Editorial

Es gibt gute Gründe, sich immer mal aus dem Alltag zurückzuziehen: um dem Trubel der Stadt zu entfliehen, die Gedanken zu ordnen, sich konzentriert neuen Aufgaben zu widmen oder um einfach mal abzuschalten. Der Architektur fällt in solchen Momenten v. a. die Aufgabe zu, einen geschützten Ort zu formulieren, der einem all das ermöglicht.

Je nachdem, ob dieser Ort in ländlicher Idylle oder im städtischen Kontext liegt, sind die Anforderungen, aber auch die Möglichkeiten, das zu erreichen, sehr unterschiedlich. So kann in dem einen Fall bereits ein Rückzugsort entstehen, wenn Innen- und Außenraum quasi nahtlos ineinander fließen – die Architektur bedient sich hier nicht unwesentlich der Natur als gestaltendes Element. Andernorts ist hingegen eine dezidierte bauliche Abschottung von der Umgebung erforderlich.

Wir haben für Sie ganz unterschiedliche Projekte in verschiedenen Lagen ausfindig gemacht; ihnen allen gemein ist aber, dass sie es ihren jeweiligen Nutzern ermöglichen, sich »herausgenommen« und zugleich geborgen zu fühlen. | Martin Höchst

Eins mit Ort und Menschen

(SUBTITLE) Kapelle Salgenreute in Krumbach (A)

Die rund 1 000 Einwohner zählende Gemeinde Krumbach liegt 15 km östlich von Bregenz im Bregenzerwald und hat mit Arnold Hirschbühl einen Bürgermeister, der seit gut 20 Jahren aktiv daran arbeitet, jener Abwanderung junger Menschen entgegenzuwirken, die vielen Dörfern die Existenzgrundlage entzieht. So entstanden rund um die Kirche z. B. ein neues Dorfhaus mit Nahversorgern, Café und Bank (1999), die Modernisierung des Gemeindehauses (2002) und ein neues Pfarrhaus mit Bibliothek und Mehrzwecksaal (2013) – allesamt nach Plänen des Architekten Hermann Kaufmann, letzteres in einer Arbeitsgemeinschaft mit Bernardo Bader und Bechter Zaffignani Architekten. Diese und noch einige andere Projekte treten dabei nicht als isolierte Einzelprojekte auf, sondern bilden ein bemerkenswertes architektonisches und funktionales Ensemble, das auf einer umfassenden, von Bernardo Bader, Rene Bechter und Hermann Kaufmann durchgeführten Ortskernstudie basiert.

Große Aufmerksamkeit erhielt Krumbach auch durch das Bus:Stop-Projekt, bei dem im Jahr 2014 sieben internationale Architekten – darunter Sou Fujimoto, Ensamble Studio und der Pritzker-Preisträger Wang Shu – jeweils ein Bushaltestellen-Häuschen planten. Das wirklich Besondere dabei sind keineswegs die ausgefallenen Bauwerke selbst, sondern vielmehr der Rahmen, in dem sie realisiert wurden. Weil es zur Umsetzung der vom Verein »Kultur Krumbach« an die Gemeinde herangetragenen Idee der Zusammenarbeit mit namhaften Architekten nur so viel Geld gab wie für die ohnehin nötigen ­Standard-Häuschen, erhielten die Architekten kein Honorar, sondern je eine Woche Urlaub in der Gegend. Darüber hinaus wurden die Projekte ehren­amtlich betreut und von regionalen Architekten und lokalen Handwerkern z. T. aus gespendetem Material gebaut.

Gemeinschaftswerk

Diese Vorgeschichte ist wichtig, um das Projekt der Lourdes-Kapelle Salgenreute besser einordnen zu können. Denn ursprünglich errichtet wurde sie nicht etwa von der Gemeinde oder der Kirche, sondern auf Eigeninitiative ­einer ortsansässigen Familie. Sie hatte um 1880 auf einem Nagelfluh-Berg­rücken eine Holzkapelle gebaut, die von Einwohnern der umliegenden Ortsteile Zwing, Au und Salgenreute genutzt wurde: zur stillen Einkehr, für Maiandachten und Marienfeste, als Wetterglocke und um insbesondere im Winter nicht mehr zur einige Kilometer entfernten Dorfkirche gehen zu müssen. Nachdem die nicht denkmalgeschützte Kapelle im Lauf der Zeit marode geworden war, entschieden sich die Bewohner 2014 für einen Abriss und Ersatzneubau – ohne zu diesem Zeitpunkt genau zu überblicken, was im Folgenden zu tun war. Um in Krumbach an einem solchen Punkt weiterzukommen, ­bedurfte es freilich keiner öffentlichen Bekanntmachung. Nicht zuletzt, weil die Dorfgemeinschaft dank der vorherigen Projekte gut funktionierte, fanden sich schnell kompetente Helfer. Einer von ihnen war Bernardo Bader, der hier nicht nur aufgewachsen ist, sondern auch lebt. Dass er das Projekt gern in Form einer unentgeltlichen Projektplanung und -koordination unterstützen würde, war ihm sofort klar.

Nach gemeinsamen Exkursionen zu vergleich­baren Projekten und zahlreichen, quasi öffentlichen Besprechungen im Gasthaus Löwen, begann Bader mit der Arbeit – einen Vertrag, eine konkrete Beschreibung der Bauaufgabe oder ein definiertes Budget erhielt er bis zum Schluss nicht. Die einzigen Entwurfsvorgaben betrafen den Standort: die ­Kapelle sollte, wie zuvor, über 24 Sitzplätze verfügen, sie musste aufgrund der exponierten Lage auf dem Bergrücken sowohl gleich breit und in etwa gleich lang als auch möglichst nicht höher als der Vorgängerbau sein. Die daraufhin präsentierten Modellstudien fanden rasch breite Zustimmung und zeigten im Prinzip das heutige Projekt: ein monolithisch wirkendes Gebäude mit steilem Dach und vollflächiger, von einer Tropfkante in Traufhöhe gegliederten Holzschindelbekleidung.

Ortsverbundenheit

Von einer schmalen Straße führt kein richtiger Weg, sondern ein breiter, mit dichtem Gras bewachsener Trampelpfad aus verdichtetem Kies in weitem Schwung zur Kapelle hin. Eine solche Lösung war einerseits nötig, weil die Kapelle nur über eine private Wiese erreichbar ist, deren Bewirtschaftung nicht durch asphaltierte Flächen, Bordsteine o. ä. beeinträchtigt werden ­durfte. Andererseits zeugt dieser Fußweg auch von der sensiblen Einbettung der Kapelle in die örtlichen Gegebenheiten: sie wird in mehrfachem Wortsinn nicht auf einen Sockel gehoben, sondern ist selbstverständlicher Teil ihres landschaftlichen und sozialen Umfelds.

Ein niedriger, offener Vorraum mit einer festlichen Tür aus gehämmerten Messingstreifen empfängt die Besucher und bremst ihren Bewegungsfluss sanft ab – über dem Vorraum befindet sich, in einem geschlossenen Hohlraum, die Glocke. Sollte die Tür für Menschen, die hier innehalten möchten, je verschlossen sein, erlauben zwei große, seit­liche Fest­verglasungen zumindest den Blick ins schlichte Innere der Kapelle.

Der dem äußeren Gebäudevolumen entsprechende Innenraum ist zweigeteilt. Im vorderen Bereich mit den Tannenholz-Bänken bestehen die unmittelbar in die geneigten Dachflächen übergehenden Wände und die zwölf grazilen Spanten – ebenso wie der Boden – aus unbehandelter Tanne. Anders als diese auf traditionelle bäuerliche Stuben bezugnehmende Materialität erscheint die dreiecksförmige, um eine Stufe erhöhte Apsis als eine Art Schmuckkästchen in weiß getünchter Tannenholztäfelung. Der Raum wirkt sehr natürlich, was nicht nur an seinen Holzoberflächen, sondern v. a. auch an seiner archaischen Form liegt. So verengt sich die Apsis trichterförmig nach Osten hin bis zu ­einer mittig angeordneten, rahmenlos verglasten Öffnung, die den Blick auf eine nahe Baumgruppe, sowie auf die Felder, Wälder und Wiesen des Bregenzerwalds freigibt. Die stille Symmetrie des Raums wird von der asymmetrischen Platzierung des Altarblocks, der Kerzenständer und der aus der alten Kapelle stammenden Marienfigur – deren blaue Schärpe den einzigen Farbakzent im Innenraum bildet – überlagert: Im Raum ergibt sich eine unaufgeregte Spannung, die der durchweg feinsinnig ­detaillierten Komposition mit denkbar wenigen Mitteln ein hohes Maß sakraler Würde verleiht. Über einem Betonsockel, bekleidet mit Bregenzerwälder Sandstein, ist die Kapelle konstruktiv als Holz-Faltwerk aus 6 cm dicken Fichten-Kreuzlagenholzplatten (mit innerer Tannenholz-Deckschicht) konzipiert, das durch die polygonale Dachform ausgesteift wird. Die Spanten minimieren hierbei lediglich die Durchbiegung der Massivholzwände. Eine offene Fuge zwischen Sockel und Holzaufbau ermöglicht eine natürliche Luftzirkulation sowohl im unbeheizten Innenraum als auch im Bereich der gesamten Holzkonstruktion und verhindert so in der kalten Jahreszeit die Kondensatbildung.

Handeln statt reden

Der Bau der Kapelle erfolgte v. a. mithilfe von Geld- und Materialspenden ­sowie durch verbilligt bzw. kostenlos erbrachte Arbeitsleistungen. Sowohl der Abbruch der alten Kapelle als auch der Neubau erfolgten weitgehend in ­Eigenregie, wobei sich Menschen aus Krumbach, aber auch aus umliegenden Gemeinden, entsprechend ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten einbrachten: Schreiner, Metallbauer, Holzschindelhersteller, aber auch die Restauratorin der Marienfigur sowie eine Bank, die ein zinsloses Darlehen ermöglichte.

Durch das von Anfang an zelebrierte Miteinander entwickelte sich die Kapelle zu einer identitätsstiftenden öffentlichen Angelegenheit. Und so war es geradezu selbstverständlich, dort bereits während der Bauphase gemeinschaftsfördernde Veranstaltungen durchzuführen.

Insgesamt betrugen die Baukosten für die Kapelle knapp 100.000 Euro, von denen lediglich ein Fünftel von der Gemeinde beigesteuert wurde. Ein kleiner Teil der heute noch offenen Rechnungen wird durch den Erlös aus dem Verkauf eines von Bernardo Bader herausgegebenen, ebenso informativen wie ­ästhetischen Buchs (sowohl im Gemeindeamt als auch in der Kapelle erhältlich) beglichen. In der Kapelle ist hierfür ein kleiner Opferstock aufgestellt und die Chancen stehen gut, dass auch der Restbetrag in nicht allzu ferner Zukunft abbezahlt sein wird.

Was die Kapelle Salgenreute neben ihrer archaischen Ausstrahlung so faszinierend macht, ist ihre raumgewordene Haltung, die für etwas steht, was ­heute mehr denn je wünschenswert ist: das vertrauensvolle gemeinsame ­Handeln anstelle des ebenso end- wie ergebnislosen Redens.

db, Fr., 2017.09.01

01. September 2017 Roland Pawlitschko



verknüpfte Bauwerke
Kapelle Salgenreute

Konzentration auf die Kunst

(SUBTITLE) Zentrum für Gegenwartskunst »Nairs« in Scuol (CH)

Die Mineralquellen von Scuol-Tarasp im Unterengadin sind seit Jahrhunderten bekannt, schon Paracelsus erwähnte sie im Jahr 1533. Ihre eigentliche Nutzung begann Mitte des 19. Jahrhunderts – zu einer Zeit also, da die Schweiz nicht mehr ausschließlich von touristischen Pionieren, sondern von einer sich stetig vergrößernden Zahl von Besuchern aus dem bürgerlichen Milieu bereist wurde. Der St. Galler Architekt Felix Wilhelm Kubly errichtete auf dem Gelände des früheren Gut Nairs tief im Tal am Ufer des Inns das dreiflügelige Kurhaus (1861-65), eine Dekade später entstand am jenseitigen Ufer die mit einer überkuppelten Rotunde versehene Trinkhalle. 1912-13 folgte nahe der Innbrücke und damit zwischen Kurhaus und Trinkhalle das neue Badehaus mit den Wannenbädern, ein Werk der in St. Moritz ansässigen Architekten Koch und Seiler. Im Badehaus, das zur Flussseite hin dreigeschossig, auf der Landseite zweigeschossig in Erscheinung tritt, befanden sich auf dem Niveau des Hauptgeschosses beidseits des zentralen Vestibüls die Abteilungen mit den Wannenbädern für Männer und Frauen; Ruhe­räume mit konvex zum Park ausschwingenden Fassaden bildeten den seitlichen Abschluss.

Das OG diente spezialisierten Anwendungen wie Hydrotherapie, elektrischen Applikationen sowie Inhalationen. Koch und Seiler verwirklichten einen funktionalen und streng symmetrischen Bau mit giebelbekrönter Mittelpartie und landseitig vorgelagerter Pfeilergalerie im EG, der dem zeittypischen Neoklassizismus folgt.

Neues Leben

Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs begann der langsame Niedergang. Zunächst blieben die zahlungskräftigen Gäste aus, dann wandelte sich das Tourismusverhalten. Der sportliche Aktivurlauber schließlich erging sich nicht mehr in den Tiefen des Inntals. Für das Badehaus brach eine neue Zeit an, als der Züricher Kunstförderer Henry Levy mit seiner Stiftung Binz39 die Liegenschaft erwarb und 1988 damit begann, sie im Sommer Künstlerinnen und Künstlern zur Verfügung zu stellen: Für konzentriertes Arbeiten ist Nairs, das an den öffentlichen Verkehr nicht angeschlossen und vom Endbahnhof ­Scuol-Tarasp in einer guten halben Stunde zu Fuß zu erreichen ist, ein idealer Platz. Ein festeres Fundament erhielt das Kulturzentrum im Jahr 2005: Levy, Christof Rösch – seit 1999 künstlerischer Leiter und Kurator der Institution – und die »Pro Engiadina Bassa« gründeten die Stiftung »Fundaziun Nairs«. Seither fungiert Nairs als »Zentrum für Gegenwartskunst« und dient nicht wie zuvor ausschließlich als temporärer Wohn- und Schaffensort für Künst­lerinnen und Künstler aus der ganzen Welt. Zwei unterschiedliche Funktionen verbinden sich: die des Künstlerhauses, eines Orts der Konzentration mit einem eher intimen Charakter, und die eines öffentlichen Kulturzentrums, das allen Besuchern offensteht und über das Tal hinaus ausstrahlt.

Auch wenn Nairs eine Erfolgsgeschichte darstellt und mit seinen Initiativen das abgelegene Tal belebt, so erwiesen sich doch zwei Faktoren als hinderlich: Zum einen die Tatsache, dass das historische Badehaus keine Heizung besaß und sich daher nur während des Sommers bespielen ließ. Zum anderen das der historischen Nutzung des Gebäudes geschuldete Fehlen von adäquaten Ausstellungs- und Veranstaltungsräumlichkeiten.

Jetzt ist das historische Badehaus, ein Kulturdenkmal von nationaler Bedeutung, in Abstimmung mit der kantonalen und nationalen Denkmalpflege ­saniert und für einen ganzjährigen Betrieb umgebaut worden. Christof Rösch und Urs Padrun, die Architekten des Umbaus, haben ihr Konzept, das auf ­vordergründiges Spektakel verzichtet, ganz aus dem Bestand heraus entwickelt. Padrun gehört seit Langem dem Stiftungsrat an, Rösch der Geschäftsführung; beide kennen das Haus in allen Details, wissen um die Anforde­rungen der heutigen Nutzung und waren für eine behutsame Sanierung daher die ideale Besetzung. Denkmalpflegerischer Substanzerhalt war eines der Ziele des ­Projekts, sodass die Interventionen am Äußeren kaum in Erscheinung treten. Lediglich der Mittelrisalit musste vollständig neu aufgemauert werden, um dem Haus sein ursprüngliches Gesicht wiederzugeben.

Platz schaffen

Angelpunkt des Umbaus ist das UG des Badehauses, das ursprünglich technischen Zwecken diente: der Westflügel und der Mittelteil als Wäscherei, der Ostflügel als Schlosserwerkstatt und Kesselhaus.

Das UG ist bergseitig über die gesamte Gebäudelänge durch einen etwa 3 m breiten Kaltraum unterhalb des Pfeilervorbaus vom Hang getrennt. Dank der Luftzirkulation hat dieser Zwischenbereich das Gebäude vor Feuchtigkeit bewahrt und damit maßgeblich zu dessen Erhalt beigetragen. Im Zuge der ­Sanierung wurde die einsturzgefährdete Mauer über eine Länge von 48 m entfeuchtet und teilweise durch Betonstützen gesichert, Drainagen unterhalb ­einer Kiesschüttung leiten das Wasser ab.

Vom Foyer im EG führt eine neu geschaffene halbkreisförmige Treppe hinunter in das untere Foyer, das sich über drei Türen, welche die vorher hier vorhandenen Fenster ersetzen, zu einer kleinen Terrasse zum Fluss hin öffnet. Die stählernen Unterzüge der Kappendecke und die Stützen zeigen die historische Tragwerksstruktur. Der Westflügel wurde auf dieser Ebene vollständig entkernt und zu einem multifunktionalen Veranstaltungsraum umgebaut. Drei bestehende Pfeiler gliedern den Saal in einen schmaleren Bereich, der sich zum Fluss hin orientiert, und einen breiteren zum Hang. Je nach Bedarf kann der Saal im Ganzen bespielt werden oder in diverse Kojen und Raumbereiche unterteilt werden; schwarze Vorhänge erlauben je nach Wunsch die Verdunklung. Wie im ganzen Haus bleibt der historische Baubestand sichtbar, die Ergänzungen treten zurückhaltend, aber klar und prägnant in Erscheinung. Im Ostflügel des UG sind Atelierräume entstanden, die auch als Ausstellungsflächen genutzt werden können, die rückwärtigen Bereiche dienen als Lagerflächen. Nutzungen, die nicht in den bestehenden Räumen untergebracht werden konnten, sind in Form einer Schicht hölzerner Einbauten in den bisherigen Kaltluft-Bereich zwischen Nordwand und Hang ausgelagert: Lagerräume, Garderoben, Toiletten und eine kleine Küche.

Im Zuge der energetischen Sanierung wurde das UG mit einer Fußboden­heizung versehen, während in den Geschossen darüber, in denen die historischen Böden zu bewahren waren, Radiatoren zum Einsatz kommen. Eine Wärmedämmung unterhalb des Estrichs, Isolierverglasungen in den erhaltenen Fensterprofilen und die Innendämmung der Außenwände zur Bewahrung der historischen Fassaden waren weitere Bausteine des auf einer Pellets-Heizung basierenden Energiekonzepts.

Privat und öffentlich

Bildet das UG zusammen mit den Foyer- und Treppenhausbereichen das neue Zentrum der öffentlichen Nutzung, so sind die Seitenflügel der oberen Geschosse den Künstlern vorbehalten; öffentliche Bereich und die eher privaten Arbeits- und Rückzugsorte sind nach der Sanierung klar voneinander getrennt. Ateliers und Schlafräume reihen sich entlang der Korridore; die größten Ateliers befinden sich an den beiden Stirnseiten des OG. Neu entstanden sind eine große Küche sowie vier Bäder, die an die Tradition des Hauses anknüpfen, aber zeitgemäß materialisiert sind.

Die Büros der Verwaltung befinden sich im EG des Ostflügels, während eine Küche an der Südwestecke mitsamt dem zum Speisesaal umgenutzten ehemaligen Ruhezimmer als Treffpunkt und kommunikatives Zentrum für die temporären Bewohnerinnen und Bewohner fungiert. Die Böden aus Keramikplatten wurden im ganzen Haus erhalten bzw. ergänzt, die Farbfassungen, so nachgewiesen und vorhanden, bewahrt; ansonsten bestimmt neutrales Weiß die Innenräume. Eine Fassadensanierung samt Rekonstruktion der historischen Farbigkeit bleibt aus Kostengründen der Zukunft vorbehalten.

Christof Rösch und Urs Padrun demonstrieren mit ihrem Umbau, wie sich ein historisches Gebäude unprätentiös neuen Funktionen anpassen lässt. Die Abstimmung mit der Denkmalpflege war nicht immer einfach: Die Entfernung eines Pfeilers, um die Flexibilität des Veranstaltungssaals zu erhöhen, wurde untersagt, dafür aber konnten sich die Architekten mit ihrer Forderung durchsetzen, ein Fenster in der westlichen Stirnseite in eine Tür umzuwandeln, um von der Küche aus einen Ausgang ins Freie zu schaffen. Die Architekten haben so viel an Neutralität und Multifunktionalität geschaffen wie nötig und so viel an Geschichte bewahrt wie möglich. Der informelle Charakter überzeugt, bildet ­eine ideale Arbeitsatmosphäre, und die Stipendiaten sind zufrieden.

Noch ist die Gestaltung der Umgebung nicht abgeschlossen; ein neuer Investor, angeblich aus Griechenland, baut derzeit das benachbarte Kurhaus um. Derweil haben sich Christof Rösch und einige andere Akteure vor Ort einem weiteren Vorhaben verschrieben: der Sanierung der schräg gegenüberliegenden und vom Felsabbruch bedrohten Trinkhalle.

db, Fr., 2017.09.01

01. September 2017 Hubertus Adam

Der gerahmte Blick

(SUBTITLE) Wochenendhaus in Gerswalde

Die Lage ist, das lässt sich nicht anders sagen, einfach traumhaft. Man stelle sich ein rund 2 ha großes, direkt am See gelegenes Grundstück vor, das so ungefähr alles in sich vereint, was die Uckermark an landschaftlichen Reizen zu bieten hat: einen verträumten, von Schilf und alten Bäumen gesäumten See, eine sanft geschwungene Topografie, eine große Wiese, ein Wäldchen und – gewissermaßen als i-Tüpfelchen – eine kleine Kirschbaumplantage.

»Verwunschene Wiese«

An diesem herrlichen Ort konnte der Berliner Architekt Thomas Kröger jüngst für eine ebenfalls in Berlin lebende Künstlerin und Galeristin ein ­Wochenend- und Ferienhaus realisieren, das – zumindest beim ersten Hinsehen – überrascht und ein wenig wunderlich erscheint. Was hat es für ein merkwürdiges Dach? Hoch, spitz zulaufend und mehrfach gefaltet ist es, gedeckt mit hell schimmernden, rautenförmigen Aluminiumschindeln. So sitzt es mit auffällig großem Überstand und einer merkwürdig gezackten Traufe wie ein etwas überdimensionierter Hut auf dem kleinen, einstöckigen Baukörper. Das Ganze hat etwas zeltartiges, erinnert einen ganz unwillkürlich an einen Pavillon im Park, an ein Lusthäuschen in einem großen, alten Garten – so wie etwa das Chinesische Haus im Park von Sanssouci, das nebenbei bemerkt auch ein Blechdach besitzt. Mit dieser Assoziation ist man schon auf der richtigen Fährte und doch verlangt die merkwürdige Form des Hauses nach Erklärung. Dies umso mehr, als Thomas Kröger, der in der Uckermark schon einige gelungene Häuser entworfen hat, sonst nicht zur Extravaganz neigt, sondern eher einem kontextbezogenen Bauen verpflichtet ist. Zu seinem jüngsten Werk bekennt er mit entwaffnendem Charme, er habe diesen Ort so besonders gefunden, dass er »dort einfach kein klassisches Haus ­denken« konnte, denn man hätte damit »die verwunschene Wiese so böse ­besetzt«. Das klingt jetzt fast ein wenig esoterisch. Vor Ort aber wirkt das mehr als plausibel. Vor diesem Hintergrund jedenfalls habe man »nach Typologien mit eher temporärem Charakter« gesucht und sei dabei auf eine alte Fotografie gestoßen, die einen Tanzpavillon in einem Münchner Park zeigte. Mit diesem Bild ließ sich arbeiten.

Punktgenau

Wenn nun aber die Naturschönheit der Lage zum Ausgangspunkt des Entwurfs gemacht werden sollte, brauchte es mehr als eine inspirierende Typo­logie. Kröger erinnerte sich an die Erkenntnis, dass ein (architektonisch) gerahmter Blick die Wahrnehmung der Umgebung fokussieren und intensi­vieren kann. Entsprechend richtete er den Entwurf konsequent auf die beiden ­visuellen Hauptattraktionen des Grundstücks – den Kirschhain und den See – aus. Und die liegen, wie es der schöne Zufall so will, ziemlich genau um 60° zueinander verdreht. Daraus entwickelte sich die hexagonale Grundrissform des Hauses mit ihrer regelmäßigen Abfolge von offenen und geschlossenen Seitenflächen, die sich wiederum gut mit dem Bild des Tanzpavillons verbinden ließ. Das Konzept des gerahmten Blicks hätte freilich viel von seiner Wirkungsmacht verloren, wenn die Genehmigungsbehörden es nicht erlaubt hätten, das Haus an der idealen Stelle zu errichten: unmittelbar am Rand des Kirschhains und genau an dem Punkt, von dem aus sich das Grundstück zum See hin neigt.

Der Effekt von Standortwahl und Blickfokussierung im Innern des Hauses ist ebenso verblüffend wie zwingend. Im Essbereich, der sich durch vom Boden bis unter die Dachkante reichende, vertikal gegliederte Fenster zum Kirschgarten hin öffnet, wirkt es, als sitze man förmlich zwischen den Kirschbäumen. Vom Wohnzimmer aus, wo der Blick auf die Ferne eingestellt wird, bietet sich durch ebensolche Fenster ein herrliches Postkarten-Panorama auf Wiese, Wald und See.

Die dritte »offene« Seite des Hauses, an der der Eingang liegt, fällt dagegen deutlich ab. Der Aus- und Einblick ist hier durch Einbauschränke und eine Treppe bis auf einen eher schmalen Zugang in den Wohnraum gleich wieder zugebaut. Funktional ist das verständlich, trotzdem offenbart sich hier eine kleine Schwäche des Entwurfskonzepts.

Überschaubar

Die Bauherrin wünschte sich das Wochenendhaus als informellen und intimen Rückzugsort für sich, ihren Partner und zwei Kinder. Entsprechend einfach ist das Raumprogramm. Im EG liegt neben dem Essbereich mit angegliederter Küchenzeile das Wohnzimmer, das ideell und grundrisstechnisch den Mittelpunkt des Hauses einnimmt.

Es mündet gleichsam in eine seewärts gelegene Terrasse, die dank der hinter die Fluchtlinie des Hauses zurückgezo­genen Fensterfront zu einem guten Teil überdacht ist. Zwei kleine Kinderschlafzimmer und ein Bad liegen hinter den drei geschlossenen Außenwänden des Hauses und weisen jeweils einen trapezförmigen Grundriss auf.
Eine schmale Holztreppe, die durch eine im Eingangsbereich liegende Tür erreichbar ist, führt ins obere Geschoss, das vom Elternschlafraum beherrscht wird. Ein winziges Bad und zwei begehbare Schrankräume flankieren den von zwei Oberlichtern erhellten, wiederum hexagonal geschnittenen Raum, der dank seiner hohen, kristallin ausgeformten Decke großzügiger wirkt, als es der Grundriss vermuten lässt. Das große, bis zur Dachspitze reichende Oberlicht übrigens war ein Wunsch der Bauherrschaft. Sie wollte vom Bett aus gern in den nächtlichen Sternenhimmel blicken, der in der dünn besiedelten Uckermark bekanntlich besonders hell erstrahlt. Wie schön muss das sein!

Das mit Erdwärme beheizte Haus steht auf einer Betonplatte, die einen geringen Niveauunterschied im Baugrund nachvollzieht. Das Haus wird ebenerdig betreten, zum Wohnraum geht es zwei Stufen hinunter und zum Essbereich wieder eine Stufe nach oben. Das stellt sicher, dass der Innenraum sich visuell stets bruchlos in den Außenraum erweitert. Gleichzeitig definieren die Stufen auf dezente Weise die Grenzen der verschiedenen Raumzonen.

Vom Sockel abgesehen, ist der Bau als Holztafelkonstruktion errichtet. Als Holzbau tritt er aber allenfalls an der Fassade in Erscheinung, die das Bild ­einer klassischen Leistenschalung evoziert. Tatsächlich sind die dünnen, weiß gestrichenen Holzlatten aber auf großflächige schwarze Wandplatten ­geschraubt. Ihre Funktion ist also rein dekorativer Natur. So oder so, das Bild passt zum Pavillon-Charakter des Hauses und die filigran anmutende Vertikalstruktur der hellen Latten lässt die Wandkonstruktion ganz leicht erscheinen. Ob es notwendig war, die Fensteröffnungen des Badezimmers und der Kinderzimmer hinter diesem Stabwerk zu verstecken, kann man dahingestellt sein lassen.

Den großen Dachüberstand erklärt Kröger mit Vorbildern aus der traditionellen Architektur Japans und Chinas. Das von der Dachkante heruntertropfende Regenwasser bildet gleichsam einen feinen Wasservorhang um den Bau. Abgesehen von diesem sicher poetischen Bild hätte eine breite Dachrinne eben einfach nicht zur dünnen Blechhaut des Dachs gepasst.

Zur Qualität dieses Hauses trägt Krögers Sensibilität für Materialien, Farben und Oberflächen sowie seine Sorgfalt im Detail bei, die sich nicht zuletzt in den Einbaumöbeln auf überzeugende Weise manifestiert. Während die Hauptwohnräume weiß gehalten sind, setzt der Architekt in den Bädern und Kinderzimmern farbige Akzente, die die heiter unbeschwerte Stimmung dieses Rückzugsorts fürs Wochenende unterstreichen.

db, Fr., 2017.09.01

01. September 2017 Mathias Remmele

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