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01. September 2017Andrea Wiegelmann
TEC21

Urbane Ensembles

Der Architekt Hans Ulrich Scherer hat mit seinen Entwürfen für Terrassensiedlungen in den 1960er-Jahren eine dichte, urbane Typologie entwickelt, die überzeugt. Zwei seiner Entwürfe, die Siedlungen Mühlehalde und Brüggliacher, zeigen beispielhaft, dass dieser Bautyp einen Beitrag zur Nachverdichtung leisten kann.

Der Architekt Hans Ulrich Scherer hat mit seinen Entwürfen für Terrassensiedlungen in den 1960er-Jahren eine dichte, urbane Typologie entwickelt, die überzeugt. Zwei seiner Entwürfe, die Siedlungen Mühlehalde und Brüggliacher, zeigen beispielhaft, dass dieser Bautyp einen Beitrag zur Nachverdichtung leisten kann.

Die Zeitschrift «Schöner Wohnen» veröffentlichte in ihrer Ausgabe 10/19661 einen Beitrag zur Siedlung Mühle­halde in Umiken, Brugg. Darin schreibt die Redaktion, dass die Qualität einer Hangsiedlung auch davon lebe, dass das einzelne Haus nicht ablesbar sei. Sie nennt noch einige weitere Punkte, die eine gute Terrassensiedlung auszeichnen. Darunter etwa ihre Lage im und nicht auf dem Hang, die die Planung der Anlage mit den topografischen Gegebenheiten des Areals bedinge und eine Verschränkung der einzelnen Wohnungen mit sich bringe; sowie die Verschränkung von öffentlichen Bereichen mit Hauszugängen, Spielplätzen und der Erschliessung. Das Wohnen in der Terrassensiedlung gleicht in einer solchen räumlichen Konfiguration dem Wohnen in einem Quartier.

Dabei entsteht das räumliche Gesamtbild aus dem Zusammenspiel der einzelnen Elemente. Die Hangsiedlung ist in diesem Sinn ein durchaus dichtes, städtisches Ensemble.

Beide Aspekte spielen bei heutigen Planungen leider zu selten eine Rolle. Sogenannte «Terrassensiedlungen», die so manche Landschaft in den Agglomerationen unserer Städte und Gemeinden verschandeln, sind oftmals als voneinander abgeschottete «Einfamilienhäuser» geplant und realisiert. Damit dies möglich ist und die sich in der Regel auf einem Geschoss ausbreitenden Wohnungen untereinander nicht einsehbar sind, werden die Wohnungen im immer gleichen Winkel auf die Hänge gestapelt. Entsprechend autistisch stehen die Anlagen gegen den Hang, auf dem sie sitzen.

Das Tragische ist, dass sie nicht als Ensemble geplant und entwickelt sind und keinerlei aussenräumliche Qualitäten aufweisen, die zuvor beschriebenen Aspekte also ignorieren. Öffentliche Räume fehlen in diesen Strukturen. Hinzu kommen eine gewisse Ignoranz gegenüber dem unmittelbaren Umfeld und die daraus resultierende bauliche Zersetzung unserer ohnehin bedrängten Landschaftsräume sowie die fehlende Dichte. Derartige Anlagen haben nichts mit dem Typ der Terrassensiedlung zu tun, den Scherer propagierte. Sie stellen vielmehr eine verkümmerte Auslegeordnung derselben dar. Dass sie in die Kritik geraten, ist verständlich.

Dabei kann die Typologie einen Beitrag leisten zur Schaffung von Wohnraum in dichten Strukturen, sofern man sie als städtisch-räumliches Gefüge auffasst und entwickelt. Die Siedlungen Mühlehalde in Umiken (1963–1971) und Brüggliacher in Oberrohrdorf (1966–1971/72) sind Beispiele gelungener Planungen, die einer solchen Haltung verpflichtet sind.

Alternative Wohnmodelle

Fährt man mit dem Zug von Zürich Richtung Basel, fällt der Blick des Reisenden nach dem Halt in Brugg und vor dem Passieren der Aare auf die Siedlung Mühlehalde am Hang über dem Fluss. Federführend für ihren Entwurf war Hans Ulrich Scherer. Der Absolvent der ETH Zürich und ehemalige Mitarbeiter von Alfred Roth wollte mit seinen Projekten der in den 1960er-Jahren einsetzenden Zersiedelung der Landschaftsräume im Aargau entgegenwirken. Die Mühlehalde ist gebautes Ergebnis des von Scherer initiierten Projekts «Brugg 2000», das er mit seinen Partnern Strickler und Weber als «team brugg 2000» entwickelte und zunächst in einer Ausstellung der Bevölkerung präsentierte.

Städte­baulich gliederten die Architekten Brugg in Alt, Mittel- und Neustadt und definierten neue, verdichtet bebaute Wohngebiete an den Hängen des Bruggerbergs und Lindhofs. Die zwischen 1963 und 1966 (1. Etappe) bzw. 1971 (2. Etappe) von team 2000 in Kooperation mit ­Metron Architekten realisierte Siedlung wurde von den Architekten vor diesem Hintergrund als Modellplanung für verdichteten Siedlungsbau verstanden.

Für Scherer sind Terrassensiedlungen gegenüber grossformatigen Wohnsiedlungen und den sich ausbreitenden Einfamilienhausgebieten als kompakte Wohntypologie mit privaten wie öffentlichen Aussenräumen eine attraktive Alternative. Entsprechend ist die Siedlung Mühlehalde ein Beitrag zur Diskussion um alternative Wohnformen. Dass die Beschäftigung mit derartig (verdichteten) Wohnmodellen in die Zeit gehörte, zeigen auch Publikationen wie die vom Darmstädter Architekten Ot Hoffmann zu «Neuen urbanen Wohnformen», die 1965 erschienen ist und in der sich der Herausgeber neben Gartenhofhäusern und Teppichsiedlungen auch mit Terrassenanlagen befasst.[2]

«Spinnweb urbaner Lebensform»

In der Publikation sind Pläne und Modelle der Siedlung Mühlehalde abgebildet. Hoffmann zitiert die Archi­tekten, die ihre Planung als «Spinnweb neuer urbaner Lebensform» beschreiben. Dass sie die Siedlung als «urban» bezeichnen, spricht für ihr Verständnis gegenüber dieser Wohnform, die auch das Zusammenleben der Bewohner in einem räumlich-städtischen Gefüge umfasst. Was die Siedlung auszeichnet, ist die Varia­tion des Terrassentyps, die mit dem relativ steilen Hang verknüpft ist, in dem sie liegt.

Der «Städtebau» entwickelt sich aus einer netzartigen Erschliessungsstruktur. Dies kam dem in zwei Etappen ausgeführten Bau der Anlage zugute und hätte zudem mögliche spätere Erweiterungen begünstigt. Die Siedlung umfasst heute 30 Wohnungen und Ateliers. Rückgrat der Erschliessung ist ein in die Erde gelegter Schräglift, davon ausgehend spannt sich ein Netz aus Wegen und Treppen auf, an das die Wohnungen angebunden sind. Die Treppenstrassen erinnern mit der kompakten Wohnbebauung an städtebauliche Strukturen in Bergregionen.

Von den Treppen aus sind die Wohnungen unmittelbar erschlossen, wobei die Bauten der zweiten Etappe mit Vorplätzen über eine grosszügigere Zugangssituation verfügen. Die Wohnungen sind ausgehend von einem Typengrundriss variiert. Nasszellen und dienende Räume sind in den Hang gesetzt und bilden eine rückwärtige Spange. Zur Aussicht nach Süden sowie an den Schmalseiten nach Westen und Osten sind Zugang, Wohn- und Schlafräume angeordnet. Die Raumaufteilung erfolgte entsprechend den Bedürfnissen der Bewohner. Je nach Grösse verfügen sie über Einliegerwohnungen. Zudem sind Ateliers und Kleinwohnungen als zweigeschossige Maisonette ohne Terrassen in die Hangsiedlung integriert.

Öffentlicher und privater Raum

Dass die Häuser als solche in einem Ensemble aufgehen, hat einerseits mit der Struktur der Erschliessung zu tun, andererseits mit der Ausbildung der privaten Aussenbereiche. Die Wohnterrassen sind schmal. An den Kopfenden der lang gezogenen Wohnungen liegen teils loggienartige ausgebildete Sitzplätze. Sie schaffen vor Blicken geschützte Zonen mit Ausblick auf die Aare. Da jedoch keine tiefen Aussenbereiche die gesamten Wohnbreiten überspannen, dominieren nicht die einzelnen Wohnungen das Ensemble, im Gegenteil, sie treten als Bauteile der Siedlung zurück. Dieser Effekt ist heute umso stärker, als die begrünten Terrassen und Pflanztröge die Anlage als grüne Oase erscheinen lassen.

Die Siedlung ist gelungenes Beispiel einer mit der Topografie entwickelten Typologie, deren räumliche Wirkung sich erst im Durchwandern der Anlage entfaltet. Die Verschränkung von Treppen, Wegen, den angegliederten Gemeinschaftsräumen sowie den Vorgärten und Eingangsbereichen schafft Abstufungen öffentlicher Bereiche, die gleichzeitig eine gewisse Intimität ausstrahlen. Die Wohnungen liegen als Rückzugsbereiche mit ihren privaten Terrassenzonen dazwischen als Teile eines homogenen Ensembles. Offensichtlich wird die Qualität dem Zugreisenden, der sie eingekeilt zwischen Hangsiedlungen jüngeren Datums erblickt, die nicht mit dem Hang, sondern gegen den Hang gebaut wurden und sich folglich über ihm erheben. Die Siedlung Mühlehalde ist dazwischen – und das sagt viel über ihre räumlichen Qualitäten aus – erst auf den zweiten Blick auszumachen.

Städtisches Gefüge

Noch während in Umiken gebaut wurde, arbeitete Hans Ulrich Scherer an einer weiteren Terrassensiedlung in Oberrohrdorf am Rohrdorferberg bei Baden. Auch bei dieser Anlage stand der Wunsch nach einem verdichteten, in sich stimmigen Ensemble im Zentrum des Entwurfs. Die Siedlung ist dabei für den deutlich flacheren Hang entwickelt, in dem sie sitzt. Er ermöglichte zudem die Ausbildung eines zentralen Platzes. Während in Umiken zuerst eine Wohnsiedlung ent­standen ist, erreichte die Siedlung in Oberrohrdorf zudem erstmals jene Grösse, die Scherers Vorstellung von einem städtischen Gefüge mit Gemeinschaftsnutzungen entsprach.

Das in der Mitte der Siedlung angeordnete Freibad mit Liegewiese und überdachtem Hallenbad (das heute allerdings nicht mehr in Betrieb ist) schliesst an den zentralen Platz an, den «Dorfplatz», und bildet zusammen mit diesem und einem Kinderspielplatz das Zentrum der Anlage. Sind in Umiken Treppen und Podeste die Orte eines informellen Austauschs zwischen den Bewohnern, so hat die Siedlung in Oberrohrdorf mit der Anlage des Platzes und den zugeordneten Nutzungen dezidiert öffentliche Räume erhalten.

Die Ausbildung einer zentralen, gemeinschaftlichen Plattform als Treffpunkt erinnert an die Siedlung Halen in Bern von Atelier 5 (1957–1960). Auch die Integration der oben beschriebenen öffentlichen Nutzungen macht Scherers Anspruch deutlich, die Anlage als in sich funktionsfähiges Ganzes, als städtisches Gefüge zu gestalten. Die Organisation der Anlage reagiert auf diesen zentralen Bereich, indem die einzelnen Wohnungen so angeordnet sind, dass die privaten Aussenbereiche geschützt liegen. Die Siedlung umfasst heute 50 Wohnungen, davon 39 Terrassen- und Atelierwohnungen.

Qualitäten des öffentlichen Raums

Über den unteren beiden Hausgruppen liegt der «Dorfplatz» mit den beiden Schwimmbädern und dem Kinderspielplatz. Erschlossen sind sie, wie in Umiken, durch eine zentrale Treppenstrasse. In Oberrohrdorf heisst sie Trittligasse, benannt nach einer Namens­vetterin in der Zürcher Altstadt. Die Auswahl des Strassennamens verrät viel über die Vorstellung Scherers vom Charakter der Siedlung.

Dichte Strukturen mit einem unmittelbaren Aufeinandertreffen von öffentlichem und privatem Raum schaffen eine kompakte urbane Situation. Die Treppenanlage bildet zwischen den Wohnungen Be­gegnungsorte der Bewohner. Entsprechend sorgfältig hat Scherer sie orchestriert: gestaffelte, sich in die Höhe entwickelnde Abfolgen von Raum- und Platzsituationen mit zu den Wohnungseingängen überleitenden privaten Vorbereichen oder gesondert ausgebildeten Zugängen. Die Treppenanlage wird dadurch zu einer sich in die Höhe entwickelnden Landschaft, gegliedert mit Pflanztrögen, die die Abstufung von Raum, die Übergänge von öffentlich zu privat begleiten. Die oberen Hausgruppen fassen den Dorfplatz und bilden zur oberen Strasse einen räumlichen Abschluss.

Wie in Umiken gibt es für die einzelnen Wohnungen Grundtypen, die je nach Bedarf der Bewohner variiert werden können. Auch hier sind die dienenden Räume in den Hang gesetzt, während die Aufenthaltsräume zum Ausblick nach Südwesten ausgerichtet sind. Dabei liegen – und auch hier sind die Typologien vergleichbar – die Essbereiche zu den öffentlichen Erschliessungswegen bzw. -treppen. Sie öffnen sich zum dahinter geschützt liegenden privaten Aussenbereich, den Terrassen, die auch in Oberrohrdorf schmal sind und damit das Gesamtbild der Anlage nicht dominieren.

Beide Siedlungen sind autofrei, Parkgaragen bzw. Parkmöglichkeiten befinden sich an den erschliessenden Strassen, von denen aus die Anlagen wenig einsehbar sind. Obwohl die Anzahl der Wohnungen die der umliegenden Bebauung bei Weitem übersteigt, verschwinden die beiden Hangsiedlung beinahe in ihrer Umgebung. Der geschickte Umgang Scherers mit den topografischen Gegebenheiten wird hier deutlich.

Und heute?

Die Siedlung Mühlehalde wird von ihren Bewohnern geschätzt und liebevoll gepflegt. Das Grün, das wie in der Siedlung Brüggliacher die Gliederung des Wege- und Treppennetzes begleitet, hat sich den Raum erobert und unterstützt die angelegte räumliche Gliederung, schafft Orte unterschiedlicher Qualität und Öffentlichkeit. Die in die Jahre gekommenen Betonoberflächen haben den Charakter von Fels angenommen, das Grün bringt sie an so mancher Stelle zum Verschwinden. Die Verzahnung mit dem Hang wird am oberen Ende der Siedlung geradezu sinnbildlich, wo die begrünten Dächer scheinbar nahtlos in die angrenzenden Wiese übergehen.

In Oberrohrdorf führt eine Sanierung der Betonoberflächen in Verbindung mit einer deutlich übersichtlicheren Bepflanzung zu einem beinahe nüchternen Gesamteindruck, dennoch sind die räumlichen Qualitäten der Anlage bestechend. Sein Gespür für den Ort, das Ensemble, hat Scherer auch hier unter Beweis gestellt.


Anmerkungen:
[01] «Häuser am Hang», in: Schöner Wohnen 10/1966, «Wie werden wir morgen Leben?», S. 126–131.
[02] Ot Hoffmann, Christoph Repenthin, Neue urbane Wohnformen, Berlin, Frankfurt am Main, Wien 1966 (2. Auflage), S. 132.

TEC21, Fr., 2017.09.01



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Innovatives Bewahren

Zentrales Element im respektvollen Umbau des Hauptsitzes der Zürcher Kantonalbank ist die Schalterhalle. Die Basler Architekten jessenvollenweider haben sie als öffentlichen Stadtraum interpretiert und damit an der Bahnhofstrasse ein urbanes Angebot geschaffen.

Zentrales Element im respektvollen Umbau des Hauptsitzes der Zürcher Kantonalbank ist die Schalterhalle. Die Basler Architekten jessenvollenweider haben sie als öffentlichen Stadtraum interpretiert und damit an der Bahnhofstrasse ein urbanes Angebot geschaffen.

Mit dem Wiederentdecken ursprünglicher Qualitäten verfolgten jessenvollenweider in der Ergänzung und dem Weiterbau des Bankgebäudes eine Strategie, die die Kraft und Eleganz des Altbaus herausarbeitet. Gleichzeitig sind für sie die bestehenden Schwächen der Ausgangspunkt, das Gebäude nach zeitgemässen Ansprüchen an Raum und Nutzung zu interpretieren. So lassen sie ein neues Ganzes entstehen.

Der Hauptsitz der Zürcher Kantonalbank an der Bahnhofstrasse in Zürich entstand Ende der 1960er-Jahren nach Plänen des Architekten Ernst Schindler. Die kraftvolle Stützenordnung der Fassade integriert sich gut in die gründerzeitlichen Strassenfronten der angrenzenden Büro- und Verwaltungsbauten und ist bis heute ein selbstverständlicher Teil im Stadtbild. Zentrales Element im Innern war die zweigeschossige Haupthalle, die von schweren, horizontal umlaufenden Brüstungsbändern in der Höhe gegliedert und von einer Lichtdecke begrenzt wurde. Schindler hat dem Gebäude durch den Einsatz von schwedischem Marmor seine ganz eigene Eleganz verliehen, im Innern unterstützt durch die Verwendung von schwarzem Tropenholz für Wände und Möbel.

Die räumlichen und atmosphärischen Qualitäten, die das Gebäude besass, sind im Zuge von Nutzungsanpassungen und Sanierungsmassnahmen über die Jahre verloren gegangen. Neue Vorstellungen, wie der Hauptsitz zukünftig zu nutzen sei, führten schliesslich 2007 zu einem geladenen Wettbewerb mit Präqualifikation, den jessenvollenweider für sich entscheiden konnten.

Die Architekten haben mit ihrem Konzept den Hauptsitz der Zürcher Kantonalbank – trotz der erforderlichen tiefgreifenden Modernisierung und des dazu notwendigen Rückbaus bis auf die Grundstruktur – im Geiste Schindlers in Wert gesetzt und gleichzeitig die öffentlichen Bereiche im und um das Ge­bäude neu interpretiert.

Neue Öffentlichkeit

Den Passanten, die heute durch die obere Bahnhofstrasse schlendern, mag zunächst nicht auffallen, dass sich der Hauptsitz der Zürcher Kantonalbank mit der Renovation grundlegend gewandelt hat, zu vertraut ist das Bild, das sich ihnen bietet. Die strenge, klare Fassade des Hauses wurde erhalten, auch die neuen Fenster den Originalen nachgebaut. Lediglich das Kafi Züri und das Büro Züri mit temporären Arbeitsplätzen, die neu den Haupteingang flankieren, verweisen auf die Veränderungen, die das Haus mit dem Umbau erfahren hat.

Die von Schindler als offener Bereich konzipierte Haupthalle öffnet sich heute nicht nur zur Bahnhofstrasse, sondern ist zentraler Bereich eines neu entstandenen, alle angrenzenden Strassenräume verbindenden Wegnetzes. An diesem Wegnetz angegliedert liegt auch das neue Atriumhaus, das aus dem geschlossenen Sicherheitsbereich in einen Neubau in den Hof des Gebäudes verlegt wurde, ebenfalls öffentlich zugänglich ist und im oberen Geschoss Medienräume aufnimmt. Diese stadträumliche Öffnung des Gebäudes spiegelt sich in der Ausgestaltung der Haupthalle.

Die ehemalige Schalterhalle ist als öffentlicher Stadtraum interpretiert. Sie hält mit Bancomaten im Innenbereich sowie einem öffentlichen Café und kostenfreien Arbeitsplätzen als Schnittstelle zum Aussenraum einerseits ein urbanes Angebot bereit und ist andererseits auf den Kundenservice der Bank zugeschnitten. Die Halle besticht durch ihren gross­zügigen, wohlproportionierten Raum, der auch heute wieder von einer Lichtdecke überspannt wird. Um dies zu erreichen, haben die Architekten die Decke neu konstruiert und um ein halbes Geschoss angehoben, sodass die Schalterhalle heute dreigeschossig ist.

Die Lifte am Eingang und die einst durch den Raum führenden Rolltreppen, die als Einbauten den Raum beschnitten haben, sind verschwunden, dafür ist die skulpturale Wendeltreppe, die die Schalterhalle mit den Besprechungsbereichen verbindet, erhalten und freigespielt. «Wir haben uns vom Gedanken leiten lassen, wie es Schindler gemacht hätte, wenn er unter den heutigen Rahmenbedingungen arbeiten würde», erläutert der Architekt und Projektleiter Sven Kowalewsky eine der Herangehensweisen von jessenvollenweider.

Sanfte Wucht und fremde Eleganz

Ist die neue Organisation der Halle mit Infotheke und Service-Desk im Erdgeschoss und Beratungszimmern auf den oberen Ebenen dem modernen Servicekonzept der Bank geschuldet, so ist der Ausbau am ursprünglichen Konzept Schindlers angelehnt, dem für die Schalterhalle mit ihrer Lichtdecke das Büro- und Geschäftshaus Rautatalo in Helsinki (Wettbewerb 1951) Pate stand.

Auch bei der Wahl der Materialien referenziert der Ausbau an die ursprüngliche Ausgestaltung. Den Bodenbelag bildet ein Muschelkalk, die Verkleidungen von Stützen und Brüstungen bis ins 2. Obergeschoss sind aus Ekeberger Marmor. Kontrastierend dazu sind die hölzernen Einbauelemente aus geräucherter Elsbeere, einem Schweizer Birnbaum, die entfernt an die von Schindler eingesetzte nordafrikanische, fast schwarze Wenge erinnert. Die wenigen ausgesuchten Materialien unterstreichen die räumliche Wirkung der dreigeschossigen Halle und ihre diskrete Eleganz.

Licht, transparent und identitätsstiftend

Ihre Grosszügigkeit verdankt sie jedoch massgeblich der Anhebung der Lichtdecke um ein halbes Geschoss. Während Schindler die Decke auf der Brüstung des zweiten Obergeschoss angeordnet hatte und die an den Lichthof angrenzenden Räume damit gefangen waren, ist mit der Anhebung der Lichtdecke eine zweite Galerieebene entstanden, die zudem den zusätzlichen Raumbedarf für Beratungszimmer abdeckt. Im Zuge dessen interpretierten die Architekten auch die innere Lichthoffassade neu zugunsten einer höheren Transparenz und mehr Raumtiefe für die dahinter liegenden Zonen.

Die neue Lichtdecke in der Schalterhalle orientiert sich ebenfalls am historischen Vorgänger. Es sind wie zuvor 64 Oberlichter, die in nach aussen leicht gebogenen Reihen an der Decke angeordnet sind. Jeder Leuchtkörper, eine Eigenentwicklung der Architekten, besteht aus 260 Glaszylindern, von denen jeder einzelne mit einem LED-Leuchtmittel ausgestattet ist. Die Leuchten sorgen für eine gleichmässige, homogene Ausleuchtung der Kundenhalle. Dabei kombinieren sie bei Bedarf das über den darüber liegenden Lichthof einfallende Tageslicht mit Kunstlicht. Unter der Lichtdecke kreuzen sich die Wegeverbindungen, die neu über das Areal und in die Kundenhalle führen.

In das Zentrum geleitet werden Kunden und Besucher von einer eigens konzipierten «leuchtenden Linie», die die Wege von den Eingängen in die Kundenhalle begleiten und von der Decke abgespannt sind. In der Halle verbinden sich so beinahe unmerklich Tages- und Kunstlicht zu einer hellen, angenehmen Lichtstimmung, die den Raum nicht nur als Zentrum des Hauses, sondern auch als öffent­lichen Treffpunkt definieren.

Im Sinn Schindlers weitergedacht

Was heute so selbstverständlich erscheint, ist Ergebnis einer insgesamt acht Jahre dauernden Planungs- und Umsetzungsphase, wobei Letztere mit dem Rückbau des Gebäudes bis auf die Tragstruktur und der Beseitigung von Altlasten begann. Die vorangegangene Planungsphase war geprägt von einem intensiven Dialog zwischen Architekten, Bauherrschaft, Denkmalpflege und Behörden. Nicht zuletzt musste das Projekt durch die neue Hof- und Dachform, den Neubau eines Medienzentrums im Hof sowie die Neudefinition der Erdgeschossbereiche und -nutzungen vom Zürcher Gemeinderat bewilligt werden. Mit Erteilung der Baubewilligung wurde das Gebäude, das zuvor bereits inventarisiert war, unter Denkmalschutz gestellt.

Die Fassade, die gesamthaft geschützt ist, ist daher bis auf das Erdgeschoss originalgetreu erhalten, die neuen Fensterelemente sind Nachbauten ihrer Vorgänger. Im Innern, vor allem bei der Erneuerung der zentralen Kundenhalle, hat der Denkmalschutz das Konzept der Architekten mitgetragen, die Absichten Schindlers durch die getroffenen Massnahmen zu akzentuieren und die raumgreifenden Kunstwerke der Künstler Christine Streuli (Bodenintarsie) sowie Andres Lutz und Anders Guggisberg (Endlosschleife) zu integrieren. Bei der Haustechnik ist es gelungen, trotz den raumklimatisch hohen Anforderungen mit einem ausgefeilten Konzept und einer Seewassernutzung die Massnahmen auf das Notwendigste zu reduzieren und Minergiestandard zu erreichen.

Jessenvollenweider haben als «innovative Bewahrer» mit ihrem Konzept einer respektvollen, den Altbau lesenden Erneuerung an der oberen Bahnhofstrasse Bestehendes nicht nur erhalten, sondern im Sinn der ursprünglichen Absichten der Architektur nach­haltig weiterentwickelt.

TEC21, Fr., 2017.05.19



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03. Februar 2017Susanne Frank
Andrea Wiegelmann
TEC21

«Die Stadt zuerst»

Die Basler Architekten Anna Jessen und Ingemar Vollenweider haben mit ihren Entwürfen die WerkBundStadt mitgestaltet und die Entwicklung des Projekts im kooperativen Verfahren begleitet. Sie berichten, was sie daraus gewonnen haben und wie man dies zukünftig nutzen kann.

Die Basler Architekten Anna Jessen und Ingemar Vollenweider haben mit ihren Entwürfen die WerkBundStadt mitgestaltet und die Entwicklung des Projekts im kooperativen Verfahren begleitet. Sie berichten, was sie daraus gewonnen haben und wie man dies zukünftig nutzen kann.

TEC21: Frau Jessen, Herr Vollenweider, was ist das Besondere an diesem Projekt? Was macht diese WerkBundStadt aus?

Anna Jessen: Die klassischen Werkbundsiedlungen, wie etwa die Weissenhofsiedlung in Stuttgart, definieren sich darüber, dass neue Wohnmodelle geschaffen werden. Die WerkBundStadt in Berlin definiert sich in erster Linie über die Frage, was ein städtischer Raum heute sein kann und welche Qualitäten es hat, in einem städtischen Kontext zu wohnen. Die Montage der Weissenhofsiedlung in das Grundstück, auf dem die Werkbundstadt entstehen soll (Plan), zeigt gut, dass die WerkBundStadt einen völlig anderen Massstab und Charakter besitzt und dass die kompositorische Setzung von einzelnen Ein- oder Mehrfamilienhäusern heute nicht mehr das Thema sein kann.

Ingemar Vollenweider: Es geht hier nicht zuerst um Wohnungsbau, sondern um Stadtbau. Das bisherige Projekt ist folglich nicht das Ergebnis eines Wohnbauexperiments, wie es von Teilen der Presse reflexartig vermisst und entsprechend kritisch diskutiert wurde. Vielleicht rührt dieses Missverständnis daher, dass wir nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Deutschland zuerst Wohnungs- und Siedlungsbau machen und das dann mit Stadtbau gleichsetzen. Im Zweifelsfall setzt sich auch in Wettbewerben nicht der konsequente Städtebau, sondern der coole oder auch nur wirtschaftliche Wohnungsgrundriss durch. Hinter dem Entwurf zur WerkBundStadt steht eine andere Überzeugung: Er möchte öffentliche Räume schaffen, die Identität und Kollektivität ermöglichen, und thematisiert damit die Frage, was wir vom städtischen Raum erwarten. Daher heisst das Projekt auch WerkBundStadt und nicht Werkbundsiedlung.

TEC21: Der städtebauliche Entwurf ist eine Synthese aus unterschiedlichen Konzepten. Mit welchen Themen haben Sie sich im Vorfeld auseinandergesetzt?

Anna Jessen: Die Frage, wie heute und an diesem Ort ein glaubwürdiger städtischer Raum funktio­nieren und aussehen kann, hat uns interessiert.
Die Bildung von Plätzen haben wir eher hinterfragt, wir hatten Respekt vor deren latenten Zentralität, auch vor der Frage, wie viel anonyme Textur dafür notwendig wäre. Dagegen haben wir uns gewundert, warum im Zusammenhang mit Wohnungsbau keine Strassenräume mehr gebaut werden. Die Strasse scheint uns ein verheissungsvoller öffentlicher Raum. Nicht ein neutrales Raumkontinuum, sondern ein klar gerichteter, vielleicht geknickter Raum, mit einem Ausschnitt des Himmels und dem Vis-à-vis von zwei Strassenseiten.

Ingemar Vollenweider: In unserem städtebaulichen Konzeptbeitrag, den wir gemeinsam mit Caruso St John entwickelten, ging es uns darum, das Quartier mit dem Wasser zu verbinden. Daher waren die Strassen unser Leitmotiv und nicht die Blöcke, die im abgestimmten Modell viel dominanter sind. Ich finde es interessant, dass es jetzt einen Platz gibt, der aber nicht allseitig von Gebäuden umstellt wird, sondern an das Kraftwerksareal von Vattenfall angrenzt. Er wird so zu einem verbindenden Element, gerade wenn sich das Quartier einmal weiterentwickeln sollte.

TEC21: Der Prozess der Entwicklung dieses städtebaulichen Entwurfs ist aussergewöhnlich. Wie kam es zu diesem Entwurf?

Anna Jessen: Acht Teams mit jeweils zwei Büros haben ihre städtebauliche Vision für das Areal entwickelt und an einem langen Wochenende in Berlin sich gegenseitig vorgestellt. Die Gesamtverantwortlichen des Werkbunds, Paul Kahlfeldt und Claudia Kromrei, nahmen dabei eine Schlüsselposi­tion ein, indem sie hier wie später die Qualitäten der Einzelentwürfe bündelten, Entscheide fällten oder, besser noch, diese sanft herbeiführten. Gegen den Widerstand der einzelnen Autoren, die klare, einheitliche Konzepte forderten, am besten natürlich ihr eigenes, haben sie den Mut und den Nerv gehabt, sich die stärksten Elemente aus jedem Plan zu suchen, wie die lange, leicht geknickte Strasse, dann den Platz an der Brandwand zu Vattenfall und schliesslich die parzellierten Blöcke, die in ihrer Kompaktheit den Massstab des Berliner Blocks zu verdichten scheinen.

Ingemar Vollenweider: Dann gab es diese Idee, an besonderen Orten Kopfbauten auszubilden, höhere Häuser am Wasser in Anlehnung an die Spreefront von Vattenfall und Türme am Platz, was aus baurechtlichen Gründen nicht ganz einfach ist und als Tendenz eine gewisse Miniaturisierung des Stadtquartiers befördert. Das wird man in den nächsten Schritten kritisch prüfen müssen.

Anna Jessen: Der heutige Stand hat wohl eher etwas viele Themen für das nicht allzu grosse Stück Stadt. Noch ist es eine Collage von unterschiedlichen Stadträumen, aus denen aber tatsächlich eine städtische Textur entstehen kann, als Alternative sowohl zur homogenen Reformstadt als auch zum Tuttifrutti der postmodernen Architekturzoos in Stadtzentren. Genau an dieser Grenze liegt aber sicher auch das grösste Risiko des Projekts.

TEC21: Beim städtebaulichen Entwurf der WerkBundStadt wurde ausgehend von diesem das Wohnen definiert. Bei Projekten wie «Mehr als Wohnen» ist man hingegen vom Wohnmodell ausgegangen.

Ingemar Vollenweider: Es sind natürlich auch sehr unterschiedliche Ausgangslagen. In Zürich gab es eine Baugenossenschaft mit einem detaillierten Nutzungskonzept, für das man über einen Wettbewerb eine städtebauliche Form gesucht hat. In Berlin gibt es den Werkbund mit einem städtebaulichen Programm, das für den anonymen Wohnungsmarkt eine exemplarische Antwort geben will auf die Frage «Wie geht Stadt heute?». Die Stadträume, die daraus resultieren, unterscheiden sich natürlich auch entsprechend.

TEC21: Sie sind beide sehr erfahren im Wettbewerbswesen. Hier haben die Verantwortlichen ein anderes Verfahren gewählt. Worin unterscheidet es sich vom klassischen Wettbewerb?

Anna Jessen: Man muss unterscheiden zwischen der formellen Frage des Wettbewerbs und der Frage: Wie komme ich zu einem glaubwürdigen Stück Stadt, das sich immer auch aus dem Zueinander von ganz unterschiedlichen Teilen definiert? Der Werkbund Berlin hat eine Auswahl von einzelnen Architekten und damit auch Positionen bestimmt und aufgrund der Klausuren und des gemeinsam definierten Städtebaus eine Basis geschaffen, auf der man nach einer Einheit suchen kann. Die beteiligten Architekten haben gemeinsam um jene Basis gerungen, also gewissermassen die Auslobung und das Programm mitgeschrieben, und tragen entsprechend diese Verantwortung mit. Bei einem städtebaulichen Wett­bewerb gibt es dagegen «phasengerecht» eine klare Schnittstelle zwischen der Definition der Aufgabe und dem Entwurf eines Projekts. Bei einem Areal von vergleichbarer Grösse würde das siegreiche Projekt in der Umsetzungsphase wahrscheinlich unter den Preisträgern aufgeteilt, um die Einheit architektonisch zu differenzieren. Persönlich finde ich es heute sehr viel interessanter, unterschiedliche Positionen in einen Prozess auf der Suche nach Einheit zu ­involvieren, als umgekehrt Einheit im Nachgang und nur mit der Spekulation auf die sogenannte individuelle Handschrift heterogener zu machen.

TEC21: Das Verfahren ist also differenzierter und verspricht, dass so der interessantere Stadtbaustein entsteht?

Anna Jessen: In der öffentlichen Diskussion wird oft die Frage nach der Innovation gestellt. Wenn man an diesen Begriff glaubt, dann ist dieser Prozess des kooperativen Städtebaus sicher eine innovative These. Dazu hat Georg Franck als Gast und Experte der WerkBundStadt bereits in der Klausurphase aufgerufen (vgl. «Städtebau als Gemeinschaftswerk», TEC21 46/2015).

TEC21: Wo liegen die Vorteile eines derartigen Verfahrens gegenüber dem Wettbewerb?

Anna Jessen: Für städtebauliche Projekte in diesem Massstab finde ich es notwendig, über Alternativen zum klassischen Wettbewerb nachzudenken. Es wäre ja denkbar, die Auswahl der Architekten über ein Bewerbungsverfahren zu treffen, das ein Motiva­tionsschreiben oder ein Thesenpapier verlangt. Die Strategie für die WerkBundStadt ist die richtige, um die angestrebte Ganzheitlichkeit des Stadtmodells umzusetzen, das ja vom Mobilitätskonzept in Zusammenarbeit mit BMW bis zu den Entwürfen für Bodenplatten durch beteiligte Produktgestalter reichen soll.

Ingemar Vollenweider: Die inhaltliche Diskussion anhand konkreter Projekte, nicht in einer Jury, sondern als beteiligter Autor, hatte ich so noch nicht erlebt. Am runden Tisch war spürbar, welche städtebaulichen Ideen tragen. Das war ein starkes kooperatives Moment. Dann kamen die Entwürfe für die Häuser. Jeder von uns musste an drei verschiedenen Orten Stellung beziehen. Dadurch haben sich alle gedanklich mit dem ganzen Quartier auseinander­gesetzt. So gab es dann für die spezifischen Orte Entwürfe, die mehr überzeugten als andere.

TEC21: Haben sich in diesem Prozess weitere Ansätze abgezeichnet, wie etwa für das Zusammenleben im Quartier, die weiterzuverfolgen sich lohnen würde?

Ingemar Vollenweider: Die Frage beispielsweise, wie die Erdgeschosse verstanden werden können, ist noch nicht zu Ende gedacht. Auch der Ansatz, den Arno ­Lederer eingebracht hat, als Pendant zum öffentlichen Raum auf Erdgeschossniveau über kollektiv genutzte Dachgärten nachzudenken, hat Potenzial.

Anna Jessen: Noch ist nicht sicher, ob das Thema des kollektiven Dachgartens für eine parzellierte Stadt funktioniert, aber dass solche Ideen eingebracht, kontrovers diskutiert und vorläufig, bis das Gegenteil bewiesen wäre, als Hypothesen im Projekt gehalten werden, ist eine Chance und Qualität dieses Verfahrens.

TEC21: Anders stellt es sich dar, wenn Architekten die Aufgabe bekommen, basierend auf einem Masterplan einen Gebäudeentwurf auszuarbeiten. Dabei fokussiert jeder auf seine Parzelle, und es kümmert sich niemand um die Stadt als Ganzes.

Anna Jessen: Die Partizipation am Gesamtprozess führt zu einem höheren Mass an Identifikation von den Planern und allen Beteiligten. Auch die Investoren und Beteiligten der Stadt Berlin waren schon in den Klausuren mit eingebunden.

Ingemar Vollenweider: Wettbewerbsprojekte haben eine hohe formale Prägnanz und damit das Potenzial, Identität zu schaffen. Gleichzeitig drohen sie dadurch eindimensional zu sein. Sie haben eine Identität, die vielleicht nicht komplex genug ist, um das Leben und die Bedürfnisse an einem spezifischen Ort zu treffen. Das kooperative Verfahren bei der WerkBundStadt verhandelt eine grössere Vielfalt, ist weniger prägnant, dafür elastischer. Damit sind wir wieder beim Prozess: Er lässt tatsächlich Schlaufen zu – und ist damit natürlich sehr zeitaufwendig.

TEC21: Gibt es denn andere Regeln und Verbindlichkeiten?

Ingemar Vollenweider: Einerseits gibt es bei diesem konkreten Modell von Stadt eine höhere Verbindlichkeit über die Strasse, den Platz, die städtebauliche Kante. Auf der anderen Seite steht der Wille: Jeder Einzelne macht sein Haus. Das prallt ein Stück weit aufeinander. Es gab in dieser Phase nicht viele Regeln für die Entwürfe der Häuser, ausser die Parzellengrenzen mit den Höhenvorgaben aus dem städtebaulichen Plan und für die Wandflächen der Fassaden einen minimalen Klinkeranteil von 60 Prozent. Das interessante aber war, dass durch die Klausuren sehr konkrete Themen und Ansprüche im Raum standen – wie die Adressierung und Hinwendung der Haupt­räume zur Strasse oder die vermeintlich banale Forderung, Sanitärräume möglichst natürlich zu belichten. Paul Kahlfeldt sah die Entwürfe zuerst als Hypothesen, um daraus Ideen für tragende typologische Themen oder die Charakterisierung der Strassenräume zu finden. Das ist ein sehr liberaler Ansatz.

TEC21: Sie haben eben den Charakter angesprochen, den das Projekt für Sie hat. Sie sind beide praktizierende Architekten und sehr engagiert in der Lehre. Kann man aus diesen Erfahrungen rund um das Projekt Erkenntnisse für die Lehre gewinnen?

Anna Jessen: Ja, das ist sicher so. Die Erfahrungen allein aus dem Diskurs haben sehr viel gebracht, auch für die Lehre. Wir haben beide damit ein ganzes Entwurfssemester durchgespielt. In Leipzig am Wilhelm-Leuschner-Platz, einer grossen innerstädtischen Brache, haben wir versucht, das Modell des kollektiven städtebaulichen Entwerfens auszuloten. Die Studierenden waren durchaus überrascht, dass wir weniger als Lehrende aufgetreten sind, sondern eher in der Rolle des Choreografen gewirkt haben. Das war auch für uns eine spannende Erfahrung, die uns generell über die Rolle des Architekturlehrers nachdenken liess.

TEC21: Hat das Verfahren also Modellcharakter für die Lehre?

Ingemar Vollenweider: Als Student dachte ich immer, Gruppenarbeit ist das Schutzprogramm für Vielredner und Leute ohne Ambition. Es geht aber um etwas anderes. Der Zusammenhang von Stadtbau und Kooperation ist zentral und gehört ins Curriculum einer Architekturlehre. Man muss den Unterschied zwischen Architektur und Städtebau verstehen – und zum anderen deren Abhängigkeit. Das Verfahren kann helfen, dieses Verständnis zu entwickeln. Man kennt die Gesamtkunstwerke von Stadt, die diesen Unterschied nicht machen. Etwa den Städtebau von Leon und Rob Krier aus den 1990er-Jahren, die designte traditionelle Stadt. Da ist die zeitgenössische Wohnstadt der Solitäre im Vorteil, weil sie sich viel mehr als die Summe der Teile meist nicht zutraut.

TEC21: Nach dem städtebaulichen Entwurf begann dann die Vertiefung der einzelnen Bausteine für die WerkBundStadt mit den Gebäudeentwürfen. Welche Themen standen hier im Vordergrund?

Ingemar Vollenweider: In der Schweiz machen wir viele dicke Häuser mit vielen dunklen Wohnungen, die vielleicht interessant, in jedem Fall aber sehr ökonomisch sind. Das Innovative ist hier gekoppelt an eine sehr hohe Wirtschaftlichkeit. Unter dem enormen Druck, der gerade in den Städten auf dem Wohnungsbau lastet, werden die Konventionen des Metiers ausgelotet. Der Laubengang für eingeschossige Wohnungen ist jetzt auch in der Schweiz denkbar. Das ist vielleicht innovativ, aber die entstehenden Stadträume entsprechen dabei oft jenen der Peripherie. Die WerkBundStadt formuliert das Gegenmodell: Wenn ich an die Strasse glaube, glaube ich an die Randbebauung – ich meine bewusst nicht Block-, sondern Randbebauung –, die hat dann eine Tiefe von 12 bis maximal 15 m, die kann ich nicht gross überschreiten.

TEC21: Daraus ergeben sich dann Module, die sehr flexibel sind.

Ingemar Vollenweider: Die Randbebauung schafft gewisse Bindungen, die dicken Klumpen liegen eher nicht drin, aber so ein parzelliertes Haus ist sehr flexibel, insbesondere wenn es Platz für einen Hof- oder Gartenflügel gibt, was in der WerkBundStadt leider nur stellenweise der Fall ist. Wenn man Gründerzeitgrundrisse betrachtet, muss man sich mit der Frage auseinandersetzen: Wie kann ich das überhaupt besser machen? Dabei kann man über andere Wohnformen nachdenken, etwa Clusterwohnen, Alterswohngemeinschaften oder Gastwohnungen. Interessant aber ist, dass genau in diesen Wohnungen historisch alles schon stattgefunden hat. Das in der WerkBundStadt verfolgte Modell, Sozialwohnungen ohne staatliche Förderung und damit auch ohne die zum Teil problematischen Vorgaben zu realisieren, ist ebenso riskant wie ambitioniert, um nicht zu sagen: wirklich innovativ. Denn es erhöht den Druck, insgesamt haushälterisch mit Raum und Boden umzugehen und ganzheitlich zu planen.

Anna Jessen: Unser Ansatz war es, ein Wohnhaus zu entwickeln, dessen Wohnungen man sich in Berlin auch leisten kann. Das aufzulösen, etwa in Clusterwohnen, ist viel einfacher, als aus einer Clusterwohnung einen gut proportionierten Zimmergrundriss für eine 2.5-Zimmer-Wohnung zu ent­wickeln. Es wird also relevante Antworten zum Thema des zeitgenössischen Wohnens geben. Zugespitzt formuliert ist aber die Innovation bislang: die Stadt zuerst, das Wohnexperiment ordnet sich der Stadt ein und unter. Wir wohnen zuallererst in der Stadt und dann in einer guten Wohnung – die mit dieser Stadt kommuniziert.

Ingemar Vollenweider: Die These zur Typologie wäre dann: Welche Wohnformen lassen sich an diesen Strassen und öffentlichen Räumen realisieren?

TEC21: Wie weit wurde bislang der Bezug des Hauses zum Stadtraum diskutiert?

Ingemar Vollenweider: Es ist diese Frage nach der Gestalt und der Einheit: Wo pendelt sich das ein zwischen Anonymität auf der einen und Individualität der einzelnen Häuser auf der anderen Seite? Welche Architekturen können dieses Zusammenspiel leisten?

Anna Jessen: An diesen Ort in Berlin ziehe ich meiner Meinung nach nicht, weil es hier Wohnungsgrundrisse gibt, die ich noch nie gesehen habe. An diesen Ort ziehe ich in erster Linie wegen seiner zentralen Lage in Berlin, in zweiter Linie wegen des Stadtraums oder des Lebensgefühls. Und dann will ich dort in einer Wohnung leben, die Zimmer und Raumzuschnitte in der Art hat, dass ich in meinen Räumen Rückzug und Privatheit finden kann und dennoch Teil der Stadt bleibe. Ich freue mich über einen Erker, weil ich von dort aus auf die Spree schauen kann. Ich will etwas spüren von dem Ort, an dem ich lebe. Ich will mich quasi mit dem Stadtraum verweben können. Da ist das städtische Leben, und das ist etwas Grossartiges. Ich lebe in der Stadt, weil ich in der Dichte die Anonymität geniessen kann. Und gleichzeitig gehe ich auf in diesem kollektiven Getragensein.

TEC21: Was waren Ihre wichtigsten Entwurfsthemen?

Ingemar Vollenweider: Die architektonische These war eben, eine Antwort zu finden auf: Wie kann man ein Haus machen, das eigenständig ist und sich gleichzeitig ins Kollektiv einbindet – und auch diese Anonymität adressiert. Unsere Strategie war, das Gebäude aus einer einzigen plastischen Idee entstehen zu lassen und daraus dennoch Sockel, Fassade und Dach zu entwickeln. Daher ist es einerseits ein recht abstraktes Haus, das andererseits dieser Dreiteiligkeit entspricht. Dann kann man sich fragen: Wie wohne ich denn an der Strasse? Wir haben das Thema des Erkers aufgegriffen. Das ist ein altes Thema, das nach wie vor für den Wohnraum sehr viel Potenzial bietet. Eine Qualität, die wir von den Basler Baumgartner-Häusern kennen. Die Erker sind ein starkes Element für das Haus, den Baukörper und die einzelne ­Wohnung, sind aber auch wieder in der Lage, ein Thema zu liefern, um die Häuser in den Zusammenhang des Orts einzubinden.

TEC21, Fr., 2017.02.03



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03. Februar 2017Andreas Kohne
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«Eine Reise ins Ungewisse hält lebendig»

E2A Architekten aus Zürich planen und realisieren zurzeit mehrere Projekte in Deutschland. Für die WerkBundStadt Berlin reichten sie auf den ihnen zugelosten Parzellen interessante Entwürfe ein. Ein Gespräch mit Wim Eckert.

E2A Architekten aus Zürich planen und realisieren zurzeit mehrere Projekte in Deutschland. Für die WerkBundStadt Berlin reichten sie auf den ihnen zugelosten Parzellen interessante Entwürfe ein. Ein Gespräch mit Wim Eckert.

TEC21: Herr Eckert, wie haben Sie das dialogische Verfahren erlebt?

Wim Eckert: Wie der Titel WerkBundStadt Berlin bereits ankündigt, war uns von Anfang klar, dass es sich um eine inhaltliche und grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Thema Stadt und Wohnen handeln soll. Das Verfahren bot dazu eine ideale Plattform, um derartige Vorstellungen und Ideen zu präsentieren und unter Kollegen zu diskutieren. Dies explizit im Gegensatz zu all den Wohnungsbauwettbewerben, bei denen der Architekt seinen Vorschlag als monologische Antwort zu den in der Regel austauschbaren Programmen abliefert.

TEC21: Welche Vorteile sehen Sie für den Entwurf?

Wim Eckert: Der verabschiedete Masterplan formuliert einen Konsens aus den Ideen der acht städtebaulichen Entwürfe und den Ideen aus den Klausuren. Dieser iterative Prozess mit multipler Autorenschaft ist durch das Verfahren möglich, er hat eine gemeinsame Basis geschaffen für gewisse Fragen. Dies hat ein gewisses Mass an Kohäsion, aber auch an Konfrontation.

TEC21: Was interessierte Sie speziell bei Ihrem Projekt?

Wim Eckert: Uns interessiert seit Längerem die Frage nach der Robustheit des architektonischen Entwurfs. In diesem konkreten Fall bestand die Möglichkeit, die Idee eines sogenannten robusten Entwurfs in den Wohnungsbau zu überführen und mit gleichwertigen Räumen eine Wohnung zu schaffen, deren Nutzung offen ist. Es handelt sich um ein hierarchieloses Gebäude, bei dem die Gleichwertigkeit der Räume alles andere überschreibt. Diese Grundhaltung spiegelt sich auch in der Fassade wider.

TEC21: Wo steckt in Ihrem Projekt der Werkbundgedanke?

Neben der grundsätzlichen Auseinandersetzung mit dem städtischen Wohnen möchten wir mit unserem Projekt auch auf die Dimensionen des Hand­werks und der Produktion eingehen. Wir können uns gut vorstellen, dass bei unserem Projekt verschiedene Bauteile, etwa die doppelflügeligen Innentüren, die Fenster oder die «Meterküche», zusammen mit Unternehmungen, vielleicht sogar Schweizer Firmen, entwickelt und dann seriell hergestellt werden.

TEC21: Wie geht es nun konkret weiter?

Wim Eckert: Hier ist die Zeit ein wertvoller Faktor. Ich gehe davon aus, dass auf der einen Seite die inhaltlichen Klausuren weitergehen und auf der andern Seite viele baurechtliche Fragen geklärt werden müssen, damit das Projekt erfolgreich umgesetzt werden kann. Ich hoffe, dass sich die Klausuren nochmals intensiv mit den Spielregeln und deren Auslegung befassen. Denn trotz hoher Stringenz des Plans herrscht eine grosse Kollisionsgefahr. Es gilt nun, den vorliegenden Zwischenstand genau zu orchestrieren, die Übergänge zu klären, ohne daraus eine einzige Architektur zu formen. Auf der Ebene des Quartiers ist das Thema des Erdgeschosses zu klären, mit der Frage, welche Nutzungen sich in welchen Strassen und an welchen Lagen am besten eignen.

TEC21: Wäre ein solches Verfahren Ihrer Meinung nach auch in der Schweiz denkbar?

Wim Eckert: Ich glaube, dass ein derartiges dialogisches Verfahren hier durchaus vorstellbar wäre, denn auch bei uns findet eine Debatte statt, die im Vergleich zu Deutschland aber einfach nicht so offen geführt wird. Ich vermute auch, dass die Umsetzung des Masterplans in der Schweiz viel zurückhaltender und dis­ziplinierter angepackt worden wäre. Die grundsätzlichen Fragen für ein dialogisches Verfahren würden sich jedoch ganz zu Anfang stellen: Wie wird selektioniert, und wer selektioniert? Dieses demokratisierte Auswahlverfahren kennen wir bei uns bereits mit den Präqualifikationen.

TEC21, Fr., 2017.02.03



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TEC21 2017|05-06 WerkBundStadt II Schweizer Beiträge

«Gesellschaftlicher Relevanz eine Form geben»

Die Architekten Marco Graber und Thomas Pulver erläutern ihre Strategie beim Entwurf der Energiezentrale Forsthaus Bern. Warum erhielt dieser Infrastrukturbau einen monumentalen Ausdruck? Welche Aspekte bestimmten die Form, die Materialisierung und die Konstruktion? Wie verlief die Zusammenarbeit mit den Tragwerksplanern und den Verfahrensingenieuren?

Die Architekten Marco Graber und Thomas Pulver erläutern ihre Strategie beim Entwurf der Energiezentrale Forsthaus Bern. Warum erhielt dieser Infrastrukturbau einen monumentalen Ausdruck? Welche Aspekte bestimmten die Form, die Materialisierung und die Konstruktion? Wie verlief die Zusammenarbeit mit den Tragwerksplanern und den Verfahrensingenieuren?

TEC21: Dass ein Architekturwettbewerb für eine Kehrichtverwertungsanlage (KVA) veranstaltet wird, ist ungewöhnlich. Was hat Sie an dieser Aufgabe gereizt?

Marco Graber (M.G.): Selbst in der Schweiz, einem Land mit hochstehender Baukultur, werden die wenigsten Infrastrukturbauten einem architektonischen Anspruch gerecht. Das ist bedauerlich, denn sie prägen durch ihre Anzahl und Grösse unsere gebaute Umwelt und stehen für Themen wie Umweltschutz oder Energieproduktion. Wir sind überzeugt, dass bei der Planung solcher Bauten die Kompetenz der Architekturschaffenden stärker ins Spiel kommen sollte. Beim Wettbewerb haben uns die ungewöhnliche, sehr technische Aufgabe und der spezielle Ort interessiert: Der Bauplatz liegt in einem Waldstück – einem Heiligtum in der Schweiz! – am Stadtrand von Bern, der Stadt, in der wir beide aufgewachsen sind. Sicher war die Lage im Wald auch der Grund für das gewählte Vergabeverfahren.

Thomas Pulver (T.P.): Es gehört zu unserem Selbstverständnis als Architekten, der gesellschaftlichen Relevanz einer Aufgabe eine angemessene Form zu verleihen. Der Bauplatz im Wald war aussergewöhnlich – man hatte die Freiheit, Grösse und Form der Parzelle nach Bedarf festzulegen und zu roden, eine komplette Umkehr üblicher Vorgaben. Zudem bildet der Wald eine Art Scharnier zwischen Stadt und Autobahn. Bereits der Umfang des Programms und die Dimensionen einzelner Räume liessen die energetische Leistung des Kraftwerks erahnen. Uns wurde rasch klar, dass es ein grosses Objekt geben würde, das wir der Bedeutung entsprechend monumentalisieren und zur Landmarke erhöhen wollten. Der Bau hat mit 300 m Länge etwas Endloses. Aber seine extremen Proportionen haben mit dem Ort zu tun, der schmalen Parzelle und der Massstäblichkeit der Autobahn. Es war den Wettbewerbsteilnehmern freigestellt, den Waldrand zu «ritzen». Wir beschlossen jedoch, ihn bestehen zu lassen und mit den zwei unterschiedlichen Seiten des langen Gebäudes und der Art, wie sie hinter den Bäumen aufscheinen sollten, zu spielen.

M.G.: Über diese Energiezentrale dringt das komplexe und weitläufige System von unterir dischen Werkleitungen überhaupt an die Oberfläche. Der Massstab unseres Gebäudes verweist auf die Dimension dieses Systems, das die urbane Landschaft von Bern durchzieht.

TEC21: Es gibt wenige Bauten, die den Themen Entsorgung und Energieproduktion durch Kehrichtverbrennung einen repräsentativen und architektonisch wirksamen Ausdruck ver leihen. Auf ein bestehendes Formenvokabular konnten Sie nicht zurückgreifen, auch wenn einzelne Elemente wie der monumentale Kamin vertraut wirken. Wie sind Sie vorgegangen?

T.P.: Wir dachten an alle diese prägnanten Infrastrukturbauten in der Landschaft, kräftige Zeichen von hoher Autonomie und grossartiger ikonografischer Wirkung. Insbesondere dachten wir an Kraftwerksbauten wie Birsfelden, Landmarken wie den Spredaturm in Burgdorf oder an die Wucht der berühmten Getreidespeicher am Chicago River (Abb. 07–09). Jedes dieser Beispiele hat einen hohen Repräsentationsanspruch und stellt für sich einen Typus dar. Eine KVA war allerdings nicht darunter – die bekannten Beispiele überzeugten uns nicht. Wir suchten nach einer Strategie, die Grösse des Gebäudes zu vermitteln. Wie kann ein 300 m langes Haus aussehen? Rafael Moneo hat sein ähnlich langes Kaufhausprojekt an der Avinguda Diagonal in Barcelona mit einem abgelegten Rockefeller Centre verglichen. Auch wenn wir sein Bild nicht direkt verwenden konnten, wollten wir wie er den Baukörper staffeln und gliedern, ohne ihm die Kraft zu nehmen. Daraus hat sich ein Prozess der Formfindung entwickelt. Das Bild des Frachtschiffs hat uns geholfen, die Fragen der Massstäblichkeit zu klären, ein Gefühl für die Dimensionen zu bekommen.

M.G.: Wir entwerfen nicht analog. Referenzen sind für uns ein Hilfsmittel, um gewisse Vorstellungen zu konkretisieren, zu übersetzen und präzise auszuformulieren. Grundsätzlich versuchen wir, aus den spezifischen kontextuellen und programmatischen Rahmenbedingungen eigene, signifikante Räume zu entwickeln und den Gebäuden einen synthetisierenden Gestus zu verleihen, der all das zum Ausdruck bringt, was das Projekt enthält. Diese Qualitäten versuchen wir jeweils zu verstärken und zu radikalisieren.

TEC21: Die vertikalen Rippen und der aufragende Kamin erinnern auch an eine Kathedrale.

M.G.: In Italo Calvinos «Unsichtbaren Städten» wird eine Stadt beschrieben, die von der einen Seite anders aussieht als von der anderen. Vom Meer her gesehen gleicht sie zwei Kamelbuckeln, von der Wüste her einem Schiff, das vor Anker liegt. Uns gefällt die Vorstellung, dass unsere Energiezentrale von der Stadt aus betrachtet ein Schiff evoziert und von der Autobahn aus eine Kathedrale.

T.P.: Früher waren es die Kirchtürme, die als Zeichen der Kirche und der Obrigkeit den Reisenden die Stadt weitherum ankündigten und die urbanen Merkpunkte einer spärlich besiedelten Landschaft bildeten. Heute sind es die Infrastruktur bauten, die als bauliche Artikulationen verborgener technischer Netzwerke Zeichen in unsere verstädterte Landschaft setzen. In einem Grössenvergleich überlagerten wir die EZF mit dem Berner Münster, das man von der EZF aus sieht (Abb. 06).

TEC21: Beim Wettbewerb war nur ein grobes Raumprogramm bekannt, das bis in die Bauphase hinein verändert wurde. Wie sind Sie damit umgegangen?

T.P.: Wir haben mit einem klassischen Re-engineering begonnen und verschiedene bestehende Anlagen «analytisch zerlegt»: Welche Raumgruppen gehören zwingend zusammen, welche sind frei positionierbar? Bei gewöhnlichen KVA werden Prozessgebäude (Verbrennung) und Fernwärmezentrale parallel nebeneinander gestellt; im Gegensatz dazu haben wir uns für eine lineare Anordnung entschieden, was nahezu ohne energetische Verluste möglich ist. Gebaut wurden zwei parallele Linien: zum einen die Kehrichtverbrennung, zum anderen – ebenfalls hintereinander – ein Holzheiz- und ein Gas-und-Dampf-Kraftwerk. Das verdoppelte nicht nur die Gebäudelänge, auch in Bezug auf eine spätere Erweiterung bietet es Vorteile: Man könnte problemlos eine dritte Verbrennungslinie parallel dazu schalten.

M.G.: Ein weiterer Vorteil dieses linearen Konzepts ist, dass wir im Planungsprozess äusserst flexibel auf Programmveränderungen reagieren konnten. Das Bild des Frachtschiffs hat uns auch hier inspiriert: Das Sockelgeschoss aus Ortbeton greift ins Erdreich ein und bildet gleichsam den Rumpf, auf den die technischen Anlagen wie Container gestapelt werden können. Die wuchtige Aufwerfung des Bunkergebäudes mit der Steuerzentrale, die ähnlich einer Kommandobrücke den Blick freigibt auf die Zu- und Wegfahrt beim Waaghaus, und die filigrane Passerelle, die 30 m weit ausgreift und zum Eingang hochführt, bilden jeweils skulptural modulierte Abschlüsse dieser gegossenen Sockelstruktur. Dazwischen stapeln sich die Hallen, deren Fassaden aus kleinteiligeren, abmontierbaren, vorfabrizierten Betonelementen zusammengesetzt sind. Dieses modulare Fassadenprinzip hat sich bereits in der Entwurfsphase als sehr flexibel erwiesen: Vom Wettbewerb zur Ausführung hat sich der Bau von 260 auf 308 m verlängert, dies entspricht zwölf 4-m-Modulen. Bei einer kompakten Anordnung mit Abhängigkeiten zwischen Länge, Höhe und Breite wären wir wohl weniger flexibel gewesen. Beim fertigen Bau erlaubt die modulare Fassade die wichtige Zugänglichkeit zum Innern. Alles muss durch Fahrzeuge und Kräne von aussen erreichbar sein, der Ein- und Ausbau der technischen Anlagen erfolgt seitlich. Auch diesbezüglich ist die Linearität mit der grossen Abwicklung vorteilhaft, weil alle Anlagen nahe an der Fassade liegen.

T.P.: Von uns stammte das Grundkonzept, also die Linearität als Abbild der inneren Pro zesse, das plastisch-volumetrische Zusammenspiel von vertikalen und horizontalen Elementen und letztlich die entwerferische Strategie im Umgang mit der Grossmassstäblichkeit der Aufgabe. Die konkrete Formfindung, das Ausreizen der technischen Möglichkeiten des Betons, die konstruktive Umsetzung in Ortbeton und vorfabrizierten, modularen Elementen geschah dann im intensiven und fruchtbaren Dialog zwischen den Disziplinen – so, wie es bei so komplexen Bauten immer der Fall sein sollte. Exemplarisch für dieses Vorgehen war die zusammen mit Carlo Galmarini getroffene Materialwahl. Der Entscheid für den Baustoff Beton kam aus unserer gemeinsamen Affinität für alle Arten von Infrastrukturbauten, Brücken und Staudämmen, die ihre Kraft aus dem Material entwickeln. Die Schweiz ist ein Betonland, die Grundbestandteile sind hier vorhanden und Betonbauten haben Tradition. Zwingend für Beton sprach zudem der Umstand, dass der Kehrichtbunker im Grundwasser zu liegen kam. Wir mussten also eine dichte Wanne bauen, um Verschmutzungen zu vermeiden. Im Wettbewerb hatten wir zunächst eine reine Ortbetonstruktur. Bei der Über arbeitung wurde uns bewusst, dass diese mit der Vorgabe, jederzeit überall in den Innenraum gelangen zu können, nicht vereinbar war. Nachträgliche Öffnungen hätten unserer Vorstellung von Präzision und der angestrebten hohen Ökonomie der Konstruktion widersprochen. Im Gespräch mit den Verfahrensingenieuren schliesslich definierten wir den Übergang zwischen dem fugenlos gegossenen Sockel und dem darüber liegenden, modularen Aufbau.

M.G.: Die Zusammenarbeit zwischen Architekt und Bauingenieur war intensiv und von gegenseitigem Interesse geprägt. Dies hat sich nicht nur bei der Gebäudehülle manifestiert, sondern bei sämtlichen strukturellen Elementen, zumal bei diesem Projekt das Tragwerk ja nicht gedämmt und eingepackt werden musste. Das beharrliche Bestreben von Carlo Galmarini, die Strukturen ökonomisch und effizient zu dimensionieren, deckte sich mit unserem Interesse, das Material Beton sehr differenziert auszuformulieren und ihm sogar Leichtigkeit zu verleihen. Einzelne Platten wie beispielsweise beim Dach der Abladehalle konnten extrem ausgedünnt werden, ohne dabei ihre aussteifende Wirkung im Verbund innerhalb des Faltwerks zu verlieren. Wir wollten eine dramatische Wirkung erzielen. Durch den Massstab der Anlage entsteht eine Verschiebung in der Wahrnehmung: Wandscheiben mit einer normalen Dicke von 20 oder 30 cm wirken dünn und leicht wie Karton, doch aus diesen dünnen Scheiben entstehen massiv wirkende Volumen, die ihrerseits wiederum über dem Boden zu schweben scheinen. Dieses Spiel mit der Wahrnehmung von Leichtigkeit und Schwere konnten wir erst dank dem Massstab der Anlage zu einem wichtigen Thema entwickeln.

TEC21: Wie bei vielen Ihrer Projekte ist die Wegführung ein zentrales Entwurfsthema.

T.P.: Uns wurde bereits früh im Wettbewerb klar, dass die Öffentlichkeit ein hohes Interesse an der Anlage haben würde und einen angemessenen Zugang dazu bräuchte, auch wenn diesem Aspekt im Programm keine Bedeutung zugemessen war. Die KVA Thun zählte 2005 bereits 3500 Besucher pro Jahr – für uns Indiz genug, die Wegführung von Personal und Besuchern zu einem tragenden Entwurfsthema zu machen. Neben den Funktionen der technischen Räume stand deshalb die Frage nach den Erschliessungsräumen im Vordergrund, die für uns immer auch Raumerschliessung sind: Sie machen den Raum durch Bewegung erlebbar. Die Wegführung ist identitätsbildend. Die Fassade zur Autobahn ist ja primär konzeptuell definiert: Prägend ist der weithin sichtbare Kamin, alle anderen Bauteile liegen sozusagen im Wald verborgen und könnten nach Bedarf geändert werden, bis hin zum Hinzufügen einer weiteren Verbrennungslinie. Anders die Stadtfassade und die dahinter verborgene Raumfolge, die sorgfältig inszeniert sind: Der Aufgang auf die Passerelle, der Eingang unter dem kreisrunden Oberlicht, der 300 m lange, verglaste Korridor mit den Bullaugen in die Anlage – die in einem Art Stationenweg sämtlichen Schritten des Prozesses folgen –, danach der Übergang in die Treppenanlage mit dem dramatischen Aufstieg unter zenitalem Licht und die Treppe in die Steuerzentrale. Den krönenden Abschluss bildet die Liftfahrt auf die Besucherplattform auf dem Kamin. Dies sind zentrale Elemente des Entwurfs. Der Korridor zeichnet sich nachts deutlich ab, je nach Lichtsituation als gelbes Band oder als Reihe leuchtender Bullaugen. Er bildet die Schnittstelle zwischen innen und aussen, einen surrealen Raum zwischen Technik und Wald.

TEC21: Dieser Besuchergang hält wie ein Geschenkband das pragmatisch gestapelte Paket der industriellen Funktionen zusammen. Als schmale Linie betont er die Dimensionen des Gebäudes und seine Horizontalität im Gegensatz zu den Baumstämmen.

M.G.: Die Perspektive der Besucherinnen und Besucher hat schon in der frühesten Konzeptphase im Wettbewerb den Entwurf geprägt. So entstand die Idee des öffentlichen Korridors, dessen Linearität ein Abbild der inneren Abläufe ist. Umgekehrt hat der Anspruch, die Abläufe für Laien verständlich zu machen, das Konzept der linearen Anordnung der Funk tionen gestärkt und zur logischen Abfolge von Anlieferung, Kehrichtbunker, Verbrennung, Reinigung der Rauchgase und Energieproduktion geführt. Szenografische Überlegungen haben die Formfindung ebenso bestimmt wie die technischen und funktionalen Anforderungen. Der didaktische Aufbau ist eine gebaute Einladung an die Öffentlichkeit. Die Bauherrschaft war von Anfang an von dieser Haltung eingenommen; sie hat das Konzept mitgetragen und weiterentwickelt. Mit dem Besucherzentrum hat sie ein Element ins Programm aufgenommen, das die Öffentlichkeitswirkung noch zusätzlich auflädt.

TEC21, Fr., 2013.03.22



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12. Oktober 2012Judit Solt
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«Was ist das Verbindende?»

Miroslav Šik hat – zusammen mit den Architekturbüros Miller & Maranta aus Basel und Knapkiewicz & Fickert aus Zürich – an der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig die Ausstellung im Schweizer Pavillon realisiert. Unter dem Titel «And now the Ensemble!» gehen die Aussteller der Frage nach, was das Verbindende in der Architektur ausmacht. Im Hof des Schweizer Pavillons diskutierten sie am Eröffnungstag mit TEC21 über ihre Zusammenarbeit und die Bedeutung von Bildern in der Architektur.

Miroslav Šik hat – zusammen mit den Architekturbüros Miller & Maranta aus Basel und Knapkiewicz & Fickert aus Zürich – an der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig die Ausstellung im Schweizer Pavillon realisiert. Unter dem Titel «And now the Ensemble!» gehen die Aussteller der Frage nach, was das Verbindende in der Architektur ausmacht. Im Hof des Schweizer Pavillons diskutierten sie am Eröffnungstag mit TEC21 über ihre Zusammenarbeit und die Bedeutung von Bildern in der Architektur.

Mittwochnachmittag am Eröffnungstag der 13. Architekturbiennale in Venedig: Miroslav Šik kommt von einer Diskussionsveranstaltung im Deutschen Pavillon, bei der es darum ging, die Ausstellungen im Schweizer und im deutschen Pavillon zu vergleichen. Dabei entzieht sich die Frage nach dem Wert der vorhandenen Bausubstanz, die der Generalkommissar Muck Pezet im deutschen Pavillon thematisiert, genauso jeder eindeutigen Antwort wie die Suche des Schweizer Teams nach dem Verbindenden (zum deutschen Pavillon vgl. S. 14). Das Interview ist Reflektion und Weiterführung dieser Diskussion, die auch die Frage nach der Bedeutung von Referenzen, gemeinsamen Hintergünden und Arbeitsweisen der drei Büros wie der Architektenschaft im Allgemeinen stellt. Versteht man die diesjährigen Aussteller als offizielle Vertreter der Schweizer Architektur, dann wäre das Gemeinsame im Schweizer Architekturschaffen nicht in formalen oder technischen Aspekten zu suchen, sondern in der Entwurfsmethodik: Der Bezug auf den Kontext und das Beiziehen von Referenzbildern sind verbreitet. Auch wenn es Unterschiede in der Auslegung gibt, scheint es eine verbindende Komponente zu sein – es ist sicher kein Zufall, dass Valerio Olgiati im Arsenale eine Sammlung von Referenzbildern bekannter Architektinnen und Architekten präsentiert (vgl. «Patina, Pasticcio, Palimpsest, Patent», S. 22).

TEC21: Miroslav Šik, Sie kommen gerade vom deutschen Pavillon. Ein wichtiger Unterschied zwischen der Ausstellung im Schweizer und jener im deutschen Pavillon ist, dass Letztere von einer Einzelperson kuratiert wurde, während Sie das Fresko und die begleitenden Räume im Team entwickelt und umgesetzt haben. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

Miroslav Šik (MŠ): Pro Helvetia wollte zunächst etwas über mich sehen; Šik als Lehrer, als Architekt, als Theoretiker. Es wäre eine Rückschau geworden. Ich aber wollte nach vorne schauen und Dinge thematisieren, die mich beschäftigen. Ich wollte meine Arbeit als Architekt reflektieren; eben kontextgebundene Architektur. Im Grunde machen das viele Schweizer Büros, Entwerfen ist bei uns kontextgebunden. Darum habe ich entschieden, für diese Reflektion noch weitere Büros beizuziehen. Wir fünf haben bereits im Rahmen des Projekts «Andermatt Swiss Alps» des Unternehmers Samih Sawiris zusammengearbeitet. Das soll aber nicht heissen, dass alles harmonisch verlaufen ist: Wir haben auch gekämpft und miteinander gerungen. Die Idee der Collage gab es nicht von Anfang an; auch dass Bruno Giacomettis Pavillon ein wichtiger Protagonist in unserer Ausstellung sein müsse, haben wir nicht sofort verstanden.

Quintus Miller (QM): Im ersten Moment war es für uns nicht offensichtlich, wie diese Zusammenarbeit aussehen könnte. Wir haben alle sehr unterschiedliche Herangehensweisen. Aber dann haben wir innerhalb von einigen Sitzungen herausgefunden, wo unsere gemeinsame Stärke liegen kann. Wir respektieren einander im hohen Masse und schätzen uns als Kollegen.

TEC21: Was waren die ersten Ideen, und wie kam es schliesslich zur Umsetzung des Freskos?

MŠ: Die Idee zum Fresko ergab sich aus unseren Diskussionen, sie ist Produkt des Prozesses. Irgendwann haben wir gesagt: Wenn wir von Ensemble reden, dann lasst uns auch ein Ensemble bilden! Die Art der Ausführung ist ebenfalls aus dieser Diskussion entstanden. Es war Axels Idee, die ursprünglich geplante Blackbox aufzuheben, die Architektur des Pavillons in unsere Ausstellung zu integrieren und folgerichtig mit Tageslicht zu arbeiten.

Axel Fickert (AF): Der Wunsch, ein Ensemble umzusetzen, stand relativ am Anfang – dorthin wollen wir ja auch mit unserer Architektur. Es gab Anregungen und Vorbilder, wie die Bilder des Architekten und Malers Joseph Michael Gandy[1]im Soane Museum in London, eine Anregung von Kaschka. Das hat uns an das Bild «Città Analoga» von Arduino Cantafora erinnert, das uns seit unserer Studienzeit beschäftigt (Abb. 2). Cantafora hat in einer Art Panorama Bauten von Aldo Rossi in den Kontext historischer Bauten und Stadtvisionen eingebunden und zu einer Collage kombiniert. Genau das passiert auf unserem Fresko – es ist unsere «Città Analoga», die wir weiter behandeln.

TEC21: Woher stammt der Titel «And now the Ensemble!»?

MŠ: Nach der Entscheidung, ein Ensemble zu collagieren, kamen wir auf den Slogan. Auch hier war es Axel, der uns darauf gebracht hat. Ich hätte wohl «Ensemble City» vorgeschlagen, aber das hätte nicht diese Kraft gehabt. Wir haben die «Città Analoga» mit neuen Mitteln gestaltet. Die Linie ist klar, wir beziehen uns auf Aldo Rossi und seine Zeit. Aber es gibt auch Unterschiede, was auch damit zusammenhängt, dass wir eine andere Generation sind. Wir haben verstanden, dass die Stadt heterogen und dennoch einheitlich sein kann.

QM: Viele verstehen diese Collage als eine Arbeit mit Bildern. Ich möchte das Wort lieber im englischen Sinn als «Images» gebrauchen. Darin liegen zwei Bedeutungen: einerseits das Bild und andererseits das Image, ein Wort, das wir im Deutschen auch kennen und bei dem es um Inhalt geht. Über diese Inhalte haben wir diskutiert und aus ihnen ein Fresko entwickelt. Kaschka Knapkiewicz (KK): Wir haben uns gefragt, wann eine Stadt oder ein Ort überhaupt einheitlich ist und wie man eine Vielfalt in der Einheit schaffen kann. Die meisten Architekten realisieren einen Solitär nach dem anderen; die Bauten stehen nebeneinander, bilden aber kein Ensemble.

AF: Im Zentralen Pavillon (Padiglione Centrale, Giardini) stellt Peter Eisenman den Plan von Piranesi als Modell aus – eine «Città Analoga» des antiken Rom. Was bindet dieses Häusermeer zusammen? Sind es die Säulen, weil ein grosser Prozentsatz von Bauten Säulenportiken aufweist? Gibt es in unserer Zeit etwas, das eine ähnliche Trägerfunktion aufweist und unsere Gebäude zusammenhält? Es ist nicht nur der Raum, es ist nicht nur die Volumetrie, es ist nicht nur die Gebäudestellung, es ist nicht die Ähnlichkeit der Fenster – was ist das genau, was die Gebäude verbindet? Unsere Collage wirkt auf den Betrachter, weil es ein monumentales Fresko ist. Die interessante Frage ist, warum es als Ensemble wahrgenommen wird? Welches Bindemittel hält die abgebildeten Bauten zusammen? Das Kontextuelle gehört sicher dazu, aber viele Architekten machen kontextuelle Projekte. Was ist also dieses «Mehr»?

QM: Ich denke, es ist die dichte kulturelle Schichtung, die jeder von uns pflegt und die wir in unseren Bauten auch transportieren. Es sind profund gedachte Architekturen, die über das blosse Gefallen an einer Form, einem Volumen oder einer Aussage hinausgehen. Jeder von uns bringt aufgrund seines ganz persönlichen Hintergrunds eine bestimmte Geschichte in ein Projekt hinein, und die Vielschichtigkeit, die in den Bauten liegt, ermöglicht dies auch. Wir betten uns in eine gemeinsame Kultur, in ein kollektives Bewusstsein ein.

AF: Das machen doch alle Architekturschaffenden. Wir haben mit Studierenden deren Projekte versuchsweise zu einem Ensemble zusammengefügt, heraus kam aber nur ein Häuserhaufen. Ein anderes Beispiel: Im Arsenale sind zurzeit Fotos von Thomas Struth zu sehen. Einmal sind diverse Berliner Hinterhöfe dargestellt – banale Fassaden, die nur Fenster haben, nichts sonst. Daneben ist ein Bild von St. Petersburger Fassaden – wieder lauter Fenster, aber trotzdem ist der Strasseneindruck im öffentlichen Raum völlig anders. Es muss etwas geben, was diesen Eindruck ausmacht und den urbanen Raum prägt.

KK: Es ist die Zuwendung zum öffentlichen Raum. Es ist das Verständnis dafür, die Hauptfassade im traditionellen Sinn als repräsentatives Antlitz des Gebäudes zur Strasse hin aufzufassen. Im Hinterhof dagegen muss man nicht repräsentieren. Schaut euch Venedig an: Es gibt in der ganzen Stadt schmale, hohe Fenster im Piano nobile und sonst kleine Fenster, aber trotz den unterschiedlichen Grössen und Positionierungen tragen sie alle zum Schmuck der Strasse bei. Es ist, als hätte man sich auf einen Gestus zur Strasse hin geeinigt.

TEC21: Spannend ist ja gerade, dass Sie sich eben nicht auf Fenstergrössen oder sonstige Formen geeinigt haben. Auf dem Fresko zeigen Sie Werke, die jeweils für einen ganz bestimmten Kontext geschaffen, aus diesem Kontext herausgerissen und neu zusammengestellt worden sind. Alle diese «Entwurzelten» bilden ein neues Ensemble – da stellt sich schon die Frage, warum das funktioniert. Am direkten Bezug zum unmittelbaren Nachbarn auf dem Fresko kann es jedenfalls nicht liegen. Die Verbindung muss auf einer viel allgemeineren Ebene liegen.

QM: Es geht um eine Haltung, ein Verhalten – und darum, dass ein Gebäude ein «Gesicht» hat und etwas aussagt. Ich bin überzeugt, dass die vermittelte Bedeutung immer vielschichtig sein muss. Sonst wäre es unmöglich, aus unterschiedlichen kulturellen Umfeldern Zugang zum Gebäude zu finden.

MŠ: Nehmen wir ein Gegenbeispiel, den Novartis Campus in Basel. Der Masterplan von Vittorio Magnago Lampugnani gibt strenge städtebauliche Regeln und durchgehende Gestaltungselemente vor, und dennoch ist kein städtisches Ensemble entstanden.

AF: Weil die Bauten Solitäre sind: Sie basieren auf der Eitelkeit einzelner Architekturschaffender. Das ist das Paradoxe. Die verbindenden Strassenräume sind an sich gelungen, aber die Bauten streben das pure Gegenteil des Gemeinsamen an, sie konkurrenzieren und verschliessen sich, stellen das eine Thema gegen das andere. Angenommen, alle Bauten hätten Loggien oder raumhaltige Fassaden – ich denke jetzt beispielsweise an die Planung von Auguste Perret für Le Havre[2] – vielleicht hätten sie dann etwas, das Plastizität erzeugt. Es wäre anders.

TEC21: Liegt es in diesem Fall nicht auch an der Monofunktionalität der Büro- und Labornutzung und daran, dass der Campus kein öffentlicher Raum ist? Lampugnani hat ihn als Stadtraum gestaltet, aber de facto ist es eine «verbotene Stadt». Dort ist alles andere gewünscht als Öffentlichkeit, und das merkt man einigen Gebäuden auch an. Wozu sollen sie sich zu einer Strasse öffnen, die keine ist?

AF: Ich glaube, es liegt an der Art, wie sich die Gebäude dem öffentlichen Raum zuwenden oder eben nicht – der Grad der Plastizität, der Raumhaltigkeit. Darum bin ich auch gegen die Verdammung des Motivs: Das Motiv ist ein wichtiges Mittel, um diese Zuwendung auszudrücken.

QM: Ich verdamme das Motiv nicht. Ein anderer Gedanke: Liegt das Verbindende zwischen uns vielleicht darin, dass wir Architekturen schaffen, die Patina ansetzen können? Wir verwenden mineralische Materialien, die altern können. Dass ein Gebäude den Gebrauch, das Leben annehmen kann, ist wichtig.

MŠ: Das ist jetzt ein schönes Beispiel dafür, wie wir in der Gruppe diskutiert, gesucht und gerungen haben. Das Fresko ist ein empirisches Produkt. Das «masterpiece» dort ist tatsächlich dieses Ensemble, das Bindende. Wahrscheinlich hat jeder von uns noch eine eigene Gewichtung im Hinblick darauf, was ein Ensemble ist.

TEC21: Wie haben Sie es geschafft, sich auf diese Präsentation zu einigen? Haben Sie sich von Anfang an auf das Referenzbild «La Città Analoga» von Cantafora bezogen?

AF: Zunächst wollten wir eine gemeinsame Collage machen, sind aber damit gescheitert: Das geht einfach nicht, wenn man verschiedene Positionen vertritt. Darum ist das Fresko dreigeteilt: Jedes Büro hat eine Wand mit einer Collage seiner Bauten gestaltet. Wenn man die drei Bilder jetzt als Einheit liest, ist es das schönste Kompliment, das man uns machen kann! Offenbar sind die verschiedenen Visionen kompatibel.

MŠ: Es gab die Option, einen Comicstrip machen zu lassen. Wir hatten Kontakt mit Zürcher Zeichnern, u.a. mit Andreas Gefe. Er hätte das Unifizierende herstellen können, aber bei der Umsetzung seine eigene Handschrift auf die Collage übertragen. Dies hätte den Schwerpunkt auf ausserarchitektonische Massnahmen und Objekte wie Bäume verlagert, und die Architektur, die wir eigentlich abbilden wollten, wäre auf der Strecke geblieben. Wir wollten kein Kunstwerk schaffen, sondern das Ensemble in den Vordergrund stellen.

TEC21: Welche anderen Darstellungsformen haben Sie noch diskutiert?

MŠ: Es gab die Idee einer «russischen Hängung»[3], und auch die Technik der «Frottage» haben wir verfolgt. Schliesslich kamen wir auf das Verfahren mit der Fotoemulsion. Technisch war es ein Risiko, weil es bisher fast nur kleinformatige Versuche mit diesem Verfahren gegeben hat, maximal ein auf zwei Meter. Einige Künstler hatten in den 1970er-Jahren zwar grössere Formate ausprobiert, allerdings waren die Arbeiten damals häufig als Performance angelegt. Die Bilder wurden nicht fixiert, sondern sollten im Laufe der Ausstellung verblassen. Die technische Machbarkeit unserer Idee war daher nicht gesichert, wir haben mehr oder weniger alles auf eine Karte gesetzt.

TEC21: Wie wurde das Fresko dann tatsächlich ausgeführt?

MŠ: Zunächst mussten wir den Raum vollständig abdunkeln. Anschliessend wurde die Emulsion auf die Wand aufgetragen und mit Unterstützung von Klimaanlagen getrocknet. Danach konnten wir belichten. Parallel arbeiteten wir an den Vorlagen für die Projektion über Dia. Die Schärfe der Darstellung war teilweise nicht ausreichend, sie sollte bei ca. 600 dpi liegen. Als wir mit der Belichtung anfingen, kamen neue Schwierigkeiten hinzu. Zuvor hatte hier der Künstler Thomas Hirschhorn[4] ausgestellt. Er hatte den Pavillon völlig verkleidet und mit einem Kleber auf die Bodenplatten und an die Säulen und Wände mit Klebeband diverse Materialien und Objekte geklebt. Als wir die Fotoemulsion auftrugen, gab es punktuell unkontrollierte chemische Reaktionen, und die Bilder wurden unscharf. Also haben wir das ganze Spiel noch einmal wiederholt, die Wand zwischendurch gereinigt und neu verputzt. Inzwischen war es Mitte Juli, und hier in Venedig wurde es tagsüber 32 °C warm …

AF: Anstelle von drei Wochen haben die Arbeiten sechs Wochen gedauert. Am Ende hatte das Ganze die Dimension von Raffaels Werkstatt …

MŠ: Die Realisierung der Fotoemulsion verdanken wir dem deutschen Fotografen und Künstler Michael Zirn und seinem Team. Wir hatten angesichts der technischen Schwierigkeiten schon aufgegeben, als sich einer von Zirns Mitarbeitern an ein fotochemisches Rezept erinnerte: Man bringt Harnsäure auf, die anschliessend mit Salzsäure abgewaschen wird. Das haben wir gemacht. Die Arbeiter trugen Gasmasken – bei der Hitze wahrlich keine idealen Arbeitsbedingungen. Eine Woche vor der Eröffnung waren wir über den Berg. Zwischendurch haben wir alle ein bisschen die Nerven verloren und dachten: Hätten wir doch die Wände tapeziert ... Aber es wäre nicht dasselbe gewesen. Im deutschen Pavillon sind die Bilder auf die Wände geklebt; das sind aber Fotografien, die als solche wirken können und sollen. Bei unserer Collage ist es wichtig, dass der einzelne Pinselstrich vom Auftragen der Emulsion sichtbar bleibt. Dieser handwerkliche Aspekt und die Verfremdung durch das Belichtungsverfahren machen das Fresko zu dem, was es ist. Eine Verfremdung mit Photoshop haben wir übrigens auch getestet, aber als zu direkt verworfen.

QM: Die Kontrastveränderung, der Prozess hat den Bildern einen weiteren vereinheitlichenden Filter übergelegt. Was von der Sache her auch Sinn ergibt: Wir arbeiten alle mit dem Material und dem Detail. Es ist eine Arbeit, die für diesen Moment und für diese Wände gemacht ist, und das verleiht ihr ihren Charakter. Was ich noch ergänzen wollte: Wir sind sehr unterschiedlich, und das sieht man den Bildern auch an. Dass die Zusammenarbeit trotzdem so gut funktioniert hat, liegt daran, dass wir uns als Kollegen respektieren. Bei aller Unterschiedlichkeit sind wir passioniert für ähnliche Vorstellungen.

MŠ: Die anderen zwei Räume sind begleitend: der Lesetisch und unsere Referenzwand. Die fasziniert das Publikum am meisten, insbesondere die deutschen Kollegen, was mich doch überrascht, weil wir seit Jahren mit Referenzbildern arbeiten. Auch von meinen Studierenden verlange ich, dass sie mir ihre Referenzen immer wieder zeigen.

KK: Wir verständigen uns über unsere Referenzen. Wir sagen: «Weisst du, wie bei dem und dem Bau …» Wenn man das Bild hat, die Referenz, hat man die Richtung. Und bei den Deutschschweizer Architekten sind wir bei Weitem nicht die Einzigen, die so arbeiten.

MŠ: Das vierte Element unserer Ausstellung neben Fresko, Referenzen und Lesetisch – vielleicht die wichtigste Komponente – ist der Pavillon von Bruno Giacometti. Was er für eine Kraft hat, haben wir erst im Lauf der Zeit realisiert. Wir wollten, dass man die Räume wahrnehmen kann, den Bezug zwischen innen und aussen spürt.


Anmerkungen:
[01] Joseph Gandy (1771–1843) war englischer Architekt, Theoretiker und Maler, vor allem bekannt für seine imaginierenden Bilder der architektonischen Entwürfe von Sir John Soanes
[02] Auguste Perret war der hauptverantwortliche Stadtplaner für den Wiederaufbau von Le Havre nach dem Zweiten Weltkrieg
[03] Die «russische Hängung», auch «Petersburger Hängung», bezeichnet eine enge Reihung von Bildern. Sie wird benannt nach der Hängung der Gemälde in der Eremitage
[04] Thomas Hirschhorn, «Crystal of Resistance», Swiss Pavilion, Venice Biennale, Venice, Italy, 2011

And now the Ensemble! Ebenfalls unter dem Titel «And now the Ensemble!» ist eine Publikation erschienen mit Beiträgen u.a. von Adam Caruso, Vittorio Magnago Lampugnani, Quintus Miller und Miroslav Šik. Sie möchte dazu auffordern, Stadtplanung als dynamischen, kollektiven Prozess zu begreifen und zu gestalten: Miroslav Šik, Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, And now the Ensemble!, Zürich 2012

TEC21, Fr., 2012.10.12



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TEC21 2012|42-43 13. Architekturbiennale

24. August 2012Tina Cieslik
Andrea Wiegelmann
TEC21

Pflegekonzepte in Zürich und Dietikon

Der Anteil der über 80-Jährigen in unserer Gesellschaft steigt und mit ihm die Zahl der Personen, die in unterschiedlichen Formen Unterstützung und Pflege zur Bewältigung ihres Alltags benötigen. Die beiden Städte Zürich und Dietikon haben in den letzten Jahren ihr Angebot an Pflegeeinrichtungen analysiert und bestehende Pflegeheime instand gesetzt bzw. Neubauten errichtet. Auch wenn sich die Rahmenbedingungen unterscheiden – bei Besuchen des Pflegezentrums Bombach in Zürich Höngg und des Pflegeheims Ruggacker in Dietikon fällt auf, dass die Steigerung der Aufenthaltsqualität für Bewohner und Personal bei der Gestaltung der Häuser eine zentrale Rolle spielt.

Der Anteil der über 80-Jährigen in unserer Gesellschaft steigt und mit ihm die Zahl der Personen, die in unterschiedlichen Formen Unterstützung und Pflege zur Bewältigung ihres Alltags benötigen. Die beiden Städte Zürich und Dietikon haben in den letzten Jahren ihr Angebot an Pflegeeinrichtungen analysiert und bestehende Pflegeheime instand gesetzt bzw. Neubauten errichtet. Auch wenn sich die Rahmenbedingungen unterscheiden – bei Besuchen des Pflegezentrums Bombach in Zürich Höngg und des Pflegeheims Ruggacker in Dietikon fällt auf, dass die Steigerung der Aufenthaltsqualität für Bewohner und Personal bei der Gestaltung der Häuser eine zentrale Rolle spielt.

Weitläufige Eingangsbereiche, Blickbezüge in den Gebäuden und in die Umgebung, eine sorgfältige Detaillierung und Materialwahl zitieren in Zürich Höngg wie in Dietikon eher grosszügige Wohnanlagen denn Pflegeeinrichtungen. Es ist offensichtlich, dass sich der Anspruch an diese Häuser in den letzten Jahren gewandelt hat. Bewegungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten der Bewohnerinnen und Bewohner werden aktiv gefördert, die Selbstständigkeit jedes Einzelnen durch Therapien unterstützt. Die sogenannte Aktivierung, die Unterstützung und Förderung von Beweglichkeit und Aktivität, spielt eine zentrale Rolle. Auch das Leben auf den Abteilungen, mit Zimmernachbarn und Pflegern ist gestärkt. Statt Mehrbettzimmern bestimmen heute Ein- und Zweibettzimmer die Wohnetagen. Eigene Demenzabteilungen ergänzen das Programm. Beim Pflegezentrum Bombach in Zürich und beim Pflegeheim Ruggacker in Dietikon, beides Instandsetzungen, mussten bestehende Strukturen, entstanden aus Pflegekonzepten der 1960er-Jahre, an diesen Anforderungskatalog angepasst werden.

Während die Stadt Zürich für den Neubau wie die Instandsetzung ihrer Pflegeeinrichtungen einen Richtlinienkatalog[1], basierend aus den Erfahrungen mit den bestehenden Anlagen, erarbeitet hat, entwickelte Dietikon mithilfe externer Berater die erforderlichen Vorgaben für die Planung. Beide Städte reagieren damit auf die vorhandene Nachfrage, wenn auch die Voraussetzungen andere sind: Zürich möchte das Angebot an Pflegeeinrichtungen auf dem aktuellen Stand halten – der Anteil an über 80-Jährigen an der Gesamtbevölkerung wird nicht weiter steigen (vgl. Kasten S. 27) –, für Dietikon ist der Ausbau des Angebots auch Standortmarketing, da die Stadt in den nächsten Jahren von einer Zunahme der über 80-Jährigen ausgeht.

Grandezza in Bombach

Das Pflegezentrum Bombach, 1965 nach den Plänen der Architekten Josef Schütz und Hans von Meyenburg erbaut, liegt am Westrand von Zürich Höngg auf einer Geländeterrasse mit Aussicht über die Stadt. Über dem dreigeschossigen Sockel, auf zwei Untergeschosse folgt das freie Erdgeschoss, erhebt sich das siebenstöckige Bettenhaus, das mit einem zurückgesetzten Dachgeschoss abschliesst.

Den Besucher empfängt das instand gesetzte und im April 2012 wiedereröffnete Pflegezentrum mit einem grosszügigen offenen Erdgeschoss, das die parkartige Umgebung in das Gebäude hineinzieht. Das Nussbaumholz der Möbeleinbauten und die grossen Leuchten bestimmen den Raum. Die Offenheit, der Blick durch die geschosshohe Verglasung, die Kombination von warmen Holztönen und Steinböden entsprechen nicht im mindesten den Bildern, die beim Stichwort «Pflegeheim» im Kopf entstehen. Das verantwortliche Zürcher Büro Niedermann Sigg Schwendener nutzte die Möglichkeiten der Tragstruktur und schuf grosszügige, helle Räume.

Im Zuge der Instandsetzung wurde das Gebäude weitestgehend entkernt. Für die Anpassung der Grundrisse waren die Vorgaben des «Masterplans Bauten»[2] der Pflegezentren der Stadt Zürich ausschlaggebend. Darin enthalten sind Empfehlungen wie etwa die Zuordnung der Nasszellen zu den Zimmern oder die Anordnung von Aufenthaltsbereichen in jeder Abteilung. In Bombach sind eine Pflegeabteilung für Personen mit Sehbehinderung – erstmalig bei den Stadtzürcher Pflegezentren –, zwei Demenzabteilungen sowie eine Abteilung für geistig aktive (kognitiv intakte) Menschen integriert. Damit bietet das Pflegezentrum seinen Bewohnerinnen und Bewohnern eine auf die individuellen Bedürfnisse abgestimmte Pflege und zudem ein umfassendes Therapieprogramm. Ein Tageszentrum, das «Stöckli», nimmt demenzkranke Bewohnerinnen und Bewohner tageweise auf. Voraussichtlich 2016 wird ein separates Haus für Demenzpatienten die Anlage ergänzen.

Für diesen Anforderungskatalog mussten die Nutzungen im Erd- und Untergeschoss neu organisiert werden. Die Eingangshalle ist als Zentrum der Anlage gestärkt und beherbergt nun neben dem Empfangs- und Aufenthaltsbereich auch die Cafeteria. Die Untergeschosse nehmen den erweiterten Therapiebereich auf, ebenso die Küche, den Personal- und den Andachtsbereich. In den sieben Obergeschossen sind durch die Neuorganisation der Grundrisse Aufenthalts- und Essbereiche entstanden. Durch integrierte Wohnküchen kann den Bewohnern nun ein Frühstücksbuffet angeboten werden. Die Möglichkeit, mit den Nachbarn auf der Etage zu frühstücken, wird, so der Leiter des Pflegezentrums, Erwin Zehnder, sehr gut angenommen. Das gemeinsame Essen auf den Geschossen bekommt einen beinahe familiären Charakter, unterstützt durch die Tatsache, dass das Pflegepersonal in der Regel immer auf denselben Abteilungen arbeitet:

Auch bei der Gestaltung der Zimmer stand der Anspruch im Vordergrund, eine persönliche, wohnliche Atmosphäre zu schaffen. Die ehemaligen Mehrbettzimmer sind in Ein- und Zweibettzimmer mit direkt zugeordneten Nassräumen umgewandelt. Die Ausstattung ist zurückhaltend genug, um den persönlichen Möbeln und Einrichtungsobjekten der Bewohnerinnen und Bewohner Raum zu geben. Sie haben deutlich mehr Privatsphäre als zuvor. Grosszügige Panoramafenster bieten auch aus dem Bett Aussicht ins Tal. Schmale Lüftungsflügel versorgen die Zimmer mit Frischluft und helfen, in Kombination mit der Komfortlüftung, den typischen Krankenhausgeruch zu vermeiden. Auf den Fluren zitieren die Kunststeineinfassungen der Zimmertüren die Eingangssituation in ein Privathaus und schaffen eine intime Atmosphäre, vergleichbar mit einer engen Altstadtgasse. Dieses Bild unterstützen die im Vorbereich der Treppen und Aufzüge installierten Bänke ebenso wie die Ausbaumaterialien (Eichenholz und heller Kunststein). Die notwendige Funktionalität der Wohnbereiche, die dennoch alle Ansprüche an eine moderne Pflegestation erfüllen, drängt sich durch die Gestaltung und die Wahl der Materialien nicht auf.

Differenziertes Angebot in Dietikon

In Dietikon ähneln die Anforderungen an die Instandsetzung des Pflegeheims Ruggacker der Aufgabenstellung in Zürich. Die Verabschiedung des Altersleitbilds der Stadt Dietikon von 1996 (vgl. Kasten S. 27) erforderte einen Ausbau der Wohnmöglichkeiten für betagte Einwohnerinnen und Einwohner. Ziel der Stadt ist es, jedem Bewohner entsprechend seiner Möglichkeiten Unterstützung für diese Lebensphase zu bieten. Im Zug der notwendig gewordenen Instandsetzung des Pflegeheims – von Markus Dieterle 1966 errichtet – wurde in einem angegliederten Ersatzneubau daher auch ein selbstständiges Wohnangebot für Senioren geschaffen mit der Möglichkeit, ergänzende Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Verantwortliche Architekten sind, wie in Bombach, Niedermann Sigg Schwendener. Die Umsetzung in Dietikon war dabei komplexer als in Bombach: Für die Bewohner des Altbaus (Ruggacker 1) stand während der Zeit der Umbaumassnahme keine alternative Unterkunft zur Verfügung.[3] Daher wurde zunächst der Neubau errichtet, der zukünftig die Seniorenresidenz aufnehmen wird (Ruggacker 2) und die Bewohner aus dem Pflegeheim dorthin umgesiedelt. Gleichzeitig konnten so im Untergeschoss des Neubaus Lagerflächen, Garderobenräume und weitere Betriebsräume geschaffen werden, um den Alltagsbetrieb des Pflege- heims auch während der Bauphasen zu sichern. Auch die Errichtung des Zwischenbaus, der Speise- und Mehrzwecksaal aufnimmt, wurde in der ersten Etappe ausgeführt.

In einem zweiten Schritt wird momentan das Bestandsgebäude instand gesetzt. Der Neubau ist seit 2011 bezogen, der instand gesetzte Altbau wird Ende August 2012 fertiggestellt sein. Dann ziehen die Bewohnerinnen des Pflegeheims zurück, und der Neubau kann, nach einer erneuten Umbauphase, für das Alterswohnen genutzt werden.

Aufgrund der unterschiedlichen Nutzung verfolgten die Architekten von Beginn an das Konzept, zwei getrennte Gebäude zu realisieren, die über gemeinsam genutzte Bereiche verbunden sind: den Speisesaal, angeschlossen an die Empfangsbereiche, und die Verwaltungsräume beider Häuser in den Erd- und Untergeschossen.

Hohe Qualität im Rahmen des Möglichen

Die neu errichtete Altersresidenz besteht aus dem Gartengeschoss, drei dazwischenliegenden Vollgeschossen und dem zurückspringenden Dachgeschoss. Alle Wohnungen (vgl. Kas- ten S. 32) verfügen über Balkone oder Terrassen, die hinter den durchlaufenden, die Geschosse markierenden Brüstungen liegen. Die gestaffelte Grundrissstruktur fächert die Zimmer gegen Süden zum üppig begrünten Park auf. Die versetzte Anordnung rhythmisiert auch die Korridore, sich weitende und verengende Sequenzen erzeugen intimere und öffentlichere Räume (Abb. 11,12). Vor den Zimmern bilden sie private Zugangsbereiche. Jeweils am Anfang und Ende des Korridors liegen die Gemeinschaftsräume. Sie ermöglichen mittels innenliegender Verglasungen eine natürliche Belichtung der Erschliessungszone.

Der Bestandsbau liegt an der belebten Bremgartnerstrasse, zu der sich auch der Haupteingang orientiert. Die Instandsetzung sollte die Umwandlung der ursprünglichen Pflegezimmer zu grosszügigeren und kleineren Einheiten (Ein- und Zweibettzimmer) ermöglichen. Doch die strenge Schottenstruktur des Tragwerks stand einer umfassenden Neuorganisation der Grundrisse entgegen. Sie wurde weitestgehend übernommen, ebenso die Lage der Steigzonen. Die Pflegebereiche sind in den drei identischen Obergeschossen des bestehenden Gebäudes neu organisiert und werden durch ein zusätzliches Attikageschoss, das die Demenzabteilung aufnimmt, ergänzt. Die innere Organisation mit mittig angeordneten Korridoren ist beibehalten und jede Wohneinheit neu mit eigener Nasszelle ausgestattet. Die ehemaligen Balkone wurden den Zimmern zugeschlagen, um ausreichende Raumgrössen zu erhalten. Eine Vorgabe der Bauherrschaft, basierend auf einer – im Rahmen der Altersstrategie erstellten – Machbarkeitsstudie für die Instandsetzung. Um dennoch grösstmöglichen Aussenbezug zu gewährleisten, nutzten die Architekten Eichenholzfenster mit Öffnungsflügeln, die mit ihren niedrigen Brüstungszonen Blumenfenster zitieren und die Zimmer grosszügiger wirken lassen. Zudem ermöglichen sie, ergänzend zur integrierten kontrollierten Lüftung, eine individuelle Belüftung der Räume. Im Erdgeschoss des Pflegeheims nimmt der Gebäudeversprung den Zugang mit Empfang und anschliessender Cafeteria auf. Die grösszügige Öffnung des Geschosses zu Cafeteria und Aussenbereich wurde möglich, da mit der Instandsetzung die Waschküche ausgelagert und die frei gewordenen Flächen mit Infrastruktur und Küche belegt werden konnten. Wie beim Pflegezentrum Bombach versuchten die Architekten auch in Dietikon durch eine gute Versorgung mit Tageslicht in allen Bereichen sowie durch eine sorgfältige Material- und Farbwahl die Privatsphäre der Bewohnerinnen und Bewohner zu stärken und die Atmosphäre in den Geschossen wohnlich zu gestalten. Angesichts der Zwänge, die durch die vorgegebene Tragstruktur bestanden, ist das Ergebnis umso überzeugender.

Zwänge und Chancen

Die Städte Zürich und Dietikon agieren innerhalb völlig unterschiedlicher Rahmenbedingungen. Während Zürich mit seinen zehn Pflegezentren aus der Erfahrung der eigenen Heime lernen konnte, zog Dietikon eine externe Beratung hinzu. Trotz allen Unterschieden in Ausgangslage und Umsetzung gibt es auch Gemeinsamkeiten: Beide Städte setzen beim Wohn- und Pflegeangebot für das Alter auf eine umfangreiche Palette an Möglichkeiten, die den vielseitigen Lebensentwürfen unserer Gesellschaft Rechnung trägt. Der Umgang mit ihren Pflegeheimen zeigt exemplarisch, wie sich der Schwerpunkt vom «Pflegen» zum «Heim», sprich zum «Daheimsein», zum Wohnen verschiebt. Die gezeigten Beispiele lösen diesen Anspruch dank einer sorgfältigen und sinnlichen Gestaltung ein.


Anmerkungen:
[01] Masterplan Bauten der Städtischen Pflegezentren, Zürich; Informationen unter: www.stadt-zuerich.ch/gud/de/index/gesundheit/pflegezentren.html
[02] ebd.
[03] Während der Instandsetzung des Pflegezentrums Bombach konnten die Bewohner in das ehemalige Personalhaus des Stadtspitals Triemli umziehen, in dem für Umbauten dieser Art ein temporäres Pflegeheim eingerichtet wurde

TEC21, Fr., 2012.08.24



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2012|35 Gepflegt Wohnen

23. März 2012Tina Cieslik
Andrea Wiegelmann
TEC21

Gegen die Einsamkeit

Die Zahl älterer Menschen und deren Anteil an der Gesamtbevölkerung ­steigen – mit den Babyboomern, den geburtenstarken Jahrgängen nach dem Zweiten Weltkrieg, kommt eine Generation in die Nachberufsphase, die sich nicht nur durch ein hohes Einkommen und einen entsprechenden Lebensstandard auszeichnet, sondern in der Regel auch über eine bessere Gesundheit verfügt als noch die Generation ihrer Eltern. Diesen Menschen stellt sich die Frage nach dem künftigen Wohnmodell: Viele wünschen die Einbettung in eine Gemeinschaft, verbunden mit einem gewissen Komfort, der weiterhin ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht. TEC21 hat drei aktuelle und unterschiedliche Modelle für selbständiges Wohnen im Alter verglichen.

Die Zahl älterer Menschen und deren Anteil an der Gesamtbevölkerung ­steigen – mit den Babyboomern, den geburtenstarken Jahrgängen nach dem Zweiten Weltkrieg, kommt eine Generation in die Nachberufsphase, die sich nicht nur durch ein hohes Einkommen und einen entsprechenden Lebensstandard auszeichnet, sondern in der Regel auch über eine bessere Gesundheit verfügt als noch die Generation ihrer Eltern. Diesen Menschen stellt sich die Frage nach dem künftigen Wohnmodell: Viele wünschen die Einbettung in eine Gemeinschaft, verbunden mit einem gewissen Komfort, der weiterhin ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht. TEC21 hat drei aktuelle und unterschiedliche Modelle für selbständiges Wohnen im Alter verglichen.

«Wohnen im Alter» boomt. Unzählige Stiftungen und Genossenschaften bieten heute in der Schweiz ein umfangreiches Angebot für Lebensalter, die oft durch ein « » gekennzeichnet werden. Von «44 » bis «80 » bewerben Slogans unterschiedlichste Wohnkonzepte für ebenso verschiedenartige Menschen und Einkommensverhältnisse. Das Spektrum reicht von Siedlungen mit integriertem Dienstleistungsangebot über Wohnanlagen, die mittels ­kleinerer Grundrisse, schwellenloser Räume und variabel wählbarer Serviceleistungen an die Bedürfnisse der Menschen nach der Familienphase angepasst sind, bis hin zu individuellen Wohnkonzepten, die von den künftigen Bewohnerinnen und Bewohnern auch selbst umgesetzt werden. An den folgenden Beispielen lassen sich drei Kernthemen ablesen: ­Wie viel Komfort wird geboten? Wie ausgeprägt ist die Gemeinschaft? Und: Was kosten die jeweiligen Wohnformen?

Alterswohnen Dufourstrasse, Zürich

Der Standort im Seefeld-Quartier nahe am Zürichsee, inmitten von vier- bis fünfgeschossigen Wohnbauten aus der Gründerzeit, ist eine der schöneren Wohnlagen der Stadt Zürich. Man kann sich vorstellen, wie der achtgeschossige, T-förmige, monolithische Betonbau, den Karl Flatz 1967 entworfen hat, mit seinen nüchternen Fassaden im Quartier auffiel. Der Bau umfasste seinerzeit 83 Kleinwohnungen, vorwiegend Einzimmerwohnungen ohne Bad und Balkon, und spiegelt die damaligen Vorstellungen und Ansprüche von Alterswohnen. Auch gut 40 Jahre später fällt die Alterssiedlung auf: Die einst strenge Sichtbetonfassade ist hinter dem lebhaften Spiel ihrer neuen Hülle verschwunden. Vor die Fassade gehängte ­Balkone mit metallenen Brüstungen prägen mit ihren weissen Sonnenschutzsegeln und gelben Vorhängen das Bild (Abb. 4). Das neue Kleid ist Ergebnis einer grundlegenden Instandsetzung, die mit einem vollständigen Umbau der Wohnungen einherging.

Die Bauherrin, die Stiftung Alterswohnungen der Stadt Zürich (SAW), ist Vermieterin von ­momentan 32 Alterssiedlungen im Stadtgebiet.[1] Ihre Gründung 1950 war eine Antwort auf die sozialen und politischen Entwicklungen in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Das rasche Wachstum der Städte führte zu Wohnungsnot vor allem in den unteren sozialen Schichten und bei den älteren Menschen. Die Stiftung bietet in Zürich lebenden Menschen über 60 Jahre vergleichsweise günstigen Wohnraum (vgl. Kasten S. 28), d.h. preiswerte Wohnungen innerhalb der Wohnbauförderung, sofern deren Jahreseinkommen gewisse Grenzen nicht übersteigt – 50600 Fr. für Einzelpersonen, 59700 Fr. für Zweipersonenhaus­halte. Ihre Mieterinnen und Mieter sollen so lange wie möglich selbstbestimmt in der eigenen Wohnung leben können und werden dabei durch ein umfangreiches Dienstleistungsangebot unterstützt.

Um die Alterssiedlung Dufourstrasse an zeitgemässe Bedürfnisse der Bewohner und Bewohnerinnen anzupassen und gleichzeitig dem Auftrag der Stiftung, für Menschen mit niedrigem Einkommen zu bauen, gerecht zu werden, entschied man sich für eine Instandsetzung. Dafür wurde 2007 ein Planerwahlverfahren durchgeführt, in dem die Zürcher Architekten Schneider Studer Primas mit ihrem Konzept für die Neuorganisation der Wohnungen sowie einer sorgfältigen, aber reduzierten Materialisierung innen wie aussen überzeugen konnten. Dabei kam dem Projekt zugute, dass die Bauträgerin Wert auf einen eigenständigen Charakter ihrer Bauten legte. So war es trotz dem begrenzten Budget möglich, die grosszügigen, versetzt angeordneten Balkone zu realisieren. Sie erlauben den Bewohnerinnen und Bewohnern den Kontakt zu den Nachbarn über die Stockwerke hinweg. Während die bewegte ­Fassade die Instandsetzung nach aussen sichtbar macht, entstanden im Inneren durch die Zusammenlegung der alten Wohneinheiten 51 Eineinhalb- bis Dreizimmerwohnungen mit unterschiedlichen Grundrissen, eigenem Bad und Balkon. Die Wohnflächen reichen von 46 m² (eineinhalb Zimmer) bis 70 m² (drei Zimmer). Alle Wohnungen sind über das zentrale Treppenhaus und zum Teil über die dort anschliessenden Laubengänge erschlossen.

Die Besonderheit des Gebäudes, die durch den T-förmigen Grundriss gegebene gute ­Belichtung aller Wohnungen, haben die Architekten für die Neuorganisation der Grundrisse genutzt. Bäder und Küchen sind neu eingebaut, grosszügige Verglasungen öffnen die Wohnungen nach aussen. Auf Flurzonen wurde weitestgehend verzichtet. Das Entrée bildet die Küchen mit einem Essbereich, ein Einbauschrank bietet zusätzliche Stauflächen. Die Bäder sind geräumig und mit schwellenfreien Duschen ausgestattet, die Armaturen sind alters­gerecht angebracht, auf «Behindertenarmaturen» hat man bewusst verzichtet. Neben dem grosszügigen Foyer im Erdgeschoss liegt ein Gemeinschaftsraum mit Küche, der den Bewohnerinnen und Bewohnern zur Verfügung steht – etwa für Geburtstagsfeiern – und auch für öffentliche Veranstaltungen genutzt wird. Auf der Eingangsebene liegen zudem das Spitex-Büro und die Sammelstelle des Wäscheservice. Die Dachterrasse im 7. Obergeschoss steht dagegen ausschliesslich den Mieterinnen und Mietern zur Verfügung. Hier befindet sich auch das Wohlfühlbad, ein grosszügiges Badezimmer mit Seeblick-Badewanne. Die bereits vor der Instandsetzung im Erdgeschoss untergebrachte Kinderkrippe ist um die Fläche der ehemaligen Hauswartswohnung vergrössert worden. Sie verfügt über einen eigenen Eingang und Garten – organisierte Interaktion zwischen den Generationen ist nicht vorgesehen. Das Wohnen mit Serviceleistungen bietet Unterstützung und Komfort, geht jedoch über ein nachbarschaftliches Verhältnis der Bewohner untereinander nicht hinaus. Es erlaubt den Mieterinnen und Mietern ganz im Sinn der Stiftung so lange wie möglich das selbständige Wohnen.

Gemeinschaftswohnen «Am Hof Köniz»

2006 lobte die Gemeinde Köniz einen Projekt- und Investorenwettbewerb für ein Grundstück im Dorfzentrum der Gemeinde Köniz aus. In Gehweite zu Bahnhof und Einkaufszentrum und mit Aussicht auf das Könizer Schloss gelegen, sollten auf dem Areal «Alte ­Migros» Wohnungen, insbesondere für Menschen in der ­zweiten Lebenshälfte, entstehen. Den Zuschlag erhielt die Arbeitsgemeinschaft aus Durrer Linggi Architekten, Zürich, und BEM Architekten, Baden, in Zusammenarbeit mit der Walliseller Genossenschaft Zukunftswohnen (vgl. Kasten S. 30). Die 2008 gegründete Genossenschaft entwickelt mit Interessengruppen, Gemeinden und Investoren Wohnangebote für Menschen in der zweiten Lebenshälfte. Der Fokus liegt dabei auf selbständigem, gemeinschaftlich organisiertem Wohnen – im Gegensatz zum Alleinwohnen oder zum betreuten Wohnen. Gemeinsam mit den Bewohnerinnen und Bewohnern werden die Regeln des Zusammenlebens entwickelt, die Genossenschaft übernimmt zudem administrative Aufgaben wie die Vermietung der Flächen oder die Koordination mit dem Hauswart. Die Mieter und Mieterinnen sollen sich – auf freiwilliger Basis – in Arbeitsgruppen für die Gemeinschaft engagieren, geschätzt wird ein Beitrag von zwei bis vier Wochenstunden. Betreiberin der Anlage in Köniz ist die eigens gegründete Genossenschaft «Am Hof Köniz», die Genossenschaft «Zukunftswohnen» ist darin ebenfalls vertreten.[3]

Von April 2010 bis Oktober 2011 realisierten die Architekten gemeinsam mit der Bau­unternehmung Losinger Marazzi, die inzwischen auf Druck der Investorin, der Gebäudeversicherung Bern, als ausführende Totalunternehmung zum Projekt gestossen war, einen viergeschossigen Zeilen- und einen fünfgeschossigen Punktbau, die zwischen den Gleisen der viermal stündlich verkehrenden Regionalbahn und der Durchgangsstrasse Richtung Niederwangen platziert sind. Ein Knick im Zeilenbau markiert die zentrale Erschliessung, im Erdgeschoss befindet sich an dieser Stelle der Gemeinschaftsraum der Siedlung. Südostseitig liegt der durch die Gleise und die Neubauten gebildete namensgebende Hof der Anlage, der rautenförmige Punktbau schirmt den Garten vom Strassenlärm ab. Die Erdgeschosse beider Bauten werden öffentlich genutzt, hier befinden sich u.a. ein Coiffeur, ein Kiosk, ein Optiker, ein Claro-Weltladen und eine Dépendance der Spitex.

Beide Bauten gleichen sich in der Fassade, im Wohnungsangebot hingegen unterscheiden sich die Volumen: Während im Zeilenbau in den drei Obergeschossen 33 Ein- bis Dreizimmerwohnungen (42.5–78.5 m²) mit einer Laubengangerschliessung untergebracht sind, befinden sich im fünfgeschossigen Punktbau 16 windmühlenartig um einen Erschliessungskern gruppierte Dreizimmerwohnungen mit einer Fläche von 80–86 m².

Die Wohnungen des Zeilenbaus sind jeweils von zwei Seiten belichtet, über die versetzte Anordnung der eingeschobenen Kerne aus Reduits und Nasszellen ergibt sich in den Haupt­räumen eine Zonierung, die eine Staffelung von den öffentlichen Bereichen am Laubengang (Küchen / Essbereiche) zu den privateren auf der Südostseite erlaubt. Diese Anordnung soll Begegnungen ermöglichen und so die Erschliessungszone aufwerten. Grosszügige, zum Hof orientierte Loggien bieten einen geschützten Aussenraum. Im Inneren weisen lediglich die schwellenlosen Nassräume auf die spezielle Nutzung hin: Statt eines Spiegelschranks über dem Lavabo wurden Schränke eingebaut, die auch für Rollstuhlfahrer benutzbar sind. Ein Badezimmer mit Badewanne (mit Einstieg) kann zusätzlich von allen Mieterinnen und Mietern genutzt werden. Daneben sind gewisse Leistungen wie die Gebäudereinigung und der Unterhalt der gebäudetechnischen Anlagen extern vergeben. Auf der sozialen Ebene begleitet die Verwaltung mit der Genossenschaft «Zukunftswohnen» die Bewohner und Bewohnerinnen mit einem Coaching. Arbeitsgruppen, etwa zur Betreuung einer Bibliothek oder des Gartens, sollen die Bindungen der Mieterinnen und Mieter untereinander stärken. Noch sucht die Genossenschaft «Am Hof» ihre Identität – was neben dem Neubezug vor allem durch das Wegfallen der im Wettbewerb noch vorgesehenen Gemeinschaftsflächen behindert wird. Der geplante Fitness- und Wellnessbereich musste auf Wunsch der Totalunternehmung weichen – stattdessen sind nun Aussenfitnessgeräte für den Garten in Planung. Der finanziellen Optimierung konnte lediglich ein für ­Bewohner und ­Bewohnerinnen mietbares Gästezimmer im 1. Obergeschoss und ein redimensionierter Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss entgehen. Inwieweit die Mieterinnen und Mieter tatsächlich am genossenschaftlichen Miteinander interessiert sind, bleibt zu diesem Zeitpunkt – sechs Monate nach Bezug – offen.

Gemeinschaftswohnen Winterthur-Seen

Der Neubau mit seiner Fassade aus blau gestrichenen, horizontalen Holzlamellen liegt ­etwas zurückversetzt an der Kanzleistrasse in einem Wohnquartier nahe der S-Bahn-Station von Winterthur-Seen. Die über die Gebäudeecken gebogenen Lamellen markieren in den ­Brüstungsbereichen als umlaufende Bänder die Geschosse, dazwischen sitzen die weissen Fensterrahmen der grosszügigen Öffnungen. Auf der Gartenseite ergibt sich ein ganz ­anderes Bild des Wohnbaus: Die Lamellen öffnen sich im Brüstungsbereich der über die Geschosse durchlaufenden Balkonzone – die raumhohe Befensterung ermöglicht auch bettlägerigen Personen den Blick ins Freie. Im Erdgeschoss liegt eine ausladende Holz­terrasse, die in den Garten führt. Die offenen Balkone und Terrassen wecken in Verbindung mit der blau gestrichenen Fassade Assoziationen an skandinavische Wohnbauten. Die ­Balkonzonen werden durch Rücksprünge des sich in die Tiefe staffelnden Grundrisses ­zoniert, ohne dass eine Trennung zwischen den einzelnen Wohnungen erforderlich wird. Diese Idee spiegelt das Wohnkonzept: Wer möchte, kann an der Gemeinschaft teilhaben – wer für sich sein möchte, kann sich zurückziehen.

Als private Initiative wurde 2007 der Hausverein Kanzlei-Seen gegründet, der sich auf der ­Suche nach einem geeignetem Objekt für ein Wohnkonzept, das den Gemeinschaftsgedanken betont, an die Winterthurer Genossenschaft GESEWO wandte. Die 1984 gegründete ­gemeinnützige Wohnungsbaugenossenschaft bietet ihren Mitgliedern die Möglichkeit des selbstbestimmten Wohnens in der Gemeinschaft.[4] Sie stellt für unterschiedliche Nutzer­gruppen Wohn- und Gewerberaum zur Verfügung. Die Bewohner und Bewohnerinnen ­organisieren sich in Hausvereinen selbst, und die Genossenschaft unterstützt diese bei der Verwaltung der Liegenschaften. Der Hausverein ist für die Auswahl neuer Mieterinnen und Mieter und den Gebäudeunterhalt verantwortlich und definiert auch die Notwendigkeit von Erneuerungs- und Renovationsarbeiten für die jeweilige Liegenschaft. In vom Hausverein ­organisierten Sitzungen werden die Hausregeln, das Budget, anstehende Unterhaltsarbeiten, die Nutzung der gemeinschaftlichen Anlagen besprochen. Je nach Bedarf kommen Vertreter der Genossenschaft hinzu.

Bei seinem Vorhaben kam dem damaligen Hausverein der Zufall zu Hilfe. Auch die Genossenschaft überlegte zu diesem Zeitpunkt, ein Projekt zu realisieren, das in Bezug auf das gemeinschaftliche Wohnen über die gängigen Konzepte hinausgeht. In Folge wurde für das aus zwei Parzellen zusammengelegte Grundstück an der Kanzleistrasse ein Studienauftrag ausgeschrieben. Die Zürcher Architekten Haerle Hubacher überzeugten mit ihrem Konzept eines Gemeinschaftswohnhauses (vgl. TEC21, 14/2008). Zentrale Idee, die sich in der Grundrissorganisation ablesen lässt, ist die Anordnung von kleineren privaten Wohneinheiten um grosszügige gemeinsam genutzte Räume (Abb. 18–19; vgl. auch TEC21, 7/2011).

Das im Dezember 2010 fertiggestellte Wohnhaus beherbergt 16 Wohneinheiten von 38 bis 67 m² auf vier Geschossen, dazu kommen gut 400 m² für gemeinsame Nutzungen, die im ganzen Haus durch den Bodenbelag aus rotem Linoleum gekennzeichnet sind. Den grössten Anteil davon nehmen die Flächen im Erdgeschoss ein. Über den Haupteingang gelangt man in einen offenen Flurbereich und blickt direkt auf den grossen, zur Terrasse ausgerichteten Gemeinschaftsraum. Der Raum wird genutzt – täglich, nicht nur bei Veranstaltungen, wie es bei grösseren Anlagen oft der Fall ist. Die Küche bietet genug Platz zum gemeinschaftlichen Kochen, zu dem sich die Bewohner regelmässig verabreden. Im Erdgeschoss liegt auch ein Zimmer mit eigenem Bad, das Freunde und Verwandte auf Besuch nutzen können. Im ersten und zweiten Obergeschoss ist die Gemeinschaftsfläche eine grosszügige Erschliessungszone mit geräumigen Nischen zur Strassen- und Gartenseite. Die Bewohnerinnen und Bewohner haben sie unterschiedlich belegt und als Bibliothek, Bügelecke, Platz zum Musizieren oder PC-Arbeitsplatz eingerichtet. Im dritten Obergeschoss geht die Zone in einen grossen Gemeinschaftsraum mit Küchenzeile über, hier sollen künftig Veranstaltungen für das Quartier, wie zum Beispiel Lesungen, durchgeführt werden. Auf jeder Etage befinden sich Stauflächen für die einzelnen Wohnungen in einem Einbaumöbel.

Die offenen Gemeinschaftszonen geben den Bewohnern Raum für die Gestaltung privater Eingangssituationen. Diese Bereiche erinnern an die Gassen eines Altstadtquartiers, wo die individuellen Hauszugänge ganz ähnlich mit Blumen oder Bänken markiert sind. Alle ­Wohneinheiten sind mit eigener Küchenzeile und einem Bad mit schwellenloser Dusche ­ausgestattet und haben Zugang zu den zum Garten orientierten Balkonzeilen.

Die Bewohnerinnen und Bewohner an der Kanzleistrasse sind seit etwas mehr als einem Jahr in ihrem neuen Heim. Noch wird an den Definitionen der Flächen und den Nutzungen gearbeitet, doch schon jetzt zeigt sich, dass die Mieter Bereitschaft zeigen müssen, sich auf das Konzept einzulassen. Die Pflichten im Haus wie die gemeinschaftlichen Aktivitäten machen aus den 18 Mietern eine grosse Wohngemeinschaft – neben all den Vorteilen birgt das auch Konflikte.

Selbständigkeit hält fit

Die vorgestellten Beispiele verdeutlichen, dass es sich für zukünftige Mieter wie auch für Bauherrschaften und Planerinnen und Planer lohnt, über die Zielgruppen der einzelnen Projekte, deren Bedürfnisse und Möglichkeiten nachzudenken. Dass dieses Wissen die Architektur beeinflusst, zeigen die Beispiele in Winterthur und Köniz; umgekehrt wirkt sich diese auch auf das spätere Zusammenleben aus. Die Alterswohnungen in Zürich werden von den Bewohnerinnen angenommen. Trotz der Grösse gibt es im Haus eine gewachsene Nachbarschaft, die Nähe zulässt. In Köniz ­dagegen ist die gegenüber dem ursprünglichen Konzept veränderte Anlage deutlich un­persönlicher. Durch die reduzierten Gemeinschaftsflächen und die nur in der Minimalvariante umgesetzte Gestaltung des Gartens gibt es für die Bewohnerinnen und Bewohner weniger räumliche Berührungspunkte für einen zwanglosen Austausch. Zudem manifestiert sich in den Grundrissen des Punktbaus ein Grundproblem des Projekts: Für Alleinstehende oder Paare sind die Wohnungen zu gross und mit durchschnittlich über 2000 Fr. Miete auch zu teuer. Die kleineren und auf den ersten Blick etwas unkonventionelleren Wohnungen mit dem Z-förmigen Grundriss im Zeilenbau sind hingegen (fast) alle vermietet. Allerdings liegt der Altersdurchschnitt der Mieter und Mieterinnen mit 70 Jahren höher als ursprünglich anvisiert – ein Indiz, dass der Wechsel vom Familienwohnen zu kleineren Einheiten häufig erst nach der Pensionierung erfolgt und damit deutlich später als von den Investoren proklamiert.

Fast ein Mehrgenerationenhaus ist dagegen die Wohngemeinschaft in Winterthur: Mit einem Altersspektrum von 50 bis 90 Jahren und sowohl Berufstätigen als auch Paaren ist die Diversität innerhalb der 16 Parteien vergleichsweise hoch. Entscheidend ist hier der Gemeinschaftsaspekt: Die Selbstverwaltung und demokratische Entscheidungsfindung benötigt viel Zeit und ­Engagement. Doch der Aufwand scheint sich zu lohnen, die Bewohner und Bewohnerinnen haben das Haus in Besitz genommen.

Ein nicht zu unterschätzender Faktor bei der Wahl des individuellen Wohnmodells ist der ­finanzielle Aspekt: Einen Einkauf in eine Genossenschaft kann sich nur leisten, wer über das entsprechende Vermögen verfügt. Vor allem Frauen, die aufgrund der höheren Lebenserwartung (vgl. «Für eine selbständige zweite Lebenshälfte», S. 22) die Mehrheit der über 65-Jährigen stellen, haben aufgrund niedriger Renten oder nach einer Scheidung oft nicht die finanziellen Mittel, um ihre Wohnform tatsächlich selbstbestimmt wählen zu können.

Eine Bauherrschaft, die – wie bei der Alterssiedlung Dufourstrasse – auf diese begrenzten Möglichkeiten mit einem auch architektonisch überzeugenden Angebot reagiert, erweist sich in einer solchen Situation als Glücksfall.


Anmerkungen:
[01] Informationen: www.wohnenab60.ch
[02] Schweizerische Bauzeitung, 23/1926, S. 31
[03] Informationen: www.zukunftswohnen.ch
[04] Informationen: www.gesewo.ch

TEC21, Fr., 2012.03.23



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Presseschau 12

01. September 2017Andrea Wiegelmann
TEC21

Urbane Ensembles

Der Architekt Hans Ulrich Scherer hat mit seinen Entwürfen für Terrassensiedlungen in den 1960er-Jahren eine dichte, urbane Typologie entwickelt, die überzeugt. Zwei seiner Entwürfe, die Siedlungen Mühlehalde und Brüggliacher, zeigen beispielhaft, dass dieser Bautyp einen Beitrag zur Nachverdichtung leisten kann.

Der Architekt Hans Ulrich Scherer hat mit seinen Entwürfen für Terrassensiedlungen in den 1960er-Jahren eine dichte, urbane Typologie entwickelt, die überzeugt. Zwei seiner Entwürfe, die Siedlungen Mühlehalde und Brüggliacher, zeigen beispielhaft, dass dieser Bautyp einen Beitrag zur Nachverdichtung leisten kann.

Die Zeitschrift «Schöner Wohnen» veröffentlichte in ihrer Ausgabe 10/19661 einen Beitrag zur Siedlung Mühle­halde in Umiken, Brugg. Darin schreibt die Redaktion, dass die Qualität einer Hangsiedlung auch davon lebe, dass das einzelne Haus nicht ablesbar sei. Sie nennt noch einige weitere Punkte, die eine gute Terrassensiedlung auszeichnen. Darunter etwa ihre Lage im und nicht auf dem Hang, die die Planung der Anlage mit den topografischen Gegebenheiten des Areals bedinge und eine Verschränkung der einzelnen Wohnungen mit sich bringe; sowie die Verschränkung von öffentlichen Bereichen mit Hauszugängen, Spielplätzen und der Erschliessung. Das Wohnen in der Terrassensiedlung gleicht in einer solchen räumlichen Konfiguration dem Wohnen in einem Quartier.

Dabei entsteht das räumliche Gesamtbild aus dem Zusammenspiel der einzelnen Elemente. Die Hangsiedlung ist in diesem Sinn ein durchaus dichtes, städtisches Ensemble.

Beide Aspekte spielen bei heutigen Planungen leider zu selten eine Rolle. Sogenannte «Terrassensiedlungen», die so manche Landschaft in den Agglomerationen unserer Städte und Gemeinden verschandeln, sind oftmals als voneinander abgeschottete «Einfamilienhäuser» geplant und realisiert. Damit dies möglich ist und die sich in der Regel auf einem Geschoss ausbreitenden Wohnungen untereinander nicht einsehbar sind, werden die Wohnungen im immer gleichen Winkel auf die Hänge gestapelt. Entsprechend autistisch stehen die Anlagen gegen den Hang, auf dem sie sitzen.

Das Tragische ist, dass sie nicht als Ensemble geplant und entwickelt sind und keinerlei aussenräumliche Qualitäten aufweisen, die zuvor beschriebenen Aspekte also ignorieren. Öffentliche Räume fehlen in diesen Strukturen. Hinzu kommen eine gewisse Ignoranz gegenüber dem unmittelbaren Umfeld und die daraus resultierende bauliche Zersetzung unserer ohnehin bedrängten Landschaftsräume sowie die fehlende Dichte. Derartige Anlagen haben nichts mit dem Typ der Terrassensiedlung zu tun, den Scherer propagierte. Sie stellen vielmehr eine verkümmerte Auslegeordnung derselben dar. Dass sie in die Kritik geraten, ist verständlich.

Dabei kann die Typologie einen Beitrag leisten zur Schaffung von Wohnraum in dichten Strukturen, sofern man sie als städtisch-räumliches Gefüge auffasst und entwickelt. Die Siedlungen Mühlehalde in Umiken (1963–1971) und Brüggliacher in Oberrohrdorf (1966–1971/72) sind Beispiele gelungener Planungen, die einer solchen Haltung verpflichtet sind.

Alternative Wohnmodelle

Fährt man mit dem Zug von Zürich Richtung Basel, fällt der Blick des Reisenden nach dem Halt in Brugg und vor dem Passieren der Aare auf die Siedlung Mühlehalde am Hang über dem Fluss. Federführend für ihren Entwurf war Hans Ulrich Scherer. Der Absolvent der ETH Zürich und ehemalige Mitarbeiter von Alfred Roth wollte mit seinen Projekten der in den 1960er-Jahren einsetzenden Zersiedelung der Landschaftsräume im Aargau entgegenwirken. Die Mühlehalde ist gebautes Ergebnis des von Scherer initiierten Projekts «Brugg 2000», das er mit seinen Partnern Strickler und Weber als «team brugg 2000» entwickelte und zunächst in einer Ausstellung der Bevölkerung präsentierte.

Städte­baulich gliederten die Architekten Brugg in Alt, Mittel- und Neustadt und definierten neue, verdichtet bebaute Wohngebiete an den Hängen des Bruggerbergs und Lindhofs. Die zwischen 1963 und 1966 (1. Etappe) bzw. 1971 (2. Etappe) von team 2000 in Kooperation mit ­Metron Architekten realisierte Siedlung wurde von den Architekten vor diesem Hintergrund als Modellplanung für verdichteten Siedlungsbau verstanden.

Für Scherer sind Terrassensiedlungen gegenüber grossformatigen Wohnsiedlungen und den sich ausbreitenden Einfamilienhausgebieten als kompakte Wohntypologie mit privaten wie öffentlichen Aussenräumen eine attraktive Alternative. Entsprechend ist die Siedlung Mühlehalde ein Beitrag zur Diskussion um alternative Wohnformen. Dass die Beschäftigung mit derartig (verdichteten) Wohnmodellen in die Zeit gehörte, zeigen auch Publikationen wie die vom Darmstädter Architekten Ot Hoffmann zu «Neuen urbanen Wohnformen», die 1965 erschienen ist und in der sich der Herausgeber neben Gartenhofhäusern und Teppichsiedlungen auch mit Terrassenanlagen befasst.[2]

«Spinnweb urbaner Lebensform»

In der Publikation sind Pläne und Modelle der Siedlung Mühlehalde abgebildet. Hoffmann zitiert die Archi­tekten, die ihre Planung als «Spinnweb neuer urbaner Lebensform» beschreiben. Dass sie die Siedlung als «urban» bezeichnen, spricht für ihr Verständnis gegenüber dieser Wohnform, die auch das Zusammenleben der Bewohner in einem räumlich-städtischen Gefüge umfasst. Was die Siedlung auszeichnet, ist die Varia­tion des Terrassentyps, die mit dem relativ steilen Hang verknüpft ist, in dem sie liegt.

Der «Städtebau» entwickelt sich aus einer netzartigen Erschliessungsstruktur. Dies kam dem in zwei Etappen ausgeführten Bau der Anlage zugute und hätte zudem mögliche spätere Erweiterungen begünstigt. Die Siedlung umfasst heute 30 Wohnungen und Ateliers. Rückgrat der Erschliessung ist ein in die Erde gelegter Schräglift, davon ausgehend spannt sich ein Netz aus Wegen und Treppen auf, an das die Wohnungen angebunden sind. Die Treppenstrassen erinnern mit der kompakten Wohnbebauung an städtebauliche Strukturen in Bergregionen.

Von den Treppen aus sind die Wohnungen unmittelbar erschlossen, wobei die Bauten der zweiten Etappe mit Vorplätzen über eine grosszügigere Zugangssituation verfügen. Die Wohnungen sind ausgehend von einem Typengrundriss variiert. Nasszellen und dienende Räume sind in den Hang gesetzt und bilden eine rückwärtige Spange. Zur Aussicht nach Süden sowie an den Schmalseiten nach Westen und Osten sind Zugang, Wohn- und Schlafräume angeordnet. Die Raumaufteilung erfolgte entsprechend den Bedürfnissen der Bewohner. Je nach Grösse verfügen sie über Einliegerwohnungen. Zudem sind Ateliers und Kleinwohnungen als zweigeschossige Maisonette ohne Terrassen in die Hangsiedlung integriert.

Öffentlicher und privater Raum

Dass die Häuser als solche in einem Ensemble aufgehen, hat einerseits mit der Struktur der Erschliessung zu tun, andererseits mit der Ausbildung der privaten Aussenbereiche. Die Wohnterrassen sind schmal. An den Kopfenden der lang gezogenen Wohnungen liegen teils loggienartige ausgebildete Sitzplätze. Sie schaffen vor Blicken geschützte Zonen mit Ausblick auf die Aare. Da jedoch keine tiefen Aussenbereiche die gesamten Wohnbreiten überspannen, dominieren nicht die einzelnen Wohnungen das Ensemble, im Gegenteil, sie treten als Bauteile der Siedlung zurück. Dieser Effekt ist heute umso stärker, als die begrünten Terrassen und Pflanztröge die Anlage als grüne Oase erscheinen lassen.

Die Siedlung ist gelungenes Beispiel einer mit der Topografie entwickelten Typologie, deren räumliche Wirkung sich erst im Durchwandern der Anlage entfaltet. Die Verschränkung von Treppen, Wegen, den angegliederten Gemeinschaftsräumen sowie den Vorgärten und Eingangsbereichen schafft Abstufungen öffentlicher Bereiche, die gleichzeitig eine gewisse Intimität ausstrahlen. Die Wohnungen liegen als Rückzugsbereiche mit ihren privaten Terrassenzonen dazwischen als Teile eines homogenen Ensembles. Offensichtlich wird die Qualität dem Zugreisenden, der sie eingekeilt zwischen Hangsiedlungen jüngeren Datums erblickt, die nicht mit dem Hang, sondern gegen den Hang gebaut wurden und sich folglich über ihm erheben. Die Siedlung Mühlehalde ist dazwischen – und das sagt viel über ihre räumlichen Qualitäten aus – erst auf den zweiten Blick auszumachen.

Städtisches Gefüge

Noch während in Umiken gebaut wurde, arbeitete Hans Ulrich Scherer an einer weiteren Terrassensiedlung in Oberrohrdorf am Rohrdorferberg bei Baden. Auch bei dieser Anlage stand der Wunsch nach einem verdichteten, in sich stimmigen Ensemble im Zentrum des Entwurfs. Die Siedlung ist dabei für den deutlich flacheren Hang entwickelt, in dem sie sitzt. Er ermöglichte zudem die Ausbildung eines zentralen Platzes. Während in Umiken zuerst eine Wohnsiedlung ent­standen ist, erreichte die Siedlung in Oberrohrdorf zudem erstmals jene Grösse, die Scherers Vorstellung von einem städtischen Gefüge mit Gemeinschaftsnutzungen entsprach.

Das in der Mitte der Siedlung angeordnete Freibad mit Liegewiese und überdachtem Hallenbad (das heute allerdings nicht mehr in Betrieb ist) schliesst an den zentralen Platz an, den «Dorfplatz», und bildet zusammen mit diesem und einem Kinderspielplatz das Zentrum der Anlage. Sind in Umiken Treppen und Podeste die Orte eines informellen Austauschs zwischen den Bewohnern, so hat die Siedlung in Oberrohrdorf mit der Anlage des Platzes und den zugeordneten Nutzungen dezidiert öffentliche Räume erhalten.

Die Ausbildung einer zentralen, gemeinschaftlichen Plattform als Treffpunkt erinnert an die Siedlung Halen in Bern von Atelier 5 (1957–1960). Auch die Integration der oben beschriebenen öffentlichen Nutzungen macht Scherers Anspruch deutlich, die Anlage als in sich funktionsfähiges Ganzes, als städtisches Gefüge zu gestalten. Die Organisation der Anlage reagiert auf diesen zentralen Bereich, indem die einzelnen Wohnungen so angeordnet sind, dass die privaten Aussenbereiche geschützt liegen. Die Siedlung umfasst heute 50 Wohnungen, davon 39 Terrassen- und Atelierwohnungen.

Qualitäten des öffentlichen Raums

Über den unteren beiden Hausgruppen liegt der «Dorfplatz» mit den beiden Schwimmbädern und dem Kinderspielplatz. Erschlossen sind sie, wie in Umiken, durch eine zentrale Treppenstrasse. In Oberrohrdorf heisst sie Trittligasse, benannt nach einer Namens­vetterin in der Zürcher Altstadt. Die Auswahl des Strassennamens verrät viel über die Vorstellung Scherers vom Charakter der Siedlung.

Dichte Strukturen mit einem unmittelbaren Aufeinandertreffen von öffentlichem und privatem Raum schaffen eine kompakte urbane Situation. Die Treppenanlage bildet zwischen den Wohnungen Be­gegnungsorte der Bewohner. Entsprechend sorgfältig hat Scherer sie orchestriert: gestaffelte, sich in die Höhe entwickelnde Abfolgen von Raum- und Platzsituationen mit zu den Wohnungseingängen überleitenden privaten Vorbereichen oder gesondert ausgebildeten Zugängen. Die Treppenanlage wird dadurch zu einer sich in die Höhe entwickelnden Landschaft, gegliedert mit Pflanztrögen, die die Abstufung von Raum, die Übergänge von öffentlich zu privat begleiten. Die oberen Hausgruppen fassen den Dorfplatz und bilden zur oberen Strasse einen räumlichen Abschluss.

Wie in Umiken gibt es für die einzelnen Wohnungen Grundtypen, die je nach Bedarf der Bewohner variiert werden können. Auch hier sind die dienenden Räume in den Hang gesetzt, während die Aufenthaltsräume zum Ausblick nach Südwesten ausgerichtet sind. Dabei liegen – und auch hier sind die Typologien vergleichbar – die Essbereiche zu den öffentlichen Erschliessungswegen bzw. -treppen. Sie öffnen sich zum dahinter geschützt liegenden privaten Aussenbereich, den Terrassen, die auch in Oberrohrdorf schmal sind und damit das Gesamtbild der Anlage nicht dominieren.

Beide Siedlungen sind autofrei, Parkgaragen bzw. Parkmöglichkeiten befinden sich an den erschliessenden Strassen, von denen aus die Anlagen wenig einsehbar sind. Obwohl die Anzahl der Wohnungen die der umliegenden Bebauung bei Weitem übersteigt, verschwinden die beiden Hangsiedlung beinahe in ihrer Umgebung. Der geschickte Umgang Scherers mit den topografischen Gegebenheiten wird hier deutlich.

Und heute?

Die Siedlung Mühlehalde wird von ihren Bewohnern geschätzt und liebevoll gepflegt. Das Grün, das wie in der Siedlung Brüggliacher die Gliederung des Wege- und Treppennetzes begleitet, hat sich den Raum erobert und unterstützt die angelegte räumliche Gliederung, schafft Orte unterschiedlicher Qualität und Öffentlichkeit. Die in die Jahre gekommenen Betonoberflächen haben den Charakter von Fels angenommen, das Grün bringt sie an so mancher Stelle zum Verschwinden. Die Verzahnung mit dem Hang wird am oberen Ende der Siedlung geradezu sinnbildlich, wo die begrünten Dächer scheinbar nahtlos in die angrenzenden Wiese übergehen.

In Oberrohrdorf führt eine Sanierung der Betonoberflächen in Verbindung mit einer deutlich übersichtlicheren Bepflanzung zu einem beinahe nüchternen Gesamteindruck, dennoch sind die räumlichen Qualitäten der Anlage bestechend. Sein Gespür für den Ort, das Ensemble, hat Scherer auch hier unter Beweis gestellt.


Anmerkungen:
[01] «Häuser am Hang», in: Schöner Wohnen 10/1966, «Wie werden wir morgen Leben?», S. 126–131.
[02] Ot Hoffmann, Christoph Repenthin, Neue urbane Wohnformen, Berlin, Frankfurt am Main, Wien 1966 (2. Auflage), S. 132.

TEC21, Fr., 2017.09.01



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Innovatives Bewahren

Zentrales Element im respektvollen Umbau des Hauptsitzes der Zürcher Kantonalbank ist die Schalterhalle. Die Basler Architekten jessenvollenweider haben sie als öffentlichen Stadtraum interpretiert und damit an der Bahnhofstrasse ein urbanes Angebot geschaffen.

Zentrales Element im respektvollen Umbau des Hauptsitzes der Zürcher Kantonalbank ist die Schalterhalle. Die Basler Architekten jessenvollenweider haben sie als öffentlichen Stadtraum interpretiert und damit an der Bahnhofstrasse ein urbanes Angebot geschaffen.

Mit dem Wiederentdecken ursprünglicher Qualitäten verfolgten jessenvollenweider in der Ergänzung und dem Weiterbau des Bankgebäudes eine Strategie, die die Kraft und Eleganz des Altbaus herausarbeitet. Gleichzeitig sind für sie die bestehenden Schwächen der Ausgangspunkt, das Gebäude nach zeitgemässen Ansprüchen an Raum und Nutzung zu interpretieren. So lassen sie ein neues Ganzes entstehen.

Der Hauptsitz der Zürcher Kantonalbank an der Bahnhofstrasse in Zürich entstand Ende der 1960er-Jahren nach Plänen des Architekten Ernst Schindler. Die kraftvolle Stützenordnung der Fassade integriert sich gut in die gründerzeitlichen Strassenfronten der angrenzenden Büro- und Verwaltungsbauten und ist bis heute ein selbstverständlicher Teil im Stadtbild. Zentrales Element im Innern war die zweigeschossige Haupthalle, die von schweren, horizontal umlaufenden Brüstungsbändern in der Höhe gegliedert und von einer Lichtdecke begrenzt wurde. Schindler hat dem Gebäude durch den Einsatz von schwedischem Marmor seine ganz eigene Eleganz verliehen, im Innern unterstützt durch die Verwendung von schwarzem Tropenholz für Wände und Möbel.

Die räumlichen und atmosphärischen Qualitäten, die das Gebäude besass, sind im Zuge von Nutzungsanpassungen und Sanierungsmassnahmen über die Jahre verloren gegangen. Neue Vorstellungen, wie der Hauptsitz zukünftig zu nutzen sei, führten schliesslich 2007 zu einem geladenen Wettbewerb mit Präqualifikation, den jessenvollenweider für sich entscheiden konnten.

Die Architekten haben mit ihrem Konzept den Hauptsitz der Zürcher Kantonalbank – trotz der erforderlichen tiefgreifenden Modernisierung und des dazu notwendigen Rückbaus bis auf die Grundstruktur – im Geiste Schindlers in Wert gesetzt und gleichzeitig die öffentlichen Bereiche im und um das Ge­bäude neu interpretiert.

Neue Öffentlichkeit

Den Passanten, die heute durch die obere Bahnhofstrasse schlendern, mag zunächst nicht auffallen, dass sich der Hauptsitz der Zürcher Kantonalbank mit der Renovation grundlegend gewandelt hat, zu vertraut ist das Bild, das sich ihnen bietet. Die strenge, klare Fassade des Hauses wurde erhalten, auch die neuen Fenster den Originalen nachgebaut. Lediglich das Kafi Züri und das Büro Züri mit temporären Arbeitsplätzen, die neu den Haupteingang flankieren, verweisen auf die Veränderungen, die das Haus mit dem Umbau erfahren hat.

Die von Schindler als offener Bereich konzipierte Haupthalle öffnet sich heute nicht nur zur Bahnhofstrasse, sondern ist zentraler Bereich eines neu entstandenen, alle angrenzenden Strassenräume verbindenden Wegnetzes. An diesem Wegnetz angegliedert liegt auch das neue Atriumhaus, das aus dem geschlossenen Sicherheitsbereich in einen Neubau in den Hof des Gebäudes verlegt wurde, ebenfalls öffentlich zugänglich ist und im oberen Geschoss Medienräume aufnimmt. Diese stadträumliche Öffnung des Gebäudes spiegelt sich in der Ausgestaltung der Haupthalle.

Die ehemalige Schalterhalle ist als öffentlicher Stadtraum interpretiert. Sie hält mit Bancomaten im Innenbereich sowie einem öffentlichen Café und kostenfreien Arbeitsplätzen als Schnittstelle zum Aussenraum einerseits ein urbanes Angebot bereit und ist andererseits auf den Kundenservice der Bank zugeschnitten. Die Halle besticht durch ihren gross­zügigen, wohlproportionierten Raum, der auch heute wieder von einer Lichtdecke überspannt wird. Um dies zu erreichen, haben die Architekten die Decke neu konstruiert und um ein halbes Geschoss angehoben, sodass die Schalterhalle heute dreigeschossig ist.

Die Lifte am Eingang und die einst durch den Raum führenden Rolltreppen, die als Einbauten den Raum beschnitten haben, sind verschwunden, dafür ist die skulpturale Wendeltreppe, die die Schalterhalle mit den Besprechungsbereichen verbindet, erhalten und freigespielt. «Wir haben uns vom Gedanken leiten lassen, wie es Schindler gemacht hätte, wenn er unter den heutigen Rahmenbedingungen arbeiten würde», erläutert der Architekt und Projektleiter Sven Kowalewsky eine der Herangehensweisen von jessenvollenweider.

Sanfte Wucht und fremde Eleganz

Ist die neue Organisation der Halle mit Infotheke und Service-Desk im Erdgeschoss und Beratungszimmern auf den oberen Ebenen dem modernen Servicekonzept der Bank geschuldet, so ist der Ausbau am ursprünglichen Konzept Schindlers angelehnt, dem für die Schalterhalle mit ihrer Lichtdecke das Büro- und Geschäftshaus Rautatalo in Helsinki (Wettbewerb 1951) Pate stand.

Auch bei der Wahl der Materialien referenziert der Ausbau an die ursprüngliche Ausgestaltung. Den Bodenbelag bildet ein Muschelkalk, die Verkleidungen von Stützen und Brüstungen bis ins 2. Obergeschoss sind aus Ekeberger Marmor. Kontrastierend dazu sind die hölzernen Einbauelemente aus geräucherter Elsbeere, einem Schweizer Birnbaum, die entfernt an die von Schindler eingesetzte nordafrikanische, fast schwarze Wenge erinnert. Die wenigen ausgesuchten Materialien unterstreichen die räumliche Wirkung der dreigeschossigen Halle und ihre diskrete Eleganz.

Licht, transparent und identitätsstiftend

Ihre Grosszügigkeit verdankt sie jedoch massgeblich der Anhebung der Lichtdecke um ein halbes Geschoss. Während Schindler die Decke auf der Brüstung des zweiten Obergeschoss angeordnet hatte und die an den Lichthof angrenzenden Räume damit gefangen waren, ist mit der Anhebung der Lichtdecke eine zweite Galerieebene entstanden, die zudem den zusätzlichen Raumbedarf für Beratungszimmer abdeckt. Im Zuge dessen interpretierten die Architekten auch die innere Lichthoffassade neu zugunsten einer höheren Transparenz und mehr Raumtiefe für die dahinter liegenden Zonen.

Die neue Lichtdecke in der Schalterhalle orientiert sich ebenfalls am historischen Vorgänger. Es sind wie zuvor 64 Oberlichter, die in nach aussen leicht gebogenen Reihen an der Decke angeordnet sind. Jeder Leuchtkörper, eine Eigenentwicklung der Architekten, besteht aus 260 Glaszylindern, von denen jeder einzelne mit einem LED-Leuchtmittel ausgestattet ist. Die Leuchten sorgen für eine gleichmässige, homogene Ausleuchtung der Kundenhalle. Dabei kombinieren sie bei Bedarf das über den darüber liegenden Lichthof einfallende Tageslicht mit Kunstlicht. Unter der Lichtdecke kreuzen sich die Wegeverbindungen, die neu über das Areal und in die Kundenhalle führen.

In das Zentrum geleitet werden Kunden und Besucher von einer eigens konzipierten «leuchtenden Linie», die die Wege von den Eingängen in die Kundenhalle begleiten und von der Decke abgespannt sind. In der Halle verbinden sich so beinahe unmerklich Tages- und Kunstlicht zu einer hellen, angenehmen Lichtstimmung, die den Raum nicht nur als Zentrum des Hauses, sondern auch als öffent­lichen Treffpunkt definieren.

Im Sinn Schindlers weitergedacht

Was heute so selbstverständlich erscheint, ist Ergebnis einer insgesamt acht Jahre dauernden Planungs- und Umsetzungsphase, wobei Letztere mit dem Rückbau des Gebäudes bis auf die Tragstruktur und der Beseitigung von Altlasten begann. Die vorangegangene Planungsphase war geprägt von einem intensiven Dialog zwischen Architekten, Bauherrschaft, Denkmalpflege und Behörden. Nicht zuletzt musste das Projekt durch die neue Hof- und Dachform, den Neubau eines Medienzentrums im Hof sowie die Neudefinition der Erdgeschossbereiche und -nutzungen vom Zürcher Gemeinderat bewilligt werden. Mit Erteilung der Baubewilligung wurde das Gebäude, das zuvor bereits inventarisiert war, unter Denkmalschutz gestellt.

Die Fassade, die gesamthaft geschützt ist, ist daher bis auf das Erdgeschoss originalgetreu erhalten, die neuen Fensterelemente sind Nachbauten ihrer Vorgänger. Im Innern, vor allem bei der Erneuerung der zentralen Kundenhalle, hat der Denkmalschutz das Konzept der Architekten mitgetragen, die Absichten Schindlers durch die getroffenen Massnahmen zu akzentuieren und die raumgreifenden Kunstwerke der Künstler Christine Streuli (Bodenintarsie) sowie Andres Lutz und Anders Guggisberg (Endlosschleife) zu integrieren. Bei der Haustechnik ist es gelungen, trotz den raumklimatisch hohen Anforderungen mit einem ausgefeilten Konzept und einer Seewassernutzung die Massnahmen auf das Notwendigste zu reduzieren und Minergiestandard zu erreichen.

Jessenvollenweider haben als «innovative Bewahrer» mit ihrem Konzept einer respektvollen, den Altbau lesenden Erneuerung an der oberen Bahnhofstrasse Bestehendes nicht nur erhalten, sondern im Sinn der ursprünglichen Absichten der Architektur nach­haltig weiterentwickelt.

TEC21, Fr., 2017.05.19



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03. Februar 2017Susanne Frank
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«Die Stadt zuerst»

Die Basler Architekten Anna Jessen und Ingemar Vollenweider haben mit ihren Entwürfen die WerkBundStadt mitgestaltet und die Entwicklung des Projekts im kooperativen Verfahren begleitet. Sie berichten, was sie daraus gewonnen haben und wie man dies zukünftig nutzen kann.

Die Basler Architekten Anna Jessen und Ingemar Vollenweider haben mit ihren Entwürfen die WerkBundStadt mitgestaltet und die Entwicklung des Projekts im kooperativen Verfahren begleitet. Sie berichten, was sie daraus gewonnen haben und wie man dies zukünftig nutzen kann.

TEC21: Frau Jessen, Herr Vollenweider, was ist das Besondere an diesem Projekt? Was macht diese WerkBundStadt aus?

Anna Jessen: Die klassischen Werkbundsiedlungen, wie etwa die Weissenhofsiedlung in Stuttgart, definieren sich darüber, dass neue Wohnmodelle geschaffen werden. Die WerkBundStadt in Berlin definiert sich in erster Linie über die Frage, was ein städtischer Raum heute sein kann und welche Qualitäten es hat, in einem städtischen Kontext zu wohnen. Die Montage der Weissenhofsiedlung in das Grundstück, auf dem die Werkbundstadt entstehen soll (Plan), zeigt gut, dass die WerkBundStadt einen völlig anderen Massstab und Charakter besitzt und dass die kompositorische Setzung von einzelnen Ein- oder Mehrfamilienhäusern heute nicht mehr das Thema sein kann.

Ingemar Vollenweider: Es geht hier nicht zuerst um Wohnungsbau, sondern um Stadtbau. Das bisherige Projekt ist folglich nicht das Ergebnis eines Wohnbauexperiments, wie es von Teilen der Presse reflexartig vermisst und entsprechend kritisch diskutiert wurde. Vielleicht rührt dieses Missverständnis daher, dass wir nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Deutschland zuerst Wohnungs- und Siedlungsbau machen und das dann mit Stadtbau gleichsetzen. Im Zweifelsfall setzt sich auch in Wettbewerben nicht der konsequente Städtebau, sondern der coole oder auch nur wirtschaftliche Wohnungsgrundriss durch. Hinter dem Entwurf zur WerkBundStadt steht eine andere Überzeugung: Er möchte öffentliche Räume schaffen, die Identität und Kollektivität ermöglichen, und thematisiert damit die Frage, was wir vom städtischen Raum erwarten. Daher heisst das Projekt auch WerkBundStadt und nicht Werkbundsiedlung.

TEC21: Der städtebauliche Entwurf ist eine Synthese aus unterschiedlichen Konzepten. Mit welchen Themen haben Sie sich im Vorfeld auseinandergesetzt?

Anna Jessen: Die Frage, wie heute und an diesem Ort ein glaubwürdiger städtischer Raum funktio­nieren und aussehen kann, hat uns interessiert.
Die Bildung von Plätzen haben wir eher hinterfragt, wir hatten Respekt vor deren latenten Zentralität, auch vor der Frage, wie viel anonyme Textur dafür notwendig wäre. Dagegen haben wir uns gewundert, warum im Zusammenhang mit Wohnungsbau keine Strassenräume mehr gebaut werden. Die Strasse scheint uns ein verheissungsvoller öffentlicher Raum. Nicht ein neutrales Raumkontinuum, sondern ein klar gerichteter, vielleicht geknickter Raum, mit einem Ausschnitt des Himmels und dem Vis-à-vis von zwei Strassenseiten.

Ingemar Vollenweider: In unserem städtebaulichen Konzeptbeitrag, den wir gemeinsam mit Caruso St John entwickelten, ging es uns darum, das Quartier mit dem Wasser zu verbinden. Daher waren die Strassen unser Leitmotiv und nicht die Blöcke, die im abgestimmten Modell viel dominanter sind. Ich finde es interessant, dass es jetzt einen Platz gibt, der aber nicht allseitig von Gebäuden umstellt wird, sondern an das Kraftwerksareal von Vattenfall angrenzt. Er wird so zu einem verbindenden Element, gerade wenn sich das Quartier einmal weiterentwickeln sollte.

TEC21: Der Prozess der Entwicklung dieses städtebaulichen Entwurfs ist aussergewöhnlich. Wie kam es zu diesem Entwurf?

Anna Jessen: Acht Teams mit jeweils zwei Büros haben ihre städtebauliche Vision für das Areal entwickelt und an einem langen Wochenende in Berlin sich gegenseitig vorgestellt. Die Gesamtverantwortlichen des Werkbunds, Paul Kahlfeldt und Claudia Kromrei, nahmen dabei eine Schlüsselposi­tion ein, indem sie hier wie später die Qualitäten der Einzelentwürfe bündelten, Entscheide fällten oder, besser noch, diese sanft herbeiführten. Gegen den Widerstand der einzelnen Autoren, die klare, einheitliche Konzepte forderten, am besten natürlich ihr eigenes, haben sie den Mut und den Nerv gehabt, sich die stärksten Elemente aus jedem Plan zu suchen, wie die lange, leicht geknickte Strasse, dann den Platz an der Brandwand zu Vattenfall und schliesslich die parzellierten Blöcke, die in ihrer Kompaktheit den Massstab des Berliner Blocks zu verdichten scheinen.

Ingemar Vollenweider: Dann gab es diese Idee, an besonderen Orten Kopfbauten auszubilden, höhere Häuser am Wasser in Anlehnung an die Spreefront von Vattenfall und Türme am Platz, was aus baurechtlichen Gründen nicht ganz einfach ist und als Tendenz eine gewisse Miniaturisierung des Stadtquartiers befördert. Das wird man in den nächsten Schritten kritisch prüfen müssen.

Anna Jessen: Der heutige Stand hat wohl eher etwas viele Themen für das nicht allzu grosse Stück Stadt. Noch ist es eine Collage von unterschiedlichen Stadträumen, aus denen aber tatsächlich eine städtische Textur entstehen kann, als Alternative sowohl zur homogenen Reformstadt als auch zum Tuttifrutti der postmodernen Architekturzoos in Stadtzentren. Genau an dieser Grenze liegt aber sicher auch das grösste Risiko des Projekts.

TEC21: Beim städtebaulichen Entwurf der WerkBundStadt wurde ausgehend von diesem das Wohnen definiert. Bei Projekten wie «Mehr als Wohnen» ist man hingegen vom Wohnmodell ausgegangen.

Ingemar Vollenweider: Es sind natürlich auch sehr unterschiedliche Ausgangslagen. In Zürich gab es eine Baugenossenschaft mit einem detaillierten Nutzungskonzept, für das man über einen Wettbewerb eine städtebauliche Form gesucht hat. In Berlin gibt es den Werkbund mit einem städtebaulichen Programm, das für den anonymen Wohnungsmarkt eine exemplarische Antwort geben will auf die Frage «Wie geht Stadt heute?». Die Stadträume, die daraus resultieren, unterscheiden sich natürlich auch entsprechend.

TEC21: Sie sind beide sehr erfahren im Wettbewerbswesen. Hier haben die Verantwortlichen ein anderes Verfahren gewählt. Worin unterscheidet es sich vom klassischen Wettbewerb?

Anna Jessen: Man muss unterscheiden zwischen der formellen Frage des Wettbewerbs und der Frage: Wie komme ich zu einem glaubwürdigen Stück Stadt, das sich immer auch aus dem Zueinander von ganz unterschiedlichen Teilen definiert? Der Werkbund Berlin hat eine Auswahl von einzelnen Architekten und damit auch Positionen bestimmt und aufgrund der Klausuren und des gemeinsam definierten Städtebaus eine Basis geschaffen, auf der man nach einer Einheit suchen kann. Die beteiligten Architekten haben gemeinsam um jene Basis gerungen, also gewissermassen die Auslobung und das Programm mitgeschrieben, und tragen entsprechend diese Verantwortung mit. Bei einem städtebaulichen Wett­bewerb gibt es dagegen «phasengerecht» eine klare Schnittstelle zwischen der Definition der Aufgabe und dem Entwurf eines Projekts. Bei einem Areal von vergleichbarer Grösse würde das siegreiche Projekt in der Umsetzungsphase wahrscheinlich unter den Preisträgern aufgeteilt, um die Einheit architektonisch zu differenzieren. Persönlich finde ich es heute sehr viel interessanter, unterschiedliche Positionen in einen Prozess auf der Suche nach Einheit zu ­involvieren, als umgekehrt Einheit im Nachgang und nur mit der Spekulation auf die sogenannte individuelle Handschrift heterogener zu machen.

TEC21: Das Verfahren ist also differenzierter und verspricht, dass so der interessantere Stadtbaustein entsteht?

Anna Jessen: In der öffentlichen Diskussion wird oft die Frage nach der Innovation gestellt. Wenn man an diesen Begriff glaubt, dann ist dieser Prozess des kooperativen Städtebaus sicher eine innovative These. Dazu hat Georg Franck als Gast und Experte der WerkBundStadt bereits in der Klausurphase aufgerufen (vgl. «Städtebau als Gemeinschaftswerk», TEC21 46/2015).

TEC21: Wo liegen die Vorteile eines derartigen Verfahrens gegenüber dem Wettbewerb?

Anna Jessen: Für städtebauliche Projekte in diesem Massstab finde ich es notwendig, über Alternativen zum klassischen Wettbewerb nachzudenken. Es wäre ja denkbar, die Auswahl der Architekten über ein Bewerbungsverfahren zu treffen, das ein Motiva­tionsschreiben oder ein Thesenpapier verlangt. Die Strategie für die WerkBundStadt ist die richtige, um die angestrebte Ganzheitlichkeit des Stadtmodells umzusetzen, das ja vom Mobilitätskonzept in Zusammenarbeit mit BMW bis zu den Entwürfen für Bodenplatten durch beteiligte Produktgestalter reichen soll.

Ingemar Vollenweider: Die inhaltliche Diskussion anhand konkreter Projekte, nicht in einer Jury, sondern als beteiligter Autor, hatte ich so noch nicht erlebt. Am runden Tisch war spürbar, welche städtebaulichen Ideen tragen. Das war ein starkes kooperatives Moment. Dann kamen die Entwürfe für die Häuser. Jeder von uns musste an drei verschiedenen Orten Stellung beziehen. Dadurch haben sich alle gedanklich mit dem ganzen Quartier auseinander­gesetzt. So gab es dann für die spezifischen Orte Entwürfe, die mehr überzeugten als andere.

TEC21: Haben sich in diesem Prozess weitere Ansätze abgezeichnet, wie etwa für das Zusammenleben im Quartier, die weiterzuverfolgen sich lohnen würde?

Ingemar Vollenweider: Die Frage beispielsweise, wie die Erdgeschosse verstanden werden können, ist noch nicht zu Ende gedacht. Auch der Ansatz, den Arno ­Lederer eingebracht hat, als Pendant zum öffentlichen Raum auf Erdgeschossniveau über kollektiv genutzte Dachgärten nachzudenken, hat Potenzial.

Anna Jessen: Noch ist nicht sicher, ob das Thema des kollektiven Dachgartens für eine parzellierte Stadt funktioniert, aber dass solche Ideen eingebracht, kontrovers diskutiert und vorläufig, bis das Gegenteil bewiesen wäre, als Hypothesen im Projekt gehalten werden, ist eine Chance und Qualität dieses Verfahrens.

TEC21: Anders stellt es sich dar, wenn Architekten die Aufgabe bekommen, basierend auf einem Masterplan einen Gebäudeentwurf auszuarbeiten. Dabei fokussiert jeder auf seine Parzelle, und es kümmert sich niemand um die Stadt als Ganzes.

Anna Jessen: Die Partizipation am Gesamtprozess führt zu einem höheren Mass an Identifikation von den Planern und allen Beteiligten. Auch die Investoren und Beteiligten der Stadt Berlin waren schon in den Klausuren mit eingebunden.

Ingemar Vollenweider: Wettbewerbsprojekte haben eine hohe formale Prägnanz und damit das Potenzial, Identität zu schaffen. Gleichzeitig drohen sie dadurch eindimensional zu sein. Sie haben eine Identität, die vielleicht nicht komplex genug ist, um das Leben und die Bedürfnisse an einem spezifischen Ort zu treffen. Das kooperative Verfahren bei der WerkBundStadt verhandelt eine grössere Vielfalt, ist weniger prägnant, dafür elastischer. Damit sind wir wieder beim Prozess: Er lässt tatsächlich Schlaufen zu – und ist damit natürlich sehr zeitaufwendig.

TEC21: Gibt es denn andere Regeln und Verbindlichkeiten?

Ingemar Vollenweider: Einerseits gibt es bei diesem konkreten Modell von Stadt eine höhere Verbindlichkeit über die Strasse, den Platz, die städtebauliche Kante. Auf der anderen Seite steht der Wille: Jeder Einzelne macht sein Haus. Das prallt ein Stück weit aufeinander. Es gab in dieser Phase nicht viele Regeln für die Entwürfe der Häuser, ausser die Parzellengrenzen mit den Höhenvorgaben aus dem städtebaulichen Plan und für die Wandflächen der Fassaden einen minimalen Klinkeranteil von 60 Prozent. Das interessante aber war, dass durch die Klausuren sehr konkrete Themen und Ansprüche im Raum standen – wie die Adressierung und Hinwendung der Haupt­räume zur Strasse oder die vermeintlich banale Forderung, Sanitärräume möglichst natürlich zu belichten. Paul Kahlfeldt sah die Entwürfe zuerst als Hypothesen, um daraus Ideen für tragende typologische Themen oder die Charakterisierung der Strassenräume zu finden. Das ist ein sehr liberaler Ansatz.

TEC21: Sie haben eben den Charakter angesprochen, den das Projekt für Sie hat. Sie sind beide praktizierende Architekten und sehr engagiert in der Lehre. Kann man aus diesen Erfahrungen rund um das Projekt Erkenntnisse für die Lehre gewinnen?

Anna Jessen: Ja, das ist sicher so. Die Erfahrungen allein aus dem Diskurs haben sehr viel gebracht, auch für die Lehre. Wir haben beide damit ein ganzes Entwurfssemester durchgespielt. In Leipzig am Wilhelm-Leuschner-Platz, einer grossen innerstädtischen Brache, haben wir versucht, das Modell des kollektiven städtebaulichen Entwerfens auszuloten. Die Studierenden waren durchaus überrascht, dass wir weniger als Lehrende aufgetreten sind, sondern eher in der Rolle des Choreografen gewirkt haben. Das war auch für uns eine spannende Erfahrung, die uns generell über die Rolle des Architekturlehrers nachdenken liess.

TEC21: Hat das Verfahren also Modellcharakter für die Lehre?

Ingemar Vollenweider: Als Student dachte ich immer, Gruppenarbeit ist das Schutzprogramm für Vielredner und Leute ohne Ambition. Es geht aber um etwas anderes. Der Zusammenhang von Stadtbau und Kooperation ist zentral und gehört ins Curriculum einer Architekturlehre. Man muss den Unterschied zwischen Architektur und Städtebau verstehen – und zum anderen deren Abhängigkeit. Das Verfahren kann helfen, dieses Verständnis zu entwickeln. Man kennt die Gesamtkunstwerke von Stadt, die diesen Unterschied nicht machen. Etwa den Städtebau von Leon und Rob Krier aus den 1990er-Jahren, die designte traditionelle Stadt. Da ist die zeitgenössische Wohnstadt der Solitäre im Vorteil, weil sie sich viel mehr als die Summe der Teile meist nicht zutraut.

TEC21: Nach dem städtebaulichen Entwurf begann dann die Vertiefung der einzelnen Bausteine für die WerkBundStadt mit den Gebäudeentwürfen. Welche Themen standen hier im Vordergrund?

Ingemar Vollenweider: In der Schweiz machen wir viele dicke Häuser mit vielen dunklen Wohnungen, die vielleicht interessant, in jedem Fall aber sehr ökonomisch sind. Das Innovative ist hier gekoppelt an eine sehr hohe Wirtschaftlichkeit. Unter dem enormen Druck, der gerade in den Städten auf dem Wohnungsbau lastet, werden die Konventionen des Metiers ausgelotet. Der Laubengang für eingeschossige Wohnungen ist jetzt auch in der Schweiz denkbar. Das ist vielleicht innovativ, aber die entstehenden Stadträume entsprechen dabei oft jenen der Peripherie. Die WerkBundStadt formuliert das Gegenmodell: Wenn ich an die Strasse glaube, glaube ich an die Randbebauung – ich meine bewusst nicht Block-, sondern Randbebauung –, die hat dann eine Tiefe von 12 bis maximal 15 m, die kann ich nicht gross überschreiten.

TEC21: Daraus ergeben sich dann Module, die sehr flexibel sind.

Ingemar Vollenweider: Die Randbebauung schafft gewisse Bindungen, die dicken Klumpen liegen eher nicht drin, aber so ein parzelliertes Haus ist sehr flexibel, insbesondere wenn es Platz für einen Hof- oder Gartenflügel gibt, was in der WerkBundStadt leider nur stellenweise der Fall ist. Wenn man Gründerzeitgrundrisse betrachtet, muss man sich mit der Frage auseinandersetzen: Wie kann ich das überhaupt besser machen? Dabei kann man über andere Wohnformen nachdenken, etwa Clusterwohnen, Alterswohngemeinschaften oder Gastwohnungen. Interessant aber ist, dass genau in diesen Wohnungen historisch alles schon stattgefunden hat. Das in der WerkBundStadt verfolgte Modell, Sozialwohnungen ohne staatliche Förderung und damit auch ohne die zum Teil problematischen Vorgaben zu realisieren, ist ebenso riskant wie ambitioniert, um nicht zu sagen: wirklich innovativ. Denn es erhöht den Druck, insgesamt haushälterisch mit Raum und Boden umzugehen und ganzheitlich zu planen.

Anna Jessen: Unser Ansatz war es, ein Wohnhaus zu entwickeln, dessen Wohnungen man sich in Berlin auch leisten kann. Das aufzulösen, etwa in Clusterwohnen, ist viel einfacher, als aus einer Clusterwohnung einen gut proportionierten Zimmergrundriss für eine 2.5-Zimmer-Wohnung zu ent­wickeln. Es wird also relevante Antworten zum Thema des zeitgenössischen Wohnens geben. Zugespitzt formuliert ist aber die Innovation bislang: die Stadt zuerst, das Wohnexperiment ordnet sich der Stadt ein und unter. Wir wohnen zuallererst in der Stadt und dann in einer guten Wohnung – die mit dieser Stadt kommuniziert.

Ingemar Vollenweider: Die These zur Typologie wäre dann: Welche Wohnformen lassen sich an diesen Strassen und öffentlichen Räumen realisieren?

TEC21: Wie weit wurde bislang der Bezug des Hauses zum Stadtraum diskutiert?

Ingemar Vollenweider: Es ist diese Frage nach der Gestalt und der Einheit: Wo pendelt sich das ein zwischen Anonymität auf der einen und Individualität der einzelnen Häuser auf der anderen Seite? Welche Architekturen können dieses Zusammenspiel leisten?

Anna Jessen: An diesen Ort in Berlin ziehe ich meiner Meinung nach nicht, weil es hier Wohnungsgrundrisse gibt, die ich noch nie gesehen habe. An diesen Ort ziehe ich in erster Linie wegen seiner zentralen Lage in Berlin, in zweiter Linie wegen des Stadtraums oder des Lebensgefühls. Und dann will ich dort in einer Wohnung leben, die Zimmer und Raumzuschnitte in der Art hat, dass ich in meinen Räumen Rückzug und Privatheit finden kann und dennoch Teil der Stadt bleibe. Ich freue mich über einen Erker, weil ich von dort aus auf die Spree schauen kann. Ich will etwas spüren von dem Ort, an dem ich lebe. Ich will mich quasi mit dem Stadtraum verweben können. Da ist das städtische Leben, und das ist etwas Grossartiges. Ich lebe in der Stadt, weil ich in der Dichte die Anonymität geniessen kann. Und gleichzeitig gehe ich auf in diesem kollektiven Getragensein.

TEC21: Was waren Ihre wichtigsten Entwurfsthemen?

Ingemar Vollenweider: Die architektonische These war eben, eine Antwort zu finden auf: Wie kann man ein Haus machen, das eigenständig ist und sich gleichzeitig ins Kollektiv einbindet – und auch diese Anonymität adressiert. Unsere Strategie war, das Gebäude aus einer einzigen plastischen Idee entstehen zu lassen und daraus dennoch Sockel, Fassade und Dach zu entwickeln. Daher ist es einerseits ein recht abstraktes Haus, das andererseits dieser Dreiteiligkeit entspricht. Dann kann man sich fragen: Wie wohne ich denn an der Strasse? Wir haben das Thema des Erkers aufgegriffen. Das ist ein altes Thema, das nach wie vor für den Wohnraum sehr viel Potenzial bietet. Eine Qualität, die wir von den Basler Baumgartner-Häusern kennen. Die Erker sind ein starkes Element für das Haus, den Baukörper und die einzelne ­Wohnung, sind aber auch wieder in der Lage, ein Thema zu liefern, um die Häuser in den Zusammenhang des Orts einzubinden.

TEC21, Fr., 2017.02.03



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03. Februar 2017Andreas Kohne
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«Eine Reise ins Ungewisse hält lebendig»

E2A Architekten aus Zürich planen und realisieren zurzeit mehrere Projekte in Deutschland. Für die WerkBundStadt Berlin reichten sie auf den ihnen zugelosten Parzellen interessante Entwürfe ein. Ein Gespräch mit Wim Eckert.

E2A Architekten aus Zürich planen und realisieren zurzeit mehrere Projekte in Deutschland. Für die WerkBundStadt Berlin reichten sie auf den ihnen zugelosten Parzellen interessante Entwürfe ein. Ein Gespräch mit Wim Eckert.

TEC21: Herr Eckert, wie haben Sie das dialogische Verfahren erlebt?

Wim Eckert: Wie der Titel WerkBundStadt Berlin bereits ankündigt, war uns von Anfang klar, dass es sich um eine inhaltliche und grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Thema Stadt und Wohnen handeln soll. Das Verfahren bot dazu eine ideale Plattform, um derartige Vorstellungen und Ideen zu präsentieren und unter Kollegen zu diskutieren. Dies explizit im Gegensatz zu all den Wohnungsbauwettbewerben, bei denen der Architekt seinen Vorschlag als monologische Antwort zu den in der Regel austauschbaren Programmen abliefert.

TEC21: Welche Vorteile sehen Sie für den Entwurf?

Wim Eckert: Der verabschiedete Masterplan formuliert einen Konsens aus den Ideen der acht städtebaulichen Entwürfe und den Ideen aus den Klausuren. Dieser iterative Prozess mit multipler Autorenschaft ist durch das Verfahren möglich, er hat eine gemeinsame Basis geschaffen für gewisse Fragen. Dies hat ein gewisses Mass an Kohäsion, aber auch an Konfrontation.

TEC21: Was interessierte Sie speziell bei Ihrem Projekt?

Wim Eckert: Uns interessiert seit Längerem die Frage nach der Robustheit des architektonischen Entwurfs. In diesem konkreten Fall bestand die Möglichkeit, die Idee eines sogenannten robusten Entwurfs in den Wohnungsbau zu überführen und mit gleichwertigen Räumen eine Wohnung zu schaffen, deren Nutzung offen ist. Es handelt sich um ein hierarchieloses Gebäude, bei dem die Gleichwertigkeit der Räume alles andere überschreibt. Diese Grundhaltung spiegelt sich auch in der Fassade wider.

TEC21: Wo steckt in Ihrem Projekt der Werkbundgedanke?

Neben der grundsätzlichen Auseinandersetzung mit dem städtischen Wohnen möchten wir mit unserem Projekt auch auf die Dimensionen des Hand­werks und der Produktion eingehen. Wir können uns gut vorstellen, dass bei unserem Projekt verschiedene Bauteile, etwa die doppelflügeligen Innentüren, die Fenster oder die «Meterküche», zusammen mit Unternehmungen, vielleicht sogar Schweizer Firmen, entwickelt und dann seriell hergestellt werden.

TEC21: Wie geht es nun konkret weiter?

Wim Eckert: Hier ist die Zeit ein wertvoller Faktor. Ich gehe davon aus, dass auf der einen Seite die inhaltlichen Klausuren weitergehen und auf der andern Seite viele baurechtliche Fragen geklärt werden müssen, damit das Projekt erfolgreich umgesetzt werden kann. Ich hoffe, dass sich die Klausuren nochmals intensiv mit den Spielregeln und deren Auslegung befassen. Denn trotz hoher Stringenz des Plans herrscht eine grosse Kollisionsgefahr. Es gilt nun, den vorliegenden Zwischenstand genau zu orchestrieren, die Übergänge zu klären, ohne daraus eine einzige Architektur zu formen. Auf der Ebene des Quartiers ist das Thema des Erdgeschosses zu klären, mit der Frage, welche Nutzungen sich in welchen Strassen und an welchen Lagen am besten eignen.

TEC21: Wäre ein solches Verfahren Ihrer Meinung nach auch in der Schweiz denkbar?

Wim Eckert: Ich glaube, dass ein derartiges dialogisches Verfahren hier durchaus vorstellbar wäre, denn auch bei uns findet eine Debatte statt, die im Vergleich zu Deutschland aber einfach nicht so offen geführt wird. Ich vermute auch, dass die Umsetzung des Masterplans in der Schweiz viel zurückhaltender und dis­ziplinierter angepackt worden wäre. Die grundsätzlichen Fragen für ein dialogisches Verfahren würden sich jedoch ganz zu Anfang stellen: Wie wird selektioniert, und wer selektioniert? Dieses demokratisierte Auswahlverfahren kennen wir bei uns bereits mit den Präqualifikationen.

TEC21, Fr., 2017.02.03



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«Gesellschaftlicher Relevanz eine Form geben»

Die Architekten Marco Graber und Thomas Pulver erläutern ihre Strategie beim Entwurf der Energiezentrale Forsthaus Bern. Warum erhielt dieser Infrastrukturbau einen monumentalen Ausdruck? Welche Aspekte bestimmten die Form, die Materialisierung und die Konstruktion? Wie verlief die Zusammenarbeit mit den Tragwerksplanern und den Verfahrensingenieuren?

Die Architekten Marco Graber und Thomas Pulver erläutern ihre Strategie beim Entwurf der Energiezentrale Forsthaus Bern. Warum erhielt dieser Infrastrukturbau einen monumentalen Ausdruck? Welche Aspekte bestimmten die Form, die Materialisierung und die Konstruktion? Wie verlief die Zusammenarbeit mit den Tragwerksplanern und den Verfahrensingenieuren?

TEC21: Dass ein Architekturwettbewerb für eine Kehrichtverwertungsanlage (KVA) veranstaltet wird, ist ungewöhnlich. Was hat Sie an dieser Aufgabe gereizt?

Marco Graber (M.G.): Selbst in der Schweiz, einem Land mit hochstehender Baukultur, werden die wenigsten Infrastrukturbauten einem architektonischen Anspruch gerecht. Das ist bedauerlich, denn sie prägen durch ihre Anzahl und Grösse unsere gebaute Umwelt und stehen für Themen wie Umweltschutz oder Energieproduktion. Wir sind überzeugt, dass bei der Planung solcher Bauten die Kompetenz der Architekturschaffenden stärker ins Spiel kommen sollte. Beim Wettbewerb haben uns die ungewöhnliche, sehr technische Aufgabe und der spezielle Ort interessiert: Der Bauplatz liegt in einem Waldstück – einem Heiligtum in der Schweiz! – am Stadtrand von Bern, der Stadt, in der wir beide aufgewachsen sind. Sicher war die Lage im Wald auch der Grund für das gewählte Vergabeverfahren.

Thomas Pulver (T.P.): Es gehört zu unserem Selbstverständnis als Architekten, der gesellschaftlichen Relevanz einer Aufgabe eine angemessene Form zu verleihen. Der Bauplatz im Wald war aussergewöhnlich – man hatte die Freiheit, Grösse und Form der Parzelle nach Bedarf festzulegen und zu roden, eine komplette Umkehr üblicher Vorgaben. Zudem bildet der Wald eine Art Scharnier zwischen Stadt und Autobahn. Bereits der Umfang des Programms und die Dimensionen einzelner Räume liessen die energetische Leistung des Kraftwerks erahnen. Uns wurde rasch klar, dass es ein grosses Objekt geben würde, das wir der Bedeutung entsprechend monumentalisieren und zur Landmarke erhöhen wollten. Der Bau hat mit 300 m Länge etwas Endloses. Aber seine extremen Proportionen haben mit dem Ort zu tun, der schmalen Parzelle und der Massstäblichkeit der Autobahn. Es war den Wettbewerbsteilnehmern freigestellt, den Waldrand zu «ritzen». Wir beschlossen jedoch, ihn bestehen zu lassen und mit den zwei unterschiedlichen Seiten des langen Gebäudes und der Art, wie sie hinter den Bäumen aufscheinen sollten, zu spielen.

M.G.: Über diese Energiezentrale dringt das komplexe und weitläufige System von unterir dischen Werkleitungen überhaupt an die Oberfläche. Der Massstab unseres Gebäudes verweist auf die Dimension dieses Systems, das die urbane Landschaft von Bern durchzieht.

TEC21: Es gibt wenige Bauten, die den Themen Entsorgung und Energieproduktion durch Kehrichtverbrennung einen repräsentativen und architektonisch wirksamen Ausdruck ver leihen. Auf ein bestehendes Formenvokabular konnten Sie nicht zurückgreifen, auch wenn einzelne Elemente wie der monumentale Kamin vertraut wirken. Wie sind Sie vorgegangen?

T.P.: Wir dachten an alle diese prägnanten Infrastrukturbauten in der Landschaft, kräftige Zeichen von hoher Autonomie und grossartiger ikonografischer Wirkung. Insbesondere dachten wir an Kraftwerksbauten wie Birsfelden, Landmarken wie den Spredaturm in Burgdorf oder an die Wucht der berühmten Getreidespeicher am Chicago River (Abb. 07–09). Jedes dieser Beispiele hat einen hohen Repräsentationsanspruch und stellt für sich einen Typus dar. Eine KVA war allerdings nicht darunter – die bekannten Beispiele überzeugten uns nicht. Wir suchten nach einer Strategie, die Grösse des Gebäudes zu vermitteln. Wie kann ein 300 m langes Haus aussehen? Rafael Moneo hat sein ähnlich langes Kaufhausprojekt an der Avinguda Diagonal in Barcelona mit einem abgelegten Rockefeller Centre verglichen. Auch wenn wir sein Bild nicht direkt verwenden konnten, wollten wir wie er den Baukörper staffeln und gliedern, ohne ihm die Kraft zu nehmen. Daraus hat sich ein Prozess der Formfindung entwickelt. Das Bild des Frachtschiffs hat uns geholfen, die Fragen der Massstäblichkeit zu klären, ein Gefühl für die Dimensionen zu bekommen.

M.G.: Wir entwerfen nicht analog. Referenzen sind für uns ein Hilfsmittel, um gewisse Vorstellungen zu konkretisieren, zu übersetzen und präzise auszuformulieren. Grundsätzlich versuchen wir, aus den spezifischen kontextuellen und programmatischen Rahmenbedingungen eigene, signifikante Räume zu entwickeln und den Gebäuden einen synthetisierenden Gestus zu verleihen, der all das zum Ausdruck bringt, was das Projekt enthält. Diese Qualitäten versuchen wir jeweils zu verstärken und zu radikalisieren.

TEC21: Die vertikalen Rippen und der aufragende Kamin erinnern auch an eine Kathedrale.

M.G.: In Italo Calvinos «Unsichtbaren Städten» wird eine Stadt beschrieben, die von der einen Seite anders aussieht als von der anderen. Vom Meer her gesehen gleicht sie zwei Kamelbuckeln, von der Wüste her einem Schiff, das vor Anker liegt. Uns gefällt die Vorstellung, dass unsere Energiezentrale von der Stadt aus betrachtet ein Schiff evoziert und von der Autobahn aus eine Kathedrale.

T.P.: Früher waren es die Kirchtürme, die als Zeichen der Kirche und der Obrigkeit den Reisenden die Stadt weitherum ankündigten und die urbanen Merkpunkte einer spärlich besiedelten Landschaft bildeten. Heute sind es die Infrastruktur bauten, die als bauliche Artikulationen verborgener technischer Netzwerke Zeichen in unsere verstädterte Landschaft setzen. In einem Grössenvergleich überlagerten wir die EZF mit dem Berner Münster, das man von der EZF aus sieht (Abb. 06).

TEC21: Beim Wettbewerb war nur ein grobes Raumprogramm bekannt, das bis in die Bauphase hinein verändert wurde. Wie sind Sie damit umgegangen?

T.P.: Wir haben mit einem klassischen Re-engineering begonnen und verschiedene bestehende Anlagen «analytisch zerlegt»: Welche Raumgruppen gehören zwingend zusammen, welche sind frei positionierbar? Bei gewöhnlichen KVA werden Prozessgebäude (Verbrennung) und Fernwärmezentrale parallel nebeneinander gestellt; im Gegensatz dazu haben wir uns für eine lineare Anordnung entschieden, was nahezu ohne energetische Verluste möglich ist. Gebaut wurden zwei parallele Linien: zum einen die Kehrichtverbrennung, zum anderen – ebenfalls hintereinander – ein Holzheiz- und ein Gas-und-Dampf-Kraftwerk. Das verdoppelte nicht nur die Gebäudelänge, auch in Bezug auf eine spätere Erweiterung bietet es Vorteile: Man könnte problemlos eine dritte Verbrennungslinie parallel dazu schalten.

M.G.: Ein weiterer Vorteil dieses linearen Konzepts ist, dass wir im Planungsprozess äusserst flexibel auf Programmveränderungen reagieren konnten. Das Bild des Frachtschiffs hat uns auch hier inspiriert: Das Sockelgeschoss aus Ortbeton greift ins Erdreich ein und bildet gleichsam den Rumpf, auf den die technischen Anlagen wie Container gestapelt werden können. Die wuchtige Aufwerfung des Bunkergebäudes mit der Steuerzentrale, die ähnlich einer Kommandobrücke den Blick freigibt auf die Zu- und Wegfahrt beim Waaghaus, und die filigrane Passerelle, die 30 m weit ausgreift und zum Eingang hochführt, bilden jeweils skulptural modulierte Abschlüsse dieser gegossenen Sockelstruktur. Dazwischen stapeln sich die Hallen, deren Fassaden aus kleinteiligeren, abmontierbaren, vorfabrizierten Betonelementen zusammengesetzt sind. Dieses modulare Fassadenprinzip hat sich bereits in der Entwurfsphase als sehr flexibel erwiesen: Vom Wettbewerb zur Ausführung hat sich der Bau von 260 auf 308 m verlängert, dies entspricht zwölf 4-m-Modulen. Bei einer kompakten Anordnung mit Abhängigkeiten zwischen Länge, Höhe und Breite wären wir wohl weniger flexibel gewesen. Beim fertigen Bau erlaubt die modulare Fassade die wichtige Zugänglichkeit zum Innern. Alles muss durch Fahrzeuge und Kräne von aussen erreichbar sein, der Ein- und Ausbau der technischen Anlagen erfolgt seitlich. Auch diesbezüglich ist die Linearität mit der grossen Abwicklung vorteilhaft, weil alle Anlagen nahe an der Fassade liegen.

T.P.: Von uns stammte das Grundkonzept, also die Linearität als Abbild der inneren Pro zesse, das plastisch-volumetrische Zusammenspiel von vertikalen und horizontalen Elementen und letztlich die entwerferische Strategie im Umgang mit der Grossmassstäblichkeit der Aufgabe. Die konkrete Formfindung, das Ausreizen der technischen Möglichkeiten des Betons, die konstruktive Umsetzung in Ortbeton und vorfabrizierten, modularen Elementen geschah dann im intensiven und fruchtbaren Dialog zwischen den Disziplinen – so, wie es bei so komplexen Bauten immer der Fall sein sollte. Exemplarisch für dieses Vorgehen war die zusammen mit Carlo Galmarini getroffene Materialwahl. Der Entscheid für den Baustoff Beton kam aus unserer gemeinsamen Affinität für alle Arten von Infrastrukturbauten, Brücken und Staudämmen, die ihre Kraft aus dem Material entwickeln. Die Schweiz ist ein Betonland, die Grundbestandteile sind hier vorhanden und Betonbauten haben Tradition. Zwingend für Beton sprach zudem der Umstand, dass der Kehrichtbunker im Grundwasser zu liegen kam. Wir mussten also eine dichte Wanne bauen, um Verschmutzungen zu vermeiden. Im Wettbewerb hatten wir zunächst eine reine Ortbetonstruktur. Bei der Über arbeitung wurde uns bewusst, dass diese mit der Vorgabe, jederzeit überall in den Innenraum gelangen zu können, nicht vereinbar war. Nachträgliche Öffnungen hätten unserer Vorstellung von Präzision und der angestrebten hohen Ökonomie der Konstruktion widersprochen. Im Gespräch mit den Verfahrensingenieuren schliesslich definierten wir den Übergang zwischen dem fugenlos gegossenen Sockel und dem darüber liegenden, modularen Aufbau.

M.G.: Die Zusammenarbeit zwischen Architekt und Bauingenieur war intensiv und von gegenseitigem Interesse geprägt. Dies hat sich nicht nur bei der Gebäudehülle manifestiert, sondern bei sämtlichen strukturellen Elementen, zumal bei diesem Projekt das Tragwerk ja nicht gedämmt und eingepackt werden musste. Das beharrliche Bestreben von Carlo Galmarini, die Strukturen ökonomisch und effizient zu dimensionieren, deckte sich mit unserem Interesse, das Material Beton sehr differenziert auszuformulieren und ihm sogar Leichtigkeit zu verleihen. Einzelne Platten wie beispielsweise beim Dach der Abladehalle konnten extrem ausgedünnt werden, ohne dabei ihre aussteifende Wirkung im Verbund innerhalb des Faltwerks zu verlieren. Wir wollten eine dramatische Wirkung erzielen. Durch den Massstab der Anlage entsteht eine Verschiebung in der Wahrnehmung: Wandscheiben mit einer normalen Dicke von 20 oder 30 cm wirken dünn und leicht wie Karton, doch aus diesen dünnen Scheiben entstehen massiv wirkende Volumen, die ihrerseits wiederum über dem Boden zu schweben scheinen. Dieses Spiel mit der Wahrnehmung von Leichtigkeit und Schwere konnten wir erst dank dem Massstab der Anlage zu einem wichtigen Thema entwickeln.

TEC21: Wie bei vielen Ihrer Projekte ist die Wegführung ein zentrales Entwurfsthema.

T.P.: Uns wurde bereits früh im Wettbewerb klar, dass die Öffentlichkeit ein hohes Interesse an der Anlage haben würde und einen angemessenen Zugang dazu bräuchte, auch wenn diesem Aspekt im Programm keine Bedeutung zugemessen war. Die KVA Thun zählte 2005 bereits 3500 Besucher pro Jahr – für uns Indiz genug, die Wegführung von Personal und Besuchern zu einem tragenden Entwurfsthema zu machen. Neben den Funktionen der technischen Räume stand deshalb die Frage nach den Erschliessungsräumen im Vordergrund, die für uns immer auch Raumerschliessung sind: Sie machen den Raum durch Bewegung erlebbar. Die Wegführung ist identitätsbildend. Die Fassade zur Autobahn ist ja primär konzeptuell definiert: Prägend ist der weithin sichtbare Kamin, alle anderen Bauteile liegen sozusagen im Wald verborgen und könnten nach Bedarf geändert werden, bis hin zum Hinzufügen einer weiteren Verbrennungslinie. Anders die Stadtfassade und die dahinter verborgene Raumfolge, die sorgfältig inszeniert sind: Der Aufgang auf die Passerelle, der Eingang unter dem kreisrunden Oberlicht, der 300 m lange, verglaste Korridor mit den Bullaugen in die Anlage – die in einem Art Stationenweg sämtlichen Schritten des Prozesses folgen –, danach der Übergang in die Treppenanlage mit dem dramatischen Aufstieg unter zenitalem Licht und die Treppe in die Steuerzentrale. Den krönenden Abschluss bildet die Liftfahrt auf die Besucherplattform auf dem Kamin. Dies sind zentrale Elemente des Entwurfs. Der Korridor zeichnet sich nachts deutlich ab, je nach Lichtsituation als gelbes Band oder als Reihe leuchtender Bullaugen. Er bildet die Schnittstelle zwischen innen und aussen, einen surrealen Raum zwischen Technik und Wald.

TEC21: Dieser Besuchergang hält wie ein Geschenkband das pragmatisch gestapelte Paket der industriellen Funktionen zusammen. Als schmale Linie betont er die Dimensionen des Gebäudes und seine Horizontalität im Gegensatz zu den Baumstämmen.

M.G.: Die Perspektive der Besucherinnen und Besucher hat schon in der frühesten Konzeptphase im Wettbewerb den Entwurf geprägt. So entstand die Idee des öffentlichen Korridors, dessen Linearität ein Abbild der inneren Abläufe ist. Umgekehrt hat der Anspruch, die Abläufe für Laien verständlich zu machen, das Konzept der linearen Anordnung der Funk tionen gestärkt und zur logischen Abfolge von Anlieferung, Kehrichtbunker, Verbrennung, Reinigung der Rauchgase und Energieproduktion geführt. Szenografische Überlegungen haben die Formfindung ebenso bestimmt wie die technischen und funktionalen Anforderungen. Der didaktische Aufbau ist eine gebaute Einladung an die Öffentlichkeit. Die Bauherrschaft war von Anfang an von dieser Haltung eingenommen; sie hat das Konzept mitgetragen und weiterentwickelt. Mit dem Besucherzentrum hat sie ein Element ins Programm aufgenommen, das die Öffentlichkeitswirkung noch zusätzlich auflädt.

TEC21, Fr., 2013.03.22



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TEC21 2013|13-14 Energiezentrale Bern

12. Oktober 2012Judit Solt
Andrea Wiegelmann
TEC21

«Was ist das Verbindende?»

Miroslav Šik hat – zusammen mit den Architekturbüros Miller & Maranta aus Basel und Knapkiewicz & Fickert aus Zürich – an der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig die Ausstellung im Schweizer Pavillon realisiert. Unter dem Titel «And now the Ensemble!» gehen die Aussteller der Frage nach, was das Verbindende in der Architektur ausmacht. Im Hof des Schweizer Pavillons diskutierten sie am Eröffnungstag mit TEC21 über ihre Zusammenarbeit und die Bedeutung von Bildern in der Architektur.

Miroslav Šik hat – zusammen mit den Architekturbüros Miller & Maranta aus Basel und Knapkiewicz & Fickert aus Zürich – an der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig die Ausstellung im Schweizer Pavillon realisiert. Unter dem Titel «And now the Ensemble!» gehen die Aussteller der Frage nach, was das Verbindende in der Architektur ausmacht. Im Hof des Schweizer Pavillons diskutierten sie am Eröffnungstag mit TEC21 über ihre Zusammenarbeit und die Bedeutung von Bildern in der Architektur.

Mittwochnachmittag am Eröffnungstag der 13. Architekturbiennale in Venedig: Miroslav Šik kommt von einer Diskussionsveranstaltung im Deutschen Pavillon, bei der es darum ging, die Ausstellungen im Schweizer und im deutschen Pavillon zu vergleichen. Dabei entzieht sich die Frage nach dem Wert der vorhandenen Bausubstanz, die der Generalkommissar Muck Pezet im deutschen Pavillon thematisiert, genauso jeder eindeutigen Antwort wie die Suche des Schweizer Teams nach dem Verbindenden (zum deutschen Pavillon vgl. S. 14). Das Interview ist Reflektion und Weiterführung dieser Diskussion, die auch die Frage nach der Bedeutung von Referenzen, gemeinsamen Hintergünden und Arbeitsweisen der drei Büros wie der Architektenschaft im Allgemeinen stellt. Versteht man die diesjährigen Aussteller als offizielle Vertreter der Schweizer Architektur, dann wäre das Gemeinsame im Schweizer Architekturschaffen nicht in formalen oder technischen Aspekten zu suchen, sondern in der Entwurfsmethodik: Der Bezug auf den Kontext und das Beiziehen von Referenzbildern sind verbreitet. Auch wenn es Unterschiede in der Auslegung gibt, scheint es eine verbindende Komponente zu sein – es ist sicher kein Zufall, dass Valerio Olgiati im Arsenale eine Sammlung von Referenzbildern bekannter Architektinnen und Architekten präsentiert (vgl. «Patina, Pasticcio, Palimpsest, Patent», S. 22).

TEC21: Miroslav Šik, Sie kommen gerade vom deutschen Pavillon. Ein wichtiger Unterschied zwischen der Ausstellung im Schweizer und jener im deutschen Pavillon ist, dass Letztere von einer Einzelperson kuratiert wurde, während Sie das Fresko und die begleitenden Räume im Team entwickelt und umgesetzt haben. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

Miroslav Šik (MŠ): Pro Helvetia wollte zunächst etwas über mich sehen; Šik als Lehrer, als Architekt, als Theoretiker. Es wäre eine Rückschau geworden. Ich aber wollte nach vorne schauen und Dinge thematisieren, die mich beschäftigen. Ich wollte meine Arbeit als Architekt reflektieren; eben kontextgebundene Architektur. Im Grunde machen das viele Schweizer Büros, Entwerfen ist bei uns kontextgebunden. Darum habe ich entschieden, für diese Reflektion noch weitere Büros beizuziehen. Wir fünf haben bereits im Rahmen des Projekts «Andermatt Swiss Alps» des Unternehmers Samih Sawiris zusammengearbeitet. Das soll aber nicht heissen, dass alles harmonisch verlaufen ist: Wir haben auch gekämpft und miteinander gerungen. Die Idee der Collage gab es nicht von Anfang an; auch dass Bruno Giacomettis Pavillon ein wichtiger Protagonist in unserer Ausstellung sein müsse, haben wir nicht sofort verstanden.

Quintus Miller (QM): Im ersten Moment war es für uns nicht offensichtlich, wie diese Zusammenarbeit aussehen könnte. Wir haben alle sehr unterschiedliche Herangehensweisen. Aber dann haben wir innerhalb von einigen Sitzungen herausgefunden, wo unsere gemeinsame Stärke liegen kann. Wir respektieren einander im hohen Masse und schätzen uns als Kollegen.

TEC21: Was waren die ersten Ideen, und wie kam es schliesslich zur Umsetzung des Freskos?

MŠ: Die Idee zum Fresko ergab sich aus unseren Diskussionen, sie ist Produkt des Prozesses. Irgendwann haben wir gesagt: Wenn wir von Ensemble reden, dann lasst uns auch ein Ensemble bilden! Die Art der Ausführung ist ebenfalls aus dieser Diskussion entstanden. Es war Axels Idee, die ursprünglich geplante Blackbox aufzuheben, die Architektur des Pavillons in unsere Ausstellung zu integrieren und folgerichtig mit Tageslicht zu arbeiten.

Axel Fickert (AF): Der Wunsch, ein Ensemble umzusetzen, stand relativ am Anfang – dorthin wollen wir ja auch mit unserer Architektur. Es gab Anregungen und Vorbilder, wie die Bilder des Architekten und Malers Joseph Michael Gandy[1]im Soane Museum in London, eine Anregung von Kaschka. Das hat uns an das Bild «Città Analoga» von Arduino Cantafora erinnert, das uns seit unserer Studienzeit beschäftigt (Abb. 2). Cantafora hat in einer Art Panorama Bauten von Aldo Rossi in den Kontext historischer Bauten und Stadtvisionen eingebunden und zu einer Collage kombiniert. Genau das passiert auf unserem Fresko – es ist unsere «Città Analoga», die wir weiter behandeln.

TEC21: Woher stammt der Titel «And now the Ensemble!»?

MŠ: Nach der Entscheidung, ein Ensemble zu collagieren, kamen wir auf den Slogan. Auch hier war es Axel, der uns darauf gebracht hat. Ich hätte wohl «Ensemble City» vorgeschlagen, aber das hätte nicht diese Kraft gehabt. Wir haben die «Città Analoga» mit neuen Mitteln gestaltet. Die Linie ist klar, wir beziehen uns auf Aldo Rossi und seine Zeit. Aber es gibt auch Unterschiede, was auch damit zusammenhängt, dass wir eine andere Generation sind. Wir haben verstanden, dass die Stadt heterogen und dennoch einheitlich sein kann.

QM: Viele verstehen diese Collage als eine Arbeit mit Bildern. Ich möchte das Wort lieber im englischen Sinn als «Images» gebrauchen. Darin liegen zwei Bedeutungen: einerseits das Bild und andererseits das Image, ein Wort, das wir im Deutschen auch kennen und bei dem es um Inhalt geht. Über diese Inhalte haben wir diskutiert und aus ihnen ein Fresko entwickelt. Kaschka Knapkiewicz (KK): Wir haben uns gefragt, wann eine Stadt oder ein Ort überhaupt einheitlich ist und wie man eine Vielfalt in der Einheit schaffen kann. Die meisten Architekten realisieren einen Solitär nach dem anderen; die Bauten stehen nebeneinander, bilden aber kein Ensemble.

AF: Im Zentralen Pavillon (Padiglione Centrale, Giardini) stellt Peter Eisenman den Plan von Piranesi als Modell aus – eine «Città Analoga» des antiken Rom. Was bindet dieses Häusermeer zusammen? Sind es die Säulen, weil ein grosser Prozentsatz von Bauten Säulenportiken aufweist? Gibt es in unserer Zeit etwas, das eine ähnliche Trägerfunktion aufweist und unsere Gebäude zusammenhält? Es ist nicht nur der Raum, es ist nicht nur die Volumetrie, es ist nicht nur die Gebäudestellung, es ist nicht die Ähnlichkeit der Fenster – was ist das genau, was die Gebäude verbindet? Unsere Collage wirkt auf den Betrachter, weil es ein monumentales Fresko ist. Die interessante Frage ist, warum es als Ensemble wahrgenommen wird? Welches Bindemittel hält die abgebildeten Bauten zusammen? Das Kontextuelle gehört sicher dazu, aber viele Architekten machen kontextuelle Projekte. Was ist also dieses «Mehr»?

QM: Ich denke, es ist die dichte kulturelle Schichtung, die jeder von uns pflegt und die wir in unseren Bauten auch transportieren. Es sind profund gedachte Architekturen, die über das blosse Gefallen an einer Form, einem Volumen oder einer Aussage hinausgehen. Jeder von uns bringt aufgrund seines ganz persönlichen Hintergrunds eine bestimmte Geschichte in ein Projekt hinein, und die Vielschichtigkeit, die in den Bauten liegt, ermöglicht dies auch. Wir betten uns in eine gemeinsame Kultur, in ein kollektives Bewusstsein ein.

AF: Das machen doch alle Architekturschaffenden. Wir haben mit Studierenden deren Projekte versuchsweise zu einem Ensemble zusammengefügt, heraus kam aber nur ein Häuserhaufen. Ein anderes Beispiel: Im Arsenale sind zurzeit Fotos von Thomas Struth zu sehen. Einmal sind diverse Berliner Hinterhöfe dargestellt – banale Fassaden, die nur Fenster haben, nichts sonst. Daneben ist ein Bild von St. Petersburger Fassaden – wieder lauter Fenster, aber trotzdem ist der Strasseneindruck im öffentlichen Raum völlig anders. Es muss etwas geben, was diesen Eindruck ausmacht und den urbanen Raum prägt.

KK: Es ist die Zuwendung zum öffentlichen Raum. Es ist das Verständnis dafür, die Hauptfassade im traditionellen Sinn als repräsentatives Antlitz des Gebäudes zur Strasse hin aufzufassen. Im Hinterhof dagegen muss man nicht repräsentieren. Schaut euch Venedig an: Es gibt in der ganzen Stadt schmale, hohe Fenster im Piano nobile und sonst kleine Fenster, aber trotz den unterschiedlichen Grössen und Positionierungen tragen sie alle zum Schmuck der Strasse bei. Es ist, als hätte man sich auf einen Gestus zur Strasse hin geeinigt.

TEC21: Spannend ist ja gerade, dass Sie sich eben nicht auf Fenstergrössen oder sonstige Formen geeinigt haben. Auf dem Fresko zeigen Sie Werke, die jeweils für einen ganz bestimmten Kontext geschaffen, aus diesem Kontext herausgerissen und neu zusammengestellt worden sind. Alle diese «Entwurzelten» bilden ein neues Ensemble – da stellt sich schon die Frage, warum das funktioniert. Am direkten Bezug zum unmittelbaren Nachbarn auf dem Fresko kann es jedenfalls nicht liegen. Die Verbindung muss auf einer viel allgemeineren Ebene liegen.

QM: Es geht um eine Haltung, ein Verhalten – und darum, dass ein Gebäude ein «Gesicht» hat und etwas aussagt. Ich bin überzeugt, dass die vermittelte Bedeutung immer vielschichtig sein muss. Sonst wäre es unmöglich, aus unterschiedlichen kulturellen Umfeldern Zugang zum Gebäude zu finden.

MŠ: Nehmen wir ein Gegenbeispiel, den Novartis Campus in Basel. Der Masterplan von Vittorio Magnago Lampugnani gibt strenge städtebauliche Regeln und durchgehende Gestaltungselemente vor, und dennoch ist kein städtisches Ensemble entstanden.

AF: Weil die Bauten Solitäre sind: Sie basieren auf der Eitelkeit einzelner Architekturschaffender. Das ist das Paradoxe. Die verbindenden Strassenräume sind an sich gelungen, aber die Bauten streben das pure Gegenteil des Gemeinsamen an, sie konkurrenzieren und verschliessen sich, stellen das eine Thema gegen das andere. Angenommen, alle Bauten hätten Loggien oder raumhaltige Fassaden – ich denke jetzt beispielsweise an die Planung von Auguste Perret für Le Havre[2] – vielleicht hätten sie dann etwas, das Plastizität erzeugt. Es wäre anders.

TEC21: Liegt es in diesem Fall nicht auch an der Monofunktionalität der Büro- und Labornutzung und daran, dass der Campus kein öffentlicher Raum ist? Lampugnani hat ihn als Stadtraum gestaltet, aber de facto ist es eine «verbotene Stadt». Dort ist alles andere gewünscht als Öffentlichkeit, und das merkt man einigen Gebäuden auch an. Wozu sollen sie sich zu einer Strasse öffnen, die keine ist?

AF: Ich glaube, es liegt an der Art, wie sich die Gebäude dem öffentlichen Raum zuwenden oder eben nicht – der Grad der Plastizität, der Raumhaltigkeit. Darum bin ich auch gegen die Verdammung des Motivs: Das Motiv ist ein wichtiges Mittel, um diese Zuwendung auszudrücken.

QM: Ich verdamme das Motiv nicht. Ein anderer Gedanke: Liegt das Verbindende zwischen uns vielleicht darin, dass wir Architekturen schaffen, die Patina ansetzen können? Wir verwenden mineralische Materialien, die altern können. Dass ein Gebäude den Gebrauch, das Leben annehmen kann, ist wichtig.

MŠ: Das ist jetzt ein schönes Beispiel dafür, wie wir in der Gruppe diskutiert, gesucht und gerungen haben. Das Fresko ist ein empirisches Produkt. Das «masterpiece» dort ist tatsächlich dieses Ensemble, das Bindende. Wahrscheinlich hat jeder von uns noch eine eigene Gewichtung im Hinblick darauf, was ein Ensemble ist.

TEC21: Wie haben Sie es geschafft, sich auf diese Präsentation zu einigen? Haben Sie sich von Anfang an auf das Referenzbild «La Città Analoga» von Cantafora bezogen?

AF: Zunächst wollten wir eine gemeinsame Collage machen, sind aber damit gescheitert: Das geht einfach nicht, wenn man verschiedene Positionen vertritt. Darum ist das Fresko dreigeteilt: Jedes Büro hat eine Wand mit einer Collage seiner Bauten gestaltet. Wenn man die drei Bilder jetzt als Einheit liest, ist es das schönste Kompliment, das man uns machen kann! Offenbar sind die verschiedenen Visionen kompatibel.

MŠ: Es gab die Option, einen Comicstrip machen zu lassen. Wir hatten Kontakt mit Zürcher Zeichnern, u.a. mit Andreas Gefe. Er hätte das Unifizierende herstellen können, aber bei der Umsetzung seine eigene Handschrift auf die Collage übertragen. Dies hätte den Schwerpunkt auf ausserarchitektonische Massnahmen und Objekte wie Bäume verlagert, und die Architektur, die wir eigentlich abbilden wollten, wäre auf der Strecke geblieben. Wir wollten kein Kunstwerk schaffen, sondern das Ensemble in den Vordergrund stellen.

TEC21: Welche anderen Darstellungsformen haben Sie noch diskutiert?

MŠ: Es gab die Idee einer «russischen Hängung»[3], und auch die Technik der «Frottage» haben wir verfolgt. Schliesslich kamen wir auf das Verfahren mit der Fotoemulsion. Technisch war es ein Risiko, weil es bisher fast nur kleinformatige Versuche mit diesem Verfahren gegeben hat, maximal ein auf zwei Meter. Einige Künstler hatten in den 1970er-Jahren zwar grössere Formate ausprobiert, allerdings waren die Arbeiten damals häufig als Performance angelegt. Die Bilder wurden nicht fixiert, sondern sollten im Laufe der Ausstellung verblassen. Die technische Machbarkeit unserer Idee war daher nicht gesichert, wir haben mehr oder weniger alles auf eine Karte gesetzt.

TEC21: Wie wurde das Fresko dann tatsächlich ausgeführt?

MŠ: Zunächst mussten wir den Raum vollständig abdunkeln. Anschliessend wurde die Emulsion auf die Wand aufgetragen und mit Unterstützung von Klimaanlagen getrocknet. Danach konnten wir belichten. Parallel arbeiteten wir an den Vorlagen für die Projektion über Dia. Die Schärfe der Darstellung war teilweise nicht ausreichend, sie sollte bei ca. 600 dpi liegen. Als wir mit der Belichtung anfingen, kamen neue Schwierigkeiten hinzu. Zuvor hatte hier der Künstler Thomas Hirschhorn[4] ausgestellt. Er hatte den Pavillon völlig verkleidet und mit einem Kleber auf die Bodenplatten und an die Säulen und Wände mit Klebeband diverse Materialien und Objekte geklebt. Als wir die Fotoemulsion auftrugen, gab es punktuell unkontrollierte chemische Reaktionen, und die Bilder wurden unscharf. Also haben wir das ganze Spiel noch einmal wiederholt, die Wand zwischendurch gereinigt und neu verputzt. Inzwischen war es Mitte Juli, und hier in Venedig wurde es tagsüber 32 °C warm …

AF: Anstelle von drei Wochen haben die Arbeiten sechs Wochen gedauert. Am Ende hatte das Ganze die Dimension von Raffaels Werkstatt …

MŠ: Die Realisierung der Fotoemulsion verdanken wir dem deutschen Fotografen und Künstler Michael Zirn und seinem Team. Wir hatten angesichts der technischen Schwierigkeiten schon aufgegeben, als sich einer von Zirns Mitarbeitern an ein fotochemisches Rezept erinnerte: Man bringt Harnsäure auf, die anschliessend mit Salzsäure abgewaschen wird. Das haben wir gemacht. Die Arbeiter trugen Gasmasken – bei der Hitze wahrlich keine idealen Arbeitsbedingungen. Eine Woche vor der Eröffnung waren wir über den Berg. Zwischendurch haben wir alle ein bisschen die Nerven verloren und dachten: Hätten wir doch die Wände tapeziert ... Aber es wäre nicht dasselbe gewesen. Im deutschen Pavillon sind die Bilder auf die Wände geklebt; das sind aber Fotografien, die als solche wirken können und sollen. Bei unserer Collage ist es wichtig, dass der einzelne Pinselstrich vom Auftragen der Emulsion sichtbar bleibt. Dieser handwerkliche Aspekt und die Verfremdung durch das Belichtungsverfahren machen das Fresko zu dem, was es ist. Eine Verfremdung mit Photoshop haben wir übrigens auch getestet, aber als zu direkt verworfen.

QM: Die Kontrastveränderung, der Prozess hat den Bildern einen weiteren vereinheitlichenden Filter übergelegt. Was von der Sache her auch Sinn ergibt: Wir arbeiten alle mit dem Material und dem Detail. Es ist eine Arbeit, die für diesen Moment und für diese Wände gemacht ist, und das verleiht ihr ihren Charakter. Was ich noch ergänzen wollte: Wir sind sehr unterschiedlich, und das sieht man den Bildern auch an. Dass die Zusammenarbeit trotzdem so gut funktioniert hat, liegt daran, dass wir uns als Kollegen respektieren. Bei aller Unterschiedlichkeit sind wir passioniert für ähnliche Vorstellungen.

MŠ: Die anderen zwei Räume sind begleitend: der Lesetisch und unsere Referenzwand. Die fasziniert das Publikum am meisten, insbesondere die deutschen Kollegen, was mich doch überrascht, weil wir seit Jahren mit Referenzbildern arbeiten. Auch von meinen Studierenden verlange ich, dass sie mir ihre Referenzen immer wieder zeigen.

KK: Wir verständigen uns über unsere Referenzen. Wir sagen: «Weisst du, wie bei dem und dem Bau …» Wenn man das Bild hat, die Referenz, hat man die Richtung. Und bei den Deutschschweizer Architekten sind wir bei Weitem nicht die Einzigen, die so arbeiten.

MŠ: Das vierte Element unserer Ausstellung neben Fresko, Referenzen und Lesetisch – vielleicht die wichtigste Komponente – ist der Pavillon von Bruno Giacometti. Was er für eine Kraft hat, haben wir erst im Lauf der Zeit realisiert. Wir wollten, dass man die Räume wahrnehmen kann, den Bezug zwischen innen und aussen spürt.


Anmerkungen:
[01] Joseph Gandy (1771–1843) war englischer Architekt, Theoretiker und Maler, vor allem bekannt für seine imaginierenden Bilder der architektonischen Entwürfe von Sir John Soanes
[02] Auguste Perret war der hauptverantwortliche Stadtplaner für den Wiederaufbau von Le Havre nach dem Zweiten Weltkrieg
[03] Die «russische Hängung», auch «Petersburger Hängung», bezeichnet eine enge Reihung von Bildern. Sie wird benannt nach der Hängung der Gemälde in der Eremitage
[04] Thomas Hirschhorn, «Crystal of Resistance», Swiss Pavilion, Venice Biennale, Venice, Italy, 2011

And now the Ensemble! Ebenfalls unter dem Titel «And now the Ensemble!» ist eine Publikation erschienen mit Beiträgen u.a. von Adam Caruso, Vittorio Magnago Lampugnani, Quintus Miller und Miroslav Šik. Sie möchte dazu auffordern, Stadtplanung als dynamischen, kollektiven Prozess zu begreifen und zu gestalten: Miroslav Šik, Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, And now the Ensemble!, Zürich 2012

TEC21, Fr., 2012.10.12



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2012|42-43 13. Architekturbiennale

24. August 2012Tina Cieslik
Andrea Wiegelmann
TEC21

Pflegekonzepte in Zürich und Dietikon

Der Anteil der über 80-Jährigen in unserer Gesellschaft steigt und mit ihm die Zahl der Personen, die in unterschiedlichen Formen Unterstützung und Pflege zur Bewältigung ihres Alltags benötigen. Die beiden Städte Zürich und Dietikon haben in den letzten Jahren ihr Angebot an Pflegeeinrichtungen analysiert und bestehende Pflegeheime instand gesetzt bzw. Neubauten errichtet. Auch wenn sich die Rahmenbedingungen unterscheiden – bei Besuchen des Pflegezentrums Bombach in Zürich Höngg und des Pflegeheims Ruggacker in Dietikon fällt auf, dass die Steigerung der Aufenthaltsqualität für Bewohner und Personal bei der Gestaltung der Häuser eine zentrale Rolle spielt.

Der Anteil der über 80-Jährigen in unserer Gesellschaft steigt und mit ihm die Zahl der Personen, die in unterschiedlichen Formen Unterstützung und Pflege zur Bewältigung ihres Alltags benötigen. Die beiden Städte Zürich und Dietikon haben in den letzten Jahren ihr Angebot an Pflegeeinrichtungen analysiert und bestehende Pflegeheime instand gesetzt bzw. Neubauten errichtet. Auch wenn sich die Rahmenbedingungen unterscheiden – bei Besuchen des Pflegezentrums Bombach in Zürich Höngg und des Pflegeheims Ruggacker in Dietikon fällt auf, dass die Steigerung der Aufenthaltsqualität für Bewohner und Personal bei der Gestaltung der Häuser eine zentrale Rolle spielt.

Weitläufige Eingangsbereiche, Blickbezüge in den Gebäuden und in die Umgebung, eine sorgfältige Detaillierung und Materialwahl zitieren in Zürich Höngg wie in Dietikon eher grosszügige Wohnanlagen denn Pflegeeinrichtungen. Es ist offensichtlich, dass sich der Anspruch an diese Häuser in den letzten Jahren gewandelt hat. Bewegungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten der Bewohnerinnen und Bewohner werden aktiv gefördert, die Selbstständigkeit jedes Einzelnen durch Therapien unterstützt. Die sogenannte Aktivierung, die Unterstützung und Förderung von Beweglichkeit und Aktivität, spielt eine zentrale Rolle. Auch das Leben auf den Abteilungen, mit Zimmernachbarn und Pflegern ist gestärkt. Statt Mehrbettzimmern bestimmen heute Ein- und Zweibettzimmer die Wohnetagen. Eigene Demenzabteilungen ergänzen das Programm. Beim Pflegezentrum Bombach in Zürich und beim Pflegeheim Ruggacker in Dietikon, beides Instandsetzungen, mussten bestehende Strukturen, entstanden aus Pflegekonzepten der 1960er-Jahre, an diesen Anforderungskatalog angepasst werden.

Während die Stadt Zürich für den Neubau wie die Instandsetzung ihrer Pflegeeinrichtungen einen Richtlinienkatalog[1], basierend aus den Erfahrungen mit den bestehenden Anlagen, erarbeitet hat, entwickelte Dietikon mithilfe externer Berater die erforderlichen Vorgaben für die Planung. Beide Städte reagieren damit auf die vorhandene Nachfrage, wenn auch die Voraussetzungen andere sind: Zürich möchte das Angebot an Pflegeeinrichtungen auf dem aktuellen Stand halten – der Anteil an über 80-Jährigen an der Gesamtbevölkerung wird nicht weiter steigen (vgl. Kasten S. 27) –, für Dietikon ist der Ausbau des Angebots auch Standortmarketing, da die Stadt in den nächsten Jahren von einer Zunahme der über 80-Jährigen ausgeht.

Grandezza in Bombach

Das Pflegezentrum Bombach, 1965 nach den Plänen der Architekten Josef Schütz und Hans von Meyenburg erbaut, liegt am Westrand von Zürich Höngg auf einer Geländeterrasse mit Aussicht über die Stadt. Über dem dreigeschossigen Sockel, auf zwei Untergeschosse folgt das freie Erdgeschoss, erhebt sich das siebenstöckige Bettenhaus, das mit einem zurückgesetzten Dachgeschoss abschliesst.

Den Besucher empfängt das instand gesetzte und im April 2012 wiedereröffnete Pflegezentrum mit einem grosszügigen offenen Erdgeschoss, das die parkartige Umgebung in das Gebäude hineinzieht. Das Nussbaumholz der Möbeleinbauten und die grossen Leuchten bestimmen den Raum. Die Offenheit, der Blick durch die geschosshohe Verglasung, die Kombination von warmen Holztönen und Steinböden entsprechen nicht im mindesten den Bildern, die beim Stichwort «Pflegeheim» im Kopf entstehen. Das verantwortliche Zürcher Büro Niedermann Sigg Schwendener nutzte die Möglichkeiten der Tragstruktur und schuf grosszügige, helle Räume.

Im Zuge der Instandsetzung wurde das Gebäude weitestgehend entkernt. Für die Anpassung der Grundrisse waren die Vorgaben des «Masterplans Bauten»[2] der Pflegezentren der Stadt Zürich ausschlaggebend. Darin enthalten sind Empfehlungen wie etwa die Zuordnung der Nasszellen zu den Zimmern oder die Anordnung von Aufenthaltsbereichen in jeder Abteilung. In Bombach sind eine Pflegeabteilung für Personen mit Sehbehinderung – erstmalig bei den Stadtzürcher Pflegezentren –, zwei Demenzabteilungen sowie eine Abteilung für geistig aktive (kognitiv intakte) Menschen integriert. Damit bietet das Pflegezentrum seinen Bewohnerinnen und Bewohnern eine auf die individuellen Bedürfnisse abgestimmte Pflege und zudem ein umfassendes Therapieprogramm. Ein Tageszentrum, das «Stöckli», nimmt demenzkranke Bewohnerinnen und Bewohner tageweise auf. Voraussichtlich 2016 wird ein separates Haus für Demenzpatienten die Anlage ergänzen.

Für diesen Anforderungskatalog mussten die Nutzungen im Erd- und Untergeschoss neu organisiert werden. Die Eingangshalle ist als Zentrum der Anlage gestärkt und beherbergt nun neben dem Empfangs- und Aufenthaltsbereich auch die Cafeteria. Die Untergeschosse nehmen den erweiterten Therapiebereich auf, ebenso die Küche, den Personal- und den Andachtsbereich. In den sieben Obergeschossen sind durch die Neuorganisation der Grundrisse Aufenthalts- und Essbereiche entstanden. Durch integrierte Wohnküchen kann den Bewohnern nun ein Frühstücksbuffet angeboten werden. Die Möglichkeit, mit den Nachbarn auf der Etage zu frühstücken, wird, so der Leiter des Pflegezentrums, Erwin Zehnder, sehr gut angenommen. Das gemeinsame Essen auf den Geschossen bekommt einen beinahe familiären Charakter, unterstützt durch die Tatsache, dass das Pflegepersonal in der Regel immer auf denselben Abteilungen arbeitet:

Auch bei der Gestaltung der Zimmer stand der Anspruch im Vordergrund, eine persönliche, wohnliche Atmosphäre zu schaffen. Die ehemaligen Mehrbettzimmer sind in Ein- und Zweibettzimmer mit direkt zugeordneten Nassräumen umgewandelt. Die Ausstattung ist zurückhaltend genug, um den persönlichen Möbeln und Einrichtungsobjekten der Bewohnerinnen und Bewohner Raum zu geben. Sie haben deutlich mehr Privatsphäre als zuvor. Grosszügige Panoramafenster bieten auch aus dem Bett Aussicht ins Tal. Schmale Lüftungsflügel versorgen die Zimmer mit Frischluft und helfen, in Kombination mit der Komfortlüftung, den typischen Krankenhausgeruch zu vermeiden. Auf den Fluren zitieren die Kunststeineinfassungen der Zimmertüren die Eingangssituation in ein Privathaus und schaffen eine intime Atmosphäre, vergleichbar mit einer engen Altstadtgasse. Dieses Bild unterstützen die im Vorbereich der Treppen und Aufzüge installierten Bänke ebenso wie die Ausbaumaterialien (Eichenholz und heller Kunststein). Die notwendige Funktionalität der Wohnbereiche, die dennoch alle Ansprüche an eine moderne Pflegestation erfüllen, drängt sich durch die Gestaltung und die Wahl der Materialien nicht auf.

Differenziertes Angebot in Dietikon

In Dietikon ähneln die Anforderungen an die Instandsetzung des Pflegeheims Ruggacker der Aufgabenstellung in Zürich. Die Verabschiedung des Altersleitbilds der Stadt Dietikon von 1996 (vgl. Kasten S. 27) erforderte einen Ausbau der Wohnmöglichkeiten für betagte Einwohnerinnen und Einwohner. Ziel der Stadt ist es, jedem Bewohner entsprechend seiner Möglichkeiten Unterstützung für diese Lebensphase zu bieten. Im Zug der notwendig gewordenen Instandsetzung des Pflegeheims – von Markus Dieterle 1966 errichtet – wurde in einem angegliederten Ersatzneubau daher auch ein selbstständiges Wohnangebot für Senioren geschaffen mit der Möglichkeit, ergänzende Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Verantwortliche Architekten sind, wie in Bombach, Niedermann Sigg Schwendener. Die Umsetzung in Dietikon war dabei komplexer als in Bombach: Für die Bewohner des Altbaus (Ruggacker 1) stand während der Zeit der Umbaumassnahme keine alternative Unterkunft zur Verfügung.[3] Daher wurde zunächst der Neubau errichtet, der zukünftig die Seniorenresidenz aufnehmen wird (Ruggacker 2) und die Bewohner aus dem Pflegeheim dorthin umgesiedelt. Gleichzeitig konnten so im Untergeschoss des Neubaus Lagerflächen, Garderobenräume und weitere Betriebsräume geschaffen werden, um den Alltagsbetrieb des Pflege- heims auch während der Bauphasen zu sichern. Auch die Errichtung des Zwischenbaus, der Speise- und Mehrzwecksaal aufnimmt, wurde in der ersten Etappe ausgeführt.

In einem zweiten Schritt wird momentan das Bestandsgebäude instand gesetzt. Der Neubau ist seit 2011 bezogen, der instand gesetzte Altbau wird Ende August 2012 fertiggestellt sein. Dann ziehen die Bewohnerinnen des Pflegeheims zurück, und der Neubau kann, nach einer erneuten Umbauphase, für das Alterswohnen genutzt werden.

Aufgrund der unterschiedlichen Nutzung verfolgten die Architekten von Beginn an das Konzept, zwei getrennte Gebäude zu realisieren, die über gemeinsam genutzte Bereiche verbunden sind: den Speisesaal, angeschlossen an die Empfangsbereiche, und die Verwaltungsräume beider Häuser in den Erd- und Untergeschossen.

Hohe Qualität im Rahmen des Möglichen

Die neu errichtete Altersresidenz besteht aus dem Gartengeschoss, drei dazwischenliegenden Vollgeschossen und dem zurückspringenden Dachgeschoss. Alle Wohnungen (vgl. Kas- ten S. 32) verfügen über Balkone oder Terrassen, die hinter den durchlaufenden, die Geschosse markierenden Brüstungen liegen. Die gestaffelte Grundrissstruktur fächert die Zimmer gegen Süden zum üppig begrünten Park auf. Die versetzte Anordnung rhythmisiert auch die Korridore, sich weitende und verengende Sequenzen erzeugen intimere und öffentlichere Räume (Abb. 11,12). Vor den Zimmern bilden sie private Zugangsbereiche. Jeweils am Anfang und Ende des Korridors liegen die Gemeinschaftsräume. Sie ermöglichen mittels innenliegender Verglasungen eine natürliche Belichtung der Erschliessungszone.

Der Bestandsbau liegt an der belebten Bremgartnerstrasse, zu der sich auch der Haupteingang orientiert. Die Instandsetzung sollte die Umwandlung der ursprünglichen Pflegezimmer zu grosszügigeren und kleineren Einheiten (Ein- und Zweibettzimmer) ermöglichen. Doch die strenge Schottenstruktur des Tragwerks stand einer umfassenden Neuorganisation der Grundrisse entgegen. Sie wurde weitestgehend übernommen, ebenso die Lage der Steigzonen. Die Pflegebereiche sind in den drei identischen Obergeschossen des bestehenden Gebäudes neu organisiert und werden durch ein zusätzliches Attikageschoss, das die Demenzabteilung aufnimmt, ergänzt. Die innere Organisation mit mittig angeordneten Korridoren ist beibehalten und jede Wohneinheit neu mit eigener Nasszelle ausgestattet. Die ehemaligen Balkone wurden den Zimmern zugeschlagen, um ausreichende Raumgrössen zu erhalten. Eine Vorgabe der Bauherrschaft, basierend auf einer – im Rahmen der Altersstrategie erstellten – Machbarkeitsstudie für die Instandsetzung. Um dennoch grösstmöglichen Aussenbezug zu gewährleisten, nutzten die Architekten Eichenholzfenster mit Öffnungsflügeln, die mit ihren niedrigen Brüstungszonen Blumenfenster zitieren und die Zimmer grosszügiger wirken lassen. Zudem ermöglichen sie, ergänzend zur integrierten kontrollierten Lüftung, eine individuelle Belüftung der Räume. Im Erdgeschoss des Pflegeheims nimmt der Gebäudeversprung den Zugang mit Empfang und anschliessender Cafeteria auf. Die grösszügige Öffnung des Geschosses zu Cafeteria und Aussenbereich wurde möglich, da mit der Instandsetzung die Waschküche ausgelagert und die frei gewordenen Flächen mit Infrastruktur und Küche belegt werden konnten. Wie beim Pflegezentrum Bombach versuchten die Architekten auch in Dietikon durch eine gute Versorgung mit Tageslicht in allen Bereichen sowie durch eine sorgfältige Material- und Farbwahl die Privatsphäre der Bewohnerinnen und Bewohner zu stärken und die Atmosphäre in den Geschossen wohnlich zu gestalten. Angesichts der Zwänge, die durch die vorgegebene Tragstruktur bestanden, ist das Ergebnis umso überzeugender.

Zwänge und Chancen

Die Städte Zürich und Dietikon agieren innerhalb völlig unterschiedlicher Rahmenbedingungen. Während Zürich mit seinen zehn Pflegezentren aus der Erfahrung der eigenen Heime lernen konnte, zog Dietikon eine externe Beratung hinzu. Trotz allen Unterschieden in Ausgangslage und Umsetzung gibt es auch Gemeinsamkeiten: Beide Städte setzen beim Wohn- und Pflegeangebot für das Alter auf eine umfangreiche Palette an Möglichkeiten, die den vielseitigen Lebensentwürfen unserer Gesellschaft Rechnung trägt. Der Umgang mit ihren Pflegeheimen zeigt exemplarisch, wie sich der Schwerpunkt vom «Pflegen» zum «Heim», sprich zum «Daheimsein», zum Wohnen verschiebt. Die gezeigten Beispiele lösen diesen Anspruch dank einer sorgfältigen und sinnlichen Gestaltung ein.


Anmerkungen:
[01] Masterplan Bauten der Städtischen Pflegezentren, Zürich; Informationen unter: www.stadt-zuerich.ch/gud/de/index/gesundheit/pflegezentren.html
[02] ebd.
[03] Während der Instandsetzung des Pflegezentrums Bombach konnten die Bewohner in das ehemalige Personalhaus des Stadtspitals Triemli umziehen, in dem für Umbauten dieser Art ein temporäres Pflegeheim eingerichtet wurde

TEC21, Fr., 2012.08.24



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2012|35 Gepflegt Wohnen

23. März 2012Tina Cieslik
Andrea Wiegelmann
TEC21

Gegen die Einsamkeit

Die Zahl älterer Menschen und deren Anteil an der Gesamtbevölkerung ­steigen – mit den Babyboomern, den geburtenstarken Jahrgängen nach dem Zweiten Weltkrieg, kommt eine Generation in die Nachberufsphase, die sich nicht nur durch ein hohes Einkommen und einen entsprechenden Lebensstandard auszeichnet, sondern in der Regel auch über eine bessere Gesundheit verfügt als noch die Generation ihrer Eltern. Diesen Menschen stellt sich die Frage nach dem künftigen Wohnmodell: Viele wünschen die Einbettung in eine Gemeinschaft, verbunden mit einem gewissen Komfort, der weiterhin ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht. TEC21 hat drei aktuelle und unterschiedliche Modelle für selbständiges Wohnen im Alter verglichen.

Die Zahl älterer Menschen und deren Anteil an der Gesamtbevölkerung ­steigen – mit den Babyboomern, den geburtenstarken Jahrgängen nach dem Zweiten Weltkrieg, kommt eine Generation in die Nachberufsphase, die sich nicht nur durch ein hohes Einkommen und einen entsprechenden Lebensstandard auszeichnet, sondern in der Regel auch über eine bessere Gesundheit verfügt als noch die Generation ihrer Eltern. Diesen Menschen stellt sich die Frage nach dem künftigen Wohnmodell: Viele wünschen die Einbettung in eine Gemeinschaft, verbunden mit einem gewissen Komfort, der weiterhin ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht. TEC21 hat drei aktuelle und unterschiedliche Modelle für selbständiges Wohnen im Alter verglichen.

«Wohnen im Alter» boomt. Unzählige Stiftungen und Genossenschaften bieten heute in der Schweiz ein umfangreiches Angebot für Lebensalter, die oft durch ein « » gekennzeichnet werden. Von «44 » bis «80 » bewerben Slogans unterschiedlichste Wohnkonzepte für ebenso verschiedenartige Menschen und Einkommensverhältnisse. Das Spektrum reicht von Siedlungen mit integriertem Dienstleistungsangebot über Wohnanlagen, die mittels ­kleinerer Grundrisse, schwellenloser Räume und variabel wählbarer Serviceleistungen an die Bedürfnisse der Menschen nach der Familienphase angepasst sind, bis hin zu individuellen Wohnkonzepten, die von den künftigen Bewohnerinnen und Bewohnern auch selbst umgesetzt werden. An den folgenden Beispielen lassen sich drei Kernthemen ablesen: ­Wie viel Komfort wird geboten? Wie ausgeprägt ist die Gemeinschaft? Und: Was kosten die jeweiligen Wohnformen?

Alterswohnen Dufourstrasse, Zürich

Der Standort im Seefeld-Quartier nahe am Zürichsee, inmitten von vier- bis fünfgeschossigen Wohnbauten aus der Gründerzeit, ist eine der schöneren Wohnlagen der Stadt Zürich. Man kann sich vorstellen, wie der achtgeschossige, T-förmige, monolithische Betonbau, den Karl Flatz 1967 entworfen hat, mit seinen nüchternen Fassaden im Quartier auffiel. Der Bau umfasste seinerzeit 83 Kleinwohnungen, vorwiegend Einzimmerwohnungen ohne Bad und Balkon, und spiegelt die damaligen Vorstellungen und Ansprüche von Alterswohnen. Auch gut 40 Jahre später fällt die Alterssiedlung auf: Die einst strenge Sichtbetonfassade ist hinter dem lebhaften Spiel ihrer neuen Hülle verschwunden. Vor die Fassade gehängte ­Balkone mit metallenen Brüstungen prägen mit ihren weissen Sonnenschutzsegeln und gelben Vorhängen das Bild (Abb. 4). Das neue Kleid ist Ergebnis einer grundlegenden Instandsetzung, die mit einem vollständigen Umbau der Wohnungen einherging.

Die Bauherrin, die Stiftung Alterswohnungen der Stadt Zürich (SAW), ist Vermieterin von ­momentan 32 Alterssiedlungen im Stadtgebiet.[1] Ihre Gründung 1950 war eine Antwort auf die sozialen und politischen Entwicklungen in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Das rasche Wachstum der Städte führte zu Wohnungsnot vor allem in den unteren sozialen Schichten und bei den älteren Menschen. Die Stiftung bietet in Zürich lebenden Menschen über 60 Jahre vergleichsweise günstigen Wohnraum (vgl. Kasten S. 28), d.h. preiswerte Wohnungen innerhalb der Wohnbauförderung, sofern deren Jahreseinkommen gewisse Grenzen nicht übersteigt – 50600 Fr. für Einzelpersonen, 59700 Fr. für Zweipersonenhaus­halte. Ihre Mieterinnen und Mieter sollen so lange wie möglich selbstbestimmt in der eigenen Wohnung leben können und werden dabei durch ein umfangreiches Dienstleistungsangebot unterstützt.

Um die Alterssiedlung Dufourstrasse an zeitgemässe Bedürfnisse der Bewohner und Bewohnerinnen anzupassen und gleichzeitig dem Auftrag der Stiftung, für Menschen mit niedrigem Einkommen zu bauen, gerecht zu werden, entschied man sich für eine Instandsetzung. Dafür wurde 2007 ein Planerwahlverfahren durchgeführt, in dem die Zürcher Architekten Schneider Studer Primas mit ihrem Konzept für die Neuorganisation der Wohnungen sowie einer sorgfältigen, aber reduzierten Materialisierung innen wie aussen überzeugen konnten. Dabei kam dem Projekt zugute, dass die Bauträgerin Wert auf einen eigenständigen Charakter ihrer Bauten legte. So war es trotz dem begrenzten Budget möglich, die grosszügigen, versetzt angeordneten Balkone zu realisieren. Sie erlauben den Bewohnerinnen und Bewohnern den Kontakt zu den Nachbarn über die Stockwerke hinweg. Während die bewegte ­Fassade die Instandsetzung nach aussen sichtbar macht, entstanden im Inneren durch die Zusammenlegung der alten Wohneinheiten 51 Eineinhalb- bis Dreizimmerwohnungen mit unterschiedlichen Grundrissen, eigenem Bad und Balkon. Die Wohnflächen reichen von 46 m² (eineinhalb Zimmer) bis 70 m² (drei Zimmer). Alle Wohnungen sind über das zentrale Treppenhaus und zum Teil über die dort anschliessenden Laubengänge erschlossen.

Die Besonderheit des Gebäudes, die durch den T-förmigen Grundriss gegebene gute ­Belichtung aller Wohnungen, haben die Architekten für die Neuorganisation der Grundrisse genutzt. Bäder und Küchen sind neu eingebaut, grosszügige Verglasungen öffnen die Wohnungen nach aussen. Auf Flurzonen wurde weitestgehend verzichtet. Das Entrée bildet die Küchen mit einem Essbereich, ein Einbauschrank bietet zusätzliche Stauflächen. Die Bäder sind geräumig und mit schwellenfreien Duschen ausgestattet, die Armaturen sind alters­gerecht angebracht, auf «Behindertenarmaturen» hat man bewusst verzichtet. Neben dem grosszügigen Foyer im Erdgeschoss liegt ein Gemeinschaftsraum mit Küche, der den Bewohnerinnen und Bewohnern zur Verfügung steht – etwa für Geburtstagsfeiern – und auch für öffentliche Veranstaltungen genutzt wird. Auf der Eingangsebene liegen zudem das Spitex-Büro und die Sammelstelle des Wäscheservice. Die Dachterrasse im 7. Obergeschoss steht dagegen ausschliesslich den Mieterinnen und Mietern zur Verfügung. Hier befindet sich auch das Wohlfühlbad, ein grosszügiges Badezimmer mit Seeblick-Badewanne. Die bereits vor der Instandsetzung im Erdgeschoss untergebrachte Kinderkrippe ist um die Fläche der ehemaligen Hauswartswohnung vergrössert worden. Sie verfügt über einen eigenen Eingang und Garten – organisierte Interaktion zwischen den Generationen ist nicht vorgesehen. Das Wohnen mit Serviceleistungen bietet Unterstützung und Komfort, geht jedoch über ein nachbarschaftliches Verhältnis der Bewohner untereinander nicht hinaus. Es erlaubt den Mieterinnen und Mietern ganz im Sinn der Stiftung so lange wie möglich das selbständige Wohnen.

Gemeinschaftswohnen «Am Hof Köniz»

2006 lobte die Gemeinde Köniz einen Projekt- und Investorenwettbewerb für ein Grundstück im Dorfzentrum der Gemeinde Köniz aus. In Gehweite zu Bahnhof und Einkaufszentrum und mit Aussicht auf das Könizer Schloss gelegen, sollten auf dem Areal «Alte ­Migros» Wohnungen, insbesondere für Menschen in der ­zweiten Lebenshälfte, entstehen. Den Zuschlag erhielt die Arbeitsgemeinschaft aus Durrer Linggi Architekten, Zürich, und BEM Architekten, Baden, in Zusammenarbeit mit der Walliseller Genossenschaft Zukunftswohnen (vgl. Kasten S. 30). Die 2008 gegründete Genossenschaft entwickelt mit Interessengruppen, Gemeinden und Investoren Wohnangebote für Menschen in der zweiten Lebenshälfte. Der Fokus liegt dabei auf selbständigem, gemeinschaftlich organisiertem Wohnen – im Gegensatz zum Alleinwohnen oder zum betreuten Wohnen. Gemeinsam mit den Bewohnerinnen und Bewohnern werden die Regeln des Zusammenlebens entwickelt, die Genossenschaft übernimmt zudem administrative Aufgaben wie die Vermietung der Flächen oder die Koordination mit dem Hauswart. Die Mieter und Mieterinnen sollen sich – auf freiwilliger Basis – in Arbeitsgruppen für die Gemeinschaft engagieren, geschätzt wird ein Beitrag von zwei bis vier Wochenstunden. Betreiberin der Anlage in Köniz ist die eigens gegründete Genossenschaft «Am Hof Köniz», die Genossenschaft «Zukunftswohnen» ist darin ebenfalls vertreten.[3]

Von April 2010 bis Oktober 2011 realisierten die Architekten gemeinsam mit der Bau­unternehmung Losinger Marazzi, die inzwischen auf Druck der Investorin, der Gebäudeversicherung Bern, als ausführende Totalunternehmung zum Projekt gestossen war, einen viergeschossigen Zeilen- und einen fünfgeschossigen Punktbau, die zwischen den Gleisen der viermal stündlich verkehrenden Regionalbahn und der Durchgangsstrasse Richtung Niederwangen platziert sind. Ein Knick im Zeilenbau markiert die zentrale Erschliessung, im Erdgeschoss befindet sich an dieser Stelle der Gemeinschaftsraum der Siedlung. Südostseitig liegt der durch die Gleise und die Neubauten gebildete namensgebende Hof der Anlage, der rautenförmige Punktbau schirmt den Garten vom Strassenlärm ab. Die Erdgeschosse beider Bauten werden öffentlich genutzt, hier befinden sich u.a. ein Coiffeur, ein Kiosk, ein Optiker, ein Claro-Weltladen und eine Dépendance der Spitex.

Beide Bauten gleichen sich in der Fassade, im Wohnungsangebot hingegen unterscheiden sich die Volumen: Während im Zeilenbau in den drei Obergeschossen 33 Ein- bis Dreizimmerwohnungen (42.5–78.5 m²) mit einer Laubengangerschliessung untergebracht sind, befinden sich im fünfgeschossigen Punktbau 16 windmühlenartig um einen Erschliessungskern gruppierte Dreizimmerwohnungen mit einer Fläche von 80–86 m².

Die Wohnungen des Zeilenbaus sind jeweils von zwei Seiten belichtet, über die versetzte Anordnung der eingeschobenen Kerne aus Reduits und Nasszellen ergibt sich in den Haupt­räumen eine Zonierung, die eine Staffelung von den öffentlichen Bereichen am Laubengang (Küchen / Essbereiche) zu den privateren auf der Südostseite erlaubt. Diese Anordnung soll Begegnungen ermöglichen und so die Erschliessungszone aufwerten. Grosszügige, zum Hof orientierte Loggien bieten einen geschützten Aussenraum. Im Inneren weisen lediglich die schwellenlosen Nassräume auf die spezielle Nutzung hin: Statt eines Spiegelschranks über dem Lavabo wurden Schränke eingebaut, die auch für Rollstuhlfahrer benutzbar sind. Ein Badezimmer mit Badewanne (mit Einstieg) kann zusätzlich von allen Mieterinnen und Mietern genutzt werden. Daneben sind gewisse Leistungen wie die Gebäudereinigung und der Unterhalt der gebäudetechnischen Anlagen extern vergeben. Auf der sozialen Ebene begleitet die Verwaltung mit der Genossenschaft «Zukunftswohnen» die Bewohner und Bewohnerinnen mit einem Coaching. Arbeitsgruppen, etwa zur Betreuung einer Bibliothek oder des Gartens, sollen die Bindungen der Mieterinnen und Mieter untereinander stärken. Noch sucht die Genossenschaft «Am Hof» ihre Identität – was neben dem Neubezug vor allem durch das Wegfallen der im Wettbewerb noch vorgesehenen Gemeinschaftsflächen behindert wird. Der geplante Fitness- und Wellnessbereich musste auf Wunsch der Totalunternehmung weichen – stattdessen sind nun Aussenfitnessgeräte für den Garten in Planung. Der finanziellen Optimierung konnte lediglich ein für ­Bewohner und ­Bewohnerinnen mietbares Gästezimmer im 1. Obergeschoss und ein redimensionierter Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss entgehen. Inwieweit die Mieterinnen und Mieter tatsächlich am genossenschaftlichen Miteinander interessiert sind, bleibt zu diesem Zeitpunkt – sechs Monate nach Bezug – offen.

Gemeinschaftswohnen Winterthur-Seen

Der Neubau mit seiner Fassade aus blau gestrichenen, horizontalen Holzlamellen liegt ­etwas zurückversetzt an der Kanzleistrasse in einem Wohnquartier nahe der S-Bahn-Station von Winterthur-Seen. Die über die Gebäudeecken gebogenen Lamellen markieren in den ­Brüstungsbereichen als umlaufende Bänder die Geschosse, dazwischen sitzen die weissen Fensterrahmen der grosszügigen Öffnungen. Auf der Gartenseite ergibt sich ein ganz ­anderes Bild des Wohnbaus: Die Lamellen öffnen sich im Brüstungsbereich der über die Geschosse durchlaufenden Balkonzone – die raumhohe Befensterung ermöglicht auch bettlägerigen Personen den Blick ins Freie. Im Erdgeschoss liegt eine ausladende Holz­terrasse, die in den Garten führt. Die offenen Balkone und Terrassen wecken in Verbindung mit der blau gestrichenen Fassade Assoziationen an skandinavische Wohnbauten. Die ­Balkonzonen werden durch Rücksprünge des sich in die Tiefe staffelnden Grundrisses ­zoniert, ohne dass eine Trennung zwischen den einzelnen Wohnungen erforderlich wird. Diese Idee spiegelt das Wohnkonzept: Wer möchte, kann an der Gemeinschaft teilhaben – wer für sich sein möchte, kann sich zurückziehen.

Als private Initiative wurde 2007 der Hausverein Kanzlei-Seen gegründet, der sich auf der ­Suche nach einem geeignetem Objekt für ein Wohnkonzept, das den Gemeinschaftsgedanken betont, an die Winterthurer Genossenschaft GESEWO wandte. Die 1984 gegründete ­gemeinnützige Wohnungsbaugenossenschaft bietet ihren Mitgliedern die Möglichkeit des selbstbestimmten Wohnens in der Gemeinschaft.[4] Sie stellt für unterschiedliche Nutzer­gruppen Wohn- und Gewerberaum zur Verfügung. Die Bewohner und Bewohnerinnen ­organisieren sich in Hausvereinen selbst, und die Genossenschaft unterstützt diese bei der Verwaltung der Liegenschaften. Der Hausverein ist für die Auswahl neuer Mieterinnen und Mieter und den Gebäudeunterhalt verantwortlich und definiert auch die Notwendigkeit von Erneuerungs- und Renovationsarbeiten für die jeweilige Liegenschaft. In vom Hausverein ­organisierten Sitzungen werden die Hausregeln, das Budget, anstehende Unterhaltsarbeiten, die Nutzung der gemeinschaftlichen Anlagen besprochen. Je nach Bedarf kommen Vertreter der Genossenschaft hinzu.

Bei seinem Vorhaben kam dem damaligen Hausverein der Zufall zu Hilfe. Auch die Genossenschaft überlegte zu diesem Zeitpunkt, ein Projekt zu realisieren, das in Bezug auf das gemeinschaftliche Wohnen über die gängigen Konzepte hinausgeht. In Folge wurde für das aus zwei Parzellen zusammengelegte Grundstück an der Kanzleistrasse ein Studienauftrag ausgeschrieben. Die Zürcher Architekten Haerle Hubacher überzeugten mit ihrem Konzept eines Gemeinschaftswohnhauses (vgl. TEC21, 14/2008). Zentrale Idee, die sich in der Grundrissorganisation ablesen lässt, ist die Anordnung von kleineren privaten Wohneinheiten um grosszügige gemeinsam genutzte Räume (Abb. 18–19; vgl. auch TEC21, 7/2011).

Das im Dezember 2010 fertiggestellte Wohnhaus beherbergt 16 Wohneinheiten von 38 bis 67 m² auf vier Geschossen, dazu kommen gut 400 m² für gemeinsame Nutzungen, die im ganzen Haus durch den Bodenbelag aus rotem Linoleum gekennzeichnet sind. Den grössten Anteil davon nehmen die Flächen im Erdgeschoss ein. Über den Haupteingang gelangt man in einen offenen Flurbereich und blickt direkt auf den grossen, zur Terrasse ausgerichteten Gemeinschaftsraum. Der Raum wird genutzt – täglich, nicht nur bei Veranstaltungen, wie es bei grösseren Anlagen oft der Fall ist. Die Küche bietet genug Platz zum gemeinschaftlichen Kochen, zu dem sich die Bewohner regelmässig verabreden. Im Erdgeschoss liegt auch ein Zimmer mit eigenem Bad, das Freunde und Verwandte auf Besuch nutzen können. Im ersten und zweiten Obergeschoss ist die Gemeinschaftsfläche eine grosszügige Erschliessungszone mit geräumigen Nischen zur Strassen- und Gartenseite. Die Bewohnerinnen und Bewohner haben sie unterschiedlich belegt und als Bibliothek, Bügelecke, Platz zum Musizieren oder PC-Arbeitsplatz eingerichtet. Im dritten Obergeschoss geht die Zone in einen grossen Gemeinschaftsraum mit Küchenzeile über, hier sollen künftig Veranstaltungen für das Quartier, wie zum Beispiel Lesungen, durchgeführt werden. Auf jeder Etage befinden sich Stauflächen für die einzelnen Wohnungen in einem Einbaumöbel.

Die offenen Gemeinschaftszonen geben den Bewohnern Raum für die Gestaltung privater Eingangssituationen. Diese Bereiche erinnern an die Gassen eines Altstadtquartiers, wo die individuellen Hauszugänge ganz ähnlich mit Blumen oder Bänken markiert sind. Alle ­Wohneinheiten sind mit eigener Küchenzeile und einem Bad mit schwellenloser Dusche ­ausgestattet und haben Zugang zu den zum Garten orientierten Balkonzeilen.

Die Bewohnerinnen und Bewohner an der Kanzleistrasse sind seit etwas mehr als einem Jahr in ihrem neuen Heim. Noch wird an den Definitionen der Flächen und den Nutzungen gearbeitet, doch schon jetzt zeigt sich, dass die Mieter Bereitschaft zeigen müssen, sich auf das Konzept einzulassen. Die Pflichten im Haus wie die gemeinschaftlichen Aktivitäten machen aus den 18 Mietern eine grosse Wohngemeinschaft – neben all den Vorteilen birgt das auch Konflikte.

Selbständigkeit hält fit

Die vorgestellten Beispiele verdeutlichen, dass es sich für zukünftige Mieter wie auch für Bauherrschaften und Planerinnen und Planer lohnt, über die Zielgruppen der einzelnen Projekte, deren Bedürfnisse und Möglichkeiten nachzudenken. Dass dieses Wissen die Architektur beeinflusst, zeigen die Beispiele in Winterthur und Köniz; umgekehrt wirkt sich diese auch auf das spätere Zusammenleben aus. Die Alterswohnungen in Zürich werden von den Bewohnerinnen angenommen. Trotz der Grösse gibt es im Haus eine gewachsene Nachbarschaft, die Nähe zulässt. In Köniz ­dagegen ist die gegenüber dem ursprünglichen Konzept veränderte Anlage deutlich un­persönlicher. Durch die reduzierten Gemeinschaftsflächen und die nur in der Minimalvariante umgesetzte Gestaltung des Gartens gibt es für die Bewohnerinnen und Bewohner weniger räumliche Berührungspunkte für einen zwanglosen Austausch. Zudem manifestiert sich in den Grundrissen des Punktbaus ein Grundproblem des Projekts: Für Alleinstehende oder Paare sind die Wohnungen zu gross und mit durchschnittlich über 2000 Fr. Miete auch zu teuer. Die kleineren und auf den ersten Blick etwas unkonventionelleren Wohnungen mit dem Z-förmigen Grundriss im Zeilenbau sind hingegen (fast) alle vermietet. Allerdings liegt der Altersdurchschnitt der Mieter und Mieterinnen mit 70 Jahren höher als ursprünglich anvisiert – ein Indiz, dass der Wechsel vom Familienwohnen zu kleineren Einheiten häufig erst nach der Pensionierung erfolgt und damit deutlich später als von den Investoren proklamiert.

Fast ein Mehrgenerationenhaus ist dagegen die Wohngemeinschaft in Winterthur: Mit einem Altersspektrum von 50 bis 90 Jahren und sowohl Berufstätigen als auch Paaren ist die Diversität innerhalb der 16 Parteien vergleichsweise hoch. Entscheidend ist hier der Gemeinschaftsaspekt: Die Selbstverwaltung und demokratische Entscheidungsfindung benötigt viel Zeit und ­Engagement. Doch der Aufwand scheint sich zu lohnen, die Bewohner und Bewohnerinnen haben das Haus in Besitz genommen.

Ein nicht zu unterschätzender Faktor bei der Wahl des individuellen Wohnmodells ist der ­finanzielle Aspekt: Einen Einkauf in eine Genossenschaft kann sich nur leisten, wer über das entsprechende Vermögen verfügt. Vor allem Frauen, die aufgrund der höheren Lebenserwartung (vgl. «Für eine selbständige zweite Lebenshälfte», S. 22) die Mehrheit der über 65-Jährigen stellen, haben aufgrund niedriger Renten oder nach einer Scheidung oft nicht die finanziellen Mittel, um ihre Wohnform tatsächlich selbstbestimmt wählen zu können.

Eine Bauherrschaft, die – wie bei der Alterssiedlung Dufourstrasse – auf diese begrenzten Möglichkeiten mit einem auch architektonisch überzeugenden Angebot reagiert, erweist sich in einer solchen Situation als Glücksfall.


Anmerkungen:
[01] Informationen: www.wohnenab60.ch
[02] Schweizerische Bauzeitung, 23/1926, S. 31
[03] Informationen: www.zukunftswohnen.ch
[04] Informationen: www.gesewo.ch

TEC21, Fr., 2012.03.23



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2012|13 Gemeinschaft im Alter

13. Januar 2012Andrea Wiegelmann
TEC21

Variation in Ton

Dass Ton in seiner ältesten Verwendungsform, gebunden im Baustoff Lehm, auch heute noch genutzt werden kann, belegen die Erweiterungsbauten der Schulanlage Gönhard in Aarau, die 2012 fertiggestellt werden. Boltshauser Architekten aus Zürich haben die äussere Schale der Baukörper als Trasskalkwände realisiert. Die Zugabe von Trasskalkmörtel verbessert die Eigenschaften des Lehms – ein Beispiel dafür, wie der Lehmbau weiterentwickelt wurde. Gleichzeitig spannt die Innengestaltung mit der Verwendung von Keramikfliesen den Bogen zu einer der feinsten Verarbeitungsvarianten von Ton. Die Neubauten zeigen die Vielfalt der Einsatzmöglichkeiten des Materials und sind zugleich Sinnbild für den wandelbaren Charakter der Wand.

Dass Ton in seiner ältesten Verwendungsform, gebunden im Baustoff Lehm, auch heute noch genutzt werden kann, belegen die Erweiterungsbauten der Schulanlage Gönhard in Aarau, die 2012 fertiggestellt werden. Boltshauser Architekten aus Zürich haben die äussere Schale der Baukörper als Trasskalkwände realisiert. Die Zugabe von Trasskalkmörtel verbessert die Eigenschaften des Lehms – ein Beispiel dafür, wie der Lehmbau weiterentwickelt wurde. Gleichzeitig spannt die Innengestaltung mit der Verwendung von Keramikfliesen den Bogen zu einer der feinsten Verarbeitungsvarianten von Ton. Die Neubauten zeigen die Vielfalt der Einsatzmöglichkeiten des Materials und sind zugleich Sinnbild für den wandelbaren Charakter der Wand.

Die Schulanlage Gönhard ist das grösste Primarschulhaus der Stadt Aarau. 1952 als Ensemble aus Pavillonbauten von Hans Hauri errichtet, gliedern die Baukörper Pausenhöfe und Grünbereiche und zeugen damit vom Geist ihrer Entstehungszeit. Die Stadt Aarau hatte 2006 infolge einer notwendig gewordenen Instandsetzung der heute denkmalgeschützten Schule sowie der Anpassung an veränderte Bedürfnisse im Schulbetrieb fünf Generalplanerteams beauftragt, Lösungsvorschläge nach einem vorgeschalteten Studienauftrag mit Präqualifikation zu erarbeiten. Das Konzept der siegreichen Zürcher Architekten überzeugte durch die schlüssige Zuordnung der unterschiedlichen Nutzungen, die sensible Positionierung der Neubauten, einen respektvollen Umgang mit den Altbauten sowie durch seine Wirtschaftlichkeit. Dabei wurde das Angebot in den bestehenden Klassentrakten und Lehrerbereichen durch Neuorganisation und die dadurch mögliche Bereitstellung zusätzlicher Räume verbessert. Zudem ergänzen eine neue, unterkellerte Aula, zwei eingeschossige Gruppenräume und zwei Pausenunterstände das Ensemble (Abb. 1). Die Baumassnahmen fanden bei laufendem Betrieb statt. Jeweils ein Klassentrakt wurde umgebaut, während der Unterricht in ein Provisorium auf dem Gelände ausgelagert war. Die Massnahmen erfolgten in enger Abstimmung mit der Denkmalpflege. Während die neuen Anbauten bereits fertig sind, wird die dritte Sanierungsetappe 2012 abgeschlossen. Sowohl die erneuerten bestehenden Bauten als auch die Erweiterungen erfüllen die Anforderungen des Minergiestandards.

Miteinander von Alt und Neu

Steht man vor der Schule, wird die Qualität der Ergänzungsbauten nachvollziehbar. Die Körper sind präzise platziert und ergänzen das bestehende Ensemble sinnfällig. Das Spiel zwischen Gebäuden und Freiräumen, die Gliederung der Aussenbereiche in eine Folge von Höfen und angrenzenden Grünflächen, wird durch die Neubauten gestärkt. Die Gruppenräume sind gelenkartig über schmale Flurbereiche an die Kopfenden der Klassentrakte angebunden und bilden den Abschluss der Pausenhöfe, während die unterkellerte Aula an der Stelle der ehemaligen, nicht mehr genutzten Hauswartwohnung direkt neben dem Hauptzugang liegt und diesen räumlich fasst (Abb. 2). Sie wird über die bestehende Eingangshalle erschlossen und bildet mit dem Verbindungstrakt und der Sporthalle einen rückwärtigen Hof. Die beiden Pausenunterstände stehen mit Abstand zu den Höfen und markieren die Übergänge zum angrenzenden Strassenraum (Abb. 3).

Die Gliederung der Fassaden ist eine Reaktion auf den Kontext und das Raumprogramm: Die dem Lernen gewidmeten Gruppenräume liegen mit geschlossenem Rücken zum Strassenraum. Sie betonen die konzentrierte Nutzung im Inneren und die Intimität der Höfe, zu denen sie sich mit einem grossen Fenster öffnen. Ausserdem schaffen sie Blickbezüge zu den Klassentrakten. Die Aula dagegen öffnet sich auch an der zur Strasse orientierten Längsseite mit grossformatigen Fenstern und stellt ihr Innenleben aus. Die bewusste Platzierung der Öffnungen ist eine Reaktion auf den baulichen Kontext. Die aus dem rechten Winkel geneigten Wände der Neubauten verweisen auf die Volumen des ehemaligen Singsaals sowie der Windfänge zwischen den Verbindungsbauten.

Trasskalkwände – Ausdruckskraft des rohen Materials

Die Fassaden der Gruppenräume und der Aula sind zweischalig, mit zwischen den Betonschalen liegender Dämmung ausgeführt. Die innere Schale besteht aus Stahlbeton, die äussere Schale aus 22cm starken Trasskalkelementen. In der Oberfläche der gestampften Wände zeichnen sich die schräg angeordneten Latten der Schalungselemente ab (Abb. 6). Die Wände (60–420cm×22cm×275cm) wurden im Werk produziert und jeweils in einem Stück hergestellt. Aufgrund des Gewichtes mussten sie jedoch für den Transport auf die Baustelle in Elemente mit einem maximalen Gewicht von 5.86t geteilt werden. Dazu wurden in die Schalung vertikale Metallbänder eingelegt, die nach dem Ausschalen als «Sollbruchstellen» die Teilung erlaubten. Die einzelnen Elemente wurden vor Ort wieder zusammengesetzt. Die horizontale Schichtung, die das lagenweise Verdichten durch das Stampfen erzeugt, bleibt so erhalten. Die aus der Herstellung bedingte Oberfläche wird damit zum Gestaltungselement. Einerseits unterstreicht das lebendige Material den massiven Eindruck der Wände, andererseits erzeugt seine beinahe stoffliche Wirkung eine Leichtigkeit, die mit den pavillonartigen Fassaden der Klassentrakte harmoniert. Das Nebeneinander von Trasskalkwänden, Putzflächen und hölzernen Brüstungen ist verblüffend selbstverständlich (Abb. 3).

Die Sorgfalt, die einst Hans Hauri in die Ausführung der Fassade legte, prägt auch die Ergänzungsbauten. Die Proportionen sind stimmig, die Details überlegt. So sind Sockel und Attika in Ortbeton ausgeführt und formulieren einen massiven Rahmen für die Trasskalkschalen, der die sich aufdrängende Analogie zu einem Vorhang noch betont. Gleichzeitig schaffen sie präzise Gebäudekanten, die die Plastizität der Volumen herausarbeiten. Auch die zu ihrem Fuss hin konisch zulaufenden Fertigteilstützen, die die Dachkonstruktion der Pausenunterstände und das Eingangsdach mittragen, erhalten allein durch diese Formgebung ihre Präsenz und der unter den Dächern entstehende Raum seinen Abschluss (Abb. 2 und 3).

Veredelter Ton – Aussen roh, Innen fein

Diese gewissenhafte Detaillierung setzt sich im Inneren fort. Die sorgfältige Materialisierung, die sich im Altbau findet, die Korridore mit den Natursteinböden und die holzverkleideten, in Teilen bemalten Decken, das grosse Wandmosaik in der Eingangshalle sowie die Mosaik- und Sgraffitoarbeiten an den Wänden der Flurbereiche zeugen von hoher gestalterischer Qualität (Abb. 8). Die Neubauten spiegeln diesen Anspruch wider. Während die beiden Gruppenräume entsprechend ihrer Nutzung zurückhaltend ausgestattet sind, übersetzt die Aula den Gestaltungsanspruch in eine zeitgemässe Ausführung.

Die Wände sind mit dreidimensionalen, ornamentalen Keramikfliesen verkleidet, die die Wandflächen zwischen den grossen Fensterelementen füllen. Die 25×25cm grossen Fliesen sind eigens für die Aula in Handarbeit angefertigt worden. Sie wurden vor Ort zu grösseren Wandelementen von 75 × 75 cm verklebt, anschliessend vor die Unterkonstruktion geklebt und stellenweise verschraubt (Abb. 4 und 7). Die dahinter durchschimmernden, rot gestrichenen Gipskartonplatten sind zur Verbesserung der Raumakustik entweder absorbierend (gelocht) oder schallhart (glatt) ausgeführt.

Auch im Bodenbelag finden sich Keramikfliesen, sie sind – versehen mit einem Blättermus-ter, das von den Schulkindern in Zusammenarbeit mit der Keramikkünstlerin Marta Rauch entwickelt wurde – im Estrich eingelegt. Das Muster steht aus den Platten hervor, die in vier Feldern im Bodenaufbau eingepasst sind. Die abschliessende Lehm-Kasein-Spachtelung lässt abgeschliffen von den Platten nur das Motiv sichtbar, das sich als dezentes Muster abzeichnet (Abb. 5). Die Lage der Platten gibt zudem Hinweis auf die Tragstruktur der frei spannenden Deckenkonstruktion. Die kreuzförmig diagonal durch den Raum laufenden Unterzüge gliedern den Raum und betonen dessen eigenen, durch die aus dem rechten Winkel gedrehten Wände entstehenden Charakter (Abb. 4 und 5).

Vielfalt des Materials

Gestaltfindung, Materialwahl und räumliche Disposition zeichnen die Ergänzungsbauten der Schulanlage Gönhard aus. Die feinen Keramikarbeiten in der Aula stellen den rauen, geschalten Oberflächen der Trasskalkelemente im Aussenbereich eine weitere Stufe der Materialverarbeitung zur Seite. Die Plastizität der Fassaden – die durch Tageslicht und Witterung bedingten Veränderungen der Oberflächen aussen wie die stoffliche Wirkung der Keramikarbeiten innen – geben dem Begriff «Wand» eine eigene Betonung. Die Elemente zeugen von der intensiven Auseinandersetzung mit den Eigenschaften, der Verarbeitung und den Einsatzmöglichkeiten von Ton. Um das Material so vielfältig anzuwenden, bedarf es der Neugier: Das Ausloten der Möglichkeiten ist dafür ebenso eine Voraussetzung wie die Kenntnis um die Eigenschaften des Baustoffs. Die Erweiterungsbauten in Aarau sind vor diesem Hintergrund auch ein Beispiel für die Kooperation zwischen dem Architekten Roger Boltshauser und dem Lehmbauspezialisten Martin Rauch.

TEC21, Fr., 2012.01.13



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2012|3-4 Wandlung

25. Juni 2009Andrea Wiegelmann
Bauwelt

materialarchiv.ch

Wo werden Alumoborosilikatgläser eingesetzt? Welche Farbe hat Hemlocktannenholz? Wie wärmeleitfähig ist Tuffstein? Antworten gibt eine Datenbank, in der vier Schweizer Institutionen ihre Materialbibliotheken vernetzt und somit ein kostenloses, von der Industrie unabhängiges Recherchewerkzeug geschaffen haben.

Wo werden Alumoborosilikatgläser eingesetzt? Welche Farbe hat Hemlocktannenholz? Wie wärmeleitfähig ist Tuffstein? Antworten gibt eine Datenbank, in der vier Schweizer Institutionen ihre Materialbibliotheken vernetzt und somit ein kostenloses, von der Industrie unabhängiges Recherchewerkzeug geschaffen haben.

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verknüpfte Zeitschriften
Bauwelt 2009|24 Le Grand Paris

24. Juli 2008Andrea Wiegelmann
Bauwelt

Dubai next. Ausstellung in Weil am Rhein

Dubai hat mit Bauten wie dem 320 Meter hohen Luxushotel „Burj Al Arab“ einen unvergleichlichen Tourismus-Boom initiiert und damit auch sein Image in der Weltöffentlichkeit geprägt. Dass solche Projekte auch die Frage nach der Bedeutung und der Tragfähig­keit der aus den Industrienationen importierten Architektur aufwerfen, ist spätestens mit der Bestands­aufnahme, die Rem Koolhaas auf der Biennale 2006 in Venedig präsentierte, deutlich geworden. Und sie wird angesichts der anhaltenden immensen Bautätigkeit in dem Scheichtum der Vereinigten Arabischen Emirate immer drängender. Nicht zuletzt deshalb, weil die Luxushotel-Oasen, Einkaufszentren und Frei­zeitparks allein der heimischen Elite, betuchten Geschäftsleuten aus dem Westen und zahlungskräftigen Touristen offen stehen, nicht aber dem über­wiegen­den Teil der Bevölkerung, der von Gastarbeitern aus Pakistan und Indien gebildet wird. Eines zeigt die Ausstellung „Dubai next“ im Vitra-Feuerwehrhaus in Weil am Rhein ganz unmissverständlich: Es gibt zwei Dubais, und die existieren neben- und nicht miteinander.

Dubai hat mit Bauten wie dem 320 Meter hohen Luxushotel „Burj Al Arab“ einen unvergleichlichen Tourismus-Boom initiiert und damit auch sein Image in der Weltöffentlichkeit geprägt. Dass solche Projekte auch die Frage nach der Bedeutung und der Tragfähig­keit der aus den Industrienationen importierten Architektur aufwerfen, ist spätestens mit der Bestands­aufnahme, die Rem Koolhaas auf der Biennale 2006 in Venedig präsentierte, deutlich geworden. Und sie wird angesichts der anhaltenden immensen Bautätigkeit in dem Scheichtum der Vereinigten Arabischen Emirate immer drängender. Nicht zuletzt deshalb, weil die Luxushotel-Oasen, Einkaufszentren und Frei­zeitparks allein der heimischen Elite, betuchten Geschäftsleuten aus dem Westen und zahlungskräftigen Touristen offen stehen, nicht aber dem über­wiegen­den Teil der Bevölkerung, der von Gastarbeitern aus Pakistan und Indien gebildet wird. Eines zeigt die Ausstellung „Dubai next“ im Vitra-Feuerwehrhaus in Weil am Rhein ganz unmissverständlich: Es gibt zwei Dubais, und die existieren neben- und nicht miteinander.

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verknüpfte Zeitschriften
Bauwelt 2008|28 Claude Laurens

23. Juni 2008Andrea Wiegelmann
TEC21

Sandwich mit Geschichte

Vieles verbindet die Disziplinen Kochen und Bauen: Der Einbau der neuen Mensa des Basler Kirschgarten-Gymnasiums in eine bislang wenig attraktive Wandelhalle des denkmalgeschützten Schulhauses von Hans Bernoulli zeigt, dass die Zutaten einfach sein können, wichtig sind der gekonnte Umgang und eine sorgfältige Verarbeitung. Die Architektur erinnert an eine trendige Kaffebar und lässt keine Assoziationen zu herkömmlichen Kantinenräumen aufkommen.

Vieles verbindet die Disziplinen Kochen und Bauen: Der Einbau der neuen Mensa des Basler Kirschgarten-Gymnasiums in eine bislang wenig attraktive Wandelhalle des denkmalgeschützten Schulhauses von Hans Bernoulli zeigt, dass die Zutaten einfach sein können, wichtig sind der gekonnte Umgang und eine sorgfältige Verarbeitung. Die Architektur erinnert an eine trendige Kaffebar und lässt keine Assoziationen zu herkömmlichen Kantinenräumen aufkommen.

Sandwiches, ob vom Bäcker oder von zu Hause mitgebracht, Obst und Schokolade, gegessen auf den Fluren, dem Pausenhof, manchmal im Klassenraum, zwischen den Stunden – alles keine Situationen, die wir uns zum Essen aussuchen. Im Kirschgarten- Gymnasium ist jetzt alles anders: Es gibt eine Mensa, deren grosszügige Glasfront sich zum Pausenhof öffnet und deren Sitzstufen zum Verweilen in der Sonne einladen. Der in hellen Tönen gehaltene Innenraum bildet einen zurückhaltenden Rahmen nicht nur während der Pausen.

Die neue Mensa

Das denkmalgeschützte Schulhaus, das die Basler Architekten Hans Bernoulli, Ernst Mumenthaler und Otto Meier im Jahr 1957 mit einer Fassade aus vorgefertigten Betonelementen errichteten, liegt zwischen der Basler Innenstadt und dem Schweizer Bahnhof in der Aeschenvorstadt. Die Versorgung mit Zwischenmahlzeiten vom Bäcker oder mit Fastfood ist also für die Schüler relativ einfach. Dennoch wurde mit der Verkürzung der Wochenschulzeit von sechs auf fünf Tage für das Kirschgarten-Gymnasium und die angrenzende De-Wette-Schule eine gemeinsame Mensa eingerichtet, um den Schülerinnen und Schülern eine nahe und gesunde Alternative zu bieten.

Nach dem Wunsch der Bauherrschaft sollte der Neubau nicht nur der Verpflegung dienen, sondern gleichzeitig einen Aufenthaltsbereich für die Schüler schaffen, da bisher ein entsprechendes Angebot fehlte. Auch der Pausenhof, der durch die drei Flügel des Schulbaus, die sich U-förmig um ihn legen, und die stirnseitig anschliessende Wandelhalle eingefasst ist, konnte dies nicht bieten. Neben einer ansprechenden Platzgestaltung fehlte es vor allem an Sitzgelegenheiten.

So lag es nahe, dass sich für die Architekten beim Neu- bzw. Umbau die Frage der Aufenthaltsqualität zu einem zentralen Thema ihres Entwurfs entwickelte. Es war ihnen wichtig, einen Ort zu schaffen, der Atmosphäre bietet und den die SchülerInnen für sich beanspruchen können – nicht nur, um Hausaufgaben zu erledigen, sondern gerade auch für ein zwangloses Zusammentreffen.

Auflage der Schulbehörde war, dass die Mensa für die Schüler beider Schulen gut zugänglich ist. So entschied man sich für den zentralen Standort in der Wandelhalle, die den Pausenhof zur Eingangsseite abschliesst, auch wenn damit kein Neubau möglich wurde. Stattdessen war die knifflige Aufgabe zu lösen, die Mensa in einen denkmalgeschützten Gebäudeteil zu integrieren, dessen Substanz nicht beschädigt werden durfte. Die Architekten machten aus der Not eine Tugend und nutzten die bestehende Tragstruktur aus Stahlbetonstützen als Ausgangspunkt für ihren Entwurf.

Der Ausbau - Das Arrangement

In der ehemaligen Wandelhalle spannt der reversible Einbau vom Boden zur Decke, ohne die rückwärtige Bestandswand zu tangieren. Die Innenverkleidung zieht sich in Bändern von der Rückwand bis zur verglasten Front, die den Raum zum Pausenhof öffnet. Die Bänder bilden aber nicht nur die Innenhülle, sie ziehen sich über die ganze Länge des Einbaus und strukturieren ihn. Gleichzeitig löst sich dieses Gestaltungselement von der vorhandenen Baustruktur und bildet im ersten und in den letzten drei Feldern zur bestehenden Betonwand Zwischenräume aus, in denen Windfang und Küche untergebracht sind. Aus den Bändern heraus entwickeln sich Sitzbänke, der Küchenblock sowie Ablageflächen – weitere Einbauten werden damit überflüssig. Zusätzlich sind Schallschutzelemente und Leuchten integriert, die das Gefüge mit einem eigenen Rhythmus überlagern.

Die Elemente sind in fünf Breiten eingebaut und bestehen aus unterschiedlichen Holzwerkstoffplatten: Während die Übergänge von Boden zu Wand bzw. Wand zu Decke durch Formholzteile mit Standardradien gestaltet sind, bestehen die geraden Wandelemente aus gespritzten MDF-Platten. Die Sitzbänke sind in Sperrholz ausgeführt, die perforierten Akustikelemente aus Tannenholz mit dahinter liegenden Holzfaserplatten.

Das Farbkonzept aus drei minimal unterschiedlichen Farbtönen wurde in Zusammenarbeit mit dem Künstler Gido Wiederkehr entwickelt: Ein warmgrauer Grundton wechselt mit zwei Aufhellungsstufen zwischen den Elementen. Die so changierende Wandverkleidung geht optisch fast übergangslos in den hellen Bodenbelag über, einen abgeschliffenen und versiegelten Anhydritmörtel. Auch die alten Betonstützen und -träger verschwinden hinter Aluminiumverkleidungen, die im gleichen Grundton gehalten sind.

Den farblichen Kontrapunkt zur hellen Umgebung bildet die dunkle Möblierung, die ebenfalls von den Architekten entworfen ist. Der Verzicht auf typisches Schulmobiliar unterstützt den eleganten Charakter der neue Mensa. Alle Möbel sind aus massivem, geräuchertem Akazienholz gefertigt und damit unempfindlich für Kratzer und robust gegenüber der ständigen Beanspruchung. Die Hocker mit ihren trapezförmigen Sitzflächen sind stapelbar, sie können sowohl einzeln benutzt als auch zu Bänken zusammengestellt werden. Bei Bedarf lassen sie sich unter den Tischen verstauen, die selbst klappbar sind. Den thermischen Raumabschluss zum Pausenhof bildet eine grossformatige Verglasung, die gleichzeitig innen und aussen miteinander verbindet. Sie leitet in eine Freitreppe über, die den Niveauunterschied zwischen Halle und Hof ausgleicht und den SchülerInnen Raum bietet für zwangloses Zusammentreffen, auch dann, wenn sie nicht zum Essen kommen. Um den Brunnen im Pausenhof haben die Architekten die alten Bänke aus der Wandelhalle gruppiert. Mit diesen simplen Massnahmen ist es ihnen gelungen, den Hof nicht nur zu fassen, sondern ihm darüber hinaus Aufenthaltsqualitäten zu geben.

Guter Geschmack

Bereits bei dem Projekt «Choco Loco», einer Schokoladenconfiserie am Spalenberg in Basel, haben die Architekten das Thema Genuss in Architektur übersetzt. Die Materialität des Ausbaus, die Farbigkeit, vor allem aber die Form bilden dort gleich einer exquisiten Pralinenverpackung den Rahmen für die Präsentation der süssen Köstlichkeiten. Auch die Mensa des Kirschgartengymnasiums entwickelt ein ganz eigenes Gesicht: Ebenso schlicht und unaufdringlich, wie sich die Architektur präsentiert, ist auch das Speisekonzept der Betreiber. Die Mensa ist während der Schulzeit von 9 bis 14 Uhr geöffnet. Ein Koch sorgt nun eigens für die immer frische Verköstigung der Schüler, die zwischen 11 und 14 Uhr mittagessen können. Um die 120 bis 150 Essen werden täglich zubereitet, warme Gerichte ebenso wie Salate. In der restlichen Zeit sind Snacks und Sandwiches sowie Getränke erhältlich. Ausserdem dürfen die Schüler auch ihre von zu Hause mitgebrachte Verpflegung in der Mensa konsumieren, nicht jedoch Produkte aus anderen Läden. Die Betreiber, Gastronomie Parterre, führen in Basel bereits zwei Restaurants, die für ihre gute Küche bekannt sind. Sie haben auch für die Mensa des Kirschgartengymnasiums entsprechende Ambitionen und setzen auf eine gesunde, frische Küche.

TEC21, Mo., 2008.06.23



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tec21 2008|26 Urban Essen

Profil

Andrea Wiegelmann publiziert zu Fragen des Städte- und des Wohnungsbaus sowie zu nachhaltigen Entwicklungen in Stadtplanung und Architektur.
Andrea Wiegelmann war Verlagsleiterin der Verlage niggli und BENTELI und der Zeitschrift archithese. Im Mai 2015 gründet sie gemeinsam mit Kerstin Forster den Triest Verlag in Zürich. Sie war zuständig für Kommunikation an der ArchitekturWerkstatt St.Gallen, hatte einen Lehrauftrag innen an der TU Kaiserslautern, Fachgebiet Stadt und Architektur und ist seit Herbst 2024 stellvertretende Studiengangleiterin Bachelor Architektur an der Hochschule für Technik und Architektur Freiburg. Sie ist Vorstandsmitglied im Architektur Forum Ostschweiz.

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