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15. April 2020Friedrich Hauer
dérive

Keine Küche

Margarete Schütte-Lihotzky wurde nicht nur wegen ihres langen Lebens (1897–2000) zur Legende. Sie ist bekannt als erste Architektin Österreichs und Pionierin...

Margarete Schütte-Lihotzky wurde nicht nur wegen ihres langen Lebens (1897–2000) zur Legende. Sie ist bekannt als erste Architektin Österreichs und Pionierin...

Margarete Schütte-Lihotzky wurde nicht nur wegen ihres langen Lebens (1897–2000) zur Legende. Sie ist bekannt als erste Architektin Österreichs und Pionierin der »sozialen Frage« in Architektur und Städtebau, als Widerstandskämpferin gegen die NS-Diktatur, Kommunistin und Aktivistin der Frauenbewegung in der Zweiten Republik. Nicht zuletzt ging sie als Erfinderin der Frankfurter Küche in die Designgeschichte des 20. Jahrhunderts ein.

Eine Reduktion auf ein Einbaumöbel ist sowohl ob ihres vielseitigen Œouvres als auch ob ihres komplexen und durchwegs politischen Lebenswegs unzulässig – und dennoch nicht wenig verbreitet. Schütte-Lihotzky selbst setzte sich in ihren späten Jahren, als das öffentliche Interesse an ihren Erfahrungen und Arbeiten erwach- te, gegen solche klischeehaften Verkürzungen zur Wehr. Gerne wird sie mit Sätzen wie »Ich bin keine Küche!« zitiert. 20 Jahre nach ihrem Tod widmen sich zwei neu erschienene Bücher ihrer vielschichtigen Person. Um es hier vorwegzunehmen: Es handelt sich um ein Ärgernis und einen Glücksfall.

Das von Mona Horncastle verfasste Buch Margarethe Schütte-Lihotzky ist die bislang einzige monografisch angelegte Biografie der »Architektin, Widerstandskämpferin, Aktivistin«. Die Autorin, Kunsthistorikerin und Kuratorin, ist bisher vor allem durch verschiedenen Malern gewidmete »Kunst-Comics« und eine Biografie von Gustav Klimt in Erscheinung getreten. Der Band gliedert sich entlang der Stationen des Lebenswegs von Schütte-Lihotzky: Wien, Frankfurt, Sowjetunion, Türkei, Widerstand und Gefangenschaft, kommunistische Architektin und Aktivistin im Nachkriegs-Wien. Es wird ausgiebig aus ihren autobiografischen Schriften und aus Briefwechseln zitiert, einmal sogar 30 Seiten am Stück. Das Buch ist nicht zuletzt deshalb passagenweise durchaus angenehm zu lesen, grafisch sehr ansprechend gestaltet und elegant gesetzt. Leider weist es gravierende inhaltliche Mängel auf. Hier ist zunächst ein Essential jeder seriösen biografischen Arbeit anzusprechen: Quellenkritik, insbesondere in Bezug auf die zahlreichen, teilweise Jahrzehnte auseinander liegenden Selbstzeugnisse Schütte-Lihotzkys, scheint Horncastle unbekannt. Dadurch bekommt der ganze Text etwas Kolportagehaftes, das bisweilen in betulichen Plauderton mündet. Letzteren kann man mögen oder auch nicht. Schwer wiegt allerdings, dass die Autorin immer wieder ihre profunde Unkenntnis all jener Bereiche aufblitzen lässt, die für die Kontextualisierung des vielseitigen Lebens von Margarete Schütte-Lihotzky unerlässlich wären – europäische Geschichte, Stadtbau- und Designgeschichte, Marxsche Theorie und Marxismus, Grundlinien der österreichischen und Wiener Verhältnisse im langen 20. Jahrhundert. So wird beispielsweise mehrfach und entgegen jede historische Evidenz behauptet, Wien und Frankfurt wären nach dem Ersten Weltkrieg baulich zerstört gewesen und die Architektin sei im »Wiederaufbau« tätig geworden (S. 37, 52, 62). Stellenweise muss man auch groben Unfug lesen, etwa von den »zwei sich ausschließenden marxistischen Klassen Proletariat oder Kapitalismus« (S. 56) oder von 1.200 neu zu erbauenden Städten in der Sowjetunion, die in den 1930er-Jahren »mit einem für damalige Verhältnisse gigantischen Budget von umgerechnet 16,8 Mio. Euro« errichtet werden sollten (S. 87). Wenn wirklich 14.000 Euro für eine ganze sowjetische Stadt reichten, dann ist das entweder nicht sonderlich gigantisch, oder aber nicht sonderlich gut umgerechnet oder umrechenbar. Auch der Unterschied zwischen dem Wiener Stadtbauamt, dem Parteivorstand der SPÖ und der österreichischen Regierung bleibt der Autorin ein Rätsel (S. 214).

Dass Schütte-Lihotzky dann noch en passant ein »feministischer Anspruch« abgesprochen wird, ist zumindest insofern fragwürdig, als dies einer begrifflichen Klärung bedürfte (S. 223). Das sind nur einige Punkte, die jedoch ausreichen, das Vertrauen in die Arbeit der »bekennenden Sprachfetischistin« (S. 287) Horncastle im Ganzen gründlich zu erschüttern. Obendrein scheint man auf Lektorat und Korrektorat verzichtet zu haben, denn es finden sich neben offenkundig falschen Datumsangaben unangenehm viele Grammatik- und Interpunktionsfehler im Text.

Das war die schlechte Nachricht. Die Gute: Ebenfalls letzten Herbst ist ein Sammelband mit dem Titel Margarete Schütte-Lihotzky. Architektur. Politik. Geschlecht. Neue Perspektiven auf Leben und Werk erschienen. Das von Marcel Bois und Bernadette Reinhold herausgegebene Buch geht auf eine Tagung im Oktober 2018 zurück, die von der Universität für angewandte Kunst Wien in Kooperation mit der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg veranstaltet wurde. Was zunächst vielleicht trocken klingt, ist in Wahrheit ein ansprechend gestaltetes, interessant bebildertes und durchwegs auch für ein breites Publikum gut zu lesendes Werk, das den letzten Forschungsstand zu Schütte-Lihotzky wiedergibt. Wer die Durchschnittsexemplare der Gattung Tagungsband kennt, wird also nicht nur ob des breiten Spektrums an vertretenen Disziplinen und Zugängen positiv überrascht.

Der Band gliedert sich in fünf Abschnitte, die jeweils eine Reihe von kürzeren Beiträgen enthalten. Er beginnt mit biografischen und geschlechterhistorischen Perspektiven auf das »Jahrhundertleben« der Architektin (Karin Zogmayer, Christine Zwingl). Hier finden sich etwa ein interessanter Beitrag zur Ausbildung der ersten Architektinnengeneration in Österreich (Sabine Plackolm-Forsthuber) und kritische Überlegungen zu den autobiografischen Schriften von Schütte-Lihotzky (Bernadette Reinhold). Der zweite Abschnitt widmet sich den Stationen ihres transnationalen Architektinnenlebens: Sophie Hochhäusl zeichnet Schütte-Lihotzkys Beitrag zur Wiener Siedlerbewegung der frühen 1920er-Jahre nach, Claudia Quiring jenen zum sozialen Wohnbauprogramm des Neuen Frankfurt (1926–1930). Besondere Einblicke bietet Thomas Flierls Text zu den architektonisch sehr produktiven Jahren des Ehepaars Schütte in Stalins Sowjetunion (1930–1937), für die er auch noch umfangreichen Forschungsbedarf feststellt. Burcu Dogramaci legt neues Material zu Schütte-Lihotzkys »Intermezzo in Istanbul« (1938– 1940) vor, wo beispielsweise typisierte Dorfschulen nach ihren Entwürfen entstanden. Auch die oft wenig beachtete Zeit nach ihrer Gefangenschaft in Nazi-Deutschland (1941–1945) wird thematisiert. Monika Platzer widmet ihren Beitrag den vergessenen Architekturdiskursen in Wien nach Kriegsende. Für eine kommunistische Architektin und überzeugte Verfechterin der sowjetischen Verhältnisse waren im »neuerfundenen« Österreich die Handlungsspielräume sehr eingeschränkt. Wechselvoll und zeitweise intensiv waren die Kontakte Schütte-Lihotzkys zum Bauwesen in der jungen DDR. Wie Clara Aßmann zeigt, wurden ihre Hoffnungen, den Bau von Kindereinrichtungen mitzugestalten, aus ideologischen, die Entwurfshaltung und die Organisationsform der Planung betreffenden Gründen wiederholt enttäuscht. Materialreich und gelungen ist auch die Neudeutung des Tagebuchs ihrer zweiten Chinareise (1956) durch Helen Young Chang. Die Autorin zeigt Schütte-Lihotzkys Gespaltenheit zwischen Bewunderung für die traditionelle Architektur Chinas einerseits und der Fortschrittsideologie der KP andererseits, die in jenen Jahren anhob, genau diese Baukultur zu vernichten.

Der dritte, Begegnungen betitelte Abschnitt des Buchs ist den Beziehungen Margarete Schütte-Lihotzkys zu vier für ihr Leben wichtigen Männern gewidmet: dem sozialdemokratischen Ökonomen und Politiker Otto Neurath, der sie im Wien der frühen 1920er-Jahre politisierte und mit dem sie freundschaftlich verbunden war (Günther Sandner). Dem Architekten Herbert Eichholzer, der sie in Istanbul für den kommunistischen Widerstand gewann und 1943 den Nazis zum Opfer fiel (Antje Senarclens de Grancy). Dem Architekten Wilhelm Schütte, mit dem sie 1927 bis 1951 liiert war und der in der bisherigen architekturhistorischen Rezeption stets im Schatten seiner Frau geblieben ist (David Baum). Schließlich dem weitgehend unbekannten, nach dem Krieg in Ostberlin lebenden Übersetzter und Dramaturgen Hans Wetzler – bis zu seinem Tod 1983 ihr enger Vertrauter und wie sie kommunistischer Kosmopolit (Marcel Bois). Das ist nicht zuletzt deshalb von Interesse, weil die politischen Aktivitäten und kommunistischen Netzwerke Schütte-Lihotzkys im Gegensatz zu ihrem architektonischen Werk noch einer systematischen Analyse und Interpretation bedürfen. Diese Leerstelle versucht der vierte Abschnitt des Bandes ansatzweise zu füllen. Hier erfahren die LeserInnen mehr über Schütte-Lihotzkys Kampf gegen das NS-Regime (Elisabeth Boeckl-Klamper), über ihr frauenpolitisches Engagement in der Zweiten Republik (Karin Schneider)
und die konsequente Ausgrenzung der KPÖ im beginnenden Kalten Krieg (Manfred Mugrauer).

Der letzte Abschnitt widmet sich unter dem Titel Kindergärten und Küchen der Reflexion und Rezeption des architektonischen Œuvres. Er ist insofern bemerkenswert, als hier eine pädagogische (Sebastian Engelmann) und eine architekturhistorische (Christoph Freyer) Perspektive auf Schütte-Lihotzkys Bauten für Kinder zusammentreffen. Schließlich geht es doch auch noch um die unvermeidliche Frankfurter Küche: als global gefragtes Museumsobjekt (Änne Söll) und als Zirkulationsobjekt auf dem Kunstmarkt (Marie-Theres Deutsch).

Auf die Resultate zukünftiger Forschung zu Margarete Schütte-Lihotzky und ihrer Umgebung darf mit Spannung gewartet werden. Es ist zu hoffen, dass die Auseinandersetzung mit dieser vielseitigen Persönlichkeit ihren multidisziplinären Charakter beibehält und in einen ähnlich gut kuratierten Austausch tritt, wie er sich in dem besprochenen Sammelband abbildet. Desiderat dabei wäre jedenfalls eine weitere Vertiefung in ihr Leben und Wirken in der Sowjetunion und in die Zeit nach 1945. Auch fehlen bislang biografische Arbeiten zu wichtigen Frauen im Leben Schütte-Lihotzkys.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Der blaue Sammelband von Bois und Reinhold ist auf allen Ebenen (Seriosität, inhaltliche Breite, Neuheitswert, Sprache etc.) die bessere Alternative zur rosaroten Biografie von Horncastle. Wem die lebensgeschichtlichen Inhalte in Ersterem nicht genügen sollten, für die oder den könnten die autobiografischen Texte Margarete Schütte-Lihotzkys eine interessante, wenngleich nicht unkritisch zu konsumierende Ergänzung sein: Warum ich Architektin wurde (aufgelegt zuletzt 2019) und Erinnerungen aus dem Widerstand. Das kämpferische Leben einer Architektin von 1938–1945 (zuletzt 2014).


Mona Horncastle
Margarethe Schütte-Lihotzky: Architektin, Widerstandskämpferin, Aktivistin
Wien, Graz: Molden Verlag, 2019
287 Seiten, 28 Euro

Marcel Bois & Bernadette Reinhold (Hg.)
Margarete Schütte-Lihotzky. Architektur. Politik. Geschlecht. Neue Perspektiven auf Leben und Werk
Basel: Birkhäuser Verlag, Edition Angewandte , 2019
360 Seiten, 40 Euro

dérive, Mi., 2020.04.15



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30. April 2018André Krammer
Friedrich Hauer
dérive

Bidonvilles, Fischkistensiedlungen, Bretteldörfer

Die informelle Stadt ist in aller Munde. Gedacht wird dabei oft reflexartig an Favelas, Shantytowns, Barriadas – an die zahlreichen Slums des globalen...

Die informelle Stadt ist in aller Munde. Gedacht wird dabei oft reflexartig an Favelas, Shantytowns, Barriadas – an die zahlreichen Slums des globalen...

Die informelle Stadt ist in aller Munde. Gedacht wird dabei oft reflexartig an Favelas, Shantytowns, Barriadas – an die zahlreichen Slums des globalen Südens. Wir wollen mit dieser Ausgabe von dérive zeigen, dass informelle Siedlungen eine räumlich ausgreifende, bis heute vielfach präsente Realität der europäischen Stadt waren bzw. sind. Ihre Entwicklungsgeschichte ist in der Forschung unterrepräsentiert und tritt meist nur lokalhistorisch in Erscheinung. Dieser Umstand ist der sozialhistorischen wie urbanistischen Bedeutung informeller Siedlungen nicht angemessen.

Der vorliegende Schwerpunkt versammelt Anschauungsmaterial aus 100 Jahren informeller Stadtproduktion in Europa. Er beleuchtet neben ihren Ursachen verschiedene Formen des Umgangs mit dieser (wie Upgrading, Downgrading, Konsolidierungsprozesse, Räumungen etc.) und ihre Deutung. Der Fokus dieser Ausgabe von dérive liegt auf informellen Siedlungsstrukturen, die in Reaktion auf soziale und existentielle Not als Selbsthilfeprojekte entstanden sind. Es sind Entwicklungen, die weiter andauern: Roma-Siedlungen, Wagenplätze, Obdachlosigkeit oder informelle Flüchtlingslager existieren heute in Europa oft nur wenige Meter entfernt von Investorentürmen und den Quartieren der Wohlhabenden.

Auf die Vielschichtigkeit der Thematik ist dabei hinzuweisen: Informelle Raumproduktion kann auch von Partikularinteressen ökonomisch und sozial potenter AkteurInnen vorangetrieben werden – in Italien verdanken etwa unzählige Villen, Hotels und Spekulationsobjekte ihre Existenz der Abwesenheit einer gesellschaftlich als verbindlich angesehenen Raum- und Bauordnung.

Bretteldörfer – ein globales Phänomen zwischen Kritik und Romantisierung

Spätestens seit dem UN-Report The Challenge of Slums von 2003 wird Informalität nicht zuletzt als ein »Ausdruck struktureller Anpassungen an globale Marktkräfte« gesehen (Altvater 2005, S. 309). Die Zahlen der UN-Studie veranschaulichen, dass es sich bei der global rasch anwachsenden informellen Stadt an den Rändern der Metropolen keineswegs um eine vernachlässigbare Erscheinung handelt. 2003 lebte bereits jeder sechste Mensch weltweit – insgesamt eine Milliarde – in einer informellen Siedlung. Den US-amerikanischen Urbanisten Mike Davis motivierte der UN-Bericht zu vertiefenden Recherchen. In seinem Buch Planet of Slums (2006) belegt er Ausmaß und Zusammenhänge der weltweit rasant zunehmenden Elendsurbanisierung, insbesondere in den Metropolen des Südens. Davis sieht das Wachstum der informellen Stadt durch neoliberale Politik angestoßen – nicht zuletzt durch die berüchtigten IWF-Programme zur Strukturanpassung, die weite Bevölkerungsschichten ökonomisch und räumlich marginalisierten. Für viele, die massenhaft in die Städte strömen, wird die informelle Siedlung dabei von der Übergangs- zur Dauerlösung.

Neben der neomarxistischen Sichtweise Davis’, die den Planet der Slums als Krisensymptom des globalisierten Kapitalismus interpretiert, sind auch zahlreiche sich als pragmatisch verstehende Annäherungen an das Phänomen der informellen Raumproduktion zu verzeichnen. Diese eint die Vorstellung, das Informelle nach dem Motto Learning from... in zukünftige kapitalistische Stadtmodelle auf produktive Weise integrieren zu können. Prominente VertreterInnen dieses Ansatzes sind u.a. der holländische Stararchitekt Rem Koolhaas[1], der peruanische Ökonom Hernando de Soto[2] oder der britisch-kanadische Journalist Doug Saunders[3]. Der Selbstorganisation und der Improvisation wird dabei ein unternehmerisches Potenzial zugeschrieben, dass es mit dem neoliberalen Imperativ der Eigeninitiative kompatibel macht (Hagemann 2012, S. 76f.). Das Informelle wird zum »Experimentierfeld für die Untersuchung von Anpassungs- und Innovationsprozessen« erklärt (Brillembourg 2005, S. 302) bzw. en passant zur Keimzelle einer neuen »solidarischen Ökonomie« ausgerufen (Altvater 2005, S. 309).

Diese teils offen affirmativen Zugänge tendieren dazu, Armut zu ästhetisieren und so einer Slum-Faszination, einem Favela-Chic und einem überwunden geglaubten kolonialen Gestus zu unterliegen (Krasny 2012, S. 23; Hagemann 2012, S. 73). Dabei bleibt die Rezeption des Informellen meist selektiv und tendenziell phänomenologisch verkürzt. So kann etwa das – an sich durchaus berechtigte – akademische Interesse an Formen des Selbstbaus die Tatsache verdecken, dass informelle Siedlungen auch Ausdruck von globalen wie lokalen Machtstrukturen, Marginalisierung und Ausbeutung sind (Hagemann 2012, S. 73f.).

Auf der Berliner Weltkonferenz zur Zukunft der Städte URBAN 21 im Jahr 2000 wurden sogar bis dahin eher als ein Übel angesehene illegale Landbesetzungen als wirtschaftlicher Motor der Stadtentwicklung gefeiert (Becker 2003, S. 14) – und informelle Urbanisierung damit unter der Hand auch als eine Art Neoliberalismus von unten vereinnahmt.

Formell-informell

Die Stadtforscherin Anke Hagemann charakterisiert das Informelle als einen unscharfen, schillernden Sammelbegriff. Er leitet sich vom lateinischen informis ab, das übersetzt unförmig, formlos, aber auch unschön, hässlich, garstig bedeuten kann. Verschiedene, oft schwer voneinander zu trennende strukturalistische, ästhetische und moralische Perspektiven tönen da mit. Das Informelle beinhaltet immer eine Negation, bezieht sich stets auf etwas, das es selbst nicht ist.

Die informelle Stadt ist demnach nur in ihrem Verhältnis zur formalisierten, geordneten, konsolidierten Stadt verstehund analysierbar. Bei der formellen und der informellen Stadt handelt es sich allerdings keineswegs um parallele Welten, etwa eine produktive und eine parasitäre Sphäre oder eine normierte und eine ungezwungene Lebenswelt, sondern um ökonomisch und sozial vielfach miteinander verflochtene Strukturen (Becker 2003, S. 13). Der postmoderne Slum ist – wie schon sein viktorianischer Vorfahre – in ein übergeordnetes sozioökonomisches Gesamtsystem eingebettet, auf dessen innere Mechanismen und Widersprüche er bezogen bleibt. Die realen Lebensbedingungen in der informellen Stadt, die nicht selten von Kriminalität, Armut, Krankheit, Immobilienspekulation und Ausbeutung geprägt sind, dürfen dabei nicht ausgeblendet werden. Insbesondere auf den ersten Blick positive Maßnahmen der Aufwertung, der Formalisierung und der Legalisierung sollten jedoch immer auch in Hinblick auf inhärente repressive Agenden analysiert werden: Was wird gegen den Anschluss an das kommunale Wasser- und Stromnetz, gegen den formellen Status etc. eingetauscht? Und wer profitiert davon?

Heute kann das Formelle nicht mehr vereinfachend mit einer Top-down-Planung, das Informelle nicht mit einer Raumproduktion Bottom-Up gleichgesetzt werden. Das Primat des Ökonomischen, das die unternehmerische Stadt[4] (Harvey 1989, S. 3-17) der Gegenwart prägt, hat längst zu einer Erosion hoheitlicher Zugriffsmöglichkeiten auf die Raumproduktion geführt. Stadtentwicklung ist heute bekanntlich oft nur die Summe von Einzelinteressen am Markt Konkurrierender. Auch die deregulierte unternehmerische Stadt basiert somit auf einer Form der Informalisierung, doch wird diese nicht von unten und für alle, sondern privatwirtschaftlich von oben und sehr selektiv vorangetrieben.

Europäische Ursprünge

Die räumliche Entwicklung der europäischen Stadt ist von spezifischen Ausgrenzungsmustern geprägt. Das moderne Armenviertel war nicht zuletzt eine zwangsläufige Begleiterscheinung der industriellen Revolution. Die Schlammviertel (Spiller 1911/2008) begleiten die moderne Großstadt gleichsam als ihr langer Modernisierungsschatten. Die Augen des Bürgertums nahmen sie häufig als gefährlichen Stadtdschungel wahr und sie riefen früh SozialreformerInnen[5] auf den Plan. Die Armen galten als gefährliche, zu Kriminalität und Unmoral neigende Masse (Evans 1997, S. 99). Hier wurde eine Tradition mitbegründet, die in die Agenden der Moderne im 20. Jahrhundert eingehen und diese mitprägen sollte: Die Vorstellung einer kausalen Verknüpfung von Raumdisposition und sozialen Verhältnissen.

Selbst der revolutionär gesinnte Flügel der sozialistischen ArbeiterInnenbewegung hatte allerdings seine Probleme mit dem inhomogenen Subproletariat, setzte man doch allein auf die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt. So heißt es bereits bei Marx und Engels im Kommunistischen Manifest von 1848: »Das Lumpenproletariat, diese passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft, wird durch eine proletarische Revolution stellenweise in die Bewegung hineingeschleudert, seiner ganzen Lebenslage nach wird es bereitwilliger sein, sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen.« (Marx, Engels 2007, S. 8)

Eine eigenwillige Verkehrung dieses Standpunkts findet sich 160 Jahre später bei dem Philosophen Slavoj Žižek, der die global wachsende Menge an SlumbewohnerInnen und Überflüssigen leichthin zum neuen, zukünftigen revolutionären Subjekt erklärt (Žižek 2009, S. 256f.). Das bedrohliche Pendant dazu bilden Szenarien und Planspiele zur counter-insurgency aus Militärkreisen, die sich gegen die potenziell gefährlichen »Armeen der Armen« richten (Davis 2006, S. 214). In derartigen Zuspitzungen ist nicht zuletzt die Warnung enthalten, dass Worte und ideologische Zuschreibungen jederzeit – wie in der Vergangenheit allzu oft – in nackte Gewalt umschlagen können.

Ein blinder Fleck?

In der bis heute wirksamen Erzählung, in der die europäische Stadt des 19. Jahrhunderts posthum zur keimfreien Idealwelt bürgerlicher Urbanität verklärt wird, ebenso wie in der Geschichte der funktionalen Stadt der klassischen Moderne gelten die Bretteldörfer und Barackensiedlungen eher als Störgeräusche. Dabei ist es auffällig, dass gerade die informellen Armensiedlungen als Zerrbild und Vorläuferinnen des z.B. von der Bauhaus-Avantgarde propagierten industriellen Wohnbaus gesehen werden können. Es waren die Elenden und Marginalisierten, die sich lange vor dem fordistischen Nachkriegsboom aus industriell gefertigten Massenprodukten wie Kanistern (frz.: bidon) und Fischkisten, Kohlewägen, ausrangierten Eisenbahnwaggons oder den Chassis von alten Autobussen ihre Unterkünfte bauten.

Auch der Topos der Siedlung selbst und die dort erprobte genossenschaftliche Organisation wurde zeitweise zu einem wichtigen, wenn auch ambivalenten Leitbild der architektonischen Moderne. Eine Aussage des sozialdemokratischen Wiener Ökonomen und Theoretikers Otto Neurath aus dem Jahr 1921 spricht das an: »Genossenschaftsleben hat zwei Verwandte: kleinbürgerliche Vereinsmeierei und Organisationstreiben breiter Massen. Es hängt von der geschichtlichen Lage ab, in welcher Richtung es sich entwickelt.« (Neurath, Arbeiter-Zeitung vom 20.11.1921, S. 7)

Die Gegenwart des Informellen in Europa

Die in den Nachkriegszeiten des 20. Jahrhunderts der Not entsprungenen ungeregelten Landnahmen, die nach wie vor oft informellen Siedlungen der Roma und Sinti (siehe dérive Nr. 64) sowie die bis heute existierenden französischen Bidonvilles (siehe den Artikel von Muriel Cohen & Marie-Claude Blanc-Chaléard auf S. 24) werden trotz ihrer Ausdehnung und Permanenz häufig immer noch als urbanistischer Nebenschauplatz gehandelt.

Anders stellt sich die Situation – wie bereits angedeutet – im südeuropäischen Kontext dar. Als Beispiel bietet sich Italien an, das mit mehr als 20 Millionen ohne Rücksicht auf Baugesetze und Raumordnung errichteten Objekten so etwas wie das Kernland des informellen Bauens unter den Industrienationen ist (vgl. Dominik Straub, Der Standard vom 3.9.2017)[6]. In manchen südlichen Regionen wie Kalabrien, Kampanien oder Sizilien wird der Anteil der illegalen Bauführungen gegenwärtig auf etwa ein Drittel geschätzt (Maura Salerno, Edilizia e Territorio vom 3.12.2015)[7], seit den 1980er Jahren gab es mehrere landesweite Generalamnestien für Bausünder. Auch wenn wir das komplexe Phänomen der italienischen case abusive hier nicht weiter thematisieren können, halten wir es für wichtig, auf den Fall hinzuweisen, weil es sich dabei seit Jahrzehnten um ein klassenübergreifendes Massenphänomen handelt. Durch die schiere Menge illegaler oder halblegaler Gebäude wird – falls existent – regelmäßig die Raumplanung unterlaufen, das Konzept der formellen Stadt relativiert und letztlich der bürgerliche Rechtsstaat in Frage gestellt. Da es sich nur in kleinen Teilen um Elendsurbanisierung handelt und es zudem regelmäßig um die Zersiedlung ökologisch sensibler und oft geschützter Gebiete und verbreitet um Immobilienspekulation geht (Biffi 2014)[8], erweist sich einmal mehr: Informell und Bottom-up sind weder gleichzusetzen noch a priori positive oder emanzipatorische Kategorien.

Dubravka Sekulić zeichnet in ihrem Artikel für diesen Schwerpunkt die Entwicklung illegaler Landnahme und Bautätigkeit an der Belgrader Peripherie nach. Im damaligen Jugoslawien setzten die wilden SiedlerInnen der sozialistischen Logik gemeinschaftlichen Eigentums und kommunaler Wohnraumversorgung – die in der ökonomischen Krise der 1970er und 80er Jahre nicht mehr Wohnraum für alle bereitstellen konnte – Eigeninitiative und die Logik einer privaten Raumproduktion entgegen, die auch als Vorläufer der späteren, marktförmigen Entwicklung angesehen werden kann.

In Mittel- und Nordeuropa stellt sich die europäische Stadt für ZuwanderInnen längst als eine Ankunftsstadt, eine weitere globale arrival city dar (Saunders 2013). Dort sind sie – meist in peripheren Zonen –, um ihr Überleben sichern zu können, weitgehend auf informelle räumliche und soziale Praktiken angewiesen. Informelle und halb-formelle Flüchtlingslager, wie sie sich etwa in Frankreich herausgebildet haben – bezeichnenderweise wurde das bekannteste von ihnen in post-viktorianischer Manier Calais Jungle benannt –, verweisen zudem auf die ungebrochene Aktualität des Themas. Zunehmend repressive Migrationsregime und Phantasmagorien einer räumlichen Ausgrenzung gigantischen Ausmaßes, wie sie sich im hermetischen Bild der Festung Europa manifestieren, können daran wenig ändern.

Informelle Stadtproduktion hat in der Vergangenheit entscheidend dazu beigetragen, Krisen- und Modernisierungsschübe zu bewältigen. Wie die Rezeption in neueren Arbeiten zu umkämpftem Grün und urban commons zeigt, besitzen die semi-subsistenten Modelle kollektiver Selbsthilfe in Wien nach 1918 noch immer eine gewisse Strahlkraft (Kumnig et al. 2017; Baldauf et al. 2016). Auch unser Beitrag für diesen Schwerpunkt zeigt: Das rote und das wilde Wien waren zwei Systeme, die nicht nur in der Zwischenkriegszeit ökonomisch und stadträumlich aufeinander bezogen waren. Die wilden Siedlungen in der Übergangszone zwischen Stadt und Land waren ein der Not entsprungenes Laboratorium einer neuartigen bukolischen Urbanität, die noch zu erforschen wäre. Auch die gegenwärtige, zunehmend globalisierte Recht-auf-Stadt-Bewegung kann von historischen Formen einer Stadt von unten etwas lernen und so die eigene Positionierung in der Geschichte sozial-räumlicher Selbstermächtigung und Emanzipation genauer verorten.[9]


Anmerkungen:

[01] Rem Koolhaas hat im Rahmen des Forschungsprojekts Harvard Project on the City die nigerianische Metropole Lagos untersucht, die besonders stark von informellem Wachstum geprägt ist. Seine neo-organizistische Perspektive vernachlässigt dabei – wie KritikerInnen anmerkten – die drückende Armut, Gewalt und infrastrukturelle Defizite, die in den informellen Armenvierteln der afrikanischen Metropole den Alltag prägen.
[02] Hernando de Soto ist ein peruanischer Ökonom, der mit seinen Arbeiten zur informellen Ökonomie bekannt wurde. De Soto betont die Bedeutung von Eigentumsrechten für wirtschaftliche Prosperität. Er hält die globalen SlumbewohnerInnen für TrägerInnen heute noch ungenutzten Reichtums. Zentral für De Soto ist mittelfristig die Schaffung von privaten Besitzrechten in Folge der zuerst informellen Landnahme. Er propagiert eine Revolution und eine Zukunft des Kapitalismus durch eine Marktwirtschaft von unten – der Favela-Bewohner- Innen von heute als KapitalistInnen von morgen.
[03] Siehe: Saunders’ (2013) Buch kann teilweise als Gegenthese zu Mike Davis Planet der Slums gelesen werden. Auch hier werden mit Slums, die Saunders Ankunftsstädte nennt, wirtschaftliche Potenziale für die Zukunft verknüpft. Die Ankunftsstadt ist in dieser Sichtweise eine notwendige Übergangszone für jene, die vom Land in die Stadt strömen.
[04] Harvey prägte in seinem Aufsatz den Begriff eines urban entrepreneurialism, der im deutschen Sprachraum in der Übersetzung unternehmerische Stadt Karriere machte.
[05] Etwa Charles Booth, britischer Sozialforscher und Philanthrop, gemeinsam mit Henry Mayhew ein Pionier der Stadtforschung, erforschte die Londoner Arbeiterklasse Ende des 19. Jahrhunderts.
[06] Siehe: derstandard. at/2000063485588/Italien- Das-Land-in-dem-alle- Bausuenden-vergeben-werden.
[07] Siehe: www.ediliziaeterritorio. ilsole24ore.com/art/ citta-e-urbanistica/ 2015-12-02/istat-italiapatria- abusivismo-sudillegali- quasi-60- fabbricati-100--162429.php? uuid=ACk5wclB&refresh_ce=1
[08] Siehe: www.legambiente.it/ sites/default/files/docs/ abusivismo_litalia_frana_ il_parlamento_condona- _dossierfile.pdf
[09] Siehe auch: dérive Nr. 60 Henri Lefebvre und das Recht auf Stadt; dérive Nr. 61 Perspektiven eines kooperativen Urbanismus; dérive 49 Stadt selber machen bzw. Festival urbanize. 2015: Do it together, etc.


Literatur
Altvater, Elmar (2005): Globalisierung und die Informalisierung des urbanen Raums. In: Brillembourg et al, S. 306-309.
Baldauf, Anette; Gruber, Stefan; Hille, Moira; Krauss, Annette; Miller, Vladimir; Verlic´, Mara; Wang, Hong-Kai & Wieger, Julia (2016): Spaces of Commoning. Artistic Research and the Utopia of the Everyday. Berlin, New York: Sternberg Press.
Becker, Jochen; Burbaum, Claudia; Kaltwasser, Martin; Köbberling, Fölke; Lanz, Stephan & Reichard, Katja (2003): Learning from. Städte von Welt, Phantasmen der Zivilgesellschaft, informelle Organisation. Berlin: NGBK.
Blum, Elisabeth & Neitzke Peter (Hrsg.) (2014): FavelaMetropolis. Berichte und Projekte aus Rio de Janeiro und Sao Paulo. Basel: Birkhäuser Verlag.
Davis, Mike (2011): Planet der Slums. Berlin, Hamburg: Assoziation A Verlag.
Brillembourg, Alfredo & Feireiss, Kirstin & Hubert Klumpner (2005): Informal City. Caracas Case. München: Prestel Verlag.
Evans, Robin (1996): Translation form drawing to building. London: AA Documents.
Hagemann, Anke (2012): Der Mainstream des Informellen: Urbanistische Forschung zwischen Romantisierung und städtischer Realität. In: Krasny, Elke (Hrsg.) (2012):
Hands-on Urbanism 1850–2012. Vom Recht auf Grün. Wien, Berlin: Turia + Kant.
Harvey, David (1989): From managerialism to entrepreneurialism: the transformation of urban governance. In: Geografiska Annaler. Series B, Human Geography, Vol. 71, No.1, The Roots of Geographical Change: 1973 to the Present. (1989), S. 3-17.
Kumnig, Sarah; Rosol, Marit & Exner, Andreas (2017): Umkämpftes Grün. Bielefeld: Transcript Verlag.
Krasny, Elke (Hrsg.) (2012): Hands-on Urbanism 1850–2012. Vom Recht auf Grün. Wien, Berlin: Turia + Kant.
Marx, Karl & Engels, Friedrich (1848/2005): Manifest der Kommunistischen Partei. www.vulture-bookz.de
Sassen, Saskia (2005): Fragmentierte urbane Topographien und die ihnen zugrunde liegenden gegenseitigen Verbindungen. In: Brillembourg et al, S. 315-323.
Saunders, Doug (2013): Arrival City. Die neue Völkerwanderung. München: Pantheon Verlag.
Spiller (1911/2008): Slums. Erlebnisse in den Schlammvierteln moderner Großstädte. Wien: Czernin Verlag.
Žižek, Slavoj (2009): Auf verlorenem Posten. Berlin: Insel Verlag.
Zwoch, Felix (2005): Fünf Versionen des In/Formellen. In: Brillembourg et al, S. 304-306.

dérive, Mo., 2018.04.30



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Margarete Schütte-Lihotzky wurde nicht nur wegen ihres langen Lebens (1897–2000) zur Legende. Sie ist bekannt als erste Architektin Österreichs und Pionierin...

Margarete Schütte-Lihotzky wurde nicht nur wegen ihres langen Lebens (1897–2000) zur Legende. Sie ist bekannt als erste Architektin Österreichs und Pionierin der »sozialen Frage« in Architektur und Städtebau, als Widerstandskämpferin gegen die NS-Diktatur, Kommunistin und Aktivistin der Frauenbewegung in der Zweiten Republik. Nicht zuletzt ging sie als Erfinderin der Frankfurter Küche in die Designgeschichte des 20. Jahrhunderts ein.

Eine Reduktion auf ein Einbaumöbel ist sowohl ob ihres vielseitigen Œouvres als auch ob ihres komplexen und durchwegs politischen Lebenswegs unzulässig – und dennoch nicht wenig verbreitet. Schütte-Lihotzky selbst setzte sich in ihren späten Jahren, als das öffentliche Interesse an ihren Erfahrungen und Arbeiten erwach- te, gegen solche klischeehaften Verkürzungen zur Wehr. Gerne wird sie mit Sätzen wie »Ich bin keine Küche!« zitiert. 20 Jahre nach ihrem Tod widmen sich zwei neu erschienene Bücher ihrer vielschichtigen Person. Um es hier vorwegzunehmen: Es handelt sich um ein Ärgernis und einen Glücksfall.

Das von Mona Horncastle verfasste Buch Margarethe Schütte-Lihotzky ist die bislang einzige monografisch angelegte Biografie der »Architektin, Widerstandskämpferin, Aktivistin«. Die Autorin, Kunsthistorikerin und Kuratorin, ist bisher vor allem durch verschiedenen Malern gewidmete »Kunst-Comics« und eine Biografie von Gustav Klimt in Erscheinung getreten. Der Band gliedert sich entlang der Stationen des Lebenswegs von Schütte-Lihotzky: Wien, Frankfurt, Sowjetunion, Türkei, Widerstand und Gefangenschaft, kommunistische Architektin und Aktivistin im Nachkriegs-Wien. Es wird ausgiebig aus ihren autobiografischen Schriften und aus Briefwechseln zitiert, einmal sogar 30 Seiten am Stück. Das Buch ist nicht zuletzt deshalb passagenweise durchaus angenehm zu lesen, grafisch sehr ansprechend gestaltet und elegant gesetzt. Leider weist es gravierende inhaltliche Mängel auf. Hier ist zunächst ein Essential jeder seriösen biografischen Arbeit anzusprechen: Quellenkritik, insbesondere in Bezug auf die zahlreichen, teilweise Jahrzehnte auseinander liegenden Selbstzeugnisse Schütte-Lihotzkys, scheint Horncastle unbekannt. Dadurch bekommt der ganze Text etwas Kolportagehaftes, das bisweilen in betulichen Plauderton mündet. Letzteren kann man mögen oder auch nicht. Schwer wiegt allerdings, dass die Autorin immer wieder ihre profunde Unkenntnis all jener Bereiche aufblitzen lässt, die für die Kontextualisierung des vielseitigen Lebens von Margarete Schütte-Lihotzky unerlässlich wären – europäische Geschichte, Stadtbau- und Designgeschichte, Marxsche Theorie und Marxismus, Grundlinien der österreichischen und Wiener Verhältnisse im langen 20. Jahrhundert. So wird beispielsweise mehrfach und entgegen jede historische Evidenz behauptet, Wien und Frankfurt wären nach dem Ersten Weltkrieg baulich zerstört gewesen und die Architektin sei im »Wiederaufbau« tätig geworden (S. 37, 52, 62). Stellenweise muss man auch groben Unfug lesen, etwa von den »zwei sich ausschließenden marxistischen Klassen Proletariat oder Kapitalismus« (S. 56) oder von 1.200 neu zu erbauenden Städten in der Sowjetunion, die in den 1930er-Jahren »mit einem für damalige Verhältnisse gigantischen Budget von umgerechnet 16,8 Mio. Euro« errichtet werden sollten (S. 87). Wenn wirklich 14.000 Euro für eine ganze sowjetische Stadt reichten, dann ist das entweder nicht sonderlich gigantisch, oder aber nicht sonderlich gut umgerechnet oder umrechenbar. Auch der Unterschied zwischen dem Wiener Stadtbauamt, dem Parteivorstand der SPÖ und der österreichischen Regierung bleibt der Autorin ein Rätsel (S. 214).

Dass Schütte-Lihotzky dann noch en passant ein »feministischer Anspruch« abgesprochen wird, ist zumindest insofern fragwürdig, als dies einer begrifflichen Klärung bedürfte (S. 223). Das sind nur einige Punkte, die jedoch ausreichen, das Vertrauen in die Arbeit der »bekennenden Sprachfetischistin« (S. 287) Horncastle im Ganzen gründlich zu erschüttern. Obendrein scheint man auf Lektorat und Korrektorat verzichtet zu haben, denn es finden sich neben offenkundig falschen Datumsangaben unangenehm viele Grammatik- und Interpunktionsfehler im Text.

Das war die schlechte Nachricht. Die Gute: Ebenfalls letzten Herbst ist ein Sammelband mit dem Titel Margarete Schütte-Lihotzky. Architektur. Politik. Geschlecht. Neue Perspektiven auf Leben und Werk erschienen. Das von Marcel Bois und Bernadette Reinhold herausgegebene Buch geht auf eine Tagung im Oktober 2018 zurück, die von der Universität für angewandte Kunst Wien in Kooperation mit der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg veranstaltet wurde. Was zunächst vielleicht trocken klingt, ist in Wahrheit ein ansprechend gestaltetes, interessant bebildertes und durchwegs auch für ein breites Publikum gut zu lesendes Werk, das den letzten Forschungsstand zu Schütte-Lihotzky wiedergibt. Wer die Durchschnittsexemplare der Gattung Tagungsband kennt, wird also nicht nur ob des breiten Spektrums an vertretenen Disziplinen und Zugängen positiv überrascht.

Der Band gliedert sich in fünf Abschnitte, die jeweils eine Reihe von kürzeren Beiträgen enthalten. Er beginnt mit biografischen und geschlechterhistorischen Perspektiven auf das »Jahrhundertleben« der Architektin (Karin Zogmayer, Christine Zwingl). Hier finden sich etwa ein interessanter Beitrag zur Ausbildung der ersten Architektinnengeneration in Österreich (Sabine Plackolm-Forsthuber) und kritische Überlegungen zu den autobiografischen Schriften von Schütte-Lihotzky (Bernadette Reinhold). Der zweite Abschnitt widmet sich den Stationen ihres transnationalen Architektinnenlebens: Sophie Hochhäusl zeichnet Schütte-Lihotzkys Beitrag zur Wiener Siedlerbewegung der frühen 1920er-Jahre nach, Claudia Quiring jenen zum sozialen Wohnbauprogramm des Neuen Frankfurt (1926–1930). Besondere Einblicke bietet Thomas Flierls Text zu den architektonisch sehr produktiven Jahren des Ehepaars Schütte in Stalins Sowjetunion (1930–1937), für die er auch noch umfangreichen Forschungsbedarf feststellt. Burcu Dogramaci legt neues Material zu Schütte-Lihotzkys »Intermezzo in Istanbul« (1938– 1940) vor, wo beispielsweise typisierte Dorfschulen nach ihren Entwürfen entstanden. Auch die oft wenig beachtete Zeit nach ihrer Gefangenschaft in Nazi-Deutschland (1941–1945) wird thematisiert. Monika Platzer widmet ihren Beitrag den vergessenen Architekturdiskursen in Wien nach Kriegsende. Für eine kommunistische Architektin und überzeugte Verfechterin der sowjetischen Verhältnisse waren im »neuerfundenen« Österreich die Handlungsspielräume sehr eingeschränkt. Wechselvoll und zeitweise intensiv waren die Kontakte Schütte-Lihotzkys zum Bauwesen in der jungen DDR. Wie Clara Aßmann zeigt, wurden ihre Hoffnungen, den Bau von Kindereinrichtungen mitzugestalten, aus ideologischen, die Entwurfshaltung und die Organisationsform der Planung betreffenden Gründen wiederholt enttäuscht. Materialreich und gelungen ist auch die Neudeutung des Tagebuchs ihrer zweiten Chinareise (1956) durch Helen Young Chang. Die Autorin zeigt Schütte-Lihotzkys Gespaltenheit zwischen Bewunderung für die traditionelle Architektur Chinas einerseits und der Fortschrittsideologie der KP andererseits, die in jenen Jahren anhob, genau diese Baukultur zu vernichten.

Der dritte, Begegnungen betitelte Abschnitt des Buchs ist den Beziehungen Margarete Schütte-Lihotzkys zu vier für ihr Leben wichtigen Männern gewidmet: dem sozialdemokratischen Ökonomen und Politiker Otto Neurath, der sie im Wien der frühen 1920er-Jahre politisierte und mit dem sie freundschaftlich verbunden war (Günther Sandner). Dem Architekten Herbert Eichholzer, der sie in Istanbul für den kommunistischen Widerstand gewann und 1943 den Nazis zum Opfer fiel (Antje Senarclens de Grancy). Dem Architekten Wilhelm Schütte, mit dem sie 1927 bis 1951 liiert war und der in der bisherigen architekturhistorischen Rezeption stets im Schatten seiner Frau geblieben ist (David Baum). Schließlich dem weitgehend unbekannten, nach dem Krieg in Ostberlin lebenden Übersetzter und Dramaturgen Hans Wetzler – bis zu seinem Tod 1983 ihr enger Vertrauter und wie sie kommunistischer Kosmopolit (Marcel Bois). Das ist nicht zuletzt deshalb von Interesse, weil die politischen Aktivitäten und kommunistischen Netzwerke Schütte-Lihotzkys im Gegensatz zu ihrem architektonischen Werk noch einer systematischen Analyse und Interpretation bedürfen. Diese Leerstelle versucht der vierte Abschnitt des Bandes ansatzweise zu füllen. Hier erfahren die LeserInnen mehr über Schütte-Lihotzkys Kampf gegen das NS-Regime (Elisabeth Boeckl-Klamper), über ihr frauenpolitisches Engagement in der Zweiten Republik (Karin Schneider)
und die konsequente Ausgrenzung der KPÖ im beginnenden Kalten Krieg (Manfred Mugrauer).

Der letzte Abschnitt widmet sich unter dem Titel Kindergärten und Küchen der Reflexion und Rezeption des architektonischen Œuvres. Er ist insofern bemerkenswert, als hier eine pädagogische (Sebastian Engelmann) und eine architekturhistorische (Christoph Freyer) Perspektive auf Schütte-Lihotzkys Bauten für Kinder zusammentreffen. Schließlich geht es doch auch noch um die unvermeidliche Frankfurter Küche: als global gefragtes Museumsobjekt (Änne Söll) und als Zirkulationsobjekt auf dem Kunstmarkt (Marie-Theres Deutsch).

Auf die Resultate zukünftiger Forschung zu Margarete Schütte-Lihotzky und ihrer Umgebung darf mit Spannung gewartet werden. Es ist zu hoffen, dass die Auseinandersetzung mit dieser vielseitigen Persönlichkeit ihren multidisziplinären Charakter beibehält und in einen ähnlich gut kuratierten Austausch tritt, wie er sich in dem besprochenen Sammelband abbildet. Desiderat dabei wäre jedenfalls eine weitere Vertiefung in ihr Leben und Wirken in der Sowjetunion und in die Zeit nach 1945. Auch fehlen bislang biografische Arbeiten zu wichtigen Frauen im Leben Schütte-Lihotzkys.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Der blaue Sammelband von Bois und Reinhold ist auf allen Ebenen (Seriosität, inhaltliche Breite, Neuheitswert, Sprache etc.) die bessere Alternative zur rosaroten Biografie von Horncastle. Wem die lebensgeschichtlichen Inhalte in Ersterem nicht genügen sollten, für die oder den könnten die autobiografischen Texte Margarete Schütte-Lihotzkys eine interessante, wenngleich nicht unkritisch zu konsumierende Ergänzung sein: Warum ich Architektin wurde (aufgelegt zuletzt 2019) und Erinnerungen aus dem Widerstand. Das kämpferische Leben einer Architektin von 1938–1945 (zuletzt 2014).


Mona Horncastle
Margarethe Schütte-Lihotzky: Architektin, Widerstandskämpferin, Aktivistin
Wien, Graz: Molden Verlag, 2019
287 Seiten, 28 Euro

Marcel Bois & Bernadette Reinhold (Hg.)
Margarete Schütte-Lihotzky. Architektur. Politik. Geschlecht. Neue Perspektiven auf Leben und Werk
Basel: Birkhäuser Verlag, Edition Angewandte , 2019
360 Seiten, 40 Euro

dérive, Mi., 2020.04.15



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Bidonvilles, Fischkistensiedlungen, Bretteldörfer

Die informelle Stadt ist in aller Munde. Gedacht wird dabei oft reflexartig an Favelas, Shantytowns, Barriadas – an die zahlreichen Slums des globalen...

Die informelle Stadt ist in aller Munde. Gedacht wird dabei oft reflexartig an Favelas, Shantytowns, Barriadas – an die zahlreichen Slums des globalen...

Die informelle Stadt ist in aller Munde. Gedacht wird dabei oft reflexartig an Favelas, Shantytowns, Barriadas – an die zahlreichen Slums des globalen Südens. Wir wollen mit dieser Ausgabe von dérive zeigen, dass informelle Siedlungen eine räumlich ausgreifende, bis heute vielfach präsente Realität der europäischen Stadt waren bzw. sind. Ihre Entwicklungsgeschichte ist in der Forschung unterrepräsentiert und tritt meist nur lokalhistorisch in Erscheinung. Dieser Umstand ist der sozialhistorischen wie urbanistischen Bedeutung informeller Siedlungen nicht angemessen.

Der vorliegende Schwerpunkt versammelt Anschauungsmaterial aus 100 Jahren informeller Stadtproduktion in Europa. Er beleuchtet neben ihren Ursachen verschiedene Formen des Umgangs mit dieser (wie Upgrading, Downgrading, Konsolidierungsprozesse, Räumungen etc.) und ihre Deutung. Der Fokus dieser Ausgabe von dérive liegt auf informellen Siedlungsstrukturen, die in Reaktion auf soziale und existentielle Not als Selbsthilfeprojekte entstanden sind. Es sind Entwicklungen, die weiter andauern: Roma-Siedlungen, Wagenplätze, Obdachlosigkeit oder informelle Flüchtlingslager existieren heute in Europa oft nur wenige Meter entfernt von Investorentürmen und den Quartieren der Wohlhabenden.

Auf die Vielschichtigkeit der Thematik ist dabei hinzuweisen: Informelle Raumproduktion kann auch von Partikularinteressen ökonomisch und sozial potenter AkteurInnen vorangetrieben werden – in Italien verdanken etwa unzählige Villen, Hotels und Spekulationsobjekte ihre Existenz der Abwesenheit einer gesellschaftlich als verbindlich angesehenen Raum- und Bauordnung.

Bretteldörfer – ein globales Phänomen zwischen Kritik und Romantisierung

Spätestens seit dem UN-Report The Challenge of Slums von 2003 wird Informalität nicht zuletzt als ein »Ausdruck struktureller Anpassungen an globale Marktkräfte« gesehen (Altvater 2005, S. 309). Die Zahlen der UN-Studie veranschaulichen, dass es sich bei der global rasch anwachsenden informellen Stadt an den Rändern der Metropolen keineswegs um eine vernachlässigbare Erscheinung handelt. 2003 lebte bereits jeder sechste Mensch weltweit – insgesamt eine Milliarde – in einer informellen Siedlung. Den US-amerikanischen Urbanisten Mike Davis motivierte der UN-Bericht zu vertiefenden Recherchen. In seinem Buch Planet of Slums (2006) belegt er Ausmaß und Zusammenhänge der weltweit rasant zunehmenden Elendsurbanisierung, insbesondere in den Metropolen des Südens. Davis sieht das Wachstum der informellen Stadt durch neoliberale Politik angestoßen – nicht zuletzt durch die berüchtigten IWF-Programme zur Strukturanpassung, die weite Bevölkerungsschichten ökonomisch und räumlich marginalisierten. Für viele, die massenhaft in die Städte strömen, wird die informelle Siedlung dabei von der Übergangs- zur Dauerlösung.

Neben der neomarxistischen Sichtweise Davis’, die den Planet der Slums als Krisensymptom des globalisierten Kapitalismus interpretiert, sind auch zahlreiche sich als pragmatisch verstehende Annäherungen an das Phänomen der informellen Raumproduktion zu verzeichnen. Diese eint die Vorstellung, das Informelle nach dem Motto Learning from... in zukünftige kapitalistische Stadtmodelle auf produktive Weise integrieren zu können. Prominente VertreterInnen dieses Ansatzes sind u.a. der holländische Stararchitekt Rem Koolhaas[1], der peruanische Ökonom Hernando de Soto[2] oder der britisch-kanadische Journalist Doug Saunders[3]. Der Selbstorganisation und der Improvisation wird dabei ein unternehmerisches Potenzial zugeschrieben, dass es mit dem neoliberalen Imperativ der Eigeninitiative kompatibel macht (Hagemann 2012, S. 76f.). Das Informelle wird zum »Experimentierfeld für die Untersuchung von Anpassungs- und Innovationsprozessen« erklärt (Brillembourg 2005, S. 302) bzw. en passant zur Keimzelle einer neuen »solidarischen Ökonomie« ausgerufen (Altvater 2005, S. 309).

Diese teils offen affirmativen Zugänge tendieren dazu, Armut zu ästhetisieren und so einer Slum-Faszination, einem Favela-Chic und einem überwunden geglaubten kolonialen Gestus zu unterliegen (Krasny 2012, S. 23; Hagemann 2012, S. 73). Dabei bleibt die Rezeption des Informellen meist selektiv und tendenziell phänomenologisch verkürzt. So kann etwa das – an sich durchaus berechtigte – akademische Interesse an Formen des Selbstbaus die Tatsache verdecken, dass informelle Siedlungen auch Ausdruck von globalen wie lokalen Machtstrukturen, Marginalisierung und Ausbeutung sind (Hagemann 2012, S. 73f.).

Auf der Berliner Weltkonferenz zur Zukunft der Städte URBAN 21 im Jahr 2000 wurden sogar bis dahin eher als ein Übel angesehene illegale Landbesetzungen als wirtschaftlicher Motor der Stadtentwicklung gefeiert (Becker 2003, S. 14) – und informelle Urbanisierung damit unter der Hand auch als eine Art Neoliberalismus von unten vereinnahmt.

Formell-informell

Die Stadtforscherin Anke Hagemann charakterisiert das Informelle als einen unscharfen, schillernden Sammelbegriff. Er leitet sich vom lateinischen informis ab, das übersetzt unförmig, formlos, aber auch unschön, hässlich, garstig bedeuten kann. Verschiedene, oft schwer voneinander zu trennende strukturalistische, ästhetische und moralische Perspektiven tönen da mit. Das Informelle beinhaltet immer eine Negation, bezieht sich stets auf etwas, das es selbst nicht ist.

Die informelle Stadt ist demnach nur in ihrem Verhältnis zur formalisierten, geordneten, konsolidierten Stadt verstehund analysierbar. Bei der formellen und der informellen Stadt handelt es sich allerdings keineswegs um parallele Welten, etwa eine produktive und eine parasitäre Sphäre oder eine normierte und eine ungezwungene Lebenswelt, sondern um ökonomisch und sozial vielfach miteinander verflochtene Strukturen (Becker 2003, S. 13). Der postmoderne Slum ist – wie schon sein viktorianischer Vorfahre – in ein übergeordnetes sozioökonomisches Gesamtsystem eingebettet, auf dessen innere Mechanismen und Widersprüche er bezogen bleibt. Die realen Lebensbedingungen in der informellen Stadt, die nicht selten von Kriminalität, Armut, Krankheit, Immobilienspekulation und Ausbeutung geprägt sind, dürfen dabei nicht ausgeblendet werden. Insbesondere auf den ersten Blick positive Maßnahmen der Aufwertung, der Formalisierung und der Legalisierung sollten jedoch immer auch in Hinblick auf inhärente repressive Agenden analysiert werden: Was wird gegen den Anschluss an das kommunale Wasser- und Stromnetz, gegen den formellen Status etc. eingetauscht? Und wer profitiert davon?

Heute kann das Formelle nicht mehr vereinfachend mit einer Top-down-Planung, das Informelle nicht mit einer Raumproduktion Bottom-Up gleichgesetzt werden. Das Primat des Ökonomischen, das die unternehmerische Stadt[4] (Harvey 1989, S. 3-17) der Gegenwart prägt, hat längst zu einer Erosion hoheitlicher Zugriffsmöglichkeiten auf die Raumproduktion geführt. Stadtentwicklung ist heute bekanntlich oft nur die Summe von Einzelinteressen am Markt Konkurrierender. Auch die deregulierte unternehmerische Stadt basiert somit auf einer Form der Informalisierung, doch wird diese nicht von unten und für alle, sondern privatwirtschaftlich von oben und sehr selektiv vorangetrieben.

Europäische Ursprünge

Die räumliche Entwicklung der europäischen Stadt ist von spezifischen Ausgrenzungsmustern geprägt. Das moderne Armenviertel war nicht zuletzt eine zwangsläufige Begleiterscheinung der industriellen Revolution. Die Schlammviertel (Spiller 1911/2008) begleiten die moderne Großstadt gleichsam als ihr langer Modernisierungsschatten. Die Augen des Bürgertums nahmen sie häufig als gefährlichen Stadtdschungel wahr und sie riefen früh SozialreformerInnen[5] auf den Plan. Die Armen galten als gefährliche, zu Kriminalität und Unmoral neigende Masse (Evans 1997, S. 99). Hier wurde eine Tradition mitbegründet, die in die Agenden der Moderne im 20. Jahrhundert eingehen und diese mitprägen sollte: Die Vorstellung einer kausalen Verknüpfung von Raumdisposition und sozialen Verhältnissen.

Selbst der revolutionär gesinnte Flügel der sozialistischen ArbeiterInnenbewegung hatte allerdings seine Probleme mit dem inhomogenen Subproletariat, setzte man doch allein auf die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt. So heißt es bereits bei Marx und Engels im Kommunistischen Manifest von 1848: »Das Lumpenproletariat, diese passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft, wird durch eine proletarische Revolution stellenweise in die Bewegung hineingeschleudert, seiner ganzen Lebenslage nach wird es bereitwilliger sein, sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen.« (Marx, Engels 2007, S. 8)

Eine eigenwillige Verkehrung dieses Standpunkts findet sich 160 Jahre später bei dem Philosophen Slavoj Žižek, der die global wachsende Menge an SlumbewohnerInnen und Überflüssigen leichthin zum neuen, zukünftigen revolutionären Subjekt erklärt (Žižek 2009, S. 256f.). Das bedrohliche Pendant dazu bilden Szenarien und Planspiele zur counter-insurgency aus Militärkreisen, die sich gegen die potenziell gefährlichen »Armeen der Armen« richten (Davis 2006, S. 214). In derartigen Zuspitzungen ist nicht zuletzt die Warnung enthalten, dass Worte und ideologische Zuschreibungen jederzeit – wie in der Vergangenheit allzu oft – in nackte Gewalt umschlagen können.

Ein blinder Fleck?

In der bis heute wirksamen Erzählung, in der die europäische Stadt des 19. Jahrhunderts posthum zur keimfreien Idealwelt bürgerlicher Urbanität verklärt wird, ebenso wie in der Geschichte der funktionalen Stadt der klassischen Moderne gelten die Bretteldörfer und Barackensiedlungen eher als Störgeräusche. Dabei ist es auffällig, dass gerade die informellen Armensiedlungen als Zerrbild und Vorläuferinnen des z.B. von der Bauhaus-Avantgarde propagierten industriellen Wohnbaus gesehen werden können. Es waren die Elenden und Marginalisierten, die sich lange vor dem fordistischen Nachkriegsboom aus industriell gefertigten Massenprodukten wie Kanistern (frz.: bidon) und Fischkisten, Kohlewägen, ausrangierten Eisenbahnwaggons oder den Chassis von alten Autobussen ihre Unterkünfte bauten.

Auch der Topos der Siedlung selbst und die dort erprobte genossenschaftliche Organisation wurde zeitweise zu einem wichtigen, wenn auch ambivalenten Leitbild der architektonischen Moderne. Eine Aussage des sozialdemokratischen Wiener Ökonomen und Theoretikers Otto Neurath aus dem Jahr 1921 spricht das an: »Genossenschaftsleben hat zwei Verwandte: kleinbürgerliche Vereinsmeierei und Organisationstreiben breiter Massen. Es hängt von der geschichtlichen Lage ab, in welcher Richtung es sich entwickelt.« (Neurath, Arbeiter-Zeitung vom 20.11.1921, S. 7)

Die Gegenwart des Informellen in Europa

Die in den Nachkriegszeiten des 20. Jahrhunderts der Not entsprungenen ungeregelten Landnahmen, die nach wie vor oft informellen Siedlungen der Roma und Sinti (siehe dérive Nr. 64) sowie die bis heute existierenden französischen Bidonvilles (siehe den Artikel von Muriel Cohen & Marie-Claude Blanc-Chaléard auf S. 24) werden trotz ihrer Ausdehnung und Permanenz häufig immer noch als urbanistischer Nebenschauplatz gehandelt.

Anders stellt sich die Situation – wie bereits angedeutet – im südeuropäischen Kontext dar. Als Beispiel bietet sich Italien an, das mit mehr als 20 Millionen ohne Rücksicht auf Baugesetze und Raumordnung errichteten Objekten so etwas wie das Kernland des informellen Bauens unter den Industrienationen ist (vgl. Dominik Straub, Der Standard vom 3.9.2017)[6]. In manchen südlichen Regionen wie Kalabrien, Kampanien oder Sizilien wird der Anteil der illegalen Bauführungen gegenwärtig auf etwa ein Drittel geschätzt (Maura Salerno, Edilizia e Territorio vom 3.12.2015)[7], seit den 1980er Jahren gab es mehrere landesweite Generalamnestien für Bausünder. Auch wenn wir das komplexe Phänomen der italienischen case abusive hier nicht weiter thematisieren können, halten wir es für wichtig, auf den Fall hinzuweisen, weil es sich dabei seit Jahrzehnten um ein klassenübergreifendes Massenphänomen handelt. Durch die schiere Menge illegaler oder halblegaler Gebäude wird – falls existent – regelmäßig die Raumplanung unterlaufen, das Konzept der formellen Stadt relativiert und letztlich der bürgerliche Rechtsstaat in Frage gestellt. Da es sich nur in kleinen Teilen um Elendsurbanisierung handelt und es zudem regelmäßig um die Zersiedlung ökologisch sensibler und oft geschützter Gebiete und verbreitet um Immobilienspekulation geht (Biffi 2014)[8], erweist sich einmal mehr: Informell und Bottom-up sind weder gleichzusetzen noch a priori positive oder emanzipatorische Kategorien.

Dubravka Sekulić zeichnet in ihrem Artikel für diesen Schwerpunkt die Entwicklung illegaler Landnahme und Bautätigkeit an der Belgrader Peripherie nach. Im damaligen Jugoslawien setzten die wilden SiedlerInnen der sozialistischen Logik gemeinschaftlichen Eigentums und kommunaler Wohnraumversorgung – die in der ökonomischen Krise der 1970er und 80er Jahre nicht mehr Wohnraum für alle bereitstellen konnte – Eigeninitiative und die Logik einer privaten Raumproduktion entgegen, die auch als Vorläufer der späteren, marktförmigen Entwicklung angesehen werden kann.

In Mittel- und Nordeuropa stellt sich die europäische Stadt für ZuwanderInnen längst als eine Ankunftsstadt, eine weitere globale arrival city dar (Saunders 2013). Dort sind sie – meist in peripheren Zonen –, um ihr Überleben sichern zu können, weitgehend auf informelle räumliche und soziale Praktiken angewiesen. Informelle und halb-formelle Flüchtlingslager, wie sie sich etwa in Frankreich herausgebildet haben – bezeichnenderweise wurde das bekannteste von ihnen in post-viktorianischer Manier Calais Jungle benannt –, verweisen zudem auf die ungebrochene Aktualität des Themas. Zunehmend repressive Migrationsregime und Phantasmagorien einer räumlichen Ausgrenzung gigantischen Ausmaßes, wie sie sich im hermetischen Bild der Festung Europa manifestieren, können daran wenig ändern.

Informelle Stadtproduktion hat in der Vergangenheit entscheidend dazu beigetragen, Krisen- und Modernisierungsschübe zu bewältigen. Wie die Rezeption in neueren Arbeiten zu umkämpftem Grün und urban commons zeigt, besitzen die semi-subsistenten Modelle kollektiver Selbsthilfe in Wien nach 1918 noch immer eine gewisse Strahlkraft (Kumnig et al. 2017; Baldauf et al. 2016). Auch unser Beitrag für diesen Schwerpunkt zeigt: Das rote und das wilde Wien waren zwei Systeme, die nicht nur in der Zwischenkriegszeit ökonomisch und stadträumlich aufeinander bezogen waren. Die wilden Siedlungen in der Übergangszone zwischen Stadt und Land waren ein der Not entsprungenes Laboratorium einer neuartigen bukolischen Urbanität, die noch zu erforschen wäre. Auch die gegenwärtige, zunehmend globalisierte Recht-auf-Stadt-Bewegung kann von historischen Formen einer Stadt von unten etwas lernen und so die eigene Positionierung in der Geschichte sozial-räumlicher Selbstermächtigung und Emanzipation genauer verorten.[9]


Anmerkungen:

[01] Rem Koolhaas hat im Rahmen des Forschungsprojekts Harvard Project on the City die nigerianische Metropole Lagos untersucht, die besonders stark von informellem Wachstum geprägt ist. Seine neo-organizistische Perspektive vernachlässigt dabei – wie KritikerInnen anmerkten – die drückende Armut, Gewalt und infrastrukturelle Defizite, die in den informellen Armenvierteln der afrikanischen Metropole den Alltag prägen.
[02] Hernando de Soto ist ein peruanischer Ökonom, der mit seinen Arbeiten zur informellen Ökonomie bekannt wurde. De Soto betont die Bedeutung von Eigentumsrechten für wirtschaftliche Prosperität. Er hält die globalen SlumbewohnerInnen für TrägerInnen heute noch ungenutzten Reichtums. Zentral für De Soto ist mittelfristig die Schaffung von privaten Besitzrechten in Folge der zuerst informellen Landnahme. Er propagiert eine Revolution und eine Zukunft des Kapitalismus durch eine Marktwirtschaft von unten – der Favela-Bewohner- Innen von heute als KapitalistInnen von morgen.
[03] Siehe: Saunders’ (2013) Buch kann teilweise als Gegenthese zu Mike Davis Planet der Slums gelesen werden. Auch hier werden mit Slums, die Saunders Ankunftsstädte nennt, wirtschaftliche Potenziale für die Zukunft verknüpft. Die Ankunftsstadt ist in dieser Sichtweise eine notwendige Übergangszone für jene, die vom Land in die Stadt strömen.
[04] Harvey prägte in seinem Aufsatz den Begriff eines urban entrepreneurialism, der im deutschen Sprachraum in der Übersetzung unternehmerische Stadt Karriere machte.
[05] Etwa Charles Booth, britischer Sozialforscher und Philanthrop, gemeinsam mit Henry Mayhew ein Pionier der Stadtforschung, erforschte die Londoner Arbeiterklasse Ende des 19. Jahrhunderts.
[06] Siehe: derstandard. at/2000063485588/Italien- Das-Land-in-dem-alle- Bausuenden-vergeben-werden.
[07] Siehe: www.ediliziaeterritorio. ilsole24ore.com/art/ citta-e-urbanistica/ 2015-12-02/istat-italiapatria- abusivismo-sudillegali- quasi-60- fabbricati-100--162429.php? uuid=ACk5wclB&refresh_ce=1
[08] Siehe: www.legambiente.it/ sites/default/files/docs/ abusivismo_litalia_frana_ il_parlamento_condona- _dossierfile.pdf
[09] Siehe auch: dérive Nr. 60 Henri Lefebvre und das Recht auf Stadt; dérive Nr. 61 Perspektiven eines kooperativen Urbanismus; dérive 49 Stadt selber machen bzw. Festival urbanize. 2015: Do it together, etc.


Literatur
Altvater, Elmar (2005): Globalisierung und die Informalisierung des urbanen Raums. In: Brillembourg et al, S. 306-309.
Baldauf, Anette; Gruber, Stefan; Hille, Moira; Krauss, Annette; Miller, Vladimir; Verlic´, Mara; Wang, Hong-Kai & Wieger, Julia (2016): Spaces of Commoning. Artistic Research and the Utopia of the Everyday. Berlin, New York: Sternberg Press.
Becker, Jochen; Burbaum, Claudia; Kaltwasser, Martin; Köbberling, Fölke; Lanz, Stephan & Reichard, Katja (2003): Learning from. Städte von Welt, Phantasmen der Zivilgesellschaft, informelle Organisation. Berlin: NGBK.
Blum, Elisabeth & Neitzke Peter (Hrsg.) (2014): FavelaMetropolis. Berichte und Projekte aus Rio de Janeiro und Sao Paulo. Basel: Birkhäuser Verlag.
Davis, Mike (2011): Planet der Slums. Berlin, Hamburg: Assoziation A Verlag.
Brillembourg, Alfredo & Feireiss, Kirstin & Hubert Klumpner (2005): Informal City. Caracas Case. München: Prestel Verlag.
Evans, Robin (1996): Translation form drawing to building. London: AA Documents.
Hagemann, Anke (2012): Der Mainstream des Informellen: Urbanistische Forschung zwischen Romantisierung und städtischer Realität. In: Krasny, Elke (Hrsg.) (2012):
Hands-on Urbanism 1850–2012. Vom Recht auf Grün. Wien, Berlin: Turia + Kant.
Harvey, David (1989): From managerialism to entrepreneurialism: the transformation of urban governance. In: Geografiska Annaler. Series B, Human Geography, Vol. 71, No.1, The Roots of Geographical Change: 1973 to the Present. (1989), S. 3-17.
Kumnig, Sarah; Rosol, Marit & Exner, Andreas (2017): Umkämpftes Grün. Bielefeld: Transcript Verlag.
Krasny, Elke (Hrsg.) (2012): Hands-on Urbanism 1850–2012. Vom Recht auf Grün. Wien, Berlin: Turia + Kant.
Marx, Karl & Engels, Friedrich (1848/2005): Manifest der Kommunistischen Partei. www.vulture-bookz.de
Sassen, Saskia (2005): Fragmentierte urbane Topographien und die ihnen zugrunde liegenden gegenseitigen Verbindungen. In: Brillembourg et al, S. 315-323.
Saunders, Doug (2013): Arrival City. Die neue Völkerwanderung. München: Pantheon Verlag.
Spiller (1911/2008): Slums. Erlebnisse in den Schlammvierteln moderner Großstädte. Wien: Czernin Verlag.
Žižek, Slavoj (2009): Auf verlorenem Posten. Berlin: Insel Verlag.
Zwoch, Felix (2005): Fünf Versionen des In/Formellen. In: Brillembourg et al, S. 304-306.

dérive, Mo., 2018.04.30



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