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11. Dezember 2020Claas Gefroi
Bauwelt

Hoffnung in Flaschengrün

Das ehemalige Gelände der Holsten-Brauerei in Hamburg-Altona war jahrelang Objekt der Immobilienspekulation. Zwei Neubauten könnten nun die Entwicklung in Gang bringen. Vorerst entsteht Gewerbe, Wohnen muss folgen.

Das ehemalige Gelände der Holsten-Brauerei in Hamburg-Altona war jahrelang Objekt der Immobilienspekulation. Zwei Neubauten könnten nun die Entwicklung in Gang bringen. Vorerst entsteht Gewerbe, Wohnen muss folgen.

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Bauwelt 2020|25 Am Kö-Bogen II in Düsseldorf

29. Mai 2020Claas Gefroi
Bauwelt

Brecheisen in Hamburg

Die Deutsche Bahn und die Stadt Hamburg planen den Abriss der denkmalgeschützten Sternbrücke und den Ersatz durch einen überdimensionierten Neubau – ein gestalterischer Frevel und weit über Hamburg hinaus ein Mahnmal verfehlter Verkehrspolitik, die sich außerstande sieht, mit einer ortsbezogenen Stadtplanung und den Interessen der Bewohner zu kooperieren. Dass der kollosal-plumpe Ersatzbau zudem ohne Wettbewerb durchgeführt werden soll, ist ein Skandal.

Die Deutsche Bahn und die Stadt Hamburg planen den Abriss der denkmalgeschützten Sternbrücke und den Ersatz durch einen überdimensionierten Neubau – ein gestalterischer Frevel und weit über Hamburg hinaus ein Mahnmal verfehlter Verkehrspolitik, die sich außerstande sieht, mit einer ortsbezogenen Stadtplanung und den Interessen der Bewohner zu kooperieren. Dass der kollosal-plumpe Ersatzbau zudem ohne Wettbewerb durchgeführt werden soll, ist ein Skandal.

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Bauwelt 2020|11 Toulouse School of Economics

07. Mai 2020Claas Gefroi
db

Wogende Insel im ruhigen Fluss

Das einstige Hafengelände, auf dem die HafenCity weiterwächst, ist ein von Orthogonalität und Rationalität geprägter Ort. Ein neuer, in einem Hafenbecken als Halbinsel mit bewegter Topografie realisierter Park bildet nun innerhalb dieses von Funktionalität bestimmten Ordnungssystems einen markanten Kontrapunkt.

Das einstige Hafengelände, auf dem die HafenCity weiterwächst, ist ein von Orthogonalität und Rationalität geprägter Ort. Ein neuer, in einem Hafenbecken als Halbinsel mit bewegter Topografie realisierter Park bildet nun innerhalb dieses von Funktionalität bestimmten Ordnungssystems einen markanten Kontrapunkt.

Selbst unter den Hamburgern ist nur wenigen klar, auf welch geschichtlich bedeutsamem Terrain die HafenCity entstand. Das langgezogene Areal des Grasbrooks an der Norderelbe bildete einst den Auftakt für den modernen Hamburger Hafen. Ende der 1830er Jahre wurde der Hafen – damals noch aus wenigen Hafenbecken bestehend, in denen die Schiffe an Dalben festmachten – zu eng. Hafenbaudirektor Dalmann ließ, anders als beispielsweise in London mit den Dockhäfen, eine Reihe tideoffener Hafenbecken bauen: Sandtorhafen (1866), Magdeburger Hafen (1872), Grasbrookhafen (1876) und schließlich der Baakenhafen (1887), dem heutigen Standort des neuen Baakenparks.

Die Hafenbecken erhielten damals befestigte Uferkanten (Kais), an denen die Schiffe festmachen konnten. Die Verbringung der Güter in Schuppen erfolgte zeitsparend mit Dampfkränen. So verkürzten sich die Liegezeiten der Schiffe und Umschlagzeiten der Waren erheblich, was den Hamburger Hafen zu einem der schnellsten der Welt machte.

Stadt am Wasser

Etwas mehr als 100 Jahre später, in den 1990er Jahren, hatte sich das Bild stark gewandelt: Der einst moderne Hafen war unwichtig geworden, weil die Waren in Containern in den großen Terminals weiter westlich umgeschlagen wurden. Die Hafen- und Logistikwirtschaft trachtete danach, die Becken zu verfüllen um dort große Lagerhallen errichten zu können. Der Architekt Volkwin Marg (gmp Architekten von Gerkan, Marg und Partner) wollte das nicht akzeptieren und fand im Chef des städtischen Hafenkonzerns HHLA, Peter Dietrich, einen Partner. Beide wussten um die topografische und historische Bedeutung des Areals und die Lagegunst nahe der Hamburger Innenstadt. Sie überzeugten den damaligen Bürgermeister Henning Voscherau von der Notwendigkeit eines Erhalts und einer Umnutzung des Grasbrooks. Die Idee für eine Erweiterung der Innenstadt auf den ehemaligen Hafenflächen war geboren, die bedeutsamen Hafenbecken gerettet.

Eine zentrale Frage für den neuen Stadtteil war, wie dort Land und Wasser ineinandergreifen und die reizvolle Lage an der Elbe genutzt werden konnte. Dass die Hafenbecken tideoffen sind, hatte für die HafenCity wichtige Konsequenzen: Es gibt dort Ebbe und Flut und bei Sturmflut wurde das Gelände regelmäßig überschwemmt. Die Umnutzung des Hafenareals zu einem ­Stadtteil mit Wohn-, Büro- und Freizeitnutzungen machte deshalb einen besonderen Flutschutz notwendig: Man entschied sich für die Aufschüttung der Land­flächen um mehrere Meter auf sicheres Niveau – die sogenannte Warftenlösung. Zwar hatte man so ausreichend Distanz zum Wasser hergestellt, aber die (vertikale) Trennung zwischen Wasser und Land wurde zu einem gestalterischen Problem, sollte doch das Leben am Wasser zum größten Reiz des neuen Stadtteils werden. Bei Ebbe ist der Pegel so tief, dass das Wasser aus Fußgängerperspektive kaum sichtbar ist. Die Masterplaner (Kees Christiaanse und ASTOC) versuchten deshalb, den Niveauunterschied des Geländes zu vermitteln und zu nutzen: Die Kopfenden der großen Hafenbecken treppen sich von der neuen, höheren Ebene mittels breiter und langgezogener Terrassenanlagen hinab auf das alte Geländeniveau. Auf diesen Terrassen lässt es sich gut sitzen und flanieren, ebenso wie auf den seitlichen Uferpromenaden auf dem einstigen Geländeniveau. Im Sandtorhafenbecken wurde zudem eine Pontonanlage festgemacht, an der kleinere Museumsschiffe liegen. Im benachbarten Grasbrookhafen soll in Zukunft ein Segelboothafen entstehen.

Dennoch: Das Wasser erscheint in der HafenCity oftmals weit weg. So stand die Überlegung im Raum, in den neuen Vierteln rund um den Baakenhafen einen stärkeren Bezug zum Wasser herzustellen. Der städtebauliche Entwurf von APB Architekten sieht deshalb sechs im Hafenbecken stehende (noch nicht gebaute) »Wasserhäuser« vor. Und der wichtigste Bezugspunkt des Quartiers, ein Park für Sport, Spiel und Erholung, wurde gar als eine Halbinsel im Hafenbecken geplant. Dieser »Baakenpark« nach Plänen des Berliner Landschaftsarchitekturbüros Atelier Loidl wurde bereits eröffnet, während rundherum noch die Wohn- und Bürohäuser entstehen. Haben die Planer diese besondere Lage mit Gewinn nutzen können?

»Himmelsberg« und »Inselweg«

Um den Baakenpark erreichen zu können, muss man von der neu angelegten Baakenallee zunächst eine Treppenanlage herab auf das alte Geländeniveau steigen. Von dem dort liegenden Vorplatz aus präsentiert sich die Parkanlage recht unspektakulär mit sanft ansteigenden Grashügeln, auf denen Spiel- und Sportplatz liegen. Ein barrierefreier Pfad führt dann sacht hinauf ins ­bewegte Gelände. Es offenbart sich rasch, dass dies ein Rundweg ist, der zu den verschiedenen Attraktionen des Parks führt. Drei Plateaus besitzt die Anlage: im Westen der Sport- und Spielbereich, in der Mitte eine Spiel- und Liegewiese und schließlich im Osten der höchste Punkt: der sogenannte Himmelsberg. Er ist aus mehreren Schichten Elbsand aufgeschüttet worden, denen Geogitter Halt geben. Die drei steilen Seiten wurden mit Stahlgitterelementen versehen, auf denen dann Rasenmatten befestigt wurden, um den Hügel zu begrünen. Mit seinen 15 m Höhe ist er noch nicht einmal für Hamburger Verhältnisse ein Berg, aber der Steigungswinkel ist eindrucksvoll und macht das Erklimmen der rostroten stählernen Stufen zum Erlebnis. Das Aussichtsplateau ist bekrönt von einem hölzernen Sitz- und Liegemöbel, aus dem überraschenderweise zwei kleine Bäume wachsen, die im hier beständig wehenden Wind wohl kein ruhiges Leben haben werden.

Auf dem Plateau bietet sich ein schöner Blick nicht nur auf das werdende Quartier, sondern auch auf Bernhard Hermkes’ Großmarkthallen, die Elbbrücken und die Elbe. Von hier oben erschließt sich zudem der Zuschnitt der Park-Halbinsel: Mit ihren spitzen Winkeln erinnert die Grundform ein wenig an eine Bastion der längst geschliffenen barocken Befestigungsanlage Hamburgs. Die winkelförmige Figur setzt einen klaren Kontrapunkt zur ­Orthogonalität des Baakenhafens. Erkennbar wird auch, wie weit die Anlage in das Hafenbecken ragt und es dadurch einschnürt. Vom östlichen Kopfende aus gesehen wird so die Gesamtansicht des Baakenhafens verstellt, was ­bedauerlich ist.

Volles Programm

Der »Inselweg« durch den Park führt dann mit mehreren Knicken und Wendungen weiter entlang von Sitzstufen, Schaukeln, Fitnessbereich und Liegewiese schließlich zum Spielbereich und dem Sportplatz: Hier haben die Planer ein wildes und kurzweiliges Ensemble von schräg eingegrabenen Holzmöbeln geschaffen: Spiel- und Kletterhäuser oder der Mannschaftsunterstand des Sportfelds wirken wie über Bord gegangene und an den Elbstrand gespülte Kisten. Dazu passt eine Kletterlandschaft aus ineinander gekeilten Holz­pfählen und Netzen.

Hier wurde viel gewollt und auch erreicht – was 2019 mit dem Deutschen Landschaftsarchitekturpreis honoriert wurde. Bemerkenswert gelungen ist der Ansatz, dem orthogonal und horizontal geprägten Gelände eine komplexere Geometrie und die dritte Dimension hinzuzufügen. Auch Details ­bestechen: die Auswahl und Zusammenstellung der Pflanzen und Materialien, die Originalität der eigens ­geschaffen Möbel und Geräte. Doch all das zusammen ist schon fast eine Reizüberflutung: Auf dem Rundweg durch den nur 1,6 ha großen Park fühlte sich der Rezensent ein wenig wie Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer auf ihrer Fahrt über die winzige Insel Lummerland. Es geschieht unglaublich viel auf engstem Raum, das Auge findet kaum Ruhe. Diese extreme räumliche, funktionale und optische Verdichtung dürfte nicht jedem gefallen. Es ist dies ein Park für eine eher junge Generation, die in ständiger Aktion ist und visuelle und haptische Reize sucht. Ob sich die Nähe von Sport-, Spiel- und Ruhebereichen in der Praxis bewährt, wird die Zeit zeigen. Man hätte sich gewünscht, dass dieser ambitionierte und hochspannende Park doppelt so groß geworden wäre, sodass er nicht nur ins Wasser, sondern auch ins Land wachsen würde. Dadurch wäre das Programm etwas mehr verteilt und der Park auch landseitig stärker sichtbar geworden. Das aber, ist zu vermuten, vertrug sich nicht mit dem Streben der Stadt, die Landflächen zu verkaufen. Schade: Mehr wäre hier mehr gewesen.

db, Do., 2020.05.07



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db 2020|05 Potenzial Topografie

16. September 2019Claas Gefroi
db

Hamburger Understatement

Mit dem Fall der Zollgrenze im Hamburger Hafen verloren auch die historischen Zollämter in der Speicherstadt ihre Funktion. Das ehemalige »Hauptzollgebäude« gleich gegenüber der Altstadt wurde von den Architekten BIWERMAU zum zeitgemäßen Bürogebäude auf eine derart nobel-zurückhaltende Art und Weise umgebaut, wie sie hamburgischer nicht sein könnte.

Mit dem Fall der Zollgrenze im Hamburger Hafen verloren auch die historischen Zollämter in der Speicherstadt ihre Funktion. Das ehemalige »Hauptzollgebäude« gleich gegenüber der Altstadt wurde von den Architekten BIWERMAU zum zeitgemäßen Bürogebäude auf eine derart nobel-zurückhaltende Art und Weise umgebaut, wie sie hamburgischer nicht sein könnte.

Nirgends sonst hat sich die Handels- und Kaufmannsstadt Hamburg so eindrucksvoll materialisiert wie in der Speicherstadt – ein bis heute einzigartiger Komplex von Lagerhäusern, der sich südlich der Innenstadt wie ein langes rotes Band zwischen Norderelbe und Zollkanal entlangzieht. Errichtet einst, weil die Stadt, bis dahin vollständig zollfrei, 1888 ins deutsche Zollgebiet eingegliedert wurde. Hamburg konnte dem Reich jedoch abringen, dass ein Großteil des Hafens eine zollfreie Enklave blieb. So wurde der Hafen mit einem Zaun umhegt und der bisher fließende Übergang zwischen Stadt und Hafen durch eine scharfe, mit Zollstationen gespickte Grenze ersetzt. Ein Großteil der Lagerhäuser stand nun im Zollinland. Für sie musste im Freihafen Ersatz geschaffen werden, und das möglichst nahe der Kontore der Kaufleute in der Innenstadt. So wurden auf den Brookinseln die alten Wohnquartiere abgerissen und von 1885 bis 1913 auf 26 ha Fläche der weltweit größte Speicherhauskomplex errichtet.

Zurück zu den Wurzeln

Der Warenumschlag in diesem Teil des Hafens rund um Sandtor-, Grasbrook- und Magdeburger Hafen sowie in der Speicherstadt florierte in den Jahren zwischen den Weltkriegen und auch nach dem Zweiten Weltkrieg in rasch wiederaufgebauten Schuppen und Lagerhäusern. Doch seit den 70er Jahren verringerte sich der Handel hier dramatisch, weil der bisherige Stückgut- durch den Container-Transport verdrängt wurde. Die Kaffee-, Tee- und ­Gewürzhändler in den Speichern wanderten ab und wurden durch Kreativagenturen, Webdesigner und Museen ersetzt. Mit den Planungen für die HafenCity ­wurde die Zollgrenze 2003 schließlich aufgehoben. Welche Bedeutung der Freihafenstatus hatte, lässt sich jedoch bis heute nicht nur an erhaltenen Zollwärterhäuschen und Resten des Zollzauns erkennen, sondern auch an den eindrucksvollen Verwaltungs- und Abfertigungsgebäuden des Zolls in der Speicherstadt. Wie die Speicher selbst verloren auch sie peu à peu ihre Funktion und wurden umgenutzt. Das ehemalige Zollabfertigungsgebäude am Wandrahm beispielsweise wurde zum Deutschen Zollmuseum umgebaut. Das benachbarte, ebenfalls am Zollkanal gelegene Zollgebäude 2 wurde von der städtischen Hafengesellschaft HHLA mit einem Nutzungsrecht bis 2089 an die maxingvest AG vermietet – der noch heute vollständig im Besitz der Familie Herz befindlichen Dachgesellschaft der Tchibo und Beiersdorf AG. Für das Unternehmen war die Anmietung eine Rückkehr zu den Wurzeln, denn in der Speicherstadt eröffnete einst der Tchibo-Gründer Max Herz sein erstes Kontor.

Modifiziert wiederhergestellt

Für die neue Nutzung als Unternehmenszentrale musste das denkmalgeschützte Gebäude umfangreich umgebaut werden – hier war dies ein Glücksfall, weil der Bau sich in keinem guten Zustand befand. Im Zweiten Weltkrieg durch Bombentreffer stark beschädigt, wurde er unter Verlust zahlreicher ­architektonischer Details in den 60er Jahren wiederhergestellt. Dort, wo sich einst eine abwechslungsreiche Dachlandschaft mit Steildächern, Türmchen und Dachgauben erhob, wurde ein schmuckloses, flach eingedecktes Büro­geschoss aufgesetzt. Die alten vielgliedrigen Fenster wurden durch stark vereinfachte Varianten ersetzt und im EG gar eine Tordurchfahrt für LKW durch das Gebäude getrieben. Im Innern war durch die Aufteilung der einstigen Kontorräume in Einzelbüros von der historischen Substanz fast nichts mehr zu sehen. Die direktbeauftragten Architekten BIWERMAU ließen, in Ab­sprache mit dem Denkmalschutz, also zunächst einmal all die hinzugefügten Wände, Decken und Bekleidungen entfernen. Zum Vorschein kamen preußische Kappendecken, Fliesen-, Holz- und Granitböden, gusseiserne Stützen und in den Treppenhäusern sogar noch historische Wandbemalungen.

Beim Umbau galt die Maxime, sich wo immer möglich dem historischen Bild anzunähern, die Eingriffe der Nachkriegszeit jedoch nicht vollständig auszulöschen. Zudem sollten alle neuen Zutaten als solche ablesbar bleiben. Man kann dies exemplarisch an der Tordurchfahrt sehen: Sie wurde geschlossen und im Innern ein neues zentrales Foyer geschaffen. Die Eingänge an den Stirnseiten des Gebäudes wurden dafür aufgegeben. Im Innern der neuen Eingangshalle sind die Betonbügel der 60er Jahre noch sichtbar, außen hingegen wurden sie von einer neuen Backsteinschicht verhüllt. Diese Schicht aus Wasserstrich-Klinkern springt nicht nur vor, sondern setzt sich auch farblich etwas von den alten Ziegeln ab. Die Fugenfarbe orientiert sich am Bestand, die neuen Fugen jedoch liegen etwas tiefer als die historischen. Den Architekten war es zudem wichtig, dass alte und neue Steine nicht direkt aufeinandertreffen – so wurden in die Ecken des Vorbaus als optische Trennung vertikale ­Fugen vorgesehen, in denen die Fallrohre Platz finden. Die neue Eingangsfront wird zudem durch Pilaster gegliedert, die wohltuend die Vertikalität der alten Fassade aufnehmen.

Das DG von 1967 wurde entfernt und durch ein neues 3. OG ersetzt, dessen sehr enge Fensterachsen von außen eher den Eindruck eines Zierbands als das eines Vollgeschosses erwecken. Darüber schließlich erwächst eine neue, am historischen Vorbild orientierte, steile, kupfergedeckte Dachlandschaft. Lediglich ein Turm in der Dachmitte wurde zugunsten eines Oberlichts weggelassen und statt der einst kleinen sind nun große Dachgauben eingebaut, die viel Licht in das DG lassen. Da das Steildach sich über dem neuen 3. OG erhebt, ist der Bau heute höher als zu seiner Fertigstellung im Jahre 1899, was seinen Proportionen jedoch durchaus zum Vorteil gereicht. Auch weil die alten Ziegelfassaden nur vorsichtig ausgebessert und gereinigt wurden, alte Holzfenster aufgearbeitet und Nachkriegs-Fenster durch solche mit schmalen Stahlrahmen ersetzt wurden, erscheint der Umbau so dezent und selbstverständlich, dass man ihn überhaupt erst bei bewusster Betrachtung bemerkt. Das passt bestens zu den überaus zurückhaltenden Bauherren.

Nah am Wasser

Betritt man das Gebäude durch die neuen gläsernen Eingangstüren, muss man zunächst eine Wand umrunden. In der Halle angekommen erkennt man, dass dies die Rückwand des neuen Fahrstuhlschachts ist. Dessen Beton­oberflächen verbinden sich gut mit den ebenfalls betonierten alten Kappendecken und den Betonbügeln der Tordurchfahrt. Die wenigen weiteren neuen Zutaten sind der Belgisch-Granit-Boden und der hölzerne Empfangstresen. Das Foyer liegt, bedingt durch den einstigen Umbau für die Tordurchfahrt, ebenerdig und damit tiefer als das restliche EG. Da das Gebäude wie die ganze Speicherstadt im Überflutungsbereich der Elbe steht (weshalb sich auch eine Umnutzung für Wohnzwecke verbot), musste dieser Bereich gesondert geschützt werden: Vor den Glaselementen des Foyers liegen, hinter Metallblenden der Fensterlaibungen verborgen, die Führungsschienen für eine Dammbalkenanlage, in die bei Sturmflut die Schutzbalken eingeschoben werden. Über einige Stufen geht es dann hinauf in den östlichen bzw. westlichen Bereich des EG, in dem früher die Zollabfertigung und die Kassen lagen, und in denen heute u. a. ein Café seinen Platz gefunden hat.

Die drei OGs sind jeweils unterschiedlich ausgebaut: Es gibt Bereiche mit Einzel-, Gruppen- und Großraumbüros. Längs durch alle Etagen führen jeweils mittig angeordnete, mitunter recht schmale Flure, die die Büros mit dem zentralen Aufzug und den an den Gebäudeenden liegenden Nebenräumen und historischen Treppenhäusern verbinden. Es gibt in den Büros viele Einbauschränke und -regale entlang der Wände und Fensterbrüstungen und auch die Flurwände werden als Regal- und Schrankräume genutzt. Die ungemein platzsparende Bauweise, die in ­ihrer Effizienz fast schon an das Interieur von Schiffen oder Eisenbahnwaggons erinnert, war notwendig, weil das Gebäude aufgrund seiner einstigen Kontorhaus-Struktur über eine nur sehr geringe Tiefe verfügte. Die neue Innenarchitektur ist puristisch und streng: Als Materialien wurden nur Stahl, Glas, Holz und Putz verwendet. Als großes Glück erwies sich die solide Bauweise des Altbaus: Die massiven Außenwände sind so dick, dass keinerlei zusätzliche Dämmung notwendig war. Auch auf künstliche Belüftung und Klimatisierung konnte verzichtet werden und eine Fußbodenheizung sorgt bei Bedarf für Wärme. Das neue DG schließlich ist noch nicht ausgebaut, steht als Erweiterungsfläche jedoch parat. Die dortigen Räume an den Stirnseiten des Gebäudes mit ihrer Rundum-Befensterung lassen den Blick herrlich schweifen, über die Altstadt mit ihren Kirchtürmen, die HafenCity und die Elbphilharmonie. Dass Eigentümer und Vorstand sich hier keine repräsentativen Büros eingerichtet haben, ist eigentlich nicht zu erklären – außer mit Hamburger Understatement.

db, Mo., 2019.09.16



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db 2019|09 Im Norden

12. Januar 2018Claas Gefroi
Bauwelt

Mit dem Wachstumsdruck verändert sich auch das Gerüst der Stadt

Franz-Josef Höing ist Hamburgs neuer Oberbaudirektor. Wir haben ihn gebeten, sich noch „im Sprung“ von Köln nach Hamburg über die künftige Planung in der Elb­metropole Gedanken zu machen.

Franz-Josef Höing ist Hamburgs neuer Oberbaudirektor. Wir haben ihn gebeten, sich noch „im Sprung“ von Köln nach Hamburg über die künftige Planung in der Elb­metropole Gedanken zu machen.

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Bauwelt 2018|01 Ambitionen auf schwierigem Terrain

30. April 2017Claas Gefroi
db

Ein verborgenes Kunststück

Die Elbphilharmonie ist ein Raumkunstwerk, dessen ­unwiderstehliche Wirkung zahlreichen baukünstlerischen Setzungen zuzuschreiben ist. Weitgehend verborgen blieb der Öffentlichkeit, dass nur durch die enge ­Zusammenarbeit zwischen den Architekten Herzog & de Meuron und dem Ingenieurbüro Schnetzer Puskas ein einzigartiges Tragwerk geschaffen werden konnte, das die hohen gestalterischen Ansprüche und komplexen funktionalen Erfordernisse gleichermaßen bewältigt.

Die Elbphilharmonie ist ein Raumkunstwerk, dessen ­unwiderstehliche Wirkung zahlreichen baukünstlerischen Setzungen zuzuschreiben ist. Weitgehend verborgen blieb der Öffentlichkeit, dass nur durch die enge ­Zusammenarbeit zwischen den Architekten Herzog & de Meuron und dem Ingenieurbüro Schnetzer Puskas ein einzigartiges Tragwerk geschaffen werden konnte, das die hohen gestalterischen Ansprüche und komplexen funktionalen Erfordernisse gleichermaßen bewältigt.

Als die Architekten Herzog & de Meuron im Jahr 2003 erste Pläne für die Elbphilharmonie der Öffentlichkeit präsentierten, da war dies ein anderes Projekt als das Gebäude, das im Januar 2017 schlussendlich eröffnet wurde. Die Initiatoren, der Projektentwickler Alexander Gérard und seine Ehefrau, die Kunsthistorikerin Jana Marko, hatten eine klare, simple Idee: Das seit vielen Jahren leer stehende Lagerhaus Kaispeicher A, 1966 nach Plänen von Werner Kallmorgen fertiggestellt, sollte zu einem weithin leuchtenden Ort der Musikkultur werden.

Hierfür bildet der zum Parkhaus umgenutzte Speicher die ­Basis, auf dem ein hoher, gläserner Aufbau für ein Konzerthaus thront. Zur Finanzierung des Projekts sollte der Aufsatz mit kommerziellen Nutzungen wie einem Hotel und Wohnungen angereichert werden. Bei der ursprüng­lichen Planung galt, so Gérard, der Grundsatz, dass nur so viele neue Lasten auf den Kaispeicher aufgesattelt würden, wie vorher in ihm lagerten, um eine aufwendige und kostenträchtige Verstärkung des Tragwerks zu vermeiden und den Erhalt des Speichers zu gewährleisten. Doch die Stadt Hamburg, die die Investoren 2004 aus dem Architektenvertrag herauskaufte, um das Projekt in Eigenregie zu realisieren, vergrößerte aus kaufmännischen Erwägungen den kommerziellen Mantel erheblich. Laut Gérard hatte sich die zu bauende ­Fläche innerhalb kurzer Zeit um satte 43 % vergrößert.

Mit den Flächen wuchsen die Lasten. Nun war der Kaispeicher A, seiner traditionellen Backsteinummantelung zum Trotz, im Innern ein sehr effizienter Stahlbetonskelettbau, dessen Tragwerk für Lasten von immerhin 2 t/m² ausgelegt war. Doch er hätte nun das Doppelte – circa 200 000 t wiegt das verwirklichte Projekt – stemmen müssen, zu viel für den Nachkriegsbau. Weitere Gründe für die Entkernung: Um die von der Stadt gewünschten zusätzlichen Nutzflächen bei gleichbleibender Gebäudehöhe unterzubringen, mussten die Geschosshöhen im Speicher verringert werden. Die städtische Seite argumentiert anders: Es habe sich herausgestellt, dass das Stützenraster von 4 x 5,50 m zu eng für ein zeitgemäßes Parkhaus sei. Zudem sei der Hochwasserschutz bei Sturmfluten sowie der Anprallschutz bei Schiffshavarien nicht gewährleistet und hätte nur unter größten Anstrengungen nachgerüstet werden können.

Speicher wird Fassade

Was immer den Ausschlag gab: Der Speicher musste, wenngleich ein Denkmal, vollständig entkernt werden. Doch das Ingenieurbüro Schnetzer Puskas International aus Basel, das für die Planung des Tragwerks zuständig war, hat schon oft mit Herzog & de Meuron zusammengearbeitet und ist Herausforderungen gewohnt. Entscheidend für das Gelingen dieses im Verlauf der ­Planung immer üppiger werdenden Baus war, dass die Ingenieure von Beginn, also von den ersten Skizzen an, dabei waren und das Tragwerk so in enger Zusammenarbeit zwischen Architekten und Ingenieuren entstehen konnte. Für den radikalen Umbau des alten Kaispeichers wurden Rohwer ­Ingenieure hinzugezogen. Als erste Maßnahme wurden die Außenwände durch eine umlaufende Stahlkonstruktion gesichert, die aus Gerüsttürmen und daran angeschlossenen horizontalen Gurten bestand.

Nun konnten die alten Decken vorsichtig im Sägeverfahren bündig zur Innenwandoberfläche abgetrennt werden. Danach ging es an die Fundamente: Man fand 1 111 Ortbeton-Ramm­pfähle vor, 50 cm dick, zwischen 15 und 19 m lang. Sie besaßen eine 30-40 % höhere Tragfähigkeit als bei der Gründung. Das erstaun­liche Phänomen resultiert aus mehreren Gründen – der wichtigste war die durch die beständige Tidenströmung und das große Pfahlvolumen verursachte Verdichtung des Sandbodens. Dennoch wurden zusätzliche 620 Teilverdrängungspfähle gesetzt, die nun, gemeinsam mit den über ein halbes Jahrhundert alten Pfählen, die neue Lastenverteilplatte tragen. Die neuen Etagendecken im Bereich des Speichers wurden über Auflagertaschen an das Mauerwerk angeschlossen – nicht jedoch auf der Ostseite: Der dortige neue Haupteingang ins Gebäude wurde von Herzog & de Meuron als fast 60 m breiter horizontaler Schlitz geplant, der nicht durch Stützen unterbrochen werden sollte. Ein gestalterischer Einfall, der großen konstruktiven Aufwand nach sich zog: So wurden die Lasten der Backsteinfassade mittels einer konstruktiven Verdübelung in einen gewaltigen, 4,30 m hohen Abfangträger an der Innenseite der Außenwand geleitet. Ansonsten werden Nutz und Eigenlasten, die entlang der Bestandsfassaden anfallen, über neue Stahlbeton­stützen und über deckengleiche Unterzüge auf der Fassadeninnenseite abgeleitet. Da vom Denkmal Kaispeicher A nichts als seine Außenmauern blieb, war deren Sanierung und Erhaltung von essenzieller Bedeutung.

So wurde bereits 2007 in Untersuchungen der zweischaligen Konstruktion ermittelt, dass die Vormauerung keine ausreichende Schlagregendichtigkeit besaß. Zum Schutz gegen den Hamburg-typischen Schlagregen wurde das Mauerwerk deshalb hydrophob imprägniert.

Durch den Einsatz einer kapillar­aktiven Calciumsilikat-Innendämmung konnte ein großer Teil der über die Jahre eingedrungenen Feuchte im Mauerwerk zunächst verbleiben, um dann allmählich abzutrocknen.

Wie ein Schiff im Dock

Das große gestalterische, auch die Tragwerksplanung bestimmende Thema der Elbphilharmonie war, wie man einen komplizierten Nutzungsmix und v. a. einen großen Konzertsaal für 2 150 Zuhörer auf einer bedingt durch den Zuschnitt des alten Lagerhauses – relativ kleinen und trapezförmigen Grundfläche unterbringt. Die Elbphilharmonie ist mit einer Höhe von 79,10 – 110 m ein veritables Hochhaus, doch anders als im Hochhausbau üblich, konnte in großen Teilen der Konstruktion kein Tragwerk mit kurzen und regelmäßigen Stützenabständen für eine gleichmäßige Lastabtragung realisiert werden.

Stattdessen führten besonders die beiden Konzertsäle zu einer uneinheitlichen Lastverteilung im Gebäude. Können die horizontalen Lasten ganz konventionell überwiegend von den drei Treppenhauskernen aufgenommen werden, sind für die Abtragung der Vertikallasten neben regelmäßig platzierte Außenstützen auch unregelmäßig angeordnete Innenstützen erforderlich.

Trotz der ungleichen Lastverteilung musste sich das Stützenraster des Neubaus am weiterhin relevanten Raster des Speicherfundaments orientieren. Gerade jedoch der Große Saal für 2 150 Besucher negiert mit seinen Ausmaßen dieses Prinzip und wurde – auch zur akustischen Entkoppelung vom restlichen Gebäude – als eigenständiger Baukörper geplant: ein 12 500 t schweres »Ei«, das zwischen den Geschossdecken der Wohn- und Hotelnutzungen liegt und in Querrichtung zugleich bis an die Nord- und Südfassade ragt.

Seine Last wird zum überwiegenden Teil von acht großen, schräg gestellten Stützen abgeführt. Die Schrägstellung ist nicht, wie man vermuten könnte, architektonische Spielerei, sondern dient dem Zweck, die Lasten auf die vorgegebenen Fundamente hinzuführen. Die extreme räumliche Nähe des Konzertsaals zu Wohn- und Hotelräumen erforderte eine strikte akustische Trennung ­zwischen den Bereichen: So wurden die Wände des Konzertsaals doppelschalig als Box-in-Box-Konstruktion mit einem Zwischenraum ausgeführt – eine ­Lösung, die der hinzugezogene japanische Starakustiker Yasuhisa Toyota als unabdingbar erachtete. Die Raumgeometrie des Großen Saals ist dabei überaus diffizil und war eine Herausforderung nicht nur bei der Planung, sondern auch beim Bau: Obwohl sich in manchen Bereichen Außen- und Innenschale bis auf wenige Zentimeter nahe kommen, dürfen sie sich dennoch an keinem Punkt berühren, um die gefürchteten Schallübertragungen zu vermeiden. Die Saalhülle teilt sich dabei nicht nur in eine innere und äußere Schale auf, ihre beiden Schichten sind jeweils auch noch in einen »Topf« und ein darüber liegendes Dach aufgeteilt.

Die Tragwerksplaner haben für den Saal das anschauliche Bild eines Schiffs im Trockendock gefunden. Die Außenschale besteht aus einer 20 – 40 cm dicken Betonschale, dem Rumpf, an dessen Innenseite wie Spanten Betonrippen angebracht sind, die rechtwinklig zu den Längsfassaden ausgerichtet sind und sich unten im Kiel, der den Hauptträger der Schale bildet, treffen. An den kürzeren Querfassaden fächern sich die Rippen vom Kiel ausgehend strahlenförmig auf. In den Betonkessel wurde das stählerne, insgesamt 1 168 t wiegende Traggerüst der inneren Schale montiert. Man wählte Stahl zum einen, um in der weitgehend geschlossenen Betonschale überhaupt noch eine zweite Konstruktion einbringen zu können, und zum anderen, um das Gewicht nicht über Gebühr zu erhöhen: Die Fundamente, die bereits gelegt wurden, als der Philharmonie-Aufbau noch gar nicht fertig geplant war, setzten klare Grenzen. Um die akustische Trennung zu gewährleisten, wurde die innere mit der äußeren Schale über 342 Stahlfederpakete im Topf und 34 im Dach verbunden.

Doch der Vorteil der akustischen Abschirmung barg auch ­einen Nachteil: Der auf Federn ruhende Saal bildet ein Masse-Feder-System, das sich über die auskragenden Zuschauerbalkone leicht zum Schwingen anregen lässt. Mit einer Abstimmung der ­Federpakete auf eine optimierte Frequenz und der entsprechenden Steifigkeitsverteilung in der Stahlkonstruktion sowie zusätzlichen Schwingungs­tilgern im Bereich der Brüstungen konnte eine entsprechend optimale Konstruktion gefunden werden.

Höchstmass an Komplexität

Die Dachkonstruktion des Konzertsaals musste eine Weite von 50 m stützenfrei überwinden. Die Dach-Außenschale besteht aus einem 600 t wiegenden, sich von 72,5 m auf bis zu 91,5 m Höhe aufschwingenden Stahlverbund-Raumfachwerk, dessen Höhe zwischen zwei und neun Metern schwankt, und einer darauf aufgelagerten 20 cm dicken Betonschale. Diese gewaltige Konstruktion muss immense Lasten aufnehmen: nicht nur die der inneren Dachschale, die auf ihrer Oberseite fünf Schichten Spritzbeton aufweist und über Hänger und Federpakete mitsamt der sogenannten Weißen Haut darunter daran aufgehängt wurde, sondern auch die der zwischen Saal- und Gebäudedach angeordneten Technikebene. Letztere allein wiegt mit 8 000 t so viel wie 14 A380-Flugzeuge.

Dimensionierung und Lage der völlig unterschiedlichen Dach­segmente von innerer und äußerer Schale wurden mittels komplexer 3D-­Modelle der Architekten sowie der Tragwerksplaner bestimmt. Weil die Montagekräne maximal 12 t heben konnten, die Stahlträger des äußeren Schalendachs jedoch bis zu 40 t wiegen, mussten sie in zwei oder drei Montage­abschnitte unterteilt werden.

Auch die weiteren Bereiche des Dachs, das aus insgesamt acht ineinander geschnittenen Kugelteilflächen besteht, wurden als Stahltragwerk ausgeführt. Schnetzer Puskas planten hierfür ursprünglich eine Stahlrohr-Konstruktion, doch die für den Stahlbau engagierte Firma Spannverbund hielt dies für nicht realisierbar, weshalb man sich auf eine Träger-Lösung einigte. Jeder der insgesamt 1 000 geschweißten Doppel-T-Blechträger ist aufgrund der notwendigen komplizierten Geometrien und zahlloser unterschiedlicher Krümmungen ein Unikat, und nirgendwo half ein ordnendes Raster bei der Montage. Besonders die Dachrandträger sind an Komplexität nicht mehr zu überbieten: einer bringt es auf über 1 000 Stahlbaupositionen, dokumentiert auf fünf DIN A0-Plänen. In diesem Zusammenhang singen die Schweizer Ingenieure auch ein Loblied auf die deutsche Bauverwaltung: Nur weil der Prüfingenieur und das Bauamt Vorschriften nicht dogmatisch gesehen, sondern pragmatisch und mit Augenmaß auslegten, habe die Elbphilharmonie letztlich überhaupt realisiert werden können.

Kraftfluss über Umwege

Eine der zentralen gestalterischen Maximen für die Außenwirkung der Elbphilharmonie ist die klare Trennung zwischen dem steinernen alten Sockelbau und dem gläsernen neuen Aufbau, der gleichsam zu schweben scheint. Auf der einstigen Dachebene des Kaispeichers, in 38 m Höhe, befindet sich heute die jedermann offenstehende Plaza mit ihrer umlaufenden Galerie. Sie sollte als durchgehende Fuge in Erscheinung treten, die nicht durch äußere Stützen unterbrochen wird. Obwohl das Gewicht der riesigen Glaselemente des Aufbaus immens ist, wurde also auf eine außenliegende Stützenreihe auf der Plaza-Ebene verzichtet, was bedeutete, dass die Vertikalkräfte einen Umweg ins Innere nehmen mussten.

Sie werden über drei Stockwerke hinweg mittels schräger Stahlverbundstützen von der Fassadenebene in die nächste Stützenreihe hinter der Fassade geleitet. Die Deckenränder dieser drei Stockwerke wiederum sind von oben abgehängt. Um den größeren stützenfreien Eckbereich an der sich 110 m hoch auftürmenden Westseite zu ermöglichen, wurde hier noch zusätzlich zu dieser Konstruktion ein um die Gebäudeecke geführter geschosshoher Fachwerkträger in der Fassadenebene der Etage über der Plaza-Ebene eingebaut. Skulptural ausgeformte Räume, schräggestellte Stützen, elegant sich aufwärts schraubende Treppenanlagen, eine durchlaufende Plaza-Fuge und die kühne Dachlandschaft schlugen als komplexe Konstruktionen in den Kosten zu Buche. Doch dies, wie verschiedentlich geschehen, zu kritisieren heißt, das Projekt Elbphilharmonie insgesamt infrage zu stellen. Gewiss, nicht bei jedem Bauwerk sind solche Maßnahmen gerechtfertigt. Aber hier, bei diesem für die Stadt Hamburg so eminent wichtigen Haus, ist der Einsatz angemessen.

Ganz richtig sagte Jacques Herzog in einem Interview, dass die Verführungskraft und Schönheit von Architektur wichtig bleibe, weil die Poesie den Menschen offen macht, freier zu denken und wahrzunehmen. Die Schönheit der Elbphilharmonie entspringt nicht dem Einfachen, Klaren, Eindeutigen, sondern dem Komplexen, Uneindeutigen, Unsichtbaren: Wie schon bei früheren Projekten von Herzog & de Meuron wie dem »Vogelnest« oder der Allianz-Arena wird auch die Konstruktion der Elbphilharmonie verunklärt oder verborgen und wird dadurch umso präsenter. Man spürt eine physische ­Präsenz, ohne sie unmittelbar sehen zu können. Das Unmerkliche ist oftmals eindrücklicher als das Offensichtliche. Dazu befragt, vergleicht Heinrich Schnetzer von Schnetzer Puskas International dies mit dem Konzept des ­»sotto voce« in Musik und Literatur – also einer Betonung gerade nicht durch Auftrumpfen und große Lautstärke, sondern durch Dämpfung, Zurückhaltung, Flüstern. Es ist kein Wunder, dass Herzog & de Meuron bei der ­Elbphilharmonie mit Schnetzer Puskas International zusammengearbeitet ­haben: Ohne Tragwerksplaner mit solch feinem ästhetischen Gespür wäre die Elbphilharmonie nicht zu dem Meisterwerk geworden, das sie heute ­unzweifelhaft ist.

db, So., 2017.04.30



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db 2017|05 Ingenieur Baukunst

01. März 2017Claas Gefroi
db

Viele Farben weiß

Viel, fast zu viel ist bereits über die Elbphilharmonie geschrieben worden. Nun, da der immense Strom von Metaphern, Hymnen und Superlative langsam abebbt, ist die Zeit gekommen, sich eingehender und differenzierter mit diesem »Jahrhundertbauwerk« zu beschäftigen. Natürlich: Dieser für Hamburg so bedeutende Bau lädt mit seinem Reichtum an Formen und Materialien, seinen Rauminszenierungen und seiner Melange aus Alt und Neu zu Interpretationen und Assoziationen ein wie kaum ein anderes Gebäude unserer Zeit. Doch spannender als die Klärung der Frage, ob die Elbphilharmonie nun ein Wellenmeer, ein Segelschiff oder ein Eisberg sei, ist es, zu ergründen, mit welchen Mitteln die ­Architekten die besondere Wirkung des Bauwerks erzeugten.

Viel, fast zu viel ist bereits über die Elbphilharmonie geschrieben worden. Nun, da der immense Strom von Metaphern, Hymnen und Superlative langsam abebbt, ist die Zeit gekommen, sich eingehender und differenzierter mit diesem »Jahrhundertbauwerk« zu beschäftigen. Natürlich: Dieser für Hamburg so bedeutende Bau lädt mit seinem Reichtum an Formen und Materialien, seinen Rauminszenierungen und seiner Melange aus Alt und Neu zu Interpretationen und Assoziationen ein wie kaum ein anderes Gebäude unserer Zeit. Doch spannender als die Klärung der Frage, ob die Elbphilharmonie nun ein Wellenmeer, ein Segelschiff oder ein Eisberg sei, ist es, zu ergründen, mit welchen Mitteln die ­Architekten die besondere Wirkung des Bauwerks erzeugten.

Die enorme Kraft und suggestive Wirkung, die die Elbphilharmonie erzeugt, steht in einem interessanten Kontrast zu einem sich stetig verändernden Äußeren: Je nach Standpunkt, Tageszeit und Wetter erscheint der gläserne Körper über den alten Backsteinwänden des einstigen Kaispeichers A weiß, grau oder blau und schließlich, wenn die Abendsonne ihn bescheint, goldglänzend. Mal wirken die enormen Glaswände stumpf und matt, dann wieder spiegelnd und glitzernd. Und schließlich sind die großen Flächen auch noch differenziert in hell erscheinende Flächen, in denen, wie Fettaugen in einer Brühe, rundliche dunkle Flecken schwimmen. Diese Wirkung ist der speziellen Herstellung der Scheiben zu verdanken: Jedes der insgesamt 1 089 einschaligen, jeweils fünf Zentimeter dicken Fassadenelemente besitzt eine individuelle Bedruckung aus grauen Punkten für den Sonnenschutz und silbernen Chrompunkten für einen Spiegeleffekt an der Außenseite. Und schließlich sind da noch die Wölbungen der Gläser. Für seitlich angebrachte Lüftungsöffnungen sowie für Balkonbrüstungen stülpen sich zahlreiche Gläser nach außen wie die Kiemen eines Fischs. Diese gebogenen Bereiche reflektieren den Himmel und setzen so weiß strahlende Akzente.

Jeder Besucher der Elbphilharmonie, ob Konzertbesucher, Tourist oder ­Hotelgast, fährt auf einer 82 m langen Rolltreppe zunächst auf eine kleine Zwischenebene und von dort mit einer weiteren, kürzeren Rolltreppe schließlich auf die Plaza, der ehemaligen Dachebene des Speichers, die heute als Aussichtsplattform und Verteiler in die einzelnen Gebäudebereiche dient. Die rund zweieinhalb Minuten lange Fahrt ist ein Ereignis: Die Rolltreppe steigt nicht gleichmäßig an, sondern beschreibt einen Bogen, dessen Neigungsgrad von 26,5 ° an der Basis zu 8 ° am Ende abnimmt. Durch diesen Kunstgriff wird die Spannung gesteigert, denn der Besucher kann am Anfang der Fahrt noch nicht sehen, wohin ihn die Rolltreppe bringt. Der »Tube« genannte Tunnel ist matt weiß verputzt. In den Putz sind 8 000 runde glänzende, weißliche, zart irisierende Glasfliesen eingelassen. Die Verteilung dieser »Pailletten« erscheint zunächst unregelmäßig, dann doch strukturiert, wie Noten auf einem Blatt Papier. Die Atmosphäre in diesem Raum ist so eigen wie einzigartig. Die indirekte Beleuchtung von unten taucht alles in ein mystisches, diffuses Licht. Es ist ein seltsames Bild, wie das aufwendig in edle Abendgarderobe gekleidete Publikum in diesem kargen, nüchternen, hellen Raum emporfährt – so surreal wie der Anblick von Astronaut Bowman im weißen Zimmer am Ende von Kubricks »2001«.

Dieser Auftakt ist ein Zeichen. Die Elbphilharmonie ist kein repräsentativer Musentempel für die bürgerliche Elite, sondern ein Haus für Jedermann, gebaut, um Musik zu hören, zu erleben, zu verstehen. Die enormen Raumskulpturen im Innern, schon zu erahnen auf der Plaza, wirklich zu erleben aber erst in den vielen Aufgängen, Foyers und natürlich im Großen Saal selbst, zeugen von dem Willen, die Musik zu ihrem Recht kommen zu lassen – losgelöst von Konvention, Repräsentation, Elitarismus. Hier gibt es keine samtroten Vorhänge, keine holzvertäfelten Wände (außer im Kleinen Saal, wo das Eichenholz jedoch entgegen allen Traditionen für die Akustik lebhaft auf und ab schwingt) und keine goldenen Türknaufe. Der wunderbar glatte weiße Putz zeigt die mannigfaltig geknickten und gerundeten Wände und Decken als pure Formen, eine wunderbare Reduktion von Architektur auf Körper im Spiel von Licht und Schatten. Jedes Fleckchen Farbe, jedes Stückchen Verkleidung wäre hier fehl am Platze. Entsprechend zurückgenommen ist auch das Mobiliar der Foyers, aber auch in den dem Publikum verborgenen Aufenthaltsräumen für Dirigenten und Musiker: Die vom jungen Hamburger Büro Besau Marguerre zusammen mit Architekt Daniel Schöning entworfenen Stehtische und Sitzbänke sind wundervoll zarte, minimalistische Objekte mit leichten Anleihen ans Art Déco und Bauhaus, ebenfalls in Weiß gehalten. Die Designer sprechen vom Weiß nicht als Farbe, sondern davon, die Möbel »entfärbt« zu haben für einen gleichsam umgekehrten »White Cube«, in dem sich die Möbel zugunsten der Musik und der Architektur zurücknehmen. Das gelingt. Die Möbel sind präsent und ordnen sich doch jederzeit dem Raum unter. Dabei ist weiß nicht gleich weiß: Es gibt zahlreiche Nuancen von reinem Weiß bis zu Beigetönen, so wie die Stoffbezüge von grob bis fein reichen. Wie die Architekten Herzog & de Meuron mit ihren Räumen, wollen die Designer mit ihren Gebrauchsobjekten den Seh- und Tastsinn stimulieren und die Wahrnehmung schärfen – als Einstimmung auf das große akustische Erlebnis in den Konzertsälen.

Der Große Saal atmet diesen Geist: Trotz seiner enormen Höhe und der kühn geschwungenen Formen spielt er sich nirgendwo in den Vordergrund, sondern bleibt immer Diener seines Herrn: der Musik. Die berühmte weiße Haut ist dafür ein Symbol: Wände und Brüstungen sind hier weit mehr als Raumbegrenzungen – sie werden zu Trägern, ja, Erzeugern des Klangs. Die 10 000 weißen, massiven, immer unterschiedlich gefrästen Gipsfaserplatten zeugen einerseits von Individualität und Einzigartigkeit und ordnen sich doch einem großen Ganzen unter – so wie die Waben in einem Bienenstock. Auch im Saal wird auf markante Farben verzichtet: Neben dem Braun der Eichenböden und dem Grau der Sitzbezüge gibt es nur noch abgetöntes Weiß. Die zurückhaltende Farbigkeit in Verbindung mit dem warmen, sorgsam gesetzten Licht (Konzept: Ulrike Brandi) geben dem dynamischen, spannungsreichen Saal Ruhe und Konzentration, der Fokus liegt auf der Mitte mit dem Orchesterpodium und damit letztlich auf der Musik.

Wer das Glück hat, eine der nicht öffentlichen Dachterrassen zu betreten, wird schließlich auch noch die fünfte Fassade aus der Nähe betrachten können. Das Dach besteht aus insgesamt acht ineinander geschnittenen Beton-Kugelteilflächen, die von 1 000 unterschiedlich gekrümmten stählernen Dachträgern gehalten werden. Sie sind bekleidet mit über 8 000 eloxierten, weiß pulverbeschichteten, gelochten Aluminiumtellern, die das Paillettenmotiv der Tube fortführen – hier allerdings eng und gleichmäßig gesetzt wie auf einem Kleid. Wie die Glasfliesen besitzen auch diese Elemente keine Funktion außer der, dem Dach ein besonderes Gepräge zu verleihen. Das ist wichtig, denn Teile der Dachfläche sind infolge der starken Krümmungen auch von der Straßenebene aus zu sehen. Dieser Gebäudeabschluss zeigt eindrucksvoll eine weitere Nuance der Farbe: Dieses Weiß ist nicht mehr die neutrale, nüchterne Oberfläche von Körpern, sondern in seiner gleißenden Helligkeit ganz eigenständig, entmaterialisiert, dem Himmel auf eine fast metaphysische Weise nahe. So wie Musik in ihrer berückendsten Form.

db, Mi., 2017.03.01



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Presseschau 12

11. Dezember 2020Claas Gefroi
Bauwelt

Hoffnung in Flaschengrün

Das ehemalige Gelände der Holsten-Brauerei in Hamburg-Altona war jahrelang Objekt der Immobilienspekulation. Zwei Neubauten könnten nun die Entwicklung in Gang bringen. Vorerst entsteht Gewerbe, Wohnen muss folgen.

Das ehemalige Gelände der Holsten-Brauerei in Hamburg-Altona war jahrelang Objekt der Immobilienspekulation. Zwei Neubauten könnten nun die Entwicklung in Gang bringen. Vorerst entsteht Gewerbe, Wohnen muss folgen.

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Bauwelt 2020|25 Am Kö-Bogen II in Düsseldorf

29. Mai 2020Claas Gefroi
Bauwelt

Brecheisen in Hamburg

Die Deutsche Bahn und die Stadt Hamburg planen den Abriss der denkmalgeschützten Sternbrücke und den Ersatz durch einen überdimensionierten Neubau – ein gestalterischer Frevel und weit über Hamburg hinaus ein Mahnmal verfehlter Verkehrspolitik, die sich außerstande sieht, mit einer ortsbezogenen Stadtplanung und den Interessen der Bewohner zu kooperieren. Dass der kollosal-plumpe Ersatzbau zudem ohne Wettbewerb durchgeführt werden soll, ist ein Skandal.

Die Deutsche Bahn und die Stadt Hamburg planen den Abriss der denkmalgeschützten Sternbrücke und den Ersatz durch einen überdimensionierten Neubau – ein gestalterischer Frevel und weit über Hamburg hinaus ein Mahnmal verfehlter Verkehrspolitik, die sich außerstande sieht, mit einer ortsbezogenen Stadtplanung und den Interessen der Bewohner zu kooperieren. Dass der kollosal-plumpe Ersatzbau zudem ohne Wettbewerb durchgeführt werden soll, ist ein Skandal.

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Bauwelt 2020|11 Toulouse School of Economics

07. Mai 2020Claas Gefroi
db

Wogende Insel im ruhigen Fluss

Das einstige Hafengelände, auf dem die HafenCity weiterwächst, ist ein von Orthogonalität und Rationalität geprägter Ort. Ein neuer, in einem Hafenbecken als Halbinsel mit bewegter Topografie realisierter Park bildet nun innerhalb dieses von Funktionalität bestimmten Ordnungssystems einen markanten Kontrapunkt.

Das einstige Hafengelände, auf dem die HafenCity weiterwächst, ist ein von Orthogonalität und Rationalität geprägter Ort. Ein neuer, in einem Hafenbecken als Halbinsel mit bewegter Topografie realisierter Park bildet nun innerhalb dieses von Funktionalität bestimmten Ordnungssystems einen markanten Kontrapunkt.

Selbst unter den Hamburgern ist nur wenigen klar, auf welch geschichtlich bedeutsamem Terrain die HafenCity entstand. Das langgezogene Areal des Grasbrooks an der Norderelbe bildete einst den Auftakt für den modernen Hamburger Hafen. Ende der 1830er Jahre wurde der Hafen – damals noch aus wenigen Hafenbecken bestehend, in denen die Schiffe an Dalben festmachten – zu eng. Hafenbaudirektor Dalmann ließ, anders als beispielsweise in London mit den Dockhäfen, eine Reihe tideoffener Hafenbecken bauen: Sandtorhafen (1866), Magdeburger Hafen (1872), Grasbrookhafen (1876) und schließlich der Baakenhafen (1887), dem heutigen Standort des neuen Baakenparks.

Die Hafenbecken erhielten damals befestigte Uferkanten (Kais), an denen die Schiffe festmachen konnten. Die Verbringung der Güter in Schuppen erfolgte zeitsparend mit Dampfkränen. So verkürzten sich die Liegezeiten der Schiffe und Umschlagzeiten der Waren erheblich, was den Hamburger Hafen zu einem der schnellsten der Welt machte.

Stadt am Wasser

Etwas mehr als 100 Jahre später, in den 1990er Jahren, hatte sich das Bild stark gewandelt: Der einst moderne Hafen war unwichtig geworden, weil die Waren in Containern in den großen Terminals weiter westlich umgeschlagen wurden. Die Hafen- und Logistikwirtschaft trachtete danach, die Becken zu verfüllen um dort große Lagerhallen errichten zu können. Der Architekt Volkwin Marg (gmp Architekten von Gerkan, Marg und Partner) wollte das nicht akzeptieren und fand im Chef des städtischen Hafenkonzerns HHLA, Peter Dietrich, einen Partner. Beide wussten um die topografische und historische Bedeutung des Areals und die Lagegunst nahe der Hamburger Innenstadt. Sie überzeugten den damaligen Bürgermeister Henning Voscherau von der Notwendigkeit eines Erhalts und einer Umnutzung des Grasbrooks. Die Idee für eine Erweiterung der Innenstadt auf den ehemaligen Hafenflächen war geboren, die bedeutsamen Hafenbecken gerettet.

Eine zentrale Frage für den neuen Stadtteil war, wie dort Land und Wasser ineinandergreifen und die reizvolle Lage an der Elbe genutzt werden konnte. Dass die Hafenbecken tideoffen sind, hatte für die HafenCity wichtige Konsequenzen: Es gibt dort Ebbe und Flut und bei Sturmflut wurde das Gelände regelmäßig überschwemmt. Die Umnutzung des Hafenareals zu einem ­Stadtteil mit Wohn-, Büro- und Freizeitnutzungen machte deshalb einen besonderen Flutschutz notwendig: Man entschied sich für die Aufschüttung der Land­flächen um mehrere Meter auf sicheres Niveau – die sogenannte Warftenlösung. Zwar hatte man so ausreichend Distanz zum Wasser hergestellt, aber die (vertikale) Trennung zwischen Wasser und Land wurde zu einem gestalterischen Problem, sollte doch das Leben am Wasser zum größten Reiz des neuen Stadtteils werden. Bei Ebbe ist der Pegel so tief, dass das Wasser aus Fußgängerperspektive kaum sichtbar ist. Die Masterplaner (Kees Christiaanse und ASTOC) versuchten deshalb, den Niveauunterschied des Geländes zu vermitteln und zu nutzen: Die Kopfenden der großen Hafenbecken treppen sich von der neuen, höheren Ebene mittels breiter und langgezogener Terrassenanlagen hinab auf das alte Geländeniveau. Auf diesen Terrassen lässt es sich gut sitzen und flanieren, ebenso wie auf den seitlichen Uferpromenaden auf dem einstigen Geländeniveau. Im Sandtorhafenbecken wurde zudem eine Pontonanlage festgemacht, an der kleinere Museumsschiffe liegen. Im benachbarten Grasbrookhafen soll in Zukunft ein Segelboothafen entstehen.

Dennoch: Das Wasser erscheint in der HafenCity oftmals weit weg. So stand die Überlegung im Raum, in den neuen Vierteln rund um den Baakenhafen einen stärkeren Bezug zum Wasser herzustellen. Der städtebauliche Entwurf von APB Architekten sieht deshalb sechs im Hafenbecken stehende (noch nicht gebaute) »Wasserhäuser« vor. Und der wichtigste Bezugspunkt des Quartiers, ein Park für Sport, Spiel und Erholung, wurde gar als eine Halbinsel im Hafenbecken geplant. Dieser »Baakenpark« nach Plänen des Berliner Landschaftsarchitekturbüros Atelier Loidl wurde bereits eröffnet, während rundherum noch die Wohn- und Bürohäuser entstehen. Haben die Planer diese besondere Lage mit Gewinn nutzen können?

»Himmelsberg« und »Inselweg«

Um den Baakenpark erreichen zu können, muss man von der neu angelegten Baakenallee zunächst eine Treppenanlage herab auf das alte Geländeniveau steigen. Von dem dort liegenden Vorplatz aus präsentiert sich die Parkanlage recht unspektakulär mit sanft ansteigenden Grashügeln, auf denen Spiel- und Sportplatz liegen. Ein barrierefreier Pfad führt dann sacht hinauf ins ­bewegte Gelände. Es offenbart sich rasch, dass dies ein Rundweg ist, der zu den verschiedenen Attraktionen des Parks führt. Drei Plateaus besitzt die Anlage: im Westen der Sport- und Spielbereich, in der Mitte eine Spiel- und Liegewiese und schließlich im Osten der höchste Punkt: der sogenannte Himmelsberg. Er ist aus mehreren Schichten Elbsand aufgeschüttet worden, denen Geogitter Halt geben. Die drei steilen Seiten wurden mit Stahlgitterelementen versehen, auf denen dann Rasenmatten befestigt wurden, um den Hügel zu begrünen. Mit seinen 15 m Höhe ist er noch nicht einmal für Hamburger Verhältnisse ein Berg, aber der Steigungswinkel ist eindrucksvoll und macht das Erklimmen der rostroten stählernen Stufen zum Erlebnis. Das Aussichtsplateau ist bekrönt von einem hölzernen Sitz- und Liegemöbel, aus dem überraschenderweise zwei kleine Bäume wachsen, die im hier beständig wehenden Wind wohl kein ruhiges Leben haben werden.

Auf dem Plateau bietet sich ein schöner Blick nicht nur auf das werdende Quartier, sondern auch auf Bernhard Hermkes’ Großmarkthallen, die Elbbrücken und die Elbe. Von hier oben erschließt sich zudem der Zuschnitt der Park-Halbinsel: Mit ihren spitzen Winkeln erinnert die Grundform ein wenig an eine Bastion der längst geschliffenen barocken Befestigungsanlage Hamburgs. Die winkelförmige Figur setzt einen klaren Kontrapunkt zur ­Orthogonalität des Baakenhafens. Erkennbar wird auch, wie weit die Anlage in das Hafenbecken ragt und es dadurch einschnürt. Vom östlichen Kopfende aus gesehen wird so die Gesamtansicht des Baakenhafens verstellt, was ­bedauerlich ist.

Volles Programm

Der »Inselweg« durch den Park führt dann mit mehreren Knicken und Wendungen weiter entlang von Sitzstufen, Schaukeln, Fitnessbereich und Liegewiese schließlich zum Spielbereich und dem Sportplatz: Hier haben die Planer ein wildes und kurzweiliges Ensemble von schräg eingegrabenen Holzmöbeln geschaffen: Spiel- und Kletterhäuser oder der Mannschaftsunterstand des Sportfelds wirken wie über Bord gegangene und an den Elbstrand gespülte Kisten. Dazu passt eine Kletterlandschaft aus ineinander gekeilten Holz­pfählen und Netzen.

Hier wurde viel gewollt und auch erreicht – was 2019 mit dem Deutschen Landschaftsarchitekturpreis honoriert wurde. Bemerkenswert gelungen ist der Ansatz, dem orthogonal und horizontal geprägten Gelände eine komplexere Geometrie und die dritte Dimension hinzuzufügen. Auch Details ­bestechen: die Auswahl und Zusammenstellung der Pflanzen und Materialien, die Originalität der eigens ­geschaffen Möbel und Geräte. Doch all das zusammen ist schon fast eine Reizüberflutung: Auf dem Rundweg durch den nur 1,6 ha großen Park fühlte sich der Rezensent ein wenig wie Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer auf ihrer Fahrt über die winzige Insel Lummerland. Es geschieht unglaublich viel auf engstem Raum, das Auge findet kaum Ruhe. Diese extreme räumliche, funktionale und optische Verdichtung dürfte nicht jedem gefallen. Es ist dies ein Park für eine eher junge Generation, die in ständiger Aktion ist und visuelle und haptische Reize sucht. Ob sich die Nähe von Sport-, Spiel- und Ruhebereichen in der Praxis bewährt, wird die Zeit zeigen. Man hätte sich gewünscht, dass dieser ambitionierte und hochspannende Park doppelt so groß geworden wäre, sodass er nicht nur ins Wasser, sondern auch ins Land wachsen würde. Dadurch wäre das Programm etwas mehr verteilt und der Park auch landseitig stärker sichtbar geworden. Das aber, ist zu vermuten, vertrug sich nicht mit dem Streben der Stadt, die Landflächen zu verkaufen. Schade: Mehr wäre hier mehr gewesen.

db, Do., 2020.05.07



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db 2020|05 Potenzial Topografie

16. September 2019Claas Gefroi
db

Hamburger Understatement

Mit dem Fall der Zollgrenze im Hamburger Hafen verloren auch die historischen Zollämter in der Speicherstadt ihre Funktion. Das ehemalige »Hauptzollgebäude« gleich gegenüber der Altstadt wurde von den Architekten BIWERMAU zum zeitgemäßen Bürogebäude auf eine derart nobel-zurückhaltende Art und Weise umgebaut, wie sie hamburgischer nicht sein könnte.

Mit dem Fall der Zollgrenze im Hamburger Hafen verloren auch die historischen Zollämter in der Speicherstadt ihre Funktion. Das ehemalige »Hauptzollgebäude« gleich gegenüber der Altstadt wurde von den Architekten BIWERMAU zum zeitgemäßen Bürogebäude auf eine derart nobel-zurückhaltende Art und Weise umgebaut, wie sie hamburgischer nicht sein könnte.

Nirgends sonst hat sich die Handels- und Kaufmannsstadt Hamburg so eindrucksvoll materialisiert wie in der Speicherstadt – ein bis heute einzigartiger Komplex von Lagerhäusern, der sich südlich der Innenstadt wie ein langes rotes Band zwischen Norderelbe und Zollkanal entlangzieht. Errichtet einst, weil die Stadt, bis dahin vollständig zollfrei, 1888 ins deutsche Zollgebiet eingegliedert wurde. Hamburg konnte dem Reich jedoch abringen, dass ein Großteil des Hafens eine zollfreie Enklave blieb. So wurde der Hafen mit einem Zaun umhegt und der bisher fließende Übergang zwischen Stadt und Hafen durch eine scharfe, mit Zollstationen gespickte Grenze ersetzt. Ein Großteil der Lagerhäuser stand nun im Zollinland. Für sie musste im Freihafen Ersatz geschaffen werden, und das möglichst nahe der Kontore der Kaufleute in der Innenstadt. So wurden auf den Brookinseln die alten Wohnquartiere abgerissen und von 1885 bis 1913 auf 26 ha Fläche der weltweit größte Speicherhauskomplex errichtet.

Zurück zu den Wurzeln

Der Warenumschlag in diesem Teil des Hafens rund um Sandtor-, Grasbrook- und Magdeburger Hafen sowie in der Speicherstadt florierte in den Jahren zwischen den Weltkriegen und auch nach dem Zweiten Weltkrieg in rasch wiederaufgebauten Schuppen und Lagerhäusern. Doch seit den 70er Jahren verringerte sich der Handel hier dramatisch, weil der bisherige Stückgut- durch den Container-Transport verdrängt wurde. Die Kaffee-, Tee- und ­Gewürzhändler in den Speichern wanderten ab und wurden durch Kreativagenturen, Webdesigner und Museen ersetzt. Mit den Planungen für die HafenCity ­wurde die Zollgrenze 2003 schließlich aufgehoben. Welche Bedeutung der Freihafenstatus hatte, lässt sich jedoch bis heute nicht nur an erhaltenen Zollwärterhäuschen und Resten des Zollzauns erkennen, sondern auch an den eindrucksvollen Verwaltungs- und Abfertigungsgebäuden des Zolls in der Speicherstadt. Wie die Speicher selbst verloren auch sie peu à peu ihre Funktion und wurden umgenutzt. Das ehemalige Zollabfertigungsgebäude am Wandrahm beispielsweise wurde zum Deutschen Zollmuseum umgebaut. Das benachbarte, ebenfalls am Zollkanal gelegene Zollgebäude 2 wurde von der städtischen Hafengesellschaft HHLA mit einem Nutzungsrecht bis 2089 an die maxingvest AG vermietet – der noch heute vollständig im Besitz der Familie Herz befindlichen Dachgesellschaft der Tchibo und Beiersdorf AG. Für das Unternehmen war die Anmietung eine Rückkehr zu den Wurzeln, denn in der Speicherstadt eröffnete einst der Tchibo-Gründer Max Herz sein erstes Kontor.

Modifiziert wiederhergestellt

Für die neue Nutzung als Unternehmenszentrale musste das denkmalgeschützte Gebäude umfangreich umgebaut werden – hier war dies ein Glücksfall, weil der Bau sich in keinem guten Zustand befand. Im Zweiten Weltkrieg durch Bombentreffer stark beschädigt, wurde er unter Verlust zahlreicher ­architektonischer Details in den 60er Jahren wiederhergestellt. Dort, wo sich einst eine abwechslungsreiche Dachlandschaft mit Steildächern, Türmchen und Dachgauben erhob, wurde ein schmuckloses, flach eingedecktes Büro­geschoss aufgesetzt. Die alten vielgliedrigen Fenster wurden durch stark vereinfachte Varianten ersetzt und im EG gar eine Tordurchfahrt für LKW durch das Gebäude getrieben. Im Innern war durch die Aufteilung der einstigen Kontorräume in Einzelbüros von der historischen Substanz fast nichts mehr zu sehen. Die direktbeauftragten Architekten BIWERMAU ließen, in Ab­sprache mit dem Denkmalschutz, also zunächst einmal all die hinzugefügten Wände, Decken und Bekleidungen entfernen. Zum Vorschein kamen preußische Kappendecken, Fliesen-, Holz- und Granitböden, gusseiserne Stützen und in den Treppenhäusern sogar noch historische Wandbemalungen.

Beim Umbau galt die Maxime, sich wo immer möglich dem historischen Bild anzunähern, die Eingriffe der Nachkriegszeit jedoch nicht vollständig auszulöschen. Zudem sollten alle neuen Zutaten als solche ablesbar bleiben. Man kann dies exemplarisch an der Tordurchfahrt sehen: Sie wurde geschlossen und im Innern ein neues zentrales Foyer geschaffen. Die Eingänge an den Stirnseiten des Gebäudes wurden dafür aufgegeben. Im Innern der neuen Eingangshalle sind die Betonbügel der 60er Jahre noch sichtbar, außen hingegen wurden sie von einer neuen Backsteinschicht verhüllt. Diese Schicht aus Wasserstrich-Klinkern springt nicht nur vor, sondern setzt sich auch farblich etwas von den alten Ziegeln ab. Die Fugenfarbe orientiert sich am Bestand, die neuen Fugen jedoch liegen etwas tiefer als die historischen. Den Architekten war es zudem wichtig, dass alte und neue Steine nicht direkt aufeinandertreffen – so wurden in die Ecken des Vorbaus als optische Trennung vertikale ­Fugen vorgesehen, in denen die Fallrohre Platz finden. Die neue Eingangsfront wird zudem durch Pilaster gegliedert, die wohltuend die Vertikalität der alten Fassade aufnehmen.

Das DG von 1967 wurde entfernt und durch ein neues 3. OG ersetzt, dessen sehr enge Fensterachsen von außen eher den Eindruck eines Zierbands als das eines Vollgeschosses erwecken. Darüber schließlich erwächst eine neue, am historischen Vorbild orientierte, steile, kupfergedeckte Dachlandschaft. Lediglich ein Turm in der Dachmitte wurde zugunsten eines Oberlichts weggelassen und statt der einst kleinen sind nun große Dachgauben eingebaut, die viel Licht in das DG lassen. Da das Steildach sich über dem neuen 3. OG erhebt, ist der Bau heute höher als zu seiner Fertigstellung im Jahre 1899, was seinen Proportionen jedoch durchaus zum Vorteil gereicht. Auch weil die alten Ziegelfassaden nur vorsichtig ausgebessert und gereinigt wurden, alte Holzfenster aufgearbeitet und Nachkriegs-Fenster durch solche mit schmalen Stahlrahmen ersetzt wurden, erscheint der Umbau so dezent und selbstverständlich, dass man ihn überhaupt erst bei bewusster Betrachtung bemerkt. Das passt bestens zu den überaus zurückhaltenden Bauherren.

Nah am Wasser

Betritt man das Gebäude durch die neuen gläsernen Eingangstüren, muss man zunächst eine Wand umrunden. In der Halle angekommen erkennt man, dass dies die Rückwand des neuen Fahrstuhlschachts ist. Dessen Beton­oberflächen verbinden sich gut mit den ebenfalls betonierten alten Kappendecken und den Betonbügeln der Tordurchfahrt. Die wenigen weiteren neuen Zutaten sind der Belgisch-Granit-Boden und der hölzerne Empfangstresen. Das Foyer liegt, bedingt durch den einstigen Umbau für die Tordurchfahrt, ebenerdig und damit tiefer als das restliche EG. Da das Gebäude wie die ganze Speicherstadt im Überflutungsbereich der Elbe steht (weshalb sich auch eine Umnutzung für Wohnzwecke verbot), musste dieser Bereich gesondert geschützt werden: Vor den Glaselementen des Foyers liegen, hinter Metallblenden der Fensterlaibungen verborgen, die Führungsschienen für eine Dammbalkenanlage, in die bei Sturmflut die Schutzbalken eingeschoben werden. Über einige Stufen geht es dann hinauf in den östlichen bzw. westlichen Bereich des EG, in dem früher die Zollabfertigung und die Kassen lagen, und in denen heute u. a. ein Café seinen Platz gefunden hat.

Die drei OGs sind jeweils unterschiedlich ausgebaut: Es gibt Bereiche mit Einzel-, Gruppen- und Großraumbüros. Längs durch alle Etagen führen jeweils mittig angeordnete, mitunter recht schmale Flure, die die Büros mit dem zentralen Aufzug und den an den Gebäudeenden liegenden Nebenräumen und historischen Treppenhäusern verbinden. Es gibt in den Büros viele Einbauschränke und -regale entlang der Wände und Fensterbrüstungen und auch die Flurwände werden als Regal- und Schrankräume genutzt. Die ungemein platzsparende Bauweise, die in ­ihrer Effizienz fast schon an das Interieur von Schiffen oder Eisenbahnwaggons erinnert, war notwendig, weil das Gebäude aufgrund seiner einstigen Kontorhaus-Struktur über eine nur sehr geringe Tiefe verfügte. Die neue Innenarchitektur ist puristisch und streng: Als Materialien wurden nur Stahl, Glas, Holz und Putz verwendet. Als großes Glück erwies sich die solide Bauweise des Altbaus: Die massiven Außenwände sind so dick, dass keinerlei zusätzliche Dämmung notwendig war. Auch auf künstliche Belüftung und Klimatisierung konnte verzichtet werden und eine Fußbodenheizung sorgt bei Bedarf für Wärme. Das neue DG schließlich ist noch nicht ausgebaut, steht als Erweiterungsfläche jedoch parat. Die dortigen Räume an den Stirnseiten des Gebäudes mit ihrer Rundum-Befensterung lassen den Blick herrlich schweifen, über die Altstadt mit ihren Kirchtürmen, die HafenCity und die Elbphilharmonie. Dass Eigentümer und Vorstand sich hier keine repräsentativen Büros eingerichtet haben, ist eigentlich nicht zu erklären – außer mit Hamburger Understatement.

db, Mo., 2019.09.16



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db 2019|09 Im Norden

12. Januar 2018Claas Gefroi
Bauwelt

Mit dem Wachstumsdruck verändert sich auch das Gerüst der Stadt

Franz-Josef Höing ist Hamburgs neuer Oberbaudirektor. Wir haben ihn gebeten, sich noch „im Sprung“ von Köln nach Hamburg über die künftige Planung in der Elb­metropole Gedanken zu machen.

Franz-Josef Höing ist Hamburgs neuer Oberbaudirektor. Wir haben ihn gebeten, sich noch „im Sprung“ von Köln nach Hamburg über die künftige Planung in der Elb­metropole Gedanken zu machen.

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Bauwelt 2018|01 Ambitionen auf schwierigem Terrain

30. April 2017Claas Gefroi
db

Ein verborgenes Kunststück

Die Elbphilharmonie ist ein Raumkunstwerk, dessen ­unwiderstehliche Wirkung zahlreichen baukünstlerischen Setzungen zuzuschreiben ist. Weitgehend verborgen blieb der Öffentlichkeit, dass nur durch die enge ­Zusammenarbeit zwischen den Architekten Herzog & de Meuron und dem Ingenieurbüro Schnetzer Puskas ein einzigartiges Tragwerk geschaffen werden konnte, das die hohen gestalterischen Ansprüche und komplexen funktionalen Erfordernisse gleichermaßen bewältigt.

Die Elbphilharmonie ist ein Raumkunstwerk, dessen ­unwiderstehliche Wirkung zahlreichen baukünstlerischen Setzungen zuzuschreiben ist. Weitgehend verborgen blieb der Öffentlichkeit, dass nur durch die enge ­Zusammenarbeit zwischen den Architekten Herzog & de Meuron und dem Ingenieurbüro Schnetzer Puskas ein einzigartiges Tragwerk geschaffen werden konnte, das die hohen gestalterischen Ansprüche und komplexen funktionalen Erfordernisse gleichermaßen bewältigt.

Als die Architekten Herzog & de Meuron im Jahr 2003 erste Pläne für die Elbphilharmonie der Öffentlichkeit präsentierten, da war dies ein anderes Projekt als das Gebäude, das im Januar 2017 schlussendlich eröffnet wurde. Die Initiatoren, der Projektentwickler Alexander Gérard und seine Ehefrau, die Kunsthistorikerin Jana Marko, hatten eine klare, simple Idee: Das seit vielen Jahren leer stehende Lagerhaus Kaispeicher A, 1966 nach Plänen von Werner Kallmorgen fertiggestellt, sollte zu einem weithin leuchtenden Ort der Musikkultur werden.

Hierfür bildet der zum Parkhaus umgenutzte Speicher die ­Basis, auf dem ein hoher, gläserner Aufbau für ein Konzerthaus thront. Zur Finanzierung des Projekts sollte der Aufsatz mit kommerziellen Nutzungen wie einem Hotel und Wohnungen angereichert werden. Bei der ursprüng­lichen Planung galt, so Gérard, der Grundsatz, dass nur so viele neue Lasten auf den Kaispeicher aufgesattelt würden, wie vorher in ihm lagerten, um eine aufwendige und kostenträchtige Verstärkung des Tragwerks zu vermeiden und den Erhalt des Speichers zu gewährleisten. Doch die Stadt Hamburg, die die Investoren 2004 aus dem Architektenvertrag herauskaufte, um das Projekt in Eigenregie zu realisieren, vergrößerte aus kaufmännischen Erwägungen den kommerziellen Mantel erheblich. Laut Gérard hatte sich die zu bauende ­Fläche innerhalb kurzer Zeit um satte 43 % vergrößert.

Mit den Flächen wuchsen die Lasten. Nun war der Kaispeicher A, seiner traditionellen Backsteinummantelung zum Trotz, im Innern ein sehr effizienter Stahlbetonskelettbau, dessen Tragwerk für Lasten von immerhin 2 t/m² ausgelegt war. Doch er hätte nun das Doppelte – circa 200 000 t wiegt das verwirklichte Projekt – stemmen müssen, zu viel für den Nachkriegsbau. Weitere Gründe für die Entkernung: Um die von der Stadt gewünschten zusätzlichen Nutzflächen bei gleichbleibender Gebäudehöhe unterzubringen, mussten die Geschosshöhen im Speicher verringert werden. Die städtische Seite argumentiert anders: Es habe sich herausgestellt, dass das Stützenraster von 4 x 5,50 m zu eng für ein zeitgemäßes Parkhaus sei. Zudem sei der Hochwasserschutz bei Sturmfluten sowie der Anprallschutz bei Schiffshavarien nicht gewährleistet und hätte nur unter größten Anstrengungen nachgerüstet werden können.

Speicher wird Fassade

Was immer den Ausschlag gab: Der Speicher musste, wenngleich ein Denkmal, vollständig entkernt werden. Doch das Ingenieurbüro Schnetzer Puskas International aus Basel, das für die Planung des Tragwerks zuständig war, hat schon oft mit Herzog & de Meuron zusammengearbeitet und ist Herausforderungen gewohnt. Entscheidend für das Gelingen dieses im Verlauf der ­Planung immer üppiger werdenden Baus war, dass die Ingenieure von Beginn, also von den ersten Skizzen an, dabei waren und das Tragwerk so in enger Zusammenarbeit zwischen Architekten und Ingenieuren entstehen konnte. Für den radikalen Umbau des alten Kaispeichers wurden Rohwer ­Ingenieure hinzugezogen. Als erste Maßnahme wurden die Außenwände durch eine umlaufende Stahlkonstruktion gesichert, die aus Gerüsttürmen und daran angeschlossenen horizontalen Gurten bestand.

Nun konnten die alten Decken vorsichtig im Sägeverfahren bündig zur Innenwandoberfläche abgetrennt werden. Danach ging es an die Fundamente: Man fand 1 111 Ortbeton-Ramm­pfähle vor, 50 cm dick, zwischen 15 und 19 m lang. Sie besaßen eine 30-40 % höhere Tragfähigkeit als bei der Gründung. Das erstaun­liche Phänomen resultiert aus mehreren Gründen – der wichtigste war die durch die beständige Tidenströmung und das große Pfahlvolumen verursachte Verdichtung des Sandbodens. Dennoch wurden zusätzliche 620 Teilverdrängungspfähle gesetzt, die nun, gemeinsam mit den über ein halbes Jahrhundert alten Pfählen, die neue Lastenverteilplatte tragen. Die neuen Etagendecken im Bereich des Speichers wurden über Auflagertaschen an das Mauerwerk angeschlossen – nicht jedoch auf der Ostseite: Der dortige neue Haupteingang ins Gebäude wurde von Herzog & de Meuron als fast 60 m breiter horizontaler Schlitz geplant, der nicht durch Stützen unterbrochen werden sollte. Ein gestalterischer Einfall, der großen konstruktiven Aufwand nach sich zog: So wurden die Lasten der Backsteinfassade mittels einer konstruktiven Verdübelung in einen gewaltigen, 4,30 m hohen Abfangträger an der Innenseite der Außenwand geleitet. Ansonsten werden Nutz und Eigenlasten, die entlang der Bestandsfassaden anfallen, über neue Stahlbeton­stützen und über deckengleiche Unterzüge auf der Fassadeninnenseite abgeleitet. Da vom Denkmal Kaispeicher A nichts als seine Außenmauern blieb, war deren Sanierung und Erhaltung von essenzieller Bedeutung.

So wurde bereits 2007 in Untersuchungen der zweischaligen Konstruktion ermittelt, dass die Vormauerung keine ausreichende Schlagregendichtigkeit besaß. Zum Schutz gegen den Hamburg-typischen Schlagregen wurde das Mauerwerk deshalb hydrophob imprägniert.

Durch den Einsatz einer kapillar­aktiven Calciumsilikat-Innendämmung konnte ein großer Teil der über die Jahre eingedrungenen Feuchte im Mauerwerk zunächst verbleiben, um dann allmählich abzutrocknen.

Wie ein Schiff im Dock

Das große gestalterische, auch die Tragwerksplanung bestimmende Thema der Elbphilharmonie war, wie man einen komplizierten Nutzungsmix und v. a. einen großen Konzertsaal für 2 150 Zuhörer auf einer bedingt durch den Zuschnitt des alten Lagerhauses – relativ kleinen und trapezförmigen Grundfläche unterbringt. Die Elbphilharmonie ist mit einer Höhe von 79,10 – 110 m ein veritables Hochhaus, doch anders als im Hochhausbau üblich, konnte in großen Teilen der Konstruktion kein Tragwerk mit kurzen und regelmäßigen Stützenabständen für eine gleichmäßige Lastabtragung realisiert werden.

Stattdessen führten besonders die beiden Konzertsäle zu einer uneinheitlichen Lastverteilung im Gebäude. Können die horizontalen Lasten ganz konventionell überwiegend von den drei Treppenhauskernen aufgenommen werden, sind für die Abtragung der Vertikallasten neben regelmäßig platzierte Außenstützen auch unregelmäßig angeordnete Innenstützen erforderlich.

Trotz der ungleichen Lastverteilung musste sich das Stützenraster des Neubaus am weiterhin relevanten Raster des Speicherfundaments orientieren. Gerade jedoch der Große Saal für 2 150 Besucher negiert mit seinen Ausmaßen dieses Prinzip und wurde – auch zur akustischen Entkoppelung vom restlichen Gebäude – als eigenständiger Baukörper geplant: ein 12 500 t schweres »Ei«, das zwischen den Geschossdecken der Wohn- und Hotelnutzungen liegt und in Querrichtung zugleich bis an die Nord- und Südfassade ragt.

Seine Last wird zum überwiegenden Teil von acht großen, schräg gestellten Stützen abgeführt. Die Schrägstellung ist nicht, wie man vermuten könnte, architektonische Spielerei, sondern dient dem Zweck, die Lasten auf die vorgegebenen Fundamente hinzuführen. Die extreme räumliche Nähe des Konzertsaals zu Wohn- und Hotelräumen erforderte eine strikte akustische Trennung ­zwischen den Bereichen: So wurden die Wände des Konzertsaals doppelschalig als Box-in-Box-Konstruktion mit einem Zwischenraum ausgeführt – eine ­Lösung, die der hinzugezogene japanische Starakustiker Yasuhisa Toyota als unabdingbar erachtete. Die Raumgeometrie des Großen Saals ist dabei überaus diffizil und war eine Herausforderung nicht nur bei der Planung, sondern auch beim Bau: Obwohl sich in manchen Bereichen Außen- und Innenschale bis auf wenige Zentimeter nahe kommen, dürfen sie sich dennoch an keinem Punkt berühren, um die gefürchteten Schallübertragungen zu vermeiden. Die Saalhülle teilt sich dabei nicht nur in eine innere und äußere Schale auf, ihre beiden Schichten sind jeweils auch noch in einen »Topf« und ein darüber liegendes Dach aufgeteilt.

Die Tragwerksplaner haben für den Saal das anschauliche Bild eines Schiffs im Trockendock gefunden. Die Außenschale besteht aus einer 20 – 40 cm dicken Betonschale, dem Rumpf, an dessen Innenseite wie Spanten Betonrippen angebracht sind, die rechtwinklig zu den Längsfassaden ausgerichtet sind und sich unten im Kiel, der den Hauptträger der Schale bildet, treffen. An den kürzeren Querfassaden fächern sich die Rippen vom Kiel ausgehend strahlenförmig auf. In den Betonkessel wurde das stählerne, insgesamt 1 168 t wiegende Traggerüst der inneren Schale montiert. Man wählte Stahl zum einen, um in der weitgehend geschlossenen Betonschale überhaupt noch eine zweite Konstruktion einbringen zu können, und zum anderen, um das Gewicht nicht über Gebühr zu erhöhen: Die Fundamente, die bereits gelegt wurden, als der Philharmonie-Aufbau noch gar nicht fertig geplant war, setzten klare Grenzen. Um die akustische Trennung zu gewährleisten, wurde die innere mit der äußeren Schale über 342 Stahlfederpakete im Topf und 34 im Dach verbunden.

Doch der Vorteil der akustischen Abschirmung barg auch ­einen Nachteil: Der auf Federn ruhende Saal bildet ein Masse-Feder-System, das sich über die auskragenden Zuschauerbalkone leicht zum Schwingen anregen lässt. Mit einer Abstimmung der ­Federpakete auf eine optimierte Frequenz und der entsprechenden Steifigkeitsverteilung in der Stahlkonstruktion sowie zusätzlichen Schwingungs­tilgern im Bereich der Brüstungen konnte eine entsprechend optimale Konstruktion gefunden werden.

Höchstmass an Komplexität

Die Dachkonstruktion des Konzertsaals musste eine Weite von 50 m stützenfrei überwinden. Die Dach-Außenschale besteht aus einem 600 t wiegenden, sich von 72,5 m auf bis zu 91,5 m Höhe aufschwingenden Stahlverbund-Raumfachwerk, dessen Höhe zwischen zwei und neun Metern schwankt, und einer darauf aufgelagerten 20 cm dicken Betonschale. Diese gewaltige Konstruktion muss immense Lasten aufnehmen: nicht nur die der inneren Dachschale, die auf ihrer Oberseite fünf Schichten Spritzbeton aufweist und über Hänger und Federpakete mitsamt der sogenannten Weißen Haut darunter daran aufgehängt wurde, sondern auch die der zwischen Saal- und Gebäudedach angeordneten Technikebene. Letztere allein wiegt mit 8 000 t so viel wie 14 A380-Flugzeuge.

Dimensionierung und Lage der völlig unterschiedlichen Dach­segmente von innerer und äußerer Schale wurden mittels komplexer 3D-­Modelle der Architekten sowie der Tragwerksplaner bestimmt. Weil die Montagekräne maximal 12 t heben konnten, die Stahlträger des äußeren Schalendachs jedoch bis zu 40 t wiegen, mussten sie in zwei oder drei Montage­abschnitte unterteilt werden.

Auch die weiteren Bereiche des Dachs, das aus insgesamt acht ineinander geschnittenen Kugelteilflächen besteht, wurden als Stahltragwerk ausgeführt. Schnetzer Puskas planten hierfür ursprünglich eine Stahlrohr-Konstruktion, doch die für den Stahlbau engagierte Firma Spannverbund hielt dies für nicht realisierbar, weshalb man sich auf eine Träger-Lösung einigte. Jeder der insgesamt 1 000 geschweißten Doppel-T-Blechträger ist aufgrund der notwendigen komplizierten Geometrien und zahlloser unterschiedlicher Krümmungen ein Unikat, und nirgendwo half ein ordnendes Raster bei der Montage. Besonders die Dachrandträger sind an Komplexität nicht mehr zu überbieten: einer bringt es auf über 1 000 Stahlbaupositionen, dokumentiert auf fünf DIN A0-Plänen. In diesem Zusammenhang singen die Schweizer Ingenieure auch ein Loblied auf die deutsche Bauverwaltung: Nur weil der Prüfingenieur und das Bauamt Vorschriften nicht dogmatisch gesehen, sondern pragmatisch und mit Augenmaß auslegten, habe die Elbphilharmonie letztlich überhaupt realisiert werden können.

Kraftfluss über Umwege

Eine der zentralen gestalterischen Maximen für die Außenwirkung der Elbphilharmonie ist die klare Trennung zwischen dem steinernen alten Sockelbau und dem gläsernen neuen Aufbau, der gleichsam zu schweben scheint. Auf der einstigen Dachebene des Kaispeichers, in 38 m Höhe, befindet sich heute die jedermann offenstehende Plaza mit ihrer umlaufenden Galerie. Sie sollte als durchgehende Fuge in Erscheinung treten, die nicht durch äußere Stützen unterbrochen wird. Obwohl das Gewicht der riesigen Glaselemente des Aufbaus immens ist, wurde also auf eine außenliegende Stützenreihe auf der Plaza-Ebene verzichtet, was bedeutete, dass die Vertikalkräfte einen Umweg ins Innere nehmen mussten.

Sie werden über drei Stockwerke hinweg mittels schräger Stahlverbundstützen von der Fassadenebene in die nächste Stützenreihe hinter der Fassade geleitet. Die Deckenränder dieser drei Stockwerke wiederum sind von oben abgehängt. Um den größeren stützenfreien Eckbereich an der sich 110 m hoch auftürmenden Westseite zu ermöglichen, wurde hier noch zusätzlich zu dieser Konstruktion ein um die Gebäudeecke geführter geschosshoher Fachwerkträger in der Fassadenebene der Etage über der Plaza-Ebene eingebaut. Skulptural ausgeformte Räume, schräggestellte Stützen, elegant sich aufwärts schraubende Treppenanlagen, eine durchlaufende Plaza-Fuge und die kühne Dachlandschaft schlugen als komplexe Konstruktionen in den Kosten zu Buche. Doch dies, wie verschiedentlich geschehen, zu kritisieren heißt, das Projekt Elbphilharmonie insgesamt infrage zu stellen. Gewiss, nicht bei jedem Bauwerk sind solche Maßnahmen gerechtfertigt. Aber hier, bei diesem für die Stadt Hamburg so eminent wichtigen Haus, ist der Einsatz angemessen.

Ganz richtig sagte Jacques Herzog in einem Interview, dass die Verführungskraft und Schönheit von Architektur wichtig bleibe, weil die Poesie den Menschen offen macht, freier zu denken und wahrzunehmen. Die Schönheit der Elbphilharmonie entspringt nicht dem Einfachen, Klaren, Eindeutigen, sondern dem Komplexen, Uneindeutigen, Unsichtbaren: Wie schon bei früheren Projekten von Herzog & de Meuron wie dem »Vogelnest« oder der Allianz-Arena wird auch die Konstruktion der Elbphilharmonie verunklärt oder verborgen und wird dadurch umso präsenter. Man spürt eine physische ­Präsenz, ohne sie unmittelbar sehen zu können. Das Unmerkliche ist oftmals eindrücklicher als das Offensichtliche. Dazu befragt, vergleicht Heinrich Schnetzer von Schnetzer Puskas International dies mit dem Konzept des ­»sotto voce« in Musik und Literatur – also einer Betonung gerade nicht durch Auftrumpfen und große Lautstärke, sondern durch Dämpfung, Zurückhaltung, Flüstern. Es ist kein Wunder, dass Herzog & de Meuron bei der ­Elbphilharmonie mit Schnetzer Puskas International zusammengearbeitet ­haben: Ohne Tragwerksplaner mit solch feinem ästhetischen Gespür wäre die Elbphilharmonie nicht zu dem Meisterwerk geworden, das sie heute ­unzweifelhaft ist.

db, So., 2017.04.30



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01. März 2017Claas Gefroi
db

Viele Farben weiß

Viel, fast zu viel ist bereits über die Elbphilharmonie geschrieben worden. Nun, da der immense Strom von Metaphern, Hymnen und Superlative langsam abebbt, ist die Zeit gekommen, sich eingehender und differenzierter mit diesem »Jahrhundertbauwerk« zu beschäftigen. Natürlich: Dieser für Hamburg so bedeutende Bau lädt mit seinem Reichtum an Formen und Materialien, seinen Rauminszenierungen und seiner Melange aus Alt und Neu zu Interpretationen und Assoziationen ein wie kaum ein anderes Gebäude unserer Zeit. Doch spannender als die Klärung der Frage, ob die Elbphilharmonie nun ein Wellenmeer, ein Segelschiff oder ein Eisberg sei, ist es, zu ergründen, mit welchen Mitteln die ­Architekten die besondere Wirkung des Bauwerks erzeugten.

Viel, fast zu viel ist bereits über die Elbphilharmonie geschrieben worden. Nun, da der immense Strom von Metaphern, Hymnen und Superlative langsam abebbt, ist die Zeit gekommen, sich eingehender und differenzierter mit diesem »Jahrhundertbauwerk« zu beschäftigen. Natürlich: Dieser für Hamburg so bedeutende Bau lädt mit seinem Reichtum an Formen und Materialien, seinen Rauminszenierungen und seiner Melange aus Alt und Neu zu Interpretationen und Assoziationen ein wie kaum ein anderes Gebäude unserer Zeit. Doch spannender als die Klärung der Frage, ob die Elbphilharmonie nun ein Wellenmeer, ein Segelschiff oder ein Eisberg sei, ist es, zu ergründen, mit welchen Mitteln die ­Architekten die besondere Wirkung des Bauwerks erzeugten.

Die enorme Kraft und suggestive Wirkung, die die Elbphilharmonie erzeugt, steht in einem interessanten Kontrast zu einem sich stetig verändernden Äußeren: Je nach Standpunkt, Tageszeit und Wetter erscheint der gläserne Körper über den alten Backsteinwänden des einstigen Kaispeichers A weiß, grau oder blau und schließlich, wenn die Abendsonne ihn bescheint, goldglänzend. Mal wirken die enormen Glaswände stumpf und matt, dann wieder spiegelnd und glitzernd. Und schließlich sind die großen Flächen auch noch differenziert in hell erscheinende Flächen, in denen, wie Fettaugen in einer Brühe, rundliche dunkle Flecken schwimmen. Diese Wirkung ist der speziellen Herstellung der Scheiben zu verdanken: Jedes der insgesamt 1 089 einschaligen, jeweils fünf Zentimeter dicken Fassadenelemente besitzt eine individuelle Bedruckung aus grauen Punkten für den Sonnenschutz und silbernen Chrompunkten für einen Spiegeleffekt an der Außenseite. Und schließlich sind da noch die Wölbungen der Gläser. Für seitlich angebrachte Lüftungsöffnungen sowie für Balkonbrüstungen stülpen sich zahlreiche Gläser nach außen wie die Kiemen eines Fischs. Diese gebogenen Bereiche reflektieren den Himmel und setzen so weiß strahlende Akzente.

Jeder Besucher der Elbphilharmonie, ob Konzertbesucher, Tourist oder ­Hotelgast, fährt auf einer 82 m langen Rolltreppe zunächst auf eine kleine Zwischenebene und von dort mit einer weiteren, kürzeren Rolltreppe schließlich auf die Plaza, der ehemaligen Dachebene des Speichers, die heute als Aussichtsplattform und Verteiler in die einzelnen Gebäudebereiche dient. Die rund zweieinhalb Minuten lange Fahrt ist ein Ereignis: Die Rolltreppe steigt nicht gleichmäßig an, sondern beschreibt einen Bogen, dessen Neigungsgrad von 26,5 ° an der Basis zu 8 ° am Ende abnimmt. Durch diesen Kunstgriff wird die Spannung gesteigert, denn der Besucher kann am Anfang der Fahrt noch nicht sehen, wohin ihn die Rolltreppe bringt. Der »Tube« genannte Tunnel ist matt weiß verputzt. In den Putz sind 8 000 runde glänzende, weißliche, zart irisierende Glasfliesen eingelassen. Die Verteilung dieser »Pailletten« erscheint zunächst unregelmäßig, dann doch strukturiert, wie Noten auf einem Blatt Papier. Die Atmosphäre in diesem Raum ist so eigen wie einzigartig. Die indirekte Beleuchtung von unten taucht alles in ein mystisches, diffuses Licht. Es ist ein seltsames Bild, wie das aufwendig in edle Abendgarderobe gekleidete Publikum in diesem kargen, nüchternen, hellen Raum emporfährt – so surreal wie der Anblick von Astronaut Bowman im weißen Zimmer am Ende von Kubricks »2001«.

Dieser Auftakt ist ein Zeichen. Die Elbphilharmonie ist kein repräsentativer Musentempel für die bürgerliche Elite, sondern ein Haus für Jedermann, gebaut, um Musik zu hören, zu erleben, zu verstehen. Die enormen Raumskulpturen im Innern, schon zu erahnen auf der Plaza, wirklich zu erleben aber erst in den vielen Aufgängen, Foyers und natürlich im Großen Saal selbst, zeugen von dem Willen, die Musik zu ihrem Recht kommen zu lassen – losgelöst von Konvention, Repräsentation, Elitarismus. Hier gibt es keine samtroten Vorhänge, keine holzvertäfelten Wände (außer im Kleinen Saal, wo das Eichenholz jedoch entgegen allen Traditionen für die Akustik lebhaft auf und ab schwingt) und keine goldenen Türknaufe. Der wunderbar glatte weiße Putz zeigt die mannigfaltig geknickten und gerundeten Wände und Decken als pure Formen, eine wunderbare Reduktion von Architektur auf Körper im Spiel von Licht und Schatten. Jedes Fleckchen Farbe, jedes Stückchen Verkleidung wäre hier fehl am Platze. Entsprechend zurückgenommen ist auch das Mobiliar der Foyers, aber auch in den dem Publikum verborgenen Aufenthaltsräumen für Dirigenten und Musiker: Die vom jungen Hamburger Büro Besau Marguerre zusammen mit Architekt Daniel Schöning entworfenen Stehtische und Sitzbänke sind wundervoll zarte, minimalistische Objekte mit leichten Anleihen ans Art Déco und Bauhaus, ebenfalls in Weiß gehalten. Die Designer sprechen vom Weiß nicht als Farbe, sondern davon, die Möbel »entfärbt« zu haben für einen gleichsam umgekehrten »White Cube«, in dem sich die Möbel zugunsten der Musik und der Architektur zurücknehmen. Das gelingt. Die Möbel sind präsent und ordnen sich doch jederzeit dem Raum unter. Dabei ist weiß nicht gleich weiß: Es gibt zahlreiche Nuancen von reinem Weiß bis zu Beigetönen, so wie die Stoffbezüge von grob bis fein reichen. Wie die Architekten Herzog & de Meuron mit ihren Räumen, wollen die Designer mit ihren Gebrauchsobjekten den Seh- und Tastsinn stimulieren und die Wahrnehmung schärfen – als Einstimmung auf das große akustische Erlebnis in den Konzertsälen.

Der Große Saal atmet diesen Geist: Trotz seiner enormen Höhe und der kühn geschwungenen Formen spielt er sich nirgendwo in den Vordergrund, sondern bleibt immer Diener seines Herrn: der Musik. Die berühmte weiße Haut ist dafür ein Symbol: Wände und Brüstungen sind hier weit mehr als Raumbegrenzungen – sie werden zu Trägern, ja, Erzeugern des Klangs. Die 10 000 weißen, massiven, immer unterschiedlich gefrästen Gipsfaserplatten zeugen einerseits von Individualität und Einzigartigkeit und ordnen sich doch einem großen Ganzen unter – so wie die Waben in einem Bienenstock. Auch im Saal wird auf markante Farben verzichtet: Neben dem Braun der Eichenböden und dem Grau der Sitzbezüge gibt es nur noch abgetöntes Weiß. Die zurückhaltende Farbigkeit in Verbindung mit dem warmen, sorgsam gesetzten Licht (Konzept: Ulrike Brandi) geben dem dynamischen, spannungsreichen Saal Ruhe und Konzentration, der Fokus liegt auf der Mitte mit dem Orchesterpodium und damit letztlich auf der Musik.

Wer das Glück hat, eine der nicht öffentlichen Dachterrassen zu betreten, wird schließlich auch noch die fünfte Fassade aus der Nähe betrachten können. Das Dach besteht aus insgesamt acht ineinander geschnittenen Beton-Kugelteilflächen, die von 1 000 unterschiedlich gekrümmten stählernen Dachträgern gehalten werden. Sie sind bekleidet mit über 8 000 eloxierten, weiß pulverbeschichteten, gelochten Aluminiumtellern, die das Paillettenmotiv der Tube fortführen – hier allerdings eng und gleichmäßig gesetzt wie auf einem Kleid. Wie die Glasfliesen besitzen auch diese Elemente keine Funktion außer der, dem Dach ein besonderes Gepräge zu verleihen. Das ist wichtig, denn Teile der Dachfläche sind infolge der starken Krümmungen auch von der Straßenebene aus zu sehen. Dieser Gebäudeabschluss zeigt eindrucksvoll eine weitere Nuance der Farbe: Dieses Weiß ist nicht mehr die neutrale, nüchterne Oberfläche von Körpern, sondern in seiner gleißenden Helligkeit ganz eigenständig, entmaterialisiert, dem Himmel auf eine fast metaphysische Weise nahe. So wie Musik in ihrer berückendsten Form.

db, Mi., 2017.03.01



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db 2017|03 Weiß

31. März 2015Claas Gefroi
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Wohn- und Geschäftsgebäude »Elbdeck« in Hamburg

Die Tiefgarage des nah am Fluss gelegenen »Elbdecks« bildet einen Flutschutzpolder, die Außenraumgestaltung dient als Wellenauslaufschutz. Darüber liegen...

Die Tiefgarage des nah am Fluss gelegenen »Elbdecks« bildet einen Flutschutzpolder, die Außenraumgestaltung dient als Wellenauslaufschutz. Darüber liegen...

Die Tiefgarage des nah am Fluss gelegenen »Elbdecks« bildet einen Flutschutzpolder, die Außenraumgestaltung dient als Wellenauslaufschutz. Darüber liegen – sicher und im Trockenen – rund 100 hochwertig ausgestaltete Wohnungen, Büros und Ladenflächen. Die im Kontrast zu den strahlend weißen Putzflächen stehende hellrote Farbigkeit der Ziegelwände lässt das Gebäude selbst an trüben Tagen heiter wirken.

Es war kein Geringerer als Baudirektor Fritz Schumacher, der einst den Leitsatz formulierte, dass in Hamburg auf der Geest gewohnt und in der Marsch gearbeitet wird. Seine Maßgabe, wonach die niedrigliegenden Marschgebiete an der Elbe infolge der beständig wiederkehrenden Sturmfluten als Siedlungsraum ungeeignet seien und daher wirtschaftlichen Nutzungen wie dem Hafen vorbehalten bleiben sollten, blieb über viele Jahrzehnte sakrosankt. In der Folge wurden die Hamburger Elbgestade v. a. als Gewerbegebiete genutzt.

Die Architekten von Gerkan, Marg und Partner zeigten in einem Gutachten von 1973, welche Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten Hamburg dadurch entgingen, doch es dauerte bis in die 80er Jahre, als unter Oberbaudirektor Egbert Kossak von Schumachers Dogma abgerückt und die pittoresken Wasserlagen Hamburgs wiederentdeckt wurden. Kossak entwickelte die Vision der Hafencity, eines neuen Stadtteils auf kaum noch genutzten innenstadtnahen Hafenflächen, die eben vor der Hauptdeichlinie liegen und bei Sturmfluten überspült werden. Seinerzeit verteidigte die Hafenwirtschaft die Flächen noch standhaft und es blieb seinem Nachfolger Jörn Walter vorbehalten, die Idee wahr werden zu lassen. Kossak selbst setzte seinen Plan einer Rückkehr der Stadt an die Elbe an anderer Stelle um: die sogenannte Perlenkette am Altonaer Elbufer. Das lag seit Jahrzehnten in Agonie: Der Altonaer Hafen war größtenteils zerbombt worden; nur wenige Speicher und Fabriken hatten überlebt. Kossak ergriff Anfang der 90er Jahre die Chance und ließ auf dem lang gestreckten, aber schmalen Uferstreifen unterhalb des steilen Geesthangs vom Fischmarkt bis nach Övelgönne zahlreiche neue Gebäude errichten und Altbauten sanieren – ein Prozess, der bis heute andauert.

Genutzt werden sie für Büros, Einzelhandel und Restaurants. Das Wohnen hingegen fand lange nicht seinen Weg an diesen einzigartigen Ort. Zum einen erfordert der auf der anderen Elbseite lärmende Containerhafen umfangreiche Schallschutzmaßnahmen, zum anderen erweist sich die tiefe Lage am Strom als Problem: Das Altonaer Elbufer wird bei Sturmfluten regelmäßig vom Wasser überspült. Wohnhäuser müssen also besonders gegen die Fluten geschützt und so angebunden werden, dass sie auch in diesen Extremsituationen erreichbar bleiben – für die Bewohner, aber auch für Rettungskräfte. Erst seitdem die Nachfrage nach hochpreisigem Wohnungsbau groß genug ist, lohnt sich der aufwendige Wohnungsbau auch in solch exponierten Lagen. Zu Jan Störmers Stadtlagerhaus, der Clipper Elblodge (Schweger & Partner) und Kees Christiaanses »Kristall«-Wohnturm am Holzhafen gesellt sich nun das vom Hamburger Architekten Carsten Roth geplante »Elbdeck«.

Zur schönen Aussicht

Es ist dies eine der letzten Lückenschließungen am Altonaer Elbufer, was auch der langwierigen Planungsgeschichte zuzuschreiben ist. Das Grundstück liegt nicht direkt am Ufer, sondern in zweiter Reihe hinter dem historischen, vor einigen Jahren sanierten und für Büros umgenutzten Kaispeicher D.

Die Immobiliengesellschaft AUG. Prien plante hier eine Mischung aus Wohnungen, Büros, Einzelhandel und Gastronomie. Carsten Roths Entwurf beruhte ursprünglich auf der Idee, die große Baumasse möglichst kompakt unterzubringen: Um einen hohen lang gezogenen Riegel zu vermeiden, der die Sicht vom Geesthang auf die Elbe verstellt, plante er eine Massierung in mehreren Baukörpern, von denen einer als fast 60 m hoher Turm ausgebildet werden sollte. Dagegen erhob sich Widerstand von Bürgern, die das Hochhaus als Sichtbarriere geißelten. Es folgten Verhandlungen und Überarbeitungen, an deren Ende nun zwei sechs- und ein achtgeschossiger Baukörper stehen. In den unteren Geschossen sind Büros, Gastronomie- und Ladenflächen untergebracht, darüber (schön abzulesen an den differenzierten Fassaden) 100 Mietwohnungen in verschiedenen Größen und Schnitten. Die Schmalseiten der Gebäude sind in ganz unterschiedlichen Winkeln angeschnitten. Die Winkel sind so gewählt, dass aus bestimmten wichtigen Blickrichtungen, etwa von einem den Hang hinab führenden Spazierweg, der Blick auf die Elbe und den alten Kaispeicher erhalten bleibt. Auswärtigen mag dies übertrieben erscheinen, doch den Hamburgern ist die Geestkante entlang der Elbchaussee mit ihren zahlreichen Parks und Spazierwegen und den immer wieder spektakulären Blicken auf die Flussniederung und den Hafen heilig. Die unterschiedlichen Winkel der Gebäudeseiten haben noch einen anderen angenehmen Effekt: Die Bewohner der Häuser schauen gewissermaßen aneinander vorbei und sich nicht gegenseitig in die Wohnungen.

Trockenen Fusses

Die drei Bauten stehen auf einem gemeinsamen Flutschutzpolder, der in seinem Innern 280 hochwassersichere PKW-Stellplätze birgt. Er ersetzt eine Spundwand, die bislang die rückwärtigen Teile des Uferstreifens schützte. Der alte Kaispeicher vis-à-vis hingegen steht, vor der Deichlinie gelegen, bei Hochwasser weiterhin in den Fluten, weshalb Roth zwei stählerne Fußgängerbrücken entwarf, die nun als Rettungsweg vom Kaispeicher D auf den Polder führen. Vor einigen Jahren entstanden auf dem östlich benachbarten Grundstück die ebenfalls von Carsten Roth gestalteten Columbia-Twins-Bürohäuser – auch sie auf einem schützenden Polder. Damit die zahlreichen Spaziergänger nicht an einer geschlossenen Wand entlang flanieren müssen, wurde damals gleich der gesamte Straßenraum auf das sichere Niveau angehoben. Auch beim Elbdeck hat man sich für diese Lösung entschieden. Die rückwärtige Straße steigt auf das Niveau der drei Neubauten an, um von deren östlichem Ende aus den steilen Elbhang zu erklimmen; Bewohner und Besucher können somit auch bei Sturmflut trockenen Fußes in die höher gelegene Stadt gelangen. Auch im Westen schließt ein Flutschutzsockel an (Polderbauten Neumühlen). So gehen nunmehr drei Polder in ein einziges langes, begehbares Flutschutzbauwerk über. Doch nur der Elbdeck-Polder besitzt wirkliche Aufenthaltsqualität: Die angeschrägten Stirnseiten schaffen zwei Freiflächen, von denen die eine nach Süden zum Speicher und die andere nach Norden zum grünen Geesthang orientiert ist. Zusätzlich zu den Treppenläufen und Rampen wurde fast die gesamte Südseite des Sockels mit Sitzstufen versehen, die an schönen Tagen zum Verweilen in der Sonne einladen. Anders als in der Hafencity, wo die hochwassersicheren Erschließungen zu nah an die historischen Gebäude wie das Alte Hafenamt oder die Speicherstadt heranrücken und sie quasi in einer Grube versinken lassen, hält der Polder hier einen respektvollen Abstand zum Bestand. Umso bedauerlicher ist es, dass sich die Fläche zwischen Polder und Kaispeicher als notwendige Straße nicht ebenso ansprechend zu einem Platz umgestalten ließ, sondern vorwiegend als Stellfläche dient. Um die Massivität des Polders so gering wie möglich zu halten, endet er genau auf der Hochwasserlinie. Die Freiflächen sind als Wellenauslaufzone konzipiert und steigen zur Mitte hin an. Doch Sturmfluten gehen in Hamburg oft mit starken (West-)Winden einher. So mussten die besonders exponierten Wohnungen an der westlichen Stirnseite mit Prallschutzscheiben gegen Wellenschlag geschützt werden.

Alle Oberflächen des Sockels bestehen aus zartrot eingefärbten hochwertig wirkenden Beton-Fertigteilen. Sie korrespondieren trefflich mit den Fassaden aus hellrotem Ziegel, (der die zum Hang gerichteten Seiten dominiert) sowie der Kombination aus weißem Putz und großzügiger Verglasung nach Süden, zum Fluss hin. Kein Baukörper gleicht dem anderen, jeder besitzt einen eigenen Charakter und doch klingen sie schön zusammen. Roth setzt mit diesen hellen, differenzierten Fassaden dem strengen, an grauen Tagen geradezu düsteren Klinker-Hamburg Schumachers eine heitere, fast mediterrane Note entgegen. Wer einmal das Treppenviertel von Blankenese in seiner beinahe schon italienischen Anmutung gesehen hat, versteht, dass der Architekt hier an alte lokale Traditionen anknüpft. Städtebaulich und architektonisch darf das Elbdeck als eine makellose Perle in der Kette der Neubauten am Altonaer Elbufer gelten. Eine, die allerdings ihren Preis hat: Für die Wohnungen mit weitem Blick werden Kaltmietpreise von bis zu 26 Euro pro m² aufgerufen. Die Zeiten, als beispielsweise am Fischmarkt noch Genossenschaftswohnungen mit herrlichem Blick auf den Hafen gebaut wurden, liegen eben ein paar Jahrzehnte zurück. Die Ladenflächen werden wohl v. a. an die am Elbufer ohnehin omnipräsenten Edelgastronomen vermietet – der Fernsehkoch Steffen Henssler z. B. wird im Sommer hier eröffnen. Normalsterblichen bleibt somit nur, sich sommers aufs öffentlich zugängliche Polderdeck zu setzen und sich – die Architektur lädt dazu geradezu ein – ans Mittelmeer zu träumen.

db, Di., 2015.03.31



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db 2015|04 An und auf dem Wasser

06. Juli 2014Claas Gefroi
db

Stadt statt City

Zwischen dem Hamburger Rathausmarkt und der Speicherstadt dominieren verkehrsumtoste Bürogebäude die Innenstadt. Mit dem Katharinenquartier ist ein gestalterisch und städtebaulich richtiger Schritt getan, sowohl Wohnraum zu schaffen als auch innerstädtische Verbindungen zu stärken. Wenn jetzt auch noch die Mieten bezahlbar wären ...

Zwischen dem Hamburger Rathausmarkt und der Speicherstadt dominieren verkehrsumtoste Bürogebäude die Innenstadt. Mit dem Katharinenquartier ist ein gestalterisch und städtebaulich richtiger Schritt getan, sowohl Wohnraum zu schaffen als auch innerstädtische Verbindungen zu stärken. Wenn jetzt auch noch die Mieten bezahlbar wären ...

Wer sich von Jungfernstieg oder Rathausmarkt aus in Richtung Landungsbrücken, Speicherstadt oder HafenCity aufmacht, der trifft unweigerlich auf sie: Die Ost-West-Straße (heute: Ludwig-Erhard- und Willy-Brandt-Straße). Einen unwirtlicheren Ort als diese Verkehrsschneise lässt sich kaum denken. Die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts angedachte Durchgangsstraße wurde in den Nachkriegsjahren mit sechs Spuren durch die kriegsversehrte historische Innenstadt geschlagen und teilt sie seitdem in einen nördlichen und südlichen Bereich. Es ist nicht allein der stetig lärmende Verkehr, der Passanten flüchten lässt, sondern auch die Bebauung mit Büro- und Geschäftshausriesen ringsum: Radikal wie nirgendwo sonst in Hamburg wurde hier die Transformation von einer gemischten, kleinteiligen Innenstadt hin zur monofunktionalen, autogerechten Geschäfts- und Verwaltungs-City durchgesetzt. Die Austreibung des Wohnens aus dem Zentrum begann zwar bereits in den Zwischenkriegsjahren mit dem Abriss der »Gängeviertel« genannten Arme-Leute-Quartiere und dem Bau des Kontorhaus-Geschäftsviertels, wurde jedoch nach 1945 – mit der Charta von Athen als ideologischem Rüstzeug – radikal ausgeweitet. In der Hamburger Altstadt, einst Wohnort von 80 000 Menschen, leben heute gerade noch anderthalb tausend.

Kurswechsel

Noch bis in die 90er Jahre wurde hier Baulücke um Baulücke, Brachfläche um Brachfläche mit Büro- und Geschäftshäusern gefüllt. Erst 2002 entstand mit dem Michaelis-Quartier von Steidle + Partner neben Büroflächen erstmals auch wieder Wohnraum. Seitdem haben eine veritable Wohnungsnot, der Zwang des Stadtstaats zum Binnenwachstum und der Wunsch vieler Menschen, wieder in zentralen Bereichen der Stadt zu leben, einen Kurswechsel hin zu vermehrtem Wohnungsbau in der City eingeleitet. Katalysator für diese Entwicklung ist der Wettbewerb der Metropolen sowohl um Unternehmen als auch solvente Neubürger und kaufkräftige Touristen. Die Ödnis einer nach Geschäftsschluss verwaisten Hamburger Innenstadt ist unattraktiv und nicht mehr konkurrenzfähig. Sie erweist sich zudem als Handicap für die südlich anschließende HafenCity, die als Innenstadt-Erweiterung geplant wurde und doch durch die die Willy-Brandt-Straße umgebenden Büroviertel abgetrennt bleibt. Die von HafenCity GmbH und Oberbaudirektor Jörn Walter erträumten attraktiven Nord-Süd-Verbindungen blieben bislang nicht mehr als eine vage Idee.

Ein erster wichtiger Meilenstein auf dem Weg zurück von der City zur Stadt wurde nun jedoch erreicht: Zwischen der Willy-Brandt-Straße und der Hauptkirche St. Katharinen entstand das Katharinenquartier, ein Ensemble aus einem Büro- und Geschäftshaus und zwei großen Wohngebäuden mit 131 Wohnungen. Der Impuls für den Bau des Quartiers ging von Bezirk und Stadt aus: Sie verlagerten die örtliche Grundschule in die HafenCity, was als Kollateralschaden den Abriss der ersten, quasi als Prototyp dienenden Typenschule des Architekten und Baudirektors Paul Seitz von 1957 nach sich zog. Auf dem so frei gemachten Grundstück sollte ein gemischtes Quartier mit einem hohen Wohnungsanteil von 60 % entstehen. Die Hochtief Projektentwicklung griff zu und lobte 2007 einen städtebaulichen und hochbaulichen Wettbewerb aus, den Darlington Meier Architekten aus Zürich gewannen. Das Preisgericht hob positiv die Vermeidung eines starren, geschlossenen Blocks und die Idee von zwei an der Kirche liegenden Plätzen hervor, empfahl jedoch, die Fassaden weiterzuentwickeln und v. a. zu überprüfen, »ob die Blickbeziehung zum Turm der St. Katharinenkirche (…) ausreichend gewährleistet ist«. In der Tat wäre die Sicht von Norden auf eine der bedeutendsten Kirchen der Stadt durch den als Lärmschutz für die Wohnbereiche gedachten Büroriegel an der Willy-Brandt-Straße verstellt gewesen, auch, weil Oberbaudirektor Jörn Walter und die Stadtplaner des Bezirks Mitte hier eine an der Gründerzeit orientierte »städtische« Gebäudehöhe von sieben bis acht Geschossen wollten. Während und nach der öffentlichen Plandiskussion erhob sich, ausgehend von der Kirchengemeinde, ein Sturm der Entrüstung. Zu wenig hatten Bauherr, Politik und Verwaltung offensichtlich die stadträumlichen Auswirkungen und die Sensibilität der Bevölkerung bedacht. Man hätte es besser wissen müssen, denn bereits einige Jahre zuvor führte, nur wenige hundert Meter weiter westlich, der Bau des Michaelis-Quartiers zu einem ähnlichen Eklat, weil eine turmartige Erhöhung die Sicht auf den Michel eingeschränkte.

Lohnende Diskussion

Nun wurde eilig zur öffentlichen Auslegung des Bebauungsplan-Entwurfs nachgebessert, die Höhe des Gewerberiegels auf sechs Geschosse reduziert, eine Glasfuge eingeplant, die Fassaden überarbeitet. Doch dies reichte den Bürgern nicht; ihre Kritik weitete sich aus auf grundsätzlichere Aspekte: Statt das Areal nur einem einzigen Unternehmen zu überlassen, hätte man es in mehrere aufteilen sollen, um Kleinteiligkeit und Vielfalt zu fördern. Die blockartige Struktur zementiere die trennende Wirkung der Durchgangstraße statt sie abzumildern. Und nicht zuletzt entspann sich eine intensive Diskussion darüber, ob die Bürger bei der Entwicklung von Leitlinien für die Stadtentwicklung und der Planung von wichtigen Projekten nicht frühzeitig und intensiv beteiligt werden müssen, was 2012 zur Gründung der Stadtwerkstatt führte. Um ein drohendes Bürgerbegehren abzuwehren, führten Bezirk, Oberbaudirektor und Architekten zahlreiche Gespräche mit dem Kirchenvorstand und der Bürgerinitiative, in denen um die konkrete Umsetzung des Projekts gerungen wurde. Das Konzept des Preisträgers wurde schließlich durch die seinerzeit im Wettbewerb viertplatzierten Architekten KPW Papay Warncke und Partner überarbeitet, weiterentwickelt und zur Baureife gebracht.

Dem nun fertiggestellten Ensemble sieht man seine komplizierte Planungsgeschichte nicht an: Es erscheint trotz unterschiedlicher Fassadengestaltungen und Höhenstaffelung aus einem Guss, prägnant und identitätsstiftend. Bemerkenswert ist, wie KPW Architekten die unterschiedlichen und sich teils widersprechenden Anforderungen dieses ambivalenten Orts erfüllten: Der Büroriegel wurde durch eine schmale Fuge in zwei Körper geteilt, wobei der westliche auf fünf Etagen reduziert wurde, um von Zollenbrücke und Domstraße den Blick auf die Kirche zu erhalten. Die hochformatigen Fenster mit ihren schmalen Aluminiumeinfassungen verdeutlichen das innere Stützraster und die Büronutzung; im EG sind sogar – ein Quantensprung an dieser Straße – Geschäfte vorgesehen. Hinter dem Bürohaus liegen die beiden, ebenfalls C-förmigen Wohnhäuser mit ihren farblich nuancierten Klinkerfassaden. Durch die farbigen Klinkerfelder aber auch durch Einschnitte und eine zart gefaltete Dachlandschaft werden die großen Gebäude differenziert und greifen in abstrakter Form die Parzellenstruktur der einstigen Altstadtbebauung auf. Verbindendes Element sind die markanten Faschen aus Wasserstrich-Klinkern oder Beton-Fertigteilen, die den Fassaden Lebendigkeit und Tiefe verleihen.

Wiederbelebt aber teuer

Städtebaulich hat sich der Masterplan von Darlington Meier bewährt: Die drei Gebäude umfassen Höfe, die genau das richtige Maß zwischen Offenheit und Geschlossenheit finden. Es ist unerwartet ruhig hier, man fühlt sich geborgen und dennoch nicht abgeschlossen von der Außenwelt – auch, weil die von den Landschaftsarchitekten Breimann & Bruun ersonnenen Rasen- und Steinstreifenmuster den gesamten Innenbereich durchziehen und so zusammenfassen. Das Spektrum der Wohnungsgrößen und -zuschnitte ist breit und reicht von 41 m² großen Einzimmerwohnungen bis zu 4,5-Zimmer-Maisonettewohnungen auf großzügigen 160 m². Bewohner der wenigen zu den Straßen orientierten EG-Wohnungen (man hat wohlweislich auch Läden und einen Fahrradraum in diese Zone gelegt) sollten jedoch eine gewisse exhibitionistische Neigung besitzen, denn man kann ihnen (wenn man nicht für Sichtschutz sorgt) durch die tief hinabreichenden Fenster weit in die Privatgemächer schauen. Zwar erscheint die Lage der Bauten direkt an öffentlichen Fußwegen sehr urban, doch hätte vielleicht eine schmale Vorgartenzone das Aufeinandertreffen von Privatem und Öffentlichem ein wenig mehr moderiert. Die ebenfalls mutige Entscheidung, die Wohnhäuser nah an die Kirche heranzurücken, war hingegen goldrichtig. Sie steht nun nicht mehr verloren für sich, sondern ist eingebettet in ein städtisches Umfeld, und der Bereich zwischen ihr und dem Quartier wird sich, wenn denn einmal der kirchliche Parkplatz aufgegeben wird, zu einem lauschigen Platz entwickeln. Als Wermutstropfen bleiben die nicht unerheblichen Wohnungspreise von 16 bis 17 Euro pro m², die der Entwicklung eines auch sozial gemischten Quartiers entgegenstehen. Die Zeiten, als dieser Teil Hamburgs die Heimat der Ärmeren war, sind eben lange vorbei. Doch funktional, städtebaulich und architektonisch markiert das Katharinenquartier, nach vielen vertanen Chancen, endlich den Anfang vom Ende der City und einer Wiedererweckung der Stadt. Das dies erreicht wurde, ist nicht zuletzt auch ein Verdienst der Bürger, deren Engagement ein gutes Projekt noch besser gemacht hat.

db, So., 2014.07.06



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db 2014|07-08 Stadt quar tiere

19. Mai 2014Claas Gefroi
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Brücke mit Lücke

Die Baakenhafenbrücke ist mit 168 m Gesamtlänge keine Rekordbrücke, durch ihren beweglichen Mittelteil, der bei Bedarf für die Durchfahrt größerer Schiffe mit dem Tidenhub herausgehoben werden kann, weist sie aber mindestens eine (versteckte) Besonderheit auf. Bleibt der eine oder andere Aspekt auch diskussionswürdig, so ist dem Team aus Tragwerksplanern und brückenerfahrenen Architekten doch eine wertvolle Bereicherung der Hamburger Brückenlandschaft gelungen.

Die Baakenhafenbrücke ist mit 168 m Gesamtlänge keine Rekordbrücke, durch ihren beweglichen Mittelteil, der bei Bedarf für die Durchfahrt größerer Schiffe mit dem Tidenhub herausgehoben werden kann, weist sie aber mindestens eine (versteckte) Besonderheit auf. Bleibt der eine oder andere Aspekt auch diskussionswürdig, so ist dem Team aus Tragwerksplanern und brückenerfahrenen Architekten doch eine wertvolle Bereicherung der Hamburger Brückenlandschaft gelungen.

Die Lage der Hamburger HafenCity an der Norderelbe im früheren Freihafen macht den besonderen Reiz des neuen Stadtteils aus – ist aber auch eine große Herausforderung für die Planung der Infrastruktur. Geprägt ist das Gebiet von vier alten Hafenbecken, an deren Kaikanten einst die Stückgutfrachter festmachten, um Waren aufzunehmen oder zu löschen. Die Abfolge von Wasser- und Landflächen macht den amphibischen und maritimen Charakter dieses Raums aus, führt aber auch zu langen Wegen insbesondere auf die Kaiflächen. Ganz besonders gilt dies für den 1887 gebauten 130 m breiten und 1,5 km langen Baakenhafen. Wollte man aus Richtung Innenstadt auf die südliche Landzunge dieses Hafens gelangen, musste man dafür bislang bis zu den Elbbrücken vordringen, um das Gewässer zu umfahren.

In den nächsten Jahren nun wird die HafenCity hier mit mehreren Wohngebieten weiter ostwärts wachsen, weshalb eine Verkürzung der Wege durch eine neue Brücke unumgänglich wurde, die das Baakenhöft mit den nördlich gelegenen HafenCity-Quartieren und der neuen U-Bahn-Haltestelle an der Universität verbindet. Eine Brücke allerdings bedeutet einen empfindlichen Eingriff in die Stadttopografie, die hier von einem offenen Hafenbecken geprägt ist, das weite Blicke in Ost-West-Richtung zulässt. Eine weitere Anforderung war, dass im Bedarfsfalle auch größere Schiffe die Brücke passieren können. Folgerichtig wäre an dieser Stelle eine möglichst filigran gehaltene bewegliche Brücke zu bauen gewesen, doch der Bauherr, die städtische HafenCity GmbH, entschied sich anders: Klapp- oder Hubbrücken hielt man für zu auffällig und Drehbrücken für zu teuer und wartungsintensiv.

Die im Wettbewerb siegreichen Wilkinson Eyre Architects entwickelten zusammen mit den Berliner Ingenieuren von Buro Happold deshalb gleichsam eine eierlegende Wollmilchsau, um die funktionalen und ästhetischen Anforderungen unter einen Hut zu bekommen. Ihre 170 m lange und 21 m breite Baakenhafenbrücke ist eine Kragträgerbrücke, in der das mittlere Element jedoch für Durchfahrten großer Schiffe auszuheben ist. Die Art und Weise, wie hierfür die Kraft der Gezeiten genutzt wird, ist weltweit einzigartig: Bei Ebbe wird ein Ponton mit aufgebautem Trägerrost unter das 30 m lange Aushubelement geschleppt und dort gesichert; dann werden Pressen an den Lagern des Brückenelements eingebaut und die Fahrbahnübergänge sowie die Ver- und Entsorgungsleitungen getrennt. Die Pressen heben das Brückenelement, bis sich die Lager lösen. Mit einlaufender Flut werden Ponton und Brückenteil schließlich emporgehoben und per Schlepper zur Seite gefahren. Zum Wiedereinsetzen des Brückenteils wird in umgekehrter Reihenfolge verfahren. Das Ganze ist aufwendig und zeitintensiv; allein der Aushubvorgang dauert acht Stunden und kann nur an verkehrsarmen Wochenenden erfolgen. Da jedoch rechnerisch nicht mehr als 0,2 Öffnungen pro Jahr vorgesehen sind, erschien der Stadt dieser Nachteil vertretbar. Allzu viele Schiffspassagen dürfen es auch nicht werden, denn die momentane Ruhe täuscht: Im Quartier am Baakenhafen werden einmal 1800 Menschen wohnen und 2500 Menschen arbeiten. Zudem bildet die Straße über den Kai eine wichtige Ausweichroute für den Verkehr zwischen der Innenstadt und den Stadtteilen südlich der Elbbrücken, wenn – wie zurzeit – die nördlich verlaufende Versmannstraße gesperrt ist.

Mächtiges Verkehrsbauwerk durchaus leicht und elegant

So entstand im Ergebnis eine auf hohe Verkehrsbelastung ausgelegte, 2300 t schwere Straßenbrücke, die eine entsprechende Präsenz besitzt. Architekten und Tragwerksplaner taten jedoch einiges, um den gewaltigen Bau optisch zu verkleinern und zu dynamisieren: So wurden die Stützenpaare V-förmig ausgeführt und erhielten facettierte Oberflächen, um sie zusätzlich schlanker wirken zu lassen. Der Überbau erscheint in der Seitenansicht recht schmal und schwungvoll, weil die außen verlaufenden Fußwege von sich verjüngenden Kragarmen getragen werden und zudem sacht auf- und absteigen. Zusätzlich variieren, dem Kräfteverlauf in sanften Kurven folgend, die Hauptlängsträger in der Höhe zwischen 2 und 4 m. Oberhalb der (zur Gewichtsreduzierung als orthotrope Platte ausgeführten) Fahrbahnplatte werden sie geschickt als sich verbreiternde Trennwände zwischen Fahrspuren und Fußwegen genutzt. In ihrem Schutz weiten sich die auf- und absteigenden Fußwege nach außen zu »Belvedere« genannten, mit Sitzbänken versehenen Aussichtsbereichen auf. Ob sie angesichts der Hamburger Witterung und des hier stetig wehenden Winds tatsächlich zu Orten des Verweilens werden, dürfte der kommende Sommer zeigen.

Ob gewollt oder ungewollt manifestiert sich in der Separierung der Brückenoberfläche durch Raumteiler aber auch die recht anachronistisch erscheinende Verkehrsplanung der HafenCity mit ihrer strikten Trennung von Autofahrern, Fußgängern und Radfahrern. Für letztere ist sie an dieser Stelle eine unangenehme Erfahrung: Als Radler fühlt man sich, weil die Radwege als nur durch eine Linie abgetrennte Streifen entlang der Autofahrbahnen geführt werden, zwischen Autos und Stahlwand eingeklemmt und unsicher. Nicht eben zuversichtlich stimmt außerdem die Möglichkeit, bei steigendem Verkehrsaufkommen durch Wegfall des Mittelstreifens und Verschmälerung der Rad- streifen die Zahl der Autospuren von zwei auf drei zu erweitern.

Nachhaltigkeit sei die entscheidende Leitlinie für die Planung der Brücke gewesen, verkünden die Planer. Nicht nur die Anpassungsfähigkeit an einen steigenden Autoverkehr zeigt, dass damit weniger ökologische Aspekte als die Verlängerung der Lebensdauer und die Reduktion der Wartungskosten gemeint sind: So wird die Entwässerung oberhalb der Hauptträger entlang geführt, um diese nicht durchdringen zu müssen. Deren Stahlhohlträger sind luftdicht geschweißt, um Korrosion zu vermeiden. Die Winkel von Trägern und Flanschen sind so gewählt, dass sich keine Vögel auf ihnen zum Nisten niederlassen. Löcher und Schlitze auf der Unterseite des Überbaus dienen der Aufhängung von Baugerüsten.

Die Baakenhafenbrücke ist effizient und wirtschaftlich – einfach und eingängig erscheint sie nicht. Entsprechend der Straßenführung und der Ausrichtung des nebenan entstehenden Lohseparks quert die Brücke den Baakenhafen in einem ungewöhnlichen Winkel von 60 Grad, was zu einer schiefwinkligen Geometrie aller Komponenten des Überbaus führt. So wird die Komplexität der vom Auf und Ab, den Schwüngen und Brechungen der verschiedenen Bauteile geprägten Brücke noch weiter gesteigert – sie erscheint vielschichtig und spannungsreich – aber auch ein wenig unausgewogen und unübersichtlich. Auch der monolithische Aufbau, also die direkte Verbindung des Überbaus mit den Stahlstützen ohne (wartungsintensive) Fugen und Lager trägt nicht zu einem intuitiven Erfassen des Kräfteverlaufs bei – verstehen wird ein Laie diese Konstruktion nicht; er muss ihr vertrauen. Damit passt die Baakenhafenbrücke gut in unsere Zeit, in der wir hochkomplexe und -effiziente Technologien nur mehr nutzen, sie aber nicht mehr durchschauen und uns wirklich aneignen können. Ihre Hüllen besitzen Kraftlinien und Schwünge, die Emotionen erzeugen, doch die Kühle und Undurchdringlichkeit bleibt bestehen. Was zumindest den Hamburger jedoch am meisten betrübt: Die massive Brücke mit ihren beiden riesigen Beton-Strompfeilern schränkt die Weite des Blicks ein und unterbricht die wichtige optische Verbindung zwischen Hafenbecken und Elbe. Dass der Baakenhafen kein Binnengewässer, sondern einer der ältesten und wichtigsten Umschlageplätze dieses tideoffenen Hafens war, ist so nur noch zu erahnen.

db, Mo., 2014.05.19



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db 2014|05 Ingenieurbaukunst

03. März 2014Claas Gefroi
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Milchlehrpfad

Eine der wichtigsten Grundsätze, durch die sich die ökologische Landwirtschaft von der herkömmlichen unterscheidet, ist die Transparenz: Der Verbraucher soll Einblick in Herkunft und Produktion der Lebensmittel erhalten. Dass sich dies nicht auf Herkunftsangaben und Biosiegel beschränken muss und zudem architektonisch überzeugend umhüllt sein kann, zeigt die »Gläserne Molkerei« in Dechow in Mecklenburg- Vorpommern.

Eine der wichtigsten Grundsätze, durch die sich die ökologische Landwirtschaft von der herkömmlichen unterscheidet, ist die Transparenz: Der Verbraucher soll Einblick in Herkunft und Produktion der Lebensmittel erhalten. Dass sich dies nicht auf Herkunftsangaben und Biosiegel beschränken muss und zudem architektonisch überzeugend umhüllt sein kann, zeigt die »Gläserne Molkerei« in Dechow in Mecklenburg- Vorpommern.

Weit ragen die Vorstellung des Konsumenten und die Wirklichkeit in der ökologischen Landwirtschaft auseinander. In den Wunschträumen des Stadtmenschen grasen glückliche Kühe in pittoresken Landschaften und der Bauer bringt die von Hand gemolkene Milch in Kannen zur Molkerei. In der Realität wird der Ökolandbau heute, trotz aller Unterschiede, genauso professionell und effizient betrieben wie die konventionelle Landwirtschaft, ansonsten wäre der rasant wachsende Markt nicht zu bedienen.

Michael Müller und Hubert Böhmann führen das Unternehmen mit dem Ziel, den Weg der Bio-Milch vom Bauern über die Produktion bis zum Verbraucher aufzuzeigen. Zunächst errichteten sie 2011 die Gläserne Molkerei Münchehofe im nördlichen Spreewald, die v. a. den Großraum Berlin beliefert. Die 2012 im Biosphärenreseservat Schaalsee fertiggestellte zweite Molkerei bedient hingegen den deutschen Norden mit dem Schwerpunkt Hamburg. Sie gleicht der ersten wie ein Zwillingsbruder – kein Wunder, denn beide wurden von den Berliner Architekten Lehrecke Witschurke geplant. Der 91 m lange und 33 m breite Bau liegt wunderschön nahe des Naturparks Lauenburgische Seen und inmitten der Schaalsee-Region. Gewiss spielten die landschaftlichen Reize bei der Standortwahl für eine Molkerei, die auch Besucher anlocken soll, eine wichtige Rolle, doch wichtiger waren die finanzielle Förderung durch das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern und die Lage nahe der Biohöfe, um die Transportwege der Milch kurz zu halten. Der Betrieb liegt nun auf dem aufgegebenen Hof einer ehemaligen LPG am Rande des kleinen Dörfchens Dechow unweit des Röggeliner Sees. Das Zweihundert-Seelen-Dorf ist bemerkenswert: Sein Konzept »Lebendiges Dorf Dechow« gibt Leitlinien für die Gemeinschaft und das Erscheinungsbild des Orts vor, umgesetzt von gleich zwei Fördervereinen. So wurde eine Gestaltungssatzung erlassen, die eine ortsangepasste Bebauung sicherstellen soll. Historische Bausubstanz wird erhalten, die innerörtliche Begrünung fügt sich in das Biosphärenreservat ein und eine nachhaltige Wirtschaftweise aller örtlichen Betriebe trägt zum Erhalt der schützenswerten Kulturlandschaft bei. Lohn der Mühen war die Goldmedaille beim Bundeswettbewerb »Unser Dorf hat Zukunft«.

Die Gläserne Molkerei dürfte ihren Anteil an der Vergabe des Preises gehabt haben, vereint sie doch eine zeitgemäße Produktionsweise mit Offenheit und einer zurückhaltenden, disziplinierten Gestaltung. Ziel ist es, Besuchern in die Herstellung von Bio-Milch-Produkten Einblick zu geben, sie zu bewerben und zu verkaufen. Dies ergibt durchaus einen Sinn, denn die Region ist mit ihren vielen Seen ein beliebtes Ausflugs- und Urlaubsziel; von Ratzeburg ist es hierher nur ein Katzensprung. Auf dem Weg durch das Dorf bemerkt man die Molkerei erst spät, denn der kompakte Massivbau fügt sich dank einer Lärchenholz-Lamellenfassade diskret in die Landschaft – wären da nur nicht drei riesige Tanks direkt vor dem Holzriegel. Die Architekten hätten sie lieber auf der dorfabgewandten Gebäudeseite gesehen, wo, gleich neben der Anlieferung, ohnehin zahlreiche Rohmilch-Lagertanks stehen, doch ließen produktionstechnische Zwänge keine andere Wahl. Die Konstruktion des Hallenbaus besteht aus tragenden Stahlbetonwänden, Konstruktionsvollholz-Stützen und 31 m weit spannenden Dachbindern. Die Außenwände wurden konsequent mit rhombisch geschnittenen Lärchenholz-Lamellen umhüllt: Türen und Anlieferungstore sind ebenso bekleidet wie die Fenster von Büros und Produktionsbereichen, diese allerdings mit großen Sichtschlitzen. Ausgenommen wurde lediglich der in der nordöstlichen Ecke integrierte Hofladen, der durch die raumhohe, zurückgesetzte Verglasung eine Betonung im gleichförmigen Fassadenbild erhält – eine einladende Geste, die Besucher wie von selbst in die Molkerei leitet. Betritt man diesen Bereich, ist man überrascht von der Weite des sich über beide Etagen erstreckenden Raums mit seiner eingezogenen Galerieebene. Ebenerdig befindet sich ein Verkaufsraum, der in seiner Modernität eher an einen Supermarkt als an einen Hofladen denken lässt. Hier kann man die Erzeugnisse der Molkerei und andere regionale Bio-Produkte kaufen, sich aber auch zu Kaffee und Kuchen niederlassen. Wände, Regale und der frei stehende Verkaufstresen sind mit Holzlamellen bekleidet und führen somit das Fassadenthema im Innern fort. Die vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster leiten viel Licht in den Raum und lassen weite Blicke in die Landschaft zu – eine geradezu symbolische Verknüpfung der Molkerei mit ihrem Umfeld. Gleich nebenan und doch den Blicken verborgen befinden sich die Büroarbeitsplätze in der nordwestlichen Gebäudeecke, erschlossen von einem separaten Eingang.

Transparenz in der Produktion

Auf der Galerieebene des Ladens sammeln sich die Besucher zu den Führungen durch die Produktion. Nach der Einführung geht es durch eine Tür. Der Überraschungseffekt ist groß, denn jäh befindet man sich in einem langen, gläsernen Gang, der im oberen Geschoss die Produktionshalle durchmisst. Durchschreitet man ihn, erhält man Einblicke in alle Bereiche des Betriebs – von der Anlieferung über die Herstellung von Milch, Butter, Quark und Joghurt bis zu den Verpackungs- und Lagerbereichen. Ein hoch kompliziertes Gewirr von Tanks, Rohren und Maschinen vertreibt jede romantische Vorstellung vom ländlichen Idyll – man wähnt sich eher in einem aseptischen Labor. Alles ist hier auf Effizienz getrimmt und durchrationalisiert; nur wenige Mitarbeiter sieht man in der Halle. Die Architektur endet abrupt, hier hatten allein Ingenieure und Anlagenplaner das Sagen. Immerhin konnten die Architekten dafür sorgen, dass die meisten Rohre, Tanks und Maschinen an die Außenwände gerückt wurden um so einen Überblick zu ermöglichen. Dennoch herrscht eine gewisse Enge in der Halle; die Butterei steht mitten in der Erschließungsgasse, und man spürt, dass die Produktion voll ausgelastet und die Halle schon jetzt, kurz nach Inbetriebnahme, an ihre Kapazitätsgrenzen stößt. Hinter dem Produktionsbereich wandelt sich der gläserne Gang in einen geschlossenen Flur, von dem durch Fenster weitere Blicke in Technik-, Lager- und Verpackungsräume möglich sind. Der Gang endet schließlich in einem Veranstaltungsraum, in dem bei Snacks und Getränken die Führungen ausklingen, aber auch Informationsveranstaltungen für interessierte Bauern stattfinden. Der Raum mündet in eine geschützte Außenterrasse; die dank der Lärchenholz-Lamellenbekleidung eine ganz eigene, skulpturale Qualität erhält. Von hier führt schlussendlich eine Treppe hinunter ins Freie.

Es ist ein fast schon ans Absurde grenzender Kontrast, nach dem Gang durch diesen hochtechnisierten Lebensmittelbetrieb plötzlich wieder in der lieblichen, verwunschenen Landschaft zu stehen. Die Gläserne Molkerei gibt tiefe Einblicke in den heutigen durchrationalisierten Ökolandbau und gibt ihm einen zeitgemäßen architektonischen Ausdruck, der alle Latzhosen-Klischees vergessen lässt. Wem das zu modern ist, der kann sich mit den Butter- und Milch-Packungen des Betriebs trösten. Darauf prangen ein Leuchtturm und zwei reetgedeckte Bauernhäuser. Das alte, ruhige Landleben – zumindest hier ist es erhalten geblieben.

db, Mo., 2014.03.03



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db 2014|03 Lebensmittel

11. November 2013Claas Gefroi
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Eleganz im Gewerbehof

In einem innerstädtischen Gewerbehof schuf Architekt Carsten Roth einen Bürobau, der nachverdichtend ein Stück Stadtreparatur leistet. Sein schwarz-schimmerndes Fassadenkleid verbindet dabei Understatement mit komplexer Anmut.

In einem innerstädtischen Gewerbehof schuf Architekt Carsten Roth einen Bürobau, der nachverdichtend ein Stück Stadtreparatur leistet. Sein schwarz-schimmerndes Fassadenkleid verbindet dabei Understatement mit komplexer Anmut.

Über zehn Jahre ist es her, dass die Hamburger Kommunikationsagentur fischerAppelt den Architekten Carsten Roth mit dem Umbau eines unscheinbaren Produktionsgebäudes der späten 50er Jahre im Hamburger Stadtteil Altona-Nord beauftragte. Damals war diese Gegend westlich des Szenestadtteils Schanzenviertel noch ein Geheimtipp, in dem man relativ günstig innerstädtisch wohnen oder seinem Gewerbe nachgehen konnte. Die Kreativ- und Werbebranche wird von Fabrikbauten ja geradezu magisch angezogen, vorausgesetzt, sie sind alt und besitzen Patina. Die Gebäude am Waterloohain aus den späten 50er und frühen 60er Jahren wurden somit links liegen gelassen, bis Carsten Roth und fischerAppelt ihr Potenzial entdeckten. Zunächst baute der Architekt den unauffälligen ockerfarbenen Klinkerbau Waterloohain 5 um und stockte ihn auf.

Es war diese weithin sichtbare Ergänzung, die mit ihren Winkeln und Asymmetrien, v. a. aber mit ihrer ungewöhnlichen, changierenden Farbigkeit die Konventionen Hamburger Bauens verließ und damit irritierte. Transparentes und verspiegeltes Glas und polyspektral beschichtetes Edelstahlblech, matt, glänzend oder gelocht, trafen hier zu einem Wunderwerk der optischen Täuschung zusammen, der Moderne verpflichtet und doch vielfältig lesbar. 2003 folgte der Umbau eines weiteren, vormals als Kegelcenter und Klubhaus genutzten Gewerbebaus zum Bürohaus, das der Bauherr an Medien- und Werbeagenturen sowie an Designbüros vermietet. Die angegriffene Betonfassade ließ Roth durch eine transluzente Industrieglashülle austauschen und eine zusätzliche Etage obenauf setzen, wiederum mit polyspektral-rot beschichtetem Edelstahl bekleidet.

Doch auch damit war der Umbau des innerstädtischen Gewerbegebiets zum »Medienpool Waterloohain« noch immer nicht zu seinem Ende gekommen. So widmete sich das bewährte Team aus Bauherr und Architekt nun einem Neubau als Ergänzung des Hauses Waterloohain 5.

Schwarz und schwebend

Waterloohain 5+ genannt, wird das neue Bürogebäude nur in der obersten Etage von der Agentur selbst belegt und im Übrigen an Medienfirmen vermietet. Da der Bebauungsplan lediglich vier statt der vom Bauherrn gewünschten fünf Etagen erlaubte, wurde das als Garage genutzte offene EG eingegraben und ragt nun die für Keller maximal zulässigen 1,40 m aus dem Erdboden. Ein schöner Nebeneffekt ist die daraus resultierende schwebende Anmutung des Hauses. Die Ausrichtung seiner Fassaden orientiert sich an der Stellung benachbarter älterer Gebäude, aber auch an der Aufstockung des Altbaus. Dadurch steht es in einem leichten Winkel zum bestehenden Gelbklinkerbau und rückt an seiner Südseite ganz nah an ihn heran – getrennt zwar durch eine schmale Fuge, zugleich jedoch verbunden mittels eines Übergangs, der in das Treppenhaus des Altbaus mündet. Städtebaulich übernimmt der neue Baustein im Ensemble eine wichtige Funktion, denn der viel zu weite und indifferente Straßenraum des Doormannsweg erhält durch ihn wieder eine Fassung. Carsten Roth hat die Aufgabe mit Bravour bewältigt, einen ganz eigenständigen Anbau zu gestalten, der dennoch nicht seinem Nachbarn die Show stiehlt.

Ausschlaggebend hierfür ist die Farbe. Wie schon bei den Aufstockungen und Treppenhausverkleidungen der beiden Altbauten verwendete Roth auch hier an den Fassaden mittels Galvanisierung polyspektral gefärbten Edelstahl, statt in Rot hier allerdings in Schwarz. Der Grund erschließt sich sofort: Dank seines dunklen Kleids tritt der Neubau nicht in Konkurrenz zum älteren Nachbarn. Das Schwarz erhielt jedoch einen leichten Rotstich, wodurch eine Verbindung zur Aufstockung des Altbaus hergestellt wurde – so subtil, dass man es erst auf den zweiten Blick bemerkt.

Die drei Glasfassaden des Neubaus sind von einer unregelmäßigen Struktur vertikaler Lamellen – Roth nennt sie Finnen – unterteilt. Diese je nach Geschoss und Fassadenseite unterschiedlich gedrehten Lamellen dienen als Sicht- und Sonnenschutz, verleihen der Fassade jedoch auch Tiefe und Rhythmus. Die unterschiedlichen Abstände der Finnen führen – besonders in der Schrägsicht – mal zu mehr geschlossen oder eher geöffnet anmutenden Fronten. Und wie nebenbei erhalten die Fassaden durch das je nach Geschoss unterschiedliche Stakkato der Lamellen eine ganz klassische horizontale Dreiteilung, da die mittleren beiden Etagen formal geeint zusammenwirken. Die Komplexität wird noch gesteigert durch unterschiedliche Auskragungen und Winkel einzelner Fassadenteile. Sie sind nie willkürlich gewählt, sondern von Gebäudefluchten und -höhen der Umgebung abgeleitet. Letztlich entsteht eine penibel detaillierte und raffinierte Textur, die Vergleiche mit der Haute Couture nahelegt – auch in der Farbqualität. Die alte Erkenntnis der Schneiderzunft, dass ein gänzlich schwarzer und matter Stoff leblos, ein Farbnuancierungen und Lichtreflektionen aufweisendes Gewebe hingegen lebendig und elegant wirkt, erfährt hier eine Übertragung auf die Architektur. Festlich und geheimnisvoll wie ein schwarzes Abendkleid oder ein Smoking erscheint diese Fassade: Wundervoll das leichte Farbspiel der Edelstahlplatten und das sanfte Schimmern im Licht, jäh gesteigert zu einem Funkeln an den Kanten der Sonnenschutzlamellen und der Horizontalbleche.

»Bügelfalten«

Die Fassade konnte derart zum Gestaltungselement und Bedeutungsträger werden, weil das Innere das Äußere vom Tragen entlastet. Die gerade einmal 20 cm breiten Unterzüge fächern sich – einer Schnittmusterzeichnung gleich – V-förmig auf und durchspannen die 16 m tiefen Räume in ganzer Breite ohne jegliche weitere Unterstützung und schaffen so stützenfreie Nutzflächen von 400 m² pro Geschoss. Die sie tragenden (ebenfalls äußerst schmalen) Stützen besitzen – auch hier bezieht sich Roth auf das Textile – »Bügelfalten« genannte vertikale Knicke, die sie schlanker und plastischer wirken lassen. Dieses Tragwerk ist aufs Äußerste optimiert und minimiert. Unwillkürlich fragt man sich, wie diese Konstruktion die Lasten halten kann. Die Weite des Raums, nur unterbrochen durch die notwendigen Einbauten für Toiletten und Küchen, setzt sich über die Glasfassaden in den Außenraum fort und beschert grandiose Blicke ins Grün stattlicher Straßenbäume oder auf die dichte heterogene Nachbarbebauung. Der Ausblick ist jedoch abhängig vom Standort, denn die schwarzen Lamellen entfalten auch im Innern ihre Wirkung: Je spitzer der Betrachtungswinkel, desto schmaler werden die Durchblicke zwischen ihnen und so werden aus Glasfronten geschlossen wirkende Wände. Eine Ausnahme bildet die gänzlich lamellenfreie gläserne Nordfassade im zweiten und dritten OG.

Das Offene ist zugleich geschlossen, das Äußere ein Teil des Innern, das Schwarze farbig: Carsten Roth zieht die Ambivalenz der Eindeutigkeit vor und spielt meisterhaft mit unserer Wahrnehmung. Dabei ist Waterloohain 5+ ein überaus zweckmäßiger, funktionaler, flexibler Bürobau. Sein so elegantes dunkles Kleid ist kein Ausdruck von Eitelkeit, sondern von Hochachtung gegenüber seiner Umgebung. Wie wusste schon Oscar Wilde: »Eine rote Rose ist nicht selbstsüchtig, weil sie eine rote Rose sein will. Es wäre aber furchtbar selbstsüchtig, wenn sie wollte, dass alle Blumen im Garten rote Rosen sind.«

db, Mo., 2013.11.11



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11. November 2013Claas Gefroi
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Dunkler Stein auf dem Schulhof

Dunkler, fast schwarzer Klinker ist ein ungewöhnliches Fassadenmaterial für einen Schulbau. Doch für die Dreifachsporthalle mit zusätzlichem Veranstaltungssaal der Stadtteilschule in Hamburg-Bergedorf war er genau die richtige Wahl: Der Neubau drängt sich nicht auf und bildet doch ein kraftvolles Zentrum in einem heterogenen Umfeld.

Dunkler, fast schwarzer Klinker ist ein ungewöhnliches Fassadenmaterial für einen Schulbau. Doch für die Dreifachsporthalle mit zusätzlichem Veranstaltungssaal der Stadtteilschule in Hamburg-Bergedorf war er genau die richtige Wahl: Der Neubau drängt sich nicht auf und bildet doch ein kraftvolles Zentrum in einem heterogenen Umfeld.

Wer, wie der Autor, im zentrumsnahen Bereich Hamburgs wohnt, für den ist es gar nicht so leicht, hierher zu finden. Auf der gut ausgebauten Bundesstraße bis ins Herz des südöstlichen Bezirks Bergedorf verpasst man schnell die kleine Seitenstraße, die durch beschauliche Einfamilienhausgebiete zur Stadtteilschule Bergedorf führt. Diese war früher eine Gesamtschule, bevor in Hamburg im Zuge einer Reform Haupt-, Real- und Gesamtschulen zu Stadtteilschulen umgewandelt wurden. Hamburger Gesamtschulen der 70er Jahre zeigen sich in der Regel als große Bildungsmaschinen im Stile des Brutalismus'. Nicht so in diesem Fall, denn die 1979 gegründete Gesamtschule nutzte bereits vorhandene Pavillons einer Vorgängereinrichtung. Diese in die Jahre gekommenen Waschbetonbauten der späten 60er und frühen 70er Jahre prägen noch heute das weitläufige Schulgelände und sollen nach und nach saniert werden. Bereits 2009 kam es im Zuge der Modernisierung der alten Sporthalle bei Dacharbeiten zu einem Brand, durch den das gesamte Dach einstürzte. So blieben nur Abriss und Neubau. Die Schule nutzte die Chance und erweiterte zur Stärkung ihres musischen Schwerpunkts die Bauaufgabe Sporthalle um einen Saal für kulturelle Veranstaltungen.

Startschuss

Für die mit dem Neubau beauftragten BKS Architekten aus Hamburg war dies keine einfache Aufgabe. Eine städtebauliche oder architektonische Orientierung gab es nur bedingt, da die umgebenen Schulbauten in den nächsten Jahren umgebaut oder ersetzt werden sollen. So steht die Sporthalle, ergänzt um das Kulturforum für einen Neustart der Schule. Die Architekten waren sich ihrer Verantwortung dabei bewusst und wollten den heterogenen und sich weiter wandelnden Ort beruhigen und nicht zu stark vorprägen. Naturgemäß führt eine Dreifeldsporthalle mit Nebenräumen und angegliedertem Kulturbereich zu einem beachtlichen Gebäudevolumen, das die Planer nicht zu dominant erscheinen lassen wollten. So erfuhren die Fassaden eine feine Gliederung: Langgezogene geschlossene Flächen wechseln sich mit bündig eingesetzten Fenstern ab. Zudem verliert der große Quader der Halle durch weitere wohlüberlegte Details seine Mächtigkeit: Das Vordach auf der Eingangsseite weitet sich in einem sachten Winkel, den ein eingeschossiger Anbau für Nebenräume aufnimmt und weiterführt. Auf der Rückseite wurde die notwendige Fluchttreppe nicht einfach als Metallkonstruktion angehängt, sondern ebenfalls als backsteinbekleideter massiver Körper ausgebildet. Zusätzliche Spannung erzeugt die Dachform: Das Satteldach der eigentlichen Halle ergänzt noch ein weiteres Pultdach für den Umkleidetrakt. Das Auf und Ab dieser Dachlandschaft setzt den Bau in Bewegung und veranschaulicht dabei gleichzeitig seine innere Gliederung. Mit dem ansteigenden und dann jäh abbrechenden Pultdach wird gar eine imaginäre Verbindung zur Umgebung hergestellt.

Überzeugungsarbeit

Der entscheidende Faktor für ein zurückhaltendes und langlebiges Erscheinungsbild ist jedoch die Materialität und Farbigkeit der Fassadenflächen. Um eine möglichst (farb-)neutrale Außenhaut zu erhalten, planten die Architekten eine Vormauerschale aus schwarzen Ziegeln. Ihnen gefiel die Vorstellung einer geheimnisvollen, artifiziellen Fassade – gerade im Kontrast zur durchgrünten Umgebung. Die als Bauherrenvertreter für alle Schulbauten des Stadtstaats verantwortliche »Schulbau Hamburg GmbH« forderte jedoch roten Backstein für die Hülle. Nach einem längeren Diskussionsprozess konnten sich schließlich die Architekten mit ihrem Wunsch durchsetzen, auch, weil sie, unterstützt von der Schulleitung, dem Bauherrn die Furcht nehmen konnten, hier entstünde ein pechschwarzer, lebloser, düsterer Bau. Der Schlüssel hierfür war die sorgfältige Wahl des richtigen Steins. Die Architekten entschieden sich für schwarz durchgefärbten Klinker, gefertigt in traditioneller Kohle-Salzbrand-Technik. Dazu werden die Klinker bei extrem hohen Temperaturen gebrannt, sodass sie auf dem Ofenwagen leicht deformieren und miteinander verkleben. Nach dem Brand haften so an den Oberflächen noch Reste der Klinker aus den darüber liegenden Lagen. Dies und das durch Kohle und Salz hervorgerufene reiche Farbspiel führen zu einer sehr heterogenen Oberfläche. Im Ergebnis wirken die Fassaden dunkel, aber eben niemals vollkommen schwarz. Je nach Tageslichtsituation erscheinen die Ansichten mal anthrazit, mal rötlich oder auberginefarben. Die in ihren Abmessungen etwas unregelmäßigen Steine erzeugen zudem ein lebhaft plastisches Bild, noch gesteigert durch ihre Anordnung im Wilden Verband und einzelne leichte Schrägstellungen – eine Reminiszenz an die Hamburger Backsteintradition mit ihren handwerklich hergestellten reliefartigen Wandflächen. Die dunklen Klinker in ihrer Struktur und Farbigkeit zusammen mit der Art ihrer Vermauerung unterstützen bestmöglich die skulpturale Kraft des Gebäudes.

Farbiges Leuchten

Die durch das Äußere geweckten hohen Erwartungen werden auch im Innern nicht enttäuscht. Der Eingangsbereich mit seinem offenen Treppenraum bleibt noch dezent schwarz-weiß und setzt so die Reduktion der Fassade fort. Doch nur einmal rechts um die Ecke gebogen ist die Zurückhaltung vorbei: Wände, Boden und Decke, kurz, der gesamte Flur zu den Umkleiden des Sportbereichs erstrahlt in leuchtendem Grün. Die Farbe verleiht dem Raum einen artifiziellen Charakter – abgemildert nur durch das lange Fensterband, das Blicke in die ebenfalls grüne Umgebung erlaubt. Die Umkleiden selbst wiederum überraschen durch ihre himmelblaue Erscheinung, kontrastiert durch die eigens angefertigten, im Grün des Flurs lackierten Sitzbänke.

Als dritte Farbe gesellt sich schließlich noch das weitaus dezentere und wärmere Rot des Linoleumbodens der Sporthalle hinzu. Die Hallenwände wurden mit Eiche bekleidet, die – weil in der Halle auch Indoor-Hockey mit sehr harten Bällen gespielt wird – eine Beschichtung mit HPL erhielt. Der an sich eher kühle Farbton der Holzpaneele wird durch die Reflektion des roten Bodens deutlich wärmer, was zur Behaglichkeit im Innern beiträgt. Die Dachhaut aus Trapezblechen wird getragen von Holzleimbindern, die gut zur Eiche an den Wänden passen. Schade nur, dass sie durch die abgehängten Lüftungs- und Beleuchtungskörper kaum in Erscheinung treten. Erfreulich auch, dass der Bauetat noch eine schmale Galerie mit Sitz- und Stehplätzen für Zuschauer zuließ.

Rot, allerdings nur punktuell, findet sich auch im »Zeighaus«, wie die Schule ihren vorgelagerten Veranstaltungssaal nennt. Hier kann Theater gespielt, musiziert und getanzt werden – der Raum lässt vieles zu. Sein Sportboden aus Eiche, die weißen Wände, der schwarze Bühnenbereich und die schalldämpfenden Vorhänge aus rotem Samt klingen zusammen und erzeugen einen harmonischen Gesamteindruck. Durch große Seitenfenster fällt viel Tageslicht in den Saal, ergänzt durch ein herausgeschobenes Erkerfenster in der rückwärtigen Wand, das den Blick in die Baumwipfel lenkt. Eine Garderobe, ein Kiosk, eine sauber in die gefaltete Gipskartondecke integrierte Saalbeleuchtung – man ist gut gerüstet für Veranstaltungen mit viel Publikum. Umso bedauerlicher, dass derzeit noch eine richtige Bühne fehlt – solange die Schule dafür noch spart müssen stattdessen mobile Podeste herhalten. Doch das ist schon das einzige Manko in diesem Sport- und Kulturbau, der – obwohl den Kostenrahmen von 6,1 Mio. Euro einhaltend, durch eine hohe gestalterische Qualität bis ins kleinste Detail besticht. Sie wäre nicht möglich gewesen ohne das Engagement von Schulleitung, Lehrern, Eltern und Schüler, die sich sehr für dieses Gebäude eingesetzt haben.

Wie gut das Haus angenommen wird, zeigt sich auch daran, dass es bislang nicht die kleinsten Zeichen von Vernachlässigung oder Vandalismus gibt – nirgendwo ein Graffito. Und wie man hört, ist angesichts des so gar nicht düsteren Gebäudes auch die Schulbau Hamburg stolz auf die Entscheidung zum schwarzen Klinker und empfiehlt ihn für die weitere Verwendung auch anderswo. Die Backsteinstadt Hamburg – von Rot bis Schwarz – sie bleibt lebendig.

db, Mo., 2013.11.11



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07. Oktober 2013Claas Gefroi
db

Durchdringung von Fragestellung und Raum

An der ungleichen Verteilung von Wohnraum werden wir, ganz generell, nichts ändern können. Wie sich jedoch die Probleme entschärfen lassen, wenn Familien Zuwachs bekommen, untersucht der Architekt Gerd Streng, indem er platzsparende Lösungen austüftelt, Wohneinheiten zusammenschließt, Resträume nutzbar macht. Seine Konzepte sind erschwinglich und erfolgreich, die Gestaltung ästhetisch und nie ohne feine Ironie.

An der ungleichen Verteilung von Wohnraum werden wir, ganz generell, nichts ändern können. Wie sich jedoch die Probleme entschärfen lassen, wenn Familien Zuwachs bekommen, untersucht der Architekt Gerd Streng, indem er platzsparende Lösungen austüftelt, Wohneinheiten zusammenschließt, Resträume nutzbar macht. Seine Konzepte sind erschwinglich und erfolgreich, die Gestaltung ästhetisch und nie ohne feine Ironie.

Früher war alles einfach und klar: Wenn Paare Kinder bekamen, zogen sie an den Stadtrand oder die Peripherie, der größeren Wohnfläche, des Grüns und der günstigen Preise wegen. Heute hingegen sind nur noch wenige gewillt, die Urbanität eines innerstädtischen Viertels für die Langeweile des Speckgürtels aufzugeben. Der Umzug in eine größere Wohnung im Viertel ist jedoch durch die steigenden Preise für viele unerschwinglich geworden. Will man nicht dauerhaft beengt leben, bleibt nur eines: Das eigene Heim umbauen, neu aufteilen, vergrößern.

Auch eine mit dem Hamburger Architekten Gerd Streng befreundete Familie wohnte bislang mit einem Kind im 1. OG eines Hinterhofhauses im gründerzeitlichen Stadtteil Eimsbüttel. Nach der Geburt von Zwillingen wurde es auf den 80 m² zu eng, doch es ergab sich die Möglichkeit des Kaufs der darunterliegenden, 40 m² kleinen EG-Wohnung. Aber wie daraus eine Einheit formen? Streng wusste Rat und verband die beiden Wohnungen miteinander durch eine einläufige Treppe, deren viertelgewendelter Antritt mitten im Wohnraum liegt und deren Stufen er zu einer Skulptur mit Nutzwert aufwertete: Die zweite Stufe läuft in eine L-förmige Sitznische mit Schubladen aus, und der Raum unter dem Treppenlauf wird für ein ebenso hohes Sideboard genutzt. So konnte für die nicht unterkellerte Wohnung wertvoller Stauraum hinzugewonnen werden. Es sind die Details, die bestechen: Die Wange wurde bis zur Decke hochgeführt, wodurch die schmale Treppe einen eigenen, durch die Höhenbetonung opulent wirkenden Raum bildet. Die weiß lackierten Trittstufen führen das Weiß der Wohnzimmermöbel fort, die gelben Setzstufen verbinden sich hingegen mit dem Gelb der Treppenwände. »In utero« nennt der Architekt schelmisch diese Folgen von miteinander verbundenen weiten, engen und wieder weiten Räumen – es sind Rauminszenierungen, die auch kleinen Gebäuden ungeahnte Großzügigkeit verleihen. Das Gelb der Treppe wird als Signalfarbe auch für alle weiteren neuen Ein- und Umbauten verwendet, von denen es zahlreiche gibt: Das EG wurde komplett umgebaut, um Raum zu schaffen für Wohnzimmer, Essbereich, Küche, Duschbad – sogar eine kleine Abstellkammer fand noch Platz. Oben liegen vier Zimmer, die wahlweise als Schlaf-, Kinder- oder Gästezimmer genutzt werden können. All das mit vielen kleinen und großen Sichtachsen und Durchblicken versehen, die die Wohnung größer erscheinen lassen als sie ist.

Raumsparwunder

Auch Gerd Streng selbst suchte mit seiner Familie nach einer größeren, aber zentral gelegenen und bezahlbaren Bleibe. Man fand sie in einem günstigen, bescheidenen Klinkerwohnhaus aus den 30er Jahren im Nordwesten – quasi im toten Winkel einer der großen Hamburger Ausfallstraßen. 98 m² betrug die Wohnfläche, nicht allzu üppig für eine heutige vierköpfige Familie. Umbau und energetische Sanierung (mittels Kerndämmung) standen an. Dabei sollte dem Haus keine Gewalt angetan und das Portemonnaie geschont werden. So beschränkte sich der Architekt auf wenige, gezielte, in markantem Orange vom Alten abgesetzte Eingriffe: An erster Stelle wurde der bislang ungenutzte, nur über eine Leiter betretbare Spitzboden zugänglich gemacht – dort befindet sich heute das Elternschlafzimmer. Um hierhin zu gelangen, bedurfte es einer Treppe, die wenig Raum einnimmt und zudem zwischen die bestehenden Zugbalken der Dach- und Deckenkonstruktion passt. Bei ihrem Anblick fragt man sich, wie diese steile, enge Stiege ohne Blessuren erklommen werden soll. Doch wider Erwarten kommt man, durchschnittliche Körpermaße vorausgesetzt, problemlos hinauf und auch wieder hinab. Streng hat die Wendeltreppe neu gedacht, indem er die Spindelachse in die Diagonale kippte und die Stufen in einem geschlossenen Treppenraum um sie herum führt. Diese Umschließung gibt die notwendige seitliche Sicherheit für den steilen Auf- und Abstieg über die schmalen, sich gegenseitig überlagernden Stufen. Bei gleicher Ein- und Austrittsbreite benötigt diese Treppenskulptur, deren tiefe Antrittsstufe auch Stauraum bietet, gerade einmal ein Viertel der Grundfläche herkömmlicher Spindeltreppen. Oben, auf dem Boden, wurde noch einmal Raum gespart, indem eine der Giebelwände mit einem maßgefertigten dreieckigen Kleiderschrank (inklusive einer Aussparung für ein Fensterchen) bekleidet wurde. Mit diesen kleinen, aber wirkungsvollen Maßnahmen wurden 17 m² Wohnfläche gewonnen – in einem Haus dieser Größe eine ganze Menge.

Doppelnutzung

Strengs kleine Raumwunderwerke, von ihm selbst augenzwinkernd »Stair Case Study Houses« betitelt, haben sich herumgesprochen, und so kommt mittlerweile ein Projekt zum nächsten. Auch beim dritten in dieser Reihe, in einem gründerzeitlichen Stadthaus im Bezirk Harburg, war die Geburt eines Kindes der Auslöser für einen Umbau: Die Küche wurde verlegt, um am bisherigen Standort ein weiteres Kinderzimmer einrichten zu können. Von der neuen Küche aus erschließt eine Treppe das Arbeits- und Schlafzimmer – auch dieses Erschließungselement sollte nicht Raum wegnehmen, sondern möglichst viel Abstellfläche schaffen. Streng entwarf hierfür eine Winkeltreppe mit Viertelpodest. Der Clou ist der nahtlose Übergang des Zwischenpodests in die Anrichte der Küche. Dies war möglich, weil zwischen beiden Treppenteilen eine Lücke klafft, der obere Teil quasi in der Luft hängt.

Der oberste Treppenteil ragt weit in das OG hinein und ist wieder zugleich Möbel – hier ein Bücherregal, das die Comicbuch-Schätze des Bauherrn birgt. Die untersten fünf Stufen bieten einen Mehrwert, der zunächst verborgen bleibt: In diesem Teil ist eine zweite rollbare Treppe eingeschoben, die als Tritt die hohen Oberschränke zugänglich macht.

Raumsonde

Das Fallstudienprojekt Nummer 4 befindet sich in einem Mehrfamilienhaus der Jahrhundertwende in Hamburg-Hoheluft. In zwei identischen, übereinanderliegenden Drei-Zimmer-Wohnungen leben drei Generationen einer Familie. Oben wurde es den Eltern zu klein, unten empfand die Großmutter ihre Wohnung als zu groß. Gerd Streng löste das Problem, indem er ein Zimmer der unteren Wohnung als Elternschlafzimmer nebst Bad der oberen zuschlug und mit einer Treppe anschloss. Was so simpel klingt, bedeutete auch hier eine aufwendige Arbeit an Details. So sollte die Funktionsfähigkeit und Autarkie der großmütterlichen Wohneinheit gewahrt bleiben, gleichzeitig aber ein Fluchtweg aus dem Elternschlafzimmer gewährleistet werden. Eine Doppeltür mündet nun in den unteren Wohnungsflur, von wo aus man das Haupttreppenhaus erreichen kann. Die neue Treppe ist aus dem Kinderzimmer ausgespart, aber direkt an den Wohnungsflur angebunden, sodass das Zimmer der Tochter nicht betreten werden muss. Um den Raumverlust im Kinderzimmer möglichst gering zu halten, wurde die Treppe mit nur 80 cm Breite geplant und als Ausgleich eine kleine Sitznische mit Verglasung zur Treppe hin eingelassen – ein schöner Beobachtungsposten, der zudem Tageslicht in das Treppenhaus bringt. Das Innere des Treppenraums ist größtenteils weiß lackiert; einzelne Flächen jedoch sind mit Kupfer bekleidet, welches das Licht wunderbar warm und weich reflektiert. Im unteren Zimmer wird die Treppe zu einem Schrankmöbel mit zahlreichen Fächern und Schubladen, doch bleibt die Grundfunktion sichtbar, denn unterhalb der Stufen springt die Wange ein kleines Stück zurück.

Es sind solche feinen Details, die die Umbauten von Gerd Streng auszeichnen und populär machen (drei weitere Projekte sind in Planung oder Bau). Er erspürt den vorhandenen Raum, findet seine Qualitäten und fügt ihm neue hinzu. Dabei nutzt er noch die kleinste Nische, doch diese Raumausnutzung macht die Wohnungen und Häuser nicht kleiner, sondern größer, weil er Sichtbeziehungen schafft und weil die Einbauten viel Hausrat aufnehmen und somit dem Blick entziehen. Man merkt es Streng an, dass er lange in den Niederlanden gearbeitet und den holländischen Pragmatismus verinnerlicht hat.

Eine solche Versessenheit und die Bereitschaft, intensiv noch an kleinsten Dingen zu knobeln, sind selten unter heutigen Architekten. Hinzu kommt der Wille, günstige, aber nie billig wirkende Materialien wie Polyester oder Multiplexplatten zu nutzen, um die Umbauten auch für Mittelschichtsfamilien bezahlbar zu halten. Ein solcher Einsatz ist in der Honorarordnung mit ihren Leistungsbildern freilich nicht vorgesehen, und so lässt sich erahnen, dass man auf diese Weise nicht reich wird. Aber wer diesen Mann erlebt, weiß: Seine Berufung zu finden, etwas zu tun, das man liebt, ist mehr wert als alles Geld.

db, Mo., 2013.10.07



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02. Mai 2013Claas Gefroi
db

Der Wald kommt in die Stadt

Wie kann man Stadtmenschen die Bedeutung des Waldes, seine Eigenheiten und Besonderheiten am besten erläutern? Indem man ihnen den Wald vor die Füße legt, statt darauf zu warten, dass sie zu ihm hinfahren und ihn selbst erkunden. So geschehen in Hamburg-Wilhelmsburg, wo nun, u. a. durch Mitwirken der IBA, das Wälderhaus entstanden ist. Zu einem Großteil aus Holz konstruiert und mit Lärchenholz bekleidet, zeigt das Ausstellungs- und Hotelgebäude, dass das Baumaterial auch in den großstädtischen Kontext passt.

Wie kann man Stadtmenschen die Bedeutung des Waldes, seine Eigenheiten und Besonderheiten am besten erläutern? Indem man ihnen den Wald vor die Füße legt, statt darauf zu warten, dass sie zu ihm hinfahren und ihn selbst erkunden. So geschehen in Hamburg-Wilhelmsburg, wo nun, u. a. durch Mitwirken der IBA, das Wälderhaus entstanden ist. Zu einem Großteil aus Holz konstruiert und mit Lärchenholz bekleidet, zeigt das Ausstellungs- und Hotelgebäude, dass das Baumaterial auch in den großstädtischen Kontext passt.

Die Zukunft sieht manchmal ziemlich altbekannt aus. Gleich neben dem S-Bahnhof Wilhelmsburg wird derzeit das Zentrum der Internationalen Bauausstellung Hamburg, die »neue Mitte Wilhelmsburg«, fertiggestellt. Die hier errichteten Häuser sollen nichts weniger als »neue Bautypologien begründen« und »Antworten geben auf die Frage, wie wir in Zukunft bauen und wohnen werden«. Das Überraschende: Neben Hightech-Gebäuden mit Mikroalgenfassaden, Latentwärmespeichern oder Photovoltaik-Textilmembranen zählen zu den »Case Study Houses des 21. Jahrhunderts« auch solche aus dem ältesten Baumaterial der Welt: Holz. Zu ihnen gehören der »Woodcube« (architekturagentur, s. S. 46) oder etwa das »CSH Case Study Hamburg« (Adjaye Architects/planpark architekten).

Östlich dieses Quartiers, gleich neben der Wilhelmsburg durchschneidenden Fernbahntrasse, steht ein weiterer, ungleich größerer Holzbau, das sogenannte Wälderhaus. Dass dieses Gebäude hier im Rahmen der IBA entstand, war ursprünglich gar nicht vorgesehen. Die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald (SDW), ein Naturschutzverband, der sich für den Erhalt der Wälder einsetzt, wollte sein Schulungs- und Informationszentrum ursprünglich ganz woanders, im Niendorfer Gehege – einem Waldgebiet im Hamburger Bezirk Eimsbüttel – errichten. Es war der lokale CDU-Bundestagsabgeordnete Rüdiger Kruse, zugleich Geschäftsführer des SDW-Landesverbandes Hamburg, der sich für die Ansiedlung des Multifunktionshauses in diesem Buchenmischwald im Hamburger Nordwesten stark machte. Doch schnell entzündete sich, unterstützt von SPD und Grünen, Bürgerprotest – man störte sich an den Dimensionen des Gebäudes sowie seiner Lage mitten im Wald, die zur Fällung einiger Bäume geführt hätte. Ein Bürgerbegehren war schließlich erfolgreich und stoppte die Planungen. Die SDW musste nach Alternativen suchen und fand in der IBA einen Partner, der großes Interesse am Wälderhaus zeigte. So konnte schließlich der neue Standort im zentralen IBA-Bereich von Wilhelmsburg präsentiert werden. Das war ein gelungener Coup, denn nun müssen Besucher nicht an den Stadtrand fahren, sondern der Wald kommt gewissermaßen zu ihnen in die Stadt – wichtig gerade für sozial benachteiligte Stadtteile wie Wilhelmsburg, in denen viele Kinder noch nie in einem Wald waren. Und die IBA, sie erhält ganz nebenbei eine weitere Attraktion in den so wichtigen Themenfeldern Bildung und Nachhaltigkeit.

Die Gebäudehülle als Biotop

Die neue Idee eines Wälderhauses mitten in der Stadt bedeutete für die Architekten von Andreas Heller Architects & Designers weitreichende Änderungen im Konzept: Ursprünglich planten sie einen flachen, nur zweistöckigen Bau, der den Blick auf die Bäume möglichst wenig verstellt. Nun galt es, ein kompakteres, höheres Gebäude mit Landmarkenwirkung zu entwickeln, dass das Thema Wald schon von außen zeichenhaft verkörpert. Als zusätzliche Nutzung sollte ein Hotel mit 82 Zimmern integriert werden. So ist das Wälderhaus nun Ausstellungs- und Schulungsgebäude, Hotel und Gastronomiebetrieb in einem. Für diese Mischung schufen die Planer einen sacht mäandernden, horizontal gestaffelten Baukörper. Nicht nur die gewinkelte, sich verjüngende Form, auch die Fassade aus (unbehandeltem) Lärchenholz lässt an einen Baum denken oder weckt – etwas abstrakter – Assoziationen zu Natur und Wildnis inmitten eines städtischen Umfelds. Mit zahlreichen Nischen und Pflanzinseln versehen, soll sie zahlreichen Kleinstlebewesen Rast-, Futter- und Nistgelegenheiten bieten. Ähnlich das riesige Gründach: Dort sollen, wenn denn einmal der Frühling einkehrt, außerdem 9 000 Büsche und 500 Hainbuchen das Mikroklima, die Luftqualität und den Lärmschutz am Standort verbessern. Das Haus als Biotop – ein bemerkenswerter Ansatz in Zeiten sich immer hermetischer abschließender Gebäude.

Mit wenigen Mitteln IN eine andere Welt

Eine sich über fünf Geschosse erstreckende Holzfassade war in den bislang geltenden deutschen Brandschutzregeln nicht vorgesehen, wurde aber durch die vorweggenommene Anwendung der Mitte 2012 eingeführten Eurocodes-Richtlinien möglich, die mehr Variationen im vorbeugenden Brandschutz bieten. Brandschutzgründe waren es jedoch, die verhinderten, dass das gesamte Gebäudeinnere in Holz errichtet wurde. Die beiden unteren Etagen sind konventionell in Stahlbeton-Bauweise gebaut und nur außen mit Holz bekleidet. In diesen Stockwerken befinden sich Hotel-Empfang, Wälderhaus-Kasse, ein Café/Restaurant sowie das Wälderhaus-Science Center. Die Architekten verstecken die kühle Betonkonstruktion nicht, doch durch zahlreiche hölzerne Ausstattungselemente wie Regale, Tresen, Sitzbänke, Stühle nimmt man ihr die Härte und führt das Thema Holzhaus fort. Zu beklagen sind jedoch die aus Kostengründen »offen« gelassenen Decken, unter denen sich, notdürftig kaschiert durch darunter drapiertes Astwerk, Lüftungs- und Heizungsrohre winden – schnöde Technik statt romantisches Naturerlebnis. Betritt man freilich das Science Center, ist dies schnell vergessen, denn wie schon beispielsweise beim Auswandererhaus in Bremerhaven schaffen es die Architekten, mit wenigen Mitteln den Besucher in eine andere Welt zu entführen – hier in die des Waldes. An 80 Stationen gibt es vielerlei spielerisch zu entdecken, wobei besonders die großen Schaukästen und präparierte Pflanzen und Tieren mit ihrem illusionistischen Spiel beeindrucken.

Sicher ist sicher

In den oberen drei Etagen ist das Raphael Hotel Wälderhaus untergebracht. Diese Stockwerke sind, vom Tragwerk über die Böden bis zu den Wänden, vollständig in Massivholz errichtet. Möglich wurde diese Holzbauweise ebenfalls durch die neuen Eurocodes-Richtlinien, die eine Bemessung der Bauteile über den Abbrand erlauben. Dabei ist jedes Zimmer des Hotels eine in sich abgeschlossene F90-Einheit: So sind die Trennwände zwischen den Räumen zweischalig (jeweils 9 cm Fichten-Brettsperrholz mit innenliegender 8 cm Steinwolledämmung) ausgeführt. Diese Redundanz sorgt – zusammen mit einer Falzausbildung der Deckenelemente – dafür, dass die Deckenlast bei Beeinträchtigung der einen Wand noch durch die zweite Wand getragen werden kann. Öffnungen sind zudem mit Deckenbrandschotts (Bekleidung aus GFK-Platte, Ausmörtelung mit Brandschutzmörtel) bzw., im Bereich der Fassadenstürze, mit dreiseitig umlaufenden, 20 cm dicken Brandschutzlaibungen (Sandwichkonstruktion aus Lärchenholz) versehen. Im Brandfall kann so ein Übergreifen von Flammen in die Fassadenkonstruktion oder in ein anderes Geschoss verhindert werden. Außerdem soll eine hohe Zahl von Rauchmeldern und Sprinklern rasch jeden Brandherd erkennen und löschen.

Von diesem Aufwand bemerkt der Gast freilich wenig bis gar nichts. Stattdessen spürt er die Atmosphäre des Naturmaterials – man fühlt sich geborgen wie in einer großen Blockhütte. Die Zimmer besitzen eine außerordentliche Behaglichkeit: Die Wände und Decken aus den sichtbar belassenen, großformatigen Holzelementen dämpfen den Schall, sorgen für ein ausgeglichenes Klima und verströmen einen milden Duft. Auch die Außenwände bestehen innenseitig aus den massiven Brettsperrholz-Elementen, auf die eine Steinwolledämmung und die äußere Lärchenholzbekleidung folgen. Dass trotz all des Naturholzes die Räume niemals rustikal wirken, liegt an der einfachen, aber modernen und liebevollen Ausstattung. So hat jedes Zimmer seinen eigenen Namen (Wacholder, Süntelbuchen oder Kulturbirne) und besitzt entsprechend Exponate in Form von Ästen, Früchten, Fotografien und Informationstexten zur jeweiligen Baumart. Mit ein wenig Einbildung meint man sogar, dass die Zimmer unterschiedlich duften …

Fragwürdig erscheint jedoch, dass das nachhaltige und durchaus kostengünstige Lowtech-Holzhaus-Konzept des Wälderhauses um weitere aufwendige und teure Energieeinsparmaßnahmen ergänzt und damit verwässert werden musste. So wurde eine PV-Anlage auf dem Dach installiert, mit einer großen Geothermieanlage aus 94 Energiepfählen die Erdwärme angezapft und das Gebäude an das lokale Nahwärmenetz angeschlossen. Die Haustechnikanlage des Gebäudes ist entsprechend komplex und nimmt immense Flächen im EG ein. Damit der Hotelbereich Passivhausstandard erreicht, gibt es dort, neben dicken Dämmungen und Dreifachverglasungen, eine mechanische, individuell regelbare Grundlüftung mit Wärmerückgewinnung. Man wohnt nun ziemlich abgeschottet von der Umgebung – nicht unbedingt das, was man mit einem naturnahen Wohnen im Waldhaus in Verbindung bringt. Hier wäre – trotz allem IBA-Exzellenzanspruchs – weniger wohl mehr gewesen. Das ist schade, denn die Idee eines Holzhauses, das anschaulich, lehrreich und sinnlich den Wald in die Stadt bringt, ist wunderbar und wurde von den Architekten in bemerkenswerter Weise umgesetzt.

db, Do., 2013.05.02



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20. November 2012Claas Gefroi
Neue Zürcher Zeitung

Die Zukunft ist museumsreif

Das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe ordnet seine bedeutende Design-Abteilung neu und zeigt mit Dieter Rams' Arbeitszimmer sowie Verner Pantons Spiegel-Kantine gänzlich verschiedene Höhepunkte moderner Formgestaltung.

Das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe ordnet seine bedeutende Design-Abteilung neu und zeigt mit Dieter Rams' Arbeitszimmer sowie Verner Pantons Spiegel-Kantine gänzlich verschiedene Höhepunkte moderner Formgestaltung.

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07. Juni 2010Claas Gefroi
db

Historisierendes Bauen in Hamburg

Nicht nur, aber auch in Hamburg lässt sich der Hang zum neuen Traditionalismus durchaus als Massenphänomen bezeichnen. Retro-Neubauten sind gefragt und werden somit auch gebaut. Seit neuestem sogar mit ausdrücklicher Befürwortung durch die Hamburger Politik. Unser Autor betrachtet das Phänomen kritisch und stellt in diesem Zusammenhang die Projekte »Westend Ottensen« und »Hegehof-Terrassen« vor.

Nicht nur, aber auch in Hamburg lässt sich der Hang zum neuen Traditionalismus durchaus als Massenphänomen bezeichnen. Retro-Neubauten sind gefragt und werden somit auch gebaut. Seit neuestem sogar mit ausdrücklicher Befürwortung durch die Hamburger Politik. Unser Autor betrachtet das Phänomen kritisch und stellt in diesem Zusammenhang die Projekte »Westend Ottensen« und »Hegehof-Terrassen« vor.

Der Paukenschlag kam ganz am Ende. Im Januar dieses Jahres veröffentlichte das Bezirksamt Hamburg-Mitte recht überraschend »Leitsätze für die bauliche Gestaltung der Innenstadt«. In ihnen sind zunächst viele Aussagen zu finden, die absolut mehrheitsfähig sind: Neubauten und Aufstockungen sollen sich in ihren Höhen an die Umgebung anpassen, Blickbeziehungen zu Kirchtürmen sind zu erhalten, der Wohnanteil auszubauen usw. Doch dann: »Die architektonische Gestaltung von Neubauten soll grundsätzlich ihre Entstehungszeit repräsentieren. Eine historisierende Gestaltung wird im Einzelfall jedoch nicht ausgeschlossen, wenn die Umgebung dies sinnvoll erscheinen lässt.« Diese Passagen bedeuten eine Zäsur. Seit über 100 Jahren, seit der Berufung Fritz Schumachers zum Leiter des Hochbauwesens und zum Baudirektor im Jahre 1909 gab es in der Hamburger Politik und Verwaltung den Konsens für eine moderne Architektur und einen ebensolchen Städtebau. Er wurde nun aufgekündigt. – Warum? Die Begründung erscheint trivial, denn es werden keine fachlichen Gründe genannt – vielmehr beruft man sich im Bezirksamt Mitte auf ein vermeintliches Volksempfinden: »In der Anmutung bereiten das Hotel Adlon in Berlin und der Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden vielen Menschen Freude.

In besonderen Fällen wird eine solche Form der Stadtbildreparatur für möglich gehalten.« Und in einem Zeitungsinterview unterstrich Bezirksamtsleiter Markus Schreiber: »Ich bin davon überzeugt, dass die Bürger sich dabei wohler fühlen werden als bei der neuen Stahl-Glas-Architektur. Wir bauen für die Bürger und für deren Wünsche müssen wir offener sein«. Mit anderen Worten: Die Leute wollen das so. – Wollen sie es so?

Neu imitiert alt und kommt an

Wer offenen Auges durch Hamburg spaziert, wird in der Tat ein eigenartiges Phänomen beobachten: Während vor allem im Zentrum (unter der Ägide eben jenes Bezirksamtsleiters) die bauliche Vergangenheit durch rüde Entkernungen, Aufstockungen und Abrisse immer weiter vernichtet wird, entstehen (bislang nur außerhalb der City) zugleich zahlreiche neue Gebäude, die sich ein historisches Gewand überstreifen. Das authentisch Alte verschwindet und wird vom Neuen imitiert. Es gibt mittlerweile eine Reihe von Investoren und Architekten, die sich auf dieses Wachstumssegment konzentrieren. Makler berichten, dass sich historisierende Neubauten in Hamburg deutlich besser verkaufen lassen als solche mit modernem Antlitz. Waren es anfangs noch einzelne Wohnhäuser und Villen, sind es nun die Stadthäuser oder Town Houses genannten Reihenhäuser nach dem Vorbild der englischen terraced houses und auch hochverdichtete Quartiere mit Mehrfamilienhäusern. Die zumindest preisliche Spitze dürfte das Luxusquartier Sophienterrassen in Harvestehude bilden. Auf dem 4,5 ha großen Grundstück der ehemaligen Bundeswehr-Standortkommandantur in allerbester Außenalsterlage werden Wohnungen zu Quadratmeterpreisen bis 15 000 Euro verkauft. Die Lokalpresse hat natürlich schnell den Trend erkannt und feiert historistische Bauten als willkommene Alternative zum ungeliebten »avantgardistischen Glas- und Stahldesign« der Modernisten. Protagonisten der Retro-Szene wie der Hamburger Architekt Matthias Ocker können sich unter Schlagzeilen wie »Dieser Mann hasst Klötze« als mutige Kämpfer gegen eine »seelenlose, eitle Sensationsarchitektur« und für eine »sinnliche und ursprüngliche Atmosphäre« in unseren Städten in Szene setzen. Die vordergründigen und pauschalierenden Berichte verhindern einen unvoreingenommenen Blick auf die Wirklichkeit. Dabei gäbe es einiges zu diskutieren: Ist »modernes« Bauen denn tatsächlich der einzig adäquate Ausdruck unserer Gegenwart, wenn wir bei Saturn Retroradios kaufen und Bakelit-Lichtschalter bei Manufaktum und unsere iPad-Bibliothek in einem virtuellen Bücherregal aus Kirschholz steht? Kann andererseits moderne Architektur nicht genauso »kleinteilig, sinnlich und vielfältig« sein, wie es die traditionelle Architektur angeblich ist? Und was sind eigentlich objektive Kriterien für eine Beurteilung der historistischen Bauwerke? Ist größtmögliche Authentizität das Ziel oder eher die Schaffung einer heimeligen Atmosphäre? Ist handwerkliche Qualität der industriellen Herstellung vorzuziehen? Ist ein purer klassizistischer Bau besser als ein eklektisches Stilgemisch? In den städtischen Fachzirkeln wird all das bislang nicht erörtert. Der Oberbaudirektor will zumindest die Innenstadt von traditionalistischen Neubauten freihalten, scheut aber eine offene Diskussion mit dem Bezirkschef, der genau das erlaubt hat.

Ebenso wenig lassen sich die Berufsverbände auf dieses Thema ein: Vorträge, Streitgespräche oder Diskussionsrunden hierzu sucht man meist vergeblich. Und dass ein historisierendes Gebäude jemals einen BDA-Preis gewinnt, erscheint völlig undenkbar. Immerhin: In das von der Hamburgischen Architektenkammer herausgegebene Jahrbuch »Architektur in Hamburg« nimmt die Redaktion (deren Mitglied der Autor ist) auch Retro-Bauten auf, weil sie es als ihre Aufgabe sieht, das gesamte Spektrum des Hamburger Baugeschehens zu analysieren – was nicht auf ein ungeteilt positives Echo in der Architektenschaft stößt.

Westend Ottensen: unmotivierter Stilmix

Wenn man die ideologischen Vorbehalte jedoch einmal beiseite lässt, kommt man nicht umhin einzugestehen, dass einige dieser Gebäude bemerkenswert sind. Zwei völlig unterschiedliche Projekte sollen dies verdeutlichen: Die »Hegehof-Terrassen« des bereits genannten Matthias Ocker und das »Westend Ottensen«, dessen Name wohl eine Verwandtschaft zum Londoner Westend suggerieren soll. Hier, zwischen Völckers- und Borselstraße mitten im alten Arbeiter- und Industriestadtteil Ottensen, stehen bescheidene Gründerzeit-Zinshäuser, umgenutzte alte Fabrikhallen und einfache, aber wohlgestaltete Gelbklinker-Arbeiterwohnhäuser der 20er Jahre von Altonas modernem Stadtbaurat Gustav Oelsner. Mittenhinein in diese kleinteilige, bescheidene, proletarisch geprägte Welt krachte vor kurzem ein gewaltiges großbürgerliches Wohn- und Büroquartier auf das Gelände einer abgerissenen Fischfabrik. So deplatziert und fremd das Projekt wirkt – es ist die logische Konsequenz der Aufwertung Ottensens vom kleinbürgerlichen Stadtteil zum Szene- und Kreativstandort. Erst die jahrzehntelange ungesteuerte Gentrifizierung schuf den Humus, auf dem das Westend wachsen konnte. Und so stehen sich heute das alte und das neue Ottensen in Gestalt von Arbeiterkleinwohnungen und 200-m²-Lofts in einer Straße gegenüber. Das Westend ist eine Mischung aus Blockrand- und Hofbebauung, gestaltet vom Hamburger Planungsbüro Flumdesign sowie dem Mailänder Architekten Antonio Citterio mit Hinrichs Nicolovius Architekten. Die Vorderhauszeilen wurden in mehrere die durchlaufenden Grundrisse kaschierende Einzelhausfassaden aufgelöst, die stilistisch zwischen Klassizismus und gemäßigter Moderne schwanken. Eine Passage sowie zwei offene Durchgänge leiten in das erfreulicherweise nicht abgeschlossene Innere der Anlage. Dort ist es überraschend eng und unübersichtlich. Zwei aneinandergeschobene, großvolumige, unregelmäßig geformte Gebäude füllen den Hof fast vollständig aus und lassen auf drei Seiten nur schmale Räume frei. In der nordöstlichen Hofecke jedoch wurde ein runder Platz mit Springbrunnen eingepasst, der der Anlage ein inneres Zentrum geben soll. Ein harmonischer Gesamteindruck ergibt sich freilich nicht: Viel zu unruhig ist das Geschehen. Wird die Freifläche auf der einen Seite mit geradezu theatralischer Geste von einem abgerundeten Bürohaus mit einem (überflüssigen, weil zu kurzen und funktionslosen) Arkadengang und einem hohen, von mächtigen Pfeilern getragenen Durchgang gefasst, so verläuft sie sich auf der gegenüberliegenden Seite in einem Gewirr von vor- und rückspringenden Anbauten, Nischen und Loggien. Dieses unvermittelte und unmotivierte Aufeinanderprallen unterschiedlicher Formen, Stilelemente und Typologien prägt das ganze Quartier. Es entstehen aberwitzige Detaillösungen, wenn beispielsweise Loggien in innere Gebäudeecken hinein gebaut werden, eine moderne Glasbrücke zwei klassizistische Bauten verbindet, Satteldächer sich munter abwechseln mit Flach- und Tonnendächern. Und der Stileklektizismus vereint Dorisches mit Ionischem, Klassizistisches mit Modernistischem – teilweise an ein und demselben Gebäude. Das Durcheinander wirkt im Einzelnen unbeholfen, hat aber dennoch Methode: Es soll so eine Unterschiedlichkeit und Lebendigkeit suggeriert werden, wie sie die Klientel an den Gründerzeitquartieren kennt und liebt. Nicht umsonst wirbt die Website zum Westend mit dem Satz, dies sei »ein Quartier, das sich den Charme der Gründerzeit bewahrt hat und das auf die individuellen Wünsche der Bewohner eingeht.« Und wer will hier wohnen? Es ist überraschend: Keine Senioren mit Hang zur guten alten Zeit, sondern solvente Einzel- und Doppelverdiener jüngeren und mittleren Alters, die Pilaster und Giebel genauso schätzen wie moderne Ausstattung mit Fußbodenheizung, offener Designwohnküche und Tiefgarage – und sich wenig darum scheren, ob das alles zusammenpasst. Ähnlich ist es auf den Büroetagen: Wer hier Notare und Schiffsmakler vermutet, liegt falsch. Es dominieren junge Firmen des tertiären und quartären Sektors: E-Commerce, Online-Marketing, Produktdesign, Konsumforschung.

Hegehof-Terrassen: perfekt eingepasster Stilmix

Der Kontrast zu den Hegehof-Terrassen, eine Anlage aus Vorder- und Hinterhaus in der Hegestraße im großbürgerlichen Stadtteil Eppendorf, könnte größer nicht sein. Hier ist alles wohldurchdacht – stilistisch, typologisch, gestalterisch. Die Häuser sind so perfekt geplant und ausgeführt, dass sie inmitten ihrer gründerzeitlichen Nachbarbauten zunächst kaum auffallen. Im Unterschied zu den prächtigen Nachbarn zeigt der Neubau des Vorderhauses Understatement. Statt mit noblem weißen Putz sind die Fassaden mit einem einfachen, aber präzise gefügten Sichtmauerwerk verkleidet, in die sich genauso akkurat die hohen, schmalen französischen Fenster mit ihren Natursteinleibungen schneiden. Ebenso aus Naturstein sind die Kranzgesimse sowie die (beim Vorderhaus zweigeschossigen bzw. beim Hofhaus eingeschossigen) Natursteinsockel. Sie besitzen eine dezente Quaderung, die über den Türen und dem Tordurchgang als Bogenquaderung ausgeführt wurde. Hinter den hohen Fenstern des Vorderhaussockels verbergen sich übrigens gleich zwei Geschosse, denn über dem (erfreulicherweise für vier Geschäfte genutzten) Sockelgeschoss wurde noch ein Mezzanin eingefügt. Vorder- und Hinterhaus sind symmetrisch angelegt; ihre Mittelteile durch Tordurchgänge sowie (beim Vorderhaus) mittels eines flachen Giebels und durch offene Balkone betont. Wirkt das Vorderhaus würdevoll und herrschaftlich, so erscheint das Hofhaus deutlich privater, intimer. Verantwortlich hierfür sind die geringere Geschosszahl, das flachere Sockelgeschoss und das mit Gauben versehene, ausgebaute Mansarddach. Zusätzlich werden die Balkone der ersten Etage durch von Steinmetzen geschaffene toskanische Säulen und ein Gebälk getragen, die zugleich einen geschützten Vorraum für die Hauseingänge definieren. Das Innere der Häuser korrespondiert mit dem fein differenzierten Äußeren: Im Vorderhaus wohnt man auf bis zu 150 m² komfortabel, aber nicht luxuriös in Vierzimmer- oder Maisonette-Wohnungen. Im Hofhaus sind die Wohnungen mit zwei Zimmern im Normalgeschoss und drei Zimmern als Maisonette-Typ deutlich bescheidener – dafür aber ruhiger und mit Blick auf den unmittelbar angrenzenden Isebekkanal. Die Grundrisse der bei der Erstvermietung 16 Euro / m² teuren Wohnungen sind der Gründerzeit entlehnt: Wie damals liegen die Zimmer um einen Erschließungs- und Sanitärkern, sind teilweise durch Flügeltüren miteinander verbunden und annähernd gleich groß – aus einem Schlaf- wird problemlos ein Kinderzimmer, aus einem Wohn- ein Arbeitsraum. Die Hegehof-Terrassen sind eine formidable Weiterführung der Gründerzeitbauten des Stadtteils und eigentlich eine Stadtreparaturmaßnahme. Gute Lage, solide Bauweise, praktische Grundrisse: Merkmale, die auch ohne Rückgriffe auf die Vergangenheit Qualität erzeugen.

Doch so unterschiedlich die Hegehof-Terrassen und das Westend Ottensen im Detail auch sind und so verschieden die Ansprüche der Bewohner sein mögen – beide Projekte sind Ausdruck derselben gewaltigen Schizophrenie: Gerade in den besseren Kreisen gibt es ein weit verbreitetes und tiefgehendes Unbehagen an einer Moderne, die die althergebrachten und traditionsgeleiteten Fundierungen unserer Gesellschaft immer weiter aufzulösen scheint. Das Versprechen der Moderne auf eine schönere, bessere Welt nimmt man ihr, so es überhaupt noch geäußert wird, nicht mehr ab. Zugleich möchte niemand die Annehmlichkeiten des Fortschritts missen. Die Synthese aus beidem ist das Wohnen und Arbeiten in historisierenden Bauten mit moderner und komfortabler Ausstattung. Die Bewohner wissen genau, dass sich die Uhr nicht anhalten oder zurückdrehen lässt, denn: »Alte Fassaden sind für die neue Zeit nicht undurchlässig. Zwischen Form und Inhalt treten gewaltige Ungleichheiten auf, die die Form aber nie im Ernst für sich entscheiden kann« (Ullrich Schwarz). Ganz offensichtlich stört dieser Zwiespalt die Bewohner aber nicht – sie erkennen ihn womöglich noch nicht einmal. Schade, dass die eingefleischten Modernisten und Traditionalisten unter den Architekten sich so feindselig gegenüber stehen. Die einen könnten sonst verstehen, dass die Hinwendung zum tradierten Formenkanon keine Rückkehr ins Kaiserreich bedeuten muss, und die anderen müssten feststellen, dass die Bewohner ihrer Häuser nicht die moderne Welt fliehen – sie wollen es sich nur etwas gemütlicher darin machen.

db, Mo., 2010.06.07



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db 2010|06 Retrospektiv

07. Oktober 2009Claas Gefroi
db

Käfer statt Vögel

Aus Kosten- und aus statischen Gründen habe sich die Holzkonstruktion des Gebäudes so ergeben, lautete die simple Antwort der Architekten auf die Frage nach der Wahl des Baumaterials. Auch war Holz aus bauphysikalischen Gründen einfach besser – schließlich können die schlanken Wände Dämmwerte erreichen, die mit gewöhnlichem Stahlbeton oder Mauerwerk nicht in der Dicke zu erfüllen gewesen wären. Doch das Haus überzeugt nicht nur wegen seiner Materialität und ausgefeilten, dennoch einfach wirkenden Konstruktion, sondern vor allem aufgrund seines einzigartigen Raumerlebnisses.

Aus Kosten- und aus statischen Gründen habe sich die Holzkonstruktion des Gebäudes so ergeben, lautete die simple Antwort der Architekten auf die Frage nach der Wahl des Baumaterials. Auch war Holz aus bauphysikalischen Gründen einfach besser – schließlich können die schlanken Wände Dämmwerte erreichen, die mit gewöhnlichem Stahlbeton oder Mauerwerk nicht in der Dicke zu erfüllen gewesen wären. Doch das Haus überzeugt nicht nur wegen seiner Materialität und ausgefeilten, dennoch einfach wirkenden Konstruktion, sondern vor allem aufgrund seines einzigartigen Raumerlebnisses.

Die Hamburger Walddörfer sind nicht gerade die Gegend, in der man unorthodoxen, innovativen Wohnungsbau, noch dazu in Holz, vermuten würde. Hier, im idyllisch-grünen, einst ländlichen Nordosten der Stadt ist man konservativ (Bürgerschaftswahl 2008: CDU 53,1 %), sicher (niedrigste Kriminalitätsrate Hamburgs), unter sich (niedrigster Ausländeranteil Hamburgs) und gut situiert (niedrigster Anteil von Hartz IV-Empfängern Hamburgs). Auch die das Bild prägenden Einfamilienhäuser sind eher bodenständige Vertreter aus Rotklinker mit Satteldach. Geradezu wie ein Affront wirkt da diese kleine Kiste aus Holz und Glas, die die jungen Architekten Tobias Kraus und Timm Schönberg für eine Familie in den Boden gegraben haben. Die Fremdartigkeit ist nicht nur den ortsuntypischen Materialien geschuldet, sondern auch deren eigenartiger Verteilung: Das OG, verschalt mit weiß gestrichenem Douglasienholz, thront auf einem gläsernen Sockel und wirkt, als schwebe oder balanciere es in einem prekären Gleichgewicht. Diese Wirkung ist kein vordergründiger Effekt, sondern den Zwängen des Ortes geschuldet: Erlaubt war auf dem Grundstück nur eine eingeschossige Bebauung auf kleiner Fläche, die nicht genügend Wohnraum geboten hätte. Die Architekten entwickelten daraufhin einen Zweigeschosser, der baurechtlich keiner ist, weil das EG – 1,5 m tief in die Erde gesteckt – nicht als Vollgeschoss gilt. Damit auf Grasnarbenebene keine Souterrain-Beklemmungen aufkommen, wurde der oberirdische Anteil der Etage komplett verglast. Es ist hell und heimelig in diesem Betontrog, dessen Oberfläche die ursprünglichen Schalungsbretter strukturierten. Auf freier Fläche wird gewohnt, gekocht und gegessen, bei schönem Wetter auch draußen auf einer in das Gelände eingegrabenen Terrasse. Lediglich der Ausblick ist ungewohnt: Statt Vögel in den Bäumen beobachtet man hier eher Käfer im Gras.

Geschärfte Wahrnehmung

Ungewöhnlich ist auch die variierende Deckenhöhe im EG. Sie ist den unterschiedlichen Höhen der darüber liegenden Räume im OG geschuldet. Die Architekten sind nicht zu Unrecht der Auffassung, dass unterschied- liche Nutzungen eine Differenzierung der Räume nicht nur in der Fläche, sondern auch in der Höhe notwendig machen und haben sie entsprechend in der dritten Dimension gestaffelt. So ist beispielsweise einer der Räume darauf ausgerichtet, das Hochbett der Kinder aufzunehmen. Da das Flachdach tatsächlich flach bleiben sollte, ragen die Räume des OG nun also wie in einer Skulptur von Rachel Whiteread unterschiedlich tief hinab in die untere Ebene. Es ist eine beeindruckende Erfahrung: Räume bleiben nicht länger von Wänden, Böden und Decken umschlossene Volumen, sondern werden als Körper spürbar.

Durch den Trick der Differenzierung und Staffelung des OG nach unten wird die außen so eindeutige Einteilung in zwei Ebenen im Hausinneren aufgehoben. Statt eine gemeinsame horizontale Ebene zu definieren, winden sich die Räume um einen in der Mitte angeordneten, nach oben abgeschlossenen Luftraum hinauf. Immer wieder muss man auf dem Rundweg durch die obere Etage kleine Treppenstücke mit zwei oder drei Stufen hinauf oder hinab laufen; eine interessante Erfahrung, die die Wahrnehmung des Raumes schärft. Es entwickelt sich, nicht zuletzt durch die vielen Fenster und Wandeinschnitte im Innern, auf nur 125 m² Nutzfläche ein außerordentlich komplexes, spannungsvolles Raumgefüge. Der Luftraum, in den ein eindrucksvolles 6 m hohes Bücherregal eingebaut wurde, fungiert dabei als Zentrum und Schnittstelle. Hier kreuzen sich erstaunliche Sichtbeziehungen: vom elterlichen Schlafraum in das eine Kinderzimmer, vom anderen Kinderzimmer hinunter zur Küche, ja sogar vom bodentief verglasten Bad in den Wohnraum. Man bleibt also auf dem Laufenden über das Geschehen. Aber auch der Blick durch drei Fensterebenen über das Atrium hinweg bis zum Wald ist atemberaubend. Es ist dieses Spiel zwischen Gemeinsamkeit und Individualität, zwischen Offenheit und Geschlossenheit, die dieses Haus so einzigartig macht.

Wundervoll einfach

Die Komplexität des Hauses spiegelt sich in seiner Konstruktion wieder, denn das einzigartige Raumerlebnis ist Ergebnis eines ungewöhnlichen Tragsystems, das die jungen Architekten zusammen mit dem Büro von Werner Sobek entwickelt haben: In die Ortbetonwanne des EG wurden schlanke Rundrohrstützen eingespannt, auf denen ein Holztragwerk aus kreuzweise verleimten Fichtenholzplatten ruht. Sie bilden, miteinander verschraubt, die Böden und Wände der Raumkuben des OG. Die Verwendung von Kreuzlagenholz ermöglicht eine für die Holzbauweise erstaunliche Spannweite und Steifigkeit, so dass die Hauptwandscheiben ohne weitere Unterstützung über die gesamte Gebäudetiefe bis zu knapp 12 m reichen – im EG verstellt keine Stütze den wunderbar offenen Raum.

Die Nutzung von Kreuzlagenholz (auch Brettsperrholz genannt) im Hausbau ist erst seit den 90er Jahren in Deutschland gängige Praxis. Zur Herstellung der massiven Holztafeln werden drei bis sieben über Kreuz gestapelte Brettlagen miteinander verleimt. Der Vorteil des Verfahrens: Die Schichtung von Quer- und Längslagen des Holzes übereinander verhindert die (bei Einzelbrettern) übliche Dimensions- und Lageänderungen durch wechselnde Luftfeuchtigkeit und ermöglicht damit erst die hohe Formstabilität und Steifigkeit.

Durch die großen Spannweiten herrschen an den Auflagerpunkten hohe Drucklasten. Um sie in die Stahlstützen einzuleiten, wurden in die Massivholzplatten Stahllamellen einlaminiert. Die innovative, wie ein überhoher Trägerrost funktionierende Konstruktion aus gleichermaßen tragenden Außen- und Innenwänden war kompliziert zu berechnen, besitzt aber einige Vorzüge: Da alle Wände gleichermaßen zur Lastabtragung genutzt werden, konnten Innen- wie Außenwände mit gerade einmal 11,7 cm Durchmesser (bei Außenwänden zzgl. Dämmung und Außenverschalung) außerordentlich schlank gehalten werden. Zudem ist es ein sehr kostengünstiges System, denn die hölzernen Wand- und Bodenscheiben wurden, mit allen Aussparungen für Türen und Fenster, in der Fabrik vorgefertigt und vor Ort in zwei Tagen zusammengeschraubt. Sie blieben zudem innen völlig unbekleidet und erhielten lediglich einen weißen Acrylfarbanstrich; auch dies spart Zeit und Geld, fördert zudem ein gesundes Raumklima und die Recyclingfähigkeit. Und: Der Naturstoff Holz bleibt in seiner Haptik, seiner Struktur und seinem Geruch immer präsent. Es musste nicht einmal in den Brandschutz investiert werden, denn Kreuzlagenholz-Platten erreichen ohne zusätzliche Maßnahmen wie Feuerschutzplatten die Feuerwiderstandsklasse F90.

Durch die Vorfertigung und den geringen Arbeitsaufwand vor Ort konnte das ganze Haus letztlich in nur vier Monaten Bauzeit errichtet werden und kostete unter 300 000 Euro. Als einziger Nachteil steht all dem gegenüber, dass die einmal gewählte Raumkonfiguration im OG später nicht oder nur schwer verändert werden kann, weil sich keine Wände versetzen oder herausnehmen lassen. Doch auch im konventionellen Wohnungsbau tritt dieser Fall höchst selten ein.

Auch unter energetischen Aspekten kann sich die Wohnkiste sehen lassen: Die schlechte Wärmeleitfähigkeit der Holzwände sowie die außenliegende, hinter der Fassadenschalung angebrachte Dämmung machen das Gebäude zu einem Niedrigenergiehaus mit einem Jahresprimärenergiebedarf von knapp unter 60 kWh/m2. Der Transmissionswärmeverlust liegt unter 0,30 W/m2K – und dass, obwohl die Außenwände des EG einen hohen Glasanteil (Zweifach-Verglasung) besitzen. Geheizt wird mittels Geothermie, wobei der Strom für die Wärmepumpe nicht mehr als 50 Euro pro Monat kostet.

Man sieht: Dieses kleine, außergewöhnliche Wohnhaus ist nicht etwa einer gestalterischen Obsession seiner Architekten entsprungen. Es ist die perfekte Umsetzung einer neuartigen Vorstellung des familiären Zusammenlebens in einem Einfamilienhaus, das zusammen mit den Nutzern und den Tragwerksplanern entwickelt wurde. Dafür wurde ein höchst effizientes und zudem kostengünstiges Tragwerk ausgetüftelt, für das einzig der Werkstoff Holz in Betracht kam. Dass dieses Haus auch noch die Ressourcen schont, ein natürliches Wohnklima schafft und recyclingfähig ist, zeigt, dass eine gute Gestaltung und ökologisches, nachhaltiges Bauen überhaupt kein Widerspruch sein müssen. Es ist eine im backsteinernen Norden ungewöhnliche Kiste aus Holz und Glas, doch sie wird Schule machen – das ist gewiss.

db, Mi., 2009.10.07



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db 2009|10 Holz angemessen

01. April 2009Claas Gefroi
db

Aufbruch durch Abbruch?

Durch das neue Quartier auf dem Gelände der ehemaligen Bavaria St. Pauli Brauerei werden die Gegensätze im südlichen St. Pauli durchaus noch verschärft: Nischenexistenzen und kleinteilige Arbeiterwohnhäuser der Gründerzeit prallen auf Hochhaustürme und Wohnungen für Besserverdienende. Sowohl menschlich als auch architektonisch sind interessante, aber nicht immer spannungsfreie Nachbarschaften entstanden.

Durch das neue Quartier auf dem Gelände der ehemaligen Bavaria St. Pauli Brauerei werden die Gegensätze im südlichen St. Pauli durchaus noch verschärft: Nischenexistenzen und kleinteilige Arbeiterwohnhäuser der Gründerzeit prallen auf Hochhaustürme und Wohnungen für Besserverdienende. Sowohl menschlich als auch architektonisch sind interessante, aber nicht immer spannungsfreie Nachbarschaften entstanden.

Als vor Kurzem Hamburgs bekannteste Prostituierte, Domina und Sozialarbeiterin Domenica Niehoff starb, gab es einen Trauermarsch, wie ihn die Stadt noch nicht erlebt hatte: Ein buntes Volk von Huren, Milieugrößen, Künstlern aber auch ganz normalen Bürgern gab der guten Seele des Kiezes zu den Klängen von »La Paloma« in einer traurig-fröhlichen Prozession durch St. Pauli das letzte Geleit. Als der Zug die berühmte Herbertstraße durchschritt, da wurde wohl allen klar, dass nicht nur die letzten Kiez-Originale sterben, sondern auch das alte St. Pauli langsam verschwindet: Gleich gegenüber, auf der anderen Seite der Davidstraße, überragen seit Kurzem Hochhaustürme die bescheidenen Arbeiterwohnhäuser der Gründerzeit. Sie markieren das Bavaria-Quartier, ein Neubauviertel im Herzen des Stadtteils auf dem Gelände der einstigen, heute ausgelagerten Bavaria St. Pauli Brauerei.

Die Aufgabe des Standorts im von hohen Mauern umschlossenen dreißig Hektar großen Komplex bedeutete für St. Pauli eine große städtebauliche Chance.
Das abgeriegelte Gelände konnte geöffnet und alte Wege- und Straßenverbindungen wiederhergestellt werden. Doch dies sollte der einzige Anknüpfungspunkt an den Genius Loci bleiben. Man plante hier nicht die Fortsetzung kleinbürgerlicher Milieus, sondern den Beginn eines grundlegenden Wandels: St. Pauli, das alte Arbeiterquartier, Hamburgs ärmster Stadtteil, sollte neue Dynamik, solvente Bewohner und zusätzliche Wirtschaftskraft erhalten – eine gezielte Gentrifizierung also. Und die Investoren standen Schlange: St. Pauli besitzt noch immer eine Attraktivität und Sogkraft, der sich kaum jemand entziehen kann. Es ist dies Deutschlands vielleicht einziger echter Schmelztiegel, in dem Menschen unterschiedlicher Herkunft, Schichten und Couleur auf engstem Raum wohnen, arbeiten, sich vergnügen. Hier herrscht ein Geist aus Offenheit und Toleranz, gepaart mit einem speziellen rauen Charme. Von dieser Atmosphäre will das neue Quartier profitieren, ohne selbst Teil des Kiezes zu werden. Denn die sich hier einquartierenden Besserverdiener und Luxushotelgäste sollen das Prickeln des Ortes spüren, ohne von den unangenehmen Nebenwirkungen wie Armut, Kriminalität oder Drogenproblemen belästigt zu werden.

Abgrenzung, nicht Integration

Nein, Grenzen und Barrieren gibt es nicht; das Quartier isoliert und separiert sich auf eher unterschwellige Art, gibt sich kühl und distanziert inmitten des pulsierenden Stadtteils. Selbst an den Wochenenden, wenn die umliegenden Straßen schier bersten vor Vergnügungssuchenden, verirrt sich nur selten jemand hierher. Städtebau, Freiraumplanung und Architektur des neuen Viertels tragen das Ihre dazu bei: Identitätsstiftende Überbleibsel aus der industriellen Zeit sind nirgends auszumachen und waren nicht gewollt. Selbst der bekannte »Astra-Turm«, das Brauerei-Verwaltungsgebäude der Architekten Carl Friedrich Fischer und Horst von Bassewitz mit seiner markanten Stempelkonstruktion und Biertulpenform wurde abgerissen und durch ein Hochhaus ersetzt, das mit dem Vorgänger nur den Namen gemein hat. Auch die ortstypische Kleinteiligkeit mit hoher Dichte bei moderaten Gebäudehöhen wird nicht weitergeführt. Die klare städtebauliche Figur des 19. Jahrhunderts mit Läden im Erdgeschoss und darüber liegenden Wohnungen fand keinen Widerhall. Gassen, Wege und Plätze zwischen den Neubauten sind zwar aufwendig gepflastert, wirken aber leblos, weil es keine Möglichkeit zum Verweilen gibt. Parkbänke fehlen – wohl, damit sich niemand dauerhaft auf ihnen niederlässt. Ins Bild passt, dass es statt eines Spielplatzes nur wenige verwaiste Spielgeräte gibt, die verstreut im Gebiet liegen.

Die städtebauliche Struktur des Areals ist heterogen und indifferent. Es fehlt eine eindeutige Einteilung in private und öffentliche Bereiche und klare räumliche Gefüge. Die Erdgeschosszonen der Büro- und Wohnhäuser werden kaum für belebende Geschäfte genutzt; gerade einmal ein Discounter, eine Apotheke und ein Backshop tragen zur Nahversorgung bei. Bei den Gebäudetypologien geht es auf engem Raum wild durcheinander: Zeilen, eng aneinandergerückte Punkthäuser, Block, Hochhäuser, dazu ein unübersichtlicher Bürokomplex. Verstärkt wird das disparate Nebeneinander durch in Form, Farbe und Material völlig unterschiedliche Fassaden. Von der ursprünglichen Absicht, hier dem dunkelroten Ziegel der nahen Schumacher-Bauten des Tropeninstituts die Referenz zu erweisen, ist nicht viel übrig geblieben: von weiß über hell- bis dunkelrot und dunkelbraun reicht das Farbspektrum. Es gab kaum gestalterische Einschränkungen, mit dem Ergebnis, dass sich die Bauten und Freiräume nicht zu einem Ganzen fügen – im Unterschied zu den unspektakulären Gründerzeithäusern ringsum, die innerhalb eines strengen Rahmens variieren.

Architektonisches Patchwork

Das Viertel ist auch deshalb so unterschiedlich geraten, weil eine Vielzahl von Bauherren und Architekten am Werk waren. Die Wohnhäuser wurden von zwei Genossenschaften errichtet, die sich vom Bauen in exponierter Lage einen Imagegewinn versprechen. An der Hopfenstraße im Norden des Quartiers planten PFP Architekten für die Baugenossenschaft Bergedorf-Bille vier eng aneinandergestellte, mit roten Kunststoffplatten verkleidete Häuser, deren unterschiedlich modellierte Körper zu einem Ensemble zusammenklingen. Sie besitzen unterschiedliche Winkel, Höhenstaffelungen und Auskragungen, variieren zudem in der Anordnung von Fenstern, Balkonen und Loggien. Die Wohnungen liegen jeweils in einer Ecke und werden somit übereck gelüftet. Sie sind nicht üppig dimensioniert, aber praktisch geschnitten, jedoch erhalten die zur Straße gelegenen Wohnungen durch ihre Nordost- oder Nordwestlage recht wenig Licht. Östlich davon baute Jan Störmer für denselben Auftraggeber eine rhythmisch gegliederte, zur Straße weiß verputzte und zum Quartier nach Süden hin verglaste Wohnzeile, deren 48 Etagenwohnungen mit ihren zweieinhalb bis fünf Zimmern zumeist gut nutzbare Grundrisse aufweisen. So gibt es genügend Stauräume, Flure zur Abtrennung der Bäder von den Wohnräumen und für jede Wohnung eine Loggia, die Frischluftfreunde vor dem beständigen Wind schützt. Zu bemängeln sind jedoch kleine Schlafräume, manchmal nur 2,50 Meter schmale Zimmer und einseitig nach Norden orientierte Zwei-Zimmer-Wohnungen. Ein echtes Plus sind die eingeschobenen Dachterrassen, die von allen Mietern genutzt werden können.

Von steidle architekten stammt ein strenger Wohnblock an der Bernhard-Nocht-Straße für die Hansa Baugenossenschaft. Der Komplex mit seinen 120 frei finanzierten Wohnungen wird geprägt durch die wechselseitige Durchdringung von liegenden und lotrechten Baukörpern. Diese Achtgeschosser stehen sich, getrennt nur durch den zwanzig Meter breiten Innenhof, sehr nah gegenüber. Aber diese hohe Dichte passt durchaus zum engen, verwinkelten St. Pauli. Der Blick in den engen Hof ist eigentümlich: kleine Mietergärtchen im Vordergrund, hinter denen sich die in der Sonne glänzenden Hochhaustürme erheben. Dieser Maßstabssprung erzeugt eine großstädtische Spannung, wie man sie in Hamburg bisher nicht kannte. Im Inneren reihen sich die vorwiegend nach Norden und Süden orientierten Wohnungen entlang eines durchlaufenden innenliegenden Flurs. Die quergestellten Treppen der Maisonettewohnungen liegen ebenfalls in diesem inneren, dunklen Bereich. Neben den Zwei- bis Vier-Zimmer-Maisonette-Typen gibt es noch Etagenwohnungen mit zwei bis vier Zimmern und Atelierwohnungen mit bis zu 175 Quadratmetern. Familien finden hier also genauso Platz wie Singles und Paare. Die Mietpreise zwischen 9,60 und 11 Euro (netto kalt) machen die Wohnungen für breite Bevölkerungsschichten interessant, liegen freilich dennoch über dem für St. Pauli üblichen Niveau. Unverständlich bleibt, warum man die südwestliche Ecke mit einem Bürogebäude besetzte: Die gestalterische und funktionale Integrität des Blocks wurde so unnötigerweise aufgegeben. Das mit dunkelbraunen, fast schwarzen Ziegeln verkleidete »Holland Haus« von coido architects ist jedoch ein schön anzuschauender, skulpturaler Baukörper mit Lufträumen, An- und Einschnitten, die geschickt zwischen den unterschiedlichen Gebäudehöhen der Umgebung vermitteln. Der im Westen angeschnittene, gläserne Sockel ist eine geschickte Inszenierung des seitlich liegenden Eingangs. Die beiden Dachterrassen sind für die Büroangestellten ein Zugewinn, für die Bewohner des Steidle-Blocks jedoch eher eine Störung der Privatsphäre. Östlich des Wohnblocks erhebt sich der Nachfolger des Astra-Turms, ein 68 Meter messendes Hochhaus von KSP Engel und Zimmermann, das weit weniger originell als sein Vorgänger daherkommt, dafür aber eine vornehme Zurückhaltung ausstrahlt. Die abgerundeten Ecken und die schön irisierenden keramischen Brüstungstafeln geben dem 18-Geschosser eine noble Note, die hier, auf dem Kiez, allerdings etwas deplatziert wirkt. Schräg gegenüber haben Axthelm Architekten aus Potsdam ein Büro- und Gewerbegebäude gebaut, das einen kleinen, offenen Hof umschließt. Die Einzelhandelsflächen im Erdgeschoss sind einem kleinen, leider zugigen Platz zugewandt, der das Zentrum des Quartiers bildet. Freilich kann die Architektur des Gebäudes der Bedeutung des Ortes nicht entsprechen. Zu simpel werden die Etagen aufeinandergeschichtet und an der Fassade durch den monotonen Wechsel zwischen Fenster- und Brüstungsbändern abgebildet. Östlich des wiederbelebten, das Areal diagonal durchschneidenden Zirkuswegs liegt das Atlantic Haus, ein riesiger Bürokomplex aus drei Achtgeschossern und einem zentralen Hochhaus mit 21 Geschossen. Man mag es kaum glauben, dass als Architekten Thomas Herzog (Planung und Regeldetails) und gmp (Realisierung) genannt werden, denn die äußere Erscheinung ist recht beliebig und schwach geraten. Der Einzige Hingucker bleiben die hinter den gläsernen Schmalseiten des Hochhauses in Szene gesetzten gigantischen Aussteifungskreuze.

Hamburger Understatement

Wie man es besser macht, zeigt am entgegengesetzten, westlichen Ende David Chipperfield. Sein »Empire Riverside Hotel« ist nicht nur architektonisch, sondern auch städtebaulich bemerkenswert. Auf 3800 Quadratmetern Grundfläche entstand ein Ensemble aus Sockelgebäude, 65 Meter hohem Hotelturm und Bürohaus. Geschickt werden hier durch Faltungen an der Fassade differenzierte öffentliche Räume geschaffen und dem Hochhaus mit seinen 22 Geschossen und 328 Zimmern die Wucht genommen. Die Bronzefassade wirkt ungewohnt und passt mit ihrer unregelmäßigen rotbraunen Farbe und matten Oberfläche doch äußerst gut ins raue St. Pauli. Was mindestens genauso wichtig ist: Das ganze Haus ist wunderbar lebendig. An die vier Geschosse hohe Lobby mit ihrer Rezeption grenzen offene Galerien, eine Lounge, ein Café, ein Restaurant, Konferenzräume und ein Ballsaal. Chipperfield durchbricht die rationale Strenge des Gebäudeinneren mit kleinen Lockerungsübungen: warme, holzgetäfelte Wände und Chesterfield-Sessel, denen durch knallbunte Farben jede Spießigkeit ausgetrieben wurde. Und in der obersten Etage liegt eine wirklich mondäne Bar mit spektakulärem Blick über die Stadt. Wenn man dort bei einem Getränk hinunterschaut, wird einem erst so recht bewusst, wie sehr das neue Quartier ins gewachsene St. Pauli eingreift. Und das war erst der Anfang: An der Reeperbahn werden demnächst die »tanzenden«, weil leicht geknickten Zwillings-Bürotürme von BRT Bothe Richter Teherani gebaut, der Stadtteil also von einer weiteren Seite in die Zange genommen.

db, Mi., 2009.04.01



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db 2009|04 Europäische Stadtquartiere

06. August 2008Claas Gefroi
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Koloss mit Feingefühl

Die vielerlei verfahrens- wie sicherheitstechnisch hochsensiblen Räume, die das Bernhard-Nocht-Institut zukünftig zusätzlich benötigt, konnten nur in einem Neubau sinnvoll untergebracht werden. Obwohl sie sich gegenüber dem Schumacher-Bau von 1914 einer völlig andersartigen Formensprache bedienen, gelang den Architekten mit subtilen Mitteln die organische Fortführung der städtebaulichen Struktur, die der Bestand vorgibt.

Die vielerlei verfahrens- wie sicherheitstechnisch hochsensiblen Räume, die das Bernhard-Nocht-Institut zukünftig zusätzlich benötigt, konnten nur in einem Neubau sinnvoll untergebracht werden. Obwohl sie sich gegenüber dem Schumacher-Bau von 1914 einer völlig andersartigen Formensprache bedienen, gelang den Architekten mit subtilen Mitteln die organische Fortführung der städtebaulichen Struktur, die der Bestand vorgibt.

»Eure Hoheit, ich vergesse, dass ich in Europa bin. Ich habe noch nie solche ungesunden Wohnungen, Pesthöhlen und Brutstätten für jeden Ansteckungskeim angetroffen wie hier.« Selbst einen erfahrenen und weit gereisten Mediziner wie Robert Koch schockierten die Zustände, die er in den Hamburger Gängevierteln, den Armenquartieren der Stadt, antraf. Bereits mehrmals waren große Epidemien ausgebrochen, ohne dass die Stadt viel unternommen hätte, als sich 1892 über das ungefilterte Trinkwasser die asiatische Cholera verbreitete. Die sich schnell in der Stadt ausbreitende Seuche forderte 9000 Menschenleben. Nach der Katastrophe änderten sich endlich die Verhältnisse: Die Trinkwasserfilterung wurde eingeführt, die Gängeviertel abgerissen und das »Institut für Schiff- und Tropenkrankheiten« gegründet, das der tropenmedizinischen Forschung und der Ausbildung von Schiffs- und Kolonialärzten diente.

Das nach seinem ersten Direktor benannte Bernhard-Nocht-Institut wurde zunächst provisorisch in den Räumen des Seemannshauses untergebracht und erhielt 1914 einen Neubau nach Plänen des Hamburger Baudirektors und Leiters der Hochbauabteilung Fritz Schumacher. Schon er hatte Schwierigkeiten mit dem Grundstück auf St. Paulis Geestkante: Zwar ist der Blick über Elbe und Hafen einzigartig, doch der Baugrund ist lang, schmal und von einer beachtlichen Höhendifferenz gekennzeichnet, die Nicht-Hamburger in der vermeintlich platten Hansestadt nicht erwarten würden. Schumacher entwickelte eine Anlage aus drei nebeneinander liegenden Bauten – von Ost nach West – ein Krankenhaus für Tropenkranke, das Institutsgebäude sowie das Tierhaus.

Heute ist das Institut mit rund 400 Mitarbeitern die größte tropenmedizinische Forschungseinrichtung in Deutschland. In seinen High-Tech-Laboren wird an so unheimlichen Erregern wie dem Ebola- oder dem Marburg-Virus geforscht; man stuft die eigenen Forschungsleistungen als »von gesamtstaatlichem wissenschaftspolitischen Interesse« ein. Doch der altehrwürdige Institutsbau wurde zu klein, ein Neubau mit rund 3000 Quadratmetern Nutzfläche nötig. Die im Wettbewerb siegreichen Architekten Kister Scheithauer Gross nutzten die lang gestreckte spitzwinklige Fläche mit einem dreieckigen Baukörper mit gekappter Spitze bis an die Grenzen aus. Und sie gingen das Wagnis ein, Schumachers Backsteinachse mit dem gleichen Material in moderner Form fortzuführen. Modern heißt vor allem: der Verzicht auf jeglichen Bauschmuck oder (Ziegel-)Ornamente. Stattdessen stellen die Architekten den reich gegliederten und geschmückten Altbauten einen nackten, rohen Koloss zur Seite, dessen Schroffheit an ein Felsengebirge denken lässt. Kister Scheithauer Gross begründen den Solitärbau so: »Der vorhandene Schumacher-Bau bildet für die Baukörpergruppe … bereits seinen eigenen baulichen Abschluss und verlangte nicht nach Ergänzung des in sich geschlossenen Ensembles.« Damit macht man es sich etwas zu leicht, denn mit einem neuen Gebäude auf dem Standort des zuvor abgerissenen Tierhauses wird automatisch die alte Struktur mit drei Bauwerken wiederhergestellt – der Neubau muss sich, egal wie, dem historischen Kontext stellen.

Bei genauerer Betrachtung stellt man aber fest: Es gibt Anknüpfungspunkte. Sofort fällt der gläserne zweistöckige Übergang vom Alt- in den Neubau ins Auge, der eine Erschließungsachse des Schumacher-Baus fortführt. Und bemerkenswert ist auch, dass die höchste Dachkante des gestaffelten Neubaus unter der Firstkante des Institutsgebäudes bleibt und den Blick auf dessen Turm nicht verstellt. Die dem Altbau zugewandte Schmalseite inszeniert am Treppenhaus den Blick aufs bauliche Erbe mit einem mehrere Geschosse umfassenden, »Stadtloggia« genannten Fenster. Die übrigen Seiten nehmen mit der Dreiteilung in Sockel, Hauptgeschosse und breitem Dachsims die Fassadeneinteilung von Schumacher subtil auf, ohne sie zu imitieren. Die komplexe Form des Erweiterungsgebäudes ist dagegen betont eigenständig: Das Haus erscheint mit seinen zwei gegenläufig geneigten Dachflächen und den schiefwinkligen Außenwänden und -kanten wie eine Großskulptur, die ihren eigenen Gesetzen folgt – eine Idee, die konsequent umgesetzt wurde. So ist das Dach als fünfte Fassade ebenfalls mit dem homogenen Klinkerkleid bedeckt, technisch gelöst durch Betonfertigteile, in die die Steine eingefügt wurden. Die wenigen Fenster sind zweigeteilt: ein größeres für Ausblicke des Personals und ein schmaleres darüber als zusätzliche »Lichtleiste«. Sie sitzen allesamt in tiefen Laibungen, wodurch der Eindruck martialischer Schießscharten erweckt wird.

Der abweisende Baukörper zeigt klar an, dass seine Nutzung einen Hochsicherheitstrakt erfordert. Im Inneren werden Labore und Tierhaltung konsequent in der Vertikalen voneinander getrennt. In den beiden Kellergeschossen wurde die Tierzucht und -haltung untergebracht, in den oberen Etagen die Laborräume für Virologie und Parasitologie, darunter solche der höchsten Sicherheitsstufe 4 sowie Büros und ein Insektarium. Selbst die beiden Aufzüge verkehren aus hygienischen Gründen nur jeweils zwischen den oberirdischen oder unterirdischen Stockwerken. Die Verteilerebene des Erdgeschosses ist aus Sicherheitsgründen nicht von der Straße, sondern nur über die Glasbrücke zwischen Alt- und Neubau zu betreten. Die Innenausstattung ist bei einem solchen Zweckbau nüchtern und funktional. Doch es gelingt den Architekten, an der einen oder anderen Stelle doch aus dem starren Korsett auszubrechen: So sind einige Fenster um Gebäudeecken herumgezogen, um den Ausblick weiter zu fassen, und in der stumpfen Spitze gibt es einen neun Meter hohen, quasi zweckfreien Raum, das Reflektorium, das dem Zwiegespräch und Nachdenken dient.

Felsen, Burg, Bunker: Die durch das neue Tropenhaus geweckten Assoziationen gefallen nicht jedem, doch sie passen zu Ort und Nutzung des Gebäudes. Und die Architekten knüpfen an die Hamburger Baugeschichte (nach Schumacher) an. So ist die gestalterische Nähe zu Werner Kallmorgens schnörkellosem monolithischen Kaispeicher A, der derzeit zur Elbphilharmonie umgebaut wird, überhaupt nicht zu übersehen. Wer hätte das gedacht: Ausgerechnet Kölner Architekten reihen sich mit einem äußerst sperrigem, aber kraftvollen Bauwerk in die Traditionslinie Hamburger Backsteinarchitektur ein und führen sie in die Zukunft fort. Der kleine rote Stein ist noch lange nicht tot.

db, Mi., 2008.08.06



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db 2008|08 Weiterbauen

01. November 2007Claas Gefroi
db

Zwischen Unterwelt und Himmelreich

Wo täglich tausende Passanten vorbeieilen, ankommen, umsteigen, weiterfahren oder sich treffen, können die beiden neuen Zugangsbauten zur S- und U-Bahn schnell mal übersehen werden. Erst recht im städtebaulichen Umfeld des Jungfernstieg an der Hamburger Binnenalster. Die beiden nahezu identischen Bauten überdachen mit einer weit spannenden Stahlkonstruktion jeweils die Treppenanlage – präzise detailliert, kraftvoll in ihrer Wirkung und doch zurückhaltend.

Wo täglich tausende Passanten vorbeieilen, ankommen, umsteigen, weiterfahren oder sich treffen, können die beiden neuen Zugangsbauten zur S- und U-Bahn schnell mal übersehen werden. Erst recht im städtebaulichen Umfeld des Jungfernstieg an der Hamburger Binnenalster. Die beiden nahezu identischen Bauten überdachen mit einer weit spannenden Stahlkonstruktion jeweils die Treppenanlage – präzise detailliert, kraftvoll in ihrer Wirkung und doch zurückhaltend.

Zwei Dächer, Backwarenverkauf, Imbiss, Treppen und Rolltreppen – was soll man daraus schon machen? Die Zugangsgebäude für einen unterirdischen U- und S-Bahnhof sind wohl nichts, was den gestalterischen Ehrgeiz der meisten Architekten beflügelt – selbst wenn sie am bekannten Hamburger Jungfernstieg stehen. Und welcher Passant schaut schon genauer hin, wenn der Zug gleich kommt, die Geschäfte bald schließen. Sekundenbauwerke, kaum wahrgenommen beim hastigen Übergang von der Unterwelt ins Tageslicht. Hauptsache, die Rolltreppe funktioniert.

Doch eilen wir nicht auch deshalb so schnell die Treppen hinauf oder hinab, weil in uns, aller Vernunft und Aufgeklärtheit zum Trotz, ein Unbehagen an den künstlichen Höhlen im Erdinneren schlummert? In den Zugangsbauwerken der unterirdischen Bahnhöfe werden wir mit unseren verdrängten Ängsten konfrontiert: »Im Keller verharren die Dunkelheiten Tag und Nacht. Sogar mit dem Leuchter in der Hand sieht der Mensch im Keller die Schatten über die schwarzen Mauern tanzen ... In unserer Zivilisationsepoche, die das gleiche Licht überallhin verbreitet und auch den Keller elektrisch beleuchtet, geht man nicht mehr mit dem Leuchter in den Keller. Das Unbewusste aber lässt sich nicht zivilisieren.« [1]. Die Verbindung zwischen Tiefe und Erdoberfläche, zwischen Unterwelt und Tageslicht ist ein besonderer Ort. Und so hatte der Hamburger Architekt André Poitiers weit mehr zu gestalten als nur zwei Dächer, Verkaufsflächen und Treppen, als er den Auftrag für neue Zugänge zur U- und S-Bahn am Jungfernstieg erhielt.

Dass die Hamburger Hochbahn AG (HHA) die alten unansehnlichen Eingänge überhaupt durch neue ersetzen ließ, ist einem groß angelegten Umbau des gesamten Jungfernstiegs zu verdanken. Vor einigen Jahren hatten die Hamburger erschrocken bemerkt, dass ihr traditionsreicher Vorzeigeboulevard an der Binnenalster heruntergekommen und mit den eigenen Weltstadtambitionen nicht in Einklang zu bringen war. Der Bürgersinn regte sich, ein prominent besetzter Förderverein sammelte viele Millionen Euro, spannte Politik und Verwaltung ein und führte einen großen Architekturwettbewerb durch. Diesen gewannen die Landschaftsarchitekten WES & Partner und Architekt Poitiers mit einem sehr geradlinigen, reduzierten Entwurf, der ohne Abstriche umgesetzt wurde. Sie entrümpelten und öffneten den Straßenraum, pflanzten eine dreireihige Lindenallee, schufen eine terrassierte Uferpromenade mit verschiebbaren Bänken und ersetzten alte durch neue Pavillons.

Die alten Bahnhofseingänge spiegelten jedoch in keiner Weise die Bedeutung des Jungfernstiegs wider – immerhin ist dies auch der zweitgrößte Verkehrsknotenpunkt der Stadt. Hier treffen fast alle wichtigen U-, S- und Buslinien aufeinander; am Anleger starten die weißen Dampfer der Alsterbootflotte. Der unterirdische U- und S-Bahnhof ist ein allmählich gewachsenes, verwirrendes System mit vier Ebenen, drei Bahnsteigen, diversen Verbindungstunneln und Eingängen, das gestalterisch überwiegend auf dem Stand der siebziger Jahre verharrt. Es war deshalb eine Enttäuschung, dass die HHA den Architekten nur die Zugänge neu gestalten ließ. Doch für den Straßenraum des Jungfernstiegs war der kleine Auftrag an Poitiers ein Glücksfall – war somit doch gewährleistet, dass die beiden neuen Bauten sich in das Gesamtbild der umgebauten Flaniermeile harmonisch einfügen.

Poitiers kam wohl auch deshalb zum Zuge, weil sein architektonischer Ansatz aufs Trefflichste mit der Ingenieurmentalität der Hochbahner korrespondierte. Sein Credo lautet: »Ich bin Konstrukteur!«, und als Anhänger der englischen High-Tech-Architektur und ehemaliger Mitarbeiter Norman Fosters hat er ein Faible für präzise Arbeit und perfekte Lösungen. So ist der millimetergenau zu verarbeitende Stahl eines seiner Lieblingsmaterialien. Poitiers leitet die Großform seiner Zugänge von stählernen Brücken ab und verweist damit auf ein besonderes Charakteristikum der Hamburger U-Bahn, die sich nicht ohne Grund noch immer Hochbahn nennt: Ihre Gleise sind zu einem Großteil aufgestelzt; das Streckennetz führt derzeit über 430 Brücken und Viadukte.

Zwischenraum

Beide Zugangsbauten bestehen konstruktiv aus rechteckigen, geschweißten Hohlkastenträgern, deren U-Form die Brückenanmutung erzeugt. An diese Stahlbügel sind horizontale Zwischenträger angebracht, die die gläsernen, jeweils oben und unten beziehungsweise innen und außen angebrachten Dach- und Rückwandverkleidungen halten. Diese mit einem abstrakten Tropfenmotiv bedruckten Glasscheiben korrespondieren mit der Glasoberfläche eines ebenfalls von Poitiers entworfenen Restaurantpavillons auf der anderen Straßenseite. Es sind diese durchscheinenden Glasflächen, die einen Großteil des Reizes der Bahnhofseingänge ausmachen: Sie tauchen den halboffenen Innenraum in ein diffuses, blaugrünes Licht mit weichen Schatten; der Bahnhofszugang wird wunderbar als ein indifferentes Niemandsland zwischen Unterwelt und Himmelreich inszeniert. Man befindet sich gleichsam in einer »twilight zone«, einem Zwischenreich, wo das Licht in Schatten übergeht, der offene in den geschlossenen Raum. Auch die in dem Hohlraum zwischen den Scheiben verborgene Beleuchtung streut weich und unterstreicht den nicht fassbaren Charakter des Raumes.

Detailarbeit

André Poitiers schafft es, diese Atmosphäre mit einer ganz und gar rationalen, klaren Architektur zu erzeugen, die in Richtung Ingenieurbauwerk tendiert. Die Raffinesse ihrer Details beeindruckt: So ist jede einzelne Scheibe mit wenigen Handgriffen zur Reinigung oder beim Lampentausch aufklappbar und bei Beschädigung rasch auszutauschen. Damit die Großform nicht verunklart wird, sind alle Schrauben und Halterungen hinter Blenden oder in Fugen verborgen. Selbst die Entwässerung des Daches erfolgt unsichtbar in den Stahlträgern.

Eine Besonderheit sind die beiden Verkaufsflächen jeweils im hinteren Teil der Zugänge: ein Backshop und ein Würstchenimbiss. Der Backshop gehört zur Hamburger Kette »Dat Backhus«, für die Poitiers bereits zahlreiche Filialen zu Designpreziosen umgebaut hat. Damit im Winter Kuchen und Personal nicht festfrieren, gibt es eine Fußbodenheizung, eine Glasschürze unter der Decke und Heizstrahler in speziell entworfenen Stahlboxen.

Auch hier folgt alles der gestalterischen Maxime größtmöglicher Einfachheit und Klarheit: Die Technik bleibt für den Kunden unsichtbar, wird eingehüllt oder hinter Blenden verborgen; die Beleuchtung ist bündig in die Decke eingesetzt. Die Glastrennwände werden bei Tag platzsparend an den Seiten des Verkaufsstandes zusammengeschoben. Besonders gut wurde die Haustechnik versteckt – sie befindet sich in Wannen in der Zwischendecke über den Läden. Der Würstchenimbiss im anderen Gebäude wurde nicht vom Architekten eingerichtet, aber Poitiers stand dem Besitzer beratend zur Seite. Hier galt es, ein delikates Problem zu lösen: Den umliegenden, piekfeinen Anwaltskanzleien, Notariaten und Kaufmannskontoren durfte kein Hauch Bratwurstduft in die Räume steigen. Nach aufwändiger Planung gelang es, in die schmale Zwischendecke eine Absaug- und Filteranlage einzubauen, die jegliche Geruchsbelästigung verhindert. In den Rückseiten der beiden Bauten blieb sogar noch Platz für Technikräume. So konnten die früher überall auf dem Fußweg verteilten Schaltkästen für Elektrizität, Telefon und Ampeln abgebaut und ihre gesamte Technik dort konzentriert werden.

Konstruktive Akkuratesse, aufwändige Einfachheit und makellose Oberflächen sind hier kein Selbstzweck. André Poitiers blendet vielmehr die Komplexität des Raumprogramms mit großem Aufwand aus und reduziert die Eingangsbauten auf das einfache Thema der Grenze zwischen Erdinnerem und Erdoberfläche. Die zwei kleinen Bauwerke sind wunderbare Brücken zwischen diesen Welten, deren besondere Atmosphäre den einen oder anderen kurz aufmerken lässt bei der täglichen Hast. Und damit ist hier alles andere als Alltagsarchitektur entstanden.

db, Do., 2007.11.01



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db 2007|11 Am Wegesrand

31. August 2007Claas Gefroi
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Faltwerk im Grünen

Das Haus aus den siebziger Jahren, dessen Architektur dem Prinzip addierter Scheiben folgt, erhielt auf seiner Nordseite eine Erweiterung. Die Gestaltung des Anbaus verweist zwar auf Formen und Farben der Siebziger, findet aber einen eigenständigen Ausdruck und entwickelt neben skulpturalen auch eine ganze Reihe von funktionalen Qualitäten.

Das Haus aus den siebziger Jahren, dessen Architektur dem Prinzip addierter Scheiben folgt, erhielt auf seiner Nordseite eine Erweiterung. Die Gestaltung des Anbaus verweist zwar auf Formen und Farben der Siebziger, findet aber einen eigenständigen Ausdruck und entwickelt neben skulpturalen auch eine ganze Reihe von funktionalen Qualitäten.

Die Architektur der siebziger Jahre wird heute weitgehend ignoriert oder unterschätzt. Dabei ereignete sich damals Erstaunliches: Zum ersten und bis heute einzigen Mal verbreitete sich die architektonische Moderne in weiten Kreisen der Bevölkerung. Menschen, die bis dato den Traum vom Eigenheim mit Sprossenfenstern und Satteldach träumten, ließen sich vom Architekten Häuser mit fließenden Räumen, bodentiefen Panoramascheiben und Flachdächern bauen. Zu einem Zeitpunkt, an dem das Projekt der Moderne bereits an seine ökonomischen, ökologischen und gestalterischen Grenzen geriet, galten die kubischen, eingeschossigen Bungalows in den Kleinstädten und Vororten Deutschlands als fortschrittlich und begehrenswert.
Heute sind diese Gebäude mit ihren Besitzern in die Jahre gekommen und haben Patina angesetzt. Frische und Strahlkraft sind gewichen, die großen Scheiben mit Gardinen verhängt, der einst weiße Putz oft ergraut. Das steht ihnen meist gar nicht schlecht. Als gebaute Versprechen ewigen Aufbruchs und Fortschritts sind sie erstaunlich würdevoll gealtert. Und so ist es wohl kein Zufall, dass jüngere Generationen diese Bungalows für sich entdecken, weil sie einen eigentümlichen Charme, aber auch räumliche Qualitäten besitzen, die Fertighäuser nicht bieten können.

Auch eine junge Hamburger Akademikerfamilie »verguckte« sich in einen dieser Bungalows aus den Siebzigern. Das Haus steht weitab der Ballungsräume, versteckt auf einem Pfeifenstielgrundstück nahe dem Künstlerdorf Worpswede. In dieser ländlichen Gegend mit ihren niedlichen reetgedeckten Häusern wirkt der weiß gestrichene, winkelförmige Ziegelbau auch nach dreißig Jahren noch außergewöhnlich. Im Inneren wurde nur behutsam renoviert, weshalb noch viele schöne Details aus der Ursprungszeit erhalten geblieben sind. Hierzu gehören eine für die damalige Zeit ungewöhnliche Hypokaustenheizung oder die wunderbaren Falttüren, die bei Bedarf auf die denkbar zarteste und fragilste Art die Räume trennen. Erstaunlich die damalige Radikalität in einem gutbürgerlichen Einfamilienhaus: Selbst bei der Toilettentür kam ein lederbespannter Faltmechanismus zum Einsatz.

Die neuen Bewohner fühlten sich in ihrem neuen Heim wohl, doch bald wurde klar, dass der Platz nicht für Kinderzimmer, zusätzlichen Arbeitsraum und ein Gästezimmer ausreichte. Ein Abriss und Neubau war keine Option – zu sehr war man dem Charme des Hauses verfallen. Ein ¬befreundeter Fassadenplaner empfahl ein Hamburger Architekturbüro, mit dem er schon öfter zusammengearbeitet hatte – so kamen die jungen Architekten Kunst und Herbert zum Zuge. Sie erkannten sofort den speziellen Reiz des Hauses und beschlossen, sich daran zu orientieren. Der von ihnen entworfene und realisierte Anbau ist ganz anders als der Altbau geraten und doch mit ihm verwandt. Da der größte Teil des idyllischen Grundstücks mit seinen vielen Bäumen tabu für eine Bebauung blieb, beschlossen die Architekten, die Erweiterung direkt an der Nordostseite des Areals, quasi auf der Zufahrt zum Haus, anzusiedeln. Passend zur beengten Lage entwarfen sie ein längliches Gebäude, das sich leicht aus der Flucht des alten Bungalows dreht und von ihm absetzt, um ihn nicht zu sehr zu bedrängen. Der ungewöhnliche Winkel und die parallelogrammartige Grundform des Ergänzungsbaus kann man als eine Reaktion auf die Orthogonalität des Altbaus werten; es ergeben sich daraus aber auch äußerst spannungsreiche Raumsequenzen.
Zwischen Ursprungs- und Ergänzungsbau wurde ein Wintergarten eingeschoben, der vom Garten in die beiden Haushälften leitet. Er ist mittlerweile zum Treffpunkt der Familie geworden, weil man sich hier an zentraler Stelle geschützt und doch fast in der Natur aufhalten kann, mit Blick ins Grüne und in den Himmel. Beim Betreten des Anbaus überrascht die Größe im Kleinen, die bei aller räumlichen Beschränktheit zu spüren ist. Drei in Richtung Nordost ausgerichtete Räume liegen hintereinander an einem Flur, an dessen Ende sich, innenliegend, ein Nassbereich befindet. Abgeschlossen wird das Gebäude von einer Garage mit zwei Stellplätzen. Die drei Zimmer besitzen eine schräge, abgewinkelte Fensterfront, die sehr skulptural wirkt, aber vor allem die Aufgabe hat, bei der ungünstigen Nordlage möglichst viel Licht in die Räume zu leiten. Das funktioniert – selbst an trüben Tagen ist es hell wie in Südzimmern. Zudem kann man durch die im Winkel geführten Fenster einen Panoramablick auf die malerische Landschaft genießen. Die Räume selbst sind einfach und schlicht, aber hochwertig ausgestattet. Alle Böden sind mit Schieferplatten bedeckt, die Einbauschränke und -regale sowie Sideboards wurden aus Multiplexplatten angefertigt; die Regale im Bad sind aus Corian, und zur Beleuchtung genügen zumeist schlichte Leuchtstoffröhren. Für sein Arbeitszimmer hat der Bauherr als Clou eine innen mit Tafellack beschichtete Schiebetür erhalten, auf der er im Vorbeigehen Notizen verfassen kann. Das alles wirkt selbstverständlich, alltagstauglich und angemessen für einen Anbau dieser Größenordnung.

Und eben diese unaufgeregte, aber dennoch prägnante Gestaltung ist auch der Fassade zu eigen. Sämtliche Flächen sind mit dunklem vorbewitterten Zinkblech bekleidet, einem Material, das man eigentlich eher aus dem Industriebau kennt. Das Gebäude erhält dadurch einen ganz eigentümlichen Reiz, eine starke körperliche Präsenz; die dunkelgraubraunen Bleche wirken wie eine Panzerung. Verstärkt wird die monolithische Erscheinung noch durch den abrupten Dachabschluss; die Regenrinne wurde hinter die Fassade verlegt – so bleibt nur ein schmales Dreikantprofil als minimierte Attika. Die Stehfalze jedoch zeigen die handwerkliche Verarbeitung und geben dem Ganzen eine angenehm unperfekte Note. Wunderschön wirkt das Zinkblech, wenn das Sonnenlicht auf seine fast samtene Oberfläche fällt und ganz weich reflektiert wird. Aber natürlich ist die dunkelbraune Metallfassade auch eine Reminiszenz an die Siebziger – das Bundeskanzleramt in Bonn und andere vergessene Perlen lassen grüßen. Darüber lässt sich prächtig auf dem Dach sinnieren, denn der Neubau besitzt neben einer Dachbegrünung auch eine kleine Dachterrasse. Es ist angenehm, hier zu sitzen, zumal man auf diese Weise der aus den Torfböden aufsteigenden Feuchtigkeit enthoben ist.

Was letztlich an diesem Projekt gefällt: die Bescheidenheit und Angemessenheit, mit der dieser Anbau seine Aufgaben erfüllt. Und dazu gehört neben vielerlei praktischen Dingen auch, gestalterisch eine Brücke von der Gegenwart in die Vergangenheit zu schlagen. Für das in Ehren ergraute Wohnhaus der Siebziger ist das eine wohltuende Frischzellenkur, die man vielen dieser lange unterschätzten Bungalows wünscht.

db, Fr., 2007.08.31



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Anbau an einen Wohnbungalow



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db 2007|09 Anbau, Umbau

31. Mai 2007Claas Gefroi
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Farbiger Budenzauber

Selten schafft es ein Bauwerk, sich so gut in ein städtebauliches Gefüge einzupassen, sowohl bei Tag als auch bei Nacht. Illuminiert mit LEDs und variabel an ihrem genauen Standort, können die beiden beweglichen Bühnen aber weit mehr als nur hübsch aussehen. Doch das ausgeklügelte Nutzungskonzept wartet auf seine Umsetzung seitens der Betreibergesellschaft. Das Potenzial ist wohl vorhanden, allein, es fehlt der Wille?

Selten schafft es ein Bauwerk, sich so gut in ein städtebauliches Gefüge einzupassen, sowohl bei Tag als auch bei Nacht. Illuminiert mit LEDs und variabel an ihrem genauen Standort, können die beiden beweglichen Bühnen aber weit mehr als nur hübsch aussehen. Doch das ausgeklügelte Nutzungskonzept wartet auf seine Umsetzung seitens der Betreibergesellschaft. Das Potenzial ist wohl vorhanden, allein, es fehlt der Wille?

Wohl in jeder Stadt gibt es blinde Flecken, Gebiete, die über längere Zeit nicht angerührt und überplant wurden. In Hamburg gibt es davon, dem aktuellen Boom zum Trotz, gleich mehrere, und sie liegen noch dazu im Zentrum der Stadt. Es sind Orte mit einer bewegten, manchmal fast schon mythischen Vergangenheit, an deren Neuplanung sich über lange Zeit kein Planer oder Politiker heranwagte und, falls doch, die Zähne daran ausbiss. Die gerade erst wieder gescheiterten Pläne zur Bebauung des Domplatzes, der historischen Geburtsstätte Hamburgs, sind dafür ein lehrreiches Beispiel.

Auch der Spielbudenplatz im Herzen St. Paulis gleich neben der Reeperbahn schien für Jahrzehnte ein solch vermintes Gelände zu sein. Dass er nun doch neu bebaut wurde, grenzt fast an ein Wunder. In früheren Zeiten, als St. Pauli noch vor den Toren Hamburgs lag, wurde hierher all das ausgelagert, was man nicht in der Stadt haben wollte: Tranbrennereien, Ölmühlen, Müllplätze, Pest- und Friedhöfe. Nach der Aufhebung der Torsperre 1860/61 erlebte St. Pauli eine rasante Entwicklung hin zu einem extrem dicht besiedelten Wohn- und Gewerbeviertel, das den rechtschaffenden Hamburgern Sündenpfuhl und Verlockung zugleich war. Raubeinige Seeleute zechten in düsteren Spelunken, Prostituierte gingen ihrem (in Hamburg verbotenen) Gewerbe nach, Schausteller amüsierten das Publikum mit allerlei Spektakel. Ab 1840 wurden die Buden ersetzt durch feste Gebäude, darunter große, auch architektonisch bemerkenswerte Konzert- und Bierpaläste sowie Varieté- und Theaterbauten. Der Abstieg kam nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs. Die Neubauten der Nachkriegszeit rund um den Spielbudenplatz und die Reeperbahn waren banale Schuhschachteln mit Leuchtreklame an der Vorderfront – dekorierte Schuppen, wie sie Robert Venturi auch am Strip von Las Vegas ausmachte, nur ohne deren Größe und Glamour. Der unbefestigte Spielbudenplatz wurde in den sechziger Jahren mit einem Gewirr von provisorischen Pavillons überzogen, in denen Kneipen und Diskotheken zweifelhaften Charakters unterkamen. Damit war niemand zufrieden, und es gab seitdem immer wieder neue, teils bizarre Vorschläge für eine Umgestaltung, die allesamt wieder verworfen wurden. So rief die Freie und Hansestadt Hamburg 2004 einen offenen Realisierungswettbewerb aus – mit über 300 Teilnehmern derzeit der größte Gestaltungswettbewerb der Hamburger Stadtgeschichte. Gebaut wurde der mit dem dritten Preis ausgezeichnete Entwurf von Lützow 7 Landschaftsarchitekten und Spengler Wiescholek Architekten.

Ein neues, gelungenes Konzept

Ihre geradezu zwingende Idee war, dem Platz seine Funktion als öffentliche Amüsierstätte zurückzugeben. Die Tradition der provisorischen Buden des fahrenden Volkes wiederaufnehmend, entwickelten sie das Konzept von zwei auf Schienen beweglichen Bühnenbauten, die unterschiedlichste Raumsituationen erzeugen und für alle Arten von Veranstaltungen genutzt werden können. Eng beieinanderstehend werden die Bühnen zu einem nur seitlich geöffneten Veranstaltungsraum, auseinandergerückt öffnen und begrenzen sie den Platz für Konzerte, Märkte und Versammlungen. Dabei können die Spielbuden sowohl als Bühnenfläche als auch als Zuschauerraum genutzt werden; sogar der Aufbau von Tribünen ist auf ihnen möglich. So entstand ein wahrhaft demokratisches Forum für Menschen unterschiedlichster Sphären, die sich hier zu U- und E-Kultur, Kunst und Kommerz, Sport und Spiel versammeln. Unvergessen die Bundesauftaktveranstaltung zum Tag der Architektur 2006 auf den zusammengeschobenen Bühnen, als die elaborierten Reden von Ministern, Präsidenten und Senatoren immer mal wieder durch die Schlachtrufe und Fanfaren fröhlich vorbeiziehender Fußball-WM-Fans unterbrochen wurden und sich anschließend Plebs, Politiker und Planer bei Bier und Fischbrötchen auf dem Platz bestens verstanden.

Das bewegliche Tragwerk

Dass dieses Experiment eines für alle offenen »Möglichkeitsraums« glückte, ist der gelungenen gestalterischen und technischen Umsetzung zuzuschreiben. Die beiden Bühnen, die Platzfläche aus rotem geschliffenen Asphalt, schlanke Leuchtstelen und die »Stadtterrassen« an beiden Platzenden mit Kiosken, Servicepavillons und neu gepflanzten Baumhainen bilden ein Ensemble, das den Platz aus seiner vormaligen Tristesse erhebt, sich dabei aber in seiner nüchternen Zweckmäßigkeit in den Stadtteil einpasst. Die Hauptrolle spielen die Bühnen: Die beiden jeweils 16 mal 16 m großen und 10 m hohen Spielbuden in Form von liegenden Us bestehen aus einem Fachwerk aus geschlossenen, feuerverzinkten Stahl-Rechteckprofilen. Die Elemente des Tragwerks wurden in der Fabrik vorgefertigt und konnten an Ort und Stelle schnell zusammengeschraubt und -geschweißt werden. Die erstaunliche Dachauskragung von 12 m bei einer Konstruktionshöhe von nur 1 m lässt das Dach trotz seiner Ausmaße fast schon filigran erscheinen (siehe Detailbogen S. 176). Leider verkraftet die Dachkonstruktion nur geringe zusätzliche Traglasten, weshalb zum Beispiel bei Konzerten zusätzliche Stützen und Traversen für die Licht- und Tontechnik installiert werden müssen. Im Bodenbereich werden die Lasten über einen 1 m hohen Trägerrost auf das Fahrwerk übertragen. Zu Wartungszwecken ist dieser Bereich ebenso wie der Dachraum betretbar. In den 4,5 m tiefen Bühnenrückwänden sind Flächen für zusätzliche Bühnentechnik sowie Technikräume für die Stromverteilung der Bühnenbeleuchtung sowie die Batterieanlagen und die Elektromotoren für den Fahrbetrieb untergebracht. Um die Bühnen auf den Schienen zu bewegen, werden sie zunächst über eine Hydraulik um 15 bis 20 cm angehoben und so Beschädigungen durch herumliegende Steine oder ähnliches vermieden. Haben die Bühnen ihre neue Position erreicht, werden sie wieder auf ihre Füße abgesenkt, um das Fahrwerk zu entlasten.

Life on a dancefloor?

Mobilität und Nutzungsvielfalt sind aber nur zwei Charakteristika der Buden, ihre wandelbare, abends und nachts leuchtende Haut spielt eine ebenso wichtige Rolle. Spengler Wiescholek und Lützow 7 hatten bereits am Anfang der Planungen die Vision eines Platzes, der durch Lichtgestaltung lebendig wird und mit den Kiez-prägenden Leuchtreklamen korrespondiert. Zusammen mit der in einem hierfür ausgeschriebenen Wettbewerb siegreichen Arge CNWS wurde ein Konzept entwickelt, das die Buden, den Platz, die Baumhaine und die Kioske mit einbezog. Der Platz sollte sich nachts zu einem bunten, dynamischen »Urban Dancefloor« wandeln – einem großen städtischen Discoparkett, erleuchtet durch bewegliche, farbige LED-Lichtköpfe auf entlang des Platzes errichteten Mastleuchten und ebenfalls durch LEDs illuminierte Spielbuden, alles zentral von einem Rechner gesteuert. Die Wahl fiel sehr schnell auf LEDs als Leuchtmittel, weil nur diese zum einen eine lange Lebensdauer und zum anderen eine sehr gute Energiebilanz (große Lichtausbeute bei relativ niedrigem Energieverbrauch) garantieren. Mit dem farbig beleuchteten Tanzplatz wurde es dann leider aus technischen Gründen doch nichts – es gab keine RGB-Lampen mit ausreichender Lichtstärke, die in den vorgegebenen Mastleuchten Platz gefunden hätten. Weil die Leuchtstelen nun doch nur statische weiße Lichtflecken auf den Platz werfen, rückt umso mehr die Tag-Nacht-Wirkung der Spielbuden in den Vordergrund. Tagsüber wirken deren Fassaden eher geschlossen. Die Buden sind bekleidet mit einem mal schimmernden, mal reflektierenden Edelstahlgewebe, das grob genug geflochten ist, um einen Hauch von Durchblick auf das Innere der Baukörper zuzulassen und Graffiti-Attacken zu verhindern. Es ist befestigt auf einer Unterkonstruktion aus verzinkten Rechteckrohren. Hinter diesem Metallkleid nach Art von Paco Rabanne schützt eine Wetterhaut aus ESG das Innere der Bühnen.

Technische Umsetzung

Abends wandelt sich das Bild: Die Bühnen beginnen aus ihrem Inneren heraus goldfarben zu leuchten, werden gleichsam entmaterialisiert und lassen Blicke in das Tragwerk zu. Doch dies ist nur die Grundbeleuchtung außerhalb der publikumsintensiven Zeiten, erzeugt durch in der Tiefe des (Bühnen-)Raums installierte, mit Farbfolie umhüllte Leuchtstofflampen. Zu später Stunde verwandeln dann insgesamt 2560 speziell angefertigte LED-Module die Bühnen in riesige, sich ständig wandelnde Lichtskulpturen.

Jedes dieser zwischen Außenhaut und Tragwerk angebrachten quadratischen Module mit 22 cm Kantenlänge ist einzeln per Computer steuerbar und kann, mit 32 einzelnen LEDs in den Grundfarben RGB bestückt, alle denkbaren Farben darstellen. Damit sich die einzelnen RGB-Lichtpunkte im Auge des Betrachters mischen und ihn nicht blenden, wurde auf der Vorderseite der Module jeweils eine weiße opale Diffussionsscheibe angebracht, die das Licht streut.
Da die Bühnenbauten nicht komplett gegen Feuchtigkeit, Staub und Temperaturschwankungen abgeschirmt sind, war es nötig, die Module witterungsbeständig in der relativ hohen IP 65-Schutzklasse anzufertigen. In der Praxis bedeutet dies, dass die Vorderseiten verklebt und auf der Rückseite das Gehäuse und der LED-Platinenträger luftdicht verschraubt werden mussten. So konnte auch unter den erschwerten Bedingungen eines Stadtplatzes eine durchschnittliche Lebensdauer der LEDs von 50 000 Stunden gewährleistet werden, was selbst bei einem 24-Stunden-Dauerbetrieb einen Austausch nur alle sechs Jahre und eine wichtige Reduzierung der Betriebskosten bedeutet. Angesichts des durch die Lichtanlage erzielten Effekts und Imagegewinns für den Platz sind die Betriebs-, aber auch die Planungs- und Baukosten (etwa eine halbe Million Euro für die gesamte Beleuchtungsanlage des Spielbudenplatzes bei Gesamtbaukosten von rund fünf Millionen Euro) äußerst moderat.

Verwandlungskünstler mit verschenktem Potenzial

Die Programmierung der LED-Leuchten erfolgt über eine Computeranlage, die beide Bühnen gemeinsam oder getrennt voneinander steuern kann; übrigens auch unter Einbeziehung der Stelen auf dem Platz, deren Licht zu dimmen ist. Die Planer haben die Anlage so ausgelegt, dass sie frei programmiert werden kann und offen ist für alle möglichen Visualisierungen: Formen, Farben, Bilder, Filme. Die grobe Rasterung der mit 25 cm relativ weit auseinander liegenden Module mit ihrer rigide reglementierten Pixelzahl ist im Zeitalter der immer detailreicheren Medienfassaden und Infobildschirme eine bewusste gestalterische Entscheidung nach dem Motto »Weniger ist mehr«: Die erzielte Grobkörnigkeit lässt dem Zuschauer Interpretationsspielräume und erzeugt einen reizvollen Kontrast zwischen Nah- und Fernwirkung, wenn sich zusammenhanglos erscheinende Formen und Farben mit zunehmenden Betrachtungsabstand allmählich zu Zeichen und Bildern zusammenfügen. Die Reduzierung und Limitierung der Möglichkeiten soll aber auch einen kreativen Freiraum für Künstler schaffen, die sich per Laptop, W-LAN und Passwort in die Computer einloggen und die Lichtanlage steuern können. Leider haben die Bühnenbetreiber lange Zeit das Konzept der LED-Fassade nicht nachvollziehen können. Die üblichen Großbildschirme in den Köpfen, war es ihnen nach Aussage der Lichtplaner unverständlich, warum man sich beim Detailreichtum der Darstellung freiwillig beschränken sollte. Statt künstlerischer Interventionen hätte man wahrscheinlich lieber Werbefilme gezeigt. So werden bis heute noch nicht annähernd die Möglichkeiten der Fassade genutzt: Bis vor Kurzem glühten die LED-Lichtpunkte kümmerlich in nur einer Farbe, später dann wurden zumindest einige Grundprogrammierungen (Farbverläufe, Textbotschaften) genutzt. Auch die von CNWS vorgeschlagenen Events wie jährliche Wettbewerbe für die beste Bespielung oder regelmäßige Video-Jockey-Contests sind noch in weiter Ferne. Aber immerhin: Wie man hört, wurde neulich ein Mitarbeiter der Betreibergesellschaft für die Bespielung der Fassade abgestellt.
Überhaupt sorgte die bisherige Nutzung des neuen Spielbudenplatzes für viel Ärger. Das Areal wurde von den Betreibern, allesamt Anlieger des Platzes, mal eingezäunt, mal mit Imbiss- und Bierbuden dauerbespielt und verdreckte dabei mehr und mehr. Die Buden blieben so gut wie ungenutzt, die Kioske geschlossen. Die Architekten Spengler Wiescholek drohten zwischenzeitlich schon, die Bühnen abbauen und anderswo aufstellen zu lassen. Betrachtet man diese Entwicklung, fragt man sich, warum die Stadt die Spielbuden nicht in Eigenregie betreiben wollte. Die Antwort ist leicht: In Zeiten leerer Stadtsäckel und von Public-Private-Partnership bot sich hier eine weitere Einnahmequelle. Immerhin: Die Anhandgabe war zunächst auf ein Jahr begrenzt und so konnte die Stadt vor Kurzem bei den Neuverhandlungen für eine Vergabe bis 2015 weit rigidere Pflichten für den Betreiber durchsetzen: Es wurde eine Mindestzahl von Veranstaltungen festgelegt und auch die Art der Nutzung. Der Platz darf künftig nur noch zu einem Drittel gastronomisch genutzt werden, die Möblierung soll einheitlich gestaltet sein. Und schließlich sollen die Bühnen ein größeres Gewicht als Gestaltungselemente erhalten, indem sie regelmäßig bewegt, bespielt und mit wechselnden Lichtinszenierungen illuminiert werden.

Bei aller Traurigkeit darüber, dass solche Selbstverständlichkeiten in Verträgen haarklein festlegt werden müssen: Es besteht nun erstmalig die Hoffnung, dass dieses Projekt endlich den Anspruch seiner Planer einlösen kann, eine Renaissance der öffentlichen Räume der Stadt Hamburg einzuläuten. Das Zeug dazu hat es.

[ Arge Spielbude Hamburg Fahrbetrieb Lützow7 Garten- und Landschaftsarchitekten C. Müller J. Wehberg, Berlin (Federführung)
Spengler Wiescholek Architekten, Hamburg ]

db, Do., 2007.05.31



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