Übersicht

Texte

12. Oktober 2018Michael Klein
Neue Zürcher Zeitung

Die neue Sparsamkeit

Der soziale Wohnungsbau ist wieder im etablierten Architekturdiskurs angekommen. Das zeigt nicht zuletzt der Mies van der Rohe Award.

Der soziale Wohnungsbau ist wieder im etablierten Architekturdiskurs angekommen. Das zeigt nicht zuletzt der Mies van der Rohe Award.

Ein beliebtes Bonmot sagt, dass es der Architektur immer dann gutgehe, wenn die Auftragslage schlecht sei. Werde viel gebaut, fehle die Zeit für eine eingehende Auseinandersetzung mit den Aufgaben der Disziplin. Die Behauptung ist natürlich Unsinn – keine Aufträge bringen den Büros bestenfalls Sorgen. Dennoch sollte man, ziemlich genau zehn Jahre nachdem der Dow Jones an der New Yorker Wall Street eingebrochen ist, noch einmal daran erinnern, dass ein Umdenken in den Architekturdebatten stattgefunden hat. Im Architekturzentrum Wien führt das eine Ausstellung zum Mies van der Rohe Award vor Augen: Im Zentrum stehen noch einmal die Siegerprojekte aus dem vergangenen Jahr, die sich um Strategien für bezahlbares Wohnen bemühen.

Seit Ende der achtziger Jahre kommt alle zwei Jahre eine Jury zusammen, um im Namen der Europäischen Union ein Preisgeld von 60 000 Euro an die Architekten der wichtigsten fertiggestellten Bauten sowie einen Nachwuchspreis zu vergeben. In den vergangenen Jahren konnte man in diesem Rahmen meist prestigeträchtige Vorzeigebauten bewundern: Konzerthallen, Museen oder Sportstätten, auch Verkehrsbauten wie Flughäfen oder Bahnhöfe – Gebäude also, denen eine grosse Öffentlichkeit zuteilwurde, in die viel Geld geflossen ist. Endlich aber konnten zwei Wohnbauten überzeugen: DeFLAT Kleiburg von NL Architects und XVW architectuur in den Niederlanden sowie das Navez Social Housing von MSA/V+ in Belgien, die den Young Talent Architecture Award erhielten.

Symbolischer Preis

Das Siegerprojekt ist ein Monster. Über 400 Meter und 11 Geschosse erstreckt sich der Betonriegel Kleiburg in der Siedlung Bijlmermeer im Südosten Amsterdams. Er war einer der letzten Reste, die noch standen, nicht wegsaniert worden waren von der Grosssiedlung, die auf Siegfried Nassuths Masterplan aus den sechziger Jahren zurückgeht. Bijlmermeer sollte eigentlich 40 000 Bewohnern eine moderne, durchgrünte Alternative zum Stadtzentrum bieten, sah sich aber bald mit ähnlichen Problemen konfrontiert, wie andere funktionalistische Projekte auch: spärlich ausgebildeter öffentlicher Raum, wenig soziale Infrastruktur, hohe Fluktuation und soziale Segregation. Die Siedlung war bald ein Anlaufpunkt für all jene, die am Wohnungsmarkt nicht anderswo unterkamen, sie galt als gesichts- und identitätslos. Bis 1992 dann ein Transportflugzeug der El Al in die Siedlung stürzte. Mit dem Unfall war Bijlmermeer zurück in die Aufmerksamkeit gekehrt, mit ihm begann der Ab- und Umbau des Quartiers.

Als 2011 die Entscheidung über den weiteren Verbleib des letzten, nun leerstehenden Gebäudes anstand, mehrten sich aber die Stimmen, man solle es nicht abreissen, sondern renovieren. Der veranschlagte Preis stand allerdings in keiner Relation zu einem wirtschaftlich vertretbaren Ergebnis. Man entschied, ein anderes, ökonomisch tragbares Nutzungsmodell für das Gebäude zu suchen, und bot es für den symbolischen Betrag von einem Euro an. Der realisierte Vorschlag von DeFLAT und den beiden Architekturbüros sah vor, die Renovierung auf die gemeinsame Infrastruktur des Hauses zu beschränken und die Wohnungen zu verkaufen. Die Eingriffe zielten darauf ab, den ursprünglichen Entwurf hervorzukehren und Neues zu ermöglichen. Hier wurde die Fassade nicht – wie sonst oft – bis zur Unkenntlichkeit differenziert, sondern mit einem durchgängigen System vereinheitlicht, nachträglich hinzugefügte Lifte wurden nach innen verlegt, Durchgänge grosszügiger gestaltet, Lagerräume vom Erdgeschoss in weiter oben liegende, unbelichtete Zonen verlegt, um die Sockelzone für andere Nutzungen zu öffnen.

Die Wohnungen selbst blieben unrenoviert, die Mehrheit wurde sogar im Rohzustand für den Selbstausbau verkauft, die übrigen sind heute Mietwohnungen. Öffnet man mit dem Verkauf der Gentrifizierung das Tor? Nicht unbedingt, meint Xander Vermeulen Windsant, einer der Preisträger. Es gebe in Amsterdam insgesamt zu wenig leistbaren Wohnraum und die Wohnungen von Kleiburg seien zu einem Preis verkauft worden, bei dem der monatliche Aufwand für eine Kreditrückzahlung etwa im Bereich einer Miete im sozialen Wohnungsbau liege, wenn man beim Ausbau selbst Hand anlege. Der Verkauf hat neue gesellschaftliche Gruppen angezogen und nach Bijlmermeer gebracht, sie sind es aber auch, die dem sozialen Stigma des Ortes aktiv etwas entgegensetzen könnten.

Altbestand als Ressource

Trotz den Immobilien- und Bankenkrisen hat sich die Konjunktur wieder erholt, so scheint es, vieles aber hat sich seither verändert: Rezession und Sparprogramme hinterliessen tiefe Spuren in den öffentlichen und privaten Kassen. Besonders dramatisch waren nicht nur die Auswirkungen der Spekulationsblasen und dass die grossen Aufträge ausblieben; der regelrechte Boom von Investitionen in die stabile Währung Beton treibt den Preis für das Wohnen in die Höhe und strukturiert die Produktion von Stadt von Grund auf neu. Auch wenn die Politik diese Entwicklung endlich ernst zu nehmen scheint, wie man angesichts von Wohnungsgipfeln in Kanzlerämtern (Berlin) annehmen darf: Wohnraum wird seit langer Zeit nicht mehr als Grundversorgung gesichert, sondern als Ware behandelt.

Kleiburg stellt sicherlich kein Modell dar, das sich einfach auf andere Fälle übertragen lässt. Nicht überall werden Grossstrukturen günstig vergeben, und dass mit Eigentumsbildung die heutige Wohnungsfrage nicht gelöst werden kann, steht ebenfalls ausser Frage. Was Kleiburg aber zukunftsweisend zeigt, ist, dass Altbestand, so problembehaftet er manchmal auch sein mag, eine enorme Ressource darstellt. Und dass die Herausforderung, tragfähige Modelle jenseits des etablierten Repertoires zu entwickeln, herausragende Architektur hervorbringen kann.

Beim Mies van der Rohe Award fanden sich auch weiterhin Kulturbauten unter den Finalisten: ein Gemeindehaus der Kirche in Ribe von Lundgaard & Tranberg, Gedenkstätten wie das Katyn Museum von BBGK, Kalina und Maksa oder jenes des Internierungslagers in Rivesaltes von Rudy Ricciotti. Dennoch fällt auf, dass das kommunale Alltagsleben einer neuen unaufgeregten Architektur zur Anerkennung verhilft: eine temporäre Markthalle von Tengbom, ein kleiner Aussichtsturm von Monadnock, Pumpenstationen von Johansen Skovsted Arkitekter, eine Gemeinschaftswerkstatt von Boidot Robin architectes. Alison Brooks Architects zeigen ausserdem gemeinsam mit dem Bezirk Brent in London, South Kilburn, wie man einen öffentlichen Wohnungsbau in einem Viertel aus den sechziger Jahren, das schon bessere Tage gesehen hat – und dem man das auch ansieht –, ergänzen und stärker in seine Umgebung einbetten kann.

Einige solcher Projekte des Mies van der Rohe Award dürfen als Ansätze verstanden werden, die heutigen ökonomischen Herausforderungen in der Architektur zu verhandeln. Viele von ihnen warten mit grundsoliden Lösungen auf, nur manchmal schimmert eine Sehnsucht durch nach einer Zeit, in der die Welt noch einfacher begreifbar schien, bisweilen in einer Architektur, die in ihrer Nüchternheit dem Diktum der Wirtschaftlichkeit fast schon erlegen scheint. Was offen bleibt, ist, wie wir die Ästhetik der neuen Sparsamkeit lesen sollen. Ist es der Wegfall der grossen Aufträge in den letzten Jahren, der diese Architektur hervortreten liess? Oder aber haben wir Krise und Austeritätsprogramme mittlerweile so sehr verinnerlicht, dass der Entwurf anderer Welten geradezu unvorstellbar scheint? Die nächste Nominierung wird es zeigen.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2018.10.12

06. November 2017Michael Klein
dérive

Unterwegs mit Schildkröte und Kamera

Mit Liebe zur Stadt beschrieb der Historiker Jacques Le Goff einmal die aktive Teilhabe im Verhandlungsprozess zwischen den vielfachen Widersprüchlichkeiten...

Mit Liebe zur Stadt beschrieb der Historiker Jacques Le Goff einmal die aktive Teilhabe im Verhandlungsprozess zwischen den vielfachen Widersprüchlichkeiten...

Mit Liebe zur Stadt beschrieb der Historiker Jacques Le Goff einmal die aktive Teilhabe im Verhandlungsprozess zwischen den vielfachen Widersprüchlichkeiten und Differenzen, die das städtische Zusammenleben ausmachen. Ich weiß nicht, ob Le Goff Pate stand bei der Titelgebung dieses Buches, das sich vorgenommen hat, einen Teil dieser Widersprüchlichkeiten sichtbar zu machen. Vermessung einer Liebe zur Stadt trifft es aber gut, als dass das Buch anhand einer Untersuchung der Bilder von der Stadt den städtischen Wandel Wiens auslotet und die ihm zugrundeliegenden Prozesse – die von den sozialen und wirtschaftlichen Differenzen des städtischen Alltags zeugen – deutlich macht.

Sechs kurze Essays behandeln das Bild von Wien. Es sind Texte, die sich eingehend der eigenen Stadtwahrnehmung und ihrem Werden widmen, von einem Urbanisten, der auf diese Weise die letzten sieben Dekaden Wiens in eigenen Worten nachzeichnet, Texte über das Fotografieren in und von Städten. An Paris geschult und einer französischen Theorietradition der Stadtbeschreibung, nicht zuletzt auch Walter Benjamin verpflichtet, durchstreift Rudolf Kohoutek Wien und verhandelt Bilder der Stadt jenseits der gängigen touristischen Klischees, die Aufschluss geben über die Räume des Zentrums, der Vorstadt und der Peripherie, von Hoch-, Sub- und Gegenkultur.

Der weitaus größere Teil des Buches aber zeigt Fotografien von Wien: alte Portale, Erdgeschoßlokale, die leer stehen, Hausfassaden, von denen der Putz abfällt, bemalte Schaltkästen und Leitungen, ver- waiste Hinterhöfe und halb fertig gestellte Miniaturarchitekturen, die fast kleinen Skulpturen glichen, wären sie welche – Bilder von einer Stadt, die immer ein wenig kaputt, ein wenig adaptiert und hergerichtet, im ständigen Umbau erscheint, Bilder vom »ästhetischen Mehrwert des Verfalls«. Dem Buch deshalb eine romantisch verklärte Sehnsucht nach dem Gestern zuzuschreiben, wäre aber mehr als fehl am Platz: Denn Kohouteks Bilder zeigen Ausschnitte von Wien, die ab 2008 aufgenommen wurden, also kurz bevor und während eine Investitionswelle über die Stadt rollte, die scheinbar aus jedem noch so erbärmlichen baulichen Überbleibsel der Gründerzeit lukrative Mieten zu schlagen trachtete, nachdem dieses modernisiert und sein zerbröselndes Antlitz geglättet wurde; oder dort, wo das nicht mehr möglich war, durch neue Gebäude ersetzte. Seine Kritik an den Verhältnissen wird deutlich in der Wiederholung von Variationen, an denen sie sich abarbeitet, sie wird dabei aber nie laut, schreierisch, sondern bleibt in ihrem Vorgehen vielmehr klar und präzise. Kohoutek setzt seine Bilder nur selten und gezielt dynamisch in Szene, ansonsten ist sein Blick eher der eines Vermessers: Die Fotos sind Frontalperspektiven, die, oft parallel zur Fassade aufgenommen, analytisch abbilden, wie Haus oder privater Raum der Stadt gegenüberstehen, in Konflikt treten, bisweilen versuchen, sich gegenseitig einzuverleiben. Menschen selbst sind nur selten zu sehen, vielmehr sind es die Spuren von Besitzverhältnissen, von Zuständigkeiten und Nicht-zuständigkeiten, die sie im genauen Blick in den Oberflächen und Architekturen abbilden. Im Buch treten sie, geordnet
in die fünf Kategorien Erdgeschoße, Historismen, Surrealismen, Heterotopien und Materialien, auf. Eine solche Einteilung könnte trocken und zwanghaft wirken, tatsächlich folgt sie im Buch jedoch einer Unordentlichkeit, die nur die Stadt bieten kann und aus der das Buch auch seinen Reiz zieht.

In den 1840er Jahren, schrieb Walter Benjamin in seiner Schilderung des Flaneurs im Passagenwerk, sei es vornehm gewesen, eine Schildkröte mit sich zu führen, »das gebe einen Begriff vom Tempo des Flanierens in den Passagen«. In der Schildkröte zeichnet sich allerdings nicht nur die Notwendigkeit des Langsamen ab: Für den Flaneur, der bei Benjamin immer mehr ist als ein dandyhafter Großstadtspaziergänger, einer, der dank seiner Wahrnehmung in der Lage ist, den städti- schen Alltag zu lesen und zu entschlüsseln, markiert die Schildkröte einen regelrechten Perspektivenwechsel. Denn Erkenntnis über die Stadt ist nicht länger den Herrschenden vorbehalten, jenen, die über den gottgleichen Blick von oben verfügten, auf dem auch der Plan aufbaut, sondern im Blick von unten zu suchen, in den Niederungen des Alltags. Dieser Perspektivenwechsel sollte zentral bleiben für sämtliche Formen des situativen Herumstreifens, von den Dérives der S.I. bis hin zu den Wanderungen von Stalker/Osservatorio Nomade und anderen Stadtstreunerinnen, in deren Tradition gewissermaßen auch die Arbeit Kohouteks steht. Auch Wiener Grund folgt dieser Haltung: es bietet keine pittoreske Aussicht, keinen Überblick über Wien, sondern bleibt am Boden – und zwar in jener Realität, die notwendig ist, eine Kritik der politischen Ökonomie der Stadt entlang ihrer Häuserkanten und Fassaden zu entwerfen. Rudi Kohouteks Schildkröte und wichtigstes Instrument ist hier seine Kamera: gehen, warten, schauen, den Kopf hervorstrecken, denken – und weitergehen.


Rudolf Kohoutek
WIENER GRUND
Vermessung einer Liebe zur Stadt Fotografien und Texte
Zürich: Park Books, 2017
225 Seiten, 39 Euro

dérive, Mo., 2017.11.06



verknüpfte Zeitschriften
dérive 69 Demokratie

17. Januar 2012Michael Klein
dérive

Mode ls and Solutions, Life and Practice in Social Housing in Vienna

Abstract

Wettbewerbe und Qualitätssicherung, Beurteilungskriterien und effizientes Wirtschaften markieren heute Kernaspekte in der Praxis des sozialen,...

Abstract

Wettbewerbe und Qualitätssicherung, Beurteilungskriterien und effizientes Wirtschaften markieren heute Kernaspekte in der Praxis des sozialen,...

Abstract

Wettbewerbe und Qualitätssicherung, Beurteilungskriterien und effizientes Wirtschaften markieren heute Kernaspekte in der Praxis des sozialen, geförderten Wohnungswesens von Wien. Damit hat sich ein Verständnis von sozialem Wohnbau durchgesetzt, das sich viel mehr an Management und Controlling ausrichtet, als das je zuvor der Fall war.

Wien stellt, was die soziale Wohnversorgung anbelangt, eine Ausnahme dar – von den Anfängen im Roten Wien bis zu den heutigen Formen. Dabei ist es jedoch nicht alleine die schiere Menge an Wohnraum, die sich im Steuerungsbereich der Stadt befindet – derzeit etwa die Hälfte des gesamten Wohnungsbestandes Wiens –, die eine Besonderheit darstellt; es ist auch das, was ein Modell genannt werden könnte: also das Verständnis von Stadt, die Zielsetzungen von Wohnungsbau und die Art und Weise, die Praktiken und Techniken, mit denen ein solches Vorhaben verfolgt wird. Solche Modelle ändern sich: mit ihrem zeitlichen und räumlichen Kontext, mit den Bedürfnissen und Wünschen, mit den Formen von Wissen und mit den Vorstellungen von Regieren und Gesellschaft.

Im Versuch, solche Änderungen nachzuzeichen, geht der Text auf wesentliche Aspekte einzelner Modelle ein: das ambivalente Verhältnis des Wiederaufbaus zur Modernisierung, den Optimismus und den Glauben an Planbarkeit und Technisierung in der Stadterweiterung, die Kritik an einer solchen Auffassung der Modernisierung, die Wiederentdeckung der historischen Stadt, die Auffächerung von Lebensentwürfen, die sich nun über Wohnen verwirklichen lassen sollen und einher gehen mit einer immer stärkeren Orientierung an Wettbewerb und Markt. Anhand der Rolle und der Auffassung von »Leben« im Hinblick auf den Wohnbau greift der Text auf frühere Entwicklungen zurück und betont so Zeitlichkeit und Begrenztheit von Aspekten wie »Lösung« oder »Modern-sein«.

dérive, Di., 2012.01.17



verknüpfte Zeitschriften
dérive 46 Vom Superblock zur Überstadt. Das Modell Wiener Wohnbau

Presseschau 12

12. Oktober 2018Michael Klein
Neue Zürcher Zeitung

Die neue Sparsamkeit

Der soziale Wohnungsbau ist wieder im etablierten Architekturdiskurs angekommen. Das zeigt nicht zuletzt der Mies van der Rohe Award.

Der soziale Wohnungsbau ist wieder im etablierten Architekturdiskurs angekommen. Das zeigt nicht zuletzt der Mies van der Rohe Award.

Ein beliebtes Bonmot sagt, dass es der Architektur immer dann gutgehe, wenn die Auftragslage schlecht sei. Werde viel gebaut, fehle die Zeit für eine eingehende Auseinandersetzung mit den Aufgaben der Disziplin. Die Behauptung ist natürlich Unsinn – keine Aufträge bringen den Büros bestenfalls Sorgen. Dennoch sollte man, ziemlich genau zehn Jahre nachdem der Dow Jones an der New Yorker Wall Street eingebrochen ist, noch einmal daran erinnern, dass ein Umdenken in den Architekturdebatten stattgefunden hat. Im Architekturzentrum Wien führt das eine Ausstellung zum Mies van der Rohe Award vor Augen: Im Zentrum stehen noch einmal die Siegerprojekte aus dem vergangenen Jahr, die sich um Strategien für bezahlbares Wohnen bemühen.

Seit Ende der achtziger Jahre kommt alle zwei Jahre eine Jury zusammen, um im Namen der Europäischen Union ein Preisgeld von 60 000 Euro an die Architekten der wichtigsten fertiggestellten Bauten sowie einen Nachwuchspreis zu vergeben. In den vergangenen Jahren konnte man in diesem Rahmen meist prestigeträchtige Vorzeigebauten bewundern: Konzerthallen, Museen oder Sportstätten, auch Verkehrsbauten wie Flughäfen oder Bahnhöfe – Gebäude also, denen eine grosse Öffentlichkeit zuteilwurde, in die viel Geld geflossen ist. Endlich aber konnten zwei Wohnbauten überzeugen: DeFLAT Kleiburg von NL Architects und XVW architectuur in den Niederlanden sowie das Navez Social Housing von MSA/V+ in Belgien, die den Young Talent Architecture Award erhielten.

Symbolischer Preis

Das Siegerprojekt ist ein Monster. Über 400 Meter und 11 Geschosse erstreckt sich der Betonriegel Kleiburg in der Siedlung Bijlmermeer im Südosten Amsterdams. Er war einer der letzten Reste, die noch standen, nicht wegsaniert worden waren von der Grosssiedlung, die auf Siegfried Nassuths Masterplan aus den sechziger Jahren zurückgeht. Bijlmermeer sollte eigentlich 40 000 Bewohnern eine moderne, durchgrünte Alternative zum Stadtzentrum bieten, sah sich aber bald mit ähnlichen Problemen konfrontiert, wie andere funktionalistische Projekte auch: spärlich ausgebildeter öffentlicher Raum, wenig soziale Infrastruktur, hohe Fluktuation und soziale Segregation. Die Siedlung war bald ein Anlaufpunkt für all jene, die am Wohnungsmarkt nicht anderswo unterkamen, sie galt als gesichts- und identitätslos. Bis 1992 dann ein Transportflugzeug der El Al in die Siedlung stürzte. Mit dem Unfall war Bijlmermeer zurück in die Aufmerksamkeit gekehrt, mit ihm begann der Ab- und Umbau des Quartiers.

Als 2011 die Entscheidung über den weiteren Verbleib des letzten, nun leerstehenden Gebäudes anstand, mehrten sich aber die Stimmen, man solle es nicht abreissen, sondern renovieren. Der veranschlagte Preis stand allerdings in keiner Relation zu einem wirtschaftlich vertretbaren Ergebnis. Man entschied, ein anderes, ökonomisch tragbares Nutzungsmodell für das Gebäude zu suchen, und bot es für den symbolischen Betrag von einem Euro an. Der realisierte Vorschlag von DeFLAT und den beiden Architekturbüros sah vor, die Renovierung auf die gemeinsame Infrastruktur des Hauses zu beschränken und die Wohnungen zu verkaufen. Die Eingriffe zielten darauf ab, den ursprünglichen Entwurf hervorzukehren und Neues zu ermöglichen. Hier wurde die Fassade nicht – wie sonst oft – bis zur Unkenntlichkeit differenziert, sondern mit einem durchgängigen System vereinheitlicht, nachträglich hinzugefügte Lifte wurden nach innen verlegt, Durchgänge grosszügiger gestaltet, Lagerräume vom Erdgeschoss in weiter oben liegende, unbelichtete Zonen verlegt, um die Sockelzone für andere Nutzungen zu öffnen.

Die Wohnungen selbst blieben unrenoviert, die Mehrheit wurde sogar im Rohzustand für den Selbstausbau verkauft, die übrigen sind heute Mietwohnungen. Öffnet man mit dem Verkauf der Gentrifizierung das Tor? Nicht unbedingt, meint Xander Vermeulen Windsant, einer der Preisträger. Es gebe in Amsterdam insgesamt zu wenig leistbaren Wohnraum und die Wohnungen von Kleiburg seien zu einem Preis verkauft worden, bei dem der monatliche Aufwand für eine Kreditrückzahlung etwa im Bereich einer Miete im sozialen Wohnungsbau liege, wenn man beim Ausbau selbst Hand anlege. Der Verkauf hat neue gesellschaftliche Gruppen angezogen und nach Bijlmermeer gebracht, sie sind es aber auch, die dem sozialen Stigma des Ortes aktiv etwas entgegensetzen könnten.

Altbestand als Ressource

Trotz den Immobilien- und Bankenkrisen hat sich die Konjunktur wieder erholt, so scheint es, vieles aber hat sich seither verändert: Rezession und Sparprogramme hinterliessen tiefe Spuren in den öffentlichen und privaten Kassen. Besonders dramatisch waren nicht nur die Auswirkungen der Spekulationsblasen und dass die grossen Aufträge ausblieben; der regelrechte Boom von Investitionen in die stabile Währung Beton treibt den Preis für das Wohnen in die Höhe und strukturiert die Produktion von Stadt von Grund auf neu. Auch wenn die Politik diese Entwicklung endlich ernst zu nehmen scheint, wie man angesichts von Wohnungsgipfeln in Kanzlerämtern (Berlin) annehmen darf: Wohnraum wird seit langer Zeit nicht mehr als Grundversorgung gesichert, sondern als Ware behandelt.

Kleiburg stellt sicherlich kein Modell dar, das sich einfach auf andere Fälle übertragen lässt. Nicht überall werden Grossstrukturen günstig vergeben, und dass mit Eigentumsbildung die heutige Wohnungsfrage nicht gelöst werden kann, steht ebenfalls ausser Frage. Was Kleiburg aber zukunftsweisend zeigt, ist, dass Altbestand, so problembehaftet er manchmal auch sein mag, eine enorme Ressource darstellt. Und dass die Herausforderung, tragfähige Modelle jenseits des etablierten Repertoires zu entwickeln, herausragende Architektur hervorbringen kann.

Beim Mies van der Rohe Award fanden sich auch weiterhin Kulturbauten unter den Finalisten: ein Gemeindehaus der Kirche in Ribe von Lundgaard & Tranberg, Gedenkstätten wie das Katyn Museum von BBGK, Kalina und Maksa oder jenes des Internierungslagers in Rivesaltes von Rudy Ricciotti. Dennoch fällt auf, dass das kommunale Alltagsleben einer neuen unaufgeregten Architektur zur Anerkennung verhilft: eine temporäre Markthalle von Tengbom, ein kleiner Aussichtsturm von Monadnock, Pumpenstationen von Johansen Skovsted Arkitekter, eine Gemeinschaftswerkstatt von Boidot Robin architectes. Alison Brooks Architects zeigen ausserdem gemeinsam mit dem Bezirk Brent in London, South Kilburn, wie man einen öffentlichen Wohnungsbau in einem Viertel aus den sechziger Jahren, das schon bessere Tage gesehen hat – und dem man das auch ansieht –, ergänzen und stärker in seine Umgebung einbetten kann.

Einige solcher Projekte des Mies van der Rohe Award dürfen als Ansätze verstanden werden, die heutigen ökonomischen Herausforderungen in der Architektur zu verhandeln. Viele von ihnen warten mit grundsoliden Lösungen auf, nur manchmal schimmert eine Sehnsucht durch nach einer Zeit, in der die Welt noch einfacher begreifbar schien, bisweilen in einer Architektur, die in ihrer Nüchternheit dem Diktum der Wirtschaftlichkeit fast schon erlegen scheint. Was offen bleibt, ist, wie wir die Ästhetik der neuen Sparsamkeit lesen sollen. Ist es der Wegfall der grossen Aufträge in den letzten Jahren, der diese Architektur hervortreten liess? Oder aber haben wir Krise und Austeritätsprogramme mittlerweile so sehr verinnerlicht, dass der Entwurf anderer Welten geradezu unvorstellbar scheint? Die nächste Nominierung wird es zeigen.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2018.10.12

06. November 2017Michael Klein
dérive

Unterwegs mit Schildkröte und Kamera

Mit Liebe zur Stadt beschrieb der Historiker Jacques Le Goff einmal die aktive Teilhabe im Verhandlungsprozess zwischen den vielfachen Widersprüchlichkeiten...

Mit Liebe zur Stadt beschrieb der Historiker Jacques Le Goff einmal die aktive Teilhabe im Verhandlungsprozess zwischen den vielfachen Widersprüchlichkeiten...

Mit Liebe zur Stadt beschrieb der Historiker Jacques Le Goff einmal die aktive Teilhabe im Verhandlungsprozess zwischen den vielfachen Widersprüchlichkeiten und Differenzen, die das städtische Zusammenleben ausmachen. Ich weiß nicht, ob Le Goff Pate stand bei der Titelgebung dieses Buches, das sich vorgenommen hat, einen Teil dieser Widersprüchlichkeiten sichtbar zu machen. Vermessung einer Liebe zur Stadt trifft es aber gut, als dass das Buch anhand einer Untersuchung der Bilder von der Stadt den städtischen Wandel Wiens auslotet und die ihm zugrundeliegenden Prozesse – die von den sozialen und wirtschaftlichen Differenzen des städtischen Alltags zeugen – deutlich macht.

Sechs kurze Essays behandeln das Bild von Wien. Es sind Texte, die sich eingehend der eigenen Stadtwahrnehmung und ihrem Werden widmen, von einem Urbanisten, der auf diese Weise die letzten sieben Dekaden Wiens in eigenen Worten nachzeichnet, Texte über das Fotografieren in und von Städten. An Paris geschult und einer französischen Theorietradition der Stadtbeschreibung, nicht zuletzt auch Walter Benjamin verpflichtet, durchstreift Rudolf Kohoutek Wien und verhandelt Bilder der Stadt jenseits der gängigen touristischen Klischees, die Aufschluss geben über die Räume des Zentrums, der Vorstadt und der Peripherie, von Hoch-, Sub- und Gegenkultur.

Der weitaus größere Teil des Buches aber zeigt Fotografien von Wien: alte Portale, Erdgeschoßlokale, die leer stehen, Hausfassaden, von denen der Putz abfällt, bemalte Schaltkästen und Leitungen, ver- waiste Hinterhöfe und halb fertig gestellte Miniaturarchitekturen, die fast kleinen Skulpturen glichen, wären sie welche – Bilder von einer Stadt, die immer ein wenig kaputt, ein wenig adaptiert und hergerichtet, im ständigen Umbau erscheint, Bilder vom »ästhetischen Mehrwert des Verfalls«. Dem Buch deshalb eine romantisch verklärte Sehnsucht nach dem Gestern zuzuschreiben, wäre aber mehr als fehl am Platz: Denn Kohouteks Bilder zeigen Ausschnitte von Wien, die ab 2008 aufgenommen wurden, also kurz bevor und während eine Investitionswelle über die Stadt rollte, die scheinbar aus jedem noch so erbärmlichen baulichen Überbleibsel der Gründerzeit lukrative Mieten zu schlagen trachtete, nachdem dieses modernisiert und sein zerbröselndes Antlitz geglättet wurde; oder dort, wo das nicht mehr möglich war, durch neue Gebäude ersetzte. Seine Kritik an den Verhältnissen wird deutlich in der Wiederholung von Variationen, an denen sie sich abarbeitet, sie wird dabei aber nie laut, schreierisch, sondern bleibt in ihrem Vorgehen vielmehr klar und präzise. Kohoutek setzt seine Bilder nur selten und gezielt dynamisch in Szene, ansonsten ist sein Blick eher der eines Vermessers: Die Fotos sind Frontalperspektiven, die, oft parallel zur Fassade aufgenommen, analytisch abbilden, wie Haus oder privater Raum der Stadt gegenüberstehen, in Konflikt treten, bisweilen versuchen, sich gegenseitig einzuverleiben. Menschen selbst sind nur selten zu sehen, vielmehr sind es die Spuren von Besitzverhältnissen, von Zuständigkeiten und Nicht-zuständigkeiten, die sie im genauen Blick in den Oberflächen und Architekturen abbilden. Im Buch treten sie, geordnet
in die fünf Kategorien Erdgeschoße, Historismen, Surrealismen, Heterotopien und Materialien, auf. Eine solche Einteilung könnte trocken und zwanghaft wirken, tatsächlich folgt sie im Buch jedoch einer Unordentlichkeit, die nur die Stadt bieten kann und aus der das Buch auch seinen Reiz zieht.

In den 1840er Jahren, schrieb Walter Benjamin in seiner Schilderung des Flaneurs im Passagenwerk, sei es vornehm gewesen, eine Schildkröte mit sich zu führen, »das gebe einen Begriff vom Tempo des Flanierens in den Passagen«. In der Schildkröte zeichnet sich allerdings nicht nur die Notwendigkeit des Langsamen ab: Für den Flaneur, der bei Benjamin immer mehr ist als ein dandyhafter Großstadtspaziergänger, einer, der dank seiner Wahrnehmung in der Lage ist, den städti- schen Alltag zu lesen und zu entschlüsseln, markiert die Schildkröte einen regelrechten Perspektivenwechsel. Denn Erkenntnis über die Stadt ist nicht länger den Herrschenden vorbehalten, jenen, die über den gottgleichen Blick von oben verfügten, auf dem auch der Plan aufbaut, sondern im Blick von unten zu suchen, in den Niederungen des Alltags. Dieser Perspektivenwechsel sollte zentral bleiben für sämtliche Formen des situativen Herumstreifens, von den Dérives der S.I. bis hin zu den Wanderungen von Stalker/Osservatorio Nomade und anderen Stadtstreunerinnen, in deren Tradition gewissermaßen auch die Arbeit Kohouteks steht. Auch Wiener Grund folgt dieser Haltung: es bietet keine pittoreske Aussicht, keinen Überblick über Wien, sondern bleibt am Boden – und zwar in jener Realität, die notwendig ist, eine Kritik der politischen Ökonomie der Stadt entlang ihrer Häuserkanten und Fassaden zu entwerfen. Rudi Kohouteks Schildkröte und wichtigstes Instrument ist hier seine Kamera: gehen, warten, schauen, den Kopf hervorstrecken, denken – und weitergehen.


Rudolf Kohoutek
WIENER GRUND
Vermessung einer Liebe zur Stadt Fotografien und Texte
Zürich: Park Books, 2017
225 Seiten, 39 Euro

dérive, Mo., 2017.11.06



verknüpfte Zeitschriften
dérive 69 Demokratie

17. Januar 2012Michael Klein
dérive

Mode ls and Solutions, Life and Practice in Social Housing in Vienna

Abstract

Wettbewerbe und Qualitätssicherung, Beurteilungskriterien und effizientes Wirtschaften markieren heute Kernaspekte in der Praxis des sozialen,...

Abstract

Wettbewerbe und Qualitätssicherung, Beurteilungskriterien und effizientes Wirtschaften markieren heute Kernaspekte in der Praxis des sozialen,...

Abstract

Wettbewerbe und Qualitätssicherung, Beurteilungskriterien und effizientes Wirtschaften markieren heute Kernaspekte in der Praxis des sozialen, geförderten Wohnungswesens von Wien. Damit hat sich ein Verständnis von sozialem Wohnbau durchgesetzt, das sich viel mehr an Management und Controlling ausrichtet, als das je zuvor der Fall war.

Wien stellt, was die soziale Wohnversorgung anbelangt, eine Ausnahme dar – von den Anfängen im Roten Wien bis zu den heutigen Formen. Dabei ist es jedoch nicht alleine die schiere Menge an Wohnraum, die sich im Steuerungsbereich der Stadt befindet – derzeit etwa die Hälfte des gesamten Wohnungsbestandes Wiens –, die eine Besonderheit darstellt; es ist auch das, was ein Modell genannt werden könnte: also das Verständnis von Stadt, die Zielsetzungen von Wohnungsbau und die Art und Weise, die Praktiken und Techniken, mit denen ein solches Vorhaben verfolgt wird. Solche Modelle ändern sich: mit ihrem zeitlichen und räumlichen Kontext, mit den Bedürfnissen und Wünschen, mit den Formen von Wissen und mit den Vorstellungen von Regieren und Gesellschaft.

Im Versuch, solche Änderungen nachzuzeichen, geht der Text auf wesentliche Aspekte einzelner Modelle ein: das ambivalente Verhältnis des Wiederaufbaus zur Modernisierung, den Optimismus und den Glauben an Planbarkeit und Technisierung in der Stadterweiterung, die Kritik an einer solchen Auffassung der Modernisierung, die Wiederentdeckung der historischen Stadt, die Auffächerung von Lebensentwürfen, die sich nun über Wohnen verwirklichen lassen sollen und einher gehen mit einer immer stärkeren Orientierung an Wettbewerb und Markt. Anhand der Rolle und der Auffassung von »Leben« im Hinblick auf den Wohnbau greift der Text auf frühere Entwicklungen zurück und betont so Zeitlichkeit und Begrenztheit von Aspekten wie »Lösung« oder »Modern-sein«.

dérive, Di., 2012.01.17



verknüpfte Zeitschriften
dérive 46 Vom Superblock zur Überstadt. Das Modell Wiener Wohnbau

Profil

7 | 6 | 5 | 4 | 3 | 2 | 1