Editorial

Top-down vs. Bottom-up, Selbstorganisation und gegenseitige Hilfe vs. sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat, urbane Kompetenz vs. Paternalismus, Rotes Wien vs. Siedlerbewegung: Das sind Debatten, denen wir uns sowohl in dérive als auch beim urbanize! Festival immer wieder stellen. Meistens kommen wir dabei zum Schluss, dass es ein Best of Both Worlds braucht. Wobei wir uns als BewohnerInnen einer Stadt wie Wien in der gefühlte fünf Magistratsabteilungen für jeden Pflasterstein zuständig sind, bevorzugt die Wichtigkeit des Stadt-selber- Machens betonen, was in einer Stadt in der ein ökonomisches (Über-)Leben ohne Selbstorganisation gar nicht möglich ist, weniger oder nicht notwendig wäre. Gleichzeitig wollen wir die Vorzüge einer funktionierenden Verwaltung, die sich in Wien etwa durch die einwandfrei organisierte Müllabfuhr oder den weit verzweigten öffentlichen Verkehr zeigt, nicht missen.

Für den aktuellen Schwerpunkt Bidonvilles & Bretteldörfer – in dem diese Debatte wieder auftaucht – haben sich die beiden verantwortlichen Redakteure Andre Krammer und Friedrich Hauer die informelle Stadtentwicklung in Europa zum Thema gemacht. Sie betonen, dass eine exakte Trennung von formell und informell bzw. Top-down und Bottom-up unmöglich ist und schon der Versuch zum Scheitern verurteilt ist, weil die vermeintlichen Gegensätze oft gar keine sind: »das Formelle [kann] nicht mehr vereinfachend mit einer Top- down-Planung, das Informelle nicht mit einer Raumproduktion Bottom-Up gleichgesetzt werden«.

Der Fokus des Schwerpunkts »liegt auf informellen Siedlungsstrukturen, die in Reaktion auf soziale und existentielle Not als Selbsthilfeprojekte entstanden sind.« Gezeigt wird, »dass informelle Siedlungen eine räumlich ausgreifende, bis heute vielfach präsente Realität der europäischen Stadt waren bzw. sind« und nicht nur als ein Phänomen des globalen Südens wahrgenommen werden sollten. In den Beiträgen des Schwerpunkts zeigt sich, dass Kontext, Strukturen und Muster von lokalen Entwicklungen in unterschiedlichen Städten viele Parallelen aufweisen und es deswegen wichtig ist, sich mit Bidonvilles, Bretteldörfern und Fischkistensiedlungen nicht nur lokalhistorisch auseinanderzusetzen.

Zu den erwähnten Städten gehört u.a. Hamburg mit seinen Fischkistensiedlungen, die in den Jahren der Industrialisierung und nach dem Ersten Weltkrieg in Zeiten höchster Wohnungsnot am Stadtrand entstanden sind. Anke Schulz skizziert in ihrem Artikel Die Bude haben wir gebaut, mein Mann und ich die damalige Situation und den späteren Kampf der Bewohner für den Erhalt der Siedlungen. Mit dem Wachstum von Hamburg stieg der Bedarf an Baugrund und damit auch der Druck auf die ehemals billigen und unbeachteten Flächen.

Was in Hamburg die Fischkisten waren, waren in Frank- reich die für die Siedlungen namensgebenden Kanister (frz. bidons). Verdrängt und abgelöst wurden die Bidonvilles vom fordistischen Massenwohnungsbau ab den 1950er Jahren, der damit die heutigen Banlieus schuf. Muriel Cohen und Marie-Claude Blanc-Chaléard beschreiben in ihrem Text Schwellen zur Stadt jedoch nicht nur die historischen Bidonvilles des 20. Jahrhunderts, sondern auch deren Wiederaufleben im 21. Jahrhundert und betonen den völlig veränderten gesellschaftspolitischen Kontext, der beispielsweise für den Dschungel in Calais gilt.

Das interessante an dem Thema Informalität in Jugoslawien sind, wie Dubravka Sekulić in ihrem Beitrag The ambiguities of informality schreibt, die Veränderungen und Kontinuitäten vor dem Hintergrund des Wechsels der politischen Gesellschaftssysteme und die Rolle, die die Gastarbeiter dabei spielten. Anders als in Frankreich geht es nicht um die Unterkünfte, die im Aufenthaltsland errichtet wurden, sondern um diejenigen im Herkunftsland.

Die Schwerpunktredakteure Krammer und Hauer steuern außerdem ein Interview mit der Filmemacherin Melanie Hollaus bei. Hollaus beschäftigt sich in ihren Filmen immer wie- der mit Menschen und Räumen, die vom gesellschaftlichen Mainstream mit einer Mischung aus Angst, Abscheu und Neugier betrachtet werden. Im Mittelpunkt des Gesprächs steht die ehemalige Bocksiedlung in Innsbruck über die Hollaus 2012 einen Film gedreht hat. Derzeit arbeitet sie im Rahmen des Forschungsprojekts Bretteldorf revisited – gemeinsam mit Krammer und Hauer – an einem Film über die Geschichte informeller Raumproduktion in Wien, die im Text Das wilde Wien und dem Exkurs Besuchen Sie Bretteldorf! im Mittelpunkt steht, die
beide von den Schwerpunktredakteuren Krammer und Hauer verfasst wurden.

Im Magazinteil dieser Ausgabe berichtet Ernst Gruber über die Sanierung und Revitalisierung ihrer ursprünglichen Nutzung verlustig gegangener Gebäude durch junge Kreative im benachbarten Bratislava, die sich augenzwinkernd selbst als cultural developers bezeichnen.

Für das Kunstinsert zeigen Nicole Six und Paul Petritsch eine Arbeit im Rahmen ihrer Beschäftigung mit Anna Lülja Praun, eine der ersten österreichischen Architektinnen überhaupt. In ihrer Arbeit spielte Kooperation stets eine wichtige Rolle. Damit war sie einerseits ihrer Zeit weit voraus, andererseits hat diese Arbeitspraxis auch dazu geführt, dass ihrem eigenen Werk nicht die Aufmerksamkeit zuteil wird, wie dem ihrer männlichen Zeitgenossen.

Um besondere Aufmerksamkeit bitten wir zum Schluss – in höchst eigennützigem Interesse – für das Hausprojekt Bikes and Rails: Mit Bikes and Rails bauen wir im Wiener Sonnwendviertel den 1. Neubau im Habitat, dem Mietshäuser-Syndikat in Österreich. Das geplante Mietshaus wird durch die spezielle Rechtskonstruktion im Habitat dauerhaft dem Immobilienmarkt entzogen. Jegliche zukünftige Verwertung ist damit ausgeschlossen und langfristig günstige Mieten und solidarische Freiräume für Generationen sind garantiert. Finanziert wird das Projekt u.a. mit privaten Direktkrediten: Wer mithelfen will, dieses Modellprojekt für selbstverwalteten und bezahlbaren Wohnraum auf die Beine zu stellen, und sein Geld sozial, lokal und transparent in unser solidarisches Hauprojekt einlegen will, findet alle Informationen auf www.bikesandrails.org.

Christoph Laimer

Inhalt

Editorial
Christoph Laimer

Schwerpunkt:

Bidonvilles, Fischkistensiedlungen, Bretteldörfer Anmerkungen zur informellen Raumproduktion in Europa
Andre Krammer, Friedrich Hauer

Das wilde Wien
Rückblick auf ein Jahrhundert informeller Stadtentwicklung
Andre Krammer, Friedrich Hauer

Exkurs: Besuchen sie Bretteldorf!
Andre Krammer, Friedrich Hauer

Wo die Abrissbirne wartet
Interview mit Melanie Hollaus über die Innsbrucker Bocksiedlung
Andre Krammer, Friedrich Hauer

Schwellen zur Stadt
Die Bidonvilles im Frankreich des 20. und 21. Jahrhunderts
Muriel Cohen, Marie-Claude Blanc-Chaléard

The ambiguities of informality
The extra-legal production of space in Belgrade during socialism and after
Dubravka Sekulić

Die Bude haben wir gebaut, mein Mann und ich
Fischkistensiedlungen in Hamburg zwischen Obdachlosenselbsthilfe und kommunalem Wohnungsbau
Anke Schulz

Kunstinsert:
Nicole Six und Paul Petritsch

Magazin:
Alte Mauern junge Kollektive
Stadt entwickeln lassen, auf Slowakisch
Ernst Gruber

Besprechungen:
Ein einzigartiges Wohnlabor
Kollaborative Selbstermächtigung für städtisches Handeln
Selbstbeauftragte Archivierung
Dekommodifizierung und Demokratisierung der Wohnraumversorgung
»Und wer zahlt das?«
Beweismittel Architektur
Inklusion als neues Selbstverständnis
Von Innsbruck nach Calais

Bidonvilles, Fischkistensiedlungen, Bretteldörfer

(SUBTITLE) Anmerkungen zur informellen Raumproduktion in Europa

Die informelle Stadt ist in aller Munde. Gedacht wird dabei oft reflexartig an Favelas, Shantytowns, Barriadas – an die zahlreichen Slums des globalen Südens. Wir wollen mit dieser Ausgabe von dérive zeigen, dass informelle Siedlungen eine räumlich ausgreifende, bis heute vielfach präsente Realität der europäischen Stadt waren bzw. sind. Ihre Entwicklungsgeschichte ist in der Forschung unterrepräsentiert und tritt meist nur lokalhistorisch in Erscheinung. Dieser Umstand ist der sozialhistorischen wie urbanistischen Bedeutung informeller Siedlungen nicht angemessen.

Der vorliegende Schwerpunkt versammelt Anschauungsmaterial aus 100 Jahren informeller Stadtproduktion in Europa. Er beleuchtet neben ihren Ursachen verschiedene Formen des Umgangs mit dieser (wie Upgrading, Downgrading, Konsolidierungsprozesse, Räumungen etc.) und ihre Deutung. Der Fokus dieser Ausgabe von dérive liegt auf informellen Siedlungsstrukturen, die in Reaktion auf soziale und existentielle Not als Selbsthilfeprojekte entstanden sind. Es sind Entwicklungen, die weiter andauern: Roma-Siedlungen, Wagenplätze, Obdachlosigkeit oder informelle Flüchtlingslager existieren heute in Europa oft nur wenige Meter entfernt von Investorentürmen und den Quartieren der Wohlhabenden.

Auf die Vielschichtigkeit der Thematik ist dabei hinzuweisen: Informelle Raumproduktion kann auch von Partikularinteressen ökonomisch und sozial potenter AkteurInnen vorangetrieben werden – in Italien verdanken etwa unzählige Villen, Hotels und Spekulationsobjekte ihre Existenz der Abwesenheit einer gesellschaftlich als verbindlich angesehenen Raum- und Bauordnung.

Bretteldörfer – ein globales Phänomen zwischen Kritik und Romantisierung

Spätestens seit dem UN-Report The Challenge of Slums von 2003 wird Informalität nicht zuletzt als ein »Ausdruck struktureller Anpassungen an globale Marktkräfte« gesehen (Altvater 2005, S. 309). Die Zahlen der UN-Studie veranschaulichen, dass es sich bei der global rasch anwachsenden informellen Stadt an den Rändern der Metropolen keineswegs um eine vernachlässigbare Erscheinung handelt. 2003 lebte bereits jeder sechste Mensch weltweit – insgesamt eine Milliarde – in einer informellen Siedlung. Den US-amerikanischen Urbanisten Mike Davis motivierte der UN-Bericht zu vertiefenden Recherchen. In seinem Buch Planet of Slums (2006) belegt er Ausmaß und Zusammenhänge der weltweit rasant zunehmenden Elendsurbanisierung, insbesondere in den Metropolen des Südens. Davis sieht das Wachstum der informellen Stadt durch neoliberale Politik angestoßen – nicht zuletzt durch die berüchtigten IWF-Programme zur Strukturanpassung, die weite Bevölkerungsschichten ökonomisch und räumlich marginalisierten. Für viele, die massenhaft in die Städte strömen, wird die informelle Siedlung dabei von der Übergangs- zur Dauerlösung.

Neben der neomarxistischen Sichtweise Davis’, die den Planet der Slums als Krisensymptom des globalisierten Kapitalismus interpretiert, sind auch zahlreiche sich als pragmatisch verstehende Annäherungen an das Phänomen der informellen Raumproduktion zu verzeichnen. Diese eint die Vorstellung, das Informelle nach dem Motto Learning from... in zukünftige kapitalistische Stadtmodelle auf produktive Weise integrieren zu können. Prominente VertreterInnen dieses Ansatzes sind u.a. der holländische Stararchitekt Rem Koolhaas[1], der peruanische Ökonom Hernando de Soto[2] oder der britisch-kanadische Journalist Doug Saunders[3]. Der Selbstorganisation und der Improvisation wird dabei ein unternehmerisches Potenzial zugeschrieben, dass es mit dem neoliberalen Imperativ der Eigeninitiative kompatibel macht (Hagemann 2012, S. 76f.). Das Informelle wird zum »Experimentierfeld für die Untersuchung von Anpassungs- und Innovationsprozessen« erklärt (Brillembourg 2005, S. 302) bzw. en passant zur Keimzelle einer neuen »solidarischen Ökonomie« ausgerufen (Altvater 2005, S. 309).

Diese teils offen affirmativen Zugänge tendieren dazu, Armut zu ästhetisieren und so einer Slum-Faszination, einem Favela-Chic und einem überwunden geglaubten kolonialen Gestus zu unterliegen (Krasny 2012, S. 23; Hagemann 2012, S. 73). Dabei bleibt die Rezeption des Informellen meist selektiv und tendenziell phänomenologisch verkürzt. So kann etwa das – an sich durchaus berechtigte – akademische Interesse an Formen des Selbstbaus die Tatsache verdecken, dass informelle Siedlungen auch Ausdruck von globalen wie lokalen Machtstrukturen, Marginalisierung und Ausbeutung sind (Hagemann 2012, S. 73f.).

Auf der Berliner Weltkonferenz zur Zukunft der Städte URBAN 21 im Jahr 2000 wurden sogar bis dahin eher als ein Übel angesehene illegale Landbesetzungen als wirtschaftlicher Motor der Stadtentwicklung gefeiert (Becker 2003, S. 14) – und informelle Urbanisierung damit unter der Hand auch als eine Art Neoliberalismus von unten vereinnahmt.

Formell-informell

Die Stadtforscherin Anke Hagemann charakterisiert das Informelle als einen unscharfen, schillernden Sammelbegriff. Er leitet sich vom lateinischen informis ab, das übersetzt unförmig, formlos, aber auch unschön, hässlich, garstig bedeuten kann. Verschiedene, oft schwer voneinander zu trennende strukturalistische, ästhetische und moralische Perspektiven tönen da mit. Das Informelle beinhaltet immer eine Negation, bezieht sich stets auf etwas, das es selbst nicht ist.

Die informelle Stadt ist demnach nur in ihrem Verhältnis zur formalisierten, geordneten, konsolidierten Stadt verstehund analysierbar. Bei der formellen und der informellen Stadt handelt es sich allerdings keineswegs um parallele Welten, etwa eine produktive und eine parasitäre Sphäre oder eine normierte und eine ungezwungene Lebenswelt, sondern um ökonomisch und sozial vielfach miteinander verflochtene Strukturen (Becker 2003, S. 13). Der postmoderne Slum ist – wie schon sein viktorianischer Vorfahre – in ein übergeordnetes sozioökonomisches Gesamtsystem eingebettet, auf dessen innere Mechanismen und Widersprüche er bezogen bleibt. Die realen Lebensbedingungen in der informellen Stadt, die nicht selten von Kriminalität, Armut, Krankheit, Immobilienspekulation und Ausbeutung geprägt sind, dürfen dabei nicht ausgeblendet werden. Insbesondere auf den ersten Blick positive Maßnahmen der Aufwertung, der Formalisierung und der Legalisierung sollten jedoch immer auch in Hinblick auf inhärente repressive Agenden analysiert werden: Was wird gegen den Anschluss an das kommunale Wasser- und Stromnetz, gegen den formellen Status etc. eingetauscht? Und wer profitiert davon?

Heute kann das Formelle nicht mehr vereinfachend mit einer Top-down-Planung, das Informelle nicht mit einer Raumproduktion Bottom-Up gleichgesetzt werden. Das Primat des Ökonomischen, das die unternehmerische Stadt[4] (Harvey 1989, S. 3-17) der Gegenwart prägt, hat längst zu einer Erosion hoheitlicher Zugriffsmöglichkeiten auf die Raumproduktion geführt. Stadtentwicklung ist heute bekanntlich oft nur die Summe von Einzelinteressen am Markt Konkurrierender. Auch die deregulierte unternehmerische Stadt basiert somit auf einer Form der Informalisierung, doch wird diese nicht von unten und für alle, sondern privatwirtschaftlich von oben und sehr selektiv vorangetrieben.

Europäische Ursprünge

Die räumliche Entwicklung der europäischen Stadt ist von spezifischen Ausgrenzungsmustern geprägt. Das moderne Armenviertel war nicht zuletzt eine zwangsläufige Begleiterscheinung der industriellen Revolution. Die Schlammviertel (Spiller 1911/2008) begleiten die moderne Großstadt gleichsam als ihr langer Modernisierungsschatten. Die Augen des Bürgertums nahmen sie häufig als gefährlichen Stadtdschungel wahr und sie riefen früh SozialreformerInnen[5] auf den Plan. Die Armen galten als gefährliche, zu Kriminalität und Unmoral neigende Masse (Evans 1997, S. 99). Hier wurde eine Tradition mitbegründet, die in die Agenden der Moderne im 20. Jahrhundert eingehen und diese mitprägen sollte: Die Vorstellung einer kausalen Verknüpfung von Raumdisposition und sozialen Verhältnissen.

Selbst der revolutionär gesinnte Flügel der sozialistischen ArbeiterInnenbewegung hatte allerdings seine Probleme mit dem inhomogenen Subproletariat, setzte man doch allein auf die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt. So heißt es bereits bei Marx und Engels im Kommunistischen Manifest von 1848: »Das Lumpenproletariat, diese passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft, wird durch eine proletarische Revolution stellenweise in die Bewegung hineingeschleudert, seiner ganzen Lebenslage nach wird es bereitwilliger sein, sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen.« (Marx, Engels 2007, S. 8)

Eine eigenwillige Verkehrung dieses Standpunkts findet sich 160 Jahre später bei dem Philosophen Slavoj Žižek, der die global wachsende Menge an SlumbewohnerInnen und Überflüssigen leichthin zum neuen, zukünftigen revolutionären Subjekt erklärt (Žižek 2009, S. 256f.). Das bedrohliche Pendant dazu bilden Szenarien und Planspiele zur counter-insurgency aus Militärkreisen, die sich gegen die potenziell gefährlichen »Armeen der Armen« richten (Davis 2006, S. 214). In derartigen Zuspitzungen ist nicht zuletzt die Warnung enthalten, dass Worte und ideologische Zuschreibungen jederzeit – wie in der Vergangenheit allzu oft – in nackte Gewalt umschlagen können.

Ein blinder Fleck?

In der bis heute wirksamen Erzählung, in der die europäische Stadt des 19. Jahrhunderts posthum zur keimfreien Idealwelt bürgerlicher Urbanität verklärt wird, ebenso wie in der Geschichte der funktionalen Stadt der klassischen Moderne gelten die Bretteldörfer und Barackensiedlungen eher als Störgeräusche. Dabei ist es auffällig, dass gerade die informellen Armensiedlungen als Zerrbild und Vorläuferinnen des z.B. von der Bauhaus-Avantgarde propagierten industriellen Wohnbaus gesehen werden können. Es waren die Elenden und Marginalisierten, die sich lange vor dem fordistischen Nachkriegsboom aus industriell gefertigten Massenprodukten wie Kanistern (frz.: bidon) und Fischkisten, Kohlewägen, ausrangierten Eisenbahnwaggons oder den Chassis von alten Autobussen ihre Unterkünfte bauten.

Auch der Topos der Siedlung selbst und die dort erprobte genossenschaftliche Organisation wurde zeitweise zu einem wichtigen, wenn auch ambivalenten Leitbild der architektonischen Moderne. Eine Aussage des sozialdemokratischen Wiener Ökonomen und Theoretikers Otto Neurath aus dem Jahr 1921 spricht das an: »Genossenschaftsleben hat zwei Verwandte: kleinbürgerliche Vereinsmeierei und Organisationstreiben breiter Massen. Es hängt von der geschichtlichen Lage ab, in welcher Richtung es sich entwickelt.« (Neurath, Arbeiter-Zeitung vom 20.11.1921, S. 7)

Die Gegenwart des Informellen in Europa

Die in den Nachkriegszeiten des 20. Jahrhunderts der Not entsprungenen ungeregelten Landnahmen, die nach wie vor oft informellen Siedlungen der Roma und Sinti (siehe dérive Nr. 64) sowie die bis heute existierenden französischen Bidonvilles (siehe den Artikel von Muriel Cohen & Marie-Claude Blanc-Chaléard auf S. 24) werden trotz ihrer Ausdehnung und Permanenz häufig immer noch als urbanistischer Nebenschauplatz gehandelt.

Anders stellt sich die Situation – wie bereits angedeutet – im südeuropäischen Kontext dar. Als Beispiel bietet sich Italien an, das mit mehr als 20 Millionen ohne Rücksicht auf Baugesetze und Raumordnung errichteten Objekten so etwas wie das Kernland des informellen Bauens unter den Industrienationen ist (vgl. Dominik Straub, Der Standard vom 3.9.2017)[6]. In manchen südlichen Regionen wie Kalabrien, Kampanien oder Sizilien wird der Anteil der illegalen Bauführungen gegenwärtig auf etwa ein Drittel geschätzt (Maura Salerno, Edilizia e Territorio vom 3.12.2015)[7], seit den 1980er Jahren gab es mehrere landesweite Generalamnestien für Bausünder. Auch wenn wir das komplexe Phänomen der italienischen case abusive hier nicht weiter thematisieren können, halten wir es für wichtig, auf den Fall hinzuweisen, weil es sich dabei seit Jahrzehnten um ein klassenübergreifendes Massenphänomen handelt. Durch die schiere Menge illegaler oder halblegaler Gebäude wird – falls existent – regelmäßig die Raumplanung unterlaufen, das Konzept der formellen Stadt relativiert und letztlich der bürgerliche Rechtsstaat in Frage gestellt. Da es sich nur in kleinen Teilen um Elendsurbanisierung handelt und es zudem regelmäßig um die Zersiedlung ökologisch sensibler und oft geschützter Gebiete und verbreitet um Immobilienspekulation geht (Biffi 2014)[8], erweist sich einmal mehr: Informell und Bottom-up sind weder gleichzusetzen noch a priori positive oder emanzipatorische Kategorien.

Dubravka Sekulić zeichnet in ihrem Artikel für diesen Schwerpunkt die Entwicklung illegaler Landnahme und Bautätigkeit an der Belgrader Peripherie nach. Im damaligen Jugoslawien setzten die wilden SiedlerInnen der sozialistischen Logik gemeinschaftlichen Eigentums und kommunaler Wohnraumversorgung – die in der ökonomischen Krise der 1970er und 80er Jahre nicht mehr Wohnraum für alle bereitstellen konnte – Eigeninitiative und die Logik einer privaten Raumproduktion entgegen, die auch als Vorläufer der späteren, marktförmigen Entwicklung angesehen werden kann.

In Mittel- und Nordeuropa stellt sich die europäische Stadt für ZuwanderInnen längst als eine Ankunftsstadt, eine weitere globale arrival city dar (Saunders 2013). Dort sind sie – meist in peripheren Zonen –, um ihr Überleben sichern zu können, weitgehend auf informelle räumliche und soziale Praktiken angewiesen. Informelle und halb-formelle Flüchtlingslager, wie sie sich etwa in Frankreich herausgebildet haben – bezeichnenderweise wurde das bekannteste von ihnen in post-viktorianischer Manier Calais Jungle benannt –, verweisen zudem auf die ungebrochene Aktualität des Themas. Zunehmend repressive Migrationsregime und Phantasmagorien einer räumlichen Ausgrenzung gigantischen Ausmaßes, wie sie sich im hermetischen Bild der Festung Europa manifestieren, können daran wenig ändern.

Informelle Stadtproduktion hat in der Vergangenheit entscheidend dazu beigetragen, Krisen- und Modernisierungsschübe zu bewältigen. Wie die Rezeption in neueren Arbeiten zu umkämpftem Grün und urban commons zeigt, besitzen die semi-subsistenten Modelle kollektiver Selbsthilfe in Wien nach 1918 noch immer eine gewisse Strahlkraft (Kumnig et al. 2017; Baldauf et al. 2016). Auch unser Beitrag für diesen Schwerpunkt zeigt: Das rote und das wilde Wien waren zwei Systeme, die nicht nur in der Zwischenkriegszeit ökonomisch und stadträumlich aufeinander bezogen waren. Die wilden Siedlungen in der Übergangszone zwischen Stadt und Land waren ein der Not entsprungenes Laboratorium einer neuartigen bukolischen Urbanität, die noch zu erforschen wäre. Auch die gegenwärtige, zunehmend globalisierte Recht-auf-Stadt-Bewegung kann von historischen Formen einer Stadt von unten etwas lernen und so die eigene Positionierung in der Geschichte sozial-räumlicher Selbstermächtigung und Emanzipation genauer verorten.[9]


Anmerkungen:

[01] Rem Koolhaas hat im Rahmen des Forschungsprojekts Harvard Project on the City die nigerianische Metropole Lagos untersucht, die besonders stark von informellem Wachstum geprägt ist. Seine neo-organizistische Perspektive vernachlässigt dabei – wie KritikerInnen anmerkten – die drückende Armut, Gewalt und infrastrukturelle Defizite, die in den informellen Armenvierteln der afrikanischen Metropole den Alltag prägen.
[02] Hernando de Soto ist ein peruanischer Ökonom, der mit seinen Arbeiten zur informellen Ökonomie bekannt wurde. De Soto betont die Bedeutung von Eigentumsrechten für wirtschaftliche Prosperität. Er hält die globalen SlumbewohnerInnen für TrägerInnen heute noch ungenutzten Reichtums. Zentral für De Soto ist mittelfristig die Schaffung von privaten Besitzrechten in Folge der zuerst informellen Landnahme. Er propagiert eine Revolution und eine Zukunft des Kapitalismus durch eine Marktwirtschaft von unten – der Favela-Bewohner- Innen von heute als KapitalistInnen von morgen.
[03] Siehe: Saunders’ (2013) Buch kann teilweise als Gegenthese zu Mike Davis Planet der Slums gelesen werden. Auch hier werden mit Slums, die Saunders Ankunftsstädte nennt, wirtschaftliche Potenziale für die Zukunft verknüpft. Die Ankunftsstadt ist in dieser Sichtweise eine notwendige Übergangszone für jene, die vom Land in die Stadt strömen.
[04] Harvey prägte in seinem Aufsatz den Begriff eines urban entrepreneurialism, der im deutschen Sprachraum in der Übersetzung unternehmerische Stadt Karriere machte.
[05] Etwa Charles Booth, britischer Sozialforscher und Philanthrop, gemeinsam mit Henry Mayhew ein Pionier der Stadtforschung, erforschte die Londoner Arbeiterklasse Ende des 19. Jahrhunderts.
[06] Siehe: derstandard. at/2000063485588/Italien- Das-Land-in-dem-alle- Bausuenden-vergeben-werden.
[07] Siehe: www.ediliziaeterritorio. ilsole24ore.com/art/ citta-e-urbanistica/ 2015-12-02/istat-italiapatria- abusivismo-sudillegali- quasi-60- fabbricati-100--162429.php? uuid=ACk5wclB&refresh_ce=1
[08] Siehe: www.legambiente.it/ sites/default/files/docs/ abusivismo_litalia_frana_ il_parlamento_condona- _dossierfile.pdf
[09] Siehe auch: dérive Nr. 60 Henri Lefebvre und das Recht auf Stadt; dérive Nr. 61 Perspektiven eines kooperativen Urbanismus; dérive 49 Stadt selber machen bzw. Festival urbanize. 2015: Do it together, etc.


Literatur
Altvater, Elmar (2005): Globalisierung und die Informalisierung des urbanen Raums. In: Brillembourg et al, S. 306-309.
Baldauf, Anette; Gruber, Stefan; Hille, Moira; Krauss, Annette; Miller, Vladimir; Verlic´, Mara; Wang, Hong-Kai & Wieger, Julia (2016): Spaces of Commoning. Artistic Research and the Utopia of the Everyday. Berlin, New York: Sternberg Press.
Becker, Jochen; Burbaum, Claudia; Kaltwasser, Martin; Köbberling, Fölke; Lanz, Stephan & Reichard, Katja (2003): Learning from. Städte von Welt, Phantasmen der Zivilgesellschaft, informelle Organisation. Berlin: NGBK.
Blum, Elisabeth & Neitzke Peter (Hrsg.) (2014): FavelaMetropolis. Berichte und Projekte aus Rio de Janeiro und Sao Paulo. Basel: Birkhäuser Verlag.
Davis, Mike (2011): Planet der Slums. Berlin, Hamburg: Assoziation A Verlag.
Brillembourg, Alfredo & Feireiss, Kirstin & Hubert Klumpner (2005): Informal City. Caracas Case. München: Prestel Verlag.
Evans, Robin (1996): Translation form drawing to building. London: AA Documents.
Hagemann, Anke (2012): Der Mainstream des Informellen: Urbanistische Forschung zwischen Romantisierung und städtischer Realität. In: Krasny, Elke (Hrsg.) (2012):
Hands-on Urbanism 1850–2012. Vom Recht auf Grün. Wien, Berlin: Turia + Kant.
Harvey, David (1989): From managerialism to entrepreneurialism: the transformation of urban governance. In: Geografiska Annaler. Series B, Human Geography, Vol. 71, No.1, The Roots of Geographical Change: 1973 to the Present. (1989), S. 3-17.
Kumnig, Sarah; Rosol, Marit & Exner, Andreas (2017): Umkämpftes Grün. Bielefeld: Transcript Verlag.
Krasny, Elke (Hrsg.) (2012): Hands-on Urbanism 1850–2012. Vom Recht auf Grün. Wien, Berlin: Turia + Kant.
Marx, Karl & Engels, Friedrich (1848/2005): Manifest der Kommunistischen Partei. www.vulture-bookz.de
Sassen, Saskia (2005): Fragmentierte urbane Topographien und die ihnen zugrunde liegenden gegenseitigen Verbindungen. In: Brillembourg et al, S. 315-323.
Saunders, Doug (2013): Arrival City. Die neue Völkerwanderung. München: Pantheon Verlag.
Spiller (1911/2008): Slums. Erlebnisse in den Schlammvierteln moderner Großstädte. Wien: Czernin Verlag.
Žižek, Slavoj (2009): Auf verlorenem Posten. Berlin: Insel Verlag.
Zwoch, Felix (2005): Fünf Versionen des In/Formellen. In: Brillembourg et al, S. 304-306.

dérive, Mo., 2018.04.30

30. April 2018 André Krammer, Friedrich Hauer

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