Editorial

Von Kybernetik zu Governance

1989 haben wir eine Sonderausgabe zu Otl Aicher publiziert. In 98 ARCH+ Otl Aicher: Entwurf der Moderne sind verschiedene, aus unterschiedlichen Bereichen stammende Aufsätze gesammelt sowie Projekte, die ihn als Architekten, Designer und Typographen vorstellen. Ein Aufsatz lag Aicher besonders am Herzen, der damals kaum Beachtung fand, uns jedoch heute im Kontext der Schrumpfungsdebatte wieder aktuell erscheint. Sein Titel lautet: Planung und Steuerung. In ihm plädiert Aicher für eine Alternative zu den Machbarkeitsphantasien und Planungsutopien der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Diese sieht er in den Möglichkeiten der Steuerung:
“auch wenn die neunmalklugen sagen werden, daß es diesen begriff immer schon gab, in seiner tragweite als welterklärung gibt es ihn erst seit dem zweiten weltkrieg, genauer seit den tagen von norbert wiener. damals hatten biologen, mathematiker, verhaltensforscher und physiker sich zusammengetan, um sich unter anderem gedanken zu machen, wie man ein flugabwehrgeschoß bauen kann, das sich selbst ins ziel lenkt, das sich selbst steuert. herausgekommen sind kleine technische modelle mit namen wie „maus“ oder „katze“, die selbstregulierung demonstrieren konnten. die kybernetik war geboren und mit ihr das zeitalter des computers. „kybernetik“ heißt wissenschaft von der steuerung, abgeleitet ist der begriff, den norbert wiener 1948 einführte, vom griechischen wort für steuermann.
kein schiff kann ohne steuer geradeaus fahren, kein auto kann ohne steuer seine richtung halten [...]. es bedarf der lenkung und steuerung je nach lage und fall. Und alles, so gut wie alles, existiert als lage, als sachlage, als fall. die welt ist weder geordnetes sein, noch mechanisches uhrwerk. sie ist in entwicklung, im fluß und muß ihre krafteinflüsse, ihre dynamik steuern, um ihre balance zu finden, ihren kurs zu halten.”

Mit dem Aufkommen des Neoliberalismus hat sich die Begeisterung für die Planung, richtiger für die Steuerbarkeit gesellschaftlicher Prozesse ernüchtert. Planungs- und Steuerungsmechanismen überlebten diesen Transformationsprozeß nur mehr als „Phantomschmerzen“, wie Rem Koolhaas in What Ever Happened to Urbanism sarkastisch anmerkt. Und momentan werden diese Schmerzen wieder besonders stark empfunden.

Denn die Planung erfährt gegenwärtig eine unerhoffte Renaissance. Aber diese Renaissance fußt nicht mehr auf kybernetischen Modellen, sondern auf der Debatte um die Einschätzung staatlicher Steuerungsformen in bezug zu den Selbststeuerungsmechanismen des Individuums. Diese Debatte wurde 1979 von Michel Foucault mit seiner berühmten Vorlesung Die Gouvernementalität angestoßen – eine Begriffsschöpfung aus Regieren (gouverner) und Denkweise (mentalité). In ihr entwickelt Foucault eine Genealogie des modernen Staates, dessen Spuren er von der griechischen Antike bis in seine zeitgenössischen neoliberalen Ausprägungen verfolgt. Damit ist die Grundlage gelegt für die aktuelle Debatte um Governance, mit der der Foucaultsche Ansatz der Gouvernementalität sich verbreitert hat und bis in die Planungsdiskussion auszustrahlen beginnt. Der Begriff selbst geht auf das griechische kubernân zurück und bedeutet „einen Wagen oder ein Schiff lenken“; er hat somit die gleiche sprachliche Wurzel mit Kybernetik. Governance nimmt also für sich in Anspruch, was Aicher als Eigenschaft von Steuerung auszeichnete. Der wesentliche Unterschied besteht jedoch darin, daß sich Aicher noch auf die traditionellen Grenzen von Architektur und Städtebau bezog und auf deren Überwindung setzte. Dagegen scheinen diese Disziplinen heute nur noch eine Perspektive zu haben, wenn sie sich als Momente übergreifender Politiken, von Governance also, verstehen.

Grundsätzlich signalisiert Governance “eine „Rückkehr zum Politischen“ in einer Phase, in der die neoliberale Gesellschaftstransformation sich zunehmend als krisenanfällig erweist und an Legitimität verliert. Selbst entschiedene Liberale gehen inzwischen davon aus, daß der Marktfundamentalismus um einen efficient state [...] ergänzt werden muß. Insofern revitalisiert der Governance-Diskurs zumindest teilweise den in der Nachkriegszeit dominierenden Planungs- und Optimierungsglauben”(1) – die Koolhaasschen Phantomschmerzen.

Doch im Unterschied zu den damaligen Planungsmodellen geht es gegenwärtig nicht mehr um die klassische Dichotomie von Staat und Gesellschaft, die den Staat als intervenierenden Akteur im Sinne der traditionellen comprehensive planning der 1960er Jahre kennt. Es geht vielmehr um ein neues Verhältnis von Staat und Gesellschaft, da letztere in eine Vielzahl von „Parallelgesellschaften“ zerfallen ist. In diese patchwork-Gesellschaft kann der Staat nur noch begrenzt, nämlich kontextsteuernd eingreifen. Michael Haus und Hubert Heinelt sprechen angesichts dieses Umstandes von einer „Trichotomie“ von Staat, Marktgesellschaft und Zivilgesellschaft.(2) Die neuen Formen dieser „Kontextsteuerung“ sind dezentral und netzwerkartig – und nicht mehr hierarchisch, zentralistisch und dirigistisch.(3) Sie sollen die traditionellen Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft nach beiden Seiten entwickeln und neue Mechanismen kooperativen Handelns und kommunikativen Planens schaffen, wie sie z.B. das Projekt IBA Stadtumbau 2010 in Sachsen-Anhalt zu realisieren versucht.(4)
Planung ist in diesem Sinne strategisch, kooperativ und dialogisch.

Kommunikative Wende
Dieses Planungskonzept fußt auf unterschiedlichen Traditionslinien, die sich in Auseinandersetzung mit der Modernisierung der Stadt herausgebildet haben: von der Stadtsanierung der 1960er Jahre über die Stadterneuerung der 1970er Jahre bis zum gegenwärtigen Stadtumbau. Entsprechend dieser unterschiedlichen Modernisierungsstrategien haben sich das Planungsverständnis und die Rollen der am Planungsprozeß Beteiligten verändert. So zeichnete sich mit der Stadterneuerung eine kooperative und mit dem Stadtumbau eine kommunikative Wende des Planungsverständnisses ab. Letztere hat in zwei Studien von Frank Fischer und John Forester sowie Patsy Healey, die beide direkt auf Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns zurückgehen, ihren planungstheoretischen Niederschlag gefunden.(5)

In dem Maße nun, wie die Planung von der kooperativen zur argumentativen, kommunikativen Planung übergeht und diskursive Elemente in den Planungsprozeß integriert, wandeln sich auch die Rollen der an ihm beteiligten Personen. Aus dem Planer nach dem „Gott-Vater-Modell“ (Siebel) entwickelt sich über den advocacy planner der enabler, d.h. der Planer als Ermöglicher, der sich empowerment-Strategien bedient. Der Bewohner hingegen wandelt sich vom Betroffenen zum zunehmend einflußreicheren Mitspieler am Planungsprozeß.

Dieser kleine Exkurs zur Planungsgeschichte beschreibt in diesem Sinne einerseits die schrittweise Flexibilisierung des Planungsinstrumentariums, dessen letzte Entwicklung wir als den Übergang von der kooperativen zur kommunikativen Planung kurz umrissen haben, und andererseits ihre zunehmend effektivere Anpassung an die politischen Rahmenbedingungen des Stadtumbaus. Diese Öffnung der Planung zum Politischen ist zugleich die Voraussetzung dafür, daß Planung heute im Governance-Diskurs aufgehen kann.

Governance ist das unausgesprochene Thema dieses Heftes, Strategische Planung das ausgesprochene. Sie bildet die Folie für den Wettbewerb Shrinking Cities, vor dessen Hintergrund die Wettbewerbsarbeiten erst lesbar werden.

Szenarien, Akteursmodelle, Mappings
Worin das Strategische, Kooperative und Dialogische der Planung konkret besteht, kann anhand einiger im Heft vorgestellter Arbeiten verdeutlich werden:
Sie ist strategisch, weil sie auf unterschiedliche gesellschaftliche Kontexte reagieren muß, wie z.B. in der Arbeit Bau an!, die sowohl markt- als auch zivilgesellschaftliche Handlungsebenen der Akteure anspricht, um deren unternehmerische Potentiale zu aktivieren und neue ephemere Nutzungskonzepte zu erproben.
Sie ist kooperativ, weil sie nur noch die Kontexte für unterschiedliche gesellschaftliche Akteure schaffen kann, wie beispielsweise in der Arbeit Claiming Land, in der politische Fragen von Eigentum und Bodenwert mit dem unternehmerischen und kreativen Engagement sogenannter Pioniere gekoppelt werden.

Sie ist dialogisch, weil die patchwork-Gesellschaft nur noch im Dialog mobilisierbar ist, so in der Arbeit Schneller Wohnen, in der ein bestimmtes Marktsegment bzw. Milieu, das die young urban creatives umfaßt, ausgemacht wird und diese mit neuen Wohn- und Lebensformen zum Experimentieren animiert werden.

Gibt es im engeren Sinne hinreichende stadtplanerische Lösungen für das Schrumpfungsphänomen? Wir denken nicht. Dieses Eingeständnis, nicht mehr der „Gott-Vater-Planer“ zu sein, der eine Lösung vorgibt, ist kein Zeichen von Resignation, sondern birgt in sich ein befreiendes Moment, das den Blick auf neue Fragestellungen und Herangehensweisen eröffnen kann.(6) In dem Sinne sind die hier vorgestellten Arbeiten nicht als Lösungen, sondern als Spiegelbild eines sich verändernden Selbstverständnisses von Planung zu verstehen. Es werden Szenarien erdacht, neue Akteursmodelle erprobt und mental maps zur Selbst(er)findung erstellt. Entsprechend haben wir das Heft nach den Ansatzpunkten der einzelnen Projekte gegliedert: Szenarien, Akteursmodelle und Mappings.

Welche Rückschlüsse lassen sich aus der Tatsache ziehen, daß ein Großteil der eingereichten Arbeiten die Konstituierung neuer Akteure zum Thema hat? Wir sehen darin ein Anzeichen, daß sich das Gesellschaftsmodell aus der oben skizzierten Governance-Debatte, welches sich aus der Trias Politik, Markt und Zivilgesellschaft zusammensetzt, als allgemeinen Bezugspunkt von den meisten akzeptiert und dementsprechend das Interesse auf die Konstituierungsprozesse und -probleme der zivilgesellschaftlichen Akteure gelenkt wird. Denn dieses Gesellschaftsmodell ist ein konfligierendes System, das einer Moderation bzw. Steuerung der inhärenten Konflikte bedarf. Nichts anderes wird im wissenschaftlichen Sinne mit Governance gemeint.
Indem dieses Kräftedreieck aufgespannt wird, wird implizit die Balance der Kräfteverhältnisse eingefordert. Doch sind solche Gleichgewichtsszenarien per se weniger deskriptiv als präskriptiv. Sie beschreiben weniger die Realität selbst, vielmehr geben sie die Richtung vor, in die diese verändert werden soll.

Problematisch werden die daraus abgeleiteten Forderungen nach Stärkung der Eigenverantwortung, der Selbst-Vorsorge und des Selbstmanagements dann, wenn sie normativ erhoben werden, um neoliberale politische Ziele zu rechtfertigen und durchzusetzen.(7) Dennoch wäre es zu einfach, die Debatte auf diese grundsätzliche Ambivalenz, in der sich linkes emanzipatorisches Engagement und neoliberale Regierungstechnik begegnen, zu verkürzen. Denn die zeitgenössische Governance-Debatte zeichnet sich dadurch aus, daß sie Politik und Ökonomie gleichermaßen dezentriert und die Sphäre der Zivilgesellschaft aufwertet. In dieser Gleichzeitigkeit von politischer, marktwirtschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Mobilisierung liegt das Paradigmatische der oben genannten „Trichotomie“. (Anthony Giddens)

Um jedoch die Balance herzustellen, müßten die grundsätzlich schwachen Kräfte der Zivilgesellschaft mittels empowerment-Strategien zunächst mobilisiert und gestärkt werden. Ein überwiegender Teil der Arbeiten argumentiert im- oder explizit in diese Richtung. Selbst eine ironisch angelegte Arbeit wie Resize zielt im Kern darauf, die hinter den Schrumpfungsstatistiken versteckten Individuen durch aktives Einbeziehen in die „richtige“ Datensammlung hervorzuheben und deren Bedürfnisse und Potentiale in den Mittelpunkt zu stellen bzw. metaphorisch auszustellen.

Learning from Performance

Folgerichtig setzen die meisten der beim Wettbewerb eingereichten Arbeiten auf Aktion. Zeichnet sich hier so etwas wie ein neuer Aktivismus ganz im Sinne der grass-roots Bewegungen ab? Oder handelt es sich lediglich um Aktionismus, der eher den Eindruck der Ratlosigkeit verstärkt?

Wie auch immer das Urteil ausfällt, diese Strategien stehen eindeutig in der performativen Tradition von Theater und Kunst. Sie greifen auf deren reichen Erfahrungsschatz zurück, um mittels kultureller Techniken die Wandlung des passiven „Betroffenen“ zum aktiven und reflexiven „Mitmacher“ zu initiieren. Die Performativität zielt dabei auf die Aufhebung des Verhältnisses zwischen Künstler und Betrachter, das sich nicht mehr in den überkommenen Unterscheidungen von Zuschauer-Subjekt und Kunst-Objekt bestimmen läßt. Denn indem Kunst in reine Aktion, d.h. in Prozessualität überführt wird, stellt sich eine produktive Rückkopplung zwischen Akteur und Zuschauer ein. Diese Performativität von Handlungen veranschaulicht den grundsätzlich inszenatorischen Charakter kultureller Produktionen.(8)

Analog läßt sich argumentieren, daß – anstatt „Pläne“ zu schaffen – die Planer zunehmend in Kooperation mit anderen Akteuren Ereignisse hervorbringen. Diese Vorgehensweise wird insbesondere dann fruchtbar, wenn wir eine Verschiebung vom Physischen zum Nichtphysischen, eine Wendung zur kommunikativen Planung feststellen und die Rolle des Planers sich dadurch verändert. Es geht bei den hier vorgestellten Ansätzen keinesfalls darum, Planung durch Kunst und Medientechnologien zu ersetzen oder diese zu usurpieren. Vielmehr haben wir zu zeigen versucht, daß der Planungsdiskurs über eine eigene Tradition verfügt, die sich jedoch in den letzten 30 Jahren erheblich gewandelt hat. Der Blick über die Disziplingrenzen hinweg könnte der Planung daher entwickelte Kommunikationstechniken anderer Disziplinen erschließen, die bei der Entwicklung neuer Tools und Methoden zur Bewältigung der Herausforderungen der Schrumpfung produktiv sind.

Nikolaus Kuhnert, Anh-Linh Ngo

Schrumpfende Städte ist ein Initiativprojekt der Kulturstiftung des Bundes in Kooperation mit dem Projektbüro Philipp Oswalt, der Galerie für Zeitgenössische Kunst in Leipzig, der Stiftung Bauhaus Dessau und der Zeitschrift archplus.

1) Ulrich Brand, „Governance“, in: Bröckling u.a.(Hrsg.), „Glossar der Gegenwart“. Frankfurt a.M. 2004, S. 114
2) Vgl. Michael Haus, Hubert Heinelt, „Politikwissenschaftliche Perspektiven auf den Stand der Planungstheorie“, in: Uwe Altrock u.a. (Hrsg.), „Perspektiven der Planungstheorie“, Berlin 2004, S. 167 ff.
3) Vgl. das Konzept der „dezentralen Kontextsteuerung“ von Helmut Willke und Gunther Teubner, ebenda, S. 173
4) Vgl. hierzu die Rolle der IBA Stadtumbau 2010, die wir in dem Gespräch „Jenseits von Schrumpfung“ in dieser Ausgabe diskutieren.
5) Vgl. Frank Fischer, John Forester (Eds.), „The Argumentative Turn in Policy Analysis and Planning“, Durham-London 1993 und Patsy Healey, „Planning Through Debate: The Communicative Turn in Planning Theory“, in: Scott Campbell, Susan S. Fainstein (Eds.), „Readings in Planning Theory“, Oxford 1996, S. 234-57 In diesem Zusammenhangwenig beachtet eine grundlegende Arbeit des ehemaligen Mitherausgebers von archplus, Marc Fester: Die „Vorstudien zu einer Theorie kommunikativer Planung“ forderten 1972 schon ein, was heute Stand der Kunst ist. Auszüge in 12 ARCH+, S. 42 ff.
6) Vgl. Wolfgang Kil in dieser Ausgabe
7) Vgl. Barbara Steiner in dieser Ausgabe
8) Zum Begriff der Performativität vgl. Erika Fischer-Lichte, „Ästhetik des Performativen“. Frankfurt a.M. 2004

Inhalt

04 Kritik: Wollt Ihr die totale Architektur? | Christian Kühn
06 Editorial: Governance | Nikolaus Kuhnert, Anh-Linh Ngo
08 Weltkarte der Schrumpfung
10 Synopse der Arbeiten der engeren Wahl
12 Jenseits von Schrumpfung | archplus im Gespräch

Szenarien
18 ISLAND CITY Leipzig-Grünau | Ines Weizman
24 Sleeping Beauty | G. Jensen, S. Lux, I. Pucci, C. Rappel, M. Stempl
26 Exterritories | J. Fiedler, J. Tornquist
30 ich bin drin | M. Engel, P. Ille, U. Oettel, U. Trappe, B. Ziegenbein
32 Neuland denken | Wolfgang Kil

Akteursmodelle
36 COW – the udder way | P. Cotter, G. Morris, H. Rustgaard, E. Sindlinger, U. Steven, S. Thomas
40 Claiming Land | S. Bremer, D. E. Haas, P. Kataikko, H. Sander, A. Schulze Bäing, B. Sieverts
44 Bau an! | anschlaege.de, J. Touché
48 However Unspectacular – The New Suburbanism | Interboro, Center for Urban Pedagogy
52 Schneller Wohnen | ifau: Institut für angewandte Urbanistik, Realarchitektur
56 Web-Kommuna | I. Boury, A. Ivanov, A. Komov, A. Muratov, A. Naroditsky, I. Tinyakov, A. Yagubsky
58 Parallelaktionen | Angelika Fitz
60 Vom Schrumpfen des Politischen | Werner Sewing

Mappings
64 Subjektive Landschaften | S. Hebert, A. Weber, S. Utech
68 DE-tro-IT | U. Faix, K. Nyhus, A. Melsom mit E. Zuckerman
72 Resize | E. Grubbauer, P. Grubbauer, J. Meuwissen, mit M. Luce, J. Weisser
76 Migrations | C. Hawley, A. Riches, P. Hawley
78 Komplizenschaft? | Barbara Steiner
80 Die neuen Revolten | Robert Misik

Parallelaktionen

Interdisziplinär sollten die Projekte des Ideenwettbewerbes Schrumpfende Städte – Die Stadt neu denken sein. Von einer Verknüpfung unterschiedlicher Disziplinen erwarteten sich die Auslober eine innovative Erweiterung architektonischer und städtebaulicher Strategien. Über die Richtung dieser grenzüberschreitenden Bewegung, über die Frage, um welche Disziplinen die planerische Tätigkeit erweitert werden sollte, entstanden nach der Jurierung kontroverse Diskussionen. Besonders der starke Einbezug künstlerischer Strategien wurde hinterfragt. Das hängt zum Teil damit zusammen, daß die Architektur bereits von vornherein als interdisziplinäres Handlungsfeld aufgefaßt wird – zu Recht: Im Gegensatz zu anderen gesellschaftlichen Feldern, wie Wirtschaft, Politik oder auch Kunst, läßt sich das Feld der Architektur nicht als soziales System konzeptualisieren, auch wenn es fälschlicherweise häufig als solches bezeichnet wird. Wie unter anderem Dirk Baecker gezeigt hat, gibt es weder eine eindeutige „Leitdifferenz“, welche die Architektur von anderen gesellschaftlichen Feldern abgrenzen würde, noch exklusive operationale Prinzipien, um architektonische Handlungen zu identifizieren.1 Vielmehr konstituiert die Architektur immer ein Terrain, auf dem sich Handlungen aus verschiedenen gesellschaftlichen Feldern verschränken.
Architektonische Projekte bewirken unvermeidbar Parallelaktionen, in denen sie gleichzeitig tektonische, soziale, ökonomische und juridische Konfigurationen organisieren. Eine zusätzliche Erweiterung um künstlerische Verfahrensweisen scheint daher auf den ersten Blick nicht die dringlichste Aufgabe zu sein. Aber die Kombination architektonischer und stadtplanerischer Strategien mit künstlerischen Taktiken kann durchaus produktiv werden. Nutzt man die Möglichkeiten dieser neuen Schnittstellen, so kann etwas passieren, das es in funktional differenzierten Gesellschaften eigentlich gar nicht geben dürfte: Systemgrenzen können überschritten und spielerisch erweitert werden. Räumliche Experimente können an Orten auftauchen, wo sie traditionell oder baurechtlich nicht erlaubt waren. Künstlerische Verfahrensweisen können die symbolische Ebene überschreiten und über das individuelle ästhetische Erlebnis hinaus politische Effekte zeitigen. In der politischen Theorie wird diese Art der Performanz von Handlungsfeldern als „transversal“ bezeichnet.2 Transversal soll heißen: quer zur funktionalen Differenziertheit unserer Gesellschaft verlaufend.

Angewandte Transversalen

Transversale Strategien lassen sich am besten anhand eines bekannten Beispiels veranschaulichen: Im Frühling 2000 tauchten über Nacht vor der Wiener Staatsoper Baucontainer auf. „Schon wieder eine Baustelle mitten in der Hochsaison im touristischen Zentrum der Stadt?“, fragten sich viele Passanten beim Anblick der teilweise zweigeschossig gestapelten, von einem Bauzaun umgebenen Container. Doch wider Erwarten handelte es sich nicht um eine verunglückte Koordination städtischer Sanierungstätigkeiten, sondern um die Mutation eines Big-Brother Studios. Genauer gesagt war man mit einem Hybrid aus bekannter medialer Peepshow und einem Containerdorf als Flüchtlingslager konfrontiert. Beides sind architektonische Typologien jüngeren Datums, deren mediale Räume in kurzer Zeit einen hohen Globalisierungsgrad erreicht haben. Ihre gebaute, physische Präsenz verschwindet üblicherweise in der Peripherie, in den unübersichtlichen Konglomeraten von Industrie- und Lagerzonen oder in abgeschirmten Transitzonen von Flughäfen. Zwölf Asylwerber bewohnten dieses Hybrid aus Flüchtlingslager und Big-Brother Studio. Sie konnten rund um die Uhr über Web-TV beobachtet werden. Einmal am Tag wählte das Publikum einen Asylanten aus dem Container und damit auch aus dem Land hinaus. Außen am Container prangte ein großes „Ausländer raus!“ Schild, innen herrschte – wie im wirklichen Fernsehen – ein reges Besuchsgeschehen von Prominenten, wie zum Beispiel von der inzwischen zur Nobelpreisträgerin avancierten Elfriede Jelinek. Bitte liebt Österreich! nannte sich die einwöchige Aktion, die der Künstler, Filme- und Theatermacher Christoph Schlingensief im Rahmen der Wiener Festwochen realisierte.

Schlingensief verschränkt in dieser Aktion eine skandalöse physische Präsenz mit der Manipulation medialer Räume. Es manifestieren sich im touristischen Zentrum von Wien Dinge, die eigentlich unsichtbar sein sollten, wie ein Flüchtlingslager für Asylanten oder die Backstage einer Reality Soap. Gleichzeitig garantiert ihm das Feld der Kunst eine massenmediale Aufmerksamkeit, die Kommunikationen innerhalb des juridischen Systems oder im Feld institutioneller Politik nicht erreichen würden. Beides, seine ortspezifischen Handlungen und seine massenmedialen Strategien, stiften Verwirrung, indem sie Codes sowohl zitieren als auch ironisieren. So bleibt zum Beispiel unklar, wer das „Ausländer raus!“ Schild mit Graffitis kommentiert hat. Waren es aufgebrachte Bürger oder Migrantenorganisationen oder der Künstler selbst? Ist der Künstler überhaupt der Künstler, oder ist die Person, die von aufgebrachten Passanten beschimpft und von Bodyguards beschützt wird, nur sein Double? Nicht nur Schlingensief selbst, auch die Asylanten könnten sowohl Schauspieler als auch echt sein. Im ersteren Fall wäre alles nur Theater, im letzteren Fall würden sich Schlingensief und die Wiener Festwochen strafbar machen, wenn sie für den Gewinner dieser „Reality Soap“ eine Aufenthaltsgenehmigung versprechen. Schlingensief gelingt es, physische und mediale Räume so zu verschränken, daß künstlerische und juristische Geltungsbereiche abwechselnd zum Tragen kommen, und dabei dem Vorhaben immer zum Vorteil gereichen. Im Oszillieren zwischen den Feldern Kunst, Politik und Recht macht sich das Projekt die strenge funktionale Differenzierung unserer Gesellschaft zunutze. Systemzugehörigkeiten, die normalerweise als Beschränkung wirken, werden hier durch geschickte Überkreuzungen von Parallelaktionen zu Fluchtwegen.

Modi des Politischen

Seit der im 18. Jahrhundert beginnenden Ausdifferenzierung der bürgerlichen Gesellschaft in getrennte Funktionsbereiche wie Wirtschaft, Politik, Erziehung, Kunst oder Religion, werden Kommunikationen und andere Handlungen als systemspezifische normiert. Aktuelle politische Theorien betonen hingegen, daß gerade dem „Politischen“ (im Gegensatz zu Kommunikationen im System „Politik“) keine eindeutige Systemzugehörigkeit zugewiesen werden kann. Handlungen im System Politik finden in den dafür vorgesehen Institutionen und Gremien statt, wie zum Beispiel im Parlament. Im Gegensatz dazu kann sich Politisches überall ereignen. Das Politische entsteht in transversalen, nicht-systemspezifischen Prozessen. Das Politische durchquert die Systeme und ist deshalb an den Vorgang einer Ortsverschiebung gebunden. Man könnte diese Situationen und Aktivitäten auch so beschreiben: Sein, wo man nicht hingehört, reden, wo man nicht gefragt wird.3 Die antagonistische Verknüpfung von physischen und medialen Räumen aus verschiedenen gesellschaftlichen Feldern, wie sie Schlingensief in diesem Projekt vorführt, hat auch urbanistische Sprengkraft, weil sie Dinge sichtbar macht, die im Alltag unsichtbar sind, weil sie in Bezug bringt, was separiert wurde.

Parallel zur Ausdifferenzierung der europäischen Gesellschaft in getrennte Funktionsbereiche hat sich in Europa ein Stadtmodell entwickelt, das auf Segregation beruht. Durch saubere räumliche Trennungen sollen Konflikte zwischen einzelnen Funktionsbereichen, zwischen ökonomischen Schichten, zwischen Lebensstilen, zwischen Kulturen vermieden, oder zumindest unsichtbar gemacht werden. Transversale Verknüpfungen provozieren im Kontext dieser Praxis unweigerlich Konflikte, die sich nicht mehr verbergen lassen. Sie produzieren keinen konsensuellen öffentlichen Raum und auch nicht die Illusion eines solchen Raumes, sondern antagonistische Öffentlichkeiten. Damit korrelieren transversale Parallelaktionen mit aktuellen Konzeptionen von „Öffentlichkeit“, wie sie von Ernesto Laclau, Chantal Mouffe oder Claude Lefort formuliert werden.4 Folgt man deren zentralen Thesen, so kommt man zum Schluß, daß der „öffentliche Raum“ gar kein Raum ist, sondern ein Prinzip. „Öffentlichkeit“ ist weder auf der ontologischen Ebene des Raumes, noch auf der ontischen der Räume anzusiedeln. „Öffentlichkeit“ gehört zur Ordnung der Zeitlichkeit. Praktiken der Verräumlichung, wie Architektur und Stadtplanung, arbeiten kontinuierlich an der Hegemonisierung von Zeit. Sie dienen vorwiegend der Fest- und Fortschreibung des Sozialen und somit eines Handlungsraumes, der vor allem von Vertrautem, von Konventionen und Vereinbarungen getragen wird. Währenddessen arbeitet das Prinzip „Öffentlichkeit“, ein Prinzip, das vom Konflikt gekennzeichnet ist, an der Dislokation dieser Festschreibungen.

Selbstverständlich bedarf es der kontinuierlichen Entfaltung, der Produktion und Reproduktion des sozialen Raumes. Aber ich denke nicht, daß hier der Schwerpunkt von innovativen Ideenskizzen liegen sollte, wie sie im Wettbewerb gesucht wurden. Politisches Vorgehen, das imstande ist, Veränderung zu initiieren, ist auf der Ebene der Zeitlichkeit angesiedelt. Politisch wirksame Interventionen in öffentliche Räume – und bei der Mehrzahl der prämierten Wettbewerbsprojekte geht es um Eingriffe in öffentliche Räume bzw. um die Gestaltung von Schnittstellen zwischen öffentlichen und privaten Räumen – müssen daher über Strategien eines „Social Engineering“ hinausgehen. Es genügt nicht, öffentliche Räume zu verwalten, zu optimieren, mit Infrastruktur zu versorgen. Das können staatliche oder mitunter auch kommerzielle Institutionen besser. Der Begriff „Öffentlichkeit“ verdient diesen Namen nicht, solange er ausschließlich in den Bereich des Sozialen abgeschoben wird. Die transversale Erweiterung der räumlichen Praktiken von Architektur und Stadtplanung um künstlerische Taktiken kann ein Weg sein, das Bewegungsmoment zu steigern. Das Politische von transversalen Interventionen, die nachhaltige räumliche Strategien mit temporären, evasiven Taktiken verknüpfen, besteht darin, Bühnen für Konflikte zu schaffen: Bühnen, auf denen sich diejenigen, die bisher unsichtbar waren, die keine Sprecherposition hatten, mit denen treffen können, die bereits sichtbar und hörbar waren. Es geht also um Aktivitäten der Sichtbarmachung, es geht darum, physische, mediale und mentale Räume neu zu ordnen.

Territoriale und imaginäre Räume

Das Wettbewerbsprojekt DE-tro-IT macht sichtbar, daß im postindustriellen Zeitalter physische und mediale Räume selten deckungsgleich sind. Seit unsere Häuser von Antennen, Kabeln und Funksignalen „durchlöchert“ sind, konstituieren Medien wie Fernsehen, Telefon und Internet einen Raum, der nicht mehr an das Territorium der physisch gebauten Umgebung gebunden ist. So wird es möglich, daß die globale mediale Präsenz von Detroit, die das Projekt anhand innovativer statistischer Instrumente sichtbar macht, in krassem Gegensatz zur lokalen Schrumpfung der physischen Räume steht. Die sozialen Räume, die von einer solchen Praxis produziert werden, bezeichnet der Medientheoretiker Marc Ries als „disrupted spaces“: “Überschritten werden also die vorgegebenen Grenzen des gebauten Raumes, die Umgrenzungen des Ortes, soweit, daß Beziehungen zu Menschen, die sich innerhalb der Sichtbarkeitsgrenzen bewegen, weniger relevant werden, als Beziehungen zu solchen, die ausschließlich medial – virtuell – präsent sind. Das hat notwendigerweise Konsequenzen für die Architektur und die Lebensgewohnheiten als solche.”5 Während das Projekt DE-tro-IT die von ihm erforschten und dadurch gleichzeitig mitproduzierten medialen Räume vor allem als identitätsbildende Instrumente sieht, wäre es parallel dazu interessant, die erweiterten mentalen Spiegel als Rückprojektionstool für architektonisches und stadtplanerisches Handeln einzusetzen.

Eine ähnlich starke Projektionsfolie liefert das Projekt Cow – the udder way, allerdings mit analogen statt digitalen Mitteln. Eines Tages grasen plötzlich Kühe auf städtischen Parkflächen in Liverpool. Der Stadtraum wird kurzzeitig zur Bühne für eine Aufführung ländlicher Idylle. Dabei fungiert „das Kuhtheater“ als Initialzündung und Platzhalter für mögliche andere Bespielungen der seit langem ungenutzten und vernachlässigten Parkflächen. Denn ein leerer Freiraum allein regt noch nicht unbedingt zur Inbesitznahme an, oder wie Richard Sennett formuliert: “Freiheit begriffen als reiner, transparenter Raum, stumpft den Körper ab. Sie ist ein Betäubungsmittel. Freiheit, die den Körper erregt, akzeptiert Unreinheit, Schwierigkeit und Widerstand als notwendige Teile ihrer Erfahrung.”6 Cow – the udder way produziert einerseits einen mit allen Sinnen wahrnehmbaren physischen Raum: Die Kühe muhen, stinken, produzieren Mist, stellen sich in den Weg. Anderseits sind Kühe ein kulturell höchst aufgeladener Bedeutungsträger, gerade in multiethnischen Städten wie Liverpool, wo es unter anderem große südasiatische Communities gibt. Neben ihrem ungewohnten und unerlaubten Eindringen in den lokalen, territorialen Raum eröffnen sie einen breiten und widersprüchlichen imaginären Raum.

Relationale Organisationsformen

Die transversalen Aktivitäten der Sichtbarmachung dieser Wettbewerbsprojekte agieren mit prozessualen Raumbegriffen. Sie machen deutlich, daß es für die Konstitution von Räumen beides braucht: ein relationales Gefüge von physischen Materialitäten wie Gebäuden, anderen Dingen oder Körpern, und gleichzeitig die Vorstellung, die wir uns von den Dingen, den Menschen und ihren Relationen machen. Sowohl das spezifische Gefüge von Gebäuden, Dingen und Menschen, ihre Platzierungen als auch die individuellen Vorstellungen, die sich einzelne Menschen oder Gruppen davon machen, sind nur temporär zu verstehen, sind in Wandlung begriffen. Ebenso können unterschiedliche Räume dieselben Orte gleichzeitig besetzen. Verschiedene Menschen oder Gruppen erleben am selben Ort, zum Beispiel in einem bestimmten Stadtteil, äußerst unterschiedliche Räume.7 Das klingt wie eine Binsenweisheit. Dennoch sollte man sich diesen Befund immer wieder ins Bewußtsein rufen, denn alltägliches Handeln hat die Tendenz, die Heterogenität der räumlichen Überlagerungen auszublenden. Künstlerisches Handeln hingegen ist dazu prädestiniert, Verknüpfungen zwischen widersprüchlichen Räumen herzustellen und Gleichzeitigkeiten sichtbar zu machen. Im Roman Mason & Dixon, den das Projekt Claiming Land als Folie nimmt, beschreibt Thomas Pynchon die zeitgleiche, räumliche Mehrfachbespielung von identischen Territorien. Der Roman entwirft eine subtile mentale Landschaft des Kolonialismus, seiner räumlichen Schichtungen und seiner Vexierbilder. In Projekten wie Claiming Land, die mit der Besiedelung von vorhandenen territorialen Strukturen spekulieren, wird der Umgang mit diesen räumlichen Gleichzeitigkeiten zentral. Unterschiedliche Räume, die den gleichen Ort besetzen, treten in Konkurrenz zueinander. Es können neo-koloniale Situationen entstehen. Auf jeden Fall entstehen prekäre Situationen, in denen kulturelle Differenz und ökonomische Ungleichheit eine schwierige Beziehung eingehen.

Prekäre Situationen brauchen neben sich verändernden imaginären Räumen auch alternative Organisationsformen. Beim Projekt Claiming Land müssen zum Beispiel Verfahren gefunden werden für Fragen wie: Wem gehört das Land jetzt, dann, später? Wie wechselt das Land die Besitzer und welche Eigentumsformen sind denkbar? Wer sind die Einwanderer und welchen Regeln unterliegen sie? Wie werden die Reterritorialisierungsbewegungen aufgezeichnet und welche Rückwirkungen haben die Visualisierungsmethoden auf die Prozesse? Parallel zur prozessualen Offenheit, die transversale Vorgehensweisen produzieren, müssen Formen sozialer Organisation gefunden werden, um partielle Synthetisierungen von Interessen zu erreichen. Denn “wozu sollte der Begriff der Transversalität sonst gut sein – wenn nicht als Anstoß für ein Nachdenken über Formen von Organisation und Handlungsfähigkeit?”8 Dieses Nachdenken über Organisationsformen kann wiederum parallel geführten, künstlerischen Praktiken zugute kommen bzw. sie vom Abdriften in rein symbolische Wirkungsformen bewahren. So können bei transversalen Parallelaktionen sowohl architektonisch planerische als auch künstlerische Felder von einander profitieren – vorausgesetzt, daß die Unterschiede zwischen den Codes und den operationalen Prinzipien der einzelnen Felder beachtet und nicht vorschnell aufgelöst werden.

ARCH+, Di., 2005.06.07

Anmerkungen:
1 Vgl. Dirk Baecker, „Die Dekonstruktion der Schachtel: Innen und Außen in der Architektur“, in: Niklas Luhmann, Frederick D. Bunsen, Dirk Baecker (Hrsg.), Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld, 1990
2 Vgl. Gerald Raunig (Hrsg.), Transversal. Kunst und Globalisierungskritik, Wien 2003
3 Vgl. Jacques Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt/Main 2002, S. 38 ff.
4 Vgl. Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, Wien 2000
5 Marc Ries, „Disrupted Spaces“, in: Angelika Fitz, Sandrine von Klot (Hrsg.), Trespassing – Konturen räumlichen Handelns, Secession, Wien 2002, S. 62
6 Richard Sennett, Fleisch und Stein, Frankfurt/Main 1997, S. 383
7 Vgl. Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt/Main 2001. Hier entwirft Löw einen prozessualen Raumbegriff mit den zentralen Operationen von “Spacing und „Synthesizing”
8 Oliver Marchart, „Der durchkreuzte Ort der Partei“, in: Gerald Raunig (Hg.), Transversal. Kunst und Globalisierungskritik, Wien 2003

07. Juni 2005 Angelika Fitz

Schneller Wohnen

(SUBTITLE) Komfortabel und billig leben in der Stadt

Ein Wunsch kann sich erfüllen – billig und komfortabel leben, mitten in der Stadt: Bauen und Wohnen an privilegierten Orten, außergewöhnlich und luxuriös, in immer wieder neuen Situationen. Schneller Wohnen ist angewandter Lifestyle und erweitert das Spektrum der Einflußnahme auf den städtischen Alltag.
In der gegenwärtigen Produktion von Stadt erzeugen Rezession und Stagnation eine große Anzahl von ungenutzten und vorübergehend untergenutzten Flächen.

Schneller Wohnen verwertet das Potential brachliegender innerstädtischer Grundstücke und erschließt diese als Alternative zum herkömmlichen Siedlungsangebot „vor der Stadt“.
Das Angebot an Flächen ist besonders in schrumpfenden Städten ausreichend vorhanden. Auch die Nachfrage ist da. Bisher scheiterte eine kostengünstige Nutzung innerstädtischer Flächen durch Wohnbebauungen niedriger Dichte jedoch an den an historischen Margen orientierten Spekulationswerten. Man hoffte weiterhin auf klassische Lösungen, Dichte, Dividende. So liegen Grundstücke in guten Lagen und in Erwartung gewinnbringender Investititionen auf Jahre hin brach. Die Besetzung vakanter Parzellen tut Not, da die Zersiedlung und Erosion der von Schrumpfungsprozessen betroffenen Städte durch immer neue Flächenausschreibungen im Umland weiter voranschreitet. Denn nur dort wird die eigentliche Nachfrage befriedigt. Die Auswirkungen sind stadträumlich, strukturell und sozial verheerend. Um zu neuen Lösungen zu gelangen, ist es notwendig, gerade in strukturschwachen Gebieten mehr Freiheiten zu gewähren, somit Angebot und Nachfrage abzugleichen und den Markt zu öffnen. Man braucht neue Deals, zumindest für eine Zwischenzeit.

Lifestyle

Die durch Schneller Wohnen angesprochene Nutzergruppe ist jung und urban, das heißt risikofreudig und mit begrenzten finanziellen Mitteln. Charakteristisch für den gegenwärtigen Lebensstil ist ein hohes Maß an Selbständigkeit und die Erfahrung mit räumlichen Umnutzungs- und Aneignungspraktiken. Das ideale Wohnen ist eine Verbindung aus Komfort und Unabhänigigkeit mitten in der Stadt. Auf leeren innerstädtischen Flächen kann das Verhältnis von Wohn- und Außenraum neu definiert werden. Hier wird es möglich, spezifische Wohnvorstellungen einfach umzusetzen.

Prototyp

Um diese Bedingungen und Potentiale von Schneller Wohnen direkt und konstruktiv in einen Planungsprozeß zu integrieren, werden lokale Akteure und zukünftige Projektpartner an einen Tisch gebracht: potentielle Nutzer, Grundstückseigentümer, Immobilienmakler, Vertreter der Stadt, der Wohnungsbaugenossenschaften und der Bauindustrie. In Planungs- und Entwurfswerkstätten werden spezifische Konditionen für die temporäre Besetzung von freien Grundstücken ausgehandelt. Interessenten wird hier die Möglichkeit gegeben, direkten Kontakt zu Entscheidungsträgern aufzunehmen und die offene Verhandlungssituation zu nutzen.

Zur Besiedlung von Brachen propagiert Schneller Wohnen eine Architektur, die es ermöglicht, spezifische Wohnvorstellungen und größtmögliche Freiheiten vor Ort umzusetzen und auszuleben. Ein Modell, bestehend aus zwei zueinander kontrastierenden Raumideen, bildet den Ausgangspunkt: Das typische Wochenendhaus dient als Vorbild für eine minimierte Wohneinheit, die eine freie Besetzung und Einbindung des umgebenden Außenraumes erlaubt. Das Pendant dazu bildet die einfache Werkstatthalle, die als Hülle ein maximales Volumen umfaßt und so eine großzügige Ausnutzung des Innenraums ermöglicht.

Beide Bautypen erfüllen den Wunsch, mit geringstem Aufwand eine komfortable Aneignung der zur Verfügung stehenden Fläche zu realisieren. Die Hülle wird zur Erweiterung des Kernhauses oder auch Wohn- und Arbeitsraum, der von mehreren Parteien genutzt werden kann. In gegenseitiger Ergänzung ergeben sich diverse Möglichkeiten, individuelle wie auch gemeinschaftliche Wohnformen zu etablieren, die den sozialen Komfort verbessern und die Finanzierung erleichtern.

In Zusammenarbeit mit einem Fertighaushersteller soll ein Prototyp entwickelt werden, dessen Komponenten einzeln verwendet oder auch mit vorfabrizierten Raummodulen anderer Hersteller kombiniert werden können.

Kundenwünsche, Verhandlung und Entwurf von gemeinschaftlich genutzten Räumen sowie bauliche Vorgaben von Seiten der Stadt werden während der Entwurfswerkstatt aufgenommen und eingearbeitet. Das Modell wird personalisiert.

In der Zwischennutzung ergibt sich der Wert eines Grundstücks nicht aufgrund einer spekulativen Prognose, sondern aus dem unmittelbaren Gebrauch. Gebrauch ist der eigentliche Wert, von dem Nutzer und Eigentümer gleichermaßen profitieren. In diesem Zusammenhang wird Architektur zu einer direkten Sprache in Kohärenz zu real vorhandenem Anspruch.

ARCH+, Di., 2005.06.07

07. Juni 2005



verknüpfte Bauwerke
Schneller Wohnen

Island City

Um die Wirkungsweisen, Probleme und Chancen schrumpfender Städte in Deutschland näher zu untersuchen, haben wir uns dazu entschieden, die Großsiedlung Leipzig-Grünau exemplarisch heranzuziehen. Leipzig-Grünau ist eines der jüngsten und wohl auch eines der am besten durchdachten Siedlungsprojekte der ehemaligen DDR.

Mit der politischen Wende entbrannte plötzlich eine heftige Kritik an den sozialistischen Wohnungsprojekten und so sollte auch Leipzig-Grünau, trotz der Lebensqualität des Wohngebietes und der Anerkennung, die es dafür von seinen Einwohnern in über 25 Jahren erhalten hatte, bald als städtebaulich ungenügend bewertet werden. Die Maßnahmen zur Aufwertung und Regenerierung des Wohngebietes zeitigten jedoch nur fragwürdige Erfolge. Eingriffe wie zum Beispiel der Bau der überdimensionierten Einkaufsmeile Alleecenter mitten im Zentrum der Siedlung brachten binnen kurzem die Ausgewogenheit und Balance der städtebaulichen Organisation des Wohngebietes gefährlich aus dem Gleichgewicht. Der „Konsumtempel“ nahm den umstehenden Häusern Licht und Raum und zwang die Bewohner zum Verlassen ihrer Gebäude, deren Abriß man schließlich beschloß, wodurch in gewisser Weise das Schrumpfungsphänomen vorbereitet wurde. Ein in dieser Form bereits angegriffenes Wohngebiet konnte, als das Problem der Bevölkerungsabwanderung nach Westdeutschland und die Stadtflucht in vorstädtische Gegenden offenbar wurde, nicht mehr als Ganzheit funktionieren und somit auch diesen Bevölkerungsrückgang nicht mehr verkraften. Erschwerend kam hinzu, daß das Plattenbaugebiet in den Fokus der städtischen Rückbaudebatte geriet, obwohl dies in Hinblick auf weit höhere Leerstandsquoten in anderen Stadtteilen Leipzigs nicht unbedingt gerechtfertigt war.

Zum Zeitpunkt des Wettbewerbs war der Rückbau von Leipzig-Grünau, einem Wohngebiet, das Planer und Architekten mit Enthusiasmus und bestem Wissen zu gestalten versucht hatten, in vollem Gang. Ein ungehemmter Abrißprozeß hatte eingesetzt, der vorrangig Hochhäuser, die in der städtebaulichen Planung bewußt als Orientierungspunkte und zur Charakterisierung des Wohngebietes gesetzt worden waren, zerstörte. So wurden nicht nur städtebauliche Charakteristika verändert, Verkehrswege und Verbindungen innerhalb des Wohngebiets unterbrochen und zusammengehörige Gebäudeensemble zerstört, sondern vor allem auch die Bewohner Grünaus verunsichert und ihre Wertschätzung des Gebiets geschmälert.

Sollten die Wettbewerbsbeiträge städtebauliche Verschönerungsmaßnahmen für die Nachnutzung leerer Flächen entwickeln? Sollten neue Ideen gefunden werden, um sowohl die städtebaulichen Fehlplanungen in der DDR als auch die Ignoranz gegenüber der Städtebaugeschichte der DDR zu maskieren? Sollte dem zerpflückten Stadtteil eine neue „Identität“ mit neuen Nutzern gegeben werden? Oder sollten aus zusammenhanglosen Straßenzügen neue Gebäudeformen gebildet werden?
Die Intention unseres Wettbewerbsbeitrages war nicht, nach neuen architektonischen Lösungen für den bereits eingesetzten Rückbauprozeß zu suchen, sondern die städtebauliche Vision des Wohngebiets zu verwirklichen. Die schicksalhafte Planungsgeschichte von Leipzig-Grünau zeigt, daß im sozialistischen wie auch im kapitalistischen Staat immer wieder von den ursprünglichen Plänen abgewichen wurde. Während im Realsozialismus die Mangelverwaltung der Planwirtschaft die Realisierung verhinderte, wurden nach der politischen Wende die Hoffnungen der Planer enttäuscht, daß ihre städtebauliche Vision nun endlich verwirklicht werden könnte.

Unser Beitrag ruft deshalb dazu auf, unvoreingenommen und ein letztes Mal ein Experiment zu wagen, bevor Leipzig-Grünau weiter fragmentiert wird und in zusammenhanglose Gebäudekonglomerate zerfällt. Leipzig-Grünau soll sowohl territorial als auch kulturell als „Insel“ beschrieben und geschützt werden. In dieser Island City soll die ursprüngliche Planung des Wohngebietes verwirklicht und damit die städtebauliche Vision seiner Planer und Architekten vollendet werden. Und erst nachdem die Ideen der Städtebauer und Architekten verwirklicht worden sind, soll über die Tauglichkeit der Planung gerichtet werden.

Wir luden deshalb sieben Planer und Architekten ein, die an den ursprünglichen Planungen beteiligt gewesen waren, um mehr darüber zu erfahren, welche Prozesse zum Zusammenbruch ihrer sozialen und städtebaulichen Utopie geführt und welche Bemühungen die Beteiligten den politischen und materiellen Zwängen entgegenstellt hatten. Das Gespräch, das auch in einem Film festgehalten wurde, zeigte nicht nur den Enthusiasmus, die Kritik und die Enttäuschung der Beteiligten, sondern auch Ideen für eine heutige Planungspraxis.
Das „sozialistische Projekt“ hatte versucht, eine neue Welt zu schaffen, indem es sich inselartig gegen seine Umgebung definierte. So entstand ein utopisches Archipel, das in einer eigenen Konzeption von Zeit und Raum angesiedelt war und gestaltet wurde. Um die ursprüngliche Vision der Siedlung vollenden zu können, soll gemeinsam mit Städtebauern, Architekten, Politikern, Juristen und Steuerexperten eine Reihe von städtischen, regionalen und europäischen Gesetzen und Regeln formuliert werden. Die Codes of the Utopian Archipelago (CUA) sollen die Unterschiede zur „alten Stadt“ akzentuieren und die Inseln des CUA kulturell, finanziell und territorial so gestalten, daß Leipzig-Grünau neue Attraktivität entwickeln kann. Die CUA sollen ein Netzwerk utopischer Archipele schaffen und eine städtische Alternative formulieren, in der sich eine spezifische urbane Qualität entwickeln kann.

Ehemalige Planer und Architekten von Leipzig-Grünau im Gespräch mit Ines Weizman

Wellner: Der Wettbewerb für Leipzig-Grünau rechnete damals mit 20-22.000 Wohnungseinheiten. Im Zuge der Leitplanung, die nach der Entscheidung an den Wettbewerb angeschlossen wurde, ist dann gefordert worden, 300 Einwohner pro Hektar nachzuweisen. Wir mußten damals mit jedem Wohnkomplex (WK) nach Berlin zum Ministerium für Bauwesen und alles verteidigen. Dort wurde uns in der Regel nachgewiesen, daß wir viel zu locker bebauen, mit viel zu großen Höfen, und man monierte, was für einen Luxus wir uns da leisten würden. Das geschah vor allem in den ersten Wohnkomplexen WK2 und WK3. Ausgehend von den 22.000 Wohnungseinheiten aus der Wettbewerbsphase, die auf einer relativ eng begrenzten Fläche angeordnet waren, wurde durch die Erweiterung auf die nördlichen Flächen, durch die Einbeziehung von Flächen bei Lausen sowie durch interne Anreicherung und Verdichtung am Ende der Planungsphase eine Wohnungsanzahl von 35.000 erreicht.

Kaßler: 37.000!

Wellner: 37.000, na ja ... Da gab es Rechenkunststückchen. Es wurden Feierabendheimplätze als Wohnungen berechnet und so weiter. Alles mit dem Ziel, eine möglichst hohe Anzahl an Wohnungseinheiten zu erreichen. Zwischendurch gab es aber auch immer wieder die Forderung, noch größere Flächen in Anspruch zu nehmen. Zum Beispiel nördlich von WK5 und WK7 bis zur Bahn hin, aber auch südlich. Ich habe selbst Untersuchungen machen müssen. Am Ende kamen 50-65.000 Wohnungseinheiten heraus. Dagegen haben wir mit allen Mitteln argumentiert, und irgendwann kam die Einsicht, daß die politischen Vorgaben wirklich über dem Eichstrich lagen. Es war nicht leicht, sich zu behaupten und das „Wuchern“ einzuschränken.

Eichhorn: Der erste Preis des Wettbewerbs wurde zwar als Grundgerippe benutzt, aber bereits in der Realisierungsplanung waren es schon 27.500 Wohneinheiten, in der nächsten Etappe dann 33.000, und mit den „errechneten“ Wohneinheiten kamen wir schließlich auf 37.000 Wohneinheiten. Wobei man sagen muß, daß der Bedarf für die Ergänzungen WK9 und WK10 eigentlich gar nicht da war. Aber man war der Ansicht, daß, sobald die Produktionsmaschinerie lief, es effizienter sei, sie nicht anzuhalten, sondern einfach weiter zu produzieren, auch wenn der Bedarf nicht vorhanden war. Aus diesem Grund wurde das Konzept stark verwässert, es wurden Dinge gemacht, die wir eigentlich gar nicht so wollten.

Gross: Einmal hatte ich Professor Siegel beim Rat des Bezirks, d.h. beim Chef – damals war es Opitz–, zu vertreten. Es ging um die Berichterstattung zur Gesamtentwicklung von Leipzig; Grünau war ein Schwerpunkt. Das war in einer Phase, in der es wirklich darum ging, noch mehr als 33.000 oder 35.000 Wohneinheiten zu machen. Da waren zum einen die Fakten, die Herr Eichhorn gerade genannt hat: die eingeschliffenen Wege von Transport und Vorfertigung – all das lief ja sehr glatt – und des weiteren die stadttechnischen Trassen, die Sammelkanäle usw. Ich habe mich bei dieser Besprechung mit Opitz regelrecht angelegt, weil ich das alles als total überzogenen Blödsinn abgelehnt habe. Dafür bin ich dann natürlich entsprechend abgestraft worden. Meine Argumente zählten nicht. Es würde aus allen Knopflöchern stinken, was wir als Architekten und Stadtplaner gegen diese politisch und ökonomisch notwendigen „Eingriffe durch politische Entscheidungsträger“ vortragen würden, hieß es damals. Die haben die ganzen Planungen in vielen Punkten auf eine Weise mitgeprägt, die entschieden gegen unsere Interessen ging.

Wellner: Nach der Wende kam die sogenannte Stadtteilplanung. Damals gab es überall in den neuen Ländern die Bestrebung, die Wohnkomplexe zu verbessern, auch baulich. Beispielsweise plante man, die Blockecken zu bebauen, d.h. mehr Wohnungen zu schaffen. Man wollte auch aufstocken und abtreppen und dergleichen mehr. Diese Vorschläge sind zwar in die Stadteilplanung eingegangen und haben dort irgendwo ihren Niederschlag gefunden, aber realisiert ist von alledem nichts. Im Gegensatz zum Beispiel zu Stendal und anderen Orten, wo es solche Blockeckenbebauungen gegeben hat. Das ist hier nicht passiert. Hier in Grünau war offensichtlich auch den Wohnungsbaugenossenschaften klar, daß sie sich was ans Bein binden und noch mehr Verantwortung aufladen würden, wenn man baulich ergänzen würde. Auch solche Dinge wie Hofbebauungen mit Einfamilienhäusern und dergleichen haben eine Rolle gespielt, sind aber nie akut geworden. Wenn alle diese Diskussionen zu einem Ziel gekommen wären, dann wäre Grünau noch weiter verdichtet worden. Ich habe bis zuletzt versucht, das Planungskonzept auch nach der Wende weiterzuführen und zu realisieren. Denn 1987 wurde die Wohnbebauung zwar fertiggestellt, aber die gesellschaftlichen Einrichtungen und Zentren fehlten noch. Das Ziel war also, das Konzept nicht über den Haufen zu werfen, sondern die Ansätze richtig zu nutzen und entsprechend der ursprünglichen Konzeption weiterzuentwickeln – natürlich in kleineren Dimensionen. Wenn es nach den Investoren gegangen wäre, dann wäre rundherum auf der grünen Wiese alles mit riesigen Märkten bebaut worden. Zumindest das konnte unterbunden werden. Als ich 1999 in Rente ging, war von Rückbau nur andeutungsweise die Rede. Das heißt, es gab die eben schon erwähnte Stadtteilplanung, die im wesentlichen 1994-96 erarbeitet worden ist. Es gab ganz vorsichtige Andeutungen, wie und wo man einzelne Gebäude eventuell reduzieren oder abbrechen könnte. Aber daraufhin entstand ein Mords-Proteststurm. Damals ging es aber nur um Dinge wie Ambulanzen oder einzelne Wohnhäuser, die im Zuge der Nachverdichtung errichtet wurden und die wirklich zu viel waren. Aber das, was jetzt passiert, was jetzt wie eine Erosion über das Gebiet hereinbricht, das war, als ich 1999 in Rente ging, nicht abzusehen.

Eichhorn: Im Heft 34 des Stadtplanungsamtes findet man den „Stadtentwicklungsplan Wohnungsbau und Stadterneuerung“, der unter anderem für die einzelnen Wohnkomplexe in Grünau festschreibt, welche Gebiete konsolidiert oder abgebrochen werden müssen und welche Gebiete schwanken. Diese Überlegungen wurden bereits 1999 angestellt und 2000 zum Abschluß gebracht. Das Ganze hat ein wenig gedauert, weil es ziemliche Probleme gegeben hat, aber 2001/02 wurde das Konzept schließlich beschlossen. Das Problem ist jedoch, daß man sich im wesentlichen gar nicht an das hält, was entwickelt worden ist. Es wird also munter und aus dem hohlen Bauch heraus entschieden, wo abgerissen wird. Es wäre ja akzeptabel, wenn mit einem gewissen planerischen Vorlauf entschieden würde, welche Gebiete entdichtet werden sollen. Herr Wellner hat vorhin zurecht die hoch verdichteten Gebiete genannt.
Damals lief das noch unter dem Begriff Rückbau. Aber Rückbau sei ja zu teuer – „Machen wir nicht, ist zu teuer, brechen wir gleich ganz ab!“ Heute läuft das völlig anders: Wenn man heute den Stadtentwicklungsplan studiert, dann findet man Bereiche, an denen sicherlich einiges zu machen wäre, aber da steht schon gar kein Haus mehr. Selbst die Planungen, die dort noch einen einigermaßen vernünftigen Ansatz hatten, etwas weiterzutreiben, sind umsonst. Die Entscheidungen werden woanders getroffen. Ich bin Sturm gelaufen gegen die Art, wie dies am Anfang abgelaufen ist. Aber man muß natürlich gerechterweise auch sagen, daß sich eine Stadt eben immer verändert. Es hat schon immer Bereiche gegeben, die abgebrochen oder ergänzt worden sind. Aber für Grünau und für diese Gebiete gibt es ja kein Ziel, was mit diesen Flächen geschehen soll! Ich habe das jetzt auch bei Halle-Neustadt erlebt: Erst Abbruch und danach wird maximal eine Rasenfläche oder ein Parkplatz angelegt. Über andere Funktionen denkt man gar nicht nach. Keiner überlegt, was dem Gebiet fehlen könnte, eine Gaststätte zum Beispiel. Stattdessen heißt es nur, daß es nicht gebraucht werde, da das Gebiet sowieso in die Knie gehe. Es wird so ein schlechtes Image produziert, das das Gebiet in der Tat allmählich in die Knie zwingt ...
Wellner: Der Wettbewerb für das Alleecenter fand in zwei Phasen statt. In der letzten Phase wurde das Büro Gerkan Marg und Partner als erster Preisträger ausgewählt, der zweite Preis ging an das Büro Speer HPP. Und dann wurde entschieden, daß sich beide mit ihren Entwürfen an der Realisierung beteiligen sollen. Das Alleecenter hat schließlich jedoch eine etwas andere Gestalt angenommen. Ursprünglich gab es auch den Vorschlag, dort das Rathaus, von dem kurz vor der Wende die Rede war, oder Bahnhofseinrichtungen unterzubringen. Klar war auch in der Wettbewerbsphase, daß das Center öffentlich durchgängig bleiben müsse. Während der Verhandlungen über den Bebauungsplan und am konkreten Projekt hat sich dann letzten Endes doch der Investor gegenüber der Stadt durchgesetzt – wie eigentlich fast immer in solchen Angelegenheiten. Dabei entstand die sogenannte Bypass-Lösung. Die Passage, die den nördlichen und südlichen Teil Grünaus verbindet, ist nämlich nur tagsüber geöffnet. Dies führte zu großen Konflikten über die Öffnungszeiten der Passage – bis hin zu Festlegungen im Bebauungsplan. Wenn die Passage nun nachts geschlossen ist, muß man über diesen Bypass ausweichen – und das ist ein wirklich finsterer Tunnel!

Scheibe: Das Kritischste aber ist, daß die Querverbindung im Zentrumsbereich zwischen dem Norden und dem Süden von Grünau nicht mehr gegeben ist. Außer am Tag, wo man zwangsläufig durch den Konsumtempel geführt wird.

Eichhorn: Was natürlich die Absicht des Betreibers ist.

Puckelwaldt: Mit diesem Tunnel hat man einen Schandfleck geschaffen, an den ich gern Architekten und Stadtplaner aus der ganzen Welt führe ...

Eichhorn: Ich hatte 1984 einmal die Gelegenheit, eine Gruppe Studenten von Günther Behnisch durch Grünau zu führen. Am Ende der Veranstaltung hat sich Behnisch erst einmal bei mir bedankt und dann zu seinen Studenten gesagt: „Seid mal nicht so forsch. Das, was hier geleistet worden ist, das ist eine Leistung, die Bestand hat. Das ist eine Leistung, die sich international sehen lassen kann.“ Seitdem habe ich unsere Arbeit auch mit ein bißchen mehr Stolz gesehen. Aber was heute von den Medien betrieben wird, das ist eine Art Mobbing und reine Schlechtmacherei des Gebiets. Auch die heutigen Planer müssen sich Grünau ganz anders widmen und sich viel intensiver mit dem Planungskonzept beschäftigen, als allein von der betriebsökonomischen Seite her zu argumentieren. Denn das Konzept der Dominanten, der Sichtbeziehungen und Randbebauungen – all das, was ursprünglich geplant war – fällt bei einer rein wirtschaftlichen Betrachtungsweise natürlich unter den Tisch.

Puckelwaldt: Und warum diese Stimmungsmache ausschließlich gegen Grünau? Hier sind ungefähr drei Millionen Mark in die Freiflächenanlagen geflossen. Warum muß man dann 99,9 % seines Frustes über Grünau ausschütten? Es gibt doch hier noch immer eine Masse von 50.000 Einwohnern und eine Masse von Geldern. Es darf doch nicht wahr sein, daß das Ganze in Frage gestellt wird, aber parallel dazu weiterhin in das Gebiet investiert wird. Vor zwei bis drei Jahren war das hier noch ein Muster- und Vorzeigeobjekt. Das verstehe ich nicht.

Eichhorn: Ich frage mich, ob wir wirklich so reich sind in der Bundesrepublik, daß wir es uns leisten können, aus dem, was geschaffen wurde, eine Brache zu machen.

Kaßler: Aus meiner Sicht war trotz des Zentralismus auch irgendwie eine Handschrift zu sehen. Und heute ist die Handschrift das Geld, und nur wenn Geld da ist, wird etwas gemacht. Ist wenig Geld da, wird wenig gemacht. Und ist viel Geld da, wird – zumindest aus unserer Sicht – viel Unsinn gemacht. Da wird so viel geplant, und plötzlich sind drei Jahre vergangen und dementsprechend viele Fördermittel ausgegeben, und wir haben keine richtige Handhabe das Ding zu bremsen. Das ist das Problem der heutigen Zeit. Ich fand das früher besser. Da haben sich die drei Säulen – die Architekten, die Hauptauftraggeber und die Kommunalpolitik – zusammengerauft. Was dann am Schluß machbar war, wurde gemacht, und dabei blieb es auch – abgesehen von den Streichungen, die aber keiner von uns zu verantworten hatte. Noch ein Wort zu den Abrissen: Das ist eine Krankheit, die wir nicht zu vertreten haben. Es liegt an der Politik der Sächsischen Aufbaubank, die das Geschäft im Auftrag der Staatsregierung betreibt. Die Aufbaubank geht leidenschaftslos und allein nach ihren Maßstäben vor. Da wird dann zum Beispiel das Haus, das möglicherweise noch eine Finanzierung verspricht, erhalten und alle anderen werden abgerissen. So kommen dann Entscheidungen zustande, die ein Außenstehender nicht verstehen kann.

Eichhorn: Ich kann nur sagen, daß wir nach der Wende eigentlich große Hoffnung hatten, daß wir das, was wir in Grünau nicht mehr nach den ursprünglichen Planungen fertigstellen konnten, nun endlich durchsetzen könnten. Wir hatten gehofft, daß etwas passiert, mußten dann aber merken, daß die sehr schlichten und klaren Gebäude mit Türmchen und Dächlein und solchen Mätzchen aufgehübscht wurden. Und die Leute haben sich gefreut, wie schön das aussieht. Einen Vorteil hatte es natürlich: Es passierte etwas, es wurde renoviert, und in manchen Punkten wurde es vielleicht auch etwas besser. Der Amtsleiter des Stadtplanungsamtes war damals der Meinung, daß in Grünau eigentlich nichts mehr zu tun sei, da dort alles fertig sei. Der Widerspruch, der von meiner Seite kam, ist dann natürlich einfach vom Tisch gewischt worden.

Wellner: Ich erinnere mich gut, daß es 1988 plötzlich einen Ruck gab und daß sich etwas bewegte. Da haben sich die Stadtbezirksleitung der SED und der Rat des Stadtbezirkes West geeinigt, daß man in Grünau – das schließlich das Schwergewicht im Stadtbezirk West darstellte – vielleicht doch so etwas wie ein Rathaus bauen sollte und ein Gebäude für die Stadtbezirksparteileitung. Damals fand hierzu ein Wettbewerb statt. Das Rathaus war dabei an und für sich unwichtig und die Stadtbezirksparteileitung ist durch die Wende dann natürlich ad acta gelegt worden. Und auch für ein Kultur- und Freizeitzentrum gab es keinen konkreten Aufhänger. Uns wurde nur gestattet, diese Sache als Vorbehaltsfläche auszuweisen, ohne jede Verbindlichkeit.
Mit der Wende gab es dann plötzlich Chancen. 1989 war die Achse noch völlig frei von jeder Art Handelseinrichtungen – bis auf einige Läden und die Post. Bibliothek, Friseur, Post und ein paar Dienstleistungen waren noch 1990 im Rohbau fertig gestellt worden, obwohl absehbar war, daß man in Zukunft etwas anderes wollte. Wir haben uns dagegen gewendet, aber die Dinge waren so weit fertig, daß eine zeitweilige Nutzung gestattet wurde. Eine andere, sehr produktive Erscheinung war der fliegende Handel, der an dieser Achse dann ermöglicht wurde. Auf den Fotos von 1990 sieht man die Händler. Sie wurden zielgerichtet in die Stuttgarter Allee geleitet, damit sich herumspricht, daß dort das eigentliche Zentrum ist. Es entstanden dort eine Menge Bretterbuden, und es gab ein Riesendurcheinander, so wie jetzt im WK4.

Puckelwaldt: Das ist wirklich traurig: Grünau hat eine riesige Chance gehabt. Herr Kaßler weiß, was wir hier alles an Geld hineingesteckt haben. Noch vor fünf Jahren waren wir der Meinung, daß wir hier eine Menge geschafft hätten. Im Augenblick ist das eine blöde Situation. Es wird immer verrückter. Es werden Dinge diskutiert, und es wird zurückgebaut, da schlagen Sie als Architekt die Hände über dem Kopf zusammen. Zum Beispiel soll an der Stuttgarter Allee zwischen Pep und Alleecenter die eine Seite mit all den Läden weggenommen werden. Das ist nicht vorstellbar! Zumal noch vor kurzer Zeit richtig viel Geld da hineingesteckt wurde.

Kaßler: Ich erinnere mich noch an Paunsdorf. Es hieß ja immer „Grünau Schlammhausen“ und „Wohnungen, Wohnungen, Straßen nie“, und auch, daß es bis auf Schulen und Kindergärten so gut wie nie gesellschaftliche Einrichtungen gab. Aber mit dem Beginn des WK2 in Paunsdorf hatten wir die Schule, die Straßen, die Straßenbahn, die Kaufhalle und die Wohnungen das erste Mal parallel realisieren können. Und dann kam die Wende. Da hatten wir nun die Planung von Wohnungen und Wohnfolgeeinrichtungen endlich im Griff – und plötzlich war alles vorbei.

ARCH+, Di., 2005.06.07

07. Juni 2005



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