Editorial

Wie in der gesamten gebauten Umwelt verhält es sich auch bei Ingenieurbauwerken. Vieles möchte man als Nutzer am liebsten einfach übersehen: Ungelenke Fußgängerüberführungen und schnöde Autobahnbrücken kennt jeder zuhauf. Dabei könnte schon das gezeigte reine Tragwerk den Betrachter in erfreutes Staunen versetzen. Wenn es zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Architekten und Bauingenieuren käme, oder der allein beauftragte Tragwerksplaner das nötige Gespür aufbrächte, dann könnte aus einer Brücke oder einem Gebäude ein unverwechselbarer Ort oder gar ein Markenzeichen werden.

Wenn das gelingt, dann kann man von Ingenieurbaukunst sprechen: Eine bewusste und gekonnte Auseinandersetzung damit, wie sich physikalische und bautechnische Herausforderungen sinnvoll meistern lassen, sodass sie zu einem technisch wie ästhetisch anspruchsvollen Ergebnis führen. Dass diese Kunst lohnt, zeigen die ausgewählten und auf den folgenden Seiten ausführlich vorgestellten Projekte auf das Trefflichste. | Martin Höchst

Ein verborgenes Kunststück

(SUBTITLE) das Ingenieurbauwerk Elbphilharmonie

Die Elbphilharmonie ist ein Raumkunstwerk, dessen ­unwiderstehliche Wirkung zahlreichen baukünstlerischen Setzungen zuzuschreiben ist. Weitgehend verborgen blieb der Öffentlichkeit, dass nur durch die enge ­Zusammenarbeit zwischen den Architekten Herzog & de Meuron und dem Ingenieurbüro Schnetzer Puskas ein einzigartiges Tragwerk geschaffen werden konnte, das die hohen gestalterischen Ansprüche und komplexen funktionalen Erfordernisse gleichermaßen bewältigt.

Als die Architekten Herzog & de Meuron im Jahr 2003 erste Pläne für die Elbphilharmonie der Öffentlichkeit präsentierten, da war dies ein anderes Projekt als das Gebäude, das im Januar 2017 schlussendlich eröffnet wurde. Die Initiatoren, der Projektentwickler Alexander Gérard und seine Ehefrau, die Kunsthistorikerin Jana Marko, hatten eine klare, simple Idee: Das seit vielen Jahren leer stehende Lagerhaus Kaispeicher A, 1966 nach Plänen von Werner Kallmorgen fertiggestellt, sollte zu einem weithin leuchtenden Ort der Musikkultur werden.

Hierfür bildet der zum Parkhaus umgenutzte Speicher die ­Basis, auf dem ein hoher, gläserner Aufbau für ein Konzerthaus thront. Zur Finanzierung des Projekts sollte der Aufsatz mit kommerziellen Nutzungen wie einem Hotel und Wohnungen angereichert werden. Bei der ursprüng­lichen Planung galt, so Gérard, der Grundsatz, dass nur so viele neue Lasten auf den Kaispeicher aufgesattelt würden, wie vorher in ihm lagerten, um eine aufwendige und kostenträchtige Verstärkung des Tragwerks zu vermeiden und den Erhalt des Speichers zu gewährleisten. Doch die Stadt Hamburg, die die Investoren 2004 aus dem Architektenvertrag herauskaufte, um das Projekt in Eigenregie zu realisieren, vergrößerte aus kaufmännischen Erwägungen den kommerziellen Mantel erheblich. Laut Gérard hatte sich die zu bauende ­Fläche innerhalb kurzer Zeit um satte 43 % vergrößert.

Mit den Flächen wuchsen die Lasten. Nun war der Kaispeicher A, seiner traditionellen Backsteinummantelung zum Trotz, im Innern ein sehr effizienter Stahlbetonskelettbau, dessen Tragwerk für Lasten von immerhin 2 t/m² ausgelegt war. Doch er hätte nun das Doppelte – circa 200 000 t wiegt das verwirklichte Projekt – stemmen müssen, zu viel für den Nachkriegsbau. Weitere Gründe für die Entkernung: Um die von der Stadt gewünschten zusätzlichen Nutzflächen bei gleichbleibender Gebäudehöhe unterzubringen, mussten die Geschosshöhen im Speicher verringert werden. Die städtische Seite argumentiert anders: Es habe sich herausgestellt, dass das Stützenraster von 4 x 5,50 m zu eng für ein zeitgemäßes Parkhaus sei. Zudem sei der Hochwasserschutz bei Sturmfluten sowie der Anprallschutz bei Schiffshavarien nicht gewährleistet und hätte nur unter größten Anstrengungen nachgerüstet werden können.

Speicher wird Fassade

Was immer den Ausschlag gab: Der Speicher musste, wenngleich ein Denkmal, vollständig entkernt werden. Doch das Ingenieurbüro Schnetzer Puskas International aus Basel, das für die Planung des Tragwerks zuständig war, hat schon oft mit Herzog & de Meuron zusammengearbeitet und ist Herausforderungen gewohnt. Entscheidend für das Gelingen dieses im Verlauf der ­Planung immer üppiger werdenden Baus war, dass die Ingenieure von Beginn, also von den ersten Skizzen an, dabei waren und das Tragwerk so in enger Zusammenarbeit zwischen Architekten und Ingenieuren entstehen konnte. Für den radikalen Umbau des alten Kaispeichers wurden Rohwer ­Ingenieure hinzugezogen. Als erste Maßnahme wurden die Außenwände durch eine umlaufende Stahlkonstruktion gesichert, die aus Gerüsttürmen und daran angeschlossenen horizontalen Gurten bestand.

Nun konnten die alten Decken vorsichtig im Sägeverfahren bündig zur Innenwandoberfläche abgetrennt werden. Danach ging es an die Fundamente: Man fand 1 111 Ortbeton-Ramm­pfähle vor, 50 cm dick, zwischen 15 und 19 m lang. Sie besaßen eine 30-40 % höhere Tragfähigkeit als bei der Gründung. Das erstaun­liche Phänomen resultiert aus mehreren Gründen – der wichtigste war die durch die beständige Tidenströmung und das große Pfahlvolumen verursachte Verdichtung des Sandbodens. Dennoch wurden zusätzliche 620 Teilverdrängungspfähle gesetzt, die nun, gemeinsam mit den über ein halbes Jahrhundert alten Pfählen, die neue Lastenverteilplatte tragen. Die neuen Etagendecken im Bereich des Speichers wurden über Auflagertaschen an das Mauerwerk angeschlossen – nicht jedoch auf der Ostseite: Der dortige neue Haupteingang ins Gebäude wurde von Herzog & de Meuron als fast 60 m breiter horizontaler Schlitz geplant, der nicht durch Stützen unterbrochen werden sollte. Ein gestalterischer Einfall, der großen konstruktiven Aufwand nach sich zog: So wurden die Lasten der Backsteinfassade mittels einer konstruktiven Verdübelung in einen gewaltigen, 4,30 m hohen Abfangträger an der Innenseite der Außenwand geleitet. Ansonsten werden Nutz und Eigenlasten, die entlang der Bestandsfassaden anfallen, über neue Stahlbeton­stützen und über deckengleiche Unterzüge auf der Fassadeninnenseite abgeleitet. Da vom Denkmal Kaispeicher A nichts als seine Außenmauern blieb, war deren Sanierung und Erhaltung von essenzieller Bedeutung.

So wurde bereits 2007 in Untersuchungen der zweischaligen Konstruktion ermittelt, dass die Vormauerung keine ausreichende Schlagregendichtigkeit besaß. Zum Schutz gegen den Hamburg-typischen Schlagregen wurde das Mauerwerk deshalb hydrophob imprägniert.

Durch den Einsatz einer kapillar­aktiven Calciumsilikat-Innendämmung konnte ein großer Teil der über die Jahre eingedrungenen Feuchte im Mauerwerk zunächst verbleiben, um dann allmählich abzutrocknen.

Wie ein Schiff im Dock

Das große gestalterische, auch die Tragwerksplanung bestimmende Thema der Elbphilharmonie war, wie man einen komplizierten Nutzungsmix und v. a. einen großen Konzertsaal für 2 150 Zuhörer auf einer bedingt durch den Zuschnitt des alten Lagerhauses – relativ kleinen und trapezförmigen Grundfläche unterbringt. Die Elbphilharmonie ist mit einer Höhe von 79,10 – 110 m ein veritables Hochhaus, doch anders als im Hochhausbau üblich, konnte in großen Teilen der Konstruktion kein Tragwerk mit kurzen und regelmäßigen Stützenabständen für eine gleichmäßige Lastabtragung realisiert werden.

Stattdessen führten besonders die beiden Konzertsäle zu einer uneinheitlichen Lastverteilung im Gebäude. Können die horizontalen Lasten ganz konventionell überwiegend von den drei Treppenhauskernen aufgenommen werden, sind für die Abtragung der Vertikallasten neben regelmäßig platzierte Außenstützen auch unregelmäßig angeordnete Innenstützen erforderlich.

Trotz der ungleichen Lastverteilung musste sich das Stützenraster des Neubaus am weiterhin relevanten Raster des Speicherfundaments orientieren. Gerade jedoch der Große Saal für 2 150 Besucher negiert mit seinen Ausmaßen dieses Prinzip und wurde – auch zur akustischen Entkoppelung vom restlichen Gebäude – als eigenständiger Baukörper geplant: ein 12 500 t schweres »Ei«, das zwischen den Geschossdecken der Wohn- und Hotelnutzungen liegt und in Querrichtung zugleich bis an die Nord- und Südfassade ragt.

Seine Last wird zum überwiegenden Teil von acht großen, schräg gestellten Stützen abgeführt. Die Schrägstellung ist nicht, wie man vermuten könnte, architektonische Spielerei, sondern dient dem Zweck, die Lasten auf die vorgegebenen Fundamente hinzuführen. Die extreme räumliche Nähe des Konzertsaals zu Wohn- und Hotelräumen erforderte eine strikte akustische Trennung ­zwischen den Bereichen: So wurden die Wände des Konzertsaals doppelschalig als Box-in-Box-Konstruktion mit einem Zwischenraum ausgeführt – eine ­Lösung, die der hinzugezogene japanische Starakustiker Yasuhisa Toyota als unabdingbar erachtete. Die Raumgeometrie des Großen Saals ist dabei überaus diffizil und war eine Herausforderung nicht nur bei der Planung, sondern auch beim Bau: Obwohl sich in manchen Bereichen Außen- und Innenschale bis auf wenige Zentimeter nahe kommen, dürfen sie sich dennoch an keinem Punkt berühren, um die gefürchteten Schallübertragungen zu vermeiden. Die Saalhülle teilt sich dabei nicht nur in eine innere und äußere Schale auf, ihre beiden Schichten sind jeweils auch noch in einen »Topf« und ein darüber liegendes Dach aufgeteilt.

Die Tragwerksplaner haben für den Saal das anschauliche Bild eines Schiffs im Trockendock gefunden. Die Außenschale besteht aus einer 20 – 40 cm dicken Betonschale, dem Rumpf, an dessen Innenseite wie Spanten Betonrippen angebracht sind, die rechtwinklig zu den Längsfassaden ausgerichtet sind und sich unten im Kiel, der den Hauptträger der Schale bildet, treffen. An den kürzeren Querfassaden fächern sich die Rippen vom Kiel ausgehend strahlenförmig auf. In den Betonkessel wurde das stählerne, insgesamt 1 168 t wiegende Traggerüst der inneren Schale montiert. Man wählte Stahl zum einen, um in der weitgehend geschlossenen Betonschale überhaupt noch eine zweite Konstruktion einbringen zu können, und zum anderen, um das Gewicht nicht über Gebühr zu erhöhen: Die Fundamente, die bereits gelegt wurden, als der Philharmonie-Aufbau noch gar nicht fertig geplant war, setzten klare Grenzen. Um die akustische Trennung zu gewährleisten, wurde die innere mit der äußeren Schale über 342 Stahlfederpakete im Topf und 34 im Dach verbunden.

Doch der Vorteil der akustischen Abschirmung barg auch ­einen Nachteil: Der auf Federn ruhende Saal bildet ein Masse-Feder-System, das sich über die auskragenden Zuschauerbalkone leicht zum Schwingen anregen lässt. Mit einer Abstimmung der ­Federpakete auf eine optimierte Frequenz und der entsprechenden Steifigkeitsverteilung in der Stahlkonstruktion sowie zusätzlichen Schwingungs­tilgern im Bereich der Brüstungen konnte eine entsprechend optimale Konstruktion gefunden werden.

Höchstmass an Komplexität

Die Dachkonstruktion des Konzertsaals musste eine Weite von 50 m stützenfrei überwinden. Die Dach-Außenschale besteht aus einem 600 t wiegenden, sich von 72,5 m auf bis zu 91,5 m Höhe aufschwingenden Stahlverbund-Raumfachwerk, dessen Höhe zwischen zwei und neun Metern schwankt, und einer darauf aufgelagerten 20 cm dicken Betonschale. Diese gewaltige Konstruktion muss immense Lasten aufnehmen: nicht nur die der inneren Dachschale, die auf ihrer Oberseite fünf Schichten Spritzbeton aufweist und über Hänger und Federpakete mitsamt der sogenannten Weißen Haut darunter daran aufgehängt wurde, sondern auch die der zwischen Saal- und Gebäudedach angeordneten Technikebene. Letztere allein wiegt mit 8 000 t so viel wie 14 A380-Flugzeuge.

Dimensionierung und Lage der völlig unterschiedlichen Dach­segmente von innerer und äußerer Schale wurden mittels komplexer 3D-­Modelle der Architekten sowie der Tragwerksplaner bestimmt. Weil die Montagekräne maximal 12 t heben konnten, die Stahlträger des äußeren Schalendachs jedoch bis zu 40 t wiegen, mussten sie in zwei oder drei Montage­abschnitte unterteilt werden.

Auch die weiteren Bereiche des Dachs, das aus insgesamt acht ineinander geschnittenen Kugelteilflächen besteht, wurden als Stahltragwerk ausgeführt. Schnetzer Puskas planten hierfür ursprünglich eine Stahlrohr-Konstruktion, doch die für den Stahlbau engagierte Firma Spannverbund hielt dies für nicht realisierbar, weshalb man sich auf eine Träger-Lösung einigte. Jeder der insgesamt 1 000 geschweißten Doppel-T-Blechträger ist aufgrund der notwendigen komplizierten Geometrien und zahlloser unterschiedlicher Krümmungen ein Unikat, und nirgendwo half ein ordnendes Raster bei der Montage. Besonders die Dachrandträger sind an Komplexität nicht mehr zu überbieten: einer bringt es auf über 1 000 Stahlbaupositionen, dokumentiert auf fünf DIN A0-Plänen. In diesem Zusammenhang singen die Schweizer Ingenieure auch ein Loblied auf die deutsche Bauverwaltung: Nur weil der Prüfingenieur und das Bauamt Vorschriften nicht dogmatisch gesehen, sondern pragmatisch und mit Augenmaß auslegten, habe die Elbphilharmonie letztlich überhaupt realisiert werden können.

Kraftfluss über Umwege

Eine der zentralen gestalterischen Maximen für die Außenwirkung der Elbphilharmonie ist die klare Trennung zwischen dem steinernen alten Sockelbau und dem gläsernen neuen Aufbau, der gleichsam zu schweben scheint. Auf der einstigen Dachebene des Kaispeichers, in 38 m Höhe, befindet sich heute die jedermann offenstehende Plaza mit ihrer umlaufenden Galerie. Sie sollte als durchgehende Fuge in Erscheinung treten, die nicht durch äußere Stützen unterbrochen wird. Obwohl das Gewicht der riesigen Glaselemente des Aufbaus immens ist, wurde also auf eine außenliegende Stützenreihe auf der Plaza-Ebene verzichtet, was bedeutete, dass die Vertikalkräfte einen Umweg ins Innere nehmen mussten.

Sie werden über drei Stockwerke hinweg mittels schräger Stahlverbundstützen von der Fassadenebene in die nächste Stützenreihe hinter der Fassade geleitet. Die Deckenränder dieser drei Stockwerke wiederum sind von oben abgehängt. Um den größeren stützenfreien Eckbereich an der sich 110 m hoch auftürmenden Westseite zu ermöglichen, wurde hier noch zusätzlich zu dieser Konstruktion ein um die Gebäudeecke geführter geschosshoher Fachwerkträger in der Fassadenebene der Etage über der Plaza-Ebene eingebaut. Skulptural ausgeformte Räume, schräggestellte Stützen, elegant sich aufwärts schraubende Treppenanlagen, eine durchlaufende Plaza-Fuge und die kühne Dachlandschaft schlugen als komplexe Konstruktionen in den Kosten zu Buche. Doch dies, wie verschiedentlich geschehen, zu kritisieren heißt, das Projekt Elbphilharmonie insgesamt infrage zu stellen. Gewiss, nicht bei jedem Bauwerk sind solche Maßnahmen gerechtfertigt. Aber hier, bei diesem für die Stadt Hamburg so eminent wichtigen Haus, ist der Einsatz angemessen.

Ganz richtig sagte Jacques Herzog in einem Interview, dass die Verführungskraft und Schönheit von Architektur wichtig bleibe, weil die Poesie den Menschen offen macht, freier zu denken und wahrzunehmen. Die Schönheit der Elbphilharmonie entspringt nicht dem Einfachen, Klaren, Eindeutigen, sondern dem Komplexen, Uneindeutigen, Unsichtbaren: Wie schon bei früheren Projekten von Herzog & de Meuron wie dem »Vogelnest« oder der Allianz-Arena wird auch die Konstruktion der Elbphilharmonie verunklärt oder verborgen und wird dadurch umso präsenter. Man spürt eine physische ­Präsenz, ohne sie unmittelbar sehen zu können. Das Unmerkliche ist oftmals eindrücklicher als das Offensichtliche. Dazu befragt, vergleicht Heinrich Schnetzer von Schnetzer Puskas International dies mit dem Konzept des ­»sotto voce« in Musik und Literatur – also einer Betonung gerade nicht durch Auftrumpfen und große Lautstärke, sondern durch Dämpfung, Zurückhaltung, Flüstern. Es ist kein Wunder, dass Herzog & de Meuron bei der ­Elbphilharmonie mit Schnetzer Puskas International zusammengearbeitet ­haben: Ohne Tragwerksplaner mit solch feinem ästhetischen Gespür wäre die Elbphilharmonie nicht zu dem Meisterwerk geworden, das sie heute ­unzweifelhaft ist.

db, So., 2017.04.30

30. April 2017 Claas Gefroi



verknüpfte Bauwerke
Elbphilharmonie Hamburg

Einheit im Bootsrumpf

(SUBTITLE) Informationszentrum »Biodiversum« in Remerschen (L)

Einem umgestülpten, gestrandeten Boot ähnelnd, liegt das »Biodiversum« im luxemburgischen Remerschen auf eigens aufgeschüttetem Gelände im Naturschutzgebiet »Haff Réimech«. Das mit Schindeln verschalte Holztragwerk entfaltet im Innern mit seinen gegeneinander gelehnten, gitterartigen Halbschalen eine geradezu ornamentale Wirkung. Ideengeber der aufwendigen, aber beeindruckenden Netzstruktur, die in dieser Form überhaupt erst zum zweiten Mal angewendet wurde, war »Holzbau-Papst« Julius Natterer.

Es ist schon 15 Jahre her, als man das erste Mal über ein Informations- und Empfangszentrum für den Naturpark im Dreiländereck bei Schengen nachdachte. Nun steht das »Centre d’accueil Haff Réimech«, auch kurz Biodi­versum genannt, auf der kleinen Landzunge eines Weihers, als wäre es schon immer dort gewesen. Genutzt wird es vom städtischen Umweltamt.

Das Naturschutzgebiet zwischen Remerschen und Wintrange war einmal ein Sand- und Kies-Abbaugebiet. Die Aushubgruben füllten sich im Laufe der Zeit mit Grundwasser und verliehen der Seenlandschaft ihre Topografie. Auch die Flora und Fauna ergriff nach und nach wieder Besitz von den kahlen, ausgebeuteten Flächen. Diese Situation, aber auch der Plan der Natur­verwaltung von 2004 und der Nationale Naturschutzplan führten zu der Entscheidung, in Remerschen ein Biodiversum als Instrument der Sensibilisierung für Natur und Umweltschutz zu bauen.

Bei der Gebäudeform orientierten sich die Architekten von Valentiny, ebenfalls aus dem luxemburgischen Remerschen, an den Langhäusern der Kelten, den Ureinwohnern dieser Region. Für das Informationszentrum entwarfen sie einen Baukörper, der wie ein gedrehtes Boot aussieht, das sogenannte Langhaus, und ergänzten es auf der untersten Ebene mit einem eingeschossigen Anbau für Büros. Beides sollte ein Holzbau werden – so der Wunsch des Bauherrn, der sich von Anfang an ein nachhaltiges Gebäude wünschte, für das sich Holz nicht nur als der umweltfreundlichste Baustoff herausstellte, sondern auch als der wirtschaftlichste. Die Architekten – bis dato noch nicht sehr erfahren im Holzbau – holten sich bereits während der Entwurfsphase Unterstützung beim Holzbauspezialisten Julius Natterer aus Lausanne [1], um die Machbarkeit verschiedener Ideen auszuloten. Im Zuge dessen sowie auf Anregung von ihm fanden sie als Lösung zu einer Gitterschale aus Holzlamellen. Doch dazu später mehr.

Das Langhaus umfasst Ausstellungsflächen auf drei Geschossen. Der Besucher betritt es auf dem erhöhten EG und trifft dort auf die Empfangstheke. Von da aus kann er seinen Rundgang zu den fünf großen Ausstellungsthemen – Ökologie, Frühgeschichte, Weinbau, Wanderausstellungen und den Naturschutzpark Dreiländereck – starten. Zwei geradläufige Treppen führen ihn weiter – entweder in die obere Etage oder ins UG, das auch von außen über ­einen Steg erreichbar ist und gleichzeitig als Fluchtweg dient.

Der Grundriss des Empfangszentrums weitet sich über etwa 60 m Länge ­konisch auf. Die seeabgewandte, schmalere der beiden Stirnseiten bildet den Eingang und misst rund 13,50 m in der Breite, die zum See sich öffnende Seite dagegen 17 m. Auch der First verläuft schräg und fällt von der Seeseite mit einer Höhenkote von 15 m auf 8 m zum Eingang hin ab. Die abgeschrägten Giebel des Baukörpers sind mit vertikalen Scheiben komplett verglast. Zusammen mit 15 ausgestülpten Dreiecksgauben in der gebogenen Gebäudehülle sorgen sie für Tageslicht im Innern und gewährleisten zugleich ein natürliches Be- und Entlüftungskonzept ausschließlich über Lüftungsklappen an den niveau-unterschiedlichen Stirnseiten und in den Längswänden. So sorgt die Gebäudegeometrie für einen guten Durchzug und optimalen Luftaustausch.

Holzrahmen mit Gitternetz

Das Langhaus ist auf einem Stahlbetonunterbau errichtet. Seine Form ergibt sich aus zwei gegeneinander gelehnten Halbschalen aus Douglasienholz, die Dach und Wand in einem sind. Das Haupttragwerk besteht in der einen Gebäudehälfte aus Brettschichtholz-Rahmen, die, im Abstand von 7,20 m angeordnet, ihre Kräfte auf die Decken des Stahlbetongeschosses ableiten. In der anderen Hälfte bilden je Geschossebene zwei liegende Bogenbinder aus Brettschichtholz die Galerien mit großzügigem Luftraum. Sie schließen an Halbrahmen, Stützen, Träger und Querträger sowie am oberen der beiden Riegel des Portalrahmens an. Zusammen bilden die Bauteile ein räumliches Tragwerk. Die Brettstapel-Deckenelemente, die von Rahmen zu Rahmen bzw. Halbrahmen zu Halbrahmen spannen, sind zu Deckenscheiben verbunden.

Die Queraussteifung des Gebäudes erfolgt zum einen über die Rahmenkonstruktionen, zum andern über den Aufzugsschacht aus Stahlbeton, an den sich das Holztragwerk anlehnt. Für die Längsaussteifung sorgt das Schalentragwerk des mit Brettern beplankten Gitternetzes in Rautenform. Angeschlossen an die geneigten und OSB-beplankten Giebel-Fachwerke können so die Kräfte in Längsrichtung aufgenommen und in die Fundamente geleitet werden.

Das beauftragte Holzbauunternehmen hatte außer der Statik für das Haupttragwerk auch die der Gitternetzkonstruktion zu bemessen und zu planen. Hier nutzten die Tragwerksplaner das Know-how von Natterer und beauftragten ihn mit der sogenannten Knotenstatik. Möglich wurde die Netzkonstruktion durch eine Abwandlung der Brettstapelbauweise, die bekannt ist als Hochkant-Stapelung von Brettern für Decken, Wände und Dächer, weniger aber für gebogene Formen. Um die gekrümmte Dachform herzustellen, wurden vier Douglasie-Holzbretter flach, also horizontal übereinander gestapelt. Auf diese Weise sind sie biegsam und lassen sich als Brettrippenbogen in die gewölbte Form der Netzkonstruktion bringen. Natterer hatte dieses Konstruktionsprinzip 1997 für die 500 m² große Kuppel des »Haus des Handwerks« in Ober-Ramstadt entwickelt und konnte es beim Informationszentrum nun wieder anwenden. Die im Innern sichtbare Gitternetzstruktur erscheint mit ihren Lamellen und rautenförmigen Flächen dazwischen ausgesprochen filigran und ornamental, ohne überladen zu wirken. So zeigt das Gebäude auch auf, wie man mit Holz eine konsequent durchdachte Architektur materialgerecht gestalten kann.

Brett für Brett

Die Montage über ein Lehrgerüst stellte sich als die wirtschaftlichste und schnellste Variante heraus. Dazu wurde per CAD eine geometrisch exakte Schablone aus gegeneinander gestellten Bogenbindern und dazwischen gehängten Querträgern gefertigt. Auf den Höhen der Kreuzungspunkte der Brettlagen angeordnete Querträger erhielten auf der Oberseite Ausfräsungen, in die die Bretter bei der Montage zur vorläufigen Lagesicherung eingelegt werden.

Die Entscheidung fiel außerdem zugunsten einer Montage in Handarbeit, bei der man vor Ort jede Brettlamelle einzeln ablängte. Das sparte die ­Arbeit, tausende unterschiedliche Bretter am Computer zu konstruieren, die man zwar maschinell hätte abbinden können, was aber gleichzeitig zu einem erheblichen logistischen Aufwand auf der Baustelle geführt hätte. So wurden die Lamellen Brett für Brett zugelegt, angerissen, abgeschnitten und gleich eingebaut. Das Gerippe wurde von den Randauflagern ausgehend montiert.

Jeder Brettrippenbogen besteht aus einer Vielzahl unterschiedlich langer Douglasien-Holzlamellen mit einem b/h-Querschnitt von 16 x 3 cm. Sie sind in vier Lagen (zweiachsig verdrillt!) über das Lehrgerüst gebogen und zu 12 cm hohen Rippen verschraubt. Dabei müssen sowohl die übereinander liegenden als auch die sich überkreuzenden Lamellen immer so versetzt sein, dass an keiner Stelle zwei (oder mehr) Lamellenstöße übereinander liegen. An den Kreuzungspunkten laufen nach einem ausgetüftelten Verlegemuster jeweils zwei Brettlamellen durch, zwei sind unterbrochen. Schrauben verbinden sie in den Kreuzungspunkten von oben, sodass sie von unten unsichtbar sind. Auch zwischen den Kreuzungspunkten wurden die »Brettstapel« verschraubt, sodass ein kontinuierlicher Verbund entsteht. Die Verflechtung aller Bretter auf die beschriebene Art und Weise zusammen mit den verwendeten Verbindungsmitteln ergab jedoch noch kein ausreichend steifes Tragwerk. Daher erhielt das Netzwerk eine Bretterschalung als aussteifende Beplankung.

Doch zunächst wurden über dem Rautentragwerk Brettschichtholz-Bogenbinder (b/h = 16 x 27 cm) im Achsabstand von 1,74 m platziert. Sie stützen sich im First gegeneinander ab und sind zu Zweigelenkrahmen verbunden. An ihnen ist das Rautentragwerk angehängt. Die Beplankung kam dann in Form vorgefertigter Elemente auf die Baustelle, wurde zwischen die Bogen-binder eingefügt und mit dem Rautentragwerk verschraubt. Auf der Unterseite sichtbar und mit 1 cm breiter Fuge verlegt, dient sie als Untergrund für den weiteren Dachaufbau und gleichzeitig als Akustikdecke. Auf der Oberseite folgt der restliche, 60 cm dicke Dachaufbau aus Dampfsperre, 16 cm Wärmedämmung und der Eindeckung aus Alaska-Zedernholz-Schindeln.

Ungewöhnliche Lösungen

Das Biodiversum erhielt ein neuartiges Energiekonzept für die Gebäudeheizung: Auf dem Grund des Sees sind Spiralkörbe verteilt, über die eine Wärmepumpe dem Wasser Energie entzieht. Sowohl bei der Pumpe als auch bei den Spiralkörben handelt es sich um speziell für das Gebäude entwickelte Prototypen. So setzt sich die Wärmepumpe beispielsweise aus Einzelkomponenten zusammen und ist in dieser Konstellation im Handel nicht erhältlich; insbesondere die Heißgas-Entkopplung für eine effiziente separate Warmwasserbereitung gab es zum Zeitpunkt der Planung bei Wärmepumpen noch nicht. Die während der Planungszeit sehr spät getroffene Entscheidung für das Heizsystem brachte eine ungewöhnliche Lösung für die Fußbodenheizung mit sich, denn aus Gründen der Einhaltung der geplanten Fußboden­niveau-Oberkanten – der Aufzugsschacht war bereits betoniert und die Statik des räumlich zusammenwirkenden Tragwerks längst freigegeben – standen nur 6,5 cm für den erforderlichen Bodenaufbau zur Verfügung. Für Dämmung, Heizschlangen und den Bodenbelag wird üblicherweise die doppelte Aufbauhöhe benötigt.

Die Lösung bestand darin, die Heizschlangen in 30 mm dicke, entsprechend ausgefräste MDF-Platten einzulegen. Auf diese Weise fungiert die Trägerplatte gleichzeitig als Dämmung. Damit die Heizwärme dennoch vollständig nach oben ausstrahlt, erhielten die Platten unterseitig ­eine ergänzende, dünne Dämmschicht. Oberseitig folgte ein Gitter aus einer Art Streckmetall, das verspachtelt wurde. Darauf wurde schließlich das ­Parkett verlegt. Dieser Aufbau war durchaus kostspielig, stellte aber die bei Weitem günstigere Lösung dar als eine Umplanung des Tragwerks.

Mit Preisen bedacht

Das Gebäude erhielt 2016 den Bauherrenpreis der Architektenkammer Luxemburg in der Kategorie Öffentliche Bauten und wurde im November 2016 außerdem mit dem Holzbaupreis Eifel ausgezeichnet. Die Jury schätzte v. a. die schlüssigen konstruktiven Details, die Form und Konstruktion zu einer Einheit verschmelzen lassen.

db, So., 2017.04.30

30. April 2017 Susanne Jakob



verknüpfte Bauwerke
Informationszentrum »Biodiversum«

Hoch über der Schlucht

(SUBTITLE) Strassenbrücke über die Taminaschlucht bei Pfäfers (CH)

Die Auseinandersetzung mit komplexen topografischen und geologischen Verhältnissen hat im Alpenraum zahlreiche Meisterwerke der Ingenieurbaukunst entstehen lassen. Die Taminabrücke des Ingenieurbüros Leonhardt, Andrä und Partner setzt diese Tradition mit einer ebenso anmutigen wie dauerhaften Bogenbrücke fort.

Man könnte meinen, jeder erschließungswürdige Winkel der Alpen sei mittlerweile bequem erreichbar. Doch noch immer gibt es ein Verbesserungs­potenzial im Bereich des Straßennetzes. Die Taminabrücke, die im Sommer 2017 eingeweiht wird, gilt dafür als einer der eindrücklichsten aktuellen ­Belege. Die mit 259,36 m Spannweite längste Bogenbrücke der Schweiz ergänzt so die schier endlose Reihe an Bauwerken, die entstanden sind, um auch entlegene Gegenden an das überregionale Verkehrsnetz anzubinden.

Nervenkitzel inbegriffen

Die Tamina ist ein Bergbach, der zwischen Chur und Bodensee aus dem Berggebiet der St. Galler Alpen in den Rhein mündet. Vor dem Übergang in das Rheintal hat der Strom entlang einer tektonisch bedingten Schwachstelle massige Nummuliten-Kalkbänke durchschnitten und sich schief in die darunter liegende Seewer-Kalkformation hineingefressen. Dabei schnitt er auch eine Thermalwasser führende Kluft an und so befand sich in der von dichtem Wald umgebene Schlucht lange Zeit ein Badeort. Bereits im Mittelalter wurden Kurgäste in Körben in die Schlucht hinabgelassen. Bis heute ist der spektakuläre Ort eine bedeutende Touristenattraktion, um die herum sich verschiedene Heil- und Kurorte angesiedelt haben.

Die neue Brücke »schwebt« rund 200 m über dieser Schlucht. Sie verbindet das Dorf Pfäfers, südlich der Tamina auf einem Bergvorsprung gelegen, mit der gegenüberliegenden Talseite. Dort liegt das Dorf Valens, in dem u. a. eines der führenden Rehabilitationszentren der Schweiz seinen Sitz hat. Das ­Taminatal reicht hoch bis zum Kunkelspass, der wiederum nach Tamins, wo sich Vorder- und Hinterrhein treffen, hinabführt. Für den allgemeinen Verkehr ist diese Route jedoch gesperrt und so dient die neue Brücke primär der Erschließung von Valens. Bisher erfolgte dessen Anbindung über eine Straße entlang der nördlichen Talflanke, die durch ein aktives Rutschgebiet führt. Sie musste in der Vergangenheit wiederholt kostspielig saniert werden und lässt sich fortan sicher umfahren.

Die angemessene Form

Für die Brücke, die langfristig wirtschaftlicher sein soll als die bisherige Erschließungslösung, führte das Tiefbauamt des Kantons St.Gallen 2007 einen öffentlichen Projektwettbewerb für Ingenieurarbeiten im einstufigen Verfahren durch. Die Aufgabe und die Lösungsvorschläge erhielten aufgrund der anspruchsvollen Ausgangslage und der Exponiertheit des Bauwerks beträchtliche Aufmerksamkeit. Dabei ging es nicht nur um die ingenieurtechnischen Entwurfsleistungen, sondern auch um die Angemessenheit der vorgeschlagenen Lösungen und nicht zuletzt um deren Umweltverträglichkeit. Von der neuen Brücke wurde erwartet, dass sie sich eingliedert.

Landschaftscharakter verändernde Bauten sollten vermieden werden, so forderte das Wettbewerbsprogramm.

Unter den 24 teils internationalen Projektteams befanden sich ganz unterschiedliche konstruktive Ansätze: Sprengwerke, Hänge- oder Schrägseil­brücken, Rahmen- oder Fachwerkkonstruktionen. Einige der teilnehmenden Tragwerksplaner zogen teils namhafte Architekturbüros hinzu. Die Jury entschied sich für den Entwurf einer Betonbogenbrücke der Ingenieure Leonhardt, Andrä und Partner aus Stuttgart, die den Entwurf als Ingenieure gänzlich ohne gestalterische Unterstützung von Architekten erarbeiteten. Bogenbrücken haben in den unwegsamen Nebentälern der Region Tradition: Im benachbarten Kanton Graubünden schrieb Ingenieur ­Robert Maillart 1930 mit der Salginatobelbrücke Weltbaugeschichte, auch der epochale Langwieser Viadukt für die Bahn von Chur nach Arosa, Jahrgang 1914, ist eine Betonbogenbrücke.

In einem Interview mit »tec21 Schweizerische Bauzeitung« erläuterte Mathis Grenacher, Ingenieur und Jurymitglied, die Nachteile der etwas weniger ­»traditionellen« Brückentypen gegenüber einer Bogenbrücke beim Einsatz an der Taminaschlucht: Man befürchtete etwa bei Kabel und Pylonen kost­spielige Verankerungs- respektive Standortslösungen. Auch bei der Ange­messenheit der zu präferierenden Brückentyps überzeugte die Bogenbrücke: »Die ­Taminaschlucht ist nicht der Ort für eine kleine Variante der Golden ­Gate Bridge«.

Monolithisch

Die nun realisierte Brücke ist asymmetrisch: ihr Bogen überwölbt die Schlucht zwar mit einer kontinuierlichen Krümmung, ihre beiden Kämpfer sind allerdings um 33 m in der Höhe versetzt angeordnet. Der Scheitel des ­Bogens, der weder Teil eines reinen Kreises noch einer Parabel ist, liegt zudem näher am Widerlager der Valenser Seite. Dadurch ist auf dieser Seite zwischen Kämpferpfeiler und Bogenscheitel lediglich ein Ständer für die Abstützung des Überbaus nötig, auf der anderen Seite jedoch zwei. Der Fahrbahnkörper hat eine durchschnittliche Steigung von 5 %. Er beginnt an seiner niedrigsten Stelle mit einer Rechtskrümmung am Abschnitt zwischen Widerlager und Kämpferpfeiler, führt dann gerade über die Schlucht und endet mit einer Linkskrümmung wiederum zwischen Kämpferpfeiler und Widerlager. Dank der zu den jeweiligen Hangseiten geneigt angeordneten Kämpferpfeiler kommen beide Vorlandbrücken ohne zusätzliche abstützende Bauteile aus. Zwischen den allesamt radial zum Bogen angeordneten Pfeilern und Ständern spannt der Hohlkastenträger der 9,5 m breiten Fahrbahn jeweils relativ weit (44,55-53 m). Die geringe Anzahl der Abstützungen des Überbaus, der ­statisch als Rahmenriegel funktioniert, war auch möglich, weil in ihm Spannglieder integriert wurden. Das Resultat ist eine einfache und zugleich prägnante Gesamtform, die aus keinem Blick­winkel als »Talsperre« wahrgenommen und in ihrer Funktion auf einen Blick verstanden wird.

Das Bild einer archaischen, vermeintlich einfachen Monumentalität passt ausgezeichnet zu der von den Bauherren gewünschten Robustheit. Dazu gehört auch die Forderung nach einem dauerhaften Bauwerk: Lager und Fahrbahnübergänge sind mögliche Schwachstellen; sie zu ersetzen ist teuer und so werden derzeit im Brückenbau möglichst monolithische Tragwerke angestrebt. Diesem zeitgemäßen Wunsch entspricht die Taminabrücke, die nahezu gänzlich monolithisch errichtet wurde, in hohem Maße. Lediglich die beiden Fahrbahnfugen verweisen auf die entkoppelte Bauweise von eigentlicher ­Brücke und Widerlagern.

Massgeschneidert

Brücken von dieser Spannweite sind immer Unikate, die auf spezifische ­topografische und geologische Bedingungen eingehen. Ein solches Projekt muss nicht bloß in sich stimmig sein und im Betrieb die gesetzten Erwar­tungen erfüllen, die Planer müssen sich auch detailliert damit auseinander­setzen, wie die Errichtung bewerkstelligt werden kann. Mehr als in der ­Architektur ist der konkrete Weg der Umsetzung ein wichtiger Entscheidungsfaktor bei Ingenieurbauwerken. So trug auch der von den Ingenieuren aus Stuttgart dargelegte geplante Bauablauf dazu bei, dass die Wahl auf ihren Entwurf fiel. Gegenüber der Wettbewerbsplanung wurde die Brücke lediglich auf der Seite von Valens noch ein wenig nach Süden verschoben, da der Untergrund dort eine höhere Stabilität aufweist.

Die Brücke wurde im Freivorbauverfahren mit temporären Abspannungen erstellt. Den Zuschlag dafür erhielt die »Arge Taminabrücke«, bestehend aus den Aktiengesellschaften Strabag, J. Erni und Meisterbau. Bietende Unter­nehmer hatten in der Ausschreibung die Möglichkeit, Alternativen zum vorgeschlagenen Bauverfahren der Planer zu entwickeln. Davon machte die Arge Gebrauch und konnte dadurch nach eigenen Aussagen die Bauzeit bei gleichwertiger Wirtschaftlichkeit von fünf auf vier Jahre verkürzen. Statt sich für ­eine serielle Baureihenfolge »Vorlandbrücke-Hilfspylon-Bogen« zu entscheiden, organisierte man die Bauarbeiten möglichst parallel zueinander.

Die Hilfspylone wurden bereits montiert, während man noch die Vorlandabschnitte mittels eines bodengestützten Traggerüsts schalte und armierte. Anstatt im Bereich des Bogens den Überbau im Freivorbau zu realisieren, entschied sich die Arge Taminabrücke für ein sich auf dem Bogen abstützendes Traggerüst. So konnte der Überbau im Wochentakt – anstatt der 5 m langen Freivorbauabschnitte – mit Abschnittslängen von 30 - 40 m schneller und wirtschaftlicher hergestellt werden.

Im Ergebnis zeigt sich die Taminabrücke als maßgeschneiderte Variante eines in der Region verankerten landschaftsverträglichen Brückentyps auf dem Stand der Technik und zeugt damit von der Ingenieurbaukunst ihrer Planer. Bei einer solch sensiblen Bauaufgabe kann so nicht nur mehr Akzeptanz für den Eingriff erzeugt werden, es könnte darüber hinaus ein neues Marken­zeichen für einen außergewöhnlichen historischen Ort entstanden sein.

db, So., 2017.04.30

30. April 2017 Manuel Pestalozzi



verknüpfte Bauwerke
Brücke über die Tamina Schlucht

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