Editorial

Sieht man sich einige der Themen der letzten urbanize! Festivals an – Stadt selber machen, Citopia Now oder Do it together – Perspektiven eines kooperativen Urbanismus –, lässt sich unschwer erahnen, dass uns ein demokratischeres Modell von Stadt als das existierende durchaus ein Anliegen ist. Darunter verstehen wir eine Stadt, in der die Bewohner aktive und gleichberechtigte Bürger und Bürgerinnen und keine passiven Konsumenten sind, die sich – je nach Ausstattung mit finanziellem, rechtlichem, kulturellem und sozialem Kapital – ihr Recht auf Stadt leisten können oder eben nicht.

Dieses Jahr lautet der Titel von urbanize!, das von 6. bis 15. Oktober im Wiener Architekturzentrum stattfindet, DEMOCRACitY – Demokratie und Stadt, womit wir uns ein weiteres Mal mit Aspekten dieses für die Zukunft der urbanen Gesellschaft zentralen Themas auseinandersetzen. Das erste urbanize! Festival hat 2010 stattgefunden. Im Zeitraum von damals bis heute gab es die Occupy-Bewegung, den Arabischen Frühling, die Gezi Park-Proteste, die Proteste am Syntagma-Platz in Athen, die Regenschirm-Bewegung in Hongkong, die Platzbesetzungen der Indignados bzw. die 15M-Bewegung in Madrid, Barcelona etc., Proteste in vielen brasilianischen Städten und in jüngster Vergangenheit immer mehr Wahllisten von Initiativen, die sich als Teil einer munizipalistischen Bewegung sehen. Unsere wiederkehrende Auseinandersetzung mit der Thematik hat also durchaus Anknüpfungspunkte mit der alltäglichen Realität in den Städten weltweit und zeigt: We are not alone.

Diese dérive-Ausgabe mit dem schlichten Titel Demokratie stellt sich traditionell dem Festivalthema und steuert einige Beiträge bei, deren Fokus sich mit den Stichwörtern Munizipalismus, Selbstverwaltung, Asamblea, Partizipation sowie Öffentlichkeit und Staat zusammenfassen lassen und im hauseigenen Einleitungsartikel umrissen werden.

Den Beginn des thematischen Readers zum Festival macht Juan Subirats, einer der Gründer der BürgerInnen-Plattform Barcelona En Comú, die 2015 bei ihrem erstmaligen Antreten die Kommunalwahlen in Barcelona gewonnen hat und mit Ada Colau seither die Bürgermeisterin stellt. Er skizziert in seinem Artikel Beginnt der Wandel in den Städten? den neuen Munizipalismus als Antwort auf ein Europa der Austerität und der Abschottung und zeichnet die Entwicklung von Barcelona en Comú seit dem Einzug ins Rathaus nach. Einen Überblick über die im Entstehen begriffene internationale munizipalistische Bewegung von Valparaíso über Neapel bis Hongkong gibt Kate Shea Baird, die ebenfalls Aktivistin bei Barcelona En Comú ist.

Ein interessierter Beobachter der Entwicklung in den spanischen Städten ist der Autor und Hamburger Recht auf Stadt-Aktivist Niels Boeing, den wir kurz nach den G20- Protesten zum Interview trafen. Im Gespräch erzählt Boeing jedoch weniger von Robocops und der Stadt als einzigem Gefahrengebiet, sondern über den erfolgreichen Versuch in St. Pauli Stadtteilversammlungen einzuführen und sie zu einem Raum der demokratischen Debatte zu machen. Thema des Interviews war natürlich auch Boeings letztes Buch VON WEGEN, dessen Untertitel Überlegungen zur freien Stadt der Zukunft den Inhalt des Gesprächs gut zusammenfasst.

Das demokratiepolitische Top-down-Angebot für Mitsprache in Fragen zur Stadtentwicklung und -planung lautet Partizipation. Über die Probleme, die damit verbunden sind, war in dérive zuletzt von Sarah Kumnig im Schwerpunktheft zum Nahrungsraum Stadt zu lesen. Diesmal berichtet Peter Leeb über die bewundernswert hartnäckige Stadtteilinitiative FRISCH, die seit fünf Jahren für mehr öffentlichen Freiraum auf dem Gelände der Schmelz in Wien kämpft. Für eine grundsätzliche Diskussion der Frage, was Demokratie heißt, sorgt in diesem Schwerpunkt Mark Purcell, der sich seit Jahren intensiv damit beschäftigt. Seine Antwort darauf ist ebenso klar, wie es seine Begründungen und Herleitungen sind. Demokratie heißt für Purcell, das eigene Leben in die Hand zu nehmen und die individuellen Potenziale und Fähigkeiten nicht verkümmern zu lassen, indem man sie an eine übergeordnete Institution wie den Staat abgibt. Für seine Argumentation und etymologischen Thesen greift er auf staatspolitische Klassiker wie Thomas Hobbes oder John Locke ebenso zurück wie auf die Schriften von Aristoteles und Platon. Dieser historisch weite Blick in die Vergangenheit ist für die aktuelle Situation keineswegs unwichtig, haben doch heute wieder höchst aktuelle demokratische Einrichtungen wie die Stadtteilversammlung (siehe Barcelona) ihre Ursprünge in der Antike.

Manfred Russos Serie Geschichte der Urbanität konfrontiert in der aktuellen Folge das Imaginäre bei Jacques Lacan mit Henri Lefebvres – so die Hypothese – analoger Dimension des espace vécu (erlebten Raums), »um daraus einige Erkenntnisse über die Rolle des Imaginären in Bezug auf Stadt und Raum ableiten zu können«.

Peter Payer hat für den Magazinteil einen Nachruf auf die im Februar verstorbene Wiener Stadtforscherin Elisabeth Lichtenberger verfasst. Lichtenberger hat während ihrer wissenschaftlichen Karriere nicht nur zahlreiche Bücher und Artikel zu urbanen Themen verfasst hat, sondern zeichnet auch für die Gründung des Instituts für Stadt- und Regionalentwicklung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ebenso wie für den Studienzweig Raumforschung und Raumordnung am Institut für Geographie der Universität Wien verantwortlich.

Der Titel des Kunstinserts von Gabriele Sturm lautet The Mismeasure of Paradise. Sturm legt – nicht nur mit dieser Arbeit – den Fokus dabei auf den Warentransfer und die De- und Neukontextualisierung seiner kulturellen und inhaltlichen Bedeutung.

urbanize! DEMOCRACitY lädt mit zahlreichen internationalen Gästen von A wie City Plaza Athen bis zu Z wie Mehr als Wohnen Zürich ab 6. Oktober ins Festivalwohnzimmer im Wiener Architekturzentrum ein. Gemeinsam rufen wir dort 10 Tage vor der österreichischen Nationalratswahl die Place Internationale aus: Einen Ort der Solidarität und nicht der Angst.

Christoph Laimer und Elke Rauth

Inhalt

01
Editorial
Christoph Laimer, Elke Rauth

04 — 06
Demokratie ≠ Demokratie
Christoph Laimer, Elke Rauth

07 — 14
Beginnt der Wandel in den Städten?
Joan Subirats

15—21
Beharrlich bleiben, mitmachen, weitermachen
Niels Boeing, Christoph Laimer, Elke Rauth

22—27
»Wir würden ja gerne, allerdings sind uns von Rechts wegen
die Hände gebunden.«
Peter Leeb

28 — 31
Eine neue internationale munizipalistische Bewegung ist im Entstehen
Kate Shea Baird

32—36
Kunstinsert Gabriele Sturm
The Mismeasure of Paradise

37 — 47
For Democracy: Planning and Publics without the State
Mark Purcell

Serie
48 — 51
Geschichte der Urbanität, Teil 53
Lefebvre. Die Produktion des Raumes IV
Das Imaginäre und das Monumentale
Manfred Russo

52—53
Elisabeth Lichtenberger 1925–2017
Erinnerung an eine außergewöhnliche Stadtforscherin
Peter Payer

54 — 61
Besprechungen
Unterwegs mit Schildkröte und Kamera S.54
Wohnraum für Alle!? – Das Ringen um eine nicht-profitorientierte Wohnungsversorgung in Deutschland S.55
Von der Bildfläche S.57
Selbstgemacht und glücklich S.60
We can aim at more S.61

68
Impressum

DEMOKRATIE ≠ Demokratie

»What is to be done, what we all must do together, is to engage in a collective struggle and perpetual struggle to democratize our society and to manage our affairs for ourselves.« (Mark Purcell)

Es ist nicht zu übersehen: Die Demokratie hat ein echtes Problem. Weit verbreitete Korruption, der überbordende Einfluss von globalen Unternehmen, partikulare Machtinteressen und Vetternwirtschaft, post-demokratische Strukturen, eine offensichtliche Unfähigkeit zum Dialog mit dem Souverän und das augenscheinliche Unvermögen der Nationalstaaten, den anstehenden Problemen dieser Welt in adäquater Weise zu begegnen, lassen immer mehr Menschen an der Funktionsfähigkeit der herrschenden politischen Klasse und damit auch der Demokratie an sich zweifeln. Jahrzehnte der Durchsetzung einer neoliberalen Agenda mit konsequentem Abbau von hart erkämpften sozialen Rechten und der vorsätzlichen Diskreditierung von grundlegenden Werten wie Gleichheit und Solidarität haben unsere Welt in ein schlingerndes Schiff mit ungewissem Kurs verwandelt.

It’s the inequality, stupid!

In den Städten sind diese Entwicklungen längst angekommen: Betongold trifft auf Wohnungsnot, Armut und Obdachlosigkeit; Angstpolitik und umfassende Sicherheitsregime im öffentlichen Raum auf Abbau von Freiheitsrechten und Verdrängung; massive Eigentumskonzentrationen auf das Aussortieren von immer mehr Menschen am Arbeitsmarkt. »Cities are the places where austerity bites« hat Jamie Peck vor einigen Jahren in dérive geschrieben – eine Analyse, die immer mehr Menschen betrifft. Die 99 % dieser Welt bekommen die frappierende Ungleichheit der neo-feudalistischen Verhältnisse unter einem von Gier getriebenen, neuen Geldadel in immer bedrohlicherer Weise im Alltag zu spüren. Was bringt uns also dazu, einen Schwerpunkt zum Thema Demokratie und Stadt zu veröffentlichen?

Demos und Kratos

Während die abgehängten Klassen sich scheinbar in großen Zahlen von Angstdiskurs und rechtspopulistischen Milchmädchen-Rechnungen angezogen fühlen, was weltweit einen besorgniserregenden Aufstieg von neuen autokratischen Führerfiguren hervorbringt, wächst auch der Widerstand gegen Demokratie als hohle Phrase und die Forderung nach einer umfassenden Demokratisierung von Gesellschaft. Zentrum dieses Widerstandes sind die Städte. Doch welches Potenzial birgt das Konzept Demokratie über den bekannten Status Quo hinaus? Ein möglicher Ansatz verbirgt sich in einer etymologischen Spurensuche: Die gängigste und einfachste Übersetzung von Demokratie ist Volksherrschaft. Sie ist grundsätzlich nicht falsch, meist fällt aber unter den Tisch, dass demos keinesfalls im völkischen bzw. ethnischen Sinne zu verstehen ist. Dafür verwendeten die Griechen den Begriff ethnos. Demokratie steht also keineswegs für ethnische Ausgrenzung zur Verfügung, wie es die von der wahren Volksherrschaft träumenden Wir-sind- das-Volk-Fraktionen verlangen.

In seinem Beitrag For Democracy: Planning and Publics without the State setzt sich Mark Purcell näher mit der Begriffsdeutung von Demokratie auseinander. Das Ergebnis seiner demokratietheoretischen und etymologischen Analyse: Demokratie bedeutet im Kern, dass Menschen ihr angeborenes Potenzial, ihre Angelegenheiten selbst zu verwalten, so frei als nur möglich nutzen können sollen. Purcell interpretiert kratos (dt. Macht, Stärke) nicht als Macht über oder Herrschaft über, sondern als die Macht oder das Vermögen zu etwas, also als Fähig- keit Dinge zu bewegen, Entscheidungen zu fällen, Probleme zu meistern. So wie in der attischen Demokratie die Bürger der Polis ihre Angelegenheiten in Versammlungen selbst regelten, fordert Purcell dazu auf, uns die Macht wieder zu eigen zu machen, die wir in der repräsentativen Demokratie an den Staat abgegeben haben, und das jedem Menschen innewohnende Potenzial zu nutzen. Dass diese natürlichen Fähigkeiten bei den meisten heute eher verkümmert scheinen und wir als Gesellschaft erst wieder lernen müssen, sie zu entdecken, ist offensichtlich.

Change begins in the city

Die Lust dazu ist in den letzten Jahren auf jeden Fall spürbar im Steigen begriffen. Das beginnt bei Community-Gärten, Fab-Labs oder selbstorganisierten Hausprojekten und reicht bis zu Bestrebungen der politischen Selbstverwaltung, wie wir sie derzeit beispielsweise bei der kurdischen Bevölkerung in Rojava und in zahlreichen Städten weltweit beobachten können. Ähnlich wie David Graeber von »elementarem Kommunismus« spricht, unter dem er vorrangig alltägliche gegenseitige Hilfe versteht, ohne die keine Gesellschaft funktionieren kann, deutet Purcell auf zahlreiche bereits bestehende Initiativen und Aktionen hin, die heute als Möglichkeitsfenster in eine andere Gesellschaft den Weg in Richtung einer umfassenderen Demokratie weisen. Für Purcell ist Demokratie kein Stadium, das irgendwann in seiner höchsten Vollendung erreicht werden kann, sondern ein Horizont auf den man sich asymptotisch zubewegt. Dabei tauchen frühe demokratische Werkzeuge wie etwa die offene Versammlung immer wieder auf, was ihre Wichtigkeit für die demokratische Gesellschaft unterstreicht. Am eindrucksvollsten passiert das derzeit in Städten wie Barcelona, wo die Stadtteilversammlung (Asamblea) eine wichtige Rolle in der Stadtpolitik spielt. Dass diese Form der unmittelbaren demokratischen Auseinandersetzung derzeit für intensives Nachdenken sorgt, beweist auch die im Oktober erscheinende neue Publikation von Hardt/Negri unter dem Titel Assembly.

Die Occupy-Bewegung und die weltweiten Platzbesetzungen der letzten Jahre mögen von vielen als nicht erfolgreich betrachtet worden sein, aber sie haben gemeinsam mit erfolgreichen kommunalen Experimenten wie etwa in Porto Alegre Prozesse in Gang gesetzt und umfassende Lernerfahrungen ermöglicht. In Summe bilden sämtliche Bestrebungen der Selbstorganisation fruchtbare Keime einer sich noch unscharf abzeichnenden, aber durchaus hoffnungsvollen neuen munizipalistischen Bewegung. In Spanien haben sich die Indignados des spanischen Movimiento 15-M von 2011 zahlreich in Initiativen organisiert und sind bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 2015 als Bewegungs-Plattformen angetreten. Im Gegensatz zu populistischen Top-down-Bewegungen, die alten Wein in neuen Schläuchen verkaufen, sind sie tatsächlich bottom-up entstanden. Mit ihren Programmen für echten gesellschaftlichen Wandel, gegen Korruption und soziale Ungleichheit und für eine offene, solidarische Gesellschaft haben sie in einer Vielzahl von spanischen Städten aus dem Stand den Wahlsieg davongetragen. Sie regieren mit Ahora Madrid und seiner neuen Bürgermeisterin Carmen Carmela sowohl das politische als auch mit Barcelona en Comú (BComú) und der PAH-Aktivistin Ada Colau das ökonomische Zentrum Spaniens und arbeiten intensiv an einer Öffnung der politischen Institutionen und der Entwicklung von neuen demokratischen Werkzeugen zur Verbindung der Ebene von Nachbarschaft und Stadtteilversammlung mit der institutionellen Stadtpolitik.

Radical Cities

Wie kann also eine Demokratie aussehen, die nicht in der weit verbreiteten Form der repräsentativen Demokratie erstarrt? Murray Bookchin, der 2006 verstorbene Begründer eines libertären Kommunalismus, dessen Ideen heute von zahlreichen politischen Gruppen wieder aufgegriffen werden, verfolgt in seinem Buch Die Agonie der Stadt (1996) die These, dass eine lebendige Demokratie nur dann möglich ist, wenn Menschen auf lokaler Ebene miteinander über ihre Anliegen von Angesicht zu Angesicht diskutieren und diesen Prozess nicht an BerufspolitikerInnen delegieren.

Er spricht sich für eine Entprofessionalisierung von Politik aus, weist aber stets darauf hin, dass diejenigen die sich in einer Versammlung auf Maßnahmen einigen, nicht zwangsläufig die sein müssen, die sie auch umsetzen.

Auch der Idee der Städtebünde hat Bookchin viel Aufmerksamkeit gewidmet und mit zahlreichen Beispielen von der Antike übers Mittelalter bis in die Gegenwart ihr Potenzial für eine demokratischere Gesellschaft belegt. Heute spielen Städte-netzwerke auf vielen Ebenen (wieder) eine wichtige Rolle und man muss kein Prophet sein, um vorauszusehen, dass sich ihre Bedeutung in Zukunft weiter erhöhen wird. Städte sind mit den Auswirkungen gesellschaftlicher Entwicklungen tagtäglich und direkt konfrontiert und können sich nicht in nationalstaatlichen Realitätsverweigerungen und Inszenierungen ergehen, zumindest dann nicht, wenn sie als lebendige und lebenswerte Orte für alle erhalten bleiben wollen. Benjamin Barber hat mit seinem 2013 erschienenen Buch If Mayors Ruled the World: Dysfunctional Nations, Rising Cities diese Entwicklung auf den Punkt gebracht.

Bookchins libertärer Kommunalismus hat sich zwar als Begriff nicht wirklich durchgesetzt, in der aktuellen munizipalistischen Bewegung stoßen jedoch viele seiner Ideen auf großes Interesse. Der Begriff des Munizipalismus geht dabei historisch auf eine Bewegung während der Römischen Republik des 18. Jahrhunderts zurück, in der einige Kommunen sich in Gänze vom neuen Staat loszusagen versuchten, mit den Werten Selbstbestimmung und Autonomie als Kern der Idee. Juan Subirats, einer der Gründer von Barcelona en Comú, beschreibt in seinem Beitrag in dieser Ausgabe die Entwicklung der munizipalistischen Bewegung im heutigen Spanien und die Werte und Ziele, die in den lokal organisierten Wahlkämpfen im Vordergrund standen: Die Wiederaneignung der Institutionen im Sinne der BürgerInnen, die Bekämpfung von sozialer Not und der Zunahme von Ungleichheit, eine direkte Einbeziehung der Bür- gerInnen in öffentliche Entscheidungsprozesse und das Wieder- erlangen einer ethischen, moralischen, politischen Perspektive nach Jahren der Korruption und privaten Bereicherung an den öffentlichen Institutionen.

Lessons to learn

So spannend und hoffnungsvoll sich das Projekt der munizipalistischen Bewegung darstellt, so stellt sich doch die Frage, ob und wie es langfristig möglich ist, die vorhandenen Strukturen der Stadtpolitik und Kommunalverwaltung so zu nutzen, dass am Ende des Tages nicht doch automatisch wieder nur eine repräsentative Demokratie übrig bleibt. Auch der Hamburger Autor und Stadtaktivist Niels Boeing weist im Interview in dieser Ausgabe darauf hin, dass sich die Strukturen der Verwaltung mitsamt ihrer Beamtenschaft in der Vergangenheit immer wieder als starke, bewahrende Kräfte erwiesen haben, die über viel Wissen und Erfahrung und damit über eine nicht zu unterschätzende Macht verfügen, mit der bei allen Ansätzen eines grundlegenden Wandels gerechnet werden muss.

Barcelona en Comú arbeitet jedenfalls hart daran, die Institution der Asambleas (Stadtteilversammlungen) als den Ort zu institutionalisieren, an dem von der Bevölkerung Themen aufgeworfen und Fragen diskutiert werden, deren Antworten schließlich von Politik und Verwaltung aufgegriffen und umgesetzt werden. Können die komplexen Probleme der urbanen Gesellschaft mit solchen Modellen tatsächlich gelöst werden? Ist es also möglich an Demokratie als Projekt einer aktiven Selbstermächtigung zu arbeiten, anstatt sie nur passiv zu konsumieren?

Die Fragen sind berechtigt, kommen allerdings zu früh, um sie ernsthaft und umfassend beantworten zu können. Der harte Pragmatismus (Kate Shea Baird) des neuen Munizipalismus ist es auf jeden Fall wert, einen genauen Blick darauf zu werfen und die Entwicklung zu verfolgen.

Dass Barcelona en Comú es tatsächlich ernst meint, zeigen Bertie Russell, vom Urban Institute der Universität von Sheffield, und Oscar Reyes, der am Institute for Policy Studies forscht und in Barcelona lebt, in ihrer Analyse 20 Monate nach der Wahl: Ada Colaus Credo Feminizing Politics setzt auf einen komplett anderen Politikstil, der Zweifel und Widersprüche offen thematisiert und gleichzeitig die Rolle der Gemeinschaft und des Gemeinwohls bei der Lösungsfindung stärkt. Im Mittelpunkt aller Bestrebungen steht eine Politik der Commons, der Vergesellschaftung von lebensnotwendigen Infrastrukturen und gemeinsamen Entwicklung von Stadt. Sein Wahlprogramm entwickelte BComú auf Stadtteilversammlungen in lokalen Nachbarschaften und durch technische Online-Werkzeuge gemeinsam mit tausenden Menschen. Die größten Gewinne hat BComú in den ärmsten Nachbarschaften erzielt. Nach dem Wahlsieg installierte die Plattform einen Notfalls-Plan mit Maßnahmen gegen Zwangsräumungen, Strafen für Banken, die ihren Immobilienbesitz leer stehen lassen, und Subventionierung von Transport- und Energiekosten für Arbeitslose und MindesteinkommensbezieherInnen. Statt rassistischer und xenophober Angst- und Sündenbockpolitik werden von BComú die wahren Gründe thematisiert, warum immer mehr Menschen immer weniger zum Überleben haben, und Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Lage gesetzt. Soziale Stadtteilprojekte werden aus einem Fonds unterstützt, den die Abgeordneten von Barcelona en Comú durch eine selbst auferlegte Gehaltsbeschränkung von 2200 Euro speisen. Bei aller Lokalität verliert die Plattform den globalen Rahmen aber nicht aus den Augen: BComú vernetzt weltweit Städte und hat ein Komitee gegründet, um die gemachten Erfahrungen international zu diskutieren und zu teilen. All diese Ansätze verfolgen nicht einfach eine klassische sozialistische Politik, im Glauben, die besten Lösungen für das Wahlvolk zu haben. Barcelona en Comú glaubt ganz im Sinne des Stadt selber Machens daran, dass Menschen ihre Angelegenheiten gemeinsam und selbstorganisiert am besten regeln können, und verbindet Alltags- und ExpertInnen-Wissen, um Lösungen für die tatsächlichen Probleme der Menschen zu entwickeln.

dérive, Mo., 2017.11.06

06. November 2017 Christoph Laimer, Elke Rauth

Unterwegs mit Schildkröte und Kamera

Mit Liebe zur Stadt beschrieb der Historiker Jacques Le Goff einmal die aktive Teilhabe im Verhandlungsprozess zwischen den vielfachen Widersprüchlichkeiten und Differenzen, die das städtische Zusammenleben ausmachen. Ich weiß nicht, ob Le Goff Pate stand bei der Titelgebung dieses Buches, das sich vorgenommen hat, einen Teil dieser Widersprüchlichkeiten sichtbar zu machen. Vermessung einer Liebe zur Stadt trifft es aber gut, als dass das Buch anhand einer Untersuchung der Bilder von der Stadt den städtischen Wandel Wiens auslotet und die ihm zugrundeliegenden Prozesse – die von den sozialen und wirtschaftlichen Differenzen des städtischen Alltags zeugen – deutlich macht.

Sechs kurze Essays behandeln das Bild von Wien. Es sind Texte, die sich eingehend der eigenen Stadtwahrnehmung und ihrem Werden widmen, von einem Urbanisten, der auf diese Weise die letzten sieben Dekaden Wiens in eigenen Worten nachzeichnet, Texte über das Fotografieren in und von Städten. An Paris geschult und einer französischen Theorietradition der Stadtbeschreibung, nicht zuletzt auch Walter Benjamin verpflichtet, durchstreift Rudolf Kohoutek Wien und verhandelt Bilder der Stadt jenseits der gängigen touristischen Klischees, die Aufschluss geben über die Räume des Zentrums, der Vorstadt und der Peripherie, von Hoch-, Sub- und Gegenkultur.

Der weitaus größere Teil des Buches aber zeigt Fotografien von Wien: alte Portale, Erdgeschoßlokale, die leer stehen, Hausfassaden, von denen der Putz abfällt, bemalte Schaltkästen und Leitungen, ver- waiste Hinterhöfe und halb fertig gestellte Miniaturarchitekturen, die fast kleinen Skulpturen glichen, wären sie welche – Bilder von einer Stadt, die immer ein wenig kaputt, ein wenig adaptiert und hergerichtet, im ständigen Umbau erscheint, Bilder vom »ästhetischen Mehrwert des Verfalls«. Dem Buch deshalb eine romantisch verklärte Sehnsucht nach dem Gestern zuzuschreiben, wäre aber mehr als fehl am Platz: Denn Kohouteks Bilder zeigen Ausschnitte von Wien, die ab 2008 aufgenommen wurden, also kurz bevor und während eine Investitionswelle über die Stadt rollte, die scheinbar aus jedem noch so erbärmlichen baulichen Überbleibsel der Gründerzeit lukrative Mieten zu schlagen trachtete, nachdem dieses modernisiert und sein zerbröselndes Antlitz geglättet wurde; oder dort, wo das nicht mehr möglich war, durch neue Gebäude ersetzte. Seine Kritik an den Verhältnissen wird deutlich in der Wiederholung von Variationen, an denen sie sich abarbeitet, sie wird dabei aber nie laut, schreierisch, sondern bleibt in ihrem Vorgehen vielmehr klar und präzise. Kohoutek setzt seine Bilder nur selten und gezielt dynamisch in Szene, ansonsten ist sein Blick eher der eines Vermessers: Die Fotos sind Frontalperspektiven, die, oft parallel zur Fassade aufgenommen, analytisch abbilden, wie Haus oder privater Raum der Stadt gegenüberstehen, in Konflikt treten, bisweilen versuchen, sich gegenseitig einzuverleiben. Menschen selbst sind nur selten zu sehen, vielmehr sind es die Spuren von Besitzverhältnissen, von Zuständigkeiten und Nicht-zuständigkeiten, die sie im genauen Blick in den Oberflächen und Architekturen abbilden. Im Buch treten sie, geordnet
in die fünf Kategorien Erdgeschoße, Historismen, Surrealismen, Heterotopien und Materialien, auf. Eine solche Einteilung könnte trocken und zwanghaft wirken, tatsächlich folgt sie im Buch jedoch einer Unordentlichkeit, die nur die Stadt bieten kann und aus der das Buch auch seinen Reiz zieht.

In den 1840er Jahren, schrieb Walter Benjamin in seiner Schilderung des Flaneurs im Passagenwerk, sei es vornehm gewesen, eine Schildkröte mit sich zu führen, »das gebe einen Begriff vom Tempo des Flanierens in den Passagen«. In der Schildkröte zeichnet sich allerdings nicht nur die Notwendigkeit des Langsamen ab: Für den Flaneur, der bei Benjamin immer mehr ist als ein dandyhafter Großstadtspaziergänger, einer, der dank seiner Wahrnehmung in der Lage ist, den städti- schen Alltag zu lesen und zu entschlüsseln, markiert die Schildkröte einen regelrechten Perspektivenwechsel. Denn Erkenntnis über die Stadt ist nicht länger den Herrschenden vorbehalten, jenen, die über den gottgleichen Blick von oben verfügten, auf dem auch der Plan aufbaut, sondern im Blick von unten zu suchen, in den Niederungen des Alltags. Dieser Perspektivenwechsel sollte zentral bleiben für sämtliche Formen des situativen Herumstreifens, von den Dérives der S.I. bis hin zu den Wanderungen von Stalker/Osservatorio Nomade und anderen Stadtstreunerinnen, in deren Tradition gewissermaßen auch die Arbeit Kohouteks steht. Auch Wiener Grund folgt dieser Haltung: es bietet keine pittoreske Aussicht, keinen Überblick über Wien, sondern bleibt am Boden – und zwar in jener Realität, die notwendig ist, eine Kritik der politischen Ökonomie der Stadt entlang ihrer Häuserkanten und Fassaden zu entwerfen. Rudi Kohouteks Schildkröte und wichtigstes Instrument ist hier seine Kamera: gehen, warten, schauen, den Kopf hervorstrecken, denken – und weitergehen.


Rudolf Kohoutek
WIENER GRUND
Vermessung einer Liebe zur Stadt Fotografien und Texte
Zürich: Park Books, 2017
225 Seiten, 39 Euro

dérive, Mo., 2017.11.06

06. November 2017 Michael Klein

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