Editorial

Die katalanischen Architekten Rafael Aranda, Carme Pigem und Ramón Vilalta, Gründer des in Olot ansässigen Büros RCR Arquitectes, wurden dieses Jahr mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet. Die Jury lobt ihre präzise in die natürliche und gebaute Umgebung eingefügten Entwürfe, mit denen sie Orte von einzigartiger Qualität erschaffen. Ihre Bauten seien nicht nur schön, funktional und gut konstruiert, sondern könnten auch – dank ihrer Synthese von Kontextbezug, radikaler Konzeption und konsequenter Materialisierung – der Baukunst weltweit neue Impulse verleihen.

RCR Arquitectes sind in der Schweiz nur wenig bekannt. Deshalb widmen wir diese Ausgabe von TEC21 einer kleinen Auswahl ihres Schaffens. Dabei konzentrieren wir uns auf ihre Stahlbauten, denn es fällt auf, dass RCR den Baustoff ­sehr ­häufig einsetzen – an unterschiedlichen Orten und für unterschiedliche Bauaufgaben. Sie nutzen die konstruktiven und technischen Eigenschaften des Materials, um differenzierte Wirkungen zu erzielen.

In der Architektur von RCR Arquitectes verbinden sich Ort, Form, Material und Konstruktion zu einem Ganzen, das zurückhaltend und selbstverständlich daherkommt, aber auf den zweiten Blick international Aufsehen zu erregen vermag. Höchste Zeit, ihr Werk kennenzulernen.

Judit Solt, Dietlind Jacobs, Viola John

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Zur Linde

10 PANORAMA
Die Ambivalenz der Menschlichkeit | Bücher

14 VITRINE
Neues aus der Baubranche

17 SIA
Beitritte zum SIA | Landschaft als Vektor der Stadtentwicklung | UIA-Kongress 2017 in Seoul

22 VERANSTALTUNGEN

THEMA
24 RCR ARQUITECTES – AUSGEWÄHLTE BAUTEN

24 GEERDETE MEISTER
Judit Solt
Die diesjährigen Pritzker-Preisträger und eine Auswahl ihrer Stahlbauten.

31 PASSAGE ZUR STADTOASE
Klaus Englert
Ein Innenhof im dichten Sant-Antoni-Viertel in Barcelona erhält eine Aufwertung durch neue Nutzungen.

27 KORPUS MIT DURCHBLICK
Clementine Hegner-van Rooden
Bei einem Verwaltungsgebäude in Barcelona bedingen sich Tragwerk, Raum und Form gegenseitig und bilden ein starkes Ganzes.

AUSKLANG
35 STELLENINSERATE

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

Geerdete Meister

(SUBTITLE) Pritzker-Preis 2017

Rafael Aranda, Carme Pigem und Ramón Vilalta sind die Gewinner des Pritzker-Architekturpreises 2017. Ihr Büro RCR Arquitectes im katalanischen Olot erregt Aufsehen mit Bauten, die im lokalen Kontext verwurzelt sind, deren Ausstrahlung jedoch weit darüber hinausreicht.

Im 20. Mai 2017 werden die Gründer des Büros RCR Arquitectes den Pritzker-Preis entgegennehmen. Überreicht wird die höchste Architekturauszeichnung der Welt in Tokio. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, begründet doch die Jury ihren Entscheid unter anderem damit, dass die herausragende Qualität der Bauten von RCR aus einer intensiven Auseinandersetzung mit der lokalen Landschaft, Kultur und Tradition resultiert. Doch auch wenn das Werk der drei Katalanen fast ausschliesslich in Spanien und im benachbarten Frankreich zu finden ist, vermag es der Architektur weit über regionale Grenzen hinaus neue Impulse zu verleihen. Die Jury schreibt: «Immer mehr Menschen haben Angst, wegen der Globalisierung ihre lokalen Werte, ihre Kunst und ihre Bräuche zu verlieren. Rafael Aranda, Carme Pigem und Ramón Vilalta zeigen uns auf die schönste und poetischste Weise, dass wir zumindest in der Architektur beides haben können.» Eine besondere Qualität ortet die Jury im Umgang von RCR mit Material: «Trotz ihrer lokalen Verwurzelung evozieren ­ die Architekten eine universelle Identität, indem sie mo­derne Baustoffe wie rezyklierten Stahl und Plastik auf höchst radikale und schöpferische Weise einsetzen.» Die konsequente Interpretation des Materials verleihe ihren Bauten unglaubliche Kraft und Einfachheit.

In der Bildergalerie finden sich Projekte, bei denen sich RCR Arquitectes mit den konstruktiven und gestalterischen Möglichkeiten von Stahl auseinandergesetzt haben.

Lesen Sie auch: zwei Bauten von RCR Arquitectes in Barcelona, die gegensätzlicher nicht sein könnten: eine kleine Bibliothek in einem Innenhof, der sich dank dem Eingriff zu einem intimen, lebendigen Zentrum für ein Gründerzeitquartier entwickelt (vgl. «Passage zur Stadtoase»), und ein Verwaltungsgebäude in einem grossmassstäblichen, unterkühlten Neubaugebiet (vgl. «Korpus mit Durchblick»).

TEC21, Fr., 2017.05.05

05. Mai 2017 Judit Solt

Korpus mit Durchblick

(SUBTITLE) Verwaltungsgebäude, Barcelona 2017

An der Plaça d’Europa in Barcelona tummeln sich mehr oder minder gelungene Solitäre diverser Büros. Hier errichteten RCR Arquitectes und die Ingenieure von Blázquez Guanter 2011 ein Gebäude, das von einem fruchtbaren Dialog zwischen den Planenden zeugt. Tragwerk, Raum und Form bilden ein starkes Ganzes.

Das 2011 errichtete Verwaltungsgebäude Layetana steht an der Plaça d’Europa im Stadtgebiet L’Hospitalet de Llobregat. Es ist eine neu entwickelte, heterogene Umgebung: Kreisförmig um den Platz herum angeordnet stehen Hochhäuser verschiedener Architekturbüros und niedrigere, geknickte Zeilenbauten; die kürzeste von ihnen ist der Neubau, den RCR Arquitectes mit den in Girona ansässigen Tragwerksplanern Blázquez Guanter entworfen haben.

Die Lage, die Orientierung und das Volumen – insbesondere die Abtreppung der Nordfassade – waren weitgehend vom Masterplan vorgegeben. Die Entwerfer konzentrierten sich deshalb auf das Objekt selbst (vgl. Kasten unten: «Geschlossen? Offen? Anders!»). Dabei spielte die Gestaltung des Tragwerks eine zentrale ­Rolle, denn es sollte die architektonische Erscheinung prägen und die Gebäudeform definieren.

Haupttragwerk am Grundriss ausgerichtet

Der Neubau mit drei Untergeschossen, einem Erdgeschoss und fünf Ober­geschossen basiert auf einem trapezförmigen, sich zur Platzmitte hin keilförmig ver­schmälernden Grundriss. Das Tragwerk ist ober- und unterirdisch grundsätzlich unterschiedlich materialisiert. Einzig zwei Betonkerne, die der Erschliessung dienen, durchstossen das gesamte Gebäude vertikal und geben ihm die notwendige Gesamtstabilität. Die Untergeschosse sind in Stahlbeton auf einer 12 m tief liegenden Fundamentplatte errichtet, über dem Baugrund erhebt sich die markante Stahlkonstruktion. Die Schnittstelle der Materialien befindet sich beim ersten Untergeschoss, wo die Stahlkonstruktion im Stahlbeton verankert ist.

Rahmen aus Stahl bilden das Haupt­tragwerk. Sie richten sich nach den Grundrisslinien und reihen sich im Abstand von 1.6 m aneinander – fast parallel, alle leicht gegen die Plaça-Mitte hin verdreht gefächert.

Die Stahlrahmenkonstruktion bildet das Skelett und damit das Rückgrat des Baus. An der Südfassade sind die Stützen von Traufe bis Fuss vertikal angeordnet, an der nördlichen Fassade sind sie – gemäss den städtebaulichen Vorgaben des Masterplans – zwei Mal abgestuft. An der Aussenseite der Fassadenebene angeordnet, definieren die Rahmen das Gebäudevolumen mit seiner markanten Form und seiner gewollten Transparenz.

Biegesteife und schlanke Tragelemente

Die schmalen, lamellenartigen Rahmenstützen mit einer Abmessung von 100 cm × 14 cm sind vor allem aus gestalterischen Gründen so nah aneinandergereiht und so schlank ausgebildet. Neben viel Transparenz er­möglichen sie zugleich viel Privatsphäre. Der Knick­bemessung und der Verformungsanalyse hatten die Ingenieure deshalb besondere Aufmerksamkeit zu schenken – sie modellierten das statische Verhalten der Tragelemente mit iterativen Verfahren II. Ordnung und berücksichtigten das nicht lineare Verhalten des Materials.

Ausgebildet wurden die Rahmenquerschnitte als verschweisste Blechprofile mit einem eingeschweissten Vierkantrohr, welches das Profil versteift und die Seitenbleche gegen Beulen stabilisiert. Die Rahmen wurden für eine effiziente Herstellung, für einen reibungslosen Transport und für eine zweckmässige Montage in Einzelteilen fabriziert und erst vor Ort auf der Baustelle biegesteif verschweisst. Praktisch alle anderen Verbindungen wurden verschraubt, um Schweissarbeiten auf der Baustelle zu reduzieren.

Mehr Rahmen als statisch notwendig

Strebenfachwerke aus Stahl zwischen jedem zweiten Rahmen bilden im Gebäudeinnern das sekundäre Tragwerk. Sie sind durchlässig für Installa­tionen auf Konstruktionshöhe und über Konsolen am Stahlrahmen des Haupttragwerks angehängt. Die Geschossdecken aus Wabenblechen mit Überbeton liegen auf den Trägern auf. Sie wirken als Scheiben und geben neben den vertikalen auch die horizontalen Lasten an die Stahlbetonkerne ab. Zwei Innenhöfe, die Licht ins Gebäudevolumen ­bringen, durchtrennen die Geschossdecken und damit die Scheibenwirkung. Eine entsprechende Dimensionierung und Bewehrungszulagen leiten den Kraftfluss um.

Durch den Verbund der Decken mit den Stahlträgern erhielt die leichte, schwingungsanfällige Konstruktion die notwendige Steifigkeit. Die Stahlträger des vertikalen Tragwerks wurden nur bei jeder zweiten Rahmenstütze montiert, die Spannweite von 3.2 m war für die Deckenverbundkonstruktion effizienter. Die übersprungenen Rahmenstützen verband man in der Fassadenebene jeweils über einen Vierendeelträger mit ­den Konsolen. Dieser Lastabtrag ermöglichte in allen Geschossen stützenfreie, flexibel nutzbare Innenräume.

Wertvolles Zusammenspiel

Die Abmessungen der Tragelemente hingen also nicht nur von den statischen Anforderungen ab, die grundsätzlich eine konventionellere Bauweise ermöglicht hätten, sondern waren auch stark vom Gestaltungswillen der Architekten geprägt. Diese Verknüpfung des Tragwerkkonzepts mit dem architektonischen Entwurf erhöhte zwar die konstruktiven Anforderungen, doch das Ergebnis zeigt eindrücklich: Erst durch die Synthese von Raum, Tragwerk, Material und Konstruktion konnte ein ruhiges, starkes und in sich stimmiges Ganzes entstehen, das in der unterkühlten Umgebung der Plaça d’Europa neben seinen dominanten Nachbarn zu bestehen vermag.

Weitere technische Informationen zum Verwaltungsgebäude Layetana finden Sie in steeldoc 2/2017 (erscheint am 30.6.2017), www.szs.ch/steeldoc

TEC21, Fr., 2017.05.05

05. Mai 2017 Clementine Hegner-van Rooden

Passage zur Stadtoase

(SUBTITLE) Bibliothek, Seniorenzentrum und Garten, Barcelona 2007

Öffentlich zugängliche Innenhöfe sind in Barcelona nicht üblich. Im Stadtteil Eixample haben RCR Arquitectes 2007 einen solchen Hof geöffnet, mit neuen Nutzungen belebt und zu einem idyllischen Lebensmittelpunkt im Quartier aufgewertet.

Das 2007 fertiggestellte Ensemble von Joan-Oliver-Bibliothek, Seniorenzentrum und Cándida-Pérez-Garten liegt an der Carrer del Comte Borrell im dichten Viertel Sant Antoni in Barcelona. Es zählt zu den gelungensten Eingriffen in die historische Stadterweiterung, die der katalanische Ingenieur Ildefons Cerdà nach dem Niederreissen der Stadtmauer 1854 in einem regelmässigen, streng quadratischen Blockrandraster angelegt hatte.

RCR Arquitectes orientierten sich an Cerdàs ursprünglicher Absicht, die Innenhöfe der Wohnblöcke nicht für gewerbliche Zwecke, sondern für öffentliche Anlagen und Einrichtungen zu nutzen. Nachdem die Fabrik, die früher im Hof gestanden war, abgebrochen worden war, erstellten die Architekten ein Nutzungs­programm, das sich vornehmlich an den Bedürfnissen der Anwohnerinnen und Anwohner orientierte. Das Raumprogramm umfasst nicht nur die Joan-Oliver-Bibliothek – eine von Barcelonas insgesamt 40 Stadtteilbibliotheken –, sondern auch ein Seniorenzentrum und einen Garten samt Kinderspielplatz.

Rafael Aranda, Carme Pigem und Ramón Vilalta gelang es, die unterschiedlichen Nutzungen zu einem harmonischen Gefüge zu ordnen und den Eindruck zu erwecken, das Ensemble, aus dessen Mitte ein Industrieschlot als Relikt der industriellen Vergangenheit ragt, sei immer schon hier gewesen. Eine neu geschaffene Passage verbindet die Strasse mit den Lesesälen der Bibliothek und dem Innenhof. Wer sie durchschreitet, taucht überrascht in eine lebendige, von Wohnbauten gefasste Oase ein.

Das sowohl zur Strasse als auch zum Hof orien­tierte Torgebäude, das die Bibliothek beherbergt, ist ­ als Stahlgerippe konstruiert. Hinter der verglasten ­Strassenfront sind die Lesesäle sichtbar. Die drei Obergeschosse bilden zueinander versetzte Ebenen. Nahezu eingerahmt von Lesesälen und Galerien entstand ein offen gestaltetes Auditorium. Über diesem bühnenarti­gen Raum befindet sich ein weiterer Lesesaal. Die Mate­rialisierung verstärkt das kontrastreiche Raumkonzept: Hinter dem verglasten Stahlgerippe der Fassade steht der Bibliothekskorpus, dessen Treppe von einer massiven, stählernen Brüstung flankiert ist. Es scheint, als habe die herbe, spröde Ästhetik der vulkanischen Landschaft der Garrotxa die Architekten inspiriert.

Hinter dem Bibliotheksquader, direkt daran anschliessend, erstrecken sich die eingeschossigen Gebäude mit dem Seniorenzentrum. Sie öffnen sich zu einem Karree und umschliessen dabei einen kleinen, schattigen Park, in dem Kinder spielen. Äusserlich verbunden wird die Stahl-Glas-Konstruktion von Bibliothek und Seniorenzentrum durch eigens konstruierte Stahllamellen, die als Sonnenschutz, Raumteiler, Geräusch- und Intimitätspuffer zwischen innen und ­aus­sen funktionieren.

Das friedliche Neben- und Ineinander von ­Bi­bliothek, Seniorenzentrum, Park und Spielplatz ge­neriert im Innenhof eine heile Welt im Kleinen: Alte und Kinder, Besucher und Anwohner kommen zusammen, teilen ein gemeinsames Areal und wechseln wohlwollende Blicke. Wie auch die Pritzker-Jury hervorhebt, ist das Ensemble ein herausragendes Beispiel für den dialogischen Charakter, der viele Projekte von RCR Arquitectes auszeichnet.

TEC21, Fr., 2017.05.05

05. Mai 2017 Klaus Englert

4 | 3 | 2 | 1