und andere Bauteile aus dem Hightechlabor enthalten kritische Substanzen; ihre energetische Wirkung interessiert mehr als umfassende ökologische Betrachtungen. Doch viele erstaunliche Produkte der Energie- und Materialforschung sind weder länger erprobt, noch weiss man über die Umwelteinflüsse im Lebenszyklus Bescheid. Und werden heute keine neuen Recyclingmethoden erforscht, hat man gegen die Abfallberge von morgen nicht vorgesorgt.

Am erfolgversprechendsten und nachhaltigsten funktionieren konstruktive Ansätze, die den Wärmedämmperimeter im Sandwichprinzip eingrenzen und dazu traditionelle Baustoffe und reversible Konstruktionsformen verwenden. Die Architektur hat einiges dazugelernt; umfassend und auch ästhetisch nachhaltig stellt man sich inzwischen der Wärmeschutzherausforderung. Sichtbar wird dieser Wandel überall dort, wo der Lebenszyklus nicht als Dekoration verstanden, sondern das additive Core-and-Shell-Prinzip durch eine versierte Assemblage von Materialien und Bauteilen abgelöst wird.

Charakteristisch für die jüngste Generation von energiesparenden Wohn- und Geschäftshäusern ist daher eine pragmatische Mixtur mit wiederentdecktem Gestaltungsanspruch: die Tragstruktur ein Skelettbau, der passive Wärme speichert, und die Hülle eine selbsttragende Holzrahmenkonstruktion, deren Ausfachung neben der Dämmung auch zur Profilierung der Aussenfassaden benutzt werden kann.

Die Reliefs tauchen ebenso wieder auf wie die Ecken und Kanten früherer Bauperioden. Allerdings gelingen «wärmebrückenfreie» Bauteilübergänge nur dank thermischen Speziallösungen. Auf Balkone will man nicht mehr verzichten; diese sind nun Teil eines selbsttragenden Anbaus und vom Hauptgebäude statisch und thermisch entkoppelt.

Dennoch setzt sich das Dilemma zwischen offener und geschlossener Bauweise ungeachtet der besseren Materialien fort. Sinnbildlich dafür steht das Fenster, das wohl am stärksten vom technischen Fortschritt profitiert: Die Fenster der ersten Minergie-Häuser haben mit den heutigen Produkten wenig gemein. Damals waren sie zweifach verglast; heute ist Dreifachverglasung mit Neongasfüllung der übliche Minimalstandard. Der Wärmedurchlass dieser transparenten Bauteile hat sich in den letzten zwanzig Jahren halbiert.

Zwar ist dieser Qualitätssprung auch ein Gewinn für die architektonische Freiheit beim Entwerfen energieeffizienter Häuser; zudem erlauben grössere Fensterflächen ein Plus beim Tageslichtkomfort. Aber dadurch wird ein Teil des energetischen Gewinns mit dem Wärmeschutzfenster wieder zunichtegemacht; in ähnlichen Fällen spricht man vom Reboundeffekt: Bessere Technologien sind zwar effizienter, verführen aber meistens zur Ausweitung des absoluten Nutzungsumfangs.

Und ein zu unbedarfter Zuwachs des Glasanteils an einer Gebäudefassade birgt weitere, energetisch schwer abschätzbare Unsicherheiten: Wenn das Klima, wie in den nächsten Jahrzehnten erwartet, wärmer wird, bieten die heute derart transparent konzipierten Gebäudehüllen, trotz beeindruckend niedriger U-Werte, dereinst wenig Schutz vor sommerlicher Überhitzung.

Die Komfortfrage: zu viel oder zu wenig?

Die Lernkurve des energieeffizienten Bauens ist weit vorangekommen; doch der einfach gestrickte Wärmeschutzpullover erfüllt die Anforderungen längst nicht mehr: Das Gebäude ist nicht nur sparsamer, sondern auch zu einer leistungsfähigen, aber fragilen Klimakapsel geworden. Jedes Wohn- oder Geschäftshaus hat den wechselhaften äusseren Witterungsbedingungen ein stabiles internes Behaglichkeitsniveau gegenüberzustellen.

Die staatliche Regulierung des Wärmedämmperimeters hat nun ein komplexes Deklarationssystem, bestehend aus vielfältigen energetischen Wechselwirkungen hervorgebracht. Im verbindlichen Energienachweis spielen geografische Ausrichtung, Beschattung, Sonnenschutz, Fassadenabwicklung, Dämmung der Aussenwand, Speichermasse der Gebäudestruktur, Fensteranteil oder U- respektive g-Werte von Fensterglas eine wichtige Rolle. Und auch die Nutzungsphase muss in abstrahierter Form, etwa im SIA-Normenwerk, abgebildet werden können.[3]

Trotzdem darf nicht vergessen gehen: Man kann weder alles im Voraus definieren, noch lassen sich sämtliche Probleme, Unsicher­heiten oder Risiken im Hochbau den verschärften Energiestandards in die Schuhe schieben. Auch die vielen Revisionsrunden beim Brand- und Lärmschutz stellen jedes Mal neue Herausforderungen dar, die untereinander sogar neue Zielkonflikte verursachen können.

Umso dringender ist zu überlegen, welche Leistungen ein standortgebundenes Gebäude überhaupt erbringen kann. Da die früheren Minergie-Sonderregeln inzwischen gesetzlicher Minimalstandard sind, wäre eine interne Koordination der vielen Einzelanforderungen zwingend angebracht. Die Zeit dafür drängt: Bis 2020 wollen die Kantone ihre eigenen Energievorschriften den aktuellen Minergie-Werten anpassen, zumindest was den Wärmeschutz betrifft.

Dessen ungeachtet sind weitere Pendenzen zu erledigen, will man die Gesamtenergieeffizienz eines Gebäudes verbessern. Seinerseits hat der Trägerverein letztes Jahr den Kurs bereits korrigiert. Der neue Fokus richtet sich auf eine (auch selbstverschuldete) Hypothek: Während der Konsum von Wärme sinkt, steigt derjenige von elektrischer Energie. Denn auf eine Heizung oder einen Kamin möchte man im Prinzip verzichten; aber umso wichtiger wird der Stromanschluss.

Mechanisch belüftet ist zum Beispiel jedes Minergie-Haus; auch der Anteil der Wärmepumpen ist in zertifizierten Objekten besonders hoch. Der erneuerte Minergie-Standard bezieht sich deshalb nicht länger auf den Konsum von Wärmeenergie für Heizung und Warmwasser, sondern zählt nun auch den Elektrizitätsverbrauch der Haushalte mit. Ungelöst sind jedoch auch hier zentrale Fragen zum Verhalten und zu den Ansprüchen der Benutzer respektive der Transfer solcher Informationen in normierte Planungsdaten.

Ein Minergie-Haus steht für die Option, ein ausgeglichenes Temperaturniveau im Sommer und Winter sowie einen stets kontrollierten Luftwechsel mit limitiertem Betriebsenergieaufwand anbieten zu können. Allerdings weiss man inzwischen, dass sich dasselbe Behaglichkeitsniveau auf unterschiedliche Weise, mit hohem technischem Aufwand oder mit ressourcenschonenden Low-Tech-Konzepten erreichen lässt.

Wo liegt nun aber der goldene Mittelweg, der die gegensätzlichen Strategien verbinden kann? Abermals sieht sich die Bauforschung mit Grundsatzfragen konfrontiert. Lau­teten sie vor 30 Jahren: Hat es zu viel oder zu wenig Energie, müssen wir sie einfangen oder einsperren?, so heisst es nun: Funktioniert es besser mit mehr oder mit weniger Komfort? Der Energieeffizienztest ist für die Architektur also noch nicht ausgestanden.

Die Prüf­kriterien sind aber nicht mehr die Bauphysik, der Dämmperimeter oder die Gebäudehülle, sondern der Zielkonflikt zwischen Ressourcenaufwand und Nutzungskomfort. Das Problem mit der Ökoverpackung reduziert sich inzwischen auf die Gestaltungsfrage: Gefällt sie, oder befindet man sie als unpassend? Aber der Inhalt, der zur nachhaltigen Nutzung passt, ist nun zu definieren.


Anmerkungen:
[01] Eine Geschichte der Niedrigenergiehäuser bis zum Passivhaus. Institut Wohnen und Umwelt 1996.
[02] Energieplanungsbericht 2017. Regierungsrat Kanton Zürich.
[03] Grundlagen zur Wirkungsabschätzung der Energiepolitik der Kantone im Gebäudebereich. CEPE ETH Zürich 2008.

TEC21, Fr., 2018.08.10



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27. April 2018Paul Knüsel
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Das Basler Begrünungsmodell

Als erste Stadt der Schweiz verlangt Basel seit über 30 Jahren einen Mehrwertausgleich. Am Rheinknie zahlen Investoren, die höher und dichter bauen, jeweils in den städtischen Grünfonds ein. Die Reserve zur Aufwertung von Freiräumen liegt bei rund 50 Millionen Franken.

Als erste Stadt der Schweiz verlangt Basel seit über 30 Jahren einen Mehrwertausgleich. Am Rheinknie zahlen Investoren, die höher und dichter bauen, jeweils in den städtischen Grünfonds ein. Die Reserve zur Aufwertung von Freiräumen liegt bei rund 50 Millionen Franken.

Basel baut und Basel spriesst. Mittler­weile steht das höchste Gebäude der Schweiz am Rhein. Vor drei Jahren hat der Pharma­konzern Roche seinen 178 m hohen Büroturm mit schräger Fassadenrampe gebaut. In Bälde wird der Zwilling gleich daneben noch höher gezogen; «Bau 2» soll sogar 50 Stockwerke und 205 m hoch in den Basler Himmel ragen. Aber nicht nur die Skyline, auch der Stadtkörper verändert sein traditionelles Gesicht: Wo früher kleine und grosse Gewerbebauten oder Güterumschlagplätze das Stadtbild prägten, entstehen nun weitläufige Neubauareale, volu­mi­nöse Wohnsiedlungen und protzige Geschäfts­kom­ple­xe. Die «Weltstadt im Taschen­format», so die Eigenwerbung, will sich erweitern: Die Bevölkerung soll bis 2035 um 10 % zulegen.

Basel baut, Basel entwickelt sich und Basel zwängt sich in ein enges Korsett: Der Siedlungsraum ist begrenzt, die Fläche der Bauzonen zuletzt sogar leicht geschrumpft. Die drittgrösste Stadt der Schweiz wird sich weiter wandeln, sie kann aber nicht in die Breite, sondern nur nach oben und nach innen wachsen. Wo und wie der Stadtraum baulich verdichtet werden kann, zeichnet mittelfristig der Richtplan des Halbkantons vor. Baustellen, Kräne und Planungsworkshops deuten schon jetzt darauf hin, dass das Wachstum von vielen Orten ausgehen soll. Sowohl in den Aussenquartieren als auch an zentralen Lagen sind freie Bauplätze in überraschend reichlicher Anzahl verfügbar.

Drei Dutzend Aufwertungsstandorte

Weit gediehen ist die Verwandlung der Erlenmatt, eines knapp 20 ha grossen, ehemaligen Eisenbahngeländes an der Nordtangente. Zwei Drittel des neuen Basler Stadtquartiers für etwa 1200 Personen sind inzwischen bewohnt. Von hier aus zum Rhein ist der Umbau einer weit umfangreicheren Fläche angedacht; das heutige Industrieviertel Klybeck soll mittelfristig ein durchmischter Wohn- und Arbeitsstandort werden und zusätzlichen Lebensraum für 10 000 Personen bieten. Aber auch zentrumsnahe Quartiere entwickeln sich weiter: So haben das Gellertquartier und Kleinbasel eben erst Zuwachs durch neue Wohnsiedlungen erhalten. Teilweise müssen dafür urbane Grünflächen weichen.

Städte und Gemeinden rätseln, wie die Schweiz verdichtet werden kann – und vor allem, wie dies hochwertig gelingen soll. Am Rhein ist die Siedlungsentwicklung nach innen heute schon ein Standardfall. Und auch die Qualität des Wohnumfelds darf dabei nicht vernachlässigt werden. Die Stadtgärtnerei Basel führt eine lange Pendenzenliste, worauf jeder Eintrag besagt, wo dichter städtischer Aussenraum mittelfristig aufgewertet werden muss. An über drei Dutzend Stand­orten sind demnach zusätzliche Grünanlagen und ­Stadtparks zu realisieren. Beeindruckend ist aber auch der Mittelbedarf für diese Ausbauwünsche: Knapp 100 Mio. Fr. sollen in den nächsten acht Jahren zur Stadtbegrünung investiert werden. Zwar muss die Regierung den Kredit für jedes einzelne Vorhaben erst noch bewilligen. Aber im Prinzip ist das Geld bereits reserviert: Die erwarteten Einnahmen des Mehrwertabgabefonds sollen die geplanten Ausgaben decken.

Basel baut und Basel zahlt: Werden Bauflächen um- oder aufgezont, gibt der Grundeigentümer die Hälfte des Mehrwerts in den «Grünfonds» ab. Der Basler Verdichtungszyklus nährt deshalb einen eigenen Finanzkreislauf. Das Bauen boomt und füllt den Fonds mit beeindruckenden Mitteln: Allein der Roche-Turm I hat 12 Mio. Franken eingebracht. Beim Zwilling, Turm II, wird fast ein doppelt so hoher Betrag als Mehrwert­abgabe erwartet. Die Bebauung weiterer Grossareale zahlt sich ebenso aus. Zuletzt nahm das kantonale Baudepartement jährlich rund 10 Mio. Fr. als Mehrwert ein. Seit Einführung sind über 120 Mio. Fr. in den Basler Grünfonds geflossen. Ein derart reich dotiertes Ausgleichssystem kennt kein anderes Gemeinwesen in der Schweiz.

Ein Berner Vorort und ein Wunderkässeli

Die Stadt Basel hat die Mehrwertabschöpfung nicht erfunden. Nationaler Pionier war die Berner Vorortgemeinde Ittigen. Vor 50 Jahren wurde dort die Grossüberbauung Kappelisacker realisiert; etwa 10 Mio. Franken flossen damals in die kommunale Steuerkasse. Die Stadt Basel führte Ende der 1970er-Jahre eine Abgaberegelung ein, 1999 wurde sogar eine Zweckbindung gesetzlich definiert. Seither ist die Basler Mehrwert­abgabe nur zur Aufwertung des öffentlichen Aussenraums reserviert. Mit dem jüngsten Bauboom hat sich die finanzielle Ausgangslage verbessert. Derzeit liegen rund 50 Mio. Franken für neue Grünanlagen bereit.

Was man sich zur Kompensation der städtebaulichen Verdichtung wünscht, kann sich die Stadt Basel leisten. «Selbst Grosses wie zum Beispiel den Erlenmattpark», sagt Christiane Dannenberger, stellvertretende Amts­chefin der Stadtgärtnerei Basel. Die Grünanlage im nördlichen Stadtteil entsteht seit 2010 etappenweise. Der Abschluss ist auf 2025 programmiert. Für Erwerb und Umgestaltung der 8 ha grossen Brache sind 20 Mio. Fr. budgetiert. Der offene Stadtpark, mitten im ebenfalls noch nicht fertiggestellten Neubauareal, ist gemäss Dannenberger nicht nur der Grösse wegen ein Vorzeigefall: «Das Grün war da, bevor die ersten Bewohner eingezogen sind.» Die Akzeptanz einer baulichen Verdichtung wird auf jeden Fall erhöht, wenn zusätzliche Freiräume ebenso fix entstehen.

Die Krux beim Städtebau ist: Die öffentliche Infrastruktur hinkt der realen Entwicklung oft hinterher. Daher sind Vorleistungen gefragt, wofür ein kommunaler Planungsträger jedoch gewisse Risiken in Kauf zu nehmen hat. Der Mehrwertabgabefonds ist ein Instrument, das nicht nur eine nachträgliche, sondern auch eine vorsorgliche Aufwertung des Aussenraums ermöglichen kann. Der Bedarf ist auch im bestehenden Umfeld nachgewiesen. Immer häufiger stellt die Wohnbevölkerung eigene Begehren: «Quartiervereine und Anwohner erhalten ebenfalls eine Unterstützung aus dem Grünfonds, sofern deren Projekte die Kriterien der Zweckbindung erfüllen», so Dannenberger. Kinderspielplätze, Pocket-Parks, BMX-Parcours oder ein Naturschutzteich gehören deshalb auch zum Spektrum der aus dem Grünfonds finanzierten Aufwertungsmassnahmen.

Ein selbst drehender Verdichtungszyklus

Ebendieser Bedarf an städtebaulicher Kompensation hat in den 1970er-Jahren die Basler Mehrwertabgabe hervorgebracht. Anlass war eine Quartierplanung in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof SBB. Beabsichtigt war der Umbau des Gebiets rund um die Gartenstrasse zum zentrumsnahen Geschäftsviertel, ergänzt mit qualitativ hochstehender Wohnlage. Einerseits wurde eine kompakte und dichte Bebauungsstruktur (Ausnützungsziffer: 2.5) angestrebt; andererseits sollte der bestehende Rosenfeldpark zur grünen Zentralachse erweitert werden. Das Verdichtungsvorhaben in diesem Quartier stiess damals auf öffentlichen Widerstand, und weil auch die Nachfrage nach Büroflächen sank, konnte die Planungsidee nie vollständig verwirklicht werden. Einzig die Basler Versicherung baute hier den Geschäftssitz und hatte dafür eine Mehrwertabgabe zu entrichten. Die Parkerweiterung wurde dagegen fallen gelassen.

Am selben Standort, am Aeschengraben, geht der Verdichtungszyklus nun in die nächste Runde: Die Versicherungszentrale wird durch den «Bâloise Park» ersetzt. Den Hochhauskomplex realisieren Architekturgrössen wie Diener & Diener, Valerio Olgiati und Miller & Maranta. Auch dieser Bebauungsplan ist mit einem Ausgleichsmodell versehen. Die Stadtgärtnerei will die Abgabe in den Grünfonds von rund 6 Mio. Fr. teilweise vor Ort reinvestieren.

Eine Kehrseite hat das Allerheilmittel gegen das Zubauen auch: Die Finanzen fliessen nur, wenn gebaut wird. Die Ausgleichserträge sind mittelfristig schlecht planbar. Zudem darf nur Neues erstellt werden. Unterhalt und Pflege der Grünanlagen sind Teil des ordentlichen Budgets, betont Christiane Dannenberger.

Basler Modell findet kaum Nachahmer

Basel baut und Basel investiert in öffentlichen, urbanen Grünraum. Die am dichtesten besiedelte Stadt der Deutschschweiz macht seit 40 Jahren vor, was nun für alle Gemeinden eine Verpflichtung in der weiteren Siedlungsentwicklung ist: die Planungsmehrwerte privater Investoren abzuschöpfen. Fast die Hälfte der Kantone hat bereits eigene Regeln eingeführt; das Basler Erfolgsmodell findet jedoch fast keine Nachahmer. Schweizweit begnügt man sich mehrheitlich mit dem gesetzlichen Minimum: ein Abgabesatz von 20 %, wobei das Bundesgericht bis 60 % als rechtmässig erachtet.

Viele Kantone scheuen sich zudem, den Verwendungszweck allzu sehr zu definieren. Mit wenigen Ausnahmen wird die offizielle, aber nichtssagende Sprachregelung «raumplanerische Massnahmen» übernommen. Für Kantone mit einem Übermass an Bauzonen gehört jedoch deren Redimensionierung in die Pendenzenliste. Das Geld aus der Mehrwertabgabe soll prinzipiell für Entschädigungen verwendet werden, auf die ein Grundeigentümer bei Rückzonung prinzipiell Anspruch erhält.

Basel baut und Basel verdichtet. Allerdings ist absehbar, dass Basel demnächst zanken wird. Die laufende Gesetzesrevision stösst auf Kritik: Wirtschaftsnahe Kreise stören sich daran, dass der Abgabesatz von 50 % das nationale Mittel deutlich übertrifft und daher zu einem Standortnachteil werden könnte. Ebenso umstritten sind Ideen der Behörde, die bisherige Zweckbindung zu lockern. Befürchtet wird, dass sich das Geld für bisherige Aufwertungsprojekte verknappt. Die Regierung will noch in diesem Jahr einen Kompromiss präsen­tieren. Zu hoffen ist, dass Basel der übrigen Schweiz weiterhin beweisen darf, wie Siedlungsentwicklung nach innen am besten gelingt.

TEC21, Fr., 2018.04.27



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TEC21 2018|17 Ein Weg zur Dichte: der Mehrwertausgleich

27. April 2018Paul Knüsel
TEC21

Die Bieler Baulandrochade

Biel hat seit letztem Jahr ein Reglement für den Mehrwertausgleich. Bereits davor gelang es der Planungsbehörde, mit Grundeigentümern die Aufwertung eines Siedlungsraums einvernehmlich zu vereinbaren.

Biel hat seit letztem Jahr ein Reglement für den Mehrwertausgleich. Bereits davor gelang es der Planungsbehörde, mit Grundeigentümern die Aufwertung eines Siedlungsraums einvernehmlich zu vereinbaren.

Biel baut und Biel wächst, so wie fast alle anderen Städte. Die Bevölkerungszahl steigt jährlich um rund 1 %, was genau dem Mittel der urbanen Schweiz entspricht. Dazu macht Biel, was andere ebenso sollten: sich im Innern verdichten. Und vor allem hat die Uhrenstadt etwas, was andere Städte ebenfalls gern möchten: eigenes Bauland, das zum wichtigen Pfand für eine qualitativ hochstehende, urbane Entwicklung geworden ist.

Nicht zuletzt darum kann, was im Wohnquartier Biel-Mett realisiert wird, den Neid aussenstehender Siedlungsplaner und Urbanisten wecken. Auf einer knapp 7 ha grossen Brache, direkt neben dem Güterbahnhof, ist es gelungen, unterschiedlichste, private und öffentliche Anliegen flächenschonend, grosszügig und hochwertig unterzubringen. Die westliche Arealhälfte gehört dem Uhrenkonzern Swatch, der hier bis im Herbst seine repräsentative Firmenzentrale, das schlangenförmige Holzgebäude des japanischen Ar­chitekten Shigeru Ban, fertigstellt. Im Osten folgt der «Jardin de Paradis»; seit letzten Sommer wohnen über 500 Personen in dieser urbanen Neubausiedlung (kpa architectes Freiburg). Der eigentliche Garten liegt im Süden: Ein grosszügiger, öffentlicher Park (Fontana Landschaftsarchitektur) rundet den Entwicklungsraum, knapp ausserhalb des Stadtzentrums von Biel, ab.

Der Standort markiert einen städtebaulichen Übergang; hier grenzen die Uhrenwerke an ein locker bebautes Wohngebiet. Bis vor Kurzem belegten eine Grossgärtnerei sowie Fussball- und Tennisfelder das offene Gurzelengelände. Nun drängen sich voluminöse Baukörper bis an die erste Reihe des für Biels Westen typischen Ein- und Mehrfamilienhausquartiers.

Die bauliche Verdichtung wird jedoch mit ausreichendem Ausgleich realisiert. Direkt daneben ist nämlich ein Park entstanden, «eine grüne Lunge für die Stadtbevölkerung». Die Schüssinsel nimmt fast einen Drittel des Neubauareals ein. «Die Idee existierte von Anfang an; der Entwicklungsschwerpunkt benötigt grosszügigen Freiraum», sagt Florence Schmoll, Abteilungsleiterin der Stadtplanung Biel.

Mehrfach ausgezeichneter Stadtpark

Das neue Naherholungsgebiet ist eine künstliche Insel, die sich mit naturnahem Charakter dem Lauf der Schüss entlang zieht. Schon wenige Tage nach Eröffnung im letzten Sommer war der Standort gut besucht. Und auch die Fachwelt war unmittelbar davon angetan: Der lang gezogene Inselpark erhielt letztes Jahr den goldenen Hasen für die schönste Landschaftsarchitektur sowie den Flâneur d’Or für die attraktivste Fussverkehrsverbindung in der Schweiz. Gäbe es eine Auszeichnung für die cleverste Städteplanung, die Bieler Stadtinsel wäre auch dafür aussichtsreiche Kandidatin.

Der offizielle Startschuss fiel vor zehn Jahren, als die Bevölkerung ihre Zustimmung für ein kompliziertes, aber profitables Liegenschaftsgeschäft gab. Zuvor sass die Stadtbehörde mit zwei weiteren Grundeigentümern am Verhandlungstisch: Der erste war der Uhrenkonzern, der für die Erweiterung des Produktionsareals warb, der zweite ein institutioneller Investor, der die ehemalige Gärtnerei überbauen wollte. Und die Stadt selbst war Eigentümerin der Sportanlagen, die in der Folge zum wichtigsten Pfand im Entwicklungspoker wurden. Alle Parteien besassen zu Beginn fast identisch grosse Parzellen von jeweils 3 ha Fläche, aber mit unterschiedlicher Baureserve. In der Folge sprachen sich die Verhandlungspartner so lang untereinander ab, bis eine zweifache Grundstückrochade die individuellen Ansprüche «im gegenseitigen Einverständnis» unter einen Hut bringen konnte, bestätigt Schmoll.

Trotz weniger Fläche sind alle zufrieden

Die Kohärenz der Interessen schaffte eigentlich Unmögliches: Der interne Grundstückhandel brachte nur Gewinner hervor. Swatch erwarb 2 ha Land dazu, als Standort für den Prunkbau aus Holz. Die Anlagestiftung gab sich mit kleinerer Fläche zufrieden, durfte aber darauf höher und dichter bauen. Die Stadt Biel gab ebenfalls einen Drittel der Fläche ab und war am Schluss auch damit mehr als zufrieden: Der öffentliche Haupt­erlös aus dem Abtauschgeschäft lag bei rund 17 Mio. Franken, wobei damit der Ersatz der Sportanlagen am westlichen Stadtrand finanziert werden konnte.

Damit der finanziellen und sachlichen Gegenleistung aber nicht genug: Das Ausgleichspaket umfasste substanzielle Vereinbarungen mit beiden Landeigentümern. Der Uhrenkonzern gestattet einen öffentlichen Uferweg auf der eigenen Parzelle. Der Wohninvestor wiederum bezahlte der Stadt Biel eine Mehrwertabgabe von 1 Mio. Franken. Zwar reicht dieser Zustupf bei Weitem nicht aus. Das Budget für den Park lag bei 14 Mio. Franken. Da es jedoch gelang, weiteres Geld aufzutreiben, etwa für die Verbesserung des Hochwasserschutzes, konnte die Schüssinsel in dieser Form rea­li­siert werden. Neben Verhandlungsgeschick und pla­ne­rischer Weitsicht der Stadt ist dies dem kreativen Wage­mut der Landschaftsarchitekten und dem interdisziplinären Engagement kantonaler Amtsstellen zu verdanken.

Ein Auge auf den Entwicklungsraum hatte die Behörde bereits 1999 geworfen, obwohl dieser noch in drei Einzelparzellen unterteilt war. Die damalige Änderung des kommunalen Zonenplans spurte die baurechtlichen Rahmenbedingungen für die nun vollzogene Arrondierung vor. Unter anderem ist die städtische Liegenschaft, die im Wesentlichen das ehemalige Gärtnereiareal umfassste, als öffentliche Nutzungszone festgesetzt worden. 2008 folgte ein städtebaulicher Studienwettbewerb, der den ersten Teil des Gesamt­areals umfasste; das Bieler Büro :mlzd Architekten siegte mit einem Vorschlag, der erstmals die Idee von mehreren kleinen Parkinseln skizzierte, aber den Planungsperimeter sprengte. Für das Gesamtprojekt war die Ausweitung der Grenzen jedoch ein Gewinn, sodass die weitere Planung angepasst wurde.

In der landschaftsarchitektonischen ­Über­arbeitung war zusätzlich der Hochwasserschutz zu berücksichtigen. Die drei auf dem Plan entworfenen Inseln hängte man tatsächlich zu einer einzigen zusammen; das Gelände wurde zudem so weit erhöht, dass die Insel selbst zum Damm wird. Und schliesslich konnte auch die Archäologie als letzte Hürde gemeistert werden: Man war auf prähistorische Funde aus der Bronze- und Römerzeit gestossen, weshalb ein kurzzeitiger Projektstopp in Kauf zu nehmen war.

Zusatzansprüche geschickt integriert

Die Schüssinsel bietet nun mitten in der Uhrenstadt einen Raum für Mensch und Natur. Die Gestaltung schliesst möglichst wenig aus und versucht, anfänglich gegensätzliche Zusatzansprüche zu integrieren. Der positive Effekt dabei ist: Das Projektbudget konnte auf verschiedene Kassen aufgeteilt werden. Für die Flussrevitalisierung haben Bund, Kanton und der Ökofonds des regionalen Energieversorgers rund 80 % der Kosten übernommen. Die Fuss- und Radwege wurden als Bestandteil des Agglomerationsprogramms von Bund und Kanton mitbezahlt. Die Stadt Biel musste nur knapp die Hälfte des Budgets selbst finanzieren; dank Mehrwertabgabe und Landerlös war auch dies beinahe ein Nullsummenspiel.

Biel hat, was andere gern hätten: viel eigenes Land. Ein Viertel der Gemeindefläche sind Eigentum der Stadt. Entsprechend aktiv und umfassend lässt sich die eigene räumliche Entwicklung beeinflussen. Aber demnächst haben die anderen Schweizer Städte, worüber Biel seit zwei Jahren verfügt: die Mehrwert­abgabe zum Ausgleich der internen Siedlungsverdichtung. Die Stadt im Seeland hat 2016 eine Richtlinie eingeführt, wonach 40 % des Planungsmehrwerts einge­fordert werden dürfen. Die Gurzelen fiel jedoch unter ein früheres Ausgleichsregime, mit dem der Kanton Bern seinen Gemeinden mehr Flexibilität zugestanden hatte. Damals wurde weniger Geld eingenommen. Umso willkommener ist nun die verbindliche, erhöhte Abgaberegel. Als wichtige Hilfestellung wird sie von der Planungsbehörden sowieso empfunden. Florence Schmoll hält ein solches Förderinstrument für öffentliche Räume sogar für unerlässlich: «Der Bedarf in wachsenden Städten nimmt zu; ohne zusätzliche Mittel aus dieser Spezialfinanzierung kann die Qualität der baulichen Entwicklung nicht erhöht werden.» Deshalb ist nicht nur für Biel zu hoffen, dass Ausgleichsvorhaben wie die Schüssinsel weiterhin Raum finden und derart gut gelingen.

TEC21, Fr., 2018.04.27



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TEC21 2018|17 Ein Weg zur Dichte: der Mehrwertausgleich

12. Januar 2018Paul Knüsel
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Ein Zacken mehr auf der Bergkrone

Die Reaktivierung des Bürgenstocks bedarf einer gewaltigen und ­risikoreichen Investition. Damit das neu dimensionierte Luxusresort weiterhin in die Landschaft passt, hat sich der Standortkanton Nidwalden um planerische und gestalterische Leitplanken bemüht.

Die Reaktivierung des Bürgenstocks bedarf einer gewaltigen und ­risikoreichen Investition. Damit das neu dimensionierte Luxusresort weiterhin in die Landschaft passt, hat sich der Standortkanton Nidwalden um planerische und gestalterische Leitplanken bemüht.

Viele Wege führen auf den Bürgenstock; fast nach Belieben sind auch Gefährt, Preisklasse oder Erlebniswert wählbar. Exklusiv und schnell geht es durch die Luft. Vor dem Historic-Hotel Honegg im Osten der Halbinsel wartet der offizielle Helikopterlandeplatz. Kurvenreich und häufig verstopft ist die Budgetvariante mit Pkw, Reisecar oder Postauto. Die 5 km lange Bürgenstockstrasse ab Stansstad endet aber direkt vor dem Eingangstor zum Wellness-Resort. Idyllisch, geruhsam und wie vor hundert Jahren reist man dagegen über den Vierwaldstättersee an: von Luzern nach Kehrsiten mit einem Kursschiff und von dort mit der Standseilbahn fast direkt an die Hotelrezeption.

Auch nach dem Grossumbau ist das Bürgenstock Resort öffentlich zugänglich. Und obwohl nun ein diversifiziertes Unterkunfts-, Residenz- und Erholungsangebot zusätzliche Gäste, Ausflügler und Teilzeitbewohner auf den Nidwaldner Hügelzug locken soll, ist die Erschliessung mit Ausnahme des abgehobenen Anflugs auf bereits vorhandenen Pfaden gebündelt. Mit höheren Frequenzen ist zu rechnen, denn nicht nur das Resort selbst, auch die landschaftliche Umgebung ist äusserst attraktiv. Die Insellage im Grünen, der unverbaubare Blick auf die innerschweizerische Seen- und Alpenlandschaft sowie die Inszenierung eines Hoteldorfs sind die lokalen Vorzüge, die der Bürgenstock seit jeher geschickt kombiniert.

Vor 150 Jahren begann die touristische Eroberung im Umfeld der populären Feriendestination Luzern. Im Sommer 1873 wurde ein Kurhaus auf der «Alp Tritt» oberhalb von Stansstad gebaut. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts wurde daraus das Grand Hotel; bald krönten zwei weitere Belle-Epoque-Bauten den Bürgenstock (vgl. Kasten unten «Von der Belle Epoque in die touristische Neuzeit»). Die dreifach gezackte Krone auf dem Berggrat wurde im Lauf der Jahrzehnte zum Erkennungsmerkmal. Beim Blick über das Luzerner Seebecken auf das Alpenpanorama ist der Hotelberg besonders gut sichtbar.

Schonende und kohärente Einbettung

Das Resort erstreckt sich über 1.2 km der Hügelkrete entlang und umfasst eine dorfähnliche Bebauung mit drei Dutzend kleinen und grossen Gebäuden, von der Wetterstation über den Boutiquenpavillon bis zum Wellness-Komplex. Intern wurde die Nutzung verdichtet und räumlich umorganisiert: Hotellerie an der Hauptachse; Ferien- und Eigentumswohnungen an der Peripherie. Gleichzeitig ist die nutzbare, bebaute Fläche um das Sechsfache gestiegen. Die Weiterentwicklung der sechs Hektar grossen Erholungszone ist raumplanerisch koordiniert und im kantonalen Richtplan ausdrücklich erlaubt.

Da die steile Halbinsel zwischen Rigi und Pilatus aber mitten in einer Landschaft von nationaler Bedeutung liegt (BLN-Objekt Nr. 1606 «Vierwaldstättersee mit Kernwald, Bürgenstock und Rigi»), sind auch kleinste Veränderungen im Orts- und Landschaftsbild zu beachten. Die insgesamt acht Ersatz- und Ergänzungsbauwerke für das neue Resort wurden sowohl denkmalpflegerisch (vgl. «Alt und Neu, Gross und Klein im Wechselspiel») als auch hinsichtlich des Natur- und Landschaftsschutzes eingehend begutachtet. Der Kanton Nidwalden und die Standortgemeinden Stansstad und Ennetbürgen haben dazu ein Regelwerk entworfen[1], damit das Gebaute die landschaftliche Umgebung nicht stärker als bisher dominiert.

Zum einen präzisieren der vorgängig erstellte Gestaltungsplan und die ergänzenden Sonderbauvorschriften, wie die einzelnen baulichen Eingriffe landschaftsschonend einzubetten sind. Zum anderen bemühte sich die Behörde darum, einer Zerstückelung des Ensembles und des gestalterischen Zusammenhangs zwischen Promenade, Hotelpark und Aussenraum entgegenzutreten. Wesentlich ist auch, dass der kurz vor dem Abschluss stehende Ausbau fast vollständig auf bereits überbauten Parzellen stattfindet und das Gesamtareal räumlich nur geringfügig erweitert wurde.

Die von Norden gut einsehbare Silhouette hat sich dennoch verändert; die vertraute Krone hat einen Zacken zugelegt: Das Bürgenstock Hotel mit Bahnstation im Sockel und SpaBereich daneben markiert nun die neue Mitte. Etwas unterhalb haben drei massige Baukörper, Wohnresidenzen mit Blick auf den Vierwaldstättersee (Stücheli Architekten), drei kleinere Baukörper ersetzt.

Die Neubauten im Wahrnehmungsfeld der exponierten Krete haben jedoch strenge geometrische und gestalterische Regeln einzuhalten: Höhe und Breite waren definiert. Und auch Materialisierung, Struktur und Farbe wurden für jede Aussichtsfassade eingehend programmiert, damit das Neue nicht blendet, sondern die klassizistische Historie respektiert. Eine ad hoc gebildete Ortsbildkommission besuchte mit Architekturteams sogar Steinbrüche, um die bestverträgliche Erscheinung für den Blick aus der Ferne zu bestimmen. Die Wahl fiel auf dunklen Naturstein, der dem ortstypischen Schrattenkalk ähnlich ist und nicht mit der hellen Oberfläche der Gründerbauten konkurriert.

Das Waldhotel (Architektur: Matteo Thun) am Südhang soll sich dereinst mit begrünter Hauptfront in die bewaldete Umgebung einbetten. Das Hotel wird Anfang 2018 eröffnet.

Fühler in die Landschaft

Der landschaftliche Charakter am Bürgenstock ist eine kleinräumige Kombination aus gebauter Tourismusinfrastruktur und naturnaher Kulisse. Nordwestlich fallen die Flanken steil zum Vierwaldstättersee ab; das karstige Waldreservat ist nur auf wenigen Pfaden begehbar. Mittendurch führen die Standseilbahn und eine Druckwasserleitung für die Energieversorgung (vgl. «Aus Hotel- werden Energiepioniere»); Letztere ist nach der Erneuerung grün angestrichen worden, um das Landschaftsbild auch hier zu schonen. Im Süden und Osten grenzt das Resort an eine landwirtschaftlich genutzte Mulde und an ein Naherholungs- und Wandergebiet. Bereits die früheren Hotelbesitzer streckten die Fühler hierhin aus: Felsenweg und Hammetschwand-Lift (vgl. «Fachwerk vor Steilwand») laden zum spektakulären Flanieren über dem See. In Fussdistanz liegen Golfplatz und Hotel Honegg, die gemäss den Erfordernissen einer Luxusdestination dezent ausgebaut worden sind.

Der Erholungs-, Ausflugs- und Residenzstandort ist aber nicht nur Aussichtsbühne für den Blick in die Alpen. Die Promenade will den Gästen aus aller Welt auch kleinräumig eine wohlgeordnete, wirkungsvoll inszenierte, alpine Atmosphäre vermitteln. Der jüngsten Reaktivierung sind zwar Laubengänge und Parkflächen zum Opfer gefallen. Im Gegenzug sind jedoch andere Attraktionen wie eine Hängebrücke oder die Verkehrsberuhigung der Promenade geschaffen worden.

Die Kantonsbehörde gab nicht nur für die Hotelbauten, sondern auch den Landschaftsarchitekten einen verbindlichen übergeordneten Gestaltungsraster vor. Dieser beruht auf Bestandsaufnahmen, die 2008 in Angriff genommen worden sind. Damals wurde der historische, dramaturgisch aufgebaute Landschaftspark inventarisiert und ein Pflegekonzept formuliert. Die Fachstellen haben diese Grundlagen nun dazu genutzt, die Anlage als ein zusammenhängendes Ganzes zu wahren und die aufparzellierten Bebauungsprojekte gestalterisch miteinander zu verbinden. «Das Fünf-Sterne-Resort verdient einen ebenso hochwertigen Aussenraum», sagt Felix Omlin, Leiter der Natur- und Landschaftsschutzfachstelle Nidwalden.

Bäume und Felsen als Standortmerkmale

Zwar sind schützenswerte Naturelemente und Biotope spärlich vertreten. Zur Verbesserung der Standortökologie wurde mit den Hotelgärtnern aber vereinbart, eine blumenreiche Trockenwiese anzulegen sowie wuchernde, invasive Neophyten rund um die Hotels zu vernichten. Derweil galt es, typische Flanier- und Parkelemente vor einem undifferenzierten Redesign zu retten. Lärchen, Zedern, Schwarzföhren und Blutbuchen sind an sich standortfremd; die teilweise über 100 Jahre alten Bäume bleiben aber, ebenso wie einzelne Felsblöcke, als Zeugen der historischen Parkanlage weiterhin sichtbar.

Besonders die Geologie, ein Mix aus schroffen Abbruchstellen und geschliffenen Felsplatten mit hellem bis dunklem Kalk, trägt viel zur alpinen Lokalszenerie bei. Die meisten Neubauten sind deshalb thematisch passend mit Natursteinfassaden eingekleidet. Auch zur Hangsicherung und Abdeckung von Stützmauern wurde lokales Ausbruchmaterial verwendet.

Ein zusätzliches Anliegen in der Gestaltungsbegleitung war, Baumgruppen und Sträucher direkt neben den Grossbauten stehen zu lassen. Zwar schränken sie die Aussicht der Hotelgäste ein; sie sind aber Teil des charakteristischen Landschaftsbilds und wirken als eine naturnahe, halboffene Trennlinie am Siedlungsrand. Dahinter verbirgt sich auch die neue Servicestrasse. Noch eine klaffende Leerstelle ist dagegen der Platz unterhalb des Parkhotels; das darin vorgesehene Kongresszentrum wird vorerst nicht gebaut.

Kritik der Heimatschutzkommission

Die baulichen Veränderungen, die landschaftliche Einbettung und das planerische Vorgehen werden als schonend und angemessen anerkannt. Weder ist die übergeordnete Vorarbeit der Ämter und Gemeinden auf grundsätzliche Opposition gestossen, noch haben einzelne Baugesuche Einsprachen provoziert. Die Verhandlung zwischen Investoren und Behörde begannen vor rund zehn Jahren; während des Planungsverfahrens wechselte die Eigentümerschaft. Lokale und nationale Schutzorganisationen wurden vom neuen Besitzer frühzeitig informiert und regelmässig zu Aussprachen eingeladen.

Im Nachgang loben Hotelbetreiber, Behörde und Landschaftsschutzkreise den offenen Dialog. Öffentliche Kritik äusserte zwischenzeitlich die eidgenössische Natur- und Heimatschutzkommission (ENHK). Sie war nicht immer aus erster Hand informiert und beklagte sich bei der Nidwaldner Kantonsregierung, ihre Empfehlungen würden ignoriert. Unter anderem wollte die ENHK die Tennisplätze erhalten und Eingriffe in historische Hotelbauten einschränken.

Dass der Investor das Vorhaben möglichst als Ganzes realisieren wollte, bezeichnet Natur- und Landschaftsschutz-Fachstellenleiter Omlin eher als Vorteil, weil die gestalterischen Qualitäten so einfacher optimiert und vereinheitlicht werden können. Allerdings stieg dadurch das Abhängigkeitsrisiko: Hätte sich der Geldgeber aufgrund einer globalen Finanzkrise zurückgezogen, wären brachiale Spuren in der Landschaft sichtbar geblieben. Über Monate war der Bürgenstock eine riesige Baustelle mit abgeräumten Hotels und tiefen Löchern im Fels. Der Kanton empfahl den Gemeinden daher, eine Bürgschaft einzufordern.

Nun ist aber der Plan aufgegangen und das mondäne Hoteldorf erneuert auferstanden. Als landschaftsverträglich darf dabei bezeichnet werden, dass sich selbst die Neubauten nicht allzusehr und, wenn überhaupt, nur aus der Nähe in den Vordergrund drängen. Dass die bestehenden Baugrenzen belassen wurden und eine Verdichtung nach innen bevorzugt wurde, trägt ebenso viel zur entspannten Wirkung des Bürgenstock Resorts auf die landschaftliche Umgebung bei.


Anmerkungen:
[01] Umweltverträglichkeitsbericht zum Gestaltungsplanverfahren (Gebietsabschnitte II und III); Kt. Nidwalden, Gden. Stansstad, Ennetbürgen 2013.

TEC21, Fr., 2018.01.12



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22. Dezember 2017Paul Knüsel
TEC21

«Ein Meister darf Normen brechen»

Für den deutschen Architekten und Ingenieur Werner Sobek sind Häuser nicht bloss autonome Systeme. Er macht sich ebenso Gedanken über die wahrnehmbaren Qualitäten und über den zu hohen Materialaufwand.

Für den deutschen Architekten und Ingenieur Werner Sobek sind Häuser nicht bloss autonome Systeme. Er macht sich ebenso Gedanken über die wahrnehmbaren Qualitäten und über den zu hohen Materialaufwand.

Der Gründer der Werner Sobek Group, eines Verbunds von Planungsbüros für Architektur, Tragwerksplanung, Fassadenplanung, Nachhaltigkeitsberatung und Design, trat am Gebäudetechnik-Kongress in Luzern auf. Sein Referat war ein Plädoyer dafür, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Bis heute werden weltweit derart hohe Materialmengen verbaut, dass einige endliche Ressourcenreservoirs zu versiegen drohen. Dennoch sind die Weichen weiterhin auf Wachstum gestellt: Die Weltbevölkerung wächst, und Entwicklungsländer pochen auf einen Lebensstandard, gleichberechtigt demjenigen einer industrialisierten Region. Im folgenden Gespräch erläutert Werner Sobek, wie die am Bau beteiligten Fachpersonen Gegensteuer geben können.


TEC21: Herr Sobek, was gehört zu den Grundvoraussetzungen für das Bauen von morgen?
Werner Sobek: Wenn wir weiter bauen wie bisher, verschärfen wir das globale Ressourcenproblem enorm. Der Nettozuwachs der Weltbevölkerung liegt bei 2.6 Menschen pro Sekunde. Wollten wir jedem dieser neuen Erdenbürger eine gebaute Umwelt nach deutschem Standard bieten, müssten wir pro Sekunde weltweit 1300 t Baumaterial extrahieren, verarbeiten und verbauen. In Deutschland ist das verbaute Materiallager, das sich aus Gebäude und öffentlicher Infrastruktur zusammensetzt, auf eine Menge von 490 t pro Kopf angewachsen. Früher oder später wird das zu Abfall. Dabei haben wir heute schon damit ein Problem. Setzen wir nicht mehr Recyclingmaterial ein, gehen die Baustoffe aus. Laut offiziellen Prognosen werden Kupfer, Zink oder Zinn bereits im nächsten Jahrzehnt knapp. Das hat uns beim Bauen heute viel mehr zu denken zu geben. Darum müssen wir mit weniger Material für mehr Menschen bauen.

TEC21: Ihre Analyse trifft nicht nur für Deutschland zu. Die Stoffflussbilanz beim Bauen widerspricht ­weltweit und regional dem Kreislaufprinzip. Aber wie geht der Architekt damit um? Sie selbst beschäftigen sich vor allem mit Leichtbau. Wie vereinbar ist dieses Bauprinzip mit dem angesprochenen Ressourcenproblem?
Werner Sobek: Das Vorteilhafte am Leichtbau ist die deut­liche Reduktion des Materialaufwands. Häufig wird Leichtbau allerdings mit Verbundwerkstoffen wie kohlefaserverstärkten Epoxidharzen und ähnlichem assoziiert. Dies entspricht nicht unserem Anliegen, denn je stärker unterschiedliche Materialien miteinander verbunden sind, desto schwerer können sie wieder in den Stoffkreislauf zurückgeführt werden.

TEC21: Wie kann man solche Probleme umgehen?
Werner Sobek: Der Leichtbau ist eine zukunftsgerichtete Technologie, die dringend weitere Verbreitung erfahren muss. Wichtig ist hierbei allerdings, dass wir den Leichtbau immer zusammen mit dem Gedanken des recyclinggerechten Bauens denken. Verbundwerkstoffe sollten also nur dann eingesetzt werden, wenn es eine nachgewiesene Möglichkeit gibt, sie am Ende des Lebenszyklus ressourcengerecht in den Stoffkreislauf zurückzuführen. Am Gebäude selbst geht es um eine deutliche Reduktion der Masse, die perfekte Beherrschung von einfachen Geometrien und eine Homo­genisierung der strukturellen Beanspruchung.

TEC21: Sie sind an einem Projekt am Empa NEST beteiligt, das sich mit Baustoffrecycling und Urban Mining beschäftigt. Worum geht es da?
Werner Sobek: Zusammen mit Dirk Hebel, vormals an der ETH-Architekturabteilung und nun am Karlsruher Institut für Technologie tätig, bauen wir ein Wohnmodul, das mit minimalem Material- und Energie­einsatz auskommt. Im Mittelpunkt stand bei der Planung immer die Frage, wie die einzelnen Materialien so miteinander verbunden werden können, dass sie allen bauphysikalischen Anforderungen entsprechen, aber dennoch sehr leicht sortenrein zurückgebaut werden können. Die eingesetzten Materialien stammen zu einem grossen Teil aus Recyclingprozessen; und sämtliche Bauteile können zu 100 % in technische oder biologische Kreisläufe zurückgeführt werden.

TEC21: Welche Wertstoffe verwenden Sie?
Werner Sobek: Wir benutzen beispielsweise Kupferbleche, die bereits einen Kirchturm geschützt haben oder als Fassade einer Shoppingmall eingesetzt worden sind. Wir nehmen diese Teile, schneiden sie neu zu und bauen daraus die Frontseite. Dabei achten wir darauf, dass die Verschnittanteile möglichst gering bleiben.

TEC21: Am Kongress forderten Sie das Publikum, mehrheitlich Gebäudetechniker und wenige Architekten, auf, nachhaltige Gebäude zu entwerfen. Allerdings gebe es dazu keine bewährten Rezepte. Vielmehr hätten die Fachleute weitgehend unbekanntes Land zu erforschen. Wo liegt die Terra incognita im Bauwesen?
Werner Sobek: Dass wir für mehr Menschen mit weniger Material bauen sollten, habe ich schon erwähnt. Wie genau dies geschieht, hängt stark vom lokalen und regionalen Kontext ab. Wir müssen dazu das Problem genauer analysieren. Das Bauen selbst muss sich verändern, um inter- und transdisziplinäres Denken in die Planungsarbeit und die Kommunikation aufzunehmen. Im Bauwesen sind viele Disziplinen beteiligt. Häufig genug bringen sie aber kein gegenseitiges Verständnis füreinander auf, haben keine gemeinsame Sprache, keine gemeinsamen Wertvorstellungen. Anstatt sich gemeinsame Ziele zu geben, werden die Friktionen aus ökonomischen oder rechtlichen Gründen teilweise sogar verstärkt. Viele Hochschulen zementieren diese Probleme geradezu, indem sie ihre Ausbildung immer noch streng disziplinär einordnen. Interdisziplinarität wird kaum gefördert.

TEC21: Wo beginnt die Zusammenarbeit unter den Disziplinen?
Werner Sobek: Man muss sich klarmachen: Ein Gebäude ist Teil einer Umgebung und selbst ein komplexes System aus Tragwerk, Fassade, Heizung, Lüftung, Sanitär und Kommunikation. Diese Teilsysteme sind von unterschiedlicher Lebensdauer und unterschiedlicher Materialität; sie bestehen aus unterschiedlichen Technologien und verfügen über unterschiedliche Toleranzen. Und sie werden von verschiedenen Leuten geplant. In Umbauphasen oder am sogenannten End-of-Life-Punkt, bevor ein Gebäude zu Abfall wird, spitzt sich dies konzeptionell zu: Die Komponenten müssen ersetz- und austauschbar oder so aus dem Gebäude entnehmbar sein, damit sie einem perfekten Recyclingprozess zugeführt werden können. Ziel muss ein ressourcenschonendes Haus sein, das hinsichtlich seiner technischen Komposition – und nur so verstehe ich das – einer Maschine vergleichbar einfach zusammen- und auseinandergebaut werden kann. So weit sind wir im Bauwesen noch lang nicht.

TEC21: Sie sind selber Ingenieur und Architekt und kennen sich daher in mindestens zwei Disziplinen aus. Fühlen Sie sich selbst dazu gezwungen, die Rolle je nach Anspruch gegeneinander auszuspielen?
Werner Sobek: Nein, diese beiden Fachdisziplinen kann man gut miteinander vereinen. Man darf aber nicht davon ausgehen, dass ein Einzelner alles kann. Es gibt Kollegen, die planen heute ein Krankenhaus und morgen eine Oper und übermorgen eine Wohnanlage. Doch die Ansprüche für jedes einzelne Objekt haben sich in der Vergangenheit immer mehr ausdifferenziert, sind äusserst komplex geworden; auch das Nutzerempfinden wird anspruchsvoller. Und was die technischen und umweltrelevanten Anforderungen betrifft, lässt sich vieles nicht einmal mehr im kleinen Team bewältigen. Das Denken wird sich auch hier verändern müssen: Der grosse Baumeister, der sich als Dirigent versteht und von allem ein bisschen, aber eigentlich nichts richtig weiss, ist nicht mehr gefragt.

TEC21: Ein weiteres Anliegen neben der Reduktion des Materialaufwands und der grauen Energie ist die klimafreundlichere Energiebilanz von Gebäuden. Sie haben vor drei Jahren ein Aktivhaus als Prototyp realisiert. Es handelt sich um ein Einfami­lienhaus, das selbst mehr Energie erzeugt, als es verbraucht. Und es steht an einem prominenten Ort, in der Weissenhofsiedlung in Stuttgart. Welche Absicht steckt dahinter, diese Umgebung mit einer solchen Art Energiemotor zu ergänzen?
Werner Sobek: Ich will Gebäude entwerfen, die mehr tun als nur rechtliche Vorgaben zum Energiesparen einhalten. Warum soll ein Haus überhaupt Energie einsparen? Die Sonne strahlt zehntausend Mal mehr Energie auf die Erde, als die Menschen für alle ihre Funktiona­litäten benötigen. Erneuerbare Energien lassen sich auch aus anderen völlig ungefährlichen Quellen be­ziehen. Damit meine ich: Die alleinige Fokussierung auf das Energiesparen ist eine schwere Irreführung der Bevölkerung. Anstatt ein Wärmedämm­verbundsystem an die Hauswand zu kleben, könnte man ja auch eine Photovoltaikanlage auf das Dach und eine Batterie in den Keller stellen. So vermeidet man die Produktion von Sondermüll und reduziert seine Emissionen noch besser, als dies mit einem Wärmedämmverbundsystem allein möglich ist.

TEC21: Alte Gebäude sind aber als Energieschleudern in Verruf geraten. Nun will man es besser machen und verwendet neue Bautechnologien. Was macht dies aus der Baukultur?
Werner Sobek: Ein solches Bewertungsraster akzeptiere ich nur bedingt; ich selbst spreche lieber nicht von guten oder schlechten Gebäuden, auch nicht im ausschliesslich technischen Sinn. Jedes Objekt hat seine Zeit. Anstatt die Gebäude zu klassifizieren und dann mit umständlichen, häufig genug sinnlosen Massnahmen zu überziehen, plädiere ich für eine Aufhebung der Systemgrenze: Wir dürfen nicht jedes Gebäude denselben Anforderungen an sein energetisches Verhalten unterwerfen, sondern wir müssen die eigentlich wichtigen Fragen stellen. Weder ist es die Energieeffizienz noch der Wärmedämmstandard, sondern einzig und allein die gesamtgesellschaftliche Forderung nach dem vollständigen Ausstieg aus der Nutzung fossil basierter Energie.

TEC21: Wie geht man da vor?
Werner Sobek: Die verwendete Energie muss lediglich nichtfossil sein. Das ist meines Erachtens der einzig richtige Ansatz. Ob ein einzelnes Gebäude mehr oder weniger Energie benötigt, ist völlig egal. Am Ende wird dies dazu führen, dass, vereinfacht dargestellt, der eine Mitbürger sich im Winter wärmer anzieht, der andere sich eine PV-Anlage kauft und der nächste sein Gebäude mit dem Nachbargebäude verbindet, das mehr Energie erzeugt, als es benötigt. Die grosse Fehlorientierung unserer Zeit entsteht im Vergleich dazu durch die Energieeffizienz respektive durch Dämmstandards und Luftdichtigkeitsanforderungen. Auf Basis einer Planung prognostizieren die Planer dann eine mögliche Energieeinsparung. Mehr nicht. Ob die Prognose der Planer eintrifft, hängt vom späteren Nutzerverhalten ab. Oft genug trifft sie nicht ein. Wenn die Gesellschaft von jedem einzelnen ihrer Mitglieder fordert, auf fossil basierte Energie zu verzichten, dann geht man den richtigen Weg. Politisch gesehen erscheint dieser Weg einigen als zu schwierig: Im Grunde genommen müsste man das Individuum und sein Verhalten kontrollieren.

TEC21: Sie wollen Häuser bauen, die die Atmosphäre nicht weiter aufheizen und an denen Leute Freude finden. Wie lässt sich das kombinieren: Spass haben und ein schlechtes Gewissen vermeiden?
Werner Sobek: Durch das Prinzip der Schwesterlichkeit. Die alten und die neuen Häuser, die guten und die schlechten: Nicht alle Häuser müssen die gesamt­gesellschaftlichen Vorgaben gleichermassen erfüllen. Manche sind dafür besser geeignet, weil sie besser in der Sonne stehen und mehr Energie gewinnen. Andere haben dagegen einen grossen Keller anzubieten, in dem man gut Batterien platzieren könnte. Und nochmals andere werden Teil eines vernetzten Energiemanagements im Quartier oder in einer Stadt. Dazu braucht es ein kluges Verfahren aus Energie­gewinnung, -speicherung und -konsum, idealerweise kombiniert mit Elektromobilität.

TEC21: Und wo kommt der Spass ins Spiel?
Werner Sobek: Das Gebäude trägt einiges zum Glücksemp­finden des Menschen bei. Der Komfort ist zentral; die Wahrnehmung wird aber unterschiedlich interpretiert. Komfort meint zunächst einmal ein behagliches Gefühl, ein angenehmes Empfinden. Für die plane­rische Umsetzung werden deshalb Raumklimavorgaben wie Luftaustauschrate, Innentemperatur, Luftfeuchte oder Wärmeabstrahlung definiert. Dies allein reicht aber nicht. Mir ist wichtig, dass ein Haus sogar mit geschlossenen Augen erkennbar ist. Häuser müssen darum akustische, thermische, odorische und taktile Qualitäten ausstrahlen – das lässt sich nicht immer präzise mit Normen erfassen, aber die Menschen erkennen es instinktiv. Die taktile und handschmeichlerische Qualität von Oberflächen darf ruhig so intensiv sein, dass sich Menschen davon angesprochen fühlen und sie als schön empfinden.

TEC21: Beziehen sich solche positiven Reaktionen auch auf den Leichtbau, dem Sie sich ja besonders widmen?
Werner Sobek: Auf jeden Fall. Leichtbau muss nicht technoid wirken. Eine Wohnung muss nicht wie eine Auto­karrosserie aussehen. Konsequenter Leichtbau und handschmeichlerische Oberflächen schliessen ­ein­ander nicht aus. Dafür sind die dem Material ­innewohnenden Qualitäten herauszulocken. Den technischen Anspruch zu erhöhen muss aber nicht zwingend die Qualität der Oberflächen bestimmen. Wenn die taktile Qualität gefragt ist, muss man es mit den Händen spüren können, etwa am Handlauf: Daran hält man sich gern fest, hier muss die Hand «laufen» können. Ein normengerechter Handlauf an deutschen Brücken bietet diese Qualität allerdings nicht. Bereits nach wenigen Metern würde man die eigene Hand wegziehen, da die feuerverzinkte Metall­oberfläche viel zu rau ist.

TEC21: Wie gehen Sie selbst mit Normen um?
Werner Sobek: Über Normen wird immer viel geklagt, doch sie beinhalten den Grundkonsens zum technischen Stand und bilden die Grundlage für das gemeinsame Verständnis zwischen Architekt, Bauherr und ausführenden Firmen. Ingenieure tendieren dazu, das, was sie eben entwickelt haben, in Normen festzuschreiben. Daraus entsteht eine Normenvielfalt, die schwer durchschaubar ist und sich teilweise selbst widerspricht. Gegen eine Standardisierung habe ich vom Prinzip her keine Einwände. Doch ich halte mich an die Handwerkerregel: Der Lehrling muss die Norm lernen, der Geselle muss die Norm einhalten – aber der Meister darf sie brechen. Seine Qualitätsstandards dürfen Grenzen ausloten. Er muss erkennen, ob Bewährtes wirklich das Richtige für die Zukunft ist. Darum sind Mittel und Wege zu finden, etwas Besseres abzuliefern und die Normen weiterzuentwickeln.

TEC21: Die Digitalisierung ist für die Planungsbranche eine grosse Herausforderung; sie befürchtet daher eine Überforderung. Ist das so, weil bewährte Traditionen und Praktiken in der täglichen Arbeit aufzugeben sind?
Werner Sobek: Ich denke, das ist nur teilweise so. Wir können weiterhin auf Traditionen zurückgreifen. Denn die Aufgabe bleibt: Architekten müssen eine vernünftige Qualität für viele Menschen bauen. Dazu zähle ich die Energieversorgung und sanitäre Einrichtungen. Es ist eine akademische Marotte, den Menschen irgendwo in Zentralafrika erklären zu wollen, wie man aus leeren Cola- oder PET-Flaschen eine Hütte bauen kann. Solche Studentenarbeiten negieren die eigentlichen Probleme. An diesen Orten fehlt es nicht an Baumaterial, sondern an sanitärer Infrastruktur und funktionierender Wasseraufbereitung. Nach meinem Dafürhalten braucht es dazu industriellen Input, aber keine Architekten aus einem entwickelten Land. Damit will ich sagen: Wir haben beim Entwerfen und Bauen die relevanten Gelegenheiten zu finden, damit etwas für viele realisiert werden kann, das ohne unseren Input nicht funktioniert.

TEC21: Hierzulande nehmen die Anforderungen an Planungs- und Baufachleute zu. Die Besteller neuer Gebäude erwarten das Tollste und Beste …
Werner Sobek: Wir müssen davon abkommen, immer nur den letzten Trend bauen zu wollen. Dies geschieht etwa in der Signature Architecture, wobei die Dinge häufig genug nicht funktionieren, wie sie sollten. Für viel Geld und wenig Gegenleistung entsteht nichts anderes als Las-Vegas-Architektur. Das Haus wird zum Emblem, oft mit Label. Die Qualität in den Details und die Substanz, die darin stecken könnte, gehen aber verloren. Oft muss eine schriftliche Anleitung oder eine Homepage dem Menschen erklären, wie man in solchen Häusern leben soll.

TEC21: Welche Architektur braucht es dann?
Werner Sobek: Das langfristige menschliche Interesse weckt man nicht mit Rekorden, sondern indem man etwas Schönes baut und anbietet. Zur Baukunst wird ein Gebäude erst, wenn das Gebäude selbst eine Antwort darauf geben kann, warum es so ist, wie es ist. Was häufig zur Eigenschönheit führt, ist eine den Dingen inhärente Logik und Verständlichkeit. Solche Objekte und Gebäude laden zu einer anderen Art der Handhabung ein.

TEC21, Fr., 2017.12.22



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01. Dezember 2017Paul Knüsel
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Wer hat Angst vor Solarfassaden?

Die Photovoltaik legt ihren bisher unvermeidlichen Nadelstreifenanzug ab und zeigt eine zunehmende Farb- und Formenvielfalt. TEC21 besucht Labors, Werkhallen und Demonstrationsbauten, um sich einen Eindruck von der gestalterischen Annäherung zwischen Architektur und Photovoltaikindustrie zu verschaffen.

Die Photovoltaik legt ihren bisher unvermeidlichen Nadelstreifenanzug ab und zeigt eine zunehmende Farb- und Formenvielfalt. TEC21 besucht Labors, Werkhallen und Demonstrationsbauten, um sich einen Eindruck von der gestalterischen Annäherung zwischen Architektur und Photovoltaikindustrie zu verschaffen.

Nordeuropa ist eine von der Sonne häufig vernachlässigte Zone. Umso kreativer kümmern sich Architekturbüros vor Ort darum, die spärlichen Licht­strahlen ge­winnbringend zu nutzen. In Drammen, einem Vorort von Oslo, erzeugt der neue Geschäftssitz eines Baukonzerns selber Strom, mithilfe von Photovoltaikfassaden in sattem Grün. An der Hafenkante von Kopenhagen steht das aktuell grösste Photovoltaikgebäude Europas, eine internationale Sprachschule. Ihre Fassaden schimmern, mit dem Meerwasser wetteifernd, in verschiedenen Blautönen. Und dass in den Niederlanden Photovoltaikmodule im braun­roten Backsteinlook entwickelt werden, versteht sich angesichts der lokalen Bautradition von selbst.

Auch das heimische Architekturschaffen entdeckt die ungewohnte Gestaltungspalette. In Zürich Altstetten glänzen Photovoltaik-Balkonbrüstungen grüngold­braun, farblich auf die Holzfassade der Wohnhäuser abgestimmt. Ähnlichen Farbglanz wollen die Solar­fassaden am künftigen Sitz der Umweltbehörde von Basel-Stadt vermitteln (vgl. «Im Glanz der Sonne», TEC21 36/2013). Der geplante Neubau soll sich so den Sandsteinhäusern am historischen Fischmarkt auch gestalterisch annähern.

Die schwarz-silbern glänzende Optik von PV-Modulen ist nicht mehr comme il faut; nun wagt man eine Erweiterung der Ausdrucksform (vgl. TEC21 46–47/2017: «Photovoltaik I – die Architektur»). Diese Sty­lingwelle greift ein überfälliges architektonisches und städtebauliches Thema auf: Die Solararchitektur will Energie erzeugende Gebäudehüllen farblich und gestalterisch besser in die gebaute Umgebung integrieren.

Gratwanderung: Design oder Leistung?

Nicht nur Gestalter, auch Lieferanten suchen Alternativen zum uniformen PV-Modul. Nachdem sich Industrie und Forschung lange Zeit auf Leistungssteigerungen konzentrierten, wird die handwerkliche und gestalterische Performance zum nächsten Entwicklungsschritt (vgl. «Solar-Design-Boom», Kasten unten). Wie aber kann es gelingen, das technoide Bauteil stärker in die Gebäude­architektur einzubinden? Eine Antwort, so scheint es, müssen Architekten und Industrie gemeinsam finden. Am gegenseitigen Austausch wäre man interessiert; aber es «fehlt die gemeinsame Sprache. Zudem erschweren Berührungsängste die mögliche Zusammenarbeit», glaubt Solarplaner Christian Renken. Eine kurze Umschau auf dem Werk- und Forschungsplatz soll deshalb zeigen, ob die Angst vor Solarfassaden berechtigt ist.

Die globale PV-Branche boomt; in der Schweiz ist die Produktion jedoch preisbedingt am Schrumpfen. Nicht erst in den letzten Monaten, sondern seit Jahren verschwinden einst vielversprechende Start-up- und Spin-off-Unternehmen wieder von der Bildfläche. Weiterhin profitiert die Forschung im Inland von fast 40-jäh­riger Erfahrung; das Know-how genügt bis heute für Neuentwicklungen, Prototypen und Weltrekorde im Photovoltaikbereich. In der noch jungen Entwicklungsgeschichte sind deswegen namhafte Pionierleistungen zur Netzkopplung, Gebäudeintegration und Entwicklung von Farbmodulen gelungen (vgl. Zeittafel «Architektur auf dem Weg zur Sonne»). Bis heute ge­niesst Photovoltaik «made in Switzerland» einen besonderen Ruf.

Die Fassade der International School in Kopenhagen, das grossflächigste Solargebäude Europas, verwendet Photovoltaikmodule, die in Labors der EPF Lausanne erfunden worden sind. Die Sihlweid-Hochhäuser in ­Zürich Leimbach sind vor vier Jahren rundum mit PV-­Modulen eingepackt worden, in einem damals europaweit einmaligen Projekt. Und ebenfalls im Grossraum Zürich stehen zwei Wohnhaustypen, die es sonst nur als Forschungsstationen gibt: Beide Mehrfamilien­häuser decken den eigenen Energiebedarf mithilfe von einheitlich eingefärbten PV-Fassaden. Eines befindet sich mitten in der Stadt, als Studienobjekt für die Gratwanderung zwischen Leistung, Kosten und Design (vgl. «Es blinkt in alle vier Himmelsrichtungen»). In Textur und Struktur der Gebäudehülle wurde mindestens so viel Planungsarbeit gesteckt wie in die elek­tro­technische Optimierung. Architekt und Mitinvestor Karl Viridén will damit beweisen, dass Photovoltaik und Städtebau vereinbar sind und «schon bald als Selbstverständlichkeit» wahrgenommen werden dürften.

Das hofft man auch in Niederhasli, in der Zürcher Flughafenregion, wo die industrielle Fertigung der Photovoltaik 2.0 vor dem Durchbruch steht. ETH-Professor Ayodhya Nath Tiwari lud Ende September zur Weltpremiere. Aus Europa und Asien reisten Investoren und Medienschaffende an und staunten, wie ultradünn und flexibel neueste Solartechnik ist.

Freie Gestaltung mit dünnen Folien

Bislang dominieren die gestreiften Siliziumzellen den Solarmarkt; der Anteil liegt bei 80 %. Die Alternative zum starren, kristallinen Halbleitermaterial sind nun amorphe Feststoffe (CIGS), die auf aufrollbare Folien gepresst werden und homogene Oberflächen aufweisen. Vor vier Jahren haben Forscher von ETH und Empa gemeinsam das «Flexible Solar Module» (Flisom) erfunden, das mit 20.4 % Wirkungsgrad den Weltrekord hält. In der Industriehalle beim Bahnhof Niederhasli sind roboterhafte Maschinen und Arbeiter in Schutzkleidung am Werk; sie drucken, lasern und prüfen die serielle Fabrikation der Dünnschicht-Solarfolien.

Gerade wird eine Bestellung für die Weltraumfahrt ausgeführt. Miterfinder Marc Kälin erzählt, dass die Solarfolien für ein Bogendach in den Niederlanden bereits ausgeliefert und montiert sind. Die weither angereisten Besucher bekommen ergänzend eine CIGS-Testfläche auf dem Empa-Areal in Dübendorf zu sehen. In Kürze wird gleich daneben die frei gestaltete Version eingebaut: Das Forschungsgebäude NEST erhält ein ge­faltetes Leichtbetondach mit der PV-Dünnschichtfolie aus Niederhasli obendrauf. Zum Abschluss der Besichtigungstour bittet CIGS-Forscher Tiwari allerdings um Geduld. Erst bis in zehn Jahren werde daraus ein marktfähiges, vielfältig verwendbares Industrieprodukt.

Ohne störendes Fassaden-Patchwork

In Süddeutschland hat die Forschungskonkurrenz die Dünnfilmtechnologie jetzt schon mit architektonischer Mithilfe ausgerollt. Das Zentrum für Sonnenenergie- und Wasserstoff-Forschung Baden-Württemberg (ZSW) ist der nächste Halt auf der Photovoltaik-Besichtigungstour. Seit Sommer 2017 stellt das neue Institutsgebäude mitten in Stuttgart selbst entwickelte Solarzellen zur Schau. Die Photovoltaikabdeckung für drei Fassadenseiten hat das dänische Architekturbüro Henning Larsen ­zugeschnitten, als Nachtrag zum ursprünglichen Wettbewerbsentwurf, der eine helle Gebäudehülle aus Metall vorsah. Nun ist das Gebäude einheitlich dunkel. Sowohl die Module an den Solarfassaden als auch die in Blech und Glas gefassten Nachbarwände glänzen schwarz-an­thrazit. Anstelle des oft üblichen geometrischen Patchwork ergibt die Photovoltaik am ZSW-Gebäude ein fein parzelliertes, vertikales Tektonikmuster.

Hinterlüftungsraum und Verkabelung sind wichtige Konstruktionsparameter und nehmen darum häufig Einfluss auf die Gestaltung. «Doch das Standardformat von Photovoltaikmodulen gilt als bislang grösste Einschränkung für die Fassadenarchitektur», sagt Andreas Schulte, Projektleiter bei Henning Larsen. Am Stuttgarter Gebäude wurde darauf geachtet, variabel und paarweise angepasste Solarmodule zu verwenden. Abweichungen vom Standardformat nahm man für das Demonstrationsprojekt bewusst in Kauf, sie haben aber ihren Preis (vgl. «Kosten und Lebensdauer», Kasten unten): «Die Solarfassade kostet doppelt so viel wie eine Metall­hülle. Auch der Planungsaufwand für die PV-Variante steigt», berichtet ZSW-Projektleiter Dieter Geyer an der Konferenz «Advanced Building Skins» in Bern.[1]

Unsere solare Architekturreise führt uns in den Kursaal zu Bern, wo im Oktober 2017 mehrere hundert Forscher, Architekten, Baufachleute und Manager über Gebäudehüllen fachsimpelten. Die meisten Präsentatio­nen enthielten verspielte bis verrückte Skizzen sowie mutige Entwürfe für die solare Zukunft des Gebäudeparks. Der Hauptsitz der Regionalbehörde im franzö­sischen Rouen versteckt sich hinter einem Vorhang aus buntem Photovoltaikglas. Oder ein silberner Solarflügel umkreist die kugelförmige Cité musicale mitten in Paris. Ob schrill, ruhig, kontrastreich oder dezent: An schwarz glänzender Photovoltaik ist niemand mehr interessiert. Vielmehr gewinnt die Debatte um das Design von gebäudeintegrierter Photovoltaik an Fahrt. Neue, ebenso wichtige Überlegungen tauchen auf: «Soll die Photovoltaik erkennbar sein, oder will man sie lieber kaschieren?», fragt Christian Renken, Mitorganisator der Konferenz in Bern.Wie aber gehen Architekten vor, um eigene Entwürfe, etwa für künftige Projektwettbewerbe, zu realisieren? Werden sie selbst zu Forschern und Mitentwicklern von Solarbauten der nächsten, architektonisch befriedigerenden Generation?

Photovoltaikmodule gestalterisch seziert

Tatsächlich sind Demonstrationsprojekte eine gute Gelegenheit, um Photovoltaik-Formate frei von Leistung oder geografischer Ausrichtung auszuprobieren und von der Zusammenarbeit mit Hochschulen zu profitieren. Wir besichtigen ein weiteres Bürogebäude mit Solarfassade, das Resultat des EU-Forschungsprojekts «Con­structPV»[2] – zufällig ebenfalls in Stuttgart. Die niederländischen Designer vom United Network Studio sowie Akademien und Hersteller auch aus der Schweiz haben daran mitgewirkt. Der gestalterische Ansatz beruht auf Eingriffen in die Anatomie eines PV-Kristallinmoduls. Denn nicht nur die Glasabdeckung, auch die inneren Schichten können unabhängig voneinander in Geometrie, Farbe und Oberflächenbeschaffenheit modifiziert werden. Selbst die kristallinen Zellen lassen sich in einem Modul asymmetrisch komponieren.

Der Besuch von Labors, Zukunftswerkstätten und Schaufassaden geht zu Ende. Wie sieht die Realität im Alltag aus? Wie gut kann die Industrie Gestaltungswünsche erfüllen? Ist die Photovoltaik bereits frei wählbare Architektur? Antworten suchen wir an einem Ort, an dem der Planer bereits weiss, wie das nächste Gebäude mit energieaktiver Glasfassade aussehen wird, das Produkt dazu aber in keinem Katalog zu finden ist. Erste Farbmuster für ein Mehrfamilienhaus, das das Architekturbüro Viridén Partner bis 2019 realisieren will, liegen auf dem Bürotisch; die erhofften Farbtöne aber noch nicht. «Hersteller sind an der Zusammenarbeit sehr interessiert; auch Sonderwünsche sind willkommen», hat Karl Viridén erfahren. Dass ein Lieferant in dieser jungen Branche äusserst kurzfristig ausfallen kann, gibt es wohl. Doch Ersatz kann mittlerweile fast ein halbes Dutzend Firmen aus der Schweiz und Europa bieten. Photovoltaik-Fassadensysteme gelten als hochwertige Produkte, mit denen sich die Branche in Europa vom weltweiten Massenmarkt abheben kann.

Puzzle aus ungewohnten Komponenten

Worauf Architekten bevorzugt achten, ist die Homo­genität von Optik und Oberfläche der neuartigen Solar­module. Der Zusatzaufwand und der Klärungsbedarf weiten sich über die visuelle Qualität auf Statik und Geometrie einer Solarfassade aus. Danach beginnt ein grosses Puzzlespiel, weil vom Entwurf bis zur Ausführung neue technische, konstruktive Komponenten zu berücksichtigen sowie unbekannte Lieferketten zu überwachen sind: Wer baut die Module ein? Wie sorgt man dafür, dass jedes Fassadenelement reversibel gehängt und ersetzt werden kann? Oder wo werden kilometerlange Kabel und Dutzende Elektrogeräte im schmalen Hinterlüftungsraum versteckt?

Photovoltaikhüllen sind im Prinzip eine Untervariante der Vorhangfassade mit Glas- oder Metallabdeckung. Unterkonstruktion, Befestigung und Wetterbeständigkeit basieren daher auf bewährten Standards. Neuland sind dagegen die unzähligen Kabelan­schlüsse; ebenso erhöhen sich die Anforderungen an Brandschutz und Tragstruktur. Angesichts der vielen Schnittstellen sind neue Abläufe zu finden. Verbesserungswürdig ist auch die Projektabwicklung. Gemäss Solarplaner Christian Renken hat sich die Photovoltaikbranche ein adaptives Vorgehen angewöhnt: Solar­dächer werden nachträglich installiert, weshalb die Fachplanung fliessend einsetzen kann. «Für Photovoltaikfassaden passt diese Praxis nicht mehr; gestalterische und konstruktive Ansprüche lassen sich nur erfüllen, wenn sie in genau definierten Leistungsphasen einfliessen.»

Der Wandel von Adaption zu Integration ist daher nicht nur konstruktiv anzustreben: Zur besseren Kombination von Photovoltaik und Architektur braucht es eine integrative Planungsstrategie. Karl Viridén hofft dabei, dass sich Architekten selbst stärker einbringen, weil sie prädestiniert sind, ein derart komplexes Gesamtpaket zu überblicken. Allerdings seien Gestalter gefragt, die sich für die ganze Planungskette «vom Entwurf über die Konstruktion bis zur Ausführung ver­antwortlich fühlen». Solarfachmann Renken erwartet ­hingegen, dass die gebäudeintegrierte Photovoltaik vermehrt Teil einer eigenen Fachplanung wird. Es werden bald also nicht mehr nur Architekten bestimmen, wie bunt oder angepasst die solare Architektur in Zukunft aussehen soll.


Anmerkungen:
[01] Tagungsband 12th Conference on Advanced Building Skins; Advanced Building Skins GmbH 2017.
[02] Mosaic Modules for Improved Design Options in Building Integrated Photovoltaic Modules; EU-Project Construct PV; Fraunhofer Institute for Solar Energy Systems ISE, UNStudio, Züblin Zentrale Technik, ­Stuttgart 2016.

Weitere Informationen:
Schweizer Kompetenzzentrum BiPV (Gebäude- und Produkteliste): www.bipv.ch
Solardatenbank, ETH Zürich: www.buk.arch.ethz.ch/Solardatenbank/Solardatenbank

TEC21, Fr., 2017.12.01



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TEC21 2017|48 Photovoltaik II – die Komposition

01. Dezember 2017Paul Knüsel
Karl Viridén
TEC21

Es blinkt in alle vier Himmelsrichtungen

Was kann die Photovoltaik im dicht bebauten, innerstädtischen Umfeld leisten? Ein vom Bund gefördertes «Leuchtturmprojekt» soll beweisen, dass sich Energieproduktion und Ästhetik nicht grundsätzlich widersprechen.

Was kann die Photovoltaik im dicht bebauten, innerstädtischen Umfeld leisten? Ein vom Bund gefördertes «Leuchtturmprojekt» soll beweisen, dass sich Energieproduktion und Ästhetik nicht grundsätzlich widersprechen.

Seit dem Herbst 2016, nach einer umfassen­den Erneuerung und Aufstockung, weiss das unauffällige siebenstöckige Mehr­fami­lienhaus im ­Zürcher Stadtkreis 6 mit der Sonne etwas anzufangen. Vier aktive Glasfassaden erzeugen gemeinsam mit der Photovoltaikanlage auf dem Dach so viel Strom, dass der Energiebedarf für die 28 Wohn­einheiten selbst gedeckt werden kann. Die Ingenieurführungen durch den Plusenergiebau waren deshalb gut besucht. Doch auch in Architektur­kreisen haben die Photovoltaikhülle und der hellgraue Farbton ei­nigen Anklang gefunden.

Mit dem Lob für die ungewöhnlichen Äusserlichkeiten ist aber noch nicht alles erreicht; auch die inneren Werte müssen über­zeugen: Wie viel Strom ­können matte PV-Module mit ungünstiger Ausrichtung pro­duzieren? Lohnt sich die Energie­produktion auch an der Sonne abgewandten Gebäudeseiten? Und wie einfach ist eine gestalterisch besondere Aktivfassade zu kon­struieren? Antworten darauf hat das bereits ­gestartete Begleitprogramm zu finden. Vergleichbare ­Projekte sind selten. Deswegen finanzieren das Bun­desamt für Energie und der Kanton Zürich das als ­«Leuchtturm» deklarierte Vorhaben mit, gemeinsammit Partnern aus der ­Bau- und Energiebranche. Nach zwei Jahren Be­triebs­er­fah­rung werden die Funktion und das Ertragspotenzial der Photovoltaik-Rundum­fas­sade ausgewertet.

Bereits abgeschlossene Demonstrationsobjekte haben mittlerweile bewiesen: Selbst grosse Mehrfamilienhäuser erzeugen fast doppelt so viel Energie wie Bewohner und Gebäudebetrieb jährlich konsumieren. Das Wohngebäude an der Hofwiesenstrasse will diese Leistungswerte aber nicht übertrumpfen. Interessant ist diesmal die Erkenntnis, wie sich die architektonische Integration auf den energetischen Output auswirken wird. Die Gebäudenutzung soll sich zudem nach den Zielen der 2000-Watt-Gesellschaft richten: Projekt­trägerschaft und das Bundesamt haben vereinbart, dass ein Drittel des durchschnittlichen Energiekonsums genügt. Ein Jahr nach dem Mieterbezug liegen erste Erkenntnisse vor.[1]

Matte Abdeckung mit höherer Reflexion

Die Photovoltaikanlage auf dem Flachdach entspricht dem bestmöglichen Stand der Praxis und dem bekannten Look: 100 schwarz glänzende Module richten sich in Sechser­reihe und mit Neigungswinkel von 15 ° nach Südwesten. Der Wirkungsgrad von monokristallinen Solarzellen erreicht fast 20 %. Derselbe Modultyp wurde auch für die hinterlüfteten Aktivfassaden (und die Balkonbrüstungen) gewählt. Die matte Glasabdeckung reflektiert zwar mehr Sonnenlicht und reduziert die Leistung um rund einen Drittel. Hersteller sind aber daran, die Farbmodule laufend zu verbessern und die Einbussen unter 30 % zu senken.

Die Erträge der Photovoltaikanlage werden seit November 2016 gemessen. Gesicherte Angaben zur Jahres­bilanz des Plusenergiebaus liegen zwar noch nicht vor, aber die bisher erreichten Tageswerte stimmen zuversichtlich: Alle vier aktiven Gebäudefassaden steuern namhafte Anteile an den Energieertrag bei (vgl. Grafik) und übertreffen teilweise die Annahmen aus der Planung. Die ersten Betriebserkenntnisse sind erfreulich: Eine Amortisation der Zusatzinvesti­tionen für die «Aktive Glasfassade» scheint in weniger als 15 Jahren möglich. Mehr Details, etwa zur Verschattung, kann erst die abschliessende Auswertung liefern.

Unterschiedliche Modulformate

Für die einheitliche Abdeckung der unterschiedlichen Gebäudefronten wurden 13 Modulformate und fünf Arten von Blindmodulen entwickelt. Die aktive Miniversion ist 0.4 m² klein und knapp 10 kg leicht; das ­grösste Modul wiegt 36 kg und deckt 1.6 m² ab. Die Produk­tionskapazität hängt jedoch von der Anzahl der darin verpackten Solarzellen ab. Die Blindmodule sind aus gleichfarbigem Glas. Sie decken diejenigen kleinen Fassadenflächen ab, an denen sich der Einbau von Photovoltaikzellen nicht lohnt. Der Anteil an der Gesamtfläche beträgt knapp 2 %. Weil Photovoltaikmodule in den unteren Geschossen häufiger beschattet sind, nehmen die Produktionserträge im Vertikalverlauf ab. Auch die Balkonnischen liefern mindere Erträge ab.

Eine künftige Evaluation soll dazu beitragen, allgemeine Beschattungslimiten für solche Aktivfassaden zu bestimmen. Der Tagesgang des Stromertrags zeigt jedoch schon heute, welche Teilflächen am meisten Strom erzeugen. Die Dachanlage erreicht den Peak kurz nach der Mittagszeit; zuvor und danach sind vor allem Süd- respektive Westfassade aktiv. Auch die nach Norden und Osten ausgerichteten Photovoltaikmodule liefern relevante Strommengen. Ein hoher Sonnenstand im Sommer wird vor allem für Südfassaden zum Handicap: Je steiler der Strahlungswinkel, umso geringer der Ertrag. Und ebenso weiss man nun: Solarfassaden liefern in saisonalen Übergangszeiten höhere Erträge als im Sommer. Die Tagestemperaturen sind niedriger, was den Photovoltaik-Wirkungsgrad erhöht.

Im Zusammenspiel funktionieren die vier Ak­tivfassaden am besten. Bei sonnigem Wetter findet ein Ausgleich der Tagesproduktion statt. Zwischen 9 und 18 Uhr bleibt die Leistungskurve auf einem hohen, relativ konstanten Niveau (vgl. Grafik).

Platz für Verkabelung und Zusatzgeräte

Auch was hinter der Aktivfassade liegt, trägt wesentlich zur Ertragsoptimierung bei. Um Leistungsverluste im Stromabtransport zu vermindern, braucht es etwa eine möglichst effiziente Verkabelung. Die Einzelmodule sind entsprechend in die verschiedenen Schaltkreisläufe einzuteilen, wobei das intelligente Schattenmanagement zusätzlich zu berücksichtigen ist. Hierzu ist je eine Schaltgruppe aus zwei bis vier Modulen an ein Zusatzgerät zur Lastoptimierung angeschlossen. Dadurch wird der Elektronenfluss auf einen Bypass um die verschatteten Module herumgelenkt.

Ohne diesen Umweg würde ein Engpass entstehen: Innerhalb eines Schaltstrangs limitiert das jeweils leistungsschwächste Modul, wie viel Strom tatsächlich produziert wird. Die Optimierungsgeräte sind 1 kg schwer und etwas grösser als ein Smartphone; mehr als 300 von ihnen sind in der Hinterlüftungszone am Plusenergiebau installiert. Dass diese Technik störungsanfällig ist, hat sich bereits bestätigt. Doch weil die Geräte jeweils einfach zugänglich und konzentriert platziert sind, konnten diese Mängel problemlos behoben werden.

Auf zwei Besonderheiten im konstruktiven Bereich ist abschliessend hinzuweisen: Die Fassadenelemente sind an der Unterkonstruktion eingehängt. Dazu werden Profile (Backrails) an die Modulrückseite geklebt. Der Klebstoff ist jedoch elastisch, sodass Spannungsspitzen (etwa bei Wind) besser aufgefangen werden als bei fixierter Punktverbindung. Diese Klebetechnik ist normiert und hat sich beim Bau von konventionellen Glasfassaden bewährt. Und wie auch für andere Vorhang­konstruktionen ist häufig ein Kompromiss zwischen statischen und thermischen Anforderungen zu finden. Die Halterungen selbst dürfen keine Wärmebrücke ­zwischen Aussenfassade und Rohbau bilden. Am Plus­energiebau an der Ecke Hofwiesen-/Rothstrasse mitten in Zürich verhindert dies ein Verbundmaterial: Die Konsolen und andere Teile der Unterkonstruktion bestehen aus Chromstahl respektive glasfaserverstärktem Kunststoff mit jeweils geringer Wärmeleitfähigkeit.


Anmerkung:
[01] Jahresbericht 2016 BFE «Leuchtturm PhotovoltaikFassade an Plusenergiebau-Sanierung Zürich».

TEC21, Fr., 2017.12.01



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TEC21 2017|48 Photovoltaik II – die Komposition

29. September 2017Paul Knüsel
TEC21

In der Planung zu hoch gegriffen

Der Energienachweis gehört zur Standarddokumentation eines Gebäudes. Doch wie gut lässt sich die energetische Qualität von Gebäuden in der Planung eigentlich abschätzen? Neueste Befunde lassen erhebliche Abweichungen zwischen Theorie und Praxis vermuten.

Der Energienachweis gehört zur Standarddokumentation eines Gebäudes. Doch wie gut lässt sich die energetische Qualität von Gebäuden in der Planung eigentlich abschätzen? Neueste Befunde lassen erhebliche Abweichungen zwischen Theorie und Praxis vermuten.

Zwei Diagramme veranschaulichen die Hoffnung und das Dilemma der aktuellen Energiedebatte. Jede illustriert aus unterschiedlicher Zeitperspektive, wie viel Energie die Gebäudenutzung beansprucht. Die erste Grafik schaut nach vorn und steigt eine steile Treppe hinunter. Dargestellt ist der Energiestandard von alten und neuen Häusern. Die unterste Stufe markiert die neueste Generation von Wohn- und Geschäftsbauten mit einer Nullenergiebilanz beim Heizen, Kühlen und bei weiteren Ansprüchen. So stellt sich der Plan für die Energiezukunft dar. Das zweite Diagramm blickt dagegen zurück und illustriert die energetische Qualität von Gebäuden, aufgeteilt nach Bauperioden. Auch diese Kurve sinkt; das Gefälle ist allerdings schwach. Sie zeigt den realen Energiekonsum.

Ein direkter quantitativer Vergleich ist nicht statthaft. Trotzdem legt die Konfrontation beider Kurven den Finger auf den wunden Punkt: Das einzeln Gebäude kann auf Energieeffizienz getrimmt und äusserst sparsam nutzbar sein. Der Gesamtbestand verbraucht dennoch mehr Energie als in der Planung ins Auge gefasst. Daher registriert die Energiestatistik des Bundes weiterhin einen jährlich steigenden Inlandsverbrauch.

Nicht das Wachstum des Wärmekonsums selbst, nur die Rate nimmt ab. Die Realität hinkt den Erwartungen hinterher. Bereits kursiert ein Fachbegriff für dieses Phänomen: «Performance Gap». Zwischen Plan und Realität klafft eine Lücke. Der Gebäudebestand werde zu zögerlich energetisch erneuert und das technisch Machbare mangelhaft ausgeschöpft, wird in der laufenden Energiedebatte dazu vermerkt.

Analysen liefern erste Hinweise

Im letzten Jahr wurde eine «Erfolgskontrolle der Gebäudeenergiestandards» publik, die aufhorchen liess. Der Bund hatte eine Praxisanalyse bei über 200 Gebäuden mit unterschiedlicher Typologie und Nutzung durchgeführt (vgl. TEC21 49/2015). Die Messwerte aus dem Nutzungsalltag wichen teilweise «erheblich» von den energetischen Zielgrössen ab. Daher sind Wissenschaft und öffentliche Hand nun daran interessiert, das Ausmass dieser Diskrepanzen zu verifizieren und allgemein einzuordnen. Das Bundesamt für Energie (BFE) hat eine Folgestudie in Auftrag gegeben, die den Performance Gap im schweizerischen Gebäudepark definieren soll.

Derweil konnte die Universität Genf im Rahmen der nationalen Energieforschung bereits eine Quantifizierung für einen grösseren Immobilienbestand vornehmen. «Im Durchschnitt werden erst 40 % des theoretischen Reduktionspotenzials ausgeschöpft», ergab die Analyse von zwei Dutzend Wohnüberbauungen in der Agglomeration Genf. Die Bauten stammen aus den Jahren 1947 bis 1975 und sind in den letzten zehn Jahren energetisch erneuert worden.[1] Die realen Verbrauchsdaten wurden danach über zwei bis drei Jahre erhoben.

Unerfüllte Erwartungen bei Sanierungen

Der Befund stimmt überraschend gut mit den Angaben überein, die anderenorts bei der Ausmessung des Performance Gap gefunden worden sind. Die bislang umfangreichste Analyse fand in den Niederlanden statt; dazu wurde der Energieverbrauch von über 300'000 Gebäuden erfasst.[2] Zu überprüfen war die Gültigkeit der staatlichen Energieetikette, die beim Handel mit Immobilien zwingend vorgelegt werden muss und die auf Planwerten beruht. Die Auswertung hat ergeben, dass der effektive Wärmekonsum 30 bis 50 % höher ist als auf der Etikette deklariert. Wie im BFE-Praxistest verfehlen auch in der niederländischen Analyse vor allem sanierte Gebäude das Energieeffizienzziel. Offensichtlich wird das energetische Leistungsvermögen hierbei planerisch überschätzt.

Die Forschungsarbeiten zum Performance Gap am Institut für Umweltwissenschaften der Universität Genf werden vom städtischen Energieversorger unterstützt und stehen vor dem Abschluss. Erste Erkenntnisse über Charakter, Ursachen, Auswirkungen und Gegenmassnahmen sind bereits an wissenschaftlichen Tagungen präsentiert worden. Ende Jahr soll aber der auch für die Praxis relevante Schlussbericht folgen, kündigt Forschungsleiter Jad Khoury an. Der generelle Befund bestätigt das Schwanken zwischen Hoffnung und Dilemma: Der Heizenergiebedarf wird meist deutlich reduziert; doch das Eingesparte bleibt hinter den Erwartungen zurück. In einzelnen Fällen liegen Theorie und Praxis, Planung und Alltag über 100 % auseinander, hat die Auswertung der Beispiele aus Genf ergeben.

Bei einem Mehrfamilienhaus mit 28 Wohnungen konnte der ursprüngliche Energiekennwert von 196 kWh/m2 zwar halbiert werden; angepeilt war jedoch ein Viertel, nämlich 42 kWh/m2. Zum Vergleich: Neubauten dürfen gemäss den kantonalen Bau- und Energievorschriften nicht mehr als 50 kWh/m2 verbrauchen. Den «Performance Gap» haben die Genfer Forscher auch bei einer Grossüberbauung mit 160 Wohnungen quantifiziert: 124 kWh/m2 war der Ursprungswert; 33 kWh/m2 sollten es nach den baulichen Eingriffen werden. Bei 84 kWh/m2 blieben die Wärmezähler im Messprogramm des Untersuchungsobjekts stehen.

Wird der nach SIA-Norm 380/1 berechnete und im Energienachweis deklarierte spezifische Energiebedarf für die Raumheizung als Vergleichsgrösse beigezogen, liegen die erfassten Abweichungen in einer Bandbreite von 43 bis 142 %. Insofern ist das angestrebte Energieeffizienzziel im besten Fall zu zwei Dritteln und im schlechtesten Fall nur zu einem Drittel ausgeschöpft worden, so eine weitere Hauptaussage aus dem Genfer Forschungsprojekt. Eine wesentliche Zusatzerkenntnis aber ist: Der Performance Gap wird kleiner, wenn die energetische Sanierung umfassend konzipiert ist und sich nicht auf einzelne Bauteile beschränkt. Ebenso kann die Kluft durch eine Optimierung der Heizungsanlage geschmälert werden. Zudem lassen die statistischen Analysen aus Genf vermuten, dass der Performance Gap systematisch als Zahlenwert, abhängig vom angepeilten Reduktionsziel, bestimmt werden kann (vgl. Grafik).

Raumtemperatur und Lüftungsrate

Was aber sind die Ursachen für den hartnäckigen Performance Gap? Bislang wurde vermutet, dass ein Gemisch aus Nutzerverhalten, Belegungsschwankungen, Nutzungsänderungen und der ungenügenden Repräsentativität von Planungsnormen schuld an solchen Fehlleistungen ist. Die Forschungsgruppe an der Universität Genf hat diese Hypothesen erstmals anhand von quantitativen Sensitivitätsanalysen untersucht. Dabei fiel auf, dass der Einfluss der realen Nutzungsbedingungen am grössten ist. Nutzungsdauer, Stromverbrauch oder Belegungsgrad sind von untergeordneter Bedeutung. Die Abweichungen zur Realität widerspiegeln sich häufig daran, wie hoch Raumtemperatur und Lüftungsrate effektiv eingestellt sind. Die Planungsnormen enthalten jeweils einen Standardwert: 20 °C Raumtemperatur respektive 0.7 m³/hm2 Frischluftrate. In den Genfer Wohnungen sind jedoch erheblich höhere Werte gemessen worden: 23 °C respektive über 1.2 m³/hm2. Erfahrungen aus der Praxis weisen zudem darauf hin, dass auch die Kälteregulierung in Gebäuden immer häufiger eine Abweichung vom Standardfall verursachen kann (vgl. Kasten unten).

Wie man den Gap zum Verschwinden bringen kann, haben die Genfer Gebäudeforscher anhand von Stichproben ebenfalls gefragt. Betriebsoptimierungen sowie Änderungen im Nutzerverhalten und im Energiemanagement konnten die Kluft tatsächlich mindern. Bei zwei Wohnbauten wurden die geplanten Energieeffizienzziele danach noch um 20 % statt bisher um fast 40 % verfehlt. Das Gefälle der Treppe im Realitätsdiagramm könnte sich also dem Plan weiter annähern.


Anmerkungen:
[01] Understanding and bridging the energy performance gap in building retrofit, Khoury et al., CISBAT 2017; Compare-Renove Abschlussbericht, Universität Genf, Société Industriel Genevois, Bundesamt für Energie 2017 (unveröffentlicht)
[02] Predicting energy consumption and savings in the housing stock. A performance gap analysis in the Netherlands; Daša Majcen. Delft University of Technology, Faculty of Architecture and the Built Environment, 2016.

TEC21, Fr., 2017.09.29



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29. September 2017Paul Knüsel
TEC21

Brüche zwischen Entwurf und Anwendung

Wie sehr leidet der schweizerische Gebäudepark unter dem Performance Gap? Ein Gespräch mit Systemingenieur Dimitrios Gyalistras über steigende Ansprüche, unerfüllbare Leistungen und die fehlende Beweglichkeit im Bauwesen.

Wie sehr leidet der schweizerische Gebäudepark unter dem Performance Gap? Ein Gespräch mit Systemingenieur Dimitrios Gyalistras über steigende Ansprüche, unerfüllbare Leistungen und die fehlende Beweglichkeit im Bauwesen.

TEC21: Herr Gyalistras, wann ist Ihr Arbeitsrechner das letzte Mal ausgefallen?
Dimitrios Gyalistras: An einen Totalabsturz kann ich mich nicht erinnern. Aber es passiert täglich, dass die IT nicht so funktioniert, wie sie sollte.

TEC21: Sie sind Systemingenieur und entwickeln unter anderem Software für das Monitoring von Energieflüssen. Dazu sind Sie auf bestens funktionierende Informationstechnologie angewiesen. Wie gross ist das Verständnis für häufig auftretende Störungen?
Dimitrios Gyalistras: Fehler sind in der Bearbeitung von digitalen Daten alltäglich und kein Grund, mich deswegen aufzuregen. Im Gegenteil: Fehler aufzudecken ist der Kern meiner Arbeit. Ob es eigene Softwareentwicklungen sind oder Analysen für externe Auftraggeber: Ich versuche jeweils die Ursachen zu finden und Verbesserungen vorzuschlagen.

TEC21: Auch die Bautechnologie hat ein wiederkehrendes Fehlerproblem: Gebäude leisten nicht, was sie sollten. Im Auftrag des Bundesamts für Energie untersuchen Sie den «Performance Gap» bei Gebäuden. Wie fehleranfällig ist das Gebaute?
Dimitrios Gyalistras: Was ein fehleranfälliger Bau ist, muss man noch definieren. Aber das Problem ist nicht das Gebaute an sich, sondern der Umgang mit Fehlern, die in allen Phasen des Gebäudelebenszyklus passieren können. Der Vergleich zwischen Software- und Bauprojekten mag gewagt sein. Aber auch der IT-Bereich steckt voller träger Elemente: Grosse Datenbestände sind miteinander verhängt oder viele Entwicklungsprozesse historisch gewachsen. Im Gegensatz zum Bauwesen kennt die IT-Branche jedoch ein Geschäftsmodell, das komplexe Systeme an sich ändernde Bedürfnisse anpassen und fortlaufend verbessern kann. Dabei wird die Zusammenarbeit unter Fachleuten und mit Endkunden derart optimiert und automatisiert, dass rückwirkende Änderungen möglich sind. Diese Agilität vermisse ich im Bauwesen.

TEC21: Können Sie das genauer ausführen?
Dimitrios Gyalistras: Ein Planerteam kann sicher agil sein. Aber der gesamte Gebäudelebenszyklus, von der Konzeption über die Grobplanung bis zum Betrieb und zur Pflege, ist mit Brüchen versehen. Dabei gehen Informationen verloren. Es fehlen zudem Möglichkeiten, iterative Verbesserungen und Veränderungen in der Lieferkette vorzunehmen, die zu teilweise tief greifenden Anpassungen führen können und dürfen. Die Kooperationsform, um Projektidee, Entwurf, Bau und Betrieb zusammenzubringen, geht der Baubranche bislang ab. BIM kann jedoch als Integrations- und Kommunikationsmethode dienen.

TEC21: Wie ist der Performance Gap konkret zu verstehen?
Dimitrios Gyalistras: Allgemein gesagt sind es Abweichungen vom Planungs- zum Istzustand, die aber nicht mit Baumängeln oder eindeutigen Schäden gleichzusetzen sind. Ein Performance Gap lässt sich nicht nur beim Energieverbrauch, sondern auch bei der Qualität des Innenraumklimas oder bei der Wirtschaftlichkeit der Gebäudenutzung feststellen. Letztere meint jedoch nicht die Rendite, sondern oft unerwartet hohe Betriebskosten, was für Eigentümer oder Nutzer viel wichtiger ist als zu viel konsumierte Energie.

TEC21: Wie gehen Sie dem Gap auf die Spur?
Dimitrios Gyalistras: Die meisten Diskussionen über den Performance Gap beziehen sich auf Abweichungen bei Einzelobjekten. Demgegenüber interessiert sich unser Auftraggeber, der Bund, für den Gap, der als unerfüllte Leistungen eines Gebäudeverbunds zu verstehen ist. Wie der kollektive Gap im schweizerischen Gebäudepark zu erfassen, zu interpretieren und in Zukunft anzugehen ist, dazu soll unsere Analyse bis Ende Jahr Erkenntnisse liefern. Eine Vorgängerstudie hat den effektiven Energieverbrauch vieler Gebäude untersucht: Die angestrebte Performance wird im Durchschnitt gut erreicht, was eher beruhigt; auch wenn einzelne Bauten stark abweichen können. Wesentlich ist auch der jetzige Zeitgeist, dem steigende Ansprüche und Erwartungen an das Leistungsvermögen von Gebäuden aus ganz unterschiedlichen Gründen eigen sind.

TEC21: Sie sprechen vom Zeitgeist. Glauben Sie, die Erwartungen an ein optimal funktionierendes Gebäude sind eine Modeströmung und verschwinden wieder?
Dimitrios Gyalistras: Nein, überhaupt nicht. Ich meine damit, wie die Gesellschaft auf die rasante Entwicklung im IT-Bereich reagiert. Vieles wird nun als Selbstverständlichkeit wahrgenommen. Mit einem Fingerwisch auf dem Handydisplay kann jeder enorme Rechenleistungen und hoch individualisierte Dienstleistungen abrufen. Dies schraubt die Erwartungen an das technisch Machbare nach oben. Doch damit man von einem Gap sprechen kann, muss sich jemand für die Gebäudeperformance überhaupt interessieren.

TEC21: Wer könnte das sein?
Dimitrios Gyalistras: Nicht alle Stakeholder haben dieselben Interessen. An energetischen Aspekten waren lange Zeit nur Idealisten, Pioniere und Spezialisten interessiert. Mittlerweile sind weitere Kreise auf den Performance Gap aufmerksam geworden. Dieser definiert sich grundsätzlich aus der planerischen Vorgabe respektive einer erwarteten Leistung. Wichtig für die Erfassung ist zudem, dass eine Abweichung zuverlässig detektiert werden kann. Und am Schluss dieser Wahrnehmungskette braucht es die Möglichkeit einer kausalen Zuordnung.

TEC21: Was ist damit gemeint?
Dimitrios Gyalistras: Der Gap muss einer Ursache zugeordnet werden können; es braucht Gründe, warum funktionale Erwartungen nicht erfüllt werden. Denn erst wenn solche vorliegen, hat der Nutzer allfällige Ansprüche zugute, falls der Service im Wohn-, Arbeits- oder Lebensraum nicht stimmt. Die neuen Technologien nehmen aber nicht nur Einfluss auf die Erwartungen. Sie selbst bieten ungeahnte Möglichkeiten, wie man eine Immobilie auf eine neue Art nutzen kann. Die Hülle der Gebäude ist weitgehend starr; Informations-, Energie-, und Geldflüsse darum herum sind dank dem Internet jedoch hochmobil. Die dezentrale Erzeugung hat den Energiesektor hier schon weit vorangebracht. Beim Bauen sind tradierte Eigenheiten und historische Denkweisen erst noch zu überwinden.

TEC21: Geht es beim Performance Gap also weniger um Unzulänglichkeiten bei der Gebäudetechnik als um Erwartungen, Verantwortlichkeiten und Wahrnehmungsfragen bei Immobilien?
Dimitrios Gyalistras: Genau. Der Performance Gap ist nicht nur technisch zu verstehen, sondern behandelt das gesamte Bauwesen. Die Performance versteht sich als Summe von Leistungen, die wir von den Gebäuden beziehen. Darum analysieren wir den Performance Gap auf einer systemischen Ebene. Man muss darüber nachdenken, wie man den Bauprozess und den Betrieb verbessern kann. Die Bauweise und die Prozesse werden viel zu wenig an der erbrachten Leistung gemessen. Wir betrachten dazu die Ineffizienzen im Planungs- und Bauprozess oder auch die Transparenz, wer wofür verantwortlich ist. Zudem möchten wir eine Diskussion anregen, wie die jeweils angestrebten Ziele überprüft werden können.

TEC21: Worum handelt es sich bei der Ineffizienz?
Dimitrios Gyalistras: Im Planungs- und Bauprozess tauchen des Öfteren Bestellungsänderungen und neue Rahmenbedingungen auf, denen man nicht immer gerecht werden kann. Oder es kommt vor, dass wichtige Informationen die Planer erst gar nicht erreichen. Späte Änderungen im Planungsablauf können, wenn überhaupt, nur mit viel Erfahrung integriert werden.Eine typische Reaktion, um sich auf Eventualitäten vorzubereiten, ist, technische Anlagen zu überdimensionieren. Mit solchen Ineffizienzen ist der Gap vorprogrammiert.

TEC21: Also entsteht der Gap nicht, weil Vorgaben zu ambitioniert sind, sondern aus Planungsunsicherheit?
Dimitrios Gyalistras: Beispielsweise aus der Schlussfolgerung eines Planers, sich mit Reservekapazitäten gegen spätere Risiken abzusichern. Darin steckt kein Vorwurf, dass jemand etwas falsch macht. Aber das System ist nicht agil, rückwirkend eine Änderung vorzunehmen. Es gibt einen riesigen Trade-off zwischen Flexibilität, Risikoaversion und Vorinvestition; Gaps sind Hinweise, dass solche Aspekte bei Planung und Bau zu Lasten der Betriebsphase ausbalanciert werden müssen.

TEC21: Ist der Performance Gap bei Gebäuden zwingend zum Verschwinden zu bringen?
Dimitrios Gyalistras: Man kann in der Gebäudeplanung nicht alles unter Kontrolle halten; aus klimatischen Gründen nicht oder weil es Nutzungsänderungen gibt. Das Ziel muss aber nicht unbedingt sein, dass jedes einzelne Gebäude perfekt funktioniert. Denn die Planer benötigen weiterhin realistische Zielbereiche und individuelle Spielräume. Werden kleinste Abweichungen bestraft, wirkt das nur kontraproduktiv.

TEC21: Was kann gegen Leistungseinbussen unternommen werden?
Dimitrios Gyalistras: Den grössten Einfluss haben Akteure, die Gebäude nicht nur bauen, sondern auch besitzen, etwa die öffentliche Hand. Dabei kann man auch Neues ausprobieren. Warum kann nicht das «performancebased building design» ein zentrales Thema eines Projektwettbewerbs sein? Allenfalls kann man auch mit einer «integrated project delivery» expertimentieren, um die Agilität in allen Prozessphasen und die Kooperation unter den Beteiligten zu verbessern. Es braucht Anreize zu einem Commitment, damit ein Planungskonsortium für das Resultat, im Guten und im Schlechten, einzustehen hat. Es braucht ebenso eine Auseinandersetzung, wie BIM als Kooperationslösung eingesetzt werden kann.

TEC21: Wie kann die Digitalisierung sonst helfen, dem Performance Gap auf die Spur zu kommen?
Dimitrios Gyalistras: Effektiv bringt der technische Fortschritt gewaltige Chancen hervor, zum Beispiel bei den Werkstoffen mit dem 3-D-Druck oder beim Betrieb mit vorausschauenden Regelstrategien und dem kontinuierlichen Monitoring. Dieser letzte Bereich überprüft, inwieweit die angestrebten Ziele erreicht werden. Der digitale Fortschritt bringt auch Gefahren mit sich, wie eine Bevormundung des Nutzers oder die Überwachung von persönlichen Daten. Hier braucht es eine neue Daten- und Informationskultur, was in der Baubranche aber noch zu wenig thematisiert wird.

TEC21, Fr., 2017.09.29



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11. August 2017Paul Knüsel
TEC21

Ein Schaulager für Krieg und Frieden

Wie attraktiv und publikumsträchtig ist eine historische Waffensammlung? Der Kanton Solothurn wagt mit der Erneuerung des Zeughauses eine inhaltliche ­Auffrischung der Ausstellung. Das Resultat ist sehenswert.

Wie attraktiv und publikumsträchtig ist eine historische Waffensammlung? Der Kanton Solothurn wagt mit der Erneuerung des Zeughauses eine inhaltliche ­Auffrischung der Ausstellung. Das Resultat ist sehenswert.

Eine Kanone ist eine Kanone ist eine Kanone. Oben das Laufrohr zum Abfeuern der Kugeln und unten die Lafette, ein Holzgestell für die Bodenhaftung. Anfänglich wurden schwere Eisenkugeln abgefeuert; später folgten explosive Projektile. Und seit Erfindung der Rückstossfederung erhöhte sich die Feuerkadenz. Die Kanone ist eine Kriegswaffe, um den Tod in die feindlichen Reihen zu bringen; ein ausgefeiltes Handwerk ermöglicht dies gefahrlos und effizient. Mehr als ein halbes Dutzend Geschütze aus eidgenössischer Vergangenheit sind im Alten Zeughaus von Solothurn aufgestellt. Gleich beim Eintritt ist der Besucher mit diesen historischen Waffen und den eigenen Vorurteilen über deren Zweck konfrontiert.

Eine Halbarte ist eine Halbarte ist eine Hal­barte. Die lange Holzstange hält Gegner auf sichere Distanz; die vorn angebrachte Rundklinge mit Hacken, Dorn und Spitze erlaubt wilde, verbissene Attacken. Die «Hellebar­de» gehörte zur Standardausrüstung der kriegerischen und tapferen Eidgenossen. Im Zeughaus lagern weit über 400 Stück, weil Solothurn lange Zeit die Söldnerhochburg der alten Orte war. Eine Vielzahl wird hinter den Kanonen an einer Waffenwand zur Schau gestellt. Die Exponate sind archivarisch durch­num­me­riert; die Fülle demonstriert, wie detailreich die Unterschiede sind. Ob stechen, hauen, schlagen oder reissen: Der Waffenschmied entschied mit seinen Ideen und sei­nem Geschick viele Auseinandersetzungen in jüngerer Neuzeit mit. Als der Büchsenmacher mit seinen Erzeugnissen die Kriegsschauplätze zu dominieren begann, waren viele Waffengattungen plötzlich nur noch Zier.

Spektakel durch Neubauten oder Inhalte?

Ist ein Zeughaus ein Zeughaus oder ein Museum? Tatsächlich ist der Kanton Solothurn im Besitz von Waffen, die das historische Erbe vieler Konflikte der letzten vier Jahrhunderte sind. Die Sammlung gilt als einzigartig in ganz Europa. Sie wird seit über hundert Jahren im Museum Altes Zeughaus präsentiert, mitten in der Solo­thurner Altstadt. Doch immer weniger konnten sich für einen Besuch der Ausstellung erwärmen. Das Publikum blieb auf Waffenliebhaber und militäraffine Kreise ­beschränkt. Letztes Jahr nun hat der Kanton Hülle und Inhalt des lokalen Wehrmuseums entstaubt.

In der Schweiz gibt es über 1000 Museen. Keines ist wie das andere; aber alle warten auf interessierte, neugierige Besucher. Die bekanntesten präsentieren bildende Kunst und locken Publikum aus nah und fern. Zur Positionierung werden jedoch schnell ändernde Inhalte benötigt; möglichst spektakuläre Neubauten machen zusätzlich auf sich aufmerksam (vgl. TEC21 45/2016). Der Aufwand, den die öffentliche Hand und private Mäzene dafür betreiben, ist enorm. Die Investi­tionen dienen ebenso dem Standortmarketing wie der Förderung von Kunst und Baukultur. Daraus ergeben sich bisweilen leider abgehoben wirkende Objekte, die den Bezug zur lokalen Umgebung und zum Ausstellungsinhalt vermissen lassen.

Den Hauptharst der inländischen Museumsvielfalt bilden jedoch Häuser, die orts- und sachkundig mehr oder weniger konstante Themen aus Volkskunde, Heimatgeschichte oder Naturwissenschaft vermitteln. Viele der nur lokal oder regional bekannten Museen in der Schweiz sind voll von herausragenden Exponaten, doch ihre Inszenierung leidet meist unter bescheidenen Ressourcen. Auch das Alte Zeughaus in Solothurn mit Baujahr 1614 war ein Sorgenkind.

Vermittlung mit Dialog und Reflexion

Vor rund zehn Jahren ordnete die Solothurner Kantonsregierung deshalb einen Neustart an. Die neue Strategie leitete man aus einer überarbeiteten Museumspolitik ab; zudem sollte das Zeughaus bekannter und einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden. Aus der mutigen Idee, nicht nur Waffen zu präsentieren, sondern auch die Kontexte zu Technik, Historie und Politik darzustellen, entstand eine Ausstellung über Wesen und Sinn der Wehrhaftigkeit. Thematisch galt es, Bezüge zur Konfliktbewältigung und zum Söldnerwesen einzufügen und formal eine Vermittlungsebene für den Dialog und die Reflexion zu ergänzen.

Für die Erneuerung von Hülle und Inhalt wurden jeweils eigene Wettbewerbe durchgeführt. 2011 gewann das Basler Gestaltungsbüro element design den Studienauftrag für die Inszenierung der Dauerausstellung. Und wenig später erkor man das Architekturbüro Edelmann Krell aus Zürich als Sieger des selektiven Auswahlverfahrens für «Umbau und Sanierung» des wuchtigen Baus mitten in der Solo­thurner Altstadt. Bemerkenswert ist, dass beide Entwürfe unabhängig voneinander erarbeitet wurden und sich dennoch gut zusammenfügen.

Der Coup der baulichen Sanierung ist, auf äus­sere Applikationen am Gebäude zu verzichten und im Gegenzug dem Innenleben einen Neuling zuzumuten: Der Erschliessungsturm, der nun den hinteren Raumbereich über alle Etagen durchstösst, hat jedoch ein vertretbares Format und ist dem bestehenden, ebenso runden Aufgang an der Ostseite nachempfunden. Letzterer steht den Ausstellungsbesucher zur Verfügung; der Einbau besteht aus Treppe und Lift für den Transport der Exponate bis in den vierten Stock. Zusätzlich zur Logistik waren allerdings auch Statik und Technik aufzurüsten und den Anforderungen an ein zeitgemäs­ses Museum anzupassen.

Das Instandsetzen führte zu tief gehenden Eingriffen; teilweise wurde die inne­re Baustruktur aus Stützen und Decken sogar entkernt. Beim Wiedereinbau respektierte man das Ursprungsbild weitgehend: Um die Belastbarkeit zu erhöhen, ­wurden die bisherigen Stützen untereinander ausgetauscht. Und die Nivellierung der Böden ergab Zwischenräume, dank denen sich neue Leitungen und ­Kanäle versteckt in die Horizontale einbauen liessen.

Das Museum Altes Zeughaus wurde vor acht Jahren in das Schweizerische Inventar der Kulturgüter von natio­naler und regionaler Bedeutung aufgenommen. Den historischen Raumeindruck zu bewahren war ein zentrales denkmalpflegerisches Anliegen. Die Dauerausstellung erstreckt sich über drei Geschosse; darüber befindet sich Raum für Sonderveranstaltungen.

Multimedia in den Köpfen der Besucher

Jedes Geschoss umfasst einen einzigen, weiten und tiefen Raum. Mächtige Holzpfeiler tragen jeweils wuchtige Längsbalken, in einem grosszügigen Raster verteilt. Zu­sätz­liche Querrippen stützen die Zwischendecke oben ab. Unten präsentiert sich der Boden ebenso stattlich; die meisten der mittelgrossen, rotbraunen Tonplatten sind im Originalzustand erhalten. Die beiden oberen Ausstellungsgeschosse werden über zwei bis drei ­Gebäudeseiten natürlich belichtet. Die quadratisch ­gerasterten Fenster sind in Mauerbögen eingefasst und öffnen als Nischen Ausblicke auf die Stadt.

Auch die szeno­grafischen Interventionen nehmen die gedämpfte Ausstrahlung der Räume auf. Die Waffenwände und die in Reih und Glied posierenden Harnische passen sich dem ruhigen Innern in Dimension, Mate­ria­lisierung und Haptik bestens an. Zudem sind die Exponate so locker im Raum verteilt, dass man sich bei Interesse in sie vertiefen oder ungehindert davor passie­ren kann. An die Wand gehängt, in den Raum gestellt oder zum Berühren: Das Waffenarsenal ist jeweils ­objektbezogen ausgestellt und punktuell zwischen ­ausreichend bis ausführlich erklärt.

Das erste Obergeschoss weitet die Vermittlungsinhalte auf die Schweizer Wehr- und Konfliktgeschichte aus. Gestalterisch wird diese Ergänzung aber zum Bruch: Zwischen die Stützen sind drei begehbare Kammern gestellt, deren verspiegelte Aussenwände ein räumliches Vexierbild erzeugen. Die Kabinen schotten innere Themenwelten ab, die nun auch multimedial vermittelte Kommentare und Erklärungen enthalten.Man lernt, wie heftig die helvetischen Glaubenskriege unter katholischen und reformierten Ständen im 16. Jahrhundert geführt wurden. Ebenso erhellend sind die Informationen über das ebenso gewalttätige wie einträgliche Söldnerwesen.

Und auch die übrigen wehrgeschichtlichen Zusammenhänge oder Anekdoten regen zum Weiterdenken an. Medizinische Bulletins über Opfer, Ansichten von historischen Strassenschlachten oder Pläne zum militärisch motivierten Städtebau runden diese spannende, niemals heroisierende Wehrschau ab. Verschwiegen wird glücklicherweise wenig. Auch darf der Besucher interagieren und seinen persönlichen Lieblings-Friedensaktivisten verewigen. Die zurückhaltende Vermittlung drängt nichts auf. Viele Objekte und eine reduzierte Auswahl an Bildern und Kommentaren erzeugen ausreichend Multimedia im eigenen Kopf.

Die grosse Sorgfalt im Umgang mit dem Bestand prägt auch die Neuinszenierung der Tagsatzung von Stans von 1481. Damals schlichtete Niklaus von Flüe einen Streit unter den alten Orten, damit sich die Städte Solothurn und Freiburg dem eidgenössischen Bündnis anschliessen konnten. Das Puppenensemble steht seit 170 Jahren im Zeughaus und ist nun mit handgefärbten Wollstoffen neu eingekleidet worden. Und auch das Gebäudecurriculum findet Platz in der erneuerten Wehrausstellung. So sind die Gravuren im Gebälk, eine Hinterlassenschaft der Handwerker, oder Tierspuren in den Tonplatten ausführlich erklärt.

Das Museum Altes Zeughaus in Solothurn war bislang ein Schaulager mit einzigartiger Waffensammlung; neuerdings ist es ein modernes, anregendes Museum und Ausstellungsexponat zugleich.

TEC21, Fr., 2017.08.11



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TEC21 2017|32-33 Lokale Museen: Raum und Inhalt

11. August 2017Paul Knüsel
Hella Schindel
TEC21

«Auf Augenhöhe mit der Architektur»

Das Museum Altes Zeughaus Solothurn wurde umgebaut und die Dauerausstellung erneuert. Der Szenograf Roger Aeschbach erklärt, welche Struktur- und Wahrnehmungsebenen die Realisierung einer Ausstellung erschweren können.

Das Museum Altes Zeughaus Solothurn wurde umgebaut und die Dauerausstellung erneuert. Der Szenograf Roger Aeschbach erklärt, welche Struktur- und Wahrnehmungsebenen die Realisierung einer Ausstellung erschweren können.

TEC21: Herr Aeschbach, Hand aufs Herz – kennen Sie den Unterschied zwischen einer Halbarte und einer Hellebarde?
Roger Aeschbach: Historiker sprechen von der Halbarte. Soweit mir bekannt, ist «Hellebarde» aber kein Fachbegriff. Warum fragen Sie?

TEC21: Sie haben die Waffen- und Wehrausstellung im Alten Zeughaus von Solothurn gestaltet. Was muss ein Szenograf über die Exponate selbst wissen?
Roger Aeschbach: Nicht jedes Detail, aber wichtige Fachkenntnisse fliessen selbstverständlich in das Präsentationskonzept ein. Beispielsweise waffengeschichtlich bedeutende Entwicklungen oder Personen, die dazu Hauptimpulse gegeben haben. Das Besondere an dieser Gestaltungsaufgabe war, dass man daraus ein historisches Designmuseum entwickeln konnte. Die Elemente der Inszenierung sind insofern die Objekte selbst sowie ihre Gestaltung, Funktion und die Materialbearbeitung.

TEC21: Eine Waffe dient kriegerischen Absichten. Hatten Sie keine Bedenken, die Besucher unmittelbar beim Eintritt ins Museum damit zu konfrontieren?
Roger Aeschbach: Der Auftakt muss sich aus den Objekten und dem Handwerk ergeben, das hinter jedem Einzelstück steckt. Denn diese sind direkt mit dem Ausstellungsort und seiner Entstehung verbunden. Wir stehen nicht in einem klassischen Kunstmuseum, sondern im Zeughaus, das seit jeher ein Massenspeicher für Waffen ist. Dazu hatten wir ursprünglich eine noch konfrontativere Situation für die Besuchenden ausgedacht, bei der alle Kanonen auf denselben Punkt gerichtet worden wären. Aber beim Herumschieben haben wir gemerkt, dass es nicht funktioniert.
Die Konfrontationsebene wird im Ausstellungsverlauf jedoch zugunsten einer eher repräsentierenden Perspektive aufgelöst. Denn die Zeughäuser sind traditionell auch zu Repräsentationszwecken benutzt worden, etwa mit dem Vorführen der Waffen von Adligen. Der Ursprung eines Wehrmuseums steckt also bereits im Zeughaus drin. Aus der historischen Architektur des Hauses wird ein weiterer Erzählstrang geknüpft, da die Räumlichkeiten ihrerseits beeindrucken und sich zur Vermittlung in dieser Ausstellung bestens eignen.

TEC21: Wie gingen Sie vor, um die Objekte in diesem selbstbewussten und lokal verankerten Gebäude angemessen zu präsentieren?
Roger Aeschbach: Die Wertschätzung des Zeughauses und die Wahrnehmung der Räume in der Bevölkerung sind besonders. Daher hatte man auch in der Politik Angst vor einer Verunstaltung. Unser Ziel war, den ursprünglichen Charakter des Rohen auch in der Art der Vermittlung und Inszenierung zu bewahren. Das Haus und die Objekte transportieren schon so viel Inhalt, dass wir auditive und visuelle Medien zurückhaltend eingesetzt haben. Doch das Haus soll nicht nur für Solothurn zentral bleiben, sondern auch ausserhalb stärker wahrgenommen werden. Daher war der Inhalt, die Wehrgeschichte der jüngeren Neuzeit, auf zeitgenössischere Art als bisher zu kommunizieren. Das Kuratorium gab zudem vor, das Zeughaus nun mit den Themen Konflikt und Konfliktbewältigung in der Museumslandschaft Schweiz zu positionieren.

TEC21: Die inhaltliche Neuausrichtung wurde für einen Studienauftrag unter Szenografen genutzt. Wie sind Sie mit der räumlichen Ausgangssituation umgegangen?
Roger Aeschbach: Es ist eine heikle Aufgabe, etwas Neues in derart wunderschöne Räume hinein zu planen. Aber bei allem Respekt braucht es manchmal den gestalterischen Bruch. Wir haben beispielsweise die verspiegelten Kabinen vorgeschlagen, damit die Vermittlung in räumlicher und inhaltlicher Distanz zum Zeughaus passieren kann. Die Wettbewerbsaufgabe bestand darin, vier solcher Themenräume zu entwerfen.

TEC21: Hatten Sie freie Hand, den Wettbewerbsentwurf eins zu eins zu realisieren?
Roger Aeschbach: Es ist erstaunlich, wie nah das Resultat am anfänglichen Entwurf bleiben konnte. Aus den vier Themenkammern im zweiten Ausstellungsgeschoss sind jedoch drei geworden. Die Reduktion ist zwar thematisch begründet, hat aber die räumliche Situation mit Sichtachsen und Lichteinfall eindeutig verbessert. Der Dialog mit den Kuratoren hat während des gesamten Umsetzungsprozesses gut geklappt, was für die komplexen räumlichen Interventionen vorteilhaft war. In unserem Berufsfeld ist der kontinuierliche Austausch jedoch üblich. Bereits in der Wettbewerbsphase diskutieren die Teilnehmer ein- bis zweimal mit den Kuratoren, damit die allenfalls länger dauernde Zusammenarbeit erprobt werden kann.

TEC21: Auf welche Periode ist eine solche Dauerausstellung konzipiert?
Roger Aeschbach: Die Gestaltung im Zeughaus kann im Prinzip für die nächsten 20 Jahre funktionieren. Auf eine Zeitlosigkeit in Gestaltung, Materialisierung, Vermitt­lung und Medieneinsatz wurde darum hoher Wert gelegt. Das heisst aber nicht, dass alles so bleiben muss: Ob etwa die Spiegelkabinen dem künftigen Zeitgeist gefallen, darf hinterfragt werden. Anpassungen der Einbauten sind bereits angedacht und können an den gewählten Bausystemen leicht vorgenommen werden.

TEC21: Wie hat der architektonische Erneuerungsprozess in Ihre Arbeit eingewirkt?
Roger Aeschbach: Im Zeughaus hat auch die Denkmalpflege bei der Raumgestaltung mitgeredet. Weil jede zusätzliche Partei die Komplexität erhöht und das Projekt erschwert, sind die Zuständigkeiten und das Management der Schnittstellen im Umsetzungsprozess wesentlich.

TEC21: Wie gut hat das beim Zeughaus geklappt?
Roger Aeschbach: Die interne Koordination funktionierte sehr gut. Dennoch ist unsere Arbeit meistens strukturell bedingt konfliktreich. Die Abläufe in der Museumsgestaltung und im Hochbau funktionieren anders. Ausstellungs- und Architekturprojekt sind richtigerweise organisatorisch bis hin zum Auftraggeber getrennt. Allerdings entsteht fast immer eine Zeitverschiebung zwischen den Ausführungsprogrammen. Die haustechnischen Anschlüsse erzeugen sehr schnell Druck: Kaum skizzieren wir den Gestaltungsentwurf, sind bereits definitive Anschlüsse festzulegen.

TEC21: Würde eine enge Zusammenarbeit zwischen Architekt und Ausstellungsgestalter die Situation verbessern?
Roger Aeschbach: Ich habe unterschiedliche Konstellationen in der Projektorganisation erlebt. Aber selbst wenn wir zum Planungsteam gehören, das einen Architek­turwettbewerb gewinnt, erfolgt die Ausführung in zwei Leistungsgruppen und läuft über verschiedene Budgets. Das Strukturproblem bleibt. Die Realisierung von Museen und Ausstellungs­bauten ist jedoch hochspezifisch und fällt daher aus der Norm. Das Bauen von Schul- und Verwaltungsgebäu­den lässt sich im Vergleich dazu leichter standar­disieren. Zudem ist die Zusammenarbeit zwischen Architekt und Gestalter auch im Alltag mit Stolpersteinen versehen.

TEC21: Was ist schwierig?
Roger Aeschbach: Eigentlich sollte eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe möglich sein. Beide Disziplinen kennen sich mit Raumgestaltung aus; teilweise kann man gegenseitig von den unterschiedlichen Erfahrungen im Museumsbau profitieren. Schwierig wird es, wenn es um die Kontrolle über die Gesamtaufgabe geht.

TEC21: Verstricken sich Gestalter und Architekt im Gärtleindenken?
Roger Aeschbach: Architekten bauen schöne Räume, wenn sie ein Museum planen. Die Szenografen dagegen kommu­nizieren. Diese beiden Denkhaltungen können sehr verschieden und schwer vereinbar sein. Daher würde eine flexible Haltung im Ausführungsprozess die Zusammenarbeit sicher verbessern. Leider werden aber viele Museen so bestellt, dass die Signatur des Architekten erkennbar ist. Die Kehrseite davon ist, dass niemand zu fragen wagt, ob überhaupt etwas an die Wände aufgehängt werden darf. Wichtig ist daher, dass der Museumsbetreiber ein echtes Mitspracherecht im Bauprozess erhält.

Roger Aeschbach ist Designer FH, konzipiert Museen und Ausstellungen. und führt seit 23 Jahren das Büro element design, Basel. Zu den Referenzen gehört unter anderem die Erweiterung des Deutschen Literaturarchivs in Marbach bei Stuttgart.

TEC21, Fr., 2017.08.11



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28. Juli 2017Paul Knüsel
TEC21

Vom Kurort zur urbanen Freizeitarena

Tourismusdestinationen stehen unter einem vermeintlichen Wachstumszwang, damit der Gast bequem befördert werden und aus einem vielfältigen Programm auswählen kann. Wie verändert dies den alpinen Raum und die Baukultur?

Tourismusdestinationen stehen unter einem vermeintlichen Wachstumszwang, damit der Gast bequem befördert werden und aus einem vielfältigen Programm auswählen kann. Wie verändert dies den alpinen Raum und die Baukultur?

Die Lenzerheide geografisch zu verorten ist eine verwirrende Aufgabe. An sich bildet sie den Passübergang zwischen Chur und Tiefencastel; südlich des Heidsees befindet sich der höchste Punkt. Die politische Heimat ist geräumiger; zusammen mit vier weiteren Siedlungsfraktio­nen gehört «Lai» zur Gemeinde Vaz/Obervaz. Das Tummelfeld für Schneesportler ist noch einmal bedeutend grösser; die Ski­destination Lenzerheide beginnt mitten in Churwalden und endet am Obersee von Arosa. Seit drei Jahren verbindet eine Seilbahn die beiden Mittelbündner Skiorte Lenzerheide und Arosa zum «grössten zusammenhängenden Wintersportgebiet in Graubünden». Trotz fehlendem Gletscher ist die «Lenz» nun eine international bekannte «Top-Skidestination».

Wo früher verstreute Aclas (dt. Maiensässe) bewohnt und bewirtschaftet wurden, ist Ende des 19. Jahrhunderts ein Relais auf dem Weg ins Engadin entstanden. Und was damals als beschaulicher Kurort begann, ist inzwischen zur Tourismusfabrik für die breite Masse geworden. Etwa 1.2 Mio. Gäste zählen die Bergbahnen im Jahr. Zuletzt wurden über 10 Mio. Franken jährlich in Neues investiert; aber die schneearmen Winter haben, trotz Zusammenschluss mit Arosa, einen Rückgang der Frequenzen bewirkt. Welche Risiken sind mit dem Ausbau des Tourismusangebots verbunden?

Massentourismus als Ansichtssache

Die Lenzerheide ist auch eine raumplanerische Ansichtssache. Das Hochtal ist massiv zersiedelt; der Siedlungskern wirkt eher ungeformt und schmächtig. Die kommunale und touristische Entwicklungsstrategie bestand bisher im Wesentlichen darin, die Ränder und Berghänge mit Immobilien zu verbauen. So ist aus Vaz/Obervaz die Bündner Ferienwohnungshochburg entstanden; der Zweitwohnungsanteil liegt bei 77 %. Das generelle Bauverbot wird zwar Druck aus der Landschaft nehmen; aber wie geht die Siedlungsgeschichte der Gemeinde weiter? In der Lenzerheide sind der Tourismus und die Gemeindeentwicklung mehrfach eng miteinander verbunden. Einwohner- und Bürgergemeinde sind selbst im Besitz von 49 % der Bergbahnaktien. Schwächelt der Fremdenverkehr, spürt dies schnell auch die Bevölkerung. Wie die bauliche, räumliche und nachhaltige Entwicklung weitergehen soll, ist Thema der folgenden Ortsbesichtigung. Welche funktionalen Ansprüche hat die Lenzerheide zu erfüllen, und wie gut sind die Chancen für eine positive Entwicklung?

Gemeindepräsident Aron Moser glaubt an die Vorwärtsstrategie: «Wenn wir nicht Neues wagen, gehen wir unter.» Christoph Suenderhauf, Verwaltungsrats­präsident der Lenzerheide Bergbahnen, erwartet aber, dass sich die öffentliche Hand stärker beteiligt: «Der Aufwand für die Beschneiung ist meiner Meinung nach Teil eines Service public.» Richard Atzmüller, Leiter des kantonalen Amts für Raumentwicklung, strebt dagegen ein «ausgewogenes Verhältnis zwischen intensiver und entspannter Tourismusnutzung und ein tragfähiges Nebeneinander» an. Derweil hofft Stefan Forster, Leiter einer Forschungsgruppe Tourismus und Nachhaltige Entwicklung, «dass der Massentourismus nachhaltiger gestaltet wird». Und Architekt Jon Ritter – mehrere Neubauten stammen aus dem Büro, das er zusammen mit Michael Schumacher führt – will dem Tourismusort zu einem Ausdruck verhelfen, in dem sich «Identität und Service» in Balance halten.

Der Einstieg: Portal Churwalden

Staus vorbehalten, ist die Lenzerheide in anderthalb Stunden aus den Agglomerationen Zürich oder Zug erreichbar. 80 % der Schneesportler kommen jeweils nur für einen Tag; morgens und abends strömen jeweils deutlich über 10 000 Autos durch die Dörfer auf der Anfahrtsstrecke. Zwar hat der Kanton Graubünden die Möglichkeit einer Bahnverbindung ab Chur überprüft, die Pläne wurden aber aus Kostengründen zu den Akten gelegt. Stattdessen werden die Hauptstrasse ausgebaut und die Anreise für Touristen verkürzt. Seit letzter Wintersaison ist nun Churwalden der vorgezogene ­Ein- und Umsteigepunkt für die Lenzerheide. Ab hier können Autofahrer und ÖV-Reisende auf die Bergbahnen wechseln. Die frühere Talstation wurde zum komfortablen Empfangsareal mit Parkleitsystem und neuem Post­autoterminal umgebaut.

Hauptelement des Churwaldner Knotens ist ein Empfangs- und Einstiegsgebäude, das ein sichtbares und modernes Zeichen für den freundlichen Empfang setzen will. Ritter Schumacher Architekten haben das Bahnportal als Landmarke entworfen. Es wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Award 2016 für Marketing und Architektur. Gestaltungsmerkmal ist die topografisch eingepasste, geschwungene Form. Zwei Rampen verschränken sich am Fuss des Abhangs inein­ander. Der Eingang, eine Glasfront, wird durch eine Sichtbetonwand umrahmt. Auf der rechten, abgestuften Seite folgt eine Dachterrasse; der Fensterschlitz links bringt Tageslicht in das mit Holz ausgekleidete Restaurant. Die Aussenfassade ist derweil aus Sichtbeton mit einer unregelmässigen Rippenstruktur.

In Sichtweite davon hat das Büro auch den Bushof realisiert, mit ebenso ausgeprägtem Materialisierungscharakter. Die alte Postautohaltestelle an der Hauptstrasse ist durch einen Holzpavillon ersetzt worden; die Konstruktion ist pilzförmig, besitzt Lamellenwände und kragt nach oben aus. Im Innern befinden sich ein geschützter Warteraum sowie ein Migros-Markt. Ursprünglich war ein einfacher Unterstand gedacht; die konzeptionelle Erweiterung und die Zusatznutzung hatten die Architekten ins Spiel gebracht. Geholfen hat, dass Gemeinde und Bahnbetreiber gemeinsam ein übergeordnetes Arealentwicklungskonzept erarbeitet haben. Anstatt weiterhin von der Verkehrslawine überrollt zu werden, kann Churwalden nun darauf hoffen, als Teil der Feriendestination wahrgenommen zu werden und davon selbst mehr zu profitieren.

Das Revier: Destination im Ausbaumodus

Unübersehbar sind auch die Spuren, die die meistens nur temporär genutzte, touristische Infrastruktur in der Landschaft hinterlässt. Neben dem Portal Churwalden zieht sich eine Kette aus Schneekanonen den Hang hinauf, und gleich daneben windet sich das Gerüst einer Rodelbahn auf den Nachbargipfel. Die Berghänge rund um die Lenzerheide sind noch weiträumiger mit dem üblichen Skisportinventar aus Waldschneisen, Bahnstationen und Masten verstellt. Immer mehr Sommeraktivitäten werden sichtbar; durch die Bäume schimmert eine braune Piste für Downhillbiker. Und den Heidsee überspannt eine Leine, die Wakeboarder über Wasser hält. Am Ostufer wird eben noch gebaut: Die Talstation der Rothornbahn erhält ein Parkhaus, daneben entsteht eine Herberge für Budgettouristen.

Die Feriendestination Lenzerheide ist im Ausbaumodus: 140 Mio. Franken haben die Bergbahnen in den letzten elf Jahren investiert. Raumplanerisch ist diese Entwicklung grundsätzlich kompatibel. Gemäss dem Richtplan Graubünden ist es ein «Intensiv­erholungsgebiet»; der kommunale Zonenplan hat Platz für «Wintersportzonen», «Bikerouten» und «Anlagen ­ für die technische Beschneiung» reserviert. Im Einzelfall und bei Baubewilligungen wird dennoch intensiv darüber diskutiert. Das letzte Mal opponierten die Umweltorga­nisationen vor über zehn Jahren gegen ­die Verbindung der Nachbar-Skigebiete. Damals starteten die Lenzerheide Bergbahnen ihre Investitionsoffensive in die Urdenbahn und leistungsfähigere Verteilkorridore. Das meiste ist inzwischen in Betrieb.

Diesen Winter folgt das vorerst letzte Ausbauprojekt, ein Berghaus unterhalb des Parpaner Schwarzhorns. «Die Infrastruktur ist komplett; nun folgt die Konsolidierungsphase», bestätigt Verwaltungsratspräsident Suenderhauf. Das Wetter und die Gäste bestimmen ab jetzt, wie schnell das gelingt. Ein sehr guter Wintertag lockt bis zu 20 000 Skifahrer und Snowboarder an; im Sommer ist man bereits mit einem Zehntel zufrieden. Speziell die Mountainbiker sind begehrte Gäste. Denn anders als Wandersleute bevorzugt der Radler eine Bahnfahrt auf dem Weg nach oben.

Mehr Gäste im Sommer und Touristen, die statt nur einen Tag mindestens ein Wochenende verweilen, lautet der Businessplan, der zur besseren Auslastung der Feriendestination führen soll. Die aktuell 1500 Hotelbetten müssen daher Zuwachs erhalten. Allein 200 trägt das «Revier» dazu bei, die neue Herberge an der Rothorn-Talstation. Weitere Hotelprojekte sind geplant. Allerdings wird nicht alles begrüsst: Vor fünf Jahren hat sich die Stimmbevölkerung gegen ein Ferienresort ausgesprochen. Gegen die Erweiterung des Hotels Seehof hatten sich benachbarte Ferienhausbesitzer zwischenzeitlich gewehrt. Und wie es mit dem Kurhaus in der Ortsmitte von Vaz/Obervaz weitergeht, liegt in den Händen des Privateigentümers.

Der Kurplatz: Kleinstadt Vaz/Obervaz

Das Kurhaus in der Lenzerheide markiert den Beginn der jungen touristischen Entwicklung. Vor 135 Jahren stand das Haus allein am höchsten Punkt; 1899 wurde es zum Jugendstilhotel ausgebaut. Seither haben zusätzliche Dependancen die einst stolze Anlage entstellt. Und neuerdings ist die Zukunft höchst ungewiss. Aktueller Besitzer ist der Bündner Immobilieninvestor Remo Stoffel, der den Komplex durch Neues, Modernes und Komfortables ersetzen will. Ein erstes Ersatzprojekt scheiterte an der Zweitwohnungsinitiative. Gemäss Gemeindepräsident Aron Moser hofft man weiterhin auf eine Erneuerung, die auch den Dorfkern unmittelbar betreffen wird. Denn das Kurhaus steht am historischen Postplatz, der inzwischen als Autoparkplatz genutzt wird, aber das Potenzial für ein öffentliches Ortszentrum hat. Die Autos sollen verschwinden, so der Plan. «Wann dies passiert, entscheiden die privaten Eigen­tümer», ergänzt Moser. Wie die Ortsmitte aufgewertet werden könnte, zeigen die Erneuerungsprojekte, die zuletzt realisiert worden sind. Die Wohn- und Geschäftshäuser neueren Datums sorgen, mitten im kommerziellen Zentrum der Lenzerheide, erstmals für ­kleinstädtisches, lebendiges Flair.

Direkt an der «voa principala» wurde ein fünfstöckiger Neubau mit Arkade, Satteldach und mine­ralischer Fassade (Giubbini Architekten) erstellt, in dem sich das Tourismusbüro befindet. Sein jüngstes Vis-à-vis bildet die zweiteilige Überbauung «Senda» (Ritter Schumacher), deren Architektur das Dorfbild noch stärker – mit weiten Fensterlaibungen im Sgraffito­rahmen und hellen Farben – modernisieren will. Von den chaletartigen Nachbarhäusern wurde das Sattel­dach übernommen; anstelle der Holzbalkone sind ­Loggien in die Lochfassade eingezogen worden. Das Erdgeschoss des vorderen Wohnhauses wird als Café genutzt und wendet sich mit Terrasse und Treppe einladend dem Postplatz zu. Die übrigen Einkaufsläden und Hoteladressen liegen an der viel befahrenen Hauptstrasse; für Passanten wird es schnell eng.

Aufgefrischt worden ist auch der Auftritt der kommunalen Verwaltung, einen Steinwurf vom Zentrum entfernt. Das Gemeindehaus (Architekturbüro Michael Hartmann) wurde vor drei Jahren bezogen. Die Fassaden vereinen Stein und Glas, und das Dach ist beinahe flach. Das Gebäude ist das Resultat eines Wettbewerbs unter einheimischen Architekten und versucht wie ­viele andere Neubauten, das vorherrschende Siedlungsbild aus alter, neuer und imitierender Chalet- und Holzarchi­tektur zu durchbrechen. Auf dem Rundgang mit Architekt Ritter gibt es zudem überraschende Zeitzeugen der alpinen Tourismusarchitektur zu entdecken. Neben dem Schwimmbad zelebriert eine rund 40-jährige Feriensiedlung selbstbewusst den Sichtbeton und die damals vorherrschende kollektive Wachstums­euphorie. Und auch die Jugendherberge ist ein Blickfang; das modernistische und sachliche Gebäude aus den 1930er-Jahren überragt den Villenhügel von Valbella.

Am Hüslihang: Erst- statt Zweitwohnungen

Die Lenzerheide hat fast dreimal mehr kalte als warme Betten anzubieten. Die Zahl der Zweitwohnungen ist in der Gemeinde mit rund 2600 Einwohnern auf über 4000 angestiegen. Entsprechend locker sind die Hänge nördlich, südlich und westlich des Heidsees überbaut (vgl. TEC21 19–20/2015). Der Bau neuer Ferienwohnungen ist generell verboten; befürchtet wurde ein dramatischer Rückgang der Bautätigkeiten und des Steuerertrags. Allerdings bleibt die Umwandlung von Altbauten zu Zweitwohnungsadressen erlaubt, weshalb nun Umbauaktivitäten zunehmen. Gemeindepräsident Moser beurteilt die Finanzprognosen daher rosig; die Gemeindeversammlung darf demnächst entscheiden, ob der Steuerfuss gesenkt werden soll.

Parallel dazu streckt die Gemeinde wohnpolitische Fühler aus: Junge Familien sollen die Lenzerheide als Alternative zur Agglomeration Chur entdecken und im Ferienort wohn- und sesshaft werden. Die Bürgergemeinde hat bereits eine eigene Parzelle direkt neben dem Gemeindehaus mit Mehrfamilienhäusern überbaut. Auch der Kanton hält mehr Werkpendlerverkehr hinunter ins Bündner Rheintal für vertretbar. Dass sich dadurch die Abwanderung aus dem benachbarten Hinterland verstärkt, kann gemäss Raumplaner Atzmüller nicht ausgeschlossen werden.

Das angestrebte Bevölkerungswachstum muss jedoch mit der Siedlungsverdichtung vereinbar sein. Freie Bauparzellen sind selbst in Zentrumsnähe reichlich vorhanden. Die eingezonten Flächen in den Fraktio­nen Lenzerheide und Valbella sind laut einer Berechnung des Kantons erst zu 76 % überbaut. Allerdings hat sich eine Reserve angehäuft, die es zu ­reduzieren gilt. Die laufende Richtplanrevision des ­Kantons weist einen Rückzonungsbedarf für etwa 20 ha Bauland aus, rund die Hälfte der unüberbauten Flächen.

Nachhaltigkeit am Berg

Die Destination Lenzerheide konsumiert jährlich rund 9 GWh Strom, etwa 10 % mehr als die Stadt Chur. Fast ein Drittel beanspruchen die Pumpen der Beschneiungsanlage. Weitere Grossverbraucher sind die Bahnen, Lifte und Restaurants. Die Nachhaltigkeitsbemühungen am Berg konzentrieren sich hauptsächlich auf den Energiekonsum. Mit der kantonalen Energiebehörde wurde ein Effizienzprogramm vereinbart, das aus über 100 gebäude- und bahnbezogenen Massnahmen besteht. Wo möglich wird die Abwärme der Sesselbahnmotoren genutzt; und die Schneehöhe wird laufend gemessen, um die künstliche Beschneiung zu optimieren. Zusätzlich beziehen die Bergbahnen Strom aus «100 % erneuer­barer Energie wie Wasserkraft und Sonne», teilweise mit eigenen PV-Dächern.

Auch die Gemeinde macht Ernst mit der Energieeffizienz. Sie ist Mitglied des Energiestadt-Vereins und strebt die «2000-Watt-Gesellschaft» an. Das neue Gemeindehaus erfüllt den Standard Minergie-P, und im Zentrum von Vaz/Obervaz wird ein Biomasse-Wärmeverbund laufend ausgebaut. Lokale Sorgenkinder sind derweil der motorisierte Individualverkehr sowie die dauerbeheizten Feriendomizile: Gemäss einer Analyse der ETH Zürich reisen fast 80 % der Gäste mit dem Auto an, und die Ferienwohnungen werden selbst bei Abwesenheit im Winter auf mindestens 15 °C beheizt. Dieser Energieverschleiss soll nun aber verhindert werden: Seit letztem Jahr schreibt das kantonale Energiegesetz vor, die Heizung bei Neubauten und Ersatzanlagen dank Fernsteuerung jeweils niedriger einzustellen.

Ergänzend glaubt Stefan Forster von der ZHAW- Forschungsgruppe Tourismus und Nachhaltige Entwicklung in Wergenstein, dass «noch viel Potenzial im Absatz von Regionalprodukten besteht» – sie haben ökologische Vorteile und sind bei den Gästen äusserst beliebt. Massentourismus und nachhaltige Entwicklung sind zwar schwierig in Einklang zu bringen, doch erst wenn die Gäste sensibler auf die Belastung für Landschaft und Umwelt reagieren, wird ein Umdenken in der Tourismusindustrie stattfinden. «Bisher vertrauen die meisten Destinationen noch zu sehr auf konventionelle Ausbaukonzepte», lautet Forsters Fazit.

TEC21, Fr., 2017.07.28



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28. Juli 2017Paul Knüsel
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Wenn die Kirche im Dorf bleiben soll

Wie viel Technik oder Effekthascherei brauchen Erholungssuchende? Möglichst keine, sagen immer mehr Orte im europäischen Alpenraum. Die Bergsteigerdörfer in Österreich und Deutschland führen die Nachhaltigkeitsbewegung an. Mit Erfolg, wie ein Besuch vor Ort beweist.

Wie viel Technik oder Effekthascherei brauchen Erholungssuchende? Möglichst keine, sagen immer mehr Orte im europäischen Alpenraum. Die Bergsteigerdörfer in Österreich und Deutschland führen die Nachhaltigkeitsbewegung an. Mit Erfolg, wie ein Besuch vor Ort beweist.

Ramsau ist ein kleines, unscheinbares Dorf in Oberbayern. Selbst der Bürgermeister macht sich Sorgen, dass der Schweizer Journalist die weite Heimreise «ohne Story» antreten wird. Weshalb man hingefahren ist, verkündet jedoch die Ortstafel: Ramsau ist das «erste Bergsteigerdorf Deutschlands» und das jüngste Mitglied der alpinen Nachhaltigkeitsbewegung. Gemeinsam mit dem Bürgermeister und dem Tourismusdirektor sitzen wir im alten Mesmerhaus und diskutieren darüber, was das Label bewirken soll. Zuvor ist man durch das Dorf gelaufen; das Strassenbild gibt vorerst wenig preis.

Gleich nach der Ortseinfahrt stapeln sich Bretter einer Grosssägerei. Etwas verstreut in der gebirgigen Landschaft folgen neuere Chalets und traditionelle Bauernhäuser. Moderne Bauten oder Resort-Architektur sucht man vergebens. Mittendurch plätschert ein ­munterer Bach; mehr Wellnesstherme gibt es hier nicht. Und der Blick in die Berge wird hier höchstens von einer Kuh auf der Strasse oder posierenden Tou­risten ab­gelenkt. Einer scheint sich weniger für die ­Umgebung als für Einkaufsmöglichkeiten zu inter­essieren. Er ­wundert sich auf seiner Suche nach dem Supermarkt generell über die «karge Infrastruktur» an diesem ­Alpenort. In der kleinen Gemeinde an der deutsch-­österreichischen Grenze wohnen knapp 2000 Menschen; nach Feierabend wird beim Bäcker, Metzger oder im Kolonialwarenladen, so gross wie eine Garage, eingekauft. Brot backen viele im Gemeinschaftsofen hinter dem Busparkplatz. Ein einziges ­Souvenirgeschäft mit Postkarten und Dirndln ab ­Stange verrät dem eiligen Besucher, dass der Tourismus auch hier eine wichtige Einnahmequelle ist.

Gegen das Ballermann-Modell

Die Alpen sind eines der beliebtesten Ferienziele Europas; Millionen von Menschen stürmen täglich die ­Berge in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Viele Destinationen erhoffen sich daraus ein einträgliches Geschäft. Allerdings investieren immer mehr in Rodelbahnen, Saurierparks oder anderweitige Unterhaltungsinfrastruktur. Denn die Berge für sich allein sind «völlig langweilig und spannungslos», so das Credo von Günther Aloys, der das Businessmodell «Ballermann der Alpen» im österreichischen Skiort Ischgl erfunden hat. Im Bergsteigerdorf Ramsau fehlt solches: Das Relief beeindruckt weniger durch Stahlmasten und kahle Schneisen als durch blühende Bergwiesen, grüne Wälder, schmelzende Gletscher und steile Felsen. Ist das nun langweilig, beschaulich oder doch erholsam?

Zuerst wurde der Adel auf die Jagdgebiete rund um Ramsau aufmerksam. Dem bayerischen Königshaus folgten im 19. Jahrhundert die Landschaftsmaler und Hochalpinisten. Später reisten auch Kurgäste zuhinterst ins Berchtesgadener Land, um die gesunde Luft und die Höhenlage zu geniessen. Inzwischen erwirtschaftet das Urlaubsgeschäft 53 % des Bruttolokalprodukts. Die ansässigen Hotels, Pensionen und Bauernhöfe zählen jedes Jahr über 350 000 Übernachtungen. So viele Logiernächte können weder die SAC-­Hütten in den Schweizer Bergen noch Andermatt und Adelboden zusammen verbuchen. Damit und mit dem Umstand, dass Ramsau das jüngste Modell für nach­haltigen Tourismus sein will, rechtfertigt der Journalist seinen Ortsbesuch gegenüber dem Gemeindevorstand.

Immerhin gibt es auch hier Einzigartiges zu sehen: Die Pfarrkirche St. Sebastian ist eines der meistfotografierten Sujets in den Alpen. Ob man Reisebusse vom benachbarten Kiesplatz fernhalten soll, wird eben gemeindeintern diskutiert. Die Behörden denken: eher nicht, sonst würden auch die Einheimischen darunter leiden. Der direkte Zugang zum Friedhof wäre versperrt. Symptomatisch daran ist, dass die Bedürfnisse der ­Bevölkerung Vorrang haben. Zwar dreht sich in Ramsau vieles um das Barockgebäude mit Massivgebirge im Hintergrund. Für die Touristen aus aller Welt ist eine Fotoaufnahme davon fast Pflicht. Aber es scheint auch für die Einwohner ein unerschütterliches Symbol zu sein: Hier drängt der Tourismus die Kirche noch nicht aus dem Dorf.

«Wenig bis nichts ändern»

Das Geschäft mit den Gästen funktioniert bereits seit Jahren zufriedenstellend: «Seit 2009 machen etwa 30 % mehr Leute Urlaub bei uns. Von Frühling bis Herbst sind wir praktisch ausgebucht», bestätigt Tourismus­chef Fritz Rasp. Daran, betonen die Gesprächspartner, muss sich «langfristig wenig bis nichts verändern». Die Auszeichnung ist noch keine zwei Jahre alt; zusätzliche Publizität braucht man nur bedingt. Gemeindepräsident Herbert Gschossmann erhofft sich introvertiertere Impulse. «Wir wollen vor allem das Bewusstsein vor Ort dafür schärfen, was die Stärken unseres Lebensraums sind.» So werde die Marke zum Anlass, den Austausch im Lokalen, unter Ortsbewohnern, Vereinen und anderen interessierten Institutionen zu fördern.

Der sanfte Tourismus soll mithelfen, bestehende Traditionen und Lebensweisen zu pflegen, um die eigene Zukunft nachhaltig zu gestalten. Dazu passend ist der Sitzungsort für das Gespräch gewählt, besagtes Mesnerhaus neben der berühmten Sebastianskirche. Das Erdgeschoss stand leer und beherbergt nun eine der wenigen Neuheiten im Bergsteigerdorf: das privat betriebene, aber öffentlich zugängliche «BergKulturbüro». Regelmässig treffen sich Einwohner mit Fachleuten von ausserhalb zum Stammtischgespräch oder zu Workshops. Debattiert wird Grundsätzliches und Alltägliches; gesprochen wird über Verkehrslärm, Sonntagstrachten, die Wahrnehmung der Alpenbilder oder neueste Anforderungen an die Bergrettung. Mitinitiator ist der Kulturphilosoph Jens Badura, der Bergwanderungen organisiert und sich in Deutschland, Österreich und der Schweiz beruflich in der Alpenpolitik engagiert.

Bündner Dörfer suchen Anschluss

21 Orte im österreichischen und deutschen Alpenraum nennen sich inzwischen «Bergsteigerdorf». Der Österreichische Alpenverein hat die Marke vor neun Jahren entwickelt, als Initiative zur Erhaltung intakter Berglandschaften und als Alternative zum «schrillen Massentourismus». Ein überschaubarer Ort, der alpine Charakter sowie ein Standbein im natur- und kulturnahen Tourismus sind kurz zusammengefasst die Voraussetzungen dafür, im Kreis der Bergsteigerdörfer willkommen zu sein. Kals im Tirol gehörte zwischenzeitlich dazu, wurde von der Trägerschaft jedoch ausgeschlossen, weil der Ort einen Lift zum benachbarten Gletscherskigebiet sowie ein Ferienresort gebaut hat. Das Nachhaltigkeitsnetzwerk wird inzwischen von der europäischen Alpenkonvention anerkannt. Zwar läuft Ende 2017 die Anschubfinanzierung durch den österreichischen Staat aus; gemäss Liliana Dagostin vom Österreichischen Alpenverein sind der Erfolg und das Echo aber derart gross, dass das Projekt unbedingt fortgesetzt werden muss.

Dem Beispiel Ramsau wollen andere deutsche Orte folgen. Ebenso sind Anfragen aus Südtirol und Slowenien hängig. Und auch aus den Bündner Bergtälern wird Interesse angemeldet: Medel am Lukmanierpass und St. Antönien im Prättigau wären für eine Teil­nahme bereit, hat die Nachfrage durch den Schweizerischen Alpenclub ergeben. Acht weitere, alpinistisch herausragende Kandidaten wie Saas-Fee oder Grindelwald stehen auf der SAC-internen Liste. Allerdings hat der Alpenclub selbst Bedenken, dass alle die Kriterien erfüllen. Und zudem will der Bergsportverein prüfen, ob eine institutionell und thematisch breiter abges­tützte Trägerschaft organisiert werden kann.

Der Nationalpark ist ein Regulativ

Zurück in die Ramsau: Der Tourismuschef zeigt stolz die nähere Umgebung und erklärt, dass ein lokaler Rentnerverein die Wanderwege mit Freiwilligenarbeit auf Vordermann hält. Der kurze Ausflug zu Fuss führt durch naturnahe Wälder, auf eine Alp, die in wenigen Wochen zur Jause lädt, und hinunter zum kühlen Hintersee, an dem ein Ferienzentrum für Familien und Jugendlager steht. Unterwegs entdeckt man freie Natur. Die ersten Orchideen blühen; von den Adlern ist dagegen nichts zu sehen. Das Natur-, Sport- und Genussangebot scheint reichhaltig. Für den noch kurzweiligeren Abstecher in den Nationalpark Berchtesgaden, der mehrheitlich auf Ramsauer Boden liegt, haben wir leider keine Zeit. Dieser ist Anziehungspunkt für Einzelgänger, Familien und Hochalpinisten, mit über 200 km weitem Wanderwegnetz und den ambitionierten Routen zum Watzmann, das nach der Zugspitze zweithöchste Bergmassiv Deutschlands.

Das Schutzgebiet ist allerdings auch ein wichtiges Korrektiv für den Tourismusstandort. Gemeinsam tauscht man sich eingehend mit der Nationalparkverwaltung darüber aus, wie der Drang der Bergsportler zu kanalisieren sei oder was an touristischer Zusatznutzung für die gepflegte und wilde Natur verträglich ist. «Auch wenn wir manchmal unterschiedlicher ­Meinung sind, wollen wir den Schutzgedanken nicht antasten», so Rasp. Aktuell wird über Schneeschuhpassagen gesprochen, die das Wild nicht stören. Das Biken ist nur auf ausgewählten Strassen erlaubt.

Das Skigebiet gehört der Bevölkerung

Ramsau besteht aber nicht nur aus Alpwiesen, Bergseen und Kletterfelsen, nicht nur aus Kulturlandschaft, Bergtradition und Naturidylle, sondern hat auch Technik in Betrieb: eine Schneekanone, einen Sessel-, zwei Schlepp­lifte. Die Anlage auf dem Hochschwarzeck (1300 m ü. M.) hat zwar bescheidenen Komfort. Passt sie dennoch zur ökologischen Vorbildfunktion? Bürgermeister Gschossmann hält sie für ­vertretbar, zumal die Gemeinde die Geschicke selbst in die Hand genommen hat. Fast alle Einwohner besitzen Anteilscheine und sind gegen den Ausbau der Anlage. «Die meisten Gäste kommen zum Wandern und Klettern», sagt Tourismusdirektor Fritz Rasp. Mit Downhill-Bikern und Skifahrern könnte man gute Zusatzgeschäfte machen. Doch dafür zu investieren macht unternehmerisch und landschaftlich keinen Sinn. «Denn ebenso wie die Natur würde unsere Glaubwürdigkeit leiden», ergänzt Gschossmann. «Ein Bergsteigerdorf darf den Gästen nur versprechen, was es einhalten kann.»

Wo liegen die Grenzen des Wachstums?

Ramsau hat nun einen Ruf als naturnaher Tourismusort zu verlieren. Aber kann man daraus Profit ziehen? «Die Unterstützung wird natürlich grösser, wenn es materiell etwas einbringt», antwortet Tourismusdirektor Rasp. Daher diskutiert man auch darüber, ob die Gäste mehr für Naturerlebnis, Gastfreundschaft und Regionalprodukte zu bezahlen bereit sind. Als Gegenleistung muss der Ort seine «Selbstverständlichkeiten» wahren. «Die Grenzen des eigenen Wachstums sind laufend zu überprüfen», ergänzt der Bürgermeister.

Trotzdem haben ihn die jüngsten Einwände gegen das Motocross-Rennen der Dorfjugend überrascht: Ob Lärm und Benzingestank mit dem Nach­haltigkeitsanspruch vereinbar seien, haben Einzelne gefragt. Vorerst bleibt es im Bergsteigerdorf bei dieser Tradition. Andere Schwachpunkte sind dagegen behoben worden: Ramsau hat zusammen mit zwei Nachbargemeinden ein Rufbus-Angebot eingeführt. Lokale Gastronomen beziehen Fleisch, Käse und Gemüse von einheimischen Bauern oder Wildhütern. Der Touris­muschef fährt ­neuerdings ein Elektroauto. Und eine CO2-neutrale Beherbergung gehört nun ebenso zum ­lokalen Angebot.

Ein willkommener Nebenerwerb

Auch die Raumplanung ist im Bergsteigerdorf restriktiv geregelt. Platz für neue Ferienwohnungen hat der vor Kurzem überarbeitete Flächenwidmungsplan keinen. Stattdessen kümmert sich die Gemeinde lieber darum, Bestehendes zu erhalten. Zuletzt hat man sich erfolgreich bemüht, eine leer stehende Herberge zu reaktivieren. Denn auch die Vielfalt an Unterkünften ist ein Merkmal des Ramsauer Tourismusmodells. Fast hundert Adressen bieten sich zur Beherbergung an. Gern vorgezeigt werden die Viersternehotels, die aus ehemaligen Bauernhöfen entstanden sind. Aber Kleinbetriebe wie ­Landgasthöfe, Pensionen und Bauernhöfe überwiegen zahlenmässig. Für viele ist das Übernachtungsangebot ein willkommener Nebenerwerb. Gastfreundschaft und Komfort, zwischen einfach und gehoben, werden durchwegs gelobt, bestätigt der Tourismuschef.

Falls es dem Gast in Ramsau trotzdem langweilig oder zu anstrengend wird, bietet die Nachbargemeinde Schönau am Königssee ein massentaugliches Kontrastprogramm. Dazu gehören eine Souvenirmeile und eine Seerundfahrt, wofür man sich allerdings durch Reisegruppen zwängen oder hinter lange Warteschlangen stellen muss. Gleich daneben wird die Jennerbahn für knapp 50 Mio. Euro umgebaut. Ab nächstem Winter kann man sich damit auf knapp 1800 m Höhe trans­portieren lassen und Ski fahren. Der Sommerbetrieb wird neu mit Hüpfburg und Kinderparadies animiert. Ob sich diese Investitionen zur Unterhaltung von Touristen­massen rentieren? «Schwarze Zahlen schreibt der Tourismus tatsächlich im Sommer», lautet die ­Antwort aus Ramsau. Im Gegensatz zum Nachbarort stellt das Berg­steigerdorf dafür aber keine aufwendige oder ausgefallene Infrastruktur bereit.

TEC21, Fr., 2017.07.28



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28. April 2017Lukas Denzler
Paul Knüsel
TEC21

«Der Schutz bedingt langfristiges Denken»

Nicht alle Regionen sind hohen Naturgefahren ausgesetzt; beim Bauen dürfen die Risiken trotzdem nicht vernachlässigt werden. Im Gespräch betonen Bau- und Präventionsfachleute zudem, wie wichtig ein lokal gut akzeptiertes Vollzugsystem ist.

Nicht alle Regionen sind hohen Naturgefahren ausgesetzt; beim Bauen dürfen die Risiken trotzdem nicht vernachlässigt werden. Im Gespräch betonen Bau- und Präventionsfachleute zudem, wie wichtig ein lokal gut akzeptiertes Vollzugsystem ist.

TEC21: Herr Reinhard, wenn ein Bauherr ein Projekt mit Ihnen realisieren möchte, welche Rolle spielen die Naturgefahren? Wie gehen Sie vor?

Niklaus Reinhard: Als Erstes notiere ich alle Auflagen, die für das Bebauen einer Parzelle relevant sind, wie Grenzabstände, Ausnützungsziffern usw. Sind Naturgefahren im Zonenplan verzeichnet, suche ich das Gespräch mit den Fachleuten beim Kanton und in der Bauabteilung der Gemeinde, bevor ich überhaupt zu entwerfen beginne.

TEC21: Das klingt jetzt so, als wären die Naturgefahren bei Architekten und Planern angekommen. Oft hört man, die Sensibilisierung dafür sei eher gering.

Dörte Aller: Man kann nicht pauschalisieren. In Nidwalden ist viel in Bewegung; die Unwetter­ereignisse haben in den letzten Jahren dazu bei­getragen. In anderen Kantonen ist das nicht so selbstverständlich. Naturgefahren sind zudem eher ein Bergthema. Dort treten «Gewalten» auf, die vielen zuerst in den Sinn kommen: Lawinen, Steinschlag und Murgänge. Im Mittelland sind es hingegen vielleicht nur 20 cm Hochwasser. Trotzdem sind die Schäden hoch. Ereignisse und Modellberechnungen zeigen, dass das Schadenrisiko in weniger gefährdeten Gebieten gleich hoch oder sogar höher sein kann. Zudem gibt es weitere Gefahren, die nicht in den Gefahrenkarten abgebildet sind: Sturm, Erdbeben oder Hagel.

TEC21: Was sind die wesentlichen Elemente beim Umgang mit Naturgefahren in Nidwalden?

Beat Meier: Im Kanton Nidwalden sind die Schutzziele bei Naturgefahren seit über zehn Jahren im Bau- und Zonenreglement festgehalten und für Planende ausformuliert. Wesentliche Anforderungen sind seit 2014 zudem im Baugesetz aufgeführt. Das kennen andere Kantone nicht. In Nidwalden wäre es eigentlich Aufgabe der Gemeinden, bei Baugesuchen zu kontrollieren, ob die Schutzziele eingehalten sind. In der Realität läuft das anders: Die eingehenden Baugesuche werden an die Baukoordination des Kantons weitergereicht. Diese wiederum leitet sie an die Nidwaldner Sachversicherung weiter, die für die Prüfung des Brandschutzes zuständig ist. So gelangt das Baugesuch auch auf meinen Schreibtisch, und wir prüfen die Nachweise bezüglich Naturgefahren im Auftrag der Fachkommission Naturgefahren.
In einfachen Fällen ist das schnell erledigt. Spielen aber Lawinen oder Wildbäche eine Rolle, geht das Gesuch zur Stellungnahme an das Oberforstamt, das Amt für Gefahrenmanagement oder das Amt für Raumplanung. Komplexe Fälle bespricht die Fachkommission Naturgefahren, in der die genannten Ämter und die Gebäudeversicherung vertreten sind, alle zwei Wochen. Den Entscheid über die Baugesuche fällen aber die Gemeindebehörden.

Niklaus Reinhard: Dabei ist festzuhalten, dass die Stellungnahme dieser Kommission nahezu sakrosankt ist. Nach den Vorbesprechungen gibt es in aller Regel keine Überraschungen mehr. Hier ist die Kleinheit des Gebildes Nidwalden vorteilhaft .

TEC21: Ist so ein Vorgehen für andere Kantone denkbar?

Dörte Aller: Das grundsätzlich angestrebte Sicherheitsniveau wurde in Nidwalden in einem längeren Prozess mit allen Beteiligten, dem Forst, dem Wasserbau, der Raumplanung und der Versicherung als Risikoträger ausgehandelt. Das ist überall möglich. In Nidwalden wird ziemlich genau umgesetzt, was die Plattform Naturgefahren (Planat) unter Integralem Risikomanagement versteht. Weil die Akteure die wesentlichen Elemente gemeinsam entwickelt haben, tragen das System auch alle mit. Im konkreten Fall ist jeweils ein Abwägen zwischen raumplanerischen Massnahmen und Gebäudeschutz (damit keine neuen Risiken entstehen), Schutzvorkehrungen an den Gewässern sowie der Notfallplanung erforderlich. Daher sehen die Lösungen in Nidwalden vielleicht anders aus als in anderen Kantonen.

TEC21: Welche Rolle spielt die Nidwaldner Sachversicherung als kantonale Gebäudeversicherung?

Beat Meier: Wir haben klare Kriterien und wenden sie überall gleich an. Wir erbringen auch Dienst­leistungen in Form von Beratungen und haben den Vorteil, dass wir nah bei den Leuten sind. Im Gespräch kann man gemeinsam nach konstruktiven Lösungen suchen.

Dörte Aller: Oft reagieren wir erst nach schadenreichen Ereignissen, handeln also nicht vorausschauend. Nidwalden hat hingegen ein System geschaffen, das risikobasiert funktioniert.

TEC21: Was meint «risikobasiert» für Naturgefahren?

Dörte Aller: Die Gefahrenkarte zeigt beispielsweise, wie häufig und intensiv ein Gebiet überschwemmt wird oder wie häufig und stark eine Lawine auftritt. Das Risiko lässt sich aber erst ermitteln, wenn gefährdete Gebäude, Verkehrswege oder Personen betrachtet werden oder abgeschätzt wird, wie
verletzlich die Sachwerte sind. Das vermittelte Gefahrenbild ändert sich oft, sobald der Fokus auf das Risiko gerichtet ist. In Nidwalden analysierte man, welches Risiko akzeptabel ist und mit welchen Massnahmen es allenfalls reduziert werden kann.

Niklaus Reinhard: Das ist richtig. Aber ich möchte auch auf Sonderfälle hinweisen, die viele nicht verstehen. Am nordwestlichen Siedlungsrand von Stans ist der Bau eines Wohnquartiers seit vier Jahren blockiert, weil der Buoholzbach eine reale Gefahrenquelle ist (vgl. Kasten S. 30). Dieser mündet mehrere Kilometer davon entfernt bei Dallenwil in die Engelberger Aa. Tatsächlich hat die Engelberger Aa 1910 die Ebene von Stans überschwemmt. Nur kennt kein Mensch noch jemanden, der dies miterlebt hat.

Dörte Aller: Das ist genau das Problem: Es geschehen Dinge, die nicht immer im Bewusstsein sind. Ein Hochwasser mit Wiederkehrdauer von 300 Jahren entspricht beispielsweise einer Wahrscheinlichkeit von 17 % in 50 Jahren.

TEC21: Schweizweit wird abgeschätzt, dass ein Fünftel bis ein Viertel der Bauzonen von Naturgefahren betroffen sind. Was heisst das für die planerische Praxis?

Niklaus Reinhard: Am einschneidendsten wäre, dort nicht mehr zu bauen, wo die Gefahren sind. Das hätten wir aber bereits in den 1960er- oder 1940er-Jahren tun sollen. Nun bescheren uns die Naturgefahren Mehrkosten. Bezogen auf ein Objekt kostet der Erdbebenschutz aber deutlich mehr als der Hochwasserschutz.

Dörte Aller: Wirklich gravierend sind die Einschränkungen nur für wenige Flächen. Einschneidend wird es aber, wenn man erst kurz vor Bau­bewilligung realisiert, was zu berücksichtigen ist. Oft sind diese Massnahmen nicht wirklich wirksam. Sie kosten und sind vielfach nicht schön.

Beat Meier: Gebäudeschutz muss verhältnismässig sein. Bei bestehenden Bauten klären wir in der Regel im Schadensfall zusammen mit dem Gebäudebesitzer, was sich verbessern lässt. Bei Neu- und Umbauten bieten sich mehr und bessere Möglichkeiten. Das Problem ist, dass auch bei Neubauten immer wieder gravierende Fehler passieren.

TEC21: Was kann man gegen vermeidbare Fehler tun?

Niklaus Reinhard: Die Bauherrschaft will oft einfach Geld sparen. Der Preis einer Wohnung ist durch
den Markt gegeben. Jeder Franken, der mehr zu investieren ist, schlägt zu Buche. Und wenn später etwas passiert, hat die Bauherrschaft die Wohnungen vielleicht längst weiterverkauft. Kaum jemand investiert, damit er vielleicht in 20 Jahren kein Problem hat. Das ist ethisch durchaus diskutabel, ist aber halt so. Baut ein Bauherr hingegen für sich selber, steckt eine andere Haltung dahinter.

TEC21: Aber wie wird es selbstverständlich, die Naturgefahren beim Bauen angemessen zu berücksichtigen?

Niklaus Reinhard: Das ist primär Aufgabe von Bau­gesetz und Bauzonenordnung. Das Problem ist aber, wie viele Anforderungen und Auflagen mittlerweile existieren und was sie kosten. Viele Architekten und Bauherren investieren lieber in Schönes. Und nicht in Massnahmen, die mögliche Schäden in vielleicht zehn Jahren verhindern. Sich vor künftigen Gefahren zu schützen bedingt ein langfristiges Denken.

TEC21: Sind die Planenden also mit einem grundsätzlichen Problem konfrontiert?

Niklaus Reinhard: Ich versuche nur die Schwierig­keiten aufzuzeigen, Bauherren dazu zu bewegen, diesen Aspekten das nötige Gewicht zu geben. Es ist für uns Architekten schwierig, diese Aufgabe zu übernehmen. Naturgemäss interessieren uns die architek­tonischen Fragen zudem mehr als Naturgefahren.

Dörte Aller: Gleichzeitig erhöht sich das Risiko durch das Bauen laufend. Neue Materialien, eine dichtere Bebauung oder Tiefgaragen sind die Stichworte dazu. Viele Baufachleute sind sich gar nicht bewusst, welche Risiken entstehen, wenn Leute zum Beispiel mit dem Lift in eine Tiefgarage fahren, während diese überflutet wird. Die Architekten stellen am Anfang eines Projekts die Weichen und entscheiden, wie die Tiefgarageneinfahrt zu liegen kommt, oder positionieren das Gebäude und die einzelnen Öffnungen. Das ist nicht immer eine Kostenfrage, sondern eine planerische Aufgabe. Auch bei der Wahl von hagelsicheren Fassaden­materialien ist ein Dialog zwischen Bauherr und Architekt nötig.

TEC21: Massnahmen zum Gebäudeschutz müssen nicht nur wirksam sein, sondern auch gestalterisch überzeugen und ins Ortsbild passen …

Dörte Aller: ... vorzugeben sind lediglich die Ziele. Etwa, bis zu welcher Wasserhöhe oder Hagelkorngrösse keine Schäden entstehen dürfen. Wie das gestalterisch erreicht wird, bleibt möglichst offen.

Niklaus Reinhard: Der Bauherr kann das beeinflussen, indem er einen gestaltungsbewussten, verantwortungsvollen Architekten beauftragt und diesen für seine Arbeit auch bezahlt. Es ist einfach so: Wenn man nicht bezahlt wird, reicht es irgendwann nicht mehr zum Denken.

Beat Meier: Und es hilft, wenn wichtige Punkte in Vorschriften festgehalten sind. Dann gibt es gar keine Diskussionen.

TEC21: Vielleicht ist gerade eine Hochwassergefährdung Ansporn, um die oft hässlichen Tiefgaragen­einfahrten sorgfältig zu gestalten, beispielsweise mit dem sogenannten Nidwaldner Tor. Was für eine Geschichte steckt hinter diesem Tor?

Beat Meier: Ich ärgerte mich, dass die Kantone Aargau und Zürich stets Klappschotte verlangten. Diese klappen bei steigendem Wasserpegel automatisch auf, kosten aber 60 000 Franken. Deshalb wünschten wir uns günstigere Alternativen. Vor zwei Jahren fand eine Tagung statt, an der technische ­Lösungen vorgestellt wurden. Zusammen mit einem Metallbauplaner und Wasserbauingenieur aus der Region begannen wir das Nidwaldner Tor zu entwickeln. Inzwischen sind etwa 15 Tore eingebaut, und andere Kantone inter­essieren sich dafür. Die Kosten sind nur ein Fünftel so hoch wie die für ein Klappschott; die Pläne können übers Internet heruntergeladen werden und stehen Interessierten kostenlos zur Verfügung.

TEC21: Und funktioniert das Nidwaldner Tor?

Beat Meier: Wir haben noch keinen Ernstfall erlebt. Klar, jemand, der gerade vor Ort ist, muss das Tor aktiv schliessen. Weil es fest installiert ist, braucht es aber weder Werkzeuge noch Schlüssel. Die Chancen, dass dies funktioniert, stehen besser, als wenn in einer hektischen Situation irgendwo aufbewahrte Balken zu montieren sind. Wenn die Vorwarnzeit weniger als zwei Stunden beträgt, akzeptieren wir nur noch dieses Tor.

TEC21: Permanente Schutzvorkehrungen fügen sich nicht immer harmonisch ein. Ist ein Trend hin zu mobilen und flexiblen Schutzmassnahmen feststellbar?

Dörte Aller: Von einem Trend zu sprechen, ist übertrieben. Mobile Schutzmassnahmen stellen bei bestehenden Gebäuden manchmal die einzig verhältnismässige Lösung dar. Die Erfahrung aber zeigt. Sie sind nicht unbedingt wirksam, wenn sie nicht über eine automatische Steuerung verfügen. Das Konzept des Nidwaldner Tors ist ein guter Kompromiss. Der Grundsatz, wenn immer möglich bauliche Lösungen zu bevorzugen, gilt jedoch nach wie vor. Denkbar sind auch Kombinationen. Mit dem Anheben des Umgebungsgeländes um wenige Zentimeter gewinnt man Zeit. Im Ereignisfall hilft dies, die ergänzenden mobilen Massnahmen zu aktivieren.

TEC21: Setzen wir das Geld in der Prävention am richtigen Ort ein? Mehr als ein Drittel der durch Naturereignisse entstandenen Gebäudeschäden sind beispielsweise auf Hagel zurückzuführen.

Beat Meier: Bei Hagelschäden ist das Bewusstsein von Planern und Bauherrn leider noch sehr gering. So ist in der Regel nicht bekannt, dass bei der Nidwaldner Sachversicherung lediglich funktionale Schäden versichert sind. Für ästhetische Beeinträchtigungen besteht kein Versicherungsschutz. Im Schadensfall gibt es dann jeweils lange Gesichter.

Niklaus Reinhard: Ehrlich gesagt war mir das bisher auch nicht so richtig bewusst. Wir Architekten können das Risiko von Hagelschäden aber beeinflussen und die Bauherren darauf hinweisen.

Dörte Aller: Hagelkörner hinterlassen Spuren an Fassaden und Storen, nicht aber in den Medien, mit Ausnahme der Folgen für landwirtschaftliche Kulturen. Die wertmässig grössten Schäden entstehen aber an Autos und Gebäuden. Bauweise und Materialien haben sich über Jahrzehnte verändert. Hagelkörner mit mehr als 2 cm Durchmesser beschädigen die Fassade oder das Garagentor. Ein automatisches Hagelwarnsystem für Storen oder robustere Materialien können die Schadensempfindlichkeit jedoch reduzieren. Das Hagelregister gibt Auskunft über die Hagelwiderstände von Baumaterialien.

TEC21: Wo stehen wir beim «naturgefahrengerechten» Bauen in 20 Jahren? Was ist Ihre Vision?

Niklaus Reinhard: Das Hauptziel müsste sein, dass sich das Siedlungsgebiet nicht mehr so wie in den letzten Jahrzehnten dorthin ausdehnt, wo die Gefahren sind. Bei den Architekten hat das «naturgefahrengerechte» Bauen nicht oberste Priorität; es ist lediglich ein Thema unter vielen. Doch die Behörden werden es durchsetzen.

Beat Meier: Ich wünsche mir, dass Bauherrschaften stärker in Planungsprozesse eingebunden werden. Heute unterschreiben in der Regel Fachingenieure oder Architekten die geforderten Nachweise zu den Naturgefahren. Manchmal wissen Bauherren nichts davon, und teilweise wird es nicht verlangt. In Nidwalden müssen seit einem halben Jahr auch die Bauherren unterschreiben. Passen wir nicht auf, passiert das Gleiche wie beim Wärmenachweis: viel Bürokratie und eine oft mangelhafte Umsetzung.

Dörte Aller: Mein Wunsch ist, dass, wenn auch die Naturgefahren heute nicht oberste Priorität besitzen, weil andere Fragen dringender sind, dies auch in 20 Jahren so sein wird. Weil wir es geschafft haben, die Naturgefahren derart in die Abläufe zu integrieren, dass der Gebäudeschutz selbstverständlich ist und verhältnismässige Massnahmen eingesetzt werden. Auch hoffe ich, dass nicht noch weitere Schutzverbauungen die Landschaft verschandeln, sondern sich Gestaltungspläne und Massnahmen an den Gebäuden optimal ins Ortsbild einfügen. Zudem dürfen die Vorgaben nicht so detailliert werden wie beim Brandschutz. Gute Lösungen zum Schutz vor Naturgefahren basieren auf individuellen und auf den Kontext bezogenen Abklärungen.

TEC21, Fr., 2017.04.28



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28. April 2017Paul Knüsel
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Das Übersetzen macht Mühe

Auf die Naturgefahren bei konkreten Bauvorhaben zu achten ist ebenso wenig selbstverständlich wie die Anwendung von Gefahrenkarten. Daher müssen Kantone und Gebäudeversicherungen die rechtlichen Vorgaben verschärfen und die Risikowahrnehmung verbessern.

Auf die Naturgefahren bei konkreten Bauvorhaben zu achten ist ebenso wenig selbstverständlich wie die Anwendung von Gefahrenkarten. Daher müssen Kantone und Gebäudeversicherungen die rechtlichen Vorgaben verschärfen und die Risikowahrnehmung verbessern.

Die Wissenschaft ist eine Hochleistungsdisziplin. Auszeichnungen, Stipendien und Titel sind unerlässliche Steighilfen für die akademische Karriere. Ebenso unverzichtbar ist das Peer-Review: unabhängig begutachtete Artikel, die in angesehenen Wissenschaftsmagazinen veröffentlicht werden. Jede folgende Zitierung erhöht den Wert des Forschungscurriculums. Die Verständlichkeit ist meistens aber kein Kriterium für produktives wissenschaftliches Arbeiten.

Umso grösser wird das Echo, wenn hochkomplexe Inhalte in einem populären Format dargestellt sind. Vor Kurzem machte die Universität Bern diese positive Erfahrung: Veronika Röthlisberger, Forstingenieurin und Geografin, identifiziert in ihrer Doktorarbeit «räumliche Cluster mit Hochwasserexposition, die die Entscheidungsfindung im Risikomanagement» erleichtern sollen. Das schwerfällige Thema[1] hat die interaktive Website hochwasserrisiko.ch hervorgebracht, die nun bis zu hundert Besucher pro Tag anlockt.

Die Abfrageresultate sind für die Siedlungsentwicklung der Schweiz brisant. Wie gross ist das lokale Überschwemmungspotenzial? Wie sicher oder gefährdet sind die Bewohner und die Siedlungen an den betreffenden Orten? Als Antwort markiert die digitale Hochwasserrisikokarte der Schweiz jede einzelne Gemeinde mit einem Farbraster von grün bis rot.

Alpenvor- und Mittelland stark gefährdet

Landläufig gelten Alpentäler als gefährdet; die Risikokarte zeichnet ein differenzierteres Bild: Nur jeder vierte Bewohner von Davos lebt im Hochwassergebiet; der gefährdete Gebäudeanteil beträgt gerade mal 11%. Schweizweit liegen die Werte bei 13% (Bevölkerung) und 12% (Gebäude). In Kandersteg leben dagegen 73% der Wohnbevölkerung und stehen 52% der Gebäude in einer Gefahrenzone. Überraschend stark sind Gemeinden im flachen Alpenvor- und Mittelland betroffen: Für Utzenstorf BE wird ein Gefährdungsanteil von je 50% bei Bevölkerung und Gebäudebestand angezeigt. In Altstätten SG ist das Hochwasserrisiko für 57% der Wohnbevölkerung und 39% der Gebäude aktuell.

Drei Regionen leuchten besonders dunkelrot. Das St. Galler Rheintal, die Waldstätte und das Unterwallis sind Hotspots im Hochwasserrisiko und Siedlungsräume mit höchstem Gefährdungsgrad. Beruhigend ist aber, wie gut der Schutzaufwand mit dem Gefährdungsgrad übereinstimmt: Sowohl an der Rhone als auch am Rhein ist eine Planung für grossräumige Hochwasserschutzprojekte im Gang (vgl. TEC21 44/2016).

Zusätzlich weist die grün-orange-rote Risikokarte, die am Mobiliar Lab für Naturrisiken der Universität Bern gezeichnet wurde, auf blinde Flecken hin: Für rund ein Viertel der Schweizer Gemeinden sind die Angaben lückenhaft. «In Zug, Zürich oder Neuenburg fehlen teilweise Informationen zum Gefährdungsgrad», bestätigt Röthlisberger. Die Naturgefahrenkarten sind noch nicht in allen Kantonen flächendeckend erarbeitet worden. Vorsorge erhält in der Schweiz hohe Aufmerksamkeit. Doch der Umgang mit Risiken bleibe häufig «leider ereignisbezogen», ergänzt die Geografin. Behörden und Gebäudeplaner werden allzu häufig erst nach erlittenem Schaden klug.

Ein Weckruf im Jahr 2005

Einem nationalen Weckruf gleich kam das Hochwasser im August 2005. Zuvor hatten nicht einmal 30% der Gemeinden über eine Gefahrenkarte verfügt. Mit Stand letztes Jahr hat sich die Abdeckung auf über 96% der Siedlungsfläche und knapp 80% der Gebäude erhöht.

Die Karten selbst sagen einiges über den Gefährdungsgrad aus: Rote Flächen warnen vor erheblicher Gefährdung und meistens vor einem Bauverbot. Bei Blau darf man grundsätzlich bauen, aber nicht ohne zusätzliche Schutzmassnahmen. Gelbe Flächen sind wenig gefährdet; individuelle Abklärungen oder ein baulicher Objektschutz sind empfohlen. Trotzdem sind diese Warnungen von Kantonen und Gemeinden raumplanerisch verbindlich zu übersetzen und in die Zonenpläne zu übernehmen. Oberstes Prinzip bleibt allerdings: Der Eigentümer ist für den Schutz selbst verantwortlich. Falls ein erwartetes Risiko eintrifft, trägt er die alleinige Schuld.

Juristische und planerische Hürden

Für die Übersetzung der farbigen Gefahrenflächen in die kommunale Nutzungsplanung sind allerdings juristische und raumplanerische Hürden zu nehmen. Zum einen müssen gefährdete Flächen rechtlich verbindlich ausgeschieden werden, was Widerstände bei Landeigentümern provoziert. Zum anderen verändert sich die Gefahrenlage schneller, als Zonenpläne in der Regel nachzuführen sind.

Mehrere Kantone sind daran, klare Vorgaben einzuführen, damit bekannte Gefahren nicht länger ignoriert werden dürfen. Im Baselland wurde das Raumplanungs- und Baugesetz vor wenigen Wochen revidiert. Überschwemmungen, Hochwasser, Steinschlag und Erdrutsche sind bei Baugesuchen zwingend zu berücksichtigen. Bislang war dies nicht sichergestellt, erklärt Andres Rohner von der Rechtsabteilung der kantonalen Bau- und Umweltschutzdirektion.

Ebenfalls neu ist das Brand- und Naturgefahrenpräventionsgesetz. Gebäudeversicherung und Baubewilligungsbehörden sollen stärker zusammenarbeiten, wenn in Zonen mit mittlerer Gefährdung gebaut werden soll.

Baselland hinkt im schweizweiten Vergleich hinterher, was die Berücksichtigung von Naturgefahrenkarten im Baubewilligungsverfahren betrifft. Andere Kantone verlangen dagegen schriftliche Nachweise der Bauherrschaft, «sich der Gefährdung durch Naturgefahren bewusst zu sein und nötige Schutzmassnahmen getroffen zu haben», sagt Naturgefahrenexpertin Marion Meier. Doch eine Garantie für vollumfängliche Berücksichtigung gibt es nicht; an vielen Orten behindern weitere Vollzugsdefizite den Umgang mit Naturgefahren. «Fehlende Akzeptanz, mangelndes Fachwissen oder knappe Ressourcen können die Umsetzung auf Gemeindeebene manchmal erschweren», so Meier, die für den Kanton Obwalden tätig war und nun Projektleiterin in einem Ingenieurbüro in Glarus ist.

Ungenügend geschützte Neubauten

Nicht nur wissenschaftliche Papers oder Gesetzestexte sind für Laien schwer zu begreifen, auch Versicherungspolicen sind oft umständlich formuliert. Vorerst stört man sich daran kaum, solange Schäden kulant berappt werden. Weil vermehrt Versäumnisse in der Planung oder bei Baubewilligungen entdeckt werden, sinkt jedoch die Toleranz in der Versicherungsbranche. Die Gebäudeversicherung St.?Gallen spricht neuerdings unmissverständlich: «Wer sein Gebäude zu wenig gut schützt oder aus Kostengründen auf mögliche Massnahmen verzichtet, bezahlt einen Anteil des Schadens selbst.» Per 1. Januar hat die öffentliche Versicherungsanstalt den «gefährdungsabhängigen Selbstbehalt» eingeführt, ein Novum für die Schweiz. Dass andere öffentliche Anstalten diesem Beispiel folgen, ist möglich, aber schwer abschätzbar.

Auslöser für diesen Risikozuschlag war eine massive Überschwemmung des Stadtzentrums von Altstätten vor drei Jahren. Das Risiko sei bekannt gewesen, dennoch seien Neubauten «ungenügend oder gar nicht geschützt» worden, beschwerte sich die Gebäudeversicherung in der Ereignisanalyse: Die Bewilligungen seien «trotz offensichtlichen Mängeln im Baugesuch erteilt oder Objektschutznachweise trotz Fehlern akzeptiert worden». Nun wird im Wiederholungsfall auf die Eigenverantwortung der Hauseigentümer gepocht: «Wenn das Hochwasser Keller- oder Technikräume in einem überschwemmungsbedrohten Gebiet wiederkehrend überflutet, kann man sich nicht auf den Versicherungsschutz berufen.»

Risikoüberlegungen erforderlich

Ralph Brändle, stellvertretender Leiter Naturgefahren im kantonalen Tiefbauamt St.Gallen, bestätigt, dass das Unwetter 2014 einiges in Gang gesetzt hat. Mit einem verwaltungsinternen Workshop wurde auf das «Bauen in Gebieten mit Naturgefahren» aufmerksam gemacht. «In Gemeinden, bei Architekten und Planern muss aber weiterhin Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit geleistet werden», ergänzt Brändle. Zudem kann der Kanton eine kommunale Zonenplanrevision blockieren, falls Gefahrenkarten nicht in die Nutzungsplanung übernommen werden.

Ein spezielles Vorsorgeinstrument soll den Übersetzungsschritt aber vereinfachen: Die St.?Galler Gemeinden erarbeiten ein lokales Massnahmenkonzept, das den Umgang mit gefährdeten Siedlungsflächen und die Risiken für jedes Baugebiet darstellt. «Der Objektschutz spielt eine zentrale Rolle», ergänzt Rolf Bart, Inhaber der Ingenieure Bart AG. Diese Konzepte sollen zudem die Prioritäten klären, risikobasiert und aufgrund von Kosten-Nutzen-Aspekten. «Das Vorgehen wird dadurch für Gemeinden und Baufachleute strukturiert», sagt Bart.

Auf nationaler Ebene ist ebenfalls eine Methode im Gespräch, die die Übersetzung der Naturgefahren in die Nutzungsplanung vereinfachen soll. Bund und Kantone führen bereits Probeläufe für die risikobasierte Raumplanung durch (vgl. TEC21 12–13/2016). Ein weiteres Mittel zur Verbesserung der Risikokommunikation könnte die Hochwasserrisikokarte der Uni Bern sein. Gemäss Veronika Röthlisberger möchte man aus Schadensdaten und vergangenen Ereignissen allgemein gültige Aussagen für künftige Hochwasserschäden ableiten. Die Resultate wären einfach verständliche Karten, die die Verletzlichkeit des Baugebiets aufzeigen können. Die Forschungsarbeiten am Mobiliar Lab für Naturrisiken sollen diese Lücke schliessen. Die wissenschaftlichen und öffentlichen Meriten, die dabei zu gewinnen sind, wären auf jeden Fall verdient.


Anmerkungen:
[01] Forschungsprojekt «losses and risk hotspots based on insurance data», Mobiliar Lab für Naturrisiken, Geografisches Institut der Universität Bern.
[02] Kommunikation für einen wirksamen Gebäudeschutz, Schlussbericht. Präventionsstiftung der Kantonalen Gebäudeversicherungen KGV, Bern 2014

TEC21, Fr., 2017.04.28



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Der Hürdenlauf der nächsten 33 Jahre

Verdichten oder Abwandern? Stadt der kurzen Wege oder monotone Wohnquartiere? Mehr Verkehr, aber weniger Energie? Fachleute aus Planung, Verwaltung und Forschung haben sich an einer Klausur über die erwünschte und mögliche Zukunft der Schweiz unterhalten.

Verdichten oder Abwandern? Stadt der kurzen Wege oder monotone Wohnquartiere? Mehr Verkehr, aber weniger Energie? Fachleute aus Planung, Verwaltung und Forschung haben sich an einer Klausur über die erwünschte und mögliche Zukunft der Schweiz unterhalten.

Was geht ab in der Schweiz im Jahr 2050? Mindestens 9.4 Mio. Menschen leben dannzumal im Land, eine ­Million mehr als heute. Die Zuwanderung lässt die Bevölkerung weiter ­wachsen, die Geburtenrate dagegen stockt. Gemeinsam steigern In- und Ausländer das ­Bruttosozialprodukt: In 33 Jahren erwirtschaftet die Schweiz einen Fünftel mehr als letztes Jahr, nämlich 800 Mrd. Franken. Die Löhne legen sogar um 25 % zu.

Und weil (fast) alle auf ein Dach über dem Kopf zum Wohnen und Arbeiten angewiesen sind, dehnt sich auch der Siedlungsraum weiter aus. Das hat zur Folge, dass sich die Energiebezugsfläche von momentan 500 Mio. m2 bis Mitte Jahrhundert auf 666 Mio. m2 erhöht. Dichter werden auch die mobilen Wechselbeziehungen: Angetrieben von zusätzlichem Gütertransport auf Strasse und Schiene nimmt der ­Gesamtverkehr um 40 % zu. Was also geht ab in der Schweiz im Jahr 2050? Die kurze Antwort darauf: das Gleiche wie bisher. Das Wachstum setzt sich fort, der Wohlstand steigt, und der Konsum legt ebenfalls zu.

Spätestens hier folgt nun aber die Zusatzfrage, wie nachhaltig diese Entwicklung wird: Lassen sich Ressourcenbedarf und Energieverbrauch vom Wirtschaftswachstum entkoppeln? In wenigen Wochen wird über die Energiestrategie 2050 abgestimmt. Ein Ja könnte die Trendumkehr bedeuten: Der Stromkonsum würde nicht um 15 % steigen, sondern in den kommenden drei Jahrzehnten 10 % geringer werden. Und der Verbrauch aller Energieträger könnte sogar bis auf 50 %, im Vergleich zum Stand heute, sinken.

Die genannten Prognosen beschreiben die Schweiz der nächsten Generationen; die Zahlen sind seriös und stammen aus staatlichen Quellen. Trotzdem sind die Annahmen mit Vorbehalt zu geniessen. Denn wie man lebt, wohnt, arbeitet, konsumiert und welchen Preis die Natur dafür verlangt, bleibt un­bekannt. Die Zukunftsfrage hat auch eine qualitative Dimension. Wie sich die Schweiz entwickelt, ist nicht zuletzt das Resultat politischer Bemühungen.

Müssen ­beispielsweise noch effizientere Technologien, Fahr­zeuge und Häuser als heute erforscht werden? Oder ­entdecken die Nutzerinnen und Nutzer den suffizienten Konsumverzicht? Und wie gross wäre das nach­haltige Wohnflächenmass? Sachpolitische, ökonomische, technische und gesellschaftliche Grundsatzfragen sind die Hürden im Lauf in die Zukunft. Deshalb ­wollte die SIA-Spitze von Vertretern aus Planung, Privat­wirtschaft und Verwaltung wissen, wie hoch diese sind und durch welche Qualitäten sich die «Schweiz 2050» auszeichnen wird.

Im letzten Herbst fand eine Klausurtagung statt, an der sich zwei Dutzend Fachleute beteiligten. Die Runde aus Chefbeamten des Bundes und der Kantone, Vertretern von Unternehmen, Wissenschaft und Verbänden versammelte sich auf dem Monte Verità ­oberhalb Locarno und tauschte sich informell über ­Themen aus, die die aktuelle und absehbare Agenda bestimmen und zur Gestaltung eines nachhaltigen Lebensraums Schweiz beitragen können. Es zeigte sich, wie herausfordernd der technische Fortschritt, die ­ökonomische Entwicklung, aber auch der demo­kratische Prozess für die Zukunftsgestaltung sind.

Stellvertretend tauchten weitere Fragen auf: Welche Ansprüche hat die Gesellschaft an Raum und Siedlung? Wer sind die treibenden Akteure? Und welche Eigentumskonflikte ergeben sich bei der weiteren Verknappung des öffentlichen Raums? Um vorschnelle Antworten war man weniger bemüht. Hingegen wies man wiederholt daraufhin, dass eine gesellschaftliche Werte­diskussion unabdingbar ist: Wie dicht darf eine Zehn-Millionen-Schweiz sein? Wird weiter in die Fläche oder nun eher in die Höhe gebaut?

Wird Infrastruktur zur Privatsache?

Die Rolle des Staats wurde grundsätzlich diskutiert: Welche Zukunft hat der Föderalismus? In der Raum­planung und bei der Organisation des Service public wird immer häufiger beklagt, wie gross die Kluft ­zwischen staatlicher Hoheitsstruktur und funktional wahrgenommenen Räumen bereits geworden ist. Helfen virtuelle Servicewelten, diesen Graben wieder zu schliessen? Selbst für Betriebe, die einen Teil der öffentlichen Grundversorgung garantieren, sind hybride Geschäftsmodelle mittlerweile opportun. Der physische Zugang wird zunehmend elektronisch programmiert, sodass die dezentrale Versorgung lückenhaft wird. Solche Bedenken wurden an der Klausur wiederholt formuliert. Denn die Vielfalt sei zu erhalten, als unerlässliches ­Gut für das kulturelle, räumlich-funktionale und urbanisierte Verständnis der Schweiz.

Eine weitere, bisher selbstverständliche Aufgabe der öffentlichen Hand ist die Infrastrukturplanung. Auch hierzu kann die künftige Rolle anders interpretiert werden: Behält der Staat die alleinige Verantwortung, oder sollen private Institutionen am Ausbau beteiligt werden? Ein Fallbeispiel dafür stellt die künftige Organisation des Güterverkehrs dar, wobei hier tief greifende Veränderungen für die räumliche Entwicklung von Agglomerationen und Städten absehbar sind.

Gütermarkt als primärer Profiteur

Die Diskussion über ein neuartiges unterirdisches Logistiksystem, das den Warenverkehr in der Schweiz straffen und bündeln soll, zeigt, wie der Hürdenlauf ­ ins Jahr 2050 aussehen kann. Am Anfang steht eine kühne Privatidee inklusive Businessplan: Cargo Sous Terrain CST ist ein Tunnelnetz mit 900 km Länge, das für etwa 30 Mrd. Franken in den Boden der Schweiz gebohrt werden soll, um die Städte direkter und schneller zu verbinden. Der wachsende Markt im Paket- und Kurierdienst und die Online-Kundschaft wären die primären Nutzniesser: Kleingüter werden über lange Distanzen im Untergrund transportiert. Sammelstellen an den Stadträndern dienen der Feinverteilung, die durch eine City-Logistik koordiniert erfolgt.

Unabhängig davon, ob ein solches Unternehmen realisierbar ist, benennt es zentrale Anliegen: ­Der motorisierte Stadtverkehr, ob von Pendlern oder Waren verursacht, dürfte den Platz verknappen. Demgegenüber benötigen die zusätzlichen Stadtbewohner mehr öffentlichen Raum. Das Verkehrsaufkommen in Innenstädten steht daher der Entwicklung nach innen und der Aufwertung der Wohnstädte entgegen. Auch das Ruhebedürfnis und der Verkehrslärm bleiben ein konfliktreicher Dauerbrenner. Insofern lassen neue Technologien und Systeme hoffen, dass die physische Mobilität weniger Fläche beanspruchen soll. Dazu ­beitragen könnte die Verlagerung der Warentransporte in den Untergrund oder in die Luft (Drohne). Und das fahrerlose Kleinauto verspricht, auf Dauerparkplätze im Stadtzentrum verzichten zu können.

Zusätzliche Räume für den Verkehr

Allerdings bleibt der Pneu unersetzbar: Tendenziell fährt der öffentliche Nahverkehr eher auf der Strasse als auf der Schiene (aus Effizienzgründen ohne Chauffeur, wie der Postauto-Testbetrieb in Sitten demonstriert). Und dank der Elektromobilität könnte auch die Zukunft des individuellen Personenverkehrs gesichert sein. Für den Gütertransport wird der Strommotor ­hingegen keine ernsthafte Ersatzoption darstellen.

Zusätzliche Räume, Flächen und Finanzen benötigt der Verkehr aber weiterhin, sowohl für die Hardware (zum Unterhalt der Strassen und zum Ausbau der ­Engpässe) als auch für die Telematik-Software. Intel­ligente Lenkungssysteme sollen die Effizienz auf be­stehenden und künftigen Verkehrsflächen verbessern. Allerdings ist ein Verteilkampf absehbar, weil die ­Prioritäten für die verschiedenen Verkehrsteilnehmer und Transportmittel auszuhandeln sind. Der inländische Alptransit-Korridor wird, analog zum Stadtverkehr, zum gewichteten Abwägungsfall: Wer erhält Vortritt bei begrenzten Strassen- oder Trassenkapazitäten? Und wie sind die Ansprüche zwischen Regionalverkehr und internationalem Güter- respektive Personenverkehr zu regulieren?

Räume entwickeln sich polyzentrisch

Was an der Zukunftsklausur ebenfalls erörtert wurde: Aktuell tendiert die Raum- und Siedlungsentwicklung zur Konzentration auf Zentren und Abwanderung aus Bergregionen. Beim Zoom auf die Wachstumsorte taucht jedoch eine erstaunliche Binnendifferenzierung auf. In den Siedlungsgürteln wurde zuletzt mehr gebaut als in den gewachsenen, oft geschützten Zentren. Der Auszug von Firmen führt zur Entmischung der Wohn- und Arbeitswelten. Die Stadt der kurzen Wege scheint eine gute Absicht; in der Realität urbanisieren sich jedoch die Agglomerationen. Um die Lebensqua­lität im Siedlungsraum sicherzustellen, soll das Quartier als fassbare Raumeinheit gefördert werden. Hier lassen sich Identität und bauliche Verdichtung kom­binieren. Zudem mischen sich in diesem sozial überblickbaren Planungsformat private und öffentliche Nutzungsbedürfnisse.

Und ein weitere ökonomische Kraft zerrt an der nachhaltigen Raumplanung: Alles will in die Stadt. Den Kontrast zu dieser Strömung bilden polyzentrisch entwickelte Räume und eine Peripherie mit mehr qualitativem Gewicht. Daher müssen die aktuellen Ten­denzen weiterverfolgt werden, Baugebiete entlang von Verkehrskorridoren zu verdichten und die relativen Wohnflächen zu reduzieren. Aber dass die De­zentralisierung nicht die nächste Zersiedelungswelle verursacht, ist eine zentrale Herausforderung an die Raumplanung.

Eine künftige Spezialaufgabe wird auch der Umgang mit den zunehmenden Gebäude­leerständen an peripheren Lagen sein. Für die Inwertsetzung von Brachen, die inzwischen vor allem ausserhalb der Siedlungs-Hotspots liegen, sind robuste Konzepte gesucht. Vielfalt und Flexibilität sind die Zutaten einer resilienten Raumentwicklung. Für Abwanderungsregionen ist der Grat allerdings schmal: Benötigen die betroffenen Täler und Dörfer eine Re­animation, oder ist das Schrumpfen aktiv zu begleiten? Und es stellt sich die politische Frage, ob die Ent­wicklung von Randregionen, falls neue Verkehrsachsen ­gebaut werden, zulasten bestehender Wachstums­optionen andernorts gehen darf?

Wie die Verkehrszukunft ist auch die Raumplanung auf angemessene finanzielle Mittel angewiesen. Weil die meisten Menschen in kleinen und mittelgrossen Gemeinden mit Verdichtungsreserven leben, erhöht sich der raumplanerische Steuerungsbedarf. Es braucht folglich mehr Ressourcen, damit die Planungsmiliz auf professionelle Verfahren zurückgreifen kann.

Reichtum auf kleiner Fläche

Wie wohnt und arbeitet die Schweiz 2050? Die Klau­surteilnehmer wollten und konnten weder ein stimmiges Bild zeichnen noch eine konsensfähige Vision vermitteln. Aber als zentrales Qualitätskriterium wurde die Diversität bestimmt, die als identitätsstiftende, aber bedrohte Ressource der Schweiz wahrgenommen wird. Damit sind kulturelle Eigenheiten sowie Landschaftsqualitäten gemeint, die durch einen unglaub­lichen Reichtum auf kleiner Fläche charakterisiert sind. Daher braucht es Konzepte, diese Vielgestaltigkeit vor dem masslosen Zubauen zu bewahren. Ausserdem sind ­Ideen für strukturschwache Räume gefragt. Diese Diskussion über Werte und Visionen soll aber nicht nur im engen Kreis der Ämter und Fachgremien, sondern darüber hinaus weitergeführt werden – darin war man sich einig.

TEC21, Fr., 2017.04.21



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TEC21 2017|16 Die Schweiz 2050

07. April 2017Paul Knüsel
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Der Photosynthese auf der Spur

Die Kohlenstoffchemie dominiert das Energiesystem, doch das Verbrennen von Kohle, Öl und Erdgas ist schuld am Treibhauseffekt. Wasserstoff ist die klimaschonendere Brennstoffalternative. Das flüchtige Gas bietet sich zusätzlich zur Stromspeicherung an.

Die Kohlenstoffchemie dominiert das Energiesystem, doch das Verbrennen von Kohle, Öl und Erdgas ist schuld am Treibhauseffekt. Wasserstoff ist die klimaschonendere Brennstoffalternative. Das flüchtige Gas bietet sich zusätzlich zur Stromspeicherung an.

Die Elektrolyse ist der Anfang der natürlichen Photosynthese, gehört zum Chemie-Lernstoff auf Stufe Mittelgymnasium und wird bald für das Curriculum von Gebäudeplanern unverzichtbar. Die dazu erforderlichen Apparaturen und Tanks stehen nicht nur in Hochschullabors, sondern bereits auch im Untergeschoss der ersten Kraftwerkhäuser der Schweiz. Im Prinzip verwandelt sich dadurch Wasser in flüchtige Gase.

Konkret bringt Überschussstrom, beispielsweise aus einer Photovoltaik­anlage, diesen chemischen Prozess zum Laufen: Das H2O-Molekül wird mit sehr viel elektrischer Energie in Wasserstoff (H2) und Sauerstoff (O2) aufgespalten. Letzterer darf unbedenklich entweichen; Ersterer lässt sich demgegenüber mit grossem Volumen und über längere Zeit relativ einfach speichern. Und bei Bedarf wird dieser Wasserstoff durch eine Brennstoffzelle gejagt, was Strom, Wärme und Wasser erzeugt. Das Elektrolyse-Brennstoffzelle-Duo ist deshalb Kernelement der noch jungen Power-to-Gas-Technologie und Hoffnungsträger für die emissionsarme Energiezukunft.

In Brütten bei Winterthur (vgl. «Egoist», TEC21 7–8/2017) und in Küsnacht, Vor­ort von Zürich, steht jeweils ein kleiner Elektrolyseur im Hauskeller; in der Aarmatt, direkt neben dem Bahnhof Solothurn, wird jedoch der grösste der Schweiz mit einer Leistung von 350 kW betrieben. Das «Hybridwerk» sprengt den gebäudebezogenen Rahmen; die Wasserstoffspeicher sind direkt in das öffentliche Stromnetz integriert. Letzten Sommer begann die Testphase; diverse Hochschulen begleiten das Pilotprojekt des städtischen Energieversorgers, das von EU-Forschungsgeldern profitiert. Während die Wasserstoffspeicherung in Deutschland an sieben Standorten mit Grossanlagen praxisnah erprobt wird, hat das Paul-Scherrer-Institut in Villigen AG nun eine weitere P-t-G-Versuchsplattform installiert.

Speicher wird zum Energierelais

«Power to Gas» ist aber nicht nur ein reversibles Speicherprinzip, sondern erlaubt auch eine erweiterbare Energienutzung. Der gespeicherte Wasserstoff ist als Energieträger für die Strom- und Wärmeproduktion verwendbar und steht als Treibstoffersatz für Personenwagen oder Busse zur Verfügung. Diese Relaisfunktion kann ausgebaut werden, wenn Strom in Methan umgewandelt und gespeichert wird. Auch diese Umwandlung startet mit einem Elektrolyseprozess, wobei das Wasserstoffspaltprodukt mit Kohlendioxid zu synthetischem Methan weiterreagiert. Weil diese Reaktion selbst viel Energie konsumiert, wird im Hybridwerk Aarmatt eine biochemische Alternative erforscht. Der algenähnliche Organismus Archea methanisiert H2 und CO2 bei geringerem Energieaufwand.

Vorstellbar ist ein alternatives Verfahren, bei dem das CO2 aus den Abgasen von Heizungsanlagen oder aus der Umgebungsluft gewonnen werden könnte. Gemäss Peter Jahnson, Projektleiter der PSI-Plattform, ist dies jedoch selbst bei dezentralen Anwendungen im Gebäudepark kaum ökonomisch vertretbar. Zudem würde mehr Energie verloren gehen. Kann der Elektrolyse/Brennstoffzelle-Zyklus zumindest die Hälfte des gespeicherten Stroms wieder nutzbar machen, sinkt dieser Anteil bei zusätzlicher Methanisierung unter 40 %. Der Forschungsbedarf liegt genau darin, die Effizienz der Power-to-Gas-Speicherung zu verbessern. Das Paul-Scherrer-Institut entwickelte deshalb ein Brennstoffzellenmodul mit Wirkungsgrad von 70 % bei der Wiederverstromung von Wasserstoff. Konventionelle Modelle erreichen nur 60 %.

Elektrolyse mit weniger Energiebedarf?

Auch die Elektrolyse ist energieintensiv. Während die Pflanzen dazu das Sonnenlicht nutzen, gilt es im in­dustriell ausgereiften Imitationsverfahren bewährte Details weiter zu verbessern. Erforscht werden unter anderem Materialien und Milieus, die bei geringerer Stromstärke Wasser aufspalten können. Die aktuellste Errungenschaft sind selektive Membranen, die Was­ser­stoff und Sauerstoff trennen. Polymer-Elek­tro­lyt-Membran-Elektrolyseure eignen sich für den Einsatz in einem schnell und stark fluktuierenden Stromnetz. Allerdings sind die Filtermembranen anfällig für hohen Druck, was die Anlagengrösse bislang limitiert.

Die PSI-Plattform in Villigen bietet zusätzliche Optionen zur Erforschung von Power-to-Gas-Speichern in jeweils variablen Betriebszuständen.

Das prompte Reagieren auf unterschiedliche Spannungen im Stromnetz ist eine zentrale Anforderung: «Änderungen in der Stromlast innert Millisekunden» zählen gemäss Jansohn zu den erwünschten Versuchskonstellationen. Die unterschiedlichen Einzelkomponenten wie Elektro­lyseur und Druckspeichertanks werden jeweils als Teil eines erweiterbaren Gesamtsystems überprüft.

Die Erfahrungen aus den deutschen Demonstrationsanlagen, die teilweise drei und mehr Jahre laufen, stimmen jedoch positiv. Gemäss einer Analyse der deutschen Energieagentur hat sich die technische Machbarkeit mehrheitlich bestätigt. Auch die Betriebssicherheit von Wasserstoffanlagen wurde verbessert.

Der Hauptantrieb für die Umwandlung von Strom zu Gas ist in Deutschland weniger der Gebäudebereich als vielmehr die emissionsarme Mobilität. Die grossen Autokonzerne beteiligen sich an den aktuellen Versuchsanlagen. Nicht nur Architekten, auch Automobilisten werden sich also mit dem Prinzip der Elek­trolyse inskünftig beschäftigen müssen.

TEC21, Fr., 2017.04.07



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31. März 2017Paul Knüsel
TEC21

Kühlende Plätze sind opportun

Siedlungsräume werden ein heisses Pflaster. Damit der Klimawandel die urbanen Hitzeinseln nicht weiter aufheizt, wollen Städteplaner in der Schweiz und in Europa vor allem die grüne Infrastruktur aufwerten.

Siedlungsräume werden ein heisses Pflaster. Damit der Klimawandel die urbanen Hitzeinseln nicht weiter aufheizt, wollen Städteplaner in der Schweiz und in Europa vor allem die grüne Infrastruktur aufwerten.

Man stelle sich vor, bei schweisstreibenden 40 °C über den Wiener Prater zu wandeln, am Nürnberger Christkindlesmarkt bei milden 12 °C heissen Glühwein zu trinken oder bei Dauerhitze ins Berner Marzilibad zu flüchten. Solche Wetterlagen kommen durchaus vor, werden aber als unbehaglich, untypisch oder aussergewöhnlich empfunden.

Allerdings ist der Klimawandel eben daran, das gewohnte Gefüge aus Temperatur, Regen und Wind gewaltig durcheinanderzubringen und ein neues Alltagswetter zu bestimmen: Bis 2070 werden für Wien Hitze und Trockenheit prognostiziert, die an die Nordsahara erinnern. Nürnberg nähert sich atmosphärisch dem trockenen, windigen Marseille an. Und auch das Klima in der Schweiz wird mediterran: Das künftige Wetter von Bern gleicht sich Messina an; Basels Klimazukunft liegt heute an der italienischen Riviera.

Solche Vergleiche sind wissenschaftlich anerkannt und versuchen, den Wetter-Shift einprägsam am «Klimastadtzwilling» zu erklären. Für das Unterwallis liefern die jüngsten Wetteraufzeichnungen jedoch ebenso leicht verständliche Angaben: In den letzten 20 Jahren stieg die Durchschnittstemperatur um 1 °C; in den nächsten 40 Jahren wird ein Plus um weitere 2 °C vorausgesagt. Zum Vergleich: Seit Ende des 19. Jahrhunderts ist die Schweiz gerade mal 0.5 °C wärmer geworden. Vor allem drohende Hitzeperioden machen im Klima-Hotspot Rhonetal inzwischen Sorgen: Bis 2060 soll das Thermometer an 100 Tagen über 25 °C klettern, doppelt so häufig wie in den letzten Jahren.

Begrünt, beschattet und klimaangepasst

Auch die Vorbereitungen auf die Klimaveränderung haben in Sitten bereits begonnen. Mithilfe des Bundes und einer externen Ökostiftung haben die Stadtplaner das Anpassungsprogramm «AcclimataSion» lanciert. Vor drei Jahre sind sie aktiv geworden. Mehrere öffentliche Plätze sind inzwischen begrünt, beschattet oder anderweitig atmosphärisch aufgefrischt. Der «Espace des Remparts», direkt vor dem Stadthaus, ist sogar das am häufigsten präsentierte Aushängeschild für klimagerechten Städtebau in der Schweiz[1]: Die Autoabstellplätze mussten einer fussgängerfreundlichen Parkanlage mit dichten Baumreihen und gemütlichen Sitzgelegenheiten weichen (Abb.). Klimagerecht meint aber nicht weg mit dem Verkehr, sondern weniger versiegelte Flächen und mehr Bäume, die Schatten spenden. Das urbane Mikroklima darf nicht heisser werden. Ein weiteres Aufheizen ist möglichst zu verhindern, damit der Stadtraum nicht an Aufenthaltsqualität verliert.

Mediterraneres Klima in der Schweiz

Unter lokalem Klimaschutz wird meistens verstanden, den Ausstoss von Treibhausgasen zu senken und energieeffizientes Bauen oder emissionsarme Mobilität zu fördern. Angesichts der unvermeidlichen Folgen sind nun jedoch ergänzende Überlegungen anzustellen, wie sich der Siedlungsraum auf die Erwärmung vorzubereiten kann. Immer mehr Städte auf der ganzen Welt ziehen Massnahmen zur Klimaanpassung in Betracht (vgl. TEC21 11/2014). Innerhalb Europas gelten die Küstenstädte Rotterdam, Kopenhagen und Stockholm als Vorreiter der «Resilient Cities»-Bewegung.

Vor Hitzewellen, Strumfluten oder Regengüssen soll primär technische Infrastruktur schützen. Aber ihr Ausbau muss der Bevölkerung auch unmittelbar nützen; betroffene Quartiere partizipieren an den örtlichen Klimaanpassungsplänen: In Rotterdam entstand der Water-Square Benthemplein, ein Retentionsbecken, das im Alltag ein Spielplatz ist. In Østerbro, einem hafennahen Stadtteil von Kopenhagen, laufen Planungen für ähnlich multifunktional nutzbare «Klimaparks». Und Essen im Ruhrgebiet ist die diesjährige Umwelthauptstadt Europas, weil die Klimaanpassung ein wesentlicher Bestandteil ihrer ökologischen Bemühungen ist. Die Europäische Kommission lobt, wie dabei Umweltschutz, Wachstum und Lebensqualität miteinander vereinbar sind.

Dient der klimagerechte Umbau auch einer Belebung des Stadtraums? Der Blick nach Sitten bestätigt, dass eine Aufwertung für Mensch und Klima möglich ist.

Gemäss Lionel Tudisco vom Stadtplanungsamt hat man ein pragmatisches Vorgehen gewählt: In die grüne und blaue Freiraum-Infrastruktur wird investiert, wo immer es Gelegenheit zur Aufwertung gibt. Eine solche bietet das begehbare, aber bisher ausgeräumte Dach über der Autobahn im Südosten der Stadt, zwischen Fussballstadion und Kaserne. Auf dem Cours Roger Bonvin entsteht bis zum Sommer ein «Stream-Parc» mit viel Grün, Wasserflächen und reichhaltigem Naherholungsangebot. Die wandelbare Klimaausstattung hat ein externes Landschaftsarchitekturbüro programmiert. Sie soll den passenden Rahmen für die Abschlussfeier von «AcclamataSion» bilden, denn in zwei Monaten läuft die Adaptionskampagne aus.

Das positive Echo will die Sittener Behörde allerdings nutzen und vermehrt private Bauherrschaften und externe Planer auf klimagerechten Städtebau aufmerksam machen. «Zwar mangelt es», so Lionel Tudisco, «an verbindlichen Regeln.» Aber zumindest erhält das kommunale Baureglement ergänzende Bestimmungen über einen Pflichtanteil für unversiegelte Flächen und Mindestquoten für die Bepflanzung offener Flächen. Die bisherige Anpassungsleistung von Sitten darf durchaus schweizweite Anerkennung finden. Sie veranschaulicht, wie städtebauliche, landschaftsarchitektonische und ökologische Anliegen zu einem bevölkerungsgerechten Resultat führen können.

Städte prüfen thermische Behaglichkeit

Auch anderen Schweizer Städten ist bewusst, dass eine Dauerhitze für Bewohner schnell unerträglich und der räumlichen Weiterentwicklung hinderlich wird. Jetzt schon heizen sich einzelne Plätze an Sommertagen auf über 60 °C auf. Absehbar sind zudem wochenlange Wetterlagen mit Tagestemperaturen über 30 °C und tropischen Nächten nicht unter 20 °C. Ohnehin sind Innenstädte generell 8 bis 10 °C wärmer als das Umland. Wie real und bedrohlich solche Szenarien sind, demonstrierte der Rekordsommer vor 14 Jahren. Gemäss einer Studie des Schweizerischen Tropeninstituts liess die Hitzewelle von 2003 die Sterberate in der Bevölkerung um 7 % ansteigen. Vor allem ältere Menschen, insbesondere in Städten, waren betroffen.

Genf ist nun daran, die örtlichen Klimarisiken und die drohenden Schäden umfassender zu studieren. Die Stadt Bern konzentriert sich aktuell darauf, die Robustheit des Baumbestands und die kühlende Wirkung der Grünräume zu untersuchen (vgl. «Wichtige Kühleffekte von Bäumen und Parks», Kasten unten). Grössere Stadtentwicklungsprojekte werden in Basel schon jetzt auf mikroklimatische Auswirkungen überprüft. Und auch Zürich möchte das Stadtklima stärker in die räumliche Entwicklung einbeziehen.

Seit sechs Jahren liegt die Klimaanalyse Stadt Zürich (KLAZ) vor; gemeinsam mit dem Kanton wird die bestehende Karte vertieft und ergänzt. Unter der Federführung von Grün Stadt Zürich soll ein Masterplan Stadtklima entstehen, der detaillierte Informationen über klimatisch heikle Zonen enthält.

Gemäss Karl Tschanz, Umwelt- und Gesundheitsschutz Zürich, sollen zudem Massnahmen abgeleitet werden, damit sich die thermische Belastung der Stadtbevölkerung in Verdichtungsgebieten nicht erhöht oder im besten Fall gar verringert.

Zwar ist im Prinzip klar, was klimagerechter Städtebau ist: mehr Grün, mehr Schatten, weniger versiegelte Böden und offene Luftkorridore. Doch die Arbeit im Stadtraum kann erst beginnen, wenn alle Planungsträger darauf sensibilisiert sind und Entwicklungsareale und Bauplanungen auf das Aufheizen und die Durchlüftung überprüfen. Tschanz bestätigt jedoch, dass bisher wenig konkret umgesetzt wird.

Ausserdem sind Zielkonflikte zwischen der erwünschten Siedlungsverdichtung und der prognostizierten Klimaentwicklung absehbar. Wie stark heizen zusätzliche Gebäude oder betonierte Plätze das vorbelastete Stadtklima auf? Und welche Massnahmen sorgen für klimatischen und thermischen Ausgleich an bekannten Hitzestandorten? «Nicht jeder Raum muss eine kühlende Komfortzone sein», erklärt Tschanz. Dennoch sind nun auch in Zürich lokale städtebauliche Antworten auf den globalen Klimawandel gefragt. Wie in Sitten, Rotterdam und anderswo gilt es deshalb wiederzuentdecken, wie viel die urbane Lebensqualität mit dem Stadtklima zu tun hat.

Einen Sondereffort wagen diesbezüglich Stuttgart, Karlsruhe oder Graz: Diese drei Städte wissen über das eigene Mikroklima nämlich bestens Bescheid und tun bereits einiges, um die baulichen Quartierstrukturen zu verbessern. Bemerkenswert daran ist, wie vielfältig die Handlungsmöglichkeiten sind.

Graz: hundert Klimamassnahmen

In Graz überwacht seit letztem Sommer ein Stadtklimatologe, wie sich Durchlüftung, Thermik und Wärmeinseln verändern. Und kurz vor Anfang dieses Jahres hat das Stadtparlament einen Klimaanpassungsplan mit über einhundert Massnahmen[2] beschlossen (vgl. «‹Ein Wandel auch im Klimabewusstsein›»). Die zweitgrösste Stadt Österreichs wird seit den 1970erJahren mithilfe von Radarflugzeugen und Wetterballonen meteorologisch und thermisch vermessen. Zu jedem Standort sind hochaufgelöste Klimadaten bekannt, darunter Einstrahlung, Beschattung, Versiegelung, Temperatur und Windströmung. Kombiniert mit der Struktur des gebauten Stadtkörpers und der Topografie ergibt sich ein kartografisches Mosaik aus stadtplanerisch relevanten «Klimatopen»: Im Zentrum liegen die Hitzeinseln, typischerweise Blockrandbauten; am Stadtrand sorgen Schneisen für eine freie Zirkulation der über Grünflächen und Wäldern produzierten kühlenden Luft.

Dieses Wissen bestimmt den städtebaulichen Alltag: Wo kühle Winde in den Stadtraum einströmen können, sind Schneisen und Hanglagen vor Bebauung zu schützen. Innenhöfe und Dächer sind möglichst zu bepflanzen oder zu begrünen. Und die bauliche Verdichtung darf das städtische Mikroklima nicht negativ beeinflussen: Zeilenbauten, die parallel in den Abhang gesetzt kühlende Fallwinde bremsen, sind daher nicht erwünscht. Ein für Graz wichtiges Planungskriterium ist ebenfalls der Albedo-Effekt von Gebäudefassaden. Er besagt, wie viel Wärme von Hauswänden und anderen Oberflächen gespeichert oder abgestrahlt wird. Dunkle Fassaden nehmen zum Beispiel tagsüber viel Wärme auf und geben sie in der Nacht wieder an die Umgebung ab.
Was ist bioklimatisch belastend?

Städtische Klimaanalysen sind Produkte einer wissenschaftlich jungen Disziplin. Damit befassten sich zuerst Umweltmeteorologen, wo immer lufthygienische Probleme beklagt worden sind.

Inzwischen ist dieses Wissen auch in der Klimaforschung bekannt. Bemerkenswert ist aber nicht nur, in welch hoher Auflösung ein Temperaturverlauf über Jahrzehnte prognostizierbar ist. Ebenso ist simulierbar, wie das ändernde Mikroklima auf Menschen wirken wird. Die physiologische Äquivalenztemperatur (PET) ist ein wichtiger Indikator zur Bestimmung des Bioklimas, wobei in Stuttgart städtebauliche Varianten dahingehend überprüft werden (vgl. «Bioklima in Städten», Kasten unten).

In Karlsruhe[3], dessen Klima mit derselben Methode analysiert worden ist wie nun jenes der Stadt Zürich, wird die bioklimatische Belastbarkeit der Bevölkerung noch mit einem weiteren Aspekt einbezogen. Die Hotspots auf der Karlsruher Klimakarte bezeichnen sowohl leicht aufheizbare Baustrukturen als auch Standorte und Quartiere, in denen vor allem ältere Menschen wohnen, die Spitäler oder Seniorenheime beherbergen oder mit Grünraum unterversorgt ist.

Karlsruhe liegt im Oberrheingraben und gehört mithin zu den Städten in Deutschland, für die die stärksten Hitzewellen prognostiziert werden. Wie in Graz ist Klimaanpassung ein politisch beschlossener, städtebaulicher Auftrag. Selbst im hoch verdichteten und hoch versiegelten Zentrum sollen «Ausgleichsflächen, Entlastungsschneisen und Beschattungskorridore» entstehen, betont Martin Kratz vom Stadtplanungsamt. Zwar finden in der Stadtmitte weiträumige Umbauarbeiten für die neue Metro statt; dennoch wird nicht alles für die Klimaanpassung auf den Kopf gestellt (vgl. «‹Kein genereller Konflikt mit der Verdichtung›», Kasten unten).

Strassenbahn und Stadtbahn fahren schon bald unter Karlsruhe hindurch. Der innerstädtische Raum wird dadurch frei, zusätzlich begrünt und so gut es geht mit Bäumen bepflanzt. Aber die Möglichkeiten sind beschränkt. «Zum einen stossen wir an gestalterische Grenzen», so Kratz. So gelte es, den klassizistischen Charakter des historischen Stadtzentrums zu wahren. Und zum anderen unterqueren zahlreiche Werkleitungen und neue Tunnels den städtischen Boden, sodass es keine Möglichkeiten für tiefgründige Vegetation gibt. Gemäss Stadtplaner Kratz werden allerdings temporäre Kühlvarianten für die Einkaufsmeile geprüft, etwa Wasserspiele oder Pocket-Parks. «Da sich das Hitzerisiko auf den Sommer beschränkt, braucht es nicht überall eine ganzjährige Klimainfrastruktur», so Kratz.

Karlsruhe: integrative Stadtaufwertung

Was die Klimaanpassung in Karlsruhe aber auszeichnet: Es geht nicht nur um kurzfristige bauliche Massnahmen, sondern auch um langfristige Veränderungen in der Stadtentwicklung. «Das Anliegen muss neue Denkprozesse in der Planung auslösen», betont Kratz. Wichtig sei daher, dass sich das Arbeitsfeld nicht auf die Stadtbegrünung beschränkt, sondern dass sich alle Planungsdisziplinen mit klimagerechtem Stadträumen auseinandersetzen sollen.

Die klimatischen Bedingungen für die Stadtbevölkerung werden nämlich nur besser, wenn das Betriebsklima in der Verwaltung stimmt und die gesamte Planungs-, Raum- und Baubehörde inklusive Fachabteilungen am selben Strick zieht. Der Klimawandel bringt nicht nur die Städte nördlich und südlich der Alpen einander näher. Auch die Beziehung zwischen Behörde und Bewohner wird durch den klimagerechten Städtebau enger.


Anmerkungen:
[01] Changement climatique et actions communales, Informationsanlass Stiftung Pusch, Februar 2017.
[02] Klimawandelanpassungsstrategie für Graz: Informationsbericht und Ausarbeitung von Massnahmen, 2016.
[03] Städtebaulicher Rahmenplan Klimaanpassung, Anpassungskomplex «Hitze», Karlsruhe 2016.

TEC21, Fr., 2017.03.31



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31. März 2017Paul Knüsel
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«Ein Wandel auch im Klimabewusstsein»

Die österreichische Stadt Graz hat politisch verbindlich beschlossen, das urbane Klima zu begutachten. Klimatologe Dominik Piringer koordiniert den umfangreichen Massnahmenplan und die Begrünungsstrategie.

Die österreichische Stadt Graz hat politisch verbindlich beschlossen, das urbane Klima zu begutachten. Klimatologe Dominik Piringer koordiniert den umfangreichen Massnahmenplan und die Begrünungsstrategie.

TEC21: Herr Piringer, seit etwas mehr als einem halben Jahr arbeiten Sie in Graz als Stadtklimatologe. Was ist Ihre Funktion?
Dominik Piringer: Meine Rolle ist, die Umsetzung der Klimaanpassung in der Stadtverwaltung ­voranzutreiben und zu koordinieren. Die Anpassung beinhaltet ein umfangreiches Paket an Einzelmassnahmen, die im urbanen Grünraum oder im Planungsbereich «Bauen und Wohnen» einzusetzen sind. Der Massnahmenplan überschneidet sich mit sehr vielen Verantwortungsbereichen anderer städtischer Abteilungen. Jedoch sind die Massnahmen verbindlich, da der Gemeinderat, das Stadtparlament von Graz, den Anpassungsbericht letzten Herbst einstimmig gutgeheissen hat. Das erleichtert die Koordination enorm.

TEC21: Wie schnell kommt die Klimaanpassung im Stadtraum von Graz dank Ihnen voran?
Dominik Piringer: Bisher lag es vor allem an mir, mich in relevante Geschäfte einzumischen. Schwierig daran ist, dass Umweltanliegen nicht bei allen Stadtämtern höchste Priorität besitzen. Aber auch mit dem Grundsatzbeschluss ist die Klimaanpassung nun nicht das alles bestimmende Thema. Zudem sind mir die Hände teilweise gebunden. Das Umweltamt, dem ich angegliedert bin, ist weder direkt in die Umsetzung eingebunden noch kann es eigene Gesetze durchsetzen, sondern nur kontrollieren und auf andere Abteilungen einwirken.

TEC21: Aber jetzt rennen Sie offene Türen ein?
Dominik Piringer: Effektiv fliesst das Wissen über das Grazer Stadtklima bereits in grossflächige Stadtentwicklungsprojekte ein. Zudem bin ich inzwischen sehr oft an Projektbesprechungen beteiligt. Was wirklich Fahrt aufgenommen hat, ist die Umsetzung der städtischen Begrünungsstrategie. Das Parlament hat ebenfalls letzten November sogar ein eigenes Förderprogramm dazu beschlossen.

TEC21: Was wird damit gefördert?
Dominik Piringer: Um den urbanen Grünraum auszuweiten, werden Gebäude für eine Dach- und Fassadenbegrünung gesucht. Der Fokus bei der Dachbegrünung liegt auf Hallentragwerken mit Flächen ab mindestens 1000 m². Pro Objekt können bis zu 40 000 Euro Fördergelder beantragt werden; 10 Euro pro m2 werden ausbezahlt. Bei der Fassadenbegrünung werden Projekte mit einer begrünbaren Mindest­fläche von
50 m² gefördert, mit gleich hohem Betrag.

TEC21: Das ist sehr viel Geld …
Dominik Piringer: Im europäischen Vergleich ist das eine sehr hohe Förderung. Aber Graz hatte lange Zeit ein Fein­staubproblem. Nun hat das Umweltamt das Glück, ausreichend Fördermittel zur Verfügung zu haben. Neben der Begrünung werden auch klassische Förderprojekte wie thermische Gebäudesanierungen oder Solaranlagen berücksichtigt.

TEC21: Graz hat schon früh lokale Klimaanalysen durchgeführt. Wie beeinflussen diese Grundlagen die eigene räumliche Entwicklung?
Dominik Piringer: Seit 1989 wird die Stadtklima­analyse laufend aktualisiert. Inzwischen ist das ein recht umfang­reiches Werk, wobei die Karte mit den Klima­topen das wichtigste Dokument für die Umsetzung ist. Dabei handelt es sich um eine klimatische Bewertung des Stadtraums. Unter anderem sind die Schneisen für die Frischluftzufuhr in den räumlichen Leit­bildern der Stadtplanung zu berücksichtigen. Die Klimatopkarte wird regelmässig mithilfe von Messfahrten überprüft. Von leichten Veränderungen und zunehmender Bebauung betroffen sind vor allem die Frischluftschneisen.

TEC21: Wie wichtig sind die Schneisen für das Stadtklima?
Dominik Piringer: Wie wichtig intakte Ventilationskorridore sind, hat eine Messkampagne im Sommer 2015 gezeigt. Wir sind am 13. August 2015 um 6 Uhr in der Früh losgefahren. Die Temperatur lag in der Innenstadt über 20.2 °C, was einer Tropennacht entspricht. Während der Messfahrt stadtauswärts sind wir entlang einer durchgängig bebauten Schneise zum Schluss bei rund 13 °C gelandet. Dieser Kühleffekt ist den dahinterliegenden unbebauten Hanglagen zu verdanken. Deshalb ist es wichtig, solche Luftschneisen nicht zu stark zu verbauen. Hangparallele Riegel können den Austausch der Luftmasse und die Kühleffekte zum Beispiel stark mindern. Im Winter entstehen dadurch auch luft­hygienische Probleme, weil ein Luftaustausch unterbunden wird und sich Feinstaub und andere Schadstoffe anreichern.

TEC21: Werden neue Stadtentwicklungsprojekte mikro­klimatisch beurteilt?
Dominik Piringer: Aktuell werden in Graz zwei grosse Entwicklungsgebiete überbaut – das eine ist Smart City und das andere Reininghaus –, die gemeinsam rund 20 000 Einwohner aufnehmen können. An beiden Orten wurde im Vorfeld ein stadtklimatologisches Gutachten erarbeitet, auf dem die Bauausschreibung basiert. In solchen Projekten funktioniert die Zusammenarbeit in der Stadtplanung gut. Meiner Meinung nach verbesserungswürdig sind verbindliche Vorschriften für private Bauträger, etwa zur Begrünung oder zur Einschränkung des Versiegelungsgrads. Oder um mehr Freiflächen zu schaffen, versuchen wir ­Strassenbahntrassen zu begrünen. Darüber wird verwaltungsintern aber noch kontrovers diskutiert.

TEC21: Worin besteht diese Kontroverse?
Dominik Piringer: Die wirtschaftliche Komponente wirkt sich sehr stark auf alle Bereiche aus, die mit Unterhalt und Pflege von Strasseninfrastruktur zu tun haben. Eine Begrünung wird oft als teuer eingeschätzt. Daher erkenne ich viel Arbeit für die Aufklärung und Information unsererseits. Ein Demonstrationsobjekt ist zum Beispiel, Dächer und Fassaden von Tramhaltestellen zu begrünen. Doch das gilt ganz allgemein, das grösste Hemmnis für mehr Klimaanpassung geht von wirtschaftlichen Argumenten aus.

TEC21: Die Luftbelastung wird in Graz als Problem erkannt. Wie sensibel ist die öffentliche Wahrnehmung, was die Minderung der Hitzeeffekte betrifft?
Dominik Piringer: Wir befinden uns gerade im Umbruch. Auch in der Bevölkerung wandelt sich das Klimabewusstsein. Wir spüren immer mehr, dass dieses Thema öffentlich relevant wird. Grundsätzlich weiss man, dass es in der Stadt heisser ist als im Umland. Ob dieses Wissen auch für einzelne Fachbegriffe wie die «urbane Hitzeinsel» gilt, darf durchaus bezweifelt werden. Doch eigentlich ist es eine Forderung aus der Bevölkerung, etwas gegen die zunehmende Hitze in der Stadt zu unternehmen. Und bei den Lokal­wahlen vor wenigen Wochen haben praktisch alle politischen Fraktionen versprochen, mehr Grünraum zu schaffen.

TEC21, Fr., 2017.03.31



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TEC21 2017|13 Städtebau in der Aufwärmphase

17. Februar 2017Nina Egger
Paul Knüsel
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Egoist

Hinter der matt anthrazitfarbenen Glasfassade wohnen neun Familien ohne Anschluss an ein Energienetz. Auf den ersten Blick verwundert es, wie das funktioniert, denn Energieerzeuger sind keine zu sehen. Im Keller ­geben 26 Wechselrichter und ein Speicher erste Hinweise auf die Lösung.

Hinter der matt anthrazitfarbenen Glasfassade wohnen neun Familien ohne Anschluss an ein Energienetz. Auf den ersten Blick verwundert es, wie das funktioniert, denn Energieerzeuger sind keine zu sehen. Im Keller ­geben 26 Wechselrichter und ein Speicher erste Hinweise auf die Lösung.

Am Rand des Hofacher-Quartiers von Brütten ZH steht ein Mehrfamilienhaus, das weder an das öffentliche Stromnetz angeschlossen noch auf externe Brennstoffe angewiesen ist. Der ländliche Ersatzneubau mit neun Wohnungen ist ein Pilot- und Demonstrationsprojekt, das neueste Komponenten der Solartechnik mit einem ausgeklügelten Versorgungs-, Speicher- und Regelungssystem kombiniert. Die Bewohner leben ­energetisch autark von der Umgebung, dank gebäudeintegrierter Photovoltaik, Erdsonden und innovativen Speicher­varianten. Dafür wurde der Bau mit dem ­Norman ­Foster Solar Award 2016 (vgl. «Mehr als nur Solar») ausgezeichnet.

Grundsätzlich hat Energieautarkie im Siedlungsumfeld nichts verloren. In der Wüste, am Nordpol oder auf dem Mond wäre es etwas anderes. Doch warum soll ein Bau wie ein Eremit ganz für sich allein bleiben, wenn es sicherer und effizienter ist, ihn an ein öffentliches Versorgungsnetz anzuschliessen oder mit den Nachbarn, mit denen er Energie- und Stoffflüsse austauschen könnte, als kleines Netzwerk zusammenzuschliessen?

Beim Mehrfamilienhaus in Brütten ging es aber nicht darum, zu tun, was unter den gegebenen Be­dingungen am vernünftigsten ist, sondern darum, die heutige Technik bis aufs Letzte auszunutzen. Das ­Extrembeispiel soll zeigen, was alles möglich ist. Und das ist nun bewiesenermassen einiges.

Die (nicht sehr geheime) Rezeptur

Um sich zu 100 % selbst mit thermischer und elektrischer Energie versorgen zu können, müssen drei Grundbedingungen erfüllt sein: Der Verbrauch muss so gering wie möglich gehalten werden, die Eigenenergieproduktion muss so hoch wie möglich sein, und um dem zum fluktuierenden Angebot häufig versetzt auftretenden Bedarf gerecht werden zu können, werden Speicher benötigt. Bei Bautypen mit von vornherein geringem Bedarf und einer grossen zur solaren Energiegewinnung geeigneten Oberfläche lässt sich dem etwas leichter nachkommen – eine Scheune mit fünf Glühbirnen als einzigen Verbrauchern wäre ein geringes Problem. Aber ein Mehrfamilienhaus? Da ist das Volumen kompakt – wenig Oberfläche zur Energiegewinnung – und die Belegungsdichte hoch; entsprechend auch die Verbräuche. Kein Wunder also, dass bislang in der Schweiz niemand ein autarkes Mehrfamilienhaus erbaute.

Gezielte Verbrauchsreduktion

Der Energieverbrauch wird durch die gut gedämmte Gebäudehülle und durch hohe Effizienz bei der kon­trollierten Wohnraumlüftung, bei Wand- und Bodenheizung sowie bei technischen Geräten gering gehalten. Der Energiebedarf für Heizen, Brauchwarmwasser, Haushalts- und Betriebsstrom beläuft sich auf 63 300 kWh/a. Mit Wärmepumpe, Lüftung, Kühlung, Hilfsstrom und Energie zur Speicherbefüllung werden insgesamt 119 460 kWh/a verbraucht, exakt die Menge, die erzeugt wird.

Maximale Energieerzeugung

Energie erzeugt wird an allen Ecken und Enden des Gebäudes. Die Photovoltaikanlage am Dach mit 512 m² monokristallinen Solarzellen (79.54 kWp) und die 485 m² mikromorphen Dünnschicht-Solarzellen an der Fassade (46.96 kWp) produzieren zusammen durchschnittlich 92 000 kWh/a. Die Solarpaneele sind dabei speziell auf die Anwendung im architektonischen und gestalterischen Bereich angepasst und weiter entwickelt worden. Ein spezielles Verfahren, eigens für dieses Projekt an der HSLU entwickelt, ermöglicht die Behandlung des Deckglases, wodurch eine matte Oberfläche entsteht. Die verbauten Photovoltaikpaneele sind blendfrei und als Bauplatten verwendbar. Die mikromorphen PV-Fassadenmodule erzeugen selbst im Winter, unabhängig ihrer Ausrichtung, sowie bei niedrig stehender Sonne und viel diffusem Licht einen relativ hohen Stromertrag. Die Gebäudeform ist so beschaffen, dass kein Bauteil Schatten auf die Fassade wirft, was den Einsatz der PV-Fassade optimiert und auch den monolithischen Charakter des Bauwerks stärkt. Der Solarertrag reicht aus, den jährlichen Stromeigenbedarf in den neun Familienhaushalten abzudecken.

Zur elektrischen Energie der Photovoltaikanlagen kommt Wärmeenergie aus Umgebungswärme und aus Erdsonden mit Wärmepumpe und Wärmetauscher hinzu. Der thermische Energiebedarf für Raumheizung und Warmwasser wird aus diesem System gedeckt; es bezieht nur Strom, den das Wohngebäude selbst aus Sonnenenergie produzieren kann. Insgesamt werden 119 460 kWh/a bereitgestellt.

Optimierte Speicherung

Abgestimmt auf Nachfrageprofil und Nutzenergie ist die Speicherung kaskadenartig organisiert. Batterien und Wasserstofftanks dienen der kurz- und langfristigen Stromspeicherung, für überschüssige thermische Energie gibt es Wärmespeicher. Um die Speicher möglichst klein ausführen zu können, wurde der winterliche Solarertrag optimiert.

Als Kurzzeitspeicher für den von der PV-Anlage produzierten Überschuss fungiert eine Lithium-Eisenphosphat-Batterie. Batteriewechselrichter stellen innerhalb des Gebäudes das Stromnetz sicher und ­übernehmen die Primärregelung des Netzes. Gewisse Komponenten sind redundant ausgeführt, um eine hohe Verfügbarkeit zu gewährleisten. Bei einem Energieüberschuss der PV-Anlage wird die Energie in der Batterie zwischengespeichert. Wenn der Strom der PV-Anlage nicht mehr ausreicht, um den aktuellen Bedarf zu decken, kann die Energie rasch aus diesem Kurzzeitspeicher abgerufen werden. Die Batterie ist so ausgelegt, dass sie Lücken von einzelnen Stunden bis etwa drei Tagen überbrücken kann.

Da die Kurzzeitspeicher im Sommer schnell ­geladen sind, wird ein saisonaler Langzeitspeicher ­(Wochen bis Monate) benötigt. In den sonnenarmen Monaten kann die Energie aus dem Langzeitspeicher im Gebäude wieder eingesetzt werden. Über Batterien ist eine Langzeitspeicherung aufgrund der Verluste und hohen spezifischen Kosten für diesen Einsatz allerdings nicht wirtschaftlich realisierbar. Beim Projekt Brütten sind daher zusätzlich weitere Technologien (z.B. Wasserstoffspeicherung) im Einsatz. Diese Langzeitspeichersysteme sind eng mit dem Batteriespeichersystem verbunden und stellen die Versorgung bei längeren Unterdeckungen sicher.

Umwandlung

Als Power-to-Gas (kurz PtG oder P2G, auch «elektrische Energie zu Gas») wird ein elektrochemischer Prozess bezeichnet, in dem durch Wasserelektrolyse unter dem Einsatz von Strom Wasserstoff hergestellt wird. Der Strom wird in drei Schritten behandelt:

1. Produktion von Wasserstoff durch Wasserelek­trolyse, auch Power-to-Gas genannt
2. Speicherung des Wasserstoffes unter Druck
3. Produktion von elektrischem Strom durch eine Brennstoffzelle (Typ PEM)

Der dabei ebenfalls entstehende Sauerstoff kann genutzt oder in die Atmosphäre abgeblasen werden. Bei diesem Prozess entsteht neben dem Wasserstoff bei einem Druck von 30 bar ohne Verdichter gleichzeitig nutzbare Wärme in Form von Kühlwasser mit rund 35 °C.

Der so hergestellte Wasserstoff kann in Druckspeichern saisonal zwischengespeichert werden. Es sind verschiedene Drücke möglich und die Tankanlagen können überirdisch oder unterirdisch erstellt werden. Massgebend sind die Rahmenbedingungen am Aufstellungsort.

Die Brennstoffzelle wandelt Wasserstoff in Elektrizität um. Statt einer klassischen Verbrennung arbeitet eine Brennstoffzelle mit einer elektrochemischen Reaktion und ist emissionsfrei. Das Prinzip einer Brennstoffzelle ist vergleichbar mit dem einer Batterie. Sie verfügt ebenfalls über eine Anode, eine Kathode und einen Elektrolyten. Eine Brennstoffzelle kann selbst aber keine Energie speichern und sie kann auch nicht «aufgeladen» werden. Brennstoffzellen können kontinuierlich Gleichstrom produzieren, solange Brennstoff (Wasserstoff) und Luft zur Verfügung stehen. ­Neben der elektrischen Energie steht nutzbare Wärmeenergie zur Verfügung. Die Stromerzeugung durch die chemische Reaktion ist lautlos.

Thermischer Speicher

Thermische Langzeitspeicher dienen zur Speicherung von grossen Wärmemengen über lange Zeiträume. Der saisonale Wärmespeicher (zwei Wassertanks) wird via Wärmepumpe beladen, sobald zu viel Strom produziert wird. Dieser ist mit dem Brauchwassersystem (Hoch­temperatur) und dem Heizsystem (Niedertemperatur) verbunden.

In Brütten sind die Speicher unter dem Haus angeordnet. Als Speicherbehälter werden zwei konventionelle Stahl-Email-Tanks (Abb.) verwendet, wie sie auch in der Landwirtschaft zur Lagerung der Gülle eingesetzt werden. Die Speicher sind drucklos ausgeführt. Die Ladung und Entladung erfolgt über im Innern angebrachte Rippenrohrwärmetauscher, die Energie an das stehende Wasser im Speicher abgeben oder daraus entziehen. Die Speicher sind im gesamten Umfang 200 mm dick in Wärmedämmung eingepackt. Die Ausdehnung des Speicherwassers wird über eine entsprechende Reservehöhe und einen Überlauf mit Siphon gewährleistet. Ein allfälliger Zugang in den Speicher erfolgt von oben über einen wärmegedämmten Einstiegsschacht und eine eingebaute Schachtleiter. Die maximale Speichertemperatur beträgt rund 65 °C, die minimale 6 °C.

Alles massgeschneidert

Die gebäudeintegrierte Photovoltaik ist auf hohe Leistung und saisonalen Ausgleich dimensioniert. Zur Optimierung waren Speziallösungen bei Geometrie und Hinterlüftung der Dünnschichtmodule sowie bei der Konzeption der Schaltkreise und der Wechselrichteranschlüsse zu finden. Zur Demonstration des energieautarken Wohngebäudes gehört die zurückhaltende Gestaltung: So besitzen die Solarfassaden eine matte, blendfreie Optik. Ebenso ist an den bündigen, verschattungslosen Dachkanten erkennbar, wie Solartechnik und Architektur jeweils als ein Ganzes entworfen sind.

Definierte, simulierte Schnittstellen

Technisch ist die autarke Energieversorgung auf verlässliche Systeme angewiesen. Gewisse Komponenten sind daher redundant ausgelegt. Programmatisch geht es jedoch darum, die Schnittstellen zwischen Produktion und Verbrauch genau zu definieren. Die Knacknuss war hier, ein kompaktes Gebäudevolumen als ausreichende Fläche für die Energiegewinnung zu nutzen und die hohe Belegungsdichte mit einer moderaten Verbrauchsspitze zu kombinieren. Die unterschiedlichsten Lastgänge und Betriebsmodi wurden vorgängig simuliert. Das Energiemanagement steuert Produktion, Speicherung und Haustechnik intelligent; das Gebäudeleitsystem bezieht dafür auch reale Wetterdaten ein.

Die Verbrauchsseite, bestehend aus Haushaltsgeräten, Lüftungsanlage und weiteren haustechnischen Apparaturen, ist auf höchste Energieeffizienz getrimmt. Die Mieterschaft wurde zudem unter anderem aus einem öffentlichen Nachhaltigkeitswettbewerb ausgewählt. Der private Energiekonsum wird im Rahmen eines Austauschs untereinander sowie eines weitergehenden Forschungsvorhabens thematisiert.

Nachahmung (teilweise) erwünscht

Am Mehrfamilienhaus Brütten können sich Techniker und Wissenschaftler erfreuen, was aktuell alles möglich ist. Ein Monitoring wird in den nächsten Jahren zeigen, wie gut die einzelnen Komponenten des Gebäudes zusammenspielen und wo es trotz penibler Planung noch Nachbesserungsbedarf gibt.

Die Grundidee, sich trotz dem Standort mit ­guter Infrastruktur völlig autark mit Energie zu versorgen, dient mehr zur Demonstration denn als Vorbild. In der Schweiz besteht ohnehin eine Anschlusspflicht, die diesem Vorgehen widerspricht. Einzelne Elemente des Konzepts, die der Energiebedarfsminimierung, Energieerzeugung und -speicherung dienen, sind aus sowohl ökologischer als auch ökonomischer Sicht aber sehr wohl nachahmenswert. Hier gilt es, für jede Bauaufgabe und jeden Standort den geeignetsten Weg zu finden.

Nina Egger, Paul Knüsel

TEC21, Fr., 2017.02.17



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02. Dezember 2016Paul Knüsel
TEC21

Rohrblöcke ersetzen Leitungsmasten

Beim Bau von Höchstspannungsleitungen wird um landschaftsschonende Lösungen gerungen. Am Bözberg macht sich Swissgrid nun erstmals an eine Erdverkabelung. Die Premiere wird wissenschaftlich begleitet, damit bisherige Unsicherheiten ausgeräumt werden können.

Beim Bau von Höchstspannungsleitungen wird um landschaftsschonende Lösungen gerungen. Am Bözberg macht sich Swissgrid nun erstmals an eine Erdverkabelung. Die Premiere wird wissenschaftlich begleitet, damit bisherige Unsicherheiten ausgeräumt werden können.

Die Energielandschaft in Europa braucht leistungsfähigere Verbindungen, um die Windparks im Norden ans Netz anzubinden und den Strom schneller in den Süden zu bringen. Quer durch Deutschland sind zwei derartige Stromautobahnen geplant. Bereits sind die Diskussionen über Trassen und Korridore im Gang; umstritten ist vor allem, welche Gleichstrompassagen ober- oder unterirdisch verlaufen sollen. Ohne Erdverkabelung wird das Vorhaben aber kaum gelingen; ein möglichst landschaftsverträglicher Ausbau der Stromnetze ist gefragt. Vor wenigen Wochen haben die Netzbe­treiber im nördlichen Nachbarland ein aufwändiges Beteiligungsverfahren zur Planung der Nord-Süd­korridore begonnen. Man hat aus früheren Konflikten gelernt. Bis die Einwände bereinigt sind, verstreicht oft viel Zeit.

Fast 20 Jahre dauerte beispielsweise der Streit im Schweizer Mittelland. Er begann 1996, als die Nordostschweizer Kraftwerke NOK (heute: Axpo) ihren Plan präsentierten, die bestehende Höchstspannungsleitung über den Bözberg auf 380 kV aufzurüsten und die Trasse abzuändern.

Die Aargauer Gemeinden Riniken und Bözberg, aber auch Privatpersonen setzten sich jedoch gegen Freileitungen zur Wehr. Sie verlangten, eine als Nah­erholungsgebiet beliebte Landschaftskammer mit ­neuen Masten zu verschonen und stattdessen Höchst­spannungskabel in den Boden zu verlegen. 2011 gab das Bundesgericht dafür überraschend grünes Licht: Die Erdverkabelung sei technisch und ökonomisch machbar und darum eine landschaftlich zu bevorzugende Lösung. Fünf Jahre später ist der Plan der nationalen Netzgesellschaft Swissgrid, die sich inzwischen um den Ausbau der «380-kV-Leitung Beznau-Birr» kümmert, zur Ausführung bereit: Zwischen Mast 20 und Mast 37 wird die Trasse mehrheitlich auf einer Freileitung durch den Wuestwald führen. Dazwischen aber versinkt sie für gut einen Kilometer in den Boden.

Am «Gäbihübel», einem landwirtschaftlich geprägten und gut einsehbaren Hang oberhalb Brugg, findet die Schweizer Premiere zur Teilverkabelung auf 380-kV-Netzebene statt. Das Bundesamt für Energie hat die Bewilligung bereits erteilt. Die Bauarbeiten zwischen Riniken und Villnachern starten nächsten Herbst, und in etwa drei Jahren soll der Netzausbau inklusive Erdverkabelung abgeschlossen sein, sagt Swiss­grid-Projektleiter Christoph Moser. Die neue Trasse verschafft der Gemeinde zusätzliche Linderung: Die offene Überleitung eines Wohnquartiers wird verschwinden. Zudem wird die 110/16-kV-Leitung östlich von Riniken in den Boden gelegt.

«Gäbihübel» bleibt verschont

Die Zeit zwischen Gerichtsentscheid und Detailprojekt wurde zur Optimierung der Technik und der Streckenführung genutzt. Unter anderem steht das nördliche Portalbauwerk, in dem die Freileitung im Kabelgraben versinkt, nun mitten im Wald. Ebenso ist die Geometrie des Kabelgrabens vereinfacht worden. Und zuletzt kam eine Redimensionierung der Übertragungskapazität hinzu: Anstelle beider wird nur mehr ein Kabelsystem von 220 kV auf 380 kV elektrische Spannung erhöht.

Zu beachten ist allerdings: Deutsche Energieautobahnen sollen Gleichstrom übertragen, was über oder unter der Erde fast beliebig möglich ist. Die Bözbergleitung transportiert dagegen Wechselstrom. Eine solche Verkabelung verursacht jedoch Zusatzaufwand: Denn proportional zur Distanz wird Blindleistung erzeugt, die mit Spezialanlagen in regelmässigen Abständen zu kompensieren ist. Die Bözbergstrecke ist jedoch nur 1.3 km lang, so dass keine Kompensation erforderlich ist. Zudem ist der Abschnitt derart kurz, dass die Kabeladern an einem Stück eingezogen werden. «Verbindungsmuffen wären potenzielle Schwachstellen; darauf kann aber verzichtet werden», ergänzt Sandro Dinser, Swissgrid-Experte für Kabel­anlagen.

Doch auch so gibt es einige Detailfragen zu klären; insbesondere das thermische Verhalten oder der Schutz vor dem Magnetfeld sind für die unterirdische Linienführung neu zu definieren. Ausgehend von den Parteigutachten und der Plangenehmigung haben die Swissgrid-Fachleute nun das folgende praktische Vorgehen bestimmt: Insgesamt 12 Leitungskabel (110 mm Durchmesser) werden in einem Rohrblock aus Magerbeton durch den knapp 2 m tiefen Erdgraben geführt. Die Alternative wäre ein begehbarer Stollen; ein solcher unterquert etwa den Güterbahnhof Spreitenbach auf 3 km Länge. Dieser 220-kV-Spannungskanal wurde vor 40 Jahren erstellt. «Er hilft uns am Gäbihübel aber ebenso wenig weiter wie die Erdkabelstrecke im Tessin», ergänzt Dinser. Bessere Anschauung erhielten die Swissgrid-Experten in Dänemark und Deutschland, wo wenige Kilometer Wechselstromleitungen verkabelt sind.

Abgeschirmte Magnetfelder

Grosse Unsicherheiten lösten anfänglich die Anordnung der Kabeladern und Phasen sowie die Geometrie und Tiefe des Grabens aus. Diese Faktoren beeinflussen sich gegenseitig und wirken sich im Untergrund, anders als an der freien Luft, auf die Übertragungsfähigkeit, die Wärmeabfuhr oder die magnetische Strahlung aus. Gemäss Swissgrid-Projektleiter Moser wird eine Erdüberschüttung von rund 1.1 m ausreichende Abschirmung bieten. Die Simulationen hätten ergeben, dass das Magnetfeld auf 20 cm über Boden unter dem gesetzlichen Grenzwert von 100 µT liegt.

Ein tieferer Graben wäre besser gewesen, gleichzeitig hätte das Risiko einer Überhitzung im Überlastfall zugenommen. Die gewählte symmetrische Anordnung der Kabeladern verhindert derweil im ­normalen Betriebszustand einen Wärmestau. Und der Abstand dazwischen wurde so gewählt, dass ein Kurzschluss verhindert wird. Eine weitere Vorsichtsmassnahme ist der Lüftungsschacht, weil der Kabelgraben die SBB-Bözberglinie in rund 4 m Tiefe unterquert. «Im Normalfall könnte man ein Erdkabel aber mit der Hand berühren; erst Störungen im Betriebsnetz erhöhen die Temperatur», sagt Swissgrid-Kabelexperte Dinser. Bevor sich ein Kabel beispielsweise auf kritische 90 °C erwärmen kann, besteht in der Regel genug Zeit für eine Intervention.

Redundanz und Sicherheit sind bei der erstmaligen Erdverkabelung am Gäbihübel wichtig: Die beiden Rohrblöcke, die nebeneinander in einem rund 5 m breiten Erdgraben liegen, umfassen je ein Kabelsystem mit drei Phasen und doppelt geführten 380-kV-Kabeln sowie einer Glasfaserleitung. Das unterirdische Bauwerk ist für die nächsten 80 Jahre konzipiert. Bei einer späteren Erhöhung der Übertragungskapazität lassen sich die Kabel im Rohrblock «Gäbihübel» einfach ersetzen.

Die Bewirtschaftung des Bodens über dem Graben ist nur geringfügig eingeschränkt. Einzig tief wurzelnde Bäume sind verboten; ansonsten werden Äcker und Wiesen wie bisher landwirtschaftlich genutzt. Bei Tiefbau und Bodenrekultivierung wird zudem auf konventionelle Arbeitsmethoden zurückgegriffen.

Zusatzaufwand noch nicht ausgewiesen

Ein wissenschaftliches Begleitprogramm soll Klarheit über die technischen Fragen zum Betrieb einer unterirdischen Kabelanlage auf dieser Spannungsebene schaffen. Gemeinsam mit den Umweltschutzämtern des Bundes und des Kantons Aargau wird Swissgrid unter anderem die magnetischen Feldströme, die Übertragungsverluste von Kabeln sowie die Austrocknung und weitere biologische Veränderungen im Boden erheben. Laut Swissgrid-Projektleiter Christoph Moser soll das Monitoring langfristig gültige Daten liefern. Angaben zum finanziellen Ausführungsaufwand kann der Netzbetreiber derzeit keine machen. «Die Kosten lassen sich erst anhand der Zuliefererofferten genauer berechnen. Die Rohstoffpreise für Kupfer sind zum Beispiel nur für wenige Wochen abschätzbar», so Moser.

Generell kostet eine Erdverkabelung zwei- bis zwölfmal mehr als eine Freileitung, wobei die örtliche Situation und die elektrische Transportkapazität massgebend sind. Zumindest bei tiefen Spannungen soll ein neues Bundesgesetz klären, ab welchem Mehraufwand eine Verkabelung zu bevorzugen ist. Projekte auf Höchstspannungsebene sind weiterhin einzeln im Bundes­sachplan «Übertragungsleitungen SÜL» zu beurteilen.

Evaluation von Erdkabeln ist Pflicht

Der Sachplan legt seit dem Bundesgerichtsurteil zur Bözbergtrasse neben dem Planungskorridor auch die Leitungstechnologie fest. Deshalb hat Swissgrid zu jedem Netz­ausbauprojekt eine Kabelstudie auszuarbeiten. Vor wenigen Wochen hat das Bundesamt für Energie zum Beispiel den Plan bewilligt, die 50 km lange Höchstspannungsfreileitung durch das Unterengadin konventionell zu erweitern. Der Einbau eines zusätzlichen 380-kV-Strangs zwischen Mast 28 und Mast 126 kostet knapp 150 Millionen Franken – gleichzeitig die gesamte Trasse in einen unterirdischen Kanal zu verlegen wäre dagegen fast fünfmal teurer gewesen.

Würde man jedoch den Neubau einer Freileitung als Vergleichsgrösse zur Verkabelung beiziehen, wäre der Unterschied sicher geringer. Eine solche Variante hat Swissgrid zwar nicht untersucht. Aber gemäss dem Experten Dinser ist Kabelbau im alpinen Gelände nicht ohne: «Felsiger ­Untergrund, un­zugängliche Hänge oder auch die Logistik und der Transport der riesigen Kabelrollen stellen teilweise unüberwindbare Hindernisse dar.» Auch die Umweltverträglichkeit von Erdkabelstrecken ist nicht per se unbedenklich: Eingriffe in Boden und Grundwasser, Bauarbeiten und Erschlies­sungsstrassen können ein negatives Urteil ergeben.

Allerdings ist im Unterengadin eine Ersatzmassnahme geplant, die ebenfalls auf Erdarbeiten angewiesen ist: die Verkabelung eines Abschnitts im Hoch- und Mittelspannungsnetz. Für die Feinverteilung der elektrischen Energie werden Erdkabel immer häufiger als valable Ausbauvariante in den Boden verlegt.

TEC21, Fr., 2016.12.02



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02. Dezember 2016Paul Knüsel
TEC21

«Die Optionen, Räume frei zu halten, sind leider beschränkt»

Im Gespräch mit Hans-Michael Schmitt, Professor für Landschaftsplanung an der Hochschule Rapperswil.

Im Gespräch mit Hans-Michael Schmitt, Professor für Landschaftsplanung an der Hochschule Rapperswil.

TEC21: Herr Schmitt, die Hochschule Rapperswil erarbeitet landschaftsplanerische Grundlagen, die die Projektierung von Höchstspannungsleitungen vereinfachen sollen. Worum geht es?

Hans-Michael Schmitt: Dem Netzbetreiber Swissgrid soll ein Leitfaden zur Verfügung gestellt werden, um Aushandlungsprozesse und die landschaftliche Integration von Starkstromleitungen zu verbessern. Zur Festlegung von Planungsraum und Korridor im Sachplanverfahren des Bundes sollen die Auswirkungen der Abwägungsprozesse hinsichtlich empfindlicher Räume offengelegt und visualisiert werden können.

TEC21: Ist die Erdverkabelung eine Alternative für neue Hochspannungsleitungen?

Hans-Michael Schmitt: Den Diskussionen um Erdverkabelungen würde ein bisschen mehr Realitätsbezug kaum schaden. Wie viel sich in den Boden umlegen lässt, ist zurückhaltend anzugehen. Allerdings stünde ein ganz neues Variantenspek­trum zur Verfügung, wenn auch über die Mitnutzung vorhandener Kanäle oder Tunnels verhandelt werden könnte. Auch Stromkabel durch Seen würden neue Perspektiven eröffnen, wobei sich neue, technische und organisatorische Fragen stellen. Doch der Umbau der Energieinfrastruktur ist komplex; landschaftsverträgliche Lösungen brauchen besondere An­strengungen. Aber weil Stromleitungen weiterhin benötigt werden, sind die Optionen, Räume davon gänzlich frei zu halten, leider beschränkt.

TEC21: Braucht es einen nationalen Plan für die landschaftsverträgliche Umsetzung der Energiewende?

Hans-Michael Schmitt: Die erneuerbare Energieerzeugung wird die Landschaft augenfällig und vor allem dezentral verändern. Im Vergleich dazu kennen wir heute die Konzentration auf wenige Standorte mit den Grosskraftwerken. Ein übergeordneter Plan bietet deshalb die Chance, die Veränderung der Landschaft rechtzeitig zu steuern. Der unbedachte Ausbau des Nationalstras­sennetzes in der Schweiz wäre ein Beispiel, das nicht wiederholt werden soll: Im Fokus standen anfangs die Verbindungen von A nach B, die Korrelation zur Raumentwicklung ging wohl vergessen. Und heute finden alle: Die Landschaft wurde zugebaut; so haben wir das nicht gewollt.

TEC21: Sind Ansätze zu einer solchen koordinierenden Planung erkennbar?

Hans-Michael Schmitt: Ich denke schon, etwa beim Windkonzept des Bundes oder der Netzplanung von Swissgrid. Im Windkonzept differenziert der Bund auf nationalem Massstab, wo räum­liche Konfliktgebiete oder mögliche Abwägungsgebiete liegen. Für die anstehende Dezentralisierung der Stromleitungen ist sicher positiv, dass das übergeordnete Netz aus einer Hand koordiniert wird. Swissgrid kann so die Zahl der Netzstränge reduzieren.

TEC21: Wie massiv wird die Energiewende die Landschaftsräume verändern?

Hans-Michael Schmitt: Ich beurteile die möglichen Auswirkungen auf die Landschaft weniger krass als teilweise befürchtet. Ein Student im Studiengang Landschaftsarchitektur hat analysiert, inwiefern neue Energieanlagen den Agglomera­tionspark Limmattal verändern. Sein Fazit: Es muss nicht die ganze Landschaft auf den Kopf gestellt werden. Wasserkraft wird schon heute genutzt. Windenergie spielt mit den herkömm­lichen Anlagen kaum eine Rolle. Dächer und Lärmschutzwände bieten dagegen ein namhaftes Flächenpotenzial für Solaranlagen. Als Energieholz genutzt, könnten Gehölzsäume die Ab­schirmung der Autobahn optimieren.

TEC21: Also befinden sich die passenden Standorte für eine dezentrale Energieproduktion eher in belasteten als in unberührten Landschaften?

Hans-Michael Schmitt: Generell darf man hier zuerst suchen. Aber Achtung: Auch in bebauten Landschaften braucht es Freiraum. Es gibt nicht Siedlungsgebiet und das grüne Etwas ausserhalb. Das Landschaftsverständnis wird in der europäischen Konvention deshalb anders definiert: Sowohl die bebauten als auch die unbebauten Landschaften haben Ansprüche an ästhetische, biologische und erlebnisbezogene Qualitäten zu erfüllen. Deshalb ist überall abzuwägen, welche Qualität und Mischung aus Mensch und Natur die Landschaft aufweisen soll.

TEC21: Wie sind Eingriffe für Energielandschaften allgemein zu beurteilen?

Hans-Michael Schmitt: Häufig sind die Beurteilung und Wahrnehmung von Landschafts­eingriffen zu sehr auf Einzelprojekte fokussiert. Konzeptionelle Überlegungen, wie die Energieerzeugung räumlich optimal betrieben werden kann, sind jedoch selten. Was die Landschaft als Siedlungs-, als Natur- oder Erholungslandschaft oder eben auch als Energielandschaft jeweils leisten kann und soll, ist über landschafts- und raumplanerische Instrumente zu koordinieren. Dazu müssten auch Referenzbilder entworfen werden, anhand derer mögliche Veränderungen beurteilt werden. Hier kommt die Landschaftsplanung ins Spiel, weil räumliche Funktionen zuzuweisen sind.

TEC21: Wer übernimmt den Lead, um die Interessen an der Landschaftsnutzung untereinander abzuwägen?

Hans-Michael Schmitt: Die Raumplanung, inklusive Landschaftsplanung und -entwicklung, ist Sache der Kantone und Gemeinden; sie sind bereits mit Richt- und Nutzungsplanungen betraut. Die meisten übergeordneten Energiepläne müssen auf diesen Ebenen akzeptiert und umgesetzt werden. Beim Windenergiekonzept des Bundes stellt sich deshalb die Frage, ob Kantone und Gemeinden die Vorgaben des Bundes antizipieren. Bei der Raumplanung können zwischen den staatlichen Ebenen oft grosse Lücken auftreten. Wird hier nicht weitsichtig vorausgeschaut, dürfen sich die Gemeinden über Konflikte auf Projektebene nicht wundern.

TEC21: Was sind die Anforderungen an eine auf die Energiewende abgestimmte Landschaftsplanung?

Hans-Michael Schmitt: Gute Landschaftsplanung diskutiert Art und Intensität der möglichen Nutzungen und Eingriffe in den bebauten oder unbebauten Räumen frühzeitig und denkt die Landschaftsentwicklung voraus. Diese Expertisen müsste besser in den raumplanerischen Vollzug eingebunden werden; allerdings haben die meisten Gemeinden Nachholbedarf. Das Bewusstsein dafür taucht vielfach nur in Tourismusregionen auf. Dabei sind die Interessen zuweilen leider weniger an Vorstellungen über das Landschaftsbild als an ökonomische Absichten geknüpft.

TEC21: Wie beeinflusst eine Landschaftsplanung die Akzeptanz für eine dezentrale Energieinfrastruktur?

Hans-Michael Schmitt: Die vorausschauende Landschaftsplanung ermöglicht ein feines Austarieren zwischen Schutz und Veränderung. Auf kommunaler Ebene kann das zum gesellschaftlichen Abwägungsprozess und partizipativen Miteinander führen. Zwar können sich weiterhin Resultate ergeben, die nicht allen Beteiligten passen. Aber das ist das grundsätzliche Problem: Die bestehende Energie-Grosstechnologie beansprucht nur wenige, aber monofunktional belegte Flächen. Die Kühltürme und Wolkenfahnen von Gösgen und Leibstadt sind «Landmarks» für das ganze Mittelland. Ist uns das lieber als zahlreiche Solardächer? Wir müssen lernen, mit vielen kleinen dezentralen Landschaftseingriffen umzugehen und nachhaltige Kulturlandschaften zu entwickeln – unter Berücksichtigung aller Raumansprüche.

TEC21, Fr., 2016.12.02



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02. Dezember 2016Paul Knüsel
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Übergeordnete Pläne, lokale Skepsis

Wie lassen sich die Ansprüche aus Energieproduktion und Landschaftsschutz verbinden? Durch mehr planerische Abwägung von oben und mehr konstruktive Beteiligung von unten, sagen an der Energiewende beteiligte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Wie lassen sich die Ansprüche aus Energieproduktion und Landschaftsschutz verbinden? Durch mehr planerische Abwägung von oben und mehr konstruktive Beteiligung von unten, sagen an der Energiewende beteiligte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

TEC21: Die Energiewende ist am Laufen. Doch der Zubau von neuen Energieanlagen stockt, und die Liste der gescheiterten Projekte wächst. Sind Projekte mangelhaft vorbereitet, Standorte falsch gewählt, oder werden die Leute vor Ort nicht einbezogen?

Matthias Buchecker: Die Gründe, warum Projekte für neue Energieanlagen scheitern, sind unterschiedlich. Teilweise tauchen personenbezogene Hürden auf. Meistens aber sind es in irgendeiner Form kommunikative Fehler. Von Projektseite wird beispielsweise zu spät informiert. Breiten sich Gerüchte aus, löst allein dies bereits Widerstände aus.

Ursula Dubois: Viele Windprojekte im Waadtland waren oder sind blockiert. Deshalb hat uns der Kanton beauftragt, die Gründe dafür zu suchen. Die Probleme sind meiner Meinung nach durch ein ungeschicktes raumplanerisches Vorgehen provoziert. Die Vorarbeiten zur räumlichen Lokalisierung möglicher Windstandorte hatte man in der Waadt zuerst den interessierten Projektträgern zugänglich gemacht. Die Leute vor Ort und die Umweltverbände fühlten sich hingegen überrannt, als die Pläne erst auf Projektstufe bekannt geworden sind.

Ruth Schmitt: Viele Projekte scheitern an individuellen oder persönlichen Gründen; daher muss man vor Beginn eines Begleitprozesses den lokalen Kontext kennenlernen.

TEC21: Also klappt es mit dem Ablauf der Planung und dem Einbezug der Bevölkerung nicht besonders gut?

Ursula Dubois: Ja, die Leute dürfen nicht erst, wenn ein spruchreifes Projekt vorliegt, einbezogen werden. Man vertraut zu sehr offiziellen Mitwirkungsformaten wie einer Vernehmlassung oder vergleichbaren Konsultationen. Doch bei Zonenplanänderungen kommen solche Feedbackrunden zu spät.

Ruth Schmitt: «Holt uns möglichst früh ab» ist eine häufige Rückmeldung, die uns die Teilnehmer in einem Begleitprozess mitteilen. Bei einigen Pro­jekten werden Chancen für die spätere Realisierung verpasst, wenn zu lang im abgeschlossenen Büro geplant wird. Doch das Dilemma ist: Wie soll man über ein Projekt reden, das genauer abzuklären wäre?

TEC21: Wie kann man diesen Knoten lösen?

Matthias Buchecker: Auf regionaler oder kantonaler Ebene wäre eine Zieldiskussion mit der Bevölkerung zu initiieren. Wesentlich ist, dass nicht nur über einzelne Energieanlagen gesprochen, sondern ein erweitertes Themenspektrum wie die Nutzung von ökologischen Ressourcen aufgegriffen wird. Wir begleiten aktuell einen partizipativen Prozess zum Umgang mit regionalen Gewässern; ein thematisch breiter Ansatz ermöglicht Massnahmen, die isoliert betrachtet abgelehnt würden.

Ruth Schmitt: Mit solchen Anregungen werden wir regelmässig konfrontiert: Die Beteiligten möchten den thematischen Fächer in den Diskussionen aus­weiten, damit man mehr erreichen kann. Das leuchtet auch ein: Je breiter gewisse Themen behandelt ­werden, desto mehr Leute fühlen sich angesprochen.

TEC21: Wird denn nicht genug über die Energiewende gesprochen?

Felix Kienast: Sprechen allein genügt nicht, es braucht auch eine übergeordnete Perspektive. Wie die Energiewende umgesetzt werden soll, ist eigentlich eine nationale Koordinationsaufgabe. Wir haben an unserem Institut anhand eines geografischen Informationssystems evaluiert, dass 25 TWh Energie dezentral und landschaftlich konfliktarm mit Solar- oder Windenergie, anstelle der heutigen Grosskraftwerke, erzeugt werden können. Solche Untersuchungen könnten die Basis für einen Sachplan des Bundes sein, um raumplanerische und landschaftliche Konflikte übergeordnet zu koordinieren. Zwar wird ein solcher Energiesachplan nicht kommen, hoffentlich aber eine räumliche Gesamtschau des Bundes.

Ruth Schmitt: Dieses Übersetzungsmanko spiegelt sich in den meisten Reaktionen der lokalen Bevölkerung wider: Man weiss zwar, dass es eine Energiestrategie gibt. Aber was diskutierte Projekte damit zu tun haben, leuchtet weniger ein. Es wird unterschätzt, das vorhandene Wissen lokal zu übersetzen.

TEC21: Wie gross ist die Diskrepanz, dass die Energiewende allgemein akzeptiert, aber lokal bekämpft wird?

Ursula Dubois: Diese Spannweite ist ganz extrem. Ich bezweifle aber, dass ein Sachplan des Bundes schnell helfen könnte. Die Korridore für Stromleitungen werden beispielsweise national koordiniert. Trotzdem hängen Netzausbauten teilweise über Jahrzehnte fest. Darum sind Mitwirkung und Akzeptanz der Bevölkerung und der Umweltverbände unerlässlich.

Felix Kienast: Ein Beteiligungsverfahren ist wichtig. Aber nur auf freiwillige Zustimmung zu setzen wird angesichts der hohen Ausbauziele schwierig. Es braucht ebenso den Willen, die Ziele durchzusetzen und den Umsetzungsrahmen zu verbessern. Der Bund müsste mehr Verantwortung übernehmen und eine Top-down-Planung an die Hand nehmen. Ob Planungen zeitlich verkürzt werden können, ist schwer zu sagen. Aber die Diskussionen würden vereinfacht.

TEC21: In Energieregionen werden umfassende Debatten und Dialogformen gepflegt. Trotzdem wird nicht alles akzeptiert …

Ruth Schmitt: Einen Beteiligungsprozess mit Erfolgsgarantie gibt es nicht. Aber wenn die Leute bereits für raumplanerische Fragen einbezogen werden, fühlen sie sich ernster genommen. Daher können die Erfolgsaussichten verbessert werden, wenn der Dialograhmen und der Mitwirkungsansatz erweitert werden. Voraussetzung für einen Dialog ist aber, die Gegnerschaft einzubeziehen. Diese muss sich am konstruktiven Gespräch beteiligen wollen.

Matthias Buchecker: Die Bottom-up-Sicht ist essenziell. Der Fokus, was der Nutzen eines Beteiligungsverfahrens ist, muss nicht zwingend auf ein einzelnes Projekt gerichtet sein. Eine thematische Ausweitung der Diskussion schafft mehr Möglichkeiten. Man kann Widerstände nicht ausschliessen. Aber man kann Bedingungen schaffen, sodass alle Beteiligten etwas Konstruktives beitragen können.

TEC21: Welche Rolle spielen dabei die Umweltverbände?

Ursula Dubois: Das Verständnis ihrer Rolle und ihres Auftretens muss man sicher ansprechen: Bisweilen gründet sich ihr Widerstand aber auf sehr isoliert betrachtete Aspekte und einzelne Projekte. Statt­dessen wäre eine Gesamtsicht zu bevorzugen. Eine übergeordnete Diskussion steigert daher die Chancen, auch mit Umweltorganisationen konstruk­tive Lösungen zu finden.

Felix Kienast: Das häufig konzeptlose Vorgehen bei raumplanerischen Abklärungen scheint mir ein wesentlicher Grund zu sein, warum sich Widerstand gegen einzelne Projekte regt. Es braucht eine übergeordnete Abwägung, wo und in welcher Art ein Eingriff stattfinden darf. Daraus könnte nämlich auch abgewogen werden: Werden Eingriffe an einem Ort konzentriert, könnte anderswo weniger passieren.

TEC21: Wer initiiert die Dialogprozesse vor Ort am besten? Sind Projektträgerschaften neutral genug?

Ruth Schmitt: Momentan sind die Projektträger diejenigen, die häufig solche Verfahren durchführen. Mit klassischer Projektkommunikation hat das aber nichts zu tun. Ein Veranstalter muss sich auf einen unvoreingenommenen Austausch mit der Bevölkerung einlassen können. Ebenso muss das Ergebnis offen bleiben. Was die Transparenz und den Dialog betrifft, sind gewisse Qualitätsstandards einzu­halten. Insofern benötigen solche Prozesse einen Paradigmenwechsel in der Planungsorganisation.

Ursula Dubois: Eine unabhängige Diskussions­plattform wäre hilfreich. Und eigentlich müsste der Bund solche Prozesse fördern und finanzieren. Doch die Bedingungen für ein transparentes Begleitverfahren können auch sonst beachtet werden.

Matthias Buchecker: Mir fällt auf, dass vor allem die Transparenz keine Selbstverständlichkeit ist. Ich verstehe nicht ganz, was man als Projektträger zu verlieren hat. Wirkt hier ein Reflex, etwas zurückhalten zu wollen, weil es sonst negativ beurteilt wird?


TEC21: Landschaften sollen vor Veränderungen bewahrt werden, lautet der Tenor. Was ist dagegen zu tun?

Felix Kienast: Der Hemmschuh in vielen Diskussionen ist: Landschaft wird als etwas wahrgenommen, das sich in der Zeit nicht verändern darf. Diese Sicht kann die Forschung nicht unterstützen, weil es den statischen Landschaftscharakter gar nie gab und nie geben wird. Wichtiger ist, dass sich die Leute mit Landschaftsentwicklung auseinandersetzen und auch veränderte Landschaften identitätsstiftend sind.

Ursula Dubois: Mir fällt das Manko ebenfalls auf, wie Landschaften wahrgenommen und beurteilt werden. Es fehlt eine Debatte, wie Landschaften aussehen könnten und sollten. Obwohl das zur Umsetzung der Energiestrategie gehört, wird darüber kaum gesprochen.

TEC21: Daher stellt sich die Frage der Akzeptanz: Warum wird der Windpark am Nufenenpass akzeptiert?

Matthias Buchecker: Der Standort zeigt beispielhaft, wie widersprüchlich Landschaften im Hinblick auf eine potenzielle Energiegewinnung wahrgenommen werden. Zum einen erscheint die Landschaft am Nufenenpass durchaus als unberührt. Zum anderen wird dort bereits Energie mit einem Stausee genutzt.

Ursula Dubois: Was unberührte Natur ist, wird dennoch kontrovers empfunden. Damit ist auch eine gewisse Schizophrenie zwischen realer Landschaftsnutzung und der Wahrnehmung derselben verbunden. Darum sollte man nicht nur über ein einzelnes Projekt diskutieren, sondern auch darüber, wie wir uns die künftige Umwelt oder Landschaft vorstellen.

TEC21: Ist die Angst übertrieben, dass die Energiewende unsere Landschaften irreversibel zerstört?

Felix Kienast: Viele der aktuell diskutierten Eingriffe können rückgängig gemacht werden. Wenn sich die Bedürfnisse in 30 Jahren ändern, lässt sich eine Windanlage an einem Tag abbrechen. Zudem muss man kaum Angst davor haben, dass die Energiewende unberührte Landschaften verändert. Diese bleiben verschont, da nur Standorte infrage kommen, die in irgendeiner Form an das Stromnetz angeschlossen sind. Alles andere ist nicht wirtschaftlich.

Matthias Buchecker: Unsere Befragungen zeigen, dass das Image der landschaftlichen Umgebung aber eine wichtige Rolle spielt, etwa in Tourismusregionen. Sobald das Empfinden von Naturnähe und Wildnis wichtig ist, werden Energieprojekte abgelehnt.

TEC21: Gibt es diese Erkenntnis schon, dass eine Energie­landschaft positiv wahrgenommen werden kann?

Felix Kienast: Den Windpark auf dem Mont Crosin im Berner Jura besuche ich regelmässig mit Stu­dierenden. In den Gesprächen mit Anwohnern fällt tatsächlich auf, dass der Ort für die Bevölkerung inzwischen eine neue Identität erhalten hat. Wenn etwas beklagt wird, ist es weniger die Veränderung der Landschaft als der Besucherandrang.

Matthias Buchecker: Der springende Punkt ist aber oft: Der Antagonismus zwischen Technik und Natur lässt sich nie ganz aufheben. Die Wahrnehmung ist deshalb nicht nur eine gestalterische Frage, sondern in den Sinn eines Projekts einzubetten. Die Bevölkerung vor Ort wird nichts schön finden, nur weil es von nationalem Interesse ist.

Ursula Dubois: Allerdings wird die landschaftsarchitektonische Auseinandersetzung bei neuen Energieanlagen zu wenig gewagt. In Dänemark geht man anders damit um. Auch bei uns sollten sich die Planer vermehrt Gedanken über die ästhetische Integration und die Proportionen solcher Anlagen machen. Bisher werden jedoch viele Energieanlagen ganz banal in die Landschaft gestellt.

TEC21: Wenn die Diskussionen über neue Energieprojekte so weitergehen: Droht der Schweiz ein Planungswirrwarr, ein Stillstand oder eine zugebaute Landschaft?

Matthias Buchecker: Das Hauptrisiko besteht aktuell darin, dass nichts passiert. Denn für jedes Projekt braucht es Zonenplanänderungen. Gegen alles, was gebaut werden soll, kann Einsprache erhoben werden.

Ruth Schmitt: Das Diskussionsklima in lokalen Begleitprozessen steht ebenfalls auf dem Spiel. Es kann sich weiter verschlechtern, wenn die Abläufe nicht geändert werden.

Ursula Dubois: Dazu kommt die Gefahr, dass an vielen Orten verbrannte Erde zurückbleibt, wenn sich die lokale Bevölkerung an einem Energieprojekt aufreibt. Das kann für die lokale Entwicklungsper­spektive in anderen Bereichen verheerend sein.

Felix Kienast: Dabei wäre die Chance zu nutzen, mit dem Entwicklungsaspekt Energie eigenständige Landschaften zu formen. Der Grimsel ist ein Beispiel dafür, wie eine Landschaft nicht zwingend als schön, aber als authentisch wahrgenommen wird. Denn trotz sichtbarer Energienutzung ist der Standort viel besucht und attraktiv.

TEC21, Fr., 2016.12.02



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21. Oktober 2016Paul Knüsel
TEC21

Wandlungsfähige Häuser

Systemtrennung konsequent umgesetzt: Damit ­hochtechnisierte und funktionale Gebäude flexibel nutzbar sind, braucht es offene Strukturen und schnell anpassbare Installationskonzepte. Ein aktueller Einblick in die Planung zweier Forschungsbauten in Bern und Zürich.

Systemtrennung konsequent umgesetzt: Damit ­hochtechnisierte und funktionale Gebäude flexibel nutzbar sind, braucht es offene Strukturen und schnell anpassbare Installationskonzepte. Ein aktueller Einblick in die Planung zweier Forschungsbauten in Bern und Zürich.

Internationale Rankings führen hiesige Hochschulen und Universitäten häufig weit oben. Studien- und Forschungsplätze in Basel, Bern, Genf, Lausanne, St. Gallen oder Zürich sind darum begehrt. Das aber kommt nicht von selbst: Bund und Kantone stellen beträchtliche finanzielle Mittel für die Bildung im tertiären Bereich bereit. Vor zwei Jahren betrugen die öffentlichen Ausgaben dafür 12 Milliarden Franken; knapp ein Fünftel floss in zusätzliche Infrastruktur. Mit dem Geld werden vorab neue Instituts-, Labor- oder ähnliche Forschungsgebäude erstellt. Damit sich diese Investitionen schnell auszahlen, werden die hochkomplexen Neubauten auf eine möglichst flexible Nutzung ausgelegt. Gebäude, deren Innenleben nach der Schlüsselübergabe wandlungsfähig bleiben, bieten bestmögliche Voraussetzungen dafür.

Auf sich ändernde Betriebsanforderungen ausgerichtet ist beispielsweise das Laborgebäude 5. Etappe, mit dem der Unistandort Irchel in Zürich (UZH) aktuell erweitert wird. Das Institut für Chemie wird ab 2019 die beiden sechsgeschossigen Gebäudetrakte beziehen. Auch die Universität in Bern baut aus: Unweit des Inselspitals entsteht in den nächsten zwei Jahren ein Neubau für die Rechtsmedizin und die Klinische Forschung. Das Gebäude mitten in der Stadt wird eine Geschossfläche von 24 000 m² aufweisen, die sich auf fünf Unter- und sieben Obergeschosse verteilt.

Einfaches Skelett, lineare Lastabtragung

Unverwechselbar ist das jeweilige Fassadenbild: Während das Forschungsgebäude der Uni Bern (Architektur: Schneider & Schneider Aarau) einen klassischen Fenster­raster präsentiert, kennzeichnen umlaufende, vertikal mit Scheiben gefächerte Balkonschichten den Erweiterungskomplex im Zürcher Irchelpark (Architektur: Weber Hofer Partner Zürich). Beiden Hochbauten gemeinsam ist dennoch der vorbildliche Umgang mit dem Systemtrennungsprinzip. Ein konventionelles Betonskelett leitet die Lasten linear nach unten, und möglichst weite Stützachsen erlauben den modularen Ausbau der Geschossflächen.

Sowohl in Bern als auch in Zürich sind funktionale Gebäude bestellt, die im Endausbau hochtechnisiert eingerichtet werden sollen und deren Entwürfe sich bereits in den strukturellen Grundzügen ähnlich sind. Veränderbare Raumeinheiten und Installationskonzepte bilden die Haupt­elemente, damit die Wandel- und Anpassbarkeit der teuren Infrastruktur gewährleistet werden kann.

Charakteristisch für die Wissenschaft sind dynamische Arbeitsweisen und sich schnell ändernde Technologien. Doch welche hochsensiblen Geräte dereinst benötigt werden, wie die ausgeklügelten Speziallabore in wenigen Jahren auszusehen haben oder mit wie vielen Forschern ein findiges Team zu besetzen ist, lässt sich im Voraus kaum abschätzen. Im Wettbewerbs­programm beider Forschungsgebäude wurde aber ein flexibles, einfach anpassbares Nutzungskonzept definiert. Die konstruktiven Antworten in beiden Projekten, die nun im Stadium der Ausführung stehen, wirken eher unspektakulär und beinahe reversibel: schlanke Konstruktionen und einfache Tragstrukturen, die auf allen Geschossen eine offene Raumorganisation erlauben.

Modulare Einbauten

Die Laborräume sind asymmetrisch auf zwei Bünde entlang der Längsachse konzentriert und mit wenigen Stützen versehen. Davon sind die Erschliessungszonen mit nicht tragenden Leichtbau- respektive Glaswänden abgetrennt. Und damit wechselnde Arbeitskonstella­tionen und variable Nutzungszyklen ohne Grossumbau effektiv ermöglicht werden, braucht es modulare Einbausysteme. Mit diesen darf sich die Gebäudestruktur nur spärlich und einfach trennbar verbinden.

Gut ablesbar ist das am zweiteiligen Zürcher Laborgebäude, dessen Schenkel 60 m lang und 25 m breit sind: Ein Stützenraster (7.6 m × 7.2 m) hält die Nutzfläche frei von tragenden Wänden, damit die Laboreinheiten, als eigenes Baukastensystem, wandelbar und nach Bedarf einteilbar sind. Einzig der Mittelkorridor, eine durchgehende Erschliessungszone, wird seitlich partiell mit stützenden Elementen abgegrenzt: Insgesamt acht massive Steigschächte ziehen sich über die ganze Traktlänge verteilt von den Untergeschossen nach oben. Darin sind die Medienversorgung und Gebäudetechnik inklusive Reserve untergebracht.

Jeder der acht Schächte bündelt bis zu zehn verschiedene Kanal- und Rohranschlüsse, von wo aus jede Laborachse ihren ­Bedarf an Stickstoff, Kühlwasser oder anderweitigen Medien beziehen respektive diverse, teilweise hoch­giftige Abfall- und Abwasserkategorien loswerden kann. Die horizontale Verteilung erfolgt über eigens entwickelte, abgehängte Deckenelemente. Auch die Installationen für Heizen und Kühlen sind im UZH-Laborgebäude konsequent von der Trag­struktur auseinanderzuhalten. Weder Heizungsschlaufen noch andere thermisch aktive Einbauten dürfen in die Deckenplatten eingelegt werden; Letztere sind aus statischen Gründen bis zu 40 cm mächtig ausgelegt.

Nicht nur hochtechnisierte Bauten

Die Wandlungsfähigkeit des Neubaus im Campus Irchel wurde vom Institut für Chemie spezifisch gewünscht. Die wissenschaftliche Forschung in Bern funktioniert vergleichbar; allerdings ist die Umsetzung der «Systemtrennung» eine selbstverständliche Bauvorgabe, sobald das kantonale Amt für Grundstücke und Gebäude (AGG) als Bauherrschaft auftritt. Nicht nur hochtechnisierte Forschungs- oder Spitalbauten sind auf flexible Bau- und Installationskonzepte zu trimmen, sondern auch alle anderen öffentlichen Gebäude, vom Verwaltungssitz über das Gymnasium bis zur Polizeiwache.

In jedem Wettbewerbsprogramm des Kantons Bern wird auf die dazugehörige Richtlinie verwiesen (vgl. TEC21 26–27/2015); jede Entwurfseingabe wird dahingehend vorgeprüft. Und hat die Jury ihr Urteil gefällt, werden die siegreichen Planungsteams gemeinsam in «Systemtrennung» geschult. Damit ist die Absicht verbunden, den Gebrauchswert der realisierten öffentlichen Bauten zu erhöhen und den Projektverfassern dafür die interdisziplinäre Arbeitsweise näherzubringen. Ein Gebäude, dessen Struktur auf veränder-, erweiter- und trennbaren Systemen beruht, ist in Bern zudem zentraler Bestandteil der nachhaltigen Immobilienstrategie.

So sind für neue Gebäudeentwürfe jeweils die Mindestmasse für Nutzlast und Raumhöhe festgesetzt, damit eine spätere Umnutzung respektive Aufstockung möglich wird. Bisweilen sind in Wettbewerbseingaben sogar mehrere Nutzungsvarianten darzustellen. Die Richt­linie im Kanton Bern versteht die Systemtrennung ebenso als übergeordnetes Entwicklungs- und Entwurfskonzept wie auch als praxisnahes Konstruktionsprinzip. Die Bewährungsprobe stellt sich jedoch erst, wenn die Gebäudelebensdauer abgelaufen ist. Trotzdem profitieren Immobilien des Kantons Bern jetzt schon von der integrierten Flexibilität: Das Innenleben neuerer Universitäts- und Spitalbauten wurde mehrfach verändert; die Baustruktur selbst blieb unangetastet.

Vorleistungen mit Mehrkosten

Ein weiterer Erfahrungswert aus bereits erstellten, ­flexiblen Bauten ist: Die Systemtrennung vereinfacht zwar die Gebäudestruktur, doch statische und räumliche Reserveleistungen sind kostenrelevant. Tatsächlich hat der Kanton Bern seine Vorgaben optimiert: Als Raumhöhe werden 3.6 m und nicht mehr 4 m verlangt. Gleichzeitig wurde die minimale Nutzlast von 5 kN/m2 auf 3 kN/m2 reduziert. Interne Berechnungen ergaben, dass teilweise über 10 % der Investitions- und Unterhaltskosten eingespart werden können, ohne die Nutzungsflexibilität grundsätzlich infrage zu stellen.

Trotz möglichem Mehraufwand haben auch gewerbliche und institutionelle Investoren die Vorteile der Systemtrennung erkannt. Frei zugängliche Haustechnikschächte, abgehängte Deckenelemente oder Hohlböden sind in vielen Neubauten selbstverständlich. Und im Holzbau werden aufgrund des hohen Vorfertigungsgrads daraus innovative Konstruktionselemente entwickelt und separierbare In­stallationskonzepte penibel umgesetzt.

Überraschenderweise sind nun sogar die Räume im Untergrund flexibel strukturiert. Der Pharmakonzern Hoffmann-La Roche erweitert derzeit sein Firmengelände in Kaiseraugst mit Verwaltungsbauten, Auditorium und Eingangsbereich mit Park (Architektur: Nissen & Wentzlaff Architekten Basel). Das Besondere ist die zweigeschossige Tiefgarage darunter: Ein unüblich weiter Stützenraster von 15.6 m × 15.6 m stimmt die Formate der Parkfelder flexibel auf unterschiedliche Autogrössen und auf die ungewisse Zukunft der Mobilität ab. Sollten dereinst kompakte Elektromobile die gross­spurigen SUVs verdrängen, bleibt die Fläche im Roche-Untergrund effizient nutzbar (vgl. Grafik).

Auf längere Sicht wird sogar eine autofreie ­Nutzung erwogen; die Tiefgarage ist ohne grossen ­Mehraufwand in Lagerhallen verwandelbar. Im Gegenzug kostet das Bauwerk etwa 7 % mehr als mit konventionellem Stützenraster von 8 m. Und die Deckenplatten wurden mit 80 cm mächtigen Unterzugachsen statisch verstärkt; die dazwischen liegenden Felder sind mit einem Hohlkörpersystem optimiert. Passend zum ­flexibel nutzbaren Raumkonzept wird – auch hier – die Gebäude- und Sensortechnik nicht in die Stahl­betonstruktur eingelegt, sondern an aufgehängten Kabel­trassen durch die Parkhallen geführt.

TEC21, Fr., 2016.10.21



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09. September 2016Paul Knüsel
TEC21

Uri will nicht abgehängt werden

Der Kanton Uri leidet unter Abwanderung und trägt nationale Transitlasten. Für die Alpentransversale will man aber nicht nur Landverluste oder Lärm in Kauf nehmen, sonderndie neue Infrastruktur für ein überschaubares Wachstum nutzen.

Der Kanton Uri leidet unter Abwanderung und trägt nationale Transitlasten. Für die Alpentransversale will man aber nicht nur Landverluste oder Lärm in Kauf nehmen, sonderndie neue Infrastruktur für ein überschaubares Wachstum nutzen.

Erstfeld im Kanton Uri erstreckt sich über 59.75 km2; die Gemeindefläche ist grös­ser als die Stadt Bern. Das Meiste davon nehmen «wunderschöne Alp­gebiete und stolz in den Himmel ragende Berge» ein, lockt die Tourismus­werbung. Dagegen sind nicht einmal 10 % des Grund und Bodens dort, wo sich das flache untere zum schroffen oberen Reusstal verengt, als Wirtschaftsraum nutzbar. Die aktuelle Einwohnerzahl beträgt 3836.

Zuletzt wurde ein Rettungs- und Unterhaltszentrum für den neuen Gotthard-Basistunnel gebaut, was neue Arbeitsplätze im Dorf schafft. Die SBB sind zwar grösste Arbeitgeberin, doch die Bedeutung der Gotthardbahn für das Eisenbahnerdorf schwindet stark: Die Bevölkerungszahl ist seit den 1970er-Jahren fast ununterbrochen gesunken.

Die viertgrösste Urner Gemeinde darf somit als Spiegelbild für die schwer einschätzbaren Verän­derungen gelten, die die Eröffnung der Gotthard-Trans­versale (vgl. TEC21 18–19/2016) dem Berg­kanton bringen wird. Das Nordportal zwar im Blick, wird die Bahnfahrt von Uri ins Tessin um keine einzige Minute verkürzt. Zudem werden Erstfeld und der südliche Kantonsteil vom Schnellzugverkehr ganz abgehängt.

Allerdings gibt es auch Stimmen, die den Rückzug der Bahn positiv kommentieren. Weil es ruhiger werde, könne Neues entstehen. Tatsächlich wird in und um Erstfeld derzeit auffallend viel Wohnungsbau realisiert.

Abwanderung aus den Seitentälern

Ansonsten konzentriert sich das Wachstum im Kanton Uri auf Lagen mit Seeblick und in der Reussebene. Drei Viertel der Wohnbevölkerung leben im Talboden. Aus den Berggemeinden wandern die Menschen dagegen ab; die Einwohnerzahl im oberen Reusstal hat sich seit 1970 beinahe halbiert. Als besonders dramatisch werden die Perspektiven für die jüngeren Generationen beurteilt. Die Schülerzahlen auf Primarstufe und in den Gymnasien brechen regelrecht ein: Die Abnahme zwischen 2006 und 2013 liegt bei 15 % respektive über 20 %.

Zusätzlich kehrt jeder zweite Universitäts- oder Fachhochschulabsolvent nicht mehr zurück. Der Kanton hat ­daher ein Pilotprojekt lanciert, um dem Manko an Ausbildungsplätzen für Jugendliche entgegenzuwirken. Beispielhaft zeigt auch die Gemeinde Unterschächen in ihrem Siedlungsleitbild 2015 auf, wie die «Abwanderung gestoppt werden soll». Bemerkenswerterweise sind die Wünsche der ortsansässigen Jugendlichen in dieses Raumplanungsdokument eingeflossen.

Erreichbarkeiten mit öV verbessern

Die grössten Hoffnungen, von der ausgebauten Nord-Süd-Bahnachse zu profitieren, werden an den «Kan­tonalbahnhof» Altdorf gerichtet. Dieser geplante öV-Knoten soll den Urner Anschluss an den internationalen Bahnverkehr sichern und eine Verbindung zum überregionalen, regionalen und lokalen Transportnetz herstellen. Die Kantonsbehörde muss mit den SBB und dem Bund eine Vereinbarung finden, damit der auf­gewertete Bahnhof Altdorf ab 2021 die letzte Sta­tion vor dem Eintauchen in den Basistunnel wird.

Zum einen sind bis dann die Bahninfrastruktur und der Standort als Drehscheibe für den überregionalen und kantons­internen Busverkehr auszubauen. Zum anderen ist das angrenzende Areal neuerdings ein Entwicklungsschwerpunkt, das zum gemischten Dienstleistungs- und Wohnquartier umgenutzt und verdichtet werden soll.

Die SBB haben bereits mitgeteilt, die Bauherrschaft über den Umbau des Bahnhofareals übernehmen zu wollen; die übrigen, definitiven Verkehrs- und Investitions­beschlüsse sind nicht vor Mitte 2017 zu erwarten. Es gibt hier einiges zu tun: Aktuell ist das Bahnhofareal von Altdorf eine städtebauliche ­Wüste, mit dispersem, disparatem und unausgegorenem Charakter.

Arealumnutzung im Talboden

Eine weiter gehende Perspektive bietet die Umnutzung des bahnhofsnahen Gebiets «Eyschachen», das an der Gemeindegrenze Altdorf-Schattdorf liegt. Das ehemalige Getreidemagazin des Bundes besteht aus teilweise geschützter Bausubstanz und steht auf einem 12 ha grossen Areal im Besitz des Kantons und des Militärs.

Die Lagerhäuser des Ingenieurs Robert Maillart sollen erhalten bleiben, so das Resultat einer Testplanung. Das Hauptinteresse an dieser Arealentwicklung ist jedoch wirtschaftlicher Natur: Aus dem «Eyschachen» soll eines der grössten Gewerbe- und Industriequartiere in Uri entstehen. Das Architekturforum Uri setzt sich bisher dafür ein, dass der gesamte Gebäudebestand er­halten bleibt und dessen vollumfängliche Umnutzung Teil des Entwicklungsprojekts werden kann.

Agglomerationsprogramm für das Reusstal

Die angestrebte räumliche und wirtschaftliche Entwicklung im unmittelbaren Einflussbereich des Bahnhofs Altdorf soll mit dem «Agglomera­tionsprogramm Unteres Reusstal» untermauert werden. Damit will die Kantonsbehörde das funktionale Profil des Talbodens als eigenständiger, qualitativ wertvoller Siedlungs-, Verkehrs- und Landschaftsraum schärfen. Beabsichtigt sind eine gemeindeübergreifende Zusammenarbeit, das Verdichten der Ortszentren sowie die Koordination ­zwischen Siedlung und Verkehr.

Herausforderungen sind dabei das Beleben selbst grosser Dorfzentren und das Korrigieren der üblichen Raumplanungsfehler: Die Talgemeinden Flüelen, Altdorf, Bürglen und Schattdorf wachsen vor allem an den peripheren Lagen; der Siedlungsbrei ist auch im Urnerland angekommen. Die Pläne zum Agglomerationsprogramm sollen Gegen­steuer geben; sie sind vor wenigen Monaten in die öffentliche Vernehmlassung gegeben worden.

TEC21, Fr., 2016.09.09



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TEC21 2016|37 Alpentransversale: Kann Uri Anschluss halten?

09. September 2016Paul Knüsel
TEC21

Ein Schub, auch für mehr Baukultur

Ein Gespräch mit der Urner Architektin Margrit Baumann über die räumlichen Perspektiven im Kanton, die Zentrumsentwicklung in den Gemeinden, den Umbau von alten Bauernhäusern und die Förderung der Baukultur.

Ein Gespräch mit der Urner Architektin Margrit Baumann über die räumlichen Perspektiven im Kanton, die Zentrumsentwicklung in den Gemeinden, den Umbau von alten Bauernhäusern und die Förderung der Baukultur.

TEC21: Frau Baumann, der Bahnhof im Urner Kantonshauptort Altdorf soll zum Anschlussknoten an die Alpentransversale werden. Das Areal liegt aber abseits des Siedlungskerns. Was gibt es da zu leisten?

Margrit Baumann: Der Bahnhof ist über die knapp 1.5 km lange Bahnhofstrasse mit dem historischen Kern verbunden. Diese Achse ist teilweise zwar eine schöne Allee, aber nur wenige Häuser grenzen direkt daran. Sie ist seit ihrem Bau vor über 130 Jahren nie richtig aktiviert worden. Ursprünglich ist der Bahnhof nur entstanden, weil Altdorf einen Bahnhof wollte, die Gotthardbahn brauchte dort bahntechnisch keinen. Über den genauen Standort wurde daher gerungen. Am Schluss setzte sich die Bahn mit der peripheren Lage durch und realisierte im Gegenzug die Bahnhofstrasse.

Der Bahnhof ist seither für die Siedlungsentwicklung von Altdorf ein un­wichtiges Gebiet geblieben; dort ist nichts passiert. Bisher war die Anbindung eher auf die Achse Flüelen–Altdorf–Erstfeld bezogen. Die Ost-West-Verbindung über die Bahnhofstrasse ist derzeit gar nicht wichtig. Basierend darauf hat sich daraus kein städtebau­liches Zentrum ergeben.

TEC21: Worauf muss bei der räumlichen Entwicklung rund um den Verkehrsknoten geachtet werden?

Margrit Baumann: Begleitend zur Aussicht, den Kantonsbahnhof an den internationalen Bahnverkehr anbinden zu können, muss die Ostseite des Bahnhofs gestärkt werden. Der Platz wird zum Knoten für den öffent­lichen Busverkehr und ist zudem Entwicklungsgebiet mit Dienstleistungscharakter, das als direktes Gegenüber zum Siedlungskern zu verstehen ist. Daraus kann eine Wechselwirkung zwischen Alt und Neu ­entstehen, die den Raum dazwischen prägen soll.

TEC21: Warum steckt der ganze Kanton derart grosse ­Hoffnungen in den Ausbau des Bahnhofs Altdorf?

Margrit Baumann: Uri hat 35 000 Einwohner. Wirtschaftlich ist ein NEAT-Halt im Kanton für die SBB als Bahnbetreiber nicht zwingend. Allerdings glauben wir an die überregionale Bedeutung dieses Bahnknotenpunkts. Daher soll auf der Westseite Platz für die Anbindung an den Bus-Fernverkehr innerhalb des Kantons­gebiets und zwischen Uri, Nid-, Obwalden und Luzern zur Verfügung gestellt werden. Ebenso ist ein Parking für den Individualverkehr geplant.

Diese Nachbarn würden mit dem Kantonsbahnhof Altdorf jedenfalls eine nähere Zustiegsvariante zur NEAT erhalten als mit dem Sackbahnhof in Luzern oder in Arth-Goldau. Das Gebiet um den Bahnhof würde durch die kan­tons­­interne und überregionale Verkehrsanbindung gestärkt. Es zeigt sich ja wiederholt, wie wichtig solche Schnittstellen sind, um das Potenzial für eine Siedlungsentwicklung auszuschöpfen.

TEC21: Sie haben an der Testplanung für das Bahnhofsareal mitgewirkt. Welche Inputs sind für die Nutzungs­planung zu berücksichtigen?

Margrit Baumann: Wir haben in einem Team aus Verkehrs­planern, Landschaftsarchitekten und Architekten mitgearbeitet, wobei Erstere federführend waren. Wir haben drei Szenarien, das heisst unterschiedliche Entwicklungsstrategien aufgezeigt: eine Neustadt auf der Westseite des Bahnhofs, eine geteilte Stadt dies- und jenseits der Bahnlinie sowie eine Mischform, die den jetzigen Bahnhofplatz auf der Ostseite der Gleise aktivieren soll.

Letztere kann den bestehenden Kern, wie bereits betont, stärken und lässt gleichzeitig die Entwicklungsoption für eine Neustadt rund um den Kantonsbahnhof offen. Die Gedanken dahinter sind: Die Neustadt soll nicht etwas Eigenes, Isoliertes werden und allenfalls sogar zur Entleerung des Dorfkerns beitragen. So würde die Siedlungs­entwicklung von Altdorf nur verlieren.

TEC21: Werden auch Bedenken über die anstehende Entwicklung rund um den Bahnhof Altdorf geäussert?

Margrit Baumann: Nein, im Gegenteil. Das ist die grosse ­Hoffnung in den NEAT-Anschluss: Eine bessere Erschliessung schafft die Möglichkeit, dass Leute von aussen nach Uri ziehen. Denn die Leute wandern nicht nur aus dem Oberland und den Seitentälern ab. Junge Leute kommen nach dem Studium gar nicht mehr zurück. Und unabhängig vom NEAT-Halt darf der Basistunnel nicht dazu führen, dass das Oberland zwischen Erstfeld und Göschenen, etwa mit der Stilllegung der Bergstrecke, abgehängt wird.

Es bringt aber tatsächlich nichts, wenn nun einfach mehr gebaut würde. Wir denken an eine qualitativ hochstehende Entwicklung. Es muss eine Identität geschaffen werden, und dafür braucht es eine gute Baukultur. Dazu beitragen kann die öffentliche Hand direkt, wenn die Entwicklung über Wettbewerbsverfahren geschieht, etwa im Altdorfer Bahnhofsgebiet.

TEC21: Was hat die Testplanung, die vor drei Jahren durchgeführt wurde, inzwischen konkret ausgelöst?

Margrit Baumann: Die Gemeinde Altdorf hat einen Gestaltungsplan festgesetzt, der für das Bahnhofsquartier eine Zone vorsieht, in der bis zu 24 m hohe Gebäude mög­lich sind. Der Entwicklungsraum soll massiv dichter überbaut werden als bisher. Nun sind private Inves­toren gesucht. Wichtige Fäden aber haben der Kanton selbst und die SBB in der Hand. Letztere haben gewisse Investitionszusagen gemacht. Zum einen soll damit die Bahninfrastruktur ausgebaut werden. Zum anderen geht es um das Bahnhofsgebäude. Offen ist jedoch, ob ein Ersatzneubau oder eine einfachere bauliche Erweiterung realisiert werden soll.

TEC21: Und wie wird der städtebaulich hochwertige Entwicklungsprozess in Gang gesetzt?

Margrit Baumann: Für das Bahnhofsgebiet ist ein Wettbewerb geplant. Dass wichtige Bauten in einem solchen Verfahren ausgewählt werden, hat in Altdorf eine gewisse Tradition. Bei dieser Aufgabe ist das be­sonders wichtig, weil es hier um Identitäten und um ein Zusammenspiel zwischen Alt und Neu geht. Ein modernes Outfit genügt nicht; auch die Rückkoppelung muss eine gewisse Kraft ausstrahlen können. Denn beim Anknüpfen an bestehende Strukturen ist das kollektive Gedächtnis zu bewahren, wie von Aldo Rossi formuliert. Auf dieser Basis soll die Entwicklung stattfinden. Das Bestehende ist ein Mehrwert, den Uri an vielen Orten noch immer zu bieten hat.

TEC21: Welchen Mehrwert meinen Sie?

Margrit Baumann: Von den 20 Urner Gemeinden sind drei Viertel im ISOS verzeichnet und verwalten daher Siedlungskerne von nationaler Bedeutung. Diese intakten Dorfkerne blieben erhalten, weil die 1980er-Jahre bei uns nicht derart massive Veränderungen gebracht haben wie beispielsweise im Mittelland. Noch vor zehn Jahren ist fast nichts mehr gelaufen. Bauen und Wohnen war und ist an vielen Orten immer noch ­uninteressant. Deshalb sind so viele gute Dorfkerne erhalten geblieben, die eine Identität darstellen. ­Damit müssen wir arbeiten und uns damit ausein­ander­setzen, wie die Kerne zu stärken sind. Fakt ist, dass viele Dorfzentren in Uri immer leerer werden.

TEC21: Sie haben sich mit dem «Bauen gegen die Abwan­derung» mehrfach exponiert. Wie wird die negative Entwicklung gestoppt, wenn die Investoren kaum Schlange stehen?

Margrit Baumann: Im Vordergrund stehen sowieso Qualitäten und nicht die Rendite. Das Prinzip ist, tote Gebäude im Kern eines Dorfs zu aktivieren. Jeweils mit anderen Mitstreitern zusammen konnte ich derartige Liegenschaften erneuern und die vorhandenen Qualitäten erhalten. Grundvoraussetzung ist eine Architektur mit schonenden Eingriffen, die sich in den Bestand integrieren will.

In Bürglen, oberhalb von Altdorf, war es eine alte Hofstatt mit Haus und Stall, die selbst Schutzobjekt ist und im geschützten ISOS-Kern steht. Der Umbau und die Umnutzung haben Zeichen gesetzt, dass man alte Bauernhäuser zu etwas Zeitgemässem weiterführen kann. Solche Bauaufgaben werden im Kanton nicht länger gescheut. Dank der Umnutzung des Stalls zum Wohnhaus ist die Verdichtung im Dorfkern gelungen.

TEC21: Wie setzt man dies architektonisch um, zumal Bauernhäuser oft klar gegliedert sind und im Ausgangszustand ein karges Bild abgeben können?

Margrit Baumann: Traditionelle Themen wie das Steildach sind faktisch gegeben; aber die Denkmalpflege muss Veränderungen gestatten, damit beispielsweise eine Lukarne eingebaut werden kann. Aber es geht auch darum, eine moderne Interpretation der Holzfassade zu wagen. Im Innern lassen sich zudem moderne, grosszügige Räume entwickeln. Im Vergleich zu Neubauten besitzen Bauernhäuser zwar niedrigere Raumhöhen, doch im Gegenzug sind die Flächen gross­zügiger.

Zudem bietet die Befensterung über Eck eine grosszügige natürliche Belichtung. Und weil die meisten Bauernhäuser bereits zwei Eingänge besitzen, lassen sich diese in zwei Wohnungen mit separater Erschliessung aufteilen. Das Weiterführen der traditionellen Bauweise und der äusseren Erscheinung ist aber essenziell: So besteht die Hofstatt in Bürglen zwar nun aus zwei Wohnliegenschaften, doch das alte Haus und der umgenutzte Stall sind als Einheit von zwei Architekturbüros erneuert worden.

TEC21: Wie war die Konstellation in Wassen, damit da die Zentrumsentwicklung möglich wurde?

Margrit Baumann: Es braucht Leute mit Engagement. Am Anfang der Entstehungsgeschichte beim Rothus von Wassen stand eine private Initiative, um den tristen Kern von Wassen wiederzubeleben. Es handelte sich um eine leer stehende Liegenschaft. Und in den Häusern rechts und links davon wohnte auch niemand mehr. Der konkrete Anstoss kam von der ehemaligen ­Gemeindepräsidentin, die selbst ein Geschäft im Zentrum betreibt. Dies löste eine gemeinsame Dis­kussion über die Handlungsoptionen aus: Was kann man machen, damit der Kern nicht ganz kippt?

TEC21: Und wie lautet die Antwort?

Margrit Baumann: Wir haben nach einer Nutzung gesucht, die zu einer Synergie mit dem Bestand führt. Die Idee war, Alterswohnungen zu realisieren, um damit Wohnraum für junge Familien frei werden zu lassen. Wir mussten aber eine eigene Stiftung gründen, weil anfänglich kaum jemand an ein Gelingen dieses Projekts geglaubt hat. Wesentlich war die Hartnäckig­keit der ehemaligen Gemeindepräsidentin. Die Strategie ist aufgegangen. Die Schulden konnten inzwischen abbezahlt werden. Wesentlich aber war: Wir konnten den preisgünstigen Budgetrahmen einhalten, sodass die Miete jeder Alterswohnung nur 1200 Franken beträgt.

TEC21: Welchen Nutzen bietet das Projekt dem Dorfzentrum?

Margrit Baumann: Nicht weit davon entfernt steht das Altersheim von Wassen, für das eine ehemalige Hotel­liegenschaft umgenutzt worden ist. Die Bewohner aus dem Rothus können nun beispielsweise im Altersheim essen und den Wäsche- und Notfallservice nutzen. Die erneuerte Liegenschaft bietet zudem ein Sitzungszimmer, ein Gästezimmer und ein Bad, das der Gemeindebevölkerung vermietet wird. Wir hätten gern einen Dorfladen oder einen Kiosk beherbergt; aber dafür gab es keine Nachfrage. Hingegen wird unsere Parkieranlage von Anwohnern gern mit­benutzt. So können wir etwas zur Attraktivität des Dorfzentrums beitragen.

TEC21: Macht dieses Beispiel Schule?

Margrit Baumann: Ja, ja, ich denke schon. In Seedorf wurden im ehemaligen Kloster Alterswohnungen eingebaut. Im Dorfkern von Flüelen soll ein vergleichbares Projekt, kombiniert mit der Umnutzung einer Hotelliegenschaft, realisiert werden. Und in Bauen am Urnersee läuft aktuell ein Studienauftrag, an dem unser Büro teilnimmt: Dort soll ein ehemaliges Bürgerbauernhaus im Dorfkern erneuert und mit preisgünstigen Gemeindewohnungen für Familien ausgestattet werden. Trotzdem bleibt die Grundfrage für viele der kleinen Gemeinden, wie attraktiv sie als Wohnorte für junge Leute sind. Wir sind mit der Abwanderung beschäftigt. Das ändert die NEAT-Eröffnung kaum.

TEC21: Wie beurteilen Sie die gegenläufige Entwicklung im Tourismusresort Andermatt? Droht dort das Wachstum auszuufern?

Margrit Baumann: Andermatt soll sich sicher nicht so entwickeln wie Davos oder Flims. Das Konzept des Tourismus­resorts baut darauf, die Landschaft und den bestehenden Dorfkern zu erhalten. Klar ist auch, dass dabei Bedürfnisse aufeinanderstossen zwischen der Forderung nach maximalem Luxus und dem Wunsch nach intakter Idylle.

Diese Wahrnehmungskonflikte gibt es: Städter betrachten eine Brache wie Uri bevorzugt als Erholungsraum. Doch die Leute vor Ort wollen nicht nur den Verkehr und die Infrastruktur ertragen, sondern in ihrer Entwicklung auch davon profitieren. Von den Kantonen Tessin oder Graubünden können wir zum Teil lernen, wie sich die Verbindung des kollektiven Gedächtnisses mit der modernen Welt zur Stärkung der Baukultur nutzen lässt.

TEC21, Fr., 2016.09.09



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TEC21 2016|37 Alpentransversale: Kann Uri Anschluss halten?

02. September 2016Paul Knüsel
TEC21

Der Ausnahme droht die Regel

Bauen an lärmbelasteten Wohnlagen ist ein baurechtlicher Spagat und oft nur unter Auflagen möglich. Die Vollzugspraxis muss national vereinheitlicht werden, 30 Jahre nach Inkrafttreten der Gesetzesvorschriften.

Bauen an lärmbelasteten Wohnlagen ist ein baurechtlicher Spagat und oft nur unter Auflagen möglich. Die Vollzugspraxis muss national vereinheitlicht werden, 30 Jahre nach Inkrafttreten der Gesetzesvorschriften.

Cluster-Wohnungen lassen einem die Wahl: Entweder man möchte sich mit anderen zum Kochen, Essen und Verweilen treffen, oder man zieht die Ruhe in den eigenen vier Rückzugswänden vor.

In der Zürcher Genossenschaftssiedlung Kalkbreite (vgl. TEC21 26–27/2014) widerspricht diese Logik jedoch den baurechtlichen Anforderungen, die Bewohner wirksam vor Lärm zu schützen. Grund dafür ist aber nicht der Störfaktor «Mitbewohner», sondern der Schallpegel vorbeifahrender Autos, Trams und des Schienenverkehrs. Die gemischte Wohn- und Gewerbeüberbauung steht an innerstädtischer Lage und wird von allen möglichen Seiten mit Verkehrslärm über dem erlaubten Mass eingedeckt.

Ein Gutachten warnte, dass die Immissionsgrenzwerte (IGW) um mindestens 3 dB überschritten sind. Das heisst, der Verkehr wäre faktisch zu halbieren, damit die Lärmschutzvorschriften eingehalten sind (vgl. Grafik «Schallpegel»). Die Baubewilligung darf aber nur erteilt werden, wenn ruhiges, gesundheitsschonendes Wohnen möglich ist. Damit dies für die Kalkbreite zutrifft, schirmen unter anderem Loggien den Aussenlärm ab respektive sind die Räume der Grosswohnungen bau- und umweltrechtlich definiert: Das private Reduit befindet sich aussen an der Fassade, an lärmexponierter Lage. Die Gemeinschaftsräume haben dagegen Zugang zum ruhigen Innenhof und werden unabhängig vom Belegungsgrad bau- und umweltrechtlich zum Ruhebereich gezählt.

Kompromisse zuhauf

Bereits bei der Festsetzung des Gestaltungsplans wurden die Weichen für eine Ausnahmebewilligung gestellt. In der Abwägung zwischen Bauinteresse und Lärmschutz gaben die raumplanerisch relevanten Kriterien «Verdichtung» und «Siedlungsqualität» gegenüber der «sehr stark belasteten Lage» den Ausschlag.[1]

Die Kalkbreite-Siedlung wird inzwischen nicht nur als soziales Modell gelobt, sondern auch für die Massnahmen beim Schallschutz. Zugleich verdeutlicht das Beispiel aber: Der Vollzug der Lärmschutzvorschriften ist für Baubehörden, Raumplaner und Architekten zu einer schwer berechenbaren Gratwanderung geworden. Die Lärmbekämpfung ist, wie andere Umwelt- und Gesundheitsthemen, erst in den 1980er-Jahren gesetzlich geregelt worden. Seither stehen die Verursacher eigentlich in der Pflicht, die Emissionen zu reduzieren. Bund und Kantone sind dabei, ihre Strassen entweder mit Flüsterbelag oder Lärmschutzwänden zu versehen.

Wo dies unmöglich ist, sind ganze Strassenzeilen auf Staatskosten mit Schallschutzfenstern auszurüsten. Im Vergleich dazu wären Temporeduktionen günstiger; die wirkungsvolle Bekämpfung von Verkehrslärm ist politisch jedoch ein ohnmächtiges Unterfangen. Die Lärmverursacher sind bekannt. Der Gesetzesvollzug aber stockt: Es fehlt am politischen Durchsetzungsvermögen, und mangelhaft ist auch der föderalistische Beurteilungsapparat.[2] Die Kantone gehen vor allem bei der Bewilligung von Neubauten an lärmbelasteten Standorten eigene, untereinander kaum abgesprochene Wege. Nun räumt das Bundesgericht mit dieser Vielfalt auf.

Hälfte der Kantone lag falsch

In diesem Frühjahr erging der präjudizierende Entscheid, wonach die bislang populärste Auslegungsvariante falsch gewesen ist: Die «Lüftungsfensterpraxis» tauge weder zur Beurteilung der Lärmbelastung, noch werde die Gesundheit der betroffenen Bewohner ausreichend geschützt (vgl. TEC21 31–32/2016: «Wohnen bei zu viel Lärm?»).

Die Bewilligungspraxis bestand darin, den Lärmpegel jeweils dort zu bestimmen, wo er am niedrigsten ist. In der Hälfte der Kantone halten die Neubauten den Immissionsgrenzwert daher nur bei rückseitigen Fenstern ein und nicht an der exponierten Gebäudefront. Vor wenigen Wochen bestätigte das Bundesgericht das Präjudiz (vgl. Kasten unten: «Lärm-Urteil: ‹Nein, aber …›»), ohne Verbesserungsvorschläge zu formulieren. Dennoch machen beide Entscheide klar: Die Vollzugsregeln sind zu vereinheitlichen.

«Neu definiert werden müssen ebenfalls die planerischen Gestaltungsmöglichkeiten», ergänzt Denis Kopitsis, Inhaber eines Bauphysikbüros und als Gutachter am Gerichtsverfahren beteiligt. Das Grunddilemma ist: Wird der IGW überschritten, ist Bauen eigentlich untersagt. Das Einhalten der Lärmschutzvorgaben dürfte vor allem an belasteten Orten noch schwieriger werden. Doch wie die bisherige Bewilligungspraxis zeigt, gibt es unterschiedliche Interpretationen und eine Tendenz zur flexiblen Auslegung. Auch die sogenannte «Lüftungsfensterpraxis» wurde aus der pragmatischen Überlegung eingeführt, dass eine bauliche Verdichtung vereinfacht wird.

An zentralen Lagen konnte dadurch lärmschutzkonform gebaut werden, ohne die Qualität bei Wohnkomfort und Ortsgestaltung zu mindern. Architektonisch liess sich insofern darauf reagieren, als ein Lüftungsfenster an der Rückseite, zum beruhigten Innenhof oder Atrium, genügte. Dagegen war die Strassenfassade nur punk-tuell schalldämmend gestalterisch oder baulich zu verbessern.

Das Merkblatt «Neue Wohnnutzungen im lärmigen Siedlungsraum», erarbeitet von der Baudirektion des Kantons Zürich, galt vielen Planern als inoffizielles, hilfreiches Umsetzungshandbuch. Vor allem, weil darin auch städtebauliche und architektonische Kriterien hohe Beachtung finden. In Kantonen ohne «Lüftungsfensterpraxis» hat der Lärmschutzvollzug dagegen oft fragwürdige Spuren hinterlassen: Fassaden mit üppig verglasten Loggien, blinde Strassenfronten oder festverschraubte Fenster sind zwar wirksame, aber das Gebäude oft verunstaltende Schallschutzmassnahmen.

Hintertürchen als Ausweg?

Am Gebäude selbst kann die städtebauliche Setzung oder die Gestaltung von Fassade, Tiefe und Grundriss mithelfen, Aussenlärm wirksam abzuschirmen. Ein technisches Hilfsmittel ist der Schalldämmlüfter. Aber aus dem Fenster ein multifunktionales Bauteil zu entwickeln, das sowohl Akustiker als auch Architekten zufriedenstellen kann, wurde bislang wenig versucht.

Ganz anders in Hamburg: Dort ist aus dem Bemühen, Neubauten vor Strassen- und Schiffslärm abzuschirmen, ein eigenes Modell entwickelt worden. Das «HafenCity-Fenster» ist kastenförmig und besitzt eine ausgeklü-gelte Kippfunktion. Frische Luft strömt ein, ohne die Dämmwirkung zu sehr einzuschränken. Inzwischen ist dieser Lösungsansatz auch in anderen deutschen Städten anzutreffen. Das Schutzniveau ist mit demjenigen in der Schweiz grundsätzlich vergleichbar. Im nördlichen Nachbarland ist aber ein zusätzlicher Innenpegelwert einzuhalten.

Die Grenzwerte selbst werden nicht hinterfragt. Hierzulande stehen die uneinheitlichen Beurteilungsmodelle und Verfahren in der Kritik. Bei fast jeder Bauaufgabe sind die materiellen und formalen Prinzipien, mit denen Architekten und Bauherrschaften konfrontiert sind (vgl. «‹Einander entgegenlaufende Ansprüche›»), wieder anders. Von Kanton zu Kanton wird nicht nur den Ort der Lärmbelastung anders ermittelt oder werden unterschiedliche Massnahmen angeordnet.

Uneins ist man sich auch, wie freizügig eine Ausnahme bewilligt werden soll: Manchmal reicht ein kommerzielles Interesse, lärmbelastete Standorte überbauen zu dürfen. Andernorts wird ein raumplanerisch nachvollziehbarer Verdichtungsgrund verlangt. Trotzdem ist absehbar, dass der Verhandlungsbedarf ansteigen wird. Die Bundesrichter selbst weisen daraufhin, dass vermehrt Ausnahmefälle, etwa bei Verdichtungsvorhaben, in Erwägung zu ziehen sind. Das würde heissen: Ohne baulich umdenken zu müssen, würden dieselben Bauten wie bisher via Sonderparagraf durchgewunken. Als Ausweg aus dem Lüftungsfensterverbot steht damit ein juristisches Hintertürchen zur Disposition.

Den Fuss in diese Lücke hineingezwängt hat die Lärmschutzfachstelle des Kantons Zürich schon. Als erste und bisher einzige Vertreterin aus dem Lüftungsfenster-Zirkel skizziert sie eine Alternative, die jedoch auf aufgeweichte Lärmschutzregeln angewiesen ist. Bei neuen Wohnbauten, die im Siedlungsgebiet, aber zugleich an Strassen und Bahnlinien geplant sind, soll das Schutzinteresse geringer gewichtet werden als bei Projekten am Siedlungsrand. Denkbar sei eine Ausnahmebewilligung für Verdichtungsvorhaben selbst dann, wenn alle Fenster eines Raums übermässig beschallt würden, erklärt die Zürcher Fachstelle ihren neuen Vorschlag. Dieser bezeichnet die Lärmbelastung im Wohnungsgrundriss per Farbcode «Grün-Gelb-Rot»: In grünen Räumen sind die Grenzwerte eingehalten; Gelb warnt, falls nur noch das Lüftungsfenster ruhig ist. Alle übrigen Räume schalten bei zu viel Lärm auf Rot.[3]

«Differenziertes» Schutzkonzept gesucht

Auch in Fachkreisen und auf übergeordneter Ebene wird derzeit über eine «differenzierte Prüfung der gesetzlichen Lärmvorschriften in Verdichtungsgebieten» nachgedacht. Diesbezüglich hat die Eidgenössische Kommission für Lärmbekämpfung (EKLB), die sich sonst öffentlich zurückhält, gemeinsam mit dem Rat für Raumordnung (ROR) einen Bericht publiziert[4]. Darin wird erwogen, dass der Lärmschutz «unter bestimmten Umständen relativiert werden darf». Das Nichteinhalten von Grenzwerten am offenen Fenster soll kein kategorisches Bauverbot bedeuten. «Demgegenüber muss dem raumplanerischen Anliegen an hochwertiger Siedlungsentwicklung nach innen verstärkt Rechnung getragen werden», bestätigt Lukas Bühlmann, Direktor der Vereinigung für Landesplanung (VLP), den neu gefundenen Konsens.

Die Knacknuss für den weiteren Vollzug besteht nun darin, eine juristisch korrekte, vor Gericht haltbare Auslegung zu finden. Denn eines soll verhindert werden: «Die Ausnahme darf nicht zur Regel werden, wenn etwa flächendeckende Ausnahmebewilligungen erteilt würden», ergänzt Georg Thomann, ELKB-Präsident und Fachstellenleiter im Kanton Graubünden. Dass sonst die nächste juristische Pleite droht, hat die Zürcher Behörde selbst schon erfahren: Anhand eines Baulückenplans sollten die Gemeinden bei erhöhter (Flug-)Lärmbelastung selber festsetzen, wo ein überwiegendes Interesse an weiteren Überbauungen besteht. Doch das Bundesgericht intervenierte: Die Abwägung dürfe nur der Kanton treffen und Ausnahmebewilligungen nicht an die Gemeinden delegieren.

Mehr Lärm in dichten Räumen

Während also einiges zu bereinigen ist, um planerisch einfach anwendbare und baurechtlich einwandfreie Lärmschutzlösungen zu erarbeiten, wird es dort, wo inskünftig noch gebaut werden kann, kaum ruhiger werden. Ganz im Gegenteil: So führt das Siedlungswachstum fast von allein dazu, dass deutlich mehr Personen von Lärm betroffen sind. Gemäss öffentlichen Wirkungskontrollen leidet inzwischen rund ein Fünftel der Schweizer Gesamtbevölkerung an ihrem Wohnort an Lärmimmissionen, die über den Grenzwerten oder auf erheblich störendem Niveau liegen.

Würde die Messlatte gemäss der Weltgesundheitsorganisation WHO tiefer gelegt, wäre der Anteil der Lärmbetroffenen sogar doppelt so hoch. Konsens herrscht jedoch darüber, dass die menschliche Gesundheit durch die Lärmexposition wesentlich beeinträchtigt werden kann (vgl. Kasten unten: «Wie krank macht Lärm?»).

Akustisch wird die Entwicklung nach innen diese Probleme weiter verschärfen. Werden Baulücken ausgefüllt, nimmt die Reflexionswirkung entlang der geschlossenen Strassenschluchten nämlich zu. Wie die Schallausbreitung und -verstärkung im Stadtraum reduziert werden kann, wird daher erforscht. Die physikalischen Einflussgrössen wie Strukturierung und Materialisierung von Gebäudefassaden sind bekannt. Parallel dazu sind qualitative Ansätze zu entwickeln, wie der Klang einer Stadt nicht als Belastung, sondern als hörenswert wahrgenommen werden kann (vgl. «Wege zu einer hörenswerten Stadt»).


Anmerkungen:
[01] Evaluation zum Vollzug der Artikel 22 und 24 Umweltschutzgesetz (USG) respektive Art. 29, 30 und 31 Lärmschutz-Verordnung (LSV); Bafu 2011.
[02] Vollzug Lärmschutz, Bafu, Interface 2015.
[03] Lärm, Zürcher Umweltpraxis Nr. 85, 2016.
[04] Lärmbekämpfung und Raumplanung, Grundlagen, Positionen, Stossrichtungen; ROR, EKLB 2015.

TEC21, Fr., 2016.09.02



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2016|36 Lärmschutz: Planerische Gratwanderung

02. September 2016Paul Knüsel
TEC21

«Einander entgegenlaufende Ansprüche»

Die Schwierigkeiten im Lärmschutz beginnen beim Entwurf: Die Schallausbreitung kann wirkungsvoll über die Siedlungsstruktur, die Gebäudeform und den Wohnungsgrundriss beeinflusst werden. Architekt Urs Primas warnt zwar davor, dass die Bauaufgabe überdeterminiert wird, dennoch erkennt er inspirierende Elemente.

Die Schwierigkeiten im Lärmschutz beginnen beim Entwurf: Die Schallausbreitung kann wirkungsvoll über die Siedlungsstruktur, die Gebäudeform und den Wohnungsgrundriss beeinflusst werden. Architekt Urs Primas warnt zwar davor, dass die Bauaufgabe überdeterminiert wird, dennoch erkennt er inspirierende Elemente.

TEC21: Herr Primas, Ihr Büro hat vor Kurzem das Projekt «Zwicky Süd» in Dübendorf realisiert (vgl. TEC21 9–10/2016: Wohnen in verzwickter Lage). Die Genossenschaftssiedlung ist stark mit Lärm belastet: Auf einer Seite fährt die S-Bahn vorbei; an einer anderen passiert der Autobahnzubringer. Wie wird das Gebot des «ruhigen Wohnens» bei dieser Überbauung sichergestellt?

Urs Primas: Effektiv ist das gesamte Grundstück von Lärmquellen umringt. Daraus entsteht ein beispielhafter Konflikt zur guten Erschliessung mit einer vielfältigen Verkehrsinfrastruktur aus Autobahn, S-Bahn oder Glattalbahn. Die Beurteilung der Lärmbelastung war deshalb äusserst komplex: Anhand von dreidimensionalen Lärmmodellen musste etwa die Überlagerung der unterschiedlichen Schallquellen berechnet werden.

Zudem waren die Anforderungen an den Lärmschutz in dieser unbebauten Zone höher als in einem bebauten Gebiet. Es waren die Planungswerte einzuhalten, die niedriger als die Immissionsgrenzwerte sind. Die Modellierungen der Lärmbelastung haben zu einem iterativen Entwurfsablauf geführt, bei dem die Gebäudekörper jeweils unterschiedlich gesetzt und verschoben worden sind.

TEC21: Wie sieht die Lärmschutzstrategie bei der Gebäude- und Wohnungstypologisierung aus?

Urs Primas: Grundsätzlich sind die tiefen, energetisch und ökonomisch sehr effizienten Gebäude ins Innere des Areals gewandert; der Aussenlärm wird von extrem dünnen Bauten abgeschirmt. Letztere sind mit beidseitig belüftbaren Räumen besetzt. Weil die Lärm­belastung omnipräsent ist, mussten unterschiedliche Typen entwickelt werden, um die Grenz­werte überall einzuhalten. Beispielsweise werden Räume über Dachpatios, nach oben offene Zimmer, belüftet. Bei den durchgesteckten Wohnungen wurde in Kauf genommen, dass der Wohnraum relativ knapp bemessen ist. Daran grenzen zweiseitig orientierte Individualzimmer, die dank einer Fläche von 20 m² vielfältig nutzbar sind.

TEC21: War der «Lärmschutz» das bestimmende Thema?

Urs Primas: Tatsächlich war nicht der Lärm das ausschlaggebende Entwurfskriterium. Das verlangte Raumprogramm bestand aus einem breiten Angebotsfächer mit Grosswohnungen, Ateliers, Kleinwohnungen und sogar Hotelzimmern. Der Wunsch war, robuste Bautypen zu entwerfen, die nicht nur konventionellen Wohnungsbau ermöglichen, sondern in Bezug auf Nutzung und Funktion auch neutraler wahrgenommen werden können.

TEC21: Wie detailliert muss ein Wettbewerbsentwurf bereits auf den Lärmschutz ausgerichtet sein?

Urs Primas: Typologisch und strategisch ist vieles bereits im Wettbewerbsprogramm bestimmt. Beim Zwicky-Areal musste die Stellung der Baukörper jedoch im Vorprojekt weiter optimiert werden. Diese Verschiebungsvarianten veränderten den Ausgangsentwurf markant. Wir wollten aber weiterhin ver­hindern, dass das Areal räumlich abgeschottet wird. Die physischen Durchgänge und die freien Durchblicke galt es aufrechtzuerhalten, obwohl die Ränder aus Lärmschutzüberlegungen tendenziell geschlossen werden sollten. Wir haben uns am Anfang eher dagegen gesträubt, die dünnen Bauten leicht abzu­knicken. Aber am Ende hat sich gezeigt, dass Gassen und Plätze im Innern des Areals so besser vor dem Verkehrslärm geschützt sind.

TEC21: Ihr Büro hat vor elf Jahren den Wettbewerb für die Genossenschaftsüberbauung «Am Grünwald» gewonnen, deren Realisierung nun vom Bundes­gericht ver­weigert wird (vgl. Kasten unten: «Lärm-Urteil: ‹Nein, aber …›»). Auch bei diesem Projekt musste der Lärmschutz, aufgrund der benachbarten, vielbefahrenen Pendlerachsen, besonders beachtet werden. Was wäre im Vergleich zu «Zwicky Süd» anders geworden?

Urs Primas: Die Überbauung war so angelegt, dass sie sich um eine grüne Wiese gezogen hätte, die auch der Quartierbevölkerung zur Verfügung gestanden hätte. Für die Siedlung wäre dies der ruhige Raum geworden, auf den alle Wohnungen hätten orientiert werden können: Die ringförmige Gebäudestruktur schirmt den Innenhof sowie die nördlichen und östlichen Siedlungsflügel vor dem Strassenlärm ab. Zudem ist die Tiefe der Gebäudeschenkel abhängig von der Lärmbelastung, was wiederum die Entwicklung der einzelnen Wohnungsgrundrisse beeinflusst hätte.

TEC21: Das Bundesgericht setzt eigentlich eine Zäsur in der Beurteilung von Lärmschutzmassnahmen am Gebäude. Auch bei der Überbauung «Am Grünwald» ist die sogenannte Lüftungsfensterpraxis als un­zureichend beurteilt worden, obwohl die lokalen Bewilligungsbehörden daran nichts auszusetzen hatten. Grundsätzlich weist aber vieles darauf hin, dass die Errungenschaften dieser Praxis ­durchaus Bestand haben könnten und baurechtlich vermehrt Aus­nahmebewilligungen dafür erteilt werden dürfen. Wie sehr prägt der Schallschutz jeweils einen architektonischen und städtebaulichen Entwurf?

Urs Primas: Der Lärmschutz ist nie die einzige Rahmen­bedingung für einen Siedlungsentwurf. Die Gebäude- und Wohnungstypologien werden aktuell unter anderem ebenso durch Energieeffizienzvorgaben, bauökonomische Aspekte und standortbezogene, topo­grafische Vorgaben und Voraussetzungen beeinflusst. Aus der Notwendigkeit zur Lärmbekämpfung entsteht noch keine städtebauliche Grundidee. Allerdings zeigt sich, dass die Bemühungen, den verschiedenen Anforderungen gerecht zu werden, einander entgegenlaufen können.

Vorschriften für mehr Energie­effizienz bevorzugen Gebäude mit einer gewissen Tiefe. Demgegenüber war an lärmexponierten Lagen bisher zu beachten, dass eine Wohnung quergelüftet werden kann. In der Moderne waren entsprechende, schlanke Bautiefen ja die Regel. Erst etwa seit Mitte der 1980er-Jahre entstanden kompaktere, wirtschaftlichere Volumen mit tieferen Grundrissen.

TEC21: Können Sie den Konflikt mit der Gebäudetiefe bei unterschiedlichen Ansprüchen beispielhaft erläutern?

Urs Primas: Bei Wettbewerbsentwürfen an lärmexponierten Lagen ist uns regelmässig aufgefallen, dass die Kombination der genannten Ansprüche zu einer Untergrenze für die Gebäudetiefe führt. Diese liegt, abhängig vom konkreten Projekt, ungefähr bei 10 m. Eine noch geringere Tiefe wird irgendwann in Bezug auf Wirtschaftlichkeit und auch Energie­effizienz problematisch. Bei wesentlich grösseren Gebäudetiefen werden die Wohnungsflächen bei einem durch­gesteckten, von der ruhigen Seite belüftbaren Grundrisstyp dagegen zu gross. Die Fassade wird auf der lärmbelasteten Seite schlecht nutzbar.

TEC21: Die Strassenfassade ist oft Thema, wenn es Städtebau und Lärmschutz einander gegenüberzustellen gilt. Wie weit darf man beim Entwurf gehen, um die Bewohner vor zu viel Aussenlärm zu schützen?

Urs Primas: Die Herausforderung besteht auf jeden Fall darin, eine schöne Strassenfassade zu entwerfen. Es ist wichtig, dass eine Gebäudefassade nicht einfach zur Lärmschutzwand wird, sondern mit dem öffent­lichen Raum kommuniziert. Die Stadt hört nicht an der Fassade auf. Wenn Lärmschutzvorschriften fenster­lose Fassaden erzwingen, wäre das nicht nur ein architektonisches, sondern auch ein städtebau­liches Problem. Zudem geht es darum, eine verkehrsreiche Strasse als öffentlichen Raum zu aktivieren; darum die Idee, den Strassenraum zu bebauen und die Hauseingänge da zu platzieren. So lässt sich vieles mit dem Lärmschutz kombinieren.

TEC21: Aber es können sich auch gewisse gestalterische Kompromisse oder Besonderheiten ergeben?

Urs Primas: Wenn man sich um eine Bandbreite an unterschiedlichen Grundrissen bemüht, gibt es tatsächlich nicht nur ein einziges Rezept. Der Lüftungsfenstergrundriss begünstigt ein klassisches Wohnungsmuster und funktioniert gut, wenn die Lärmquelle nicht im Süden liegt. Als Alternative ist, beispielsweise bei den südseitig lärmexponierten Grünwald-Wohnungen, deshalb die Idee der Patio-Balkone entstanden: nach oben offene Aussenzimmer, die mit 2 m hohen Brüstungen versehen an der Südfassade hängen. Sie schützen vor Lärm und dienen dem Belüften der Wohnungen.

TEC21: Das Fenster in der Strassenfassade scheint ein weiterer Knackpunkt zu sein, der zu divergierenden Ansichten zwischen Lärmschutz und Städtebau führen kann. Das Verwaltungsgericht hat sich im Grünwald-Verfahren ausführlich zu den zwingenden Funktionen eines Fensters geäussert. Dass man ein Fenster öffnen soll, gehört scheinbar nicht dazu …

Urs Primas: Das Verwaltungsgericht hat grundlegende Überlegungen und Herleitungen formuliert, warum die Lüftungsfensterpraxis eine gültige Interpretation der Lärmschutzvorschriften ist. Das Bundesgericht ist nun zwar anderer Meinung, aber wenn aus baurechtlichen Gründen ein bewegliches Fenster verboten werden kann, empfinde ich das als gravierende, nicht nachvollziehbare Einschränkung für die Nutzer. Ein Fenster ist ein reichhaltiges Element und nicht einfach eine Vorrichtung mit spezifischen Funktionen, die nach strenger Auslegung von Vorschriften bestimmbar sind.

Dass Anforderungen an Schalldämmwerte festgelegt werden und eine Situation herzu­stellen ist, bei der man vor Lärm geschützt wird, ist durchaus verständlich. Gleichzeitig muss aber die Freiheit gewährleistet sein, das Fenster zu öffnen. Dazu gehört die Wahl, bei offenem Fenster den Lärm zu ertragen und dafür frische Luft einströmen lassen zu können. Das Fenster ist ein traditionelles archi­tektonisches Element, das eine Beziehung zwischen innen und aussen, zwischen öffentlichem Raum und Wohnung ermöglicht.

TEC21: Ist der Lärmschutz beispielhaft dafür, dass inzwischen viele Rahmenbedingungen für das Bauen an Verdichtungslagen zu eng gefasst sind?

Urs Primas: Die Absichten einzelner Vorschriften wie Schallschutz oder Energieeffizienz sind absolut wichtig und basieren auf ernsthaften gesellschaftlichen Anliegen. Doch der Spielraum für den Entwurf wird umso geringer, je mehr im Voraus fixiert ist. Die einzelnen Auflagen können sich zum Übermass addieren; das macht das Bauen nicht einfacher und nicht günstiger. Trotzdem muss man einen Weg finden, um mit diesen Widersprüchen umzugehen. Auf übergeordneter Ebene kann es irgendwann zur Blockade kommen, wenn raumplanerisch eine Verdichtung erwünscht ist, aber die konkrete Überbauung einer Parzelle überdeterminiert wird. Einzelne Randbedingungen inspirieren nicht per se. Gleichwohl können daraus neue Typologien entstehen.

TEC21: Welche Grundrisstypologien können als Errungenschaft der Lüftungsfensterpraxis bezeichnet werden?

Urs Primas: Da wäre sicher das Wiederauftauchen von modernistischen, eher schlanken Gebäudetypen zu nennen, obwohl das nicht die einzige Lösung ist. Zudem werden tendenziell offene Grundrisse favorisiert, die man einfach querlüften kann. Die Unterteilung in viele Zimmer schafft dagegen eher Probleme. Aktuell sind Grossraumkonzepte gegenüber einem kompakten Wohnungsgrundriss mit vielen Zimmern allerdings weniger hoch im Kurs. Eine intelligente Strategie ist auch das gemischte Nutzungsprogramm. Zwar will man auch in ruhigen Verhältnissen arbeiten; aber die gesetzlichen Anforderungen sind weniger streng als beim Wohnen. Investoren scheuen sich derzeit aber vor einem hohen Gewerbeanteil, da sich dadurch das Marktrisiko erhöht.

TEC21: Wenn der raumplanerische Wille lärmbelastete Standorte verdichten will: Führt das nicht zu sub­optimalen, prekären Wohnlagen?

Urs Primas: Lärm ist ja nicht der einzige Standortfaktor; auch beim stark belasteten «Zwicky Süd» nicht. Gebäude dürfen an grossen Strassen nicht einfach eine anonyme Fassade mit Badezimmerfenstern, Treppenhäusern oder Laubengängen zeigen. Auch an solchen Orten sollte die Architektur offen und lebendig bleiben. Allerdings ist kaum davon auszugehen, dass in dicht urbanisierten Regionen bald viel weniger Lärm verursacht wird.

Die Innovationen an der Quelle scheinen beschränkt. Trotzdem funktioniert die Logik, dem Autoverkehr exklusiv einzelne Bereiche zuzuweisen, nicht mehr. Den Wohnraum etwa mit Lärmschutzwänden komplett abzuschotten ist sehr unglücklich und schadet der Aufenthaltsqualität des urbanen Raums. Man muss akzeptieren, dass es den Autoverkehr gibt. Aber auch, dass an den Strassen gewohnt wird! Siedlungsentwicklung und Verkehrs­planung müssen da besser gegenseitig abgestimmt werden.

TEC21: Was weiss der Architekt über Lärm?

Urs Primas: Während der Erarbeitung eines Wettbewerbsentwurfs ist die Lärmabschätzung durch Experten inzwischen oft ebenso wichtig wie der Austausch mit dem Bauingenieur. Allerdings geht es dabei weniger um theoretische Aspekte der Akustik als um konkrete Modellrechnungen, um Kenntnisse der lokalen Beurteilungspraxis oder um kantonale Ausnahmeregelungen. Da der Vollzug im Lärmschutz laufend in Bewegung ist, ist die Rechts- und Planungs­sicherheit über verschiedene Projektphasen nicht unbedingt gegeben.

Zwischen den Projekten «Grünwald» und «Zwicky» hat sich ebenfalls viel verändert, etwa die Atriumregelung, mit der die Mindest­abmessung von Innenhöfen bestimmt wird. Die vom Bundesgericht abgelehnte, bislang gültige Lüftungsfensterpraxis hat verschiedene typologische Inno­vationen ausgelöst. Damit sind Vor- und Nachteile verbunden. Aber es haben sich damit eine Logik und eine Sicherheit durchgesetzt. Nun gelten plötzlich andere Regeln. Zu hoffen ist, dass sich daraus eine einheitlichere Praxis in den Kantonen ergeben wird.

TEC21, Fr., 2016.09.02



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Heikles Planen im Schwemmland

Nah am Wasser befinden sich attraktive, aber auch risikobehaftete Wohnlagen. Die Siedlungsentwicklung und die Hochwassergefahr lassen sich nur interdisziplinär und in einer Güterabwägung aufeinander abstimmen. Ein Umsicht durch die Schweiz beweist, dass ­städtebaulich sorgfältig und hochwertig geplant wird.

Nah am Wasser befinden sich attraktive, aber auch risikobehaftete Wohnlagen. Die Siedlungsentwicklung und die Hochwassergefahr lassen sich nur interdisziplinär und in einer Güterabwägung aufeinander abstimmen. Ein Umsicht durch die Schweiz beweist, dass ­städtebaulich sorgfältig und hochwertig geplant wird.

Das Schwemmland galt lange Zeit als unsicherer Boden. Die Besiedlung der Uferzone begann erst, als der übrige Raum knapp wurde. Im Spätmittelalter litt etwa der Grossraum Bern unter grosser Wohnungsnot, sodass arme Taglöhner ihre «Schachenhüsli» nah an die Emme bauten. Anfänglich hatte die Obrigkeit nichts dagegen; später intervenierte sie doch: Anstelle eines Pachtzinses wurde aber der Bau von Schutzeinrichtungen wie Schwellen und «Wehrenen» verlangt. Seither ist Wohnen am Wasser zu einem Privileg geworden.

Die Auflagen zum Schutz vor Hochwasser sind allerdings noch zwingender. Weil sich die Siedlungsräume weiterhin ausdehnen und die Risiken zunehmen, müssen die Bewohner von Uferparzellen auch künftig in die Abwehr dieser Naturgefahren einbezogen werden. Abermals richtet sich der Blick auf die Hauptstadtregion, wo aktuell der «Gebietsschutz Quartiere an der Aare» verbessert wird: Vor elf Jahren schwoll der zweitgrösste Fluss der Schweiz auf das Vierfache des üblichen Abflusses an und setzte ganze Strassenzüge in der Stadt Bern unter Wasser.

Das Mattequartier unterhalb der Altstadt musste überstürzt evakuiert werden. Die Abflussrate lag deutlich über 600 m³/s, was einem 100-jährlichen Hochwasserereignis entsprach. Genau davor sind Siedlungsräume per gesetzlichem Auftrag zu schützen. Weil die Aare jedoch bereits im engen Bogen mitten durch Bern strömt, muss der Stadtraum selbst besser vor der nächsten Jahrhundertflut abgeschirmt werden. Vor wenigen Wochen hat das Tiefbaumt der Stadt Bern den Stand des Wasserbauplans und das Ergebnis des öffentlichen Mitwirkungsverfahrens präsentiert.[1]

Die Aarequartierbewohner reagierten fast ausnahmslos positiv auf die geplanten Eingriffe, obwohl dadurch das historische Stadtbild verändert wird. Bemerkenswert ist das Echo auch, weil niemand auf einem «absoluten Schutz» beharrt.

Die Anfangsidee, einen 5 km langen Entlastungsstollen unter der Stadt hindurch zu bohren, wurde unter anderem aus finanziellen Gründen verworfen. Die Alternative kostet einen Drittel weniger; der Gegenwert von rund 90 Mio. Franken ist aber sichtbar: Bis zu 1 m hohe Schutzmauern werden einzelne Uferabschnitte schützen. Und bis zu 20 m tiefe Spundwände sollen verhindern, dass das Aarewasser durch den kiesigen Untergrund in die Quartiere dringt. Ergänzend werden Fugen an Gebäudefassaden und Fenster abgedichtet. Zusätzlich sind historische Fussgängerstege anzuheben, damit Treibgut den Aarelauf nicht verstopft.

Schutz, aber nicht um jeden Preis

Dem aktuellen Hochwasserschutzprojekt der Stadt Bern ging eine Kosten-Nutzen-Abwägung voran. Das grösste Schadenpotenzial wurde im Mattequartier lokali­siert. Der daraus abgeleitete Schutzgrad besitzt aber ein «nicht alltägliches Mass», sagt Dina Brügger, Projektleiterin im Tiefbauamt. Regelkonform ist, dass der Siedlungsraum ein 100-jährliches Hochwasserereignis (HQ100) mit 600 m³/s Abfluss schadlos übersteht. Die Umsetzung in der Berner Matte weicht leicht davon ab: Die Krone der Ufermauer wird auf den HQ100-Pegel ausgelegt.

Das sonst übliche Freibord, das bis zum HQ300-Ereignis (mit Abfluss 660 m³/s) schützt, muss jedoch mit mobilen Schutzelementen abgeriegelt werden. Daher muss die Berufsfeuerwehr bei jedem Einsatz prüfen, ob die Schutzmauern mit Dammbalken zu erhöhen sind. Die angemessene Mauerhöhe wurde in einer städtebaulichen und ästhetischen Abwägung bestimmt. «Die Quartiere dürfen auf keinen Fall eingemauert werden», erklärt Toni Weber, w? ?s Landschaftsarchitekten, die gestalterische Leitidee im Hochwasserschutzprojekt.

Die Bearbeitung ist dabei an ein interdisziplinäres Team aus Wasserbauspezialisten, Landschaftsarchitekten und Städtebauern übertragen worden. Und im Vorfeld haben behördeninterne Aussprachen mit der Eidgenössischen Natur- und Heimatschutzkommission und der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege stattgefunden, damit die bauliche Hochwasservorsorge in nächster Nähe zum Weltkulturerbe, der Berner Altstadt, visuell möglichst schadlos umgesetzt wird.

Die Bevölkerung wies auf einen weiteren wichtigen Punkt hin: die Materialisierung der Mauern. Anstelle von grauem Beton sollen grünlich-braune Sandsteinblöcke, analog zum geschützten Altstadtbild, verwendet werden. Diesen öffentlichen Änderungsvorschlag hat das städtische Tiefbauamt akzeptiert. Inzwischen liegt der Ball wieder bei den Behörden: Das Stadtberner Hochwasserschutzprojekt «Gebietsschutz Quartiere an der Aare» entspricht einem Wasserbauplan, der in den kommenden Monaten von weiteren Fachstellen des Kantons und des Bundes zu überprüfen ist.

Altstätten: Gebäudeabbruch nötig?

Auch im Osten der Schweiz stellt sich die knifflige Frage, wie eine gewachsene Stadt und ein geschütztes Ortsbild mit städtebaulicher Sorgfalt besser gegen Hochwasser zu sichern ist. Mitten durch Altstätten im St. Galler Rheintal zwängt sich der Stadtbach als enger Kanal. Im Sommer 2014 setzte er Teile des historischen Kerns unter Wasser und füllte Häuser mit Schlamm. Zwar ist das Risiko bekannt – der Bach verbindet die Altstadt hydrologisch mit einem voralpinen Einzugsgebiet. Trotzdem wurde in Zonen mit mittlerer Gefährdung auf der Gefahrenkarte weitergebaut.

Die Gebäudeversicherung des Kantons St.?Gallen bemängelte daher im Jahresbericht, dass solche Risiken «bei der Projektierung von Neubauten besser zu beachten sind». Inzwischen läuft die Verbesserung des Hochwasserschutzes in Altstätten auf Hochtouren. Knackpunkte sind aber die räumliche Enge und die beid­seitige Uferbebauung im Siedlungsbereich: «Die Abflusskapazität des Stadtbachs ist um den Faktor 2.5 zu erhöhen», beschreibt Markus Brühwiler, Geschäftsleiter der Brühwiler Bauingenieure und Planer, die Sanierungsaufgabe.

Die passenden Massnahmen sind aber noch nicht bestimmt. Grundsätzlich werden eine Sohlenabsenkung und eine Querschnittserweitung am Kanal in Betracht gezogen. Darüber hinaus ist abzuwägen, ob Gebäudeabbrüche mehr Platz schaffen können, dafür müsste aber markant in das Siedlungsbild eingegriffen werden.

Dass eine städtebauliche und geometrische Umstrukturierung durchaus Chancen bietet, davon ist Brühwiler überzeugt: «Anfänglich gegensätzliche Inter­essen lassen sich miteinander oft im Einklang bringen.» Dazu ist auch hier eine interdisziplinäre Projektierung gefragt. In diesem Spannungsfeld wasserbaulich und städtebaulich optimale Varianten auszuarbeiten, ­fordert allerdings nicht nur Ingenieure und Gestalter, ­sondern auch die Politik.

Klein-Venedig: Entlastung ausserhalb

Altstätten und Bern sind nicht die einzigen Orte, die ein bestehendes Gefährdungsrisiko im engen Siedlungsraum zu minimieren haben. Andernorts stellt sich auch die Frage, ob neue Bauten künftig überhaupt noch an die Wasserkante gebaut werden sollen. Uferareale sind attraktive Standorte und werden daher gern genutzt und überbaut. Doch das Bauen am Wasser ist grundsätzlich riskant. Zudem sprechen die gesetzlichen Anforderun­-gen vermehrt dagegen. Ob die Besiedlung von Schwemmland erlaubt ist, muss grundsätzlich abgewogen werden.

Gesetzlich korrekt werden Uferzonen inzwischen Ge­wässerraum genannt (vgl. Kasten unten: «Was bleibt direkt am Ge­wässer erlaubt?»); für die Siedlungsplanung stellt sich sogar die Frage, ob es neuerdings unüberbaubare Tabuzonen sind.

Der nächste Ortswechsel führt nach «Klein-­Venedig» ins Luzerner Hinterland: Das Bundesamt für Umwelt, die Abteilung Naturgefahren des Kantons Luzern und der Schweizer Heimatschutz betrachten Sursee als gelungenes Beispiel dafür, wie ein geschütztes Ortsbild (ISOS, Wakkerpreis 2003) und eine hochwer­­tige Siedlungsentwicklung in Einklang mit dem Hochwasserschutz gebracht werden können.

An der inter­nationalen Naturgefahrenkonferenz Interpraevent (vgl. TEC21 24/2016) wurde das Ringen um die historischen Qua­litäten präsentiert. Vor sechs Jahren ist die Sure, die den mittelalterlichen Marktflecken durchquert, ­über die Ufer getreten. Inzwischen wurden Stadtraum und -kanal aufgefrischt; der Bach hat einen Fischaufstieg und ein leicht erhöhtes Profil bekommen. Und ausserhalb der Stadtmauern überspannt sogar ein Neubau den mehrheitlich eingeschalten Bachlauf der Sure.

Die Sicherheit für die Anrainer wurde jedoch erheblich erhöht. Die Altstadtsanierung beruht auf einem regionalen Masterplan, wie die Sure vor Hochwasser geschützt wird und ökologisch umzugestalten ist. Deshalb dosiert eine manuell bedienbare Schleuse den Abfluss durch die Stadt.

Ein modelliertes Parkgelände vor dem Stadttor dient als Flutmulde, in die der Überlauf kontrolliert abgeleitet wird. Einzig zwei Ausbauschritte fehlen noch, damit der Kern von Sursee ein 100-jährliches Hochwassereignis schadlos überstehen kann: Im Oberlauf wird demnächst ein zusätzliches Rückhaltebecken realisiert. Ebenfalls geplant ist eine Regulierung des Sempachersees, um die Pufferwirkung zu erhöhen. Alternative Schutzmassnahmen im Stadtraum oder ­an den Gebäuden selbst sind dagegen aus denkmalpflegerischen Gründen verworfen worden.

Zürcher Pilotfall: «Wohnstadt am Wasser»

Der Kanton Zürich ist Ziel des letzten Ortswechsels, der zudem aufzeigt, dass die Obrigkeit das Bauen am Wasser mit geteilter Meinung betrachten kann. Die kantonale Baudirektion möchte nämlich verhindern, dass «direkt ans Wasser gebaut werden darf». Auf beiden Seiten eines Fliessgewässers sei «mindestens ein 5-m-Abstand einzuhalten», so die Auskunft aus dem Generalsekretariat. Welche Ausnahmen davon erlaubt sein sollen, muss erst geklärt werden. Bis Ende Jahr will der Regierungsrat die künftige Beurteilungspraxis in der Hochwasserschutzverordnung bestimmen.

Mit Spannung erwarten die Stadtplaner von Uster diesen Entscheid: Für die Gesetzesrevision war die Kleinstadt im Zürcher Oberland eine Pilotregion,[2] um den lokalen Spielraum in besiedelten Uferzonen gemeinsam mit den kantonalen Behörden auszuloten.

Die Absicht der Stadt ist, nah am Wasser zu bleiben. Das ehemalige Textilzentrum will sich zur «Wohnstadt am Wasser» entwickeln (vgl. TEC21 30–31/2014). Die Gefährdungslage scheint zwar weniger akut: Seit dem 19. Jahrhundert ist die Ustemer Aa nur noch punktuell über die Ufer getreten. Dennoch macht die Naturgefahrenkarte auf ein grosses Überflutungs- und Schadenspotenzial aufmerksam.

Aber wie bringt Uster die divergierenden Raumansprüche zwischen Hochwasserschutz und Städtebau unter einen Hut? Richard Staubli, Geschäftsleitungsmitglied bei Stau­bli, Kurath?& Partner, hat die Gefahrenlage am Aabach abgeschätzt und am Entwicklungsprozess beratend mitgewirkt.

Auch hier fand «zuallererst eine umfassende Gesamtbetrachtung statt», lobt der Wasserbauingenieur. Die Abfolge der Planung war gut organisiert: Nach der Analyse der regionalen Gefahren­situation bei HQ100 und HQ300 entstand ein rechtlich nicht verbindlicher Masterplan für den Stadtraum mit Wasseranstoss, ­der eine variantenreiche städtebauliche Ufernutzung aufzeigt.

Abwechselnd darf demnach hart an die Wasserkante gebaut werden respektive können Freiräume für Naherholung und Ökologie entstehen. Im Gegen­zug ist der Hochwasserschutz im dichten Siedlungsge­biet mit Ufererhöhungen und Sohlenabsenkungen zu verbessern.

Im «Park am Aabach», einem zentrumsnahen Areal aus öffentlichen und privaten Uferparzellen, werden die Vorarbeiten erstmals verbindlich in der Nutzungsplanung umgesetzt: Der Überbauungsplan erlaubt, dass Wohnbauten unmittelbar am Kanal erstellt werden dürfen. Die Gebäude sind allerdings durch Minimal­koten an Eingängen, Lichtschächten und Fundament zusätzlich zu schützen.

Der Studienwettbewerb wurde vor fünf Jahren entschieden; der Gestaltungsplan soll demnächst vom Stadtparlament genehmigt werden. Damit ist auch in Uster sichergestellt, dass Schwemmland nur besiedelt werden darf, wenn eine übergeordnete, interdisziplinäre Schutzplanung stattgefunden hat.


Anmerkungen:
[01] www.hochwasserschutzbern.ch
[02] «Gewässerraum im Siedlungsgebiet eröffnet neue Chancen», in ZUP Wasser, Kanton Zürich 2014.

TEC21, Fr., 2016.07.01



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01. Juli 2016Paul Knüsel
TEC21

Entschärftes Risiko auf der Nord-Süd-Achse

Beim Hochwasser 2005 hatten im Kanton Uri einige Schutzbauten versagt. Nun ist der «Urner Talboden» mit einem beeindruckenden Rückfallsystem abgesichert. Selbst Extremereignisse sollen nur noch ­geringe Schäden verursachen.

Beim Hochwasser 2005 hatten im Kanton Uri einige Schutzbauten versagt. Nun ist der «Urner Talboden» mit einem beeindruckenden Rückfallsystem abgesichert. Selbst Extremereignisse sollen nur noch ­geringe Schäden verursachen.

Die neue Alpentransversale am Gotthard wird den Bahnverkehr nicht nur beschleunigen, sondern auch sicherer machen. Da die Bergstrecke nun vom Basistunnel unterquert wird, ist die Gefahr weiterer Felsabbrüche und Erdrutsche gebannt.

Vor vier Jahren war das Bahntrassee oberhalb von Gurtnellen mehrmals und tagelang gesperrt. Allerdings durchqueren die Züge auf der Zufahrt zum Nordportal eine weitere unberechenbare Risikozone: Die «Rynächt» bei Schattdorf liegt im Mündungsbereich des Schächen; der bisweilen wilde Gebirgsfluss trifft hier auf die auch nicht immer gemächlich strömende Reuss.

In den letzten 100 Jahren erlebte der Urner Talboden vier dramatische Unwetterereignisse, zuletzt 2005. Jedesmal wurde der durch mehrere Verkehrsachsen durchquerte Raum überschwemmt; angrenzende Wohn- und Gewerbezonen sowie viel Kulturland standen meterhoch unter Schlamm und Wasser. Die Schäden beliefen sich auf über 350 Mio. Franken.

Damit sich dieses Szenario nicht wiederholt, wurden in den letzten zehn Jahren gegen 80 Mio. Franken investiert. Seit diesem Frühjahr ist das «Hochwasserschutzprojekt Urner Talboden» zu wesentlichen Teilen fertiggestellt. Auf Gebiet der Gemeinden Schattdorf, Altdorf und Attinghausen hat der Kanton Uri eines der vorausschauendsten Hochwasserschutzkonzepte der Schweiz umgesetzt. Siedlungsgebiete sind vor einem 100-jährlichen Ereignis zu schützen, wichtige Infrastrukturanlagen zusätzlich vor einem 300-jährlichen Hochwasser.

Doch nicht nur der gesetzliche Standard wird garantiert; der Schutzgrad beinhaltet zudem den sogenannten «Überlastfall»: Ein Mix aus klassischen und innovativen Wasserbauelementen muss dafür sorgen, dass auch extreme Wassermengen kontrolliert ab- und umgeleitet bzw. zurückgehalten werden können respektive ein Extremszenario weder Leib und Leben noch wichtige Sachwerte bedroht. Eine nationale Studie warnt derweil, dass nur jedes zweite der aktuell realisierten Hochwasserschutzprojekte vergleichbar konzipiert ist.[1]
Schutzdefizit erst nach 2005 behoben

Weite Teile des Urner Talbodens standen jeweils im Sommer 1910, 1977, 1987 und 2005 unter Wasser. Das Schutzdefizit ist bekannt; das Gebiet rund um die Schächenmündung war auf der Naturgefahrenkarte rot markiert. Doch erst nach dem Augusthochwasser vor elf Jahren wurde das Vollzugstempo erhöht. Vom Hochwasser betroffene Unternehmen, darunter der Staatsbetrieb Ruag (vgl. Kasten unten: «Kostenpflicht für Dritte»), hatten mit Wegzug gedroht. 2008 hiess das Stimmvolk den Kredit für das «Hochwasserschutzprogramm Uri» gut.

Die effiziente Umsetzung wurde dadurch begünstigt, dass die Projektverantwortung allein bei der kantonalen Behörde lag und sich die Standortgemeinden nicht einmal an den Kosten zu beteiligen hatten. Trotzdem profitieren auch sie vom Resultat: Um den europäischen Transitverkehr auf Schiene und Strasse ebenso wie die benachbarten Gewerbeliegenschaften und Wohnquartiere oder Kantons- und Quartierstrassen vor Hochwasser zu schützen, wurden das Abflussgerinne und die Mündungsgeometrie am Schächen optimiert.

Wenige hunter Meter oberhalb der Einmündung in die Reuss wartet ein neuer Geschiebesammler mit einer Fläche von etwa 4 ha darauf, bei Bedarf rund
100?000 m³ Kies und anderes Treibgut abzufangen. Zwischen 1 m und 4.5 m hohe, teilweise mehrere hundert Meter lange Schutzmauern und -dämme sichern derweil die Ufer des Schächen und der Reuss sowie Überflutungsbereiche im Hinterland ab. Eine stromlinienförmige Brücke schützt den Bahnkorridor (vgl. Kasten unten: «Druckbrücke»).

Und ein revitalisierter Reusszulauf ist zu einem Rückhaltebecken erweitert worden. Die wichtigsten Schutzbauten wurden am physikalischen Modell an der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie der ETH Zürich überprüft. Simuliert wurden die Abflüsse bei 100-, 200- und 300-jährlichen Hochwasserereignissen, ergänzt mit einer Abschätzung, wohin das Schächenwasser bei Totalüberlastung ausweichen kann.
Kettenreaktion ausgelöst

Bei allem Modellieren und Simulieren: Jedes Hochwasser liefert genauere Daten. Im Nachgang zum Unwettersommer 2005 nahm der Bund eine umfassende Ereignisanalyse vor.[2] Am Schächen zeigte sich, dass nicht mehr Wasser abfloss, als ein 100-jährliches Ereignis erwarten liess. Doch dem lang andauernden Regen waren die natürlichen Puffer im alpinen Einzugsgebiet nicht gewachsen, daher wurde eine derart grosse Fläche im Raum Schattdorf überflutet.

Die morphologischen, hydraulischen und hydrologischen Zusatzstudien deckten zudem eine verhängnisvolle Kettenreaktion auf, bei der einiges nicht vorhersehbar war und anderes nicht wie gedacht funktionierte. Gänzlich unerwartet konnte sich ein Geschiebesammler im Schächen-Oberlauf entleeren, sodass das Geschiebe aus dem Gebirgsbach die Einmündung in die Reuss verstopfte.

Brücken und Bachübergänge wurden ihrerseits zu Engpässen. Ein weiterer Schwachpunkt war der zu schmale Durchlass unter der Autobahn, durch den viel mehr Wasser in die Reuss hätte abfliessen sollen.

Das Fazit: Ohne zusätzliches Entlastungs- und Puffervolumen würden Geschiebe und Wasser im nächsten Fall abermals aufstauen und eigene Abflusswege suchen.

Die neu erstellten Elemente bilden nun das aufeinander abgestimmte, redundante Hydrauliksystem, das eine kontrollierbare, möglichst schadlose Ausbreitung der Wassermassen auch bei Überforderung der Bach- und Flussläufe erlauben soll. Denn das ist der springende Punkt am neuen Risiko- und Schutzkonzept (vgl. TEC21 12?–?13/2016): Bauen gegen das Hochwasser ist keine statische Angelegenheit mit maximaler Sicherheitsgarantie, sondern eine dynamische Aufgabe mit durchaus steuerbarem Ausgang.

Daher sichert nun folgende Kaskade den Urner Talboden ab: Der Geschiebesammler im Oberlauf des aufbrausenden Schächen, der aus den 1970er-Jahren stammt, hat ein hydraulisches Schutzwehr erhalten, damit mehr Material zurückgehalten wird.

Die übrige Kies- und Schwemmholzfracht landet wie bisher in der Reusseinmündung, von wo aus ein Aufstau bis zum rückwärtigen Grosssammler stattfinden kann. Dort rutscht das Material seitlich ab und füllt die Kuhle, die ihrerseits mit einem Damm nach aussen abgegrenzt ist.

Trotzdem überlaufendes Wasser landet im benachbarten Hochwasserkorridor (vgl. «Reserven für ein kontrolliertes Fluten»); die natürliche Hangneigung, künstliche Geländeerhebungen und ein sekundärer Schutzdamm sorgen in dieser unbebauten Kulturland- und Waldfläche dafür, dass Überlaufwasser kontrolliert über die Kantonsstrasse in die Stille Reuss abfliessen kann.

Dieses Gewässer ist ein künstlicher Vorfluter, der seit 100 Jahren die Abflüsse der östlichen Berghänge sammelt und unter dem Schächen und der Autobahn hindurch in die Reuss leitet. Im Hochwasser 2005 schwoll die Schächen-Überführung allerdings derart an, dass auch die Stille Reuss überlief und das Wasser ungehindert den Schattdorfer See füllte.
Revitalisierter Rückhalteraum

Die Stille Reuss hat nun ein grösseres Rückhaltevolumen; dazu wurde der Lauf verlängert und auf Kosten von Bestockungen revitalisiert. Im Alltag ist das Bachbett ein hochwertiges aquatisches Ökosystem, bei Hochwasser wird es zum redundanten Auffangsystem. Ein Entlastungskanal und ein beweglicher Notverschluss halten das Wasser zusätzlich im Zaum. Und falls dieses Volumen nicht mehr genügt, ist – wie im Überlastfall simuliert – die Überflutung des angrenzenden Kulturlands erlaubt.

Erhöhte Dämme und Mauern schützen die unmittelbar daneben liegende NEAT-Zufahrt und Autobahn vor dem Extremfall. Im unteren Urner Reusstal wird die A2 dagegen selbst zum Entlastungsraum: Der Kanton Uri und das Bundesamt für Strassen haben vertraglich vereinbart, dass die Autobahn ab einem 50-jährlichen Unwetterereignis vorsorglich gesperrt und kontrolliert überflutet werden darf. Das Schadensrisiko ist für die vierspurige Strasse jedenfalls bedeutend geringer, als wenn weitere Siedlungsräume unter Wasser gesetzt werden müssten.


Anmerkungen:
[01] Was macht Hochwasserschutzprojekte erfolgreich? Eine Evaluation der Risikoentwicklung, des Nutzens und der Rolle privater Geldgeber; Mobiliar Lab für Naturrisiken und Oeschger-Zentrum (OCCR) der Universität Bern 2015
[02] Ereignisanalyse Hochwasser 2005, Teil 1 – Prozesse, Schäden und erste Einordnung; Bafu, WSL 2007

TEC21, Fr., 2016.07.01



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15. April 2016Paul Knüsel
TEC21

Einträge aus vielen Wegen

Gewisse Anteile der Mikroverunreinigungen gelangen über das ­Haus­abwasser­ und die Siedlungsentwässerung in die Umwelt. Wie die Belastung erfasst und effizient reduziert werden kann, ist am ­Oberlauf der Dünnern im Solothurner Jura eingehend untersucht worden.

Gewisse Anteile der Mikroverunreinigungen gelangen über das ­Haus­abwasser­ und die Siedlungsentwässerung in die Umwelt. Wie die Belastung erfasst und effizient reduziert werden kann, ist am ­Oberlauf der Dünnern im Solothurner Jura eingehend untersucht worden.

Die Dünnern ist ein 37 km langer Zufluss zur Aare mit Einmündung in Olten. Die Quelle liegt südwestlich hinter dem Solothurner Hausberg Weissenstein. Danach passiert das mittelgrosse Fliessgewässer eine ländlich geprägte Umgebung und mehrere kleine Dörfer. Bereits auf den ersten Fliesskilometern gelangt gereinigtes Auslaufwasser der ARA Welschenrohr in die Dünnern; kurz nach der Ostschlaufe quer durch die Klus bei Bals­thal leitet die ARA Falkenstein ihre behandelten Wassermengen ein. Danach nimmt die Dünnern rund ­um ­Oensingen weitere Entwässerungssysteme auf, da­r­unter das Meteorwasser der benachbarten Auto­bahn sowie die belasteten Frachten aus den Trenn­kanälen angrenzender Gewerbe- und Logistikareale. Vom ­Ur­sprung bis hierhin steigt der mittlere, natürliche Abfluss der Dünnern von 1 m³/s auf etwa 5 m³/s. Das hydrologische Einzugsgebiet umfasst insgesamt
rund 200 km2.

Phosphat, Nitrat, Nitrit und Ammoniak haben in der Vergangenheit an vielen Orten zur Überdüngung der Gewässer beigetragen. Die Frachten dieser Nährstoffe sind in den letzten Jahren aber auf ein unproblema­­ti­sches Niveau gesunken. Trotzdem ist der Zustand der Dünnern im ländlichen Oberlauf als problematisch zu bezeichen. Die kantonale Umweltbehörde misst ­regelmässig zu hohe Konzentrationen von organischen Substanzen, insbesondere Pestizide, Biozide und weitere Mikroverunreinigungen. Mit dem Sam­melbegriff Mikroverunreinigungen (MV) sind in der Schweiz rund 30 000 synthetische, organische Substanzen gemeint, darunter Arzneimittel und -reststoffe, Reinigungsmittel sowie Schutzstoffe an Gebäuden und in Baumateria­lien. Öko- und humantoxikologische Analysen belegen, dass Mikroverunreinigungen schädlich für Wasser­lebewesen sind. Seit 2016 hat das Bundesgesetz über den Schutz der Gewässer den zuvor pauschalen Vorsorgewert für organische Pestizide von 100 ng/l durch Grenzwerte für zwölf MV-Leitsubstanzen ersetzt. Die neuen Qualitätsnormen sind zudem erfüllt, wenn die ober- und unterirdischen Gewässer von mindestens 50 % der eingetragenen MV-Frachten befreit sind.

Die hohen MV-Gehalte im Dünnernwasser gefährden aber nicht nur das unmittelbare Ökosystem, sondern sie breiten sich auch in andere Umweltmilieus aus:[1] Hydrologisch ist der solothurnische Aarezufluss mit wichtigen Karstquellen im Jura verbunden. Geochemische Untersuchungen zeigen, dass über 30  % des dortigen Grundwassers aus der Dünnern infiltriert. Auch das Trinkwasser in der Region Olten speist sich aus diesem Reservoir.

Geringer Verdünnungseffekt

Das Besondere an der Dünnern ist das Zusammentreffen mehrerer ungünstiger Umstände, die sich zu einer realen Umweltgefährdung entwickelt haben: Zum einen gelangt verhältnismässig viel Abwasser in die Dünnern, zum anderen führt das Fliessgewässer selbst eher wenig Wasser. Der Verdünnungseffekt auf die eingetra­genen Schadstofffrachten ist daher zu gering. Weil die Mikroverunreinigungen stabil genug sind und sich bis ins Grundwasser ausbreiten, sind sie auch dort in relevanten Konzentrationen nachweisbar. Die Wasseranalytik weist inzwischen gelöste, organische Substanzen in Mikro- und Nanokonzentrationen nach. Insofern hat die Umweltbehörde des Kantons Solothurn die Dünnern als sensibles Gewässer für die Trinkwasserversorgung eingestuft; eine Reduktion oder Elimination der MV-­Frachten ist zwingend anzustreben. Das Amt für Umwelt (AfU) hat die Eintragswege und -mengen bereits eingehend analysiert.

Grundsätzlich ist bekannt, dass die Belastung der Dünnern auf zwei Arten verursacht wird: Die Nährstoff- und MV-Frachten stammen sowohl aus dem behandelten Abwasser als auch aus Entwässerungskanälen, die ­Meteorwasser sammeln, es aber keiner Behandlung zu­führen. Doch nur MV-Substanzen wie Medikamente oder Kosmetikrückstände, die beispielsweise nach der privaten, gewerblichen oder medizinischen Anwendung jeweils in das Abwassersystem gelangen, fliessen durch eine ARA, wobei sich diese Spurenstoffe mit einer zusätzlichen Reinigungsstufe fast vollständig eliminieren ­lassen (vgl. «Diffuse Gefahr für die Wasserressourcen», S. 22). Über das Abwasser wird allerdings nur eine Minderheit der gesamten MV-Frachten in die Dünnern eingetragen. Eine von der Eawag erstellte Studie erbrachte den Lokalbefund, dass sogar 80 % der organischen Spurenstoffe diffus, aus dem Kulturland (Pflanzenschutzmittel, Biozide) und aus Siedlungsflächen (Biozide, Metalle; vgl. «Jedes Haus hinterlässt Spuren», S. 29), eingetragen werden. Eine bedeutende Quelle für die MV-Belastung in Gewässern ist daher die Siedlungsentwässerung. Werden Schadstoffe, Pestizide und ­Konsorten über die Mischwasserentlastung und Re­-gen­wassereinleitung weiter verfrachtet oder wäscht Re­genwasser die Stoffe selbst in kleinen Mengen aus Verkehrs-, Siedlungs- oder Grün­flächen aus, lässt sich die MV-Ausbreitung kaum oder gar nicht kontrollieren. Und da sämtliche ARAs eine begrenzte Reservekapa­zität besitzen, kommt eine Reinigung der Regenwasser­einläufe nur bedingt in Betracht. Erschwerend für die ­Planung von Reduktionsmassnahmen ist zudem, dass sich die diffusen, chronischen MV-Einträge aus der Strassenentwässerung und den landwirtschaftlichen Nutzflächen in einer kleinräumigen, ein einzelnes Fliessgewässer betreffenden Untersuchung kaum erheben oder in Modellen verifizieren lassen.

Befund: integrale Entwässerungsanalyse

Dennoch zeigte die Eawag-Studie auf, wie der Belastungszustand der Dünnern verbessert werden kann: Um die MV-Frachten zu reduzieren und die Infiltration ins Grundwasser zu unterbinden, genügen grundsätzlich Interventionen in das Schmutzwassersystem. Das Amt für Umwelt vertiefte die integrale Analyse der räumlichen Entwässerungssituation (vgl. Kasten S. 28) und modellierte die Eintragsfrachten für den Oberlauf der Dünnern. Zur Debatte stand ein Spektrum an ­Massnahmen, die sich entweder auf die Abwasserreinigung oder die Siedlungsentwässerung beschränken. Die Modellszenarien beurteilten schliesslich jenes Verbesserungspaket am wirkungsvollsten, das Anpas­sungen an beiden Systemen vorsieht: Die Abwasserreinigung muss mit einer Eliminationsstufe auf­­ge­rüstet werden. Und die Siedlungsentwässerung ist zumindest hydraulisch anzupassen, sodass das Rückhaltevolumen vergrössert wird.

Die ersten Entscheide für die Umsetzung der Massnahmen sind seit letztem Jahr gefällt: Die Anrainergemeinden und die Abwasserreinigungs-Zweckverbände haben in Absprache mit dem AfU beschlossen, die ARA Welschenrohr aufzuheben. Weil die Kleinanlage weitere Mängel bei der Nitri­fikation besass, wäre der Ausbau zu kostspielig ­geworden. Stattdessen werden nun die lokalen Abwassersysteme entlang des Dünnern-Oberlaufs fusioniert. Die bestehende kleine ARA Welschenrohr wird aufgehoben und in ein Ausgleichsbecken umgewandelt, um das Abflussregime im neuen ARA-Verbund zu regulieren. Im Gegenzug wird die ARA Falkenstein/Oensingen für die MV-Elimination ausgebaut. Als Verfahren für die vierte Reinigungsstufe werden Aktivkohle oder Ozonierung geprüft. Eine Simu­lation für den ARA-Zusammenschluss hat gezeigt, dass der erhoffte Reduktionseffekt erreicht wird: Die MV-Frachten im behandelten ARA-Abfluss werden so weit reduziert, dass die Belastungswerte in der Dünnern teilweise um den Faktor 3 unterschritten werden können.

Noch zu leisten ist eine Analyse für die Siedlungs­entwässerung: Im Rahmen der Gesamtentwässerungsplanung (GEP) muss geklärt werden, ob die ­Mischwasserbehandlung im erweiterten ARA-Gebiet auszubauen ist respektive wie die hydraulischen Verhältnisse in den bestehenden Sammelleitungen anzupassen sind. Weil das Trennsystem bislang über keine eigene Behandlungsanlage verfügt, sind allenfalls die Rückhaltekapazitäten in der regionalen Verbundanlage Falkenstein zu optimieren. Eine Erhöhung des Speichervolumens um rund einen Viertel genügt, damit die MV-Reinigungsstufe selbst bei starkem Regen und steigendem Me­teorwasserzufluss nicht überlastet ist.

Die Modellierung des Siedlungsentwässerungssystems und der spezifischen MV-Stofffrachten weisen dennoch auf eine gewisse Wirkungsbegrenzung hin. Aufgefallen ist zum Beispiel, dass nicht alle eingetragenen Substanzen gleich stark reduziert werden können. Vor allem die «regengetriebenen» Biozide aus diffusen Quellen breiten sich weiterhin ungefasst über die Mischwasserentlastungen aus. Und weil das Abflussregime der Dünnern schwach ist, dürften einzelne, schlecht abbaubare MV-Substanzen die vom Gesetz erlaubten Schwellenwerte auch in Zukunft überschreiten.

Allerdings strebt der Kanton Solothurn auch im Unterlauf der Dünnern eine Verbesserung der MV-Situa­tion an. Die integrale Analyse für das Entwässerungsgebiet rund um die ARA Gunzgen, etwa 10 km unterhalb der ARA Falkenstein, läuft bereits.


Anmerkung:
[01] «Mikroverunreinigungsemissionen», P. Staufer ­und S. Zehnder; Aqua & Gas 1/2016.


«Abwägung für viele kleine Flüsse»

TEC21: Herr Staufer, das Gewässerschutzgesetz verlangt, dass die Abwasserreinigung 80 % der Mikroverunreinigungen respektive die organischen Spurenstoffe eliminiert. ­Ist diese Vorgabe überhaupt realistisch?

Philipp Staufer: Das allgemeine Ziel lautet, die Belastung der Schweizer Gewässer mit dem Cocktail an Mikroverunreinigungen (MV) um 50 % zu reduzieren. Bezogen auf die Einträge durch die Abwassereinlei­tungen heisst das, mindestens 80 % ­dieser Frachten in einer ARA zu eli­mi­nieren. Dafür müssen etwa 100 Gross­anlagen in der Schweiz mit einer zusätzli­chen Verfahrenstufe ausgerüstet werden. Die Vorgaben sind aber erreichbar; bessere Reinigungseffekte wären dagegen mit höherem Energieeinsatz ­in der ARA verbunden. ­Die Eliminationsverfahren, entweder mit Ozon oder mit Pulveraktivkohle, sind nicht neu. Wir wissen, dass ­sie wirken; entsprechende Erfahrungen liegen bereits ­vor (vgl. «Diffuse Gefahr für die Wasserressourcen», S. 22). ­Die vierte Reinigungsstufe gilt daher als zentrale Massnahme für die Reduktion der MV-Belastung. Zusätzliches Optimierungspotenzial liegt meiner Meinung nach in der integralen Betrachtung der Entwässerungs­systeme.

Wie sind die wirksamen ­Mass­nahmen zu planen?

Als kantonale Behörde beab­sichtigen wir die Belastung ­der Gewässer mit effektiven und effizienten Mitteln zu reduzieren. Dazu braucht es nicht eine einzige, sondern viele kleine Massnahmen. Die Eintragspfade und -mengen der Mikroverunreinigungen sind zwar eindeutige Indizien; doch zusätzlich interessieren auch die Verdünnungseffekte im Gewässer. Denn die Verdünnung sowie die räumliche Verteilung der Einträge führen dazu, dass sich die MV-Gehalte im Wasser im Nanogrammbereich ­pro Liter bewegen. Solche Grössen lassen sich zwar problemlos messen. ­Mit derart geringen Mengen zu rechnen und verlässliche Simulationen durchzuführen wird jedoch aufwendig und unsicher. Bei Substanzen, die vor allem mit dem Regenwasser eingetragen werden, stossen wir daher schnell an technische Grenzen. Auch wirtschaftlich ist nicht alles möglich, ­um die Belastung zu reduzieren. Die Entwässerungssysteme mit grösseren Speichern zu versehen wäre wirksam, aber sehr teuer.

Wie lassen sich die Massnahmen ­auf den Abwasserreinigungsanlagen ­am besten mit Massnahmen in den Entwässerungssystemen verbinden?

Es braucht beide, weil sie ­sich räumlich und funktional gut ergänzen. ARAs leiten ihre gereinigten Abwässer mehrheitlich in ein grosses ­Gewässer ein. Wenn diese nun mit einer zusätz­lichen Reinigungsstufe ausgerüstet werden, bekommen wir einerseits diese schleichenden MV-Einträge in den Griff. Andererseits wird die MV-Belastung in kleineren Gewässern vor allem vom Regenwasserabfluss beeinflusst. Für viele kleine Bäche und Flüsse muss daher abgewogen werden, ob Massnahmen gegen den diffusen MV-Eintrag wirklich lohnenswert sind. Ich würde das etwa mit dem Prozess von Flussrenaturierungen vergleichen, wozu die jeweils angrenzenden Nutzungen dem aufzuwertenden Schutzgut gegenüberzustellen sind.

Was heisst das konkret, etwa für ­ein relativ kleines Fliessgewässer wie die Dünnern?

Die Dünnern ist ein solcher Fall, bei dem das Rohwasser für die Trinkwasserversorgung bedeutend ist. Obwohl keine MV-Grenzwerte überschritten sind, muss das Vorsorgeprinzip im Gewässerschutz angewendet werden. Jetzt schon aktiv zu werden beruht auch auf früheren Erfahrungen: So hat der Gewässerschutz bei der Sanierung der Nitratbelastung ­sehr lang zugewartet und dadurch ­bei ­der nachträglichen Behebung eine Generation und viel Geld verloren.

Wie lang dauert es, bis der Handlungs­bedarf für Entwässerungssysteme abgeklärt respektive die MV-Reduktion flächendeckend umgesetzt ist?

Der Um- und Ausbau der Entwässerungssysteme kann selbstverständlich nicht auf einen Schlag erfolgen. Das Trennsystem wird ­im Gesetz, vor allem in neuen Gewerbe­zonen, deutlich bevorzugt. Bei Wohnsiedlungen ist das Mischsystem die häufigere Variante. An den wenigsten Orten ist jedoch eine Mischwasser­behandlung vorgesehen. Massnahmen an der Quelle, eben in der Siedlungsentwässerung, wären am wirksamsten. Aber weder ist eine Sanierungspflicht vorgesehen noch ist wahrscheinlich, die seit den 1970er-Jahren übliche naturnahe Regenwasserbewirtschaftung im Siedlungsbestand anzupassen. Ich hoffe jedoch darauf, dass bei der Sanierung einer ARA vermehrt das Einzugsgebiet und die Entwässerungsnetze mitbetrachtet werden. Das bezweckt das Fallbeispiel Dünnern auch: Mit einfachen Mitteln konnte das grosse Reduktionspotenzial aufgezeigt werden. Die Steuerung der Abflüsse ­ist beispielsweise eine wirksame Massnahme, um das Entlastungsvolumen ohne zusätzlichen baulichen Mass­nahmen zu verringern.


[Philipp Staufer ist Abteilungsleiter Wasser im Amt für Umwelt, Kanton Solothurn.]

TEC21, Fr., 2016.04.15



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01. April 2016Paul Knüsel
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Trittstein von Stadt zu Land

m Übergang zwischen Siedlung und Landschaft be!nden sich stille Raumreserven, die in vielfältige und naturnahe Erlebnisräume umgestaltet werden können. Ein Beispiel aus Frauenfeld zeigt, wie die Umsetzung mit erheblichem, aber lohnenswertem Aufwand gelingt.

m Übergang zwischen Siedlung und Landschaft be!nden sich stille Raumreserven, die in vielfältige und naturnahe Erlebnisräume umgestaltet werden können. Ein Beispiel aus Frauenfeld zeigt, wie die Umsetzung mit erheblichem, aber lohnenswertem Aufwand gelingt.

Flurnamen verraten, wer oder was die betreffende Stelle für sich beansprucht hat: Ein «Mörderhölzli» gibt es mehrmals in der Ostschweiz; die meisten sind als Tatorte historisch registriert. Bedeutend harmloser klingt das «Räuber-und-Poli-Wäldeli» im Baselbiet; die Ortsangabe erklärt sich trotzdem von selbst. Seine genaue Herkunft lässt dagegen das «Buebewäldli» in Frauenfeld offen. Bekannt ist nur, dass sowohl Soldaten als auch jugendliche BMX-Fahrer das Waldstück entlang der Murg, freiwillig oder auf Befehl, zum Austoben benutzten.

Ein aktueller Besuch vor Ort zeigt, dass die Auswahl möglicher Namenspaten noch grösser geworden ist: Familien, Sportler und Naturliebhaber frequentieren das einstige, beinahe 5 Hektaren grosse Militärgelände mitten im Thurgauer Kantonshauptort. Aber auch Biber oder seltene Vögel und Fische dürfen hier heimisch werden. Verschiedene, auch gegensätzliche Nutzungsansprüche sind neuerdings willkommen; das Uferareal mit Wald und Wiese wird nun «Murgauenpark» genannt.

Vor sechs Jahren hat die Stadt Frauenfeld die Bundesparzelle für wenig Geld, rund 120 000 Franken, erworben. Seit letztem Herbst kommt sie als grosszügiger und lichter Erholungs- und Naturpark daher; nur wenige Gehminuten von Bahnhof und Stadtzentrum entfernt und umgeben von alten und neuen Wohn- und Gewerbequartieren. Der letzte, warme Sommer hat bereits viel Publikum unterschiedlichsten Alters ins ehemalige Buebewäldli gelockt: Jogger und Spaziergänger mit oder ohne Hund haben die Wahl zwischen kleiner und grosser Runde.

Kinder finden freien Zugang zu einem gemütlichen Badeplatz. Ein offener Holzpavillon darf von Gesellschaften für eine ungestörte Feier im Grünen gemietet werden. Derweil starten Wanderer und Naturfreunde hier eine abwechslungsreiche Tour entlang der Murg. Der Fluss quer durch Frauenfeld war an dieser Stelle seit dem 19. Jahrhundert in einen Kanal eingezwängt; inzwischen ist der ursprüngliche Auencharakter teilweise wiederhergestellt.

Stadtpark, Biotop und Landschaftsgarten

Die Umgestaltung beruht auf einem Masterplan von Staufer & Hasler Architekten, der die Ansprüche der Anwohner, der Stadtentwicklung und der Ökologie räumlich und gestalterisch in diesem grünen Stadtpark gleichberechtigt zu behandeln weiss. Das Wegnetz ist verdichtet; elegante Fussgängerbrücken schlängeln sich durch prächtige Altbaumbestände. Trauerweiden, Schwarzpappeln und andere wechselfeucht liebende Baumarten repräsentieren den halb offenen Übergangswald. Einem englischen Landschaftsgarten ähnlich sind auch die weiteren, inszenierten Natureffekte: Ein stillgelegter Kraftwerkskanal ist neu ein langer Ententeich, am Ende ergänzt durch ein Aussichtspodest. Und der unzugängliche Damm ist flachen Ufern mit überflutbaren Mulden und Furten gewichen. Die Natur ist revitalisiert, bleibt aber domestiziert. Doch das Fliessgewässer darf für eine sich ändernde Auendynamik sorgen. Nicht nur der Mensch, auch Fauna und Flora scheinen sich im Murgauenpark zurechtzufinden: Der Eisvogel geht bereits auf Nahrungssuche, und die Nase hat neue Laichplätze gefunden.

So naturnah und zurückhaltend sich die Freizeitanlage inzwischen präsentiert, so erheblich war der zuvor geleistete Umsetzungsaufwand. Der Überflutung musste mit einer unterirdischen Druckleitung nachgeholfen werden. Zudem wurde sehr viel Erdmaterial bewegt und wurden Dutzende Bäume gerodet, sodass sogar öffentlich dagegen protestiert wurde. 2011 war eine Abstimmung fällig: Der Urnengang war nicht unumstritten, wobei die Stadtbevölkerung mit über 60 % der Stimmen Kredit und Gestaltungsplan gutgeheissen hat.

Auftraggeber, Planer und die beteiligte Fachbehörde sind zufrieden, weil das erhoffte Gleichgewicht funktioniert. «Die skeptischen Stimmen sind inzwischen verstummt», bestätigt Fabrizio Hugentobler, Amtsleiter Freizeitanlagen und Sport der Stadt Frauenfeld. Thomas Hasler von Staufer & Hasler Architekten, den Verfassern des Masterplans, bestätigt, dass die Ursprungsidee «eines Parks im Wald, mitten in der Stadt» trotz Abstrichen am Entwurf gelungen ist. Der Bau eines Turms und einer Orangerie ist aus Kostengründen abgesagt worden. Das Gestaltungspotenzial ist nicht ausgereizt; wesentlicher für den Murgauenpark war jedoch, dass «die Zone räumlich und rechtlich verbindlich geschützt ist», so Hasler.

Nicht unerheblicher Aufwand

Dass die zuvor verwilderte Militärparzelle umgewandelt werden konnte, war einer weitsichtigen Planung und nicht zuletzt einer pragmatisch genutzten Konstellation zu verdanken. Ein ehemaliger Kraftwerkskanal trennt den Murgauenpark vom westlichen Wohngebiet. Als dieser aufgrund einer Neukonzessionierung zu renaturieren war, erkannte die Stadtbehörde die Gelegenheit, das gesamte Grundstück zur Grünzone im Siedlungsgebiet aufzuwerten. Der kommunale Richtplan «Natur und Landschaft» sah bereits ein übergeordnetes Grünraumkonzept vor. An der Nutzungsdiskussion beteiligte sich auch die Umweltbehörde des Kantons Thurgau mit dem eigenen Plan, das Fliessgewässer wie im Gewässerschutzgesetz verlangt zu revitalisieren. Das Resultat des Interessenaustauschs war der koordinierte Erholungs-, Freizeit- und Naturpark, der auf einem subventionsberechtigten Auenprojekt beruht. Bund und Kanton steuerten schliesslich fast die Hälfte der Umbau- und Gestaltungskosten bei. Der kantonale Wasserbauexperte Marco Baumann streicht die restituierte Auendynamik als Besonderheit heraus: «Der Fluss darf wieder für Abwechslung sorgen.»

Umgefallene Bäume und Totholz werden nur noch entfernt, wenn sie die Sicherheit der Besucher gefährden. Mit Drahtgitter geschützte Jungbäume weisen zudem darauf hin, dass der Biber nicht alles fressen darf und Neophyten wie die Robinie durch standorttypische Gehölzarten zu ersetzen sind. Umweltnaturwissenschafter Joggi Rieder schätzt aber nicht nur den erhöhten Ökowert, sondern auch die Wirkung des Standorts: «Die offene Aue ist ein Genuss fürs Auge; hier werden Mensch und Natur nicht gegeneinander ausgespielt.»

Der Murgauenpark ist primär dem Menschen zugedacht: Nirgends ist der Zutritt untersagt. Auch Schilder mit Nutzungsregeln sucht man vergebens. Ausser dem üblichen Littering ist bislang nichts Negatives aufgefallen. Gleichzeitig soll er den Nutzungsdruck auf benachbarte, höherwertige Naturräume puffern: Nur wenige hundert Meter flussabwärts liegt das national geschützte Naturreservat «Grosse Allmend»; hier muss der Mensch die eingeschränkte Nutzung respektieren.

Aufwertung der Siedlungsränder

Dass unterschiedliche Ansprüche und Interessen derart stimmig unter einen Hut gebracht werden konnten, macht den Murgauenpark zum beispielhaften, interdisziplinären Projekt.

Ausserordentlich ist ebenfalls, wie eine Waldfläche zum Bindeglied zwischen freier Landschaft und stark genutztem Siedlungsgebiet geworden ist. Insofern ist der Park auch eine vorsorgliche Investition in die weitere Siedlungsentwicklung von Frauenfeld, da die Nachbargebiete noch zu verdichten sind.

Aber nicht nur in Frauenfeld, auch anderswo ist das Bewusstsein gestiegen, dass der Siedlungsrand vermehrt als Erlebnisraum aufzuwerten ist, wenn die Siedlungsentwicklung nach innen qualitativ hochwertig vorangetrieben werden soll. In unmittelbarer Nähe zu verdichteten Wohnquartieren könnte hier, stärker als bisher, das spontane Naherholungsbedürfnis befriedigt werden. Zwar soll die räumliche Grenze zwischen Wohnquartier, Kulturland und Wald unangetastet bleiben; aber funktional und konzeptionell kann sie als urbaner Freiraum verstanden werden. Diesen Trend nehmen grossräumliche Entwicklungskonzepte bereits auf: Der Siedlungsrand wird zum Multifunktionsraum, der den zahlreichen Aufenthalts- und Bewegungsbedürfnissen der Bewohner gerecht und dazu gestalterisch angepasst werden soll.[1] Ebenso vernetzt er als Trittstein die besiedelte Agglomeration mit der offenen oder bewaldeten Landschaft. Richtet sich der Fokus in der Siedlungsentwicklung aber vermehrt auf die Landschaft, darf Letztere nicht vereinnahmt werden, weil sonst qualitative Einbussen drohen.

Den Planungsbedarf am Siedlungsrand hat beispielweise die Agglomerationsregion St. Gallen–Bodensee erkannt: «Landschaft für eine Stunde» heisst eine bereits veröffentlichte Modell- und Teststudie, die zur Aufwertung und Gestaltung von Übergangsräumen animieren will.2 Überregionale Planungen zeigen unter anderem informelle Aufwertungsansätze für attraktivere Naherholungsgebiete am Siedlungsrand auf.

Das Auf lichten von Wäldern, die Verbesserung der Zugänge oder die Vernetzung von Grünachsen entlang von Strassen oder Flüssen gehören zum beschriebenen Gestaltungsrepertoire, das als Leitfaden für weitere Siedlungsstandorte und Landschaftsräume übertragbar ist.

Ergänzend wird eine Potenzialanalyse für die siedlungsinterne Grünraumaufwertung durchgeführt;3 Ergebnisse sind im Lauf dieses Jahres zu erwarten.

Überraschend an beiden Konzeptstudien im sanktgallisch-thurgauischen Agglomerationsraum ist jedoch: Die Ideen und Anregungen ergeben sich aus einem partizipativen Verfahren. Anders als im Murgauenpark, der aus der Zusammenarbeit von Fachspezialisten entstand, kommen potenzielle Nutzer, Grundeigentümer und Anwohner aus sieben beteiligten Gemeinden, Städten und Quartieren zu Wort. In Workshops und Standaktionen wurden die Wünsche von Passanten und Interessenvertretern entgegengenommen. Ein solches Verfahren hat den Vorzug, dass «einseitig ausgerichtete Freiraumkonzepte geringe Chancen haben und zugunsten des Interessenausgleichs zurückzustellen sind», erklärt Michael Güller, federführender Planer und Mitinhaber von Güller Güller architecture urbanism in Zürich. Charakteristisch an den formulierten Ansprüchen sei, dass Vielfalt und Zahl der landschaftsplanerischen und -architektonischen Inputs eher gering ausgefallen sind. Die häufigsten Verbesserungen werden sowieso im Bereich der Zugänglichkeiten erwartet.

Die Beteiligung wertet Güller dennoch als Erfolg: «Denn dadurch kann das Interesse in der Bevölkerung für Freiräume mit besserer Nutzbarkeit und höheren Qualitäten auf jeden Fall geweckt werden.» Ob dereinst der Begriff «Partizipationswald» Eingang in das Register der Flurnamen finden wird?Flurnamen verraten, wer oder was die betreffende Stelle für sich beansprucht hat: Ein «Mörderhölzli» gibt es mehrmals in der Ostschweiz; die meisten sind als Tatorte historisch registriert. Bedeutend harmloser klingt das «Räuber-und-Poli-Wäldeli» im Baselbiet; die Ortsangabe erklärt sich trotzdem von selbst. Seine genaue Herkunft lässt dagegen das «Buebewäldli» in Frauenfeld offen. Bekannt ist nur, dass sowohl Soldaten als auch jugendliche BMX-Fahrer das Waldstück entlang der Murg, freiwillig oder auf Befehl, zum Austoben benutzten.

Ein aktueller Besuch vor Ort zeigt, dass die Auswahl möglicher Namenspaten noch grösser geworden ist: Familien, Sportler und Naturliebhaber frequentieren das einstige, beinahe 5 Hektaren grosse Militärgelände mitten im Thurgauer Kantonshauptort. Aber auch Biber oder seltene Vögel und Fische dürfen hier heimisch werden. Verschiedene, auch gegensätzliche Nutzungsansprüche sind neuerdings willkommen; das Uferareal mit Wald und Wiese wird nun «Murgauenpark» genannt.

Vor sechs Jahren hat die Stadt Frauenfeld die Bundesparzelle für wenig Geld, rund 120 000 Franken, erworben. Seit letztem Herbst kommt sie als grosszügiger und lichter Erholungs- und Naturpark daher; nur wenige Gehminuten von Bahnhof und Stadtzentrum entfernt und umgeben von alten und neuen Wohn- und Gewerbequartieren. Der letzte, warme Sommer hat bereits viel Publikum unterschiedlichsten Alters ins ehemalige Buebewäldli gelockt: Jogger und Spaziergänger mit oder ohne Hund haben die Wahl zwischen kleiner und grosser Runde.

Kinder finden freien Zugang zu einem gemütlichen Badeplatz. Ein offener Holzpavillon darf von Gesellschaften für eine ungestörte Feier im Grünen gemietet werden. Derweil starten Wanderer und Naturfreunde hier eine abwechslungsreiche Tour entlang der Murg. Der Fluss quer durch Frauenfeld war an dieser Stelle seit dem 19. Jahrhundert in einen Kanal eingezwängt; inzwischen ist der ursprüngliche Auencharakter teilweise wiederhergestellt.

Stadtpark, Biotop und Landschaftsgarten

Die Umgestaltung beruht auf einem Masterplan von Staufer & Hasler Architekten, der die Ansprüche der Anwohner, der Stadtentwicklung und der Ökologie räumlich und gestalterisch in diesem grünen Stadtpark gleichberechtigt zu behandeln weiss. Das Wegnetz ist verdichtet; elegante Fussgängerbrücken schlängeln sich durch prächtige Altbaumbestände. Trauerweiden, Schwarzpappeln und andere wechselfeucht liebende Baumarten repräsentieren den halb offenen Übergangswald. Einem englischen Landschaftsgarten ähnlich sind auch die weiteren, inszenierten Natureffekte: Ein stillgelegter Kraftwerkskanal ist neu ein langer Ententeich, am Ende ergänzt durch ein Aussichtspodest. Und der unzugängliche Damm ist flachen Ufern mit überflutbaren Mulden und Furten gewichen. Die Natur ist revitalisiert, bleibt aber domestiziert. Doch das Fliessgewässer darf für eine sich ändernde Auendynamik sorgen. Nicht nur der Mensch, auch Fauna und Flora scheinen sich im Murgauenpark zurechtzufinden: Der Eisvogel geht bereits auf Nahrungssuche, und die Nase hat neue Laichplätze gefunden.

So naturnah und zurückhaltend sich die Freizeitanlage inzwischen präsentiert, so erheblich war der zuvor geleistete Umsetzungsaufwand. Der Überflutung musste mit einer unterirdischen Druckleitung nachgeholfen werden. Zudem wurde sehr viel Erdmaterial bewegt und wurden Dutzende Bäume gerodet, sodass sogar öffentlich dagegen protestiert wurde. 2011 war eine Abstimmung fällig: Der Urnengang war nicht unumstritten, wobei die Stadtbevölkerung mit über 60 % der Stimmen Kredit und Gestaltungsplan gutgeheissen hat.

Auftraggeber, Planer und die beteiligte Fachbehörde sind zufrieden, weil das erhoffte Gleichgewicht funktioniert. «Die skeptischen Stimmen sind inzwischen verstummt», bestätigt Fabrizio Hugentobler, Amtsleiter Freizeitanlagen und Sport der Stadt Frauenfeld. Thomas Hasler von Staufer & Hasler Architekten, den Verfassern des Masterplans, bestätigt, dass die Ursprungsidee «eines Parks im Wald, mitten in der Stadt» trotz Abstrichen am Entwurf gelungen ist. Der Bau eines Turms und einer Orangerie ist aus Kostengründen abgesagt worden. Das Gestaltungspotenzial ist nicht ausgereizt; wesentlicher für den Murgauenpark war jedoch, dass «die Zone räumlich und rechtlich verbindlich geschützt ist», so Hasler.

Nicht unerheblicher Aufwand

Dass die zuvor verwilderte Militärparzelle umgewandelt werden konnte, war einer weitsichtigen Planung und nicht zuletzt einer pragmatisch genutzten Konstellation zu verdanken. Ein ehemaliger Kraftwerkskanal trennt den Murgauenpark vom westlichen Wohngebiet. Als dieser aufgrund einer Neukonzessionierung zu renaturieren war, erkannte die Stadtbehörde die Gelegenheit, das gesamte Grundstück zur Grünzone im Siedlungsgebiet aufzuwerten. Der kommunale Richtplan «Natur und Landschaft» sah bereits ein übergeordnetes Grünraumkonzept vor. An der Nutzungsdiskussion beteiligte sich auch die Umweltbehörde des Kantons Thurgau mit dem eigenen Plan, das Fliessgewässer wie im Gewässerschutzgesetz verlangt zu revitalisieren. Das Resultat des Interessenaustauschs war der koordinierte Erholungs-, Freizeit- und Naturpark, der auf einem subventionsberechtigten Auenprojekt beruht. Bund und Kanton steuerten schliesslich fast die Hälfte der Umbau- und Gestaltungskosten bei. Der kantonale Wasserbauexperte Marco Baumann streicht die restituierte Auendynamik als Besonderheit heraus: «Der Fluss darf wieder für Abwechslung sorgen.»

Umgefallene Bäume und Totholz werden nur noch entfernt, wenn sie die Sicherheit der Besucher gefährden. Mit Drahtgitter geschützte Jungbäume weisen zudem darauf hin, dass der Biber nicht alles fressen darf und Neophyten wie die Robinie durch standorttypische Gehölzarten zu ersetzen sind. Umweltnaturwissenschafter Joggi Rieder schätzt aber nicht nur den erhöhten Ökowert, sondern auch die Wirkung des Standorts: «Die offene Aue ist ein Genuss fürs Auge; hier werden Mensch und Natur nicht gegeneinander ausgespielt.»

Der Murgauenpark ist primär dem Menschen zugedacht: Nirgends ist der Zutritt untersagt. Auch Schilder mit Nutzungsregeln sucht man vergebens. Ausser dem üblichen Littering ist bislang nichts Negatives aufgefallen. Gleichzeitig soll er den Nutzungsdruck auf benachbarte, höherwertige Naturräume puffern: Nur wenige hundert Meter flussabwärts liegt das national geschützte Naturreservat «Grosse Allmend»; hier muss der Mensch die eingeschränkte Nutzung respektieren.

Aufwertung der Siedlungsränder

Dass unterschiedliche Ansprüche und Interessen derart stimmig unter einen Hut gebracht werden konnten, macht den Murgauenpark zum beispielhaften, interdisziplinären Projekt.

Ausserordentlich ist ebenfalls, wie eine Waldfläche zum Bindeglied zwischen freier Landschaft und stark genutztem Siedlungsgebiet geworden ist. Insofern ist der Park auch eine vorsorgliche Investition in die weitere Siedlungsentwicklung von Frauenfeld, da die Nachbargebiete noch zu verdichten sind.

Aber nicht nur in Frauenfeld, auch anderswo ist das Bewusstsein gestiegen, dass der Siedlungsrand vermehrt als Erlebnisraum aufzuwerten ist, wenn die Siedlungsentwicklung nach innen qualitativ hochwertig vorangetrieben werden soll. In unmittelbarer Nähe zu verdichteten Wohnquartieren könnte hier, stärker als bisher, das spontane Naherholungsbedürfnis befriedigt werden. Zwar soll die räumliche Grenze zwischen Wohnquartier, Kulturland und Wald unangetastet bleiben; aber funktional und konzeptionell kann sie als urbaner Freiraum verstanden werden. Diesen Trend nehmen grossräumliche Entwicklungskonzepte bereits auf: Der Siedlungsrand wird zum Multifunktionsraum, der den zahlreichen Aufenthalts- und Bewegungsbedürfnissen der Bewohner gerecht und dazu gestalterisch angepasst werden soll.1 Ebenso vernetzt er als Trittstein die besiedelte Agglomeration mit der offenen oder bewaldeten Landschaft. Richtet sich der Fokus in der Siedlungsentwicklung aber vermehrt auf die Landschaft, darf Letztere nicht vereinnahmt werden, weil sonst qualitative Einbussen drohen.

Den Planungsbedarf am Siedlungsrand hat beispielweise die Agglomerationsregion St. Gallen–Bodensee erkannt: «Landschaft für eine Stunde» heisst eine bereits veröffentlichte Modell- und Teststudie, die zur Aufwertung und Gestaltung von Übergangsräumen animieren will.2 Überregionale Planungen zeigen unter anderem informelle Aufwertungsansätze für attraktivere Naherholungsgebiete am Siedlungsrand auf.

Das Auf lichten von Wäldern, die Verbesserung der Zugänge oder die Vernetzung von Grünachsen entlang von Strassen oder Flüssen gehören zum beschriebenen Gestaltungsrepertoire, das als Leitfaden für weitere Siedlungsstandorte und Landschaftsräume übertragbar ist.

Ergänzend wird eine Potenzialanalyse für die siedlungsinterne Grünraumaufwertung durchgeführt;3 Ergebnisse sind im Lauf dieses Jahres zu erwarten.

Überraschend an beiden Konzeptstudien im sanktgallisch-thurgauischen Agglomerationsraum ist jedoch: Die Ideen und Anregungen ergeben sich aus einem partizipativen Verfahren. Anders als im Murgauenpark, der aus der Zusammenarbeit von Fachspezialisten entstand, kommen potenzielle Nutzer, Grundeigentümer und Anwohner aus sieben beteiligten Gemeinden, Städten und Quartieren zu Wort. In Workshops und Standaktionen wurden die Wünsche von Passanten und Interessenvertretern entgegengenommen. Ein solches Verfahren hat den Vorzug, dass «einseitig ausgerichtete Freiraumkonzepte geringe Chancen haben und zugunsten des Interessenausgleichs zurückzustellen sind», erklärt Michael Güller, federführender Planer und Mitinhaber von Güller Güller architecture urbanism in Zürich. Charakteristisch an den formulierten Ansprüchen sei, dass Vielfalt und Zahl der landschaftsplanerischen und -architektonischen Inputs eher gering ausgefallen sind. Die häufigsten Verbesserungen werden sowieso im Bereich der Zugänglichkeiten erwartet.

Die Beteiligung wertet Güller dennoch als Erfolg: «Denn dadurch kann das Interesse in der Bevölkerung für Freiräume mit besserer Nutzbarkeit und höheren Qualitäten auf jeden Fall geweckt werden.» Ob dereinst der Begriff «Partizipationswald» Eingang in das Register der Flurnamen finden wird?Flurnamen verraten, wer oder was die betreffende Stelle für sich beansprucht hat: Ein «Mörderhölzli» gibt es mehrmals in der Ostschweiz; die meisten sind als Tatorte historisch registriert. Bedeutend harmloser klingt das «Räuber-und-Poli-Wäldeli» im Baselbiet; die Ortsangabe erklärt sich trotzdem von selbst. Seine genaue Herkunft lässt dagegen das «Buebewäldli» in Frauenfeld offen. Bekannt ist nur, dass sowohl Soldaten als auch jugendliche BMX-Fahrer das Waldstück entlang der Murg, freiwillig oder auf Befehl, zum Austoben benutzten.

Ein aktueller Besuch vor Ort zeigt, dass die Auswahl möglicher Namenspaten noch grösser geworden ist: Familien, Sportler und Naturliebhaber frequentieren das einstige, beinahe 5 Hektaren grosse Militärgelände mitten im Thurgauer Kantonshauptort. Aber auch Biber oder seltene Vögel und Fische dürfen hier heimisch werden. Verschiedene, auch gegensätzliche Nutzungsansprüche sind neuerdings willkommen; das Uferareal mit Wald und Wiese wird nun «Murgauenpark» genannt.

Vor sechs Jahren hat die Stadt Frauenfeld die Bundesparzelle für wenig Geld, rund 120 000 Franken, erworben. Seit letztem Herbst kommt sie als grosszügiger und lichter Erholungs- und Naturpark daher; nur wenige Gehminuten von Bahnhof und Stadtzentrum entfernt und umgeben von alten und neuen Wohn- und Gewerbequartieren. Der letzte, warme Sommer hat bereits viel Publikum unterschiedlichsten Alters ins ehemalige Buebewäldli gelockt: Jogger und Spaziergänger mit oder ohne Hund haben die Wahl zwischen kleiner und grosser Runde.

Kinder finden freien Zugang zu einem gemütlichen Badeplatz. Ein offener Holzpavillon darf von Gesellschaften für eine ungestörte Feier im Grünen gemietet werden. Derweil starten Wanderer und Naturfreunde hier eine abwechslungsreiche Tour entlang der Murg. Der Fluss quer durch Frauenfeld war an dieser Stelle seit dem 19. Jahrhundert in einen Kanal eingezwängt; inzwischen ist der ursprüngliche Auencharakter teilweise wiederhergestellt.

Stadtpark, Biotop und Landschaftsgarten

Die Umgestaltung beruht auf einem Masterplan von Staufer & Hasler Architekten, der die Ansprüche der Anwohner, der Stadtentwicklung und der Ökologie räumlich und gestalterisch in diesem grünen Stadtpark gleichberechtigt zu behandeln weiss. Das Wegnetz ist verdichtet; elegante Fussgängerbrücken schlängeln sich durch prächtige Altbaumbestände. Trauerweiden, Schwarzpappeln und andere wechselfeucht liebende Baumarten repräsentieren den halb offenen Übergangswald. Einem englischen Landschaftsgarten ähnlich sind auch die weiteren, inszenierten Natureffekte: Ein stillgelegter Kraftwerkskanal ist neu ein langer Ententeich, am Ende ergänzt durch ein Aussichtspodest. Und der unzugängliche Damm ist flachen Ufern mit überflutbaren Mulden und Furten gewichen. Die Natur ist revitalisiert, bleibt aber domestiziert. Doch das Fliessgewässer darf für eine sich ändernde Auendynamik sorgen. Nicht nur der Mensch, auch Fauna und Flora scheinen sich im Murgauenpark zurechtzufinden: Der Eisvogel geht bereits auf Nahrungssuche, und die Nase hat neue Laichplätze gefunden.

So naturnah und zurückhaltend sich die Freizeitanlage inzwischen präsentiert, so erheblich war der zuvor geleistete Umsetzungsaufwand. Der Überflutung musste mit einer unterirdischen Druckleitung nachgeholfen werden. Zudem wurde sehr viel Erdmaterial bewegt und wurden Dutzende Bäume gerodet, sodass sogar öffentlich dagegen protestiert wurde. 2011 war eine Abstimmung fällig: Der Urnengang war nicht unumstritten, wobei die Stadtbevölkerung mit über 60 % der Stimmen Kredit und Gestaltungsplan gutgeheissen hat.

Auftraggeber, Planer und die beteiligte Fachbehörde sind zufrieden, weil das erhoffte Gleichgewicht funktioniert. «Die skeptischen Stimmen sind inzwischen verstummt», bestätigt Fabrizio Hugentobler, Amtsleiter Freizeitanlagen und Sport der Stadt Frauenfeld. Thomas Hasler von Staufer & Hasler Architekten, den Verfassern des Masterplans, bestätigt, dass die Ursprungsidee «eines Parks im Wald, mitten in der Stadt» trotz Abstrichen am Entwurf gelungen ist. Der Bau eines Turms und einer Orangerie ist aus Kostengründen abgesagt worden. Das Gestaltungspotenzial ist nicht ausgereizt; wesentlicher für den Murgauenpark war jedoch, dass «die Zone räumlich und rechtlich verbindlich geschützt ist», so Hasler.

Nicht unerheblicher Aufwand

Dass die zuvor verwilderte Militärparzelle umgewandelt werden konnte, war einer weitsichtigen Planung und nicht zuletzt einer pragmatisch genutzten Konstellation zu verdanken. Ein ehemaliger Kraftwerkskanal trennt den Murgauenpark vom westlichen Wohngebiet. Als dieser aufgrund einer Neukonzessionierung zu renaturieren war, erkannte die Stadtbehörde die Gelegenheit, das gesamte Grundstück zur Grünzone im Siedlungsgebiet aufzuwerten. Der kommunale Richtplan «Natur und Landschaft» sah bereits ein übergeordnetes Grünraumkonzept vor. An der Nutzungsdiskussion beteiligte sich auch die Umweltbehörde des Kantons Thurgau mit dem eigenen Plan, das Fliessgewässer wie im Gewässerschutzgesetz verlangt zu revitalisieren. Das Resultat des Interessenaustauschs war der koordinierte Erholungs-, Freizeit- und Naturpark, der auf einem subventionsberechtigten Auenprojekt beruht. Bund und Kanton steuerten schliesslich fast die Hälfte der Umbau- und Gestaltungskosten bei. Der kantonale Wasserbauexperte Marco Baumann streicht die restituierte Auendynamik als Besonderheit heraus: «Der Fluss darf wieder für Abwechslung sorgen.»

Umgefallene Bäume und Totholz werden nur noch entfernt, wenn sie die Sicherheit der Besucher gefährden. Mit Drahtgitter geschützte Jungbäume weisen zudem darauf hin, dass der Biber nicht alles fressen darf und Neophyten wie die Robinie durch standorttypische Gehölzarten zu ersetzen sind. Umweltnaturwissenschafter Joggi Rieder schätzt aber nicht nur den erhöhten Ökowert, sondern auch die Wirkung des Standorts: «Die offene Aue ist ein Genuss fürs Auge; hier werden Mensch und Natur nicht gegeneinander ausgespielt.»

Der Murgauenpark ist primär dem Menschen zugedacht: Nirgends ist der Zutritt untersagt. Auch Schilder mit Nutzungsregeln sucht man vergebens. Ausser dem üblichen Littering ist bislang nichts Negatives aufgefallen. Gleichzeitig soll er den Nutzungsdruck auf benachbarte, höherwertige Naturräume puffern: Nur wenige hundert Meter flussabwärts liegt das national geschützte Naturreservat «Grosse Allmend»; hier muss der Mensch die eingeschränkte Nutzung respektieren.

Aufwertung der Siedlungsränder

Dass unterschiedliche Ansprüche und Interessen derart stimmig unter einen Hut gebracht werden konnten, macht den Murgauenpark zum beispielhaften, interdisziplinären Projekt.

Ausserordentlich ist ebenfalls, wie eine Waldfläche zum Bindeglied zwischen freier Landschaft und stark genutztem Siedlungsgebiet geworden ist. Insofern ist der Park auch eine vorsorgliche Investition in die weitere Siedlungsentwicklung von Frauenfeld, da die Nachbargebiete noch zu verdichten sind.

Aber nicht nur in Frauenfeld, auch anderswo ist das Bewusstsein gestiegen, dass der Siedlungsrand vermehrt als Erlebnisraum aufzuwerten ist, wenn die Siedlungsentwicklung nach innen qualitativ hochwertig vorangetrieben werden soll. In unmittelbarer Nähe zu verdichteten Wohnquartieren könnte hier, stärker als bisher, das spontane Naherholungsbedürfnis befriedigt werden. Zwar soll die räumliche Grenze zwischen Wohnquartier, Kulturland und Wald unangetastet bleiben; aber funktional und konzeptionell kann sie als urbaner Freiraum verstanden werden. Diesen Trend nehmen grossräumliche Entwicklungskonzepte bereits auf: Der Siedlungsrand wird zum Multifunktionsraum, der den zahlreichen Aufenthalts- und Bewegungsbedürfnissen der Bewohner gerecht und dazu gestalterisch angepasst werden soll.1 Ebenso vernetzt er als Trittstein die besiedelte Agglomeration mit der offenen oder bewaldeten Landschaft. Richtet sich der Fokus in der Siedlungsentwicklung aber vermehrt auf die Landschaft, darf Letztere nicht vereinnahmt werden, weil sonst qualitative Einbussen drohen.

Den Planungsbedarf am Siedlungsrand hat beispielweise die Agglomerationsregion St. Gallen–Bodensee erkannt: «Landschaft für eine Stunde» heisst eine bereits veröffentlichte Modell- und Teststudie, die zur Aufwertung und Gestaltung von Übergangsräumen animieren will.2 Überregionale Planungen zeigen unter anderem informelle Aufwertungsansätze für attraktivere Naherholungsgebiete am Siedlungsrand auf.

Das Auf lichten von Wäldern, die Verbesserung der Zugänge oder die Vernetzung von Grünachsen entlang von Strassen oder Flüssen gehören zum beschriebenen Gestaltungsrepertoire, das als Leitfaden für weitere Siedlungsstandorte und Landschaftsräume übertragbar ist.

Ergänzend wird eine Potenzialanalyse für die siedlungsinterne Grünraumaufwertung durchgeführt;3 Ergebnisse sind im Lauf dieses Jahres zu erwarten.

Überraschend an beiden Konzeptstudien im sanktgallisch-thurgauischen Agglomerationsraum ist jedoch: Die Ideen und Anregungen ergeben sich aus einem partizipativen Verfahren. Anders als im Murgauenpark, der aus der Zusammenarbeit von Fachspezialisten entstand, kommen potenzielle Nutzer, Grundeigentümer und Anwohner aus sieben beteiligten Gemeinden, Städten und Quartieren zu Wort. In Workshops und Standaktionen wurden die Wünsche von Passanten und Interessenvertretern entgegengenommen. Ein solches Verfahren hat den Vorzug, dass «einseitig ausgerichtete Freiraumkonzepte geringe Chancen haben und zugunsten des Interessenausgleichs zurückzustellen sind», erklärt Michael Güller, federführender Planer und Mitinhaber von Güller Güller architecture urbanism in Zürich. Charakteristisch an den formulierten Ansprüchen sei, dass Vielfalt und Zahl der landschaftsplanerischen und -architektonischen Inputs eher gering ausgefallen sind. Die häufigsten Verbesserungen werden sowieso im Bereich der Zugänglichkeiten erwartet.

Die Beteiligung wertet Güller dennoch als Erfolg: «Denn dadurch kann das Interesse in der Bevölkerung für Freiräume mit besserer Nutzbarkeit und höheren Qualitäten auf jeden Fall geweckt werden.» Ob dereinst der Begriff «Partizipationswald» Eingang in das Register der Flurnamen finden wird?Flurnamen verraten, wer oder was die betreffende Stelle für sich beansprucht hat: Ein «Mörderhölzli» gibt es mehrmals in der Ostschweiz; die meisten sind als Tatorte historisch registriert. Bedeutend harmloser klingt das «Räuber-und-Poli-Wäldeli» im Baselbiet; die Ortsangabe erklärt sich trotzdem von selbst. Seine genaue Herkunft lässt dagegen das «Buebewäldli» in Frauenfeld offen. Bekannt ist nur, dass sowohl Soldaten als auch jugendliche BMX-Fahrer das Waldstück entlang der Murg, freiwillig oder auf Befehl, zum Austoben benutzten.

Ein aktueller Besuch vor Ort zeigt, dass die Auswahl möglicher Namenspaten noch grösser geworden ist: Familien, Sportler und Naturliebhaber frequentieren das einstige, beinahe 5 Hektaren grosse Militärgelände mitten im Thurgauer Kantonshauptort. Aber auch Biber oder seltene Vögel und Fische dürfen hier heimisch werden. Verschiedene, auch gegensätzliche Nutzungsansprüche sind neuerdings willkommen; das Uferareal mit Wald und Wiese wird nun «Murgauenpark» genannt.

Vor sechs Jahren hat die Stadt Frauenfeld die Bundesparzelle für wenig Geld, rund 120 000 Franken, erworben. Seit letztem Herbst kommt sie als grosszügiger und lichter Erholungs- und Naturpark daher; nur wenige Gehminuten von Bahnhof und Stadtzentrum entfernt und umgeben von alten und neuen Wohn- und Gewerbequartieren. Der letzte, warme Sommer hat bereits viel Publikum unterschiedlichsten Alters ins ehemalige Buebewäldli gelockt: Jogger und Spaziergänger mit oder ohne Hund haben die Wahl zwischen kleiner und grosser Runde.

Kinder finden freien Zugang zu einem gemütlichen Badeplatz. Ein offener Holzpavillon darf von Gesellschaften für eine ungestörte Feier im Grünen gemietet werden. Derweil starten Wanderer und Naturfreunde hier eine abwechslungsreiche Tour entlang der Murg. Der Fluss quer durch Frauenfeld war an dieser Stelle seit dem 19. Jahrhundert in einen Kanal eingezwängt; inzwischen ist der ursprüngliche Auencharakter teilweise wiederhergestellt.

Stadtpark, Biotop und Landschaftsgarten

Die Umgestaltung beruht auf einem Masterplan von Staufer & Hasler Architekten, der die Ansprüche der Anwohner, der Stadtentwicklung und der Ökologie räumlich und gestalterisch in diesem grünen Stadtpark gleichberechtigt zu behandeln weiss. Das Wegnetz ist verdichtet; elegante Fussgängerbrücken schlängeln sich durch prächtige Altbaumbestände. Trauerweiden, Schwarzpappeln und andere wechselfeucht liebende Baumarten repräsentieren den halb offenen Übergangswald. Einem englischen Landschaftsgarten ähnlich sind auch die weiteren, inszenierten Natureffekte: Ein stillgelegter Kraftwerkskanal ist neu ein langer Ententeich, am Ende ergänzt durch ein Aussichtspodest. Und der unzugängliche Damm ist flachen Ufern mit überflutbaren Mulden und Furten gewichen. Die Natur ist revitalisiert, bleibt aber domestiziert. Doch das Fliessgewässer darf für eine sich ändernde Auendynamik sorgen. Nicht nur der Mensch, auch Fauna und Flora scheinen sich im Murgauenpark zurechtzufinden: Der Eisvogel geht bereits auf Nahrungssuche, und die Nase hat neue Laichplätze gefunden.

So naturnah und zurückhaltend sich die Freizeitanlage inzwischen präsentiert, so erheblich war der zuvor geleistete Umsetzungsaufwand. Der Überflutung musste mit einer unterirdischen Druckleitung nachgeholfen werden. Zudem wurde sehr viel Erdmaterial bewegt und wurden Dutzende Bäume gerodet, sodass sogar öffentlich dagegen protestiert wurde. 2011 war eine Abstimmung fällig: Der Urnengang war nicht unumstritten, wobei die Stadtbevölkerung mit über 60 % der Stimmen Kredit und Gestaltungsplan gutgeheissen hat.

Auftraggeber, Planer und die beteiligte Fachbehörde sind zufrieden, weil das erhoffte Gleichgewicht funktioniert. «Die skeptischen Stimmen sind inzwischen verstummt», bestätigt Fabrizio Hugentobler, Amtsleiter Freizeitanlagen und Sport der Stadt Frauenfeld. Thomas Hasler von Staufer & Hasler Architekten, den Verfassern des Masterplans, bestätigt, dass die Ursprungsidee «eines Parks im Wald, mitten in der Stadt» trotz Abstrichen am Entwurf gelungen ist. Der Bau eines Turms und einer Orangerie ist aus Kostengründen abgesagt worden. Das Gestaltungspotenzial ist nicht ausgereizt; wesentlicher für den Murgauenpark war jedoch, dass «die Zone räumlich und rechtlich verbindlich geschützt ist», so Hasler.

Nicht unerheblicher Aufwand

Dass die zuvor verwilderte Militärparzelle umgewandelt werden konnte, war einer weitsichtigen Planung und nicht zuletzt einer pragmatisch genutzten Konstellation zu verdanken. Ein ehemaliger Kraftwerkskanal trennt den Murgauenpark vom westlichen Wohngebiet. Als dieser aufgrund einer Neukonzessionierung zu renaturieren war, erkannte die Stadtbehörde die Gelegenheit, das gesamte Grundstück zur Grünzone im Siedlungsgebiet aufzuwerten. Der kommunale Richtplan «Natur und Landschaft» sah bereits ein übergeordnetes Grünraumkonzept vor. An der Nutzungsdiskussion beteiligte sich auch die Umweltbehörde des Kantons Thurgau mit dem eigenen Plan, das Fliessgewässer wie im Gewässerschutzgesetz verlangt zu revitalisieren. Das Resultat des Interessenaustauschs war der koordinierte Erholungs-, Freizeit- und Naturpark, der auf einem subventionsberechtigten Auenprojekt beruht. Bund und Kanton steuerten schliesslich fast die Hälfte der Umbau- und Gestaltungskosten bei. Der kantonale Wasserbauexperte Marco Baumann streicht die restituierte Auendynamik als Besonderheit heraus: «Der Fluss darf wieder für Abwechslung sorgen.»

Umgefallene Bäume und Totholz werden nur noch entfernt, wenn sie die Sicherheit der Besucher gefährden. Mit Drahtgitter geschützte Jungbäume weisen zudem darauf hin, dass der Biber nicht alles fressen darf und Neophyten wie die Robinie durch standorttypische Gehölzarten zu ersetzen sind. Umweltnaturwissenschafter Joggi Rieder schätzt aber nicht nur den erhöhten Ökowert, sondern auch die Wirkung des Standorts: «Die offene Aue ist ein Genuss fürs Auge; hier werden Mensch und Natur nicht gegeneinander ausgespielt.»

Der Murgauenpark ist primär dem Menschen zugedacht: Nirgends ist der Zutritt untersagt. Auch Schilder mit Nutzungsregeln sucht man vergebens. Ausser dem üblichen Littering ist bislang nichts Negatives aufgefallen. Gleichzeitig soll er den Nutzungsdruck auf benachbarte, höherwertige Naturräume puffern: Nur wenige hundert Meter flussabwärts liegt das national geschützte Naturreservat «Grosse Allmend»; hier muss der Mensch die eingeschränkte Nutzung respektieren.

Aufwertung der Siedlungsränder

Dass unterschiedliche Ansprüche und Interessen derart stimmig unter einen Hut gebracht werden konnten, macht den Murgauenpark zum beispielhaften, interdisziplinären Projekt.

Ausserordentlich ist ebenfalls, wie eine Waldfläche zum Bindeglied zwischen freier Landschaft und stark genutztem Siedlungsgebiet geworden ist. Insofern ist der Park auch eine vorsorgliche Investition in die weitere Siedlungsentwicklung von Frauenfeld, da die Nachbargebiete noch zu verdichten sind.

Aber nicht nur in Frauenfeld, auch anderswo ist das Bewusstsein gestiegen, dass der Siedlungsrand vermehrt als Erlebnisraum aufzuwerten ist, wenn die Siedlungsentwicklung nach innen qualitativ hochwertig vorangetrieben werden soll. In unmittelbarer Nähe zu verdichteten Wohnquartieren könnte hier, stärker als bisher, das spontane Naherholungsbedürfnis befriedigt werden. Zwar soll die räumliche Grenze zwischen Wohnquartier, Kulturland und Wald unangetastet bleiben; aber funktional und konzeptionell kann sie als urbaner Freiraum verstanden werden. Diesen Trend nehmen grossräumliche Entwicklungskonzepte bereits auf: Der Siedlungsrand wird zum Multifunktionsraum, der den zahlreichen Aufenthalts- und Bewegungsbedürfnissen der Bewohner gerecht und dazu gestalterisch angepasst werden soll.1 Ebenso vernetzt er als Trittstein die besiedelte Agglomeration mit der offenen oder bewaldeten Landschaft. Richtet sich der Fokus in der Siedlungsentwicklung aber vermehrt auf die Landschaft, darf Letztere nicht vereinnahmt werden, weil sonst qualitative Einbussen drohen.

Den Planungsbedarf am Siedlungsrand hat beispielweise die Agglomerationsregion St. Gallen–Bodensee erkannt: «Landschaft für eine Stunde» heisst eine bereits veröffentlichte Modell- und Teststudie, die zur Aufwertung und Gestaltung von Übergangsräumen animieren will.[2] Überregionale Planungen zeigen unter anderem informelle Aufwertungsansätze für attraktivere Naherholungsgebiete am Siedlungsrand auf.

Das Auf lichten von Wäldern, die Verbesserung der Zugänge oder die Vernetzung von Grünachsen entlang von Strassen oder Flüssen gehören zum beschriebenen Gestaltungsrepertoire, das als Leitfaden für weitere Siedlungsstandorte und Landschaftsräume übertragbar ist.

Ergänzend wird eine Potenzialanalyse für die siedlungsinterne Grünraumaufwertung durchgeführt;[3] Ergebnisse sind im Lauf dieses Jahres zu erwarten.

Überraschend an beiden Konzeptstudien im sanktgallisch-thurgauischen Agglomerationsraum ist jedoch: Die Ideen und Anregungen ergeben sich aus einem partizipativen Verfahren. Anders als im Murgauenpark, der aus der Zusammenarbeit von Fachspezialisten entstand, kommen potenzielle Nutzer, Grundeigentümer und Anwohner aus sieben beteiligten Gemeinden, Städten und Quartieren zu Wort. In Workshops und Standaktionen wurden die Wünsche von Passanten und Interessenvertretern entgegengenommen. Ein solches Verfahren hat den Vorzug, dass «einseitig ausgerichtete Freiraumkonzepte geringe Chancen haben und zugunsten des Interessenausgleichs zurückzustellen sind», erklärt Michael Güller, federführender Planer und Mitinhaber von Güller Güller architecture urbanism in Zürich. Charakteristisch an den formulierten Ansprüchen sei, dass Vielfalt und Zahl der landschaftsplanerischen und -architektonischen Inputs eher gering ausgefallen sind. Die häufigsten Verbesserungen werden sowieso im Bereich der Zugänglichkeiten erwartet.

Die Beteiligung wertet Güller dennoch als Erfolg: «Denn dadurch kann das Interesse in der Bevölkerung für Freiräume mit besserer Nutzbarkeit und höheren Qualitäten auf jeden Fall geweckt werden.» Ob dereinst der Begriff «Partizipationswald» Eingang in das Register der Flurnamen finden wird?


Anmerkungen:
[01] Entwicklungsplanung Leimental-Birseck-Allschwil BL; Berichte und Testplanungen einsehbar unter: www.baselland.ch
[02] «Landschaft für eine Stunde», Aufwertung und Gestaltung der Übergangsräume von Siedlung zu offener Landschaft, Schlussbericht Agglomeration St. Gallen–Bodensee, 2015
[03] Agglomerationsprogramm Regio Appenzell Ausser­rhoden–St. Gallen-Bodensee; www.regio-stgallen.ch

TEC21, Fr., 2016.04.01



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2016|14 Wald für Städter

11. März 2016Paul Knüsel
TEC21

Ein Filter für Wärme und Licht

Das Zürcher Stadtspital Triemli ist um ein Bettenhaus erweitert worden, das hohe Ansprüche an die Betriebs- und Energieeffizienz erfüllen muss. Die zweischichtige Glasfassade scheint funktional widersprüchlich gewählt; sie ist aber nicht nur in der Wärmebilanz ein Gewinn.

Das Zürcher Stadtspital Triemli ist um ein Bettenhaus erweitert worden, das hohe Ansprüche an die Betriebs- und Energieeffizienz erfüllen muss. Die zweischichtige Glasfassade scheint funktional widersprüchlich gewählt; sie ist aber nicht nur in der Wärmebilanz ein Gewinn.

Fast ein halbes Jahrhundert nach seiner Eröffnung hat das Stadtspital Triemli markanten Zuwachs erhalten: Das bestehende Hauptgebäude und der Behandlungstrakt im Friesenberg-Quartier am Fuss des Uetlibergs werden nun um ein Bettenhaus ergänzt, das 100 m lang, 35 m breit, 50 m hoch ist. 15 Geschosse lie­gen sichtbar über dem Boden; zwei ­weitere befinden sich darunter.

Wie die bestehenden Gebäude der nun dreiteiligen Gruppe verfügt der ­Neuankömmling über einen eigenständigen Charakter; die städtebauliche Setzung der Baukörper erhöht dadurch die Spannung im gegenseitigen Wechselspiel. Gleichwohl halten die aussenräumlichen Beziehungen das neue Ensemble aus prägnanten Zeitzeugen z­usammen. Repräsentiert der 70 m hohe Bettenturm den grosszügi­gen Umgang mit Beton in den 1970er-Jahren, betonen Volumetrie und Tektonik des Neubaus eine zweck­mässige, effektvolle und zeitgenössische Architektur.

Hauptmerkmal ist die reflektierende Fassade aus zwei transparenten Glasschichten. Inwendig schliessen raumhohe Fenster die Bettenzimmer ab, ohne die Blickachsen von innen nach aussen zu behindern. Und davor ziert jedes Geschoss eine umlaufende Serviceschicht, deren verspiegelte Brüstung jeweils unterschiedlich abgewinkelte Gläser sind.

Das Gebäude selbst besteht aus einem Betonskelett, dem die 39 cm mächtigen Zwischendecken, die zentralen Einbauten und ein äusserer Stützenring zuzuordnen sind. Die Glas-Metall-Fassade übernimmt dagegen keine statische Funktion; die Raumfenster sind geschossweise durchgängig eingepasst. Die äussere Serviceschicht ist an die massive Gebäudestruktur ­vorgehängt.

Gestalterisches Lichtspiel

Der Glanz am neuen Bettenhaus sorgt aber nicht nur für einen deutlichen Kontrast zu den Nachbargebäuden, sondern verändert auch die Wahrnehmung des grossen Baukörpers selbst. Aus gewisser Entfernung gibt die Glasfassade die jeweils unmittelbar ändernden Wetter- und Lichtverhältnisse wieder. Dagegen löst sich das Spiegelbild in der Detailansicht wie beim Zoom auf ein digitales Bild in unzählige Pixel auf.

Erzeugt wird dieser reflexive Skaleneffekt zum einen durch unterschiedlich geneigte und abgewinkelte Glaselemente in der äusseren Brüstungsschicht, wodurch der horizontale Umriss um das neue Bettenhaus zu einer Zickzacklinie wird. Zum anderen ist das vertikale Gebäudeprofil abgestuft, mit einem maximalen Versatz von 2 m zwischen den Geschossen. Deren Aussenkanten bleiben jedoch immer unter dem Rand des leicht geneigten ­Gebäudedachs.

Das Muster der Fassadengestaltung wurde intuitiv entworfen, sowohl digital am Computer als auch analog am Gebäudemodell mit Massstab 1 : 100. Über ein Jahr lang war ein Mitarbeiter des Architekturbüros Aeschlimann Hasler Partner damit beschäftigt, jede einzelne Stufe und jeden Brüstungswinkel zu bestimmen und die Konstruktion zusammen mit dem Fas­sadenplaner ausführbereit weiterzuentwickeln.

Die Brüstungsgläser sind zudem farblich mithilfe einer Metallbeschichtung differenziert; in der Abfolge wechseln sich die Scheiben jeweils in vier Tönen zwischen Blau und Silber ab. Sie sind jeweils in einen Alumi­niumhandlauf auf einer Höhe von 1.1 m eingezogen und auf Fusshöhe an zwei Punkthaltern fixiert. Weil die Serviceschicht begehbar ist, wurden aus Sicherheitsgründen teilvorgespannte Gläser verwendet. Stirnseitig stossen die abgewinkelten Scheiben aber nur lose aneinander, weshalb die Fugen der halbhohen Brüstung jeweils offen sind.

Energiedurchlass spezifiziert

Zu den eigentlichen Vorzügen der zweiteiligen Glasfassade gehört jedoch die selektive Filterfunktion: Da sich die Sonnenstrahlung in einen Wärme- und einen Lichtanteil aufteilen lässt, werden unterschiedliche Durchlassanforderungen an die Gläser definiert. Abhängig ihrer Positionierung in der Aussen- oder Innenschicht weisen die Scheiben einander deutlich abgrenzende Transparenzqualitäten auf.

So erlauben die Raumfenster einen hohen passiven Energiegewinn, weil der Infrarotanteil des Sonnenlichts weitgehend einstrahlen kann (Gläser mit g-Wert > 50 %). Die äusseren Brüstungsscheiben besitzen dagegen einen g-Wert von durchschnittlich nur knapp 20 %, was viel Licht durchscheinen lässt, aber hohe Anteile der langwelligen ­Infrarotstrahlung abhalten kann. Dadurch gelingt insbesondere der bauphysikalische Spagat, trotz durchgängiger Glasfront ein weit überdurchschnittliches Energieeffizienzniveau erreichen zu können. Das neue Bettenhaus trägt das Minergie-P-Eco-Gebäudezertifikat und ist damit auf einen spezifischen Energiekonsum von rund 4 l Heizöläquivalente pro m2 ausgelegt.

Bei Inangriffnahme der Ausführungsplanung waren Bauherrschaft und Planer jedoch damit konfrontiert, dass nirgendwo sonst ein derart niedriger Bedarf oder planerisch ein solcher Nachweis für diese Ge­bäu­detypo­logie erbracht worden war. Der hohe Glasanteil an der Gebäudehülle erschwerte einerseits die baulichen Bedingungen, insofern eine vertiefte Abwägung zwischen solarem Energiegewinn und Wärmeschutz an der Fassade durchzuführen war.

Andererseits weist der hohe Grad an Belegung und Technisierung im Spitalbetrieb daraufhin, dass die Räume im neuen Bettenhaus mehr Kühl- als Heizwärmebedarf besitzen. Daraus ergab sich, dass die unterschiedlich definierte Energiedurchlassqualität ein taugliches Kriterium für die Auswahl der jeweiligen Gläser und Fenster ist. Die Fassadenschichten selbst bilden daher einen selektiven Strahlungsfilter: Die äussere Brüstung präferiert den Lichtdurchlass; die baulich stärker abgeschirmten Raumfenster eignen sich eher für einen passiven Wärmegewinn.

Die Brüstung ragt zudem in das Lichtprofil der darunterliegenden Geschosse, die daher bei hohem Sonnenstand teilweise vor direkter Ein­strahlung geschützt werden. Automatisierte Storen schirmen die Patientenzimmer gegen weitergehenden Sonnen­strahleneinfall ab. Und in der Nacht sorgt ein Lüftungsflügel, der im Raumfenster integriert ist, bei Bedarf für die erforderliche Auskühlung. Der automatisierte Hitzeschutz ist vorgängig mit Simulationen und an ­einem Pilot- und Demonstrationspavillon definiert ­worden, inklusive optimaler Neigewinkel der Raff­lamellen sowie der Querschnitt der Lüftungsflügel.

Durchlässige Konstruktion

Der Wärmeschutz ist an der inneren Fassadenschicht trotzdem konstruktiv angemessen umgesetzt: Zum einen liegt der Wärmedurchgangskoeffizient (U-Wert) der Dreifach-Isoliergläser unter 0.9 W/m2K, was dem bestmöglichen Stand der Technik entspricht. Zum anderen ist die Serviceschicht thermisch getrennt mit der massiven Gebäudestruktur verbunden.

Die Stahlkonsolen, die das Aussengerüst tragen, sind so nicht direkt an die Stirnseite der Zwischendecken geschraubt; der 0.3 m tiefe Zwischenraum ist jeweils mit Zelluloseflocken und Steinwolle wärmedämmend ausgefüllt. Weitere energetische Schwachstellen sind mit Vakuumpaneelen abgedeckt.

Die begehbare Serviceschicht ist vor Wind und Regen nur wenig geschützt und besteht teilweise aus durchlässigen Komponenten. Den Boden bilden engmaschige Gitter- oder Kammroste, deren Unterseite mit abklappbaren Streckmetallelementen aus Aluminium besetzt sind. Die Fugen zwischen den Glaselementen bleiben an der Brüstung ebenfalls offen. Die ursprünglich befürchtete Vogelinvasion hat sich entschärft, weil Taube, Schwalbe & Co. keine geschützten Nistplätze finden können. Zur vorsorglichen Abwehr wurden dennoch Anschlüsse montiert, die bei Bedarf mit Tieftonsendern bestückbar sind.

Die transparenten Fassaden des neuen Bettenhauses besitzen mehrere blinde Flecken: Sowohl entlang der vertikalen Gebäudekanten als auch unmittelbar ­unter dem Dach sind Gläser mit emaillierter Blend­beschichtung eingesetzt. Insofern zählen auch sie zu der insgesamt 15 000 m² grossen Fassadenfläche, die es regelmässig zu unterhalten und zu reinigen gilt. Hauptsächlich erfolgt dies von der Serviceschicht aus – das Personal hat sich dabei an einem inwendig geführten Seil zu sichern. Zusätzlich ist auf dem Dach des Bettenhauses eine Fassadenbefahranlage installiert, die nicht nur für die Reinigung, sondern auch für den Austausch von Gläsern und Fenstern eingesetzt werden kann.

TEC21, Fr., 2016.03.11



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TEC21 2016|11 Vertikale Vielfalt

16. Januar 2016Paul Knüsel
TEC21

LED-Pendel- und Bürolampen im erneuerten Bundeshaus Ost

Vor 136 Jahren begannen die ersten Glühlampen der Schweiz in einem Engadiner Nobelhotel zu leuchten. Kurz danach wurde das elektrische Kunstlicht auch...

Vor 136 Jahren begannen die ersten Glühlampen der Schweiz in einem Engadiner Nobelhotel zu leuchten. Kurz danach wurde das elektrische Kunstlicht auch...

Vor 136 Jahren begannen die ersten Glühlampen der Schweiz in einem Engadiner Nobelhotel zu leuchten. Kurz danach wurde das elektrische Kunstlicht auch von Textilfabrikanten entdeckt. Und als das Bundes-Rathaus 1892 einen Ostflügel erhielt, wurden Büros und Wandelgänge, für die damalige Zeit immer noch ungewöhnlich, ebenfalls elektrisch ins rechte Licht gesetzt.

Nächstes Frühjahr erfolgt der Abschluss der Erneuerungsarbeiten im Bundeshaus Ost, wo Bundesrat und engste Mitarbeiter heutzutage beraten und tagen. Lichtbogen- oder Kohlefadenlampen sind Geschichte; als Reminiszenz an die Gründerzeit und die Elektrifizierung erhalten bleiben hingegen historische Pendelleuchten und Wandleuchter, die mit feingliedriger Schmiedearbeit befestigt sind.

Die Leuchtmittel sind nun Licht emittierende Dioden, kurz LED-Lampen, der neuesten Generation. So werden die ursprünglichen Leuchter in den Hallen mit LED-Retrofitlampen bestückt und bisherige Opalglaskugeln durch innen sandgestrahlte Klarglaskugeln ersetzt.

Zur Erhöhung des Beleuchtungsniveaus in den Korridoren werden einzelne Replikatlampen ergänzt. Architekten, Denkmalpfleger und Lichtplaner haben aber entschieden, die ursprüngliche Lichtatmosphäre möglichst zu belassen, bestätigt Ruedi Steiner, Mitinhaber des Berner Büros Lichtbau.

Tageslicht vom Norden

Die Beleuchtungsplanung für die Erneuerung der sechsstöckigen Regierungsresidenz begann vor über vier Jahren, als die Lichttechnik eben vor dem grossen Umbruch stand. Inzwischen sind Glühbirnen energetisch verpönt und der reguläre Handel verboten. Ebenso hat sich herausgestellt, dass die Energiesparlampe funktional nicht wirklich befriedigt. Und seit Neuestem werden auch Halogenlampen verdrängt, weil die LED-Lichtquelle nicht nur energieeffizienter ist, sondern seit Kurzem auch höchsten Qualitätsansprüchen genügt.

Für die Lichtplanung bietet derweil das Gebäude selbst, wie von Ursprungsarchitekt Hans Wilhelm Auer konzipiert, eine gute Ausgangslage: Ausrichtung und Raumstruktur sorgen für hervorragende Tageslichtqualitäten. Die zweigeschossige, repräsentative Eingangshalle und weitere Haupträume erhalten Tageslicht aus Norden, weshalb die Beleuchtungsbedingungen im Zeitverlauf ausgeglichen sind. Blendfreies Tageslicht gelangt dank verglasten Bürofronten und Oberlichtern in den grosszügig befensterten nordseitigen Büros sogar in die Korridore.

Bis zu 5 m hohe Räume und Fenster sowie Oblichter über den Türen zum Gang runden die günstigen Tageslichtverhältnisse in diesem teilweise sakral wirkenden Regierungsgebäude ab. Um ein zurückhaltendes, effizientes Ergänzungsmass für die künstliche Beleuchtung zu finden, wurden trotzdem unterschiedliche Optionen simuliert und auch in praktischen Versuchen erprobt.

«Besonders bei der LED-Palette sind die Herstellerangaben teilweise verwirrend oder für eine Nutzerbewertung unvollständig», so Steiner. Wesentliche Auswahlkriterien sind unter anderem die möglichst geringe Blendwirkung und die möglichst vollständige Wiedergabe des Spektralfarbenspektrums.

Mit Retrofit-Format

In den Erschliessungs- und Verkehrsbereichen erhält das Kunstlicht wie bisher atmosphärische Funktion. Die zuvor spärliche Leuchtwirkung wird jedoch erhöht. Zum einen mit effizienteren Leuchtdioden; zum anderen durch eine dichtere Abfolge der linear installierten Pendelleuchten.

Die LED-Leuchtkörper selbst besitzen ein Retrofit-Format; der standardisierte Lampensockel E27 erleichtert den künftigen Austausch durch neuerere Modelle. Auf weitere Beleuchtungsmassnahmen haben die Lichtplaner dagegen bewusst verzichtet. «Eine Akzentuierung oder Inszenierung der Architektur, etwa durch zusätzliche Lichtstrahler, hätte nur gestört», unterstreicht Ruedi Steiner.

Die Beleuchtungsvarianten in den rund 4.5 m hohen Büroräumlichkeiten wurden ebenso eingehend evaluiert. Die Zahl der Leuchten sollte möglichst knapp gehalten werden; Bürostehlampen oder Tischleuchten waren unerwünscht. Neben der Beleuchtungsstärke von mindestens 500 Lux auf der Arbeitsfläche gehören die Entblendung und die gleichmässige Lichtverteilung zu den hauptsächlichen Auswahlkriterien.

Scheibenförmige Pendelleuchten mit Präsenzsensor und Tageslichtsteuerung auf einer Höhe von 2.8 m brachten dafür die besten Resultate: Die auf der oberen Seite angeordneten LED-Module erzeugen indirektes Raumlicht. Zudem leuchtet die Diodenscheibe direkt nach unten.

Mehrstufiges Auswahlverfahren

Um auch hier die Blendwirkung einzudämmen und die Lichtverteilung zu verbessern, ist die untere Abdeckung prismatisch strukturiert. Das Verhältnis von direktem zu indirektem Kunstlicht liegt bei 70 : 30. Dies verhindert, dass die obere Bürohälfte trotz künstlicher Beleuchtung jeweils im als unwirtlich empfundenen Schatten verschwindet. Die LED-Pendelleuchte selbst ist kein Serienmodell, sondern das Ergebnis eines mehrstufigen Ausschreibungsverfahrens.

Form, Lichttechnik und Steuerung wurden von den Lichtplanern und Architekten definiert; mehrere Hersteller entwickelten daraus in einem iterativen Prozess drei Musterleuchten. Anhand dieser Auswahl entstand die serienreife, formal reduzierte und technisch optimierte Pendelleuchte, wie sie nun dutzendfach im Bundeshaus Ost, bereits Wochen vor Abschluss der Erneuerungsarbeiten, installiert worden ist.

TEC21, Sa., 2016.01.16



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TEC21 2016|03-04 Kunstlicht im Raum

04. Dezember 2015Paul Knüsel
TEC21

Einfahren, justieren und optimieren

Muss die Inbetriebnahme von Gebäuden besser kontrolliert und länger betreut werden? Fünf ausgewählte Beispiele veranschaulichen, wie ein Performance Gap mit technischen, organisatorischen, kommunikativen und sozialen Massnahmen überbrückt werden kann.

Muss die Inbetriebnahme von Gebäuden besser kontrolliert und länger betreut werden? Fünf ausgewählte Beispiele veranschaulichen, wie ein Performance Gap mit technischen, organisatorischen, kommunikativen und sozialen Massnahmen überbrückt werden kann.

Die Leistungen eines Gebäudes im Betriebszustand lassen sich unterschiedlich erfassen. Physikalische Parameter zum Raumklima, Schallschutz, zur Belichtung oder Energieeffizienz sind einheitlich messbar; Komfort, Wohlbefinden oder Aufenthaltsqualität spiegeln sich dagegen in den Nutzerangaben wieder. Im optimalen Fall ergänzen sich die objektiven und subjektiven Befunde zum plausiblen Gesamturteil, wie gut ein Gebäude effektiv funktioniert. Solche Erhebungen sind von handfestem Vorteil: Hoher Komfort am Arbeitsplatz sorgt für zufriedene, leistungsbereite Arbeitnehmer. Trotzdem befassen sich nur wenige ausserhalb der Forschung mit der Qualität kommerziell genutzter Bauten.[1] Ein analoges Dilemma scheint die Bilanz bei Energieeffizienzanstrengungen zu trüben. Oft werden höhere Baukosten für eine verbesserte energetische Performance in Kauf genommen; beim Nachweis des erhofften Zusatznutzens im Gebäudebetrieb wird dagegen häufig gespart.

Dass die Qualitätssicherung in der Praxis auf wachsendes Interesse stösst, ist auch eine Folge verkürzter Innovationszyklen im Gebäudebereich[2]: Das verlangte Plus an Raumkomfort und Energieeffizienz verursacht vielfach einen höheren technischen Ausstattungsgrad und den Einsatz von Technologien und Baustoffen, deren Funktionalität langfristig nicht erprobt ist. Die fünf im folgenden beschriebenen Gebäude zeigen das grosse Verbesserungspotenzial, wenn sich Bauherrschaften, Architekten und Fachplaner gemeinsam um eine umfassende Nachbetreuung kümmern.

FHS St. Gallen: zwei Jahre Nachbetreuung

Seit Semesterbeginn 2013/2014 gehen über 3000 Studierende im neuen Zentrum der Fachhochschule St. Gallen, unmittelbar neben dem Hauptbahnhof, ein und aus. Die 19 000 m² grosse Nutzfläche wird unter anderem von Vorlesungssälen, Seminarräumen sowie einer mehr­geschossigen Mediathek belegt. Wahrzeichen ist der 65 m hohe Turm, in dem Dozentenschaft und Verwaltung ihre Büros eingerichtet haben, und der aus einem fünfgeschossigen Sockel ragt (vgl. TEC21 7-8/2014). Planung und Ausführung des Fachhochschulzentrums dauerten zehn Jahre. Mindestens zwei weitere Jahre Zeit nahm sich die Bauherrschaft, das kantonale Hochbauamt, um die Nachbetreuung der Gebäudetechnik sicherzustellen. Seit der Eröffnung wurden deshalb nicht nur Garantiefälle behoben, sondern auch ein Optimierungs- und Nachjustierungsprogramm inklusive Erfolgskontrolle durchgeführt.

Ein hybrides System aus Geothermie und Erdgas versorgt das FHS-Zentrum mit Wärme. 30 Erdsonden liefern die Grundwärme für die zentrale 244-kW-Sole-Wasser-Wärmepumpe; bei Bedarf schaltet sich ein 540-kW-Gas-Brennwertkessel zu. Aufgrund der anwesenden Personen und des IT-Geräteparks sind die Räume zeitweise auch an kalten Tagen abzukühlen. Dazu trägt ebenfalls eine kombinierte Anlagegruppe bei. Als primäre Kältesenke wird das Erdsondenfeld genutzt; die Abwärme wird in einem Geocooling-Kreislauf abtransportiert. Zusatzbedarf und Leistungsspitzen decken Kältemaschinen ab, die mit Strom betrieben sind. Das gegenseitige Zusammenspiel im Alltagsbetrieb wurde allerdings unerwartet gestört: Der integrierte Frostalarm brachte den erdgekoppelten Kühlkreislauf wiederholt zum Stillstand, obwohl dies nicht erforderlich war. Die Geocooling-Blockade löste wiederum den Einsatz der Kältemaschine aus, weshalb der effektive Stromkonsum höher war als der berechnete Bedarf. Erst ein zusätzlicher Temperaturregler brachte die Einsatzbedingungen im bivalenten Kühlsystem wieder ins energieeffiziente Gleichgewicht.

Nach der ersten Heizsaison fiel zudem auf, dass auch für die Raumheizung mehr Wärme bereit gestellt werden musste, als im Minergienachweis für das FHS-Zentralgebäude berechnet worden war. Tatsächlich war dies auf fünf weitere betriebliche und technische Gründe zurückzuführen: Entgegen der definierten Normnutzung (werktags von 8 bis 22 Uhr) finden jeweils auch am Samstag Kurse statt. Zudem wird ein behagliches Unterrichtsklima im realen Alltag mit 22 °C warmen Räumen gleichgesetzt; in den Büros liegt die Wunschtemperatur oft bei 23 °C. Demgegenüber beträgt der Planungswert nur 20 °C. Und im Vergleich zur Planungskalkulation gehen die Nutzer im Alltag auch mit den Storen anders um: Der Blendschutz erhält im Winter so viel Vorrang, dass die externe Wärmeeinstrahlung effektiv geringer ausfallen kann als geplant. Die Heizgrenze in gut gedämmten Gebäuden ist derweil grundsätzlich schwierig zu bestimmen; im FHS-Gebäude schalteten sich die Heizgruppen unnötigerweise auch an einzelnen kühlen Sommertagen ein. Und zu guter Letzt liefen sämtliche 16 Lüftungsanlagen nach Inbetriebnahme mit höchster Austauschrate. Aufgrund der in der Planung üblichen Annahme: Die Räume sind maximal belegt.

Solche Lücken zwischen Planung und Betrieb von haustechnischen Anlagen und Einzelkomponenten sind oft saisonal und betriebsbedingten Bedürfnissen zuzuschreiben. Daher ist zur Optimierung meistens ein Mix aus organisatorischen und technischen Massnahmen erforderlich. Die automatische Steuerung des Sonnenschutzes kennt nun ein Winterszenario, um die Solargewinne nicht weiter zu verringern. Die Heizgruppen sind von Mai bis September Off gestellt. Und die Lüftungsanlagen sind raumspezifisch an die Belegung angepasst und laufen bei geringem Bedarf mit leicht reduziertem Volumenstrom.

Ein Knackpunkt im FHS-Gebäudetechniksystem war das Laden der Energiespeicher, weil dafür eine bivalente Wärmeerzeugungsanlage mit unterschiedlichen Lastprognosen zuständig ist. Wärmepumpe und Gaskessel brachten sich gegenseitig aus dem Takt und verursachten ein abwechselndes Stop-and-Go. Nun hat die Speichersteuerung eine klare Prioritätsstrategie erhalten: Meldet das System von irgendwoher Heizwärmebedarf, schaltet zuerst die Wärmepumpe ein. Und erst ab einer definierten Temperaturschwelle im Heizungsvorlauf liefert der Gaskessel zusätzliche Energie nach. Dank der Nachbetreuung ist der fossile Versorgungsanteil von 30 % auf unter 15 % gesunken.

Auch die Hydraulik der verschiedenen Heiz­kreislaufgruppen wurde einem Optimierungscheck unterzogen. Anlass war eine Beeinträchtigung des Behaglichkeitsniveaus in einzelnen Räumen, weil die Sollwerttemperaturen nicht erreicht werden konnten. Der Grund war ein ungenügender Abgleich im Vorlauf respektive der angeschlossenen Pumpen und Ventile. Auch hier war der entscheidende Eingriff, die Einstellungen an die effektiven Gegebenheiten anzupassen.

Bei solchen Optimierungs- und Nachjustierungsleistungen ist anfangs nicht immer eindeutig ersichtlich, ob eine korrekte, bedarfsgerechte Einstellung der Anlagen bereits ab Inbetriebnahme erwartet werden darf. Um Leistungseinbussen oder Funktionsstörungen nachträglich aufzudecken, ist daher ein Monitoringsystem hilfreich, das detaillierte Betriebsdaten für die Auswertung dokumentiert und zur Plausibilisierung des Anlagenbetriebs bereithalten kann. Zudem ist genügend Zeit für die Abschlussphase komplexer Bauvorhaben zu resevieren. Für Nachbetreuung und Erfolgskontrolle hat das Hochbauamt des Kantons St. Gallen sogar dasjenige Planungsbüro beigezogen, das bereits für Planung und Fachbauleitung verantwortlich war.

Toni-Areal: Jedes Feedback wird geprüft

Das Toni-Areal in Zürich-West hat sich vom Milchverarbeitungsbetrieb über eine Industriebrache zur «Künstlerstadt» verwandelt (vgl. TEC21 39/2014). 5000 Studierende, Lehrpersonen und weitere Schulangestellte bevölkern seit letztem Herbst diesen Gebäudekomplex täglich, dessen rund 9 ha grosse Nutzfläche mit etwa 1800 Ausbildungsräumen und 100 Wohneinheiten belegt ist. Hauptmieter sind nun die Zürcher Hochschule der Künste und die Zürcher Hochschule der Angewandten Wissenschaften. Weiterhin gleicht der Betrieb einer brummenden Multifunktionsmaschine. Rege wird die neue Umgebung kommentiert. Grundsätzlich schätzen die aktuellen Nutzer Ausstrahlung und Angebot; Räume, Innenklima und Akustik werden aber auch kritisch beäugt. Einzelne teilen durchaus mit, was nicht passt: Warum ist die Raumluft stickig? Oder wieso fröstelt man während des Unterrichts? Solche Hinweise hat die Betriebsabteilung des Toni-Areals im ersten Jahr mehrfach erhalten. «In neuen Gebäuden ist mit solchen Rückmeldungen zu rechnen. Relativ zur Objektgrösse hält sich die Kritik jedoch im Rahmen», sagt Urs Stoll, FM-Verantwortlicher der Allreal Toni AG, Besitzerin und zuständig für den Betrieb. In der Fachliteratur liegt die durchschnittliche Unzufriedenen-Quote bei 10 %.

Im Toni-Areal werden die Beschwerden ernst genommen: Auf dem ZHDK-Onlineportal ist eine Feedbackwand aufgeschaltet. Und ein Ticketingsystem sammelt positive und negative Stimmen. Gemäss Allreal-Vertreter Stoll wird jede subjektive Beanstandung baulich und technisch überprüft und mit den vertraglichen Miet- und Komfortbedingungen verglichen. In einem Fall war die Raumtemperatur anscheinend zu gering. Der Sensor zeigte jedoch einen Wert von 22 °C an, was der Nutzungsnorm entspricht. Allerdings wurde die klimatische Wahrnehmung gestört. «Raumhohe Fenster können unbehaglich empfundene, interne Konvektionsströme verursachen», erklärt Stoll. Ein anderes Mal wurde die zu geringe Raumluftfeuchte in einem Musikzimmer mit Flügel beanstandet. Hier stellte sich heraus, dass in der Bestellung die Zahl der Befeuchtungsanlagen aus Kostengründen reduziert worden war.

Die Nutzungsvielfalt und die Belegungsfrequenz bedingen, dass das Klima vieler Räume individuell und spezifisch zu regulieren ist. Grundsätzlich besteht die Gebäudetechnik aus bewährten Komponenten: 93 Lüftungsanlagen wechseln die Raumluft bedarfsgerecht aus. Bei erhöhter Abwärme sorgen Kühldecken und drei Kältemaschinen für angenehme Temperaturen. Die Heizanlage verbindet den zentralen Fernwärmeanschluss mit den Heizkörpern oder der Bodenheizung in den einzelnen Räumen. Und raumspezifische Befeuchtungsanlagen schützen empfindliche Musikinstrumente und Kunstgegenstände. Ein integrales Gebäudeleitsystem koordiniert und kontrolliert die Funktionen und meldet allfällige Störungen.

Im ersten Betriebsjahr «waren das Nachjustieren und das Beheben von Kinderkrankheiten ein Alltagsjob», so Urs Stoll. Und weil die klimatischen Bedingungen noch nicht überall so sind, wie sie sein sollten, werden weitere Nachbesserungen folgen. Gesamthaft ist der Optimierungsaufwand gemäss Stoll bislang überschaubar. Auch die hohen bau- und raumakustischen Anforderungen sind erfüllt. Die wichtigsten Knackpunkte wurden vorab in einem Mock-Up-Raummodul überprüft. Und nachträgliche Schallmessungen deckten auf, welche Schwachstellen noch auszubessern sind. Im nächsten Sommer findet die Abnahme für die 2-Jahres-Garantie statt; bis dann werden weitere Erfahrungswerte im Toni-Areal gesammelt. Erst wenn sich ein stabiler Nutzungsfahrplan eingespielt hat, «kann der Betrieb der HLK-Gewerke und der Gebäudeautomation bedarfsgerecht optimiert werden», so Stoll.

Das Einfahren der technischen Systeme braucht im derart vielfältig genutzten Gebäude seine Zeit. Zur Qualitätssicherung wurde eigens eine mehrmonative «Implementierungsphase» definiert. Damit ist die geordnete Übergabe der Verantwortlichen zwischen Bau und Betrieb gemeint. Zudem unterstützt die Generalunternehmung mit ihrem Fachwissen die nun aktiv gewordene Betriebsorganisation.

MFH Habsburg: Hausbewohner helfen mit

TEC21: Welche Kluft ist zwischen Planung und Betrieb im Wohnhaus Habsburgstrasse aufgetreten?
Koni Osterwalder: Da der Gesamtverbrauch in Echtzeit gemessen wird, fiel auf, dass die effektiven Energiewerte zeitweise bis 50 % über dem Planungsziel lagen. Dies einerseits, weil die Einstellungen der Gebäudetechnik bei Inbetriebnahme zu hoch gewählt wurden; andererseits aber auch, weil wir als Nutzer des Gebäudes wenig sensibilisiert sind.

Was haben Sie für die Optimierung gemacht?
Heizung, Warmwassersystem und Lüftung wurden an den effektiven Bedarf angepasst. Bei der Inbetriebnahme waren die Anlagen auf maximale Leistung eingestellt; ein bedarfsgerechtes Einfahren gehört nicht zum Standardrepertoire in der Haustechnikbranche. Wenn wir nicht aus eigenem Antrieb ein Messsystem installiert hätten, wäre dies nicht einmal aufgefallen. Was mich zusätzlich stört: Die Funktionsweise der Anlagen wurde bei der Schlüsselübergabe nicht erklärt. Offensichtlich werden die Schnittstellen zwischen Planung und Betrieb oder zwischen Technik und Nutzer zu wenig thematisiert.

Sie haben am Novatlantis-Bauforum an der ETH Zürich skizziert, wie die Schnittstellen reibungsloser werden könnten. Was muss die Planung dafür leisten?
Die Phase der Inbetriebnahme sollte zwei Jahre dauern, um eine Optimierung der Anlagen vorzunehmen. Von den Planern würde ich mir wünschen, dass eine integrale Planung von HLK-Gewerken und Elektrizität vorgenommen wird; statt die Anlagen autonom zu betrachten. Doch es geht nicht nur um technische Fragen. Sobald ein Haus bewohnt wird, bestimmen soziale Aspekte die Betriebsper­formance mit: Wie interagiert der Nutzer mit der Technik? Oder welche Anreize erhält ein Bewohner, weniger Energie zu konsumieren? Diese Schnittstellen prägen den effektiven Energiekonsum im Alltag.

TEC21: Wie lassen sich Wohnungsmieter für ein ökologisches Verhalten gewinnen?
Ich will niemanden erziehen und verlange von den Mietern auch nicht, sich für etwas zu verpflichten, was ihnen selbst widerstrebt. Sobald sich eine Optimierung spürbar auf die Nebenkosten auswirkt, sollte eigentlich ein Anreiz dazu vorhanden sein. Die Kosteneinsparnis ist allerdings nicht das wichtigste Argument. Wir zeigen daher auf, wie der persönliche Wohnkomfort maximiert werden kann. Ein internes Onlineportal visualisiert den Zusammenhang
zwischen Behaglichkeit und Verbrauch, so dass jeder Mieter seine persönliche Abwägung treffen kann.

Wird ein energieeffizientes Wohnhaus bestellt, soll sich dies im Betrieb zeigen. Sie bemängeln, dass sich darum sozial und technisch niemand wirklich kümmert. Was können Vermieter dafür tun?
Weil die Performance eines Wohnhauses letztlich vom Engagement der Hausbewohner beeinflusst wird, muss der Vermieter den Dialog mit den Nutzern suchen. Zusammen mit einem Hausbewohner wurde daher ein Monitoringsystem mit Feedbackfunktion realisiert. Dieses hat die interne Diskussion über den Ressourcenkonsum lanciert. Darüber hinaus braucht es aber strukturelle Anreizmodelle, beispielsweise ein Betriebsenergielabel oder ein energieverbrauchsabhängiges Honorar für professionelle Hausverwaltungen.

EBP: gutmütige Büro- und Bürgerhäuser

Den Auftakt zur Mühlebachstrasse im Zürcher Seefeldquartier bildet eine grossbürgerliche Gebäudezeile. Von 1923 bis 1926 erbaut, sind die Merkmale der Bürgerhäuser wie Erker, Sockel und Mansardendach bis heute erhalten geblieben. Allerdings begann vor etwa 50 Jahren ein Wandel von der Wohn- zur Büronutzung. Inzwischen arbeiten über 200 Spezialisten aus Planung, Beratung, Bau, Informatik und Kommunikation an der Mühlebachstrasse 9–17; die Gebäude sind nun im Besitz von Ernst Basler und Partner AG (EBP), einer international tätigen Ingenieur- und Beratungsfirma. Die Erneuerung des Geschäftssitzes wurde 1994 in Angriff genommen; Umbau und punktuelle Erweiterung folgten in Etappen. Dabei geht es darum, den klimatisch gutmütigen Charakter der Gebäudehülle zu erhalten. Gleichzeitig soll die ökonomische Bewirtschaftung mit einem ökologischen Gebäudebetrieb verbunden und den Mitarbeitern möglichst leistungsfördernde Bedingungen und hoher Arbeitsplatzkomfort angeboten werden. Die bauliche und technische Sanierung dient auch als internes Erfahrungs- und Forschungsfeld.

Tatsächlich sind die Anforderungen an die Behaglichkeit gestiegen: Wurden die Büro- und Serverräume am EBP-Sitz anfänglich über eine Fensterlüftung natürlich gekühlt, ist seit 2012 ein aktives Kühlsystem mit Erdsonden in Betrieb. Forscher der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) hatten zuvor bei einer Befragung der Mitarbeiter vor Ort herausgefunden, dass ein zu hohes Temperaturniveau im Sommer – zu Recht – beanstandet wird. Die ZHAW befasst sich im Rahmen eines KTI-Projekts mit der «Qualität von nachhaltigen Bauten»[3]; eine vergleichbare Qualitätsanalyse fand an über 20 Bürobauten statt.

Die Ergebnisse der ZHAW-Studie begünstigten weitere betriebliche Verbesserungen am EBP-Geschäftssitz: Weil die geringen Einflussmöglichkeiten am ursprünglichen Haustechniksystem bemängelt wurden, lässt sich nun individuell auf das erneuerte Gebäudeautomations- und Leitsystem zugreifen. Ein internes Betriebsportal stellt dazu den aktuellen Anlagemodus visuell verständlich dar und vergleicht die raumklimatischen Echtzeitdaten mit den Sollwerten. Die bisherige Gebäudeautomation ist erst 15 Jahre alt; aber auch technisch reif für den Austausch gewesen. Mehrere Steuerungskomponenten sind bereits ausgefallen, so dass manuelle Thermostatknöpfe an die Heizradiatoren als verlässlicher Ersatz angebracht wurden. Insofern hat ein Gebäudetechniksystem folgende Qualitätsfaktoren zu erfüllen: «Es braucht zuverlässige Komponenten, eine einfach verständliche Steuerung sowie ein funktionierendes Zusammenspiel mit den baulichen und architektonischen Gegebenheiten», sagt Heinz Richter, Leiter des EBP-Geschäftsbereichs Energie+Technik und Verantwortlicher für die Liegenschaften Mühlebachstrasse.

Der Umbau der Bürohäuser soll aber nicht nur den Energiebedarf reduzieren, sondern letztendlich auch die fossilfreie Versorgung ermöglichen. Das bisher Erreichte demonstriert beispielhaft, wie rasant der technische Fortschritt diesbezüglich geworden ist. Anfänglich betrieb man die Gebäudeheizung exklusiv mit Erdgas. Vor 15 Jahren ist ein Blockheizkraftwerk installiert worden, um Wärme und Strom mit höherer Gesamtenergieeffizienz zu erzeugen. Und vor 5 Jahren folgte der Einbau von 18 Erdsonden, anlässlich der Erneuerung von Haus Mühlebachstrasse 17. Der Untergrund deckt nun den energetischen Grundbedarf für das an eine Wärmepumpe gekoppelte Heiz- und Kühlsystem ab. Auf die Gasheizung wird nur noch bei Spitzenlast zugegriffen; das Abschalten dieser Anlage steht demnächst an.

Monte-Rosa-Hütte: 80 %-Inselversorgung

«Ein autarkes Bauwerk im hochalpinen Raum» war das Geburtstagsgeschenk der ETH Zürich zum eigenen 150-Jahre-Jubiläum. Der Schweizerische Alpenclub (SAC) hat dadurch die viel beachtete neue Monte Rosa Hütte in den Walliser Alpen erhalten (vgl. TEC21 41/2009). Die Eröffnung fand im Herbst 2009 statt; ab Frühjahr 2010 begann der hochalpine Hotelleriebetrieb mit 120 Schlafplätzen und höchstem Komfort. Die sechsgeschossige Unterkunft auf 2883 m ü. M. erfüllt das Minergie-P-Zertifikat; der Wärmebedarf ist äusserst gering. Über die grossflächigen Fensterbänder wird die Sonnenenergie passiv genutzt; den Zusatzbedarf deckt eine 56 m² grosse thermische Solarkollektorfläche. Sie ist unterhalb der Hütte montiert und versorgt vor allem das Warmwassersystem. Die Lüftungsanlage verteilt derweil die Raumwärme im Innenbereich.

Lüftung, Beleuchtung und Abwasserkläranlage sind jedoch auf Strom angewiesen, der vorwiegend vor Ort erzeugt wird. Das Produktionssystem besteht aus der 110 m² grossen PV-Anlage (16 kWp) an der Südfassade, dem Biodiesel-Blockheizkraftwerk (18 kWth/10 kWel) und einer Bleibatterie (Kapazität: 255 kWhel). Ein automatisiertes Gebäudeleitsystem steuert Be­triebs­zeiten, Lastmanagement und Speicherbewirtschaftung. Der Algorithmus folgte ursprünglich dem Plan, den Energiebedarf zwei bis drei Tage im Voraus abzuschätzen und die Prognosen des Wetterdiensts und der Reservationen im Buchungsportal zu berücksichtigen. Zudem sollte das Inselversorgungssystem den Energiebedarf zu 90 % aus lokalen Quellen abdecken; davon ausgenommen ist die Küche. Die «externe» Quelle, per Helikopter angelieferter Biodiesel, war für Notfälle und temporäre Lastspitzen reserviert. Die Planung rechnete mit regem Beherbergungsbetrieb: In der ­bewarteten Zeit, von März bis April und Juni bis September, wurden 6500 Übernachtungs- und 2000 Tagesgäste erwartet.

Die geschätzten Besuchsfrequenzen trafen für die vorletzte Bergsaison (2014) tatsächlich ein. Davor lag der Zuspruch deutlich über den Erwartungen: Im Eröffnungsjahr stieg die Belegung auf 163 %, worauf der interne Deckungsgrad zeitweise unter 50 % sank. Am stärksten wirkte sich dies auf das Abwassersystem aus: Der Bioreaktor war überfordert; die Kläranlage lief fast ununterbrochen und bezog mehr Strom als geplant. Dazu kamen weitere, zu optimistische Annahmen; vor allem Kleingeräte wie Reinigungsmaschine, Handyladestation oder Kühlgeräte verbrauchten effektiv mehr Strom als in der Betriebsprognose. Dagegen hielt sich der Wärmebedarf im bescheidenen Rahmen. Lokal wird bei starker Belegung mehr erzeugt, als für das Beheizen der SAC-Hütte erforderlich ist. Die Lüftungsanlage führt Abwärme nach aussen ab. Überschüsse der thermischen Solaranlage landen in der Frischwasserkaverne.

Das Institut für dynamische Systeme und Regelungstechnik am Maschinenbaudepartement der ETH Zürich führte eine mehrjährige Überwachungsphase und eine Projektoptimierung durch. Zum einen wurden die Energieerträge erhöht: Am Hang sind zusätzliche PV-Module (8 kWp) installiert; zudem wurde die Schaltung der Gleichstrommodule verbessert und die Batterieladestation ersetzt. Zum anderen verbraucht die Kläranlage ohne Qualitätseinbusse weniger. Seit der Bergsaison 2015 werden 80 % des Strombedarfs selbst produziert, inklusive Küchenbetrieb.

Das vorausschauende Energiemanagement wurde allerdings durch ein statisches Versorgungsmodell ersetzt, weil die Besucherzahlen konstant hoch sind und die Kläranlage kontinuierlich im Einsatz ist:
Das Blockheizkraftwerk läuft spätestens jeden dritten Tag an, um die Batterie zu laden. Für nicht bewartete Betriebszeiten reicht die vor Ort produzierte und
gespeicherte Energie, sogar ganz. Der Notschlafraum ist im Winter beheizt.

Sechs Jahre nach Eröffnung der Monte-Rosa-Hütte hat sich eine Inselversorgung etabliert, die die Energieproduktion aus elektrischer und thermischer Solaranlage und Blockheizkraftwerk kombiniert; vergleichbare Varianten werden inzwischen auch in anderen hochalpinen Schutzhütten in Frankreich und Österreich eingesetzt.


Anmerkungen:
[01] Nutzerzufriedenheit in Bürogebäuden, Empfehlungen für Planung und Betrieb; Wagner, Höfker, Lützkendorf, Fraunhofer Irb Stuttgart 2015.
[02] ICT for a Low Carbon Economy; Smart Buildings; European Commission, 2009.
[03] Qualität von nachhaltigen Bürogebäuden, Leitfaden ZHAW 2015; www.nachhaltigebueros.ch.

TEC21, Fr., 2015.12.04



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TEC21 2015|49 Gebäudebetrieb zwischen Anspruch und Wirklichkeit

09. Oktober 2015Paul Knüsel
TEC21

«Man muss sich ins Thema reinknien»

Auch im UNO-Jahr wird die Gefährdung des Bodens von der Allgemeinheit kaum beachtet. Der Öffentlichkeitsbeauftragte Urs Steiger will das Interesse aber nicht mit Alarmismus wecken.

Auch im UNO-Jahr wird die Gefährdung des Bodens von der Allgemeinheit kaum beachtet. Der Öffentlichkeitsbeauftragte Urs Steiger will das Interesse aber nicht mit Alarmismus wecken.

TEC21: Herr Steiger, vor den Sommerferien haben Sie ein Medienseminar über das nationale Forschungsprogramm «Nachhaltige Nutzung der Ressource Boden» mangels Anmeldungen kurzfristig abgesagt. Ist das geringe Interesse am Thema Boden symptomatisch?
Urs Steiger: Ja, weil in vielen Redaktionen ein gewisses Grundwissen fehlt und das Thema unterhalb der medialen Aufmerksamkeitsschwelle liegt. Zudem sind solche Veranstaltungen im Bereich der Bodenforschung neu und nicht institutionalisiert.

TEC21: Kulturlandverlust oder Ernährungssicherheit sind aber aktuelle politische Themen mit einem direkten Bezug zum Boden. Reicht das nicht?
Steiger: Solche Zusammenhänge funktionieren nur bedingt und werden als solche kaum wahrgenommen. Bei der Zersiedelung macht sich die Bevölkerung eher Sorgen um das Landschaftsbild und den sichtbaren Zustand der Kulturlandschaft. Beim Stichwort Ernährung kommt das landläufige Bewusstsein dem Thema sicher näher. Doch Boden wird auch hier oft nur als eindimensionale Produktionsfläche wahrgenommen. Im Gegensatz dazu gilt es ein Wissen zu vermitteln, bei dem der Boden ein Substrat, ein Bioreaktor oder eine dreidimensionale Matrix mit geophysikalischen und biologischen Prozessen ist und je nach Belastung und Bodentyp unterschiedliche Qualitäten aufweist. Zudem ist der Boden der wichtigste Kohlenstoffspeicher. Er speichert hierzulande etwa siebenmal mehr Kohlenstoff als die Atmosphäre. Für den Klimawandel ist es daher wesentlich, in welchem Zustand die Böden sind.

TEC21: Ist das nicht ernüchternd: Der Boden ist nicht sichtbar, und was darin passiert, fällt nicht wirklich auf?
Steiger: Man muss sich fast im wahrsten Sinn des Wortes reinknien, um zu verstehen, wie der Boden funktioniert. Die Vegetation wächst nicht einfach auf irgendetwas: Was im Wurzelbereich passiert, bleibt tatsächlich unsichtbar. Für Funktionen wie etwa die Bodenfruchtbarkeit ist das aber zentral. Dazu lassen sich auf jeden Fall plausible Geschichten erzählen.

TEC21: Welche denn?
Steiger: Eingängig ist etwa das Zusammenspiel zwischen Pflanzen und Fadenwürmern. Pflanzen sondern chemische Stoffe ab, mit denen sie Nematoden anlocken, die schädliche Mikroorganismen in ihrem Wurzelbereich vertilgen. Zudem ist die reichhaltige Bodenbiologie auch visuell attraktiv, wie Bilder von mikroskopischen Bodenaufnahmen beweisen.

TEC21: Gelingt es denn, das Interesse am aktuellen Jahr des Bodens zu wecken?
Steiger: Wir verbreiten nun seit Anfang Jahr Informationen und Newsletter dazu, im relativ hohen Takt, unter anderem monatliche Faktenblätter zu Bodenlebewesen. Und die Aufmerksamkeit der Publikumsmedien wächst allmählich. Westschweizer Redaktionen gehen offener mit dem Thema um. In der Deutschschweiz regiert zu sehr der mediale Hit des Tages.

TEC21: Bei Umweltthemen wird gern ein «Jöh-Effekt» bemüht. Fadenwürmer eignen sich dafür wohl kaum?
Steiger: Ein Maulwurf wirkt auf jeden Fall niedlicher, aber er ist für die Vermittlung der Bodenökologie zu wenig charakteristisch. Mir geht es eher um den Aha-Effekt: Die Leute dürfen zum Staunen gebracht werden. Dafür taugt beispielsweise der Regenwurm sehr gut, über den schon früher viel erzählt wurde. Anhand dieser Tierart lässt sich die Struktur des Bodens einfach begreiflich machen.

TEC21: Sind Hinweise auf alarmierende Zustände nützlich?
Steiger: Es gäbe Skandalöses zu erzählen, etwa über Altlasten oder andere Gifte im Boden. Aber ein Alarmismus hilft kaum, auf Bodenqualitäten umfassend aufmerksam zu machen. Diese mögen wohl für die Landwirtschaft und den Bodenschutz zentral sein, aber die Raumplanung nimmt sie noch zu wenig wahr. Sich auf die Verbreitung von simplen Botschaften zu konzentrieren, die wenig über das komplizierte Bodennutzungssystem aussagen, ist der falsche Weg. Umweltbereiche wie der Gewässerschutz haben früher von sichtbaren Schäden wie schäumendem oder gefärbtem Wasser profitiert. Aber seither hat sich die Art der Wissensvermittlung gewandelt.

TEC21: Warum ist der Boden eine derartige Unbekannte, obwohl seine Bearbeitung zur ältesten Kulturtechnik überhaupt gehört?
Steiger: Der modernen Gesellschaft fällt es leicht, den Boden zu vergessen. Die Wenigsten arbeiten direkt damit oder leben essenziell davon. Auch beim Betrachten von grünen Landschaften denkt kaum jemand daran, welche Mengen an Dünger oder Chemie im Boden darunter stecken und die Ressource gefährden. Die Bodenwahrnehmung leidet darunter, dass nur die oberste Schicht zählt. Im Gegensatz zur Fläche werden die ökologischen Funktionen des Bodens ökonomisch und planerisch vernachlässigt. Der Begriff «Bodenfunktion» ist nicht einmal gesetzlich definiert.

TEC21: Nun erarbeiten mehrere Bundesämter eine Bodenstrategie. Kann dieser politische Impuls die Bodenwahrnehmung verbessern?
Steiger: Mit dem Jahr des Bodens haben wir einen Auftakt lanciert, der die Wissensvermittlung und den substanziellen Bodenschutz längerfristig verbessern kann. Es braucht aber nicht nur mediale Präsenz, sondern auch eine bessere Kommunikation. Auch in der Fachwelt sind Verständigungshürden zu überwinden: Kulturingenieure, Landwirte, Bodenkundler und Raumplaner verstehen sich untereinander kaum, sondern sprechen von verschiedenen Qualitäten.

TEC21: Was ist die Botschaft, die es zu vermitteln gilt?
Steiger: Zentral ist das Bewusstsein, dass Boden eine wichtige natürliche Ressource für unser Leben ist. Ein weiterer Informationsfokus zielt auf das Handeln ab: Es braucht mehr generalisierbares Wissen aus der Forschung. Die Bodenkundler selbst müssen lernen, Aussagen zur heterogenen Bodenstruktur zu wagen, die nicht nur die Bodensäule betreffen, die sie unmittelbar beprobt haben. Vergleichbar der Klimadebatte würde es der Bodenwahrnehmung gut tun, wenn mehr über Unsicherheiten und Zukunftsmodelle gesprochen würde. Diese Erkenntnis beeinflusst im Übrigen auch die Forschungsarbeit. Nachvollziehbare und verständliche Modellierungs- und Visualisierungstools sind bereits in Entwicklung begriffen.

TEC21, Fr., 2015.10.09



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TEC21 2015|41 Kulturland – verkannt, verschwendet, versiegelt

07. Juli 2015Paul Knüsel
TEC21

Das Repertoire des Architekten

Vermeiden, vermindern oder verwerten: Das Prinzip der Abfallwirtschaft lässt sich auch beim Konstruieren von Gebäuden umsetzen. Sebastian El khouli kennt sich in Theorie und Praxis aus.

Vermeiden, vermindern oder verwerten: Das Prinzip der Abfallwirtschaft lässt sich auch beim Konstruieren von Gebäuden umsetzen. Sebastian El khouli kennt sich in Theorie und Praxis aus.

TEC21: Herr El khouli, Gebäude sind keine Wegwerfware, sondern rückbau- und wiederverwertbare Materiallager, wie Abfallbranche und -behörde erkannt haben (vgl. TEC21 25/2015). Kennen Sie Häuser, die sich einfach rezyklieren lassen?
Sebastian El khouli: Bei temporären Bauten ist die Rückbaubarkeit oftmals ein wichtiges Gestaltungsprinzip. Mir ist zudem ein amerikanisches Ferienhaus bekannt, das als Prototyp für eine komplett rückbaubare Konstruktion entwickelt worden ist. Hier wurden beispielsweise die Bauteile aus Holz und Alu einfach lösbar miteinander verbunden. Der Begriff «Design to disassemble» meint Gebäude, die bereits mit einer Demontageanleitung konstruiert werden. Die allgemeine Baupraxis ist jedoch noch nicht so weit, dass der Rückbau so einfach funktioniert oder die rückgebauten Elemente in derselben Art und Qualität wieder eingesetzt werden könnten.

Haben Sie selbst Erfahrungen mit dem Gebäuderückbau sammeln können?
Bauen im Bestand bietet sich an, um sich mit elementaren Themen wie Rückbau, Umnutzung und Weiterverwendung zu beschäftigen. Wir haben Anfang Jahr einen Ideenwettbewerb für einen Masterplan zur Umnutzung einer ehemaligen Kohlenzeche im Ruhrgebiet gewonnen (vgl. «Fokus: Bauteilrecycling»).
Die entscheidenden Aspekte waren, die Energie- und Ressourcenflüsse wo immer möglich zum Kreislauf zu formen. Bestehende Werkgebäude sind kein Abfall, sondern Wertstoffpool für die Arealtransformation. Bauen im Bestand ist eine sehr gute Schule, um in den Bereichen Rückbaubarkeit und Recyclingfähigkeit von Gebäuden und Bauelementen zu erproben, was auch bei einem Neubau sinnvoll sein kann.

Was kann der Architekt im Entwurf vorsorglich leisten, damit ein Gebäude nach Ablauf des Lebenszyklus möglichst ökologisch verwertet wird?
Das Rückbauthema ist in der Entwurfsphase ein abstraktes Kriterium und eine vielfältig interpretierbare Zukunftsprojektion. Ich selbst kann nur schwer abschätzen, wie sich das Recycling von x-beliebigen Baustoffen weiterentwickeln wird. Trotzdem gibt es gewisse Grundprinzipien, um die Rückbaubarkeit von Gebäuden zu erleichtern: So ist auf Verbundstoffe zu verzichten, und Bauteile sind nicht miteinander zu verquicken. Leicht demontierbare und trennbare Bauteile oder Strukturen können nach Ablauf des Lebenszyklus einfacher in die jeweiligen Kreisläufe zurückgeführt werden.

Ist die Systemtrennung das wichtigste Kriterium für die bessere Rückbaubarkeit von Gebäuden?
Das Trennen von Gebäudestrukturen und -systemen spielt für den gesamten Lebenszyklus eine wichtige Rolle; in Decken eingelegte Verteilsysteme sind meist ein Killerkriterium. Das Trennen vereinfacht das Anpassen einzelner Elemente, sodass ein Gebäude nicht vorzeitig rückgebaut werden muss, sondern nach einem Umbau weiter genutzt werden kann. Der massive Schottenbau ist ein Beispiel dafür, wie unflexible Strukturen schneller zum Ersatzneubau führen können. Allerdings lassen sich in Bürobauten unabhängige Tragstrukturen einfacher realisieren als im Wohnungsbau, aufgrund anderer räumlicher Bedürfnisse. Flexible Gebäudestrukturen sind oft auch eine Kostenfrage.

Neben der Abfallverwertung geht es auch um das Vermeiden künftiger Bauabfälle: Welche Konstruktionen verkleinern den ökologischen Fussabdruck?
Zum Vergleich unterschiedlicher Konstruktionsvarianten eignet sich die Bilanzierung des Treibhauspotenzials respektive der grauen Energie. Oft stellen wir im Vorentwurf die konventionelle Massivbaukonstruktion (Schottenkonstruktion) alternativen Konstruktionen wie dem Hybridbau (Stahlbetonskelett mit Leichtbauwänden und HolzElementfassade) und dem Holzbetonverbundbau gegenüber. Die rein energetische Analyse ergibt Resultate für Erstellung, Betrieb und Entsorgung. Ergänzende Aspekte sind unter anderem Brandschutz und Kosten. Die Auseinandersetzung ist jedoch nicht nur technisch, sondern hat auch mit Gestaltung, Raumbedarf und dem Umgang mit Material zu tun. Wir beschäftigen uns sehr gern mit der ökologischen Optimierung der Konstruktion, weil vieles möglich ist und sich die Diskussion nicht um ein paar Zentimeter Dämmung mehr oder weniger dreht. Zudem ist der Umgang mit Material das Architekturthema schlechthin: Baustoffe und die Art der Konstruktion prägen die Atmosphäre zentral.

Wie wirkt sich das Reduzieren der grauen Energie auf den Charakter eines Gebäudes aus?
Die Aufgabe, ein nachhaltiges Gebäude mit wenig grauer Energie zu erstellen, lösen wir nicht dogmatisch. Fügung und Raumwirkung sollen aber das Thema graue Energie miteinbeziehen. Wie sich Ökologie und Gestaltung gegenseitig beeinflussen, lässt sich am Siegerentwurf für die städtische Siedlung Hardturm in Zürich (vgl. Abb. oben) beispielhaft zeigen. Die Bilanzierung ergab: Die Zwischendecken haben das grösste Einsparpotenzial. Wird die Gebäudetechnik wie üblich eingebaut, braucht es mindestens 26 cm mächtige Decken. Um dies zu verhindern und die Strukturen auseinanderzuhalten, wurden in den Wohnungskorridoren eine Unterkonstruktion eingeplant. Dadurch werden die Decken auf 20 cm entschlackt. Die abgehängten Korridordecken wurden zudem gestalterisch eingesetzt und zum sichtbaren Thema gemacht.

Am ressourceneffizienten Bauen wird sehr oft die kompakte Gebäudeform kritisiert. Wie gross ist die Schnittmenge aus energetischen Vorgaben und gestalterischen Absichten?
Sachlich ist die Kompaktheit sicher ein richtiger Ansatz, der aber oft zu eindimensionalen Entwürfen führt. Städtebaulich funktionieren Bauten, die konsequent darauf getrimmt sind, nämlich nur bedingt. Ausserdem besitzen die wenigsten kompakten Bauten im Innern gleichwertige Grundrisse. Ab einer bestimmten Kubatur sorgt die Steigerung der Kompaktheit für keinen weiteren Spareffekt. Im Gegenteil: Der Ressourcenaufwand wächst, etwa für die Belichtung von tiefen Innenräumen. In der realisierten Alterswohnsiedlung Köschenrüti in Zürich Seebach haben wir Ressourcen gespart, ohne die Kompaktheit zu maximieren (vgl. «Fokus: Flächeneffizienz»). Stattdessen haben wir den räumlichen Bedarf reduziert.

Aus welchem Repertoire bedienen Sie sich, um ein ressourcenschonendes Gebäude zu konstruieren?
Immer zuerst hinterfragt werden der Bedarf an Untergeschossen und das Raumprogramm: Braucht es das Bestellte wirklich? Die Wahl der Gebäudestruktur fällt danach typischerweise auf einen Skelettbau. Auf Bauten mit tragenden Aussenwänden oder in Schottenbauweise versuchen wir konsequent zu verzichten, weil sie eine flexible Nutzung behindern. Hinterlüftete Fassaden sind dauerhaft und darum fast selbstverständlich. Und gegen eine Glasfassade spricht, dass das Raumklima schwierig zu steuern ist.

Welche Materialien bevorzugen Sie?
Bei Skelettbauten setzen wir, wo immer möglich, Holz für die Konstruktion der nicht tragenden Fassaden ein. Wir haben uns aber keinen Zwang auferlegt, nur noch mit natürlichen Baumaterialien wie Holz oder Lehm zu bauen. Materialität ist ein sehr lokales Thema. Was ich vor Ort finde, ergibt die richtige Antwort auf die jeweilige Wahl für ein Gebäude auf dem Land oder im innerstädtischen Bereich.

Die Ökologie fordert einen sparsamen Einsatz von Materialien. Die rohe Materialisierung wird gestalterisch zudem als ehrlich interpretiert. Aber wie geht der Architekt damit um?
Ich finde, dass die wachsende Verfügbarkeit von Baustoffen eine Beliebigkeit im Ausdruck fördert. Dem möchten wir entgegentreten. Das nachhaltige Bauen darf als Abkehr vom Anything-goes-Prinzip verstanden werden. Demgegenüber bilden die Nachhaltigkeitsvorgaben kein Korsett, sondern sind Spielregeln, die es aktiv mitzugestalten gilt. Beim Bauen mit ökologischen Baustoffen sollte man zudem beim Brandschutz sattelfest sein.

Fokussieren wir auf ökologische Materialvarianten: Lässt der Holzbau künftige Abfallberge schwinden?
Ein Holzbau, der gekapselt und mehrfach in Gipsplatten eingepackt ist, reduziert die graue Energie höchstens geringfügig. Eine Holzbetonverbunddecke funktioniert ökologisch gut, wenn sie roh bleiben darf. Je mehr Energie in der Fabrikation der Baustoffe steckt oder je stärker die Rohkonstruktion verkleidet ist, desto grösser wird die Umweltbelastung. Daher sind Holzbauten oder Betonskelettbauten nicht zwangsläufig richtige Konstruktionsvarianten.

Hilft Recyclingbeton weiter, obwohl der Absatz etwas zögerlich vorankommt?
Wir teilen die Bedenken nicht. Im Gegenteil: Recyclingbeton taugt für Decken und für Sichtbetonwände. Und selbst Beton aus Mischabbruch setzen wir für Treppenhäuser und Erdbebenwände ein, trotz der rötlichen Ziegeleinschlüsse. Lasierte statt verputzte Betondecken werden inzwischen auch von Bewohnern akzeptiert. Eine Differenzierung der Einsatzmöglichkeiten nach Bauteilen ist jedoch nötig. Die Materialwahl ist eine Urstrategie in der Architektur: Differenzierung entsteht aus dem spielerischen Umgang mit unterschiedlichen Rahmenbedingungen. Ergänzend wollten wir im Hardturmprojekt den klimafreundlichen Sulfathüttenzement mit Schlacke aus der Stahlproduktion (vgl. S.27) verwenden. Interessant ist, wie sehr sich die Baustoffbranche derzeit für ressourcenschonende Zutaten engagiert.

Welche Rolle nimmt der Architekt als Innovator und Erstanwender ökologischer Baustoffe ein?
Erfahrungsgemäss findet man als Architekt immer Möglichkeiten, bessere Baustoffe einzusetzen. Allerdings muss ich innovative Zulieferer frühzeitig beiziehen. Ausserdem ist eine Strategie zu entwickeln, wie der Auftraggeber überzeugt werden kann. Oft sind ökologische Materialentscheide preisgünstiger und sogar gegenüber kostenbewussten Generalunternehmern vertretbar. Primär ist die nachhaltige Idee gestalterisch eigenständig zu entwickeln. Die Architektur muss auf jeden Fall überzeugen.

Stimmt das Pauschalurteil, ökologisches Bauen sei teurer?
Bei nutzungsflexiblen Skelettbauten ist die Schnittmenge zwischen Ökologie und Ökonomie über den gesamten Lebenszyklus betrachtet gross. Grundsätzlich gilt aber: Etablierte Bauweisen sind günstiger, weil mehr Anbieter am Markt offerieren und ihre Entwicklung weiter gediehen ist. Der Einzelvergleich von Bauteilen und Konstruktionsvarianten führt jedoch nicht immer zum richtigen Resultat. Aus ganzheitlicher Projektsicht lassen sich nämlich einzelne Nachhaltigkeitsthemen mit grosser Wirkung lokalisieren, die im Gesamtpaket einfacher vertretbar sind.

Nachhaltiges Bauen ist ein junges Lernfeld. Welche Hürden sind für Architekten noch zu meistern?
Eine grundsätzliche Schwierigkeit ist der Konkretisierungsschritt vom Plan 1:100 zum realisierten 1:1. Das Verbesserungspotenzial in den Ausführungsdetails erstaunt uns immer wieder. Das bringt dem Architekten aber zusätzliche Arbeit, weil er keine schnellen Antworten des Fachplaners erwarten kann, sondern sich selbst damit auseinandersetzen muss.

TEC21, Di., 2015.07.07



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2015|26-27 Material II: Elementares Bauen

19. Juni 2015Paul Knüsel
TEC21

Zur freien Verwertung

Die Wegwerfmentalität dominiert auch das Bauen. Riesige Mengen an Bauschutt und Abbruchmaterialien landen auf Deponien oder enden als niederwertige Reststoffe. Eine Recyclingstrategie tut not.

Die Wegwerfmentalität dominiert auch das Bauen. Riesige Mengen an Bauschutt und Abbruchmaterialien landen auf Deponien oder enden als niederwertige Reststoffe. Eine Recyclingstrategie tut not.

Einladung zum Rundflug über die Baustelle Schweiz, mit Start in Nordwest: In Kleinbasel wächst der Roche-Turm in den Himmel; westlich davon möchte der Kanton Teile des Felix-Platter- Spitals niederreissen. In Muttenz BL ist ein weitläufiger Hochschulcampus im Bau; knapp 20 km südlich wird das stillgelegte Zementwerk Lausen BL demontiert. Und auf der anderen Seite des Bözbergs sind die Konstrukteure und Demonteure ebenso eifrig am Werk: Die ehemalige Konservenfabrik in Lenzburg AG ist fast abgeräumt, stattdessen spriesst eine Grossüberbauung aus dem Boden.

Eine Fortsetzung der Besichtigungstour kann man sich sparen, die Eindrücke wären dieselben: In der Schweiz wird nicht nur emsig gebaut, sondern auch mindestens so viel abgerissen, abgebrochen oder abgeräumt. Das Bauen bewegt sich im Kreis: Wo Neues entstehen soll, muss Altes weichen. Das Bundesamt für Umwelt (Bafu) schätzt, dass fast 10 Mio. m3 Bausubstanz im Jahr verschwinden[1], ein grosser Anteil darunter sind alte Industriebauten und Werkhallen. Input und Output halten sich bei diesem riesigen Materialumsatz jedoch längst nicht die Waage: Über 60 Mio. t Rohstoffe werden jährlich in die Neubauten gesteckt; gleichzeitig hinterlassen die Rückbauobjekte einen riesengrossen Abfallberg. Insgesamt fallen 3 Mio. t Bauabfälle und Abbruchmaterialien an. Allerdings wird die rekordverdächtige Recyclingquote der inländischen Privathaushalte von 50% locker übertroffen. Auf der Baustelle Schweiz werden über vier Fünftel der Abfälle aussortiert und in die Verwertung geschickt.

Knapper Deponieraum Die Abrissbirne war gestern: Heute werden Gebäude auch in Handarbeit entkernt und mit Fräsen, Schneidegeräten und Baggerzähnen fein säuberlich zerlegt. Bis zu fünf Mulden nehmen die jeweils unterschiedlichen Materialfraktionen auf. Eine zunehmende Zahl von Wertstoffhändlern und Bauteilbörsen durchstöbert inzwischen fast jeden Abbruchplatz. Intakte Fenster und Türen oder funktionstüchtige Kücheneinbaugeräte werden sorgfältig ausgebaut und bisweilen zur Weiterverwendung nach Osteuropa exportiert. Giftstoffe und Sonderabfälle ausgenommen, enden 1 bis 2 Mio. m3 Bauschutt pro Jahr auf Inert-, Reaktor- oder Reststoffdeponien. Allmählich wird der Platz aber knapp. «Die Suche nach sicheren Standorten ist aufwendig, und die Akzeptanz in der Bevölkerung nimmt weiter ab», bestätigt Patrick Plüss, Co-Geschäftsführer GEO Partner AG. Deponien gilt es zudem als letzte Senke für nicht verwertbare Abfallrückstände zu reservieren. Daher bemühen sich immer mehr Kantone, die Abfallbewirtschaftung stärker mit Recycling anzureichern.

Tatsächlich wandeln sich Strategie und die Begriffe: Bislang wurden viele Rohstoffe verbaut und nach der Nutzungsphase weggeworfen. Neu wird der Gebäudebestand als Ressourcenpool für künftige Ansprüche verstanden. «Urban Mining» hat auch den Bausektor erreicht: Das temporäre Materialreservoir im bestehenden Gebäudepark soll dereinst zur stofflichen Wiederverwertung dienen. Den Kreislauf mit sekundären Abfallressourcen zu schliessen ist allerdings nicht einfach: Zum einen ist das Preisniveau für primäre Rohstoffe niedrig, zum anderen sind hochwertige Aufbereitungsverfahren noch in Entwicklung. «Der Recyclingerfolg hängt wesentlich davon ab, wie die Behörden den Absatz der wiederverwertbaren Produkte fördern», ergänzt Umweltingenieur Plüss. Tatsächlich wird Bauschutt bisweilen erst zwischengelagert, um die weitere Entwicklung in der Abfallplanung abzuwarten.

Hohes Recyclingpotenzial

Die im Hochbau gelagerte Masse ist immens. Das geschätzte Gesamtgewicht aller Immobilien in der Schweiz beträgt rund 1 Mrd. t, mit einem spezifischen Durchschnittsgewicht von rund 360 kg/m3 Bauvolumen. Nur: Die Gebäudemasse ist nicht homogen, sondern auf über Dutzende Baumaterialien verteilt. Die verwendete Stoffchemie reicht von herkömmlichen Mineralien in Sand und Kies über organische und synthetische Substanzen bis zu Seltenen Erden. Die klassischen Schwergewichte sind Beton, Backstein, Holz und Stahl, in Bezug auf Masse und Anteile. Fassaden, Dach und Innenausbau sind aber durch eine weit grössere, unübersichtlichere Palette an Werkstoffen und Verbundmaterialien charakterisiert. Davon liegt das meiste nur in Spuren vor. Behindert wird die stoffliche Wiederverwertung aber auch dadurch, dass die wenigsten Abbruchmaterialien sortenrein oder homogen entfernt werden können. Die ETH Zürich hat vor über zehn Jahren erste Analysen der Gebäuderezeptur präsentiert. Aktuell bestimmt die Technische Universität Wien die Ingredienzen im Gebäudepark der ehemaligen Kaiserstadt (vgl. «Die Zutaten im Gebäude», S. 28). Eine solche Stoffflussanalyse erlaubt Prognosen und Strategien, um die wiederverwertbaren Materialanteile im Gebäude aufzuschlüsseln.

Lückenlose Infrastruktur

Beim Betonrecycling lässt sich der Stoffkreislauf heute schon schliessen. Rückgebaute und gebrochene Betonwände und -decken lassen sich problemlos konstruktiv wiederverwenden. «Die Recyclingquote schwankt regional zwischen 50 und 90?%», bestätigt Stefan Rubli, Inhaber der Energie- und Ressourcen-Management GmbH. Die Anteile haben sich vor allem im Kanton Zürich vergrössert, weil Behörde und Branche die ökologische Verwertungsvariante gemeinsam vorantreiben. «Basis der Erfolgsgeschichte ist eine lückenlose Aufbereitungs- und Recyclinginfrastruktur von der Rückbaustelle bis zum Betonwerk», sagt Rubli. Den weiteren Ausbau des Absatzes behindern mittlerweile weniger technische Hürden oder fehlende Kapazitäten als vielmehr Unwissen oder Bedenken bei Planern und Entscheidungsträgern.[2] Genug rezyklierbares Material hat es auf jeden Fall: Laut Stefan Rubli mischen Betonproduzenten bisweilen von sich aus geringe Abbruchanteile dem konventionellen Beton bei. Das Recycling von Kupfer, Aluminium und Altmetall ist ein weiterer Zweig, bei dem das Urban Mining bestens funktioniert.

Die Rückbaubranche arbeitet oft aus eigenem Antrieb daran, Schrott, Schutt und andere Abbruchmaterialien in sekundäre Ressourcen zu verwandeln. Und wo dies noch nicht gelingt, macht gern die Behörde darauf aufmerksam. So hat die Zürcher Baudirektion erstmals die Gipsflüsse untersucht (vgl. «Mehr Gips für den Kreislauf», S. 25) und regt eine Erhöhung der Verwertungsquote an. Gefragt sind Recyclingkonzepte, die die gesamte Materialpalette im Gebäude umfassen. Die laufende Revision der Technischen Verordnung über Abfälle (TVA) will darum, die Kreisläufe schliessen: «Dafür sind Bauabfälle zu trennen sowie stofflich und energetisch sinnvoll wiederzuverwenden».

Wertstoffcluster in Zentrumsnähe

Die Verwertung der ausschlachtbaren Ressourcen steckt allerdings erst in den Kinderschuhen. Urban Mining heisst oft: eine Kaskadennutzung mit Down- statt Recycling oder die thermische Verwertung. Das Gros des mineralischen Abbruchs wird Magerbeton und Koffer- und Füllmaterial. Altes Fensterglas wird aus qualitativen Gründen oft nicht 1:1 wiederverwendet, sondern geht häufig zur Dämmstoff- oder Hohlglasfabrikation.

Die Stadt Zürich hat 15 eigene Rückbauprojekte analysiert[3] und unter anderem den ökologischen Pfad bei der Altholzverwertung gesucht. Das Aussortieren alter Balken und heruntergerissener Wandtäfer gehört zwar zum Standardrückbau; die Verwertung jedoch endet thermisch (vgl. «Verbrennen von Altholz ist ökologisch vertretbar») oder im Export. Die ökologische Bestvariante ist materialspezifisch und hängt von weiteren Faktoren ab: «Beim Urban Mining spielen neben der Verwertung auch Transportwege, Maschinenpark und Rückbauverfahren eine wichtige Rolle», sagt Philipp Noger, Projektleiter Fachstelle für Nachhaltiges Bauen Stadt Zürich. Für das Betonrecycling wird beispielsweise empfohlen: Die Aufbereitung soll innerhalb eines Radius von 25 km stattfinden. Darum ist bemerkenswert, dass sich rund um Siedlungszentren in der Deutschschweiz eigentliche Wertstoffcluster zur Aufbereitung von mineralischen Abfällen und Altmetall angeordnet haben.

Warnung vor Altlasten

Im Rückbau fallen auch Materialfraktionen aus jüngeren Baustoffgenerationen an, deren Recycling wenig erforscht ist. Das deutsche Fraunhofer-Institut hat im vergangenen Jahr eine Pilotstudie zum Recycling von Wärmedämmverbundsystemen präsentiert. Der Tenor: Verklebte und verputzte Bauteile sind schwer trennbar. Und gegen die Wiederverwendung spricht, dass die energetische Verwertung beim Verbrennen von Kunststoffen wirtschaftlich und ökologisch besser ist. Denn eine definitive Entsorgung verhindert das Verschleppen problematischer Zutaten, etwa der Brandschutzmittel.

Zurück zur Besichtigungstour auf der Baustelle Schweiz: Am Zürcher Entlisberg startet bald der Rückbau einer Genossenschaftssiedlung, um grosszügigeren Wohnhäusern Platz zu machen. Und in Oberarth SZ muss die stolze Seidenweberei modernen Mehrfamilienhäusern weichen. Zu hoffen ist, dass diese und alle anderen Neubauten ohne bereits bekannte Problemzutaten auskommen. Denn damit das Kreislaufmodell endlich in Schwung kommt, sind mögliche Altlasten vor dem Einbau in den Gebäudebestand fernzuhalten.


Anmerkungen:
[01] Bundesamt für Umwelt (Bafu), Bauabfälle Hochbau in der Schweiz; Schlussbericht, 2008
[02] Bundesamt für Strassen (Astra), Entscheidungsgrundlagen und Empfehlungen für ein nachhaltiges Baustoffmanagement, Forschungsprojekt Astra 2005/004, 2014
[03] Amt für Hochbauten AHB Stadt Zürich, Urban-Mining- Potenzial in der Stadt Zürich, Zwischenbericht, 2014

TEC21, Fr., 2015.06.19



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TEC21 2015|25 Material I: Das Periodensystem beim Bauen

17. April 2015Paul Knüsel
TEC21

Oben blau, unten grau

Zu Fuss, zu Pferd oder in einer Sänfte wagten die Besucher früher den Aufstieg zur Rigi. Die Zeiten sind hektischer geworden, die Menschen aktiver und ungeduldiger – diese Entwicklung geht auch an der «Königin der Berge» nicht spurlos vorbei.

Zu Fuss, zu Pferd oder in einer Sänfte wagten die Besucher früher den Aufstieg zur Rigi. Die Zeiten sind hektischer geworden, die Menschen aktiver und ungeduldiger – diese Entwicklung geht auch an der «Königin der Berge» nicht spurlos vorbei.

Früher ging man auf die Rigi, um den Sonnenaufgang am Morgen früh zu bewundern. Heute ist das perfekte Rigiwetter oben blau und unten grau: Über den Glarner, Urner und Berner Alpen scheint die Sonne, und das Mittelland liegt unter einem grauen Nebelmeer. Aber nicht nur prächtige Hochnebeltage locken bis zu 12?000 Besucher nach oben, ob mit der Luftseilbahn ab Weggis oder einer Zahnradbahn ab Vitznau respektive Goldau. Typisch für einen Besuch des Voralpengipfels in der Zentralschweiz ist manchmal auch das Gerangel um freie Sitzplätze. Spätaufsteher finden manchmal keinen, weil sonst die Kapazität für eine zeitgerechte Rückkehr nicht mehr gewährleistet wäre. Abends dann das Abwarten eines Sonderzugs für die Talfahrt; denn kurz vor oder nach Sonnenuntergang wollen die vielen Tagesausflügler möglichst schnell wieder nach Hause. Bisweilen werden historische Triebwagen mit Holzbänken als spontane Reserve aus dem Depot geholt. Seit 140 Jahren transportieren die vereinigten Rigibahnen Gäste aus der ganzen Welt auf den Berg; die logistische Kunst ist mittlerweile, die Masse möglichst ohne Verzug hinunterzubringen.

Die Rigi nimmt ein Jahrhundert nach ihrer blühenden Tourismusära eine Sonderstellung ein. Zum einen werden (fast) alle anderen Berge männlich angesprochen, doch ihr kann kein Gipfel den Rang einer Königin streitig machen. Zum anderen ist sie nach wie vor eine der meistbesuchten Bergdestinationen der Schweiz. Unter anderem die Nähe zu Luzern und asiatische Pauschaltouristen sorgen für hohe Frequenzen: 1.3 Mio. Wanderer, Nordic-Walker, Natur- oder Schwingerfreunde, Skifahrer, Langläufer, Schlittler, Gleitschirmflieger und andere aktive Ausflügler tummeln sich jährlich auf der Rigi; nur Schilthorn, Pilatus, Corvatsch und der Gornergrat sind bei in- und ausländischen Touristen beliebter. War der Rigibesuch für Pilgerreisende, Adlige, Schriftsteller, Musiker und gut betuchte Erholungsuchende ab Mitte des 18. bis zu Beginn des 20. Jh. ein alternativloses Vorhaben, ist der Konkurrenzkampf unter den bestens erschlossenen Fremdenverkehrsdestinationen und Alpenresorts heutzutage hart geworden: Geschäftsgang und Frequenzen hängen stark vom Wetter ab, und die Gäste sind ungeduldiger geworden: Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer wird kürzer, was vor allem der Hotellerie und der Wertschöpfung zu schaffen macht.

Wo andere Ausflugsberge mit Events, Hochseilparks und -brücken, Hüpfburgen und Openairs um die Gunst zahlen­der Gäste buhlen, versuchen die Manager des Rigi-Tourismus zusätzlich, aus der naturnahen Wanderregion, der Älplerfolkore und einem gehobenen Wellnessangebot Kapital zu schlagen. Mithilfe von Fördermitteln und günstigen Krediten des Bundes ist in den letzten Jahren eine regionale Vermarktungsorganisation entstanden und besonders das Beherbergungsangebot auf Rigi Kaltbad aufgefrischt worden.

TEC21, Fr., 2015.04.17



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TEC21 2015|16 Rigi I – bebauter Berg

05. April 2015Paul Knüsel
TEC21

Das Brockenhaus- Quartier

Ein übergeordnetes Regelwerk und der Planungsdialog waren zur Vereinheitlichung der 13 Wohnhäuser auf dem Hunziker-Areal gedacht. Dennoch ist die Gebäudemorphologie äusserst heterogen und autonom ausgestaltet worden.

Ein übergeordnetes Regelwerk und der Planungsdialog waren zur Vereinheitlichung der 13 Wohnhäuser auf dem Hunziker-Areal gedacht. Dennoch ist die Gebäudemorphologie äusserst heterogen und autonom ausgestaltet worden.

Die Besichtigung des Hunziker-Areals zwischen den Sunrise-Towern und der KVA Hagenholz kann irritierende Wirkung haben: An der Grenze zwischen Oerlikon und Schwamendingen entsteht gerade die grösste autoarme Siedlung der Schweiz. Doch weil dies noch einige Wochen dauern wird, versperrt anstelle eines (hoffentlich) gut organisierten Velodschungels eine Vielzahl von Pkw und Lieferwagen mögliche Flanierwege durch das Quartier respektive die Sicht auf ein frisch herausgeputztes Architekturensemble. Selbst beim Blick über die Sockelgeschosse der neuen Häuser hinaus löst sich die Irritation nur bedingt auf. Das gemeinsame Wirken von fünf Architekturbüros hat einen bunten Reigen aus unterschiedlichsten Fassaden in ebenso vielen Farb-, Gestaltungs- und Konstruktionsvarianten hervorgebracht. Die Wohnhäuser selbst treten zwar fast einheitlich dimensioniert als brockenmässige Baukörper auf, ihr Ausdruck wirkt jedoch so breit assortiert wie das Mobiliar einer städtischen Brockenstube. Neben stilechten Reproduktionen füllen zeitlose Kommoden, sperrige Prototypen und auch Dutzendware das Hunziker-Areal. Mehr als nur eine Assoziation verweist auf Merkmale der Reformarchitektur[1]; ebenso sind Fragmente der klassischen Moderne oder romantisierende Elemente aus der Schweiz und Italien zu erkennen. Und während einzelne Häuser in bester Absicht urbane Coolness oder Grossbürgerflair verbreiten, schmücken sich andere mit alpinem Kolorit. Eine stimmige formale Klammer für die aussergewöhnliche Gebäudedimension zu finden, scheint keine einfache Aufgabe gewesen zu sein. Doch zu viele Nachbarn leiden unter der zusammenhanglosen Vielfalt und wirken bemerkenswert farb- und eigenschaftslos.

Das Panoptikum der 13 verschiedenen Brockenhäuser wird vom Sichtbetonwürfel (pool Architekten) am Hunziker-Platz angeführt. Seine Vorzeigefront ist kahl und streng, trotz der an das Computerspiel Tetris erinnernden Fensterbemusterung. An der Nordflanke folgt ein siebenstöckiges Gebäude mit Holzfassade und umlaufender Balkonschicht (Müller Sigrist): Zusätzlichen Kontrast sollen die vertikalen Metallspaliere – nach erfolgter Begrünung – schaffen. Nach Süden und Westen runden pastell-dezente Bauzeilen das Gebäudeensemble um den Hunziker-Platz ab: Erst die stadtvillenartigen Häuser (Šik) und die Wohnmaschine (Duplex) sorgen für eine Beruhigung der Quartiermorphologie. An peripherer Lage tauchen damit verwandte Häuser sowie zurückhaltende Stadtparkhäuser (Futurafrosch) auf. Doch je weiter weg vom Zentrum, umso schwerer fällt ihnen ihrerseits der selbstbewusste Auftritt: Zum einen ist der Abstand für eine angemessene Panoramabetrachtung verkürzt; zum anderen fehlt ein Gegenüber, das als gestalterischer Sparringspartner dient. Etwas aus der Balance zu fallen, droht der Häuserdialog dort, wo das kleinste Gebäude auf dem Areal, das Holzhaus mit Laubengang und Schindelfassade, die kalte Kehrseite des Dämmbetonhauses zu spüren bekommt. Erstaunlich dabei ist, dass beide Häuser aus derselben Architekturküche stammen. Zu loben ist die Absenz einer in vielen Neubauquartieren grassierenden Beliebigkeit sowie einer autistischen Architektur. Trotzdem hätte ein «Weniger ist mehr» dem Hunziker-Areal urbaneren Charakter verliehen und wäre der selbst formulierten Analogie zum Idaplatz gerechter geworden.

Standörtliche Unentschlossenheit

Was die Verortung der Häuser zwischen Grossstadt und Agglomeration ebenfalls erschwert, ist die heterogene Fassadenstruktur: Zwar werden fast durchwegs französische Fenster mit innerstädtischer Ausstrahlung gewählt, was unter anderem dem Lichteinfall in die tiefen Wohnräume förderlich ist. Demgegenüber entlarven herausgezogene Balkonschubladen und auskragende Balkonschichten eine standörtliche Unentschlossenheit. Die Gemeinschaftsterrassen über dem ersten oder zweiten Sockelgeschoss sind jedoch geschickt gesetzte, privilegierte Emporen im Quartier.

So subjektiv sich die Wohnhäuser präsentieren, so verschiedenartig sind ihre Konstruktionsmerkmale. Der Betonfindling ist eine «monolithische» Konstruktion aus Wärmedämmbeton (vgl. Kasten S. 32). Zwei Gebäude wurden mit einwandigem Mauerwerk aus innengedämmten Backsteinen erstellt. Zwei weitere sind Vertreter des mehrgeschossigen hybriden Holzbaus.

Und der Rest besteht aus konventionellem Mauerwerk mit verputztem Wärmedämmverbundsystem (vgl. TEC21 44/2014). Was trotz grosser Vielfalt in Gestaltung und Bautechnik für alle äusserst kompakten Häuser fast gleich gut funktioniert, sind der hohe Energieeffizienzstandard und das Bemühen, ökologisch-rationell zu bauen. Die Bilanzwerte aus dem Vorprojekt weisen darauf hin, dass sowohl der Aufwand für den Heizenergiebedarf als auch derjenige für die graue Energie gering sind. Eine Verifizierung der Kenngrössen steht noch aus; ein vom Bund mitfinanziertes Evaluationsprojekt soll in den nächsten Jahren zusätzliche Daten aus dem Betrieb liefern.


Anmerkung: [01] Wohnqualität als Reformarchitektur, Vortrag von Miroslav Šik, Professor für Architektur und Entwurf, Departement Architektur, ETH Zürich, ETH-Wohnforum 2007.

TEC21, So., 2015.04.05



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TEC21 2015|13-14 Hunziker-Areal Zürich – die bessere Vorstadt

01. März 2015Paul Knüsel
TEC21

Erdwärmesonden im Dichtestress

Der weitere Ausbau der Energienutzung aus dem Untergrund droht raumplanerische und geophysikalische Grenzen auszureizen. Für die oberflächennahe Geothermie sind daher eine nachhaltige Neuordnung und angepasste Nutzungskonzepte im Gespräch.

Der weitere Ausbau der Energienutzung aus dem Untergrund droht raumplanerische und geophysikalische Grenzen auszureizen. Für die oberflächennahe Geothermie sind daher eine nachhaltige Neuordnung und angepasste Nutzungskonzepte im Gespräch.

Die Erdwärmenutzung wird vom eigenen Erfolg in Verlegenheit gebracht. Anstatt sich über steigende Absätze am Heizungsmarkt zu freuen, denkt man derzeit mehr über absehbare Probleme im Untergrund nach. Die Schlagzeilen «Wärmeklau» und «Chaos im Untergrund» tauchten im vergangenen Jahr sogar auf den Titelseiten nationaler Medien auf.[1] Anlass dazu geben Studien und Analysen zur geothermischen Nutzung, in denen die technischen und rechtlichen Folgen des erwünschten Ausbaus abgeschätzt werden. Ein Fachbericht der Stadt Zürich[2] warnt etwa davor, das Energiepotenzial im oberflächennahen Untergrund (vgl. Glossar S. 31) grundsätzlich zu überfordern oder den Einfluss benachbarter Erdwärmesonden zu unterschätzen. Darüber hinaus regt eine Studienarbeit an der ETH Zürich[3] dringend an, die unterschiedlichen Interessen in den oberen Untergrundschichten raumplanerisch zu regulieren. Lag der Fokus beim rechtlichen Vollzug und bei der technischen Umsetzung von untiefer Geothermie bisher vor allem im Grundwasserschutz, werden inzwischen neue Aspekte wie die räumliche Koordination sowie die thermische Regeneration evaluiert.

Fachlich anerkannt ist, dass die Zunahme der Erdwärmenutzung in städtischen Wohnvierteln und ländlichen Einfamilienhausquartieren einen dichten Sondenwald hervorbringen wird. In den Folgeabschätzungen wird jedoch hinterfragt, ob das bisherige «First come, first serve»-Prinzip weiterhin genügt oder ob eine geordnetere Vollzugsvariante zu suchen ist. Ausserdem wird empfohlen, konzeptionelle Änderungen an der bisherigen Energiegewinnungsmethode vorzunehmen: Anstatt dem Boden nur Wärme zu entziehen, was ihn langfristig auskühlen würde, ist eine «energetische Bewirtschaftung» des Untergrunds vonnöten. Mit Speicherung oder Regeneration (vgl. Glossar S. 31) ist die übers Jahr bezogene Wärme zumindest teilweise, via Erdwärmesonden, ins Erdreich zurückzuführen.

Die wissenschaftlichen Grundlagen haben zwar nicht geändert: Die geothermisch nutzbare Energie ist hauptsächlich über Jahrzehnte gespeicherte Sonnenenergie. Der Energienachfluss im Untergrund ist jedoch im Kriechgang unterwegs. Der drohende Dichtestress wird deshalb nicht durch den insgesamt gespeicherten Wärmeinhalt provoziert, sondern durch die beschränkte Leitfähigkeit des Untergrunds.

Sondenfeld mit knappen Abständen

Eine weitere Gefahr stellt der mögliche «Wärmeklau» dar. Aktuelle Potenzialabschätzungen erhoffen sich vom Untergrund über 20 % der thermischen Energieversorgung im Gebäudebereich. Gemäss einer Prognose des Kantons Zürich[4] wären bis 2050 zehnmal mehr Erdwärmesondenanlagen als 2012 erforderlich. In der Stadt Zürich würde der Untergrund zu einem einzigen grossen Erdsondenfeld: Sind aktuell 1200 Erdwärmeanlagen mit 5000 Einzelsonden erstellt (Abb. S. 26), sollen in den nächsten 35 Jahren 45 000 neue Erdwärmesonden zusätzlich dazukommen.[5] Die mittlere Rasterdistanz wird sich auf rund 30 m verkürzen. Bereits ab einem Abstand unter 75 m können sich Sonden aber gegenseitig thermisch beeinträchtigen (Abb. rechts unten), zeigen Erfahrungswerte und Berechnungen des Amts für Hochbauten der Stadt Zürich und der Baudirektion des Kantons Zürich.[1,6] Der Worst Case wäre die lokale Abkühlung des Erdreichs: Sinken die Temperaturen um eine Erdsonde herum bis auf Frostniveau, verschlechtert sich zugleich der Wirkungsgrad von erdgekoppelten Wärmepumpenanlagen (vgl. «‹Nutzungsgrenzen im Untergrund›», S. 28).

Obwohl die SIA-Norm 384/6 «Erdwärmesonden» den Abstand thematisiert, ist in Fachkreisen unbestritten, dass nachbarschaftliche Probleme mittel- oder langfristig auftauchen. Ob feinere Regeln den Ausbau der Geothermienutzung steuern sollen, wollen die Behörden von Bund, einzelnen Kantonen und der Stadt Zürich gemeinsam mit Vertretern des SIA sowie von Organisationen aus dem Erdwärmebereich überprüfen.

Regeneration als selbst auferlegte Pflicht

Die Stadt Zürich selbst setzt ihre Erkenntnisse bereits in der Alltagsarbeit um: Die Richtlinie zur Systemwahl der Energieversorgung bei städtischen Bauten verlangt neu, dass die untiefe Geothermie mit Regenerationsmassnahmen kombiniert wird und Voraussetzungen für eine periodische, externe Wärmezufuhr zu schaffen sind. Zudem ist jeweils auf benachbarte Erdwärmeanlagen zu achten.

Technisch ist die Regeneration längst erprobt. Dieses Bewirtschaftungsprinzip befolgen etwa die realisierten Erdwärmesonden-Grossprojekte (vgl. S. 31); sie laden ihre Untergrundspeicher saisonal wieder auf. Ausserdem hat die Stadt Zürich selbst zwei Erdwärmeanlagen mit Regenerationsfunktion und begleitendem Messprogramm in Betrieb genommen.

Wie tief gehen Eigentumsrechte?

Neuland ist dagegen, dass die zunehmende Dichte in der Erdwärmenutzung auch rechtlich koordiniert werden soll. Ein Grund dafür sind offene Verantwortlichkeitsfragen: Wer haftet, wenn sich zwei benachbarte Erdsondenanlagen mittelfristig schaden? Sind sogar Kantone und Gemeinden mitschuldig, falls Bewilligungspraxis und finanzielle Förderentscheide die gegenseitige Beeinträchtigung von Erdwärmesonden zu wenig oder gar nicht berücksichtigt haben? Tatsächlich ist «Untergrund» ein wichtiges Traktandum in der politischen Debatte zur Raumplanung: Der Bund beabsichtigt, die laufende Gesetzesrevision in die Tiefe zu erweitern. Gleichzeitig arbeiten die Nordostschweizer Kantone Thurgau, St. Gallen und Zürich an einem Entwurf für ein kantonales Untergrundgesetz. Doch überraschenderweise sparen die bisherigen Vernehmlassungsideen die untiefe Geothermie aus.

Zusätzlich regulieren will man den Untergrund erst ab 400 m Tiefe; darüber soll wie bis anhin das Umweltrecht für geordnete Verhältnisse sorgen. Eine Ausnahme macht der Kanton Aargau: Er hat bisher als einziger ein Untergrundgesetz in Kraft gesetzt und verlangt eine zusätzliche Bewilligung für den Bau von Erdwärmesonden ab einer Tiefe von 200 m.

Trotzdem besteht auch in den obersten Schichten Koordinationsbedarf: Zum einen bemängelten Geologen und Juristen an der letztjährigen Tagung der Vereinigung für Umweltrecht, dass die wachsenden Erdwärmeansprüche andere Interessen im Untergrund einschränken können. Und zum anderen kommen sich schon heute private Erdwärmeanlagen und öffentliche Infrastrukturvorhaben in die Quere. Ein Beispiel lieferte der Bau der Zürcher SBB-Durchmesserlinie (vgl. E-Dossier «Durchmesserlinie» auf www.espazium.ch): Bei der Planung entdeckte die Bauherrschaft im unterirdischen Korridor für den Weinberg-Bahntunnel zwischen Zürich HB und Oerlikon zwei Erdsondenanlagen. Die Bohrstandorte lagen nicht unmittelbar im Tunnelquerschnitt. Aber weil Bohrlöcher um über zehn Meter von der Senkrechte abweichen können, hat die SBB die privaten Erdwärmeanlagen vorsorglich ersetzt. Bemerkenswert ist: Der Kanton Aargau und der Branchenverband Fachvereinigung Wärmepumpen Schweiz haben eine Testphase vereinbart, wonach die Abweichung der Bohrprofile bei neuen Projekten genau auszumessen ist.

Ohne übergeordnete raumplanerische Koordination verursachen die unterschiedlichen Zeitperspektiven jedoch grundsätzlichere Konflikte im Untergrund: Die private Erdwärmenutzung ist auf eine Nutzungsfrist von 50 Jahren ausgelegt. Demgegenüber legt sich eine Richtplanung mit öffentlichem Interesse nur jeweils auf 15 bis 20 Jahre fest. Braucht es spezielle Infrastruktur-Freihaltezonen oder befristete Bewilligungen für Erdsonden? Die nachhaltige Erdwärmenutzung ist inklusive dem weiteren Ausbau erwünscht. Inwiefern nun die Nutzungsvorschriften, das Normenwerk sowie die Sorgfalt bei der Planung daran anzupassen sind, ist Gegenstand laufender rechtlicher und energietechnischer Debatten.


Anmerkungen:
[01] Berichte NZZ «Forschung und Technik» (9. Juli 2014) und Nachrichtenmagazin «Rendez-Vous» am Schweizer Radio (21. Juli 2014).
[02] Amt für Hochbauten der Stadt Zürich, Erdsondenpotenzial in der Stadt Zürich, Schlussbericht 2014.
[03] Felix Schmid, Räumliche und rechtliche Herausforderungen beim dichten Einsatz von Erdwärmesonden, DAS Raumplanung ETH Zürich 2014.
[04] Baudirektion des Kantons Zürich, Energieerzeugung im Kanton Zürich; Ausbaupfad und saisonales Angebot an erneuerbarer Energie sowie die Energieerzeugung mit fossiler Wärmekraftkopplung 2013.
[05] Energiebeauftragter der Stadt Zürich, Konzept Energieversorgung 2050 der Stadt Zürich 2014.
[06] Amt für Hochbauten Stadt Zürich und Amt für Abfall, Wasser, Energie und Luft Kt. Zürich, Validierung Erdsondenpotenzial, unveröffentlicht (2014).

TEC21, So., 2015.03.01



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TEC21 2015|09-10 Erdwärme: First come, first serve?

01. März 2015Paul Knüsel
TEC21

«Nutzungsgrenzen im Untergrund»

Geothermische Energiesysteme sind – anders als konventionelle ­Wärmequellen – in die Gebäudeplanung einzubeziehen. Thomas Mégel sammelt seit Langem Erfahrungen im Umgang mit Erdsondenfeldern.

Geothermische Energiesysteme sind – anders als konventionelle ­Wärmequellen – in die Gebäudeplanung einzubeziehen. Thomas Mégel sammelt seit Langem Erfahrungen im Umgang mit Erdsondenfeldern.

TEC21: Herr Mégel, Sie waren an der Realisierung der ersten grossen Erdwärme-Pilotanlagen beteiligt. Welche Erfahrungen lassen sich inzwischen aus dem Einsatz der jungen Technologie ziehen?
Thomas Mégel: Die positive Erkenntnis ist: Bei der Auslegung von Erdwärmesystemen haben wir ein sehr präzises Niveau erreicht. Schwierigkeiten entstehen im Betrieb allerdings dann, wenn das Nutzungskonzept oder die Leistungsdimensionierung in der Projektphase geändert worden ist. Erdsonden, die unter oder neben einem Haus abgeteuft oder verlegt werden, sind das Erste, was es zu bauen gibt. Daher ist die Fachplanung für ein Erdwärmesystem sehr früh auf präzise und klare Nutzungskonzepte angewiesen. Bei konventionellen Energiequellen kann die technische Umsetzung im Verlauf der Gebäudeplanung meistens zu einem späten Zeitpunkt erfolgen. Sind geothermische Anlagen vorgesehen, ist deshalb der Ablauf in der auf ein Gebäude oder Areal ausgerichteten Gesamtplanung weitsichtig umzusetzen.

Wie kann die Planung verbessert werden?
Mégel: Um die Schnittstelle zwischen Gebäude und geothermischem Versorgungssystem besser in den Griff zu bekommen, führen wir vermehrt Gebäude­simulationen durch. Anstatt die Planung auf Normen abzustützen, können wir die gebäude­spezifischen Ansprüche präzisieren und simulieren.

Lassen sich konventionelle Heiz- oder Kühlanlagen in einem Planungskonzept ansonsten problemlos durch Erdwärmesysteme ersetzen?
Mégel: Die Wahl verändert nicht nur den Planungsablauf, auch die Spezifikation der Energiebereitstellung und des gebäudebezogenen Energiebedarfs ist daran anzupassen. Das Energievolumen aus dem Untergrund ist nämlich nicht unbeschränkt nutzbar. Während konventionelle Heiz- und Kühl­anlagen einzig auf den jeweiligen Leistungsbedarf ausgelegt sind, muss ein geothermisches Versorgungssystem auch die jährliche Energiebezugsmenge berücksich­tigen können. Erdspeicheranlagen funktionieren dynamisch und sind jeweils auf die Energieverteilung übers Jahr spezifiziert. Das Grundstück inklusive Untergrund bildet das Energiepotenzial; die Grösse des Erdspeichers definiert die übers Jahr nutzbare Energie. Daraus ergeben sich Nutzungsgrenzen.

Eine Studie der Stadt Zürich hat diesbezüglich für Aufregung gesorgt. Demnach ist das geothermische Energiepotenzial begrenzt. Wird der Untergrund als erneuerbare Energiequelle überfordert?
Mégel: Für die Wärmeversorgung von Ein­familienhäusern sind einzelne Erdsonden mit genügend Abstand, wie bis anhin propagiert, vorbehaltlos anwendbar. Nach kurzer Betriebszeit balanciert sich der Energieaustausch zwischen Untergrund und Gebäude auf einem nachhaltigen Niveau ein. Im Sommer fliesst so viel Wärme nach, wie die Erdsonde im Winter herausgezogen hat. Eine Auslegung nach der SIA-Norm bietet Gewähr, dass die Sondentiefe und die Dimensionierung der Wärmepumpe einfach und zweckmässig bestimmt werden können. Dennoch gilt, dass steiniger Boden ein schlechter Wärmeleiter und eher ein Isolator ist. Der Wärmefluss lässt sich mit einem Grundwasserbrunnen vergleichen.
Die hydraulische Durchlässigkeit im Untergrund limitiert die Nutzung: Wird zu viel Wasser gewonnen, senkt sich der Spiegel. Die Studie der Stadt Zürich weist korrekterweise darauf hin, dass die Nachhaltigkeit der Geothermie nicht per se gegeben ist. Dies wirkt sich vor allem im urbanen Raum bei zunehmender Erdsondendichte aus. Sonden, die sich zu nah kommen, graben einander nämlich die Wärme ab.

Sind schon Fälle von gegenseitigem Wärmeentzug aufgetreten?
Mégel: Mir ist bisher kein solcher Nachbarstreit bekannt. Trotzdem ist absehbar, dass sich die zunehmende Ausbaudichte im Untergrund bemerkbar machen wird. Wird dem Untergrund über Jahrzehnte Wärme entzogen, breitet sich ein Kältetrichter auf eine Distanz von 20 bis 30 m aus. Geraten zwei benachbarte Erdsonden gegenseitig in ihren thermischen Einflussbereich, verschlechtert sich der Wirkungsgrad der daran gekoppelten Wärmepumpenanlage. Eine Regeneration im Untergrund würde diesen Effekt hingegen begrenzen.

Welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen?
Mégel: Statt reine Wärmeentzugssysteme für die Gebäudeversorgung zu konzipieren, ist vermehrt auf Erdspeicherung oder aktive Regeneration zu achten. Bei einem effektiv nachhaltigen Geothermie­system wird zusätzliche Wärme in den Boden geleitet. In warmen Zeiten bieten sich Solarkollektoren oder Rückwärmeanlagen an, um den Untergrund aktiv zu regenerieren.

Auch in Einfamilienhausquartieren besteht die Gefahr, dass der Untergrund thermisch übernutzt wird. Können hier Wärmepumpenanlagen mit Kühlzusatzfunktion als Regenerator zum Einsatz kommen?
Mégel: Die Kühlung eines Wohnhauses über Erdsonden ist ein Komfortgewinn. Der thermische Regenerationseffekt im Untergrund bleibt jedoch gering. Im Vergleich zur Kühlung von Büroräumen fliesst viel weniger Wärme in den Untergrund. Eine Option zur nachhaltigen geothermischen Nutzung in eng gebauten Wohngebieten wäre dagegen, auf tiefere Erdsonden auszuweichen. Dadurch erhöhen sich das angezapfte Wärmeniveau und der Wirkungsgrad. Gleichzeitig steigen aber die Kosten für das tiefere Bohrloch. Eine Option ist, eine aktive Regeneration zu installieren.

Ist die aktive Regeneration bei grossen Erdwärme­anlagen aus technischer Sicht zwingend?
Mégel: Nicht unbedingt zwingend; auf jeden Fall aber sollen vertiefte Analysen zeigen, wie nachhaltig der Untergrund vor Ort genutzt werden kann. Bei Erdsonden sind die Abstände zu Nachbarn und die Tiefe zu klären sowie mögliche Regenerations­varianten aufzuzeigen. Im urbanen Raum wäre es zudem vorteilhaft, wenn die Behörde mit der Bewilligung ein nachhaltiges Nutzungsmass voraussetzt. Der Erdwärmemarkt ist eine Erfolgsgeschichte und hat in kurzer Zeit einen beachtlichen Stand erreicht. Nun ist es an der Zeit, Investoren und Bauherrschaften vermehrt auf den Regenerationsbedarf im dicht besiedelten Raum hinzuweisen.

Regenerations- und Speicherkonzepte sind eine beliebte Energieversorgungsvariante für gemischte Büro- und Wohnareale. Wie gut passen die Ansprüche und das Energieangebot zueinander?
Mégel: Einerseits gut, weil die Abwärme direkt vor Ort genutzt werden kann. Andererseits werden die verschiedenen Nutzungsformen voneinander abhängig gemacht: Bürogebäude sind dadurch Energieproduzenten; Leerstände in der Vermietung verursachen ein Ausfallrisiko für die Energieversorgung. Hohe Versorgungssicherheit garantieren oft nur zusätzliche, redundante Systeme. Die Erdwärme­nutzung wird daher häufig in ein bivalentes Energieversorgungssystem eingebunden. Bei monovalenten Geothermieanlagen Reservekapazitäten oder Regenerationsanlagen vorzusehen oder diese mit maximaler Leistung auszustatten ist möglich, aber eine Kostenfrage.

Sie haben die Schnittstelle zwischen Gebäudeplanung und geothermischer Energieplanung angesprochen. Was sind weitere Schwierigkeiten, die bei der Realisierung von Erdsondensystemen auftreten?
Mégel: Ein generelles Problem ist die Qua­li­tätssicherung beim Bohren und Abteufen der ­Erd­sonden, namentlich Hinterfüllung und Durchfluss können mangelhaft sein. Der Knackpunkt ist: ­Erd­sonden sind mittlerweile ein Massengeschäft, und die Bohrfirmen stehen unter grossem Preisdruck.
Die Qualitätssicherung ist schwierig durchsetzbar; im Nachhinein lassen sich Mängel jedoch nur mit grossem Aufwand lokalisieren und beheben. Eine saubere Abnahme mit Qualitätsnachweis oder Prüfprotokoll gemäss der SIA-Norm schützt aber auch den Unternehmer, falls später Probleme auftreten. Einsicht und Bewusstsein sollen nicht erst mit Schadensfällen wachsen.

Wie zeigen sich die Qualitätsmängel in der Realität? Bleiben die Häuser kalt?
Mégel: Solange die Heizung im Betrieb ­irgendwie funktioniert, fällt ein Mangel kaum auf. Trotzdem sind erdgekoppelte Wärmepumpenanlagen mit schlechtem Wirkungsgrad nicht ganz selten.
Ob die Wärmepumpe schlecht eingestellt ist oder der Mangel eher bei der Erdsonde liegt, lässt sich nachträglich schwer feststellen – ausser man analysiert Stromverbrauch und Temperaturverlauf jeweils ganz genau.

Welche Fragen sind hinsichtlich der geothermischen Nutzung noch zu erforschen?
Mégel: Zu erforschen gibt es eigentlich nicht mehr viel. Die grössten Wissenslücken betreffen Erkenntnisse aus den ersten Betriebserfahrungen einer Anlage. Zu oft kommt es vor, dass Neuanlagen kaum kontrolliert werden und auf ein rigoroses ­Funktionsmonitoring verzichtet wird. Zur Nutzung der geothermischen Quellen sind vor allem auch Schnittstellen zu beachten (vgl. «Damit die Linke weiss, was die Rechte tut», S. 34), weil verschiedene Kom­ponenten von der Erdsonde bis zur Wärmepumpe interagieren. Das heisst, um die versprochene ­Leistung erreichen zu können, braucht es jeweils
eine Gesamtschau.

TEC21, So., 2015.03.01



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TEC21 2015|09-10 Erdwärme: First come, first serve?

05. Dezember 2014Paul Knüsel
TEC21

Rückbau von KKW: Wo steht die Schweiz?

Die ersten Kernkraftwerke sind ohne grossen Aufruhr in Betrieb genommen worden. Die Stilllegung der rund 40 Jahre alten Energieerzeugungsanlagen hat jedoch politische Grabenkämpfe provoziert. Sicher ist: Mühleberg geht 2019 vom Netz. Aber wie geht es danach weiter?

Die ersten Kernkraftwerke sind ohne grossen Aufruhr in Betrieb genommen worden. Die Stilllegung der rund 40 Jahre alten Energieerzeugungsanlagen hat jedoch politische Grabenkämpfe provoziert. Sicher ist: Mühleberg geht 2019 vom Netz. Aber wie geht es danach weiter?

Ein Turm, der fast alle Bauwerke in der Schweiz überragt; daneben eine Kuppel aus fast 2 m dicken, bombensicheren Wänden sowie ein Maschinenhaus mit riesigen Turbinen und Generatoren. Moderne Kernkraftwerke fallen durch ihre räumlichen Dimension in ungewohntem Massstab auf; ihre Bausubstanz ist derart unverkennbar und massiv, weil darin eine schwer fassbare Gefahr kontrolliert genutzt werden muss: der Kernreaktor. Die Hauptingredienz, das gespaltene Uranatom, strahlt mindestens 200 000 Jahre lang für Mensch und Umwelt gefährliche Alpha- und Gammastrahlen ab. Doch nur für einen Bruchteil dieser Spanne ist die sorg- und gefahrlose Nutzung von Nuklearenergie überhaupt möglich. Der Kernzerfall nagt am Material: Spätestens wenn der Reaktordruckbehälter aus Edelstahl (bis 160 bar) versprödet, ist die technische Lebensdauer von Kernkraftwerken zu Ende. Selbst die Betreiber wissen, dass die nukleare Energieerzeugungsmaschine nicht ad infinitum funktioniert; kein KKW ist für die Ewigkeit gebaut.

Würden neue Anlagen errichtet, das Rückbaukonzept wäre bereits vor dem Spatenstich fest eingeplant. Die verwendeten Materialien wären geringer aktivierbar, die festen Einrichtungen einfacher demontierbar, die Sperrzonen kleinräumiger abschliessbar und zudem mehr Flächen im Voraus für die Entsorgungslogistik reserviert. Darauf hat das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat Ensi zumindest hingewiesen, als vor sechs Jahren die Rahmenbewilligungsgesuche für drei Ersatzkernkraftwerke in Gösgen, Beznau und Mühleberg eingereicht worden sind. Diese Vorhaben sind inzwischen sistiert; stattdessen wird nun über die ersatzlose Stilllegung und Rückbau der fünf inländischen Leistungsreaktoren debattiert (Abb. S. 24). In der Energiestrategie 2050 des Bundes bleibt einzig die Frage offen, wann es die Kernkraftwerke abzuschalten und unschädlich abzuwracken gilt (vgl. Kasten S. 24). Dieser Zeitpunkt sei noch «in weiter Ferne» respektive werde so lang nicht eintreten, «bis der sichere und wirtschaftliche Betrieb nicht länger aufrecht erhalten werden kann», erklärt Axpo-Sprecher Tobias Kistner. Nur in Leibstadt und Mühleberg werden Rückbautermine genannt: «Vor 2045 möchten wir die Anlage nicht ausser Betrieb nehmen», hofft Leibstadt-Sprecherin Andrea Portmann. Die BKW AG hat jedoch «unternehmerisch» entschieden, das KKW Mühleberg, die drittälteste Anlage der Schweiz, 2019 endgültig stillzulegen.

Stilllegung Mühleberg planen

Der 372-MWel-Siedewasserreaktor ist dreimal kleiner als die jüngeren Anlagen in Gösgen oder Leibstadt; und im Vergleich dazu fehlt in Mühleberg der Kühlturm. Doch auch so bleibt ein Koloss aus rund 200 000 t Beton, Stahl, Metall und Dichtungsmaterial, der 42 Jahre betrieben werden konnte und dessen Rückbau halb so lang dauern sollte. «Die Arbeiten beginnen unmittelbar nach dem Abschalttermin. Die radioaktiven Quellen werden schnellstmöglich aus dem Reaktor beseitigt», erklärt BKW-Konzernsprecher Tobias Fässler. Zuerst wird der Reaktorkern ausgeräumt: Die hochaktiven Brennelemente werden zum Auskühlen in ein Abklingbecken verschoben. Aus Sicherheitsgründen werden die Lüftungs- und Filteranlagen weiterhin funktionieren; die Strom- und Wasserversorgung sowie die Überwachungssysteme bleiben ebenfalls in Betrieb. Fünf Jahre später werden die radioaktiven Strahlungsquellen abtransportiert.

Solange die Standortsuche für ein geologisches Tiefenlager in der Schweiz läuft (vgl. TEC21 41/2010), werden alle schwach bis hoch radioaktiven Stilllegungsabfälle in das Zwischenlager Zwilag in Würenlingen gebracht. Exporte zur Abfallentsorgung oder Wiederaufbereitung sind seit 2006 ausgesetzt und werden im revidierten Kernenergiegesetz definitiv verboten. Der Standort Mühleberg wird ab 2024 von den übrigen nuklearen Anlageteilen befreit, sodass sechs Jahre später Abbruch und Demontage der konventionellen Kraftwerksteile beginnen können. Vier Jahre später soll der KKW-Standort an der Aare aufgehoben sein. Doch wird er ab 2034 wieder grüne Wiese? «Der Entscheid für eine industrielle oder naturnahe Nachnutzung folgt in den nächsten Jahren», ergänzt Fässler. Der Abschluss des Stilllegungsprojekts wird unabhängig davon im Kernenergiegesetz definiert: Sobald das Areal frei von radiologischen Gefahrenquellen ist, die Strahlendosis Dutzender Radionuklide (vgl. Kasten «Kerntechnische Begriffe», S. 23) die Richtwerte einhält, die Bauten kontaminationsfrei sind und Abfälle sachgerecht entsorgt sind, wird die Anlage aus der Aufsichtspflicht entlassen.

Die Kontrollbehörde Ensi ist aber jetzt schon in die Mühleberg-Planung involviert: Bis Ende Jahr erwartet sie von der BKW ein Konzept für den Abtransport und die Zwischenlagerung des Kernbrennstoffs, inklusive Beschaffung der Transport- und Lagerbehälter. Und zudem hilft eine Begleitgruppe, bestehend aus Ensi, den Bundesämtern für Energie, Umwelt und Raumentwicklung sowie dem Standortkanton Bern, die «pionierhafte Stilllegung des Kernkraftwerks Mühleberg» zu koordinieren. «Ziel ist ein möglichst effizientes, sicherheitsgerichtetes und zielführendes Bewilligungsverfahren», erklärt David Suchet, Mediensprecher der Ensi. Bis in zwölf Monaten möchte die BKW das offizielle Stilllegungsdossier übergeben. Grünes Licht für den Rückbau gibt der Bund danach per Verfügung, die von der direkt betroffenen Bevölkerung mit Beschwerde angefochten werden kann. Der Blick nach Deutschland zeigt, dass Laufzeit und Kosten politisch umstritten sind, der technische Rückbau aber kaum Widerstand provoziert.

Referenz-Rückbaustellen in Deutschland

Das nördliche Nachbarland nimmt bei Stilllegung, Abbruch und Entsorgung von Kernanlagen eine europäische Führungsrolle ein. Die grössten Rückbaustellen sind das KKW Mülheim-Kärlich am Niederrhein, 1988 stillgelegt und bis 2025 abgeräumt, sowie die Grossanlage in Greifswald mit fünf Leistungsreaktoren – hier läuft die Demontage seit 20 Jahren. Der Rückbau des 670-MW-KKW Würgassen soll nach 17 Jahren demnächst seinen Abschluss finden (Abb. unten). 17 Anlagen sind offline und warten auf baldigen Abbruch. Weitere Stilllegungsprojekte sind aus Spanien, Belgien und Schweden bekannt. «Wir haben die Erfahrungen von 37 Kraftwerken analysiert, davon 22 in Deutschland», erklärt BKW-Sprecher Tobias Fässler. Derweil hat der Energiekonzern Alpiq selbst ein deutsches Rückbauunternehmen eingekauft.

Die inländischen KKW-Betreiber sind jedoch gesetzlich gezwungen, sich auf dem Laufenden zu halten: Alle fünf Jahre sammelt der Verband Swissnuclear die aktuellen Angaben zu den anlagespezifischen Stilllegungskosten. Die letzten Daten stammen von 2011; sie beruhen auf einem Standardmodell und Erfahrungswerten aus Deutschland. So wird der Nachbetrieb etwa fünf Jahre dauern; der Rückbau sollte rund zehn Jahre später mit der Entlassung aus dem Kernenergiegesetz beendet sein. Weitere grundlegende Erkenntnisse sind: Nukleare Hauptbestandteile wie Druckbehälter oder Teile des biologischen Schilds und der Betonhülle werden prioritär abgebaut. Der Rückbau von Reaktorkuppel und anderen Sperrbereichen erfolgt frühestens in zehn Jahren, erst aber im ausgeräumten Zustand. Und Siedewasserreaktoren erhöhen den Rückbau- und Entsorgungsaufwand im Vergleich zum Druckwasserreaktor.

Eine alternative Stilllegungsvariante bietet der «sichere Einschluss»: In Deutschland wurden drei Reaktoranlagen nicht sofort zurückgebaut, sondern technisch angepasst und vorläufig stehen gelassen. Die Strahlendosis der Reaktorkomponenten klingt natürlich ab; bis zu 50 Jahre Warten hilft dadurch, den Dekontaminationsaufwand wesentlich zu reduzieren. Obwohl inländische KKW-Betreiber die Einschlusstrategie für preisgünstiger halten, bevorzugt das Ensi den zeitnahen Rückbau (vgl. Kasten «Internationale Standards», S. 23).

Unabhängig vom Zeitplan verursacht jeder Rückbau sehr viel qualitativ unterschiedliches Material. Zwar sind nur die Brennelemente hochaktiv. Und insgesamt fallen rund 3 % der Mühleberg-Baumasse in die Kategorie der radioaktiven Abfälle, wofür Zwischenlagerung respektive geologisches Tiefenlager der richtige Entsorgungsweg ist. Doch jedes Kilogramm Rückbaumaterial, das dank sorgfältiger Trennung, Reinigung oder Dekontamination nicht als radioaktiver Abfall, sondern konventionell entsorgt werden kann, entlastet das Stilllegungsbudget überproportional. Wie viele Reaktorkomponenten als verstrahlt anzunehmen sind, lässt sich aktuell aber nur mit grossen Unsicherheiten abschätzen: Beim Rückbau deutscher Anlagen ist zuletzt aufgefallen, dass der Betonmantel stärker kontaminiert ist als zuvor angenommen. Und zudem soll der Bewertungsrahmen für die Freimessung strenger werden: Gemäss David Suchet sind die Freigrenzen der Isotopenpalette an internationale Standards anzugleichen; in anderen Staaten werden bis zu 800 Radionuklide erhoben. Swissnuclear hat seinerseits die Kosten für Stilllegung und Entsorgung zwischen 2006 und 2011 um fast 20 % nach oben korrigiert. Und sogar die Entsorgung von freigemessenem Betonabbruch und Stahlschrott kann Probleme bereiten. Anwohner von deutschen Deponien beginnen sich gegen die Ablagerung von unbedenklichen Stilllegungsabfällen zu wehren.

Viele solcher Details werden an den regelmässigen Fachkonferenzen über die Stilllegung und den Rückbau von Kernkraftwerken diskutiert. In den Tagungsprogrammen haben sich weitere, ungewöhnliche Themen etabliert: die Rolle der Fachkräfte, die ihren eigenen Arbeitsplatz aufheben sollen, und die Gefahr eines Know-how-Verlusts, bevor die Anlage stillgelegt ist. Auch die BKW ist sich bewusst, dass der Mühleberg-Rückbau mit angemessenen personellen Ressourcen umzusetzen ist. «Wir legen grossen Wert darauf, das interne Know-how für die Stilllegung zu nutzen, und bilden die jetzigen Mitarbeitenden dazu aus», bestätigt Tobias Fässler. Wichtig für Ensi-Vertreter David Suchet ist zudem, dass die «Zusammenarbeit zwischen internem Werkspersonal und externen Spezialisten funktioniert».

TEC21, Fr., 2014.12.05



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TEC21 2014|49 Kernkraftwerke rückbauen

05. Dezember 2014Paul Knüsel
TEC21

Von heiss zu kalt

In der Schweiz sind bereits mehrere Forschungsreaktoren stillgelegt, teilweise demontiert und für die Endlagerung vorbereitet worden. Das Paul-Scherrer-Institut hat beim Entkernen und Dekontaminieren der Versuchsanlagen besonderes Geschick gezeigt.

In der Schweiz sind bereits mehrere Forschungsreaktoren stillgelegt, teilweise demontiert und für die Endlagerung vorbereitet worden. Das Paul-Scherrer-Institut hat beim Entkernen und Dekontaminieren der Versuchsanlagen besonderes Geschick gezeigt.

In der Schweiz sind bereits mehrere Forschungsreaktoren stillgelegt, teilweise demontiert und für die Endlagerung vorbereitet worden. Das Paul-Scherrer-Institut hat beim Entkernen und Dekontaminieren der Versuchsanlagen besonderes Geschick gezeigt.
Text: Paul Knüsel

Der Traum vom eigenen Reaktor begann auf einer grünen Wiese im unteren Aargauer Aaretal. Ab Mitte der 1950er-Jahre lotete ein Konsortium der damaligen Grossfirmen Brown Boveri & Cie, Gebrüder Sulzer sowie Escher, Wyss und Cie das industrielle Potenzial der zivilen Atomtechnologie aus.[1] Walter Boveri persönlich schloss den Kaufvertrag für die abgelegene Parzelle zwischen Aare und Wald ab; in der Folge entstand darauf das Reaktorzentrum Würenlingen (Schweizerische Bauzeitung, Jg. 76, H. 38), und heute ist dies das östliche Gelände des Paul-Scherrer-Instituts (PSI). Hier erforschen Physiker und Chemiker der ETH nun Materialien, Supraleiter und Photovoltaikzellen; vor 57 Jahren trat die Schweiz an diesem beschaulichen Standort aber ins Atomzeitalter ein: Am 30. April 1957 wurde der erste Versuchsreaktor hochgefahren und die Uranspaltung in Gang gesetzt.

Die Testanlage war ein Swimmingpool-Reaktor mit Leichtwasser im Kühlbecken, dessen bläulicher Schimmer dem Reaktor den Namen Saphir verlieh. Die Anlage war eine US-amerikanische Entwicklung und zwei Jahre zuvor als Demonstrationsobjekt für die erste UNO-Atomkonferenz aus Übersee nach Genf gebracht worden. Die inländische Reaktor AG konnte den funktionstüchtigen Kleinreaktor erwerben und erhielt als Gastgeschenk noch 6 kg hoch angereichertes Uran dazu. Über drei Jahrzehnte dienten Saphir und die Brennstäbe der inländischen Reaktorforschung. Ende 1993 war Schluss: Anstandslos nahmen die Amerikaner die Uran-Isotope zurück; die Leute vor Ort kümmerten sich um den grösseren Aufwand für Ausserbetriebnahme, Dekontamination und Rückbau der Saphir-Anlage.

1998 reichte die PSI-Direktion das offizielle Stilllegungsgesuch ein, zwei Jahre später genehmigte der Bundesrat die Demontage. Die Rückbauarbeiten begannen 2002, und bis 2008 waren die Reaktorbestandteile, insbesondere die Unterwasserinstallationen und der Pool, mithilfe fernbedienter Werkzeuge zerlegt. Die Aufsichtsbehörde, die Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen (HSK, heute: Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat Ensi), erlaubte, das Reaktorwasser ohne Kontaminationsgefahr für die Umwelt in die Aare einzuleiten. Vollständig aus der Welt sind die zerlegten oder eingeschmolzenen Rückbaumaterialien der Saphir-Testanlage trotzdem nicht: Die 500 t schwere Masse wurde möglichst klein verpackt und in 200-l-Fässer und Kleincontainer für die Zwischenlagerung einbetoniert (konditioniert).[2]

Weil sich im Untergeschoss des Saphir-Gebäudes ein temporäres Kernbrennstofflager befindet, bleibt die Aufsichtspflicht bestehen, und eine anderweitige Nutzung ist ausgeschlossen.[3]

Einmaliger Entlassungsentscheid

Auf dem östlichen PSI-Areal steht ein weiteres Gebäude, das seine kerntechnische Vergangenheit bereits überwunden hat. Über Jahrzehnte wurde darin ein zweiter Forschungsreaktor, Diorit, betrieben. Die schmucklose Halle mit Hochkamin verrät kaum, dass in ihr zwei Pionierleistungen für das Atomland Schweiz stattgefunden haben: 1960, drei Jahre nach Saphir, wurde der erste Forschungsreaktor «made in Switzerland» in Betrieb genommen; ein Team unter Leitung des ETH-Physikers Paul Scherrer hatte den Schwerwasser-Natururan-Typ mit 20 MW Leistung entwickelt. 53 Jahre später ist erstmals der vollständige Rückbau inklusive Entlassungsbescheid an einer kerntechnischen Forschungsanlage umgesetzt worden. Aber auch deren Bestandteile sind nur teilweise verschwunden: In der Zwilag-Spezialhalle für hochaktive Abfälle steht ein Castor-Transportbehälter mit einbetonierten Diorit-Brennelementen; 26 dickwandige Sicherheitscontainer mit 4.5 m³ Volumen stapeln sich in der Halle für schwach- und mittelaktive Abfälle. Hier warten sie auf die Eröffnung eines Tiefenlagers.

Stilllegung und Rückbau des Diorit-Forschungsreaktors nahmen fast zwei Jahrzehnte in Anspruch; eine solche Zeitspanne reicht inzwischen für das Abräumen ganzer Kernkraftwerke aus. Zwar lassen sich weder Dimension, Struktur noch Geometrie der Versuchsanlagen mit einem KKW vergleichen, doch bei der Vorgehensweise und dem Umgang mit radioaktiven Materialien sind Parallelen unverkennbar. Bei der Wahl der Rückbaustrategie und mit teilweise selbst entwickelten Dekontaminations- und Konditionierungsverfahren haben die Verantwortlichen am PSI sogar gut verwertbare Pionierarbeit geleistet. Einerseits war Mitte der 1980er-Jahre die Umsetzung eines Rückbauentscheids für die Schweiz technisches, organisatorisches und regulatorisches Neuland. Konzeption und Planung übernahmen die mit den Kleinreaktoren vertrauten PSI-Forscher. Für zusätzlichen Wissenstransfer sorgten Kontakte nach Süddeutschland: In Bayern begann 1987 der Rückbau des mittelgrossen Kernkraftwerks Niederaichbach; ebenso waren in Karlsruhe Stilllegungsarbeiten an Testanlagen im Gang. Andererseits gelang es den PSI-Verantwortlichen, mehr als die Hälfte des über 7 m hohen Zylinders aus Baryt- und Colemanit-Beton, Stahlblech, Gusseisen und Aluminium in strahlungsfreie und daher konventionelle Abbruchmaterialien aufzutrennen.

1994 bewilligte der Bundesrat den Rückbau

des Diorit-Reaktorblocks. Definiert waren vier Demontagephasen und ein Dutzend Auskern- und Zerlegungsschritte, verteilt auf neun Jahre. Leicht verstrahlte Rückbauteile wurden anfänglich in ein geschütztes Abklinglager gebracht. Der Einsatz von Diamantkreissägen und Bohrmaschinen wurde aus dem Kommandoraum fernbedient gesteuert und überwacht; solche Trennverfahren (vgl. Kasten S. 29) werden bei Leistungsreaktoren inzwischen standardmässig eingesetzt. Neuartige Techniken waren am 1 : 1-Modell («Mock-up») hinsichtlich des Störfallrisikos zu erproben. Und eine zusätzliche Erkenntnis war, dass das Zerlegen und Konditionieren der Abfälle den Aufbau einer Infrastruktur vor Ort bedingt: Im Kellergeschoss des Diorit-Gebäudes steht ein Induktionsofen, in dem der zerteilte Aluminiumtank eingeschmolzen wurde. Eine Betonieranlage diente dem Verfüllen der Entsorgungscontainer. Diese Dekontaminierungs- und Konditionierungsinfrastruktur kann für künftige Rückbauarbeiten verfügbar sein. Ausserdem war ein Mess- und Überwachungssystem in- und ausserhalb des Diorit-Forschungsgebäudes einzurichten. Eigens dazu wurden Grundwasserbrunnen ausgehoben, um den allfälligen Austritt von Radioaktivität nicht zu verpassen.

Premiere bei der Abfallkonditionierung

Die Rückbauformel in aktuellen Stilllegungskonzepten lautet: von heiss zu kalt. Bereits der Diorit-Reaktorzylinder ist von innen nach aussen und von oben nach unten ausgeräumt worden.[4] Standard damals und heute ist ebenso, das Reaktor-Containment – die biologische und die thermische Schutzhülle – sowie die Lüftungsanlage so lange nicht anzutasten (vgl. «Rückbau von KKW», S. 22), bis das hochaktive Kernmaterial und weitere radioaktive Reaktorteile entfernt sind. Die grösste Innovation ist den Forschern der PSI-Sektion Rückbau und Entsorgung allerdings bei der Konditionierung der verstrahlten Diorit-Abfälle gelungen. Um das Volumen von rund 40 t radioaktivem Grafit zu reduzieren, entwickelten sie ein Verfahren, von dem die Kraftwerksbranche bis heute profitiert. Statt das Grafit, ein Puffermaterial im Kernreaktor, separat in Endlagerbehälter einzubetonieren, wird es vermahlen als Sandersatz dem Füllmörtel beigemischt.[5] Die Konditionierungstechnik mit PSI-Patent verringert die Zahl der Abfallgebinde, zudem festigt grobkörniger Grafit die Füllmasse.

Aktuell wartet auf dem PSI-Gelände eine dritte Forschungsanlage auf die kerntechnische Demontage; Proteus, ein wandelbarer Reaktortyp, wurde 2011 nach 43 Jahren ausser Betrieb genommen. Der Rückbau ist bereits geplant; er wird von den positiven Erfahrungen und den unvorhersehbaren Ereignissen bei den Demontagearbeiten an Saphir und Diorit profitieren. Zweimal musste die Aufsichtsbehörde damals intervenieren:
So war die Strahlendosis für das Rückbaupersonal kurze Zeit leicht erhöht, wurde aber als «tolerierbar» eingestuft.[6] Und als beim Auftrennen einer Rohrleitung Asbest auftauchte, wurden die Abbrucharbeiten mehrere Monate unterbrochen. Mehraufwand ohne erhöhtes Sicherheitsrisiko verursachte zudem die Demontage des Diorit-Zylindermantels. Radiologische Messungen in der 2.5 m dicken Betonwand zeigten eine stärkere Verstrahlung als ursprünglich gedacht. 25 cm tief war die radioaktive Schicht mit einem Hohlrohrbohrer zu entkernen. Der äussere Mantel blieb unverschmutzt, sodass rund 60 % der Diorit-Reaktormasse, vor allem Beton und Stahl, nach dem Freimessen Abbruchmaterial von unbedenklicher Entsorgungsqualität sind.


Anmerkungen:
[01] Tobias Wildi, Die schweizerische Atomtechnologie-Entwicklung 1945–1969, Zürich 2003
[02] Hans-Frieder Beer, Radioactive waste management at the Paul Scherrer Institute, Nuclear technology & radiation protection 2009
[03] Ensi-Gutachten zum Stilllegungsprojekt der PSI-Versuchsverbrennungsanlage, Brugg 2012
[04] Fritz Leibundgut, Decommissioning and dismantling of the diorit research reactor, PSI 1998
[05] Hans-Frieder Beer, Complete Conditioning of Activated Reactor Graphite, Strahlenschutzpraxis 4/2009
[06] Aufsichtsbericht zur nuklearen Sicherheit und zum Strahlenschutz in den schweizerischen Kernanlagen, Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen (HSK) 2004

TEC21, Fr., 2014.12.05



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29. Mai 2014Paul Knüsel
Neue Zürcher Zeitung

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Mit fast gegensätzlichen Installationskonzepten werden derzeitEnergiesparhäuser gebaut. Am Markt werden aber Immobilienmit einfachem Betrieb und geringem Unterhalt bevorzugt.

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31. März 2010Paul Knüsel
db

Axpo-Verwaltungsgebäude in Baden (CH)

Der jüngste energieeffiziente Vorzeigebau der Schweiz ist nicht nur vom äußeren Erscheinungsbild her glamourös und rühmlich. Hinter der kompakten, überaus ansprechenden Hülle und den ornamentartigen Oberflächen demonstrieren auch seine energetischen Werte, dass ökologisches Bauen, Energieeffizienz und hohe architektonische Ansprüche zusammenpassen.

Der jüngste energieeffiziente Vorzeigebau der Schweiz ist nicht nur vom äußeren Erscheinungsbild her glamourös und rühmlich. Hinter der kompakten, überaus ansprechenden Hülle und den ornamentartigen Oberflächen demonstrieren auch seine energetischen Werte, dass ökologisches Bauen, Energieeffizienz und hohe architektonische Ansprüche zusammenpassen.

Moderne Geschäftswelten glänzen häufig mit dem Baustoff Glas. Nicht wesentlich anders weiß sich das neue Verwaltungsgebäude des Schweizer Energiekonzerns Axpo in Szene zu setzen. Wo bisher klassizistische Großbauten aus Stein und profane Metallkästen die Potenz der Firma markieren, darf nun ein gläsernes, mattschimmerndes Bauwerk den traditionellen Firmensitz in Baden ergänzen. Das in der Höhe einmal abgestufte, vier- bzw. fünfstöckige Bürogebäude wirkt dabei hell und leicht. Glasplatten aus ESG, auf denen sich glänzende und sandgestrahlte Partien abwechseln und so ein zusammen mit einem Künstler entwickeltes Muster ergeben, überdecken einheitlich den konventionellen, massiven Betonbau; versetzte, dreifachverglaste Fenster in nur zwei unterschiedlichen Formaten beleben das Erscheinungsbild. Auf diese Weise vermag die Erweiterung die heterogene Umgebung nicht nur zu verdichten, sondern v.a. auch zu beruhigen. Das Werk von Meier Leder ist somit städtebaulich wie gestalterisch gelungen. Dem Bau ging vor sechs Jahren ein Architekturwettbewerb voraus, den das noch recht junge, ortsansässige Architekturbüro für sich entschied.

Die Qualitäten des im vergangenen Herbst bezogenen Neubaus, der durch einen zweistöckigen Verbindungstrakt mit dem Bestand verbunden ist, zeigen sich aber auch hinter seiner Fassade: Großzügige Fensteröffnungen, Innenhöfe und Rundläufe schaffen eine Licht durchflutete, offene und kommunikative Atmosphäre. Die Sitzungs- und Konferenzräume bilden die einzigen abtrennbaren Inseln auf den überwiegend als Großraumbüro konzipierten Flächen. Und ohne allzu großen Energieverbrauch bleibt die thermische Behaglichkeit an den Arbeitsplätzen über das ganze Jahr gewahrt: Der Heizwärmebedarf konnte auf ein Drittel des gesetzlichen Grenzwerts von 38 kWh/m2a gesenkt werden; auch der Primärenergieaufwand ist optimiert. Dagegen sorgt die innerstädtische Lage praktisch von selbst dafür, dass sich der Mobilitätsaufwand für die Benutzer minimieren lässt. Nur wenige Gehminuten vom Bahnhof entfernt, sei »die Zahl der Parkplätze in der neuen Tiefgarage bewusst klein gehalten worden«, bestätigt Manfred Thumann, CEO der Axpo AG. Noch besser wäre es für eine positive Nachhaltigkeitsbilanz gewesen, komplett auf sie zu verzichten.

Global verträglich

Das Energiesparkonzept der Erweiterung orientiert sich trotzdem an den Anforderungen der 2 000-Watt-Gesellschaft (siehe dazu auch S. 46). Der Ressourcenverschleiß und der CO2-Ausstoß, die bei der Nutzung von Gebäuden verursacht werden, sind danach auf ein global verträgliches Nachhaltigkeitsmaß zu reduzieren. Für die Umsetzung dieser Ziele hat der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein (SIA) mit dem Effizienzpfad Energie ein eigenes Planungsinstrument geschaffen. Nutzflächenbezogene Zielwerte bestimmen nicht nur den Energiebedarf für Raumklima, Warmwasser und Beleuchtung, sondern neuerdings auch den Rohstoffaufwand beim Bauen sowie die »induzierte Mobilität«. Die ersten, umfassend bilanzierten Leuchtturm-Projekte dieser 2 000-Watt-Gesellschaft stehen bereits im Großraum Zürich: Wohnbauten im innerstädtischen Bereich, ein Schulhaus und nun das Verwaltungsgebäude des Axpo-Energiekonzerns.

Uneingeschränkt

Obwohl mit zunehmenden Auflagen das Leben eines Architekten schwieriger wird, fühlte sich Martin Leder beim Entwurf des Projekts kaum eingeschränkt: »Die Architektur erhält sogar Freiräume zurück, wenn anstelle eines fixen Gebäudestandards die umfassende Energiebilanzierung angestrebt wird.« Zwei wesentliche, gestalterische Ansätze scheinen sich bei energieeffizienten Büro- und Zweckbauten dennoch durchzusetzen: Zum einen besitzt die Außenhülle eine kompakte Form, was der internen Wärmeverteilung zu Gute kommt. Zum andern wird das Innenleben offen und flexibel – und somit fast ohne Stützen in den Räumen – organisiert. Als Reaktion auf die tiefen Grundrisse brauchen diese jedoch einen zusätzlichen Tageslichteintrag über das Dach. Im Axpo-Gebäude sorgen daher zwei nach oben verglaste Innenhöfe für die natürliche Beleuchtung. Gegenüber den Büroetagen sind sie teilweise mit großen, fensterartigen Öffnungen abgeschlossen und beherbergen kleinere Erholungs- und Kaffeezonen. Die Arbeitsplätze, um die Lichthöfe herum angeordnet, sind somit quer durch das Gebäude hindurch einsehbar. Das Offenhalten von Durchgängen und Einsichten hat System, der Bauherr will seinen Angestellten so den unkomplizierten Austausch ermöglichen. Am Arbeitsplatz selbst erfolgt die Beleuchtung über Stehleuchten, die über einen Präsenzmelder und Lichtsensor gesteuert werden.

Mit Blitz und Donner

Auch das Personalrestaurant ist mit Blickbezügen organisiert, es befindet sich im Verbindungstrakt der Erweiterung. Dort haben die Architekten zusammen mit der Grafikerin Fabia Zindel die Gestaltung und insbesondere den Schallschutz originell gelöst. Inspiriert von der Haupttätigkeit des Bauherrn und dem Erfindungsgeist des kroatischen Elektrophysikers Nikola Tesla, wurden Stromblitze zur vielseitig verwendbaren Ornamentvorlage erkoren: Sie überziehen sowohl die gelochten Akustikplatten aus Holz, dienen aber auch als grafisches Grundmuster zur Dekoration der Wand- und Deckenbekleidung.

Innere Werte hinter Glanz und Glamour

Weniger dekorativ als die Glasfassade oder das Restaurant, aber mindestens so vorzeigbar sind die inneren Werte des neuen Gebäudes: Der Heizwärmebedarf beträgt 13 kWh/m2a und übertrifft somit die Vorgaben des Schweizer Niedrigenergiestandards Minergie deutlich. Zum Erreichen des Minergie-P-Werts reichte es hingegen nicht ganz: Die Gebäudehülle hätte dafür noch stärker gedämmt oder aber Solarenergie anstelle fossil erzeugter Fernwärme für die Warmwassererzeugung berücksichtigt werden müssen. Demgegenüber hat das mit der Optimierung der Gesamtenergie beauftragte Architekturbüro H.R. Preisig berechnet, dass der Primärenergiebedarf für die Herstellung nur bei rund 30 kWh/m2a liegt.

Zur maßgeblichen Reduktion des Material- und Primärenergieaufwands beigetragen haben – trotz viel Beton und Glas – die kompakte Gebäudeform sowie die einfache Tragstruktur. Für die massiven Bauteile an Fassade und im Kern wurde ausschließlich Recyclingbeton verwendet.

Primär- und Sekundärstruktur sind fein säuberlich getrennt, um den künftigen Betriebsunterhalt respektive den Ersatz oder die spätere Entsorgung technischer Installationen zu vereinfachen. Dadurch und aufgrund weiterer, ressourcenschonender, gesundheitsfördernder oder nutzerrelevanter Kriterien – darunter die optimierte Tageslichtnutzung, geringe Lärmimmission und die geringe Schadstoffbelastung der Raumluft – hat der Bürobau zusätzlich das Minergie-Eco-Zertifikat bekommen.

Das Raumklima regelt ein träge reagierendes, kombiniertes Heiz- und Kühlsystem. Die Energie wird dafür aus rund 40 m Tiefe bezogen, aus einem permanent 14 8 C warmen Grundwassersee. An kalten Tagen erzeugt die Wärmepumpe daraus Heizwärme und Innentemperaturen von mindestens 22 8 ; im Sommer wird damit gekühlt, sobald die Raumtemperatur 28 8 überschreitet. In beiden Fällen wird die Wärme bzw. die Kälte in den offenen Büroräumen über eine abgehängte Heiz- und Kühldecke verteilt. Der Beitrag der kontrollierten Lüftung zur Nachtauskühlung ist folglich nur bedingt notwendig.

Die Lüftungsanlage ist ihrerseits mit einer Wärmerückgewinnung ausgestattet und auf geringe Strömungsgeschwindigkeiten ausgelegt, um die hygienisch notwendigen Luftwechselraten zu erreichen. Einzig in den Sitzungszimmern lässt sie sich individuell regulieren, um sich der temporären Belegungsdichte anzupassen.

Eine wichtige Aufgabe besteht nun aber darin, Erfahrungswerte zu sammeln. Gemäß Reto Bühler, dem Leiter der Bauökonomie bei den Axpo-Immobilien, wird es in den Übergangszeiten und auch im Sommer anspruchsvoll, jederzeit die optimale Einstellung der Haustechnik zu finden. Denn den schnell schwankenden Außentemperaturen steht etwa die Trägheit solcher Bauteilaktivierungssysteme gegenüber und im Sommer treibt v. a. die hohe Belegungsdichte sowie die Abwärme der Computer den Kühlbedarf der Büros nach oben. Die internen Energielasten ebenfalls in das Versorgungskonzept einzubeziehen, war allerdings kein Thema. In einem umfassenderen Sinne ist die Einbindung und die Akzeptanz der Benutzer für den Betrieb derart energieeffizient betriebener Gebäude dennoch äußerst wichtig: Gemäß Bühler wird in Kürze eine Umfrage über die Arbeitsplatzqualität stattfinden. Und ein automatisches Mess- und Überwachungsprogramm soll demnächst allen Angestellten den Energieverbrauch im Gebäude – für die Beleuchtung, den Lift und alle anderen technischen Hilfsmittel – sichtbar machen. Für das Gebäude ist dies eine »wichtige Maßnahme, um die Kosten für den Betriebs- und Energieaufwand gering zu halten«, erklärt Manfred Thumann. Für den Energiekonzern Axpo als Produzent von Atomstrom ist dies aber auch gut fürs Image. Insofern steckt hinter den Investitionen in einem solch nachhaltigen Vorzeigebau womöglich auch ein bewusstes Kalkül.

db, Mi., 2010.03.31



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